239 68 115MB
German Pages 1063 [1080] Year 2000
Staatsbürgerlexikon Staat, Politik, Recht und Verwaltung in Deutschland und der Europäischen Union
Herausgegeben von
Dr. Gerlinde Sommer und
Prof. Dr. Raban Graf von Westphalen
R. Oldenbourg Verlag München Wien
Gefördert durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Staatsbürgerlexikon : Staat, Politik, Recht und Verwaltung in Deutschland und der Europäischen Union / hrsg. von Gerlinde Sommer und Raban Graf von Westphalen. - München : Oldenbourg,
2000 ISBN 3-486-25477-4 Broschiert
© 2000 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Druck: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH ISBN 3-486-25477-4, broschiert
V Inhalt
Vorwort
VI
Benutzerhinweise
VIII
Autorinnen und Autoren
IX-XIII
Stichworte
1-1049
Abkürzungsverzeichnis
a-m
VI Vorwort Vorwort Aus Verständnis und Sprache der Staatsbürger beansprucht dieses Nachschlagewerk, die grundlegenden Bereiche gesellschaftlichen Zusammenwirkens - Staat, Politik, Recht und Verwaltung - mit besonderer Berücksichtigung von Geschichte und Funktionsweise der Parlamente und öffentlichen Einrichtungen - Ministerien, Behörden, Ämter und Gesetzgebimg - auf kommunaler, nationaler und europäischer Ebene lexikalisch zu behandeln. In 1.085 gewichteten und untereinander durch Querverweise miteinander verknüpften Stichworten erschließen 157 Autorinnen und Autoren diese thematischen Felder unter den Gesichtspunkten ihrer politischen Funktions-, Wirkungs- und Arbeitsweise, ihrer geschichtlichen Herkunft und ihrer staats- und verwaltungsrechtlichen Grundlagen in Hinblick auf die staatsbürgerliche Bedeutung. Ergänzt werden die Stichworte um Hinweise auf leicht greifbare grundlegende und weiterführende Literatur und - soweit sinnvoll - auf die entsprechenden Rechtsquellen mit Fundorten. Aufgenommen wurden weiterhin nicht-staatliche Organisationen, über welche die Bürger an der Gestaltung des öffentlichen Lebens teilnehmen. Die Herausgeber danken allen Autorinnen und Autoren für ihr Engagement und die ausgezeichnete Zusammenarbeit. Dank schulden wir vor allem Prof. Dr. Werner Billing, Prof. Dr. Bernhard Claußen, Dr. Michael Dreyer, Rechtsanwalt Karlheinz Hösgen, Prof. Dr. Hartmut Klatt, Jörg Menzel, Prof. Dr. Werner J. Patzelt, Prof. Dr. Eckart Reidegeld und Prof. Dr. Wolfgang Schreiber. Verbunden sind wir in besonderer Weise Prof. Dr. Dr. Volker Neßler und Dr. Jörg Ukrow LL.M.Eur. für ihr fachliches und persönliches Engagement.
VE Vorwort Unser Dank gilt dem Cheflektor Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Oldenbourg· Verlags, Herrn Dipl.-Volksw. Martin M. Weigert, welcher die Erstellung dieses Lexikons mit anregte und das Projekt nach Kräften förderte. Dank gilt weiterhin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für ihre Förderung und Frau Manuela Reuter, die das Projekt mit Beharrlichkeit und Klugheit begleitete. Ebenfalls danken wir den Einrichtungen des Bundes und der Länder wie anderen Trägern öffentlicher Belange für ihre Unterstützung. Wenn es richtig ist, - schrieb 1965 Prof. Dr. Wilhelm Hennis - , daß die „Kraft und Fähigkeit des modernen Staates zur Bewältigung der ungeheuren Aufgaben, die die Herausforderungen der modernen Industriewelt, die sozialen Forderungen emanzipierter Menschen, der Wettbewerb der politischen Systeme ihm abfordern, in den eigentlichen Kern moderner Staatlichkeit verweisen, daß die Fähigkeit des Staates zur Erfüllung dieser Leistungen auch darüber entscheidet, ob seine traditionellen Elemente, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, gesichert sind, so sollte es auf der Hand liegen, daß die Politische Wissenschaft in dieser Problematik, wenn nicht ihren eigentlichen, so doch einen ganz zentralen Gegenstand zu suchen hätte". Der Beitrag, aus dem dieses Zitat stammt - „Aufgaben einer modernen Regierungslehre" - wurde 1998 - im Jahr des 75. Geburtstages des Autors - erneut veröffentlicht. Das vorliegende Lexikon verdankt diesem staatswissenschaftlichen Verständnis konzeptionelle Orientierung. Grossbodungen Gerlinde Sommer
Raban Graf von Westphalen
vra
Hinweise zum Gebrauch des Lexikons Die nachstehend behandelten Stichworte sind alphabetisch geordnet; Umlaute (ä, ö, ü) sind in Selbstlaute mit angehängtem e aufgelöst (ae, oe, ue). Zusammengesetzte Begriffe - z.B. Europäisches Parlament - sind dem Sprachgebrauch folgend unter dem Adjektiv zu suchen; in Fällen, in denen diese Verbindung nicht zweifelsfrei üblich ist, findet der Leser in der Regel einen Verweis —>, oder ihm wird empfohlen, unter dem entsprechenden Substantiv nachzuschlagen. Wurde in einem Stichwortartikel ein anderes ebenfalls behandeltes Stichwort verwandt, so ist dieses durch Verweis -» markiert, um den Zusammenhang herzustellen; dieser Verweis erfolgt in demselben Stichwort nur einmal. Stichworte werden im laufenden Text in der Regel mit ihren Anfangsbuchstaben abgekürzt; existiert eine amtliche Abkürzung, so wird diese ungebeugt benutzt. In streitigen Fällen, oder um die Lesbarkeit zu erleichtern, wurde von diesem Grundsatz vereinzelt abgewichen. Die Stichworte sind mit vollem Autorennamen unterzeichnet; Begriffserklärungen nur mit den Anfangsbuchstaben. Ihre Auflösung findet der Leser im Autorenverzeichnis; als Kürzel der Herausgeber steht Hg. Ausschließlich der leichteren Lesbarkeit willen, wurde die männliche Substantivform verwandt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen war der 30. April 1998 Redaktionsschluß.
IX Autorinnen und Autoren
Staatsbürger-Lexikon verfaßt in Gemeinschaft mit
Prof. Dr. Claus Arndt, Hamburg Prof. Dr. Hans-Joachim Bauschke (H.-J. B.), Fachhochschule für öffentl. Verwaltung Mannheim Dr. Michael Becker, Universität Bamberg Prof. Dr. Jürgen Bellers (J. Be.), Universität-Gesamthochschule Siegen Bruno Bengel M.A., Leiter d. Europäischen Akademie Hessen, Offenbach Thorsten Benner M A. (T. B.), Universität-Gesamthochschule Siegen Dr. Uwe Bernzen (U.B.), Direktor beim Landtag Mecklenburg-Vorpommern Prof. Dr. Werner Billing (W. B.), Universität Kaiserslautern Dr. Norbert Binder, Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie Bonn Prof. Dr. Hartwig Brandt, Universität Wuppertal Prof. Dr. Hans Dieter Braun, Fachhochschule für öffentl. Verwaltung, Mannheim BBDir. Dr. Wilfried Braun, Fachhochschule der Dt. Bundesbank Hachenburg Dr. Stephan Bröchler (S. B.). FemUniversität Hagen Dr. Jürgen Bröhmer (J. B.), Universität Saarbrücken Prof. Dr. Hans Peter Bull, Universität Hamburg Prof. Dr. Barbarba Buschmann, Technische Fachhochschule Berlin Prof. Dr. Bernhard Claußen (B. C.), Universität Hamburg Michael Cullen M.A., Bauhistoriker Berlin StD. Dr.Carl Deichmann (C. D.), Fachberater für polit. Bildung im Regierungsbezirk Koblenz Dr. Dr. Gerhard Deter, Bundestagsverwaltung / Wissenschaftliche Dienste, Bonn Friedrich von Detten, Landwirtschaftskammer Hannover a.D. Dr. Michael Dreyer, Universität Jena
χ Autorinnen und Autoren Dr. Florian Edinger, Landtag Rheinland-Pfalz, Wissenschaftliche Dienste Michael Edinger M.A., Universität Jena VDir. Alfons Ermer (Α. E.), Fachhochschule für öffentl. Verwaltung Mannheim BBDir. Thomas Fehrmann (I. F.), Fachhochschule der Dt. Bundesbank Hachenburg Kai Fischbach (K. F.), Universität Gesamthochschule-Siegen Dipl. Volkswirt Martin Frey (M. F.), Bundestagsverwaltung, Bonn Joachim Gauck, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, Berlin Prof. Dr. Winand Gellner, Universität Passau Thomas Greven M.A. (Τ. G.), Freie Universität Berlin Prof. Dr. Christian Grimm, Fachhochschule Weihenstephan Prof. Dr. Klaus Grimmer, Universität Gesamthochschule Kassel Dipl.-Pol., Dipl.Psych. Hermann Groß (H. G.), Verwaltungsfachhochschule Wiesbaden Udo Hagedorn (U. H.), Universität-Gesamthochschule Siegen Britta Hanke-Giesers (B. H.-G.), Bundestagsverwaltung, Bonn Reg.Dir., Dipl. Sc. Pol. Egon G.A. Happach (Ε. H.). Thür. Fachhochschule für öffentl. Verwaltung Gotha Prof. Dr. Annette von Harbou (Α. H.), Verwaltungsfachhochschule Wiesbaden / Gießen Prof. Dr. Barbara Hartlage-Laufenberg (B. H.-L.), Fachhochschule für öffentl. Verwaltung Mannheim Dr. Michael Henkel (M. He.), Universität Jena Ass. jur. Irene L. Heuser (I. H.), Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Raumordnung des Landes Brandenburg Prof. Dr. Jürgen W. Hidien (J.W. H.), Universität Münster Dipl.-Volksw. Michael Hilger (M. H.), Bundestagsverwaltung, Bonn Holger Hinte M.A. (H. H.), Arbeitsstab der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, Bonn Dr. Gerhard Hirscher (G. H.J, Hanns-Seidel-Stiftung, München Regierungsdirektor Dr. Sven Hölscheidt (S. H.), Bundestagsverwaltung, Bonn Dr. Ulrich Hösch, Universität Bayreuth Karlheinz Hösgen (Κ. H.) Rechtsanwalt, Mechernich Cornelia Horn M.A., Freie Universität Berlin Dr. Ulrich Hufeid (U. Hu.), Universität Heidelberg Dr. Klaus-Peter Hufer, Kreisvolkshochschule Viersen, Kempen Prof. Dr. Wolfgang Ismayr, Technische Universität Dresden
XI Autorinnen und Autoren ORR'η Monika Jantsch, Bundestagsverwaltung, Bonn Dr. Uwe Jun (U. J.), Universität Göttingen Steffen Kailitz M.A, Technische Universität Chemnitz-Zwickau Dr. Jürgen Karstendiek (J. K.), Bundesministerium der Finanzen, Bonn Prof. Dr. Udo Kempf, Pädagogische Hochschule Freiburg Stefan Kessen M.A., MEDIATOR GmbH, Oldenburg, Münster Dr. Karl G. Kick, Universität Regensburg Prof. Dr. Rüdiger Kipke, Universität - Gesamthochschule Siegen Prof. Dr. Dr. Leo Kißler, Universität Marburg MR Prof. Dr. Hartmut Klatt, Bundestagsverwaltung / Wissenschaftliche Dienste, Bonn; Universität Tübingen Dr. Thomas Rneissler, Universität Gesamthochschule Kassel Dipl.Pol. Dieter Koenig, (D. K.), Scientific Affairs Officer, UNCTAD Genf Prof. Dr. Gerhard Kral (G. K.), Kath. Stiftungsfachhochschule München / Abt. Benediktbeuern Prof. Dr. Rolf Kreibich, Technische Fachhochschule Berlin, Direktor des Instituts für Zukunftsstudien und Technolgiebewertung Berlin Ministerialrat Otto Klinge, Bundesministerium für Familie, Senioren, Jugend und Frauen, Bonn Prof. Dr. Klaus Kröger, Universität Gießen Dr. Wolfgang Künzel, Landeszentrale für polit. Bildung, Brandenburg Prof. Wolfgang Kunz (W. K.), Fachhochschule für öffentl. Verwaltung Mainz Prof. Dr. Ernst Kuper, Universität Göttingen Markus Lang, Universität Jena Dr. Hans-Jürgen Lange (H.J. L.), Universität Marburg Oliver Lembcke M.A., Universität Jena Tobias Linke (T. L.) Universität Bonn Prof. Dr. Wolfgang Löwer (W. L.), Universität Bonn Dr. Christoph Lotter (C. L.), Universität Gießen PD Dr. Wolfgang Luthardt, Vertretungsprofessor Pädagogische Hochschule Erfurt Prof. Dr. Hella Mandt, Universität Trier Sabrina Manthey, Freie Universität Berlin Dr. habil. Tilman Mayer, Universität Würzburg Dr. Reinhard C. Meier-Walser, Hanns-Seidel-Stiftung, München Dr. Dirk Meisel (D. M.), Universität Halle-Wittenberg Jörg Menzel (J. M.), Universität Bonn
χπ Autorinnen und Autoren Maria Mester- Grüner (M. M.-G.), Redakteurin Düsseldorf Thomas Meyer, Bundesamt ftlr Wirtschaft, Eschborn Regdir. Hans Meyer-Albrecht, Kultusministerium Sachsen-Anhalt, Magdeburg Prof. (em.) Dr. Wolfgang W. Mickel, Pädagogische Hochschule Karlsruhe Christiane Moll, Historikerin, München Markus Müller M.A., Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Nicolai Müller-Bromley, Fachhochschule Osnabrück Dr. Ralf Müller-Terpitz (R. M.-T.), Universität Bonn Prof. Dr. Dr. Volker Neßler (V. N.), Hochschule Wismar OberReg.Rat Ulrich Niemann (U. N.), Direktor der Asia-Europe-Foundation, Singapur MinR Andreas Nothelle, Bundestagsverwaltung, Bonn Dr. Carsten Nowak, Europa-Kolleg Hamburg Dr. Torsten Oppelland, Universität Jena Michael Orlandini M.A., Münster Prof. Dr. Werner J. Patzelt (W.J. P.), Technische Universität Dresden Dr. Melanie Piepenschneider (M. P.), Polit. Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin Prof. Dr. Rainer Prätorius, Universität der Bundeswehr Hamburg Dr. Carsten Quesel, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd Reg.Dir. Dr. Christian Raap (C. R.), Bundesministerium der Verteidigung, Bonn Karen Radtke (K. R.), Universität Münster Min.Dirig. Wolf-Hartmut Reckzeh, Zentrale Dienste des Sächsischen Landtages, Dresden Dr. Dietmar O. Reich, Verwaltungsfachhochschule Altenholz/Kiel Prof. Dr. Eckart Reidegeld (E. R.), Fachhochschule Dortmund Werner Reilecke M.A. (W. R.), Sächs. Landeszentrale für polit. Bildung, Dresden Prof. Dr. Wolfgang Renzsch, Universität Magdeburg Prof. Dr. Dr. Dr. he. mult. Georg Ress, Universität Saarbrücken, Richter am Europ. Gerichtshof für Menschenrechte Manuela Reuter (M. R.), Technische Fachhochschule Berlin ORR Jürgen Rohdenburg, Hochschule für öffentl. Verwaltung Bremen Min.Direktor Dr. Hans-Achim Roll, Bundeskanzleramt Prof. Dr. Ulrich Rommelfanger, Rektor der Fachhochschule für Polizei Sachsen, Rothenburg Dr. Thomas Saalfeld (.Τ'. S.), University of Kent
xm Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Michael Sachs, Universität Düsseldorf Dr. Armin Sandhövel (A. S.), Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Wiesbaden Prof. Dr. Ulrich Sarchielli, Universität Koblenz-Landau Dr. Christoph Scherrer, Freie Universität Berlin RA Christoph Schmihing, Universität Frankfurt/M. Dipl. Verwaltungswirt Karl Heinz Schmitz (K.H. S.), Mechernich Dr. Sabine von Schorlemer, Universität München Min.Direktor a.D., Prof. Dr. Wolfgang Schreiber (W. Sch.), Universität Halle-Wittenberg Min.rat Hermann J. Schreiner, Leiter Fachbereich Parlamentsrecht im Deutschen Bundestag, Bonn Prof. Dr. Meinhard Schröder, Universität Trier Dr. Suzanne S. Schüttemeyer, Pädagogische Hochschule Lüneburg Prof. Dr. Reimund Seidelmann, Universität Gießen Ministerialrat Rudolf Seiler, Wiss. Mitarbeiter CDU/CSU-Bundestagsfraktion Ministerialrat Dr. Johannes Siebelt (J. S.), Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Europaangelegenheiten des Landes Sachsen-Anhalt Marion Siebert, Fraktionsjuristin der SPD-Fraktion im Landtag Thüringen Dr. Gerlinde Sommer (Hg.), Grossbodungen PD Dr. Karl-Peter Sommermann, Forschungsinstitut für öffentl. Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Reg.Direktor Dr. Wolfgang Stauf (W. S.), Leiter Kreiswehrersatzamt Wetzlar Prof. Dr. Volker Szmula (V. S.), Universität / Gesamthochschule Paderborn Dr. Ulrich Teusch, Universität Jena Claudia Tiller (C. T.), Rechtsreferendarin, Weimar Min.rat Dr. Karl-Reinhard Titzck (K.-R. T.), Staatskanzlei Mecklenburg-Vorpommern Rudolf Titzck, Landesminister a.D., Kiel PD Dr. Mathias Tullner, Universität Magdeburg Dr. Wolfgang Ullmann, Mitglied des Europäischen Parlaments, Brüssel Dr. Jörg Ukrow LL.M.Eur. (J. U.), Staatskanzlei Saarbrücken Prof. Dr. Hans-Joachim Veen, Forschungsdirektor der Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin BBDir. Dipl.-Kfm. Dieter Verbeck (D. V.), Fachhochschule der Dt. Bundesbank Hachenburg Dipl.-Finw. Burkhardt Vitt M.A., (Β. V.), Wilnsdorf PD Dr. Uwe Volkmann, Universität Marburg
XIV Autorinnen und Autoren Ltd.-Reg.-Direktor Dr. Heinz Walz (H. W.), Thür. Fachhochschule für öffentl. Verwaltung, Gotha Dr. Stefan Walz, Landesbeauftragter für den Datenschutz, Bremen Reg.Rat Dr. Raimund Weiland (R. W.), Bundesministerium der Finanzen, Bonn Prof. Dr. Paul-Ludwig Weinacht, Universität Würzburg OStD a.D. Dr. Otto Wenzel, Technische Fachhochschule Berlin Prof. Dr. Raban Graf von Westphalen M.A. (Hg.), Technische Fachhochschule Berlin Dr. Göttrik Wewer, Direktor der Verwaltungsfachhohschule Altenholz (Kiel) Dr. Kay-Michael Wilke (K.-M. W.), Richter am Finanzgericht Baden-Württemberg Dr. phil. h.c. Karl Wittrock, Präsident des Bundesrechnungshofes i.R. Gerhard Wittschen, Bundesministerium des Innern, Bonn ObcrReg.Rat Thomas Zielke (T. Z.), Bundesministerium für Wirtschaft, Bonn Nicole Zündorf-Hinte M.A. (Ν. Z.-H.), Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bonn
a Abkürzungsverzeichnis
Das Abkürzungsverzeichnis folgt i.d.R. H. Kirchner: Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, Berlin 4 ¡993. A Abg. AbgG Abk. ABl AB1EG Abs. Abschn. Abt. AEG Änd. a.F. AfP AG AGBG AK AktG allg. ALR amerik. AmV angelsächs. Anm. AO AöR APuZ ArbGG Art. AtG Aufl. Β Β AbgG Bad.
Abgeordneter) Abgeordneten-Gesetz Abkürzung Amtsblatt Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft Absatz Abschnitt Abteilung Allgemeines Eisenbahngesetz Änderung alte Fassung Archiv für Presserecht Aktiengesellschaft Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen v. 9.12.1976 (BGBl. IS. 3317) Kommentar aus der Reihe der Alternativkommentare Aktiengesetz v. 6.9.1965 (BGBl. I S. 1089) allgemein Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 amerikanisch Amsterdamer Vertrag angelsächsisch Anmerkung Reichsabgabenordnung ν. 22.5.1931 (RGBl. I S. 161) in der jeweiligen Fassung Archiv des öffentlichen Rechts Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu „Das Parlament" Arbeitsgerichtsgesetz Artikel Atomgesetz in der Bekanntmachung v. 15.7.1985 (BGBl. I S. 1565) Auflage
Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (Abgeordnetengesetz) i.d.F. v. 18.2.1977 (BGBl. I S. 297) Baden, badisch
b Abkürzungsverzeichnis BannMG Banz BauGB BauNVO Bay., BY; bay. BayGO Bay VB1. Bay Verf. Bay VerfDH BayVfGHG BB; Bbg. BBesG BBG BbG Bd./Bde. BDO Bearb., bearb. belg. Beri., BE, Bln. betr. BetrVG BGB BGBl. BGH BGHZ BHO BImSchG BImSchV BK BM BMF BMI BMin. BMinG BMJ BMU BMV BMVg
Banraneilengesetz ν. 6.8.1955 (BGBl. I S. 504) i.d.F. ν. 28.5.1969 (BGBl. I S. 449) Bundesanzeiger Baugesetzbuch Baunutzungsverordnung in der Bekanntmachung v. 15.9.1977 (BGBl I S. 1763) Bayern, bayerisch Geschäftsordnung für den Bayerischen Landtag v. 1.10.1974 (GVB1. S. 587) Bayerische Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaates Bayern Bayerischer Verfassungsgerichtshof Bayern: Verfassungsgerichtshofsgesetz Brandenburg, brandenburgisch Bundesbesoldungsgesetz Bundesbeamtengesetz i.d.F. v. 3.1.1977 (BGBl. III S. 2030-2) Bundesbahngesetz Band/Bände Bundesdisziplinarordnung Bearbeiter/in, bearbeitet belgisch Berlin, Berliner betreffend Betriebsverfassungsgesetz v. 11.10.1952 (BGBl. IS. 681) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundeshaushaltsordnung v. 19.8.1969 (BGBl. I S. 1284) Bundes-Immissionsschutzgesetz Verordnungen zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Bonner Kommentar (Losebl.), 1950ff. Bundesministirium Bundesministerium der Finanzen Bundesministerium des Innern Bundesminister Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung (Bundesministergesetz) i.d.F. v. 27.7.1971 (BGBl I S. 1166) Bundesministerium der Justiz Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Bundesministerium für Verkehr Bundesministerium der Verteidigung
c Abkürzungsverzeichnis BMZ BNatSchG BND BNotO BPräs. BR BRAO BRDrucks BRD Breg Brem., BR brit. BRH BRRG
BWahlprüfG BWO bzgl. bzw.
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Bundesnaturschutzgesetz Bundesnachrichtendienst Bundesnotarordnung v. 24.2.191961 (BGBl. S. 97) Bundespräsident Bundesrat Bundesrechtsanwaltsordnung v. 1.8.1959 (BGBl. I S. 405) Bundesrats-Drucksache Bundesrepublik Deutschland Bundesregierung Bremen, bremisch britisch Bundesrechnungshof Rahmengesetz zur Vereinheitlichung des Beamtenrechts (Beamtenrechtsrahmengesetz - BRRG) i.d.F. v. 31.1.1977 (BGBl. III S. 2030-1) Bundessozialhilfegesetz Deutscher Bundestag Drucksache des Deutschen Bundestages bürgerlich Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Baden-Württemberg Bundeswahlgesetz i.d.F. v. 1.9.1975 (BGBl. III S. 111-1) Geschäftsordnung des Landtags von Baden-Württemberg i.d.F. v. 19.4.1972 (GBl S. 213), 7.6.1972 (Drucks. 6/7700) Wahlprüfungsgesetz V. 12.3.1951 (BGBl. S. III 111-2) Bundeswahlordnung i.d.Bek. v. 7.12.1989 (BGBl. I S. 1) bezüglich beziehungsweise
C ca. ChemG christl. Co.
Circa Chemikaliengesetz in der Bekanntmachung v. 14.3.1990 (BGBl. I S. 521) christlich Cooperation
D dän.
dänisch
BSHG BT BTDrucks bürgerl. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwG BW BWG BWGO
d Abkürzungsverzeichnis DB; DB AG DDP DDR demokrat. ders./dies./dass. dgl. d.h. DIN DJT DNVP DP DÖV DR DRiG DRK Drucks, dt. Dtld. DVB1 DVerwGesch
DVP
Deutsche Bundesbahn; Deutsche Bahn AG Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik demokratisch derselbe/dieselbe(n)/dasselbe dergleichen das heißt Deutsches Institut für Normung Deutscher Juristentag Deutschnationale Volkspartei Demokratische Partei Die öffentliche Verwaltung Deutsche Reichsbahn Deutsches Richtergesetz Deutsches Rotes Kreuz Drucksache deutsch Deutschland Deutsches Verwaltungsblatt Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl, Georg-Christoph v. Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, erster Bd. 1983, zweiter Bd. 1983, dritter Bd. 1984, vierter Bd. 1985, fünfter Bd. 1987 Deutsche Volkspartei
E EA EAG EAGV ebd. ed. EG EGBGB EGKS EGK.SV EGStPO EGZPO EGV einschl.
Europa-Archiv Europäische Alomgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM-EAG) v. 25.3.1957 (BGBl II S. 1014) ebenda editor Europäische Gemeinschaften Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl v. 18.4.1951 (BGBl 1952 II S. 447) Einführungsgesetz zur Strafprozeßordnung Einführungsgesetz zur Zivilprozeßordnung Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft einschließlich
e Abkürzungsverzeichnis EKD EMRK engl. EP EPGO Erl. EStG etc. EU EuGH EuGRZ EuR EURATOM europ. EUV EuWG ev. e.V. EVG evtl. Ew. EWG EWGV F f., ff. f. FGG
Evangelische Kirche in Deutschland Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten englisch Europäisches Parlament Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments i.d.F. v. 26.3.1981 (ABl Nr. C 90/49) Erlaß, Erläuterung Einkommensteuergesetz et cetera Europäische Union Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Europäische Atomgemeinschaft europäisch Vertrag Ober die Europäische Union Gesetz über die Wahl von Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz) evangelisch eingetragener Verein Europäische Verteidigungsgemeinschaft eventuell Einwoner Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. 3. 1957
FGO finn, frz. FS
fortfolgend, fortfolgende fflr Gesetz ü. d. Angelegenheiten d. freiwilligen Gerichtsbarkeit v. 20.5.1898 (RGBl. S. 371) Finanzgerichtsordnung v. 6.10.1965 (BGBl. I S. 1477) finnisch französisch Festschrift
G G. geând. GATT
Gesetz geändert General Agreement on Tariffi and Trade
f Abkürzungsverzeichnis GBO gem. geschichtl. Geschichtl. Grundbegriffe
GBl GBl DDR GemO GenG gesellschaftl. GewArch GG ggfGGOI GGOII GmbH GmbHG GMB1 GO GOBR GOBReg GOBT grgrdl. grds. GVB1 GVG GVOB1 GWB H HA, Hamb., Hmb. Halbbd. Halbs. HdbDStR I/II
Grundbuchordnung i.d.Bek. v. 5.8.1935 (RGBl. IS. 1073) gemäß geschichtlich 0 . Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 7 Bde., Stuttgart 1979ff. Gesetzblatt Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik Gemeindeordnung Gesetz betreffend die Erwerbs- und Wiitschaftsgenossenschaften gesellschaftlich Gewerbearchiv Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949 (BGBl. S. 1) gegebenenfalls Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, Allgemeiner Teil Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien, Besonderer Teil (GGO II), 1.d.F. v. 15.10.1976 (GMB1. S. 550) Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung in der Bekanntmachung vom 20.5.1898 (BGBl I S. 369) Gemeinsames Ministerialblatt Geschäftsordnung Geschäftsordnung des Bundesrates Geschäftsordnung der Bundesregierung Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages griechisch grundlegend grundsätzlich Gesetz- und Verordnungsblatt Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz- und Verordnungsblatt... Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz)
Hamburg, Hamburgisch Halbband Halbsatz Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Hg. Anschütz/Thoma, I. Bd. 1930, II. Bd. 1932
g Abkürzungsverzeichnis HdbKWP
HZ
Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, G. Püttner (Hg.), 2. Aufl., erster Bd. 1981, zweiter Bd. 1982, dritter Bd. 1983, vierter Bd. 1983, fünfter Bd. 1984, sechster Bd. 1985 E. Friesenhahn/U. Scheuner (Hg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, erster Bd. 1974, zweiter Bd. 1975 J. Isensee/P. Kirchhof (Hg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 7 Bde., Heidelberg 1987ff. E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1983 Hessen; hessisch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 10 1995 Hessischer Staatsgerichtshof herausgegeben Herausgeber Handelsgesetzbuch historisch herrschende Lehre herrschende Meinung A. Erler/E. Kaufinann (Hg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, erster Bd. 1971, zweiter Bd. 1978, dritter Bd. 1984 Historische Zeitung
I i.d.F. i.d.R. i.e.S. IGH IHK insbes. insg. ital. i.S. i.V.m. i.w.S.
in der Fassung in der Regel im engeren Sinne Internationaler Gerichtshof Industrie- und Handelskammer insbesondere insgesamt italienisch im Sinne in Verbindung mit im weiteren Sinne
J JGG Jhd. JöR JöR
Jugendgerichtsgesetz i.d.Bek. v. 11.12.1974 (BGBl. I S. 3427) Jahrhundert Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Jahrbuch des öffentlichen Rechts
HdbStKirchR HdbStR HdbVerfR Hess.,HE; hess. Hesse HessStGH hg. Hg. HGB histor. h.L. h.M. HRG
h Abkürzungsverzeichnis jurist. JuS JZ
juristisch Juristische Schulung Juristenzeitung
Κ kath. KG kirchl. KJHG Komm. KPD KRG KrW-/AbfG KStG KSZE KWG KZSS
katholisch Kommanditgesellschaft kirchlich Kinder- und Jugendhilfegesetz v. 26.6.1990 (BGBl I S. 1163) Kommentar Kommunistische Partei Deutschlands Kontrollratsgesetz Kreislaufwirtschafts-/Abfallgesetz Körperschaftsteuergesetz Konferenz Ober Sicherheit u. Zusammenarbeit in Europa Kreditwesengesetz Kölner Zeitschrift für Soziologie
L lat. LDP Leibholz/Ruprecht BVerfGG lfd. LG Lit. Lj. LKrO LSA LT LV
Leibholz/Ruprecht, Bundesverfassungsgesetz, Rechtsprechungskommentar, 1. Auflage, Köln 1968 mit Nachtrag, Köln 1971 laufend Landgericht Literatur (Hinweise auf weiterführende Literatur) Lebensjahr Landkreisordnung Sachsen-Anhalt Landtag Landesverfassung(en)
M m. Mangoldt v./Klein GG Maunz/Diirig Maunz/Dürig, Komm. ζ. GG
mit Das Bonner Grundgesetz, von H. v. Mangoldt und F. Klein, 2. Auflage, erster Bd. 1966, zweiter Bd. 1964, dritter Bd. 1974 ... Maunz/Dürig, Grundgesetz, 5. Auflage, 3 Bde. 1981 ... T. Maunz/G. Dürig/R. Herzog/R. Scholz/P. Lerche/H.-J. Papier/A Randelzhofer/E. Schmidt-Aßmann, Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt
lateinisch
Abkürzungsverzeichnis Maunz/Zippelius MB1 MdB Min. Mio. Mrd. Münch, v. M-V m.w.N.
Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht,... Ministerialblatt Mitglied des Deutschen Bundestages Minister Million(en) Milliarden) Ingo von Münch (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, erster Bd.,31985, zweiter Bd. 2 1983, dritter Bd. 21983 ... Mecklenburg-Vorpommern mit weiteren Nachweisen
Ν NATO ND, Nds. n.F. N.F. NJW Nr. NS NSDAP NVwZ NRW
North Atlantic Treaty Organization Niedersachsen, niedersächsisch neue Fassung Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift Nummer Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-Westfalen
O o.g. öffentl. Ökonom. Ost., öst. OHG OLG
oben genannt öffentlich ökonomisch Österreich, österreichisch Offene Handelsgesellschaft Oberlandesgericht
OSZE
Organisation für Sicherheit u. Zusammenarbeit in Europa
Ρ Parlament. PaitG PatG polit. Preuß., preuB. protest.
parlamentarisch Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz) v. 24.7.1967 (BGBl. III S. 112-1) Patentgesetz politisch Preußen, preußisch protestantisch
j
PStG PVS R rd. rechtl. RGBl Rh.-Pf., RP RhPfBG RhPfBüG RhPfGO RhPfVerf. Ritzel/Bücker Rn. Röhring/Sontheimer röm. RStV RT RV 1871 RV 1919 S S. s. s.a. Saarl., SL; saarl. SACH, Sachs.; sächs. SächsGVBl SBZ Schneider/Zeh schwed. See. SED SGB SGG
Abkürzungsverzeichnis Personenstandsgesetz Politische Vierteljahresschrift
rund rechtlich Reichsgesetzblatt Rheinland-Pfalz, rheinland-pfälzisch Landesbeamtengesetz Rheinland-Pfalz (LBG) i.d.F. v. 14.7.1970 (GVB1. 241) Landesgesetz über den Bürgerbeauftragten des Landes Rheinland-Pfalz v. 3.5.1974 (GVB1. S. 187) Geschäftsordnung des Landtags Rheinland-Pfalz v. 21.6.1979 (Plenarprotokoll 133 zu Drucks. 9/28) Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz Ritzel/BAcker, Handbuch für die Parlamentarische Praxis mit Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, 1982ff. Randnummer Röhring/Sontheimer (Hg.), Handbuch des deutschenParlamentarismus, 1970 römisch 3. Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge v. 26.8.1996 / 11.9.1996 Reichstag Verfassung des Deutschen Reiches v. 16.4.1871 (BGBl. S. 63) Die Verfassung des Deutschen Reiches v. 11.8.1919 (RGBl. S. 1383)
Seite, Satz siehe siehe auch Saarland; saarländisch Sachsen; sächsisch Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt Sowjetische Besatzungszone H.-P. Schneider/W. Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1989 schwedisch Section Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz i.d.Bek. v. 23.9.1975 (BGBl. I S. 2535)
k Abkürzungsverzeichnis SH SMAD s.o. sog. Sp. staatl. StenBer Stern I/II/III StGB StL
StPO stRspr StVG StVO s.u. Τ T. TA techii. teilw. ΤΗ; thür. Troßmann I Troßmann II Troßmann/Roll
U u. u.a. u.a. u.a.m. u.ä.m. UdSSR UN UNESCO
Schleswig-Holstein, schleswig-holsteinisch Sowjetische Militäradministration in Deutschland siehe oben sogenannt Spalte staatlich Stenographischer Bericht Stem, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I-Bd. III. 1977ÍT Strafgesetzbuch Staatslexikon, Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hg. v. der Görres-Gesellschaft, 6. Auflage, erster Bd. 1957, zweiter Bd. 1958, dritter Bd. 1959, vierter Bd. 1959, fünfter Bd. 1960, sechster Bd. 1961, siebter Bd. 1962, achter Bd. 1963, neunter Bd. Ergänzungsbd. 1969, zehnter Bd. Ergänzungsbd. 1970, elfter Bd. Ergänzungsbd. 1970.... Strafprozeßordnung ständige Rechtsprechung Straßenverkehrsgesetz v. 19.12.1952 (BGBl I S. 837) Straßenverkehrsordnung i.d.F. v. 29.3.1956 siehe unten
Teil Technische Anleitung; Technikfolgen-Abschätzung technisch teilweise Thüringen; thüringisch Troßmann, Parlamentsrecht und Praxis des Deutschen Bundestages. o.J. Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977 Troßmann/Roll, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, Ergänzungsbd., 1981
und und andere unter anderem und anderes mehr und ähnliches mehr Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization
1 Abkürzungsverzeichnis UNO US USA usw. u.U. u.v.m.
United Nations Organization United States Vereinigte Staaten von Amerika und so weiter unter Umständen und vieles mehr
V v. v.a. VDE VDI Verf. VersG VfGH VfGHG Verh. VerwArch vgl. v.H. VN VO VVDStRL VwGO VwVfG VwVG
vom, von vor allem Verband Deutscher Elektrotechniker Verein Deutscher Ingenieure Verfassung Versammlungsgesetz in der Bekanntmachung v. 15.11.1978 (BGBl. I S. 1789) Verfassungsgerichtshof Gesetz über den Verfassungsgerichtshof Verhandlung(en) Verwaltungsarchiv vergleiche vom Hundert Vereinte Nationen Verordnung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Verwaltungsvollstreckungsgesetz
W WalilprüfG WBO WDO weit. WEU wirtschaftl. wissenschaftl. Wolff/Bachof/ I/II/III WpflG WRV
Wahlprüfungsgesetz Wehrbeschwerdeordung Wehrdisziplinarordnung weitere Westeuropäische Union, Western European Union wirtschaftlich wissenschaftlich Verwaltungsrecht I, '1974, Verwaltungsrecht II, ''1976 Verwaltungsrecht III, "1978 ... Wehrpflichtgesetz Verfassung des Deutschen Reiches (Weimarer Reichsverfassung) v. 11.8.1919 (RGBl. S. 1383)
m Abkürzungsverzeichnis Ζ z.B. ZDF ZIP ZG Ziff. ZParl ZPO ZPol ZRG ZRP z.T. ZUM z.Z.
zum Beispiel Zweites Deutsches Fernsehen Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Gesetzgebung Ziffer Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozeßordnung v. 30.1.1877 (RGBl. S. 83) in der jeweiligen Fassung Zeitschrift für Politikwissenschaft Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Zeitschrift für Rechtspolitik zum Teil Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht zur Zeit
Abfallrecht Abfallrecht Das A. ist wesentlicher Bestandteil des —> Umwelt- und des Wirtschaftsverwaltungsrechts. Die Grundlage hat es im KrW-/AbfG von 1994 und den Abfallwirtschaftsgesetzen der Länder. Abfälle sind bewegliche Sachen, die in Anhang I des KrW-/AbfG abschließend aufgezählt sind und derer sich ihr Besitzer entledigt bzw. entledigen will oder muß, § 3 Abs. 1 KrW-/AbfG. Entledigung bedeutet die Aufgabe der tatsächlichen Sachherrschaft unter Wegfall jeder weiteren Zweckbestimmung, es sei denn diese besteht in der Zuführung zu einem bestimmten Verwertungs- oder Beseitigungsverfahren, § 3 Abs. 2 KrW-/AbfG. Menge und Beschaffenheit von Abfällen begründen eine Reihe von Gefahren für die Umweltmedien (Boden, Wasser, Luft) und die menschliche Gesundheit. Zweck des A.s ist es daher, das Gefährdungspotential und die Menge von Abfällen zu verringern. Dabei haben die Vermeidung und die Verwertung der Abfälle Vorrang vor ihrer Beseitigung (Ablagerung, Verbrennung), es sei denn die Beseitigung erweist sich als umweltverträglicher als die Verwertung, § 5 Abs. 5 KrW-/AbfG bzw. die Verwertung ist techn. nicht möglich oder wirtschaftl. unzumutbar, § 5 Abs. 4 KrW-/AbfG. Dieses Ziel läßt sich am ehesten durch die Entwicklung, Herstellung und das Inverkehrbringen von Produkten, die mehrfach verwendbar, techn. langlebig und nach Gebrauch zur ordnungsgemäßen und schadlosen Verwertung geeignet sind, erreichen. Deshalb wird die —> Bundesregierung in den §§ 7, 11, 23 und 24 KrW-/AbfG ermächtigt, Herstellern und Vertreibem von Produkten die sog. Produktverantwortung aufzuerlegen. Ziel ist es, daß Produkte, Produktions-, Verwertungs- und Beseitigungsverfahren so gestaltet werden, daß möglichst wenig nicht verwertbare Abfälle und diese möglichst schadstoffarm anfallen. So sollen die natürlichen Ressourcen durch die Gewinnung von Sekundärrohstoffen geschont und ein gesamtwirtschaftl. umweltorientiertes Sparsam-
Abgaben keitsprinzip etabliert werden. Lit: M. Dieckmann: Das Abfallrecht der EG, Baden-Baden 1994; J. Fluck: Kreislaufwirtschafts- und Abfallrecht, Komm., Heidelberg 1996; AH.D. Jarras: Organisation und Überwachung der Sonderabfallentsorgung durch die Länder, Köln 1997; Umweltbundesamt {Hg.): Daten zur Umwelt, Berlin 1997; C. Weidemanm Ubergangsprobleme bei der Privatisierung des Abfallwesens, in: NJW 1996, S. 2757ff. Ulrich Hösch
Abgaben Bei A. handelt es sich um Geldleistungen aller Art, welche vom -» Bürger aufgrund staatl. Verpflichtung zur Deckung des öffentl.-rechtl. Finanzbedarfs erhoben werden. Die Leistungspflicht öffentl. A. ergibt sich erst bei Erfüllung des gesetzlich bestimmten Tatbestandes. Abzugrenzen sind die A. von den anderen öffentl. Lasten, welche in Form von Naturalabgaben, Sachlieferungen oder Dienstleistungen geleistet werden. Ebenfalls keine öffentl. A. sind Zahlungen, die nicht der Finanzausstattung des öffentl. Haushaltes dienen (z.B. Geldstrafen). Hervorgegangen sind die A. aus der Verpflichtung der Untertanen, der jeweiligen Obrigkeit gewisse Leistungen zu gewähren, d.h. abzugeben. Beispiele für solche A. sind schon aus vorchristl. Zeit bekannt - die Abgabe des sog. .Zehnten" in Form von Naturalleistungen ist bereits in den Büchern Mose dokumentiert. Der Begriff der öffentl. A. wurde im Rahmen der Reichsabgabenordnung von 1919 als Oberbegriff für -> Steuern (u. steuerliche Nebenleistungen), —> Gebühren und -> Beiträge verstanden. Diese Dreiteilung wurde später unter Zuhilfenahme des Begriffs der —> Sonderabgaben, als einem Auffangtatbestand für alle übrigen öffentl. Α., erweitert. Die Reichsabgabenordnung stellt die Grundlage der heutigen A.ordnung 1977 (AO) dar. Die AO enthält die grundlegenden Vorschriften zum Ablauf des Besteuerungsverfahrens, die Vorschriften bzgl. der einzelnen Steuern werden in den jeweils eigenstän1
Abgeordnete digen Steuergesetzen (z.B. Einkommensteuergesetz) behandelt. Hinsichtlich kommunaler Steuern, Beiträge und Gebühren erfolgen die Regelungen in kommunalen A.gesetzen (vgl. z.B. Kommunalabgabengesetz (KAG) NW). Lit: R. Friemel /K. Schiml: Lehrbuch der Abgabenordnung, Heme ,3 1996; R. Kühn / R. Hofmann: Abgabenordnung, Stuttgart "1995. Β. V.
Abgeordnete / - r ist, wer das —> Volk im -> Parlament repräsentiert. Der A. wird nach demokrat. Grundsätzen gewählt und ist als Vertreter des ganzen Volkes an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen (Art. 38 Abs. 1 GG). Das Freie Mandat definiert den verfassungsnormativen Status des A.n und weist ihn als Subjekt der Parlament. - » Repräsentation aus. Der A. verkörpert insoweit das demokrat. Repräsentationsprinzip als er sich, im Wettbewerb mit anderen Kandidaten, periodisch zur Wahl stellt (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), zwischen den Wahlen Einflußmöglichkeiten der —> Bürger auf den Parlament. Prozeß bestehen (z.B. —> Petitionen Art. 17 GG) und die hierfür notwendige Information vom Parlament (Parlamentsöffentlichkeit) gesichert ist. Die im Freien Mandat formulierte und durch - » Indemnität und —> Immunität (Art. 46 GG) gestützte Unabhängigkeit des A.n liefern hierzu die institutionellen Grundlagen. Es handelt sich um Errungenschaften, die im Zuge der polit. Emanzipation des Wirtschaft! erstarkten Bürgertums im 18. Jhd. der Idee zum Durchbruch verhalfen, daß die polit. Vertreter nicht mehr dem Standesherrn (wie in den Ständeversammlungen, s.a. Stände), sondern dem Gemeinwesen als ganzem verpflichtet sein sollten. Für die moderne -> parlamentarische Demokratie ist v.a. die kommunikative Funktion des Freien Mandats maßgebend. Sie definiert den A.n als Vermittler zwischen polit.-administrativem System und aktiver —> Gesellschaft, mithin als polit.
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Abgeordnete Kommunikator. Für die Wahrnehmung der polit. Kommunikationsaufgabe eröffnet das Freie Mandat dem A.n Kommunikationskanäle zwischen Parlament und —> Bürger über die gesellschafll. Klassenbarrieren und sozialen Schichtgrenzen hinweg, indem es das Spektrum von Meinungen und —• Interessen, die an den A.n zur Entscheidungsfindung herangetragen werden, weit hält und nicht, wie beim -> imperativen Mandat, durch festgelegte Instruktionen verengt. Immunität und Indemnität garantieren zwar die Unabhängigkeit des A.n vor staatl. Einflußnahme und Sanktionstätigkeit, nicht jedoch Schutz vor nichthoheitlichen Verfahren, wie z.B. Parteiausschlußverfahren. Gerade die Abhängigkeit von seiner —> Partei und deren verlängertem Arm im Parlament, der —* Fraktion, begründet, neben dem Freien Mandat, den A.nstatus. Das moderne Parlament ist kein —> Honoratiorenparlament. Die A.n schließen sich zu Gemeinschaften polit. Gleichgesinnter zusammen und arbeiten in nach Sach- und Fachwissen differenzierten Gruppen: Parlament. Arbeit ist Teamarbeit und deren organisatorischer Ausdruck die Fraktion. Die Frage nach der Einbindung des A.n in die parlement. Fraktion und damit das Verhältnis zwischen Freiem Mandat und Fraktionszugehörigkeit gehört zu den klassischen Problemstellungen des modernen —» Parlamentarismus. Sie beleuchtet die praktische Umsetzung der parlament. Repräsentationsfunktion durch die A.n und markiert unterschiedliche Positionen der —» Parlamentsreform im Nachkriegsdtld. Verfassungsrechtl. im Spannungsverhältnis zwischen Art. 38 Abs. 1 GG und Art. 21 GG normiert, läßt sich aus parlamentssoziologischer Sicht das Problem auf eine vorparlamentarischpolit. und parlament.-institutionelle Dimension bringen: die Kandidatenaufstellung und das Sozialprofil des Parlaments (—» s.a. parlamentarische Sozialstruktur). De facto bestimmt sich die Zusammensetzung des Parlaments überwiegend nach Maßgabe der parteiinternen Kandidaten-
Abgeordnete auswahl; denn der parteigebundene Kandidat wird die Regel, der unabhängige die Ausnahme bleiben. Die Auswahlkriterien werden sichtbar an der sozialen Zusammensetzung der Parlamente und damit an der Frage, wen (d.h. welche gesellschaftl. Gruppen und Schichten) das Parlament repräsentiert. Das Parlament. Sozialprofil kann die Sozialstruktur der Gesellschaft nicht spiegelbildlich wiedergeben. Das Parlament ist keine Gesellschaft en miniature. Dennoch zieht es die Kraft seiner polit, auch aus dem Umfang seiner sozialen Repräsentation und damit aus der sozialen Rekrutierung der A.n. Das Sozialprofil des Bundestages weist diesen als ein verbeamtetes, akademisches Mittelschichtenparlament aus mit wachsendem Anteil an weiblichen A.n (in der 13. -> Legislaturperiode 26%). Die sozialen Unterschichten fallen dagegen als Rekrutierungsfeld weitgehend aus. Die Folge ist, daß mangels direkter Vertretung dieser Gruppen im Bundestag, eine Ausgleichsfunktion fehlt, die den A.n von der Parlamentsforschung zugeschriebene -> Responsivität demnach vornehmlich schichtenspezifisch verengt und der polit. Stil durch den Sozialcharakter der gesellschaftl. Mittelschichten geprägt bleibt. Die dem Mittelschichtencharakter zugeschriebenen Eigenschaften (wie Ehrgeiz, Verantwortungsbewußtsein, Eigeninitiative, Leistungswille und Selbstvertrauen) decken sich im wesentlichen mit den Charakterzügen des homo politicus. Sie verstärken die durch Spezialisierung und Verwissenschaftlichung von Politik und Parlament. Arbeit und Professionalisierung der A.ntätigkeit (flankiert durch die Diätenregelung) fundierte Selbsteinschätzung der A.n, die mit dem Verfassungsanspruch des Freien Mandats nicht konform geht. Die Mehrzahl der A.n versteht sich nicht als Vertreter des ganzen Volkes, sondern von ihren und Wählern (-> s.a. Parlamentarische Sozialstruktur). Reformschritte und Parlamentskorrekturen, von der Kleinen —> Parlamentsreform über die Novellierungen der —» Ge-
Abgeordnetenentschädigung schäftsordnung des Deutschen Bundestages bis zur techn. Aufrüstung der A.nbüros (ParlaKom), waren auch immer Versuche, den A.nstatus gegenüber der Fraktion aufzuwerten. Diese sind weitgehend gescheitert. Die parlament. Wirklichkeit konterkariert die Verfassungsidee: Der , A ist Vertreter seiner Partei, an deren Aufträge und Weisungen er gebunden ist. Seine persönlichen Rechte sind minimal. Reden darf er nur, wenn er von der Fraktionsführung dazu bestimmt wird. Abweichendes Abstimmungsverhalten kann früher und später ins Aus fuhren" (H. Hamm-Brücher); s.a. —> Verhaltensregeln für Abgeordnete. Lit.: Κ. Burmeister: Die Professionalisierung der Politik am Beispiel des Berufspolitikers im Parlament. System der BRD, Berlin 1993; W. Demmler: Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, Berlin 1994; D. Herzog/H. Rebenstorf / C. Werner u.a.: Abgeordnete und Bürger, Opladen 1990; ¡V.J. Patzelt: Abgeordneter und Beruf, Berlin 1995; Schneider / Zeh, S. 673ff.; R. Graf von Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 2 1996, S. 24 Iff
Leo Kißler Abgeordnetenentschädigung Schon in vordemokrat. -> Parlamenten wurden den -> Abgeordneten Entschädigungen ihres Aufwandes gezahlt. Der Begriff „Diät", also Tagegeld, hat hier seinen Ursprung. Vor allem das - normative wie empirische - Bild des Abgeordneten als Besitz- und Bildungsbürger führte im 19. Jhd. allenthalben zum Verzicht auf die Entlohnung von Parlamentariern. Das -> Mandat war weitestgehend —> Ehrenamt, das neben dem die finanzielle Unabhängigkeit sichernden Beruf ausgeübt wurde. Mit der Ausweitung des —> Wahlrechts änderte sich allmählich auch die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Parlamente. Die Etablierung des Prinzips demokrat. —> Repräsentation wurde ergänzt durch Ökonom. und gesellschaftl. Modemisierungsprozesse. Gemeinsam führte dies zu einer stetigen Erweiterung des parlament. Aufgabenspektrums. Damit wurde zum einen
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Abgeordnetenentschädigung das Mandat breiten Bevölkerungskreisen zugänglich und 2. die Entwicklung zum Vollzeitparlamentarier eingeleitet. Die notwendige Folge einer Abgeordnetenentlohnung blieb in Dtld. aber lange aus, weil beide Tendenzen seitens der Obrigkeit im Kaiserreich nicht erwünscht waren. So enthielt die -» Reichsverfassung von 1871 ein ausdrückliches Besoldungsverbot. In der -» Weimarer Republik wurde die A. an die Ministergehälter gekoppelt und kam damit einer Besoldung gleich. Das -» Grundgesetz postuliert in Art. 48 Abs. 3 den Anspruch der Abgeordneten „auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung", (außerdem das Recht der freien Benutzung aller staatl. Verkehrsmittel). Die nähere Regelung dieser Grundnorm erfolgte v.a. durch das 1977 erlassene und seither oft geänderte —> Abgeordnetengesetz sowie durch die sog. Diätenurteile des BVerfG von 1975 und 1987. Die Parlamente der —> Bundesländer haben ebenfalls Abgeordnetengesetze erlassen. Unter Anwendung des strengen Gleichheitssatzes fordert das —> Bundesverfassungsgericht eine für alle Abgeordneten gleiche Entschädigung, die neben der Unabhängigkeit die wirtschaftl. Abkömmlichkeit zu gewährleisten habe, also es jedem ermöglichen solle, ein Parlament. Mandat zu übernehmen, „auch um den Preis, Berufseinkommen ganz oder teilw. zu verlieren". Bei der Höhe sei die Bedeutung des —> Amtes im Verfassungsgefüge sowie die —> Verantwortung und Belastung der Mandatsträger zu berücksichtigen. Insg. hält das Gericht eine „Vollalimentation aus der Staatskasse" während der Mandatszeit für angemessen. Hierfür gebe es keine Verfassungsgarantie, aber die vom Bundestag gewählte Form des vollen Abgeordneteneinkommens sei prinzipiell zulässig. Gegenwärtig (1997) erhält jedes Bundestagsmitglied eine zu versteuernde Grundentschädigung von DM 11.300,- monatlich, deren Höhe sich an den Besoldungsstufen der Richter (R6) bzw. Bundesbeamten (B6) orientiert,
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Abgeordnetenentschädigung aber nicht daran gekoppelt ist. Darüber hinaus wird ein Übergangsgeld beim Ausscheiden aus dem Bundestag für maximal 18 Monate gezahlt sowie eine Altersentschädigung nach einer Mindestzugehörigkeitsdauer von 8 Jahren, Beihilfe im Krankheitsfall sowie Invalidenund Hinterbliebenen Versorgung. Hinzu kommt eine steuerfreie Aufwandsentschädigung. Hierzu gehören insbes. eine Kostenpauschale von ca. DM 6.200,-, die Erstattung der Aufwendungen für Mitarbeiter gegen Nachweis bis zu monatlich DM 14.200,- sowie ein Büro mit Ausstattung. Die Regelungen in den - » Landtagen sind ähnlich bei zumeist geringeren Beträgen und einer erheblich bescheideneren Ausstattung besonders hinsichtlich der Beschäftigung von Mitarbeitern, die in einigen Ländern überhaupt nicht vorgesehen ist. Auch wenn heute das Bundestagsmandat faktisch nur noch hauptamtlich wahrgenommen werden kann und wird, —> MdBs also i.d.R. -» Berufspolitiker sind, so bleibt das Recht des Abgeordneten auf Berufstätigkeit außerhalb des Parlaments bestehen, öffentl. Bedienstete, die ein Mandat übernehmen, müssen - wegen ihrer eingemessenen Alimentation als Abgeordnete - aus ihrem Amt ausscheiden; Rechte und Pflichten aus dem Dienstverhältnis ruhen. Für privatwirtschaftl. Beschäftigte - häufig sind sog. Beraterverträge - gilt folgendes: Nur wenn ein Abgeordneter in einem solchen Arbeitsverhältnis entsprechende Leistungen erbringt, darf er ein Einkommen daraus beziehen. Zahlungen, die geleistet werden in der Hoffnung, der Abgeordnete werde die Interessen des Zahlenden vertreten, verstoßen gegen den unabhängigen Status der Parlamentarier. Gerade um derartige Abhängigkeiten zu vermeiden, wird schließlich ein vollwertiges Abgeordneteneinkommen aus der Staatskasse bezahlt. In einigen Bundesländern sind die Grenzen zusätzlicher Abgeordneteneinkünfte gesetzlich normiert. Der Bundestag hat Verhaltensregeln erlassen, nach denen die
Abgeordnetenentschädigung Abgeordneten dem —• Bundestagspräsidenten ihre außeiparlament. Tätigkeiten (insbes. in Vorständen, Aufsichts- und Verwaltungsräten) anzeigen müssen (—> Verhaltensregeln für Abgeordnete). Übersteigt ihr Einkommen daraus DM 5.000,monatlich bzw. DM 30.000,- jährlich, ist dieses ebenfalls meldepflichtig. Da diese Angaben nicht veröffentlicht werden, besteht Zweifel, ob die Meldepflicht der Abgeordneten ausreicht, um die geforderte Kontrolle ihrer Unabhängigkeit zu gewährleisten. Eine besondere Problematik der A. wird immer wieder im Verfahren gesehen. Da es sich um Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache handele und es nur selten innerparlament. -> Opposition dazu gebe, sei die Mißbrauchsgefahr hoch. Folglich seien besonders strenge Maßstäbe an Öffentlichkeit und Transparenz des Verfahrens anzulegen. Prinzipiell ist dies unstrittig. Im einzelnen bestehen aber erhebliche Meinungsverschiedenheiten: Genügen Bewilligungen im —> Bundeshaushaltsplan oder Finanzregelungen in den -> Geschäftsordnungen? Verstößt eine automatische Kopplung an andere Bezüge (z.B. —• Beamte, —• Richter) oder eine Indexierung (nach allgemeiner Einkommensentwicklung oder Lebenshaltungskosten) gegen das Transparenzgebot? Dürfen Diätenentscheidungen eines Parlaments erst für die jeweils folgende Legislaturperiode wirksam werden? Sollten diese ganz aus dem Parlament ausgelagert und „unabhängigen Kommissionen" übertragen werden? Die Prinzipien der repräsentativen —> Demokratie verlangen die parlament. und damit die parlament. zu verantwortende Entscheidung über A.en bei größtmöglicher Offenheit der Formen und Inhalte des Entscheidungsprozesses. IM.: H.H. v. Arnim: Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, München 1996; A. Fischer. Abgeordnetendiäten und staatl. Fraktionsfinanzierung in den 5 neuen Bundesländern, Frankfiirt/M. 1995; J. Lirtck: Indexierung der Abgeordnetendiäten, in: ZParl 1995, S. 372ff; ders.: Kritisches
Abgeordnetengesetz zur Diätenkritik von 86 Staatsrechtslehrern, in: ZParl 1995, S. 683ff.; Schneider / Zeh. S. 523ff.
Suzanne S. Schüttemeyer Abgeordnetengesetz Nach den A.en des Bundes und der Länder richten sich das Einkommen (-> Abgeordnetenentschädigung) und die sonstige finanzielle und sachliche Ausstattung der —> Abgeordneten. Die Diäten sollen die Abgeordneten in die Lage versetzen, ihr -> Mandat unabhängig wahrzunehmen. Nach den —> Verfassungen muß ihre Höhe durch —> Gesetz festgelegt werden. Damit sind die Abgeordneten gehalten, selbst über ihr Einkommen zu entscheiden. Mittlerweile ermöglichen es die steuerpflichtigen Diäten den Abgeordneten, sich ganz ihrem Mandat zu widmen (Vollzeit-Mandat). Ob es mit der Gleichheit der Abgeordneten vereinbar ist, daß - außer dem -> Bundestagspräsidenten und seinen Stellvertretern - auch andere Funktionsträger wie Fraktions- oder Ausschußvorsitzende höhere Diäten erhalten als die übrigen Abgeordneten, ist umstritten. Zum Einkommen gehört auch eine Beihilfe in Krankheitsfällen, eine Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung sowie ein Übergangsgeld für den Fall des Ausscheidens aus dem Parlament. Bestimmte Einkünfte (z.B. Ministergehalt) werden auf Leistungen nach den A.n angerechnet. Die A.e oder die auf ihrer Grundlage erlassenen Verhaltensregeln verbieten außerdem, daß Abgeordnete von dritter Seite Bezüge nur deshalb erhalten, damit sie ihr Mandat im Interesse des Dritten ausüben (Lobbyverträge). Um den Abgeordneten angemessene Arbeitsbedingungen zu sichern, sehen die A.e zum einen verschiedene steuerfreie Unkostenpauschalen und Zuschüsse für die Beschäftigung von Mitarbeitern sowie zum anderen eine sachliche Ausstattung vor. Diese kann z.B. aus der Bereitstellung eines Büros samt Informationstechnologie und Telekommunikation bestehen sowie aus Dienstleistungen, die von der Bibliothek über -» Wissenschaftliche
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Abgeordnetenhaus
Abstimmung
Dienste bis zum Fahrdienst reichen. Daneben enthalten die meisten A.e Ausführungsbestimmungen zu dem verfassungsrechtl. garantierten Schutz der freien Mandatsausübung (Kündigungsschutz und Schutz vor sonstigen Benachteiligungen am Arbeitsplatz) und dem Wahlvorbereitungsurlaub sowie Regelungen über die Vereinbarkeit von Abgeordnetenmandat und der Tätigkeit im —» öffentlichen Dienst (-> Inkompatibilität). Lit.: Schneider/Zeh,
S. 489ff. und S. 523ff.
Florian Edinger Abgeordnetenhaus ist nach Art. 25 Abs. 1 der —> Verfassung von —> Berlin die Bezeichnung des —• Parlaments des Landes Beri., das nach Art. 1 Abs. 2 des Einigungsvertrages (—» Deutsche Einheit) von den z.Z. noch 23 Bezirken von Beri, gebildet wird, mithin das Gebiet aller 4 ehemaligen Besatzungssektoren umfaßt. Vor dem Beitritt des Ostteils von Beri, zum 3.10.1990 galt die Bezeichnung A. nur für das Parlament des Westteils der Stadt. Der Ostteil wurde von einer —» Stadtverordnetenversammlung geleitet. Das A. war in Preuß. von 1855 bis 1918 der Name der (seit 1849 bestehenden) Zweiten Kammer des Landtags, in Öst. von 1861 bis 1865 und in Öst.-Ungarn für die westliche Reichshälfte 1867-1918 der Name der Zweiten Kammer des Reichstags (-> Zweikammersystem). J. U. Abgeordnetenmandat —> Mandat Absolute Mehrheit —» Abstimmung Absolute Zweidrittelmehrheit -> Abstimmung Abstimmung / -en Eine A. ist das Verfahren, durch das die Präferenzen Einzelner (etwa einzelner Wähler oder Parlamentarier) über das —> Mehrheitsprinzip in kollektive Entscheidungen umgewandelt werden. Es handelt sich um einen kollektiven Auswahlmechanismus, durch
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den eine Gruppe zwischen mehreren Kandidaten für Ämter oder bestimmten Sachalternativen entscheidet. Wenngleich Interessengegensätze zwischen Gruppenmitgliedern durch A.en im allgemeinen nicht gelöst werden, werden sie doch vorläufig beendet, falls die unterlegene Minderheit die Mehrheitsentscheidung als legitim anerkennt. Die Anerkennung des Mehrheitsprinzips als legitimes Entscheidungskriterium ist für Demokratien, die auf Zwangsmaßnahmen zur Herbeiführung von Entscheidungen weitgehend verzichten, von grundlegender Bedeutung. In den meisten -» Parlamenten (so auch im Deutschen Bundestag, § 48 GOBT) verneint Stimmengleichheit die zur A. gestellte Frage. Die A. ist jedoch nicht der einzige Auswahlmechanismus, der Gruppenmitgliedern zur Verfügung steht, um zu kollektiven Entscheidungen zu gelangen. Das Aushandeln von Kompromissen oder sog. Paketlösungen (logrolling) sind Alternativen, die aber häufig zeitaufwendig sind und und anderen deshalb höhere Entscheidungskosten mit sich bringen. Prinzipiell kann zwischen geheimen und offenen A.en unterschieden werden. 1. Geheime A.en sind v.a. bei -> Wahlen üblich. Sie garantieren die von unmittelbaren Einflüssen freie Entscheidung des Wählers und sind daher ein fundamentales Definitionsmerkmai der freiheitlichen Demokratie. Bei Wahlen zu parlement. Vertretungskörperschaften oder polit. Ämtern wird die Anonymität der Wahl durch neutrale Stimmzettel (meist in verschlossenen Wahlumschlägen) gewährleistet, die in einer Kabine ausgefüllt werden. Auf parlament. Ebene werden geheime Wahlen im allgemeinen mit Hilfe verdeckter Stimmzettel durchgeführt. Dieses Verfahren wird in der —> Bundesrepublik Deutschland und anderen bei der Wahl des -> Bundestagspräsidenten und seiner Vertreter (§ 2 GOBT), des -> Bundeskanzlers (§ 4 GOBT), des -> Wehrbeauftragten des Dt. Bundestages (§ 113 GOBT), der Neuwahl des Bundeskanzlers nach einem konstruktiven ->
Abstimmung Mißtrauensvotum nach Art. 67 GG (§ 97 GOBT) sowie bei fraktionsinternen Wahlen im Dt. Bundestag eingesetzt. Es wird in einigen Parlamenten auch verwendet, wenn über die Aufhebung der —> Immunität eines Mitglieds oder disziplinarische Fragen abgestimmt wird. 2. Offene A.en fmden dagegen überwiegend statt, wenn ein Parlament über Sachlagen entscheidet. In den meisten Fällen wird durch Handzeichen abgestimmt. Bei Zweifeln über das A.sergebnis kann die A. durch Erheben von den Plätzen wiederholt werden. Letztere A.sart ist z.B. im Bundestag (§ 48 GOBT) bei Schlußabstimmungen über einen -> Gesetzentwurf nach Schluß der dritten —» Lesung vorgeschrieben. Bei offenkundig unkontroversen A.sgegenständen fragt der Parlamentspräsident oft auch nur, ob überhaupt Gegenstimmen gegen einen Vorschlag abgegeben werden. Es handelt sich bei solchen Verfahren um zeitsparende Methoden, die aber weder die genaue Ermittlung des A.sergebnisses zulassen noch das A.sverhalten oder auch nur die Anwesenheit einzelner Abgeordneter überprüfen lassen. Sind Zweifel über das A.sergebnis durch die genannten Verfahren nicht zu beseitigen, können die Stimmen im sog. —» Hammelsprung gezählt werden (im Dt. Bundestag: Zählung der Stimmen nach § 51 GOBT). Durch dieses Verfahren wird zwar das exakte A.sergebnis, nicht aber das Votum einzelner —» Abgeordneter ermittelt. Bei namentlichen A.en wird dagegen das A.sverhalten jedes einzelnen Abgeordneten im Plenarprotokoll des Parlaments vermerkt. Dies kann, wie im Dt. Bundestag, durch namentlich gekennzeichnete Stimmzettel (§ 52 GOBT) oder aber (wie im —> Europäischen Parlament und vielen europ. nationalen Parlamenten) durch elektronische A.smaschinen, durch „divisions", wie im brit. Parlamentarismus (ähnlich dem dt. Hammelsprung, jedoch mit Registrierung der Namen) sowie (wie in den USA und vielen europ. Parlamenten) durch den Aufruf eines jeden Abge-
Abstimmung ordneten (roll call) erfolgen. In einigen Parlamenten wie dem Kongreß der Vereinigten Staaten oder dem brit. Unterhaus wird sehr häufig namentlich abgestimmt, in anderen Parlamenten (wie dem Dt. Bundestag oder dem Öst. Nationalrat) sind namentliche A.en eher die Ausnahme. Je nach A.sgegenstand können bei einem Wahlvorgang unterschiedlich restriktive Mehrheitsanforderungen gestellt werden. Die schwächsten Anforderungen stellt die relative Mehrheit bei A.en mit mehr als 2 Alternativen. Deijenige Wahlvorschlag oder Antrag, der die meisten Stimmen erhält, gilt als angenommen, auch wenn er weniger als die Hälfte der insg. abgegebenen Stimmen auf sich vereint. Ein bekanntes Beispiel sind die Wahlen zum brit. Unterhaus. Etwas restriktiver ist die Anforderung einer einfachen Mehrheit, bei der ein Kandidat oder Antrag mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhalten muß, um angenommen zu werden. Das bedeutet allerdings nicht, daß der Vorschlag auch die Unterstützung der Mehrheit aller Mitglieder des Beschlußgremiums haben muß, da sich häufig nicht alle Stimmberechtigten an der jeweiligen A. beteiligen. Eine einfache Mehrheit der Abstimmenden kann daher durchaus eine Minderheit der Stimmberechtigten darstellen. Ein Großteil der Beschlüsse des Dt. Bundestages wird mit einfacher Mehrheit gefaßt (§ 48 GOBT). Ist dagegen eine absolute Mehrheit erforderlich, müssen sich mehr als die Hälfte aller Stimmberechtigten (nicht nur aller Anwesenden) für einen Vorschlag oder Kandidaten aussprechen. Dies trifft z.B. für die Wahl des Präsidenten des Dt. Bundestages (§ 2 GOBT) oder des Bundeskanzlers (Art. 63 GG) zu. Die strengste Mehrheitsanforderung ist die der qualifizierten Mehrheit, z.B. einer Zweidrittel-, Dreifünftel- oder Fünfsechstelmehrheit. Solche Mehrheiten sind oft bei -» Verfassungsänderungen vorgeschrieben. Hierbei kann wiederum nach der Bezugsgröße der qualifizierten Mehrheit unterschieden
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Abstrakte NormenkontroHe werden: Ist z.B. eine einfache Zweidrittelmehrheit erforderlich, ist derjenige Vorschlag angenommen, der mehr als zwei Drittel der abgegebenen Stimmen erhält. Die Bezugsgröße kann allerdings auch die Gesamtzahl der Stimmberechtigten sein, so daß ein Vorschlag nur angenommen werden kann, wenn er von mehr als zwei Dritteln der Stimmberechtigten angenommen wird. So bedarf eine Grundgesetzänderung nach Art. 79 GG der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des —» Bundesrates. Lit: HdbStR II, S. 249ff; Inter-Parliamentary Union (Hg.): Parliaments of the World, Aldershot 2 1986; B.E. Rasch\ Parliamentary Voting Procedures, in: H. Döring (Hg.), Parliaments and Majority Rule in Western Europe, Frankfiirt/M. 1995, S. 488ff.; T. Saalfeld: On Dogs and Whips: Recorded Votes, in: ebd., S. 528ff
Thomas Saalfeld Abstrakte Normenkontrolle Die a.N. ist ein objektives Verfahren vor dem —> Bundesverfassungsgericht, in welchem die Verfassungsmäßigkeit von —> Bundesoder —> Landesrecht losgelöst von einem konkreten Einzelfall (abstrakt) geprüft wird (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 2a GG, § 13 Nr. 6, 76-79 BVerfGG). Der schriftliche und zu begründende Antrag (§ 23 Abs. 1 BVerfGG) kann ausschließlich von der —> Bundesregierung (vgl. Art. 62 GG), einer -> Landesregierung oder von einem Drittel der Mitglieder des —> Bundestages (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 73 BVerfGG), im Falle des Art. 93 Nr. 2a GG auch vom —> Bundesrat und von „der Volksvertretung eines Landes" gestellt werden. Prüfungsgegenstand ist die Verfassungsmäßigkeit von bundes- oder landesrechtl. -» Normen gleich welchen Ranges oder welcher Natur (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 73 BVerfGG), im Falle des Art. 93 Nr. 2a GG jedoch ausschließlich von Bundesgesetzen. Prüfungsmaßstab ist im Verfahren nach Nr. 2 das gesamte GG, bei einem landesrechtl. Prüfungsgegenstand wegen Art. 31 GG auch das sonstige
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Abteilung des Parlaments Bundesrecht. Im Verfahren nach Nr. 2a ist ausschließlich Art. 72 Abs. 2 GG Prüfungsmaßstab. Lit.: G. Robbers: Verfassungsprozessuale Probleme in der öffentl.-rechtl. Arbeit, München 1996.
J.B. Abteilung / -en des Parlaments A.en waren das Ergebnis der frühen Einsicht, daß -> Parlamente der Arbeitsteilung bedürfen, wenn sie entscheidungs- und handlungsfähig sein wollen. Schon in den frz. Generalständen war eine Gliederung in sog. „Bureaux" vorgenommen worden. Hieran knüpfte die Versammlung des Dritten Standes im Juni 1789 noch vor ihrer Konstituierung als —> Nationalversammlung an, um die Beschlüsse des -> Plenums vorzubereiten. So unabweisbar notwendig arbeitsteilige Strukturen waren, so skeptisch beurteilte man diese, da sie dem revolutionären Repräsentationsverständnis entgegenzustehen schienen, demnach die —> Abgeordneten Vertreter des ganzen —» Volkes sein und eben nicht bestimmte —> Interessen oder Regionen repräsentieren sollten. Im revolutionären und postrevolutionären frz. Parlamentarismus wurde daraus der Schluß gezogen, die Bureaux willkürlich und häufig wechselnd zusammenzusetzen. Alphabetisch nach Namen und/oder den Herkunftsdepartements der Abgeordneten, jeden Monat neu und später sogar durch Losverfahren wurden sie gebildet, um die Entwicklung dauerhafter polit. Organisationen zu verhindern. Im dt. Frtlhkonstitutionalismus (—> Konstitutionalismus) griff allein Baden das frz. Vorbild auf. Die Gliederung der frühen dt. Parlamente nach polit. Gemeinsamkeiten wurde nicht nur förmlich durch ein 1793 erlassenes Reichsgesetz verhindert, sondern auch durch die Dominanz der Regierungen, die weithin die -> Geschäftsordnungen samt Sitz- und Redeordnungen der Versammlungen diktierten. Weil die Gliederung in A.en gegenüber der restriktiv gehandhabten Schaffung von
A b w e h r von Gefahren Ausschüssen den Vorzug hatte, alle Abgeordneten in die Arbeit einzubeziehen, bedienten sich auch das -> Paulskirchenparlament, der preuß. Reichstag und zahlreiche weitere Parlamente im Märzkonstitutionalismus dieses Modells. Da die A.en aber nicht die Kräfteverhältnisse im Plenum widerspiegelten und das Bedürfnis nach polit.-ideologisch fundierter Gruppenbildung immer stärker wurde, verloren sie bald ihre Funktionen faktisch (und bis zum Ende des Dt. Reiches auch rechtl.) an die —• Fraktionen als die —> Parteien im Parlament. Lit: Schneider / Zeh, S. 49ff.
Suzanne S. Schüttemeyer Abwehr von Gefahren -> Prävention Abwehrrechte - » Grundrechte —> s.a. Menschenrechte Ad-Hoc-Kommission Parlamentsreform —> Parlamentsreform Ältestenrat Der Ä. ist das wichtigste Koordinierungs- und Lenkungsgremium des —> Deutschen Bundestages. Als Seniorenkonvent existierte eine entsprechende Einrichtung bereits im Preuß. - » Abgeordnetenhaus und im —> Reichstag des Kaiserreichs. Eine ausdrückliche Regelung in der Geschäftsordnung gibt es seit 1922. Im Dt. Bundestag ist der Ä. für Parlament. Planungsaufgaben zuständig (Arbeitsplan, —> Tagesordnung des - » Plenums); seit Übertragung der bis 1969 vom Vorstand des Dt. Bundestages wahrgenommenen Aufgaben hat er zunehmend auch die Funktion eines kollegialen Selbstverwaltungsorgans des Parlaments übernommen. Zusammensetzung und Aufgaben des Ä.es sind in § 6 der -> Geschäftsordnung des Dt. Bundestages geregelt. Mitglieder des Ä.es sind der -> Bundestagspräsident, die Vizepräsidenten und 23 weitere —> Abgeordnete, welche die —> Fraktionen entsprechend ihrer Mitgliederzahl benennen; dazu gehören stets die —> Parlamentarischen Geschäftsführer
Ältestenrat der Fraktionen. Eine Stellvertretung ist regelmäßig nicht vorgesehen. —> Gruppen von Abgeordneten, die gem.§ 10 GOBT anerkannt sind, werden bei der Zusammensetzung berücksichtigt. Außerdem nimmt an den Sitzungen des Ä.es, ohne Mitglied zu sein, als Vertreter der -> Bundesregierung ein —> Staatsminister im —» Bundeskanzleramt teil. Die Leitung der in jeder Sitzungswoche stattfindenden Ä.ssitzung liegt beim Präsidenten; die Beratungen, über die ein Kurzprotokoll angefertigt wird, sind vertraulich. Zu den langfristigen Planungsaufgaben des Ä.es gehört es, jeweils für das folgende Jahr den Zeitplan des Dt. Bundestages aufzustellen. Darin ist festgelegt, welche Wochen im Jahr Sitzungswochen sind und welche Wochen für die Arbeit der Abgeordneten in ihren —> Wahlkreisen zur Verfügung stehen. Eine zentrale Aufgabe des Ä.es ist die Verständigung darüber, welche Beratungspunkte in der jeweils kommenden Woche auf die Tagesordnung des Dt. Bundestages gesetzt werden sollen, ob über diese Tagesordnungspunkte eine - » Debatte stattfinden, wie lange diese dauern und in welcher Form sie durchgeführt werden soll. Über diese Fragen, die von großer polit.-taktischer Bedeutung sein können, wird im Ä. nicht mit Mehrheit entschieden, erforderlich ist vielmehr das Einvernehmen der Fraktionen; entsprechende Vereinbarungen des Ä.es werden durch gemeinsame Vorbesprechungen der dafür zuständigen Parlament. Geschäftsführer vorbereitet. Wenn es die Situation erfordert, werden interfraktionelle Vereinbarungen aber auch außerhalb des Ä.es allein durch die Parlament. Geschäftsführer abgeschlossen. Bei der Gestaltung der Tagesordnung ist die Verhandlungsposition der Mehrheit dadurch gekennzeichnet, daß sie ihre Wünsche, falls es nicht zu einer Verständigung kommt, im Plenum nach einem entsprechenden Aufsetzungsantrag mit Mehrheitsbeschluß realisieren kann. Auch die Bundesregierung kann verlangen, daß
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Ältestenrat eine Regierungserklärung zu dem von ihr gewünschten Zeitpunkt auf die Tagesordnung gesetzt wird. (Art. 43 Abs. 2 GG). Die Position der —> Opposition wird durch eine Reihe von Minderheitenrechten gestärkt. Sie kann wie jeder Antragssteller verlangen, daß ihre Vorlagen, also z.B. ein Gesetzentwurf oder ein —• Antrag, auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung kommt, wenn seit der Verteilung der entsprechenden Drucksache mindestens 3 Wochen vergangen sind (§ 20 Abs. 4 GOBT). Praktisch wichtig ist weiterhin das Recht, die Durchführung einer -> Aktuellen Stunde im Plenum zu verlangen (Anlage 5 zur GOBT); weitere Minderheitenrechte zur Gestaltung der Tagesordnung gibt es für Zwischenberichte aus den Ausschüssen (§ 62 Abs. 2 GOBT) sowie bei Großen -> Anfragen (§§ 101, 102 GOBT); zu Gesetzentwürfen kann in den verschiedenen Beratungsstadien eine Debatte verlangt werden (§§ 79, 81, 84 GOBT). Bei Tagesordnungspunkten, die im Plenum nicht abschließend beraten werden können oder sollen, verständigt sich der Ä. darüber, an welche -> Ausschüsse diese Vorlagen federführend und mitberatend überwiesen werden. Bestimmte Vorlagen werden ohne Behandlung im Plenum im Zusammenwirken von Präsident und Ä. unmittelbar an die Ausschüsse verwiesen. Über diese lang- und kurzfristigen Planungsaufgaben hinaus ist der Ä. aber auch Schiedsstelle der Fraktionen und unterstützt den Präsidenten bei der Führung der Geschäfte. Er erörtert unterschiedliche Auffassungen bei der Anwendung der Geschäftsordnung, Streitigkeiten zwischen Abgeordneten, Fragen des Verhältnisses zwischen Parlament und Regierung. Schließlich kann - anders als im Plenum - im Ä. auch die Amtsführung des Präsidenten kritisiert werden. In allen diesen Fragen ist der Ä. kein Beschlußorgan (§ 6 Abs. 2 GOBT); es gilt vielmehr das Konsensprinzip. Anders bei den inneren Angelegenheiten des Dt. Bundestages, über die im Ä. mit Mehrheit entschieden wird (§ 6 Abs. 3 GOBT).
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Änderungsantrag Beispiele sind Neubaufragen, der Haushaltseinzelplan des Dt. Bundestages oder Ausfilhrungsbestimmungen zum Abgeordnetengesetz. Als Hilfsorgane bei der Erledigung dieser inneren Angelegenheiten setzt der Ä. eine Reihe von Kommissionen ein (z.B. Rechtsstellungskommission, Mitarbeiterkommission). Zu Beginn jeder —> Wahlperiode einigen sich die Fraktionen - meist noch vor Konstituierung des neuen Ä.es - darüber, nach welchem Verfahren die Stellenanteile der Fraktionen in den Ausschüssen und anderen Gremien einschließl. des Ä.es berechnet werden sollen. Interfraktionell vereinbart wird auch die Einsetzung der verschiedenen Ausschüsse sowie deren Mitgliederzahl. Diese interfraktionellen Vereinbarungen sind Grundlage für die entsprechenden Beschlüssse des Dt. Bundestages. Zu Beginn jeder Wahlperiode wird außerdem mit dem Ziel einer interfraktionellen Vereinbarung darüber beraten, in welchen Ausschüssen die einzelnen Fraktionen den Vorsitzenden oder dessen Stellvertreter stellen können. Kommt es - wie in der 4. oder 13. Wahlperiode - nicht zu einer Verständigung, muß das sog. Zugreifverfahren angewandt werden. Dabei wählen die Fraktionen in der Reihenfolge, die nach ihrer zahlenmäßigen Stärke berechnet wird, die ihren Prioritäten entsprechenden Positionen aus. Lit: W. Ismayr: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992; Scheider / Zeh. S. 809ff.; R. Grafv. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 93ff.
Hans-Achim Roll Änderungsantrag 1. Ein Ä. i.S. des —> Parlamentsrechts ist eine formelle Aufforderung eines einzelnen oder mehrerer Abgeordneter oder einer einzelnen oder mehrerer —> Fraktionen an das —> Parlament, einer bestimmten Parlament. Beschlußvorlage einen in dem Ä. näher bezeichneten neuen Inhalt zu geben. Ein Ä. kann sich also sowohl auf einen Parlament. —> Antrag im eigentlichen Sinne als auch auf —> Beschlußempfehlungen der
Außere Sicherheit
Änderungsantrag Ausschüsse beziehen. Ä.e können aber nur zu dem Zeitpunkt gestellt werden, zu dem die Beschlußvorlage selbst abgestimmt werden soll. Wenn nur über die Ausschußüberweisung einer Vorlage abgestimmt wird, ist ein Ä. demnach nicht möglich, weil zu diesem Zeitpunkt nicht in der Sache entschieden wird. Der Ä. aber betrifft nur die Sachentscheidung. 2. Ä.e sind unzulässig bei - » Staatsverträgen, wohl aber bei deren Zustimmungsgesetz, weil Staatsverträge auszuhandeln ausschließlich Aufgabe der -> Regierung ist; sie können in der von der Regierung eingebrachten Fassung vom Parlament nur angenommen oder abgelehnt, nicht aber verändert werden. Auch bei —> Rechtsverordnungen der —> Bundesregierung, die der Zustimmung des Bundestages bedürfen, bei Vorlagen an den Bundestag nach § 8, Abs. 1 Stabilitätsgesetz, bei Vorlagen des —> Vermittlungsausschusses und bei solchen aufgrund des Einspruches des —> Bundesrates (vgl. § 91 GOBT) sind Ä.e unzulässig. Schließlich sind selbstverständlich Ä.e bei Vorlagen an das Parlament, die nur der Unterrichtung dienen sollen, nicht möglich. 3. Ä.e sind abhängig von der Beschlußvorlage. Entfallen die Beschlußvorlagen, zu denen sie gestellt sind, z.B. bei Rückziehung durch die Antragsteller, entfallen auch die Änderungsanträge. Aus der Akzessorietät folgt auch, daß Ä.e, die einen Hauptantrag grdl. neufassen und dem Ursprungsantrag eine neue polit. Richtung geben wollen, unzulässig sind, weil sie tatsächlich keine Ä.e, sondern Hauptanträge sind, die entsprechend gestellt werden müssen (Einhaltung von Frist und Form!). 4. Bei der Abstimmung über die vorliegenden Anträge wird zunächst über die Ä.e abgestimmt, weil durch diese der Hauptantrag eine neue Fassung bekommen kann. Liegen mehrere Ä.e vor, so wird über den Ä., der die Vorlage am grundlegendsten verändert, zuerst abgestimmt, sodann über den, der ihm am nächsten kommt usw.; zuletzt wird über
den Hauptantrag in der Form abgestimmt, die er durch die angenommenen Ä.e bekommen hat. Lit.: Schneider /Zeh, S. 883ff. Uwe
Änderungsgesetz
Bernzen
Gesetz -> Novelle
Äußere Sicherheit / Verteidigungspolitik Verteidigungspolitik sind im traditionellen Verständnis alle Maßnahmen zur Sicherung des Territoriums, der polit. Handlungsfreiheit und Identität eines —> Staates. Da kein wirksames und demokrat. legitimiertes internationales Machtmonopol besteht, zwingt das sog. Sicherheitsdilemma auch den benevolenten —> Nationalstaat zum Aufbau eines Militärpotentials bzw. zu entsprechenden Bündnissen. Klassische Verteidigungs politik geht von worst-case-Szenarien und von Bedrohung aus. Militärische Bedrohung ist das Produkt aus militärischer Fähigkeit und polit. Willen; ihr Ausmaß ist das Produkt aus erwartetem Schaden und Eintrittswahrscheinlichkeit. Deshalb versuchte z.B. die - » NATO in der HarmelDoktrin (Sicherheit = Verteidigung + Entspannung) von 1969 die sog. sowjetische Bedrohung 1. durch Abschreckung (Kriegsverhinderung durch Kriegsführungsoptionen) und Schadensbegrenzung (Vorneverteidigung, Eskalationskontrolle usw.) und 2. durch polit.-Ökonom. Kooperation (Ostverträge, KSZE) und Rüstungskontroll- / Abrüstungspolitik (SALT / START, MBFR / KSE, Doppel-NullAbkommen) und Militärische Vertrauensbildende Maßnahmen (VBM) zu verringern, kostpielige (Ende der 70er Jahre gab die UdSSR 20-25% ihres Bruttosozialprodukts für ihre Verteidigung aus) und destabilisierende (SS-20-Rüstung/NATODoppelbeschluß) Rüstungswettläufe zu verlangsamen und mit gradualistischem build-down umzukehren. Das dabei eingeführte Konzept der Gemeinsamen Sicherheit (UdSSR: Menschheitsinteresse am Überleben) setzt sich unter Gorbatschow und dann mit dem
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Akteneinsicht
AFTA Ende des Ost-West-Konfliktes (KSZECharta von Paris) durch und führt neben der engen polit.-ökonom. Kooperation zwischen Ost und West auch zur engen militärischen Kooperation (im Partnership-for-Peace-Programm der NATO, im Forum NATO-Rußland, bei gemeinsamen peace-keeping-Aktionen in Jugoslawien), in deren Rahmen die wechselseitige Bedrohung des Ost-West-Konfliktes völlig aufgehoben wird. Lit.: Bundesminister der Verteidigung: Weißbuch zur Verteidigungspolitik der BRD, Bonn, seit 1969 in unregelmäßigen Abständen; R. Seidelmann: Die Sicherheitspolitik der BRD, Amsterdam 1997.
Reimund Seidelmann AFTA = Asean Free Trade Area Agrarverwaltung (Bund/Länder) -> s.a. Landwirtschaft! Selbstverwaltung -» s.a. Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten AKP-Staaten Am 29.2.1975 unterzeichneten 46 Staaten aus dem afrikanischen, karibischen und pazifischen Raum in Togo ein Kooperationsabkommen mit der —> EG, das sog. Lomé-Abkommen. Maßgebende Punkte dieses Abkommens betreffen die Zusammenarbeit der beiden Staatengruppen in den Bereichen Handel und Handelserleichterungen, Industrie, Landwirtschaft sowie Modalitäten der Finanz- und —> Entwicklungshilfe seitens der EG. Die Fortschreibung des Abkommens (Lomé Π) wurde 1979 von 58 AKPStaaten unterzeichnet. Lomé ΙΠ (mit einer Laufzeit von 1985-1990) umfaßte 66 Staaten und das mit einer Laufzeit von 1990-2000 versehene Abkommen (Lomé IV) wurde unter Beteiligung von 69 Staaten des afrikanisch-karibisch-pazifischen Raumes abgeschlossen. Die AKP-Staaten sind geographisch wie folgt verteilt: Afrika 46, Karibik 15 und Pazifischer Raum 8.
Β. V.
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Aktion Gemeinsinn e.V. ist Dtld.s älteste überparteiliche —> Bürgerinitiative zur Aktivierung von Gemeinsinn, gegründet 1957 nach amerik. Vorbild. Der Name des als gemeinnützig anerkannten —> Vereins wurde aus der Zusammenziehung der beidén Forderungen des preuß.-dt. Reformers Freiherrn vom Stein in seiner Nassauer Denkschrift von 1807 nach mehr „Bürgersinn und Gemeingeist in dt. Landen" gebildet. Durch Öffentlichkeitsarbeit in den Medien ist es Ziel der Aktion, die Bürger gegenüber drängenden gesellschaftl. und polit. Problemen zu aktivem persönlichen Engagement anzuregen. Ihre mit Unterstützung privater -> Stiftungen eingerichtete Arbeitsstelle ,3ürgerschaftliche Initiative - freiwilliges Engagement Ehrenamt" fördert Ehrenamtliche Tätigkeiten und die demokrat. Gestaltung der -> Zivilgesellschaft. Die Aktion Gemeinsinn ist kein Mitgliederverein i.e.S., d.h. sie hat zu keiner Zeit einen Mitgliederunterbau in den einzelnen Bundesländern oder auf regionaler und lokaler Ebene aufgebaut, sondern sich darauf beschränkt, führende Repräsentanten aus allen gesellschafll. und polit. Bereichen für die Unterstützung ihres Anliegens zu gewinnen. Ausschließlich auf Spenden angewiesen, beträgt der jährliche Personal- und Sachkostenetat ca. 120.000 DM, mit dem eine hauptamtliche Kraft und ein Büro in Bonn unterhalten werden. Hg. Akteneinsicht /-srecht ist die Einsichtnahme durch Verfahrensbeteiligte oder sonstige Interessenten (Dritte) in gerichtliche oder behördliche Verfahrensakten. Nicht unter den Begriff der A. fällt die Einsichtnahme in öffentl. Register (z.B. —> Grundbuch, Handelsregister). Die A. ist unterschiedlich geregelt: 1. Im Zivilprozeß steht sie sowohl den Parteien als auch den an der Zwangsvollstreckung Beteiligten kraft Gesetzes unmittelbar zu (§§ 2991, 760 ZPO). Dritten Personen kann der Vorstand des Gerichts ohne Einwilligung der Parteien die Ein-
Aktuelle Stunde
Akteneinsicht sieht der Akten nur gestatten, wenn ein rechtl. Interesse glaubhaß gemacht wird (§ 299 Π ZPO). Ein rechtl. Interesse liegt dann vor, wenn das Ergebnis eines Gerichtsverfahrens oder wenn einzelne während des Verfahrens abgegebene Erklärungen oder vorgelegte Urkunden für die Rechtsstellung des Antragstellers von Bedeutung sein können. Außerdem dürfen der A. keine Geheimhaltungsbedürfnisse im öfTentl. Interesse (s.a. —> Geheimhaltungspflicht) oder im Interesse eines Verfahrensbeteiligten entgegenstehen. 2. Nach § 34 FGG ist in der -> freiwilligen Gerichtsbarkeit A. für jedermann vorgesehen, sofern ein berechtigtes Interesse glaubhaft gemacht wird. 3. Im Strafverfahren ist der Verteidiger befugt, die Akten die dem Gericht vorliegen oder im Falle der Anklageerhebung vorzulegen wären, einzusehen sowie die amtlich verwahrten Beweisstücke zu besichtigen (§147 StPO; vor förmlichen Abschluß der Ermittlungen einschränkbar). Der Beschuldigte selbst hat keinen Rechtsanspruch auf Α., der Verletzte nur durch einen —» Rechtsanwalt (§ 406e StPO) sowie Dritte ebenfalls nur durch einen Rechtsanwalt zur Prüfung zivilrechtl. Ansprüche oder zur sonstigen Rechtsverfolgung. —» Staatsanwaltschaft und -> Gericht entscheiden darüber nach pflichtgemäßen Ermessen. 4. Im Bußgeldverfahren gilt für das Recht des Betroffenen und seines Verteidigers auf A. § 147 StPO entsprechend. Nach § 49 OWiG ist auch die sonst zuständige Verwaltungsbehörde zur A. befugt, wenn die Staatsanwaltschaft Verfolgungsbehörde ist. 5. Akten der Verwaltungsgerichte können von den Beteiligten eingesehen werden (§ 100 VwGO, § 120 SGG, § 78 FGO). 6. Im Verwaltungsverfahren besteht Anspruch auf A. für die Beteiligten, soweit Auskunft aus den Akten. Sie kann anstelle von A. gewährt werden, wenn sie für die Zwecke des Antragstellers ausreichend ist, sofern nicht ein gesetzlicher Anspruch auf A. besteht. Die Ausführungen zur A. gelten entsprechend auch für die Anfertigung von Abschriften. Ein Anspruch auf vom Gericht herzustellende Abschriften (Kopien) besteht nur in Ausnahmefallen, wenn die Bezugnahme auf die Akten in einem anderen Verfahren nicht ausreicht oder ein von einem Verfahren isoliertes Interesse besteht, das nicht mit eigenen Aufzeichnungen aus den Akten befriedigt werden kann. Grds. hat die A. in den Geschäftsstellen stattzufinden; für die Übersendung oder Überlassung außerhalb der Gebäude müssen ganz besondere Gründe vorliegen. Lit.: F. O. Kopp: Verwaltungsverfahrensgesetz, München 1996; Th. Kleinknecht /L. Meyer-Goßner: Strafprozeßordnung, München 1995. Claudia Tiller
Aktiengesellschaft schaftsrecht
(AG)
—•
Gesell-
Aktives Wahlrecht -> Wahlrecht Aktuelle Stunde 1965 eingeführt, fand die A.S. erst 1980 im Zusammenhang mit einer entscheidenden Veränderung der Beantragungspraxis Eingang in die —>
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Aktuelle Stunde Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (§ 106 i.V.m. Anlage 5). Dort wird sie definiert als —> Aussprache über ein bestimmt bezeichnetes Thema von allgemeinem aktuellen Interesse in Kurzbeiträgen von filnf Minuten". Zwischen 1965 und 1980 war eine A.S. nur dann möglich, wenn sie im Ältestenrat vereinbart worden war oder von einer -> Fraktion (bzw. 5% der -» Abgeordneten) im Anschluß an die Fragestunde (Beantwortung einer mündlichen —> Anfrage durch die —» Bundesregierung) gefordert wurde. Erst seitdem ist ein Antrag auch unabhängig von der Fragestunde möglich (seit der 10. Wahlperiode über 90% der Fälle). Bei einer Gesamtdauer von 60 Minuten (in Ausnahmen auch 90) dürfen Abgeordnete nicht länger als 5 Minuten reden, um eine lebendige, pointierte -> Aussprache zu ermöglichen. Als Sonderform Parlament. —• Rede erfährt die A.S. damit sowohl intern als auch extern in der -> Öffentlichkeit (und in den -» Medien) oft große Beachtung und stärkt die Öffentlichkeitsfunktion des -> Parlaments. Selbst Regierungsmitglieder, deren Redezeit nicht begrenzt werden kann, halten sich im Normalfall an die strenge Redezeitbegrenzung (reden sie länger als 10 Minuten, geht die A.S. in eine normale -> Debatte über). Bis 1983 fanden nie mehr als 20 A.S. pro —> Legislaturperiode statt. Danach ist ein Anstieg auf über 100 A.S. pro Wahlperiode zu verzeichnen, die regelmäßig in über Ά der Fälle von Oppositionsfraktionen beantragt werden. Damit ist die A.S. (zusammen mit der Großen Anfrage) das parlament. Instrument mit dem höchsten Oppositionsanteil. Inhaltlich spiegeln sich neben außen- und sicherheitspolit. Themen, die sich besonders für diese Form parlament. Auseinandersetzung zu eignen scheinen, die Schwerpunkte aktueller Politik wider. In den 90er Jahren finden sich deshalb insbes. wirtschafts- und sozialpolit. Themen. Vor allem die „kleinen" Oppositionsfraktionen —> Bündnis 90 / Die Grünen
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Allgemeine Geschäftsbedingungen (zwischen 1990 und 1994 auch -» PDS) setzen die A.S. gerne ein, um Defizite der Regierungspolitik in aktuellen polit. Fragen aufzugreifen. Somit hat sich die A.S. zu einer wichtigen Möglichkeit parlament. Kontrolle entwickelt. Regierungsfraktionen verwenden sie dagegen in gewissem Umfang zur Selbstdarstellung der eigenen Politik oder um sog. Oppositionsskandale zu thematisieren. Lit: W. Ismayer: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992, S. 387ff.; P. Lichtenberg: Die Aktuelle Stunde im Dt. Bundestag 1965-1985, Frankfurt/M. 1986.
H. G. Α-Länder Bezeichnung der SPD-regierten Bundesländer im Bundesrat im Gegensatz zu den von CDU- bzw. CSU- regierten —> B-Ländern Alleinige Gesetzgebungsfunktion —> Gesetzgebung Alleinvertretungsanspruch —> Bundesrepublik Deutschland Allgemeine Aussprache —> Aussprache Allgemeine Geschäftsbedingungen AGB sind vorformulierte Regelungen für eine Vielzahl von privatrechtl. Verträgen, die eine Vertragspartei (AGB-Verwender) der anderen bei Vertragsschluß auferlegt, um die inhaltliche Ausgestaltung der Verträge nach Maßgabe ihrer eigenen Interessen wie Rationalisierung, Spezialisierung, Risikoverlagerung in standardisierter Form durchzuführen. Wesentliches Merkmal der AGB ist, daß sie vor Beginn der Vertragsverhandlungen bereits vorliegen müssen, also für bestimmte typische Sachverhalte gleichförmig zur Anwendung kommen. Diese Vorformulierung der Texte grenzt als zentrales Unterscheidungsmerkmal die AGB-Regelung von individuell ausgehandelten Vertragsbedingungen ab, die stets Vorrang vor AGB haben. Gegenstand der AGB sind z.B. Lieferungs- und Zahlungsbedingungen, Re-
Allgemeine Geschäftsbedingungen gelungen über Leistungszeit und -ort, Gewährleistung bei Sachmängeln, Gerichtsstandsklauseln. Von Seiten der AGB-Verwender hat die Aufstellung von AGB nur Vorteile: Zeitund Kostenersparnis durch Formularverträge, Verlagerung des Geschäftsrisikos auf den Partner, Rationalisierung durch speziell auf den Vertragstyp zugeschnittene Regelungen. Mit Beginn der Massenund Serienproduktion gingen vorformulierte Vertragsbedingungen daher als Ausdruck unternehmerischer Planungshoheit verstärkt in den Markt ein. Da sowohl das BGB als auch das HGB (-> Handelsrecht) durch den Rechtsliberalismus geprägt - dem Grundsatz der -> Vertragsfreiheit durch eine Fülle von abänderbaren Normen Rechnung tragen, die durch AGB abdingbar sind, wurde diese Entwicklung begünstigt. Banken, Versicherungen und Verkehrsunternehmen schufen ein ergänzendes Branchenrecht durch AGB, von Handels-, Produktions- und Dienstleistungsuntemehmen sind kaum noch Verträge ohne Aufnahme von AGBbzw. Formularklauseln geschlossen worden. Diese Situation führte zu einem äußerst unausgewogenen Verhältnis zwischen den ABG-Verwendern und ihren Kunden. Den Kräften des Marktes (Wettbewerb) gelang es nicht, hier ausgleichend zu wirken. Auch die Rechtsprechung war nicht in der Lage, ein befriedigendes Maß an Vertragsgerechtigkeit herzustellen. Daher wurde 1976 das AGBGesetz (AGBG) geschaffen, das am 1.4.1977 in Kraft trat und mit Hilfe verschiedener Maßnahmen wie Form- und Inhaltskontrolle, Einbeziehung der AGB in den Vertrag, deutliche Hinweise auf AGB, unangemessene und mißbräuchliche Benachteiligungen der Vertragspartner unterbinden soll. Unwirksam sind nach dem AGBG insbes. Vertragsklauseln, die einseitig und unberechtigt die Interessen des wirtschaftl. Starkeren berücksichtigen, z.B. Freizeichnungsklauseln, Verkürzung von Gewährleistungsfristen, Aufrechnungsverbote, Pauschalierung von
Alliierter Kontrollrat Schadensersatzansprüchen. In Umsetzung der —> EG-Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen ist das AGBG 1996 insoweit geändert und ergänzt worden, daß nunmehr auch der Verbraucherschutz tragendes Prinzip des AGBG ist. Auf die Unwirksamkeit von AGB-Klauseln kann sich nicht nur der Vertragspartner berufen, sondern sie kann auch abstrakt von Verbänden, insbes. Verbraucherverbänden, geltend gemacht werden. Der Anspruch richtet sich auf Unterlassung der Verwendung unwirksamer AGB-Bestimmungen oder auf Widerruf solcher Empfehlungen. Lit.: H.-D. Hensen / P. Ulmer /H.E. Brandner: AGB Komm., Köln "1997, § 1, Rn. Iff. Annette von Harbou Allgemeine Wahlen -> Wahlen Alliierte Hohe Kommission -> Bundesrepublik Deutschland Alliierter Kontrollrat Am 14.11.1944 beschlossen die UdSSR, Großbritannien und die USA in ihrem Londoner Abkommen über die Kontrolleinrichtungen in Dtld. die Einrichtung eines A.K.es als oberste gemeinsame Besatzungsbehörde nach der militärischen Unterwerfung Dtld. s (—> Nationalsozialismus). Am 30.7.1945 trat der A.K. unter Beteiligung Frankreichs in —• Berlin zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Er bestand aus den Oberkommandierenden der 4 Mächte und war im wesentlichen fur Dtld. als Ganzes berührende Angelegenheiten zuständig. Voraussetzung für die Gültigkeit seiner Beschlüsse in allen 4 Besatzungszonen war nach der Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Beri, (sog. —> Potsdamer Abkommen vom 2.8.1945), daß sie einstimmig gefaßt wurden. Diese —> Einstimmigkeit zu erzielen, erwies sich von Beginn an wegen der unterschiedlichen besatzungspolit. Konzeptionen der Siegermächte als schwerig. Nachdem dessen damaliger
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Alternanzdemokratie
Allparteienregierung sowjetischer Vorsitzender die Sitzung des A.K.es am 20.3.1948 verließ, wurde der A.K. beschlußunfähig, so daß er ohne formelle Auflösung seine Arbeit faktisch einstellte. Dieser Zustand dauerte bis zum Ende der Vier-Mächte-Rechte und Verantwortlichkeiten für Dtld. als Ganzes durch Art. 7 des Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Dtld. als Ganzes v. 12.9.1990 (sog. Zwei-plusVier-Vertrag, —» Deutsche Einheit) fort. Lit.: G. Mai: Der Alliierte Kontrollrat in Dtld. 1945-1948: alliierte Einheit - deutsche Teilung?, München 1995.
J. U. Allparteienregierung / -en Der Regierungstypus ist in demokrat. Regierungssystemen nur selten anzutreffen. Darunter wird ein Bündnis aller polit, relevanten -> Parteien einer —> Volksvertretung zum Zwecke der Regierungsbildung und -ausübung verstanden. Meistens'werden A.en nur in polit. Krisensituationen gebildet und sind für diesen Zeitraum begrenzt. In den dt. -> Bundesländern wurden sie unmittelbar in der Zeit nach 1945 gebildet. -> Parlamentarischen Regierungssystemen sind sie eigentlich wesensfremd, da sie keine parlament. -> Opposition vorsehen. Gelegentlich anzutreffen sind A.en in Proporz- oder -> Konkordanzdemokratien, in denen polit. Kompromißund Konsensfindung in der Politik vorherrschend sind. Dominierend sind A.en im Regierungssystem der Schweiz, in dem alle relevanten Parteien in der Regierung zusammenarbeiten. Die polit. Ämter werden proportional oder nach festgelegtem Schlüssel vergeben, eine direkte Machtablösung kennt die Schweiz nicht. U. J. Alternanzdemokratie Unter dem Begriff A. (teilw. werden als Synonym bipolares System bzw. Konkurrenzdemokratie verwendet) wird formell eine westlich geprägte —> Demokratie verstanden, die durch einen regelmäßig stattfindenden Regierungswechsel gekennzeichnet ist.
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Diese Vorstellung geht inhaltlich von einem Verständnis des parteienpolit. Wettbewerbs aus, der durch i.d.R. 2 etwa gleich große, sich deutlich programmatisch und praktisch-polit. voneinander unterscheidende polit. —» Parteien bestimmt wird. Idealtypisch wird von einem Zweiparteiensystem ausgegangen, welches optimale Bedingungen für einen Regierungswechsel anbietet. Die so konstituierte Parteienkonkurrenz wird mittels -> Wahlen zugunsten der einen oder anderen Partei entschieden. Im Hinblick auf die Wahlen wird dabei vom —> Mehrheitswahlrecht ausgegangen, in dem der Sieger die Regierung stellen und sein polit. Programm umsetzen kann. Mit dem Modell der A. ist die Vorstellung verbunden, daß in der polit. Praxis verschiedene Vorzüge zum Tragen kommen. So wird davon ausgegangen, daß die Regierungsbildung durch nur eine polit. Partei im Vergleich zu, durch verschiedenen Kompromisse vorgeprägte Koalitionsregierungen, eine klarere polit. Programmatik und eine einfachere Umsetzung ermöglicht. Weiterhin basiert die A. auf der Prämisse, daß die polit. Unterschiede sich am besten in 2 großen Strömungen reproduzieren, die dann, in Gestalt von polit. Parteien, für die Parteimitglieder und die Wählerklientel weithin sichtbare polit. Signale und Orientierungs- und Entscheidungshilfen aussenden. Damit verknüpft ist ferner die Ansicht, daß die Repräsentation kleinerer polit. -> Interessen durch polit. Parteien nicht zwingend erforderlich, im Gegenteil eher als negativ zu betrachten ist. Das Modell der A. fußt schließlich generell auf der Prämisse, daß polit.-kulturell und institutionell ein Rahmen vorhanden ist, der von den zentralen polit. Akteuren im Grundsatz akzeptiert wird. Nur dann ist nämlich ein tendenziell schneller polit. Gestaltungswechsel überhaupt legitimationsund akzeptanzfähig. In der polit. Wirklichkeit wurde mit dem Modell der A. insbes. die britische Westminsterdemokratie (-> Verfassung, brit.)
Alternanzdemokratie angesprochen. Allerdings ist diese Kennzeichnung so nicht zutreffend. Zum einen ist das brit. Parteiensystem nicht als ein Zweiparteien-, sondern als ein Mehrparteiensystem zu verstehen, wenngleich zum anderen aufgrund des Wahlrechts letztlich nur eine der beiden großen Parteien nach 1945 bisher zumindest die Regierung stellt. Es existieren allerdings verschiedene Anzeichen, die innerhalb des brit. Politiksystems auf perspektivisch möglicherweise wichtige Veränderungen hinzielen könnten. Unter der Regierung von Tony Blair wurde 1997 zumindest für die brit. Europawahlen das —> Verhältniswahlrecht eingeführt. Die Devohitionoder Autonomie-Referenden in Wales und Schottland, ebenfalls 1997 abgehalten, könnten, von Schottland ausgehend, zudem im Ergebnis mittelfristig zu einer Veränderung des Wahlrechts führen. Damit wäre eventuell ein gewisses Potential auch für Koalitionsregierungen gegeben. Die Form des Alternanzmechanismus und die Prämisse des Zweiparteiensystems wirken heute, im Vergleich zu anderen westlichen Ländern, nach wie vor besonders deutlich im amerikanischen Präsidialsystem (—> Verfassung der USA). Diskussionen über die Vorteile der A. lassen sich darüber hinaus sowohl in der Schweiz als auch in Dtld. aufzeigen. In der Schweiz existieren seit den 70er Jahren bis heute immer wieder Argumente, die auch für das dortige polit. System ein bipolares bzw. Alternanzsystem als eine sinnvolle polit. Lösung vorschlagen. Insbes. zielen diese Argumente darauf, die angenommenen bzw. tatsächlichen polit. Entscheidungsfesseln, die aus der seit 1959 existierenden großen vier-Parteien-Koalition, der Regierungskonkordanz, resultieren, abzuschaffen. Diese Argumente beinhalten jedoch so weitreichende und tiefgehende Prozesse einer Umstrukturierung, wie z.B. einer Staats- und Regierungsreform, einer Einführung eines ausgebauten parlement. Systems sowie einer Reform der Volksrechte, daß schon alleine aufgrund dieser
Alternanzdemokratie Strukturveränderungen keine Aussicht auf einen grundsätzlichen Erfolg besteht. Hinzu kommen ferner in der heterogenen -> polit. Kultur und der Entscheidungspraxis des gütlichen Einvernehmens angelegte Restriktionen, die allenfalls Partialreformen zulassen. Auch die jüngsten Diskussionsprozesse in Dtld., die nur verständlich sind vor dem Hintergrund der vehement geführten Debatte um die Strukturreform von Konsensmodell und —> Föderalismus und die Auflösung von Entscheidungsblockaden, zielen neben anderen Vorschlägen auch auf eine Veränderung des Verhältniswahlrechts hin, welches die Regierungsbildung und Entscheidungsfindung zu sehr hemmen würden. Die sich nach 1945 langsam herausgebildete polit. Kultur, die sich wesentlich durch die Vernetzung von parlament. und föderalem Prinzip (s.a. —> Bundesstaat) sowie das Mehrparteiensystem entwickelnden, spannungsgeladenen Integrationsmechanismen lassen sich allerdings nicht durch den Blick auf die 1997 in Großbritannien und Frankreich erfolgten Regierungswechsel oder denjenigen auf das amerikanische Präsidialsystem in schnelle Strukturreformen umsetzen. Die A. und ihre normativen Voraussetzungen sowie die allenfalls begrenzte Realität sind grds. nicht geeignet, als Vorbild für andere demokrat. Politiksysteme herangezogen zu werden. Die verschiedenen nationalen polit. Kulturen, die unterschiedlichen polit. Institutionen und die divergierenden Vorstellungen über die Methoden zur Herstellung von polit, und sozialem Konsens, Regierungsstabilität und Handlungsfähigkeit sind keineswegs einfach zu exportieren. Hinzu kommt, daß die Auffassungen über die polit. Notwendigkeit und Integrationsfähigkeit mehrerer, gerade kleinerer polit. Parteien sich deutlich gegenüber vorschnellen, strategisch konstruierten Referenzmustern sperren. Lit.: H. Abromeit: Interessenvermittlung zwischen Konkurrenz und Konkordanz, Opladen
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Amnesty International
Alterspräsident 1993; M. G. Schmidt: Wörterbuch zur Politik, Stuttgart 1995; R. Sturm: Großbritannien, Opladen 1997; W. Ismayr (Hg.): Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997; D. Nohlen: Wahlrecht und Wahlsysteme, Opladen 3 1997.
Wolfgang Luthardt Alterspräsident ist das an Jahren älteste Mitglied eines dt. —» Parlaments oder, wenn es ablehnt, das nächstälteste. Wenn die —> Volksvertretung zu ihrer konstituierenden —> Sitzung nach der —» Wahl zusammentritt, eröffnet sie das älteste Mitglied, indem es ans Mikrophon tritt, sein Geburtsdatum nennt und fragt, ob ein Mitglied des Hauses im Saale anwesend sei, das ein davorliegendes Geburtsdatum habe. Wird diese Frage verneint, ist dieses Mitglied der A. und nimmt auf dem Stuhl des Parlamentspräsidenten Platz. Der A. leitet die Plenarsitzung, bis ein Parlamentspräsident oder, falls dieser nicht anwesend ist, ein Vizepräsident gewählt ist, der dann den Vorsitz übernimmt. Um für diesen Wahlakt das -> Plenum arbeitsfähig zu machen, ernennt der A 4 - » Abgeordnete zu vorläufigen Schriftführern, ruft die Namen aller Mitglieder des Hauses auf und stellt so die -> Beschlußfähigkeit des Parlaments fest. Nunmehr kann die Wahl des Präsidenten, seiner —> Stellvertreter und der Schriftführer erfolgen. Da traditionsgemäß die stärkste -> Fraktion des —> Bundestages das Recht ausübt, ihren Kandidaten für die Wahl zum —> Bundestagspräsidenten zu benennen und die übrigen Fraktionen ihrem Vorschlag weitestgehend folgen (bisher gab es nur zweimal einen Gegenkandidaten), besitzt der A. während seiner Leitungsfünktion keinerlei Spielraum einer eventuell polit. Einflußnahme. Den Versuch, das Amt des A.en polit, auszuformen, unternahm der Abg. S. Heym (PDS), als er als A. des 13. Bundestages 1994 ankündigte, eine polit. Rede halten zu wollen. Daraufhin kamen Bestrebungen auf, diesen Parlamentsbrauch abzuschaffen, um nicht der postkommunistischen Gruppe im Bundestag 18
eine zusätzliche Agitationsplattform zu bieten. Doch die traditionsorientierten Kräfte obsiegten, Heym hielt seine Rede, und der Bundestag ging zur Tagesordnung über. Die Figur des A.en - aus dem frz. Parlamentsleben kommend - geht im dt. —> Parlamentsrecht auf die -> Frankfurter Nationalversammlung von 1848 zurück und findet sich im preuß. —> Abgeordnetenhaus (1850), in den Reichstagen des Norddt. Bundes (1867), des - » Deutschen Reichs (1871) und der -> Weimarer Republik (1919). An diese Tradition knüpfte der Bundestag 1949. Lit: Trossmann 1. und II; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 89f. und 22 Iff.
Volker Szmula Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMER) —» Menschenrechte Amnestie —> Begnadigung Amnesty International (ai) Die Organisation setzt sich seit mehr als 35 Jahren für die —> Menschenrechte ein und tritt dann in Aktion, wenn Menschen in ihren Rechten auf —> Meinungsfreiheit sowie auf Freiheit von Diskriminierung (—> Diskriminierungsverbot) in schwerwiegender Weise verletzt werden oder ihr —> Recht auf Leben und körperliche wie geistige Unversehrtheit mißachtet wird. Insbes. arbeitet ai für die Freilassung gewaltloser polit. Gefangener, d.h. für Menschen, die wegen ihrer Überzeugung, ihrer Hautfarbe, ethnischen Herkunft, Sprache, ihres Glaubens oder Geschlechts inhaftiert sind. Die i.d.R. ehrenamtlich (—> Ehrenamtliche Tätigkeit) arbeitende Menschenrechtsorganisation setzt sich für faire und zügige Gerichtsverfahren für polit. Gefangene ein, tritt gegen Folter und Todesstrafe sowie jede andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Strafe und gegen polit. Morde ein; ai hat weltweit etwa 1 Mio., in Dtld. ca. 30.000 Mitglieder und Förderer.
Amsterdamer Vertrag
Amsterdamer Vertrag
Veröffentlichungen von ai sind die Jahresberichte, das monatlich erscheinende ai-Joumal sowie die alle 2 Monate publizierte ai-Aktion. Hg.
Amsterdamer Vertrag (AmV) Die Vertragsregelungen von Amsterdam vom 2.10.1997 modifizieren die bisherigen Verträge (EU-Vertrag, EG-Vertrag, EAGVertrag und EGKS-Vertrag). Das Ziel dieses Vertragswerkes liegt darin, den EU-Vertrag von Maastricht zu verbessern und fortzuentwickeln. Als Kriterien sollen die Verfassungsprinzipien -> Demokratie, Transparenz und Effizienz dienen. Darüber hinaus soll die EU für eine mögliche Osterweiterung vorbereitet werden. Der AmV muß noch in den gesamten 15 Mitgliedstaaten ratifiziert werden, wofür zeitlich gesehen der 1.1.1999 festgehalten wurde. Die Erfahrungen zum Vertrag von Maastricht zeigen jedoch, daß entsprechende Zeitvorgaben grds. nur begrenzt einzuhalten sind. Dies liegt u.a. daran, daß z.B. aus der Sicht der -» Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG ein Zustimmungsgesetz erforderlich ist, das nach Art. 23 Abs. 3 S. 3 GG eine Zwei-Drittel-Mehrheit im -» Bundestag und —> Bundesrat voraussetzt. In den Mitgliedsländern Dänemark, Portugal und Irland sind -> Volksabstimmungen über den AmV durchzuführen. Diese Verfahren können dazu führen, daß in Dtld. das —> Bundesverfassungsgericht und in anderen Mitgliedsländern entsprechende Organe angerufen werden und dadurch die Ratifizierung hinausgezögert wird. Inhaltlich sieht der AmV erweiterte Rechte und eine Höchstzahlbegrenzung auf 700 -> Abgeordnete für das -> Europäische Parlament vor. Der Zuständigkeitsbereich des —> Europäischen Gerichtshofs wird erweitert. Weiterhin werden Teile des dritten Pfeilers des EUVertrages, d.h. Regelungen zur -> ZBJI sowie zu Schengen (-» Schengener Abkommen), in den EG-Vertrag überführt. Ein neuer Vertragstitel zur Beschäftigung
soll eine bessere Koordination der nationalen Beschäftigungspolitiken sowie gemeinsame Pilotprojekte ermöglichen. Dabei kann die EG nur mitgliedstaatl. Beschäftigungspolitiken koordinieren und ggf. ergänzen. Denn die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ist grds. zu beachten. Auch das frühere Abkommen zur Sozialpolitik wird als Titel 8 in den EG-Vertrag übernommen. Ergänzend bestehen Möglichkeiten zur vertieften Integration weniger Mitgliedstaaten, was auch für die -> GASP gilt. Insoweit könnten dann vereinfacht Zielvorstellungen übereinstimmender Mitgliedstaaten zu realisieren sein. Von Bedeutung ist u.a. das mit Art. F a EU-Vertrag n.F. neu eingeführte Sanktionsverfahren im Falle schwerwiegender und anhaltender Verstöße einzelner Mitgliedstaaten gegen die gemeinsamen Grundwerte —> Freiheit, Demokratie, -» Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie -> Rechtsstaatlichkeit. Nach diesem Verfahren kann der Rat auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Kommission und nach Zustimmung des EP einstimmig feststellen, daß ein schwerwiegender und langanhaltender Verstoß vorliegt. Auf der Grundlage dieser erforderlichen einstimmigen Feststellung kann dann mit Mehrheit beschlossen werden, einzelne Rechte des betroffenen Mitgliedstaats nach dem EUVertrag auszusetzen. Weiterhin werden die Möglichkeiten der EG gestärkt, Diskriminierungen zu verhindern und die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern. Die Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion oder des Glaubens, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung soll dadurch unterbunden werden (-> s.a. Diskriminierungsverbot), daß gem. Art. 6 a EGV n.F. nunmehr auch positive Maßnahmen getroffen werden können. Auch ein gemeinschaftsrechtl. -> Datenschutz sowie die Errichtung einer unabhängigen Kontrollinstanz werden gem. Art. 213 b EGV n.F. eingeführt. Die Reformen zur
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Amt, öffentliches
Amt, öffentliches
Beschäftigungspolitik, Sozialpolitik, Umwelt, zum Gesundheitswesen und Verbraucherschutz betreffen Bereiche, die den Bedürfnissen der Unionsbürger Rechnung tragen sollen. Im Hinblick auf eine mögliche Erweiterung der EU sind nur begrenzt institutionelle Vereinfachungen erfolgt. Insoweit wird sich die Union auch nach Amsterdam weiterverändem. Lit: M Hilf / E. Pache: Der Vertrag von Amsterdam, in: NJW 1998, S. 705ff.; R. Streinz: Der Vertrag von Amsterdam, in: EuZW 1998, S. 137flf.·. W. Schönfelder / R. Silberberg: Der Vertrag von Amsterdam: Entstehung und Bewertung, in: integration 1997, S. 203ff.
Dietmar O. Reich Amt, öffentliches 1. Begriff (aus dem Keltischen ambeht, ambactus = Dienst, Pflicht; dem im Lat. ministerium, officium entsprechen). Unter Amt ist zunächst eine delegierte, personal anvertraute Handlungsermächtigung mit Pflicht zur Rechenschaftslegung zu verstehen. Desweiteren umfaßt A. den konkreten Aufgabenund Pflichtenbereich einer Dienstperson innerhalb der Verwaltung. Über die Wahrnehmung dienstherrlich vorgegebener Tätigkeiten hinausgehend meint A. auch den Ort amtlicher Handlungen, die —> Behörde, und bezeichnet somit das gesamte Personal und Büro innerhalb eines Verwaltungssystems. Neben das Verwaltungsamt ist in der -> Demokratie zentral das polit. Amt getreten, das i.d.R. durch demokrat. Wahl bestellt wird. Sowohl für das Verwaltungs- als auch für das polit. Α. ist die Trennung von A. und Person charakteristisch, worunter das Fortbestehen des A.es unbesehen des jeweiligen Inhabers zu verstehen ist. Das A. als —> Institution existiert unabhängig vom personellen A.sträger und bestimmt sich allein nach den sachlich, sozial und zeitlich definierten -»· Kompetenzen. Das A. ist sohin institutionalisierte Form von —> Verantwortimg, welche sich auszeichnet durch a) die Wahrnehmung des A.es als anvertraute Handlungskompetenz, die nicht durch den jeweiligen A.sträger
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bestimmt ist, sondern welche b) eine Ermächtigung voraussetzt. Ermächtigen heißt, die Zustimmung erteilen, daß ein anderer für einen selbst handelt. Hierzu ist eine Vereinbarung erforderlich, welche einerseits die bindende Verpflichtung zur Anerkennung der Handlungen des Beauftragten voraussetzt, und c) andererseits miteinschließt, daß der Bevollmächtigte bei Verstößen gegen den erteilten Auftrag innerhalb einer reglementierten Sanktionsordnung rechenschaftspflichtig wird. Das A. in diesem Verständnis instutioneller Verantwortung findet sich heute sowohl in der durch das Berufsbeamtentum geprägten Verwaltung, als auch in dem polit., demokrat. legitimierten Wahlamt wieder. 2. Geschichte Die Wurzeln des A.sbegriffs lassen sich bis in die straffe Behördenorganisation des röm. Kaiserreichs zurückverfolgen, die das republikanische Ämterwesen ablöste: Während das öffentl. A. in der frühen röm. Republik zunächst von der fiktiven Einheit von A. und A.sinhaber ausging - Ausfluß der ursprünglich lebenslang verliehenen Magistratsämter und Folge der fehlenden Rechenschaftslegung für Abhandlungen aufgrund sehr weitgehender Verfügungszuständigkeiten -, weicht diese Praxis in der späten Zeit der Republik mit der Durchsetzung zweier heute in veränderter Form noch bestehenden Verwaltungsgrundsätze, den Prinzipien der Annuität, d.h. der zeitlichen Befristung der ursprünglich lebenslänglichen Ämter (zunächst für ein Jahr) und dem Prinzip der Kollegialität, d.h. der mehrfachen Besetzung eines A.es oder der Einsetzung konkurrierender Ämter mit gegenseitigem —> Vetorecht, wodurch erst im kollegialen Zusammenwirken eine bindende behördliche Verfügung zustande kam (-> s.a. Kollegialprinzip). Annuität und Kollegialität veränderten den A.scharakter dahingehend, daß nach Erlöschen oder Niederlegung des A.es Rechenschaftslegung und persönliche - » Verantwortlichkeit unbeschränkt statthaft und rechtl. auf die Sanktionsbasis der Gesetze gegründet
Amt, öffentliches wurden. Dennoch blieb das A. als Ehrenamt eng an den jeweiligen A.sträger und dessen persönliche A.sführung geknüpft. Die strukturelle Trennung beider vollzog sich v.a. mit der Konsolidierung der kaiserröm. Staatsordnung durch Diokletian (Regierungszeit: 284-305), der das A. zum auftragsgebundenen, persönlich haftenden Kaiserdienst ausgestaltete und ihm öffentl. Charakter zumaß. Bereits seine Vorgänger - so v.a. Hadrian (Regierungszeit 117-138) hatten die Weichen für eine fortlaufende Differenzierung des kaiserlichen Ämterwesens im Zuge der Zentralisierung von Regierungs- und Jurisdiktionskompetenzen gestellt, als sie dazu übergingen, die Ämter mit rechtskundigem Personal zu besetzen, welches im Grunde unabhängig von Stand und Herkunft nach fachlicher Qualifikation rekrutiert und mit der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben betraut wurde. Das kaiserlicher Verfügungsgewalt unterstellte spätantike A. zeichnete sich bereits durch eine außerordentliche rational-abstrakte Professionalisierung aus, die sich in auch heute modifiziert vorfmdbaren Merkmalen zeigt wie: Ressortteilung (—> Ressortprinzip), hierarchisch zentraler Ämterordnung mit Verantwortlichkeit und der Möglichkeit der Amtsentsetzung, Rangklassen mit spezifischen Amtssignien, Differenzierung nach Dienstalter, sozialen und rechtl. Privilegien sowie der Möglichkeit eines laufbahnähnlichen Aufstiegs (—> Laufbahnprinzip). Dem Einstellungskriterium bestimmter Bildungsvoraussetzung folgte die Vergütung nach fixierten Gehaltsklassen. Gerade dieser durch Annuität und Kollegialität bestimmte A.sbegriff wurde im Übergang von der mittelalterlichen Lehnsordnung zum frilhneuzeitlichen Territorialstaat mit der Rezeption des röm. Rechts v.a. seit dem 14./15. Jhd. aufgenommen. Die lehnsrechtl. Erbämter wurden zugunsten neugebildeter A. sVerfassungen seit dem 13. Jhd. aufgegeben. Zuerst im Königreich Sizilien und Burgund, dann in Frankreich und Öst., gefolgt von den
Amt, öffentliches Territorien im —> Deutschen Reich. Für die Ämter des Mittelalters galt zunächst, daß sie i.d.R - verbunden mit einer zur Ausübung nötigen Landgabe - lebenslänglich verliehen, zumeist erblich, mithin im Wege der geistlichen und weltlichen Ämterleihe feudalisiert waren. Ihr Hauptgegenstand umfaßte die Abgabenhoheit in einem bestimmten Gebiet. Neben diese Praxis trat jedoch v.a. unter dem Einfluß des kanonischen Rechts, der geistlichen Verwaltung und Gerichtsbarkeit die aus dem röm. Kaiserrecht herrührende Auffassung vom funktionalen Aufgabenbereich des dem Fürsten verpflichteten A.strägers. Mit ihm sollte den zentrifugalen Kräften des Lehnswesens begegnet und eine auf der Effizienz einer allein dem Fürsten rechenschaftspflichtigen A.strägern beruhende Herrschaftsordnung aufgebaut werden. Die Anfänge moderner Verwaltungsorganisation in den dt. Territorien dokumentiert sich in der Übung der meist auf ein Jahr befristeten Anstellung von A.strägern mit der Möglichkeit der Verlängerung oder der Entlassung. Hier begegnet das Annuitätsprinzip, welches - wie oben ausgeführt - den A.scharakter um Rechenschaftslegung und persönliche Verantwortung erweiterte. Es findet sich bereits in der Bestimmung des Mainzer Landfriedens von 1235 zur Besetzung des Reichshofrichteramtes für ein Jahr; bis in das letzte Drittel des 16. Jhd.s ist der Jahresvertrag mit Verlängerungsmöglichkeit übliche Praxis territorialer A.sbesetzung geblieben. Danach ging man i.S. der Verwaltungskontinuität zu zeitlich unbefristeten Dienstverhältnissen über, die eingebunden wurden in kodifizierte fürstliche Verwaltungsordnungen (Hof- und Polizeiordnungen) mit detaillierten Regelungen der Pflichten und Aufgaben, Dienstregeln und Verwaltungsanweisungen bis zu den Konsequenzen bei A.spflichtverletzungen. Diese Entwicklung führte dann zum heutigen lebenslänglichen —> Berufsbeamtentum. Gleichzeitig ist der auf das röm.-rechtl. Annui-
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Amt, öffentliches tätsprinzip gründende A.swechsel bis in die Gegenwart ständige Übung geblieben, wie sich an der Ausgestaltung des Wahlbeamtentums, z.B. -> Landräte, -» Schöffen zeigen läßt. Ebenfalls ab dem Ende des 13. Jhd.s beeinflußt das Kollegialprinzip die histor. Entwicklung des A.es. Als neue Form eines kollegialen Hofamtes bildet sich der sog. Rat heraus, der in Abhebung zu den Lehnsämtern zum Herzstück landesherrlicher Verwaltung wird. Denn ab dem 15./16. Jhd. stellt sich der Rat als festes Kollegium ständig tätiger Berufsbeamten dar, welche gemeinsam mit einer als fürstlicher Auftrag erteilten Verwaltungssache befaßt und zu kollegialer Abstimmung - zunächst nach dem —> Einstimmigkeitsprinzip, später nach dem -> Mehrheitsprinzip - wie gegenseitiger Kontrolle angehalten waren. Auch dieser, zuerst im röm. Recht angewandte Verwaltungsgrundsatz führte zur Einschränkung freier Ermessensspielräume und Verfügungszuständigkeit bei gleichzeitiger Ausweitung der Rechenschaftspflicht und Verantwortung fìlr Abhandlungen. Es hat die heute vorherrschende Verwaltungsstruktur von Kollegialbehörden mit Fachbeamten begründet. Das entscheidende Kriterium liegt in der Anschauung von der sachlichen, zeitlichen und persönlichen Disponierbarkeit des A.es; Widerrufbarkeit der A.sübertragung und Absetzbarkeit konstituieren die neuzeitlich-moderne Auffassung vom A. als auftragsgebundene Handlungsdelegation aus dem Recht landesherrlicher Autorität. Das charakteristisch Neue ist, daß der A.mann öffentl.-rechtl. Funktionen kraft Auftrag auszuüben beginnt und sich dabei auf das geschriebene, Rechtssicherheit des A.shandelns garantierende Organisationsrecht fürstlich erlassener Hof- und Ämterordnungen berufen konnte und mußte. Wie in der röm. Kaiserzeit gingen auch die Territorialherren dazu über, jurist., d.h. röm.-rechtl. sachkundiges Personal einzustellen. Die analoge Entwicklung von den zeitlich befristeten Wahlämtern
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Amt, öffentliches in der röm. Republik einesteils, den lehnsrechtl. Erbämtern des Feudalismus anderenteils zu konsistenten Behördenorganisationen und A.sverfassungen sowohl im kaiserlichen Rom als auch in den fnlhmodemen Flächenstaaten bezeugt das große Geweht, welches der Institutionalisierung des sachlich bestimmten, auf der Trennung von A. und Person beruhenden A.sbegriffs ftlr den Aufbau einer in hohem Maß rationalen Form polit. Herrschaft zukommt. Dabei rücken nicht nur als Maßstab des Handelns aus einem A. heraus Rechtmäßigkeit und Normtreue in den Vordergrund, wie sie für heutiges Verwaltungshandeln charakteristisch sind. Darüberhinaus ermöglicht diese Auffassung vom A. die Gründung von —> Herrschaft auf eine funktionsbestimmte, vorschriftsformierte, dem Grundsatz der Verantwortung durch Rechenschaft, Kontrolle und Sanktion unterliegende Ämterordnung. 3. A. und Demokratie In der —> Demokratie wird Herrschaft als anvertrautes A. ausgeübt und legitimiert. Die Übertragung des A.sgedankens auf die souveräne - » Staatsgewalt findet sich v.a. bei dem Vertragstheoretiker J. Locke (1632-1704), der legitime Herrschaft aus dem Gesellschaftsvertrag (—> Naturrecht) als treuhänderisch wahrzunehmende Handlungsvollmacht definiert, welche auf Zustimmung und —> Vertrauen beruht und Verantwortung voraussetzt. Herrschaft als demokrat. Α., welches aufgrund verbindlicher —> Staatsziele und —» Staatszwecke zu Rechenschaft verpflichtet, gründet auf Beauftragung, anvertrauter Machtausübung und Verantwortung gegenüber den Autorisierenden. Die Delegation von Handlungskompetenz auf unterschiedliche A.sträger, die damit verbundene Begrenzung der Machtausübung gemäß dem erteilten Auftrag, eine folglich gegliederte Ordnung von Entscheidungs- und Zuständigkeitsbefugnissen, schließlich die Kontrolle der A.sführung finden sich auf allen Ebenen der in —> Legislative, Exekutive und —> Judikative geteilten Staatsge-
Amtliches Handbuch des Bundestages wait (-» Gewaltenteilung) wieder. Das in demokrat. -> Wahlen erteilte - * Mandat besagt daher nichts anderes, als autorisiert zu sein, für die Gesamtheit des Volkes zu handeln. Es drückt eine positive Handlungspflicht der Repräsentanten aus. Diese Befugnis ist anvertraut, beruht auf Zustimmung durch den Wahlakt und muß verantwortet werden (-> Repräsentation). In diesem Sinne steht der A.sgedanke im Mittelpunkt demokrat. Regierungssysteme. Demokrat. Systeme lassen sich als konsistente Ämtersysteme auffassen. Dienstrecht (—> Öffentlicher Dienst), Beamtenrecht, Regeln der —• Inkompatibilität für die Wahrnehmung bestimmter Ämter bis hin zu -> Verhaltensregeln für Abgeordnete dienen der Verhinderung von A.smißbrauch wie Ämterhäufung und der Minimierung von Interessenkonflikten im Α.; Kritik richtet sich denn auch weniger gegen die Institution des A.es selbst, sondern gegen die A.sfÜhrung bestimmter A.sträger, wenn die konstituierende Trennung von A. und Person mißachtet wird, etwa wenn öffentl. —> Interesse und private Interessen vermischt oder persönliche Vorteile aus dem A. gezogen werden (z.B. Benutzung von Dienstwagen im Privatverkelir, Begünstigung von Freunden und Angehörigen bis hin zu Bereicherung, Bestechlichkeit und Korruption). Lit: DVerwGesch I, S. 66ff, S. 279ff. und S. 289ff.; H. Coing: Röm. Recht in Dtld., in: lus Romanum Aevi Medii V. 1964, S. 3ff.; H. Hattenhauer: Geschichte des dt. Beamtentums, Köln 2 1993; W. Hennis: Amtsgedanke und Demokratiebegriff, in: ders.: Politik als praktische Wissenschaft, München 1968, S. 48ff.; K. Kroeschell: Dt. Rechtsgeschichte, 2 Bde., Reinbek 1972/73; W. Kunkel: Röm. Rechtsgeschichte, Köln a 1990; T. Mommsen: Abriß des röm. Staatsrechts, Leipzig 1893; G. Sommer: Institutionelle Verantwortung, München 1997; M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 5 1972.
Gerlinde Sommer Amtliches Handbuch des Bundestages -> Handbuch des Deutschen Bundestages, amtliches
Amtsenthebung Amtliches Protokoll -> Protokoll Amtseid Der A. ist das von einem Träger eines öffentl. -> Amtes geleistete Versprechen, die Amtspflichten gewissenhaft zu erfüllen. Die Pflicht zur Leistung des A.es ergibt sich aus dem —> Grundgesetz oder aus Gesetz. Maßgebliche Vorschriften im GG sind die Art. 56, der den A. des -» Bundespräsidenten regelt, und Art. 64 Abs. 2, der für die Eidesleistung des -» Bundeskanzlers und der -» Bundesminister (vgl. auch § 3 BMinG) auf Art. 56 GG verweist. Für die Mitglieder des —> Bundesverfassungsgerichts ist die Eidesleistung in § 11 BVerfGG geregelt. In den -» Landesverfassungen (z.B. Art. 89 der saarl. LV) finden sich ähnliche Vorschriften. Der A. begründet keine Rechte und Pflichten, sondern knüpft an bestehende Rechte und Pflichten an. Die Eidesleistung ist verpflichtend, aber keine Voraussetzung für den Erwerb des Amtes. Die Eidesformel ist nur hinsichtlich der religiösen Beteuerung disponibel. Die Eidesleistung von —> Beamten wird als Diensteid bezeichnet und ist in § 40 BRRG allgemein geregelt (vgl. auch § 58 BBG, ähnliche Vorschriften auch in den Landesbeamtengesetzen). Lit: M. Sachs (Hg.): GG - Komm., 1996, Art. 56 m.w.N. J. Be.
Amtsenthebung Die A. (Entfernung aus dem Dienst) gehört zu den Disziplinarmaßnahmen gegen -> Beamte und Ruhestandsbeamte nach der Bundesdisziplinarordnung (BDO v. 20.7.1967 zuletzt v. 13.8.1997 BGBl. I S. 2038) und den Disziplinarordnungen / Dienststrafordnungen der Länder. Die Entfernung aus dem Dienst im Rahmen eines -> Disziplinarverfahrens (s.a. -> Bundesdisziplinaranwalt) bewirkt den Verlust der Dienstbezüge und der Versorgung wie der Befugnis, die Amtsbezeichnung und die im Zusammenhang mit dem Amt verliehenen Titel zu führen und Dienstbekleidung zu
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Ancienitätsprinzip
Amtsermittlungsgrundsatz tragen (s.a. -> Richteranklage, s.a. -> Impeachment). Hg-
Amtsermittlungsgrundsatz Alle —> Prozeßordnungen kennen die Pflicht des Gerichts, die beweiserheblichen Tatsachen von sich aus - d.h. ohne entsprechende Anträge oder Anregungen durch die Parteien - zu ermitteln. Während der A. (auch: Ermittlungsgrundsatz, Untersuchungsgrundsatz, —> s.a. Offizialprinzip) aber im zivilgerichtlichen Verfahren die Ausnahme darstellt (hier gilt der Grundsatz der Beibringung der Tatsachen durch die Parteien) und auf Ehe-, Familien-, Kindschafts-, Betreuungs- und Aufgebotsverfahren sowie die -> Zwangsvollstrekkung beschränkt ist, bildet er im Verwaltungs- und insbes. im —> Strafprozeß (Inquisitionsmaxime) die Regel. Der A. gilt auch im behördlichen —> Verwaltungsverfahren ( § 2 4 VwVfG) sowie im Besteuerungsverfahren (§ 88 AO). J.M.
Amtsgericht Amtshaftung
Rechtsprechende Gewalt Amt
Staatshaftung
Amtshilfe In Anknüpfung an § 4 -> Verwaltungsverfahrensgesetz ist unter A. die im Rahmen der Ausübung von öffentl.rechtl. Verwaltungstätigkeit von einer -» Behörde auf Ersuchen einer anderen Behörde geleistete ergänzende Hilfe zu verstehen. Die Hilfeleistung darf nicht aufgrund eines bestehenden Weisungsverhältnisses erfolgen oder zu den Aufgaben der ersuchten Behörde gehören. Wird die Hilfe von oder gegenüber -> Gerichten geleistet spricht man von —> Rechtshilfe. Die generelle Pflicht zur A. für Bundesund Landesbehörden ist in Art. 35 Abs. 1 GG angeordnet. Zweck der A. ist die zweckmäßige und wirtschaftl. Erledigung von Verwaltungsaufgaben, z.B. durch die Erteilung einer Auskunft oder durch die Gewährung von Akteneinsicht. A. darf jedoch nicht geleistet werden, wenn
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sie rechtl. z.B. wegen Vertraulichkeitsbzw. Verschwiegenheitspflichten (z.B. Steuergeheimnis) oder aus Gründen des ->• Datenschutzes unzulässig ist (vgl. § 5 Abs. 2 VwVfG). Auf zwischenstaatl. Ebene ist die A. insbes. im internationalen Steuerrecht (vgl. z.B. das zur Umsetzung der Richtlinie 77/799/EWG über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich der direkten und indirekten Steuern ergangene EG-Amtshilfegesetz vom 19.12.1985), aber auch im Bereich der Strafverfolgung von Bedeutung. Lit.: J.W. Simon: Die Amtshilfe, Chur 1991. J.B.
Amtszulage —> Beamte Anarchismus —» Sozialismus Ancienitätsprinzip / Senioritätsprinzip Das meist informelle, innerparteilich bzw. -fraktionell geregelte A. dient in vielen —> Parlamenten zur Verteilung von Führungspositionen und Redemöglichkeiten nach ununterbrochener Zugehörigkeit zur -> Kammer oder zu einem -> Ausschuß. Insbes. der amerik. Kongreß kennt eine lange, von Reformen ungebrochene Tradition der seniority rule, die ursprünglich eine Revolte gegen die Ernennungswillkür des -> Speakers war. Bis zu den Reformen der 1970er Jahre wurden Ausschußvorsitze automatisch nach Dienstalter besetzt, seitdem durch Wahl in den Fraktionsversammlungen. Junge Abgeordnete im demokrat. —> Caucus hatten das A. als „senility rule" angegriffen, da viele Ausschüsse von älteren, konservativen Südstaatendemokraten aus sicheren Wahlkreisen dominiert wurden. Ungeachtet dieser —> Demokratisierung und auch ungeachtet des Versuchs der Rezentralisierung der Verteilungsmacht durch den Speaker nach dem Wahlsieg der Republikaniscen Partei 1994 wird das A. nur in Ausnahmefällen mißachtet. Die wichtigsten Führungspositionen (Speaker, —> Floor Leader, —> Whip, Caucus Chair)
Anhörung
Anfragen
H.-J. B.
werden nicht nach Seniorität besetzt. IM.: D. Bacon (Hg.): The Encyclopedia of the United States Congress, New York 1995.
Angestellte stehen zu ihrem Arbeitgeber in einem privatrechtl. Arbeitsverhältnis. Dieses wird regelmäßig durch einen Arbeitsvertrag begründet, kraft dessen die weisungsgebundenen A.n zu einer Dienstleistung verpflichtet sind und hierfür entsprechende Vergütung verlangen können (§611 -> BGB). Histor. besaßen die A. (white collar workers) gegenüber den -> Arbeitern (blue collar workers) ein höheres soziales Ansehen und waren finanziell zumeist besser gestellt. Heutzutage haben sich diese Statusverhältnisse weitgehend angeglichen. Die begriffliche Abgrenzung (herkömmlich: der A. übt eine eher geistige Tätigkeit im Sitzen aus) ist schwierig geworden. Viele Rechtsvorschriften finden nunmehr auf beide Beschäftigtenguppen gleichermaßen Anwendung (Beispiele: Entgeltfortzahlungsgesetz, Kündigungsschutzgesetz), ein Trend von spezifischen A.n-Tarifverträgen (am bekanntesten der Bundesangestelltentarifvertrag) zu gemeinsamen —> Tarifverträgen (bahnbrechend die chemische Industrie) ist zu beobachten. Allerdings sind A. bislang bei der -> Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), Arbeiter dagegen bei den Landesversicherungsanstalten (LVA) rentenversicherungspflichtig. A. gibt es auch im -> öffentlichen Dienst, ihr Arbeitgeber ist dann die „öffentl. Hand, der —> Staat. Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern werden vor der -> Arbeitsgerichtsbarkeit (Arbeitsgerichte, Landesarbeitsgerichte, Bundesarbeitsgericht) ausgetragen.
Anhörung ist im polit.-parlament. Sprachgebrauch die Durchführung der -> Sitzung eines Fachgremiums oder von Beauftragten eines solchen, in der dem Gremium nicht angehörende Sachverständige oder Interessenvertreter Stellungnahmen zu Beratungsgegenständen des Gremiums abgeben oder auf Fragen zu Einzelheiten des Beratungsgegenstandes Stellung beziehen. Zu einzelnen Vorlagen können —» Ausschüsse des -> Deutschen Bundestages nach § 70 GOBT A.en durchführen. Mit diesen sollen offene Sachfragen mit Hilfe des Sachverstandes von externen Experten geklärt werden. Außerdem soll von Seiten der Fraktionen darauf aufmerksam gemacht werden, mit welcher fachlichen Unterstützung sie ihre jeweiligen Positionen vertreten. Nicht zuletzt haben A.en eine Befriedungsfunktion, da Organisationen der Betroffenen durch sie die Möglichkeit erhalten, ihre gesetzgeberischen Anliegen unmittelbar dem Parlament vorzutragen. Dies ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil die meisten wesentlichen —> Gesetze auf Entwürfen der -» Bundesregierung beruhen, die nicht verpflichtet ist, sie im Vorfeld der Einbringung in das —> Parlament einer öffentl. Diskussion zu unterziehen. Allerdings besteht auch im vorbereitenden —> Gesetzgebungsverfahren in den jeweiligen Fachressorts der Bundesregierung die Möglichkeit, zusätzlichen Sachverstand durch die A. von Sachverständigen und Interessengruppen zu sammeln. Der häufig zu hörende Begriff des Hearing rührt daher, daß insbes. der amerik. —> Kongreß die öffentl. A. zu einem schlagkräftigen Instrument ausgestaltet hat und es in besonders großem Umfang zur Kontrolle des Präsidenten und seiner Administration nutzt.
Lit: H.-J. Bauschke / H.-D. Braun: Bausteine des Privairechts, Köln 1996, S. 190ff.; G. Schaub: Handbuch des Arbeitsrechts, München 7 1992, S. 57ff..
Die Ausschüsse des Dt. Bundestages sind gem.§ 70 Abs. 1 S. 2 GOBT verpflichtet, zu Vorlagen, für die sie federführend zuständig sind, auf Verlangen eiens Vier-
T. G.
Anfragen -> Fragerecht der Abgeordneten
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Antrag
Anhörungsrecht tels seiner Mitglieder öffentl. A.en durchzuführen. Die Durchführung einer A. ist so ein wichtiges Minderheitenrecht. Mit ihrer Hilfe kann die -> Opposition im -> Ausschuß den Beratungsverlauf beeinflussen und aufgrund ihrer Öffentlichkeitswirkung auch auf die Meinungsbildung in den Mehrheitsfraktionen einwirken. Der oder die jeweilige Ausschußvorsitzende lädt die Sachverständigen aufgrund eines Vorschlags, auf den sich die Fraktionen im Ausschuß geeinigt haben und der entsprechend ihrem Stärkeverhältnis von allen Fraktionen benannte Sachverständige berücksichtigt. Den Sachverständigen wird ein Fragen- oder Themenkatalog zugesandt, der ebenfalls auf einer Einigung unter den Fraktionen oder einem Ausschußbeschluß beruht. Lit.: F. W. Appoldt: Die öffentl. Anhörungen ("Hearings") des Dt. Bundestages, Berlin 1971; W. Ismayr: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992, S. 4 7 8 f f : , Schneider/Zeh, S. 1145ff.
Andreas Nothelle Anhörungsrecht —> Anhörung Annuität /-sprinzip —• Amt Anstalt / -en des öffentlichen Rechts Unter dem Begriff der AdöR versteht man einen Bestand von sächlichen und persönlichen Mitteln, welche in der Hand eines Trägers öffentl. Verwaltung einem besonderen öffentl. Zweck dauernd zu dienen bestimmt sind. Eine AdöR ist damit nichts anderes als ein Aufgaben der öffentl. —> Verwaltung wahrnehmender Betrieb. Von der Verwaltung unterscheidet sich die AdöR organisatorisch durch ein gewisses Maß an Verselbständigung, was aber nicht rechtl. Selbständigkeit bedeuten muß. Es gibt daher voll-, teilund nicht-rechtsfähige A.en. Im Unterschied zur Körperschaft hat die AdöR keine Mitglieder (sondern Benutzer). Im Unterschied zur -> Stiftung geht es bei der AdöR nicht um die zweckgebunde und von einem Stifter mit dauernder Wirkung festgesetzten Nutzung eines Vermögens. 26
AdöR sind z.B. die -> Bundesbank (Art. 86 GG), die -> Bundesanstalt für Arbeit, die —> Rundfunkanstalten, die -> Justizvollzugsanstalten. Lit: WolfflBachofll,
§§ 98-101.
J.B.
Antrag / Anträge Die Auslösung und Gestaltung nahezu aller parlament. Prozesse erfolgt durch einen Α.; hierbei kann unterschieden werden zwischen A.n zur Sache und A.n zur -> Geschäftsordnung. Letztere beziehen sich auf das Verfahren; nach der Definition des § 29 Abs. 1 S. 1 GOBT auf den zur Beratung stehenden Verhandlungsgegenstand oder auf die - » Tagesordnung. Einige Geschäftsordungsanträge. sind in der GO ausdrücklich geregelt, wobei der A. auf Ausschluß der Öffentlichkeit und die -> Herbeirufung eines Mitgliedes der —> Bundesregierung bereits im GG vorgesehen sind. Als sonstige Beispiele sind zu nennen: Vertagung der Beratung, Vertagung der —> Sitzung, Änderung der Tagesordnung vor ihrer Feststellung, Fristverkürzung zwischen den Beratungen eines Gesetzentwurfs. Die A.sberechtigung ist je nach Gewicht der geforderten Maßnahme unterschiedlich ausgestaltet und reicht von einem -> Abgeordneten bis zu einer —» Fraktion bzw. dem entsprechenden —> Quorum. Soweit nicht Minderheitenrechte betroffen sind, entscheidet der —> Bundestag über alle Geschäftsordnungsanträge mehrheitlich. A. zur Sache unterteilen sich in selbständige und unselbständige Α.; selbständige A. stehen für sich allein als Verhandlungsgegenstand auf der Tagesordnung (§75 Abs. 1 d GOBT); unselbständige beziehen sich auf einen solchen Verhandlungsgegenstand. A. müssen von einer Fraktion oder einer entsprechenden Anzahl von Abgeordneten unterzeichnet sein, sofern die GOBT nichts anderes vorschreibt. In der Praxis handelt es sich bei den selbständigen A.n inhaltlich meist um Forderungen oder Ersuchen an die Bundesregierung, z.B. bestimmte Maß-
Anzeigepflicht nahmen zu ergreifen oder einen Gesetzentwurf vorzulegen sowie um polit. Meinungsäußerungen. Ein besonderes Beispiel ist der Mißtrauensantrag gegen den —> Bundeskanzler (-> Mißtrauensvotum), der spezielle Voraussetzungen erfüllen muß. Ein Beispiel für unselbständige A. bilden die Entschließungsanträge, die nicht nur zu Gesetzentwürfen, sondern u.a. auch zum Bundeshaushalt, zu Regierungserklärungen, Berichten der Bundesregierung, Großen Anfragen oder Rechtsverordnungen eingebracht werden können. IM.: Schneider / Zeh, S. 883ff.
Britta Hanke-Giesers / Christoph Lotter Anzeigepflicht —> Verhaltensregeln für Abgeordnete Arbeit Die A. bildet einen zentralen Gegenstand und ist ein Grundbegriff von natur-, sozial-, staats-, wirtschafts- und geisteswissenschaftl. Ansätzen und Theorien. Physikalisch betrachtet ist die A. Teil des Naturgeschehens und seiner Analyse. Dieser Aspekt wird hier nicht weiter vertieft. Aus sozial- und geisteswissenschaftl. Sicht versteht man unter A. eine menschliche Tätigkeit, die zielgerichtet, planmäßig und bewußt unter Einsatz körperlicher und geistiger Kräfte erfolgt. Ziel der A. ist in erster Linie die Bedarfsdeckung und Bedürfnisbefriedigung durch die unmittelbare Herstellung von Waren oder Dienstleistungen oder durch die Erzielung und entsprechende Verwendung eines Einkommens. So verstanden wandeln sich A.sverfassungen, A.sformen und Produktions- bzw. A.sergebnisse im Verlaufe des Geschichtsprozesses. Die histor. Entwicklung der A. wird von ihrer theologischen, sozialethischen und philosophischen Betrachtung und Bewertung ebenso begleitet, wie von unterschiedlichen theoretischen Analysen im Rahmen z.B. der Soziologie, der Volks- und Betriebswirtschaftslehre. Ober Jahrtausende hatte die A. die sich nur langsam wandelnde Form des Jagens und Sammeins. Bis in unsere Tage lassen
Arbeit sich in „unterentwickelten" Weltgegenden Reste dieser Form der A. und Existenzsicherung beobachten. Beschränkt man die Betrachtung auf den abendländischen Kulturbereich, so breiten sich anschließend der Landbau, die Handwerkstätigkeit und der einfache Warenhandel aus. Diese Formen der A. wurden in der klassischen Antike gering geachtet, waren eine Domäne der Unfreien und Sklaven. In der christl. Tradition galt (körperliche) A. überwiegend als Mühsal, Last, Plage und Not. Lediglich Α., die nicht der unmittelbaren Existenzsicherung diente, insbes. solche der Herrschaftssicherung und -ausübung (polit., militärische aber auch geistige A.) erfuhr eine positive Deutung und stand in hohem Ansehen. Zeitweise fiel in diese Kategorie auch die landwirtschaftl. Α.; die christl. Religion, die als herrschendes Sinngebungssystem der „alten Zeit" zur Auffassung beigetragen hatte, daß A. Last, ja Strafe sei, trägt später zu einem Umschwung in der Wertung der A. bei. Insbes. seit der Reformation gilt die Pflichterfüllung, die Α., als gottgefälliges Tun. Diese Auffassung, die protest. Ethik, galt dem Soziologen M. Weber (1865-1920) als eine Voraussetzung für den kapitalistischen Industrialisierungsprozeß. Damit ist eine Entwicklungsepoche in den westeurop. Staaten benannt, in der mit der Auflösung der feudal und zünftlerisch gebundenen die „freie" Lohnarbeit in der und für die -> Gesellschaft von immer größerer Bedeutung wurde. Diese Form der A. nahm in der entstehenden Volkswirtschaftslehre und in den ebenfalls im Aufbau begriffenen Staats- und Gesellschaftswissenschaften einen ganz zentralen Platz ein. Für die klassische Volkswirtschaftslehre und ihre Nachfolger wurde A. zu einem Produktionsfaktor neben Boden und Kapital. Der Nationalökonom A. Smith (1723-1790) formuliert, daß die jährliche A. einer —> Nation die eigentliche Quelle des Reichtums sei. Nach K. Marx (1818-1883) ist die A.smenge alleiniger Bestimmungsgrund
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Arbeit des Wertes aller Waren. Er bezieht alle Kategorien der Nationalökonomie auf die Α., die somit bei ihm zu einem Schlüsselbegriff besonderer Tragweite wird. Von ihm stammt das Konzept der „entfremdeten A." und jenes der „Verelendung". Die A. ist nach seiner Auffassung ihrem Wesen nach eine unfreie, unmenschliche, vom Privateigentum an Produktionsmitteln bedingte und dieses Privateigentum schaffende Tätigkeit. Den Trägern einer solchen fremdbestimmten Α., der Arbeiterklasse, dem Proletariat, schrieb er im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie eine revolutionäre Bedeutung zu. Antirevolutionär orientiert sind jene Anschauungen, welche die sozialen und polit. Probleme der modernen Lohnarbeit, welche die „ A r b e i t e r f r a g e " durch Sozialreform bzw. -> Sozialpolitik lösen wollen. Die moderne A. wurde im späten 19. und im 20. Jhd. auch zentraler Gegenstand neuer wissenschafil. Disziplinen, wie der A.swissenschaft und unterschiedlicher Betriebswirtschaftslehren. Bis auf den heutigen Tag werden verschiedenartige Methoden der rationellen Anwendung der menschlichen A. diskutiert und in die Praxis umgesetzt. Die A.sformen und gegenstände haben einen bedeutenden Wandel erfahren. Die moderne, d.h. die jurist, „freie", die nicht mehr an die Zunft und den agrarischen Herrn gebundene Α., ist weniger denn je A. in und mit der Natur und in der Rohstoffgewinnung. Schwerpunkte sind aufgrund des fortgeschrittenen Standes der Technologie der gewerbliche Produktionsund der Dienstleistungsbereich. Sie ist Beschaffung und Bedienung von Produktionsmitteln und wird typischerweise in komplexen Betrieben erbracht. Techn. Strukturen, Sachmittel und Mitarbeiter sind in einen arbeitsteiligen, zielorientierten und hierarchischen Leistungsverbund integriert. In großer Fülle existieren heute betriebswirtschaftl. Organisationslehren, Rationalisierungsmodelle und organisationssoziologische und -psychologische Ansätze, die zahlreiche Aspekte der mo-
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Arbeit dernen A.swelt beschreiben, analysieren und verbessern sollen. Die A.swelt ist schon seit langer Zeit in eine sozial- und arbeitsrechtl. Ordnung gefaßt, die dem Interessenausgleich, der Konfliktkanalisierung und der Hebung der Lebenslage dienen soll. Dadurch soll gleichzeitig der Stabilität der auf „freier" A. gegründeten gesellschaftl. und polit. Ordnung gedient werden. Diese Ordnung steht der Beeinflussung durch —• Verbände (insbes. durch die —> Gewerkschaften und die ~> Arbeitgeberverbände) und innerbetriebliche Organe (z.B. Betriebsräte) offen. Sie erfährt vielfaltige Impulse von der internationalen bzw. europ. Ebene. In der BRD und in anderen hochindustrialisierten Ländern hat die A. in den Zeiten der wirtschaftl. Prosperität die Form eines Normalarbeitsverhältnisses angenommen. Darunter versteht man ein Vollzeitarbeitsverhältnis, das die Existenz des einzelnen und seiner -> Familie sichert. Die A.szeit ist begrenzt und schwankt um die 8 Stunden pro Tag. Die Vergütung wird monatlich gezahlt. Das A.sverhältnis genießt einen bestimmten Bestandsschutz. Zeiten der - » Arbeitslosigkeit spielen keine bedeutende Rolle. Die Höhe der Vergütung der A. hängt beim Normalarbeitsverhältnis von der Qualifikation und der Dauer der Betriebsangehörigkeit ab. Löhne und A.sbedingungen werden im Wege der kollektiven Interessenvertretung gestaltet. Diese Form der Lohnarbeit ist Voraussetzung hinreichender sozialpolit. Leistungen, insbes. für solche aus der -> Sozialversicherung. Das Normalarbeitsverhältnis ist darüber hinaus Grundlage einer längerfristigen Lebensplanung. Von der A. her, insbes. von ihrer Entlohnung und ihrem Ansehen, bestimmt sich auch die Sozialstruktur einer Gesellschaft. Die Form der A. spielt eine bedeutende Rolle für die subjektive Interessenlage. Die A. strukturiert den Tages- und Wochenablauf, sie gibt dem Jahr mit ihren Urlaubstagen Gestalt. Die A. kann, etwa als ausführende oder mechanische Tätig-
Arbeit keit, belastend, geist- und seelenlos sein. In solchen Fällen werden das Sinnerleben in der A. erschwert und die Gesundheit gefährdet. Die A. selbst hat dann lediglich instrumenteile Bedeutung für das Leben außerhalb der A.sstätte. Diese Form bzw. Seite der A. hat immer wieder zu ethischen Erörterungen und zu Forderungen nach A.sschutz, Humanisierung der A. und nach Mitbestimmung Anlaß gegeben. Zweifellos besitzt A. für viele Menschen eine über den instrumenteilen Aspekt hinausgehende Funktion, und der instrumentelle Aspekt bezieht sich nicht mehr nur auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Behausung, Bekleidung und Ernährung durch die Verausgabung des Erwerbseinkommens. Sie ist insbes. in ihren anspruchsvollen und nicht extrem belastenden und fremdbestimmten Formen ein Lebensgebiet, das Identifizierungsmöglichkeiten, Sinnerfüllung und Selbstentfaltung beinhalten kann sowie soziale Einbindung und Teilhabe an den über die Grundbedürfnisbefriedigung hinausgehenden materiellen und immateriellen Gütern der Gesellschaft ermöglicht. Seitdem in der Bundesrepublik, beginnend in der Mitte der 1970er Jahre, die Nachfrage nach Erwerbsarbeit die Zahl der angebotenen Stellen ständig übersteigt und sich eine bedeutende Massenarbeitslosigkeit herausgebildet hat, wird die Krise der A.sgesellschaft diskutiert und befürchtet, daß der Gesellschaft die A. „ausgehe". Tatsächlich muß der Arbeitslose auf jeden Nutzen der Erwerbsarbeit verzichten. Er entbehrt wichtige Grundlagen seiner Existenz, seines ,Ansehens", der Sinngebung und Selbstentfaltung. Mit der Arbeitslosigkeit, mit der Veränderung in den Ökonom. Grundlagen, in den herrschenden Anschauungen und Kräfteverhältnissen in zahlreichen hochindustrialisierten Ländern, insbes. auch in der Bundesrepublik, lassen sich Entwicklungen beobachten, die das Normalarbeitsverhältnis in Frage stellen. Damit entfällt häufig auch die Grundlage für eine gesi-
Arbeit cherte Lebensperspektive. Befristete A.sverhältnisse, ungeschützte und unsichere Beschäftigungsverhältnisse, neue Organisationsformen der Beschäftigung (z.B. A. auf Abruf), der Zwang zur Selbständigkeit, die erbitterte Konkuirenz um A.splätze werden von intensiven polit., wirtschafte- und sozialwissenschafll. Diskussionen begleitet. Diese kreisen um den Soll- und Istzustand der A. und um ihre Entwicklungsperspektiven. Sie betonen auch die Bedeutimg der Α., die nicht in Betriebsstätten und Verwaltungen gegen Lohn geleistet wird, und die etwa in Form der familialen Zubereitungs-, Erziehungs- und Pflegetätigkeit überwiegend Frauenarbeit ist. Unter dem Eindruck der negativen ökologischen Folgen der vorherrschenden A.s- und Wirtschaftsweise wird die Rückkehr zu klassischen Formen der Vollbeschäftigung durch Stimulierung eines rapiden —» Wirtschaftswachstums vielfach abgelehnt. Es wird erkannt, daß es sich bei der Krise der A. nicht nur um eine soziale, sondern um eine ökosoziale Krise handelt. Wirtschaftsliberale Kräfte sehen typischerweise in einer raschen Deregulierung und Flexibilisierung der A.smärkte und einer deutlichen Senkung des Preises der A. (d.h. in einer deutlichen Reduzierung der Löhne und Lohnnebenkosten bzw. Sozialleistungen) Auswege aus der Krise der A.sgesellschaft. Gegenüber allzu optimistischen Annahmen und den Erfolg versprechenden „Utopien" ist gegen Ende des 20. Jhd.s als Tatsache festzuhalten: Die Entwicklungsperspektive der A. und damit der Gesellschaft ist unklar, die Existenzgrundlage vieler auf Verwertung ihrer A.skraft verwiesener Menschen ist erschüttert, der arbeitsrechtl. und sozialpolit. „Komfort" der jüngsten Vergangenheit ist bereits abgebaut und darüber hinaus in Frage gestellt, die Arbeitslosigkeit hat auch das Thema Armut und Ausgrenzung auf die Tagesordnung gesetzt. Von besonderer Bedeutung sind hierbei auch die Wirkungen, die von der voranschreitenden -> Globalisierung des Wirt-
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Arbeitgeber
Arbeiter schaftsgeschehens auf die A.sverhältnisse in der BRD ausgehen. Die kontroverse Debatte um den Einfluß der Lohnhöhe, der Lohnneben- und sonstigen Sozialkosten auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit des sog. Standorts Dtld. und damit auf das A.splätzeangebot gehört in diesen Zusammenhang. Lit.: U. Beck/M. Brater /H. Daheim: Soziologie der Arbeit und der Berufe, Reinbek 1980; GeschìchtLGrundbegriffe I, S. 154ff; B. Lutz (Hg.): Entwicklungsperspektiven von Arbeit im Transformationsprozeß, München 1995; J. Matthes (Hg.): Krise der Arbeitsgesellschaft?, Frankfùrt/M. 1983; E. Pankoke: Die Arbeitsfrage, Frankfurt/M. 1990.
Eckart Reidegeld Arbeiter Aus rechtl. Sicht sind A. aufgrund eines privatrechtl. Arbeitsvertrages mit zumeist überwiegend körperlicher Tätigkeit beschäftigte, weisungsgebundene Arbeitnehmer. Wie für -» Angestellte gelten für sie die Regeln des -»• Arbeitsrechts (Kündigungsschutz, -> Mutterschutz, Arbeitszeit, Entgeltschutz). Überwiegend gibt es für A. eigene Tarifverträge. Für Rechtsstreitigkeiten sind die Arbeitsgerichte zuständig. H.-J. Β Arbeiter-Samariter-Bund Deutschlands e.V. (ASB) 1888 wurde die erste Arbeiter-Samariter-Kolonne in Beri, von 6 Zimmerleuten gegründet. Auslöser war ein schwerer Unfall auf einer Baustelle. Die Samariter wollten dierbeitenden Bevölkerung, insbes. Unfallopfer, Verunglückte und Verletzte in Fabriken und Werkstätten unterstützen. Deshalb organisierten sie zusammen mit rzten ErsteHilfe-Kurse, damit die Arbeiter sich selbst u.a. in Notfallen helfen konnten. Heute ist der ASB eine Hilfs- und Wohlfahrtsorganisation, die mit 16 Landesverbänden und knapp 300 Orts- und Kreisverbänden in ganz Dtld. tätig ist. Der ASB ist polit, und konfessionell unabhängig. Er hilft allen Menschen ohne Ansehen ihrer polit., rassischen, nationalen oder religiö-
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sen Zugehörigkeit. Darüber hinaus bemüht sich der ASB, soziale Verhältnisse und sozialpolit. Rahmenbedingungen zu verbessern. Über 900.000 Bürger unterstützen die Ziele dieses gemeinnützigen -> Vereins durch ihre Mitgliedschaft. Seit der Gründung vor 110 Jahren sind eine Reihe neuer Aufgaben für den ASB hinzugekommen: Zu seinen Arbeitsbereichen gehören heute z.B. Rettungsdienst, Katastrophenschutz (—> s.a. Zivilschutz), Sanitätsdienst, Erste-Hilfe-Ausbildung, aber auch humanitäre Auslandshilfe. Im Bereich der ambulanten und stationären sozialen Dienste kümmern sich ASBFachkräfte in Sozialstationen, Altenpflegeheimen, Tages- und Kurzzeitpflegestätten um hilfsbedürftige Senioren. Kinder und Jugendliche werden in zahlreichen ASB-Einrichtungen, wie z.B. Kindertagesstätten und Kinderheimen, umfassend betreut. Nicht zuletzt bietet der ASB verschiedene Formen der Hilfe und Begleitung für behinderte oder psychisch kranke Menschen an. Hg. Arbeitgeber Natürliche oder -» juristische Personen, die mindestens einen —> Arbeitnehmer beschäftigen, sind Α.; nicht immer ist der A. zugleich Inhaber des jeweiligen Unternehmens und damit im wirtschaftl. und wirtschaftsrechtl. Sinne auch Unternehmer. Bei den jurist. Personen ( z.B. der AG, der GmbH, s.a. Gesellschaftsrecht) übernehmen die gesetzlichen Vertreter die Funktion des A.s, obwohl diese z.B. als Geschäftsführer eigentlich Arbeitnehmer dieser jurist. Person sind. Auch leitende Angestellte üben ggf. A.funktionen aus. Im Rahmen der Gewerbe- und -> Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG, -> s.a. Gewerberecht) schließen die A. mit Arbeitnehmern Verträge ab. Sie haben insofern im Rahmen ihrer betriebsleitenden Tätigkeit das Recht, den Arbeitsablauf zu organisieren und den vertraglich gebundenen Arbeitnehmern Weisungen zu erteilen. Eingebunden in den -» Tarifvertrag, in vielfäl-
Arbeitgeberverbände
Arbeitgeberverbände
tige wirtschaftsbezogene Vorschriften des öffentl. und privaten Rechts, im Rahmen der Normen der —> Betriebsverfassung übernehmen sie gegenüber den abhängig Beschäftigten aber auch Pflichten. In erster Linie handelt es sich um die Pflicht zur Zahlung des Arbeitsentgelts. Hinzu treten z.B. noch Fürsorgepflichten und Pflichten, die sich aus dem Steuer- und —> Sozialrecht ergeben. Die Vertretung bestimmter gemeinsamer Interessen der A. und Arbeitnehmer war ein Anlaß der Bildung der —> Arbeitgeberverbände und der -» Gewerkschaften.
E.R. Arbeitgeberverbände sind freiwillige Vereinigungen (eingetragene —» Vereine) von Unternehmern, die für die Sozial-, Bildungs- und Gesellschaftspolitik aller -» Arbeitgeber sowie die tarifpolit. Interessenvertretung gegenüber den —> Gewerkschaften zuständig sind. Als Tarifpartner regeln A. und Gewerkschaften die wesentlichen Lohn- und Arbeitsbedingungen. Damit fällt ihnen über die Bemessung der Löhne und Gehälter eine Mitverantwortung für die Entwicklung der gesamten —• Wirtschaft zu. Diese Aufgabe ist ihnen durch die —> Verfassung (Art. 9 Abs. 3 GG) übertragen. Spitzenverband der privaten Arbeitgeber in Dtld. ist die 1949 gegründete Bundesvereinigung der Dt. A. (BDA Köln), die vorrangig branchenspezifisch in 51 Fachspitzenverbände gegliedert ist. Der industrielle Sektor stellt mit seinen 27 Branchenverbänden das Hauptkontingent vor dem Dienstleistungsbereich. Die Fachspitzenverbände und 15 überfachlichen Landesverbände befinden sich in direkter, die in ihnen organisierten 1.068 rechtl. selbständigen A. in mittelbarer Mitgliedschaft zur BDA. Die BDA selbst schließt keine Tarifverträge ab, wirkt jedoch als Koordinierungsorgan. Die Tarifauseinandersetzungen werden i.d.R. auf der Ebene der Landesfachverbände als regionale Branchenverhandlungen geführt. Im Gegensatz zur tieferen fachlichen Gliederung der
wirtschaftspolit. Verbände findet unter dem Dach der A. eine Konzentration von Wirtschaftszweigen statt, die sich auch in den regionalen Untergliederungen fortsetzt. Deshalb besteht eine der wesentlichen Aufgaben der Fachspitzenverbände darin, heterogene Präferenzen und Interessen zu koordinieren und zu einem Gesamtinteresse zu verdichten. Hierzu ist u.a. eine branchenübergreifende Koordination auf regionaler Ebene sowie ein abgestuftes System der Repräsentation regionaler Interessen in verschiedenen Ausschüssen, Arbeitskreisen und Gremien erforderlich. Eine zentrale Rolle spielen die Lohn- und tarifpolit. Ausschüsse. Die A. streben eine Zusammenarbeit zwischen den Sozialpartnern im Rahmen der großen sozialen Marktwirtschaft an. Die Tarifpolitik soll nach dem Willen der A. am wirtschaftl. Wachstum bzw. am gesamtwirtschaftl. Verteilungsspielraum ausgerichtet sein. Als Voraussetzung für eine solche Lohnpolitik verlangen die A. die Chancen- und Gestaltungsgleichheit der Tarifpartner. Dem Streikrecht der Gewerkschaften soll deshalb das Aussperrungsrecht der Arbeitgeber entsprechen (-> Arbeitskampf)· Die BDA hat wiederholt „totalen Kurswechsel" in der Tarifund Sozialpolitik gefordert. Hierzu zählen eine deutlichere Spreizung der Lohnstrukturierungen wie z.B. durch niedrigere Einstiegstarife, eine weitere Flexibilisierung der Arbeitszeiten in den Tarifverträgen, eine deutliche Senkung der Sozialversicherungsbeiträge sowie eine deutliche Rückführung der versicherungsfremden Leistungen in allen Bereichen der Sozialversicherung. Zu der internationalen Arbeitsteilung fordern die A. eine längere Arbeitszeit bei gleichem Lohn. Die Arbeitgeber des öffentl. Dienstes sind in der Tarifgemeinschaft dt. Länder und in der Vereinigung der Kommunalen A. zusammengeschlossen. Lit.: HdbStR VI, S. 1147ff.; S. Henneberger: Transferstaat: Organisationsdynamik und Strukturkonservatismus westdeutscher Unternehmerverbände, in: PVS 1993, S. 640ff.; StL I, S.
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Arbeitsgemeinschaft kath. Frauen verbände und -gruppen
Arbeitnehmer 235ÍF.; T. Vajna: Verbandsfibel, Köln 2 1996.
Ulrich Niemann Arbeitnehmer Als A. bezeichnet man (natürliche) Personen, die sich vertraglich verpflichtet haben, einem -> Arbeitgeber gegen Entgelt (Lohn, Gehalt) „versprochene Dienste" ( § 6 1 1 Abs. 1 BGB) zu erbringen. Kennzeichnend ist, daß die Arbeitsleistung persönlich, weisungsgebunden und fremdbestimmt im Rahmen einer Betriebsorganisation zu erbringen ist. Zu den A.n zählen - » Arbeiter und -» Angestellte. Häufig werden auch die Arbeitslosen zu den A.n gerechnet. Hinzu kommen v.a. noch Auszubildende, Praktikanten und Volontäre. Die —> Beamten, die Selbständigen und die mithelfenden Familienangehörigen zählen nicht zìi den A.n, da ihre Arbeitsleistungen unter anderen Bedingungen erbracht werden. Histor. betrachtet hat der Anteil der A. an den Erwerbstätigen bis in die jüngste Vergangenheit zugenommen. Dabei hat sich der Anteil der Arbeiter zugunsten der Angestellten verringert. In neuester Zeit wird die Entwicklung im Zuge der Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses durch die Ausweitung der Scheinselbständigkeit und durch andere Formen arbeitnehmerähnlicher Beschäftigung geprägt. E.R. Arbeitsamt
Bundesanstalt fìlr Arbeit
Arbeitsförderung / -sgesetz Unter A. sind die Aufgaben der -» Bundesanstalt für Arbeit (BA) mit Sitz in Nürnberg zusammengefaßt. Dies sind Arbeitsvermittlung und Beratung und damit verbundene Leistungen; zur Erleichterung der Berufswahl wird Berufsberatung angeboten. Daneben werden die klassischen finanziellen Leistungen aus der -> Arbeitslosenversicherung im Falle der —> Arbeitslosigkeit gewährt. Das Recht der A. wurde erstmals durch das „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" (AVAVG) vom 16.7.1927 festgeschrieben. Die Reichsanstalt für Arbeit 32
wurde in Nürnberg errichtet. Neben der —> Kranken-, —> Renten- und —> Unfallversicherung stellte die Arbeitslosenversicherung damit einen weiteren Teil der gesetzlichen —• Sozialversicherung dar. Unterbrochen durch den Π. Weltkrieg und im Anschluß daran durch Recht der einzelnen Sektoren verpflichteten sich die Westmächte im Übereinkommen der —> Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vom 9.7.1948, eine öffentl. Arbeitsmarktverwaltung mit einer Zentrale und mit Arbeitsämtern zu unterhalten. Für die BRD wurde durch Gesetz vom 30.11.1951 die BA in Nürnberg (wieder-)errichtet und die früheren gesetzlichen Grundlagen im AVAVG im wesentlichen übernommen. Auf dem Gebiet der DDR waren für die dortigen Aufgaben Ämter für Arbeit und Löhne eingerichtet worden. Das AVAVG wurde durch das A. sgesetz (AFG) vom 25.6.1969 abgelöst, welches durch den Beitritt auch in den neuen Bundesländern übernommen wurde. Das Recht der A. wurde durch Gesetz zur Reform der A. vom 24.3.1997 in das -» Sozialgesetzbuch als SGB ΠΙ integriert. Neben den Aufgaben der A. wird die besondere Verantwortung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ftlr den Arbeitsmarkt betont. Das Gesetz ist, von Überleitungsvorschriften abgesehen, seit 1.1.1998 in Kraft. Finanzielle Leistungen an Arbeitslose sollen künftig nur noch gewährt werden, wenn auch neben den Möglichkeiten der Arbeitsverwaltung eigene Bemühungen genutzt werden, die Beschäftigungslosigkeit zu beenden. Durch den EWG-Vertrag vom 25.3.1957 und durch die Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und 574/92 sind die Grundlagen der Arbeitslosenversicherung auch innerhalb der —> Europäischen Union abgesichert. Lit.: Α. Gagel: Arbeitsförderungsgesetz, Komm., München 1995ff.; Schönefelder/Kranz/Wanka: SGB III, Komm., Stuttgart 3 1997.
Alfons Ermer Arbeitsgemeinschaft kath. Frauenverbände und -gruppen ist ein bundesweiter
Arbeitskampf
Arbeitsgericht Zusammenschluß von 23 kath. Frauenorganisationen und -gruppen aus gemischten - » Verbänden, in den z.Z. ca. 1.5 Mio. Frauen organisiert sind. Die seit 1949 bestehende AG unterstützt die Mitgliedsverbände bei ihren Aufgaben in —> Kirche und -> Gesellschaft, insbes. die —> ehrenamtliche Tätigkeit von Frauen. Darüberhinaus fördert sie Inititiaven zu Vorgängen im öffentl. und kirchl. Leben und erarbeitet Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen und behördlichen Verlautbarungen. Die Organisation ist Mitglied im —> Deutschen Frauenrat, einzelne ihrer Mitgliedsverbände engagieren sich in der „World Union of Catholic Women's Organization" (WUCWO) und im Zentralkommitee der dt. Katholiken. HgArbeitsgericht / -e —> Arbeitsgerichtsbakreit Arbeitsgerichtsbarkeit ist der Teil der Gerichtsbarkeit, dem die arbeitsrechtl. Streitigkeiten zugewiesen sind (-» s.a. Arbeitsrecht). Verfahrensgrundlage der A. bildet das Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG). Die ZPO gilt subsidiär (§§ 46 Π, 80 Π ArbGG). Die Zuständigkeit der A. erstreckt sich ausschließlich auf Streitigkeiten zwischen —> Arbeitgebern und -> Arbeitnehmern, die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergeben, auf Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern, auf Konflikte der —> Tarifvertragsparteien bzw. zwischen diesen und Dritten sowie auf Auseinandersetzungen bei der Frage nach der TarifMügkeit von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen. Eine Entscheidung kann im Urteilsverfahren (§§ 2, 46ff. ArbGG) sowie im Beschlußverfahren (§§ 2a, 80ff. ArbGG) ergehen. Die A. wird durch die Arbeitsgerichte, die Landesarbeitsgerichte und das Bundesarbeitsgericht ausgeübt (§ 1 ArbGG). Die Gerichte der A. entscheiden über die Zulässigkeit des zu ihnen beschrittenen Rechtswegs; eine Rechtswegverweisung ist möglich (§ 48 ArbGG, § 17a GVG).
Die A. ist gekennzeichnet durch paritätische Besetzung der Spruchkörper in allen Instanzen mit ehrenamtlichen Beisitzern aus Kreisen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber (§ 6 ArbGG) und durch ein gegenüber dem Zivilprozeß einfacheres, zügigeres ( § 9 1 ArbGG) und kostengünstigeres Verfahren. Zustellungen erfolgen sämtlichst von Amts wegen (§ 50 ArbGG; auch die der Urteile). Für alle mit einem befristeten - » Rechtsmittel selbständig anfechtbaren Entscheidungen ist eine Rechtsmittelbelehrung obligatorisch; deren Fehlen oder Unrichtigkeit läßt die Rechtsmittelfrist nicht laufen (§ 9 V ArbGG). Vor dem Arbeitsgericht können sich die streitenden Parteien von Privatpersonen, Anwälten oder durch —> Gewerkschaften bzw. durch ihren Verband vertreten lassen. Vor dem Bundesarbeitsgericht (s.a. -» Bundesgerichte) besteht stets Anwaltszwang; vor den Landesarbeitsgerichten nur, soweit nicht eine Vertretung durch Vertreter von Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden erfolgt. Lit.: F. Hauck: 1996.
Arbeitsgerichtsgesetz, München
Claudia Tiller Arbeitsgruppen Fraktion
der
Fraktionen —>
Arbeitskampf ist der Oberbegriff für kollektive Maßnahmen der -» Arbeitgeber und -> Arbeitnehmer, die eine Störung der vertraglichen Arbeitsbeziehungen beinhalten und auf die Durchsetzung eines bestimmten Kampfzieles gerichtet sind. Das Kampfmittel der Arbeitnehmer bzw. ihrer —> Gewerkschaften ist der Streik in seinen vielfältigen, teilw. auch rechtswidrigen Formen. Die Arbeitgeber und ihre Verbände bedienen sich der Aussperrung. Selten wird heute das A.mittel des Boykotts praktiziert. A.e sind nach Art. 9 Abs. 3 GG zulässig und als -> soziales Grundrecht der Arbeitnehmer im Europarecht verankert. Der Streik wird auch in einigen —» Landesverfassungen der BRD erwähnt.
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Arbeitskreise der Fraktion
Arbeitslosigkeit
Das A. recht ist in der BRD nicht gesetzlich normiert. Die Rechtsprechung des -» Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts (-» Bundesgerichte, Arbeitsgerichtsbarkeit) hat jedoch zentrale Grundsätze entwickelt. Der Streik, der nach der Ausschöpfung aller Verständigungsmöglichkeiten mit dem Ziel geführt wird, eine bestimmte tarifvertragliche Regelung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen herbeizuführen und der in diesem Rahmen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, gilt weitgehend unbestritten als legale Form des A.es. Polit, und sog. wilde, d.h. nicht von einer Gewerkschaft ausgerufene Streiks gelten als rechtswidrig. Daneben herrscht in den Wissenschaften und bei den -> Tarifvertragsparteien ein erheblicher Dissens über die rechtl. Qualifizierung von A.maßnahmen. Strittig sind auch die betriebs- und volkswirtschaftl. sowie internationalen Wirkungen von A.en. Lit.: M. Löwisch (Hg.): Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht, Heidelberg 1997.
E.R. Arbeitskreise der Fraktionen -» Fraktion Arbeitslosengeld —> Arbeitslosenversicherung -> Bundesanstalt für Arbeit Arbeitslosenversicherung (ALV) basierend auf dem SGB ΠΙ - dient der Verhinderung von —> Arbeitslosigkeit (AL), der Beseitigung der AL durch Arbeitsförderung und der Zahlung von Lohnersatzleistungen zum Ausgleich eines finanziellen Schadens bei AL. Sie ist dabei Bestandteil der -» Sozialversicherung und deshalb nur in Teilen einer privatwirtschafll. Versicherung vergleichbar. —> Arbeitgeber und -nehmer zahlen anteilig bis zur Beitragsbemessungsgrenze von 100.800 DM (West) bzw. 84.000 DM (Ost) (1998) Beiträge von 6,5 v.H. des Jahresbruttoeinkommens an die ALV. Freigestellt von der Beitragspflicht sind u.a. geringfügig Beschäftigte, —» Beamte sowie Schüler 34
und Studenten. Zu den Leistungen der ALV zählen u.a. die Arbeitsvermittlung und -beratung sowie die Förderung der beruflichen Bildung. Darüber hinaus wird die Aufnahme einer —> Arbeit oder einer selbständigen Tätigkeit gefördert. Unter den Maßnahmen zur Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen fallen neben Kurzarbeit· und Schlechtwettergeld insbes. die Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung (ABM). Weiterhin ist die Erstattung der Kosten der Beschäftigung von sonst Arbeitslosen mittels Strukturanpassungsmaßnahmen möglich (§§ 272ÍT. SGB ΠΙ. Die ALV gewährt Arbeitslosengeld an Stelle des während der Zeit der AL ausfallenden Arbeitsentgelts. Der Betroffene muß u.a. beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet sein und eine dauerhafte Beschäftigung suchen. Weiterhin muß eine gewisse Anwartschaftszeit erfüllt sein. Die Dauer des Arbeitslosengeldes orientiert sich an der Dauer der Beitragspflicht, die Höhe nach der Höhe des bisherigen Arbeitsentgelts. Das Altersübergangsgeld als weitere Leistung der ALV soll älteren Arbeitnehmern in den neuen Bundesländern ermöglichen, die Zeit bis zur Altersrente zu überbrücken, wenn sie ihren Arbeitsplatz aufgrund der Wiedervereinigung verloren haben. Träger der ALV ist die —> Bundesanstalt für Arbeit, verbunden mit den Landesarbeitsämtern und den Arbeitsämtern. Lit: Bundesministerium ßr Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Obersicht über das Sozialrecht, Bonn'l1997, S. 41ff.
Raimund Weiland Arbeitslosigkeit Von A. spricht man, wenn das Arbeitsangebot der Arbeitnehmer größer ist als die Arbeitsnachfrage der Arbeitgeber. Zahlreiche Erklärungsansätze zur A. führen zu unterschiedlichen Lösungen. In der sog. neoklassischen Theorie wird A. durch die Existenz eines Lohnes - als Marktpreis für das Gut —» Arbeit auf dem Arbeitsmarkt - begründet, der kurzfristig über dem markträumenden
Arbeitsmarktpolitik
Arbeitsmarktpolitik
liegt. Entsprechend kann durch die Senkung des Lohnes ein Marktgleichgewicht hergestellt werden, der die A. verschwinden läßt. Da aber die Suche nach einem geeigneten Arbeitsplatz bzw. Arbeitnehmer Zeit benötigt und nicht zu einer sofortigen, markträumenden Lohnanpassung führt, entsteht Sucharbeitslosigkeit. Weitere Ursachen für A. sind in den Informationsdefiziten der Betroffenen über Lohnhöhe, Qualität der Bewerber und Arbeitsgelegenheiten zu finden. Können die Defizite abgebaut werden, vermindert sich die Α.; aber auch die üblicherweise langfristigen Vertragsbeziehungen auf dem Arbeitsmarkt verhindern eine rasche Anpassung des Lohnes: Der Lohn ist starr, weshalb Änderungen der Gütemachfrage nicht zu Lohnanpassungen führen, sondern zu Ungleichgewichten auf dem Arbeitsmarkt, verbunden mit Α.; auch Fehler in der Tarifpolitik können zu A. führen. Gelingt z.B. eine Flexibilisierung der Entlohnung, verringert sich die A. Während in der neoklassischen Theorie Lohnänderungen zum Verschwinden der A. führen, ist dies nach der Keynes'schen Theorie nicht möglich: Der Arbeitsmarkt wird vom Gütermarkt dominiert, weshalb A. nur durch staatl. Eingriffe geld- und fiskalpolit. Art beseitigt werden kann, z.B. durch staatl. Nachfrage auf dem Gütermarkt. Verzögerte Preis- und Mengenreaktionen auf den Märkten führen bei starren Löhnen und Preisen kurzfristig immer wieder zu Ungleichgewichten und damit zu Α.; ob sich langfristig ein Gleichgewicht herausbildet, ist ungewiß. AL wird durch die Arbeitslosenquote als Quotient der als arbeitslos Registrierten zur Anzahl der abhängig Erwerbstätigen gemessen (-> s.a. Bundesanstalt für Arbeit; -> Arbeitslosenversicherung). Lit: Η. Schmid/D. v. Dosky: Ökonomik des Arbeitsmarktes I, Bern 1990.
Raimund Weiland Arbeitsmarktpolitik Unter A. versteht man Maßnahmen, die das Ziel haben, den Arbeitsmarkt mit seinen sektoralen, re-
gionalen, qualifikatorischen und gruppenspezifischen Teilmärkten so zu beeinflussen, daß für alle Arbeitssuchenden eine möglichst ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechende kontinuierliche Beschäftigung zu bestmöglichen Bedingungen sichergestellt wird. Hauptträger der A. ist die -» Bundesanstalt für Arbeit mit ihren Arbeitsämtern. Hinzu treten der —• Bund, die -> Länder, die —> Gemeinden, die Tarifvertragsparteien und die Europäische Union, diese v.a. mit den Maßnahmen, die aus dem Europäischen Sozialfonds bestritten werden. Die arbeitsmarktpolit. Instrumente der Arbeitsämter sind im —» Arbeitsförderungsgesetz (SGB ΠΙ - Arbeitsförderung) festgelegt. Sie umfassen Maßnahmen der aktiven A. (z.B. Arbeitsvermittlung, Berufsberatung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) und der passiven A. in Form von Unterstützungszahlungen. Der Bund gestaltet die gesetzlichen Grundlagen der Α., ist finanziell engagiert, nimmt z.B. in Form der Bildungs-, Renten- und Ausländerpolitik Einfluß auf das Arbeitskräftepotential. Die Tarifparteien beeinflussen den Arbeitsmarkt z.B. durch die Vereinbarung von Lohnstandards, von Arbeitszeitverkürzungen, durch Beschäftigungs- und Übemahmegarantien. Länder und Gemeinden betreiben regionale bzw. lokale Beschäftigungspolitik und bedienen sich nicht selten der Leistungsangebote der Bundesanstalt, um etwa durch die Inanspruchnahme von Geldern für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einen ir2. Arbeitsmarkt" für besonders benachteiligte Arbeitslose zu organisieren. Vor dem Hintergrund der schon Jahrzehnte dauernden Massenarbeitslosigkeit sind alle diese Maßnahmen bei weitem nicht ausreichend gewesen. Über die Ziele und Instrumente der A. besteht derzeit ein großer polit. Dissens; (s.a. —• Arbeitslosigkeit, —> Arbeitsförderung). Lit.: U. Engelen-Kefer u.a.: Beschäftigungspoli-
tik, Köln '1995; G. Schmid: Reform der Arbeitsmarktpolitik, Berlin 1996. Eckart Reidegeld 35
Arbeitsparlament
Arbeitsrecht
Arbeitsparlament bezeichnet - im Gegensatz zum —• Redeparlament - einen Parlamentstyp, für den die spezialisierte Ausschußarbeit kennzeichnend ist. Nicht die parlament. —> Rede, weniger die polit. Konfrontation zwischen Regierungs- und Mehrheitsmeinung auf der einen und Parlament. —> Opposition auf der anderen Seite kennzeichnen seinen polit. Stil, sondern die sachkundige Befragung von Regierungsexperten durch parlament. Experten. Gefragt ist nicht der polit. Rhetoriker, sondern der sachkundige —» Abgeordnete. Die histor. Herausbildung und institutionelle Ausformung des A.s wird gefördert durch - » Bundesstaatlichkeit und -> präsidentielles Regierungssystem. Der amerik. —» Kongreß gilt als Beispiel für ein Α., das engl. -> Unterhaus verkörpert dagegen den Typ des Redeparlaments. Gemessen an beiden Parlamentstypen stellt der Dt. -> Bundestag eine Mischform dar. Strukturell eingebettet in das —> parlament. Regierungssystem einerseits und in die bundesstaatl. -» Verfassung andererseits trägt er die Antinomie beider Parlamentstypen in sich. Sie entlädt sich im Spannungsverhältnis von Ausschußund Plenumsarbeit, von Effizienz- und Transparenzorientierung. Der Versuch, in der parlament. Praxis beide Parlamentstypen zu synchronisieren ist gescheitert. Der Bundestag sowie die -» Landesparlamente lösen die in der Zwitterstellung des Regierungs- und Verfassungssystems angelegte Funktionsüberlastung der Parlamente zugunsten des A.s auf. Lit.: W. Steffani: Amerik. Kongreß und Dt. Bundestag - Ein Vergleich, in: APuZ 43/1965, S. 12ff.
Leo Kißler Arbeitsrecht Das A. ist die Gesamtheit aller —» Rechtsvorschriften, die sich auf die Tätigkeit abhängig Beschäftigter beziehen. Herkömmlicherweise wird das A. in 5 große Bereiche gegliedert: Die Rechte und Pflichten im Arbeitsverhältnis 36
insbes. aus dem Arbeitsvertrag, das Arbeitnehmerschutzrecht, das Tarif- und Arbeitskampfrecht, das Betriebs- und Unternehmensverfassungsrecht und schließlich das Arbeitsverfahrensrecht. Die Begriffe des A.s und des Arbeitsverhältnisses sind wesentlich vom Arbeitnehmerbegriff bestimmt, der eine privatvertragliche, weisungsgebundene Tätigkeit voraussetzt, die unter örtlicher und zeitlicher Einbindung in eine Betriebsorganisation erbracht wird. Das individuelle A. beinhaltet im wesentlichen das Arbeitsvertragsrecht, das die Rechte und Pflichten im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und dem einzelnen Arbeitnehmer regelt. Das kollektive A. gestaltet demgegenüber die Rechtsbeziehungen im Dreiecksverhältnis zwischen Arbeitgeber, Arbeitnehmern und —> Betriebsrat sowie zwischen Gewerkschaften, -> Arbeitgeberverbänden und Arbeitnehmern (-> s.a. Tarifvertragsparteien). Das A. ergibt sich aus einer Vielzahl von Rechtsquellen, die eine bestimmte Rangordnung aufweisen. Der untersten Ebene sind der Einzelarbeitsvertrag und die Einzelanweisungen des Arbeitgebers zuzuordnen, und den jeweils darüber liegenden Hierarchiestufen die Betriebsvereinbarung, der Tarifvertrag, die Gesetze und die -> Grundrechte. Der Grundrechtskatalog umfaßt insbes. das arbeitsrechtl. zu achtende Allgemeine Persönlichkeitsrecht in Art. 2 Abs. 1 GG, den arbeitsrechtl. äußerst bedeutsamen Gleichheitssatz (-> Gleichheit) und Gleichberechtigungsgrundsatz in Art. 3 sowie die Gewährleistung der Arbeitgeber· und Arbeitnehmerverbände in Art. 9 Abs: 3 GG (-> Koalitionsfreiheit). Innerhalb dieser Rangordnung geht im Falle von widersprüchlichen Regelungen die höherrangige Rechtsquelle der niederrangigen vor (Rangprinzip), es sei denn, die niederrangige Rechtsquelle beinhaltet für den Arbeitnehmer die günstigere Regelung (Günstigkeitsprinzip). Die Tarifautonomie verdrängt allerdings günstigere Betriebsvereinbarungen insbes. im Be-
Arbeitsrecht reich der materiellen Arbeitsbedingungen, soweit diese durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden (§ 77 Abs. 3 BetrVG). Durch Betriebsvereinbarung können daher keine übertariflichen Lohnerhöhungen vereinbart oder vorweggenommen werden. Diese Sperrwirkung der tariflichen oder tarifüblichen Regelung sichert die im Rahmen der Koalitionsfreiheit gewährleistete Tarifautonomie. Soweit es um gesetzliche Überwachungs- und Eingriffsbefugnisse des Staates zum Schutze von Arbeitnehmern geht, sind diese dem —> öffentlichen Recht zuzuordnen, im übrigen gehört das A. zum —> Privatrecht. Die Auslegung und Anwendung des A.s obliegt den Arbeitsgerichten, deren Zuständigkeit in §§ 2£f. des ArbGG detailliert geregelt ist. Histor. betrachtet hat sich das A. in den letzten 100 Jahren entwickelt. Infolge der im Rahmen der Industrialisierung eingeführten arbeitsteiligen Verfahrensweisen und der daraus entstandenen Massenarbeitsverhältnisse ergaben sich zunehmend soziale Spannungen. Die Wurzeln des kollektiven A. reichen in diese Zeit zurück. Mitte des letzten Jhd.s versuchten erste Arbeiterzusammenschlüsse durch gemeinsames Handeln bessere Gesamtarbeitsbedingungen nach Art von Tarifverträgen auszuhandeln. Mit der Tarifvertragsordnung vom Dezember 1918 wurde erstmalig der Vorrang des Tarifvertrages anerkannt. Art. 159 der —> Weimarer Reichsverfassung sicherte die Gewerkschaften auch verfassungsrechtich ab. Im Feb. 1920 wurde das 1. Betriebsrätegesetz erlassen. Das in der Weimarer Zeit entstandene kollektive A. wurde im —> Nationalsozialismus durch das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit von 1934 abgeschafft. Erst nach 1945 erfuhr die Koalitionsfreiheit eine umfassende verfassungsrechtl. Gewährleistung. Außerdem beruht das heutige kollektive A. auf dem Tarifvertragsgesetz v. 1969, dem BetrVG v. 1972 und der Mitbestimmungesetzgebung (Montanmitbestimmungsgesetz v. 1951,
Arbeitsrecht das insoweit fortgeltende BetrVG v. 1952 und das Mitbestimmungsgesetz v. 1976). Das geltende individuelle A. hat sich insbes. durch Rechtsprechung und Gesetzgebung zu den §§ 611-630 -> BGB entwickelt, ist aber daneben auf eine Vielzahl von einzelnen Gesetzeswerken verteilt. Mit dem am 3.10.1990 in Kraft getretenen —> Einigungsvertrag galt das kollektive und individuelle A. der Altbundesländer im wesentlichen auch für das Gebiet der ehemaligen -> DDR. Arbeitsrechtl. Besonderheiten, die sich aus einer vorübergehenden Fortgeltung des Arbeitsgesetzbuches der DDR ergaben, sind inzwischen beseitigt. Neben dem dt. A. hat sich inzwischen ein eigenständiges Gebiet des europ. As. herausgebildet. Es entwickelte sich im wesentlichen auf der Grundlage der Art. 48ff. EGV und 117ff. des EWG-GründungsVertrages. Mit dem Vertrag zur Gründung der —> Europäischen Union i.d.F. v. 7.2.1992 sind diese arbeits- und sozialrechtl. relevanten Bestimmungen übernommen und durch durch das Protokoll sowie ein Abkommen über die —> Sozialpolitik ergänzt worden. Zur Ausführung dieses —> Gemeinschaftsrechts bestehen inzwischen zahlreiche europ. Rechtsakte, insbes. in Form von Richtlinien und Verordnungen. Das individuelle europ. A. umfaßt 4 Kembereiche: Eine umfassende Regelung der Freizügigkeit des europ. Arbeitnehmers, das Gebot der —> Gleichbehandlung der Geschlechter, Regeln über die vertragliche Gestaltung europ. Arbeitsverhältnisse sowie Vorschriften über den techn. und sozialen Arbeitsschutz. Das kollektive europ. A. basiert auf Art. 118b EGV und der Gemeinschaftscharta der —» sozialen Grundrechte von 1989. Es enthält Regelungen zur europ. Koalitionsfreiheit, zum europ. Tarifvertragsrecht, zum Arbeitskampfrecht, zum Betriebsverfassungsrecht und zum Europ. Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer im Unternehmen. Da das europ. A. dem der Mitgliedstaaten vorgeht, wird das dt. A. zunehmend von
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Artikel
Asyl
Europ. Verordnungen und Richtlinien, insbes. durch die dazu ergangene Rechtsprechung des —> Europäischen Gerichtshofs verdrängt. Im marktwirtschaftl. orientierten Wirtschaftssystem der BRD kommt dem A. nach wie vor die Aufgabe zu, einen Interessenausgleich zwischen dem Unternehmen und den darin abhängig Beschäftigten zu schaffen. Das A. leistet damit seinen Beitrag zur sozial modifizierten Marktwirtschaft. Gegenwärtig zeichnet sich ein Rückschnitt sozialer Standards ab. Darüber hinaus wird die Harmonisierung der Arbeitsbedingungen in der EU zunehmend an Bedeutung auch für das dt. A. gewinnen. Lit.: H. Konzen: Der europ. Einfluß auf das dt. Arbeitsrecht nach dem Vertrag über die Europäische Union, in: EuZW 1995, S. 39ff.; D. Krimphove·. Das Europ. Arbeitsrecht, München 1996; R. Richardi: Münchener Komm. I., München 2 1992; G. Schaub: Arbeitsrechtshandbuch, München 8 1996.
Barbara Buschmann Artikel In der Staatspraxis bezeichnen A. die Gliederungsabschnitte von —> Gesetzen. Das —» Grundgesetz und die Verfassungen der Länder sind in Α., nicht in -> Paragraphen gegliedert; in Bayern sind förmliche Gesetze ebenfalls in A. gegliedert (s.a. —» Artikelgesetz). HgArtikelgesetz ist ein —> Gesetz, durch das mehrere andere Gesetze geändert werden. In den einzelnen Artikeln eines sog. A. werden Änderungen anderer Gesetze jeweils gesondert festgelegt. Anlaß: Der -> Gesetzgeber hatte ein bestimmtes Ziel im Auge. Um dieses Ziel zu erreichen, hätte er jedes davon betroffene Gesetz einzeln novellieren können; er hat aber wegen der besseren Übersichtlichkeit den Weg der Zusammenfassung aller Einzeländerungen in einem A. gewählt. B. H.-L. Artikulation:38
und
Kommunikations-
funktion des Parlaments -> Bundestag Assemblée Nationale -> Nationalversammlung, französische Asyl 1. Allgemeines Unter A. wird völkerrechtl. der Schutz verstanden, den ein —> Staat einer staatsfremden Person oder Personengruppe gewährt, die in seinem Hoheitsgebiet Zuflucht vor (polit.) Verfolgung im Heimatstaat sucht. Seinen Ursprung hat der Begriff im antiken Griechenland, wo „asylos topos" eine heilige Zufluchtstätte bezeichnete. Zunächst religiös-kirchl. geprägt, entstand das weltliche A. in der frühen Neuzeit als Recht souveräner Fürsten und mündete im Übergang vom 18. zum 19. Jhd. in die Form staatl. Gesetzgebung. Die Gewährung von A. zählt zu den Souveränitätsrechten jedes Staates und ist seinem Ermessen vorbehalten. Angesichts globaler Flucht- und Wanderungsbewegungen und der Schwierigkeit, deren mögliche Ursachen polit., wirtschaftl. oder sonstiger Natur im Einzelfall abzugrenzen, vermengt sich die A. gewährung in den westlichen Industriestaaten zusehends mit dem Problem der Begrenzbarkeit von Zuwanderung. 2. Dt. A. recht Im -> Grundgesetz hat das A.recht 1949 Verfassungsrang erhalten. Mit der Formel „Politisch Verfolgte genießen A.recht" (Art. 16 Abs. 2 S. 2) wurde jedem A.suchenden der Zugang zu einem Anerkennungsverfahren garantiert. Dieses weltweit singulare und generöse A.recht resultierte v.a. aus den Erfahrungen im -> Nationalsozialismus als zahllose Deutsche Aufnahme in Europa oder in Übersee fanden, anderen aber auch die Zuflucht versagt blieb. Die Auslegung von Art. 16 GG lehnte sich zumeist an die durch die Genfer Flüchtlingskonvention 1951 gegebene Definition an. Danach gilt als polit, verfolgt, wer aufgrund begründeter Furcht vor Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder polit. Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes Schutz sucht. Eine Auslieferung von A.su-
Asyl chenden wird grds. ausgeschlossen und ist möglich nur bei sog. Zusammenhangstaten, die neben polit. Verbrechen auch solche gegen das Leben umfassen. Das A.recht kann verwirkt werden, wenn es „zum Kampfe gegen die -> freiheitliche demokratische Grundordnung" mißbraucht wird (Art. 18 GG). Gegenüber der Anfangszeit (1953-1968 ca. 70.000 A.bewerber, davon ca. 17.000 anerkannt; 1969-1977 ca. 83.000 A.bewerber, ca. 32.000 anerkannt) hat sich die Einreise von A. suchenden seit 1978 verstärkt, während der Anteil der vom —> Bundesamt ftlr die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge als asylberechtigt klassifizierten Personen zurückging. Erstmals wurden 1980 mehr als 100.000 A.suchende - v.a. aus der —> Dritten Welt - in Dtld. registriert (anerkannt ca. 12%). A.rechtl. Verschärfungen (Visumzwang, zwischenzeitliches Arbeitsverbot, Sozialhilfekürzungen, Sammelunterbringung) bewirkten einen deutlichen Rückgang, bevor 1988 erneut über 100.000 A.bewerber registriert wurden. Im Gefolge der polit. Umwälzungen in Osteuropa verdoppelte sich ihre Zahl bis 1990 auf knapp 200.000 und bis 1992 noch einmal auf 438.000. Zugleich wuchs der Anteil geschäftsmäßiger Einschleusungen und ging die Anerkennungsquote auf unter 5% zurück. Dtld. nahm in dieser Zeit ca. 80% aller A. suchenden in Westeuropa auf. Nach intensiver Diskussion und unter dem Einfluß fremdenfeindlicher Gewalt trat 1993 ein verändertes A.recht in Kraft. Auf Art. 16a GG kann sich nicht mehr berufen, wer aus einem EU-Staat oder über einen sicheren Drittstaat nach Dtld. eingereist ist. Für Staatsangehörige aus als sicher geltenden Herkunftsländern ist nurmehr ein verkürztes Verfahren vorgesehen, ihre A.anträge gelten als unbegründet. Die Bestimmung sicherer Drittund Herkunftsstaaten erfolgt durch Gesetz, so daß eine flexible Reaktion auf polit. Veränderungen möglich ist. Derzeit ist die BRD per Definition von einem Gürtel solcher Staaten umgeben, die
Asyl zugleich potentielle Rücknahmeländer für A. suchende sind. Ist der Transitstaat bekannt und aufnahmebereit, können A.bewerber dorthin zurückgeschickt werden, ohne ein A.verfahren durchlaufen zu haben. Das A.Verfahrensgesetz trifft darüber hinaus eine Sonderregelung für auf dem Luftweg eingetroffene A.bewerber, deren Verfahren auf dem Flughafengelände (exterritoriales Gebiet) noch vor der eigentlichen Einreise nach Dtld. durchgeführt werden soll. Mit dem A.bewerberleistungsgesetz wird eine erhebliche Reduzierung der Sozialhilfeleistungen vorgenommen, die überwiegend nur noch in Form von Sachgütern gewährt werden. In bezug auf Aufenthaltsstatus und Gewährung sozialer Leistungen unterscheiden Ausländer- und A.recht insg. 5 Flüchtlingsgruppen, darunter auch solche, die ohne A.verfahren ein vorübergehendes oder dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten. Die größte Flüchtlingsgruppe bilden De-facto-Flüchtlinge, die trotz fehlender Anerkennung wegen faktischer Abschiebehindernisse als schutzbedürftig gelten. Die A.rechtsänderung hat einen drastischen Rückgang der A.bewerberzahlen bewirkt (1993: 322.000; 1994: 127.000; 1995: 128.000; 1996: 116.000; anerkannt ca. 10%), sie sieht sich jedoch auch Kritik ausgesetzt im Hinblick auf den eingeschränkten —» Rechtsschutz, den Vorrang von Fluchtwegen vor Fluchtgründen sowie denkbaren Kettenabschiebungen von A.suchenden über mehrere Staaten hinweg bis zurück in das (unsichere) Herkunftsland. Eine Harmonisierung von A.und Immigrationsbestimmungen in der -> EU erscheint geboten. Fraglich ist jedoch, ob das dt. A.recht hierbei als subjektives Recht zu bewahren oder aber in eine Ermessensregelung außerhalb der Verfassung umzuwandeln wäre, wie sie in anderen europ. Staaten praktiziert wird. Lit: Asylverfahrensgesetz AsylVfG; Asylbewerberleistungsgesetz AsylbLG; Ausländergesetz AuslG¡Genfer Flüchtlingskonvention GFK; W. Kanein / G. Renner: Ausländerrecht, München 61993; U. Münch: Asylpolitik in der BRD,
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Asylrecht
Attaché
München 2 1993.
Holger Hinte Asylrecht —> Asyl Atlantischer Ministerrat - » NATO Atomrecht Das A. umfaßt diejenigen Rechtsmaterien, die eine (friedliche) Nutzung von Kernenergie zum Gegenstand haben. Bedeutende internationale Rechtsquellen sind: der Vertrag v. 25.3.1957 (BGBl. Π S. 1014) über die Europäische Atomgemeinschaft (—» EURATOM) sowie der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (Atomwaffen-Sperrvertrag) v. 1.7.1968 (BGBl. 1974 Π S. 786). Die Einhaltung des Atomwaffensperrvertrages wird von der Internationalen Atomenergie-Organisation überwacht. Die EURATOM hat zur Aufgabe, durch die Schaffung der für eine schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten und zur Entwicklung der Beziehungen mit anderen Ländern beizutragen. Auf nationaler Ebene ist das A. in dem auf der Grundlage des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 la GG erlassenen Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und dem Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz) i.d.F.v. 15.7.1985 (BGBl. I S. 1565) und daraufgestützte —> Rechtsverordnungen (z.B. RöntgenstrahlenVO, StrahlenschutzVO) normiert. Weitere Regelungen finden sich im Strahlenschutzvorsorgegesetz v. 19.12.1986 (BGBl. I S. 2610) sowie im Gesetz über die Errichtung des - > Bundesamtes für Strahlenschutz v. 8.10.1989 (BGBl. I S. 1830). Aufgrund der von der Kernenergie ausgehenden Risiken enthalten diese Gesetze im Hinblick auf Art. 2 Abs. 2 GG ( - » Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) umfassende materielle und verfahrensrechtl. Vorgaben für die friedliche Nutzung von Kernenergie. Wie das - » Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, kann der —> Bürger vom Ge-
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setzgeber allerdings nicht verlangen, daß dessen legislativen Maßnahmen mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen durch die Kernenergienutzung ausschließen. Vielmehr hat er ein als sozialadäquate Last betrachtetes Restrisiko hinzunehmen. Die Nutzung von Kernenergie ist aufgrund ihres Gefährdungspotentials (siehe Tschernobyl) sowie der Entsorgungsproblematik ein in —> Öffentlichkeit und —> Politik kontrovers diskutiertes, gelegentlich auch gewaltsam ausgetragenes Thema. Zum Teil wird der sofortige Ausstieg aus der friedlichen Kernenergienutzung oder zumindest ein langfristiger und planvoller Rückzug gefordert. Rechtl. wäre ein Sofortausstieg durch entsprechende Umgestaltung der Gesetzeslage denkbar. Ob darüber hinaus eine Änderung (mit Zweidrittelmehrheit von - > Bundestag und —> Bundesrat) der legislativen Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. I I a GG erforderlich wäre, hängt davon ab, ob man dieser Bestimmung eine verfassungsrechtl. Entscheidung zugunsten der friedlichen Kernenergienutzung entnimmt. Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes dürften den Kemkraftwerkbetreibem jedenfalls erhebliche, das Gleichgewicht der öffentl. Haushalte gefährdende finanzielle Entschädigungsansprüche zu stehen. Lit.: Ν. Peìzer (Hg.): Dt. Atomenergierecht im internationalen Rahmen, Baden-Baden 1992; R.
Steinberg (Hg.): Reform des Alomrechts, BadenBaden 1994; P. J. Tettinger: Recht der Energiewirtschaft, in: R Schmidt (Hg.), Öffentl. Wirtschaftsrecht 1, Berlin 1995, S. 729fT.
Ralf Müller-Terpitz Attaché (frz. Zugeordneter, Zugewiesener, zur Unterstützung Beigegebener). 1. Angehöriger des Vorbereitungsdienstes für den höheren -> Auswärtigen Dienst; damit Rangbezeichnung für die Eingangsstufe im -> Diplomatischen Dienst. 2. -» Diplomat, der einer Auslandsvertretung für eine fachlich spezialisierte Aufgabe zugewiesen ist (z.B. Kultur-, Militär-, Presseattaché). Das —> Auswärtige Amt
Auskunft
Aufhebung der Sitzung stellt jedes Jahr A.s als Nachwuchsbeamte ein. Diese werden in einem umfassenden Auswahlverfahren mit Fach- und Sprachprüfung ermittelt (Aufnahmealter 32 Jahre). Für den höheren Dienst ist ein abgeschlossenes Hochschulstudium erforderlich; überdies umfassende Allgemeinbildung, Rechtskenntnisse (besonders im -> Völker- und —> Staatsrecht), Kenntnisse in der Volkswirtschaft und in der neueren Geschichte. Darüber hinaus werden solide Kenntnisse in der engl, und frz. Sprache verlangt. Der Vorbereitungsdienst der A.s dauert 2 Jahre und wird mit der Laufbahnprüfung (-> Laufbahnprinzip) abgeschlossen. Er umfaßt Lehrgänge in eigener Ausbildungsstätte des Auswärtigen Amtes in Bonn und Verwendung im In- und Ausland. Die —> Ernennung bestimmter Personen zu Militär-, Marineund Luftwaffenattachés kann der Empfangsstaat von seiner Zustimmung abhängig machen. K . H .
Aufhebung der Sitzung -> Plenum Auflösung des Parlaments —> Parlamentsauflösung Auflösung eines Ausschusses —» Ausschuß Auflösungsrecht, parlamentarisches —> Parlamentsauflösung Aufsichtsbehörde —> Behörde Aufsichtsbeschwerde —> Dienstaufsichtsbeschwerde Auftragsverwaltung -> Bundesauftragsverwaltung Aufwandsentschädigung - > Abgeordnetenentschädigung Ausbürgerung —> Staatsangehörigkeit Ausfertigung der Gesetze -> Gesetzge-
bungsverfahren Ausführung der Gesetze —> Verwaltung Ausführungsbestimmungen —> Verwaltungsvorschriften —> Rechtsvorschriften Ausgabe von Banknoten -> Bundesbank Auskunft / Auskünfte —> Behörden sind gegenüber Verfahrensbeteiligten, z.B. bei einem —> Verwaltungsakt zur A. (über die Rechte und Pflichten des Betroffenen) verpflichtet (§ 25 VwVfG) - und zwar nach bestem Wissen und unter Beachtung aller Sorgfaltspflichten. Auch die sog. Rechtsmittelbelehrungen sind A.e. Diese A. ist kein die Behörde bindender Verwaltungsakt, allerdings kann eine falsche Aussage Schadensersatzansprüche nach sich ziehen. Eine schriftlich erfolgende behördliche Zusicherung stellt jedoch eine Selbstverpflichtung dieser Behörde dar. Verbindliche A.e sind u.a. im Rahmen von Baugenehmingungsverfahren vorgesehen, z.B. in Form des sog. Vorbescheids. Ob an Nicht-Verfahrens-Beteiligten behördliche A. oder Akteneinsicht gewährt wird, liegt im Ermessen der Behörde. Sie ist für Dritte möglich, wenn die betroffenen Parteien einwilligen und/oder wenn ein berechtigtes Interesse geltend gemacht wird. Hier gilt es insbes., die Rechte Dritter (—> Datenschutz, Amtsverschwiegenheit) zu wahren. Einsicht in Strafakten ist nur dem Verteidiger möglich, nicht dem Beschuldigten, dem Verletzten nur durch einen —> Rechtsanwalt; Dritten auch nur durch einen Rechtsanwalt zur Prüfung bürgerl.-rechtl. Ansprüche oder zur sonstigen Rechtsverfolgung. Das Führungszeugnis stellt eine A. aus dem Strafregister dar, die der Betroffene oder eine Behörde beantragen darf. A. aus dem sog. Erziehungsregister beim —> Bundeszentralregister (mit Angaben über jugend- und vormundschaftsgerichtliche Entscheidungen ohne Strafcharakter) erhalten nur Straf- und Vormundschaftsgerichte, Familiengerichte, Gnadenbe-
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Ausländerrecht
Auskunftsrecht hörden, -> Staatsanwaltschaften, -> Jugendämter. A. aus dem Verkehrszentralregister beim - » Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg, das u.a. die Entziehung der Fahrerlaubnis, strafgerichtliche Verurteilungen wegen eines Verkehrsdeliktes, auch Geldbußen registriert, erhalten nur Betroffene sowie Behörden, die u.a. mit Straf- und Bußgeldverfahren oder Verwaltungsmaßnahmen nach dem Straßenverkehrsgesetz befaßt sind. Das Versicherungsamt bei Landratsämtem und bei den meisten kreisfreien Städten haben vollständig und richtig A. hinsichtlich sozialversicherungsrechtl. Leistungen zu geben; ebenso die Versicherungsanstalten zu den Rentenanwartschaften. Zur A. ist der Bürger nur verpflichtet, wenn dies gesetzlich festgelegt ist, z.B. in Steuerangelegenheit gegenüber dem Finanzamt oder privatrechtl. bei einer Scheidung über die Vermögensverhältnisse. Gleichermaßen haben Zeugen vor Gericht und vor der Staatsanwaltschaft wahrheitsgemäß auszusagen. Ein A.verweigerungsrecht besteht für bestimmte Aussagen (nicht per se), wenn man sich oder Verwandte belasten würde. Auch der Beschuldigte in einem Strafvertfahren kann sich daher auf dieses Recht berufen, er muß nur Angaben zu seiner Person machen. Geistliche, Verteidiger, Steuerberater, Ärzte, Rechtsanwälte können u.U. die Aussage verweigern. Eine spezifische A.spflicht von Regierungen besteht im Rahmen des —> Fragerechts von Abgeordneten. Lit.: P. Bilsdorf er: Die Informationsquellen und wege der Finanzverwaltung, Bielefeld 31993; L. Sonnemann: Amtliche Auskunft und Behördengutachten im Zivilprozeß, Aachen 1995.
Jürgen Bellers Auskunftsrecht -> Auskunft Auskunftverweigerungsrecht - » Auskunft Zeugnisverweigerungsrecht Ausländerbeauftragte / -r Durch Beschluß der —> Bundesregierung wurde 42
1978 das Amt eines „Beauftragten für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen" geschaffen. Einsetzung und Amtsbezeichnung trugen der Erkenntnis Rechnung, daß aus dem ursprünglich befristeten Aufenthalt für die meisten sog. Gastarbeiter inzwischen ein Daueraufenthalt geworden war. In der Folge wurden weitere A.-Dienststellen auf kommunaler und Länderebene eingerichtet. Deren Zuständigkeiten sind unterschiedlich gestaltet und beschränken sich durchweg auf eine beratende und informierende Funktion. Ähnliches gilt für das Amt des / der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer" (so der präzisierte Titel seit 1991; seit 1997 „Beauftragte/r für Ausländerfragen"), das zwar für über 7 Mio. Ausländer als Ansprechpartner fungiert, aber nicht mit rechtl. Entscheidungsbefugnissen ausgestattet ist. Der Amtsinhaber und sein dem —> Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung angegliederter Arbeitsstab sollen die ausländerpolit. Bemühungen der Bundesregierung unterstützen, hierfür Anregungen geben und eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit leisten. Auch soll eine Beteiligung bei entsprechenden Gesetzen und anderen Vorhaben stattfinden (erleichtert, sofern Amtsinhaber zugleich Mitglied des Dt. Bundestages ist). Das -> Parlament erhält regelmäßig einen Bericht über die Lage der Ausländer durch den / die Beauftragte/n. Erstmals wird der Aufgabenbereich im 1997 geänderten Ausländergesetz rechtl. geregelt (§ 91a,b AuslG); das Amt hat zugleich eine geringfügige Aufwertung erfahren. In anderen europ. Staaten kommt vergleichbaren Institutionen jedoch teils ein höheres Gewicht zu. Lit.: Ausländergesetz (AuslG).
Holger Hinte Ausländerrecht Eine Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen und Ausländem wird als völkerrechtl. Prinzip in
Ausländerrecht jedem Staat anerkannt und praktiziert. Zuzug und Aufenthalt von Ausländern bedürfen somit gesetzlicher Regelungen. Dtld. nimmt diese bislang v.a. ordnungsrechtl. über die Normen des A.s vor. Durch sie wird festgelegt, welche Ausländer einreisen und unter welchen Voraussetzungen sie sich hier aufhalten dürfen oder ihr Aufenthalt zu beenden ist. Als dauerhafte Zuwanderer kommen neben Familienangehörigen ersten Grades, für deren Einreise das Ausländergesetz einen Rechtsanspruch einräumt, nur EU-Bürger in Frage. Auf sie findet dt. A. nur bedingt Anwendimg, da ihnen EG-Recht unter bestimmten Voraussetzungen Freizügigkeit gewährt. Das Aufenthaltsrecht von Ausländem wird nach Einreisegrund differenziert. Es können befristete und unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen erteilt werden (A.bewilligung, befristete A.erlaubnis, unbefristete A.erlaubnis, A.berechtigung, A.befugnis, A.gestattung, Duldung). Eine Ausweisung und zwangsweise Abschiebung in das Herkunftsland kann bei Straffalligkeit oder Sozialhilfebezug erfolgen, beim sichersten Status der Aufenthaltsberechtigung jedoch nur wegen besonderer Gefährdung der öffentl. Ordnung. Im Grundsatz ist auch die Ausweisung hier aufwachsender Ausländer möglich. Das Ausländergesetz, erstmals 1965 in Kraft getreten, gilt seit 1991 bundeseinheitlich. Seit 1993 sieht es Rechtsansprüche auf Einbürgerung vor. Zuletzt wurde es 1997 umfassend novelliert. Fortbestand hat sein Strukturproblem, den Aufenthalt von Ausländern v.a. ordnungsbehördlich, nicht aber unter Integrationsgesichtspunkten zu regeln. Neben einigen —> Grundrechten ist auch der Zugang zum öffentlichen Dienst sowie das volle Wahlrecht für Ausländer nur über die Einbürgerung erreichbar. EU-Bürger erhalten durch die —> Unionsbürgerschaft seit 1995 das aktive und passive Kommunalwahlrecht (—> Wahlrecht) an ihrem Wohnsitz innerhalb der -» EU. Ein generelles kommunales Ausländerwahlrecht hat das
Ausschließliche Gesetzgebung BVerfG 1990 verworfen. Lit.: Ausländergesetz (AuslG); Bundeswahlgesetz; J. Isensee / E. Schmidt-Jortzig (Hg.): Das Ausländerwahlrecht vor dem BVerfG, Heidelberg 1993; W. Kanein / G. Renner: Ausländerrecht, München 61993.
Holger Hinte Ausländerwahlrecht —> Ausländerrecht Auslegung des Grundgesetzes -> Bundesverfassungsgericht Auslieferung Der Begriff bezeichnet die auf Ersuchen eines ausländischen Staates behördlich durchgeführte Überstellung einer Person in die Hoheitsgewalt dieses —> Staates zum Zwecke gerichtlicher Verfolgung. Gemäß dem Prinzip der Normidentität muß die zur Last gelegte Tat grds. auch im ausliefernden Staat strafbar sein. Eine generelle völkerrechtl. A.spflicht besteht nicht, obschon bilaterale Verträge sowie in Dtld. das Gesetz über die Internationale —> Rechtshilfe in Strafsachen weitgehend binden. Eine A. durch die BRD darferst nach gerichtlicher Prüfung verfügt werden. Möglich ist auch die Übernahme von Strafverfolgung und Urteilsvollstreckung. Ebenso kann eine Sanktion gegen einen im Ausland lebenden Deutschen übertragen werden. Das —> Grundgesetz verbietet die A. von Dt. und polit. Verfolgten, denen -> Asyl gewährt wurde. Lit.: S. Uhlig / W. Schomburg / O. Lagodny: Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, München 21992. H. H
Ausschließliche Gesetzgebung /-skompetenz Das -> Grundgesetz, das in den Art. 30, 70 vom Grundsatz der Länderzuständigkeit für die -» Gesetzgebung ausgeht, macht im Bereich der a.G. des —> Bundes eine Gesetzgebungsbefugnis der —> Länder von deren besonderer Ermächtigung in einem Bundesgesetz abhängig (Art. 71 GG). Die a.G. des Bundes erfaßt solche Politikfelder, in denen nach der 43
Ausschuß
Ausschluß der Öffentlichkeit Natur des zu regelnden Gegenstandes bei seiner rechtl. Ordnung regionale Verschiedenheiten grds. nicht geduldet werden können oder gar nicht denkbar sind. Der Umfang der a.G. des Bundes ergibt sich aus den Zuständigkeitskatalogen der Art. 73 und 105 Abs. 1 GG sowie aus den übrigen im GG enthaltenen Bestimmungen, die eine solche Zuständigkeit begründen (z.B. 21 Abs. 3; 29 Abs. 2, 4 bis 7; 38 Abs. 3; 41 Abs. 3; 54 Abs. 7; 87 Abs. 3 S. 1; 91a Abs. 2; 93 Abs. 2; 94 Abs. 2; 110 Abs. 2; 143a; 143b). Die Länder sind auf allen Gebieten gesetzgeberisch ausschließlich zuständig, die nicht der ausschließlichen, konkurrierenden -> Rahmengesetzgebung oder Grundsatzgesetzgebung des Bundes zugeordnet sind. In Art. 3b EGV ist für das Verhältnis von —> Europäischem Gemeinschaftsrecht zu nationalem Recht bestimmt, daß das Prinzip der -> Subsidiarität als Kompetenzausübungsschranke der Gemeinschaft nur außerhalb der ausschließlichen (Gesetzgebungs-, Verwaltungsund Rechtsprechungs-) Zuständigkeit der —> EG Anwendung findet. Lit.: HäbStR IV, § 100. J. U.
Ausschluß der Öffentlichkeit —> Öffentlichkeit Ausschuß / Ausschüsse Ein A. ist ein formalisiertes Gremium, das von einem —>· Organ, einer —> Körperschaft oder sonstigen —> Institution - meist als vorbereitendes Unterorgan - eingesetzt wird. Im Zuge von Beschleunigungsbemühungen werden A.en allerdings auch abschließende Beschlußkompetenzen zugewiesen, insbes. zur Entlastung des jeweiligen Plenarorgans (Hauptausschuß). A.e werden nicht immer als solche bezeichnet. Häufig anzutreffen ist die Bezeichnung Kommission. Die unterschiedlichen Bezeichnungen können, müssen aber keine unterschiedlichen Funktionen mit sich bringen. Im -> Bundestag z.B. sind A.e Unterorgane des —> Parlaments, die sich
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ausschließlich aus Mitgliedern desselben zusammensetzen, während (—> Enquete-)Kommissionen auch andere Personen angehören können. Grds. ist zwischen parlament. und Verwaltungsausschüssen zu unterscheiden. Die §§ 88ff. der -> Verwaltungsverfahrensgesetze des —> Bundes und der —> Länder enthalten Grundsatznormen für Verwaltungsausschüsse, deren mögliche Bezeichnungen sich aus § 88 VwVfG ergeben. Eine Sonderform der Verwaltungsausschüsse sind solche A.e, die Verwaltungsentscheidungen als Kollegialorgane treffen. Sondervorschriften über förmliche Verfahren vor (Verwaltungs)A.en enthält § 71 VwVfG, weitere Vorschriften sind in Spezialgesetzen zu finden. Auch die Arbeit der Räte kommunaler Gebietskörperschaften wird in großem Umfang in A.en erledigt. Obwohl ihre Arbeit dogmatisch der Exekutive zuzuordnen ist, gelten hier ähnliche Grundsätze wie bei Parlamentsausschüssen, zumal sich die kommunale —> Selbstverwaltung aufgrund der Größe der Gebietskörperschaften immer starker Parlament. verfaßt. Unterhalb der Bundesebene finden sich allerdings im parlament. wie selbstverwalteten Bereich auch A.e mit Beschlußkompetenzen. Die —> Bundesregierung setzt ebenfalls A.e ein, sog. Kabinettsausschüsse. Ständige Mitglieder eines Kabinettsausschusses sind die —» Bundesminister, deren Geschäftsbereich regelmäßig und nicht nur unwesentlich betroffen ist. Vorsitzender aller Kabinettsausschüsse ist der Bundeskanzler. Als informelle Einrichtung gibt es schließlich auch die sog. Koalitionsausschüsse. Streng genommen handelt es sich hier um Arbeitsgruppen, die aber in ähnlicher Weise arbeiten wie förmliche A.e. Sie nehmen in erster Linie polit. Koordinationsaufgaben wahr. Parlamentsausschüsse sind im GG nicht ausdrücklich definiert. Allerdings erwähnt es einige A.e, und zwar die -> A.e für Auswärtige Angelegenheiten und für
Ausschuß Verteidigung (Art. 45a), den —» A. für Angelegenheiten der Europäischen Union (Art. 45), den -> Petitionsausschuß (Art. 45c), und die -> Untersuchungsausschüsse (Art. 44). Eine Sonderstellung nimmt der —» Vermittlungsausschuß zwischen —> Bundestag und Bundesrat (Art. 77 Abs. 2) ein. § 54 GOßT enthält das klassische Parlament. A.modell. Danach setzt der Bundestag zur Vorbereitung seiner Verhandlungen ständige A.e ein. Für Einzelangelegenheiten kann er Sonderausschüsse bilden. Die A.e selbst können wiederum zur Vorbereitung ihrer Arbeiten Unterausschüsse mit bestimmten Aufträgen ins Leben rufen. Zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe kann der Bundestag außerdem Enquetekommissionen einsetzen. Schließlich bildet er zur gerichtsverfahrensähnlichen Untersuchung von Einzelvorgängen im Bereich der Exekutive oder von wesentlichen öffentl. Skandalen Untersuchungsausschüsse, deren Einsetzung eine Minderheit von einem Viertel der Abgeordneten durchsetzen kann und die grds. öffentl. tagen. Der Dt. Bundestag versteht sich als —> Arbeitsparlament. Seine Arbeit wird weitgehend in den A.en erledigt, während das -> Plenum in erster Linie dazu dient, die verschiedenen polit. Positionen der —> Öffentlichkeit zur vermitteln. Die Bedeutung der A.arbeit wird sowohl daran deutlich, daß die Zahl der A.sitzungen um ein Vielfaches höher liegt als die der Plenarsitzungen, zum anderen darin, daß -» Beschlußempfehlungen der A.e in den allermeisten Fällen unverändert vom Plenum übernommen werden. Sehr starke Parlamente, z.B. der amerik. -> Kongreß, verfügen i.d.R. über ein ausgefeiltes A. system, während die Bedeutungslosigkeit der Parlamente in totalitären, aber auch in Staaten mit autoritärer Präsidialstruktur sich in einer eher geringen Zahl von A.en äußert. In seiner 13. Wahlperiode hat der Dt. Bundestag 22 ständige A.e gebildet. Ständige A.e werden für die Dauer der gesamten -> Wahlperiode eingesetzt.
Ausschuß Diese A.e sind überwiegend Fachausschüsse, d.h. ihre Kompetenzzuweisung entspricht i.d.R. spiegelbildlich den Zuständigkeiten eines Bundesministeriums. Zusätzlich gibt es ständige A.e, die sich entweder aus besonderen Funktionen des Dt. Bundestages erklären (—> Haushaltsausschuß, -> A. für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Petitionsausschuß, A. für Angelegenheiten der Europ. Union) oder deren Aufgabenzuweisung histor. herzuleiten ist (Sportausschuß, A. für Fremdenverkehr und Tourismus). In der Praxis lassen sich die ständigen Bundestagsausschüsse danach unterscheiden, ob sie überwiegend Kontrollfunktionen wahrnehmen oder in erster Linie Gesetzesvorlagen behandeln. Typische A.e, in denen überwiegend Kontrollfunktionen wahrgenommen werden, sind der Auswärtige und der Verteidigungsausschuß. Typische Gesetzgebungsausschüsse sind der Rechts-, der Finanzausschuß und der A. für Arbeit und Sozialordnung. In anderen Staaten, z.B. Großbritannien, kommt diese Trennung auch organisatorisch zum Ausdruck (—» s.a. Committees). Die zahlenmäßige Stärke eines A.es wird zu Beginn der Wahlperiode von den -> Fraktionen des Bundestages vereinbart. Grds. ist die Zahl der Sitze ungerade, um Stimmengleichheit möglichst zu vermeiden. Die Größe der einzelnen A.e richtet sich u.a. nach dem Arbeitsanfall, aber auch nach den Wünschen auf gewisse Fraktionsmindeststärken und der Interessenlage der MdBs. Die großen A.e der 13. Wahlperiode setzen sich überwiegend aus 39 ordentlichen und 39 stellvertretenden Mitgliedern zusammen. Die Mehrheitsverhältnisse im A. spiegeln diejenigen des Dt. Bundestages wider, d.h. die Besetzung des A.es erfolgt entsprechend der Stärke der Fraktionen bzw. -> Gruppen des Dt. Bundestages nach einem mathematischen Proporzsystem. Die Mitglieder der A.e und die Stellvertreter, d.h. —> Abgeordnete, die dann stimmberechtigt an den Sitzungen teilnehmen dürfen, wenn ihre Fraktion im A. nicht vollzählig ist, werden
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Ausschuß von den Fraktionen entsandt. Jedes MdB soll grds. einem A. angehören. Der Präsident des Dt. Bundestages benennt fraktionslose Mitglieder als beratende A.mitglieder. Für jede Wahlperiode bestimmen die A.e eine A.vorsitzende bzw. einen A.vorsitzenden sowie einen Stellvertreter bzw. eine Stellvertreterin nach den Vereinbarungen im -> Ältestenrat. Das geschäftsordnungsrechtl. vorgesehene Zugriffsverfahren hat in der Praxis kaum Bedeutung erlangt. Die Verteilung der A.vorsitze auf die verschiedenen A.e richtet sich nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen. Allerdings werden gewisse Traditionen beachtet. Als Ausdruck der Kontrollfunktion des Parlaments wird i.d.R. ein Mitglied der stärksten Oppositionsfraktion Vorsitzender des Haushaltsausschusses. Dem oder der Vorsitzenden obliegt die Vorbereitung, Einberufung und Leitung der A.sitzungen sowie die Durchführung der A.beschlüsse. Seine Kontrollfunktionen nimmt ein A. überwiegend dadurch wahr, daß er Regierungsmitglieder zu Stellungnahmen und Berichten auffordert und diese debattiert. Außerdem berät jeder A. den Einzelplan des —» Haushalts desjenigen —> Ressorts, für das er zuständig ist, und übt so über seine Empfehlungen an den federführenden Haushaltsausschuß parlament. Kontrolle aus. Bei der Wahrnehmung seiner Kontrollaufgaben kann der A. sich auch mit Fragen aus seinem Geschäftsbereich befassen, zu denen ihm vom Bundestag keine Vorlagen überwiesen worden sind (-> Selbstbefassungsrecht). Er kann dazu Vertreter des zuständigen Ministeriums hören und Auskünfte, z.B. bei anstehenden Gesetzgebungsvorhaben oder zu aktuellen Problemen einholen. Jedoch kann er nach Behandlung derartiger Fragen keine Beschlußempfehlung an den Bundestag weiterleiten, sondern seine Mitglieder können nur dem zuständigen Fachminister empfehlen, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Durch A.beschluß kann er jederzeit die Anwesenheit des Ministers im A. verlangen. I.d.R. läßt sich
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Ausschuß der Minister im täglichen Geschäft durch einen Parlamentarischen Staatssekretär vertreten. Dieser wie die Beauftragten des Bundesrates haben jederzeit Rederecht im A. Weitergehende Rechte hat der A. bei überwiesenen Vorlagen: Nachdem eine Vorlage, meist ein Gesetzentwurf oder ein Fraktionsantrag, im Dt. Bundestag zum ersten Mal (in Erster -> Lesung) beraten wurde, überweist dieser sie an die zuständigen Fachausschüsse. Sind mehrere A.e thematisch zu beteiligen, wird die Vorlage an den Α., der fachlich am stärksten betroffen ist, zur Federführung und an die anderen A.e zur Mitberatung überwiesen. Der federführende A. hat als einziger das Recht, das Ergebnis seiner Beratungen in einem Bericht zusammenzufassen und eine Beschlußempfehlung an den Bundestag zu richten. Die mitberatenden A.e dürfen nicht selbständig berichten, sondern müssen ihre Stellungnahmen an den federführenden A. abgeben, der seinerseits entscheidet, ob er ihnen Rechnung trägt. Für den Bericht über die A.beratung sind immer ein bzw. mehrere Abgeordnete als -> Berichterstatter verantwortlich, welche die Vorsitzenden auf Vorschlag der Fraktionen / Gruppe nach einem Schlüssel für jede zur federführenden Beratung überwiesene Vorlage benennen. Die Sitzungen, in denen Vorlagen beraten und abgestimmt oder Gegenstände, deren sich der A. in Wahrnehmung seines Selbstbefassungsrechts angenommen hat, debattiert werden, bilden das Kernstück der A.arbeit. Sie finden regelmäßig mittwochs in den Sitzungswochen des Dt. Bundestages statt, aber auch häufiger, wenn sich Sondersitzungen als notwendig erweisen. Zu ihrer Vorbereitung tagen am Vortag die Fraktionen und deren den A.en zugeordneten Arbeitsgruppen. Sitzungen von Bundestagsausschüssen sind bis auf die öffentl. —» Anhörungen - i.d.R. nicht öffentl. (§ 69 Abs. 1 GOBT). Allerdings kann der A. auch beschließen, öffentl. zu tagen. Davon wird jedoch selten
Ausschuß Gebrauch gemacht, um den Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, auch einmal "ins Unreine" zu formulieren, ohne daß daraus eine Medienschlagzeile wird. Bis auf die Sitzungen der geschlossenen A.e (A.e, an deren Sitzungen nur die Mitglieder und ihre Stellvertreter teilnehmen dürfen) ist der Zugang zu A. Sitzungen dennoch zahlreichen Personen möglich; auch wird durch einen Journalisten der Bundestagsverwaltung eine Pressemitteilung über die Sitzung erstellt. Jedem Sitzungsteilnehmer ist es außerdem anders als bei nicht öffentl. Sitzungen von A.en kommunaler Vertretungskörperschaften - freigestellt, mit eigenen Worten über die Ergebnisse der Beratungen zu berichten. Nur in besonderen Ausnahmefällen beschließt der A. einen höheren Vertraulichkeitsgrad, insbes. bei Angelegenheiten der äußeren und -> inneren Sicherheit. In der 13. Wahlperiode ist erstmals auch die Möglichkeit einer Erweiterten öffentl. A.beratung eingeräumt worden, die in Einzelfällen die Funktion der 2. Plenarlesung übernehmen kann. Öffentl. Anhörungen von Sachverständigen und Interessenvertretern kann der A. zu einzelnen Vorlagen mit fachlich schwieriger Materie, polit, umstrittenem Regelungsziel oder von einiger Bedeutung durchführen. Die A.arbeit wird von einem A.sekretariat, das mit Beamten und Angestellten der —» Bundestagsverwaltung besetzt ist, vorbereitet und unterstützt. Die Leitung des Sekretariats hat ein Angehöriger des höheren Verwaltungsdienstes, zumeist ein Jurist, dem weitere —> Beamte oder -> Angestellte dieser -> Laufbahn zur Seite stehen. Hinzu kommt ein techn. Unterstützungsapparat. Das A.sekretariat beteiligt sich an der Arbeitsplanung, verteilt alle für die Beratungen wichtigen Unterlagen an die Mitglieder des A.es als A.drucksachen, erstellt die Sitzungsprotokolle und entwirft die Beschlußempfehlungen und Berichte des A.es. Außerdem assistieren der Leiter des A.sekretariats und weitere Referenten der
Ausschuß der Regionen Vorsitzenden oder dem Vorsitzenden bei der Sitzungsleitung und geben Auskünfte insbes. zu geschäftsordnungsrechtl., aber auch zu anderen Wissenschaft!. Fragen. In vielen A.en trifft die Vorsitzende vor der Sitzung mit den Obleuten der Fraktionen, also Sprecherinnen oder Sprechern, welche die Fraktionen benannt haben, und dem A.sekretariat zu einem sog. Obleutegespräch zusammen, um mit ihnen in ähnlicher Funktion, wie sie der Ältestenrat gegenüber dem Plenum wahrnimmt, die vom Sekretariat getroffenen Vorbereitungen, z.B. Tagesordnungsentwürfe, die weitere Arbeitsplanung sowie allgemeine geschäftsordnende Fragen zu besprechen und zu vereinbaren. Die Arbeit der i.d.R. in' Arbeitskreisen oder -gruppen organisierten Fraktionen wird von Fraktionsmitarbeitem unterstützt. Lit: Β. Dechamps: Macht und Arbeit der Ausschüsse, Meisenheim am Glan 1954; S. Hölscheidt: Der Haushaltsausschuß des Dt. Bundestages, Rheinbreitbach 1988; G. Loewenberg: Parlamentarismus im polit. System der BRD, Tübingen 1969, S. 182ff. u. 387ff; F. Schäfer: Die Ausschußberatung im Dt. Bundestag, in: R. Wildenmann (Hg.), Form und Erfahrung, Berlin 1976, S. 99ff.; Schneider / Zeh, S. 1103ff. und S. 1087 ff.; J. Vetter: Die Parlamentsausschüsse im Verfassungssystem der BRD, Frankfùrt/M. 1986; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 227ff. Andreas Nothelle
Ausschuß der Regionen Der AdR ist ein sog. Regionalgremium im Entscheidungsverfahren der —> Europäischen Union, das Beratungsfunktion hat. Rechtsgrundlage des AdR sind die Art. 4 Abs. 2, 198a ff. EGV, die durch eine Geschäftsordnung konkretisiert werden. Der AdR ist nach dem Vorbild des -> Wirtschafts- und Sozialausschusses konstruiert und durch den -> EU-Vertrag 1993 in den EGV eingefügt worden. Er besteht aus 222 Mitgliedern, welche die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften vertreten. Die -» Quoren für die Mitgliedstaaten 47
Ausschuß für Angelegenheiten der EU
Ausschuß für Angelegenheiten der EU
sind an deren Größe orientiert. Dtld. entsendet 24 Mitglieder, die sich wie folgt zusammensetzen: 16 aus den —> Bundesländern ( 1 Mitglied pro Land), 3 Mitglieder aus -> Kommunen und 5 weitere, die nach einem —> Rotationsprinzip von den Ländern bestimmt werden. Die Mitglieder werden auf Vorschlag ihres Mitgliedstaats vom Rat durch einstimmigen Beschluß auf 4 Jahre ernannt. Sie sind nicht weisungsgebunden. Der AdR wählt aus seiner Mitte den Präsidenten und das Präsidium auf 2 Jahre (insg. 36 Mitglieder). Er wird von seinem Präsidenten auf Antrag des Rates oder der Kommission einberufen, kann aber auch von sich aus zusammentreten. Er ist vom Rat oder von der Europäischen Kommission in allen im EGV vorgesehenen Fällen sowie in allen anderen Fällen zu hören, in denen eines dieser Organe dies für zweckmäßig erachtet. Wenn der EGV die Anhörung vorsieht, muß sie durchgeführt werden, damit der Rechtsakt rechtmäßig ergehen kann, auf den sich die Anhörung bezieht (z.B. allgemeine und berufliche Bildung, Europ. Fonds für regionale Entwicklung). Aufgabe des AdR ist es, regionale Gesichtspunkte in die Entscheidungsverfahren der EU einzubringen. Zu diesem Zweck kann er Stellungnahmen abgeben. Sie werden in 8 Fachkommissionen vorbereitet und dem Plenum zur Entscheidung vorgelegt. Bindungwirkung entfalten sie nicht, denn der AdR hat nur beratende Funktion. Nach dem Wortlaut des EGV hat der AdR kein Klagerecht vor dem -> Europäischen Gerichtshof. Ob er sich als weiteres Gremium ohne Entscheidungsbefugnis Gehör verschaffen kann, ist zweifelhalft (—> s.a. Region —> s.a. Regionalisierung).
nannt, ist in Art. 45 - » Grundgesetz mit Verfassungsrang ausgestattet worden. Der im Vergleich zum Bundestagsplenum kleinere, sachkundigere und reaktionsschnellere Unionsausschuß soll zu einem verbesserten Informationsfluß zwischen der —> Bundesregierung und dem - » Bundestag beitragen und eine rechtzeitige Beteiligung des Parlaments an Entscheidungen der Bundesregierung in Organen der —> Europäischen Union ermöglichen. Die am 25.12.1992 in Kraft getretene Neufassung des Art. 45 GG ist als innerstaatl. Antwort auf Kompetenzverluste des Bundestages im Verhältnis zu den wachsenden Zuständigkeiten der EU zu verstehen. Sie steht im direkten Zusammenhang mit der im Vorfeld der Ratifizierung des Maastrichter EU-Vertrages vorgenommenen Neuregelung des Art. 23 GG. Dies verdeutlicht Art. 45 S. 2 GG, wonach der Bundestag den Unionsausschuß ermächtigen kann, die Rechte des Bundestages gem. Art. 23 gegenüber der Bundesregierung wahrzunehmen. Hierbei handelt es sich um das dem Bundestag in Art. 23 Abs. 2 und 3 GG eingeräumte Mitwirkungsrecht, das sich in Informationsrechte und in Rechte auf Stellungnahme zu Rechtssetzungsakten der EU aufgliedert. Die für den Unionsausschuß relevanten Bestimmungen lassen sich der Geschäftsordnung des Bundestages, den auf § 93a Abs. 7 GOBT beruhenden Grundsätzen über die Behandlung der ihm zugeleiteten Unionsvorlagen vom 25.10. 1995 sowie dem Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der EU vom 12.3.1993 entnehmen. Der Unionsausschuß bildet mit der Bundesregierung und der Europa-Kammer des -> Bundesrates ein europapolit. Machtdreieck. Bei dieser Konstruktion haben Bundestag und Bundesrat zwar darauf zu achten, daß sich die parlament. Verantwortlichkeit der dt. Europapolitik im Wege der Delegation nicht verflüchtigt. Da aber die den Unionsausschuß betreffenden Angelegenheiten aufgrund zuneh-
Lit.: Κ. Hasselbach: Der Ausschuß der Regionen in der EU, Opladen 1996; H. Hierl (Hg.): Europa der Regionen, Bonn 1995.
Sven Höheheidt Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union Der Unionsausschuß, häufig auch Europaausschuß ge48
Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten
Ausschuß mender Kompetenzen der EU umfangreicher werden, ist es vordringlich, im Rahmen des Spannungsverhältnisses, das zwischen der Effektivität der Bundesregierung und den Mitwirkungsrechten des Bundestages besteht, einen schonenden Ausgleich herbeizuführen (->· s.a. Beratende Stimme). Lit: S. Hölscheidt / Th. Schotten: Der Unionsausschuß des Dt. Bundestages - Gestaltungsprobleme, in: integration 1994, S. 230ff.; R. Kabel: Die Mitwirkung des Dt. Bundestages in Angelegenheiten der EU, in: A. Randelzhofer / R. Scholz / D. Wilke (Hg.), Gedächtnisschrift für Eberhaid Grabitz, Manschen 1995, S. 241ff.
Carsten Nowak Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten Der A. ist einer der wenigen -> Ausschüsse, die das -> Grundgesetz zwingend vorschreibt. Art. 45a GG soll sicherstellen, daß das -> Parlament die —» Exekutive bei der Wahrnehmung —> Auswärtiger Gewalt, die nach herrschender Rechtsauffassung ihr Privileg ist, effektiv kontrolliert, kann es hierbei doch um so entscheidende Fragen wie Bestand und Größe des Staates, Krieg und Frieden usw. gehen. —> Gesetzgebung fällt im Rahmen der auswärtigen Beziehungen dagegen recht wenig an, mit Ausnahme von Zustimmungsgesetzen zu internationalen Verträgen, die von wesentlicher polit. Bedeutung sind oder die Gesetzgebung des -> Bundes betreffen (Art. 59 Abs. 2 GG) und für die keine Zuständigkeit eines anderen Fachausschusses besteht, und Gesetzen, welche die Rechtsverhältnisse der Beamten des - » Auswärtigen Dienstes regeln. Im Vordergrund der Arbeit des A. steht die parlament. Kontrolle der -> Bundesregierung. Sie wird wahrgenommen durch die Beratung und —> Beschlußfassung über die vom —> Plenum überwiesenen -> Anträge, -> Entschließungsanträge, -> Unterrichtungen und anderen Vorlagen, durch die Beratung und Beschlußfassung über die von der Bundesregierung gezeichneten völkerrechtl. Vereinbarungen, durch die
Einholung von -»· Berichten der Bundesregierung zu aktuellen Themen der -> Außenpolitik und deren Diskussion. Der A. hält dabei engen Kontakt mit hochrangigen ausländischen Gesprächspartnern und den Auswärtigen Ausschüssen befreundeter Parlamente (—> s.a. Parlamentariergruppen). Der A. gehört zu den sog. geschlossenen Ausschüssen. Das bedeutet, daß die Teilnahme an der Ausschußsitzung nur Mitgliedern des Α., den benannten Vertretern der Bundesregierung, den Sekretariats- und einigen Fraktionsmitarbeitern gestattet ist. Diese Begrenzung geht über die NichtÖffentlichkeit anderer Ausschußsitzungen hinaus. Manche außenpolit. —> Debatte, deren öffentl. Diskussion außenpolit. Schaden anrichten könnte, kann hier daher geführt werden, ohne daß Informationen zurückgehalten werden oder Teilnehmer an der Ausschußsitzung „ein Blatt vor den Mund" nehmen müßten. Der A. setzt sich in der 13. -> Wahlperiode des Dt. Bundestages aus 39 Mitgliedern zusammen. Für spezielle Bereiche der Außenpolitik hat er auch in dieser Wahlperiode Unterausschüsse eingesetzt, und zwar die Unterausschüsse für Abrüstung und Rüstungskontrolle, für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, für Auswärtige Kulturpolitik und für Vereinte Nationen / Internationale Organisationen. Besondere Bedeutung kommt dem Unterausschuß „Abrüstung und Rüstungskontrolle" zu. Er beschäftigt sich mit der konventionellen Abrüstung in Europa, dem nuklearen Teststopp-Abkommen sowie dem Chemiewaffenübereinkommen, B-Waffen-Übereinkommen und der nuklearen Abrüstung unter besonderer Berücksichtigung des Nichtverbreitungsvertrages. Wichtige und aktuelle Probleme sind die Vernichtung von waffengradigem Nuklearmaterial und die Fragen der Abrüstungs- und Rüstungskontrolle im ehemaligen Jugoslawien sowie abrüstungs· und rüstungskontrollpolit. Konsequenzen der Osterweiterung der —> NATO. Der Unterausschuß „Vereinte
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Ausschuß für Wahlprüfung Nationen / Internationale Organisationen" befaßt sich vorrangig mit der Reform der - » Vereinten Nationen und der Finanzkrise in dieser Organisation. Darüber hinaus konzentriert er seine Arbeit auf die friedenserhaltenden Maßnahmen in Jugoslawien, die UN-Weltkonferenzen und die Tätigkeit des —> Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. Der Unterausschuß „Menschenrechte und humanitäre Hilfe" will dem Dt. Bundestag die Teilnahme an der Diskussion und der weltweiten Durchsetzung der -> Menschenrechte erleichtem und das Bewußtsein —> der Öffentlichkeit für die Bedeutung von Menschenrechtspolitik und humanitärer Hilfe stärken. Lit.: C.C. Schweitzer: Der Auswärtige Ausschuß des Dt. Bundestages im außenpolit. Entscheidungssystem, in: APuZ 19/1990, S. 3ff; J.C. Weichen. Der Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten, in: Außenpolitik 1960,S. 618ff.
Andreas Nothelle Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Dt. Bundestages ist der für das —> Parlamentsrecht einschließl. der Regeln über das Parlament. Verfahren verantwortliche Α.; als Wahlprüfungsausschuß hat er dem —> Bundestag Beschlußempfehlungen zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der -> Wahlen zum Dt. Bundestag (§ 2 Wahlprüt'G) sowie der Wahlen der dt. Mitglieder des Europäischen Parlaments (§ 26 EuWG) vorzulegen. Der Wahlprüfungsausschuß besteht aus 9 Mitgliedern, die entgegen dem Verfahren in anderen Bundestagsausschüssen nicht von den -> Fraktionen benannt, sondern vom Bundestag gewählt werden. In Immunitätsangelegenheiten bereitet der A. die Entscheidungen des Bundestages über —> Anträge auf Genehmigung von Strafverfahren gegen seine Mitglieder sowie in den sonstigen von Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG umfaßten Fällen vor (-> Immunität). Das Verfahren gestaltet sich nach den Regeln in § 107 sowie der Anlage 6 GOBT. Soweit er Immunitäts- und Geschäftsord50
Ausschußbesetzung nungsangelegenheiten zu behandeln hat, besteht der A. in der 13. Wahlperiode aus 17 Mitgliedern, die von den Fraktionen und der parlement. -> Gruppe benannt werden. In Geschäftsordnungsangelegenheiten hat der A. die Federführung für Beschlußempfehlungen an das -> Plenum des Bundestages zur Änderung der Geschäftsordnung. Darüber hinaus obliegt ihm die Auslegung der Geschäftsordnung (§ 127 GOBT); wozu allerdings auch noch eine Entscheidung des Plenums verlangt werden kann. Der A. ist außerdem federführend zuständig für die Beratung aller Gesetzentwürfe, welche die Rechtsstellung des Bundestages oder seiner -» Abgeordneten betreffen, und mitberatend bei sonstigen Vorlagen, die seinen Geschäftsbereich berühren. Im Gegensatz zu den anderen Ausschüssen steht ihm ein umfassendes Selbstbefassungsrecht zu. Er kann ohne vorherige Überweisung dem Plenum von sich aus Empfehlungen zu Fragen aus seinem Geschäftsbereich vorlegen (§ 128 GOBT). Lit.: Schneider/Zeh, S. 1161ff.
Monika Jantsch Ausschußbesetzung Nach den §§ 12 und 57 der -> Geschäftsordnung des Bundestages (v. 2.7.1980/BGB1.1 S. 1237, geänd. am 15.12.1989/BGB1. I S. 2442) ist die Zusammensetzimg der Bundestagsausschüsse im Verhältnis der Stärke der einzelnen —> Fraktionen vorzunehmen. Dies bedeutet, daß die Fraktionen die einzelnen —> Abgeordneten in die Ausschüsse entsenden. Dort sind die Abgeordneten - ohne ihren unabhängigen Status aus Art. 38 GG zu verlieren, deren Vertreter. Vereinzelt ist gefordert worden, daß das -> Plenum die Ausschußmitglieder wählen solle. Da jedoch die Arbeitsfähigkeit des Bundestages davon abhängt, daß sich die parteipolit. Mehrheiten, die sich in den Fraktionen widerspiegeln, im Plenum und in den Ausschüssen decken, wäre eine solche Wahl nicht nur faktisch unmöglich (weil das Plenum ständig längere Zeit mit solchen Wahlen zur Neu-
Aussperrung
Außenministerium und Umbesetzung der Ausschüsse beschäftigt wäre) und weil nicht andere Fraktionen darüber befinden können, durch wen sich eine Fraktion im Ausschuß vertreten lassen soll, sondern v.a. auch verfassungswidrig: Maßnahmen und Regelungen, die eine der Hauptaufgaben des Parlaments, die —» Gesetzgebung, lahmlegten, können vor der Verfassung keinen Bestand haben. Nur die Identität von Plenar- und Ausschußmehrheit gewährleistet nämlich eine geordnete Gesetzgebungsarbeit. Deshalb müssen die Fraktionen frei darüber entscheiden können, wen sie als ihre Vertreter in die Ausschüsse entsenden. Diese Autonomie bedeutet zugleich auch, daß die Fraktionen jederzeit in der Lage sein müssen, Abgeordnete aus Ausschüssen wieder abzuberufen (sog. Rückrufrecht) und durch andere zu ersetzen. Rechtl. stellt § 57 Abs. 2 S. 1 GOßT die von Verfassungs wegen geforderte Konkordanz zwischen den Rechten der Fraktionen als den Parteien im Parlament aus Art. 21 Abs. 1 GG mit den (Status-) Rechten der Abgeordneten aus Art. 38 GG her. Lit: H.H. Kasten: Ausschußbesetzung und Ausschußrückruf, Berlin 1983; Schneider/Zeh, S. 643ff.
Claus Arndt AuOenministerium —> Auswärtiges Amt Außenpolitik ist staatl. Handeln zur Durchsetzung von Normen, Sach- und Machtinteressen gegenüber anderen —> Staaten, dem regionalen Umfeld bzw. dem internationalen System. Obwohl aufgrund von —» Globalisierung / Interdependenz bzw. Integration Außen- und Innenpolitik inhaltlich auf das engste verknüft sind - also eine analytische Trennung nicht mehr zulässig ist - verläuft A. nach anderen Handlungsgesetzen als Innenpolitik. Der Grund dafür liegt im contrat social Rousseaus, mit dem die —• Gesellschaft polit. Handeln zwar innerhalb des nationalen Territorialstaates geordnet hat, den es aber für das Handeln zwischen
Staaten in dieser Form (Gewaltmonopol, demokrat. Kontrolle, usw.) so nicht gibt. Trotz internationalen Handlungsmustem (—• Völkerrecht), -prinzipien (-» Europäische Menschenrechtskonvention) und Organisationen (—> Vereinte Nationen) ist A. souveränes Handeln und erlaubt damit die Durchsetzung nationaler Interessen auf Kosten des anderen (Nord-Süd-Konflikt) und unter Anwendung militärischer Gewalt. Während Multilateralismus (—> OSZE-Versammlung) dies nur abmildert, schafft Supranationalismus (—> EWG / -» EG / -» EU, militärische Organsition der —> NATO) durch Integration oder Transfer von nationalstaatl. —• Souveränität eine neue Qualität im Verhalten der Mitgliedsländer untereinander. Im Falle der EU / -> GASP und NATO stellt sich dabei die Frage, ob das im Vergleich zu anderen Politikbereichen Parlament. Kontroll- und Partizipationsdefizit oder das hier klassische Reservat der -> Exekutive (Ausnahme: USA) durch Vergemeinschaftung ohne entsprechende Stärkung des —» Europäischen Parlamentes nicht noch verschärft wird. Die mit dem -> Maastrichter Vertrag geschaffene Beteiligung von -» Regionen / -> Bundesländern an und in der -» Europapolitik, welche in der dt. Verfassung (Art. 24 GG) inzwischen auch abgesichert ist, stellt zwar einen Zusammenhang zwischen —> Föderalismus und Europapolitik her, reicht aber zur Lösung des Demokratieproblems nicht aus. Folgt man klassischen Demokratiestrategien, kann dies nur durch eine wesentliche Stärkung des —> Europäischen Parlaments erreicht werden. Lit: R. Rode: Dt. Außenpolitik, Amsterdam 1996; Auswärtiges Amt (Hg.): Außenpolitik der BRD. Dotalmente 1945-1994, Köln 1995.
Reimund Seidelmann Außerparlamentarische Opposition —> Opposition Aussperrung —» Arbeitskampf
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Aussprache Aussprache Die Α., häufig auch als Debatte oder Diskussion bezeichnet, ist die charakteristische Form der parlament. Redetätigkeit. Es gibt A.n „zur Sache", an denen sich neben den - » Abgeordneten auch die Mitglieder der —> Bundesregierung und des Bundesrates beteiligen können, und A.n zur Geschäftsordnung. Der sitzungsleitende Präsident ist verpflichtet, über jeden Verhandlungsgegenstand, der auf der —> Tagesordnung des —> Plenums steht, die A. zu eröffnen, wenn sie nicht unzulässig oder an besondere Bedingungen geknüpft ist. Unzulässig ist die A. beispielsweise bei der Wahl des —> Bundeskanzlers. Die Pflicht zur Eröffnung der A. gewährleistet, daß die Abgeordneten von ihrem verfassungsmäßig garantierten —> Rederecht Gebrauch machen können. Aufgrund dessen kann die Redemöglichkeit auch nicht durch einen Mehrheitsbeschluß, auf die A. zu verzichten, verhindert werden. Die Eröffnungspflicht entfällt nur dann, wenn kein Mitglied des Bundestages sprechen möchte. Die Art und Dauer der A. werden vom Bundestag auf Vorschlag des —» Ältestenrats festgelegt. Gebräuchlich sind dabei sowohl Kurzrunden, in denen jede -> Fraktion für je einen ihrer Redner bis zu 5 oder 10 Minuten in Anspruch nehmen kann als auch die Festlegung der Gesamtzeit, die nach einem interfraktionell vereinbarten Schlüssel auf die Fraktionen entsprechend ihrem Stärkeverhältnis aufgeteilt wird. Die Fraktionen ihrerseits teilen dann das Zeitkontingent auf ihre Redner auf. Sofern in diesem Sinne nichts anderes beschlossen oder vereinbart ist, darf der einzelne Redner in der A. nicht länger als 15 Minuten sprechen; auf Verlangen einer Fraktion kann einer ihrer Redner dort eine Redezeit bis zu 45 Minuten in Anspruch nehmen. Die A. wird durch den Präsidenten für geschlossen erklärt, wenn die Rednerliste erschöpft ist oder die vereinbarte Dauer abgelaufen ist. Auf Antrag einer Fraktion oder von anwesenden 5 v.H. der Abgeord-
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Aussprache neten kann der Bundestag auch dann die A. schließen, wenn die Rednerliste noch nicht erschöpft ist. Ein solcher Antrag darf jedoch erst dann gestellt werden, wenn jede Fraktion mindestens einmal zu Wort gekommen ist. Dies gilt in ähnlicher Form auch für die Ausschußberatungen. Ober den Schluß der A. darf nicht namentlich abgestimmt werden. Nach Schluß der A. können Antragsteller und Berichterstatter das Wort verlangen. Jedes Mitglied des Bundestages kann zur abschließenden —> Abstimmung eine mündliche Erklärung von nicht mehr als 5 Minuten oder eine kurze schriftliche Erklärung abgeben, die in das —> Plenarprotokoll aufzunehmen ist. Eine Erklärung zur Α., die nach Schluß, Unterbrechung oder Vertagung abgegeben werden kann, kann Äußerungen, die sich auf die eigene Person bezogen, zurückweisen oder eigene Ausführungen korrigieren. Eine einmal geschlossene A. darf grds. nicht wiedereröffiiet werden; eine Ausnahme gilt, wenn nach Schluß der A. ein Mitglied der Bundesregierung, des Bundesrates oder ihre Beauftragten das Wort ergreifen. Hiermit soll sichergestellt werden, daß aus dem Parlament in jedem Fall vor der Abstimmung eine Erwiderung erfolgen kann. In der 1. —> Beratung von Gesetzentwürfen findet eine allgemeine A. nur statt, wenn es vom Ältestenrat empfohlen, von einer Fraktion bzw. 5 v.H. der anwesenden —> MdB verlang oder nach 80 Abs. 4 GOBT beschlossen wird. Die 2. Beratung wird grds. auf Empfehlung des Ältestenrates oder Verlangen einer Fraktion mit einer allgemeinen A. eröffnet; die 3. nur dann, wenn in 2. Beratung keine A. stattgefunden hat und sie vom Ältestenrat empfohlen bzw. von einer Fraktion verlangt wurde. Bei Gesetzentwürfen ist nach allgemeiner A. und EinzeLA. zu unterscheiden - letztere findet nach Art. 79 Abs. 2 GOBT über jede selbständige Bestimmung sowie über Einleitung und Überschrift statt. Eine besondere Form der A. bildet die 1965 eingeführte —>
Auswärtige Gewalt Aktuelle Stunde, die ein bestimmt bezeichnetes Thema von allgemeinem aktuellen Interesse zum Gegenstand hat. Der einzelne Redner darf nicht länger als 5 Minuten sprechen. Die aktuelle Stunde findet statt, wenn sie im Ältestenrat vereinbart wurde, von einer Fraktion oder 5. v.H. der anwesenden Parlamentarier zur Antwort der Bundesregierung auf eine mündliche Anfrage oder von diesen unabhängig von einer für die Fragestunde eingereichten Frage (—> Fragerecht der Abgeordneten) verlangt wird. Die A. dauert höchstens eine Stunde. Dabei bleibt die von Mitgliedern der Bundesregierung, des Bundesrates oder ihren Beauftragten in Anspruch genommene Redezeit grds. unberücksichtigt. Lit: E. Busch / F. Berger (Hg.): Die Parlament. Kontrolle, Berglen 1989; Schneider / Zeh, S. 602ÉF.; S. 889ff.
Britta Hanke-Giesers / Christoph hotter Auswärtige Gewalt Der Begriff der A.G. ist im —> Grundgesetz nicht definiert und in Literatur und Rechtsprechung umstritten. Man kann ihn annäherungsweise als die -> Kompetenz bezeichnen, Entscheidungen über die auswärtigen Angelegenheiten zu treffen und das Verhalten des Staatswesens nach außen zu bestimmen. Handlungsformen können Verträge, einseitige Akte oder polit. Aktionen und Erklärungen sein. Traditionell wird die A.G. als Privileg der —• Exekutive gesehen. Seit langem wird aber diskutiert, ob diese traditionelle Aufteilung, die Ergebnis eines vordemokrat. Staatsverständnisses ist und die Teilhabe des —> Parlaments sehr restriktiv sieht, angesichts der zunehmenden weltweiten Verflechtung der —> Nationalstaaten aufrecht erhalten werden kann. Dem ist das Bundesverfassungsgericht wiederholt entgegengetreten, indem es entschieden hat, daß dem GG die Zuordnung der A.G. zur Exekutive zugrunde liegt und Befugnisse des Parlaments in bezug auf die Auswärtige Gewalt lediglich Beteiligungsrechte sind. Eine verbreitete Lehrmeinung sieht dage-
Auswärtige Gewalt gen Regierung und Parlament als gemeinsame Träger der A.G. Zentrale Rechtsnorm ist Art. 59 GG. Nach Art. 59 Abs. 1 vertritt der -> Bundespräsident den Bund völkerrechtl. (-> Völkerrecht). Er schließt im Namen des -> Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten und beglaubigt und empfängt die —> Gesandten. Die Rechte des —> Dt. Bundestages sind in Art. 59 Abs. 2 niedergelegt. Hierin ist nur ein Zustimmungsrecht zu bestimmten völkerrechtl. Verträgen genannt. Die Zustimmung erfolgt grds. in der Form sog. -» Zustimmungsgesetze, deren Wirkung zum einen die Genehmigung der Vornahme des Vertragsabschlusses, zum anderen die Hineinnahme darin geregelter Rechtsvorschriften in das innerstaatl. —> Recht ist. Zustimmungsbedürftig sind sowohl Verträge, welche die polit. Beziehungen des Bundes regeln, als auch solche, welche sich auf die Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen. Völkerrechtl. Verträge sind unabhängig von ihrer konkreten Bezeichnung im Einzelfall alle Übereinkünfte zwischen 2 oder mehr Völkerrechtssubjekten, durch welche die zwischen ihnen bestehende Rechtslage verändert werden soll. Auch Übereinkünfte zur Änderung bestehender Verträge gehören dazu, nicht allerdings die Kündigung solcher Verträge. Entscheidend ist die durch übereinstimmende Willenserklärungen erzielte Einigung zwischen Völkerrechtssubjekten über bestimmte völkerrechtl. Rechtsfolgen. Nach der restriktiven Auffassung des —> Bundesverfassungsgerichts ist ein polit. Vertrag i.S. der ersten Alternative nur gegeben, wenn durch ihn die Existenz des Staates, seine territoriale Integrität, seine Unabhängigkeit, seine Stellung oder sein maßgebliches Gewicht in der Staatengemeinschaft berührt werden. Polit. Verträge in diesem Sinne sind danach v.a. solche, die darauf gerichtet sind, die Machtstellung der -> Bundesrepublik Deutschland anderen Staaten gegenüber zu behaupten, zu befestigen oder zu erweitern. Für die Frage, ob sich ein Ver-
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Auswärtige Gewalt trag auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht, ist entscheidend, ob im konkretem Fall ein Vollzugsakt unter Mitwirkung der gesetzgebenden Körperschaften erforderlich ist. Das BVerfG sieht dies dann als gegeben an, wenn der Bund durch Vertrag Verpflichtungen übernimmt, deren Erfüllung allein durch Erlaß eines Bundesgesetzes möglich ist. Auch in neueren Entscheidungen hat das BVerfG seine Grundsatzhaltung wiederholt bestätigt, so z.B. in der Entscheidung über die verfassungsrechtl. Zulässigkeit des Einsatzes der -> Bundeswehr im Rahmen eines internationalen Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit vom 12.6.1994. Danach kommt eine analoge oder erweiternde Auslegung des Art. 59 Abs. 2 GG auf andere Sachverhalte nicht in Betracht. Eine Ausnahme zugunsten größerer Mitwirkungsrechte des Parlaments macht das Gericht nur bei den Regelungen des GG über den Einsatz bewaffneter —> Streitkräfte. Aus der -» Wehrverfassung sei für den militärischen Einsatz von Streitkräften das Prinzip eines konstitutiven Parlamentsbeschlusses zu entnehmen. Auch dann, wenn das Parlament einer Beistandsverpflichtung schon in Form eines Zustimmungsgesetzes zum Bündnisvertrag zugestimmt hat, bedürfe es noch der regelmäßig vorhergehenden Parlament. Entscheidung über den konkreten Einsatz (Art. 42 Abs. 2 GG) nach Maßgabe der bestehenden Bündnisverpflichtung. Nach dieser Rechtsprechung sind die Beteiligungsvorbehalte zugunsten des Parlaments aber lediglich Zustimmungs- nicht dagegen Initiativrechte. Daher kann das Parlament weder durch Zustimmung zu einem vorgelegten Vertragsgesetz noch durch entsprechende Gesetzesinitiativen (—> Anträge) auf Einsatz von Streitkräften die Regierung zu völkerrechtl. Handeln verpflichten. Die zunehmende Verflechtung der Staatengemeinschaft bedingt allerdings Modifizierungen dieser Grundsätze. Insbes. solche Organisationen, die wie die -> Europäische Union auf Integration ge-
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Auswärtige Gewalt richtet sind, befinden sich im Obergang von den internationalen zu innerstaatl. Beziehungen. Supranationale Rechtsakte, für die Art. 23 und 24 GG Sondervorschriften enthalten, werden daher abweichend von Akten A.r G. behandelt. Nach Art. 23 Abs. 2 S. 2 GG hat die Bundesregierung dem Bundestag und dem -> Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt über Angelegenheiten der EU zu unterrichten, an denen der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder nach Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG mitwirken. Die Bundesregierung hat dem Bundestag nach Abs. 3 der Vorschrift Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der EU zu geben und die Stellungnahmen bei den Verhandlungen zu berücksichtigen. Eine hervorgehobene Einbeziehimg des Dt. Bundestages in auswärtige Angelegenheiten sieht auch die Satzung der —» Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vor. Nach Art. 19 Abs. 5 Buchstabe b dieser Satzung verpflichtet sich jedes Mitglied, spätestens ein Jahr nach Schluß der Tagung der Konferenz ein ILO-Übereinkommen im Hinblick auf seine Verwirklichung durch Gesetzgebung oder andere Maßnahmen den Stellen, in deren Zuständigkeit die Angelegenheit fällt, also i.d.R. der gesetzgebenden Körperschaft, vorzulegen. Keine Rolle spielt, ob die Bundesregierung beabsichtigt, das Obereinkommen zur Ratifizierung vorzulegen. Zu den meisten Ländern der Welt unterhält Dtld. diplomatische Beziehungen. Für die BRD sprechen im Ausland der Bundespräsident, der - » Bundeskanzler oder der -> Bundesminister des Auswärtigen, dem zugleich der -> Auswärtige Dienst untersteht. Der Auswärtige Dienst vertritt in den Auslandsvertretungen die Interessen der BRD und ihrer -> Staatsbürger in dem gastgebenden Land. Gleichzeitig unterrichtet er die Bundesregierung über alle für die zwischenstaatl. Beziehungen relevanten Angelegenheiten. Aufgrund der Veränderungen der Staatengemeinschaft hat sich neben diesem klas-
Auswärtiger Ausschuß sischen Diplomatenwesen ein Netzwerk der Konferenz- und Gipfeldiplomatie herausgebildet. Konferenzen können Organe internationaler Organisationen, aber auch Vorstufen solcher Organisationen sein. An den nationalen Delegationen zu solchen Konferenzen wirken nicht selten neben den Vertretern des Auswärtigen Dienstes auch Vertreter anderer Ressorts der Bundesregierung, Abgeordnete, besonders verpflichtete Fachleute und sogar Angehörige von Nichtregierungsorganisationen mit. Lit: BVerfGE 68, 1 ff (84 f.); BVerfG Urteil v. 12.7.1994 (Einsatz der Bundeswehr in einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit); BVerfG Urteil v. 12.10.1993 (Maastricht); U. Fastenrath: Kompetenzverteilung im Bereich der Auswärtigen Gewalt, München 1986; HdbStR VII, S. 71ffi; HdbStR III, S. 921ff.; v. Münch II, Kommentierung von Art. 59 GG.
Andreas Nothelle Auswärtiger Ausschuß —> Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten Auswärtiger Dienst Zweig des - » öffentlichen Dienstes, der mit der Regelung der auswärtigen Angelegenheiten betraut ist. Der A.D. besteht i.d.R. aus einer Zentrale (-> Auswärtiges Amt) im Inland und Vertretungen im Ausland, die sich in diplomatische Vertretung (-> Botschaft) und konsularische Vertretungen (—> Konsulat) gliedern. Die Aufgaben der diplomatischen und konsularischen Vertretungen sind im Wiener Übereinkommen vom 18.4.1961 über diplomatische Beziehungen und im Wiener Obereinkommen vom 24.4.1963 über konsularische Beziehungen kodifiziert. Von den Bediensteten des A.D. sind ca. 70% in den ca. 200 Auslandsvertretungen eingesetzt. Diese werden alle 3 bis S Jahre auf einen anderen Dienstposten versetzt und in regelmäßigen Abständen in der Zentrale in Bonn eingesetzt. Die -> Laufbahnen des A.D. entsprechen denen der übrigen -> Bundesministerien. Lediglich die traditionell bedingten Amtsbezeichnungen weichen
Auswärtiger Dienst von denen der anderen Ministerien ab. Die beamtenrechtl. Einstufung eines —» Botschafters und Generalkonsuls hängt von Größe und Bedeutung der Vertretung ab. Die Hauptarbeitsbereiche einer Vertretung werden von Referenten betreut. Diese sind Angehörige des höheren Dienstes. Die Verwaltung einer Vertretung wird von einem —> Beamten des gehobenen Dienstes (Kanzler) geleitet. An verschiedenen Vertretungen sind Spezialreferenten eingesetzt. Zur Unterstützung werden Nachwuchsbeamte (-» Attaché) eingestellt. Geschichte Der A.D. als ständige Einrichtung für zwischenstaatl. Meinungsaustausch mit den darauf bezogenen Verhandlungen und Verträgen existiert seit Ende des Spätmittelalters, ausgehend von den ital. Stadt-Staaten. Seit dem frühen 16. Jhd. richteten die neuen europ. Staaten ständige Gesandtschaften ein, nach dem Ende des 30-jährigen Krieges (1648) die dt. Einzelstaaten auch untereinander. Die Gesandtschaften besaßen das Recht der —> Immunität und Exterritorialität. Seit Mitte des 17. Jhd. s waren die Vertreter in verschiedene Rangklassen eingeteilt. Zu dieser Zeit besaßen sie keine spezielle Vorbildung und setzten sich fast ausschließlich aus (hoch-)adligen Namensträgern zusammen. Der A.D. anderer Staaten 1. Dem Staatssekretär des A.D. in Dtld. entspricht in Frankreich der Secretaire General du Ministere (im frz. Außenministerium); er unterhält u.a. die polit. Abt. und 5 Länderabteilungen. Die größte Einheit ist die Generaldirektion für kulturelle, wissenschaftl. und technologische Beziehungen (s.a. —> Verfassung, französische). 2. Der A.D. in Großbritannien wurde durch die Zusammenlegung des Foreign, des Commonwealth und des Colonial Service Ende der 60er Jahre reformiert; an der Spitze stehen 4 Staatsminister und 1 parlement. Staatssekretär. Diese vertreten die —> Außenpolitik der Regierung im Parlament. Behördenchef ist der Permanent Under-Secretary of State (s.a. Verfas-
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Baden-Württemberg
Auswärtiges Amt sung, britische). 3. Das öst. Außenministerium ist in 6 Abt.en (Sektionen) gegliedert; der Generalsekretär entspricht dem Staatssekretär des A.D. in Dtld. (s.a. - » Österreich). 4. Das schweizerische Department für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ist in einzelne Direktionen gegliedert; dem Departmentchef steht ein Staatssekretär zur Seite, der zugleich die polit. Direktion leitet. 5. An der Spitze des US-Außenministeriums (Department öf State) steht der Außenminister (Secretary of State); sein Vertreter ist der Deputy Secretary of State. Die oberste Ebene des Ministeriums bilden 4 UnderSecretaries of State und ein Rechtsberater (s.a. —» Verfassung der USA). LU.: HdbStR
III, S. 104ff; 969ff.
Karlheinz Hösgen Auswärtiges Amt . Das A.A. bezeichnet das für die auswärtigen Beziehungen zuständige -> Ministerium in der -> Bundesrepublik Deutschland (—• Suswärtiger Dienst). An dessen Spitze stehen der Außenminister sowie 2 —> parlamentarische Staatssekretäre (bzw. —> Staatsminister) und 2 beamtete —> Staatssekretäre. Den Staatsministern obliegt die Verbindung zu —> Bundestag und —> Bundesrat sowie deren -> Ausschüssen, zu den —> Fraktionen des —> Parlaments und den -> Parteien. Sie vertreten den Bundesminister des Auswärtigen bei Sitzungen des -> Kabinetts, gegenüber ausländischen Botschaftern und —> Regierungen. Dem A.A. sind -> Botschaften, Generalkonsulate, —> Konsulate und ständige Vertretungen bei internationalen Organisationen unterstellt. Das A.A. ist in 7 Abt.en (Zentralabteilung, polit. Abt., Abt. für Außenwirtschaftspolitik, Entwicklungspolitik und europ.-wirtschaftl. Integration, Rechtsabteilung; auswärtige Kulturpolitik und Protokoll) gegliedert, welche die laufende Arbeit erledigen. Geschichte Das A.A. entstand am 1.1.1870, als das preuß. Außenministerium vom Norddt. Bund übernommen wurde (-> Deutsches Reich 1870-1918).
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Es war kein selbständiges Bundesministerium, sondern wurde ebenso wie im Dt. Reich nach 1871 (Reichsamt) in Vertretung des Kanzlers von einem Staatssekretär geleitet. Nach 1918/19 wurde das A.A. ein selbständiges, von einem Minister geleitetes Ministerium. Die BRD besaß zunächst kein A.A.; erst nach der Revision des Besatzungsstatuts entstand 1951 das Bundesministerium des Auswärtigen, welches den Namen A.A. übernahm. Lit.: Α. Lohmann: furt/M. J 1973.
Das Auswärtige Amt, Frank-
Karlheinz Hösgen Ausweisung
Ausländerrecht
Autonome Rechtsnormen -> Satzung Autonomes Parlamentsrecht -> Parlamentsrecht
Baden-Württemberg steht mit einer Bevölkerungszahl von 10.391.502 (31.8. 1997) an 3. Stelle aller Bundesländer. -> Hauptstadt ist Stuttgart. Es gehört zu den wirtschafts- und steuerstarken Bundesländern und führt im -> Länderfinanzausgleich mit die höchsten Beträge an andere Länder ab. BW liegt mit einem —> Bruttoinlandsprodukt je Ew. von 1996 49.000 DM mit an der Spitze der Flächenländer in Dtld. Weiter ist es das Flächenland mit dem höchsten Exportanteil. Die wichtigsten Industriebranchen sind Maschinenbau, Elektrotechnik und Straßenfahrzeugbau mit z.T. Unternehmen von weltweiter Bedeutung und mit großem Erfindergeist. Kennzeichnend für die Landwirtschaft sind - histor. bedingt - eine zersplitterte landwirtschaftl. Nutzfläche und das Überwiegen von Kleinbetrieben, die häufig im Nebenerwerb geführt werden. An der Obstbaufläche hat das Land den höchsten Anteil aller Bundesländer. Nach Rheinland-Pfalz steht es an zweiter
Baden-Württemberg Stelle im Rebanbau. Wegen der Vielzahl reizvoller Städte und Landschaften (z.B. Schwaizwald und Bodensee), Heilbädern und bedeutender Kulturschätze und Baudenkmale sowie einer hervorragenden Gastronomie hat sich der Fremdenverkehr zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt. Besonders wichtig sind auch Wissenschaft und Forschung mit der größten Universitätsdichte in der Bundesrepublik („Land der Denker und Tüftler"). Das Land hat - in seiner freiheitlichchristl. und sozialen Prägung - eine ganze Reihe bedeutender Politiker auch im 20. Jhd. hervorgebracht, welche die polit. Ordnung in Dtld. in besonderer Weise geprägt haben. Vorgeschichte Zu Beginn des 19. Jhd.s entstanden die Mittelstaaten Großherzogtum Baden mit der Residenzstadt Karlsruhe und Königreich Württemberg mit der Hauptstadt Stuttgart. 1818 und 1819 erhielten sie landständische Verfassungen (-> Konstitutionalismus), die erste Grundrechtsgewährleistungen in Dtld. enthielten. Es bestimmten Elemente altständischer —> Repräsentation, auch liberalrechtsstaatl. -> Gewaltenteilung und demokrat. Denkens schon das Verfassungsleben im —> Vormärz. Besondere Bedeutung kam dem badischen Frühliberalismus (-> Liberalismus, K. v. Rotteck) und demokrat. Strömungen in der Revolution von 1848/49 (F. Hecker) zu. 1871 wurden Baden und Württemberg Bundesstaaten des —• Deutschen Reiches. Die in Baden und Württemberg gemäßigter verlaufene Revolution von 1918 führte zu Volksregierungen. Wahlen zu Nationalversammlungen und die Annahme von Verfassungen (1919) schlössen sich an. Im März 1933 wurden beide Länder gleichgeschaltet (—» Nationalsozialismus). Nach der bedingungslosen Kapitulation am 8.5.1945 wurden die Gebiete der alten Länder im Südwesten durch die Bildung von Besatzungszonen geteilt. In der durch die Besatzungsmächte kontrollierten Neuordnung entstanden die Länder Württemberg-Baden mit der Hauptstadt Stuttgart
Baden-Württemberg (amerik. Zone am 19.9.1945), Baden und Württemberg-Hohenzollern mit Freiburg und Tübingen als Hauptstädte (frz. Zone am 8.10.1946). Am 23.5.1949 wurden sie Länder der BRD. Gründung BWs Das - » Grundgesetz für die BRD sah die Möglichkeit einer Neugliederung der 3 Länder vor. Bemühungen auf einen Zusammenschluß scheiterten zunächst am Widerstand Badens. Nachdem eine Neuordnung auf freiwilliger Basis nicht erreicht werden konnte, schuf das 2. Bundesgesetz über die Neugliederung in den Ländern Baden, Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern die formalen Voraussetzungen einer nach ungemein heftigen Kämpfen durchgeführten -> Volksabstimmung. Das Bundesverfassungsgericht billigte den Abstimmungsmodus mit seinem Urteil vom 23.10.1951. Die am 9.12.1951 durchgeführte Volksbefragung ergab in 3 von 4 Abstimmungsbezirken eine Mehrheit für die Zusammenlegung der 3 Länder. 1956 ließ das BVerfG ein -> Volksbegehren auf Wiederherstellung des alten Landes Baden zu. , J)er Kampf um den Südweststaat" fand 1970 mit einer weiteren vom BVerfG festgelegten Volksbefragung in Baden, bei der 82% für die Beibehaltung des Landes BW stimmten, sein endgültiges Ende. Die Entstehung des Landes BW blieb bis heute die einzige geglückte territoriale Neugliederung in der Geschichte der BRD. Mit der Wahl einer Verfassungsgebenden Landesversammlung am 9.3.1952 und der Bildung einer vorläufigen, gemeinsamen Regierung am 25.4.1952 unter -> Ministerpräsident R. Maier vereinigten sich die Länder unter dem Namen BW zum „Modellfall der dt. Möglichkeiten" (T. Heuss). Am 16.11. 1953 trat die Verfassung des Landes in Kraft. Verfassung Die Landesverfassung betont in Art. 1 die dienende Aufgabe des -> Staates gegenüber dem Menschen. Die Verfassung hat die -> Grundrechte des GG als unmittelbar geltendes Recht übernommen und enthält darüber hinaus ei57
Baden-Württemberg gene Grundrechtsgewährleistungen. Das Land ist nach seiner -> Verfassung ein republikanischer, demokrat. und sozialer Gliedstaat der Bundesrepublik. Der Name und die Farben Schwarz-Gold betonen die Einheit des Landes wie die Tradition der früheren Länder. Der —> Landtag ist die gewählte Vertretung des -> Volkes. Nach dem Landeswahlgesetz werden die mindestens 120 ->• Abgeordneten in 70 Wahlkreisen fur die Dauer von 5 Jahren gewählt. Die Bewerber, die in den —• Wahlkreisen die meisten Stimmen erzielt haben, ziehen zuerst in den Landtag ein. Die übrigen Sitze werden den Parteien im Verhältnis ihrer Stimmen im gesamten Land zugeteilt. Polit. Entwicklung Seit den Wahlen 1952 ist die —> CDU die stärkste —> Partei des Landes. Sie verzeichnete einen steilen Aufstieg von 36% (1952) bis 56,7% (1976) und stellt seit 1953 ununterbrochen die Ministerpräsidenten. Bei den Landtagswahlen am 24.3.1996 erhielten die CDU 41,2%, die -> SPD 25,4%, Bündnis 90/Die Grünen 11,6, die - » FDP 9,4, die -> Republikaner 9,5% und Sonstige 2,8. Am 12. 6. 1996 wurde E. Teufel zum Ministerpräsidenten einer christl.liberalen —> Koalition gewählt. Regierungschefs seit dem Π. Weltkrieg waren: Württemberg-Baden: 1945-1952 R. Maier (DVP/FDP); Württemberg-Hohenzollem: 1947-1948 L. Bock (CDU), 1948-1952 G. Müller (CDU); Baden: 1946-1952: L. Wohleb (Badisch Christi.-Soziale Volkspartei, seit November 1947 CDU); BW: 1952-1953 R. Maier (DVP/FDP), 19531958 G. Müller (CDU), K.-G. Kiesinger 1958-1966 (CDU), H. Filbinger 19661980 (CDU), L. Späth 1980-1991 (CDU), seit 1991 E. Teufel (CDU). Staatsverwaltung und kommunale Selbstverwaltung Der Verwaltungsaufbau des Landes ist dreistufig (-» Ministerium, Regierungspräsidien, Stadt- und —> Landkreise). Den Ministerien sind 4 staatl. Regierungsbezirke nachgeordnet (Karlsruhe, Freiburg, Stuttgart, Tübingen), die an die histor. Entwicklung anknüpfen.
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BAfOG Das Land gliedert sich in 35 Landkreise und 9 Stadtkreise. Die Gemeindeordnung legt den - » Gemeinderat als Hauptorgan der —> Gemeinde fest, bestimmt aber gleichzeitig die Direktwahl des -> Bürgermeisters. Entsprechend sieht die Landkreisordnung den Kreistag als Hauptorgan der Kreise vor. Die Wahl des -> Landrats erfolgt allerdings durch den Kreistag. Der Landkreis ist Selbstverwaltungsbehörde und untere staatl. Verwaltungsbehörde. Bei den Kommunalwahlen besteht die Möglichkeit, Stimmen auf konkurriende Listen zu verteilen (-> Panaschieren) oder auf einzelne Bewerber zu vereinigen (—> kumulieren). Bei den Wahlen auf kommunaler Ebene kommt den von den polit. Parteien unabhängigen -> Wählervereinigungen eine beachtliche Rolle zu. Lit: P. Feuchte: Verfassungsgeschichte von BW, Stuttgart 1983.
Karl-Reinhard Titzck BAFA -> Bundesausfiihramt BAföG Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (erstmals 1971, zuletzt gem. Gesetz v. 17.7.96) gewährt individuelle Ausbildungsförderung für Schüler und Studierende, wenn die für Ausbildung und Lebensunterhalt notwendigen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen. Der Kreis der Berechtigten, in den vergangenen Jahren schrittweise eingegrenzt, umfaßt heute im wesentlichen Studierende an —> Hochschulen, Höheren Fachschulen, Akademien und Auszubildende des 2. Bildungsweges Die Studentenförderung erfolgte zuletzt j e zur Hälfte als rückzahlbares, aber zinsloses Darlehen und als Zuschuß. In Zukunft ist der Darlehensanteil auf ein verzinsliches privatrechtl. Bankdarlehen umgestellt. Seit August 1996 erhält nur noch ein Darlehen zum banküblichen Zins, wer die Höchstförderungsdauer (je nach Fach 8-13 Semester) erreicht hat. 1982 wurden gut 37% der Studierenden gefördert, 1994 nur noch 24% (alte Bundesländer), dagegen 55% (neue Bundesländer). Die Zahl
Bannmeile
BAG der geförderten Studenten sank von 442.000 (1991) auf 355.000 (1994) und weiter auf zuletzt 274.000 (1996). Den Höchstsatz erhalten heute nur noch 4% der Studenten. Seit 1996 gibt es auch die Unterstützung bei der beruflichen Aufstiegsfortbildung von Fachkräften (Meister-BAföG - Gleichrangigkeit von akademischer und beruflicher Ausbildung): nicht rückzahlbare Zuschüsse, ggf. ergänzt um zinsgünstiges Darlehen für Lehrgangsund Prüfungsgebühren als. Im 1. Jahr wurden so 30.000 Fachkräfte gefördert. Lit.: Bundesministerium f . Bildung u. Wissenschaft (Hg.): BAföG 96/97 - Gesetze und Beispiele. Bonn 1996.
G.K. BAG
Bundesamt für Güterverkehr
Bahn —> Deutsche Bahn BAKred -> Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen Bankensystem 1. Das B. in Dtld. unterteilt sich in das Zentralbank- und das Geschäftsbankensystem. 2. Die Deutsche Bundesbank ist die Zentralbank der -> Bundesrepublik Deutschland. Sie ist v.a. letzte Refinanzierungsstelle der Geschäftsbanken; außerdem verwaltet sie einen Teil der nationalen Währungsreserven. Sie unterhält je eine Hauptverwaltung mit der Bezeichnung Landeszentralbank für den Bereich des Landes - » Baden-Württemberg (Sitz: Stuttgart), -> Bayern (München), —> Berlin und -> Brandenburg (Beri ), —• Bremen, -> Niedersachsen und - » Sachsen-Anhalt (Hannover), —> Hamburg, —• MecklenburgVorpommern und —> Schleswig-Holstein (Hamb.), -> Hessen (Frankfurt/M.), -> Nordrhein-Westfalen (Düsseldorf), -> Rheinland-Pfalz und —> Saarland (Mainz), —> Sachsen und —> Thüringen (Leipzig). 3. Die Geschäftsbanken lassen sich hinsichtlich ihrer Wirtschaftsgesinnung in privatwirtschaftl., in gemeinwirtschaftl. bzw. gemeinnützige und genossenschaftli-
che Kreditinstitute einteilen. Hinsichtlich der Breite des Angebots an Bankleistungen unterscheidet man Universal- und Spezialbanken. Universalbanken (Kredit-, Genossenschaftsbanken, -> Sparkassen) betreiben alle in § 1 KWG genannten Geschäfte. Spezialbanken (Realkreditinstitute, Ratenkreditbanken, Kreditinstitute mit Sonderaufgaben) betreiben nur wenige dieser Geschäfte. Nach der Statistik der Bundesbank unterscheidet man folgende Bankengruppen: Kreditbanken insg. 335 Institute (3 Groß-, 197 Regionalbanken und sonstige Kreditbanken, 72 Zweigstellen ausländischer Banken, 63 Privatbankiers); Sparkassen und Girozentralen (622); Kreditgenossenschaften und genossenschaftliche Zentralbanken (2536), Realkreditinstitute (34); Kreditinstitute mit Sonderaufgaben (18). Lit: W. Grill u.a.: Wirtschaftslehre des Kreditwesens, Bad Homburg 1997. T.F.
Banknoten —> Währung —> Deutsche Bundesbank Bannmeile Als B. wird der gesetzlich exakt abgezirkelte befriedete Bannkreis um die Gesetzgebungsorgáne des —> Bundes und der -> Länder sowie um das -> Bundesverfassungsgericht bezeichnet. Dort sind öffentl. Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge verboten ( § 1 6 VersG). Das Versammlungsverbot in der B. schützt Freiheit und Würde der demokrat. -> Willensbildung vor dem Druck der Straße, sichert die Gemeinwohlbindung (—• Gemeinwohl) der —> Abgeordneten gegenüber demonstrativ verfochtenen Partikularinteressen und gewährleistet so parlament. —> Repräsentation und die verfassungsmäßige Wahrnehmung der Legislativgewalt. Dieser Schutzzweck rechtfertigt die Einschränkung der —• Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), die auch die Wahl des Versammlungsortes gewährleistet. Das —> Grundrecht greift wieder Platz, wenn das bezeichnete Schutzbedürfhis der Gesetzge-
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Baurecht
Baseler Ausschuß bungsorgane und des BVerfGs entfällt. Die B.ngesetze des Bundes und der Länder lassen in solchen Fällen Raum für Ausnahmen vom Versammlungsverbot in der B. (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt). Kraft Gesetzes tritt das Sonderrecht der B. zurück für jene Veranstaltungen, die mit dem Institutionenschutz von vornherein nicht in Konflikt geraten können, z.B. Gottesdienste unter freiem Himmel oder Volksfeste (§17 VersG). Lit.: Gesetz über Versammlungen und Aufiüge (Versammlungsgesetz) i.d.F.v. 15.11.1978 BGBl. I S. 1790, zuletzt geänd. durch Gesetz v. 9.6.1989, BGBl. I S. 1059; Bannmeilengesetz v. 6.8.1955, BGBl. I S. 504, geänd. durch Gesetz v. 28.5.1969, BGBl. I S. 449; M. Breitbach: Die Bannmeile als Ort von Versammlungen, BadenBaden 1994. U.Hu.
Baseler Ausschuß —»• Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen BAuA —» Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Baugesetzbuch
Baurecht
Baugenehmigung -> Baurecht Bauordnungsrecht —> Baurecht Bauleitplanung -> Baurecht Baupolizeirecht -> Baurecht Baurecht Das öffentl. B. umfaßt das Städtebaurecht (Bauplanungsrecht) und das Bauordnungsrecht (Baupolizeirecht). Gegenstand des öffentl. B.s sind Regelungen über die Entwicklung und die konkrete Nutzbarkeit des Raumes, über bauliche Anforderungen an konkrete Gebäude, zur Gefahrenabwehr und zur Sicherung bauästhetischer, sozialstaatl. und ökologischer Standards. Ober das Bauplanungs- und Bauordnungsrecht hinaus (öffentlisches B. i.e.S.) enthalten auch z.B. das die zusammenfassende, überge-
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ordnete Planung und Ordnung des Raumes gewährleistende Raumplanungsrecht, das —> Immissionsschutz-, das —» Naturschutz-, -> Atom- oder -> Abfallrecht, die Nachbarrechtsgesetze der Bundesländer sowie das bürgerl. Recht (privates B.) Vorschriften, die für die Raumgestaltung und Raumnutzung von Bedeutung sein können (öffentl. B. i.w.S.). Das Städtebaurecht (Bauplanungsrecht) ist bundesgesetzlich im BauGB geregelt und befaßt sich in einem allgemeinen Teil insbes. mit der Frage, ob und in welcher Art (z.B. gewerblich oder zu Wohnzwecken) ein Grundstück bebaut werden darf, mit den verfahrensrechtl. und inhaltlichen Anforderungen an die kommunalen Bauleitpläne (Flächennutzungsplan und Bebauungsplan), dem Planschadensrecht (Voraussetzungen für Entschädigungen wegen nachteiliger Betroffenheit durch Planungsmaßnahmen, vgl. §§ 39ff., 246a Abs. 1 Nr. 9 BauGB), bodenrechtl. Vorschriften (betreffend den Bodenverkehr, Umlegungen, Grenzregelungen, Enteignungen, Grundstückserschließung) und in einem besonderen Teil mit besonderen städtebaulichen Problemen (z.B. Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen). Mit der städtebaulichen Bauleitplanung soll eine geordnete städtebauliche Entwicklung gesichert werden. Zu diesem Zweck ist von den —> Gemeinden zunächst grds. (zu den Ausnahmen vgl. § 8 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 und 4, § 246a Abs. 1 Nr. 3 BauGB und - befristet - § 1 Abs. 2 S. 1 BauGB-Maßnahmegesetz) ein Flächennutzungsplan als vorbereitender Bauleitplan (§ 1 Abs. 2 BauGB) aufzustellen, aus dem heraus dann der den Flächennutzungsplan konkretisierende und verbindliche Bebauungsplan entwickelt werden soll (§ 8 Abs. 2 BauGB). Der Flächennutzungsplan entfaltet Rechtswirkungen gemeindeintem als Steuerungselement für den aus ihm zu entwickelnden Bebauungsplan und gemeindeextem für andere Planungsträger. Für den Bürger hat der Flächennutzungsplan u.U. eine erhebliche faktische Bedeutimg (z.B. durch die
Baurecht Schaffung von Bauerwartungsland), entfaltet aber keine unmittelbaren rechtl. Wirkungen. Der Bebauungsplan ergeht als gemeindliche Satzung (§ 10 BauGB) und enthält „die rechtsverbindlichen Festsetzungen für die städtebauliche Ordnung" (§ 8 Abs. 1 S. 1 BauGB) Diese Festsetzungen betreffen die Art und das Maß der baulichen Nutzung (§ 9 Abs. 1 Nr. 1-9 BauGB) bzw. der nichtbaulichen Nutzung von Flächen (§ 9 Abs. 1 Nr. 10-26). Für diese Festsetzungen ist die Baunutzungsverordnung (BauNVO) maßgeblich, welche klassifizierte Baugebbietstypen (§ 1 Abs. 2 BauNVO, z.B. Wohn-, Misch-, Gewerbegebiete) und dafür zulässige Nutzungsformen (§§ 2-15 BauNVO) sowie Regeln für Festsetzungen betreffend das Maß der baulichen Nutzung (§ 16 BauNVO, z.B. Zahl der Vollgeschosse oder Höhe eines Gebäudes) vorsieht. Der —> Rechtsschutz des Bürgers gegen Bebauungspläne bzw. bebauungsplanliche Festsetzungen erfolgt im Wege der verwaltungsrechtl. —> Normenkontrolle gem. § 47 VwGO und setzt neuerdings voraus, daß der Bürger die Verletzung eines subjektiven Rechts durch den Bebauungsplan behauptet. Das Bauordnungsrecht ist in den Landesbauordnungen geregelt. Diese beinhalten materielle Anforderungen an Baugrundstücke und bauliche Anlagen zum Zwecke der Gefahrenabwehr (z.B. Statik, Brandschutz) und zur Sicherung ästhetischer (z.B. sog. Verunstaltungsschutz etwa bzgl. von Werbeanlagen), sozialer (z.B. Kinderspielflächen, Mindestausstattung von Wohnungen) und ökologischer (z.B. die Pflicht, die natürlichen Lebensgrundlagen nicht zu gefährden bzw. den Naturhaushalt zu schonen, zu sparsamem Umgang mit Wasser und Energie, oft geregelt in § 3 der Landesbauordnungen) Standards und verfahrensrechtl. Vorschriften zum Vollzug dieser Vorschriften sowie denen des Städtbaurechts durch die Baugenehmigungsbehörden. Konkretisiert werden die bauordnungsrechtl. Vorschriften in den Landesbauordnungen durch Rechtsverordnungen
Baurecht (z.B. GaragenVO) und durch die „allgemein anerkannten Regeln der Technik", welche nach allen Landesbauordnungen zu beachten sind. Bei diesen Regeln handelt es sich im wesentlichen um DINNormen, VDE-Vorschriften, Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften und - in den neuen Bundesländern - um die techn. Güter- und Lieferbestimmungen (TGL). Die Kontrolle der Einhaltung der öffentl. Vorschriften bei der baulichen Nutzung von Grundstücken obliegt den zuständigen Landesbehörden. Wichtigstes Instrument ist die in allen Landesbauordnungen vorgesehene Genehmigungspflicht für die Errichtung, Änderung, Nutzungsänderung und den Abbruch baulicher Anlagen. Die Präventivkontrolle durch ein Baugenehmigungsverfahren ist in manchen Bundesländern fur bestimmte Bauvorhaben (insbes. kleinere Wohngebäude) ganz oder teilw. entfallen. Der Bauherr hat als Konsequenz der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG einen Anspruch auf die Erteilung der Baugenehmigung gemäß seines Bauantrags (Bauschein), wenn dem Bauvorhaben keine öfFentl.-rechtl. Vorschriften entgegenstehen. Die planungsrechtl. Zulässigkeit des Bauvorhabens (z.B. gemäß einem bestehenden Bebauungsplan bzw. gemäß den Vorschriften des BauGB) kann vorab durch Bauvorbescheid (Bebauungsgenehmigung) festgestellt wêrden. Rechtschutz erfolgt im Wege der verwaltungsgerichtlichen Klage. Auch der durch die Erteilung einer Baugenehmigung betroffene Nachbar kann sich gegen die Erteilung der Baugenehmigung mit der verwaltungsrechtl. Anfechtungsklage zur Wehr setzen. Voraussetzung ist, daß die erteilte Baugenehmigung rechtswidrig ist, weil das Bauvorhaben gegen öffentl.-rechtl. Vorschriften verstößt, die für den klagenden Nachbarn subjektive Rechte begründen, weil sie - jedenfalls auch - seinem Schutz dienen. Dies ist z.B. bei Abstandsvorschriften (sog. Bauwich) der Fall, grds. aber nicht bei Baugestaltungsvorschriften. Diese präventive Kontrolle durch das
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Bayern
BAV Baugenehmigungsverfahren wird ergänzt durch die die genehmigungskonforme Bauausführung sicherstellende Bauüberwachung und durch Vorschriften, welche unter bestimmten Voraussetzungen behördliche Eingriffe zur Herstellung baurechtmäßiger Zustände erlauben (bis hin zur Abrißverfligung). Die Verantwortung für die Einhaltung der bauordnungsrechtl. Vorschriften trifft nicht nur den Bauherrn, sondern auch die anderen „am Bau Beteiligten" wie Architekt, Unternehmer, Bauleiter (-> s.a. Planfeststellungsverfahren). Lit.: W. Brohm: Öffentl. Baurecht, Mücnehn 1997; U. Battis/ M. Krautzberger / R.P. Lohr: Baugesetzbuch Komm, München 5 1996; M. Hauth: Vom Bauleitplan zur Baugenehmigung, München "1997; W. Krebs: Baurecht, in: E. Schmidt-Aßmann (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, München 10 1995, S. 299ff.
Jürgen Bröhmer BAV —> Bundesaufsichtsamt fur das Versicherungswesen BAW
Bundesamt fìir Wirtschaft
BAWe —> Bundesaufsichtsamt fur den Wertpapierhandel Bayern ist mit einer Fläche von 70.554 qkm und einer Landesgrenzlänge von 2733 km das mit Abstand größte - » Land der —> Bundesrepublik Deutschland. Sein Territorium, in dem 11,9 Mio. Menschen (davon 1,1 Mio. Ausländer) leben, grenzt an Öst. und an die Tschechische Republik sowie an die dt. Länder - » Sachsen, -> Thüringen, —> Hessen und -» BadenWürttemberg. Zu den bay. Großstädten (mit über 100.000 EW) zählen München, Nürnberg, Augsburg, Würzburg, Regensburg, Ingolstadt, Fürth und Erlangen. 1. Geschichte Nach dem Rückzug der röm. Herrschaftseliten aus den Donauprovinzen Rätien (bis zum Inn) und Noricum (bis zum Wiener Wald) um 500 n. Chr. bilden ortsansässige Kelten und Romanen mit eingewanderten Germanen im 6. Jhd.
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den Stamm der Baiovarii (Bajuwaren), den späteren Bayern. Sie organisieren sich unter der Dynastie der Agilolfinger als Stammesherzogtum und beginnen mit der ethnischen und zivilisatorischen Durchdringung des ostalpinen Gebietes, bis sie im Jahre 788 ihre Unabhängigkeit an das Frankenreich Karls des Großen verlieren. Im späten ostfränkischen und dt. Reich bilden sie abermals ein (um die ostalpinen Gegenden verkleinertes) Stammesherzogtum zwischen Lech, Donau und Inn, das ab 1180 von der Dynastie der Wittelsbacher beherrscht wird. Es gelingt der Dynastie zweimal, den dt. König zu stellen (Ludwig „der Bayer", 1314-1347, der auch die Kaiserkrone erringt, und Rupprecht von der Pfälzer Seitenlinie, 14001410). Im Reformationszeitalter schlägt Bay. sich auf die kaiserlich-kath. Seite, was ihm am Ende des 30jährigen Krieges (1618-1648) die Kurwürde einbringt. Durch das Zusammengehen mit Napoleon gelingt es Bay., sich als Königreich zu konstituieren und sein Staatsgebiet zu verdoppeln. Dieses Ergebnis wird durch den -> Wiener Kongreß sanktioniert. In diese Phase der Geschichte fallen auch die Reformen des bay. Ministers M. Graf von Montgelas (1759-1839), der den bay. Staat i.S. der Ideen der Frz. Revolution und Napoleons modernisiert und dabei u.a. die Staatsverwaltung zentralistisch ordnet, die Privilegien des Adels beschneidet und die Steuer- und Rechtsgleichheit einfuhrt. 1871 tritt Bay. mit umfangreichen Reservatrechten in das Kaiserreich der Hohenzollem (—> Dt. Reich 1871-1918) ein und verliert schließlich 1918 seine Dynastie. 1919 erhält Bay. seine 1. republikanische -> Verfassung. 2. Wirtschafts- und Sozialstruktur Die Weichen der wirtschaftl. Entwicklung Bay. sind nach dem Π. Weltkrieg neu gestellt worden. Aus einem stark agrarisch geprägten Land ist ein modemer Industrie- und Dienstleistungsstaat geworden, der heute mit seiner ausgewogenen und technologieorientierten Bran-
Bayern chenstruktur als einer der führenden Wirtschaftsräume in Europa gilt. Mehr als ein Drittel des Sozialprodukts (34,6%) erwirtschaften Industrie und Handwerk, fast zwei Drittel (64%) der gesamtwirtschaftl. Leistung werden im Dienstleistungsbereich erarbeitet, während die Landwirtschaft - obwohl Bay. nach wie vor der größte Nahrungsmittelproduzent der Bundesrepublik ist - nur noch 1,4% zur Wirtschaftsleistung beiträgt. Immer größere Bedeutung gewinnen Hochtechnologiebereiche wie die Mikroelektronik, die Laser- und Biotechnik sowie die Entwicklung neuer Werkstoffe. Auch die Wachstumsbranche der Neuen Medien ist in Bay. stark vertreten. Diese dynamische wirtschaftl. Entwicklung hat nicht zuletzt die seit 1974 höchste Erwerbstätigenquote in der Bundesrepublik (47,9%) sowie die niedrigste Arbeitslosenquote (6,8%) in Dtld. zur Folge. 3. Das polit. System Gemäß der Verfassung des —> Freistaates Bay.wird die gesetzgebende Gewalt vom -> Landtag (Art. 13fT. Bay.Verf.) ausgeübt, der aus den „Abgeordneten des bay. Volkes" (Art. 13, Abs. 1 Bay.Verf.) besteht. Die -> Abgeordneten werden nach dem -» Verhältniswahlrecht (Art. 14, Abs. 1 Bay. Verf.) jeweils für die Dauer von 4 Jahren (Art. 16, Abs. 1 Bay.Verf.) gewählt. Neben der -> Gesetzgebung obliegen ihnen auch die Bildung der Staatsregierung, die Kontrolle der -> Exekutive und die Entscheidung über den Staatshaushalt. Die Gesetzgebung beruht i.d.R. auf Initiativen der Staatsregierung, aus der Mitte des Landtags oder durch den —• Senat. Nach der Entscheidung durch den Landtag wird das Gesetz vom Landtagspräsidenten zur Ausfertigung an den —> Ministerpräsidenten geleitet (Art. 76, Abs. 1 Bay.Verf.). Gem. Art. 7Iff. Bay. Verf. kann der Gesetzgebungsprozeß unter bestimmten Voraussetzungen auch unmittelbar vom Volk in Gang gesetzt werden: Im Falle der erforderlichen Zustimmung (1/10 der Stimmberechtigten) wird das -> Volksbegehren dem Landtag
Bayern vom Ministerpräsidenten unterbreitet (Art. 74, Abs. 3 Bay.Verf.). Die Abgeordneten können entweder den Gesetzentwurf des Volksbegehrens unverändert annehmen und somit als Gesetz (ohne Volksentscheid) verabschieden, oder das Volksbegehren ablehnen (bzw. einen eigenen Gesetzentwurf einbringen). In diesem Falle findet ein —> Volksentscheid statt (Art. 74, Abs. 1,4, 5 Bay.Verf.). Als einziges Land der Bundesrepublik verfügt Bay. derzeit noch über einen Senat (Art. 34ff Bay.Verf., Bayrischer Senat) als zweite parlament. —Kammer (-> Zweikammersystem). Der Senat wird auf der Grundlage eines Volksentscheids spätestens zum Jahr 2000 aufgelöst. Als oberste leitende und vollziehende Behörde Bay. fungiert die Staatsregierung (Art. 43fT. Bay.Verf.), die aus dem Ministerpräsidenten, den -> Staatsministem und den —> Staatssekretären besteht. Der vom Landtag auf die Dauer von jeweils 4 Jahren gewählte Ministerpräsident (seit Mai 1993 E. Stoiber) führt den Vorsitz in der Staatsregierung und leitet ihre Geschäfte (Art. 47, Abs. 1 Bay.Verf.). Er beruft und entläßt mit Zustimmung des Landtags die Staatsminister und Staatssekretäre (Art. 45 Bay.Verf.), bestimmt die —> Richtlinien der Politik und vertritt Bay. nach außen (Art. 47, Abs. 2,3). Der Verfassungsgerichtshof (Art. 60ff Bay.Verf.) ist u.a. zuständig für Anklagen gegen Mitglieder der Staatsregierung und des —> Parlaments (Art. 61 Bay.Verf.), für Organstreitigkeiten (Art. 64 Bay.Verf. —> Organstreit), für Normenkontrollverfahren (Art. 65,92 Bay.Verf.), für Verfassungsbeschwerden (Art. 66, 120 Bay.Verf.), für -> Popularklagen (Art. 98 Bay.Verf.) und für die Prüfung von —> Wahlen und —» Abstimmungen (Art. 62 Bay. Verf.). Die Parteienlandschaft in Bay. ist geprägt durch die dominierende Stellung der —> Christi.-Sozialen Union (CSU), die seit 1962 mit absoluter Mehrheit regiert. Die Ausnahmestellung der CSU, die seit dem Tod von F.J. Strauß im Jahr 1988 von T. Waigel geführt wird, basiert u.a. auf
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Bayern ihrem Selbstverständnis als eigenständige Landes- und Bundespartei mit starker Betonung der Eigenstaatlichkeit Bay. Seit den Wahlen vom 25.9.1994 verteilen sich die 204 Sitze im Bay. Landtag wie folgt: CSU 120, -> SPD 70, -> Bündnis 90/Die Grünen 14. 4. Die kommunale —» Selbstverwaltung Sie ist sehr stark ausgeprägt. Bay. verfügt neben den 2 Ebenen Gemeinde und —> Landkreis mit dem -> Regierungsbezirk über einen dritten kommunalen Selbstverwaltungskörper. Gem. Art. 9 Bay. Verf. (i.V.m. Art. 185 Bay.Verf. und Gesetz vom 20.4.1948, BayBS I, S.121) gliedert sich Bay. in 7 Regierungsbezirke (Oberbayern, Niederbayem, Oberpfalz, Oberfranken, Unterfranken, Mittelfranken und Schwaben), an deren Spitze je ein von der Staatsregierung im Benehmen mit dem Bezirkstag ernannter -> Regierungspräsident steht. Die Aufgabenschwerpunkte der Regierungen, die als staatl. Mittelbehörden zwischen den Staatsministerien und den Kreisverwaltungsbehörden fungieren, liegen im wirtschaftl., sozialen und kulturellen Bereich. Auch die 71 bay. Landkreise, deren Organe die von der Kreisbevölkerung direkt gewählten -> Landräte und -> Kreistage sind, besitzen eigene (z.B. Unterhalt von Krankenhäusern, Straßennetzen, Berufsschulen) und übertragene Aufgaben (z.B. Durchfuhrung staatl. Kassengeschäfte). Direkt gewählt werden auch die Oberbürgermeister der kreisfreien -» Städte und der großen Kreisstädte, die Ersten -> Bürgermeister der 2.031 bay. Gemeinden sowie die Stadt- bzw. -> Gemeinderäte als Vertretungskörperschaften. 3. Bay., der Bund und Europa Eine konstante Maxime bay. Politik offenbart sich in der starken Betonung des -> Föderalismus auf nationaler und europ. Ebene. Den Prozeß der Integration Europas gestaltet Bay. zum einen aufgrund traditioneller Bindungen und geographischer Lage durch seine Brücken- und Drehscheibenfunktion nach Osten, zum anderen durch sein engagiertes Eintreten zu-
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Bayerischer Senat gunsten der Prinzipien des Föderalismus, —> Regionalismus und der —» Subsidiarität. Bay. wendet sich massiv gegen eine undifferenzierte Reglementierungspolitik der -> Europäischen Union und fordert die Zuständigkeit der Länder bzw. Regionen und anderen in den Bereichen Bildungs-, Erziehungs-, Kultur-, Medienund regionaler Strukturpolitik. Lit.: R. Booklet (Hg.): Das Regierungssystem des Freistaates Bay., 3 Bde., München 1977-1982; F. Höfer: Die polit. Ordnung in Bay., München 3 1996; R A. Roth: Freistaat Bay., München 2 1994; M. Tremi: Geschichte des modernen Bay., München 1994.
Reinhard C. Meier-Walser Bayrischer Senat zählt gem. Art. 64 Bay. Verf. wie -» Landtag, Staatsregierung und Verfassungsgerichtshof zu den obersten —> Staatsorganen. Art. 34 Bay. Verf. charakterisiert den S. als „die Vertretung der sozialen, wirtschaftl., kulturellen und gemeindlichen Körperschaften des Landes". Den Bestimmungen von Art. 35 Bay. Verf. zufolge setzt sich der S., der aus insg. 60 Mitgliedern besteht, wie folgt zusammen: Vertreter der Land- und Forstwirtschaft (11), der Industrie und des Handels (5), des Handwerks (5), der —> Gewerkschaften (11), der freien Berufe (4), der —> Genossenschaften (5), der Religionsgemeinschaften (5), der Wohltätigkeitsorganisationen (5), der —» Hochschulen und Akademien (3) sowie der - » Gemeinden und -> Gemeindeverbände (6). Zum Senator, der gem. Art. 38 Bay. Verf. nicht gleichzeitig Mitglied des Landtages sein darf, kann, so Art. 36, Abs. 2 Bay. Verf., „nur ein wahlfähiger —» Staatsbürger berufen werden, der das 40. Lj. vollendet hat". Senatoren bleiben 6 Jahre im Amt. Wiederberufung ist zulässig (Art. 37 Bay.Verf.). Die Funktion des S. als zweite parlament. Kammer (—» Zweikammersystem) war nie unumstritten. Einerseits ist er als Parlament. Körperschaft zur Mitwirkung an der Gesetzgebung des Landes aufgerufen (Art. 39-41 Bay.Verf.), andererseits be-
Beamtenrecht
BBA sitzt er weder eine direkte -> Legitimation durch das Volk noch eine echte Möglichkeit, einen Gesetzesbeschluß des Landtages außer Kraft zu setzen. Aufgrund eines Volksentscheids 1998 wird der S. spätestens zum Jahr 2000 aufgelöst. LU.: H. Jendral: Der Bay. Senat, Frankiurt/M. 1993; Senatsamt des Bay. Senates (Hg.): Der Bay. Senat, München "1997.
Reinhard C. Meier-Walser BBA —» Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft BBU = Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz —> Bürgerinitiative BDA = Bundesvereinigung Dt. Arbeitgeberverbände —» Arbeitgeberverbände BDI = Bundesverband der Dt. Industrie Beamte stehen zu ihrem Dienstherrn (-> Bund, —> Land, —> Gemeinde, sonstige —» Körperschaft, —> Anstalt oder Stiftung) in einem öffentl.-rechtl. Dienst- und Treueverhältnis (Art. 33 Abs. 4 GG). Sie werden in dieses aufgrund einer Urkunde berufen, in der auch ein den jeweiligen Status erläuternder Zusatz enthalten sein muß. Verschiedene Statusverhältnisse sind zu unterscheiden: B. auf Lebenszeit (Regelfall) mit auf Dauer übertragener Funktion, B. auf Probe, die sich (regelmäßig) in einer Erprobungsphase vor der lebenslangen Anstellung befinden, B. auf Widerruf (insbes. während des Vorbereitungsdienstes) und B. auf Zeit (z.B. kommunale Wahlbeamte). Für die B.n sind vorrangig hoheitliche Aufgaben vorgesehen (Funktionsvorbehalt); allerdings ist in der Praxis eine strenge Abgrenzung gegenüber Tätigkeiten von -> Angestellten nicht überall durchgehalten. Für B. gelten insbes. die hergebrachten Grundsätze des - > Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG), die einen nicht ausdrücklich festgelegten Kembestand beamtenrechtl. Prinzipien darstellen. Hierzu gehören u.a. das Alimentationsprinzip (Anspruch des B.n
auf angemessene Besoldung und Versorgung), besondere -> Verfassungstreue und Streikverbot. Die Neuordnung des —» Beamtenrechts versucht verstärkt Teilzeitbeschäfligung zu ermöglichen, größere Leistungsanreize und bessere Aufstiegsmöglichkeiten insbes. für Jüngere zu schaffen und Privilegien abzubauen. Lit.: H.W. Scheerbarth / H. Höffken / H.-J. Bauschke u.a.: Beamtenrecht, Köln 61994, S. 79f.; H.-J. Bauschke/S. Benthien: Beamtenrecht in Stichworten, 1995. S. 16.
H.-J. Β Beamtenrecht Das Β. umfaßt alle - » Rechtssätze, die sich auf die Rechtsverhältnisse des —> Beamten beziehen. Beamtenrechtl. Regelungen erfolgen nicht nur durch —> Gesetze und —> Verordnungen, sondern auch durch allgemeine —> Verwaltungsverordnungen, Anordnungen und Richtlinien, soweit sie die Rechte und Pflichten des Beamten unmittelbar beeinflussen. Innerhalb des Rechtssystems ist das B. dem - » öffentlichen Recht zugeordnet und gehört sowohl zum —> Staats- und —» Verfassungsrecht als auch zum —> Verwaltungsrecht, und zwar zum besonderen Verwaltungsrecht. Auf Grund der föderativen Ordnung der —• Bundesrepublik Deutschland ist das B. teils dem —> Bundesrecht, teils dem —> Landesrecht zuzuordnen; dementsprechend gibt es Bundesbeamte und Landesbeamte. Beide Rechtsbereiche sind nach den gleichen Grundsätzen gestaltet ( - » Laufbahnprinzip). Nach Art. 33 Abs. 4 GG sind die Träger der öffentl. Gewalt verpflichtet, die Ausübung hoheitsrechtl. Befugnisse als ständige Aufgabe i.d.R. Angehörigen des —> öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentl.-rechtl. Dienstund Treueverhältnis stehen. Der sich daraus ergebende Funktionsvorbehalt enthält zusammen mit Art. 33 Abs. 5 GG eine institutionelle Garantie des —> Berufsbeamtentums. Diese Einrichtungsgarantie bedeutet, daß ein Kernbestand an Strukturprinzipien das dt. Berufsbeamtentum verfassungsrechtl.
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Beamtenparlament
Behörde
schützt. Weitere Vorschriften des GG, v.a. über die Verteilung der Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiete des B.s haben zu einem Beamten-Bundesrecht geführt, welches für die Beamten aller Dienstherrn im Bundesgebiet einheitliche und unmittelbare Regelungen trifft. Im wesentlichen gehören dazu das BRRG, das BBesG, das Beamtenversorgungsgesetz, das Bundespersonalvertretungsgesetz, aber auch Vorschriften über die Vor- und Ausbildung von Bundes- und Landesbeamten, wie z.B. das Steuerbeamten-Ausbildungsgesetz oder das Rechtspflegergesetz. Das gesamte B. wird von dem Prinzip der Formstrenge beherrscht, weshalb Begründung, Änderung und Beendigimg des Beamtenverhältnisses nur in den gesetzlich vorgeschriebenen Formen möglich ist.
Beamtenparlament -» Parlamentarische Sozialstruktur
recht letztlich aus vordemokrat. Zeit als Privileg des Monarchen stammt und nur schwer mit einer —> Demokratie und mit dem Prinzip der —> Gewaltenteilung zu vereinbaren ist, zumal der Gnadenakt nicht rechtl. normiert ist (das würde seinem Wesen widersprechen) und weitgehend der gerichtlichen oder verfassungsrechtl. Überprüfung entzogen ist (sieht man vom Ausschluß des Willktlrverbots ab). Das ist auch der Grund dafür, daß der Bundespräsident mit Anordnung vom 5.10.1965 bis auf wenige Ausnahmen sowie die anderen Gnadenträger das Gnadenrecht auf die zuständigen Behörden (-> Innen-,—» Justizministerium bis zu den —> Generalstaatsanwälten und Vollstreckungsbehörden) übertragen hat. Dem Gnadenrecht unterliegen auch z.B. die dienst- und versorgungsrechtl. Folgen einer Straftat oder der Ausschluß aus der Rechtsanwaltschaft. Im Unterschied zur B. bezieht sich eine Amnestie allgemein auf eine Gruppe von Straftaten, die auf der Basis eines Gesetzes erlassen oder reduziert werden.
Beamtentum —> Berufsbeamtentum
Lit.: J.-G. Schätzler: Handbuch des Gnadenrechts, München11992.
La.: W. Wiese: Beamtenrecht, Köln 3 1988; H.W. Scheerbarth / H.Höffken / H.-J. Bauschke u.a.: Beamtenrecht, Sigmaringen 61992.
Heinz Walz
Befehlsgewalt / Kommandogewalt —> Bundeswehr Begnadigung /-«recht Unter B. versteht man das Recht des —> Bundespräsidenten, der - » Ministerpräsidenten oder von Landesregierungen (—> Saarland) der Bundesländer und der —> Senate der Stadtstaaten, im Einzelfall bei rechtskräftigen erstinstanzlichen Urteilen die Strafe zu erlassen, sie zu ermäßigen oder umzuwandeln, weil die Strafe oder die Strafdauer unter Beachtung aller Umstände zwar als rechtmäßig, aber nicht mehr als gerecht und billig erscheint. Gnade soll vor Recht gehen. Durch das Gnadenrecht können aber Strafverfahren vor Rechtskraft des Urteils nicht „niedergeschlagen" werden. Die Berechtigung dieser durchaus humanen Verfahrensweise darf jedoch nicht verkennen lassen, daß das Gnaden-
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Jürgen Bellers Begünstigender Verwaltungsakt —> Verwaltungsakt Behörde / -n Der Begriff der B. geht auf das niederdeutsche Verb „behören" zurück und bedeutete „zugehören, zukommen". Als Kanzleiwort des 18. Jhd.s wurde darunter zunächst das „Gehörige" und später „der Ort, die Stelle, wohin etwas zuständigkeitshalber gehört", verstanden. Die Soziologie zu Beginn des 20. Jhd.s betrachtete bereits einen nach bestimmten Kriterien geordneten Betrieb als B.; danach gibt es B.n in erster Linie in —> Staat und —> Kirche, aber auch in großen Privatbetrieben, -» Parteien und Armeen. Die Rechtsordnung der Bundesrepublik hat verschiedene B.nbegriffe - je nach gesetzlicher Zielrichtung - hervorgebracht. So versteht das —> Bundesverfassungsge-
Behörde rieht unter einer B. ,4m allgemeinen eine in den Organismus der Staatsverwaltung eingeordnete, organisatorische Einheit von Personen und sächlichen Mitteln, die mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattet dazu berufen ist, unter öffentl. Autorität für die Erreichung der Zwecke des Staates oder von ihm geförderter Zwecke tätig zu sein". Das —> Verwaltungsverfahrensrecht geht von einem weiten Begriff aus, der jede Stelle erfaßt, die Aufgaben der öffentl. Verwaltung wahrnimmt. Dazu gehören auch Organe der Gesetzgebungs-, Regierungs- und Rechtsprechungsgewalt, soweit diese im Einzelfall Verwaltungsaufgaben wahrnehmen. Berücksichtigt man die Vielfältigkeit der Verwaltungsaufgaben, so kann eine B. sowohl hoheitlich als auch fiskalisch (-+ Fiskus) handeln. Im allgemeinen gelten B.n als nichtrechtsfähige Organisationseinheiten der Verwaltung, die i.d.R. durch Gesetz errichtet, zugeordnete Verwaltungsentscheidungen unter der Aufsicht eines Verwaltungsträgers vollziehen. B.n sind stets Organe der Verwaltung, deren sich eine -> juristische Person des —> öffentlichen Rechts bedienen muß, um nach außen tätig zu werden. Demnach sind jurist. Personen des öffentl. Rechts grds. keine B.n; sie haben vielmehr B.n, d.h. sie sind Behördenträger. Z.B. ist eine -> Gemeinde keine B., sondern B. ist der -» Bürgermeister, der die Gemeinde verkörpert. Folglich werden die Willensäußerungen und Handlungen einer B. der dahinterstehenden jurist. Person zugerechnet. Ausnahmsweise gilt nach dem - * Verwaltungsverfahrensgesetz auch eine beliehene Person als B., d.h. eine Privatperson, der auf Grund einer gesetzlichen Ermächtigung die Ausübung hoheitlicher Gewalt übertragen wurde. In funktioneller Hinsicht obliegt einer jeden B. in erster Linie die Sacherledigung. D.h. die speziellen, regelmäßig wiederkehrenden Aufgaben werden auf die Behördenmitarbeiter verteilt. Durch Geschäftsverteilung entstehen Organisationseinheiten, die unter Bezeichnungen wie z.B. Abt., Referat,
Behörde Dezemat, Sachgebiet oder —> Amt auftreten. Innerhalb der B. wird auf eine klare und scharfe Abgrenzung der Zuständigkeiten geachtet, um Kompetenzkonflikte und Koordinationsprobleme zu vermeiden. Von der Sacherledigung ist die dem Leiter der B. zukommende Leitungsfunktion zu unterscheiden. Hierzu gehört nicht nur die Aufsicht und Kontrolle, sondern auch die Planung und Koordination der Verwaltungsarbeit sowie die Verbindung zur Außenwelt durch Repräsentation der B.; meistens wird die Leitung einer B. durch einen Stab unmittelbar unterstellter Mitarbeiter (z.B. Persönlicher Referent, Büroleiter) unterstützt. Kollegiale Leitungsorgane kennt man v.a. in der Schulund Hochschulverwaltung (z.B. Lehrerkollegium, Senat). Neben der Sacherledigung und Leitungsfunktion hat jede B. Hilfsfunktionen und Querschnittsaufgaben zu erledigen, z.B. rechnen dazu das Organisations-, Haushalts- und Personalwesen, aber auch der Schreibdienst, das Aktenwesen und die Beschaffung. Die Grundstruktur der dt. Verwaltung ist zu erklären über die Selbständigkeit von Bund, —> Ländern, —> Kreisen und Gemeinden mit der Folge, daß jede Einheit ihre eigene Verwaltung führt und kontrolliert. Neben den Gerichtsbehörden und den Kommandobehörden der -» Bundeswehr gliedert sich die gesamte Verwaltung in Bund und Ländern in einzelne B.n, also in Verwaltungen mit hierarchischem inneren Aufbau. Der gestufte B.naufbau besteht aus Obersten B.n, Oberbehörden, Mittelbehörden und Unterbehörden. Die Obersten B.n bilden die Spitze der Verwaltung und sind keiner anderen B. unterstellt. Sie sind mit Verfassungsrang ausgestattet und für grundlegende, also oberste Entscheidungen in ihrem Bereich befugt. Oberste B.n sind die Regierungen (-> Bundesregierung, Landesregierung) sowie deren -» Minister, die Regierungschefs (-» Bundeskanzler, -> Ministerpräsident), aber auch die Parlamentspräsidenten. Die Aufgaben einer Obersten B. sind doppelter Natur,
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Behörde einerseits leisten sie Regierungszuarbeit und andererseits reine Verwaltungsarbeit. Oberste B.n besitzen mitunter trotz ihrer verfassungsrechtl. Stellung keine Verwaltungsentscheidungsbefugnisse wie z.B. im Falle der Rechnungshöfe (-» Bundesrechnungshof, —> Landesrechnungshöfe). Die zweite Stufe bilden die Oberbehörden, die den Obersten B.n nachgeordnet und denen als zentrale nichtministerielle B.n Verwaltungsentscheidungen grds. für das ganze Hoheitsgebiet zur eigenständigen Ausführung zugewiesen sind. Sie verfügen über keinen eigenen Verwaltungsunterbau. Nach Art. 87 Abs. 3 GG können für den Bund selbständige Bundesoberbehörden per Gesetz errichtet werden (z.B. —> Bundesverwaltungsamt). Bekannte Oberbehörden der Länder sind z.B. die -> Statistischen Landesämter oder die Landeskriminalämter. Oberbehörden werden auch als Sonderbehörden der Oberstufe bezeichnet, weil sie auf Grund der speziellen Verwaltungsmaterie die Ministerien entlasten. Die Mittelbehörden als dritte Ebene sind den Obersten B.n, ggf. auch den Oberbehörden nachgeordnet und i.d.R. für einen Teil des Hoheitsgebietes zuständig. Allerdings ist der räumliche Zuständigkeitskreis einer Bundesmittelbehörde meist nicht mit dem bezirklichen Raum einer -> Landesverwaltung identisch. Z.B. hat die Bundeswehrverwaltung (Art. 87 b GG) ihre Aufgaben auf 7 Wehrbereichsverwaltungen im Bundesgebiet verteilt, die nur in wenigen Fällen sich mit den Grenzen eines Bundeslandes decken. Atypische Mittelbehörden im Verwaltungsaufbau sind die Oberfinanzdirektionen, da sie sowohl Bundes- als auch Landesbehörden sind. Die Unterbehörden, als letzte Stufe im Verwaltungsaufbau findet man auf Bundesebene z.B. in den Geschäftsbereichen des —» Bundesministers der Finanzen (Hauptzollämter) oder des -> Bundesministers des Innern (Grenzschutzämter). Die Kreise und kreisfreien Städte sind kombinierte B.n, die teils als Selbstverwaltungs- und teils als untere staatl. B. füngieren. Der
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Belastender Verwaltungsakt dargestellte Behördenaufbau ist auch unter dem Gesichtspunkt einer mehrdimensionalen Aufsicht und Kontrolle von Bedeutung. So umfaßt die Dienstaufsicht im wesentlichen die innere Ordnung und den allgemeinen Geschäftsbetrieb. Demgegenüber erstreckt sich die —• Fachaufsicht auf die rechtl. richtige sowie zweckmäßige Erfüllung der jeweiligen Aufgaben. Lit: Β. Becker: Öffentl. Verwaltung, Percha 1989; H. Lecheler: Verwaltungslehre, Stuttgart 1988; G. Püttner: Verwaltungslehre, München 7 1995; W. Thieme: Verwaltungslehre, Köln "1984; WolffjJBachoff.
Heinz Walz Beiträge Die B. stellen neben den —> Steuern, -> Gebühren und —> Sonderabgaben eine weitere Art der öffentl.-rechtl. —> Abgaben dar. Sie werden zur Deckung der Kosten der Bereitstellung öffentl. Leistungen von den wirtschaftl. Begünstigten erhoben. Die Erhebung erfolgt unabhängig von einer eventuellen Inanspruchnahme. In Unterscheidung zu den Gebühren, welche nur bei tatsächlicher Nutzung erhoben werden, sind B. an eine mögliche Inanspruchnahme gekoppelt. Es wird lediglich das Angebot einer öffentl. Leistung belastet. Beispielhaft für B. sind die Anliegerbeiträge, welche von Grundstückseigentümern für Straßenbau oder Kanalisation erhoben werden. Daneben gehören auch Fremdenverkehrsbeiträge (sog. Kurtaxen) oder B. zu Kammern und Verbänden zu den B.; der fehlende individuell zurechenbare Aufwand rückt die B. zwar begrifflich nah an den Steuerbegriff heran, die Möglichkeit einer Inanspruchnahme wird jedoch bereits als Gegenleistung angesehen und somit die B. von den Steuern abgegrenzt. Β. V. Bekenntnisfreiheit —• Glaubens- und Gewissensfreiheit Belastender Verwaltungsakt —> Verwaltungsakt
Belgien Belgien, belg. Parlament Das Königreich B. entstand 1830 durch Abspaltung von den Niederlanden. Die Verfassung von 1831 schreibt den Status des Landes als parlament. Erbmonarchie fest. Die Verfassungsreform von 1993 führte zu einer Föderalisierung des Landes und einer Verkleinerung des Parlaments. B. ist Gründungsmitglied der -> Europäischen Gemeinschaften. Das —> Staatsoberhaupt (seit 1993 König Albert Π. ) übt gemeinsam mit dem Parlament die -> Legislative aus. Außerdem werden die —> Minister vom König ernannt und entlassen. Die Regierung wird sprachparitätisch (je zur Hälfte Flamen und Wallonen) zusammengesetzt. Die 3 Regionen repräsentieren die kulturelle Besonderheit des Landes. In Flandern wird vorwiegend flämisch gesprochen, in Wallonien herrscht frz. vor, während die Hauptstadtregion Brüssel zweisprachig ausgewiesen ist. Unter wallonischer Verwaltung ist zudem die kleinere deutschsprachige Gemeinschaft anerkannt. B.s Parlament besteht aus 2 Kammern (-> Zweikammersystem), dem Abgeordnetenhaus (Chambre des représentants/Kamer van Volksvertegenwoordigers) mit 150 Mitgliedern und dem Senat mit 71 -> Abgeordneten. Die Mitglieder des Abgeordnetenhauses und 40 Mitglieder des Senates werden alle 4 Jahre nach dem -> Verhältniswahlrecht direkt vom Volk gewählt. Die übrigen 31 Senatoren werden von den Parlamenten der Regionen benannt. Aktives Wahlrecht besitzen alle Belgier ab dem vollendeten 18., das passive ab dem 21. Lj.; es besteht - » Wahlpflicht. Verfassungsänderungen erfordern eine entsprechende Absichtserklärung beider Parlamentskammern. Hierauf werden die Kammern aufgelöst und neuberufen. Das neue Parlament muß schließlich der Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Das Parlament kann mit einfacher Mehrheit der Regierung das Mißtrauen aussprechen. Der einzelne Abgeordnete besitzt -> Gesetzesinitia-
Benachteiligungsverbot tivrecht. Es besteht keine -> Inkompatibilität zwischen Ministeramt und Abgeordnetenmandat. Die Fraktionen der flämischen Christdemokraten und der wallonischen Sozialisten dominieren das Abgeordnetenhaus und den Senat. Wallonische Christsoziale und flämische Sozialisten sind weitere bedeutende Parlament. Kräfte. Lit.: H. Döring (Hg.): Parliaments and Majority Rule in Western Europe, Frankfurt/M. 1995; W. Ismayr (Hg.): Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 355ÍT.
Michael Orlandini Benachrichtigungspflicht tungsverfahren
—> Verwal-
Benachteiligungsverbot Der Begriff des B.s hat in jüngerer Zeit v.a. durch die Neuregelung des Art. 3 Abs. 3 S . 2 GG (Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden) an Bedeutung gewonnen. Der Begriff B. ist in der Sache identisch mit dem des -> Diskriminierungsverbotes. Bei beiden geht es um das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG. Diese Vorschrift gebietet die —> Gleichbehandlung von wesentlich Gleichem und die Ungleichbehandlung von wesentlich Ungleichem. Jede Benachteiligung bzw. Bevorzugung von Personen durch staatl. Organe bedarf daher sachlicher Gründe (Willkürverbot) oder sogar zwingender Gründe, wenn die Benachteiligung an die in Art. 3 Abs. 3 S. 1 und 2 GG genannten Merkmale geknüpft ist. Eine große Bedeutung hat das B. auch im Recht der -» Europäischen Union, insbes. bzgl. der Anknüpfung an die —> Staatsangehörigkeit (vgl. Art. 6 EGV) und an das Geschlecht (vgl. Art. 119 EGV). Im bürgerl.-rechtl. Bereich gibt es wegen der dort grds. bestehenden Vertragsautonomie ein B. nur in Ausnahmefallen (vgl. die geschlechtsbezogenen B.e in den §§ 611a und 612 Abs. 3 BGB). Lit: Α. Jürgens: Der Diskriminierungsschutz im GG, DVB1 1997, S. 410ff.
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B. 69
Beneluxstaaten
Beneluxstaaten -> Belgien -» Niederlande —> Luxemburg Beratende Stimme / DeliberativStimme Das Stimmrecht der -> MdB kann nach —» Plenum und Ausschüssen differenziert werden. Das Stimmrecht im BT-Plenum gehört zu den Statusrechten, die durch das —> Grundgesetz normiert werden. Im BT-Plenum gibt es keine -»· Abgeordneten mit b.S.; eine Ausnahme hiervon galt bis zur Wiedervereinigung Dtld.s für die MdB aus Berlin (West), die nicht direkt gewählt wurden, sondern vom —> Abgeordnetenhaus bestimmt und in den BT delegiert wurden, und die im Plenum kein Stimmrecht besaßen, wohl aber in den Ausschüssen ihr Stimmrecht ausüben konnten. Das Stimmrecht der MdB in den 22 -> ständigen Ausschüssen wird durch die —> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages normiert. An Beispielsfällen können Reichweite und Bedeutung des Instruments der b.S. verdeutlicht werden. Nach Art. 45 GG bestellt der BT einen —> Ausschuß für die Angelegenheiten der EU, der ermächtigt werden kann, die Rechte des BT gem. Art. 23 GG gegenüber der —• Bundesregierung wahrzunehmen. Zu Beginn der 13. -> Wahlperiode wurde dieser Unionsausschuß erstmals konstituiert. In § 93a BT-GO ist festgelegt, daß dt. Mitglieder des —> Europäischen Parlaments in den Sitzungen des Unionsausschusses mitwirkungsberechtigt sind. Die BT-Fraktionen haben sich darauf verständigt, die Zahl auf 11 mitwirkungsberechtigte -> MdEP festzulegen. Davon entfallen auf die CDU/CSU 5, auf die -> SPD ebenfalls 5 Mitglieder und auf Bündnis 90/Die Grünen 1 Mitglied. Damit wird dem Stärkeverhältnis dieser Parteien im EP Rechnung getragen. Die FDP ist im EP nicht vertreten. Die Mitwirkungsbefugnis wird in § 93a GOBT wie folgt umrissen: Die berufenen MdEP können in den Sitzungen des BT-Unionsausschusses anregen, bestimmte Verhandlungsgegenstände
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Beratende Stimme zu beraten, zudem können sie Auskünfte erteilen und Stellung nehmen. Stimmberechtigt sind allerdings nur die MdB. In der Praxis nehmen die Abgeordneten des EP nur selten an den Ausschußsitzungen teil, was auf die unterschiedlichen Termindispositionen zurückzuführen sein dürfte. Der Unionsausschuß ist grds. ein normaler BT-Fachausschuß, der für die Behandlung von Unionsvorlagen zuständig ist (d.h. Vorhaben der EU, die für die Bundesrepublik von Interesse sein können, z.B. die Grün- und Weißbücher der EG-Kommission oder Entwürfe von —> EG-Richtlinien und -> EG-Verordnungen oder Unterrichtungen durch das EP). Die Ausgestaltung des Stimmrechts umfaßt danach i.d.R. das Recht, an der Ausschußsitzung teilzunehmen und aktiv durch Wahrnehmung des —> Rederechts und des Rechts, Sachanträge zu stellen, an den Beratungen mitzuwirken. Nur die Stimmberechtigung ist nicht gegeben. Dies gilt z.B. auch fllr fraktionslose MdB, die der Bundestagspräsident nach § 57 Abs. 2 S. 2 als beratende Ausschußmitglieder benennt. Als solche besitzen sie im Ausschuß nicht nur Rederecht, sondern auch das Antragsrecht (§ 71 Abs. 1 GOBT). Das Institut der b.S. von MdB in Ausschüssen wird von der GOBT genutzt, um zu gewährleisten, daß bestimmte MdB ihren Sachverstand in die Ausschußberatungen einbringen können. Der BT-Präsident hat in allen Ausschüssen beratende Stimme (§ 7 Abs. 1 GOBT). Nach § 69 Abs. 4 GOBT haben vorbehaltlich gesetzlicher Beschränkungen des Zutrittsrechts auch die Fraktionsvorsitzenden in allen Ausschüssen und Sonderausschüssen b.S.; zudem können Abgeordnete in bestimmten Fällen nach § 69 Abs. 3 GOBT mit b.S. an Ausschußsitzungen, die nichtvertrauliche Gegenstände betreffen, teilnehmen. Die Ratio dieser Bestimmung liegt in der Überlegung, daß MdB, die eine Vorlage im Plenum eingebracht haben, im Ausschußstadium Gelegenheit gegeben wird, so ihre Sache selbst zu vertreten, unabhängig von der formellen Mitglied-
Beratung
Berichte der Bundesregierung
schaft in bestimmten Ausschüssen. Die nähere Ausgestaltung des Stimmrechts - bezogen auf die durch GG, Bundesgesetz oder GOBT normierten -> Wahlen bzw. -> Abstimmungen im BT -, erfolgt durch die Abstimmungsregeln in § 48 GOBT für das Plenum wie für die Ausschüsse. Lit.: H.G. Ritzel/ J. Bücker: Handbuch ß r die Parlament. Praxis, Neuwied 1982ff.; P. Schindler: Datenhandbuch zur Geschichte des Dt. Bundestages, Baden-Baden 1994.
Hartmut Klatt Beratung -> Lesung Bergrecht Seit altersher gelten für das Gewinnen von Bodenschätzen wegen ihrer wirtschaftl. Bedeutung sowie der mit dem Bergbau verbundenen Gefahren besondere rechtl. Regeln. Aus dem Bergregal, das dem Landesherrn den Bergbau vorbehielt, entwickelte sich das B., das sich seit 1980 im Bundesberggesetz findet. Es unterscheidet zwischen bergfreien (u.a. Gold, Silber, Eisen, Kohle, Erdöl, Erdgas) und grundeigenen Bodenschätzen (Basalt, Schiefer). Nur diese stehen im Eigentum des Grundstückeigentümers, während bergfreie Bodenschätze unabhängig vom Grundeigentum mit einer von den Bergbehörden erteilten Bergbauberechtigung aufgesucht und gewonnen werden dürfen. Den Ausgleich zwischen Bergbauberechtigtem und Grundeigentümer regelt das B. in Gestalt der Grundabtretung zu Gunsten des Bergbauunternehmers als bergrechtl. Form der Enteignung. Vom Grundeigentümer wird eine Bauweise verlangt, die gegenüber den vom Bergbau zu erwartenden Schäden möglichst unanfällig ist; eventuelle Mehrkosten hat der Bergbauunternehmer zu tragen. Im Bergschadensrecht erleichtert eine widerlegbare Bergschadenvermutung bei bestimmten Schäden die Durchsetzung von Ersatzansprüchen. Die konkrete Ausführung des Bergbaus unterliegt bergbehördlicher Kontrolle anhand eines Betriebsplans, der die Sicherheit des Betriebs und den —>
Umweltschutz gewährleistet. Dabei handelt es sich nicht um eine einmalige Genehmigung bergbaulicher Tätigkeiten, sondern wegen der dynamischen, durch Art, Beschaffenheit und Verlauf der jeweiligen Lagerstätte diktierten Betriebsweise um eine präventive und laufende Betriebsüberwachung. Sie betrifft die Gesamtheit der eingesetzten sächlichen und personellen Mittel und bezieht sich auf sämtliche Entwicklungsphasen eines Betriebs. Bei der Beendigung des Bergbaus ist ein Abschlußbetriebsplan zu erstellen, der für die sichere Verwahrung des Betriebs sowie die Wiedemutzbarmachung der Oberfläche Sorge zu tragen hat. IM. : KM. Rasel: Umweltrechtl. Implikationen im Bundesberggesetz, Regensburg 1994; R. Willecke: Vom Preuß. Allgemeinen Berggesetz zum Bundesberggesetz, Stuttgart 1988.
Johannes Siebelt Berichte der Bundesregierung Typologisch unterschieden werden können: Maßnahmeberichte (z.B. im Zusammenhang mit einem Gesetzesvorhaben), Politikbereichsberichte (z.B. Agrarbericht) und Querschnittsberichte (z.B. „Frauen in der Bundesverwaltung"). Funktional können B. der Evaluation (Erfolgskontrolle) staatl. Maßnahmen und —> Gesetze ebenso dienen wie der —» Planung zukünftiger Maßnahmen und der Darstellung gesellschaftl. Problemlagen. Insbes. die —> Opposition kann sie auch als Grundlage für die parlament. Kontrolle der -> Regierung einsetzen. Die Zahl der B. der —• Bundesregierung steigt seit der 4. WP. (1961-1965) auf über 100 pro —> Legislaturperiode an, mit Höchstwerten von ca. 175 Berichten C5./7./8. und ab der 10. WP). An der quantitativen Entwicklung lassen sich auch die polit. Schwerpunktsetzungen der —> Gesetzgebung erkennen, wenn in den 70er Jahren während der sozial-liberalen Reformperiode die meisten B. aus dem —> Bundesinnenministerium stammten, während ab 1976 das —• Auswärtige Amt und das —» Bundeswirtschaftsministerium die
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Berichte der Bundesregierung meisten B. produzierten. Neben der quantitativen Zunahme läßt sich auch eine qualitative Veränderung feststellen. Nicht nur der Umfang der B. nimmt zu, sondern zunehmend entsprechen sie wissenschaftl. Kriterien und Standards, insbes. wenn unabhängige Kommissionen den B. erstellen (z.B. Monopolkommission). Die Initiative zur Berichterstattung kann von der Bundesregierung ausgehen (unter 10% aller B.), aufgrund eines Parlamentsbeschlusses (Ersuchens des —> Bundestags) erfolgen (ca. 75%) oder gesetzlich zwingend vorgeschrieben sein (ca. 20%). Nicht berücksichtigt sind hier B. der Bundesregierung an - » Ausschüsse des Bundestages, die teilw. andere Funktionen erfüllen und einen anderen Status haben. B. können periodisch erfolgen (z.Z. 57% aller B. v.a. im jährlichen und zweijährigen Turnus oder einmal pro Legislaturperiode) oder einmalig (43%). Die vom -> Parlament initiierten B. werden mit Mehrheitsbeschluß angefordert, wobei die Regierungsfraktionen nur äußerst selten einem Begehren der -> Opposition widersprechen. Aufgrund der freien Erarbeitung der B. in der Ministerialverwaltung erhöhte sich aber die Problemverarbeitungs- und Analysekapazität der —> Exekutive, während die Kontrollfunktion des Parlaments (der Opposition) damit nicht Schritt halten konnte. Weitere Probleme von B. der Bundesregierung sind deren Umfang, der oft problematische Aufbau, bei dem nicht genau zwischen objektiven Ergebnissen und polit. Bewertung oder Selbstdarstellung unterschieden wird, und die für viele B. festzustellende unzureichende Integration in Parlament. Abläufe. Nicht durchsetzen konnte sich eine obligatorische —> Berichtspflicht für alle Gesetzesmaßnahmen, die über Effizienz und Effektivität Auskunft geben könnte. Lit.: W. Ismayr: Berichte der Bundesregierung im Prozeß parlament. Willensbildung, in: ZParl 1990. S. 553ÍT.
Hermann Groß
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Berichterstatter Berichterstatter In den -> Ausschüssen des -> Bundestages werden nach der —> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages für jeden Verhandlungsgegenstand vom Vorsitzenden ein oder mehrere B. benannt. Diese sind für die Berichterstattung über die Ergebnisse der Ausschußarbeit im —> Plenum zuständig. Die Anzahl ist nicht festgelegt; regelmäßig wird jedoch zumindest ein B. der Regierungs- und Oppositionsseite benannt; teilw. gibt es auch einen B. aus jeder —> Fraktion, der vom Vorsitzenden auf deren Vorschlag benannt wird. Dabei handelt es sich um einen —> Abgeordneten, der in diesem Gebiet generell tätig ist. Der B. begleitet die Vorlage, mit welcher der Ausschuß befaßt ist - überwiegend ein Gesetzgebungsvorhaben - meist von Beginn an. Er leitet mit seinen Ausführungen die Ausschußberatungen ein. Nach Abschluß der Ausschußberatungen, die in einer -> Beschlußempfehlung an das Plenum münden, legt der B. in einem mit der Emfehlung verbundenen Bericht Verlauf und Ergebnisse der Beratungen dar. Häufig sind die B. in den Ausschüssen auch B. in den entsprechenden Arbeitskreisen oder Arbeitsgruppen ihrer -> Fraktion, die sich parallel mit der Thematik befassen. Im Rahmen einer fortlaufenden Rückkoppelung werden die Arbeitskreise durch ihre Mitglieder im Ausschuß über den Sachstand informiert und können Empfehlungen abgeben, die wiederum vom B. in den Ausschuß hineingetragen werden. Auf diese Weise wird der Einfluß der Fraktionen auf das Gesetzesvorhaben durchgängig gewährleistet. Wenn im Plenum über die Beschlußermpfehlung verhandelt wird, gehört nach der GOBT der B. zu den privilegierten Rednern; er kann vor Beginn und nach der Aussprache das Wort verlangen und hat auch während der Aussprache das Recht, jederzeit das Wort zu ergreifen. Im —» Haushaltsausschuß wird grds. zu Beginn der Legislaturperiode für deren gesamten Zeitraum aus jeder Fraktionsarbeitsgruppe ein B. benannt. Diese Konti-
Berlin
Berichtspflicht nuität ist notwendig, um dem B. die Möglichkeit zu verschaffen, die notwendigen Kenntnisse über den ihm zugewiesenen meist komplexen Bereich mit mehljährigen Maßnahmen zu erlangen. Lit: Schneider/Zeh,
S. 1121ff.;S. 1187ff.
Britta Hanke-Giesers / Christoph Lotter Berichtspflicht, parlamentarische Die B. ergibt sich aus der Öffentlichkeitsfunktion des -> Parlaments, diese wiederum aus dem Demokratiegebot (-> Demokratie). Polit. -> Willensbildung und parlament. Entscheidung sollen durchsichtig sein, damit das Volk sein Wahlrecht angemessen ausüben kann. Das Recht auf (umfassende) Information gewährleisten die - » Massenmedien. Das —» parlamentarische Regierungssystem ist außerdem auf —» Öffentlichkeit angewiesen, um unterschiedliche Meinungen und den Wettstreit der Parteien wirksam werden zu lassen. Umfang, Bandbreite und Bedeutung der Parlamentsberichterstattung haben erheblich zugenommen, nicht nur aus dem —»• Bundestag, sondern auch aus den —» Landesparlamenten. Nach dem GG sind die Verhandlungen von Bundestag und nach den —> Landesverfassungen die der —> Landtage öffentl.; öffentl. Bekanntmachung und Rechenschaftslegung sind auch für Wahlen, Parteizulassungen und Kandidaturen vorgesehen. Die Geschäftsordnungs-Bestimmung, Sitzungsprotokolle anzufertigen weist auf die B. hin. Die Berichterstattung über Plenar-Ausschußsitzungen erfolgt im Rahmen von -> Öffentlichkeitsarbeit durch eigene -> Informationsdienste der Parlamente und als unabhängige Berichterstattung durch Korrespondenten von -> Presse, -> Rundfunk und —> Fernsehen. Das GG schützt ausdrücklich die Freiheit der Berichte. Intern gibt es weitere B.en, die in der -> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages niedergelegt sind. Zu jedem Verhandlungsgegenstand der Ausschüsse werden -» Abgeordnete als -> Berichterstatter benannt, die das Parlament über das Beratungsergebnis in den
Ausschüssen unterrichten. Zunehmend dient eine besondere Ausschußberichterstattung der Information einer Fachöffentlichkeit. Besondere B.en haben der —> Petitionsausschuß (Jahresbericht) und der Verteidigungsausschuß (Berichte des -> Wehrbeauftragten). Dem Zeitalter elektronischer Medien trägt ein eigener —» Parlamentskanal - Phönix - Rechnung, der unmittelbare direkte Information ermöglicht. Lit.: G. Mayntz: Zwischen Volk und Volksvertretung, Bonn 1992.
Maria Mester-Grüner Berlin ist ein —> Land der —» Bundesrepublik Deutschland mit ca. 3,5 Mio. Ew. auf einer Fläche von ca. 890 qkm (Einwohnerdichte 3933/qkm). Beri, ist wie —> Hamburg und —» Bremen ein Stadtstaat. Die z.Z. noch 23 Bezirke (zukünftig 12) sind nach Art. 66 Abs. 2 der -> Landesverfassung an der Verwaltung nach dem Grundsatz der -> Selbstverwaltung zu beteiligen, haben jedoch nicht den rechtl. Status einer —> Kommune. Die staatsrechtl. Selbständigkeit Beri, ist Ergebnis des Π. Weltkrieges; bis dahin gehörte es zu Preuß. Im Londoner Protokoll vom 12.9.1944 (USA, UdSSR und Großbritannien) wurde Dtld. in 3 Besatzungszonen „und ein besonderes Berliner Gebiet" aufgeteilt. Zur Errichtung einer gemeinsamen Verwaltung Beri, war eine Alliierte Kommandantur vorgesehen. Frankreich trat am 1.5.1945 bei. Bis zum Einrücken der Westmächte, die es versäumten, sich den unkontrollierten Zugang nach Beri, garantieren zu lassen, schufen die Sowjets vollendete Tatsachen: Sie setzten einen —» Magistrat und 20 Bezirksämter (—> Bezirk) ein, in denen die Schlüsselpositionen mit Kommunisten besetzt wurden. Im Westteil der -> Stadt demontierten sie 85% der industriellen Kapazitäten und das moderne Kraftwerk West, im östlichen nur 3%. Das gesamte Berliner Stadtbahnnetz und der im brit. Sektor gelegene , » B e r l i n e r Rundfunk" blieben in ihrer
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Berlin Hand. Als die Sowjets in ihrer Zone die Vereinigung der —> SPD mit der KPD erzwangen, konnten sie sich in Beri, nicht durchsetzen. Wegen des —> Einstimmigkeitsprinzips in der Alliierten Kommandantur mußten sie am 31.5.1946 hinnehmen, daß die Westmächte die Tätigkeit der —• SED nur unter der Bedingung genehmigten, daß auch die SPD in allen 4 Sektoren weiterarbeiten durfte. Bei den am 20.10. abgehaltenen Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung erhielt die SPD 48,7%, die SED nur 19,8%. Am 16.6.1948 verließen die sowjetischen Vertreter die Alliierte Kommandantur, in der jedoch die westlichen Kommandanten bis zum 2.10.1990 amtierten. Bis dahin bestand in West-Berl. ein, allerdings stark eingeschränktes Besatzungsregime. Als nach der Einführung der Dt. Mark in den Westzonen (20.6.1948) der sowjetische Oberbefehlshaber am 23.6. eine Währungsreform für die Sowjetzone und Beri, (auch die Westsektoren) befahl, führten die 3 westlichen Stadtkommandanten in ihren Sektoren die Dt. Mark ein. Daraufhin unterbanden die Sowjets den gesamten Passagier- und Güterverkehr zwischen den Westzonen und den Westsektoren von Beri.; auch alle Lieferungen aus der Sowjetzone und Ost-Berl., einschließl. der Stromlieferungen, wurden eingestellt. Die Blockade West-Berl.s (bis zum 12.5. 1949) konnte nur überstanden werden, weil es über die 1945 vom —> Alliierten Kontrollrat beschlossenen Luftkorridore mit Lebensmitteln und Brennstoffen versorgt wurde. Als die Kommunisten am 30.11.1948 einen „provisorischen Magistrat" einsetzten, war die Spaltung der Stadt vollzogen. Ost-Berl. wurde 1949 —> Hauptstadt der -> DDR. Unter Verletzung des Vier-Mächte-Status wurden von DDR-Streitkräften ab 1952 alljährlich Militärparaden abgehalten. Eine Stadtkommandantur der Nationalen Volksarmee wurde 1962 eingerichtet. Die in diesem Jahr eingeführte Allgemeine Wehrpflicht galt auch in Ost-Berl. Das -> Grundgesetz sah in Art. 23 Beri.
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Berlin als —> Land der -> Bundesrepublik Deutschland vor, jedoch wurde im Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure bestimmt, daß Beri, nicht durch den —> Bund regiert werden und keine stimmberechtigte Vertretung in —» Bundestag und - * Bundesrat haben dürfe. Im Bestätigungsschreiben der Alliierten Kommandantur zur Verfassung von Beri, vom 1.10.1950 wurde mitgeteilt, daß Bundesgesetze hier erst nach Übernahme durch das Berliner —> Abgeordnetenhaus Anwendung finden würden. Die Berliner Bundestagsabgeordneten wurden nicht direkt gewählt, sondern vom Abgeordnetenhaus entsandt. Das Dritte Überleitungsgesetz vom 4.1.1952 verpflichtete West-Berl. zur Übernahme aller Gesetze, welche die „Berlin-Klausel" enthielten ausgenommen waren v.a. die Wehrgesetze -, sicherte einen Bundeszuschuß zur Dekkung des Fehlbedarfs im Landeshaushalt zu und gestattete die Außenvertretung der Stadt durch die Bundesrepublik. West-Berl. übte wegen seiner freiheitlichen Verfassung und seines höheren Lebensstandards auf Ost-Berl. und die DDR eine starke Anziehungskraft aus. Am 27.11.1958 forderte die Regierung der UdSSR von den Regierungen der Westmächte den Abzug ihrer Streitkräfte innerhalb eines halben Jahres und die Umwandlung West-Berl.s in eine „selbständige polit. Einheit", von der sie Wohlverhalten gegenüber der DDR verlangte. Dieses Ultimatum wurde von den Westmächten zurückgewiesen. An der „DreiStaaten-Theorie" hielt die DDR allerdings bis 1989 fest. Am 13.8.1961 ließen die Staaten des Warschauer Paktes Sperranlagen errichten (die spätere Berliner Mauer), durch die Bewohnern Ost-Berl.s und der DDR der Zugang nach West-Berl. verwehrt wurde. Wenige Tage später wurde West-Berl.ern der Besuch OstBerl. und der DDR untersagt. Das Berl.Abkonunen vom 3.9.1971, das die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte bestätigte, brachte für die West-Berliner eine Fülle von Verbesserungen, v.a.
Berlin-Umzug
Beruf
den ungehinderten, allerdings kontrollierten, Transitverkehr auf dem Straßen- und Schienenweg in das Bundesgebiet und den Besuch Ost-Berl.; trotz größter Anstrengungen der DDR-Führung, Ost-Berl. attraktiv zu machen, gelang es ihr nicht, das weltoffene West-Berl. in den Schatten zu stellen. Nach der Maueröffiiung (-> Deutsche Einheit) am 9.11.1989 wurde die Freizügigkeit wiederhergestellt. Am 24.12.1989 wurden Visumzwang und Mindestumtausch beim Besuch Ost-Berl. abgeschafft. Am 6.5.1990 fanden in Ost-Berl. freie -> Wahlen zur - » Stadtverordnetenversammlung statt. Die im Einigungsvertrag offengelassene Entscheidung über den Sitz von —» Parlament und —> Regierung Dtld.s fiel am 20.6.1991 im Bundestag zugunsten von Beri.; die in Aussicht gestellte Vereinigung der Länder Beri, und —> Brandenburg wurde am 5.5.1996 in einem Volksentscheid verworfen. Mit der Wiedervereinigung erloschen die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Dtld. als Ganzes und Beri.; auf Grund der Bestimmungen des -> Zwei + Vier-Vertrags vom 12.9.1990 blieben bis zum Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus der ehemaligen DDR (Sommer 1994) Truppen der Westmächte in Beri.; seitdem sind nur Einheiten der Bundeswehr stationiert. Lit: Κ. Doehring / G. Ress: Staats- und Völkerrecht!. Aspekte der Berlin-Regelung, Berlin 1972; HdBSlR I, S. 35 Iff.; W. Ribbe / J. Schädeke: Kleine Berlin-Geschichte, Berlin 3 1994.
Otto Wenzel Berlin-Umzug —> Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Beruf / -sfreiheit Begriff B. gilt innerhalb einer bestimmten gesellschaftl. Organisationsform von —> Arbeit als ein Muster spezialisierter Tätigkeiten, das zum Zwecke der materiellen Bedürfnisbefriedigung von Menschen übernommen wird (objektiver B.sbegrifï). Daneben meint B. in subjektiver Hinsicht die auf Ausbildung
bzw. auf spezielle Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen gegründete, auf Dauer angelegte, sinnerfüllte innere Bindung einer Person an einen Funktionsausschnitt der arbeitsteilig strukturierten —» Gesellschaft. Die berufliche Ausdifferenzierung verlief in den verschiedenen Kulturräumen unterschiedlich. In Dtld. setzte die Entwicklung im Mittelalter v.a. im handwerklichen Bereich ein. In der industriellen Revolution kam es zu einer ausgeprägten Arbeitsteilung. Gegenwärtig gibt es rd. 25.000 B.sbenennungen. Durch die weitgehende Mechanisierung fallen immer mehr Industriearbeitsplätze weg. Der Dienstleistungssektor hat heute v.a. wegen der Entwicklung in den Bereichen Information und Kommunikation eine überragende Bedeutung. In letzter Zeit ist wegen eines Wandels traditioneller Wertorientierungen, tiefgreifender Veränderungen der B.sinhalte und anhaltender -> Arbeitslosigkeit von einer „Krise des B.s" die Rede. Die Erwerbsquote betrug im April 1996 für die 15- bis unter 65jährigen Männer 80,3% und für die Frauen gleichen Alters 62,3%. Die Erwerbspersonen setzten sich zu 90% aus Erwerbstätigen und zu 10% aus Erwerbslosen zusammen. Von den Erwerbstätigen waren 46,6% als -> Angestellte und 36,1% als Arbeiter beschäftigt. 9,5% übten selbständig ein Gewerbe aus, während 6,8% Beamte und 1,1% mithelfende Familienangehörige waren. B.sfreiheit Art. 12 GG garantiert allen Dt. das Recht, B., Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Nach der Rechtsprechung des —> Bundesverfassungsgerichts bezeichnet B. jede Tätigkeit, die fUr den Einzelnen Lebensgrundlage ist und durch die er zugleich seinen Beitrag zur gesellschaftl. Gesamtleistung erbringt, gleichgültig, ob es sich um eine selbständige oder unselbständige Tätigkeit, um einen freien, einen staatl. gebundenen B. oder eine Tätigkeit im —> öffentlichen Dienst handelt. Die Bestimmung enthält ein einheitliches -> Grundrecht der B.sfreiheit, das sich sowohl auf
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Berufsbeamtentum die B.sausilbung und die B.swahl erstreckt. In seinem Apothekenurteil (BVerfGE 7, 377ff.) entwickelte das BVerfG zu den Grenzen von B.swahl und -ausübung die Dreistufentheorie. Danach ist der Gesetzgeber am freiesten, wenn er eine reine Ausübungsregelung trifft, die auf die Freiheit der B.swahl nicht zurückwirkt. Eine solche ist zulässig, wenn sie durch vernünftige Gründe des -> Gemeinwohls gerechtfertigt ist. Bei der Beschränkung der Freiheit der B.swahl ist zwischen subjektiven und objektiven Zulassungsvoraussetzungen zu unterscheiden. Erstere sind zum Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter zulässig, letztere nur zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeingut. Subjektive Zulassungsschranken sind z.B. die erfolgreiche Ablegung einer Prüfung, bisherige Straflosigkeit oder eine Altersgrenze; objektive Zulassungsgrenze ist die Begrenzung der zugelassenen Bewerber. Lit.: Α. Auer: Der Berufsbegriff des Art. 12 Abs. 1 GG, Frankfurt/M. 1991; StL I, Sp. 657fif.; Sp. 687ÍT.
Karl-Reinhard Titzck Berufsbeamtentum B. ist eine —» Institution des -» Verfassungs- und Verwaltungsrechts, die in besonders enger Weise mit dem modernen —> Staat dt. Verfassungsentwicklung verknüpft ist, und das B. sind auch die Menschen, die in diesem Rechtsstatus leben. Es gab und gibt -> Beamte in allen Staaten und staatsähnlichen Organisationen, „Berufsbeamte" im heutigen Sinne aber bilden eine besondere Gruppe von öffentl. Beschäftigten, die besonders weitgehenden Pflichten unterworfen sind und umgekehrt stärkere Rechte besitzen als andere. Bei der Gründung der —> Bundesrepublik Deutschland hat man sich auf den Fortbestand des B.s festgelegt und seine Stellung verfassungsmäßig gestärkt; der Gesetzgeber erhielt den Auftrag, „das Recht des öffentl. Dienstes unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des B.s zu regeln" (Art. 33 76
Berufsbeamtentum Abs. 5 GG). In der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts ist das B. nach dem GG „in Anknüpfung an die deutsche Verwaltungstradition ... eine Institution, die, gegründet auf Sachwissen, fachliche Leistung und loyale Pflichterfüllung, eine stabile Verwaltung sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden polit. Kräften darstellen soll" (BVerfGE 7, 155 [162]). In der Wendung gegen die „das Staatsleben gestaltenden polit. Kräfte" ist die Entgegensetzung von Politik (vornehmlich als Parteipolitik verstanden) und Sachverstand erkennbar, die ein wichtiges Element des verbreiteten Staatsverständnisses wiedergibt, wie es seinerzeit auch zu der Fassung von Art. 130 —» Weimarer Reichsverfassung geführt hat: „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei". Die Beamten sollen nach der Idealvorstellung über dem Streit der Meinungen und Interessen stehen und ohne eigenes Interesse entscheiden. Um ihre Unabhängigkeit zu stärken, sind sie rechtl. und wirtschaftl. besonders gesichert. Ihre vom allgemeinen —> Arbeitsrecht abweichenden Rechte (insbes. der Kündigungsschutz, die Beihilfe im Krankheitsfall und die günstige Altersversorgung) sind danach keine Privilegien, sondern Ausgleich für strengere Pflichtenbindung und ein Mittel der Immunisierung gegen Abhängigkeit und Bestechlichkeit (-»· Beamtenrecht). Daß auch Nichtbeamte objektiv und unparteiisch entscheiden und unbestechlich bleiben können, wird von den Verfechtern des B.s nicht bestritten, doch halten sie zusätzliche Sicherungen und Bindungen der Beamten für erforderlich. Das Beamtentum als soziale Gruppe wird durch das Ausbildungswesen und die Karrieremuster ebenso stark geprägt wie durch die rechtl. Hervorhebung aus der Arbeitnehmerschaft. Hier ist insbes. das -> Laufbahnprinzip zu erwähnen: Beamte werden für eine bestimmte Ebene der Verwaltungstätigkeit ausgebildet und in-
Berufsbeamtentum nerhalb dieser Laufbahn verwendet und befördert. Wesentlich ist dabei, daß die Beamtenanwärter schon im jugendlichen Alter in eine bestimmte Laufbahn eintreten und daß sie durch Vorbildung, Ausbildung und Prüfungen die formale Befähigung filr die Verwendung in einer Mehrzahl gleichartiger Ämter derselben Laufbahn erwerben. Angestellte werden hingegen für bestimmte einzelne Positionen angestellt. Beamte sind für die Vorgesetzten in höherem Maße verfügbar, d.h. sie können umgesetzt und versetzt werden; ihre relativ breite Ausbildung macht es möglich, sie in recht unterschiedlichen Arbeitsbereichen zu beschäftigen. Beamte haben zwar das Recht der Koalitionsfreiheit und sind tatsächlich zu einem erheblichen Maße in —> Gewerkschaften und Berufsverbänden organisiert, dürfen aber nicht streiken und unterliegen einem traditionellen Disziplinarrecht, das - in rechtsstaatl. geordneter Weise - eine Mehrzahl von Reaktionen auf Pflichtverletzungen zuläßt. Zu den Rechten der Beamten gehört insbes. das auf Alimentation, d.h. amtsangemessenen Unterhalt für sich und ihre Familie. Das Beamtengehalt wird nach wie vor nicht als Gegenleistung für die geleisteten Dienste angesehen, sondern eben als Unterhalt, wobei jedoch durch Mehrarbeitsvergütungen und leistungsbezogene Bezahlungselemente ein gewisser Wandel eingetreten ist. Das Beamtenverhältnis wird vom Grundgesetz als Dienst- und Treueverhältnis bezeichnet (Art. 33 Abs. 4), und die Treuepflicht wird als Pflicht verstanden, „den Staat und seine geltende Verfassungsordnung, auch soweit sie im Wege einer Verfassungsänderung veränderbar ist, zu bejahen"; „und sein Amt aus dem Geist der verfassungsrechtl. und gesetzlichen Vorschriften heraus zu führen". Die polit. Treuepflicht fordert nach einer Formulierung des BVerfG sogar „mehr als nur eine formal korrekte, im übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und
Berufsbeamtentum Verfassung; sie fordert vom Beamten insbes., daß er sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren" (BVerfGE 39, 334 [348] - RadikalenBeschluß). Die starke Betonung der polit. Treuepflicht und die darauf gestützte Praxis der Einstellungsüberprüfungen mitsamt der „Regelanfrage" bei den Verfassungsschutzbehörden haben in den 70er Jahren zu schweren Auseinandersetzungen zwischen dem polit. Establishment und kritischen Kräften geführt. Die massenhafte Überprüfung von Beamten und Anwärtern auf ihre —> Verfassungstreue ist später eingestellt, das darin zum Ausdruck kommende Mißtrauen als unbegründet erkannt worden. Noch immer verlangen die geltenden Gesetze von dem Beamten, daß er sich „mit voller Hingabe" seinem —> Beruf widme (vgl. u.a. § 54 S. 1 BBG). Diese altertümliche Formel hat aber nicht verhindert, daß auch für Beamte Vorschriften über die Höchstarbeitszeit und die Vergütung von Mehrarbeit eingeführt worden sind. Auch Teilzeitbeamtenverhältnisse sind inzwischen zulässig. Die Zahl der Angestellten im —> öffentlichen Dienst ist inzwischen mit mehr als 2,7 Mio. deutlich höher als die der Beamten und -» Richter (1,9 Mio.). Unter den Beamten bilden die Lehrer und Polizeibeamten die größten Gruppen. Allein in den Bereichen Bildung, -» innere Sicherheit und —> Rechtsschutz sind fast zwei Drittel aller Beamten (über 800.000) beschäftigt. Wegen der hohen Versorgungslasten, die in Zukunft zu erwarten sind, wird jetzt häufig gefordert, weniger Beamte und mehr Angestellte in den öffentl. Dienst aufzunehmen. Die Vergleichsrechnungen ergeben allerdings, daß erst auf längere Sicht eine Umschichtung der Belastung von den Gebietskörperschaften auf die —> Sozialversicherungsträger zu erwarten ist. Einige Länder wollen gleichwohl Lehrer künftig nur als
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Berufsbeamtentum Angestellte beschäftigen. Dagegen wird eingewandt, daß der „Funktionsvorbehalt" für Beamte (Art. 33 Abs. 4 GG) einer Personalpolitik entgegenstehe, die das Beamtentum wesentlich reduziere. Nach dieser Vorschrift ist „die Ausübung hoheitsrechtl. Befugnisse ... als ständige Aufgabe i.d.R. Angehörigen des öffentl. Dienstes übertragen, die in einem öffentl.rechtl. Dienst- und Treueverhältnis stehen"; diese hoheitsrechtl. Funktion ist nach der herrschenden Meinung auch bei den Lehrern gegeben, weswegen auch sie Beamte sein müßten. Die Auslegung des Funktionsvorbehaltes ist allerdings umstritten, und in der Praxis wird er höchst unterschiedlich angewendet. Die Reform des öffentl. Dienstes ist als Aufgabe seit Jahrzehnten erkannt und auch immer wieder begonnen worden. Eine Studienkommission ftlr die Reform des Öffentl. Dienstrechts hat in den Jahren 1970 bis 1973 einen ausgearbeiteten Vorschlag mit umfassender Dokumentation vorgelegt; er ist nicht realisiert worden. Unter dem Titel Dienstrechtsreformgesetz ist Anfang 1997 ein Gesetz in Kraft getreten, das einige Teilreformen bringt. Es soll das Leistungsprinzip betonen, indem die Bezahlung stärker auf die Leistung abgestellt wird, Mobilität fördern und Arbeitszeitflexibilität erweitern sowie die frühzeitige Pensionierung erschweren. Ob diese Änderungen im Rechtsstatus der Beamten die Funktionsfähigkeit des öffentl. Dienstes auf längere Sicht verbessern werden, ist offen. Lit.: Beamtenrechtsrahmengesetz i.d.F. v. 27.2.1985 (BGBl. I S. 462) sowie Bundesbeamtengesetz i.d.F. v. 27.2.1985 (BGBl. I S. 479), beide zuletzt geänd. durch das Gesetz zur Reform des öffentl. Dienstrechts (Reformgesetz) v. 24.2.1997 (BGBl. I S. 322); U. Battis: Bundesbeamtengesetz, Komm., München 21997; H. Hattenhauer: Geschichte des dt. Beamtentums, Köln 2 1993; Ph. Kunig: Das Recht des öffentl. Dienstes, in: E. Schmidt-Aßmann (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Berlin 101995, S. 577ff.;//. Lecheler: Die Gliederung des öffentl. Dienstes, in: K. König / H. Siedentopf (Hg.), Öffentl.
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Beschlußempfehlung Verwaltung in Dtld., Baden-Baden 1996/97, S. 509ff; W. Wiese: Beamtenrecht, Köln 3 1988.
Hans Peter Bull Berufsfreiheit —> Beruf / -sfreiheit Berufspolitiker Person, die freiwillig -> Politik zu ihrem Beruf macht und ihren Lebenshalt aus dem Gehalt für öffentl. Wahlämter bestreitet, also: nicht nur für die Politik, sondern auch von der Politik lebt (M. Weber 1865-1920). -> Bürgermeister von Städten, -> Landräte, Abgeordnete und Regierungsmitglieder sind heute so gut wie immer B.; zum B.tum führten einesteils die zunehmenden zeitlichen und inhaltlichen Anforderungen an solche Ämter, andemteils die Professionalisierung und Karrierisierung polit. Laufbahnen. B.tum ist für alle repräsentativen Demokratien typisch; allerdings gibt es Unterschiede in den Möglichkeiten, zwischen polit, und wirtschafll., akademischen oder ähnlichen Karrieren hin- und her zu wechseln (z.B. USA). In Dtld. wird das B.tum oft mit dem Argument kritisiert, die professionelle polit. Klasse verliere ihren Kontakt mit der Bevölkerung. Dies trifft aber nur sehr eingeschränkt zu. Ohnehin lassen sich moderne Industriegesellschaften mit Massendemokratien letztlich nur unter Inanspruchnahme von B.n regieren (s.a. —> Elite, polit.). Lit: Κ. Burmeister: Die Professionalisierung der Politik am Beispiel des Berufspolitikers im Parlament. System der BRD, Berlin 1993.
W. J. P. Berufsrichter —> Richter Berufsverbände —• Verbände Berufung -> Rechtsmittel Besatzungsmächte -> Bundesrepublik Deutschland —> Potsdamer Abkommen Alliierter Kontrollrat Beschlußempfehlung / -en Β. ist die
Beschlußempfehlung Empfehlung eines -> Ausschusses an das übergeordnete -> Organ, die auf eine bestimmte —> Beschlußfassung über eine an den Ausschuß zur B. überwiesene Vorlage gerichtet ist. B en im Dt. -> Bundestag (§ 75 Abs. 2, § 66 GOßT), die nur der federführende Ausschuß abgeben darf, sind Ergebnis der Schlußabstimmung des Ausschusses über die überwiesene Vorlage und werden von dem Vorsitzenden und dem —» Berichterstatter oder den Berichterstattern unterschrieben. B en zu überwiesenen -» Gesetzentwürfen enthalten die Empfehlung an das Plenum, den Gesetzentwurf in der vom Ausschuß beschlossenen Fassung anzunehmen oder ihn abzulehnen. Die Ausschußfassung, die sämtliche vom Ausschuß aufgrund von —> Änderungsanträgen beschlossenen Änderungen enthält, ergibt sich i.d.R. aus einer synoptischen Anlage zur B.; dieser Text wird in der Zweiten —> Lesung des Entwurfs Beratungsgrundlage des Plenums und meist unverändert angenommen. Die eigentliche Empfehlung zur Beschlußfassimg über die Vorlage kann von der Empfehlung begleitet werden, eine oder mehrere im Ausschuß beschlossene Entschließungen, z.B. einen Auftrag an die -> Bundesregierung, über die Wirkungen des Gesetzes innerhalb einer bestimmten Frist oder regelmäßig Bericht zu erstatten, zu beschließen. Der B. wird ein Vorblatt beigefügt, auf dem das Ausschußsekretariat in kurzen Worten die Problemlage schildert, die zur Vorlage des Entwurfs geführt hat, die vom Ausschuß gefundene Lösung skizziert, eventuell im Ausschuß beratene Alternativen benennt und grobe Angaben zu den mit einer Annahme verbundenen Kosten macht. Die B. nebst Vorblatt wird im Bundestag als (öffentl.) —> Bundestagsdrucksache gedruckt und verteilt. Die Beschlußfassung im Plenum kann regelmäßig frühestens am übernächsten Tag nach der Verteilung erfolgen. Meist wird in derselben Drucksache auch der Ausschußbericht abgedruckt, der den wesentlichen Gang der Ausschußberatungen, den Inhalt der be-
Beschlußfähigkeit ratenen Vorlagen, die Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse, Ergebnisse von Anhörungen, die grundsätzlichen Positionen der Fraktionen und eine Einzelbegründung der vorgenommenen Änderungen enthält. Lit: Schneider / Zeh, S. 1103ff. (1128Í); IV. Ismayr: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992, S. 196ff; F. Schäfer: Der Bundestag, Opladen "1982, S. 125fiF.; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 254ff. Andreas Nothelle
Beschlußfähigkeit bedeutet das Erfordernis der Anwesenheit einer Mindestzahl von Mitgliedern eines (parlament.) Gremiums zum Zeitpunkt der Beschlußfassung und -> Abstimmung. Das Prinzip der repräsentativen —> Demokratie, welches grds. die Mitwirkung aller —> Abgeordneten bei der polit. -» Willensbildung verlangt, erfordert nicht, daß auch alle gewählten Abgeordneten bei der Beschlußfassung anwesend sind und an ihr teilnehmen. Trotzdem müssen bestimmte Mindestanforderungen gelten. Die B. des -» Deutschen Bundestages und der —> Ausschüsse ist in seiner Geschäftsordnung geregelt; das -> Grundgesetz beschränkt sich in Art. 121 auf die Definition des Mehrhcitsbcgri ffs. Der Bundestag ist beschlußfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner gesetzlich bestimmten Mitgliederzahl (in der 13. Wahlperiode 656 Mitglieder zuzüglich 16 Überhangmandate) anwesend ist (§ 45 Abs. 1 GOBT). Auch für die B. der Ausschüsse ist die Anwesenheit der Mehrheit seiner Mitglieder erforderlich (§67 GOBT). Dennoch können Beschlüsse, die von weniger als der Hälfte der Mitglieder des jeweiligen Gremiums getroffen werden, wirksam zustande kommen. Die Geschäftsordnung setzt nämlich die förmliche Feststellung der Beschlußunfahigkeit durch den —> Bundestagspräsidenten bzw. die Ausschußvorsitzenden voraus. Solange nicht vor Beginn der —> Abstimmimg eine Fraktion oder 5% der Mitglieder Zweifel äußern und die Verifizierung verlan-
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Besoldungsrecht
Beschlußfassung gen, wird die B. des Bundestages ohne Rücksicht auf die Zahl der anwesenden Mitglieder vermutet. Ist weniger als die Hälfte der Mitglieder anwesend, hat der Präsident die Beschlußunfähigkeit festzustellen und die —> Sitzung sofort aufzuheben. Ist zu erwarten, daß die B. alsbald wieder hergestellt wird, kann der Präsident die entscheidende Abstimmung auf kurze Zeit aussetzen. Ergibt sich der Mangel der B. bei einer Abstimmung, die mit dem Zählen der Stimmen verbunden ist (z.B. beim sog. —» Hammelsprung), so hat der Präsident von Amts wegen entsprechend vorzugehen. Im Ausschuß reicht es aus, wenn vor der Abstimmung ein Mitglied verlangt, die B. durch Auszählen festzustellen (s.a. (—> Quorum). Lit: Ν. Achterberg: Parlamentsrecht, Tübingen 1984, S. 63Iff; Η. Trossmann /Η. Roll /HJ. Vonderbeck: Die Parlament. Beschlußfähigkeit, in: H. Roll (Hg.), Plenarsitzungen des Dt. Bundestages, Berlin 1992, S. 193ff.
Andreas Nothelle Beschlußfassung im Parlament -» Beschlußfähigkeit -> Abstimmung Beschränktes Wahlrecht —> Drei-Klassen-Wahlrecht —» s.a. Wahlrecht Beschwerde
Beschwerderecht
Beschwerderecht Der Begriff des B.s findet in einer Reihe rechtl. Zusammenhänge Verwendung. So wird das formlose Petitionsrecht an die Vertretungskörperschaften auf Europa-, Bundes-, Landes· und kommunaler Ebene oft auch als B. bezeichnet. Ein formloser —> Rechtsbehelf ist auch die —> Dienstaufsichtsbeschwerde. Im —> Verwaltungsverfahren war die Beschwerde früher als außergerichtlicher förmlicher Rechtsbehelf gegen behördliche Maßnahmen weit verbreitet, ist aber inzwischen zumeist durch das der gleichen Sache dienende -> Widerspruchsverfahren gem. §§ 68ff. VwGO ersetzt werden. Die außergerichtliche Beschwerde findet sich z.B. noch im —>
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Steuerrecht, im -> Wahlrecht, im Soldatenrecht (-» Soldatengesetz) und allgemein im Disziplinarrecht der —» Beamten, Soldaten und Ersatzdienstleistenden. Zweck der Beschwerde im Verwaltungsverfahren ist die Überprüfung des Verwaltungshandelns durch die —» Verwaltung selbst, dementsprechend ist sie dem gerichtlichen -> Rechtsschutz regelmäßig vorgeschaltet. Die Beschwerde im Verfahren der -» Freiwilligen Gerichtsbarkeit richtet sich gegen die Entscheidungen des -» Richters erster Instanz und findet an das -> Landgericht statt (§ 19 FGG). Im gerichtlichen Verfahren ist die Beschwerde ein vielfältig ausgestalteter Rechtsbehelf, der sich zumeist gegen Beschlüsse und Verfügungen (nicht also gegen das Urteil in der Hauptsache) richtet und an im einzelnen normierte Voraussetzungen (Form, Frist etc.) geknüpft ist. Aus dem Bereich des —> Arbeitsrechts ist schließlich das (privatrechtl.) B. des Arbeitnehmers gem. §§ 84-86 —> Betriebsverfassungsgesetz gegenüber dem Arbeitgeber zu nennen. J.M. Besoldungsgesetz - » Wehrsoldgesetz Besoldungsrecht Das B. regelt die Bezahlung der Angehörigen des —> öffentlichen Dienstes, die in einem öffentl.rechtl. Dienst- und Treueverhältnis stehen. Demnach erstreckt sich das B. nur auf —> Beamte, nicht auf -> Angestellte und - » Arbeiter. Verfassungsrechtl. basiert die Besoldung im wesentlichen auf Art. 73 Nr. 8 GG, wonach der -> Bund die ausschließliche —> Gesetzgebung über die Rechtsverhältnisse der im Dienste des Bundes und der bundesunmittelbaren —> Körperschaften des öffentl. Rechts stehenden Personen hat. Die Einfügung des Art. 74a GG 1971 (Ergänzung der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes) führte zu einer Vereinheitlichung der Besoldung der Beamten des Bundes und der Länder, -> Gemeinden, —> Gemeindeverbände sowie der sonstigen eines Lan-
Besteuerung des unterstehenden Körperschaften. Der Geltungsbereich des B.s erfaßt auch die -> Richter des Bundes und der Länder sowie die Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit. Lit: Κ. Eberl: Das gesamte öffentl. Dienstrecht filr Beamte, Angestellte und Arbeiter bei Bund, Linder und Kommunen, Berlin 1996. H. W.
Besteuerung -> Steuer Besucherdienst —» Parlamentarische Öffentlichkeitsarbeit Betrieb ist eine Wirtschaftseinheit zur Produktion von Gütern und Dienstleistungen mit einem gewissen Organisationsgrad. Innerhalb der verschiedenen wissenschaftl. Disziplinen finden sich unterschiedliche Definitionen: Betriebswirtschaft!. handelt es sich bei einem B. primär um örtliche, techn.-organisatorische Einheiten (z.B. Fabriken) mit der Zielsetzung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Daneben werden B.e bzgl. ihrer Größe (Klein-, Mittel- und Großbetrieb) oder nach der Art der Leistung in Produktions- (Handwerk, Industrie), Dienstleistungs- (Handel und Banken) und Verwaltungsbetriebe (Dienstleistungen der öffentl. Hand) unterschieden. Schließlich ist der B. die einzelne Ökonom. Einheit und damit auch Teil der Gesamtwirtschaft. Rechtl. werden B.e u.a. nach der Rechtsform unterteilt in Einzelunternehmen, Personen- oder Kapitalgesellschaften (-> s.a. Gesellschaftsrecht). Arbeitsrechtl. erfolgt eine wirtschaftszweigspezifische Differenzierung (-> Gewerbeordnung -» Betriebsverfassungsgesetz). Das -» Steuerrecht wiederum stellt grds. die Gewinneizielungsabsicht im Rahmen einer Beteiligung am allgemeinen wirtschaftl. Verkehr in den Vordergrund; daneben wird hier zwischen landund forstwirtschaftl. B.en und Gewerbebetrieben unterschieden. Soziologisch schließlich ist der B. ein soziales System, welches insbes. durch informelle Bezie-
Betriebsverfassung hungen unter den Beschäftigten einerseits und den hierarchischen Strukturen innerhalb der formalen Organisation andererseits gekennzeichnet ist. Lit.: FJC. Bea/E. Dichtl /M. Schweitzer (Hg.): Allgemeine Betriebswirtschaftslehre I, Stuttgart '1992; G. Wöhe: Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre, München "1996. Β. V.
Betriebsrat Der B. (im -> öffentlichen Dienst: Personalrat) setzt sich aus gewählten Vertretern eines Betriebs zusammen und verfolgt die Interessenwahmehmung der —> Arbeitnehmer gegenüber dem -» Arbeitgeber. B.e werden in Betrieben mit mindestens 5 ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern gebildet; die Anzahl der Mitglieder eines B.s bemißt sich nach der Größe der Belegschaft. Die Wahl des B.s ist geheim und unmittelbar, wahlberechtigt sind Arbeitnehmer, die das 18. Lj. vollendet haben, wählbar sind wahlberechtigte Arbeitnehmer, die dem Betrieb mindestens seit einem Jahr angehören. Gesetzliche Grundlage ist das —> Betriebsverfassungsgesetz von 1952/72 (mit späteren Änderungen). Die Aufgaben eines B.s umfassen insbes. die Überwachung geltender Gesetze, Verordnungen und betrieblicher Vereinbarungen (z.B. Tarifverträge, Arbeitsschutzmaßnahmen), daneben Maßnahmen zur Förderung der Belegschaft und Verbesserung der Arbeitsbedingungen (z.B. soziale Einrichtungen) oder Maßnahmen zur Eingliederung behinderter und ausländischer Arbeitnehmer. Lit: —> Betriebsverfassungsgesetz Β. V.
Betriebsverfassung Die Gesamtheit aller Regelungen zur Ausgestaltung der Zusammenarbeit zwischen -> Arbeitgebern und -> Arbeitnehmern in -> Betrieben wird als B. bezeichnet. Die B. hat sich in einem langen und konfliktreichen Entwicklungsprozeß herausgebildet und ist an die Stelle von ausschließlich arbeitgeberbestimmten Betriebsordnungen getreten. 81
Betriebsverfassungsgesetz
Beweiserhebung
Da die B. Wahl verfahren, Organe, Mitwirkungs- und Mitbestimmungselemente enthält, verweist der Begriff nicht zufällig auf gewisse Ähnlichkeiten zwischen polit, und betrieblicher Verfassungsform. I.e.S. wird mit B. die arbeitsrechtl. Grundordnung (—> s.a. Arbeitsrecht) verstanden, die sich im —> Betriebsverfassungsgesetz niederschlägt. Dieses Gesetz enthält im Rahmen einer sozialpartnerschaftlichen Gesamtkonzeption zahlreiche Vorschriften zur Wahl, zur Ausgestaltung, zur Arbeitsweise und zu den Kompetenzen der —> Betriebsräte und zu Jugend- und Auszubildendenvertretungen. Dort, wo das BetrVG nicht gilt, im —> öffentlichen Dienst und bei den Religionsgesellschaften und ihren karitativen und erzieherischen Einrichtungen, sehen ähnlich gestaltete Rechtsquellen als Organe einer B. Personalräte bzw. Mitarbeitervertretungen vor. Diese Vorschriften, die eine Partizipation der Arbeitnehmer am Betriebsgeschehen ermöglichen sollen, werden höchst unterschiedlich in die Praxis umgesetzt. Die B. wird durch zahlreiche weitere Gesetze und Bestimmungen ergänzt, die Einfluß auf die soziale Ordnung des Betriebes haben. Lit.: W. Däubler
/ M. Kittner / T. Klebe
(Hg.):
Betriebsverfassungsgesetz, Komm., Köln 61997. E.R.
Betriebsverfassungsgesetz Das BetrVG enthält v.a. Regelungen über Wahl und Zusammensetzung des -> Betriebsrates und die Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte der Beschäftigten. Der Geltungsbereich des BetrVG 1952 vom 11.10.1952 (mit späteren Änderungen) umfaßt —> Betriebe (in der Rechtsform einer AG, KGaA, GmbH, Wirtschaftsund Erwerbsgenossenschaft und VVaG, —> s.a. Gesellschaftsrecht) mit mehr als 500 —> Arbeitnehmern und unterstellt diese der Aufsichtsratmitbestimmung. Das BetrVG 1972 vom 15.1.1972 erfaßt Betriebe mit mindestens 5 Arbeitnehmern und regelt die Wahrnehmung der Interessen der Beschäftigten durch den Be-
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triebsrat. Lit: H. Hess: Komm, zum Betriebsverfassungsgesetz, Neuwied 41993. Β. V. Beugemaßnahmen -> Strafrecht Bevollmächtigte der Länder beim Bund —>· Bundesrat Beweiserhebung Die Einzelheiten der gerichtlichen B. zur Erforschung der entscheidungserheblichen Tatsachen sind im —> Prozeßrecht normiert. Hierbei gelten in den verschiedenen Gerichtszweigen unterschiedliche Maximen. Während die Parteien im Zivilprozeß den Beweis (von Ausnahmen abgesehen) regelmäßig anbieten müssen (Beibringungsgrundsatz), gilt im Verwaltungsund im -> Strafprozeß der —> Amtsermittlungsgrundsatz, d.h. das -> Gericht hat die notwendigen Tatsachen von sich aus zu ermitteln. Beweismittel sind grds. Augenschein, Zeugen, Sachverständige, Urkunden, Parteivemehmung und amtliche Auskünfte. Bei der Auswertung der Beweise gilt (von Ausnahmen abgesehen) der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, d.h. das Gericht hat am Ende des Verfahrens nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden, welche Tatsachen es für erwiesen hält. „Frei" meint dabei nicht Willkür, sondern ist bezogen auf das subjektive Element der Würdigung. Die Entscheidungsfindung steht unter Begründungszwang und muß rational nachvollziehbar sein. Zumeist liegt hier der schwierigste Teil der richterlichen Entscheidung (nicht bei den Rechtsfragen). Im —> Strafverfahren, wo infolge des Grundsatzes in dubio pro libertate (im Zweifel für die Freiheit) die strengsten Regeln im Hinblick auf die B. gelten, unterscheidet man zwischen Strengbeweis und Freibeweis. Die Ermittlung der für die Sachentscheidung erheblichen Tatsachen unterliegt dem Strengbeweis, die Beweisaufnahme erfolgt hier in gesetzlich definierten Formen und die zugelassenen
BIBB
Bezirk Beweismittel sind limitiert (§§ 249ff. StPO). Lit: U. Eisenberg: Beweisrecht der StPO, Spezialkonim., München 21996.
J.M. Bezirk / -e 1. Unter B. versteht man i.w.S. den allgemeinen räumlichen Zuständigkeitsbereich einer —> Behörde oder eines —> Gerichts (i.S.v. Amtsbezirk). 2. B. beschreibt i.e.S. das Gebiet der Mittelinstanz der allgemeinen inneren -> Verwaltung (i.S.v. Regierungsbezirk, Teilverwaltungsgebiet). 3. Darüber hinaus meint B. in den —» Stadtstaaten —> Berlin und - > Hamburg die Stadtbezirke als Untergliederungen der kommunalen Gebietskörperschaft. Die Stadtbezirke sind mit begrenzter Selbstverwaltung ausgestattet. An deren Spitze steht in Beri, der gewählte B.s-Bürgermeister und in Hamb, ein B.s-Amtsleiter. 4. Größte Bedeutung haben die B.e in —> Bayern: Dieses —» Land verfügt noch über eine dritte kommunale Ebene (-> Kreis) in Gestalt von 7 B.en, die als -> Gemeindeverbände und Gebietskörperschaften solche Aufgaben wahrnehmen, die über das Leistungsvermögen der —> Landkreise hinausgehen. Das jeweilige B.s-Gebiet stimmt auf Grund der geltenden B.sordnung mit dem entsprechenden staatl. Regierungsbezirk überein .Die B.e verfügen über eine Volksvertretung (B.s-Tag), die zusammen mit dem -> Landtag direkt gewählt wird. An dessen Spitze steht der B.stagspräsident. Die Verwaltung des B.s wird in organisatorischem, personellem und sächlichem Verwaltungsverbund mit der staatl. B.sregierung durchgeführt, an deren Spitze der —> Regierungspräsident steht. Der B. finanziert sich durch —> Gebühren und aus den B.sumlagen der - » Gemeinden. Die B.e können diese Umlagen erheben, soweit die sonstigen B.sEinnahmen den finanziellen Bedarf nicht decken. Histor. Vorbild für diese 3. kommunale Ebene (1. Gemeinde, 2. Landkreis, 3. B.) in Bay. war das fiz. Department. Der B.stagspräsident ist vergleich-
bar mit dem Präsidenten des Generalrats in Frankreich. Auch in der bis 1945 bay. Rheinpfalz (heute Teil von —» RheinlandPfalz) hat sich der B.stag erhalten mit einem kleinen Apparat von Bediensteten. An der Spitze steht ein B.svorstand. Von der Funktion her vergleichbar sind in - » Nordrhein-Westfalen die beiden —> Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe als Nachfolger der preuß. Provinzen. Die zugehörige Landschaftsversammlung besteht aus Vertretern der Städte und Kreise, die indirekt bestellt werden. 5. In Öst. ist der B. der räumliche Zuständigkeitsbereich einer B.s-Hauptmannschaft (Organ der allgemeinen staatl. Verwaltung 1. Instanz) teilw. auch Verband mehrerer Gemeinden mit eigener Rechtspersönlichkeit 6. In der Schweiz ist ein B. das dem Zuständigkeitsbereich einer unteren oder mittleren Verwaltungsoder Gerichtsbehörde unterstellte Gebiet (im Rang unterhalb des Kantons). Die meisten Kantone sind in B.e (Amts-B., Amteien, B.s-ämter) untergliedert. Lit.: Κ. Habermehl: Organisations- und Kommunalrecht, Münster 1986.
Karlheinz Hösgen Bezirksamt / -ämter —> Bezirk Bezirksregierung —> Bezirk BfB —> Bundesmonopolverwaltung für Branntwein BfG de
Bundesanstalt für Gewässerkun-
BfS -> Bundesamt für Strahlenschutz BfV = Bundesamt für Verfassungsschutz Verfassungsschutzbehörden BGB -> Bürgerliches Gesetzbuch BIBB dung
Bundesinstitut für Berufsbil-
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Biersteuer Biersteuer -» Verbrauchssteuern Bildungspolitik ist die Gesamtheit der auf Gestaltung und Entwicklung des Bildungssystems (Allgemein- und Berufsbildung, außerschulische Qualifizierung und Erziehung) gerichteten Aktivitäten der polit.-administrativen Regulierungsinstanzen, aber auch gesellschaftl. Großgruppen (—» Kirchen und —> Verbände), deren Entscheidungsgrundlage die Erkenntnisse und Empfehlungen von Bildungsforschung und Bildungsplanung sind/sein sollten. Sie ist ein eigenständiges Politikfeld mit unterschiedlicher, länderspezifischer Gewichtung von öffentl. und freiem Sektor, in Dtld. zudem mit typischer Kompetenzaufteilung zwischen Bund und —> Ländern. Gemäß dem föderalistischen Prinzip des -> Grundgesetzes sind die legislativ-administrativen Angelegenheiten von Bildung, Wissenschaft und Kunst Sache der Länder (Art. 30 und 70 GG), jedoch hat der Gesamtstaat mit zunehmender —> Politikverflechtung Gestaltungsrechte hinzugewonnen und kann über finanzielle Anreize prägend mitgestalten (GG-Änderung 1969/71: Art. 74 Nr. 13, Art. 74a, Art. 75 Nr. la, Art. 91a und 91b; s.a. Bildungsverfassungsrecht, -> s.a. Kulturverfassungsrecht). Verglichen mit anderen Bundesstaaten (z.B. Schweiz oder USA) hat der Bildungsföderalismus in Dtld. ein hohes Maß an Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse gewahrt, eine Folge intensivierter Kooperation von Bund und Ländern (z.B. gem. Art. 91b GG, Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung) und der institutionalisierten Selbstkoordination der Bundesländer (-> Kultusministerkonferenz - Gremien der 3. Ebene). In den 50er Jahren, als in anderen Industriestaaten Reformen zur - » Demokratisierung und Öffnung des Sekundären bzw. Tertiären Bildungsbereichs propagiert und forciert wurden, wurde hier das sozial hoch selektive Bildungssystem „restauriert", die vielfältigen „re-education"-Impulse der Besatzungsmächte blieben ohne
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Bildungspolitik Erfolg. „Schulchaos", „Bildungskatastrophe" (G. Picht) und „Bildungsexpansion", das Postulat auf „Chancengleichheit in der Bildung" (R. Dahrendorf) und die Erkenntnisse von Bildungsökonomie/-soziologie führten schließlich zu einer aktiven B. ab Mitte der 60er Jahre: die Zahl der Ausbildungsplätze in allen Bereichen des —> Bildungssystems wurde erheblich vergrößert, die Bildungschancen insbes. von Kindern aus sozial schwächeren Gruppen deutlich verbessert. Seit Mitte der 70er Jahre ist die Politik geprägt vom Einfrieren des Bildungsetats bei gleichzeitig weiterem Anstieg des Zustroms zu den weiterführenden Bildungszweigen. Nach der Einheit Dtld. s wurde das westdeutsche Bildungssystem - z.T. mit Übergangsfristen - auf das Gebiet der neuen Bundesländer übertragen (-> s.a. Erwachsenenbildung, —> s.a. Hochschulen, —> s.a. Schule). Der europ. Integrationsprozeß blieb für den durch nationale Traditionen und regionale —> Kompetenzen (Art. 30 und 70 GG) geprägten Bereich der Bildung lange ohne große Bedeutung. Obwohl ein vereinheitlichtes europ. Bildungssystem bisher nicht angestrebt wurde, gab es doch zumindest Bestrebungen, durch Ansätze einer europ. Berufsbildungspolitik die Freizügigkeit zu erleichtem (EGV Art. 57 und 66) und durch die gegenseitige Anerkennung der Bildungsabschlüsse die Mobilität in Europa zu erhöhen. Durch den —> EU-Vertrag von Maastricht 1992 wird nun allerdings die B. erheblich stärker in die Verantwortlichkeit der EU einbezogen. Jetzt ist auch ausdrückliche Aufgabe der EU, einen Beitrag zu einer qualitativ hochstehenden Bildung in den Mitgliedstaaten zu leisten und dazu grds. Kompetenzen in der beruflichen wie allgemeinen Bildung wahrzunehmen (EGV Art. 3 p, Art. 126f.). Diese Neuregelung geht weit über die früheren Zuständigkeiten hinaus. Doch sind die Gestaltung des Bildungssystems und der Lehrinhalte dem Auftrag der EU und ihrer Organe entzogen. Zudem gilt der Vorbe-
Bildungsverfassungsrecht
Bildungsrat halt des Prinzips der —> Subsidiarität zugunsten der traditionellen nationalen Vorrechte (EGV Art. 3 b Abs. 2), nicht zuletzt aus Rücksichtnahme auf den dt. verfassungsrechtl. Grundsatz der -> Kulturhoheit der Länder. Die neuen Bestimmungen verweisen einerseits auf die wachsende Bedeutung der europ. Dimension, die in den Bildungssystemen der EU-Staaten zu entwickeln sind, insbes. durch den Erwerb von Fremdsprachen. Andererseits schaffen sie die rechtl. Grundlage für eine Reihe langfristiger Aktions-, Förder-, Austausch- und anderweitiger Kooperationsprogramme (-» s.a. Bildungsverfassungsrecht). Lit: H.-W. Fuchs / L.R. Reuter (Hg.): Bildungspolitik seit der Wende, Opladen 1995; M. Schröder: Europ. Bildungspolitik und bundesstaatl. Ordnung, Baden-Baden 1990; H. Walkenhorst: Zwischen Harmonisierung und Subsidiarität - Der Kompetenzstreit um die EG-Bildungspolitik, Köln 1997
Gerhard Kral Bildungsrat, Dt. (1965 - 1975), mit Abkommen zwischen -» Bund und Ländern als Zweikammergremium nach dem Vorbild des —> Wissenschaftsrates (seit 1957 - institutionelle Verknüpfung zwischen Wissenschaft und Verwaltung) eingerichtet als Gremium der überregionalen Bildungsberatung und -planung. Der B. hat in den 70er Jahren die Bildungsdiskussion in höchst beeindruckender Weise belebt und entwickelte sich zur wichtigsten Institution der -> Politikberatung im Bildungswesen. Sein wichtigstes, v.a. von den -> A-Ländem weiterverfolgtes Reformkonzept war der sog. Strukturplan für das Bildungswesen 1970 als Empfehlung zum Einstieg in eine grundlegende Strukturreform des —> Bildungssystems (Einrichtung von Orientierungsstufe, Erprobung der Gesamtschule), daneben Empfehlungen z.B. zur Lehrerbildungsrefoim oder zur Weiterbildung. 1975 wurde der Rat ersatzlos aufgelöst, nachdem sich 5 Jahre zuvor die Bund-Länder-Kommission für Bildungs-
planung und Forschungsfórderung gem. Art. 91b GG konstituiert hatte, die in ihrer Mehrheit mit ihrem Bildungsgesamtplan (1973) unmittelbar auf dem Strukturplan aufbaute. Bis heute ist der Bildungsrat ohne adäquate Nachfolgeorganisation geblieben. (—> s.a. Schule). G.K. Bildungssystem Die Gesamtheit der in einer Gesellschaft formalisierten und institutionalisierten Prozesse der Vermittlung von Kenntnissen, Fertigkeiten, Einstellungen und Verhaltensweisen zur persönlichen Selbstwerdung (Aufbau von Ich-Identität), zur Integration in die - » Gemeinschaft (Soziabilität, Enkulturation und gesellschaftl. Loyalität) und zur Vorbereitung auf spätere Berufspositionen (Qualifizierung). Das B. steht als Subsystem der —> Gesellschaft in untrennbaren Wechselwirkungen (Abhängigkeiten und Funktionen) zum Politischen und Ökonom. System, wird außerdem geprägt von der jeweiligen individuellen Nachfrage nach Bildungschancen. G.K. Bildungsverfassung —> Bildungsverfassungsrecht Bildungsverfassungsrecht Als B. werden zusammenfassend die Normen des —> Grundgesetzes bezeichnet, die sich mit der Bildung beschäftigen und in ihrer Summe ein durchdachtes Gesamtsystem eine Bildungsverfassung - bilden. Die dt. Bildungsverfassung ist geprägt von —> Grundrechten, die insg. ein Recht auf Bildung garantieren, und von der starken Stellung der -> Bundesländer in der —> Bildungspolitik. In neuerer Zeit kommen verstärkt Impulse von europ. Seite hinzu. Ein Recht auf Bildung? Der Text des GG erwähnt ein Recht auf Bildung nicht ausdrücklich. Das ist in vielen -> Landesverfassungen anders. Sie garantieren durchweg ausdrücklich jedem begabten Menschen ein Recht auf eine entsprechende Ausbildung. Besonders deutlich 85
Bildungsverfassungsrecht ist die 1993 neugefaßte niedersächs. Landesverfassung: Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung heißt es dort in Art. 4 Abs. 1. Auch wenn im GG nicht explizit davon gesprochen wird, finden sich dort eine ganze Reihe von bildungsrelevanten Grundrechten, die in ihrer Summe einem Grundrecht auf Bildung inhaltlich nahekommen. Art. 12 GG enthält das Grundrecht der —> Berufsfreiheit. Es schützt vor staatl. Eingriffen in die Wahl und die Ausübung eines —» Berufs. Neben dieser Abwehrfimktion umfaßt Art. 12 GG einen weiteren Aspekt: Jeder hat das Recht auf Teilhabe an den staatl. Einrichtungen zur berufsbezogenen Ausbildung. Unterstützt wird der Anspruchscharakter von Art. 12 GG durch das im GG ebenfalls enthaltene -» Sozialstaatsprinzip und den allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG. Praktisch bedeutsam ist das beim freien Zugang zu -> Schulen und —> Hochschulen. Während Art. 12 GG auf die berufsbezogene Bildung beschränkt ist, umfaßt das in Art. 2 Abs. 1 GG enthaltene Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit den Bereich der sonstigen, nicht berufsbezogenen Bildung und Ausbildung. Auch hier gibt es ein Grundrecht auf freien Zugang zu allen staatl. Bildungsund Ausbildungsstätten. Sowohl Art. 12 GG als auch Art. 2 Abs. 1 GG enthalten sehr weitgehende, aber keine unbeschränkten Rechte. Alle Ansprüche auf gleichberechtigte Teilhabe am Bildungssystem finden ihre Grenze in den vorhandenen Kapazitäten der Bildungseinrichtungen. Wenn die Kapazitäten vollständig ausgeschöpft sind, darf der - » Staat - das hat das —> Bundesverfassungsgericht in seiner Numerus-Clausus-Rechtsprechung heraus gearbeitet - den Zugang zu seinen Bildungsstätten beschränken. Das Recht auf Bildung enthält eine weitere Einschränkung: Es garantiert eine gleichberechtigte Teilhabe am bestehenden Bildungssystem. Es enthält aber keinen Anspruch gegen den Staat auf die Schaffung neuer oder den Ausbau bestehender Bildungskapazitäten. Art. 7 GG ist in
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Bildungsverfassungsrecht mehrfacher Hinsicht von Bedeutung ñlr das B.; in Abs. 1 wird dem Staat nicht nur die Befugnis verliehen, das Schulsystem zu regeln und zu organisieren. Gleichzeitig wird ihm der bindende Verfassungsauftrag erteilt, ein leistungsfähiges Schulwesen zu gewährleisten. Dazu gehören nicht nur die Errichtung und Unterhaltung staatl. Schulen. Art. 7 Abs. 4 GG garantiert die Freiheit der -> Privatschulen und stellt damit klar, daß Privatschulen ein wichtiger Bestandteil des Bildungssystems sind. Der Staat muß sie deshalb - das läßt sich Art. 7 Abs. 4 GG ebenfalls entnehmen - fördern und - jedenfalls in Grenzen - finanzieren. Schließlich ist auch die in Art. 5 Abs. 3 GG enthaltene Garantie der Wissenschaftsfreiheit ein wichtiger Bestandteil des B.s. Sie schützt den Bereich der wissenschaftl. Forschung und Lehre - einen besonders wichtigen Teil des dt. Bildungssystems vor staatl. Reglementierungen. Bildungsföderalismus Die bundesstaatl. Struktur der -> Bundesrepublik Deutschland ist im Bereich der Bildung besonders ausgeprägt. Die verfassungsrechtl. Grundlage und Ursache des Bildungsföderalismus (—> Föderalismus) findet sich im GG. Die Verfassung überträgt die bildungsbezogenen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen im Grundsatz auf die Bundesländer (Art. 30, 70, 83ff. GG ). Bildung ist in erster Linie Ländersache, auch wenn der -> Bund durch die —> Verfassungsänderung von 1969 zusätzliche Kompetenzen im Bereich der Bildungsgesetzgebung erhalten hat (—> s.a. Rahmengesetzgebung). Der für den Bildungsföderalismus typische Bildungswettbewerb der Bundesländer enthält Chancen und Risiken gleichermaßen. Die Länder können bei der Ausgestaltung ihrer Bildungssysteme unterschiedliche Konzepte und Alternativen entwickeln und in der Praxis testen. Damit verbunden ist die Möglichkeit, aus den unterschiedlichen Erfahrungen gegenseitig zu lernen und das eigene Bildungssystem zu optimieren. Wie die großen schulpolit. Auseinander-
Bildungsverfassungsrecht Setzungen seit den 70er Jahren aber zeigen, enthält der bildungspolit. Wettbewerb ein Risiko. Über die Alternative: gegliedertes Schulsystem oder —> Gesamtschule haben sich die sozialdemokratisch und die christdemokratisch geführten Bundesländer nicht nur nicht einigen können. Die Auseinandersetzung hat zu einer Spaltung der bundesdt. Bildungslandschaft in 2 Lager geführt, die - wenn auch abgeschwächt - bis heute nachwirkt. Abgesehen von diesem Beispiel haben sich die im Bildungsföderalismus angelegten Spaltungs- und Zerfallsgefahren nicht realisiert. Die Ursache dafür sind Mechanismen und —» Institutionen, die auf unterschiedlichen Ebenen die Einheit der Bildungspolitik fördern. Die im GG enthaltenen sog. Bildungsgrundrechte gelten in allen Bundesländern vorrangig vor den Länderverfassungen. Dadurch etablieren sie in allen Ländern einen einheitlichen, von der Bildungspolitik zu beachtenden Grundstandard. Verstärkt wird diese Wirkung durch das BVerfG, das als länderübergreifende Institution des Bundes für eine einheitliche Auslegung der Grundrechte sorgt. Hinzu kommt, daß die Bundesländer ihre Bildungspolitik in hohem Maß untereinander koordinieren. Das bekannteste Beispiel dafür ist die -> Kultusministerkonferenz der Länder, die inzwischen mehr als 1.000 Vereinbarungen zur Abstimmung der Bildungspolitiken zwischen den Bundesländern erarbeitet und getroffen hat. Daneben gibt es offizielle -> Staatsverträge, die von den Ländern zur Vereinheitlichung ihrer Bildungspolitik abgeschlossen werden. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die vereinheitlichende Wirkung der Bund-Länder-Zusammenarbeit. Das GG sieht im Bereich der Bildung sog. Gemeinschaftsaufgaben, also Aufgaben, die Bund und Länder gemeinschaftlich erfüllen sollen, vor. Das betrifft konkret den Hochschulbau (Art. 91a GG) und die Bildungsplanung (Art. 91b GG). Die Mitfinanzierung des Hochschulbaus durch den Bund hat die auto-
Bildungsverfassungsrecht nome Hochschulpolitik der Länder inhaltlich zwar kaum beeinflußt. Sie hat aber in gewissem Umfang die unterschiedliche Leistungskraft der Bundesländer ausgeglichen und damit die Voraussetzungen für ein regional ausgewogenes Hochschulangebot verbessert. Kritischer fällt die Bilanz der Zusammenarbeit im Bereich der Bildungsplanung aus. Die unterschiedlichen Positionen in Grundsatzfragen der Bildungspolitik haben sich auch im Bereich der Bildungsplanung nicht überwinden lassen, ungeklärte Streitfragen bleiben deshalb im wesentlichen ungelöst oder werden durch einen Formelkompromiß nur scheinbar gelöst. Immerhin ist es aber gelungen, mit der BundLänder-Kommission für Bildungsplanung ein ständiges Gesprächsforum für alle Fragen des Bildungswesens zu installieren, die Bund und Länder gemeinsam betreffen. Exekutivföderalismus und Entparlamentarisierung Der polit. Entscheidungsprozeß in der Bildungspolitik wird v.a. durch die Zusammenarbeit zwischen den Bundesländern untereinander und zwischen Bund und Ländern geprägt. Diese für den Föderalismus typische Zusammenarbeit ist in der Praxis eine Zusammenarbeit zwischen den -» Regierungen und ihren —> Verwaltungen. Die —> Landesparlamente spielen dabei i.d.R. eine untergeordnete Rolle. Unter Effizienzgesichtspunkten ist der Exekutivföderalismus einem Modell, das die -» Parlamente umfassend beteiligt, überlegen. Die Entparlamentarisierung der Bildungspolitik wirft aber demokratietheoretische Probleme auf. Denn einer nur von den —> Exekutiven entwikkelten und beschlossenen Bildungspolitik fehlt auf Dauer die demokrat. —> Legitimation, die nur Parlamente vermitteln können. Verfassungspolit. Lösungen für diese Problematik werden in der Wissenschaft zwar erörtert, haben aber derzeit keine Aussicht, in die polit. Praxis umgesetzt zu werden. Politikverflechtung: Die europ. Komponente der Bildungsvetfassung Das B. der 87
Bildungsverfassungsrecht BRD hat die Bildungspolitik auf 2 Politikebenen verteilt. Bund und Länder haben eigenständige, sich gegenseitig beeinflussende Kompetenzen im Bereich der Bildung. Diese - » Politikverflechtung wird durch die steigende Bedeutung der europ. Bildungspolitik erheblich komplexer. Die -> EU hat inzwischen als 3. Politikebene eine immer größere Bedeutung in der Bildungspolitik gewonnen. Obwohl die stark Ökonom, orientierte EG ursprünglich keine ausdrücklichen Bildungskompetenzen besaß, ist sie seit den 60er Jahren zunehmend im Bildungsbereich tätig geworden. Von besonderer Bedeutung waren ihre Aktionsprogramme zur Harmonisierung der Berufsausbildungen in allen Mitgliedstaaten, die einen erheblichen Einfluß auf die dt. Ausbildungs- und Studienordnungen hatten. Das gilt erst recht für die Diplomanerkennungsrichtlinien der EG, mit denen die Mitgliedstaaten verpflichtet wurden, ihre Bildungsabschlüsse gegenseitig anzuerkennen. Durch den Maastrichter -> EU-Vertrag von 1992 ist die Stellung der EG in der Bildungspolitik verstärkt worden. Zu ihren Zielen gehört jetzt ausdrücklich die Entwicklung einer qualitativ hochstehenden allgemeinen und beruflichen Bildung (Art. 3p EGVertrag). Die EG nutzt - das zeigt ihre Politik seit Maastricht - diese Kompetenzerweiterung, um ihren Einfluß auf die nationale Bildungspolitik zu erhöhen. Diese zunehmende Europäisierung beeinflußt nicht nur einzelne Sektoren der dt. Bildungspolitik inhaltlich. Sie hat darüber hinaus Auswirkungen auf Grundstrukturen des dt. (Bildungs-)Verfassungsrechts, die problematisch sind. Je mehr Kompetenzen im Bildungsbereich auf die EG übergehen, desto stärker wird die im dt. Bildungsföderalismus bestehende Balance zwischen Bund und Ländern gestört. Denn es sind i.d.R. die Bundesländer, die Kompetenzen an die europ. Ebene abgeben müssen. Gleichzeitig wird die schon erwähnte Exekutivlastigkeit der Bildungspolitik verstärkt. Der Einfluß der —> Landesparlamente auf die Bildungspolitik
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Bill of Rights wird noch geringer, ohne daß das —> Europäische Parlament dies auf europ. Ebene ausgleichen könnte. Denn seine Mitwirkungsrechte im Bildungsbereich sind begrenzt. Der durch die Regierungskonferenz in Amsterdam 1997 verbesserte EG-Vertrag (—> Amsterdamer Vertrag) versucht dies zu kompensieren, indem er die Mitspracherechte der (Bundes-)Länder und —• Regionen auf europ. Ebene ebenso erweitert wie die Kompetenzen des Europ. Parlaments. Ob die dort getroffenen Maßnahmen ausreichen, läßt sich im Augenblick allerdings noch nicht abschätzen. Lit: Arbeitsgruppe Bildungsbericht am MaxPlanck-Institut f . Bildungsforschung (Hg.): Das Bildungswesen in der BRD, Reinbek 1994; L. v. Friedeburg: Bildungsreform in Dtld., Frankfiirt/M. 1992; HdbStR VI, S. 329ff; HdbVerfR, S. 1363ff.; H. D. Jarass: Zum Grundrecht auf Bildung und Ausbildung, in: DÖV 1995, S. 674ff ; H. Schneider: Bildungs- und Kulturpolitik, in: A. Bleckmann: Europarecht, Köln 6 1997, S. 935ff.
Volker Neßler Bill of Rights In seiner allgemeinen Bedeutung bezeichnet der Begriff BoR die Zusammenstellung von bestimmten fundamentalen —> Individualrechten, ggf. auch von anderen grundlegenden Verfassungsprinzipien im Rahmen einer neuen —> Verfassung oder einer Verfassungsänderung oder eines polit. Prozesses mit ähnlich weitreichender Bedeutung. Bill of Rights (-> Verfassung, brit.) Die engl. BoR vom 13.2.1689 ist das Ergebnis eines Verfassungskonflikts zwischen Krone und —> Parlament, der in England fast das ganze 17. Jhd. beherrscht hatte. Neben religiösen Auseinandersetzungen (Konfession des Königshauses) und soziologischen Veränderungen (Aufstieg von Landadel und Bürgertum), ging es bei diesem Konflikt um die Macht über die Staatsfinanzen, insbes. das Recht zur Steuererhebung und -eintreibung. Mit der „Petition of Right" des -> Unterhauses aus dem Jahre 1628, in welcher das Par-
Bill of Rights lament sein Steuerbewilligungsrecht und die Unverletzlichkeit der Eigentums- und Personenrechte bekräftigte, war ein erster Lösungsversuch gescheitert. Nach dem Bürgerkrieg von 1645-1649, der Herrschaft Cromwells, der Wiederherstellung der Monarchie und der Habeas Corpus Akte von 1679, in welcher das Recht auf persönliche —> Freiheit (Verbot willkürlicher Verhaftung, Recht auf Vorführung vor einen Richter, —> Petitionsrecht) wiederhergestellt werden sollte, kam es 1688 zu der sog. Glorious Revolution. Der kath. König Jakob Π. mußte 1688 nach Frankreich fliehen, was als Abdankung gewertet wurde. Mit der dadurch notwendig gewordenen Thronfolgeregelung gelangte der holländische Protestant W. von Oranien auf den Thron. Teil dieser Thronfolgeregelung vom 13.2.1689 war eine „declaration of right", die als BoR in die engl. Verfassungsgeschichte einging. Die BoR sollte die Rechte des Parlaments gegenüber der Monarchie sichern und enthielt darüber hinaus bestimmte -> Bürgerrechte, z.B. das Petitionsrecht, das Waffenbesitzrecht für Protestanten, ein Verbot grausamer Strafen, eine Garantie freier —> Wahlen zum Parlament und den Schutz der Parlamentsrede. Allerdings können diese Rechte nicht i.S. allgemeiner Bürgerrechte moderner Prägung verstanden werden, ging es doch im Kern immer um eine Auseinandersetzung zwischen dem Monarchen und der Aristokratie und weniger um eine Auseinandersetzung zwischen —» Staatsbürger und —> Staat. Diese soziale Begrenzung der BoR wurde erst durch die allerdings ganz wesentlich auf dem Vorbild der Habeas Corpus Akte und der BoR beruhende Verfassungsentwicklung in Nordamerika durchbrochen. Virginia Bill of Rights Mit der am 12.6.1776, also 3 Wochen vor der amerik. Unabhängigkeitserklärung in Williamsburg verabschiedeten Virginia Bill (Declaration) of Rights wurde zum ersten Mal ein umfassender und verfassungsrechtl. Wirksamkeit beanspruchender Menschenrechtskatalog feierlich verkündet. Die
Bill of Rights BoR wurde unter der Federführung von G. Mason und G. Madison auf dem philosophischen Fundament von J. Lockes (1632-1704) naturrechtl. Lehre entwickelt (—> Naturrecht). ,AHe Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte", heißt es in Art. 1 (in eklatantem Gegensatz zur legal praktizierten Sklaverei) und in den nachfolgenden Art. 2-16 werden allgemeine Verfassungsprinzipien (—> Volkssouveränität, —> Gewaltenteilung, freie Wahlen, Gesetzmäßigkeit der —> Verwaltung) aufgestellt und bestimmte -> Grundrechte garantiert (das -> Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, —> Freiheit, Eigentum, die —> Presseund —> Religionsfreiheit). Die Virginia BoR ist bis heute Teil der Verfassung des Bundesstaates Virginia und hat neben einer Reihe von anderen einzelstaatl. Verfassungen v.a. auch die als BoR bezeichneten ersten 10 Zusatzartikel von 1789 der amerik. Bundesverfassung geprägt. Bill of Rights Im Rahmen der amerik. Bundesstaatsverfassung (-> Verfassung der USA -» Federalist Papers) werden gemeinhin die 1791 in Kraft getretenen ersten 10 (nach anderer Lesart die erstens) Zusatzartikel als BoR bezeichnet. Die ursprüngliche Verfassung von 1787 enthielt nur vereinzelte grundrechtsähnliche Garantien (Schutz der - » Vertragsfreiheit gegenüber bundesstaatl. Eingriffen und verschiedene Rückwirkungsverbote in Art. I, section 9 und 10), jedoch keinen Grundrechtskatalog. Ein solcher wurde nicht für notwendig erachtet, weil die Bundesstaaten schon über ausreichende Grundrechtskataloge verfügten, die Bundesregierung nur eingeschränkte Kompetenzen habe und die Bundesverfassung im übrigen einen ausreichenden Schutz gegen Übergriffe der Zentralgewalt biete. Dennoch stieß das Fehlen einer BoR während des Ratifikationsprozesses der Bundesverfassung auf Kritik. Unter der Führung von George Mason, Thomas Jefferson und James Madison 89
Bill of Rights wurde deshalb eine BoR für die Bundesverfassung entworfen und im April 1789 dem (ersten) -» Kongreß zur Zustimmung im Verfassungsänderungsverfahren vorgelegt. Die BoR umfaßt die ersten 10 Zusatzartikel zur Bundesverfassung, von denen allerdings nur die ersten 8 Garantien für individuelle Freiheiten enthalten. So schützt der erste Zusatzartikel die Religions-, Rede-, Presse- und -> Versammlungsfreiheit sowie das Petitionsrecht. Im 2. Zusatzartikel findet sich das gerade heute umstrittene Waffenbesitzund Waffenführungsrecht, der 3. Zusatzartikel schützt die Bürger vor der Einquartierung von Soldaten in ihren Häusern. Der 4. Zusatzartikel schützt die persönliche Freiheit und die Wohnung vor willkürlichen Durchsuchungen, Beschlagnahmen und Verhaftungen. Der 5. Zusatzartikel enthält strafprozessuale Garantien (u.a. das Aussageverweigerungsrecht), und darüber hinaus einen Gerichtsvorbehalt bei Eingriffen in „Leben, Freiheit und Eigentum". Enteignungen sollen nur für einen öffentl. Zweck und nur gegen Entschädigung möglich sein. Im 6. Zusatzartikel geht es um strafprozessuale Garantien (u.a. das Recht auf einen „unverzüglichen und öffentl." Geschworenenprozeß, auf Rechtsbeistand), der 7. Zusatzartikel dehnt das Recht auf den Geschworenenprozeß auch auf Zivilklagen aus und hat damit einen nicht unerheblichen Einfluß selbst auf das internationale Wirtschaftsrecht (man denke z.B. an die Produkthaftung, techn. Unglücksfälle wie Flugzeugkatastrophen oder an Wirtschaftsspionage). Schließlich schützt der 8. Zusatzartikel u.a. vor grausamen und ungewöhnlichen Strafen, was aber die Renaissance der Todesstrafe nicht verhindern konnte. Der 8. und 9. Zusatzartikel sehen vor, daß zwar die der Bundesregierung in der Verfassung zugewiesenen Kompetenzen (10. Zusatzartikel), nicht aber die durch die Verfassung geschützten Grundrechte (9. Zusatzartikel) ausschließlich sind. Eines der Hauptprobleme der Anwendung der BoR war die Frage, ob
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Biologische Bundesanstalt diese nur die Zentralgewalt oder auch die Einzelstaaten bindet. Der -» Supreme Court entschied sich 1833 für eine nur eingeschränkte Geltung der BoR gegenüber der Bundesregierung (Barron vs. Baltimore, 7 Pet. (32 U.S.) 243) und selbst der als Konsequenz des amerik. Bürgerkriegs eingeführte 14. Zusatzartikel von 1868, der sich (u.a.) ausdrücklich gegen Übergriffe der Einzelstaaten in die Freiheitsrechte der Bürger wendet, konnte das Problem nicht abschließend lösen. Neben dem Verhältnis zwischen Bund und Einzelstaaten stand immer wieder die Art und Weise der Auslegung der BoR durch den Supreme Court der USA im Vordergrund. Als Beispiel sei auf die Rechtsprechung des Supreme Court zur Abtreibungsfrage verwiesen (Roe vs. Wade, 410 U.S. 113 1973). Lit: A J. Abraham: Bill of Rights, in: K.L. Hall (ed.), The Oxford Companion to the Supreme Court of the United States, Oxford 1992, S. 70ff.; G.B. Adams / R.L. Schuyler: Constitutional History of England, London, 1951; L. Kühnhardt: Die Universalität der Menschenrechte, Bonn 21991; F.N. Thorpe: The Constitutional History of the United States, New York, 1970.
Jürgen Bröhmer Biologische Bundesanstalt für Landund Forstwirtschaft Die BBA ist eine —> Bundesforschungsanstalt und selbständige Bundesoberbehörde mit Sitz in Beri, und Braunschweig. Sie gehört zum Geschäftsbereich des —» Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (BML) und ist aus der 1898 in Beri, gegründeten „Biologischen Abt. für Landund Forstwirtschaft am kaiserlichen Gesundheitsamt" hervorgegangen. Sitz des Präsidenten und der Verwaltung ist Braunschweig. Die BBA verfügt über rd. 700 feste Stellen, darunter 200 Wissenschaftler in Braunschweig, Beri, und Kleinmachnow sowie in den Außeninstituten Bernkastel-Kues, Darmstadt, Dossenheim und Münster. Hg-
BKA BKA
Bodensch utzrech t Bundeskriminalamt
B-Länder Bezeichnung der von CDU bzw. CSU regierten Bundesländer im —> Bundesrat im Gegensatz zu den von der SPD regierten —» A-Ländern Blaue Liste Die nach G.W. Leibniz benannte, in der Wissenschaftsgemeinschaft Blaue Liste (WGL) zusammengeschlossenen 83 -> Institutionen nehmen sehr verschiedene Funktionen, z.B. als Forschungsinstitute, als Museen oder als Dienstleistungseinrichtungen, wahr. Sie werden von -> Bund und -> Ländern gemeinsam nach einem Schlüssel von i.d.R. 50:50 finanziert. Die Bundeskompetenz für ihre Förderung ist auf mehrere —> Ressorts verteilt. Das -> Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie bezuschußt einige von ihnen, die entweder Grundlagenforschung betreiben oder Serviceleistungen für die dt. Wissenschaft erbringen, z.B. das Heinrich-Hertz-Institut für Nachrichtentechnik, Beri. (HHI), das Wissenschaftszentrum Beri, für Sozialforschung (WZB), die Gesellschaft Sozialwissenschaftl. Infrastruktureinrichtungen, Mannheim (GESIS), das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), das Institut für Atmosphärenphysik, Kühlungsbom (IAP), das Institut für Spektrochemie und angewandte Spektroskopie, Dortmund (ISAS), das Forschungszentrum Rossendorf für Chemie und Materialforschung (FZR), das Institut für Meereskunde an der Universität Kiel (IfM), das Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenzüchtung, Gatersleben (IPK), das Institut für Neurobiologie, Magdeburg (IfN), das Forschungsinstitut und Naturmuseum Senckenberg, Frankfurt (FIS), das Dt. Primatenzentrum Göttingen (DPZ), die Dt. Sammlung Mikroorganismen und Zellkulturen Braunschweig (DSMZ) sowie Fachinformationszentren, z.B. für wissenschaftl.-techn. Informationen Karlsruhe (FIZ Ka) oder für Chemie, Beri. (FIZ CH). Das —> Bundesministe-
rium des Innern unterstützt v.a. die Museen, z.B. das Dt. Museum (DM), München, das Germanische Nationalmuseum (GNM), Nürnberg, das Dt. Schiffahrtsmuseum (DSM), Bremerhaven und das Bundesministerium für Wirtschaft u.a. das Institut für Wirtschaftsforschung (ifo), München, das Dt. Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Beri., das Institut für Weltwirtschaft (IfW), Kiel. IM.: BMBF (Hg.): Bundesbericht Forschung, Bonn 1996, S.457.
Norbert Binder BLE -> Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung BND —> Bundesnachrichtendienst BNUD -> Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland Bodenschutzrecht Der rechtl. Schutz des Bodens richtet sich gegen Beeinträchtigungen seiner Qualität und seiner Quantität. Aufgabe des qualitativen B.s ist es, stoffliche Einträge von Schadstoffen aus Abfallablagerungen, Altlasten, Immissionen, Klärschlamm und anderen Gefahrstoffen in den Boden zu verhindern. Dagegen schützt das quantitative B. vor Bodenverbrauch (insbes. durch Versiegelungen) sowie Flächeneinwirkungen und Veränderungen der Bodenstruktur (z.B. durch Erosion oder Verdichtung). Obwohl die Notwendigkeit der Entwicklung eines einheitlichen Regelungsregimes zum Schutz der Böden auf europ. Ebene bereits durch die sog. Europäische Bodencharta aus dem Jahre 1972 deutlich wurde, befaßten sich die dt. und europ. —> Gesetzgeber - im Gegensatz zu den klassischen Umweltmedien Luft und Wasser bisher kaum mit diesem sog. dritten Medium, da Eingriffe in den Boden erst nach jahrzehntelanger Belastung sichtbar werden und dem Eigentümer des Bodens nach der Tradition des röm. —> Rechts rechtl. die unbeschränkte Nutzungsberechtigung zugewiesen war. Aus diesem Grunde
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Botschafter
Bodenschätze entwickelte sich das B. als sog. Querschnittsmaterie, die einen mittelbaren Schutz vor qualitativen und quantitativen Beeinträchtigungen lediglich durch gesetzliche Regelungen der jeweiligen Belastungspfade (z.B. ChemG, BImSchG, KrW-/AbfG) verwirklicht. Nachdem die Niederlande und Italien bereits ein Bodenschutzgesetz verabschiedeten und die Lneffektivität des dt. B.s de lege lata immer wieder Gegenstand von Kritik war, wurde am 5.2.1998 von Bundestag und Bundesrat ein Bundesbodenschutzgesetz (BBodSchG) verabschiedet. Es soll insbes. die bundeseinheitliche Rechtsgrundlage zur Sanierung von Altlasten, deren Gefahrdungsabschätzung und Sanierung entsprechend dem zu erarbeitenden untergesetzlichen Regelwerk erfolgen soll, bilden. Lit.: P. Kauch: Bodenschutz aus bundesrechtl. Sicht, Münster 1993; A. v. Mutius: Gesetzliche Möglichkeiten des Bodenschutzes, in: H.-P. Blume, Handbuch des Bodenschutzes, Landsberg 2 1992, S. 517ff.
Irene L. Heuser Bodenschätze
Bergrecht
Bonner Grundgesetz —> Grundgesetz Bourgeois —> Staatsbürger Botschaft (auch diplomat. Mission) 1. Diplomatie Höchste diplomatische Vertretung von Staaten im Ausland; von einem Missionschef (meist —> Botschafter) geleitet; zur B. gehört auch der Sitz (Gelände und Dienstgebäude) Beide genießen als Repräsentation eines -> Staates —> Immunität gegenüber der Gerichtsbarkeit des Aufenthaltsstaates. Das Gelände gehört zum Aufenthaltsstaat, genießt jedoch -> diplomatischen Schutz (—> Exterritorialität). Den vertretenen Staat bezeichnet man als Entsendestaat, den Aufenthaltsstaat als Empfangsstaat. Die B. untersteht organisatorisch i.d.R. dem Außenministerium des Entsendestaats. Die Errichtung der B en erfolgt
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im gegenseitigen Einvernehmen der beteiligten Staaten. Wichtigste Aufgaben einer B. sind nach dem Wiener Obereinkommen über diplomatische Beziehungen (1961): den eigenen Staat in dem fremden Staat zu vertreten; die Interessen des eigenen Staats und seiner Angehörigen im fremden Staat zu schützen; mit der Regierung des fremden Staates zu verhandeln; sich mit allen rechtmäßigen Mitteln über die Verhältnisse in dem fremden Staat zu unterrichten und darüber an die eigene Regierung zu berichten; freundschaftliche Beziehungen zwischen beiden Staaten zu fördern und ihre wirtschaftl., kulturellen und wissenschaftl. Beziehungen auszubauen. Zu den völkerrechtl. Aufgaben der B. gehören u.a. die Vermittlung des diplomatischen Verkehrs zwischen den beiden Regierungen und die Ausübung des Schutzrechtes über die dort lebenden Staatsangehörigen. Wenn im Empfangsstaat kein eigenes —> Konsulat existiert, kommen der B. auch konsularische Aufgaben zu. 2. Staatsrecht Im konstitutionellen Staat eine schriftliche unmittelbare Kundgebung seitens des - » Staatsoberhauptes an die -> Volksvertretung aus wichtigen Anlässen (meist von programmatischer Bedeutung). In den USA (Message on the State of the Union) am Jahresanfang übermittelte B. des Präsidenten an den —• Kongreß über die polit. Verhältnisse der Union. Karlheinz Hösgen Botschafter diplomatischer Vertreter der höchsten Rangklasse gem. Art. 14 der Wiener Diplomatenrechtskonvention v. 18.4.1961 (früher: Wiener Reglement v. 19.3.1815 und Aachner Protokoll v. 21.11.1818). Der B. ist beim -> Staatsoberhaupt des Empfangsstaats beglaubigt und gilt als persönlicher Vertreter des Staatsoberhaupts des Entsendestaats. Als Repräsentant genießt der B. Ehrenrechte. Dem B. gleichgestellt sind die Apostolischen Nuntien und die Legaten. Unterhalb der Rangstufe des B.s kennt das Diploma-
Brandenburg
Brandenburg matenrecht 2 weitere Klassen von Vertretern: 1. Gesandte, Minister und Internuntien (beim Staatsoberhaupt beglaubigt) und 2. Geschäftsträger (beim Außenministerium beglaubigt). Die Person des Diplomaten ist unverletzlich. Er genießt - » Immunität von der Strafgerichtsbarkeit und beschränkte Immunität von der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit des Empfangsstaates (—> Diplomatischer Dienst). Der Missionschef tritt sein Amt an dem Tage an, an dem er sein Beglaubigungsschreiben überreicht. Der Entsandte muß sich vorher vergewissern, daß er Empfangsstaat der Person, die als Missions-chef vorgesehen ist, sein Agrément (Zustimmung) erteilt. Mit der Überreichung des Beglaubigungsschreibens (Lettre de créance) tritt der B. sein Amt an. Lit: Α. Lohmann: Der Botschafter, Düsseldorf 1976. K.H.
Brandenburg Deutsches Bundesland seit 3.10.1990, Fläche 29.476 qm, 2.554.441 Ew. (1996), davon 1.257.213 männlich, 1.297.228 weiblich, 57.883 Ausländer, Bevölkerungsdichte 87 Personen / qkm. Nach germanischer, im 7. Jhd. slawischer Besiedlung unterwarf 806 Karl der Große die Lausitz, 928/29 König Heinrich I. das Land an der Havel. Nach dem großen Slawenaufstand 983 konstituierte sich die dt. Herrschaft endgültig in der Mitte des 12. Jhds. Der Askanier Albrecht der Bär nannte sich seit 1157 - den Namen der eroberten Slawenburg Brennabor auf das ganze Land übertragend - Markgraf von BB; er und seine Nachfolger riefen flämische und niederrheinische Kolonisten ins Land und gründeten Städte. Die slawische Urbevölkerung vermischte sich rasch mit den Zuwanderern. Nur im Spreewald und in der Lausitz bewahren die Sorben (Wenden) bis heute ihre slawische Sprache und Kultur. Seit 1252 übten die Bbg.er Markgrafen das Kurrecht aus. Den Dynastien der Wittelsbacher und Luxemburger folgte 1415 die bis 1918 andauernde Herrschaft der Hohenzollern.
1618 reichten BBs Territorien vom Rhein bis an die Memel. Aus dem Bestreben, die verstreuten Länder territorial zusammenzufügen, und als Reaktion auf den 30jährigen Krieg (1618-1648), in dem BB ca. 50% seiner Bevölkerung verlor, sollte der sog. preuß. Militarismus hervorgehen. 1701 setzte Kurfürst Friedrich ΙΠ. seine Königskrönung durch. BB als Kernland des weiter expandierenden Königreichs Preuß. prosperierte unter seinen Nachfolgen durch Ansiedlung von Glaubensflüchtlingen, Meliorationen, Ausbau des Verkehrsnetzes und Förderung von Manufakturen. Durch die neue preuß. Provinzialeinteilung nach dem erfolgreichen Befreiungskriegen gegen Napoleon wurde BB um die Niederlausitz und andere bis dahin sächs. Gebiete erweitert, während die Altmark der neugebildeten Provinz Sachs, zugeteilt wurde. 1881 schied Beri, aus dem Provinzialverband aus und wurde 1920 mit den Randgebieten zu GroßBerlin vereint. Nach dem Π. Weltkrieg, der über BB als Kampfgebiet bis zur letzten Stunde des Krieges unsägliches Leid brachte, fielen die Gebiete östlich von Oder und Neiße an Polen. Der Rest BBs wurde Teil der sowjetischen Besatzungszone und fiel 1952 der Zentralisierungspolitik der —> DDR zum Opfer, es wurde - mit erheblichen territorialen Veränderungen - in die Bezirke Potsdam, Cottbus und Frankfurt/Oder aufgeteilt. Erst mit der Wiederherstellung der -» Deutschen Einheit entstand am 3.10.1990 das Land BB als föderales Glied der Bundesrepublik neu. Der Verkündung der —> Landesverfassung am 20.8.1992 war eine äußerst kontrovers geführte Diskussion vorausgegangen, die wenn auch nicht realisiert - eine Fülle neuer verfassungsrechtl. Ansätze wie die Installierung eines mit Beratungsfunktion und Gesetzesinitiativkompetenz ausgestatteten ökologischen Senats oder die Bildung einer dem -> Bundesrat adäquaten Institution auf Länderebene (Kommunalkammer) hervorbrachte. Im —> Volksentscheid vom 14.6.1992 votierte bei
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Brandenburg einer Abstimmungsbeteiligung von 47,93% eine Mehrheit von 94,04% der abgegebenen gültigen Stimmen für den vom Landtag vorgelegten Entwurf. Die Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtskatalog mit teilw. aus dem Verfassungsentwurf des —> Runden Tisches der DDR vom 4.4.1990 identisch übernommenen Formulierungen. Einzelne im GG Deutschen vorbehaltene Rechte, z.B. das Versammlungsrecht, sind als -> Menschenrechte konzipiert. Dem Recht des sorbischen (wendischen) Volkes auf Schutz, Erhaltung und Pflege seiner nationalen Identität und der Gewährleistung seines angestammten Siedlungsgebietes ist ein eigener Art. gewidmet. Die Verfassung formuliert ferner eine Reihe von —» Staatszielen als polit. Verpflichtung für das Land im Rahmen seiner Kräfte. Dazu gehören das Recht auf Bildung einschließl. des Anspruchs auf Erziehung, Betreuung und Versorgung in einer Kindertagesstätte, das Recht auf eine angemessene Wohnung, das Recht auf Arbeit sowie der Behindertenschutz. Breiten Raum mit detaillierten Verfahrensregelungen nehmen ökologische Aussagen ein. Die —» Legislative ist der aus 88 Abgeordneten bestehende —» Landtag. Er wird auf 5 Jahre gewählt. Die Landesverfassung kennzeichnet die Opposition als wesentlichen Bestandteil der Parlament. —> Demokratie und räumt ihr Chancengleichheit zu. Im Unterschied zu anderen Landesverfassungen gesteht die BBs dem Abgeordneten nicht a priori —> Immunität zu; diese wird vielmehr erst auf Verlangen des Landtages hergestellt. Gesetzesvorlagen werden aus der Mitte des Landtages, durch die Landesregierung oder durch -> Volksbegehren eingebracht. Letzteres fuhrt im Erfolgsfall zu einem Volksentscheid, der auch eine Verfassungsänderung zum Ziel haben kann. Die Verfassung sieht auch vor, dem Landtag bestimmte Gegenstände der polit. —> Willensbildung auf plebiszitärem Weg (Volksinitiative) zu unterbreiten.
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Brandenburg Der Landtag wählt den —> Ministerpräsidenten. Dieser ernennt und entläßt die —» Minister. Er bestimmt die Richtlinien der Regierungspolitik. Er kann vom Landtag nur über ein konstruktives —> Mißtrauensvotum gestürzt werden. Neben der Selbstauflösung ist die Auflösung des Landtages durch den Ministerpräsidenten nach gescheiterter Vertrauensfrage sowie durch Volksentscheid möglich (s.a. —> Parlamentsauflösung). Der Verwaltungsaufbau ist zweistufig. BB ist in 14 Landkreise und 4 kreisfreie —> Städte aufgegliedert. Mittelinstanzliche Aufgaben werden weitgehend von diesen seit 6.12.1993 bestehenden -> Kreisen wahrgenommen. Von den 1.696 —> Gemeinden sind 1.635 in Ämtern zusammengefaßt. Im Durchschnitt entfallen auf ein Amt 11 Gemeinden mit ca. 8.000 Ew.; das Amt besorgt die Kassen- und Rechnungsführung, die Vorbereitung der Aufstellung der Haushaltspläne sowie deren Durchführung für die amtsangehörigen Gemeinden, weitere dem Amt von den Gemeinden übertragene Selbstverwaltungsaufgaben, ferner gesetzlich übertragene Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung. Der Amtsverwaltung steht ein vom Amtsausschuß gewählter Amtsdirektor vor. Der Amtsausschuß als kollegiales Beschluß- und Kontrollorgan der Amtsverwaltung ist aus den Bürgermeistern der amtsangehörigen Gemeinden und je einem weiteren aus der Mitte der Gemeindevertretung gewählten Mitglied zusammengesetzt. Der Bürgermeister wird auf 5 Jahre (der hauptamtliche in amtsfreien Gemeinden auf 8 Jahre) direkt gewählt. Analog zur Gemeinde ist die Organisation des Landkreises als Gemeindeverband und Gebietskörperschaft mit dem Recht der -> Selbstverwaltung überörtlicher Angelegenheiten geregelt. Die -> Kommunalverfassung normiert detailliert Möglichkeiten direkter Bürgerbeteiligung an der kommunalen Beschlußfassung: - » Bürgerbegehren, —> Bürgerentscheid, Einwohnerversammlung, Einwohnerantrag, kommunales —> Petitions-
Bremen
Bremen recht. Ein spezifischer Charakter wohnt den Beziehungen zwischen den Ländern BB und Beri. inne. Der Volksentscheid vom 5.5.1996 zum —> Staats vertrag über die Fusion der beiden Länder erreichte nicht die erforderliche Mehrheit. Seitdem wird eine enge Kooperation in Sachfragen auf der Grundlage eines gemeinsamen Landesentwicklungsprogramms angestrebt. Der am 20.11.1996 gebildete gemeinsame Koordinierungsrat soll die auf Ressortebene betriebene Zusammenarbeit und Abstimmung sicherstellen. LìL: I. Materna / W. Ribbe (Hg.): Biandenburgische Geschichte, Berlin 1995; H. Simon / D. Franke / M. Sachs (Hg.): Handbuch der Verfassung des Landes BB, Stuttgart 1994; Städte- und Gemeindebund BB (Hg.): Potsdamer Komm, zur Kommunal verfassung des Landes BB (Gemeindeund Landkreisordnung), Erfurt 1995. Werner Kiirtzel
Bremen Freie Hansestadt Brem., kleinstes Land der —> Bundesrepublik Deutschland (ca 400 qkm), bestehend aus den Städten Brem, und - an der Mündung der Weser gelegen - Bremerhaven, 679.000 Ew., Parlament. -> Republik, -> Verfassung vom 21.10.1947 mit gewichtigen Änderungen vom 1.11.1994. Brem, ist eine der ältesten Republiken Europas, über Jhd.e allerdings eine aristokratische, getragen wie in anderen Reichsstädten von den Patriziern. Frühe Erwähnungen Brem.s als Bischofssitz (9. Jhd.), 965 wurde durch Otto I. das Marktrecht verliehen. Durch die erste bedeutende, die Eigenstaatlichkeit Brem, einleitende sog. Barbarossa-Urkunde, wurde 1186 Brem, vom Kaiser als polit. Körperschaft anerkannt. 1646 wurde Brem, von Kaiser Ferdinand ΙΠ. die Reichsunmittelbarkeit verliehen (Linzer Diplom). Diese bildet die rechtl. Grundlage für die staatl. Selbständigkeit des heutigen Bundeslandes Brem.; mit dem Ende des alten -» Deutschen Reiches 1806 wurde Brem, souverän. Seither Staatstitel .freie Hansestadt Brem." (zur Hanse seit 1358
zugehörig). Wichtigste Verfassungsinstitution in der -> Stadt war über Jhd.e der Rat, erstmalig 1225 als „cónsules" erwähnt, der sich über lange Zeit selbst ergänzte. Erst 1534 wurde durch die „Neue Eintracht" neben der Bestätigimg der Vollmächtigkeit des Rates ein Bürgerkonvent geschaffen, der einberufen werden sollte, wenn es dem Rat notwendig erschien, mit den Bürgern „Rücksprache zu nehmen". 1849 wurde durch die erste demokrat. Verfassung des Brem. Staates festgestellt, daß alle -> Staatsgewalt von der Gesamtheit der -> Staatsbürger ausgeht. —> Bürgerschaft und —> Senat (seit der frz. Besetzung 1810-1813 anstelle des früheren Begriffes Rat) sollten gesetzgebende und vollziehende Gewalt teils gemeinschaftlich, teils getrennt ausüben. Die wichtigsten demokrat. Zugeständnisse wurden jedoch 1854 wieder zurückgenommen. Die Verfassung vom 18.5.1920 beschränkte sich auf staatsorganisatorische Regelungen und enthielt keinen Grundrechtskatalog. Unmittelbar nach der Feststellung der —> Volkssouveränität war als erste und direkte Form der Ausübung der -> Staatsgewalt im § 2 der -> Volksentscheid vorgesehen, noch vor der mittelbaren Ausübung der Staatsgewalt durch Bürgerschaft und Senat. Auch die Möglichkeit der Auflösung der Bürgerschaft durch Volksentscheid sah die Verfassung vor. Nach dem Ende des Π. Weltkrieges wurde Brem., im brit. Besatzungsgebiet gelegen, als Nachschubhafen fur die USTruppen amerik. Enklave. Nachdem zunächst brit. und amerik. Militärverwaltung nebeneinander bestanden, wurde Brem, mit Wirkung vom 1.1.1947 viertes Land der amerik. Besatzungszone. Die dann am 15.9.1947 von der ersten, nach brit. Wahlrecht frei gewählten Bürgerschaft als verfassunggebende Versammlung beschlossene -> Landesverfassung wurde am 12.10.1947 dem Volksentscheid unterworfen und mit großer Mehrheit, der getrennt zur Abstimmung gestellte Art. 47 über die Mitbestimmungs95
Bremen rechte von Betriebsvertretungen mit knapper Mehrheit angenommen. Die Verfassung bezeichnet nach einem sehr umfassend ausgestalteten Grundrechtskatalog das Volk als Träger und mittels Volksentscheid und Wahlen zur Volksvertretung als unmittelbar die Staatsgewalt Ausübendes. Mittelbar wird die Staatsgewalt durch Bürgerschaft (—> Landtag) und -> Senat (—> Landesregierung) ausgeübt. Die aus 100 —» Abgeordneten (80 Stadtgemeinde Brem., 20 Bremerhaven) bestehende Bürgerschaft ist Gesetzgebungsorgan, Wahlorgan (gewählt werden Senat, Staatsgerichtshof und als Deputationen bezeichnete Verwaltungsausschüsse) und Kontrollorgan (gegenüber der Landesregierung). Die —> Abgeordneten werden in den Wahlbereichen Brem, und Bremerhaven getrennt nach dem reinen —> Verhältniswahlrecht gewählt. Für die Wahl der z.Z. 8 Senatorinnen und Senatoren (11 -> Ressorts) ist in der Bürgerschaft die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich, wobei zunächst der Präsident des Senats und dann die Senatsmitglieder gewählt wurden. Senatsmitglieder können nicht gleichzeitig der Bürgerschaft angehören; sofern sie als Abgeordnete gewählt werden, müssen sie aus der Bürgerschaft ausscheiden, haben aber das Recht, nach Ausscheiden aus dem Senat in die Bürgerschaft zurückzukehren (-> Inkompatibilität). Die Verfassung sieht ein konstruktives —> Mißtrauensvotum gegenüber dem Senat und jedem einzelnen Mitglied des Senats vor. Der Senat führt als Kollegialorgan die Verwaltung, ist AußenVertreter der Freien Hansestadt Brem, und oberster Dienstvorgesetzter; tatsächlich tragen aber die Mitglieder des Senats jeder für sich die Verantwortung für die Verwaltungsbehörden und Ämter im Rahmen einer vom Senat beschlossenen Geschäftsverteilung. Der Präsident des Senats ist „primus inter pares". Die Bürgerschaft, deren Mitglieder Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge nicht gebunden sind und —> Immunität sowie
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Briefgeheimnis ein -> Zeugnisverweigerungsrecht besitzen, berät und beschließt über Anträge aus ihrer Mitte, des Senats und von Bürgern in öffentl. Sitzung. Gesetzesvorlagen werden durch Volksbegehren, Bürgerantrag, vom Senat oder aus der Mitte der Bürgerschaft eingebracht und von der Bürgerschaft oder durch —> Volksentscheid beschlossen. Lit.: Landesverfassung der Freien Hansestadt Brem. v. 21.10.1947 BremGBl. S 251 i. d.F.v. 1.11.1994 - SabremR 100 a-1; V. Kröning u.a. (Hg.): Handbuch der bremischen Verfassung, Baden-Baden 1991; H. Neumann: Die Verfassung der Freien Hansestadt Brem., Stuttgart 1995; D. Schefold (Hg.): Sammlung des bremischen Rechts, Bremen 61995; H. Schwarzwälder: Geschichte der Freien Hansestadt Brem., 4 Bde., Bremen 1975/85. Jürgen Rohdenburg Briefgeheimnis / Post- und Fernmeldegeheimnis schützt den einzelnen vor Zugriffsmöglichkeiten Dritter auf nichtöffentl. Kommunikationsvorgänge, die durch den modernen Nachrichtenverkehr eröffnet werden. Die 3 Geheimnisbereiche lassen sich zusammengefaßt als Schutz der räumlich distanzierten - » Kommunikation vor fremdem Mitlesen oder Mithören, der Ermöglichung fremden Mitlesens oder Mithörens sowie der Aufzeichnung der Übermittlungsdaten der Kommunikationsvorgänge umschreiben. Geschützt wird deshalb nicht nur der Inhalt der Kommunikation, sondern auch ihre näheren Umstände (Ort, Zeit und Beteiligte). Auf nationaler Ebene ist dieser Schutz im - > Grundrecht des Art. 10 GG („Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Femmeldegeheimnis sind unverletzlich") sowie in den einfachgesetzlichen Regelungen des § 39 Postgesetz (PostG,) v. 22.12.1997 (BGBl. I S. 3294) und § 85 Telekommunikationsgesetz (TKG) v. 25.7.1996 (BGBl. I S. 1120) verankert (-> Telekommunikationsrecht). Auf internationaler Ebene findet sich eine Gewährleistung des Briefgeheimnisses etc. insbes. in Art. 8 -> Europäischen Menschen-
Briefgeheimnis rechtskonvention v. 4.11.1950 (BGBl. Π S. 686) und gehört damit zum grundrechtl. Programm, das gem. Art. F Abs. 2 des Maastrichter -» EU-Vertrages v. 7.2.1992 (Abl.EG Nr. C 191 v. 29.7.1992) von den Organen der —> Europäischen Union zu beachten ist. Als klassisches Abwehrrecht gegen den ->• Staat schützt Art. 10 GG die Beteiligten des Kommunikationsvorgangs vor hoheitlichen Eingriffen durch Strafverfolgungs-, Sicherheitsbehörden oder andere grundrechtsverpflichtete Hoheitsträger (z.B. -» Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post). Art. 10 GG beinhaltet eine verfassungsunmittelbare Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Dieses umschreibt das -> Bundesverfassungsgericht als aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis, grds. selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden. Das nicht nur auf Deutsche beschränkte, sondern jedermann zustehende Recht aus Art. 10 GG ist damit neben der —» Meinungsfreiheit (Art. 5 GG), der —> Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) sowie der —• Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) Teil einer grundgesetzlich gewährleisteten freiheitlichen Kommunikationsverfassung. Das Briefgeheimnis etc. schützt allerdings nur individuelle Kommunikationsvorgänge. An die Allgemeinheit gerichtete Kommunikation, wie z.B. Hörfunk- und Fernsehprogramme, genießen diesen Schutz nicht. Die in den letzten Jahren aufgrund techn. Fortschritts zu beobachtende Vermischung von Individual- und Massenkommunikationsformen fllhrt zu Abgrenzungsschwierigkeiten. Dies zeigt sich z.B. bei Inhalten, die der Allgemeinheit über das - » Internet zur Verfügung gestellt werden, zugleich jedoch eine interaktive Kommunikation zwischen Anbieter und Nutzer zulassen. Der Schutzbereich des Art. 10 GG sollte hier bereits dann eingreifen, wenn nach objektiver Betrachtung die Möglichkeit individueller Kommunikationsvorgänge besteht.
Briefgeheimnis Ein Eingriff in Art. 10 GG ist zu bejahen, wenn sich staatl. Stellen ohne Zustimmung der Kommunikationsteilnehmer Kenntnis vom Inhalt bzw. den Umständen der geschützten Übermittlungsvorgänge verschaffen oder die so gewonnenen Informationen nutzen. Seit der Privatisierung der Dt. Bundespost im Jahre 1994 sowie deren Überführung in die Nachfolgeunternehmen Dt. Telekom AG und Dt. Post AG ist davon auszugehen, daß diese Unternehmen nicht mehr als staatl. Stellen i.S. des Art. 10 GG angesehen werden können. Gem. Art. 87 f GG üben die Nachfolgeuntemehmen eine rein privatwirtschaftl., nicht hingegen eine staatl.verwaltende Tätigkeit aus (—» Postreform). Der Schutz des Postgeheimnisses (nicht hingegen des Brief- und Fernmeldegeheimnisses) durch Art. 10 GG ist damit gegenstandslos geworden, da es eine staatl. Institution Post nicht mehr gibt. Der Gesetzgeber hat allerdings die in Art. 10 GG enthaltene objektive Wertentscheidung (Schutz individueller Kommunikation vor Kenntnisnahme durch Dritte) nunmehr in § 39 PostG und § 85 TKG festgeschrieben. Diese Bestimmungen gewährleisten einen Schutz des Brief- und Femmeldegeheimnisses auch gegenüber nicht-staatl. Institutionen, die nunmehr die klassischen Postdienstleistungen erbringen. Eingriffe in das Briefgeheimnis etc. sind gem. Art. 10 Abs. 2 GG zulässig, wenn sie aufgrund eines verhältnismäßigen - » Gesetzes erfolgen. Gesetzliche Grundlagen hierzu finden sich u.a. in der Strafprozeßordnung und im Außenwirtschaftsgesetz (Telefonüberwachung). Dient die Beschränkung dem Staats- und —> Verfassungsschutz, so braucht die Überwachung nach dem verfassungsrechtl. umstrittenen, vom —> Bundesverfassungsgericht jedoch im Grundsatz gebilligten Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG dem Betroffenen nicht mitgeteilt zu werden. An die Stelle des Rechtswegs tritt dann die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane (G 10-Abgeordneten-Gre-
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Bündnis 90/Die Grünen
Briefwahl mium und G 10-Kommission). Näheres hierzu regelt das Gesetz zu Art. 10 GG v. 13.8.1968 (BGBl. I S. 949), zuletzt geänd. durch Gesetz v. 28.4.1997 (BGBl. I S. 966). Lit.: H. Dreier (Hg.): GG Komm. I, Tübingen 1996, Art. 10; v. Münch, Art. 10.
Ralf Müller-Terpitz Briefwahl —> Wahlrecht Britische Verfassung -> Verfassung, britische Bruttoinlandsprodukt - » Sozialprodukt Bruttosozialprodukt —> Sozialprodukt Budget
Bundeshaushaltsplan
Budgetrecht —> Haushaltsrecht Budgetierung ist das Verfahren, die Einnahmen und Ausgaben, die in einem —> Haushaltsjahr erwartet werden, in das System des Haushalts, der aus Einzelplänen besteht, einzuordnen. Jeder Einzelplan ist in Kapitel und Titel eingeteilt. In diesem Verfahren sind jeder Haushaltstitel, seine Zweckbestimmung und finanzielle Ausstattung Gegenstand eines Parlament. Beschlusses. Jede so festgelegte Zweckbestimmung eines Ausgabentitels ist für die -> Verwaltung verbindlich. Soweit bewilligte Ausgabemtitel am Jahresende nicht in Anspruch genommen worden sind, darf hierüber nicht mehr verfügt werden. Um das zu vermeiden, kommt es oft zu Ausgaben in letzter Minute (sog. Dezemberfieber). Den Anforderungen an eine moderne Verwaltung entspricht das nicht, v.a. nicht dem Gebot, wirtschafil. und sparsam zu sein. Deshalb hat der Gesetzgeber das für —> Bund und —> Länder verbindliche Haushaltsgrundsätzegesetz modernisiert. Es wird erleichtert, Ausgabemittel eines Haushaltstitels für Zwecke eines anderen Titels zu verwenden, und es wird auch erleichtert, nicht verbrauchte Haushaltsmittel in
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das folgende Jahr zu Ubertragen, wenn das eine wirtschaftl. und sparsame Mittelverwendung fördert. Ob und in welchem Umfang sowie für welche Titelgruppen - in Frage kommen v.a. die Titel für Verwaltung und Personal - von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, bestimmt der für jedes neue Haushaltsjahr tätige Haushaltsgesetzgeber. Er kann in dem jährlichen —• Bundeshaushaltsplan auch festlegen, welche konkrete Einsparung mit dem neuen Instrumentarium zu erzielen ist. Mehr Flexibilität für die Verwaltung bei der Verwendung von Haushaltsmitteln ist aus der Sicht der polit. Institutionen Rechtsverzicht. Dies ist verfassungspolit. voll vertretbar. Die gleichzeitig verstärkte Pflicht zur Kostentransparenz sowie die Pflicht zur Berichterstattung und Kontrolle geben dem Haushaltsgesetzgeber in jedem Jahr die Möglichkeit der Korrektur. Lit.: BT-Drucks. 13/8293; H. Dommach / E. Heuer: Komm, zum Haushaltsrecht, Neuwied 1997; R. Scholz: Reformen im Haushaltsrecht, in: Betriebsberater 1996, S.2013ÉF.
Karl Wittrock Budgetrecht -> Bundeshaushaltsplan Bündnis 90 -> Bündnis 90/Die Grünen —> s.a. Deutsche Demokratische Republik Bündnis 90 / Die Grünen - ursprünglich 2 soziale Bewegungen (—> Bürgerbewegung) - schlössen sich im Mai 1993 zu einer -> Partei zusammen. Während das Bündnis 90 nur kurzzeitig eigenständig an Wahlen in Ostdtld. teilnahm, werben die Grünen seit 2 Jahrzehnten um die Wählergunst. 1. Gründung und Aufbau Seit Mitte der 70er Jahre bildeten sich lose Verbindungen von Umweltschutzgruppen, —> Bürgerinitiativen, Atomkraftgegnem und Alternativlern auf lokaler, regionaler und Landesebene mit dem Ziel, polit. Protestaktionen nicht nur auf die Straße zu tragen, sondern sich auch an polit. Wah-
Bündnis 90/Die Grünen len zu beteiligen. Ihre zweigleisige Strategie brachte ihnen ständige Berichterstattung in den Medien sowie aufsehenerregende Stimmenanteile bei den Wahlen ein und legte ihnen einen Zusammenschluß auf Bundesebene nahe. Auf ihrer Gründungsversammlung in Karlsruhe (Januar 1980) bestimmten die Grünen die Säulen ihres Programms als „ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei" und votierten gegen eine offene Sammelbewegung; sie gründeten statt dessen eine Partei neuen Typs, in der das basisdemokrat. Element des- —> imperativen Mandats, die -> Rotation von Mandatsträgern nach 2 Jahren sowie eine strikte Trennung von - » Amt und - » Mandat gelten sollten. Die —» Abgeordneten mußten ihre Diäten oberhalb der Höhe des Facharbeiterlohns an die Partei abführen. In der Sachpolitik stand die Sorge um den Lebens- und —> Naturschutz im Mittelpunkt: Verzicht auf Atomenergie, Umweltsteuer und Tempolimit auf Autobahnen, Entflechtung von Großkonzemen und Selbstverwaltung, die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, Verbot von Aussperrung, Auflösung der —> NATO und des Warschauer Pakts u.v.m. Diese Forderungen sollten als Gesamtkonzept einen sog. 3. Weg zwischen Kapitalismus und -> Sozialismus bilden. 2. Orientierung und Polarisierung Die in der Gründungsphase herrschenden Ideologiesegmente - von konservativ über radikaldemokratisch bis antikapitalistisch und pazifistisch - begannen sich zunehmend durch den Eintritt feministischer und kommunistischer Gruppen nach links zu verschieben, so daß sich der konservative Block um Gruhl und Springmann abspaltete und Gruhl 1981 eine eigene ökologisch-demokrat. Partei (ÖDP) gründete. Agitation in der Friedensbewegung (Krefelder Appell etc.) und Teilnahme an Demonstrationen (Brokdorf, Ostermärsche) einerseits sowie Mandatsstreben auf polit. Ebene andererseits führten den Grünen ca. 40.000 Mitglieder und rasante Wähleranteile bei den Landtags- bzw.
Bündnis 90/Die Grünen Bundestagswahlen (1983: 5,6%, 1987: 8,3%, 1990: 4,8% - West und 6,1% - Ost, 1994: 7,3%) zu. Als gewichtige polit. Opposition hatten sich die Grünen nun zwischen Fundamentalopposition und Regierungsteilhabe zu entscheiden. Die „Realos" in Hessen sprachen sich für (1984), der von „Fundis" beherrschte Bundesvorstand gegen eine Koalition mit der SPD (1985) aus. Dieser innerparteiliche Konflikt löste sich schrittweise: Als im Dezember 1988 dem linken Vorstand finanzielle Unregelmäßigkeiten vorgeworfen wurden, trat er geschlossen zurück. Als nach der Berliner Wahl (Januar 1989) die links-orientierte Alternative Liste (11,8%) für eine Koalition mit der —> SPD votierte und beim neuen Bundesvorstand Unterstützung fand, war der Damm gegen das Koalitionsverbot gebrochen. 3. Konsolidierung und Pragmatisierung Im Zuge der -> Deutschen Einheit schlössen die Grünen mit der Bürgerrechtsbewegung Bündnis 90 - das sich gegen die Menschenrechtsverletzungen während des SED-Regimes gebildet hatte - ein Wahlbündnis für die vorgezogene Bundestagswahl und nahmen danach die im Februar 1990 gegründeten Grünen-Ost als Landesverbände auf. Diese neigen einer Zusammenarbeit mit der PDS zu, während sie für das Bündnis 90 ein erbittert zu bekämpfender Gegner ist - ein bis heute schwelender Konflikt. Nach der Wahlniederlage von 1990 begannen die Grünen mit Reformen: Statt des mitgliederstarken Hauptausschusses errichteten sie einen Länderrat (sog. kleiner Parteitag), modifizierten die Diätenabführung und legten die Rotation erst nach einer Legislaturperiode fest. Im Assoziationsvertrag mit dem Bündnis 90 stellen die Grünen die -> Menschenrechte und nicht die -> Ökologie an erste Stelle, gefolgt vom Prinzip der —> Gewaltenteilung im demokrat. —> Rechtsstaat - einschließl. des Monopols polizeilicher Gewalt. Auch nehmen sie das imperative Mandat zugunsten eines letztlich seinem Gewissen verpflichteten Abgeord-
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BOrgerbeauft ragte
Bürger neten zurück und machen damit das Rotationsprinzip obsolet. In der - » Außenpolitik hat erst kürzlich die Bundestagsfraktion des Bündnis 90/Die Grünen den Einsatz dt. Truppen im NATO-Konzept unter UNO-Aufsicht gebilligt und der prinzipiellen Osterweiterung der NATO zugestimmt; starke Kräfte innerhalb der Partei lehnen jedoch diese Positionen ab und fordern darüber hinaus die Abschaffung oder zumindest die Halbierung der -> Bundeswehr. Auch die Energiepolitik (5 DM pro Liter Benzin) führte zu einem Desaster: Starke Stimmenverluste bei der Wahl in - » Sachsen-Anhalt im April 1998 zwingen die Partei nun, zumindest kurzfristig Abstriche in ihrer Energiepolitik zu machen. Bündnis 90/Die Grünen zeigen sich daher in ihrem Erscheinungsbild diffus, können sie doch ihren fundamentalistischen und ihren realpolit. orientierten Flügel nach wie vor nicht zusammenführen. Lit.: J. Hoffmann: Bündnis 90/Die Grünen, St. Augustin 1994; H. Kleinen: Vom Protest zur Regierungspartei, Frankfurt/M. 1992; J. Raschke: Die Grünen, Köln 1993; M. Schroeren (Hg.): Die Grünen, Wien 1990.
Volker Szmula Bürger —> Staatsbürger Bürger für Bürger Die privatrechtl. —> Stiftung wurde 1997 mit dem Ziel gegründet, das ehrenamtliche Engagement in Dtld. zu stärken (—• Ehrenamtliche Tätigkeit). Sie baut ein Informationssystem auf, um verfügbares Erfahrungswissen und wissenschaftl. Material für Interessierte zugänglich zu machen und ist Ansprechpartnerin in allen Fragen des Ehrenamts. Die Stiftung berät und informiert zu ehrenamtlichen Tätigkeitsfeldern, Qualifizierung und Fortbildung, Literatur und Rahmenbedingungen. Sie entwickelt eine Datenbank, die vermittelnde Einrichtungen ehrenamtlicher Tätigkeit bundesweit dokumentiert. Die Stiftung ist Mitglied des Centre Européen du Volontariat (CEV) und der International
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Association for Volunteer Effort (ΙΑVE). Organe der Stiftung sind das Kuratorium, das alle Fragen von grundsätzlicher Bedeutung entscheidet, der Vorstand, der ehrenamtlich die Geschäfte der Stiftung führt und der Stiftungsbeirat. Vorsitzende des Kuratoriums ist z.Z. die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Rechtl. Sitz der Stiftung ist Bonn, das Projekt der Stiftung, die Nationale Freiwilligenagentur, wurde in Beri, enichtet. HgBürgerantrag -> Btlrgerbegehren Bürgerbeauftragte / -r Im Jahre 1974 führte Rheinland-Pfalz im Rahmen des Parlament. Kontrollrechts den ersten dt. Bürgerbeauftragten (B) ein. Die ursprünglich beabsichtigte Aufnahme des B.n - neben der schon 1970 erfolgten Aufnahme des Petitionsausschusses (-» Petition) des —> Landtages (Art. 90a RhPfVerf.) - als Verfassungsorgan scheiterte schließlich an der Frage, mit welcher Mehrheit der B. bestellt werden sollte. Als Folge dieser Auseinandersetzung mußte die damals regierende —» CDU mit einem einfachen Gesetz über den B. vorliebnehmen, das ihm als ständigen Beauftragten des Petitionsausschusses ( § 4 RhPfBüG) die Aufgabe zuweist, im Rahmen des parlament. Kontrollrechts des Landtages die Stellung des Bürgers im Verkehr mit den -> Behörden zu stärken (§ 1 RhPfBüG). Als Hilfsorgan des Landtages obliegt ihm keine Entscheidungs-, keine - » Rechtsetzungskompetenz, sondern ausschließlich die Aufgabe, nach Möglichkeit zwischen Administration und Administrierten bei Mißverständnissen, Unklarheiten oder Fehlentscheidungen eine Art gütliche Einigung herbeizufuhren. Seit Amtsantritt im Frühjahr 1974 bis Ende 1997 haben fast 50.000 Petitionen den B.n in Mainz erreicht - eine deutlich höhere Zahl pro 1 Mio. Ew. als in den übrigen Bundesländern mit Ausnahme —> Berlins. Gut 40%
Bii r g e r b e a u f t r a g t e aller Eingaben konnten so erledigt werden, daß dem Petenten geholfen (19,1% „vollständig" und 2,2% „teilw. abgeholfen") bzw. eine Auskunft erteilt wurde. Keine Einigung i.S. des Petenten wurde in 36% aller Angelegenheiten erzielt. Anders als die anonym arbeitenden Petitionsausschüsse kann der B. von Petenten persönlich aufgesucht bzw. angerufen werden. Von dieser Möglichkeiten, auch im Rahmen von regelmäßig stattfindenden Außensprechtagen, machte über ein Fünftel aller Petenten Gebrauch. Durch dieses sozialpsychologische Element, dem B. persönlich sein Anliegen vortragen und etwaige Unklarheiten häufig direkt klären zu können, wird dem Bürger, anders als bei den Petitionsausschüssen, das Gefühl vermittelt, daß jemand bereit ist, sich direkt um sein Begehren zu kümmern. Die Anonymität von ergangenen Verwaltungsentscheidungen kann durch eine solche Personalisierung durchbrochen werden. Unabhängig von einer Petition kann der B. auch von Amts wegen tätig werden. Zur Durchführung seiner Ermittlungen besitzt er ähnliche Kompetenzen wie der Petitionsausschuß des -> Bundestages. Sollten dem B.n Untersuchungsrechte verweigert werden (was sehr selten geschieht), so kann der Petitionsausschuß des Landtages die ihm nach Art. 90a RhPfVerf zustehenden Rechte wahrnehmen, also u.a. -» Auskünfte etc. einholen. Alle eingehenden Petitionen werden zunächst dem B.n zugeleitet, dessen Amt eine sachliche und jurist. Vorprüfung einer jeden Eingabe vornimmt. Petitionen, die nicht in seinen Aufgabenbereich fallen, werden ebenso ausgesondert wie solche, die Gegenstand eines schwebenden Gerichtsverfahrens sind oder eine Nachprüfung einer richterlichen Entscheidung bedeuten würden. In den anderen Fällen wird anschließend - unter Ausschaltung des Dienstwegs - mit der betroffenen Behörde Kontakt aufgenommen. Häufig erledigen sich Petitionen schon in diesem Vorfeld, und der B. kann das Verfahren abschließen. Kommt mit der zu-
Bürgerbeauftragte ständigen Verwaltungsstelle des Landes, zu denen auch die —» Kommunen zählen, eine einvernehmliche bzw. teilw. klärende Regelung nicht zustande, muß der B. die mit seinem Lösungsvorschlag versehene Eingabe dem Petitionsausschuß zur weiteren Beratung und Beschlußfassung vorlegen (§ 5 Abs. 3 RhPfBüG). Ergibt eine eventuell erneut durchgeführte Untersuchung keine Einigung mit der Behörde, so kann der Ausschuß gem. § 104 RhPfGO u.a. beschließen, die Eingabe der Landesregierung zur Berücksichtigung, zur Erwägung oder zur Kenntnisnahme zu überweisen bzw. feststellen, daß dem Anliegen nicht abgeholfen werden konnte. Die Beschlüsse des Petitionsausschusses werden - ebenso wie die vom B.n einvernehmlich erledigten Eingaben - in eine Sammelübersicht aufgenommen, die an alle —> Abgeordneten des —» Plenums verteilt wird. Erfolgt kein Einspruch von Seiten der Parlamentarier, informiert der B. den Petenten über die Erledigung seiner Eingabe. Die angeführten Beschlußmöglichkeiten des Petitionsausschusses zeigen, daß nur er, aber nicht der B., die Möglichkeit besitzt, der Landesregierung Vorschläge zur Behebung eines Mißstandes in einem —> Gesetz oder einer —> Verordnung zu machen. Gewählt wird der B. in geheimer Wahl vom Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder auf 8 Jahre; die Wiederwahl ist möglich. Eine eventuelle Amtsenthebung ist nur mit einer Zweidrittelmehrheit der Landtagsmitglieder möglich. Dem rheinland-pfalzischen Beispiel folgten mittlerweile -»· Mecklenburg-Vorpommern und -> Schleswig-Holstein. Während das Amt des Schweriner B. in der Landesverfassung verankert wurde (Art. 36 Verf.M-V) und er bei nicht einvernehmlich geklärten Eingaben ebenfalls mit dem Petitionsausschuß des Landtages (§ 8 Abs. 2 M-VPetBüG v. 5.4.1995) zusammenzuarbeiten hat, ist der Kieler B. nur durch ein Gesetz abgesichert (SHBüG v. 13.12.1994). Außerdem ist er ausschließlich für soziale Angelegenheiten,
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Bürgerbeauftragte
Bürgerbegehren
die allerdings das Gros aller Eingaben an die Petitionseinrichtungen der Bundesländer ausmachen, zuständig. Sollte keine Einigung erzielt werden können, kann sich der bzw. die schleswig-holsteinische B. an den Landtag oder die Landesregierung wenden mit dem Ziel, eine Gesetzesänderung oder eine Modifizierung der Ausführungsbestimmungen zu erreichen (§ 5, Abs. 3 SHBüG). Die Amtszeit beider neuen B.n ,die ebenso wie der B. in Mainz in der Ausübung ihrer Ämter unabhängig sind, beträgt jeweils 6 Jahre mit der Möglichkeit einer Wiederwahl. Beide Ämter sind beim Präsidenten bzw. der Präsidentin des jeweiligen Landtages eingerichtet. Vorbild der angeführten B.n ist - ebenso wie des seit 1956 amtierenden —» Wehrbeauftragten des Bundestages - der seit 1809 existierende schwed. Ombudsman („Bevollmächtigter", „Fürsprecher"). Mittlerweile haben fast alle europ. Staaten diese skandinavische Verfassungseinrichtung zur Verstärkung der Parlament. Kontrolle übernommen. Mit Inkrafttreten des Maastrichter - » EUVertrages am 1.11.1993 wurde auch das Amt des europ. B.n institutionell verankert (Art. 138e EGV). Bürger der EUStaaten bzw. dort Wohnende können sich an ihn mit Beschwerden über Mißstände wenden, die sich auf die Tätigkeit der Institutionen der Gemeinschaft beziehen. Gewählt wird er vom Europäischen Parlament jeweils für dessen -> Legislaturperiode. Lit.: I. al-Wahab: The Swedisch Institution of Ombudsman, Stockholm 1979; H. Hopp: Beauftragte in Politik und Verwaltung, Bonn 1993; U.
Kempf / H. Uppendahl (Hg.): Ein dt. Ombudsman - Der Bürgerbeauftragte von Rheinland-
Pfalz, Opladen 1986; II. Kempf/M.
Mille: The
Role and Function of the Ombudsman: Personalized Parliamentary Control in 48 Different States, in: The Ombudsman Journal 1993, S. 3711'.; H. Matthes: Der Bürgerbeauftragte, Berlin
1981; F. Matscher (Hg.): Ombudsmann in Europa, Kehl 1994; D. C. Rowat: The Ombudsman Plan, Ottawa 2 1985;
Udo Kempf 102
Bürgerbegehren eine Form direkter -> Demokratie auf kommunaler Ebene (-» Volksbegehren auf staatl. Ebene), ein Instrument basisdemokrat. Bürgerbeteiligung an der polit. - » Willensbildung und Gestaltung. Diese Komponenete direktdemokrat. Partizipation wurde in Dtld. zunächst nur in -> Baden-Württembergnach Schweizer Vorbild eingeführt, nach der -> Deutschen Einheit in die Verfassungs- und Kommunalordnungen der neuen Bundesländer aufgenommen und ist mittlerweile in insg. 13 Bundesländern rechtl. verankert. Die Stimmbürger erhalten das Recht, von sich aus auch zwischen den —> Wahlen wichtige Angelegenheiten ihrer —» Gemeinde aufzugreifen und ggf. über sie eigenständig zu beschließen (-> Bürgerentscheid). Den Bürgern wird so die Chance eröffnet, selbst Beschlüsse über relevante Anliegen und Ziele zu initiieren und so an Entscheidungsprozessen bei Kommunalangelegenheiten direkt teilzunehmen. Auch der —> Gemeinderat kann mit 2/3-Mehrheitsbeschluß eine solche Angelegenheit der Entscheidung der Bürgerschaft unterstellen (BWGO § 21). Das B. ist erfolgreich, wenn ein bestimmtes —> Quorum erreicht wird, das jedoch meist sehr hoch angesetzt ist (zur neuen Lage in Bay. -> Bürgerentscheid). Es war und ist strittig, welches - » Quorum verfassungsrechtl. und demokratietheoretisch für ein erfolgreiches B. vorzusehen ist; genauso wird diskutiert, ob das Recht über die Wahlbürger hinaus ausgedehnt und allen erwachsenen Ew. und der Jugend zugänglich gemacht werden sollte. Davon zu unterscheiden ist der Bürgerantrag, der die kommunalen Repräsentativgremien nur verpflichtet, über einen angezeigten Gegenstand des gemeindlichen Wirkungskreises innerhalb einer gesetzten Frist zu behandeln (z.B. BWGO § 20b; schriftlich, Unterschriftenquorum 30%, Behandlung innerhalb von 3 Monaten; NRWGO § 25). In BW wurden von 1975 bis 1991 127 B. eingeleitet; davon waren
Bürgerbewegung
Bürgerbewegung
63 unzulässig, bei 5 half der Rat dem Begehren ab und in nur 59 Fällen entschieden die Bürgerinnen und Bürger. Erfolgreich waren aber wiederum nur 31. Im Gegensatz dazu wird in Bay. das B. seit seiner Einführung im November 1995 äußerst rege genutzt. Lit.: R. Kleinfeld·. Kommunalpolitik, Opladen 1996; F.-L. Knemeyer: Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik, München 1995.
Gerhard Kral Bürgerbewegung / -en 1. Als kollektive Akteure sind B.en ein wesentlicher Ausdruck des partizipativen Elements demokrat. Systeme; aufgrund ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen bereitet eine einheitliche Definition Schwierigkeiten. Allgemein lassen sich B.en als lose Zusammenschlüsse von Personen bestimmen, deren Zweck die Artikulation und Durchsetzung gemeinsamer polit. Anliegen ist. Sie zeichnen sich durch ihre Forderungen nach polit, und gesellschaftl. Veränderungen aus, deren Adressaten die Entscheidungsträger und die staatl. Administration sind. Zur Verdeutlichung der spezifischen Differenz gegenüber anderen polit. Organisationsformen bietet sich eine doppelte Abgrenzung an: Von -» Parteien unterscheiden sich B.en dadurch, daß sie (gewöhnlich) nicht an -> Wahlen teilnehmen und sich nur mit Teilbereichen des polit. Themenspektrums auseinandersetzen. Gegenüber den —» Interessenverbänden mit dem für sie charakteristischen —> Lobbyismus bevorzugen die B.en öffentl. und öffentlichkeitswirksame Aktionen. Ihr Bewegungscharakter dokumentiert sich in einem sowohl im Vergleich zu Parteien als auch im Vergleich zu Interessengruppen geringeren Organisationsgrad und ihrer größeren programmatischen Flexibilität, wobei die Übergänge durchaus fließend sind. 2. Während B.en in den USA (insbes. Bürgerrechtsbewegungen) auf eine längere Geschichte zurückblicken können, haben sie in der Bundesrepublik im wesentlichen erst in den späten 60er und v.a.
in den 70er Jahren Verbreitung gefunden. Den Ausgangspunkt für die gewachsene Partizipation bildeten wie in anderen westeurop. Staaten die Studentenbewegung sowie in geringerem Maße lokale Initiativen. Von der Studentenbewegung die Mobilisierungsstrategie und einzelne Aktionsformen übernehmend weisen die B.en der 70er Jahre eine wesentlich heterogene soziale Basis auf. Vor allem die sog. Neuen Sozialen Bewegungen haben eine programmatische andere Ausrichtung: Jenseits klassentheoretischer Konzepte sind es Fragen der globalen Überlebensfähigkeit und der Zukunftsgestaltung, die sie zu Protesten bewegen. Im Zuge einer wachsenden Akzeptanz der B en haben in Dtld. während der 80er und 90er Jahre speziell die Umweltbewegung und die Friedensbewegung großen Zulauf erhalten. Während die Mobilisierungserfolge der Friedensbewegung eher ereignisbezogen waren (NATO-Doppelbeschluß, Π. Golfkrieg), ist es der Umweltbewegung gelungen, breite Bevölkerungskreise für ökologische Fragen zu sensibilisieren und ihre Anliegen zu einem Dauerthema auf der polit. Agenda zu machen. 3. Innerhalb der B.en lassen sich mit Blick auf Zusammensetzung und Ziele vereinfacht 2 Haupttypen unterscheiden: Während gruppenspezifischen Bewegungen (z.B. die Frauenbewegung) ihre —> Gleichbehandlung durch Beseitigung vorhandener Diskriminierung oder auf dem Wege positiver Diskriminierung anstreben und insofern auf gesellschaftl. Integration orientiert sind, widmen sich die thematischen Bewegungen allgemeinen Problemen wie dem Umweltschutz, der Gewährleistung von —> Bürgerrechten oder der Abrüstung und zeichnen sich durch eine Orientierung am —> Gemeinwohl aus. Infolge der Möglichkeit, jeden als potentiell Betroffenen anzusprechen, sind die Mobilisierungschancen der thematisch arbeitenden Gruppierungen tendenziell besser. Generell ist für den Erfolg von B.en jedoch nicht nur die Mobilisierung Gleichgesinnter konstitutiv, sondern auch
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Bürgerbewegung die Prägung der öffentl. Wahrnehmung des jeweiligen gesellschaftl. Problems, was v.a. die Umweltbewegung erreicht hat. 4. Entstehung und Ausdifferenzierung von B.en gehen a) auf Wahrnehmungs- und Handlungsdefizite des InstitutionengefÜges und b) auf neue Konfliktlinien in modernen Gesellschaften zurück. a) Primär stellen sie eine Reaktion auf die Vernachlässigung von bestimmten Problemfeldern im regulären polit. Prozeß dar. In B.en artikuliert und kanalisiert sich die Unzufriedenheit mit einzelnen polit. Maßnahmen oder generellen so empfundenen Fehlentwicklungen in bestimmten Politikfeldern, die von den Parteien nicht oder unzureichend aufgegriffen worden sind. Ihre bloße Existenz weist auf wahrgenommene Defizite im institutionalisierten System der Interessenrepräsentation hin. Entsprechend stehen die B.en in einem SpannungsVerhältnis zur repräsentativen Demokratie: Einerseits stellen sie eine von unten kommende, basisdemokrat. Herausforderung dar, andererseits fungieren sie als polit. Warnsignal für die Repräsentativorgane, indem sie ihnen Versäumnisse anzeigen und solchermaßen die Möglichkeit zur Korrektur polit. Entscheidungen geben. Dabei erfüllen sie vielfach die Funktion des Bindeglieds zwischen einem als unzugänglich perzipierten polit, Institutionengefüge und den themenspezifisch interessierten Bürgern. b) Als Teil der -> politischen Kultur sind B.en Seismograph gesellschaftl. Veränderungen. Speziell die bereits erwähnten Umwelt- und Friedensbewegungen haben ihren Ursprung in einem neuen gesellschaftl. cleavage, das ungeachtet der empirisch belegten ideologischen Nähe der meisten Aktiven zur polit. Linken quer zur klassischen Links-Rechts-Skala steht. In der Literatur ist diese Konfliktlinie zumeist als eine zwischen den Polen des Materialismus und des Postmaterialismus verlaufende Konfliktstruktur interpretiert worden, die ihrerseits auf einem
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BQrgerbewegung gesellschaftl. Wertewandel beruht. Insoweit sich dieser durchaus umstrittene Erklärungsansatz als überzeugend erweist, kann er erklären helfen, weshalb neben jungen Menschen die (von unmittelbaren materiellen Zwängen freien und sich durch ein hohes Bildungsniveau auszeichnenden) neuen Mittelschichten in den B.en überrepräsentiert sind. 5. Anders als bei (periodisch stattfindenden) Wahlen werden die parlament. Akteure von Seiten der B. einer permanenten Kontrolle und Rechenschaftspflicht unterstellt. Dies setzt eine bestimmte Dauerhaftigkeit der Aktivitäten von B.en voraus, die ihren Grund in der Langlebigkeit der von ihnen bearbeiteten Themen hat. Während -> Bürgerinitiativen spontan, häufig in Reaktion auf einen einzelnen Mißstand entstehen und infolge dessen zumeist auf den lokalen Bereich beschränkt bleiben, sind B.en die polit. Antwort auf grundsätzliche, u.U. dem System innewohnende Probleme. Daraus erklärt sich nicht nur ihr eminent polit. Charakter als soziale Bewegung, der anders als bei manchen Bürgerinitiativen notwendigerweise über die Organisation von Selbsthilfe hinausgeht, sondern auch der von ihnen ausgehende Handlungsdruck auf das polit. Institutionengefüge. Erst wenn sich Initiativen vernetzen und, wie v.a. im Umweltbereich geschehen, neben den lokalen allgemeinpolit. Forderungen erheben, kann sinnvollerweise von B.en gesprochen werden. Ob eine Initiative Teil einer Bewegung ist, läßt sich im Einzelfall wegen der schwachen Organisation ebenso schwer feststellen wie die exakten empirischen Grenzen des vielgestaltigen Phänomens B. 6. So vielfältig wie die B.en sind auch ihre Aktionsformen. Dabei stehen unkonventionelle, also im Institutionengefüge unübliche Formen des polit. Protests im Zentrum: Sie reichen von —> Petitionen über Demonstrationen bis hin zu Streiks. Gegenüber diesen legalen Varianten des Protests sind Aktionen des zivilen Ungehorsams wie Sitzblockaden selten, wie-
Bürgerbewegung wohl ungleich medienwirksamer, die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung spezifischer Forderungen wird nur von einer kleinen Minderheit befürwortet. Welche Aktionsformen gewählt und welche Wirkungen erzielt werden, bestimmt sich nicht nur nach Selbstverständnis und Zielen der Bewegung, sondern v.a. nach dem Grad der Offenheit des jeweiligen polit. Systems. Während in einem demokrat. verfaßten -> Staat u.a. durch die Vereinigungs- und —> Versammlungsfreiheit von vornherein Plätze für staatsbürgerl. Engagement geschaffen und grundrechtl. gesichert sind, unterliegt in autoritären, mehr noch in totalitären Systemen der gesellschaftl. Raum umfassender staatl. Regulierung. Infolge dessen muß jede Selbstorganisation als Bedrohung des staatl. Politikmonopols gedeutet werden; B.en werden dementsprechend kriminalisiert und mit repressiven Maßnahmen bedroht. Paradoxerweise können sie erst unter diesen Voraussetzungen eine systemsprengende Wirkung entfalten. Die DDR-B. en werden in dieser Hinsicht als Ausnahmeerscheinung erkennbar und sind, insofern ihren thematischen Anliegen die Einforderung von fundamentalen —>· Bürgerrechten vorausgeht, präziser als Bürgerrechtsbewegungen zu charakterisieren. In einem pluralistischen System, in dem die Vertretung unterschiedlicher Interessen integraler Bestandteil des polit. Prozesses ist und in der Konsequenz verschiedene Anliegen miteinander konkurrieren, ist eine derart revolutionierende Wirkung unwahrscheinlich. Jedoch sind auch hier Aufkommen, Mittelwahl und Erfolg von B.en maßgeblich durch die —> Responsivität der staatl. Adressaten des Protests bestimmt. Vergleichende Studien belegen, daß B.en besonders häufig in solchen Systemen auftreten, die sich durch Kompromißstrategien zur Lösung polit. Konflikte auszeichnen. Ihre Zahl steigt nochmals an, wenn gute institutionelle Zugangschancen hinzukommen, wie sie etwa in der Schweiz in Gestalt direkt-
Bürgerbewegung demokrat. Verfahren bestehen. Verfolgt ein System exklusive Strategien und verfügt es nur über minimale Zugangschancen, werden B.en zwar selten bleiben, ihre Proteste nehmen aber, wie das Beispiel Frankreichs verdeutlicht, überproportional häufig gewaltsame Formen an. Auf mangelnde Responsivität kann aber auch mit einer Institutionalisierung bis hin zur Parteibildung reagiert werden. Die in den späten 70er und frühen 80er Jahren entstandenen grünen Parteien, von denen einige in die nationalen Parlamente gewählt worden sind, geben dafür ein Beispiel. Mit der Parteibildung geht der Bewegungscharakter verloren - ähnlich wie sich auch die Bindungen früherer Oppositionsparteien an die B.en im Gefolge der Regierungsbeteiligung lockern. 7. Entgegen anderslautenden Prognosen haben sich die B.en als zählebig erwiesen und sind ungeachtet der ihrem Bewegungscharakter inhärenten Konjunkturausschläge vom vermeintlichen Strohfeuer zu einem normalen Dauerphänomen etablierter Demokratien geworden. Solange sie kompromißfahig bleiben und auf Gewalt verzichten, können sie geradezu als Signum stabilisierter Demokratien interpretieren werden. Insofern läßt sich an der schwachen Partizipationskultur in Osteuropa die noch unzureichende Konsolidierung der dortigen Demokratien ablesen. In Dtld. ist es den B en maßgeblich zu verdanken, daß das Anfang der 60er Jahre in der polit. Kulturforschung gezeichnete Bild einer Untertanenkultur korrigiert und sich die bundesdeutsche (Zuschauer-)Demokratie in Richtung auf eine Teilnehmerdemokratie gewandelt hat. Mit ihrem Protest haben sie nicht nur punktuelle Reformen der repräsentativen Demokratie erwirkt, sondern auch - gelegentlich gegen die eigenen Ansprüche und Ziele - die relative Anpassungsfähigkeit des polit. Systems unter Beweis gestellt. Als maßgeblicher Träger der —> Zivilgesellschaft werden B.en auf absehbare Zeit das basisdemokrat. Korrektiv im repräsentativen Systems bleiben.
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Bürgerentscheid
BQrgerentscheid
Lit.: Β. Guggenberger / U. Kempf (Hg.): Bürgerinitiativen und repräsentatives System., Opladen 2 1984; R. Koopmans: Democracy from
Below, Boulder 1995; H. Kriesi et al.: New Social Movements and Political Opportunities in Western Europe, in: European Journal of Politicai Research 1992, S. 219ff ; L. Probst: Ostdt. Bürgerbewegungen und Perspektiven der Demokra-
tie, Köln 1993; P.C. Mayer-Tasch: Die Bürgerinitiativbewegung, Reinbek 1976; R. Roth / D. Rucht (Hg.): Neue soziale Bewegungen in der BRD. Bonn 21991.
Michael Edinger Bürgerentscheid ist eine direkte Entscheidung über eine wichtige kommunale Angelegenheit durch die Gemeindebürger (analog -> Volksentscheid auf staatl. Ebene). Dem B. kommt eine bedeutende Stellung v.a. in den USA und in der Schweiz zu. Die GemO BW sah - unter dem Einfluß der benachbarten Schweiz den B. schon lange vor den anderen Bundesländern und bis 1989 als einziger Gliedstaat der Bundesrepublik in ausgewählten wichtigen Gemeindeangelegenheiten vor (seit 1956). Die Bürger können einen B., d.h. ihr unmittelbares, plebiszitäres Entscheidungsrecht über wichtige Kommunalangelegenheiten mittels eines von ihnen selbst initiierten —> Bürgerbegehrens herbeiführen; auch der —> Gemeinderat kann als eigentlich entscheidungsbefugtes Repräsentativorgan mit 2/3-Mehrheitsbeschluß eine solche wichtige Angelegenheit der Entscheidung der Bürgerschaft unterstellen (Ratsreferendum - z.B. BWGO § 21; BayGO Art. 18a; NRWGO § 26). Das Haupthindernis für einen erfolgreichen B. ist meist das —> Quorum, nach dem die Mehrheit der Abstimmenden noch nicht ausreicht: um einem solchen Entscheid zum Erfolg zu bringen, muß gleichzeitig diese Mehrheit auch einen Mindestprozentsatz aller Abstimmungsberechtigten umfassen (BW, Rh-Pf und LSA 30%, andere Bundesländer 25% - kein B. ist vorgesehen in Beri., Hamb., Saarl ). Lokale Initiativen scheitern oftmals, wenn nicht schon beim
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Bürgerbegehren wegen unzureichender Unterschriftenanzahl, dann bei der Abstimmung, wenn die geforderte Wahlbeteiligung nicht erreicht wird. Ganz anders etwa die Schweiz (Referendumsdemokratie) und seit 1995 auch Bay. (BayGO Art. 18a): Wer sich nicht beteiligt, demonstriert dadurch, daß er mit dem Ergebnis auch bei noch so geringer Beteiligung einverstanden ist. Durch einen von -> Bürgerinitiativen herbeigeführten Volksentscheid wurden zuletzt auch ab November 1995 im Freistaat Bay. Bürgerbegehren und -entscheid eingeführt und verfassungsrechtl. verankert (Bay. Verf. Art. 7,12; BayGO Art. 18a und Bay. LKrO Art. 25a). Das herauszuhebende Merkmal des Bay. Modells ist das geringe, damit bürgerfreundliche Quorum für ein Bürgerbegehren (10% bis 3% je nach Einwohnerzahl in Gemeinden, 6% bis 3% in —> Landkreisen) und der Verzicht auf jegliches Quorum beim B.; es entscheidet allein die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Der Entscheid hat dann die rechtl. Relevanz eines Gemeinde- oder Rreistagsbeschlusses und unterliegt einer dreijährigen Sperrwirkung. Im Rahmen des Bürgerbegehrens tritt eine Sperrwirkung für Entscheidungen des Rates bereits nach Abgabe von einem Drittel der erforderlichen Unterschriften ein, die bis zur Durchführung des Entscheids weiterbesteht (Suspensiveffekt). Diese Sperrwirkung wurde ebenso wie das Fehlen eines Beteiligungs- oder Zustimmungsquorums aufgrund von 4 —> Popularklagen durch den Bay. Verfassungsgerichtshof am 29.8. 1997 für verfassungswidrig erklärt. Bis 1.1.2000 ist der Gesetzgeber aufgerufen, eine neue verfassungskonforme Regelung zu erlassen. Die polit. Relevanz von B.en in der —» kommunalen Demokratie läßt sich längerfristig bisher nur für BW bilanzieren. Dort wurden seit 1976 (Gültigkeit heutiger Quoren) 93 B.e registriert (bei 145 Bürgerbegehren), davon waren 76 unzulässig und 65 kamen zustande (40 i.S. des vorausgegangenen Begehrens, die anderen
Bürgerinitiativen
BQ rgergesellschaft scheiterten am Quorum). Für den Zeitraum von 2 Jahrzehnten bei über 1.100 Gemeinden bedeutet dies sicher keine emsthafte Konkurrenz zu den Entscheidungsmechanismen der repräsentativen Demokratie auf Kommunalebene. Völlig anders stellt sich das (vorläufige) Bild in Bay. ein Jahr nach Einführung des B.s (ohne Quorum) dar: Innerhalb der ersten 6 Monate wurden nicht weniger als 50 B.e durchgeführt, mit einer durchschnittlichen Abstimmungsbeteiligung von etwa 50% (mit deutlichem Gefälle entsprechend der Einwohnerzahl einer Kommune), außerdem fast 300 Bürgerbegehren - nach 1 Jahr waren es 105 Entscheide, nach 2 Jahren etwa 200. Damit liegt jetzt Bay. im bundesweiten Vergleich an erster Stelle. Bei den Sachfragen ging es v.a. um Bauprojekte, Verkehrsplanung, Infrastrukturund Versorgungseinrichtungen, Trinkwasserversorgung und Entsorgungsregelungen. Inwieweit sich hier ein Macht- und Gestaltungsverlust von Rat und Bürgermeister (Kreistag und Landrat), eine Akzentverschiebung von der Dominanz repräsentativer hin zu plebiszitären Elementen der Demokratie auf kommunaler Ebene in Bay. anbahnt, bleibt offen. Lit: Α. Klein / R. Schmalz-Bruns (Hg.): Polit. Beteiligung und Bürgerengagement in Dtld., Bonn 1997; F.-L. Knemeyer: Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik, München 1995; G. Treffer / F. Kroll: Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Bay., München 1996.
Gerhard Kral Bürgergesellschaft —> Zivilgesellschaft Bürgerinitiativen stellen - in Konkurrenz zu den polit. -» Parteien und den -> Interessenverbänden - eine nicht institutionalisierte und aktionsbetonte Organisationsform bürgerschaftlicher Einflußnahme auf die polit. —> Willensbildung und Gestaltung auf kommunaler, regionaler und gesamtstaatl. Ebene dar. Sie sind zunächst spontane, oft kurzlebige und räumlich begrenzte, von einer eher losen Organisation getragene Zusammenschlüs-
se von Bürgern, die sich in ihrem Umfeld von polit.-administrativen Planungsvorhaben oder Entscheidungen betroffen fühlen; oder sie empfinden sich· von offensichtlichen Mißständen, von sozialen Unzulänglichkeiten bedroht. Sie bemühen sich um Behebung der konkreten, aktuellen defizitären oder bedrohlichen Situation, um Abhilfe i.S. ihres ganz konkreten Zieles. Dazu entwickeln sie vielfältige Strategien der Selbsthilfe, des Protestes und öffentlichkeitswirksamer Interessenartikulation (Skandalisierung, Ausübung polit. Drucks durch begrenzten Konflikt bis hin zur gezielten Regelverletzung, z.T. Einschaltung der Gerichte). Während in den USA die Bürgerrechtsbewegung und ihre Nachfolgeorganisationen (citizens initiatives) schon lange das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Interessendurchsetzung über das Parteiund Verbandswesen hinaus nutzten, gab es in Dtld. bis in die späten 60er Jahre kaum Ansätze, vergleichbar auf polit.administrative Entscheidungen des Bundes, eines Landes oder einer Kommunalbehörde einzuwirken. In Dtld. bildeten sich B. als Antwort auf diagnostizierte polit.-gesellschaftl. Mißstände erst seit Ende der 60er Jahre, erreichten aber sehr schnell eine Verbreitung und ein Selbstbewußtsein, daß sie das Signum „Bürgerinitiativ-Bewegung" erfolgreich für sich reklamieren konnten. Nach der kritischen Reflexion der gesellschaftl. Entwicklung in den 60er Jahren wuchs die Bereitschaft in der Bevölkerung, selbst aktiv zu werden und eigeninitiativ gesellschaftsgestaltende und -verändernde Partizipationsmöglichkeiten zu erkämpfen. Von daher können B.n als Folge des Wertewandels und als Indiz weitverbreiteten Unbehagens über die begrenzten Teilhabemöglichkeiten in der repräsentativen -> Demokratie und die Formen konventionell-traditioneller polit. Partizipation gedeutet werden. Als Ausdruck wachsenden kollektiven Unbehagens über den Verlust an Lebensqualität, über die Beeinträchtigung durch Planungs- und
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Bürgerinitiativen Entscheidungsprozesse oder bewußtgewordene Mißstände sind sie auch ein Warnsignal für defizitäre demokrat. Legitimation, abnehmende Loyalitätsbereitschaft gegenüber den staatl. Instanzen, wachsende Staats- und Parteienverdrossenheit. Ihre verfassungsmäßige —» Legitimation erhalten sie aus den Grundfreiheiten der Persönlichkeitsentfaltung, der —> Meinungsfreiheit sowie der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Die charakteristischen Aktivitäten verweisen auf den Ursprung in der außerparlament. —> Opposition der 60er Jahre: es geht v.a. um Mobilisierung der —> Öffentlichkeit, um die Entscheidungsorgane in Politik und Administration unter Legitimations- und damit Handlungszwang zu setzen. Zum Zweck öffentlichkeitswirksamer Dramatisierung ihrer Forderungen setzen sie variantenreiche Aktionsformen ein (Demonstrationen, Info-Veranstaltungen, Flugblatt- und Unterschriftenaktionen, Leserbriefkampagnen, Sitzblockaden, Plakate, Aufkleber, Mahnwachen u.a.m. aber auch durchaus mit beachtenswerten Erfolgen die Einschaltung der Justiz). Zu den vorrangigen Anliegen von B. zählen kommunal-, sozial- und umweltpolit. Probleme (Kinderbetreuung, Spielplätze, Wohnen, Stadtsanierung, Verkehr, Umweltschutz, Gewerbe- und Infrastrukturmaßnahmen). Früher vielfach als „EinPunkt-Bewegungen" charakterisiert, die sich mit Erreichen oder Scheitern ihres Anliegens ebenso spontan wie sie sich zusammengefunden haben wieder auflösen, so haben sich in den letzten Jahren viele, ehemals lokal tätige B. dauerhaft zu gesamtstaatl. organisierten Verbänden zusammengeschlossen und dabei ihre ursprünglich singulär-lokalen Anliegen mit allgemein-übergeordneten Zielsetzungen verbunden. Am deutlichsten ist diese Entwicklung bei Initiativen in Ökologie und Umweltschutz nachzuvollziehen: der Bundesverband B. Umweltschutz (BBU), die größte Dachorganisation, betreut heute über 1.000 Einzelinitiativen mit bundesweit etwa 300.000 mobilisierungsfähigen
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Bürgerinitiativen Bürgern. Über diesen Formalisierungsprozeß haben sich die Initiativen auf längere Sicht in ihrer vernetzenden Verfestigung und organisatorisch-dauerhaften Struktur sehr deutlich den traditionellen Verbänden angenähert und gleichzeitig mit den Gründungen von Grün-Altemativen Parteigruppierungen die Trennlinie zu den polit. Parteien überschritten. Gerade in Fragen der —> Ökologie war und ist das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von B. weitaus höher als in die von den älteren Parlamentsparteien: Einen wirksamen Beitrag zum Umweltschutz erwarteten Mitte der 80er Jahre 48% am ehesten von den B., von den Parteien aber nur 8%. Die B. haben einen großen Einzugsbereich; die Zahl der aktiven Mitglieder in B. übersteigt seit Anfang der 80er Jahre die der aktiven Parteimitglieder. Bei repräsentativen Umfragen in Dtld. gaben bisher - je nach regionaler oder thematischer Eingrenzung - 1 / 7 bis 1/5 der Befragen an, sich an B. beteiligt zu haben oder zu beteiligen. Auffällig ist das überdurchschnittliche Engagement jüngerer, postmaterialistisch orientierter Bürger aus höheren Statusgruppen. B.n werden polit, und wissenschaftl. unterschiedlich bewertet: Manchen gelten sie als Element polit. Erneuerung, anderen als wohlfahrtsmindemder Hemmschuh und Instanz der Verzögerung oder Blockierung von Entscheidungsprozessen. Für die einen sind sie Krisensymptome, für andere „Frühwarnsysteme". Sie werden ebenso als Beleg für zunehmende polit. Beteiligung und Verwurzelung der Demokratie angeführt sowie als Instanz zur Kompensation für Gruppen mit ansonsten geringer Organisations- und Konfliktfähigkeit gerühmt, als auch gleichzeitig als rein mittelschichtspezifische Struktur der Interessenvermittlung kritisiert. Als Leistungen werden den B. zugeschrieben die funktionelle Ergänzung der Parteien, die an ihre Leistungsgrenzen gestoßen seien, die Eröffnung zusätzlicher Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger und insofern die Mobilisierung eines von den Par-
Bürgerliches Gesetzbuch
Bürgerliche Ehrenrechte teien nicht erfaßbaren Potentials an Engagement für öffentl. Belange, die Thematisierung vernachlässigter Themen sowie die Problematisierung und Skandalisierung eingefahrener Entscheidungsstrukturen (—> s.a. Bürgerbewegung). Lit.: Β. Guggenberger / U. Kempf (Hrg.): Bürgerinitiativen und repräsentatives System, Opladen, 2 1984; R. Roth / D. Rucht (Hg.): Neue soziale Bewegungen in der BRD, Bonn, 1991; R. Roth: Lokale Demokratie „von unten", in: ders. / H. Wollmann (Hg.), Kommunalpolitik, Bonn 1993; S. 228ff; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 2 1996, S. 347ff.
Gerhard Kral Bürgerliche Ehrenrechte sind alle Rechte, die einem -> Staatsbürger zustehen. Sie umfassen die staatsbürgerl. Befugnisse und Rechtseigenschaften wie z.B. aktives und passives -> Wahlrecht, Bekleidung öffentl. Ämter; bis 1970 sah das StGB bei Verurteilung zu Zuchthausstrafe oder Gefängnisstrafe von mindestens 3 Monaten gleichzeitig als Nebenstrafe die Aberkennung der b.E. vor. Hierdurch gingen sowohl die Befähigung zum Erwerb bzw. zur Ausübung der b.E. sowie bereits erworbene b.E. endgültig verloren. Diese Form der Aberkennung wurde wegen seiner diffamierenden Wirkung , die sich nicht mit dem Strafzweck der Resozialisierung verträgt, durch das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25.6.1969 abgeschafft. Nach den heute geltenden Bestimmungen (§§ 45ff. StGB) verliert für 5 Jahre die Fähigkeit, öffentl. Ämter zu bekleiden und Rechte aus öffentl. Wahlen zu erlangen, wer wegen eines Verbrechens zu Freiheitsstrafe von mindestens 1 Jahr verurteilt wird. Die Wiederverleihung von Fähigkeiten und Rechten ist möglich. In besonderen Fällen kann auch das Wahlrecht - im wesentlichen auf polit. Straftaten beschränkt - durch Richterspruch aberkannt werden. Dabei bleibt es verfassungsrechtl. bedenklich, einem Straftäter das polit. -> Grundrecht der Wahl zu nehmen, denn er bleibt Deutscher, ist weiterhin der dt. Hoheitsgewalt
unterworfen und büßt für seine Tat bereits mit der verhängten Strafe. Das Reformgesetz hat in diesem Punkt somit nicht zu einer Abschaffung, lediglich zu einer Einschränkung der Tatbestände, unter denen eine Aberkennung möglich ist, geführt. Lit.: HdbKWP II.
Karlheinz Hösgen Bürgerliche Rechte -> Bürgerrechte Bürgerliches Gesetzbuch Das BGB gehört zu den großen (privatrechtl.) —> Kodifikationen des 19. Jhd.s. Nach über 20jähriger Vorarbeit (2 Entwürfe mit „Motiven" bzw. „Protokollen") wurde der Dritte Entwurf des Gesetzes am 18.8.1896 vom —> Reichstag gebilligt. Mit seinem Inkrafttreten am 1.1.1900 hat es die bis dahin bestehende Rechtszersplitterung auf dem Gebiet des (allgemeinen) —> Privatrechts beseitigt. Von seiner Konzeption her war es von klassischen liberalen Vorstellungen (Privateigentum, Privatautonomie und freier Wettbewerb) geprägt, soziale Gesichtspunkte spielten nur eine untergeordnete Rolle. Das BGB gliedert sich in 5 Teile (,3ücher"). Der Allgemeine Teil (Erstes Buch) enthält Vorschriften, die grds. für alle folgenden Bücher gelten und die, um Wiederholungen zu vermeiden, quasi „vor die Klammer gezogen" wurden. Geregelt ist etwa, wer überhaupt rechtl. tätig werden darf (sog. Personenrecht), wie Verträge zustande kommen. Das Zweite Buch ( -> Schuldrecht) beschäftigt sich v.a. mit den typischen Verträgen des Alltags (z.B. Kauf-, Miet-, Dienst- und Werkvertrag) sowie mit dem Schadensersatzrecht. Im —> Sachenrecht (Drittes Buch) geht es um die Zuordnung der Vermögensgüter, also um Besitz und Eigentum an Grundstücken und beweglichen Sachen sowie um daran bestehende Rechte (z.B. Hypothek). Das —» Familienrecht handelt von der (bürgerl.) —> Ehe, von Verwandtschaft, Vormundschaft und Betreuung. Schließlich geht es im —» Erbrecht (Fünftes Buch) u.a.
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Bürgermeister
Bürgerliches Recht um die gesetzliche Erbfolge, um -> Testament und Erbvertrag. Obwohl inzwischen über 100 Jahre alt, ist das BGB in weiten Teilen unverändert gültig geblieben. Tiefgreifende Veränderungen haben sich allerdings unter der Herrschaft des ->• Grundgesetzes z.B. im Wohnungsmietrecht („Soziales Mietrecht") und Familienrecht (-» Familie) vollzogen. Nachdem das BGB in der —> DDR u.a. durch das Zivilgesetzbuch (ZGB) abgelöst worden war, gilt es nunmehr wieder für ganz Dtld. (zu Obergangsregelungen vgl. Art. 230 fT. EGBGB). Lit. H.-J.Bauschke / H.-D. Braun: Grundlagen des Zivilrechts, Regensburg 3 1995; P. Palandt: Bürgerl. Gesetzbuch, München "1998; B. Mugdan: Die gesamten Materialien des BGB, 5 Bde., Berlin 1899.
Hans-Dieter Braun Bürgerliches Recht -> Zivilrecht Bürgermeister Aufgrund der unterschiedlichen Gemeindeverfassungssysteme in der -> Bundesrepublik, handelte es sich bisher beim B. einerseits nur um den Ratsvorsitzenden, andererseits um den Leiter der -> Verwaltung - oder um beides. Nicht nur die Ausübung verschiedener Ämter, auch ein z.T. sehr unterschiedliches Wahlverfahren, waren mit dem Begriff des B s verbunden. Die jüngsten Entwicklungen zeigen jedoch, daß sich die Volkswahl durchsetzen konnte und dem B. mehr und mehr die Funktion des Vorsitzenden im Gemeinderat übertragen wird. —» Baden-Württemberg und —> Bayern Als klassisches Merkmal der sog. —> Süddeutschen Ratsverfassung ist der B. / Oberbürgermeister (BW) bzw. Erste B. / Oberbürgermeister (Bay.) kraft -» Gesetzes Vorsitzender im Gemeinde-/ Stadtrat sowie Leiter der Verwaltung und wird durch Volkswahl gewählt. -> Brandenburg Hier führt der ehrenamtliche B., der durch Volkswahl gewählt wird, den Vorsitz im Gemeinderat; er besitzt darin Stimmrecht. In amtsfreien 110
Gemeinden und in geschäftsführenden Gemeinden wird der Vorsitzende aus der Mitte der Gemeindevertretung gewählt; solche Gemeinden haben einen durch Volkswahl gewählten hauptamtlichen B., der Mitglied der Gemeindevertretung mit Stimmrecht ist, als Leiter der Verwaltung. —> Hessen Die Gemeindevertretung wählt aus ihrer Mitte den Vorsitzenden, der Stimmrecht besitzt. Der B. wird durch Volkswahl gewählt und ist i.d.R. hauptamtlich tätig. Die Verwaltungsleitung ist kollegial ausgestaltet und führt die Bezeichnung Gemeindevorstand, in Städten —> Magistrat und besteht aus dem hauptbzw. ehrenamtlichen B. als Vorsitzenden, dem ersten Beigeordneten und weiteren Beigeordneten. —> Mecklenburg-Vorpommern Während in hauptamtlich verwalteten Gemeinden die Gemeindevertretung (Stadtvertretung / Bürgerschaft) aus ihrer Mitte einen Vorsitzenden wählt, hat in ehrenamtlich verwalteten Gemeinden der B. diese Funktion inne. Sowohl haupt- als auch ehrenamtliche B. werden derzeit noch durch die Gemeindevertretung gewählt; ab dem Tag der —> Kommunalwahlen 1999 allerdings durch Volkswahl. Verwaltungsleiter ist in kreisfreien Städten, in amtsfreien Gemeinden, sowie in geschäftsführenden Gemeinden, der hauptamtliche B. (Oberbürgermeister); in amtsangehörigen Gemeinden, die nicht die Geschäfte des Amtes führen, der ehrenamtliche B., wobei die Zuständigkeit des Amtsvorstehers unberührt bleibt. -> Niedersachsen Hier wird der Ratsvorsitzende vom Rat aus seiner Mitte gewählt. Der B. (Oberbürgermeister in kreisfreien und großen selbständigen Städten) ist kraft Amtes Mitglied des Rats, i.d.R. mit Stimmrecht und hauptamtlich tätig. Aufgrund dieser Mitgliedschaft kann er somit auch zum Ratsvorsitzenden gewählt werden. Als Leiter der Gemeindeverwaltung wird der B. (Hauptverwaltungsbeamter) nun in Direktwahl gewählt. Die Neue Niedersächs. -> Kommunalverfassung erweiterte auch seine
Bürgermeister ausschließlichen Zuständigkeiten. —> Nordrhein-Westfalen Den Vorsitz im Rat führt der B.; er hat dort Stimmrecht und wird neuerdings durch Volkswahl mit dem Rat gewählt, während er früher durch den Rat gewählt wurde. Für eine Übergangszeit befinden sich deshalb noch vom Rat gewählte B. im Amt. Der B. ist nun auch Leiter der Verwaltung, während diese Funktion früher der Gemeindedirektor (Stadtdirektor / Oberstadtdirektor) innehatte. Auch diese Konstellation finden wir noch bis zur Neuwahl aller B. 1999 vor. —> Rheinland-Pfalz Den Vorsitz im Gemeinderat führt der B.; er wird durch Volkswahl gewählt (hauptamtlich in verbandsfreien Gemeinden und —> Verbandsgemeinden, ehrenamtlich in Gemeinden, die einer Verbandsgemeinde angehören). Er ist Leiter der Verwaltung, obgleich in Städten mit 2 oder mehr hauptamtlichen Beigeordneten ein Stadtvorstand (eine Art verkleinerter Magistrat) fungiert, an dessen Zustimmung er in bestimmten Angelegenheiten gebunden ist und der auch einige eigene Entscheidungskompetenzen hat. —• Saarland Der B., in Städten mit mehr als 30.000 Ew. der Oberbürgermeister, führt den Vorsitz im Gemeinderat (Stadtrat); er hat jedoch kein Stimmrecht, wird aber nun durch Volkswahl gewählt und nicht mehr wie früher durch den Gemeinderat (Stadtrat). Als Leiter der Verwaltung ist er hauptamtlich tätig. -> Schleswig-Holstein Den Vorsitz in der Gemeindevertretung nimmt ein aus ihrer Mitte gewählter Vorsitzender wahr. In Gemeinden mit hauptamtlichem B. wird die Bezeichnung Bürgervorsteher geführt; in kreisfreien Städten die Bezeichnung Stadtpräsident. Gemeinden (amtsangehörig oder mit weniger als 2.000 Ew.) werden durch ehrenamtliche B. verwaltet, die dann auch den Vorsitz in der Gemeindevertretung innehaben. Gemeinden ab 2.000 Ew. werden von hauptamtlichen B.n verwaltet, wenn die Gemeinde keinem Amt angehört oder die Geschäfte ei-
Bürgermeister nes Amtes führt. Die hauptamtlichen B. werden grds. schon durch Volkswahl gewählt; die ehrenamtlichen B. vorerst noch durch die Gemeindevertretung, wobei Städte grds. hauptamtlich verwaltet werden. -> Sachsen In Gemeinden ab 5.000 Ew. ist der B. hauptamtlicher Beamter auf Zeit; in Gemeinden darunter Ehrenbeamter auf Zeit. In Gemeinden ab 2.000 Ew., die weder einem Verwaltungsverband noch einer Verwaltungsgemeinschaft angehören, kann er hauptamtlicher Beamter auf Zeit sein, in besonderen Ausnahmefallen auch in anderen Gemeinden. Der B. der erfüllenden Gemeinde einer Verwaltungsgemeinschaft ist hauptamtlicher Beamter auf Zeit. Die B. führen den Vorsitz im Gemeinderat und leiten die Verwaltung. —> Sachsen-Anhalt Als Mitglied des Gemeinderats mit Stimmrecht ist der ehrenamtliche B. dort Vorsitzender (in Mitgliedsgemeinden von Verwaltungsgemeinschaften mit Ausnahme von Trägergemeinden). Ansonsten ist der Vorsitzende ein Mitglied des Gemeinderats (Stadtrats). Da auch der hauptamtliche B. Mitglied des Gemeinderats (Stadtrats) mit Stimmrecht ist, kann er zum Vorsitzenden gewählt werden. Die B. werden durch Volkswahl gewählt. Der hauptamtliche B. ist Leiter der Verwaltung; in Mitgliedsgemeinden von Verwaltungsgemeinschaften besteht keine Verwaltung mehr. —> Thüringen Ehren- (i.d.R. in Gemeinden unter 3.000 Ew.) und hauptamtliche B. (Oberbürgermeister) werden durch Volkswahl gewählt. Sie führen den Vorsitz im Gemeinderat (Stadtrat) und haben dort Stimmrecht; durch Regelung in der Hauptsatzung kann allerdings bestimmt werden, daß ein anderes Mitglied den Vorsitz fühlt. Die B. leiten die Verwaltung. Lit: Kommunalrechtl. Vorschriften der einzelnen Bundesländer, A. Gern: Dt Kommunalrecht, Baden-Baden 1994, Nr. 354ff„ S. 196ff.;ß. Stober: Kommunalrecht in der BRD, Stuttgart :1992, S. 11 Off.
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Bürgermeistertestament Egon G.A. Happach Bürgermeistertestament -> Testament Bürgermeisterverfassung Die B. ist histor. aus rheinischen und frz.-napoleonischen Einflüssen gemischt übernommen worden; ihr folgt gegenwärtig keine der -> Gemeindeverfassungen mehr. Die Konzeption war dualistisch mit Rat und -> Bürgermeister mit eigenen Zuständigkeiten. Der Bürgermeister gelangte nicht durch Volkswahl, sondern durch Wahl des Gemeinderates in sein Amt. Bei der echten B. hat der Bürgermeister Stimmrecht im Rat, bei der unechten nicht. Die B. galt bis 1993 in -> Rheinland-Pfalz für kreisangehörige Gemeinden und kleinere Städte, bis 1994 im —> Saarland und bis 1998 für die Gemeinden -> Schleswig-Holsteins (nicht: Städte). W.L. Bürgerpflichten -> Grundpflichten Bürgerrechte 1. B. sind Individualrechte, welche die Rechtsordnung eines -> Staates nicht jeder Person, sondern nur den eigenen —> Staatsbürgern verleiht. In diesem Sinne wird auch bei den verfassungsrechtl. verankerten —» Grundrechten zwischen Jedermann- oder —> Menschenrechten, auf die sich jede Person berufen kann, und B.n, die den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten sind, unterschieden. Im Bonner —> Grundgesetz sind z.B. neben den klassischen Rechten der Staatsbürger dem -> Wahlrecht bei Bundestagswahlen (Art. 38 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 2) und dem Zugang zu öffentl. Ämtern (Art. 33 Abs. 2) die Grundrechte der -> Versammlungsfreiheit (Art. 8), der -> Vereinigungsfreiheit (Art. 9), der Freizügigkeit im Bundesgebiet (Art. 11) und der —> Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1) als Deutschengrundrechte (B.) ausgestaltet. Aus dem Deutschen-Vorbehalt eines Grundrechts darf indes nicht geschlossen werden, daß Ausländer bei entsprechenden Freiheitsbetätigungen schutzlos wä112
Bürgerrechte ren. Zum einen können sich Ausländer immer auf die - freilich leichter einschränkbare - allgemeine Handlungsfreiheit berufen, die in Art. 2 Abs. 1 GG als Grundrecht für jedermann verankert ist; zum anderen werden Ausländern Rechte, die in der —> Verfassung nur Deutschen verliehen werden, in großem Umfang durch einfache -» Gesetze zuerkannt. So schreibt etwa das Versammlungsgesetz das Recht, öffentl. Versammlungen abzuhalten oder an ihnen teilzunehmen, jedermann zu. Einfachgesetzlichen Schutz genießen auch die —• juristischen Personen mit Sitz im Ausland, obwohl sie nach Art. 19 Abs. 3 GG vom Grundrechtsschutz grds. ausgenommen sind. Dem Status der Deutschen immer stärker angenähert werden die Rechte der Ausländer aus den Mitgliedstaaten der —> Europäischen Union (—> Unionsbürgerschaft). So weit das gemeinschaftsrechtl. —> Diskriminierungsverbot, etwa bzgl. der wirtschaftl. Freiheiten, reicht, müssen alle Gemeinschaftsbürger auch den gleichen Grundrechtsschutz wie die Deutschen genießen. Für das Kommunalwahlrecht sieht Art. 8b des EGV ausdrücklich das aktive und passive Wahlrecht vor, das GG wurde 1992 entsprechend geändert (Art. 28 Abs. 1 S. 3). 2. In histor. Sicht verbinden sich mit dem Gebrauch des Wortes B. 2 wesentliche Entwicklungsschritte des frühkonstitutionellen Staates (-» Konstitutionalismus). Zum einen steht die Verwendung des Begriffes B. anstelle von Menschenrechten für den Übergang einer vorwiegend naturrechtl. fundierten Verfassungsordnung in eine maßgeblich auf das positive Verfassungsrecht gestützte Staatsordnung. Zum anderen sind die B. im Gegensatz zu ständisch definierten Rechtspositionen und zu den Rechten der Untertanen zu sehen; insofern steht der Begriff für den Übergang von der ständischen zur bürgerl. Gesellschaftsordnung (—> s.a. Stände). Die Dichotomie von Menschenrechten und B.n tritt bereits in der frühen Verfassungsentwicklung Frankreichs hervor.
Bürgerrechte Wie die nordamerik. Erklärungen der 70er Jahre des 18. Jhd.s (-» Bill of Rights) waren die ersten frz. Rechteerklärungen von der Idee unveräußerlicher Menschenrechte durchdrungen, die unabhängig von ihrer Verankerung im positiven Recht allen Menschen kraft -> Naturrechts (überpositiven Rechts) zustehen sollten. Wenn die revolutionären Erklärungen von 1789, 1793 und 1795 in ihrer Überschrift nicht nur auf Menschenrechte, sondern auch auf B. Bezug nahmen, so vornehmlich deshalb, um den mit der Souveränität der —> Nation bzw. der Volkssouveränität verbundenen polit. Rechten der Staatsbürger (citoyens) Rechnung zu tragen. Die polit. Rechte, die nach G. Jellinek den status activus ausmachen, bilden bis heute den Kembestand der den Staatsbürgern vorbehaltenen Rechte. Die im Zuge der Restauration nach dem Scheitern Napoleons von Ludwig XVIII. oktroyierte -> Charte Constitutionnelle von 1814 sprach demgegenüber nicht differenzierend, sondern hinsichtlich aller Verbürgungen ausschließlich vom Recht der Franzosen. Die Vorstellung, daß die Rechte nicht als vorstaatl., von jeder -»• Herrschaft zu achtende Prinzipien, sondern als vom Monarchen seinen Untertanen gewährte Freiheiten zu betrachten seien, tritt deutlich im dt. Frühkonstitutionalismus hervor. Auch hier ist nicht von allgemeinen Menschenrechten die Rede, sondern von „staatsbürgerl. und polit. Rechten der Badener" (badische Verfassung von 1818), von „allgemeinen Rechts-Verhältnissen der Staats-Bürger" (württembergische Verfassung von 1819) oder „allgemeinen Rechten und Pflichten der Hessen" (hess. Verfassung von 1820). Mit den darin enthaltenen Ansätzen zur Schaffung eines allgemeinen Rechtsstatus aller der Herrschaft Unterworfenen machten sich die Fürsten btlrgerl. Gleichheitsforderungen allerdings nur insoweit zu eigen, als sie ihrem monarchischen Interesse an einer Begrenzung der Macht des Adels entgegenkamen. Diese spätabsolutistische Grundhaltung manifestiert
Bürgerrechte sich offen in denjenigen Verfassungen der ersten Hälfte des 19. Jhd.s, die weiterhin von Rechten der Untertanen und nicht von Rechten der Bürger sprechen (z.B. die Verfassungen Kurhessens und Sachsens von 1831 und Verfassung von Hannover von 1840). Ein klares Bekenntnis zu gleichen Rechten aller Mitglieder des Gemeinwesens findet sich schließlich in den Verfassungen, welche liberal-rechtsstaatl. und nationalstaatl. Vorstellungen in sich vereinten. In diesem Sinne spricht die Paulskirchenverfassung von 1849 von „Grundrechten des dt. Volkes" und später auch noch die -> Weimarer Reichsverfassung von „Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen". In der (nicht in Kraft getretenen) Paulskirchenverfassung erscheinen die Grundrechte dabei weder als bloß deklaratorische Formulierungen vorstaatl. Rechte noch als den Untertanen vom Monarch gewährte Toleranzen, sondern erstmals als konkrete Rechtsverbürgungen, welche die Staatsbürger mit besonderen Rechtsbehelfen auch gegen die —> Staatsgewalt durchsetzen können. Eine Öffnung der im positiven Verfassungsrecht verankerten Grundrechte für Ausländer fand in vielen Staaten nach dem Π. Weltkrieg statt. Im Rahmen der Vereinten Nationen gewann die Erneuerung der Idee universeller Menschenrechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 Gestalt. Das Bonner GG von 1949 und eine Reihe späterer Verfassungen, so etwa die portugiesische Verfassung von 1976, die spanische Verfassung von 1978 und die niederländische Verfassung von 1983, nehmen nur noch bei einzelnen Grundrechtsbestimmungen, hingegen nicht mehr in der Überschrift des Grundrechtsteils einschränkend auf die Staatsbürger Bezug. Bei Verfassungen, in denen dies nach wie vor der Fall ist (z.B. der ital. Verfassung von 1947 oder der belg. Verfassung von 1994), wendet die Rechtsprechung einzelne Grundrechte, die für sich betrachtet nicht als Grundrechte der Staatsangehörigen formuliert sind, auch auf
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Bürgerrechte Ausländer an. Im übrigen gewährleisten heute der internationale Menschenrechtsschutz und die zu seiner Durchsetzung geschaffenen Organe, in Europa insbes. die —> Europäische Menschenrechtskonvention, daß die wesentlichen Freiheiten Staatsbürgern und Ausländem gleichermaßen eingeräumt werden. J. Die B. wurden immer wieder zum polit. Kampfbegriff. Während es im 19. Jhd. darum ging, Privilegien des Adels (später: ständische Vorrechte überhaupt) zu beseitigen und die Macht des Monarchen zugunsten der bürgerl. —> Freiheit zu beschränken, trat im 20. Jhd. der Kampf von Bevölkerungsteilen in den Vordergrund, denen B. aus anderen Gründen vorenthalten wurden. So trat in den USA das Civil Rights Movement für eine Beseitigung der Rassentrennung und anderer Formen der Diskriminierung der rassischen Minderheiten ein. In Südafrika wurde der Kampf der schwarzen Mehrheit gegen das weiße Apartheitsregime unter Berufung auf gleiche B. geführt. Die Bürgerrechtsgruppen, die sich in den sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas seit Mitte der 70ger Jahren bildeten und deren Mitglieder häufig als Dissidenten verfolgt wurden, setzten sich gegenüber dem totalitären Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei für die Wahrung der —» Menschenwürde und die freie Entfaltung der Persönlichkeit ein. Das rechtsstaatl. Ziel der Gewährung und Sicherung gleicher B. wird auch in Zukunft in dem Maße in die öffentl. Diskussion drängen, in dem Bürger eines Staates unterdrückt und diskriminiert werden. Lit.: H. Bauer / W. Kahl: Europ. Unionsbürger als Träger von Deutschen-Gnindrechten?, in: JZ 1995, S. 1077fr.; Geschichtl. Grundbegriffe I, S. 672ff. und II, S. 1047fT; HdBStR V, S. 485ff.; U. Scheuner: Die rechtl. Tragweite der Grundrechte in der dt. Verfassungsentwicklung des 19. Jhd.s, in: FS E.R. Huber, Göttingen 1973, S. 139ÍT.; M. Stolleis: Untertan - Bürger - Staatsbürger, in: R. Vierhaus (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg
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Büro für TAB 1981, S. 65ff
Karl-Peter Sommermann Bürgerschaft -> Bremen —> Hamburg Bürgertum ist die Bezeichnung für eine Gesellschaftsschicht, die sich einerseits von der Oberschicht und andererseits vom Bauerntum und der Arbeiterschaft durch eine Reihe von Merkmalen abhebt. Histor. waren diese u.a. die Ausübung bestimmter Berufe (öffentl. Berufe wie Beamte, Lehrer, Pfarrer, Akademiker oder freie Berufe wie Rechtsanwälte, Architekten, Ingenieure); eine gewisse wirtschafil. Unabhängigkeit (Handwerk, Einzelhandel, Gewerbe); städtischer Wohnsitz und dieser vielfach verbunden mit Haus- und Grundbesitz, eine höhere Schulausbildung und v.a. einen Lebensstil und eine geistige Haltung, welche dem heute üblichen Synomym für B., die Bezeichnung „Mittelstand", ihre Charakterisitik verdankt. Wohnform (Eigenheim, Garten), Kleidung, kultureller Anspruch (Literatur, Theater, Kunst, Medien), Sprache, soziale und familiäre Umgangsformen und ein hohes polit, und soziales Sicherheitsbedürfnis bezeichnen diese Lebensform. Verbunden mit den Haupttugenden bürgerl. Existenz, Fleiß und Sparsamkeit, prägt diese Lebensform das soziale Bild bürgerl. Existenz. Auch wenn sich heute die histor.-materiellen Voraussetzungen bürgerl. Lebensform erheblich geändert haben, so hat dieses Bild nachwievor gesellschaftsorientierende Wirkung. Lit.: Geschichtl. Grundbegriffe
I, S. 672ff.
Hg. Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB) Das TAB ist eine externe Wissenschaft!. Beratungskapazität des -> Deutschen Bundestages, das auf Veranlassung seines Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung (TA) wissenschaftl. Entscheidungshilfen zu technologiepolit. Fragen erarbeitet. Organisatorisch ist es eine Arbeitseinheit des Forschungszen-
BUND
Bulletin trums Karlsruhe. Das TAB konzipert und führt TA-Analysen, d.h. vorausschauende Abwägungen von Chancen und Risiken neuer Technologien, durch, beobachtet lfd. wissenschaftl. und technologische Trends in ihrer Wechselwirkung zur gesellschaftl. Entwicklung, wertet vergleichbare Analysen des Auslands aus, beteiligt sich an der innerwissenschaftl. Diskussion konzeptioneller Fragen und bereitet die Ergebnisse von TA-Studien und Diskursen parlamentsorientiert auf. Die polit. Bewertung und Entscheidung liegt, dem Grundsatz des Primats der Politik entsprechend, in Händen des Parlaments bzw. des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung, der auch für die Grundsätze für Technikfolgenanalysen und für die Einzelentscheidungen zu den durchzuführenden Studien verantwortlich zeichnet. Das TAB bedient sich bei der Durchführung von TA-Studien des wissenschaftl. Sachverstands einschlägiger Forschungsinstitutionen. Als ständige Beratungseinrichtung wurde das TAB am 4.3.1993 (BT-Drucks. 12/4193) vom Bundestag eingesetzt. Diesem Parlamentsbeschluß waren Empfehlungen zweier Enquete-Kommissionen des 10. und 11. Dt. Bundestages vorausgegangen. Lit: R. Meyer: Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Dt. Bundestag, in: R. Graf v. Westphalen (Hg.), Technikfolgenabschätzung als polit. Aufgabe. München 31997, S. 340ff.; R. Graf ν. Westphalen: Technikfolgenabschätzung beim Dt. Bundestag als Organisationsproblem: Zur Kritik und Weiterfthrung der Institutionalisierungsdebatte, in: ebenda21994, S. 388ff.
Norbert Binder Bulletin (frz., von lat. Bulla = Bleisiegel) ist die Bezeichnung für amtliche Stellungnahmen, Verlautbarungen und Berichte von Regierungen oder Staatsoberhäuptern. Die Verwendung geht auf die Zeit nach der Frz. Revolution zurück, in welcher B. zunächst periodische Veröffentlichungen charakterisierte. Später kam er als Titel
für die von Napoleon I. (1769-1821) in der Presse publizierten Heeresberichte in Gebrauch. Seit 1809 wird der BegrifT auch in Dtld. Verwendet (-> s.a. Presseund Informationsamt der Bundesregierung). HgBund ist nach der Verfassungsordnung des -> Grundgesetzes (vgl. z.B. Art. 24, 28 Abs. 3, 32 Abs. 1, 35 Abs. 1, 50, 70 ff., 86, 87a, 88, 89, 90, 91, 91a f., 93 Abs. 1 Nr. 3 u. 4, 95 f., 104a ff., 115c f.) sowie der Verfassung der Republik —> Österreich die Bezeichnung für die zentrale staatl. Organisationsebene im Unterschied zu den —» Ländern. Nach Art. 20 GG ist die -> Bundesrepublik Deutschland ein —> Bundesstaat, dessen Glieder der B. und die Länder sind; B. und Länder sind Inhaber je einer eigenen, unabhängigen —> Staatsgewalt mit eigenen Gesetzgebungsund Verwaltungskompetenzen. Allerdings ist der B. als Oberstaat den Ländern grds. übergeordnet (vgl. Art. 31 GG). Im 19. Jhd. war B. zum einen eine Bezeichnung für Kooperationsformen auf staatl. Ebene (-> Deutscher Bund, Norddt. Bund), zum anderen eine Bezeichnung für parteiähnliche polit. Zusammenschlüsse, wie z.B. den B. der Kommunisten in der Frühzeit der dt. Arbeiterbewegung. Auch heute noch kommt B. Bedeutung als Bezeichungselement parteipolitisch unabhängiger Organisationen zu (vgl. z.B. Bund der Vertriebenen, —> Deutscher Gewerkschaftsbund; —> s.a. Föderalismus. Lit.: HdbStR I, § 26.
J. U. Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) Der BUND ist mit 238.000 Mitgliedern einer der größten dt. Umweltverbände und dt. Sektion von Friends of the Earth International (FOEI). Durch über 2.100 Orts- und Kreisgruppen ist der Umweltverband in fast jeder Region Dtld. s vertreten. Der BUND ist demokrat. und föderativ organisiert. Höchstes Organ ist die einmal jährlich
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Bund-Länder-Kommission fDr Bildungsplanung zusammentretende Delegiertenversammlung, die den ehrenamtlichen Bundesvorstand und die Sprecher der 19 wissenschaftl. Arbeitskreise wählt. Die Landesverbände sind eigenständige - » Vereine, die auf Bundesebene durch einen Verbandsrat repräsentiert werden. Gegründet wurde der BUND 1975 unter dem Namen Bund für Natur- und Umweltschutz (BNUD). Einige Landesverbände sind jedoch wesentlich älter, so der Bund Naturschutz in Bay. (BN), der bereits seit 1913 existiert. Derzeitige Schwerpunktthemen sind: Abfallvermeidung (s.a. -> Abfallrecht), -» Gentechnik, Öko-Landbau und artgerechte Tierhaltung (s.a. -> Tierschutz), -> Naturschutz, —» Verkehr, - » Energie und Zukunftsfähiges Deutschland (s.a. —> Nachhaltigkeit). HgBund-Länder-Kommission für Bildungsplanung —> Bildungsverfassungsrecht Bund-Länder-Streitverfahren fassungskonflikt
Ver-
Bundesadler —> Staatssymbole Bundesamt für Finanzen Das BfF ist die größte der 8 Bundesoberbehörden im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums der Finanzen mit Sitz in Bonn und Außenstellen in Beri, und Saarlouis; es beschäftigt rd. 1.30Ò Mitarbeiter. Das BfF gliedert sich in die Präsidialstelle, 4 Fachabt.en und die Gruppe „Währungsumstellung"; allgemein ergeben sich die Aufgaben des BfF aus dem Finanzverwaltungsgesetz. Die Schwerpunkte sind steuerliche Angelegenheiten mit Auslandsbezug und Dienstleistungen gegenüber anderen Verwaltungen. Steuerliche Gebiete, zu denen das BfF wohl die bekanntesten Beiträge leistet, sind die Besteuerung der Inländer mit Auslandseinkünften, die Umsatzsteuervergütung an ausländische Unternehmen und die Mitwirkung an Konzembetriebsprüfungen. Neue Aufgaben
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Bundesamt fDr Güterverkehr
sind dem BfF in den letzten Jahren übertragen worden, so die Kontrolle des Zinsabschlag-Verfahrens, Aufgaben nach dem Umsatzsteuer-Binnenmarktgesetz und der Familienleistungsausgleich. Auf dem Sektor der nichtsteuerlichen Aufgaben liegen die Schwerpunkte der Arbeit zum einen bei der Berechnung und Zahlbarmachung der Bezüge aller Richter, Beamten, Angestellten, Arbeiter und Versorgungsempfänger des Bundes mit Ausnahme der Bundeswehr und des Auswärtigen Amtes. Das BfF unterhält eine eigene Abt. Informationsverarbeitung, welche das größte Rechenzentrum der Bundesfinanzverwaltung betreibt. HgBundesamt für Güterverkehr Das BAG ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des -> Bundesministeriums für Verkehr mit Sitz in Köln und Außenstellen in den Ländern. Das BAG ist aus der früheren Bundesanstalt für den Güterfernverkehr hervorgegangen und erledigt Verwaltungsaufgaben des —> Bundes auf dem Gebiet des Verkehrs. Das BAG hat darüber zu wachen, daß in- und ausländische Kraftfahrer und Unternehmer des Straßengüterverkehrs die ihnen obliegenden Pflichten einhalten, insbes. sicherheits- und umweltrelevante Vorschriften befolgen. Dazu gehören —» Rechtsvorschriften über das Ordnungsrecht des Güterkraftverkehrs, Lenk- und Ruhezeiten des Fahrpersonals auf Lastkraftfahrzeugen und Kraftomnibussen, die zulässigen Gewichte und Maße von Lastkraftfahrzeugen und Anhängern, die Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße, die Beförderung von Lebensmitteln und Wein, die Beförderung lebender Tiere sowie Abfallbeförderung. Die Überwachung erfolgt durch Kontrollen auf der Straße und in den Betrieben und die Weiterleitung von Kontrollmitteilungen an die zuständigen Länderbehörden, soweit es sich um Betroffene handelt, die ihren Sitz bzw. Wohnsitz in Dtld. haben. Bei Zuwiderhandlungen durch Kraftfahrer oder Unter-
BARoV
Bundesamt für Luftfahrt nehmer mit Sitz bzw. Wohnsitz im Ausland ist das BAG zuständige Bußgeldbehörde. Das BAG verwaltet die Autobahnbenutzungsgebühr und überwacht die Einhaltung der Rechtsvorschriften über die Gebührenpflicht, beobachtet die Entwicklung des Marktgeschehens im Güterverkehr der Binnenschiffahrt, der Eisenbahn und der Lastkraftfahrzeuge, führt zusammen mit dem -> Kraftfahrt-Bundesamt zur Beurteilung der Struktur und der Entwicklung des Straßengüterverkehrs repräsentative Erhebungen durch und nimmt Aufgaben innerhalb der zivilen Verteidigung wahr. Das BAG ist Genehmigungsbehörde für Flugtarife nach dem Luftverkehrsgesetz; es ist darüber hinaus Hinterlegungsstelle für Flugpreise der Luftfahrtuntemehmen der -> Europäischen Union fìir den Bereich der -> Bundesrepublik Deutschland; das hat in diesem Rahmen die Einhaltung der Tarife zu überwachen. Hg. Bundesamt für Luftfahrt -> Luftfahrtbundesamt —> s.a. Koordinator der Bundesregierung für die deutsche Luft- und Raumfahrt Bundesamt für Naturschutz Das BfN ist die zentrale wissenschaftl. —> Behörde des —> Bundes für den nationalen und internationalen -> Naturschutz und die Landschaftspflege. Es gehört zum Geschäftsbereich des —» Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Das BfN hat seinen Sitz in Bonn und unterhält Außenstellen in Leipzig sowie auf der Insel Vilm bei Rügen. Bestandteil der Außenstelle Vilm ist die Internationale Naturschutzakademie. Aufgaben des BfN sind die Beratung der Bundesregierung auf dem Gebiet des Naturschutzes sowie die Betreuung von Förderprogrammen des Bundes, insbes. von Naturschutzgroßvorhaben in den —» Bundesländern und von Pilotprojekten. Das Amt ist Genehmigungsbehörde für die Ein- und Ausfuhr von Tieren und Pflanzen ge-
schützter Arten. Das BfN führt zur Erfüllung seiner Aufgaben zum einen eigene Forschungsprojekte durch, zum anderen vergibt es Forschungsaufträge nach außen. Das BfN hat z.Z. ca. 250 Mitarbeiter. Hg. Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen Das BARoV wurde am 1.7.1991 als Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf der Grundlage des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen (VermG) und des Entschädigungsund Ausgleichsleistungsgesetzes (EALG) eingerichtet. Aufgaben des BARoV 1) Sicherung der einheitlichen Durchführung des VermG. Im Rahmen dieser Koordinierungsaufgabe werden u.a. vielfältige Fortbildungslehrgänge veranstaltet und Dokumentationen, Broschüren, Merkblätter und Arbeitsanleitungen erarbeitet, mit deren Hilfe die Antragsbearbeitung in den Ämtern erleichtert und beschleunigt wird. Die Bearbeitung vermögensrechtl. Anträge ist im wesentlichen Aufgabe der Länder. Das BARoV hat insoweit keine Weisungsbefugnis. 2) Eine weitere wichtige Koordinierungsaufgabe wird im Bereich des EALG wahrgenommen, das die Länder im Auftrag des Bundes durchführen. Das BARoV verwaltet und bewirtschaftet zudem den Entschädigungsfonds, aus dem sämtliche Leistungen nach dem EALG erbracht werden. Ferner unterstützt das BARoV die für die Gesetzgebung zuständigen Bundesressorts. 3) Daneben obliegt dem BARoV die Abwicklung von Vermögensangelegenheiten, die dem Amt für den -» Rechtsschutz des Vermögens der ehemaligen —> DDR übertragen waren. Dazu gehört auch die Entscheidung über Anträge auf Herausgabe von Altwertpapieren. Das BARoV entscheidet ebenfalls sachlich über die Restitution des Vermögens der - » Parteien und Massenorganisationen der DDR. Hg-
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BSI Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Das BSI als oberste -> Bundesbehörde im Geschäftsbereich des - » Bundesministeriums des Innern. Das Amt wurde durch das BSI-Errichtungsgesetz 1990 gegründet. Das BSI hat zur Förderung der Sicherheit in der Informationstechnik folgende Aufgaben: Untersuchung von Sicherheitsrisiken bei Anwendung der Informationstechnik (IT) sowie Entwicklung von Sicherheitsvorkehrungen, insbes. von informationstechn. Verfahren und Geräten für die Sicherheit in der Informationstechnik, soweit dies zur Erfüllung von Aufgaben des Bundes erforderlich ist. Weiter obliegt dem BSI die Entwicklung von Kriterien, Verfahren und Werkzeugen für die Prüfung und Bewertung der Sicherheit von informationstechn. Systemen oder Komponenten, von informationstechn. Systemen oder Komponenten und Erteilung von Sicherheitszertifikaten. Weiterhin hat das Amt über die Zulassung von informationstechn. Systemen oder Komponenten, die für die Verarbeitung oder Übertragung amtlich geheimgehaltener Informationen (Verschlußsachen) im Bereich des -> Bundes oder bei Unternehmen im Rahmen von Aufträgen des Bundes eingesetzt werden sollen, sowie die Herstellung von Schlüsseldaten, die für den Betrieb zugelassener Verschlüsselungsgeräte benötigt werden, zu wachen. Ebenfalls zu den zentralen Aufgaben gehört die Unterstützung der für Sicherheit in der Informationstechnik zuständigen Stellen des Bundes, insbes. soweit sie Beratungs- oder Kontrollaufgaben wahrnehmen; dies gilt vorrangig für den -> Datenschutzbeauftragten, dessen Unterstützung im Rahmen der Unabhängigkeit erfolgt, die ihm bei der Erfüllung seiner Aufgaben nach dem Bundesdatenschutzgesetz zusteht, ebenso unterstützt das BSI —> Polizei und Strafverfolgungsbehörden bei der Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Aufgaben, wie die der —> Verfassungsschutzbehörden bei der Aus- und Bewertung von Informationen, die bei der Beobachtung terroristi-
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Bundesamt für Strahlenschutz scher Bestrebungen oder nachrichtendienstlicher Tätigkeiten im Rahmen der gesetzlichen Befugnisse nach den Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder anfallen. Letztlich obliegt dem BSI die Beratung der Hersteller, Vertreiber und Anwender in Fragen der Sicherheit in der Informationstechnik unter Berücksichtigung der möglichen Folgen fehlender oder unzureichender Sicherheitsvorkehrungen. Bei zunehmend weltweiter Vernetzung der Computer (-» Internet) ist damit zu rechnen, daß der Computerbetrug und das Ausspähen von Daten erheblich zunehmen wird; nur gezielte Maßnahmen können zur Vermeidung der Schwachstellen bei informationstechn. globaler Vernetzung beitragen. Probleme der ΓΓ-Sicherheit sind keine temporäre Erscheinung, sondern ihre Lösung wird immer mehr Grundvoraussetzung für weitere informationstechn. Entwicklung sein. Hg. Bundesamt für Strahlenschutz Das BfS ist eine Bundesoberbehörde, die 1989 eingerichtet wurde und zum Geschäftsbereich des —> Bundesumweltministeriums mit Sitz in Salzgitter gehört. Das BfS unterstützt das Bundesumweltministerium fachlich und durch wissenschaftl. Forschung in seiner Verantwortung im gesundheitlichen und physikalisch-techn. Strahlenschutz, bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle, bei der staatl. Verwahrung von Kernbrennstoffen, beim Transport radioaktiver Stoffe sowie in der kerntechn. Sicherheit. Beim BfS sind 4 Fachbereiche eingerichtet: a) Fachbereich Strahlenhygiene mit den Aufgaben: Untersuchung der Wirkung und gesundheitliche Bewertung ionisierender und nichtionisierender Strahlung; Erfassung und Bewertung externer und interner Strahlenexposition der Bevölkerung durch Anwendung ionisierender Strahlung und radioaktiver Stoffe in Medizin und Technik; b) Fachbereich Strahlenschutz mit den Aufgaben: Analyse der
Bundesamt für Verfassungsschutz
Bundesamt für den Zivildienst
Strahlenexposition in bergbaulichen Anlagen und ihrer Umgebung; Bestimmung der Strahlenexposition am Arbeitsplatz, durch natürliche Umweltradioaktivität und kerntechn. Anlagen; c) Fachbereich Kemtechn. Sicherheit mit den Aufgaben: Verfolgung des nationalen und internationalen Standes von Wissenschaft und Technik bei der Entwicklung der kerntechn. Sicherheit, Erfassung, Bewertung und Dokumentation von besonderen Vorkommnissen in kerntechn. Einrichtungen und dem d) Fachbereich Nukleare Entsorgung und Transport mit den Aufgaben: Errichtung und Betrieb von Anlagen des Bundes zur Sicherstellung und zur Endlagerung radioaktiver Abfälle, Genehmigung der Beförderung und Aufbewahrung von Kernbrennstoffen. H g .
Bundesamt für Verfassungsschutz Verfassungsschutzbehörden
-»
Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung Das BWB in Koblenz ist die größte Bundesoberbehörde mit seinen über das gesamte Bundesgebiet verteilten nachgeordneten Bereichen, 7 wehrtechn. und 3 wehrwissenschafll. Dienststellen, dem Marinearsenal mit Betrieben an Nord- und Ostsee sowie weiteren Dienststellen im In- und Ausland. Das BWB beschäftigt insg. rd. 15.000 Mitarbeiter und ist mit einem jährlichen Auftragsvolumen von ca. 10 Mrd. DM größter Einzelauftraggeber der -> Bundesrepublik Deutschland. Kemaufgabe des Amtes ist die zentrale materielle Bedarfsdeckung der -> Bundeswehr, insbes. die Begleitung von Forschungs- und Technologieaktivitäten in der Vorphase der Entwicklung von Wehrmaterial; die anschließende Entwicklungs- und Erprobungssteuerung; die Fertigungsvorbereitung, Mitwirkung bei der Standardisierung und Dokumentation von Wehrmaterial sowie wehrtechn. Normung; die zentrale Beschaffung von Wehrmaterial, Vertrags- und Preisbearbeitung; die Steuerung der dezentralen
Beschaffung bei den dazu ermächtigten Dienststellen; die Betreuung des Wehrmaterials in der Nutzungsphase, Änderung von Wehrmaterial; die Instandsetzung von Schiffen und Booten der Bundesmarine. Das BWB wird von einem Präsidenten, unterstützt von je einem Vizepräsidenten für Technik und für Wirtschaft, geleitet. Unterhalb der Leitungsebene sind nach dem Geräteprinzip funktional geordnete techn. Abt.en und 3 Abt. en, die zentral Verwaltungsangelegenheiten, wirtschaftl. und techn. Querschnittsaufgaben wahrnehmen, eingerichtet. H g .
Bundesamt für Wirtschaft Das BAW ist eine selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des -» Bundesministeriums für Wirtschaft mit Sitz in Eschborn, gegründet 1954. Aufgaben des BAW mit ca. 400 Mitarbeitern sind: In der Wirtschaftsforderung und anderen Beratungsund Schulungsförderung für den Mittelstand, insbes. in den neuen Bundesländern; Inlandsmesseförderung, Förderung erneuerbarer Energien, Einfuhrkontrolle durch mengen- und wertmäßige Überwachung von Wareneinfuhren von außerhalb der -» EU. Bei der Energieversorgung Abwicklung der bis 1995 geltenden Kohlesubventionierung (Kohlepfennig), Krisenvorsorge bei Mineralöl, Bedarfsermittlung und Genehmigung bestimmter Erdgaseinfuhrverträge. Erhebungen und Berichte und anderen zum Versorgungsstand volkswirtschaftl. bedeutsamer Rohstoffe als Grundlage für Entscheidungen der —> Bundesregierung zur Bevorratung und Sicherung solcher Stoffe. T. Z.
Bundesamt für den Zivildienst wurde 1973 als Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des -> Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung mit Sitz in Köln geschaffen. Seit dem 1.10.1981 gehörte das Amt in den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Jugend, 119
Bundesamt für Zivilschutz
Bundesanstalt für Arbeit
Familie, Frauen und Gesundheit, seit 1990 durch neue Aufteilung zum Bundesministerium für Frauen und Jugend und seit 1994 zum - » Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der -> Kriegsdienstverweigerung und des Zivildienstes vom 28.2.1983 ist dem Bundesamt mit Wirkung vom 1.1. 1984 als weitere zentrale Aufgabe die Entscheidung über die Anträge der ungedienten Wehrpflichtigen auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen (Art. 4 Abs. 3 GG) übertragen worden; das sind rd. 90% aller Anträge von Kriegsdienstverweigerern. Das Bundesamt ist für die Anerkennung und Betreuung der Dienststellen (das sind nach dem Gesetz die Beschäftigungsstellen und die Zivildienstgruppen) einschließl. der sich hieraus ergebenden Folgemaßnahmen sowie für die Heranziehung und Betreuung der Zivildienstpflichtigen (Ausbildung, fiirsorgerische Betreuung) zuständig. Die Einrichtung eines sich über das gesamte Bundesgebiet erstrekkenden Außendienstes (Regionalbetreuer) trägt zur Entlastung der zentralen Verwaltung bei, ebenso wie die Übertragimg von bestimmten Verwaltungsaufgaben auf Verbände der Beschäftigungsstellen im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege.
%
Bundesamt für Zivilschutz Das BZS mit Sitz in Bonn wurde 1958 gegründet und arbeitet auf der Grundlage des Zivilschutzgesetzes i.d.F. vom 25.3.1997 als Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des —> Bundesinnenministeriums. Entsprechend dem Auftrag des - » Amtes, die Wahrnehmung aller Verwaltungsaufgaben des -» Bundes im Zivilschutz zu sichern, beziehen sich die Aufgaben im Einzelnen auf die Unterstützung der zuständigen -» Behörden bei einer einheitlichen Planung der zivilen Verteidigung, die Unterweisung des Personals der zivilen Verteidigung, die Schulung von Führungskräften und Ausbildern des Kata-
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strophenschutzes für Zivilschutzaufgaben, die Entwicklung von Lehrinhalten zum Zivilschutz und Selbstschutz, die Unterstützung der —> Gemeinden bei der Erfüllung der Selbstschutzaufgaben, die Mitwirkung bei der Warnung der Bevölkerung. Weiterhin auf die Information der Bevölkerung über den Zivilschutz, insbes. über Schutz- und Hilfeleistungsmöglichkeiten, die techn.-wissenschaftl. Forschung, Auswertung von Forschungsergebnissen, Sammeln und Auswerten von Veröffentlichungen auf dem Gebiet der zivilen Verteidigung und das Prüfen von Geräten, die für den Zivilschutz bestimmt sind, sowie Mitwirkung bei der Zulassung, Normung und Qualitätssicherung, wie die Ergänzung des Katastrophenschutzes der Länder für Zwecke dès Zivilschutzes. Letztlich obliegt dem BZS die Förderung der Erste-Hilfe-rAusbildung und der Ausbildung von Pflegehilfskräften, der Schutz von Kulturgut, die Unterhaltung von Schutzräumen, die Vorsorgemaßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Wasser und die Betreuung der Schutzkommission. Die Akademie fur Notfallplanung und -> Zivilschutz im BZS (Standort: Ahrweiler) führt den Lehrauftrag des Bundesamtes aus (s.a. THW). Hg. Bundesanstalt -> Anstalt des öffentlichen Rechts Bundesanstalt für Arbeit Der BA obliegt auf der Grundlage des —> Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs.l GG) v.a. die Aufgabe der Arbeitsförderung. Das Spektrum ihrer Tätigkeit umfaßt zwar nach wie vor den klassischen Bereich der - » Arbeitslosenversicherung, deren Träger sie ist. Im Vordergrund steht aber nicht mehr die Linderung der durch - » Arbeitslosigkeit eingetretenen Not. Bereits das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) aus dem Jahre 1969 hatte eine Akzentverschiebung hin zu einer finalen, vorausschauenden Arbeitsmarktpolitik gebracht mit dem
Bundesanstalt für Arbeit Ziel, Arbeitslosigkeit nach Möglichkeit zu vermeiden - eine Tendenz, die durch die Novellierung des Arbeitsförderungsrechts zum 1.1.1998, verbunden mit dessen Integration in das Sozialgesetzbuch (als SGB ΙΠ) nicht nur verstärkt, sondern um den Aspekt der besonderen Verantwortung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ergänzt worden ist. Zu den Leistungen der Arbeitsförderung an Arbeitnehmer gehören danach Berufsberatung sowie Ausbildungs- und Arbeitsvermittlung, Trainingsmaßnahmen zur Verbesserung der Eingliederungsaussichten, Überbrückungsgelder zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit, Kurzarbeitergeld und Insolvenzgeld. Für Arbeitgeber sieht das Gesetz u.a. vor: Arbeitsmarktberatung, Zuschüsse bei der Eingliederung leistungsgeminderter Arbeitnehmer sowie be Neugründungen, Leistungen i.Z.m. Eingliederungsverträgen. Schließlich erhalten Träger von Arbeitsförderungsmaßnahmen z.B. Darlehen und Zuschüsse zu Arbeitsbeschaffiings- und Strukturanpassungsmaßnahmen. Der aktiven Arbeitsförderung nachgeordnet sind Leistungen bei Arbeitslosigkeit, also -» Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe sowie Lohnersatzleistungen. Darüber hinaus ergeben sich spezielle Aufgaben für die BA nach Sondergesetzen. Die Finanzierung erfolgt im wesentlichen durch Beiträge (Arbeitnehmer / Arbeitgeber); hinzukommen ggf. Zuschüsse des Bundes nach Art. 120 GG. Weitgehend dezentrale Budgetkompetenzen werden ergänzt durch Eingliederungsbilanzen, durch welche die einzelnen Arbeitsämter Aufschluß über ihren Erfolg bei der aktiven Arbeitsförderung (Ermessensleistungen) gegen sollen. Die BA ist eine bundesunmittelbare (rechtsfähige) —> Körperschaft des öffentlichen Rechts i.S.v. Art. 87 Abs. 2 GG mit Selbstverwaltung. Sie gliedert sich in die sog. Hauptstelle (Sitz: Nürnberg), 10 Landesarbeitsämter und 181 Arbeitsämter sowie weitere besondere Dienststellen (z.B. Fachhochschule Mannheim / Schwerin). Die Selbstverwaltung (Vorstand,
Bundesanstalt für Arbeitsschutz., Verwaltungsrat, Verwaltungsausschüsse) ist drittelparitätisch besetzt (-> Arbeitnehmer, -> Arbeitgeber, —> öffentliche Hand). Die —> Rechtsaufsicht über die BA führt das —> Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Lit.: H. Pfuhlmann / G. Spiegl: Die Bundesanstalt für Arbeit, Stuttgart 1987; Bundesanstalt für Arbeit (Hg.): Die Bundesanstalt für Arbeit stellt sich vor, Nürnberg 1996 (Eigenverlag).
Hans-Dieter Braun Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Die BAuA ist eine rechtsfähige Anstalt des —> Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Sie entstand durch die Fusion der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin. Die Aufgaben der BAuA gelten v.a. der Unterstützung des BMA in allen Fragen des Arbeitsschutzes, einschließl. des medizinischen Arbeitsschutzes, Beobachtung und Analyse der Arbeitssicherheit, der Gesundheitssituation und der Arbeitsbedingungen in Betrieben und Verwaltungen; Entwicklung von Problemlösungen unter Anwendung sicherheitstechn. und ergonomischer Erkenntnisse sowie epidemiologischer und arbeitsmedizinischer Methoden; Erstellung von Beiträgen für die präventive Gestaltung von Arbeitsbedingungen, für die Bekämpfung arbeitsbedingter Erkrankungen einschließl. Berufskrankheiten und für die arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen; Auswertung der wissenschaftl. und praktischen Entwicklungen auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes im In- und Ausland; Förderung der Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse durch Veröffentlichungen, Mitarbeit bei der Regelsetzung, Entwicklung von Ausund Fortbildungsmaßnahmen, Ausstellungen etc.; Anmeldestelle nach dem —> Chemikalienrecht, Wahrnehmung von Aufgaben nach dem Gerätesicherheitsgesetz; Zentrum der Internationalen Dokumentationsstelle für Arbeitsschutz (CIS) beim Internationalen Arbeitsamt in Genf, Dt. Arbeitsschutzausstellung (DASA).
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Bundesanstalt für Geowissenschaften
Bundesanstalt für Güterfernverkehr
Dementsprechend konzentrieren sich die Arbeiten der BAuA v.a. auf folgende Fachbereiche: Verbesserung der Datenlage im Arbeitsschutz; Unterstützung und Fortentwicklung der Arbeitsschutzsysteme; Gestaltung von Arbeitsstätten, -platzen, -mitteln, Anlagen und Verfahren; Belastungsfaktoren (chemische, biologische, physikalische, physische und psychische) und deren gesundheitliche Wirkung; Gestaltung der Arbeitsorganisation; sozialer Arbeitsschutz, epidemiologische Analyse von Einflüssen der Arbeit auf Morbidität und Mortalität; Prävention wichtiger arbeitsbedingter Erkrankungen (Muskel-Skelett-System, Herz-KreislaufSystem, Atmungssystem, Haut, Nervensystem); Methoden, Organisation und Qualität des betrieblichen Gesundheitsschutzes. Die Arbeitsergebnisse werden in der Forschungsberichtsreihe der Bundesanstalt, durch Vorträge anläßlich nationaler und internationaler Kongresse sowie durch Fachaufsätze der Öffentlichkeit vorgestellt.
T. Z.
HgBundesanstalt f ü r Geowissenschaften und Rohstoffe Die BGR ist eine nachgeordnete Behörde im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums für Wirtschaft mit Sitz in Hannover und Außenstelle in Beri, sowie seismologischem Zentralobservatorium in Gräfenberg bei Erlangen. Aufgaben der BGR sind: Sammlung und Auswertung von Grunddaten über die Rohstoffsituation in Dtld., die regionale Verteilung der Rohstoffe in der Welt, die vorhandenen Vorräte und die Ein- und Ausfuhrsituation für Produzenten und Verbraucher; wie z.B. durch jährlichen Bericht zur Rohstoffsituation. Beratung aller Bundesministerien in rohstoffwirtschaftl. Fragen. Untersuchungen in den Bereichen Grundwasser, Umwelt- und Bodenschutz einschließl. Endlagerung von Abfallen. Meeres- und Polarforschung, Entwicklungsarbeiten für Geräte zur Suche mineralischer Rohstoffe, internationale geowissenschaftl. Zusammenarbeit.
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Bundesanstalt f ü r Gewässerkunde Die BfG ist eine im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums für Verkehr eingerichtete Bundesoberbehörde mit Sitz in Koblenz und einer Außenstelle in Berlin. Sie ist das wissenschaftl. Institut des —> Bundes für die Forschung auf den Gebieten Gewässerkunde, Wasserwirtschaft und Gewässerschutz und berät die Bundesministerien und deren nachgeordnete Dienststellen in Grundsatz- und Einzelfragen. Die BfG berät gleichermaßen die Behörden der Wasser- und Schiffahrtsverwaltung (WSV) gem. § 45 Abs. 3 Bundeswasserstraßengesetz im Rahmen der Planung, des Ausbaus und Neubaus sowie des Betriebes und der Unterhaltung der -» Bundeswasserstraßen. Sie nimmt insbes. folgende Aufgaben wahr: Klärung und Lösung von Zielkonflikten zwischen Verkehrsaufgaben und wasserwirtschaftl. und einerseits ökologischen Funktionen von Bundeswasserstraßen andererseits; Weiterentwicklung und Anwendung wissenschaftl. Methoden zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit des Verwaltungshandelns; Aufstellen wasserwirtschaftl. und ökologischer Problem-Prognosen; Erarbeitung anwendungsorientierter Empfehlungen; Durchführung der Hauptnivellements an den Bundeswasserstraßen; Erarbeitung von Grundlagen für Untersuchungen der —> Umweltverträglichkeit. Im Rahmen der Aufgaben des Strahlenschutzvorsorgegesetzes vom 19.12.1986 ist die BfG außerdem für radiologische Untersuchungen von Wasser, Schwebstoffen und Sediment in den Bundeswasserstraßen (außer Küstengewässem) zuständig. Die Anstalt wertet die wissenschaftl. Erkenntnisse und Erfahrungen dös In- und Auslandes aus und arbeitet in einschlägigen nationalen und internationalen Organisationen und Gremien mit. HgBundesanstalt für Güterfernverkehr —> Bundesamt für Güterverkehr
Bundesanstalt für Landwirtschaft...
Bundesanstalt für StraDenwesen Hg.
Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung Die BLE ist als Anstalt des öffentlichen Rechts durch das Gesetz über die Errichtung der BLE vom 2.8.1994 mit Sitz in Frankfurt/M. errichtet worden. Sie hat die Aufgaben der ehemaligen Bundesanstalt für landwirtschaftl. Marktordnung und des ehemaligen Bundesamtes für Ernährung und Forstwirtschaft übernommen. Die BLE ist Marktordnungsstelle für die in der -» Europäischen Union bestehenden gemeinsamen Marktorganisationen für Getreide, Reis, Trockenfutter, Zucker, Obst und Gemüse, Verarbeitungserzeugnisse aus Obst und Gemüse, lebende Pflanzen und Waren des Blumenhandels, Saatgut, Flachs und Hanf, Hopfen, Wein, Weinalkohol, Rind-, Schweine- und Schaffleisch, Milch und Milcherzeugnisse, Fischereierzeugnisse sowie Teilbereiche aus der gemeinsamen Marktorganisation für Fette. Die BLE nimmt Kassenkredite auf zur Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik, auch soweit sie für die Durchführung der Maßnahme nicht zuständig ist, und wird aufgrund des Ernährungssicherstellungsgesetzes und des Ernährungsvorsorgegesetzes bei der zentralen Planung und Feststellung von Erzeugung, Beständen und des Verbrauchs tätig. Darüber hinaus beschafft, hält und verwertet die BLE Vorräte an Ernährungsgütem und Futtermitteln im Rahmen einer allgemeinen Vorratshaltung und Nahrungsmittelbestände der Zivilen Notfallreserve und ist Genehmigungsstelle für den grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungsverkehr mit Erzeugnissen der Ernährungs-, -> Land- und —> Forstwirtschaft. Weiterhin erhebt die BLE -> Beiträge für den Absatzförderungsfonds der Land- und Emährungswirtschaft und Abgaben nach dem Forstabsatzfondssowie nach dem Fischwirtschaftsgesetz und ist zuständig für die Erteilung von Fangerlaubnissen nach § 3 Seefischereigesetz und die Überwachung der Seefischerei außerhalb des Küstenmeeres.
Bundesanstalt für Materialprüfung Die BAM ist eine Bundesbehörde im Geschäftsbereich des -» Bundesministeriums für Wirtschaft mit Sitz in Beri, und Nachfolgeinstitution des 1870 gegründeten Staatl. Materialprüfungsamtes. Aufgaben der BAM mit ca. 1700 Mitarbeitern sind: Entwicklung der dt. Wirtschaft mit hoheitlichen Funktionen bei der techn. Sicherheit, besonders im Gefahrstoff- und Gefahrgutbereich; dabei u.a. Vornahme von Testreihen, Genehmigung von Gefahrgutverpackungen. Mitarbeit bei der Festlegung von Sicherheitsstandards und Grenzwerten, Beratung der —> Bundesregierung, der —• Wirtschaft sowie internationaler Organisationen im Bereich Materialtechnik und Chemie, Fachgutachten für —> Behörden und —> Gerichte. Arbeitsgebiete: Analytische Chemie, Chemische Sicherheitstechnik, Gefahrgutumschließungen, Umweltverträglichkeit von Materialien, Werkstofftechnik, Funktion von Polymeren, Bauwerkssicherheit. T.
Z.
Bundesanstalt für Straßenwesen Die BASt ist ein techn.-wissenschaftl. Institut mit Sitz in Bergisch-Gladbach und untersteht dem - » Bundesministerium für Verkehr. 1951 begann die Arbeit der BASt mit Forschungen im Straßenbau. 1965 erhielt sie den Auftrag, über den eigentlichen Straßenbau hinaus auch auf die Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Straßen und auf die Sicherheit des Verkehrs hinzuwirken. 1970 wurde sie aufgrund eines Beschlusses des —> Deutschen Bundestages als zentrale Stelle für die Unfallforschung bestimmt. Mit der —» Deutschen Einheit im Jahr 1990 erweiterten sich die Aufgaben der BASt, hierfür wurde eine Außenstelle in Beri, eingerichtet. Für Fragen des Winterdienstes und der Straßenunterhaltung besteht eine Außenstelle in Inzell. Die BASt gibt dem Bundesministerium für Verkehr in techn. und auch in verkehrspolit. Fragen wissen-
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BvS
Bundesanwaltschaft
schañl. gestützte Entscheidungshilfen und wirkt maßgeblich bei der Ausarbeitung von Vorschriften und Normen mit. In Problemkreisen besonderer Bedeutung leistet sie eigene Forschungsarbeit. Auch Beratungs-, Prüf- und Gutachtertätigkeit sind Teil der Aufgaben der BASt; dies gilt in begrenztem Umfang auch für Länder der Dritten Welt. Auf den meisten ihrer Arbeitsgebiete wirkt die BASt mit anderen Forschungsstellen, v.a. mit den Instituten der Universitäten und —> Hochschulen, arbeitsteilig zusammen. Sie steht in enger Verbindung mit der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen, dem Dt. Verkehrssicherheitsrat, den Länderbehörden und der einschlägigen Industrie. Für das Straßenwesen werden in der —» Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr über 20 Mrd. DM ausgegeben. Der Volkswirtschaft! Schaden, den Verkehrsunfälle jährlich verursachen, liegt nach neueren Schätzungen bei etwa 50 Mrd. DM. HgBundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) —» Treuhandanstalt Bundesanstalt für Wasserbau Die B. ist eine Oberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr. Sie besteht aus der Dienststelle Karlsruhe, einer Außenstelle Küste in Hamb, und einer Außenstelle Beri. Die B. ist das zentrale Institut der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung (WSV) des —> Bundes für die gesamte praktische und wissenschaftl. Versuchs- und Forschungsarbeit auf den Gebieten Wasserbau, Geo-, Bautechnik, Maschinenwesen und Informationstechnik. 1948 gegründet ist die B. fachliches Nachfolgeinstitut der Preuß. Versuchsanstalt für Wasser-, Erd- und Schiffbau, Beri, von 1903; am 3.10.1990 erfolgte die Zusammenführung der Forschungsanstalt für Schiffahrt, Wasser- und Grundbau (FAS) in Beri, mit der B. Hg. 124
Bundesanstalt Technisches Hilfswerk Das THW ist die staatl. Katastrophenschutzorganisation der -> Bundesrepublik Deutschland und dem -> Bundesministerium des Innern nachgeordnet. Das THW leistet techn. Hilfe in den Bereichen —» Zivilschutz, Katastrophenschutz und internationale humanitäre Hilfe. Die Schwerpunkte liegen bei Rettungs- und Bergungsarbeiten sowie der Überbrückung oder Reparatur von Infrastruktureinrichtungen (Wasser, Elektrizität, Abwasser) nach Schadensereignissen. Die —» Bundesregierung beauftragt das THW mit humanitärer Hilfe in Krisensituationen wie Erdbeben und Dürrekatastrophen oder zur Linderung von Flüchtlingselend. Regelmäßig sind diese Einsätze Teil von Hilfsprogrammen der -» Europäischen Union oder der —> Vereinten Nationen. Bis heute hat das THW in über 500 Auslandseinsätzen und unzähligen Inlandseinsätzen geholfen. Das THW verfügt über ca. 44.000 aktive ehrenamtliche Helfer (-> s.a. Ehrenamtliche Tätigkeit), 17.000 Reservehelfer, 10.000 Junghelfer und 845 hauptamtliche Mitarbeiter. In der gesamten BRD unterhält das THW 810 techn. Züge jeweils mit 40 aktiven Helfern. Jeder Zug besteht aus einem Zugtrupp mit 4 Helfern und 3 spezialisierten Fachgruppen mit je 12 Helfern. Schwerpunkte dieser Fachgruppen sind Bergung, Räumung, Elektroversorgung, Wasserschaden / Pumpen, Führung und Kommunikation, Brückenbau, Infrastruktur, Wassergefahren, Ortung, Logistik, Trinkwasserversorgung, Ölschaden oder Bergungseinsätze im Ausland. Jede Einheit besitzt spezielle Ausstattung, wie z.B. Gerätekraft- und Mannschaftstransportwagen, Kipper, Stromerzeuger, Trinkwasseraufbereitungsanlagen, Kräne, Bergungsräumgeräte und Boote. Insgesamt stehen dem THW etwa 6.000 Fahrzeuge zur Verfügung. HgBundesanwaltschaft Die B. ist in der
BAG SO
Bundesanwaltschaft Strafgerichtsbarkeit des -> Bundes die -» Staatsanwaltschaft beim —> Bundesgerichtshof (§ 142 Abs. 1 Nr. 1 GVG). Ihr Leiter ist der —> Generalbundesanwalt. Er und die ihm unterstellten Bundesanwälte sind in erster Linie in den Revisions- und Beschwerdeverfahren vor dem BGH tätig. Ansonsten ist die B. zur Verfolgung bestimmter besonderer Delikte zuständig. Dazu gehören etwa die Staatsschutzdelikte (Vorbereitung eines Angriffskrieges, Hochverrat, Taten gegen Verfassungsorgane oder Vertreter ausländischer Staaten etc.), die das Gesetz zur allgemeinen Einführung eines 2. Rechtszuges in Staatsschutz-Strafsachen von 1969 erstinstanzlich den Oberlandesgerichten und in Bay. dem Obersten Landesgericht zugewiesen hat. Für die Aburteilung war bis dahin der BGH zuständig, gegen dessen Entscheidung es keine -> Rechtsmittel gab. Durch die Übertragung auf die Landesgerichte, die insofern im Wege der Organleihe Bundesgerichtsbarkeit ausüben ( § 1 2 0 Abs. 6 GVG), wird eine -> Revision möglich. § 74a Abs. 2 GVG gibt der B. die Befugnis, die Verfolgung weiterer besonders bedeutender Straftaten zu übernehmen, wozu z.B. der Friedensverrat, Fälle der Gefährdung des demokrat. -> Rechtsstaates oder der Landesverteidigung, Verstöße gegen Vereinsverbote (-» s.a. Versammlungsfreiheit), Verschleppung und polit. Verdächtigung zählen. Die Übernahme begründet zugleich die Zuständigkeit der Oberlandesgerichte anstelle der Staatsschutzkammern der -> Landgerichte. Gleichermaßen kann sich die B. gem. § 120 Abs. 2 GVG bei bestimmten Verbrechen der organisierten Kriminalität einschalten, sofern sie bestimmt und geeignet sind, Bestand, äußere oder —• innere Sicherheit der BRD, Verfassungsgrundsätze oder die Sicherheit der auf Bundesgebiet stationierten NATOTruppen zu beeinträchtigen. I.w.S. werden ebenfalls der Oberbundesanwalt als Vertreter des öffentl. Interesses vor dem Bundesverwaltungsgericht und der -> Bundesdisziplinaranwalt zur
B. gerechnet. Lit: L. Marlin: Die Bundesanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, in: Dt. Richterzeitung 1975, S. 314ff.
Tobias Linke Bundesanzeiger ist das Publikationsorgan des Bundes. Der B. enthält v.a. amtliche und nichtamtliche Bekanntmachungen, so die -> Verwaltungsvorschriften der Bundesministerien und Veröffentlichungen, welche aufgrund von Gesetzen, Verträgen, Statuten oder Satzungen öffentl. zu machen sind. Herausgegeben wird der B. vom -> Bundesministerium der Justiz (s.a. -> Bundesgesetzblatt —> s.a. Staatsanzeiger). HgBundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) e.V. Die BAGSO tritt als Interessenvertretung der älteren Generationen in Dtld. v.a. dafür ein, daß jedem Menschen ein selbstbestimmtes Leben im Alter möglich ist und die dafür notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Sie unterstützt die aktive gesellschafll. Beteiligung älterer Menschen, u.a. durch folgende Zielsetzungen: Verbesserung der Lebenslage älterer Menschen, Stärkung der Verbraucherinteressen von Senioren, Erhaltung der Kompetenzen und Steigerung der persönlichen Leistungsfähigkeit sowie Förderung der Solidarität zwischen den Generationen. Derzeit arbeiten in der BAGSO 55 bundesweit tätige Verbände, Organisationen und Initiativen der freien Altenarbeit zusammen, damit vertritt die BAGSO mehr als 9 Mio. ältere Menschen in Dtld.; die BAGSO versteht sich als Forum verschiedener Ansätze der Arbeit mit älteren Menschen. BAGSOVorstand, Bundesgeschäftsstelle und spezifische Fachausschüsse gewährleisten die inhaltliche Koordinierung der gemeinsamen Anliegen und deren Vertretung gegenüber Parlament und Regierung, um so in der Altenarbeit und Altenpolitik auf allen Ebenen beratend und verbessernd zu 125
Bundesarbeitsgericht wirken. Die sie begleitende Öffentlichkeitsarbeit macht die Situation der Senioren in der Gesellschaft deutlich. HgBundesarbeitsgericht - » Arbeitsgerichtsbarkeit Bundesarbeitsminister /-ium -> Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Bundesaufsicht Ein Rechtsinstitut des bundesstaatl. -» Verfassungsrechts, das die Oberordnung der zentralen Ebene über die Untereinheiten sichern soll, um für die zentral beschlossenen Rechtsnormen einheitliche Geltung im ganzen —» Bundesgebiet durchzusetzen. Solange nicht sicher ist, daß die —> Bundesgesetze ohne weiteres überall beachtet und umgesetzt werden, ist eine solche Befugnis unverzichtbar. Nach den Erfahrungen der bestehenden—» Bundesstaaten genügt es aber im allgemeinen, daß die B. als fleet in being, also als rechtl. gesicherte Möglichkeit vorgesehen ist. Nur ganz selten wird von ihr Gebrauch gemacht. So ist noch niemals ein förmliches Verfahren der B. eingeleitet worden. Unter der —> Weimarer Reichsverfassung war die Reichsaufsicht sehr viel stärker ausgestattet und wurde u.a. beim „Preußenschlag" der Reichsregierung 1932 genutzt. Im —> Grundgesetz ist die B. in Art. 84 Abs. 3 und 4 geregelt. Sie ist - anders als nach der —> Weimarer Reichsverfassung nur „abhängige" Aufsicht, nicht „selbständige", richtet sich also nur auf die korrekte Ausführung von Bundesgesetzen, nicht der Verfassung und nicht anderer Entscheidungen der —> Staatsorgane des Bundes. Anders ausgedrückt: Die B. erfaßt nur das verwaltungsmäßige Handeln der - » Länder. Sie ist reine —> Rechtsaufsicht und in ihren Mitteln auf Beobachtung und das -> Auskunftsrecht beschränkt. Äußerstenfalls kann die —> Bundesregierung Beauftragte zu den Landesbehörden entsenden, die konkrete Vor-
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BAKred gänge untersuchen und darüber berichten. Eine solche Untersuchung kann mit der Feststellung enden, daß Mängel bei der Ausführung der Bundesgesetze vorliegen (Mängelfeststellung und -beanstandung, sog. Mängelrüge). In diesem Fall kann die Bundesregierung, aber auch das Land beim -> Bundesrat einen förmlichen Beschluß darüber beantragen, ob das Land das Recht verletzt hat. Gegen diesen Beschluß des Bundesrates kann das —> Bundesverfassungsgericht angerufen werden (Art. 84 Abs. 4 GG). Weisungen kann die Bundesregierung nur erteilen, wenn sie dazu durch Bundesgesetz besonders ermächtigt worden ist (Art. 84 Abs. 5 GG). Lit: H.P. Bull: Kommentierung von Art. 84 GG, in: Alternativkomm, zum GG, Neuwied 2 1989 Rn. 47-63; Maunz /Dürig, Kommentierung von Art. 84GG,Rn. 124-180.
Hans Peter Bull Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen Das BAKred ist eine dem —> Bundesfinanzministerium nachgeordnete obere -» Bundesbehörde mit Sitz in Bonn. Das BAKred übt die Solvenzaufsicht über die in Dtld. tätigen Kreditinstitute und Finanzdienstleistungsinstitute aus. Rechtsgrundlage für die Tätigkeiten des BAKred ist im wesentlichen das KWG. Ziel der Tätigkeiten des BAKred ist es, Mißständen im Kreditwesen entgegenzuwirken, welche die Sicherheit der den Instituten anvertrauten Vermögenswerte gefährden, die ordnungsgemäße Durchführung der Bankgeschäfte beeinträchtigen oder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft herbeiführen können. Das BAKred übt seine Tätigkeiten aus verwaltungsökonom. Gründen und wegen vielfältiger Berührungspunkte mit der Geldpolitik in Zusammenarbeit mit der -> Deutschen Bundesbank aus, wobei schwerpunktmäßig die formelle Bankenaufsicht vom BAKred, die materielle Bankenaufsicht von der Dt. Bundesbank wahrgenommen werden. An Kompetenzen stehen dem BAKred Global- und Einzelmaßnahmen zur Regelung bestimmter bankbetriebli-
BAV
BAV
cher Tatbestände zu. Daneben erfolgt die laufende Überwachung der Solvenz der Institute durch Auswertung von Jahresabschlüssen, Monatsausweisen und spezieller Meldungen im Hinblick auf bankenaufsichtsrechtl. Struktumormen. Zur Vereinheitlichung der Bankaufsichtsregeln auf internationaler Ebene ist das BAKred im sog. Baseler Ausschuß vertreten, einem bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel angesiedelten Gremium zur Koordination internationaler Bankaufsichtsfragen. Lit: V. Szagunn/K. Wohlschieß: Der Ordnungsrahmen für die Kreditwirtschaft im Oberblick, in: G. Obst / O. Hintner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, Stuttgart "1993, S. 259ff.
D. V. Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen Als Kaiserliches Aufsichtsamt fur Privatversicherung durch Reichsgesetz 1901 gegründet, ist das BAV heute eine obere Bundesbehörde im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums der Finanzen; Rechtsgrundlage für die Befugnisse ist das Versicherungs-Aufsichtsgesetz. Als Teil der Bundesverwaltung sind Einnahmen und Ausgaben, die zu 90% auf die beaufsichtigten Unternehmen umgelegt werden, im Bundeshaushalt festgelegt. Aufgaben: Zur Sicherstellung der dauernden Erfüllbarkeit der von den Versicherungsnehmern (VN) abgeschlossenen Versicherungsverträge und zur Wahrung der Belange der Versicherten sind Versicherungsgesellschaften der staatl. Aufsicht unterworfen. Das BAV führt die Aufsicht über die dt. Versicherungsunternehmen (VU). Dies gilt auch für deren Tätigkeit in den anderen Mitgliedsländern der —> EG. VU aus dem EG-Ausland werden hinsichtlich ihrer Tätigkeit in Dtld. von ihrer Heimataufsichtsbehörde überwacht (Sitzlandaufsicht). Die Versicherer erhalten eine Zulassung für die gesamte EG. Nur aufsichtsbehördlich zugelassenen Unternehmen ist das Versicherungsgeschäft gestattet. Bevor die Erlaubnis erteilt wird, sind
zahlreiche Voraussetzungen zu erfüllen (Satzung, Eigenkapitalausstattung, Fachkunde der Geschäftsleiter, Aktuare und Treuhänder, Solidität der Aktionäre, Rückversicherung). Die VU werden lfd. in rechtl., versicherungstechn. und finanzieller Hinsicht beaufsichtigt. Das BAV wacht auch darüber, daß die in Dtld. tätigen Unternehmen aus der EG die dt. Gesetze beachten. Im Rahmen der Finanzaufsicht erfolgt eine eingehende Kontrolle der Vermögensanlage der dt. VU und eine genaue Überprüfung des sehr weit gegliederten Rechnungsabschlusses mit einer Untersuchung der Aufwands- und Ertragslage. Alle VU werden in unregelmäßigen Abständen an ihrem Sitz von Prüfern des Aufsichtsamtes überprüft. Schließlich obliegt es dem BAV, Beschwerden der VN über ihre VU zu untersuchen und Mißständen abzuhelfen. Rd. 30.000 Anfragen und Beschwerden hat das BAV 1996 bearbeitet, da aus dem allgemeinen -> Petitionsrecht des Art. 17 GG die Verpflichtung des BAV für das Versicherungswesen folgt, Beschwerden in Versicherungsangelegenheiten entgegenzunehmen und sachlich zu prüfen. Die Beschwerdebearbeitung ist kostenlos. Das BAV fordert die Vorstände der betroffenen Unternehmen regelmäßig zu einer umfangreichen Stellungnahme zur jeweiligen Eingabe auf. Deshalb sollten Beschwerdeführer die VersicherungsscheinNummer und / oder die Schadennummer sowie eine kurze Begründung der Beschwernis angeben. Nach Prüfung der Stellungnahme und der vorgetragenen Beschwerdegründe kann das BAV dann im Rahmen seiner behördlichen Zuständigkeit eine Entscheidung treffen, über die der Beschwerdeführer in jedem Fall schriftlich in Kenntnis gesetzt wird. Entscheidungen des BAV in Beschwerdeangelegenheiten sind keine Verwaltungsakte und von daher nicht rechtsbehelfsfahig. Seit 1993 hat das BAV außerdem die Aufgabe, darüber zu wachen, daß die Lebensversicherer die Identifizierungspflichten nach dem Geldwäschegesetz beachten.
127
BAWe Neben diesen Aufgaben gehört zum Tätigkeitsbereich der Versicherungsaufsichtsbehörde die gutachtliche Äußerung über Fragen des privaten Versicherungswesens gegenüber Ministerien, anderen Behörden und Gerichten. Das Amt gibt seine Entscheidungen und Wahrnehmungen in den Veröffentlichungen (VerBAV) und im Jahres-Geschäftsbericht bekannt. Hg. Bundesaufsichtsamt für den Wertpapierhandel Das BAWe ist eine selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums der Finanzen. Es hat am 1.1.1995 seine Tätigkeit in Frankfurt/M. aufgenommen. Rechtl. Grundlage ist das Wertpapierhandelsgesetz (WpHG). Im wesentlichen werden folgende Aufgaben wahrgenommen: Verhinderung und Aufdeckung von Insidergeschäften, Überwachung der Adhoc-Publizität, Überwachung der Meldeund Informationspflichten bei Erwerb und Veräußerung von bedeutenden Stimmrechtsanteilen an börsennotierten Gesellschaften, Überwachung der Verhaltensregeln, internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wertpapierhandelsaufsicht, Hinterlegungsstelle von Verkaufsprospekten für Wertpapiere, die nicht zum Börsenhandel zugelassen sind. Mit der Errichtung des BAWe verfugt die Bundesrepublik über ein dreigliedriges Aufsichtssystem: l. Das BAWe mit zentraler Aufsichtsfunktion zur Sicherstellung der Integrität und Transparenz der dt. Wertpapiermärkte sowie des Anlegerschutzes, 2. die Börsenaufsichtsbehörden der Länder mit der Verantwortung für die Rechtsund Marktaufsicht, 3. die Handelsüberwachungsstellen als börseneigene Organe zur Kontrolle von Handel und Geschäftsabwicklung. Das BAWe wird im öffentl. Interesse tätig. Es verfügt über ein Rechenzentrum zur systematischen Auswertung der getätigten Wertpapiergeschäfte, die ihm vollständig und elektronisch zu melden sind. Für die Durchsetzung seiner Bestimmungen enthält das WpHG Straf-
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Bundesauftragsverwaltung (bei Insidergeschäften) und Bußgeldvorschriften. Die Behörde wird von einem Präsidenten geleitet. Ende 1997 verfügte sie über rd. 100 Beschäftigte in 3 Abt. en mit 11 Referaten. Hg. Bundesauftragsverwaltung Das Grundgesetz stellt in Art. 83 und 84 den Grundsatz auf, daß die -> Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheit durchführen. Daneben gibt es die bundeseigene Verwaltung und die B., die ausdrücklich normativ vorgesehen sein muß und deren Voraussetzungen in Art. 85 GG geregelt sind. Es wird unterschieden zwischen im GG vorgeschriebener, obligatorischer und fakultativer B., die durch Bundesgesetz aufgrund einer Ermächtigung des GG eingerichtet wird. Fälle obligatorischer B. sind die Verwaltung der Bundesautobahnen und sonstigen Bundesstraßen (Art. 90 GG) sowie der Vollzug von Bundesgesetzen, die Geldleistungen gewähren und von den Ländern ausgeführt werden, deren Ausgaben jedoch der —> Bund zur Hälfte oder mehr trägt (Art. 104a Abs. 3 GG). Einen Fall fakultativer B. ist in Art. 87c i.V.m. Art. 74 Nr. 1 la GG geregelt; danach kann eine B. durch zustimmungsbedürftiges —» Gesetz vorgesehen werden für die Ausführungen von Gesetzen über die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken. Inhaltlich zeichnet sich die B. dadurch aus, daß sie trotz der irreführenden Bezeichnung -> Landesverwaltung bleibt; die Länder entscheiden auch selbst über die Einrichtung der -> Behörden. Die Verwaltungsbehörden der Länder unterstehen jedoch der Aufsicht des Bundes, die - anders als in Art. 84 Abs. 3 GG, nach der die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen - sowohl als —» Rechtsaufsicht wie auch als —> Fachaufsicht ausgestaltet ist und sich somit auch auf die Zweckmäßigkeit erstreckt. Die —» Bundesregierung ist darüber hinaus befugt, mit Zustimmung des
Bundesausbildungsförderungsgesetz —> Bundesrates -> Verwaltungsvorschriften zu erlassen. Konkrete Fälle der Wahrnehmung der Weisungskompetenz des Bundes sind bei der Ausführung des Atomgesetzes (—> Atomrecht) entstanden, bei der es aufgrund unterschiedlicher energiepolit. Vorstellungen der Bundesregierung einerseits und einiger —> Landesregierungen andererseits zu Meinungsverschiedenheiten gekommen ist. Nach der Rechtsprechung des —» Bundesverfassungsgerichts haben die Länder im Falle der B. Weisungen des zuständigen —> Bundesministers auch dann auszuführen, wenn sie diese inhaltlich für rechtswidrig halten. Ein Land kann lediglich geltend machen, daß die Weisung im konkreten Fall verfassungswidrig sei. Nach Art. 104a Abs. 2 GG hat der Bund die sich aus dem Vollzug der B. ergebenden Ausgaben zu tragen. LU.: W. Pauly: Anfechtbarkeit und Verbindlichkeit von Weisungen in der Bundesauftragsverwaltung, Berlin 1989; T. Tschentscher: Bundesaufsicht der Bundesauftragsverwaltung, BadenBaden 1992. Otto
Kringe
Bundesbank setzen. Nationale Rechtsgrundlage sind das Außenwirtschaftsgesetz und die Außenwirtschaftsverordnung. T.
Z.
Bundesausführungsbehörde für Unfallversicherung mit Sitz in Wilhelmshaven wurde nach der Überführungsverordnung vom 14.3.1951 mit Wirkung vom 1.4. 1950 in die —> Verwaltung des -> Bundes übernommen. Sie ist Bundesoberbehörde mit begrenzter Selbstverwaltung durch Vertreterversammlung und Vorstand, die entsprechend den für die eigenständigen rechtsfähigen -> Sozialversicherungsträger geltenden Vorschriften gebildet werden. Die Behörde erledigt nach §§ 115, 125 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes vom 7.8.1996 die Aufgaben des Bundes und der -» Bundesanstalt für Arbeit als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung auf den Gebieten der allgemeinen, der landwirtschaftl. und der See-Unfallversicherung. Die —> Behörde hat Leistungen nach der gesetzlichen Unfallversicherung festzustellen und zu gewähren. Hg-
Bundesausbildungsförderungsgesetz BAföG Bundesausfuhramt Das BAFA ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des -> Bundesministeriums für Wirtschaft mit Sitz in Eschborn, gegründet 1992 mit ca. 400 Mitarbeiter. Aufgaben des BAFA sind: Verwaltungs- und Überwachungsaufgaben im Ausfuhrbereich (Exportkontrolle), insbes. bei der Ausführ von Kriegswaffen und sog. „Dual-use-Gütern", d.h. Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Die EG-Rats-Verordnung Nr.3381/94 vom 19.12.1994 legt dabei für alle Mitgliedstaaten unmittelbar geltend einheitliche Genehmigungspflichten und -verfahren fest. Hinzu kommt u.a. die Kontrolle von Embargos, die durch unmittelbar geltende —> EG-Verordnungen ergehen und Resolutionen der —> Vereinten Nationen um-
Bundesausgaben plan
—> Bundeshaushalts-
BundesauOenministerium —> Auswärtiges Amt Bundesautobahnen sind -> Bundesfernstraßen, die nur für den Schnellverkehr mit Kraftfahrzeugen bestimmt und so angelegt sind, daß sie frei von höhengleichen Kreuzungen und für Zu- und Abfahrt mit besonderen Anschlußstellen ausgestattet sind; sie sollen getrennte Fahrbahnen für den Richtungsverkehr haben (Bundesfernstraßengesetz FStrG i.d.F. v. 19.4.1994 BGBl. IS. 854). Hg
Bundesbahn —> Deutsche Bahn AG Bundesbank —> Deutsche Bundesbank 129
Bundesbaugesetz Bundesbaugesetz-* Baurecht Bundesbaubehörde —> Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Bundesbauministerium -> Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Bundesbeauftragte Der Beauftragte unterstützt die Bundesregierung in ihrem Bemühen, behinderte Menschen in Arbeit, -> Beruf und —> Gesellschaft einzugliedern. Er soll nicht die vielfältigen Einrichtungen ersetzen, die sich erfolgreich der Rehabilitation Behinderter widmen. Die Arbeit soll darauf angelegt sein, die Behinderten, ihre Familien und Verbände in ihren Bemühungen zu unterstützen. Hg-
Bundesbeamte -> Beamte Bundesbeauftragte / -r für Aussiedlerfragen Der B. wurde durch Beschluß der —> Bundesregierung vom 28.9.1988 eingesetzt. Ihm obliegen v.a. die ressortübergreifende Koordination von Aufnahme und Eingliederung von Aussiedler, die Abstimmung der Maßnahmen der Regierung mit denen der Länder sowie die Verbindung zu den im Eingliederungsbereich tätigen Einrichtungen wie z.B. -» Kirchen, —» Kommunen, —> Verbänden zu festigen und die Koordinierung der Unterstützungsmaßnahmen zugunsten der dt. -> Minderheiten in Osteuropa sowie den Nachfolgestaaten der ehemaligen UDSSR. HgBundesbeauftragte / -r für die Belange der Behinderten Seit Dezember 1980 gibt es eine/n Beauftragte/n der -» Bundesregierung für die Belange der Behinderten. Das —> Amt wurde aufgrund einer Kabinettsentscheidung vom 16./17.12. 1980 mit Sitz in Bonn eingerichtet. Organisatorisch gehört der Bundesbeauftragte zum Geschäftsbereich des —» Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung; fachlich ist er der Bundesregierung gegenüber verantwortlich. Zur Unterstützung des ehrenamtlich tätigen Beauftragten (-» ehrenamtliche Tätigkeit) wurde 1981 ein interministerieller Arbeitsstab gebildet, dem heute 12 Mitarbeiter angehören, davon 5 im Büro Beri.; der Auftrag besteht darin, für die Belange behinderter Mitbürger zu sensibilisieren, zu beraten und Vorschläge zu entwickeln.
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Bundesbeauftragte / -r für den Datenschutz —> Datenschutzbeauftragte / -r Bundesbeauftragte / -r für Drogenfragen Das Amt des Drogenbeauftragten wurde durch Beschluß des Kabinetts vom 27.9.1992 eingerichtet, um einen verbesserten Informationsaustausch und eine stärkere Abstimmung der Maßnahmen der Ministerien zu erreichen. Der Drogenbeauftragte berät und koordiniert die Aktivitäten der -> Bundesregierung bei der Rauschgiftbekämpfung sowie bei der Hilfe für Rauschgiftgefährdete und abhängige. Zudem ist er Ansprechpartner für die - » Öffentlichkeit, für im Drogenbereich engagierte —> Institutionen und Organisationen sowie für die —> Medien. Daneben stellen die Suchtprävention und die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen drogenpolit. Forderungen sowohl aus dem polit. Raum wie auch von Seiten der Drogenhilfe-Institutionen einen besonderen Arbeitsschwerpunkt dar. HgBundesbeauftragte / -r für den Mittelstand Durch Beschluß des Bundeskabinetts bestellter —> Parlamentarischer Staatssekretärs im —» Bundesministerium für Wirtschaft mit besonderen polit. Koordinierungsaufgaben in Bezug auf den industriellen Mittelstand. Der Beauftragte fungiert ressortübergreifend als Ansprechpartner der —> Bundesregierung für Unternehmen, Interessenverbände und Selbstverwaltungskörperschaften der mittelständischen Wirtschaft. Aufgaben u.a.:
Bundesbeauftragte
BStU
Entwicklung und Koordination von Konzepten zu Verbesserungen im steuerlichen Bereich, zur Förderung des Mittelstandes in den neuen Bundesländern sowie bei Initiativen für mehr Existenzgründungen und unternehmerische Selbständigkeit. T. Z.
Bundesbeauftragte / -r Neue Länder ist ein durch Beschluß des Bundeskabinetts bestellter —> Staatssekretär im —> Bundesministerium für Wirtschaft mit besonderen polit. Koordinierungsaufgaben und Berichtspflichten in Bezug auf die neuen Bundesländer (nBL). Er koordiniert ressortübergreifend die Maßnahmen der —> Bundesregierung für den wirtschafll. Aufbau in den nBL. Dadurch sollen Einzelmaßnahmen der fachlich zuständigen -> Ministerien - z.B. bei der Wirtschaftsförderung, der Privatisierung ehemaliger Staatsbetriebe, dem Eigentumsrecht, der Forschungsförderung, der Arbeitsmarktpolitik, dem Verkehrswegebau, der Telekommunikation u.a. - besser aufeinander abgestimmt werden. T.
Z.
Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR - BStU (urspr. „GauckBehörde") Die -> Behörde erfaßt und verwahrt sämtliche Unterlagen des früheren Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) und seiner Vorgängerorganisation nach Maßgabe des am 29.12.1991 in Kraft getretenen Stasi-UnterlagenGesetzes (StUG). Ziel dieses Gesetzes ist es, die persönliche, polit., histor. und jurist. Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS zu gewährleisten. Der Gesetzgeber wollte mit der Verabschiedung des STuG und der Einrichtung der Behörde die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in der DDR erleichtern. Die Diskussion um diese Vergangenheit soll anhand der Fakten geführt werden können. Er hat sich mit seiner Entscheidung weitgehend an die Vorgaben gehalten, die noch im Jahre 1990 von der frei gewählten Volks-
kammer der DDR und von Vertretern der Bürgerkommittees formuliert worden waren. Das einstige Herrschaftswissen den Bürgern zugänglich zu machen, war eine der zentralen Forderungen der Kommittees gewesen, die mit der Besetzung der Gebäude der Staatssicherheit die Unterlagen vor der Vernichtung bewahrt hatten. Die Behörde ermöglicht den —> Bürgern Einsicht in die zu ihnen geführten Unterlagen. Sie stellt außerdem die Unterlagen für Verfahren zur Rehabilitierung und Wiedergutmachung und zur Strafverfolgung zur Verfügung. Sie hilft bei der Überprüfung bestimmter, im Gesetz beschriebener Personengruppen auf ihre Eignung für ein —> Amt oder eine Arbeitsstelle (insbes. im —> öffentlichen Dienst). Die Behörde ermöglicht Forschem und der Presse den im Gesetz vorgesehenen Zugang zu den Akten. Sie ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des -> Bundesministeriums des Innern und entstand im Zuge der Diskussion über die weitere Verwendung der Stasi-Unterlagen mit dem Beitritt der 5 neuen Bundesländer im Oktober 1990. Ihr Leiter wird vom —> Bundestag gewählt und ist in Ausübung seines Amtes unabhängig. Er untersteht keiner -> Fachaufsicht, sondern lediglich der -> Rechtsaufsicht der -> Bundesregierung. Joachim Gauck, der derzeitige Bundesbeauftragte, wurde am 3.10.1990 zum Sonderbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit ernannt und mit der Verkündung des StUG als Bundesbeauftragter bestätigt. Seine Wahl in dieses Amt für weitere 5 Jahre erfolgte am 21.9.1995. Er hatte zuvor als Sonderbeauftragter der Volkskammer der DDR die Stasi-Unterlagen bearbeitet. Vergleichbare Institutionen in anderen Ländern gibt es nicht. Ähnliche Ansätze einer Offenlegung der geheimpolizeilichen Repression werden allerdings in einer Vielzahl von Staaten verfolgt, die den Übergang von einer Diktatur zur Demokratie zu bewältigen haben (so in Südafrika mit der „truth commission", in 131
Bundeseigene Verwaltung
Bundesbeauftragte Tschechien oder Ungarn, in lateinamerik. Ländern wie Guatemala). Lit.: T. Garton Ash: Die Akte „Romeo", München 1997; J. Gauck: Die Stasi Akten, Reinbek 1992; K.-D. Henke / R. Engelmann (Hg.): Aktenlage. Die Bedeutung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes für die Zeitgeschichtsforschung, Berlin 1994; HJ. Schädlich (Hg.): Aktenkundig, Reinbek 1993. Joachim Gauck Bundesbeauftragte / -r für den Zivildienst Der B. ist dem -> Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zugeordnet und vertritt dieses in Fragen des Zivildienstes gegenüber der -> Öffentlichkeit. Der B. besucht regelmäßig die Beschäftigungsstellen, spricht mit Zivildienstleistenden und informiert sich über die Lage und Durchführung des Zivildienstes vor Ort. Ferner hält er Kontakt zu Vertrauensmännern und Vorgesetzten der Zivildienstleistenden. Zu seinen Aufgaben gehört außerdem der Vorsitz im Beirat für den Zivildienst, indem neben den -> Ländern, den —> Kirchen, den —> Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden die Verbände der Beschäftigungsstellen sowie Zivildienstleistende vertreten sind. Auch unterrichtet der B. lfd. das Ministerium über seine Arbeit und berät in Fragen des Zivildienstes (-> Bundesamt für den Zivildienst, —> s.a. Kriegsdienstverweigerung). Hg. Bundesbedienstete Zu den Beschäftigten des -> Bundes und der bundesunmittelbaren -> Körperschaften, -> Anstalten oder - » Stiftungen gehören -> Beamte, —» Angestellte und -> Arbeiter. Während die Beamten als immittelbare (Dienstherr: Bund) oder mittelbare (Dienstherr: bundesunmittelbare Körperschaften etc.) Bundesbeamte in einem öffentl.-rechtl. Dienst- und Treueverhältnis stehen, ist das Rechtsverhältnis der Arbeitnehmer (Angestellte, Arbeiter) zu ihrem Arbeitgeber (Dienstherrn) als privatrechtl. Arbeitsvertrag ausgestaltet.
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H.-J. Β Bundesbehörde, oberste
Behörde
Bundesberggesetz -> Bergrecht Bundesbesoldungsgesetz recht —> Besoldungsrecht
->•
Beamten-
Bundesdatenschutzgesetz —> Datenschutz -> Datenschutzbeauftragte/r Bundesdienstflagge —> Staatssymbole Bundesdisziplinaranwalt Der B. hat die Aufgabe, die einheitliche Ausübung der Disziplinargewalt im Geltungsbereich des Bundesbeamtengesetzes ( - » Beamtenrecht) auf der Grundlage der Bundesdisziplinarordnung zu sichern (BDO i.d.F. v. 20.6.1976 zuletzt v. 13.8.1997, BGBl. I S . 2038). Er hat das Interesse des -> öffentlichen Dienstes und der Allgemeinheit im Disziplinarverfahren wahrzunehmen. Disziplinarsenate bestehen beim Bundesverwaltungsgericht; auf Landesebene gibt es Disziplinarstrafhöfe. Disziplinargerichte sind besondere —• Verwaltungsgerichte. Erstinstanzlich auf Bundesebene fungiert das Bundesdisziplinargericht mit Sitz in Frankfurt/M., welches örtlich zuständige Kammern bildet (§ 42 BDO). Der B. muß die Befähigung zum Richteramt haben, er wird vom Bundespräsidenten ernannt und untersteht der Dienstaufsicht des -> Bundesministeriums des Innern. Hg. Bundeseigene Verwaltung Das -> Grundgesetz stellt in Art. 83 den Grundsatz auf, daß —> Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit durchführen. Davon abweichend gibt es die -> Bundesauftragsverwaltung sowie die b.V.; ein Vollzug der Bundesgesetze durch b.V. ist nur dann zulässig, wenn einer der in Art. 86ff. GG geregelten Fälle vorliegt. Dabei ist zwischen folgenden Alternativen zu unterscheiden: Obligatorische Bundesverwaltung (Art. 87 GG), so der - > Aus-
Bundeseigene Verwaltung wärtige Dienst, die -> Bundesfinanzverwaltung, gem. Art. 89 GG die -> Verwaltung der —> Bundeswasserstraßen und der Schiffahrt, die Bundeswehr- (Art. 87b Abs. 1 S. GG), Luftverkehrs- (Art. 87d Abs. 1 GG), die Eisenbahnverkehrsverwaltung (Art. 87e Abs. 1 S. 1 GG) und die hoheitlichen Aufgaben im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation (-» Postreform; Art. 87f Abs. 2 S. 2 GG). Fakultative Bundesverwaltung, die nicht zwingend vorgeschrieben ist, aber durch ein —> Gesetz auf der Grundlage einer Ermächtigung durch das GG vorgesehen wird, wie etwa der -> Bundesgrenzschutz (Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG) oder das Verteidigungswesen (Art. 87b Abs. 2 GG). Nach Art. 87 Abs. 3 können für Angelegenheiten, für die dem Bund die Gesetzgebung zusteht, selbständige Bundesoberbehörden und neue bundesunmittelbare —> Körperschaften und -> Anstalten des öffentlichen Rechts durch Bundesgesetz eingerichtet werden. Da es sich jedoch um eine Ausnahme von Art. 83 GG handelt, sind die Voraussetzungen eng gefaßt. Soweit eine Bundesoberbehörde eingerichtet werden darf, muß sie ihre Aufgaben selbst ohne Mittel- und Unterbau und ohne Beauftragung von Landesbehörden vollziehen können (BVerfGE 14, 211). Beispiele dafür sind: —> Bundeskartellamt, - » Umweltbundesamt, —> Kraftfahrt-Bundesamt. Unter strengeren Voraussetzungen können nach Art. 87 Abs. 3 S. 2 GG auch Mittel- und Unterbehörden geschaffen werden. Im Falle der mittelbaren Bundesverwaltung (Anstalten oder Körperschaften des öffentl. Rechts) steht dem zuständigen —> Bundesminister ein Weisungsrecht zu. Nicht im GG geregelt sind die Zuständigkeiten des Bundes kraft Sachzusammenhangs und kraft Natur der Sache. Hier handelt es sich um ungeschriebene Zuständigkeiten in einem Falle, in dem eine dem Bund zugewiesene Materie sinnvollerweise nicht verwaltet werden kann, ohne daß zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene Materie mitverwaltet wird (z.B. Rundfunksendun-
Bundeseisenbahnvermögen gen für das Ausland, die als Annex zu der Bundeskompetenz für Auswärtige Angelegenheiten anzusehen sind.) Des weiteren kann es eine ungeschriebene Zuständigkeit kraft Natur der Sache geben, wenn eine Angelegenheit sinnvollerweise nur durch den Bund geregelt werden kann (z.B. die Errichtung einer zentralen Einrichtung der Jugendpflege - vgl. BVerfGE 22, 180, 217). Wegen der Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder in Art. 83 GG sind derartige ungeschriebene Zuständigkeitszuweisungen jedoch sehr eng zu handhaben. Es reicht daher nicht aus, wenn lediglich ein Bedürfnis nach bundeseinheitlicher Verwaltung besteht. Lit.: Κ. Schoenenbroicher:
Bundesverwaltung
unter Landesgewalt, Berlin 1995.
Otto Kringe Bundeseinnahmen -> Steuern -> Gebühren —> Abgaben Bundeseisenbahnvermögen Mit Inkrafttreten des ENeuOG am 1.1.1994 wurden die Sondervermögen Dt. Bundesbahn (DB) und Dt. Reichsbahn (DR) zu einem einheitlichen BEV zusammengefaßt. Grundlage ist das BEVGesetz (d.i. Art.l des ENeuOG). Das BEV ist ein nicht rechtsfähiges Sondervermögen des Bundes mit eigener Wirtschafts- und Rechnungsführung. Es ist Gesamtrechtsnachfolger der bisherigen Sondervermögen DB und DR und vom Vermögen des Bundes getrennt zu halten. Der —» Bund haftet für Verbindlichkeiten des BEV nur mit diesem Vermögen. Aus diesem Sondervermögen wurde am 5.1.1994 die —> Deutsche Bahn AG (DB AG) ausgliedert. Die hoheitlichen Aufgaben wie das Planungsrecht wurden dem Eisenbahn-Bundesamt (EBA) zugewiesen. Der unternehmerische Teil der ehemaligen DB und DR ging auf die DB AG über. Beim BEV verblieben der Verwaltungs- und der Sozialbereich der früheren DB und DR, außerdem von den beiden Bahnsondervermögen der Finanzbereich, für den es eigenständig mit Genehmigung des —>
133
Bu ndeseisen bahn vermögen Bundesministeriums für Verkehr einen unter Kontrolle des Bundesrechnungshofes stehenden Wirtschaftsplan aufstellt. Das BEV hat folgende Aufgaben: 1. Verwaltung der zinspflichtigen Verbindlichkeiten der bisherigen Sondervermögen DB und DR. Das BEV betreibt ein Kredit- und Schuldenmanagement zur Tilgung der bei der DB und DR entstandenen Altschulden. Es ist für diese Aufgabe ermächtigt, in Abstimmung mit dem -> Bundesfinanzministerium und der -» Deutschen Bundesbank, selbst Kredite aufzunehmen. Dabei sind die Schuldurkunden des BEV den Schuldurkunden der BRD gleichgestellt. Die vom BEV ausgegebenen Wertpapiere sind zum amtliche Handel an jeder Wertpapierbörse in der BRD zugelassen. Darlehen, die dem BEV von den Banken gewährt werden, genießen nach den Bestimmungen des Kreditwesengesetzes dieselbe Bonität wie die der BRD unmittelbar gewährten Darlehen. Der Bund haftet uneingeschränkt für alle vom BEV selbst aufgenommenen Kredite. Für die Schuldenverwaltung ist eine detaillierte Kredit- und Liqiditätsplanung erforderlich, die eng mit dem Bundesfinanz- und dem Bundesverkehrsministerium abgestimmt ist. Das Kreditmanagement betreibt das BEV in enger Abstimmung mit der Dt. Bundesbank und der -> Bundesschuldenverwaltung. Letztere verwaltet sämtliche Wertpapiere und Darlehen des BEV. 2. Verwaltung der zur DB AG zugewiesenen —»• Beamten des Bundes (Art. 143a GG) und Wahrnehmung der Dienstherrnfunktion nach Maßgabe des öffentl. Dienstrechts. Der Präsident des BEV ist oberster Dienstvorgesetzte für die zugewiesenen Beamten. Er hat gegenüber der DB AG die -» Rechtsaufsicht über die ihr in Beamtenangelegenheiten übertragenen Angelegenheiten. 3. Die Verwaltung der Beamten, —> Angestellten und —> Arbeiter, die im Zeitpunkt der Gründung der DB AG, aufgrund eines zwischen der ehemaligen DB und einem anderen Unternehmen bestehenden 134
Bundeseisenbahnvermögen Dienstleistungsüberlassungsvertrages, zur Dienstleistung überlassen worden waren. Bestehende Dienstleistungsüberlassungsverträge (z.B. mit 23 regionalen Busgesellschaften, den Bahnreinigungsgesellschaften,der Dt. Fährgesellschaft Ostsee) werden von der BEV unverändert fortgeführt. Für die Arbeitnehmer in solchen Verträgen gilt, wie für die eigenen Arbeiter und Angestellten des BEV, ein eigenständiger Tarifbereich in Anlehnung an die Bedingungen des -» öffentlichen Dienstes. 4. Verwaltung und Verwertung des nicht bahnnotwendigen Grundbesitzes. Bahnnotwendig, also erforderlich für das Erbringen von Eisenbahnverkehrsleistungen der DB AG und das Vorhalten der Eisenbahninfrastruktur, sind Trassenflächen, Flächen für Bahnhöfe und sonstige betriebliche Einrichtungen. Diese sind der DB AG zu übertragen. Das BEV verwertet jene Immobilien der ehemaligen DB und DR, welche die DB AG für ihre Aufgaben nicht benötigt, durch eine Immobiliengesellschaft. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung verfügte das BEV bundesweit über einen Immobilienbesitz von rd. 225.000 Flurstücken von einer Gesamtfläche von ca. 150.000 Hektar. 5. Die Weiterführung der Bundesbahnversicherungsanstalt Abt. Β der bisherigen DB und der übrigen betrieblichen Sozialeinrichtungen und anerkannten Selbsthilfeeinrichtungen der bisherigen Bundeseisenbahnen nach Maßgabe des Art. 1 § 15 Abs. 1 ENeuOG. 6. Durchführung der Beamtenversorgung für die zugewiesenen oder beurlaubten Beamten bei der DB AG. 7. Die Wahrnehmung der Rechtsaufsicht über die DB AG, soweit diese in Ausübung der ihr übertragenen Zuständigkeiten in beamtenrechtl. Angelegenheiten öffentl. Dienstrecht anwendet. 8. Durchführung der Personalkostenabrechnung zwischen der DB AG und dem BEV. Für den Bund als Dienstherrn übernimmt das BEV die Besoldung der Beamten. Für die ihr zugewiesenen Beamten
Bundesfernstraßen zahlt die DB AG ihrerseits Entgelte an das BEV. Die Höhe orientiert sich dabei grds. am Tarifwerk der DB AG. Das BEV ist eine Bundesoberbehörde und hat seinen Sitz in Frankfurt/M.; für die vom BEV zu betreuenden Beamten und für weitere Aufgaben, wie die Verwaltung von Liegenschaften, sind 8 regionale Dienststellen (Beri., Essen, Frankfurt/M., Hannover, Karlsruhe , Köln, München und Nürnberg) eingerichtet. Die innere Ordnung wird durch eine vom Präsidenten aufgestellte Verwaltungsordnung geregelt, soweit das ENeuOG nicht bereits konkrete Bestimmungen enthält. Frühestens nach 10 Jahren, also am 1.1. 2004, wird überprüft, ob das BEV in der Rechtsform eines Sondervermögens fortzuführen ist. Dabei ist zu entscheiden, wie die noch bestehenden Aufgaben zu erfüllen sind, etwa durch Überleitung in eine —> Anstalt des öffentlichen Rechts, durch Fusion mit dem EBA oder durch Übertragung an eine Abt. des Bundesverkehrsministeriums. Wolf gang Kunz Bundesfernstraßen sind öffentl. Straßen des Bundes, die ein zusammenhängendes Verkehrsnetz bilden und einem weiträumigen Verkehr (Femverkehr) dienen. In geschlossenen Ortslagen gehören zum zusammenhängenden Verkehrsnetz die zur Aufnahme des weiträumigen Verkehrs notwendigen Straßen. Sie gliedern sich in —• Bundesautobahnen und Bundesstraßen mit Ortsdurchfahrten (Bundesfernstraßengesetz FStrG i.d.F. v. 19.4.1994 BGBl. I S. 854). Hg. Bundesfinanzakademie ist die zentrale Aus- und Fortbildungsstätte des - » Bundesministeriums der Finanzen mit Sitz in Brühl. Gemäß Art. 108 Abs. 3 S. 2 GG ist die BFA 1951 mit dem Ziel errichtet worden, eine einheitliche Steuerverwaltung durch die Ausbildung der Steuerbeamten des höheren Dienstes aus den Ländern, der Zollbeamten und der Beam-
Bundesforschungsanstalten ten der Bundesvermögensverwaltung zu gewährleisten. Rechtl. Grundlage der BFA ist das Steuerbeamten-Ausbildungsgesetz vom 14.6.1961. HgBundesfinanzhof Der BFH wurde durch Gesetz vom 29.6.1950 errichtet und ist Rechtsnachfolger des am 1.10.1918 gegründeten Reichsfinanzhofes. Sitz des —» Gerichts war und ist München. Das Gericht ist als Oberster Gerichtshof des Bundes i.S. von Art. 95 GG Revisionsund Beschwerdeinstanz gegen erstinstanzliche Entscheidungen der —> Finanzgerichte. Die Revision gegen erstinstanzliche Urteile ist nur statthaft, wenn sie vom Finanzgericht oder vom BFH zugelassen worden ist. Vor dem BFH besteht Vertretungszwang: Jeder Beteiligte muß sich durch einen -» Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer vertreten lassen. Rechtsgrundlage für das Verfahren vor dem BFH sind Art. 108 Abs. 6 GG und die Finanzgerichtsordnung. Die - » Senate des BFH entscheiden in der Besetzung von 5 Berufsrichtern, bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung mit 3 Richtern. Gegen die Entscheidung des BFH gibt es keine -» Rechtsmittel. K.-M. W. Bundesfinanzministerium —» Bundesministerium der Finanzen Bundesfinanzverwaltung —• Finanzverwaltung Bundesfinanzwesen —> Finanzverwaltung Bundesflagge -> Staatssymbole Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung - » Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Bundesforschungsanstalten sind eine heterogene Gruppe nachgeordneter - » 135
Bundesgericht
Bundesforschungsanstalten Bundesbehörden im Geschäftsbereich von Bundesressorts (daher auch Ressortforschungseinrichtungen), die ausschließlich oder neben anderen hoheitlichen Aufgaben Forschungszwecke erfüllen. Anders als die von - » Bund und —» Ländern im Verhältnis 90:10 grundfinanzierten Großforschungseinrichtungen und Institute der Fraunhofer-Gesellschaft oder die im Verhältnis 50:50 grundfinanzierten Institute der Max-Planck-Gesellschaft und Einrichtungen der Blauen Liste bezwecken sie keinen allgemeinen Erkenntnisgewinn - hierfür fehlt es an einer Bundeskompetenz -, sondern stellen wissenschaftl. Erkenntnisse zur Erfüllung der Aufgaben des jeweiligen Bundesressorts bereit. Die Grundfinanzierung erfolgt regelmäßig aus dem Bundeshaushalt; die zusätzliche Finanzierung über Forschungsprojekte spielt eine untergeordnete Rolle. Unter den 56 Bundesforschungseinrichtungen werden 46 in der Rechtsform der -> Anstalt öffentlichen Rechts, 5 als -> Vereine, 4 als -> Stiftungen, 2 als GmbH und eine als unselbständige Abt. der —>• Bundesanstalt für Arbeit betrieben. Zu den Bundesanstalten mit ausschließlich oder im Schwerpunkt Forschungsaufgaben zählen u.a. die Stiftung Wissenschaft und Politik im Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes, die Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft Braunschweig· Völkenrode des -> Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung des -> Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung. Neben anderen hoheitlichen Aufgaben erfüllen Forschungszwecke u.a. die —> Physikalisch-Technische Bundesanstalt und die —> Bundesanstalt für Materialprüfung des —> Bundesministeriums für Wirtschaft, die -> Bundesanstalt für Straßenwesen und der -> Deutsche Wetterdienst des Bundesministeriums für Verkehr sowie das —> Umweltbundesamt, das -> Bundesamt für Naturschutz und das —> Bundesamt für Strahlenschutz des
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—> Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Lit: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie: Bundesbericht Forschung 1996, Bonn 1996; T. Köstlin: Ressortforschungseinrichtungen, in: Ch. Fläming u.a. (Hg.), Handbuch des Wissenschaftsrechts 2, Berlin 1996, S. 1365ff.
Nicolai
Milller-Bromley
Bundesgebiet —> Staatsgebiet Bundesgericht / -e Innnerhalb der bundesdt. Gerichtsbarkeit gibt es 5 oberste —* Gerichte des -> Bundes. Neben dem —> Bundesgerichtshof sind dies das Bundesverwaltungsgericht, der Bundesfinanzhof, das Bundesarbeitsgericht und das Bundessozialgericht. Für den Bereich der - > ordentlichen Gerichtsbarkeit, die in Zivil- und Strafsachen entscheidet, ist der Bundesgerichtshof (BGH) mit Sitz in Karlsruhe als oberstes B. zuständig (Art. 95 GG). Er wurde am 1.10.1950 errichtet und ist im wesentlichen Revisionsgericht. Seine Tätigkeit ist grds. die Überprüfung der Entscheidung der Vorinstanz (i.d.R. des Oberlandesgerichts) im Hinblick auf die rechtl. Beurteilung des einzelnen Falles. Eine nochmalige Tatsachenfeststellung findet beim BGH nicht statt; er ist insoweit an die Tatsachenfeststellungen der unteren Instanzen gebunden. Der BGH besteht aus 12 Zivil- und 5 Strafsenaten; hinzu kommen 8 Spezialsenate. Insg. sind am BGH 123 Richter beschäftigt. Der Präsident des BGH, die Vorsitzenden Richter und die weiteren Richter werden durch den —» Bundesminister der Justiz gemeinsam mit dem - » Richterwahlausschuß berufen und vom —> Bundespräsidenten ernannt. Einem Zivil- oder Strafsenat sind im Durchschnitt 7 Richter zugewiesen. An den einzelnen Entscheidungen der -> Senate wirken 5 Richter, nämlich ein Vorsitzender Richter und 4 Beisitzer, mit. Grds. entscheidet der BGH durch seine erkennenden Zivil- oder Strafsenate. Daneben besteht je ein Großer Senat für Zivil- und
Bundesgericht Strafsachen. Der Große Senat für Zivilsachen besteht aus dem Präsidenten sowie je einem Mitglied der 12 Zivilsenate; der Große Senat für Strafsachen besteht aus dem Präsidenten sowie je 2 Mitgliedern der 5 Strafsenate. Die Großen Senate treten i.d.R. jeweils dann zusammen, wenn ein Senat in einem konkret zu entscheidenden Fall von einer bereits früher getroffenen Entscheidung eines anderen Senats abweichen will. Diese Regelung dient dem Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Sitz in Beri, besteht seit 1953. Vorraussichtlich ab dem Jahre 2003 wird es seine Tätigkeit in Leipzig ausüben. Mit der Errichtung des BVerwG wurde erstmals in der Geschichte der -> Verwaltungsgerichtsbarkeit ein echtes allgemeines oberstes Verwaltungsgericht geschaffen. Das BVerwG dient der Vereinheitlichung der Rechtsprechung in Bund und Ländern. Die Senate sind mit 5 Richtern besetzt. In grundsätzlichen Rechtsfragen entscheidet der Große Senat des BVerwG. Nachdem das Verwaltungsgericht als untere Rechts- und Tatsacheninstanz über die Klage eines —> Bürgers entschieden hat, kann gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel zum Oberverwaltungsgericht, der nächst höheren Instanz, eingelegt werden. Gegen dessen Urteile kann beim BVerwG als letzter Instanz in —> Revision gegangen werden. Die Revision gegen eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts ist jedoch nur dann möglich, wenn sie von diesem selbst zugelassen worden ist. In Ausnahmefällen steht den Verfahrensbeteiligten gegen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte die Sprungrevision zum BVerwG offen, wenn sie vom Gericht mit Zustimmung des Rechtsmittelgegners zugelassen wurde. Das Bundesarbeitsgericht (BAG), dessen Sitz von Kassel nach Erfurt verlegt wurde, entscheidet als letzte Instanz über Urteile der Landesarbeitsgerichte, wenn gegen diese das Rechtsmittel der Revision ein-
Bundesgericht gelegt worden ist. Vorraussetzung der Revision ist die Zulassung durch das entsprechende Landesarbeitsgericht oder eine erfolgreiche Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision beim BAG. Die Zulassung einer Revision hängt davon ab, ob eine Entscheidung der unteren Instanzen von der Rechtsprechung des BAG abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Bedeutsam für alle Verfahren innerhalb der —» Arbeitsgerichtsbarkeit sind die vom normalen Zivilprozeß abweichenden Kostenregelungen, die den Zugang für rechtssuchende Bürger zu den Arbeitsgerichten erleichtern sollen, und die Güteverhandlung, die jeder streitigen Verhandlung vorgeschaltet ist und die Parteien zum gütlichen Einlenken bewegen soll. Die -> Sozialgerichtsbarkeit geht in ihren Anfängen auf das im Jahre 1884 errichtete Reichsversicherungsamt zurück. Das Bundesozialgericht (BSG) hat seinen Sitz in Kassel und entscheidet in letzter Instanz über Streitigkeiten auf dem Gebiet des Sozialrechts. Beim BSG bestehen Senate u.a. für -> Sozialversicherung, —> Arbeitslosenversicherung, und Kassenarztrecht. Die Senate des BSG sind mit 3 Berufs- und 2 ehrenamtlichen Richtern (—> Ehrenamtliche Tätigkeit) besetzt. Sie entscheiden über das Rechtsmittel der Revision. Beim BSG besteht außerdem ein Großer Senat, der sich aus dem Präsidenten, 6 weiteren Berufsrichtem und 4 ehrenamtlichen Richtern zusammensetzt. Seine Aufgabe besteht, wie auch bei den übrigen Großen Senaten der anderen obersten B.n, in der Fortbildung des Rechts und der Gewährleistung einer einheitlichen sozialgerichtlichen Rechtsprechung. In der Finanzgerichtsbarkeit ist ebenfalls der Bundesfinanzhof (BFH) mit Sitz in München letzte gerichtliche Instanz. Eine Klage vor den Finanzgerichten ist erst dann zulässig, wenn ähnlich der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit ein außergerichtliches Vorverfahren ganz oder teilw. erfolglos geblieben ist. Grds. sind die Finanzgerichte für alle Rechtsstreitig-
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Bundesgerichtshof
Bundesgesetz
keiten unabhängig vom Streitwert erstinstanzlich zuständig, für die der Finanzrechtsweg eröffnet ist. Die Finanzgerichte entscheiden grds. durch Senate, die mit 3 Richtern und 2 ehrenamtlichen Finanzrichtem besetzt sind. Gegen Urteile der Finanzgerichte kann unter bestimmten Voraussetzungen Revision zum BFH eingelegt werden. Die Senate des BFH sind mit jeweils 5 Berufsrichtem besetzt. Lit.: H. Avenarius: Die Rechtsordnung der BRD, Neuwied 1996; P. v. Marqua: Justiz, Berlin 1996.
Handbuch der
Hans Meyer-Albrecht Bundesgerichtshof Der BGH ist einer der 5 verfassungsrechtl. verankerten (Art. 95 Abs. 1 GG), obligatorischen obersten Gerichtshöfe des Bundes (bis 1968: „obere Bundesgerichte") und wurde als Nachfolger des früheren Reichsgerichts in Leipzig am 8.10.1950 mit Sitz in Karlsruhe (der 5. Strafsenat residiert jedoch in Beri, und künftig in Leipzig) errichtet. Entsprechend der histor. gewachsenen Aufteilung der Rechtswege nach Sachgebieten ist der BGH das höchste Gericht der ordentlichen, Zivil- und Strafsachen umfassenden Gerichtsbarkeit. Er ist die verfahrensrechtl. allerdings nur begrenzt zugängliche letzte Instanz eines von den Gerichten der Länder (Amtsgericht, LG, OLG) zum BGH mehrstufig verlaufenden Instanzenzugs. Daneben ist der BGH als letzte Instanz auch zuständig für besondere Sachgebiete, wie z.B. Staatsschutzsachen, —» Patentrecht und die Gerichtsbarkeit besonderer Berufe (u.a. Anwaltssachen). Er ist grds. als Revisions- und Rechtsbeschwerdeinstanz konzipiert, die nur über Rechts- und nicht über Sachfragen entscheidet, mit der Aufgabe, die Rechtseinheit zu wahren und die Rechtsfortbildung zu steuern. Verwaltungsmäßig ist der BGH dem Geschäftsbereich des -> Bundesministeriums der Justiz zugeordnet. Organisatorisch gliedert sich das Gericht in 12 Zivil-, 5 Straf- und 8 -»· Senate für besondere Sachgebiete (z.B. Kartellsenat und
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Dienstgericht des Bundes), die als Spruchkörper jeweils aus 5 —» Richtern bestehen (Kollegialgericht), wobei in einzelnen Senaten der letzten Kategorie auch ehrenamtliche Richter mitwirken (z.B. Senat für Landwirtschaftssachen, s.a. Ehrenamtliche Tätigkeit). Hinzu kommen j e ein Großer Senat für Zivil- und für Strafsachen sowie der Vereinigte Große Senat, deren Aufgabe darin besteht, die einheitliche Rechtsprechung des Gerichts zu wahren. Der Transparenz der Tätigkeit des Gerichts dienen der seit 1967 jährlich im - » Bundesanzeiger veröffentlichte Geschäftsverteilungsplan und die vom Gericht herausgegebenen Entscheidungssammlungen in Zivil- und in Strafsachen. Die Richter des Gerichts werden vom Bundesjustizminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuß, dem die Landesminister der Justiz und ebenso viele Mitglieder, die vom Bundestag nach dem Prinzip von —> d'Hondt gewählt werden, angehören und der mit —> einfacher Mehrheit entscheidet, berufen (Art. 95 Abs. 2GG) und vom —> Bundespräsidenten ernannt (Art. 60 Abs. 1 GG). Am 1.1.1998 gehörten dem BGH neben dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten 16 Vorsitzende Richter (davon 6% Frauen) und 105 Richter (davon 2,4% Frauen) an, wobei der Anteil der Frauen in den letzten Jahren leicht, aber kontinuierlich anstieg. Kein Richter war unter 45 Jahre alt, und 33% waren 60 Jahre und älter. Richter an einem obersten Bundesgericht wird man nur im vorgerückten Alter nach langer Berufserfahrung, und Frauen sind - im Gegensatz zu den Eingangsämtern - in hohen Richterpositionen weiterhin stark benachteiligt. Die Parteipatronage spielt auch bei der Besetzung der Richterstellen am BGH eine Rolle. Lit.: W. Heyde: Die Rechtspflege in der BRD, Bad Königshofen 5 1990; M Wurm: Die richterliche Tätigkeit am Bundesgerichtshof, in: Jurist. Arbeitsblätter 1996, S. 401ff
Werner Billing Bundesgesetz -> Gesetz
Bundesgrenzschutz
Bundesgesetzblatt
Bundesgesetzblatt ist das Veröffentlichungsorgan des Bundes für die von ihm erlassenen —> Gesetze und -> Rechtsverordnungen. Das BGBl. Wird in 3 Teilen vom —> Bundesministerium der Justiz herausgegeben. Teil I enthält v.a. Gesetze und Verordnungen, Teil Π v.a. völkerrechtl. Verträge und -> EG-Verordnungen (Transformationsgesetze) sowie Zollvorschriften. Teil ΠΙ enthält das als fortgeltend gültige —> Bundesrecht nach Sachgebieten geordnet und dient in dieser Form v.a. der Rechtsbereinigung (s.a. —> Bundesanzeiger). Hg. Bundesgewalt ist die von Organen und Bediensteten des -> Bundes ausgeübte —» Staatsgewalt. Daß die rechtl. gebilligte Fähigkeit des Bundes zu verbindlichen Anordnungen und ihrer Durchsetzung keine freie Hand des Bundes in der Wahl seiner Tätigkeitsbereiche und Mittel begründet, folgt nicht nur - wie für die Staatsgewalt allgemein - aus der Rechts-, insbes. Verfassungsbindung des Staates, sondern insbes. auch aus Art. 30 GG: Danach sind die Ausübung der staatl. Befugnisse und die Erfüllung der staatl. Aufgaben Sache der —> Länder, soweit das GG keine andere Regelung trifft oder zuläßt. Allerdings ist die Staatsgewalt der Länder deijenigen des Bundes untergeordnet, was sich aus Art. 31 GG (Vorrang des - » Bundesrechts) und Art. 28 Abs. 1 GG (Homogenitätsprinzip) ergibt. Die Begrenzung der B. geht mit einer Verrechtlichung, Rationalisierung und Versachlichung der Staatsgewalt einher, die insbes. in der gerichtlichen Klärung von -> Verfassungskonflikten ihren Ausdruck findet. Lit:HdbStR IV, § 98. J. U. Bundesgrenzschutz Der BGS ist neben dem -> Bundeskriminalamt, dem Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder beim Bundesinnenministerium und der
Hausinspektion des - » Bundestages eine der Polizeien des Bundes. Der BGS untersteht dem Bundesinnenministerium. Er wird gegründet mit dem BGS-Gesetz vom 16.3.1951. Die Aufgabenstellung und das Selbstverständnis haben sich seit seiner Gründung mehrmals verändert. Bis 1955 ist es der Bundesrepublik untersagt, eigene Streitkräfte zu unterhalten. Von den Alliierten Besatzungsmächten wird lediglich zugebilligt, eine Bereitschaftspolizei auf Länderebene aufzubauen. Der Bund verfolgt jedoch das Ziel, eine eigene Grenzschutztruppe sowie eine Bundespolizei zu errichten. Vor dem Hintergrund des Korea-Krieges (1950-53) ändern die Alliierten ihre Polizeipolitik. Der Bundesrepublik wird zugestanden, eine quasimilitärisch ausgerüstete BGS-Truppe zu unterhalten, die im Falle eines Krieges v.a. innere Unruhen bekämpfen soll. 1951 werden die BGS-Verbände mit einer Stärke von 10.000 Mann aufgestellt. Dem BGS wird zudem der Bundespaßkontrolldienst übertragen. 1955 zählt der BGS rd. 17.000 Mann. Er wird jetzt herangezogen, um die neu errichtete -> Bundeswehr organisatorisch und personell aufbauen zu können. 57% der BGS-Angehörigen wechseln in die Bundeswehr. Der BGS wird personell neu aufgefüllt. Mit Verabschiedung der —> Notstandsgesetze 1968 verändert sich die Aufgabenstellung abermals. Im Falle des inneren Notstandes kann jetzt die Bundeswehr auch im Inneren eingesetzt werden, die quasi-militärische Aufgabenstellung des BGS entfallt. In der Folgezeit wird er immer mehr zu einer Polizei des Bundes umgewandelt. Die Personalstärke steigt auf 22.000 Bedienstete. Neben den bisherigen Aufgaben (Grenzschutz, Grenzkontrolldienst) wird er verstärkt bei polizeilichen Großeinsätzen (Demonstrationen etc.) hinzugezogen. Die europ. Integration und die -> Deutsche Einheit verändern die Organisation und Aufgabenstellung des BGS tiefgreifend. Die Präsenz an den dt. Westgrenzen entfällt weitgehend, die an der einstigen innerdt. Grenze vollständig. Das
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Bundeshauptstadt
Bundeshaushaltsplan
Personal wird verstärkt an die dt. Ostgrenzen zu Polen und Tschechien verlegt. 1992 gehen die Aufgaben der Bahnpolizei bundesweit auf den BGS über, die der Luftsicherheit ebenfalls, sofern ein Bundesland nicht beantragt, diese selbst wahrzunehmen. Der BGS wird in 5 regionale Grenzschutzpräsidien unterteilt, die jeweils wiederum in Ämter (18) und Inspektionen (ca. 100) untergliedert sind. Die Personalstärke steigt auf rd. 30.000 Bedienstete. Das neue BGS-Gesetz vom 1.11.1994 bestätigt die erweiterten Zuständigkeiten, die der BGS in den zurückliegenden Jahren erlangt hat. Zugleich ermächtigt das Gesetz den BGS, auch an den EUBinnengrenzen in einer Tiefe von 30 Km verdachtsunabhängig polizeiliche Kontrollen im Rahmen der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung durchzuführen. Der Personalbestand an den Binnengrenzen wird sogar wieder erhöht auf rd. 1.000 Beamte. Durch eine erneute Organisationsreform sollen insbes. die Einsatzverbände nicht mehr vorrangig für Krisenfalle bereitgehalten werden, sondern stärker die tägliche Polizeiarbeit der Länder unterstützen. In der nunmehr flächendeckenden Präsenz des BGS und der beständigen Aufgabenerweiterung sehen Kritiker den Versuch, mehr und mehr eine eigenständige Polizeihoheit des Bundes zu begründen, die im bundesdt. System der —> Inneren Sicherheit bislang zu den zentralen Angelegenheiten der Länder zählt. Lit.: Beiträge in: Bürgerrechte & Polizei, Cilip 47, Nr. 1/1994; H.-J. Lange: Innere Sicherheit im polit. System der BRD, Marburg 1998; B. Walter: BGS - Polizei des Bundes, Stuttgart 1983.
Hans-Jürgen Lange Bundeshauptstadt —> Hauptstadt Bundeshaushaltsordnung —> Haushaltsordnung Bundeshaushaltsplan Der B. ist die spezielle Grundlage für die Haushalts140
und Wirtschaftsführung des —> Bundes für ein Haushaltsjahr und wird durch die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes festgestellt. Der B. ist seit 1961 mit dem Kalendeijahr identisch und umfaßt die voraussichtlichen Einnahmen, Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen (Ausgaben, die erst in späteren Haushaltsjahren kassenwirksam werden). Der B. richtet sich nach dem durch das -> Haushaltsrecht gesetzten Rahmen und gliedert sich in Einzelpläne und einen Gesamtplan. 29 Einzelpläne existieren für die einzelnen Ministerien sowie für weitere Institutionen wie —> Bundestag, —> Bundespräsidialamt, —> Bundesrat und —> Bundeskanzleramt. Die Einzelpläne sind nach institutionellen Gesichtspunkten in Kapitel und weiter in Titel gegliedert. Der Gesamtplan umfaßt eine Haushaltsübersicht, eine Finanzierungsübersicht, einen Kreditfinanzierungsplan sowie mehrere Anlagen (Gruppierungsübersicht, Haushaltsquerschnitt, Übersicht über die durchlaufenden Posten sowie eine Übersicht über die Personalstellen). Zu berücksichtigende Haushaltsgrundsätze sind die der Vollständigkeit (alle Einnahmen und Ausgaben sind bei der Aufstellung und Verabschiedimg des B.es getrennt zu veranschlagen), der Einheit (alle Einnahmen sind zu berücksichtigen), der Spezialität (Ausnahmen dürfen nur in der geplanten Höhe und zum vorhergesehenen Zweck innerhalb des vorgesehenen Zeitraumes verwendet werden), des Ausgleichs, der Öffentlichkeit, Klarheit, Genauigkeit und Vorherigkeit. Der Grundsatz der Vorherigkeit wird meist nicht befolgt, da der Haushalt oft erst in der laufenden Haushaltsperiode verabschiedet wird. Die Aufstellung des B.entwurfes erfolgt durch das -» Bundesministerium der Finanzen, die Beschlußfassung durch die —> Bundesregierung. Der Entwurf wird gleichzeitig beim Bundesrat und Bundestag eingebracht. Als —> Einspruchsgesetz kann der Bundesrat Änderungsvorschläge anbringen. Die letzte Entscheidung (Verabschiedung des Haus-
Bundesinstitut für Berufsbildung
Bundesinnenministerium haltsgesetzes) liegt jedoch beim Bundestag. Laufende Änderungen des Bundeshaushaltsgesetzes erfordern einen Nachtragshaushalt. Lit.: H. Mäding: Haushaltsplan, Haushaltsvollzug und Haushaltskontrolle, Baden-Baden 1987; H. Wiesner: Öffentl. Finanzwirtschaft I. Haushaltsrecht, Heidelberg '1992.
Thorsten Benner Bundesinnenministerium —> Bundesministerium des Innern Bundesimmissionsschutzgesetz missionsschutzrecht
—> Im-
Bundesinstitut für Berufsbildung Das BIBB wurde 1970 mit Sitz in Beri, gegründet. Seine heutige Rechtsgrundlage ist das Berufsbildungsförderungsgesetz. Das BIBB wird vom Generalsekretär geleitet. In seinem Beschlußorgan, dem Hauptausschuß, sind Vertreter der Arbeitgeber, der Gewerkschaften, des Bundes und der Länder vertreten. Finanziert wird das ΒΠ3Β aus Haushaltsmitteln des —> Bundes. Es ist eine selbständige, bundesunmittelbare —> juristische Person des öffentlichen Rechts, die der —> Rechtsaufsicht des -> Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie untersteht. Das BIBB arbeitet gemeinsam mit —> Arbeitgebern, —> Gewerkschaften, —• Bundesländern und -> Bundesregierung an der Verbesserung und Weiterentwicklung der nationalen und internationalen Berufsbildung, dementsprechend steht im Mittelpunkt seiner gesetzlich festgelegten Forschungs- und Dienstleistungsarbeit die Berufsbildung der Facharbeiter, Fachangestellten, Gesellen und Meister. Das BIBB beobachtet und untersucht die Aus- und Weiterbildungspraxis in den Betrieben, erprobt neue Wege in der beruflichen Aus- und Weiterbildung, modernisiert gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften die betrieblichen Regelungen fllr Ausbildung und beruflichen Aufstieg, unterstützt die betriebliche Berufsbildungspraxis mit mo-
dernen Ausbildungsunterlagen und Ausbildungsmedien, entwickelt Konzepte für die Qualifizierung der betrieblichen Ausbilder, begutachtet die Qualität des beruflichen Femlehrangebots, fördert Ausbildungszentren als Ergänzung der betrieblichen Aus- und Weiterbildung, betreut internationale Programme zur Weiterentwicklung der Berufsbildung. Adressaten der Arbeiten des BIBB sind insbes. die Planungspraxis der beruflichen Bildung (Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Gewerkschaften; Fachverbände; zuständige Stellen (Kammern); Ministerien in Bund und Ländern) und die Durchfuhrungspraxis der beruflichen Bildung (Betriebs- und Unternehmensleitungen; Ausbilder; Auszubildende, Weiterbildungsteilnehmerinnen und -teilnehmer; Betriebsräte und Personalräte, Berufsschullehrer). Das BIBB führt Programme für das BMBF durch, die aus Mitteln des Ministeriums finanziert werden. 1. Modellversuche: Für die Förderung von Modellversuchen im außerschulischen Bereich (Wirtschaftsmodellversuche) stellt das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) jährlich ca. 19 Mio. DM bereit, die ebenfalls vom BIBB vergeben werden. 2. Überbetriebliche Berufsbildungsstatten (ÜBS): Das BIBB nimmt seit 1978 die gesetzliche Aufgabe wahr, die vom BMBF gesondert bereitgestellten Mittel für die Errichtung, Ausstattung und Modernisierung von überbetrieblichen Berufsbildungsstätten (ÜBS) sowie z.T. für laufende Kosten dieser Einrichtungen zu vergeben. Im Jahr 1995 waren das rd. 125 Mio. DM. Zur Zeit stehen in den alten Bundesländern ca. 78.000 Werkstattplätze in insg. rd. 616 ÜBS zur Verfügung. In den neuen Bundesländern werden ÜBS durch das BIBB verstärkt gefördert. Hier konnten bis zum 31.12.1995 an 67 Standorten mit rd. 367 Mio. DM rd. 13.000 überbetriebliche Ausbildungsplätze (davon ca. 7.500 noch provisorisch / temporär) geschaffen werden, um zügig mit der überbetrieblichen Aus- und Weiterbildung
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Bundeskanzler
Bundesjustizministerium in den neuen Bundesländern voranzukommen (insbes. in der Bauwirtschaft). Hg.
Bundesjustizministerium -> Bundesministerium der Justiz Bundeskabinett -> Bundesregierung Bundeskanzler Die Führungsposition des BKs im dt. Regierungssystem wurde schon frühzeitig mit der Bezeichnung —> Kanzlerdemokratie charakterisiert. Entscheidend für diese auch im Vergleich zu anderen westeurop. Demokratien starke Führungsposition sind die verfassungsrechtl. Rahmenbedingungen, die Parteienstruktur sowie in erster Linie die Persönlichkeit der BK, die das Amt für eine längere Dauer geprägt haben. Während in den 14 Jahren der —> Weimarer Republik 12 Politiker das Amt des Reichskanzlers innehatten, gab es in der -> Bundesrepublik Deutschland seit 1949 lediglich 6 BK: Dr. Konrad Adenauer (CDU/CSU) 20.9.1949 - 15.10.1963, Prof. Dr. Ludwig Erhard (CSU/CSU) 16.10.1963 - 30.11. 1966, Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU / CSU) 1.12.1966 - 20.10.1969, Willy Brandt (SPD) 21.10.1969 - 6.5.1974, Helmut Schmidt (SPD) 16.5.1974 1.10.1982, Dr. Helmut Kohl (CDU/CSU) ab 1.10.1982. Bis auf Helmut Schmidt waren alle BK zumindest zeitweise auch Vorsitzende ihrer Partei. Die großen Volksparteien -> CDU/CSU und —> SPD benennen ihren Kanzlerkandidaten bereits für den —> Wahlkampf; Regierungschef wird deijenige, dem es gelingt, nach den -> Wahlen eine Mehrheit für sich zu organisieren. Bisher geschah das stets durch Bildung einer —> Koalition mehrerer —> Parteien. Verfassungsrechtl. erforderlich ist eine Wahl durch den -» Deutschen Bundestag; darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu Art. 53 WRV, der vorsah, daß der Reichskanzler vom Reichspräsidenten bestimmt und ernannt wird. Gem. Art. 63 GG wählt der Dt. Bundestag den BK auf Vorschlag
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des —• Bundespräsidenten, der sich wiederum am Vorschlag der mehrheitsfähigen Parlament. Kräfte orientiert. Die Abstimmung erfolgt ohne Aussprache und ist geheim; erforderlich ist die —> absolute Mehrheit, d.h. die Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Parlaments. Verfehlt der Kandidat die -> Kanzlermehrheit, was bisher nicht vorgekommen ist, geht das Vorschlagsrecht auf ein Viertel der Mitglieder des Dt. Bundestages über. Wird innerhalb von 14 Tagen keine absolute Mehrheit für einen Kandidaten erzielt, genügt in einem weiteren Wahlgang die relative Mehrheit. Der Bundespräsident muß einen mit absoluter Mehrheit gewählten Kandidaten ernennen; den mit relativer Mehrheit Gewählten kann er ernennen oder das Parlament auflösen. Nach der —> Ernennung leistet der BK vor dem Dt. Bundestag den in Art. 56 GG vorgesehenen Eid. Auf Vorschlag des BKs ernennt der Bundespräsident gem. Art. 64 GG auch die -> Bundesminister. Entsprechendes gilt filr die Entlassung. Bei der Regierungsbildung nimmt der BK auf die Erwartungen seiner -» Fraktion sowie auf die Vorschläge des Koalitionspartners Rücksicht. Der in den ersten Wahlperioden wichtige Aspekt der konfessionellen Ausgewogenheit des —• Bundeskabinetts ist zunehmend zurückgetreten, dagegen spielt neben fachlichen Aspekten die Berücksichtigung der verschiedenen Regionen eine bedeutende Rolle. Einen Bundesminister - üblicherweise einen Vertreter des Koalitionspartners - ernennt der BK gem. Art. 69 Abs. 1 GG zu seinem Stellvertreter. Aufgrund seiner Organisationsgewalt entscheidet der BK darüber, welche Ministerien - abgesehen von den im GG vorgesehenen - eingerichtet bleiben und wie ihre Kompetenzen abgegrenzt werden. Verfassungsrechtl. Grundlage für die polit. Führungsbefugnis des BKs ist Art. 65 GG. Danach leitet der BK die Geschäfte der —y Bundesregierung und bestimmt die —> Richtlinien der Politik, für die er die parlament. —> Verantwortung
Bundeskanzler trägt. Richtlinien der Politik sind grundlegende Gestaltungsentscheidungen für das Staatsganze. Sie können abstrakt-generell oder auch Einzelanordnungen mit prinzipieller Bedeutung sein. Adressaten einer Richtlinienentscheidung sind die Bundesminister, die im übrigen ihren Geschäftsbereich selbständig und in eigener Verantwortung leiten. Formvorschriften gibt es nicht; v.a. ist keine ausdrückliche Bezeichnung als Richtlinienentscheidung erforderlich; sie kann mündlich in der Koalitionsrunde, im Kabinett oder z.B. in einer Regierungserklärung im Dt. Bundestag erfolgen. Die Ausfüllung der Richtlinienkompetenz hängt in besonderem Maße von der polit, und personellen Konstellation ab; zu berücksichtigen sind die Interessen der eigenen Fraktion des BKs, die Wünsche des Koalitionspartners, die Position einzelner Minister, außerdem natürlich die Koalitionsvereinbarung, die auch als Vereinbarung über die Richtlinien der Politik interpretiert werden kann. Die Richtlinienkompetenz umfaßt deshalb die aktive und originäre Politikgestaltung genauso wie eine Schiedsrichterrolle und eine Vetoposition des BKs. Bei der Wahrnehmung seiner Kompetenzen bedient sich der BK des —» Bundeskanzleramtes. Außerdem ist ihm unmittelbar das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung unterstellt. Die Amtsdauer des BKs ist an die —> Wahlperiode des Dt. Bundestages gekoppelt (Art. 69 Abs. 2 GG), bei einer weiteren Amtszeit sind eine erneute Wahl und Ernennung erforderlich. Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist der BK verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung eines Nachfolgers Weiterzuführen. Vorzeitig endet das Amt beim Kanzlerrücktritt, Tod und beim Kanzlersturz durch konstruktives —> Mißtrauensvotum. Mit dem in Art. 67 GG geregelten konstruktiven Mißtrauensvotum wird die parlament. -> Verantwortung des BKs realisiert. Konstruktiv ist es deshalb, weil, anders als in der Weimarer Republik, die Mißbilligung durch das Parlament allein zum Sturz der
Bundeskanzleramt Regierung nicht ausreicht; erforderlich ist vielmehr, daß der Dt. Bundestag durch die Wahl eines Kanzlernachfolgers mit absoluter Mehrheit die Grundlage für eine neue handlungsfähige Regierung legt. Bisher ist ein konstruktives Mißtrauensvotum zweimal beantragt worden; am 27.4.1972 erfolglos gegen BK Willy Brandt, am 1.10.1982 sprach der Dt. Bundestag BK Helmut Schmidt das Mißtrauen aus und wählte als seinen Nachfolger Dr. Helmut Kohl. Mit der —• Vertrauensfrage (Art. 68 GG) kann der BK in die Offensive gehen und bei positivem Ausgang seine Regierung stabilisieren. Bei negativem Ausgang ist auf Vorschlag des BKs eine Auflösung des Dt. Bundestages durch den Bundespräsidenten möglich. Da es kein Selbstauflösungsrecht (-» Parlamentsauflösung) gibt, ist dies ein Weg zu vorzeitigen Neuwahlen. Entsprechend ist nach dem negativen Votum über die Vertrauensfrage von BK Willy Brandt (22.4.1972) und BK Dr. Helmut Kohl (17.12.1982) verfahren worden. Lil: HdbStR. II, S. 5 Iff.; J. J. Hesse / T. Ellwein: Das Regierungssystem der BRD, Opladen "1997; W. Ismayr (Hg.): Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997; K. Klein (Hg.): Die Bundeskanzler, Berlin 1993; K. Niclauß: Kanzlerdemokratie, Bonner Regierungspraxis von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, Stuttgart 1988; Stern II.
Hans-Achim Roll
Bundeskanzleramt Das B. ist ein Führungsinstrument des -» Bundeskanzlers bei der Erfüllung seiner Aufgaben; es beobachtet die Arbeit in den -» Bundesministerien und unterrichtet den Bundeskanzler, bereitet polit. Entscheidungen vor und verfolgt ihre Durchführung. Es koordiniert, soweit erforderlich, die Tätigkeit der —» Ressorts und ist außerdem Geschäftsstelle der —> Bundesregierung (z.B. Vorbereitung der Kabinettsitzungen). Das B. hat gegenüber den Ressorts kein Weisungsrecht; aufgrund seiner Stellung kann es jedoch in besonderer Weise zur Kon143
Bundeskartellamt
Bundeskriminalamt
sens- und Kompromißfindung beitragen. Geleitet wird das Amt vom Chef des B.es, der gem. § 7 GOBReg zugleich die Geschäfte eines —> Staatssekretärs der Bundesregierung wahrnimmt. Chefs des B.es waren bisher folgende Staatssekretäre bzw. Bundesminister: Dr. Wuermeling (1949-1951), Dr. Lenz (1951-1953), Dr. Globke (1953-1963), Prof. Dr. Westrick (1963-1966, ab 1964 als Bundesminister), Dr. Knieper (19661967), Prof. Dr. Carstens (1968-1969), Bundesminister Prof. Dr. Ehmke (19691972), Grabert (1972-1974), Dr. Schüler (1974-1980), Lahnstein (1980-1982), Konow (1982), Prof. Dr. Schreckenberger (1982-1984), Bundesminister Dr. Schäuble (1984-1989), Bundesminister Seiters (1989-1991), Bundesminister Bohl (seit 1991). Sitz des B.es war von 1949-1976 das Palais Schaumburg in Bonn, seit 1.7.1976 ein von der Planungsgruppe Stieldorf entworfener Neubau; in Beri, wird ein neues B. im westlichen Spreebogen durch den Architekten Axel Schultes errichtet. Das B. hat derzeit rd. 500 Mitarbeiter, 135 davon im höheren Dienst. Das Amt ist in 6 Abt.en gegliedert. 4 Abt.en haben Zuständigkeitsbereiche, die jeweils die Aufgaben der verschiedenen Ressorts widerspiegeln (Innen und Recht; Auswärtige Beziehungen und äußere Sicherheit; Soziales-, Umwelt-, Verkehr-, Agrar-, Forschung; Wirtschafts- und Finanzpolitik). Eine Abt. ist für gesellschaftl. und polit. Analysen sowie für kulturelle Angelegenheiten zuständig und einer Abt. sind die Aufgaben übertragen, die sich aus der Ressortzuständigkeit des B.es für den —> Bundesnachrichtendienst ergeben. Lit.: V. Busse: Bundeskanzleramt und Bundesregierung. Heidelberg21997.
Hans-Achim Roll Bundeskartellamt ist eine Bundesbehörde im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums für Wirtschaft mit Sitz in Beri, und ca. 250 Mitarbeitern. Auf der Grundlage des Gesetzes gegen Wettbe144
werbsbeschränkungen ist es Aufgabe des B.es, unerlaubte Kartelle zu unterbinden, Unternehmenszusammenschlüsse zu prüfen und das Verhalten marktbeherrschender Unternehmen zu kontrollieren. Dadurch soll ein funktionierender Wettbewerb in der Marktwirtschaft gesichert werden. Das Kartellamt wendet nationales und EG-Wettbewerbsrecht an. Zu seiner Durchsetzung kann es Zusammenschlüsse verbieten und mißbräuchliches Verhalten untersagen, wettbewerbsbeschränkende Verträge für unwirksam erklären, Erlaubnisse zu bestimmten Verträgen erteilen sowie erhebliche Geldbußen bei Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht verhängen. Die Entscheidungen werden in justizähnlichen Verfahren von Beschlußabteilungen getroffen und sind gerichtlich überprüfbar. T .
Z .
Bundeskriminalamt Das BKA ist neben dem Bundesgrenzschutz, dem Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder beim -> Bundesinnenministerium und der -> Hausinspektion des -> Bundestages eine der Polizeien des —> Bundes. Das BKA untersteht dem Bundesinnenministerium. Gegründet wird es am 8.3.1951 mit dem BKA-Gesetz. Anfangs beschränkt sich die Arbeit des BKA auf die einer Zentralstelle, welche bundesweit bedeutsame Nachrichten und Informationen der Landeskriminalämter sammeln, auswerten und mit allen Ämtern austauschen soll. Eine eigenständige Strafermittlungstätigkeit bleibt die Ausnahme, sie kommt nur dann zustande, wenn die Länder darum ersuchen oder der Bundesinnenminister dies anordnet. Im Zuge der Terroristenverfolgung Ende der 60er und im Verlauf der 70er Jahre beginnt der eigentliche Ausbau des BKA: 1969 wird durch Änderung des BKA-Gesetzes der -> Generalbundesanwalt ermächtigt, das BKA mit polizeilichen Ermittlungen zu beauftragen. 1972 wird das Inpol-Fahndungssystem mit Standort beim BKA installiert, 1973 wird das BKA zuständig bei inter-
Bundeskriminalamt national organisierten Rauschgift-, Waffen· und Falschgelddelikten sowie bei terroristischen Anschlägen gegen Verfassungsorgane des Bundes, 1975 wird das BKA zur Koordinierungsstelle im Bereich der Bekämpfung polit, motivierter Gewalttaten erhoben. Das BKA hat seinen Sitz in Wiesbaden. Es beschäftigt 1955 insg. 482 -> Beamte, - » Angestellte und Arbeiter. Deren Anzahl steigt bis 1965 auf 818 Beschäftigte. Nach dem Ausbau in den 70er Jahren erhöht sich die Zahl bis 1980 auf 3.339. Gegenwärtig (1996) arbeiten beim BKA ca. 4.300 Bedienstete. Das BKA ist im Laufe seiner Entwicklung von einer reinen Zentralstelle zur wichtigsten kriminalpolizeilichen Behörde im System der —> Inneren Sicherheit der Bundesrepublik aufgestiegen. Zudem haben sich die Kompetenzen der Polizei insg. kontinuierlich ausgeweitet, so im Gesetz zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität im Jahr 1992. Das neue BKA-Gesetz vom 1.8.1997 erweitert die Strafverfolgungszuständigkeiten des BKA in den originären Deliktfeldem, ebenso übernimmt es den Zeugenschutz in diesen Ermittlungsfällen. Zugleich erhalten die Länder die Kompetenz eingeräumt, im grenznahen Bereich eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten einzugehen. Der internationale Dienstverkehr mit den Polizeibehörden anderer Staaten bleibt jedoch, von dieser Ausnahme abgesehen, grds. dem BKA vorbehalten. Die Integrationsentwicklung in der —» Europäischen Inneren Sicherheit verstärkt zudem die zentrale (nationale) Koordinationsfunktion des BKA. I.V.m. der Entwicklung des Bundesgrenzschutzes zeichnen sich hier immer mehr Entwicklungen ab, die eine eigenständige Polizeihoheit des Bundes begründen und somit das bisherige föderale System der Inneren Sicherheit mit dem Primat der Länder in Frage stellen. Lit: BKA: Bundeskriminalamt 1951-1991, Wiesbaden; H.-J. Lange: Innere Sicherheit im polit System der BRD, Maiburg 1998; H. Lisken / E. Denninger (Hg.): Handbuch des Polizei-
Bundesministerium der Finanzen rechts, München 21996. Hans-Jtlrgen
Lange
Bundesländer —> einzelne Länder —> Föderalismus Bundeslaufbahnverordnung bahnprinzip
-»
Lauf-
Bundesminister / -ium -> einzelne Bundesministerien Bundesministerium des Auswärtigen - » Auswärtiges Amt Bundesministerium der Finanzen Das BMF ist eines der klassischen - » Bundesministerien. Zu seinen Aufgaben gehört die Regelung der Finanzbeziehungen zwischen —• Bund und -> Ländern und zu internationalen Einrichtungen. Außerdem ist das BMF für die Steuer- und Finanzpolitik und für die Währungs-, Geld- und Kreditpolitik verantwortlich. Zentral ist die Betreuung des Bundeshaushalts, insbes. Aufstellung des Entwurfs und Rechnungslegung, als Haushaltsministerium. Weitere Aufgaben sind die Aufsicht über die Verwaltung der -> Steuern durch die Länder, die Regelung der Kriegsfolgelasten sowie die Durchführung des Lastenausgleichs. Zur Unterstützung seiner Aufgaben unterhält das BMF u.a. einen Wissenschaftl. Beirat. Der beim BMF angesiedelte Arbeitskreis „Steuerschätzungen" prognostiziert das kurz- und mittelfristige Steueraufkommen des Bundes, der Länder, der -> Gemeinden und der —> EU. Als Fachministerium steht es der - > Finanzverwaltung vor, deren -> Behörden die -> Zölle und - » Verbrauchssteuern sowie die Abgaben im Rahmen der EU erheben und das -> Bundesvermögen betreuen. Zu diesen Behörden gehören als Oberbehörden u.a. das Zollkriminalamt, die - » Bundesschuldenverwaltung, das —• Bundesamt für Finanzen und die —> Bundesaufsichtsämter für das Kreditwesen, ftlr das Versicherungswesen und für den Wertpapierhandel. Als -> Mitttel-
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Bundesministerium der Justiz behörden dienen die Oberfinanzdirektionen, denen im örtlichen Bereich u.a. die Hauptzoll-, die Bundesvermögens- und die Bundesforstämter zugeordnet sind. Die unterschiedlichen Aufgaben spiegeln sich auch in der Organsiationsstruktur des BMF wider. Mehr als 2.000 Mitarbeiter arbeiten in 10 Abt., 25 Unterabt. und rd. 170 Referaten. Lit.: HdbStR III, S. 1121ff.; Staatshandbuch Die BRD: Bundesministerium der Finanzen, Köln 1995, S. 174ff.
Raimund Weiland Bundesministerium der Justiz Das BMJ ist in 7 Abt. en gegliedert und verfügt über eine Dienststelle in Beri.: Abt. Ζ (Justizverwaltung) hat die Aufgabe, die personellen, organisatorischen und haushaltsmäßigen Voraussetzungen für die Arbeit des BMJ und der zum Geschäftsbereich gehörenden —> Gerichte und —> Behörden zu schaffen. In der Abt. R (Rechtspflege) sind die Zuständigkeiten für die Gerichtsverfassung, die Verfahrensordnungen, das Recht der jurist. Berufe und der —> Laufbahnen in der Rechtspflege, die -> freiwillige Gerichtsbarkeit, das Konkursrecht und das Kostenrecht zusammengefaßt. Abt. E (Europarecht; Völkerrecht; Rechtsentwicklung) wurde im September 1996 neu gegründet. Sie ist für das —> Völkerrecht, die internationale Gerichtsbarkeit und das gesamte —> europäische Gemeinschaftsrecht einschließl. der justitiellen und innenpolit. Zusammenarbeit zuständig. Ein 2. Aufgabenbereich ist die Rechtsentwicklung in den Bereichen neue —> Medien, —> Kommunikation, technologischer Fortschritt und —> Datenschutz sowie die empirische Forschung auf den Feldern Rechtstatsachen, Kriminologie und Kriminalprävention. Abt. I (—• Bürgerliches Recht) bearbeitet das materielle btlrgerl. Recht mit Nebengesetzen, das internationale Zivilprozeßrecht, den zwischenstaatl. Rechtshilfeverkehr in Zivilsachen und die offenen Vermögensfragen in den neuen Bundesländern; Abt. Π (-> Strafrecht) hat als Ar-
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Bundesministerium der Justiz beitsgebiet das materielle Strafrecht, das Recht der -» Ordnungswidrigkeiten und des Strafvollzugs, das Bundeszentralregisterrecht (-» Bundeszentralregister), das Recht der Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen, das Gnaden- (-> Begnadigung), Immunitäts- (-> Immunität) und Straffieiheitsrecht, die —• Auslieferung, Vollstreckungshilfe und sonstige —> Rechtshilfe in Strafsachen sowie Fragen der Zusammenarbeit mit internationalen Strafgerichtshöfen; Abt. m (Wirtschaftsund -> Handelsrecht) ist zuständig für das Handels- und Wirtschaftsrecht einschließl. des —• Gesellschaftsrechts, des gewerblichen Rechtsschutzes, des Urheber· und Verlagsrechts; Abt. IV (-> Verfassung; —> Verwaltungsrecht; Rechtsprtifting) ist insbes. zuständig für das —> Verfassungsrecht und die Verfahren vor dem —> Bundesverfassungsgericht, das übrige öffentl. Recht ( mit Ausnahme des -> Völkerrechts und des Rechts der Europäischen Gemeinschaften) sowie für Menschenrechtsfragen. Femer betreut sie das Recht der Rehabilitierung von DDRUnrecht. Als Verfassungsressort hat das BMJ zu prüfen, ob -> Gesetze, -> Verordnungen und zwischenstaatl. Vereinbarungen mit höherrangigem Recht, v.a. mit dem —> Grundgesetz vereinbar sind. Darüber hinaus prüft es im Rahmen der Vorbereitung von Gesetz- und Verordnungsentwürfen der —• Bundesregierung, ob die vorgesehene Regelung notwendig, bürgernah und praktikabel ist, und wirkt darauf hin, daß die Gebote der Rechtslogik, der Gesetzessystematik und einer klaren einheitlichen Rechtssprache beachtet werden. (Rechtsförmlichkeitsprüfung). Das BMJ bereitet die Wahl der - » Richter des BVerfGes und der Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes (—> Bundesgerichte) vor und ist Herausgeber des —> Bundesgesetzblattes sowie des —> Bundesanzeigers. Zum Geschäftsbereich des BMJ gehören: der -» Bundesgerichtshof in Karlsruhe mit seinem 5. Strafsenat in Leipzig; der
Bundesministerium der Verteidigung —> Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe mit der Dienststelle in Leipzig und der Dienststelle Bundeszentralregister in Beri, (letztere künftig in Bonn); das —> Bundesverwaltungsgericht in Beri, mit 2 Wehrdienstsenaten in München (insg. künftig in Leipzig); der —> Bundesfinanzhof in München; das - » Dt. Patentamt in München mit der Dienststelle Beri, (letztere künftig in Jena); das Bundespatentgericht (-> Patentrecht) in München und das Bundesdisziplinargericht in Frankfurt/M. Hg. Bundesministerium der Verteidigung Die in der -» Bundeswehr organisierte bewaffnete Macht steht unter dem Primat der —> Politik. Denn polit, leitet ein ziviler -> Minister das Verteidigungsressort und parlament. kontrolliert der -> Bundestag die Bundeswehr als Teil der -> Exekutive. In Abkehr von der bisherigen dt. Verfassungstradition und im Unterschied zu einer Anzahl anderer demokrat. Staaten (z.B. USA und Frankreich) sieht das -> Grundgesetz keinen Oberbefehl des Staatsoberhaupts als Summe aller Verfügungsgewalt über die bewaffnete Macht vor. Vielmehr hat der Verteidigungsminister die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte (Art. 65a GG), die im Verteidigungsfall auf den -> Bundeskanzler übergeht (Art. 115b GG). Während die Befehlsgewalt die Formalbefugnis darstellt, als oberster militärischer Vorgesetzter allen Soldaten der Bundeswehr Befehle zu erteilen, bezeichnet die Kommandogewalt die materielle —> Kompetenz zur militärisch-techn. Truppenführung und -ausbildung. Weil ein Mitglied der —> Bundesregierung nach Art. 66 GG kein anderes besoldetes —• Amt ausüben darf, kann der Verteidungsminister nicht aktiver - Soldat sein. Art. 65a GG garantiert das BMVg als sog. Pflichtressort. Es rechnet - wie -> Auswärtiges Amt, —> BM des Innern, —> BM der Justiz und —> BM der Finanzen - zu den 5 „klassischen" Ministerien. Das BMVg ist - wie die
Bundesministerium des Innern übrigen Bundesministerien - eine oberste —> Bundesbehörde. Dem Bundesminister, dem 2 —> Parlamentarische Staatssekretäre beigegeben sind, unterstehen 2 (beamtete) —> Staatssekretäre. Sie bilden die Leitung des BMVg. Planungsstab sowie Presse- und Informationsstab sind unmittelbar der Leitung zugeordnet. Der —> Generalinspekteur der Bundeswehr (Genlnsp) ist ranghöchster Soldat der Bundeswehr sowie oberster militärischer Berater der Bundesregierung und des Ministers. Sein Stab, der Führungsstab der Streitkräfte (Fü S), bearbeitet als militärische Grundsatzabteilung des BMVg die Angelegenheiten, welche die Streitkräfte in ihrer Gesamtheit betreffen (insbes. die Gesamtkonzeption der militärischen Verteidigung und die Bundeswehrplanung). Zum Fü S gehört auch das Fühningszentrum der Bundeswehr, das die Leitung insbes. bei allen Auslandseinsätzen der Streitkräfte unterstützt. Der Genlnsp hat als ministerielle Instanz in seinem Aufgabenbereich ein Weisungsrecht gegenüber den Inspekteuren von Heer, Luftwaffe und Marine sowie des Sanitätsdienstes mit ihren jeweiligen Führungsstäben. Die Inspekteure sind Abteilungsleiter und für die Einsatzbereitschaft ihrer Teilstreitkraft bzw. des Sanitätsdienstes verantwortlich. Ihnen obliegen Aufgaben als truppendienstliche Vorgesetzte der Soldaten ihres Bereichs. Der Stellvertreter des Genlnsp ist zugleich Inspekteur der Zentralen Militärischen Dienststellen der Bundeswehr. Schließlich verfügt das BMVg über die Abt.en Personal-, Sozialund Zentralangelegenheiten, Haushalt, Recht und Wehrverwaltung sowie die Hauptabteilung Rüstung. Lit: M. Oldiges: Art. 65a, in: M. Sachs (Hg.), GG. Komm., München 1996, S. 1150ff; S. Mann: Das Bundesministerium der Verteidigung, Bonn 1971.
Christian Raap Bundesministerium des Innern Das BMI gehört neben den Ministerien des —» 147
Bundesministerium des Innern Äußeren, der —> Verteidigung, der -*• Finanzen und der ->· Justiz zu den 5 klassischen —> Ressorts, die in den meisten europ. Staaten schon im 18. Jhd. entstanden sind. Aus den Innenministerien, ursprünglich für den gesamten Bereich der Inneren —> Verwaltung wie überhaupt der —> Innenpolitik zuständig, gehen dann in der Folgezeit die modernen Daseinsvorsorgeministerien hervor, zu nennen sind die Wirtschafts-, Verkehrs-, Landwirtschafts-, Arbeits-, Städtebau-, Bildungs- und Kultusministerien. In Dtld. verläuft dieser Prozeß ähnlich, setzt aber aufgrund der verspäteten Staatswerdung auf Reichsebene erst Ende des 19. Jhd. ein. Aus dem Reichskanzleramt (18711879), das die inneren Angelegenheiten des —» Reiches wahrnimmt, geht 1879 zuerst das Reichsschatzamt als oberste Finanzbehörde hervor, wenige Monate später wird das restliche Reichskanzleramt umgewandelt in das Reichsamt des Inneren. Ab 1916 werden einzelne Abt.en ausgegliedert und zum Kriegsernährungsamt (1916), zum Reichswirtschaftsamt (1917) und zum Reichsarbeitsamt (1918) gebündelt. Diese bilden 1919 den Organisationsbestand der jeweiligen Fachministerien. Das neue Reichsministerium des Inneren (RMI) der —> Weimarer Republik bleibt zuständig a) für die Angelegenheiten der Verfassung, der Verwaltung und des Beamtentums, b) für "Volksgesundheit, Wohlfahrtspflege, Deutschtum und Fremdenwesen" und c) für Bildung und Schule. 1928 übernimmt es auch die polizeilichen Angelegenheiten. In der Zeit des —• Nationalsozialismus werden weitere Bereiche wie Schule und Bildung ausgegliedert. Im Gegenzug legt die NSFührung 1934 das Reichsinnenministerium mit dem preuß. Innenministerium zusammen, schließlich werden Teile der SS (so der Sicherheitsdienst SD) in das RMI integriert und bilden dort zusammen mit der Gestapo und anderen Polizeieinrichtungen einen wesentlichen Teil des Terrorsystems des Nationalsozialismus. Das 1949 gegründete BMI umfaßt zu-
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Bundesministerium des Innern nächst wiederum einen breiten Katalog an Aufgaben. Bis in die 60er Jahre kommen sogar noch neue Aufgaben hinzu: so 1969 die Zuständigkeiten des aufgelösten Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, ebenso neue Aufgaben im Bereich von Wasserschutz und Luftreinhaltung (1969) und Kompetenzen im Bereich der Umwelthygiene, Reaktorsicherheit und Strahlenschutz (1972). Parallel dazu wiederholt sich aber der histor. Vorgang, wonach Dienstbereiche aus dem BMI ausgegliedert und entweder andere Fachministerien verstärken (z.B. im Bereich des Sozialwesens) oder erweitem (Abgabe der Raumordnung) oder wie 1986 zu einem neuen -> Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit neu zusammengefügt werden. Das BMI im heutigen Zuschnitt faßt 3 Aufgabenbereiche zusammen: 1. Es ist tätig als Fachministerium für die Angelegenheiten des -> öffentlichen Dienstes, für die Verwaltungsorganisation des Bundes und für Grundsatzfragen im Verfassungs-, Staats- und Verwaltungsrecht. 2. Das BMI übt die Kompetenzen der Fach- und Dienstaufsicht aus über die Polizeien des Bundes, also —> Bundesgrenzschutz und -> Bundeskriminalamt, sowie über das —> Bundesamt für Verfassungsschutz. Innerhalb dieses Dienstbereiches ist auch der Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder (IBPdL) angesiedelt. Diese Einrichtung beruht auf einem erstmals 1950 geschlossenen, dann weiterentwickelten Abkommen zwischen Bund und Ländern. Demzufolge kontrolliert der IBPdL die Bereitschaftspolizeien der Länder und gewährleistet einen einheitlichen Standard. Im Gegenzug übernimmt der Bund einen Teil der Kosten für Ausrüstung und Bewaffnung der Bereitschaftspolizeien. In den Fällen, die das GG für Notsituationen vorsieht, stehen dem IBPdL weitreichende Kompetenzen zu, also in der Katastrophenhilfe, im Inneren Notstand und im Verteidigungsfall. Der IBPdL nimmt dann die für die
Bundesministerium für Arbeit ... Bundesregierung vorgesehenen polizeilichen Kompetenzen wahr. Neben diesen institutionellen Zuständigkeiten im Bereich der - » Inneren Sicherheit zählen zu diesem Aufgabenschwerpunkt auch die sog. Ausländer- und Asylangelegenheiten (-> Asyl). 3. Als 3. Aufgabenschwerpunkt obliegen dem BMI die Zuständigkeiten für Kultur, Sport und Medien, soweit der Bund hier angesichts der —• Kulturhoheit der Länder Aufgaben reklamieren kann. Hinzuzurechnen sind in diesem Bereich die Aufgabenfelder der dt. Minderheiten in Osteuropa ( - » Minderheit, nationale) und der -> GUS, sowie die Betreuung der Spätaussiedler (-> Bundesbeauftragte/r für Aussiedlerfragen). Das System der -> Europäischen Inneren Sicherheit, das sich mit zunehmender Integrationsdichte herausbildet, verändert die Aufgabenstellung und Aufgabenabgrenzung des BMI. Gerade die zahlreichen internationalen und europ. Sicherheitskooperationen, in die der Bundesminister des Inneren seine Vertreter und Bevollmächtigten entsendet, verweisen darauf, wie wenig sich noch ein striktes Gegenüber von -> Innen- und -> Außenpolitik begründen läßt. Lit: Β. Becker: Öffentl. Verwaltung, Percha 1989; BMI: Bundesministerium des Inneren, Bonn 1993; E.-R. Huber: Dt. Verfassungsgeschichte IV. u. VI., Stuttgart 1969 u. 1981. Hans-Jürgen Lange Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Das BMA gliedert sich in nachfolgende Ressortzuständigkeiten: 1. Arbeitsförderung und Beschäftigungspolitik: Dazu zählen Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsvermittlung, Berufsberatung, Förderung der beruflichen Bildung, - » Arbeitslosenversicherung sowie sonstige mit dem - » Arbeitsförderungsgesetz zusammenhängende Fragen. 2. —> Arbeitsrecht und Arbeitsschutz: Das Aufgabengebiet umfaßt Arbeitsvertragsrecht, kollektives Arbeitsrecht einschließt. -> Betriebsverfassung und Mitbestimmung, Tarifwe-
Bundesministerium f ü r Arbeit... sen, —> Arbeitsgerichtsbarkeit, techn. Arbeitsschutz, -medizin, -zeitfragen, Jugendarbeitsschutz sowie die Humanisierung des Arbeitslebens. 3. —> Sozialversicherung und SGB: Hierzu gehören die gesetzliche —> Rentenversicherung einschließl. Altersversicherung der Landwirte, Handwerker und freier Berufe, die gesetzliche Unfallversicherung sowie die gemeinsamen Fragen der Sozialversicherung, die -> Selbstverwaltung, das Verfahrensrecht, die -» Sozialgerichtsbarkeit und die Schaffung des SGB. 4. —• Pflegeversicherung und Rehabilitation: Dieser Bereich umfaßt Fragen der Absicherung bei Pflegebedürftigkeit sowie deren Minderung durch geeignete rehabilitative Maßnahmen. Hierzu gehören die finanzielle Absicherung der Pflegebedürftigen, Gewährleistung eines hinreichenden Pflegeangebotes, soziale Sicherung der häuslichen Pflegekräfte sowie Fragen der Pflegeberufe. Unter dem Stichwort Rehabilitation sind die Aufgabenfelder der medizinischen und beruflichen Rehabilitation sowie die Förderung entsprechender Einrichtungen, ferner das Schwerbehindertenrecht sowie die Betreuung und Förderung Behinderter zusammengefaßt. 5. Kriegsopferversorgung: Dieses Arbeitsgebiet umfaßt die allgemeinen und finanziellen Angelegenheiten der Versorgung der Kriegsopfer und Wehrdienstopfer, die Kriegsopferfursorge und die Versorgungsmedizin. 6. Europ. und Internationale Sozialpolitik: Dazu gehören die Federführung für die sozialpolit. Aufgaben im inter- und supranationalen Bereich, insbes. bei der —> Europäischen Union, der - » Internationalen Arbeitsorganisation, dem —> Europarat und der Organisation für wirtschaftl. Zusammenarbeit und Entwicklung (-> OSZEVersammlung), femer die Vorbereitung und der Abschluß von Abkommen über soziale Sicherheit; Beschäftigung und soziale Integration von Ausländern:sSozialpolit. Beratung; Personal und Organisation im Geschäftsbereich; Sonderfragen des Arbeitsschutzes und der
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Bundesministerium für A r b e i t . . . Arbeitsmedizin. Das BMA gliedert sich in 9 Abt. en: I. Personal, Verwaltung, Haushalt, Informationsverarbeitung; Π. Grundsatz- und Planungsabteilung (einschl. Statistik); ΙΠ. Arbeitsmarktpolitik, Arbeitslosenversicherung; IV. Arbeitsrecht, Arbeitsschutz; V. Sozialversicherung, SGB; VI. Pflegeversicherung, Prävention und Rehabilitation; VE. Kriegsopferversorgung, Versorgungsmedizin; VÓI. Europ. und Internationale Sozialpolitik; IX. Beschäftigung und soziale Integration von Ausländern; sozialpolit. Beratung; öffentl. Dienstrecht; Sonderfragen des Arbeitsschutzes und der Arbeitsmedizin (diese Abt. hat ihren Dienstsitz in Beri.). Zum Geschäftsbereich des BMA gehören das Bundesarbeitsgericht, das Bundessozialgericht (—> Bundesgerichte), das —> Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen, die —> Bundesausführungsbehörde fur Unfallversicherung, die —> Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Das BMA führt die Aufsicht über die —> Bundesanstalt für Arbeit und über eine Reihe von Spitzenorganisationen der Sozialversicherung mit Selbstverwaltung. Diese sind: -> Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) (Beri); Bundesknappschaft (Bochum); Landesversicherungsanstalt OldenburgBrem. (Oldenburg); Seekasse (Hamb.); Bahn-Versicherungsanstalt (Frankfurt/M.); 4 Landwirtschaft!. Alterskassen; Zusatzversorgungskasse für Arbeitnehmer in der Land- und Forstwirtschaft (Kassel); 34 Gewerbliche Berufsgenossenschaften; 4 Landwirtschaftl. Berufsgenossenschaften; See-Berufsgenossenschaft (Hamb.); Eisenbahn-Unfallkasse (Frankfurt/M.); Unfallkasse Post und Telekom (Tübingen); Pflegekassen bei den Krankenkassen. Hinzu treten als —» Anstalt des öffentlichen Rechts für Zusatzversorgung mit Selbstverwaltung: Versorgungsanstalt der Dt. Bühnen (München) und die Versorgungsanstalt der Dt. Kulturorchester (München). Dem BMA zugeordnet sind der —> Bundesbeauftragte für
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BMFB die Belange der Behinderten, der -> Bundesbeauftragte der Bundesregierung für die Belange der Ausländer und der Bundeswehrbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen; (s.a. -> Arbeit). Lit: Jahresbericht der Bundesregierung, Bonn (jährlich). HgBundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie Die Zuständigkeit des BMBF wird wesentlich durch das föderalistisch geprägte System der Forschungsförderung bestimmt. Es plant, koordiniert und fördert gemeinsam mit den —> Ländern Forschung und Bildung. Beide finanzieren die Dt. Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) als Forschungs- und Förderorganisationen der Grundlagenforschung wie auch Forschungsinstitutionen von überregionaler Bedeutung wie die —> Großforschungseinrichtungen innerhalb der Helmholtz-Gemeinschaft (HGF), Einrichtungen der Wissenschaftsgemeinschaft —» Blaue Liste (BLE), die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung (FhG), die Arbeitsstelle Friedens- und Konfliktforschung, die Dt. Akademie Leopoldina sowie das Akademieprogramm. Es finanziert auch institutionelle Ressortforschung mit aufgabenakzessorischer Verwaltungsfunktion zur Deckung seines Bedarfs an wissenschaftl. Entscheidungshilfen in nachgeordneten Bundesanstalten und -Instituten, z.B. dem —> Bundesinstitut für Berufsbildung (ΒΠ3Β), Beri., oder den Dt. Historischen Instituten (DHI) in Rom und Paris. Die Förderung von Projekten in Wirtschaft und öfTentl. Forschung über Fachprogramme, etwa Biotechnologie, Energie, Umwelt, zielt auf die Entwicklung von innovationsfördemden Schlüsseltechnologien oder auf Vorsorgeforschung als Teil der staatl. - » Daseinsvorsorge und auf —> Finanzhilfen für kleine und mittlere Unternehmen für Forschungskooperationen und Technologietransfer ab. Die Koordinierung der außer-
BIMFB schulischen und beruflichen Bildung gründet in einer gesetzgeberischen Kompetenz, die es, auch (gemeinsam mit den Ländern) für die Ausbildungsförderung (-> BAföG) hat. Das BMBF stärkt weltweit die wissenschaftl. Zusammenarbeit durch bilaterale und multilaterale Abkommen mit europ. und außereurop. Staaten sowie internationalen Organisationen und koordiniert die Durchführung der europ. Programme mit dt. Beteiligung, die der -> EU ebenso wie die europ. Organisationen, etwa für Kernforschung (-> CERN). Das BMBF wurde am 4.10.1955 als Bundesministerium für Atomfragen (BMAt) gegründet, 1957 in Bundesministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft (BMAW) und 1962 in Bundesministerium für wissenschaftl. Forschung (BMwF) umbenannt. Die GG-Änderung vom 12.5. 1969 erweiterte, unter erneuter Namensänderung in Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW), seine Kompetenzen um die berufliche Bildung, die Hochschul- und Technologiepolitik, und führte am 15.12.1972 zur Abspaltung des Bundesministeriums für Forschung und Technologie (BMFT), mit der Zuständigkeit für technologische Forschung, Entwicklung und Innovation. In den 70er und 80er Jahren konzentrierte sich das BMBW auf den Hochschulausbau, das Hochschulrahmengesetz, das Berufsbildungsförderungsgesetz und den verstärkten Ausbau der Fachhochschulen (—> Hochschulen). Das BMFT legte seinen Arbeitsschwerpunkt auf den Ausbau der Großforschungseinrichtungen und seiner technologischen Programme. Am 17.11.1994 wurden beide Ministerien wieder im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie zusammengeführt. Das BMBF wird nach der Verlegung des Regierungssitzes in Bonn verbleiben, aber eine Außenstelle in Beri, aufbauen, die u.a. fìlr Sonderprogramme in den neuen Ländern zuständig ist. Lit: BMBF (Hg.): Aus 40 Jahren Bildung und Forschung, CD-ROM, Bonn 1995; dass. (Hg.): Aufbau und Aufgaben, Bonn 1996.
Bundesministerium für Ernährung., Norbert
Binder
Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Das Ministerium gliedert sich in 7 Abt.en, 14 Unterabteilungen und über 90 Referate. Eine besondere Stellung nimmt die Außenstelle Beri. ein. Zum Geschäftsbereich gehört eine Reihe weiterer —* Behörden und Einrichtungen, u.a. eine unmittelbar nachgeordnete Bundesoberbehörde (—> Bundessortenamt in Hannover), 10 -> Bundesforschungsanstalten, von denen 2 (-> Biologische Bundesanstalt für Landund Forstwirtschaft, Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere) Bundesoberbehörden sind, 5 der Aufsicht des Ministeriums unterstehende rechtl. selbständige Anstalten des öffentlichen Rechts, darunter die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung in Frankfurt/M. sowie 17 weitere Einrichtungen, die ganz oder teilw. aus dem Haushalt des Ministeriums finanziert werden. Das Ministerium ist neben den Aufgabengebieten, die es in seiner Bezeichnung führt, für eine Reihe weiterer Bereiche auf Bundesebene zuständig. In erster Linie geht es dabei um die Wahrnehmung dt. Interessen auf nationaler und v.a. auf europ. Ebene. Es koordiniert und vertritt die Interessen von -» Bundesregierung und —> Bundesländern in den Gremien der —> Europäischen Union, wenn es um die Belange der —> Land- und —» Forstwirtschaft, des Weinbaus, des Gartenbaus sowie der —» Fischwirtschaft auf der Tagesordnung stehen, oder Probleme der Gesundheit von Pflanzen und Tieren zu lösen sind. Das Ministerium informiert die Länder über Brüsseler Entscheidungen und trägt im Rahmen seiner Kompetenzen dafür Sorge, daß das -» europäische Gemeinschaftsrecht, für dessen Umsetzung und Durchführung i.d.R. die Länder zuständig sind, in Dtld. ordnungsgemäß angewandt wird. Femer unterstützt es u.a. die Emährungsund Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (-* FAO). Hg.
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Bundesministerium für Familie...
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Das BMFSFJ besteht in seiner jetztigen Form seit November 1994. Es wurde aus dem BM für Familie und Senioren und dem BM für Frauen und Jugend zusammengefügt. Das Ministerium hat 5 Fachabteilungen für Gleichberechtigung, Familie, Senioren, Jugend und Querschnittsaufgaben. Desweiteren ist der Beauftragte des Bundes für den Zivildienst im BMFSFJ angesiedelt. Das BMFSFJ hat die Aufsicht über folgende nachgeordnete Behörden: das — Bundesamt für den Zivildienst und die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Ν. Z.-H. Bundesministerium für Gesundheit Durch Organisationserlaß des -> Bundeskanzlers vom 18.1.991 wurde das BMG eingerichtet. Damit sind alle wesentlichen Bereiche des Gesundheitswesens in einem Ministerium konzentriert - von der Ausbildung in den Gesundheitsberufen über das Arzneimittel- und Apothekenwesen, —» Gentechnik, Gesundheitsvorsorge, Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten, AIDS und Sucht, Lebensmittelrecht und Veterinärmedizin bis hin zur Finanzierung und Steuerung des Gesundheitswesens über die —> Krankenversicherung und deren Vertragspartner. Mit der Zuständigkeit für die Sozialhilfe hat das BMG 1994 einen weiteren Aufgabenbereich übernommen, der zuletzt dem bisherigen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zugeordnet war. Das BMG besteht aus den Abt.en: Z. Zentrale Verwaltung, internationale Beziehungen; 1. Arzneimittel, —> Sozialrecht; 2. GesundheitsVersorgung, Krankenversicherung; 3. Gesundheitsvorsorge, Krankheitsbekämpfung; 4. Verbraucherschutz und Veterinärmedizin. In Beri, hat das BMG seinen 2. Sitz. Zum Geschäftsbereich des BMG gehören: die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln (BZgA), das Paul-
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Bundesministerium für Raumordnung... Ehrlich-Institut, Bundesamt für Sera und Impfstoffe in Frankfurt/M. (PEI), das Dt. Institut für medizinische Dokumentation und Information in Köln (DIMDI), das Robert Koch-Institut in Beri. (RKI). HgBundesministerium für Post und Telekommunikation -> Postreform Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Das BMBau nimmt die Zuständigkeit des -> Bundes auf den Gebieten der Raumordnung des Städtebaus, des Wohnungswesens und des Bauwesens wahr. Dem zuständigen Minister wurden durch Organisationserlaß des —» Bundeskanzlers vom 3.2.1995 außerdem die Aufgaben des Beauftragten der Bundesregierung für den Berlin-Umzug und den Bonn-Ausgleich übertragen. Das Ministerium gliedert sich in den Leitungsbereich (L), den Stab des Umzugsbeauftragten (St), eine Zentralabt. (Z) und 3 Fachabt.en: Raumordnung und Städtebau (RS), Wohnungswesen (W) und Bauwesen (B). Die Zentralabt. ist zuständig für Personal, Organisation, Datenverarbeitung, Inneren Dienst, Haushalt, Justitiariat sowie Verwaltung der Bundesdarlehen und Bundesbeteiligungen. Außerdem nimmt sie übergreifende Fachaufgaben wahr, wie internationale Zusammenarbeit, statistische Grundlagen, Besucherdienst sowie Daten- und Geheimschutz. Der Abt. W. obliegen das Recht des Wohnungswesens und der Wohnungswirtschaft, das - » Wohngeld sowie Fragen des Wohneigentums- und Mietrechts. Ferner bearbeitet sie Grundsatzfragen der Wohnungspolitik, der Wohnungsbauförderung, der Mieten- und Eigentumspolitik sowie der Bau- und Wohnungswirtschaft und der Kostensenkung im Wohnungsbau. Die Abt. RS ist zuständig für das Recht des Städtebaus und der Raumordnung, für Grundsatzfragen und Förderung des Städtebaus und für die nationale und europ. Raumordnungspolitik. Sie bearbeitet ferner fachpolit. Fragen der räumlichen
Bundesministerium für Raumordnung... Entwicklung und betreut die Ressortforschung einschließl. der Modellvorhaben im Städtebau. Die Abt. B. ist als oberste techn. Instanz für die zivilen Baliaufgaben des Bundes im In- und Ausland zuständig, soweit die Aufgaben nicht dem Stabsbereich Beri, übertragen sind. Sie erläßt Richtlinien und regelt Grundsatzangelegenheiten des Bauens, der Bautechnik, des öffentl. Auftragswesens, der Energieverwendung, des baulichen -» Zivilschutzes und der EDV im Bauwesen. Der Stab des Beauftragten der Bundesregierung für den Berlin-Umzug und den Bonn-Ausgleich ist als oberste techn. Instanz für die Bauaufgaben, für den Sitz von -> Parlament und —> Regierung in Beri, sowie für die allgemeine Hauptstadtentwicklung und den Wohnungsbau für Bundesbedienstete in Beri. Zuständig. Zur Modernisierung der Verwaltung und im Hinblick auf den Berlin-Umzug wurde für die Organisation des BMBau eine neue Zielstruktur entwickelt. Sie sieht eine Neuaufteilung der Arbeitsplätze (80% Beri., 20% Bonn) und eine erhebliche Rückführung der Zahl der Organisationseinheiten einschließl. Aufgabenabschichtungen in dem nachgeordneten Bereich vor. Die Neuorganisation wird schrittweise mit dem Berlin-Umzug verwirklicht. Die nachgeordnete Behörde des BMBau ist die Bundesbaubehörde (BBD), zuständig für die Bauangelegenheiten der Verfassungsorgane des Bundes und der obersten Bundesbehörden mit Ausnahme der Bauten im Bereich Spreebogen, die von der bundeseigenen Bundesbaugesellschaft Beri. mbH durchgeführt werden. Weiterhin ist die BBD zuständig für die Bauangelegenheiten des Bundes im Ausland mit Ausnahme der Bauten im Geschäftsbereich des - * Bundesministeriums der Verteidigung. Die BBD gliedert sich neben der Zentralabt. in die für die Durchführung von Bauaufgaben als Ortsinstanz eingerichtete Abt. I (Bauangelegenheiten des Bundes in Beri.), Abt. Π (Bauangelegenheiten des Bundes im Ausland) und
Bundesministerium für Umwelt... Abt. HI (Bauangelegenheiten des Bundes in Bonn). Der Sitz der BBD ist Beri.. Die für Bauangelegenheiten im Raum Bonn zuständige Abt. ΠΙ hat ihren Standort in Bonn. Zum Geschäftsbereich des BMBau gehört femer die Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (BFLR) in Bonn-Bad Godesberg. Sie ist eine nicht rechtsfähige —> Bundesforschungsanstalt. Sie hat die wissenschaftl. Grundlagen für die Aufgabenbereiche der Bundesregierung im Bereich der Raumordnung, des Städtebaus und des Wohnungswesens zu schaffen. Hg-
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Als Reaktion auf den Atomunfall in Tschernobyl einerseits sowie auf die Zunahme bundesstaatl. Aufgaben im —> Umweltschutz andererseits wurde 1986 das BMU gegründet. Seine Zuständigkeit umfaßt die Bereiche Grundsätzliche und wirtschaftl. Fragen der —> Umweltpolitik, internationale Zusammenarbeit (Abt. G), Wasserwirtschaft, Abfallwirtschaft, Bodenschutz, Altlasten (Abt. WA), Umwelt und Gesundheit, Immissionsschutz, Anlagensicherheit und Verkehr, Chemikaliensicherheit (Abt. IG), Naturschutz und Ökologie (Abt. N) sowie Sicherheit kerntechn. Einrichtungen, Strahlenschutz, nukleare Ver- und Entsorgung (Abt. RS). Dem BMU sind direkt nachgeordnet das —» Umweltbundesamt in Beri. / Dessau, das —>· Bundesamt für Naturschutz in Bonn und das Bundesamt für Strahlenschutz in Salzgitter. Das BMU ist gesetzesvorbereitend tätig und nimmt im wesentlichen keine Vollzugsaufgaben wahr. Dabei wird die Aufgabenverteilung zwischen -» Bund und -» Ländern im Umweltbereich durch die verschiedenen Gesetzgebungskompetenzen - konkurrierende —• Gesetzgebung (Art. 72 GG, Art. 74 GG), Rahmengesetzgebung (Art. 74 GG) - geregelt. A. S.
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Bundesministerium für Verkehr
BMZ
Bundesministerium für Verkehr Das BMV gliedert sich in den Leitungsbereich, 8 Abt.en und die Dienststelle Beri.; die verkehrspolit. Grundsatzabteilung koordiniert und steuert die internationalen sowie die ordnungs- und investitionspolit. Aufgaben des BMV. In der Zentralabt. werden die typischen Querschnittsfunktionen (insbes. Rechtswesen, Haushalt, Personal, Organisation, Informationstechnik und Innerer Dienst) erfüllt. Die 6 Fachabt.en decken die folgenden Aufgabenbereiche ab: Eisenbahnwesen; Straßenverkehr einschließl. Kraftfahrwesen; Luft- und Raumfahrt einschließl. Wetterdienst; Seeverkehr; Binnenschiffahrt und Wasserstraßen; Straßenbau. Die Dienststelle Beri, ist für die Wahrnehmung verkehrspolit. Aufgaben in den verschiedenen Verkehrsbereichen der neuen Bundesländer verantwortlich. Zum Geschäftsbereich des BMV gehören folgende nachgeordnete Bundesbehörden und Verwaltungsbereiche bzw. Einrichtungen mit besonderem Status: -> Eisenbahn-Bundesamt in Bonn; —> Bundeseisenbahnvermögen in Frankfurt/M.; —> Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg; Bundesamt für Güterverkehr in Köln; -> Luftfahrt-Bundesamt in Braunschweig; -> Deutscher Wetterdienst in Offenbach; Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie in Hamb.; Bundesoberseeamt in Hamb.; —> Bundesanstalt für Gewässerkunde in Koblenz; Bundesanstalt für Wasserbau in Karlsruhe; Wasser- und Schiffahrtsverwaltung des Bundes mit 7 Wasser- und Schifffahrtsdirektionen und 39 Wasser- und Schiffahrtsämtem, 6 Wasserstraßen-Maschinenämtern und 8 Wasserstraßen-Neubauämtem; -> Bundesanstalt für Straßenwesen in Bergisch Gladbach; Oberprüfungsamt für die höheren techn. Verwaltungsbeamten in Frankfurt/M.; - y Flugplankoordinator für die dt. Verkehrsflughäfen. (s.a. —> Verkehr-» s.a. Eisenbahnen). Lit.: HdbStR
III, S. 1 0 8 7 f f .
Hg-
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Bundesministerium für Wirtschaft BMWi) Die dt. Wirtschaftsverwaltung beginnt 1917 mit dem durch kaiserlichen Erlaß errichteten „Reichswirtschaftsamt", dem späteren Reichswirtschaftsministerium. Das BMWi (ca. 2.000 Mitarbeiter) entstand als eine oberste -» Bundesbehörde nach Gründung der —• Bundesrepublik Deutschland am 1.4.1949 und ging aus dem 1946 eingerichteten Verwaltungsamt für Wirtschaft der Bi-Zone hervor. Zuständigkeiten des BMWi liegen u.a. in den Bereichen: Ordnungs-, Konjunktur- und Wachstumspolitik, Mittelstandspolitik, Energiepolitik, gewerbliche wirtschaftspolit. Grundsatz fragen und Industriepolitik, Außenwirtschaft, Strukturpolitik, —» Europapolitik; mit Haushaltsmitteln ausgestattete Kompetenzen z.B. in der Wirtschaftsförderung, Forschung / Innovation, Kohlebergbau und Energieversorgung, Luftfahrtförderung, Auslandsmesseförderung. Zuständigkeiten auch bei EG-Beihilfekontrolle, —» Europäischer Gerichtshof, Wettbewerbsrecht, Handwerks- und —> Gewerbeordnung, Ladenschluß, Recht der Versorgungswirtschaft, Außenwirtschaftsrecht, internationale Handelsorganisationen, Ausfuhrbürgschaften, wirtschaftl. Entwicklung der neuen Bundesländer. Dem BMWi sind 7 Behörden mit ca. 5.700 Mitarbeitern nachgeordnet: —> Bundeskartellamt, —> Bundesamt für Wirtschaft, -» Bundesausfuhramt, —> Bundesstelle für Außenhandelsinformation, —> Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, -> Bundesanstalt für Materialforschung- und Prüfung, -» Physikalisch-Technische Bundesanstalt. T.
Z.
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Das BMZ leitet die bilateral-externe -> Entwicklungspolitik der -> Bundesregierung. Im Dt. —> Bundestag steht ihm der Ausschuß für wirtschaftl. Zusammenarbeit und Entwicklung gegenüber. Das BMZ fuhrt keine eigenen Projekte
Bundesmonopolverwaltung für Branntwein durch, sondern fördert die Arbeit staatl. und nichtstaatl. Organisationen. Hauptaufgaben sind die globale Zukunftssicherung (z.B. durch Minderung der Armut und Sicherung ökologischer Stabilität), die Bekämpfung akuter Not und Maßnahmen zur Überwindung ihrer wirtschaftl., sozialen und polit. Gründe („good governance"), sowie die Förderung wirtschaftl. Zusammenarbeit durch Verbesserung der Rahmenbedingungen für privatwirtschaftl. Aktivität. Das BMZ verweist dabei auf den Nutzen der Entwicklungspolitik für die dt. Wirtschaft und die Verringerung von Sicherheitsrisiken (wie z.B. Flüchtlingsströme aus den armen Ländern). Lit: BMZ: Der entwicklungspolit. Horizont des BMZ, Bonn 1996.
D. K. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein Die BMonV ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums der Finanzen. Sie wurde durch Gesetz vom 8.8.1951 als Nachfolgerin der Reichsmonopolverwaltung errichtet mit Sitz in Offenbach. Das Branntweinmonopol ist seiner Form nach ein Finanzmonopol, welches eine nationale Marktordnung für Ethylalkohol mit agrarund sozialpolit. Zielsetzungen sichert. Die Aufgaben der BfB bestehen in der Übernahme des im Bundesgebiet hergestellten Agraralkohols aus kleinen und mittelständischen Brennereien sowie in der Reinigung und dem Verkauf dieses Alkohols. Das Gesetz über das Branntweinmonopol verpflichtet die BMonV, den innerhalb des Monopolgebietes aus bestimmten Rohstoffen im Rahmen von Eizeugungsquoten hergestellten Alkohol zu einem Preis zu übernehmen, der die Selbstkosten der Brennereien deckt. Der zu vermarktende Alkohol kann z.Z. im freien Wettbewerb mit EG-Alkohol nicht kostendeckend abgegeben werden. Zur Anpassung der Verkaufspreise an die Preise auf dem EG-Markt benötigt die BMonV daher neben ihren Erträgen einen jährlichen Zuschuß aus dem Bundeshaus-
Bundesnachrichtendienst halt. Der Alkohol wird in privaten Brennereien aus landwirtschaftl. Rohstoffen wie Kartoffeln, Getreide, Rübenstoffen und Obst hergestellt. Die Brennereien gliedern sich in landwirtschaftl., gewerbliche und Obstbrennereien. Dazu kommen ca. 200.000 Stoffbesitzer, die selbstgewonnenes Obst in ca. 23.000 Abfindungsbrennereien verarbeiten lassen. HgBundesmünzen-> Währung Bundesnachrichtendienst Der BND ist neben dem —• Bundesamt für Verfassungsschutz und dem -> Militärischen Abschirmdienst einer der 3 Nachrichtendienste der —> Bundesrepublik Deutschland. Der BND gehört zum Geschäftsbereich des —> Bundeskanzleramtes. Offiziell gegründet wird er am 11.7.1955 durch einen Kabinettsbeschluß der -> Bundesregierung. Mit der sog. Organisation Gehlen (1946-55) weist er allerdings eine polit, umstrittene Vorläuferorganisation auf. Generalmajor Reinhard Gehlen leitete im nationalsozialistischen Dtld. die Heeres-Spionageabteilung „Fremde Heere Ost", welche die militärische Struktur der Sowjetstreitkräfte auskundschaftete. Im Frühjahr 1945, kurz nach dem Zusammenbruch des -» Nationalsozialismus, bot er den US-amerik. Streitkräften sämtliche Informationen über die Sowjetarmee an. Im Gegenzug blieb er nicht nur unbehelligt, sondern wurde 1946 damit beauftragt, einen dt. Spionagedienst unter amerik. Leitung aufzubauen. Diese Organisation Gehlen unterstand zunächst der amerik. Armee, dann von 1949 bis 1955 der CIA. Mit dem Ende des Besatzungsstatuts 1955 übernimmt die Bundesrepublik die sog. Organisation Gehlen und benennt diese um in BND. Auch in der Folgezeit arbeitet der BND ohne klare rechtl. Grundlage, gestützt allein auf einen Organisationserlaß. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus dem Jahr 1983
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Bundespräsident
Bundesnaturschutzgesetz berührt auch die Praxis der Nachrichtendienste, Informationen zu sammeln, zu speichern und zu verarbeiten. Im Ergebnis fuhrt das Urteil schließlich dazu, die Arbeit des Dienstes mit dem BND-Gesetz vom 20.12.1990 erstmals rechtl. zu verankern. Die Befugnisse und die Verfahren der Parlament. Kontrolle seiner Tätigkeiten entsprechen jetzt denen des —> Verfassungsschutzes. Der BND ist der alleinige Auslands-Nachrichtendienst der Bundesrepublik. Neben der Spionageabwehr leistet er somit nicht nur die polit, und wirtschaftl., sondern auch die militärische Gegenspionage. Zur Zeit des Kalten Krieges zählt der Ostblock zu seinem Hauptoperationsgebiet. Rd. 80% der gesammelten Informationen stammt aus offenen Quellen, die restlichen 20% aus Geheimmaterial. Nach dem Wegfall des Ost-West-Gegensatzes globalisiert sich zum einen das Operationsgebiet, zum anderen verändert sich die Aufgabenzuschreibung. So verliert die militärische Gegenspionage an Bedeutung, die wirtschaftl. und wissenschaftl.techn. nimmt dagegen zu. Zudem wird der BND verstärkt in die internationale Kriminalitätsbekämpfung (Geldwäsche, Drogenhandel, Nuklearhandel u.a.) einbezogen. Kritiker sehen hierin eine unzulässige Aufweichung der bisherigen Aufgabentrennung von Polizei und Nachrichtendiensten. Der BND hat seinen Sitz in Pullach bei München und beschäftigt (1990) rd. 7.500 Personen. Von diesen arbeiten rd. 6.000 in der Zentrale, 1.500 in den Außenstellen und Auslandsresidenturen. Im Zuge einer Neuorganisation wird der Personalbestand um rd. 1.000 Stellen reduziert. Lit.: Ch. Gröpl:
Die Nachrichtendienste im
Regelwerk der dt. Sicherheitsverwaltung, Berlin
1993; E. Schmidt-Eenboom (Hg.): Nachrichtendienste in Nordamerika, Europa und Japan, CDROM, Weilheim 1995.
Hans-Jürgen Lange Bundesnaturschutzgesetz schutzrecht
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-»
Natur-
Bundesoberbehörde —> Behörde Bundespatentgericht —> Patentrecht Bundespflicht -> Bundestreue - » s.a. Bundeszwang Bundespost - > Deutsche Post AG Bundespräsident Im Gegensatz zum Reichspräsidenten der —> Weimarer Republik (—> parlamentarisches Regierungssystem mit Präsidialhegemonie) und zum amerik. Präsidenten (-> présidentielles Regierungssystem) ist der BPräs. - eine Folge der schlechten Erfahrungen mit dem Dualismus von parlament. und präsidentiellem Prinzip in der —> Weimarer Reichsverfassung - als nicht regierendes Staatsoberhaupt (parlament. Regierungssystem mit Kanzlerhegemonie) an der aktiven Gestaltung der Regierungspolitik prinzipiell rechtl. nicht beteiligt. Selbst im Falle einer Parlaments- und Regierungskrise (Art. 63 Abs. 4 S. 1 u. 3, 68 u. 81 GG) bleibt er trotz eines begrenzten Ermessensspielraums auf die Funktion eines Stabilisators und uneigennützigen Helfers bei der Beseitigung der Funktionsstörung beschränkt (Reservefunktion). Er verfügt daher anders als der —> Bundeskanzler (Richtlinienkompetenz, Art. 65 GG) nur über ein geringes Maß an potestas. Statt dessen fällt ihm die Rolle einer „würdigen" Verfassungsinstitution (W. Bagehot) zu, die auf auctoritas und dignitas hin angelegt ist. Der BPräs. ist aber nicht nur außerhalb des polit.-dynamischen Bereichs verankert, er ist auch als neutrales, über der gruppen- und parteipolit. Auseinandersetzung stehendes Organ konzipiert, das symbolhaft die Einheit des —> Staates verkörpert und dem ganz wesentlich die Aufgabe zukommt, auctoritas und dignitas des Staates zu wahren, einen möglichst hohen Verfassungskonsens zu erhalten und damit in besonderem Maße integrierend zu wirken. Er unterliegt daher auch einem umfassenden Inkom-
Bundespräsident patibilitätsgebot (Art. 55 GG, -> Inkompatibilität). Aus dieser Rollenzuordnung des BPräs. im polit. System ergibt sich auch die - im wissenschaftl. Schrifttum freilich kontroverse - Auslegung der ihm zugewiesenen, mit dem Wortlaut der WRV teilw. noch identischen, verfassungsrechtl. Kompetenzen. Grdl. ist in diesem Zusammenhang der Wandel der Sinndeutung des Rechtsinstituts der -> Gegenzeichnung (Art. 58 GG), das die Verschränkung zwischen Präsidial- und Regierungsgewalt herstellt und ein einheitliches Handeln der zweigeteilten -» Exekutive garantiert. Hatte ursprünglich das —> Staatsoberhaupt die polit. Entscheidungsbefugnis und war die Regierung die Gegenzeichnende, so ist dies heute umgekehrt (Umpolungstheorie). Dem BPräs. ist nur noch eine beschränkte polit. Mitwirkungsmöglichkeit und Kontrollfunktion und damit Einflußnahme auf die Politik verblieben, und zwar über die auf dem Recht auf Unterrichtung (§ 5 GOBReg) beruhende informative Kontrolle (Funktion: beraten, ermuntern und bestärken, mahnen und warnen), die Rechtmäßigkeitskontrolle (Funktion: Rechtswahrung) und die Dignitätskontrolle (Funktion: Wahrung der Würde des Staates). Die beiden zuletzt genannten Kontrollformen unterliegen als suspensive Vetofunktionen wiederum der Rechtskontrolle durch das -» Bundesverfassungsgericht (-» Organklage nach Art. 93 Abs. 1, Ziff. 1 GG) und sind äußerst restriktiv zu nutzen, damit zum einen die Regierungspolitik nicht blokkiert und zum andern der BPräs. in den polit. Tagesstreit nicht hineingezogen und sein Ansehen nicht verspielt wird. Im Falle einer vorsätzlichen Verletzung des GG oder eines anderen Bundesgesetzes durch den BPräs. verbleibt die Möglichkeit einer Anklage vor dem BVerfG (Art. 61 GG). Die sowohl eine formelle (Frage der Rechtmäßigkeit des Verfahrens) als auch eine materielle (Frage der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem GG) Prüfungsbefugnis umfassende Rechtmä-
Bundespräsident ßigkeitskontrolle kommt am ehesten zum Tragen bei der Gesetzesausfertigung (Art. 82 Abs. 1 GG), bei -> Staatsverträgen (Art. 59 GG) und bei der Personalpolitik, d.h. bei der Ernennung und Entlassung von -> Bundesministern (Art. 64 Abs. 1 GG), Bundesbeamten, Bundesrichteni und Soldaten (Art. 60 Abs. 1 GG) sowie der Entsendung der eigenen —> Botschafter (Art. 59 Abs. 1 GG). Neben der Rechtmäßigkeitskontrolle spielt auch die Dignitätskontrolle eine Rolle. Sie stellt ein bei Personalentscheidungen auf die moralische Eignung begrenztes sachliches Prüfungsrecht dar (Bspl. Ablehnung der Ernennung des Berliner Senatsrats Creifelds zum Bundesrichter durch BPräs. Lübke 1965). Beide Kontrollformen sind bisher von allen BPräs. (Ausnahme: Karl Carstens, der eine über ein formelles Prüfungsrecht hinausgehende Kontrollfunktion mit dem Amt des BPräs. für nicht vereinbar hielt) grds. bejaht und in der Praxis von den einzelnen BPräs. zwar unterschiedlich weit, insg. jedoch sehr zurückhaltend angewandt worden. Bei der Ernennung des von der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages gewählten Bundeskanzlers und der Bundesverfassungsrichter steht dem BPräs. eine über das formelle Prüfungsrecht hinausgehende Prüfungsbefugnis nicht zu (Ausnahme: —> Verfassungstreue), da in beiden Fällen die Entscheidung Sache der parlament. Gremien ist. Die optimale Erfüllung der dem BPräs. zugewiesenen Aufgaben ist jedoch nicht so sehr eine Frage verfassungsrechtl. Kompetenzen als vielmehr eine Frage der polit. Prägekraft des Amtsträgers. Dies geschieht in erster Linie durch die polit. Stilmittel im Rahmen der staatl. —> Repräsentation, insbes. durch öffentl. Äußerungen, aber auch über das persönliche Gespräch v.a. mit den polit. Entscheidungsträgern. Der BPräs. soll darin zum einen den Grundkonsens zum Ausdruck bringen und zum andern die großen Themen der Zeit ansprechen und auch als Frühwarnsystem dienen, das neue Pro157
Bundespräsident bleme in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft frühzeitig aufzeigt. Auf diese Weise kann er ganz entscheidend auf das geistigpolit. Klima einwirken. Insoweit ist das -> Amt des BPräs. ein immens polit. Amt und die Auswahl des Staatsoberhaupts folglich von großer polit. Bedeutung. Der Rolle des BPräs. als würdigem Verfassungselement im Verfassungsgefilge entsprechend hat sich der - > Parlamentarische Rat nicht für eine Volks-, sondern für eine parlament. Wahl und damit für eine - das unitarische und das föderative Element berücksichtigende - starke mittelbare demokrat. —> Legitimation entschieden. Wahlorgan ist ein besonderes Verfassungsorgan, die —> Bundesversammlung. Sie setzt sich aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern zusammen, die von den —> Landesparlamenten auf der Grundlage des Bevölkerungsschlüssels für die Bundesländer proportional der Stärke der Parlamentsfraktionen gewählt werden (Art. 54 Abs. 3 GG, §§ 2 u. 4 BPräsWahlG). Gewählt ist, wer im 1. oder 2. Wahlgang die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder oder in einem notwendig werdenden 3. Wahlgang die meisten Stimmen erhält (Art. 54 Abs. 6 GG). U m die Würde und das Ansehen des künftigen BPräs. nicht zu beschädigen, findet die Wahl ohne Aussprache statt (Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG). Wählbar ist jeder Deutsche, der das aktive —> Wahlrecht besitzt und das 40. Lj. vollendet hat (Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG). Die Amtszeit beträgt 5 Jahre. Eine anschließende einmalige Wiederwahl ist zulässig (Art. 54 Abs. 2 GG). Im Falle einer Verhinderung oder bei vorzeitiger Erledigung des Amtes übernimmt der Bundesratspräsident die Amtsgeschäfte (Art. 57 GG). Die Wahlen der bisherigen BPräs. haben trotz verschiedentlicher, eine demokrat. Streitkultur übersteigender Polemik (1959, 1979, 1994) durchaus Persönlichkeiten in das Amt gebracht, die im wesentlichen dem Persönlichkeitsbild eines Würde, Autorität und Glaubwürdigkeit
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Bundespräsidialamt ausstrahlenden elder statesman entsprachen. Dies findet seinen sichtbaren Ausdruck auch darin, daß der BPräs. im Vergleich zu anderen polit, und gesellschaftl. Institutionen das weitaus höchste Ansehen in der Bevölkerung genießt. Die bisherigen BPräs. und ihre Amtszeiten: Theodor Heuss (13.9.1949 - 12.9. 1959; 2 Amtsperioden), Heinrich Lübke (13.9.1959 - 30.6.1969 Rücktritt; 2 Amtsperioden), Gustav Heinemann (1.7.1969 30.6.1974), Walter Scheel (1.7.1974 30.6.1979), Karl Carstens (1.7.1979 30.6.1984), Richard von Weizsäcker (1.7.1984 - 30.6.1994; 2 Amtsperioden), Roman Herzog (seit 1.7.1994). Lit.: W. Billing: Die Rolle des Bundespräsidenten im Bereich der Außenpolitik, in: H.-P. Schwarz (Hg.), Handbuch der dt. Außenpolitik, München 21976, S. 142ff; J. Hartmann / U. Kempf: Staatsoberhäupter in westlichen Demokratien, Opladen 1989; HdbStR II, S. 523ff; H. Rausch: Der Bundespräsident, München 21984. Werner Billing Bundespräsidialamt Das BPräsA ist eine ministerialfreie, selbständige oberste -> Bundesbehörde, deren Aufgabe darin besteht, den —> Bundespräsidenten zu informieren, zu beraten, seine Entscheidungen vorzubereiten und seine Aufträge auszuführen bzw. weiterzuleiten. Entsprechend dem herausgehobenen Status des BPräsA verfügt dieses über einen eigenen Einzelplan im —> Bundeshaushaltsplan und vertritt diesen gegenüber dem - > Bundesfinanzministerium und dem Bundestag. An der Spitze des BPräsA steht ein Staatssekretär, der zugleich Behördenchef und erster Berater des BPräs. ist und aufgrund dieser Doppelfunktion des besonderen Vertrauens des BPräs. bedarf, der ihn daher auch persönlich auswählt. Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, hat der Chef des BPräsA das Recht, an allen Sitzungen des - > Kabinetts, der Kabinettsausschüsse, der Staatssekretärsrunde und des Bundessicherheitsrates teilzunehmen und Refe-
Bundespresseamt renten des Amtes als Beobachter in Bundestagsausschüsse zu entsenden. Die Organisation des BPräsA ist ausgerichtet zum einen an den Befugnissen des BPräs. und zum anderen an den Vorstellungen des jeweiligen Amtsträgers von diesem Amt, so daß mit einem neuen BPräs. i.d.R. sich auch die Organisation des Amtes ändert. Derzeit gliedert sich das BPräsA in die Zentralabt. mit 5 Referaten, die Abt. 1 „Inland" mit ebenfalls 5 Referaten und die Abt. 2 „Ausland" mit 3 Referaten. Dabei kommt dem der Abt. „Inland" zugeordneten Planungsstab (Strategieentwicklung, polit. Analysen, Grundsatzreden) wohl eine besondere Rolle zu. Hinzu treten der Verbindungsoffizier des - » Bundesverteidigungsministeriums beim BPräs. und der Bereich „Presse / Öffentlichkeitsarbeit", die dem Chef des BPräsA direkt unterstellt sind, sowie das Persönliche Büro des BPräs., das eine Art Brückenfunktion zwischen dem BPräs. und dem Chef des BPräsA darstellt und dem BPräs. unmittelbar zugeordnet ist. Das BPräsA hatte Ende 1997 167 Mitarbeiter, darunter 71 ->• Beamte des höheren Dienstes, und verfügte 1997 über einen Etat in Höhe von 31,751 Mio. DM. Lit: F. Spath: Das Bundespräsidialamt, Düsseldorf41990. W.B. Bundespresseamt (BPA) -> Presse-und Informationsamt der Bundesregierung Bundespressekonferenz (BPK) Im Rahmen des I. Weltkrieges wurde das Verhältnis der —> Presse zur —> Regierung formalisiert. 1915 richtete die Reichsregierung eine ständige Pressekonferenz mit dem Ziel ein, durch amtliche Auskünfte die größeren Zeitungen auf die polit. Linie der Regierung und der Obersten Heeresleitung zu verpflichten. Seit 1919 führten die Journalisten die Pressekonferenzen in eigener Regie durch; die Reichsregierung nahm nur mehr als Gast teil. Bereits 1933 beseitigte NS-Propaganda-
Bundespressekonferenz minister Goebbels diese spezifische Form der Information der Presse durch die Exekutive des Reiches (-> Nationalsozialismus). Im Oktober 1949 gründeten Bonner Journalisten die BPK. In der Rechtsform eines eingetragenen -> Vereins mit Sitz in Bonn (in Beri, besteht eine Außenstelle) stellt die BPK laut - > Satzung den Zusammenschluß von Bonner bzw. Berliner Korrespondenten mit dt. Staatsangehörigkeit dar. Die Eigenschaft als Bonner bzw. Berliner Korrespondent setzt voraus: a) Ständige Berichterstattung über die Bundespolitik und b) hauptberufliche Tätigkeit als angestellter Redakteur oder freie journalistische Tätigkeit für Tages-, Wochenzeitungen, Zeitschriften, Nachrichtenagenturen, Rundfunkund Femsehanstalten sowie regelmäßig erscheinende Presse- und Informationsdienste. Entscheidungen über die Aufnahme neuer Mitglieder trifft ein Ausschuß der BPK. Die Aufgabe der BPK besteht in der turnusmäßigen Veranstaltung von Pressekonferenzen, die in eigener Regie (z.Z. noch im Pressehaus am Tulpenfeld) im Bonner Parlaments- und Regierungsviertel durchgeführt werden. Die BPK beraumt die Termine an und lädt wichtige Auskunftspersonen ein. I.d.R. finden dreimal pro Woche Pressekonferenzen mit den Sprechern der Bundesregierung bzw. den Pressereferenten der -> Ressorts statt. Aber auch Mitglieder der BReg, die Vorsitzenden der —» Parteien und —• Fraktionen, zumal der -> Opposition, oder Spitzenfunktionäre bundesweit organisierter - » Interessenverbände bedienen sich dieses Informationskanals. Die BPK hat zwar kein Monopol als Nachrichtenbörse, da es jedermann freisteht, in der Bundeshauptstadt Pressekonferenzen abzuhalten, wovon besonders Parlamentsorgane und -mitglieder Gebrauch macht. Die BPK will vielmehr den Journalisten in Bonn (Beri.) ein breites Informationsforum bieten, das freilich weitere eigene Recherchen und fachliche Spezialisierung nicht überflüssig machen. Die BPK nimmt insofern ihre Funktion
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Bundesrat
Bundesrat
als Vermittlungsinstanz von Informationen und Nachrichten aus dem polit. System an die -> Massenmedien optimal wahr. Zu intensive Kooperation zwischen den Informanten aus dem Regierungsbereich und den Pressevertretern, die eigentlich einer Kritik- und Kontrollaufgabe verpflichtet sein sollten, birgt jedoch einerseits die Gefahr, daß aus Gegenspielern Partner werden. Andererseits konzentriert die BReg. ihre Informationspolitik zunehmend auf,direkte Kanäle. Die Funktion der BPK reduziert sich damit auf die Vermittlung von Basisinformationen für die —> Öffentlichkeit. Die Unterrichtung seitens der BReg erfolgt nämlich immer häufiger in exklusiven Clubs, polit. Zirkeln oder speziellen Gesprächsrunden in Form gezielter und ggf. vertraulicher Hintergrundgespräche mit polit, nahestehenden Journalisten (-> s.a. Dt. Presseclub). Lit.: BPK (Hg.): Verzeichnis der Bundes-Pressekonferenz e.V. (mit Satzung) für 1997, Bonn
1997; W. Kordes / H. Pollmann: Das Presseund Informationsamt Düsseldorf 101989.
der
Bundesregierung,
Hartmut Klatt Bundesrat Durch den BR wirken die Länder bei der —> Gesetzgebung und —> Verwaltung des —> Bundes mit (Art. 50 GG). Trotz dieser Formulierung ist der BR im Staatsaufbau kein -> Organ der Länder, sondern ein oberstes Bundesorgan. Er ist das förderative Organ des Bundes. 1. Geschichte Unmittelbare Vorgänger des BRs als Vertretung der Länderregierungen im Dt. Reich sind der BR der Reichsverfassung von 1871 und der Reichsrat der —» Weimarer Reichsverfassung. Der BR in der Verfassung von 1871 hatte in dem betont förderalistisch organisierten Reich eine starke Stellung. Er war nach Rechtslage das polit, führende Organ. Der Reichsrat in der -> Weimarer Reichsverfassung hatte dagegen eine schwache Stellung. Ihm stand kein Gesetzesinitiativrecht zu, und er hatte im Gesetzge-
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bungsverfahren nur ein Einspruchsrecht. 2. Zusammensetzung Der BR besteht aus Regierungsmitgliedem der Länder. Die Bundesländer bestellen ihre BRsmitglieder und berufen sie ab (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GG). Der BR hat gegenwärtig 68 Stimmen. Die Zahl der von jedem Bundesland zu entsendenden BRsmitglieder legt Art. 51 Abs. 2 GG fest, sie beträgt zwischen 3 und 6 Mitgliedern der -» Landesregierung und richtet sich in diesem Rahmen nach der Einwohnerzahl des jeweiligen Bundeslandes. Diese Art der Sitzverteilung bevorzugt die kleineren Bundesländer. Sie ist aber Ausdruck des förderalistischen Prinzips, durch welches das demokrat. Mehrheitsprinzip, das grds. in der staatl. Willensbildung herrscht, eine Abschwächung erfährt (-» Föderalismus). Jedes Bundesland, das weniger als 2 Mio. Ew. hat, hat 3 Stimmen. Demgemäß haben —> Bremen, - » Hamburg, —> MecklenburgVorpommern und das —> Saarland diese Stimmenzahl. Die Länder -> Berlin, -> Brandenburg, —> Hessen, -> RheinlandPfalz, -> Sachsen, —> Sachsen-Anhalt, -» Schleswig-Holstein und —» Thüringen haben 4 Stimmen im BR, weil sie mehr als 2 Mio., aber weniger als 6 Mio. Ew. haben. Länder mit mehr als 6 Mio., aber weniger als 7 Mio. Ew. haben 5 Stimmen im BR; solche Länder gibt es z.Z. nicht. Länder mit mehr als 7 Mio. Ew. haben 6 Stimmen. Das sind Baden-Württemberg, —• Bayern, —> Niedersachsen und -» Nordrhein-Westfalen. 3. Beschlußfassung Der BR faßt seine Beschlüsse mit absoluter Mehrheit, d.h. mindestens der Mehrheit seiner Stimmen (Art. 52 Abs. 3 GG), sofern das GG nichts anderes vorschreibt (Bundespräsidentenanklage Art. 6 Abs. 1 S. 2 GG; für die GG-Änderung § 79 Abs. 2 GG). Die Mitglieder des BRs sind dabei an die Weisungen ihrer jeweiligen Landesregierung gebunden, es sei denn, sie nehmen an der Willensbildung im —> Vermittlungsausschuß teil (Art. 77 Abs. 2 S. 3 GG). In den Verhandlungen des BRs können die Stimmen eines Landes nur
Bundesrat einheitlich und nur durch anwesende Mitglieder oder deren Vertreter abgegeben werden (Art. 51 Abs. 3 GG). Es reicht jedoch aus, wenn von einem Land ein stimmberechtigtes Mitglied anwesend ist. Dieses kann alle Stimmen seines Landes abgeben. Daraus hat sich die Praxis ergeben, daß in jeder Abstimmung ein anwesendes Mitglied als sog. Stimmfilhrer die gesamten Stimmen des jeweiligen Landes abgibt, wobei es dabei unerheblich ist, ob die übrigen Mitglieder anwesend sind oder nicht. 4. Die Mitglieder Die Mitglieder des BRs müssen Angehörige der jeweiligen Landesregierung sein (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GG). Ob hierzu außer den -> Ministem noch —» Staatssekretäre gehören, legt das jeweilige Land fest. Mangels ausdrücklicher blindes- oder landesrechtl. Regelung steht den Mitgliedern des BRs für ihre Tätigkeit in diesem Gremium weder die -> Indemnität noch die -> Immunität oder das -> Zeugnisverweigerungsrecht zu. Die Mitgliedschaft im BR ist unvereinbar mit dem parlament. —> Mandat als —> Abgeordneter des —> Bundestages. Diese -> Inkompatibilität ergibt sich häufig schon aus den -> Landesverfassungen (vergleiche Art. 41 Abs. 3 Vers. M-V) oder, wenn nicht ausdrücklich geregelt, so ergibt sie sich doch aus der unterschiedlichen und z.T. gegenläufigen Aufgabe des BRs und des Bundestages. Die Mitglieder des BRs dürfen auch nicht Mitglieder des -> Bundesverfassungsgerichts sein (Art. 94 Abs. 1 GG). 5. Aufgaben und Befugnisse des BRs Mitwirkung bei der Gesetzgebung a) Gesetzesinitiativrecht Im Bereich der Gesetzgebung hat der BR das -> Gesetzesinitiativrecht gem. Art. 76 Abs. 1 GG. Zudem hat er das Äußerungsrecht zu Gesetzesvorlagen der - » Bundesregierung (Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG). Danach hat die Bundesregierung ihre Gesetzesvorlagen zunächst dem BR zuzuleiten, der berechtigt ist, innerhalb von 6 Wochen zu diesen Vorlagen Stellung zu nehmen, es sei denn, die Bundesregierung hätte eine
Bundesrat Gesetzesvorlage dringend gemacht und als eilbedürftig bezeichnet. Dann hat der BR nur 3 Wochen Zeit, eine Stellungnahme abzugeben. Nach Abschluß dieser Frist leitet die Bundesregierung ihre Gesetzesinitiative auch ohne Stellungnahme des BRs dem Bundestag zu. Sie hat dann aber die Stellungnahme des BRs, sollte sie noch eingehen, unverzüglich dem Bundestag nachzureichen (Art. 76 Abs. 2 S. 2). b) Mitwirkung Gem. Art. 79 Abs. 2 GG muß der BR bei Grundgesetzänderungen mitwirken. Er muß solchen Änderungen mit 2/3 seiner Stimme zustimmen. Bei Gesetzen, die nicht das GG ändern (—> einfache Gesetze), wirkt der BR auf folgende Art mit: Er stimmt einem vom Bundestag beschlossenen Gesetz entweder zu oder verweigert die Zustimmung oder erhebt entweder Einspruch oder läßt das Gesetz ohne Einspruch passieren. Für die Art seines Mitwirkens ist es also entscheidend, ob es sich um ein Gesetz handelt, das seiner Zustimmung bedarf oder um ein Gesetz, das dieser Zustimmung nicht bedarf (sog. -> Einspruchsgesetz). Wann ein Gesetz der Zustimmung des BRs bedarf, ist im GG abschließend festgelegt (z.B. in Art. 29 Abs. 7, Art. 74a, Art. 79 Abs. 2, Art. 84 Abs. 1 GG). Generell kann gesagt werden, daß bei Gesetzen, die den förderativen Charakter der -> Bundesrepublik beeinflussen, die Zustimmung des BRs benötigt wird und bei den übrigen Gesetzen nicht. aa) Zustimmungsgesetz Bei einem Zustimmungsgesetz ist für das Zustandekommen des Gesetzes die Zustimmung des BRs unbedingt erforderlich; wird sie verweigert, so ist das Gesetz gescheitert (Art. 78 GG). Ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz muß dem BR unverzüglich zugeleitet werden. Er kann binnen 3 Wochen den Vermittlungsausschuß anrufen. Wird nach Ablehnung eines zustimmungspflichtigen Gesetzes durch den BR vom Bundestag der Vermittlungsausschuß angerufen, so muß der BR den Spruch des Ausschusses abwarten und wird sodann nach Beschlußfassung durch
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Bundesrat den Bundestag erneut mit dem Gesetz befaßt. Bei einem Zustimmungsgesetz können sich also für den BR folgende Situationen ergeben: Der Bundesrat wird mit einem Zustimmungsgesetz befaßt. Er stimmt zu. Damit kommt das Gesetz zustande. - Der BR stimmt zunächst nicht zu. Der Vermittlungsausschuß wird angerufen, und der BR stimmt dem Ergebnis des Vermittlungsverfahrens zu. Dann kommt damit das Gesetz zustande. - Der BR stimmt nicht zu. Der Vermittlungsausschuß wird angerufen, und der BR stimmt dem Ergebnis des Vermittlungsverfahrens auch nicht zu. Damit ist das Gesetz gescheitert. - Der BR stimmt dem Gesetz nicht zu, der Vermittlungsausschuß wird aber nicht angerufen. Dann ist das Gesetz gescheitert. bb) Einspruchsgesetze Bei nichtzustimmungsbedürftigen Gesetzen ist die Stellung des BRs nicht so stark. Hier regelt Art. 77 Abs. 3 und 4 GG die Einspruchsmöglichkeiten des BRs. Danach hat zunächst der BR, für den Fall, daß er einem Gesetz nicht zustimmen will, den Vermittlungsausschuß anzurufen. Bleibt dieses Verfahren erfolglos, so kann er binnen 2 Wochen gegen das beschlossene Gesetz Einspruch einlegen. Dieser Einspruch kann vom Bundestag zurückgewiesen werden, wobei für diese Zurückweisung entscheidend ist, mit welcher Mehrheit der BR gegen das Gesetz Einspruch eingelegt hat. Geschah es nur mit absoluter Mehrheit, dann kann auch der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder diesen Einspruch überwinden und das Gesetz endgültig beschließen. Geschah dieser Einspruch aber mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im BR, dann muß auch der Bundestag mit zwei Dritteln seiner Mitglieder den Einspruch zurückweisen und das Gesetz endgültig beschließen. Bei einem Einspruchsgesetz ergeben sich demgemäß folgende Möglichkeiten: - Der BR billigt das Gesetz oder bleibt untätig. Dann kommt das
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Bundesrat Gesetz zustande; - Der BR ruft den Vermittlungsausschuß an und nimmt dessen Einigungsvorschlag an. Dann kommt das Gesetz ebenfalls zustande; - Der BR ruft den Vermittlungsausschuß an, erhebt Einspruch, und der Einspruch wird vom Bundestag mit der entsprechenden Mehrheit zurückgewiesen. Dann kommt das Gesetz trotz Einspruchs zustande; - Der BR nimmt seinen Einspruch zurück. Dann kommt das Gesetz ohne Abstimmung und über den Einspruch zustande; - Der BR ruft den Vermittlungsausschuß an, erhebt fristgerecht Einspruch. Es kommt aber zu keiner Zurückweisungsmehrheit im Bundestag. Dann ist das Gesetz damit gescheitert. 2. Mitwirkung bei der Verwaltung des Bundes a) Bundesaufsicht Die Länder führen die -> Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit nicht ein Bundesgesetz etwas anderes bestimmt. Werden bei dieser Ausführung Mängel von der Bundesregierung in den Ländern festgestellt und nicht beseitigt, so beschließt auf Antrag der Bundesregierung oder des betroffenen Landes der BR, ob das Land das Recht verletzt hat. Gegen diesen Beschluß kann das BVerfG angerufen werden (Art. 84 Abs. 1 und 4 GG). b) Bundeszwang In den Fällen, in denen sich die Bundesregierung gezwungen sieht, Maßnahmen des —> Bundeszwanges zu treffen, kann sie das nur, wenn sie zuvor hierzu die Zustimmung des BRs eingeholt hat (Art. 37 Abs. 1 GG). c) Verwaltungsvorschriften Soweit die Länder die Bundesgesetze unter Bundesaufsicht oder im Auftrag des Bundes ausführen, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des BRs allgemeine -» Verwaltungsvorschriften erlassen (Art. 84 Abs. 2, Art. 85 Abs. 2 GG). Mit Zustimmung des BRs kann die Bundesregierung allgemeine —> Verwaltungsvorschriften im Bereich der Finanzverwaltung erlassen, soweit die Verwaltung den Landesbehörden oder -> Gemeinden oder —> Gemeindeverbänden obliegt. d) Rechtsverordnungen des Bundes Der
Bundesrat BR wirkt auch bei dem Erlaß von -> Rechtsverordnungen des Bundes mit (Art. 80 GG). Seiner Zustimmung bedürfen, vorbehaltlich anderweitiger bundesgesetzlicher Regelung, Rechtsverordnungen der Bundesregierung oder eines Bundesministers über Grundsätze und Gebühren für die Benutzung der Einrichtungen des Postwesens und der —> Telekommunikation, über die Grundsätze der Erhebung des Entgeltes für die Benutzung der Einrichtung der -» Eisenbahnen des Bundes, über den Bau und Betrieb der Eisenbahnen sowie Rechtsverordnungen aufgrund von Bundesgesetzen, die der Zustimmung des BRs bedürfen oder die von den Ländern im Auftrag des Bundes oder als eigene Angelegenheit ausgeführt werden. Darüber hinaus ist der Gesetzgeber nicht gehindert, auch in anderen Fällen die Zustimmungsbedürftigkeit bei Rechtsverordnungen durch den BR vorzusehen, wobei bei konjunkturpolit. Rechtsverordnungen nach Art. 109 Abs. 4 GG die Zustimmung durch den BR vorgesehen ist. Allerdings hat das BVerfG (BVerfGE 28,66) festgestellt, daß die Zustimmungsbedürftigkeit durch Gesetz ausgeschlossen werden kann. Dieses Gesetz ist allerdings seinerseits zustimmungsbedürftig. Der BR kann der Bundesregierung Vorlagen für den Erlaß von Rechtsverordnungen zuleiten, die seiner Zustimmung bedürfen. 6. Mitwirkung bei der Wahl der Richter des BVetjG Der BR wirkt auch an der Wahl der Mitglieder des BVerfG mit. Die Hälfte der Mitglieder dieses Gerichts wird von ihm gewählt (Art. 94 Abs. 1 GG). 7. Besondere Rechte des BRs Das GG regelt auch noch weitere Rechte des BRs. Er ist von der Bundesregierung über die Führung der Geschäfte auf dem laufenden zu halten (Art. 53 S. 3 GG). Der Bundesfinanzminister hat auch dem BR gegenüber Rechnung zu legen (Art. 114 Abs. 1 GG). Der BR ist auf Verlangen über die Durchfilhrung von -> Gemeinschaftsaufgaben zu unterrichten (Art. 91a GG) und hat eine wesentliche Mitwirkung in Angelegenheiten der —> Europäischen Union
Bundesrat (Art. 23 Abs. 2, 4 bis 6, Art. 52 Abs. 3a GG). Die Schaffung neuer bundeseigener Verwaltung ist von der Zustimmung des BRs abhängig (Art. 87 Abs. 3 S. 2 GG). Weitere Rechte werden ihm in einfachen Gesetzen gegeben (vgl. § 64 Abs. 2 BHO, § 8 Abs. 4 BBankG). 8. Mitwirkung bei Verfassungsstreitigkeiten In Verfassungsstreitigkeiten steht dem BR ein Mitwirkungsrecht bei Organstreitigkeiten (—> Organstreit, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG) zu. Das gleiche Recht steht ihm im Verfahren des —> Parteiverbots (Art. 21 Abs. 2 GG, § 43 BVerfGG) und bei der Präsidentenanklage (Art. 61 GG, §§ 49 ff. BVerfGG) zu. 9. Organisation und Geschäftsgang Der BR hat keine -> Wahlperiode. Seine Sitzungen werden demgemäß fortlaufend gezählt. Der BR wählt sich einen Präsidenten für ein Jahr (Art. 52 Abs. 1 GG). Nach dem Königsteiner Abkommen von 1950 wird bei der Präsidentschaft des BRs ein fester Turnus befolgt, der damals mit dem Regierungschef des Landes mit der größten Bevölkerungszahl (NRW) begann und seither jeweils nach dem Durchlaufen der Reihe der Länder von neuem begonnen hat. In diesen Turnus sind auch die neuen Bundesländer eingegliedert. Der Präsident beruft den BR ein. Er ist dazu verpflichtet, wenn die Vertreter von mindestens 2 Ländern oder die Bundesregierung es verlangen (Art. 52 Abs. 2 GG). Der BR faßt seine Beschlüsse mit mindestens der Mehrheit seiner Stimmen. Er gibt sich eine -> Geschäftsordnung. Er richtet Ausschüsse ein, v.a. eine —> Europakammer gem. Art. 52 Abs. 3a GG, deren Beschlüsse in Europaangelegenheiten als Beschlüsse des BRs gelten. Den Ausschüssen des BRs können andere Mitglieder oder Beauftragte der Regierungen der Länder angehören (Art. 52 Abs. 4 GG); der Europakammer jedoch nicht. Die Mitglieder der Bundesregierung haben das Recht und auf Verlangen die Pflicht, an den Verhandlungen des BRs und seiner Ausschüsse teilzunehmen. Sie müssen auf ihr Verlangen hin jeder-
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Bundesrechnungshof zeit gehört werden (Art. 53 GG) wie auch ihrerseits die Mitglieder des BRs an den Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse teilnehmen können und jederzeit gehört werden müssen (Art. 43 Abs. 2 GG). Lit: H. Laufer: Der Bundesrat. München 61991; A. Pfitzer: Der Bundesrat, Heidelberg 4 1994; K. Reuter: Praxishandbuch Bundesrat, Heidelberg 1991, D. IVilke (Hg.): Der Bundesrat, Darmstadt 1990; G. Ziller: Der Bundesrat, Düsseldorf '1993: Uwe Bernzen
Bundesrechnungshof Der BRH ist nach dem BRH-Gesetz von 1985 eine oberste -> Bundesbehörde. Somit hat er die gleiche Stellung wie ein —> Ministerium. Sein Sitz ist Frankfurt/M.; Außenstellen sind in Bonn und Beri.; ihm sind 9 Prüfungsämter unterstellt. Nach dem Jahr 2000 wird sein Sitz Bonn sein, mit einer Außenstelle in Potsdam. Die Leitung des BRH obliegt der/dem Präsidentin/en, die - wie der Vizepräsident - auf Vorschlag der -> Bundesregierung vom —> Bundestag und vom —> Bundesrat gewählt wird. In seinem Etat stehen dem BRH mehr als DM 116 Mio. zur Verfügung. Ihre Verwendung prüfen als Entlastungsorgane der Bundesrat und der Bundestag, dieser mit Hilfe seines -> Rechnungsprüfungsausschusses. Die Kosten des BRHs sind nur ein geringer Bruchteil des quantifizierten Nutzens seiner Prüfungen. Der BRH hat 650 Mitarbeiter. Dazu kommen 900 den Prüfungsämtem angehörende Beschäftigte. Abgesehen von den Verwaltungskräften (für Personal- und Haushaltswesen, Schreib- und Botendienst, Druckerei, Bibliothek, Kfz-Dienst) gehört das Personal den Prüfungsabteilungen an, die in sog. Prüfungsgebiete gegliedert sind. Die Fachprüfungsgebiete sind für die Prüfung der fachlich gleichartigen Ministerien zuständig. Weiterhin gibt es Querschnittsprüfungsgebiete, die ressortübergreifend wirken (z.B. Organisationsprüfungen, Personalwirtschaft, EDV). Jedes Prüfungsgebiet hat einen Prüfungsge-
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Bundesrechnungshof bietsleiter und einige Prüfungsbeamte. Sie erfüllen durch Ausbildung und Berufserfahrung die fachlichen Anforderungen ihres Arbeitsgebietes. Die Prüfungen finden i.d.R. am Sitz der zur prüfenden Stelle statt, Inhalt und Zielsetzung der Prüfungstätigkeit ergeben sich aus den Vorgaben der Arbeitsplanung sowie aus den Beschlüssen des sog. Zweierkollegiums, das aus dem zuständigen Abteilungsleiter (Direktor) und dem Prüfungsgebietsleiter besteht. Es kann durch die unmittelbare Beteiligung des Präsidenten / der Präsidentin oder des Vizepräsidenten zum Dreierkollegium erweitert werden. Anregungen, v.a. des -» Haushaltsausschusses des Bundestages werden berücksichtigt. Das Ergebnis eines Prüfungsvorganges ist die sog. Prûfùngsmitteilung, die - nachdem sie formell vom Kollegium beschlossen worden ist - der betroffenen -> Institution zur Stellungnahme zugeht. Oft sorgt die verantwortliche Stelle dann aus eigener Einsicht für Abhilfe der etwaigen Beanstandung. Wenn das nicht geschieht, kann das Anlaß zu einem Sonderbericht an den Bundestag sein. Es kann aber auch - bei Eignung des Vorganges für das Entlastungsverfahren (-> Finanzkontrolle) - das oberste Beschlußorgan des BRH, nämlich der Große —> Senat beschließen, den Vorgang mit den Vorschlägen über etwaige Konsequenzen - unter Einbeziehung der Äußerung der betroffenen Stelle - als Bemerkung in den Jahresbericht nach Art. 114 GG aufzunehmen. Der Große Senat ist ein nach dem BRHGesetz gebildetes Kollegium, das unter Vorsitz des Präsidenten mit dem Vizepräsidenten, den 9 Leitern der Prüfungsabteilungen, 3 Prüfungsgebietsleitern sowie den nach Sachverhalt wechselnden Berichterstattern seine Verhandlungen durchführt. Das Grundgesetz schützt die Entscheidungsfreiheit der Mitglieder des BRH. Es gibt ihnen richterliche Unabhängigkeit. Hinzu kommt, daß das BRH-Gesetz dem BRH die Stellung eines unabhänigen Organs der Finanzkontrolle gibt. Das
Bundesrechnungshof bedeutet, daß niemand berechtigt ist, in ein Prüfungsverfahren einzugreifen. Vor sachfremden Einfluß bewahrt den BRH auch seine kollegiale Verfassung. Sie trägt zu ausgewogener Meinungsbildung und zur Solidität der Entscheidungen bei. Das Gesetz kennt 2 Ausnahmen vom Prinzip kollegialer Entscheidung. Nur der/die Präsident/in ist legitimiert, die Verwendung der Mittel aus den Geheimfonds des -> Bundeskanzlers und des Außenministers zu prüfen. Die kollegiale Entscheidungspraxis hat eine lange Tradition. Als Friedrich Wilhelm I. im Jahr 1714 die preuß. Generalrechenkammer gründete, ordnete er an, daß dem bereits vorher von ihm zum Präsidenten ernannten Chef dieser Einrichtung 4 bewährte Räte zugeordnet wurden, die dann mit dem Präsidenten ein Kollegium bildeten. Seitdem ist die kollegiale Verfassung Bestandteil der Tradition des BRHs. Unabhängigkeit und Ausgewogenheit sind auch für die Auswahl des Prüfungsstoffes von hoher Bedeutung. Die Prüfungszuständigkeit des BRH umfaßt den Vollzug des —> Bundeshaushaltsplans, alle Teile der -> Exekutive, die große Zahl der Zuwendungsempfänger, die sog. Sondervermögen, die Beteiligung des Bundes an wirtschaftl. Unternehmen, die —> Bundesschuldenverwaltung. Wegen dieses Umfanges gibt die BHO dem BRH das Recht, sich auf Stichproben zu beschränken. Die Auswahl der Stichproben muß ausgewogen und frei von jeder Willkür erfolgen. Für die Auswahl des Prüfungsstoffes kommt es darauf an, Wesentliches zu erkennen und unter Berücksichtigung einer längerfristigen Arbeitsplanung Schwerpunkte zu setzen. Ziel muß sein, für das parlament. Entlastungsverfahren, durch Sonderberichte für die ständige Kontrolltätigkeit des Parlamentes, auch für die Beratung von Haushaltsvorlagen Informationen zu liefern. Sie sollten geeignet sein, zur polit. —> Willensbildung beizutragen. Soweit der Verfassungsauftrag des Art. 114 GG es zuläßt, erfüllt der
Bundesrecht BRH Wünsche und Anregungen des Bundestages, des Bundesrates und der Regierung. Er nutzt seine Prüfungserfahrungen, Beratungsaufgaben wahrzunehmen. Dies unterstreicht der Auftrag im BRH-Gesetz von 1985, die Verfassungsorgane bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu unterstützen. Die Grundsätze, die für den BRH gelten, haben internationale Anerkennung gefunden. Das zeigen die Beratungen und Beschlüsse der Internationalen Organisationen der Obersten Finanzkontrollbehörden (Intosai), eine weltweite Organisation mit lebhaftem Erfahrungsaustausch, an dem der BRH aktiv teilnimmt. Gleiches gilt für die Zusammenarbeit innerhalb der EU, insbes. im Zusammenwirken mit dem —> Europäischen Rechnungshof (ERH). Lit: H. Dommach: Von Potsdam nach Frankfurt, Berlin 1988, ders. /E. Heuer: Komm, zum Haushaftsrecht, Neuwied 1997-,HdbStR IV, S. 280ff; D.-Y. Lee: Stellung und Funktion des Bundesrechnungshofes im polit. Entscheidungsprozeß, Bonn 1994; Schneider /Zeh, S. 1218ÍF. Karl
Wittrock
Bundesrecht ist die Gesamtheit der vom —> Bund ausgehenden -> Rechtssätze (insbes. Bundesverfassungs-, -gesetzesund -verordnungsrecht) sowie das als B. fortgeltende ehemalige Reichsrecht (vgl. Art. 123 Abs. 1, Art. 124 und Art. 125 GG) bzw. Recht der DDR (vgl. Art. 9 und Anlage Π Einigungsvertrag [EV]). Gem. Art. 25 GG sind die allgemeinen Regeln des -» Völkerrechts Bestandteil des B.s.; B. muß nicht stets für das gesamte Bundesgebiet gelten; partielles B. ist möglich (vgl. Art. 125 GG, Art. 9 EV). Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der —> DDR trat im Beitrittsgebiet nach Art. 8 EV B. in Kraft, soweit es sich nicht um partielles B. handelte und soweit durch den EV, insbes. dessen Anlage I, nichts anderes bestimmt war. Nach der Rückholbefugnis des Art. 72 Abs. 3 GG kann durch Bundesgesetz bestimmt werden, daß eine bundesgesetzliche Regelung, die auf die -> konkurrierende Gesetzgebung des Bundes gestützt ist und für die eine Erfor165
Bundesrecht bricht Landesrecht derlichkeit i.S. des Art. 72 Abs. 2 GG nicht mehr besteht, durch -> Landesrecht ersetzt werden kann. Art. 125a GG regelt die Fortgeltung von Recht als B. Lit.: HdbVerß, §22Rn 40ff; § 30 Rn 19ff. J. U.
Bundesrecht bricht Landesrecht Die Vorschrift „Bundesrecht bricht Landesrecht" (Art. 31 GG) ist eine Kollisionsnorm, die - neben den Kollisionsregeln in Art. 25, 28 Abs. 1, 71, 72 Abs. 1 und 142 GG - der Homogenität im - » Bundesstaat dient: Im Falle einer Kollision zwischen verfassungsgemäßem —> Bundesrecht (nicht: Einzelfallentscheidungen) und —> Landesrecht, die jeweils denselben Sachverhalt regeln und zu unterschiedlichen Rechtsfolgen führen, geht das Bundesrecht vor. Bestehendes Landesrecht wird aufgehoben (Nichtigkeit kollidierenden Landesrechts), zukünftiges Landesrecht wird gesperrt, d.h. kann nicht in Kraft treten. Dieser Geltungsvorrang besteht unabhängig von dem jeweiligen Rang des Bundes- oder Landesrechts (Verfassungs-, Gesetzes-, Verordnungsrecht) und davon, ob es sich um früheres oder späteres, allgemeineres oder spezielleres Recht handelt. Die Kollisionsregel des Art. 31 GG wird durch den AnwendungsvoiTang des -» EG-Rechts (keine Anwendung von nationalem Recht, das mit primärem oder sekundärem -> Gemeinschaftsrecht kollidiert) europarechtl. ergänzt. LU.: Stern I, S. 719ÍT. J. U.
Bundesregierung Die BReg besteht aus dem —> Bundeskanzler und den —> Bundesministern. Verfassungsrechtl. ist sie die parlament. verantwortliche Spitze der - » Exekutive. Politisch bilden BReg und die sie tragenden Parlamentsfraktionen eine Handlungseinheit. Aufgabe der BReg auf nationaler Ebene ist die polit. Richtungsbestimmung. Zuständig ist die BReg aber auch für einzelne Verwaltungstätigkeiten, während grds. die —> Verwaltung Sache der —> Länder ist. Auf europ. Ebene
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Bundesregierung wirkt die BReg im Rat am Entscheidungsprozeß der - » EU mit. Die innere Ordnung und Funktionsweise der BReg werden gem. Art. 65 GG durch 3 sich gegenseitig ergänzende und überlagernde Prinzipien geprägt: —» Kanzlerprinzip, —> Ressortprinzip, —> Kabinettprinzip. Das Kanzlerprinzip kommt in der führenden Stellung des Bundeskanzlers, v.a. in seiner Richtlinienkompetenz zum Ausdruck. Nach dem Ressortprinzip leitet jeder Bundesminister seinen Geschäftsbereich innerhalb der vom Bundeskanzler festgesetzten Richtlinien selbständig und unter eigener Verantwortung. Das Kabinettprinzip betrifft die Zuständigkeit der BReg als Ganzes. Konkretisierungen dieser Prinzipien enthält die -> Geschäftsordnung der BReg. Die Errichtung und Kompetenzabgrenzung der Bundesministerien erfolgt durch den Bundeskanzler aufgrund seiner Organisationsgewalt. Bereits im —> Grundgesetz vorgesehen sind die Bundesministerien der —> Finanzen, der -> Verteidigung und der —> Justiz. Diese und das —» Auswärtige Amt sowie das -> Bundesministerium des Innern werden als klassische Ministerien bezeichnet. In den verschiedenen BRegen seit 1949 gab es zwischen 14 und 22 Bundesminister; seit der Regierungsbildung 1994 sind es 17, und zwar für folgende Politikbereiche: Auswärtiges; Inneres; Justiz; Finanzen; Wirtschaft; Ernährung, Landwirtschaft und Forsten; Arbeit und Sozialordnung; Verteidigung; Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Gesundheit; Verkehr, Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit; Post und Telekommunikation (zum 1.1.1998 aufgelöst -> Postreform); Raumordnung, Bauwesen und Städtebau; Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie; Wirtschaftl. Zusammenarbeit und Entwicklung; Besondere Aufgaben und Chef des -> Bundeskanzleramtes. Ernannt und entlassen werden die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers durch den -> Bundespräsidenten (Art. 64 GG). Bei der Amtsübernahme
Bundesregierung leisten sie vor dem —» Deutschen Bundestag den in Art. 56 GG vorgesehenen Amtseid. Obwohl verfassungsrechtl. nicht erforderlich, sind die Bundesminister i.d.R. gleichzeitig - » Abgeordnete. Sie stehen zum Bund in einem öffentl.-rechtl. Amtsverhältnis. Einzelheiten, wie z.B. das Amtsgehalt und das Ruhegehalt, sind im BMinG geregelt. Die Stellung der Bundesminister ist durch eine Doppelfiinktion gekennzeichnet: Sie sind Leiter eines - » Ressorts und Mitglied des Kabinetts. In der polit. Praxis und auch im Selbstverständnis überwiegt dabei die Funktion als Fachminister. Diese Funktion als Fachminister hat eine nationale und eine europ. Komponente, die zunehmend Bedeutung erlangt. Im Mittelpunkt steht dabei die Mitwirkung der Bundesminister an der —> Rechtsetzung der EU durch den —» Europäischen Rat. Als Spitze einer obersten -» Bundesbehörde haben die Bundesminister weitgehende sachliche, organisatorische und personelle Kompetenzen in ihrem Ressort und in den -> Bundesbehörden, —>· Anstalten und sonstigen Einrichtungen, die zu ihrem Geschäftsbereich gehören. Die Größe der Bundesministerien variiert stark; es gibt Häuser mit wenigen 100 und mehreren 1.000 Mitarbeitern. Gegliedert sind die Ressorts hierarchisch, ausgehend vom Bundesminister mit einem kleinen persönlichen Arbeitsstab über den beamteten -> Staatssekretär, die Abteilungen und Unterabteilungen bis hin zu den Referaten als kleinste selbständige Organisationseinheit. Die -> Parlamentarischen Staatssekretäre sind in diese Hierarchie nicht vollständig einbezogen; sie unterstützen den Minister v.a. im -> Plenum und in den —> Ausschüssen des Dt. Bundestages sowie bei der Öffentlichkeitsarbeit. Grundsätze für die Organisation und den Geschäftsgang in den Bundesministerien sind in der GGO I (—> Gemeinsame Geschäftsordnung) festgelegt; den Verkehr der Bundesministerien mit dem Dt. Bundestag, dem —> Bundesrat und dem -> Bundesverfassungsgericht
Bundesregierung und die Mitwirkung beim Gesetzgebungsund Verordungsverfahren regelt die GGO Π. Einen Überblick über die jeweils aktuellen Aufgaben der Bundesministerien enthält der vom -> Presse- und Informationsamt herausgegebene Jahresbericht der BReg. Im Mittelpunkt stehen dabei Gesetz- und Verordnungsentwürfe sowie Förderaktivitäten. Diese Schwerpunkte erfordern eine enge Zusammenarbeit des jeweiligen Bundesministeriums mit den korrespondierenden Arbeitsgruppn der Koalitionsfraktionen und dem entsprechenden Ausschuß im Dt. Bundestag, an dessen Sitzungen regelmäßig entweder der Bundesminister oder sein Parlament. Staatssekretär, immer jedoch zahlreiche —> Beamte teilnehmen, um die Entwürfe und Aktivitäten des Ministeriums zu erläutern und zu verteidigen und die Arbeit im Ausschuß z.B. durch Formulierungshilfen zu unterstützen. Außerdem wird mit den jeweils einschlägigen Verbänden kooperiert. Das Amt der Bundesminister endet durch Entlassung, mit jeder Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers, mit Zusammentritt eines neuen Bundestages, durch Rücktritt sowie ferner bei Tod oder Verlust der Amtstätigkeit. Auf Ersuchen des Bundeskanzlers oder des Bundespräsidenten ist jeder Bundesminiser jedoch gem. Art. 69 Abs. 3 GG verpflichtet, die Geschäfte bis zum Amtsbeginn des Nachfolgers weiterzuführen (Geschäftsregierung). Neben der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers und der Selbständigkeit der Ressorts hat das Kabinettprinzip in der bisherigen Entwicklung nicht die gleiche Bedeutung erlangen können. Ein Grund dafür ist die traditionelle Eigenständigkeit der Bundesministerien, die dazu führt, daß das Kabinett primär zur Vertretung von Ressortpositionen und weniger zur kollektiven Politikgestaltung genutzt wird. Außerdem müssen in einer Koalitionsregierung zentrale polit. Fragen eher in informellen Gruppierungen wie der Koalitionsrunde vorentschieden wer-
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Bundesregierung den. Das formelle Entscheidungsrecht bleibt natürlich beim Kabinett, soweit nicht der Bundeskanzler aufgrund seiner Richtlinienkompentenz tätig wird. Bereits nach GG sind in bestimmten Fällen kollegiale Entscheidungen vorgeschrieben; dazu gehören z.B. die Einbringung von Gesetzentwürfen (Art. 76 Abs. 1 GG), die Anrufung des —> Vermittlungausschusses (Art. 77 Abs. 2 GG), der Erlaß bestimmter —> Rechtsverordnungen (Art. 80 Abs. 1 GG), die Wahrnehmung von Aufsichtsbefugnissen im Verwaltungsbereich (z.B. Art. 84, 85 GG); darüber hinaus ist in § 15 GOBReg vorgesehen, daß der BReg zur Beratung und Beschlußfassung alle Angelegenheiten von allgemeiner innenoder außenpolit., wirtschaftl., sozialer, finanzieller oder kultureller Bedeutung zu unterbreiten sind. Kabinettsitzungen finden i.d.R. wöchentlich am Mittwochvormittag statt. Sie werden durch eine Besprechung der beamteten Staatssekretäre vorbereitet, die unter Vorsitz des Chefs des Bundeskanzleramtes jeweils wenige Tage zuvor durchgeführt wird. Ziel dieser Besprechung ist es, verbliebene Meinungsverschiedenheiten der Ressorts vor der Kabinettsitzung auszuräumen. Der Bundeskanzler entscheidet über die Tagesordnung der Kabinettsitzungen und leitet sie. Teilnehmer sind die Mitglieder der BReg, die sich im Einzelfall durch einen Parlament. oder beamteten Staatssekretär vertreten lassen können; außerdem nehmen an den Sitzungen die Staatsminister beim Bundeskanzler, der Chef des Bundespräsidialamtes, der Chef des Presseund Informationsamtes und Beamte des Bundeskanzleramtes teil. Zu einzelnen Sitzungen werden die Spitzen der Koalitionsfraktionen, aber auch andere Gäste wie der Präsident der - > Bundesbank hinzugezogen. Tagesordnungspunkte, die keine herausragende polit. Bedeutung haben, werden ohne mündliche Aussprache erledigt. Förmliche Abstimmungen sind die Ausnahme; regelmäßig erfolgt die Beschlußfassung einvernehmlich. Nach
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Bundesregierung außen müssen alle Bundesminister beschlossene Vorlagen einheitlich vertreten, selbst wenn sie anderer Auffassung sind (§ 28 GOBReg). Gelegentlich dokumentieren einzelne Bundesminister ihre abweichende Meinung jedoch durch eine Protokollerklärung. Der Bundesminister der Finanzen hat im Kabinett bei Beschlüssen mit finanzieller Bedeutung ein suspensives —> Vetorecht (§ 26 GOBReg); ähnlich ist die Position der —> Bundesminister des Innern und der Justiz bei Bedenken gegen die Vereinbarkeit einer Vorlage mit geltendem Recht. Sonderrechte gibt es auch bei Fragen von frauenpolit. Bedeutung (§ 15 a GOBReg). Mit dem Bundeskanzler als Vorsitzenden können Kabinettausschüsse für einzelne ressortübergreifende Politikbereiche eingerichtet werden. In der Praxis ist ihre Rolle bis auf den Bundessicherheitsrat gering. Die Mitglieder der BReg sind dem Dt. Bundestag für ihre Amtsführung verantwortlich. Diese parlament. —> Verantwortlichkeit umfaßt Rechenschafts- und Einstandspflichten. Realisiert werden diese Pflichten durch die verschiedenen Kontrollbefugnisse des Dt. Bundestages, die von den Regierungsfraktionen und der - > Opposition mit unterschiedlicher Zielrichtung und in unterschiedlicher Weise genutzt werden. Wichtig ist v.a., daß sich die Mitglieder der BReg im Plenum und in den Ausschüssen der polit. Auseinandersetzung stellen und den Informationswünschen der Abgeordneten in der —> Fragestunde und in der Regierungsbefragung mündlich oder bei der Beantwortung Großer und Kleiner —> Anfragen schriftlich nachkommen müssen. Die BReg kann aber auch offensiv agieren und ihre Politik z.B. in Regierungserklärungen darlegen, die auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt werden müssen. Zur Stabilität der verschiedenen BRegen hat es beigetragen, daß ein Mißtrauensvotum als schärfstes Kontrollinstrument nur in konstruktiver Form und nur gegenüber dem Bundeskanzler und, anders als in Art. 54
Bundesrepublik Deutschland WRV, nicht gegenüber den Bundesministem zulässig ist. Lit: —> Bundeskanzler
Hans-Achim Roll Bundesrepublik Deutschland Die BRD in 16 Bundesländer gegliedert, verfugt über ein Territorium von knapp 360.000 qkm und hat eine Bevölkerung von ca. 82 Mio. Ihre Bundeshauptstadt ist Beri., wo ab Sommer 1999 alle obersten Bundesorgane residieren werden. Die BRD bekennt sich im —» Grundgesetz zum freiheitlichen, demokrat. und sozialen —> Rechtsstaat und hat ein -> parlamentarisches Regierungssystem entwickelt. Seit der Wiedervereinigung (1990) erhebt sie keinerlei Gebietsansprüche mehr, die sie zuvor aus den Grenzen des Dt. Reiches von 1937 hergeleitet hatte. Sie ist ursächlich aus der bedingungslosen Kapitulation des Dt. Reiches (8.5.1945, -> Nationalsozialismus) entstanden. 1. Vorgeschichte Die 4 Siegermächte (Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich) teilten das besiegte und vom Nationalsozialismus befreite Deutsche Reich westlich der Oder-Neiße-Linie in 4 Besatzungszonen auf, überantworteten die östlich dieser Linie gelegenen Gebiete dem polnischen Staat mit Ausnahme Ostpreuß.s, das sie in polnische und sowjetrussische Verwaltungshoheit gaben, und stellten —> Berlin - in 4 Sektoren aufgeteilt - unter interalliierte Kommandantur. Die oberste Regierungsgewalt, welche die Alliierten gemeinsam in Restdtld. ausüben wollten, wurde durch den zunehmenden ideologischen Gegensatz zwischen der Sowjetunion und den USA blockiert, und die Entscheidungsebenen verlagerten sich auf die einzelnen Besatzungszonen. Die Änderung der amerik. Politik gegenüber dem besiegten Dtld. führte zum bizonalen, später trizonalen wirtschaftl. Zusammenschluß der westlichen Zonen, zur Währungsreform, zur Ablösung der Militärregierungen zugunsten einer Alliierten Hohen Kommission mit einem Besat-
Bundesrepublik Deutschland zungsstatut und schließlich, mit Inkrafttreten des GG am 23.5.1949 (dessen Ausarbeitung durch die sowjetische BerlinBlockade überschattet war), zur Gründung der BRD - versetzt zeitgleich reagierte die Sowjetunion in ihrer Zone mit eigener Währung und Staatsgründung (7.10. 1949). 2. Die Ära Adenauer Mit der Wahl Konrad Adenauers zum - » Bundeskanzler und mit der Bildung einer Koalition aus CDU/CSU/DP/FDP konnte das marktwirtschaftl. Konzept des früheren Wirtschaftsrats unter Ludwig Erhard fortgesetzt und zum bestimmenden Wirtschaftsmodell der folgenden Jahrzehnte ausgebaut werden. Dieses Modell, um eine soziale Komponente erweitert, bildete die Basis für den Aufbauwillen einer ganzen Nachkriegsgesellschaft, die ca. 12 Mio. Flüchtlinge und Heimatvertriebene integrieren mußte (Wirtschaftswunder). Im Streit um die Prioritäten zwischen nationaler Einheit und europ. Integration setzte Adenauer trotz Widersachern aus der Sozialdemokratie und dem eigenen Koalitionslager konsequent auf Westintegration. Stationen waren das Petersberger Abkommen, der Beitritt zum Ruhrstatut, der -> Europarat, die -» Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl und der -» Deutschland-Vertrag (1952), der das Besatzungsstatut ablösen sollte. Er trat nicht in Kraft, weil die frz. —> Nationalversammlung den Vertrag über die Europ. Verteidigungsgemeinschaft, der mit ihm verknüpft war, scheitern ließ. Daraufhin beschlossen die Westalliierten als Alternative, das Besatzungsstatut zu beenden, der BRD die -> Souveränität (5.5.1955) zu geben und sie in die -> WEU und - » NATO - unter Verzicht auf den Besitz von ABC-Waffen - aufzunehmen. Die BRD führte daraufhin die allgemeine -> Wehrpflicht ein und erklärte, die Wiedervereinigung oder eine Änderung ihrer Grenzen nicht gewaltsam erstreben zu wollen. Die Wiedervereinigungspolitik der BRD war einerseits durch den Kalten Krieg bestimmt, andererseits durch das Behar-
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Bundesrepublik Deutschland ren der BRD, alleiniger Rechtsnachfolger des Dt. Reiches zu sein und der DDR eine eigene Souveränität abzusprechen. Der Alleinvertretungsanspruch der BRD (Abbruch diplomatischer Beziehungen zu einem Land, wenn es solche zur DDR aufnimmt) geriet beim Moskau-Besuch Adenauers ins Wanken, als die BRD mit der Sowjetunion diplomatische Beziehungen aufnahm und die sowjetrussische Führung im Gegenzug die Heimkehr der dt. Kriegsgefangenen zusicherte. Die fortan praktizierte Hallstein-Doktrin (sie nahm die Sowjetunion vom Alleinvertretungsanspruch der BRD aus) war fast 2 Jahrzehnte lang ein probates Politikmittel für die Dritte-Welt-Länder, um von der BRD Entwicklungshilfe zu erhalten. Die DDR, in ihrem Wunsch nach Anerkennung der Souveränität durch nichtkommunistische Staaten, riegelte 1952 ihre innerdeutsche Grenze ab. Als sie ein Jahr später die Arbeitsnorm erhöhte, kam es am 17.6.1953 zu einem sich schnell ausweitenden Aufstand, den sowjetische Panzer brutal niederschlugen. Ein Flüchtlingsstrom ergoß sich in die BRD, der auch in den folgenden Jahren nicht abriß, so daß die DDR drohte, bevölkerungsmäßig langsam auszubluten. Ihre Reaktion bestand schließlich im Bau der Mauer (13.8.1961) quer durch Beri, und in der hermetischen Absicherung ihrer innerdt. Grenze. 3. Die Zeit des Umbruchs Der Rücktritt Adenauers vom Amt des Bundeskanzlers (1963) signalisierte den verspäteten Aufbruch zum gesellschaftl. Umbruch der BRD. So war die Kanzlerschaft Erhards durch anwachsende soziale Spannungen und von der ersten tiefergehenden Wirtschaftskrise geprägt. Zu ihrer Abwehr schlössen -» CDU/CSU und -> SPD eine —> Große Koalition in der Absicht, über Finanzplanung, Stabilitätsgesetz und Investitionsprogramme zum wirtschaftl. Wachstum zurückzufinden - eine Zielvorgabe, die sie in kürzester Zeit erreichten. Parallel hierzu lief ein gesellschaftl. Emanzipationsprozeß, den studentische 170
Bundesrepublik Deutschland Protestaktionen forcierten und der 1968 in bürgerkriegsähnlichen Zuständen (Osterunruhen gegen die Springer-Presse sowie Verabschiedung der -> Notstandsverfassung) gipfelte. 4. Die sozialliberale Zeit Die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler und die Bildung einer Koalitionsregierung aus SPD und -> FDP (Oktober 1969) leitete eine Zäsur in der geschichtl. Entwicklung der BRD ein. Brandts Entspannungs- und Friedenspolitik zielte auf einen Ausgleich mit dem Osten als Ergänzung zu Adenauers Westintegrationspolitik. Der territoriale status quo bildete die Grundlage der Verträge von Moskau und Warschau (1970); die Vertragspartner legten die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens fest, verzichteten auf Gewaltanwendung und verpflichteten sich, eventuelle Streitfragen ausschließlich friedlich zu lösen. Brandt erhielt für diese Politik den Friedensnobelpreis, während sich die oppositionelle CDU/CSU-Fraktion nach den hitzig geführten Ratifizierungsdebatten im Bundestag bei der Schlußabstimmung weitgehend der Stimme enthielt. Doch sie brachte die Regierungskoalition an den Rand des Zusammenbruchs, erzwang vorgezogene Neuwahlen, welche die SPD triumphal gewann. Aber gut ein Jahr später resignierte Brandt (offiziell wegen der Guillaume-Affare) und übergab sein Amt 1974 an Helmut Schmidt. Auch das innerdeutsche Verhältnis orientierte sich in mehreren Schritten am status quo. Nach dem Bau der Mauer gestatteten 3 Passierscheinabkommen Westberlinern Verwandtenbesuche im Ostteil der Stadt; das Vier-Mächte-Abkommen sowie das Transitabkommen zwischen der BRD und DDR (1971) brachten im Transitverkehr praktische Verbesserungen zwischen Westberlin und der BRD. Im Grundlagenvertrag (1972) trafen die beiden dt. Staaten, die unter dem gemeinsamen Dach einer Nation lebten und demzufolge zueinander nicht Ausland waren, Vereinbarungen auf der Grundlage von —> Gleichberechtigung, Gewaltverzicht, und
Bundesrepublik Deutschland Unverletzlichkeit der Grenzen. Sie tauschten ständige Vertretungen aus und traten den -> Vereinten Nationen (1970) bei. Die Wirtschaftsentwicklung - durch staatl. Investitionsmaßnahmen aus der Talsohle herausgeführt - zeigte Überhitzungserscheinungen und drohte inflationär zu entgleiten. 2 Stabilitätsprogramme leiteten eine restriktive Haushaltspolitik ein und schöpften befristet Kaufkraft ab. War die Wirtschaftskrise der 60er Jahre hausgemacht, so schlitterte die BRD nun in eine weltweite Krise, die durch die drastische Erhöhung des Erdölpreises (1973) auslöst wurde. Es kam zur sog. Stagflation, zur Stagnation des Wirtschaftswachstums bei gleichzeitiger Inflation und hoher Arbeitslosigkeit. Die Regierung ergriff Maßnahmen zur Wirtschaftsbelebung, zur Energiesicherung und -einsparung sowie zur friedlichen Nutzung der Kernenergie, doch die Arbeitslosenquote und die staatl. Verschuldung stiegen kontinuierlich an. Ein radikaler Teil des studentischen Protestes war nach 1968 in den Untergrund abgetaucht, um den kapitalistischen Staat und seine Handlanger zu verunsichern sowie einen revolutionären Prozeß in Gang zu setzen. Diese Rote Armee Fraktion (RAF) und andere Bewegungen terrorisierten ein Jahrzehnt lang mit Brandund Sprengstoffanschlägen, Banküberfällen, Entfuhrung, Geiselnahme und Ermordungen (Kammergerichtspräsident v. Drenkmann, Generalbundesanwalt Buback, Vorstandssprecher der Dresdner Bank Ponto) die Staatsgewalt. Trotz Erfolgen in der Bekämpfung (Inhaftierung des harten Kerns der RAF) ging der Terror, aus dem Gefängnis gesteuert, weiter, fand in der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer, der Geiselbefreiung aus dem Flugzeug Landshut und dem Selbstmord von 3 RAFHäftlingen seinen Höhepunkt. Die weiter anwachsende - > Arbeitslosigkeit und -> Staatsverschuldung engten in zunehmenden Maße den Handlungsspiel-
Bundesrepublik Deutschland räum der Regierung Schmidt ein. Gleichzeitig baute sich ein Protestpotenial aus Umweltschützem, die sich vehement gegen den Bau und Betrieb von Atomkraftwerken zu Wehr setzten, auf. Da die Entspannungspolitik in einen neuen Kalten Krieg umzukippen drohte, formierten sich die Anhänger einer Friedensbewegung, die sich gegen den Rüstungswettlauf in Ost und West wandten. Der NATO-Doppelbeschluß (Dezember 1979), der die Stationierung und Modernisierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa mit Verhandlungen über Rüstungskontrollen mit der Sowjetunion koppelte, rief sozialen Protest hervor. Widerstandsaktionen überzogen die BRD (1981) und fanden während der NATO-Gipfelkonferenz in Bonn (1982) mit über 350.000 Teilnehmern ihren Höhepunkt. Die Billigung der Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen gem. dem NATO-Doppelbeschluß durch den Bundestag und deren anschließende Aufstellung provozierte erneut Großdemonstrationen, Menschenketten und Sitzblockaden (so vor dem US-Militärlager in Mutlangen). Nach diesem Kraftakt der USA signalisierte die neue sowjetische Führung ihre Bereitschaft zur Truppenverringerung in Europa. Im Vertrag über die „Doppel-NullLösung" (1987) verpflichten sich die USA und die Sowjetunion, eine ganze Gattung von Atomwaffen zu verschrotten. 5. Die neokonservative Wende Schwerwiegende Differenzen in der Wirtschaftspolitik zwangen die FDP zum Koalitionswechsel. Durch konstruktives —> Mißtrauensvotum wählte der Bundestag am 1.10.1982 Helmut Kohl zum Bundeskanzler, der eine Koalitionsregierung aus CDU/CSU und FDP bildete. Das sog. Programm der Erneuerung, das Kohl umsetzte, zielte auf eine längerfristig angelegte angebotsorientierte Wachstumspolitik und schuf die längstanhaltende Aufschwungphase der BRD (1983-1991). In dieser Zeitspanne führte der Staat seine Nettoneuverschuldung zurück, reduzierte das Ausgabenwachstum, scheiterte aber
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Bundesrepublik Deutschland bei der Umstrukturierung der konsumtiven zu den zukunftsorientierten Ausgaben. In der Einnahmenentwicklung erließ die Regierung eine Reihe von Steuererleichterungen (Abschreibungen), förderte private Investitionen (Wohnungsbau) und führte eine dreistufige Steuerreform (ab 1986) mit einem insg.en Entlastungsvolumen von 50 Mrd. DM durch. Da aber die Regierung Steuererleichterungen ohne Einigung in der Koalition einleitete, mußten sie zu einem erheblichen Teil über Kreditneuaufnahmen finanziert werden. Auch öffnete die Regierung bald das Füllhorn sozialer Leistungen: Vorruhestandsgesetz, Trümmerfrauen- und Babyjahr-Rente, Hinterbliebenenrente für Frauen und -> Erziehungsurlaub. Dagegen versuchte sie ab 1989 die explodierenden Kosten im Krankheitswesen mit einer dreistufigen Reform des Gesundheitswesens in den Griff zu bekommen. Die Entspannungspolitik, die die sozialliberale Koalition gegenüber der DDR praktiziert und ausgebaut hatte, führte auch die Kohl-Regierung fort, gewährte der DDR eine Bürgschaft über einen Milliardenkredit, erhöhte den zuvor schon gewährten zinslosen Überziehungskredit (Swing) und empfing den Staatsratsvorsitzenden, Erich Honecker, mit allen protokollarischen Ehren in der BRD (1987). Der Zusammenbruch der DDR kam überraschend und verlief schnell: Im Oktober 1989 feierte die DDR noch ihr vierzigjähriges Staatsjubiläum, einen Monat später öffnete sie ihre Grenzen gen Westen und läutete damit ihren Zerfall ein. Im Dezember schlug Bundeskanzler Kohl eine Konföderation beider dt. Staaten vor, doch die Weichen standen auf —» Deutsche Einheit. Innerhalb eines halben Jahres waren die äußeren und inneren Widerstände gegen die Wiedervereinigung beseitigt. Die aktive Hilfe der US-Regierung, aber auch die überraschende Nachgiebigkeit der sowjetischen Führung schufen den äußeren Handlungsrahmen, in dem sich die Wiedervereinigung bewegen konnte. Der Abzug der sowjetischen Truppen und
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Bundesrepublik Deutschland die Ausdehnung der NATO auf das ehemalige DDR-Territorium bildeten dabei die schwierigsten Hürden. Nach Gesprächen am sog. -» Runden Tisch und der Wahl zur -> Volkskammer hatte die —> Bundesregierung legitimierte Ansprechpartner für die innerdt. Verhandlungen. Der Einigungsvertrag, die Einführung der DM in den 5 neuen Ländern und deren Beitritt zur BRD nach Art. 23 GG vollendeten formal die Wiedervereinigung. In seiner Wiedervereinigungspolitik betonte Kohl immer wieder, die Deutsche Einheit werde die —> europäische Integration nicht behindern und die BRD werde weiterhin ihren aktiven Teil leisten. Kohl berief sich dabei auf Adenauers Westintegationspolitik, aus der die EWG (1958) entstanden war und zur EU (1983) weiterentwickelt worden war. Sie gelte es zu vollenden. Doch die Politik im wiedervereinigten Dtld. gestaltete sich schwierig. Überwogen zunächst die Optimisten, die die marode DDR-Wirtschaft in kürzester Zeit in „blühende Landschaften" (Kanzler Kohl) verwandeln wollten, so zeigte sich sehr bald, daß der gesamten ehemaligen Staatswirtschaft ihre bisherigen osteurop. Märkte verlorengingen. Nicht nur die Sowjetunion zerfiel in mehrere Einzelstaaten, sondern auch die übrigen osteurop. Länder machten Demokratisierungsprozesse durch und öffneten sich der Marktwirtschaft, so daß keine Nachfrage mehr nach ehemaligen DDR-Produkten bestand. So müssen bis heute erhebliche Transferleistungen - gespeist aus einem Solidaritätsbeitrag (-» Solidaritätszuschlag) - den Modernisierungsprozeß in den neuen Bundesländern stützen. Gleichzeitig rollte eine Deindustrialisierungswelle über sie hinweg, so daß ganze Industriezweige schließen mußten. Massenarbeitslosigkeit war die Folge; seit 1992 erfaßte sie in zunehmendem Maße auch die alten Bundesländer. Die strukturelle Wirtschaftskrise der westlichen Industriestaaten griff nun auch auf die BRD über. Rationalisierungs- und Globalisierungsprozesse ließen die Arbeitslosenzahl auf
Bundesschuldenverwaltung
Bundes richter über 4 Mio. anschwellen. Gleichzeitig schnellten die Sozialausgaben in die Höhe, während die Steuereinnahmen sanken, so daß die Verschuldung und Nettoneukreditaufnahme der BRD ständig anwuchsen. Dabei manövrierte sich die Regierung Kohl in ein Dilemma: Sie hatte seinerzeit den scharfen Maastricht-Kriterien für die Einfilhrung der -> Europäischen Währungsunion zugestimmt, um die EuroWährung so stabil wie die DM-Währung werden zu lassen. Nunmehr fehlte ihr bei steigender Arbeitslosigkeit die Möglichkeit, staatl. finanzielle Mittel impulsgebend für wirtschaftl. Wachstum einzusetzen. Aufgrund ihres rigiden Sparkurses erfüllte sie die Kriterien für die Einführung des Euro, so daß die BRD ab 1999 mit 10 weiteren EU-Staaten eine Währungsunion bilden wird. Die BRD hat sich zu einem Staat entwickelt, dessen Bevölkerung in demokrat. und föderativer Gesinnung lebt und polit. —> Extremismus weitgehend ablehnt. Ihre wirtschaftl. Entwicklung hat sie zu einem bestimmenden Faktor im europ. Rahmen gemacht.
werden. Rechtsgrundlagen sind das ins -» Bundesrecht übernommene Reichsschuldbuchgesetz und die Reichsschuldenordnung. Das öffentl. Glauben genießende, heute elektronisch geführte B. teilt sich in Bücher, Abt. und Konten auf. Für jede Emission existiert ein eigenes Schuldbuch, für jeden Gläubiger ein besonderes Konto. Eintragungsfähig sind alle verzinslichen Bundeswertpapiere, die ausnahmslos als Wertrechte veregeben werden. Eintragungen sind als Sammelschuldbuchforderung (komplette Emission treuhänderisch für den Dt. Kassenverein) oder als Einzelschuldbuchforderung (Forderung eines einzelnen Schuldners) möglich. Die Errichtung eines (Einzel)Schuldbuchkontos entspricht wirtschaftl. der Eröffnung eines Depotkontos. Die Führung und Eröffnung erfolgt kostenlos und kann bei allen Kreditinstituten und den Zweiganstalten der -> Dt. Bundesbank von jedermann beantragt werden.
Lit: T. Garton Ash: Im Namen Europas, Dtld. und der geteilte Kontinent, München 1993; P. Badura: Der Bundesstaat Dtld. im Prozeß der europ. Integration, Saarbrücken 1993; W. Benz: Die Gründung der BRD, München 31989; K. D. Bracher u.a. (Hg.): Geschichte der BRD, 5 Bde., Stuttgart 1981ff.; M. u. S. Grebenhagen: Ein schwieriges Vaterland, München 1993; HdbStR I, S. 219ffi; C. Kleßmann: 2 Staaten, eine Nation dt. Geschichte 1955-1970, Bonn 1988; C. Grafv. Krockow: Die Deutschen in ihrem Jhd. 18901990, Hamburg 1990; W. Weidenfeld / H. Zimmermann (Hg.): Dtld.-Handbuch, Bonn 1989.
Bundesschuldenverwaltung Eine dem -» Bundesfinanzministerium nachgeordnete organisatorisch selbständige Bundesoberbehörde mit Sitz in Bad Homburg; hauptsächliche Rechtsgrundlagen für die Tätigkeit der BSV sind das ins -> Bundesrecht übernommene Reichsschuldbuchgesetz und die Reichsschuldenordnung. Die BSV wird von einem beamteten vierköpfigen Kollegium geleitet, das nicht an Weisungen des Bundesfinanzministeriums gebunden ist. Aufgaben der BSV sind die eigenverantwortliche Kontrolle der Einhaltung der gesetzlich erteilten Kreditermächtigungen, Beurkundung der vom -> Bund aufgenommenen Kredite und eingegangenen Eventualverbindlichkeiten, Führung des zentralen Schuldenregisters des Bundes (—» Bundesschuldbuch), Abwicklung des Kapitaldienstes für alle bestehenden Bundesschulden, Abrechnung der von den Münzprägeanstalten geprägten Scheidemünzen, Verfol-
Volker Szmula Bundesrichter —> Richter Bundesschuldbuch Bei der Bundesschuldenverwaltung geführtes öffentl. Register, in dem Darlehensforderungen gegen den —> Bund und seine Sondervermögen, die nicht in Urkunden verbrieft sind, als sog. Wertrechte beurkundet
Lit.: Bundesschuldenverwaltung: Geschäftsbericht für das Jahr, Bad Homburg 1996.
D. V.
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Bundesstaat
Bundessicherheitsrat gung von —> Ordnungswidrigkeiten im Münzwesen und der Vertrieb von Sammlermünzen. Die -> Fachaufsicht über die BSV übt der Bundesschuldenausschuß aus, dem der Präsident des -> Bundesrechnungshofs, 3 Bundestagsabgeordnete und 3 vom -> Bundesrat benannte Mitglieder angehören. Lit.: Bundesschuldenverwaltung: Geschäftsbericht für das Jahr, Bad Homburg 1996. D. V.
Bundessicherheitsrat rung
-»
Bundesregie-
Bundessiegel - » Staatssymbole Bundessortenamt Das BSA ist eine selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten mit Sitz in Hannover. Das BSA umfaßt 3 Abt.en - Zentralabt., Landwirtschaft, Gartenbau - mit insg. 26 Fachreferaten und 15 Prüfstellen in verschiedenen Teilen Dtld.s mit einer Freilandprüfiläche von ca. 650 ha und einer Gewächshausfläche von 15.000 m2. Aufgaben: 1. Sortenzulassung: Diese ist die öffentl.-rechtl. Voraussetzung für die Anerkennung und für den gewerblichen Vertrieb von Saatgut landwirtschaftl. Pflanzenarten und von Gemüsearten. Die mehijährige Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen - Unterscheidbarkeit, Homogenität, Beständigkeit - erfolgt im Freiland- oder Gewächshausanbau und wird durch Laboruntersuchungen ergänzt. Bei landwirtschaftl. Arten wird zudem als Zulassungsvoraussetzung der landeskulturelle Wert wie pflanzenbauliche Leistung, Resistenz, innere Qualität und Verwertungseignung geprüft. 2. Saatgut: In Zusammenarbeit mit den Bundesländern obliegen dem BSA bestimmte koordinierende Funktionen in der Saatgutanerkennung und der Überwachung des Saatgutverkehrs. Das BSA ist zuständig für die Erstellung der Grundlagen für die Sortenschutz- und Saatgutgesetzgebung. Auf
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internationaler Ebene arbeitet das BSA mit internationalen Organisationen wie —> EU, OESD, ECE, -> FAO und anderen Staaten zusammen. Mit der Neuordnung der osteurop. Staaten unterstützt das BSA durch den Austausch von Experten den Aufbau von Saatgut- und Sortenprüfsystemen in diesen Ländern. 3. Sortenschutz: Dieses dem —> Patent ähnliche private Ausschließlichkeitsrecht zur gewerbsmäßigen Erzeugung und zum Vertrieb von Saat-und Pflanzgut neuer Sorten kann für Sorten des gesamten Pflanzenreiches erteilt werden, wenn sie unterscheidbar, homogen, beständig und neu sind. Die Prüfung dieser Schutzvoraussetzungen erfolgt auf den Prüfstellen des BSA. Es bestehen zudem weltweit bilaterale Vereinbarungen mit anderen Staaten über den Austausch von Prüfungsergebnissen. Die Prüfung der Sorten erfolgt auf der Grundlage von nationalen Richtlinien oder anhand international abgestimmter Prüfungsgrundlagen, die im Internationalen Verband zum Schutz von Pflanzenzüchtungen (UPOV, Sitz in Genf) festgelegt sind. Diesem Verband gehören nunmehr 32 Staaten an. 4. Veröffentlichung von Beschreibenden Sortenlisten: Die Beschreibenden Sortenlisten sind Informationsschriften für Verbraucher, Offizialberatung, Handel und Genossenschaften über die Eignung von zugelassenen, geschützten oder marktwichtigen Sorten. Die Beschreibung der Sorten erfolgt auf der Grundlage einer mehrjährigen Prüfung und in Zusammenarbeit mit Ländereinrichtungen. Bei bestimmten Arten erfolgt die Konzeption und Durchführung dieser Prüfungen mit Berufsverbänden oder Interessengemeinschaften. Hg.
Bundessozialgericht -» Bundesgerichte Bundessozialhilfegesetz -> Sozialhilfe Bundesstaat Der B. läßt sich begrifflich bestimmen als die staatsrechtl. Verbindung von -» Staaten, bei der die Teil-
Bundesstaat nehmer als Gliedstaaten Staaten bleiben, aber auch der organisierte Staatenverband selbst als Gesamtstaat Staatsqualität besitzt. Der B. ist abzugrenzen einerseits vom Einheitsstaat, der als Untergliederungen nur Verwaltungseinheiten oder allenfalls autonome Körperschaften kennt, andererseits vom Staatenbund, der lediglich eine auf völkerrechtl. Vertrag beruhende Verbindung von Staaten zur Erledigung eines begrenzten übertragenen Kreises von Aufgaben durch gemeinsame Organe darstellt, welche die -> Souveränität der Mitgliedstaaten unberührt läßt. Gegenüber dem bloßen Staatenbund hat der Zusammenschluß zu einem B. den Sinn, die Verfolgung gemeinsamer —> Staatsziele, wie der Verteidigung oder der Wohlfahrt der Bevölkerung, effektiver zu gestalten. Er bedeutet zugleich die Einordnung der Gliedstaaten in ein übergeordnetes Ganzes; damit fehlt den Gliedstaaten die volle staatl. Souveränität. Gegenüber dem Einheitsstaat verwirklicht der B. Prinzipien des —> Föderalismus für den Staatsaufbau. Der B. folgt insoweit dem Grundgedanken, daß innerhalb eines Staatswesens Gliedstaaten bestehen, die als selbständige territoriale Untergliederungen mit eigenen Verantwortungsbereichen eine zweite Ebene polit. Gestaltung eröffnen. Als Form der Dezentralisation sichert der B. besser überschaubare Lebens- und Funktionsbereiche und dient regelmäßig auch dem Erhalt histor. gewachsener Vielfalt. Durch die Mehrheit staatl. Ebenen schafft der B. Pluralität polit. Leitungsgewalt und - im zugleich demokrat. Staat (—> Demokratie) - zusätzliche Möglichkeiten der - » Bürger zur polit. Beteiligung. Zugleich erzeugt der B. vertikale -> Gewaltenteilung und trägt so zur Sicherung von Freiheitlichkeit bei. Durch das Nebeneinander selbständiger polit. Aktionszentren ermöglicht der B. die Erprobung konkurrierender Problemlösungen - zeitgeistgemäß zuletzt als kompetitiver Föderalismus gefeiert - und die Darstellung polit. Alternativen in verschiedenen Staatswesen. Als Kehrseite
Bundesstaat der genannten Vorzüge schließt B.lichkeit ein gewisses Maß an Uneinheitlichkeit und die Gefahr verminderter Effizienz der Erfüllung staatl. Aufgaben ein. Als Staatstypus der neuesten Verfassungsgeschichte wurde der B. zuerst in der —• Verfassung der USA von 1787 verwirklicht. Von dort fand das Modell den Weg nach Europa (Verfassung von 1848 in der Schweiz, Verfassung von 1920 in Öst.) und andere Erdteile (etwa: Mexiko, Australien, Indien); die Spannbreite der konkreten Erscheinungsformen von B.lichkeit ist dabei sehr groß. Die Entwicklung zumindest föderativer Strukturen hält weltweit bis heute an. Neben Tendenzen zur Aufgliederung früherer Einheitsstaaten sind insoweit auch Bemühungen um den engeren Zusammenschluß bislang unabhängiger Staaten zu erwähnen, etwa im Falle der —> Europäischen Union. Für Dtld. werden dem zunächst nicht als Staat zu qualifizierendem Verband des (alten) —> Deutschen Reichs bereits seit dem Abschluß des Westfälischen Friedens (1648) zumindest bundesstaatsähnliche Strukturen zugeschrieben. Nach seiner Auflösung wurde 1815 mit dem —> Deutschen Bund zunächst ein (bloßer) Staatenbund geschaffen. Der in der Verfassung von 1849 vorgesehene B. (-> Paulskirchenverfassung) ist nicht ins Leben getreten. Daher ist als erster dt. B. der Norddt. Bund von 1867, das spätere -» Deutsche Reich von 1871, zu nennen. Der B.scharakter blieb nach der Weimarer Reichsverfassung nach 1919 für die —> Weimarer Republik erhalten. Um den zentralistischen Führerstaat zu verwirklichen, wurde schon durch das Zweite Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 7.4.1933, RGBl. I S. 173, die Staatlichkeit der Länder und damit der B. beseitigt (—> Nationalsozialismus). Der Wiederaufbau dt. Staatlichkeit nach dem Π. Weltkrieg begann ab 1946 überall damit, daß zunächst Länder geschaffen wurden. Im Bereich der —> DDR wurden diese allerdings bereits
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Bundesstaat 1952 wieder beseitigt. In den Besatzungszonen der Westmächte war die B.lichkeit eine der zentralen Vorgaben der Alliierten für die Entstehung einer (teil-) gesamtstaatl. Verfassung, mit der zugleich an die dt. Verfassungstradition bis 1933 angeküpft wurde. Nach dem sog. Bund der Länder des Herrenchiemseer Entwurfes sprach der —> Parlamentarische Rat ausdrücklich von , 3 " . Im geltenden —> Verfassungsrecht ist der bundesstaatl. Charakter des Staatswesens in Art. 20 Abs. 1 GG als zentraler Verfassungsgrundsatz ausdrücklich niedergelegt. Damit ist er durch die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG auch gegenüber Änderungen der Verfassung abgesichert; dies ist zudem noch besonders vorgesehen fur die Gliederung des -> Bundes in - » Länder und die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der -> Gesetzgebung des Bundes. Der in Art. 20 Abs. 1 GG festgelegte B. ist durch die Staatsqualität des Bundes und die seiner Glieder gekennzeichnet. Die Länder können allerdings nur eine Staatlichkeit besitzen, die nicht die volle Souveränität einschließt, die mit der Einordnung in das bundesstaatl. Ganze unvereinbar wäre. Sie können nicht aus dem Bund austreten und unterliegen - in den Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG - in jeder Hinsicht der Verfassungshoheit des Bundes. Schon im Rahmen des geltenden Verfassungsrechts steht die Existenz jedes einzelnen Landes nach näherer Maßgabe des Art. 29 GG zur Disposition des Bundesgesetzgebers. Konsequenz der Staatlichkeit der Länder im B. des Art. 20 Abs. 1 GG ist namentlich die Eigenverantwortung für die jeweilige Verfassung. Dazu gehört die Selbständigkeit der -> Verfassungsgerichtsbarkeit, die Zulässigkeit mit dem —> Grundgesetz übereinstimmenden —» Landesverfassungsrechts, die Unzulässigkeit bundesgesetzlicher Zuweisung nur allgemein umschriebener -> Staatsaufgaben zur Ausführung an bestimmte Landesbehörden. Femer darf der Bund durch Weisungen nichts fordern, was schlechthin
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Bundesstaat außerhalb des von einem Staat Verantwortbaren liegt. Voraussetzung der grundgesetzlich in ihrem Bestand garantierten Staatlichkeit der Länder ist der Erhalt einer substantiellen Mindestausstattung mit rechtsetzenden, exekutiven, planerischen und finanziellen Kompetenzen sowie gerichtsorganisatorischen Befugnissen, deren Bestand v.a. durch -> Verfassungsänderungen sowie durch Übertragung von Hoheitsrechten gefährdet ist. Im Rahmen der Grundgesetzreform von 1994 sind einige eher halbherzige Versuche gemacht worden, der fortschreitenden Erosion von Landeskompetenzen entgegenzutreten. Eine weitere unmittelbare Konsequenz aus dem B.sprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG liegt in der bundesstaatl. Gleichheit aller Länder, diese haben grds. den gleichen Status. Daher gilt für gemeinsam von den Ländern zu treffende Entscheidungen der Grundsatz der —> Einstimmigkeit; für den Bund ergibt sich (i.V.m. dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG) ein föderatives Gebot zur Gleichbehandlung aller Länder. Schließlich folgt unmittelbar aus dem B.sprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG der für die gesamten Beziehungen zwischen Bund und Ländern geltende Grundsatz der Bundestreue. Jeder B. ist auf ein Zusammenwirken aller Beteiligten i.S. des Allgemeininteresses angelegt, das nie abschließend zu regeln ist. Diese Lücke hilft der schon nach 1871 anerkannte Grundsatz der Bundestreue zu schließen, der als spezifisch bundesstaatl. Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben verstanden werden kann. Der Grundsatz der Bundestreue ist akzessorisch zu vorgegebenen Rechtsbeziehungen und gegenüber besonderen Regelungen des GG nachrangig. Er kann ihre Anwendung modifizieren, darf aber Spielräume nicht verschließen. Die Bundestreue läßt weiterhin Raum für Interessenkonflikte, die nur polit., d.h. einvernehmlich zu lösen sind. Eine Verletzung der Bundestreue impliziert keinen Vorwurf, setzt keine Treulo-
Bundesstaat sigkeit voraus; nötig ist nur objektive Treuwidrigkeit. Das bundesstaatl. -» Gemeinwohl läßt den Einwand „tu quoque" nicht zu, kein Teil darf sich also der Erfüllung seiner Pflichten mit dem Hinweis entziehen, auch der andere Teil sei seinen Pflichten nicht nachgekommen. Vielmehr muß der bundesunfreundlich behandelte Teil seinerseits dennoch bundestreu agieren. Im einzelnen wirkt die Bundestreue zumal als Kompetenzausübungsschranke. Bund und Länder dürfen ihre jeweiligen Kompetenzen nicht in egoistischer Weise gebrauchen, sondern müssen Rücksicht auf Belange der anderen Beteiligten und der Gesamtheit nehmen, u.U. sogar auf eigene Ziele verzichten. In der Sache kommt dabei auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur Geltung, den das —> Bundesverfassungsgericht freilich als solchen für unanwendbar erklärt. Ferner können sich Verpflichtungen zu positivem Handeln in Gestalt von Hilfs- und Mitwirkungspflichten, ergeben sowie verfahrensmäßige Bindungen, insbes. für Procedere und Stil der Verhandlungen zwischen Bund und Ländern bzw. der Länder untereinander. Die vom BVerfG dem B.sprinzip entnommene Pflicht zur Hilfeleistung bei einer extremen Haushaltslage dürfte schon jenseits der Pflicht zur Bundestreue liegen. Auch der Grundsatz „pacta sunt servanda" muß wohl nicht aus der Bundestreue begründet wèrden; doch ist die clausula rebus sie stantibus - vergleichbar den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage - eine spezifisch vertragrechtl. Ausprägung. Der bundesstaatl. Gehalt des GG erschöpft sich nicht in den unmittelbaren Rechtsfolgen des Art. 20 Abs. 1 GG. Vielmehr wird das B.sprinzip in zahlreichen Bestimmungen des GG in vielfacher Beziehung näher ausgeformt, um einerseits bundesstaatl. Vielfalt zu gewährleisten, andererseits aber auch die notwendige Einheit im B. zu sichern. Für die Sicherung der Vielfalt im B. bildet die Aufteilung der staatl. Kompetenzen zwischen Bund und Ländern den
Bundesstaat Schwerpunkt der grundgesetzlichen Regelung; dabei sind die jeweils zugewiesenen Kompetenzen grds. der Disposition ihrer Träger entzogen. Ausgangspunkt der Kompetenzverteilungsregelung ist die allgemeine Verteilungsregel des Art. 30 GG; danach liegt die Ausübung staatl. Befugnisse und die Erfüllung der umfassend zu verstehenden staatl. Aufgaben bei den Ländern, es sei denn das GG trifft eine andere Regelung oder läßt sie zu. Dieses Grundmuster der umfassenden, wenn auch subsidiären Kompetenzzuweisung (-» Subsidiarität) an die Länder, das nicht in allen Bereichen die Verfassungswirklichkeit erkennen läßt, wird für die staatl. Hauptfunktionen der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung in je spezifischen Variationen fortgesetzt. Beim Bund liegen zumal de facto (Art. 70ff. GG) die Gesetzgebungskompetenzen. Für wichtige Bereiche besitzt der Bund die —> ausschließliche Gesetzgebungskompetenz (Art. 73 GG); auch bei den zahlreichen Materien der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz (Art. 74, 74a GG ) hat er mit Speirwirkung für die Landesgesetzgebung umfassend von der Möglichkeit zur Gesetzgebung Gebrauch gemacht. Die diesbezügliche sog. Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG, die das BVerfG nicht als Begrenzung effektuiert hat, ist deshalb 1994 zu einer Erforderlichklausel verschärft worden. Diese erfaßt auch die Rahmenkompetenz des Bundes für die Gebiete des Art. 75 GG. Insoweit erlassene Bundesgesetze dürfen grds. nicht in Einzelheiten gehen und keine unmittelbar geltenden Regelungen treffen, sondern müssen dies der ausführenden Landesgesetzgebung überlassen. Für den Bereich der -» Verwaltung (vgl. für die Ausführung der Bundesgesetze Art. 83ff. GG) bleiben hingegen die Bundeskompetenzen auch praktisch die Ausnahme. Die Länder führen nicht nur ihre eigenen Gesetze aus, sondern auch die des Bundes, und zwar grds. in eigener -> Verantwortung (Art. 84); nur in begrenz-
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Bundesstaat tem Umfang besteht -> Bundesauftragsverwaltung durch die Länder, bei welcher der Bund die Sachverantwortung trägt. Daneben gibt es nur in den verfassungsrechtl. näher bestimmten Fällen bundeseigene Verwaltung (Art. 86ff.). Die Rechtsprechung wird ebenfalls zum größten Teil durch Gerichte der Länder ausgeübt, denen allerdings in allen 5 Gerichtsbarkeiten jeweils ein oberster Gerichtshof des Bundes übergeordnet ist; im übrigen läßt Art. 96 GG nur in eng begrenztem Umfang weitere Bundesgerichte zu. Verfassungsgerichte bestehen unabhängig voneinander sowohl für den Bund wie auch für die einzelnen Länder. Abgesehen von der Verteilung der Kompetenzen für die 3 klassischen Gewalten existieren Spezialregelungen, wie etwa Art. 32 GG mit der prinzipiellen Zuweisung der auswärtigen Angelegenheiten an den Bund, Art. 87a GG mit der Kompetenz des Bundes für die Streitkräfte, Art. 91a, b GG mit den sog. —> Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern oder Art. 104a ff. GG mit Spezialregeln für das Zusammenwirken im Finanzwesen. Die bundesstaatl. Vielfalt sichert neben der Kompetenzverteilung v.a. die Mitwirkung der Länder bei der —> Willensbildung des Bundes, die nur in gewissem Umfang eine Kompensation für die Einbußen an eigenen Kompetenzen der Länder bedeuten kann. Das charakteristische, spezifisch föderative Verfassungsorgan auf gesamtstaatl. Ebene ist der Bundesrat, über den diese Mitwirkung (bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in Angelegenheiten der EU) v.a. erfolgt. Daneben ist eine Mitwirkung der Länder in weiteren Bundesorganen, namentlich im - » Gemeinsamen Ausschuß (Art. 53a GG), in der - » Bundesversammlung (Art. 54 Abs. 3 GG) und im -> Richterwahlausschuß (Art. 95 Abs. 2 GG), sowie im Rahmen der —> EU (Art. 23 Abs. 6 GG) vorgesehen. In den Fällen der Art. 29 Abs. 2, 32 Abs. 2, 89 Abs. 3, 91a Abs. 3 S. 2, 108 Abs. 1 S. 3 und 138
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Bundesstaat GG sind die jeweils betroffenen Länder in abgestufter Intensität an Entscheidungen auf Bundesebene beteiligt. Die Sicherungen bundesstaatl. Einheit beginnen mit unmittelbar verfassungsrechtl. Bindungen der Länder, und zwar primär mit dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG, nach dem die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den nach Art. 20 GG auch fur die Bundesebene gültigen Grundsätzen des republikanischen, demokrat. und sozialen -> Rechtsstaates entsprechen muß. Dadurch wird gegenüber der prinzipiellen Unabhängigkeit der Verfassungsgestaltung in den Ländern ein Mindestmaß an Übereinstimmung mit dem GG gewährleistet. Überdies gelten weitere wichtige Bestimmungen des GG, v.a. die -> Grundrechte, Art. 20 Abs. 2 und 3, 21, 28 Abs. 2, 33, 34 GG, außer für den Bund zugleich als Durchgriffsnormen unmittelbar für die Länder. Im übrigen bricht nach Art. 31 GG Bundesrecht widersprechendes Landesrecht (—» Bundesrecht bricht Landesrecht), soweit eine solche Kollision nicht schon durch die Verteilung der Kompetenzen ausgeschlossen ist; damit wird die Widerspruchsfreiheit der bundesstaatl. Gesamtrechtsordnung gesichert. Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes auf die Länder bestehen zunächst in einem kaum begrenzten Umfang nach Art. 79 GG filr den verfassungsändernden Bundesgesetzgeber. Durch Bundesgesetz können ferner nach Art. 23 Abs. 1 S. 2, 24 Abs. 1 GG Hoheitsrechte (auch) der Länder auf die EU oder (sonstige) zwischenstaatl. Einrichtungen übertragen werden; nach Art. 109 Abs. 4 GG kann durch Bundesgesetz auf die Haushaltswirtschaft der Länder eingewirkt werden. Überhaupt sind gültige Bundesgesetze auch für die Länder verbindlich. Im Bereich der —» Exekutive hat die -» Bundesregierung nach Art. 84, 85 GG bei der Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder unterschiedlich weit reichende Aufsichtsbefugnisse. Weitergehend verfügt der Bund bezogen auf das gesamte Tätigwer-
Bundesstaat den der Länder über das in Art. 37 GG geregelte Mittel des —> Bundeszwanges. Hinzu kommen Sonderbefugnisse des Bundes nach Art. 35 Abs. 3 sowie Art. 91 und Art. 87a Abs. 4 GG. An die Zustimmung der Bundesregierung sind die Länder nach Art. 24 Abs. la, 32 Abs. 3 GG gebunden, ähnlich auch Art. 23 Abs. 6 S. 2 GG und Art. 108 Abs. 2 S. 3 GG. Art. 28 Abs. 3 GG begründet für den Bund nur eine Pflicht zur Gewährleistung der Verfassungshomogenität in den Ländern einschließl. der Grundrechtsbindung, verleiht aber keine weiteren Eingriffskompetenzen. Bei der Judikative sind die (auch) gegenüber den Ländern und ihrer Staatsgewalt wirksamen Entscheidungsbefugnisse des BVerfG nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 100 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 und 3, 93 Abs. 1 Nr. 4 1. und 2. Var., Nr. 4a und b GG sowie zur Landesverfassung - nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 3. Var., 99 GG hervorzuheben. Art. 95 Abs. 1 GG ordnet i.S. einheitlicher Rechtsanwendung die obersten Bundesgerichte den Landesgerichten der verschiedenen Gerichtszweige über. In der Verfassungswirklichkeit hat sich im Zielkonflikt zwischen Einheit und Vielfalt im B. im Zeichen des v.a. auch sozialstaatl. Zieles der Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse (Art. 72 Abs. 2 Nr. 3 GG a.F.) eine Unitarisierung des B. vollzogen, die sich in der stetigen Verlagerung von Kompetenzen zum Bund sowie der gleichförmigen Wahrnehmung der den Ländern verbliebenen Kompetenzen ausdrückt. Nach den Verfassungsänderungen von 1994 spricht Art. 72 Abs. 2 GG nur noch von der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im vereinten Dtld. (unverändert aber Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 GG); ob diese vorsichtige Selbstbescheidung und die Ansätze zu einer Eindämmung der Bundeskompetenzen zu einer Trendwende führen können, scheint fraglich. Die Tendenz zur allseitigen Verständigung hat femer zu einem im GG zunächst nicht angelegten, inzwischen längst etablierten kooperativen -> Föde-
Bundestag ralismus geführt hat. In diesem Bereich gilt das Prinzip der Einigung; diese setzt Einstimmigkeit voraus. Da die Kooperation durchweg auf Regierungsebene stattfindet, verlieren die —> Landesparlamente zusätzlich an Bedeutung. Auch insoweit ist keine durchgreifende Änderung absehbar. Lit: HdbStR I, S. 1113ff ; HdbStR IV., S. 427ff., S. 517ÍF. und 693ff; HdbStR IX, S. 229ÍF.; HdbVerR, S. 1041ff.; M. Sachs, in: ders. (Hg.), GG, München 1996, Art. 20 Rn 34 - 48 (S. 630 ff); Schneider / Zeh, S. 1485ff; Stern I, 2, S. 635ff.
Michael Sachs Bundesstaatlichkeit -» Bundesstaat Bundesstaatsprinzip —> Bundesstaat Bundesstelle für Außenhandelsinformation Die bfai ist eine -> Bundesbehörde im Geschäftsbereich des —» Bundesministeriums für Wirtschaft mit Sitz in Köln und Beri., gegründet 1951, mit ca. 200 Mitarbeiter und weltweit 45 Auslandskorrespondenten. Aufgaben der bfai sind: Unterstützung dt. (meist kleiner und mittelständischer) Unternehmen durch Informationen über wichtige außenwirtschaftl. Geschäftsbereiche, wie ExportImport-, Kooperations- und Investitionsmöglichkeiten, Herausgabe von Publikationen mit Länder- und Branchenberichten über Auslandsmärkte, Führen von Datenbanken, Einzelauskünfte und spezielle Informationen über Wirtschaftsrecht und —> Zölle im Ausland. T.
Z.
Bundessteuern -> Steuern Bundestag, Deutscher Der BT ist die nationale -> Volksvertretung Dtld.s. Seine institutionellen Vorläufer sind die -> Reichstage der Weimarer Republik, des Kaiserreiches und des Norddt. Bundes. Im Unterschied zu diesen wurde er jedoch als ein machtvolles —> Parlament ausgestaltet: Der BT ist unter den 5 179
Bundestag gleichrangigen Bundesorganen als einziges mit unmittelbarer demokrat. -> Legitimation ausgestattet, und er hat direkten Einfluß auf das Zustandekommen, auf die Arbeit und auf den Bestand der —> Bundesregierung. Seine rechtl. Grundlagen regelt das Grundgesetz in den Art. 38-48 (Grundsätzliches), 63, 64, 67, 68 (Festlegung des -> parlamentarischen Regierungssystems) und 76-81 (Gesetzgebungsverfahren). Angemessen ist seine Rolle und Funktionsweise im dt. Verfassungsgefilge nur zu erkennen, wenn man den BT vom Parlament. Regierungssystem her versteht und vor dem Hintergrund von dessen neuem Dualismus zwischen Regierung / regierungstragender Mehrheit auf der einen Seite und den parlament. Oppositionsparteien auf der anderen Seite. Man verkennt hingegen den BT völlig, wenn man von der Norm Vorstellung eines strikten Gegenüber von Gesamtparlament und Regierung ausgehen will, weil Dtld. nun einmal kein für jenen alten Dualismus typisches —> présidentielles Regierungssystem hat. Der BT wird in freien ->· Wahlen alle 4 Jahre gemäß einem —> Verhältniswahlrecht gewählt, das lediglich personalisiert (-> Erststimme) und leicht modifiziert ist (—> Fünfprozentklausel; deren Nichtanwendung bei 3 errungenen —> Direktmandaten). Ohne —> Überhangmandate umfaßt er 656 —> Abgeordnete. Aufgrund des Grundsatzes der -> Diskontinuität ist kein neu gewählter BT an unerledigte Beschlußvorlagen seines Vorgängers gebunden. Ein Selbstauflösungsrecht besitzt der BT nicht (-> Parlamentsauflösung); ansonsten kann er nur im Fall der Ablehnung einer vom —> Bundeskanzler gestellten -> Vertrauensfrage vom —> Bundespräsidenten aufgelöst werden. Sofern diese Auflösung nicht unter Dehnung der Verfassunsbestimmungen willentlich herbeigeführt wird, kann sich darum kein BT der Erfüllung seiner Aufgaben durch Flucht in Neuwahlen entziehen. Diese Aufgaben des BTes sind die Bildung einer stabilen Regierungsmehrheit und einer
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Bundestag Bundesregierung; die Kontrolle der Bundesregierung; die wesentliche Mitgestaltung und der Beschluß von Bundesgesetzen; sowie die Repräsentation des dt. Volkes auf gesamtstaatl. Ebene. Die Aufgabe der gesamtstaatl. —> Repräsentation besteht in der Errichtung und Pflege eines in alle Gesellschaftsbereiche hineinreichenden Kommunikations- und Kontaktnetzes der Parlamentarier, in der Aufnahme von Meinungen, Wünschen und Informationen aus allen Gesellschaftsbereichen anhand dieses Kontaktnetzes; im Einbringen, Geltendmachen und Widerspiegeln des gesellschaftl. Meinungsbildes in die parlament. Beratungen; in der Entfaltung persönlicher Sachkompetenz und Gestaltungsansprüche seitens der Parlamentarier im Verlauf polit. —> Willensbildung; in der Herbeiführung problemlösender Entscheidungen; sowie in der Ausübung polit. Führung durch öffentl. Eintreten derer für parlament. Entscheidungen, die an ihnen mitgewirkt haben. Die Aufgabe der —• Gesetzgebung teilt sich der BT einerseits mit dem Bundesrat, dessen Zustimmung bei etwa der Hälfte aller Bundesgesetze erforderlich ist und der bei den übrigen Gesetzen zumindest ein suspensives —» Veto einlegen kann (—» Einspruchsgesetze). Andererseits teilt sich der BT die Gesetzgebungsaufgabe mit der Bundesregierung. Diese führt, wie es für das parlament. Regierungssystem typisch ist, üblicherweise ihre Geschäfte im Auftrag und in steter Rückkoppelung mit einer BTsmehrheit; letztere kann aus einer einzigen —> Fraktion oder aus mehreren, zu einer -> Koalition verbündeten Fraktionen bestehen. Wegen solchen Zusammenwirkens zwischen Regierungsmehrheit und Regierung wird das zu Beginn einer —> Legislaturperiode bei den Koalitionsverhandlungen verabredete Gesetzgebungsprogramm meist in den -> Bundesministerien, doch in engem Kontakt mit den Fachleuten der regierungstragenden Fraktionen, in Gesetzesvorlagen umgesetzt. Obwohl auch der BT selbst
Bundestag das Recht der Gesetzesinitiative besitzt, gehen deshalb etwa zwei Drittel aller Gesetzesvorlagen und rd. drei Viertel der erfolgreichen von der Bundesregierung aus. Darin eine Entmachtung des Gesetzgebers zu sehen, verkennt die Eigenart des parlament. Regierungssystems: die -> Staatsleitung ist BT und Bundesregierung zur gesamten Hand (E. Friesenhahn) anvertraut, wobei die Regierung ein das „erste Wort" führender (Prärogative) „exekutiver Ausschuß" der Parlamentsmehrheit ist, während diese in allen wesentlichen Frage (—> Wesentlichkeitstheorie, —» Gesetzesvorbehalt) tatsächlich zusammenfinden muß und ihr dann das entscheidende „letzte Wort" zusteht. Die Aufgabe der Regierungskontrolle wird im neuen Dualismus von parlament. Regierungsmehrheit und parlament. Opposition auf verschiedene Weise erfüllt. Die Opposition übt Kontrolle v.a. aus als Aufsicht über fremde Amtsführung, die erstere zumal als Kontrolle durch Mitregieren. Und während die Opposition ihre Richtungs- und Leistungskontrollaufgabe am effizientesten durch öffentl. Kritik wahrnimmt, vollzieht sich dies in den Reihen der Regierungsmehrheit v.a. intern: Man sucht Fehler zu vermeiden oder ohne großes Aufsehen abzustellen, bevor die Opposition sie durch Herstellung von Öffentlichkeit in polit. Vorteile für sich ummünzen kann. Grds. ist die Herstellung von Öffentlichkeit, zumal in einer Mediendemokratie, eines der wichtigsten parlament. Kontrollmittel; ihm dienen Kontrollinstrumente wie das -> Fragerecht, das -> Zitierrecht oder die Einsetzung von —> Untersuchungsausschüssen. Weitere Kontrollmöglichkeiten entstehen aus der Notwendigkeit, innerhalb der Fraktionen (bei Grundgesetzänderungen auch zwischen den Fraktionen, bei Zustimmungsgesetzen sogar zwischen BT und -> Bundesrat) Mehrheiten für gemeinsam akzeptable Gesetzestexte zustande zu bringen; dergestalt kontrolliert, wessen Stimme gebraucht wird (Kontrolle durch parlament.
Bundestag Pressionspotential). Drittens ist das Haushaltsrecht des BTes ein zentrales Kontrollinstrument. Die Regierungsbildung ist jene zusätzliche Aufgabe eines Parlaments, deren Vorhandensein und effiziente Erfüllung ein parlament. Regierungssystem konstituiert. Sie gipfelt in der Wahl (bzw. Abwahl durch konstruktives —» Mißtrauensvotum) des Bundeskanzlers durch den BT. Da der BT nicht daran gebunden ist, den vom Bundespräsidenten Vorgeschlagenen zum Bundeskanzler zu wählen, kann der BT sich seiner eigenen Verantwortung für die Regierungsbildung in keiner Weise entziehen. Das führt dazu, daß der Prozeß der Regierungsbildung meist schon im -> Wahlkampf beginnt, durch Koalitionsverhandlungen und Koalitionsvertrag präkonstitutionell formalisiert wird und sich nach der Wahl des Bundeskanzlers und der Ernennung der Bundesminister zur Daueraufgabe wandelt, dieser Regierung künftig eine handlungsfähige BTsmehrheit zu sichern. Fraktionsdisziplin ergibt sich dergestalt als unmittelbare Folge der - vom BT bislang vorzüglich erfüllten - Aufgabe der Regierungsbildung. In ihr eine Abweichung vom ,.richtigen" Parlamentarismus zu sehen, verkennt die Prägung der Arbeit des BTes durch die mannschaftsbildende Funktionslogik des parlament. Regierungssystems. Der Erfüllung jener Parlamentsaufgaben dienen - neben der —> Verwaltung und dem —> Wissenschaftlichen Dienst - die fein ausdifferenzierten Binnenstrukturen des BTes. Steuerungsstrukturen wie —> Präsidium des BTes, —> Ältestenrat oder —> parlamentarische Geschäftsführer sorgen dafür, daß die Organe des BTes gut zusammenwirken und die zu bewältigenden Aufgaben zeitgerecht erfüllt werden. In Fachstrukturen wie —> Ausschüssen und —> Plenum vollzieht sich, über Fraktionsgrenzen hinweg, die Erörterung aller Beschlußsachen des BTes. Dabei dient das Plenum nicht der ergebnissoffenen Beratung, sondern der öffentl. Kund-
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Bundestag gebung von Argumenten und von Zustimmung bzw. Kritik. Polit. Strukturen wie die Fraktionen und ihre Untergliederungen (v.a. Arbeitsgruppen und Arbeitskreise) leisten im BT die eigentliche Arbeit polit. Willensbildung und Entscheidungsfindung. Informelle Gremien wie fraktionsübergreifende Arbeitsgruppen oder Kanzler- und Koalitionsrunden stellen darüber hinaus fallweise das möglichst flexible Zusammenwirken aller einzubeziehenden polit. Akteure sicher, bevor die viel weniger flexiblen Verfahrensregeln der formalisierteren parlement. Gremien (Fraktionen, Ausschüsse und letztlich das Plenum) greifen, welche - oft kontraproduktiv - die Spielräume dessen verengen, was man ohne polit. Gesichtsverlust akzeptieren kann. Formelle Entscheidungen bleiben, trotz der unverzichtbaren Informalität ihrer Vorbereitung, darum unverzichtbar, weil nur sie die polit. —> Verantwortung klar zuzuweisen erlauben und von daher zu einem Mindestmaß an Transparenz zwingen. Weil sich der BT, wie alle dt. Parlamente, nicht als bloß polit, debattierendes -> Redeparlament versteht, sondern als sehr stark die Arbeit am Gesetzestext pflegendes —» Arbeitsparlament, kommt es zu einer großen Arbeitsteilung und Spezialisierung unter den Abgeordneten. Üblicherweise verläßt man sich darum in allen Fraktionen bei der Willensbildung auf die jeweils zuständigen Experten, zu deren Kreis in kleinen Fraktionen letztlich jeder Abgeordnete hinsichtlich seines Fachgebietes gehört. Nicht nur aus der mannschaftsbildenden Prägekraft des Parlament. Regierungssystems selbst, sondern auch aus solcher großen Arbeitsteiligkeit entsteht somit jene Fraktionsdisziplin, die im Plenum üblicherweise in einheitliches Abstimmungsverhalten mündet. Dies gilt um so mehr, als den Plenardebatten und -entscheidungen meist tiefgestaffelte und eng vernetzte Willensbildungsprozesse vorausgehen, in die jeder einbezogen wird, der einbezogen werden will oder einbezogen werden muß. Ganz im Gegen-
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Bundestag satz zum populären Mißverständnis vollzieht sich die Arbeit des BTes also nur zu einem sehr geringen Teil in dessen Plenum. Darum halten sich dort die Abgeordneten auch nur selten auf. Der europ. Integrationsprozeß stellt den BT vor besondere Herausforderungen. —» Außenpolitik ist an sich schon parlament. schwer kontrollierbar. Seit sie im Rahmen der EG/EU in eine gouvernemental bestimmte europ. Innenpolitik umschlug, besteht hier ein besonders gravierendes Kontrollproblem. Denn weder kann das Europäische Parlament die im EGMinisterrat legislativ tätigen nationalen Regierungen kontrollieren, noch ist es ein praktikabler Weg, den nationalen Regierungen ihre integrationspolit. Verhandlungsspielräume im Weg einer ex-postKontrolle zu beschneiden. Es war für den BT darum notwendig, für diese neuartige Kontroll- und Mitwirkungsaufgabe sich ein geeignetes Gremium zu schaffen. Dieses entstand - später als in den anderen EU-Staaten - in Gestalt des im Juni 1991 eingesetzten EG-Ausschusses, dem gem. Art. 45 GG (neu) auch die ausdrücklich formulierten Rechte des BT gem. Art 23 GG (neu) übertragen werden können. Dieser Art. begründet ein Recht des BT zur Stellungnahme vor der Mitwirkung der Bundesregierung an Rechtsetzungsakten der EU und verpflichtet die Regierung, diese Stellungnahme bei ihren Verhandlungen zu berücksichtigen. Bestehend aus 33 MdB und 11 MdEP (letztere ohne Stimmrecht) hatte der EGAusschuß Schwierigkeiten, das sachlich notwendige polit. Gewicht zu gewinnen. Im Zug der weiteren europ. Integration dürfte er sich aber zu einem europapolitisch zentralen Organ des BT entwickeln. Zwar zeigt das innerdeutsche Beispiel des Zusammenwirkens von Landesparlamentarismus und Regierungspolitik im Bundesrat, wie schwer es ist, von gliedstaatl. Parlamenten aus das Verhalten von Regierungen in föderativen Gesetzgebungsverfahren mitzuprägen. Doch einesteils wird auf europ. Ebene noch lange die unitari-
BundestagsausschuD
Bundestagspräsident
sierende Wirkung eines gemeinsamen Parteiensystems fehlen, und andernteils verfügen die nationalen Parlamente der EU-Staaten, im Gegensatz zu den dt. Landesparlamenten, in Gestalt ihrer EUAusschüsse über Gremien, die ihnen eine kontinuierliche Mitwirkung an der supranationalen bzw. gesamtstaatl. Politik überhaupt erst ermöglichen. Lit: R. Hellwig: Der Dt. Bundestag und Europa, München 1993; E. Hübner: Parlament und Regierung in der BRD, München 1995; W. Ismayr: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992; R. Schick / W. Zeh: So arbeitet der Dt. Bundestag, Rheinbreitbach "1995; Schneider / Zeh; Stern II, S. 35ff. und 557ff.; R. Grafv. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996; W. Zeh: Parlamentarismus, Heidelberg 1991.
Werner J. Patzelt Bundestagsausschuß - » Ausschuß Bundestagsdirektor —> Bundestagsverwaltung Bundestagsdrucksachen / Landtagsdrucksachen Damit alle -> Abgeordneten gleichermaßen informiert sind, werden Gesetzentwürfe, —» Anträge, Große und Kleine —> Anfragen gedruckt und als Drucks, an die Abgeordneten verteilt. Von Plenarsitzungen fertigen Parlamentsstenografen wörtliche —» Protokolle an, die in einer Auflage von 3.900 außer an MdB und amtliche Stellen auch an -> Verbände und Organisationen verteilt werden. Dadurch ist neben qualifizierter Information auch jederzeit der Nachweis möglich, wer wann was wozu gesagt hat. Numeriert nach Sitzungsdatum und -> Legislaturperiode, stellen die Parlamentsdrucks. für Abgeordnete, -> Fraktionen, Ausschußdienste und —> Ministerien sowie für Verbände und —> Medien eine wichtige Grundlage für die Beratung und die Teilhabe dar. Auch die interessierte -> Öffentlichkeit kann Drucks., teilw. gegen Berechnung der Druckkosten, beziehen. Im - » Bundestag ist der Sammelbegriff Vorlagen für alle Parlaments-
drucks, üblich. Einige —> Landtage unterscheiden Drucks. (Gesetzentwürfe und Anträge) von sonstigen Vorlagen (Informationsmaterial, meist von der Regierung), Informationen und Zuschriften und numerieren diese gesondert. Drucklegung und Verteilung von Drucks, und Plenarprotokollen sind in den Geschäftsordnungen der —» Parlamente vorgeschrieben. Beratungen der Vorlagen beginnen frühestens am 3.Tag nach Verteilung der Drucks.; Protokolle über nichtöffentl. Ausschußsitzungen stehen meist nur einem begrenzten Personenkreis zur Verfügung. Im Bundestag fallen pro Legislaturperiode zwischen 3.000 und 6.000 Drucks, an, die wiederum einen Umfang zwischen 1 und mehreren 100 Seiten haben. Für alle Parlamentsdrucks, einschließl. denen des -> Europäischen Parlaments wurde eine zentrale Dokumentation beim Landtag NRW eingerichtet. Der hohe Aufwand bei der Erfassung und Dokumentation der parlament. Beratungen entspricht der tatsächlichen Nutzung bzw. staatsbürgerl. Interesse kaum, ist aber als Erfüllung des GG-Gebots des Art. 42 Abs. 1 S. 1 („Der Bundestag verhandelt öffentlich") zu sehen. Lit:
Troßmann/Roll
Maria Mester-Grüner Bundestagspräsident / -in Der BP ist im staatsrechtl. Sinne der Repräsentant des -» Deutschen Bundestag. Er wird ebenso wie seine Stellvertreter (Vizepräsidenten) mit den Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages für die Dauer der Wahlperiode gewählt. Nach der - » Geschäftsordnung erfolgt die Wahl geheim und in „gesonderten Wahlhandlungen" (Art. 40 Abs.l GG; § 2 GOBT). Ergibt sich im ersten und auch in einem zweiten Wahlgang keine absolute Mehrheit für einen Kandidaten, so kommen die beiden Anwärter mit der höchsten Stimmenzahl in die engere Wahl. Bereits seit der —> Weimarer Republik hat sich der Parlamentsbrauch entwickelt, daß (nur) die jeweils stärkste —• Fraktion einen 183
Bu ndestagspräsident Kandidaten für das Amt des Präsidenten vorschlägt, der dann auch gewählt wird. Dies gilt auch, wenn die stärkste Fraktion die Opposition bildet (Kai-Uwe von Hassel 1969, Karl Carstens 1976, Richard Stücklen 1980). Bisher sind die von der stärksten Fraktion präsentierten Kandidaten stets gewählt worden, zumeist mit einer Mehrheit von über 75% der Abgeordnetenstimmen. Mit der seit 1988 amtierenden Präsidentin Rita Süssmuth wurde nach Annemarie Renger (1972-76) zum 2. Mal eine Frau in dieses hohe - » Amt gewählt. Das Personalkalkül der größten Fraktion wird i.d.R. auch dann hingenommen, wenn bei der Auswahl nicht die Eignung für das Amt, sondern Karriere-Interessen und partei- und koalitionsinterner Personalproporz ausschlaggebend sind. Abweichend von der GOBT wurde bei der Wahl der Vizepräsidenten bis 1980 jeweils zu Beginn der - » Legislaturperiode in offener Wahl über alle Vorschläge gemeinsam abgestimmt (gem. § 126 GOBT). Seit 1983 kam hingegen keine interfraktionelle Vereinbarung mehr zustande, da die Koalitionsfraktionen der -> CDU/CSU und - > FDP die Wahl eines Vizepräsidenten der Fraktion Die Grünen abgelehnt hatten. Auch beim (erneuten) Einzug von —> Bündnis 90/Die Grünen 1994 widersetzten sie sich einer Erhöhung der Zahl der Stellvertreter von 4 auf 5, unterstützten nun aber nach einer Absprache die Wahl einer von Bündnis 90/Die Grünen gestellten Vizepräsidentin (Antje Vollmer) auf Kosten der SPD-Fraktion, die erstmals seit 1961 nurmehr mit einem Mitglied im - » Präsidium vertreten ist; durch Änderung der GOBT wurde der Anspruch jeder Fraktion auf Mitgliedschaft im Präsidium durch mindestens einen Vizepräsidenten festgelegt ( § 2 Abs. 1 S. 2 GOBT). Eine Abwahl des BP (oder der Vizepräsidenten) ist in der GOBT nicht vorgesehen und wird vom —> Geschäftsordnungsausschuß des Bundestages als "systemwidrig" abgelehnt. Allerdings wird ein BP zurücktreten, wenn er nicht
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Bundestagspräsident nur das —» Vertrauen anderer Fraktionen verloren hat, sondern zur Belastung fur seine eigene —> Partei geworden ist. War die Beschädigung der Glaubwürdigkeit und Integrität in anderen Lebensbereichen Anlaß für den Rücktritt Rainer Barzels (1984), mußte Philipp Jenninger 1988 nach heftiger Kritik an einer Rede zurücktreten, die er als Repräsentant des Bundestages im November 1988 gehalten hatte. Die Kompetenzen des BP und seiner Stellvertreter haben sich in der Parlament. Tradition Dtld.s seit dem Reichstag des Norddt. Bundes (1867) ausgebildet und wurden in mehreren Reformschritten erheblich gestärkt. Geht man von den zahlreichen, den BP betreffenden Bestimmungen der GOBT aus, kommt ihm eine herausragende Stellung zu. Dies könnte darüber hinwegtäuschen, daß in der Parlament. Praxis der - > Ältestenrat als maßgebliches Koordinations- und Lenkungsgremium fungiert und auch dem - » Präsidium ein über seine wenigen formalen Zuständigkeiten deutlich hinausgehender Einfluß zugewachsen ist. Die tatsächliche „Macht" des BP hängt wesentlich von dem Einfluß ab, den er als Vorsitzender dieser beiden Gremien geltend machen kann. Zu beachten ist auch, daß ein großer Teil der in der GOBT aufgeführten Befugnisse den die Plenarsitzung leitenden amtierenden BP betreffen. Aus der gleichgewichtigen Verantwortung für die -> Sitzungen folgt konsequent die erhebliche Aufwertung, die das Präsidium seit den 60er Jahren faktisch erfahren hat. In den übrigen Amtsgeschäften läßt sich der BP i.d.R. nur dann vertreten, wenn er persönlich verhindert ist, doch gehen bei der Wahrnehmung auch dieser Verpflichtungen häufig Besprechungen im Präsidium voraus. Im westeurop. Vergleich gehört der dt. BP zu jenem Drittel der Parlamentspräsidenten mit den geringsten Kompetenzen. Der BP „vertritt den Bundestag und regelt seine Geschäfte. Er wahrt die Würde und die Rechte des Bundestages" ( § 7 Abs. 1
Bundestagspräsident GOBT). Aus seiner Stellung als Repräsentant erwachsen ihm zahlreiche polit, und gesellschaftl. Verpflichtungen wie Reden zu Gedenktagen als Sprecher des ganzen Hauses, der Empfang von in- und ausländischen Delegationen und Besuchern aus Politik, Kultur und Wirtschaft. Der BP vereidigt im Namen des Bundestages den —> Bundespräsidenten, den —• Bundeskanzler und die —> Bundesminister (Art. 64 Abs. 2 GG). Er ist verpflichtet, die Beschlüsse des Bundestages mit Hilfe der -> Bundestagsverwaltung auszufertigen bzw. zu vollziehen und weiterzuleiten. Er vertritt den Bundestag in allen Rechtsstreitigkeiten. Aufgrund seines Hausrechts und äußerstenfalls seiner Polizeigewalt (-» Hausinspektion) kann der amtierende BP in Plenarsitzungen Ordnungsmaßnahmen gegen Zuhörer sowie gegen Sitzungsteilnehmer durchsetzen, die nicht Mitglieder des Bundestages sind (Art. 40 Abs. 2 GG; § 41 GOBT). Dem BP untersteht als oberste -» Bundesbehörde die Verwaltung des Dt. Bundestages, für deren Tätigkeit er gegenüber dem Parlament als ganzem die —> Verantwortung trägt. Geleitet wird die Verwaltung allerdings vom „Direktor beim Dt. Bundestag" (-> Bundestagsdirektor), dem eigentlichen Verwaltungschef. Bei wichtigen Entscheidungen ist der BP nach der GOBT und darüber hinaus in der Parlament. Praxis an die Mitwirkung des Präsidiums bzw. des Ältestenrates gebunden (vgl. § 7 Abs. 3 GOBT). Als oberste Dienstbehörde ernennt und stellt der BP die Bundestagsbeamten ein und versetzt sie in den Ruhestand. Diese Kompetenz ist allerdings seit 1969 erheblich eingeschränkt: Soweit —> Beamte des höheren Dienstes betroffen sind, trifft der Präsident diese Maßnahmen im „ B e n e h m e n " , bei leitenden Beamten ab Ministerialrat mit Zustimmung des Präsidiums (§ 7 Abs. 4 GOBT). In der Praxis ließ sich regelmäßiges Einvernehmen v.a. deshalb herstellen, weil bei der Besetzung von höheren Verwaltungsstellen der Fraktionsproporz als Maßstab gilt und beachtet wird, wobei
Bundestagspräsident die Grünen bis 1994 nicht beteiligt waren. Die Verpflichtung des BP, „die Geschäfte zu regeln", betrifft einmal formale und techn.-organisatorische Aufgaben, die in der Bundesverwaltung erledigt werden. Darüber hinaus hat der BP nach der GOBT einige Entscheidungen (wie z.B. die Zulassung Dringlicher Fragen für die —> Fragestunde) zu treffen, die er in der Praxis meist im Präsidium und oft auch im Ältestenrat bespricht. Entscheidungen des BP werden im Ältestenrat gelegentlich von den betroffenen Fraktionen direkt oder indirekt kritisiert, und hin und wieder wird der Geschäftsordnungsausschuß des Bundestages eingeschaltet. Bei der Wahrnehmung mancher Befugnisse hat der BP das „ B e n e h m e n " rnit dem Ältestenrat herzustellen, so z.B. bei der Überweisung von -> Rechtsverordnungen und Vorlagen der -> Europäischen Union (§§ 92, 93 GOBT). Der Einfluß der Fraktionen, der im Ältestenrat, im Präsidium, aber auch in den verbindlichen Beschlüssen des Geschäftsordnungsausschusses zur Geltung kommt, setzt dem Entscheidungsspielraum des BP enge Grenzen. Um die Würde des Hauses und Ehre und Ansehen seiner Mitglieder wahren zu können, kann der amtierende BP in Plenarsitzungen Ordnungsmaßnahmen ergreifen, wobei er sich vom Grundsatz parteipolit. Neutralität leiten lassen muß. Kritik an der Amtsführung des BP ist während der Sitzung zwar untersagt, kann aber im Ältestenrat und im Präsidium zur Sprache gebracht werden, was auch des öfteren geschieht. Sowohl aufgrund von Diskussionen im Ältestenrat wie auch der laufenden Beschäftigung mit Fragen der Sitzungsleitung und mit Ordnungsmaßnahmen im Präsidium werden Maßstäbe entwickelt und gemeinsame Grundsätze (Appelle) formuliert. Unbestrittene Pflicht des BP ist es, darauf zu achten und sich dafür einzusetzen, daß die Rechte des Hauses, v.a. gegenüber —> Bundesregierung und —» Bundesrat, gewahrt werden (z.B. Berichtstermine, Präsenz von Regierungsmitgliedem). Insbes. durch die
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Bundestagspräsident Forderungen der Oppositionsparteien wird er permanent an diese Aufgabe erinnert. Nach der GOßT leitet der BP die Verhandlungen und wahrt die Ordnung des Hauses (Leitungs- und Ordnungsbefugnis). In der Praxis wechseln sich BP und Vizepräsidenten alle 2 Stunden in der Leitung der Plenarsitzungen ab, leiten diese also etwa gleich häufig. Um die Ordnung im Hause zu wahren, kann der amtierende BP Sach- und Ordnungsrufe erteilen, das Wort entziehen, Abgeordnete aus Sitzungen ausschließen und bei -> Zwischenrufen eine nachträgliche —> Rüge erteilen (§§ 36, 37, 38 GOBT). Bei strenger Unruhe kann er eine Sitzung unterbrechen oder aufheben. Der BP führt auch den Vorsitz im Ältestenrat und im Präsidium - wobei er sich nur gelegentlich vertreten läßt. Als geschickter Sitzungsleiter hat er trotz aller Absprachen der -> Parlamentarischen Geschäftsführer durchaus einen gewissen Einfluß, natürlich v.a. dann, wenn keine Einigung zwischen den Fraktionen zustande gekommen ist. Im Unterschied zum engl. -> Speaker bleiben die Parlamentspräsidenten und mehr noch deren Stellvertreter als Parteiund Fraktionsmitglieder aktiv, teilw. in herausragenden Ämtern. Sie betreuen „politisch" ihren -> Wahlkreis, beteiligen sich an Wahlkämpfen und können an -> Abstimmungen des Bundestages teilnehmen. Im Unterschied zu den Vizepräsidenten sprachen BP seit den 60er Jahren im —> Plenum allerdings nur noch selten zu Fragen, die keinen klaren Bezug zu ihrem Amt hatten. Alle bisherigen Amtsinhaber haben diese Doppelfunktion ausdrücklich akzeptiert und gerechtfertigt. Seine Stellung stärkt der BP nicht dadurch, daß er parteipolit. ambitioniert auftritt, sondern indem er seine polit. Energie darauf verwendet, Ansehen und Glaubwürdigkeit der Volksvertretung in der —> Öffentlichkeit zu fördern, die zentrale Stellung des Bundestages gegenüber anderen Verfassungsorganen zu behaupten, sich für die Rechte der -> Opposition und der einzelnen Abgeordneten
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Bundestagsverwaltung einzusetzen sowie entsprechende Verfassungs- und —> Parlamentsreformen zu fördern und zu initiieren. Lit: W. Ismayr: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992; M. Jenny / W.C. Müller: Presidents of Parliament: Neutral Chairmen or Assets of the Majority?, in: H. Döring (Hg.), Parliaments and Majority Rule in Western Europe, Frankfurt/M. 1995, S. 526ff.; Schneider / Zeh, S. 795ff.; J. Wermser: Der Bundestagspräsident, Opladen 1984. Wolfgang Ismayr Bundestagsreport - » Informationsdienste
Parlamentarische
Bundestagsshop -> Informationsdienste
Parlamentarische
Bundestagsverwaltung Die B. ist eine —> oberste Bundesbehörde, die unmittelbar dem Bundestagspräsidenten/der Bundestagspräsidentin unterstellt ist und Hilfsfunktionen für den Dt. —» Bundestag ausübt. Mit der B. hat sich das Parlament in Ausübung seiner Geschäftsordnungsautonomie einen Dienstleistungsapparat geschaffen, der zwar starke Ähnlichkeit mit jeder anderen obersten -> Bundesbehörde, also im wesentlichen den Ministerien, aufweist, der aber ausschließlich demBundestag verpflichtet ist und zahlreiche Dienstleistungen erbringt, die bei anderen obersten Bundesbehörden nicht zu finden sind. Der B. gehören über 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, —> Beamte, —> Angestellte und -> Arbeiter an, die in den unterschiedlichen Funktionen Unterstützungsleistungen für das —• Parlament und die —> Abgeordneten erbringen. Die Verwaltung ist zu unterscheiden von dem Apparat der Fraktionsmitarbeiter, der unmittelbar den jeweiligen —> Fraktionen oder —> Gruppe zugeordnet ist und dort unterstützend wirkt, sowie den Mitarbeitern der Bundestagsabgeordneten, die in der —• Hauptstadt und im —> Wahlkreis aufgrund privatrechtl. Dienst Vertrages mit dem Abgeordneten für diesen arbeiten. Im
Bundestagsverwaltung Gegensatz zu den beiden letztgenannten Gruppen leistet die B. Dienste für das gesamte Parlament, für alle Fraktionen sowie jeden Abgeordneten in parteipolitisch neutraler und objektiver Form. Teilw. sind diese Dienstleistungen Ausfluß und Umsetzung der Rechte, die dem/r —> Bundestagspräsidenten/in zustehen. Er vertritt den Dt. Bundestag und regelt seine Geschäfte. Ihm steht das Hausrecht und die Polizeigewalt in allen der Verwaltung des Bundestages unterstehenden Gebäuden, Gebäudeteilen und Grundstükken zu. Er erläßt im Einvernehmen mit dem - » Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung eine Hausordnung, schließt für den Bundestag Verträge ab, weist Ausgaben im Rahmen des Haushaltsplanes an und ist oberste Dienstbehörde der Bundestagsbeamten. Da sie/er all diese Aufgaben nicht in persona erbringen kann, bedarf es der B. zu ihrer/seiner Unterstützung. Unterstützt wird aber auch die Arbeit des —> Präsidiums und des -> Ältestenrats. Der Ältestenrat nimmt seine Aufgaben teilw. durch Kommissionen wahr, denen Mitglieder des Dt. Bundestages angehören und denen die Verwaltung zuarbeitet. Eine besondere Rolle spielt dabei die Haushaltskommission. Mit der Vorschrift des § 6 Abs. 3 GOBT ist die wesentliche Grundlage für eine Art —> Selbstverwaltung der Abgeordneten in den inneren Angelegenheiten des Bundestages gelegt worden, bei deren Ausführung sie sich der B. bedienen. Ein weiterer Aufgabenbereich der B. entspricht der Zentralverwaltung der anderen obersten Bundesbehörden. Hinzu kommt zahlreiches unterstützendes Personal wie Boten, Fahrer, Schreibdienste, Saaldienste usw. sowie der gesamte Apparat der techn. Unterstützung. Auch die Angelegenheiten der Bundestagsabgeordneten, also ihre persönlichen Angelegenheiten wie die Berechnung und Zahlung der Aufwandsentschädigung, der Altersversorgung sowie der Beihilfe im Krankheitsfall ebenso wie die Verwaltung der
Bundes tagsverwaltung von ihnen mit ihren Mitarbeitern abgeschlossenen Verträge bedürfen der Unterstützung durch die B.; parlamentsspezifisch sind insbes. die Organisationseinheiten der B., die dem wissenschaftl. Dienst zugehören. Diese große Abt. umfaßt 4 Unterabteilungen, neben der wissenschaftl. Dokumentation die beiden wissenschaftl. Fachdienste sowie die Unterabteilung —> Petitionen und Eingaben. In den wissenschaftl. Fachdiensten sind die Fachbereiche und die Ausschußsekretariate zusammengefaßt. Die Ausschußsekretariate unterstützen die Arbeit der Bundestagsausschüsse in organisatorischer und wissenschaftl. Hinsicht (-* s.a. Ausschüsse). In den Fachbereichen sind Gutachter tätig, die für einzelne Abgeordnete, Fraktionen oder die Leitungsgremien des Bundestages Gutachten zu aktuellen wissenschaftl. Fragen erstellen. Die wissenschaftl. Dokumentation umfaßt die Bibliothek, das Sach- und Sprechregister, das Parlamentsarchiv und weitere Dienste, die als dokumentarische Grundlagen für die Arbeit des Parlaments wesentlich sind. Zur Unterabteilung Petitionen und Eingaben schließlich gehören das Sekretariat des Petitionsausschusses und die verschiedenen Referate, welche die Petitionen und Eingaben vorbereitend bearbeiten. Ähnlich parlamentsspezifisch arbeitet auch die Abt. Parlament. Dienste mit ihren Unterabteilungen Parlamentsdienste, Parlament. Beziehungen und Parlament. Information. Die Unterabteilung Parlamentsdienste bildet im weitesten Sinn das Sekretariat des —> Plenums. Dieses umfaßt den Fachbereich —> Parlamentsrecht, das Parlamentssekretariat i.e.S., das Referat —• Parteienfinanzierung und -> Landesparlamente, den stenographischen Dienst (-> Protokoll), das Sekretariat des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung und das Sekretariat der —> Parlamentarischen Kontrollkommission, des —> G 10Gremiums, des Gremiums nach § 41 Außenwirtschaftsgesetz und des -> Ge187
Bundesverfassungsgericht
Bundestagswahl meinsamen Ausschusses nach Art. 53a GG. Die Unterabteilung Parlament. Beziehungen ist zuständig für die Außenbeziehungen des Dt. Bundestages, die sich in vielfältiger Weise darstellen. So sind Abgeordnete in parlament. Versammlungen zahlreicher internationaler Organisationen tätig. Auch gibt es internationale Kontakte des Bundestages mit anderen Parlamenten und zahlreiche Delegationsreisen, aber auch einen regen Austausch auf Mitarbeiterebene, den Austausch von postgraduierten Praktikanten zwischen dem Bundestag und einer Reihe anderer Parlamente sowie den deutsch-amerik. Jugendaustausch (Parlament. Patenschaftsprogramm), der ebenfalls unter der Schirmherrschaft des Parlaments steht. In der Unterabteilung Parlament. Information sind insbes. die Organisationseinheiten zusammengefaßt, die sich mit der Öffentlichkeitsarbeit des Dt. Bundestages und dem umfangreichen Besucherdienst für die vielen Besucher des Dt. Bundestages befassen. Eine Sonderrolle innerhalb der B. hat die / der -» Wehrbeauftragten unmittelbar unterstellte Unterabteilung mit (für Soldaten) ähnlichen Funktionen wie die Unterabteilung Petitionen und Eingaben. Lit: DVerwGesch, V, S.160ff; H. Roeskens: Die Verwaltung des Dt. Bundestages, in: E. Busch (Hg.), Parlament. Demokratie, FS H. Schellknecht, Heidelberg 1984, S. 85ff.; Schneider / Zeh, S. 829 ff.; E. A. Voss: Parlament. Dienste, Heidelberg 1983; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 2461Γ.; W. Zeh: Dienste zur Unterstützung der Abgeordneten, in: Der Dt. Bundestag, Bonn 1991, S. 63ff.
Andreas Nothelle Bundestagswahl —> Wahl—> s.a. Wahlrecht Bundestagswahlrecht —> Wahlrecht Bundestreue -> Bundesstaat Bundesumweltministerium —» Bundes188
ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Bundesunmittelbare -» Bundesverwaltung
Selbstverwaltung
Bundesunmittelbare Sozialversicherungsträger -> Sozialversicherungsträger Bundesverdienstorden Für besondere Verdienste um die -> Bundesrepublik Deutschland können der —» Bundespräsident oder mit seiner Genehmigung andere Stellen Orden und Ehrenzeichen stiften und verleihen. Stiftung und Verleihung erfolgen gem. Art. 58 GG durch Erlaß des Bundespräsidenten. Als Orden des Bundes besteht der „Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland" in den Stufen des Großkreuzes, des Großen Verdienstkreuzes und des Verdienstkreuzes. Erweist sich ein Beliehener durch sein Verhalten der verliehenen Auszeichnung unwürdig, oder wird ein solches Verhalten nachträglich bekannt, so kann die Auszeichnung entzogen werden (§ 4 OrdensG; -> s.a. Staatssymbole) Lit: Gesetz über Titel - Ordensgesetz - v. 26.7.1957, BGBl. IS. 844.
J. U. Bundesverfassungsgericht 1. Rechtsgrundlage - Histor. Einordnung Rechtsgrundlage des BVerfG, das als letztes der obersten Verfassungsorgane des Bundes erst 2 Jahre nach Gründimg der BRD am 7.9.1951 seine Tätigkeit aufnehmen konnte, sind das -> Grundgesetz und - abweichend von der Regelung für die anderen obersten Verfassungsorgane - ein Gesetz, das BVerfGG vom 12.3.1951 in der Neufassung vom 11.8.1993. Das Institut der —> Verfassungsgerichtsbarkeit stellt in der Form, wie es im GG verwirklicht und durch das BVerfGG näher ausgestaltet wurde, ein Novum im dt. —> Verfassungsrecht dar und hat - aufgrund des den negativen Erfahrungen der unmittelbaren Vergangenheit entsprungenen Wunsches des Grundgesetzgebers nach einer durch-
Bundesverfassungsgericht gängigen rechtl. Bindung und Kontrolle der Politik - eine Ausweitung erfahren, die von weittragender Bedeutung für das polit. System der BRD ist und wie sie keine andere Verfassung kennt. Dem BVeriG kommt daher international eine Vorbildrolle zu. 2. Kompetenzen Mit einer Ausnahme (Amtsenthebung eines Bundesverfassungsrichters (BVerfRi., § 105 BVerfGG) sind alle Kompetenzen bereits im GG normiert. Als die zentralen Zuständigkeiten des BVerfG sind die Organ- und die Bund-Länder-Streitigkeiten (-> Organstreit), die —> abstrakte und die —> konkrete Normenkontrolle (NK) sowie die —» Verfassungsbeschwerde (Vb.) anzusehen (Art. 93 u. 100 Abs. 1 GG). Um diesen Kernbereich gruppiert sich noch eine Reihe weiterer Verfahren, aus denen insbes. die quasi-strafrechtl. Verfahr«! der —> Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG), des -> Partei Verbots (Art. 21 Abs. 2 GG) sowie der Präsidenten- und der Richteranklage (Art. 61, 98 Abs. 2 und 5 GG) und das Wahlprüfungsverfahren (Art. 41 Abs. 2 GG) herausragen. Von Bedeutung für die Spruchpraxis des BVerfG und für die polit.-soziale Wirklichkeit sind v.a. - allein schon zahlenmäßig - die 1997 rd. 98% des Geschäftsanteils des BVerfG ausmachende Vb. (4962 Eingaben) - trotz ihrer geringen Erfolgsquote (1997: 0,6% von 5006 erledigten Vb.) die konkrete und die abstrakte NK (48 Neuzugänge) sowie - in jüngster Zeit wieder - der -> Organstreit (1990-1997: 50 Neuzugänge). Wie die bisherige Erfahrung deutlich zeigt, wird das BVerfG aufgrund seines umfangreichen Kompetenzkataloges zu nahezu allen innerhalb der Gesellschaft der BRD stark kontrovers gebliebenen Entscheidungen in grundlegenden Fragen des Gemeinwesens früher oder später angerufen und damit in den Problemlösungsprozeß mit einbezogen. 3. Rolle und Funktion im polit. System Die primäre Aufgabe des BVerfG besteht im unmittelbaren Schutz der -> Verfassung. Dieser Schutz kommt zum einen
Bundesverfassungsgericht darin zum Ausdruck, daß der polit. Prozeß wie auch das Verhalten staatl. —> Institutionen gegenüber dem —> Bürger auf die Einhaltung der ihnen vom GG gezogenen Schranken kontrolliert und verfassungswidriges Verhalten verbindlich korrigiert (Kontroll- und Korrekturfunktion) und damit der Rechtsfrieden gewahrt bzw. wieder hergestellt wird (Befriedungsfunktion). Dabei fällt dem Minderheitenschutz eine ganz besondere Rolle zu; denn die polit. —> Minderheiten, insbes. die —» Opposition, bedürfen um der Offenhaltung des polit. Prozesses und um der Gewährleistung der Oppostionsfunktion willen in verstärktem Maße eines Schutzes. Das BVerfG trägt daher sowohl durch seine Tätigkeit wie auch durch die erzieherische Wirkung der Antizipation verfassungsgerichtlicher Kontrolle wesentlich zur Bewältigung von Legitimationskrisen des polit. Systems und zur Verwirklichung der -» Demokratie bei (Integrations- und Edukationsfunktion). Die Gefahr, daß die Opposition das verfassungsgerichtliche Verfahren zur Fortsetzung des polit. Kampfes mißbrauchen könnte, ist allerdings - wie die polit. Praxis in der Vergangenheit zeigt - nicht ganz von der Hand zu weisen. Zum andern trägt der Schutz der Verf. ein aktives Moment in sich, indem das BVerfG das GG mit letzter rechtl. Verbindlichkeit konkretisiert, klärt und fortbildet und ihm somit für die Fortbildung des GG eine nicht unerhebliche Rolle als Rechtsquelle zufällt. Schließlich entscheidet es, indem es über die Gültigkeit eines Rechtsetzungsaktes urteilt, zugleich über die in diesem enthaltene polit. Zielsetzung und Mittelauslese. Seine Rechtsprechung erzeugt daher polit. Wirkungen, die ganz entscheidend in den Kompetenzbereich der legislativen -> Körperschaften und der —> Regierung hineinreichen. Das BVerfG ist sich dieses Problems durchaus bewußt und legte sich daher bei seiner Kontrollfunktion im allgemeinen durch eine Reihe von Steuerungsinstrumenten (z.B. durch das Stilmittel „verfassungs-
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Bundesverfassungsgericht konforme Auslegung") eine starke Selbstbeschränkung auf. Nicht immer hielt es allerdings die funktionell-rechtl. Grenzen ein (z.B. Erteilung von sog. Gesetzgebungsaufträgen). Durch seine Rechtsprechung wirkt das BVerfG kontrollierend und damit machtbegrenzend sowie machtverteilend auf alle 3 staatl. Gewalten ein und wird dadurch zu einem bedeutenden Faktor im System der —» Gewaltenteilung. Es übt damit polit. —> Macht aus. Entsprechend wird es von außen auch als polit, empfunden und einkalkuliert. Die verfassungsrechtl. Kompetenzzumessung für das BVerfG könnte zwar den Eindruck entstehen lassen, als ob es eine gegenüber den andern Verfassungsorganen erhöhte Stellung einnehme. Dies findet jedoch weder rechtstheoretisch noch aufgrund der Verfassungsregelung oder - insg. betrachtet - in der polit. Praxis eine Stütze. So kann es entsprechend seinem Gerichtscharakter und im Gegensatz zu den Organen von - » Legislative und —> Exekutive nicht von sich aus, sondern nur auf Anruf eines in dem jeweiligen Verfahren Antragsberechtigten tätig werden. Es ist zudem für die Durchsetzung seiner Urteile weitgehend auf die Bereitschaft von Exekutive und Legislative, seine Entscheidungen zu respektieren und ihnen Geltung zu verschaffen, angewiesen (Grenzfall der Akzeptanz: der sog. Kruzifix-Beschluß vom 16.5.1995). Das Gericht muß daher bestrebt sein, sich von der geistigen Grundhaltung und der Werteordnung der Gesellschaft nicht zu weit zu entfernen. Schließlich ist das BVerfG auch in Fragen seiner Organisation insbes. auf —> Bundesrat und -» Bundesrat angewiesen. Ebenso können die gesetzgebenden Körperschaften mit verfassungsändernder Mehrheit die verfassungsgerichtliche Entscheidung - ausgenommen den Bereich des Art. 79 Abs. 3 GG - im Wege einer Änderung oder Ergänzung des GG korrigieren. 4. Begründung und Legitimation Die dem BVerfG vom GG zugedachte Rolle eines obersten Hüters der Verf. findet ihre
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Bundesverfassungsgericht Begründung in der Idee des Vorrangs der Verf. als einer dauerhaften, auf dem Grundkonsens des Gemeinwesens basierenden normativen Ordnung. Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird dabei als diejenige Institution angesehen, die aufgrund der durch die richterliche Unabhängigkeit bedingten polit. Distanziertheit und aufgrund der mit dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit korrespondierenden Bindung an die Verf. am ehesten in der Lage zu sein scheint, den in der Verf. ausgedrückten Grundkonsens zu artikulieren und bei Meinungsverschiedenheiten im Wege einer friedlichen Konfliktregulierung zu erhalten bzw. wieder herzustellen. Wie das GG muß daher auch die Verfassungsgerichtsbarkeit von den verschiedenen polit. Richtungen des Volkes gemeinsam getragen sein. Sie bedarf deshalb wie das GG einer breiten demokrat. und - wegen der bundesstaatl. Struktur - auch einer die föderative Komponente berücksichtigenden Legitimation. Die Prinzipien der demokrat. und föderativen —> Legitimation erfahren jedoch ihre Grenze durch den aus dem —> Rechtsstaats- und dem Gewaltenteilungsprinzip fließenden Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Das Verfahren der Richterbestellung trägt diesen Grundsätzen prinzipiell - wenn auch nicht in optimaler Weise - Rechnung. So werden die BVerfRi. je zur Hälfte von einem 12köpfigen Wahlausschuß des Bundestages und vom -» Bundesrat mit Zwei-Drittel-Mehrheit für eine einmalige Amtszeit von 12 Jahren (jedoch nicht über die Altersgrenze von 68 Jahren hinaus) gewählt (Art. 94 Abs. 1 GG i.V.m. §§ 4ff. BVerfGG). Aufgrund der bei der Erstbestellung des Gerichts (1951) einmalig praktizierten gestaffelten Amtszeitregelung und der Vorschrift über die Altersgrenze der BVerfRi. ist zudem sichergestellt, daß in kürzeren Zeitabständen als dem 12jahresrhythmus Richterwahlen stattfinden und die Rechtsprechung des BVerfG sich damit auf Dauer nicht von den vorherrschenden Zeitströ-
Bundesverfassungsgericht mungen entfernen kann. Als problematisch am Richterwahlverfahren erweisen sich v.a. 1. die unzureichende Verankerung des Bestellungsverfahrens im GG, 2. das Problem zweier unterschiedlich legitimierter Richtergruppen und 3. die mangelnde Transparenz des Bestellungsvorgangs. Die materielle Entscheidung über die Wahl der BVerfRi. fällt allerdings nicht in den rechtl. dafür vorgesehenen Wahlgremien, sondern seit 1971 in und zwischen den sog. Findungskommissionen der CDU/CSU und der SPD unter jeweiliger Hinzuziehung des Koalitionspartners FDP Das qualifizierte Mehrheitserfordernis hat bisher stets eine einseitige Richterwahl verhindert. Andererseits bedingte es - als Folge des Zwangs der Parteien zur Verständigung - ein Proporzsystem von Vorschlagsrechten, wobei sich die jeweils nicht vorschlagsberechtigte Seite im äußersten Fall ein Vetorecht vorbehält und 2 Richter j e Senat einer zwischenparteilichen Vereinbarung von 1975 zufolge parteiungebunden sein müssen. 5. Organisation und Verfahren Das BVerfG, mit Sitz in Karlsruhe, ist als Zwillingsgericht konstruiert, bestehend aus 2 mit fest umrissenen Zuständigkeiten versehenen - > Senaten, die als eigenständige Spruchkörper jeweils das BVerfG darstellen. Das Plenum des BVerfG kann jedoch im Interesse einer künftigen ausgewogenen Belastung beider Senate eine vom Gesetz abweichende Geschäftsverteilung selbst beschließen. Von den 8 Richtern je Senat werden 3 aus der Zahl der —> obersten Gerichtshöfe des Bundes gewählt. Präsident und Vizepräsident führen jeweils in einem Senat den Vorsitz. Zur Entlastung des Gerichts gilt für Vb.n seit 1986 und verstärkt seit 1993 und für Richtervorlagen des Art. 100 I GG seit 1993 ein besonderes Verfahren, wonach aus 3 Richtern bestehende Kammern vorgeschaltet sind (§§ 15a, 81a und 93a d BVerfGG). Die Entscheidungen der Senate ergehen - ausgenommen die quasi-
Bundesvermögen strafrechtl. Verfahren, in denen eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Senatsmitglieder erforderlich ist - mit einfacher Mehrheit der mitwirkenden Richter (§ 15 ΠΙ BVerfGG). Überstimmte BVerfRi. haben die Möglichkeit, ihre abweichende Meinung der Mehrheitsentscheidung beizufügen und damit öffentl. zu machen. Lit.: W. Billing: Das Problem der Richterwahl zum BVerfG, Berlin 1969; ders.: BVerfG, in: K. Sontheimer / H.-H. Röhring (Hg.): Handbuch des polit. Systems der BRD, München 21978, S. 132ff.; C. Gusy: Parlament. Gesetzgeber und BVerfG, Berlin 1985; T. Maunz u.a.: Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Loseblatt-Komm., München 141996; M Piazolo (Hg.): Das BVerfG. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, Mainz 1995; H. Säcker: Das BVerfG, Bonn "1990.
Werner Billing Bundesverkehrsministerium desministerium für Verkehr
—> Bun-
Bundesverkehrswegeplan —> Verkehr Bundesvermögen ist die Gesamtheit der Güter und Rechte, über die der -> Bund zu verfügen berechtigt ist. Der die Verfügungsbefugnis begründende Rechtstitel ist das -> Eigentum sowie andere privatrechtl. dingliche oder obligatorische Rechtspositionen. Insofern besteht zwischen B., das zusammen mit dem Vermögen der - » Länder das Staatsvermögen bildet, und dem Vermögen Privater kein Unterschied. Das B. läßt sich in Verwaltungs- und Finanzvermögen einteilen: Dabei ist das Verwaltungsvermögen entweder dem Gebrauch durch staatl. Stellen (z.B. Inventar) oder der Nutzung durch die - » Bürger (z.B. Straßen) gewidmet. Finanzvermögen ist demgegenüber das Vermögen des Bundes, das für diesen auf Grund seines Wertes oder seiner Verwendung Erträge für den Bund abwerfen soll (z.B. Wirtschaftsbetriebe und Beteiligungen an diesen, Wertpapiere, Devisen, Bargeld, Darlehen). Eine zusammenfassende gesetzliche Re-
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Bundesversammlung
Bundesversammlung
gelung für das B. besteht nicht. Einschlägige rechtl. Vorschriften betreffen u.a. Fragen des Vermögens des Deutschen Reiches und der —> DDR: Grds. ist das Vermögen des Dt. Reiches nach Art. 134 Abs. 1 GG B. geworden. Nach Abs. 2 und 3 derselben Norm müssen allerdings bestimmte Teile dieses Vermögens auf Länder, -> Gemeinden und —> Gemeindeverbände übertragen werden. Nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 des Einigungsvertrages (EV, —> Deutsche Einheit) wird das Vermögen der DDR, das unmittelbar bestimmten Verwaltungsaufgaben dient (Verwaltungsvermögen), B., sofern es nicht nach seiner Zweckbestimmung am 1.10.1989 überwiegend für Verwaltungsaufgaben bestimmt war, die nach dem —• Grundgesetz von Ländern, Gemeinden (Gemeindeverbänden) oder sonstigen Trägem öffentl. Verwaltung wahrzunehmen sind. Nach Art. 22 Abs. 1 EV unterliegt öffentl. Vermögen von Rechtsträgern im Gebiet der DDR, das nicht unmittelbar bestimmten Verwaltungsaufgaben dient (Finanzvermögen), grds. der Treuhandverwaltung des Bundes. Durch Bundesgesetz ist das Finanzvermögen auf den Bund und die 5 neuen Länder so aufzuteilen, daß der Bund und diese Länder je die Hälfte des Vermögensgesamtwerts erhalten. Vermögenswerte, die hiemach der Bund erhält, sind zur Erfüllung öffentl. Aufgaben im Gebiet der ehemaligen DDR zu verwenden. Lit.: HdbStR IX, § 212; Stern II, § 51 I. Jörg
Ukrow
Bundesversammlung Die BV ist ein im -» Grundgesetz verankertes (Art. 54 GG), nicht ständiges, sondern aus Anlaß der Wahl eines —> Bundespräsidenten jeweils neu (Normalfall: alle 5 Jahre für jeweils einen Tag) zu konstituierendes oberstes Verfassungsorgan des —> Bundes, dessen einzige verfassungsmäßige Aufgabe in der Wahl eines Bundespräsidenten besteht. Sie ist daher - einzigartig unter den obersten Verfassungsorganen - ein reines Wahlgremium und stellt, auf einen Vor-
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schlag von Theodor Heuss (FDP) im —> Parlamentarischen Rat zurückgehend, eine Neuschöpfung in der dt. Verfassungsgeschichte dar. Auf Grund der negativen Erfahrungen mit dem —> parlamentarischen Regierangssystem mit Präsidialhegemonie der -> Weimarer Reichsverfassung und der damit verbundenen Volkswahl des Reichspräsidenten hat sich der Parlament. Rat für ein parlament. Regierungssystem mit Kanzlerhegemonie und damit für ein im wesentlichen auf die Repräsentationsfunktion verwiesenes und - folglich - parlament. gewähltes -> Staatsoberhaupt entschieden. Die mittelbare demokrat. - » Legitimation sollte der neu definierten Rolle des Staatsoberhaupts als würdigem Verfassungselement angepaßt werden und vermeiden, daß der Bundespräsident in den Wahlkampf gezogen und dabei an Autorität verlieren würde. Die BV setzt sich zusammen aus den Mitgliedern des -> Bundestages (Mitgliedschaft kraft ihres -> Mandats) und aus einer gleichen Zahl von Mitgliedern, die von den —• Landesparlamenten entsprechend der Bevölkerungszahl (ohne Ausländer) ihrer Länder und nach den Grundsätzen des -> Verhältniswahlrechts gewählt werden (Mitgliedschaft kraft Wahl; Art. 54 Abs. 3 GG). Gewählt werden können auch Personen, die -und davon wird insbes. dann, wenn eine Partei oder —> Koalition über eine ausreichende Mehrheit in der BV verfügt, rege Gebrauch gemacht - nicht Mitglied der sie wählenden -> Volksvertretung sind (z.B. bekannte Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Kultur und Sport); sie müssen allerdings zum Bundestag wählbar sein (§ 3 BPräsWahlG). Alle Mitglieder besitzen eine den Bundestagsmitgliedern ähnliche Rechtsstellung und sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden ( § 7 BPräsWahlG). Auf Grund der besonderen Konstruktion der BV kommt in ihr idealtypisch sowohl das unitarische als auch das föderative Element, und zwar gleichgewichtig, zum Tragen und besitzt sie
Bundesversammlung eine breite, weitgehend alle Parlament. Gruppen einschließende, teils primäre (MdB), teils sekundäre (die übrigen Mitglieder) demokrat. Legitimation. In der Praxis spielt das föderative Element allerdings kaum eine Rolle, da die Kandidaten für die Wahl des Bundespräsidenten i.d.R. von Spitzengremien der Bundesparteien benannt und letztlich von den —> Fraktionen abgesegnet werden und da die Sitzverteilung in der BV nach Fraktionen und nicht nach Ländern vorgenommen wird. Steht die Wahl eines Bundespräsidenten an, so hat die -> Bundesregierung unter Zugrundelegung des Verhältnisses der letzten amtlichen Bevölkerungszahlen der Länder die Zahl der von den Landesparlamenten zu wählenden Mitglieder der BV rechtzeitig bekanntzugeben und im Bundesgesetzblatt zu veröffentlichen (§ 2 I BPräsWahlG). Die Landtage haben die Wahl unverzüglich vorzunehmen und das Ergebnis dem Bundestagspräsidenten, der zugleich Präsident der BV ist, zu übermitteln, der Zeit und Ort des Zusammentritts der BV festlegt und deren Sitzungen und Geschäfte leitet, wobei er bei der zeitlichen Festlegung zu beachten hat, daß die BV spätestens 30 Tage nach Ablauf der Amtszeit des Bundespräsidenten, bei vorzeitiger Beendigung 30 Tage danach, einberufen werden muß (Art. 54 Abs. 4 GG; §§ 1, 2 Π, 4 VI und 8 BPräsWahlG). Im Jahre 1949 wurde die erste BV aus Zeitgründen noch von den —> Ministerpräsidenten der Länder nach Bonn einberufen; zwischen 1954 und 1969 tagte sie trotz erheblicher Proteste der Sowjetunion in -> Berlin, um dann auf Grund des Vier-Mächte-Abkommens vom 3.9.1971 ab 1974 gezwungenermaßen nach Bonn zurückzukehren. Mit der Einberufung der 10. BV erstmals in den -> Reichstag des wiedervereinigten Beri, s 1994 wurde der Grundstein für eine neue Tradition gelegt. Seit 1979 tagt die BV, der Initiative des damaligen Bundestagspräsidenten Karl Carstens folgend, symbolträchtig am 23.5., dem Jahrestag der
Bundesversammlung Verkündung des GG. Wählbar für das Amt des Bundespräsidenten ist jede(r) Deutsche, die/der das Wahlrecht zum Bundestag besitzt, das 40. Lj. vollendet und der Nominierung schriftlich zugestimmt hat (Art. 54 Abs. 1 GG u. § 9 I BPräsWahlG). Vorschlagsberechtigt ist jedes Mitglied der BV, und für jeden Wahlgang können neue Wahl Vorschläge eingebracht werden ( § 9 1 BPräsWahlG). In der Praxis haben bisher jedoch nur Fraktionen Vorschläge eingereicht. Die Wahl erfolgt ohne Aussprache mit verdeckten Stimmzetteln (geheime Wahl) in öffentl. -> Sitzung (Art. 54 I GG u. § 9 m BPräsWahlG). Durch diese Regelung wollte der Grundgesetzgeber eine die Autorität des —> Amtes beschädigende Diskussion der Kandidaten vermeiden. Da der intra- und interparteiliche Kandidatenausleseprozeß i.d.R. jedoch sehr zeitig vor dem Zusammentritt der BV beginnt, findet die z.T. auch öffentl. Personaldiskussion daher bereits im Vorfeld der Wahl statt. Zum Bundespräsidenten ist gewählt, wer im 1. oder 2. Wahlgang die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder der BV erhält. In einem eventuell notwendig werdenden dritten Wahlgang genügt die relative Mehrheit der Abstimmenden (Art. 54 Abs. 6 GG). Innerhalb von 2 Tagen hat der Gewählte gegenüber dem Bundestagspräsidenten zu erklären, ob er die Wahl annimmt. Alle bisherigen Bundespräsidenten haben dies bereits unmittelbar nach der Wahl getan. Nach der Annahmeerklärung - eventuell verbunden mit einer Ansprache - durch den Gewählten beendet der Bundestagspräsident die Sitzung der BV (§ 9 V BPräsWahlG) und veranlaßt als letzten Akt die Eidesleistung (-» Amtseid) des neu gewählten Bundespräsidenten in einem repräsentativen Staatsakt vor den versammelten Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat (Art. 56 GG und § 11 BPräsWahlG). Im Zeitraum zwischen 1949 und 1998 tagte die BV zehnmal: 1949 und 1954 wählte sie Theodor Heuss (FDP), 1959 193
Bundesversicherungsamt
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und 1964 Heinrich Lübke (CDU), 1969 Gustav Heinemann (SPD), 1974 Walter Scheel (FDP), 1979 Karl Carstens (CDU), 1984 und 1989 Richard von Weizsäcker (CDU) und 1994 Roman Herzog (CDU). Alle Bundespräsidenten waren zum Zeitpunkt ihrer Wahl Mitglieder einer polit. Partei, nahmen mehrheitlich Spitzenpositionen in ihrer Partei ein und hatten hohe Staatsämter inne. In 2 Fällen, und zwar 1969 bei der Wahl Gustav Heinemanns und 1994 bei der Wahl Roman Herzogs, gelang eine Wahl erst im dritten Wahlgang. Einen zweiten Wahlgang benötigten Theodor Heuss 1949 und Heinrich Lübke 1959 bei ihrer ersten Wahl, und alle Bundespräsidenten - ausgenommen Richard von Weizsäcker 1984 mit 80,9% - verzeichneten bei ihrer ersten Wahl eine nur knapp (zwischen 50% u. 52,7%) über der erforderlichen Mehrheit liegende Stimmenzahl. Die meisten Bundespräsidenten konnten sich daher nicht schon zu Beginn ihrer Amtszeit auf einen breiten polit. Konsens berufen, sondern mußten diesen erst durch ihre überparteiliche Amtsführung schaffen. In vielen Fällen stellte die Wahl - besonders deutlich sichtbar bei der Wahl Gustav Heinemanns 1969 - eine Richtungsentscheidung für mögliche künftige Koalitionsbildungen und damit zugleich eine Aussage über den Zustand der bestehenden Regierungskoalition dar. Lit.: Β. Braun: Die Bundesversammlung, Frankftirt/M. 1993; Dt. Bundestag (Hg.): Die Bundesversammlungen 1949-1984, Bonn 1989; Schneider/Zeh, S. 1599ÍT.
Werner Billing
Bundesversicherungsamt Das BVA im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung ist nach dem Gesetz über die Errichtung des BVA (BVAG) v. 9.5.1956 (BGBl. I S. 415) errichtet worden. Es führt als selbständige Bundesbehörde die Aufsicht über die Sozialversicherungsträger und ist zuständig für die Regelung von Verwaltungszuständigkeiten in der -> Sozialversicherung 194
und der betrieblichen Altersfürsorge. Es hat seinen Sitz in Bonn (der Vollzug der Sitzentscheidung wird in zeitlicher Abstimmung mit der Vollendung der Sitzentscheidung des —> Dt. Bundestages vorgenommen). Das BVA führt die Aufsicht über die als bundesunmittelbare —> Körperschaften des öffentlichen Rechts geführten sozialen Versicherungsträger (Art. 97 Abs. 2 GG). Im Rahmen der Aufsicht prüft es u.a. die Geschäfts- und Rechnungsführung sowie die Haushaltspläne der bundesunmittelbaren Versicherungsträger. Es entscheidet über die Genehmigung der Dienstordnungen, der Satzungen, der Versicherungsbedingungen, der Gefahrtarife und der Festsetzungen von Durchschnittssätzen in der -> Unfallversicherung, des Haushaltsplanes der Künstlersozialkasse auch hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der Ansätze, der Anlage von Vermögen sowie der Bauvorhaben. Femer prüft es die Anzeigen der —> Sozialversicherungsträger für den Kauf und die Miete von Datenverarbeitungsanlagen und -systemen. Bei dem Liquiditätsausgleich der Träger der —» Rentenversicherung untereinander und bei der Abwicklung der Bundeszuschüsse, bei der Regelung des Verhältnisses zur —> Deutschen Post AG sowie bei Fragen der Datenverarbeitung und Automation wirkt das BVA entscheidend mit. Dem BVA obliegen u.a. folgende Aufgaben: 1. Durchführung des Risikostrukturausgleichs nach § 266 SGB V; 2. Durchführung der Erstattungen des —> Bundes an die Träger der gesetzlichen —» Krankenversicherung für Aufwendung nach dem Mutterschutzgesetz (—» Mutterschutz) und für das Mutterschaftsgeld nach der RVO und dem KVLG; 3. Zahlung des Mutterschaftsgeldes an Frauen, die nicht Mitglied einer Krankenkasse sind, nach § 13 Abs. 2 des Mutterschutzgesetzes für die Zeit der Schutzfristen; 4. Zahlung und Überwachung der Betriebsmittel für die Leistung des —> Kindergeldes nach § 45 BKGG an bundesunmitelbare Rechtsträger im Bereich des Bun-
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte desministeriums für Arbeit und Sozialordnung 5. Prüfung der Verwendung von Bundesmitteln bei den bundesunmittelbaren landwirtschañl. Krankenkasse, Berufsgenossenschaften und landwirtschaftl. Alterskassen sowie von Vermögensübersichten der landesunmittelbaren Alterskassen im Auftrag des —> Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Daneben bestehen eine Reihe von Aufgaben im Bereich der Berufsbildung. Das BVA besteht aus 9 Abt.en mit 49 Referaten sowie einer Vorprüfungsstelle. Hg. Bundesversicherungsanstalt für Angestellte Versicherungsträger, dem die Durchführung der -> Rentenversicherung der -» Angestellten obliegt. -> Körperschaft des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Sitz der BfA ist Beri. Organe der BfA sind Vorstand und Vertreterversammlung, denen paritätisch Vertreter der Arbeitgeber und der Versicherten angehören. Rechtl. Grundlage bildet das Gesetz vom 7.8.1953. Seit Anfang 1957 untersteht sie der Aufsicht durch das Bundesversicherungsamt. Die BfA ist zuständig für rd. 23,5 Mio. Versicherte und über 6 Mio. Rentner. Die individuelle Betreuung und Beratung erfolgt über 45 Auskunftsund Beratungsstellen sowie durch rd. 2.500 ehrenamtliche Versichertenälteste. 1995 waren für die BfA knapp 20.700 Mitarbeiter tätig M. F.
Bundeswahlgesetz des Innern mit Sitz in Köln (Außenstellen im Bundesgebiet) errichtet. Es nimmt unter den oberen —> Bundesbehörden eine Sonderstellung ein, als es nicht zur Erledigung einer bestimmten Aufgabe, sondern als zentrale Verwaltungsbehörde des —» Bundes für die Übernahme verschiedenster Aufgaben der Bundesverwaltung geschaffen wurde. Alle Bundesministerien können im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern dem B. Aufgaben zur Erledigung in eigener Zuständigkeit unter ihrer -> Fachaufsicht übertragen. Im wesentlichen erstrecken sich die Aufgabenbereiche des B.es auf Zuwendungen für Vertriebene und Spätaussiedler, Dt. Minderheiten und Hilfen in Aussiedlungsgebieten. Weitere Aufgaben liegen in den Bereichen des Staatsangehörigkeitsrechts, des -> Ausländerrechts, des Auswanderungswesens sowie der Darlehensverwaltung nach dem -» Bundesausbildungsförderungsgesetz. Als Zentralstelle für das Auslandsschulwesen obliegt der Behörde die finanzielle und personelle Unterstützung von etwa 700 Schulen bzw. Trägern schulischer Einrichtungen im Ausland. Lit.: K.H. Mattern / H. Reinfried: Verwaltungslehre, Berlin 4 1 9 9 4 .
Allgemeine
H. W. Bundesverwaltungsgericht —> Bundesgerichte —> Rechtsprechende Gewalt Bundesvolk—> Staatsvolk Bundeswahlausschuß —> Wahlrecht
Bundesverteidigungsminister / -ium —> Bundesministerium der Verteidigung Bundesverwaltung -> Bundesauftragsverwaltung Bundeseigene Verwaltung —> Bundesunmittelbare Selbstverwaltung Bundesverwaltungsamt Das B. wurde entsprechend Art. 87 Abs. 3 GG bereits im Jahr 1959 (BGBl. I S. 829) als selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums
Bundeswahlgesetz Das BWG ist die einfachgesetzliche Rechtsgrundlage für die Wahlen zum Bundesparlament (—> Bundestag). Es datiert vom 7.5.1956 und hat inzwischen 25 Änderungen erfahren (zuletzt 1996). Wesentliche Grundlagen des BT-Wahlrechts sind verfassungsrechtl. verankert. Danach wird die —> Staatsgewalt vom -> Volk in —» Wahlen und - » Abstimmungen ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Die -> Abgeordneten 195
Bundeswahlgesetz des BT werden filr 4 Jahre (Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG) in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl (-> Wahlrecht) auf der Grundlage eines speziellen Wahlgesetzes, des BWG, gewählt (Art. 38 Abs. 1 S. 1 Abs. 3 GG). Mit Ausnahme der Wahl- und Wählbarkeitsaltersregelungen sowie einer Grundsatzregelung zum Wahlprüfungsverfahren (Wahlprüfung, Art. 41 GG) enthält das GG keine weiteren materiell-rechtl. Normierungen. Auch die Festlegung des -> Wahlsystems hat der Verfassungsgeber der Regelung im BWG überlassen. Nach den z.T. wenig erfreulichen Erfahrungen in der Weimarer Zeit mit dem damaligen Wahlrecht ist die Neugestaltung des BT-Wahlrechts nach Ende des Π. Weltkrieges am 8.5.1945 sorgfältig überlegt worden. Der Parlamentarische Rat verabschiedete zunächst das "Wahlgesetz zum ersten BT und zur ersten -» Bundesversammlung (BV) der —> Bundesrepublik Deutschland" vom 15.6.1949 (sog. erstes BWG). Das nur für die erste Wahl zum BT geltende Gesetz wurde durch das „Wahlgesetz zum zweiten BT und zur BV" vom 8.7.1953 abgelöst (sog. 2. BWG). Auch dieses Gesetz galt nur für eine einzige Wahl und -> Wahlperiode. Das folgende BWG vom 7.5.1956 (sog. drittes BWG), das dem zweiten BWG stark ähnelt, ist dann von vornherein auf Dauer konzipiert worden. Es hat noch heute Geltung, wobei allerdings zahlreiche Änderungsgesetze zu z.T. bedeutenden Neuerungen geführt haben (z.B. Gewährung des Wahlrechts an im Ausland lebende Deutsche, Einrichtung einer ständigen Wahlkreiskommission, Einführung der Briefwahl). Grundlegende Änderungen erfuhr das BWG zur ersten gesamtdt. Wahl am 2.12.1990; diese galten allerdings zu einem großen Teil nur für die anstehende Wahl. Näheres zum Inhalt des BWG Wahlrecht. Die zur Vorbereitung und Durchfuhrung der Wahlen zum BT erforderlichen techn. und organisatorischen Regelungen hat der Bundesgesetzgeber im BWG einer Normierung
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Bundeswasserstraßen mittels —> Rechtsverordnung durch das BMI überlassen. Das Ministerium hat daraufhin 1957 die Bundeswahlordnung und 1975 die Bundeswahlgeräteverordnung erlassen; beide haben zwischenzeitlich zahlreiche Änderungen erfahren. Die Wahlprüfung ist auf der Grundlage des Art. 41 GG in einem speziellen Wahlprüfungsgesetz geregelt. Lit: Bundeswahlgesetz i.d.F. der Bekanntmachung v. 23.7.1993 (BGBl. I S. 1288, 1594) sowie v. 30.3.1994 (BGBl. I S. 680) und 15.9.1994 (BGBl. I S. 2417), zuletzt geänd. durch Gesetz v. 15.11.1996 (BGBl. I S. 1712); Bundeswahlordnung i.d.F. v. 8.3.1994 (BGBl. I S. 495); Bundeswahlgeräteverordnung v. 3.9. 1975 (BGBl. I S. 2459), zuletzt geänd. durch VO v. 15.11.1989 (BGBl. I S. 1981, 1994); E. Boettcher / R. Högner: Bundeswahlgesetz, Bundeswahlordnung, München "1994; ¡V. Schreiber: Handbuch des Wahlrechts zum Dt. Bundestag. Komm, zum BWG, Köln 6 1998.
Wolfgang Schreiber Bundeswahlleiter -> Wahlrecht Bundeswahlordnung - » Bundeswahlgesetz Bundeswappen -> Staatssymbole Bundeswasserstraßen sind nach dem B.gesetz zum einen die Seewasserstraßen, zum anderen die in der Anlage hierzu abschließend aufgezählten Binnenwasserstraßen, die dem allgemeinen Verkehr dienen. B. stehen im Eigentum des —> Bundes und werden bundeseigen verwaltet (Art. 87, 89 GG). Im Rahmen des Gemeingebrauchs darf sie jedermann mit Wasserfahrzeugen befahren. Neu- und Ausbau sowie Unterhaltung der B. ist Aufgabe des Bundes, der dabei im Einvernehmen mit den -» Ländern die Bedürfnisse der Landeskultur und der Wasserwirtschaft wahrt. Zur Gefahrenabwehr trifft die Wasser- und Schiffahrtsverwaltung des Bundes als Ordnungsbehörde die Maßnahmen, die nötig sind, um die Β. in einem für die Schiffahrt erforderlichen
Bundeswehr Zustand zu erhalten (Strompolizei). Sie wird dabei von den Wasserschutzpolizeien der Länder als Vollzugspolizei der schiffbaren Gewässer unterstützt. J.S. Bundeswehr Mit den nachträglich in das Grundgesetz eingefügten wehrverfassungsrechtl. Bestimmungen hat der Verfassungsgeber eine Grundentscheidung für eine militärische Landesverteidigung getroffen; Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bw haben verfassungsrechtl. Rang. Der Begriff Bw, der sich im GG nicht findet, bezeichnet die Gesamtheit der Einrichtungen der militärischen Landesverteidigung. Die Bw besteht aus 4 rechtl. selbständigen Organisationsbereichen, und zwar 1. den Streitkräften (im allgemeinen Sprachgebrauch „die Bw"), 2. der Bw-Verwaltung, 3. der Rechtspflege und 4, der Militärseelsorge (sog. Vier-Säulen-Theorie). Alle Teile der Bw haben ihre gemeinsame organisatorische Spitze im —> Bundesministerium der Verteidigung. Nach 1945 wurde Dtld. völlig entmilitarisiert. Angesichts der OstWest-Konfrontation sprachen sich die Westmächte aber bereits 1950 für einen Verteidigungsbeitrag der -> Bundesrepublik Deutschland aus. Die zunächst geplanten gemeinsamen europ. Streitkräfte (sog. EVG) scheiterten am Widerstand Frankreichs. 1955 trat die BRD der -> NATO und der WEU bei. Sie verpflichtete sich hierbei zu Rüstungsbeschränkungen. Parallel zu dieser außenpolit. Entwicklung vollzog sich der Aufbau der Bw im Innern. Am 12.11.1955 erhielten die ersten Soldaten der Bw ihre Ernennungsurkunden. Zur Zeit des OstWest-Konflikts oblag es der Bw, gemeinsam mit den verbündeten Streitkräften die alte BRD gegen die Armeen des Warschauer Pakts zu verteidigen. Im Zuge der Deutschen Einheit übernahm die Bw Personal der aufgelösten NVA der -» DDR. Völkervertraglich ist der Friedensumfang der gesamtdt. Streitkräfte auf 370.000 Soldaten begrenzt. Heute schützt
Bundeswehr die Bw Dtld. und seine Bürger gegen polit. Erpressung und äußere Gefahr, fördert die militärische Stabilität und die Integration Europas, verteidigt Dtld. und seine Verbündeten, dient dem -> Frieden und der internationalen Sicherheit im Einklang mit der Charta der —> Vereinten Nationen und hilft bei Katastrophen, rettet aus Notlagen und unterstützt humanitäre Aktionen. 1. Im Mittelpunkt der —> Wehrverfassung steht Art. 87a Abs. 1 S. 1 GG: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." Diese Verfassungsnorm verpflichtet die Bundesexekutive nicht nur, Streitkräfte aufzustellen, sondern ermächtigt sie allgemein auch zu deren Einsatz. Die Streitkräfte dienen primär der Verteidigung Dtld. s gegen bewaffnete Angriffe und damit der äußeren Sicherheit. Die Wahrnehmung von anderen Aufgaben als der Verteidigung steht unter Verfassungsvorbehalt (Art. 87a Abs. 2 GG). Dies stimmt mit dem in Art. 26 Abs. 1 GG enthaltenen Verbot des Angriffskriegs überein. Das —> Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 12.7.1994 den langjährigen polit, und jurist. Streit entschieden, ob es einer —> Verfassungsänderung bedürfe, um Auslandseinsätze in anderen Fällen als denen der Landesverteidigung zu ermöglichen. Nach dieser Entscheidung dürfen die Streitkräfte über die reine Landesverteidigung hinaus auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 2 GG im Rahmen und nach den Regeln eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Ausland eingesetzt werden. Kollektive Sicherheitssysteme sind derzeit die -> Vereinten Nationen und die NATO (sowie die WEU). Art. 24 Abs. 2 GG läßt die Beteiligung an Friedensmissionen der UNO zu und bildet die verfassungsrechtl. Basis zur Verteidigung von NATO-/WEU-Mitgliedstaaten, sofern nicht gleichzeitig das Bundesgebiet angegriffen wird. Allerdings muß der -> Bundestag jedem von der -> Bundesregierung beschlossenen Einsatz bewaffneter Streitkräfte mit mindestens einfacher Mehrheit (Art. 42 Abs. 2 GG)
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Bundeswehr konstitutiv zustimmen (—> Parlamentsvorbehalt). Grds. muß die Regierung die Beschlußfassung des Bundestages vor dem Einsatz herbeiführen; bei Gefahr im Verzug kann sie nachgeholt werden. Unbewaffnete Hilfsdienste und Hilfeleistungen im Ausland bedürfen keiner Parlament. Zustimmung. Im Innern dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit das GG dies ausdrücklich zuläßt. Zu den von Art. 35 Abs. 2 S. 2, Abs. 3, Art. 87a Abs. 3 und 4 GG erlaubten Einsätzen zählen u.a. die Hilfe bei Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfallen sowie im Spannungs- oder Verteidigungsfall der Schutz ziviler Objekte. Ein Streitkräfteeinsatz im Innern darf sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten (Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG). Wie alle übrigen —> Behörden leisten auch Truppenteile und Dienststellen der Streitkräfte gem. Art. 35 Abs. 1 GG anderen Behörden —» Amtshilfe. Aus dem Haushaltsplan müssen sich die zahlenmäßige Stärke der Streitkräfte und die Grundzüge ihrer Organisation ergeben (Art. 87a Abs. 1 S. 2 GG). Dies dient der Parlament. Kontrolle der bewaffneten Macht. Da der Bundestag den - » Bundeshaushaltsplan jährlich durch Gesetz feststellt (Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG), hat er einen bestimmenden Einfluß auf Umfang und Aufbau der Streitkräfte. Fundamentale Änderungen der Wehrstruktur hängen von der Parlament. Zustimmung ab. Die aktuelle Organisation der Streitkräfte ergibt sich in ihren Grundzügen aus dem Einzelplan 14 des jeweiligen Haushaltsplans. Der Friedensgesamtumfang der Streitkräfte beträgt 340.000 Soldaten, von denen 200.000 Freiwillige (Berufssoldaten / Soldaten auf Zeit) und 140.000 Wehrpflichtige sind. Die Bw ist also eine Mischform zwischen Freiwilligen- und Wehrpflichtarmee. Der Friedensumfang läßt sich kurzfristig durch Heranziehung von Wehrpflichtigen in der Verfügungsbereitschaft auf 370.000 erhöhen. Für den Verteidigungsfall (Art. 115a ff. GG) ist ein Personalumfang von knapp 700.000
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Bundeswehr Soldaten vorgesehen. Die Innere Führung bildet das Führungskonzept der Streitkräfte. Sie basiert auf der Werteordnung des GG und dient dazu, die -> Staatsbürger unter Berücksichtigung der Erkenntnisse modemer Menschenführung zu kampfkräftigen und kampfwilligen Soldaten auszubilden, die militärischen Anforderungen in Kongruenz mit den Vorgaben des demokrat. verfaßten Rechtsstaates zu bringen und die Soldaten in die Gesellschaft zu integrieren. Die Streitkräfte bestehen aus Heer, Luftwaffe und Marine als Teil Streitkräften sowie Zentralen Militärischen Bw-Dienststellen und Zentralen Sanitätsdienststellen der Bw. Das Heer umfaßt: das Heeresführungskommando mit 3 Korps, 1 Wehrbereichskommando, 1 Division, 6 fusionierten Wehrbereichskommandos/Divisionen und 1 Kommando Luftbewegliche Kräfte; das Heeresunterstützungskommando mit dem Materialamt des Heeres und der Zentralen Militärischen Kraftfahrzeugsteile; das Heeresamt mit 17 Schulen und der Stammdienststelle des Heeres; Heeresanteile multinationaler Verbände. Zur Luftwaffe gehören: das Luftwaffenführungskommando mit 2 Luftwaffenkommandos, 4 Luftwaffendivisionen, Lufttransportkommando und Luftwaffenführungsdienstkommando; das Luftwaffenunterstützungskommando mit 6 Luftwaffenversorgungsregimentern und dem Materialamt der Luftwaffe; das Luftwaffenamt u.a. mit 2 Luftwaffenausbildungsregimentern, 4 Schulen und der Stammdienststelle der Luftwaffe. Die Marine umfaßt das Flottenkommando mit 6 Flotillen, das Marineunterstützungskommando (u.a. mit 3 Marineabschnittskommandos) sowie das Marineamt mit 5 Schulen und der Stammdienstelle der Marine. Zentrale Militärische Bw-Dienststellen sind u.a. das Streitkräfteamt, das Amt für den Militärischen Abschirmdienst, das Personalamt der Bw, das Militärgeschichtl. Forschungsamt, die beiden Universitäten der Bw in Hamb.
Bundeswehr und München (16 Studiengänge ausschließlich für Offiziere), die Führungsakademie der Bw und das Zentrum Innere Führung. Schließlich gibt es die Zentralen Sanitätsdienststellen der Bw (insbes. das Sanitätsamt der Bw, die Akademie des Sanitäts- und Gesundheitswesens der Bw und 10 Bw-Krankenhäuser). 2. Als bundeseigene —• Verwaltung mit eigenem Verwaltungsunterbau dient die von den Streitkräften getrennte - BwVerwaltung den Aufgaben des Personalwesens und der unmittelbaren Deckung des Sachbedarfs der Streitkräfte (Art. 87b Abs. 1 S. 1 GG). Ferner obliegen ihr u.a. Aufgaben des Wehrersatzwesens (Art. 87b Abs. 2 S. 1 GG). Die Bw-Verwaltung soll die Streitkräfte u.a. von administrativen Angelegenheiten entlasten. Sie besteht aus der sog. Territorialen Wehrverwaltung, dem Rüstungsbereich sowie den organisatorisch in die Streitkräfte integrierten Abt.en Verwaltung, Truppenverwaltungen und Bw-Krankenhausverwaltungen. Die Bw-Verwaltung verfügt über 3 Bundesoberbehörden (Bundesamt fìlr Wehrverwaltung; —• Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung; Bundessprachenamt), 7 Wehrbereichsverwaltungen als Bundesmittelbehörden und - auf Ortsebene - eine Anzahl von Behörden der unteren Verwaltungsstufe (z.B. Standortverwaltungen; Kreiswehrersatzämter). Hinzukommen Ausbildungseinrichtungen (u.a. Bundesakademie für Wehrverwaltung und Wehrtechnik; Fachbereich BwVerwaltung der Fachhochschule des Bundes für öffentl. Verwaltung; BwFachschulen) und Bw-Verwaltungsstellen im Ausland. 3. Einen weiteren eigenständigen Bereich bildet die Rechtspflege in der Bw. Ihre Organe sind die Wehrdienstgerichte, die Rechtsberater und die -> Wehrdisziplinaranwälte, der Bw-Disziplinaranwalt beim BVerwG und die Rechtslehrer an Ausbildungseinrichtungen der Streitkräfte. Wehrdienstgerichte, Wehrdisziplinaranwälte und Bw-Disziplinaranwalt finden ihre verfassungsrechtl. Grundlage in Art.
Bundeswehrverwaltung 96 Abs. 4 GG. Die gem. Art. 97 Abs. 1 GG unabhängigen Wehrdienstgerichte als Kembereich der Rechtspflege entscheiden in den Beschwerde- und Antragsverfahren nach der WBO und der WDO sowie in disziplinargerichtlichen Verfahren gegen Soldaten. Während die 2 Truppendienstgerichte zum Geschäftsbereich des BMVg gehören, zählen die 2 Wehrdienstsenate des BVerwG zum Ressort des Bundesministeriums der Justiz. 4. Als 4. Organisationsbereich besteht die —• Militärseelsorge, die mit den beiden Großkirchen vertraglich vereinbart wurde. Verfassungsrechtl. gründet sie sich auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 141 WRV. Nach § 36 SG hat der Soldat einen Anspruch auf Seelsorge und ungestörte Religionsausübung, wobei die Teilnahme am Gottesdienst freiwillig ist. An der Spitze der konfessionell getrennten - Militärseelsorge stehen jeweils ein ev. und kath. (nebenamtlicher) Militärbischof. Die hauptamtlichen Militärgeistlichen sind Bundesbeamte (überwiegend auf Zeit). Lit: D. Blumenwitz: Der Einsatz dt. Streitkräfte nach der Entscheidung des BVerfG vom 12. 7. 1994, in: BayVBl. 1994, S. 641ff. und 678ff.; Bundesministerium der Verteidigung (Hg.): Weißbuch zur Sicherheit der BRD und zur Lage und Zukunft der Bundeswehr, Bonn 1994; HdbStR III, S. 977ff.; P. Kirchhof. Der Verteidigungsauftrag der dt. Streitkräfte, in: FS R. Bernhardt, Berlin 1995, S. 797ff.; C. Raap: Die Kontrolle der Streitkräfte durch das Parlament, in: JuS 1996, S. 980ff.; A. Sturm: Streitkräfte - Bundeswehrveraltung - Rechtspflege, Aachen 1996; 1000 Stichworte zur Bundeswehr, Hamburg 1997.
Christian Raap Bundeswehrfachschulen -> Bundeswehr Bundeswehrhochschulen wehr
-> Bundes-
Bundeswehrstrafgerichte —» Wehrstrafgerichte Bundeswehrverwaltung —> Bundeswehr
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Bundeswìrtschaftsministerium Bundeswirtschaftsministerium desministerium für Wirtschaft
Bundeszentrale (Z.f.p.B.) Bun-
Bundeswohnungsbauministerium -> Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Die BZgA ist eine -> Behörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit mit Sitz in Köln. Bei ihrer Gründung 1967 wurden ihr v.a. folgende Aufgaben übertragen: 1. Erarbeitung von Grundsätzen und Richtlinien für den Inhalt und die Methoden einer praktischen Gesundheitserziehung, 2. Aus- und Fortbildung der auf dem Gebiet der Gesundheitseiziehung und aufklärung tätigen Personen, 3. Koordinierung und Verstärkung der gesundheitlichen Aufklärung und Gesundheitserziehung im Bundesgebiet. Die Infonnationsangebote der BZgA über gesundheitliche Risiken, über Möglichkeiten zu einer gesunden Lebensführung sowie über die präventiven Angebote des Gesundheitssystems sollen den Bürgerinnen und Bürgern helfen, Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen und das Gesundheitssystem sachgerecht zu nutzen. Massenmediale Angebote der BZgA machen auf gesundheitsrelevante Themen und Probleme aufmerksam und vermitteln grundlegende Informationen darüber, personalkommunikative Aktivitäten zielen v.a. ab auf eine vertiefende Auseinandersetzung mit diesen Themen. Die Vermittlung und Stärkimg von Kommunikations- und Handlungskompetenzen als Voraussetzung für die Fähigkeit, den Lebensalltag zu gestalten, Problemsituationen zu meistern und einen gesundheitsförderlichen Lebensstil zu entwickeln, ist ein wichtiger Ansatzpunkt der Präventionsarbeit der BZgA. Hg-
Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung: 1. Kennzeich200
nung Die Z. f. p. B. sind staatl. Einrichtungen zur Förderung des organisierten polit. Lernens zwecks Differenzierung, Ergänzung und Korrektur der -> Politischen Sozialisation. Wichtigste ihrer in Erlassen und Statuten fixierten Aufgaben sind Beiträge zur Verbreitung und Festigung der —> freiheitlichen demokratischen Grundordnung der BRD sowie zur Entwicklung von Urteilsfähigkeit und Engagement der —» Staatsbürger. Dazu dienen die Anregung zur Koordination und Kooperation zwischen Trägern sowie die Mitwirkung an der Klärung von Grundfragen und bei der Qualifizierung des Personals der —> Politischen Bildung, die Herausgabe und Verbreitung von Schriften und anderen Medien (z.B. —> Informationen zur polit. Bildung) sowie selbständig und kooperativ durchgeführte Veranstaltungen. 2. Histor. Der Aufbau der Z. geht auf Bestrebungen der Reeducation der Westalliierten und innerdeutsche staatsbürgerl. Bemühungen nach dem Π. Weltkrieg als Reaktion auf den —> Nationalsozialismus zurück. Gewisse Vorbildfunktion hatte die Reichszentrale für Heimatdienst, die 1919 als Umwidmung für Belange der Weimarer Demokratie aus der 1918 mit patriotischer Absicht errichteten Zentralstelle für Heimatdienst hervorgegangen war. Gegründet 1952 (als Bundeszentrale für Heimatdienst; heutiger Name ab 1963), sind die Bundeszentrale sowie die seit 1954 nach Prinzipien des —> Förderalismus allmählich und ab 1990 auch in den neuen Bundesländern etablierten Landeszentralen überparteilich tätig. 3. Stellung im parlament. System Sitz der Bundeszentrale ist (noch) Bonn. Sie unterhält eine nach der Herstellung der -> Dt. Einheit (provisorisch) in Beri, eingerichtete Außenstelle und das Ost-WestKolleg in Brühl (bis 1996: Köln; 19571992: Ostkolleg). Landeszentralen gibt es in den Hauptstädten aller Bundesländer. Dem Spannimgsverhältnis aus Erfordernissen der Überparteilichkeit und Einbin-
Bundeszentrale (Z.f.p.B.) dung in die staatl. Verwaltung sowie der Bewahrung von Eigenständigkeit gegenüber der -> Exekutive und Notwendigkeiten öffentl. Kontrolle wird mit verschiedenen, mehrfach revidierten und nicht endgültig diskutierten Konstrukten zu begegnen versucht. Derzeit arbeiten die Bundeszentrale als —> Oberste Bundesbehörde im Geschäftsbereich des BMdl und die Landeszentralen als Teil eines Ministeriums (meist -> Staatskanzlei) oder nachgeordnete nicht-rechtsfähige -> Anstalt des öffentlichen Rechts. Es unterliegen i.d.R. die Rechts-, Dienst- und Haushaltsaufsicht den zuständigen Ministerien, die Sacharbeit der Kontrolle eines Kuratoriums (aus Abgeordneten aller Fraktionen). Bei der Bundeszentrale wurde 1992 das seit 1973 bestehende, auf einstimmige Entscheidungen verpflichtete Dreier-Direktorium durch eine in der Praxis für weniger problematisch erachtete Präsidialverfassung abgelöst. Den Landeszentralen steht ein Direktor vor, Proporzaspekte bei der Personalrekrutierung sind durch Distanz gegenüber persönlichen polit. Überzeugungen und Konzentration auf übergreifende Aufgaben zu relativieren. Die Bevorzugung einvernehmlicher Entscheidungen nützt einer Vermeidung der Übertragung Parlament. Streits und parteipolit. Differenzen. Dennoch erfolgende Auseinandersetzungen über die Arbeit der Z. mit größerer öffentl. Resonanz waren bislang selten. 4. Ausstattung und Aktivitäten Die personellen und finanziellen Ressourcen differerieren zwischen der Bundeszentrale und den Landeszentralen sowie zwischen den Bundesländern erheblich. Das spiegelt sich z.B. im Ausmaß eigener Tagungen, in der Übernahme und Produktion von Publikationen sowie darin, daß nur eine Landeszentrale (Bad-Württ.) eine Akademie unterhält. Breite, Qualität und Reichweite der Aufgabenwahmehmung läßt das nicht unberührt. Zunehmende Haushaltskürzungen bedingen weitere Einschränkungen, so daß bereits Fragen nach der Fortexistenz einzelner Z. aufge-
Bundeszentrale (Z.f.p.B.) kommen sind. Die Bundeszentrale ist vornehmlich auf grundlegende Bildungsfragen von nationaler und globaler Bedeutung konzentriert. Ihre inhaltlich bestimmten Ressorts (Massenmedien, Publizistik, Außerschulische polit. Bildung, Polit. Bildung in der Schule, Innere Einheit) gliedern sich in mehrere Referate. Gehörten früher die Auseinandersetzung mit den dem —• Totalitarisme zugerechneten Ideologien und Systemen, Probleme der dt. Teilung und die wiss. Fundierung histor.-polit. Bildung zu den Schwerpunkten, haben inzwischen internationale Beziehungen (insbes. Fragen der —> Europäischen Integration), das gesamtdt. Vereinigungsgeschehen, Neue Medien, ökologisch-ökonom. Herausforderungen und für zeitgemäß gehaltene Methoden des Politik-Unterrichts an Bedeutung gewonnen. Die Landeszentralen widmen sich mit kleineren Apparaten, ausschnittweise und mit anderer Intensität vergleichbaren Arbeitsfeldern. Zu ihrer Eigenständigkeit gehört eine Profilbildung, mit der genuine Akzente (von der Bevorzugung spezifischer Veranstaltungsarten bis zur Ausrichtung von Wettbewerben) gesetzt und besondere Möglichkeiten (der Bildungsarbeit in Grenzregionen u.a.) genutzt wie gepflegt werden. 5. Staatsbürgerl. Bedeutung und Aussichten Zur pädagogischen Unterstützung der -> Politischen Kultur ist die Arbeit der Z. unverzichtbar und dringend auszubauen. Ihre Minimierung würde Regressionen der —> Politischen Bildung andernorts begünstigen. Wenn ihre Veröffentlichungen als staatl. Vorschrift für polit. Lernen mißverstanden oder ihr Material aufgrund von Kostenfreiheit und nachgefragter Unterrichtsrezepte oder Verringerung sonstiger Angebote monistisch genutzt werden, droht Einschränkung von Qualität und Pluralität. Zusammenarbeit mit den wenigen ähnlichen Einrichtungen im Ausland (z.B. Niederlande, Ungarn) steht noch am Anfang und birgt Chancen interkultureller Kommunikation. Lit.: Β. Courts: Der Staat als Kommunikator
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Bundeszentralregister polit. Bildung - dargestellt an der Landeszentrale für polit. Bildung NRW, Diss. Münster 1994; S. Schiele: Außerschulische polit. Bildung in staatl. Verantwortung - das Beispiel der Bundeszentrale und der Landeszentralen für polit. Bildung, in: B. Claußen / R. Geißler (Hg.), Die Politisierung des Menschen, Opladen 1996, S. 239£f.; B. Widmaier: Die Bundeszentrale für polit. Bildung, Frankfurt/M. 1987.
Bernhard Claußen Bundeszentralregister ist eine vom Generalbundesanwalt geführte —> Behörde mit Sitz in Berlin (zukünftig: Bonn). Rechtsgrundlage ist das B.gesetz (BZRG i.d.F. v. 21.9.1984 BGBl I S. 1229). Das B. dient in erster Linie der Registrierung strafgerichtlicher Verurteilungen, daneben aber auch diverser ausländer-, waffen-, paß- und gewerberechtl. Behördenentscheidungen und bestimmter Schuldunfähigkeitsentscheidungen. Die -» Gerichte und Behörden sind zur Mitteilung über die betreffenden Entscheidungen an das B. verpflichtet. —> Auskunft aus dem B. wird beschränkt oder unbeschränkt erteilt. Inhaltlich beschränkt sind die Angaben in dem Führungszeugnis, das auf Antrag des Betroffenen selbst oder einer Behörde ausgestellt wird. Unbeschränkte Auskunft auch über die nicht in das Führungszeugnis aufzunehmenden Angaben (insbes. wegen nicht schwer wiegender bzw. länger zurückliegender Verurteilungen) erhalten nur Gerichte und bestimmte Behörden für im einzelnen festgelegte Zwecke (§ 41 BZRG). Die Eintragungen über Strafentscheidungen unterliegen - abgestuft nach der Schwere der Verurteilung grds. der Tilgung nach Zeitablauf (§ 49ff. BZRG). Keiner Tilgung unterliegen lediglich die lebenslange Freiheitsstrafe sowie die Unterbingung in der Sicherungsverwahrung bzw. eines psychiatrischen Krankenhauses. Zudem kann die Löschung beantragt werden, wenn die Vollstreckung erledigt ist und das öffentl. Interesse nicht entgegensteht; gegen die ablehnende Entscheidung besteht -» Beschwerderecht. Wegen des Stigmatisierungseffekts (der 202
Caucus ggf. die Reintegration des ehemaligen Straftäters beeinträchtigen kann) wird seit langem insbes. über eine differenziertere Regelung der in das Führungszeugnis aufzunehmenden Angaben diskutiert. Neben dem Zentralregister wird beim B. zudem ein Erziehungsregister geführt, in das jugend- und vormundschaftsgerichtliche Entscheidungen ohne Strafcharakter eingetragen werden (§§ 59 BZRG). Beim B. wird zudem das Gewerbezentralregister (§ 149 ff. GewO) geführt. Lit.: Κ. Rebmann / S. Uhlig: Bundeszentralregistergesetz, Komm., München 1985.
Jörg Menzel Bundeszollverwaltung -»· Zoll Bundeszwang - * Bundesstaat BVA -» Bundesversicherungsamt BWB Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung BZS
Bundesamt für Zivilschutz
f^aucus Genuin amerik. Begriff, möglicherweise aus dem Indianischen, mit 3 Hauptbedeutungen: „King Caucus" war die oft von der jeweiligen Kongreß-Fraktion beherrschte Nominierungsversammlung für Präsidentschaftskandidaten; sie wurde von Vorwahlen und Parteikonventen abgelöst. Heute bezeichnet C. die Fraktionsversammlungen im —>• US-Kongreß. Weder die —> Verfassung der USA noch die —> Geschäftsordnung des USKongreß nennen C.; die Entstehung von Parteien wurde zunächst nicht berücksichtigt. Ein C. wählt zu Beginn eines neuen Kongreß die Führungspositionen der Fraktion und die Ausschußvorsitzenden. Der C. Chair konkurriert heute in der Rangfolge mit dem —> Whip, was auf die gestiegene Bedeutung des C. hinweist, der aber keine Fraktionsdisziplin kennt. Als
Chambre des Députés
CDU C. werden auch informelle Zusammenschlüsse von —• Abgeordneten und / oder Senatoren bezeichnet, die sich parteilich oder überparteilich, regional oder inhaltlich definieren. Mit dem Congressional Black Caucus begann in den 1970er Jahren die Institutionalisierung dieser Art C.; in den 1980er Jahren bereitete ein republikanischer C. den sog. Vertrag mit Amerika (das Wahlprogramm der —» Republikanischen Partei) vor. Lit: D. Bacon (Hg.): The Encyclopedia of the United States Congress, New Yoric 1995.
T. G. CDU —> Christlich Demokratische Union CEN / CENELEC Das „Comité Européen de Normalisation" (CEN) und das „Comité Européen de Normalisation Elektrotechnique" (CENELEC) sind privatrechtl. internationale Zusammenschlüsse nationaler Wirtschaftsverbände im Bereich der techn. -> Normung. Um die Verkehrssicherheit von Industrieprodukten zu gewährleisten, existierten in allen Industriestaaten schon lange techn. Normen (wie die DIN). Infolge einer EGRatsentschließung vom 7.5.1985 (AB1EG Nr.C 136 S. 1 vom 4.6.1985) wurden CEN und CENELEC von der EG-Kommission beauftragt, allgemeine europaweit gültige techn. Normen zu erarbeiten (Beispiele danach ergangener Richtlinien: Maschinenrichtlinie 89/392/EWG, Niederspannungsrichtlinie 73/23/EWG). Damit sollen im Binnenmarkt der freie Warenverkehr erleichtert und techn. Handelshemmnisse durch nationale Regelungen vermieden werden. Die Prüfimg der Produkte erfolgt in abgestuften Verfahren durch die Hersteller selbst oder extern durch von den EU-Mitgliedstaaten benannte Stellen. Lit: H. Berghaus / D. Langner: Das CE-Zeichen, München 1994 (Loseblattsammlung). T.
Z.
CERN Die Europ. Organisation für Kernforschung (CERN), 1954 in Genf errich-
tet, arbeitet auf dem Gebiet der reinen Grundlagenforschung; sie befaßt sich nach ihrem Gründungsvertrag ausdrücklich nicht mit militärischen Arbeiten. Im Mittelpunkt der Tätigkeit von CERN steht der Bau und Betrieb von Teilchenbeschleunigern und Speicherringen für kernphysikalische Untersuchungen. J.S.
Chambre des Députés 1. Die sog. —> Charte Constitutionnelle, die 1. Parlament. Verfassung Frankreichs von 1814, die von 1814 bis 1830 galt, übertrug die -> Legislative 2 Kammern (-> Zweikammersystem), von denen die auf 5 Jahre gewählte C. (Abgeordnetenkammer) aus direkten, allerdings an einen hohen Wahlzensus (cens électoral) gebundenen, —• Wahlen hervorging, während die Chambre des Pairs sich aus erblichen oder vom König auf Lebenszeit ernannten Mitgliedern zusammensetzte. An dieser Parlamentsstruktur änderte sich unter der Charte Constitutionnelle von 1830, die von 1830 bis 1848 galt, wenig. Der C. kam - neben dem König und der Chambre des Pairs - das Recht der Gesetzesinitiative zu; der Wahlzensus wurde gesenkt. Beiden Kammern stand das Haushaltsrecht zu. 2. Unter der frz. Verfassung von 1875 war die C. in der ΙΠ. Republik (1875-1940) eine der beiden Kammern des -» Parlaments (neben dem -> Senat). Beide Kammern traten nur zur Wahl des Präsidenten der Republik und zur Beschlußfassung über Verfassungsänderungen als sog. —> Nationalversammlung zusammen. Die 611 Abgeordneten der C. wurden alle 4 Jahre in allgemeiner, direkter und geheimer Wahl gewählt. Aktives -> Wahlrecht hatte dabei jeder frz. —> Staatsbürger über 21 Jahre, passives Wahlrecht jeder Bürger über 25 Jahre. Die C. hatte - wie der Senat - das Initiativrecht bei der Gesetzgebung. Auch Gesetze bedurften der Zustimmung beider Kammern. Demgegenüber wurde der Staatshaushalt nur von der C. verabschiedet. Die Mitglieder des Ministerrats
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Chemikalienrecht
Chambre des Pairs waren beiden Kammern verantwortlich (-» Ministerverantwortlichkeit). Die C. konnte vom Präsidenten der Republik mit Zustimmung des Senats aufgelöst werden, was allerdings nur 1877 versuchsweise praktiziert wurde (-> Verfassung, frz., —>
Parlamentsgeschichte, frz.). Lit: P. Hartmann: Frz. Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Darmstadt 1985.
Jörg Ukrow Chambre des Pairs -» Chambre des Députés Charta der Vereinten Nationen -> Vereinte Nationen Charte Constitutionnelle Die C.C. von 1814 war die 7. -> Verfassung Frankreichs. Nach der Abdankung Napoleons von dem Bourbonen Ludwig XVIH. oktroyiert, stellte sie — wie bereits ihre Bezeichnung andeutet — den Versuch dar, Prinzipien des Ancien Régime mit solchen der bürgerl. Revolution zum Ausgleich zu bringen. Die —> Exekutive lag danach beim König, ebenso die Gesetzesinitiative und die Verordnungsgewalt, die ein selbständiges Notverordnungsrecht einschloß. Ludwig XVHI. machte von diesem keinen Gebrauch. Die Legislativgewalt wurde im übrigen von einer den Adel repräsentierenden Kammer sowie einer Abgeordnetenkammer ausgeübt. Die -» Abgeordneten wurden nach einem —> Zensuswahlrecht gewählt, wonach letztlich weniger als 100.000 Franzosen in den Genuß des -> Wahlrechts kamen. Insg. stellt sich die Verfassung jedoch im Vergleich zu den Verfassungen der napoleonischen Zeit als liberaler dar. Der Grundrechtskatalog umfaßt neben der Glaubensfreiheit die —> Meinungs- und Pressefreiheit. Dabei ist allerdings nicht mehr - wie in der naturrechtl. Diktion (-> Naturrecht) der revolutionären Verfassungen von 1791 (mit der vorangestellten Erklärung von 1789), 1793 und 1795 - von unveräußerlichen —> Menschenrechten die Rede, sondern schlicht von Rechten der Franzo-
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sen, wodurch die positivrechtl. Zuerkennung betont wird. Die C.C. von 1814 entfaltete erhebliche Vorbildwirkung auf den dt. Frühkonstitutionalismus (-> Konstitutionalismus). Sie wurde durch die C.C. von 1830 abgelöst, welche im Unterschied zur Charte von 1814 nicht vom Monarchen oktroyiert, sondern zunächst vom -> Parlament angenommen wurde. Die neue C.C., ebenfalls ein Kompromiß, diesmal zwischen Republikanern und konstitutionellen Monarchisten, verankerte zusätzliche liberale Prinzipien, die für die Herrschaft von Louis-Philippe (1830-1848) tragend wurden. So wurde die Anerkennung des kath. Glaubens als Staatsreligion abgeschafft und die Pressezensur ausdrücklich beseitigt. Die Befugnisse des Parlaments wurden erweitert. Eine Öffnung des Wahlrechts führte zu einer Verdoppelung der Zahl der Wahlberechtigten. Lit: G. Burdeau /F. Hamon /M. Troper: Droit constitutionnel, Paris "1991, S. 329ff.; J. Godechot: Les Constitutions de la France depuis 1789, Paris 1979, S. 209ff.
Karl-Peter Sommermann Chemikaliengesetz -> Chemikalienrecht Chemikalienrecht Die Zielsetzung des Chemikalien- bzw. Gefahrstoffrechts besteht darin, den Menschen und die Umwelt vor schädlichen Einwirkungen gefährlicher Stoffe und Zubereitungen zu schützen. Aufbauend auf den EG-rechtl. Vorgaben der Chemikalien-Richtlinie Nr. 79/831/EWG des Rates aus dem Jahre 1979, die primär dem Abbau von Handelshemmnissen dienen sollte, wurde mit Verabschiedung des Chemikaliengesetzes vom 16.9.1980 erstmalig eine medienübergreifende und dem Prinzip der —> Vorsorge Rechnung tragende Regelung der Stoffproblematik verfolgt. Das Chemikaliengesetz regelt keine allgemeine Genehmigungspflicht für Chemikalien, sondern stellt für Hersteller und Importeure nach dem Prinzip der kontrollierten Eigenverantwortung lediglich verschie-
Christlich Demokratische Union dene Verhaltenspflichten auf. Stoffrechtl. Spezialregelungen, z.B. des Arzneimittel-, des Düngemittel- oder des Lebensmittelrechts, sind vorrangig anwendbar, eine Sonderstellung nimmt insoweit das Atomrecht ein. Maßgebend für die mit Prilfund Anmeldepflichten belegte Eigenschaft als neuer Stoff ist die Aufnahme in eine das europ. Altstoffinventar (EINECS) enthaltende Rechtsverordnung. Um die EUweiten Prüfverfahren zur Anmeldung der Stoffe zu vereinheitlichen, wurde der Maßstab die Guten Laborpraxis i.S.d. §§ 19a-19d i.V.m. Anhang 1 und 2 ChemG eingeführt. Einen weiteren Schwerpunkt des Chemikaliengesetzes bildet die Pflichtentrias aus Einstufimgs-, Kennzeichnungs- und Verpackungspflichten gem. den §§ 13-15 ChemG für neue und alte gefährliche Stoffe. Einen Katalog der gefährlichen Stoffe enthält die Gefahrstoffverordnung. Daneben wurden auf der Grundlage des § 17 ChemG verschiedene Verordnungen zum Verbot gefährlicher Stoffe, z.B. polychlorierter Biphenyle oder Halogenkohlenstoffe erlassen. Eine Änderung der Grundkonzeption des C.s erfolgt im Rahmen des alle anderen Gebiete des -> Umweltrechts umfassenden Umweltgesetzbuchs. Lit: Gesellschaft ßr Rechtspolitik (Hg.): Chemikalienrecht, München 1986; G. Winter. Regelungsmßastäbe im Gefahrstoffrecht, in: DVB1 1994, S. 913ÍT. Irene L. Heuser Christlich Demokratische Union (CDU) Die Gründung einer überkonfessionellen Volkspartei der Mitte auf christl. Grundlage war unmittelbar nach Kriegsende 1945 parteiensoziologische Konsequenz. In zahlreichen Städten wurden derartige - » Parteien unter Mitwirkung von ehemaligen Zentrumspolitikern, Liberalen und gemäßigt Konservativen unter verschiedenen Bezeichnungen gegründet; die wichtigsten Gründungskeme waren in der sowjetischen Zone Beri., in der engl. Zone Köln und Düsseldorf sowie in der amerik. Zone Frankfurt/M. und Stuttgart. Diese
Christlich Demokratische Union überaus heterogene Gründungsphase und die unterschiedliche Linzensierungspraxis der Alliierten hatten zur Folge, daß sich die CDU erst 1 Jahr nach Gründung der —> Bundesrepublik Deutschland auf dem Goslarer Parteitag vom Oktober 1950 als Bundespartei konstituierte. Mit der Gründung der CDU und der Abkehr der kath. Bevölkerung von der Zentrumspartei wurden in Dtld. die polit. Folgen der konfessionellen Spaltung überwunden, was einen tiefen Einschnitt in die Entwicklung des —> Parteiensystems bedeutete. Diktatur und Verfolgungserfahrung beider Konfessionen im -> Nationalsozialismus hatten die Spaltung als obsolet erscheinen lassen. Das Ziel, nicht nur die Anhängerschaft der Zentrumspartei, sondern alle nicht-marxistischen Kräfte zu sammeln, wurde mit der Ausnahme der —• FDP, die sich behaupten konnte, im Verlauf der 50er Jahre weitgehend verwirklicht. Das Konzept der Volkspartei, die alle sozialen Schichten integrieren sollte, stand insofern von Beginn an im Vordergrund der neuen Partei. Die frühe Entwicklung der CDU wurde durch die Rivalität der rheinischen und der Berliner Parteiführung (aufgrund der frühen Zulassung von gesamtzonalen Verbindungen hatten die CDU der sowjetischen und der brit. Zone einen organisatorischen Vorsprung) und die Persönlichkeit Konrad Adenauers geprägt. Adenauer, der im Februar 1946 die Führung der CDU in der brit. Zone übernahm, lehnte einen Berliner Führungsanspruch für die CDU im Reich kategorisch ab. Die Eingriffe der Besatzungsmacht in die Personalpolitik der CDU (erzwungene Rücktritte der Vorsitzenden A. Hermes im Dezember 1945 und J. Kaiser im Dezember 1947) bestätigten seine Vermutung, daß unter sowjetischen Auspizien keine freie CDU-Politik möglich sein werde. Im Prozeß der dt. Teilung wurde die CDU der sowjetischen Zone immer stärker in die Politik des von der SED dominierten antifaschistischen Blocks eingebunden, bis sie schließlich nach Gründung der - >
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Christlich Demokratische Union DDR zu einem bloßen Transmissionsriemen des Willens der SED-Führung wurde. Nur an der Parteibasis blieb eine gewisse Distanz zum Regime erhalten, die ab 1989 die Basis für eine innere Reform der Partei und die Vereinigung mit der CDU der BRD bildete. Mit dem Ausscheiden der Berliner Führung wurde die CDU der brit. Zone unter der Führung von Adenauer zum Motor der weiteren Entwicklung in den Westzonen. Hier entstanden die ersten CDU-Programme (Neheim-Hüsten, 1946; Ahlen 1947; Düsseldorf 1949), die den Charakter von Kompromißpapieren zwischen dem linken Flügel, der sich in den Sozialausschüssen formierte und anfanglich mit Vorstellungen eines christl. Sozialismus sympathisierte, und dem bürgerl. Wirtschaftsflügel, zu dem auch Adenauer zu zählen war, trugen. Erst Ludwig Erhards erfolgreiche Politik als Wirtschaftsdirektor der brit. und amerik. Bizone brachte die CDU endgültig auf einen sozial ausgeglichenen, marktwirtschaftl. Kurs. Daneben stellten von Beginn an eine christlich-abendländische Europaorientierung verbunden mit tief verwurzeltem Antikommunismus programmatische Grundlagen der CDU-Politik dar. Für die weitere Parteientwicklung entscheidend war der Ausgang der ersten —> Bundestagswahl 1949. Die CDU wurde gemeinsam mit der -> CSU stärkste —» Fraktion im -» Deutschen Bundestag, und es gelang Adenauer gegen erheblichen innerparteilichen Widerstand, die Bildung einer bürgerl. -> Koalition durchzusetzen. Damit war die Grundlage bedeutender Erfolge gelegt (Parteienkonzentration und Wahlsiege), aber zugleich geriet die CDU als Partei in die Zwickmühle zwischen den starken Landesverbänden einerseits und der von Adenauer geführten -> Bundesregierung andererseits. Praktisch die gesamten 50er und 60er Jahre stand die CDU im Schatten der Bundesregierung, was auch daran zu erkennen ist, daß die Nachfolger Adenauers als Bundeskanzler, Erhard und Kiesinger, jeweils mit gerin-
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Christlich Demokratische Union gem Verzug auch zu Bundesvorsitzenden gewählt wurden. Die CDU war in dieser Phase weit mehr Regierungs- und Wählerpartei, als Apparat- und Mitgliederpartei. Trotz früher Bemühungen um eine Parteireform gelang es erst mit dem Machtverlust im -> Bund 1969 und in noch stärkerem Maße nach der verlorenen Bundestagswahl von 1972, die -> Partei als einen eigenständigen polit. Faktor zu etablieren. Mit der Wahl H. Kohls zum Bundesvorsitzenden und K. Biedenkopfs zum Generalsekretär begann eine Phase der Modernisierung und Mobilisierung der Partei, die in einer Verdoppelung der Mitgliedeizahlen, dem Ausbau des hauptamtlichen Parteiapparats und einer auf allen Parteiebenen geführten Programmdiskussion (Grundsatzprogramm von Ludwigshafen 1978) zum Ausdruck kam. Doch spätestens seit der erneuten Regierungsübernahme 1982 verlor die Partei als polit. Entscheidungszentrum wieder an Bedeutung. Hinzu kam, daß die Union trotz der Wahlsiege im Bund in einigen traditionell von der CDU geführten -> Ländern stark an Boden verlor. In Adenauers einstiger Hochburg -> NordrheinWestfalen ist die CDU seit 1966 fast in eine strukturelle Minderheitsposition geraten, weitere Bundesländer gingen in den 80er Jahren verloren (—> Saarland, —» Schleswig-Holstein, —>• Rheinland-Pfalz). Lediglich dadurch, daß es der CDU relativ schnell gelang, die während der Wende in der DDR bereits erneuerten sog. Blockparteien CDU und DBD (Demokratische Bauernpartei Dtld.s) gemeinsam mit aus den -> Bürgerbewegungen hervorgehenden Parteien (Demokratischer Aufbruch, Dt. Soziale Union) zu integrieren, und aufgrund der prominenten Rolle der Union bei der Wiedervereinigung wurde die Bilanz aufgebessert, denn die CDU ist in allen neuen Bundesländern außer —> Brandenburg und —> Sachsen-Anhalt führende Regierungspartei. Die CDU hatte Ende August 1997 636.285 Mitglieder, d.h. deutlich weniger als Ende 1990 nach der Vereinigung
Christlich Demokratische Union (790.000 Mitglieder). Im Westen sind die Zahlen bereits seit 1983 (Höchststand: 735.000 Mitglieder) rückläufig. Diese Tendenz, der durch vielfältige Mitgliederwerbung entgegenzuwirken versucht wird, ist nur z.T. durch Unzufriedenheit mit der Politik der CDU zu erklären; zu einem Teil geht er auf allgemeine gesellschaftl. Entwicklungen, insbes. die wachsende Individualiserung, zurück, unter der auch andere Institutionen zu leiden haben. In den neuen Ländern, in denen sich die Mitgliederzahl seit Ende 1990 fast halbiert hat, dürfte auch das Gefühl, die CDU sei eine westliche Partei, die eigene Interessen nur unvollkommen vertrete, eine Rolle spielen. Die Sozialstruktur der Mitgliedschaft rechtfertigt noch immer den Anspruch, eine Volkspartei zu sein, wenn auch —> Arbeiter mit knapp 10% in der CDU in wachsendem Maß unter- und -> Beamte (11,4%) und Selbständige (21,6%) überrepräsentiert sind. In den neuen Ländern ist der Arbeiteranteil mit fast einem Viertel deutlich höher, was auf die Unterschiede in der Sozialstruktur der DDR und der -> Bundesrepublik Deutschland zurückgeht. Die CDU gliedert sich in 12.162 Orts-, 371 Kreis-, 27 Bezirks- und 17 Landesverbände (in ND gibt es noch die alten Landesverbände Braunschweig, Hannover und Oldenburg; einen bay. Landesverband gibt es wegen der —> CSU nicht), wobei die untere Ebene jeweils durch Delegierte auf den Parteitagen vertreten ist. Der Bundesparteitag ist das höchste Organ und wählt den Bundesvorsitzenden, dessen 4 Stellvertreter, Präsidium und Bundesvorstand, die gemeinsam die Partei führen, und beschließt über Programm, Satzungsfragen und polit. Linie. Daneben treten der Bundesausschuß, der als Föderativorgan die Landesverbände und Nebenorganisationen repräsentiert, und die Parteischiedsgerichte. Neben dem die Mitglieder nach dem Wohnsitz erfassenden Aufbau gibt es eine Reihe von Vereinigungen, die bestimmte Mitgliedergruppen ansprechen und vertreten sollen und
Christlich Soziale Union zugleich die volksparteiliche Heterogenität der CDU demonstrieren (Junge Union, Frauen-, Senioren-Union, Christl.-Demokrat. Arbeitnehmerschaft, Kommunalpolit.-, Mittelstandsvereinigung). Hinzu kommen weitere Sonderorganisationen, die aber nicht über den Status einer Vereinigung verfügen (z.B. Schüler-Union, Ev. Arbeitskreis). Das polit. Gewicht der Vereinigungen ist unterschiedlich; die sinkenden Arbeitnehmerzahlen reduzierten z.B. den innerparteilichen Einfluß der Sozialausschüsse, während die gesellschaftl. Entwicklung zu einer gesteigerten Bedeutung der Frauen-Union führte, die 1996 die Einführung einer Frauenquote (Drittel-Repräsentation in Führungsgremien bei 24,9% Parteimitgliedern) als Erfolg verbuchen konnte (—> s.a. KonradAdenauer-Stiftung). Lit: P. Haungs: Die CDU: Prototyp einer Volkspartei, in: A. Mintzel / H. Oberreuter (Hg.), Parteien in der BRD, Bonn 1992, S. 172ff.; H.-O. Kleinemann: Geschichte der CDU 1945-1982, Stuttgart 1993; R. Linnemann: Die Parteien in den neuen Bundesländern, Münster 1994; J. Schmid: Die CDU, Opladen 1990.
Torsten Oppelland Christlich Soziale Union (CSU) Die CSU ist die nur in —> Bayern kandidierende Schwesterpartei der - » CDU, die sich als eigenständige christl.-konservative und liberale bay. Partei mit dtld.- und europaweitem polit. Anspruch versteht. Nach der Zulassung von polit. -> Parteien auf Orts- und Kreisebene seit September 1945 erhielt die CSU in Bay. von der amerik. Militärregierung am 8.1.1946 die Lizensierung auf Landesebene. Diese Parteigründung als Versuch zur Bildung einer christl.-konservativen und überkonfessionellen Sammlungsbewegung konnte sich rasch etablieren. Jedoch setzten auch von Anfang an Richtungs- und Flügelkämpfe an der Frage an, inwieweit an die alte Bay. Volkspartei (BVP), die kath. konfessionell und betont föderalistisch und partikularistisch ausgerichtet war, personell und inhaltlich angeknüpft wer-
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Christlich Soziale Union den sollte. Interne Konflikte um die polit. Generallinie wurden zwar durch die Grundsatzentscheidung zur Sonderentwicklung der CSU zu einer autonomen Landespartei mit besonderem Bundescharakter entschärft, führten aber auch dazu, daß neue Konkurrenten wie die Bayempartei (BP) tief in ihr Wählerpotential einbrachen (Landtagswahlen 1946: CSU 52,3%; 1950: CSU 27,4%. Bundestagswahl 1949: CSU 29,2%). Die sich dadurch verschärfenden innerparteilichen Flügelkämpfe führten zur Ablösung des Parteivorsitzenden Josef Müller (Vorsitz 1946-1949) durch Hans Ehard, der zwischen den Flügeln vermitteln und die Partei konsolidieren konnte (Vorsitz 1949-1955). Dieser übergab den Vorsitz 1955 an Hanns Seidel (bis 196). Die Notwendigkeit zur Konsolidierung wurde noch verschärft durch die Bildung der sog. Viererkoalition unter dem SPD-Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner bestehend aus - » SPD, -> FDP, BP und Gesamtdeutscher Block/BHE, der bis heute einzigen Regierung gegen die CSU in Bay. Dieses heterogene Bündnis zerfiel jedoch rasch. Die hervorragenden Ergebnisse bei Bundestagswahlen (1953: CSU 47,9%; 1957 57,2%) hatten verdeutlicht, daß die innere Krise der CSU überwunden war. Mit Hanns Seidel als —> Ministerpräsident wurde 1957 ein neues -> Kabinett unter Führung der CSU gebildet. Zugleich wurde nicht nur die Entwicklung Bay. s zu einem modernen Industrieland, sondern auch die organisatorische Modernisierung der CSU aktiv betrieben. Auf dieser Basis konnte Franz-Josef Strauß, der 1961 nach Seidels Tod den Parteivorsitz übernahm und ihn bis zu seinem Tod am 3.10.1988 innehielt, aufbauen. Strauß führte den Weg der Modernisierung der CSU konsequent fort und hat - neben seiner Bedeutung als Bundes- und Landespolitiker die CSU geprägt wie kein anderer. Zugleich wurde durch diesen Wechsel zu Strauß der gewandelte Anspruch der CSU in der dt. -> Innenpolitik deutlich, als nur 208
Christlich Soziale Union in Bay. kandidierende Partei zugleich in der Bundespolitik eine entscheidende Rolle zu spielen. Die stabilen Wahlergebnisse bei Bundestagswahlen spiegelten sich nun auch auf der Landesebene (CSU bei BT-Wahlen: 1961 54,9%; 1965 55,6%; 1969 54,4%; 1972 55,1%; 1976 60 %; CSU bei LT-Wahlen: 1958 45,6%; 1962 47,5%; 1966 48,1%; .1970 56,4%; 1974 62,1%). De, facto war schon das erste Kabinett von Alfons Goppel ( 19621966) eine Alleinregierung der CSU; seither konnte sie in Bay. ohne Koalitionspartner regieren. Beginnend mit der organisatorischen Modernisierung in den 60er und v.a. den 70er Jahren konnte die CSU bis 1985 den gesamten bay. Raum mit ihrer Organisation erfassen und in fast allen Gemeinden präsent sein. Die 80er Jahre bildeten in mancherlei Hinsicht den Höhepunkt in einer langen Entwicklung der polit. Führungsrolle der CSU in Bay. Außerdem gelang es der CSU z.B. bei Bundestagswahlen seit 1965 bis 1987 jedes Mal (mit der Ausnahme von 1980), auf Bundesebene als nur in Bay. kandidierende Partei mehr Stimmen zu erlangen als die FDP im gesamten Westdtld. (CSU bei BT-Wahlen: 1980: 57,6%; 1983 59,5%; 1987: 55,1%). Dasselbe Muster ergab sich noch deutlicher bei den Europawahlen seit 1979 (CSU 1979: 62,5%; 1984: 57,2%; 1989: 45,4%). Daneben zeigte sich die große bundespolit. Bedeutung der Partei in der Ära des Parteivorsitzenden (seit 1961) und Ministerpräsidenten (seit 1978) Franz-Josef Strauß v.a. in der Arbeit der CSU-Landesgruppe im Dt. Bundestag (die CSUAbgeordneten bilden dort eine Fraktionsgemeinschaft mit der -> CDU), aber auch durch die hohe quantitative Vertretung der CSU im Bundeskabinett der Regierungen Kohl nach 1983. Nach dem Tod von Franz-Josef Strauß 1988 übernahm Theo Waigel den Vorsitz der CSU und Max Streibl das Amt des Ministerpräsidenten. Bei der Landtagsund der Bundestagswahl im Jahr 1990 konnte die CSU in Bay. wiederum klar
Christlicher Gewerkschaftsbund die 50%-Marke überspringen (LT-Wahl: 54,9%; BT-Wahl: 51,9%). Allerdings konnte sich die CSU nach dem Ende der SED-Herrschaft weder allein noch mit einer nahestehenden, aber eigenständigen Partei wie der DSU (Dt. Soziale Union) in den neuen Bundesländern etablieren. Die Zusammenarbeit mit der DSU wurde am 24.4.1993 offiziell beendet, als diese ihre Tätigkeit nicht mehr auf die Neuen Bundesländer beschränken wollte. Trotz der Ausdehnung des Wahlgebietes und der Herausforderung durch die Republikaner 1989/90 konnte die CSU ihre Bedeutung im —» Parteiensystem des vereinten Dtld. behalten. Daran änderte sich auch nichts, als nach internen Problemen im Frühjahr 1993 Max Streibl als Ministerpräsident zurücktrat und von Edmund Stoiber abgelöst wurde. Die Ergebnisse des sog. Superwahljahres 1994 bestätigten erneut die Stellung der CSU (EP: 48,9%; LT: 52,8%; BT: 51,2%), auch wenn das Bundestagsergebnis im vereinten Dtld. nun nur noch 7,3% an den Gesamtstimmen auf Bundesebene entsprach gegenüber Werten zwischen 9,5% und 10,6% seit den 60er Jahren. Lit: Hanns-Seidel-Stiftung (Hg.): Geschichte einer Volkspartei, München 1995; A. Mintzel: Die CSU, Opladen 1978; G. Hirscher: Die CSU nach den Wahlen 1994, in: W. Gellner / H. J. Veen (Hg.), Umbruch und Wandel in westeurop. Parteiensystemen, Frankfurt/M. 1995, S. 156ff; E. Jesse: Die CSU im vereinigten Dtld., in: APuZ 6/1996, S. 29ff. Gerhard Hirscher
Christlicher Gewerkschaftsbund Der CGB ist der Dachverband der christl. Gewerkschaften in der —• Bundesrepublik Deutschland. Der Verzicht der dt. Gewerkschaftsbewegung nach 1945 auf die Wiederherstellung der traditionellen Richtungsgewerkschaften sowie die Gründung einer Einheitsgewerkschaft hatten die Zusicherung einer strengen polit, und weltanschaulichen Neutralität des neuen —• Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zur Voraussetzung. Im Herbst 1953 kam
Committees es im Auftrag des DGB-Vorstandes zu einem Kongreß der christl.-sozialen Gewerkschafter, bei dem die Bedingungen einer Einheitsgewerkschaft bezeichnet und entprechend organisatorische Forderungen erhoben wurden. Während die CDU-Sozialausschüsse am Prinzip der Einheitsgewerkschaft festhielten, drängten Kräfte insbes. aus der Kath. Arbeiterbewegung auf organisatorische Trennung. 1955 wurden die Christi. Gewerkschaftsbewegung Dtld. (CGD) und 1959 in Mainz der CGB gegründet. Die CGBGewerkschaften erstreben eine „Gesellschaftsordnung, die auf dem in Gott verankerten ewigen Sittengesetz aufbaut", und fordern eine aktive Familienpolitik, eine breite Vermögensstreuung (Investivlohn), bejahen die Soziale Marktwirtschaft und erstreben in den Betrieben eine funktionsgerechte statt der Funktionärsmitbestimmung. In der Frage der Arbeitszeitflexibilisierung setzen sich die christl. Gewerkschaften gegen die gleitende Arbeitswoche und für die „Heilighaltung des Sonntags" ein. Dem CGB Dtld.s gehören über 302.000 Mitglieder an. Er ist in 15 Einzelgewerkschaften und Verbände untergliedert. Lit: Β. Koch: Der christl. Gewerkschaftsbund, Düsseldorf 1978; StL I, S. 1136ff. Ulrich Niemann
Citoyen -> Staatsbürger Civil Society —> Zivilgesellschaft Cohabitation —> s.a. Verfassung, französische Committees Im engl. Sprachgebrauch werden -> Ausschüsse als C. bezeichnet. In —> Parlamenten handelt es sich dabei zumeist um eine kleine Gruppe von —> Abgeordneten, die im Rahmen der Arbeitsteilung zwischen Parlamentariern bestimmte Aufgaben für das Gesamtparlament wahrnehmen. Je nach ihrer verfassungsrechtl. oder geschäftsordnungsmäßigen Stellung können die Ausschüsse 209
Committees
Committees
dabei ein unterschiedliches Maß an Unabhängigkeit von der Mehrheit im Parlamentsplenum haben. So kann ein Ausschuß im Extremfall ermächtigt sein, in bestimmten Fragen für das Gesamtparlament zu sprechen, ohne daß es eines weiteren Beschlusses des -> Plenums bedarf. Dieser Fall hochgradiger Unabhängigkeit vom Plenum kontrastiert mit dem entgegengesetzten Extremfall, in dem ein Ausschuß lediglich einmal zusammentritt, um vom Plenum vorgegebene Detailfragen zu diskutieren und diesem Vorschläge zur endgültigen Beschlußfassung zu unterbreiten. In angelsächs. Parlamenten werden je nach Permanenz und Aufgabenbereich 3 Ausschüßtypen unterschieden: - » Standing Committee, Select Committee und —> Committee of the Whole House. /. Standing C. sind im brit Parlamentarismus Gesetzgebungsausschüsse, die nach der 2. - » Lesung eines Gesetzentwurfs zusammentreten, um ihn Paragraph fur Paragraph (clause by clause) detaillierter Beratung zu unterziehen. —» Minister, —> Beamte oder Vertreter von Interessengruppen dürfen dabei nicht befragt werden. Der Name Standing C. ist insofern irreführend, als sie nicht permanent eingerichtet werden. Ihre Mitglieder werden für jedes Gesetz ad hoc im Stärkeverhältnis der —> Fraktionen des Hauses ernannt. Als verkleinerte Plenarversammlungen dienen die Standing C. des brit. -> Unterhauses der effizienten Parlament. Arbeitsteilung und Zeitersparnis. Im Beisein der zuständigen Minister und -> Whips sind -> Abstimmungen im Regelfall auch im Standing C. durch ausgeprägte Geschlossenheit der Fraktionen geprägt. Im amerik. Parlamentarismus sowie in den Parlamenten einiger anderer englischsprachiger Länder sind Standing C. dagegen spezialisierte, auf Dauer ernannte Fachausschüsse mit fester Zusammensetzung und entsprechen den Ausschüssen des —> Deutschen Bundestages. 2. Select 210
C.
sind
im
amerik.
Par-
lamentarismus ad hoc eingesetzte Sonderausschüsse, die zur Untersuchung eines bestimmten Gegenstandes zusammentreten und sich nach der Berichterstattung auflösen. Oft erfüllen sie in Teilen die Funktion dt. —> Untersuchungsausschüsse. So lautete der offizielle Titel des Ausschusses, der mit der Aufklärung des Watergate-Skandals in den USA beauftragt war, „Senate Select Committee on Campaign Practices". Im brit. Parlamentarismus versteht man unter Select C. dagegen Ausschüsse, die im allgemeinen für die Dauer einer -» Wahlperiode ernannt werden und entweder mit Fragen der parlament. Selbstverwaltung, der Untersuchung komplexer Sachfragen oder der Aufsicht über —• Politik, —> Verwaltung und Finanzen bestimmter Ministerien betraut sind. Das traditionell bedeutendste Select C. im brit. Unterhaus ist das Public Accounts C., welches (vergleichbar mit den dt. Rechnungshöfen) in Zùsammenarbeit mit dem National Audit Office für die Rechnungsprüfung von Regierungsbehörden und Ministerien zuständig ist. Darüber hinaus existieren gegenwärtig 16 ressortbezogene Fachausschüsse, die polit. Strategien, Ausgaben und Politikdurchführung der wichtigsten Ministerien überprüfen. Diese Ausschüsse werden seit 1979 für eine gesamte Wahlperiode im Stärkeverhältnis der Fraktionen des Hauses ernannt. Im Gegensatz zu den Standing C. des Unter- und —» Oberhauses besitzen die Select C. des Unterhauses das Recht, Regierungs- und Verwaltungshandeln zu überprüfen und dabei Dokumente einzusehen, Minister und Ministerialbeamte zu befragen, Anhörungen mit Vertretern von Interessengruppen zu veranstalten und sich durch externe Gutachter sachkundig zu machen. Es handelt sich dabei im wesentlichen um eine nachträgliche Kontrolle der Regierungspolitik, administrativer Effizienz und der Wirtschaftlichkeit von Ausgaben. Die derzeit 16 ressortbezogenen Aufsichtsausschüsse des Unterhauses dienen
Committees nicht der Vorbereitung oder Modifikation konkreter Entscheidungen, sondern der Informationsgewinnung und wirksameren Wahrnehmung der kommunikativen Funktionen des Hauses als —» Redeparlament. Die —> Anhörungen erfolgen i.d.R. öffentl.; Ausschnitte wichtiger Ausschußsitzungen werden in Rundfunk und Fernsehen übertragen. Abgeordnete haben die Möglichkeit, Minister und Ministerialbeamte gründlicher zu befragen als im Plenum, da die Ausschüsse unter geringerem Zeitdruck als das Plenum arbeiten und Abgeordnete durch eigens bestellte Gutachter oder durch Interessengruppenvertreter sachkundig gemacht werden. Die Ausschüsse unterstützen die Plenardebatten und innerfraktionellen Willensbildungsprozesse durch Bereitstellung sachlich fundierter, jedem Abgeordneten ohne große Mühe und Kosten zugänglicher Informationen. Hierin liegt ihre besondere Bedeutung. Ihre Macht ist jedoch begrenzt. Minister und Beamte können nicht zur Aussage gezwungen werden. Beamte dürfen darüber hinaus nur im Namen des Ministers sprechen, d.h. Aussagen müssen vom Minister autorisiert werden (Osmotherly rules). Dennoch haben die Aufsichtsausschüsse zu erhöhter Transparenz der Abläufe in den Ministerien beigetragen. In dem Maße, in welchem Ausschüsse sonst vernachlässigten Interessen ein Forum zur öffentl. Artikulation ihrer Standpunkte bieten, erfüllen sie eine wichtige Funktion als Kommunikationskanäle in der repräsentativen —> Demokratie. 3. C.s of the Whole House sind im Gegensatz zu den vorgenannten Ausschußtypen Ausschüsse, die aus allen Mitgliedern des Parlaments bestehen. Im amerik. —> Repräsentantenhaus wird die Ausschußphase nicht umstrittener Gesetzentwürfe sehr häufig in einem C. of the Whole House durchgeführt, um das Gesetzgebungsverfahren zu beschleunigen. Die Sitzungen werden von einem durch den Parlamentsvorsitzenden benannten Vorsitzenden geleitet, die Ge-
Committee of the whole House schäftsordnung kann flexibler gehandhabt werden und anstelle des im Plenum erforderlichen -> Quorums von 218 ist nur ein Quorum von 100 Abgeordneten erforderlich. Im brit. Unterhaus dagegen dienen C.s of the Whole House in der Ausschußphase der Beratung besonders wichtiger Gesetzesmaterien. Hierdurch soll möglichst vielen Abgeordneten Gelegenheit gegeben werden, sich zu dem Gesetzentwurf zu äußern. Im brit. -» Oberhaus findet die Ausschußphase einer Mehrheit der Gesetzentwürfe im C. of the Whole House statt. Ähnliches gilt fur den Irischen Dáil (—» Irland), der zu klein ist, um ein ausdifferenziertes System fachlich spezialisierter Gesetzgebungsausschüsse zu unterhalten. Lit.: G. Drewry (Hg.): The New Select Committees, Oxford 21989; R.F. Fenno Jr.: Congressmen in Committees, Boston 1973; J.D. Lees/M. Shaw (Hg.): Committees in Legislatures, Durham 1979; S.S. Smith / C.J. Deering: Committees in Congress, Washington 21990; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München J 1996, S. 99ff.
Thomas Saalfeld Committee of the whole House ist eine im brit. Parlament und im amerik. -» Repräsentantenhaus verwendete prozedurale Maßnahme. Das C. umfasst alle Abgeordneten. Es wurde im 17. Jhd. im —>· Unterhaus entwickelt, damit Haushaltsbeschlüsse breit diskutiert werden konnten. Die Krone hatte es bis dahin verstanden, die zuständigen Ausschüsse zu beherrschen. Heute wird das C. auch vom -> Oberhaus für Gesetzesvorlagen mit verfassungsänderndem Charakter verwendet, z.B. für den Maastrichter —> EU-Vertrag. Im Repräsentantenhaus dient das C. zur Beschleunigung der Bearbeitung kontroverser Gesetzesvorlagen. Das Haus verwandelt sich in das C. (on the State of the Union), indem u.a. der -» Speaker durch einen Chair ersetzt wird. Das -> Quorum ist nun 100 statt 218; Debatten über Änderungsvorschläge sind auf 5 Minuten begrenzt. Meist werden 211
Common Law Gesetzesvorlagen im C. aber unter einer vom Committee on Rules (—> Committee) ausgearbeiteten und vom Haus verabschiedeten Rule oder Special Order behandelt, die Debattenlänge, Zahl und Art der Änderungsanträge und Möglichkeiten formaler Anfragen und Beschwerden begrenzt. Alle vom C. beschlossenen Maßnahmen müssen vom Parlament bestätigt werden. Lit: D. Bacon (Hg.): The Encyclopedia of the United States Congress, New York 1995. T.G.
Common Law Der Begriff C.L. wurde ursprünglich in England zur Abgrenzung des (allgemeinen", einheitlichen Rechts, das von den reisenden Richtern des königlichen Gerichts zu Westminster gebildet wurde, von den älteren lokalen Rechtsregeln benutzt. Traditioneller Natur ist auch die Abgrenzung von C.L. und Equity. Andere Begriffsbedeutungen sind weitgehend an die Stelle dieser Abgrenzungen getreten: Der Begriff wird heute generell zur Unterscheidung zwischen den „common law"-Rechtssystemen Englands, der USA (mit Ausnahme Louisianas) und der meisten Commonwealth-Staaten einerseits und den Rechtssystemen derjenigen „civil law" - Staaten andererseits verwendet, deren -> Recht letztlich vom röm. Recht abgeleitet werden kann. Im anglo-amerik. Rechtskreis wird ferner eine Abgrenzung zwischen C.L. als sog. Fallrecht („case" law), das als Richterrecht im wesentlichen Gewohnheitsrecht ist, und kodifiziertem Recht (statute law) vorgenommen. Lit.: Κ. Zweigert / Η. Kötz: Einführung in die Rechtsvergleichung I, Tübingen 21984, S. 210ff und S. 296ÍT. J. U.
Commons Standing Orders Die S.O. sind Teil der —> Geschäftsordnung des brit. -» Unterhauses. Wie die -> brit. Verfassung sind auch die Verfahrensweisen desUnterhauses nicht in einem einzelnen Dokument zusammengefaßt. Sie 212
Conservative Party speisen sich aus 4 Hauptquellen: altes Herkommen (practice of the House), der schriftlich niedergelegten Geschäftsordnung (S.O.), Entscheidungen des Parlamentsvorsitzenden (-> Speaker) und seiner Vorgänger sowie Gesetzen. Es ist charakteristisch für das Unterhaus, daß einige seiner wichtigsten Verfahrensweisen (z.B. die Abfolge einzelner —> Lesungen im Gesetzgebungsprozeß) nicht in den S.O. niedergelegt sind, sondern auf altes Herkommen (ancient usage) zurückgehen. Moderne Verfahrensweisen, welche u.a. die Vorrechte der -> Regierung im Zeitplan und bei der Gesetzgebung des Hauses garantieren, sind weitgehend in den S.O. verankert. Gesetze regeln z.B. Aspekte des Verfahrens bei der Finanzgesetzgebung. Schließlich haben die Parlamentsvorsitzenden durch ihre Entscheidungen in vielen Fällen altes Herkommen interpretiert und Präzedenzfalle geschaffen. Über diese Präzedenzfälle gibt u.a. Erskine May's 1844 erstmals erschienenes Werk Parliamentary Practice Auskunft, in dessen Anhang auch der vollständige Text der S.O. abgedruckt ist. IM.: JA.G. Griffith / M. Ryle: Parliament, London 1989; E. May's Treatise on the Law, Privileges, Proceedings and Usage of Parliament, London "1997. T.S.
Conservative Party Die C.P. war im Verlauf des 20. Jhd.s die erfolgreichste und über weite Strecken dominierende polit. Kraft Großbritanniens. Die Parteibezeichnung „Konservative" wurde erstmals 1830 in der polit. Publizistik Großbritanniens verwendet. Die mit diesem Begriff beschriebenen Parlamentsabgeordneten bildeten 1835 eine gemeinsame Kasse zur Finanzierung von —» Wahlkämpfen. Damit war der Kern einer Parteiorganisation geschaffen. 1867 entstand die „National Union of Conservative and Constitutional Associations" als außerparlamentarische Hilfsorganisation der konservativen -> Abgeordneten. Die —> Partei war Nachfolgerin der Tories, der
Conservative Party Partei des landbesitzenden niederen Adels (der „gentry"). Ideologisch ist die C.P. heute ein Bündnis verschiedener Interessen und polit. Richtungen, wobei in der Parteispitze Vertreter des „neo-liberalen" Flügels dominieren, die u.a. für die Herstellung einer freien Marktwirtschaft durch die Rückführung der Rolle des Staates im Wirtschaftsprozeß auf ein Mindestmaß eintreten. Der -> Sozialstaat wird in seinem gegenwärtigen Umfang als wachstumshemmend abgelehnt. Deshalb waren die Beschneidung der Macht der Gewerkschaften, ein umfangreiches Privatisierungsprogramm, die Reorganisierung des öffentl. Gesundheitswesens, des Bildungssystems sowie des Beamtenapparates Hauptanliegen der Premierminister Thatcher (1979-90) und Major (199097), die diesem Flügel zuzurechnen sind. In der C.P. sind formal alle wesentlichen Kompetenzen in der Person des Parteiführers gebündelt. Befindet sich die Partei in der Regierungsverantwortung, so ist er (oder sie) Premierminister und nominiert die Mitglieder des —> Kabinetts sowie alle übrigen —> Minister und Staatssekretäre. Ist die Partei in der —> Opposition, ernennt der Parteiführer die Fraktionssprecher des -> Schattenkabinetts (front bench). Darüber hinaus ernennt er alle führenden Funktionäre in der Parteizentrale (Central Office). Ein Parteivorstand mit eigenständigen Entscheidungskompetenzen wie bei der —> Labour Party besteht nicht. Der Konservative Parteitag (Annual Conference) ist kein erstrangiges Forum der innerparteilichen Willensbildung; für die polit. Programmarbeit sind in erster Linie der Parteiführer und seine engsten Mitarbeiter verantwortlich. Dennoch ist seine auf den ersten Blick beeindruckende Machtfülle in Wirklichkeit begrenzt. Dies ist teilw. auf die Veränderung des Wahlverfahrens für den Parteiführer zurückzuführen. Während er bis 1965 aus vertraulichen Beratungen führender Parteimitglieder aus Unter- und Oberhaus hervorging, schreibt die Parteisatzung seit 1964 seine Wahl durch die
Constituency Parties Parlamentsfraktion vor. Dies geschah erstmals 1965 bei der Wahl Edward Heaths. Nach den Wahlniederlagen der C.P. im Februar und Oktober 1974 mußte Heath die Möglichkeit jährlicher Neuwahlen zum Amt des Parteiführers zugestehen, falls sich ein Herausforderer zur Kandidatur bereiterklärte und ausreichend Unterstützung in der Konservativen Unterhausfraktion fand. Dieser Reform der Parteisatzung fielen sowohl Heath (1975) als auch seine Nachfolgerin Thatcher (1990) zum Opfer. Zuverlässige Zahlen über die Mitgliedschaft der C.P. stehen nicht zur Verfügung. 1997 wurde sie auf etwa 400.000 geschätzt. Damit hat die Partei seit den 50er Jahren einen dramatischen Mitgliederschwund erlitten. 1953 soll sie nach eigenen Angaben noch über 2,8 Mio. Mitglieder besessen haben. Eine Schätzung für 1969-1970 geht dann nur noch von 1,5 bis 1,75 Mio. aus. 1982 zählt eine interne Studie der C.P. 1,2 Mio. Mitglieder. Lit.: R. Blake: The Conservative Party from Peel to Thatcher, London 1985; P. Norton (Hg.): The Conservative Party, Hemel Hempstead 1996; Α. Seidon (Ed.): Convervative Century, Oxford 1994.
Thomas Saalfeld
Constituency Parties sind Parteigliederungen auf der Ebene eines brit. —> Wahlkreises (constituency), die im allgemeinen mehrere Untergliederungen auf Orts- bzw. Ortsbezirksebene (ward associations) zusammenfassen. Stellung und Rechte der C.P. sind in den Satzungen der einzelnen -»· Parteien geregelt. In allen Parteien stellen sie (mit unterschiedlich gestalteter Einflußnahme der Londoner Parteizentralen) die Kandidaten für Parlamentswahlen auf. In der —> Labour Party mußten sich amtierende Abgeordnete des -> Unterhauses zwischen 1980 und 1990 regelmäßig um die Wiederaufstellung durch die C.P. bewerben (mandatory reselection). Seit 1990 ist die formale Wiederbewerbung amtierender —> Abgeordne213
Dänemark
CSU ter nur dann notwendig, wenn dies von einer Mehrheit der C.P. verlangt wird. In der Conservative Party kann amtierenden Abgeordneten vor einer —> Wahl durch ein entsprechendes Votum der C.P. die Wiederaufstellung versagt werden. Schließlich kommt den C.P. eine wichtige Rolle bei der Organisation von Wahlkämpfen und der Aufbringung der hierzu erforderlichen Finanzmittel zu. Dazu beschäftigt ein erheblicher Teil der Wahlkreisvereine der beiden Großparteien hauptamtliche Mitarbeiter. In der Labour Party sind Vertreter der C.P. mit einem Drittel der Stimmen (neben den -> Parliamentary Parties und Vertretern angegliederter Organisationen) an der Wahl des Parteichefs beteiligt. Lit.: J. Fisher: British Political Parties, Hemel Hempstead 1996.
T. S. CSU -> Christlich Soziale Union
D ä n e m a r k , dän. Parlament Seit dem Verfassungsgesetz von 1849 ist D. eine konstitutionelle Monarchie, in der das parlament.-demokrat. System seit 1901 anerkannt ist. Mit der Verfassungsreform 1953 ist diese Regierungsform mit einem königlichen Souverän als Staatsoberhaupt (seit 1972 Margarete Π.), dessen Machtbefugnisse allerdings sehr gering sind, auch de jure festgelegt. D. ist seit 1973 Mitglied der EG. Die —> Legislative wird von einem Einkammerparlament (Folketing) ausgeübt. Die 179 —> Abgeordneten werden nach dem —> Verhältniswahlrecht alle 4 Jahre direkt vom Volk gewählt. Aktives und passives —> Wahlrecht besitzen alle Staatsbürger ab dem vollendeten 18. Lj. mit Wohnsitz in D.; das Staatsoberhaupt ernennt die - » Minister, die unter seinem Vorsitz den Staatsrat bilden. Bei Ernennung und Entlassung von Minister ist der König gewohnheitsrechtl. an die Zustim-
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mung des —> Parlaments gebunden. Eine -> Verfassungsänderung herbeizuführen, ist in D. äußerst kompliziert. Nach Zustimmung von Parlament und —> Regierung wird eine Parlamentsneuwahl ausgeschrieben. Sollte auch das neue Parlament die Änderung annehmen, ist binnen 6 Monaten eine —» Volksabstimmung erforderlich, bei der die Mehrheit der abgegebenen Stimmen und mindestens 40% der Wahlberechtigten der Änderung zustimmen muß. Hingegen kann das Folketing durch -> Mißtrauensvotum mit relativer Mehrheit die jeweilige Regierung stürzen (negativer Parlamentarismus). Jeder einzelne Abgeordnete besitzt -> Gesetzesinitiativrecht. Auf Verlangen eines Drittels der Abgeordneten müssen bereits vom Folketing verabschiedete Gesetze einem —> Volksentscheid unterworfen werden (mit Ausnahme von Haushalts- und Steuergesetzen). Es besteht keine —> Inkompatibilität zwischen Ministeramt und Abgeordnetenmandat. Die • parlament. Demokratie D.s zeichnet sich durch ein hohes Maß an Flexibilität aber auch Instabilität aus. Wenige verfassungsrechtl. Reglementierungen stehen neben einer Vielzahl ungeschriebener Gesetze. Seit 1945 werden die wechselnden Regierungen dominiert durch eine oder mehrere der 4 Altparteien: Sozialdemokrat. Partei, Konservative Volkspartei, Radikalliberale Partei und Liberale Partei. Seit 1993 steht die Sozialdemokrat. Partei wieder an der Spitze einer Koalitionsregierung und stellt mit P.N. Rasmussen den Ministerpräsidenten. Die Funktionalität des traditionellen dän. Minderheitsparlamentarismus basiert auf einem ausgeprägten Repräsentationsrecht für Minoritätsmeinungen, einer hohen parlament. Kultur und einem angestrebten breiten polit. Konsens in wichtigen Fragen. IM.: M. Eysell: Der dänische Minderheitsparlamentarismus der 80er Jahre, in: ZPol 1996, S. 375ff.; W. lsmayr: Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 53ff.
Stefan Kessen
Datenschutz
Daseinsvorsorge Daseinsvorsorge Hatte der Staat des aufgeklärten Absolutismus noch das Ziel einer umfassenden Fürsorge für seine Untertanen, so ging der bürgerl. —>• Rechtsstaat von der Beschränkung auf Sicherheits- und Ordnungsfunktionen aus. Aber schon Mitte des 19. Jhd. wurden in Dtld. der —» Verwaltung Aufgaben zugewiesen, die der Befriedigung der wachsenden Lebensbedürfnisse der Bevölkerung galten. In Bezug darauf hat der Verwaltungsrechtler Emst ForsthofF (19021974) den Begriff der D. geprägt. Sein Ausgangspunkt ist die soziale Angewiesenheit der Menschen in der Industriegesellschaft, die dort bestehe, wo sie die erstrebten Lebensgüter nicht durch Nutzung eigener Mittel erhalten können, sondern sich diese im Wege der Appropriation zugänglich machen müssen. Die Maßnahmen der öffentl. Verwaltung zur Befriedigung der Appropriationsbedürfnisse bezeichnet er als D.; dabei ist nicht an Fälle sozialer Hilfe gedacht (es handelt sich um ein einseitiges Leistungsverhältnis), sondern an der allgemeinen Lebensbewältigung förderliche Leistungen für die Allgemeinheit oder einen nach objektiven Kriterien bestimmten Personenkreis, die der —> Bürger i.d.R. durch einen Vertrag (zweiseitiges Leistungsverhältnis) in Anspruch nimmt. In den 50er Jahren setzte sich der umfassendere Begriff der -> Leistungsverwaltung - in Ansehung der weitreichenden Verpflichtungen aus dem Grundrechtskatalog, der auch Teilhabe an staatl. Leistungen garantiert, und des —> Sozialstaatsprinzips des GG - als Gegenüber zur klassischen —> Eingriffsverwaltung mit ihren Ordnungsaufgaben mehr durch, ohne freilich Forsthoffs Ansatz damit aufzuheben, für den es schließlich auch um die Schaffung einer „angemessenen Sozialordnung" durch den Staat ging. Man spricht heute von D. v.a. im kommunalen Lebensbereich; Beispiele dafür sind Gas-, Wasser-, und Elektrizitätsversorgung, Straßenreinigung und Müllbeseitigung. Wo die öffentl. Hand D. nicht (mehr)
selbst wahrnimmt, hat sie nur das Angebot sicherzustellen; (—> s.a. Vorsorge). Lit.: EvStL 3I, Sp. 427ff.; E. Forsthoff: Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, Stuttgart 1959; ders.: Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971. Rüdiger Kipke
Datenautobahn -> Internet Datenschutz Die Gesetzgebung zum D. zielt darauf ab, den einzelnen davor zu schützen, durch den Umgang mit den auf die eigene Person bezogenen Daten im Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt zu werden. So definiert § 1 Abs. 1 den Regelungszweck des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG). Diese Definition beruht auf der Rechtsprechung des -> Bundesverfassungsgerichts, das in seinem sog. Volkszählungsurteil vom 15.12.1983 den grundrechtl. Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ausgedehnt und aus den Art. 1 und 2 Abs. 1 GG ein „Recht auf informationelle Selbstbestimmung" abgeleitet hat. Mit dieser erweiterten verfassungsrechtl. Konzeption wurden frühere Vorstellungen abgelöst, die noch den D.gesetzen der 70er Jahre zugrundelagen (1. HessDSG 1970, BDSG 1978). Danach beschränkt sich der D. darauf, die - wie auch immer abzugrenzende - Privatsphäre (in den USA: privacy) zu sichern und den Mißbrauch persönlicher Daten zu verhindern bzw. zu ahnden. Das BVerfG leitet aus den Risiken der modernen Technikentwicklung für die Selbstbestimmung des Individuums v.a. 4 Konsequenzen ab: 7. Jede Erhebung, Speicherung und Nutzung personenbezogener Angaben stellt einen Grundrechtseingriff dar, der einer verhältnismäßigen und normenklaren gesetzlichen Grundlage bedarf, die wiederum durch ein „überwiegendes Allgemeininteresse" an der Verarbeitung dieser Daten legitimiert sein muß (—» Gesetzesvorbehalt für Informationseingriffe). 2. Die Verwendung erhobener bzw. gespeicherter Daten ist auf den
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Datenschutz gesetzlichen Zweck beschränkt, es sei denn, es besteht eine explizite Rechtsgrundlage für eine Zweckänderung (Grundsatz der Zweckbindung). 3. -> Behörden dürfen nur das für die jeweilige Aufgabenerfüllung erforderliche Minim u m an persönlichen Daten über den Bürger sammeln (Grundsatz der Erforderlichkeit). 4. Angesichts der Intransparenz der Datenverarbeitung für den Einzelnen sind Existenz und Tätigkeit der —> Datenschutzbeauftragten von erheblicher Bedeutung. Das BVerfG hat seine Rechtsprechung seit 1983 in mehreren Entscheidungen konkretisiert. Das Urteil zur - » Volkszählung hat zu einschneidenden Novellierungen des BDSG (1990) und der Landesdatenschutzgesetze (ab 1986) geführt. Auch wurden datenschutzbezogene Bestimmungen in eine Vielzahl von Einzelgesetzen aufgenommen. Schwerpunkte dieser sog. bereichsspezifischen Regelungen waren und sind das Recht der -> inneren Sicherheit, das —> Sozialrecht und das - > Telekommunikationsrecht. Die im Oktober 1995 erlassene D.richtlinie der - > EG (95/46/EG) soll das Schutzniveau in den Mitgliedstaaten harmonisieren und erfordert eine erneute Novellierung des dt. D.rechts bis Oktober 1998. Umgangssprachlich wird der Begriff D. vielfach und fälschlicherweise weiter verstanden als es dem Anwendungsbereich der D.gesetze entspricht. D. betrifft als konkretisierter Grundrechtsschutz ausschließlich natürliche Personen und auch nur, soweit Angaben auf einzelne Individuen bezogen oder beziehbar sind. Der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, die Pflicht zur Wahrung von Berufs- und Amtsgeheimnissen (z.B. Steuergeheimnis) erstrecken sich dagegen auch auf aggregierte oder statistische Informationen. Soweit diese - > Geheimhaltungspflichten im Einzelfall allerdings personenbezogene Angaben betreffen (z.B. Arzt-, Steuer-, Statistikgeheimnis), gehen sie den allgemeinen D.gesetzen vor bzw. bleiben unberührt.
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Datenschutzbeauftragter Lit: BVerfGE 65,Iff. - Volkszählung; HdbVerfR. § 6 Rn. 23fT; & Simitis: Die informationelle Selbstbestimmung - Grundbedingung einer verfassungskonformen Informationsordnung, in: NJW 1984, 398ff.;M.-r. Tinnefeid / E. Ehmann: Einführung in das Datenschutzrecht, München '1998.
Stefan Walz Datenschutzbeauftragter Der D S B kontrolliert die Einhaltung der Vorschriften der Datenschutzgesetze selbst und der datenschutzrelevanten Bestimmungen anderer -> Gesetze (z.B. Polizeigesetze, Krankenversicherungsrecht). Zuständig ist er nur für die sog. öffentl. Stellen, d.h. - > Behörden, —> Körperschaften des öffentlichen Rechts etc., —• Gemeinden, aber auch Privatuntemehmen in Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben (sog. Beliehene). Der Bundesbeauftragte für den —> Datenschutz (BfD) ist nach dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) für die öffentl. Stellen des —> Bundes, die DSB der Länder sind nach den Landesdatenschutzgesetzen (LDSG) für die öffentl. Stellen auf Landes- und Kommunalebene zuständig. Für sog. nicht-öffentl. Stellen, d.h. natürliche und —> juristische Personen des privaten Rechts, hat der DSB nur in Ausnahmefällen eine Überwachungskompetenz, so z.B. der B f D nach § 91 T K G für die privaten Anbieter von Telekommunikationsdiensten (—> Telekommunikationsrecht). Der D S B ist - > Beamter auf Zeit oder steht in einem besonderen Amtsverhältnis. Er ist in Ausübung seines Amtes weisungsfrei und nur d e m Gesetz unterworfen. U m seine Unabhängigkeit zu unterstreichen, wird er vom Parlament ( - » Bundestag, —> Landtage) gewählt oder bestätigt. Der DSB hat gegenüber den von ihm kontrollierten Stellen ein Recht auf —» Auskunft und - > Akteneinsicht sowie die Befugnis, jederzeit die Diensträume zu betreten. Einschränkungen bestehen nach manchen Datenschutzgesetzen für Unterlagen von Sicherheitsbehörden. Bei Datenschutzverstößen kann der D S B eine förmliche Beanstandung aussprechen, die
Debatte
Demokratie
an die oberste Aufsichtsbehörde bzw. das höchste Gremium der betroffenen Stelle geleitet wird. Er hat jedoch keine Anweisungsbefugnis per -> Verwaltungsakt. Neben der Kontrollaufgabe obliegt es dem DSB v.a., die Verwaltung beim Aufbau von Datensammlungen und bei der Einführung von Informations- und Kommunikationstechniken über die Vorgaben des Datenschutzrechts zu beraten. Im einbzw. zweijährigen Turnus legt er dem Parlament, der -> Regierung und der —» Öffentlichkeit einen Tätigkeitsbericht vor. Die zweimal jährlich tagende Konferenz der DSB des Bundes und der Länder dient der bundesweiten Abstimmung von Rechtsauffassungen und Datensicherungsanforderungen. Der externe unabhängige DSB ist strikt zu unterscheiden von dem in der Privatwirtschaft zu bestellenden untemehmensinternen Beauftragten für den Datenschutz nach § 38 BDSG sowie von dem nach einigen LDSGen in den Behörden zu bestellenden Beauftragten. Lit: E. Mitrou: Die Entwicklung der institutionellen Kontrolle des Datenschutzes, Baden-Baden 1993; D. Zöllner: Der Datenschutzbeauftragte im Verfassungssystem, Berlin 1995.
Stefan Walz Debatte -> Aussprache Delegation / -en in internationalen Versammlungen Eine wichtige Ausformung außenpolit. Tätigkeit des —» Deutschen Bundestages bildet die Entsendung ständiger D.en zu interparlament. Versammlungen. Über die Tagungen der Versammlungen unterrichtet die jeweilige dt. D. das -> Plenum schriftlich in Form einer —• Bundestagsdrucksache, die Berichte werden auch in den zuständigen Ausschüssen, namentlich dem —> Auswärtigen Ausschuß, -> Verteidigungsausschuß und dem -> Ausschuß für die Angelegenheiten der EU, beraten. Der Bundestag entsendet D.en in verschiedene interparlamentarische Gremien. Er entsendet eine 18-köpfige D. (mit der gleichen Anzahl an Stellvertretern) zur Par-
lament. Versammlung des -> Europarates mit Sitz in Straßburg. Die Delegierten nehmen an den viermal jährlich stattfindenden Plenarsitzungen teil; zudem sind alle Mitglieder der D. auch Mitglieder in den zahlreichen Ausschüssen der Versammlung. Die Mitglieder der D. vertreten kraft einer Regelung des Brüsseler Vertrages den Bundestag auch in der Parlament. Versammlung der —> Westeuropäischen Union mit Sitz in Paris. Neben den zweimal jährlich stattfinden Plenarsitzungen der Versammlung sind die Delegierten in den Ausschüssen der Versammlung, die zwischen 4 und 10 mal jährlich tagen, vertreten. In die —> Nordatlantische Versammlung (NAV) entsendet der Dt. Bundestag 12 —> Abgeordnete und die gleiche Anzahl von Stellvertretern, die eine gemeinsame D. mit 6 Mitgliedern des —> Bundesrates bilden. Die NAV, die ihren Sitz in Brüssel hat, tagt abwechselnd in allen Mitgliedstaaten sowie assoziierten Partnerländern. Der Bundestag beteiligt sich außerdem an der Parlament. Versammlung der -> OSZE, die sich aus Parlamentsdelegationen aus 55 Staaten zusammensetzt. Weiter entsendet der Bundestag eine aus 8 Mitgliedern bestehende D. in die -» Interparlamentarische Union. Der -> Bundestagspräsident vertritt das Parlament in der Parlamentspräsidentenkonferenz, die entweder auf der EUEbene (kleine PPK) oder auf Europaratsebene (Große PPK) tagt. B. H.-G. /C. L. Deliberativ-Stimme -> Beratende Stimme Demokratie Gegenwärtig werden mit dem Begriff der D. eine Vielzahl polit. Ordnungen bezeichnet. Mit dieser Kategorisierung verbindet sich der Anspruch, die Herrschaftsausübung auf den Willen des Volkes zurückzuführen und eine Rechenschaftspflichtigkeit der Herrschenden gegenüber den Herrschaftsunterworfenen festzustellen. Da die Begriffsbenut217
Demokratie. zung sowohl in Inhalt als auch Umfang stark differiert und vom jeweiligen Theorie- und Interessenhintergrund abhängig ist, bietet eine begriffsgeschichtl. und etymologische Begriffsannäherung einen geeigneten Ansatzpunkt. Die Bezeichnung D. hat ihren Ursprung in der gr. Antike (gr.: demos = Volk und kratein = herrschen. D. = Volksherrschaft). Angefangen bei Herodot bis zu anderen antiken Autoren (Piaton 427-347 v. Chr., Aristoteles 384-322 v. Chr., Seneca 4 ν. Chr. - 65 η. Chr.) ist D. dort eine Staatsformbezeichnung. Von großem Einfluß ist dabei insbes. Aristoteles' Typologie der 3 guten Staatsformen und ihrer Entartungen, bei der die D. die Entartungsform der Politie darstellt (wobei diese aber auch Elemente enthält, die dem heutigen Verständnis von D. enstprechen). Eine veränderte, positive Einschätzung der D. wird im Umfeld der bürgerl. Revolutionen (Großbritannien 1688, USA 1776 und insbes. Frankreich 1789) deutlich. Hier erreichten die neuzeitlichen Ansätze der Säkularisierung der polit. Theorie (z.B. Hobbes 1588-1679) verbunden mit dem gesellschaftl. Aufwärtsdrang bürgerl. Schichten ihren Durchbruch. Eine zentrale Funktion hatte dabei das auf Rousseau (1712-1778) zurückgehende Konzept der -> Volkssouveränität mit der die Legitimation der polit. Gewalt an die Willensbildung der Gewaltunterworfenen erfolgte. Im Umfeld dieser Entwicklungen wurde D. zu einem polit. KampfbegrifT, mit dem die polit, und sozialen Ziele sozialer Bewegungen bezeichnet wurden. Diese Sichtweise wurde auch in dem verstärkt aufkommenden Zeitwort „demokratisieren" ausgedrückt. In der Neuzeit wurden auch die beiden demokratietheoretischen Linien entwikkelt, die bis heute die Auseinandersetzungen prägen: Die liberale Konzeption beruht auf den Forderungen des wirtschaftl. erstarkenden Bürgertums, daß sich gegen die Bevormundungen in den merkantilistischen Herrschaftsformen richtete. Folge-
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Demokratie richtig wurde die ->· Freiheit des Einzelnen angestrebt, insbes. bezogen auf die wirtschaftl. Betätigung. Die Forderung nach einer strikten Trennung von -> Staat und —> Gesellschaft macht deutlich, daß in diesem Verständnis die demokrat. Beteiligung der - » Bürger dazu dient, staatl. Eingriffe abzuwehren, also polit. Herrschaft zu limitieren. Die demokrat. Konzeption folgt einer anderen Logik. Nicht zuletzt auf der Einsicht beruhend, daß die einseitige Betonung der —> Gleichheit der Menschen bei unterschiedlichen Ökonom. Ausgangspositionen zu gesellschaftl. Verwerfungen führt, wird in dieser Sichtweise die persönliche Freiheit durch und nicht gegen die staatl. Ordnung erreicht. Durch die polit. Ordnung soll soziale Gleichheit ermöglicht werden. So besteht das Ziel der D. in dieser Perspektive in der Aufhebung der Differenz zwischen Herrschenden und Beherrschten. Politisch wirksam wurden beide Konzeptionen. So weist die durch -> Verfassung und -> Gewaltenteilung abgesicherte Geltung der —> Menschenrechte auf die liberale Konzeption, während in den Prinzipien der Gleichheit und -> Gerechtigkeit, sichergestellt durch die herrschaftsaufhebende Volkssouveränität, demokrat. Sichtweisen deutlich werden. Das Verständnis von D. als Herrschaftsform im Interesse des Volkes macht den inhaltlichen Auftrag, die Anbindung an gesellschaftl. Entwicklungen, die dynamische Komponente deutlich. In der Entwicklung des modernen —> Verfassungsstaates wurden so nacheinander verschiedene, aufeinander aufbauende Stadien durchschritten, die zunehmende Rechte für die -> Staatsbürger beinhalteten: Freiheitsrechte im Verfassungsstaat, polit. Partizipations- und Mitwirkungsrechte im demokrat. —> Rechtsstaat und soziale —» Bürgerrechte im —> Sozial- und —> Wohlfahrtsstaat. Die aktuellen Forderungen nach einer Ausweitung demokrat. Beteiligung, einer verfassungsrechtl. Absicherung weiterer unveräußerlicher Grundrechte (Recht auf Arbeit, Eigenrechte der
Demokratie Natur und Nachwelt) unterstreichen die grundsätzliche Offenheit und Fortentwicklungsmöglichkeit und -notwendigkeit der D. (siehe in diesem Zusammenhang Art. 20a GG). Insg. ist zwischen 2 (nicht trennscharfen) Grundtypen der D. zu unterscheiden, der unmittelbaren, direkten (plebiszitären) D. und der mittelbaren (repräsentativen) D.; in der -> direkten Demokratie übt das Volk die Staatsgewalt durch Volksversammlungen direkt aus, entschieden wird durch —> Volksabstimmungen (-> Plebiszite). Die komplexen Anforderungen an die Herrschaftsausübung in großen Flächenstaaten haben gegenwärtig zu einer Vorherrschaft der Formen der repräsentativen D. geführt. In ihr übt das souveräne Volk die Herrschaft durch zu wählende -> Abgeordnete mittelbar aus. Innerhalb der repräsentativen D.n gibt es 2 Grundformen, die Parlament. D.n und die Präsidial-D.n. Zentrales Unterscheidungskriterium zwischen diesen beiden Ausgestaltungen ist das Verhältnis von —> Legislative und —> Exekutive: Im —> parlamentarischen Regierungssystem ist die —> Regierung kontinuierlich von der —> Volksvertretung abhängig. Dem steht in den - » präsidentiellen Regierungssystemen eine strenge Trennung zwischen Regierung und -> Parlament gegenüber, bei einer gleichzeitig starken Stellung des durch die direkte Wahl durch das Volk eigenständig legitimierten Präsidenten (z.B. USA). Zwischen den beiden Grundtypen der D. gibt es verschiedene Mischformen. So enthielt die —> Weimarer Reichsverfassung neben ihrer repräsentativen Grundform plebiszitäre Elemente und in der Verfassung der V. Republik in Frankreich sind durch das Nebeneinander eines direkt gewählten Präsidenten mit einer dem Parlament verantwortlichen Regierung Elemente einer präsidentiellen D. mit denen einer parlament. D. kombiniert (-> Verfassung, frz.). Eine zusätzliche Differenzierung folgt aus den —> Wahlsystemen: Mit Mehrheitswahlsystemen (z.B. - noch - in Großbri-
Demokratie tannien) liegt die Absicht auf der Bildung sicherer Mehrheiten, während mit Verhältniswahlsystemen ein größerer Wert auf die Abbildung des Wählerwillens gelegt wird. Daneben gibt es eine Vielzahl von Mischwahlsystemen (z.B. BRD). Die vielfältigen Ausgestaltungsmöglichkeiten der D., die durch die Herausstellung je unterschiedlicher Elemente erfolgen, machen einen Blick auf die konkreten D.konzeptionen der einzelnen Staaten notwendig. Nach der Zentralnorm des Art. 20 Abs. 1 GG ist die BRD ein demokrat. und sozialer Bundesstaat. Ausgestaltet ist die D. nach dem GG als eine mittelbare, d.h. das Volk kann seinen Willen nur in Wahlen (Art. 20 Abs. 2 GG) und in Abstimmungen, die die Neugliederung des Bundesgebietes betreffen (Art. 29; Art. 118 GG), direkt zum Ausdruck bringen. Von großer Bedeutung für die Umsetzung des D.prinzips sind die polit. —> Parteien (Art. 21 GG) und die Regeln über die Wahlen zum -» Bundestag und die Stellung der Abgeordneten (Art. 38 und 39 GG). Das verfassungsrechtl. D.prinzip ergibt sich aus dem Zusammenspiel mehrerer Elemente: 1. Volkssouveränität. Nach Art. 20 Abs. 2 GG geht alle -> Staatsgewalt vom Volke aus. 2. Mehrheits- und Konsensprinzip. Die konkrete staatl. Ordnung und ihre zukünftige Entwicklung werden durch Mehrheitsentscheidungen der gewählten Repräsentanten getroffen. Begrenzt wird die Mehrheitsherrschaft durch die durch ihre Offenheit hinreichend konsensfähigen Grundwerte wie Gerechtigkeit, Menschenwürde und Freiheit. Mit der Gültigkeit des Mehrheitsprinzips impliziert ist einer der zentralen funktionalen Vorzüge der D. überhaupt: Die Anerkennung der Unentscheidbarkeit der Wahrheitsfrage in polit. Zusammenhängen. Voraussetzung des demokrat. Mehrheitsprinzips ist die Gleichheit aller (zum Staatsvolk gehörenden) Menschen. 3. Die kontinuierliche Möglichkeit von Machtwechseln, deren Konsequenz eines 219
Demokratie friedlichen Herrschaftswechsels einen der entscheidenden funktionalen Vorteile demokrat. Herrschaft darstellt. In der BRD wurde der Prozeßcharakter der D. insbes. in den 60er und 70er Jahren deutlich. Aufbauend auf der gesellschaftl. Aufbruchstimmung in allen westlichen D.n fand eine —> Demokratisierung vieler gesellschaftl. Teilbereiche statt, so der -> Wirtschaft (z.B. durch eine Ausweitung der Mitbestimmung: BVerfGE 50, 290), der -> Hochschulen und der —> Verwaltung. Parallel zur sprachlichen Dominanz der D. - nahezu jede -» Diktatur fühlt sich bemüßigt, eine spezifische Form demokrat. Entscheidungsfindung für sich in Anspruch zu nehmen (z.B. als Volksdemokratie) - haben Analysen der Defizite und Dysfunktionen demokrat. Herrschaft an Bedeutung gewonnen. Festgestellt werden Legitimationsprobleme (in Verbindung mit steigenden materiellen Leistungserwartungen), zu geringe Selbstverwirklichungs- und Beteiligungschancen, Grenzen der Mehrheitsregel, eine Aushöhlung der Volkssouveränität durch die vermehrten internationalen Interdependenzen und eine durch die Wahlzyklen hervorgerufene Ausrichtung der Politik auf kurzfristige Erfolge (hinzu kommen eine Vielzahl von demokratietheoretischen Einwänden). Häufig wird dabei jedoch übersehen, daß diese Kritikpunkte aus dem notwendigen Spannungsverhältnis der Elemente der D. resultieren (z.B. Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, bzw. Geltung der Menschenrechte), so daß eine dauerhafte Aufhebung der Konflikte letztendlich weder möglich noch anzustreben ist, da aus diesen Spannungen die Möglichkeit einer immer wieder neuen Anpassung der demokrat. Regeln an die sich verändernden Lebensbedingungen - also letztlich die Lebendigkeit der D. - resultiert. Gegenwärtig rücken Fragen der Konsequenzen der zunehmenden internationalen Verflechtungen - z.B. durch den zunehmenden Integrationsprozeß der EU und eine Vielzahl anderer zunehmender
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Demokratie grenzüberschreitender Probleme (Umweltverschmutzung usw.) - in den Blickpunkt. Die damit verbundene Einschränkung des nationalstaatl. Handlungs- und Wirkungsrahmens bringt - scheinbar - zwingend einen Rückgang partizipativer Einflußmöglichkeiten mit sich. Insg. ist jedoch auch die Kehrseite der Globalisierung, die steigende Bedeutung der —> Regionen, in die Überlegungen einzubeziehen. In dieser Perspektive ist zumindest nicht auszuschließen, daß als Folge der Globalisierung ein Mehr an Beteiligungsmöglichkeiten entsteht. Einen histor. Testfall für die D. im angehenden 21. Jhd. stellt ohne Zweifel die polit. Ausgestaltung der —> Europäischen Union dar. Letztlich geht es um die Frage, ob für die Probleme der - angeblichen mangelnden D.fähigkeit der EU (Stichworte: kein europ. Volk als Subjekt der demokrat. Legitimation und darüberhinaus eine große wirtschaftl., kulturelle und soziale Heterogenität, die das Tragen von (negativen) Mehrheitsentscheidungen fraglich erscheinen läßt) und des institutionellen D.defizits (Stichworte: noch immer eine über die Nationalstaaten vermittelte demokrat. Legitimation und mangelnde Kompetenzen des —> europäischen Parlamentes) befriedigende Lösungen gefunden werden können. Für eine optimistische Sichtweise spricht einer der entscheidenden Vorteile der demokrat. Herrschaftsform, ihre - neben allen normativen Vorzügen - durch die hohe Anpassungs- und Weiterentwicklungsfähigkeit erreichte Funktionalität, die in dieser Weise von keinem anderen Herrschaftssystem erreicht wird. Lit: Β. Guggenberger / C. Offe (Hg.): An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen 1984; G. Leibholz: Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jhd., Berlin3 1966; B. Kohler-Koch (Hg.): Staat und Demokratie in Europa, Opladen 1992; W. Kluth: Die demokrat. Legitimation der EU, München 1995; M.G. Schmidt: Demokratietheorien, Opladen2 1997; JA. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München
Demokratisierung
Demokratische Partei ®1980. Thomas
Kneissler
Demokratische Partei (USA) Die D P. ist eine der beiden großen Parteien, neben der -> Republikanischen Partei, die den äußeren Rahmen für die polit. Auseinandersetzung in den USA bestimmen. Die amerik. Parteien sind im Gegensatz zu europ. keine weltanschaulich ideologisch ausgerichteten Parteien, sondern lockere Wahlbündnisse zur Besetzung öffentl. Ämter. Besonders die D.P. weist eine sozial heterogene Wählerkoalition auf, deren Interessen sie integrieren muß. Die Partei ist in sog. -> committees, die auf nationaler, einzelstaatl. und teilw. auf lokaler Ebene existieren, organisiert. Bis in die 60er Jahre hinein hatten gut organisierte committees in Städten, sog. machines, den Zweck, Wahlen zu organisieren und Wähler zu mobilisieren. Seitdem werden Wähler zunehmend über die Medien angesprochen. Die D.P. entstand gegen Ende des 18. Jhd.s als loses Bündnis der Gegner einer stärkeren Zentralregierung und dominierte in den folgenden Jahrzehnten die amerik. Politik. Innerparteiliche Differenzen, insbes. über die Zulassung der Sklaverei in den neuen Territorien, führten jedoch zur Spaltung der Partei und letztlich zum amerik. Bürgerkrieg (1861-65). 1932 konnte die Partei mit Präsident F.D. Roosevelts aktivem Programm zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise die Präsidentschaft und den —• Kongreß zurückgewinnen. Roosevelts sog. New Deal Koalition bestehend aus Großindustrie, Farmern, gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, Katholiken, Schwarzen, und ethnischen Minderheiten, war der Grundstein für ein dauerhaft dominantes Realignment. Dieses Wählerbündnis zerbrach erst in den späten 60er Jahren durch den Vietnamkrieg, eine Ökonom. Krise, aber besonders an den Forderungen der Bürgerrechtsbewegung. Seitdem haben die Demokraten zwar im Kongreß und auf Einzelstaatsebene ihren Mehrheitsstatus
verteidigen können, konnten aber lediglich 2 Präsidenten stellen. Obwohl die programmatischen Differenzen zwischen den Parteien häufig verschwimmen, gilt die D.P. als die liberalere, die sich in den letzten Jahren insbes. durch ihr stärkeres Eintreten für soziale Belange, den Schutz der Zivilrechte und der Privatsphäre und ihr Eintreten für den Natur- und Verbraucherschutz von der Republikanischen Partei unterscheidet. Die Partei hat jedoch auch einen starken konservativen Flügel, der seit Ende der 30er Jahre im Kongreß über Parteigrenzen hinweg oft mit den Republikanern zusammenarbeitet. Lit: J.L. Sundquist: Dynamics of the Party System, Boston 1983. Cornelia Horn
Demokratisierung Als D. gelten generell der Abbau autoritärer Strukturen, Organisationsmuster und Verhaltensweisen, speziell Absichten, Programme sowie reale Vorgänge und Praktiken der Weiterentwicklung von -> Demokratie. Im Zentrum stehen die Eftizienzsteigerung oder Transformation formal- und repräsentativdemokrat. verfaßter republikanischer —» Staatsform und Regierungsweise zugunsten einer materialen bzw. basisorientiertfundamentalen, möglichst auf verallgemeinerungsfahige Interessen verpflichteten demokrat. Lebensweise einer Bürgerbzw. -> Zivilgesellschaft. Kennzeichnend dafür sind v.a.: einerseits die Ausdehnung demokrat. Prinzipien des polit. Prozesses (z.B. freie -> Wahlen, Mehrheitsentscheide und Minderheitenschutz) auf bislang anders regulierte Bereiche des Wirtschafts- und gesellschaftl. Lebens; andererseits die Vergesellschaftung (staats-) offizieller Politik durch Institutionalisierung von zusätzlichen konventionellen oder Anerkennung von unkonventionellen Partizipations- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten für Betroffene und Interessierte aus traditionellen Gruppen oder neu entstehenden —• Bürgerbewegungen (z.B. Autonomisierung, Gewährleistung zusätzlicher Anhörungen oder Beiräte, Stärkung 221
Demonstrationsfreiheit
Demonstrationsfreiheit
plebiszitärer Elemente, Rätestrukturen oder -> Runde Tische, -> Parlamentsreform). Lit: U. Rödel u.a.: Die demokrat. Frage, Frankfurt/M. 1989.
B.C. Demonstrationsfreiheit Unter einer Demonstration versteht man eine Versammlung von Menschen unter freiem Himmel, die damit ihre Meinung zum Ausdruck bringen wollen (—> s.a. Meinungsfreiheit). Das Recht zur Veranstaltung einer Demonstration beruht auf der verfassungsrechtl. geschützten —> Versammlungsfreiheit, die durch das Versammlungsgesetz beschränkt werden kann (Art. 8 Abs. 2 GG). Diese Beschränkung erweist sich als notwendig: Wegen des Außenkontaktes der Veranstaltung werden sowohl die Rechte Dritter als auch Gemeinschaftsgüter berührt. Daher muß einerseits für ihren geordneten Verlauf, andererseits für eine angemessene Berücksichtigung anderer kollidierender Interessen Sorge getragen werden. Dabei hat der Gesetzgeber dem hohen Stellenwert der Versammlungsfreiheit fur ein demokrat. Gemeinwesen Rechnung zu tragen und darf ihre Ausübung nur zum Schutz zumindest gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit beschränken (BVerfGE 69, 306, 348f. „Brokdorf). 1. Versammlungsgesetz Zunächst müssen Veranstaltungen unter freiem Himmel von dem Initiator bei der zuständigen Ordnungsbehörde (-» Polizei oder Amt für öffentl. Ordnung) angemeldet werden (§ 14). Diese Anmeldepflicht kann jedoch für sog. Spontandemonstrationen nicht gelten, da diese sich aus einem aktuellen, ganz überraschend auftretenden Anlaß entwickeln und völlig ihren Sinn verlieren würden, wenn sie erst zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden könnten (BVerfGE 85, 69, 75). Die Ordnungsbehörde kann Versammlungen verbieten oder von Auflagen insbes. der Einhaltung einer be222
stimmten Route abhängig machen, wenn eine akute Gefährdung der öffentl. Sicherheit und Ordnung, v.a. eine erhebliche Beeinträchtigung des öffentl. Verkehrs zu erwarten ist. Innerhalb der vor den —> Parlamenten von —> Bund und —• Länder gezogenen - » Bannmeilen sind öffentl. Versammlungen unter freiem Himmel generell verboten. Ansonsten ist die zuständige Ordnungsbehörde zur strikten Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verpflichtet. Ist nur mit Ausschreitungen einzelner oder einer kleinen Gruppe innerhalb der Demonstration zu rechnen und damit nicht zu befürchten, daß die Demonstration im ganzen einen unfriedlichen Verlauf nimmt, so darf ein vorbeugendes Verbot der gesamten Veranstaltung nur verhängt werden, falls zuvor alle anderen sinnvoll anwendbaren Mittel zur Eindämmung des Gefahrenherdes ausgeschöpft sind. Andernfalls würde man in verfassungswidriger Weise der friedlichen Mehrheit ihr verfassungsrechtl. garantiertes Recht auf Versammlungsfreiheit nehmen (BVerfGE 69, 315, 359ff). Den verfassungsrechtl. Schutz verdienen aber nur friedliche Demonstranten. Um nun zu verhindern, daß eine schlagkräftige Minderheit die Demonstration als Kampfplatz mißbraucht, ist zur wirksamen Bekämpfung von Gewalttätigkeit bei Demonstrationen grds. die Vermummung und Schutzbewañhung nicht nur bei solchen Veranstaltungen selbst, sondern auch schon auf dem Wege dorthin und bei Zusammenrottung im Anschluß an derartige Veranstaltungen verboten (§§ 17a, 27). Die Anfertigung von Bild- und Tonaufhahmen von Teilnehmern bei öffentl. Versammlungen ist der Polizei nur erlaubt, falls Anhaltspunkte für die Gefahr der öffentl. Sicherheit und Ordnung vorhanden sind. Die Unterlagen sind sofort nach Beendigung der Demonstration zu vernichten. Lediglich wenn sie zur Verfolgung von Straftaten einzelner Teilnehmer oder zur künftigen Gefahrenabwehr benötigt werden, können sie längstens für 3 Jahre archiviert werden.
Demonstrationsfreiheit 2. Demonstrationsschäden Bei Demonstrationen kommt es vielfach zu gewalttätigen Ausschreitungen, die auch erhebliche Personen- und Sachschäden verursachen. Insoweit erhebt sich die Frage, wer für diese Schäden die Verantwortung trägt und sie zu ersetzen hat. Sowohl die Gewaltanwendung gegen Personen als auch Sachen ist rechtswidrig und verpflichtet den Verursacher zum Ersatz nach den Grundsätzen der unerlaubten Handlung gem. §§ 823fr. -> BGB. Das gilt zunächst für jeden einzelnen gewalttätigen Demonstrationsteilnehmer, wobei im Falle gemeinschaftlicher Schadenszufügung durch mehrere Demonstranten jeder der Beteiligten als Gesamtschuldner in vollem Umfang verpflichtet ist (§ 840 BGB). Das trifft im übrigen auch zu, sofern sich nicht ermitteln läßt, welcher von mehreren Beteiligten den Schaden unmittelbar verursacht hat, wobei Anstifter und Gehilfen Mittätern gleichstehen (§ 830 BGB). Als Tatbeteiligter kann aber der einzelne Demonstrationsteilnehmer nur herangezogen werden, wenn er sich zumindest geistig und willensmäßig, etwa durch Anfeuern von aktiven Schädigern, beteiligt und damit zur Aufheizung der Stimmung beigetragen hat. Ggf. haftet auch der Veranstalter einer Demonstration wegen schuldhafter Verletzung seiner Verkehrssicherungspflichten, sofern er keine ausreichenden Vorkehrungen, etwa durch den Einsatz einer genügenden Zahl von Ordnern, getroffen hat, um Ausschreitungen zu verhindern, die unter den gegebenen Umständen zu erwarten waren. Kein Anspruch auf Schadensersatz besteht aber wegen schlichter Vermögensschäden, die sich als Nebenwirkungen einer Demonstration, etwa aus Verkehrsbehinderungen, ergeben. 3. Sitzblockaden Diese Form des Protestes fällt zwar grds. unter den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit. Dennoch sind sie nur als Nebenfolge einer ansonsten rechtmäßigen Demonstration gerechtfertigt. Daran fehlt es jedoch, wenn mit dieser Maßnahme, welche die Aufmerk-
Demoskopie samkeit für das Demonstrationsanliegen erhöhen soll, die Behinderung Dritter in Kauf genommen wird. In derartigen Fällen ist die Polizei zur Auflösung der Versammlung berechtigt (BVerfGE 73, 206 249f.). Sitzblockaden können auch nicht als zulässige Ausübung staatsbürgerl. Rechte unter dem Gesichtspunkt des zivilen Ungehorsams betrachtet werden, greift doch damit der Blockierer in das Selbstbestimmungsrecht Dritter ein. Ob ein derartiges Verhalten strafrechtl. unter dem Gesichtspunkt der Nötigung verfolgt werden kann, weil der Blockierer zumindest psychischen Zwang auf den behinderten Dritten ausübt, ist innerhalb des BVerfG selbst umstritten. Die eine Hälfte der Richter will bei der Abwägung der Verwerflichkeit des eingesetzten Mittels auch das verfolgte Fernziel, wie z.B. „Gefahr der Stationierung von Atomraketen" berücksichtigen und plädiert deshalb für eine prinzipielle Straffreiheit, während die andere Hälfte der Richter solche Femziele nur strafmildernd gelten lassen will (BVerfGE 73, 206, 252ÍT.). Aufgrund dieser Pattsituation war die eingelegte —> Verfassungsbeschwerde zurückzuweisen, so daß Sitzblockaden nach wie vor strafrechtl. wegen Nötigung geahndet werden können. Lit: A. Dietel / Κ. Gintzel / M.Kniesel: Demonstrations· und Versammlungsfreiheit, Köln "1994; HdbStR VI, S. 739ff.; M. Kniesel: Die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, in: NJW 1996 S. 2606ÍT.
Wilfried Braun Demoskopie Die D. oder Umfrageforschung ist eine moderne Methode der Informationsbeschaffung, indem die gewünschte Zielgruppe insg. oder eine repräsentative Stichprobe ihrer Mitglieder befragt werden. Mündliche, telefonische oder schriftliche Befragungen werden durchgeführt. Die face-to-face-Befragung ist bis heute die genaueste. Bei der Fragebogenerstellung kommt es u.a.. auf die exakte Fragestellung an, wobei die Forschungs- oder Programmfragen in demo-
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Demoskopie skopische Indikatoren zerlegt werden, die entsprechend viele Interviewfragen voraussetzen. Sowohl aus der wissenschaftl. Untersuchungssituation als auch aus der Praxis der demoskopischen Analyse heraus kann ein Entdeckungspotential entstehen, das aus der Einzelbeobachtung sozialer oder polit. Prozesse nicht gewonnen werden kann. Als Methode der Informationsgewinnung z.B. über die -> öffentliche Meinung (der Bevölkerung) kann die D. in -»• Demokratien erstmals eine polit. Artikulationsfunktion wahrnehmen. Regierende wie Regierte können über erhobene Umfragedaten eine Transparenz des polit. Prozesses erreichen, ohne daß aus der Methode der Informationsgewinnung gleich schon eine plebiszitäre Dynamik in die repräsentative Demokratie übertragen wird. Insofern kann die D., wenn sie nicht nur zum Geheimwissen der Regierenden gehört, sondern über die -> Massenmedien als Auftraggeber auch die Regierten über die öffentl. (und nicht nur über die veröffentlichte) Meinung in Kenntnis setzt, ein Instrument der Demokratie sein. Aber auch in vordemokrat. Herrschaftsformen ist die Zustimmung der Regierten für die Herrschenden existenzsichemd, weshalb das Wissen über den Zustand der öffentl. Meinung seit jeher eine zentrale Herrschaftsfrage gewesen ist. In den sozialistischen Staaten wurden deshalb polit. Ergebnisse der D. grds. nicht veröffentlicht (—> DDR -> s.a. Sozialismus). Zur Erforschung der -» politischen Kultur ist deshalb die D. ein unerläßliches Untersuchungsinstrument. Dennoch existieren noch immer einige Bedenken gegenüber der Methode, deren Anwendung in der praktischen parlament. Arbeit noch nicht weit fortgeschritten ist. Man befürchtet Manipulationsmöglichkeiten, die allerdings durch die Beachtung nachprüfbarer Qualitätsstandards ausgeschlossen werden könnten, etwa durch die genaue Angabe des Fragewortlautes, der Größe der Stichprobe und die Beachtung von Untersuchungsergebnissen weiterer Institute. Die Publikation von Wählerumfragen
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Deregulierung vor Bundestagswahlen kann der Informationsgewinnung der Wähler dienen - die Regierenden verfügen meistens bereits zu ihren Zwecken über dieses Wissen. Ein Publikationsverbot von Wahlumfragen im zeitlichen Vorfeld von Wahlen hielte nur die Wähler in einem Zustand des Unwissens. Auch für die Prognose müssen allgemeinverbindliche Standards der Qualitätssicherung gelten. Zur journalistischen Sorgfaltspflicht gehört es dabei, nur Ergebnisse aus dem gleichen Zeitraum vor den Wahlen zu vergleichen. Schließlich wird angenommen, Politiker seien besonders demoskopiehörig, richteten ihre polit. Entscheidungen opportunistisch entlang von Meinungstrends aus. Von einer ganzen Reihe polit. Entscheidungen (Wiederbewaffiiung, NATO-Nachnlstung, EUROPolitik u.a..m.) ist bekannt, daß sie gegen deutliche Mehrheiten in der Bevölkerung durchgesetzt wurden. Im übrigen bestehen in der Bevölkerung bei vielen Themen keine klaren oder sogar gespaltene Auffassungen, so daß die polit. Auseinandersetzung und der notwendige und sinnvolle Meinungsstreit eine Änderung des Einstellungsspektrums bewirken können. Auch von daher ist die D. nützlich, denn sie kann über diese Situationen mit geeigneten demoskopischen Ermittlungen überhaupt erst aufklären. LU.: E. Noelle-Neumann / R. Köcher (Hg.): Allensbacher Jahrbuch für Demoskopie 19931997, München 1997; E. Noelle-Neumann / T. Petersen: Alle nicht jeder, Einführung in die Methoden der Demoskopie, München 2 1998.
Tilman Mayer Deputiertenkammer —> Chambre des Députés Deregulierung bedeutet Abbau von staatl. oder staatl. geduldeten Beschränkungen der Handlungsmöglichkeiten des Menschen über Sachen und Rechte, sei es in tatsächlicher oder rechtsgeschäftlicher, insbes. vertraglicher Art. Wohlbegründete Änderungen der Beschränkungen sollen die wirtschaftl. Freiheit fördern und damit
Deutsche Bahn AG die gesellschaftl. Wohlfahrt vergrößern. Grenzen der D. ergeben sich aus der Notwendigkeit eines Gemeinwesens, eine Ordnung für das Zusammenleben zu installieren. Damit werden z.B. Handlungen, die schutzwürdige Interessen Anderer beeinträchtigen, unterbunden. Weiterhin können durch eine Beschränkung von Handlungsmöglichkeiten Vorteile für alle am tauschwirtschaftl. Verkehr einer arbeitsteiligen - » Gesellschaft Beteiligten verbunden sein. Dazu gehören Regulierungen zur Sicherung des Wettbewerbs, z.B. durch ein Kartellrecht, die aber nicht zu Verkrustungen führen dürfen. Aber auch gesellschaftl. Leitvorstellungen setzen der D. Grenzen. R. W. Deutsche Bahn AG Mit Art.2 des Eisenbahn-Neuordnungsgesetzes ENeuOG (vom 27.12.1993 - BGBl. I S. 2378), dem Gesetz über die Gründung einer Dt. Bahn Aktiengesellschaft (DBGrG), wurden Teile des Sondervermögens des —> Bundeseisenbahnvermögens (BEV) ausgegliedert und die Voraussetzungen für das Unternehmen DB AG geschaffen. Die DB AG firmiert nach dem Firmenrecht als eine Aktiengesellschaft (-> Gesellschaftsrecht). Nach § 2 AktG handelt es sich um eine Ein-Personen-Gründung. Die —> Bundesrepublik Deutschland haftet als Gründer und als alleiniger Anteilseigner. Der -> Bundesrechungshof prüft die Verwendung der Bundesmittel oder Zuwendungen, nicht aber die Wirtschaftsführung der DB AG. Die DB AG ist eine Eisenbahn des Bundes und gehört zu den öffentl. Eisenbahnen, die gewerbsmäßig Personen- und Güterbeförderung (auch durch Beteiligungsgesellschaften) betreibt. Sie ist nach § 2 Abs. 1 AEG ein Eisenbahnverkehrsund -infrastrukturuntemehmen. Die Geschäftsbereiche (Sparten) sollen künftig zu selbständigen Aktiengesellschaften umgewandelt werden. Die dann bestehende DB AG-Holding wird sich als herrschendes Unternehmen auf Leitungs- und
Deutsche Bundesbank Konzernsteuerungsaufgaben beschränken. Eine Auflösung der DB AG ist nur auf Grund eines -> Gesetzes möglich. Das Mehrheitseigentum des —> Bundes an einer künftigen Fahrweg AG ist aufgrund Art. 87e Abs. 3 GG nur mit Zustimmung des Bundesrates veräußerbar. Die DB AG hat eine Zentrale Konzernleitung mit Sitz in Beri. Zur Zeit gibt es 10 Geschäftsbereiche, die sich in Niederlassungen bzw. Regionalbereiche gliedern. Daneben gibt es Dienstleistungszentren, die Querschnittsfunktionen für alle Geschäftsbereiche wahrnehmen. Organe sind der Aufsichtsrat und der Vorstand der DB AG. Im Aufsichtsrat sind Mitglieder des -» Deutschen Bundestages und Repräsentanten der Wirtschaft vertreten. Aufgrund der Ermächtigungsgrundlage des § 12 Abs. 6 DBGrG und der Verordnung über die Zuständigkeiten der DB AG für Entscheidungen in Angelegenheiten der zugewiesenen —> Beamten des Bundeseisenbahnvermögens hat die DB AG Dienstherrenaufgaben gegenüber den ihr zugewiesenen Beamten auszuüben. Dabei unterliegt sie der -> Rechtsaufsicht des BEV. Mit der 2. Stufe der Bahnreform werden mit Wirkung vom 1.1.1999 folgende gesetzliche Pflichtausgliederungen aus der DB AG vorgenommen: DB Regio AG (bisher: Nahverkehr); DB Reise & Touristik AG (bisher: Fernverkehr); DB Netz AG (bisher: Fahrweg); DB Cargo AG (bisher: Güterverkehr); DB Station & Service AG (bisher: Personenbahnhöfe). Die verbleibende DB AG wird als eine Holding im wesentlichen Konzemsteuerungsfuriktionen wahrnehmen. Lit: F. Rahmeyer: Privatisierung und Deregulierung der Dt. Bundesbahn, Augsburg 1996; G. Schulz: Das Eisenbahnwesen des Bundes und die Stellung der dt. Bahnen auf dem Europ. Binnenmarkt, Berlin 1995. W. K.
Deutsche Bundesbank Die BBk, vom —> Bund nach Art. 88 GG als Währungs- und Notenbank errichtet, regelt mit Hilfe der 225
Deutsche Bundesbank ihr durch das BBkgesetz zur Verfügung gestellten währungspolit. Befugnisse den Geldumlauf und die Kreditversorgung der -> Wirtschaft mit dem Ziel, die —> Währung zu sichern, und sorgt fìir die bankmäßige Abwicklung des Zahlungsverkehrs im Inland und mit dem Ausland. Während die Münzhoheit bei der —> Bundesregierung liegt, besitzt die Zentralbank das ausschließliche Recht, Banknoten auszugeben, die als gesetzliche Zahlungsmittel zur Begleichung sämtlicher Geldschulden angenommen werden müssen. Auch wenn die BBK für jedermann unverzinsliche Girokonten fuhren darf, so tätigt sie die Mehrzahl ihrer Geschäfte mit Kreditinstituten. Hierzu gehören der Ankauf von Wechseln (Diskontgeschäft), die Kreditgewährung gegen Pfander (Lombardgeschäft) und der Ankauf bestimmter Papiere am offenen Markt (Offenmarktgeschäfte). Mit Hilfe der bei diesen Geschäften angewandten, vorher öffentl. bekannt gemachten Zinssätze - der Diskontsatz bezeichnet z.B. den Zinssatz, den die Bank Kreditinstituten beim Ankauf von Wechseln berechnet - beeinflußt die Bundesbank die Nachfrage nach Zentralbankgeld und damit die Höhe des Geldumlaufs. Die Verpflichtung der Banken, einen Teil ihrer Gelder unverzinslich bei der BBk anzulegen (Mindestreserve), gibt ihr ein weiteres währungspolit. Instrument an die Hand. Um den nicht selten zur Geldentwertung führenden Zugriff der Regierung auf die Geldschöpfung zu verhindern, ist die BBk bei der Ausübung der währungspolit. Befugnisse nach dem BBkgesetz nicht von Verfassungs wegen an Weisungen der Bundesregierung gebunden. Die maßgeblichen Entscheidungen trifft vielmehr der Zentralbankrat, der sich aus den Mitgliedern des Direktoriums, das im übrigen die Bank leitet, und den Präsidenten der Landeszentralbanken, den Hauptverwaltungen der BBk in den einzelnen Bundesländern zusammensetzt. Mit dem Eintritt in die Endstufe der -> Europäischen Währungsunion wird die BBk
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DDR integraler Bestandteil des Europ. Systems der Zentralbanken; der wesentliche Teil ihrer währungspolit. Befugnis geht dann auf die - » Europäische Zentralbank über. Lit: HJ. Hahn: Wähningsrecht, München 1990; 0. Issing: Einführung in die Geldpolitik, München 6 1996; ders. : Einführung in die Geldtheorie, München 101995.
Johannes Siebelt Deutsche Demokratische Republik (DDR) Der zweite dt. - » Staat der Nachkriegsgeschichte nach dem Π. Weltkrieg bestand von 1949 bis 1990. 1. Entstehung Die DDR war zunächst ein Ergebnis der Besatzungspolitik der alliierten Siegermächte über das nationalsozialistische Dtld. (-> Nationalsozialismus). Damit wurde das Gebiet, das später die DDR bildete, als Sowjetische Besatzungszone (SBZ) dem Einflußbereich der UdSSR zugeordnet. Die sowjetische Besatzungsmacht bildete in ihrer Zone im Jahre 1945 Länder (-» Thüringen, -> Sachsen, —> Mecklenburg-Vorpommern) und „Provinzen" (-> Brandenburg und Sachs. - das spätere -> Sachsen-Anhalt). In den Ländern bzw. Provinzen wurden dt. Verwaltungsorgane, sog. Präsidien, eingesetzt, die nach den Landtagswahlen von 1946 in Landesregierungen umgewandelt worden sind. Die Landtagswahlen von 1946 waren die einzigen -> Wahlen vor 1990 insofern nach alternativen Listen. Die daraus hervorgegangenen Landesregierungen waren —> Allparteienregierungen, in denen die Dominanz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) durch die Besatzungsmacht gesichert wurde. Lediglich in LSA gehörte der Ministerpräsident nach den Landtagswahlen von 1946 nicht der SED an (E. Hübener, LDP), dennoch wurde auch diese Landesregierung von der SED, gestützt auf die Besatzungsmacht, gesteuert. Die sowjetische Besatzung leitete im Bunde mit der KPD bzw. SED mit der sog. antifaschistisch-demokrat. Umwälzung grundlegende Veränderungen in der sozioökonom. Struktur ein, zu deren
DDR einschneidendsten die Bodenreform, die Enteignung und Verstaatlichung der entscheidenden Teile der Industrie, Schulreform, Justizreform u.a. gehörten. Auf der Zonenebene wurden auf Befehl der Besatzungsmacht schon 1945 Zentralverwaltungen geschaffen, v.a. aber wurde 1947 ebenfalls auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration in Dtld. (SMAD) die Dt. Wirtschaftskommission (DWK) eingerichtet. Diese zentralen Verwaltungen, die offiziell mit einem gesamtdt. Anspruch versehen waren, erhielten immer mehr Befugnisse zu Lasten der Länder, deren Kompetenz dadurch fortschreitend ausgehöhlt worden ist. 2. SED und die Massenorganisationen Bereits kurz nach der Übernahme der Besatzungszone durch die sowjetische Besatzungsmacht wurde ein scheinbar pluralistisches Parteiensystem mit der Gründung der KPD, der SPD, der LDP und der CDU zugelassen. Diese Parteien wurden aber unter dem Druck der Besatzungsmacht am 14.7.1945 veranlaßt, sich zum sog. antifaschistisch-demokrat. Block zusammenzuschließen, womit die wesentliche Grundlage für deren Majorisierung durch die SED im Zusammenwirken mit der Besatzungsmacht geschaffen war. Dazu kamen 1948 noch die unter dem Protektorat der SED gebildeten Parteien NDPD und DBD. Mit der SED, die im April 1946 auf massiven polit. Druck durch Zusammenschluß von KPD und SPD gebildet worden war, bestand die durch die sowjetische Besatzungsmacht entscheidend gestützte Kraft, welche die polit. Entwicklung der SBZ bestimmte. Zu dieser Parteienstruktur kam noch die Gründung von Massenorganisationen, die von der SED gesteuert worden sind, deren wichtigste der Freie Dt. Gewerkschaftsbund (FDGB), die Freie Dt. Jugend (FDJ), die Vereinigung der gegenseitigen Bauemhilfe (VdgB), der Kulturbund (KB) und der Demokrat. Frauenbund Dtld.s (DFD) waren. Die SED wurde 1948/49 zur sog. Partei neuen Typs nach dem Muster der KPdSU umgewandelt und die
DDR anderen Parteien parallel dazu mit Mitteln des polit. Drucks und persönlicher Repressalien gleichgeschaltet. Mit der Schaffung von Zentralverwaltungen, der Vereinheitlichung der Polizei und der Einrichtung der DWK (1947) waren entscheidende polit. Voraussetzungen für eine Sonderentwicklung der SBZ geschaffen worden. Nach dem Π. Parteitag der SED (September 1947) wurden die sog. Volksdemokrat. Umgestaltungen in der SBZ verstärkt vorangetrieben. Gleichzeitig wurde durch den Kalten Krieg der Großmächte die dt. Spaltung vertieft. Die unterschiedliche Währungsreform in den Westzonen und West-Berlin bzw. in der SBZ und Ost-Berlin (-> Berlin) 1948 begründete 2 getrennte Wirtschaftsgebiete. Der aus der von der SED gesteuerten Volkskongreßbewegung hervorgegangene Volksrat erklärte sich im Juni 1948 zum Repräsentanten für ganz Dtld. und nahm einen Verfassungsentwurf mit dem Anspruch für ganz Dtld. an. Die Konstituierung des Dt. Volksrates als provisorische Volkskammer und die Annahme der Verfassung durch ihn führten am 7.10.1949 zur Gründung der Dt. Demokrat. Republik (DDR). Staatspräsident wurde Wilhelm Pieck, während das Amt des Ministerpräsidenten mit Otto Grotewohl besetzt wurde. Die Verfassung von 1949 war als eine gesamtdeutsche Griinderverfassung angelegt. Dtld. war danach eine in Länder gegliederte unteilbare —• Republik. Die -> Staatsform war zentralistisch angelegt, dem —> Parlament, der Volkskammer, kam die Stellung des höchsten Organs der Republik zu. Die —> Gewaltenteilung wurde durch die allseitige Kompetenz der Volkskammer aufgehoben (Art. 50). Das Prinzip des -> parlamentarischen Regierungssystems wurde durchbrochen, indem nach Art. 92 die Regierungsbildung auf der Grundlage des Blocksystems festgeschrieben wurde. Eine wichtige Besonderheit der Verfassung bildete der Art. 6, der neben Glaubens-, Rassen- und Völkerhaß sowie Kriegshetze 227
DDR auch „Boykotthetze gegen demokrat. Einrichtungen und Organisationen" unter Strafe stellte. Der Art. enthielt in gleicher Weise auch die zunächst nichtssagende Definition von allen ,,sonstige(n) Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten" als strafbar i.S. des Strafgesetzbuches. Dieser Art. 6 diente der DDRFührung dann aber dazu, Gegner und Oppositionelle strafrechtl. verfolgen zu lassen. Nach 1949 wurde nach sowjetischem Vorbild in abgewandelter Weise eine kommunistische Einparteienherrschaft in der DDR durchgesetzt, wobei innerhalb der herrschenden SED eine innerparteiliche Demokratie ausgeschaltet blieb. Die Macht konzentrierte sich in der SED-Spitze, die mittels eines hierarchischen Partei- und Staatsapparates den Staat regierte. Vielfältige, praktisch auf allen Ebenen bestehende Volksvertretungen übten Scheinfunktionen aus. Die schrittweise Übernahme des sowjetischen Staats- und Gesellschaftsmodells schloß ein, daß der Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung zur herrschenden Ideologie wurde. Die Ausrichtung der DDR auf das sowjetische Modell war mit einem zunehmenden Personenkult um Josef Stalin verbunden. 3. Gesellschaft und Wirtschaft Zu den schrittweisen Umgestaltungen der Gesellschaft der DDR gehörte die Veränderung der Gerichtsverfassung. Das Gerichtswesen wurde nach der Gründung der DDR immer stärker in den Dienst der polit. Verfolgungspraxis gestellt. Es kam ab 1950 zu polit. Schauprozessen; gleichzeitig wurde am 8.2. auf Beschluß der Volkskammer das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gebildet. Seit 1950 war die DDR Mitglied des 1949 gegründeten Rates fllr gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW bzw. COMECON). Dies bedeutete nicht nur den weiteren Ausbau des nach sowjetischem Vorbild funktionierenden Systems der staatl. gelenkten Planwirtschaft (-> Wirtschaft), sondern auch die immer engere Anbindung der Außenwirtschaft an die Sowjet-
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DDR union und die anderen Mitgliedstaaten des Ostblocks. Der sog. Aufbau des Sozialismus wurde durch die SED auf ihrer 2. Parteikonferenz 1952 offiziell proklamiert. Die Wirtschaftsziele des sozialistischen Aufbaus wurden im Fünfjahresplan 1951-1955 festgelegt. Zu den Grundlagen der Wirtschaftspolitik gehörte, den Anteil der Volkseigenen Betriebe (VEB) erheblich auszubauen. Die Arbeitsproduktivität sollte deutlich erhöht werden. Die weitere Entwicklung orientierte auf den bevorzugten Ausbau der Schwerindustrie und verursachte damit aus ideologischen Gründen Engpässe bei der Versorgung der Bevölkerung. Schwerwiegender war, daß trotz fehlender Rohstoffe und Produktionsanlagen der Aufbau einer eigenen Schwerindustrie in den Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik rückte. 1952 setzte eine neue Welle der ideologischen Indoktrination verbunden mit ideologischem und polit. Druck auf die Menschen ein, indem der Stalinismus (-»-Totalitarismus) in Partei und Staat durchgesetzt worden ist. Die SED schuf sich unter solchen Voraussetzungen einen Kreis von stalinistisch geschulten Funktionären, die nicht nur innerhalb der Partei, sondern überall in Staat und Gesellschaft entscheidende Positionen besetzten. Die Kriterien der stalinistischen SED für die sog. Kaderarbeit, d.h. die ideologische Ausrichtung und Treue zur SED-Politik waren dabei gegenüber der fachlichen Eignung von entscheidender Bedeutung. Zum gleichen Zeitpunkt wurden die ohnehin bereits bedeutungslosen und gleichgeschalteten Länder aufgelöst; sie machten 14 Bezirken Platz. Die Länderkammer der DDR, die im polit. System der DDR weder vor der Auflösung der Länder und noch weniger danach eine tatsächliche Bedeutung hatte, wurde dagegen erst 1958 abgeschafft. Der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 (-> Tag der Deutschen Einheit) zeigte an, daß das Regime der SED in der Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt auf ebenso verbreitete wie entschiedene Ablehnung
DDR stieß. Der Aufstand wurde mit Hilfe sowjetischer Truppen niedergeschlagen. Der Tod Stalins und der Aufstand des 17. Juni 1953 zwangen die SED zu einem flexibleren Kurs, sie setzte jedoch ihre auf das sowjetische Modell orientierte Politik konsequent fort. Im Gegensatz zu anderen Ostblockstaaten wurde eine Entstalinisierung nur formal betrieben. Von 1956 an erfolgte ein verschärfter Kurs der Sozialisierung des Mittelstandes durch Gründung von Produktionsgenossenschaften des Handwerks, staatl. Beteiligungen an den restlichen privaten Betrieben und im Handel. Gleichzeitig verstärkte sich die wirtschaftl. Integration in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW bzw. COMECON). Im Jahre 1960 war mit dem sog. sozialistischen Frühling die Kollektivierung der Landwirtschaft im wesentlichen unter Anwendung erheblicher Zwangsmittel abgeschlossen. Die Abriegelung OstBerlins durch den Mauerbau im Jahre 1961 beendete die Massenflucht der Bewohner der DDR in die -> Bundesrepublik Deutschland. Kollektivierung der Landwirtschaft und Berliner Mauerbau galten als Zeichen des Sieges der sozialistischen Revolution und der Voraussetzung für den „Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse" in der DDR. Die Mitgliedschaft der DDR im Rat ftlr gegenseitige Wirtschaftshilfe und im Warschauer Pakt führte zur Situation, daß sie von einem sowjetischen „Satellitenstaat" immer mehr zum Juniorpartner der östlichen Führungsmacht aufstieg. Im Jahre 1955 wurde ihr die —» Souveränität zuerkannt, abgesehen von Angelegenheiten, die den Zugang nach West-Berlin betrafen. Nach dem „Gesetz zur Ergänzung der Verfassung" vom 26.9.1955 wurde die Nationale Volksarmee (NVA) aufgestellt. Zunächst bestand keine allgemeine -» Wehrpflicht, diese wurde erst im Jahre 1962 eingeführt wurde. 1955 trat die DDR dem Warschauer Pakt bei. Der 1957 abgeschlossene Vertrag über die Stationierung sowjetischer Truppen in der DDR
DDR begründete die fortgesetzte Anwesenheit einer unverhältnismäßig großen Zahl von sowjetischen Soldaten. Nach dem Tode des ersten Staatspräsidenten Pieck wurde im Jahre 1960 der -> Staatsrat der DDR als kollektives Organ an der Spitze des Staates eingerichtet, dessen Vorsitz W. Ulbricht übernahm. Nach Ulbricht (bis 1973) standen an der Spitze des Staatsrates W. Stoph (1973-1976) und E. Honekker (1976-1989). Für wenige Wochen folgte 1989 E. Krenz in der Phase des Zusammenbruchs der DDR. 4. Zweistaatentheorie und Grundlagenvertrag Ab 1963 kehrte sich die Dtld.politik der DDR von einer mit teilw. großem Propagandaaufwand betriebenen Wiedervereinigungsagitation zur Zweistaatentheorie, die fortan die wesentliche Komponente der Dtld.politik und der —> Außenpolitik der DDR war. 1968 wurde eine neue Verfassung mit sozialistischem Charakter in Kraft gesetzt. Während inihr noch von einem „sozialistischen Staat deutscher Nation" die Rede war und im Art. 8 noch eine gesamtdeutsche Perspektive vorhanden war, wurden im Zusammenhang mit der Revision dieser Verfassung im Jahre 1974 alle Bezugnahmen auf eine gemeinsame dt. —> Nation gestrichen. Die Verfassung enthielt im Art. 1 den Führungsanspruch der SED als Verfassungsgrundsatz. Bürgerl. Rechte und Freiheiten fanden sich zwar im Verfassungstext garantiert, sie waren aber an die sozialistischen Grundsätze und Ziele gebunden. Dies bedeutete, daß die sozialistischen Staats- bzw. Gesellschaftsziele den —> Grundrechten gegenüber übergeordnet waren. In der polit, und gesellschaftl. Praxis der DDR spielte die Verfassung bis zur Wendezeit 1989 kaum eine Rolle. Ihre Bestimmungen waren im polit. System der DDR nicht einklagbar und bis zur Krise der DDR im Jahre 1989 dem Interpretationsmonopol der SED vorbehalten. Das im gleichen Jahre eingeführte neue Strafgesetzbuch enthielt ein polit. Strafrecht, das derartig umfassend und allgemein definiert war, daß jegliche
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DDR Opposition mit jurist. Mitteln verfolgt werden konnte. Es war damit ein jederzeit gegen wirkliche oder vermeintliche polit. Gegner einsetzbares Instrumentarium vorhanden, das nach Bedarf zu aktivieren war. Die DDR gehörte zu den entschiedensten Gegnern des Reformkommunismus in der Tschechoslowakei im Jahre 1968. Sie beteiligte sich am Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes zur Niederschlagung des Reformkurses in der Nachbarrepublik, was auch innerhalb der DDR zu innenpolit. Verhärtungen und zu einer schrittweisen Zurücknahme der Wirtschaftsreformen von 1963 führte. Im Jahre 1971 wurde W. Ulbricht gestürzt. An die Spitze der SED und des Staates trat E. Honecker, Ulbricht wurde im November 1971 als Staatsratsvorsitzender wiedergewählt. Es wurden erhebliche Korrekturen an den inneren polit. Richtlinien vorgenommen. Kernstück wurde die Wohnungspolitik. In der Folge entstanden tatsächlich eine Vielzahl von Plattenbausiedlungen mit modernen Minimalstandards, gleichzeitig aber verfielen v.a. die Innenstädte und Dörfer in einem immer schnelleren Maße. Bei vollständiger Eingliederung der männlichen Bevölkerungsanteils in das Arbeitsleben und einem außerordentlich hohen Frauenanteil an der berufstätigen Bevölkerung wurde der Betrieb, das sog. Arbeitskollektiv, zum Mittelpunkt und Bezugspunkt nicht nur des beruflichen, sondern auch des gesellschaftl. und kulturellen Lebens für die meisten DDR-Bewohner ebenso wie für deren ideologische Beeinflussung. Im Rahmen der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Regierung der BRD kam es im Jahre 1971 zum Viermächteabkommen über Beri, und 1972 zum Abschluß des Grundlagenvertrages zwischen der DDR und der BRD. Infolge des Grundlagenvertrages wurde die DDR von fast allen Staaten international anerkannt und beide dt. Staaten in die -> Vereinten Nationen aufgenommen. Die DDR verfolgte gleichzeitig eine Politik verstärkter Abgrenzung zur BRD und unternahm bis hin zu um-
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DDR fangreichen Namensänderungen große Anstrengungen, um die Bezeichnung „deutsch" aus dem Sprachgebrauch zu eliminieren, sofern das Wort auf gesamtdeutsche Erscheinungen, Institutionen usw. hindeutete. In diesem Sinne wurde im Jahr 1974 auch die Verfassung geändert. 4. Zusammenbruch der DDR und Deutsche Einheit Nach einigen zeitweiligen Verbesserungen der Lebenslage der Bevölkerung und der wirtschaftl. Stabilisierung geriet die DDR in den 80er Jahren verstärkt in wirtschaftl. Schwierigkeiten. Mit der Unterzeichnung der KSZESchlußakte von Helsinki (-> KSZE) bekam die DDR-Führung darüber hinaus innenpolit. Probleme, da oppositionelle Gruppen sich auf die dort niedergeschriebenen -» Menschenrechte beriefen. Friedens- und Abrüstungsinitiativen waren Anlaß für die Gründung von Friedensgruppen innerhalb der Kirchen, die nicht mehr von der SED zu steuern waren. Die Reformpolitik des sowjetischen Generalsekretärs Gorbatschow erlangte in der Bevölkerung der DDR bis in die SED hinein zunehmende Sympathien. Gleichzeitig blockte die SED-Führung alle Forderungen nach wirklichen Reformen ab. Statt dessen verstärkte sie den Represssions- und Überwachungsapparat. Der Staatssicherheitsdienst war nach 1953 erheblich ausgebaut worden und erreichte 1983 einen Personalbestand von 85.000 hauptamtlichen Mitarbeitern. Dazu kam noch eine stetig wachsende Zahl von inoffiziellen Mitarbeitern. - Man schätzt die Zahl auf etwa 200.000 bis 250.000 -> Gauck-Behörde - Die ständig zunehmenden Probleme des wirtschaftl. Niedergangs wurden von der SED-Führung weiter ignoriert. Schwankend zwischen zunehmend größeren wirtschaftl. Problemen und der Weigerung, i.S. von Gorbatschows Politik eine polit. Kurskorrektur vorzunehmen, wurde die DDR in der 2. Hälfte der 80er Jahre zunehmend nach innen handlungsunfähiger, und das Regime verlor an Akzeptanz der Bevölke-
DDR rung. Im Verlaufe des Jahres 1989 erwies sich die DDR-Führung angesichts der sich rasch zuspitzenden Krise des Staates und der Gesellschaft als handlungsunfähig und realitätsfern. Den anschwellenden Fluchtbewegungen besonders über Ungarn, das seine Grenze nach Öst. geöffnet hatte, und die -> Botschaften der BRD (Prag, Warschau) sowie der sich ausweitenden und vertiefenden Opposition im Innern hatte die SED-Führung nichts mehr entgegenzusetzen, da sie von der Sowjetunion unter Gorbatschows Führung keine militärische Unterstützung erhielt, um die Oppositionsbewegung gewaltsam zu unterdrücken. Die einsetzenden Demonstrationen immer größerer Teile der Bevölkerung der DDR führten schließlich im Oktober / November 1989 zum Zusammenbruch des SED-Regimes. Am 9.11. 1989 fiel die innerdeutsche Grenze. Die friedliche Revolution in der DDR brachte zunächst neue Demokratieformen (-> Runder Tisch) hervor und erzwang die Einsetzung einer Obergangsregierung unter H. Modrow (SED), die für das Frühjahr 1990 die einzigen freien Wahlen in der Geschichte der DDR zur Volkskammer vorbereitete. Aus den Wahlen ging die „Allianz für Dtld", ein Wahlbündnis unter Führung der —> CDU, als Sieger hervor. Erster (und einziger) freigewählter Ministerpräsident wurde L. de Maizière (CDU). Unter großem Druck der Bevölkerung der DDR und unter günstigen außenpolit. Bedingungen wurde der Prozeß der Wiedervereinigung Dtld. s rasch vorangetrieben. Im Februar 1990 wurden im Ergebnis von sog. Zwei+VierGesprächen (beide dt. Staaten sowie die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich) die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung geschaffen. Am 12.9.1990 wurde in Moskau der Vertrag unterzeichnet, der die äußeren Aspekte der —> Deutschen Einheit regelte (Zwei+Vier-Vertrag) und dem vereinigten Dtld. seine Souveränität zurückgab. Nach der Herstellung notwendiger innerer Voraussetzungen in der DDR (freie Wah-
Deutsche Einheit len, freiheitlich-demokrat. Rechtsstaat, Verfassungsänderungen) wurde am 1.7. 1990 die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vollzogen. In den folgenden Wochen wurde der sog. Einigungsvertrag ausgehandelt, der die Grundlage für die Wiedervereinigung bildete. Die Herstellung der staatsrechtl. Einheit Dtld.s erfolgte am 3.10.1990 auf der Grundlage des Art. 23 des - » Grundgesetzes der BRD. Danach traten die inzwischen wieder eingerichteten Länder der DDR, - » Brandenburg, —> Mechlenburg-Vorpommern, —» Sachsen, -> Sachsen-Anhalt und Thüringen zur BRD bei. Ost-Berlin vereinigte sich mit West-Berlin zum Bundesland Beri. Lit.: Enquete - Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Dtld.", 18 Bde., Baden-Baden 1995; C. Kleßmann: 2 Staaten, eine Nation. Dt. Geschichte 1955-1970, Bonn 1997; H. Weber: Aufbau und Fall einer Diktatur, Köln 1991; ders.: Die DDR 1945-1986, München 1988.
Mathias Tulbier Deutsche Einheit I. staatsrechtlich 1. Der zeitgeschichtl. Hintergrund Die Vollendung der staatl. Einheit Dtld.s am 3.10.1990 und damit das Ende von über 40 Jahren Zwei-Staatlichkeit wurde durch ein glückliches Zusammenspiel innerdeutscher und internationaler Umstände ermöglicht. Die Überwindung des OstWest-Konfliktes, in den die dt. Frage seit 1945 eingefügt war, wurde namentlich durch die Reformpolitik des sowjetischen Staats- und Parteichefs Gorbatschow, die bündnispolitisch in den Widerruf der sog. Breschnew-Doktrin mündete, begünstigt. Diese Selbstbeschränkung der UdSSR wurde zunächst von Ungarn genutzt: es räumte humanitären Erwägungen den Vorrang gegenüber bündnispolit. Verpflichtungen ein, als es im Spätsommer 1989 die Ausreise von DDR-Flüchtlingen nach Öst. ermöglichte. Der Druck, der durch die steigende Anzahl von Flüchtlingen aus der —> DDR und Demonstranten in der DDR ausgelöst wurde, kulminierte
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Deutsche Einheit in der Öffnung der Mauer am 9.11.1989 durch die DDR-Regierung. In der Folgezeit wandelte sich der bisher vorrangig auf —> Demokratie im eigenen Staat orientierte Protest der Bevölkerung in der DDR („Wir sind das Volk") in einen Ruf nach Vereinigung Dtld.s („Wir sind ein Volk"). Die auf den 18.3.1990 vorgezogenen Volkskammerwahlen boten den Dt. in der DDR die Gelegenheit, diesem Willen Parlament. Ausdruck zu geben. Die -» Parteien, die sich für eine rasche Vereinigung auf der Basis des Art. 23 GG ausgesprochen hatten, gingen aus diesen Wahlen als klarer Sieger hervor. Im Westen wurde diese Vereinigung entscheidend durch die offene Unterstützung von Seiten der USA sowie das deutliche Signal der -> Bundesregierung begünstigt, das vereinigte Dtld. in den Prozeß einer Vertiefung der —» europäischen Integration einfügen zu wollen. Im Osten bereitete namentlich der Abbau konfrontativer zugunsten kooperativer Sicherheitssstrukturen in Europa sowie die zentrale Rolle der BRD bei der Unterstützung des Umbaus der zentralplanwirtschaftl. Volkswirtschaften - mit der Perspektive einer Einbindung in den europ. Integrationsverbund - den Weg zur Akzeptanz der dt. Einigung. 2. Der Weg zur staatl. Vereinigung Auch wenn die Entscheidung für einen raschen Beitritt nach Art. 23 GG, wie sie in den Ergebnissen der Volkskammerwahl zum Ausdruck kam, die vollständige Übernahme des rechtsstaatl. Besitzstandes der alten - » Bundesrepublik Deutschland durch die DDR nahelegte, galt es vor dem Hintergrund der Folgen von 4 Jahrzehnten staatl. und gesellschaftl. Teilung, flexible rechtl. Regelungen zumindest für eine Übergangsphase des Zusammenwachsens der beiden Teile Dtld.s zu schaffen. Diesem Ziel diente zunächst der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen den beiden dt. Staaten vom 18.5.1990. Dessen Kernelement war die Errichtung einer Währungsunion mit einem einheitlichen
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Deutsche Einheit Währungsgebiet und der Dt. Mark als gemeinsamer Währung zum 1.7.1990. Die dabei gewählten Umstellungskurse sollten sich in den Folgejahren als kritisch für das Überleben von Betrieben in der früheren DDR erweisen. Der Vertrag legte ferner die soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien fest. Schon durch diesen Vertrag wurde eine fast vollständige Übernahme des Wirtschaftsrechts der BRD durch die DDR bzw. die Verpflichtung vereinbart, handels-, arbeits- und sozialrechtl. Bestimmungen der DDR an die geltenden Bestimmungen in der BRD anzupassen. Nachdem die beiden dt. Staaten am 3.8.1990 einen Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdt. Wahlen des —> Deutschen Bundestages unterzeichnet und die -> Volkskammer am 23.8.1990 den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des —> Grundgesetzes gem. Art. 23 GG zum 3.10.1990 beschlossen hatte, regelte der Vertrag über die Herstellung der Einheit Dtld.s, der sog. Einigungsvertrag (EV) vom 31.8.1990, die Voraussetzungen und Folgen dieses Beitritts. Hinsichtlich der Wirkung des Beitritts wurde zunächst bestimmt, daß die durch das Ländereinfuhrungsgesetz der DDR vom 22.7.1990 wiedererrichteten Länder —> Brandenburg, -»· Mecklenburg·Vorpommern, —> Sachsen, —> Sachsen-Anhalt und —> Thüringen —> Länder der BRD werden. Das GG, das mit dem Wirksamwerden des Beitritts in den 5 neuen Ländern und im Ostteil - » Berlins in Kraft trat, wurde beitrittsbedingt geändert. Der Art. 23 GG wurde aufgehoben, da er mit der Erfüllung des Wiedervereinigungsgebotes gegenstandslos geworden war. Neu aufgenommen wurde ein Art. 143 GG, der eine grds. befristete Fortgeltung verfassungswidrigen Rechts in dem Gebiet der 5 neuen Länder und OstBerlins vorsah. Regelungen von Vermögensfragen in und auf Grund von Art. 41 EV sollten demgegenüber zeitlich uneingeschränkt auch insoweit Bestand haben,
Deutsche Einheit als sie vorsehen, daß Eingriffe in das Eigentum auf diesem Gebiet nicht mehr rückgängig gemacht werden. In diesem Zusammenhang verdient eine gemeinsame Erklärung der Regierungen der beiden dt. Staaten vom 15.6.1990 Beachtung, in der festgestellt wurde, daß die Enteignungen auf besatzungsrechtl. bzw. besatzungshoheitlicher Basis (1945 bis 1949) nicht mehr rückgängig zu machen seien. Ob diese Gemeinsame Erklärung eine Voraussetzung für den Abschluß des sog. 2+4-Vertrages darstellte, ist umstritten. Hinsichtlich der -> Finanzverfassung wurde in Art. 7 EV zwar die grundsätzliche Einbeziehung des Beitrittsgebietes in die Finanzordnung des GG bestimmt; allerdings sah die Regelung zugleich Übergangsregelungen - gestaffelt bis zum 31.12.1996 - vor. Damit sollte besonderen Obergangsproblemen im Bereich der vertikalen Steuerverteilung und der Bedeutung des Fonds „Deutsche Einheit" für einen steuerkraftbezogenen Umsatzsteuerausgleich sowie einem —• Länderfinanzausgleich Rechnung getragen werden. Gem. der für die Rechtsangleichung zwischen den beiden Teilen Dtld.s zentralen Bestimmung des Art. 8 EV trat im Interesse schnellstmöglicher Rechtseinheit und -klarheit mit dem Wirksamwerden des Vertrages im Beitrittsgebiet -> Bundesrecht grds. vollständig in Kraft. Ausnahmen und Anpassungsregelungen enthält Anlage I EV. Recht der DDR bleibt nach den Maßgaben des Art. 9 EV in Kraft. Voraussetzungen sind dafür insbes. seine Vereinbarkeit mit dem GG, dem Bundesrecht und unmittelbar geltendem -> Europarecht Soweit es sich nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung nicht um —> Landesrecht handelt, ist das fortgeltende DDR-Recht abschließend in Anlage Π EV aufgeführt. Art. 10 EV regelte die Geltung des primären und sekundären —> Europäischen Gemeinschaftsrechts im Beitrittsgebiet. Darüber hinaus enthielt der Einigungsvertrag insbes. auch Grundprinzipien über das Schicksal der Völkerrecht!. Verträge der BRD (Fortgeltung
Deutsche Einheit entsprechend dem Grundsatz der beweglichen Vertragsgrenzen) und der DDR (kein generelles Erlöschen, sondern Erörterung mit den Vertragsparteien, um Fortgeltung, Anpassung oder Erlöschen zu regeln). 3. Die völkerrechtl. Absicherung der Vereinigung Parallel zu den Verhandlungen über den Einigungsvertrag fanden die sog. 2+4-Verhandlungen über die äußeren Aspekte der Vereinigung Dtld.s statt. Dieser Rahmen gewährleistete die Gleichrangigkeit der beiden dt. Staaten neben den Vier Mächten (USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich), anerkannte das volle Selbstbestimmungsrecht des dt. Volkes in Bezug auf das „Ob" der dt. Einigung und sicherte schließlich die Möglichkeit schneller Verhandlungserfolge, mit der bei Friedensvertrags-Verhandlungen unter Beteiligung sämtlicher Kriegsgegner des Dt. Reiches nicht hätte gerechnet werden können. Im Ergebnis intensiver Reise- und Konferenzdiplomatie gelang es, am 12.9.1990 den Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Dtld. zwischen den beiden dt. Staaten und den Vier Mächten, den sog. 2+4Vertrag, zu unterzeichnen. Wesentliche Bestandteile dieses Vertrages sind a) die territoriale Beschränkung des vereinten Dtld. s auf das Gebiet der BRD, der DDR und Berl.s, b) der Verzicht des vereinten Dtld.s auf Gebietsansprüche, c) sein Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen, d) die Verpflichtung der BRD zur Reduzierung der Streitkräfte des vereinten Dtld.s auf eine Personalstärke von 370.000 Mann binnen 3 bis 4 Jahren, e) das Verbot, ausländische Streitkräfte und Atomwaffen oder deren Träger im Gebiet der ehemaligen DDR zu stationieren oder sie dorthin zu verlegen J) die Abwicklung des Abzugs der sowjetischen Streitkräfte aus dem Gebiet der früheren DDR bis Ende 1994, g) die volle —> Souveränität des vereinten Dtld.s über seine inneren und äußeren Angelegenheiten, einschließl. der freien Wahl der Bündniszugehörigkeit und h)
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Deutsche Einheit die Beendigung der Vier-Mächte-Rechte und Verantwortlichkeiten. In das Vertragsgeflecht, das der völkerrechtl. Absicherung der dt. Vereinigung galt und durch das der Wunsch nach einer Wahrung der polit, und wirtschaftl. Integration des nunmehr vereinten Dtld.s in die -> EG und die -> NATO mit den Interessen der östlichen Nachbarn, insbes. der UdSSR, sowie der Verpflichtung des vereinten Dtld.s aus der histor. Verantwortung, die ihm aus den Schrecken der NS-Gewaltherrschaft (-» Nationalsozialismus) erwuchs, kompatibel gemacht wurden, sind namentlich Abkommen mit Polen und der UdSSR eingebunden, die z.T. im 2+4-Vertrag vorgesehen sind, z.T. Ergebnis der bilateralen Übereinkunft sind, die Bundeskanzler Kohl und der sowjetische Präsident Gorbatschow am 15./16.6.1990 erzielt hatten, als der sowjetische Widerstand gegen eine NATOMitgliedschaft des vereinten Dtld.s aufgegeben wurde: Am 9.10.1990 schlössen die BRD und die UdSSR ein Abkommen über einige überleitende Maßnahmen, das insbes. die finanziellen Fragen im Zusammenhang mit dem befristeten Aufenthalt und dem Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der früheren DDR zum Gegenstand hatte. Die BRD stellte danach der UdSSR insg. zu diesem Zweck 13,2 Mrd. DM zur Verfügung. 3 Tage später schlössen die gleichen Parteien den im 2+4-Vertrag vorgesehenen Truppenabzugsvertrag, am 9.11.1990 einen Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit. Am 14.11.1990 schließlich schlössen die BRD und Polen den im 2+4-Vertrag vorgesehenen Grenzvertrag, der die zwischen Dtld. und Polen bestehende Grenze bestätigte. Damit waren die Regelungsaufträge des 2+4-Vertrages erledigt, der am 15.3.1991 in Kraft trat. Lit.: Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der BRD und der DDR v. 18.5.1990, BGBl. II S. 537; Vertrag zwischen der BRD und der DDR über die Herstellung der Einheit Dtld.s - Eini-
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Deutsche Einheit gungsvertrag - v. 31.8.1990, BGBl. II S. 889; Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Dtld. v. 12.9.1990, BGBl. II S. 1318; JA. Frowein / J. Isensee / C. Tomuschat u.a..: Dtld.s aktuelle Verfassungslage, Berlin 1990; HdbStR VIII; K. Stern / B. Schmidt-Bleibtreu (Hg.): Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschallsund Sozialunion, München 1990; dies.: Einigungsvertrag und Wahlvertrag, München 1990; dies.: Zwei-plus-Vier-Vertrag, München 1991; P. Zelikow / C. Reeze: Sternstunde der Diplomatie, Berlin 1997.
Jörg Ukrow Deutsche Einheit IL historisch-politisch 1. Histor. - völkerrechtl. Der am 8.5.1945 entschiedene Sieg über Hitlerdtld. (—» Nationalsozialismus) brachte Dtld. in eine so in der dt. Geschichte noch nie dagewesene Situation. In allen Dimensionen des Völkerrechts, die für eines seiner Subjekte maßgebend sind - —> Staatsgewalt, —> Staatsgebiet, —> Staatsvolk - hatte die Hitlerregierung die Deutschen ins Niemandsland manövriert. Die Staatsgewalt in Gestalt der militärischen Führung konnte nur noch die Kapitulationsurkunde unterzeichnen. Es war, wie die Allianz der Hitlergegner es verlangt und durch ihren militärischen Sieg auch durchgesetzt hatte, eine bedingungslose Kapitulation, d.h. eine Kapitulation, über deren Bedingungen und Inhalte auf dt. Seite niemand würde mitzureden haben. Die Unterzeichner der Kapitulationsurkunde wurden ebenso wie die übrigen Naziführer, so wie es Art. 11 der Erklärung über die Übernahme der obersten Regierungsgewalt vom 5.6.1945 anordnet, festgenommen, weil sie im Verdacht standen, Kriegs- oder ähnliche Verbrechen begangen oder ihnen Vorschub geleistet zu haben. Die einzig mögliche Konsequenz aus dieser Situation konnte nur die Übernahme der Regierungsgewalt in Dtld. durch die im - » Alliierten Kontrollrat zusammengeschlossenen Siegermächte sein. Daß die Bedingungen der bedingungslosen Kapitulation auch noch für den Fall weitergelten soll-
Deutsche Einheit ten, daß eine wieder von den Deutschen verwaltete Zentralgewalt existieren sollte, erkennt man daran, daß das —> Potsdamer Abkommen vom 2.8.1945, das im Blick auf andere, nichtdeutsche Länder wie Italien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland durchaus von künftigen Friedensverträgen spricht, mit Bezug auf Dtld. nur eine „friedliche Regelung" ankündigt, die von einer zu diesem Zweck gebildeten Regierung lediglich angenommen, nicht etwa ausgehandelt werden kann (Teil Π, Ziffer 3). Von einem Friedensvertrag wurde erst dann wieder gesprochen, als die Spannungen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion einen solchen Vertrag als Instrument außenpolit. Druckes brauchbar erscheinen ließen. Was das einheitliche Staatsgebiet des ehemaligen Dt. Reiches anbelangt, so verstand sich von selbst, daß die vor und im Krieg unter Völkerrechtsbrüchen zustandegekommenen Annektionen hinfällig waren. Aber was bedeutet das für das zusammenhängende dt. Staatsgebiet? Das Protokoll über die Besatzungszonen, das, schon am 12.9.1944 in London formuliert, aber erst nach Kriegsende am 7./8.5.1945 mitsamt der berühmten ihm beigefügten Landkarte in Kraft gesetzt wurde, enthält die in der Nachkriegspolitik, v.a. den Auseinandersetzungen um die dt. Ostgrenze häufig zitierte Formel von den Grenzen, „wie sie am 31.12.1937" bestanden, d.h. vor dem Anschluß Öst.s und dem Beginn der Hitlerschen Okkupation in Ostmitteleuropa. Aber schon das Postdamer Protokoll (Kapitel IX und ΧΙΠ) faßt eine Neuregelung über die Westgrenze Polens ins Auge, die freilich einer künftigen Friedenskonferenz vorbehalten bleiben soll. Aber das Kapitel über die Aussiedlung der Deutschen in den unter polnischer Verwaltung stehenden pommerschen und schlesischen Gebieten des ehemaligen dt. Reiches läßt darauf schließen, wie diese Regelung ausfallen soll. Das dt. Staatsgebiet nach 1945 war also in der Tat vorläufiger Natur. Aber nicht etwa - wie von interessierter Seite immer wie-
Deutsche Einheit der behauptet worden ist -, weil der Stichtag der Grenzen vom 31.12.1937 das Programm für die endgültige Festlegung angeben sollte. Dieser Stichtag ist alleine gewählt für die Festlegung der Besatzungszonen, wie ein Blick in das zitierte Protokoll lehrt. Die Vorläufigkeit des Staatsgebietes meint nicht etwa die Möglichkeit einer Revision der Kriegsfolgen, sondern lediglich die noch ausstehende Einigung der Siegermächte mit anderen betroffenen Völkern. Und wie steht es um das Staatsvolk des besiegten Dtld.s? Es war durch die NSRegierung in die Rechtlosigkeit geführt worden, so daß einzig und allein das von dieser Regierung ständig gebrochene Völkerrecht wie die —> Haager Landkriegsordnung ihm einen Schutz gewähren konnte, ein Schutz, der angesichts des angestauten Hasses und des Zusammenbruchs aller öffentl. Ordnung weithin ausblieb, wie die aus Polen und der Tschechoslowakei vertriebenen Deutschen zu spüren bekamen. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß die Gewalttaten an wehrlosen Sudetendeutschen genauso völkerrechtswidrig waren wie alles, was in Theresienstadt oder gar Lidice geschah. Aber man muß an folgendes erinnern: Wenn jahrelang von den Deutschen als Herrenrasse nicht nur geredet, sondern in dem ganzen von ihm beherrschten Europa als Herrenrasse dementsprechend gehandelt wird, dann fallen die Folgen solchen Tuns auf alle Mitglieder dieser „Herrenrasse" zurück ohne alles Ansehen der Person und ohne Rücksicht auf persönliche Schuld oder Unschuld. Genau dieser Unterschied war ja von der NS-Herrschaft so radikal wie noch nie in der Geschichte liquidiert worden. Es ist darum nur konsequent, wenn das Potsdamer Protokoll über das Staatsvolk der Deutschen eine Gesamthaftung, nicht Gesamtverurteilung - verhängt: „...das dt. Volk fängt an, die furchtbaren Verbrechen zu büßen, die unter der Leitung derer, welche es z.Z. ihrer Erfolge offen gebilligt hat, und denen es blind
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Deutsche Einheit denen es blind gehorcht hat, begangen wurden." Für die Frage nach den völkerrechtl. Voraussetzungen der dt. Einheit nach 1945 ist es also viel wichtiger sich klarzumachen, daß Dtld. 1945 aus einem Weltkrieg kam, der es ohne eine Staatsmacht hinterließ, die einen Friedensvertrag hätte abschließen können; mit einem Staatsgebiet, dessen Grenzen von den Siegermächten und betroffenen Nachbarn abhingen und mit einem Staatsvolk, dessen Einheit gerade in seiner Gesamthaftung für die in seinem Namen und Interesse begangenen Verbrechen bestand - als der vielerörterten Frage nach der völkerrechtl. Kontinuität eines dt. Staates nachzugehen. Die 4 Siegermächte haben diese Frage als offenkundig gegenstandslos und durch die Übernahme der Regierungsgewalt durch sie als beantwortet gar nicht erst gestellt. Sie beschränkten sich darauf zu erklären, daß sie das dt. Staatsgebiet, soweit es unter ihrer Verwaltung stand, nicht annektieren und die Deutschen nicht versklaven, sondern in die völkerrechtl. Normalität, von der sie sich so radikal losgesagt hatten, zurückführen wollen. Das war freilich ein so schwieriges Unterfangen, daß es sehr bald zu einer Differenzierung, ja zu Gegensätzen bei der Durchführung eines Programmes kam, das sich schon am Ende der 40er Jahre als viel zu abstrakt erwies, um gemeinsam realisiert werden zu können. Es begann jenes Interregnum, in dem jede der beiden Seiten des Kalten Krieges mit ihrem dt. Partner völkerrechtl. Beziehungen eigener Art unterhielt, nachdem im Jahre 1949 auf westlicher wie östlicher Seite die Besatzungsgebiete sich Verfassungen gegeben und sich als Staaten organisiert hatten. Für die —» Bundesrepublik Deutschland sah das so aus, daß die 3 Westalliierten ihr im - » Deutschland vertrag vom 26.5. 1952 durch Aufhebung des Besatzungsstatuts und die Auflösung des Hohen Kommissariates und seiner untergeordneten Dienststellen volle —• Souveränität über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten
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Deutsche Einheit erteilten. Die wurde lediglich durch einen freilich für die Frage der dt. Einheit höchst belangvollen Vorbehalt über den Verbleib alliierter Truppen in -> Berlin und im Bundesgebiet eingeschränkt (Art. 2 des Vertrages). Denn dieser Vorbehalt wird mit dem Ausstehen einer Wiedervereinigung der beiden Teile Dtld. s im Rahmen einer friedensvertraglichen Regelung begründet. Ganz analog verführ die Sowjetunion gegenüber der -> DDR. Der Vertrag zwischen der DDR und der UdSSR vom 20.9.1955 legt fest, daß die wechselseitigen Beziehungen „auf völliger Gleichberechtigung, gegenseitiger Achtung der Souveränität und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten" (Art. 1 des Vertrages) beruhen. Aber auch hier folgt (Art. 4) eine Regelung über den Verbleib der „zeitweilig auf dem Gebiet der DDR stationierten sowjetischen Truppen". Auch die sowjetische Seite bedient sich in diesem Zusammenhang des Sprachgebrauchs von einer „friedensvertraglichen Regelung" mit der Aussicht auf „Wiederherstellung der Einheit Deutschlands." Interessanter Weise enthält der Vertrag zwischen der DDR und der BRD keinerlei Hinweise auf die besondere Situation in Beri, und die dort weiter wirksame 4Mächte-Kontrolle. Ein sicheres Zeichen für die Verschiedenheit der Auffassung in dieser Sache, die bei den Westalliierten auf der einen und der UdSSR auf der anderen Seite bestanden. Um so bedeutsamer gerade für den völkerrechtl. Aspekt der dt. Einheit ist es geworden, daß trotz aller Konfrontation während des kalten Krieges bis hin zum Mauerbau von 1961 in Beri, immer ein Rest der Anti-Hitlerkoalition erhalten blieb: das sichtbarste geschichtl. Symbol dafür, daß die Einigung Dtld.s aufgehört hatte, eine rein innerdeutsche Angelegenheit zu sein und darum unter keinen Umständen allein auf der Grundlage der Kontinuitäten der Zeit vor 1945 herbeigeführt werden konnte. Bestätigt hat sich das alles in Gestalt der 2+4-Vertrages, der samt seinen Anhängen
Deutsche Einheit (2 Erklärungen, eine der Bundesregierung, eine der frz. Regierung und ein gemeinsamer Brief der beiden dt. Regierungen) einerseits jene Regelung ist, die in den zitierten Texten als „friedensvertragliche Regelung" angekündigt worden war, andererseits sich aber sehr weit von allem entfernt, was unter einem herkömmlichen Friedensvertrag verstanden wird mit Grenz-, Reparations- und Entschädigungsregelungen. Schon das unterscheidet diesen Vertrag von dem, was die Nachkriegsprotokolle und -Übereinkünfte ins Auge faßten, daß es auf dt. Seite 2 Regierungen waren, die den Vertragsschluß vorbereiteten und ausführten. 2 frei gewählte Regierungen, weil in der DDR nicht durch Vereinbarungen der Siegermächte, sondern durch eine friedliche Revolution die Voraussetzung für freie Wahlen geschaffen worden waren. Eine weitere Besonderheit dieses Vertrages ist allerdings, daß er in seinen Erwägungsgründen nicht nur auf die Charta der -> Vereinten Nationen Bezug nimmt, sondern auch auf den 1975 eröffneten Helsinkiprozeß fllr eine Friedensordnung in Europa. Darum wird die Bestätigung des endgültigen Charakters der Grenzen des vereinten Dtld. zum wesentlichen Bestandteil der Friedensordnung in Europa erklärt (Art. 1, 2+4-Vertrag). Es soll nicht vergessen werden, daß es v.a. der Wille der freigewählten Volkskammer der DDR war, die unter Bedingungen der kommunistischen Diktatur 1950/51 zustandegekommenen Oder-Neiße-Vereinbarungen nicht einfach zu legalisieren, sondern in den Rahmen dieser neuen europ. Friedensordnung freier und selbstbestimmter Völker zu stellen. Für nicht minder wichtig sind 2 andere Festlegungen anzusehen. Beide beziehen sich auf Verfassungsbestimmungen des geeinten Dtld.; die Integration in eine europ. Friedensordnung hat zur Konsequenz, daß das vereinte Dtld. sich verpflichtet, keine Waffen jemals einzusetzen, es sei denn in Übereinstimmung mit seiner Verfassung und der Charta der
Deutsche Einheit Vereinten Nationen (Art. 2 des 2+4 Vertrages). Also stellt diese Verpflichtung zugleich eine Interpretationsnorm der entsprechenden Grundgesetzartikel dar. Der bisweilen geäußerten Ansicht, der gesamte 2+4-Vertrag sei durch den Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 obsolet geworden, kann man nicht beipflichten. Denn das gleiche könnte wegen des Betritts der DDR zur BRD gefolgert werden. Aber obwohl dieser Beitritt bei Vertragsabschluß am 12.9.1990 unmittelbar bevorstand, hat niemand gemeint, den Vertragsinhalt als gefährdet ansehen zu müssen. Dann muß dasselbe auch von der Sowjetunion gelten, um so mehr als die Russische Föderation auch in anderen Fällen deren Rechtsnachfolge angetreten hat. Und niemand sollte außer Acht lassen, daß die 3 anderen Parteien von der BRD Vertragstreue erwarten müssen. Aber auch für sich selbst muß die BRD dafür einstehen, daß sie die Gewinne der Vereinigung nicht dadurch gefährdet, daß sie auch nur ansatzweise zu jener Verhaltensweise von vor 1945 zurückkehrt, die die Achtung des Völkerrechtes grds. den polit. Opportunitäten unterwarf. 2. Rechtsnachfolge Die Frage nach der Rechtsnachfolge des Dt. Reiches hat, wie leicht einsehbar, sehr viel mehr unmittelbare praktische Relevanz im Bereich des —> Staatsrechtes als im Völkerrecht. Häufig wird als herrschende Lehre die Meinung vertreten, das westdeutsche Staatsrecht habe die Frage der Rechtsnachfolge durch die 1949 gegründete BRD als entschieden behauptet, während die wenige Monate später gegründete DDR dies stets abgelehnt habe. Daß sich für das Letztere unschwer Belege beibringen ließen, steht außer Frage. Aber wer die in den beiden Verfassungen normierte Rechtslage genauer betrachtet, muß zu einer differenzierteren Sicht kommen. Für die BRD ergibt sich schon aus dem - » Grundgesetz, daß sie staatsrechtl. als Rechtsnachfolgerin in die Kontinuität des Dt. Reiches eintritt. Sie tut es im Staatsbürgerschaftsrecht (Art. 116, Abs. 1 und
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Deutsche Einheit 2, —> Staatsbürgerschaft), in Bezug auf das Staatsgebiet, indem sie den Bereich der Gültigkeit des GG von „anderen Teilen" unterscheidet, die außerhalb desselben liegen (Präambel, Art. 23 und 146). Ferner übernimmt sie das ->• Beamtenrecht (Art. 33 Abs. 5) und das bisherige -> Staatskirchenrecht des Dt. Reiches (Art. 140 i.V.m. Art. 7 Abs. 2 und 3). Der Kreisauer Kreis des Widerstandes gegen die Hitlerherrschaft (-> Widerstand gegen den Nationalsozialismus) hatte als einziger aller opponierenden Gruppen gesehen, daß die Rassengesetzgebung des sog. „Dritten Reiches", die die Universalität der -> Menschenrechte für das dt. Reichsgebiet außer Kraft setzte sowie die völkerrechtswidrige Behandlung der Zivilbevölkerungen in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten besonders Osteuropas, nicht nur einen Bruch mit den Rechtsüberzeugungen der Völkergemeinschaft, sondern auch mit der bisherigen dt. Rechtssituation darstellte, und zwar in einem Ausmaß, daß die Kreisauer von „Rechtsschändung" sprachen. Sie sahen darum in der „Wiederaufrichtung des zertretenen Rechtes" (Grundsätze der Neuordnung, 9.8.1943, Ziffer 1) eine vorrangige Aufgabe für die Zeit nach dem Ende der NS-Herrschaft. Daß diese Aufgabe auf der Basis der Kontinuitätsthese alleine nicht gelöst werden konnte, war offensichtlich. Darum folgte das GG nicht der -> Weimarer Reichsverfassung, welche die Staatsorganisation den —> Grundrechten voranstellte. Vielmehr erhob es die Grundrechte und unter ihnen wiederum die Unantastbarkeit der —> Menschenwürde zur Basis der ganzen Verfassungsordnung (Art. 1 Abs. 1-3), eine Basis, die durch Art. 79 Abs. 3 überdies gegen jeden Eingriff durch Verfassungsänderungen geschützt wurde. Eine andere, gerade auf der Basis der Kontinuitätsthese sich erhebende Frage freilich blieb unbeantwortet: Wie verhielt sich das innerdeutsche Recht zu den Urteilen des Nürnberger Tribunales, die
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Deutsche Einheit gegen die Reichsregierung und andere Verantwortliche ergangen waren, obwohl es sich bei den von ihnen begangenen Rechtsschändungen um staatl. Handeln auf Basis der NS-Gesetzgebung handelte. Hier beschränkte sich das bundesdeutsche Verfassungsrecht auf die Klausel vom - » gesetzlichen Richter und das Verbot von Ausnahmegerichten (Art. 101 GG) und das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG), das Bestrafungen nur auf der Basis zur Tatzeit geltender Gesetze zuläßt. Diese Linie wurde auch 1950 ff. beibehalten, als die BRD der —> Europäischen Menschenrechtskonvention nur mit dem Vorbehalt beitrat, daß Art. 7 Abs. 2 dieser Konvention in der BRD keine Anwendung finde. In diesem Art. steht aber gerade die Bestimmung, daß die Nürnberger Urteile, weil sie eine Anwendung der allgemeinen, von den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätze gewesen seien, dem Rückwirkungsverbot nicht unterliegen. Der dt. Vorbehalt hat zur· Folge, daß die NS-Gesetzgebung wirksam bleibt und etwa die Mitglieder des Kreisauer Kreises wie andere Nazigegner rechtswirksam verurteilte Hoch- und Landesverräter sind. Umgekehrt ist die Rechtswirksamkeit oder mindestens die Legitimität der Nürnberger Urteile nach geltendem dt. Verfassungsrecht mindestens anfechtbar. Ein Blick in die DDR-Verfassung von 1949 lehrt, daß auch sie von der Kontinuitätsthese ausgeht. Sie tut es freilich mit einer völlig anderen Akzentsetzung, die die Einheit des Staatsgebietes aufs Schärfste ausspricht und eine Gültigkeit in allen dt. Ländern nicht nur anstrebt, sondern auch - gegen die histor. Tatsachen! - voraussetzt. „Dtld. ist eine unteilbare demokrat. Republik; sie baut sich auf den dt. Ländern auf." (DDR-Verfassung 1949, Art. 1 Abs. 1). Nicht nur im Blick auf das Staatsgebiet wird Kontinuität vorausgesetzt. Dasselbe gilt für das bürgerl. Recht im Bereich des Erbrechtes (Art. 22 Abs. 2, DDR-Verfassung von 1949). Darum konnte das -> Bürgerliche Gesetzbuch auch in der DDR bis 1976 das
Deutsche Einheit maßgebende Zivilrecht bleiben. Auch das Staatskirchenrecht der Weimarer Reichsverfassung ging in die DDR-Verfassung von 1949 ein (Art. 41-48), mit einigen für die DDR charakteristischen Abwandlungen (z.B. die alleinige kirchl. Verantwortung für den Religionsunterricht), aber auch für die DDR galt das Prinzip der unvollständigen („hinkenden") Trennung nach der Formel „Es besteht keine Staatskirche." (Art. 43.1; analog zu Art. 140 GG). Wie stellte sich die DDR zur Frage der Rechtszerstörung in der Nazizeit und den Nürnberger Urteilen über sie? Man könnte meinen, sie sei der Linie der Europäischen Menschenrechtskonvention gefolgt, weil sie .Ahndung von Verbrechen gegen Menschlichkeit" als ausdrücklich nicht betroffen vom Rückwirkungsverbot erklärt (Art. 135 Abs. 3). Aber schon wenn der gleiche Text dies auch ausdehnt auf „Maßnahmen, die zur Überwindung des Nazismus und Militarismus getroffen werden", zeigt, wie das Tor zur polit. Instrumentalisierung des Rechtes und damit zu allen Formen einer erneuten Politisierung und Deformierung der Justiz weit offenstehen. Man sieht: Erst mit der neuen Verfassung von 1968/1974 gab die DDR die von ihr vertretene Fiktion des einheitlichen Staatsgebietes zugunsten der 2-Staaten-Theorie als Ergebnis der dt. Gesamtgeschichte auf. Faktisch hatte sie das freilich schon mit der Zerstörung der Länder in ihrem Bereich und der Einführung des Bezirkszentralismus im Jahre 1952 getan, nachdem die Ablehnung der Stalin-Note des gleichen Jahres samt dem Angebot gesamtdeutscher freier Wahlen, ein Ende der dt. Teilung unabsehbar werden ließen. Da beide dt. Verfassungen auf einander ausschließenden staatsrechtl. Voraussetzungen beruhten, war es klar, daß die dt. Vereinigung zur polit. Frage und damit davon abhängig geworden war, daß sich auf europ. und globaler Ebene eine Konstellation ergeben würde, in der ausschließende Konkurrenzen und Antagonismen sich entspannten und am Ende auflösten. Damit sind auch die beiden
Deutsche Einheit Schritte benannt, in denen sich das vollzog: Die Anerkennung des status quo mit Regelungen seiner Praxis 1970-1973, die in die friedliche Revolution führende Entspannungspolitik von 1975-1989. Es darf nicht unerwähnt sein, daß die bundesdt. Verfassungsrechtsprechung diesen ganzen Zeitraum seit 1949 als eine Übergangszeit betrachtet hat, die allein dadurch beendet werden kann, daß eine laut Art. 146 beschlossene und angenommene Verfassung als endgültige Entscheidung des dt. Volkes über seine staatl. Zukunft in Kraft tritt (KPD-Urteil vom 17.8.1956, S. 127). Eine wichtige Erinnerung daran, daß der demokrat. Charakter dieses Schrittes davon abhängt, inwiefern die polit. Vereinigung den staatsrechtl. Mindestanforderungen entspricht. 3. Politisch Die polit. Entwicklung der dt. Einheit in der Übergangszeit der konkurrierenden Verfassungen 1949-1990 ist dadurch gekennzeichnet, daß schon ein Jahr nach dem antiföderalen Verfassungsbruch in der DDR deren Delegitimierung durch den freie Wahlen und Vereinigung fordernden Volksaufstand vom 17.6.1953 begann. Die Delegitimierung, die im Mauerbau vom 13.8.1961 gipfelte: Es wurde öffentl. dokumentiert, daß die Fortexistenz der DDR nur durch gewaltsame Beschränkung oder Unterdrückung der Grundfreiheiten ihrer Bürger möglich war. Das Besondere an dieser Situation war freilich, daß das noch immer fortwirkende Besatzungsregime der Anti-Hitlerkoalition dazu führte, daß die Besatzungsmächte entweder aktiv an der Niederschlagung der DDR-Opposition beteiligt waren (die Sowjetunion am 17.6.1953) oder doch - trotz verbaler Proteste - die Repressionen gegen die DDR-Bevölkerung tolerierten, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß ihre besatzungsrechtl. Kompetenzen durch den Mauerbau nicht berührt oder gar beschränkt wurden. Damit war die Quasilegalisierung der DDR gegeben, die früher oder später auch zu einer de-facto-Legalisierung führen mußte. Die Versuche der —> Bundesregie-
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Deutsche Einheit rung, die DDR durch die Hallstein-Doktrin außenpolitisch zu blockieren und zu isolieren, scheiterten, beginnend in den Ländern der sog. Dritten Welt, aber schließlich auch in der Nordhemissphäre. Das Fazit wurde in den Vertragswerken der 70er Jahre gezogen, v.a. in dem deutsch-deutschen Grundlagenvertrag von 1972, durch den zwischen beiden Staaten besondere Beziehungen unterhalb der völkerrechtl. Ebene hergestellt und dann in den folgenden Jahren ausgebaut wurde, nachdem beide 1973 Mitglieder der UNO geworden waren. Ansatzweise unternommene Versuche, die BRD als Ausland zu behandeln, wurden von der DDR sehr schnell wieder fallengelassen, als die enormen wirtschaftl. Nachteile, besonders gegenüber der EG zu erkennen waren. Daß dieser für alle Beteiligten scheinbar komfortable Zustánd Ende der 80er Jahre dennoch zusammenbrach, hatte einen einzigen Grund: die Unzufriedenheit der gegenüber den profitierenden Parteieliten kraß benachteiligten Bevölkerungen in Mittel- und Osteuropa. Daß sie in der DDR erst 1989 die Form offener polit. Opposition annahm, während die polnische Gewerkschaftsopposition schon 1980ÍT. aktiv geworden war und etwa in der CSSR mit der Charta 77 sich schon vorher polit. Widerstand öffentl. artikulierte, hat mit der jahrzehntelangen Abwanderung der Unzufriedenen aller Gesellschaftsschichten nach Westdtld. zu tun. So war es am Ende, im Herbst 1989, eine verhältnismäßig dünne Schicht von wissenschaftl., künstlerischer und christl. Intelligenz, die dem Freiheits- und Gleichheitsbegehren der Bevölkerung Stimme in der Öffentlichkeit verlieh. Die Frage, ob es damals nur um eine interne Reform der DDR oder um die Gestaltung des Vereinigungsprozesses gegangen sei, ist falsch gestellt. Der Beitritt zur BRD war altemativlos die einzige Möglichkeit einer Demokratisierung der selbständig nicht mehr existenzfähigen DDR, seit die zur Zentralisierung von 1952 gegenläufige Tendenz einer Wieder-
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Deutsche Einheit herstellung der damals zerstörten Ostländer die herrschende geworden war. Auch der Verfassungsentwurf des zentralen —> Runden Tisches, sah einen Beitritt nach Art. 2 3 als einzigen Weg zur Vereinigung an (Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches, Art. 132). Er wollte aber mit diesem Entwurf die Basis für einen demokrat. Vollzug dieses Schrittes schaffen: Diskussion des Entwurfes in der freigewählten Volkskammer, Verfassungsreferendum über den endgültigen Entwurf, Beitrittsbeschluß nach den in der angenommenen Verfassung vorgesehenen Modalitäten. So gesehen handelt es sich bei diesem Konzept um den vom Bundesverfassungsgerichtsurteil über den Grundvertrag vom 23.7.1973 für den Fall des Beitritts nach Art. 23 in der DDR zu vollziehenden staatsrechtl. Akt, der die DDR-internen Voraussetzungen für den Beitritt allererst zu schaffen hatte (Urteilsbegründung, S. 29). Daß der Vereinigungsprozeß ganz anders ablief, nämlich dominiert vom Staatsvertrag über die Währungsunion vom 18.5.1990, hatte mehr mit der überragenden Bedeutung des ost-westlichen Wirtschafts- und Wohlstandsgefälle als mit besonderen außenpolit. Eilbedürftigkeiten zu tun. Hieran vermochte auch der Einigungsvertrag vom 31.8.1990 nichts mehr zu ändern, der eigentlich nur die rechtl. Korollarien zu den in der Währungsunion geschaffenen Bedingungen zusammenfaßt. So könnte man sagen: Wie die dt. Spaltung 1948 mit der separaten Währungsreform im Westen begann, wurde sie durch die Währungsunion vom 1.7.1989 beendet. Diese geschichtl. Tatsache entspricht gewiß dem immensen gesellschaftl. Bedeutungszuwachs der Wirtschaft seit der Weltkriegsära. Nicht vergessen werden darf darüber, welche Demokratidefizite den Einigungsvorgang kennzeichnen, dessen Kern die Währungsunion war: Der vom GG, von der Verfassungsrechtsprechung und vom 2+4-Vertrag verlangte Schritt vom GG zur gesamtdt. Verfassung laut Art. 146 ist bisher nicht getan und somit
Deutsche Parlamentarische Gesellschaft die verfassunggebende Gewalt des dt. Volkes nicht aktiviert worden. Es war dieses schwerwiegende Defizit, auf das das „Kuratorium für einen demokrat. verfaßten Bund deutscher Länder" mit seinem am 16.6.1991 in der Frankfurter Paulskirche präsentierten Verfassungsentwurfhinweisen wollte. Laut Einigungsvertrag gilt das GG nunmehr in allen dt. Ländern, aber es gilt auf eine in vielfacher Form gespaltene Weise: So ist das Eigentumsrecht der Ostdeutschen durch die Beweislast des redlichen Erwerbs verschlechtert, der ihnen vom Währungsunionsvertrag zugestandene Anteil am Volkseigentum durch dessen Verstaatlichung bzw. einseitige Privatisierung vorenthalten worden und ihre -> Glaubens- und Gewissensfreiheit durch die Wiedereinführung obsoleter Religionsprivilegien eingeschränkt worden. Das Problem der Deutschen Einheit kehrt damit zurück in den Kontext, aus dem es stammt, den europäischen. So mag man es heute als eine Hoffnung weckende Symbolik verstehen, daß das im Zuge der Vereinigung überarbeitete GG als neuen, den alten Betrittsartikel ersetzenden Art. 23 einen Europa-Art. enthält: Hinweis darauf, daß die im dt. Vereinigungsprozeß nicht überwundenen Demokratiedefizite endgültig überwunden werden können alleine durch den Schritt von der westeuropäischen zur gesamteurop. Demokratie, d.h. die Überwindung jener Spaltung, deren Beseitigung für die seit Herbst 1989 ihre Freiheit und Gleichberechtigung fordernde Völker Mittelosteuropas Lebensnotwendigkeit ist. LU: Β. Guggenberger / UK. Preuß / W. Ullmann: Eine Verfassung für Dtld., München 1991; B. Guggenberger / T. Stein (Hg.): Die Verfassungsdiskussion im Jahr der dL Einheit, München 1991; J. Isensee: Braucht Dtld. eine neue Verfassung?, Köln 1992; K.-M. Merkel:O\e verfassunggebende Kraft des Volkes, Baden-Baden 1996; H. Moelle: Der Verfassungsbeschluß nach Art. 146 GG, Paderborn 1996; G. v. Münch (Hg.): Die Vertrage zur Einheit Dtld.s, Manchen 1991; D. Rauschning (Hg.): Rechtsstellung Dtl Parlamentarische Vereinigungen Deutsche Post AG -> Postreform Deutsche Sprache Die gemeinsame Sprache ist zentrales Element gesellschaftl. und staatl. Integration. Staatsgrenzen sind oft (insbes. in Europa) Sprachgrenzen. Wo Staaten mehrsprachig sind (z.B. Kanada, Schweiz, Belgien), ist Sprache regelmäßig Politikum und verfassungsrechtl. Konfliktstoff von erheblicher öffentl. Wirkung. Dtld. ist trotz ausgeprägter Dialekte und histor. später Ausbildung einer einheitlichen Schriftsprache sprachlich insg. homogen. Amtssprache im Verwaltungsund Gerichtsverfahren ist dementsprechend einheitlich deutsch (§§ 23 Abs. 1 VwVfG, 184 GVG); ggf. ist aber ein Dolmetscher hinzuzuziehen (§ 185 GVG). Auf der Ebene der —> Europäischen Union ist Deutsch gleichberechtigte Amtsprache. Als Minderheitensprache ist in Dtld. Regional etwa das Sorbische anerkannt (Art. 25 m BrandV, 6 I SächsV). Deutsch ist außerhalb Dtld.s verbreitet als alleinige (Öst.) oder gleichberechtigte (Schweiz) Nationalsprache sowie als Regional- und Minderheitensprache. Problematisch ist die Abgrenzung legitimer Sprachpflege von freiheitsstörender Sprachlenkung. Sprachpflege ist kulturstaatl. Postulat. Zu den kulturdiplomatischen Aufgaben der Goethe-Institute gehört dementsprechend die Vermittlung der dt. Sprache im Ausland. Mundartpflege ist eine Ausprägung der Sprachpflege im -> Bundesstaat. Repressive Verbote etwa der AnglizismenVerwendung im individuell-privaten Sprachgebrauch (entsprechende Regelungen existieren in Frankreich) wären demgegenüber Sprachlenkung und an den Freiheitsgrundrechten zu messen. Ob dem Staat die Befugnis zu Reformen der schu-
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Deutscher Bund
Deutsch Telekom AG lisch unterrichteten Rechtschreibung zukommt und welche Schranken insoweit ggf. bestehen, wird unterschiedlich beurteilt. Kritiker wenden gegenüber der 1995 für alle deutschsprachigen Länder und Regionen beschlossene Reform ein, hier greife der Staat - histor. erstmals - über das „Vehikel" Schule in die Orthographie ein. Dem ist jedoch entgegen zu halten, daß auch die heutige Orthographie nicht zuletzt aus einer in der Mitte des 19. Jhd.s begründeten schulorthographischen Tradition entstanden ist. Auch die bisherige , Amtlichkeit" des Dudens steht in diesem Zusammenhang, beruht sie doch auf einem Beschluß der Kultusminister aus dem Jahr 1955. Jedenfalls die moderate Rechtschreibreform dürfte daher vom Auftrag zur Sprachpflege erfaßt sein. Lit.: HdbStR I, § 18; J. Menzel: Von Richtern und anderen Sprachexperten, in: NJW 1998, S. 1177ff.
Jörg Menzel Deutsche Telekom AG —> Postreform Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen —> Parlamentarische Vereinigungen Deutscher Bund Im Ergebnis der Befreiungskriege gegen die napoleonische Fremdherrschaft wurde als eines der wichtigsten Ergebnisse des —> Wiener Kongresses auf der Grundlage der Bundesakte vom 8.6.1815 der D.B. gegründet. Er stellte den Zusammenschluß der Fürsten der souveränen dt. Einzelstaaten zu einem Staatenbund dar. Neben den 34 dt. Staaten und 4 Freien Städten gehörten dem D.B. auch der König von Dänemark als Herzog von Holstein und Lauenburg, der König von England als König von Hannover und der König der Niederlande als Großherzog von Luxemburg an. Während auf diese Weise die genannten auswärtigen Mächte Mitglied des D.B.es waren, gehörten nur diejenigen preuß. und öst. Gebiete zum Bund, die vor 1806 zum alten —> Reich gehört hatten. Für ein 242
halbes Jhd. bildete der D.B. den staatsrechtl. Rahmen des dt. Staatenpluralismus und zugleich für die Stellung der dt. Staaten im europ. Staatensystem. Das oberste Organ des D.B.es war der Bundestag, der sich durch die in Frankfurt (Main) versammelten Abordnungen der Fürsten der Mitgliedstaaten zusammensetzte. Präsidialmacht war Öst. Praktisch übten Öst. und Preuß. die Vorherrschaft im D.B. aus. Der Dualismus beider Mächte führte zu zunehmenden Spannungen (—> s.a. Vormärz) zwischen ihnen, die jedoch vor der Revolution von 1848/49 (—> Paulskirchenverfassung) immer wieder ausgeglichen werden konnten. Nach 1819 und noch verstärkt nach 1834 wurde unter der Leitung des öst. Staatskanzlers Metternich ein System der Restauratiön zur Unterdrückung der dt. Einheits- und Freiheitsbestrebungen praktiziert. Neben der Verfolgung liberaler und demokrat. Bestrebungen galt die Politik Metternichs der Verhinderung von weiteren Verfassungen (—> Konstitutionalismus) in den Staaten des D.B.es über die bis dahin v.a. in den süddt. Staaten bestehenden hinaus. Unter dem Einfluß der frz. Julirevolution von 1830 wurden in verschiedenen dt. Staaten - Preuß. und Öst. ausgenommen Verfassungen durchgesetzt. Am 27.5.1832 kam es zum „Nationalfest der Deutschen", zum sog. Hambacher Fest. Durch die Reaktionsmaßnahmen des D.B.es wurden die meisten nach 1830 erreichten Ergebnisse der liberalen und demokrat. Kräfte unwirksam. Der D.B. hatte damit seine Reform Unfähigkeit bewiesen. Die gesellschaftl. Modernisierungsströme wurden durch ihn gehemmt oder gingen an ihm vorbei. Dazu gehörte der 1834 ins Leben gerufene Dt. Zollverein unter preuß. Führung, der langfristig den wirtschaftl. Aufschwung Dtld.s im Zeichen der Industrialisierung förderte und die Vormachtstellung Preuß.s in Dtld. begünstigte. Die dt. Revolution von 1848/49 paralysierte zunächst den D.B. Als jedoch die Schaffung eines einheitlichen konstitutionellen dt. Staates auf der Basis der Reichsverfas-
Deutscher Bundestag
Deutscher Gewerkschaftsbund
sung von 1849 und auch die Pläne einer Union unter preuß. Hegemonie im Jahre 1850 scheiterten, wurde der D.B. revitalisiert. Die Versuche Öst.s, den Bund zu reformieren und dadurch zu einem praktikableren Instrument seiner eigenen Vormachtspolitik zu gestalten, wurden in der Folgezeit von Preuß. abgeblockt. Nach 1850 leitete Preuß. eine Konfrontationspolitik gegenüber Öst. im D.B. ein. Reformpläne Öst.s und süddt. Staaten wurden zu Fall gebracht. Im April 1866 stellte Preuß. beim Bundestag den Antrag, durch demokrat. Wahlen beim D.B. ein dt. Parlament zu konstituieren. Im Juni 1866 zerbrach der D.B. an dem preuß. öst. Gegensatz. Preuß. und danach die mit ihm verbündeten Staaten traten aus dem D.B. aus. Die letzte Sitzung des nicht mehr vollständigen Bundestages fand am 24.8. in Augsburg statt. Lit.: M Bolzenhart: Dt. Verfassungsgeschichte 1806 - 1949, Düsseldorf 1993; E. R. Huber: Dt. Verfassungsgeschichte seit 1789, III, Stuttgart 3 1988; A. Kaernbach: Bismarcks Konzepte zur Reform des Dt. Bundes, Göttingen 1991; T. Nipperdey: Dt. Geschichte 1800-1866, München "1983;. H. Rumpier (Hg.): Dt. Bund und dt. Frage 1815-1866, Wien 1990.
Mathias Tullner Deutscher Bundestag -> Bundestag, Deutscher Deutscher Frauenrat Der DF bezeichnet den Zusammenschluß von Frauenverbänden und Frauengruppen gemischter Verbände in Dtld. Als überparteiliche und überkonfessionelle Organisation umfaßt der DF ca. 100 bundesweite Organisationen mit rd. 11 Mio. Mitgliedern. Die Mitglieder des DF bleiben in ihren Verbandszielen autonom, setzen sich jedoch unter dem Schirm des DF für frauenpolit. Belange ein. Neben der Interessenvertretung von Frauen gegenüber dem Dt. Bundestag, der Bundesregierung, dem Bundesrat, den Parteien und gesellschaftl. relevanten Institutionen und Entscheidungsgremien auf Bundesebene und internationaler Ebe-
ne, gehört zu seiner Arbeit die Information der Öffentlichkeit über frauenpolit. Fragen. Der DF ist Mitglied in der europ. Frauen-Lobby und hat Beraterstatus beim Wirtschañs- und Sozialrat der Vereinten Nationen. Vorläufer des DF war der 1894 als Zusammenschluß von 34 Frauenorganisationen gegründete „Bund Deutscher Frauenvereine", der sich 1933 selbst auflöste. Die Wiederaufnahme der Frauenverbandsarbeit nach dem Π. Weltkrieg führte 1951 zur Gründung des „Informationsdienstes für Frauenfragen", der sich 1969 in DF umbenannte und seit 1990 den Zusatz „Lobby der Frauen" führt. Hg-
Deutscher Gewerkschaftsbund Der DGB ist die Vereinigung von —> Gewerkschaften. Auf dem Gründungskongreß des DGB 1949 schlössen sich 16 bereits vorher konstituierte Einzelgewerkschaften unter der Dachorganisation des DGB zusammen. Diese sind nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert: In einem —> Betrieb oder Unternehmen oder einem Wirtschaftszweig gibt es nur jeweils eine Gewerkschaft. Die Einzelgewerkschaften sind in ihrer Arbeit selbständig. Sie sind nur an die in der Satzung des Bundes niedergelegten Voraussetzung der Mitgliedschaft gebunden, die allerdings auch verlangen, daß die Beschlüsse der Bundesorgane anerkannt werden. Den Einzelgewerkschaften obliegt als Hauptaufgabe insbes. der Abschluß der -» Tarifverträge. Der Arbeitnehmer ist Mitglied seiner Einzelgewerkschaft, diese ist korporativ Mitglied des DGB. Zentrale Hauptorgane des DGB sind der Bundeskongreß und der Bundesvorstand. Ende 1997 waren in den 13 Einzelgewerkschaften des DGB insg. 8,6 Mio. Mitglieder organisiert, davon 1,7 Mio. in den neuen Bundesländern. Die größte Einzelgewerkschaft bildet die IG Metall, gefolgt von der Gewerkschaft Öffentl. Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV). Während der DGB in den Jahren der wirtschaftl. Prosperität der BRD in seiner praktischen Gewerkschaftspolitik
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Deutscher Industrie- und Handelstag
Deutscher Wetterdienst
mit Schwerpunkten bei der Lohn- und Tarifpolitik, der Arbeitszeitpolitik und der Verfolgung seiner Vorstellungen sozialer Sicherung recht erfolgreich war, wurde in den ersten 3 Grundsatzprogrammen für eine geplante Wirtschaftspolitik optiert, welche die Mitbestimmung der Gewerkschaften in allen maßgeblichen Bereichen, die Einrichtung von paritätisch besetzten Wirtschafts- und Sozialraten, die Überführung von Schlüsselindustrien und „anderen markt- und wirtschaftsbeherrschenden Unternehmen" in Gemeineigentum und eine Neuordnung des Finanzsystems vorsah. Dabei handelte es sich um aus mehreren programmatischen Wurzeln gespeiste Konzepte, die der polit, und weltanschaulichen Vielfalt der Einheitsgewerkschaft Rechnung tragen sollten. Das auf dem 5. außerordentlichen Bundeskongreß des DGB am 13.-16.11. 1996 in Dresden beschlossene neue Grundsatzprogramm bescheinigt nunmehr der Sozialen Marktwirtschaft, daß sie besser als alle anderen Wirtschaftsordnungen geeignet sei, die Ziele der Gewerkschaften zu erreichen. Allerdings gibt das Programm noch keine hinreichend konkreten Antworten auf das Selbstverständnis der modernen Arbeitsgesellschaft angesichts der Intemationalisierung der Märkte und einer zunehmenden betrieblichen Dezentralisierung.
Betrieb - unabhängig von seiner Größe eine Stimme bei der Wahl der Vollversammlung seiner Kammer hat. Diese bestimmt und kontrolliert die Aufgaben der Kammern, wählt Kammervorstand und Präsidenten. Aufgrund dieser Struktur sind die Kammern unabhängig und auf den Ausgleich der Interessen zwischen Unternehmen und Branchen angewiesen. Eine Reihe der für ein geordnetes Wirtschaftsleben notwendigen Aufgaben werden von den Kammern als —> Körperschaften des öffentl. Rechts erfüllt. Unterstützt werden sie bundesweit von ca. 250.000 ehrenamtlich mitwirkenden Unternehmern und leitenden Angestellten (s.a. —> Ehrenamtliche Tätigkeiten).
Lit: T. Leif (Hg.): Reform des DGB, Köln 1993; IV. Nickel: Taschenbuch der dt. Gewerkschaften, Köln 1995. Ulrich Niemann
Deutscher Industrie- und Handelstag Der DLHT ist die Dachorganisation der 83 dt. Industrie- und Handelskammern und vertritt die Interessen der gewerblichen —> Wirtschaft gegenüber —> Bundestag, —> Bundesregierung wie auf europ. Ebene gegenüber der -> Europäischen Kommission. Jedes gewerbliche Unternehmen ist gesetzliches Mitglied der Industrie- und Handelskammer seiner Region. So können die Kammern alle Branchen und Betriebsgrößen vertreten, wobei jeder -> 244
Hg.
Deutscher Presseclub ist ein eingetragener —> Verein zur Pflege der Beziehungen von -» Politik und —> Wirtschaft zu Vertretern der Medien. Der D.P. vermittelt Journalisten Hintergrundgespräche, über die nicht berichtet wird. Über die Aufnahme entscheidet die Mitgliederversammlung (z.Z. etwa 280 Bonner Korrespondenten als ordentliche Mitglieder) nach Vorklärung durch den siebenköpfigen Vorstand. Der Mitgliedsbeitrag beträgt 600 Mark im Jahr. Gastmitglieder sind nicht in Bonn ansässige Leitungspersönlichkeiten aus Redaktionen und Verlagen. Pressereferenten aus der Wirtschaft sind korrespondierende Mitglieder. Der D.P. verlagert seinen Sitz mit dem Regierungsumzug nach Beri, und bezieht ein Büro im Neubau der Bundespressekonferenz e.V. und des Vereins der Ausländischen Presse e.V. Lit: H. Murmann: Mit "C" ist es feiner, Bonn 1997. M. M.-G.
Deutscher Wetterdienst Der DWD wurde durch Gesetz 1952 i.V.m. Art. 74 Nr. 21 mit Sitz in Offenbach gegründet. Vorläufer staatl. Wetterbeobachtung waren der 1847 in Beri, errichtete Preuß. Meteorologische Dienst und der Reichs-
Deutsches Jugendherbergswerk
Deutsches Reich (bis 1806)
Wetterdienst (1934). Neben der Zentrale des DWD befinden sich in Hamb., Potsdam, Leipzig, Essen, Offenbach, Stuttgart und München Regionalzentralen (RZ) zu regionalen Vorhersagen. Insg. arbeiten an 158 Standorten in Dtld. ca. 3.100 Personen für die Wetterbeobachtung. Der DWD unterhält weiterhin 10 verschiedene Meßund Beobachtungsnetze in Dtld.; dazu stehen 208 bemannte oder automatische Stationen zur Verfügung sowie zusätzlich eine große Zahl von Stationen, an denen nebenamtliche Beobachter tätig sind. Wie alle über 180 meteorologischen Dienste auf der Welt mißt und beobachtet der DWD die meteorologischen Parameter am Erdboden und in der Atmosphäre und tauscht die Ergebnisse weltweit mit den anderen Diensten aus. Daß die Daten überall nach gleichen Vorgaben erfaßt, verteilt und bearbeitet werden, gewährleistet die Welt-Wetter-Wacht (WWW). Sie ist Teil der in Genf befindlichen Weltorganisation für Meteorologie (MWO) (eine Sonderorganisation der —> Vereinten Nationen). In der Zentrale des DWD werden in einer Großrechenanlage die meteorologischen Daten aus aller Welt geprüft und vielfaltig verarbeitet, so daß sie für die unterschiedlichsten Anforderungen verwendet werden können. Aufgabe des Wetterdienstes ist es, die meteorologischen Bedürfhisse von Industrie und -> Öffentlichkeit, die meteorologische Sicherung von Luft- und Seefahrt zu gewährleisten, die Radioaktivität im Niederschlag und in der Atmosphäre zu überwachen sowie deren Verfrachtung zu verfolgen, Forschung auf dem Gebiet der Meteorologie zu betreiben und die internationale Zusammenarbeit zu pflegen. Hg-
Deutsches Jugendherbergswerk (DJH) Das DJH ist ein gemeinnütziger —» Verein und anerkannter freier Träger der Jugendhilfe. Es fördert die Begegnungen junger Menschen und Familien, ihre Verbindung zu Natur und Heimat, ihr Umweltbewußtsein und bietet Möglichkeiten für die
Freizeitgestaltung. Gegenwärtige Schwerpunkte der Arbeit sind die Umweltbildung sowie internationale Jugendbegegnungen. Träges des DJH sind der Hauptverband und die 15 selbständigen Landesverbände. In den 613 Jugendherbergen wurden 1997 ca. 10,3 Mio. Übernachtungen gezählt. 1,7 Mio. Einzelpersonen und -> Körperschaften gehören dem DJH als Mitglied an. Damit nimmt das DJH innerhalb der International Youth Hostel Federation (IYHF) mit 60 nationalen Mitgliedsverbänden die Spitzenposition ein. 1997 wurden die wirtschaftl. Geschäftsbereiche des DJH in eine GmbH ausgelagert. Die Jugendherbergsidee entwickelten im Jahre 1909 der Fabrikant W. Münker und der Lehrer R. Schirrmann. Zunächst wurden Schulräume während der Ferien als provisorische Schlafstätten für Wandergruppen genutzt. 1912 entstand auf Burg Altena die 1. selbständige Jugendherberge. Die meisten Jugendherbergen haben sich heute zu Tagungsstätten, Sport-, Trainingslagern, Schullandheimen oder zu Familienunterkünften weiterentwickelt. Hg.
Deutsches Patentamt ist die Zentralbehörde auf dem Gebiet des gewerblichen -> Rechtsschutzes in Dtld.; der Hauptsitz ist in München, eine weitere Dienststelle ist in Beri. Die Hauptaufgabe des Amtes besteht in der Erteilung und Verwaltung von Gewerblichen Schutzrechten: -> Patente, Gebrauchsmuster, Marken, Geschmacksmuster, Typographische Schriftzeichen, Topographien. Eine weitere wesentliche Aufgabe besteht darin, die Öffentlichkeit umfassend über das in der Patentliteratur dokumentierte weltweite techn. Wissen sowie über alle eingetragenen und erteilten gewerblichen Schutzrechte mit Wirkung in Dtld. zu informieren. Hg-
Deutsches Reich (bis 1806) Mit der Kaiserkrönung Otto I. (962) entstand das 1. Dt. Reich. Es hörte einschließl. seiner 245
Deutsches Reich (bis 1806) Institutionen in der Napoleonischen Zeit auf zu bestehen, als Kaiser Franz Π. 1806 die Reichskrone niederlegte. Das Reichsterritorium umfaßte - bei schwankenden Außengrenzen - im wesentlichen das heutige Dtld., Öst., Böhmen und Mähren (Tschechien), das nördliche Italien und einige andere Territorien (z.B. Flandern). Die Reichsverfassung war in einer Anzahl von überwiegend Gewohnheitsrecht wiedergebenden Rechtsquellen verschiedener Zeiten niedergelegt. Das Reich verfügte somit über keine geschriebene Verfassungsurkunde. Solche Verfassungen gibt es in Dtld. erst seit dem frühen 19. Jhd. Ab 843 hatte sich das Frankenreich aufgelöst. Im Westen entwickelte sich Frankreich, im Osten Dtld.; der dt. König war seit 962 regelmäßig zugleich auch abendländischer Kaiser. Nach dem Ende der Stauferzeit (1254) errang das Kaisertum keine universale Größe mehr. Das europ. Hochmittelalter kannte noch keine Staatsorganisation im heutigen Sinne. Während sich im Spätmittelalter namentlich Frankreich und England zu zentralistischen Fürstenstaaten entwickelten, begannen in dieser Zeit der Machtzuwachs der dt. Einzelterritorien und der damit einhergehende Zerfall des Reiches. In Dtld. entstand die Staatlichkeit nicht auf Reichs-, sondern auf Territorialebene. Bedeutsam blieben das Reich und seine Institutionen für die dt. Kleinstaaten. Denn die Reichsverfassung schützte die kleineren Herrschaftsträger vor den machtpolit. Ambitionen der größeren dt. Staaten. Besonders im 17. und 18. Jhd. beschäftigten sich die Gelehrten mit der rechtl. Struktur des Reiches. Sie stritten etwa darüber, ob es nach seiner —• Staatsform monarchischen oder aristokratischen Charakter hatte. S. v. Pufendorf (1632-1694) nannte das Reich 1667 „einem Monstrum ähnlich". Als Bundesstaat oder Staatenbund kann man das Reich jedenfalls nicht bezeichnen. Auch im übrigen lassen sich moderne RechtsbegrifTe kaum auf das alte Reich übertragen. Stets waren die Reichsglieder einer übergeordneten Ge-
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Deutsches Reich (1871-1918) walt unterworfen und an eine gemeinsame Rechtsordnung gebunden. Bis zu seinem Ende blieb das Reich Rechtssubjekt. Der Reichsname wandelte sich: „Romanum Imperium" findet sich schon im Kaisertitel Karls des Großen, „Sacrum Imperium" im 12. Jhd. unter Friedrich I. Barbarossa und die Kombination „Sacrum Romanum Imperium" im 13. Jhd. Seit dem 15. Jhd. bürgerte sich - zunächst nur für die deutschsprachigen Gebiete, später aber für das gesamte Reich - der Name "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation" ein. Der Zusatz: Dt. Nation brachte die Selbständigkeit der anderen Königreiche und Herrschaften Europas zum Ausdruck. Im 17. Jhd. wurde die Kurzbezeichnung Dt. Reich üblich. Im amtlichen Sprachgebrauch findet sie sich allerdings erst 1801. Auch die Reichsgrenzen änderten sich. So schieden die Niederlande und die Schweiz 1648 aus dem Reichsverband aus. 1801 gingen die linksrheinischen Gebiete an Frankreich verloren (-> Reichstag bis 1806). Lit.: Α. Buschmann (Hg.): Kaiser und Reich, 2 Bde., Baden-Baden 21994; D. Willoweit: Dt. Verfassungsgeschichte, München '1997; R. Zippelius: Kleine dt. Verfassungsgeschichte, München3 1996. Christian Raap Deutsches Reich (1871-1918) 1. Das Dt. Kaiserreich ist formal am 1.1.1871 ins Leben getreten. Als Reichsgründungstag wird der Tag der Kaiserproklamation am 18.1.1871 angesehen. Die Reichsgründung war das Ergebnis der Bismarcks'chen Reichseinigung unter preuß. Vorherrschaft unter Ausschluß Öst.s. Die Kaiserproklamation im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles verband die Reichsgründung mit dem Sieg im dt.-frz. Krieg. Die Basis der Reichsgründung war eine Reihe von Verträgen, die unter maßgeblicher Beteiligung des preuß. Ministerpräsidenten und Bundeskanzlers der Norddt. Bunds, O. von Bismarck (18151898), mit den süddt. Staaten Bay., Württ. und Bad. geschlossen wurden. Das Dt.
Deutsches Reich (1871-1918) Reich war danach ein dt. Nationalstaat als —> Bundesstaat und konstitutioneller Verfassungsstaat unter preuß. Hegemonie (—» Konstitutionalismus). An der Spitze stand der D. Kaiser Wilhelm I., König von Preuß. (1797-1888). Er hatte das Recht, den Reichskanzler zu ernennen, den Reichstag einzuberufen bzw. aufzulösen, und er führte den Vorsitz im Bundesrat. Im Kriegsfall war der Kaiser Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Kaiserreich hat 42 Jahre bis zum Jahre 1918 bestanden, als es infolge der Kriegsniederlage im I. Weltkrieg und der Novemberrevolution zerbrach. Das Reich bestand aus 25 Einzelstaaten: den Königreichen Preuß., Bay., Württ. und Sachs.; den Großherzogtümern Bad., Hess., Meckl.-Schwerin, Meckl.-Strelitz, Sachs.-Weimar-Eisenach, Oldenburg; den Herzogtümern Anhalt, Braunschweig, Sachs.-Altenburg, Sachs.-Coburg-Gotha, Sachs.-Meiningen; den Fürstentümern Schwarzburg-Rudolstadt, SchwarzburgSondershausen, Waldeck, Reuß ältere Linie, Reuß jüngere Linie, SchaumburgLippe, Lippe; den Freien Städten Hamb., Brem., Lübeck. Das von Frankreich annektierte Elsaß-Lothringen erhielt als sog. Reichsland nicht den gleichen Status wie die dt. Fürstenstaaten, sondern wurde zunächst wie eine preuß. Provinz verwaltet. Die Annexion von Elsaß-Lothringen bildete einen fortdauernden Konfliktpunkt mit Frankreich. Die —> Verfassung des Dt. Reiches war in vieler Hinsicht ein Kompromiß - zwischen den gesellschaftl. Kräften der Zeit, zwischen Nationalstaat und Gliedstaaten, zwischen Preuß. als Hegemonialmacht und den anderen Bundesstaaten, zwischen Adel und Militär auf der einen und dem Bürgertum auf der anderen Seite und zwischen einer starken Monarchie und schwächeren demokrat. Elementen. Die Verfassung, entsprach im wesentlichen der des Norddt. Bundes. Die Einzelstaaten waren Träger der Verwaltung, sie hatten faktisch das Monopol auf direkte Steuern. Sie behielten die Zuständigkeit für eine eigenen polit. Ordnung
Deutsches Reich (1871-1918) sowie eine eigene Verfassung. Bei allen Unterschieden waren diese Verfassungen - die beiden mecklenburgischen Staaten hatten keine - konstitutionell und nicht Parlament.. Sie ordneten sich somit in die Gesamtverfassung des Reiches ein. Im Reich wurden eine einheitliche Gesetzgebung, einheitliche Maße, Münzen und Gewichte eingefühlt. Ein gemeinsame —> Indigenat aller Bürger der Einzelstaaten und Elsaß-Lothringens begründete deren Status als Inländer im Reich und in allen Einzelstaaten. Offiziell lag die Reichsregierung in den Händen des Kaisers. Er ernannte den Reichskanzler, auf dessen Person die —> Ministerverantwortlichkeit beschränkt war. Außer dem Reichskanzler gab es keine Reichsminister, sondern nur Staatssekretäre. Das Regierungssystem des Reiches war stark auf die Person des Reichskanzlers O. von Bismarck zugeschnitten, was in der Verfassungswirklichkeit zu einem Kanzlersystem der Regierung führte. Bismarck hatte eine kollegiale Regierung bereits im Prozeß der Reichseinigung verhindert. 2. Die ersten Jahre nach der Reichsgründung waren durch einen gewaltigen Wirtschaftsaufschwung (Gründeljahre) geprägt. Dazu trug die Frankreich abverlangte Kriegsentschädigung bei. Schon 1873 folgte eine allgemeine Wirtschaftskrise. Nach der Ökonom. Erholung stieg das Reich auch zu einer wirtschaftl. Großmacht auf. Innenpolit. richtete Reichskanzler v. Bismarck seine Politik zunächst gegen den polit. Katholizismus im sog Kulturkampf, den er in Opposition zum ev.- preuß. Kaisertum sah. Als dauerhaft erwiesen sich von den Festlegungen des Kulturkampfes die Beseitigung der Schulaufsicht durch die Kirchen (1872), die Einführung der Zivilehe (1875), der Kanzelparagraph (1871), wonach Geistlichen bei Strafe verboten war, staatl. Angelegenheiten in einer den öfTentl. Frieden gefährdenden Weise öfTentl. zu kommentieren. Diese gesetzliche Bestimmung wurde erst im Jahre 1953 vom Deutschen Bundestag aufgehoben. Der polit. Katho-
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Deutsches Reich (1871-1918) lizismus formierte sich 1870 zur Zentrumspartei und wurde gerade durch den Kulturkampf zu einer der stärksten polit. Parteien des Kaiserreiches. Ab 1879 unterstützte die Zentrumspartei die Bismarcksche Schutzollpolitik, lehnte aber dessen Sozialistengesetzgebung ab. Die ab 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei Dtld.s - SAP - in Gotha (ab 1890 -> Sozialdemokrat. Partei Dtld.s - SPD) vereinigte dt. Sozialdemokratie wurde von den staatstragenden Kräften des Kaiserreiches als national unzuverlässig und staatsfeindlich angesehen. 1878 wurde das Sozialistengesetz mit den Stimmen der Konservativen und Nationalliberalen im Reichstag (Reichsgesetz wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie) erlassen und die Partei damit in die Illegalität gedrängt. Die Widerstand und die Solidarität der Arbeiter führten aber zu einem beträchtlichem Anwachsen der Arbeiterbewegung und ließen die Politik Bismarcks gegen die Sozialdemokraten scheitern. Im Jahre 1890 wurde das Sozialistengesetz nicht mehr verlängert. Es hat jedoch die Integration der Arbeiterbewegung in die bürgerl. Gesellschaft nachhaltig behindert bzw. verzögert. Im handwerklichen und ländlichen Bereich wirkte die seit der Mitte des Jhd.s entstehende Genossenschaftsbewegung i.S. der Überwindung wirtschaftl. und sozialer Ungleichheiten. Ab 1883 führte die Bismarck-Regierung eine staatl. -> Sozialpolitik ein: Gesetz der Krankenversicherung der Arbeiter (1883), Gesetz über die Unfallversicherung (1884), Alters- und Invalidenversicherung (1889). Damit übernahm das Kaiserreich eine Pionierrolle in der Frage staatl. Sozialpolitik. Das mit der Sozialgesetzgebung ebenfalls verbundene Ziel, die Arbeiter von der Sozialdemokratie zu isolieren, wurde nicht erreicht. 3. Außenpolitisch erklärte Bismarck das Reich als „saturiert". Die neue Großmacht in der Mitte Europas richtete ihre Außenpolitik auf die Isolation Frankreichs bei Herstellung eines Gleichgewichtes der
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Deutsches Reich (1871-1918) europ. Mächte. 1873 wurde das DreiKaiser-Abkommen zwischen Dtld., öst. und Rußland geschlossen. 1878 wurde während des Berliner Kongresses die Bismarck'sche Führungsrolle in der europ. Politik deutlich. Hier gelang es, die Gegensätze zwischen den europ. Mächten nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78 noch einmal auszugleichen. Seit 1879 bestand der Zweibund mit öst.Ungam. 1882 wurde daraus durch den Beitritt Italiens der „Dreibund" Weil das Dreikaiserabkommen nach 1884 an Gegensätzen zwischen Öst. und Rußland zerbrach, schloß Bismarck 1887 mit Rußland eine geheimes Neutralitätsabkommen, den Rückversicherungsvertrag, um so eine Annäherung Rußlands gegenüber Frankreich zu verhindern. Ab 1884 betrieb das Reich nach anfänglicher Ablehnung durch Bismarck eine aktive Kolonialpolitik mit der Erwerbung der Kolonien Dt-Südwest, Togo, Kamerun und schließlich Dt-Ostafrika in Afrika. Dazu kamen noch Erwerbungen in Nordostguinea und verschiedener Pazifikinseln sowie in China. 4. Im Jahre 1888 starb Kaiser Wilhelm I. Der ihm nachfolgende Kaiser Friedrich ΠΙ. (*1831) verstarb ebenfalls im gleichen Jahr, so daß dessen Sohn Wilhelm Π. (1859-1941) den Thron bestieg. Mit der Entlassung des Reichskanzlers Bismarck im Jahre 1890 ging die von diesem geprägte Ära zu Ende. Es folgte das sog. Wilhelmischen Zeitalter des Kaiserreiches. Dieses begann mit einer Politik des sog. neuen Kurses, der zunächst zur Versöhnung der Arbeiterschaft mit der Gesellschaft beitragen sollte. Die Sozialdemokratie ließ sich aber dadurch nicht von ihrer Basis isolieren. Außenpolit. zerbrach mit der NichtVerlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Rußland das Bismarcksche Bündnissystem. Das Kaiserreich beteiligte sich nach 1890 intensiv am imperialistischen Weltmachtstreben. Die aufgeblähte Flottenrüstung führte zu einem unüberbrückbaren Gegensatz zu Großbritannien. Die imperiale dt. Politik
Deutsches Reich (1871-1918) wurde durch verschiedene überparteiliche chauvinistische Verbände, deren wichtigster der Alldt. Verband war, gestützt. In deren Ideologie war eine rassisch begründete, antisemitische Komponente enthalten. Durch die gesellschaftl. Dominanz des Militärs erhielt das Kaiserreich eine militaristische Ausrichtung. In der angespannten Lage des Reiches entwickelte der Chef des Generalstabes, A. Graf von Schließen (1833-1913), 1905 den Strategieplan eines Zweifrontenkrieges. Außenpolit. Großmachtaktionen und Ungeschicklichkeiten besonders Wilhelms Π. trugen zur weiteren Isolierung des Reiches bei, ζ. B. dessen Äußerungen zum Burenkrieg in Südafrika (1886), die „Hunnenrede" (1900) und die Marokkokrisen (1905/11). 5. Die enge Verbindung mit dem krisengeschüttelten Vielvölkerstaat Öst.-Ungarn erwies sich als ein schwerwiegendes und ständiges Problem fllr das Kaiserreich. Da die europ. Mächte auf einen großen Krieg hinsteuerten, lastete eine zunehmende Kriegsgefahr über dem Kontinent. Der I. Weltkrieg wurde durch das Attentat von Sarajewo 1914, bei dem der öst. Thronfolger erschossen wurde, ausgelöst. Der Kriegsbeginn löste eine beispiellose Kriegsbegeisterung im dt. Volk aus, welche die „Burgfriedenspolitik" auch der Sozialdemokratie für die Zeit des Krieges mittrug. Dadurch schien die lange vermißte innere Einheit des dt. Volkes hergestellt. Der dt. Angriffskrieg gegen Frankreich - unter Mißachtung der Neutralität Belgiens - kam nach anfänglichen Erfolgen im September 1914 an der Marne zum Stehen. Im Osten konnte der russische Vormarsch in der siegreichen Schlacht bei Tannenberg im August 1914 gestoppt werden. Im Westen kam es in der Folgezeit zum Stellungskrieg. Nach Ausbleiben eines raschen militärischen Sieges wuchsen ab 1915 die wirtschaftl. Schwierigkeiten, die im Winter 1916/17 zu Hungersituationen in den dt. Städten („Kohlrübenwinter") führten. Durch den 1917 wieder aufgenommenen uneingeschränk-
Deutsches Reich (1871-1918) ten U-Boot-Krieg der dt. Heeresleitung wurde der Kriegseintritt des USA auf der Seite der dt. Kriegsgegner provoziert. Der Eintritt der USA (1917) an der Seite der Entende-Mächte entschied endgültig den I. Weltkrieg. Vor dem Kriegseintritt der USA hatten sich die kriegführenden Mächte wiederholt um eine Friedensvermittlung der USA bemüht. Alle Bestrebungen scheiterten aber an den überzogenen Kriegszielen der Staaten. Seit 1916, dem Ende der Burgfriedenspolitik, setzte in Dtld. eine Friedensdebatte ein, die im Juli 1917 in der Friedensresolution des Reichstages gipfelte. Damit schlug der Reichstag den Weg zur —> Parlamentarisierung der Regierung ein. Durch die russische Oktoberrevolution von 1917 unter Leitung des mit dt. Hilfe nach Rußland zurückgekehrten Lenin entstand die bolschewistische -> Diktatur, die mit dem Reich im März 1918 den Frieden von Brest-Litowsk nach dt. Diktat schloß. Im Frühjahr 1918 scheiterte die dt. Offensive im Westen, die den Sieg im Krieg herbeiführen sollte. Die militärische Führung gestand die Niederlage ein und verlangte Ende September 1918 von der Politik den sofortigen Abschluß eines Waffenstillstandes. 6. Anfang Oktober 1918 übernahm Prinz M. von Baden das Amt des Reichskanzlers, der sich mit seiner Regierung jetzt auf die Mehrheit der im Reichstag vertretenen Parteien stützte. Dies bedeutete einen wesentlichen Schritt in Richtung einer Parlamentarisierung der dt. Reichsverfassung. Im Oktober 1918 wurde die Verfassung geändert (Oktoberverfassung), indem der Reichskanzler von parlement. Mehrheiten abhängig wurde. Die Verfassungsänderung hatte jedoch keine unmittelbare Bedeutung mehr erlangt, da wenige Tage später die Novemberrevolution gänzlich andere Bedingungen herbeiführte. Daß aber in den Augen der dt. Öffentlichkeit die Reichsregierung und nicht das Militär die Verantwortung für den Waffenstillstand und später für die Versailler Verträge trug, hatte zur Folge, 249
Deutschlandvertrag
Deutschlandvertrag daß den Parteien, welche die Reichsregierung stützten, die Verantwortung für die katastrophale Lage des Reiches zugeschoben wurde. Dies hatte weitreichende belastende Auswirkungen für die polit. Lage in der —> Weimarer Republik. Ausgelöst wurde die Novemberrevolution durch den Matrosenaufstand in der dt. Flotte, der sich rasch auf die Garnisonen der Binnenstädte und die Arbeiterschaft ausbreitete. Am 9.11.1918 trat Reichskanzler M. von Baden zurück. Die Regierungsgeschäfte übernahm F. Ebert (1871-1925), der Führer der Mehrheitssozialdemokratie. Am 9.11.1918 wurde die dt. Republik ausgerufen. Damit hörte das Kaiserreich auf zu bestehen. Lit.: H. Boldt: Dt. Verfassungsgeschichte, Bd. 2, München 1990; DVerwGesch III; E. R. Huber: Dt. Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, Stuttgart 31988 U. Bd. IV. 21969; T. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 2, München 1992.
Mathias Tullner Deutschlandvertrag Der Vertrag über die Beziehungen zwischen der —> Bundesrepublik Dtld. und den Drei Mächten vom 26.5.1952 i.d.F. vom 23.10.1954 (D„ auch als Generalvertrag bezeichnet; BGBl. 1955 Π S. 305) ist Bestandteil der —> Pariser Verträge. Er bildete bis zur -> Deutschen Einheit 1990 die Grundlage für die Beziehungen der 3 Westmächte Frankreich, Großbritannien, USA - zur BRD. Mit seinem Inkrafttreten endete das Besatzungsregime der 3 Westmächte in der BRD (Art. 1 Abs. 1). Im Hinblick auf das Ende des Besatzungsregimes erklärten die Vertragsstaaten, die BRD werde „demgemäß die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten haben" (Art. 1 Abs. 2). Die Westmächte behielten sich jedoch „im Hinblick auf die internationale Lage, die bisher die Wiedervereinigung Dtld.s und den Abschluß eines Friedensvertrags verhindert hat, ... die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Beri.
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und auf Dtld. als Ganzes einschließl. der Wiedervereinigung Dtld.s und einer friedensvertraglichen Regelung" vor (Art. 2). Die BRD verpflichtete sich, ihre Politik im Einklang mit den Prinzipien der UNCharta und mit den im Statut des -> Europarats aufgestellten Zielen zu halten (Art. 3). Die Westmächte verpflichteten sich u.a., die BRD hinsichtlich der Ausübung der alliierten Rechte in bezug auf —» Berlin sowie in allen Angelegenheiten zu konsultieren, welche die Ausübung ihrer Rechte in bezug auf Dtld. als Ganzes berühren (Art. 6 Abs. 1, 7 Abs. 2). Bzgl. der Stationierung von Streitkräften der Drei Mächte in der BRD erklärten sich diese bereit, ihre Rechte, soweit diese betroffen ist, nur in vollem Einvernehmen mit der BRD auszuüben. Diese war damit einverstanden, daß Streitkräfte der gleichen Nationalität und Effektivstärke wie z.Z. des Inkrafttretens der Abmachungen über den deutschen Verteidigungsbeitrag in der BRD stationiert werden (Art. 4). Die Vertragsstaaten erklärten in Art. 7 Abs. 1, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine friedensvertragliche Regelung für ganz Dtld. sei: Diese Regelung müsse zwischen Dtld. und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbart sein. Sie solle die Grundlage für einen dauerhaften - » Frieden bilden. Die endgültige Festlegung der Grenzen Dtld.s müsse bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden. Gem. Art. 7 Abs. 2 waren die Vertragsstaaten verpflichtet, bis zum Abschluß der friedensvertraglichen Regelung zusammenzuwirken, um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen, nämlich „ein wiedervereinigtes Dtld., das eine freiheitlich-demokrat. Verfassung ähnlich wie die BRD besitzt, und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist". Mit der völkerrechtl. Absicherung der Dt. Einheit am 3.10.1990 durch den sog. 2+4Vertrag vom 12.9.1990 hatte der D. seinen wesentlichen Zweck erreicht. Nachdem die im D. verankerten Vorbehaltsrechte der drei Mächte im Interesse der
D'Hondt'sches Höchstzahlverfahren Sicherheit ihrer in der BRD stationierten Streitkräfte bereits mit Inkrafttreten der sog. —> Notstandsverfassung des GG vom 24.6.1968 erloschen waren, wurde der D. durch eine Vereinbarung in Form eines Notenwechsels zwischen der BRD und den 3 Westmächten vom 27./28.9.1990 (BGBl. 1990 Π S. 1386) aufgehoben. Lit: W. Greve·. Dtld.veitrag, in: W. Weidenfeld / K.-R. Körte (Hg), Handbuch zur Deutschen Einheit, Frankfiirt/M. 1993, S. 234ff. Jörg Ukrow D'Hondt'sches Höchstzahlverfahren Das nach dem belg. Mathematiker dHondt bezeichnete Rechenverfahren (Divisorenverfahren) dient der Umrechnung von Wählerstimmen in —> Mandate, d.h. der proportionalen Sitzverteilung bei Wahlen zu Vertretungskörperschaften auf der Grundlage der von den polit. —> Parteien errungenen gültigen Stimmen. Nach dem System dHondt werden die zu vergebenden Mandate für die einzelnen Wahlvorschlagsträger in der Reihenfolge nach der Größe der sich aus Teilungen ergebenden Höchstzahlen verteilt. Zunächst werden die Gesamtstimmenzahlen für die einzelnen Wahlvorschläge ermittelt und festgestellt. Anschließend wird die Gesamtstimmenzahl jedes Wahlvorschlages so lange durch 1, 2, 3 usw. dividiert, bis soviel Höchstzahlen ermittelt sind, wie Sitze zur Verteilung stehen. Beginnend mit der höchsten Teilungszahl wird dann jeweils dem Wahlvorschlag, der die höchste Teilungszahl aufweist, ein Sitz zugeteilt. Das eine tendenzielle Begünstigung größerer Parteien bewirkende Verfahren galt lange Zeit bei Bundestagswahlen. Es wurde 1982 durch das -> Hare/Niemeyersche Verfahren abgelöst, gilt aber heute noch in zahlreichen Landes- und Kommunalwahlgesetzen. W. Sch.
Die Grünen 1848 mit dem „Programm der inneren Mission gegen soziale Not" und dem darauf hin gegründeten „Centraiausschuß für die Innere Mission der Dt. Ev. Kirche" des Hamb. Theologen J.H. Wichern. Nach diesem Vorbild entstanden in Städten und Kirchenbezirken Verbände mit rechtl. selbständigen Einrichtungen, die sozialpädagogische, und pflegerische Aufgaben gegenüber Hilfsbedürftigen wahrnahmen. Nach dem Π. Weltkrieg wurde das D.W. als Hilfswerk der Ev. Kirche in Dtdl. gegründet. Dem D.W. gehören heute als Mitglieder die D.W.e der 24 Landeskirchen der EKD, 9 Freikirchen mit ihren diakonischen Einrichtungen sowie rd. 90 Fachverbände verschiedener Arbeitsfelder an. Diese Mitglieder repräsentieren ca. 31.000 selbständige Einrichtungen mit rd. 450.000 hauptamtlichen Mitarbeitern. Femer gibt es knapp 7.000 Selbsthilfeund Helfergruppen. Mitgetragen wird die diakonische Arbeit von den rd. 18.000 Gemeinden der Landes- und Freikirchen, in denen über 400.000 ehrenamtliche Mitarbeiter tätig sind (—> Ehrenamtliche Tätigkeit). Das D.W. ist anerkannter Spitzenverband der Freien —> Wohlfahrtspflege und betätigt sich u.a. auf folgenden Gebieten: Jugend-, Familien- und Altenhilfe, Kranken- und Behindertenhilfe, Gefährdeten- und Suchthilfe, Arbeitslosenhilfe, fördernde Maßnahmen im -> Zivildienst und im freiwilligen sozialen Jahr. International bekannt ist das D.W. durch die Aktion „Brot für die Welt", mit der Entwicklungsprojekte überwiegend durch —> Spenden finanziert werden; neben diese Aktion tritt seit 1994 das ebenfalls spendenfinanzierte Engagement in dem Programm „Hoffnung für Osteuropa". Darüber hinaus leistet das D.W. Katastrophenhilfe und ermöglicht ausländischen Studenten im Rahmen von Stipendienprogrammen ein l-2jähriges Studium an dt. Hochschulen.
Diäten —> Abgeordnetenentschädigung Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche Die organisierte Diakonie begann
Hg. Die Grünen
Bündnis 90 / Die Grünen
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Dienstaufsichtsbeschwerde Dienstaufsichtsbeschwerde 1. Die D. ist im -> Verwaltungsrecht ein formloser -» Rechtsbehelf, mit dem das Tätigwerden des Dienstvorgesetzten angeregt werden soll, und der die Überprüfung des beanstandeten Verhaltens eines Bediensteten der öffentl. -> Verwaltung sowie ggf. ein Einschreiten gegen diesen zum Ziel hat. Beanstandetes Verhalten ist dabei eine Verletzung von Dienstpflichten durch einen Amtsträger. Die D. ist von einem förmlichem Rechtsbehelf im —> Verwaltungsverfahren (gesetzl. vorgeschriebene, förmliche Beschwerde, -» Einspruch, —> Widerspruch) zu unterscheiden. Sie kann unabhängig von und neben solchen förmlichen Rechtsbehelfen ohne Formund Fristerfordemis von jedermann eingelegt werden, d.h. auch von einer Person, die durch das beanstandete Verhalten nicht betroffen ist. Eine D. berührt weder die Wirksamkeit der beanstandeten behördlichen Maßnahme noch hemmt sie eine Widerspruchsfrist. Der Beschwerdeführer hat einen - aus Art. 17 GG folgenden - Anspruch auf Entgegennahme, sachliche Prüfung und Bescheidung seiner D.; ein Anspruch auf Begründung der Beschwerdeantwort besteht demgegenüber auch bei ablehnender Entscheidung nicht. 2. Eine D. in der Gerichtsbarkeit liegt demgegenüber bei einer Beschwerde vor, daß die Tätigkeit eines Gerichts nicht den rechtl. Anforderungen entspreche bzw. unangemessen sei, und daß im Wege der Dienstaufsicht durch den Dienstvorgesetzen (nicht - wie bei der Gegenvorstellung - durch das handelnde Gerichtsorgan selbst) Abhilfe geschaffen werden soll. Die D. in der Gerichtsbarkeit ist von den verfahrensrechtl. geregelten -> Rechtsmitteln zu unterscheiden. Auch bei einer solchen D. besteht grds. ein Anspruch auf Entgegennahme und Beantwortung; Maßnahmen der Dienstaufsicht finden aber ihre Schranke in der durch Art. 97 Abs. 1 GG geschützten richterlichen Unabhängigkeit. Lit: J. Kratzer; Die Dienstaufsichtsbeschwerde, in: BayVBl 1969, S. 189ff.
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Diktatur Jörg Ukrcrw Dienstherrenfähigkeit ist die Fähigkeit einer -> juristischen Person des -» öffentlichen Rechts, -> Beamte zu haben. Sie ist ein Unterfall der sog. Personalhoheit und als solche wesentlicher Teil der Regienmgsgewalt. Die D. steht nach § 121 BRRG nur dem -> Bund, den -> Ländern, Gemeinden und Gemeindeverbänden sowie sonstigen -> Anstalten, Körperschaften und -> Stiftungen des öffentlichen Rechts zu, die dieses Recht zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des BRRG besitzen (z.B. Landschaftsverbände, Landesversicherungsanstalten) oder denen es nach diesem Zeitpunkt durch —> Gesetz, -> Rechtsverordnung oder -» Satzung verliehen wird (z.B. —> Landesmedienanstalten). Lit.: U. Battis: Bundesbeamtengesetz, München 2 1997.
J. U.
Diktatur ist eine -> Staatsform, bei der die Herrschaftsgewalt nicht auf verschiedene, sich wechselseitig kontrollierende —> Staatsorgane verteilt ist, sondern unbeschränkt von einem einzelnen oder einer Gruppe (v.a. einer Partei o. Militäijunta) ausgeübt wird. Die kommissarische D. wird als verfassungsgemäße D. (konstitutionelle D.) von Verfassungs wegen zur Bewältigung einer Ausnahmesituation eingesetzt. Sie ist zeitlich wie von ihren Zielen und Aufgaben her beschränkt und auf die Wiederherstellung des normalen verfassungsgemäßen Zustandes gerichtet. Die „souveräne" D. als die eigentliche D. (totale D., Despotie) ist dagegen eine rein monokratische Staatsform, bei der die entscheidenden Herrschaftsbefugnisse bei einer Person oder Gruppe konzentriert sind, welche dauerhaft ohne Bindung an materielles Verfassungsrecht regieren. Unbeachtlich ist dabei, ob die Machtergreifung revolutionär oder formal legal erfolgte. Daß eine konstitutionell begründete, zeitlich begrenzt angelegte D. in eine totale D. umschlagen kann, belegt
Diplomat
Diplomatischer Dienst
histor. insbes. der Übergang von der ersten frz. Republik zur Herrschaft Napoleons I. (1792-1815), aus der jüngeren Geschichte namentlich auch die Entwicklung in Dtld. (Reichstagsbrandverordnung vom 28.2.1933, gestützt auf den sog. Diktaturparagraphen des Art. 48 WRV; „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" - sog. -> Ermächtigungsgesetz vom 24.3.1933). Am dt. Beispiel wird auch die Neigung einer D. zum —> Totalitarismus und zur Willkürherrschaft sowohl für die Zeit der Ftlhrer-D. des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 als auch für die Zeit der stalinistischen Ausrichtung des SED-Regimes (-> DDR) besonders augenfällig. Lit: K.-D. Bracher: Die dt. Diktatur, Köln 6 1980; H. Weber: Aufbau und Fall einer Diktatur, Köln 1991.
Jörg Ukrow Diplomat (frz. rückgebildet aus diplomatique = urkundlich wegen des Beglaubigungsschreibens); höherer Beamter des —» Diplomatischen Dienstes bzw. des —> Auswärtigen Dienstes. Die völkerrechtl. Vertretung eines —> Staates im Ausland wird auf Regierungsebene von D.en wahrgenommen. Die allgemeine Rechtsstellung der D.en sowie die Vorrechte und —> Immunitäten sind, in Fortführung überkommenen Gewohnheitsrechts, in der Wiener D.enrechtskonvention vom 18.4. 1961 geregelt (-> s.a. Botschafter). Κ.Ή. Diplomatie umfaßt i.e.S. 1. die Tätigkeit, die der Vorbereitung außenpolit. Entscheidungen und ihrer Durchführung auf friedlichem Wege v.a. durch Vertretung in und Verhandlung mit anderen Staaten dient, 2. die Methode und Lehre der Wahrnehmung außenpolit. Interessen sowie 3. die Gesamtheit der —> Diplomaten und die berufliche - > Laufbahn der D. (—> s.a. Diplomatischer Dienst, —> Botschaft). K.H.
Diplomatische Beziehungen sind im —» Völkerrecht der ständige Kontakt zwischen Völkerrechtssubjekten durch diplomatische Vertretungen. Die Aufnahme und der Abbruch der d.B. ist in das Ermessen der Staaten gestellt; das Angebot, d.B. aufzunehmen, ist eine der Formen, in denen die Anerkennung eines Staates oder einer Regierung erfolgen kann. K.H. Diplomatischer Dienst Bezeichnung für den Teil der Staatsorganisation, der die auswärtigen Angelegenheiten wahrzunehmen hat ( - » Auswärtiger Dienst). Nach dem -> Völkerrecht gehören nur die Bediensteten der Auslandsvertretungen mit diplomatischem Status zum d.D. im eigentlichen Sinne. Die -> Konsuln gehören nicht zum d.D. Geschichte Während sich die Anfänge einer unter den Begriff der -> Diplomatie zu fassenden Tätigkeit bis in den Alten Orient (etwa 1400 v.Chr.) zurückverfolgen lassen, wurde ein besonderer d.D. mit eigenen Gepflogenheiten zuerst vom byzantinischen Reich unterhalten. Permanente Missionen bei ausländischen Regierungen wurden zuerst zwischen den ital. Staaten im 15. Jhd. eingerichtet. In der ersten Hälfte des 16. Jhd. s wurde die Diplomatie zu einem allgemeinen Mittel der Außenpolitik. In dieser Zeit begann auch die Ausbildung eines Sonderrechts der Diplomaten, das Grundsätze über Rangklassen, —» Immunitäten und Korrespondenzformen enthielt und im Laufe der Zeit kodifiziert wurde (Wiener Reglement v. 19.3.1815, Aachner Protokoll v. 21.11. 1818, Wiener Diplomatenrechtskonvention v. 18.4.1961). Die diplomatische Sprache war zuerst Latein, bis im 17. Jhd. Kardinal Richelieu (1585-1642) den Vorrang der frz. Sprache begründete. Seit der Pariser Friedenskonferenz (1919) ist das Englische gleichrangig neben das Französische getreten. Die für die modernen Gesellschaften kennzeichnenden verwaltungsstaatl. Herrschaftsformen haben zu einer Btlrokratisierung auch des d.D.
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Diplomatischer Schutz
Direkte Demokratie
geführt; nur gelegentlich und aus parteipolit. Gründen werden diplomatische Vertretungen mit Politikern anstelle von Berufsdiplomaten besetzt. Während der d.D. vor dem I. Weltkrieg allein den zwischenstaatl. Beziehungen diente, spielt seit der Errichtung des Völkerbundes und der —> Vereinten Nationen daneben die Vertretung in internationalen Organisationen eine wachsende Rolle. Die neuen Femnachrichtentechniken haben, ebenso wie die durch die modernen Verkehrsmittel ermöglichten häufigen persönlichen Begegnungen der führenden Repräsentanten der Staaten, die Selbständigkeit des d.D. und damit seine Bedeutung gemindert. Karlheinz Hösgen Diplomatischer Schutz Die —» Bundesrepublik Deutschland gewährt allen Deutschen i.S. von Art. 116 GG d.S.; nach allgemeinem —» Völkerrecht ist der Heimatstaat berechtigt, seine Staatsangehörigen gegen eine völkerrechtswidrige Behandlung durch einen fremden Staat zu schützen. Völkergewohnheitsrechtl. gelten bestimmte Vorrechte und Befreiungen; dazu zählen v.a. die —> Immunität der -> Diplomaten und die -> Exterritorialität sowie Unverletztlichkeit der Räumlichkeiten ihrer Missionen. Weiterhin ist der Empfangsstaat zur Sicherstellung des diplomatischen Verkehrs verpflichtet; hierzu gehören wesentlich die freie Ein- und Ausreise der Mitglieder der diplomatischen Missionen, freie Nachrichtenverbindungen und unkontrollierter Transport des Kuriergepäcks. Lit.: G. Res s (Hg.): Der diplomatische Schutz im Völker- und Europarecht, Baden-Baden 1996.
K.H. Diplomatisches Korps (frz. Corps diplomatique; Abk. CD) ist seit der Zeit Maria Theresias (1754) die gebräuchliche Bezeichnung für die Gesamtheit der bei einem —» Staatsoberhaupt akkreditierten (beglaubigten) Chefs diplomatischer Missionen. Das CD tritt bei bestimmten protokollarischen Anlässen als Ganzes 254
auf. An seiner Spitze steht i.S. eines Sprechers der Doyen (rangältester Missionschef)· Das Außenministerium führt eine Liste der zum CD gehörenden Personen (Diplomatische Liste). Parallel dazu gibt es das Konsular Korps (Corps consulaire = CC). K.H. Direkte Demokratie bedeutet, daß das -» Volk die - » Staatsgewalt selbst handelnd ausübt. Sie kann von der indirekten (mittelbaren, repräsentativen) —> Demokratie unterschieden werden. Eine plebiszitäre Demokratie ist insoweit d.D., als die —> Staatsbürger hier durch Zustimmung oder Ablehnung ihnen vorgelegter Gesetzesvorschläge letzte Instanz der -> Gesetzgebung sind, während ihnen das Gesetzgebungsinitiativrecht - im Unterschied zur d.D. i.e.S. - fehlt. Komponenten d.D. im vorbezeichneten Sinne waren insbes. in den Stadtstaaten Griechenlands lange Zeit vertraut. Heute findet sich direkte demokrat. -> Herrschaft noch in einigen kleinen Schweizer Kantonen, in denen sich die Landsgemeinde zu Staatsgeschäften versammelt. In der dt. Verfassungsgeschichte hat die d.D. in Form des Rätesystems, dessen prägendes Organisationsmerkmal insbes. ein —> imperatives Mandat, d.h. die Bindung der gewählten (und jederzeit abruf- und ersetzbaren) Räte an die Aufträge ihrer Wähler ist, nach der Novemberrevolution 1918/19 eine gewisse Rolle gespielt. Die Herrschaftsgewalt der gewählten Arbeiter- und Soldatenräte konnte sich indessen nicht dauerhaft etablieren, sondern wurde auf Reichsebene wie in den Ländern durch Parlament, -repräsentative Regierungssysteme verdrängt. Damit teilten diese rätedemokrat. Entwicklungen in Dtld. das Schicksal des Scheitern mit ihrem Vorbild, der Pariser Kommune von 1871, wie mit jüngeren Ansätzen z.B. während des polnischen und ungarischen Aufstandes 1956 oder in Jugoslawien unter und nach Tito. Namentlich praktische
Schwierigkeiten
Diskontinuität
Direktmandat der Organisation, die Komplexität heutiger polit. Entscheidungen und die Furcht vor der Manipulierbarkeit und Radikalisierungsfähigkeit der Massen begründen die Skepsis des modernen Verfassungsgebers gegenüber d.D.; zudem wirkte auch die Perversion des Rätegedankens nach der russischen Oktoberrevolution 1917 im Sowjet(„Räte"-)system Lenins und Stalins sowie das Scheitern von rätedemokrat. Ansätzen auf der Seite der republikanischen Loyalisten im span. Bürgerkrieg ernüchternd hinsichtlich der Eignung d.D. als Herrschaftsform für die moderne Industriegesellschaft. Das -> Grundgesetz verankert dementsprechend den Primat einer repräsentativen Demokratie ( - » Repräsentation): Zwar findet sich in Art. 20 Abs. 2 S. 2 („in Wahlen und Abstimmungen") die unmittelbare Komponente der Demokratie vom Ansatz her neben deren mittelbarer Komponente („durch besondere Organe der Gesetzgebung"). Eine systematische Interpretation des GG belegt indessen, daß dieses plebiszitäre Element (-> Volksentscheid) nur in Art. 29 und 118, d.h. im Zusammenhang mit der Neugliederung des Bundesgebietes, sowie in Art. 146, d.h. im Zusammenhang mit einer umfassenden Verfassungsrevision, vorgesehen ist. Die Länderverfassungen stehen solchen plebiszitären Entscheidungen demgegenüber i.d.R. offener gegenüber. Lit: J. Giehl: Direkte Demokratie, München 1996; HdbStR II, § 39; A. Klages / P. Paulus: Direkte Demokratie, Marburg 1996. Jörg Ukrow Direktmandat -> Mandat Direktor beim Deutschen Bundestag —> Bundestagsverwaltung Diskontinuität Es gehört zu den grundlegenden Prinzipien des freiheitlichen —> Rechtsstaats, daß die Volksvertretungen in regelmäßigen, im voraus bestimmten Abständen durch -> Wahlen abgelöst und neu legitimiert werden. Daraus folgt, daß
die -> Abgeordneten nur für die vorher festgelegte Laufzeit der Legislaturperiode gewählt worden sind. —> Wahlperiode und Abgeordnetenmandat sind demnach konstitutiv miteinander verbunden. Aus der h.L. von der D. der - » Parlamente folgt notwendig diejenige der —> Fraktionen. Die konkret-personelle Zusammensetzung des Parlaments und damit auch der Fraktionen ist durch den regulären Ablauf der Wahlperiode oder deren vorzeitige Beendigung durch -> Parlamentsauflösung begrenzt. Dies bedeutet allerdings nicht, daß es zu parlamentslosen Zeiten kommen könnte. Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG bestimmt für den —> Bundestag, daß das Ende der Wahlperiode mit dem ersten Zusammentritt des neugewählten Parlaments zusammenfällt. Daraus folgt, daß bis dahin auch die Fraktionen des alten Bundestages weiter bestehen, obwohl bereits neue Mandatsträger gewählt sein können, die sich als Nachfolger bisheriger Abgeordneter bereithalten. Mehr noch, es können nebeneinander Sitzungen der alten und der neuen Fraktionen stattfinden, die in der personellen Zusammensetzung nicht identisch sind. Daraus ergibt sich aber auch, daß die Fraktionen trotz der Organdiskontinuität der Vertretungskörperschaft und der daraus resultierenden grundsätzlichen D. der Parlamentsarbeit faktisch zu Elementen der polit. Kontinuität geworden sind. Dieser Umstand wiegt in der praktischen Politik schwerer als die personelle D. im Rechtssinne, die ggf. - im Falle des Verfehlens der erforderlichen Mandate bei der nächsten Wahl - den Untergang einer Fraktion zur Folge haben kann. Auch die —> Ausschüsse des Parlaments unterfallen der D., so daß deren Arbeit nach Wahlen neu und ohne Rücksicht auf die Gesetzgebungsarbeit des vorhergehenden Parlaments beginnen kann. Daß die Ausschüsse zweckmäßigerweise auf die Beratungsergebnisse der vorhergehenden Periode zurückgreifen, steht dem nicht entgegen. Selbstverständlich zeigt der Grundsatz der D. unmittelbare Wir-
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Diskriminierungsverbote
Diskriminierungsverbote kungen auf die Gesetzgebungsarbeit. Mit Zusammentritt des neuen Bundestages verlieren die noch nicht erledigten, im Ausschuß befindlichen Vorlagen ihre Rechtsqualität. Mitunter wird sogar eine größere Zahl von Vorlagen nicht mehr abschließend beraten. Es kann aber unterstellt werden, daß diejenigen Gegenstände, welche die Mehrheit zu verabschieden für notwendig hält, auch stets erledigt werden. Soweit dies nicht geschieht, ist hierfür zumeist ein entsprechender polit. Wille ursächlich. Der Grundsatz der D. gilt auch für das -> Europäische Parlament. Art. 167 Abs. 1 der —> Geschäftsordnung des EP bestimmt, daß alle unerledigten Gegenstände am Ende der letzten Tagung vor den nächsten Wahlen als verfallen gelten.
Lit.: J. Jekewitz: Der Grundsatz der Diskontinuität der Parlamentsarbeit im Staatsrecht der Neuzeit und seine Bedeutung unter der Parlament. Demokratie des GG, Berlin 1977; ders. : Der Grundsatz der Diskontinuität in der parlamtarischen Demokratie, in: JöR 1978, S. 76ff.
Gerhard Deter Diskriminierungsverbote Als D. werden (neben ebensolchen Verboten anderer Rechtsbereiche, etwa des —> Völkerrechts, des -> Europarechts, des Wirtschafts-, insbes. Wettbewerbsrechts) v.a. verfassungsrechtl. Unterscheidungsverböte bezeichnet. Diese sind die häufigste Form besonderer Gleichheitsgarantien, welche der dt. Verfassungstradition entsprechend im Grundgesetz neben dem allgemeinen Gleichheitssatz die grundrechtl. -> Gleichheit garantieren. D. richten sich gegen die rechtl. oder faktische Anknüpfung staatl. Handelns an in dem Verbot bezeichnete persönliche Eigenschaften einer betroffenen Person. Als Spezialregelungen zum allgemeinen Gleichheitssatz lassen sie grds. keinen Raum für Ausnahmen. Das GG kennt Unterscheidungsverbote insbes. in Art. 3 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 sowie in Art. 33 Abs. 3 S. 2 GG, mit sachlich begrenztem Anwendungsbereich 256
ferner in Art. 33 Abs. 1, Art. 33 Abs. 3 S. 1, Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 und 2 WRV. Das zentrale Unterscheidungsverbot des GG ist Art. 3 Abs. 3 S. 1. Er verbindet einen umfassenden Anwendungsbereich mit einem ausführlichen Katalog ausgeschlossener Merkmale, richtet sich gleichermaßen gegen Bevorzugungen wie gegen Benachteiligungen. Der Merkmalkatalog faßt die Kriterien der wichtigsten einzelnen Unterscheidungsverbote der dt. Verfassungsgeschichte zusammen und ergänzt sie um weitere, durch die Mißbräuche des —• Nationalsozialismus bedeutsam gewordene Kriterien. Im einzelnen sind ausgeschlossen Unterscheidungen nach Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiösen und polit. Anschauungen. Dieser Katalog entspricht weitgehend den D.n, die nach dem Π. Weltkrieg dem Vorbild der UN-Charta und der Allgemeinen Erklärung der —> Menschenrechte folgend zu fast universeller Geltung im ausländischen Verfassungsrecht wie im Völkerrecht gelangt sind. Abgesehen vom Geschlecht hat dieses Unterscheidungsverbot in der dt. Rechtsprechungspraxis keine allzu große Rolle gespielt; allerdings werden im Hinblick auf die polit. Anschaungen eklatante Durchsetzungsdefizite gegenüber den nicht ohne weiteres greifbaren Praktiken polit. Parteienpatronage hingenommen. Der im Jahre 1994 in Art. 3 Abs. 3e ergänzte Satz 2 zugunsten der Behinderten ist als Unterscheidungsverbot allein kaum geeignet, das angestrebte Ziel zu erreichen, da es hier gerade auch auf angemessene Sonderregelungen ankommt. In der Praxis hat das Unterscheidungsverbot nach dem Geschlecht, das auch im Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 S. 1 GG enthalten ist, mit Abstand die größte Bedeutung erlangt. Der Grund hierfür liegt darin, daß die von den diskriminierenden Auswüchsen der NS-Herrschaft bereinigte Rechtsordnung noch in weiten Bereichen patriarchalisch geprägt war. Die deshalb in Art. 117 Abs. 1 GG
Dreiklassenwahlrecht
Disziplinarverfahren eingeräumte Umsetzungsfrist bis April 1953 ist ergebnislos verstrichen. Das —> Bundesverfassungsgericht hat seither in einer mühsamen Entwicklung, auch selbst zeitbedingten Vorstellungen verhaftet, erst nach und nach für die gesamte Rechtsordnung die geschlechtsneutrale Ausgestaltung sichergestellt. Erst in den letzten Jahren hat es etwa die Feuerwehrpflicht nur für Männer oder das Nachtarbeitsverbot nur für Frauen nach Anstößen der europ. Gerichte aus der Rechtsordnung eliminiert; verfassungsrechtl. durch Sondervorschriften abgesichert bleiben allerdings Sonderbehandlungen für Frauen im Bereich des Militärs (Art. 12a Abs. 1, Abs. 4 S. 2 GG) bestehen. Als aktuelle Problematik beherrscht gegenwärtig die Frage die Diskussion, ob es zulässig ist, zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung der Geschlechter, mit deren Förderung jetzt Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG auch ausdrücklich den Staat beauftragt hat, nach dem Geschlecht unterscheidende Regelungen einzusetzen (wie namentlich die sog. —> Quote und andere Instrumente eines sog. preferential treatment). Im Hinblick auf die das Individuum schützende Bedeutung des D.s können derartige vom Gruppendenken bestimmte Regelungen nicht als grundgesetzgemäß akzeptiert werden. Für das Europarecht hat der —> Europäische Gerichtshof zuletzt jedenfalls absolut und unbedingt wirksame Zurücksetzungen männlicher Bewerber ausgeschlossen, eine Bevorzugung von Frauen aber zugelassen, wenn keinerlei sonstige Gründe für einen männlichen Konkurrenten sprechen; für das GG steht eine abschließende Entscheidung des BVerfG allerdings noch aus. Lit.: HdbStR V, S. 1017ff.; M. Sachs: Grenzen des Diskriminiemngsverbots, München 1987.
Michael Sachs Disziplinarverfahren Es handelt sich um ein durch das Disziplinarrecht des —> Bundes und der —» Länder vorgeschriebenes Verfahren, das die Ermittlung und
disziplinare Beurteilung eines Dienstvergehens eines —> Beamten bestimmt (formelles Disziplinarrecht). Unter der Voraussetzung, daß Tatsachen bekannt werden, die den Verdacht eines Dienstvergehens rechtfertigen, veranlaßt der Dienstvorgesetzte die zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen Ermittlungen. Diese Vorermittlungen stehen am Anfang eines jeden D.s. Dadurch soll der Sachverhalt aufgeklärt und festgestellt werden, ob ein Beamter seine Dienstpflichten schuldig verletzt und damit ein Dienstvergehen begangen hat. Wird auf Grund der Vorermittlungen ein Dienstvergehen nicht festgestellt, so stellt der Dienstvorgesetzte das Verfahren ein. Kommt eine Einstellung des Verfahrens nicht in Betracht, kann der Dienstvorgesetzte bei ausreichender Disziplinarbefugnis nur eine Disziplinarmaßnahme in Form eines Verweises oder einer Geldbuße verhängen. Andernfalls leitet er das förmliche D. ein, welches sich in die Untersuchung und in das Verfahren vor den Disziplinargerichten gliedert. Ein Disziplinargericht darf folgende Disziplinarmaßnahmen verhängen: Gehaltskürzung, Versetzung in ein Amt derselben -» Laufbahn mit geringerem Endgrundgehalt, Entfernung aus dem Dienst, Kürzung des Ruhegehalts und Aberkennung des Ruhegehalts. Lit.: H. R. Claussen / W. Janzen: Bundesdisziplinarordnung, Köln 8 1994; H. Köhler / G. Ratz: Bundesdisziplinarordnung und materielles Disziplinarrecht, Köln 2 1994. H. W.
Doppelmandat -> Mandat Dreiklassenwahlrecht Von 1849 bis 1918 geltendes —> Wahlrecht zum preuß. Haus der Abgeordneten. Es handelte sich um ein ungleiches, indirektes und öffentl. Männerwahlrecht. Die Urwähler eines Wahlbezirks wurden nach ihrer Steuerkraft geordnet und in 3 Klassen (Abteilungen) mit jeweils gleich hohem Steuergesamtbetrag eingeteilt. Jede Klasse wählte 1/3 der Wahlmänner. Diese 257
Dreiklassenwahlrecht
DVU
wählten die Abgeordneten. Da in der 1. Klasse manchmal nur wenige Höchstbesteuerte, in der 2. Klasse wenige Mittelbesteuerte und in der 3. Klasse die vielen Niedrigbesteuerten und die nicht zur Steuer Herangezogenen wählten (1903 waren es z.B. 84,57% der Wähler), führte dieses Wahlrecht zu einer polit. Entmündigung der Mehrheit des Volkes und damit zugleich zu einer Absicherung der polit. Vorherrschaft der konservativen Großgrundbesitzer und des wohlhabenden Bürgertums. Es richtete sich v.a. auch gegen die Wahl- und Machtchancen der Sozialdemokratie. Das preuß. D. stand mit seiner extrem diskriminierenden Tendenz zunächst keinesfalls allein. In Dtld. und in anderen europ. Ländern setzte sich das moderne, demokrat. Wahlrecht erst schrittweise und nach schweren polit. Auseinandersetzungen durch. Nach der Zuriickdrängung ständischer Wahlformen waren verschiedene Ausgestaltungsformen des Zensuswahlrechts auf der Ebene der dt. Einzel- bzw. Gliedstaaten und der Kommunen weit verbreitet. Besitz, Einkommen oder Steuerzahlung, vordemokrat. Wahlverfahren (öffentl. Stimmabgabe) und zahlreiche Finessen gewichteten die Stimmabgabe. Relative Armut konnte zum Ausschluß vom Wahlrecht führen, der Bezug von öffentl. Annenunterstützung hatte regelmäßig den Wahlrechtsverlust zur Folge. Hohe Altersgrenzen, der Ausschluß der Frauen und andere Kriterien begrenzten zusätzlich das Recht zu wählen und die Wählbarkeit. Die Reichstagswahlen im Norddt. Bund ab 1867 und im —> Deutschen Reich ab 1871 beruhten demgegenüber bereits auf einem allgemeinen, direkten, geheimen und gleichen Männerwahlrecht. Die Novemberrevolution des Jahres 1918 beendete die Epoche des vordemokrat. Männerwahlrechts in Dtld. Lit.: E.R. Huber: Dt. Verfassungsgeschichte seit 1789, III., Stuttgart 31988, S. 85ff.; T. Kühne: Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preussen 1867-1914, Düsseldorf 1994.
Eckart Reidegeld 258
Dreizeugentestament -> Testament Dritte Beratung —> Gesetzgebung Dritte Lesung —> Lesung —> Gesetzgebung Dritte Welt Diese Bezeichnung fìir die „armen" Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ist ein polit. Begriff, der v.a. auf die wirtschaftl. und soziale Entwicklung verweist. Der Begriff täuscht allerdings eine nicht bestehende Einheit vor. So reichen die der D. W. zugehörigen Länder von asiatischen „Tigern" über OECD-Mitglieder (-> OECD) wie Mexiko bis zu den am wenigsten entwickelten Ländern, den „least developed countries" (manchmal auch als „Vierte Welt" bezeichnet). Mit dem Zerfall der „zweiten Welt" der kommunistischen Länder Osteuropas hat dieser Begriff weiter an Prägnanz verloren. Im offiziellen Sprachgebrauch, z.B. des BMZ, wurde vor dem Hintergrund Ökonom. —> Globalisierung dazu übergegangen, von der „Einen Welt" zu sprechen, ein polit, allerdings nicht weniger fragwürdiger Begriff. Im Sprachgebrauch der —> Vereinten Nationen gibt es daneben bereits seit 1951 die neutrale Bezeichnung der —> Entwicklungsländer. Lit: D. Nohlen (Hg.): Handbuch der Dritten Welt, 8 Bde., Bonn 1992ff.; ders. : Lexikon Dritte Welt, Reinbek'1994.
D. K. Drittes Reich -* Nationalsozialismus Drucksachen -> Bundestagsdrucksachen DVU Die rechtsextreme (-> Extremismus, polit.) Deutsche Volksunion wurde am 18.1.1971 von Gerhard Frey, dem finanzkräftigen Verleger u.a. der „Dt. National-Zeitung" (Auflage: ca. 70.000), als überparteiliche, „national-freiheitliche" Sammlungsbewegung gegründet. Sie vertritt einen traditionellen Dt.-Nationalismus, höchster Wert ist die (dt.) —>
EG-Richtlinie
EAG Nation. Vehement wird fìir sog. Ausländerbegrenzung und die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze eingetreten. Erst im März 1987 wurde die Bewegung zur Partei „DVU-Liste D", die zunächst eng mit der NPD zusammenarbeitete. Auf Anhieb erreichte sie bei der Brem. Bürgerschaftswahl 3,4% der Stimmen. Dies leitete nach den rechtsextremen Wahlerfolgen der SRP in den 50er, der NPD in den 60er Jahren eine neue Welle rechtsextremer Achtungserfolge bei —> Wahlen ein, an deren Spitze sich aber nach ihrem Durchbruch bei den Beri. Wahlen (7,5%) und den Europawahlen (7,1%) die -> Republikaner setzten. Übersprangen diese in erster Linie im südlichen BW bei Landtagswahlen Fünf-Prozent-Hürde (—> Fünf-Prozent-Klausel), gelang dies der DVU wiederholt im Norden (Brem. 1991: 6,2%; SH 1992: 6,3%). Ihren bislang größten Gewinn konnte die Partei bei den Landtagswahlen im April 1998 in LSA mit 12,9% verbuchen. Sie ist damit die erste rechtsextreme Partei, die in ein ostdt. Parlament einzieht. Die DVU ist im rechtsextremen Spektrum die mitgliederstärkste Partei (1997: ca. 15.000). Die Mehrzahl der Mitglieder sind allerdings „Karteileichen". Die kaum vorhandene Parteiorganisation ist nicht demokrat., Entscheidungen trifft der Parteivorsitzende Frey. Höchst umstritten ist, ob die DVU die Kriterien einer Partei erfüllt. Fast ausschließlich bei Wahlen erscheint die Gruppierung als Phantom in Form von Wahlplakaten und Flugzettteln, nicht von Personen. Die Parlament. Mandatsträger der DVU fielen bislang v.a. durch Inaktivität und Inkompetenz auf. Lit: Α. Linke: Multimillionär Frey und die DVU, Essen 1994; A. Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus im geeinten Dtld., Bonn I1995.
Steffen Kailitz
E A G - » EURATOM ECU -> Europäisches Währungssystem EEA - » Einheitliche Europäische Akte EFTA Die European Free Trade Association wurde am 4.1.1960 in Stockholm als klassische Freihandelszone gegründet und trat am 3.5.1960 in Kraft. Gründungsmitglieder waren neben dem Initiator Großbritannien noch Dänemark, Norwegen, Schweden, Portugal, Öst. und die Schweiz. Grundlegendes Ziel der EFTA war die Förderung der europ. Integration. Anders als bei der —> EWG beschränkte sich die EFTA auf die Zollfreiheit fur nichtagrarische Güter sowie den Abbau mengenmäßiger Beschränkungen. Die EFTA hat mit einem aus Regierungsvertretern bestehenden Rat und einem Sekretariat gemeinsame Gremien, diese besitzen jedoch keinen supranationalen Charakter. Es herrscht das —> Einstimmigkeitsprinzip. Als 1973 mit Großbritannien und Dänemark 2 wichtige Mitglieder der EG beitraten, schlössen die restlichen EFTA-Staaten ein Freihandelsabkommen mit der EG ab, 1992 folgte die gemeinsame Gründung des Europäischen Wirtschaftsraumes EWR. Durch den EUBeitritt von Öst., Schweden, Portugal und Finnland scheint die Rest-EFTA, bestehend aus Island, Norwegen, der Schweiz und Liechtenstein, auf Dauer kaum überlebensfahig. Lit: R. Senti: EG, EFTA, Binnenmarkt, Zürich M995.
K.R. EG —» Europäische Gemeinschaft EG-Richtlinie / -n Eine R. ist nach Art. 189 Abs. 3 EGV und Art. 161 Abs. 3 EAGV für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich. Die Wahl der Form und der Mittel zur Umsetzung des Zieles der R. ist dabei den innerstaatl. Stellen überlassen. Dadurch kommt es 259
EG-Richtlinie grds. zu einem zweistufigen Rechtsetzungsverfahren, bei dem der Inhalt der Norm durch die EG-Organe vorgegeben wird und die konkrete Ausgestaltung in nationaler Zuständigkeit erfolgt. Mit Hilfe der R. wird insbes. die Harmonisierung mitgliedstaatl. Rechts ermöglicht. Das die R. ausführende —> Recht sowie staatl. -> Rechtsnormen, die vom Wirkungsbereich der R. erfaßt werden und deren Wirkung beeinträchtigen könnten, sind nach Art. 5 EGV "richtlinienkonform" auszulegen. Mit dem Erlaß der R. tritt eine sog. Sperrwirkung ein, weil innerhalb des Regelungsbereiches der R. keine entgegenstehenden Normen durch den nationalen -> Gesetzgeber geschaffen oder richtlinienkonform harmonisierte staatl. —> Rechtsvorschriften später nicht entgegen dem R.nziel abgeändert werden können. Sofern Streitigkeiten über die Auslegung von R.n auftreten, kommt das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 177 EGV) vor dem —• Europäischen Gerichtshof in Betracht. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die R. innerhalb der in dieser festgesetzten Frist umzusetzen und ggf. Rechtsvorschriften dem Inhalt der R. anzupassen. Wenn ein Mitgliedstaat dieser Umsetzungspflicht nicht fristgemäß nachkommt, kann es unter bestimmten Voraussetzungen auch zu einer unmittelbaren Rechtswirkung von R.n kommen. Ansonsten wäre die praktische Wirksamkeit, der sog. effet utile (hierunter ist eine vom EuGH geprägte Auslegung des -> Gemeinschaftsrechts i.S. systematisch-teleologischer Erwägungen zu verstehen, welche die volle Wahrung der Funktionsfähigkeit einer gemeinschaftsrechtl. Regelung verfolgt), in Frage gestellt. Schließlich hätte es jeder Mitgliedstaat in der Hand, die mit der R. von der Gemeinschaft vorgesehenen Ziele hinauszuzögern oder zu vereiteln. Ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 169 EGV zur Beseitigung dieses Zustandes ist diesbzgl. insofern unzureichend, als es die Verzögerung der Umsetzung nicht verhindert. Die
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EG-Richtlinie unmittelbare Wirkung von R.n setzt nach der Rechtsprechung des EuGH voraus, daß 1. die Umsetzungsfrist abgelaufen ist, 2. die R. einen einzelnen begünstigt und 3. der Inhalt unbedingt, hinreichend genau und dadurch unmittelbar anwendbar - seif executing - ist. Dadurch soll ein Mitgliedstaat einem -> Bürger, der sich auf ein ihm in der R. gewährtes subjektives Recht berufen will, nicht entgegenhalten können, die R. wäre noch nicht umgesetzt. Insoweit zeigt sich der Sanktionscharakter dieser Rechtsprechung gegenüber umsetzungssäumigen Mitgliedstaaten. Diese unmittelbare Rechtswirkung besteht nur im vertikalen Verhältnis des einzelnen gegenüber staatl. Stellen, sog. vertikale Direktwirkung von R.n. Eine unmittelbare Wirkung im horizontalen Verhältnis der einzelnen untereinander lehnt der EuGH ab. Aufgrund des Umstandes, daß die nationalen —> Gerichte nationales Recht dahingehend anzuwenden und auszulegen haben, daß es soweit wie möglich mit dem Wortlaut und den Zielen der R. konform ist, sog. richtlinienkonforme Interpretation, sind nicht umgesetzte R.n u.U auch im Verhältnis der Bürger bzw. nicht hoheitlichen Rechtsträger untereinander zu beachten. Diese Pflicht zur richtlinienkonformen Interpretation setzt jedoch wiederum voraus, daß die Umsetzungsfrist abgelaufen ist. In diesen Fällen werden auch diejenigen R.n erfaßt, die sich nicht zur unmittelbaren Anwendbarkeit eignen. Wenn R.n nicht frist- oder ordnungsgemäß von Mitgliedstaaten umgesetzt werden und das Ziel der R. auch nicht durch richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts erreichbar ist, kann dem durch die R. berechtigten einzelnen nach der Rechtsprechung des EuGH ein Schadensersatzanspruch zustehen. Dieser im Gemeinschaftsrecht begründete Anspruch setzt 1. voraus, daß das Ziel der R. die Verleihung von subjektiven Rechten an den einzelnen ist, 2. der Inhalt der R. hinreichend genau bestimmt ist bzw. bestimmt werden kann, und 3. ein Kau-
Ehe
EG-Verordnung salzusammenhang zwischen dem Pflichtverstoß des jeweiligen Mitgliedstaates und dem entstandenen Schaden besteht. Zuständig für den Erlaß von R.n sind u.a. gem. Art. 189 Abs. 3 EGV das -> Europäische Parlament und der -> Europäische Rat gemeinsam sowie Rat und Kommission. Lit: Β. Beutler /R. Bieber/J. Pipkorn u.a.: Die EU, Baden-Baden "1993, S. 195ffi; R. Streinz: Europarecht, Heidelberg 31996, Rn. 384ff; M. Schweizer / W. Hummer: Europarecht, Berlin '1996, Rn. 3568". Dietmar O. Reich
EG-Verordnung / -en Eine -» Verordnung hat nach Art. 189 Abs. 2 EGV allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Mit der allgemeinen Geltung kommt zum Ausdruck, daß die V. eine unbestimmte Anzahl von Sachverhalten generell und abstrakt regelt. Die unmittelbare Geltung beinhaltet, daß es keines weiteren Umsetzungsaktes der einzelnen Mitgliedsländer bedarf. Vielmehr hat z.B. die dt. -> Judikative und Exekutive die V.en anzuwenden und ggf. entgegenstehendes nationales Recht außer Anwendung zu lassen. Über die Beachtung des Vorranges und den Vollzug der V.en durch nationale -» Gerichte und —» Behörden hinaus haben Mitgliedstaaten alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die unmittelbare Geltung der V.en in Frage stellen. Die Anwendung der V. durch die nationalen Behörden und der Schutz der durch die V. begründeten Rechte des einzelnen sind durch die nationalen Gerichte sicherzustellen. Soweit eine V. Regelungen enthält, die nationale DurchMirungsakte erforderlich machen, sind die Mitgliedstaaten nach Art. 5 Abs. 1, S. 1 EGV verpflichtet, diese zu erlassen. Zuständig zum Erlaß von V. sind der -» Europäische Rat und das -> Europäische Parlament gemeinsam sowie Rat und Kommission. Hierbei hat der Rat nach Art. 155 i.V.m. Art. 145 EGV und Art. 124 EAGV die Möglichkeit bzw. inner-
halb der sog. Regeldelegation die Pflicht, die Kommission zum Erlaß von Durchführungsverordnungen zu ermächtigen. Lit.: Β. Beutler/R. Bieber/J. Pipkorn u.a.: Die EU, Baden-Baden "1993, S. 194ff.; R. Streinz: Europarecht, Heidelberg, 31996, Rn. 37ff.; M. Schweizer / W. Hummer: Europarecht, Berlin '1996, Rn. 348ff Dietmar O. Reich
E G KS Der Gründungs vertrag der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) als erster supranationaler Gemeinschaft in Europa ist am 23.7.1952 in Kraft getreten. Im Unterschied zum EU-, EG- und Euratom-Vertrag ist die Dauer dieses Vertrages auf 50 Jahre begrenzt (Art. 97 EGKSV). Gem. dem Gedanken funktionaler Integration ist mit dem EGKS-Vertrag die Wirtschaftsverwaltung für Kohle und Stahl der mitgliedstaatl. Zuständigkeit entzogen und auf die EGKS übertragen worden (Art. 2 ff. EGKSV). Diese sog. Montanunion ist v.a. eine „Verwaltungsgemeinschaft". Daher kommt der —> Europäischen Kommission als -> Hoher Behörde eine im Vergleich zu ihrer Stellung im OrgangefÜge der anderen Gemeinschaften stärkere Rolle im Verhältnis namentlich zum -> Rat der EG zu (vgl. Art. 8ff. EGKSV): Die Kommission ist im Bereich der EGKS insbes. das Hauptrechtsetzungsorgan für sekundäres —> Gemeinschaftsrecht in Form von Entscheidungen (Art. 14 EGKSV). Lit.: Vertrag über die Gründung der EGKS v. 18.4.1951 (BGBl. 1952 II S. 447), zuletzt geänd. durch Beitrittsvertrag v. 24.6.1994 (BGBl. II S. 2022) i.d.F. des Beschlusses v. 1.1.1995 (AB1EG Nr. L 1/1); R. Streinz: Europarecht, Heidelberg 3 1996. J. U.
EG-Recht -> schaftsrecht
Europäisches
Gemein-
Ehe Die E. ist die staatl. anerkannte, auf freier Entschließung beruhende grds. unauflösliche Verbindung eines Mannes und einer Frau zu einer umfassenden 261
Ehe Lebensgemeinschaft. Sie entfaltet Rechtswirkungen sowohl im Verhältnis der E.gatten untereinander (ehel. Rechte und Pflichten) als auch Dritten gegenüber (E.name, ehel. Status, Schlüsselgewalt). Anders als das ALR und das Familiengesetzbuch der früheren —> DDR, die den Zweck der E. in der Erziehung gemeinsamer Kinder sahen, und anders als das alte recht des -> BGB, das von einem institutionellen E.verständnis mit einem patriachalischen Familienmodell und strikten Rollenmustern ausging (Leitbild der Hausfrauenehe), enthält das geltende -> Recht weder eine Definition der E. noch Aussagen über ihren Sinn und Zweck oder eine Festlegung der Aufgabenverteilung innerhalb der E.; dadurch wird der verfassungsrechtl. garantierten religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates Rechnung getragen. Wesentlicher Bestandteil jeder E. ist daher das Einvernehmen der partner darüber, wie sie ihr gegenseitiges Verhältnis (Berufstätigkeit) und den Aufbau der -> Familie regeln wollen. Wenn auch ein bestimmtes E.leitbild heute fehlt, sind mit dem Begriff der E., wie er u.a. in Art. 6 Abs. 1 GG, §§ 1297, 1353 BGB, 13fT. EheG verwendet wird, dennoch allgemein anerkannte Vorstellungen verbunden, die wesentlich durch die christl.-abendländische Kultur, aber auch durch Einflüsse des röm. Rechts geprägt sind und gewisse unverzichtbare Elemente enthalten: 1. Geschlechtsverschiedenheit der Partner; 2. Monogamie, ( § 5 EheG); 3. Konsensprinzip, d.h., die E. kommt durch den erklärten E.willen der Partner zustande. Jeder Zwang zum Eingehen oder Nichteingehen einer E. ist ausgeschlossen^ § 13 EheG). 4. Lebenszeitprinzip (§ 1353 I 1 BGB), d.h. die grundsätzliche - nicht die absolute - Unauflöslichkeit der E.; in dem durch diese Strukturen vorgegebenen Rahmen können die E.gatten unter Beachtung der Grundsätze von Partnerschaft und —> Gleichberechtigung ihre Lebensgemeinschaft güter- und vermögensrechtl. wie auch hinsichtlich der Aufgabenteilung
262
Ehrenamtliche Tätigkeit frei gestalten. Durch das 1. Eherechtsreformgesetz von 1976, das den Übergang von der Verschuldens- zur Zerrüttungsscheidung vollzog, fand das neue E.verständnis auch Eingang in das Scheidungsrecht. Begründung, Inhalt, Rechtsfolgen und Beendigung der E. werden aus der Sicht des - » Staatskirchenrechts oft anders geregelt als im staatl. Recht. Das BGB erkennt nur die bürgerl. E. an. Seit dem Kulturkampf (1875) ist in Dtld. die obligatorische Zivilehe eingeführt. Die kirchl. Trauung kann die Wirkungen des staatl. Rechts nicht auslösen und darf nicht vor der Ziviltrauung vorgenommen werden (§ 67 PStG). Als Grundlage des Gemeinschaftslebens steht die E. unter dem besonderen Schutz der - » Verfassung. Auch Art. 6 Abs. 1 GG, der die durch staatl. Recht geordnete E. als Rechtsinstitut garantiert, geht vom Bild der „verweltlichten" bürgerlichrechtl. E. aus. Die nach dem EheG zwingend vorgeschriebene Mitwirkung des Standesbeamten bei der E.schließung (§ 11 I EheG) ist daher ebenso wie die Möglichkeit der E. Scheidung mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar. Für eheähnliche Lebensgemeinschaften, die nicht in dieser Form geschlossen wurden, gilt das Ehe-, Familien- und Erbrecht des BGB auch dann nicht, wenn sie im übrigen alle Voraussetzungen einer ehelichen Lebensgemeinschaft erfüllen. Bis heute ist die Frage umstritten, ob die E. ihrem Wesen nach eher eine —> Institution oder ein Vertrag ist. Einheitlich betrachtet stellt die E. sowohl eine durch Vertrag begründete enge personale Beziehung der E.gatten dar, als auch eine überindividuelle soziale Institution. Lit: BVerfGE 31, 58 (69, 83); £ Feie: Ehegesetz, Kurzkomm., Wien 1996; T. Ramm: enrecht, Tübingen 1996.
Famili-
Annette von Harbou Ehrenamt —> Ehrenamtliche Tätigkeit Ehrenamtliche Tätigkeit Allgemeines E.T. i.e.S. ist ein öffentl. —> Amt, welches
Ehrenamtliche Tätigkeit von einer natürlichen Person unentgeltlich und nebenberuflich ausgeübt wird. Es besteht lediglich ein Anspruch auf Ersatz von Auslagen, des Verdienstausfalls oder auf eine Pauschalentschädigung nach entsprechenden gesetzlichen Vorschriften. I.d.R. knüpft die E.T. an den Bürgerstatus an. Zur Übernahme kann folglich jeder —• Bürger gesetzlich verpflichtet sein. Bei Fehlen gesetzlicher Ablehnungsgründe (z.B. hohes Alter, Krankheit, Ortsabwesenheit) ist die betreffende Tätigkeit während der festgelegten Dauer auszuüben. Sie umfaßt einen bestimmten Kreis von Verwaltungsgeschäften. Die ehrenamtlich tätigen Bürger unterliegen einer besonderen Treue- und Verschwiegenheitspflicht; sie dürfen bei Befangenheit und Interessenkollision nicht tätig werden. Ehrenamtlich Tätige i.S.v. § 21 Nr. 9, 10, 12 SGB VU genießen auch den Schutz der gesetzlichen -> Unfallversicherung des § 2 SGB VE. I.w.S. spricht man von einer E.T. auch im privatrechtl. Bereich, bei Betreuung von Funktionen in nicht öffentl. Gremien (z.B. —> Vereinen, —> Verbänden), sofern dafür außer Auslagenerstattung keine Vergütung erfolgt. Die Übernahme erfolgt grds. freiwillig. Hat sich jedoch ein Bewerber zur Ausübung verpflichtet, kann er die Tätigkeit nur aus besonderem Grund ablehnen. E.T. im kommunalen Bereich Neben E.T. im staatl. Bereich (z.B. Schöffen §§ 31ff.GVG) bestehen E.T. auch im kommunalen Bereich. Die Übertragung eines kommunalen Ehrenamtes ist mit der —> Ernennung zum Ehrenbeamten verbunden. Für sie gelten die Vorschriften des —> Beamtenrechts. Bei Verletzung der o.g. Treue- und Verschwiegenheitspflichten kommen disziplinarrechtl. Sanktionen in Betracht. Für ein kommunales Ehrenamt eignen sich fast alle Funktionen in der Gemeindeverwaltung, z.B. ehrenamtlicher —> Bürgermeister. Zur Durchsetzung der Übernahmepflicht enthalten die einzelnen Gemeindeordnungen Bestimmungen über Sanktionsmöglichkeiten (z.B. Geldbuße, befristete Aberkennung der -> Bürger-
Ehrenamtliche Tätigkeit rechte). Ehrenamt und die bloße Heranziehung zu einer E.T. können - besonders im Kommunalrecht - begrifflich auseinanderfallen. Bei letzterer geht es um die Erledigung bloß zeitweise auftretender, vorübergehender Aufgaben (z.B. Wahlhelfer). Bei der Verletzung von Pflichten bestehen ebenfalls Sanktionsmöglichkeiten. Entwicklung und Zweck Die ehrenamtliche Verwaltung - meist nebenamtlich wurde im 19. Jhd. v.a. durch Rudolf von Gneist vorangetrieben. Insbes. auf kommunaler Ebene geschah dies im Interesse einer bürgemahen Verwaltung. Nach dem Π. Weltkrieg ging die Tendenz eindeutig mehr in Richtung Ausbau professioneller Verwaltung mit fachlicher Vorbildung. Das Recht und die Pflicht der Bürger zur ehrenamtlichen Mitwirkung an der Verwaltung ihres Gemeinwesens sind mit derkommunalen —> Selbstverwaltung eng verbunden. Hauptzweck sind die Mobilisierung des Gemeinsinns, die Zurückdrängung bürokratischer Verwaltungsstrukturen und die Einsparung von Personalkosten für Verwaltungskräfte. Allerdings hat sich die ehrenamtliche Verwaltungstätigkeit in den letzten Jahren vermindert, v.a. in den Städten. Grund dafür ist die heutige Komplexität der Aufgaben und die mit der Gebietsreform vorangetriebene Tendenz zur großräumigen professionalisierten Selbstverwaltung. Dennoch ist in allen Gemeinde- und Kreisordnungen das Institut des Ehrenamtes noch verankert. Ehrenamtliche Richter E.T. gibt es nicht zuletzt auch in der —> Gerichtsbarkeit. Ehrenamtliche Richter sind neben den Berufsrichtern -» Richter, die als erkennende Richter an der Verhandlung und Entscheidung mitwirken. Sie sind mit den gleichen Rechten und Pflichten eines Berufsrichters ausgestattet. Sie sollen auf Seiten des erkennenden Gerichts die Elemente der Sachkunde (z.B. Handelsrichter) oder der —> Repräsentation der Bevölkerung in das Verfahren einbringen. Sie stehen nicht im öffentl.-rechtl. 263
Ehrenschutz
Ehrenschutz Dienstverhältnis zum Staat und bedürfen keiner jurist. Ausbildung. Die Annahme der Berufung ist staatsbürgerl. Pflicht. Die Ablehnung ist nur unter den o.g. engen Voraussetzungen möglich. Zur Vermeidung einer mit einem Ehrenamt unvereinbaren, allzu starken Inanspruchnahme fllr dieses Ehrenamt können die ehrenamtlichen Richter nicht zu allen Terminen, sondern lediglich zu einer geringeren Zahl von Sachen und Sitzungen herangezogen werden. Auch sie erhalten keine Vergütung, sondern lediglich eine Entschädigung. Ihre Mitwirkung ist v.a. in Strafsachen (-> Schöffen), in handelsrechtl. Streitigkeiten (Handelsrichter), beim -> Arbeitsgericht und - » Sozialgericht in allen Instanzen, in der ersten und zweiten Instanz der —> Verwaltungsgerichtsbarkeit, und der ersten Instanz der —> Finanzgerichtsbarkeit vorgesehen. In Öst. wirken bei Senats verfahren 1. und 2. Instanz in Handelssachen fachmännische Laienrichter mit, die auf 3 Jahre ernannt werden. Im arbeitsgerichtlichen Verfahren wirken je ein Beisitzer aus dem Kreis der Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit. In Strafsachen bei Verfahren über mit schwerer Strafe bedrohten Verbrechen entscheiden Geschworene, in anderen bedeutenden Strafsachen Schöffen. In der Schweiz ist die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter gesetzlich in den kantonalen Gerichtsorganisationen verankert. Sie finden sich meist in Handelssachen, Landwirtschafts- und Arbeitsgerichten oder als Geschworene in den Strafgerichten. Lit.: C. Engels: Ehrenamt und Arbeitsrecht, Bayreuth 1994; G. Igt: Rechtsfragen des freiwilligen sozialen Engagements, Stuttgart 21996; S. Müller (Hg.): Das soziale Ehrenamt, Pfaffenweiler 1994;. D. Woodvorth (Ed.): The international directory of voluntary work, London 5 1993. Karlheinz
Hösgen
Ehrenschutz Die Ehre ist ein Rechtsgut mit Verfassungsrang. Als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nimmt das Recht der persönlichen Ehre an der
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Schutzwirkung der -> Grundrechte teil; zugleich ist es Schranke der - » Meinungsfreiheit, als solche ausdrücklich benannt in Art. 5 Abs. 2 GG. In dieser Grundlegung verfassungsrechtl. vorgeformt, obliegt die nähere Ausgestaltung dem -> Gesetzgeber, der den E. sowohl strafrechtl. als auch zivilrechtl. gewährleistet. Dem E. im —> Strafrecht dient die Pönalisierung der Beleidigung, der üblen Nachrede, der Verleumdung sowie der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§§ 185ff. StGB). Dem E. im Zivilrecht dienen der Unterlassungs- und Widerrufsanspruch sowie die Entschädigung in Geld auch filr immateriellen Schaden, welche die Rechtsprechung unmittelbar aus der —> Verfassung hergeleitet und damit von den traditionellen Beschränkungen des Schmerzensgeldanspruchs gelöst hat; im übrigen kommt der medienrechtl. Anspruch auf Gegendarstellung in Betracht. Soweit nicht lediglich reine Tatsachenbehauptungen in Rede stehen, konfligiert der Schutzanspruch des in seiner Ehre betroffenen —» Bürgers durchweg mit der Meinungsfreiheit eines anderen. Diesem Widerstreit wächst eine staatsbürgerl. und polit. Dimension zu, sobald die Auseinandersetzung in öffentl. Debatte den Charakter einer Privatfehde verliert und in der Sache als Beitrag zur öffentl. Meinungsbildung erscheint. Zugunsten der Meinungsfreiheit fällt ins Gewicht, daß das demokrat. System auf die —»· Freiheit der Rede und die streitige Diskussion derer angewiesen ist, von denen alle -> Staatsgewalt ausgeht. Illiberale Redeverbote schrecken vom Gebrauch der Meinungsfreiheit ab und schaden der - » Demokratie. Aus dem gleichen Grunde darf jedoch genausowenig die Teilnahme am demokrat. Kommunikationsprozeß aus Angst vor öffentl. Verunglimpfung und öffentl. Diffamierungskampagnen unterbleiben. Der E. erweist sich damit neben der Meinungsfreiheit als von Verfassungs wegen prinzipiell gleichrangiges Rechtsgut. Auch und gerade in der Diskussion einer die —> Öffentlichkeit
Eigenstaatlichkeit der Länder wesentlich berührenden Frage verdient der Bürger Schutz vor der auf persönliche Herabsetzung zielenden Schmähkritik. Das Demokratieprinzip trägt keine Vermutung einseitig zugunsten der Meinungsfreiheit. In der demokrat. Debatte, die polit, offenbleiben und für alle —> Staatsbürger ein ehrenvolles —> Teilhaberecht sein soll, steht der E. gleichgewichtig neben dem Recht der freien Rede. Lit: BVerfGE 93, 266ff. - Soldaten; R. Mackeprang: Ehrenschutz im Verfassungsstaat, Berlin 1990; R. Stark·. Ehrenschutz in Dtld., Berlin 1996.
Ulrich Hufeid Eigenstaatlichkeit der Länder —> Landesverfassungen Eigentum im —> Zivilrecht ist die durch eine Form des Besitzes vermittelte Sachherrschaft über einen Gegenstand verbunden mit dem Recht, jeden anderen von der Benutzung und dem Innehaben des Gegenstandes ausschließen zu dürfen. Als Gegenstand des E.srechts kommen dabei Mobilien (z.B. Kfz), Immobilien (z.B. Grundstücke) und Immaterialgüterrechte (z.B. Patente) in Betracht. Soweit der Gegenstand des E.srechts keine Sache i.S. des § 90 —> BGB, sondern ein an sich nicht greifbares, geistiges Recht ist, geht es um die wirtschaftl. Verwertbarkeit dieses Rechts. Das verfassungsrechtl. E. geht weiter und schützt zumindest jede konkretisierbare Vermögensposition, also auch Forderungsrechte, Besitz (z.B. Mietbesitz) und auch subjektiv-öffentl. Rechte (Ansprüche aus der —> Sozialversicherung). Das in Art. 14 Abs. 1 GG als subjektives Recht und als Institutsgarantie geschützte verfassungsrechtl. E. ist gekennzeichnet durch die privatnützige Zuordnung des Rechts zu einer Privatperson. Träger des Rechts kann nur eine private vom Staat verschiedene und unabhängige Person sein. Das Recht ist ihr grds. zur privatnützigen Eigenverwendung und Verfügung zugewiesen. Kein E. im verfassungsrechtl. Sinn ist daher das
Eigentum zivilrechtl. E. des -> Bundes, der —> Länder oder der —> Gemeinden. Privateigentum sichert dem Grundrechtsträger einen Freiheitsraum im vermögensrechtl. Bereich und ermöglicht ihm die Entfaltung und eigenverantwortliche Gestaltung seines Lebens in persönlicher und wirtschaftl. Hinsicht. Grds. gibt es keine Voraussetzungen für den Schutz und die Gewährleistung des E.s. Es muß nicht auf einer persönlichen Leistung (-> Arbeit) beruhen oder zur Lebensführung notwendig sein. Eine Ausnahme besteht nur für die subjektiv-öffentl. Rechte aus der Sozialversicherung. Diese fallen nur dann unter den Schutz des Art. 14 GG, wenn sie nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger privatnützig zugeordnet sind. Voraussetzung dafür ist, daß sie auf einer nicht unerheblichen Eigenleistung des Betroffenen beruhen und der Sicherung seiner Existenz dienen. Das verfassungsrechtl. E. hat als Grundrecht grds. nur Bedeutung für das Verhältnis Grundrechtsträger - Staat. Es erlangt aber über die ausfüllungsbedürftigen Generalklauseln des einfachen Rechts auch Bedeutung für die Verhältnisse zwischen den einzelnen Bürgern. Das Problem der Ausgestaltung des verfassungsrechtl. E.s ist, daß der Gesetzgeber sowohl Inhalt als auch Grenzen des E.s bestimmen kann. Allerdings muß Privateigentum immer mindestens im dem Maße durch das GG gewährleistet sein, als daß jeder durch sein Privateigentum seine Freiheit im vermögensrechtl. Bereich ohne staatl. Zutun verwirklichen kann. Das GG erkennt nur das Privateigentum als E. im verfassungsrechtl. Sinne an. Gemeineigentum, Volkseigentum oder Staatseigentum werden von der Garantie des E.s nicht erfaßt. Das Privateigentum kann in unterschiedlicher Art beeinträchtigt werden. Zu unterscheiden sind die Inhaltsbestimmung nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, die Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG und die Vergesellschaftung nach Art. 15 GG. Die Inhaltsbestimmung dient der Konkretisie-
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Eigentum rung der Sozialpflichtigkeit des E.s. Die Verwirklichung dieser Sozialpflichtigkeit steht in einem starken, nicht abschließend geklärten Spannungsverhältnis mit der Notwendigkeit der Privatnützigkeit des E.s. Sie wird in der Praxis dadurch gelöst, daß den einzelnen E.sgegenständen ein unterschiedlicher Gesellschaftsbezug zugewiesen wird. Umso größer die Beziehung des E.sgegenstandes zu den Freiheitsrechten anderer ist, um so stärker ist seine Sozialbindung und damit die Duldungspflicht des Eigentümers. Maßstab ist, inwieweit andere auf die Nutzung dieses E.sgegenstandes angewiesen sind, um eine angemessene Lebensgestaltung zu haben. Beispiele für diese Konflikte sind das E. an Produktionsmitteln, an Grund und Boden oder an Mietwohnungen. Es besteht die Gefahr, daß durch gesetzliche oder richterliche Inhaltsbestimmungen die Sozialpflichtigkeit eines E.sgegenstandes soweit geht, daß er nicht mehr geeignet ist, dem Eigentümer privatnützig bei der Gestaltung seiner Freiheit im vermögensrechtl. Bereich zu dienen. In diesem Fall spricht man von einer entschädigungspflichtigen Inhaltsbestimmung. Die durch allgemein geltendes Gesetz geschaffene Inhaltsbestimmung führt bei einigen Eigentümer zu einer besonders schweren Belastung, die nur gegen eine entsprechende Entschädigung hinnehmbar ist. Konsequenterweise könnte man in diesen Fällen auch eine Pflicht zur Enteignung annehmen. Die Enteigung ist die zweckgerichtete Entziehung eines E.sgegenstandes aus dem Privatvermögen des Eigentümers in das Vermögen des Staates zur Erfüllung öffentl. Aufgaben. Die Enteignung ist nur zum Wohl der Allgemeinheit zulässig und darf nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes durchgeführt werden, das zugleich Art und Ausmaß der Entschädigung regelt. Während die Enteigung immer konkrete Einzelgegenstände im Auge hat, erlaubt die Vergesellschaftung die Überführung bestimmter Gattungen von Privateigentum in Gemeineigentum. Art. 15
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Einbürgerung GG nennt Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel. Auch diese Vergesellschaftung kann nur durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, vorgenommen werden. Die Vergesellschaftung führt im Unterschied zur Enteignung zu einem erheblichen Eingriff in die geltende Wirtschafts- und Freiheitsstruktur. Eine Vergesllschaftung hat zur unmittelbaren Folge, daß staatl. Bewirtschaftungspläne eingeführt werden müßten, da die Grundlagen der Wirtschaft!. Betätigung und Vermögenssicherung der privatnützigen Lebensgestaltung entzogen wären. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob eine vollständige Vergesellschaftung der in Art. 15 GG genannten E.sgegenstände nicht auch die Privatnützigkeit des E.s insg. aufheben und damit die Garantie des Instituts Privateigentum verletzen würde. Lit.: BVerfGE 50, 2900". - Mitbestimmung 1976; BVerJGE 58, 300ff. - Naßauskiesung 1981; J. Eschenbach: Der verfassungsrechtl. Schutz des Eigentums, Berlin 1996; K. Jelinsky: Der Schutz des Eigentums gem. Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur Europ. Menschenrechtskonvention, Berlin 1996; O. Müller-Michaels: Gnindrechtl. Eigentumsschutz in der EU, Berlin 1997; C. Tomuschaft (Hg.): Eigentum im Umbruch, Berlin 1996.
Ulrich Hösch Einbürgerung Das dt. -> Staatsangehörigkeitsrecht folgt bislang allein dem Abstammungsprinzip, so daß nur das Kind eines dt. Elternteils, nicht aber ein Kind ausländischer Eltern durch Geburt Deutscher wird. Zugleich regeln verschiedene Vorschriften die E. hier lebender Ausländer (RuStaG, AuslG, EinbRL) sowie dt. Volkszugehöriger (StAngRegG). Während Kinder aus deutsch-ausländischen Ehen und Spätaussiedler generell Mehrstaater sind, gilt sonst der Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit. Nur im Falle des nachweislich vergeblichen Bemühens um die Entlassung aus der bisherigen —> Staatsangehörigkeit oder aufgrund besonderer Härten kann unter
Einerwahlkreis
Einheitliche Europäische Akte
Beibehaltung der alten Staatsangehörigkeiten) eingebürgert werden. Auf dem Wege behördlichen Ermessens wird eine E. nach einem rechtmäßigen Mindestaufenthalt von 10 Jahren und unter weiteren Voraussetzungen (u.a. kein Sozialhilfebezug, keine schwere Straflalligkeit) möglich. Sofern ein herausragendes öffentl. Interesse an einer E. besteht und in anderen Ausnahmefallen (Ehepartner von Deutschen nach 3 bis 5, Ehepartner von Einzubürgernden nach 5, Asylberechtigte und Staatenlose nach 7 Jahren, Miteinbürgerung minderjähriger Kinder), kann diese Frist herabgesetzt werden oder ganz entfallen. Nach einer Aufenthaltszeit von 15 Jahren besteht seit 1993 unter bestimmten Voraussetzungen ein Rechtsanspruch auf E.; er wird auch Ausländem im Alter von 16 bis 23 Jahren eingeräumt, wenn sie 8 Jahre hier gelebt und 6 Jahre eine —• Schule besucht haben. Eine weitere Erleichterung der E. und eine Anpassung an die Rechtspraxis in anderen europ. Staaten wird verstärkt gefordert. Dabei stehen Fristverkürzungen und die Einbürgerung hier geborener Kinder ausländischer Eltern durch das Geburtsprinzip im Mittelpunkt. Ut: Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStaG); Ausländergesetz (AiislG); Einbürgerungsrichtlinien (EinbRL); Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit (StAngRegG); K. Hailbronner / G. Renner: Staatsangehörigkeitsrecht, München 1991; W. Kanein / G. Renner: Ausländerrecht, München '1993. Holger Hinte Einerwahlkreis Einfache Mehrheit
Wahlrecht Abstimmung
Einfache Zweidrittelmehrheit -> Abstimmung Einfaches Gesetz —> Gesetz Einführungsgesetz -> Gesetz
Eingriffsverwaltung liegt dann vor, wenn die -> Verwaltung in die Freiheitsoder Eigentumssphäre des —> Bürgers eingreift. I.d.R. handelt es sich um eine Verwaltungstätigkeit, die mit Befehl und Zwang, Entziehung oder Beschränkung von Rechten oder in sonstiger Weise die Handlungs- oder Verfugungsfreiheit des Bürgers beschränkt. Die Verwaltung darf nur dann in die grundrechtl. geschützten Bereiche der —> Freiheit und des —> Eigentums eingreifen, wenn sie dazu durch ein Gesetz berechtigt ist (-» Gesetzesvorbehalt). E. ist demnach strikt gesetzesgebunden. Der Eingriff bedeutet stets eine hoheitliche Maßnahme, die durch belastende Verwaltungsakte erfolgt. Typische Beispiele der E. sind Ordnungsverfügungen, Verwaltungszwangsmaßnahmen der Polizei- und —> Ordnungsverwaltung sowie Steuerbescheide der Steuerverwaltung. Lit: H.-J.Driehaus: Einführung in das Allgemeine Verwaltungsrecht, München z1992. H. W. Einheitliche Europäische Akte (EEA) Mit der EEA wurde die erste größere Reform der —» Römischen Verträge zwischen den (damals 12) Mitgliedstaaten der - » Europäischen Gemeinschaften vereinbart (1.7.1987). Mit dem Inkrafttreten des Vertrages über die Europäische Union (-> EU-Vertrag, 1.11.1993) ist sie in wesentlichen Teilen inhaltlich weiterentwickelt worden (Art. 50 EUV). Die EEA besteht aus 4 Titeln und 20 Erklärungen. Kernpunkte der EEA waren Änderungen im EWG-Vertrag: Es wurde der Termin zur Vollendung des Binnenmarktes (Art. 8a EWGV) sowie die zur Umsetzung notwendigen verfahrenstechn. und institutionellen Voraussetzungen festgelegt (z.B. Art. 149 EWGV: Verfahren der Zusammenarbeit). Die EEA verklammerte die 3 Europäischen Gemeinschaften mit der bis dahin nur polit, vereinbarten - » Europäischen Polit. Zusammenarbeit und gab ihr sowie dem —> Europäischen Rat (Art. 2 EEA) eine vertragliche und damit
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Einkommensteuer
Einheitsstaat rechtl. verbindliche Basis. Die EEA war Zwischenetappe für die Verwirklichung weiterer Integrationsschritte (Wirtschaftsund —> Europäische Währungsunion; -> GASP). M.
P.
Einheitsstaat —> Bundesstaat Einigungsvertrag -> Deutsche Einheit Einkammersystem Unter Kammern werden (in der Politik- und Rechtswissenschaft) Parlament. Körperschaften und Spruchkörper bei —> Gerichten verstanden. Politikhistor. war die Kammer die unter Leitung des Kämmerers stehende Behörde der königlichen Hofhaltung. Die Verwendung des Begriffs für moderne Parlamente verdeutlicht, daß diese ihre histor. Wurzeln in Gerichten und Beratungsgremien der Monarchen haben. Heute gibt es Regierungssysteme mit einer oder mit 2 Kammern (—> Zweikammersystem) des jeweiligen nationalen Parlaments. Dabei weisen von den ca. 160 souveränen Staaten der Erde nicht einmal ein Drittel ein Parlament aus 2 Kammern auf. Das E. ist also das zahlenmäßig deutlich überwiegende Muster parlement. Organisation. Die Gründe für diese Entwicklung ergeben sich im Umkehrschluß zu jenen, die zur Beibehaltung bzw. Errichtung von -> Zweikammersystemen geführt haben. Diese institutionalisieren die —> Repräsentation von Gebietsgliederungen, Berufsständen oder Schichten als histor. Kompromisse zwischen alten und neuen Legitimitätsüberzeugungen bzw. zum Zwecke der Integration territorialer und sozialer, ethnischer und religiöser Interessen in den Gesamtstaat. In Ländern ohne derartige Fragmentierungen, die also gesellschaftl. weitgehend homogen sind und keine regionalen Unterschiede oder regionalistischen Bestrebungen befrieden müssen, fehlt es an rationalen Argumenten für ein Zwei-Kammer-Parlament. Daß histor. oder gar nostalgische Gründe für die Beibehaltung einer solchen institutio-
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nellen Konstellation ein schwaches Fundament sind, beweist die Abschaffung einer Reihe von Zweiten Kammern in westlichen Demokratien bzw. das Bemühen um die Reform ihrer jeweiligen Legitimationsbasis. Das E. (im demokrat. —> Verfassungsstaat) hat den Vorzug der eindeutigen Verankerung im unumstrittenen egalitär-demokrat. Repräsentationsprinzip des „one person, one vote". Schon daraus resultieren hohe Kompetenzvermutung und beträchtliche grundlegende Akzeptanz für das Parlament. Unter dem Gesichtspunkt parlament.-gouvemementaler Effizienz besitzt das E. den Vorzug, daß gesetzgeberische Entscheidungen schneller vonstatten gehen können, da es keine Verdoppelung der Verhandlungsprozesse und Verzögerungen oder gar Blockaden durch möglicherweise entgegenstehende Positionen einer Zweiten Kammer gibt. Zusätzlich wird das Argument geringerer finanzieller Kosten des Politikbetriebes zugunsten des E.s angeführt. Auch für unitarisch-unikamerale Staaten stellt sich aber zunehmend das Problem, die hochgradig diversifizierten Interessen der (post-)modernen -> Gesellschaft adäquat im Parlament abzubilden, den erhöhten Konsensbedarf zu decken und die wachsende Komplexität der Gesetzgebungsgegenstände parlament. in den Griff zu bekommen. Auf die hierfür erbrachten Leistungen einer Zweiten Kammer, insbes. auf ihre Kompromiß- und Konsenspotentiale, verzichtet das E.; in einem sich weiter integrierenden Europa ist zudem der gewaltenteilig-organisatorische Aspekt einer vertikalen Kontrolle der Entscheidungsfindung nicht zu vernachlässigen und damit die Notwendigkeit eines gegliederten Parlaments. Lit.: —> Zweikammersystem
Suzanne S. Schüttemeyer Einkommensteuer wird nach EStG jährlich auf das Reineinkommen natürlicher Personen erhoben (für jurist. Personen AG, GmbH und anderen -> Körper-
Einkommensteuer schaftssteuer). Personen mit Wohnsitz im Inland sind mit allen ihren Einkünften einkommensteuerpflichtig, seien es nun Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit, aus nichtselbständiger Arbeit, —> Lohnsteuer als Erhebungsform der E. an der Quelle, d.h. Abzug vom Lohn direkt durch den Arbeitgeber, aus Kapitalvermögen, aus Vermietung und Verpachtung sowie sonstigen Einkünften wie Spekulationsgeschäften. Alle anderen Einkünfte (Schenkungen, Erbschaft) sind nicht einkommensteuerpflichtig. Nach §§ 4, 5 EStG wird der Gewinn u.a. durch eine Einnahmen-(Ausgaben) Überschußrechnung oder durch den Vergleich von Endvermögen mit dem Anfangsvermögen bei Berücksichtigung von Entnahmen und Einlagen ermittelt (Betriebsvermögensvergleich). Da die E. als Personensteuer die unterschiedliche individuelle Leistungsfähigkeit berücksichtigt, ist sie progressiv gestaltet, d.h. je mehr bis zu einem bestimmten Niveau verdient wird, um so höher ist der Prozentsatz, der auf das zu versteuernde Einkommen angewandt wird. Die —> Steuer wird durch Steuerabzug (so bei der Lohnsteuer) oder durch Vorauszahlung (viermal im Jahr, vgl. § 37,1 EStG) gem. der letzten Veranlagung (= Festlegung der Steuerschuld für einen bestimmten Veranlagungszeitraum) erhoben. Gegenwärtig wird die Senkung der Höchststeuersätze diskutiert, um Investitionen zu fördern. Niedrige Einkommen werden nicht besteuert. Auch dieser steuerfreie Bereich soll ausgeweitet werden, vorrangig zur Steuerfreistellung des Existenzminimums. 1992 entschied das BVerfG, daß das Existenzmininum im Umfang der Regelsätze der -> Sozialhilfe nicht einkommensteuerpflichtig ist. Abzugsfähig vom Einkommen sind Sonderausgaben (z.B. bestimmte Versicherungsbeiträge, Unterhaltszahlungen an getrennt lebende Ehegatten oder Steuerberatungskosten), außergewöhnliche Belastungen, Verluste aus anderen Einkunftsarten und Freibeträge, um welche die Be-
Einkommensteuer messungsgrundlage verringert wird (z.B. Kinderfreibeträge). Um die unterschiedlichen finanziellen Verhältnisse der Steuerpflichtigen (ggf. incl. Ehegatten, dessen Berufstätigkeit und Kinder) zu berücksichtigen, gibt es die Steuerklassen I-VI, über die - je nach Eingruppierung des/der Steuerpflichtigen - die Höhe der Lohnsteuer ermittelt wird. In diesem Zusammenhang ist auch das Ehegatten-Splitting zu erwähnen: Hier werden die Einkünfte (aus den verschiedenen Einkunftsarten) für jeden Ehegatten zunächst getrennt festgelegt, um dann addiert und gemäß Splittingtabelle der E. unterworfen zu werden. D.h. die Steuer wird für 50% des zu versteuernden Einkommens berechnet und dann verdoppelt. Dadurch kommen die meisten Eheleute nicht in die hochprozentigen Zonen der Steuerprogression. Ansonsten ist die Höhe der E. der E.tabelle zu entnehmen, die in ihrer aktuellen Form jeweils im Bundessteuerblatt veröffentlicht wird. Histor. gesehen, ist die E. recht neu. Freiherr v. Stein (1757-1831) entwickelte ersten Gedanken hierzu, sie wurde dann von Hardenberg (1750-1822) als Klassensteuer 1820 für Preuß. eingeführt. 1891/3 wurde zunächst für Preuß. und dann in der Folge für alle dt. Staaten die E. i.S. der heutigen als allgemeine Einheitssteuer mit Progression und Erklärungspflicht reformiert. 1920 wurden diese unterschiedlichen Landessteuern durch die Erzbergersche Steuerreform zu einer Reichssteuer vereinheitlicht. 1955 wurde die E. zu einer Gemeinschaftssteuer von Bund und Ländern. Um dieser beizukommen, wurde mit dem Steuerreformgesetz von 1990 das „Gesetz über die strafbefreiende Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen und von Kapitalvermögen" verabschiedet. Detjenige, der danach seine Einkünfte aus Kapitalvermögen für die Zeit von 1986 bis 1990 nacherklärt und nachversteuert, brauchte keine strafrechtl. Maßnahmen mehr befürchten. Die jährlichen Steuerreformgesetze haben seither diverse Steuervergünstigungen abgebaut oder begrenzt 269
Einspruch
Eisenbahn-Bundesamt
(z.B. steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten). Hervorzuheben sind andererseits die Neuregelungen zur Steuerfreistellung des Existenzminimums (Entlastung der Geringverdiener, wobei der Eingangssteuersatz von bisher 19% ab 1996 25,9% beträgt) sowie die Erhöhung der Kinderfreibeträge. Daneben wurde im Jahressteuergesetz 1994 der Maximalsteuersatz (bei der E. 53%) für gewerbliche Einkünfte auf 47% gesenkt. Das Aufkommen der E. (incl. der Lohnsteuer als Erhebungsform) betrug z.B. 1994 mehr als 292 Mrd. DM, also etwa 37% des Gesamtsteueraufkommens.
z.B. bei Änderungen der Gründungsverträge der - » Europäischen Gemeinschaften bzw. des -> EU-Vertrages (Art. Ν Abs. 1 UA 3 EUV) Anwendung, nicht dagegen bei der Schaffung sekundären —> Gemeinschaftsrechts (vgl. Art. 148 Abs. 1 EGV). Das E. gilt im übrigen auch für die Festlegung des Arbeitsplans des -> Bundestages (Terminplanung, Aufstellung der Tagesordnung) durch dessen —» Ältestenrat.
Lit.: L. Schmidt (Hg.): Einkommensteuergesetz, Komm., München "1997; W. Zenthöfer / D. Schulze zur Wiesche: Einkommensteuer, Stuttgart 4 1997.
Einzelfallgesetz —> Gesetz
Jürgen Bellers /Burkhardt
Einspruch -> Rechtsschutz mittel
Einzelplan —> Bundeshaushaltsplan -> Staatshaushaltsplan -> Budgetierung
Vitt
-> Rechts-
Einspruchsgesetz -» Gesetzgebung Einspruchsrecht des Bundesrates -> Bundesrat Einstimmigkeit / -sprinzip Das E. ist ein prozeduraler Grundsatz zur Bildung eines gemeinsamen Willens in einer gesellschaftl., staatl. oder internationalen Organisationseinheit, bei der ein anstehendes gemeinsames Problem - im Unterschied zum —» Mehrheitsprinzip - nur durch Einigung aller am Entscheidungsvorgang Beteiligten gelöst werden kann. Das E. war im —> Völkerrecht bis zum Ende des Π. Weltkrieges bei Abstimmungsverfahren im Rahmen von Vertragsverhandlungen das herrschende Prinzip. Heute gilt dieses Prinzip, das in Art. 9 Abs. 1 WVRK verankert ist, namentlich bei bilateralen Verträgen und solchen Verträgen mit begrenzter Mitgliederzahl, aus deren Ziel und Zweck hervorgeht, daß die vollständige Anwendung des Vertrages auf alle Parteien eine wesentliche Voraussetzung für den Vertragsschluß ist. So findet es 270
Lit.: Κ. Ipsen: Völkerrecht, München 31990, § 10 Rn9ff. J. U.
Eisenbahn-Bundesamt Das EBA ist eine zum 1.1.1994 errichtete, selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des -> Bundesministeriums für Verkehr mit Sitz in Bonn. Das EBA ist gem. § 3 des Gesetzes über die Eisenbahnverkehrsverwaltung des —» Bundes vom 27.12. 1993 (BGBl. I S. 2378, 2394) Aufsichtsund Genehmigungsbehörde über die —> Eisenbahnen des Bundes und über Eisenbahnverkehrsunternehmen mit Sitz im Ausland für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Die Aufsicht über nichtbundeseigene Eisenbahnen, die originär den Bundesländern obliegt, nimmt das EBA auf Antrag eines —> Landes nach dessen Weisung und auf dessen Rechnung wahr. Gegenwärtig haben 13 Bundesländer hiervon Gebrauch gemacht und das EBA mit der Landeseisenbahnaufsicht beauftragt. Das EBA ist weiterhin Planfeststellungsbehörde für den Bau neuer oder die Änderung bestehender Eisenbahnbetriebsanlagen. Ferner prüft das EBA bei Investitionen des Bundes in die Eisenbahninfrastruktur die Verwendung dieser Mittel durch die Deutsche Bahn AG. Lit: S. Studenroth: Aufgaben und Befugnisse des Eisenbahn-Bundesamt, in: Verwaltungs-Archiv
Eisenbahn-Neuordnungsgesetz
Eisenbahn 1996, S. 97ff. Hg-
Eisenbahn / -en des Bundes Als E.d.B. werden die Eisenbahnuntemehmen bezeichnet, an denen der —> Bund mehrheitlich Eigentum hat (Art. 73 Nr. 6a GG). Die -> Deutsche Bahn AG stellt ein solches Unternehmen dar, da der Bund alleiniger Anteilseigner ist (Art. 87 Nr. 3 GG). Die E.d.B. werden als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtl. Form geführt. Nach Art. 73 Nr. 6a GG hat der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz über die E.d.B. und nach Art. 74 Nr. 23 GG die Kompetenz der -> konkurrierenden Gesetzgebung über diejenigen Schienenbahnen, die nicht E.d.B. sind. Der Begriff Eisenbahn wird im Allgemeinen Eisenbahngesetz definiert. Danach sind sie öffentl. Einrichtungen oder privatrechtl. organisierte Unternehmen, die nach § 2 Abs. 1 AEG Eisenbahnverkehrsleistungen erbringen (Eisenbahnverkehrsuntemehmen) oder eine Eisenbahninfrastruktur betreiben (Eisenbahninfrastrukturunternehmen). Andere Schienenbahnen wie Magnetschwebebahnen, Straßenbahnen, Bergbahnen u.a. fallen nicht darunter (§ 1 Abs. 1 S. 2 AEG). Die Infrastrukturverpflichtung des Bundes ist verfassungsrechtl. festgeschrieben. Auch bei dem Unternehmen DB AG muß der Bund für den Bau, die Unterhaltung und das Betreiben des Schienenweges mehrheitlich Anteilseigner bleiben (Art. 87e Abs. 3 GG). Er gewährleistet, daß dem Wohl der Allgemeinheit, insbes. den Verkehrsbedürfnissen beim Ausbau und beim Erhalt des Schienennetzes der E.d.B. sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz Rechnung getragen wird (Art. 87e Abs. 4 GG). § 3 AEG unterscheidet zwischen öffentl. und nicht öffentl. Eisenbahnen und zwischen E.d.B. und nicht bundeseigenen Eisenbahnen, öffentl. Eisenbahnen sind solche, die dem öffentl. Verkehr dienen. Dies ist gegeben, wenn sie gewerbsmäßig oder geschäftsmä-
ßig betrieben werden und jedermann sie nach ihrer Zweckbestimmung zur Personen· oder Güterbeförderung benutzen kann (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AEG). Unerheblich ist, ob die Bahn im öffentl. oder privaten Eigentum steht. Die DB AG ist eine öffentl. E.d.B.; auch Privatbahnen sind unter diesen Voraussetzungen öffentl. Eisenbahnen. Öffentl. Eisenbahnen, die keine E.d.B. sind, unterliegen der Länderaufsicht und den landesrechtl. Vorschriften, insbes. den Landeseisenbahngesetzen. Auch die nicht-öffentl. Eisenbahnen (z.B. die Werksbahnen) werden von dem Land, in dessen Gebiet sie liegen, beaufsichtigt. Die Aufsicht kann gem. § 5 Abs. 1 AEG ganz oder teilw. auf das -> Eisenbahnbundesamt (EBA) übertragen werden. Ob eine nicht zu den E.d.B. zählende Eisenbahn dem öffentl. Verkehr dient, oder ob sie die Eigenschaft als Eisenbahn des öffentl. Verkehrs hat, wird durch die beteiligten obersten Landesverkehrsbehörden im Benehmen mit dem -> Bundesministerium für Verkehr entschieden (§ 3 AEG). Lit.: W. Blümel (Hg.): Aktuelle Probleme des Einsenbahnrechts, Speyer 1996; A. v. Loesch: Die öffentl. Eisenbahnen in der BRD angesichtgs der Vollendung des EG-Binnenmarktes, Berlin 1991.
Wolfgang Kunz Eisenbahn-Neuordnungsgesetz Am 1.1. 1994 trat das ENeuOG in Kraft. Bei der Umsetzung der Bahnstrukturreform und der Neuordnung der Dt. Bundesbahn (DB) und der Dt. Reichsbahn (DR) als Eisenbahnen des Bundes sowie der Trennung der staatl. und unternehmerischen Aufgaben war vorab eine Änderung des -» Grundgesetzes erforderlich (GGÄndG vom 20.12.1993, BGBl. I S. 2089). Kern war die —> Verfassungsnderang des Art. 87 Abs. 1 GG. Die Überleitung der Verantwortung des Schienenpersonennahverkehrs auf die Länder setzte ebenfalls eine Änderung des Art. 87 Abs.l GG voraus. In Art. 143a GG wird die Wirtschaftsver271
Eisenbahn-Neuordnungsgesetz fassung der Eisenbahnen des Bundes und die Personalüberleitung zur DB AG verfassungsrechtl. abgesichert. Nach dem neuen Art. 87e GG wird die Eisenbahnverkehrsverwaltung in -> bundeseigener Verwaltung geführt. Die Eisenbahnen des Bundes werden in privatrechtl. Form geführt (Art. 83 e Abs. 3 S. 1 GG). Diese stehen im Eigentum des - > Bundes, eine Veräußerung von Anteilen ist möglich. Die Mehrheit muß aber beim Bund bleiben. Mit dem Inkrafttreten des ENeuOG am 1.1.1994 wurden die Eisenbahnen des Bundes als Aktiengesellschaft geführt. Danach (Art. 2) war die —> Deutsche Bahn AG zu gründen, deren Gegenstand u.a. das Erbringen von Eisenbahnverkehrsleistungen zur Beförderung von Gütern und Personen ist. Die Aufgliederung in spezielle Aktiengesellschaften ist vorgesehen. Das ENeuOG gliedert sich als - > Artikelgesetz in 6 Gesetze: 1. Gesetz zur Zusammenführung und Neugliederung der Bundeseisenbahnen (BEV-Gesetz). Die Sondervermögen DB und DR wurden zu einem einheitlichen Sondervermögen zusammengefaßt. Das Gesetz enthält ferner einzelne Regelungen hinsichtlich des Verwaltungsaufbaus, der Rechtsstellung der Sozialeinrichtungen und der Aufgaben des -> Bundeseisenbahnvermögens (BEV). 2. Dt. Bahn Gründungsgesetz (DBGrG): Nach der Zusammenfassung zu einem Sondervermögen BEV wurde der unternehmerische Bereich ausgegliedert und in eine Dt. Bahn Aktiengesellschaft (DB AG) umgewandelt. Das Gesetz regelt die rechtsgeschäftliche Gründung der AG, den Vermögensübergang, die Personalüberleitung, die Altlastenübernahme, die Gliederung in Sparten und die evtl. Ausgliederung in Aktiengesellschaften. - > Beamte des BEV, die nicht ausschieden oder beurlaubt wurden, blieben Beamte des BEV und wurden der DB AG durch Gesetz zugewiesen. —> Angestellte und —> Arbeiter des BEV wurden im Wege der Rechtsnachfolge unmittelbar Arbeitneh-
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Eisenbahn-Neuordnungsgesetz mer der DB AG. 3. Gesetz über die Eisenbahnverkehrsverwaltung des Bundes (EBA-Gesetz): Es enthält u.a. die gesetzliche Grundlage für die Errichtung des - > Eisenbahn-Bundesamtes (EBA) als Bundesoberbehörde für die hoheitlichen Aufgaben des Bundes im Eisenbahnbereich. Zusammen mit der Ausgliederung des unternehmerischen Bereichs aus dem BEV wurden die hoheitlichen Aufgaben des Verwaltungsbereiches auf das EBA übertragen. Das EBA ist Aufsichts- und Genehmigungsbehörde fur Eisenbahnen des Bundes und für Eisenbahnunternehmer mit Sitz im Ausland für das Gebiet der BRD. 4. Regionalisierungsgesetz des Bundes: Es enthält Regelungen zum Öffentl. Personennahverkehr (ÖPNV) und zur Zusammenführung bisher unterschiedlicher Zuständigkeiten im ÖPNV. Zur Stärkung der Wirtschaftlichkeit der Verkehrsbedienung wurden die Zuständigkeiten für Planung, Finanzierung und Organisation (Aufgaben- und Finanzverantwortung) des Personennahverkehrs auf Länderebene zusammengeführt (-> Regionalisierung). Der Bund stellt dabei den Ländern entsprechende Finanzierungsmittel zur Verfügung. 5. Allgemeines Eisenbahngesetz: Im Rahmen der Strukturreform wurde der Ordnungsrahmen für den gewerblichen Eisenbahnverkehr für alle Eisenbahnen neu gefaßt, und zwar unter Berücksichtigung der Vorgaben der EG-Richtlinie 91/440 EWG, die in nationales Recht zu überführen war. Dabei wurden die Schienennetze der Eisenbahnen für alle Eisenbahnen geöffnet. Das neue AEG gilt nur für Eisenbahnen, nicht für andere Schienenbahnen (§ 1 AEG). Es enthält wichtige Begriffsbestimmungen (§ 2 AEG) und Vorschriften über Sicherheit, Genehmigung, Beförderungspflicht (§ 10 AEG), Tarife (Beförderungsentgelte und Beförderungsbedingungen, § 12 Abs. 1 AEG) u.a. und ermächtigt das —> Bundesverkehrsministerium zum Erlaß von Verordnungen über den —> Verkehr, welche
EKD
Elite
allgemeine Bedingungen für die Beförderung von Personen und Gütern durch Eisenbahnverkehrsunternehmen in Übereinstimmung mit den Vorschriften des Handelsrechts festlegen (§ 26 Abs. 1 Nr. lb AEG). Es enthält Regelungen zur Begriffsbestimmung der —> Eisenbahnen des Bundes bzw. der nicht öffentl. Eisenbahnen, zur Eisenbahnaufsicht und zu Betriebsgenehmigungen. 6. Gesetz zur Verbesserung der personellen Struktur beim BEV und in Unternehmen der -> Deutschen Bundespost: Das Gesetz enthält personalrechtl. und finanzielle Regelungen für Mitarbeiter, die von Umstrukturierungsmaßnahmen betroffen sind, insbes. Vorruhestandsregelungen. Das ENeuOG regelt auch die Anpassung anderer Rechtsvorschriften. 134 -> Rechtsverordnungen und Gesetze wurden von den Bestimmungen des ENeuOG betroffen. Neben redaktionellen Änderungen wurden in zahlreichen Fällen sachliche Änderungen vorgenommen. So wurden die §§ 453, 45M60 HGB aufgehoben. Zur Überleitung der neuen Rechtsregeln wurden Übergangsbestimmungen auf den Gebieten -> Unfallversicherung, Güterkraftverkehr der DB, Berufsausbildungsverhältnisse und Jahresabschluß 1993 getroffen. Lit.: G. Aberle/A. Brenner: Bahnstnikturreform in Dtld., Köln 1996. S. Bennemann: Die Bahnreform, Hannover 1994; W. Kunz: Eisenbahnrecht, Losebl., Baden-Baden 1996.
Wolfgang Kunz EKD = Evangelische Kirche in Deutschland -> Kirche Staatskirchenrecht Elite, politische Nach seiner Diskreditierung durch den —• Nationalsozialismus, dauerte es innerhalb der dt. Öffentlichkeit und der Sozialwissenschaften (verglichen mit dem angelsächs. Raum) sehr lange, bis mit dem Elitebegriff wieder unbefangen operiert werden konnte. Zur konzeptionellen Unklarheit trägt weiterhin bei, daß neben dem Begriff p.E. u.a. von „polit. Klasse", „Führungsschicht" oder
„Oberschicht" die Rede ist. Weitgehend durchgesetzt hat sich für die Beschreibung von Macht- und Herrschaftsunterschieden innerhalb demokrat.pluralistischer polit. Systeme aber ein funktionstheoretisches Verständnis der p.E.; i.V.m. empirischen Forschungsansätzen lassen sich demnach folgende Personen als Mitglieder der p.E. identifizieren: Verfolgt man den Positionsansatz, sind Inhaber von Spitzenpositionen im polit. System definitionsgemäß Mitglieder der p.E.; dazu würden dann alle polit. Exekutivämter (-> Bundeskanzler, —> Ministerpräsidenten, —> Minister; -> Parlamentarische Staatssekretäre) zählen, ebenso die Spitzen in —» Fraktion (Fraktionsvorsitz, Fraktionsvorstand), in Parlament. Gremien (Mitglieder des -> Präsidiums, Ausschußvorsitzende) und in Parteien (Parteivorsitz und Parteivorstand). Insbes. zwischen Funktionen und Ämtern innerhalb von Parteien auf der einen Seite und Parlament/Regierung auf der anderen ergeben sich dabei große Überschneidungen. Verfolgt man den Reputationsansatz wären Mitglieder der p.E. diejenigen, die am häufigsten für einen hohen Einfluß innerhalb der Politik benannt werden. Im Rahmen des Entscheidungsansatzes gehören zur p.E. nur diejenigen, die unabhängig von ihrer Position tatsächlich Einfluß auf polit. Entscheidungen ausüben. Nicht durchsetzen konnte sich bisher der Versuch, den Begriff der „polit. Klasse", der in der Publizistik und in der Öffentlichkeit dazu verwendet wird, auf negative Erscheinungen (z.B. Höhe der -> Diäten; Ämterpatronage) innerhalb der Berufspolitik aufmerksam zu machen, dadurch zu retten, indem er vom Konzept der p.E. unterschieden zu werden versuchte (—> s.a. Führung, politische). Lit: W. Bürklin/H. Rebenstorf (Hg.): Eliten in Dtld., Opladen 1997; K. v. Beyme: Die polit. Klasse im Parteienstaat, Frankfurt/M. 1993; T. Leif/H.-J. Legrand / A. Klein (Hg.): Die polit. Klasse in Dtld., Bonn 1992;.
Hermann Groß 273
Elternrecht
Elternrecht Gem. Art.6 Abs.2 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder sowohl natürliche Rechte der Eltern, aber auch deren obliegende Verpflichtung; die staatl. —> Gemeinschaft wacht hierbei über ihre Betätigung. Art. 120 der -» Weimarer Reichsverfassung erkannte dem E. einen bloß deklamatorischen Grundrechtswert zu. Erst mit Inkrafttreten des Bonner - » Grundgesetzes wurde der unbedingte Grundrechtsschutz gewährleistet. Eltern können demnach die Erziehung ihrer Kinder frei von staatl. Vorstellungen oder Einflüssen eigenverantwortlich gestalten. In Abgrenzung zu den anderen - » Grundrechten ist hingegen für das E. bedeutsam, daß die Ausübung pflichtgebunden ist, d.h. das Grundrecht dient nicht der Selbstverwirklichung der Eltern, sondern allein dem Kindeswohl. Der —> Staat wie auch die Eltern haben gem. dem Förderstufenurteil des —> Bundesverfassungsgerichts vom 6.12.1972 (BVerfGE 34, 165fT.) die Aufgabe, die Erziehung der Persönlichkeit des Kindes gemeinschaftlich zu bewerkstelligen. Für den Staat bildet das Kindeswohl im Bereich des privaten, familienrechtl. E.s stets die Maxime für die Ausübung seines sog. staatl. Wächteramtes. Dies kann so weit gehen, daß der Staat bei mißbräuchlicher Ausübung des Erziehungsrechtes durch die Eltern selbst deren Erziehungsaufgaben (i.d.R. durch die staatl. —> Jugendbehörden) wahrnimmt. Im Bereich des Bildungswesens (-» Bildungsverfassungsrecht) beschränkt sich das Gebot der Berücksichtigung elterlicher Interessen und des elterlichen Erziehungswillens auf Fragen mit unmittelbarem Weltanschauungsbezug (z.B. bei der Einführung des Sexualkundeunterrichts). Auf der anderen Seite ist das Recht der Eltern auf Bestimmung des Bildungsweges des Kindes, das Recht, Eingriffe des Staates in die Grundrechtssphäre des Kindes zu verhindern (E. als Abwehrrecht) und das elterliche Informationsrecht unmittelbare Auswirkung aus Art. 6 Abs. 2 GG. Weil im
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Energie Bereich des Bildungswesens der Staat nicht auf sein Wächteramt gem. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG beschränkt ist, sondern ihm im Rahmen seiner Schulhoheit gem. Art. 7 Abs. 1 GG ein eigener Erziehungsauftrag zusteht, bedarf es eines moderaten Interessenausgleichs zwischen dem elterlichen Erziehungsrecht und der —> Verantwortung des Staates für die Gesamtheit. Gelingt dieser Interessensausgleich nicht, wird die Problemlösung oftmals an die -> Judikative delegiert (vgl. „Kruzifix-Beschluß" des BVerfG vom 16.5.1995 - 1 BvR 1087/91; Rechtschreibreform, Beschl. des BVerfG vom 21.6.1996- 1 BvR 1057/96-). Lit.: H. Avenarius: Schulrechtskunde, Neuwied 1996; ders. / B. Jean d'Heur: Eltemwille und staatl. Bestimmungsrecht bei der Wahl der Schullaufbahn, Berlin 1992; D. Weiss: Das Recht der religiösen und weltanschaulichen Kindererziehung, Linz 1995.
Hans Meyer-Albrecht E-mail -> Internet Energie In der Aristotelischen Philosophie war energeia (gr.) gleichbedeutend mit Tatkraft und Bereitschaft zum Handeln. Wilhelm Ostwald postulierte in seiner monistischen Naturphilosophie E. als Wesen und Grundkraft aller Dinge. Der Imperativ dieser Lehre (Energetik) lautet: „Verschwende keine E., verwerte sie!" Auch das allgemeine Sprachverständnis und die Psychologie beziehen sich auf den gr. Ursprung mit Vorstellungen und Begriffen wie Leistungskraft, Wirksamkeit oder gespannte Tatkraft eines Menschen oder dynamischen Systems. Die Physik konnte den E.begriff empirisch und theoretisch als Fähigkeit eines Systems —> Arbeit zu verrichten, exakt fassen und Maßgrößen für die E.menge einführen (z.B. Joule (J), Kalorie (cal), Steinkohleeinheit (SKE), Elektronenvolt (eV)). Zu den grundlegenden Erkenntnissen der Naturwissenschaft gehören die beiden Hauptsätze der Thermodynamik.
Energie Der 1. Hauptsatz - E.satz oder E.erhaltungssatz - besagt, daß in einem abgeschlossenen System die Summe aller E. formen zeitlich konstant bleibt. Ebenso gilt: E. kann nicht aus nichts gewonnen und auch nicht vernichtet, sondern nur von einer E.form in eine oder mehrere andere umgewandelt werden (es gibt kein perpetuimi mobile). Der 2. Hauptsatz Entropiesatz - bezieht sich auf alle E.umwandlungen, die von selbst ablaufen. Hiernach können sich energetisch abgeschlossene Systeme nur in Richtung zunehmender Entropie oder größerer thermodynamischer Unordnung entwickeln. In anderer Formulierung: Die Entropie eines Systems kann nur durch E.austausch mit der Umwelt abnehmen, seine Ordnung nur so zunehmen. Von grundlegender Bedeutung ist auch die Erkenntnis der Relativitätstheorie über die Masse-E.Äquivalenz: Masse und E. sind ineinander nach der Einstein-Beziehung E=mc 2 umwandelbar und somit letztlich nur 2 Erscheinungsformen einer Realität. Hieraus folgt, daß die Umwandlung bereits kleinster Masseteilchen riesige E.mengen freisetzt (Kernenergie). Bei der Hiroshima-Bombe wurde etwa 1 g Masse in E. umgewandelt. Da alle dynamischen Vorgänge in der Natur sowie im Sozial- und Wirtschaftsleben auf E.umwandlungen beruhen, kommen der E.politik und der E.wirtschaft herausragende Bedeutung zu. Die E.politik umfaßt alle staatl. und kommunalen Maßnahmen, die die E.erschließung, die Nutzung unterschiedlicher E.quellen, den E.verbrauch und die Folgen filr den Menschen und die Umwelt beeinflussen. Die E.wirtschaft befaßt sich v.a. mit der Gewinnung von Primärenergie (Kohle, Erdgas, Erdöl, Uranerz, Wasserkraft, Biomasse, Sonnenenergie und anderen), ihrer Umwandlung in Sekundärenergie (Strom, Benzin, Stadtgas, Dieselkraftstoff, Fernwärme und anderen) sowie dem Transport, der Verteilung und der Nutzung von E. in den 4 großen Verbrauchssektoren Industrie, Private Haus-
Energie halte, —> Verkehr und Kleinverbraucher (hauptsächlich öffentl. Bereich, —> Landwirtschaft, —> Gewerbe). Dtld. hat sich auf der 1. Vertragsstaatenkonferenz 1995 in Beri, zur Umsetzung der in Rio de Janeiro beschlossenen Klimarahmenkonvention der -> Vereinten Nationen verpflichtet, die KohlendioxidEmissionen bis zum Jahr 2005 um 25% zu reduzieren (Basisjahr 1990). Es wird bezweifelt, daß dieses Ziel erreicht werden kann, solange nicht wichtige Rahmenbedingungen der E.wirtschaft geändert werden und der Anstieg des E.verbrauchs im Verkehrssektor nicht gestoppt wird. Der schonende Umgang mit E. gehört zu den größten Herausforderungen unserer Zeit. Seit der Veröffentlichung des Club of Rome 1972 , JDie Grenzen des Wachstums" ist weltweit die Bedeutung der kurzen Reichweite der fossilen E.träger Erdöl, Erdgas und Kohle deutlich geworden. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 und der Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 haben die großen Risiken der militärischen und zivilen Kernenergienutzung offengelegt. Die globalen Klimaveränderungen, die Schadstoffkonzentrationen in Ballungsgebieten und die gesundheitlichen Gefahren für die Menschen sind direkte Folgen der horrenden Verbrennung fossiler E.träger. Die Weltwirtschaft reagiert äußerst empfindlich auf Preisveränderungen der zentralen E.träger, was sich im Rahmen der Ölpreiskrisen 1973/74 und 1979/80, ausgelöst durch das Preiskartell der erdölfördernden Staaten (—> OPEC), zeigte. Vor diesem Hintergrund gewinnen eine neue E.politik und E.wirtschaft an Boden, die eine konsequente Strategie der rationellen und sparsamen E.verwendung, des Einsatzes von E.eflizienz- und neuen E.speichertechniken sowie der verstärkten Nutzung regenerativer E.n (Solar-, Wind-, geothemische E., Wasserkraft, Biomasse) fördert. Zur rationellen Verwendung von E. gehören v.a. Maßnahmen des energiesparenden Bauens, dezentrale effiziente
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Energie E.umwandlungstechniken wie Blockheizkraftwerke, Wärmepumpen und die Abwärmenutzung aus Kraftwerken (KraftWärme-Kopplung, Fernwärme), Industrieprozessen und Gewerbebetrieben. Weitere wichtige Forderungen an eine zukünftige E.politik sind die Umwandlung der E.versorgung in E.leistungsunternehmen, die Förderung der E.beratung sowie der Aus- und Weiterbildung. Zu den Grundlagen der E.politik und E.wirtschaft gehören noch immer das E.wirtschaftsgesetz vom 13.12.1935 und das E. sicherungsgesetz vom 9.11.1973 bzw. 19.12.1979 mit zahlreichen Änderungen und Verordnungen (-> Energierecht). Zentrale Ziele dieser Gesetze sind Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit der E.versorgung. Außerdem weisen sie den Ländern eine Aufsicht über die Investitionstätigkeit, die allgemeinen Lieferbedingungen, die Tarife und andere Aufsichtsrechte zu. Die E.versorgungsunternehmen (EVU) sind von den Vorschriften des Kartellgesetzes (§ 103) ausdrücklich ausgenommen (Monopolstellung), unterliegen allerdings einer Mißbrauchsaufsicht durch das —> Bundeskartellamt. Für einen umweltschonenden und rationellen Umgang mit E. sind u.a. das Bundesimmissionsschutzgesetz (—> Immissionsschutzrecht) mit seinen zahlreichen Verordnungen, die Großfeuerungsanlagenverordnung, die Bundestarifordnung Elektrizität, die Mineralölsteuer- sowie die Heizungsanlagenverordnung (ab 1.6.1994) und die Wärmeschutzverordnung (ab 1.1.1995) von Bedeutung. Für die Nutzung und Förderung regenerativer E., insbes. der Windkraft und der Solarenergie, ist das Stromeinspeisungsgesetz von Relevanz, das den Betreibern solcher Anlagen eine Vergütung für in das öffentl. Stromnetz abgegebenen Strom zusichert. Von den Vertretern einer rationellen und ökologisch verträglichen E.politik wird v.a. die Einbeziehung der ökologischen und sozialen Folgekosten (Umweltschäden, Gesundheitskosten etc.) in die Preise der fossilen
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Energie und nuklearen E.n gefordert. Das sollte z.B. durch eine E./CCh-Steuer oder durch eine allgemeine Ökosteuer erfolgen. Starke Kontroversen gibt es seit Jahren über die Subventionierung der Steinkohle in Dtld.; während die Befürworter die Erhaltung des Bergbaus zur E.gewinnung und zur Sicherung von Arbeitsplätzen ins Feld führen, verweisen die Gegner auf die verheerenden Folgen für die Wirtschaft und die Umwelt (Subventionskosten, SchadstofTbelastungen, Innovationsblokkaden bei rationellen und regenerativen E.techniken, Verhinderung zukunftsorientierter Beschäftigungswirkungen etc). Starke Bewegung in die bisher in Dtld. weitgehend monopolistische E. struktur könnte durch die Liberalisierung der nationalen E.märkte kommen, die derzeit durch die EG-Richtlinie 96/92/EG vom 30.1.1997 vorbereitet wird und bis zum 18.2.1999 in nationales Recht umgesetzt werden muß. Ziel der -> EG-Richtlinie ist die schrittweise Marktöffnung für alle Unternehmen der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus können nationalstaatl. Vorrangsregeln für die E.versorgung aus regenerativen E.quellen und durch Kraft-WärmeKopplung gesetzlich festgelegt werden. Der Gesetzentwurf der —> Bundesregierung vom 8.11.1996 zur Neuregelung des E.wirtschaftsrechtes (Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung) stellt erstmals neben die Zwecke Sicherheit und Wirtschaftlichkeit die —> Umweltverträglichkeit als dritten Grundpfeiler der leitungsgebundenen E.versorgung fest. Darüber hinaus werden das in den Konzessionsverträgen zwischen den Kommunen und den E.versorgem vereinbarte ausschließliche Wegerecht der Versorger und ihre gesetzliche Freistellung vom Kartellrecht aufgehoben. Damit entfällt die Rechtmäßigkeit von Demarkationsverträgen, die zu den Gebietsmonopolen geführt haben. In der Stellungnahme des -> Bundesrates vom 19.12.1996 wird das Ziel unterstützt, Wettbewerb im Interesse der Kunden durch freien Marktzugang zu ermöglichen. Der Entwurf der Bundes-
Energierecht
Energie regierung wurde aber abgelehnt, weil das Konzept keine klaren Wettbewerbsregeln (Gefahr der Oligopolisierung), eine Gefährdung für das kommunale -> Selbstverwaltungsrecht und die Kommunalfinanzen sowie keine konkreten Festlegungen zur umweltverträglichen E.nutzung enthält. Diese Gegensätze sind charakteristisch für die Grundpositionen von Regierung und -> Opposition in der E.politik und E.wirtschaft, wie sie auch in den E.konsensgesprächen mit den E.versorgem zum Ausdruck kommen. Der Primärenergieeinsatz in der BRD betrug 1995 14.165 PJ (Petajoule). Davon entfielen auf Mineralöl 40,3%, Erdgas 20,0%, Kohle und feste Brennstoffe 26,7%, Kernenergie 10,1%, Stromimporte 1,8%, Wasserkraft 1,0% und andere regenerative E.n 0,1%. Der Endenergieverbrauch verteilte sich 1995 auf die 4 Verbrauchssektoren wie folgt: Industrie 26,9%, Private Haushalte 29,4%, Verkehr 28,1%, Kleinverbraucher 15,6%. Die BRD emittierte im gleichen Jahr 887 Mio. t Kohlendioxid, was einem Anteil von etwa 3,9% an der gesamten Weltemission des gefährlichen Treibhausgases entspricht. Die festgefügten zentralen E.Versorgungsstrukturen und die Gebietskartelle in der E.wirtschaft sowie die fehlenden polit. Rahmenbedingungen zur Einbeziehung der externen Folgekosten der E.verschwendung in die E.preise sind die entscheidenden Hindemisse bei der Durchsetzung von Strategien der rationellen und sparsamen E. Verwendung und Nutzung regenerativer E.n. (s.a. -> Nachhaltigkeit). IM.: D. Winje / R. Hanitsch (Hg.): Handbuchreihe Energieberatung /
Energiemanagement,
Bde. 1 bis 6, Berlin 1991; Enquete-Kommission des Dt. Bundestages „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre": Energie und Klima, 10 Bde., Karlsruhe 1990; dies.: Mehr Zukunft Ar die Erde. Nachhaltige Energiepolitik für dauerhaften
Klimaschutz, Bonn 1994; G. Altner/H.-P. Dürr / G. Michelsen u.a.: Zukünftige Energiepolitik, Bonn 1995.
RolfKreibich
Energiepolitik —» Energie Energierecht Das Recht der Energieerzeugung und -Verteilung steht im Spannungsfeld zwischen dem Bedürfnis nach einer sicheren und preisgünstigen Energieversorgung für die Verbraucher und einer umweltgerechten und Ressourcen schonenden Erzeugung. Versorgungssicherheit und Energiekosten sind wirtschaftspolit. Standortfaktoren von herausragender Bedeutung. Das E. besteht aus verschiedenen —> Gesetzen und -> Verordnungen, die sich auf die leitungsgebundenen Energiearten (Strom und Gas), das Energiepreisrecht, die Abgrenzung von Versorgungsgebieten, Durchleitungsrechte sowie Konzessionsabgaben, Anlagengenehmigungen für Kraftwerke, das -> Atomrecht, die Mineralölversorgung, Kohleverstromung und Engergiesparmaßnahmen beziehen. Hinzu treten Normen aus dem nationalen und europ. Kartellrecht und Abkommen über Stromverbundnetze. Die Gesetzgebungskompetenz liegt gem. Art. 73 Nr. 11 und l i a GG beim Bund. Federführend innerhalb der Bundesressorts ist das —» Bundesministerium für Wirtschaft. Von grundlegender Bedeutung ist das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG vom 13.12.1935), dessen erste Entwürfe schon aus den Jahren 1922/23 stammen. Es galt nach dem Krieg als -> Bundesrecht fort. Insbes. die Elektrizitätswirtschaft wurde durch Preiskontrolle, Investitionskontrolle und umfassende Genehmigungspflichten einer weitgehenden staatl. Reglementierung unterworfen, um eine ausreichende, sichere, techn. zuverlässige und preiswürdige Energieversorgung zu gewährleisten. Das Ziel der Versorgungssicherheit wurde über den brancheninternen Wettbewerb gestellt, so daß sich wenige Engergieversorger den Markt in geschlossenen Versorgungsgebieten teilen. Nicht zuletzt durch EG-rechtl. Vorgaben (-» Europäisches Gemeinschaftsrecht) beschleunigt, wird das EnWG z.Z. reformiert, um den
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Energieversorgungsunternehmen
Enquete
Energiemarkt stärker dem Wettbewerb zu öffnen (—> s.a. Energie, —> s.a. Energieversorgungsuntemehmen).
Englische Verfassung -> Verfassung, britische
Lit.: IV. Obernolte / W. Dalmer: Energiewirt· schaftsgesetz -Komm., Losebl., München 1995.
Enquete /-kommission 1. Dem Wortsinne entsprechend (frz. enquête = Untersuchung, Erhebung) ist damit allgemein eine Untersuchung zur Feststellung von Tatsachen oder Meinungen, v.a. auf sozialem und Wirtschaft!. Gebiet gemeint. Im parlament. Bereich steht der Begriff ftlr Untersuchungen jeglicher Art und bezieht sich institutionell herkömmlich auf den -> Untersuchungsausschuß, wie er in Art. 44 GG und in den Landesverfassungen verankert ist. 2. Seit der sog. Kleinen —> Parlamentsreform von 1969 kennt der -> Bundestag das Institut der E.-Kommission (EK). Sie hat danach auch Eingang in die —> Landesparlamente gefunden; die dortigen Regelungen entsprechen prinzipiell denen auf Bundesebene. Die weitaus größte Bedeutung haben die EKen des -> Bundestages erlangt, auf die sich die folgenden Ausführungen beschränken sollen. 3. Auf der Grundlage von § 56 GOBT hat der Bundestag das Recht, zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe eine EK einzusetzen. Dabei kann es sich um beliebige parlament. Entscheidungen (nicht nur um gesetzgeberische) handeln, auch um solche, die überhaupt erst durch ihre Arbeitsergebnisse veranlaßt werden. Die institutionelle Verwandtschaft mit den Untersuchungsausschüssen wird nicht zuletzt am Minderheitenrecht deutlich: Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder ist das -> Plenum zur Einsetzung einer EK verpflichtet. Die Antragsteller bestimmen auch den Arbeitsauftrag der Kommission. Eine wesentliche Besonderheit der EKen liegt darin, daß ihnen neben Abgeordneten auch parlamentsfremde Sachverständige angehören. Es obliegt den -> Fraktionen, die Kommissionsmitglieder vorzuschlagen, die vom -> Bundestagspräsidenten berufen werden und alle dieselben Rechte und Pflichten haben. Es ist nicht anders zu erwarten, als
Thomas Zielke Energieversorgungsunternehmen Unternehmen lind Betriebe, die andere mit elektrischer Energie oder Gas versorgen oder Betriebe dieser Art verwalten, sind unabhängig von der gewählten Rechtsform und den Eigentumsverhältnissen EVU. Damit werden Unternehmen, die sich selbst mit elektrischer Energie oder Gas versorgen oder die Dritte mit Femwärme oder mit nichtleitungsgebundener Energie versorgen, nicht als EVU aufgefaßt. Die EVU sind verpflichtet, den Bau, die Erneuerung, die Erweiterung und die Stillegung von Energieanlagen den -> Landeswirtschaftsministerien anzuzeigen (Investitionsaufsicht). Diese Anlagen dienen der Erzeugung, Fortleitung und Abgabe von elektrischer Energie oder Gas. Wird von einem EVU ein bestimmtes Gebiet versorgt, so muß es jedermann an das vorhandene Versorgungsnetz anschließen und versorgen. Die allgemeinen Bedingungen und die Tarifpreise sind öffentl. bekanntzugeben. Weiterhin unterstehen die EVU einer Preisaufsicht der Länder. Ein EVU besitzt für ein geschlossenes Versorgungsgebiet ein begrenztes Monopol zur Vermeidung von gesamtwirtschaftl. unsinnigen Doppelversorgungen (§ 103 GWB). Solche Gebietsmonopole werden durch Konzessionsverträge der EVU mit einzelnen Gemeinden für einen Zeitraum von bis zu 20 Jahren geregelt. Darüber hinaus grenzen EVU insbes. verschiedener Versorgungsstufen wechselseitig die Versorgungssgebiete durch sog. Demarkationsverträge ab. -> Deregulierungen werden z.Z. erwogen. R. W. Energiewirtschaftsgesetz recht
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->
Energie-
Enquete daß die Fraktionen Sachverständige ihrer jeweiligen polit. Orientierung benennen. Die EK vollzieht sich auch sonst nicht in einem neutralen Raum; parteipolit. Erwägungen stehen Pate beim Einsetzungsantrag und im Verfahren. Gute Chancen für einen offenen Diskurs bestehen immer dann, wenn der Arbeitsauftrag in polit. „Neuland" führt und die —> Parteien noch nicht Position bezogen haben. Die Ergebnisse der EK einschließl. ihrer Bewertungen werden in einem Bericht dem Plenum zugeleitet und dort behandelt, schließlich an den jeweils sachlich zuständigen Fachausschuß überwiesen, der über ihre polit. Umsetzung zu befinden hat. Die Berichte haben aber nicht nur einen internen Adressaten, sondern auch externe Wirkung in der Öffentlichkeit und in der jeweiligen Fachwelt, die freilich in ihrer Intensität von Fall zu Fall unterschiedlich ist. EKen verstehen sich daher ebenso als kommunikative Mittler zwischen der Politik auf der einen und der Öffentlichkeit und Wissenschaft auf der anderen Seite. EKen sind zwar dem Parlament. Bereich zugeordnet, können aber aufgrund ihrer personellen Zusammensetzung keine Ausschüsse im formellen Sinne sein (deshalb führen sie auch die Bezeichnung Kommission). Sie haben auch insofern eine Sonderstellung, als sich ihre Tätigkeit i.d.R. außerhalb des parlament. Alltags mit seiner spezifischen Arbeitsorganisation vollzieht - sie sind eben nicht wie ein Ausschuß in den gesetzgeberischen Prozeß eingebunden. 4. Das Institut der EK hat sich im Bundestag schnell durchsetzen können und ist heute in der parlament. Praxis allgemein anerkannt. Die Auswärtige —> Kulturpolitik, die Stellung der Frau in der Gesellschaft, der Jugendprotest und die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Dtld. gehörten ebenso zu ihren Themen wie die zukünftige Energiepolitik, die neuen Kommunikationstechniken, die Gefahren von AIDS oder der Schutz der Erdatmosphäre. Diese unvollständige Aufzählung - es sind bisher rd. 20 EKen eingesetzt worden -
Enquete macht die inhaltliche Breite ihrer Arbeitsfelder deutlich, wobei komplexe und schwierige Fragestellungen aus den Bereichen Technik und Naturwissenschaften einen beträchtlichen Anteil haben. Inhaltlich hat sich eine Funktionsteilung zwischen Untersuchungsausschüssen und EK herausgebildet. Während erstere Mißstände und Skandale polit, aufarbeiten, haben letztere die Erarbeitung von Sachinformationen zur Aufgabe; erstere sind vergangenheits-, letztere eher zukunftsorientiert. 5. Die EK ist das wichtigste Instrument parlament. Eigeninformation. Die Fraktionen sind ansonsten weitgehend auf Fremdinformationen über die —> Medien oder aus dem exekutiven Bereich angewiesen, wo breiter und spezifizierter Sachverstand in der Ministerialverwaltung vorhanden ist. Die bescheidenen Möglichkeiten, die den Abgeordneten durch eigene Hilfskräfte des wissenschaftl. Dienstes der - > Bundestagsverwaltung oder durch Zuarbeit aus ihrer Fraktion zur Verfügung stehen, fallen hier kaum ins Gewicht. Sie stellt so eine gewisse Stärkung des Bundestages gegenüber der Exekutive dar, wobei allerdings ihre Effizienz gerade angesichts der Komplexität mancher der zu bearbeitenden Sachthemen nicht überschätzt werden sollte. Die Mitgliedschaft in einer EK, die ihrerseits nur über ein kleines Sekretariat verfügt, ist in jedem Falle eine Nebentätigkeit. Umfassende und tiefgreifende Eigenuntersuchungen läßt die Leistungskapazität der Kommissionen kaum erwarten. Das schließt nicht aus, daß auf der Grundlage eingebrachter wissenschaftl. Expertisen mitunter hervorragende Berichte vorgelegt werden, die weitreichende Resonanz finden. 6. Bemühungen mit dem Ziel, die Stellung von EKen sowie deren Befugnisse zu verbessern, begannen praktisch schon mit ihrer Institutionalisierung. Die EK „Verfassungsreform" des Bundestages machte dazu im Jahre 1976 weitreichende Vorschläge: Als Rechtsgrundlage für ihre
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Entwicklungsland
Entschließungsantrag Arbeit sollten eine besondere Verfassungsnorm und ein eigenes Verfahrensgesetz geschaffen werden; den EKen sollte das Recht auf -> Akteneinsicht und mündliche —> Auskünfte, auch von Privatpersonen, eingeräumt werden. Die Empfehlungen zielten auf eine weitgehende Angleichung der Stellung und Handlungsmöglichkeiten von EKen an die von Untersuchungsausschüssen. Die ganze Reformdebatte hat jedoch bis heute zu keinen substantiellen Neuerungen geführt. Lit.: EK-Verfassungsreform: Schlußbericht, BTDrucks. 7/5924, S. 57ff.; J. Frhr. v. Gay!: Das Parlament. Institut der EK am Beispiel der EK "AIDS" des Dt. Bundestages, Frankfurt/M. 1992; W. Ismayr: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992, S. 500ÍT ; Ch. Metzger: EK des Dt. Bundestages, Frankfurt/M. 1995; A. Vierecke: Die Beratung der Technologie- und Umweltpolitik durch Enquete-Kommissionen beim Dt. Bundestag, München 1995.
Rüdiger Kipke Entschließungsantrag Ein E. ist ein -» Antrag, der zu einem auf der Tagesordnung eines —> Parlaments stehenden Verhandlungsgegenstand gestellt wird. Er unterscheidet sich von selbständigen Anträgen nur durch seinen akzessorischen Charakter. Die —> Geschäftsordnung des -> Bundestages kennt dementsprechend E. als „unselbständige Vorlagen" zu Gesetzentwürfen, Unterrichtungen, Regierungserklärungen, Großen —> Anfragen, Entschließungen des -» Europäischen Parlaments, EG-Vorlagen, Stabilitätsvorlagen und -» Rechtsverordnungen (§ 75 Abs. 2 Buchst, c). Allerdings ist diese Aufzählung nach der zweifelsfreien Praxis des Bundestages nicht abschließend. E. werden ebenso eingebracht wie selbständige Anträge (§§ 76f. GOßT). Auch ihre etwaige Behandlung in Ausschüssen des Bundestages weist keine Unterschiede zu selbständigen Anträgen auf. Während aber selbständige Anträge stets mit Mehrheit - auch gegen den Willen der Antragsteller - einem —> Ausschuß überwiesen werden können, haben die Antragsteller
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nach § 88 Abs. 2 GOBT ein Widerspruchsrecht gegen eine Oberweisung. Sie können nach dieser Vorschrift die —» Abstimmung über einen E. im -> Plenum - spätestens am nächsten Sitzungstag erzwingen. Damit ist für Antragsteller aus der Mitte des Hauses das am weitesten durchschlagende Minderheitenrecht der Geschäftsordnung geschaffen worden. Den Zeitpunkt der Abstimmung über E. regelt § 88 Abs. 1 GOBT: Sie erfolgt grds. nach der Schlußabstimmung über den Verhandlungsgegenstand oder - falls diese unmöglich ist - nach Schluß der Aussprache über den Verhandlungsgegenstand. Lit: Schneider /Zeh, S. 894ÍF.
J. U. Entwicklungshilfe —> Entwicklungspolitik Entwicklungsland Der Begriff ist wirtschaftl., sozial und polit, definiert. Ihm liegt die Grundidee der Entwicklung von —> Gesellschaft und - » Wirtschaft zugrunde. Während den sog. Industrieländern zugestanden wird, ein wirtschafliches Niveau erreicht zu haben, daß allen Bürgern ein menschenwürdiges Leben sichert, verweist der Begriff auf jene Länder, die noch einen hohen Entwicklungsbedarf haben. Oft basiert diese Klassifizierung auf rein Ökonom. Erwägungen wie dem Pro-Kopf-Einkommen. Der Begriff wird im Gegensatz zu dem der Industrieländer verwendet. Die Diskrepanzen zwischen beiden manifestierten sich seit den 60er Jahren im Nord-SüdKonflikt. In internationalen Gremien treten die E.er seit der ersten Weltkonferenz für Handel und Entwicklung 1964 (UNCTAD I) als geschlossene Gruppe 77 auf, deren Mitgliedschaft weit über diese ursprüngliche Zahl hinauswuchs. Das gemeinsame Auftreten gab ihnen im OstWest-Gegensatz polit. Gewicht, daß sich jedoch häufig nur in Abstimmungssiegen in internationalen Gremien manifestierte und wenig praktischen Nutzen i.S. einer beschleunigten Entwicklung brachte.
Erbrecht
Entwicklungspolitik IM.: D. Nohlen (Hg.): Handbuch der Dritten Welt, 8 Bde., Bonn 1992ff; PJ. Opitz (Hg.): Grundprobleme der Entwicklungsländer, München 1991; UNCTAD: Trade and Development Report, New York (erscheint jährlich).
D.K. Entwicklungspolitik Der Begriff verweist auf eine systematische und bewußte Anwendung polit., wirtschaftl. und sozialer Maßnahmen, die geeignet sind, die allgemeine Entwicklung eines Landes zu fördern. Im Gegensatz zu dem Begriff der Entwicklungshilfe hat die E. Akteure auf Seiten der Geberländer und der Empfängerländer. Sie zielt meist darauf ab, die wirtschaftl., techn. und gesellschaftl. Kapazitäten eines Landes zu fördern und bestehende Kräfte zu mobilisieren. Sie ist so als Mittel einer internationalen Politik des Ausgleichs zu verstehen, die - wenn erfolgreich - alle Länder auf ein ähnlich hohes wirtschaftl. Niveau hebt. In der bisherigen Praxis sind die tatsächlichen Erfolge sehr viel bescheidener. Auch wurde das in den 70er Jahren diskutierte Ziel, 0,7% des -> Bruttosozialprodukts für die entwicklungspolit. Zusammenarbeit bereitzustellen, weder von Dtld. noch von den meisten anderen Industrieländern erreicht. In Dtld. entspricht die Zahl der im Bundeshaushalt vorgesehenen Mittel in etwa 0,32% des BSP, im OECDDurchschnitt lag sie 1995 bei 0,3%. Die dt. E. ist in zunehmendem Maße in die der —> Europäischen Union eingebunden. Insg. sind die EU und ihre Mitgliedstaaten die wichtigsten Finanzierungsländer der weltweiten Entwicklungsmaßnahmen (45-50% der gesamten öffentl. Enwicklungshilfe). Ursprünglich konzentrierte sich die E. der EU auf die ehemaligen Kolonien. Den Rahmen bildeten die Abkommen von Jaunde (1963 und 1969) sowie die 4 folgenden Abkommen von Lomé (1975, 1979, 1984, 1989). Eine Revision des letzten Abkommens fand 1995 auf Mauritius statt. Inzwischen umfaßt das E.-Konzept der EU nahezu alle Entwicklungsländer. Diese Zusam-
menarbeit schließt regionale Abkommen, Handelsabkommen, allgemeine Präferenzsysteme sowie finanzielle und techn. Hilfe ein. Ein neuer Trend ist die stärkere Hervorhebung polit. Themen (z.B. -> Demokratisierung Rechtsstaatlichkeit) sowie die Stärkung von Handels- und Wettbewerbsfähigkeit der Empfängerländer. Lit: W. Lachmann: Entwicklungspolitik, München 1994; D. Nuscheier (Hg.): Lem- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik, Bonn 3 1991; G. Odenthal: Das Recht auf Entwicklung, Aachen 1997; B. Vonessen: Europ. Entwicklungshilfe und Umweltschutz, Berlin 1996; Schwerpunktthema „Entwicklungspolitik im Umbruch", in: Internationale Politik 4/1996, S. Iff. (mehrere Aufsätze).
Dieter König. EPTA = European Parliamentary Technology Assessment Network -> Technikfolgenabschätzung Erbrecht Das objektive E. als Teil der Privatrechtsordnung umfaßt alle materiellund verfahrensrechtl. Vorschriften zur Regelung der vermögensrechtl. Verhältnisse eines Menschen nach seinem Tode. Den Hauptanteil der materiellrechtl. Normen enthält das 5. Buch des -> Bürgerlichen Gesetzbuches in den §§ 1922 2385. Bestimmungen erbrecht!. Inhalts finden sich auch in den anderen Büchern des BGB sowie im Handelsgesetzbuch. Erbrechtl. Verfahrensrechte enthält insbes. das Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit, §§ 72 ff. FGG. E. im subjektiven Sinn regelt dagegen nur die Rechtsmacht des Erben, d.i. die Summe der einzelnen Rechte und Pflichten, die dem Erben mit dem Erbfall aus dem objektiven E. erwachsen. Erbfall ist der Tod eines Menschen als der Zeitpunkt, zu dem sein Vermögen auf eine oder mehrere andere Personen (Erbe, Erbengemeinschaft) übergeht. Der Erbe erwirbt im Wege der Gesamtrechtsnachfolge (Universalsukzession) kraft Gesetzes (§ 1922 281
Erbrecht BGB) das gesamte Vermögen, Aktiva und Passiva, des Erblassers. Vermächtnisnehmern und Pflichtteilsberechtigten stehen nur schuldrechtl. Ansprüche gegen den Erben zu. Vermögensrechtl. tritt der Erbe unmittelbar in die Rechtsstellung des Erblassers ein, sog. ipse-iure-Erwerb. E. und —> Eigentum gehören eng zusammen. Ohne privates E. würde das Eigentumsrecht seinem Inhaber nur einen lebenslangen Nießbrauch gewähren. Das E. hat die Funktion, das Privateigentum als Grundlage der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung mit dem Tode des Eigentümers nicht untergehen zu lassen, sondern seinen Fortbestand im Wege der Rechtsnachfolge zu sichern. E. muß daher als postmortale Form des Eigentums verstanden werden. Deshalb ist das freie Privaterbrecht ebenso wie das Eigentum verfassungsrechtl. geschützt. Die E.sgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG, die das E. als Rechtsinstitut und als -> Indvidualrecht gewährleistet, muß insoweit als Ergänzung der Eigentumsgarantie gesehen werden und bildet zusammen mit dieser die Grundlage für die im —• GG vorgesehene private Vermögensordnung. Die beiden wichtigsten Grundprinzipien des dt. E.s sind die Testierfreiheit und die Familienerbfolge. Die Testierfreiheit basiert auf der Privatautonomie und erlaubt es dem Erblasser, durch —> Testament (als die an strenge Formvorschriften gebundene Anordnung des letzten Willens, die jemand über die Weitergabe seines Vermögens nach seinem Tode trifft) oder Erbvertrag über das rechtl. Schicksal seines Vermögens von Todes wegen beliebig zu verfügen (gewillkürte Erbfolge) oder eine solche Verfügung zu unterlassen. Eingeschränkt wird die Testierfreiheit durch das Pflichtteilsrecht (§§ 23032338a BGB) der nächsten Angehörigen des Erblassers: Abkömmlinge, Ehegatten, Eltern. Insoweit wurde ein Kompromiß zwischen Testierfreiheit und Familienerbfolge geschlossen. Das Prinzip der Familienerbfolge ist die Grundlage für das gesetzliche E.; hat der Erblasser keinen
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Ergänzungsabgabe Erben bestimmt, kommt das Vermögen seinen Verwandten und seinen Ehegatten nach den Regeln über die gesetzliche Erbfolge (§§ 1924-1930, 1936 BGB) zu. Sind keine gesetzlichen Erben vorhanden oder wird die Erbschaft ausgeschlagen, fallt sie dem Staat zu. Das dt. E. gilt für alle dt. Staatsangehörigen, unabhängig von ihrem Wohnsitz. Ein ausländischer Staatsangehöriger wird nach dem Recht seines Heimatstaates beerbt, auch wenn er in der BRD lebt, es sei denn, sein Heimatstaat gebietet, dt. Gesetze anzuwenden (sog. Rückverweisung auf dt. Recht). Lit: BVer/GE 67, 329 (340); H. Brox: Erbrecht, Köln 161996; H. Lange / K. Kuchinke: Lehrbuch des Erbrechts, München "1995, § 1 I 1; W. Schlüter: Erbrecht, München "1996.
Annette von Harbou Erfolgswertgleichheit - » Wahlrecht Ergänzungsabgabe Die seit dem Finanzverfassungsgesetz 1955 ausdrücklich zugelassene und durch das Finanzreformgesetz 1969 bestätigte E. (Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG) ist eine annexe, begrifflich und systematisch relativ selbständige —> Steuer zur —> Einkommensteuer und / oder zur -> Körperschaftssteuer. Ihr Aufkommen steht, im Unterschied zum Aufkommen der sog. Gemeinschaftsteuern, ausschließlich dem —> Bund zu. Dieser kann die E. ohne Zustimmung des —> Bundesrates durch Bundesgesetz einführen. Ihre Verwaltung obliegt den Ländern im Rahmen der -> Auftragsverwaltung (Art. 108 Abs. 3 GG). Die Steuer soll einen aufgabenbezogenen Finanzbedarf des Bundes befriedigen, sie muß nicht von vornherein befristet sein. Als flexibles Instrument des —» Finanzausgleich darf sie das finanzielle Ausgleichssystem (Art. 106, 107 GG) zwischen Bund und Ländern nicht destabilisieren. Die grundrechtl. und bundesstaatsrechtl. Grenzen des legislativen Spielraums für die konkrete Ausgestaltung der Steuer sind trotz einer einschlägigen Entscheidung des BVerfG
Ermächtigungsgesetz
Ermächtigungsgesetz (BVerfGE 32, 333 - Bestätigung des E.ngesetzes 1967) noch nicht vollständig geklärt. Von seiner Ermächtigung hat der Bund 1968 bis 1976 und 1991/92 (-> Solidaritätszuschlag) Gebrauch gemacht. Seit dem 1.1.1995 erhebt der Bund zur Finanzierung der Vollendung der —> Deutschen Einheit einen unbefristeten Zuschlag zur Lohn-, Einkommen- und Körperschaftssteuer von allen Steuerpflichtigen in Höhe von 7,5 v.H. der je festgesetzten Steuer (Solidaritätszuschlaggesetz 1995). Ab 1998 wurde die E. auf 5,5 v.H. der Steuerschuld gesenkt. Das Aufkommen beträgt 1997 voraussichtlich ca. 26,8 Mrd. DM. Lit.: Κ. Tipke / J. Lang: Steuerrecht, Köln "1994, § 8 Rz. 36.
J.W. H. Ermächtigungsgesetz Das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" vom 24.3.1933 war einer der Schritte zur Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft (-> Nationalsozialismus). In ihm ermächtigte der Reichstag gegen die Stimmen der SPD die Regierung Hitler, Reichsgesetze, auch solche verfassungsändernder Natur, unabhängig von -> Parlament, Reichsrat und Reichspräsident zu erlassen. Dies bedeutete die Aufhebung der verfassungsstaatl. -> Gewaltenteilung durch die faktische Beseitigung des Unterschiedes zwischen formellen —> Gesetzen und -> Verordnungen bzw. zwischen Legislative und -> Exekutive und markierte das Ende des Weimarer -> Parlamentarismus. Die Regierung Hitler war durch das E. bei ihrer Gesetzgebung auch nicht mehr auf das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten Hindenburg nach Art. 48 —» Weimarer Reichsverfassung angewiesen. Das E. war Grundlage der legislativen Maßnahmen zur Neugestaltung der polit. Verhältnisse nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten, insbes. der polit. Gleichschaltung. Nach Verabschiedung des E. erließ der Reichstag während des Dritten Reiches nur noch 7 Gesetze, wovon 2 die Verlängerung des
E.es betrafen. Die Frage, ob das E. auf verfassungsrechtl. legale Weise zustandegekommen ist, wird kontrovers diskutiert. Auf den ersten Blick mögen die erforderlichen formalen Verfahren der Gesetzgebung eingehalten worden sein; tatsächlich aber lassen der Inhalt des Gesetzes, die faktischen Umstände, unter welchen die Abstimmung im Reichstag stattfand, sowie das Zustandekommen der Zustimmung des Reichsrates den legalen Charakter des Gesetzes zweifelhaft erscheinen: Nicht nur war die gewählte KPD-Fraktion von der Abstimmung im Reichstag ausgeschlossen (viele ihrer -» Abgeordneten befanden sich bereits in Haft wie einige aus der SPD-Fraktion), sondern es wurde auch massiver Druck auf die nicht-nationalsozialistischen Abgeordneten insbes. durch die Anwesenheit von SA- und SSMännem vor und im Tagungsgebäude des Parlaments ausgeübt. Man kann daher kaum von einer freien und dem Geist der Verfassung entsprechenden Abstimmung reden. Seinen deutschnationalen Koalitionspartnern wie den bürgerl. -> Parteien, namentlich dem Zentrum, rang Hitler die Zustimmung durch eine Kombination aus später nicht eingehaltenen Zusicherungen einerseits und Drohungen andererseits ab. Auf diese Weise kam die fur das E. erforderliche Zweidrittelmehrheit zustande. Die nachfolgende Abstimmung im Reichsrat, bestätigte das E.; allerdings entsprach die Zusammensetzung des Reichsrates zu diesem Zeitpunkt nicht den rechtl. Anforderungen. Das E. wurde dreimal verlängert, nämlich am 30.1.1937 und am 30.1.1939 durch den nationalsozialistischen Reichstag sowie am 10.5.1943 durch Erlaß Hitlers. Es blieb mithin während der gesamten Dauer des Dritten Reiches Grundlage nationalsozialistischer Gesetzgebung. Dem E. vorausgegangen waren bereits verschiedene Maßnahmen zur Errichtung und Sicherung der Herrschaft Hitlers, wobei namentlich der „Reichstagsbrandverordnung" vom 28.2.1933 („Verordnung 283
Ernennung
Ermessen des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat") eine entscheidende Rolle zukam. Mit ihr wurden der permanente Ausnahmezustand etabliert, die —» Grundrechte außer Kraft gesetzt, die Willkür des Regimes legitimiert und die Gleichschaltung der Länder vorbereitet. Für die Verfassungsstruktur des Dritten Reiches war die Reichstagsbrandverordnung daher bedeutender als das E., weshalb sie von E. Fraenkel als „Verfassungsurkunde" des Dritten Reiches bezeichnet wurde. Lit.: M. Broszat: Der Staat Hitlers, München "1995; R. Morsey (Hg.): Das „Ermächtigungsgesetz" vom 24.3.1933, Düsseldorf 1992.
Michael Henkel Ermessen (der -> Verwaltung) bezeichnet den gesetzlich eingeräumten Entscheidungsfreiraum bei der Festsetzung einer Rechtsfolge. Während mit der Kategorie der -> unbestimmten Rechtsbegriffe Nonnelemente gemeint sind, die auf der Ebene der Tatbestandsvoraussetzungen einer Rechtsnorm konkretisierungsbedürftig sind und dabei in Ausnahmefällen auch der —> Exekutive eine gerichtlich nicht überprüfbare Einschätzungsprärogative belassen, setzt das E. den Tatbestand voraus und beläßt der Verwaltung Handlungsalternativen, wobei die Auswahlentscheidung dann grds. gerichtlich nicht überprüfbar ist. E.snormen dienen der sachgerechten Anwendung des -> Gesetzes im Einzelfall und sind im -> Verwaltungsrecht weit verbreitet (so etwa in den polizeilichen Generalklauseln, z.B. § 8 Abs. 1 PolG NW). Kategorial läßt sich zwischen Entschließungs- und Auswahlermessen. differenzieren, ersteres betrifft das „ob" des behördlichen Einschreitens, letzteres das „wie". E.sentscheidungen sind keine Willkürentscheidungen: Sie müssen vielmehr innerhalb des gesteckten Rahmens, unter Berücksichtigung der maßgeblichen Kriterien für die Auswahlentscheidung und unter Ausblendung unsachlicher von der E.snorm nicht intendierter Kriterien ergehen (§ 40 VwVfG). Werden sie diesen Anforderungen nicht
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gerecht, liegt ein - grds. justiziabler (§ 114 VwGO) - E.sfehlgebrauch vor. E. kann auch durch —> Verwaltungsvorschriften (E.srichtlinien) sowie eine feststellbare Verwaltungspraxis eingeschränkt werden. Unter bestimmten Voraussetzungen - etwa auch unter Berücksichtigung grundrechtl. Wertungen - kann sich das E. „auf Null reduzieren", so daß nur noch eine Behördenentscheidung als rechtmäßig anzusehen ist. Ob eine Norm E. einräumt, ist durch Auslegung zu ermitteln (—> Recht), üblicherweise wird bestehendes E. aber durch die Formulierung ausgedrückt (kann, darf, ist befugt). Bei sog. Soll-Vorschriften ist eine von der vorgesehenen Rechtsfolge abweichende Entscheidung regelmäßig nur unter besonderen Voraussetzungen zulässig, in der Sache handelt es sich um ein eingeschränktes E. Lit.: H.H. Lohmann: Die Zweckmäßigkeit der ErmessensausQbung als verwaltungsrechtl. Rechtsprinzip, Berlin 1972.
Jörg Menzel Ermittlungsgrundsatz lungsgrundsatz
Amtsermitt-
Ernennung Die E. ist ein - » Rechtsakt, der darauf gerichtet ist, die rechtl. Stellung des —> Beamten nach Art und Inhalt festzulegen, sei es, daß das Beamtenverhältnis begründet oder daß ein bestehendes Beamtenverhältnis in seiner rechtl. Grundlage oder in seinem durch das —> Amt bestimmten Inhalt verändert wird. Der Rechtsnatur nach ist die E. ein rechtsgestaltender, mitwirkungsbedürftiger und formgebundener —> Verwaltungsakt, dessen Erlaß im Ermessen des zuständigen Organs des Dienstherrn liegt. Die E. ist ein Oberbegriff und umfaßt nach dem BRRG folgende 5 Fälle: die Begründung des Beamtenverhältnisses (Einstellung), die Umwandlung des Beamtenverhältnisses in ein solches anderer Art, die erste Verleihung eines —> Amtes (Anstellung), die Verleihung eines anderen Amtes mit anderem Endgrundgehalt und anderer Amtsbezeichnung (Beförde-
Erwachsenenbildung
ERP rung und Herabsetzung) sowie die Verleihung eines anderen Amtes mit anderer Amtsbezeichnung beim Wechsel der Laufbahngruppe (Aufstieg; -> Laufbahnprinzip). Alle E.sfalle werden hinsichtlich der Form, des Inhalts, der Vollziehung und Bekanntgabe der E. von strengen Formvorschriften beherrscht. Lit: H. W. Scheerbarth / H. Höffken / H.-J. Bauschke u.a.: Beamtenrecht, Siegburg 61992.
H. W. ERP Abk. für European Recovery Programm (Europäisches Wiederaufbauprogramm); ein aufgrund der Vorschläge des amerik. Außenministers G.C. Marshall (Marshall-Plan) für die durch den Π. Weltkrieg zerstörten Länder Westeuropas bestimmtes Hilfsprogramm der USA. Die dt. Zahlungen für Lieferungen wurden zu einem Sondervermögen (—> ERP-Sondervermögen) zusammengefaßt und von den USA der —> Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung gestellt. Nach erfolgtem Abschluß des Wiederaufbaus dient das Sondervermögen jetzt der Förderung der dt. -> Wirtschaft. Die Vergabe von ERPMitteln obliegt heute im wesentlichen der Kreditanstalt für Wiederaufbau, Frankfurt und der Dt. Ausgleichsbank, Bonn, bei denen für bestimmte Förderprogramme sog. ERP-Darlehen beantragt werden können. D. V. ERP-Sondervermögen Sondervermögen des Bundes, das aus den DM-Gegenwerten des von den USA durchgeführten - » ERP-Programms nach dem Π. Weltkrieg entstand. Nach abgeschlossenem Wiederaufbau dient das Vermögen heute der dt. Wirtschaftsfbrderung und der Entwicklungshilfe. Die Vergabe von ERP-Mitteln erfolgt i.d.R. als verzinsliche, aber auch als unverzinsliche Darlehen und/oder als verlorene Zuschüsse. Die Durchführung der Mittelvergabe erfolgt seitens der Kreditanstalt für Wiederaufbau, Frankfurt, und der Dt. Ausgleichsbank, Bonn, über die Hausbanken der Antragsteller als
sog. Treuhandkredite. In Dtld. gefördert werden gegenwärtig (1997) die inländische klassische Investitionsfinanzierung, die Exportfinanzierung, Investitionen im Sozial- und Umweltschutzbereich, Existenzgründungen, Standortsicherungsmaßnahmen und Eingliederungsmaßnahmen für deutschstämmige Spätaussiedler. D. V. Ersatzdienst -> rung
Kriegsdienstverweige-
Erste Beratung -> Gesetzgebung Erste Lesung —> Gesetzgebung Erster Bürgermeister
Bürgermeister
Erststimme -> Wahlrecht Erwachsenenbildung / Weiterbildung 1. Definition E. und W. meinen zwar jeweils Gleiches, nämlich das organisierte Lernen von Erwachsenen, doch die Begriffe sind unterschiedlich akzentuiert. Während E. ein traditionell geprägter Terminus ist, der allgemeine und polit. Bildung beinhaltet, ist die Bezeichnung der W. stark an qualifikationsorientiertes, berufsbezogenes Lernen geknüpft. Mit E./W. wird ein Bildungsbereich markiert, der als quartärer bezeichnet wird und ein heterogenes System von Trägern, Institutionen und bildungspolit. Voraussetzungen umfaßt. 2. Geschichte Die E. (früher war Volksbildung der geläufige Begriff) in Dtld. wurzelt in der Aufklärung, sie ist also unmittelbar mit individuellem Emanzipationsstreben verbunden. In der ersten Hälfte des 19. Jhd.s entstanden kulturelle Gesellschaften, von 1850 bis 1918 wurden zahlreiche Volksbildungsvereine gegründet, bei denen die Arbeiterbildungsvereine eine wichtige Rolle spielten. Wesentliches Antriebsmoment für die Bildung Erwachsener im 19. Jhd. waren einmal die Ökonom., techn. Entwicklung, zum anderen die soziale Frage. 1871
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Erwachsenenbildung wurde die „Gesellschaft für die Verbreitung von Volksbildung", hinter der eine biirgerl.-liberale Bewegung stand, gegründet. 1891 wurde die .Allgemeine Arbeiterbildungsschule Berlin" ins Leben gerufen, die eine sozialistische Zielidee (-» Sozialismus) verfolgte. Wesentlich war auch die Öffnung der —> Hochschulen zur Volksbildung um die Jhd.wende. In der —> Weimarer Reichsverfassung wurde die Bedeutung des „Volksbildungswesens" besonders betont (Art. 148). In vielen Gemeinden wurden Volkshochschulen (s.u.) eingerichtet und 1927 der Reichsverband der Volkshochschulen gegründet. Daneben entwickelten sich die konfessionell orientierte Volksbildung und eine zur Arbeiterbewegung gehörende E. Ab 1933 (-» Nationalsozialismus) mußten zahlreiche Erwachsenenbildner emigrieren, die Einrichtungen wurden entweder aufgelöst oder „gleichgeschaltet". Zudem entstanden „Volksbildungsstätten" neuen Typs. Die gesamte E. wurde später der Organisation „Kraft durch Freude" unterstellt. Nach dem Π. Weltkrieg wurde die E. i.S. der Re-education wieder aufgebaut. Im Mittelpunkt stand ein bürgerl.-humanistisches Bildungsideal. Das änderte sich ab 1960 mit der sog. realistischen Wende, die unter wirtschaftl. Modernisierungsund Konkurrenzgesichtspunkten hinlenkte zur Weiterqualifizierung Erwachsener. Ein bedeutendes Dokument ist das Gutachten des Dt. Ausschusses „Zur Situation und Aufgabe der dt. E." (1960). Bildungspolit. bedeutend ist es, weil es beinhaltet, daß E. als öffentl. Aufgabe zu betrachten ist. Bahnbrechend war auch der 1970 vom Dt. —• Bildungsrat vorgelegte Strukturplan für das Bildungswesen, mit dem W., und zwar „Fortbildung, Umschulung und E.", zu einem Teil des gesamten -> Bildungssystem erklärt wurde. Wichtig ist femer der Bildungsgesamtplan der Bund-Länder-Kommission von 1973. In der DDR war die E. zentralisiert, 286
Erwachsenenbildung staatl. kontrolliert, ideologisch verpflichtet, analog zum Schulwesen flächendekkend strukturiert und v.a. mit dem Nachholen allgemeiner Bildungsabschlüsse beschäftigt. Mit dem 1965 verabschiedeten „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem" wurde dort die E. vollends in das öffentl. Bildungssystem integriert. 3. Gesetze und Struktur Mit der sog. realistischen Wende in engem Zusammenhang steht, daß von 1970 bis 1975 in der BRD in 8 Ländern E.- und W.sgesetze verabschiedet wurden. Diese unterscheiden sich in bildungspolit. Grundsatzfragen, z.B. darin, welchen Stellenwert sie jeweils den W.seinrichtungen in öffentl. (Volkshochschulen) oder freier (—> Kirchen, —> Gewerkschaften, —> Verbände) Trägerschaft einräumen. In -> Hessen und -» Nordrhein-Westfalen, 2 sozialdemokratisch regierten —» Bundesländern, wird den -» Städten und Gemeinden bzw. den —> Landkreisen die Einrichtung und Unterhaltung von Volkshochschulen als Pflichtaufgabe auferlegt. Von 1992 bis 1994 wurden in 4 der neuen Bundesländer E.- bzw. W.sgesetze erlassen. Derzeit gibt es in allen Bundesländern mit Ausnahme von —> Hamburg, —> Berlin und -» Sachsen gesetzliche Regelungen für die E.; zusätzlich wurden zwischen 1970 und 1993 in 10 Bundesländern Bildungsurlaubsgesetze bzw. Gesetze zur Freistellung von Arbeitnehmern beschlossen. Keine Gesetze mit dem Anspruchsrecht von Arbeitnehmern, an i.d.R. einwöchigen Bildungsmaßnahmen teilzunehmen, haben die Bundesländer —» Baden-Württemberg, -> Bayern, Sachs., —> Thüringen, -» Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Neben diesen aus der Bildungshoheit der Länder resultierenden Gesetzen gibt es eine Reihe von bundesweiten Regelungen, die außerschulische berufliche Bildung, Ausbildungsförderung, wissenschaftl. W. an —> Schulen und Fernunterricht betreffen. Das E.ssystem der BRD ist pluralistisch verfaßt. Dementsprechend gibt es eine Viel-
Erwachsenenbildung zahl von -> Institutionen der E./W., die von unterschiedlichen Trägern eingerichtet wurden sowie ausgestattet und unterhalten werden. Bezogen auf die allgemeine E. lassen sich traditionell 2 Trägergruppen unterscheiden: a) einmal die öffentl. getragenen Bildungseinrichtungen, die sich an alle —> Bürger wenden und ein möglichst umfassendes Bildungsangebot offerieren. Die bekanntesten Einrichtungen sind die Volkshochschulen; b) zum anderen Einrichtungen in freier Trägerschaft. Dabei fungieren üblicherweise weltanschaulich gebundene Gruppen und Organisationen als Träger (Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaft, kleinere, meist „alternative" Bildungswerke etc.). I.d.R. verfolgen diese Einrichtungen partielle Ziele und vertreten ein spezielles Programmspektrum. Für die europ. Ebene gilt, daß die —> Römischen Verträge eigene bildungspolit. Aktivitäten zwar nicht vorsahen, diese jedoch im Zuge der Beschäftigungspolitik auch mitberücksichtigt wurden. Mit dem Maastrichter —> EU-Vertrag hat die Gemeinschaft der —> Bildimgspolitik explizit eine rechtl. Grundlage geschaffen (Art. 126 und 127). Seitdem ist eine Reihe von europ. Bildungsprogrammen und Fördermaßnahmen angelaufen, die neben den Hochschulen v.a. Projekte der beruflichen, aber auch der polit. W. finanzieren. 4. Daten und Statistik Regelmäßige Statistiken über Programmangebote, Finanzen, Teilnehmer und Mitarbeiter liegen nur von den Volkshochschulen vor. 1996 gab es in der BRD 1.010 VHS, von denen 1.002 ausgewertet wurden. Hier arbeiteten 678 haupt- und 270 nebenberufliche Leiter, zusätzlich 54, die ihr Amt in Personalunion innehatten, 3.690 hauptberufliche pädagogische Mitarbeiter, 3.611 hauptberufliche Verwaltungsmitarbeiter sowie 184.955 nebenberufliche Kursleiter. Insg. führten die VHS 1996 511.099 Kurse mit 14.773.262 Unterrichtsstunden durch, wobei 6.436.191 Belegungen gezählt wurden. Hinzu kamen 78.525 Vortragsveranstaltungen mit 2.663.207 Teil-
Erwachsenenbildung nehmern. Die VHS-Statistik weist 12 Stoffgebiete aus, wobei bei den Kursen 38,1% der Unterrichtsstunden auf die Sprachen und an zweiter Stelle 13,8% auf die Gesundheitsbildung entfielen. Die Summe der Ausgaben für die VHS betrug 1996 1.578 Mio. DM. Die Finanzierung erfolgte zu 37,1% durch die Teilnehmergebühren und zu 46,2% durch öffentl. Zuschüsse; der Rest ergab sich aus anderen Einnahmen (AFG-, EU- und Bundesmittel etc.). Seit 1979 werden im Auftrag des jetzigen —> Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie im Dreijahresturnus repräsentative Daten zur W.ssituation in der BRD vorgelegt. Den jüngsten Zahlen liegt das Jahr 1994 zugrunde. Diesen zufolge haben 42% der Deutschen im Alter von 19 bis 64 Jahren an W. teilgenommen (1979 waren es 23%). In der allgemeinen W. lag die Teilnehmerquote bei 26% (Spitzenreiter waren mit jeweils 5% Veranstaltungen zu Fragen der Gesundheit und zum Erwerb bzw. zur Vertiefung von Sprachenkenntnissen). Auffallend ist der Vergleich zwischen den alten und neuen Bundesländern: Teilnahmequote 29% bzw. 17%. In der beruflichen Bildung lag die Teilnahmequote bei 24% (23% alte, 27% neue Bundesländer). Die W.steilnahme ist am höchsten bei der Gruppe der 19-34jährigen (49%) sowie bei Menschen mit Abitur (60%). Im Unterschied zur Teilnehmerstruktur bei den Volkshochschulen weist das Berichtssystem W. bei den Männern eine höhere W.steilnahme als bei den Frauen aus. 5. Tendenzen Gegenwärtig wird bildungspolitisch wieder über W. und E. diskutiert. Angesichts allgemeiner Sparzwänge stehen Struktur und öffentl. Finanzierung zur Disposition. Festzustellen ist ein zunehmender Verweis der E./W. auf den „Markt" sowie ein Rückzug der öffentl. Verantwortung. Zu beobachten sind steigende Teilnehmergebühren und Umstrukturierungen im Programm. Wenn diese Tendenz sich fortsetzt, dann werden finanzschwache Gruppen von der Teil-
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Erziehungsgeld
EU
nähme mutmaßlich ausgeschlossen werden sowie Minderheitenprogramme und Angebote, die nicht kommeizialisierbar sind (—> politische Bildung), in ihrer Existenz gefährdet sein. Privatisierung und unter rein betriebswirtschaftl. Gesichtspunkten gesteuerte W. determinieren ein Angebot, das sich nur an möglichst hohen Einnahmen orientiert. Statt Aufklärung führt diese Entwicklung zur ausschließlichen Anpassungsqualifizierung. Damit gehen der demokrat. und soziale Anspruch von E. verloren. Lit.: H. Becker: Europ. Förderung und Polit. Bildung, Bonn 1997; Bundesministerium fur Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hg.): Berichtssystem Weiterbildung VI., Bonn 1996; Dt. Institut für Erwachsenenbildung: Volkshochschul-Statistik, Frankfurt/M. 1997; M. Jagenlauf / M. Schulz / G. Wolgast (Hg.): Weiterbildung als quartärer Bereich, Neuwied 1995; J.H. Knoll: Internationale Weiterbildung und Erwachsenenbildung, Darmstadt 1996; E. Nuissl: Erwachsenenbildung in Dtld., in: Dt. Handbuch der Erwachsenenbildung 1996, S. 11 ff.,· R. Tippelt (Hg.): Handbuch Erwachsenenbildung / Weiterbildung, Opladen 1994.
Klaus-Peter Hufer Erziehungsgeld Mit Inkrafttreten des Bundeserziehungsgeldgesetzes am 1.1. 1986 wurde zum 1. Mal in der Geschichte der —y Bundesrepublik Deutschland die Erziehungsleistung von Eltern finanziell anerkannt, denn E. können im Gegensatz zum vorherigen Mutterschaftsurlaubsgeld, unabhängig von einer Erwerbstätigkeit, nicht nur leibliche Mütter, sondern auch Väter und andere Personen, die sorgeberechtigt sind, beziehen. BundesE. in Höhe von DM 600 im Monat erhalten Eltern in der 1. Lebensphase, höchstens aber bis zum vollendeten 2. Lj. des Kindes, wenn ein Elternteil nicht mehr als 19 Stunden pro Woche erwerbstätig ist. In einigen —> Bundesländern schließt an das BundesE. ein LandesE. an. E. ist einkommensabhängig. Während der ersten 6 Lebensmonate des Kindes liegt die Einkommensgrenze bei DM 100.000 pro Jahr
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(Alleinerziehende DM 75.000). Ab dem 7. Monat wird ungekürztes E. bis zu einem Einkommen von DM 29.400 (Alleinerziehende DM 23.700) gezahlt. Nachgeburtliches Mutterschaftsgeld (—> Mutterschutz) wird auf das E. angerechnet. Alle Einkommensgrenzen erhöhen sich um DM 4.200 ftlr jedes weitere Kind. Lit.: J. Zmarzlik/M. Zipperer/P. Viethen: Mutterschutzgesetz, Mutterschaftsleistungen, Bundeserziehungsgeldgesetz, Köln71994. Ν. Z.-H.
Erziehungsurlaub Mit Inkrafttreten des Bundeserziehungsgeldgesetzes (-> Erziehungsgeld) am 1.1.1986 wurde auch die Möglichkeit für Arbeitnehmer eingeführt, während der ersten Lebensphase ihres Kindes, inzwischen bis zum 3. Geburtstag, E. zu nehmen. E. ermöglicht es den Eltern, sich in den ersten Lebensjahren intensiv dem Kind zu widmen, mit der Sicherheit, danach wieder auf einen gleichwertigen Arbeitsplatz zurückzukehren, denn ftlr die Zeit des E.s besteht Kündigungsschutz. E. kann sowohl von der Mutter als auch vom Vater im Anschluß an die Mutterschutzfrist genommen werden. Eltern können sich beim E. dreimal abwechseln. Während des E.s ist eine Erwerbstätigkeit von bis zu 19 Stunden pro Woche beim alten Arbeitgeber oder mit dessen Zustimmung bei einem anderen zulässig. E. muß spätestens 4 Wochen vor Antritt beim Arbeitgeber angemeldet werden. Dabei ist auch verbindlich zu erklären, wie lange der E. dauern soll. Lit.: -» Erziehungsgeld
N. Z.-H. ESA —> Europäische Weltraumbehörde Essen auf Rädern —> Malteser-Hilfsdienst e.V. Etat Bundeshaushaltsplan —> Staatshaushaltsplan EU —» Europäische Union
EU-Mitgliedstaaten
EU-Mitgliedstaaten -» Belgien -> Bundesrepublik Deutschland -> Dänemark —• Finnland —> Frankreich —> Griechenland -> Großbritannien —> Irland —» Italien - » Niederlande —> Österreich —» Portugal —» Schweden Spanien EU-Vertrag Nach der Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten trat der Vertrag über die —> Europäische Union (EUV) von Maastricht vom 7.2.1992 am 1.11.1993 in Kraft. Mit dem EUV soll der mit der Gründung der EG eingeleitete Prozeß der Europ. Integration „auf eine neue Stufe" gehoben werden. 1. Vertragsziele Nach Art. Β EUV setzt sich die Union folgende Ziele: a) die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftl. und sozialen Fortschritts, insbes. durch Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen, durch Stärkung des wirtschaftl. und sozialen Zusammenhalts und durch Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die auf längere Sicht auch eine einheitliche Währung nach Maßgabe dieses Vertrages umfaßt (—> Europäische Währungsunion); b) die Behauptung ihrer Identität auf internationaler Ebene, insbes. durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte; c) die Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Angehörigen ihrer Mitgliedstaaten durch Einführung einer —> Unionsbürgerschaft; d) die Entwicklung einer engen Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres; e) die volle Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstands und seine Weiterentwicklung. 2. Struktur der Union Nach dem EUV basiert die Union auf 2 Hauptpfeilern bzw. Säulen, den EG und den mit dem EUV eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit, vgl. Art. A Abs. 3, S. 1 EUV. Im einzelnen können diese in 5
EU-Vertrag Pfeiler aufgegliedert werden; die 3 Europäischen Gemeinschaften —> EG, —* EGKS und EAG sowie die operativen Bereiche der EU der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (-> GASP) und der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (—> ZBJI). Hierbei unterliegen die 3 Gemeinschaften als supranationale Organisationen dem - » Europäischen Gemeinschaftsrecht. Die durch den EUV neu eingeführten Bereiche der GASP und ZBJI stellen dagegen lediglich intergouvemementale, d.h. völkerrechtl. Kooperationsformen dar. Demzufolge werden die Rechtshandlungen in den Bereichen der GASP und ZBJI den Mitgliedstaaten selbst zugerechnet, nicht aber der EU. Die Gemeinschaft besitzt Rechtspersönlichkeit, vgl. Art. 210 EGV. Somit verfügt sie über —> Rechtsfähigkeit, d.h. die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Dabei ist auf die jeweils in Betracht kommende Rechtsordnung (—» Völkerrecht, -> Europäisches Gemeinschaftsrecht, nationales Recht einzelner Mitgliedstaaten) abzustellen. 3. Rechtsnatur der Union Die EU ist ein Verbund von Mitgliedstaaten eigener Art, weder ein -» Staat noch eine lediglich internationale Organisation. Nach der Maastricht-Entscheidung des —> Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 89, 155, 188) wird sie als Staaten verbünd zur Verwirklichung einer immer engeren Union der - staatl. organisierten - Völker Europas bezeichnet (Art. A EUV). 4. Weiterentwicklung der Union Beim Vertragsschluß im Jahre 1992 konnten nicht alle Reformvorstellungen verwirklicht werden, weshalb Art. Ν Abs. 2 EUV eine Revisionsklausel enthält, wonach 1996 eine Regierungskonferenz (Maastricht Π) einzuberufen ist, um die Bestimmungen dieses Vertrags, für die eine Revision vorgesehen ist, in Übereinstimmung mit den Zielen der Art. A und Β zu prüfen. Entsprechende Bestimmungen sind Art. Β fünfter Spiegelstrich EUV (zur Frage, inwieweit die GASP und ZBJI zu revidieren sind, um die Wirksamkeit 289
EUREKA
EURATOM und Mechanismen und Organe der Gemeinschaft sicherzustellen), Art. J.4 Abs. 6 EUV und Erklärung Nr. 30 zur WEU in der Schlußakte von Maastricht (zum Auslaufen des WEUV im Jahre 1998 und einer diesbezüglichen Änderung von Art. J.4 EUV), Art. J. 10 i.V.m. Art. J. 4 EUV (wonach im Falle der Änderung von Art. J.4 EUV zu prüfen ist, ob weitere Änderungen der GASP erforderlich sind), Erklärung Nr. 16 der Schlußakte von Maastricht i.V.m. Art. 189 EGV (zur Überprüfung der Herstellung einer Rangordnung zwischen den Rechtsakten der Gemeinschaften), Art. 189 Abs. 8 EGV (zur Erweiterung des Anwendungsbereichs des Mitentscheidungsverfahrens Rechtsetzung der EU), Erklärung Nr. 1 der Schlußakte von Maastricht i.V.m. Art. 3 t) EGV (Prüfung der Einführung von Gemeinschaftskompetenzen in den Bereichen Katastrophenschutz, Energie und Fremdenverkehr). Der EUV bildet somit keine abschließende Konstruktion der Europäischen Einigung. Vielmehr werden Reformen und Erweiterungen die Eigenart der EU erneut ändern. Entsprechende Änderungen sind im —» Amsterdamer Vertrag geregelt. Lit.: Β. Beutler /R. Bieber / J. Pipkorn u.a.: Die EU, Baden-Baden 41993, S. 577AF.; A. Bleckmann·. Der Vertrag über die EU, in: DVB1. 1992, S. 335ΠΓ.; G. Re ss: Die EU und die neue jurist. Qualität der Beziehungen zu den EG, in: JuS 1992, S. 905ÍT.; W. Weidenfeld (Hg.): Maastricht in der Analyse, Gütersloh 21995.
Dietmar O. Reich EURATOM Die Europäische Atomgemeinschaft besteht seit dem 1.1.1958. Ihr Gründungsvertrag (EAGV) gilt auf unbegrenzte Zeit. Aufgabe der EURATOM ist es v.a., durch die Schaffung der für die schnelle Bildung und Entwicklung von Kernindustrien erforderlichen Voraussetzungen zur Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedstaaten beizutragen (Art. 2 EAGV). Zur Erfüllung dieser Aufgabe hat die Gemeinschaft u.a. die Forschung zu 290
entwickeln (Art. 4ff. EAGV), einheitliche Sicherheitsnormen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte aufzustellen und für ihre Anwendung zu sorgen (Art. 30ff. EAGV) sowie eine gemeinsame Versorgungspolitik für die regelmäßige und gerechte Versorgung mit Erzen und Kernbrennstoffen sicherzustellen (Art. 52fT. EAGV). Die Organstruktur ist mit der der —> EG und der —> EGKS identisch (Rat, -> Europäische Kommission, —> Europäosches Parlament, -> Europäischer Gerichtshof); Hauptrechtsetzungsorgan ist - wie bei der EG - der Rat. Lit: Vertrag zur Gründung der Europ. Atomgemeinschaft (EURATOM) v. 25.3.1957 (BGBl. II S. 1014), zuletzt geänd. durch Beitrittsvertrag v. 24.6.1994 (BGBl. II S. 2022) i.d.F. des Beschlusses V. 1.1.1995 (AB1EG Nr. L 1/1); R. Streinz: Europarecht, Heidelberg31996.
J. U. EUREKA (European Research Coordination Action ) ist die Bezeichnung für ein lockeres, aber koordiniertes gemeinsames Vorgehen von 19 europ. -> Staaten im Bereich der Forschungsförderung. Die über den Rahmen der EU-ForschungsfÖrderung hinausgehende Aktion wurde 1985 auf frz. Initiative als europ. und zivile Antwort auf das amerik., militärisch ausgerichtete SDI-Programm gegründet. Mitglieder von EUREKA sind die Mitgliedstaaten der EU, aber auch die Türkei und die EG-Kommission. Grundlage der Initiative sind gemeinsame Regierungsvereinbarungen der Mitglieder, ein gemeinsames Sekretariat in Brüssel wickelt die Projekte verwaltungstechnisch ab. EUREKA soll auf europ. Ebene eine verstärkte industrielle, technologische und wissenschaftl. Zusammenarbeit von Unternehmen und Forschungsinstituten anregen und fördern. EUREKA fördert zivile High-Tech-Projekte, die auf die Entwicklung von Produkten, Systemen und Dienstleistungen mit einem weltweiten Marktpotential ausgerichtet sind. Bestimmte Forschungsbereiche haben
Europäische Gemeinschaft
Euro heute sowohl finanziell als auch technologisch eine Größenordnung erreicht, die nationale Forschungsförderung weit überfordern würde. EUREKA ist deshalb die praktische Konsequenz der Erkenntnis, daß der Entwicklungsstand in der Hochtechnologie eine möglichst breite, über die EU hinausreichende Europäisierung der Forschungsförderung verlangt. Trotz nationaler Kompetenzstreitigkeiten und Finanzierungsschwierigkeiten fördert EUREKA inzwischen mehrere 100 Forschungsprojekte mit einem Gesamtvolumen von über 10 Mrd. ECU. V. N.
Euro -» Europäische Währungsunion
aus. Die Durchfuhrung der Flugverkehrskontrolle für einzelne Staaten erfolgt seitdem nur noch in deren Namen und Auftrag. Maßnahmen von E. werden seitdem demjenigen Staat zugeordnet, auf dessen Hoheitsgebiet Bezug genommen wird. Die Verkehrsminister der E.-Mitgliedstaaten haben im Juni 1997 eine revidierte E.-Konvention unterzeichnet, um die Fähigkeiten dieser Organisation zu verbessern, ihre Verantwortlichkeiten wirksam wahrzunehmen. Dem dienen eine Neubeschreibung der Aufgaben von E. und die Schaffung eines neuen institutionellen Gefüges. Lit.: J. Baumann: Die Luftverkehrspolitik der EU, Berlin 1995.
Jörg Ukrow
Eurocontrol Die Europäische Organisation für Flugsicherung mit Sitz in Brüssel hat derzeit 27 Mitgliedstaaten: Neben den EU-Mitgliedstaaten (außer Finnland) sind es Bulgarien, Kroatien, Malta, Monaco, Norwegen, Rumänien, die Schweiz, Slowenien, die Slowakei, Tschechien, die Türkei, Ungarn und Zypern. Die Aufgabe von E. besteht in erster Linie in der Überwachung, Lenkung und zentralen Steuerung des Luftverkehrs im oberen Luftraum der Mitgliedstaaten und außerhalb von Hoheitsgebieten. E. wurde von 6 westeurop. Staaten (BRD, Frankreich, Großbritannien und die Benelux-Staaten) durch das internationale Übereinkommen über Zusammenarbeit zur Sicherung der Luftfahrt v. 13.12.1960 (BGBl. Π 1962 S. 2273) auf der Basis des ICAO-Abkommens gegründet. E. war ursprünglich eine zwischenstaatl. Einrichtung i.S.d. Art. 24 Abs. 1 GG. Sie übte eigene, nichtdeutsche öffentl. Gewalt aus. Indessen weigerten sich Frankreich, Großbritannien und die Niederlande, die Flugverkehrskontrolle über ihren Staatsgebieten an E. zu übertragen. Nach dem am 12.2.1981 von den Vertragsparteien beschlossenen, am 1.1.1986 in Kraft getretenen Änderungsprotokoll zum E.Übereinkommen übt E. aus eigenem Recht keine Flugverkehrskontrolle mehr
Europäische Akte —> Einheitliche Europäische Akte Europäische Charta der Kommunalen Selbstverwaltung —> Kommunale Demokratie Europäische Gemeinschaft Die EG ist eine internationale Organisation mit eigenen Befugnissen und selbständigen Organen, die auf einem besonders engen und tiefgreifenden Zusammenschluß europ. -> Staaten beruht. Bereits 1951 gründeten Frankreich, Italien, Dtld. und die Beneluxstaaten die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (-> EGKS) mit dem Ziel, ihre nationalen Montanpolitiken zu koordinieren. 1957 folgte die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (-> EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) durch die sog. -> Römischen Verträge. Vordergründig verfolgten alle 3 Europ. Gemeinschaften - zusammengefaßt: die EG - als wirtschaftspolit. Ziel die Förderung der Ökonom. Entwicklung in den Mitgliedstaaten. Von Anfang an war aber mit der EG auch ein polit. Kalkül verbunden. Aus der immer engeren wirtschaftl. Verflechtung sollte sich ein polit. Zusammenschluß entwickeln. Das Besondere der 291
Europäische Gemeinschaft EG ist ihr supranationaler Charakter, also die Intensität, mit der sie auf die —> Verfassungen und Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten einwirkt: Recht, das Organe der EG erlassen haben, wirkt größtenteils unmittelbar und vorrangig auch in den nationalen Rechtssystemen, ohne daß nationale Instanzen darauf noch Einfluß nehmen könnten. Der Kreis der Mitgliedstaaten wurde mehrfach auf z.Z. 15 europ. Staaten erweitert. Die Gründungsverträge sind inzwischen durch weitere Vertragswerke ergänzt worden. Vor allem der Maastrichter -> EU-Vertrag von 1992 und der -> Amsterdamer Vertrag (1997) haben den Charakter der EG tiefgreifend verändert: Von einem wirtschaftl. Zusammenschluß hat sie sich zu einer immer weitere Politikbereiche umfassenden polit. Union europ. Staaten, der —> Europäischen Union (EU) entwickelt. Lit.: Α. Bleckmann: Europarecht, München 6
1997.
Volker Neßler Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl -> EGKS Europäische Innere Sicherheit Mit dem Begriff der —> Inneren Sicherheit (IS) wird das institutionelle System von Sicherheitsbehörden eines Staates und die damit zusammenhängenden Formen der Politikproduktion beschrieben. Im Zuge der fortschreitenden Integration entstehen auf europ. Ebene vermehrt Kooperationseinrichtungen, in denen die nationalen Sicherheitsbehörden ihre Aktivitäten aufeinander abstimmen. Die europ. Zusammenarbeit der - » Polizeien beschränkt sich bis Mitte der 70er Jahre hauptsächlich auf den InterpolVerbund. Mit der Terroristenverfolgung verstärkt sich die Kooperation. Es entstehen informelle Gremien, v.a. die 1976 von 9 EG-Staaten gegründete TREVI-Gruppe, die aber außerhalb des Vertragswerkes bleibt. TREVI hat 2 Aufgaben: Sie soll die Terrorismus-Bekämpfung (TREVI I) koordinieren und die polizeiliche Zusam-
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Europäische Innere Sicherheit menarbeit in der Polizeiausbildung und technologie (TREVI Π) verbessern helfen. Aus dem TREVI-Verbund gehen nahezu alle anderen Sicherheitskooperationen im Umfeld der EG hervor: 1985 wird die Arbeitsgruppe „Organisierte Kriminalität" (TREVI ΠΙ) gegründet, in der wiederum -> Europol entwickelt wird. In einer weiteren Arbeitsgruppe (TREVI IV) werden ab 1989 die sog. Ausgleichsmaßnahmen vorbereitet, die an die Stelle der wegfallenden Kontrollen an den Binnengrenzen der EG treten. Vereinbart werden stärkere Kontrollen der EG-Außengrenzen, eine gemeinsame Visapolitik und die Möglichkeiten der nationalen Polizeien, im Zuge der Strafverfolgung auch die Grenzen zu anderen EG-Staaten übertreten zu dürfen. Ein Großteil dieser Vereinbarungen wird im Rahmen des —> Schengener Abkommens umgesetzt. Mit Inkrafttreten des Maastrichter - > EU-Vertrages 1993 wird die TREVI-Gruppe neu organisiert und als K-4-Verbund weitergeführt. Die Zusammenarbeit in der Innenund Rechtspolitik gehört jetzt zwar zum Vertragswerk der EU, wird aber weiterhin als intergouvernementale Kooperation der Mitgliedstaaten praktiziert (dritter Pfeiler). Nicht zum EU-Bestand gehört das 1985 geschlossene Schengener Abkommen. In diesem haben sich die EG/EUStaatén zusammengeschlossen, die bereit sind, tiefergreifende Formen der Zusammenarbeit in der IS einzugehen. Der —> Amsterdamer Vertrag, von den 15 EU-Staaten im Oktober 1997 unterzeichnet, wird nach Inkrafttreten sämtliche Kooperationsformen der Europ. IS unter dem Dach der EU zusammenführen: Die Zusammenarbeit in der Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik wird vergemeinschaftet und in den EG-Vertrag integriert (1. Pfeiler). In der intergouvemementalen Kooperation des 3. Pfeilers verbleibt die intensivierte Zusammenarbeit der Polizeiund Zollbehörden, die Bedeutung von Europol wird aufgewertet. Das Schengener Abkommen wird ebenfalls in den 3. Pfeiler eingegliedert; bis auf weiteres
Europäische Integration nehmen Großbritannien und Irland daran nicht teil. Die Nicht-EU-Staaten Norwegen und Island treten dem Abkommen als assoziierte Teilnehmer bei. Die Kontrollmöglichkeiten des Europäischen Parlaments und des Europäischen Gerichtshofs über den europ. Sicherheitsverbund fallen unterschiedlich aus. Einerseits ist ihre Zuständigkeit jetzt für alle Bestandteile festgeschrieben, andererseits verbleibt ein Großteil des Sicherheitsverbundes, insbes. das neu hinzu gekommene Schengener Abkommen, weiterhin im 3. Pfeiler, innerhalb dessen die Kompetenzen des Parlaments auch künftig gering ausfallen. Lit: H. Busch: Grenzenlose Polizei?, Münster 1995; R. Rupprecht/M. Hellenthal (Hg.): Innere Sicherheit im Europ. Binnenmarkt, Gütersloh 1992. Hans-Jürgen Lange Europäische Integration —> Europäische Union Europäische Investitionsbank Die EIB mit Sitz in Luxemburg ist gem. Art. 4b EGV eine selbständige Einrichtung der —> EG mit eigener Rechtspersönlichkeit (Art. 198d Abs. 1 EGV). Mitglieder der EIB sind die Mitgliedstaaten der -> EU (Art. 198d Abs. 2 EGV). Aufgabe der EIB ist es gem. Art. 198e Abs. 1 EGV, zu einer ausgewogenen und reibungslosen Entwicklung des Gemeinsamen Marktes im Interesse der Gemeinschaft beizutragen; hierbei bedient sie sich des Kapitalmarkts sowie ihrer eigenen Mittel. In diesem Sinne erleichtert sie ohne Verfolgung eines Erwerbszwecks durch Gewährung von Darlehen und Bürgschaften die Finanzierung von Vorhaben a) zur Erschließung der weniger entwickelten Gebiete; b) zur Modernisierung oder Umstellung von Unternehmen oder zur Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten, die sich aus der schrittweisen Errichtung des Gemeinsamen Marktes ergeben und wegen ihres Umfangs oder ihrer Art mit den in den einzelnen Mitgliedstaaten vorhandenen Mitteln nicht vollständig finanziert wer-
Europäische Kommission den können; c) von gemeinsamem Interesse für mehrere Mitgliedstaaten, die wegen ihres Umfangs oder ihrer Art mit den in den einzelnen Mitgliedstaaten vorhandenen Mitteln nicht vollständig finanziert werden können. In Erfüllung ihrer Aufgabe erleichtert die EIB die Finanzierung von Investitionsprogrammen in Verbindung mit der Unterstützung aus den Strukturfonds u.a. Finanzierungsinstrumenten der Gemeinschaft. Die EIB hat sich dabei in den letzten Jahren verstärkt in mittel- und osteurop. Staaten engagiert. Organisation und Tätigkeit der EIB sind im einzelnen in dem Protokoll über die Satzung der EIB geregelt, das gem. Art. 239 EGV Bestandteil des EG-Vertrages ist. Die EIB wird danach von einem Rat der Gouverneure, der aus (i.d.R. Finanz-) Ministem der EU-Mitgliedstaaten besteht, geleitet und von einem Verwaltungsrat und einem Direktorium verwaltet (Art. 8ff. des Protokolls). Sie ist mit einem Kapital von 62.013 Mio. ECU ausgestattet, das von den Mitgliedstaaten (von Dtld., Frankreich, Italien und Großbritannien jeweils in Höhe von 11.017,45 Mio. ECU) gezeichnet ist (Art. 4 des Protokolls). Den größten Teil ihrer Mittel beschafft sich die EIB allerdings über Anleihen auf dem Kapitalmarkt. Lit.: E. Grabitz/M. Hilf (Hg.): Komm, zur EU, München 1997, Art. 198d EGV - nach Art. 198e EGV. Jörg Ukrow Europäische Kommission Die EK hat 20 Mitglieder (Art. 213 EGV), davon je 2 aus den 5 größeren Mitgliedstaaten (Dtld., Frankreich, Italien, Großbritannien, Spanien). Die Amtszeit beträgt 5 Jahre und ist an die —> Legislaturperiode des - » Europäischen Parlaments gekoppelt. Wiederernennung ist zulässig. Die EK ist ein Kollegialorgan. Ihr Präsident wird im gegenseitigen Einvernehmen der Regierungen der Mitgliedstaaten der —» Europäischen Union ernannt; in Abstimmung mit ihm benennen sie auch die übrigen Mitglieder. 293
Europäische Kommission Das Kollegium muß sich dann einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments stellen (Art. 214 EGV). Das Gewicht der EK hängt nicht unwesentlich vom Profil seines Präsidenten ab, welcher eine Art primus inter pares ist und außer seiner Mitgliedschaft im —> Europäischen Rat keinerlei formales Vorrecht genießt. Die EK ist Kontroll-, Initiativ-, und Exekutivorgan zugleich; sie gilt als der Motor der europ. Integration und die Hüterin ihrer Verträge (Art. 211-219 EGV). Zur Erfüllung ihrer Aufgaben verfügt die EK über einen Verwaltungsapparat mit 24 Generaldirektionen, in denen rd. 17.000 Beamte arbeiten. Sitz der EK ist Brüssel. Die EK ist dem Gemeinschaftswohl verpflichtet und vertritt die gemeinschaftlichen Interessen. Alle Informationen und Aktivitäten der EG laufen bei ihr zusammen, und die meisten gehen von ihr aus. Die Unabhängigkeit und Überparteilichkeit der EK bei der Erfüllung ihrer Aufgaben wird dadurch garantiert, daß sie weder vom Rat der EU noch von den Mitgliedstaaten abgesetzt werden kann. Lediglich ein -> Mißtrauensvotum des Europäischen Parlaments kann sie geschlossen zum Rücktritt zwingen (Art. 201 EGV) oder bei schwerwiegenden Verstößen eines Kommissars kann die Amtsenthebung durch den Rat oder die EK selbst beim Europäischen Gerichtshof beantragt werden (Art. 216 EGV). Seit Dezember 1993 ist in den offiziellen Sprachgebrauch die Bezeichnung „Europäische Kommission" eingegangen, obwohl es rechtl. korrekt nach wie vor „Kommission der Europäischen Gemeinschaften" heißt. Mit dem -> Amsterdamer Vertrag soll die Legitimation des Präsidenten der EK durch eine explizite individuelle Zustimmung zu seiner Einsetzung durch das Europäische Parlament ausgebaut werden; eine QuasiRichtlinienkompetenz soll in Zukunft seine polit. Führungsfunktion stärken. Im Bereich der —• Gemeinsamen Außen- und sicherheitspolitik soll die Rolle der EK gestärkt werden.
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Europäische Menschenrechtskonvention Lit: M, Röttinger: Organisation und Arbeitsweise der Kommission, in: ders. / C. Weyringer, Handbuch der europ. Integration, Wien 21996, S. 113ff.; M. Westlake: The Commission and the Parliament, London 1994. Melanie Piepenschneider Europäische Menschenrechtskonvention Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4.11.1950 sowie deren Zusatzprotokolle stellen die wichtigsten menschenrechtl. Konventionen in Europa dar. Verbürgt werden z.B. das —> Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2), auf -> Freiheit (Art. 5), die Achtung von Privat- und Familienleben, Wohnung und Briefverkehr (Art. 8), Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9), das Recht der -> Meinungsfreiheit (Art. 10) und -> Versammlungs- und -> Vereinigungsfreiheit (Art. 11). Die verbürgten Rechte und Freiheiten können nur im Rahmen spezieller Schranken eingeschränkt werden. Generell gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Schrankenschranke. Wesentliches Charakteristikum der EMRK ist, daß 2 Organe errichtet wurden, um die Einhaltung der Konventionsverpflichtungen der Mitgliedstaaten sicherzustellen (Art. 19): die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR, Art. 20ff.) und der - > Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Art. 38ff.) mit Sitz in Straßburg. Beschwerden über eine Konventionsverletzung müssen an die EKMR gerichtet werden. Zulässig sind sog. Staatenbeschwerden (Art. 24) sowie die in der Praxis weit bedeutsamere sog. Individualbeschwerde (Art. 25). Geht eine Individualbeschwerde über eine angebliche Verletzung der Konventionsrechte ein, so prüft die EMRK zunächst deren Zulässigkeit (Art. 26f.). Wenn eine Beschwerde für zulässig erklärt wurde, ermittelt die EKMR den Sachverhalt. Kommt eine gütliche Regelung nicht zustande, erstellt die EKMR einen Bericht, in dem sie
Europäische Parteien
Europäische Parteien feststellt, ob sich aus dem Sachverhalt eine Konventionsverletzung ergibt (Art. 31). Innerhalb von 3 Monaten nach Vorlage dieses Berichts kann die EKMR, ein betroffener -> Staat (Art. 48) und - unter den Voraussetzungen des 9. Zusatzprotokolls - ein betroffener Einzelner den Fall vor dem EGMR anhängig machen, sofern der betroffene Staat sich der Zuständigkeit des EGMR unterworfen hat. Das aufgrund der Prüfung des Falles ergehende Urteil des EGMR ist endgültig (Art. 52) und kann ggf. dem verletzten Einzelnen eine gerechte Entschädigung zubilligen (Art. 50). Zwangsmittel zur Durchsetzung des Urteils bestehen aber nicht. Durch das 11. Zusatzprotokoll wird ein neuer —> Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte geschaffen, der an die Stelle der bisherigen EMRK-Organe tritt. Lit: Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 4.11.1950 (BGBl. 1952 II S. 686, 953), zuletzt geänd. durch Prot. Nr. 9 v. 6.11.1990 (BGBl. 1994 II S. 490, 3623); JA. Frowein / W. Peukert: EMRK-Komm., Kehl 1985; M.W. Janis u.a.: European Human Rights Law, Oxford 1995. Jörg
Ukrow
Europäische Parteien Nach Art. 138a EG-V i.d.F. vom 7.2.1992 sind auf europ. Ebene polit. -> Parteien als Faktor der Integration in der Union wichtig. Sie sollen dazu beitragen, ein europ. Bewußtsein herauszubilden und den polit. Willen der —> Bürger in der Union zum Ausdruck zu bringen. Obwohl die großen Parteifamilien der Sozialisten, der Liberalen und der Christdemokraten bereits in der frühen Nachkriegszeit begonnen haben, ihre transnationale Kooperation auf europ. Ebene zu organisieren, konnten sie bisher nicht Parteien nach dem Muster nationaler Parteien für die - » EU aufbauen. Seit der Mitte der 70er Jahre gelang es ihnen jedoch, Parteienföderationen zu gründen, die eine übergreifende Programmatik entwickelten, die Kooperation durch die Schaffung von Gremien und Satzungen stabilisierten und - etwa durch die zu-
nehmende Verwendung des - » Mehrheitsprinzips in den Gremien - ausbauten. Die Motive für diese Entwicklung sind im wesentlichen: 1. gemeinsames Auftreten der Parteien einer Richtung bei den Direktwahlen zum —• Europäischen Parlament, 2. Schaffung eines Instruments zur Vereinheitlichung der bis dahin durchaus hinsichtlich einzelner Zielsetzungen disparaten Programmatik der jeweils eigenen Parteifamilie, damit die polit. Fraktionen im EP, die sich aus den Mitgliedern unterschiedlicher nationaler Parteien zusammensetzen, homogener werden, 3. gegenseitige Abstimmung der europapolit. Zielsetzungen der einzelnen Parteien einer Richtung, damit man sich gemeinsam gegenüber europ. Institutionen positionieren kann, 4. gegenseitige Unterstützung der nationalen Parteien zur besseren Nutzung der Ressourcen im Ausgleich zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien aus verschiedenen Staaten sowie zwischen kleinen und großen Parteien. Aus den transnationalen Parteienföderationen sind inzwischen föderativ aufgebaute Parteien entstanden: 1976 die Europäische Volkspartei/Christi. Demokraten (EVP), 1992 die Sozialdemokrat. Partei Europas (SPE), 1993 die Europäische Liberale, Demokrat, und Reform Partei (ELDR). Diese europ. Parteien werden von den Mitgliedsparteien und der jeweiligen -> Fraktion im EP finanziert. Jedoch ist die Mitgliedschaft in der Fraktion nicht mit der Mitgliedschaft in der europ. Partei identisch. Die brit. Konservativen etwa sind Mitglied der Fraktion der EVP im Europäischen Parlament, nicht aber der EVP. Die konservativen Parteien Europas bilden jedoch seit 1978 mit einigen christl.-demokrat. Parteien die Europäische Demokrat. Union (EDU). Die Programmatik der in den europ. Parteien kooperierenden nationalen Parteien ist inzwischen trotz aller ideologischen Unterschiede und semantischen Probleme, die auf unterschiedlicher polit. Bewertung einzelner Begriffe in den verschiedenen polit. Kulturen der beteiligten Gesell-
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Europäische Politische Zusammenarbeit schaften beruhen (z.B. „radikal" in Frankreich oder Dtld.), stark angeglichen. Die europ. Parteien sind weniger Transmissionsriemen der nationalen Parteien gegenüber der jeweiligen Fraktion im EP als ein Instrument dieser Fraktionen. Solange jedoch die Wahlkämpfe zum EP zwar nach den Vorgaben eines gemeinsamen Programms, aber doch im wesentlichen mit nationalen Themen gefuhrt werden, die Auswahl der Direktkandidaten durch die nationalen Parteien erfolgt und die nationalen Wahlgesetze (-> Wahlrecht) die Europawahl nicht transparent werden lassen, kann das europ. Bewußtsein über Parteienidentifikation kaum gefördert werden. Lit.: G. Jasmut: Die polit. Parteien und die europ. Integration, Frankfurt/M. 1995; E. Kuper: Transnationale Parteienbünde zwischen Partei- und Weltpolitik, Frankfurt /M. 1995.
Ernst Kuper Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) -> GASP Europäische Rundfunkunion Die E. (Union Européenne de Radio-Télévision [UER]/European Broadcasting Union [EBU]) wurde 1950 von westeurop. Rundfunkunternehmen gegründet. Sie ist ein rechtsfähiger —> Verein nach Schweizer Recht mit Sitz in Genf. Der Verein verfügt über aktive Mitglieder (Gruppen von Rundfunkorganisationen innerhalb der sog. europ. Rundfunkzone), assoziierte Mitglieder (Gruppen von Rundfunkorganisationen i.d.R. außerhalb der sog. europ. Rundfunkzone) und weitere zugelassene Teilnehmer. Die Finanzierung der E. erfolgt über Beiträge und Zuschüsse ihrer Mitglieder nach Maßgabe von -> Satzung und Finanzordnung der E.; oberstes Organ der E. ist die Generalversammlung (GV). Sie besteht zwar aus sämtlichen Mitgliedern; stimmberechtigt sind allerdings nur die aktiven Mitglieder (darunter ARD und ZDF). Die Beschlüsse der GV sind i.d.R. Empfehlungen, die von den Mitgliedern im Rahmen ihrer Möglichkeiten freiwillig 296
Europäische Sicherheitskonferenz durchgeführt werden. Weitere, jeweils von der GV gewählte Organe der EBU sind der 19-köpfige Verwaltungsrat (VR) und der Präsident der E.; 4 Kommissionen der E. (Hörfunk-, Femseh-, Techn. und Jurist. Kommission) bearbeiten ihre Sachgebiete und bereiten die Beschlüsse der GV und des VR vor. Die E. hat die internationale Rundfunkzusammenarbeit zu fordern, die gemeinsamen Interessen der angeschlossenen Rundfunkorganisationen zu wahren (z.B. gegenüber -> EU und —» Europarat) und Verbindungen mit anderen Rundfunkorganisationen herzustellen, das Studium aller mit dem -> Rundfunk zusammenhängenden Fragen und seine Weiterentwicklung zu fördern sowie Meinungsverschiedenheiten auf dem Weg internationaler Zusammenarbeit zu lösen (Art. 2 der Satzung der E.). Zum Tätigkeitsbereich der E. gehört namentlich auch der Programmaustausch in Hörfunk (Euroradio) und -> Fernsehen (Eurovision). Lit: M. Type: Die European Broadcasting Union (EBU), in: Internationales Handbuch für Hörfunk und Fernsehen 1996/97, Baden-Baden 1997, S. 20ff.
Jörg Ukrow Europäische Sicherheitskonferenz Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ist eine Konferenz von 35 europ. und nordamerik. Staaten, die 1975 in Helsinki stattfand und mit der Verabschiedung eines offiziellen Dokuments, der sog. KSZE-Schlußakte von Helsinki durch die Staats- und Regierungschefs der beteiligten westlichen und östlichen Staaten endete. Nach umfangreichen Vorbereitungstreffen der Außenminister beschäftigte sich die KSZE mit 3 Themenbereichen: Fragen der (militärischen) Sicherheit in Europa, Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt und schließlich Zusammenarbeit in Menschenrechtsfragen. Die am 1.8.1975 verabschiedete KSZESchlußakte enthält einen Katalog von
Europäische Sozialcharta
Europäische Sozialcharta Prinzipien, die künftige Grundlage des polit. Verhaltens der beteiligten östlichen und westlichen —> Staaten sein sollten. Dazu gehörten etwa die gegenseitige Anerkennung der souveränen Gleichheit aller beteiligten Staaten, der Verzicht auf die Androhung und Anwendung militärischer Gewalt, die Anerkennung der bestehenden Grenzen und die Achtung der —> Menschenrechte. Die Bedeutung der KSZE für die Entspannungspolitik kann kaum überschätzt werden. Schon die Einigung auf die Prinzipien der KSZE-Schlußakte stellte einen Fortschritt dar, der angesichts der ideologischen Differenzen zwischen Ost und West damals kaum zu erwarten war. Die Schlußakte selbst wurde in vielen Ostblockstaaten von Bürgerrechtsbewegungen aufgegriffen und damit zur Grundlage von innerstaatl. Demokratisierungsprozessen im damaligen Ostblock. Die auf der KSZE verbindlich vereinbarten Folgetreffen sorgten dafür, daß auch in den wenig entspannungsfreundlichen frühen 80er Jahren der Gesprächsfaden zwischen den westlichen —> Demokratien und den Ostblockstaaten nicht abriß. Auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts verlor die KSZE nicht ihre Bedeutung. In der Pariser Charta für ein neues Europa entwickelten die KSZE-Teilnehmerstaaten 1990 die KSZE zu einer internationalen Organisation mit festen Strukturen weiter: der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (—> OSZE). Die OSZE strebt eine kooperative Sicherheit in Europa an und soll regionale Konflikte verhüten und Krisen bewältigen. Im zerfallenden Jugoslawien hat die OSZE diese Rolle noch nicht spielen können. Die zunehmenden regionalen Konflikte insbes. auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zeigen deutlich, wie nötig eine effektive regionale Konfliktverhütung wäre. Lit: U. Fastenrath: KSZE, Neuwied 1992.
Volker Neßler Europäische Sozialcharta Nachdem be-
reits im Jahre 1950 die —> Europäische Menschenrechtskonvention des -> Europarates abgeschlossen wurde, folgte ihr im Jahre 1961 als Ergänzung die europ. S.; diese wurde auch von der -> Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Sie trat dort am 26.2.1965 in Kraft. Die S. enthält in ihrem Teil I einen umfassenden Katalog „sozialer Rechte", die von den Vertragsparteien „mit allen zweckdienlichen Mitteln" umgesetzt werden sollen. Sie enthält das Recht auf —> Arbeit, auf gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, auf Koalitionsfreiheit und Kollektivverhandlungen, auf den Schutz für Kinder und Jugendliche, auf einen besonderen Schutz für Arbeitnehmerinnen, auf Berufsberatung und Berufsausbildung, auf Gesundheitsschutz, soziale Sicherheit, Fürsorge und soziale Dienste, auf berufliche Ausbildung und Integration von Behinderten, auf den Schutz der —> Familie, auf den Schutz von Mutter und Kind unabhängig vom Bestehen einer -> Ehe und von familienrechtl. Beziehungen, auf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragsparteien, auf Schutz und Beistand für Wanderarbeitnehmer. Diese „sozialen Rechte" werden im Teil Π detaillierter angesprochen, und es wird festgelegt, mit welchen Maßnahmen sie verwirklicht werden sollen. Die Vertragspartner können sich auf die Anerkennung eines bestimmten Minimums der „sozialen Rechte" beschränken. Seit 1996 liegt eine neue, um „soziale Rechte" erweiterte europ. S. zur Unterzeichnung vor. Die Einhaltung der Vertragspflichten wird in Form bestimmter Verfahrensweisen und durch bestimmte Gremien überprüft. Trotz eines nunmehr vorgesehenen Kollektivbeschwerdeverfahrens ist der Sanktionsmechanismus der E. S. schwach ausgestaltet und die „sozialen Rechte" sind teilw. inhaltlich unbestimmt. Lit.: G. Agnelli: Die Europ. Sozialcharta, BadenBaden 1978. E.R.
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Europäische Union Europäische Union Begriff Die EU wurde durch den am 1.11.1993 in Kraft getretenen -> EU-Vertrag gegründet und stellt eine weitere wichtige Etappe im Rahmen der europ. Integration dar. Der Begriff der EU ist nicht erst in Maastricht erfunden worden. Möglicherweise inspiriert von dem frz. Dichter V. Hugo (18021885), der schon 1849 von den „Vereinigten Staaten von Europa" sprach, legte der damalige ûz. Außenminister A. Briand (1862-1932) der Völkerbundversammlung im Jahre 1919 ein Memorandum über die Errichtung eines „régime d'union fédérale européenne" vor. Dieser Begriff wurde in der Folgezeit immer häufiger benutzt. So tauchte er in ähnlicher Form auch auf der Pariser Gipfelkonferenz im Oktober 1972 auf, anläßlich derer sich die Staats- und —> Regierungschefs der 6 Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaften und der 3 damals kurz vor ihrer Aufnahme stehenden Neumitglieder Dänemark, Großbritannien und Irland darauf einigten, die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen noch vor Ende des Jahrzehnts „in eine EU umzuwandeln". Nachdem dies nicht gelang, legte das -> Europäische Parlament am 14.2.1984 seinen sog. Spinelli-Entwurf zu einem Vertrag über die Gründung einer EU vor. Gemeinschaftsrechtl. institutionalisiert wurde das Streben in Richtung einer EU dann erstmals durch die 1986 verabschiedete -> Einheitliche Europäische Akte, welche die gemeinschaftlichen und außergemeinschaftlichen Beziehungen der Mitgliedstaaten zu den Gemeinschaften sowie zu Drittstaaten in einem Vertrag zusammenfaßte. Die letztlich durch den EUV erfolgte Gründung der EU stellt nicht den Schlußpunkt der europ. Integration dar, sondern ist - wie zuletzt die Amsterdamer Vertragsreformen zeigten - als Grundsteinlegung flir die nähere Ausgestaltung eines noch nicht abgeschlossenen Vorhabens aufzufassen. Dies folgt aus Art. A Abs. 2 EUV, wonach die EU „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer
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Europäische Union engeren Union der Völker Europas" darstellt. Ihre Gründung markiert den Beginn einer neuen Etappe und zugleich das Endziel; in ihrer jetzigen Ausgestaltung aber noch nicht das Ende der europ. Integration. Der Begriff der EU besitzt damit die Qualität eines polit. Schlagwortes, das keinen eindeutig festgelegten Inhalt aufweist. Aufbau Die Grundlage der EU bilden 3 unterschiedliche Bereiche, für deren Beschreibung sich das ,JDrei-Säulen"-Bild durchgesetzt hat. Die 1. Säule beinhaltet das klassische Gemeinschaftsrecht, da sie aus den 3 Europäischen Gemeinschaften (-> EGKS, EG, EAG) besteht. Mit dem EUV haben die Mitgliedstaaten die 1. Säule zugunsten der EG mit weiteren Kompetenzen auf den Gebieten des Verbraucherschutzes, der Gesundheitspolitik, des —• Umweltschutzes und der Sozialpolitik sowie mit einem weiteren Integrationsprogramm in Richtung einer Wirtschafts- und Währungsunion ausstaffiert (—> Europäische Währungsunion). Die 2. Säule bildet die von den Mitgliedstaaten außerhalb der 3 Gründungsverträge beschlossene Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die durch den Amsterdamer Vertrag verstärkt wird. Die —> GASP soll der EU ermöglichen, auf der Bühne der internationalen Politik geschlossener aufzutreten, ihre Interessen gemeinsam zu wahren und, wie es in Art. Β EUV heißt, „ihre Identität auf internationaler Ebene zu behaupten", indem die Mitgliedstaaten - so Art. J. 2 Abs. 1 EUV - „ihren vereinten Einfluß durch konvergierendes Handeln möglichst wirksam zum Tragen kommen" lassen. Da die GASP außerhalb der 3 Gemeinschaften angesiedelt ist, stellt sie keine Gemeinschaftspolitik wie etwa die in der 1. Säule praktizierte EG-Agrarpolitik oder die EGVerkehrspolitik dar, sondern ist eine eigenständig geregelte Unionspolitik. Durch den —> Amsterdamer Vertrag erhält sie - als Reaktion auf die Erfahrungen im Jugoslawien-Konflikt - neue Konturen insoweit, als er durch neue Aufgabenzuwei-
Europäische Union sungen und institutionelle Neuerungen die Grundlage für eine handlungsfähigere EUAußenpolitik schafft, welche die Option einer gemeinsamen Verteidigungspolitik beinhaltet. Die 3. Säule bildet schließlich die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (—• ZBJI), die sich neben der Bekämpfling der organisierten Kriminalität und des Drogenhandels unter anderem mit der Einwanderungs- und Asylpolitik, mit der Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden sowie mit der Entwicklung von -> Europol befaßt. Die 3. Säule ist durch den Amsterdamer Vertrag erheblich verstärkt und gleichzeitig ausgedünnt worden. Letzteres zeigt sich vor allem in der teilweisen Übertragung von zuvor der 3. Säule zugehörigen Politikfeldern in die 1. Säule. Das prominenteste Beispiel dieser teilweisen Vergemeinschaftung stellt die beabsichtigte Überführung der - » Schengener Abkommen in die 1. Säule dar. Sie veranschaulicht, daß die drei Säulen durchlässiger geworden sind, und führt im Ergebnis zu einer funktionellen Verknüpfung unterschiedlicher Säulen, die schon im EUV angelegt ist. Nach Art. C Abs 1 EUV verfügt die EU nämlich über einen einheitlichen institutionellen Rahmen, der die Kohärenz und Kontinuität der Maßnahmen zur Erreichung ihrer Ziele sicherstellen soll. Dieses Kohärenzgebot verpflichtet die EG, deren Organe und die EU-Mitgliedstaaten zur Herstellung von Stimmigkeit sowie zur Wahrung des Zusammenhangs zwischen den verschiedenen Gemeinschafts- und Unionspolitiken. Zugleich verdeutlicht es, daß die EU in ihrer Rechtsnatur von der EG zu unterscheiden ist, die sie nicht ersetzt hat, sondern lediglich ergänzt. Rechtsnatur Die EU ist nach allgemeiner Ansicht schon mehr als eine internationale Organisation im hergebrachten Sinne, hat aber noch nicht die Qualität eines —> Bundesstaates erreicht. Die EU wäre nur dann als Staat im Sinne der völkerrechtlichen Drei-Elemente-Theorie anzusehen, wenn sie über ein gemeinsames Staatsvolk
Europäische Union mit eigenem -> Staatsgebiet und über eine einheitliche, effektive, umfassende und letztverbindliche —• Staatsgewalt verfügen würde. Zweifelhaft ist, ob es die durch den EUV eingeführte -> Unionsbürgerschaft rechtfertigt, heute bereits von einem Unionsvolk zu sprechen. Nach Art. A UAbs. 2 EUV werden nämlich die Völker Europas durch die EU lediglich verbunden. Als Staatsgebiet der EU könnten zwar die einzelnen Hoheitsgebiete der derzeit 15 Mitgliedstaaten angesehen werden. Gegen die Staatsqualität der EU spricht jedoch in entscheidender Weise, daß sich ihre Hoheitsgewalt gemäß dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung kraft Vertrages streng auf die sich aus den Unions- und Gemeinschaftsverträgen ergebenden Aufgaben und Kompetenzen beschränkt und daß sie insoweit nicht über die Möglichkeit verfügt, sich selbst ohne einstimmigen Willen der Mitgliedstaaten weitere Kompetenzen zu geben (-» Kompetenz-Kompetenz). Mehrheitlich wird die EU deshalb zu Recht als „Staatenbund" ohne eigene Staatsqualität oder - so etwa vom -> Bundesverfassungsgericht - als „Staatenverbund" bezeichnet. In ihrem jetzigen, zuletzt durch den Amsterdamer Vertrag modifizierten Zustand stellt die EU aber immerhin ein System öffentl. Herrschaft dar, dessen Grundregeln über Art und Umfang der europ. Hoheitsgewalt sowie über die Zuweisung der Befugnisse an die einzelnen Organe und deren Ausübung nach überwiegender Auffassung bereits heute die Bezeichnung -> „Verfassung" verdienen. Die aktuellen Diskussionen über eine abermalige Reform zeigen erneut, daß es sich bei der EU um ein noch nicht abgeschlossenes Vorhaben handelt. Über die Frage jedoch, ob die EU eines Tages ein echter Bundesstaat mit uneingeschränkter Völkerrechtssubjektivität sein soll und ob dann auch die Nationalstaatlichkeit klassischer Prägung ihr Ende findet, besteht derzeit weder unter den Mitgliedstaaten noch unter den Staatsrechtlern Konsens. Weitgehende Übereinstimmung besteht ledig-
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Europäische Union lieh darin, daß die EU in ihrer jetzigen Ausgestaltung noch keine eigene Rechtspersönlichkeit hat. Dies bedeutet, daß die EU zur Zeit noch nicht selbst Träger von Kompetenzen und Rechten ist, sondern vielmehr durch ein geschlossenes Auftreten anderer Rechtsträger, nämlich der drei Gemeinschaften (EGKS, EG, EAG) und ihrer Mitgliedstaaten, zur Erreichung gemeinsamer Ziele gekennzeichnet ist. Nach Art. A Abs. 3 EUV sind diese 3 Gemeinschaften „Grundlage der Union". Aus dieser Formulierung folgt, daß sie als eigenständige Rechtspersönlichkeiten weder durch die EU ersetzt wurden noch mit ihr identisch sind. Aus dem Nebeneinander der 3 Gemeinschaften und der EU hat sich nicht nur ein diffuser und unsicher zwischen EU und EG hin und her schwankender Sprachgebrauch entwickelt. Vielmehr wirft es die weitere und bis heute umstrittene Frage auf, ob die EG-Organe, die immer häufiger als EU-Rat, EUKommission etc. bezeichnet werden, tatsächlich zugleich auch als EU-Organe anzusehen sind. Auch hier bleibt erst noch die weitere Entwicklung abzuwarten. Entwicklungsperspektiven Nach den Vertragsreformen von Amsterdam steht nun die Osterweiterung auf der Tagesordnung. Hierauf sind aber die Institutionen und die gemeinschaftlichen Entscheidungsstrukturen leider noch nicht in befriedigender Weise zugeschnitten worden. Insbes. ist es bislang noch nicht gelungen, die Größe der —> Europäischen Kommission und die Abstimmungsregeln im -> Ministerrat im Hinblick auf die anstehende Osterweiterung zu ändern. Neben der erforderlichen Verbesserung dieser Entscheidungsstrukturen stehen auf der aktuellen Integrationsagenda desweiteren die Finanzplanung für den Zeitraum von 2000 bis 2006 sowie die weitere Vertiefung der EU zu einer der Stabilität verpflichteten Wirtschaftsund Währungsunion, einschließlich der immer noch lückenhaften Vollendung des Binnenmarktes und der Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit in Europa. Dazu gehören sollte auch die Vereinheitlichung
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Europäische Union mitgliedstaatlicher Sozialstandards und des Steuerrechts. Die Amsterdamer Vertragsreformen haben mit der Einführung weiterer Mitentscheidungsrechte im Rahmen der —> Rechtsetzung der EU und des Zustimmungsrechts zur Ernennung des Präsidenten der Kommission zugunsten des EP zu einer weiteren Verstärkung der demokrat. Legitimation der EU beigetragen. Nunmehr bleibt die EU auch im Interesse der Akzeptanz durch die Unionsbürger aufgefordert, vor allem ihre rechtsstaatl. —> Legitimation weiter zu verstärken. Insbes. ist zu hoffen, daß sich die EU, die sich in Art. F EUV schon jetzt zur Wahrung der - » Grundrechte verpflichtet, selbst einen eigenen Grundrechtskatalog zulegt, der mindestens dem Schutzstandard der —> Europäischen Menschenrechtskonvention und den noch ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechten, die der -> Europäische Gerichtshof richterrechtlich seit etwa 30 Jahren herausbildet, entsprechen sollte. Ob sich die EU irgendwann in einen Bundesstaat verwandelt, bleibt abzuwarten. Eine generelle Aufgabe des noch in den zahlreichen Einstimmigkeitsregeln verankerten Blockadepotentials der souveränen Mitgliedstaaten ist zumindest mittelfristig kaum zu erwarten. Der anstehende Beitritt neuer Mitgliedstaaten beinhaltet die Gefahr einer zunehmenden Pluralisierung der Grundpositionen zur weiteren Entwicklung der europ. Integration und damit auch zur Zunahme zentrifugaler Kräfte. Schon heute gibt es erhebliche Divergenzen zwischen denjenigen Mitgliedstaaten, die eine vertiefte Integration favorisieren, und jenen, die hinsichtlich einiger Politikbereiche eher eine gelockerte Kooperation bevorzugen. Vordringlicher ist somit, das bislang Erreichte durch verbesserte Systeme der Konsensfindung zu schützen und ein Ausscheren einzelner Mitgliedstaaten aus vergemeinschafteten Politikbereichen ganz zu verhindern oder zumindest noch stärker zu begrenzen.
Europäische Versammlung Lit: S. Magiern (Hg.): Die Zukunft der EU, Berlin 1997; F.R. Ketsch: Die EU, München 1997; G. Ress (Hg.): Die Organe der EU im Spannungsfeld zwischen Gemeinschaft und Zusammenarbeit, Baden-Baden 1995; M. Röttinger (Hg.): Handbuch der europ. Integration, Wien 2 1996; W. Weidenfeld/ W. Wessels (Hg.): Europa von A bis Z, Bonn 61997; dies. (Hg.): Jahrbuch der europ. Integration, Bonn 1980ff.; W. Woyke: EU, München 1998.
Carsten Nowak Europäische Versammlung —> Europarat Europäische Währungsunion Die Entstehung eines Binnenmarktes innerhalb der Europäischen Union führte zu dem Wunsch, nach dem Motto „ein Markt, eine Währung" Wettbewerbsverzerrungen zwischen den einzelnen Volkswirtschaften auf Grund von Unterschieden in der Geldund Währungspolitik auszuschließen. Zudem empfanden die übrigen Mitgliedstaaten das -> Europäische Währungssystem mit der Dt. Mark als Ankerwährung zunehmend als Beeinträchtigung ihrer nationalen geldpolit. -> Souveränität, die sie durch Mitwirkung an einer gemeinsamen Geldpolitik teilw. wiederzugewinnen hofften. Schließlich bestand der Wunsch nach Vertiefung der europ. Integration. Nach dem —> Maastrichter Vertrag über die EU wird ein der -> Deutschen Bundesbank nachgebildetes Europäisches System der Zentralbanken aus den weiter bestehenden Notenbanken der Mitgliedstaaten und der Europäischen Zentralbank (EZB) errichtet. Seine Leitung obliegt einem Rat aus den Präsidenten der nationalen Notenbanken und den Mitgliedern des Direktoriums der EZB. Zur Wahrung des vorrangigen Ziels der Währungsunion, die Preisstabilität zu sichern, dürfen weder die EZB noch eine nationale Zentralbank Weisungen entgegennehmen, ebenso wie es den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten verboten ist, solche zu erteilen. Grundlegende Aufgabe des Europ. Systems der Zentralbanken ist es, die Geldpolitik der EU festzulegen und aus-
Europäische Währungsunion zuführen. In der Währungsunion geht deshalb das Recht, auf die einheitliche - » Währung Euro lautende Banknoten auszugeben, auf die EZB über. Die EZB steht im Zentrum der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU); sie wird die Geldmenge der europ. Währung Euro steuern und für die Stabilität dieser Währung verantwortlich sein. Die Münzausgabe verbleibt den Mitgliedstaaten, die deren Umfang jedoch von der EZB genehmigen lassen müssen. Um die Preisstabilität nicht zu gefährden, dürfen EZB und nationale Zentralbanken weder der -> EG noch einem Mitgliedstaat Kredite gewähren. Aus dem gleichen Grund überwacht die Europäische Kommission die Mitgliedstaaten im Hinblick auf ihre Pflicht, übermäßige Defizite in ihren Haushalten zu vermeiden; verstößt ein Mitgliedstaat nachhaltig gegen dieses Gebot, kann der Rat Sanktionen einschließl. Geldbußen verhängen. Nach dem Vertrag von Maastricht beginnt die Währungsunion am 1.1. 1999 mit den Mitgliedstaaten, denen der Europäische Rat im Frühjahr 1998 die Erfüllung der wirtschaftspolit. Voraussetzungen für die Einführung der einheitlichen Währung, z.B. eine Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit, bescheinigt hat. Am ersten Tag der Währungsunion, mit dem auch die Tätigkeit der EZB beginnt, nimmt der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der EZB die Umrechnungskurse, auf welche die Währungen der Mitgliedstaaten unwiderruflich festgelegt werden, sowie die unwiderruflich festen Kurse an, zu denen diese Währungen durch die Euro-Währung ersetzt werden. Dabei handelt es sich nicht um eine Währungsreform, da mit der Bestimmung der Umrechnungskurse keine Änderung der Realwerte von Geldforderungen und -Verbindlichkeiten verbunden ist. Erst zu einem späteren Zeitpunkt werden die nationalen Geldzeichen durch solche der einheitlichen Währung ersetzt. Lit: Β. v. Harder: Die Interdependenzen zwischen Wähningsunion und polit. Union in der EU des Maastrichter Vertrages, Franklurt/M. 1997;
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Europäische Weltraumbehörde R. Hummel (Hg.): Ein Markt - eine Währung, Wien 2 1996; M Potthoff (Hg.): Die europ. Währungsunion - ein Testfall für die europ. Integration?, Berlin 1997.
Johannes Siebelt Europäische Weltraumbehörde (ESA = European Space Agency). Sie ist aus den Raumfahrtorganisationen ESRO (European Space Research Organization, Europ. Organisation zur Erforschung des Weltraums gegr. 1962) und ELDO (European Space Vehicle Launcher Development Organization, Europ. Organisation für die Entwicklung von Trägerraketen gegr. 1964) hervorgegangen. Die ESA wurde durch das Obereinkommen zur Gründung einer Europäischen Weltraumorganisation vom 30.5.1975 (BGBl. 1976 Π S. 1862) errichtet. Der Sitz der ESA ist in Paris. Die ESA umfaßt neben dem Hauptquartier in Paris folgende Einrichtungen: ESTEC (European Space Research and Technology Centre, Europ Raumforschungs- und Technikzentrum) mit Sitz in Noordwijk (Niederland), ESRIN (European Space Research Institute, Europ. Raumforschungsinstitut) in Frascati (Italien), ESOC (European Space Operation Centre, Europ. Operationszentrum für Weltraumforschung) in Darmstadt. Letzteres ist mit der Erfassung und Verarbeitung der über die Bodenstationen in Michelstadt, Redu (Belgien), Villafranca del Castillo (Spanien) und Kouru (Frz. Guayana) empfangenen Daten betraut. Die Organe der ESA sind ein aus den Vertretern der Mitgliedstaaten bestehender Rat und ein vom Rat ernannter Generaldirektor. Die Einrichtung wird inzwischen von 13 Staaten getragen (B, D, DK, F, GB, IR, I, NL, Ν, A, S, CH, E). Das Ziel der ESA ist die Zusammenarbeit europ. Staaten bei der Entwicklung und dem Bau von Satelliten und Trägerraketen für ausschließlich friedliche Zwecke, die gemeinsame Weltraumforschung, Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Weltraumtechnologie und ihrer weltraumtechn. An302
Europäischer Gerichtshof Wendung im Hinblick auf deren Nutzung für die Wissenschaft und für operationeile Weltraumanwendungssysteme. Die ESA arbeitet eng mit der amerik. Weltraumbehörde (NASA) zusammen. Beachtenswerte Erfolge erzielte die ESA z.B. mit der europ. Trägerrakete Ariane und dem Weltraumlabor Spacelab. Karlheinz Hösgen Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) —» Europäisches Gesellschaftsrecht Europäische Zentralbank —> Europäische Währungsunion Europäischer Binnenmarkt —> Einheitliche Europäische Akte Europäischer Gerichtshof 1. Zuständigkeit und Stellung Der EuGH ist ein Organ der Gemeinschaft nach Art. 4 Abs. 1 EGV. Nach Art. 164 EGV (Art. 31 EGKSV Art. 136 EAGV) ist der EuGH mit der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung" der EGVerträge betraut. Hierzu zählen einerseits verfassungs- und verwaltungsrechtl. Aufgaben. Verfassungsrechtl. Verfahren sind Streitigkeiten zwischen —• Verfassungsorganen, d.h. zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen (oder zwischen den Mitgliedstaaten selbst oder zwischen Gemeinschaftsorganen). Verwaltungsrechtl. Verfahren umfassen die Tätigkeit des EuGH als Rechtsmittelinstanz gegen Entscheidungen des Gerichts erster Instanz, d.h. Verfahren bei Streitigkeiten zwischen Gemeinschaftsorganen und natürlichen sowie jurist. Personen (oder zwischen den Gemeinschaften und deren Bediensteten). Andererseits ist der EuGH mit Vorabentscheidungsverfahren (vgl. Art. 177 EGV, zur vollständigen und einheitlichen Anwendung des —» Europäischen Gemeinschaftsrechts durch die mitgliedstaatl. —> Behörden und -> Gerichte), inzidenten Normkontrollverfahren, Amtshaftungsver-
Europäischer Gerichtshof fahren und mit Verfahren sui generis betraut, wozu u.a. Gutachten und einstweilige Anordnungen zählen. Die einzelnen Zuständigkeitszuweisungen ergeben sich aus dem EGV (Art. 169 Vertragsverletzungsverfahren, 170, 171, 173 Nichtigkeitsklage, 175 Untätigkeitsklage, 177180, 228), aus von dem —> Europäischen Parlament und dem —> Rat gemeinsam sowie vom Rat selbständig erlassenen -» EG-Verordnungen (Art. 172 EGV) und nach Art. 181 EGV für Entscheidungen aufgrund einer Schiedsklausel in Verträgen der EG. Außerhalb des -> Gemeinschaftsrechts bestehen durch zwischenstaatl. Abkommen weitere Zuständigkeiten des EuGH. Es ergehen Urteile, Beschlüsse, einstweilige Anordnungen, Gutachten und Stellungnahmen durch den EuGH. Dabei besteht keine Berufungsmöglichkeit gegen seine Entscheidungen. 2. Zusammensetzung Der EuGH besteht aus 15 -> Richtern (Art. 165 Abs. 1 EGV, Art. 32 Abs. 1 EGKSV, Art. 137 Abs. 1 EAGV). Zu Richtern werden Persönlichkeiten ausgewählt, die jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sind (Art. 167 Abs. 1 EGV). Sie werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten vorgeschlagen und im gegenseitigen Einvernehmen, d.h. mit der Zustimmung aller Mitgliedstaaten, für die Amtszeit von 6 Jahren ernannt. Eine Wiederernennung ist zulässig und in der Praxis die Regel. Alle 3 Jahre findet eine teilw. Neubesetzung der Richterstellen statt. Die richterliche Unabhängigkeit wird durch Bestimmungen der 3 —> Satzungen des EuGH für die jeweilige Gemeinschaft und des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der EG gewährleistet, wozu die —> Immunität der Richter und das Verbot der Ausübung polit. Ämter sowie anderer Berufstätigkeiten gehören. Weiterhin sind sie zu Ehrenhaftigkeit und Zurückhaltung bei der Annahme von Tätigkeiten oder Vor-
Europäischer Gerichtshof teilen auch nach Amtsbeendigung verpflichtet. Das Richteramt endet durch Ablauf der Amtszeit, Rücktritt, Tod oder Amtsenthebung, die nur der Gerichtshof selbst aussprechen kann. Die Richter des EuGH wählen aus ihrer Mitte den Präsidenten des EuGH (Art. 167 Abs. 5 EGV) und bestimmen einen Kanzler, welcher mit den Verwaltungsangelegenheiten des EuGH betraut ist, vgl. Art. 168 EGV. 3. Generalanwälte Nach Art. 166 EGV (32a EGKSV, Art. 138 EAGV) wird der EuGH von 9 Generalanwälten (bis zum 6.10.2000, danach nur noch 8) unterstützt, welche dieselben Voraussetzungen wie die Richter erfüllen müssen und ebenfalls für 6 Jahre einvernehmlich ernannt werden. Den Generalanwälten obliegt die Aufgabe, zu den anhängigen Rechtssachen öffentl. in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlußanträge zu stellen und dadurch den EuGH bei dessen Aufgaben zu unterstützen. Der Gerichtshof ist an die Rechtsausführungen und Anträge der Generalanwälte nicht gebunden. In der Praxis folgt er jedoch überwiegend den Anträgen. 4. Gericht erster Instanz Nach Art. 168a Abs. 1 EGV (Art. 32d Abs. 1 EGKSV und Art. 140a Abs. 1 EAGV) besteht das Gericht erster Instanz. Danach kann der Rat auf Antrag des EuGH und nach Anhörung von Parlament und Kommission einstimmig u.a. die Zuständigkeit dieses Gerichts festlegen. Es handelt sich dabei um kein zusätzliches Gemeinschaftsorgan, sondern um einen dem Gerichtshof zur Seite gestellten eigenständigen Spruchkörper. Auch dieses Gericht setzt sich aus 15 Richtern zusammen, die gleichermaßen grds. in Kammern mit 3 oder 5 Richtern oder ausnahmsweise im Plenum entscheiden. Das Gericht erster Instanz ist gem. Art. 168a Abs. 1 S. 2 EGV (Art. 32d Abs. 1 S. 2 EGKSV, Art. 140a Abs. 1 S. 2 EAGV) nicht für Vorabentscheidungen zuständig. Hingegen ist es nach Art. 3 des Ratsbeschlusses 88/591 für verwaltungsrechtl. Verfahren zuständig, d.h. für Streitigkeiten zwischen Gemeinschaftsor303
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte ganen und einzelnen oder jurist. Personen, aber auch nach Art. 179 EGV i.V.m. dem o.g. Ratsbeschluß für beamtenrechtl. Streitigkeiten. Eine Besonderheit besteht darin, daß gegen seine Entscheidungen Rechtsmittel beim Gerichtshof eingelegt werden können. Nach Art. 168a EGV (Art. 140a EAGV, Art. 32d EGKSV) ist das eingelegte Rechtsmittel dabei auf Rechtsfragen beschränkt. 5. Erweiterte Zuständigkeit des EuGH und EuG nach dem —> Amsterdamer Vertrag Der AmV sieht eine Ausweitung der Zuständigkeiten von EuGH und EuG vor. Dazu zählen Vorabentscheidungen und Nichtigkeitsklagen im gesamten Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Dabei ist jedoch zu beachten, daß das Vorabentscheidungsverfahren neuartig von einer Anerkennung durch jeden einzelnen Mitgliedstaat abhängen soll. Hierbei kann der einzelne Mitgliedstaat zusätzlich entscheiden, ob jedes seiner Gerichte oder nur letztinstanzliche Gerichte vorlageberechtigt sein sollen. Weiterhin wird die Jurisdiktion des EuGH auf Art. F Abs. 2 EUV n.F. zur Grundrechtsgeltung in der EU erstreckt. Insg. läßt sich der EuGH als Verfassungsgericht der EU bezeichnen. Er wahrt die Kompetenzordnung zwischen den EGOrganen und garantiert auch dem einzelnen Unionsbürger Rechtsschutzmöglichkeiten. Lit.: H. Kirschner: Das Gericht erster Instanz der Europ. Gemeinschaften, Köln 1995,J. Schwarze: Grundzüge und neuere Entwicklung des Rechtsschutzes im Recht der EG, in: NJW 1992, S. 1065ÍT.; B. Wechsler: Der Europ. Gerichtshof in der EG-Verfassungsordnung, Baden-Baden 1995.
Dietmar O. Reich Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte ist das zentrale Rechtsprechungsorgan des —> Europarates auf der Grundlage der -> Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Richter werden von der parlement. Versammlung des Europarates gewählt; ihre Zahl entspricht 304
Europäischer Rat
der Mitgliederzahl des Europarates (z.Z. 26). Der Gerichtshof wird mit Individualoder Staatenbeschwerden erst befaßt, wenn die Europ. Kommission für Menschenrechte des Europarates die Eingabe behandelt hat und eine gütige Einigung nicht zustande gekommen ist. Das Ministerkommittee des Europarates überwacht die Durchführung der die Mitgliedstaaten bindenden Urteile des Gerichtshofes (z.Z. wird die Rechtsprechung umstrukturiert). HgEuropäischer Ministerrat —• Ministerrat der EG Europäischer Rat Der EuRat gibt der -> Europäischen Union die für ihre Entwicklung notwendigen Impulse und legt die allgemeinen polit. Zielvorstellungen fest (Richtlinienkompetenz: Art. 4 —> EUVertrag); insbes. formuliert er die Grundsätze und Leitlinien für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Leitlinienkompetenz: Art. 13 EUV). Im Kontext der —> Europäischen Währungsunion hat der EuRat zentrale Funktionen inne - auch wenn dieses Gremium im Vertragstext nicht immer explizit genannt wird bzw. die Kommission nicht immer eingeschlossen ist: Abfassen von Schlußfolgerungen zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten (Art. 99 EGV), Entscheidung über den Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion (Art. 121 EGV) und über die wichtigsten Personalfragen in den Organen der künftigen Währungsunion (Art. 112 und 117 EGV). Seine im Vergleich zu den Fachministerräten (Rat der Europäischen Union) herausgehobene Position führt häufig dazu, daß der EuRat durch Themenbündelung und polit. Kompromißfindung auch manches eigentlich auf Ministerratsebene zu entscheidende europapolit. Detailproblem löst. Der EuRat tagt in der Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und des Präsidenten der —> Europäischen Kommission. Unterstützt wird er von den Außenministern sowie
Europäischer Rechnungshof einem weiteren Mitglied der Kommission (Art. 4 EUV). Er tritt mindestens zweimal im Jahr unter Vorsitz des Mitgliedslandes zusammen, das die (halbjährliche) Präsidentschaft im Rat inne hat. Die (meist zweitägigen) Sitzungen des EuRates werden mit einem von allen Teilnehmern genehmigten Kommuniqué abgeschlossen, das Leitlinien für die zukünftige Arbeit, aber häufig auch konkrete Arbeitsaufträge an die Kommission enthält. Faktisch trifft der EuRat die Entscheidungen, auch wenn ihm weder Rechtsetzungs- noch Entscheidungskompetenzen durch den EUV oder EGV übertragen worden sind; de jure werden diese dann von den zuständigen Organen der Europäischen Gemeinschaft ausgeführt. Die Staats- und Regierungschefs verfügen durch ihre verfassungsmäßige Stellung in dem jeweiligen Mitgliedsland über unterschiedliche demokrat. Legitimation und Funktion, was Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Rolle des EuRates zur Folge hat. Durch den —> Amsterdamer Vertrag soll der EuRat auch eine Leitlinienkompetenz für die WEU im Falle ihrer Inanspruchnahme durch die EU erhalten. Lit: U. Everling: Die Rolle des Europ. Rates gegenüber den Gemeinschaften, in: EuR Beiheft 1995, S. 41ff.; M.T. Johnston: The European Council Gatekeeper of the European Community, Boulder 1994. Melanie
Piepenschneider
Europäischer Rechnungshof Der ERH ist Finanzkontrollbehörde der -> Europäischen Union (EU). Der —> EU-Vertrag vom 7.2.1992 gibt ihm - neben dem —> Europäischen Parlament, dem —> Ministerrat (Rat), der —> Europäsichen Kommission und dem Gerichtshof - die Stellung eines -» Organs der Gemeinschaft. Das gibt ihm das Recht zu eigenständiger Personal- und Haushaltswirtschaft und die Legitimation, im Konfliktfall eigene Rechte (z.B. Prüfungs- oder Auskunftsrecht) durch Entscheidungen des —> Europäischen Gerichtshofes durchzusetzen. Als Nachfolgeinstitution des ehemaligen
Europäischer Rechnungshof Kontrollausschusses wurde der ERH aufgrund des Brüsseler Vertrages (2. Haushaltsvertrag) im Jahr 1975 gegründet. Sein Sitz ist Luxemburg, in Brüssel gibt es eine Außenstelle. Sein Entscheidungsgremium ist ein Kollegium, dessen Mitglieder richterliche Unabhängigkeit haben. Vertraglich ist festgelegt, daß der ERH das Parlament und den Rat bei der Haushaltskontrolle zu unterstützen hat. Dem Parlament sind die für das jährliche Entlastungsverfahren erforderlichen Informationen - sog. Bemerkungen - zu berichten. Der Vertrag erteilt den Auftrag zur Rechnungsprüfung sowie zur rechnungsunabhängigen Finanzkontrolle. Dazu gehören Maßnahmen, die unabhängig von Rechnungsdaten zu beurteilen sind, etwa die Feststellung von Systemmängeln, die nicht selten Ursache von strafbaren Handlungen sind. Prüfungsmaßstab sind Rechtmäßigkeit, Ordnungsmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit sowie auch die Zuverlässigkeit der Haushaltsführung. Der ERH hat das Recht, bei allen -> Institutionen der EU zu prüfen, auch bei EU-Einrichtungen mit eigenem Etat (z.B. Europ. Schulen). Auch Subventionsempfänger und nationale Stellen, die EU-Mittel erhalten und bewirtschaften, unterliegen dem ERH-Prüfungsrecht. Überschneidungen mit dem Prüfungsrecht der nationalen Rechnungshöfe (-> Bundesrechnungshof) sind die Folge. Deshalb sind Kontakte, Kooperation und Koordination des ERH und der nationalen Rechnungshöfe selbstverständliches Gebot. Hierzu gibt es einen ständigen Informationsfluß. Auf der Ebene der Präsidenten besteht ein Kontaktausschuß. Ein Verbindungsausschuß sowie jeweils ein Verbindungsbeamter des nationalen RH beim ERH gewährleisten eine harmonische Zusammenarbeit zur Förderung der EU. Ut: H. Dommach / E. Heuer: Komm, zum Haushaltsrecht, Neuwied 1997; B. Friedmann (Hg.): EG / Rechnungshof, Köln 1994. Karl Wittrock
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Europäischer Sozialfonds
Europäisches Gemeinschaftsrecht
Europäischer Sozialfonds Der ESF (Art. 123fr. EGV) ist als Strukturfonds ein Förderinstrument der Regionalpolitik der —• EG. Sie wird auf 2 Wegen finanziert: durch Zuschüsse und durch Darlehen. Die Zuschußgewährung erfolgt über die Strukturfonds der Gemeinschaft; größter Darlehnsgeber ist die —> Europäische Investitionsbank. Der ESF ist errichtet worden, um die Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitskräfte im Binnenmarkt zu verbessern und damit zur Hebung der Lebenshaltung beizutragen. Sein Zweck ist es, innerhalb der EG die berufliche Verwendbarkeit sowie die örtliche und berufliche Mobilität der Arbeitskräfte zu fördern und die Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktionssysteme v.a. durch berufliche Bildung und Umschulung zu erleichtem. Die regionalpolit. Maßnahmen der EG werden auf die Regionen mit dem größten Aufholbedarf konzentriert. Die wirtschaftl. Interventionen sind auf 6 Ziele konzentriert. Das Hauptziel für den ESF ist die Bekämpfung der -> Arbeitslosigkeit. Er wird von der —> Europäischen Kommission verwaltet. Lit.: S. Höheheidt: Europ. Regionalpolitik in der BRD, in: SächsGVBl. 1995, S. 176ff.
S.H. Europäischer Währungsfonds —> Europäisches Währungssystem Europäisches Gemeinschaftsrecht Für das europ. GR. ist zwischen Primär- und Sekundärrecht zu unterscheiden, wobei bereits das Rangverhältnis zwischen diesen Rechtsquellen zum Ausdruck kommt. 1. Primärrecht Zum Primärrecht, sog. -> Verfassungsrecht der Union, zählen die 3 Gründungs Verträge (Vertrag über die -> EGKS vom 18.4.1951 Pariser Vertrag; Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25.3.1957 —> Römischer Vertrag; Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaften vom 25.3.1957 Römischer Vertrag) 306
einschließl. ihrer Annexe in Form von Anhängen und Protokollen, z.B. Protokolle über die Satzung des EuGH (Art. 188 EGV). Zum Primärrecht gehören weiterhin die von den Mitgliedstaaten später geschlossenen Änderungsverträge, die Beitritts- und Assoziierungsverträge sowie die Verträge mit dritten Staaten. Regeln über die Fortbildung und Änderung des primären GR. s sind in Art. Ν Abs. 1 EUY begründet. Beispiele für eine Änderung des Primärrechts sind die Einheitliche Europäische Akte, am 1.7. 1987 in Kraft getreten, und der -> EUVertrag vom 7.2.1992, der am 1.11.1993 in Kraft getreten ist. Diese —> Rechtsakte stehen auf der derselben Rangebene. Ihr Verhältnis untereinander wird durch die Grundsätze des Vorrangs des lex posterior (das später erlassene Gesetz geht dem älteren vor) und des lex specialis (das besondere Gesetz geht dem allgemeinen vor) bestimmt. Zum Primärrecht gehören auch die vom EuGH im Wege richterlicher Rechtsfortbildung (und z.T. im Wege freier richterlicher Rechtsschöpfung) entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze. Dazu zählen insbes. die Gemeinschaftsgrundrechte und das Demokratieprinzip; weiterhin sind die rechtsstaatl. gebotenen Garantien des Verwaltungsverfahrens mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu nennen. 2. Sekundärrecht Das Sekundärrecht besteht aus den Rechtsakten der Gemeinschaften und geht im Rangverhältnis dem Primärrecht nach. Nach Art. 161 Abs. 1 EAGV erlassen der -> Europäische Rat und die —> Europäische Kommission sowie gem. Art. 189 Abs. 1 EGV das —> Europäische Parlament und der Rat gemeinsam -> EG-Verordnungen, -> EGRichtlinien und Entscheidungen, sprechen Empfehlungen aus und geben Stellungnahmen ab. Dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung entsprechend wird damit ein Katalog der Rechtshandlungen der zur SekundärTechtsetzung berufenen Gemeinschaftsorgane festgelegt. Hinsichtlich der Rechtswirkungen ist zwischen verbindli-
Europäisches Gesellschaftsrecht
Europäisches Gesellschaftsrecht chen und unverbindlichen Rechtshandlungen zu unterscheiden. Grds. sind Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen verbindlich, dagegen Empfehlungen und Stellungnahmen unverbindlich. Dieser Grundsatz gilt für den EGV und EAGV: Verordnungen nach Art. 189 Abs. 2 EGV / 161 Abs. 2 EAGV beziehen sich auf alle Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsangehörige, wobei verbindliche Rechtswirkungen entstehen. Richtlinien gem. Art. 189 Abs. 3 EGV / 161 Abs. 3 EAGV richten sich an alle oder bestimmte Mitgliedstaaten und sind grds. nur in bezug auf das vorgegebene Ziel verbindlich. Entscheidungen i.S.v Art. 189 Abs. 4 EGV/ 161 Abs. 4 EAGV beziehen sich verbindlich auf bestimmte Mitgliedstaaten oder bestimmte Personen. Empfehlungen nach Art. 189 Abs. 5 EGV/ 161 Abs. 5 EAGV richten sich an alle oder bestimmte Mitgliedstaaten sowie ausnahmsweise an ein anderes Gemeinschaftsorgan (Art. 206 Abs. 1 S. 1 EGV) oder Einzelpersonen (Art. 91 Abs. 1 EGV) und entfalten dabei nur unverbindliche Rechtswirkungen. Eine Stellungnahme gem. Art. 189 Abs. 5 EGV/ 161 Abs. 5 EAGV, die sich an ein anderes Gemeinschaftsorgan, bestimmte Mitgliedstaaten (Art. 169 EGV) oder an einen unbestimmten Adressatenkreis richtet, ist unverbindlicher Rechtsnatur. Insg. kann das GR. aufgrund unmittelbarer Rechtswirkungen für den einzelnen Unionsbürger und für die Mitgliedstaaten die Rechte des einzelnen Bürgers sowie polit. Entscheidungen der Mitgliedsländer beeinflussen. Der Bürger wird insoweit unmittelbar und mittelbar über die mitgliedstaatl. Regierung durch GR. berechtigt (z.B. durch die EG-Grundfreiheiten) und verpflichtet. Lit: Β. Beutler /R. Bieber/J. Pipkorn u.a.: Die EU, Baden-Baden "1993, S. 184ff; A. Bleckmann·. Europarecht, Köln e1995, Rn. 237ff.; R. Slreinz: Europarecht, Heidelberg 31996, Rn. 346ff. Dietmar O. Reich Europäisches
Gesellschaftsrecht
E.G. dient durch bereits stark fortgeschrittene Angleichung der verschiedenen innerstaatl. —> Rechtsvorschriften (Art. 3 h EGV) in besonderem Maße dem Ziel der —> Europäischen Union, binnenmarktähnliche Verhältnisse unter den Mitgliedstaaten zu erreichen. Grundlage für die Tätigkeit der Organe auf dem Gebiet des -> Gesellschaftsrechts ist Art. 54 ΙΠ g EGV, der die Niederlassungsfreiheit statuiert. Voraussetzung hierfür ist, daß die Gesellschaft nach den Rechtsvorschriften eines der Mitgliedstaaten gegründet wurde und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung innerhalb der EU hat (Art. 58 I EGV). Auf die Staatsangehörigkeit der Gesellschafter bzw. Gründer kommt es nicht an. Im Unterschied zum dt. G. gelten als Gesellschaften i.S.d. EGV auch die Gesellschaft bürgerl. Rechts, die OHG und die KG, sofern sie am Wirtschaftsprozeß beteiligt sind. Zur Schaffung eines E.G.s wurden folgende Schwerpunkte gesetzt: 1. Vereinbarung von Mindeststandards zum Schutz der Öffentlichkeit und der Gesellschafter; diese sind in den zahlreichen das E.G. betreffenden —> EGRichtlinien enthalten (z.B. Publizitäts-, Kapital-, Bilanzrichtlinie). 2. Entwicklung gemeinrechtl. Gesellschaftsnormen mit dem Ziel eines supranationalen G.s; hierzu zählt die neue Rechtsform der Europäischen Wirtschaftl. Interessenvereinigung (EWTV), der sich Unternehmen innerhalb der EU seit 1.7.1989 bedienen können und die durch ihre europaweit einheitliche Struktur den rechtl. Rahmen insbes. für internationale Kooperationen kleiner und mittlerer Unternehmen bieten soll. Weitere Projekte europ. Gesellschaftstypen sind Europ. Genossenschaft, Europ. Verein, Europ. Gegenseitigkeitsgesellschaft. 3. Programm einer Vereinheitlichung des internationalen G.s, dessen Ziel die Anerkennung von Gesellschaften und —» juristischen Personen sowie die grenzüberschreitende Verschmelzung auf der Grundlage des Art. 220 EWGV ist. Lit: Η. v. d. Groeben / J. Thiesing / C.-D.
Das 307
Eurpäisches Parlament Ehlermann (Hg.): Komm, zum EU-/EG-Veitrag
I, Baden-Baden 1997; £ Grabitz /M. Hilf (Hg.): Komm, zur EU I, München 1997.
Annette von Harbou Europäisches Parlament Begriff Das EP ist als „Vertretung der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten" das gemeinsame parlament. Organ der 3 -> Europäischen Gemeinschaften (-» EGKS, EG, -> EAG). Hervorgegangen ist es aus der „Gemeinsamen Versammlung" der EGKS und den ursprünglich auch im EGV und im EAGV vorgesehenen „Versammlungen". Mit dem Abkommen über gemeinsame Organe für die Europ. Gemeinschaften sind diese 3 im Jahre 1957 zu einer gemeinsamen Versammlung zusammengeschlossen worden. Nachdem sie sich bereits 1962 in EP umbenannt hatte, ist diese Bezeichnung durch die am 1.7.1987 in Kraft getretene -» Einheitliche Europäische Akte offiziell anerkannt und später durch den —> EUVertrag in die Gründungsverträge übernommen worden. Das EP hat durch den EUV und durch den —> Amsterdamer Vertrag neue Befugnisse erhalten, die zu einer weiteren —> Demokratisierung der gemeinschaftlichen —» Rechtsetzung der EU beitragen. Trotz dieser Komptenzerweiterungen bleibt hier aber der aus Vertretern mitgliedstaatlicher Exekutiven zusammengesetzte —> Ministerrat das oberste Legislativorgan. Insoweit unterscheidet sich das EP nach wie vor erheblich von nationalen Parlamenten der EUMitgliedstaaten, denen nach den innerstaatl. Verfassungssystemen überragende Bedeutung in der nationalen Rechtsetzung zukommt. Aufgaben Während dem EP früher nur begrenzte Beratungs- und Kontrollbefugnisse zustanden, sind seine Befugnisse im Laufe der Zeit sukzessive verstärkt und durch Anhörungs-, Mitwirkungs- und Zustimmungsrechte sowohl im Rahmen der EG-Rechtsetzung als auch in anderen Sachbereichen ergänzt worden. Die Mitwirkungsrechte des EP sind im Rahmen 308
Europäisches Parlament der EG-Rechtsetzung je nach Politikbereich höchst unterschiedlich ausgestaltet. Während es in einigen Bereichen vom Ministerrat lediglich zu konsultieren ist, verfügt das EP in anderen Bereichen über echte Mitentscheidungs- und Zustimmungsrechte, die durch den EUV stark und durch den Amsterdamer Vertrag weiter ausgebaut wurden. Diese Vertragsreformen haben gleichwohl nichts daran geändert, daß die unterschiedlichen Verfahren der EG-Rechtsetzung weiterhin ausschließlich durch einen Vorschlag der -» Europäischen Kommission eingeleitet werden. Auch wenn der EUV dem EP ein Recht einräumt, die Kommission zum Gebrauch ihres Initiativrechts aufzufordern, ist das EP von einem eigenen Initiativrecht noch weit entfernt. Auch in anderen, nicht zur Rechtsetzung im engeren Sinne gehörenden Sachbereichen sind die Mitwirkungsrechte des EP heterogen ausgestaltet, so daß sie sich weiterhin einer überschaubaren Systematik entziehen. Während das EP im Haushaltsbereich das letzte Wort hat und diesbezüglich als „Mitgesetzgeber" zu bezeichnen ist, muß es vor Änderungen des EUV nur angehört werden. Eine Mittelstellung nimmt der Beitritt neuer Mitgliedstaaten und der Abschluß von Assoziierungsabkommen mit Drittstaaten ein, die der Zustimmung des EP bedürfen. Außerhalb der 1. Säule der EU, also in den Bereichen der -> GASP und der ZBJI, ist das EP darauf beschränkt, Anfragen oder Empfehlungen an den —> Europäischen Rat zu richten. Im EUV wurde femer festgelegt, daß der Europ. Rat dem EP nach jeder Tagung Bericht erstattet und ihm jährlich einen Bericht über die Fortschritte der EU vorlegt. Durch den Amsterdamer Vertrag wird dem EP nun auch das formelle Recht zuerkannt, den -» Wirtschafts- und Sozialausschuß sowie den -> Ausschuß der Regionen anzuhören. Weitreichend sind seine auf zahlreiche Einzelbereiche verteilten Kontrollrechte. Das stärkste ist das Mißtrauensvotum gegen die Kommission, mit dem das EP den
Europäisches Parlament gemeinsamen Rücktritt ihrer Mitglieder erzwingen könnte. Dieses Recht ergänzt das Fragerecht des EP gegenüber der Kommission, sein Recht zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen und sein ebenfalls vertraglich eingeräumtes „Investiturrecht", daß dem EP aufgrund des darin enthaltenen Zustimmungsrechts die Möglichkeit gibt, auf die Bestellung des Kommissionspräsidenten und der mitglieder einzuwirken. Die im Hinblick auf die Kommission als stark zu bezeichnenden Kontrollmöglichkeiten des EP werden durch seine Befugnisse zur Herbeiführung einer Rechtskontrolle durch den -» Europäischen Gerichtshof abgerundet. Am bedeutsamsten ist hierbei die in Art. 173 EGV geregelte Nichtigkeitsklage, derer sich das EP bedienen kann, wenn seine Mitwirkungsrechte durch Maßnahmen anderer EGOrgane verletzt werden. Vor dem Hintergrund, daß die Mitwirkungsrechte des EP in den einzelnen EG-Politikbereichen mal stärker, mal schwächer ausgestaltet sind, kann dies dann der Fall sein, wenn sich der Ministerrat beim Erlaß einer Verordnung oder einer Richtlinie auf mehrere Ermächtigungsgrundlagen aus unterschiedlichen Politikbereichen stützten kann, letztlich aber diejenige auswählt, die dem EP die schwächsten Mitwirkungsrechte zuweist. Die Unionsbürger haben zwar keine rechtl. Möglichkeit, das EP zu zwingen, andere EG-Organe zu verklagen. Sie verfügen aber über ein Petitionsrecht (—> Petition) zum EP, das durch den EUV eine vertragliche Grundlage gefunden hat. Ferner können sie Beschwerden an den —> Bürgerbeauftragten des EP, den sog. Ombudsmann, richten, soweit sie Mißstände bei der Tätigkeit der EG-Organe oder anderer Institutionen der Gemeinschaft mit Ausnahme des EuGH und des Gerichts erster Instanz rügen. Neben den Europawahlen gewährleisten diese Petitions- und Beschwerderechte dem Bürger aber nur dann einen direkten Einfluß auf die europ. Integration, wenn für ihn erkennbar ist, was das
Europäisches Parlament EP darf und was es für ihn konkret tun kann. Dies zu überblicken fallt schwer, weil hinsichtlich seiner Mitwirkungs- und Kontrollrechte zwischen einzelnen Politikbereichen auch heute noch verwirrende Abstufungen bestehen. Zusammensetzung, Sitz und Wahlen Das EP zählt derzeit 626 —> Abgeordnete, die für 5 Jahre gewählt sind. Mangels eines einheitlichen europ. Wahlverfahrens unterliegt die Wahl der Abgeordneten im wesentlichen den jeweiligen mitgliedstaatl. Vorschriften. Die Abgeordneten unterliegen keinen Weisungen und genießen Straflosigkeit für bei Ausübung ihres Mandats erfolgte Äußerungen oder andere Parlament. Handlungen sowie —» Immunität, die sich v.a. im Bereich der Freizügigkeit auswirkt. Von den 626 Abgeordneten kommen 99 aus Deutschland, jeweils 87 aus Frankreich, Italien und Großbritannien, 64 aus Spanien, 31 aus den Niederlanden, 25 aus Belgien, Griechenland und Portugal, 22 aus Schweden, 21 aus Österreich, 16 aus Dänemark und Finnland, 15 aus Irland und 6 aus Luxemburg. Im EP treten sie nicht als nationale Delegationen auf, sondern gehören einzelnen Fraktionen an, die sich nach parteipolit. Gesichtspunkten bilden. Zu den größten gehören die der sozialdemokratischen Parteien und der Christdemokraten (-> Europäische Parteien). Aufbau und Arbeitsweise des EP entsprechen dem Muster mitgliedstaatl. Parlamente. So hat es ein Präsidium, das sich aus seinem Präsidenten, Vizepräsidenten und Quästoren zusammensetzt. Letztere sind mit organisatorischen Aufgaben betraut. Die Präsidiumsmitglieder bilden mit den Vorsitzenden der Fraktionen die Konferenz der Präsidenten, die auch über den Entwurf der Tagesordnungen entscheidet. Weiter verfugt das EP über zahlreiche Ausschüsse, Delegationen und Arbeitsgruppen, die als kleinere und spezialisiertere Gremien einzelne Entscheidungen vorbereiten. Unterstützt wird es von seinem Generalsekretariat in Luxemburg. Das EP hat seinen Hauptsitz in Straßburg.
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Europäisches Parlament Weitere Plenartagungen und Ausschußsitzungen finden in Brüssel statt (-> sa. Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments) . Probleme: Demokratiedefizit und Intransparenz In Deutschland stellt sich - wie in ähnlicher Weise auch in anderen Mitgliedstaaten - die Frage, inwieweit das im —> Grundgesetz mit Verfassungsrang ausgestattete Prinzip der -> Demokratie die Übertragung der Rechtsetzung auf den Ministerrat gestattet. Problematisch ist sie deshalb, weil das Demokratieprinzip verlangt, daß alle Staatsgewalt vom Volk (-> Volkssouveränität) ausgeht und daß die Rechtsetzung somit auf den Willen des Volkes zurückführbar sein muß, während das EP in der EG-Rechtsetzung nur Teilbefugnisse hat und sich der Ministerrat in seiner Funktion als Gemeinschaftsgesetzgeber nicht aus unmittelbar demokrat. legitimierten Mitgliedern mitgliedstaatl. Legislativen, sondern aus mittelbar demokrat. legitimierten Vertretern mitgliedstaatl. Regierungen zusammensetzt. Einigkeit besteht darin, daß weder die -> Europäischen Gemeinschaften noch die Europäische Union als Staaten anzusehen sind und daß beide daher nur im Grundsatz mit den Prinzipien des Grundgesetzes vereinbar sein müssen, da das Demokratieprinzip auf der Gemeinschaftsebene mit der Eigenart eines Integrationsprozesses mit offenem Ausgang angepaßt werden muß. Zu berücksichtigen ist aber, daß die Demokratisierung der europ. Willensbildung (—> Willensbildung, europäische) desto notwendiger wird, je stärker die Integration voranschreitet. Diesem Zusammenhang ist zuletzt dadurch Rechnung getragen worden, daß die durch den EUV und den Amsterdamer Vertrag vorgenommenen Kompetenzübertragungen zugunsten der EU auch durch Befiigniserweiterungen zugunsten des EP abgefedert wurden. Das vieldiskutierte Demokratiedefizit auf der Gemeinschaftsebene kann gleichwohl nicht allein durch eine stetige Erweiterung der Befugnisse des EP behoben werden. Dies folgt daraus, daß
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Europäisches Parlament das EP nicht dem im Demokratiegrundsatz enthaltenen und somit grundsätzlich auch auf der Gemeinschaftsebene zu beachtenden Grundsatz der Wahlgleichheit gerecht wird, wonach jede bei der Europawahl abgegebene Stimme das gleiche Gewicht haben muß. Dies ist aufgrund der Sitzverteilung nicht der Fall, weil die kleineren Mitgliedsländer gemessen an ihrer Bevölkerungszahl stärker im EP repräsentiert werden als die großen. So vertritt etwa ein Abgeordneter Luxemburgs ca. 66.000 Bürger, während ein Abgeordneter aus Deutschland nahezu 820.000 Bürger repräsentiert. An diesem Grundproblem wird auch die im Amsterdamer Vertrag anvisierte Erhöhung der Abgeordnetenzahl auf 700 nichts ändern. Kann daher also die demokrat. —> Legitimation der EG und damit auch die der EU nicht allein durch weitere Befugniserweiterungen zugunsten des EP hergestellt werden, so bedarf es einer zweigleisigen demokrat. Legitimation über das EP und über nationale Parlamente, welche die Regierungsvertreter im Ministerrat kontrollieren können müssen. Diesem Ansatz ist in Deutschland etwa durch Errichtung des —> Unionsausschusses Rechnung getragen worden. Die zurückliegenden Vertragsreformen bilden in Gestalt der Einführung neuer Mitentscheidungsrechte und des Zustimmungsrechts zur Ernennung des Präsidenten der Kommission zugunsten des EP zwar eine weitere Etappe der schrittweisen Demokratisierung der EG-Rechtsetzung. In Zukunft muß es aber darum gehen, die nach unterschiedlichen Politikbereichen stark ausdifferenzierten Parlamentsbefugnisse stärker anzugleichen und die Vielfalt der Rechtsetzungsverfahren weiter einzuebnen. Dies gebietet letztlich das im Demokratieprinzip enthaltene Transparenzgebot, weil die bisherige unübersichtliche Ausgestaltung der dem EP zustehenden Befugnisse dazu fuhrt, daß der Unionsbürger die Rechte seines Parlaments nicht leicht erkennen und damit auch nicht zutreffend einordnen kann. Für die Akzeptanz weiterer Integra-
Europäisches Patentamt tionsschritte durch die Unionsbürger ist letzteres unverzichtbar, da er anderenfalls kaum erkennen kann, inwieweit die ihn betreffenden Entscheidungen auf nationaler oder europ. Ebene getroffen werden. Für dieses Gebot der verstärkten Angleichung läßt sich auch das in Art. C Abs 1 EUV verankerte Kohärenzgebot anführen, das die EG, deren Organe und die EUMitgliedstaaten zur Herstellung von Stimmigkeit sowie zur Wahrung des Zusammenhangs zwischen den verschiedenen EG- und EU-Politiken verpflichtet. Lit : R. Corbett/F. Jacobs/M. Shackleton: The European Parliament, London 31995; K. Doehring: Demokratiedefizit in der EU?, in: DVB1 1997, S. 1133ff.; D.O. Reick. Rechte des Europ. Parlaments in Gegenwart und Zukunft, Berlin 1998; V. Saalfrank: Funktionen und Befugnisse des Europ. Parlaments, Stuttgart 1995; B. Suski: Das Europ. Parlament, Berlin 1996.
Carsten Nowak Europäisches Patentamt —> Patent Europäisches Währungssystem (EWS) Bestand bei der Gründung der - —» Europäischen Gemeinschaften, v.a. der —> EWG im Jahr 1957 zwischen deren Mitgliedern ein System fester, aber anpaßbarer Wechselkurse im Rahmen des Internationalen Währungsfonds, so daß die Gründungsverträge zu Währungsfragen weitgehend keine Bestimmungen enthielten, so änderte sich die Lage mit dem Zusammenbruch dieses Festkurssystems 1971. Um in Europa eine Zone relativer monetärer Stabilität zu schaffen, entstand nach einem nicht geglückten Anlauf zu einer Währungsunion (Werner-Plan) und einem wenig erfolgreichen Vorgänger, dem Europ. Wechselkursverbund, 1979 das EWS auf Grund einer Entschließung des Rates (Beschluß v. 6./7.7.1978) und eines Abkommens der Zentralbanken der Mitgliedstaaten. In seinem Mittelpunkt stand die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihre —> Währung um nicht mehr als 2,25% um festgelegte, nur durch einvernehmliche Auf- und Abwertungen änder-
Europakammer bare Leitkurse schwanken zu lassen; 1991 wurde diese Marge auf 15% erweitert. Erreichen 2 Währungen ihren verabredeten oberen bzw. unteren Interventionspunkt, müssen die beiden beteiligten Notenbanken unbegrenzt am Markt eingreifen. Dabei kauft die Zentralbank der starken Währung die schwache Währung, während die Notenbank der Währung am unteren Interventionspunkt die starke Währung verkauft. Hieraus ergibt sich eine gewisse Asymmetrie, da die Zentralbank mit der starken Währung zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen lediglich ihr eigenes, von ihr prinzipiell unbegrenzt ausgebbares Geld einsetzen muß, während die andere Bank auf stets beschränkte Devisenbestände zurückgreifen muß. So wurde die Dt. Mark, nicht aber die hierfür zunächst vorgesehene europ. Währungseinheit ECU zur Ankerwährung des EWS. Die ECU, welche die Summe fester Beträge der Währungen der Mitgliedstaaten darstellt, erfüllt innerhalb des EWS dennoch wichtige Funktionen. So werden v.a. die Leitkurse in ECU festgelegt. Darüber hinaus dient die ECU als Zahlungsmittel zwischen den Zentralbanken. Weit bedeutender ist ihre Rolle als Rechnungseinheit zur Festlegung des Betrags von Geldschulden. So wird etwa der Haushalt der EG in ECU aufgestellt. Darüber hinaus findet sie als sog. private ECU kraft Rechtsgeschäfts auf den internationalen Kapitalmärkten Verwendung bei Anleihen. Lit.: S. Collignon / P. Bofìnger: Das europ. Währungssystem im Obergang, Wiesbaden 1994; C. Köster: Das Recht der europ. Währungspolitiken, Köln 1990; R.-M. Marquardt: Vom europ. Währungssystem zur europ. Wirtschafts- und Währungsunion, Frankfürt/M. 1990. Johannes Siebelt
Europakammer des Bundesrates Der Bundesrat hat, um schneller und flexibler in Angelegenheiten der —> Europäischen Union reagieren zu können, eine E. eingerichtet, welche für das Bundesratsplenum Beschlüsse fassen kann. 1988 durch eine 311
Europakammer Ergänzung der —» Geschäftsordnung des Bundesrates als Kammer für die Angelegenheiten der EG geschaffen, wurde diese E. durch eine GG-Änderung, welche im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages stand (Art. 52 Abs. 3a GG) verfassungsrechtl. abgesichert. Tatsächlich spielt die E. eine untergeordnete Rolle, wurde sie seit ihrem Bestehen doch nur einige wenige Male einberufen. Viemehr nutzte der Bundesrat die Notwendigkeit der Ratifizierung von Überarbeitungen des EG- und —> EU-Vertrages durch ihn, um seine Mitwirkung und Einflußnahme auf die —> Europapolitik der BRD auszubauen (Art. 23 und Art. 50 GG), was eine permanente Beschäftigung mit europapolit. Fragen zur Folge hatte. Ergänzt werden die grundgesetzlichen Regelungen durch das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der EU (v. 12.3. 1993) sowie der in Ausführung dieses Gesetzes getroffenen Bund-Länder-Vereinbarung (v. 29.10. 1993). Der Bundesrat muß umfassend und frühstmöglich durch die —> Bundesregierung in Angelegenheiten der EU unterrichtet werden, er ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen (Mitwirkung an der Ausarbeitung einer Verhandlungsposition der Bundesregierung), in bestimmten Fällen sogar „maßgeblich" (wenn es um Gegenstände geht, die nach der innerstaatl. Kompetenzordnung die Landesgesetzgebung betreffen). Bis zu 2 vom Bundesrat benannte Ländervertreter können an den innerstaatl. Koordinierungssitzungen der Ministerien teilnehmen. Außerdem kann ein Landesminister in bestimmten Fällen und in Abstimmung mit der Bundesregierung im Rat der EU die Leitung der deutschen Delegation übernehmen (siehe auch die Formulierung in Art. 203 EGV: „Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene"). Darüber hinaus gibt es seit Ende der 50er Jahre sog. Länderbeobachter, welche die Beratungen in den EU-Institutionen beobachten und für die Länder aufbereiten; die Bedeutung der Länderbeobachter tritt we-
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Europakommision gen der zunehmenden direkten Einbindung der Länder in den innerstaatl. Meinungsbildungsprozeß immer mehr in den Hintergrund. Zur Koordinierung ihrer europapolit. Positionen haben die Länder eine Europaministerkonferenz ins Leben gerufen, welche u.a. auch Entscheidungsvorlagen für die —> Ministerpräsidentenkonferenz vorbereitet. In den Ländern sind die Zuständigkeiten für die Europapolitik unterschiedlich geregelt: Die Ende der 80er / Anfang der 90er Jahre geschaffenen „reinen" Ländereuropaministerien wurden zumeist zugunsten von Mischministerien (Europazuständigkeit gekoppelt mit Wirtschaft oder Justiz) oder durch eine Verlagerung der Kompetenzen in die —> Staatskanzlei wieder aufgegeben. Lit.: Bundesrat (Hg.): Bundesrat und EU, Bonn 1997.
Melanie
Piepenschneider
Europakommission Im Juni 1983 setzte der —> Bundestag eine —> Enquete-Kommission zu Fragen der europ. Integration ein: die E.; sie sollte dem Bundestag über europapolit. Grundsatzfragen und institutionelle Probleme der —> Europäischen Gemeinschaft berichten. Im Vordergrund ihrer Arbeit stand die Frage, wie sich die Arbeit von —> Europäischem Parlament und Dt. Bundestag besser koordinieren ließe. Die E. sollte konkrete Vorschläge für eine Verbesserung der Zusammenarbeit von EP und Dt. Bundestag erarbeiten. Der Koordinierungsaspekt ihrer Arbeit spiegelte sich in der Zusammensetzung ihrer Mitglieder wider: Der E. gehörten 11 —> Abgeordnete des Bundestages und 11 dt. Mitglieder des EP an. Bis zu seiner ersten Direktwahl 1979 bestand das EP ausschließlich aus Abgeordneten nationaler —> Parlamente, die nach Straßburg entsandt worden waren. Nach dem Wegfall dieses obligatorischen Doppelmandats mußten neue Wege gefunden werden, wie die Beziehungen zwischen EP und Bundestag dauerhaft und institutionell gestärkt werden konnten. In ihrem Abschlußbericht schlug die E. die Einrich-
Europarat
Europapolitik tung eines ständigen Bundestagsausschusses vor, der sich mit Europafragen beschäftigen und die Kontakte zum EP intensivieren sollte. Die E. wurde nach der Bundestagswahl 1987 nicht wieder eingerichtet. Seit 1992 existiert aber ein ständiger —> Ausschuß für Angelegenheiten der EU (Art. 45 GG), der die von Art. 23 GG vorgesehenen Mitwirkungsrechte des Bundestages in EU-Angelegenheiten institutionell absichern soll. Der Ausschuß bereitet nicht nur die Arbeit des Parlaments vor. Er nimmt sogar - das läßt Art. 45 GG zu einen Teil der Mitwirkungsbefiignisse stellvertretend für den Bundestag wahr. Ob die damit bezweckte Stärkung des Parlaments in europapolit. Fragen schon erreicht wurde, ist allerdings offen. Lit: P. Mehl: Die Europakommission des Dt. Bundestages, Kehl 1987; F. Möller / M. Limpert: Informations- und Mitwirkungsrechte des Bundestages in Angelegenheiten der EU, in: ZParl 1993, S. 21ff.
Volker Neßler Europapolitik ist seit 1945 durch die Bemühungen um Zusammenarbeit, Einigung und -> Frieden gekennzeichnet. Diese beruhen 1. auf der Einsicht in das Versagen der nationalstaatl. Ordnung vor 1945 gegenüber Wirtschaftskrise, Faschismus und Weltkriegen; als Konsequenz wurde der wirtschaftl. (—> EGKS, -> EWG, -> EG, -> EU) und sicherheitspolit. (-> NATO) Integrationsprozeß eingeleitet. Die Erfahrung mit dem OstWest-Konflikt führte 2. auf Friedensbemühungen (Entspannung, KSZE / OSZE) und schafft mit der bevorstehenden EU- und NATO-Osterweiterung eine Sicherheits- und Friedensgemeinschaft. Die Abhängigkeit von den USA bzw. die globale Konkurrenz (mit USA, Japan, ASEAN usw.) hat 3. zur sog. Politik der Selbstbehauptung geführt, deren Voraussetzung das Dreieck aus Komplettierung der Ökonom. (EWU) durch polit, und sicherheitspolit. Integration (Polit. Union, Verzahnung von EU, -> WEU, Eurocorps
und GASP), fortgesetzter Erweiterung (Ost-, Süderweiterung) und Vertiefung plus Reform einschließl. —» Demokratisierung bzw. Aufwertung des -> Europäischen Parlaments ist. Der EU-Integrationsprozeß ist dabei nicht kontinuierlich verlaufen, sondern durch polit. Impulse und europ. Projekte (—> Römische Verträge, -> EU-Vertrag) vorangetrieben worden. Entscheidend sind dabei Fähigkeit und Wille der - > Nationalstaaten zum Souveränitätstransfer bzw. zur Vergemeinschaftung, welche die Entmachtung des traditionell dominanten Nationalstaates zur Folge hat. Die - » Bundesrepublik Deutschland z.B. nahm aufgrund der polit. Ausgangslage von 1949 (Adenauer: Wiedergewinnung von Handlungsfreiheit durch Integration) eine pro-integrationspolit. Linie ein, gewann damit wesentliche ökonom.-polit. Vorteile und Macht und verfolgt dies daher auch konsequent weiter (EWU: Aufgabe der währungspolit. —> Souveränität). Lit.: M. Kreile (Hg.): Die Integration Europas, PVS-Sonderheft Nr. 23/1992; M. Telo (ed.): Démocracie et Construction Europénne, Bruxelles 1995.
Reimund Seidelmann Europarat Der E. wurde am 5.5.1949 gegründet. Er war die erste Organisation nach dem Π. Weltkrieg, die sich dem Ziel verpflichtete, Einheit und Zusammenarbeit in Europa zu fördern. Heute gehören ihm 40 Staaten (1998) als Mitglieder an, 5 Staaten haben Sonder- und 4 Beobachterstatus. Sitz ist in Straßburg. Voraussetzung für eine Mitgliedschaft ist die Wahrung Prinzipien der -> Demokratie und des —> Rechtsstaats (Art. 3). Laut Satzung darf sich der E. mit allen Europa betreffenden und gemeinsam interessierenden Fragen befassen - nur nicht mit der Verteidigungspolitik (Art. 1 ). Schwerpunkte seiner Arbeit liegen bei: Menschenrechtsschutz (z.B. —> Menschenrechtskonvention; Ständiger - » Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg), sozialer und wirtschaftl. Zu-
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Europarecht sammenarbeit (z.B. Sozialcharta, Sozialentwicklungsfonds), Medien, Gesundheitswesen, Umwelt, Gemeinden und Regionen (z.B. Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung), Jugend (z.B. Europ. Jugendwerk), Rechtsfragen und der kulturellen Zusammenarbeit (z.B. Kulturkonvention). Die Organe des E.es, das Ministerkommittee und die Parlament. Versammlung, werden in ihrer Arbeit von einem Generalsekretariat unterstützt. Seit 1993 gibt es als 3. Organ den Kongreß der -> Gemeinden und -> Regionen, der einmal jährlich zusammentritt. Das Ministerkommittee, bestehend aus den Außenministern der Mitgliedstaaten, welches mindestens zweimal jährlich in nicht öffentl. Sitzung tagt, ist der Entscheidungsträger, die Versammlung aus delegierten nationalen Abgeordneten, die mindestens dreimal jährlich einwöchig zusammentritt, hat beratende Funktion (Ausnahme: Wahl des Generalsekretärs). Die Reichweite der Entscheidungen des E.es beschränkt sich auf Empfehlungen an die Mitgliedsländer und ermöglicht deshalb kein verpflichtendes Handeln. Der E. hat trotzdem beachtliche Leistungen vollbracht - auch und gerade in der Phase des Umbruchs in Mittel- und Osteuropa Anfang der 90er Jahre. Er ist bis heute ein Forum für den Gedankenaustausch und trägt damit wesentlich zur polit. Verständigung zwischen den Regierungen und Parlamenten seiner Mitgliedstaaten bei. Lit.: O. Schmuck (Hg.): 40 Jahre Europarat, Bonn 1990. Melanie Piepenschneider
Europarecht -» Europäisches Gemeinschaftsrecht Europawahlgesetz -» Wahlrecht Europawahlordnung —• Wahlrecht Europol ist das im -> EU-Vertrag über vom 7.2.1992 vorgesehene Europäische Polizeiamt. Es soll u.a. die polizeiliche 314
Europol Zusammenarbeit zwecks Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus, des illegalen Drogenhandels und sonstiger schwerwiegender Formen der internationalen Kriminalität i.V.m. dem Aufbau eines unionsweiten Systems zum Austausch von Informationen fördern (Art. Κ 1 Nr. 9 EUVertrag). In einer dem EU-Vertrag beigefügten „Erklärung zur polizeilichen Zusammenarbeit" werden die Aufgaben und Kompetenzen von E. implizit weiter präzisiert. Die E.-Konvention wurde am 26.7.1995 unterzeichnet. Anläßlich der Tagung des —» Europäischen Rates am 21.6.1996 konnte eine grundsätzliche Einigung darüber erzielt werden, dem —» Europäischen Gerichtshof eine Befugnis zuzuerkennen, das Obereinkommen im Wege der Vorabentscheidung auszulegen. Operative Handlungsbefugnisse und eigene Ermittlungszuständigkeiten werden E. nicht eingeräumt, aber u.a. vom -» Europäischen Parlament reklamiert. Die ->. Ratifikation der E.-Konvention ist durch einen Teil der Mitgliedstaaten bereits erfolgt; durch den Dt. —> Bundestag am 10.10.1997. Bis zur Ratifikation des Obereinkommens durch alle Mitgliedstaaten arbeitet E. als E.-Drogenstelle (EDS) in Den Haag. Die EDS ist mit Verbindungsbeamten der EU-Mitgliedstaaten besetzt, die auf der Grundlage ihrer nationalen Gesetze und Regelungen die Informationsersuchen entgegennehmen und bearbeiten. Auf dieser Basis werden seit Anfang 1994 Auskunftsersuchen nationaler Behörden ausgetauscht und beantwortet sowie Lagebilder erstellt und Kriminalitätsanalysen vorgenommen. Über die Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität und der damit verbundenen Geldwäsche hinaus wurde die Zuständigkeit der EDS zwischenzeitlich auch auf die Bekämpfung der Nuklearkriminalität, der Kraftfahrzeugverschiebung sowie der illegalen organisierten Einwanderung ausgedehnt. Lit.: Europol in: R. Rupprecht (Hg.), Polizeilexikon, Heidelberg 1995, S. 172ff; J. Storbeck: Europol, in: Kriminalistik 1996, S. 17ff.;
Evangelische Frauenarbeit in Deutschland e.V. Ulrich Rommelfanger Evangelische Frauenarbeit in Deutschland e.V. Die EFD ist der 1918 gegründete Dachverband von derzeit 46 selbständig arbeitenden ev. Frauenverbänden und -gruppen mit Sitz in Frankfurt/M.; sie versteht sich als Teil der Kirche, der Frauenbewegung und der weltweiten ökumenischen Gemeinschaft von Frauen. Die EFD vernetzt die Arbeit der Mitgliedsorganisationen und vertritt gemeinsame Positionen in der —> EKD, dem ->· Deutschen Frauenrat und anderen kirchl. und polit. Institutionen in Hinblick auf feministisch-theologische Inhalte und frauenrelevante Fragen. Zudem führt sie entwicklungspolit., ökumenische und interkulturelle Bildungsarbeit durch, verfaßt Stellungnahmen zu Gesetzen und deren Änderungen, leistet mithin Lobbyarbeit (-» Lobbyismus). Über die Arbeit der EFD und frauenrelevante Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft informieren die vierteljährlich erscheinenden „mitteilungen". HgEvangelische Kirche in Deutschland (EKD) —» Kirche —> Staatskirchenrecht EVG-Vertrag Auf Grundlage des Vorschlages des frz. Premierministers Pleven (Pleven-Plan, 1950) sollte eine gemeinsame westeuropäische Armee mit einem europ. Verteidigungsminister an der Spitze geschaffen werden (Europ. Verteidigungs-Gemeinschaft), und in die Europ. Politische Gemeinschaft (EPG) eingebunden sein. Im Rahmen dieser bundesstaatsähnlichen Konstruktion (parlament. Regierungsweise und —> Zweikammersystem) war mit der EVG eine weitgehende Integration der nationalen Verteidigungspolitiken und Armeen vorgesehen, welche die Souveränität der Mitgliedstaaten in erheblichem Umfang einschränken und maßgebliche Kompetenzen auf die supranationale Ebene übertragen sollte. Insbes. war beabsichtigt, die als unvermeidlich
Exilregierung
angesehene Wiederaufrüstung der - » Bundesrepublik Deutschland in vollem Umfang europ. Kontrolle zu unterstellen. Trotz der brit. Weigerung, der EPG beizutreten, und damit des Scheiterns einer übergreifenden supranationalen europ. Einigung wurde der EVG-V. am 27.5.1952 unterzeichnet, scheiterte jedoch am 30.8. 1954 durch das - » Veto der frz. —> Nationalversammlung. In Folge des Scheiterns der EVG wurde 1954 die Westeuropäische Union gegründet. Lit.: Militärgeschichtl. Forschungsamt (Hg.): Anfange westdeutscher Sicherheitspolitik 19451956, Bd. 2, München 1990.
B. H.-G. /C. L. EWG = Europäische Wirtschaftsgemeinschaft —> Europäische Union Exekutive -> Vollziehende Gewalt —> s.a. Regierung -> s.a. Verwaltung Exil (lat. zu exul, exsul d.h. in der Fremde weilend, verbannt), Bezeichnung für den meist aus polit. Gründen bedingten Aufenthalt im Ausland nach —> Ausbürgerung, Emigration, Flucht, Verbannung. Zu einer internationalen Erscheinung von wachsender Bedeutung wurde das E. besonders im 19./20.Jhd. aufgrund polit.-sozialer Umbrüche und militärischer Auseinandersetzungen (s.a. - » Nationalsozialismus). Lit.: T. Koebner (Hg.): Polit. Aspekte des Exils, München 1990.
K.H. Exilregierung Regierung, die sich auf Grund besonderer Umstände (z.B. völkerrechtswidrige Okkupation des Landes) auf dem Territorium eines anderen -> Staates befindet und von dort aus die Interessen des eigenen Staates vertritt. Sie kann demgemäß etwa die Personalhoheit über ihre ebenfalls im Ausland befindlichen Staatsangehörigen ausüben (z.B. Pässe ausstellen). Die E. bedarf für ihre Tätigkeit der Einwilligung des Gaststaates. Die E. verliert ihre Grundlage, wenn sich das 315
Exterritorialität
Extremismus
Volk in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts einen neuen Staat bzw. eine neue Regierung schafft. K.H. Exterritorialität bezeichnet im zwischenstaatl. Verhältnis die Rechtstellung bestimmter ausländischer Personen, v.a. der —> Diplomaten, als rechtl. außerhalb des Staatsgebietes befindlich und damit der Staatsgewalt (Gerichtsbarkeit) des Aufenthaltslandes weitgehend entzogen (s.a. —• Diplomatisches Korps). Hg.
Extremismus, politischer 1. Phänomen Zum Spektrum des polit. E. gehören polit. Bewegungen und Personen, deren Ideologie und / oder Aktionen sich gegen den demokrat. —> Verfassungsstaat und dessen substantielle Werte und Verfahrensregeln richten. Das Bundesverfassungsgericht definierte in seinen Verbotsurteilen gegen die rechtsextremistische Sozialistische Reichspartei (1952) und die linksextremistischen KPD (1956) den Kembestand einer demokrat.-konstitutionellen Grundordnung folgendermaßen: „Achtung vor den im —> Grundgesetz konkretisierten -> Menschenrechten, v.a. vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung; die -> Volkssouveränität; die —> Verantwortung der —> Regierung gegenüber der Volksvertretung; die Gesetzmäßigkeit der —> Verwaltung; die Unabhängigkeit der —» Gerichte; das Mehrparteienprinzip; die Chancengleichheit für alle polit. —> Parteien und das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausbildung einer ~> Opposition". Gelangen Extremisten an die Macht, beseitigen sie den demokrat. Verfassungsstaat und errichten eine autoritäre oder totalitäre Diktatur (-> Totalitarismus). Der E.begriff läßt sich enger oder weiter fassen. Ein Verständnis, demzufolge jede Bewegung oder Person bereits als extremistisch gilt, die eine antidemokrat. und / oder antikonstitutionelle Weltanschauung vertritt, ist umfassender als eine Interpre-
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tation, die dieses Etikett nur vergibt, wenn polit, motivierte Gewalt ins Spiel kommt. In der BRD zog man aus dem Aufstieg der NSDAP (—> Nationalsozialismus) die Lehre, daß nicht nur Mittel, sondern auch Ziele eine demokrat. Verfassung aus den Angeln heben können. Die Schöpfer des GG versuchten dem entgegenzuwirken und etablierten einen präventiven Schutz des demokrat. Verfassungsstaates, der die Möglichkeit eröffnet, extremistische Vereinigungen und Parteien auch dann zu verbieten, wenn sie keine Strafgesetze übertreten (—> streitbare Demokratie). Die Unterscheidung zwischen extremistischen Mitteln (Anwendung polit. Gewalt) und extremistischen Zielen darf allerdings nicht verwischt werden. Beispielsweise vertritt die DVU eine rechtsextremistische Ideologie, wendet aber keine Gewalt an und propagiert diese auch nicht. Der überwiegende Teil der fremdenfeindlichen Straftaten in den letzten Jahren geht wiederum auf das Konto von Tätern, die über kein geschlossen rechtsextremistisches Weltbild verfugen. Geht man ausschließlich von den Zielen aus, zählt die DVU zum Rechtsextremismus, geht man einzig von den Mitteln aus, dagegen nur die diffus polit, motivierten Gewalttäter. Sinnvoll ist es, beide Erscheinungsformen als Varianten des E. zu betrachten. Die jeweilige Gefährdung des demokrat. Verfassungsstaates durch eine extremistische Gruppierung läßt sich anhand der Radikalität der Ideologie, der Größe der Anhängerschaft, des Organisationsgrades und der Form der Aktionen gegen die demokrat. Konstitution bestimmen. Beim Blick auf polit. Gewalttäter in Dtld. gilt es zu beachten, daß diese aufgrund mangelnden Rückhalts in der Bevölkerung kaum eine Gefahr für den demokrat. Verfassungsstaat darstellen, allerdings bedrohen sie das Leben der von ihnen als feindlich eingestuften Staatseinwohner, seien es Ausländer (durch Rechtsextremisten) oder sog. Kapitalisten (durch Linksextremisten). Die Gefahrdung durch die
Extremismus polit. Zielsetzung tritt hier klar hinter jene durch den Einsatz von Gewalt zurück. Die systematische Anwendung polit. Gewalt nennt man Terrorismus. Die Vorstellungen vom Terrorismus sind in Dtld. geprägt von den Attentaten linksextremistischer Gruppen, v.a. der RAF. Es ist umstritten, ob auch die fremdenfeindlichen Gewalttaten unter diese Bezeichnung fallen, da die Täter nur selten extremistischen Organisationen angehören und meist kein geschlossen rechtsextremistisches Weltbild aufweisen. Der größere Teil des extremistischen Spektrums wendet aus prinzipiellen oder taktischen Gründen keine Gewalt an. Sie versuchen legal, v.a. durch Beteiligung an Wahlen, polit. Einfluß zu erlangen. Grds. läßt sich zwischen Rechts- und Linksextremismus unterscheiden. Als linksextremistisch) bezeichnet man jene Gruppierungen und Personen, die den „Kapitalismus" (Kommunisten) oder jede Form der Herrschaft (Anarchisten, Autonome) ablehnen. Die einen wollen - zumindest theoretisch - alle Macht für die Arbeiterklasse, die anderen „keine Macht für Niemand". Allen Linksextremisten gemeinsam ist das Streben nach einer sozial homogenen —> Gemeinschaft. Polit. Gewalttaten aus diesem Spektrum richten sich in erster Linie gegen Angehörige der wirtschaftl. und polit. —> Elite des bürgert. Staates. Im Vordergrund steht der Gegensatz zum - » Konstitutionalismus. Als rechtsextremistisch) bezeichnet man jene Gruppierungen und Personen, welche aus rassistischen (Nationalsozialisten, Neonationalsozialisten) oder kulturellen (Nationalisten, Neue Rechte) Gründen bestimmen Teilen der Bevölkerung, v.a. Ausländem und Staatsbürgern ausländischer Abstammung, keine oder nur partielle Rechte zubilligen und / oder diese aus dem Land treiben wollen. Die einen stellen die „Volksgemeinschaft" in den Mittelpunkt ihrer Gedankenwelt, die anderen die —> Nation. Allen Rechtsextremisten gemeinsam ist das Streben nach einer ethnisch homogenen Gemeinschaft. Polit.
Extremismus Gewalttaten aus diesem Spektrum richten sich in erster Linie gegen Angehörige ethnischer Minderheiten. Im Vordergrund steht der Gegensatz zur —> Demokratie. Der immer wieder vorgebrachte Einwand, die E.forschung setze Links- und Rechtsextremismus gleich, wirkt ignorant, da schon in den Zusätzen „links" und „rechts" die entgegengesetzte ideologische Ausrichtung der Phänomene angezeigt wird. Die weltanschauliche Feindschaft schließt strukturelle Ähnlichkeiten der Auffassungen und Handlungen allerdings nicht aus. Extremisten wähnen sich im Besitz der absoluten Wahrheit, die Welt wird von ihnen in gut und böse aufgeteilt. Alle Extremisten glauben an die Möglichkeit einer homogenen Gemeinschaft, in der eine völlige Interessenidentität zwischen Regierenden und Regierten besteht. Der Anarchismus bildet keine Ausnahme, da in diesem Falle Regierende und Regierte theoretisch sogar personell identisch sind. Selbst wenn nur eine verschwindend geringe Minderheit der Bevölkerung ihre Auflassungen teilt, rücken extremistische Strömungen nicht von dem hybriden Denken ab, sie würden die wahren Interessen des Volkes vertreten. Je kleiner die Gruppe ist, desto stärker neigt sie gewöhnlich zu Dogmatismus und Verschwörungstheorien, die erklären sollen, wie es die „bösen" Mächte schaffen zu verhindern, daß das „Gute" die Herrschaft erlangt. 2. Begriffsgeschichte Die Geschichte des polit. E. ist kurz. Es ist kaum sinnvoll, den Terminus auf geistige Strömungen anzuwenden, die zwar nicht demokrat. und nicht konstitutionell orientiert waren, allerdings weder antikonstitutionell noch antidemokratisch, da dies die Existenz des demokrat. Verfassungsstaates voraussetzt, der erst im Gefolge der Aufklärung und der Revolutionen im 18. Jhd. entstand. Auch der Begriff des polit. E. ist noch sehr jung, eine lange Tradition hat dagegen das lat. Wort „extremus" (äußerst) und die Unterscheidung zwischen „gemäßigt" und „extrem", die auch auf polit. 317
Extremismus Mittel und Ziele angewandt wurde. Ein Extremist wäre somit, rein begriffsgeschichtl. verstanden, ein Mensch, der sich nicht mäßigt, die Regeln der Gemeinschaft verletzt und damit über ihre äußersten Grenzen hinausgeht. Ein derartiges Verständnis des Terminus ist allerdings nicht auf den polit. Raum begrenzt und werterelativistisch, da über den Inhalt der Normen nichts ausgesagt wird. Ein Demokrat der Widerstand (—> Widerstandsrecht) in einer Diktatur leistet, wäre auf dieser Grundlage als Extremist zu bezeichnen. Im 19. Jhd. koppelte man in Frankreich die Differenzierung zwischen „gemäßigt" und „extrem" mit der grundlegenden Unterteilung des polit. Raums in links und rechts, die sich im Gefolge der Frz. Revolution eingebürgert hatte, und sprach von extrême droite und extrême gauche für die radikalsten Vertreter der Rechten und Linken. Auch in Großbritannien und den USA nutzte man bereits im 19. Jhd. den E.begriff. Der Ausdruck etablierte sich bezeichnenderweise zuerst in jenen Staaten, die schon sehr weit auf dem Weg hin zum demokrat. Verfassungsstaat fortgeschritten waren. In Dtld. verwandte man ihn dagegen erst in der Endphase der -> Weimarer Republik. Dt. Emigranten wie T.W. Adorno, H. Arendt und K. Loewenstein trugen zu der wissenschaftl. Etablierung des E.begriffes bei. Wesentliche Anstöße für die E.forschung brachten ab Ende der 50er Jahre die Studien des amerik. Sozialwissenschaftlers S.M. Lipset. In der weiteren E.forschung dominieren einerseits Studien zu einzelnen Parteien, Vereinen und Gruppen, andererseits Erklärungsversuche für extremistisches Verhalten. Der Rechtsextremismus findet gegenwärtig mehr Aufmerksamkeit als der Linksextremismus. Vergleichende Untersuchungen zwischen links- und rechtsextremistischen Phänomenen waren bis vor wenigen Jahren die Ausnahme. Durch die Untersuchungen von U. Backes und E. Jesse sowie durch die Etablierung ihres Jahrbuches für E. & Demokratie tritt die
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Extremismus vergleichende E.forschung, die von der Totalitarismusforschung inspiriert ist, langsam aus dem Schattendasein heraus. Der E.begriff und damit auch die E.forschung sind jedoch noch immer heftig umstritten. Der wesentliche Grund ist, daß der Terminus seinen Gegenstand beschreibt und zugleich negativ bewertet. Das ftlhrt dazu, daß sich niemand selbst als Extremisten bezeichnet. Der Ausdruck des polit. E. erscheint seinen Gegnern daher als reiner „Kampfbegriff", der von den jeweiligen Inhabern der Deutungsmacht willkürlich vergeben wird. Er ist in der Tat polit, instrumentalisierbar, die Kritiker übersehen jedoch die klare Definition des polit. E. als Gegnerschaft zum demokrat. Verfassungsstaat und die von der Forschung herausgearbeiteten strukturellen Gemeinsamkeiten rechts- und linksextremistischer Strömungen. Wenig überzeugend sind auch jene Forscher, die vom Rechtsextremismus sprechen, ohne vom Linksextremismus reden zu wollen. Der Ausdruck „Rechtsextremismus" setzt die Existenz extremistischer Erscheinungen auch am anderen Pol des polit. Spektrums voraus. Eine sinnvolle Alternative zum Terminus des polit. E. ist zudem nicht in Sicht. Der Radikalismusbegriff, der noch häufig synonym zu dem des polit. E. verwandt wird, ist für den wissenschaftl. Sprachgebrauch nicht geeignet, da er v.a. in den romanischen Ländern eng mit den liberalen Bewegungen des 18. und 19. Jhd.s verknüpft ist, die den Weg für den demokrat. Verfassungsstaat ebneten. Lit: U. Backes: Polit. Extremismus in demokrat. Verfassungsstaaten, Opladen 1989; ders. / E. Jesse: Polit. Extremismus in der BRD, Bonn "1996; dies. (Hg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bde. 1-9, Bonn 1989-1994, BadenBaden 1995-1997; J. Canu: Der Schutz der Demokratie in Dtld. und Frankreich, Opladen 1997; J. W. Falter / H.-G. Jaschke / J. R. Winkler (Hg): Rechtsextremismus, Opladen 1996; S. M. Lipset / E. Raab: The Politics of Unreason, Chicago 21978; P. Moreau / J. Lang: Linksextremismus, Bonn 1996.
Fachaufsicht
Familie Steffen Kailitz
Fachaufsicht im Verwaltungsrecht ist im Unterschied zur -> Rechtsaufsicht nicht auf die Kontrolle der rechtmäßigen Aufgabenwahrnehmung durch nachgeordnete —• Behörden beschränkt. Vielmehr umfaßt dieses Aufsichtsrecht über die Rechtsaufsicht hinausgehend auch eine Aufsicht über die zweckmäßige Wahrnehmung der Aufgaben. Die Mittel der F. sind in den einschlägigen Landesorganisationsgesetzen (z.B. § 13 Abs. 3 LOG SL) abschließend geregelt: Dem Unterrichtungsrecht der F.sbehörde steht die Berichtspflicht der nachgeordneten Behörde gegenüber. Das Weisungsrecht folgt i.d.R. durch Erlaß. Dabei sollte vor einer Weisung der Behörde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Die Ermächtigung der F.sbehörde, die Befugnisse der ihrer F. unterstehenden Behörden selbst auszuüben, ist nur bei Gefahr im Verzuge oder bei besonderer gesetzlicher Ermächtigung zulässig. Die F.sbehörde hat im Hinblick auf die Ausübimg der F. namentlich die Wahrung der Entschlußkraft und Verantwortungsfreudigkeit des Beaufsichtigten auf der einen und den Schutz vor rechtswidrigen oder übereilten Maßnahmen auf der anderen Seite abzuwägen. Strittig ist die Zulässigkeit von Klagen gegen Maßnahmen der F.; nach Auffassung der Rechtsprechung sind derartige Klagen i.d.R. unzulässig, da mangels Außenwirkung der Maßnahme kein anfechtbarer —> Verwaltungsakt vorliege. Möglich erscheint allerdings ungeachtet des Fehlens der Verwaltungsaktsqualität eine allgemeine Leistungsklage. Lit.: H. Hofstetten Fachaufsicht - Begriff, Mittel und Grenzen, in: VR 1980, S. 65f. J. U. Fachausschuß -> Ausschuß Fachministerkonferenz —> Bundesrat
Familie Die F. (lat. Familia = Dienerschaft, Gesinde, Hausgenossenschaft) ist in ihrer allgemeinen Wortbedeutimg die (Lebens-)Gemeinschaft der Eltern (-> Ehe) und ihrer Kinder (Kernfamilie), i.w.S. einschließl. der Verwandtschaft (Großfamilie). Weltweit hat sich der Typus der Kernfamilie - aus dem weiteren Familien-, Verwandtschafts- oder Stammesverband herausgelöst - mehr und mehr durchgesetzt. In westlichen Gesellschaften haben sich in jüngerer Vergangenheit, insbes. seit dem Ende des Π. Weltkriegs, grundlegende Veränderungen ergeben. Die Situation ist geprägt durch Singularisierungs- und Individualisierungstendenzen. Das Heiratsalter hat deutlich zugenommen. Ebenso nahmen die nichtehelichen Lebensgemeinschaften, die alleinerziehenden Mütter und Väter und die Scheidungen zu. Deutlich rückläufig sind die Heiratshäufigkeit sowie die Zahl der Kinder. 1996 lebten 56% der Bevölkerung in F.n. Die Durchschnittsfamilie hatte 1,65 Kinder. In 21% der F.n gab es nur einen Elternteil. Die Idee der F. ist in Dtld. in starkem Maße von der antiken Philosophie und der christl. Tradition geprägt. Die Idee der F. als Keimzelle des —> Staates findet sich bei Aristoteles („die F. ist ursprünglicher und unentbehrlicher als der Staat"). In der Zeit der Reformation wurde das Familienleben zum Ausgangspunkt christl. Lebens. Nach Art. 6 Abs.l des -> Grundgesetzes stehen Ehe und F. unter dem besonderen Schutz der staatl. Ordnung. F. i.S. von Art. 6 Abs. 1 GG ist die Gemeinschaft von Eltern mit ihren Kindern. Gemeint sind die eheliche F. wie auch das Verhältnis des nichtehelichen Kindes zu seiner Mutter und zu seinem Vater. Eine F. bilden auch Adoptivkinder mit ihren Adoptiveltern und Stiefkinder mit den Stiefeltern. Keine F. i.S. von Art. 6 Abs. 1 GG sind dagegen Wohngemeinschaften, die sich als „Großfamilie" bezeichnen, ebensowenig der gesamte Verwandtschaftsverband, die Großfamilie im alten
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Familie Sinne. Art. 6 Abs. 1 GG ist zunächst als Grundrecht in seiner klassischen Funktion als Abwehrrecht gegenüber staatl. Gewalt zu verstehen. Demgemäß ist die F. als ein geschlossener, eigenständiger Lebensbereich aufzufassen. Der Staat ist verpflichtet, diese Einheit und Selbstverantwortlichkeit zu respektieren und zu fördern. Im übrigen enthält Art. 6 Abs. 1 GG für Ehe und F. eine Institutsgarantie. Art. 6 Abs. 1 trifft schließlich eine verbindliche Wertentscheidung fìlr den gesamten Bereich des privaten und —> öffentlichen Rechts (Element der objektiven Werteordnung). Darüber hinaus enthält das GG andere die F. ordnende Bestimmungen: Auch fìlr den Bereich der F. sind Männer und Frauen gleichberechtigt (Art. 3 Abs. 2, Abs. 3 GG). Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvorderst ihnen obliegende Pflicht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG). Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur aufgrund eines Gesetzes von der F. getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen (Art. 6 Abs. 3 GG). Ferner hat jede Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der - » Gemeinschaft (Art. 6 Abs. 4 GG). Schließlich sind den unehelichen Kindern durch die - » Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für die leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der —> Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern (Art. 6 Abs. 5 GG). Auf einfachgesetzlicher Ebene regelt insbes. das 4. Buch des —• BGB das Recht der F.; hierher gehören das Recht der bürgerl. Ehe (§§ 1297-1588 insbes. mit Ehe und Ehescheidung), das Verwandtschaftsrecht (§§ 1589-1772 insbes. mit der elterlichen Sorge) sowie das Vormundschaftsrecht (§§ 1773-1921). Dem Schutz und der Förderung, besonders auch zum Ausgleich ihrer wirtschaftl. Belastungen durch Kinder, widmet sich die F.npolitik. Schwerpunkt der gegenwärti320
Familienrecht gen F.npolitik ist die Weiterentwicklung des F.nlastenausgleiches mit dem Ziel der Freistellung des Existenzminimums durch einen entsprechend hohen Kinderfreibetrag und eine sozial gerechte Gestaltung des —> Kindergeldes. Darüber hinaus soll die Vereinbarkeit von F. und Erwerbstätigkeit durch eine familienfreundlichere Gestaltung der Arbeitswelt und die Schaffung von Kindergärten und Kindertagesstätten sichergestellt werden. Wichtig ist auch die Weiterentwicklung einer familienfreundlichen Wohnungs- und Wohnungsbauförderung. Bedeutung kommen auch den F.nbeauftragten, F.npässen und kommunalen F.nzentren zu. Lit.: H. Lampert: Priorität für die Familie, Berlin 1996.
Karl-Reinhard Titzck Familienpolitik -> Familie Familiengericht / -e keit
Zivilgerichtsbar-
Familienrecht ist ursprünglich die Bezeichnung für das 4. Buch des -> Bürgerlichen Gesetzbuchs (§§ 1297-1921 BGB), das sich mit den Regeln über die - » Ehe und das Verhältnis der Eheleute zueinander - einschließl. Scheidung, Zugewinnausgleich, Unterhalt, Versorgungsausgleich, Güterstand -, die Verwandschaft, insbes. die Rechtsbeziehungen der Eltern zu den Kindem und dem Recht der Vormundschaft - einschließl. Betreuung und Pflegeschaft - befaßt. Heute ist F. die Sammelbezeichnung für alle Rechtsvorschriften, die sich mit der Ehe (Ehe-, Scheidungs-, Unterhaltsrecht), ehelichen und nichtehelichen Kindem (Kindschafts-, Unterhaltsrecht) sowie dem Verhältnis der —> Familie, der Eheleute und der Kinder zum -> Staat befassen. Dazu zählen neben dem 4. Buch des BGB etwa das Adoptions-, Auslandsunterhalts-, Bundeserziehungsgesetz sowie das Bundeskindergeld- und Ehegesetz, die Hausratsverordnung, Familiennamenrechts-, Kindeijugendhilfe-, Mutterschutz-, Personen-
Fernsehen
FAO standsgesetze, die Regelunterhaltsverordnung, das Unterhaltsvorschußgesetz, schließlich das Übereinkommen über das Recht des Kindes. Für Streitigkeiten im Zusammenhang mit Angelegenheiten des F.s sind i.d.R. die Familiengerichte (—> Zivilgerichtsbarkeit) zuständig. Lit.: G. Beitzke: Familienrecht, München "1995; J. Gernhuber: Lehrbuch des Familienrechts, München "1994.
K.-M. W. FAO = Food and Agriculture Organization der —> Vereinten Nationen Faschismus, deutscher —• Nationalsozialismus FDP -> Freie Demokratische Partei Federalist Papers Die F.P. sind eine Sammlung von 85 Aufsätzen. Verfaßt von Alexander Hamilton (1755-1836), James Madison (1751-1836) und John Jay (1745-1829) wurden sie zwischen Oktober 1787 und August 1788 unter dem Pseudonym "Publius" zunächst in New Yorker Zeitschriften veröffentlicht und ein Jahr später in Buchform herausgegeben. Adressiert an die Bevölkerung von New York versuchten die F.P. die Annahme der von der Federal Convention in Philadelphia entworfenen —> Verfassung der USA durch den Bundesstaat New York zu erreichen, dessen Mitgliedschaft aufgrund der zentralen Lage und des regen Handels als wesentlich für den Erfolg der Föderation erachtet wurde. Ihr besonderer Wert liegt in der autorativen und systematischen Diskussion und Verteidigung der in der Verfassung enthaltenen Prinzipien des US-amerik. föderalen Regierungssystems (—» präsidentielles Regierungssystem). Entgegen ihren Kritikern (Anti-Federalists) betonten die Autoren die Ökonom, und militärischen Vorteile einer starken Zentralregierung. Eine funktionale Machtteilung zwischen Zentralregierung und Bundesstaaten schafft eine wirksame polit. Ordnung, welche die
Vereinigten Staaten nach außen repräsentiert und gleichzeitig den angegliederten Einzelstaaten ausreichend Autonomie in der Entscheidungsfindung über lokale Angelegenheiten gewährt. In dem bedeutenden 10. Art. erläuterte J. Madison, daß Stabilität, -> Freiheit und —> Gerechtigkeit nur in großen Gebieten mit einer heterogenen Bevölkerung erreichbar sind ( - » Pluralismus). Die Autoren argumentierten, daß aufgrund des eingebauten Systems der -> Gewaltenteilung (checks and balances), der wechselseitigen Kontrolle der einzelnen Ebenen und -> Institutionen der -> Regierung, eine Konzentration der Macht in einer Nationalregierung nicht in Tyrannei und Despotismus endet. Vielfach gedruckt und zitiert im ganzen Land unterstützten die F.P. das Verständis über die Notwendigkeit der Ratifikation der Verfassung auch in anderen Bundesstaaten. Lit.: Α. Hamilton / J. Madison / J. Jay: Die Federalist-Artikel, hg. ν. A Adams / W.P. Adams, Paderborn 1994; A. Hamilton / J. Madison / J. Jay: Die Federalist Papers, hg. ν. Β. Zehnpfennig, Darmstadt 1993; J.T. Main: The Anti-Federalists: Critics of the Constitution, 1781-1788, New York 1974.
Sabrina Manthey Fernsehen / öffentlich-rechtliche Anstalten 1. Struktur und Programme Für die Veranstaltung von F. sind in der —> Bundesrepublik Deutschland durch rundfunkgesetzliche und staatsvertragliche Regelungen der —> Länder —> Anstalten des öffentlichen Rechts errichtet worden. Derzeit bestehen als solche Anstalten das Zweite Dt. Fernsehen (ZDF) als Anstalt aller Länder auf der Grundlage des ZDFStaatsvertrages sowie der Bay. Rundfunk (BR), der Hess. Rundfunk (HR), der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB), Radio Bremen (RB), der Saarländische Rundfunk (SR), der Sender Freies Berlin (SFB) und der Westdeutsche Rundfunk (WDR) als Anstalten, die jeweils für den Bereich eines Landes gegründet worden sind. Ferner bestehen der Mittel321
Fernsehen deutsche Rundfunk (MDR) und der Norddeutsche Rundfunk (NDR) als Mehrländeranstalten auf der Grundlage besonderer -> Staatsverträge von —> Sachsen, -> Sachsen-Anhalt und —> Thüringen bzw. von —> Hamburg, -> Niedersachsen, -> Mecklenburg-Vorpommern und -» Schleswig-Holstein. Eine aus der Besatzungszeit herrührende Sondersituation bestand im Südwesten Dtld.s: Hier war der Süddeutsche Rundfunk (SDR) für den südlichen Teil von -> Baden-Württemberg, der Südwestfunk (SWF) für den nördlichen Teil von BW und -> Rheinland-Pfalz zuständig. Beide Länder haben diese Sondersituation durch die Errichtung einer neuen Mehrländeranstalt - des Südwestrundfunks (SWR) - beseitigt. Die genannten Landesrundfunkanstalten kommen durch die Ausstrahlung des ARDGemeinschaftsprogramms der Verpflichtung aus § 1 ARD-Staatsvertrag nach. Sie strahlen femer - z.T. in Kooperation - die dritten Fernsehprogramme aus. Ferner sind die Landesrundfunkanstalten der ARD und das ZDF gem. § 19 Abs. 1 Rundfunkstaatsvertrag (RStV) berechtigt, über Satellit ein Fernsehgemeinschaftsprogramm für den deutschsprachigen Raum mit kulturellem Schwerpunkt auszustrahlen. Hiervon machen sie durch die Ausstrahlung von „3sat" Gebrauch. Durch den 3. Rundfunkänderungsstaats vertrag wurden die genannten Anstalten zudem ermächtigt, über Satellit gemeinsam 2 Spartenprogramme als Zusatzangebot auszustrahlen. Von dieser Ermächtigung haben ARD und ZDF durch den Start ihres „Kinderkanals" zum 1.1.1997 sowie den zum 1.4.1997 erfolgten Start des Dokumentationsund Ereigniskanals „Phoenix" Gebrauch gemacht. Ferner sind die ARD-Anstalten und das ZDF an dem Europ. Femsehkulturkanal ARTE beteiligt. Neben den von den Ländern getragenen Anstalten, die F. ausstrahlen, existiert seit 1960 die Dt. Welle als Bundesrundfunkanstalt, die seit 1992 auch mit Auslandsfemsehen via Satellit auf Sendung ist.
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Fernsehen Alle Länder haben bei der medienpolit. Klausurtagung der -> Ministerpräsidenten von Bad Neuenahr vom 13./14.10.1995, die den Grundstein für den 3. Rundfimkänderungsstaatsvertrag legte, in Aussicht genommen, eine Novellierung des ARDStaatsvertrages hinsichtlich Art und Umfang der Beteiligung der einzelnen Rundfunkanstalten bis spätestens Mitte 1999 vorzunehmen. Eine auf einzelne Anstalten bezogene Veränderung der ARD-Struktur wird von den jeweils betroffenen Ländern nach dem Ergebnis von Bad Neuenahr mit dem Ziel geprüft, innerhalb der Gebührenperiode bis zum 31.12.2000 konkrete Lösungen anzustreben, die eine zügige Umsetzung ermöglichen. Die -> Ministerpräsidentenkonferenz befaßt sich bis spätestens Mitte 1999 mit den diesbezüglich bis dahin erreichten Ergebnissen. 2. Organisation Die Organisation der ARD-Anstalten und des ZDF ist in wesentlichen Grundzügen parallel ausgestaltet. An ihrer Spitze steht jeweils als Leiter und gesetzlicher Vertreter der Anstalt der Intendant (Ausnahme: Direktorium bei RB). Er ist bei der Erfüllung seiner Aufgaben an die Beschlüsse des Rundfunkrates und des Verwaltungsrates gebunden. Dem Rundfunkrat (ZDF: Fernsehrat) kommen grundlegende Wahl-, Beschluß- und Aufsichtsaufgaben zu: so wählt er den Intendanten, beschließt den Haushaltsplan der Anstalt und beaufsichtigt den Intendanten insbes. in programmlichen Fragestellungen. Hauptfunktion des Rundfunkrates ist die Repräsentation der Allgemeinheit im Anstaltsbereich. Dem trägt die Zusammensetzung des jeweiligen Rundfunkrates aus Vertretern gesellschaftl. relevanter Gruppen Rechnung. Über diese Form der Zusammensetzung soll zugleich mittels eines binnenpluralen Modells die Meinungsvielfalt im Programm der Anstalten gesichert werden. Der Verwaltungsrat wirkt namentlich bei der Erstellung des Haushaltsplanes und der Feststellung der Jahresrechnung mit und überwacht die Geschäftsführung, wobei der Intendant zum Abschluß be-
Fernsehen deutsamer Rechtsgeschäfte (finanzieller oder personeller Natur) der Zustimmung des Verwaltungsrates bedarf. Alle Mitglieder von Rundfunk- bzw. Verwaltungsrat haben ihre Funktionen weisungsunabhängig zu erfüllen. 3. Finanzierung Der Bestand und die Entwicklung des öffentl.-rechtl. -> Rundfunks umfaßt die Erhaltung seiner finanziellen Grundlagen einschließl. des dazugehörigen Finanzausgleichs (Präambel RStV). Die Finanzausstattung hat den öffentl.-rechtl. Rundfunk in die Lage zu versetzen, seine verfassungsmäßigen und gesetzlichen Aufgaben zu erfüllen (§ 10 Abs. 1 RStV). Der Finanzausgleich unter den Landesrundfunkanstalten stellt gem. § 10 Abs. 2 RStV einen Bestandteil des Finanzierungssystems der ARD dar, er stellt insbes. eine funktionsgerechte Aufgabenerfüllung von RB, SR und SFB sicher. Die Regelung über den Finanzausgleich ist nunmehr gesondert zum 31.12.2000 kündbar. Sämtliche SPDgeführten Länder und Beri, haben in einer Protokollerklärung zum 3. Rundfunkänderungsstaatsvertrag ihre verfassungsrechtl. Auffassung betont, daß der Finanzausgleich im öffentl.-rechtl. Rundfunksystem eine wesentliche finanzielle Grundlage der Gewährleistung von Bestand und Entwicklung des öffentl.-rechtl. Rundfunks ist und daß gemäß der Rechtsprechung des —> Bundesverfassungsgerichts aus der Einordnung des Rundfunks als Gesamtveranstaltung sowie dem das Verhältnis der Länder zueinander prägenden bündischen Prinzip ein Anspruch auf einen Finanzausgleich dem Grunde nach besteht. Die CDU/CSU-geführten Länder (außer Beri.) haben demgegenüber in einer Protokollerklärung ihre Auffassung zum Ausdruck gebracht, daß eine Bestands· und Entwicklungsgarantie nach der Rechtsprechung des BVerfG dem öffentl.-rechtl. Rundfunk als solchem zukommt, nicht aber einzelnen öffentl.rechtl. Anstalten. Demzufolge ist auch ein Finanzausgleichssystem nicht notwendigerweise Bestandteil des öffentl.-rechtl.
Fernsehen Rundfunks. Brem, und das Saarl. haben in einer gemeinsamen Protokollerklärung klargestellt, daß eine Beteiligung ihrer Länder an diesem Ergebnis mit der Maßgabe erfolge, daß die Fortdauer des SR bzw. von RB als eigenständige Landesrundfunkanstalten, verbunden mit der Beibehaltung der Einheitsgebühr sowie eines Finanzausgleiches unter sämtlichen ARD-Anstalten, auch für die Zeit nach dem 31.12.2000 gesichert ist. Dabei verschlossen sich die beiden Länder nicht der Prüfung der Strukturen des SR/RB im Hinblick auf eine Verbesserung der bestehenden Strukturen, die verstärkte Nutzung von Synergieeffekten innerhalb der ARD und durch weitere Kooperationen zwischen ARD und ZDF. Die öffentl.-rechtl. Anstalten finanzieren sich im wesentlichen aus Rundfunkgebühren und Werbeeinnahmen (§ 11 Abs. 1 RStV). Vorrangige Finanzierungsquelle ist die Rundfunkgebühr, da Einnahmen aus Werbung mit programm- und vielfaltverengenden Tendenzen verbunden sind. Das Verfahren der Festsetzung der Rundfunkgebühr ist nunmehr in 3 Stufen gegliedert, die jeweils aufeinander aufbauen: nach der Anmeldung des Finanzbedarfs durch die ARD-Anstalten, das ZDF und das Dtld.radio erfolgt eine Überprüfung dieser Anmeldungen durch die unabhängige Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten in Dtld. (KEF). Deren Ermittlungsergebnis bildet die Grundlage für die Festlegung der Rundfunkgebühr durch Staatsvertrag. Die Rundfunkgebühr ist durch den 3. Rundfunkänderungsstaatsvertrag für die Zeit vom 1.1.1997 bis 31.12.2000 im Rundfimkfmanzierungsstaatsvertrag mit 28,25 DM (statt bisher 23,80 DM) festgesetzt worden. Hinsichtlich der Möglichkeit, Werbeeinnahmen zu erzielen, unterliegen die öffentl.-rechtl. Rundfunkanstalten stärkeren Begrenzungen als private Rundfunkveranstalter: nach § 15 Abs. 1, S. 1 RStV beträgt die Gesamtdauer der Werbung im Ersten Fernsehprogramm und im Pro-
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Fernsehen gramm „Zweites Dt. Femsehen" jeweils höchstens 20 Minuten werktäglich im Jahresdurchschnitt. Demgegenüber darf die Dauer der Werbung im privaten Rundfunk insg. 20 V.H., die der Spotwerbung 15 v.H. der täglichen Sendezeit nicht überschreiten (§ 45 Abs. 1 RStV). Werbung an Sonn- und Feiertagen sowie Werbung nach 20.00 Uhr ist im öffentl. Rundfunk nach § 15 Abs. 1, S. 3 RStV im Unterschied zum privaten Rundfunk untersagt. In weiteren bundesweit verbreiteten Fernsehprogrammen von ARD und ZDF (3sat, Kinderkanal, Phoenix) sowie in den Dritten Fernsehprogrammen findet Werbung nicht statt ( § 1 5 Abs. 2 RStV). Auch Teleshopping ist im öffentl.rechtl. Rundfunk - im Unterschied zum privaten Rundfunk (§ 45 Abs. 3 RStV) unzulässig (§ 18 RStV). Im Ergebnis dieser staatsvertraglichen Restriktionen haben die ARD-Anstalten und das ZDF seit der Einführung des privaten F.s in Dtld. zunehmende Einbußen bei den Werbeeinnahmen erlitten. 4. Bedeutung Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind die derzeitigen Defizite des privaten Rundfunks an gegenständlicher Breite und thematischer Vielfalt nur hinnehmbar, soweit und solange der öffentl.'-rechtl. Rundfunk in vollem Umfang funktionstüchtig bleibt. Die Bestands· und Entwicklungsgarantie des öffentl.-rechtl. Rundfunks, die diese Funktionstüchtigkeit namentlich sichert, ist damit beim gegenwärtigen Staad der Entwicklung des dualen Rundfunksystems unverzichtbar für eine Fortexistenz und Weiterentwicklung des Rechts des privaten Rundfunks, die an außenpluralen Modellen der Vielfaltssicherung orientiert sind. Die im öffentl. Interesse liegende gleichmäßige Grundversorgung der Bevölkerung mit F. stellt dabei die zentrale Aufgabe der öffentl.-rechtl. Fernsehanstalten dar: es muß sichergestellt sein, daß die Anstalten für die Gesamtheit der Bevölkerung Programme anbieten und anbieten können, die umfassend und in der vollen Breite des klassischen Rund-
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Filibuster funkauftrags informieren, und daß im Rahmen dieses Programmangebots Meinungsvielfalt in der verfassungsrechtl. gebotenen Weise hergestellt wird. Nur hierdurch können die Anstalten die essentiellen Funktionen des Rundfunks ftlr die demokrat. Ordnung wie für das kulturelle Leben in der BRD erfüllen. Ein Ausschluß der Anstalten von neuen Formen der Erfüllung dieser Aufgaben (mittels Spartenprogrammen und digitalen Programmbouquets) würde der Entwicklungsgarantie der Anstalten fundamental widersprechen. IM.: Staatsvertrag über den Rundfiink im vereinten Dtld. v. 31.8.1991, Abi. des Saarlandes v. 17.12.1991, S. 1290; Dritter Staatsvertrag zur Änderung rundfunkrechtl. Staalsverträge v. 26.8.1996 / 11.9.1996, Abi. des Saarlandes v. 16.12.1996, S. 1378; BVerfG(E) 74, 297 Landesmediengesetz BW; BVerfG(E) 83, 238WDR-Gesetz und Rundfunkgesetz fur NordrheinWestfalen; BVerjG{E) 87, 181 - Werbeverbot in HR 3; BVerfG(E) 90, 60 - Verfahren der Festsetzung der RundfunkgebOhr; H. Bethge: Die verfassungsrechtl. Position des öffentl.-rechtl. Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung, BadenBaden 1996; H. Gersdorf: Staatsfreiheit des Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung der BRD, Berlin 1991; R. Hartstein / W.-D. Ring /J. Kreile u.a.: Komm, zum Rundfunkstaatsvertrag, München 1996; G. Herrmann: Rundfunkrecht, München 1994; A. Hesse: Rundüinkrecht, München 1990.
Jörg Ukrow Filibuster Das F. ist eine besondere Taktik im US —» Senat, mit der Senatoren durch Dauerreden (in Ausnutzung ihrer grds. zeitlich und inhaltlich unbegrenzten Redezeit) oder das Einbringen sinnloser Abänderungsanträge die —> Abstimmung über Mehrheitsanträge verzögern oder verhindern können. Mit der „Cloture" (Abschn. ΧΧΠ der Senats-Geschäftsordnung) kann diese Form der —> Obstruktion, die den Mitgliedern des -> Repräsentantenhauses wegen deren generell begrenzter Redezeit nicht offensteht, zwar überwunden werden: auf Antrag von
Finanzausgleich
Finanzamt mindestens 16 Senatoren kann eine 3/5Mehrheit aller Senatoren (d.h. 60 von 100) das Ende einer -> Debatte bewirken. Allerdings wird hiervon nur selten Gebrauch gemacht: aus Gründen der Senatscourteoisie und -tradition wird i.d.R. die Beschneidung der parlament. Rechte eines Senators vermieden, dem der diskutierte Gesetzgebungsakt so grdl. scheint, daß er äußerste Mittel nicht scheut, um seine Ablehnung auszudrücken. Namentlich am Ende einer Sitzungsperiode des —> Kongresses kann bereits die Drohung mit einem F. zu Zugeständnissen bei der Abfassung eines Gesetzes führen. Lit: J. MacGregor Burns: Government by the People, Prentice Hall 14 1990.
J. U.
Finanzamt —> Finanzverwaltung Finanzausgleich In einem föderativen -> Staat muß jede Ebene bzw. Region hinreichend Mittel zur Verfügung haben, um ihre verfassungsgemäßen Aufgaben auszuführen bzw. die Ausgaben daraus zu decken. Die Einnahmen werden zunächst nach dem Prinzip des örtlichen Aufkommens den einzelnen Ebenen / Regionen zugeordnet. Aufgrund bestehender Unterschiede z.B. in der Wirtschaftskraft erfolgt damit i.d.R. keine sinnvolle Zuordnung der Einnahmen in bezug auf die Aufgabenverteilung und die Ausgaben. Deshalb werden die Unterschiede durch einen Ausgleich der Einnahmen in Form eines FAs zumindest teilw. verringert. Ziel des Ausgleichs ist im Hinblick auf die bundesstaatl. Solidargemeinschaft eine Angleichung der Lebensverhältnisse (Art. 106 Abs. 3 GG). Eine völlige Einebnung soll jedoch nicht erfolgen, da dies den Ebenen die Anreize nehmen würde, eigene Einkommensquellen zu erschließen. Regelungen eines FAs gab es bedingt durch den föderativen Aufbau bereits im Deutschen Reich (1871-1918). Auch die —> Bundesrepublik Deutschland hat 1949 einen FA geschaffen, der durch die Finanzreform von 1955 und die Finanz-
verfassungsreform von 1969 wesentliche Änderungen ferfuhr. Der FA wurde 1993 durch das Gesetz zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms FKPG weiterentwickelt. Anlaß dafür war die Einbindung der neuen -> Länder in den gesamtdt. FA, der ohnehin aufgrund Entscheidungen des BVerfG reformbedürftig war (BVerfGE 72, 330; 86, 148). Die neuen Länder wurden von 1990 bis 1994 nicht in den FA eingebunden, da dies zu einer erheblichen Belastung der alten Länder gefuhrt hätte. Stattdessen wurde der Fonds Dt. Einheit eingerichtet, der die Finanzierung der ostdt. Länder und -> Kommunen sicherte. Der Fonds erreichte ein Volumen von rd. 160,7 Mrd. DM, finanziert durch Zahlungen des Bundes (49,6 Mrd. DM), der alten Länder (16,1 Mrd. DM) sowie aus Krediten. An dem daraus entstehenden Schuldendienst beteiligen sich die alten Länder mit jährlich 2,1 Mrd. DM. Der jeweilge Rest wird vom Bund getragen. Dem FA i.e.S. ist die Steuerertragshoheit vorgeschaltet. Neben spezifischen Länder- (einschließl. Kommunal-) und Bundessteuem nehmen die den Ebenen gemeinsam zufließenden Gemeinschaftsteuem (—> Einkommensteuer, —> Körperschaftssteuer und —• Mehrwertsteuer) mit 75% der Steuereinnahmen eine besondere Stellung ein. Mit der Verteilung der -» Umsatzsteuer (Art. 106 Abs. 3 und 4 GG) erfolgt z.B. eine erste Finanzausgleichswirkung: In 1998 stehen dem Bund 3,64 v.H. (ab 1999: 5,63 v. H.) des Aufkommens als Ausgleich für den zusätzlichen Bundeszuschuß zur gesetzlichen -> Rentenversicherung zu. Vom verbleibenden Aufkommen stehen ab 1998 den —> Gemeinden 2,2 v.H. als Ausgleich für den Wegfall der -> Gewerbekapitalsteuer zu. Der Rest wird auf den Bund (50,5 v.H.) und die Länder (49,5 v.H.) verteilt. Der Länderanteil wird zu mindestens 75% nach Einwohnerzahl und der Rest gemäß Steuerkraft der Länder verteilt (Art. 107 Abs. 1 S. 4 GG), wobei anschließend leichte Korrekturen vorgenommen werden, um steuerschwache
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Finanzausgleich Länder zu unterstützen. Es schließt sich der FA i.e.S. an. Soweit er den Ausgleich zwischen den Ländern untereinander betrifft (Art. 107 Abs. 2 GG), wird er als horizontaler FA bezeichnet, während der vertikale FA die Beziehungen zwischen den Ebenen beschreibt. Der Berechnung des Länderfinanzausgleichs (LFA) liegt die Finanzkraft der Länder, einschließl. Gemeinden, zugrunde. Dabei wird die absolute Höhe der Landes(steuer)einnahmen auf die jeweilige Einwohnerzahl der Länder bezogen. Ausgleichspflicht bzw. -anspruch bemessen sich danach, inwieweit die Finanzkraft eines Landes (Finanzkraftmeßzahl) von der länderdurchschnittlichen Finanzkraft (Ausgleichsmeßzahl) abweicht. Bei der Berechnung der Meßzahlen werden von den Landeseinnahmen insbes. Landessteuern und die Anteile an den Gemeinschaftsteuern bzw. an der Gewerbesteuerumlage voll und wesentliche Teile der Gemeindesteuern hälftig berücksichtigt. Auch werden den Küstenländern als ausgabenwirksame Sondertatbestände ihre Seehäfen anerkannt. Weiterhin werden aufgrund des steigenden Finanzbedarfs bei zunehmender Siedlungsdichte die Einwohnerzahlen der Stadtstaaten -> Hamburg, -» Berlin und -> Bremen mit dem Faktor 1,35 gewichtet. Die finanzschwachen Länder (Finanzkraftmeßzahl kleiner als 100) werden anschließend auf mindestens 95 v.H. der länderdurchschnittlichen Finanzkraft angehoben. Der Ausgleich ergibt sich aus Zahlungen der finanzstarken Länder (Finanzkraftmeßzahl größer als 100) unter Berücksichtigung einer Progression. Zahlungen des Bundes an die Länder in unterschiedlichen Formen von Bundesergänzungszuweisungen (BEZ) runden den FA ab, führen aber auch zu Verzerrungen. Durch Fehlbetrags-BEZ erhalten seit 1995 alle finanzschwachen Länder Bundeszahlungen in Höhe von 90% der nach dem LFA verbleibenden Fehlbeträge zur länderdurchschnittlichen Finanzkraft. Darüber hinaus werden kleineren Ländern 326
Finanzgericht Sonderbedarf-BEZ von rd. 1,5 Mrd. DM für überproportionale Kosten der polit. Führung zugebilligt. Zum Abbau teilungsbedingter Sonderlasten werden seit 1995 bis 2004 jährlich 14 Mrd. DM als Sonderbedarf-BEZ an die neuen Länder gezahlt. Daneben werden den neuen Ländern seit 1995 für 10 Jahre zusätzliche Investitionsmittel von jährlich 6,6 Mrd. DM zur Verfügung gestellt. Finanzschwache alte Länder erhalten im gleichen Zeitraum degressiv angelegte ÜbergangsBEZ, um deren besonderen Belastungen aus der Einbindimg der neuen Länder in den gesamtdt. FA Rechnung zu tragen. Zusätzlich erhalten Brem, und Saarland aufgrund ihrer Haushaltssituation jährliche Sanierungshilfen seit 1994 bis zunächst 1998 BEZ von 1,8 bzw. 1,6 Mrd. DM. Die Länder führen länderspezifische kommunale FA durch, um ihrerseits Finanzkrafhinterschiede einzelner Gemeinden und —» Gemeindeverbände auszugleichen. FAe sind auch in anderen Staaten üblich. So haben Kanada und die USA jeweils einen FA, der aber deshalb nur bedingt mit dem dt. zu vergleichen ist, da die dortigen Regelungen die starke Stellung der dezentralen Einheiten widerspiegeln sowohl in bezug auf die Eigenständigkeit gegenüber der zentralen Ebene als auch bzgl. der Steuererhebungskompetenzen. Auch folgt der FA in den USA nicht im voraus bestimmten festen Regeln, sondern wird einzelfallbezogen abhängig von den polit. Gewichten im —> Kongreß durchgeführt. Lit: BMF (Hg.): Finanzbericht 1996, Bonn 1997; K.-D. Henke / G. F. Schuppert: Rechtl. und finanzwissenschaftl. Probleme der Neuordnung der Finanzbeziehung von Bund und Ländern im vereinten Dtld., Baden-Baden 1993; W. Rentsch: Finanzverfassung und Finanzausgleich, Bonn 1991.
Raimand Weiland Finanzbehörden -> Finanzverwaltung Finanzgericht / -sbarkeit Die F.sbarkeit
Finanzgericht ist als einzige Gerichtsbarkeit in der BRD nur zweistufig aufgebaut: 19 F.e in den —• Bundesländern (als obere Landesgerichte) - i.d.R. ein F. pro Bundesland - sowie der -» Bundesfinanzhof (BFH) in München als Oberster Gerichtshof des Bundes. Die F.e entscheiden im ersten Rechtszug über alle Streitigkeiten auf dem Gebiet der Besitz- und Verkehrsteuern, der —> Zölle und -> Verbrauchsteuern und sonstiger Abgabenangelegenheiten, soweit die —> Abgaben der -» Gesetzgebung des Bundes unterliegen sowie über öifentl.-rechtl. Streitigkeiten in Angelegenheiten des Steuerberatungsgesetzes (z.B. Zulassung von Steuerberatern), soweit es sich um Verwaltungsakte oder Verwaltungshandeln der Finanzbehörden des Bundes und der Länder handelt. Nicht zum Aufgabengebiet der F.e gehören die Entscheidungen über Steuerstrafverfahren; diese werden vor den Gerichten der allgemeinen —> Strafgerichtsbarkeit verhandelt. Bei den F.en werden -> Senate gebildet; sie entscheiden in der Besetzung mit 3 Berufs- und 2 ehrenamtlichen —» Richtern, außerhalb der mündlichen Verhandlung nur mit 3 Berufsrichtern. Der BFH ist Revisions- und Beschwerdeinstanz gegen Entscheidungen des F.s. Durch die Möglichkeit, —> Rechtsbehelfe gegen Akte der Finanzbehörden bei den F.n einlegen zu können, wird dem Auftrag des Grundgesetzes in Art. 19 Abs. 4 Rechnung getragen. Der Steuerpflichtige soll die Möglichkeit haben, das Verwaltungshandeln der —> Finanzverwaltung auf seine -> Rechtmäßigkeit hin überprüfen zu lassen und sich somit ggf. vor einem ungerechtfertigten Heranziehen zu einer Abgabe oder -> Steuer schützen zu können. Rechtsgrundlage für die F.sbarkeit sind Art. 108 Abs. 6 GG und die F.sordnung (FGO). Im benachbarten Ausland, z.B. öst., Schweiz, Frankreich werden die Aufgaben der F.e von den allgemeinen Verwaltungsgerichten erledigt. Lit: F. Gräber: Finanzgerichtsordnung, München 41997.
Finanzkontrolle Kay-Michael Wilke Finanzgerichtsbarkeit —> Finanzgerichte -> Bundesgerichte Finanzhilfen F. im verfassungsrechtl. Sinne sind Zuschüsse oder Darlehen, die der -> Bund zur Förderung von besonders bedeutsamen Investitionen der —> Länder und —> Gemeinden (-> Gemeindeverbände) z.B. in den Bereichen Gemeindeverkehr, sozialer Wohnungsbau oder „Aufbau Ost" gewährt (Art. 104a Abs. 4 GG). Sie zielen auf Wachstums-, konjunktur- oder strukturpolit. Effekte. F. im volkswirtschaftl. Sinne sind Ausgaben des Staates mit dem Charakter von —> Subventionen. J. K. Finanzhoheit -> Kommunale Finanzhoheit Finanzkontrolle soll ermöglichen, finanziell relevante Vorgänge kritisch beurteilen zu können. Sie ist für das staatl. Gemeinwesen unverzichtbar, weil es fremde Mittel sind, die für die Aufgabenerfüllung beschafft und dann verwendet werden. Im übrigen sind diese Mittel im Verhältnis zu den Anforderungen stets knapp bemessen. Deshalb ist es notwendig, daß sie nur sparsam, wirtschaftl. und erfolgsorientiert sowie in voller Obereinstimmung mit den vorgegebenen Regelungen, also ordnungsgemäß, eingesetzt werden. F. hat dies zu beobachten. Über festgestellte Fehler und Mängel ist den zuständigen Verantwortungsträgern zu berichten. Träger der F. sind im Bund und in den -» Bundesländern die Rechnungshöfe. Für den Wirkungsbereich des —> Bundeshaushaltsplans ist es der —> Bundesrechnungshof, für die Haushalte der Länder die —> Landesrechnungshöfe. Soweit der jeweilige Rechnungshof den parlament. Körperschaften berichtet, ist sein Bericht mit den darin enthaltenen Feststellungen Grundlage der Kontrolle des -» Parlamentes über die —> Exekutive. Deshalb ist 327
Finanzkontrolle F. auch Bestandteil der parlament. Kontrolle. Wenn die parlament. Körperschaften unter einen vollzogenen Haushalt den Schlußstrich ziehen, indem sie Entlastung erteilen oder verweigern, vollendet das die F.; für die —> Organe und —> Institutionen des Bundes ist Art. 114 GG die verfassungsrechtl. Grundlage der F.; da der Bund und die Bundesländer auf diesem Gebiet im wesentlichen gleichartige Regelwerke geschaffen haben, können die Grundsätze, die sich aus Art. 114 GG ergeben, als allgemeingültig angesehen werden. Unter diesem Gesichtspunkt sind die folgenden Ausführungen zu sehen. Im —» Grundgesetz ist der Begriff der F. nicht zu finden. Der vom —> Parlamentarischen Rat im Jahr 1949 formulierte Text besagt, daß Ausgangspunkt der Prüfungen des BRH die Haushaltsrechnung und somit die —> Rechnungsprüfung ist. Die rechnungsabhängige Prüfung, die sich dann doch oft von der Rechnung löste und Maßnahmenprüfung wurde, gab oft Anlaß zu der Kritik, dem Bericht des BRH fehle die Aktualität. Diese Kritik war Anlaß, bei der Haushaltsrechtsreform im Jahr 1969 dem BRH zusätzlich zur Rechnungsprüfung einen rechnungsunabhängigen Ausgangspunkt zu geben, nämlich die Prüfung der Haushalts- und Wirtschaftsführung. Damit stehen nicht Rechnungen, sondern Maßnahmen, Verfahrensabläufe, Organisation, Personalwirtschaft sowie vielfaltige Themen von Querschnittsprüfungen im Mittelpunkt der F.; zeitnahe F. erhält so ständig neue Impulse. Durch die zunehmende Aktualität steigt das Interesse der Parlament. Gremien, die Ergebnisse der F. zu nutzen. Gewiß waren auch die Vorgänger des heutigen Bundesrechnungshofes bestrebt und durch Anordnungen verpflichtet, neben der kalkulatorischen Prüfung administrative oder wirtschaftl. Vorgänge im Bereich der Exekutive zu kontrollieren. Das geschah aber stets rechnungsabhängig. Jetzt aber hat der Verfassungsrang der rechnungsunabhängigen Prüfung be-
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Finanzkontrolle sondere Qualität gegeben. Gleiches gilt auch für den Prüfungsmaßstab. Die Monarchen der absoluten Monarchie verlangten seit Anfang des 18. Jhd.s, auf Korrektheit und gute Ordnung im Haushaltswesen zu achten. Es war dann Friedrich Π. (1712-1786), der in seinen Instruktionen die damalige preuß. Oberrechenkammer anwies, die Wirtschaftlichkeit und den wirtschaftl. Erfolg zu prüfen, wobei damals die Ergebnisse der Domänenwirtschaft eine große Rolle spielten. Zu den wesentlichen Ergebnissen der Reform von 1969 gehört, daß alle Bereiche, die vom Haushalt des Staates erfaßt werden, einer Kontrolle unterworfen sind. Das Prüfungsrecht kennt keine Lücken. Auch die Verwendung von Mitteln, die üblicherweise geheim gehalten werden, wird kontrolliert. Allerdings gibt es besondere gesetzliche Regeln für das Prüfungsverfahren. Über die wesentlichen Ergebnisse seiner Prüfungen berichtet der BRH in Sonderberichten oder in einem Jahresbericht dem —> Bundestag, dem -> Bundesrat und der -» Bundesregierung, und zwar in sog. Bemerkungen - eine überlieferte Bezeichnung für die Prüfungsfeststellungen. Manche Beanstandungen erledigen sich im Prüfungsverfahren: Die Verantwortlichen ziehen oft aus eigener Einsicht die gebotenen Konsequenzen. Zu den Bemerkungen im Jahresbericht gehören häufig Vorschläge, welche Maßnahmen für die Zukunft zu empfehlen sind. Wenn Anlaß besteht, wird verlangt, die für Schäden oder Mängel Verantwortlichen festzustellen und gegen sie rechtl. Schritte einzuleiten. Zur Vorbereitung formeller Beschlüsse gibt es im Bundestag den —> Rechnungsprüfungsausschuß, einen Unterausschuß des —> Haushaltsausschusses. Seine kritische Beratung, an der er die zuständigen —> Minister oder -» Staatssekretäre und die Vertreter des BRH beteiligt, führt meist zur Bestätigung der Vorschläge des BRH, der sie seit 1997 durch einen Ergebnisbericht ergänzt. Daraus ergeben sich die Anträge für den Entlastungsbeschluß des Bundes-
Finanzminister
Finanzverfassung
tages. Er kann mit Auflagen an die Regierung verbunden sein, notwendige Maßnahmen zu ergreifen, sie zu überwachen und hierüber zu berichten. So gibt es im Rahmen des Möglichen ein geschlossenes System der F., zu dem als abschließender Träger das Parlament gehört. Lit.: HdbStR IV, S. 275ff.; H. Dommach / E. Heuer: Handbuch zum Haushaltsrecht, Neuwied 1997; H. Rischer: Finanzkontrolle staatl. Handelns, Heidelberg 1995; K. Wittrock: Als kontrolliert wurde, was mit dem Taler geschah, Opladen 1997.
Karl Wittrock Finanzminister / -ium -> Bundesministerium der Finanzen Finanzpolitik FP versucht durch staatl. Einnahmen- und Ausgabengestaltung u.a. je nach Bewertung durch die Akteure verteilungspolit., konjunkturelle, sektorale, regionale, gesamtwirtschaftl. oder umweltpolit. Ziele zu verwirklichen. Instrumente der FP können u.a. sowohl die Einzelheiten des Abgaben- und Steuersystems und des staatl. Leistungsangebots als auch Gewährleistungen sein. Träger der FP sind insbes. die Gebietskörperschaften wie -> Bund, -> Länder und -> Gemeinden, aber auch die -> Europäische Union und quasistaatl. Einrichtungen wie die Sozialversicherungsträger. Antizyklische FP bezeichnet u.a. das Bemühen des Staates insbes. bei Unterbeschäftigung (-> Arbeitslosigkeit) durch Einnahmen- und Ausgabengestaltung Vollbeschäftigung herbeizuführen. Dazu wird eine sog. Nachfragelücke entweder durch eine Steigerung des Konsums bzw. der Investitionen Privater oder durch eine erhöhte Staatsnachfrage geschlossen. Im gegengesetzten Fall muß die „Überbeschäftigung" durch Nachfrageeinschränkungen erreicht werden. Ziel dieser nachfrageorientierten FP ist es demnach, durch die Wahl geeigneter Maßnahmen diejenige gesamtwirtschaftl. Nachfrage zu gewährleisten, die das Vollbeschäftigungs-
einkommen herbeiführt. Den konjunkturellen Schwankungen des allgemeinen -» Wirtschaftswachstums soll damit entgegengewirkt werden. Dieser keynesianischen Konjunkturpolitik steht die Idee gegenüber, durch Verbesserung der Angebotsbedingungen bei gleichzeitiger Zurückhaltung der FP die privatwirtschaftl. Voraussetzungen für Vollbeschäftigung zu schaffen. R. W. Finanzverfassung Die F. des -> Grundgesetzes (Abschn. X GG) spiegelt die föderale Aufgabenteilung im —» Bundesstaat wider und bildet die verfassungsrechtl. Grundlage für die gesamte Finanzund Haushaltspolitik. Sie regelt die Lasten- und Einnahmeverteilung zwischen -> Bund und -> Ländern (Art. 104a-107 GG) und zählt damit zu den unverzichtbaren Fundamenten jeder bundesstaatl. Ordnung. Grundlage der föderativen Finanzordnung ist der Konnexitätsgrundsatz (Art. 104a Abs. 1 GG), wonach Bund und Länder "gesondert" ihre Ausgaben tragen. Dazu zählen auch die Ausgaben der Länder für den Vollzug von —> Bundesgesetzen. Eingeschränkt wird dieser Grundsatz bei der -> Bundesauftragsverwaltung, den Geldleistungsgesetzen und den Investitionshilfen des Bundes (Art. 104a Abs. 2-4 GG). Die Steuergesetzgebung liegt abgesehen von der über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuem - teils als ausschließliche, teils als konkurrierende in der Hand des Bundesgesetzgebers (Art. 105 GG). Losgelöst von der Gesetzgebungskompetenz sind die Erträge der -> Zölle, der Mehrzahl der Verkehrs- und —> Verbrauchssteuern sowie der —• Ergänzungsabgabe zur -> Einkommensteuer und -> Körperschaftssteuer dem Bund zugewiesen, die Erträge der Erbschaft-, Kraftfahrzeug-, Biersteuer und die Verkehrsteuern, soweit sie nicht dem Bund zustehen, und die Abgaben von Spielbanken den Ländern. Die Einkommen- und Körperschaftssteuer sowie die —> Umsatzsteuer stehen als quantitativ wichtigste
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Finanzverfassung Steuern (ca. 3/4 des gesamten Steueraufkommens) dem Bund und Ländern gemeinsam zu (Gemeinschaftsteuer). Die Einkommen- und Körperschaftssteuer fließen - nach Abzug eines kommunalen Anteils an der Einkommensteuer - je zur Hälfte Bund und Ländern zu. Die Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer sind dem gegenüber nicht verfassungsrechtl. festgelegt, sondern deren Aufteilung obliegt dem einfachen Gesetzgeber. Dabei haben Bund und Länder gleichmäßig Anspruch auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben (Deckungsquotenprinzip) und ist die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bund zu wahren (Art. 106 Abs. 3 GG). Die Steuererträge werden unter den Ländern nach verschiedenen Kriterien verteilt: Das Aufkommen der Landessteuern sowie die Länderanteile der Einkommen- und Körperschaftssteuer stehen den Ländern im Grundsatz nach dem örtlichen Aufkommen zu. Der Länderanteil an der Umsatzsteuer steht den Ländern im Prinzip nach Maßgabe ihrer Einwohnerzahl zu (Art. 107 Abs. 1 GG). Darüber hinaus wird die Steuerverteilung unter den Ländern "angemessen ausgeglichen". Die Voraussetzungen und Maßstäbe sind im Finanzausgleichsgesetz geregelt. Es kann auch bestimmen, daß der Bund den leistungsschwachen Ländern Ergänzungszuweisungen gewährt (Art. 107 Abs. 2 GG). Die F. und der bundesstaatl. -> Finanzausgleich galten bereits vor der —> Deutschen Einheit als reformbedürftig. Insbes. wird bemängelt, daß die Lasten- und Einnahmeverteilung die Inefïizienz im Umgang mit öffentl. Mitteln fördere: Weil nach dem Konnexitätsgrundsatz die Länder die Lasten für die von ihnen zu vollziehenden Bundesgesetze tragen, kann der Bund auf Kosten der Länder Gesetze erlassen. Die Steuerverteilungsmechanismen zwischen Bund und Ländern sowie unter den Ländern begünstigen eine expansive Ausgabenpolitik. Möglicherweise ergeben sich aus der innerstaatl. Umsetzung der sog. Maastrichtkriterien (-> EU-
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Finanzverwaltung Vertrag) für die -> Europäische Währungsunion - Begrenzung der öffentl. Defizite - Reformnotwendigkeiten. Lit.: D. Frey/W. Renzsch: Die Finanzverfassung der BRD, Hagen 1995; W. Renzsch: Finanzverfassung und Finanzausgleich, Bonn 1991.
Wolfgang Renzsch Finanzverwaltung Rechtsgrundlage für die F. ist Art. 108 GG. Ausgehend hiervon unterteilt man die F. in die Steuerverwaltung und in die Zollverwaltung: Der Bund verwaltet die Zölle, Finanzmonopole (Branntweinmonopol), bundesgesetzlichen —» Verbrauchsteuern (z.B. Zucker-, Salz-, Tabak-, Kaffee-, Tee- und Mineralölsteuer) und die Abgaben im Rahmen der —> EU mit den Bundesfinanzbehörden. Dies sind —> Bundesfinanzministerium als oberste —> Behörde, Oberfinanzdirektionen (OFD) als Mittelbehörden und Hauptzollämter, Zollfahndungsämter, Bundesvermögensämter und Bundesforstämter als örtliche Behörden. Hinzu kommen als Oberbehörden des Bundes die -> Bundesschuldenverwaltung, die —> Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, das —> Bundesamt für Finanzen, das —• Zollkriminalamt, das —> Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen und die - » Bundesaufsichtsämter für das Kreditwesen und für das Versicherungswesen. Die Länder verwalten als -> Bundesauftragsverwaltung die übrigen —> Steuern, insbes. die Besitz(z.B. Einkommen- und —» Körperschaftssteuer) und Verkehrssteuern (z.B. -> Umsatzsteuer) sowie die Landessteuern (z.B. Erbschaft- und -> Grunderwerbssteuer) mit den Landesfinanzbehörden. Dies sind Landesfinanzministerium als oberste Behörde, OFD als Mittelbehörde und Finanzämter als örtliche Behörden. Den Behördenaufbau und das Verfahren regelt das —> Finanzverwaltungsgesetz. Die Verteilung der Verwaltungshoheit zwischen -> Bund und -» Ländern ist nicht identisch mit der Gesetzgebungshoheit nach Art. 105 GG. Bei der Verwaltung der Steuern durch die
Finanzverwaltungsgesetz
Fischwirtschaft
Landesfinanzbehörden, die dem Bund ganz oder z.T. zufließen, kann der Bund nach Art. 85 GG allgemeine -> Verwaltungsvorschriften erlassen (z.B. Einkommensteuer-Richtlinien) sowie Weisungen erteilen. Die Aufsicht durch den Bund erstreckt sich auf Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit. Die Leiter der OFDen sind im Einvernehmen zwischen Bundesund jeweiliger Landesregierung zu bestellen. Soweit das Steueraufkommen allein den -» Gemeinden zufließt (z.B. Gewerbesteuer, -> Grundsteuer), kann die Verwaltung durch Landesgesetz den Gemeinden übertragen werden. Lit: R.Ax/T. Große / J. Cämmerer: Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Stuttgart 15 1997; K. Tipke / J. Lang: Steuerrecht, Köln "1996. Kay-Michael Wilke
Finanzverwaltungsgesetz Das F. bestimmt die Organisation und Aufgabenverteilung der Bundes- und der Landesfinanzverwaltungen (BGBl. 1971 I 1426, letzte Änderung in BGBl. 1996 I, S. 2076). J.K.
Finnland, finn. Parlament Die Verfassung der Parlament. Republik F. wurde 1919 beschlossen, die letzte Änderung erfolgte 1988. Seit 1995 ist F. Mitglied der Europäischen Union. Die -> Legislative liegt in F. beim Parlament, wobei der Präsident als Staatsoberhaupt Gesetzesinitiativen zustimmen muß. Im allgemeinen setzt sich das Parlament allerdings im Falle von Konflikten durch. Die 200 -» Abgeordneten des finn. Einkammerparlaments (Eduskunta -> Einkammersystem) werden alle 4 Jahre nach dem -> Verhältniswahlrecht gewählt. Wahlberechtigt sind Finnen, die das 18. Lj. vollendet haben. Verfassungsänderungen bedürfen zweier Parlamentsbeschlüsse, die von einer Wahl unterbrochen werden. Für den ersten Beschluß genügt eine einfache Mehrheit, die Bestätigung muß mit einer Zweidrittelmehrheit gefällt
werden. Unabhängig davon können fünf Sechstel der Abgeordneten eine Verfassungsänderung für dringlich erklären, worauf die Änderung unmittelbar mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen werden kann. Plebiszitäre Elemente sind in der finn. Verfassung nicht vorgesehen. Der Staatspräsident wird in Direktwahlen für einen Zeitraum von 6 Jahren vom Volk bestimmt. Der Präsident verfügt in F. gemäß Verfassungstext und in der Praxis über vergleichsweise hohe Kompetenzen. Er ist für die -> Außenpolitik des Landes zuständig, ernennt die höchsten Staatsbeamten und besitzt außerdem ein suspensives —• Veto in Gesetzgebungsverfahren. Insofern kann das finn. Regierungssystem als semi-präsidentielles System bezeichnet werden. Das Parlament hat die Möglichkeit, der Regierung mit einfacher Mehrheit das Mißtrauen auszusprechen, im Gegenzug kann aber der Präsident das Parlament auflösen und Neuwahlen herbeiführen. Einzelne Abgeordnete haben prinzipiell das Recht, Gesetzesinitiativen einzubringen. -> Inkompatibilität zwischen Ministeramt und Abgeordnetenmandat besteht nicht, die Rekrutierung von Ministem mit parlament. Erfahrung ist allerdings vergleichsweise gering. Stärkste —> Fraktionen im Parlament sind die Sozialdemokraten und die Zentrumspartei sowie die konservative Nationale Sammlungspartei. Lit.: W. Ismayr (Hg.): Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 179ff; O. Petersson: Die polit. Systeme Nordeuropas, Baden-Baden 1989. Michael
Orlandini
Fischwirtschaft Fisch gilt in Dtld. als gesundes Nahrungsmittel. Der Pro-KopfVerbrauch ist in den zurückliegenden Jahren gestiegen und liegt derzeit bei 15,1 Kilogramm im Jahr. Der Markt wird traditionell aus Eigenfang und Importware versorgt. 1996 waren das zusammen knapp 2 Mio. Tonnen (Fanggewicht), davon allerdings nur noch 15% aus Eigenanlandungen. Denn der schlechte 331
Fiskus
Föderalismus
Zustand wichtiger Fischbestände in den Fanggebieten der dt. Seefischerei innerhalb und außerhalb der EU-Gewässer läßt höhere Fangmengen nicht zu. Die Flotte der dt. Seefischerei wurde in den zurückliegenden Jahren drastisch reduziert und bereits weitgehend modernisiert. Dir gehörten Ende 1996 in der großen Hochseefischerei noch 14 Fahrzeuge, in der kleinen Hochsee- und Küstenfischerei (Kutterfischerei) einschließl. der im Nebenerwerb eingesetzten noch ca. 2.310 Fahrzeuge an, darunter 270 Krabbenfänger. Zur Marktversorgung mit Fisch trägt außerdem die dt. Binnenfischerei mit etwa 2,3% der Gesamtmenge bei. Im Interesse einer nachhaltigen Nutzung (-» Nachhaltigkeit) der Fischbestände unterstützt Dtld. die Bemühungen der —» Europäischen Union, die Fangkapazitäten den Fangmöglichkeiten anzupassen. Hg. Fiskus —> (lat. Geldkorb) Bezeichnung des —> Staates, wenn dieser nicht hoheitlich, sondern als -> Juristische Person am Privatrechtsverkehr teilnimmt oder einer erwerbswirtschaftl. Betätigung nachgeht. Staatl. Handeln unterliegt der —> Zivilgerichtsbarkeit, wenn der Staat z.B. ein Grundstück kauft, ein Amtsgericht baut (BeschafTungstätigkeit der öfTentl. Verwaltung) oder ein Weingut betreibt; in solchen Fällen spricht man von fiskalischem Handeln. Umgangssprachlich wird F. vielfach mit dem —> Abgaben und —» Steuern erhebenden Staat gleichgesetzt. HgFloor Leader Seit 1918 fungiert der brit. —> Premierminister im -> Unterhaus nicht mehr selbst als F., sondern ernennt dazu einen -> Abgeordneten aus seiner Fraktion. Als Kabinettsmitglied ohne Portefeuille sorgt der F. für die Organisation des legislativen Prozesses, u.a. durch Absprachen mit seinem „Schatten" und Zusammenarbeit mit dem Chief Government Whip. Im —» Oberhaus hat der eben332
falls vom Premier ernannte F. zusätzlich polit. Führungsfunktionen, wie auch die F. im -> US-Kongreß. Weder die -> Verfassung der USA noch die —> Geschäftsordnung des US-Kongreß nennen F.; die Entstehung von Parteien wurde zunächst nicht antizipiert. Präsident Thomas Jefferson sah zuerst die Möglichkeit, im —> Repräsentantenhaus neben dem damals neutralen —» Speaker einen F. zu setzen, der Fraktionsdisziplin herstellen und Regierungsvorhaben durch den Gesetzgebungsprozeß leiten sollte. Heute werden F. von ihrem -> Caucus gewählt. Im -> Senat ist der F. eher ,.Erster unter Gleichen"; er ist für seine begrenzte Kontrolle des legislativen Tagesablaufs stark auf Konsens aller Senatoren angewiesen. Die F. der Opposition repräsentieren ihre Fraktionen und versuchen, die Tagesordnung durch Verhandlungen mit den F. der Mehrheitsparteien zu beeinflussen. Lit: D. Bacon (Hg.): The Encyclopedia of the United States Congress, New York 1995.
T. G. Föderaler Bundesstaat —> Bundesstaat Föderalismus (lat. Foedus = Bund) ist ein vielschichtiger Begriff. Bei staatsrechtl. Betrachtung kreist er um das Verhältnis von —> Bundesstaat und Staatenbund, histor. lassen sich eine Vielzahl sehr unterschiedlich gestalteter föderativer Verbindungen von der Antike bis zur —> EU aufzeigen, philosophisch hat er polit. Theoretiker vom -» Konservativismus bis zum Anarchismus inspiriert. Gemeinsam ist allen Ansätzen die Vereinigung autonomer Einheiten zu einem Ganzen, ohne daß die Autonomie vollständig aufgegeben wird. Das Prinzip der —> Subsidiarität ist regulativ für alle föderativen Theorien und für föderativ organisierte polit. Systeme. 1. F. in der Ideengeschichte Das Rom. Imperium und seine Rechtstheorie hatten in ihrer Konzentration auf die Individualperson keinen fruchtbaren Boden für die Entstehung föderativen Denkens abgege-
Föderalismus ben. Anders sieht es im germanischen Mittelalter aus. Das bündische Prinzip der germanischen Genossenschaft (im 19. Jhd. von O. Gierke untersucht) ließ eine organische Abfolge „realer Gesamtpersonen" entstehen, die sich von der Familie zur universitas Christiana erstreckten. Die Schweizer Eidgenossenschaft (1291) ist das längstlebige histor. Beispiel. Von der -> Genossenschaft führt auch ein direkter Weg zu J. Althusius (1557-1638), dessen Politica methodice digesta (1603) aus germanischen Rechtsgedanken, mittelalterlicher Föderaltheologie und frühneuzeitlichem Calvinismus eine polit. Theorie entwickeln, die sich als föderativ-pluralistische Vorform demokrat. —> Volkssouveränität interpretieren läßt. Diese Gedanken sind v.a. in den calvinistischen Gemeinwesen in der Schweiz, den Niederlanden und den nordamerik. Kolonien einflußreich gewesen. Aber die meisten frühneuzeitlichen Theoretiker konnten Althusius auf diesem Wege nicht folgen. In den Bahnen der aristotelischen Staatslehre analysierten sie v.a. das Heilige Römische Reich (—> Deutsches Reich bis 1806) als einen status mixtus mit aristokratischen (Reichsstände) und monarchischen (Kaiser) Bestandteilen. Bestes frühes Beispiel ist der Staatsrechtler L. Hugo (16321704), der in seinem De statu regionum Germaniae (1661) das Reich als eine Frühform des Bundesstaates beschreibt. Das war allerdings wiederum inakzeptabel für Denker wie S. Pufendorf (16321694), der in seiner Prägung durch röm.rechtl. Theoreme das Reich nur noch als „monstre simile" auffassen konnte. Sein De statu Imperii Germanici (1667) kennt unter dem Einfluß von Bodins (15301596) Begriff der Souveränität nur einfache —> Staaten oder Bündnisse, nicht aber komplexe föderative Gebilde. In ähnlichen Bahnen laufen die Schriften der überwiegend positivistischen Reichspublizisten des 18. Jhd.s. J. S. Pütter (1725-1807) betrachtet das Reich durchaus typisch als einen aus Staaten zusam-
Föderalismus mengesetzten Staat, ohne daß hieraus weiterreichende theoretische Folgerungen gezogen würden. Erst die Revolutionszeit produziert neue Ansätze: Die amerik. —» Federalist Papers (1787/8) zeigen erstmals den Zusammenhang von F., —> Demokratie und (vertikaler) -> Gewaltenteilung, und I. Kant (1724-1804) stellt mit seiner kleinen Schrift Zum ewigen Frieden (1795) die bis heute nicht widerlegte These auf, daß ein „Föderalism freier Staaten" die beste (und einzige) Friedenssicherung in den internationalen Beziehungen sei. Im 19. Jhd. konzentriert sich das Interesse wenigstens in Dtld. auf die Gestaltung von Bundesstaat und Staatenbund. Ideengeschichtl. F. findet sich in dieser Zeit in unterschiedlichen Formen sowohl im polit. Katholizismus (Subsidiarität) wie auch in der Orientierung vieler Konservativer am mittelalterlichen -> Ständestaat. Der Anarchismus sieht in einer föderativen Ordnung die freiheitliche Alternative zu den bestehenden Staaten; P.-J. Proudhon (1809-1865) nennt gar sein Hauptwerk Du principe fédératif (1863). In Dtld. ist es v.a. der leidenschaftliche Bismarck-Gegner C. Frantz (1817-1891), der den föderativen Gedanken zum Kern eines ganz Europa umfassenden Friedensbundes machen will, der sich an der mittelalterlichen Reichsidee orientieren soll. Sein Hauptwerk „Föderalismus als das leitende Princip für die sociale, staatl. und internationale Organisation" (1879) ist symptomatisch für die philosophische Weitläufigkeit seines Ansatzes. Nach dem Zusammenbruch der alten europ. Ordnung im I. Weltkrieg entwickeln sich föderative Gedanken in mannigfaltiger Gestalt. Der Paneuropa-Plan von Graf CoudenhoveKalergi (1894-1972) propagiert einen europ. Staatenbund zur Friedenssicherung, die nachrevolutionäre Sowjetunion organisiert sich formal in föderativer Gestalt, reaktionär-antidemokrat. Gedanken bemühen sich um einen organischen Ständestaat. Daneben wird aber auch die Verbindung von F. mit —> Pluralismus
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Föderalismus und Demokratie erkannt und von Denkern wie H. Preuß (1860-1925) und H. Laski (1893-1950) zur radikalen Kritik des Souveränitätsbegriffes verwendet. Föderatives Denken gedieh naturgemäß besonders in polit. Zusammenhängen, die eine föderative Ordnung bereitstellten. Aber auch hier ist eine enorme Bandbreite möglich. 2. F. in Dtld. In seiner langen Geschichte ist Dtld., wenn man vom —> Nationalsozialismus absieht, nie ein Einheitsstaat gewesen. Von den frühmittelalterlichen Stammesherzogtümem zieht sich eine gerade Linie, bei aller polit, und geographischen Veränderung, zur modernen -> Bundesrepublik Deutschland. Zwar hat die konkrete Ausgestaltung föderativer Ordnung im Heiligen Röm. Reich wenig mit unserem „demokrat. und sozialen Bundesstaat" (Art. 20 Abs. 1 GG) zu tun, aber die Tatsache bleibt, daß sich in Dtld., anders als etwa in Frankreich oder England, nie eine Zentralgewalt über die partikularen polit. Interessen dauerhaft durchsetzen konnte. Auch gewisse Grundprinzipien föderativer Organisation bleiben über die Jhd.e erstaunlich konstant. So ist F. in Dtld. primär Verwaltungsföderalismus, in dem die Staaten / Länder durch ihre Beamten die —> Gesetze des Bundes durchführen und in dem sie an der Willensbildung der Zentraleinheit als solche mitwirken. Der Immerwährende -> Reichstag zu Regensburg (1663) findet sich über den Bundestag des —> Deutschen Bundes (1816), Bismarcks Bundesrat ( 1867/71 ) und den Weimarer Reichsrat (1919) bis in den —> Bundesrat unserer Tage wieder - ein Gesandtenkongreß einzelstaatl. Regierungen, aber keine Senatslösung wie in den USA und der Schweiz. Anders auch als in diesen beiden nächstliegenden Vergleichsystemen dauert es bis in unser Jhd., im Grunde bis 1949, bis die enge Verbindung von F. und Demokratie auch in Dtld. zum tragen kommt. Etwas anders gelagert ist ein spezifisch dt. Problem, das gleichwohl in diesen Kontext gehört: Vor 1866 verhindert der dt.
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Föderalismus Dualismus, danach die Hegemonie Preuß.s, daß es zu einem F. gleichgewichtiger Partner kommen kann. H. Preuß' 1919 gescheiterter Plan zur Aufteilung Preuß.s versuchte vergebens, dieses Grundübel des dt. F. zu lösen. Erst nach 1945 war es möglich, durch die Neugründung der Länder eine Basis für einen funktionierenden F. zu schaffen. Die erstaunliche Geschwindigkeit, mit der diese Länder von der Bevölkerung akzeptiert wurden und einen Lokalpatriotismus entstehen ließen, ist ebenso Zeugnis von der Stärke des F. in Dtld. wie die Schnelligkeit, mit der die 1952 aufgelösten alten Länder nach der Wende 1989 im Gebiet der —> DDR wiederentstanden. Dieser —> Regionalismus macht es sehr unwahrscheinlich, daß die sporadisch aufbrechenden Diskussionen über eine Neugliederung des Bundesgebietes in näherer Zukunft zu Ergebnissen führen werden. 3. F. in den USA Ein ganz anderes Verständnis des F. herrscht in der angelsächs. Welt vor, wofür die USA das beste, wenn auch nicht das einzige (Kanada, Australien, Indien etc.) Beispiel sind. In den USA hat sich das germanisch-genossenschaftlich-calvinistische Denken bewahrt, das zusammen mit den Bedingungen eines Pionierlandes eine anti-staatl., individualistisch-subsidiäre polit. Kultur gefördert hat. Die Staaten haben sich erheblich größere Zuständigkeiten wahren können als die dt. Länder (z.B. fast das ganze -» Strafrecht). Gleiches gilt aber auch für die weitestgehend selbständig agierenden —> Kommunen. Umgekehrt haben die Staaten als solche keinerlei Anteil an der Bundespolitik. Der -> Senat wird direkt gewählt, und auch die Verwaltung von Bund und Staaten ist strikt voneinander getrennt. Amerik. F.diskussionen konzentrieren sich dementsprechend auf die Aufgabenverteilung zwischen den staatl. Ebenen wenn der Bund Kompetenzen an sich zieht, sind sie den Staaten verlorengegangen, ohne daß sie, wie in Dtld., weiter an der gesetzgeberischen Gestaltung mitwirken könnten. Seit den 80er Jahren geht
Föderalismus die Tendenz, jedenfalls in der polit. Rhetorik, auf eine Rückverteilung von Kompetenzen an die Staaten. Kann F., und wenn ja welcher F., vor diesem Hintergrund als Modell für die Welt dienen? (-> Verfassung der USA) 4. Kritik und Perspektiven des F. So vielschichtig wie der F. ist, so sehr wiederholen sich die Argumente der Kritiker. Zum Teil decken sie sich mit den Argumenten der Pluralismus-Kritiker, was erneut auf die enge ideengeschichtl. Verbindung beider Konzepte hinweist. Die Zersplitterung des einheitlichen Staatswillens wird ebenso beklagt wie die Reibungsverluste zwischen den Verwaltungen, die durch ihre teilw. Verdoppelung zudem entschieden teurer zu stehen kommen. Dem stehen die Bürgemähe, die zusätzliche Gewaltenteilung und die direktere demokrat. Kontrolle gegenüber. Gleichwohl wäre es verfehlt, in föderativer Ordnung ein Allheilmittel sehen zu wollen. Die komplizierten polit. Prozesse in föderativen Systemen können im Prinzip nur dann erfolgreich verlaufen, wenn bereits eine polit. Wertehomogenität zwischen den Gliedern des Systems besteht, mit Respekt vor der wechselseitigen Verschiedenheit und vor Selbstbestimmung in Freiheit auch für abweichende Problemlösungen. F. kann eine solche Wertegemeinschaft nicht schaffen, wohl aber festigen. Auch scheinen nicht alle Kulturkreise gleichermaßen für föderative Ordnungen disponiert zu sein. Selbst wenn man sich in der histor. Betrachtung auf den abendländischen Raum beschränkt, fällt auf, daß nur wenige romanische oder slawische Staaten zum Mittel föderativer Ordnung gegriffen haben, sondern daß es im wesentlichen auf den germanisch-protest. Raum beschränkt blieb. Ausnahmen wie Mexiko oder Brasilien können das generelle Bild nicht ändern. Külzliche Versuche einer Föderalisierang von Zentralstaaten (Frankreich, Spanien) waren denn auch nicht eben von großem Erfolg begleitet. Gleichwohl muß man mit Hinblick auf die
Forschungspolitik Weiterentwicklung der EU konstatieren, daß diese sich in föderativen Bahnen wird bewegen müssen, oder daß sie gar nicht zustande kommen wird. So ist der F. zwar ein altes und oft geschmähtes Gestaltungsprinzip, zugleich aber eines, dessen beste Tage möglicherweise noch in der Zukunft liegen. Lit S. H. Beer: To Make a Nation, Cambridge 1993; E. Deuerlein: Föderalismus, Bonn 1972; M. Dreyer: Föderalismus als ordnungspolit. und normatives Prinzip, Frankfurt/M. 1987; A. Hamilton / J. Madison / J. Jay: Die FederalistArtikel. Hg. v. A Adams und W. P. Adams, Paderborn 1994; H. Laufer / U. Münch: Das föderative System der BRD. München 71997; Publias: The Journal of Federalism, Bd. Iff. (1971ff.).
Michael Dreyer Förmliches
Disziplinarverfahren
->
Disziplinarverfahren Förmliches Gesetz -> Gesetz Förmliches Verwaltungsverfahren —> Verwaltungsverfahren Formelles Gesetz -> Gesetz —> Materiales Gesetz Forschungspolitik Aufgabe der FP ist es, der Wissenschaft die in Art. 5 GG garantierten Freiräume für ihre Entfaltung zu sichern, ihr die für ihre Forschung notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, die staatl. Forschungsförderung zu planen und diese zu koordinieren. In Dtld. betrachtet sich der —> Staat als Schirmherr der Wissenschaft. Hauptgegenstand der Wissenschaft ist die Forschung. Die Förderung der Forschung ist folglich eine nationale Aufgabe der BRD. Sie ist in deren föderalistisch verfaßter Staatsordnung nur in bundesstaatl. Zusammenwirken von -» Bund und -> Ländern auf der Grundlage des Art. 91a und b GG sachgerecht möglich. Den Ländern obliegt insbes. die Kompetenz für die Finanzierung der Grundlagenforschung in den —> 335
Forschungspolitik Hochschulen. Eine Mitwirkungskompetenz für den Bund besteht bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder insofern diese für die Gesamtheit von Bedeutung sind, und seine Mitwirkung zur Verbesserung der Lebensverhältnisse beiträgt. Solche —> Gemeinschaftsaufgaben sind der Ausbau und Neubau von Hochschulen und Hochschulkliniken, die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, der Agrarstruktur und des Küstenschutzes. Bund und Länder finanzieren demnach gemeinsam die Dt. Forschungsgemeinschaft (DFG) und die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) als Selbstverwaltungsorganisationen der Wissenschaft zur Förderung der Grundlagenforschung, die Fraunhofer Gesellschaft zur Förderung der angewandten Wissenschaften (FhG), das Forschungsprogramm der Akademien der Wissenschaften, die —» Großforschungseinrichtungen der Helmholtz-Gemeinschaft (HHG), die Forschungsinstitute der sog. -» Blauen Liste (BLE) und ein Erneuerungsprogramm für Hochschulen und Forschung in den Neuen Bundesländern. Der Bund ist ferner für die Einordnung der Fördermaßnahmen in die Ziele der Gesamtpolitik und für die Finanzierung seiner Ressortforschung in den Bundesanstalten zur Erfüllung seiner unmittelbaren Aufgaben zuständig. Polit. Ziele für seine in eigener Verantwortung durchgeführten Fachprogramme (Projektförderung) sind es, die innere Einheit Dtld.s (—> s.a. Deutsche Einheit) zu vollenden, den weltwirtschaftl. Wandel im Wettbewerb der Standorte zu bewältigen und der gewachsenen internationalen Verantwortung Dtld.s bei der Lösung globaler Probleme, wie z.B. des raschen Wachstums der Weltbevölkerung, der Bedrohung der ökologischen Systeme (—> Umweltschutz) und der Bekämpfung von Hunger, Armut und Krankheit in der Welt, gerecht zu werden. Daraus resultieren differenzierte Forschungs- und Entwicklungskonzepte zur Förderung von Spitzentechnologien, die an Innovationszielen orientiert sind (z.B. Biotechnologie, Informationstech-
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Forstwirtschaft nik), oder zur staatl. —> Daseinsvorsorge (z.B. Umweltprogramme, Forschung im Dienst der Gesundheit) sowie zur Zukunftsgestaltung durch Forschung (z.B. Technikfolgenabschätzung). Lit: 21. Gesetz zur Änderung des GG (Finanzreform) vom 12.5.1969, Teil 1, S.359f.; MaunzDärig, Art. 104 GG; v. Münch, Art. 104a BundLänder-Kommission BLK (Hg.): Informationen über die BLK, Bonn 1996; Bundesministerium fur Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hg.): Bundesbericht Forschung, Bonn jährlich.
Norbert Binder Forstwirtschaft Dtld. ist zu rd. 30% bewaldet und zählt damit zu den waldreichsten Mitgliedstaaten der —> EU. Das Bild der Wälder wird zu etwa 2/3 von Nadelbaumarten (insbes. Fichte und Kiefer) und zu 1/3 von Laubbaumarten (insbes. Buche und Eiche) geprägt. Die Waldbewirtschaftung erfolgt nach dem Prinzip der —• Nachhaltigkeit. D.h. die vielfaltigen Leistungen des Waldes, seine Nutz-, Schutz- und Erholungsfunktionen, müssen auf Dauer und auf ganzer Fläche sichergestellt sein. An der Erwirtschaftung des —> Bruttosozialprodukts hat die F. nur einen geringen Anteil. Ihre gesamtwirtschaftl. Bedeutung geht jedoch darüber hinaus. So ist sie ein wesentlicher Rohstofflieferant der dt. Holzwirtschaft (Produktionswert 2,5 bis 3,5 Mrd. DM im Jahr). Nicht qualifizieren lassen sich der Wert, den der Wald mit seinen Schutzfunktionen für Umwelt, biologische Vielfalt und Menschen darstellt, sowie der Erholungs- und Freizeitwert des Waldes. Gegenwärtig wird man sich gerade dieser Wohlfahrtsfunktionen bewußter. Oberstes Ziel der Forstpolitik in Dtld. ist es daher, den Wald in seiner Ausdehnung und seinen Leistungen zu erhalten, seine Fläche, wo dies erforderlich ist, zu vermehren und seine ordnungsgemäße Bewirtschaftung nachhaltig zu sichern. Diese Zielsetzung hat der Gesetzgeber auch dem Bundeswaldgesetz von 1975 vorangestellt. Insbes. die Einträge von Schadstoffen
Fragestunde gefährden die Ökosysteme und beeinträchtigen die Vitalität der Wälder. Dies zeigt sich sehr deutlich in Kronenverlichtungen bis hin zum Absterben von Bäumen. Der Waldzustandsbericht beschreibt die regional stark unterschiedlichen Schäden und erläutert deren mutmaßliche Ursachen sowie die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz des Waldes. HgFragestunde -> Fragerecht Fragerecht der Abgeordneten Die Abgeordneten haben das Recht, Parlament. Anfragen - auch Interpellationen genannt - an die —> Regierung zu richten. Die Regierung ist grds. verpflichtet, parlament. Anfragen, die ihren Verantwortungsbereich betreffen, zu beantworten. Das F.d.A. und die Antwortpflicht der Regierung ergeben sich aus dem allgemeinen verfassungsrechtl. Status der Abgeordneten und sind in vielen - » Landesverfassungen ausdrücklich geregelt. Parlament. Anfragen sind seit jeher ein wichtiges Mittel zur Regierungskontrolle. Mit ihrer Hilfe können Abgeordnete die Regierung aber auch mit eigenen Vorstellungen konfrontieren, um sie zu einem bestimmten Handeln zu bewegen. Sie können sich über parlement. Anfragen in den —> Medien und im —> Wahlkreis profilieren; Anfragen von Abgeordneten der Regierungsfraktionen dienen gelegentlich auch dazu, der Regierung Gelegenheit zur Selbstdarstellung zu geben. Die —> Geschäftsordnungen der Parlamente unterscheiden meist zwischen Großen, Kleinen und Mündlichen Anfragen. Die Anfragen werden schriftlich gestellt und - bis auf die Mündlichen Anfragen - von der Regierung schriftlich beantwortet; die Antworten werden zusammen mit den Fragen als —> Bundestagsdrucksachen veröffentlicht. Große Anfragen können nur von einem Abgeordnetenquorum gestellt werden. Dafür sind sie von der Zahl der Einzelfragen her unbeschränkt. Sie eignen sich deshalb v.a.
Fraktion dafür, nach umfassenden polit. Konzepten oder größeren Politikbereichen zu fragen. Der Regierung steht regelmäßig eine deutlich längere Frist zur Beantwortung zur Verfügung als bei anderen Anfragen. Mit Kleinen Anfragen kann nach bestimmten Tatsachen, Einzelfallen oder Sachverhalten gefragt werden. Sie sind vom Gegenstand, dem Umfang und der Zahl der Fragen her i.d.R. beschränkt, können allerdings meist von einzelnen Abgeordneten gestellt werden. Mündliche Anfragen werden schriftlich gestellt und in der sog. Fragestunde mündlich beantwortet. Lit.: P. Glauben /F. Edinger: Parlament. Fragerecht in den Landesparlamenten, in: DVB1. 1995, S. 94Iff.; S. Hölscheidt: Frage und Antwort im Parlament, Rheinbreitbach 1992.
Florian Edinger Fraktion / -en F.en sind aus mindestens 2 Perspektiven zu definieren: polit.-inhaltlich und organisatorisch. Zum ersten sind sie die —> Parteien im —> Parlament (entsprechend auch die engl. Begriffsbildung: —» parliamentary parties). In ihnen organisieren sich unterschiedliche Ideologien und Interessen, um die jeweiligen Positionen parlement, zu repräsentieren. Zweitens sind F.en Gliederungen des Parlaments, durch deren Selektions-, Aggregations- und Koordinationsleistungen dieses - zumal in komplexen, hoch diversifizierten (post-)modernen Gesellschaften - erst handlungsfähig wird und in denen die einzelnen —> Abgeordneten die arbeitsteiligen Strukturen finden, die Voraussetzung ihrer parlament. Wirksamkeit sind. Für das —> parlamentarische Regierungssystem besonders hervorzuheben ist die beiden Definitionsperspektiven zuzurechnende Funktion der F.en, jeweils Geschlossenheit in ihren Reihen herzustellen; dies ist die unverzichtbare Voraussetzung für Entstehung und Stabilität einer —» Regierung und nahezu ebenso notwendig für die Alternativfahigkeit der -> Opposition. Zur Herstellung und Sicherung, bzw. Ersetzung der —> Exekutive bedarf das -> présidentielle Regierungs-
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Fraktion system dieser Geschlossenheit nicht, da der Präsident parlamentsunabhängig demokrat. legitimiert ist. Schon aus diesem grundlegenden Unterschied erklären sich geringere Kohäsion und Bedeutung von F.en in diesem Systemtypus, auch wenn in den Vereinigten Staaten als Musterbeispiel die Kongreßfraktionen inzwischen an innerem Zusammenhalt gewonnen haben und für die Arbeitsorganisation, aber auch bei der Politikformulierung und -entscheidung eine immer wichtigere Rolle spielen (-> Verfassung der USA). 1. Geschichte Aus den seit Mitte des 17. Jhd.s in England entstandenen, eher geselligen Zwecken dienenden Clubs im -> Unterhaus ("Tories" und "Whigs") wurden zunehmend polit. Einheiten von Regierungsmehrheit einerseits und Opposition andererseits. Im Zuge der Wahlrechtsreformen seit 1832 bildeten sie den Ausgangspunkt für Parteigründungen (—> s.a. Parlamentsgeschichte, brit.). In Frankreich entstanden während der Revolutionsjahre zunächst regional gegliederte Abgeordnetengruppen, die sich immer stärker auch in polit. Grundsatzfragen unterschieden (z.B. Jakobiner, Girondisten, —> s.a. Parlamentsgeschichte, frz.). Das —> Paulskirchenparlament in Frankfurt entwickelte schnell ein F.swesen, weil es gleich nach seiner Konstituierung an die pragmatischen Grenzen der zunächst vorherrschenden Vorstellungen vom Honoratiorenabgeordneten und des Argwohns gegen jegliche Parteiungen stieß. Schon damals erforderten Fülle und Reichweite der anstehenden Probleme die Organisation der Parlamentsarbeit und die Koordination von Sachpositionen, bevor diese das —> Plenum erreichten. Trotz rechtl. und polit. Hindernisse im gouvernemental dominierten dt. Kaiserreich (-> Deutsches Reich 1871) war hier, wie auch in England und Frankreich, die Entwicklung und Verfestigung von Parlamentsfraktionen, die polit.-ideologische Unterschiede verkörperten, innerparlamentarische Organisationsaufgaben erfüllten und
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Fraktion dem einzelnen Abgeordneten verantwortungsvolle Parlament. Mitwirkung faktisch erst ermöglichten, nicht mehr rückgängig zu machen. In der —» Geschäftsordnung des - » Reichstages der —> Weimarer Republik fanden F.en ihre offizielle rechtl. Anerkennung, woran der —> Bundestag nach 1949 anknüpfte. 2. Rechtsstellung In Rechtswissenschaft und Rechtsprechung läßt sich keine einheitliche Bestimmung der Rechtsstellung von F.en finden. Strittig ist bereits, ob F.en in die private oder öffentl. Rechtssphäre gehören. Sie sind als Vereine oder Körperschaften gekennzeichnet worden mit unterschiedlichen Graden der —> Rechtsfähigkeit im Binnen- und Außenverhältnis, als -> Organe und Organteile sowie als Teile der Parteien. Das Bundesverfassungsgericht hat sie als Teile oder Gliederungen des Bundestages, v.a. aber als „maßgebliche Faktoren der polit. —> Willensbildung" beschrieben. Das 1994 verabschiedete F.sgesetz des Bundes definiert F.en als rechtsfähige Vereinigungen von Abgeordneten im Bundestag. Die damit einhergehende eigenständige Trägerschaft von Rechten und Pflichten findet sich auch in den F.sgesetzen, welche die meisten Bundesländer inzwischen verabschiedet haben. 3. Funktionen Die F.en sind faktische (Haupt-)Träger der Parlamentsfunktionen geworden. Sie vermögen die Handlungsfähigkeit und Steuerbarkeit des großen und als Gesamtheit schwerfälligen Parlaments erst herzustellen, das ansonsten in der Gefahr stünde, durch Komplexität überlastet zu werden und durch zu große Vielfalt sich selbst zu blockieren. Mit ihren arbeitsteiligen Strukturen ermöglichen die F.en umfassende und nichtsdestoweniger effektive Willensbildung im Parlament. Die Bündelung von —> Politik und die Organisation der Arbeitsteilung sind also die grundlegenden Funktionen der F.en, die sie für den einzelnen Abgeordneten und das Parlament als ganzes erfüllen. In der parlament. Praxis bedeutet dies, daß sie alle Aufgaben wahrnehmen,
Fraktion die gemeinhin als Parlamentsfunktionen gelten: Wahl und Rekrutierung, Gesetzgebung und Artikulation von Interessen, (Regierungs-)Kontrolle und Herstellung von —> Öffentlichkeit. Der empirische Befund für den Bundestag lautet (ausgewählt und zusammengefaßt) wie folgt: Sowohl bei der Sozialisation und Auswahl als auch bei der Bestellung der meisten Kanzlerkandidaten und -> Kanzler haben die großen F.en als ganzes oder durch ihre Führungen eine erhebliche Rolle gespielt, wenn sie die Regierungsmacht innehatten. In Phasen der Opposition wurde dagegen die Landesebene zur wichtigsten Rekrutierungsstätte für Kanzlerkandidaten. —> Bundesminister der —» SPD und der -» CDU entstammten zu 3/5 bzw. 2/3 dem jeweiligen F.svorstand, wobei die Funktion der F., Führungspersonal zu selektieren und zu sozialisieren, besonders deutlich beim Wechsel von der Oppositions- in die Regierungsrolle wird. In den personalpolit. Entscheidungen zur Kabinettsbildung reichte die Rolle der F.en vom negativen Druck- und Verhinderungspotential bis zur positiven Gestaltung, sogar in Form von innerfraktionellen Kampfabstimmungen. Bei der Gesetzesinitiative ist zwar den F.en als ganzes - bei Mehrheit wie Opposition die inhaltliche Rahmensetzung weitgehend entzogen. Hierarchische Politikkoordination trägt in allen F.en der ausgeprägten Geschlossenheitsorientierung Rechnung (mit gewisser Ausnahme der —> Bündnis 90/Die Grünen) und läßt die F.s(und Regierungs-) Führungen über die „einfachen" F.sangehörigen dominieren. Unterhalb von Grundsatz- und Richtungsentscheidungen hingegen (und damit bei der großen Mehrheit der Gesetze) wirken die Arbeitsgruppen und -kreise der F.en mithin die Abgeordneten ohne hervorgehobene Stellung - als Sieb für das konkret Machbare und polit. Vertretbare. Diese Spezialisten entscheiden das polit. Alltagsgeschäft auf ihrem jeweiligen Gebiet faktisch abschließend für ihre F., da die Ergebnisse der auf Gegenseitigkeit und ->
Fraktion Vertrauen gegründeten Arbeitsteilung in aller Regel von der Gesamtfraktion akzeptiert werden. Auf dieser Grundlage kann der Gesetzgebungsprozeß in den —> Ausschüssen erfolgen. Die nötige Entlastungswirkung für das Bundestagsplenum ist dabei nur zu erreichen, wenn Kontroverse und Konsens aus den Ausschüssen in den Arbeitsgruppen der F.en wieder behandelt werden und schließlich im Ausschuß eine —» Beschlußempfehlung an das Plenum ergeht, die hinsichtlich der Zustimmung bzw. Ablehnung durch die F.en kalkulierbar ist. Der dazu notwendige Kommunikations- und Vermittlungsprozeß, den die einzelnen Abgeordneten leisten, wird erst im Gefüge der F. sinnvoll und effizient, denn dort wird die Vielzahl dieser Einzelprozesse organisiert und zu sachlich informierten und polit, tragfahigen Entscheidungen zusammengeführt. 4. Organisation Hierarchisierung und Arbeitsteilung kennzeichnen die Organisation der Bundestagsfraktionen. Menge und Art der legislatorischen Arbeit, vergrößerte F.en und erhöhte Chancen der gesetzgeberischen Mitwirkung waren die Anstöße, die zur Einrichtung sachpolit. Arbeitsebenen (Arbeitskreise bzw. -gruppen) in allen F.en führten. Ihre zunehmende Ausdifferenzierung begünstigte Hierarchisierung, weil der innerfraktionelle Koordinationsbedarf stieg. Dies wiederum ließ Spezialisierung für den einzelnen Abgeordneten zum wichtigsten Mittel werden, gewisse Eigenständigkeit und Handlungsspielräume zu gewinnen. So wurden die Arbeitsgruppen für die legislatorische Detailarbeit und die kontinuierliche, professionelle Verzahnung von Parlament und F.swille immer bedeutender. Der engere Geschäftsführende F.svorstand ist Koordinator, Filter zwischen F.sexperten und Gesamtfraktion. Verantwortlich für die Stimmigkeit der Einzelpolitiken, für die Leitlinien der F. und deren Kompatibilität mit jenen der Partei, konnte er seinen Einfluß stetig vergrößern. Die in den großen F.en noch be339
Fraktionsarbeitsgruppe stehenden (erweiterten) F.svorstände sind zu Mittlerinstanzen zwischen Führung und Gesamtfraktion geworden. 5. Finanzierung Die staatl. Zahlungen an die Bundestagsfraktionen sind seit den 50er Jahren drastisch auf gegenwärtig ca. 100 Mio. DM pro anno gestiegen. Höhe und Verwendung dieser Mittel wie die Art ihrer Festsetzung sind in die Kritik geraten. Die umfassenden Aufgaben, die F.en für die parlament. Funktionserfüllung wahrnehmen, dürften sowohl die Zuweisung erheblicher Mittel rechtfertigen als auch deren Verwendung für Öffentlichkeitsarbeit. Darüber hinaus ist höchstmögliche Öffentlichkeit wie Begründungszwang für die Verfahren der Mittelgewährung und -Verwendung zu fordern. Substantiell gewichtiger als die Kritik an den F.szuschüssen ist der Befund, daß Hierarchisierung und Arbeitsteilung in ihrer gegenwärtigen Praxis zusammen mit hohen (internen und externen) Geschlossenheitserwartungen dazu fuhren, daß die F.en zu großes Gewicht auf bürokratische Aufgabenerledigung und administrative Reibungslosigkeit legen und in den F.sstrukturen ebenso angelegte Gestaltungs- und Innovationspotentiale zu kurz kommen. Lit.: G. Kretschmer: Fraktionen, Heidelberg 2 1992; S. Kürschner: Das Binnenrecht der Bundestagsfraktionen, Berlin 1995; Schneider / Zeh, S. 102lfï".; S. S. Schüttemeyer: Der Bundestag als Fraktionenparlament, in: J. Hartmann / U. Thaysen (Hg.), Pluralismus und Parlamentarismus in Theorie und Praxis, Opladen 1992, S. 113fl"; dies.: Fraktionen im Dt. Bundestag 1949 bis 1994, Opladen 1997; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 235ff.
Suzanne S. Schüttemeyer Fraktionsarbeitsgruppe —> Fraktion Fraktionsarbeitskreis —» Fraktion Fraktionsgeschäftsführer —> Parlamentarische Geschäftsführer
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Frankfurter Nationalversammlung Fraktionsloser Abgeordneter -> Abgeordneter Frankfurter Nationalversammlung Die NV von 1848/49 war das erste moderne Nationalparlament in Dtld., allerdings ein -> Parlament im polit. Ausnahmezustand, ein Produkt der Revolution. Es lebte vom zeitweiligen Rückzug Öst.s und Preuß.s, die seine Legitimität niemals anerkannten. Als die beiden Staaten ihre Macht zurückgewannen, war es um seine Existenz geschehen. Die NV war eine Hervorbringung des süddt. Freisinns. Von ihm wurde sie im Frühjahr 1848 gefordert, von ihm wurde ihre Konstituierung vorangetrieben. Zuletzt durch das Frankfurter Vorparlament Anfang April des Jahres: Der Beschluß der Versammlung ging dahin, daß in allen Staaten des -> Deutschen Bundes -> Abgeordnete zu wählen seien nach einem —> Wahlrecht, das nur die „Selbständigkeit" von Wählern und Gewählten zur Bedingung machte. Versammlungsort der NV war die Paulskirche in Frankfurt. Hier trat das Parlament am 18.5.1848 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen, hier tagte es bis zu seiner Selbstauflösung im Mai 1849. Ein linkes Rumpfparlament trat die Nachfolge in Stuttgart an. Seine Zeit wurde nach wenigen Sitzungen gewaltsam beendet. Die NV war reguläres Parlament und verfassungsgebendes -> Organ zugleich. Als amtierende Vertretung, welche die Nachfolge des Bundestags antrat, wählte es sich ein Staatsoberhaupt (Reichsverweser) und bestellte parlament. verantwortliche -» Minister. Als Konstituante erarbeitete sie eine —> Verfassung. Die NV war ein „bildungsbürgerl." Parlament. Nicht durch einen Zensus, der ganze Schichten vom Wahlrecht ausschloß (-> Zensuswahlrecht), sondern weil die Wähler so votierten. Fast 75% der Deputierten hatten eine Hochschule besucht, die Mehrheit unter ihnen waren beamtete Juristen. 124 bekleideten einen Lehrberuf, 184 kamen aus freien Professionen, 106
Frankfurter Nationalversammlung waren Advokaten. Dagegen war die gewerbliche Wirtschaft mit 60 Abgeordneten nur schwach vertreten, desgleichen die Landwirtschaft (46). Handwerker waren an einer Hand abzuzählen. Die NV umfaßte nicht das gesamte polit. Spektrum, sondern sie war ein Parlament derer, die den - » Verfassungsstaat wollten. So gab es auf der Rechten nur einen gemäßigten - » Konservatismus und auf der äußersten Linken den demokrat. Radikalismus. Hochkonservative und Sozialisten fehlten. Die NV war ein Parlament der —> Fraktionen. Schon die Größe der Kammer mit über 600 Abgeordneten machte dies unumgänglich. Die Namen der Zusammenschlüsse geben zu erkennen, daß man sich in Gasthäusern der Stadt zusammenfand. Im Café Milani trafen sich die gemäßigten Konservativen, etwa 40 an der Zahl, im Casino vereinigte sich der rechte Flügel des Liberalismus, die Partei des Verfassungsausschusses und die der großen Namen: Gagem, Dahlmann, Droysen, Waitz, Haym, Welcker, Beseler und anderer. Ihr folgte im Spektrum das linke Zentrum, der Württemberger Hof (v. Mohl, Simon, Biedermann), etwa 100 Mitglieder zählend. Auf der Linken machten sich 2 Gruppierungen das Feld streitig. Der von R. Blum geführte Dt. Hof (60-80) und die Fraktion Donnersberg (40 Abgeordnete). Jene vertraten die republikanisch-parlamentsbewußte Richtung, diese schwankten zwischen -> Parlamentarismus und direkten Aktionen. Insg. gesehen, entwickelten sich die Fraktionen zu unentbehrlichen Instrumenten des Parlaments. Es gab Ansätze eines Fraktionszwangs, aber es gab auch viel Fluktuation und fraktionslose Abgeordnete. Der NV waren mit ihrer Konstituierung 2 Aufgaben gestellt: Sie sollte einen neuen —> Staat begründen - und damit auch entscheiden, wo seine Grenzen verliefen -, und sie sollte eine —» Verfassung stiften. Das Parlament ist an dieser doppelten Aufgabe gescheitert. Dieses Scheitern schien eigentlich schon im September 1848 besiegelt: In der Schleswig-Holstein-
Frankfurter Nationalversammlung Frage spalteten sich Linke und Rechte im Parlament mit der Folge, daß die Linken die Politik der Straße suchten und die Rechten die Hilfe preuß. Truppen anforderten. Von diesem Zeitpunkt an lag das Schicksal des Parlaments in den Händen Öst.s und Preuß. s. Nur der Umstand, daß sich die beiden Großmächte nicht darauf einigen konnten, was der Beendigung der Revolution folgen sollte, gab der NV Spielraum für weitere Verhandlungen, für den Abschluß ihrer Arbeit als verfassungsgebende Versammlung. Die Beratungen selbst hatten im Sommer 1848 mit den -> Grundrechten begonnen und dann eine fast endlose Debatte nach sich gezogen. Als man im Herbst mit dem organisatorischen Teil der Verfassung begann, lebte die NV bereits von der Gunst der Uneinigkeit der Mächte. Die Abgeordneten entschieden sich für die großdeutsche Lösung, d.h. das deutschsprachige Öst. einschließend, und riefen damit den scharfen Widerstand Öst.s hervor. Sie entschieden sich für die Rechtsform des —> Bundesstaats, für ein -> Zweikammersystem mit Volkshaus und Staatenhaus. Jenes nach dem allgemeinen, gleichen, direkten (Männer)wahlrecht bestellt, dieses aus den Abgeordneten der einzelstaatl. Kammern sich rekrutierend. Die Regierungsform blieb die der konstitutionellen Monarchie, aber die Rechte des Staatsoberhauptes (suspensives -> Veto in der Gesetzgebung) waren geschmälert. Hinzu trat eine höchste Gerichtsbarkeit, die auch über Verfassungsstreitigkeiten judizierte. Am Ende stand die Entscheidung über die Oberhauptfrage, bei der sich die Versammlung (nach einem „Geschäft" allgemeines Stimmrecht gegen preuß. Erbkaisertum) für eben diese Lösung entschied. Die Weigerung Friedrich Wilhelms IV. von Preuß., sich auf ein Kaisertum parlament. Herkunft einzulassen, machte das gesamte Verfassungswerk zunichte. Lit: W. Siemann: Die dt. Revolution von 1848/49, Frankfurt/M. 1985; F. Eyck: Dtld.s große Hoffnung, Die Frankfurter Nationalver-
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Freie Demokratische Partei
Frankreich Sammlung 1848/49, München 1973; M. Bötzenhart: Dt. Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848-1850, Düsseldorf 1977.
Hartwig Brandt Frankreich -> Verfassung, frz. -> Nationalversammlung, frz. -> Parlamentsgeschichte, frz. Französische Nationalversammlung ->• Nationalversammlung, französische Französische Verfassung -» Verfassung, französische Frauenbeauftragte / -r Gleichstellungsbeauftragte -> s.a. Gleichheit Frauenrat -> Deutscher Frauenrat Fraunhofer-Gesellschaft ->• Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft Forschung und Technologie —> Bundesforschungsanstalten Freie Demokratische Partei (FDP) wurde 1948 als Zusammenschluß der liberal-demokrat. Gruppierungen der 3 Westzonen und Westberrlins als Partei gegründet (in BW zunächst unter dem Namen Demokratische Volkspartei DVP). Nach Abspaltung der rechtsliberalen Volkspartei 1956 gelang der FDP die trationelle Spannung der Partei in linksund nationalliberale Kräfte aufzuheben und an die überlieferten Leitideen des -» Liberalismus anzuknüpfen. Im Mittelpunkt des Gesellschaftsbildes der FDP stehen die Freiheit und Würde des einzelnen, Rechtsstaatlichkeit und Toleranz. Die FDP hat im Vergleich zu den —> Parteien -> CDU und SPD die geringste Mitgliederzahl. Sie liegt heute bei weniger als 90.000, womit sich der Mitgliederstand nach Zusammenschluß der FDP mit den ehemaligen DDR-Blockparteien LDPD/NDPD im August 1990 mehr als halbiert hat. Die FDP gliedert sich in 16 Landesverbände und als Untergliederung auf der Ebene der Regierungsbezirke in 342
Bezirksverbände sowie in Orts- und Kreisverbände und die Jugendorganisation „Junge Liberale". Höchstes Organ ist der Bundesparteitag, weitere Organe sind der Bundeshauptausschuß und der Bundesvorstand. Ab 1947 setzte sich eine aus liberalen Landtagsabgeordneten gebildete FDPFraktion im Wirtschaftsrat für die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft im Zusammenhang mit der Währungsreform ein. Weil im -> Parlamentarischen Rat 1948 CDU/CSU und SPD fast gleich stark waren, erhielt die FDP einen erheblichen inhaltlichen Einfluß auf die wichtigsten Entscheidungen, wie filr die Bildung des —> Bundesstaates, —> Grundrechte als Verfassungsbestandteil, die führende Rolle der Privatwirtschaft sowie die Klärung der Beziehung zwischen —>• Kirche und —> Staat. Nach Wiederaufbau, Aussöhnung mit dem Westen, der Stabilisierung des Staatswesens und einem lang anhaltenden wirtschaftl. Aufschwung führten die höchst unterschiedlichen Vorstellungen über den Haushaltsplan 1966 zum Bruch der -> Koalition mit der CDU/CSU. Das Ende des Wirtschaftswunders machte einen neuen wirtschaftspolit. Kurs notwendig. In der Oppositionsrolle gegen die -> große Koalition wurden die eigenen programmatischen Positionen überprüft. Die Ablösung des Parteivorsitzenden E. Mende durch W. Scheel 1968 sowie die sozialliberale Koalition 1969 waren die wichtigsten Etappen auf dem Weg zu den Freiburger Thesen der FDP zur Gesellschaftspolitik von 1971. Die polit. Prinzipien liberaler Gesellschaftspolitik wurden hier in ihren praktischen Konsequenzen für die Eigentumsordnung, für die Vermögensbeteiligung, für die Mitbestimmung und für die Umweltpolitik dargelegt. Dieser Reformkurs für die Verwirklichung von mehr Liberalität und mehr sozialer -> Gerechtigkeit sowie die neue Ost- und Entspannungspolitik veränderten nicht nur das Profil, sondern auch die soziologische Struktur der Partei. Im Gegensatz zu großen Leistungen in der Außen-, Europa-
Freie Demokratische Partei und Dtld.politik blieben ehrgeizige innenpolit. Reformvorhaben wie die —> Gleichberechtigung, der —• Umweltschutz oder die -> Bildungs- und —> Medienpolitik häufig im Ansatz stecken. Der Handlungsspielraum der Koalition, die ab 1974 H. Schmidt als Kanzler und H.-D. Genscher als Außenminister und FDP-Parteivorsitzender fortführten, wurde durch krisenhafte Entwicklungen in der Innen- und Wirtschaftspolitik eingeengt. Neue gesellschaftspolit. Bewegungen wie die Grünen und die Friedensbewegung entstanden aus polit. Protest. Die zweite Hälfte der 70er Jahre markierte deshalb den Anfang einer polit. Neuorientierungsphase der FDP, in der nun angesichts der sichtbar werdenden Grenzen des -> Wohlfahrtsstaates die traditionellen marktwirtschaftl. Grundsätze stärker betont wurden. Die Wahlerfolge der Bundespartei, insbes. 1980, lagen und liegen v.a. in der Eigenschaft als Regierungspartei und Korrektiv innerhalb einer Koalition begründet. Dabei wurden die Erfolge der Landesverbände immer abhängiger vom Erscheinungsbild der Bundespartei. Wachsende —> Arbeitslosigkeit, hohe —• Staatsverschuldung sowie der NATO-Doppelbeschluß führten innerparteilich sowie in der Koalition zu Richtungskämpfen, die 1982 im Bruch der sozial-liberalen Koalition gipfelten. Durch ein konstruktives -» Mißtrauensvotum wurde H. Kohl zum Kanzler gewählt, die Koalition von CDU/CSU und FDP bei vorgezogenen Neuwahlen 1983 und dann wieder 1987, 1990 und 1994 bestätigt. Wie schon 1969 führte der Koalitionswechsel und die Art seines Zustandekommens zu Konflikten in der Partei und Austritten prominenter Mitglieder. Der Wende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik stand aber Kontinuität in der Außen- und Deutschlandpolitik, sowie in der Innen-, Rechtsund Umweltpolitik gegenüber. Die programmatische Arbeit wurde v.a. durch das „Liberale Manifest" 1985 fortgesetzt, das die Verantwortung des Individiums und die marktwirtschaftl. Erneuerung zu Leit-
Freie Demokratische Partei prinzipien erhob. Unter dem Vorsitz von M. Bangemann von 1985 bis 1988 gelang die polit. Konsolidierung der FDP und der Wiedereinzug in die Mehrzahl der -» Landesparlamente. Dieser Aufwärtstrend setzte sich unter dem Vorsitzenden O. Graf Lambsdorff fort. 1990 errang sie bei den ersten gesamtdt. Wahlen eines ihrer besten Ergebnisse. 1993 übernahm K. Kinkel die Führung der Partei. Es gelang der FDP aber nicht, innerhalb der Koalition wirklich durchgreifende Reformen wie den Umbau der sozialen Sicherungssysteme oder die Rückführung der Staatsquote durchzusetzen. Erschwert wurde die Lage der FDP durch eine zunehmend starre polit. Lagerbindung von Rot/Grün einerseits und bürgerl. Koalition von CDU/CSU und FDP andererseits, welche die Abhängigkeit vom Koalitionspartner vergrößerte und eine parteiinterne Richtungsdebatte auslöste. Nach starken Verlusten bei der Bundestagswahl 1994 schaffte es die FDP unter der Führung von W. Gerhardt, der den Parteivorsitz 1995 übernahm, v.a. mit der Forderung nach einer spürbaren Senkung der Steuerbelastung von Unternehmen und Bürgern bei Landtagswahlen 1996 die Talsohle wieder zu verlassen. Mit den vom Wiesbadener Parteitag 1997 beschlossenen neuen „Grundsätzen für eine liberale Bürgergesellschaft" will die FDP sich als treibende Kraft für mehr Reformen in Dtld. profilieren. Im Mittelpunkt stehen der Umbau des Sozialstaates und eine Modernisierung der Gesellschaft mit mehr Freiheit von staatl. Regulierung und mehr Selbstverantwortung der Bürger. Auf europ. Ebene gehört die FDP zur Gruppe der „Europ. Liberal, Demokratische und Reformparteien" Inwieweit die FDP Einfluß auf ein liberales europ. Aktionsprogramm nehmen kann, wird auch davon abhängen, wie sie die schwere Krise, vor der sie 1998 steht, bewältigen wird. Lit: J. Frölich: Geschichte und Entwicklung des Liberalismus in Dtld., St. Augustin 21990; P. Lösche / F. Walter: Die FDP, Darmstadt 1996; W. Mischnick / C. Schmalz-Jacob sen (Hg.): 40
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Freie Rede
Freiheit
Jahre FDP - Beilage zur Neuen Bonner Depesche 1988; C. Strohbecke: Die Arbeit der FDP-Abgeordneten im Europ. Parlament seit der ersten Direktwahl 1979, Bochum 1993.
Ulrich Niemann Freie Rede -> Indemnität Freie Schulen —» Privatschulen Freie Wohlfahrtspflege pflege, freie
Wohlfahrts-
Freies Mandat —> Mandat Freiheit ist ein Zentralbegriff neuzeitlichabendländischen polit. Denkens, und als solcher auf das engste verbunden mit der Entwicklung des modernen -> Staates seit Renaissance und Reformation. Die Selbstbestimmung des sittlich autonomen Individuums ist eine Wurzel aller liberaldemokrat. polit. Systeme unserer Zeit. Für Dtld. ist die —> freiheitliche demokratische Grundordnung des —> Grundgesetzes ihr verfassungsmäßiger Ausdruck. Gleichwohl entzieht sich der F.sbegriff einer einfachen Definition; in seiner Vielschichtigkeit ist er eher Gegenstand des polit. Bekenntnisses als der politikwissenschaftl. Analyse. 1. Geschichte Die polit. Bedeutung von F. ist erst mit der „Entdeckung" des Individuums in der Renaissance und seiner schrittweisen Lösung aus ständisch-religiösen Fesseln in den Vordergrund gerückt. In der Antike, im Mittelalter, aber auch im Denken des Islam dominierte ein rechtl. Begriff von F., der sich in der Abwesenheit von Sklaverei und Untertänigkeit erschöpfte. In religiöser Betrachtung ist die Willensfreiheit zentral fllr die jüdisch-christl. Tradition, da sie den Menschen zur Wahl des Guten befähigt. Die Reformation begründet in Martin Luthers F. eines Christenmenschen (1520) -> Gleichheit und (Gewissensfreiheit, in geistlichen Dingen, zugleich aber auch Unterwerfung unter die weltliche Obrigkeit. Gleichwohl liegen in der Reforma-
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tion die Wurzeln der polit. Säkularisierung des F.sbegrifTes (M. Weber 18651920). Der philosophische F.sbegriff ist schon in der Antike ausgebildet. Die Stoiker sehen Entscheidungsfreiheit auch für Sklaven gegeben; für Piaton (427-347 v. Chr.) heißt F., das Richtige und Gute zu tun. In der Neuzeit wird der Höhepunkt der F.sphilosophie mit Kants (17241804) BegrifT sittlicher F. als Selbstgesetzgebung und mit Hegel (1770-1831) erreicht. Dieser sah F. als Einsicht in die Notwendigkeit, und die Weltgeschichte als ihre zunehmende Verwirklichung. Im polit. Denken i.e.S. herrscht im 17. Jhd. der naturrechtl. Disput über Ordnung (Hobbes 1588-1679)) und F. (Locke 16321704). Selbstgestaltung geht über bloße Sicherheit hinaus, und anschließend an Locke wird der F.sgedanke bestimmend für die liberale Aufklärung des 18. Jhd.s. Für Rousseau (1712-1778) ist die freie Geburt des Menschen ein Axiom; die Ketten, in denen er sich überall befindet, gilt es (in der -> volonté générale) zu überwinden. Damit ist F. im liberalen und demokrat. Denken endgültig etabliert; den vielleicht eloquentesten Ausdruck findet sie in J. S. Mills „On Liberty" (1859), wo das Individuum gegen den Zwang der -> Gesellschaft verteidigt wird. 2. F. als Verfassungsprinzip 1776 proklamiert die amerik. Unabhängigkeitserklärung „Leben, F. und das Streben nach Glück" als grundlegende -> Menschenrechte (-> Federalist Papers, —> Verfassung der USA), und die Frz. Revolution stellt F. noch vor Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Verfassungen des 19. und 20. Jhd.s formulieren diese Prinzipien im Grundrechtskanon. Liberale F. versteht sich als Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit, als Verbot für den Staat, in die Selbstbestimmung der —> Bürger einzugreifen. Hinzu kommen polit.-demokrat. -» Teilhaberechte sowie soziale Absicherungsrechte. Damit kann man liberale F. „von" staatl. Bedrückung und demokrat.soziale F. „zu" selbstregierender Teilhabe unterscheiden; hier setzt die Kritik an.
Freiheit
Freiheitliche demokratische Grundordnung
3. Kritik F. im —» Liberalismus und Kapitalismus basierte für K. Marx (18181883) auf der doppelten F. der Arbeiter: Frei von persönlicher Untertänigkeit und frei vom Eigentum an Produktionsmitteln waren sie eine disponible Größe, deren scheinbare polit. F. die tatsächliche Ausbeutung nur verdeckte. Erst die Vergesellschaftung der Produktionsmittel könne das Reich der Notwendigkeit (Hegel folgend) in das Reich der F. überführen. F. war demnach die wachsende Einsicht in die Gesetze von Natur und Gesellschaft, und damit zugleich deren wachsende Gestaltbarkeit. In manchem ähnlich gelagert ist die konservativ-obrigkeitsstaatl. Kritik am Liberalismus, der soziale Sicherheit vermissen lasse. Sowohl die kirchl., v.a. kath. Soziallehre (De rerum novarum 1891) als auch die staatl. Sozialpolitik (Bismarck 1881) lehnen liberale F. als individualistische Libertinage ab. In eine andere Richtung geht die zeitgleiche anarchistische Kritik, für die F. im Rahmen des Staates niemals bestehen kann, und welche die absolute F. eines herrschaftsfreien Bundes von Kommunen (Bakunin 1814-1876, Kropotkin 18421921, Proudhon 1809-1865) an seine Stelle setzen. Gegen diese konkurrierenden Auffassungen hat sich der liberaldemokrat. F.sbegriff in unserem Jhd. behaupten und durchsetzen müssen. Zwei Weltkriege und ein jahrzehntelanger Kalter Krieg sind um die Sicherung der F. geführt worden. Eine klassische moderne Fassung gab Franklin D. Roosevelt in seiner Four Freedoms Speech 1941, als er die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit, die (soziale) F. von Not und die F. von Furcht (durch äußere oder innere Repression) als die Kembestandteile atlantischer demokrat. F. herausstellte. 4. Moderne Ansätze Die zeitgenössische Debatte dreht sich um die Frage, wieviel F. eine Gesellschaft verträgt, und wie F. im Kontext zu anderen zentralen Werten wie Gerechtigkeit, —> Demokratie und -> Gemeinschaft zu sehen ist. Denker wie F.A. v. Hayek, J. Buchanan und R. Nozick
haben in unterschiedlichen Ansätzen einen Minimalstaat und eine mitunter anarchisch anmutende Eigenbestimmung der Bürger vertreten. Umgekehrt scheint die Liberalismus / KommunitarismusDebatte zwischen J. Rawls (A Theory of Justice 1971, dt. 1975) und seinen Kritikern (Taylor, Sandel, Walzer) den alten Streit über liberale, individuelle F. und die Forderungen sozialer Gemeinschaft wieder aufzugreifen. Der Begriff der F. hat mithin nichts von seiner polit. Resonanz eingebüßt, sei es als Kampfruf unterdrückter Minderheiten oder Völker, sei es in der Politik liberal-demokrat. Staaten. Und wahrscheinlich kann die zeitgenössische Debatte keine bessere Grenzziehung finden als Art. 4 der Frz. Menschenrechtserklärung es schon 1789 vermochte: „Die F. besteht darin, alles tun zu können, was einem andern nicht schadet. Also hat die Ausübung der natürlichen Rechte jedes Menschen keine Grenzen als jene, die den übrigen Gliedern der Gesellschaft den Genuß dieser nämlichen Rechte sichern." LU.: 1. Berlin: Freiheit, Frankfurt/M. 1995 (engl. 1969Λ' Geschichtl. Grundbegriffe II, S. 425ff.; J. St. Mill: On Liberty, London 1974 (erstmals 1859); U. Steinvorth: Freiheitstheorien in der Philosophie der Neuzeit, Darmstadt 2 1994.
Michael Dreyer Freiheitliche demokratische Grundordnung ist die Bezeichnung für die Kernprinzipien eines demokrat. —> Verfassungsstaates. In Dtld. benutzten die Verfassungsgeber diesen Begriff an verschiedenen Stellen des -> Grundgesetzes zur Charakterisierung der neu geschaffenen Verfassungsordnung, u.a. in Art. 21 Abs. 2 GG (-» Parteiverbot). Ihn präzis zu definieren war die Aufgabe des —» Bundesverfassungsgerichts, als im Fall der Sozialistischen Reichspartei zum ersten Mal das Verbot einer -> Partei verlangt wurde. In seinem Urteil von 1952 stellte das Gericht fest, daß es nur einen einzigen Typ einer fdGO gäbe, der aber institutionell verschieden entfaltet werden könne. 345
Freiheitsrechte
Frieden
Zu den grundlegenden Prinzipien einer fdGO seien mindestens zu rechnen: die Achtung der —> Menschenrechte, das Demokratieprinzip (-> Volkssouveränität), die —> Gewaltenteilung, die —> Verantwortlichkeit der —> Regierung, die Gesetzmäßigkeit der —> Verwaltung, die Unabhängigkeit der —> Gerichte, das Mehrparteienprinzip mit Chancengleichheit für alle —> Parteien, und das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung von -> Opposition. Öffentl. Bedienstete müssen in Dtld. Gewähr dafür bieten, daß sie aktiv für diese fdGO eintreten. Lit: H. M. Schäfer: Die freiheitlich-demokrat. Grundordnung, München 1982.
W.J. P. Freiheitsrechte —> Grundrechte Freistaat Ein F. ist ein nicht-monarchisches, freiheitlich und demokrat. ausgerichtetes Staatswesen und begrifflich eng verwandt mit der —> Republik. In der —> Bundesrepublik Deutschland führen die Länder —> Bayern, —> Sachsen und —> Thüringen den Titel F. in histor. Anlehnung an die Entstehung Parlament.-demokrat. Länderordnungen nach dem I. Weltkrieg. W.R. Freiwillige Gerichtsbarkeit Die f.G. ist neben der streitigen -> Zivilgerichtsbarkeit und der Strafgerichtsbarkeit die 3. Verfahrensart der -» ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die Bezeichnung geht auf die wörtliche Obersetzung des lat. Begriffes der iurisdictio voluntaria zurück, besagt aber nichts über die Verfahrensgegenstände. Tatsächlich gehören dazu sowohl Rechtsprechungsaufgaben als auch solche der Rechtspflege (Rechtsfürsorge). So richten sich etwa etliche familienrechtl. Sachen, Wohnungseigentumsstreitigkeiten und Landwirtschaftssachen als privatrechtl. Streitverfahren nach dem Verfahrensrecht der f.G.; gleiches gilt z.B. für die -» Rechtsbehelfe im Zusammenhang mit der Anerkennung ausländischer 346
—> Ehen oder der Zulassung als -> Rechtsanwalt als öffentl.-rechtl. Streitigkeiten. Zu den Rechtsfürsorgeangelegenheiten, die entweder dem Schutz einzelner oder des Rechtsverkehrs dienen, rechnen etwa die Vormundschafts-, Personenstands·, Nachlaß-, Registersachen (Führung des -» Grundbuches, des Schiffs-, Handels-, Vereins- und sonstiger Register) etc. Besonders deutlich wird der Fürsorgegedanke beim notariellen Urkundswesen, durch das die Parteien über Bedeutung und Tragweite besonderer Rechtsgeschäfte (z.B. Grundstücksverkehrsgeschäfte, § 313 BGB) belehrt werden sollen. Das Verfahrensrecht der f.G. ergibt sich größtenteils aus dem mehrfach novellierten Gesetz über die Angelegenheiten der f.G. von 1898 (FGG), das durch zahlreiche Vorschriften (etwa die Grundbuchordnung, das Beurkundungsgesetz, das Einfllhrungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz oder das Wohnungseigentumsgesetz) ergänzt oder verdrängt wird. Organe der f.G. sind die Gerichte, die durch Richter oder —> Rechtspfleger handeln und in Teilbereichen die -> Standesämter, Jugendämter (—> Jugendbehörden) oder —> Notare. Lit: U. Bumiller / K. Winkler: Freiwillige Gerichtsbarkeit, München 6 1995\HM. Pawloski/S. Smid: Freiwillige Gerichtsbarkeit, Köln 1993.
Tobias Linke Freizügigkeit -» Grundrechte Frieden Neben dem Begriff der —> Gerechtigkeit, der -> Freiheit und der —> Gleichheit gehört auch der Begriff des F.s zu den Grundkategorien der Politik und des polit. Denkens. Man unterscheidet beim Begriff des F.s die Dimension des äußeren F.s in den internationalen Beziehungen (F. als Abwesenheit von Krieg) von deijenigen des inneren, also innergesellschaftl. F.s. Während man vom internationalen F. allgemein weiß, daß er prekär und seine Herstellung und Sicherung ständige polit.-diplomatische Aufgabe ist, wird der innere F. eines —•
Frieden Staates als selbstverständlich angesehen. Aber ebenso wie der äußere muß auch der innere F. gestiftet werden und bedarf ständiger Pflege. Diese Tatsache kommt jedoch oft deshalb nicht zu Bewußtsein, weil die Gestaltung des inneren F.s in den Selbstverständlichkeiten der —> politischen Kultur zur unreflektierten Gewohnheit geworden ist. Die Habitualisierung verstellt meist den Blick auf die möglichen und tatsächlichen Gefährdungen des inneren F.s. Eine Vergegenwärtigung theoretischer Zusammenhänge soll das Verständnis des inneren F.s klären, bevor der Blick auf histor. Entwicklungslinien gerichtet wird. 1. Jeder Volk steht vor dem Problem der gemeinsamen öffentl. Zusammenlebens, vor der Frage, wie die allgemeinen Angelegenheiten geordnet werden sollen. Indem sich die Angehörigen eines Volkes mittels eines bestimmten Konzepts auf einen Modus des gemeinsamen Zusammenlebens verbindlich einigen, konstituieren sie sich im —> Staat als der handlungsfähigen Einheit des —> Volkes. Im modernen —> Verfassungsstaat ist histor. erstmals die polit. Ordnung am Menschsein des Menschen selbst orientiert, d.h.: das Prinzip des Verfassungsstaates ist die Person. Es findet seinen Ausdruck in der Institutionenordnung und den —> Grundrechten der —> Verfassung als der rechtl.polit. Grundordnung des Volkes. Auf deren Grundlage werden die Probleme des Zusammenlebens bewältigt. Die Einigung auf das Konzept des Zusammenlebens ist ein originär polit. Akt, aus dem der Staat mit seiner Ordnung hervorgeht. Die polit. Philosophie der Neuzeit faßt diesen Vorgang meist im Bild des Gesellschaftsvertrags. Es war v.a. Hobbes (1588-1679), der 1651 in seinem Buch Leviathan den inneren Zusammenhang zwischen der als Vertragsschluß aller Individuen miteinander gedachten Staatsgründung und dem Problem des innergesellschaftl. F.s heraushob. Hobbes verdeutlicht, daß der innere F. prekär wird, wenn sich Individuen in den Fragen des öffentl. Zusam-
Frieden menlebens auf ihre natürliche - oder in den Worten Kants (1724-1804): auf ihre wilde - Freiheit anstatt auf das gemeinsame Konzept des Zusammenlebens berufen. Der Rekurs auf die natürliche —> Freiheit des einzelnen führt dann zur Ablehnung der polit. Institution des Staates. Die extreme Konsequenz dieser Ablehnung ist der Bürgerkrieg, den Hobbes als das Gegenmodell des Staates vorstellt. Der aus dem gemeinsamen Willen aller resultierende Staat ist dementsprechend die Aufhebung des Bürgerkrieges, sein Sinn ist die Stiftung und Gewährleistung des innergesellschaftl. F.s. So erhalten die —» Bürger mit dem Staat einen Zustand des öffentl. F.s, indem sie ihre natürliche Freiheit gegen die bürgerl. Freiheit eintauschen. Im hobbesschen Bild des Vertrages wird deutlich, daß der F. des Staates nicht naturwüchsig ist, sondern ausdrücklich gestiftet werden muß. Das Bild täuscht aber darüber hinweg, daß die Stiftung des innergesellschaftl. F.s tatsächlich kein einmaliger Vorgang ist, sondern vielmehr einen ständigen Integrationsprozeß darstellt, in dem die Verfassung immer wieder neu verwirklicht wird: Der F. des Staates muß täglich gelebt und angesichts neuer polit, sowie gesellschaftl. Herausforderungen immer wieder aktualisiert und bestätigt werden. 2. Damit ist auf die vorstaatl. Voraussetzungen des inneren F.s verwiesen. In dem kontinuierlichen polit. Prozeß, in welchem der F. des Staates konkret wird, aktualisiert sich im Konzept des Zusammenlebens ein in der Geschichte des Volkes erworbenes Ordnungswissen, eine gesamtgesellschafll. Mentalität, welche die subjektive Seite der Verfassung darstellt. Die Mentalität enthält die Vorstellungen eines Volkes davon, wie es zusammenleben und seine gemeinsamen Angelegenheiten bewältigen will. Sie enthält insofern Gerechtigkeitsvorstellungen und damit den Maßstab für die —> Legitimität der betreffenden polit. Ordnung. Auf diese Weise ist der F. des Staates, ver-
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Frieden mittelt über die Mentalität, mit der Gerechtigkeit verknüpft: Entspricht die staatl. Ordnung nicht mehr den Gerechtigkeitsvorstellungen des Volkes, dann wird der F. des Staates prekär, dann wächst die Gefahr von Revolution und Bürgerkrieg. Daher kann man sagen, daß der F. des Staates von dessen gerechter Ordnung abhängt. 3. Im demokrat. Verfassungsstaat wird der Gefahrdung des F. s dadurch vorgebeugt, daß Konflikte, die als solche keineswegs Unfrieden sind, als produktiver Bestandteil einer lebendigen - > politischen Kultur angesehen werden und daß die Bürger, vermittelt über —> Institutionen wie - > Wahlen, —> Parteien oder —> Verbände, an der Gestaltung der staatl. Ordnung und damit am innergesellschaftl. F. mitwirken. Diese Gestaltung ist dabei i.d.R. Resultat friedlich ausgetragener polit. Konflikte. Hier stellt der moderne Verfassungsstaat eine Weiterentwicklung des Modells von Hobbes dar: Während bei diesem der innere F. Aufgabe einer von der Gesellschaft getrennten und unbeeinflußten Politik bleibt und damit die Gefahr einer inneren Aushöhlung des Staates durch polit. Entmündigung seiner Bürger gegeben ist, hat der demokrat. Verfassungsstaat die Mitwirkung der Bürger an der Gestaltung der Ordnung institutionalisiert und damit die Möglichkeit eröffnet, sich den gesellschaftl. Entwicklungen im friedlichen Wandel anzupassen. Ist die Ausformung des staatl. F.s in der - > Demokratie eine Angelegenheit aller Bürger, so ist der F., soll er dauerhaft bestehen, angewiesen auf F.stugenden der Bürger. Im Anschluß an C. Graf v. Krockow sind dabei v.a. folgende Tugenden als für eine polit. Kultur des F. s unabdingbar zu nennen: Toleranz, Kompromißbereitschaft und die mit beiden eng verwandte Mäßigung in polit. Fragen, Konfliktfähigkeit, Sensibilität für polit, und rechtl. Regeln, ein ausgewogenes Verhältnis von —• Vertrauen und Mißtrauen in bezug auf Verfassung und Politik, polit. Engagement und die gleichzei-
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Frieden tige Fähigkeit zur Distanz, ein aus der Anerkennung anderer resultierendes Selbstverständnis des einzelnen und die Bereitschaft, die eigenen polit. Interessen - ohne diese absolut zu setzen - im öffentl. Interessenstreit zu vertreten. Mangelt es bei der Bewältigung polit. Konflikte in der Demokratie an einer durch solche Tugenden geprägten polit. Kultur des F.s, so bedeutet dies über kurz oder lang eine Gefährdung des inneren F.s. 4. Der Wert der F.sleistung des modernen Verfassungsstaates läßt sich adäquater ermessen, wenn man das F.sproblem in histor. Perspektive in den Blick nimmt. Zum öffentl. Leben des Mittelalters gehörte die Fehde als Instrument der rechtl. Selbsthilfe in Auseinandersetzungen polit, und rechtl. Natur. Die Fehde war zwar keineswegs gesetzlose Willkür. Sie blieb aber auch trotz der Tatsache, daß sie in rechtl. Formen gefaßt war, mit Gewalt also mit Unfrieden - verbunden. Es wurden besonders seit dem 10. Jhd. Versuche unternommen, Gewalt und Fehde einzuschränken und zurückzudrängen. Als Instrument hierfür entwickelte man seitens der Kirche die Idee des Gottesfriedens, mit dem unter Androhung kirchl. Strafen das Fehderecht zeitlich und inhaltlich begrenzt wurde, indem man Fehdeanlässe und -Objekte einzuschränken und die Fehde schließlich für bestimmte Zeiten völlig zu verbieten trachtete. Die Wirksamkeit des Gottesfriedens war jedoch sehr beschränkt, v.a. aufgrund der Tatsache, daß die geistliche Autorität im Zweifel nicht hinreichte, dem F.sgebot auch die notwendige Geltung zu verschaffen. Er blieb abhängig von der Unterstützug durch die weltliche Obrigkeit. Von weltlicher Seite wurde dementsprechend eine andere F.sidee entwickelt, die Idee des Landfriedens, der den Gottesfrieden, allmählich ablöste. Die Landfriedensbewegung baute auf der Basis weltlicher polit. Macht die Instrumente der Fehdebeschränkung aus und strebte nach einer Durchsetzung gerichtlicher Konfliktlösungen. Der Bruch eines vereinbarten Land-
Frieden friedenss wurde hierzu unter weltliche Strafe gestellt. Die Landfriedensbewegung stellte einen wichtigen Schritt hin zur Etablierung einer über den streitenden Parteien stehenden überlegenen Macht dar, aber auch ihre Wirksamkeit war noch begrenzt, da der Landfrieden nur für jene verbindlich war, die sich ihm zuvor ausdrücklich angeschlossen hatten. Erst gegen Ende des 15. Jhd.s waren die weltlichen Zentralgewalten soweit erstarkt, daß unter den gegebenen Umständen die schon zu Beginn des 12. Jhd.s verfolgte Absicht eines reichsweiten Landfriedens als im Bereich des Machbaren liegend erneut in Angriff genommen werden konnte. So wurde auf dem Reichstag zu Worms 1495 ein ewiger Landfrieden proklamiert, der jedoch erneut daran scheiterte, daß es dem Reich an der Macht fehlte, die F.sregelung durchzusetzen. Stattdessen waren die territorialen Herrschaftsgewalten innerhalb des —> Reiches inzwischen erstarkt und weitgehend etabliert. Die Tätigkeit dieser frühneuzeitlichen —» Ständestaaten nahm zu, was sich insbes. in einer allmählichen Zentralisierung im Bereich der Behörden - und d.h. auch: des Gerichtswesens - zeigte. So vergrößerte sich die Macht dieser Staaten innerhalb des Reiches, was ihnen ermöglichte, das lange Jhd.e unzureichend gelöste Problem der Pazifizierung des - > Rechts endlich wirksam zu bewältigen: Der neuzeitliche Staat zog das Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungsmonopol an sich und konnte so dank seiner souveränen Macht die gewaltsame rechtl. Selbsthilfe unterbinden. Die knappe histor. Skizze zeigt, daß der Staat, der sich vom Ständestaat in einem etwa 4 Jhd.e dauernden Prozeß schließlich zum demokrat. Verfassungsstaat weiterentwikkelt hat, nicht nur im Hinblick auf das öffentl. Zusammenleben einer Gesellschaft als Ganzer den F. gewährleistet. Vielmehr befriedet er auch die rechtl. Beziehungen privater Individuen auf wirksame Weise. Die F.sleistung des modernen Staates beruht dementspre-
Friedrich-Ebert-Stiftung chend in erheblichem Maße auf seiner Monopolisierung der rechtl. Gewalt. 5. Innerer und äußerer F. eines Staates stehen in vielfältigen Zusammenhängen. Für den modernen Verfassungsstaat wird in diesem Kontext v.a. seitens der democratic peace-Forschung darauf verwiesen, daß liberaldemokrat. Staaten aufgrund ihrer inneren Verfaßtheit in aller Regel gegeneinander keine Kriege fuhren. Diesen Sachverhalt hat schon vor 200 Jahren systematisch-philosophisch Kant erörtert. Kant forderte in seiner Schrift „Zum ewigen F . " als positive Bedingung des internationalen F.s die republikanische Verfaßtheit der Staaten in ihrem Innern. Lit.: H. Buchheim: Beiträge zur Ontologie der Politik, München 1993; F. Dickmann: Friedensrecht und Friedenssicherung, Göttingen 1911, M. Henkel: Frieden und Politik, Berlin 1998; C. Graf von Krockow: Gewalt für den Frieden?, München 1983; R. Meyers: Begriff und Probleme des Friedens, Opladen 1994; D. Senghaas (Hg.): Den Frieden denken, Frankfurt/M. 1995; D. Slernberger: Die Politik und der Friede, Frankfurt/M. 1986. Michael Henkel Friedrich-Ebert-Stiftung Die FES wurde auf Wunsch des Reichspräsidenten F. Ebert nach seinem Tod 1925 zur Förderung des demokrat. Bewußtseins in allen Schichten des dt. Volkes und der Verständigung unter den Völkern gegründet. 1933 wurde sie verboten, 1947 neugegründet. Wesentliche Aufgabe der SPDnahen (—> SPD), bundesweit agierenden FES, bei der es sich um einen eingetragenen Verein mit Sitz in Bonn handelt, ist heute wie bei den anderen Parteistiftungen die polit. Bildungsarbeit. Dem dienen die Studienförderung (Hochbegabtenförderung) in- und ausländischer Studenten durch Stipendien, die Unterstützung gesellschaftspolit. Erwachsenenbildung in Ausbildungsstätten und Lehrveranstaltungen, die wirtschaftl., soziale und kulturelle Förderung Afrikas, Asiens und Lateinamerikas (insbes. durch Unterstützung
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Friedrich-Naumann-Stiftung
Führung
des Ausbaus des Bildungswesens in Entwicklungsländern) und die ideelle und finanzielle Unterstützung wissenschaftl. Grundlagenforschung. Zum letztgenannten Zweck unterhält die FES ein eigenes Forschungsinstitut (—> Politische Stiftung). Lit: Η. v. Vieregge: Parteistiftungen, BadenBaden 1977.
J. U. Friedrich-Naumann-Stiftung Die der FDP nahestehende FNS ist eine selbständige -» Politische Stiftung privaten Rechts und hat ihren Sitz in Königswinter. Sie dient gemeinnützigen Zwecken. In Begegnungsstätten im In- und Ausland werden polit. Gegenwartsprobleme, histor. und ideengeschichtl. Entwicklungen sowie wirtschaftl., soziales und techn.wissenschaftl. Wissen vermittelt. Neben der polit. Bildungsarbeit wird der Politikdialog auch im Inland zunehmend zentraler Bestandteil der Arbeit der FNS. Ziel dieser Kemaufgabe ist es, den Austausch von liberalen Ideen und Erfahrungen zwischen Führungskräften und Multiplikatoren zu ermöglichen. 1997 nahmen an den nationalen und internationalen Veranstaltungen der inländischen Bildungsstätten der FNS 23.000 Teilnehmer teil. Begabte junge Menschen werden durch die Vergabe von Stipendien unterstützt. In 1997 wurden insg. 680 Stipendaten gefördert. Das Archiv des dt. —> Liberalismus in Gummersbach, das zur FNS gehört, betreibt zeitgenössische und histor. Liberalismusforschung. Für die FNS sind 250 Mitarbeiter, davon ca. 40 im Ausland, tätig. Vorsitzender des Vorstandes ist seit 1995 Dr. O. Graf Lambsdorff, MdB. Lit.: Friedrich-Naumann-Stiftung: Jahresbericht 1997, St. Augustin 1998; dies. (Hg.): Jahrbuch des Liberalismus, St. Augustin zuletzt 1998. U.N.
Frühkonstitutionalismus - » Konstitutionalismus Führung, politische Allgemein kann F. 350
als das zielorientierte und planvolle Einwirken auf Menschen in einer Organisation definiert werden. F. bezeichnet damit eine der zentralen Funktionen, die von allen Organisationen erfüllt werden müssen - neben anderen Funktionen wie Informationsbeschaffung und -Verarbeitung, Koordination, Konfliktregelung, Kontrolle, Außendarstellung, —> Repräsentation, —> Legitimation. Dies gilt auch für polit. Organisationen wie - » Parteien, -> Fraktionen, —» Parlamente und -> Regierungen. Empirisch läßt sich dann fragen nach unterschiedlichen F.smodellen (z.B. Harzburger Modell, Neues Steuerungsmodell usw.), F.skonzepten (z.B. kooperative F.), nach dem tatsächlichen F. s verhalten oder bestimmten F.sstilen und deren Auswirkungen auf Effektivität, Effizienz, Transparenz, Partizipation und Legitimität der jeweiligen Organisation. Zur polit. F. eines Landes werden neben dem -> Staatsoberhaupt und der Regierung üblicherweise auch die Mitglieder der übrigen Verfassungsorgane gezählt, zumindest aber die Parlamentspräsidien und Fraktionsvorstände sowie außerdem die Parteipräsidien oder -vorstände. Aufschluß darüber, wer zum engeren F.skreis gehört und wer nicht, geben statt der formalen Spitzengremien häufig eher informale Zirkel wie sog. Küchenkabinette, Koalitionsausschüsse oder Kanzlerrunden, wo die wesentlichen Entscheidungen fallen. Zur F. seilte eines Landes (-> Elite) zählen nicht nur Politiker, sondern auch bedeutende Unternehmer, Verbandsspitzen, Meinungsmacher usw. Inwieweit auch die F.skräfte in der Ministerialverwaltung hinzugezählt werden müssen, war in (West-) Dtld. - im Unterschied zu Ländern, wo auch administrative F.spositionen durch -> Wahl errungen oder vom Wahlsieger neu besetzt werden - lange umstritten. Inzwischen gilt eine gedankliche Trennung zwischen -» Politik und „unpolit." -> Verwaltung als überholt, auch wenn die administrativen Berater nicht über ein eigenes polit. ->
Führung Mandat verfügen. Wenn von polit. F. gesprochen wird, so kann damit aber nicht nur irgendein Spitzengremium oder eine allgemeine Funktion von Organisationen, sondern ein ganz bestimmtes Verhalten gemeint sein. Anstelle von polit. -> Steuerung, was wiederum relativ vage eine allgemeine Funktion von Systemen beschreibt, meint polit. F. in diesen Fällen eine persönliche, charismatische Leistung (leadership). Dies gilt für die von Konrad Adenauer betriebene Westintegration oder die Ostpolitik Willy Brandts ebenso wie für das Nutzen der Chance zur —> Deutschen Einheit durch Helmut Kohl. Der Begriff kann schließlich dazu dienen, polit. Systeme kurz zu charakterisieren: Das Führerprinzip als ein am Militär orientiertes, streng hierarchisch gegliedertes, auf eine Einzelperson (Führer) bezogenes Organisations- und Entscheidungsprinzip wurde und wird v.a. in faschistischen oder nationalistischen Bewegungen und Parteien und in autoritäten oder totalitären Regimen angewendet (-> Totalitarismus); „Führerstaat" beschreibt die Herrschaftsstruktur des -> Nationalsozialismus nach Ausschaltung der Sturmabteilung (SA) durch den Anspruch eines auf plebiszitäre Akklamation gestützten, charismatischen Führers auf polit. Alleinherrschaft im Rahmen eines Einparteiensystems, das zunehmend totalitäre Züge herausbildete; als elitistische Führerdemokratie gilt allgemein eine polit. Ordnung mit herausragender Rolle von Inhabern polit. F.spositionen, die sich i.d.R. auch auf Elemente einer charismatischen Herrschaft (M. Weber 1865-1920) stützen. Hier gibt es Bezüge zur - » Kanzlerdemokratie, als welche die BRD zeitweise charakterisiert wurde. Lit: Β. Kellermann: Political Leadership, Pittsburgh 1987; K.H. Niclauß: Kanzlerdemokratie, Stuttgart 1988; IV. Rudzio: Das polit System der BRD, Opladen 41996; H. Siedentopf: Zur Neuorientierung eines Begrifis, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1988, S. 149ff; D. T. Stuart: Führung, in: E. Lippert/R.
GASP Wakenhut (Hg.), Handwörterbuch der Polit. Psychologie, Opladen 1983, S. 103ff.
Göttrik Wewer Führungszeugnis -> Bundeszentralregister Fünf-Prozent-Klausel Sowohl das —> Bundeswahlgesetz wie die Wahlgesetze der Bundesländer enthalten —> Sperrklauseln für die Teilnahme der polit. -» Parteien an der Mandatsverteilung nach der Wahl. Aufgrund der F. - alternativ gibt es im Bundestagswahlrecht die sog. -> Grundmandats-Klausel - werden bei der Verteilung der zu vergebenden Sitze bei Bundestagswahlen nur Parteien berücksichtigt, die mindestens 5 v.H. der im Wahlgebiet abgegebenen Zweitstimmen erhalten haben (§ 6 Abs. 6 BWG). Entsprechende Regelungen enthalten die landesrechtl. Wahlvorschriften. Durch die Sperrklausel soll der mit dem Verhältniswahlsystem verbundenen Gefahr des Aufkommens kleinster Parteien und der Parteienzersplitterung vorgebeugt werden, aus denen sich ernsthafte Beeinträchtigungen der FunktionsfMhigkeit des gewählten —> Parlaments ergeben können. W. Sch. Fürsorge —» Sozialrecht Fürsorgepflicht —> Beamte
G 7-Staaten / Ρ 8 (Political 8) ist der Zusammenschluß der führenden Wirtschaftsnationen der Erde zur Abstimmung ihrer Wirtschafts- und Außenpolitiken auf Regierungsebene. Ihnen gehören an: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, USA, Rußland. G10-Kommission —» Nachrichtendienste, Kontrolle der GASP Abk. für Gemeinsame Außen- und 351
GASP Sicherheitspolitik 1. Rechtl. Einordnung Der —>· EU-Vertrag regelt im Titel V, Art. J-J. 11 Gegenstand und Ziele der GASP. Diese Bestimmungen zur polit. Zusammenarbeit ergänzen gem. Art. A, Abs. 3, S. 1, 2. Halbs. EUV die Union und begründen insoweit eine nur intergouvernementale Zusammenarbeit, die Völkerrecht!. einzuordnen ist, da den im Rahmen der Titel V und VI EUV tätig werdenden Institutionen keine Hoheitsrechte durch die Gemeinschaftsrechtsordnung übertragen worden sind. Gem. Art. J. 11, Abs. 1 EUV finden jedoch einzelne Vorschriften des EGV Anwendung. Der Titel V des EUV wird gem. Art. L EUV von der Zuständigkeit des -» Europäischen Gerichtshofs ausgeschlossen, wodurch die vertragliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten gem. Art. J. 1, Abs. 1 EUV eine GASP zu erarbeiten und zu verwirklichen sowie diese Politik gem. Art. J. 1, Abs. 4 EUV aktiv und vorbehaltlos im Geist der Loyalität und gegenseitigen Solidarität zu unterstützen, nicht eingeklagt werden kann. 2. Ziele der GASP Die Ziele der GASP sind nach Art. J. 1 Abs. 2 EUV die Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden Interessen und der Unabhängigkeit der Union; die Stärkung der Sicherheit der Union und ihrer Mitgliedstaaten in allen ihren Formen; die Wahrung des -> Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit; die Förderung der internationalen Zusammenarbeit; die Entwicklung und Stärkung von -> Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der —> Menschenrechte und Grundfreiheiten. Ergänzend zeigt Art. J. 4 Abs. 1 EUV, daß die GASP sämtliche Fragen umfaßt, die die Sicherheit der EU betreffen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, welche zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte. Insoweit bestehen außenund sicherheitspolit., aber auch verteidigungspolit. Zielsetzungen. 3. Institutionelle Struktur der GASP Der 352
GASP -> Europäische Rat bestimmt nach Art. J. 8 Abs. 1 EUV die Grundsätze und die allgemeinen Leitlinien der GASP (vgl. auch Art. D Abs. 1 EUV zur grundsätzlichen Funktion des Europ. Rates, wonach dieser der Union die erforderlichen Impulse gibt und die allgemeinen polit. Zielvorstellungen festlegt). Diese Leitlinien sind nach Art. J. 3 Ziff. 1; J. 8 EUV Grundlage der Entscheidungen des —• Ministerrates. Der Rat ist das Beratungsund Entscheidungsorgan für die GASP. 4. Handlungsformen der GASP beschränken sich auf die gegenseitige Untemchtung und Abstimmung, einschließl. der Festlegung gemeinsamer Standpunkte und die Annahme sowie Durchführung gemeinsamer Aktionen. Während der gemeinsame Standpunkt zu konformem Verhalten auf mitgliedstaatl. Ebene führt, besteht die gemeinsame Aktion in einem gemeinsamen Vorgehen auf Unionsebene. 5. Die GASP nach dem —» Amsterdamer Vertrag Durch Art. J.16 / Art. 26 n.F. EUV ist vorgesehen, als neue Institution einen „Hohen Vertreter" für die GASP einzuführen, der personell mit dem Generalsekretär des Rates identisch ist und den Rat in Angelegenheiten der GASP unterstützt. Weiterhin ist die Einrichtung einer Strategieplanungs- und Frühwameinheit geplant. Zu den bisherigen Instrumenten der GASP (gemeinsame Standpunkte und Aktionen) tritt eine vom Europ. Rat einstimmig zu beschließende „gemeinsame Strategie" hinzu. Um die außenpolit. Maßnahmen der EU kohärenter, effizienter und auch transparenter zu gestalten, werden die Vorbereitung, Beschlußfassung und Durchführung verbessert. Hierfür dient v.a. ein Verfahren der konstruktiven Stimmenthaltung. Danach ist der sich enthaltende Mitliedstaat zur Durchführung des Beschlusses nicht verpflichtet, jedoch muß er sich solidarisch demgegenüber verhalten, was die anderen Mitgliedsländer einstimmig beschließen. Durch Art. J. / Art. 17 n.F. EUV wird versucht, ohne strukturelle Änderungen die militärisch-operativen
Geheimhaltungspflicht
GATT Möglichkeiten der GASP durch verstärkte Heranziehung der WEU auszubauen. Letzteres wird dadurch ermöglicht, daß sämtliche WEU-Vollmitglieder zugleich Mitgliedsländer der EU sind. Lit: G. Burghardt / G. Tebbe: Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU - Rechtl. Struktur und polit. Prozeß, in: EuR 1995, S.lff.; E. Regelsberger / M. Jopp: Und sie bewegt sich doch! Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nach den Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages, in: integration 1997, S. 255ff.
Dietmar 0. Reich GATT Das General Agreement on Tariffs and Trade wurde am 30.10.1947 von 23 Staaten in Genf unterzeichnet und trat am 1.1.1948 in Kraft. Ursprünglich als Grundlage einer internationalen Handelsorganisation (ITO) gedacht, behielt man das Provisorium GATT nach dem Scheitern der Verhandlungen über die ΓΓΟ bei. Zielsetzung des GATT ist die weltweite Durchsetzung des Freihandels durch Abbau von Zöllen und anderen Handelshenramissen. Zentrale Prinzipien sind die Beseitigung mengenmäßiger Beschränkungen sowie die Meistbegünstigungsklausel, nach der jede mit einem Mitgliedstaat ausgehandelte Vergünstigung auch allen anderen zugebilligt werden muß. Mit den Erfolgen im Zollabbau wächst jedoch seit Beginn der 80er Jahre die Bedeutung nicht-tarifärer Handelshemmnisse. Neuregelungen der Investitionsauflagen (TRIMS), zum Schutz geistigen Eigentums (TRIPS) sowie zum Dienstleistungsverkehr (GATS) kamen daher hinzu. Mit dem Abschluß der Uruguay-Runde wurde Ende 1993 das Aufgehen des GATT in der neuen World Trade Organization (WTO) beschlossen. Lit.: Heinz Hauser: Das neue GATT, München 1995.
K.R. Gauck-Behörde - » Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
Gebietshoheit —> Staatsgebiet Gebietskörperschaft —> Körperschaft des öffentlichen Rechts Gebühren stellen neben den —> Steuern, - » Beiträgen und —> Sonderabgaben eine weitere Art der öffentl.-rechtl. —> Abgaben dar. Diese als „Verwaltungspreis" bezeichneten Geldleistungen werden für die individuelle Inanspruchnahme einer staatl. Leistung oder Einrichtung geschuldet. Innerhalb der G. unterscheidet man insbes. zwischen Verwaltungs- und Benutzungsgebühren. Verwaltungsgebühren werden für die Vornahme einer Amtshandlung erhoben (Z.B.Ausstellung eines Reisepasses). Benutzungsgebühren fallen dagegen bei der Inanspruchnahme einer öffentl. Einrichtung an (z.B. Nutzung einer öffentl. Bücherei). Für die Bemessung der G. gilt das Prinzip einer kostenmäßigen Äquivalenz, wonach sie als Ausgleich für die entstandenen Kosten der öffentl. Leistung dienen sollen. Von den Steuern unterscheiden sich G. insbes. durch die kausale Verküpfung an eine (Gegen-)Leistungsgewährung. Β. V. Gegenzeichnung - » Kontrasignatur Geheime Abstimmung —> Abstimmung Geheimdienst Kontrolle der
->
Nachrichtendienste,
Geheimhaltungspflicht ist die Pflicht, Geheimnisse, die nur einem bestimmten Personenkreis zugänglich sind, nicht preiszugeben bzw. über sie Verschwiegenheit zu wahren. Geheimnis Eine Kenntnis, die auf einen bestimmten Personenkreis beschränkt ist (z.B. Amtsgeheimnis, Brief-Post-Fernmeldegeheimnis, Steuergeheimnis, Datenschutz). Geheimhaltungsgrade Hinsichtlich der Geheimnisse der -> Bundesrepublik Deutschland existiert ein abgestufter Katalog von Sicherheitsmaßnahmen zur 353
Geheimhaltungspflicht Geheimhaltung von Verschlußsachen (VS). Geheimnisse sind 1. „Streng geheim" für VS, deren Kenntnis durch Unbefugte den Bestand der BRD oder eines ihrer —> Länder gefährden könnte. 2. „Geheim" für VS, deren Kenntnis durch Unbefugte die Sicherheit der BRD oder eines ihrer Länder gefährden oder ihrem Ansehen schweren Schaden zufügen könnte. 3. „VS-Vertraulich" für VS, deren Kenntnis durch Unbefugte den Interessen oder dem Ansehen der BRD oder einem ihrer Länder abträglich sein könnte. 4. „VS-Nur für den Dienstgebrauch" für solche VS, die keinem der oberen 3 Geheimnisse unterfallen, aber trotzdem nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind, z.B. die Geheimschutzordnung des Dt. Bundestages. Im —> Verwaltungsrecht schützt das Amtsgeheimnis, dem der —> Beamte und der sonstige öffentl. Bedienstete unterliegen, die Vertraulichkeit dienstlicher Vorgänge und persönlicher Daten. Für Beamte gilt nach § 39 BRRG eine allgemeine Verschwiegenheitspflicht für dienstlich bekanntgewordene Angelegenheiten. Das Kommunalrecht hält darüber hinaus Ratsmitglieder und Kreistagsmitglieder an, Angelegenheiten geheim zu halten, die ihnen während ihrer Tätigkeit bekannt geworden sind. Im Verwaltungsverfahren haben die Beteiligten Anspruch darauf, daß die Geheimnisse ihres persönlichen Lebensbereiches und ihre Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse von der —> Behörde nicht unbefugt offenbart werden (§ 30 —> Verwaltungsverfahrensgesetz). Spezialgesetzlich sind das Steuergeheimnis und Sozialgeheimnis (§ 30 AO, § 35 SGB I) geschützt. Darüber hinaus regelt das Bundesdatenschutzgesetz den zurückhaltenden Umgang mit Daten (—> Datenschutz). Auch im —> Arbeitsrecht obliegen sowohl den Arbeitnehmern als auch den Arbeitgebern eine sog. Verschwiegenheitspflicht über geheimzuhaltende Tatsachen und betriebliche Informationen, so z.B. Unterlassen der unbefugten Weitergabe von 354
Geheimhaltungspflicht Geschäftsgeheimnissen. Im —> Gesellschaftsrecht verpflichten zahlreiche Normen, z.B. das AJktiengesetz, einen näher bezeichneten Personenkreis zur Verschwiegenheit über Geheimnisse der Gesellschaft und bestimmte andere Tatsachen. Besondere Probleme stellen sich in der Praxis bei der G. der Arbeitnehmervertreter, die im Rahmen der Mitbestimmung Zugang zur Geheimsphäre der Gesellschaft haben, gegenüber der von ihnen repräsentierten Belegschaft. Soweit eine Person verpflichtet ist, Geheimnisse zu wahren, hat sie in diesem Umfang ein Aussageverweigerungsrecht. Zum Schutz von Geheimnissen kann für eine Gerichtsverhandlung darüber hinaus die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden (§ 172 GVG), nämlich 1. wenn die Gefährdung der Staatssicherheit oder der öffentl. Ordnung zu besorgen ist, 2. wenn ein wichtiges Geschäfts- oder Betriebs-, Steuer- oder Erfindungsgeheimnis Gegenstand ist, durch dessen Erörterung überwiegend schutzwirdige Interessen verletzt würden, 3. wenn ein privates Geheimnis erörtert wird, dessen unbefugte Offenbarung durch den Zeugen oder Sachverständigen mit Strafe bedroht ist. In diesen Fällen kann auch den Anwesenden eine Geheimhaltung von Tatsachen zur Pflicht gemacht werden (§ 174 Abs. 3 GVG ) . Geheimnisverrat ist der Sammelbegriff für den Bruch bestimmter geschützter privater oder öffentl. Geheimnisse. Nach § 203 Abs. 1 und 2 StGB wird der Verrat von Privatgeheimnissen durch Amtsträger oder andere für den öffentl. Dienst Tätige bestraft, während § 353b StGB den Verrat von Dienstgeheimnissen oder die Verletzung einer besonderen öffentl-rechtl. G. unter Strafe stellt. § 354 StGB ahndet die Verletzung des -> Post- und Fernmeldegeheimnisses durch Postbedienstete sowie § 355 StGB die des Steuergeheimnisses durch Amtsträger und ihnen gleichstehende Personen. Der Verrat von Privatgeheimnissen (Bruch der Schweigepflicht durch bestimmte Berufsträger z.B. Ärzte) wird nach § 203 Abs. I StGB bestraft. Das
Geheimschutz
Geldmenge
Verwerten fremder Geheimnisse ist in § 204 StGB eigens unter Strafe gestellt. Für Beamte kann die Verletzung neben der strafrechtl. Konsequenz auch noch ein -> Disziplinarverfahren nach sich ziehen (s.a. -> Geheimschutz). Lit.: C. Dierks: Schweigepflicht und Datenschutz in Gesundheitswesen und medizinischer Forschung, Paderborn 1993; A. Elsener: Das Vormundschaflsgeheimnis, Zürich 1993; W. Würthwein: Innerorganisatorische Schweigepflicht im Rahmen des § 203 StGB, Tübingen 1992. Karlheinz Hösgen
Geheimschutz Die G.Ordnung des —> Deutschen Bundestages (Anlage 3 zur GOBT) sichert die Geheimniswahrung im Interesse des Staatsschutzes und im Interesse Privater. Die Notwendigkeit eines solchen Diskretionsschutzes im ersten Fall ergibt sich daraus, daß das -> Parlament zur effizienten Wahrnehmung seiner Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion auch geheime Informationen benötigt, die ohne solche Absicherung von der —> Regierung unter Hinweis auf Sicherheitsbedenken verweigert werden könnten. Auf der anderen Seite soll die G.ordnung Vorgänge schützen, welche die Privatsphähre von —> Bürgern oder interne Geschäftsunterlagen von Unternehmen betreffen. Die G.ordnung sieht die Einstufung der sog. Verschlußsachen in verschiedenen Geheimhaltungsgraden vor, für deren Registrierung und Verwaltung eine Geheimregistratur im Rahmen der -» Bundestagsverwaltung zuständig ist. Über den Inhalt von Verschlußsachen ab einer bestimmten Stufe darf nur so umfassend und so frühzeitig unterrichtet werden, wie es für die Parlament. Arbeit unerläßlich ist (s.a. —> Geheimhaltungspflicht). B.H.-G./C.L.
Geld -> Währung Geldmarkt Der G. ist der Teil des Finanzmarktes, auf dem kurzfristiges Geld, z.B. Tagesgeld, Monatsgeld, Dreimonatsgeld, und Geldmarktpapiere, z.B. Finan-
zierungspapiere öffentl. Emittenten oder Liquiditätspapiere der -> Zentralbank, gehandelt werden. Im Unterschied dazu werden auf dem Kapitalmarkt langfristige Finanzmittel gehandelt. Der G. i.e.S. umfaßt den Handel mit Zentralbankgeld und bietet der Zentralbank als „Monopolanbieter" des Zentralbankgeldes den Ansatzpunkt für die gezielte Beeinflussung der Refinanzierungskonditionen der Banken und letztlich für die Kontrolle der -» Geldmenge, da die geldpolit. Instrumente, z.B. Refinanzierungsinstrumente, insbes. Offenmarktpolitik, und die Mindestreserve, hier ihren Ansatzpunkt finden. Als Geber und Nehmer treten am G. neben den Kreditinstituten, mit denen die Zentralbank ausschließlich kontrahiert, in gewissem Umfang auch Nichtbanken auf, u.a. der —> Bund sowie institutionelle Anleger, z.B. Versicherungen, Kapitalanlagegesellschaften, und große Industrieunternehmen. Lit.: V. Hasewinkel: Geldmarkt und Geldmarktpapiere, Frankfurt/M. 1993. T.F.
Geldmenge Als G. wird der Zahlungsmittelbestand einer Volkswirtschaft bezeichnet. Man unterscheidet verschiedene G.naggregate: Die G. Ml beinhaltet das Bargeld und die Sichteinlagen inländischer Nichtbanken bei inländischen Kreditinstituten. Die G. M2 umfaßt Ml zuzüglich Termineinlagen inländischer Nichtbanken unter 4 Jahren Laufzeit bei inländischen Kreditinstituten. Die G. M3 ergibt sich, indem zu M2 Spareinlagen inländischer Nichtbanken mit dreimonatiger Kündigungsfrist bei inländischen Kreditinstituten hinzugerechnet werden. „M3 erweitert" umfaßt M3 plus Euroeinlagen, kurzfristige Bankschuldverschreibungen und Anteile an in- und ausländischen Geldmarktfonds in Händen inländischer Nichtbanken, abzüglich der Bankeinlagen und kurzfristigen Bankschuldverschreibungen in Händen inländischer Geldmarktfonds. Die statistische Grundlage für die Berechnung der verschiede355
Geldwäsche nen G.n ist die „Konsolidierte Bilanz des gesamten Bankensystems", also der Notenbank und der inländischen Kreditinstitute. Die G. wird zur Erklärung wirtschaftl. Vorgänge benutzt, wie z.B. der gesamtwirtschaftl. Produktion, der Beschäftigung und v.a. des Preisniveaus. Die Steuerung der G. durch die -» Zentralbank hat deshalb, basierend auf den theoretischen Aussagen des Monetarismus, das Ziel, die Inflation zu bekämpfen Lit.: Β. Kreßbach: Die Rolle der Geldmenge beim Inflationsprozeß, Regensburg 1994. T.F.
Geldwäsche -» Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen Gemeinde Die G. ist eine dem —> Staat eingegliederte Gebietskörperschaft, welche die Angelegenheiten ihrer örtlichen Gemeinschaft durch bürgergewählte -> Organe im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung regelt. Dieser mit Verfassungsgarantien in Bundes- und Landesverfassungen ausgestattete Sachbefund führt dazu, daß die polit. —> Willensbildung des Staatsvolkes heute dreifach fraktioniert ist: Das Volk legitimiert als Gesamtstaatsvolk die Ausübung der Staatsgewalt des Bundes, als Landesstaatsvolk die des Landes, und das G.volk legitimiert die Aufgabenwahrnehmung auf der Ortsstufe. 1. Dieser heute verfassungsgesicherte Befund ist weder gesamteurop. noch im Blick auf die histor. Entwicklung selbstverständlich. Der absolute Staat als territoriale Rechts- und Machteinheit will lokale und gebietliche Eigenheiten und Privilegien möglichst nicht akzeptierten. Organisch gewachsene Vielheit läßt sich more geometrico schlecht steuern. Der Staat der absolutistischen Epoche setzt tendenziell auf Steuerung von der monarchisch legitimierten bürokratischen Spitze her und auf zentrale Omnikompetenz statt auf die Selbstgenügsamkeit, nur das notwendig Einheitliche regeln und durchsetzen zu wollen und im übrigen auf regionale und lokale Problemlösungskapazität
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Gemeinde zu vertrauen. Als Beispiel für die Geringschätzung -» kommunaler Selbstverwaltung mag der Hinweis auf eine bay. Verordnung vom 31.12.1802 genügen, wenn dort für die Beschneidung von Zuständigkeiten der bay. G. darauf verwiesen wird, G.wohl und Staatswohl hingen eng zusammen, und außerdem leisteten die G.behörden weder in bezug auf Rechtspflege und Polizei noch in bezug auf die Verwaltung des G.- und Stiftungsvermögens Zufriedenstellendes. Dieses Modell von G. unter vollständiger staatl. Kuratel ist v.a. auch paternalistisch geprägt: Es setzt nicht auf Eigeninitiative der Individuen und kleiner Gemeinschaften, sondern auf das überlegene Wissen der Bürokratie, die das Definitionsmonopol für das bonum commune für sich in Anspruch nimmt und seine Definition jedermann aufnötigt. In Dtld. hat dieses Modell in den napoleonischen Kriegen seine mangelnde Leistungsfähigkeit erleben müssen. PaternaIismus erzieht zur Passivität und NichtIdentifikation. An diesem Punkt setzt das Nachdenken der preuß. Reformer an. Freiherr v. Stein (1757-1831) fordert in seiner „Nassauer Denkschrift" 1807 Selbstverwaltung für Provinzen, Kreise, Landgemeinden und Städte - allerdings nicht auf der Basis eines demokrat. —> Wahlrechts (die Reform war auch gegen die revolutionären Ideen Frankreichs gerichtet), aber doch mit der Absicht, Gemeingeist und Bürgersinn durch Partizipation der Bürger an den örtlichen Angelegenheiten zu beleben. Auch in Bay. zielte das G.edikt vom 17.5.1818 auf die Wiederbelebung der G.körper durch die Rückgabe der Verwaltung der die G. zunächst betreffenden Angelegenheiten. Diese Idee, die besondere ortsnahe Sachkenntnis der Bürger nutzbar zu machen, ihnen mitwirkende Partizipationen auf der Orts- und Kreisstufe anzubieten, wird zuerst in der Verfassung Belgiens vom 7.2.1831 (Art. 31) demokrat. legitimiert. Art. 108 umreißt den notwendigen Inhalt eines solches organischen Gesetzes zu Art. 31: Unmittel-
Gemeinde bare Wahl des Rates, Kompetenz für alle Gegenstände von kommunalem Interesse, Öffentlichkeit der Ratssitzungen, des Budgets und der Ausgabenrechnung, Staatsaufsicht zur Sicherung des kompetenzgerechten und mit dem Gesamtstaatswohl vereinbarten gemeindlichen Verhaltens. Das ist auch heute noch der notwendige Inhalt von kommunalen Selbstverwaltungsgesetzen. Diese demokrat. Variante wird von der konstitutionellen Bewegung in Dtld. aufgegriffen, wie etwa die badische G.ordnung vom 31.12.1831 zeigt, die bereits eine unmittelbare Wahl des —> Bürgermeisters kannte. Der Konstitutionalismus fügte aber noch ein Element hinzu, das die sachgerechte Erfassung gemeindlicher Selbstverwaltung eher erschwerte. Sie ging davon aus, daß die G.n die staatsvertraglich ursprünglichen Gebietskörperschaften waren, die wiederum staatsvertraglich an der Herausbildung des größeren Verbandes Staat beteiligt waren, so daß der größere Verband auf dem Gründungswillen der kleineren Verbände beruht, wie er auf dem Gründungs- und Zutrittswillen der Individuen gründet (v. Rotteck / Welcker) Die G. erscheint so wie ein Individuum mit seinem Anspruch auf Selbständigkeit dem Staat gegenüber zu stehen. G.n verwandeln sich durch den Eintritt in den Staat nicht in Staatsanstalten (v. Rotteck). Anklänge an diese Sicht zeigen sich z.B. heute noch im bay. Kommunalrecht, wenn die G.n in Art. 1 BayGO als „ursprüngliche Gebietskörperschaften" bezeichnet werden. Diese Parallelisierung des Individuums und der G. in ihrem Verhältnis zum Staat prägte dann die Auffassung der —» Frankfurter Nationalversammlung, welche die Gewährleistung gemeindlicher Selbstverwaltung in den Abschnitt über die —> Grundrechte einstellte; im übrigen lehnte sich die Norm deutlich an die belg. Verfassung an. In § 184 RV 1849 wird jeder G. als „Grundrecht" eine Verfassung versprochen, welche die Wahl ihrer Vorsteher und Vertreter regeln sollte sowie als ge-
Gemeinde genständliche Aufgaben den G.n die selbständige Verwaltung ihrer G.angelegenheiten mit Einschluß der Ortspolizei, unter gesetzlicher Oberaufsicht des Staates, zuwies. Außerdem wurde die Öffentlichkeit des G.haushalts und der Ratssitzungen versprochen. Die Ordnung der gemeindlichen Selbstverwaltung hat sich in der Folgezeit strukturell in diese Richtung bewegt, wenn auch der Weg zu einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht für die G.vertretungen noch weit war. In der -> Weimarer Republik schrumpfte die Verfassungsgarantie auf den Satz (Art. 137 WRV), der G. und G.verbänden das Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetzes gewährte. Art. 17 Abs. 2 WRV fügte dem noch hinzu, daß die allgemeinen Wahlgrundsätze für Volksvertretungen auch für die G.wählen galten, womit das Prinzip der Legitimation durch das Volk auf der Ortsstufe gesichert war. In dieser Gewährleistung fehlte indes eine Aussage über den eigentlichen Gegenstand der Gewährleistung. Immerhin kam der Reichsstaatsgerichtshof zu der bedeutsamen Aussage, daß damit der Reichs- und Landesgesetzgebung verboten wurde, die Einrichtung der Selbstverwaltung als solche zu beseitigen oder „derart ein(zu)schränken, daß sie innerlich ausgehöhlt wird ... und nur noch ein Scheindasein führen kann" (RStGH, v. 11.12.1929). 2. Das -> Grundgesetz gibt in Art. 28 GG als Homogenitätsbestimmung den Landesverfassungsgebem, die dieser Pflicht auch sämtlich nachgekommen sind, vor, daß das G.volk sich nach den auch sonst geltenden Wahlprinzipien eine Vertretung auf der Orts- und Kreisstufe geben muß. Die ausnahmsweise zulässige direkt-demokrat. Variante der G. Versammlung kann man praktisch vernachlässigen. Das damit angesprochene Volk ist dasselbe Volk wie in Art. 20 Abs. 2 GG, also die Gesamtheit der dt. Staatsbürger, was ein Kommunalwahlrecht für Ausländer ausschließt (BVerfGE 80, 60 (71-77)); durch
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Gemeinde den Maastrichter EU-Vertrag in Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG umgesetzt, gilt jetzt das Kommunalwahlrecht auch für Bürger der EU. Das -> Wahlrecht gilt also für alle 3 Legitimationsebenen gleich. Landesunterschiede gibt es u.a. bezüglich einer —> Fünf-Prozent-Klausel für Parteien in kommunalen Vertretungskörperschaften, die nicht alle Landeswahlgesetze kennen; die Verfassungsmäßigkeit dieser Klausel für die Kommunalwahlen ist ohnehin nicht unzweifelhaft. Die strukturelle Gleichheit aller Legitimationsebenen öffnet den Blick dafür, daß es bei der kommunalen Selbstverwaltung heute weniger um „partizipartorische Betroffenenverwaltung" (BVerfGE 83, 55) geht als um die Legitimation einer untersten Politikebene, die sich allerdings in einem Punkt von den anderen Ebenen substantiell unterscheidet: Sie ist gewaltenteilungsrechtl. ausschließlich der —> vollziehenden Gewalt zuzurechnen, aber gleichwohl mit hoher Intensität dem parteilichen Zugriff ausgesetzt. Die Vorstellung, -> Demokratie und kommunale Selbstverwaltung seien unverwechselbar über das Ehrenamtselement (—» Ehrenamtliche Tätigkeit) geschieden (E. Forsthoff), ist heute weniger signifikant als die Erkenntnis, daß aus der Strukturgleichheit der Legitimationsquelle und des Legitimationsvorgangs der parteienstaatl. Zugriff (Art. 21 Abs. 1 GG) notwendig folgt. Sachlich gewährleistet Art. 28 Abs. 2 GG einen Standard, den die Landesverfassungsgeber nicht unterschreiten dürfen (und nicht unterschreiten) und an den der Bund insbes. als Gesetzgeber auch selbst gebunden ist. Die einzelne bei Eintritt der Verfassungsgeltung bestehende G. genießt allerdings keine Bestandsgarantie. Die Fraktionierung des Staatsgebietes in G.gebiete ist letztlich eine gesamtstaatl. Ordnungsaufgabe, die der Landesgesetzgeber wahrnehmen muß. Die gemeinwohlorientierte, ein rationales Gesamtkonzept verwirklichende Gebietsreformentscheidung muß eine durch Eingemeindung oder von Auf358
Gemeinde lösung betroffene G. hinnehmen (BVerfGE 50, 50; 86, 90). Allerdings hat sie Anspruch darauf, daß sie an dem Neugliederungsverfahren beteiligt wird und der Gesetzgeber ihr gegenüber konzeptorientiert und nicht willkürlich handelt. Solange sie existiert, wird sie verfassungsrechtl. als Rechtssubjekt - sie ist also als —» juristische Person teilrechtsfähig - geschützt. Das bedeutet v.a., daß sie sich gegen Eingriffe in ihr Selbstverwaltungsrecht als Rechtsperson zur Wehr setzen kann, wenn z.B. höherstufige Verwaltungsträger Planungsentscheidungen treffen, die für ihr Gebiet relevant sind. Weiterhin garantieren Art. 28 Abs. 2 GG und die parallelen Landesverfassungsgewährleistungen die spezifische Verwaltungsweise der selbstverwaltenden Aufgabenwahrnehmung. G.n - sollen eigenverantwortlich - allerdings im Rahmen der Gesetzes - ihre Angelegenheiten verwalten dürfen. Eigenverantwortlich bedeutet, daß die G.n Gebietshoheit besitzen, d.h. daß sie in ihrem gebietlichen Zuständigkeitsbereich allen Personen und Sachen gegenüber Hoheitsgewalt ausüben dürfen (und daran nicht von einem gleichstufigen Verwaltungsträger gestört werden dürfen Prinzip der Einräumigkeit der Verwaltung). Sie genießen außerdem Personalhoheit; sie sind dienstherrenfahig und suchen sich ihr Personal ebenso selbst aus allerdings in Bindung an staatl. Besoldungsregelungen etc. - wie sie ihre innere Organisation selbst ordnen (Organisationshoheit). Letzteres erfaßt insbes. auch die Befähigung zur kooperativen Aufgabenerledigung zusammen mit anderen G.n. Zur Selbstverwaltung gehört auch die Planungshoheit, insbes. die eigenverantwortliche gemeindliche Entscheidung über die Art und Weise der Bodennutzung in der G.; soweit im Zusammenhang örtlicher Verwaltung abstrakt-generelle Entscheidungen zu treffen sind, steht den G.n auch die Befugnis zu, im Wege der Satzungsgebung zu entscheiden, wobei allerdings die Legitimation auf der Ortsstufe ohne spezielle gesetzliche Ermächtigung
Gemeinde keine Grundrechtseingriffssatzungen ermöglicht. Schließlich setzt Eigenverantwortlichkeit auch —> kommunale Finanzhoheit im Sinne einer angemessenen Finanzausstattung voraus, die durch den —> Finanzausgleich und eine erhebliche Finanzierungsquote aus eigenen Einnahmen gewährleistet sein muß. Nur dann ist gesichert, daß die G.n nicht der Gefahr einer durchgängigen fmanzwirtschaftl. Aufgabensteuerung durch den Staat ausgesetzt sind. Die Finanzhoheit schließt schließlich eine eigenverantwortliche Einnahmen· und Ausgabenwirtschaft ein. Diese knapp umrissene Eigenverantwortlichkeit kann sich nur „im Rahmen der Gesetze" entfalten; damit ist sichergestellt, daß Eigenverantwortlichkeit den notwendigen Ansprüchen der Eingliederung in gesamtstaatl. Vorgaben genügen muß. Andererseits ist der Staat fllr die Durchsetzung der Wahrung gesamtstaatl. Interessen auf ein gesetzlich ermächtigtes differenziertes System von Rechts- und -> Fachaufsicht angewiesen. Der den G.n zugewiesene Gewährleistungsraum der „eigenen Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft" begründet eine Verbandskompetenz der G.n, der ihren Wirkraum gegenständlich begrenzt. Der G. steht kein gleichermaßen allgemeinpolit. Mandat wie Bund und Ländern zu, das sie berechtigte, z.B. eine Gegenaußenpolitik etwa „kommunale Entwicklungshilfe" oder gegenläufige Strukturentscheidungen in der Verteidigungspolitik zu formulieren („X ist atomwaffenfreie Zone"). Der Gesetzgeber soll die örtlichen Angelegenheiten der lokalen Aufgabenerledigung überlassen. Was örtliche Angelegenheiten sind, ist nicht einfach beschreibbar. Teleologisch geht es dabei um den „prinzipiellen Vorrang einer dezentralen, also gemeindlichen vor einer zentralen und damit staatl. determinierten Aufgabenwahrnehmung (BVerfGE 83, 363 (382)). Definitorisch ist die Aussage, der Schutz des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gelte solchen Bedürfnissen und Inter-
Gemeinde essen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben, die also den G.einwohnem gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und Wohnen der Menschen in der G. betreffen. (BVerfGE 79, 127 (151f.)). Ein Kernbestand kommunaler Aufgaben muß für den Gesetzgeber unentziehbar sein, ohne daß es eine Status-Quo-Garantie für bestimmte enumerierte Aufgaben der G. geben könnte. Verfassungsgewollt ist die Befähigung zu „kraftvoller Betätigung" der gemeindlichen Selbstverwaltung, verfassungsverboten ihre Denaturierung zum Schattendasein; eine Argumentation mit gleitender Skala also, die folglich methodisch immer angreifbar ist. Das BVerfG prüft deshalb dem Kembereichsschutz vorgelagert bei jeder Aufgabenveränderung, ob damit das Vorrangprinzip als gemeindebegünstigendes Aufgabenverteilungsprinzip verletzt ist: Dem Gesetzgeber wird die Argumentationslast dafür aufgebürdet, daß es aus Gründen des Gemeininteresses notwendig ist, die Regel örtlicher Zuständigkeit für örtliche Aufgaben zugunsten zentraler (staatl. Aufgabenwahrnehmung zu durchbrechen. Solche Regeldurchbrechung ist zulässig, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sichergestellt ist. Nach einer Aufgabenentziehung kann als zusätzliches Korrektiv dann noch geprüft werden, ob der „verbliebene Rest" den Namen Selbstverwaltung noch verdient. 3. Die finanziellen Rahmendaten und der egalitäre Zug der Zeit, der oft wenig Sensus für Vielfalt und Individualität örtlicher Gemeinschaften zeigt, wenn es z.B. um Belastungsunterschiede der Bürger in den einzelnen G.n geht, ist für eine effiziente kommunale Selbstverwaltung nicht günstig. Rechtl. - und aus der Sicht des abgabenzahlenden Bürgers erst recht geht es bei der G., die deshalb auch nicht grundrechtsfähig ist, um hoheitliche, also staatl. Gewaltausübimg auf der Ortsstufe auf der Basis eigener demokrat. Legitimation bei begrenzten eigenen Entschei-
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Gemeindevermögen
Gemeindeabgaben dungsspielräumen. Lit: Α. Gern: Dt. Kommunalrecht, Baden-Baden 2 1997; F.-G. Henneke: Die Kommunen in der Finanzverfassung des Bundes und der Länder, Wiesbaden 1994; F.-L. Knemeyer: Europa der Regionen - Europa der Kommunen, Baden-Baden 1994; R. Stober: Kommunalrecht in der BRD, Stuttgart31996. Wolfgang Löwer
Gemeindeabgaben -> Kommunale Finanzhoheit Gemeindefinanzen —> Kommunale Finanzhoheit Gemeindeordnung bezeichnet das Landesgesetz, welches das —> Gemeinderecht regelt. Gemeinderat —> Gemeindeverfassung -> Gemeinde Gemeinderecht bezeichnet die Gesamtheit aller Rechtsvorschriften über die Normierung und Gestaltung der -» Gemeinden. Es umfaßt die —> Gemeindeverfassung und das von der Gemeinde gesetzte (-> Satzung) lokale Recht; das G. ist Teil des -> Kommunalrechts. Hg.
Gemeindesteuern —> Kommunale Finanzhoheit Gemeindeverbände -> Kommunalverbände Gemeindeverfassung Die G. regelt, welche —> kommunalen Organe in einer -> Gemeinde vorhanden sind, ihre Zusammensetzung, Rechtstellung und Kompetenzen wie die Außenvertretung der Gemeinde. Die G. wird durch die -> Gemeindeordnung als Teil des -» Kommunalrechts der Länder bestimmt. Vorrangig regelt Art. 28 Abs. 1 GG, daß in den Gemeinden das Volk eine Vertretung haben muß, welche aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und gehei360
men -> Wahlen hervorgeht. Die kommunale Gesetzgebungszuständigkeit der Länder hat zu höchst unterschiedlichen, histor. erklärbaren Ausprägungen der G. geführt. Allen G en gemeinsam ist der Gemeinderat / Rat als Vertretung der Bürger und zugleich oberstes Organ. Die Unterschiede ergeben sich im wesentlichen aus Differenzen in der Anbindung der Verwaltung an den Rat und der Gestaltung der Verwaltungsspitze. Gewöhnlich unterscheidet man 4 Typen der G.: —> Süddeutschen -> Ratsverfassung, -> Norddeutschen Ratsverfassung, —> Magistratsverfassung, —» Bürgermeisterverfassung. Die G.en von Beri., Hamb, und Brem, bleiben dabei außer Betracht, da diese Gemeinden zugleich Bundesländer sind. Da verschiedene G.en im selben Geltungsbereich existieren können, ergibt sich ein sehr heterogenes Bild der G. in der BRD. Ein vereinheitlichendes Bundesgesetz wäre verfassungswidrig; Anstrengungen, zu einer Rahmenkompetenz des Bundes in Art. 75 GG zu kommen, sind bisher gescheitert. Lit: J. Ipsen (Hg.): Kontinuität oder Reform Die Gemeindeverfassung auf dem Prüfstand, Köln 1990. Hg.
Gemeindevermögen Die -> Gemeindeordnungen regeln die Grundsätze über die Gemeindewirtschaft. —> Gemeinden verfügen über G.; darunter versteht man die einer Gemeinde gehörenden Sachen und Rechte. Man unterscheidet den Verwaltungshaushalt, in welchen die laufenden Ein- und Ausgaben eingestellt werden, vom Vermögenshaushalt, in dem v.a. die kommunalen Investitionsausgaben und deren Finanzierung veranschlagt sind. I.d.R. besteht auch ein Sondervermögen, zu dem v.a. die Eigenbetriebe und Stiftungsvermögen gehören. Das G. muß in seinem Bestand erhalten bleiben, Vermögensveräußerungen unterliegen der —> Kommunalaufsicht: Grds. ist das G. nach den Prinzipien ausgewogenen Wirtschaftens zu gestalten.
Gemeindeverwaltung
Gemeindeverwaltung HgGemeindeverwaltung Zum Vollzug der autonomen Selbstverwaltungsaufgaben des eigenen Wirkungskreises und der ihm vom —> Staat oder anderen -> Körperschaften übertragenen, weisungsabhängigen Aufgaben - sog. übertragener Wirkungskreis - bedienen sich die aufgabenallzuständigen —> Gemeinden im Rahmen ihrer Organisationshoheit einer eigenen G.; ,Allzuständigkeit" bezeichnet dabei die Möglichkeit, nicht die Notwendigkeit, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft frei von staatl. Weisungen hinsichtlich der Zweckmäßigkeit und der Art der Wahrnehmung zu erledigen, allerdings unter der Rechtsaufsicht des Staates (—> Kommunalaufsicht). Mit den dem eigenen Wirkungskreis zugehörigen Aufgaben werden jene umrissen, welche den Gemeinden als kommunalen Gebietskörperschaften mit Gebietshoheit als ursprüngliche Angelegenheiten des Gemeinwesens zuzuordnen sind. Diese eigenen für die örtliche Gemeinschaft typischen und daher auch unterschiedlichen Aufgaben müssen belassen bleiben; in ihren Kernbereich darf nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. Zu diesen Aufgaben gehören u.a. die harmonische Gestaltung der Gemeindeentwicklung unter Beachtung der Belange der Umwelt und des Naturschutzes, des Denkmalschutzes und der Belange von Wirtschaft und Gewerbe, die Bauleitplanung, die Gewährleistung des örtlichen öffentl. Personennahverkehrs, die Versorgung mit Energie und Wasser, die Abwasserbeseitigung und -reinigung, die Sicherung und Förderung eines bedarfsgerechten Angebotes an Bildungs- und Kinderbetreuungseinrichtungen, die Entwicklung der Freizeit- und Erholungseinrichtungen sowie des kulturellen Lebens, der öffentl. Wohnungsbau, die gesundheitliche und soziale Betreuung, die Aufrechterhaltung der öffentl. Reinlichkeit und der Brandschutz. Bei diesen - lokal noch ergänzungsbedürftigen - Aufgaben
handelt es sich zunächst um freiwillige Aufgaben, die aber aus Gründen des öffentl. Wohls qua Gesetz zu Pflichtaufgaben werden können, z.B. die Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung oder der Straßenbau. In diesen Fällen kann die Gemeinde nicht weiter entscheiden, ob sie diese Aufgaben erfüllt, sondern nur noch in welcher Form. Zu den Eigenverwaltungsrechten zählt auch das Recht zur Schaffung und Unterhaltung von Einrichtungen zum Wohl der Einwohner (—> Daseinsvorsorge) wie die Errichtung von Eigenbetrieben, nicht-rechtsfähigen Anstalten, - » Verwaltungsgemeinschaften und —> Zweckverbänden. Die Bildung von -> kommunalen Organen bedarf gesetzlicher Ermächtigung. Letztlich umfaßt die gemeindliche Eigenverantwortlichkeit die Personalhoheit, d.h. das Recht auf freie Auswahl, Anstellung, Beförderung und Entlassung der Gemeindebediensteten. Vornehmlich aus Gründen der Sicherung der —> Gleichheit, des Willkürverbots und der Berechenbarkeit wie Durchsichtigkeit der Verwaltungstätigkeit sind die Bundesund Landesgesetze im jeweiligen Geltungsbereich grds. einheitlich zu vollziehen. Dies wäre am ehesten gewährleistet, wenn der Staat seine Gesetze ausschließlich durch eigene Behörden ausführen ließe. Unter Verzicht auf ein kleinräumiges Behördennetz überträgt der Staat den Gemeinden u.a. solche Aufgaben, die den Bürger unmittelbar sachlich und sozial berühren. Dabei ist anzumerken, daß die Gemeinde keinen Rechtsanspruch auf eine derartige Übertragung hat; ebenso wenig hat die Gemeinde einen Anspruch auf Beibehaltung dieser Aufgaben. Beides unterliegt dem Ermessen des Gesetzgebers, Zu den übertragenen Aufgaben zählen z.B. das Melde-, Paß- und Personalausweiswesen, das Personenstandsrecht (—> Standesamt), das polizeiliche Sicherheitsrecht, Wahlen, Sozialfürsorge und Bevölkerungsschutz. Hierbei untersteht die G. der —> Rechtsaufsicht wie —> Fachaufsicht. Letztlich begründet sich im Selbstverwaltungsrecht die —> kommunale Fi-
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Gemeinnützigkeit
Gemeinsame Verfassungskommission
nanzhoheit (s.a. —> Gemeindeabgaben), die Planungshoheit und die Satzungsautonomie (—> Satzung). Wenngleich die zugrundeliegenden -> Gemeindeverfassungen in Dtld. unterschiedlich sind, ist die behördliche Organisation (Verwaltungsaufbau, - abläufe) dt. G.en infolge der Gleichartigkeit der dargestellten Aufgaben, der Gesetzesbindung des Verwaltungshandelns und der Wirkung der kommunalen Rechts- und Fachaufsicht sehr ähnlich. Die Gemeindeaufgaben in Ämter gegliedert, führen zu einer behördlichen Organisationsstruktur, in welcher folgende Zuständigkeiten durchschnittlich häufig bestehen: -» Kämmerei, -> Polizei, öffentl. Ordnung, Einwohnermeldeamt, Standesamt, Amt für -> Zivilschutz, Sozialamt, Gesundheitsamt, Planungs- und Vermessungsämter, Bauordnungs-, Bauverwaltungs- und Rechtsamt sowie ein Amt für die Eigenbetriebe.
ben, durch deren Erfüllung ausschließlich und unmittelbar die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet gefördert wird. Insbes. zählt hierzu die Förderung von Wissenschaft und Forschung, Bildung und Erziehung, Kunst und Kultur, Religion, Völkerverständigung, Entwicklungshilfe, Umwelt-, Landschafts- und Denkmalschutz, des Heimatgedankens, der Jugend- und Altenhilfe, des öffentl. Gesundheitswesens sowie des Sports (§ 52 Abs. 2 AO).
Lit.: PJ. Tettinger: Besonderes Verwaltungsrecht I. Kommunalrecht, Heidelberg "1995; F. Thedieck: Verwaltungskultur in Frankreich und Dtld. Dargestellt am Bspl. von frz. und dt. Gemeindeverwaltungen und unteren staatl. Verwaltungsbehörden, Baden-Baden 1992; K. Vogelgesang / U. Lübking / H. Jahn: Kommunale Selbstverwaltung, Berlin 1991.
Raban Graf von Westphalen Gemeinnützigkeit ist ein aus dem Steuerrecht stammender Begriff. Mit ihm sind zahlreiche Steuerbefreiungen oder steuerliche Begünstigungen bei allen wichtigen Steuerarten verbunden (-> Spenden). Voraussetzung ist, daß ein gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchl. Zweck verfolgt wird. Die Steuervergünstigungen dienen dazu, private und selbstlose Förderimg des -> Gemeinwohls durch Prämierung zu stimulieren. Auf diese Weise sollen der Fiskus und die staatl. Bürokratie von einer solchen Förderung entlastet werden. Die gemeinnützigen Zwecke werden in den §§ 52ff. der Abgabenordnung v. 16.3.1976 (BGBl. I S. 613) näher definiert. Sie umfassen Aufga362
Lit.: C. Becker: Stiftungsrecht und Gemeinnützigkeit, Bielefeld 1995.
R. M.-T. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik -> GASP Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO I und Π) Die GGO regelt in ihrem allgemeinen Teil Organisation und Geschäftsgang in den —» Bundesministerien (GGO I) und in ihrem besonderen Teil (GGO Π) u.a. den Verkehr der Ministerien mit dem Deutschen Bundestag, dem —> Bundesrat und dem -> Bundesverfassungsgericht sowie die Mitwirkung beim Gesetzgebungsverfahren. Sie wird vom —> Bundesminister des Innern herausgegeben. Neben formalen Vorschriften enthält sie z.B. Regelungen darüber, wie der Bundesminister/bei Abwesenheit in seinem —» Ressort nach außen und gegenüber den anderen Verfassungsorganen vertreten werden. Diese Verteilung der Geschäfte kann polit, bedeutsam sein, weil die Bundesminister und ihre beamteten oder —> parlamentarischen Staatssekretäre häufig nicht derselben —» Partei angehören. Gegenüber dem Parlament regelt die GGO die Teilnahme der Minister und Ministerialbeamten an Plenar- und Ausschußsitzungen sowie die Behandlung von Kleinen und Großen —> Anfragen der Mitglieder des Dt. Bundestages. T.Z. Gemeinsame
Verfassungskommission
Gemeinsame Verfassungskomission (GVK) Zur Umsetzung von Art. 5 des Einigungsvertrages vom 31.8.1990, nach dem die Regierungen beider Vertragsparteien den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Dtld.s empfahlen, „sich innerhalb von 2 Jahren mit den im Zusammenhang mit der -> Deutschen Einheit aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des GG zu befassen", wurde die aus je 32 Mitgliedern des -> Bundestages und -> Bundesrates bestehende GVK durch übereinstimmende Beschlüsse von Bundestag und Bundesrat vom 28./29.11.1996 eingesetzt. Sie konstituierte sich am 16.1.1992 und beendete ihre Arbeit mit einem unter dem 5.11.1993 vorgelegten Bericht. An ihrer Zusammensetzung ausschließlich aus in das polit. Tagesgeschehen eingebundenen Abgeordneten und Vertretern der —• Landesregierungen sowie ihrer Entscheidungsfindung mit Zweidrittelmehrheit dürfte es gelegen haben, daß die Kommission keine Empfehlungen über strukturelle Fragen mit längerfristiger Perspektive abgab, sondern sich im Interesse eines weitgehenden Erhalts des -> Grundgesetzes auf punktuelle Änderungsvorschläge beschränkte, die keinen Zusammenhang mit der -> Deutschen Einheit mehr erkennen ließen. Im Bereich -> Europäische Union wurden die Beratungen der Kommission vorab im 38. Änderungsgesetz vom 21.12.1992 berücksichtigt. Auf dem Bericht der Kommission beruhen im wesentlichen die durch das 42. Änderungsgesetz vom 27.10.1996 eingefügten Änderungen, u.a. die staatl. Förderungspflicht zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Art. 3 Abs. 2 S. 2, die Staatszielbestimmung zum —> Umweltschutz in Art. 20a, die verschärften Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der —> konkurrierenden Gesetzgebung durch den —> Bund in Art. 72 Abs. 2 und 3 und die dafür eingerichtete -> Normenkontrolle mit Antragsbefugnis von Bundesrat und -> Landesparlamenten in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a, das Verbot von Detail-
Gemeinsamer Ausschuß regelungen durch Rahmenvorschriften in Art. 75 Abs. 2 und das Initiativrecht des Bundesrates für zustimmungsbedürftige —> Rechtsverordnungen in Art. 80 Abs. 3. Lit: Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Änderung und Ergänzung des GG. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission v. 5.11.1993, BT-Drucks. 12/6000 und BR-Dr 800/93; auch veröffentlicht als: Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommision gem. Beschluß des Dt. Bundestages, Drucks. 12/1590, 12/1670 und Beschluß des Bundesrates, Drucks. 741/91 (Beschluß). Bonn 1993 (Zur Sache, 93,5); P. Fischer: Reform statt Revolution - Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, München 1995; F.-A. Jahn: Empfehlungen der Gemeinsamen Verfassungskommission zur Änderung und Ergänzung des GG, in: DVB11994, S. 177ff. Nicolai
Müller-Bromley
Gemeinsamer Ausschuß Der durch die Verfassungsnovelle vom 24.6.1968 im Zusammenhang mit der Regelung des Verteidigungsfalles ins —> Grundgesetz eingefügte (Art. 53a) und in einem eigenen Abschn. IV a unmittelbar hinter den Abschnitten über den -> Bundestag und den —> Bundesrat plazierte GemA ist ein selbständiges oberstes Bundesorgan. Seine Konzeption wurde beeinflußt zum einen von den negativen Erfahrungen mit der Notstandsregelung der -> Weimarer Reichsverfassung und zum andern von histor. Vorbildern, wie z.B. von der hess. Verf. (Art. 110), der NRW-Verf. (Art. 60 Abs. 2) und der schwed. Verf. von 1965 (Art. 50). Die konkrete Ausformung ist jedoch weitgehend originär. Oberstes Ziel des Gesetzgebers war es, im Verteidigungsfall eine Machtkonzentration bei der Exekutive zu vermeiden und ein funktionierendes Gewaltenteilungssystem zu erhalten, gleichzeitig aber die Effektivität des Entscheidungsprozesses zu gewährleisten. Dem GemA kommt hierbei eine wesentliche Rolle zu. Sowohl bei der Feststellung des Verteidigungsfalles wie auch im Verteidigungsfall selbst tritt der GemA unter bestimmten im 363
Gemeinsamer Ausschuß GG genannten Bedingungen (Art. 115a Abs. 2 und 5, 115e Abs. 1 GG) per Selbstinvestitur an die Stelle von Bundestag und Bundesrat, und zwar mit allen Rechten und Pflichten (ausgenommen -> Verfassungsänderungen, Übertragung von Hoheitsrechten auf die -> EU und zwischenstaatl. Einrichtungen, Gesetze betr. Neugliederung des Bundesgebietes und Beeinträchtigung des -> Bundesverfassungsgerichts) und fungiert somit als eine Art Notparlament, das Gesetzgebungs-, Wahl-, Kontroll- und polit. Führungsfunktion in sich vereinigt. Damit der GemA seiner Aufgabe im Emstfall gerecht werden kann, ist er bereits in Friedenszeiten von der —> Bundesregierung in nicht-öffentl. Sitzung über ihre Planungen für den Verteidigungsfall zu unterrichten (Art. 53a Abs. 2 GG i.V.m. §§ 8 und 10 GOGemA). Um einen Machtmißbrauch durch den GemA zu unterbinden, sind alle seine Gesetze und Maßnahmen zeitlich befristet und können jederzeit wie auch bei Wegfall der Voraussetzungen der Verteidigungsfall selbst - vom Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates aufgehoben werden (Art. 115k Abs. 2 und 3, 115 1 Abs. 1 und 2 GG). Entsprechend seiner besonderen Stellung im Verteidigungsfall besitzt der GemA eine breite, das föderative und unitarische Element einschließende, demokrat. -> Legitimation. So besteht er zu 1/3 aus Mitgliedern des Bundesrates, wobei jedes Land einen Vertreter, der nicht weisungsgebunden ist, entsenden kann, und zu 2/3 aus Mitgliedern des Bundestages, die vom ihm entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bestimmt werden und der Bundesregierung nicht angehören dürfen (Art. 53a Abs. 1 GG). Den Vorsitz des 48köpfigen, nicht öffentl. tagenden Notparlaments führt der —> Bundestagspräsident (§§ 7 I und 10 GOGemA). Für die Feststellung des Verteidigungsfalles und für den Eintritt in die Rechte von Bundestag und Bundesrat im Verteidigungsfall bedarf es jeweils einer 2/3-Mehrheit der abgegebenen Stimmen, mindestens
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Gemeinschaft jedoch der Mehrheit der Mitglieder des GemA (Art. 115a Abs. 2 und 115e Abs. 1 GG), und für das konstruktive - » Mißtrauensvotum ist eine Mehrheit von 2/3 seiner Mitglieder erforderlich (Art. 115h Abs. 2 GG). Lit: Stern II, S. 163ff. Werner Billing Gemeinschaft Der Begriff der G. erlangt philosophische und soziologische Prominenz, als sich im Laufe des 19. Jhd.s die Schattenseiten der Modernisierung bemerkbar machen. Im Umbruch zur Moderne wird das Geftlge der Ständeordnung (-> Stände) aufgelöst, daraus ergeben sich Chancen für die Entfaltung des Individuums, jedoch bringen die neuen Freiheiten gravierende Probleme mit sich. Marktwirtschaft!. Prinzipien und industrielle Verfahren führen dazu, daß der Reichtum mit einer Dynamik wächst, für die es keine geschichtl. Parallelen gibt; allerdings droht bei diesem Ökonom. Fortschritt unter die Räder zu geraten, wer der Konkurrenz nicht standhalten kann. —> Bürgerrechte bieten einen Rahmen zur polit. Selbstverwirklichung; je mehr Menschen allerdings in die Partizipation einbezogen sind, desto komplizierter gestalten sich die Prozesse der -> Willensbildung und Entscheidungsfindung; dem Anspruch auf Autonomie läuft das Eigenleben bürokratischer Apparate zuwider. Die Wissenschaft bietet neue Perspektiven, jedoch sind abstrakte Erkenntnisse nicht unbedingt geeignet, den Sinnverlust wettzumachen, der mit der Auszehrung religiöser Traditionen einhergeht. In den großen Städten wird das Leben zunächst für die —> Eliten, nach und nach aber auch für die Massen komfortabler, allerdings breiten sich dort Anonymität und Isolation aus. Angesichts dieses rasanten Wandels wird der Begriff der G. zunächst im Geist der Romantik aufgeboten, um den Protest gegen den Verlust menschlicher Nähe und Wärme mit dem Bild einer intakten Ordnung zu kontrastieren. G. ist in dieser
Gemeinschaft Sichtweise das Gegenteil von naturwidriger Vereinzelung und Entfremdung. In konservativ-traditionalistischer Sicht repräsentiert der Topos das Wunschbild eines heilen Mittelalters, dessen religiös fundierte Ordnung jedem Menschen einen festen Platz geboten habe; die Prinzipien dieser Ordnung sollen nach Kräften wiederbelebt werden. Im Rahmen dieser restaurativen Ideologie wird die natürliche Ungleichheit der Menschen betont und eine streng hierarchische und autoritäre Gliederung angestrebt, bei der die Menschen wie Zellen in einem Organismus zusammenwirken. Im Widerspruch dazu steht der Begriff der G. bei der progressiv ausgerichteten Sozialkritik fllr eine Konzeption, der zufolge die Liberalisierung als Entfesselung produktiver und destruktiver Kräfte zu deuten ist, woraus Konflikte resultieren, bei deren endgültiger Überwindung sich die Menschen als Brüder und Schwestern vereinigen werden. Bei der Einforderung allumfassender Solidarität wird die natürliche Ungleichheit als bedeutungslos abgetan und die Wesensgleichheit aller Menschen in den Vordergrund gestellt. Richtungweisend für die wissenschaftl. Debatte wurde die Kontrastierung von G. und Gesellschaft, die F. Tönnies 1887 zum Modell erhoben hat. Der Begriff der G. steht bei dieser Gegenüberstellung für Beziehungen, in die der Mensch hineingeboren wird und in die er ohne Überlegung und Planung hineinwächst. G.en beruhen nicht auf Abmachung, Vereinbarung oder Vertrag, sondern auf Gefühlsbindung. Die Einheit wird jenseits aller Erwägungen durch Empathie gestiftet und gewahrt: Die Menschen sind einander so nah und vertraut, daß jeder sich ohne umständliches Nachdenken in den anderen einfühlt. Innerhalb von G.en gibt es mithin keine separate personale Identität; das Ich bleibt mit dem Wir verschmolzen, das Handeln ist nicht egoistisch motiviert. Die G. erstreckt sich auf einen kleinen überschaubaren Kreis, da nur dort, wo jeder jeden kennt, selbstverständliche und
Gemeinschaft innige Zusammengehörigkeit empfunden werden kann. Als Grundlage des —> Vertrauens in die G. gilt die Anhänglichkeit, welche die Kinder nach Auffassung von Tönnies ihren Eltem von Natur aus entgegenbringen. Stillschweigend wird vorausgesetzt, daß die Familie patriarchalisch strukturiert ist. Die Deutung der —» Herrschaft als Vormundschaft impliziert die Forderung, daß die Macht zum Wohle der Schwächeren ausgeübt werde. Solange diese Bedingung erfüllt sei, bleibe die Autorität über jeden Zweifel erhaben. An die Verwandtschaft als G. des Blutes knüpft sich nach Tönnies die Nachbarschaft als G. des Ortes und die Freundschaft als G. des Geistes. Der erste Kreis der G. ist das Haus, der zweite Kreis ist das Dorf; im städtischen Raum ergeben sich weitere Kreise, wo etwa Gilden und -> Zünfte bestehen oder wo Menschen sich in -> Kirchen zusammenfinden. Ansonsten aber ist der städtische Raum das Areal der Gesellschaft. Die Form der G. hat laut Tönnies als uralt zu gelten: Sie reiche in die Zeit der Jäger und Sammler zurück, wo die Menschen in Horden und Stämmen zusammengelebt haben. Dagegen erscheint die Gesellschaft als neuartiges Muster menschlicher Beziehung, das aufgrund fortschreitender Arbeitsteilung und Verstädterung immer dominanter wird. Die G. verschwinde nicht, werde aber immer stärker ausgedünnt und auf kleine Teilbereiche des Zusammenlebens konzentriert, wobei die Familien weiterhin den Fokus bilden. Der Begriff der Gesellschaft steht in der Konzeption von Tönnies für Beziehungen, die auf Interesse und Kalkulation beruhen. Innerhalb der Gesellschaft gehorchen die Menschen egoistischen Motiven, Beziehungen sind dementsprechend nicht authentisch, sondern von instrumenteller Art: Im Vordergrund steht immer die Erörterung der Frage, inwieweit der andere von Nutzen sein kann oder aber eine Bedrohung darstellt. Unter solchen Voraussetzungen geht es um die vernünftige Vermittlung zwischen Subjekten, die
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Gemeinschaft jeweils sich selbst zum Zentrum der Welt erheben. Kooperation innerhalb der Gesellschaft ist, da die Perspektiven der Individuen einander widersprechen, von Übereinkünften abhängig, die aufgrund der Abschätzung von Gewinn und Verlust getroffen werden. Tausch und Vertrag sind von daher die Grundmuster gesellschaftl. Beziehung. Die Verbindung kann zum wechselseitigen Vorteil sein, es kann aber auch der Vorteil des einen der Nachteil des anderen sein: Insofern ist Gesellschaft immer konfliktträchtig. Konventionen dienen dazu, die Gefahr von Konflikten zu vermindern, sie sind indes fragwürdig und zerbrechlich, weil es sich um ein künstliches, von den Menschen selbst erschaffenes Regelwerk handelt, permanenter Diskussion und Kritik ausgesetzt. Während die G. immer mehr in den Bereich der Privatsphäre zurückgedrängt wird, dehnt sich die Gesellschaft immer weiter in der —• Öffentlichkeit aus. Im öffentl. Raum begegnen sich die Menschen als Fremde, ob sie nun auf Märkten oder in Betrieben tätig sind, ob sie nun Schulen durchlaufen oder Ämter bekleiden, ob sie nun —» Vereine gründen oder für —> Parteien eintreten. Die in der Gesellschaft herrschende Distanz ist eben sowohl Grundlage der individuellen Autonomie wie auch formaler Organisation. Die Beziehungen werden flexibler, die Optionen vervielfältigen sich, aus der Verselbständigung des Individuums erwächst der Zwang zur endlosen Erschließung und Verwertung von Ressourcen und Potentialen. Die Bilanz fallt zwiespältig aus: Einerseits erscheint der Bedeutungsverlust der G. als unaufhaltsam und die Durchsetzung der Gesellschaft als Ökonom., polit, und kultureller Fortschritt. Andererseits stellt sich als Problem, daß für die individuelle Autonomie der Preis der Entwurzelung zu zahlen ist und daß sich aus dieser Autonomie der Imperativ des Erfolgs ergibt. Tönnies hat die Hoffnung gehegt, daß diesem Dilemma erfolgreich mit demokrat. Sozialreformen zu 366
Gemeinschaft begegnen sei. Gegen das dualistische Modell von Tönnies ist v.a. der Vorwurf erhoben worden, daß seine Gegenüberstellung von G. und Gesellschaft allzu schematisch sei. Die G. stehe nicht in Opposition zur Gesellschaft, sondern bilde ein Teil derselben (T. Parsons 1972). Doch selbst wenn die Simplifizierung zu kraß geraten sein sollte, bleibt die Einsicht festzuhalten, daß es im menschlichen Zusammenleben immer auch Formen der affektiven Integration bedarf, so daß Sicherheit aus dem Gefühl der unbedingten Zugehörigkeit gewonnen werden kann. In der soziologischen und sozialpsychologischen Forschung haben sich für diese Formen allerdings die Begriffe der Intimgruppe und der Primärgruppe durchgesetzt; die Kategorie der G. ist wegen ihrer Vieldeutigkeit außer Kurs geraten. Das hat auch mit der polit. Diskreditierung des G.sbegriffs zu tun. Unter dem Titel der Volksgemeinschaft hat der —> Nationalsozialismus die Ideologie auf die Spitze getrieben, daß aufgrund der natürlichen Ungleichheit der Menschen eine autoritäre und hierarchische Ordnung unabdingbar sei. Aufgrund dieser Vereinnahmung durch eine -> Diktatur mit totalem Anspruch und mit mörderischem rassistischem Zuschnitt ist dem Begriff der G. seit Mitte des 20. Jhd.s großes Mißtrauen entgegengebracht worden (-> Totalitarismus). Dieses Mißtrauen ist dadurch noch verstärkt worden, daß der bürokratische Kommunismus zunächst in der Sowjetunion und dann auch in verschiedenen anderen Staaten zu einer blutigen Karikatur auf den Traum allumfassender Solidarität geraten ist (—> Sozialismus). Eine polit. Neubewertung hat der G.sbegriff dort erfahren, wo sich radikale ökologische Bewegungen daran gemacht haben, der Umweltzerstörung durch ein Leben in naturnahen überschaubaren Verbänden ein Ende zu setzen. Allerdings erheben sich Bedenken gegen diese Programme, die bei den Einwänden anknüpfen, die bereits gegen restaurativ oder
Gemeinschaft progressiv ausgerichtete Harmoniepostulate im 19. Jhd. erhoben worden sind: Bei den Träumen von bruchloser Verbundenheit, naturverbundener Eintracht oder vollkommener Gegenseitigkeit handelt es sich um gefährliche Utopien. Wo allumfassende Geborgenheit und Nestwärme zum Programm gemacht wird, ist eben für individuelle Autonomie kein Platz; die Kritik an der Moderne droht in sektiererischen Primitivismus umzuschlagen. Diese Gefahr wird bei der Neubelebung des G.sgedankens reflektiert, die innerhalb der amerik. Sozialwissenschaft unter der Bezeichnung des Kommunitarismus initiiert worden ist (Etzioni 1995). G. und Gemeinsinn werden perspektivisch gleichgesetzt. Der Appell gilt der Bereitschaft, sich zugunsten des Gemeinwohls einzusetzen. Der Verkümmerung dieses Gemeinsinns soll durch die Überzeugungskraft ethischer Argumente entgegengewirkt werden. Auf die These bauend, daß die rücksichtslose Verfolgung des eigenen Nutzens selbstzerstörerisch wäre, wird der Mangel an sozialem Engagement mit der Verschärfung von Interessenkonflikten in Zusammenhang gebracht. Die Eskalation dieser Konflikte könne im Zuge fortschreitender Partikularisierung bis hin zur Zerstörung der -» Demokratie führen. Dem Kommunitarismus geht es um die Stärkung der moralischen Grundlagen der Gesellschaft. Die Freiheit des Individuums sei als Grundwert unantastbar, jedoch müsse ins Bewußtsein gerufen werden, daß jedes Individuum der Einbindung in familiale Strukturen bedürfe, wie auch der Einbindung in Netzwerke, die vom Geist der Solidarität getragen werden. G. und Gesellschaft werden hier nicht dualistisch gegenübergestellt, vielmehr wird betont, daß das gewaltfreie Und sachgerechte Funktionieren von Organisationen auf Verhaltensweisen beruht, die unter Verwandten, Nachbarn und Freunden kultiviert werden. Die Vergötzung privater Interessen gefährde die Netzwerke, auf die jeder Mensch angewiesen sei. Jedes Mitglied einer G. nehme deren
Gemeinschaft Leistungen in Anspruch, deshalb sei er dieser G. auch etwas schuldig. Der aufgeklärte Egoismus zeichne sich dadurch aus, daß er die Verpflichtung und Verantwortung gegenüber anderen mit ins Kalkül zieht. Jeder Mensch strebe nach Erfolg, jedoch müsse das Streben nach Respekt dem Streben nach Profit übergeordnet werden. Bei der Erneuerung des Gemeinwesens seien v.a. die Eltern und Lehrer gefordert, weil der soziale Verfall, der sich auf tragische Weise in wachsendem Drogenkonsum und wachsender Kriminalität manifestiere, v.a. durch Erziehung zum Respekt vor sich selbst und vor anderen zu bekämpfen sei. Diese Erziehung müsse durch das moralische Engagement von Nachbarn und Bürgern unterstützt werden, denn Eltern und Lehrern können ihre Vorbildfunktion nur dann erfüllen, wenn ihre Ideale durch das soziale Umfeld bestätigt werden. Die wichtigste zivile Tugend bestehe darin, sich für andere einzusetzen, auch wenn daraus kein unmittelbarer Vorteil für die eigene Person erwachse. Umstritten ist die Frage, wie die Grundsätze des Kommunitarismus zu konkretisieren sind und welche Chancen für seine praktische Umsetzung gegeben sind. Bei aller Skepsis bleibt aber positiv festzuhalten, daß der Kommunitarismus dazu anregt, das Verhältnis von Moral und Politik neu zu überdenken. Die Einforderung von Loyalität und Solidarität im Namen von G.en ist mit den Prinzipien einer pluralistischen Gesellschaft dann vereinbar, wenn diese G.en sich als Assoziationen unabhängiger und gleichberechtigter Individuen verstehen, mag es sich nun um Partnerschaften, Vereine, Parteien oder Bewegungen handeln. Brisant wird es dann, wenn einzigartige und nicht verallgemeinerbare Werte als Grundlage der G. gelten und die Forderung nach wechselseitiger Toleranz ausdrücklich oder stillschweigend verneint wird. Liberale Institutionen sind durch religiösen Fundamentalismus und polit. Fanatismus in der Weise gefährdet, daß Freiheiten
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Gemeinschaftsaufgaben
Gemeinschaft instrumentalisiert werden, um die Freiheit zu zerstören. Die Debatte über die Vereinbarkeit von gemeinschaftlicher Bindung und modernem Unversalismus geht angesichts dieser Problematik in die Debatte über, wieviel ziviles Engagement für den Bestand von Demokratien lebenswichtig ist. Lit: Λ. Etzioni: Die Entdeckung des Gemeinwesens, Stuttgart 1995; G. C. Homans: Theorie der sozialen Gruppe, Köln 51970; A Honneth (Hg.): Kommunitarismus, Frankfurt/M. 1992; U. Maas: Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand. Sprache im Nationalsozialismus, Opladen 1984; R. Münch: Die Struktur der Moderne, Frankfurt/M. 1992; T. Parsons: Das System modemer Gesellschaften, München 1972; K. R. Popper. Die geschlossene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., München "1975; B. van den Brink/ W. van Reijen: Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Frankfurt/M. 1995; Ä Sennett: Verfall und Ende des öffentl. Lebens, Frankfurt/M. 1986; F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 101979.
Carsten Quesel Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Der am 8.12.1991 in Minsk gebildeten GUS gehören heute alle ehemaligen - » Republiken der früheren UdSSR mit Ausnahme der 3 baltischen Staaten an (Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Kasachstan, Kyrgystan, Moldowa, Russische Föderation, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine und Usbekistan). Mit der Gründung der GUS sollte die Auflösung der UdSSR in geordnete Bahnen gelenkt und eine lockere Zusammenarbeit ihrer unabhängig gewordenen Gliedstaaten erreicht werden. Die Situation innerhalb der GUS war und ist durch ein Nebeneinander von Bemühungen um eine verstärkte wirtschaftl. und sicherheitspolit. Reintegration und eine vollständige Abwicklung der gemeinsamen polit. Vergangenheit gekennzeichnet. Die GUS bleibt ungeachtet des Abschlusses zahlreicher Abkommen ihrer Mitgliedstaaten und des stetigen Ausbaus ihrer Organstruktur noch immer eine sehr
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schwache Organisation. Der Einfluß der GUS auf die Politik Rußlands als der einzig verbliebenen Atommacht im Kreis der GUS-Mitglieder war und ist marginal, während Rußland über den GUS-Mechanismus auf die polit. Entwicklung der GUS-Partner einzuwirken versucht. Ut: R. Götz/U. Halbach: Polit. Lexikon GUS, München s 1996.
J. U. Gemeinschaftsaufgaben Die G. wurden 1969 als Art. 91a in das -> Grundgesetz eingefügt, um in bestimmten, begrenzten Bereichen die Kooperation von —> Bund und -> Ländern zu verbessern und auf eine rechtl. Grundlage zu stellen. Der Bund wollte ursprünglich weitergehend auch in Bereichen, die der Länderkompetenz vorbehalten waren, eigene Schwerpunkte setzen. Gemäß dieses Artikels wirkt der Bund auf folgenden Gebieten bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder mit, wenn diese Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und die finanzielle Mitwirkung und Mitsprache des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist: 1. Ausbau und Neubau von —> Hochschulen einschließl. der Hochschulkliniken, 2. Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, 3. Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes. Der Bund trägt die Hälfte der Ausgaben in jedem Land; die andere Hälfte muß vom jeweiligen Land aufgebracht werden. Eine Förderung kommt nur bei Zustimmung des jeweiligen Sitzlandes der Förderung zustande; die Gesetze, welche die nähere Rahmenplanung in den 3 Bereichen regeln, bedürfen der Zustimmung des —> Bundesrates. Die Aufstellung von Rahmenplänen erfolgt durch Gremien, die paritätisch von Bundes- und Landesvertretern aller Bundesländer besetzt sind. Einerseits konnten durch dieses verfassungsrechtl. Instrument allgemein als bedeutend betrachtete Aufgaben gefördert werden, andererseits, besteht aber auch die Gefahr, daß sich Bund und Länder durch
Gemeinschaftsrecht
Gemeinwohl
dieses Misch- und Verflechtungssystem wechselseitig blockieren. Lit: J.P. Rosenhagen: Die Kooperation von Bund und Ländern im Bereich der Gemeinschaftsaufgaben, Bonn 1996.
Jürgen Bellers Gemeinschaftsrecht Gemeinschaftsrecht
->
Europäisches
Gemeinschaftsschule / -n Im Gegensatz zur konfessionellen Bekenntnisschule ist die G. die - im dt. —> Föderalismus inzwischen regelhafte - Schulform, die trotz Wahrung christl. Traditionen weltanschaulich offen an Idee und Realität des gesellschaftl. Pluralismus orientiert ist. Alltagssprachlich wird unter G. zuweilen mißverständlich eine Schulform mit besonderer Förderung von Gemeinschaftsgeist z.B. durch Gruppenarbeit und intensives außerunterrichtliches Schulleben, gemeinsamer Unterricht für Mädchen und Jungen oder die für die —> Gesamtschule typische soziale Koedukation verstanden (s.a. —» Schule, —> Schulrecht). Lit: Β. Michael / H.-H. Schepp (Hg.): Die Schule in Staat und Gesellschaft, Göttingen 1993.
B.C. Gemeinschaftssteuern -> Steuern -> s.a. Finanzausgleich —> s.a. Finanzverfassung Gemeinwohl Mit dem G. (lat. bonum commune) wird das Interesse des Ganzen dem des Einzelnen gegenübergestellt. Allgemein ist das G. als ein übergeordneter allgemeiner Zweck, zu dessen Umsetzung Menschen in einer —> Gemeinschaft zusammengeschlossen sind, anzusehen. Eine präzisere Beschreibung stößt an die Grenzen der vielschichtigen Bedeutungen und Verständnisse des Begriffs. Ihren Ursprung haben die Überlegungen zum G. in der Antike (Piaton, Aristoteles, Seneca). Kennzeichnend für das G.verständnis der antiken polit. Philosophie ist die normativ-apriorische Grundlage: Das G. ist danach ein (objektiver) Zustand, der den Interessen der —> Gesell-
schaft und Gesellschaftsmitglieder vorgängig und dementsprechend unveränderbar ist. Inhaltlich ist das G. durch die aus der Idee der —> Gerechtigkeit abgeleitete -> Gleichheit bestimmt. Umgesetzt wird das G. in der Polis, wodurch die umfassende Entfaltung der menschlichen Natur erreicht wird. Von Bedeutung für die weitere Entwicklung der G.Überlegungen ist das zugrunde liegende emergente Verständnis, daß der —> Staat als Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile und dementsprechend auch nicht aus diesen abgeleitet werden kann. In der Scholastik findet das G.verständnis der Antike eine Fortsetzung und gleichzeitig eine Zuspitzung, indem die göttliche Vollkommenheit als Ziel des G.s festgestellt wird. In der Konsequenz findet damit eine Entpolitisierung des G.begriffs statt. In der Neuzeit tritt eine entscheidende Erweiterung des G.verständnisses auf: Das G. wird nicht mehr an die Interessen der Herrschenden angebunden. Gleichzeitig wird der Interessenausgleich zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft zum Problem. Die Dynamisierung des G.begriffs erfolgt zunächst durch das —> Naturrecht und insbes. Gesellschaftsvertragskonstruktionen (Hobbes 1588-1679, Locke 16321704). G. ist in diesen Überlegungen keine normativ-apriorische Konzeption mehr, sondern entsteht aposteriori - als formales, inhaltlich nicht ausgefülltes Ziel des Gesellschaftsvertrags - aus den aggregierten Interessen und Handlungen der Einzelnen. Da der Staat wegen der Interessen der Einzelnen konstituiert wird, fallen öffentl. und privates Interesse zusammen. Eine Weiterentwicklung erfolgt durch Rousseau (1712-17,78), der einerseits das G. als konstitutiven Zweck der Staatsbildung durch den Sozialvertrag (—> volonté générale) erklärt, andererseits aber auch im konkreten Gemeinwillen (volonté de tous) der Individuen vom G. abweichende Verhaltensdispositionen anerkennt. Um eine Übereinstimmung zwischen G. und Gemeinwillen zu erreichen, 369
Gemeinwohl entwickelt Rousseau einen staatl. Erziehungsauftrag. Durch die bisherigen Ausführungen wurde die zeitliche und polit. Gebundenheit des Verständnisses von G. deutlich. Schließlich ist bei Rousseau der grundsätzliche Sachverhalt sehr anschaulich, daß das G. auf dem jeweilis zugrundeliegenden Menschen- und Gesellschaftsbild beruht. Für die weitere Entwicklung des G. Verständnisses war die kath. Soziallehre von großer Bedeutung, innerhalb der ein doppeltes G. Verständnis vorherrschte. Einerseits wurden damit die von der Gemeinschaft anzustrebenden Werte kultureller und sozialer Art angesprochen, durch die das „allgemeine Wohl" der Glieder bedingt war. Andererseits war das G. ein Kriterium für das Verhalten der Einzelnen zur Gemeinschaft, durch das dem G. gedient sein sollte. Gemeinsam war beiden Vorstellungen die Annahme der Harmonie zwischen Individual- und Sozialinteressen. Besonderen Einfluß erlangten diese Konzeptionen für den Auf- und Ausbau des Sozialsstaates in Dtld. Als Ergebnis dieser Entwicklungen haben apriorische G.konzeptionen gegenwärtig keinen großen Einfluß mehr. In der Entwicklung der modernen Industriegesellschaften sind G.konzeptionen kontinuierlich unter E>ruck geraten. Beispielhaft wird das durch die Veränderung pluralistischer Überlegungen deutlich. Beginnend mit der Fragestellung, wie sich G.vorstellungen in repräsentativen (Konkurrenz-) -> Demokratien entwickeln und wie sie durchgesetzt werden können, wurde zunächst theorie-immanent die pluralistische Interessenauseinandersetzung als der Weg zu einer G.annäherung angesehen. Diese Erklärungsvariante steht aber einer Vielzahl von Einwänden gegenüber, z.B. den in sehr unterschiedlichem Maße organisierbaren gesellschaftl. - » Interessen. Um, wie in der pluralistischen Theorie angelegt, aus dem Spiel der Kräfte zu einem angemessenen G. kommen zu können, wurde ein ähnlicher Weg gegangen wie in der Demokratietheorie, indem
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Gemeinwohl die Geltung bestimmter Verfahrensregeln und eines Basisbestandes an regulativen Ideen zur Voraussetzung einer demokrat. G.bestimmung erklärt wurden. Im -> Grundgesetz wird das G. in begrifflicher Form nur in Art. 14 aufgenommen (Abs. 2: Allgemeinwohlbindung des —» Eigentums, Abs. 3: Verstoß gegen das Wohl der Allgemeinheit als Voraussetzung einer Enteignung). Aber auch andere Regelungen verweisen auf G.vorstellungen, so Art. 2 Abs. 1 GG, in dem die freie Entfaltung der Persönlichkeit an den Rechten Anderer ihre Grenze findet. Auch das —> Bundesverfassungsgericht hat die Bedeutung des G.s hervorgehoben, indem es festgestellt hat, daß im Konfliktfall das Wohl der Allgemeinheit den Vorrang vor der garantierten Rechtsstellung des Einzelnen haben kann (BVerfGE 24, 367). In Verbindung mit der Anbindung des G.s an die - » Menschen- und - » Grundrechte in den liberalen westlichen —> Verfassungsstaaten wird hier die zugleich freiheitsgewährende und freiheitsbeschränkende Funktion des G.s deutlich. Die Verwendung des G.s als ein gesetzlicher Tatbestand im GG und einer Vielzahl von —> Gesetzen und -> Landesverfassungen hat zu einer umfangreichen jurist. Ausfüllung des G.begriffs geführt. Hier ist jedoch eine nicht unproblematische Veränderung in der G.auslegung festzustellen: Insbes. in den obersten Rechtsentscheidungen wird die begriffliche Orientierung am G. durch eine Argumentation mit selektiven Leitbegriffe wie „Stand der Technik" oder „Erfordernisse der Wirtschaft" ersetzt. Problematisch ist in diesem Zusammenhang einerseits die einseitige Konzentration auf den Bereich des Eigentums. Andererseits verstellt die nur scheinbare Objektivität dieser Leitbegriffe den Blick auf Gestaltungspotentiale. Mit am deutlichsten dürfte die zurückgehende Bedeutung des G.s in der Konzeption des „Restrisikos" durch das BVerfG geworden sein. Aspekte des G.s sind auch in Generalklauseln wie Treu und Glauben, All-
Gemeinwohl gemeinverträglichkeit, öffentl. Interesse, Allgemeininteresse usw. enthalten, wobei die Letztgenannten zunehmend dem Begriff des G.s vorgezogen werden. Der Grundsatz des G.s kann in ein Spannungsverhältnis zu rechtsstaatl. Kriterien treten. So ist es möglich, den Vertrauensschutz durch Gründe des G.s einzuschränken. Einer starken Kritik sind die herkömmlichen G.konzepte mit ihren für die Praxis nicht nachvollziehbaren harmonistischen bzw. ausgleichenden Vorstellungen ausgesetzt. Offensichtlich können solche Entwürfe auch dazu dienen, Herrschaftsverhältnisse zu verschleiern. Eine besondere Attraktivität hat das Konzept des G.s für totalitäre Regime (—> Totalitarismus), da für sie die Möglichkeit besteht, abweichende polit. Vorstellungen als für das G. schädliche Partialinteressen zu verfolgen. Hierdurch wird eine allgemeine Entwicklung angedeutet: Das G., daß für die Herrschenden den Handlungsmaßstab bilden sollte, wird - da es keinen objektiven Gehalt hat - regelmäßig von den konkreten -» Staatszielen okkupiert. Die bisher aufgezeigte Entwicklung läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß im 20. Jhd. das G.verständnis kontinuierlichem Druck ausgesetzt war, welchem nachgegeben wurde. Ansatzpunkt der Kritik war die Frage, wie das G. in den Parlament. Entscheidungen einen Ausdruck finden kann. Dies wurde durch die wissenschaftl. Analysen gestützt, als Arrow in Anlehnimg an Condorcets Paradox nachweisen konnte, daß in sozialen Entscheidungsfindungsprozessen - unter bestimmten Voraussetzungen - Minderheitenpositionen gegen die Präferenzen von Mehrheiten durchgesetzt werden können. So erhält die Entwicklung des G.s aus dem-polit. Prozeß heraus einen irrationalen Aspekt. In dem aus der Auseinandersetzung mit dem (Markt-) —> Liberalismus hervorgegangenen Kommunitarismus wird die soziale Gebundenheit der Individuen hervorgehoben. Mit der zentralen Fragestellung nach der
Gemischte Verfassung gerechten Ordnung einer Gesellschaft wird mit dem Kommunitarismus die polit. Dimension des Zusammenlebens betont. So findet eine Rückwendung zur Orientierung am G. statt. Diese Entwicklungen zeigen die Bedeutung der G.konzeption für moderne Gesellschaften. Einerseits scheint es weder möglich noch wünschenswert zu sein, die Existenz eines a priori bestehenden, objektiven allgemeinen Wohls zu postulieren. Andererseits ist eine gesellschaftl. Entwicklung langfristig nur schwer vorstellbar, in der kein Ausgleich zwischen Individual- und Kollektivinteressen angestrebt wird. Auch - oder gerade wenn - G.Vorstellungen nicht aus den gesellschaftl. Vorstellungen und Auseinandersetzungen abgeleitet werden können, so ist es doch notwendig, Möglichkeiten und Grenzen der Entwicklungen auszuloten. Zu diesen Überlegungen gehört die Einsicht, daß die zukünftige Entwicklung alle gesellschaftl. Teile betreffen muß, und nicht nur Potentiale für die stärksten Teile bieten darf. Die Umsetzung dieser Einsicht verweist wiederum auf die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft. Lit: H.H. v. Arnim: Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Frankfurt/M. 1977; KJ. Arrow: Social Choice and Individual Values, London '1978; Α. Baruzzi: Freiheit, Recht und Gemeinwohl, Darmstadt 1990; E. Fraenkel: Dtld. und die westlichen Demokratien, Frankfurt/M. 1991; A. Honneth (Hg.): Kommunitarismus, Frankfurt/M. 2 1995.
Thomas Kneissler
Gemischte Verfassung Als g.V. bezeichnet man eine -> Verfassung, welche die —> Staatsgewalt nicht bei einer Instanz konzentriert, sondern sie auf verschiedene -> Institutionen, -> Stände oder soziale Schichten verteilt. Im Lauf der polit. Ideengeschichte hat sich die Konzeption der g.V. stark gewandelt. Konstant geblieben ist aber ihr Ziel: Sie will ein Gleichgewicht der Kräfte installieren, das Machtmißbrauch verhindern soll. Die grundlegende Idee, Staatsmacht durch Aufteilung zu mäßigen und zu kontrollie371
Genehmigungsbedürftige Anlage
Genossenschaft
ren, stammt schon aus der Antike. Aristoteles, Polybios und insbes. Cicero sahen in einer Mischung der klassischen Herrschaftsformen - Monarchie, Aristokratie und -> Demokratie (-> Staatsformen) - die ideale Staatsverfassung. Ein praktisches Beispiel dafür war die altröm. Verfassung. Später nahmen Thomas von Aquin und Macchiavelli den Gedanken der g.V. wieder auf. Die bis heute einflußreichste Variante einer g.V. stammt von Montesquieu, der 1748 in seinem Werk „Ober den Geist der Gesetze" die Idee der —> Gewaltenteilung beschrieben hat. Er will die —» Macht des Staates in verschiedene Staatsgewalten - -> Exekutive, Judikative und -> Legislative - aufteilen, die sich in einem gleichgewichtigen System gegenseitig beeinflussen, kontrollieren und hemmen. Wie alle anderen Verfassungen der westlichen Demokratien ist auch das Grundgesetz durch die klassische Gewaltenteilung geprägt: - * Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung sind in der -> Bundesrepublik Deutschland grds. getrennt. Das Gleichgewichtssystem differenziert sich in den modernen Demokratien zunehmend aus. Vor allem die steigende Bedeutung der polit. -» Parteien und der -> Verbände führt zu Modifikationen im ausgewogenen System der checks and balances. Volker Neßler Genehmigungsbedürftige Umweltrecht
Anlage
->
Genehmigungsverfahren -> Atomrecht —> Gentechnikrecht —• Gewerberecht -> Umweltrecht General Agreement on Tarifs and Trade -> GATT Generalbundesanwalt Der G. ist der Leiter der -» Bundesanwaltschaft als Staatsanwaltschaft beim —> Bundesgerichtshof. Der G. und die ihm unterstellten Bundesanwälte werden auf Vorschlag 372
des Bundesjustizministers mit Zustimmung des —> Bundesrates durch den —> Bundespräsidenten ernannt und unterstehen der Dienstaufsicht und Leitung des Bundesjustizministers. Als Bundesbeamter hat der G. gegenüber den Staatsanwaltschaften der Länder an den Amts-, Land- und Oberlandesgerichten keine Weisungsbefugnisse. Neben seiner staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit führt er als Justizverwaltungsaufgabe das —> Bundeszentralregister. T.L. Generalinspekteur —> Bundeswehr Generalstaatsanwalt —> Staatsanwalt Genossenschaft Die G. ist eine Rechtsform für unternehmerisches Handeln. Wesentliche Rechtsgrundlage der G. als -» juristische Person ist das GenGesetz von 1889. Mindestens 7 Mitglieder bilden eine G. als —> Verein, der eine Unternehmung unterhält ( § 4 GenG). Ziel der G. ist dabei die Förderung seiner Mitglieder durch z.B. günstige Konditionen bei Lieferanten. Durch die Förderung sollen die Mitglieder dauerhaft an die G. gebunden werden. Aber auch Geschäfte mit Nichtmitgliedern sind heute üblich. G.en vergrößern die Wohlfahrt der sich solidarisch organisierten Mitglieder, wenn ansonsten Informationsdefizite in der Marktwirtschaft zu Verlusten führen würden. Die Solidarität führt dabei nicht zur Bildung eines Kollektivs, da die Mitglieder aus Eigeninteresse heraus weite Bereiche ihres Handelns weiterhin selbst regeln. Generalversammlung, Aufsichtsrat und Vorstand sind die Organe einer G., wobei bei G.en mit mehr als 1.500 Mitgliedern die General- durch eine Vertreterversammlung ersetzt werden kann (§§ 43, 43a GenG). Die G. wird vom Vorstand geleitet. Der Aufsichtsrat übt die Kontrollfunktion aus. Die Wahl von Vorstand und Aufsichtsrat sowie die Entlastung der Jahresabrechnung erfolgen durch die Mitglieder in der GeneralVersammlung (§
Gentechnik
Gentechnik 48 GenG). Jedes Mitglied muß mindestens einen Geschäftsanteil der G. erwerben und wird damit Eigentümer. Die Abstimmung in der Mitgliederversammlung bzw. zur Wahl der Vertreter erfolgt nach Anzahl der Köpfe und nicht nach Anzahl der Geschäftsanteile (§ 43 GenG). Die Geschäftsanteile werden i.d.R. verzinst. G.en können für ihre Mitglieder neben dem Einkauf den Vertrieb oder die Bankgeschäfte regeln. Aber auch im Wohnungsbau treten G.en in Erscheinung. Hingegen hat sich eine genossenschaftliche Organisation der Produktion aufgrund erheblicher Anreizdefizite als wenig sinnvoll herausgestellt, siehe die Landwirtschaftl. Produktionsgenossenschaften (LPG) der ehemaligen —> DDR. Lit.: H. Bonus: Das Selbstverständnis moderner
Genossenschaft, Tübingen 1994; W. Jäger (Hg.): Genossenschaften, Münster 1991.
Raimund Weiland Gentechnik / -recht Die G. ist eine auf Ergebnissen naturwissenschaftl. Forschung beruhende Technik. Sie ist der Zweig der Biotechnik (Biotechnologie), der sich mit der Charakterisierung und Isolierung von genetischem Material befaßt, mit dem Ziel neue Kombinationen genetischen Materials zu bilden sowie neukombiniertes Erbmaterial in andere biologische Umgebungen einzuführen und zu vermehren. Die aus der G. gewonnenen Erkenntnisse lassen ein breites Anwendungsspektrum zu. Die G. wird auch in Zukunft nicht nur in der pharmazeutischen Industrie zur Herstellung von Therapeutika und Diagnostika, sondern auch in der Lebensmittelindustrie, bei der Abwasserreinigung u.v.m. Bedeutung erlangen. Gefahren Die G. bietet einerseits die Möglichkeit, Krankheitsursachen z.B. bei Krebs oder Aids zu erfassen und neue oder bessere Arzneimittel zu entwickeln und zu produzieren; auf der anderen Seite bringt sie erhebliche Gefahren bzw. Risiken für die Gesundheit der Bevölkerung
sowie für die gesamte Umwelt mit sich. Die bisherige Erfahrung lehrt, daß jede Technik, welche die Menschen zu ihrem Nutzen erfunden und angewandt haben, immer auch Schaden gestiftet hat oder sogar willentlich zum Schadenstiften angewandt worden ist. Diese Möglichkeit erscheint gerade bei der G. grenzenlos, wenn man bedenkt, daß die Möglichkeiten, Gene nach freiem Ermessen herzustellen, zu verpflanzen, neu zu kombinieren, beliebig zu vermehren, dem Menschen völlig neue Dimensionen der Macht über die Natur eröffnet haben. Ärzte werden mutmaßlich schnell geneigt sein, auch fragwürdigen Methoden oder Experimenten zuzustimmen, da sie helfen, den ärztlichen Auftrag zum Heilen zu fördern. Das erscheint nicht nur ethisch bedenklich, da solche Eingriffe die personale Integrität des Menschen bedrohen oder sogar verletzen. Rechtl. Regelungen Genrecht ist der Sammelbegriff filr Rechtsnormen, die sich mit der künstlichen Veränderung oder Beeinflussung von Vererbungsvorgängen bei Menschen, Tieren und Pflanzen befassen. Teil davon ist das G.recht, d.h das Recht der Einflußnahme auf Gene im biologischen Sinne (davon zu unterscheiden ist die Reproduktionstechnik z.B. künstliche Fortpflanzung, Genomanalyse, bei der sich eher verfassungsrechtl. Fragen der -> Menschenwürde, familienrechtl. und erbrechtl. Probleme ergeben). Das G.recht wirft überwiegend Probleme aus dem Bereich des -> Umweltschutzes und der Anlagensicherheit auf. Der Bereich der G. wird durch das —> Gesetz zur Regelung der G. (Gentechnikgesetz; Abk. GenTG) vom 20.6.1990 (BGBl. I S. 1080), geändert durch Art. 5 § 1 Gesundheitseinrichtungen-Neuordnungsgesetz v. 24.6.1994 (BGBl. IS. 1416) geregelt. Zweck des Gesetzes ist nach § 1, Leben und Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen und Sachgütern sowie die sonstige Umwelt in ihrem Wirkungsgefuge vor möglichen Gefahren gentechn. Verfahren und Produkte zu schützen und dem
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Gentechnik Entstehen solcher Gefahren vorzubeugen sowie den rechtl. Rahmen für die Erforschung, Entwicklung und Nutzung der wissenschañl. und techn. Möglichkeiten der G. zu schaffen. Die Regelungen des Gesetzes beziehen sich nach § 2 GenTG auf gentechn. Arbeiten in gentechn. Anlagen und auf das Freisetzen gentechnisch veränderter Organismen sowie das Inverkehrbringen von Produkten, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen. Keine Anwendung hingegen findet das Gesetz für den Einsatz von gentechnisch veränderten Organismen am Menschen. In § 3 GenTG werden die Begriffe der G. definiert; überdies findet eine Abgrenzung gegenüber anderen biologischen Techniken, v.a aus dem Bereich der Reproduktionstechnik statt. §§ 4fT. GenTG regeln Fragen der Einrichtung und Aufgaben der Zentralen Kommission für die Biologische Sicherheit. Eine solche Sachverständigenkommission ist beim Robert-Koch-Institut eingerichtet. Diese beschäftigt sich mit sicherheitsrelevanten Fragen nach dem GenTG, gibt hierzu Empfehlungen und berät die —» Bundesregierung und die -> Länder hinsichtlich dieser Fragen. Gentechn. Arbeiten werden in § 7 GenTG in 4 nach Maßgabe der Gefährlichkeit abgestufte Sicherheitsstufen unterteilt. Sie unterscheiden sich nach dem Risiko für die menschliche Gesundheit und die Umwelt. Der Sicherheitsstufe 1 sind gentechn. Arbeiten zuzuordnen, bei denen nach dem Stand der Wissenschaft nicht von einem Risiko für die menschliche Gesundheit und die Umwelt auszugehen ist. Der Sicherheitsstufe 4 hingegen sind die gentechn. Arbeiten zuzuordnen, bei denen nach dem Stand der Wissenschaft von einem hohen Risiko oder dem begründeten Verdacht eines solchen für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt auszugehen ist. a) Gentechn. Arbeiten dürfen grds. nur in gentechn. Anlagen mit geschlossenen Systemen durchgeführt werden (§ 8 GenTG). Errichtung und Betrieb solcher 374
Gentechnik Anlagen bedürfen i.d.R. einer Anlagengenehmigung. Genehmigungsvoraussetzungen sind neben Zuverlässigkeit und Sachkunde der Betreiber die Sicherheit der Anlagen (§ 13 GenTG). Für die Sicherheitsbewertung ist die jeweilige Sicherheitsstufe maßgeblich. Sind die Voraussetzungen erfüllt, besteht ein Rechtsanspruch auf Genehmigung, b) Gentechn. Arbeiten der Sicherheitsstufe 1 für Forschungszwecke (§§ 8, 12 GenTG) bedürfen lediglich einer Anmeldung. Die Durchführung des Genehmigungsverfahrens sowie die Durchführung des Anmeldeverfahrens sind in den §§ 11 ff. GenTG ausführlich geregelt c) Ohne weiteres zulässig ist eine Veränderung oder Erweiterung der Nutzung für weitere gentechn. Arbeiten für Forschungsanlagen der Sicherheitsstufe 1. Im übrigen sind weitere Forschungsarbeiten, welche diese überschreiten, anzumelden. Sofern sie einer höheren Sicherheitsstufe zuzuordnen sind als die von der Genehmigung oder Anmeldung erfaßten Arbeiten, bedürfen sie einer neuen Anlagegenehmigung ( § 9 GenTG). d) Bei Arbeiten zu gewerblichen Zwecken ist die Sicherheitsstufe 1 anmeldepflichtig, jede höhere dagegen genehmigungspflichtig (§ 10 GenTG). e) Das Freisetzen und Inverkehrbringen von gentechnisch veränderten Organismen sowie von Produkten, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten, bedürfen gleichfalls einer Genehmigung, die auch auf bestimmte Verwendungen beschränkt werden kann (§§ 14-16 GenTG). Das Gesetz bestimmt ein Anhörungsverfahren vor der Entscheidung über die Errichtung und den Betrieb einer gentechn. Anlage, Anzeigepflichten für den Betreiber, Vorschriften zur ständigen behördlichen Überwachung; femer sind vorläufige Betriebseinstellungen und ergänzende Anordnungen möglich. Überdies enthält das GenTG Haftungsvorschriften. Für Schäden infolge von Eigenschaften eines Organismus, die auf gentechn. Arbeiten beruhen, haften die Betreiber. Das GenTG sieht eine Gefähr-
Gentechnik
Gerechtigkeit
dungshaftung mit einer Haftungshöchstgrenze von DM 160 Mio. (§ 33 GenTG) vor. Die Bundesregierung wird jedoch in § 36 GenTG ermächtigt, in einer —• Rechtsverordnung zu bestimmen, daß derjenige, der eine gentechn. Anlage betreibt, in denen Arbeiten der Sicherheitsstufen 2-4 durchgeführt werden sollen, eine Deckungsvorsorge (z.B. durch Haftpflichtversicherung) zu erbringen hat. Genprodukthaftung nach Maßgabe des Arzneimittelrechts besteht gem. § 37 GenTG für Schäden, welche durch die Anwendung von Arzneien, die aus der G. herrühren, entstanden sind. Eine Einschränkung für die Anwendbarkeit des Produkthaftungsgesetzes sieht § 37 Π GenTG vor. Zur Ausfürung des GenTG sind inzwischen zahlreiche -> Verordnungen erlassen worden: VO über die Zentrale Kommission für die biologische Sicherheit i.d.F. der Bek. v. 5.8.1996 (BGBl. I S. 1232), Gentechnik-Aufzeichnungsverordnung i.d.F. der Bek. v. 4.11.1996 (BGBl. I S. 1644), Gentechnik-SicherheitsVO i.d.F. der Bek. v. 14.3.1995 (BGBl. I S. 297), Gentechnik-BeteiligungsVO v. 17.5. 1995 (BGBl. I. S. 734), Gentechnik-AnhörungsVO i.d.F. der Bek. v. 4.11.1996 (BGBl. I S. 1649), BundeskostenVO zum GenTG v. 9.10.1991 (BGBl. I. S. 1972), Gentechnik-VerfahrensVO i.d.F. der Bek. v. 4.11.1996 (BGBl. I S. 1657); überdies existieren zahlreiche Vorschriften der EG, die v.a. auch für die Auslegung des Gesetzes von Bedeutung sein können (Systemrichtlinie, Freisetzungsrichtlinie). Lit: M. Herdegen (Hg.): Internationale Praxis Gentechnikrecht, Losebl., Heidelberg 1996ff; F. Kraatz: Parlamentsvorbehalt im Gentechnikrecht, Berlin 1995; C. v. Kameke: Das Gentechnikrecht der Europ. Gemeinschaft, Berlin 1995; G. Simonis: Gentechnologie: Stand und Perspektive der Technikfolgenabschätzung in Dtld., in: R. Graf v. Westphalen (Hg.), Technikfolgenabschätzung als polit. Aufgabe, München 31997, S. 425ff.; W. Graf Vitzthum / T. Geddert-Steinacher: Der Zweck im Gentechnikrecht, Berlin 1990.
Claudia Tiller
Gerechtigkeit Als G. wird die Eigenschaft von Handlungen, Sozial- und Rechtsnormen ebenso wie Institutionen (Normkomplexen) bezeichnet, welche die Zu- und Abweisung von erwünschten und unerwünschten Lasten und Gütern (Rechten und Pflichten) dergestalt ordnen, als jedermann im Rahmen einer Rechtsgemeinschaft das ihm Zustehende gegeben oder belassen wird. 1. G. als materiale Eigenschaft von Rechtsnormen führt so zur Bestimmung, daß als eine gerechte Rechtsordnung nur eine solche gelten darf, welche jedem das Seine gibt oder beläßt. Gleichzeitig bindet sie die Erzeugung von verteilender (ausgleichender, gesetzlicher und austeilender) G. zuvorderst an das Tun oder Unterlassen des Parlament. Gesetzgebers als Ursprung und verantwortliche Instanz positiven Gesetzesrechts im repräsentativen, gewaltenteilenden Rechtsstaat als Inbegriff hoheitlich verfestigter und begrifflicher Verkörperung der G.sidee. Diese Bestimmung schließt nicht aus, daß gerecht zu nennende (gesellschaftl., soziale und individuelle) Umstände ausschließlich Ergebnis gesetzlicher G. sind und nicht auch in gesellschaftl. Verantwortlichkeit sich begründen, worauf der seit knapp einem Jhd. immer stärker in Gebrauch kommende Begriff der sozialen G. verweist. Sowohl die Dreiteilung des G.sbegriffs in gesetzliche (legale), austeilende (distributive) und ausgleichende (kommutative) G., wie die Auffassung, nach der es die höchste Aufgabe jedes Staates sei, in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung G. herzustellen und zu wahren, gehört zu den Fundamenten polit. Ideenlehre. 2. Hatte Piaton (427-347 v. Chr.) G. als grundlegende Tugend, alle übrigen Tugenden zusammenfaßende Leistung verstanden und richtiges Recht (G.) von der Einsicht in die Idee der G. abhängig gemacht, so erweitert sich bei Aristoteles (384-322 v. Chr.) dieser Begriff zur vollkommenen Tugend, da sie sich nur - wie
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Gerechtigkeit die Natur des Menschen überhaupt - in der Polis (Staat) realisieren läßt und stets auf den anderen bezogen bleibt. Die güterverteilende G. bestimmt filr ihn - gemessen am Kriterium des Verdienstes das Verhältnis von Regierenden und Regierten, wogegen die ausgleichende (tauschende) G. die Beziehungen der Bürger untereinander regelt und sie als Gleiche wie als gleich Handelnde begreift; ihr Handeln ist Ausdruck sittlicher Verpflichtung zur G.; im Zeichen der sich im Mittelalter vollziehenden AristotelesRezeption erfährt seine G.sauslegung eine Wiederbelebung, insbes. durch Thomas von Aquin (1224-1273). Menschliche Gesetze (lex humana) sind nur dann gerecht, wenn diese mit der Einsichtsfähigkeit und dem natürlichen Urteilsvermögen vernünftiger Menschen (lex naturalis) mit der göttlichen Seins- und Sollensordnung als objektiv geltender und göttlich geoffenbarter Weltgesetze (lex divina) übereinstimmen. Ein gegen das -> Naturrecht verstoßendes Recht kann mithin nicht als gesetzliches Recht (lex legalis) gelten und damit auch keine Gehorsamsverpflichtung beanspruchen. Die Entfaltung des neuzeitlichen Naturrechts übergehend, wird in der Rechtsphilosophie I. Kants (1724-1804) der Rechtspositivismus mit seiner Konsequenz der weitgehenden Ausblendung eines materialen G.sgehaltes vorbereitet. In der Absicht, die Rechtmäßigkeit von Recht aus dem Verhältnis der Handlungsfreiheit der einzelnen zueinander zu bestimmen, kommt Kant im Ergebnis zu jener einflußreichen Formel, nach der das Recht als Inbegriff der Bedingungen aufzufassen ist, wonach die Willkür (Handlungsfreiheit) mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammengeführt wird. Hieraus folgert er in seinem rechtl. Imperativ, so zu handeln, daß die eigene Handlungsfreiheit, wenn sie zum Gesetz verallgemeinert würde, nicht die Handlungsfreiheit aller anderen verletzen dürfe. G. nicht länger als Tugend, sondern als einen
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Gerechtigkeit rechtsgleichen (bürgerl.) Zustand der Gesellschaft zu begreifen, führt Kant folgerichtig zu einer Definition von G., wenn er sie als regulative Form des allgemeinen gesetzgeberischen Willens bezeichnet, seiner Rechte teilhaftig zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt kann I. Kant als ein Vordenker des Rechtsstaatsgedankens bezeichnet werden. Eine deutliche Abkehr vom Rationalismus Kants vollzieht die histor. Rechtsschule zu Beginn des 19. Jhd.s, die sich in erster Linie mit dem Namen des Rechtsgelehrten und zeitweiligen preuß. Ministers für Gesetzgebung F.C. von Savigny (17791861) verbindet. In ihrem Verständnis von der Rolle und Bedeutung des sich aus dem „Volksgeist" herleitenden, gewohnheitsrechtl. und sittlich begründenden Rechts erfuhr zugleich das röm.-rechtl. geprägte Rechtsdenken neue Impulse, v.a. das Zivilrecht (Pandektenwissenschaft, -> BGB). Das alles Recht durch Sitte und Volksglaube dann durch die Rechtswissenschaft und nicht durch die Willkür des Gesetzgebers erzeugt werde - so zusammenfassend die Grundformel der histor. Rechtsschule -, wurde von der 2. großen Geistesströmung im 19. Jhd., der sozialistischen und marxistischen Rechtslehre ebenso abgelehnt wie die formalistische Rechtsbegründung durch Kant. Auf der Grundlage eines v.a. Ökonom, bestimmten Egalitarismus wird die G.svorstellung im sozialistischen Denken zur überaus einflußreichen, überpositiven Rechtsidee. Im Werk P. Proudhons (1809-1865) figuriert G. (justice) als wirtschaftliches und polit. Gleichgewicht, welches die Stabilität einer -> Gesellschaft garantiert; Privateigentum wie zentrale Staatsverwaltung widersprechen für ihn einer solchen G.svorstellung und damit einer gerechten Gesellschaft. Leitet der histor. Marxismus Recht als Teil des „Überbaus" aus dem jeweiligen Stand der Produktivkräfte und der von ihnen bestimmten Produktionsverhältnissen ab und definiert Recht als Machtinstrument der herrschenden Klasse, wodurch G. zur gesellschaftl. Macht-
Gerechtigkeit frage wird. In der Entwicklung zur kommunistischen Gesellschaft löst sich der materiale Gehalt von G. in diesem Verständnis insofern auf, als er identisch wird mit dem der gerechten Gesellschaft, in der jeder nach seiner Fähigkeit und seinen Bedürfnissen als „Herr seiner selbst" sein Leben in Freiheit unter Gleichen gestaltet. E. Bloch hat in den 60er Jahren diesem Verständnis von G. erneut zu erheblicher Wirkung verholfen. Gegen die Vorstellung, Recht an überpositive Grundsätze so v.a. am Naturrecht oder der Idee von G. zu orientieren, entwickelt sich in der 2. Hälfte des 19. Jhd.s im Kontext des allgemeinen wissenschaftl. Positivismus der Rechtspositivismus, der sich bis zum Gesetzespositivismus hin zuspitzte. Kern dieser Auffassung, deren gegen das Naturrecht stehenden gedanklichen Grundlagen i.e.S. bei T. Hobbes (1588-1679) zu finden sind, liegt in der Annahme, daß es keine vorstaatl., allgemeingültigen Rechtsnormen gibt, und daß ihre Geltung auf autoritativer, positiver Satzung und staatl. Durchsetzungsfähigkeit beruhen. Letztere ist unabhängig davon, ob die Rechtsnorm vom Adressaten gutgeheißen oder verworfen wird. Im sog. Gesetzespositivismus, der beinhaltet, daß allein das positive Gesetz wirklich ist und der Gesetzgeber nur an die Schranken gebunden ist, die er sich selbst durch Verfassung und Gesetz gezogen hat, und welches ohne jede Rücksicht auf seinen Inhalt gilt, erfährt dieses Rechtsverständnis und in seiner Folge die Trennung von Recht und Moral ihre schärfsten Ausdruck. Folgerichtig erscheint dem bedeudensten Rechtspositivisten des 20. Jhd.s, H. Kelsen (1881-1973), G. als ein irrationales Ideal. Der Umstand, daß eine staatl. Zwangsordnung als ungerecht beurteilt werden könne, erschien ihm nicht als Hinderungsgrund, diese nicht als Rechtsordnung zu bezeichnen, da ftlr ihn jeder beliebige Inhalt Recht sein oder zu Recht werden kann. G. erschien ihm somit als leere Formel, welche weder zur Rechtfertigung noch zur Kritik tauge. Ebenso löst
Gerechtigkeit sich die Person des —• Richters im Gesetzespositivismus aus der moralischen Verantwortlichkeit für sein tun, wenn G. Radbruch 1932 formuliert, daß es zur Berufspflicht des Richters gehört, den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen. Der Richter habe sein eigenes Rechtsgefühl dem autoritativen, d.h. staatl. Rechtsgefühl zu opfern und nur zu fragen, was rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei. Diese Auffassung, wonach der Richter zum Diener der Rechtssicherheit, nicht aber der G. wurde, hat - ohne daß es seine Vertreter gewollt haben - der Entwicklung Vorschub geleistet, nach der auch das sittlich niederträchtigste Gesetzesrecht im —> Nationalsozialismus Verbindlichkeit und Gehorsam beanspruchen konnte nur, weil es angeblich in den dafür legal vorgesehenen Verfahren entstanden war. Der Rechtspositivismus und die auf seiner Theorie beruhende Praxis dürfen als einflußreichstes Rechtskonzept des 20. Jhd.s bezeichnet werden. Die Anerkenntnis, daß der Rechtspositivismus Verbrechen in Rechtsform ermöglichte, hat sowohl die Diskussion um die Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts bestimmt, wie erneut diese Debatte um die Rechtsfolgenprobleme der Bewältigung des DDR-Unrechtsstaates an der zentralen Problematik nach der Frage des Verhältnisses von Rechtspositivismus und Naturrecht aufgebrochen ist (—>· Deutsche Einheit). Die Entwicklung nach dem Π. Weltkrieg führte zu einer bewußten Neuorientierung in Anknüpfung an die vorstehend angedeutete aristotelisch-thomistische Naturrechtslehre wie an das Vernunftrecht der Aufklärung. Art. 1 Abs. 2 GG formuliert denn, daß sich das dt. Volk zu den unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder Gemeinschaft, des Friedens und der G. in der Welt bekennt. Bundesverfassungsgericht und die Gerichte haben sich seither vielfach und in modifizierter Form auf die sog. Radbruch'sche Formel berufen, um das Verhältnis von positivem Recht und G. i.S. einer Absage an den
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Gerechtigkeit rechtsethischen Relativismus zu bestimmen. Dieser von G. Radbruch zuerst 1946 formulierte Grundsatz besagt im Kern, daß in einem Konflikt zwischen positivem R. und G. sidee im Prinzip dem Gesetz der Vorrang gegeben werde, auch wenn es Unrecht ist, es sei denn, der Widerspruch eines Gesetzes zur G. habe ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetzes als „unrichtiges" Recht der G. zu weichen habe. In der höchst umfangreichen Auseinandersetzung um diese Formel hat insbes. der engl. Rechtstheoretiker H. Hart die Position eingenommen, daß für ihn die Anerkenntnis einer Norm als gültiger Rechtsnorm unabhängig von der Frage ist, ob einer solchen auch Gehorsam zu leisten ist. Eine Entscheidung darüber könne nur vom einzelnen selbst als Gewissensfrage getroffen werden und stelle mithin kein rechtl. Problem dar. Damit wird das Verhältnis von positivem Recht und G. weiterhin nicht am G.sgedanken orientiert, sondern als individuelle Gewissens· und Gehorsamsproblematik thematisiert. Anders die gegenwärtige Diskussion um die G.sidee, wie sie durch die Veröffentlichung einer „Theorie der Gerechtigkeit" (zuerst in Amerika 1971, in dt. 1975) des amerik. Philosophen J. Rawls (1921) entzündet wurde. Wenige Werke zur polit. Philosophie dieses Jhd.s haben eine derartige interdisziplinäre Auseinandersetzung erfahren, und nicht wenige Vertreter der polit. Ideenlehre stellen das Werk der Bedeutung von Arbeiten eines Piaton, Aristoteles und Kant gleich. Rawls knüpft mit seinen Überlegungen an die älteren Vertragstheorien des 17./18. Jhd.s (Locke, Rousseau, Kant) an. Gesellschaft sieht er als ein zum gegenseitigen Nutzen arbeitsteilig organisiertes System, welches zur wohlgeordneten Regelung von Konflikten um die Verteilung knapper Güter und Lasten gerechtigkeitserzeugender und -sichernder Verfahren auf der Grundlage einer „Theorie der G." als rechtfertigender Begründungsinstanz bedarf. Wohlgeordnet nennt Rawls Gesellschaften, die in 378
Gerechtigkeit ihren Institutionen und im Handeln der Bürger von G.sgrundsätzen wirksam gesteuert werden; dabei richtet er seinen G.sanspruch zuerst auf die institutionelle Grundstruktur der Gesellschaft, v.a. auf ihre Verfassung und die zentralen wirtschaftliche und sozialen Güter und Lasten verteilenden Institutionen. Die Ermittlung des materialen Gehalts von G. erfolgt durch die Konstruktion einer histor. fiktiven Situation, in welcher vernünftige, freie und gleiche Menschen im Vorherein ihrer gesellschaftl: Existenz Übereinkunft darüber erzielen, wie sie ihr soziales Zusammenwirken gerecht gestalten wollen. Diese Ursituation ist weiterhin dadurch charakterisiert, daß die die G.sprinzipien formulierenden Bürger ohne Wissen um die eigenen Lebensaussichten, ihre individuellen Fähigkeiten, die gesellschaftl. Umstände und im völligen Desinteresse am anderen ihre Entscheidungen treffen. 2 Grundsätze, welche in dieser „fairen" Ausgangssituation und unter „fairen" Bedingungen - Rawls spricht daher auch von einer Theorie der G. als Fairneß - einvernehmlich formuliert werden, lauten: 1. Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, daß für alle möglich ist. 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein: Sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gem. fairer Chancengleichheit offenstehen. Damit hat Rawls - und dies erstmalig in der Geschichte der neuzeitlichen polit. Philosophie (W. Kersting) - das Rechtfertigungsmodell der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit zur Entwicklung eines Grundsatzes der gerechten Verteilung kooperativ erarbeiteter, materieller Güter herangezogen und damit ein Prinzip der sozialen G. aus dem Prinzip der individuellen rechtl. Freiheit abgeleitet, sowie den sozialstaatl. Grundsatz als notwendige
Gerechtigkeit normative Erweiterung des Rechtsstaatsprinzips kenntlich gemacht (W. Kersting). Rawls Entwurf einer G.stheorie ist v.a. aus der Position der radikalliberalen Theorie der Verteilungsgerechtigkeit (R. Nozick) sowie im Rahmen der Liberalismuskritik (—> Liberalismus) der sog. Kommunitaristen (-> Gemeinschaft) angegriffen worden. In der dt. Diskussion um die rationale Gewinnung von G.skriterien muß auf Praxis und Leistung der Diskurstheorie (J. Habermas) verwiesen werden. 3. Für die Staatslehre des demokrat. Staates ist die Formulierung überpositiver G.skriterien insofern zunächst entbehrlich, als das Rechtsstaatsprinzip in seiner institutionellen und prozeduralen Ausformung die materiale Fassung der G. sidee darstellt und folglich die Gesamtheit des positiven Rechts - so der normative Anspruch - von den fundamentalen Prinzipien des G.sgedankens beherrscht wird. Zu diesen zählen v.a. Vertrauensschutz, Willkürverbot und Rechtssicherheit mit der Folge der Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen und sonstiger Akte öffentl. Gewalt, ein geschlossenes System des -> Rechtschutzes gegen den Mißbrauch staatl. Gewalt, der Schuldgnindsatz im Bereich des staatl. Strafens und die Unschuldsvermutung. Desweiteren die Bindung von —> Verwaltung und -> Rechtsprechung als Garanten inneren —» Friedens an die —» Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) und die lückenlose Kontrolle dieser Bindungswirkung durch die —> Gerichte in Auslegung des G.sgehaltes der —> Menschenwürde, —> Freiheit und der —> Gleichheit als verfassungsrechtl. Grundlage materialer, neuzeitlicher G. sidee. In der Funktionsordnung des GG kommt das Gebot materieller G. einer Kompetenzzuweisung nahe (P.Kirchhof), das die Rechtsprechungsorgane ermächtigt oder verpflichtet, diese G. dem Handeln anderer Staatsorgane entgegenzusetzen. Diese Verpflichtung ist in Anbetracht der histor. Einsicht formuliert, daß auch der ursprüngliche Verfassungsgeber der Ge-
Gericht fahr, jene äußersten Grenzen der G. zu überschreiten, nicht denknotwendig entzogen ist (BVerfG). Insofern muß gelten, daß eine Rechtsnorm der Verfassung dann nichtig sein kann, wenn die grundlegenden G.spostulate, die zu den Grundentscheidungen dieser Verfassung selbst gehören, in schlechthin unerträglichem Maße mißachtet werden. In der Konsequenz der Anerkenntnis überpositiven, den Verfassungsgeber bindenden Rechts liegt die Aufforderung an den Bürger, G. nicht nur als institutionelles Formprinzip des Rechtsstaates, sondern in gleichem Maße als staatsbürgerl. Tugend zu verstehen und ihre Beachtung im äußersten Falle durch -> Zivilen Ungehorsam zu erzwingen. Denn G. ist eben nicht nur die erste Tugend sozialer Institutionen, sondern - mit Aristoteles - die Haupttugend menschlichen Handelns, die - wie die Wahrheit - keine Kompromisse duldet (J. Rawls). Lit: M. Brumlik /H. Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993; J. Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992; W. Kersting: John Rawls zur Einfuhrung, hamburg 1993; R. Nozick: Anarchie, Staat, Utopie, München 1974; J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975.
Raban Graf von Westphalen Gericht / - e G . ist ein Organ, dem —> die Rechtsprechung obliegt. Es ist in Gewährleistung der -> Gewaltenteilung (Art. 20 GG) als „besonderes" Organ ausgestattet. Das G. ist organisatorisch und personell von anderen —> Staatsorganen getrennt. Die G.e sind i.d.R. staatl.; daneben existieren private G.e (Schiedsgericht). Dem G. ist in einem gesetzlich geregelten Verfahren die Feststellung eines streitigen Sachverhalts und dessen rechtl. Bewertung allein nach dem geltenden Recht (Bindung an —• Gesetz und —> Recht) übertragen. Die staatl. G.e sind nach den Gerichtsbarkeiten aufgeteilt (—> Verfassungsgerichtsbarkeit, —> ordentliche Gerichtsbarkeit, -» Arbeitsgerichtsbarkeit, —> Verwaltungsgerichtsbarkeit, 379
Gerichtsvollzieher
Gerichtsbarkeit —> Finanzgerichtsbarkeit, —> Sozialgerichtsbarkeit, Disziplinargerichtsbarkeit und Ehrengerichtsbarkeit). Den Begriff des G.s kann man zwischen dem G. als organisierte —> Behörde (Amtsgericht, Landgericht u.a.) und dem G. als Spruchkörper (Einzelrichter, Kammer, Schwurgericht u.a.) unterscheiden. Notwendig ist jedes G. mit mindestens einem Berufsrichter besetzt; neben diesem werden aber auch häufig ehrenamtliche Richter tätig (-> Ehrenamtliche Tätigkeit). Das G. und die handelnden —> Richter müssen an dem zu entscheidenden Rechtsstreit unbeteiligt, unparteiisch, unabhängig und neutral mitwirken. K.H. Gerichtsbarkeit bezeichnet als Sammelbegriff sowohl -» Organe der —> Rechtsprechenden Gewalt (Art. 92 GG) wie auch ihre Tätigkeit. Teilten sich im Mittelalter und der frühen Neuzeit die -> Stände, —> Städte und Feudalherren die G., so steht sie heute allein dem Staat zu (Bund: Bundesgerichte Art. 92, 95, 96 GG / Länder: übrige Gerichte). Räumlich auf das —>• Staatsgebiet beschränkt, erstreckt sich die G. auf alle sich darauf aufhaltenden Personen, sofern sie nicht dem Prinzip der —> Exterritorialität unterliegen. Auf der Grundlage der Gerichtsverfassung gliedert sich die G. nach den Gerichtszweigen in die -> ordentliche G., die Arbeitsgerichtsbarkeit, die -> Verwaltungsgerichtsbarkeit, die -» Sozialgerichtsbarkeit, die Finanzgerichtsbarkeit, die Patent-, die Disziplinar-, die Ehren· und die Wehrdienstgerichtsbarkeit (-» Wehrstrafgericht) und - mit Sonderstellung - die —> Verfassungsgerichtsbarkeit. HgGerichtshof -> Bundesgerichte —> Europäischer Gerichtshof -> s.a. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) -> Europäischer Ge380
richtshof Gerichtsverfassung bezeichnet die Zuständigkeit, den Organisationsaufbau und die Ordnung der Verfahren bei den —> Gerichten und sonstigen -> Behörden aller -> Gerichtsbarkeiten sowie des in ihnen tätigen Personals der Rechtspflege. Grundlage der G. bilden die Art. 92-104 GG sowie das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG v. 9.5.1975 BGBl. I S. 1077). Das GVG behandelt u.a. die Amtsgerichte, -> Landgerichte und Oberlandesgerichte sowie den —> Bundesgerichtshof; die Geschäftsverteilung und die Geschäftsstellen der Gerichte, die Gerichtssprache, Abstimmung und Beratung, die Schöffengerichte wie die Strafvollstreckungs- und Handelskammern wie das Wiederaufnahmeverfahren in Strafsachen (-> Strafrecht). Ebenfalls ist hier die —> Rechtshilfe geregelt. Die G. wird durch die Prozeßordnungen der verschiedenen Gerichtsbarkeiten, das dt. Richtergesetz (RiG i.d.F. v. 19.4.1972 BGBl I S. 713), das Rechtspflegergesetz (RPflG v. 5.11.1969 BGBl I S. 2065) und die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO v. 11.8.1959 BGBl I S. 565) ergänzt; da die G. der -> konkurrierenden Gesetzgebung unterliegt, treten landesgesetzliche Bestimmungen hinzu. HgGerichtsvollzieher Der G. ist -> Beamter des mittleren Justizdienstes im Vollstrekkungsdienst (§ 154 GVG). Er ist mit Zustellungen, Ladungen und Vollstrekkungen betraut. Seine wichtigste Aufgabe ist die -> Zwangsvollstreckung, soweit sie nicht den Gerichten zugewiesen ist (§ 753 ZPO). Diese hat er im Auftrag des Gläubigers zu bewirken. Er pfändet und versteigert bewegliche Sachen und Wertpapiere (§§ 808ff., 831 ZPO), vollstreckt die Herausgabe von Sachen (§§ 883ff. ZPO), verhaftet den Schuldner beim persönlichen Arrest und zur Abgabe einer Offenbarungsversicherung (§ 909 ZPO). Daneben führt der G. Zustellungen im Partei-
Gesamtschule
Geschäftsfähigkeit
betrieb durch ( § 1 6 6 ZPO); er kann aber auch ein Zustellungsersuchen an die Post richten (§194 ZPO). Weitere bedeutsame Aufgabe ist die Aufnahme von Scheckund Wechselprotesten. Der G. ist bei einem Amtsgericht beschäftigt und untersteht dessen Dienstaufsicht; er handelt aber als selbständiges Organ der Rechtspflege. Örtlich zuständig ist er innerhalb des ihm zugewiesenen Bezirks. Ausgeschlossen von der Ausübung seines Amtes ist er bei eigener oder Beteiligung naher Angehöriger (§ 155 GVG). Seine Amtspflichten sind in der jeweiligen landesrechtl. G.ordnung (GVO) und der Geschäftsanweisung für den G. (GVGA) geregelt. Der G. handelt als Vollstreckungsorgan hoheitlich. Der Auftrag des Gläubigers ist Antrag auf Vornahme einer Amtshandlung. Bei schuldhaftem Verstoß gegen eine Amtspflicht liegt eine Amtspflichtverletzung vor (-» Staatshaftung). Über jede Vollstrekkungshandlung hat er ein Protokoll zu fertigen (§§ 762, 763 ZPO, 110, 135 GVGA), in das alle wesentlichen Vorgänge sowie das Ergebnis der Vollstreckung aufzunehmen sind. Zur Wohnungsdurchsuchung- bzw. -Öffnung gegen den Willen des Betroffenen ist er nur aufgrund richterlicher Durchsuchungsanordnung befugt ( Art 13GG, § 7581 ZPO), soweit nicht Gefahr in Verzug besteht. Gegen die Art und Weise der Zwangsvollstreckung steht dem Gläubiger, dem Schuldner und anderen betroffenen Dritten die Erinnerung nach § 766 ZPO frei. Der G. erhält für seine Tätigkeit neben seinem Gehalt Anteile von den Gebühren und Auslagen, die nach dem G.kostengesetz (GvKostG) zu entrichten sind (in erster Linie vom Schuldner). Lit: D. Eickmann: Vollstreckungssystem und Gerichtsvollzieherstellung in Europa, in: DGVZ 1980, S. 129ff.
Claudia Tiller Gesamtschule Als Ergänzung oder Ersatz des regelhaft dreigliedrigen Schulsystems intendiert und bedeutet vielfach die G.,
teilw. als Ganztagseinrichtung, ein weniger selektives als förderndendes Schulangebot für Heranwachsende aller sozialen Schichten und Begabungen. Modellartig und als alltägliche Institution eine der tiefgreifendsten Reformen der jüngeren —» Bildungspolitik, umfaßt sie die Spanne vom 5. bis 10. Schuljahr, häufig mit angeschlossener Sekundarstufe Π, seltener mit eigener Primarstufe. Zu unterscheiden sind die integrierte G. mit konsequentem Verzicht auf eine schulartspezifische Binnengliederung und die kooperative oder additive G. mit schulartbezogenen Zügen und Varianten übergreifender oder integrierender Elemente (durch das Schulleben oder in Wahlfachbereichen und nicht zum Kembestand gehörigen Unterrichtsfächern). Stärker als andere —> Schulen soll die G. u.a. zwecks Erleichterung von Chancengleichheit oder -gerechtigkeit die leistungs- und neigungsbezogene innere Differenzierung des Unterrichts sowie zugunsten der Einübung demokrat. Verkehrsformen und gesellschaftl. Verantwortungsbewußtseins das Soziale Lernen betonen. Dazu dienen nicht zuletzt Konzepte der Gemeinwesenorientierung als Verankerung des Lernens in Nahbereichen des öffentl. Lebens. Lit.: H. Gudjons / Α. Köpke (Hg.): 25 Jahre Gesamtschule in der BRD, Bad Heilbrunn 1996.
B.C. Gesandter -> Auswärtiger Dienst Geschäftsfähigkeit Die G. ist - als Unterfall der Handlungsfähigst - die Fähigkeit, Rechtsgeschäfte (RGe) durch eigenes Handeln wirksam vorzunehmen. Die G. des Menschen entwickelt sich in 3 Lebensabschnitten: 1. Bis zur Vollendung des 7. Lj. ist das Kind geschäftsunfähig. Geschäftsunfähig ist ferner - unabhängig vom Lebensalter - wer sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§ 104 BGB). 2. Vom 7. Ge381
Geschäftsordnung...
Geschäftsordnung... burtstag bis zur -» Volljährigkeit, d.h. zur Vollendung des 18. Lj., ist der Mensch beschränkt geschäftsfähig (§§ 106ff. -> BGB). Der beschränkt Geschäftsfähige kann RGe vornehmen, die ihm nur einen rechtl. Vorteil bringen (§ 107 BGB). Bei den übrigen RGen ist ein einseitiges RG ohne Einwilligung des gesetzl. Vertreters unwirksam (§ 111 BGB), ein Vertrag dagegen grds. nur „schwebend unwirksam" (§§ 108f. BGB; Ausnahme: sog. Taschengeldparagraph, § 110 BGB). 3. Mit der Volljährigkeit tritt die volle G. ein. Lit.: MKI,
vor § 104ff.
J. U. Geschäftsführer, parlamentarische -> Parlamentarische Geschäftsführer Geschäftsordnung des Bundesrates Das —> Grundgesetz regelt das Verfahren und die Organisation des —> Bundesrates nur in groben Zügen. Ergänzt und vervollständigt wird dieser Rahmen durch die gem. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GG vom Bundesrat beschlossene GO. Insbes. konstituiert sie die Organe und Einrichtungen des Bundesrates, da das GG selbst als einziges Organ des Bundesrates nur dessen Präsidenten (Art. 52 Abs. 1), dessen —» Europakammer (Art. 52 Abs. 3a) und die -» Ausschüsse als Hilfsorgane des Bundesrates (Art. 52 Abs. 4) nennt. Erlaß und Änderung der GO bedürfen der Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundesrates. Sie ist eine auf der Autonomie der gesetzgebenden —> Körperschaft Bundesrat beruhende autonome —• Satzung. Das GG und die —> Gesetze gehen der GO vor. Im Unterschied zur -» GO des Bundestages gilt sie zeitlich unbeschränkt. Wie die GO des -> Bundestages entfaltet sie keine Außenwirkung, bindet mithin nur die Mitglieder des Bundesrates, nicht Mitglieder anderer Verfassungsorgane oder Bürger. Gesetze, die unter Verletzung der GO zustandegekommen sind, sind aus Gründen der Rechtssicherheit gültig, es sei denn, es handelt sich bei der verletzten
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GO-Regelung zugleich um eine verfassungsrechtl. Verfahrensvorschrift. Derzeit gilt die GO vom 10.6.1988 (BGBl. I S. 857) i.d.F. der Bekanntmachung vom 26.11.1993 (BGBl. I. S. 2007), geänd. durch Bekanntmachung vom 25.11.1994 (BGBl. I. S. 3736). Lit: Stern II, § 27. J. U. Geschäftsordnung der rung ->· Bundesregierung
Bundesregie-
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Die GOBT enthält Regelungen zur inneren Organisation und zu den Verfahrensabläufen des -> Bundestages. Sie hat die Aufgabe, dem -> Parlament diejenigen organisatorischen Voraussetzungen bereitzustellen, die es benötigt, um die ihm obliegenden Aufgaben - insbes. die der —> Gesetzgebung - zu erledigen. Dafür muß ein Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen und Rräftefeldern geschaffen werden. Dies betrifft einerseits die Entfaltungschancen des einzelnen —> Abgeordneten gegenüber der Notwendigkeit eines strukturierten Funktionierens der Gesamtversammlung. Darüber hinaus erfordert das demokrat. Prinzip in einem Verfahren, das auf Mehrheitsentscheidungen ausgerichtet ist, auch Vorschriften, die einen effektiven Minderheitenschutz garantieren und den Bestand einer legalen —> Opposition voraussetzen. Die GOBT unterliegt dem Grundsatz der —> Diskontinuität, d.h. sie verliert ihre Gültigkeit mit dem Ablauf der —> Wahlperiode. Ein neu gewählter Bundestag könnte deshalb auch ein völlig neugestaltetes Regelwerk in Kraft setzen. Bisher wurde allerdings zu Beginn der Wahlperiode jeweils die GO des vorangegangenen Bundestages übernommen, was einzelne Änderungen oder auch umfangreichere Reformen zu Beginn oder im Laufe der Wahlperiode nicht ausschließt. Histor. steht die GOBT in einer langen Tradition, die bis zur brit. Parlamentspraxis des ausgehenden 18. Jhd.s zurück-
Geschäftsordnung... reicht. Diese diente der -» Frz. Nationalversammlung 1789 als Grundlage, worauf 1831 die Regelungen der belg. Deputiertenkammer und der —> Frankfurter Nationalversammlung von 1848 und darauf wiederum die GO des Preuß. Abgeordnetenhauses von 1849 bzw. 1862 aufbauten. Diese ist auch unter Berücksichtigung der im Laufe der Jahrzehnte erfolgten Änderungen letztlich die Grundlage der GOßT. Die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages ist in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG ausdrücklich festgelegt. In der histor. Entwicklung beanspruchte in Dtld. ursprünglich die monarchische Staatsleitung ein Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht. Erst im Lauf der Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, daß das Parlament über seine Verfahrensangelegenheiten selbst zu entscheiden hat. In der heutigen Parlament. -> Demokratie stellt die Geschäftsordnungsautonomie sicher, daß das Parlament über seine inneren Angelegenheiten unbeeinflußt von anderen —> Staatsorganen entscheiden kann. Sie findet allerdings ihre Grenzen in den verbindlichen Vorgaben der -> Verfassung, insbes. dem freien -> Mandat der Mitglieder des Bundestages (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Die GOBT i.d.F. der Bekanntmachung vom 2.7.1980 (BGBl. I S. 1237), zuletzt geänd. gem. der Bekanntmachung vom 30.9.1995 (BGBl. I S. 1246) sowie der Beschlußempfehlung des —> Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vom 27.11.1997 (BTDrucks. 13/9519), gliedert sich in 12 Abschnitte.. Hinzu kommen 7 Anlagen, die trotz ihrer Platzierung erst am Ende der traditionellen geschäftsordnungsrechtl. Paragraphenfolge vollwertige Geschäftsordnungsvorschriften enthalten. Daneben gibt es Sondergeschäftsordnungen für einzelne parlament. Gremien, wie etwa die Verfahrensgrundsätze des -> Petitionsausschusses, Richtlinien für einzelne Themenbereiche, z.B. für die Ausschußprotokolle, § 73 GOBT und Ausführungsbestimmungen. Zum schriftlich fixierten
Geschäftsordnung... Geschäftsordnungsrecht gehören schließlich auch die Hausordnung (vgl. § 7 Abs. 2 GOBT) und die Auslegungsentscheidungen zur GO (s. § 127 GOBT). Neben der GO enthalten auch die Verfassung und einige Gesetze parlamentsrechtl. Bestimmungen. Darüber hinaus existiert eine Fülle ungeschriebener Regeln, Vereinbarungen und parlament. Bräuche, die das gesetzte Recht ergänzen, teilw. sogar überlagern oder verdrängen. In ihrem 1. Abschn. enthält die GOBT zunächst Bestimmungen für die konstituierende Sitzung, die bis zur Wahl eines neuen —> Bundestagspräsidenten vom —> Alterspräsidenten geleitet wird. Es folgen Regelungen für die in Art. 40 Abs. 1 GG vorgeschriebenen Wahlen des Präsidenten, seiner Stellvertreter und der —» Schriftführer. Dabei wird nach einem ungeschriebenen Brauch das —> Amt des Bundestagspräsidenten stets der stärksten -> Fraktion überlassen. Neu ist dagegen die im Dezember 1994 eingefügte Regel in § 2 GOBT, wonach jede im Bundestag vertretene Fraktion auch mindestens einen Vizepräsidenten stellt. Im 2. Abschn. finden sich in Konkretisierung des Art. 63 GG einige Detailregelungen für die Wahl des —> Bundeskanzlers. Im 3. Abschn. befinden sich Regelungen über den Präsidenten, das Präsidium, den -> Ältestenrat und die Schriftführer. Der Präsident hat eine Doppelfunktion; er ist einerseits als Sitzungs- und Verhandlungsleiter Repräsentationsorgan des Bundestages und andererseits Behördenchef der —» Bundestagsverwaltung. Ihm stehen auch Hausrecht und Polizeigewalt zu (-> s.a. Hausinspektion). Das Präsidium besteht aus dem Bundestagspräsidenten und den Vizepräsidenten. Seine Aufgaben sind nicht abschließend geregelt und einem ständigen Wandel unterworfen. Einige Mitwirkungsbefugnisse ergeben sich aus der GOBT (z.B. bei der —> Ernennung der Bundestagsbeamten, § 7 Abs. 4 GOBT). In den Plenarsitzungen bildet der jeweils amtierende Präsident zusammen mit 2 Schriftführern den Sitzungsvorstand, wo-
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Geschäftsordnung... bei letztere die Aufgabe haben, den amtierenden Präsidenten bei der Sitzungsleitung zu unterstützen. Der Ältestenrat, für den es einen abschließenden Zuständigkeitskatalog ebenfalls nicht gibt, besteht aus Vertretern aller Fraktionen und - über den Wortlaut des § 6 GOBT -hinaus auch der parlament. -> Gruppen. Er fungiert als zentrales Kommunikationsorgan des Bundestages, in dem möglichst einvernehmliche Lösungen aller anstehenden Verfahrensfragen gefunden werden. Die hier getroffenen interfraktionellen Vereinbarungen sorgen in erheblichem Maße für den reibungslosen Ablauf der Bundestagsgeschäfte. Der 4. Abschn. ist den Fraktionen gewidmet. Ihre zentrale Stellung als „Parteien im Parlament" läßt der recht dürre Geschäftsordnungstext allerdings kaum erkennen. Er wird durch einen Abschn. des -> Abgeordnetengesetzes ergänzt. Die Fraktionen und parlament. Gruppen (§10 Abs. 4 GOBT) sind die Träger der polit. Arbeit des Parlaments. Weit über den Regelungsbereich des § 12 GOBT hinaus wird die Besetzung von Ämtern und Gremien proportional nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bzw. Gruppen bestimmt. Der 5. Abschn. ist den Rechten und Pflichten der Mitglieder des Bundestages gewidmet. Diese ergeben sich allerdings in erster Linie aus Art. 38 Abs. 1, 48 GG und dem -» Abgeordnetengesetz, die GOBT enthält nur einige Ergänzungen, insbes. die —> Verhaltensregeln für Abgeordnete, § 18 i.V.m. Anlage 1 GOBT und die -» Geheimschutzordnung, § 17 i.V.m. Anlage 3 GOBT. Im 6. Abschn. ist der Ablauf der Plenarsitzungen geregelt. Er enthält Bestimmungen zur Tagesordnung, zur Einberufung und Leitung der -» Sitzungen, zur Redeordnung, zum Ordnungsrecht und die Abstimmungsregeln. Insbes. die Regelungen zur Rededauer (§35 Abs. 1 und 2 und 44 Abs. 2) werden in der Praxis durch abweichende Vereinbarungen der Fraktionen verdrängt. Bei vereinbarter Ge-
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Geschäftsordnung... samtdauer einer Aussprache wird die Redezeit i.d.R. nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen verteilt, wobei es den Fraktionen überlassen bleibt, ihr Kontingent auf die Redner näher aufzuteilen. Auch Redezeiten der Mitglieder der -> Bundesregierung und des -> Bundesrates werden meist auf die Zeiten der jeweiligen Fraktion angerechnet, was angesichts des Redeprivilegs gem. Art. 43 Abs. 2 GG allerdings nur auf freiwilliger Basis erfolgen kann. Gebräuchlich sind auch Aussprachen, bei denen jede Fraktion für je einen ihrer Sprecher bis zu 5 oder bis zu 10 Minuten Redezeit hat. Im 7. Abschn. befinden sich die Regeln über die -» Ausschüsse. Die Ausschüsse fungieren als vorbereitende Beschlußorgane des -> Plenums, wobei die sog. Fachausschüsse korrespondierend zu den -> Ressorts der Bundesregierung eingerichtet werden. In diesen Gremien und nicht im —» Plenum wird der quantitativ und qualitativ größte Anteil der Parlamentsarbeit geleistet, insbes. im Gesetzgebungsverfahren. Besondere Funktionen erfüllen der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsausschuß, §§ 3 WahlprüfG, 107, 127, 128 GOBT) der -> Petitionsausschuß (Art. 45c GG), und der Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Art. 45 GG). Einige Ausschüsse sind von der Verfassung vorgeschrieben; dies betrifft neben dem Petitions- und dem EU-Ausschuß den —> Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten, den —> Verteidigungsausschuß (Art. 45a GG) sowie auch den -> Richterwahl(Art. 95 Abs. 2 GG) und den Vermittlungsausschuß (Art. 77 GG), die allerdings eine besondere Stellung einnehmen. Neben den sog. ständigen Ausschüssen kann der Bundestag auch —> Untersuchungsausschüsse und —> Enquete-Kommissionen einrichten (Art. 44 GG, § 56 GOBT). Der 8. Abschn. regelt die Behandlung von Vorlagen. Als Vorlage werden die Verhandlungsgegenstände des Bundestages
Geschäftsordnung...
Geschäftsordnung... bezeichnet; sie sind in § 75 GOBT zum größten Teil aufgelistet. In diesem Àbschn. finden sich insbes. in Ergänzung zu den Verfassungsbestimmungen nähere Regelungen zum Gesetzgebungsverfahren (§§ 79ft) sowie zum —» Fragerecht gegenüber der Bundesregierung (§ lOOfï). Die Abschnitte 9 und 10 beschäftigen sich mit der Behandlung von Petitionen (s. dazu Art. 17 GG) und dem -> Wehrbeauftragten (Art. 45b GG). Der 11. Abschn. enthält Regeln über Beurkundung und Vollzug der Bundestagsbeschlüsse. Der 12. Abschn. verdeutlicht schließlich die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages: Gem. § 126 GOBT kann er nämlich von den selbstgesetzten Regeln jederzeit mit Zweidrittelmehrheit abweichen. § 127 GOBT stellt klar, daß auch die Kompetenz zur Auslegung der GO - vorbehaltlich der Zuständigkeit des —• Bundesverfassungsgerichts - beim Bundestag selbst liegt. IM.: N. Achterberg: Parlamentsrecht, Tübingen 1984; HdbStR IL, S. 425ff; Schneider / Zeh, S. 291ff; S. 333ff.; Trossmann /Roll·, R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 2 1996, S. 208ff.
Monika Jantsch Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments Die EPGO regelt ähnlich wie die Goen der Parlamente der Mitgliedstaaten Details der Parlamentsorganisation und der Verfahren. Der Erlaß der 1. EPGO 1958 war primärrechtl. auf die gleichlautenden Vorschriften des Art. 142 Abs. 1 EWGV sowie des EGKSV und des EAGV gestützt, nach denen sich die Versammlung mit den Stimmen der Mehrheit ihrer Mitglieder eine GO gibt. Diese Grundlage des Selbstorganisationsrechts des -> Europäischen Parlaments ist bis heute gleichgeblieben. Der Europäische Gerichtshof hat ausdrücklich festgestellt, das EP habe die Befugnis, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um sein ordnungsgemäßes Funktionieren und die Durchführung seiner Verfahren sicherzustellen. Die EPGO ist ein eigenes Recht-
sinstitut, das im Rang unter dem EGV steht. Sie begründet grds. nur Rechte und Pflichten für die Mitglieder des EP. Die EPGO wird im Amtsblatt der EG veröffentlicht. Die EPGO ist mit 170 Artikeln und 10 Anlagen eine umfangreiche Parlamentsgeschäftsordnung. Man kann 3 Regelungsbereiche unterscheiden: 1. hat sie in der Praxis große Bedeutung v.a. für die interne Organisation und das interne Verfahren des EP, weil der EGV darüber nur wenige Regelungen enthält. Hervorzuheben ist die Regelung der Fraktionsbildung: Das —> Quorum ist im EP um so niedriger, je höher die Anzahl der Mitgliedstaaten ist, aus denen die Fraktionsmitglieder stammen (14 Mitglieder, wenn sie aus 4 oder mehr Mitgliedstaaten sammen; 29, wenn sie aus 1 Mitgliedstaat stammen). Die Vorschriften über die Beziehungen zu anderen EG-Organen (2. Regelungsbereich) regeln die Rolle des EP bei der —> Ernennung der Kommission und die Voraussetzungen eines Mißtrauensantrags. In bezug auf interparlamentarische Kontakte (3. Regelungsbereich) ist die Konferenz der Präsidenten zu erwähnen, die sich aus dem Präsidenten und den Fraktionsvorsitzenden zusammensetzt. Sie ist u.a. zuständig für Fragen im Zusammenhang mit den Beziehungen zu den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten. Lit.: S. Hölscheidt / T. Schotten: Wahl und Organisation des Europ. Parlaments, in: Ausbildung, Prüfling, Fortbildung 1994, S. 141ff.
Sven Hölscheidt
Geschäftsordnung des amerik. Kongreß Über grundlegende Vorgaben der —> Verfassung der USA hinaus geben sich die beiden Häuser des —> Kongreß (-frSenat und-> Repräsentantenhaus) ihre GO selbst. Die GO wird alle 2 Jahre zu Beginn eines neuen Kongreß neu beschlossen, wobei die Hauptquellen (standing rules, Jefferson's Manual und Präzedenzfallsammlungen), meist nur geringfügig ergänzt werden. Der Senat ändert seine GO noch seltener. In der Praxis 385
Geschäftsordnung.., werden beide GOen außer Kraft gesetzt, um den Geschäftsablauf zu beschleunigen. Für die Mehrheit der wenig kontroversen Gesetzesvorlagen verzichten beide Häuser meist ganz auf Debatten und Änderungsanträge; dies verlangt -» Einstimmigkeit oder qualifizierte Mehrheiten. Kontroverse Gesetzesvorlagen werden im House vom Committee on Rules mit einer special order zur Begrenzung von Debattenzeit und Änderungsanträgen versehen (—> Committee) und dann im Committee of the whole House behandelt, bevor das Parlament über sie abstimmt. Haushalts- und andere wichtige Gesetze enthalten selbst Angaben für ihre Bearbeitung. Die Mehrheitsfraktion steuert den Geschäftsgang über den -> Speaker, der —» Rederecht erteilt und die GO anwendet, und über das stark zugunsten der Mehrheit besetzte Rules Committee. Im Senat ist die Kontrolle des Mehrheitsfiihrers über den Geschäftsablauf durch die starke individuelle Stellung der Senatoren beschränkt. Diese ergibt sich u.a. aus dem weitgefaßten Rederecht, das zur —> Obstruktion dienen kann (—> filibuster). Die GO des Senat erlaubt heute zwar die Beendigung der Debatte mit einer Mehrheit von 60 Senatoren (cloture), das Rederecht wird aber weiter respektiert: Senatoren können Gesetzesvorlagen informell mit einem hold blockieren. Auch müssen Änderungsvorschläge im Senat, anders als im Repräsentantenhaus, nicht die Substanz der Vorlage betreffen (germaneness). Der Senat arbeitet daher stark auf konsensualer Basis. Vom -> Floor Leader eingebrachte detaillierte unanimous consent agreements für die zu behandelnde Gesetzesvorlage setzen die GO außer Kraft und erlauben eine zügige, wenn auch meist unvorhersehbare Bearbeitung. Der zentrale Unterschied wird deutlich: Im viel größeren, strukturierteren Repräsentantenhaus kann sich eine entschlossene Mehrheit stets durchsetzen; im Senat dagegen kann eine entschlossene Minderheit den Geschäftsgang blockieren oder gar zum Scheitern bringen.
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Gesellschaft Lit: D. Bacon (Hg.): The Encyclopedia of the United States Congress, New York 1995; W. J. Oleszek: Congressional Procedures and the Policy Process, Washington, DC 1996. Thomas Greven
Geschäftsordnung des britischen Unterhauses Commons Standing Orders Geschäftsordnungsantrag Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Antrag Geschäftsordnungsausschuß -> Ausschuß für Wahlprilfung, Immunität und Geschäftsordnung Geschäftsordnungsautonomie —> Parlamentsautonomie —> s.a. Parlamentsrecht Geschäftsordnungsrecht —> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages —> s.a. Parlamentsrecht Geschworene —> Ehrenamtliche Tätigkeit Gesellschaft Der Begriff der G. bezeichnet eine Menge von Lebewesen, die derselben Art angehören und die in einem dauerhaften Verhältnis unmittelbarer oder mittelbarer Wechselwirkung stehen. In diesem biologischen Sinne ist der Begriff nicht auf Menschen beschränkt, sondern kann eben sowohl auf Tiere wie auch auf Pflanzen bezogen werden. In zeitlicher Hinsicht ist allen G.en das Merkmal eigen, daß ihr Bestand von erfolgreicher Reproduktion abhängig ist. In räumlicher Hinsicht zeichnen sich alle G.en dadurch aus, daß ein Territorium fortwährend oder vorübergehend als natürliche Lebensgrundlage in Anspruch genommen wird. Im sozialwissenschaftl. Sinne bezeichnet der Begriff der G. zunächst einmal das durch verbindliche Verhaltensregeln geordnete Zusammenleben von Menschen innerhalb eines bestimmten Gebietes. Unterhalb dieser Definition sind 2 weitere Bedeutungsfelder zu unterscheiden: Zum einen wird der Begriff der G. auf Organi-
Gesellschaft sationen bezogen, bei denen Zielsetzung, Aufbau, Arbeitsweise und Mitgliedschaft formal geregelt ist. Ob dabei nun Ökonom., polit, oder kulturelle Interessen maßgeblich sind: Immer handelt es sich um zweckbezogene Verbindungen, die auf einer Übereinkunft beruhen. Zum anderen wird der BegriiT der G. auf das Umfeld einer Person angewandt: In einem neutralen Wortgebrauch ist dann davon die Rede, daß Menschen einander G. leisten. Die Gleichsetzung mit Geselligkeit klingt auch dort an, wo etwa von Tisch- oder Reisegesellschaft gesprochen wird. Hingegen kommen moralische Wertungen ins Spiel, wo jemandem vorgehalten wird, daß er sich in schlechter G. bewege. Ein elitärer Akzent macht sich dort bemerkbar, wo Menschen sich selbst oder andere anhand eines Maßstabs klassifizieren, der auf die Kategorie der besseren oder guten G. bezogen ist. Im Unterschied zu diesen Nebenbedeutungen ist dann, wenn von menschlicher G. als Ganzem oder als Einheit gesprochen wird, die Vorstellung maßgebend, daß es sich um ein Gebilde handelt, das ein Maximum an Selbstgenügsamkeit und an Selbständigkeit im Verhältnis zu seiner Umwelt aufweist. Illustrieren läßt sich die Autarkie von G.en etwa an Dörfern in abgelegenen Bergtälem wie auch am Stammesleben auf abgelegenen Inseln. Je dichter das Netz weltweiter Beziehungen, desto mehr wird die Vorstellung der Autarkie indes problematisch. In Hinblick auf moderne G.en wird herkömmlicherweise auf 3 Aspekte verwiesen, um ihre Autarkie herauszustreichen: Das Hauptaugenmerk gilt der -> Staatsgewalt, vermittels derer G.en polit. Souveränität erlangen. Daran knüpft sich die Vorstellung, daß durch die Staatsgrenzen Wirtschaftsräume markiert werden, in denen sich G.en aus eigener Kraft reproduzieren. Desweiteren wird angeführt, daß G.en durch Sprache und Überlieferung so geeint werden, daß die Menschen sich an ihrer —• nationalen Identität ausrichten können. Wenngleich die polit., Ökonom.
Gesellschaft und kulturellen Differenzen auch bei zunehmender internationaler Verflechtung nicht verschwinden, geht doch der Trend insofern zur Weltgesellschaft, als immer mehr Probleme sich in globaler Dimension bemerkbar machen; allen voran das Problem der Umweltzerstörung. In einem Zustand vollkommener Vereinzelung wäre das menschliche Leben prekär und das Aussterben des Homo sapiens zwangsläufig die Konsequenz. Die Menschen sind aufgrund ihrer Bedürfnisse und ihrer Unzulänglichkeit aufeinander angewiesen; sei es, daß die Kooperation freiwillig erfolgt, sei es, daß sie durch Zwang zustandekommt. Durch Arbeitsteilung werden die Ökonom. Kräfte vervielfältigt; mit der Spezialisierung wächst die Leistungsfähigkeit, nicht minder intensiviert sich die wechselseitige Abhängigkeit. Wechselseitigkeit ist dabei nicht mit Gleichrangigkeit zu identifizieren: Die Arbeitsteilung erstreckt sich nicht nur auf die horizontale Differenzierung der Aufgaben, sie hängt auch mit der vertikalen Differenzierung von Besitz und Macht zusammen. Soziale Ungleichheit birgt Interessengegensätze und Konfliktstoff in sich. Dominante Gruppen zielen darauf ab, den Status quo zu bekräftigen, wohingegen Gruppen, die sich als benachteiligt oder unterdrückt ansehen, die Strukturen für die Verteilung von Besitz und -» Macht zu ändern versuchen. Aufgrund der Divergenzen zwischen Individuen und Gruppen ist nicht nur die Ordnung, sondern überhaupt der Zusammenhalt von menschlichen G.en problematisch. Da es von der menschlichen Natur her keine Konstanten gibt, die für soziale Integration sorgen, bedarf es der Moral und des -> Rechts, um Einheit zu wahren. Die Abstimmung des Verhaltens ist von der Durchsetzung institutioneller Regeln abhängig, die vermittels Sanktionen der Ächtung und Bestrafung durchgesetzt werden. Durch soziale Regeln wird der Spielraum des Verhaltens eingegrenzt und Unsicherheit verringert; diese Regeln sind nicht von außen vorgegeben, sondern
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Gesellschaft werden im Lauf der Interaktion durch Versuch und Irrtum zu einem selbsttragenden Rahmen entwickelt. Je präziser die Eingrenzung, desto größer die Transparenz. Die soziale Wirklichkeit wird zwar nicht völlig durchschaubar, das Handeln anderer aber doch tendenziell absehbar, Anforderungen und Erwartungen können antizipiert, Aktionen auf die Zukunft hin entworfen werden. Die Stabilität von G.en hängt davon ab, ob es gelingt, Verhaltensregeln im Sozialisationsprozeß von Generation zu Generation weiterzugeben. Die Regeln sind histor. wandelbar; entscheidend ist, daß Kontinuitäten vorhanden sind, so daß Veränderungen biographisch als Modifikationen verarbeitet werden können. Gelingt es dem Individuum nicht, die Vielfalt von Normen und Weiten auf dem Wege der Verinnerlichung zur Synthese zu bringen, drohen Desorientierung und Desintegration. Der Mangel an Bindung und Lebenssinn manifestiert sich auf verschiedene Weise; in erster Linie konzentriert sich hier die Wahrnehmung abweichenden Verhaltens auf selbstzerstörerischen Drogenkonsum und auf Gewaltexzesse. In den Schwierigkeiten, solche Probleme mit pädagogischen oder polit. Eingriffen aus der Welt zu schaffen, zeigt sich die Eigengesetzlichkeit von G.; auch dort, wo das soziale Handeln von rationalen Erwägungen bestimmt wird, kreuzen sich so viele Bedürfnisse, Wünsche, Absichten und Pläne, daß die aus den Entscheidungen resultierende Dynamik nicht unter der souveränen Kontrolle der Akteure steht, die immer nur über eine beschränkte Rationalität verfügen. Soziale Prozesse sind nicht jeglicher menschlichen Steuerung entzogen, können aber im Gesamtzusammenhang nicht dirigiert werden. Da weder die Natur noch die Vernunft für eine automatische Optimierung sorgen, bleibt das gesellschaftl. Leben von Krisen gekennzeichnet. Für den sozialen Wandel wird eine Vielzahl von Faktoren verantwortlich gemacht. Demographisch ausgerichtete
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Gesellschaft Theorien legen besonderen Nachdruck auf das Bevölkerungswachstum, Ökonom, ausgerichtete Theorien heben die Veränderung von Arbeits- und Tauschverhältnissen hervor, polit, ausgerichtete Theorien lenken das Augenmerk auf den Staat, kulturell ausgerichtete Theorien streichen die Wirkung von Entdeckungen, Erfindungen und der erzieherischen Wissensvermittlung heraus. Wenn auch umstritten ist, wie diese Faktoren zu gewichten sind, so ist doch klar, daß sie sich untereinander beeinflussen. Der Umbruch zur Moderne ist dadurch gekennzeichnet, daß sich kulturelle, polit, und Ökonom. Kräfte der Liberalisierung gegenseitig stärken. Wurde in der ständischen G. (—> Stände) der soziale Status eines Menschen durch die herkunftsbezogene Zuschreibung von Rechten und Pflichten geprägt, so bestimmt sich der soziale Status in der bürgert. G. durch die Verwertung von Besitz und Bildung. Die Ausgangsbedingungen der Konkurrenz sind nicht sysmmetrisch; wo im Prozeß der Modernisierung Ressourcen zu verteilen und Positionen zu besetzen sind, gibt es Gewinner und Verlierer. Trotz aller ideeller und techn. Fortschritte gestaltet sich das Spiel der Interessen nicht so, daß Elend und Gewalt endgültig erledigt wären. Von daher bleibt umstritten, ob den modernen Prinzipien der -> Freiheit und —> Gleichheit weltgeschichtl. Endgültigkeit zukommt. Ausgangs des 20. Jhd.s gibt es unzählige Vorschläge, die gesellschaftl. Verhältnisse auf eine Formel zu bringen. Das Spektrum der Komposita ist inzwischen so mannigfaltig, daß hier nur einige wenige Hinweise gegeben werden können: Bei der Gegenüberstellung von Agrar- und Industriegesellschaft gelten Ökonom.-techn. Faktoren als maßgeblich. Wenn von Konsumgesellschaft die Rede ist, dann wird der Zusammenhang von Ökonomie und Kultur hervorgehoben; hingegen steht der Aspekt der sozialen Ungleichheit im Vordergrund, wenn von Klassengesellschaft die Rede ist. Bei der Kontrastie-
Gesellschaftsrecht
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rung von autoritärer und pluralistischer G. sticht die Politik als prägende Kraft hervor. Oft sind die Konjunkturen von G.sbegriffen kurzlebig. So ist der Begriff der Überflußgesellschaft, der sich dem wirtschaftl. Aufschwung in Nordamerika und Westeuropa nach dem Π. Weltkrieg verdankte, inzwischen wieder außer Kurs geraten. Ob sich der Begriff der Risikogesellschaft als durchsetzungsfähig erweist, mit dem auf die Gefahren der Selbstzerstörung der technologischen Zivilisation aufmerksam gemacht wird, ist fraglich. Die Vielfalt an Deutungen spricht dafür, daß moderne G.en als funktional differenzierte G.en zu analysieren sind, deren Subsysteme sich so eigensinnig entwickeln, daß es keine Zentralperspektive und auch keine Zentralinstanz mehr gibt, die einen Ordnungsbegriff als allgemein verbindlich durchsetzen könnte. Lit.: U. Beck: Risikogesellschaft, FrankiUrt/M. 1986; B. van den Brink/ W. van Reijen: Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, Frankfurt/M., 1995; N. Elias: Was ist Soziologie?, Weinheim 71993; H. Esser: Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/M. 1993; A. Giddens: Sociology, Cambridge 21993; N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt/M. 1997; T. Parsons: Das System der modernen Gesellschaft, München 1972.
Carsten Quesel Gesellschaftsrecht ist das Recht von privatrechtl. Personenvereinigungen, die zur Verwirklichung eines bestimmten ideellen oder wirtschaftl. - Ziels aus freiem Entschluß ihrer Mitglieder durch Gesellschaftsvertrag gegründet werden. In der —> BRD ist das G. nicht in einem einheitlichen Gesetzeswerk zusammengefaßt, wie z.B. in Frankreich oder Großbritannien, sondern findet sich v.a. im -> BGB und HGB sowie in zahlreichen Spezialgesetzen. Bestrebungen zur Zusammenfassung des G.s etwa als modernes „Unternehmensrecht" waren erfolglos. So müssen den einzelnen Gesellschaftsformen die -> Gesetze zugeordnet werden, in denen sie im wesentlichen geregelt
werden. Das G. der BRD hat 2 Wurzeln, die röm.-rechtl. universitas und die deutsch-rechtl. societas. Aus der ersteren entwickelten sich der Verein (§§21-79 BGB), der zunächst für nichtwirtschaftl. (ideelle) Zwecke vorgesehen ist, und die Kapitalgesellschaften: AG (AktG), GmbH (GmbHG) sowie -> Genossenschaft (GenG), aus der letzteren die Personengesellschaften: Gesellschaft des bürgerl. Rechts (§§ 705-740 BGB), OHG und KG (§§ 105-177a HGB), stille Gesellschaft (§§ 335-342 HGB). Durch die Gründung einer Kapitalgesellschaft können die Gesellschafter erreichen, daß sie persönlich nicht mit ihrem Privatvermögen für Gesellschaftsschulden haften, sondern die Haftung auf das Vermögen der Gesellschaft beschränkt ist; bei einer Personengesellschaft, bei der die persönliche und partnerschaftliche Tätigkeit der Gesellschafter im Vordergrund stehen, kann dies grds. nicht erreicht werden. In der Praxis haben sich eine Reihe von Mischformen gebildet. Die bekanntesten sind die GmbH & Co. KG, bei der die GmbH die unbeschränkt haftende Komplementärin ist, während die übrigen Gesellschafter Kommanditisten sind, so daß die natürlichen Personen nicht mehr mit ihrem Privatvermögen für Gesellschaftsschulden haften, sowie die Publikums- oder Massen-KG, für die Abweichungen zu der in §§ 161 ff. HGB geregelten KG gelten. Gesellschaften lassen sich auch danach unterscheiden, ob sie —> Rechtsfähigkeit haben oder nicht. Bei den Erwerbsgesellschaften deckt sich diese Unterscheidung mit der Einteilung in Kapital- und Personengesellschaften: Kapitalgesellschaften sind rechtsfähig, d.h. sie sind selbst Rechtssubjekte, -> juristische Personen des —> Privatrechts. Den Verein gibt es mit und ohne Rechtsfähigkeit. Bei den nichtrechtsfähigen Personenvereinigungen entsteht kein neues Rechtssubjekt, die Rechtsträgerschaft der einzelnen Mitglieder bleibt bestehen, was für die Schuldenhaftung und die Verfügung über das Vermögen der Gesellschaft
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Gesetz
Gesetz bedeutsam ist. Mit Ausnahme der Gesellschaft des bürgert. Rechts und der stillen Gesellschaft müssen alle Gesellschaften im Handelsregister bzw. im Vereins- oder Genossenschaftsregister eingetragen werden. Diese Eintragung hat für die OHG und die Gesellschaft nur feststellende, ftlr den Verein und die daraus abgeleiteten Gesellschaften aber rechtsbegründende Wirkung (-> s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht). Lit.: BGHZ 45, 398; Λ. Kraft /P. Kreutz: Gesellschaftsrecht, Neuwied 101997; Palandt-Thomas: BGB, Komm., München "1997, § 705 RJI. 2;.
Annette von Harbou Gesetz 1. Begriff und Abgrenzung Begriff und Inhalt des G.es erschließen sich nicht aus allgemeingültigen, von der jeweiligen Verfassungsordnung unabhängigen Kriterien. Maßgebend ist das G.esverständnis des —> Grundgesetzes und der —> Landesverfassungen. Danach ist G. jeder Akt des Parlament. Gesetzgebers, der in dem vorgeschriebenen —> Gesetzgebungsverfahren zustandegekommen ist. Diese (heute allgemein anerkannte) Begriffsbestimmung steht im deutlichen Gegensatz zu der aus dem -> Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie (—» Konstitutionalismus) überkommenen Unterscheidung zwischen G.en, die nur in einem formellen Sinne G.e sind, weil sie, obschon im G.gebungsverfahren erlassen, keine Rechte und Pflichten des -» Bürgers (Rechtsnormen) festlegen, und solchen, die entsprechende Festlegungen enthalten und daher zugleich G.e im „materiellen" Sinne sind. Eine derartige Unterscheidung ist verfassungsrechtl. überholt, der G.esbegriff inhaltsoffen. Eng mit der Entwicklung des G.esbegriffes verbunden ist die Vorstellung von der Allgemeinheit des G.es, d.h. seiner Geltung für eine Vielzahl von Fällen. Ihr liegt die zutreffende Annahme zu Grunde, daß Maßnahmen und Entscheidungen für den Einzelfall grds. Sache der —> vollziehenden bzw. —> rechtsprechenden Gewalt 390
sind, darüber hinaus die Allgemeinheit des G.es eine Gewähr für die Distanz des —> Staates zu seinen Bürgern bietet. Gleichwohl ist sie kein Wesensmerkmal des G.es, sondern - nach Maßgabe der —> Verfassung - nur Maßstab der Inhaltskontrolle (-> Gleichheit; s.a. Art. 5 Abs. 2, 19 Abs. 1 GG). Ein generelles Verbot, Einzelfallentscheidungen in G.esform zu treffen (sog. Einzelfallgesetz), besteht jedenfalls nicht. Vollends ohne rechtl. Relevanz ist die Tatsache, daß viele G.e keine auf Dauer berechneten Regelungen oder Kodifikationen einer Rechtsmaterie enthalten, sondern sog. Maßnahmegesetze sind: In einer konkreten Situation entstanden, reagieren sie auf diese durch mehr oder weniger zweckmäßige, oft zeitlich befristete Maßnahmen (etwa zur Entlastung der -> Gerichte, zur Unterstützung bestimmter Wirtschaftszweige oder zur Verbesserung des Kündigungsschutzes fur Wohnraum). Je nach Sachzusammenhang findet der Begriff des G.es unterschiedliche Verwendung. In Art. 14 Abs. 1 S. 2, 20 Abs. 3 und 97 GG umfaßt er neben parlamentsbeschlossenen G.en auch —> Rechtsverordnungen, —> Satzungen, teilw. Sogar Gewohnheitsrecht (G. i.w.S.). Gleiches gilt für die sog. Einfllhrungsgesetze, in denen Abgrenzungs- und Übergangsbestimmungen, v.a. über den räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich der großen Kodifikationen des —> Zivil-, —» Strafund Verfahrensrechts getroffen wurden. Sie bestimmen, daß unter G. jede Rechtsnorm zu verstehen ist (Art. 2 EGBGB; §§ 12 EGZPO, 7 EGStPO). I.e.S. bezieht sich G. nur auf die im G.gebungsverfahren zustandegekommenen Akte des Bundes- oder Landesgesetzgebers (förmliches G. in Art. 104 Abs. 1 GG) und des Bundesgesetzgebers (Bundesgesetz im Staatsorganisationsrecht und im Finanzverfassungsrecht des GG: Art. 21 Abs. 3, 29, 38 Abs. 3, 72 Abs. 3, 84ff, 106 Abs. 3 u.ö.). Einen anderen Sinn hat die einzigartige Formel G. und -> Recht in Art. 20 Abs. 3 GG: Sie schärft das Bewußtsein
Gesetz dafür, daß sich gesetzliche Anordnung und materielle —> Gerechtigkeit nicht notwendig decken (—> Naturrecht) und enthält einen Appell an den G.geber, ein Maximum an Übereinstimmung anzustreben. 2. Bedeutung im demokrat. Rechts- und Sozialstaat Der —> Verfassungsstaat ist wesentlich G.es- bzw. G.gebungsstaat: Weil es die Zustimmung der —> Volksvertretung verlangt und in einem besonderen, durch —> Öffentlichkeit und Diskussion geprägten Verfahren zustandekommt, ist vorrangig das G. dazu prädestiniert, die Grundlagen der Rechtsordnung rechtsund sozialstaatsverträglich zu gestalten, -> Freiheit und —• Eigentum der Bürger zu sichern, aber auch zu begrenzen. Die Reichweite des —> Gesetzes - und —> Parlamentsvorbehaltes erscheint unter diesem Blickwinkel als zentrale Verfassungsfrage. Im regelungsintensiven —> Sozialstaat wird zunehmend das G. auch für die —> Planung, zur —> Steuerung und Beeinflussung gesellschaftl. bzw. individueller Verhaltensweisen oder zu Experimenten (diese v.a. im Bildungs- und Medienbereich) instrumentalisiert. Die G.esinflation hat hier eine ihrer wichtigsten Ursachen neben der gestiegenen Bedeutung des internationalen und europ. Rechts, das Ausfilhrungs- und Durchführungsgesetze veranlaßt. 3. Rechtl. Wirkungen Das G. erzeugt und ändert Recht durch verbindliche Festlegungen, die sich an die Bürger und / oder die vollziehende bzw. rechtsprechende Gewalt richten. Für die vollziehende Gewalt gilt dabei das G.mäßigkeitsprinzip: Ihr Handeln muß mit den einschlägigen Gen im Einklang stehen (Vorrang des G.es). Andererseits besteht eine Befugnis zum Handeln nur, wenn eine ausreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage vorhanden ist (Vorbehalt des G.es, Parlamentsvorbehalt). Die Gerichte sind an das G. gebunden. Unbeschadet dieser Bindung sind sie befugt, seinen häufig nicht eindeutigen Inhalt für den zu beurteilenden Sachverhalt (Einzelfall)
Gesetzesinitiativrecht letztverbindlich durch Auslegung zu klären, deren Orientierungspunkte der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, die systematische Stellung und der erkennbare Zweck einer G.esvorschrift sind. Auch etwaige Regelungslücken dürfen die Gerichte im Wege der Rechtsfortbildung schließen und das G. auf seine Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen. Halten sie es für verfassungswidrig, müssen sie die Entscheidung des zuständigen Verfassungsgerichts einholen, bevor sie aus der Verfassungswidrigkeit Konsequenzen für ihre Entscheidung ziehen (vgl. Art. 100 Abs. 1 GG, s.a. Bundesverfassungsgericht). Lit.: P. Badura: Gesetz, Gesetzgebung, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Abs. 5/270, Frankliirt/M. 1996\K. Eichenberger / M. Kloepfer: Gesetzgebung im Rechtsstaat, in: VVDStRL. 1982, S. 7ff. und 63ff.; HdbStR III, §61.
Meinhard Schröder Gesetzentwurf -> Gesetzgebung Gesetzesbeschluß —> Beschlußfassung Gesetzesinitiativrecht ist das Recht der Einbringung einer Gesetzesvorlage in das Parlament. Verfahren. Seine Ausgestaltung variiert. Beim - » Bundestag können Initiativen durch die —> Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den —> Bundesrat eingebracht werden (Art. 76 Abs. 1 GG). Direktdemokrat. Möglichkeiten der Gesetzesvorlage, wie sie etwa der Art. 73 Abs. 3 -> Weimarer Reichsverfassung enthielt, kennt das —> Grundgesetz nicht; entsprechende Bestrebungen in der Verfassungsreformdiskussion nach 1990 blieben erfolglos (-» Gemeinseime Verfassungskommission). Die Initiativberechtigten sind zur Vorlage grds. gleichermaßen berechtigt, nur ausnahmsweise (Haushaltsgesetze gem. Art. 110 GG, Vertragsgesetze gem. Art. 59 Abs. 2 GG) liegt die Initiative ausschließlich bei der Bundesregierung. Vorlagen aus der Mitte des Parlaments müssen von einer —> Fraktion oder 5% der MdB un-
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Gesetzesvorbehalt
Gesetzesvorbehalt terzeichnet sein (§ 76 Abs. 1 GOßT). Die Vorlage selbst besteht in einem ausformulierten Gesetzesentwurf. Die ordnungsgemäße Initiative verpflichtet das Parlament zur Beratung und —> Beschlußfassung. In der Parlamentspraxis liegt das Schwergewicht bei den Gesetzesvorlagen der Bundesregierung, in der 12. Wahlperiode etwa standen 413 Regierungsvorlagen 297 Bundestags- und 96 Bundesratsvorlagen gegenüber. Noch deutlicher ist das Verhältnis bei den erfolgreichen Vorlagen (348:85:27). Das Gesetzgebungsverfahren ist je nach Herkunft der Vorlage unterschiedlich ausgestaltet (Art. 76 Abs. 2 u. 3 GG). In den Ländern liegt das G. regelmäßig bei Parlament und Regierung, hinzu tritt aber inzwischen in allen Ländern - in unterschiedlicher gesetzlicher Ausgestaltung - das Initiativrecht des Volkes (—> Volksentscheid). Auf europ. Ebene liegt die Initiative für Rechtssetzungsakte auch nach den Zuständigkeitserweiterungen, die der —> Amsterdamer Vertrag für die Kompetenz des —> Europäischen Parlaments im Rechtssetzungsprozeß mit sich bringt, regelmäßig bei der -> Europäischen Kommission; dem Parlament kommt lediglich für den Sonderfall der Ausarbeitung eines einheitlichen Wahlrechts ein G. zu. Lit: Münch v., Art. 76; M. Schürmann: Grundlagen und Prinzipien des legislatorischen Einleitungsverfahrens nach dem Grundgesetz, Berlin 1986.
Jörg Menzel Gesetzesvorbehalt 1. Begriff Der G. (weithin verwendetes Synonym: Vorbehalt des Gesetzes) bezeichnet das nach geltendem —> Verfassungsrecht bestehende Erfordernis, daß die Regelung bestimmter Gegenstände und Sachbereiche nur durch oder aufgrund eines -» Gesetzes erfolgen darf, also dem —> Gesetzgeber primär vorbehalten und der autonomen Regelung durch die —> Verwaltung entzogen ist. Mit diesem Tiihalt betrifft der G. eine wesentliche Frage der —> Gewaltenteilung, nämlich die Abgrenzung der Bereiche der -> 392
Exekutive von denen, die der —• Legislative vorbehalten sind. 2. Entwicklungslinien Aus dem 19. Jhd. überkommen ist die formelhafte Umschreibung des der Legislative vorbehaltenen Regelungsbereiches: Eingriffe in -> Freiheit und —> Eigentum sind nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig. Sie spiegelt die Machtverteilung zwischen —> Parlament und Exekutive in der konstitutionellen Monarchie (-> Konstitutionalismus) wider. Unter der Geltung des —> Grundgesetzes bedurfte sie der Neubestimmung, denn hier kommt dem Parlament eine zentrale Rolle zu, sind die Dimensionen der -> Grundrechte über die Eingriffsakte hinaus vielfältig erweitert worden und besteht umfassender -> Rechtsschutz. Zudem läßt sich der exekutive Wirkungsbereich mit dem Eingriffsdenken nicht mehr angemessen erfassen. Man denke nur an die -» Planung oder an „informelles" Handeln durch Warnungen und Empfehlungen. Dem entsprechend ist der klassische Eingriffsvorbehalt erweitert worden, allerdings nicht zu einem Totalvorbehalt für jegliches Handeln der Exekutive. Ein solcher Vorbehalt ist dem GG fremd. Er überzöge die Parlament. Abhängigkeit der Exekutive durch Verkennung ihres eigenverantwortlichen Wirkungsbereichs und liefe auf einen gesetzesbezogenen Gewaltenmonismus hinaus. Auch unter dem GG kann der G. nur Teilvorbehalt sein. Als solcher umfaßt er im Verhältnis zwischen —> Staat und —» Bürger alle Eingriffe in Freiheit und Eigentum, außerdem, unabhängig vom Eingriffscharakter, die wesentlichen Entscheidungen in grdl. normativen Bereichen, insbes. solchen, die für die Grundrechtsausübung wesentlich und staatl. Regelung zugänglich sind (BVerfGE 84, 212 (226)). Vielmehr als eine heuristische Formel bietet das Wesentlichkeitskriterium (überhöht als —> Wesentlichkeitstheorie bezeichnet) nicht. Die unumgängliche Konkretisierung - insbes. mit Hilfe der Grundrechtsrelevanz oder Indentität der Grundrechtsberührung und / oder des
Gesetzesvorbehalt Konsensbedarfes bei kontroversen Maßnahmen - führt nicht von vornherein zu eindeutigen Ergebnissen. Umstritten bleibt daher die Ausdehnung des G.es auf neue Technologien (-> Gentechnikrecht) und jüngst auf die Rechtschreibreform. Wegen der oft kritisierten Unbestimmtheit des Wesentlichkeitskriteriums läßt sich hinreichende Klarheit in diesen Fragen letztlich nur dezisionistisch durch die (verfassungsgerichtliche) Judikatur gewinnen (-> Bundesverfassungsgericht). 3. Herleitung und Begründung des G.es schwanken. Oft und richtigerweise wird sowohl auf das Prinzip der —> Demokratie wie auf das des —> Rechtsstaats Bezug genommen - auf das Rechtsstaatsprinzip wegen der in ihm verwurzelten Prinzipien der Gewaltenteilung und Rechtssicherheit, auf das Demokratieprinzip wegen der stärkeren demokrat. -> Legitimation des Parlaments im Vergleich zur Regierung, wegen des parlament. Verfahrens, in dem Entscheidungssuche und Auseinandersetzung öffentl. stattfinden, und wegen der polit. Führungsrolle des Parlamentes, seiner Leitungs- und Lenkungskompetenz. Im Schrifttum finden sich auch Begründungen, die auf Verfassungsgewohnheitsrecht oder die Grundrechte abstellen. 4. Spezielle G.e Der vorstehend beschriebene allgemeine G. ist von Speziai- oder Sondervorbehalten im GG zu unterscheiden. Diese finden sich im Grundrechtsbereich, für institutionell-organisatorische Fragen (u.a. in Art. 21 Abs. 3, 28 Abs. 2, 33 Abs. 5, 38 Abs. 3 und 84ff.), im Finanz- und -> Haushaltsrecht (Art. 106 Abs. 3 S. 3, 107 Abs. 2, 109 Abs. 3, 110) und in internationalen Beziehungen (Art. 23 Abs. 1, 24, 59 Abs. 2). Allgemeine und spezielle Vorbehalte stehen selbständig nebeneinander. Sie unterscheiden sich in ihrer Zielsetzung. So stärkt der allgemeine G. die Kompetenzen der Legislative und wahrt ihr Bestimmungsrecht i.S. der Gewaltenteilung. Die grundrechtl. Vorbehalte wenden sich demgegenüber gegen den Gesetzgeber und engen dessen Gestaltungsfreiheit ein oder verpflichten zu
Gesetzgebung zu näherer Ausformung durch Gesetz. Lit: G.C. Burmeister: Herkunft, Inhalt und Stellung des institutionellen Gesetzesvorbehalts, Berlin 1991; HdbStR III, § 62; M Kloepfer: Der Vorbehalt des Gesetzes im Wandel, in: JZ 1984, S. 685£F.; M. Sachs: Die Gesetzesvorbehalte der Grundrechte des GG, in: JuS 1995, S. 693ff.
Meinhard Schröder Gesetzgebende Gewalt —> Legislative —> Gewaltenteilung -> Parlament -> Deutscher Bundestag Gesetzgeber —> Legislative —• Bundestag —> Parlament Gesetzgebung /-«verfahren Mit G. meint der dt. Sprachgebrauch meist den Erlaß von Parlamentsgesetzen; Rechtsetzung ist der entsprechende Oberbegriff. —> Gesetze enthalten Regeln, die von einem dazu befugten -» Staatsorgan mit Gültigkeit gegenüber jedermann für eine unbestimmte Anzahl von Fällen (generell und abstrakt) aufgestellt werden (-> materiales Gesetz). Parlamentsgesetze sind Regelungen der vorbeschriebenen Art, die in einem förmlichen Akt vom Parlament erlassen werden (förmliches Gesetz). Davon unterscheiden sich in erster Linie Rechtsverordnungen und -» Satzungen. Rechtsverordnungen sind zwar Gesetze im materiellen Sinn, weil sie die eingangs beschriebenen Voraussetzungen erfüllen, sie werden aber nicht vom —> Parlament, sondern von einem —> Organ erlassen, das dazu vom Parlament ermächtigt worden ist. Meistens handelt es sich um Rechtsverordnungen der —> Regierung oder eines einzelnen Ministeriums. Satzungen werden in einem gesetzgebungsähnlichen Verfahren von dem entsprechenden satzungsgebenden Organ, einer —> Institution erlassen, die vom Gesetzgeber mit der sog. Satzungsautonomie ausgestattet ist, insbes. den —> Gebietskörperschaften, also den -» Städten, -> Gemeinden und -> Kreisen. Recht kann - wie vorstehend bereits beschrieben - also auch auf anderem Wege 393
Gesetzgebung als über den Erlaß von förmlichen Gesetzen gesetzt werden. Das tägliche Leben wird in weitaus größerem Umfang von detaillierten Vorschriften bestimmt, die in Rechtsverordnungen, Satzungen oder Verwaltungsvorschriften enthalten sind, während Parlamentsgesetze grds. den Anspruch erheben, die allgemeinen Grundlinien der -> Politik niederzulegen. In der Staatspraxis der —> Bundesrepublik Deutschland gibt es allerdings eine Entwicklung hin zu immer detaillierteren Parlamentsgesetzen. Dies hat zu einer starken Belastung des Gesetzgebers gefuhrt. Kapitel VU. des GG handelt von der G. des Bundes. Das -» Grundgesetz versteht unter G. also auch die Setzung materiellen Rechts durch delegierte Rechtsetzung (Art. 80 GG: Erlaß von Rechtsverordnungen aufgrund parlament. Ermächtigung). Im folgenden wird jedoch nur der Erlaß von Parlamentsgesetzen behandelt. In der BRD sind die G.skompetenzen auf -> Bund und -> Länder aufgeteilt. Entgegen dem verfassungsrechtl. Grundsatz, daß G. im Zweifel Ländersache ist (Art. 70 GG), haben zahlreiche GG-Änderungen und die Staatspraxis tatsächlich zu einer Umkehrung dieses Verhältnisses geführt. Erst durch die letzte Verfassungsreform ist Art. 72 Abs. 2 GG zugunsten der Länder geändert worden. Es ist jetzt klargestellt, daß der Bund für sein Tätigwerden auf dem Gebiet der sog. konkurrierenden G. ein konkretes (und auch nachprüfbares) Bedürfnis bundeseinheitlicher Regelung der Materie darlegen muß. Ob es dadurch zu einer Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Länder kommt, bleibt abzuwarten. Zu unterscheiden ist im wesentlichen zwischen einer ausschließlich dem Bund zugewiesenen G., insbes. in den klassischen Gebieten der auswärtigen Beziehungen, der Verteidigung, der Staatsangehörigkeit des Bundes und der Währungspolitik und der Bundessteuern (Art. 73, 105 Abs. 1 GG), einer -> Rahmengesetzgebung (Katalog in Art. 75 GG) und der konkurrierenden G. (Kataloge in Art. 74, 74a, 105 Abs. 2
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Gesetzgebung GG), die einen Großteil denkbarer G.smaterien mit Ausnahme der (Landes)Polizei sowie von Kultur und Schule beinhaltet. Da nach traditionellem, von der Lehre der —> Gewaltenteilung bestimmtem Verfassungsverständnis, das auch dem GG zugrunde liegt, der entscheidende Akt bei der G. die Verabschiedung des Gesetzes durch das Parlament ist, werden Parlament und Gesetzgeber im Sprachgebrauch häufig gleichgesetzt. Dies ist aber nur bedingt wahr. Im modernen —> parlamentarischen Regierungssystem ist zwar die klassische Gewaltenteilung Montesquieus (1689-1755) in Exekutive, —> Legislative und -> Judikative nicht aufgehoben; eine echte Gewaltentrennung herrscht aber nur zwischen der Judikative auf der einen und den anderen beiden Gewalten auf der anderen Seite. Art. 20 GG als grundlegende Verfassungsnorm besagt lediglich, daß die vom Volke ausgehende Staatsgewalt durch besondere Organe der G., der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird und es eine gewisse Hierarchie insofern gibt, als die G. an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung aber an Gesetz und Recht gebunden sind. Die Ausgestaltung dieser Funktionen im Detail ist im GG jeweils gesondert geregelt. Faktisch stellen zahlreiche Verfassungsvorschriften und auch die Staatspraxis sicher, daß im dt. —> parlamentarischen Regierungssystem —• Staatsleitung als Ganzes von beiden Organen gemeinschaftlich ausgeübt wird, d.h. also, daß das Parlament genauso einzelne Exekutivfiinktionen ausübt, wie die Regierung an der G. beteiligt ist; das Parlament ist nur schwerpunktmäßig Gesetzgeber, und Regierung / Verwaltung sind schwerpunktmäßig Exekutivorgane. Die umfangreichen von keiner konkreten Ermächtigung durch den —» Kongreß abhängigen Normsetzungskompetenzen der U.S.-amerik. Administration legen allerdings nahe, daß auch ein sehr viel stärker auf Gewaltentrennung abstellendes —>
Gesetzgebung präsidentielles Regierungssystem in der Lebenswirklichkeit zu ähnlichen Ergebnissen kommen kann ( - > Verfassung der USA). Der —> Bundestag ist bei Parlamentsgesetzen - im Gegensatz zu stärker gewaltentrennenden Präsidialsystemen wie in den USA - nicht allein Gesetzgeber. In Art. 77 GG heißt es zwar, daß die Bundesgesetze vom Bundestag beschlossen werden und nach ihrer Annahme durch den - > Bundestagspräsidenten dem —> Bundesrat zuzuleiten sind. In der Praxis werden rd. drei Fünftel aller eingebrachten Gesetze aber von der Regierung erarbeitet und eingebracht; ein Blick auf die Zahl deijenigen Gesetze, die besonders bedeutsam sind und eine Mehrheit im Parlament gefunden haben, macht klar, welch bedeutenden Anteil die —> Bundesregierung an der G. hat. Die alleinige Rolle des Bundestages als Gesetzgeber wird durch die Beteiligung des Bundesrats in seiner Doppelrolle als parlement. Organ und Länderkammer, also Versammlung der —> Landesregierungen, an der G. weiter relativiert. So hat er nicht nur neben der —> Bundesregierung und einem —> Quorum von —> Abgeordneten (Art. 76 Abs. 1 GG) das Recht, - nach vorheriger Zuleitung an die Bundesregierung und einer Wartefrist von 6 Wochen Gesetzesvorlagen einzubringen, sondern darüber hinaus müssen alle Gesetzentwürfe der Bundesregierung zunächst in einem sog. Ersten Durchgang den Bundesrat passieren, bevor sie überhaupt im Bundestag eingebracht werden. Im Normalfall wird der Regierungsentwurf daher - frühestens nach Ablauf einer Frist von 6 Wochen - mit einer Stellungnahme des Bundesrates versehen beim Bundestag eingereicht; lediglich in besonders eilbedürftigen Fällen, in denen die Frist auf 3 Wochen verkürzt wird (Art. 76 Abs. 2 GG), wird diese Stellungnahme nachgereicht. Nur Gesetzentwürfe, die -nach der Sprache des GG - aus der Mitte des Bundestages, also von einer -> Fraktion oder mit diesem Recht versehenen —>
Gesetzgebung Gruppe oder von mindestens 5% der Abgeordneten (also einer Fraktionsstärke) eingebracht werden, sind unmittelbar dort beraten, ohne erst den Bundesrat durchlaufen zu müssen. Polit, noch bedeutsamer ist die Mitwirkung des Bundesrats im Verfahren nach Verabschiedung eines Gesetzes im Bundestag. Danach hat er die Möglichkeit, j e nach Gesetzeskategorie, bei Einspruchgesetzen den - > Vermittlungsausschuß anzurufen und einen die Entscheidung aufschiebenden Einspruch einzulegen oder bei Zustimmungsgesetzen (meist Gesetze, mit denen die Einrichtung von Behörden der Länder, ihr Verwaltungsverfahren oder ihre Einnahmen geregelt werden) durch seine Ablehnung das Zustandekommen eines Gesetzes sogar endgültig zu verhindern. Der Bundesrat kann innerhalb von 3 Wochen nach Eingang des Gesetzesbeschlusses verlangen, daß der Vermittlungsausschuß, ein aus je 16 Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrats für die gemeinsame Beratung von Vorlagen gebildeter Ausschuß, einberufen wird. Bei Zustimmungsgesetzen können auch der Bundestag und die Bundesregierung die Einberufung verlangen. Schlägt der —> Ausschuß eine Änderung des Gesetzesbeschlusses vor, hat der Bundestag erneut Beschluß zu fassen. Soweit eine Zustimmung des Bundesrats nicht erforderlich ist, kann er gegen ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz binnen 2 Wochen Einspruch einlegen. Dieser kann durch Beschluß des Bundestages zurückgewiesen werden, und zwar dann, wenn er mit der Mehrheit der Stimmen des Bundesrates beschlossen worden ist, mit der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages; hat der Bundesrat den Einspruch jedoch mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen, bedarf die Zurückweisung durch den Bundestag ebenfalls einer Zweidrittelmehrheit, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. In jedem Fall einer —> Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat bedarf ein Gesetz zur Ände-
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Gesetzgebung rung des GG. Dabei ist zu beachten, daß eine Änderung des GG, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der G. oder die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, unzulässig ist. Diese komplizierte Regelung ist z.T. Folge eines Kompromisses über die Stellung des Bundesrates im -> Parlamentarischen Rat. Sie hat in der Praxis zu einer starken Mitsprache der Bundesländer auf Bundesebene, insbes. bei unterschiedlichen Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat, geführt. Schließlich weist das GG auch dem —> Bundespräsidenten im G. s verfahren insofern eine eigenständige Rolle mit einem eigenständigen Prüfungsrecht hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu, als er die Gesetze nach Art. 82 GG auszufertigen (zu beurkunden) hat. Vorher erfolgt außerdem noch die —> Gegenzeichnung durch die zuständigen -> Minister und den —> Bundeskanzler (Art. 58 GG). Durch die Beteiligung einer großen Zahl von Akteuren an der G. verkompliziert und verlängert sich das Verfahren auf der einen Seite zwar; auf der anderen Seite wird aber sichergestellt, daß sehr unterschiedliche Aspekte in die G. einfließen und die daran beteiligten Staatsorgane sich gegenseitig kontrollieren. Dies ist Voraussetzung für eine Gewaltenhemmung, also die für den Bürger so wichtige Eindämmung sonst möglicherweise übermächtig werdender staatl. Gewalt. Gleichzeitig hat es Bedeutung nicht nur für die Verfahrenspraxis, sondern auch rechtl. Auswirkungen. Da Rechte der übrigen Mitwirkenden verletzt würden, wenn der Bundestag sich zum alleinigen Interpreten von Gesetzen aufschwingen würde, ist es z.B. nicht möglich, durch Entschließungen des Bundestages rechtl. verbindlich Gesetze auszulegen. Die Detailarbeit am Gesetzentwurf wird in der Erarbeitungsphase - meist in den Bundesministerien - und der Beratungsphase in den Ausschüssen des Bundestages und
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Gesetzgebung des Bundesrats - geleistet. Viele demokrat. Staaten, insbes. solche mit einem präsidentiellen Regierungssystem, kennen die Trennung zwischen einer Entwurfsphase, die im wesentlichen von der Exekutive gestaltet wird, und einer parlament. Beratungsphase nicht. Bei ihnen ist die Entwurfsphase in vollem Umfang ins Parlament verlagert. Wesentliche Teile des Verfahrens innerhalb beider Phasen sind weder im GG noch in Gesetzen, sondern in autonomen Geschäftsordnungen von Bundesregierung und Bundestag geregelt. Zur Erarbeitungsphase sind Vorschriften im Besonderen Teil der -> gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien (GGO Π) zu finden. Jede Gesetzesvorlage an die gesetzgebenden Körperschaften ist der Bundesregierung zur Beratung und zur Beschlußfassung vorzulegen. Eine solche Vorlage an die Bundesregierung wird Kabinettsvorlage genannt. Bevor eine Vorlage zur Kabinettsvorlage geworden ist, hat sie jedoch bereits zahlreiche Stadien durchlaufen, wie sich aus folgendem ergibt: Kabinettsvorlagen haben darzulegen, daß der Entwurf rechtsförmlich geprüft ist, ob und inwieweit die beteiligten Ministerien mit dem Entwurf einverstanden sind, ob die Ausführung des Gesetzes Bund, Länder oder —> Gemeinden mit Kosten belastet und ob die -> Bundesministerien des Innern und der Finanzen sowie der Bundesbeauftragte für Wirtschaftlichkeit in der Verwaltung ihr Einverständnis erklärt haben. Außerdem ist anzugeben, welche Landesministerien mit welchem Ergebnis beteiligt worden sind, sowie ob und ggf. welche Probleme aus der Sicht des federführenden Ministeriums vom G.sverfahren im Hinblick auf die Länder zu erwarten sind. Geboren wurde der Entwurf im zuständigen G.sreferat des für die Materie hauptzuständigen, also federführenden Ministeriums. Handelt es sich um einen polit, wichtigen Gesetzentwurf, ist die Absicht, ihn zu erstellen, bereits frühzeitig dem Bundeskanzler mitzuteilen. Die beteilig-
Gesetzgebung ten Ministerien sind zu den Vorarbeiten hinzuzuziehen. Vorbereitende Gesetzentwürfe, welche die Belange der Gemeinden und —> Gemeindeverbände berühren, sollen den auf Bundesebene bestehenden kommunalen Spitzenverbänden ebenfalls möglichst frühzeitig zugeleitet werden. Das gleiche gilt für die Landesministerien. Vorgesehen ist auch - allerdings nach dem Gesichtspunkt polit. Opportunität - die Unterrichtung der beteiligten Fachkreise, -> Verbände sowie von Fraktionen und Abgeordneten des Bundestages sowie anderer Stellen. Wenn der Referentenentwurf dann einmal fertiggestellt ist, ist er nochmals förmlich zwischen den Ministerien abzustimmen. Ist der Entwurf zum Regierungsentwurf geworden und liegt er dem Bundestag zur Beratung vor, sieht dessen Geschäftsordnung vor, daß sich das G.sverfahren in 3 sog. —> Lesungen aufteilt, also 3 Plenarberatungen. Bei Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtl. Verträgen, also Vertragsgesetzen, ergeben sich Änderungen dadurch, daß solche Zustimmungsgesetze nur im Ganzen angenommen oder abgelehnt werden können, Änderungsanträge daher nicht möglich sind. Das insg. recht aufwendige und häufig langwierige G.sverfahren ist der Hauptgarant dafür, daß die Exekutive bei der Festlegung der gesetzlichen Grundentscheidungen nicht im Verborgenen arbeitet, sondern daß möglichst hohe Transparenz und eine umfangreiche Beteiligung von Sachverstand sichergestellt sind. Die Kehrseite der Beteiligung einer großen Anzahl von Organen und der dabei notwendigen Kompromisse ist, daß Stringenz und Einheitlichkeit eines Gesetzes gelegentlich auf der Strecke bleiben. Dies ist jedoch ein geringer Preis in Anbetracht des Zugewinns an demokrat. Partizipation und Vermittelbarkeit des Verfahrens in die Gesellschaft hinein. Gesellschaften, die derartige Verfahren nicht kennen, beispielsweise ehemalige totalitäre Systeme, haben längst erkannt, daß in den Merkmalen Transparenz und Partizipation
Gesetzgebungsnotstand ein wesentlicher Schlüssel für den Erfolg demokrat. Rechtsetzungsverfahren liegt. Selbst Systeme, die von einer —> Demokratisierung noch weit entfernt sind, wollen sich inzwischen die sich hieraus ergebenden Vorteile zunutze machen. Lit: Ν. Achterberg: Parlamentsrecht, Tübingen 1984, S. 336ff; HdbStR III, S. 351ff; HdbVerfR, S. 1459ff.; J. J. Hesse / T. Ellwein: Das Regierungssystem der BRD I, Opladen 81997; W. Ismayr: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992, S. 247ff.; G. Loewenberg: Parlamentarismus im polit. System der BRD, Tübingen 1969, S. 319ff; H. Schneider: Gesetzgebung, Heidelberg 21991; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 258ff. Andreas Nothelle
Gesetzgebungsnotstand Im Falle einer Regierungskrise, in der sich -> Bundestag und -> Bundesregierung polit, blockieren, kann der —> Bundespräsident auf Antrag der Regierung und mit Zustimmung des —> Bundesrates den GN erklären. Grundvoraussetzung dafür ist, daß zuvor ein Antrag des —> Bundeskanzlers nach Art. 68 GG, ihm das —» Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments gefunden, und der Bundespräsident von seinem Recht zur —> Parlamentsauflösung keinen Gebrauch gemacht hat. Mit Ausnahme von Verfassungsänderungen können dann auf allen Gebieten der Bundeskompetenz -> Gesetze erlassen werden, ohne daß es dazu der Mitwirkung des Parlaments bedarf. In die Funktion des alleinigen Gesetzgebers tritt der Bundesrat. Der GN ist nur einmal während der Amtszeit eines Bundeskanzlers für die Dauer von 6 Monaten zulässig. Er wird in Art. 81 GG geregelt, aus dem sich die Einzelheiten des Verfahrens ergeben. Eine entsprechende Verfassungsnonn gibt es in keinem Bundesland. Der GN regelt nicht den Fall einer Behinderung der Gesetzgebungstätigkeit „von außen", was die Bezeichnung vielleicht vermuten läßt. Er muß strikt getrennt werden von anderen im GG angesproche397
Gesetzgebungsverfahren nen Notstandsfällen wie dem inneren Notstand (Art. 91), dem Katastrophennotstand (Art. 35) oder dem Verteidigungsfall (Art. 115a ff.). Seinen histor. Hintergrund bildet das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten in der —> Weimarer Republik. In klarer Abgrenzung davon kann der Bundespräsident selbst keinerlei materielle Normsetzungskompetenz wahrnehmen und den GN auch nur unter Mitwirkung anderer Verfassungsorgane erklären. In der bisherigen Geschichte der BRD ist der GN noch von keiner Regierung beantragt worden. Polit. Konstellationen, die den Gedanken daran zuließen, waren allenfalls während der sozial-liberalen Regierungsphase in den Jahren 1972 und 1981/82 gegeben. Neben seinen tatbestandlichen müssen die polit. Voraussetzungen (z.B. entsprechende Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat) erfüllt sein, ist schließlich auch die Langwierigkeit des Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 81 GG in Rechnung zu stellen, so daß der GN nur im besonderen Ausnahmefall denkbar erscheint. Lit.: Maunz/Därig: Komm. 2. GG, Art. 81; R. Simon: Gesetzgebungsnotstand und Notstandsgesetze, Münster 1963.
Rüdiger Kipke Gesetzgebungsverfahren —> Gesetzgebung Gesetzlicher Amtsvormund Die Vormundschaft über eine Person wird i.d.R. von Amts wegen durch Anordnung des Vormundschaftsgerichts begründet (§ 1774 S.l -> BGB). Eine Ausnahme stellt die g. A.schaft dar. Sie entsteht ipso iure mit der Geburt eines nichtehelichen Kindes oder mit der rechtskräftigen Feststellung seiner Nichtehelichkeit, wenn -> Vormundschaft erforderlich ist. Das ist grds. der Fall, wenn die Mutter minderjährig ist oder ihre elterliche Sorge durch Bestellung einer Pflegschaft wegen körperlicher Gebrechen ruht und nicht bereits vor der Geburt des Kindes ein Vormund bestellt worden ist (§ 1774 S. 2 BGB). 398
Gesetzlicher Erbteil Auch beim Tod der nichtehelichen Mutter vor oder während der Geburt tritt mit dem Zeitpunkt der Geburt die g. A.schaft ein (§ 1791c BGB). G.A. wird stets das Jugendamt (-» Jugendbehörden). Wird die nichteheliche Mutter volljährig, so wandelte sich die A.schaft des Jugendamts bisher automatisch in eine Amtspflegschaft um (§ 1710 BGB). Mit Inkrafttreten des Kindschaftsreformgesetzes am 1.7.1998 wird die gesetzliche Amtspflegschaft zugunsten einer auf Beratung, Hilfe und Unterstützung angelegten Beistandschaft des Jugendamtes abgeschafft. A.H.
Gesetzlicher Erbteil Gesetzliche Erben können nur Verwandte und der Ehegatte des Erblassers sein sowie der -> Staat als subsidiärer Zwangserbe. Die Verwandtenerbfolge beruht auf dem System der Ordnungen, sog. Parentelensystem. Innerhalb der Ordnungen gilt der Grundsatz der Erbfolge nach Stämmen sowie das Linearsystem. Gesetzliche Erben der ersten Ordnung (Parentel) sind die Abkömmlinge des Erblassers, die zu gleichen Teilen erben (§ 1924 I, IV BGB). Neben ihnen erbt der überlebende Ehegatte 1/4 des Nachlasses. Fehlen Abkömmlinge, kommen in der zweiten Ordnung die Eltern des Erblassers und deren Abkömmlinge zum Zuge (§ 1925 I BGB), neben denen der g.E. des überlebenden Ehegatten Ά beträgt. Leben beide Eltern, so erben sie allein und zu gleichen Teilen. Lebt nur ein Elternteil, so erbt er 1/2. An die Stelle des anderen treten dessen Abkömmlinge nach Stämmen. Gesetzliche Erben der dritten Ordnung sind die Großeltern und deren Abkömmlinge (§ 1926 I BGB). Neben Großeltern beträgt der g.E. des überlebenden Ehegatten die Hälfte. Das -» Erbrecht ihrer Abkömmlinge schaltet er aus, wodurch sich sein Anteil erhöht (§ 1931 I BGB). Ist von den Großeltern niemand mehr vorhanden, erbt der überlebende Ehegatte allein. Gibt es weder einen überlebenden Ehegatten noch Abkömmlinge der ersten 3 Ordnungen,
Gesetzlicher Gerichtsstand
Gesetzlicher Richter
kommen als vierte Parentel die Urgroßeltern in Betracht, die zu gleichen Teilen erben. Gesetzliche Erben der fünften und weiterer Ordnungen sind die entfernteren Vorfahren des Erblassers. Falls Eheleute im —> gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft lebten, erhöht sich gem. § 1371 I BGB beim Tod eines Ehegatten der g.E. des überlebenden Ehegatten um 1/4. Neben Kindern beträgt sein Erbteil dann 1/2; neben Eltern und Geschwistern des Erblassers 3/4. Auch sein Pflichtteil beträgt bei gesetzlichem Güterstand die Hälfte der erhöhten Erbteile, also 1/4 neben Erben der ersten und 3/8 neben Verwandten der zweiten Ordnung. Lit: Palandt-Edenhofern: BGB, Komm., München561997, § 1924, Rill ff. Annette von Harbou
Gesetzlicher Gerichtsstand Unter dem Begriff G. i.S. der ZPO ist grds. die örtliche Zuständigkeit (vgl. §§ 12 - 37 ZPO) zu verstehen, die sich darauf bezieht, welches —• Gericht erster Instanz den Rechtsstreit zu erledigen hat. Maßgebend ist der landesrechtl. bestimmte Gerichtsbezirk. Der Sprachgebrauch der ZPO ist jedoch insoweit uneinheitlich, als auch ausnahmsweise mit dem Begriff G. die sachliche Zuständigkeit gemeint sein kann, z.B. in §§ 40 Π, 802 ZPO. Der g.G. muß in einem Gesetz angeordnet sein. G.G.e finden sich nicht nur im 1. Buch der ZPO, sondern auch in verschiedenen anderen Gesetzen, u.a. in §§ 488, 508 HGB; §§ 246, 249, 275 AktG; §§ 61, 69 GmbHG; § 14 AGBG. Hierzu gehören auch die G.e, die in einer auf der Grundlage eines —> formellen Gesetzes erlassenen -> Rechtsverordnung geregelt sind. Die g.G.e lassen sich einteilen a) in allgemeine G.e, für die ein besonderer ausschließlicher G. nicht gegeben ist (§§ Π Ι 8 ZPO) sowie b) besondere G.e, die nur für bestimmte Streitsachen gelten. IM.: Thomas-Putzo: ZPO mit GVG, Komm. München "1993, Vorbem. zu § 12 ZPO, Rn 2 ff. A.H.
Gesetzlicher Güterstand Im ehelichen Güterrecht (§§ 1363-1563 BGB) wird ein wesentlicher Bereich der vermögensrechtl. Beziehungen von Ehegatten geregelt. Bis zum 31.3.1953 galt der g.G. der —> Verwaltung und Nutznießung des Vermögens beider Ehegatten durch den Ehemann. Da diese Regelung Art. 3 Π GG widersprach, wurde sie am 1.4.1953 durch die Gütertrennung ersetzt. Seit 1.7.1958 ist durch das Gleichberechtigungsgesetz als g.G. die Zugewinngemeinschaft eingeführt (§ 1363 BGB). Die Ehegatten können sich aber auch durch notariell zu beurkundenden Ehevertrag für Gütertrennung oder Gütergemeinschaft entscheiden (§§ 1408ff BGB). In den neuen Bundesländern gilt für Ehegatten, die im g.G. des Familiengesetzbuchs der -> DDR gelebt haben, nach dem Beitritt der g.G. der Zugewinngemeinschaft. Jeder Ehegatte konnte jedoch bis zum 3.10.1992 dem Kreisgericht gegenüber erklären, daß der bisherige g.G. fortgelten solle. Im g.G. der Zugewinngemeinschaft bleibt das Vermögen jedes Ehegatten in seinem alleinigen Eigentum, seiner Verwaltung und Nutznießung. Nur bei Rechtsgeschäften über das Vermögen im ganzen oder über Hausrat ist die Verfügungsmacht eingeschränkt (§§ 1365-1369 BGB). Bei Beendigung der Zugewinngemeinschaft wird die gegenseitige Teilhabe am Zuerwerb realisiert. Dies geschieht zu Lebzeiten der Ehegatten durch einen schuldrechtl. Ausgleichsanspruch desjenigen Ehegatten, der während der —> Ehe den geringeren Zugewinn erzielt hat (§§ 1363 Π 2, 1378 BGB), bei Tod eines Ehegatten durch pauschale Erhöhung des Erbrechts des Überlebenden um 1/4 (§ 1371 BGB). Lit.: W. Schlüter: BGB Familienrecht, Heidelberg '1991, § 11 I. A.H.
Gesetzlicher Richter Gem. Art. 101 Abs. 1 GG darf niemand seinem g.n R. entzogen werden. Ausnahmegerichte sind unzulässig. Dieses justizielle Grundrecht ist eine wichtige Ausprägimg der 399
Gewaltenteilung
Gesetzlicher Richter rechtsstaatl. Rechtssicherheit sowie des rechtsstaatl. Objektivitätsgebots (-> s.a. Recht) und eine Grundnorm für die Gerichtsorganisation nach dem GG. Es schützt vor unbefugten Eingriffen in die Rechtspflege, insbes. vor willkürlichen Verschiebungen durch Richteraustausch. Adressat des Entziehungsverbots ist sämtliche staatl. Gewalt, d.h. neben der Exekutive auch die —> Legislative und die ->• Judikative selbst. G. R. ist nicht nur das Gericht als organisatorische Einheit oder das erkennende —> Gericht als Spruchkörper, vor dem verhandelt und vor dem die einzelne Sache entschieden wird, sondern auch der zur Entscheidung im Einzelfall berufene —> Richter. G. R. i.S. des Art. 101 GG kann auch der —• Europäische Gerichtshof sein. Es muß im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG im voraus generell-abstrakt feststehen, welcher Richter zur Behandlung bestimmter Arten von Sachverhalten zuständig ist. Im Hinblick auf das Kriterium einer „gesetzlichen" Zuständigkeit müssen die Zuständigkeit, die Geschäftsordnung und die personelle Besetzung der Gerichte in einem Parlamentsgesetz so eindeutig wie möglich geregelt sein, um der Gefahr zu begegnen, daß die - » Justiz durch eine Manipulierung der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. G. R. ist dabei nur deijenige, der in jeder Hinsicht den Anforderungen des GG genügt; dies betrifft insbes. seine Unabhängigkeit und ausschließliche Gesetzesunterworfenheit i.S. der Art. 92, 97 GG. Die Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG kann nach Erschöpfung des Rechtswegs mit der —> Verfassungsbeschwerde gerügt werden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Der g. R. ist als Justizgrundrecht auch in den -> Landesverfassungen und als -» Menschenrecht ferner in Art. 6 Abs. 1, S. 1 EMRK garantiert. Die Verletzung dieses Menschenrechts kann zum Gegenstand einer Beschwerde vor den Organen der —> Europäischen Menschenrechtskonvention gemacht werden. Lit: HdbStR III, § 75 Rn 17-26; E. Träger: Der
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gesetzliche Richter, in: W. Fürst u.a. (Hg.), FS Wolfgang Zeidler I, Berlin 1987, S. 123ff.
Jörg Ukrcrw Gesetzmäßigkeit -> Verwaltung Getränkesteuer
Verbrauchsteuern
Gewalt -> Staatsgewalt Gewaltenteilung Die G. ist ein tragendes Organisationsprinzip des —* Rechtsstaats zur Verhütung von Machtmißbrauch und zur Sicherung von —> Freiheit. Der Begriff der G. stellt im Grunde eine nicht unerhebliche Verkürzung des mit diesem Prinzip Gemeinten dar. Denn er beinhaltet nicht nur eine Teilung der Gewalten und deren Zuweisung an verschiedene —> Organe, sondern er schreibt darüber hinaus eine gegenseitige Hemmung und Kontrolle der Gewalten vor. Der Begriff der Gewalten bezeichnet dabei die staatl. Hauptfimktionen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung; dabei faßt die Funktion der Exekutive die Bereiche der -> Verwaltung, der Regierung (als der führenden und leitenden, auf das Staatsganze bezogenen Tätigkeit) und schließlich der militärischen Verteidigung zusammen. Die schon aus der Antike überlieferte Vorstellung einer Aufteilung der -» Staatsgewalt erhielt ihre zukunftsweisende Form bei Montesquieu, dessen Modell der Dreiteilung in -> Legislative, —> Exekutive und -> Judikative sowohl in die - » Verfassung der USA von 1787 als auch in die - » frz. Verfassung von 1791 Eingang fand, nachdem bereits die Déclaration von 1789 in Art. 16 die Festlegung der G. zur Grundvoraussetzung jeder Verfassung überhaupt erklärt hatte. In der dt. Verfassungsentwicklung stand zunächst das - » monarchische Prinzip, das die Vereinigung der gesamten Staatsgewalt beim Monarchen verlangte, jeder echten G. in den einzelnen Staaten entgegen; so blieb es hier bei einer konstitutionell verkürzten Variante mit Mitwirkung
Gewaltenteilung der Stände bei der Gesetzgebung und Unabhängigkeit der —> Gerichte (etwa Art. 45 S. 1, Art. 62 Abs. 1 und Art. 86 Abs. 1 der Preuß. Verfassungsurkunde von 1850). Auf der gesamtstaatl. Ebene kam es nicht einmal in der —> Weimarer Reichs Verfassung von 1919 zu einer klar geregelten G., die im Text der Verfassungen der dt. Länder dieser Zeit schon deutlicher hervortrat (Bestimmungen wie § 2 Abs. 2, § 6-8 Badische Verfassung 1919). Nach der Machtkonzentration im Führerstaat (—> Nationalsozialismus) wurde die G. in den meisten —> Landesverfassungen der Westzonen ausdrücklich garantiert (zuerst Art. 48 Abs. 2 Verfassung Württemberg-Baden 1946). Im Herrenchiemseer Entwurf eines GG war sie nur für die —> Landesverfassungen ausdrücklich vorgeschrieben. Im —> Parlamentarischen Rat sah schon der erste Vorschlag zu Art. 20 vor, daß eine einheitliche Staatsgewalt fllr ihre klassischen Bereiche getrennt durch besondere Organe ausgeübt werde. Das —> Grundgesetz spricht die klassischen 3 Gewalten der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung in erster Linie in Art. 20 Abs. 2 S. 2, aber auch Art. 20 Abs. 3 und (für die Grundrechtsbindung) in Art. 1 Abs. 3 GG als maßgebliche Funktionsbereiche der Staatsgewalt an. Weiterhin widmet es allen 3 Gewalten einen eigenen Abschn. (Vn, Vm und IX). Die verfassungsrechtl. Bedeutung des G.sprinzips zeigt sich v.a. in einer dreifachen (Staats-)Funktionentrennung: Die materielle Funktionentrennung besteht darin, daß die Staatsfunktionen (Rechtsetzung, Exekutive und Rechtsprechung) im Schwerpunkt jeweils spezifisch dazu berufenen besonderen (Legislativ-, Exekutiv- und Rechtsprechungs-)Organen staatl. Gewalt (für den - » Bund: —• Bundestag, -> Bundesregierung, (Bundes-) Gerichte) zugewiesen sind, die im Idealzustand allein und ausschließlich die für sie kennzeichnende materielle Funktion wahrnehmen. Doch entzieht sich die Erweiterung der staatl. Funktionen, wie
Gewaltenteilung z.B. hinsichtlich der Rechnungsprüfung, der -> Planung oder auch der von der -> Bundesbank wahrgenommenen Aufgaben, in ihrer Differenziertheit dem Dreierschema. Auf der anderen Seite ist auch die Zahl der Funktionsträger um das abstimmende —> Volk, den -> Bundesrat, den -» Bundespräsidenten und weitere Organe, wie Bundesbank und —> Bundesrechnungshof, vermehrt. Weiterhin sieht die Zuordnung der Funktionen durch das GG vielerlei Vermischungen vor, so durch Übertragung von Staatsaufgaben auf funktionsfremde —> Organe (z.B. Rechtsetzungsbefugnisse der Exekutivorgane, Parlament. Exekutivkompetenzen, Richterrecht), durch Mitwirkungsbefugnisse von Organen in Bereichen außerhalb ihrer spezifischen Funktion oder durch von vornherein gewaltübergreifend ausgerichtete Organe, wie den nach Art. 50 GG insbes. bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirkenden Bundesrat. Derartige Überschneidungen reichen zwar über das klassische Modell einer bloßen Teilung der 3 Gewalten hinaus, sind aber durch die Zielsetzung des Verfassungsgrundsatzes legitimiert; denn der angestrebten Mäßigung der Staatsmacht und damit dem Freiheitsschutz des Einzelnen wird (auch) durch die gegenseitige Kontrolle und Begrenzung einer Mehrheit beteiligter Organe gedient. Lediglich für die Rechtsprechung besteht ein durch die Eigentümlichkeit dieser nur durch einen unparteiischen Dritten auszuübenden Funktion bedingtes Monopol der Gerichte. Im übrigen sind auch die vom klassischen Verteilungsschema abweichenden bsondereren Gestaltungen des GG vollgültiges Verfassungsrecht. Für den Verfassungsänderungsgesetzgeber gehört die G. zwar zu den Grundsätzen des Art. 20 GG, die nach Art. 79 Abs. 3 GG auch bei Änderungen des GG nicht berührt werden dürfen. Doch kann angesichts der von vornherein solchermaßen differenziert verwirklichten materiellen Funktionentrennung der Grundsatz der G. als Maß-
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Gewaltenteilung stab nicht in puristischer Weise orientiert an theoretischen Modellen verstanden werden. Er läßt vielmehr Raum für eine Vielzahl unterschiedlichster Überschneidungen. Nur ein schwierig abzugrenzender Kernbereich der jeweiligen materiellen Staatsfunktion bleibt zwingend allein dem dafür zentral vorgesehenen Organ zugewiesen; (nur) insoweit ist es auch für den Fall von GGänderungen vor Verlagerungen auf andere Organe oder der Begründung fremder Einflußnahmemöglichkeiten geschützt. Die materielle Funktionentrennung wird durch die organisatorische Funktionentrennung ergänzt. Diese zielt auf die Unabhängigkeit der einzelnen Funktionsträger voneinander bei der Wahrnehmung der jeweiligen Staatsfunktionen, ist aber ebensowenig wie jene in reiner Form verwirklicht. Geradezu im Gegensatz zu der gewaltenteilenden Ursprungsvorstellung amerik. Musters steht die dem im GG übernommenen —> parlamentarischen Regierungssystem entsprechende Tatsache, daß die Regierung vom Parlament gewählt ist und von diesem jederzeit abgewählt werden kann. Neben Abhängigkeiten hinsichtlich der Besetzung der verschiedenen Organe, die in unterschiedlichen Formen das gesamte grundgesetzliche Regierungssystem kennzeichnen, sind die Funktionsträger auch in ihrem sachlichen Wirken Mitwirkungsrechten anderer Organe und vielfacher Kontrolle ausgesetzt, zumal die Regierung der polit. Kontrolle durch das Parlament, im übrigen alle -> Staatsorgane der Kontrolle durch (Verfassungs-)Gerichte. Eine personelle Funktionentrennung, also die personelle Verschiedenheit der Organwalter der verschiedenen Funktionen zugeordneten Organe, ist von Verfassungs wegen gleichfalls nur unvollkommen verwirklicht. Ausdrückliche Bestimmungen finden sich nur für einzelne Fälle, namentlich für den Bundespräsidenten in Art. 55 Abs. 1 GG und für die Richter am —> Bundesverfassungsgericht in Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG. Die weitreichende Rege-
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Gewaltenteilung lung des Art. 137 Abs. 1 GG eröffnet lediglich die Möglichkeit, durch gesetzliche Regelungen Inkompatibilitäten zwischen öffentl. Amt und Mandat in Volksvertretungen vorzuschreiben, dagegen nicht einmal die dem Wortlaut nähere -» Ineligibilität. Vor allem aber ist an zentraler Stelle, nämlich bei der Mitgliedschaft in Parlament und Regierung, eine -> Inkompatibilität nach der inneren Logik des parlament. Systems überhaupt nicht gewollt. Die beschriebenen, noch an der klassischen Dreiteilung der Gewalten orientierten Aspekte des Grundsatzes kann man um Elemente von G. in einem weiteren, unspezifischen Sinne ergänzen, wenn man andere Mechanismen einbezieht, durch die sich zusätzliche Elemente von checks and balances ergeben können. In diese Richtung wirkt etwa die Tatsache, daß die einzelnen Funktionsträger ihrerseits aufgliedert sind. So ist z.B. die vollziehende Gewalt auf die Organe Bundespräsident und Bundesregierung verteilt, letztere zerfällt nach dem —> Ressortprinzip in voneinander grds. unabhängige Ministerien mit nachgeordnetem Behördenapparat. Daneben existieren unabhängige, weisungsfreie Institutionen (sog. ministerialfreie Räume), wie z.B. die Dt. Bundesbank. Gewaltenhemmende Effekte können in gewissem Umfang trotz der Weisungsunterworfenheit der Beamten ferner davon ausgehen, daß diese infolge prinzipiell lebenslanger Anstellung nicht beliebig austauschbar sind und damit ein gewisses Maß an persönlicher Unabhängigkeit besitzen. Sieht man über die Bundesebene hinaus, tritt generell die Bundesstaatlichkeit als Grundlage vertikaler G. hinzu, die in dem föderalen Organ Bundesrat eine wirksame Fortsetzung in die Bundesebene hinein erfährt, allerdings zugleich ein weiteres gouvernementales Element in die Gesetzgebung einbringt. Femer ist an die für die —» Kommunen auch verfassungsrechtl. gesicherte Existenz von Selbstverwaltungskörperschaften zu denken. Die aus der Übertragung
Gewaltenteilung von Hoheitsrechten auf supranationale Gebilde entstehenden Effekte sind zwiespältig, weil zwar einerseits die Kompetenzaufteilung machthemmend wirkt, andererseits die Stellung der staatl. Parlamente gegenüber der Regierung geschwächt wird (s. aber jetzt Art. 23 Abs. 2, 3 GG für die —> Europäische Union). Schließlich können gewaltenhemmende Effekte auch vom außerstaatl., gesellschaftl. Bereich ausgehen, namentlich aufgrund der polit. Wahrnehmung von —> Grundrechten, wie zumal der Presse- und Rundfunkfreiheit. All dies reicht aber über das G.sprinzip des GG als solches hinaus. Gefährdungen dieser G. ergeben sich angesichts der bestehenden polit. Grundbedingungen im parlament.-parteienstaatl. System der —> Bundesrepublik Deutschland v.a. daraus, daß in der Verfassungswirklichkeit häufig engste Kooperation zwischen der von dem mehrheitlich entscheidenden Parlament abhängigen Regierung und dem von denselben Mehrheitsfraktionen beherrschten Bundestag festzustellen ist. Nicht mehr das Parlament und die Regierung stehen sich in einem Verhältnis der wechselseitigen Hemmung und Kontrolle gegenüber, statt dessen verläuft die neue Frontstellung zwischen der Regierung samt Regierungsfraktion/-koalition auf der einen und der Oppositionsfraktion auf der anderen Seite; dies kann sich bei der Kooperation mit den im Bundesrat vertretenen -> Landesregierungen der jeweiligen parteipolit. Provenienz fortsetzen. In der Folge werden der Sache nach Entscheidungsprozesse aus den staatl. Funktionen heraus in Parteigremien verlagert. Solche parakonstitutionellen, d.h. im GG nicht vorgesehenen Verlagerungen sind kaum zu verhindern, solange die formalen Entscheidungszuständigkeiten gewahrt bleiben (—> Parteienstaat). Die Verfassung kann insoweit nur versuchen, die erwünschten Kontrollpotentiale der G. dadurch zu aktivieren, indem es die sich in der polit. Auseinandersetzung in den verschiedenen Gewalten tatsächlich
Gewerbeertragsteuer gegenüberstehenden Kräfte stärkt, also namentlich parlament. Minderheitenrechte schafft, stärkt oder effektuiert und insbes. die Stellung der -> Opposition stützt. Über eine herausragende Rolle als Kontrollinstanz im grundgesetzlichen System der G. verfügt das BVerfG. Gegenüber den Staatsfunktionen der Gesetzgebung und der Gesetzesvollziehung hat es sich - wie freilich auch gegenüber der sonstigen Judikative - als „Hüter der Verfassung" etabliert. Es verfügt durch das Organstreitverfahren (-> Organstreit) über ein Instrument, um direkt über Konflikte zwischen den an der G. beteiligten Organen verbindlich zu entscheiden, außerdem kann es in Normenkontrollverfahren (—> Abstrakte und —> Konkrete Normenkontrolle) Veränderungen der grundgesetzlichen G. durch Gesetzgebungsmaßnahmen entgegentreten. Lit: HdbStR I, S. 987ff, insbes. S. 1009ff.; Maunz / Dürig: Kommentierung des Art. 20, V.; C. de Montesquieu: Vom Geist der Gesetze (1748), Tübingen 2 1992; H. Rausch (Hg.): Zur heutigen Problematik der Gewaltenteilung, Darmstadt 1969; Stern I, S. 759ff, insbes. S. 792ff.; Stern II, S. 513ff.
Michael Sachs Gewaltenteilungsprinzip -> Gewaltenteilung Gewerbe -> Gewerberecht Gewerbeertragsteuer Die G. gehört zu den Real- oder Objektsteuern, deren Aufkommen den -> Gemeinden zusteht. —> Bund und -> Länder sind daran gleichwohl durch eine Umlage beteiligt. Seit der Abschaffung der Kapitalsteuer (1.1.1998) bildet die G. die einzige Besteuerungsgrundlage der —>• Gewerbesteuer (s.a. -> Steuern). Gewerbesteuerpflichtig ist jedes inländische gewerbliche Unternehmen (Gewerbebetrieb). Sofern ein Gewerbebetrieb mehrere Betriebsstätten umfaßt, ist stets der Gewerbebetrieb mit allen inländischen Betriebsstätten Gegenstand der Besteuerung. Die inländische
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Gewerbefreiheit
Gewerberecht
Betätigung von Reisegewerbebetrieben wird ebenfalls zur Gewerbesteuer herangezogen (—> Gewerberecht). Bemessungsgrundlage der G. ist der Gewerbeertrag. Das Gewerbesteuerrecht konzipiert in diesem Zusammenhang einen eigenen Gewinnbegriff, der von betriebswirtschaftl. Gewinnbegriffen abweicht. Grundlage der Berechnung des Gewerbeertrags sind die sich aus dem Einkommensteuergesetz ergebenden Einkünfte aus Gewerbebetrieb oder das körperschaftssteuerliche Einkommen. Dieses Ergebnis unterliegt gewerbesteuerlichen Modifikationen, den sog. Hinzurechnungen und Kürzungen. Hinzugerechnet werden u.a. a) 50 v.H. der Zinsen für Dauerschulden, b) Renten und dauernde Lasten, die wirtschaftl. mit Gründung oder Erwerb des Betriebes zusammenhängen und c) Gewinnanteile stiller Gesellschafter. Kürzungen betreffen u.a. folgende Positionen: a) 1,2 v.H. des Einheitswerts des zum Betriebsvermögen gehörenden Grundbesitzes, b) die bei der Gewinnermittlung angesetzten Anteile am Gewinn einer Personengesellschaft (-> Gesellschaftsrecht) und c) der Teil des Gewerbeertrages, der auf eine nicht im Inland gelegene Betriebsstätte fallt. Der Erhebungszeitraum umfaßt ein Kalendeijahr. Lit: G. Spangemacher / Κ. Spangemacher: Gewerbesteuer, Achim 121995. K.F.
Gewerbefreiheit recht
Beruf —» Gewerbe-
Gewerbekapitalsteuer Im Rahmen des Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform wurde die G. ab dem 1.1.1998 abgeschafft. Gewerbeordnung -» Gewerberecht Gewerberecht Das G. ist das Recht der Zulassung und Überwachung gewerblicher wirtschaftl. Tätigkeit. Ausweislich des Art. 74 Nr. 11 GG gehört es zur konkurrierenden Bundesgesetzgebung. Von 404
seiner Gesetzgebungskompetenz hat der —> Bund durch die Gewerbeordnung (GewO) und weitere Wirtschaftsverwaltungsrecht!. Gesetze (z.B. Gaststättengesetz, Bundesimmissionsschutzgesetz) umfassenden Gebrauch gemacht. Insg. wird die GewO als das hergebrachte Zentralstttck des G.s durch den Wirtschaftsliberalismus des 19. Jhd.s geprägt, der sich in der Gewerbefreiheit niederschlägt, die im heutigen § 1 GewO an die Spitze des Gesetzes gestellt ist. Der Grundsatz sichert die freie Aufnahme eines Gewerbes bundesrechtl., ohne daß zuvor eine Erlaubnis eingeholt werden müßte, sofern nicht Bundesgesetze spezielle Zulassungspflichten aufstellen. Damit darf der Landesgesetzgeber die Aufnahme gewerblicher Tätigkeiten nicht beschränken. Zulässig bleiben dagegen Regelungen ihrer Ausübung. Der Gewerbefreiheit kam in früherer Zeit in etwa die Funktion der -> Berufsfreiheit zu; sie hat heute noch diese Bedeutung für Ausländer, die sich nicht auf das Bürgergrundrecht des Art. 12 GG berufen können. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt des G.s ist der Gewerbebegriff, der jede nicht sozial unwertige (generell unverbotene), auf Gewinnerzielung gerichtete und auf Dauer angelegte selbständige Tätigkeit erfaßt. Ausgenommen sind aber die Urproduktion (—> Landwirtschaft, Fischerei, Jagd etc.), freie —• Berufe (freie wissenschaftl., künstlerische und schriftstellerische und anderen Tätigkeiten höherer Art, die eine höhere Bildung erfordern) und die bloße Nutzung und Verwaltung eigenen Vermögens. Zur Qualifizierung kommt es darauf an, ob sich die jeweilige Tätigkeit vorwiegend im Privaten abspielt und daher keiner gewerberechtl. Überwachung bedarf. Demgegenüber steigt die Überwachungsbedürftigkeit in dem Maße, in dem die Betätigung - z.B. durch Emissionen (Lärm etc.) oder Gefahren für Rechtsgüter der Allgemeinheit - nach außen wirkt. Maßgebend ist das Gesamtbild der Tätigkeit entsprechend der Verkehrsanschauung. So ist der Betrieb eines
Gewerbesteuer
Gewerberecht Campingplatzes mit etwa 1.000 Stellplätzen auch auf eigenen Wiesen aufgrund seiner Größe und Bedeutung ein überwachungsbedürftiges Gewerbe, die Vermietung zweier Fremdenzimmer auf einem Bauernhof liegt dagegen unterhalb der Bagatellschwelle und erschöpft sich in der bloßen Verwaltung und Nutzung eigenen Vermögens. Das Zulassungs- und Überwachungsinstrumentarium der GewO differenziert zwischen erlaubnisfreien und erlaubnispflichtigen Gewerben. Dabei sind stehende Gewerbe entsprechend der Gewerbefreiheit (§ 1 GewO) grds. gem. § 14 GewO nur anzeigepflichtig. Die Anzeige versetzt die —> Behörde in die Lage, das frei aufgenommene Gewerbe zu überwachen. Der auf die Anzeige hin erteilte —> Gewerbeschein ist keine Erlaubnis, sondern eine Empfangsbestätigung. Abweichend davon sind die in den §§ 30ff. GewO aufgezählten stehenden Gewerbe (Privatkrankenanstalten, Detekteien, Bewachungsgewerbe, Zur-Schau-Stellung von Personen etc.) aufgrund ihrer Eigenheiten zulassungspflichtig. Ebenfalls nur mit vorheriger Erlaubnis betrieben werden dürfen gem. § 55 Abs. 2 GewO grds. alle Reisegewerbe. Gleiches ordnen einige Spezialgesetze für die dort geregelten Tätigkeiten und Anlagen an. Der Gewerbetreibende hat dann vor Geschäftsbeginn eine Erlaubnis (—> Verwaltungsakt) zu beantragen, die erteilt werden muß, sofern ihre gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Zentrales Zulassungskriterium der GewO ist die persönliche Zuverlässigkeit des Gewerbetreibenden im gewerberechtl. Sinne. Das erfordert, daß er nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens die Gewähr dafür bietet, das konkrete Gewerbe in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht und den behördlichen Anordnungen auszuüben. Das Unzuverlässigkeitsurteil erfordert kein Verschulden, so daß eine nicht zu vertretende Finanzmisere es ebenso begründen kann, wie fortwährende Straftaten gegen Kunden. Wird ein erlaubnispflichtiges Ge-
werbe ohne die erforderliche Erlaubnis aufgenommen, ermächtigt § 15 Abs. 2 GewO zur Verhinderung seiner Fortsetzung. Soll dagegen ein zugelassenes Gewerbe - etwa wegen Unzuverlässigkeit untersagt werden, steht dem die Tatbestandswirkung der erteilten Erlaubnis entgegen. Erst im Anschluß an ihre Aufhebung gem. §§ 48, 49 VwVfG kann das dann ohne Erlaubnis ausgeübte Gewerbe unterbunden werden. Ist die Tätigkeit dagegen erlaubnisfrei, kann ihre weitere Ausübung direkt nach § 35 GewO untersagt werden, da kein legalisierender Erlaubnisverwaltungsakt entgegensteht. Diese zwischen erlaubnisfreien und erlaubnispflichtigen Tätigkeiten differenzierende Regelungstechnik wird von zahlreichen der ergänzenden Spezialgesetze übernommen (etwa Bundesimmissionsschutzgesetz -> Immissionsschutzrecht). Die histor. Wurzeln des G.s gehen weit zurück. Bereits die Preuß. GewO von 1845 sieht die gesonderte Prüfung der Zuverlässigkeit bei Verurteilung wegen Meineides, Raubes, Diebstahls oder Betruges vor, regelt die Gewerbefreiheit und die Erlaubnispflicht einzelner Gewerbe. Als nächster wesentlicher Schritt folgte die GewO für den Norddt. Bund von 1869, die den Gedanken der Gewerbefreiheit in ihrem § 1 an die Spitze stellt und fur das stehende Gewerbe grds. die Anmelde- anstelle der Zulassungspflicht statuiert. Lit:
BVerwG, GewArch 1993, S.196ff. (zum
Campingplatz); A. Koller (Hg.): Zur GewO für den Norddt. Bund, in: Archiv des Norddt. Bundes und des Zollvereins III, Berlin 1871.
Tobias Linke
Gewerbeschein -> Gewerberecht Gewerbesteuer Die G. ist eine Gemeindesteuer, die nach dem bundeseinheitlichen G.gesetz erhoben wird. Steuersystematisch gehört sie zu der Gruppe der Real- oder Objektsteuem (—> Steuern). Die G. ist die wichtigste originäre Einnahmequelle der Kommunen zur Bereit405
Gewerkschaft
Gewerbesteuermeßbetrag Stellung ihrer öffentl. Ausgaben. Die Höhe des G.aufkommens kann von den -> Gemeinden aufgrund des ihnen zustehenden Rechts zur Festsetzung von Hebesätzen beeinflußt werden. —> Bund und -> Länder sind seit 1970 an diesem Aufkommen durch eine Umlage beteiligt. Der Erhebungszeitraum beträgt ein Kalenderjahr. Bislang bildeten die —Gewerbeertragsteuer und die Gewerbekapitalsteuer die Besteuerungsgrundlage der G.; die Gewerbekapitalsteuer wurde jedoch im Rahmen des Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform ab dem 1.1. 1998 abgeschafft. Steuergegenstand ist infolgedessen ausschließlich die objektive Ertragskraft eines Gewerbebetriebes, d.h. das in einen Gewerbeertrag umgerechnete tatsächlich erzielte Betriebsergebnis (s.a. -> Gewerberecht). Histor. begründet ist die Erhebung der G. mit der Äquivalenztheorie. Danach sollen die Gemeinden für die aus der Existenz gewerblicher Betriebe resultierenden Belastungen einen Ausgleich erhalten. Folglich stellt die G. eine Gegenleistung für staatl. bzw. kommunale Leistungen dar. Die Reformdiskussion um die G. hat verschiedene Ursachen. Zum einen entspricht das Äquivalenzprinzip nicht dem Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftl. Leistungsfähigkeit, da sich die - allen Bürgern zugute kommenden - Gegenleistungen für die Steuern nicht eindeutig messen lassen, während die Steuer allein Unternehmen belastet. Eine verursachungsgerechte Zuordnung von Leistung und Gegenleistung ist nicht möglich. Ferner wird die Abhängigkeit kommunaler Einnahmen aus der G. von der Wirtschaftsstruktur der Gemeinden sowie von der konjunkturellen Entwicklung als problematisch empfunden. Lit.: G. Spangemacher /Κ. Spangemacher: Gewerbesteuer, Achim 121995.
K.F. Gewerbesteuermeßbetrag —> Gemeindesteuern
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Gewerbeüberwachung ist die Tätigkeit der -> Behörden, die überwachen, daß die Gewerbe entsprechend des —> Gewerberechts ausgeübt werden. Neben der laufenden Überwachung sind die Behörden für die Zulassung erlaubnispflichtiger Gewerbe zuständig. Die behördliche Zuständigkeit richtet sich nach -» Landesrecht. T.L. Gewerkschaft / -en Begriff G.eri sind auf Dauer angelegte -> Interessenverbände der Arbeitnehmer zur Sicherung und Verbesserung ihrer wirtschaftl. und sozialen Lage. Entstehung und Entwicklung Die Ursprünge der G.sbewegung sind eng verknüpft mit dem Einstieg in das Industriezeitalter, einer freien Verfügbarkeit des Faktors Arbeitskraft, der Ausbildung des Koalitionsrechtes und der Formierung einer Arbeiterbewegung insg., die als Reaktion und Protest gegen den Kapitalismus entstand. Erst in der weiteren Entwicklung unterlagen die G.sbewegungen zunehmend Einflüssen, die ihrer schrittweisen Integration in die Gesellschaft, in der sie als dauerhafte Interessenvertretung der Arbeitnehmer zu wirken hatten, Vorschub leisteten. Auf dem europ. Kontinent setzte viel später als in England die eigentliche Gründungsphase in den 60er Jahren des 19. Jhd.s ein. Während in Großbritannien und in den USA ein System weltanschaulich formal neutraler Organisationen vorherrschte, fächerte sich die Bewegung in Dtld., wie in anderen Ländern auch, bis 1933 in sog. polit. Richtungsgewerkschaften auf. Ein weiterer Schritt in der Entwicklung der G.en war die Formierung von nach dem Industrieprinzip organisierten Verbänden, in denen die Arbeitnehmer eines bestimmten Industriezweiges, ohne Unterschied der ausgeübten Beschäftigung, erfaßt wurden. Dieses Prinzip lag z.B. von vornherein dem 1891 gegründeten Dt. Metallarbeiterverband (DMV) zugrunde und hat
Gewerkschaft sich in der Folge immer stärker durchgesetzt. Nach ihm sind u.a. auch die seit 1949 im —> Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossenen G.en in der -> Bundesrepublik Deutschland organisiert. Eine 2. Richtung der internationalen G.sbewegung war der revolutionäre Syndikalismus. Die 1895 gegründete Confédération Générale du Travail (CGT) in Frankreich hing v.a. in ihrer Gründungsphase diesen syndikalistischen Vorstellungen stark an. Parteiunabhängige und weltanschaulich neutrale Einheitsgewerkschaften sind nirgendwo in reiner Form verwirklicht. So sind ihrem Selbstverständnis nach die G.en des DGB konfesssionell und parteipolit. unabhängig. Faktisch handelt es sich aber um sozialdemokratisch orientierte Richtungsgewerkschaften. Instrumente der G.spolitik Kernstück der G.spolitik ist der -> Tarifvertrag. In der Tarifverhandlung und im Abschluß des Tarifvertrags vollziehen sich Interessenausgleich und Lösung des Konfliktes zwischen Kapital und -> Arbeit. Sind die Verhandlungsmöglichkeiten einschließl. der freiwilligen Schlichtung und der polit. Vermittlung erschöpft, so bleibt als ultima ratio der Arbeitskampf in Form des Streiks. Ein weiterer zentraler Gegenstand der G.spolitik ist die -> Selbstverwaltung. Vor allem in den Institutionen der -> Sozialversicherung bietet die Selbstverwaltung den G.en neben der Kontrolle der Verwaltung erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten. Eine weitere Hauptaufgabe der G.en ist ihr Auftreten als eine Interessengruppe, indem sie versuchen, den —> Gesetzgeber und die —> Verwaltung von der Notwendigkeit und der Rechtmäßigkeit ihrer Forderungen zu überzeugen und damit deren Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Arbeiterbewegung ist seit ihrem Ursprung immer auch eine emanzipatorische Bildungsbewegung gewesen. Die Bildimgsarbeit z.B. des DGB und seiner G.en soll über polit. Prozesse informieren, die Urteilsfähigkeit und damit das polit. Problembewußtsein
Gewerkschaft der abhängig Beschäftigten fördern, die Fähigkeit zum polit. Handeln stärken sowie die Bereitschaft zur Übernahme von gewerkschaftlichen Funktionen wecken und stärken. Tarifdemokratie in Dtld. Das dt. Modell der Tarifdemokratie hat sich bislang dadurch ausgezeichnet, daß G.en und -> Arbeitgeber als staatsunabhängige private -> Tarifvertragsparteien die verfassungsrechtl. verankerten und institutionell abgesicherten Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer wahrnehmen. Die Tarifdemokratie umfaßt die von den Tarifparteien ausgeübte Tarifautonomie sowie die von den Betriebsparteien praktizierte -> Betriebsverfassung samt Unternehmensmitbestimmung. Mitbestimmung auf einzelwirtschaftl. Ebene und Tarifautonomie auf sektoraler Ebene werden ergänzt um die Beteiligung der Sozialparteien am dualen System der Berufsausbildung, an den Selbstverwaltungskörperschaften der sozialstaatl. Einrichtungen sowie ihre vielfältig organisierte Teilnahme an polit. Entscheidungsprozessen. Das dt. Modell der Tarifdemokratie ist damit ein interessenpolit. Ensemble aus mitbestimmter Betriebsdemokratie, verhandelter Tarifdemokratie und konsultativer Demokratie. G.sbewegung und gesellschaftl. Wandel In den Industrienationen führten der gewerkschaftliche Machtzuwachs und wachsender Wohlstand zu neuen arbeitsmarktpolit. Aufgaben und zu mitverantwortlicher Gestaltung gesamtwirtschaftl. Strukturverhältnisse. Funktionswandel und -Zuwachs förderte die Entwicklung zu bürokratisierten, meistens zentralistisch aufgebauten Massenorganisationen, in denen hauptamtliche Funktionäre und eine relativ gut situierte Arbeitnehmerschaft Sozialrevolutionäre Ideen zugunsten einer pragmatischen G.spolitik aufgaben. Der Typus der Funktionärsgewerkschaften scheint jedoch heute in Frage gestellt zu sein. So verlor der DGB von 1996-97 knapp 4% seiner Mitglieder, in den neuen Bundesländern annähernd 8%. Als Hauptursachen werden v.a. der Verlust von
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Gewissens- und Religionsfreiheit Klassenidentität, die Auflösung traditioneller sozialer Milieus sowie die steigende Individualisierung und Diversifizierung der Arbeitsprozesse angesehen. Angesichts steigender struktureller Arbeitslosigkeit erscheint auch das traditionelle Modell der Tarifautonomie mit Flächentarifverträgen und rechtl. Allgemeinverbindlichkeit als reformbedürftig. Zukunftsgerechtere Alternativen werden in betriebsnahen oder stärker regionalen Tarifabschlüssen gesehen. Lit.: Η.-O. Hemmer / K.T. Schmitz (Hg.): Geschichte der Gewerkschaften in der BRD, Köln 1990; O. Jakobi: Tarifdemokratie - Zur Zukunft der Arbeitsbeziehungen, in: W. Dettling (Hg.), Perspektiven für Dtld., München 1994, S. 119ff.; W. Uellenberg: Gewerkschaften in Dtld. von 1848 bis heute, München 1996.
Ulrich Niemann Gewissens- und Religionsfreiheit -> Glaubens- und Gewissensfreiheit Gewohnheitsrecht —> Recht GGO —» Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien Glaubens- und Gewissensfreiheit Das —> Grundgesetz schützt in Art. 4 Abs. 1 die G. als wichtige Ausprägung der - » Menschenwürde. Zur G. gehört die innere —> Freiheit, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zu bilden und zu haben. Sie umfaßt aber auch die äußere Freiheit, diese Überzeugungen zu praktizieren, also zu bekennen und zu verbreiten. Gleichzeitig garantiert das GG auch die negative G., die Freiheit nämlich, keine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu haben oder eine Gewissensentscheidung zu unterlassen. Dieses —» Grundrecht ist etwa dann berührt, wenn der —> Staat in seinen —> Schulen Kruzifixe anbringt. Das —> Menschenrecht der G. entwickelte sich sukzessiv aus der Trennung von Staat und —> Kirche im Mittelalter und aus der Reformation. Es ist Ausdruck der 408
Gleichbehandlung Toleranz des modernen Staates, der weltanschaulich neutral ist. Die G. findet sich inzwischen in den —> Verfassungen der meisten europ. Staaten und im - » Europarecht Sie ist sogar - das unterstreicht ihren hohen Stellenwert - Bestandteil weltweit gültiger Völkerrechtsverträge, etwa des Internationalen Pakts über bürgerl. und polit. Rechte von 1966. Trotz ihrer großen Bedeutung sind Einschränkungen der G. möglich, ja sogar notwendig. Denn sie kann mit anderen Bestimmungen der Verfassung kollidieren, die einen ebenso hohen Stellenwert haben. Ein Beispiel dafür ist die Steuerverweigerung aus Gewissensgründen, die nicht nur Ausdruck der G. ist, sondern gleichzeitig die Funktionsfähigkeit des Staates in Frage stellt. Der Gedanke der Einheit der Verfassung fordert dann, daß im Einzelfall eine Abwägung zwischen den kollidierenden Verfassungsbestimmungen vorgenommen wird. Dabei muß eine Lösung gefunden werden, die beiden zu einer möglichst optimalen Wirkung verhilft. Es gibt keine feste Grenze für die von der Verfassung erlaubten und teilw. gebotenen Einschränkungen der G. Lit.: M. Morlok: Art. 4, in: H. Dreier, GG Komm., Tübingen 1996, S. 294ff.
Volker Neßler Gleichbehandlung / -sgrundsatz Der —> Gleichheit vor dem Gesetz entspricht die Verpflichtung der Staatsgewalt zur G.; sie ist zu unterscheiden von der Gleichberechtigung (—> Gleichstellungsbeauftragte). Der G.sgrundsatz beinhaltet ein —> subjektives öffentliches Recht des einzelnen auf G. unter Bezug auf andere und folglich einen Anspruch auf Unterlassung ungleicher Behandlung in gleicher Rechtslage etwa durch Verwaltungsbehörden (-> Ermessen). Beispielsweise verpflichtet § 75 BetrVG -> Betriebsrat wie Arbeitgeber den G.sgrundsatz gegenüber allen im Betrieb Tätigen anzuwenden, ohne daß er eine Andersbehandlung - etwa, aus Gründen langer Betriebszugehörigkeit ausschließt; der G.sgrundsatz verbietet
Gleichberechtigung
Gleichheit
nur eine willkürliche Schlechterstellung. So verlangt der G. im —> Steuerrecht die Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Lit: HdbStR V, S. 837ff.
M.R.
Gleichberechtigung -> Gleichstellungsbeauftragte —> Gleichbehandlung -> s.a. Quotenregelung Gleichheit bezeichnet das Vorhandensein übereinstimmender Eigenschaften bei verschiedenen Gegebenheiten; G. ist also nicht Identität, die einem Sachverhalt nur mit sich selbst zukommt, sondern Gleichartigkeit immer auch verschiedener Gegebenheiten hinsichtlich eines bestimmten Gesichtspunktes (sog. tertium comparationis). Für eine Verhaltensordnung wie das - » Recht geht es um das Gebot gleicher Behandlung. Dieses kann auf arithmetische G. durch unterschiedslose Behandlung abzielen (idem cuique) oder auf geometrische G. durch den Unterschieden der Gegebenheiten entsprechende Differenzierungen (suum cuique). Zumal in der letztgenannten Bedeutung ist G. ein zentrales Element der —> Gerechtigkeit. Das geltende dt. -> Verfassungsrecht verlangt in verschiedenen G.ssätzen die Respektierung der G. der Menschen durch die -> Staatsgewalt. Diese grundrechtl. Garantie der G. hat eine bis zu den Anfängen moderner Verfassunggebung zurückreichende Tradition, die sich in der Unabhängigkeitserklärung der USA ebenso manifestiert hat wie im revolutionären Dreiklang „liberté, égalité, fraternité". Dabei meinte G. zuallererst die G. der Menschen an sich in ihrer individuellen Würde, die ihre Anerkennung als gleichwertige Rechtssubjekte erfordert. Die Realisierung dieser G. richtete sich in erster Linie gegen die Diskriminierungen des Ständestaates (-> Stände), femer gegen die religionsbezogenen Unterscheidungen in den von einer Staatskonfession dominierten Staatswesen. Hierauf beziehen sich auch die ersten G.ssätze in den frühkonstitutionellen Verfassungen der dt.
Einzelstaaten, die auch die -» Paulskirchenverfassung aufgriff. Die G. unabhängig vom Geschlecht erlangte erst 1919 partiell verfassungsrechtl. Anerkennung. Schließlich bestand nach der Niederwerfung des rassistischen NS-Dtld. (—> Nationalsozialismus) Anlaß, auch Unterscheidungen nach der Rasse zu verpönen. Die genannten Anwendungsfälle persönlicher Rechtsgleichheit machen bis heute den materiellen Kern der G.sgarantien aus. Ein von Einzelmerkmalen gelöster allgemeiner G.ssatz hat zuerst in Art. 109 Abs. 1 WRV selbständige Bedeutung erlangt. Allerdings blieb umstritten, ob die allen Deutschen gewährte G. vor dem Gesetz neben der Rechtsanwendungsgleichheit auch Bindungen der Gesetzgebung bewirken konnte. Das —> Grundgesetz hat dem Weimarer Vorbild folgend in Art. 3 Abs. 1 GG den allgemeinen G.ssatz an die Spitze der einschlägigen Regelungen gestellt; es hat ihn dabei von der nationalstaatl. Verengung auf die G. der Deutschen wieder auf den menschenrechtl. umfassenden Ausgangspunkt des Art. 3 der Menschenrechtserklärung der frz. Verfassung von 1793 zurückgeführt. Die G. ist neben der —> Freiheit das zweite Schutzgut, das im Grundrechtskatalog des GG durch eine Verbindung von allgemeiner Garantie und speziellen Ausprägungen umfassend gesichert ist. Die Verbindung zwischen der G. und anderen -> Grundrechten ist äußerst eng, da diese grds. jedermann oder doch zumindest jedem Deutschen gleichermaßen zustehen. Auch bei Grundrechtseinschränkungen wird die G.lichkeit durch das Verbot des Einzelfallgesetzes nach Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG besonders abgesichert. Gleichwohl ist G. nicht nur eine unselbständige Forderung im Rahmen anderer Grundrechte, sondern eigenständiger Schutzgegenstand der gleichheitsrechtl. Grundrechtsgarantien. Ihr Schutzgegenstand ist allerdings weniger greifbar als etwa der des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit, doch fehlt es hier ebensowenig an einem Objekt des
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Gleichheit Grundrechtsschutzes wie bei den Freiheitsrechten, wo dies bis in das 20. Jhd. hinein überwiegend angenommen wurde. Der Schutzgegenstand der G.srechte ist ein immaterielles Persönlichkeitsrecht an der G., das Anerkennung des gleichen Rechtswertes fordert und durch gleichheitswidrige Behandlung beeinträchtigt wird. Der G. sind im GG neben dem allgemeinen G.ssatz eine Reihe besonderer G.ssätze verpflichtet. Zu diesen gehören v.a. Unterscheidungsverbote (—» Diskriminierungsverbot), ferner Bestimmungen, welche die Beseitigung bestimmter Diskriminierungen gebieten (wie Art. 6 Abs. 5 GG für die unehelichen Kinder), solche, die positiv die Orientierung an bestimmten Kriterien verpflichtend vorschreiben (wie Art. 33 Abs. 2 GG: Eignung, Befähigung und sachliche Leistung), und Regelungen, die ohne Spezifikation das Gebot der Gleichbehandlung für bestimmte Anwendungsbereiche erneut aussprechen (wie etwa Art. 38 Abs. I S . 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG für die Allgemeinheit und die G. der - > Wahl). Durch die beiden letztgenannten Gewährleistungen steht der G.ssatz in spezifischer Verbindung zum Prinzip der - > Demokratie. Er sichert die G. der staatsbürgerl. Mitwirkungsrechte, also —> Wahlrecht, Wählbarkeit und Ämterzugang, zu denen im —> Parteienstaat die Garantie der Chancengleichheit der Parteien hinzutritt (Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 21 GG). Eine andere Verbindungslinie des G.ssatzes besteht zum —> Sozialstaatsprinzip; insoweit geht es um das Ziel, der wesentlichen G. aller Menschen auch gegenüber rechtl. nicht sanktionierten, aber faktisch ebenso wirksamen Unterschieden der tatsächlichen Gegebenheiten gerecht zu werden. In einem zugleich freiheitlichen System kann es dabei nicht um die G. der Ergebnisse, sondern nur um die der Chancen gehen. Insoweit ist allerdings in erster Linie die zumal im Wege der —> Gesetzgebung gestaltende Staatsgewalt gefordert. Die
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Gleichheit Bedeutung des G.ssatzes fllr die Rechtsanwendungspraxis liegt in erster Linie in der rechtsstaatl. Dimension, den Bürger vor Ungleichbehandlungen durch die Staatsgewalt zu schützen. G.sgarantien begründen keinerlei absoluten Schutz, sondern sind immer auf einen Vergleich bezogen. Damit beziehen sie sich in erster Linie auf Differenzierung, Verschiedenbehandlung durch die Staatsgewalt. Das entscheidende Problem der G.sdogmatik liegt darin, die Fälle von Verschiedenbehandlung zu ermitteln, die zumindest prinzipiell unzulässig erscheinen. Durch die Verfassung gelöst ist dieses Problem bei den Unterscheidungsverboten, die vor jeder Anknüpfung an die ausdrücklich verpönten Merkmale (praktisch wichtig v.a. das Geschlecht, gegenüber Benachteiligungen jetzt auch die Behinderung) schützen; umgekehrt liegt eine Ungleichbehandlung vor, wenn andere als die positiv vorgeschriebenen Vergleichskriterien (etwa entgegen Art. 33 Abs. 2 GG - Zugang zu öffentl. Ämtern) verwendet wurden. Schließlich bestehen auch keine Schwierigkeiten, wenn für einen bestimmten Lebensbereich die identische Behandlung aller Menschen verlangt wird, wie in gewissen Grenzen bei den wahlrechtl. G.ssätzen. Kritisch ist insoweit der allgemeine G.ssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, der auf jedes, auch das (im übrigen) nur begünstigende Verhalten der grundrechtsgebundenen Staatsgewalt in allen Teilbereichen der Rechtsordnung Anwendung findet. Denn der Satz: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" ist inhaltlich völlig offen, gibt die maßgeblichen Vergleichskriterien nicht an. Diese müssen vielmehr jeweils erst in Bezug auf den vorzunehmenden Vergleich bestimmt werden. Dabei steht angesichts der Rechtsbindung der anderen Gewalten die Kontrolle der Gesetzgebung im Mittelpunkt. Mangels allgemeingültiger Kriterien wurde schon in der Weimarer Zeit in Anlehnung an ausländische Vorbilder (USA, Schweiz) die später vom - > Bundesverfassungsge-
Gleichheit rieht übernommene Lehre entwickelt, wonach der allgemeine G.ssatz sich nur gegen die sachfremde, willkürliche Unterscheidungen richtet; neben dem Fehlen festgelegter Kriterien spielte hierbei auch die Zurückhaltung des BVerfG gegenüber dem Gesetzgeber eine Rolle. Mit der Rückführung der Maßstäblichkeit des G.ssatzes auf ein bloßes Willkürverbot wurde andererseits eine Erweiterung des G.ssatzes dahin verknüpft, daß er als grundrechtl. Schutz vor Willkür überhaupt erscheint. Konträr zur egalitären Grundaussage soll der G.ssatz auch willkürlicher Gleichbehandlung entgegenstehen. Er soll danach gebieten, wesentlich Gleiches gleich, wesentlich Verschiedenes seiner Eigenart entsprechend ungleich zu behandeln. Noch weitergehend wurde die Willkürkontrolle auch auf Fälle erstreckt, die mit zu vergleichenden Differenzierungen gar nichts zu tun haben. Die nach der Willkürformel verbleibenden gleichheitsrechtl. Bindungen zumal der Gesetzgebung hat das BVerfG seit 1980 wieder zu stärken gesucht, indem es für die Rechtfertigung der Verschiedenbehandlung von Personengruppen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht verlangt, daß sie die verschiedene Behandlung rechtfertigen können. Diese sog. neue Formel findet in erster Linie Anwendung auf Fälle persönlicher Rechtsgleichheit, während es für nicht personenbezogene Differenzierungen grds. bei der Willkürkontrolle verbleibt. Das BVerfG hat diesen Neuansatz inzwischen auf Fälle grundrechtsberührender Differenzierungen ausgedehnt und ihn insg. flexibel gestaltet. Die Anforderungen an die Rechtfertigung werden danach modifiziert, wie stark personenbezogen eine Differenzierung erscheint, wobei die Nähe der Kriterien zu denen des Diskriminierungsverbots nach Art. 3 Abs. 3 GG wichtig ist, oder danach, welche Bedeutung eine Regelung für die sonstigen Grundrechte Betroffener hat. Der G.ssatz entfaltet Bedeutung v.a., wenn der Staatsgewalt Regelungsspiel-
Gleichstellungsbeauftragte räume zur Verfügung stehen. Dies gilt in aller Regel für die Gesetzgebung, für Verwaltung und Rechtsprechung nur, soweit die für sie bindenden Gesetze ihnen Spielräume (des Ermessens, der Beurteilung) eröffnen bzw. belassen. Im übrigen wird die G.lichkeit durch die Bindung an das gleichheitliche Gesetz realisiert. Wird die Gesetzesbindung nur in bestimmten Fällen mißachtet, ist dies zugleich ein G.sverstoß. Daraus ergibt sich für die Schlechtergestellten zwar kein Anspruch auf „G. im Unrecht", doch muß sichergestellt werden, daß sie die Verletzung ihres G.srechtes abwehren können. Lit.: HdbStR V., S. 837ff.; M. Sachs (Hg.): GG, München 1996, Art. 3, S. 18ff.; R. Zippelius: Der Gleichheitssatz, in: W D S t R L 1989, S. 7ff.; G. Leibholz: Die Gleichheit vor dem Gesetz, Berlin 1925; S. Huster: Rechte und Ziele, Berlin 1993; M. Sachs: Der Gleichheitssatz als eigenständiges subjektives Grundrecht, in: FS Friauf, Heidelberg 1996, S. 309ff.
Michael Sachs
Gleichheitssatz -> Gleichheit Gleichstellungsbeauftragte / -r Bezeichnung für ein öffentl. Amt auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene, welches die Durchführung der auf dem Gleichberechtigungsgrundsatz von Frau und Mann (Art. 3 Abs. 2 GG) beruhenden Gleichberechtigungsgesetze des Bundes und der Länder überwacht (Gleichstellungsstellen). Gleichberechtigung ist von dem ebenfalls auf Art. 3 GG (—> Gleichheit) beruhenden -» Gleichbehandlungsgrundsatz zu unterscheiden und stellt eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes dahingehend dar, als er die rechtl. Gleichbehandlung der Geschlechter verlangt (Differenzierungsverbot). Demzufolge müssen Regelungstatbestände dann gleichbehandelt werden, wenn sie unter Absehung des Geschlechts der Betroffenen wesentliche Elemente gemeinsam haben, mithin gleich sind. Ist das Gegenteil der Fall, prägt also die biologische Unterschiedlichkeit von 411
Globalisierung
Globalisierung Frau und Mann den Tatbestand, so ist Differenzierung geboten. Beispiele hierfür sind -> Wehrpflicht für Männer und das Wafïïendienstverbot (Art. 12a Abs. 4 GG) fur Frauen, der -> Mutterschutz oder die Arbeitszeitbeschränkung für Frauen. Weitreichend regeln die §§ 611a, b und 612 BGB die Gleichberechtigung bei Begründung, Gestaltung (beruflicher Aufstieg) und Kündigung eines Arbeitsverhältnisses, die öffentl. oder betriebsinterne Arbeitsplatzausschreibung und die Entlohnung (Lohngleichheit). Hatte das 1. Gleichberechtigungsgesetz von 1957 die zivilrechtl. Angleichung an den Gleichberechtigungsgrundsatz geregelt, so dient das 2. Gesetz vom 24.6.1994 (BGBl. IS. 1406) v.a. der Gleichberechtigung von Frauen und Männern insbes. durch Regelungen zur Frauenförderung im öffentl. Dienst; die Bundesländer haben Gesetze mit gleicher Intention erlassen. Das -> Benachteiligungsverbot von Frauen hat zu erheblichen Veränderungen im Sozialversicherungs- und Witwen- und Waisenrecht geführt. Mit der GG-Ergänzung infolge des Einigungsvertrages vom 27.10.1994 durch Art. 3 Abs. 2 S. 3 GG („Der Staat fördert die tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin") hat der Verfassungsgesetzgeber die staatl. Verpflichtung unterstrichen, tatsächliche Gleichberechtigung herzustellen. Lit.: HdbStR V, S. 837ff.
Manuela Reuter Globalisierung Begriff G. ist ein Prozeß weltweiter, zunehmender Vernetzung von Staaten, Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Vielfältigste (Querverbindungen, Interaktionen und wechselseitige Abhängigkeiten breiten sich weltweit aus, und gleichzeitig werden sie intensiver und tiefgreifender. G. führt dazu, daß Ereignisse, Entscheidungen und Aktivitäten in einem Teil der Erde gleichzeitig bedeutende Folgen für Individuen und —> Staaten in weit entfernten Teilen der Welt 412
haben. Das bekannteste, aber bei weitem nicht einzige Beispiel ist die weltweite Vernetzung und gegenseitige Abhängigkeit der Finanzmärkte. Aspekte Der Prozeß der G. ist vielschichtig. Bisher steht der wirtschaftl. Aspekt im Vordergrund. Welthandel und Finanzmärkte werden weiter liberalisiert, internationale Konzerne werden stärker zu bestimmenden Akteuren der Weltwirtschaft. Globale, nicht länger regionale oder nationale Produktions- und Vermarktungsstrategien treten in den Vordergrund. Gleichzeitig bedeutet, daß auch der wirtschaftl. Wettbewerb globaler und damit härter wird. G. betrifft aber nicht nur die -> Wirtschaft, sondern auch die —> Politik. Die Einflußmöglichkeiten der herkömmlichen -> Nationalstaaten auf die nationale und internationale Politik werden durch die G. geringer. Eine nationale —» Arbeitsmarktpolitik z.B. ist nur noch begrenzt in der Lage, die Auswirkungen globaler wirtschaftl. Entscheidungen und Prozesse auf nationale Arbeitsmärkte abzufangen. Dasselbe gilt für nationale Steuer- oder Sozialpolitiken: Nationale —> Steuerpolitik verliert durch weltweite Steuerminimierungsstrategien global agierender Konzerne an Wirksamkeit, und nationale Sozialpolitik ist mit dem Ausgleich der sozialen Folgen der G. zunehmend überfordert, die der globale Wettbewerb hat. G. hat auch informatorische, kulturelle und ökologische Aspekte: Informationen und Nachrichten werden zunehmend stärker weltweit, nicht länger nur lokal oder national verfügbar. Kulturelle Ereignisse, Ideen und Trends überwinden mit Leichtigkeit die nationalen Grenzen. Ökologische Risiken oder Umweltkatastrophen betreffen zunehmend nicht mehr einzelne Länder, sondern Kontinente oder die ganze Welt. Ursachen Der Prozeß der G. hat im wesentlichen 2 Ursachen und Antriebskräfte: die fortschreitende Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung des Weltwirtschaftssystems einerseits und das Ende des Ost-West-Konflikts und die
Globalisierung damit verbundene Öffnung der Grenzen in Osteuropa Ende der 80er Jahre andererseits. Durch eine Vielzahl multilateraler Verhandlungen und Abmachungen insbes. durch das —> GATT - wurde das Welthandelssystem seit dem Π. Weltkrieg kontinuierlich liberalisiert. Jede der bisherigen GATT-Runden seit 1947 diente dem verstärkten Abbau von Handelsschranken und -hemmnissen in immer mehr Bereichen der Volkswirtschaften. Gleichzeitig ist ein wichtiger Wirtschaftssektor nach dem anderen privatisiert worden. Ermöglicht wurde dies durch eine Politik der —> Deregulierung, die in den wichtigsten Industriestaaten, aber auch in vielen Schwellenländem betrieben wird. Dahinter steht die marktorientierte, (neo-) liberale Auffassung, Staatsmonopole und Eingriffe des Staates in die Wirtschaft durch Normen, Regeln und Standards behinderten die Entwicklung der Wirtschaft und seien deshalb auf ein Minimum zurückzuführen. Die Wirkung der damit verbundenen Freisetzung der Marktkräfte wurde durch die polit. Umwälzungen v.a., aber nicht nur in Osteuropa verstärkt. Die meisten Reformstaaten etablieren nicht nur polit. Freiheiten, sondern auch liberale, marktwirtschaftl. orientierte Wirtschaftssysteme. Selbst autoritäre Staaten wie die Volksrepublik China liberalisieren ihre Wirtschaftssysteme und öffnen ihre Volkswirtschaften für den Welthandel. Insg. hat sich ein sich selbst beschleunigender Mechanismus etabliert, der die G. vorantreibt: Je offener und liberaler der Welthandel wird, desto größer werden die Chancen und Möglichkeiten für die Wirtschaftsuntemehmen. Gleichzeitig wird der Wettbewerb aber globaler und damit härter. Dadurch wächst der Druck auf die Unternehmen, global zu handeln, um im Wettbewerb bestehen zu können. Gleichzeitig stehen die einzelnen Staaten untereinander in einem weltweiten Wettbewerb, um sich global als Wirtschaftsstandort zu profilieren und durch möglichst günstige Investitionsbedingungen internationale Unter-
Globalisierung nehmen anzulocken. Risiken Die G. führt dazu, daß die nationalen Staaten zunehmend an Bedeutung und polit. Gestaltungsmöglichkeiten verlieren. Nationale Politiken können globale Entwicklungen weniger beeinflussen. Mit diesem Souveränitätsverlust des Nationalstaats sind Risiken verbunden. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Steuerpolitik. Untemehmenssteuem müssen i.d.R. dort gezahlt werden, wo die Unternehmenszentrale liegt. Weltweit agierende Unternehmen sind also in der Lage, ihre Steuerbelastung durch eine geschickte Auswahl des Standorts ihrer Zentrale zu minimieren. Nationale Steuerpolitik kann dieser Entwicklung nicht begegnen. Im Gegenteil, die einzelnen Staaten konkurrieren untereinander um die Ansiedlung der Unternehmen und lassen sich dadurch in einen „Wettlauf der Steuersenkung" treiben. Daraus resultiert die nur scheinbar paradoxe Tatsache, daß die Gewinne der globalen Unternehmen im letzten Jahrzehnt kontinuierlich gestiegen sind, ihre Steuerbelastung aber ebenso kontinuierlich abgenommen hat. Diese Entwicklung bedroht inzwischen - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - die finanzielle Basis der nationalen Staaten. Ebenso gravierend sind die von der G. aufgeworfenen sozialen Fragen. Die G. führt zu enormen Produktivitätsfortschritten. Gleichzeitig wird es für zunehmend global agierende Unternehmen einfacher, Arbeitsplätze kurzfristig in Länder mit niedrigeren Lohn- und Produktionskosten zu verlegen. Für die westlichen Industriestaaten hat das einen weitgehenden Abbau von Arbeitsplätzen zur Folge, dessen Ausmaß bisher noch kaum abzuschätzen ist. Die nationalen Staaten müssen die sozialen Konsequenzen dieser steigenden Massenarbeitslosigkeit tragen, ohne daß sie aber in der Lage wären, auf deren globale Ursachen polit. Einfluß zu nehmen. In dieser Zwickmühle der Sozialpolitik im Zeitalter der Globalität (U. Beck) könnten sich die Nationalstaaten leicht als überfordert erweisen.
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Globalisierung Das hätte fatale soziale Folgen: Die Verarmung weiter Teile der Gesellschaft und soziale Erosionen bis weit in die Mittelschicht hinein wären kaum aufzuhalten. Verschärft wird die Problematik durch Entsolidarisierungstendenzen, die sich in den westlichen Gesellschaften beobachten lassen. Die sozialen Probleme wachsen, gleichzeitig nimmt die Bereitschaft ab, soial Schwächeren bei der Bewältigung ihrer Probleme zu helfen. Damit ist der Kern der klassischen Sozialstaatlichkeit betroffen, nämlich die Solidarität der sozial Starken mit den sozial Schwachen. An diesem Punkt der Entwicklung würden die sozialen Verwerfungen auch zu einem Demokratieproblem. Denn -> Demokratie setzt bis zu einem gewissen Grad soziale Stabilität voraus. Die Frage: Wieviel Armut verträgt die Demokratie?, ist noch nicht endgültig beantwortet. Histor. Erfahrungen mit Demagogen und antidemokrat. Bewegungen gerade, aber nicht nur in Dtld. lassen aber Gefahren für die Demokratie jedenfalls dann befürchten, wenn die Mittelschicht verarmt. Nicht nur innenpolit., sondern auch außenpolit. ist der Souveränitäts- und Substanzverlust der nationalen Staaten mit Risiken verbunden. Die internationale Politik befindet sich in einer Obergangssituation mit den dafür typischen Gefahren. Die seit dem Π. Weltkrieg die internationale Politik strukturierenden Konstanten - Ost-West-Konflikt und NordSüd-Konflikt - haben sich aufgelöst. Die bisherigen Akteure der Weltpolitik - die einzelnen Staaten - verlieren im Prozeß der G. an Einfluß. Gleichzeitig etablieren sich neue Handlungsträger, wie etwa regionale, supranationale Zusammenschlüsse von Staaten (—> EU), informelle polit. Gremien wie etwa die —> G7-Staaten oder auch internationale Wirtschaftskonzerne oder private Vereinigungen mit öffentlichkeitswirksamer moralischer Macht (-» Greenpeace, Menschenrechtsvereinigungen). Bisher ist noch unklar, welche neuen Akteure auf Dauer Einfluß in der internationalen Politik haben und wie die
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Globalisierung Beziehungen untereinander aussehen werden. Die bisherige Struktur der Weltpolitik löst sich zunehmend auf, ohne daß sich schon eine sog. Neue Weltordnung gebildet hätte. Es gibt plausible Zukunftsszenarien, die in dieser Phase der Unsicherheit und Unübersichtlichkeit eine Zunahme von Fundamentalismus und Nationalismus vorhersagen und vor dem erhöhten Risiko regionaler, religiöser und kultureller Konflikte und Kriege warnen. Chancen und Perspektiven Neben allen Risiken birgt der Prozeß der G. auch Chancen. Die wirtschaftl. G. bietet immerhin durch eine liberalisierte und damit dynamischere, effektivere internationale Wirtschaftsstruktur die Möglichkeit erheblicher Wohlstandszuwächse und wissenschaftl.-technologischer Innovationen in bisher kaum gekanntem Ausmaß. Gleichzeitig enthält die mit der G. verbundene Neuordnung der Weltwirtschaft auch ein entwicklungspolit. Potential. Denn die Umbrüche schaffen Raum für den wirtschaftl. Aufstieg bisheriger Schwellenländer zu industrialisierten Staaten. Beispiele dafür sind besonders die Staaten des südostasiatischen Raums. Um die geschilderten Risiken zu vermeiden, ist es allerdings notwendig, daß polit., demokrat. legitimierte und verantwortliche Instanzen den Prozeß der G. steuern. Das entscheidende Problem ist nicht die G. an sich, sondern der Bedeutungsverlust der nationalen Staaten und ihre zunehmende Unfähigkeit, die unkontrolliert ablaufende G. polit, zu beeinflussen. Polit, gestalten läßt sich die G. nicht von nationalen Staaten, sondern nur von transnationalen Staatenverbindungen. Nur übernationale Zusammenschlüsse von nationalen Staaten können durch eine Bündelung ihrer Interessen und polit. Aktivitäten den internationalen Wirtschaftsuntemehmen, welche die G. vorantreiben, polit, wirksam und rechtl. verbindlich Regeln und Ziele oktroyieren. Die zentrale Perspektive für die polit. —> Steuerung der G. und ihrer Folgen liegt deshalb in einem Ausbau der transnatio-
Greenpeace
Griechenland
nalen Zusammenarbeit einzelner Staaten. Ein Beispiel dafür könnte die EU als ein vergleichsweise enger und intensiver Zusammenschluß nationaler Staaten sein. Die EU kann - und könnte in Zukunft verstärkt - ihr polit, und wirtschaftl. Gewicht als größte Handelsmacht der Welt einsetzen, um den Vorrang der Politik wiederherzustellen und auf die G. gesellschafis-, sozial- und wirtschaftspolit. gestaltend einzuwirken. Als Mitglied der EU würden die Staaten so ihre polit. Handlungsfähigkeit wiedergewinnen, die sie als einzelne Akteure in der Weltpolitik inzwischen verloren haben. In den letzten Jahren ist eine Anzahl von regionalen Wirtschaftsblöcken in Amerika, Asien und Afrika entstanden. Genannt seien nur -> MERCOSUR, -» NAFTA, -» AFTA und —> SADC. Bei allen erheblichen Unterschieden im einzelnen sind sie Beispiele und Anfänge intensiver transnationaler Zusammenarbeit, mit der einzelne Staaten versuchen, ihre polit. Gestaltungskraft im Zeitalter der G. wiederzugewinnen. Lit: E. Altvater / Β. Mahnkopf: Grenzen der Globalisierung, Münster '1997; U. Beck (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankiurt/M. 1997; ders: Was ist Globalisierung?, Frankfurt/M. 1997; Die Gruppe von Lissabon: Die Grenzen des Wettbewerbs, München 1997; H.-P. Martin /H. Schumann: Die Globalisierungsfalle, Hamburg 1996.
Volker Neßler Greenpeace G. Dtld. existiert als eingetragener —> Verein seit 1980 mit Sitz in Hamburg. Rd. 120 Festangestellte arbeiten mit mehr als 2.400 Ehrenamtlichen (-> Ehrenamtliche Tätigkeit) in 90 lokalen Gruppen zusammen. Seit 1971 setzt sich G. weltweit für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (-> s.a. Umweltschutz) ein. Gewaltfreiheit ist oberstes Prinzip. Die Organisation finanziert sich ausschließlich aus -> Spenden und ist unabhängig von Regierungen, Parteien und der Wirtschaft. 1997 nahm G. Dtld. 68,8 Mio. DM ein, wobei den größten
Anteil daran Spenden unter DM 100,ausmachten. G. International mit Sitz in Amsterdam ist der Zusammenschluß von 30 Länderbüros. Deren Vertreter bestimmen die Leitlinien der Arbeit und wählen den internationalen Vorstand. Dieser überwacht die strategische Ausrichtung der Organisation sowie die Finanzen und setzt die internationale Geschäftsführung ein. G. International finanziert die weltweite Kampagnenarbeit aus Beiträgen der einzelnen Länderbüros. 1997 betrug das Budget 48,7 Mio. DM. G. arbeitet z.Z. zu den Themenbereichen Klimaveränderung, Artenvielfalt (Ökosysteme der Wälder und Meere), Atomkraft / emeuerbare —> Energien, Erdöl, —> Gentechnik sowie Chemie. Zu den Erfolgen von G. zählen, daß seit Ende der 80er Jahre die Dünnsäureverklappung in der Nordsee verboten ist. Weiterhin bewahrt auf Inititiave von G. seit 1994 ein Walschutzgebiet um die Antarktis einen Großteil der Wale vor dem Abschuß; darüberhinaus hat G. ein Exportverbot von Giftmüll aus Industrieländern in die —> Dritte Welt erwirkt. 1995 verhinderte G. die Versenkung der ausgedienten ÖlPlattform „Brent Spar", 1996 wurde in New York ein weltweites AtomteststoppAbkommen unterzeichnet. G. zeigt mit Positivprojekten auch Alternativen auf: „Greenfreeze", der weltweit erste FCKWfreie Kühlschrank, die „Cyrus-Solaranlage" für den Strombedarf von Einfamilienhäusern und der Twingo „SmILE" als Serienauto mit halbiertem Benzinverbrauch sind Beispiele dafür. Lit: Greenpeace (Hg.): Jahresrückblick, Hamburgjährlich; Greenpeace Magazin. Hg-
Griechenland, gr. Parlament Den Status der Parlament. —> Republik hat G. seit 1973 inne, die Verfassung von 1975 wurde zuletzt 1986 geändert. 1991 erfolgte die Aufnahme G.s in die —> Europäischen Gemeinschaften. Das Einkammerparlament (—> Einkammersystem) hat mindestens 200 und höch415
Griechenland stens 300 Abgeordnete, die in einem 4Jahres-Rhythmus nach dem -> Verhältniswahlrecht direkt vom Volk gewählt werden. Aktives Wahlrecht besteht für Griechen mit Vollendung des 18. Lj.; es herrscht —> Wahlpflicht. Das passive Wahlrecht erwerben Griechen mit Vollendung des 25. Lj.; -> Staatsoberhaupt ist der Staatspräsident, der für einen Zeitraum von 5 Jahren vom Parlament mit Zweidrittelmehrheit gewählt wird. Der Staatspräsident ernennt den —»· Ministerpräsidenten und die - » Minister. Die -> Legislative liegt beim Parlament. Der Staatspräsident kann bei Gesetzesinitiativen ein suspensives -> Veto einlegen, das aber vom Parlament mit absoluter Mehrheit überstimmt werden kann. Der Präsident kann zudem -> Volksabstimmungen ausschreiben. Die Exekutive üben Staatspräsident und Regierung gemeinsam aus. Zur Durchsetzung von Verfassungsänderungen sind insg. 3 Abstimmungen durchzuführen. Zunächst sind auf Antrag von 50 oder mehr Abgeordneten im Abstand von mindestens einem Monat 2 Abstimmungen abzuhalten, in denen die angestrebte Änderung jeweils drei Fünftel der abgegebenen Stimmen erhalten muß. Die 3. Abstimmung muß vom Parlament der nächsten Legislaturperiode durchgeführt werden. Zur Annahme der Verfassungsänderung genügt hier die absolute Mehrheit der Stimmen aller Abgeordneten. Die Regierung ist dem Parlament verantwortlich. Sie kann ebenso wie einzelne Minister durch ein mit absoluter Mehrheit beschlossenes -» Mißtrauensvotum gestürzt werden. Einzelne Abgeordnete können Gesetzesinitiativen nur einbringen, wenn diese nicht zu Einnahmeverlusten oder Ausgabenerhöhungen führen. Zwischen Abgeordnetenmandat und Ministeramt sowie verschiedenen anderen Tätigkeiten besteht —> Inkompatibilität. Stärkste Kraft im Parlament ist die Panhellenische Sozialistische Bewegung, gefolgt von der konservativen Partei Neue Demokratie. Lit.: H. Döring (Hg.): Parliaments and Majority
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Große Koalition Rule in Western Europe, Frankfurt/M. 1995; W. Ismayr (Hg.): Die polit Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 619ff.
Michael Orlandini Großbritannien Verfassung, britische —» s.a. Unterhaus -> s.a. Oberhaus -> s.a. Parlamentsgeschichte, britische Große Anfrage —> Fragerecht der Abgeordneten Große Koalition Das -> parlamentarische Regierungssystem lebt vom strukturellen Dualismus zwischen -> Regierung und —» Opposition. Bilden die beiden größten miteinander konkurrierenden —> Fraktionen eine G.K., um die Parlamentsmehrheit zu erreichen, dann gilt eine solche Verbindung als Gefahr für den Parlamentarimus; sie lähmt bzw. setzt diesen Dualismus außer Kraft. Obwohl das dt. personalisierte -> Verhältniswahlrecht Koalitionsregierungen begünstigt, kam es auf Bundesebene nur einmal, von 1966 bis 1969, zur Bildung einer G.K. aus CDU/CSU und -> SPD. In den Bundesländern dagegen bildeten sich mehrfach G.K. (z.B. in —>• NordrheinWestfalen, - * Baden-Württemberg, -> Berlin und —> Thüringen). Die Befürworter sahen 1966 in der G.K.: nur ein zeitlich befristetes Bündnis mit dem Ziel, die bestehende Wirtschaftskrise zu lösen, die -> Notstandsgesetze zu verabschieden und das —> Wahlrecht zu ändern. Während dieser Zeit bestimmte ein informelles Gremium beider —> Parteien, der sog. Kressbronner Kreis, die Regierungspolitik. Im legislativen Prozeß wurde dem einzelnen Koalitionsabgeordneten wenig Parteidisziplin abverlangt, so daß er häufig auch - neben der oppositionellen —> FDP - Kritik-, Kontroll- und alternative Artikulationsfunktionen ausübte. Zwar zeigte sich die Bilanz der G.K. positiv, doch betonten beide Parteien ihre Einmaligkeit. Bis heute hat es auf Bundesebene keine Wiederholung gegeben. Lit: W. Hennis: Große Koalition und kein
Grundbuch
Großforschungseinrichtungen Ende?, München 1968; H. Knorr: Der parlament. Entscheidungsprozeß während der Großen Koalition 1966 bis 1969, Meisenheim a.G. 1975.
V. S. Großforschungseinrichtungen sind Forschungszentren von überregionaler Bedeutung mit einer erheblichen Konzentration finanzieller und personeller Ressourcen sowie apparativer Infrastuktur, z.B. Forschungsreaktoren, die vom -> Bund und einem oder mehreren —> Ländern im Verhältnis von 90:10 der Kosten finanziert werden und ein unternehmerisches Management aufweisen. In der Helmholtz-Gemeinschaft (HGF) sind 16 G. zusammengeschlossen, die regional über die gesamte BRD angesiedelt, und deren Aufgabengebiete thematisch sehr breit aufgefächert sind: das Alfred-WegenerInstitut für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven (AWI), das Dt. ElektronenSynchrotron, Hamb. (DESY), die Dt. Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt e.V. Köln-Porz (DLR), das Dt. Krebsforschungszentrum, Heidelberg (DKFZ), die Gesellschaft für Biotechnologische Forschung mbH, Braunschweig-Stöckheim (GBF), das Geoforschungszentrum, Potsdam (GFZ), das GKSS-Forschungszentrum, Geesthacht (GKSS), das GMDForschungszentrum Informationstechnik GmbH, St. Augustin bei Bonn (GMD), das GSF-Forschungszentrum für Umweltund Gesundheit, Neuherberg bei München (GSF), die Gesellschaft für Schwerionenforschung, Darmstadt (GSI), das HahnMeitner-Institut Beri. (HMI), das MaxPlanck-Institut für Plasmaphysik, Garching bei München (IPP), das Forschungszentrum Jülich (KFA), das Forschungszentrum Karlsruhe (FZK), das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Berlin-Buch (MDC) und das Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle (UFZ); (s.a. -» Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, —> Bundesforschungsanstalten, -> Blaue Liste). Lit: BMBF (Hg.): Bundesbericht Forschung
1996, Bonn 1996, S. 437.
Norbert Binder Grünbuch —> Multimediarecht Grüne Bündnis 90/ Die Grünen Grundbuch ist ein öffentl. Register, welches über Grundstücke und Rechte an Grundstücken Auskunft gibt. Die G.er werden von den Amtsgerichten gefuhrt (G.ämter). Die G.er sind für Bezirke einzurichten. Liegt ein Grundstück im Bezirk mehrerer G.ämter, so wird das zuständige G.amt nach § 5 FGG bestimmt. Das formelle G.recht ist in der Grundbuchordnung (GBO) geregelt. Jedes Grundstück erhält ein besonderes G.blatt (§ 3 GBO). Das G. gliedert sich in folgende Teile: 1. Bestandsverzeichnis (katasteramtliche Bezeichnung), 2. Abteilung I (Eigentumsverhältnisse), 3. Abteilung Π (dingliche Belastungen mit Ausnahme der Grundpfandrechte) und 4. Abteilung ΠΙ (Grundpfandrechte wie Hypothek, Grundschuld, Rentenschuld). Grds. dürfen im G. nur Eintragungen erfolgen, die durch -> Rechtsnorm vorgeschrieben oder zugelassen sind. Regelmäßig folgt aus der Eintragungsfähigkeit auch die Eintragungsbedürftigkeit. Einsicht in das G. ist jedem gestattet, der ein berechtigtes Interesse darlegt (§ 12 GBO). Es kann auch eine Abschrift verlangt werden. Das G. spiegelt die tatsächliche Rechtslage wider. Eine rechtsgeschäftliche Änderung eines Rechts an Grundstükken wird nur mit der Eintragung ins G. wirksam. Deshalb gibt es eine gesetzliche Vermutung für seine Richtigkeit und Vollständigkeit (§ 891 BGB). Das wiederum führt dazu, daß das G. öffentl. Glauben genießt. Zugunsten desjenigen, welcher ein Recht an einem Grundstück oder ein Recht an einem solchen Rechte durch Rechtsgeschäft erwirbt, gilt nämlich sein Inhalt als richtig, es sei denn daß ein Widerspruch gegen die Richtigkeit eingetragen ist oder dem Erwerber die Unrichtigkeit positiv bekannt ist (§ 892 BGB).
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Grunderwerbsteuer
Grundgesetz
Eine Eintragung ins G. setzt grds. einen Antrag und die einseitige Bewilligung des Betroffenen voraus (§§ 13, 19 GBO). Zusätzlich ist im Falle der Bestellung, Änderung oder Übertragung eines Erbbaurechts die Einigung der Parteien nachzuweisen. Das Rangverhältnis unter mehreren Rechten, mit denen ein Grundstück belastet ist, bestimmt sich nach der Reihenfolge der Eintragungen, oder wenn die Rechte in verschiedenen Abteilungen eingetragen sind, nach dem Tag der Eintragung (§ 879 BGB). Zur Sicherung eines Anspruchs auf eine Rechtsänderung kann eine Vormerkung im G. eingetragen werden. Weiteres Sicherungsmittel ist die Eintragung eines Widerspruchs (gegen gutgläubigen Erwerb). Lit.: Κ. Haegele / Η. Schöner / Κ. Stöber: Grundbuchrecht, München 111997.
übernommenen sonstigen Leistungen und der dem Verkäufer evtl. eingeräumten Nutzungen. Im Einzelfall ist der Einheitswert anzusetzen. Das G.gesetz sieht einige Steuerbefreiungen bzw. Steuervergünstigungen vor, so z.B. für den Erwerb geringwertiger Grundstücke von Todes wegen, den Erwerb eines zum Nachlaß gehörenden Grundstücks durch Miterben zur Teilung des Nachlasses oder beim Grundstückserwerb im öffentl. Interesse. Für die Heranziehung zu dieser Verkehrsteuer kommt jede natürliche oder jurist. Person oder Personenmehrheit, die ein Grundstück zu Eigentum besitzen kann, in Betracht. Das Aufkommen an G. steht den Bundesländern zu. Lit.: L. Haberstock: Einführung in die betriebswirtschaftl. Steuerlehre, Hamburg ®1997.
K.F.
Karlheinz Hösgen Grunderwerbsteuer Gegenstand der G. sind Verkehrsvorgänge (Erwerbsvorgänge) in bezug auf inländische Grundstücke. Insbes. wenn das -> Eigentum oder zumindest die wirtschaftl. Verfügungsmacht an einem inländischen Grundstück auf eine andere Rechtsperson übergeht, wird diese besondere Verkehrsteuer erhoben. Das G.gesetz definiert für die Zwecke der G einen eigenen Grundstücksbegriff. Darunter fallen a) die unbebauten Grundstücke (sog. Grund und Boden), b) die bebauten Grundstücke (Grund und Boden mit Bauwerken), c) die dinglich gesicherten Sondemutzungsrechte, d) die Erbbaurechte und e) Gebäude auf fremdem Boden. Da die G. auch solche Verkehrsvorgänge erfaßt, bei denen der Erwerber dem Veräußerer kein Entgelt zahlt, benennt das G.gesetz 2 Bemessungsgrundlagen: a) den Wert der Gegenleistung und b) den Wert des Grundstücks. Die —> Steuer vom Wert des Grundstücks darf jedoch nur berechnet werden, wenn eine Gegenleistung nicht vorhanden oder nicht zu ermitteln ist. Beim Kauf gilt als Gegenleistung der Kaufpreis einschließl. der vom Käufer
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Grundfreibetrag Der -» Einkommensteuer unterliegen Steuerpflichtige erst dann, wenn das zu versteuernde Einkommen den G. betragsmäßig überschreitet. Diese Grenze findet sich in den Vorschriften des § 32a zum Einkommensteuertarif im jeweils gültigen Einkommensteuergesetz. Die bis einschließl. 1992 geltenden Regelungen wurden durch Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 25.9.1992 verworfen. Ab 1993 sind bei der Einkommensbesteuerung Erwerbsbezüge in Höhe eines am Sozialhilferecht orientierten Existenzminimums steuerfrei zu belassen. Um diesem Beschluß Rechnung zu tragen wurde der G. (bis 1992: 5.616 / 11.232 DM) ab 1993 stufenweise angehoben. Er beträgt 1997 für Alleinstehende 12.095 DM - für nicht dauernd getrennt lebende Ehegatten, verdoppelt sich der G. auf 24.191 DM. Im Jahr 1998 steigt der G. auf 12.365 / 24.731 (ab 1999: 13.067/26.135 DM) an. Β. V. Grundgesetz 1. Allgemeines Das GG vom 23.5.1949 ist die zunächst als Provisorium gedachte, inzwischen zur dauerhaften Ordnung erstarkte —> Verfassung der —>
Grundgesetz Bundesrepublik Deutschland. Der rasche Neubeginn staatl. Ordnung nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes (-> Nationalsozialismus) und dem vorangegangenen Niedergang der Weimarer Republik war nur möglich, weil das GG an die in der Tradition europ. Rechtskultur stehende dt. Verfassungsentwicklung des 19. und des frühen 20. Jhd.s anknüpfen konnte. Das GG versteht und legitimiert sich als rechtl. Gnindordnung der BRD, d.h. als Rahmenordnung, die materiale Gehalte und organisatorische Grundregeln festlegt, an denen sich die staatl. —> Organe sowie die gesellschaftl. Mächte auszurichten haben. Als solche ist es im Laufe der Jahrzehnte zur einheitsstiftenden Kraft der Deutschen geworden (-> Verfassungspatriotismus). 2. Entstehung Nach den gescheiterten Außenministerkonferenzen der Siegermächte verständigten sich die USA, Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Staaten im Frühjahr 1948 über eine von einer westdt. verfassunggebenden Versammlung zu erarbeitende Verfassung für einen dt. Teilstaat. Die Militärgouverneure der 3 Westmächte erläuterten den -» Ministerpräsidenten der westdt. Länder die Empfehlungen der Sechs-MächteKonferenz und überreichten ihnen die sog. Frankfurter Dokumente vom 1.7.1948 zur Stellungnahme. Das wichtigste dieser Dokumente enthielt eine Ermächtigung, spätestens zum 1.9.1948 eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen mit dem Auftrag, eine demokrat. Verfassung auszuarbeiten, die eine „Regierungsform des föderalistischen Typs" schaffen sollte. Die Ministerpräsidenten kamen nach dreitägigen Beratungen zu dem Entschluß, die ihnen erteilte Ermächtigung grds. anzunehmen, betonten jedoch, daß es sich, solange eine Verfassung für ganz Dtld. nicht erreichbar sei, nur um ein Provisorium handeln dürfe. Das sollte darin zum Ausdruck kommen, daß statt einer verfassunggebenden Versammlung ein -> Parlamentarischer Rat einberufen und statt einer „Verfassung" ein GG geschaffen
Grundgesetz werden sollte. Damit erklärten sich die Westalliierten einverstanden. Der am 1.9.1948 in Bonn zusammengetretene, aus 65 gewählten Abgeordneten der 11 westdt. Länder bestehende Parlament. Rat stützte sich bei seinen Verfassungsberatungen auf einen von Verfassungsexperten, dem „Herrenchiemseer Verfassungskonvent", vorgelegten Verfassungsentwurf und eine allgemeine Darstellung von Richtlinien für ein GG. In achtmonatigen Verhandlungen wurde das „Grundgesetz für die BRD" ausgearbeitet. Zu seinen kennzeichnenden Leitgedanken zählen die —> Demokratie, der —> Rechtsstaat mit besonderer Betonung unantastbarer —» Grundrechte und der —> Gewaltenteilung, das —> parlamentarische Regierungssystem mit einer starken Stellung der —> Bundesregierung, eine ausgeprägte —> Verfassungsgerichtsbarkeit sowie ein betont föderalistischer Staatsaufbau (-» Bundesstaat, -> Föderalismus). Vereinzelte Eingriffe der Militärgouverneure in die Beratungen zugunsten einer stärker akzentuierten föderalistischen Ordnung führten zu ernsthaften Krisen, in denen sich nach zähen Verhandlungen der Parlament. Rat durchsetzen konnte, so daß das GG als ein genuin dt. Werk anzusehen ist. Am 8.5.1949 nahm der Parlament. Rat das GG mit 53 gegen 12 Stimmen an. Da die Besatzungsmächte noch im Besitz der obersten Gewalt in Dtld. waren, bedurfte das GG zu seiner Wirksamkeit der Genehmigung der 3 westlichen Militärgouvemeure. Diese wurde am 12.5.1949 allerdings unter gewissen Vorbehalten erteilt, die sich insbes. auf die Regelungen erstreckten, welche die Zugehörigkeit -> Berlins zur BRD zum Inhalt hatten. Zum Inkrafttreten des GG bedurfte es ferner der Zustimmung von zwei Dritteln der westdt. -> Landtage (Art. 144 Abs. 1). Die Abstimmungen erbrachten in allen Landesparlamenten mit Ausnahme —> Bayerns Mehrheiten für das GG; doch bekräftigte der Bay. Landtag in einer zweiten Abstimmung ausdrücklich die Zugehörigkeit Bay. s zur BRD.
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Grundgesetz 3. Aufbau und Inhalt Das GG trägt einen eher bewahrenden Charakter und begreift sich in der Kontinuität der vorangegangenen Verfassungen von 1849 (—> Paulskirchenverfassung), 1867/71 (-> Deutsches Reich 1871-1918) und 1919 (-> Weimarer Reichsverfassung), ohne freilich auf einzelne Neuerungen zu verzichten, die aus leidvollen Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime und dem Niedergang der —> Weimarer Republik erwachsen sind. Das GG gliederte sich ursprünglich in 11 Abschnitte, denen im Laufe der Zeit 3 weitere hinzugefügt wurden. Die Einteilung ist indessen nicht immer konsequent beibehalten worden, so daß sich Überschneidungen und Friktionen ergeben, die das Aufsuchen der einschlägigen Regelungen gelegentlich erschweren. Dem 1. Abschn. über die Grundrechte folgt deijenige über den —> Bund und die -» Länder; die Abschnitte EI bis VI behandeln die obersten —» Staatsorgane. Anschließend werden die Staatsfunktionen geregelt (Abschn. VU bis IX). Es folgen die Abschnitte über das Finanzwesen (X) und den Verteidigungsfall (Xa) sowie Übergangs- und Schlußbestimmungen (XI). Bewußt stellte der Parlament. Rat - im Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung - die Grundrechte an den Anfang, weil ein glaubhafter Neubeginn rechtsstaatl. und liberaldemokrat. Ordnung Menschenwürde in den Mittelpunkt zu stellten hat, deren Unantastbarkeit vom Staat zu achten und zu schützen ist (Art. 1 Abs. 1 GG). Es schließt sich das Bekenntnis an „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage der menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" (Art. 1 Abs. 2 GG). Vor diesem Hintergrund gewinnt der staatl. Auftrag zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde seine spezifische Bedeutung: Er konstituiert, prägt und legitimiert den heutigen Verfassungsstaat, der als höchste Entscheidungs- und Wirkungseinheit den Rechtsfrieden und die 420
Grundgesetz -> Freiheit aller gewährleisten soll. Die Grundrechte, die in Art. 1-19 und in Art. 33, 38 sowie Art. 101-104 des GG geregelt sind, gewähren dem Einzelnen nicht nur unmittelbar geltende subjektive Rechte, sondern enthalten auch objektive Prinzipien der Verfassungsordnung (—» Verfassung, -> Recht). Als solche binden sie alle Staatsgewalt, auch den Gesetzgeber. Sie können bei den zuständigen —> Gerichten durchgesetzt werden (Art. 19 Abs. 4 GG). Nach Erschöpfung des Rechtsweges kann der Einzelne, der sich in seinen Grundrechten verletzt fühlt, —> Verfassungsbeschwerde beim -> Bundesverfassungsgericht einlegen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Im 2. Abschn. sind die Verfassungsgrundsätze der -> Republik, der Demokratie, des Rechts- und des Bundesstaates verankert, denen die -» Landesverfassungen entsprechen müssen (Art. 28 GG). Sie gehören zum Kembestand des GG, der auch durch -» Verfassungsänderung nicht aufgehoben werden darf (Art. 79 Abs. 3 GG). Normiert sind femer besondere Aspekte des Bund-Länder-Verhältnisses sowie zentrale Verfassungsaussagen, wie das Verbot von Angriffskriegen (Art. 26 GG) und die Einbeziehung der allgemeinen Regeln des -> Völkerrechts als Bestandteil des -» Bundesrechts (Art. 25 GG). Eine Neuerung des GG ist die Regelung der Stellung der polit. —> Parteien in Art. 21 GG. Das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, —> Volkssouveränität), ist nicht nur zu Parlamentswahlen, sondern auch zu —> Abstimmungen aufgerufen (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), die das GG - nach den negativen Erfahrungen in der Weimarer Republik - allerdings allein auf Fragen der Neugliederung des Bundesgebietes begrenzt (Art. 29). Die Vorschriften über die obersten Staatsorgane orientieren sich noch weitgehend an den Vorbildern der konstitutionellen Verfassungen des 19. Jhd.s (-* Konstitutionalismus) und berücksichtigen die veränderten gesellschaftl. Verhältnisse der
Grundgesetz modernen Massengesellschaft zu wenig. Allenfalls die negativen Erfahrungen in der Weimarer Republik haben ihren Niederschlag im GG gefunden: So bekennt sich das GG zu einem abgeschwächten Parlament. Regierungssystem, in dem der - > Bundeskanzler und mit ihm die —> Bundesminister nur unter erschwerten Bedingungen abgelöst werden können durch das sog. konstruktive Mißtrauensvotum (Art. 67 GG). Andererseits ist eine Auflösung des - > Bundestages nur in Ausnahmefällen möglich (Art. 63 Abs. 4 S. 3 und Art. 68 GG, - » Parlamehtsauflösung). Die Stabilität des heutigen Regierungssystems gründet sich indessen kaum auf diese Regelungen, auch nicht so sehr auf die Befugnis des Bundeskanzlers zur Bestimmung der - » Richtlinien der Politik (Art. 65 S. 1 GG), sondern v.a. auf das stabile Parteiengefüge sowie auf das gegenwärtige —> Wahlsystem und auf die Wahlentscheidungen der Bürger, die in ihrer Mehrheit radikalen Parteien eine Absage erteilt haben. Eine wichtige Scharnierfunktion im Zusammenwirken von Bund und Ländern übt der - > Bundesrat als föderatives Bundesorgan aus. Über ihn haben die —> Landesregierungen teil an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und können kontrollierend und korrigierend auf die Bundesregierung und den Bundestag einwirken, so daß die zunehmende Konzentration von Aufgaben beim Bund dadurch abgeschwächt werden kann. Im Unterschied zum Reichspräsidenten der Weimarer Republik besitzt der —> Bundespräsident keine herausragenden Befugnisse mehr. Die Furcht vor einem Abgleiten des Regierungssystems in ein Präsidialregime hat hier die Feder geführt. Daran erinnert das heute obsolete Institut der Präsidentenanklage (Art. 61 GG). Ungleich bedeutsamer ist die starke Stellung des Bundesverfassungsgerichts, das über alle verfassungsrechtl. Streitigkeiten gem. Art. 93 GG zu entscheiden hat. Der in Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG verankerte Vorrang der Verfassung vor allen
Grundgesetz anderen Normebenen und Normgebern soll durch die weitgespannten Zuständigkeiten dieses Gerichts geschützt und gewährleistet werden. Dabei entsteht allerdings die Gefahr, daß das BVerfG in das Ringen der polit. Handlungsorgane um verbindliche Entscheidungen hineingezogen wird zum Schaden der Rechtsprechung. Gemäß dem Prinzip der Gewaltenteilung werden die Aufgaben der —> Gesetzgebung, der —> Regierung und —> Verwaltung sowie der Rechtsprechung j e besonderen Staatsorganen übertragen. In der bundesstaatl. Ordnung des GG werden diese Aufgaben noch einmal geteilt zwischen solchen des Bundes und solchen der Länder (vertikale Gewaltenteilung). Das bedingt eine detaillierte Regelung über die Zuständigkeitsverteilung. Sie ist für die Gesetzgebung in den Art. 70fT., für die vollziehende Gewalt in den Art. 83ff. GG und für die Rechtsprechimg in den Art. 92ff. GG niedergelegt. Der Bundestag als Hauptgesetzgebungsorgan ist teils ausschließlich zuständig (Art. 71, 73 GG), teils konkurriert er mit den Landesparlamenten (Art. 72, 74, 74a GG), teils erläßt er Rahmengesetze, die von den Landtagen näher ausgestaltet werden können (Art. 75 GG). In allen Fällen wirkt der Bundesrat bei der Gesetzgebung mit: In begrenztem Umfang ist seine Zustimmung erforderlich (Zustimmungsgesetze); im übrigen kann er Einspruch gegen ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz erheben (Einspruchsgesetze) - Art. 77, 78 GG. Während bei Einspruchsgesetzen das —> Veto des Bundesrates durch Beschluß des Bundestages zurückgewiesen werden kann (Art. 77 Abs. 4 GG), führt bei Zustimmungsgesetzen die Verweigerung des Bundesrates zum Scheitern des Gesetzes. Zur Beilegling von Auffassungsunterschieden zwischen Bundestag und Bundesrat ist ein gemeinsamer paritätisch besetzter —> Vermittlungsausschuß gebildet worden (Art. 77 GG). Auf dem Gebiet der vollziehenden Gewalt werden im Regelfall die Länder tätig: Sie
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Grundgesetz fuhren die Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten aus, soweit das GG nichts anderes bestimmt oder zuläßt (Art. 83 GG). In begrenztem Umfang sind daneben 3 andere Formen der Gesetzesausführung vorgesehen: die Wahrnehmung der Verwaltungsaufgaben durch die Länder im Auftrag des Bundes (Art. 85 GG), durch bundeseigene -> Behörden oder durch rechtl. selbständige —> Körperschaften oder —• Anstalten des öffentlichen Rechts (Art. 86 GG). Auch die Rechtsprechung ist nach dem GG schwerpunktmäßig Sache der Länder (Art. 92 GG). Als Gerichte des Bundes fungieren neben dem BVerfG (Art. 94, 93 GG) und den obersten Gerichtshöfen des Bundes (Art. 95 GG) spezielle in Art. 96 GG aufgeführte —> Bundesgerichte. Sache der Gerichte ist es, Streitentscheidungen nach Maßgabe des Rechts zu fällen. Zur Sicherung dieser Aufgabe ist es erforderlich, die sachliche und persönliche Unabhängigkeit der -> Richter (Art. 97 GG), das rechtl. Gehör der Prozeßbeteiligten (Art. 103 Abs. 1 GG) und gesetzlich geordnete Verfahren zu gewährleisten. Die komplizierte —> Finanzverfassimg regelt das Steuer- und das Haushaltswesen (Art. 104äff. GG). Die Einnahmen aus den —> Steuern müssen vollständig erfaßt und ordnungsgemäß verwaltet werden, was durch den jährlich aufzustellenden -> Bundeshaushaltsplan geschieht bzw. ermöglicht wird (Art. 110 GG). Ober die Einhaltung der Haushaltsansätze wacht der —> Bundesrechnungshof durch regelmäßige Kontrollen (Art. 114 GG). Die Verteilung der Steuereinnahmen auf Bund, Länder und Gemeinden erfolgt im einem besonders geregelten -> Finanzausgleich (Art. 106, 107 GG). 4. Weiterentwicklung des GG Wenn auch das GG in den über 40 Jahren seines Bestehens schon 42 mal geändert worden ist, so ist es doch in seinem Kern erhalten geblieben. Von den vielen Änderungen haben nur 3 substantiellen Charakter, von denen 2 nachträgliche Einfügungen von z.Z. der Entstehung des GG inopportunen,
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Grundgesetz aber auf Dauer notwendigen Verfassungsbestandteilen sind: Die Wehrverfassung (1954/1956) und die —• Notstandsverfassung (1968). Eine große Fortentwicklung des GG betraf die Wirtschafts- und Finanzverfassung (1967/1969), dagegen sind die durch die Wiedervereinigung bedingten Veränderungen (—> Deutsche Einheit) von geringerem Gewicht (Verfassungsnovelle von 1994). Die Wehrverfassungsnovellen ermöglichen die Aufstellung von Streitkräften (—> Wehrdienst), die in die rechtsstaatl. demokrat. Gesamtverfassung eingefügt sind. Den Oberbefehl über die —> Bundeswehr hat der Bundesverteidigungsminister inne (Art. 65a GG), im Verteidigungsfall geht die Befehls- und Kommandogewalt auf den Bundeskanzler über (Art. 115b GG). Die Streitkräfte dürfen außer zur Verteidigung nur eingesetzt werden, soweit das GG es ausdrücklich zuläßt (Art. 87a Abs. 2 GG). Als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlement. Kontrolle über die Bundeswehr wird ein -> Wehrbeauftragter berufen. Die 1968 in das GG eingefügte Notstandsverfassung sucht mit einem Bündel rechtl. Bestimmungen dem äußeren Notstand (bewaffneter Angriff von außen) und dem inneren (Naturkatastrophen, schwerste Unglücksfälle, innerer Aufruhr, Bürgerkrieg) zu begegnen, unter weitgehender Wahrung der Normalverfassung. Von besonderem Gewicht ist die Vorsorge für den äußeren Notstand, den Verteidigungsfall (Art. 115a ff, 87a Abs. 3 GG), und für den ihm vorgelagerten Spannungsfall (Art. 80a GG). Mit der Notstandsverfassung ist zugleich das —> Widerstandsrecht der Bürger (Art. 20 Abs. 4 GG) als letztes Mittel zur Verteidigimg der -> freiheitlich demokratischen Grundordnung in das GG aufgenommen worden. Die große Finanzverfassungsreform von 1969 hat zu einer neugestalteten Verteilung der Lasten und Steuereinnahmen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden geführt (Art. 104a ff. GG), für die -> Einkommen- und die -> Körperschaftssteuer
Grundgesetzänderung
G rundpflichten
einen Steuerverband zwischen Bund und Ländern begründet (Art. 106 NF GG) und den Finanzausgleich zwischen leistungsfähigen und leistungsschwachen Ländern ausgebaut (Art. 107 NF GG). Das Haushaltsverfassungsrecht wurde neueren Entwicklungen angepaßt (Art. 109,110 GG). 5. Ausblick In der seit über 4 Jahrzehnten bestehenden BRD hat sich das GG bewährt und als tragfähige rechtl. Grundlage von Staat und Gesellschaft der Gegenwart erwiesen. Trotz z.T. heftiger polit. Auseinandersetzungen (um die Wiederbewaffnung, die Westintegration, die Notstandsverfassung und die neue Ostpolitik) hat es - im Unterschied zur Weimarer Republik - in der BRD keine Verfassungskrisen gegeben. Alle Regierungsbildungen haben sich nach den Regeln des GG vollzogen; auch die Wechsel der Regierung zur —> Opposition sind reibungslos vonstatten gegangen. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß das GG angesichts vielfältiger gesellschaftl - insbes. wirtschaftl. und sozialer - Umbrüche vor neuen Herausforderungen steht. Hinzu treten die Veränderungen des grundgesetzlichen Gefüges durch das Fortschreiten der europ. Integration, welche die —> Europäische Gemeinschaft allmählich aus dem Status einer zwischenstaatl. Einrichtung herauswachsen läßt und ihr mehr und mehr den Charakter eines eigenen Staates verleiht. Lit: HdbStR.; Hesse; K. Kröger: Einführung in die Verfassungsgeschichte der BRD, Manchen 1993; Maunz / Zippelius\ Stern I, II, IIIi und III.
Klaus Kröger Grundgesetzänderung -> Verfassungsänderung Grundlagenvertrag —> Deutsche Demokratische Republik Grundmandats-Klausel Das —> Bundeswahlgesetz enthält neben der —> FürifProzent-Klausel alternativ die Regelung, daß an der Verteilung der nach Landesli-
sten zu besetzenden Sitze auch polit. —> Parteien berücksichtigt werden, die in mindestens 3 Wahlkreisen des Wahlgebietes (BRD) einen Sitz errungen haben (§ 6 Abs. 6 BWG). Danach kann eine Partei auch mit weniger als 5% der Zweitstimmen auf Bundesebene in den BT einziehen, falls sie bundesweit 3 Direktmandate erlangt hat (z.B. —> PDS bei der Bundestagswahl 1994 mit 4 Wahlkreismandaten). Die G. beinhaltet eine Erleichterung für kleinere Parteien, die örtliche oder regionale Schwerpunkte besitzen. Die Regelung ist vom —> Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 10.4.1997 für verfassungskonform erklärt worden (BVerfGE 95, 408ff). IV. Sch. Grundpflichten 1. G. sind Pflichten des Einzelnen gegenüber dem -» Staat oder der Gemeinschaft, die im Verfassungsrecht eines Staates verankert sind. Teilw. wird neben diesem formellen G.begriff auf materielle Elemente abgehoben, so etwa darauf, daß es sich um Pflichten von herausragender Bedeutung für das Gemeinwesen handeln müsse, die den einzelnen in besonderem Maße belasten. Klassische Beispiele für G. bilden die Rechtsgehorsamspflicht, die Steuerpflicht und die -> Wehrpflicht. Soweit die Pflichten lediglich an die -> Staatsbürger und nicht an jedermann gerichtet sind, spricht man von Bürgerpflichten. Neben der Wehrpflicht zählt hierher etwa die —> Wahlpflicht, die heute allerdings nur noch selten in demokrat. —> Verfassungen zu finden ist (vgl. z.B. Art. 62 Abs. 3 der belg. Verfassung von 1994, durch den die Regelung des Art. 48 Abs. 3 der Verfassung von 1831 beibehalten wurde). Die Erweiterung der Grundrechtskataloge um sog. -> soziale Grundrechte ging mit der Herausbildung neuer G. einher, die Ausdruck der Tendenz sind, erweiterte Anspruchspositionen des Einzelnen jedenfalls teilw. durch die Möglichkeit einer erhöhten Inpflichtnahme zu kompensie-
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Grundpflichten ren. Hierher gehören etwa die Pflicht zu arbeiten oder die Pflicht, die Umwelt zu schützen. Derartige Pflichten normieren im europ. Ausland z.B. die portugiesische Verfassung von 1976 (Art. 58 und 66 Abs. 1 ) und die spanische Verfassung von 1978 (Art. 35 und 45), in Dtld. etwa die hess. Verfassung von 1946 (Art. 28), die bay. Verfassung von 1946 (Art. 141 und 146) und die sachsen-anhaltinische Verfassung von 1992 (Art. 35). Da in diesen Fällen die G. mit sozialen Rechten korrespondieren (z.B. Recht auf Arbeit / Pflicht zu arbeiten), spricht man auch von sozialen G., was nicht darüber hinwegtäuschen soll, daß auch die herkömmlichen G. einen sozialen Bezug aufweisen. Das Bonner —> Grundgesetz deutet soziale Pflichten in einigen Bestimmungen an (vgl. insbes. die in Art. 14 Abs. 2 verankerte Sozialbindung des —> Eigentums und die in Art. 6 Abs. 2 niedergelegte Erziehungspflicht der Eltern), ist im übrigen auch bei den klassischen G. äußerst zurückhaltend; lediglich die Wehrpflicht und andere Dienstverpflichtungen werden in einem besonderen, erst 1968 in das GG eingefügten Art. geregelt (Art. 12a). 2. Die Begriffs- und Theoriegeschichte der G. ist aufs engste mit der der -> Grundrechte verbunden. Unter den Naturrechtslehrem des 18. Jhd.s hatte namentlich Christian Wolff die Rechte des Menschen in einem wechselbezüglichen Verhältnis zu seinen Pflichten gesehen, ja die Rechte aus den Pflichten hergeleitet (ex obligatione ius oritur). Johann G. H. Feder stellte um 1770 die Grundrechte erstmals ausdrücklich den G. gegenüber, verwendete beide Begriffe freilich nicht im modernen positivistischen Sinne; als staatsrechtl. Begriff tauchte der Ausdruck der G. erst in den Verfassungsberatungen der Paulskirche (1848 —• Paulskirchenverfassung) auf. In der ersten Welle des —> Konstitutionalismus war es die frz. Verfassimg von 1795, welche in der vorangestellten „Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen und der Bürger"
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Grundpflichten einen Katalog von G. statuierte. Die Pflichten erscheinen hier indes von den Rechten gliederungsmäßig und inhaltlich getrennt. Die übrigen frühen Erklärungen über die -> Menschen- und -> Bürgerrechte normieren die G. nur punktuell, d.h. ohne eine systematische Verknüpfung mit den Grundrechten. Eine systematische Verschränkung zwischen Rechten und Pflichten der Untertanen findet sich indes häufig in den Grundrechtskatalogen des dt. Frühkonstitutionalismus (vgl. z.B. die Verfassungsurkunde fllr Bay. von 1818 oder die Verfassungsurkunden für Kurhessen und Sachs, von 1831). Zu einer den Grundrechten gleichgeordneten und streng wechselbezüglichen Kategorie materieller Verfassungsnormen stiegen die G. später in den sozialistischen Staatsverfassungen auf. Gemäß der marxistisch-leninistischen Lehre von der Einheit der Rechte und Pflichten in der sozialistischen Gesellschaft stellte z.B. bereits die sowjetische Verfassung von 1918 dem Recht auf Arbeit die Arbeitspflicht gegenüber und verband die DDRVerfassung von 1974 das Recht der DDRBürger auf Mitgestaltung des polit., wirtschaftl., sozialen und kulturellen Lebens der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates mit einer entsprechenden Verpflichtung derselben (-» Sozialismus). Bei Grundrechten, denen nicht ausdrücklich eine Pflicht zugeordnet ist, wird eine pflichtgemäße Ausübung i.S. der Ziele der sozialistischen Gesellschaft durch entsprechende Schutzbereichsdefinitionen erreicht. So wird etwa die Vereinigungsfreiheit nur zu bestimmten Zwecken der gesellschaftl. Mitgestaltung gewährleistet. In demokrat.-rechtsstaatl. Verfassungen, die wie z.B. die -> Weimarer Reichs Verfassung von 1919 ebenfalls die G.dimension betonen (Überschrift des Zweiten Hauptteils: „Grundrechte und G. der Deutschen"), fehlt es an einer entsprechenden Finalisierung der Grundrechtsausübung. 3. Auch was den rechtl. Gehalt anbetrifft, dürfen die G. im demokrat. -> Verfas-
Grundpflichten sungsstaat nicht mit den G. in den sozialistischen Staaten in eins gesetzt werden: Weder ist der Genuß der Rechte grds. abhängig von der Pflichterfüllung gegenüber der Gemeinschaft, noch ist die Ausübung von Rechten Pflicht. In diesem Sinne spricht man von einer Rechte- und Pflichten-Asymmetrie im freiheitlichen Verfassungsstaat. Aus den verfassungsrechtl. verankerten G. können zudem unmittelbar keine eizwingbaren Rechtspflichten erwachsen. Notwendig ist vielmehr in aller Regel eine gesetzliche Konkretisierung. Dies schließt nicht aus, daß G. als Auslegungskriterium Bedeutung gewinnen. Auch geben sie dem Gesetzgeber zu erkennen, daß bestimmte gesetzliche Verpflichtungen der Bürger im Rahmen der Konkretisierung der Grundrechtsschranken zulässig sind. Die Statuierung einer G. kann jedoch nur dann als bindende Verpflichtung des Gesetzgebers gedeutet werden, Bürger in die Pflicht zu nehmen, wenn die Verfassungsnorm einen hinreichend konkreten Gesetzgebungsauftrag enthält. Ansonsten eröffnen G. dem Gesetzgeber lediglich grundrechtsverträgliche Optionen einer Inpflichtnahme. 4. Abgesehen von den somit eher geringen unmittelbaren Rechtswirkungen weisen G. eine sozialethische Dimension auf. Den Bürgern soll verdeutlicht werden, daß sie nicht nur Rechte gegenüber dem Staat und der Gemeinschaft haben, sondern auch selbst zum Erhalt der Grundlagen des Gemeinwesens einen Beitrag leisten sollen. Was die sog. sozialen G. (z.B. Pflicht zur Arbeit, Pflicht zur Gesunderhaltung) anbetrifft, so passen sie eher in Verfassungen, die den status positivus, d.h. die Rechte des Bürgers auf Leistungen des Staates betonen, weniger in Verfassungen, deren Rechtekataloge sich im wesentlichen auf den status negativus, d.h. die Verankerung von Abwehrrechten gegenüber dem Staat beschränken. Unter dem Gesichtspunkt der Integrationsfunktion der Verfassung erscheint daher die Ausdifferenzierung von G. dort
Grundrechte konsequent, wo auch die grundlegenden Aufgaben und Leistungen des Staates im einzelnen benannt werden. Sanktionieren kann der Gesetzgeber die nicht durch Unvermögen oder Unmöglichkeit bedingte Nichterfüllung sozialer G. durch den (teilw.) Entzug sozialer Leistungen. Lit.: V. Götz: Grundpflichten als verfassungsrechtl. Dimension, in: WDStRL 1983, S. 7ff.; H. Hofmann: Grundpflichten als verfassungsrechtl. Dimension, in: WDStRL 1983, S. 42ff.; HdbStR V, S. 321ff; O. Luchterhandt: Grundpflichten als Verfassungsproblem in Dtld., Berlin 1988; D. Merten: Grundpflichten im Verfassungssystem der BRD, in: BayVBl. 1978, S. 554ff.; R. Stober: Grundpflichten und GG, Berlin 1979. Karl-Peter Sommermann
Grundrechte Moderne -> Verfassungen enthalten als ihren materiellen Kern grundrechtl. Gehalte, die vor dem Hintergrund menschenrechtl. Postulate die grundsätzliche Stellung des einzelnen in dem verfaßten Staatsverband festlegen. Die G. sind damit Teil der das konkrete Staatswesen konstituierenden, sein Wesen prägenden Gesamtentscheidung, seiner Verfassung. Die Wurzeln der heutigen G. reichen ideengeschichtl. bis in die antike Philosophie zurück. Später gelangte das —> Naturrecht zur Annahme gewisser, zunächst kaum sanktionierter Bindungen des Herrschers mit Rücksicht auf zentrale Persönlichkeitsgüter des einzelnen auf der Grundlage eines Herrschafts- oder Gesellschaftsvertrages. Im geschriebenen —> Recht finden sich erste Vorläufer der G. in den ständischen und städtischen Rechts- und Freiheitsgarantien des europ. Mittelalters, wie der engl. Magna Charta von 1215. Der Durchbruch zu Grundrechten im modernen Sinne, die auf —> Freiheit und -> Gleichheit aller Menschen aufbauen, gelang anläßlich der Unabhängigkeit der nordamerik. Kolonien zunächst mit der —• Virginia bill of rights von 1776. In Europa brachte 1789 die Frz. Revolution die Déclaration des droits de l'homme et du citoyen hervor.
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Grundrechte Im dt. Raum besaßen die Kataloge von Rechten (und Pflichten) der Untertanen in den Verfassungen der einzelnen Staaten des -» Deutschen Bundes seit 1818 noch kaum praktische Bedeutung. Auf gesamtdeutscher Ebene sollten die 1849 in die dann gescheiterte Reichsverfassung aufgenommenen „G. des dt. Volkes" über diesen Stand hinausführen. Immerhin lebte manches vom Ideengut der -> Paulskirchenverfassung in neuen oder ergänzten Verfassungen der Einzelstaaten weiter. Nach 1867 wurden die meisten Grundrechtsfelder (nur) durch Reichsgesetze näher ausgestaltet. So blieb es der -> Weimarer Reichsverfassung von 1919 vorbehalten, den ersten, recht umfangreichen verfassungsrechtl. Grundrechtskatalog auf gesamtstaatl. Ebene zu verwirklichen. Im -> Nationalsozialismus wurden diese G. teilw. sehr bald ausdrücklich außer Kraft gesetzt, im übrigen aber jedenfalls der Sache nach jeder Bedeutung beraubt. Die Regelung der G. in den vor dem GG erlassenen —» Landesverfassungen knüpfte weitgehend an das Vorbild der WRV an. Die von den Alliierten verlangte Aufnahme von G.n in das -> Grundgesetz stieß zunächst auf Bedenken aus Gründen des Föderalismus und des provisorischen Charakters der Verfassung. Gleichwohl entschloß sich der -> Parlamentarische Rat - wie schon der Herrenchiemseer Konvent - zur Aufnahme eines an der Spitze des GG gestellten Grundrechtskatalogs, der unter weitgehendem Verzicht auf sog. Lebensordnungen v.a. die liberalen Freiheitsrechte enthielt und diese für die gesamte Staatsgewalt ftlr verbindlich erklärte; zum Schutz der G.ssubstanz wurde auf allgemeine Begrenzungsklauseln verzichtet. Im GG finden sich G. v.a. in Abschn. J . Die Grundrechte" (Art. 1-19 GG). Sachlich gehören auch die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG aufgezählten Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103, 104 GG, soweit sie die Rechtsstellung des einzelnen betreffen, als grundrechtsgleiche Rechte hierher. Als
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Grundrechte grundrechtsähnliche Bestimmungen sind sonstige materiell vergleichbare Bestimmungen (wie Art. 21 Abs. 1 S. 2, Art. 48, 102, 140 GG) anzusprechèn. Außer im GG finden sich grundrechtl. Gewährleistungen auf weiteren Ebenen, innerstaatl. namentlich in den —> Landesverfassungen. Supranational hat der —> Europäische Gerichtshof mittlerweile ein vom -> Bundesverfassungsgericht als dem GG gleichwertig bewertetes Arsenal von G.n des —> Europarechts entwickelt. Hinzu kommen internationale —> Menschenrechte, die nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der -> Vereinten Nationen in weltweiten und regionalen Vertragswerken auch im -> Völkerrecht zunehmend verbindlich festgeschrieben sind. Die G. sind als Bestimmungen des Verfassungsrechts Rechtsnormen, deren Rechtsfolgeanordnungen grds. strikte normative Verbindlichkeit beanspruchen. Art. 1 Abs. 3 GG stellt dies heute ausdrücklich klar, indem er die G. als unmittelbar geltendes Recht qualifiziert. Die Auslegung der G. folgt grds. den allgemeinen Regeln jurist. Interpretation, muß aber angesichts der offenen Fassung der Bestimmungen in hohem Maße auf außerrechtl. Einflüsse Rücksicht nehmen. Dabei sind Verengungen, insbes. durch ein einseitig vorgeprägtes Menschenbild, zu vermeiden. Ebensowenig ist es möglich, die G. allgemein im Lichte einer inhaltlich in bestimmter Richtung festgelegten G.stheorie, etwa einer nur liberal-rechtsstaatl., sozialstaatl. oder demokrat.-funktionalen Sichtweise, zu verstehen. Vielmehr können solche Ansätze nur als Elemente einer prinzipiell möglichen multifunktionellen Bedeutungsvielfalt bei der Interpretation berücksichtigt werden, soweit dies der Bedeutung der jeweiligen G.sbestimmung gerecht wird. Neben ihren primären, strikt verbindlichen Rechtsfolgeanordnungen werden den G.sbestimmungen (terminologisch irreführend so bezeichnete) „objektive" G.sgehalte zugeschrieben, die durch ihre
Grundrechte abgeschwächte, nur grundsätzliche Geltungskraft gekennzeichnet sind. Hierzu werden schon die überkommenen Einrichtungsgarantien, namentlich die institutionellen Garantien des -> öffentlichen Rechts (z.B. -» Berufsbeamtentum, Art. 33 Abs. 5 GG) und die Institutsgarantien des —> Privatrechts (z.B. —> Ehe, -> Eigentum und —> Erbrecht, Art. 6 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG), gezählt, die den Fortbestand überkommener Nonnkomplexe und durch sie geregelter Lebensverhältnisse (nur) in ihren wesensbestimmenden Kemelementen sichern. Zu den (erst) in der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur entwickelten „objektivrechtl." G.sgehalten gehört zunächst die sog. Ausstrahlungswirkung, die den Einfluß bezeichnet, den die Gnmdrechtsbestimmungen auf die Bedeutung von Bestimmungen aller Rechtsbereiche ausüben, und unter deren Einwirkung auch der Gesetzgeber steht. Als Variante der Ausstrahlungswirkung erscheinen Konsequenzen, die sich aus betroffenen materiellen G.sbestimmungen v.a. für Auslegung und Anwendung, aber auch für die Gestaltung des Verfahrens- und Organisationsrechts ergeben. Schließlich werden die grds. für alle Abwehrrechte in Betracht zu ziehenden Schutzpflichten zu den objektiven Grundrechtsgehalten gerechnet, die zum Schutz der Integrität der grundrechtl. Schutzgegenstände verpflichten. Vor allem aus dem unmittelbar verbindlichen primären Normgehalt der G. ergeben sich regelmäßig zugleich subjektive (Grund-)Rechte unterschiedlicher Struktur. Dominierend sind dabei im Rahmen des GG grundrechtl. Abwehrrechte, die dem Berechtigten (als sog. status negativus) die Integrität der Schutzgegenstände seiner G. sichern. Für den Fall von Störungen sind mit Abwehrrechten flankierende Hilfsrechte wesensmäßig verbunden, nämlich negatorische Ansprüche, die sich auf die Beseitigung bestehender und auf die Unterlassung bevorstehender Störungen richten. Nur ausnahmsweise
Grundrechte bestehen nach dem GG Leistungs(grund)rechte (des sog. status positivus), die Ansprüche auf staatl. Handeln inhaltlich beliebiger Art beinhalten. Grundrechtl. begründete Leistungspflichten legen regelmäßig weder die Voraussetzungen noch den Inhalt der Leistungen abschließend fest. Im einzelnen geht es um sozialstaatl. Unterstützung und Förderung von Grundrechtsbetätigung, femer v.a. um staatl. Schutz sowie um Verfahrenshandlungen verschiedenster Art. Konkretere Leistungspflichten können sich unter Gleichheitsaspekten im Hinblick auf die Teilhabe an knappen staatl. Leistungen ergeben. Schließlich sind als wichtige Elemente des sog. status activus die staatsbtlrgerl. Bewirkungs- und Mitwirkungsrechte, wie Wahl- und Stimmrechte, zu nennen. G.sberechtigt sind regelmäßig alle Menschen; doch sind wichtige G., namentlich die nach Art. 8 Abs. 1, 9 Abs. 1,11 Abs. 1, 12 Abs. 1, 16 Abs. 2, 20 Abs. 4, 33 Abs. 1 und 2 GG den Deutschen (i.S.d. Art. 116 GG) vorbehalten. Ausländer genießen in diesen Bereichen (nur, aber immerhin) G.sschutz aus allgemeineren Bestimmungen, zumal Art. 2 Abs. 1 GG. Nach Art. 19 Abs. 3 GG gelten die G. femer für inländische jurist. Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind. Danach bleiben jurist. Personen des öflentl. Rechts prinzipiell vom Grundrechtsschutz ausgeschlossen; Ausnahmen gelten zumal für öffentl.rechtl. Religionsgesellschaften (—> Kirchen), -> Hochschulen und -» Rundfunkanstalten. G.sgebunden ist nach Art. 1 Abs. 3 GG die gesamte Staatsgewalt in allen Erscheinungsformen, namentlich auch die Gesetzgebung; diese hat freilich zugleich die Aufgabe, grundrechtl. Lebensbereiche auszugestalten. Keine unmittelbar verpflichtende Wirkung entfalten die G. gegenüber anderen Privatpersonen (sog. (unmittelbare) Drittwirkung); diese werden allein durch die Regeln des Privatrechts gebunden, die allerdings durch die 427
Grundrechte Ausstrahlungswirkung der G. beeinflußt werden (sog. mittelbare Drittwirkung). Der verwaltende Staat kann sich bei Erfüllung öffentl. Aufgaben der G.sbindung auch durch eine Flucht in privatrechtl. Formen nicht entziehen; bei privatrechtl. Geschäften zur Bedarfsdeckimg und bei rein wirtschaftender Verwaltung hingegen wird seine Bindung an die G. überwiegend verneint. In ihrer im GG vorherrschenden Bedeutung als Abwehrrechte verbieten die G. Beeinträchtigungen der vielfältigen Schutzgüter (v.a. Freiheiten, materielle und immaterielle Persönlichkeitsgüter, einschließl. der —> Gleichheit, sonstige Rechtspositionen). Dies richtet sich in erster Linie gegen den sog. klassischen, imperativen G. seingriff als Grundfall rechtfertigungsbedürftiger, aber auch rechtfertigungsfähiger G. seinwirkungen. Weitergehend erfaßt der G.sschutz Fälle „faktischer" und / oder „mittelbarer" Beeinträchtigungen; während als Mindestvoraussetzung die Kausalität des Staatshandelns für den Beeinträchtigungserfolg anerkannt ist, bestehen über die Anforderungen im übrigen noch viele Unklarheiten. G.sbeeinträchtigungen sind begrifflich streng von den G.sbegrenzungen zu unterscheiden. Diese führen tatbestandlich zu weit gehende G.sgewährleistungen auf der Ebene der grundrechtl. Maßstabsbildung auf das im Ergebnis gewollte Maß zurück und bringen so gegenüber den grundrechtl. geschützten Individualinteressen Belange des —> Gemeinwohls zur Geltung. Dafür enthält das GG keine allgemeine Regelung. Die wichtigste Form der G.sbegrenzung sind vielmehr den einzelnen G.sbestimmungen beigefügte -> Gesetzesvorbehalte; diese begründen mit oder ohne besondere Anforderungen Möglichkeiten der G.seinschränkung durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes. Probleme ergeben sich daraus, daß nach der Ausgestaltung der Begrenzungsregelungen im einzelnen nicht immer die Rechtfertigung selbst unabweisbar not428
Grundrechte wendig scheinender Einschränkungen ermöglicht wird. Da G. nur auf der gleichrangigen Verfassungsebene Begrenzungen erfahren, können G.sbegrenzungen nur aus anderen, nicht primär auf G.sbegrenzung gerichteten Verfassungsbestimmungen abgeleitet werden; dabei geht die Judikatur teilw. recht pauschal vor. Für aufgrund von G.sbegrenzungen zulässige G.seinschränkungen stellt das GG allgemeine Anforderungen auf. Hierzu gehören das Einzelfallgesetzverbot, das Zitiergebot und die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 1 und 2 GG. Dazu treten weitere Anforderungen aus dem -> Rechtsstaatsprinzip. Zentrale materielle Hürde für alle G.seinschränkungen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; wichtig sind ferner der Bestimmtheitsgrundsatz und der Vertrauensschutz. Überhaupt müssen grundrechtsbeschränkende Gesetze im übrigen in jeder Hinsicht formell und materiell der Verfassung entsprechen. Die in Art. 18 GG im Rahmen der wehrhaften -» Demokratie geregelte G.sverwirkung bei Mißbrauch der G. zum Kampf gegen die —> freiheitliche demokratische Grundordnung hat bislang keine praktische Bedeutung erlangt. Über die vorstehend skizzierten Allgemeinen G.slehren hinaus kann die Bedeutung der G. nur mit Rücksicht auf die einzelnen G.sgarantien erfaßt werden. Dabei stehen für den parlement. Bereich die wahlrechtl. G.sgarantien im Vordergrund, für den staatsbürgerlich-partizipativen Kontext sind daneben von besonderer Bedeutung die für polit. Aktivitäten nutzbar zu machenden Freiheiten zumal der Meinungsäußerung (—> Meinungsfreiheit) und Information (einschließl. Presse, Rundfunk usw.), -> Versammlungs- und -> Vereinigungsfreiheit, insbes. auch zu polit. —> Parteien und arbeitsrechtl. Koalitionen, sowie das Petitionsrecht, ferner die einschlägigen Elemente der Gleichheitsrechte; andere wichtige G.sgarantien betreffen die Schutzgüter —> Asyl, —> Beruf, -> Glaubens- und Gewissensfreiheit, -> Eigentum, —> Recht auf
Gruppe
Grundrechtsverwirkung Leben und körperliche Unversehrtheit. Besondere Bedeutung hat schließlich die —> Rechtswegegarantie. Lit.: R. Alexy: Theorie der Grundrechte, BadenBaden 1985; KA. Bettermann u.a.: Die Grundrechte, 6 Bde., Berlin 1954ff.; E.-W. Böckenßrde: Giundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: NJW 1974, S. 1529ff; HdbStR V; J. Ipsen: Grundrechte, Neuwied 1997; B. Pieroth / B. Schlink: Grundrechte - Staatsrecht II, Heidelberg "1997; G. Seidel: Handbuch der Gmndund Menschenrechte auf staatl., europ. und universeller Ebene, Baden-Baden 1996; Stern III 1 und 2.
Michael Sachs Grundrechtsverwirkung Die G. gehört zu den Sicherungen der -> freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie bedeutet, daß sich der von der Verwirkung Betroffene nicht mehr auf die verwirkten —» Grundrechte berufen kann; von diesem Zeitpunkt an entfällt für ihn der Schutz dieser Grundrechte. Die G. gilt nur für die in Art. 18 des —> Grundgesetzes aufgezählten Grundrechte (-> Meinungsfreiheit, insbes. die Presse-, die Lehr-, die —» Versammlungs-, die Vereinigungsfreiheit, das -> Brief-, Post- und Femmeldegeheimnis, das Eigentum oder das —> Asylrecht) und wird vom —> Bundesverfassungsgericht festgestellt. Praktische Bedeutung hat sie bislang nicht erreicht. K.-R. T. Grundschule -> Schule
stücke; dieses sind die wirtschaftl. Einheiten des Grundvermögens. Soweit Betriebsgrundstücke zu dieser Vermögensart gehören, stehen sie dem Grundvermögen gleich. Auf diesen Teil des Grundbesitzes wird die sog. G. Β erhoben. Grds. ist es für die Besteuerung unerheblich, wem der Steuergegenstand gehört. Die Befreiungsmöglichkeiten sind eng begrenzt. Lediglich der Grundbesitz bestimmter Rechtsträger, soweit er von ihnen zu bestimmten Zwecken benutzt wird, ist von der G. befreit. Dazu zählen u.a. die hoheitlichen Tätigkeiten inländischer —> juristischer Personen des öffentlichen Rechts oder religiösen bzw. gemeinnützigen Zwecken dienende Grundbesitz (-> s.a. Gemeinnützigkeit). Die Bemessungsgrundlage der G. ist der Einheitswert des Grundbesitzes, welcher für den jeweiligen Veranlagungszeitpunkt maßgeblich ist. Da es sich bei der G. um eine Realsteuer handelt, wird die Steuerschuld durch Multiplikation des Einheitswertes des Grundbesitzes mit einer Meßzahl und Anwendung eines festzusetzenden -> Hebesatzes auf den Meßbetrag ermittelt. Die Höhe des Steueraufkommens kann von den Gemeinden aufgrund des ihnen zustehenden Rechts zur Festsetzung von Hebesätzen beeinflußt werden. Die G. wird für ein Kalendeijahr oder einen längeren Zeitraum festgesetzt und durch GrSt-Bescheid mitgeteilt. Lit: L. Haberstock: Einführung in die betriebswirtschaftl. Steuerlehre, Hamburg '1997.
K.F. Grundsteuer Die G. ist eine bundesrechtl. geregelte, objektbezogene Realsteuer auf im Inland liegenden Grundbesitz, die den Gemeinden zufließt (—> Steuern). Steuergegenstand sind die folgenden wirtschaftl. Einheiten: a) Betriebe der Land- und Forstwirtschaft; soweit BetriebsgrundstUcke dazugehören, sind sie dem land- und forstwirtschaftl. Vermögen gleichgestellt. Dieses gilt jedoch nur, wenn sie keine Betriebsgrundstücke sind. Auf diesen Teil des Grundbesitzes wird die sog. G. A erhoben, b) Grund-
Gruppe / -n, parlamentarische Für die Bildung von -> Fraktionen ist i.d.R. eine Mindeststärke vorgeschrieben. Im —» Bundestag beträgt diese 5% der Mitglieder. Erreichen zusammenschlußwillige —> Abgeordnete diese Zahl nicht, kann der Bundestag sie nach § 10 Abs. 4 GOBT als Parlament. G. anerkennen. Aus dem G.nstatus resultieren zunächst keine Rechte über jene hinaus, die jedes einzelne G.nmitglied als fraktionsloser Abgeordneter besitzt. Vielmehr legt der Bundestag
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Gruppenrechte
Haager Internationaler Gerichtshof
jeweils separat fest, inwieweit die G. dem geschäftsordnungsrechtl. und finanziellen Status der Fraktionen angenähert werden soll. Nachdem es in den ersten 3 Wahlperioden zu sporadischen G.nbildungeii infolge von Fraktionsabspaltungen gekommen war, wurde diese Möglichkeit erst wieder nach 1990 relevant. Aus der ersten gesamtdt. Bundestagswahl gingen -» PDS/LL mit 17 sowie -> Bündnis 90/Die Grünen mit 8 Abgeordneten hervor, 1994 erzielte die PDS 30 —> Mandate. In allen Fällen wurde durch Bundestagsbeschluß der G.nstatus zuerkannt und eine Reihe von Rechten eingeräumt, insbes. hinsichtlich der finanziellen Ausstattung, der Initiativrechte im —> Plenum sowie der Antrags-, Rede- und Stimmrechte in den -> Ausschüssen. Eine Klage der PDS vor dem —> Bundesverfassungsgericht auf volle Anerkennung als Fraktion blieb erfolglos. Das Gericht bestätigte zudem die Angemessenheit der gewährten G.nrechte. Wenn ein —> Parlament seine Aufsplitterung und die -> Obstruktion seiner Arbeit verhindern können soll, muß es im Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie liegen, unter Berücksichtigung des Schutzes parlement. —> Minderheiten Status und Rechte von Gruppierungen unter Fraktionsgröße je nach polit. Lage zuzuerkennen und auszugestalten. Letztendlich ist das Nichterreichen der Fraktionsmindeststärke und damit das Verfehlen parlament. Privilegien als Fraktion Ergebnis des demokrat. Wählervotums. Lit.: R. Kassing: Das Recht der Abgeordnetengruppe, Berlin 1988; H. G. Ritzel / J. Bücker: Handbuch für die parlament. Praxis, Frankfurt/M. 1982ff.
Suzanne S. Schüttemeyer Gruppenrechte
Gruppe
GUS —> Gemeinschaft Unabhängiger Staaten
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Haager Friedenskonferenz Die H.F.en von 1899 und 1907 waren das Resultat gegenläufiger polit. Tendenzen. Auf der einen Seite stand ein starker imperialistischer -> Nationalismus, auf der anderen Seite die aufstrebende Idee des Pazifismus und der Herrschaft des (Völker-)Rechts. Vor diesem Hintergrund befaßten sich die Konferenzen v.a. mit Fragen des Kriegsrechts, der Abrüstung (Verbot bestimmter Waffen) und der Entwicklung von Verfahren zur friedlichen Streitbeilegung. An der 1. H.F. vom 18.5. bis 22.7.1899 nahmen 26 Staaten teil (neben den europ. Staaten waren das China, Japan, Mexiko, Persien, Thailand und die USA). Die 2. H.F., mit der die Ergebnisse der 1. Konferenz überprüft und weiterentwickelt werden sollten, fand zwischen dem 14.6. und dem 18.10. 1907 mit nunmehr 42 teilnehmenden Staaten (hinzugekommen waren insbes. die südamerik. Staaten) statt. Beide Konferenzen hatten jeweils eine Schlußakte zum Ergebnis, mit je einer Reihe von Konventionen und Erklärungen als Anhang, die allerdings nicht alle ratifiziert wurden. Bedeutendstes Ergebnis beider Konferenzen ist die —> Haager Landkriegsordnung. Lit: JM. Mössner: Hague Peace Conferences of 1899 and 1907, in: R. Benihadt (Hg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. 2, Amsterdam 1995, S. 67Iff.
J.B. Haager Internationaler Gerichtshof Der IGH, wie sein Vorgänger, der Ständige IGH (1922-1946) in Den Haag ansässig, stellt nach Art. 92 der Charta der -> Vereinten Nationen deren Hauptrechtsprechungsorgan dar. Seine 15 —> Richter entscheiden völkerrechtl. Streitigkeiten zwischen Staaten, die allein klagebefugt sind, und erstatten der Generalversammlung, dem Sicherheitsrat und anderen Organen oder Sonderorganisationen der Vereinten Nationen völkerrechtl. Gutachten. Kein —> Staat ist verpflichtet, an Verfahren vor dem IGH teilzunehmen.
Hamburg
Haager Landkriegsordnung Dieser wird vielmehr erst tätig, wenn die Streitparteien sich darauf geeinigt haben, ihn anzurufen. Allerdings kann ein Staat sich generell der Gerichtsbarkeit des IGH unterwerfen; hiervon ist jedoch nur wenig Gebrauch gemacht worden. Die Durchsetzung der Entscheidungen des IGH, der bei Streitigkeiten über Grenzziehungen besonders erfolgreich tätig geworden ist, obliegt dem Sicherheitsrat (Art. 94 der Charta). J.S.
Haager Landkriegsordnung Die HLKO genauer: das Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18.10.1907 nebst der dem Abkommen beigefügten Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs sind das herausragende Ergebnis der beiden -> Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907. Die HLKO geht zurück auf die nie ratifizierte Brüsseler Erklärung von 1874 über die Gesetze und Gebräuche des Krieges. Hauptzweck der HLKO war die Kodifizierung bestimmter Regeln der Landkriegsführung mit dem Ziel, „die Leiden des Kriegs zu mildern" (Präambel). Im 1. Abschn. der KLKO geht es um die handelnden bzw. betroffenen Personen (Kriegsführende, Kriegsgefangene, Kranke und Verwundete). Der 2. Abschn. befaßt sich mit der Art und Weise der Durchführung des Krieges (Mittel zur Schädigung des Feindes, Belagerungen und Beschießungen, Begriff und Behandlung von Spionen, —> Parlamentären, sowie die Kapitulation und den Waffenstillstand). Der 3. Abschn. widmet sich schließlich der militärischen Besetzung fremden Gebietes und dabei zu beachtenden Regeln. Die Grundsätze der HLKO haben universelle Akzeptanz und damit völkergewohnheitsrechtl. Geltung erlangt. Lit: I. Seidl-Hohenveldern: Völkerrecht, München '1997, §§ 96-100. J.B.
Hamburg Die Freie und Hansestadt H. ist ein -» Land der -> Bundesrepublik
Deutschland mit ca. 1,7 Mio. Ew. auf einer Fläche von ca. 750 qkm (Einwohnerdichte also ca. 2.300 / qkm). Sie stellt zusammen mit -> Berlin und —> Bremen den Typ des Stadtstaates dar, der die Funktionen von Land und —> Kommune miteinander vereinigt. Nach der -> Landesverfassung (Art. 4 Abs. 1) werden in H. staatl. und gemeindliche Tätigkeit nicht getrennt. H.s Rolle im —> Bundesrat (3 Stimmen) ist auch von der Vertretung der kommunalen Interessen, insbes. derer der großen -> Städte geprägt. Beim Länderfinanzausgleich gehört H. zu den Geberländern, obwohl die finanzielle Situation des Landes schlecht ist. Andererseits genießt H. (zusammen mit Beri, und Brem.) bei der Ermittlung der Grundlagen des -> Finanzausgleiches insoweit ein Sonderrecht, als die Einwohnerzahlen der anderen Länder mit 100%, die dieser Stadtstaaten jedoch mit 135% gewertet werden. Das polit. System H.s war noch bis vor kurzem durch einige Besonderheiten gekennzeichnet, die andere —> Verfassungen nicht enthalten, insbes. das Prinzip der kollegialen Regierung, die Nebenamtlichkeit des Abgeordnetenmandats und verschiedene Gremien wie den Bürgerausschuß - eine Art Notparlament -, den Beamtenernennungsausschuß und die Deputationen, durch die das Volk an der -» Verwaltung mitwirken soll (Art. 56). Ferner bestanden Sonderrechte des -> Senats bei der Gesetzgebung (Einspruchsrecht gegen von der —> Bürgerschaft beschlossene Gesetze, Art. 50 a.F., sowie Einfluß auf die Terminierung der zweiten Lesung von Gesetzen, Art. 49 Abs. 2 S. 3 und 4 a.F.). Erst durch die Verfassungsänderungen von Mai / Juni 1996 wurde die H.er Verfassung so umgestaltet, daß sie nunmehr dem Normaltyp einer Landesverfassung im -> parlamentarischen Regierungssystem entspricht. Dem Ersten -> Bürgermeister, der dem -> Ministerpräsidenten der anderen Länder entspricht, wurden das Recht zur -> Ernennung von Senatoren und die —> Richt-
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Hamburg linienkompetenz eingeräumt (Art. 34 und 42 n.F.)· Die —> Abgeordneten haben seitdem die Wahl, ob sie ihrem Beruf weiter nachgehen oder sich auf das -> Mandat konzentrieren wollen (Art. 13 n.F.). Bürgerausschuß und Beamtenernennungsausschuß sowie die Besonderheiten bei der Gesetzgebung wurden abgeschafft, die Deputationen jedoch nach kritischer Diskussion beibehalten. H. kennt keine —» Landesgrundrechte, sondern nur —> Staatszielbestimmungen (in der -> Präambel und in Art. 3 Abs. 1 ). Als Aufgabe der —> Staatsgewalt ist nur die Förderung der —• Gleichstellung von Frauen und Männern hervorgehoben (Art. 3 Abs. 2 S. und 3). Die grundlegenden Bekenntnisse in der Präambel stammen außer der 1986 eingefügten Umweltschutzklausel aus der Urfassung von Juni 1952. Sie betonen den Geist des -> Friedens und der Völkerverständigung und die Verbindung der polit. -> Demokratie "mit den Ideen der wirtschaftl. Demokratie". Im einzelnen werden in diesem Zusammenhang u.a. einerseits Förderung und Lenkung der Wirtschaft, andererseits Freiheit des Wettbewerbs und genossenschaftliche Selbsthilfe genannt. Als Elemente unmittelbarer Demokratie wurden 1996 Volksinitiative, —> Volksbegehren und -> Volksentscheid eingeführt (Art. 50 n.F.). Auch Volkspetitionen sind neuerdings zulässig (Art. 25c). Die besondere Stellung der -» Opposition wurde in H. schon durch eine Verfassungsänderung von 1971 anerkannt (Art. 23a). Ebenfalls wurde seinerzeit das Auskunfts- und Aktenvorlagerecht einer -> Minderheit in der Bürgerschaft und ihren —> Ausschüssen eingeführt (Art. 32). Die Trennung von —> Regierung und —> Parlament ist in Art. 38a dadurch betont, daß Senatoren kein Bürgerschaftsmandat ausüben dürfen, dieses vielmehr während der Amtszeit als Senator ruht (-» Inkompatibilität). Die Berufsrichter werden in H. auf Vorschlag eines —> Richterwahlausschusses ernannt, dem Senatsvertreter, „bürgerl. Mitglieder", Richter
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Hamburg und Rechtsanwälte angehören. Das H.ische Verfassungsgericht fungiert als Staatsgerichtshof. Als Untergliederungen der - » Landesverwaltung bestehen in H. —> Bezirke, denen „die selbständige Erledigung übertragener Aufgaben obliegt" (Art. 4 Abs. 2). Als Vertretungskörperschaften fungieren direkt gewählte Bezirksversammlungen, deren Kompetenzen seit Jahren Gegenstand heftiger polit. Auseinandersetzungen sind. Der Senat kann allgemein und im Einzelfall Weisungen an die Verwaltungsbehörden erteilen und Angelegenheiten selbst erledigen, auch soweit eine Fachbehörde oder ein Bezirksamt zuständig ist ( § 1 Abs. 4 Gesetz über Verwaltungsbehörden und 45 Abs. 1 Bezirksverwaltungsgesetz). Das zuletzt genannte „Evokationsrecht" spielt in der Praxis durchaus eine Rolle. Dem Senat ist es bisher gelungen, seine zentrale Entscheidungskompetenz gegen abweichende Tendenzen der Bezirke durchzusetzen. Die rechtl. Grundlagen der Bezirksverwaltung sind in der Vergangenheit mehrfach geändert worden, aber nach wie vor existieren darüber große Meinungsverschiedenheiten. Wie sich die Wende vom „Feierabendparlament" zur „Berufsbürgerschaft" auswirken wird, ist noch ungewiß. Bedeutsamer ist aber die Frage, ob sich die staatl. Selbständigkeit H.s angesichts der immer stärker werdenden europ. Verflechtungen und der Notwendigkeit großräumiger Planung wird bewahren lassen. Starke Kräfte auch innerhalb H.s plädieren inzwischen für einen „Nordstaat" aus H., -> Schleswig-Holstein und Nord-Niedersachsen. Als kurzfristige Perspektive dient das Entwicklungskonzept für die Metropolregion H., das in den letzten Jahren erarbeitet worden ist. IM.: K. David: Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg. Komm., Stuttgart 1994; W. Hoffmann-Riem / H.-J. Koch (Hg.): Hamburgisches Staats- und Verwaltungsrecht, Frankfurt/M. 2 1998; W. Hoffinann-Riem (Hg.): Bericht der Enquete-Kommission "Parlamentsreform", BadenBaden 1993; Stadtstaaten-Kommission: Berlin -
Hammelsprung
Handelsrecht
Bremen - Hamburg, Berlin 1989.
Hans Peter Bull Hammelsprung Der H. ist eine besondere Art der —> Abstimmung im —> Bundestag, bei der die Stimmen ausgezählt werden, ohne daß das Abstimmungsverhalten jedes —> Abgeordneten im Stenographischen Bericht vermerkt wird (§ 51 GOBT). Die Auszählung der Stimmen nach dem H. verfahren kann vom —• Bundestagspräsidenten insbes. dann angeordnet werden, wenn eine Abstimmung mittels Handzeichen oder durch Aufstehen und Sitzenbleiben zu keinem eindeutigen Ergebnis führt. Die Abgeordneten verlassen dann den Sitzungssaal und betreten ihn wieder durch 3 Türen, die mit „Ja", „Nein" und „Enthaltung" gekennzeichnet sind. Die —> Schriftführer zählen die durch die jeweilige Tür gehenden Abgeordneten laut. Der scherzhafte Begriff soll auf eine mythologische Darstellung über einer der Abstimmungstüren des Reichstagssitzungssaals zurückgehen, bei welcher der Schafhirte Polyphem die Tiere seiner Herde zählte, indem er sie zwischen seinen Beinen durchlaufen ließ. Das H.-verfahren verliert national wie international wegen des Übergangs zu computergestützten Abstimmungsverfahren (z.B. Art. 118, 120 GO des ->· Europäischen Parlaments) zunehmend an Bedeutung. Lit: H. Borgs-Maiejewski: Parlamentsorganisation: Institutionen des Bundestages und ihre Aufgaben, Heidelberg 51986 S. 25f.
T. S. Handbuch des Deutschen Bundestages, Amtliches ist das umfassende Nachschlagewerk über den —> Bundestag und hat gegenwärtig ca. 1.500 Seiten. Herausgegeben wird es vom Bundestag selbst, bearbeitet von der —> Bundestagsverwaltung. Auf Kosten des Bundestages ist es in allen öffentl. Büchereien verfügbar. Das H. ist in der 2. -> Wahlperiode gebunden erschienen, seit· der 3. —> Legislaturperiode ist es in Loseblattform er-
hältlich. In der 1. Wahlperiode gab es nur eine nichtamtliche Ausgabe, die als unveränderter Nachdruck noch im Handel ist. Seit der 11. Wahlperiode ist das H. in 2 Teile gegliedert: Teil 1 enthält die rechtl. Grundlagen des Parlaments, z.B. das Grundgesetz, das -> Abgeordnetengesetz, die —> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages und parlamentsinteme Vorschriften. Außerdem sind umfangreiche Informationen zum Ergebnis der Bundestagswahlen wiedergegeben. Vor allem -» Fraktionen und —> Ausschüsse finden sich im Kapitel über Aufbau und Gliederung des Parlaments. Die biographischen Angaben der —» Abgeordneten, die sämtlich abgebildet sind, stellen den Kern des H. dar. Teil 2 enthält die Veröffentlichungspflichtigen Angaben der Abgeordneten. § 44a AbgG schreibt vor, daß sich der Bundestag -> Verhaltensregeln (der Abgeordneten) gibt, die Bestimmungen enthalten müssen über „die Veröffentlichung von Angaben im Amtlichen Handbuch". Demgemäß sind z.B. Angaben über berufliche Tätigkeiten zu machen. S.H. Handelsrecht Als H. bezeichnet man diejenigen Normen (—> Gesetze, —> Verordnungen, nationale und internationale Handelsbräuche), die für die Kaufleute gelten (Sonderrecht für Kaufleute). Es gilt grds. nicht für Handwerker, die Angehörigen der sog. Freien Berufe und Privatpersonen. Das H. ist Teil des —> Zivilrechts. Hauptgesetz für das H. ist das Handelsgesetzbuch (HGB), das am 1.1.1900 in Kraft getreten ist. In den ersten 4 Büchern wird u.a. die formale Seite des H.s (Definition des Kaufmannsbegriffs, Regelungen hinsichtlich des Handelsregisters und der Firmierung), das Recht des Prokuristen und des Handlungsbevollmächtigten, das Recht der kaufmännischen Angestellten, die Tätigkeit der Handelsvertreter, Handelsmakler, Spediteure, Frachtführer, Kommissionäre und Lagerhalter, die Personenhandelsgesellschaften (OHG, KG),
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Handelsrecht
Hare/Niemeyer
die stille Gesellschaft, das Recht der handelrechtl. Bilanzierung und die handelsrechtl. bedingten Abweichungen gegenüber dem Zivilrecht, insbes. bei der Abwicklung von Kaufverträgen zwischen Kaufleuten geregelt. Hier wird auf eine Reihe von Schutzvorschriften, die sich im —> Bürgerlichen Gesetzbuch befinden, verzichtet, weil der —> Gesetzgeber unterstellt, daß es sich um geschäftserfahrene Beteiligte handelt. In 5. Buch wird der gesamte Seehandel einschließl. Reederei behandelt. Zum H. gehören als verwandte Gebiete das -> Gesellschaftsrecht (incl.. dem Recht der Kapitalgesellschaften AG, GmbH- und dem Umwandlungsrecht), das Wertpapierrecht (einschl. Scheck- und Wechselrecht), das Börsenund Bankrecht, das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb und das Markengesetz. Lit: H. Brox: Handelsrecht und Wertpapierrecht, München 121996; C.-W. Canaris: Handeslrecht, München "1995.
Kay-Michael Wilke Handwerkskammer —> Arbeitgeberverbände Hanns-Seidel-Stiftung Die HSS wurde am 11.4.1967 als jüngste der —> politischen Stiftungen in der Rechtsform des eingetragenen —> Vereins mit Sitz in München in das Vereinsregister eingetragen. Namensgeber war der frühere bay. -> Ministerpräsident (1957-1960) und Vorsitzende der -> CSU (1955-1961) Hanns Seidel. Zentraler Zweck des Vereins ist gem. § 2 der Satzung „die Förderung der demokrat. und staatsbürgerl. Bildung des dt. Volkes auf christl. Grundlage". Diesem Zweck dienen die Abt.en Bildungswerk und Akademie für Politik und Zeitgeschehen, die beide 1967 ihre Arbeit aufnahmen und der Erwachsenenbildung bzw. der akademischen Grundlagenarbeit und Politikberatung dienen. Neben einer Zentralabteilung kamen später hinzu das Institut für Internationale Begegnung und Zusammenarbeit (Entwicklungshilfe), 434
das Institut für Auswärtige Beziehungen (Kontakte zum Ausland), und das Förderungswerk (Studienförderung). Führungsorgane sind der Vorstand (14 Mitglieder) und die 40-köpfige Mitgliederversammlung). Im Inland waren 1996 einschließl. der Bildungszentren Wildbad Kreuth und Kloster Banz 270 Mitarbeiter beschäftigt; im Ausland 49 Mitarbeiter zusätzlich etwa 530 Ortskräfte in den Auslandsprojekten. LU.: Hanns-Seidel-Stiftung 1996, München 1997.
(Hg.): Jahresbericht
G.H. Hare / Niemeyer'sches Berechnungsverfahren Das nach dem engl. Juristen Hare und dem dt. Mathematiker Niemeyer bezeichnete Rechenverfahren ist, wie das -> dHondt'sche Höchstzahlverfahren ein Stimmenverwertungsverfahren (Umsetzung von Stimmen in —> Mandate). Zur Ermittlung der Sitze (auf der Grundlage der von den Wahlvorschlagsträgern, i.d.R. polit. -> Parteien, bei der Wahl errungenen gültigen Stimmen) wird bei Bundestagswahlen (§ 6 BWG) zunächst die Gesamtzahl der zu vergebenden Abgeordnetensitze mit der Zahl der —> Zweitstimmen der einzelnen Partei multipliziert und dann durch die Gesamtzahl der Zweitstimmen aller an der Verteilung teilnehmenden Parteien dividiert. Jede Partei erhält den ganzzahligen Anteil der sich aus dieser Proportion ergebenden Berechnung. Die „Reste" werden in einem 2. Rechenabschnitt an die Parteien in der Reihenfolge nach der Größe ihres Restes vergeben. Dadurch, daß der Anteil der Sitze, welche die Parteien erhalten, annähernd genau dem Anteil der auf sie entfallenden Stimmen entspricht, wird mit diesem Berechnungsverfahren eine auf Bruchteile genaue Übertragung des Stimmenverhältnisses auf das Sitzverhältnis erreicht. Das Berechnungsverfahren kommt auch in mehreren Landtagswahlgesetzen zur Anwendung. W. Sch.
Hauptstadt Hauptstadt Die H. eines —> Staates ist in ihrer heutigen Funktion ein Produkt neuzeitlichen Denkens. Indem sich das polit. administrative System auffächerte, mußte es sich einen Ort schaffen, an dem es alle wichtigen polit., wirtschañl., sozialen und kulturellen Bereiche bündeln konnte. Die aristotelische Formel, nach der eine H. gleich günstig zum Lande wie zum Meer gelegen sein müsse, fand in histor. Gründungen wenig Beachtung und ließ, das Modell einer natürlichen H. nicht entstehen. Die Entscheidung für eine bestimmte Stadt oder für eine Neugründimg (siehe St. Petersburg oder Madrid) prägten fürstliche Willkür und / oder polit. Interessen. Bei der Auswahl einer H. dominierten die ihr zugedachten polit. Funktionen und der Ausbau einer zentralen Verwaltung, nicht aber die geographische Lage. Wirtschañl. Konzentration begünstigte nur selten die Entscheidung; weit wichtiger waren kulturelle Funktionen (z.B. Paris und Wien). Häufig mußten sie erst geschaffen werden wie in Madrid, St. Petersburg oder Washington - letztere entwickelte sich nie zum kulturellen Zentrum. Nach dem Vorbild Frankreichs und öst.s machte Anfang des 19. Jhd.s auch Preuß. staatl. - auf die H. bezogene —• Kulturpolitik, indem es Humboldts Idee, Beri, zum Zentrum dt. Universitätswesens auszubauen, umsetzte. Mehrere -> Verfassungen haben den Sitz der H. bestimmt (vgl. -> Belgien, -> Luxemburg, -> Spanien). Die kaiserliche —> Reichsverfassung von 1871 nimmt Rücksicht auf die ausgeprägte dt. Kleinstaaterei und weist nur indirekt auf Beri, als Sitz der H. hin. (In Art. 2 wird Beri, lediglich als Ausgabeort des Reichsgesetzblattes, in dem ein Reichsgesetz verkündet wird, genannt.) Auch die - » Weimarer Reichsverfassung vermeidet die Festlegung auf Beri, als H. und spricht in Art. 71 nur von der Reichshauptstadt, in der das Reichsgesetzblatt ausgegeben wird. Ebensowenig legt das GG den Hauptstadtsitz fest. Der Dt. Bundestag beschloß deshalb am 3.11.1949, Berlin
Hauptstadt solle H. eines wiedervereinigten Dtld.s werden und bestimmte Bonn als vorläufigen Sitz der Bundeshauptstadt. Die Spaltung Dtld.s führte in der H.frage zu einer schwierigen Situation: Auf der einen Seite bestimmten die kommunistischen Machthaber ihren Ostberliner Teil zur H. der -> DDR (Art. 1) und bauten ihn entsprechend aus (von der Stalinallee im Zuckerbäckerstil bis zum Palast der Republik); auf der anderen Seite proklamierten die Bonner Politiker Beri, s Anspruch als H. eines wiedervereinigten Dtld.s und schufen in Bonn eine Bleibe, die von Improvisationen lebte. —> Bundespräsident und -> Bundeskanzler zogen ins alte Palais. Der Neubau des Plenarsaals für den —» Bundestag sollte Offenheit, aber auch eine Architektur demokrat. Bescheidenheit signalisieren; doch die runde Anordnung der Abgeordnetensitze lehnte Bundeskanzler Adenauer brüsk ab sie kam erst im weiteren Provisorium, dem Wasserwerk, zur Anwendung (-> s.a. Parlamentsarchitektur). Nach dem Mauerbau (1961) begannen sog. Geheimplanungen über den Bau eines Bonner Regierungsviertels; Kanzlerbungalow und Abgeordnetenhochhaus (Langer Eugen) gingen hieraus hervor. Nach der staatsrechtl. Anerkennung der DDR (1972) schrieb der Bund einen städtebaulichen Ideenwettbewerb für die vorläufige H. aus; daraus erwuchs der Bau des Bundeskanzleramtes, der Bundesministerien und des Notbunkers in der Eifel. Erst 1981 beschlossen die Parlamentarier, auf den Neubau eines Plenarsaals zugunsten eines Umbaus des bestehenden zu verzichten. In der Übergangszeit zogen sie dann in das hergerichtete Wasserwerk. Bis zur Wiedervereinigung war Bonn in seiner Gestaltungskraft zweifach behindert: Zum einen wirkte im pluralen Planungsprozeß neben der Stadt Bonn auch das Land -> Nordrhein-Westfalen mit, zum anderen wollten die einzelnen -> Bundesregierungen durch ihren gebremsten Bauwillen dokumentieren, daß sie ihren Anspruch auf Wiedervereinigung nicht durch stein-
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Hauptverhandlungshaft
Haushaltsausschuß
gewordene Monumente Lügen straften. Nach der Wiedervereinigung führte man leidenschaftliche Debatten um den H.sitz (Beri. - Bonn), obwohl im Einigungsvertrag von 1990 Beri, festgelegt worden war, dabei schlug man u.a. vor, Bonn als Regierungssitz zu belassen (vgl. Den Haag/Amsterdam) und den Bundespräsidenten und den —> Bundesrat in der H. Beri, anzusiedeln. Die Entscheidung fällte der Bundestag zugunsten eines kompletten Umzugs nach Beri. Schließlich folgte ihr auch der Bundesrat, so daß ab 1999 alle 3 obersten —> Organe: Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident in Beri, angesiedelt sind. Lit: Κ. v. Beyme: Hauptstadtsuche, Frankfurt/M. 1991; M Heintzen: Die Hauptstadtfrage, in: ZfP 1990, S. 134ff.;//. Herles (Hg.): Die HauptstadtDebatte - der stenographische Bericht des Bundestages, Bonn 1991; T. Schieder / G. Brunn (Hg.): Hauptstädte in europ. Nationalstaaten, München 1983.
Volker Szmula Hauptverhandlungshaft Neben der Untersuchungshaft kennt das Recht des -» Strafverfahrens seit der Einfügung des neuen § 127b StPO im Juni 1997 die sog. H. als zweite Haftgrundlage im Vorfeld der Verurteilung. Sie ermöglicht die vorläufige Festnahme eines auf frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten, soweit die unverzügliche Entscheidung im beschleunigten Verfahren zu erwarten und das Fernbleiben des Festgenommenen von der Hauptverhandlung zu befürchten ist. Der -> Haftbefehl, über den der für das beschleunigte Verfahren zuständige Richter entscheiden soll, ist auf eine Woche zu befristen (in dieser Zeit muß die Hauptverhandlung zu erwarten sein). Die Regelung steht im Kontext der Bemühungen des Gesetzgebers um Beschleunigung des Strafverfahrens, die einerseits die Justiz entlasten und zudem die tatzeitnähere und damit effektivere Bestrafung ermöglichen soll. Die (rechtspolit. heftig umstrittene) Bestimmung wird restriktiv auszulegen sein, soll sie nicht wegen einer unverhält-
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nismäßigen Vor-Sanktion gegen den strafrechtl. Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoßen. Lit: U. Hellmann: Die Hauptverhandlungshaft gem. § 127b StPO, in: NJW 1997, S. 2145AF.
J.M. Haushalt -> Staatshaushaltsplan deshaushaltsplan
Bun-
Haushaltsausschuß Der HHA, bestehend aus 41 —> Abgeordneten, ist ein ständiger Ausschuß des -> Bundestages mit der Aufgabe, diesen in der Ausübung des —> Bugetrechts zu unterstützen. Er berät z.B. Gesetzesentwürfe, —> Anträge oder —> Unterrichtungen durch die -> Bundesregierung als sog. Finanzvorlagen mit, die aufgrund ihrer grundsätzlichen Bedeutung oder ihres finanziellen Umfangs geeignet sind, auf die öffentl. Finanzen des -> Bundes und der - » Länder erheblich einzuwirken (§§ 75, 96 GOBT). Der Ausschuß prüft dabei u.a. die Vereinbarkeit der Vorlagen mit dem laufenden Haushalt und mit künftigen Haushalten. Insbes. der Entwurf des Haushaltsgesetzes und des —> Bundeshaushaltsplans des Bundes sowie Änderungsvorlagen werden als Haushaltsvorlagen (§ 95 GOBT) an den HHA überwiesen. Weiterhin behandelt der HHA die Stabilitätsvorlagen der - » Bundesregierung nach § 8 Abs. 1 StWG (§ 94 GOBT). Eine zentrale Stellung nimmt der HHA in den Kreislaufphasen des Bundeshaushalts ein. Der HHA prüft bei dessen Aufstellung zunächst alle Ansätze eines Haushaltsentwufs, der ihm nach Erster -» Lesung im BT überwiesen wird. Für jeden Einzelplan werden Abgeordnete des HHA als Berichterstatter und Mitberichterstatter bestimmt. Die Entscheidungen des Auschusses zu den Ansätzen werden mittels Beratung mit den obersten Bundesbehörden vorbereitet. Die —> Berichterstatter stellen die Entscheidungen des Ausschusses im Rahmen der Zweiten Lesung des Haushaltsentwurfs im BT dar, um eine Beratung und einen Beschluß des
Haushaltsgesetz BT über die Einzelpläne herbeizuführen. Über den Stand der Haushaltsdurchfìihrung wird der HHA lfd. unterrichtet. Die Haushaltskontrolle wird durch den -> Rechnungsprüfimgssauschuß, bestehend aus 13 Mitgliedern des HHA als einem Unterausschuß des HHA durchgeführt. Dazu gehört auch die polit. Prilfùng des Haushaltsvollzugs in Vorbereitung der Entlastung der Bundesregierung durch den Bundestag. Lit: BMF (Hg.): Das Haushaltssystem der BRD, Bonn 1997; Schneider / Zeh, S. 1183ff.; R. Graf von Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 272ff. Raimund Weiland Haushaltsgesetz -> Haushaltsrecht Haushaltsjahr -> Haushaltsrecht Haushaltskontrolle -> Finanzkontrolle —> s.a. Bundesrechnungshof -> s.a. Landesrechnungshof - » s.a. Europäischer Rechnungshof Haushaltsordnung Die H. ist Teil des -> Haushaltsrechts und legt den Rahmen für die Haushaltspläne fest. Der Aufbau der H. folgt dabei i.d.R. dem sog. Haushaltskreislauf und enthält zunächst Bestimmungen zu den 4 Phasen im „Lebenszyklus" eines Budgets: 1. Aufstellung des Entwurfs, 2. Parlament. —> Beratung und Verabschiedung, 3. Vollzug, 4. Kontrolle. Dies gilt auch für die H. des —> Bundes und der -> Länder, die zudem Vorschriften über die (bundes-)landesunmittelbaren —> juristischen Personen des öffentl. Rechts, die Sondervermögen und die Entlastung enthalten. Lit: H. Wiesner: Öffentl. Finanzwirtschaft I. Haushaltsrecht, Heidelberg'1992. T.B. Haushaltsplan —> Bundeshaushaltsplan -> Staatshaushaltsplan Haushaltsrecht Das H. umfaßt die Gesamtheit der Bestimmungen der -> Ver-
Haushaltssperren fassimg, der —> Gesetze und der -> Verwaltungsvorschriften über die Aufstellung, Verabschiedung und Umsetzving des Haushaltsplans sowie die Kontrolle des Budgets des —> Bundes, der -> Länder und -> Gemeinden sowie der sonstigen —> juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Relevant sind insbes. Art. 109115 GG, die Bestimmungen der Landesverfassungen, das Haushaltsgrundsätzeund das Stabilitätsgesetz sowie die —> Haushaltsordnungen des Bundes, der Länder und der Gemeinden. In der BRD besitzen die Gebietskörperschaften dem föderalen Prinzip entsprechend Haushaltsautonomie. Wichtigster Grundsatz ist die Etatisierungspflicht, nach der alle Einnahmen der öffentl. Haushalte im Haushaltsplan enthalten sein müssen. Geheim- und Nebenfonds (-» s.a. Reptilienfonds) sind generell verboten. Die Budgethoheit der Legislative ist in ihrer Lenkungs- und Kontrollfimktion ein zentrales Element der demokrat. Verfassung ( - » s.a. Bundeshaushaltsplan). Lit: Β. Watzka: Staatl. Haushaltsrecht, Hamburg 2 1992; H. Wiesner: Öffentl. Finanzwirtschaft I. Haushaltsrecht, Heidelberg ®1992. T.B.
Haushaltssperren dienen der Beschränkung von Ermächtigungen wie Ausgabenoder —> Verpflichtungsermächtigungen, Planstellen oder Stellen im —> Bundeshaushaltsplan aufgrund wichtiger Gründe. Sie können durch ein -> Gesetz (z.B. § 24 Abs. 3, S. 3 BHO), durch einzelne verbindliche Vermerke im Haushaltsplan (sog. Sperrvermerke), durch Kabinettbeschluß (z.B. § 6 Abs. 1 StWG) oder durch das —> Bundesfinanzministerium nach Benehmen mit den zuständigen Bundesminister (§ 41 BHO) erfolgen. Wesentliches Ziel von H. können Einsparungen im laufenden oder in künftigen Haushalten sein. In diesem Fall kann über die gesperrten Ermächtigungen endgültig nicht mehr verfügt werden. Darüber hinaus können H. dann verhängt werden, wenn zum Zeitpunkt der Veranschlagung von
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Hausinspektion
Herbeirufung
Ermächtigungen (d.h. bei der Haushaltsaufstellung) bestimmte Voraussetzungen für deren Inanspruchnahme noch nicht erfüllt waren (z.B. die Vorlage einer Haushaltsunterlage - Bau gem. § 24 Abs. 3 BHO). Gem. § 36 S. 1 BHO hebt das BMF auf Antrag des Ressorts nach Prüfung diese H. auf, wenn jeweils die Voraussetzungen erfüllt sind. In Einzelfällen bedarf es zur Aufhebung auch der Einwilligung des Haushaltsausschusses des —> Deutschen Bundestags. Nach der Aufhebung kann das Ressorts über die Haushaltsmittel verfügen. R. W. Hausinspektion des Deutschen Bundestages Die HdBT übt die Polizeigewalt in den Gebäuden des -> Deutschen Bundestages aus. Sie zählt neben dem -> Bundeskriminalamt, dem -> Bundesgrenzschutz und dem Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder beim -> Bundesinnenministerium zu den —> Polizeien des -> Bundes. Anders als diese untersteht sie nicht dem Bundesinnenminister, sondern dem -> Bundestagspräsidenten. In ihrem Zuständigkeitsbereich üben die - » Beamten der HdBT vollzugspolizeiliche Kompetenzen aus, u.a. auch das Recht auf unmittelbaren Zwang, und nehmen Aufgaben einer Strafermittlungsbehörde i.S. des § 163 StPO wahr. Ohne die Genehmigung des Präsidenten dürfen andere -> Behörden in den Räumen des Bundestages keine Durchsuchungen oder Beschlagnahmungen durchführen (Art. 40 GG). Das uneingeschränkte Hausrecht, die eigene Polizeigewalt ebenso wie die —> Immunität der —> Abgeordneten begründen v.a. in histor. Perspektive die -> Souveränität und den Schutz des —> Parlaments gegenüber allen anderen staatl. Gewalten. Über die gleichen Rechte verfügen auch die Präsidenten der -> Landtage, doch unterhalten sie keine eigenständigen Polizeibehörden vergleichbar zu der HdBT. HJ. L.
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Hearing Hebesatz
Anhörung Gewerbesteuer
Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation -» Deutsches Reich (bis 1806) Heinrich-Böll-Stiftung Die den Grünen nahestehende HBS mit Sitz in Beri, arbeitet in rechtl. Selbständigkeit. Sie ist eine föderal organisierte -> politische Stiftung und kooperiert mit ihren 16 Landesstiftungen als Organen der regionalen Bildungsarbeit. Vorrangige Aufgabe der HBS ist die ->· Politische Bildung im In- und Ausland zur Förderung demokrat. Willensbildung. Dabei orientiert sie sich an den polit. Grundwerten Ökologie, -> Demokratie, Solidarität und Gewaltfreiheit. Darüberhinaus fördert die HBS Kunst, Kultur und Literatur als Element ihrer polit. Bildungsarbeit und als Ausdrucksform gesellschaftl. Selbstverständigung. Die Stiftung engagiert sich z.Z. in ca. 130 Projekten in 45 Ländern. Sie verfügt über 120 hauptamtliche Mitarbeiter sowie rd. 600 Fördermitglieder. Oberstes Beschlußorgan ist die aus 49 Personen bestehende Mitgliederversammlung, die den hauptamtlichen Vorstand wählt. In Fachbeiräten beraten unabhängige Persönlichkeiten die HBS. Die Satzung sieht für die Organe der Stiftung und die hauptamtlichen Stellen eine -> Quotenregelung für Frauen und Migranten vor. Derzeit unterhält die HBS Auslands- bzw. Projektbüros in einer Reihe von Ländern. 1997 standen der Stiftung ca. 54 Mio. DM aus öffentl. Mitteln und -> Spenden zur Verfügung. 1998 beträgt das Budget knapp 60 Mio. DM. HgHerbeirufung /-srecht Das parlement. Herbeirufungs- und Zitierrecht ist nach Art. 43 Abs. 1 GG und landesverfassungsrechtl. Bestandteil der allgemeinen parlament. Kontrollfunktion; es ist auf die Herbeiführung der persönlichen Anwesenheit von Regierungsmitgliedern im -»
Herrschaft
Herrschaft Plenum oder in den —> Ausschüssen gerichtet und schließt die Verpflichtung zur Auskunftserteilung zu dem jeweils behandelten Beratungsgegenstand ein (BVerfGE 57, 1, 5, -> Auskunft). Die Fragen, die das Auskunftsbegehren auslösen, sind nicht Bestandteil des Herbeirufungsverlangens, ergeben sich jedoch in aller Regel aus dessen Begründung. Die Verpflichtung, Rede und Antwort zu stehen, reicht inhaltlich nur soweit, wie ein Regierungsmitglied seinen Geschäftsbereich selbständig und eigenverantwortlich leitet. Dagegen erstreckt sich die Antwortpflicht des mit Richtlinienkompetenz ausgestatteten Regierungschefs auf alle Beratungsgegenstände, da er gegenüber dem —» Parlament uneingeschränkt verantwortlich ist. Im Verhältnis zu den geschäftsordnungsmäßigen Fragerechten in Form Kleiner und Großer —> Anfragen und der Einzelfragen steht das Zitierrecht dem Parlament und seinen Ausschüssen korporativ zu; die Inanspruchnahme erfordert einen Mehrheitsbeschluß. Die Beantwortung unterliegt der persönlichen Beschränkung auf die herbeigerufenen Regierungsmitglieder, während die parlament. Anfragen sich stets an die -> Regierung als Ganzes wenden und diese die umfassende Beantwortung gewährleisten muß. Dagegen ist die Pflicht des Herbeigerufenen, zur —> Beratung zu erscheinen, durch Entschuldigungsgründe begrenzt, die der Dringlichkeit seiner Anwesenheit gegenüberstehen können. In der Praxis wird von dem Zitierrecht heutzutage nur selten Gebrauch gemacht. Lit: S. Hölscheidt: Frage und Antwort im Parlament, Rheinbreitbach 1992, S. l&ff.; Mangold! v. /Klein, Bd. 6,3, Art. 43 Abs. 1, S. 179ff.
Wolf-Hartmut Reckzeh Herrenchiemseer Verfassungskonvent —> Parlamentarischer Rat —> Grundgesetz Herrschaft 1. H. stellt einen Schlüsselbegriff der Sozial- und Geisteswissenschaften dar. Als symptomatisch für die Bedeutung des H.sbegriffes können das
Bemühen der polit. Theorie um eine Typologisierung der —> Staatsformen wie auch die Rezeptionsgeschichte der H.ssoziologie M. Webers (1864-1920) angesehen werden. Weber hat versucht, die unterschiedlichen Phänomene von H. abstrakt zu erfassen als „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden". Nach seinen Definitionen läßt sich H. durch die Bestimmbarkeit des Befehlenden (durch Rollen oder -> Institutionen) gegenüber —> Macht als bloßer Willensdurchsetzung unterscheiden, gegenüber Gewalt hingegen durch das Interesse an einem „Minimum des Gehorchenwollens" (Weber). Indem der H.sbegriff solchermaßen bewußt auf manifeste Erscheinungen der formalen Koinzidenz von Befehl und Gehorsam beschränkt bleibt, werden Begründungs- und Motivationskontexte von H. ausgeblendet. Für die Herausfilterung eines kleinsten gemeinsamen Nenners zur Definition von H. ist dieses Vorgehen unerläßlich. Eingebunden jedoch in die verschiedenen Wissenschaftdisziplinen ergeben sich auf die Frage: „Wer herrscht über wen mit welchen Mitteln zu welchem Zweck" häufig als Antworten unterschiedliche Bedeutungsinhalte und -zusammenhänge des H.sbegriffs. Um die polit.-rechtl. Bedeutung von H. zu erfassen, sind zunächst begriffs- und ideengeschichtl. Kontexte in den Blick zu nehmen 2. Begriffsgeschichtl. bildet sich der dt. Ausdruck H., verstanden als Herrenstellung des konkreten Herrn („herre" = Höher- bzw. Hochgestellter) über sein Eigentum, Gesinde etc. im 13. Jhd. aus. Eine analytische Unterscheidung wie in der Tradition der röm. Republik zwischen dem lat. „dominium" (Verfügungsgewalt über Güter) und „imperium" (Ausübung öffentl. Gewalt) fand jedoch nicht statt. Ein die konkrete Herrenstellung abstrahierender Sprachgebrauch setzte erst mit dem 18. Jhd. ein und ging mit 4 teilw. sich überlagernden histor. Entwicklungen einher: a) durch die Entpersonalisierung 439
Herrschaft des H.ssubjekts von dem konkreten Herrn (z.B. Grundherr) zur H.sstruktur (z.B. H. der Gesetze), b) durch eine Funktionalisierung von H., indem sie zunehmend auf die administrativen Leistungen des Staates bezogen wurde, c) durch Loslösung der H. von ihrer agrargesellschaftl. Basis zugunsten von z.B. Kapital, d) durch die Emanzipierung der H.sobjekte und der damit einhergehenden Forderung nach rationaler H.sbegründung. Infolge dieser 4 Entwicklungslinien ließ sich der H.sbegriff einerseits als allgemeiner Grundbegriff in die Sozialwissenschaften (M. Weber) und in die Rechtswissenschaft (O. v. Gierke) einführen, andererseits bezeichnet er seitdem unterschiedliche H.sstrukturen der privaten, sozialen und polit. Bereiche (Hausherr, Fabrikherr, Klassenherrschaft etc.) einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft und ist damit gleichfalls zunehmend Gegenstand der Kritik geworden. 3. Seit dem im Zuge des neuzeitlichen —> Naturrechts gewandelten Verständnis der polit. H. als prima facie rechtmäßiger H. zu einer a priori zu rechtfertigenden H. stehen die Fragen nach der —» Legitimität und Begrenzung von H. im Vordergrund: Während sich bei Aristoteles die H.sstruktur aus der natürlichen Ungleichheit zwischen z.B. Mann und Frau im privaten und aus der natürlichen -> Gleichheit der freien Bürger im öffentl. Bereich ergibt, beruht die neuzeitliche polit. H. ideengeschichtl. auf Vereinbarungen, die den Zweck der staatl. H. festlegen und die Verfahren der H.sausübung bestimmen. Dabei steht für Hobbes (1588-1679) im Leviathan noch die grundsätzliche Begründungsmöglichkeit des Übergangs von einem anarchischen Naturzustand zu einer innerstaatl. befriedeten H. im Vordergrund. In Reaktion auf Hobbes werden v.a. von Locke (16321704) und Montesquieu (1689-1755) zusätzliche Aspekte der Begrenzung staatl. H. in Form von —> Grundrechten und —> Gewaltenteilung hervorgehoben. Gleichwohl halten diese Formen der 440
Herrschaft Vereinbarungen an der üblichen Unterscheidung zwischen H.ssubjekten und Objekten fest. Demgegenüber erhebt der Rousseausche Vertragsgedanke im Contrat social den Anspruch, die Unterscheidung von Beherrschten und Herrschenden zugunsten der Bewahrung vollständiger -» Freiheit aufzuheben. Indem der einzelne als Citoyen an der Willensbildung der Gesamtheit teilhat und ihr zugleich als Subjekt unbedingten Gehorsam schuldet, verbleibt die H. in den Händen des souveränen Volkes, das der kommissarisch gebildeten Regierung ihre Aufgaben autoritativ vorgibt (-> Volkssouveränität). Rousseaus (1712-1778) zentraler Gedanke des freiwilligen btlrgerl. Selbstgehorsams gegenüber mitgetragenen Entscheidungen wird von Kant (1724-1804) zu einem (vorläufigen) Abschluß geführt: Handlungsgrundsätze, Gesetze - und damit H sind berechtigt, wenn sie von allen Betroffenen im Rahmen einer fairen Beratungssituation akzeptiert werden könn(t)en. So wie der einzelne die Legitimität seiner Handlungen durch simulierten Rollentausch ermittelt, gleichzeitig aber die Pflicht hat, entsprechend zu handeln (kategorischer Imperativ), so kann H. nur Legitimität, zugleich aber Gehorsam für sich beanspruchen, wenn die Gesetze unter (potentieller) Zustimmung der Verpflichteten erlassen worden sind (contractus originarius). Durch eine solchermaßen begründete H. wird gewährleistet, daß der „Mensch als Zweck an sich selbst" ernst genommen wird. 4. In der polit. Philosophie des 19. Jhd. kommen die Ökonom. Strukturen in den Blick und werden zum Gegenstand der H.skritik: Gleich A. Smith (1723-1790) begreift auch F.W. Hegel (1770-1831) bereits" die polit. H. im Zusammenhang mit der gesellschafll. Arbeitsteilung, nimmt aber die wachsenden wirtschaftl. Abhängigkeitsverhältnisse zum Anlaß, die allgemeine Verbindlichkeit der Legitimationstechniken btlrgerl. H. in Zweifel zu ziehen. Während Hegel noch in dem Staat den .sittlichen Garanten der gesellschafll.
Herrschaft Integration und damit der legitimen H. erblickt, ist für Marx (1818-1883) und Engels (1820-1895) aufgrund des Antagonismus zwischen Kapital und —> Arbeit nur eine klassenlose und damit herrschaftsfreie Gesellschaft nach Absterben des Staates mit der freiheitlichen Bestimmung des Menschen vereinbar. Diesen Gedanken der Unvereinbarkeit der Freiheit des Menschen mit jedweder Form der H. teilt der Marxismus mit dem Anarchismus. Auch ethnologische Studien haben H. als notwendiges soziales Faktum bezweifelt, indem sie auf segmentare Gesellschaften ohne soziale und polit. Ungleichheiten verwiesen haben. Inwieweit man diese als herrschaftsfrei beschreiben möchte (Sigrist) bzw. an der Universalität von H. festhalten will (Dahrendorf), bleibt aber letztlich eine zweitrangige Frage: Selbst wenn die Geschichtlichkeit des Ursprungs von H. die grundsätzliche Möglichkeit ihrer Aufhebung bedeutet (Habermas), besteht das Problem der Verwaltung einer ausdifferenzierten —> Gesellschaft, welche die Fremdbestimmung des Menschen als Mittel für andere Menschen zwar auf ein unerläßliches Mindestmaß reduzieren mag, aber nicht aufheben kann. Weder Marx' klassenlose Gesellschaft noch Kants Prinzip vom Menschen als Zweck an sich selbst konnten dieses Spannungsverhältnis zwischen Funktionalisierung und Freiheit des Menschen auflieben - der eine formulierte jedoch ein teleologisches Ziel der Freiheit von H., der andere einen kritischen Maßstab für polit. H., die in der Freiheit des einzelnen ihren Geltungsgrund besitzt. 5. Die Frage nach dem Geltungsgrund von H. hat typenbildend gewirkt, indem legitime H.sformen Gewaltregimen (Tyrannis, - » Totalitarismus) gegenübergestellt werden. Für die legitimen H.sformen hat sich wiederum Webers Klassifizierung als einflußreich erwiesen. Weber unterscheidet 3 Foimen: Die rationale H. mit dem „Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen", die auf dem .Alltagsglauben an
Herrschaft die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen" beruhende traditionale H. und die durch „außeralltägliche Hingabe" an die Besonderheit einer Person gekennzeichnete charismatische H. Die Betonung des Glaubens bei allen 3 H.sformen verdeutlicht, daß Weber unter Legitimität die Verallgemeinerbarkeit von motivationalen Gründen individueller Akzeptanz versteht. Da Legitimität jedoch als eine normativ begründete Geltung aufzufassen ist, der die Akzeptanzbereitschaft nachfolgt, ihrerseits jedoch nicht die Geltung zu begründen vermag, erweist sich Webers Legitimitätsbegriffals problematisch. Webers Einordnung der repräsentativen —» Demokratie als im wesentlichen auf charismatischer Legitimität beruhenden H.sform zeigt das Problem der Vermischung von Geltungsgrund und Erscheinung von H. unbenommen der Möglichkeit, daß in Krisenzeiten einer Demokratie sich Geltung auf das Charisma persönlich ausgeübter H. zurückführen lassen mag, beruht die Legitimität dieser H.sform grds. auf der Vereinbarung (Sternberger), durch Mehrheitsentscheid kollektiv verbindliche Entscheidungen herbeizuführen. Daß sich dabei die menschlich vereinbarte H. - im Gegensatz zur (z.B. göttlich) vorgegebenen - nicht auf eine Letztbegründung, warum sie zu gelten habe, zurückziehen kann, sondern praktisch anzuerkennen ist, gehört seit Hobbes zum Fundus der polit. Philosophie. 6. Demokrat. H. eröffnet mithin die Chance und stellt zugleich die Aufgabe, die Richtigkeit der Vereinbarung ständig zu überprüfen. Dafür bietet die eingangs formulierte Leitfrage „Wer herrscht über wen mit welchen Mitteln zu welchem Zweck?*' Bezugspunkte: a) Das Wechselspiel von Regierenden und Regierten verlangt mindestens zweierlei: Zum einen die kontinuierliche Verständigung darüber, wer zum Kreis der - » Staatsbürger zu zählen ist - eine Frage, die nicht zuletzt durch die Einführung der - > Unionsbürgerschaft der - > EU neuerlich an
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Herrschaft Bedeutung gewonnen hat. Zum anderen die Fähigkeit auch der Bürger, sich an demokrat. Spielregeln zu halten. Zumindest diese Pflicht gehört zur staatsbürgerl. „Zumutung" der Demokratie; sie markiert damit außerdem den Ausgangspunkt eines notwendigen öflentl. Diskurses, ob sinnvollerweise weitere Tugenden zum Pflichtenkanon eines jeden Staatsbürgers gehören sollten, b) Die Mehrheitsregel und als deren Korrelat - die individuellen Rechte zum Schutz des Staatsbürgers vor einer „Tyrannei der Mehrheit" (Tocqueville 1805-1859) zählen zu den klassischen Instrumenten demokrat. H.sordnungen. Ihre Verankerung in einem gewaltenteiligen polit. System stellt gleichwohl nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Funktionsfahigkeit des institutionellen Arrangements dar; weitere müssen hinzutreten: 1. die Lernfähigkeit gegenüber den unterschiedlichen (direkten und indirekten) Formen polit. Partizipation; 2. die Integrationsfahigkeit gegenüber sozialen und nationalen - » Minderheiten; und 3. die Entscheidungsfähigkeit durch ein effektives Parteien- und Rechtssystem zur Gewährleistung der Verbindlichkeit und Gesetzmäßigkeit polit. Handelns, c) Schließlich bedürfen auch die Ziele demokrat. H. einer dauernden Überprüfung: Das gilt sowohl für die grundsätzlichen -> Staatszwecke (z.B. Verwirklichung privater Interessen und / oder der Herstellung sozialer -> Gerechtigkeit) als auch für den Umfang und die Konkretisierung einzelner Staatsaufgaben. Durch die prinzipielle Möglichkeit eines jeden Bürgers, die Angemessenheit von Zielen, Instrumenten und Akteuren demokrat. H. zu hinterfragen und Antworten einzufordern, bleibt polit. Handeln gerade unter den Bedingungen demokrat. H. unabdingbar mit polit. —> Verantwortung verknüpft ohne die sie sich nur zu leicht in die von Hannah Arendt (1906-1975) perhorreszierte bürokratische "Niemandsherrschaft" verwandeln kann. Lit.: O. Brunner: Land und Herrschaft, Darm-
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Hessen stadt '1965; J. Gebhardt / H. Münkler (Hg.): Bürgerschaft und Herrschaft, Baden-Baden 1993; Geschichtl Grundbegriffe III, S. ff; P. Graf Kielmansegg: Legitimität als analytische Kategorie, in: PVS 1971, 367ff; D. Sternberger: Herrschaft und Vereinbarung, Frankfurt/M. 1986; M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 5 1980 (erstmals 1921).
Oliver Lembcke Herrschaftsgewalt / -smacht -> Staatsgewalt Hessen -> Land der BRD, Fläche 21.114 qkm, Bevölkerung 6,03 Mio. Ew. (1997), Landeshauptstadt: Wiesbaden. Größte Städte: Frankfurt/M. 646.000 Ew., Wiesbaden 267.000, Kassel 201.000, Darmstadt, 138.000, Offenbach 116.000. Legislative Nach der HessV vom 1.12. 1946 geht die gesetzgebende Gewalt vom —> Landtag aus mit Sitz in Wiesbaden, von 110 —> Abgeordenten werden 55 in —> Wahlkreisen und 55 über -> Landesliste alle 4 Jahre gewählt. Der Landtag wählt den -> Ministerpräsidenten mit der absoluten Mehrheit der —> Mandate. Er kann durch einfaches -> Mißtrauensvotum abgesetzt werden. Verfassungsänderungen bedürfen der Billigung durch -> Volksentscheid. Wesentliche Ausschüsse des Landtages sind: Haupt-, Europa-, Haushalts·, Petititons-, Innen-, Rechts-, Umwelt·, Kulturpolit. Ausschuß, Ausschuß für Landwirtschaft, Forsten und Naturschutz. Die Verteilung der Mandate und der prozentuale Anteil der Parteien im Landtag bei den Wahlen vom 19.2.1995 (14. Wahlperiode) stellt sich wie folgt dar: CDU 45 (39,2%), SPD 44 (38,0%),Grüne 13 (11,2%), FDP 8 (7,4%). Die SPD war von 1946 bis 1970 und 1983 stärkste Fraktion im Landtag, die CDU 1974, 1978, 1987 und 1995. Exekutive Die Landesregierung besteht aus dem Ministerpräsidenten und den Ministern (1996: 8). Bisherige Ministerpräsidenten waren: C. Stock, (1946-50) G.A. Zinn (1950-69), A. Osswald (1969-
Hessen 1976), H. Börner (1976-1983), W. Wallmann (1983-1991), H. Eichel (seit 1991). Bis auf Wallmann (Christdemokrat) stellte die Sozialdemokratie alle Ministerpräsidenten. H. gliedert sich in 3 -> Regierungsbezirke: Darmstadt (3,697 Mio. Ew. / 0,579 Mio. Nichtdeutsche), Gießen (1,060/ 0,094), Kassel (1,273/ 0,084), 21 -> Kreise und 5 kreisfreie —> Städte. Judikative Oberste -> Gerichte sind der Staatsgerichtshof (Wiesbaden) das Oberlandesgericht Frankfurt/M. mit Zivilsenaten in Darmstadt und Kassel, der Verwaltungsgerichtshof in Kassel, das Landesarbeitsgericht Frankfurt/M. und Landessozialgericht in Darmstadt. Es bestehen 58 Amtsgerichte und 9 Landgerichte. Die Wirtschaft H.s wird durch Dienstleistungsunternehmen bestimmt. Ihr Anteil an der Bruttowertschöpfung (335.510 Mio. DM in 1996) in H. lag bei 164.391 Mio. Kreditinstitute und Versicherungen haben den Hauptanteil am Dienstleistungsbereich. Der Sitz der —> Bundesbank in Frankfurt war Grundlage für den Aufstieg der Stadt zur dt. Bankenmetropole. Der Frankfurter Flughafen als internationale Drehscheibe für den dt. Flugverkehr ist entscheidender Standortfaktor für die Ansiedlung weiterer Dienstleistungsunternehmen gewesen. Der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung beträgt 86.374 Mio. DM. Die Schwerpunkte liegep hier in der chemischen Industrie, im Straßenfahrzeugbau und im Maschinenbau. Handel und Verkehr machen 15,3% der Bruttowertschöppfung aus, Staat und private Haushalte 10,5% und die Land- und Forstwirtschaft 0,6%. Die Zahl der Beschäftigten in H. insg. betrug 1996 2,605 Mio. Geschichte Das Land H. entstand am 19.9.1945 durch die amerik. Militärregierung, welche die preuß. Provinzen Nassau und Kurhessen mit Hessen Darmstadt zum Land H. vereinigte (ohne die Kreise St. Goarshausen, Rheinhessen, Unterlahn
Hochschule und Westerwald, die zu —> RheinlandPfalz kamen). Die Landgrafschaft H. wurde 1292 zum Reichsfürstentum erhoben. Philipp der Großmütige vereinigte das hess. Gebiet nach verschiedenen Teilungen, führte 1526 die Reformation ein, gründete 1527 die Universität Marburg. Nach seinem Tod 1567 wurde das Land unter seine Söhne verteilt, es entstanden 2 große Linien H.-Kassel und H. -Darmstadt. Landgraf Karl (1670-1730) führte H.-Kassel zu seiner Blüte. Die Landgrafen des 18. Jhd.s errichteten in Kassel repräsentative Bauten (Friedrichsplatz). H.Darmstadt erhielt 1820 eine Verfassung und schloß sich 1870 dem —> Deutschen Reich an. In der -> Europäischen Union ist H. im —> Ausschuß der Regionen vertreten. H. ist Mitglied in der Vereinigung der Regionen Europas und hat selbst vertraglich fixierte Partnerschaften mit den Regionen Emilia Romagna (Italien) und Aquitaine (Frankreich), die dem gegenseitigen Erfahrungsaustausch und der Kooperation auf wirtschaftl. und gesellschaftl. Gebiet dienen und polit, anhand von konkreten Beispielen eine öffentl. Diskussion über europäiische Themen initiieren soll. Lit: Hessisches Statistisches Landesamt (Hg.): Statistisches Handbuch Hessen, Wiesbaden erscheint zweijährlich; dass. : Statistische Berichte, Wiesbaden erscheinen monatlich; Hessischer Landtag (Hg.): Volkshandbuch 14. Wahlperiode, Rheinbreitbach 1995; Institut für Medienentwicklung und Kommunikation (Hg.): Europa und Dtld., Frankfurt/M. 1991-1995; U. Schuh: Die Geschichte Hessens, Stuttgart 1983. Bruno Bengel
heute im Bundestag (hib) —> Parlamentarische Informationsdienste Hinterbänkler —• Sitzordnung Hochschule / -n 1. H.e ist der Oberbegriff für Universitäten, Techn. H.en, Pädagogische H.en, Kunsthochschulen, Fachhochschulen und sonstige in den einzelnen Ländern als H.en anerkannte Bildungsein443
Hochschule richtungen. 1. Universitäten als älteste H.art (Salerno um 1000, Bologna 1119, älteste im Dt. Reich Prag 1348) beruhen histor. auf den geisteswissenschaftl. Fächern Theologie und Philosophie, die gemeinsam mit der später hinzutretenden Jurisprudenz und Medizin als „universitas litterarum" im Mittelalter die gesamte Breite der Wissenschaften abdeckten; zugleich bildeten Lehrende und Lernende eine „universitas magistrorum et scholarium". Universitäten sind der klassische Ort wissenschaftl. (insbes. Grundlagen-)Forschung und Lehre sowie - durch Promotions- und Habilitationsrecht - der Ausbildung des wissenschaftl. Nachwuchses. Daneben entwickelten sich im 19. Jhd. aus Spezialschulen die den Universitäten gleichgestellten Techn. H.en (9) und sonstigen speziellen H.en (23; z.B. Theologische, Medizinische und Tierärztliche H.en). Die ab 1926 gegründeten Akademien zur Lehrerausbildung wurden nach 1945 zu Pädagogischen H.en (6), die seit 1976 zumeist in Universitäten eingegliedert wurden. Kunsthochschulen (46; u.a. für Musik, Theater, Film und Fernsehen) bilden in erster Linie zu künstlerischer Gestaltung aus. Als Reaktion auf den erweiterten Bedarf der Industriegesellschaft an zugleich wissenschaftl. und praxisbezogen ausgebildeten Nachwuchskräften wurden seit 1969 Fachhochschulen (138) errichtet, die teilw. aus Ingenieurschulen und höheren Fachschulen hervorgegangen sind und den angewandten Wissenschaften oder der Kunst dienen. Der gegenwärtige Ausbau der Fachhochschulen bedeutet neben ihrer quantitativen Ausdehnung eine qualitative Erweiterung ihres Fächerspektrums über die ursprünglichen typischen Bereiche Ingenieur·, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hinaus auf z.B. Rechtswissenschaften oder Musik. Gesamthochschulen (1) verkörpern den aufgegebenen Versuch, Studiengänge verschiedener H.arten organisatorisch und / oder inhaltlich in einer H.e zu verbinden. Neben den staatl.
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Hochschule H.en stehen solche in kirchl. und privater Trägerschaft, die einer staatl. Anerkennung des Sitzlandes bedürfen. Zweifelhaft ist die H.eigenschaft verwaltungsintemer „Fachhochschulen" für den öffentl. Dienst (30), an denen —> Beamte des gehobenen Dienstes (Kommissare, Inspektoren) ausgebildet werden; ihnen fehlen die für H.en typische körperschaftliche Binnenstruktur und Staatsfeme. Nicht zu den H.en gehören Volkshochschulen, die in nicht festgelegter Form allen Bürgern Weiterbildungskurse anbieten (—> ErwachsenenAVeiterbildung). Die Rechtsstellung der H.en wird bestimmt durch das Hochschulrahmengesetz (HRG) des Bundes vom 26.1.1976 und die H.gesetze der Länder. Sämtliche H.en dienen nach § 2 Abs. 1 HRG entsprechend ihrer Aufgabenstellung der Pflege und Entwicklung der Wissenschaften und der Künste durch Forschung, Lehre und Studium und bereiten die Studierenden auf berufliche Tätigkeiten vor, welche die Anwendung wissenschaftl. Erkenntnisse und wissenschaftl. Methoden oder die Fähigkeit zu künstlerischer Gestaltung erfordern. Zwischen den verschiedenen H.arten besteht daher grds. kein Rangverhältnis; vielmehr werden sie zutreffend gekennzeichnet als „andersartig, aber gleichwertig". Die Rechtsprechung von —> Bundesverfassungs- und -> Bundesverwaltungsgericht sowie das —» Laufbahnprinzip der Beamten haben allerdings insbes. die rasche Entwicklung der Fachhochschulen und ihre im H.recht und in der Realität der Industriegesellschaft vollzogene Anerkennung als gleichwertig noch nicht vollständig aufgenommen. 2. Das H.studium ist i.d.R. auf 8 (maximal 12) Semester angelegt, davon an Fachhochschulen meist 2 praktische Semester, und wird durch H.grad (meist Diplom, auch Magister oder Doktor) oder Staatsprüfung abgeschlossen. Die tatsächliche Studiendauer schwankt je nach H.art und Fach zwischen 8 und 17 Semestern. Probleme ergeben sich aus der stark ge-
Hochschule stiegenen Anzahl der Studierenden an dt. H.en von 291.100 (nur früheres Bundesgebiet) 1960 über 840.000 / 136.900 (früheres Bundesgebiet/DDR) 1975 auf I.858.000 (davon 1.409.400 an Universitäten und SpeziaWKunsthochschulen und 449.000 an Fachhochschulen) 1995. Der Anteil der Studierenden eines Altersjahrganges stieg von 4,3% 1960 über 14,1% 1975 (beides nur früheres Bundesgebiet) auf 28,8% 1995. 3. Das Personal der H.en wuchs dagegen nur von 58.500 Stellen 1960 über 188.700 1975 (beides nur früheres Bundesgebiet) auf 233.700 1995. Zum hauptberuflichen wissenschaftl. Personal aller H.en zählen die Professoren. Sie erfüllen in ihrem Fach selbständig die ihrer H.e obliegenden Aufgaben in Wissenschaft, Kunst, Forschung und Lehre. Voraussetzungen einer -> Ernennung zum Professor sind (1) ein abgeschlossenes H.studium, (2) pädagogische Eignung, (3) besondere Befähigung zu wissenschaftl. Arbeit, i.d.R. nachgewiesen durch eine überdurchschnittliche Promotion, und (4) bei Universitäten zusätzliche wissenschaftl. Leistungen (d.h. i.d.R. Habilitation), bei Kunsthochschulen zusätzliche künstlerische Leistungen und bei Fachhochschulen besondere Leistungen bei der Anwendung oder Entwicklung wissenschaftl. Erkenntnisse und Methoden in einer mindestens fünfjährigen Berufspraxis. Wegen ihrer prägenden Bedeutung für die H.en werden alle Professoren über ein aufwendiges Berufungsverfahren ausgewählt. Der sog. Mittelbau besteht aus den wissenschaftl. und künstlerischen Mitarbeitern, die i.d.R. nach Abschluß eines H.studiums an der H.e ohne die Selbständigkeit der Professoren tätig sind, und Lehrkräften für besondere Aufgaben, die nicht die Qualifikation eines Professors erfordernde Lehraufgaben wahrnehmen (z.B. Lektoren, Studienräte im H.dienst). An Universitäten sowie diesen gleichgestellten speziellen und künstlerischen H.en gibt es entsprechend ihrer Aufgabe, wissenschaftl. Nachwuchs heranzubilden, zu-
Hochschule sätzlich wissenschaftl. und künstlerische Assistenten, Oberassistenten und Oberingenieure im „Mittelbau" sowie - nicht in allen Ländern - H.dozenten. Das nebenberufliche wissenschaftl. Personal umfaßt u.a. Lehrbeauftragte, die selbständig einzelne Lehrveranstaltungen durchführen, sowie studentische und wissenschaftl. Hilfskräfte. Zu den Mitgliedern der H.e zählen schließlich die hauptberuflichen —> Beamten, —> Angestellten und - » Arbeiter der H. Verwaltung, deren Leiter die Bezeichnung Kanzler führt. 4. Die innere Struktur der H.en richtet sich neben dem H.rahmengesetz und den Landeshochschulgesetzen nach der von jeder einzelnen H.e kraft staatl. verliehener Satzungsgewalt erlassenen Grundordnung („Verfassung" der H.e). Die kleinsten organisatorischen Einheiten der H.e sind die Fachbereiche (z.B. Rechtswissenschaften, Philosophie, Medizin) mit den Organen Fachbereichsrat und Fachbereichssprecher. Dem Fachbereichsrat gehören gewählte Vertreter der 4 Gruppen der Professoren, des übrigen wissenschaftl. Personals (Mittelbau), des übrigen hauptamtlichen Personals (Verwaltung) und der Studierenden an. Während dieses Gremium die wesentlichen Entscheidungen des Fachbereichs trifft, werden die gesamte H.e betreffende Fragen i.d.R. entschieden durch die zentralen Organe Konzil (v.a. Verabschiedung der Grundordnung und Wahl der H.leitung) und Senat (u.a. Haushalt, Organisation der H.e, Berufung von Professoren und sonstige Grundsatzfragen). Geleitet wird die H.e nach den Bestimmungen ihrer Grundordnung entweder durch einen ihrer Professoren, der für eine begrenzte Zeit (meist 2 Jahre) zum Rektor gewählt wird (Rektorenverfassung), durch ein aus dem Rektor, den ebenfalls befristet gewählten Prorektoren und dem Kanzler bestehendes Rektorat (Rektoratsverfassung), durch einen Präsidenten, der anders als ein Rektor für eine längere Amtszeit (meist 6 Jahre) und nicht zwingend aus dem Kreis
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Hochschule der Professoren gewählt wird (Präsidialverfassung), oder durch ein aus dem Präsidenten, den Vizepräsidenten und dem Kanzler bestehendes Präsidium (Präsidiumsverfassung). Die in der Zusammensetzung der Gremien zum Ausdruck kommende Beteiligung von Angehörigen der verschiedenen Gruppen an den Entscheidungen der H.e ist Merkmal der heutigen, durch das H.rahmengesetz 1976 eingeführten Gruppenuniversität. Die zuvor über Jhd.e praktisch unveränderte Ordinarienuniversität, in der die Entscheidungsgewalt bei den ordentlichen Professoren („Ordinarien" als Inhabern sog. Lehrstühle lag, geriet in den Studentenunruhen 1967/68 zur Zielscheibe der Kritik und war den Strukturen eines demokrat. Staates nicht mehr angemessen. Die aktuelle Entwicklung ist gekennzeichnet durch das Bestreben, die Effizienz der auf Diskussion in Gremien und damit lange Entscheidungswege angelegten Gruppenuniversität, die zudem durch die gestiegenen Studentenzahlen zur Massenuniversität geworden ist, zu erhöhen. Dazu dienen u.a. eine Straffung der Entscheidungsstrukturen etwa durch hierarchische Elemente wie vermehrte Rechte des Fachbereichssprechers oder eine Professionalisierung der H.leitung durch Hinwendung zur Präsidial- oder Präsidiumsverfassung. Die daraus resultierende vorsichtige Rücknahme der Entwicklung zur Gruppenuniversität wird begleitet vom gelegentlichen Aufgreifen traditioneller, dem Modell der Ordinarienuniversität entlehnter und in den meisten H.gesetzen weder vorgesehener noch verbotener Bezeichnungen wie „Lehrstuhl" statt Professur, „Dekan" statt Fachbereichssprecher, „Fakultät" statt Fachbereich oder - auch vom HRG wieder aufgenommen - „ A s s i s t e n t " (ursprünglich des Lehrstuhlinhabers). 5. H.en sind zugleich —• Körperschaften öffentlichen Rechts und staatl. Einrichtungen Sie gehören einerseits selbst zum Staat, haben aber anderseits auch eigene Rechte gegenüber dem Staat. Als Teil des 446
Hoftag Staates müssen sie insbes. das Grundrecht ihrer Mitglieder (insbes. der Professoren) auf Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre aus Art. 5 Abs. 3 GG beachten. Nach der Rechtsprechung des BVerfG genießt daher die Gruppe der Professoren im Bereich der Lehre einen „maßgebenden Einfluß" (d.h. sie müssen über die Mehrheit der Stimmberechtigten verfügen) und in Fragen der Forschung sowie in Berufungsangelegenheiten einen „ausschlaggegebenden Einfluß" (d.h. neben der Mehrheit im Gremium ist die Mehrheit innerhalb der Gruppe der Professoren erforderlich - „Mehrheit in der Mehrheit"). Weil die H.e den Freiraum ihrer Mitglieder aus Art. 5 Abs. 3 GG als Einrichtung selbst maßgeblich konstituiert, steht sie in dieser Funktion zugleich dem —» Staat gegenüber und ist daher, obwohl als —> juristische Person öffentlichen Rechts formell Bestandteil des Staates, gegenüber diesem nach Art. 19 Abs. 3 GG auch selbst Träger des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG. Das daraus abzuleitende komplizierte Zusammenspiel zwischen H.autonomie und staatl. Aufsicht zeigt sich u.a. im Erfordernis staatl. Genehmigung der von der H.e beschlossenen Grundordnung und anderer Satzungen, bei der Bestellung der H.leitung durch den Staat nach ihrer Wahl durch die H.e und bei der Berufung von Professoren, die vom Staat auf der Grundlage einer von der H.e erstellten, 3 Vorschläge enthaltenden Liste in ein Beamten- oder Angestelltenverhältnis übernommen werden. Lit: BVeiJGE 15, 264; 35, 79; K. Hailbronner (Hg.): Komm, zum Hochschulrahmengesetz, Loseblattsammlung. Heidelberg, Stand Mai 1996; W. Thieme: Dt. Hochschulrecht, Köln 21986;. R. Graf v. Westphalen: Akademisches Privleg und demokrat. Staat, Stuttgart 1979.
Nicolai Müller-Bromley Hochschulrahmengesetz —> Hochschule Hoftag Das Kunstwort „Hoftag", lat. curia, bezeichnet seit den Tagen des
Hoftag Fränkischen Reiches die vom Herrscher nach freiem Gelieben berufenen Versammlungen der Reichsfürsten („Große des Reiches"), die ihm zur „Hoffahrt" wie auch zu Rat und Hilfe verpflichtet waren, und die er anläßlich wichtiger Entscheidungen der Regierung, Gesetzgebung etc. auch um ihren Rat bat. Bei der Mitsprache der Reichsfürsten handelte es sich v.a. um die Herrschaftsbeteiligung von Adelsgruppen, deren Angehörige im Mittelalter noch keineswegs exakt abgrenzbar waren. Dem hocharistokratischen Charakter des Reiches entsprechend und trotz der unübersehbaren Vielfalt der Kräfte blieb das Verhältnis von Herrscher und H. v.a. ein Dualismus zwischen dem König und den Reichsfürsten. Die Abgesandten der Freien und Reichsstädte spielten dagegen stets nur eine Nebenrolle. Die Bedeutung der H.e läßt sich erst ermessen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Geschichte von H. und Reichstag des —> Deutschen Reiches (bis 1806) einen zusammenhängenden Zeitraum von nicht weniger als fünf Sechstel der mehr als tausendjährigen Geschichte der Deutschen umfaßt. Vor der Ausbildung fester Verfassungsformen war der H. im ganzen mittelalterlichen Europa als Herrschaftsinstrument bekannt. Solche Versammlungen - ziemlich formlos veranstaltet - wurden dem Bedarf des Herrschers an Regierung, Gesetzgebung und Justiz entsprechend einberufen. Mitwirkungsmöglichkeiten der Reichsfürsten boten sich bei der Bestimmung der Modalitäten von Rat und Hilfe, durch vertragliche Vereinbarungen mit dem Herrscher sowie durch freiwillige Selbstverpflichtungen. Über Art und Maß des Beistandes, zu dem die Reichsfürsten herangezogen werden sollten, mußte jeweils eigens verhandelt werden. Die Zustimmung dieses Kreises zu den Entscheidungen des Herrschers war zwar nicht rechtsnotwendig, aber rechtsverstärkend. Die weitgehende Regellosigkeit, die für die Lösung der unterschiedlichen Heirschaftsprobleme galt, hatte zur Folge,
Hoftag daß selbst so herausragende kaiserliche H.e wie diejenigen im Mainz der Jahre 1184 und 1188 für den Herrscher nicht leicht zu handhaben waren. Stets nahmen die Reichsfürsten, die niemanden als sich selbst vertraten, aufgrund eigener polit. Berechtigung teil, so daß sich die Frage der flächendeckenden -> Repräsentation der Regionen des Reiches nicht einmal stellte. Dies resultierte nicht zuletzt aus dem Umstand, daß der ältere dt. Geschichtsraum außergewöhnlich ausgedehnt und deshalb mit den damaligen Möglichkeiten nur schwerlich einheitlich zu gestalten war. Den selbstverständlichen Zusammenhalt des Reiches beeinträchtigte dieser Umstand aber keineswegs. Immerhin berief der umherziehende König H.e in verschiedenen Regionen ein, um möglichst viele Reichsfürsten um sich zu versammeln und so die regionalen Kräfte an sich zu binden. Im Umgang der Reichsfürsten untereinander war auf den H.en die größte Sensibilität vonnöten, zumal seit Ende des 13. Jhd.s schwachen Königen starke Wähler gegenüberstanden. All diese Umstände, nicht zuletzt aber die weitgehende Regellosigkeit unterschieden den H. von den Repräsentationskörperschaften der Neuzeit. Der Herrscher des Mittelalters hatte gerade kein Interesse an festen Formen, da diese ihn nur in seinen polit. Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt hätten. Zwar stand im Grundsatz der Herrscher stets im Mittelpunkt des H.es, doch traten Reichsfürsten erstmals schon anläßlich der Mindeijährigkeit Heinrichs IV. zu kaiserlosen Tagen zusammen (1062 bis 1065). Zu solchen Veranstaltungen, die ihr Vorbild in den immer wiederkehrenden Wahltagen hatten, kam es auch während des folgenden Investiturstreites. In dieser großen Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst um die Einsetzung von Bischöfen und Äbten drohten die Teilnehmer des Königlosen Tages zu Tribur (1076) Heinrich IV. - als Reaktion auf den päpstlichen Bann - mit der Erhebung eines Gegenkönigs. Obgleich die
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Hoftag Fürsten Mitträger des Reiches waren und ihnen seit dem 12. Jhd. das durch Herkommen gefestigte Recht zustand, zur Beratung in Reichstagsangelegenheiten zugezogen zu werden, verringerte sich ihre Präsenz auf den H.en so sehr, daß die Königswahl schließlich Sache von wenigen - seit 1257 der Kurfürsten - wurde. Statt aller Reichsfürsten zählten nunmehr die Kurfürsten, die Gefolgsleute des Königs aus seinem Hegemonialbereich in den Erbländern, Machtträger aus der Region des Tagungsortes sowie Einzelpersonen mit spezifischen Anliegen zu den typischen Besuchern der H.e im Spätmittelalter. Hierzu fügte es sich, daß Grafen und andere Herren auf den H.en allmählich an Bedeutung gewannen und selbst das städtisch-bürgerl. Element damals bemerkbar wurde. König und Fürsten begannen, gebildete Berater hinzu zu ziehen, denen sie ein eigenes polit. Gewicht allerdings noch nicht zumaßen. So trat der ursprünglich sozialständische Zusammenhalt der Besucher des H.es im Spätmittelalter mehr und mehr zurück (—> s.a. Stände). Zu den Höhepunkten der spätmittelalterlichen H.e zählten die Zusammenkünfte in Frankfurt/M. und Koblenz 1338 sowie anläßlich des Erlasses des die Königswahl und die Stellung der Kurfürsten regelnden Reichsgrundgesetzes Karls IV. - der goldenen Bulle - die Treffen in Nürnberg und Metz 1356. Demgegenüber wiesen die Tage des schwachen Königs Ruprecht (1400-1410) bereits unübersehbar Merkmale späterer Reichstage auf. Der wachsenden Eigenständigkeit der Kurfürsten während der Versammlung korrespondierte die mangelnde Beherrschung des Ablaufs durch den König. An den jeweiligen polit. Interessen orientierte Gruppenbildung trat als neues Element hinzu, und Opposition artikulierte sich nun auf dem Tag selbst, während sie im Hochmittelalter nur im Fernbleiben einzelner Kurfürsten ihren Ausdruck gefunden hatte. Dadurch wandelte sich die Erscheinungsform des H.es zwar; ihren Wesens-
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Honoratiorenparlament kern änderte die Versammlung aber nicht wirklich. Dieser lag in der im europ. Kontext wohl einzigartigen Verbindung einer in hohem Maße legitimierten Königsgewalt mit besonders starken adligen Teilgewalten. Lit: Schneider / Zeh, S. 3ffi; DVerwGesch I, S. 53ff
Gerhard Deter Hohe Behörde (Montanunion) Die durch den EGKS-Vertrag eingesetzte Kommission trug ursprünglich die Bezeichnung „H. B." (Art. 7ff. EGKSV). Aufgrund von Art. 9 des Vertrages zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der -» Europäischen Gemeinschaften (sog. Fusionsvertrag) vom 8.4.1965 (in Kraft getreten am 1.7.1967) wurde eine Kommission der EG eingesetzt, die an die Stelle der H.n B. der —> EGKS trat, wobei sie die der H.n B. zustehenden Befugnisse und Zuständigkeiten nach Maßgabe des EGKS-Vertrages ausübte. Durch Art. H Nr. 1 des EUVertrages ist die H. B. im EGKS-Vertrag in „Kommission" umbenannt worden. Sie ist - im Unterschied zur Kommission nach dem EG-Vertrag und dem Vertrag über die -> EURATOM - berechtigt, sich durch Erhebung von Umlagen auf die Erzeugung von Kohle und Stahl sowie durch Aufnahme von Anleihen die zur Erfüllung ihrer Aufgaben (vgl. hierzu Art. 2f. EGKSV) erforderlichen Mittel zu beschaffen (Art. 49ff. EGKSV). Lit.: Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl v. 18.4.1951 (BGBl. 1952 II S. 447), zuletzt geänd. durch Beitrittsvertrag v. 24.6.1994 (BGBl. II S. 2022) i.d.F. d. Beschlusses v. 1.1.1995 (ABIEG Nr. L 1/1). R. Steinz: Europarecht, Heidelberg 3 1996.
j. U. Hoheitszeichen -> Staatssymbole Homepage —> Internet Honoratiorenparlament Das H. ist der
Honoratiorenpartei
Honoratiorenpartei der —• Honoratiorenpartei als Parteitypus entsprechende Parlamentstypus. Die polit. Entscheidungen im H. werden durch die einzelnen -> Abgeordneten unmittelbar getroffen, ohne daß diese in geschlossenen Parteiorganisationen zusammengefaßt wären, innerhalb derer die Entscheidung des Abgeordneten vorbestimmt werden. Ein für den parteistaatl. Gruppenpluralismus typischer Dualismus zwischen —» Regierung und —> Opposition fehlt; zwischen den -> Wahlen ist es oppositionellen Abgeordneten noch möglich, auf Grund freier Werbung, durch bessere Argumentation und Überzeugung im —» Parlament die Majorität zu gewinnen. Dies birgt allerdings das Risiko instabiler Regierungen in sich. Ein typisches H. in der dt. —> Verfassungsgeschichte ist die -> Nationalversammlung in der Paulskirche 1848: Von den 830 Abgeordneten und Stellvertretern (bei 585 Mitgliedern) waren 550 akademisch gebildet. Wirtschaftl. Berufe wurden nur von 110 Abgeordneten ausgeübt. Den Hauptteil dieser Gruppe stellten der Großgrundbesitz und das industrielle Großbürgertum, während dem Kleinbürgertum, den Handwerkern und den Kleinbauern nur wenige Abgeordnete zuzurechnen waren. Der fluktuierende Charakter der Versammlung war vielfach aufgrund landsmannschañlicher, wirtschaftl. oder sozialer Zusammengehörigkeit bzw. Interessenparallelität so stark, daß das —> Plenum noch nicht durch den -> Pluralismus festgefügter Formationen gekennzeichnet war. Zufallsmehrheiten waren daher an der Tagesordnung. Die Entwicklung der Arbeiterbewegung und ihrer - » Parteien und der Durchbrach der Massendemokratie führten zum Verschwinden der H.e in Europa. Lit: D. Sternberger / B. Vogel (Hg.): Die Wahl der Parlamente I: Europa, Berlin 1969. Jörg Ukrow Honoratiorenpartei Die H. ist der für den liberalen -> Parlamentarismus des 19. Jhd.s charakteristische Typus einer polit. —> Partei. Die H.en waren Parteien, die
sich mit Aufkommen und Macht des Bürgertums entwickelten. Honoratioren Geistliche, Lehrer und Professoren, Advokaten, Ärzte, Apotheker, vermögende Landwirte, Fabrikanten und vergleichbare Angehörige des wohlhabenden Bürgertums - waren aufgrund ihrer finanziellen Ausstattung in der Lage, polit. Tätigkeit neben- und ehrenamtlich nachzugehen. Organisatorische Grundlage waren zunächst lose miteinander verbundene (lokale) Wahlmännerkollegien, die aus dem —> Parlament heraus geleitet wurden und hauptsächlich zu Zeiten der —» Wahlen in Erscheinung traten. Eine feste, permanent funktionsfähige Parteiorganisation außerhalb des Parlaments als Ort polit. Meinungs- und Willensbildung bestand nicht. Erst unter dem Eindruck der Arbeiterbewegung und ihrer Parteien, der Entwicklung von —> Demokratie und allgemeinem -> Wahlrecht und der damit einhergehenden Notwendigkeit von Massenorganisation und -Werbung entwickelten sich die H. zu festen Organisationen. Wahlmännerkollegien wurden durch Wahlkomitees und Wahlvereine abgelöst, die einen Funktionswandel von Hilfsorganen der Parlamentsfraktionen zur Kandidatenaufstellung und Wahlagitation zur untersten Stufe zentralistisch aufgebauter Parteiorganisationen mit hauptamtlichen Funktionären erlebten. H.en haben z.B. die —> Paulskirchenversammlung 1848, die Fraktionen der Mitte und des rechten Flügels der ΙΠ. frz. Republik 1870-1940 (-> Verfassung, frz.) und das Parlament des präfaschistischen Italiens geprägt. Zum Ende des 19. Jhd.s wurde die H. als Parteitypus allerdings zunehmend von dem Typus der demokrat. Integrationsund Massenpartei abgelöst, ohne allerdings zumindest bis in die Mitte dieses Jhd.s (DNVP während der —> Weimarer Republik; - > FDP der 50er Jahre) vollständig von der polit. Bühne zu verschwinden. Lit: M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51972.. Jörg Ukrow
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Immissionsschutzrecht
House of Commons House of Commons —> Unterhaus, britisches House of Lords —> Oberhaus, britisches Hundesteuer —» Verbrauchsteuern
I A E O Die Internationale AtomenergieOrganisation (International Atomic Energy Agency), 1956 in New York gegründet, mit Sitz in Wien, verfolgt als Ziel die Förderung der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Gleichzeitig sorgen Sicherungsmaßnahmen gegen den Mißbrauch der von der IAEA geleisteten Hilfe zu militärischen Zwecken. Dieses Kontrollsystem dient auch der Überwachung der Einhaltung des 1968 geschlossenen Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (Atomwaffensperrvertrag), der den Kernwaffen-Staaten die Weitergabe von Atomwaffen untersagt, sie aber zur Förderung der friedlichen Nutzung der Kernenergie in Nicht-Kernwaffen-Staaten aufruft, während diese auf Herstellung und Erwerb von Nuklearwaffen verzichten und sich bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie der Aufsicht der IAEA zu unterwerfen. Diese Aufsicht blieb bislang allerdings lückenhaft, da wichtige Kern- und Nicht-KemwaffenStaaten dem Vertrag nicht beitraten. Lit.: T. Lohmann: Die rechtl. Struktur der Sicherungsmaßnahmen der IAEO, Berlin 1993. J.S.
IAO - » Internationale Arbeitsorganisation Identität, nationale —> Nationale Identität -> Repräsentation Immerwährender Reichstag -> Reichstag (bis 1806) Immissionsschutzrecht Das I. beschäftigt 450
sich mit der Gesamtheit der über die Luft vermittelten Immissionen. Das I. untergliedert sich dabei traditionell in die Bereiche Luftreinhaltung, Lärmschutz, Anlagensicherheit. Seit Anfang der 90er Jahre zählt auch Klimaschutz zum I.; die zentrale Vorschrift des I.s ist das Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG), mit dessen Inkrafttreten 1974 die weit verstreuten bisherigen Regelungen ersetzt wurden. Das BImSchG bezweckt, Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kulturund sonstige Sachgüter vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge zu schützen. Neben der Gefahrenabwehr dient das BImSchG aber auch der Vorsorge. Das BImSchG wird ergänzt durch eine Vielzahl von —> Rechtsverordnungen, die sich teils mit einzelnen Stoffen (z.B. Heizölund DieselkraftstoffVO) oder Produkten (z.B. BaumaschinenlärmVO), teils mit der Errichtung und dem Betrieb von Anlagen beschäftigen. Neben einzelnen speziellen Gesetzen des —> Bundes (z.B. Benzinbleigesetz) vervollständigen Landesgesetze und -Verordnungen das I., wobei die Landesregelungen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Von herausragender Bedeutung sind schließlich die Techn. Anleitung (TA) Luft und TA Lärm. Die TAs sind -> Verwaltungsvorschriften, in denen detailliert sowohl die Werte für Immissionen und Emissionen als auch Prüf- und Meßverfahren festgelegt werden. Sie sind daher zur praktischen Umsetzung des BImSchG unerläßlich. Wesentliche Begriffe im I. sind Immissionen und Emissionen. Unter Emissionen versteht man die (Luft-/Lärm-)Beeinträchtigungen, die von einem Emittenten (z.B. Anlage) ausgehen. Diese werden erst am Schutzobjekt (Mensch, Umwelt etc.) zur Immission. Mit dem Immissionsbegriff können unabhängig von der Emittentenquelle Gesamtbelastungen einzelner Stoffe, aber auch in Verbindung mit anderen Stoffen erfa_t und berücksichtigt werden.
Immissionsschutzrecht Bei den Maßnahmen zur Luftreinhaltung stehen die Emissionsbegrenzungen im Vordergrund. Da sowohl die Hauptemittenten (Industrie, Verkehr, Klein- und Großfeuerungsanlagen) als auch die emittierten Stoffe (z.B. Schwefeldioxid, Stäube) und partiell auch deren Schädlichkeit bekannt sind, wird die Politik der Emissionsreduzierung für besonders geeignet gehalten. Bei einer Vielzahl von Stoffen (z.B. Blei) konnte eine Emissionsreduzierung erreicht werden, die z.T. aber durch einen vermehrten Verbrauch kompensiert wurde (z.B. verkehrsbedingte Emissionen). Mit dem Auftreten des sog. Ozonlochs und einer zunehmenden Sensibilisierung für Probleme des „Global Warming" gewann der Bereich des Klimaschutzes an Bedeutung. Das Maßnahmepaket der -> Bundesregierung zur Begrenzung der C(^-Emissionen weist zwar in die richtige Richtung, kann aber eine erforderliche globale Regelung nicht ersetzen. Wissenslücken im Bereich der Klimaforschung sowie die Vielzahl der zu berücksichtigenden Interessen bei einer weltweiten Lösung haben bisher eine globale Regelung verhindert. Gleichwohl wird zukünftig dem Klimaschutz eine Schlüsselstellung im I. zukommen. Wie in allen Bereichen der - > Umweltpolitik gewinnt die -> EU immer mehr an Bedeutung. Während in der Vergangenheit überwiegend -> EG-Richtlinien über den Umgang mit einzelnen Stoffen dominierten, stehen neuerdings abstraktere Regelungen im Vordergrund. Diese Entwicklung führte von der Umweltverträghchkeitsprüfungs-Richtlinie (-> Umweltverträglichkeit) zu der 1996 verabschiedeten Richtlinie über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung. Damit soll in den Mitgliedstaaten ein einheitliches Genehmigungsverfahren für Anlagen, von denen umweltrelevante Wirkungen ausgehen, eingeführt werden. Während in Dtld. durch die Richtlinie wohl kaum die Prüfdichte zunehmen wird, müssen eine Reihe von EU-Staaten erhebliche Anstrengungen
Immunität unternehmen. Insg. wird eine Europäisierung des I. erwartet.
weitere
IÀL: C. Determann: Neue gefahrverdächtige Technologien als Rechtsproblem, Berlin 1996; C. Feldhaus: Bundesimmissionsschutzgesetz, Heidelberg 1998; H.D. Jarass: Bundesimmissionsschutzgesetz, München31997.
Christoph Schmihing Immunität Die parlament. I. ist für die Mitglieder des —> Bundestages in Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG geregelt. Danach sind die Verfolgung seiner Mitglieder wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung und sonstige Beschränkungen ihrer persönlichen Freiheit von einer Genehmigung des Bundestages abhängig. Die I. ist kein Privileg des einzelnen —> Abgeordneten, sondern schützt das Ansehen sowie die Arbeits- und Funktionsfahigkeit des - » Parlaments als solches. Verfolgung „wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung" meint strafrechtl., disziplinarrechtl. und ehrengerichtliche Verfahren gegen Abgeordnete, nicht dagegen die Verfolgung wegen einer —> Ordnungswidrigkeit. Der Schutz des Bundestages betrifft bereits den gesamten Bereich des Ermittlungsverfahrens, beginnt also nicht erst bei der Verhängung von Strafen. Ein Genehmigungserfordemis besteht ausnahmsweise nicht, wenn der Abgeordnete auf frischer Tat ertappt oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird. Daneben bedürfen auch jede andere Beschränkung der persönlichen —> Freiheit des Abgeordneten (z.B. Erzwingungshaft im Zivilprozeß) sowie Verfahren nach Art. 18 - » Grundgesetz (—> Grundrechtsverwirkung) der Genehmigung. Soweit Maßnahmen im Schutzbereich des I.srechts bereits getroffen worden sind, müssen sie auf Verlangen des Parlaments ausgesetzt werden (Art. 46 Abs. 4 GG). In zeitlicher Hinsicht beschränkt sich der Schutz auf die Dauer des -> Mandats. Nähere Regelungen zum I.srecht sind nur vereinzelt in gesetzlichen Bestimmungen, nämlich in §§ 78b StGB, 904, 905 ZPO, 152a StPO und 6 EGStPO enthalten. Die
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Immunität
eigentliche Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens wird durch § 107 GOBT und die Anlage 6 zur GOBT getroffen. Durch einen Beschluß, der jeweils zu Beginn der -» Wahlperiode übernommen wird, erteilt der Bundestag generell die Genehmigung zur Durchführung strafrechtl. Ermittlungsverfahren gegen seine Mitglieder. 48 Stunden nach Eingang einer entsprechenden Mitteilung beim -> Bundestagspräsidenten könnten die Strafverfolgungsbehörden ohne weiteres ihre Ermittlungen aufnehmen. Ausgenommen hiervon sind freiheitsentziehende oder beschränkende Maßnahmen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie Ermittlungen wegen polit. Beleidigungen. Für die Erhebung der öffentl. Klage, den Erlaß eines —> Strafbefehls und in den oben bezeichneten Ausnahmefallen müssen Einzelfallgenehmigungen des Bundestages eingeholt werden. Dieser entscheidet auf der Grundlage einer Empfehlung seines -> Ausschusses für Wahlprüfung, I. und Geschäftsordnung über die „Aufhebung der I ". Diese vielfach gebrauchte Ausdrucksweise ist unscharf, weil die Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens für jeden einzelnen Vorwurf einer strafbaren Handlung erteilt werden muß. Es kann also dazu kommen, daß die I. eines Abgeordneten mehrfach „aufgehoben" wird. Dies läßt auch dessen Rechtsstellung im übrigen unberührt. Er bleibt weiterhin Mitglied des Bundestages und ist in der Ausübung seines Mandats nicht weiter beeinträchtigt. Der Bundestag pflegt in ständiger Praxis die Durchführung von Strafverfahren gegen seine Mitglieder zu genehmigen. Eine Ausnahme besteht allerdings wiederum bei polit. Beleidigungen. Erstmals in der Geschichte der BRD wurde im November 1997 eine zunächst erteilte immunitätsrechtl. Genehmigung gem. art. 46 Abs. 4 GG wiederrufen. Für die Mitglieder der dt. Landtage stellen die jeweiligen Verfassungen der Bundesländer den I.sschutz sicher. Auch die meisten Mitgliedstaaten der —> Euro452
Immunität
päischen Union verfügen über Regelungen zur I. ihrer Abgeordneten. Obwohl in einer Reihe von Staaten bzw. Bundesländern Besonderheiten bestehen, sind die jeweils einschlägigen Regeln denen des GG im wesentlichen ähnlich. Deutliche Unterschiede bestehen allerdings in Großbritannien (—• Common Standing Orders), —> Irland und den —> Niederlanden. Diese Staaten kennen zwar einen ausgeprägten Schutz der Rede- und Handlungsfreiheit ihrer Abgeordneten (-> Indemnität Art. 46 Abs. 1 GG); Regelungen zur I. i.e.S. also eines Genehmigungsvorbehaltes oder sonstigen Schutzes bei Strafverfolgung oder Verhaftung sind hier jedoch nicht oder nur sehr eingeschränkt vorhanden. In —> Österreich, —> Schweden und auch in -> Bayern wird eine Unterscheidung zwischen strafbaren Handlungen mit und ohne Zusammenhang zum Amt bzw. zur polit. Tätigkeit des betreffenden Abgeordneten vorgenommen. Die I. der Mitglieder des —> Europäischen Parlaments ist in Art. 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der EG vom 8.4.1965 geregelt. Im Hoheitsgebiet des jeweils eigenen Staates wird ein MdEP den nationalen Parlamentariern gleichgestellt. Im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaates dürfen MdEPs nicht festgehalten oder gerichtlich verfolgt werden. Eine Ausnahme bildet auch hier die Ergreifung auf frischer Tat. Das EP besitzt die Befugnis, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben. Der größte Teil der I.sregelungen im kontinentalen Europa - so auch die des GG - geht auf die frz. -> Charte Constitutionnelle von 1814 bzw. auf die Belg. Charte von 1831 zurück. Seinerzeit diente das I.srecht dem Zweck, die Parlamentarier vor willkürlichen, tendenziösen Übergriffen der monarchischen —> Exekutive zu schützen. Im -> Verfassungsstaat des GG, in dem die Mehrheit im Parlament auch die Regierung stützt, besteht der Gegensatz zwischen -> Legislative und Exekutive nicht mehr in dieser Weise. Das I.srecht wird deshalb teilw. als über-
Imperatives Mandat
Impeachment hohes, nicht mehr zeitgenössisches Rechtsinstitut betrachtet. Es bewirkt jedoch nach wie vor in den meisten europ. Staaten, daß die Parlamente selbst darüber entscheiden, ob andere Staatsgewalten auf Abgeordnete zugreifen dürfen. Diesem Verständnis liegt nicht zuletzt der Gedanke zugrunde, daß das Parlament in seiner Gesamtheit den Volkswillen repräsentiert und deshalb von außen nicht ohne weiteres die vom Wähler bestimmte generelle und aktuelle Zusammensetzung der Volksvertretung verändert werden darf. IM.: H. Butzer: Immunität im demokrat. Rechtsstaat, Berlin 1991; C. Schultz-Bleis: Die Parlament. Immunität der Mitglieder des Europ. Parlaments, Berlin 1995; R. Wurbs: Regelungsprobleme der Immunität und der Indemnität in der Parlament. Praxis, Berlin 1988.
Monika Jantsch Impeachment (amerik.) ist das Amtsenthebungsverfahren gegen Bundesbeamte (bis hin zum Präsidenten) und Bundesrichter wegen Verrats, Bestechung oder anderer schwerwiegender Verbrechen und Vergehen (Art. 2.4 —> Verfassung der USA). Die Anklage wird vom -> Repräsentantenhaus erhoben, den Schuldspruch fällt der -> Senat mit Zweidrittelmehrheit. Richtet sich das Verfahren gegen den —> Präsidenten, findet die Verhandlung im Senat unter dem Vorsitz des Obersten Richters (Chief Justice) des —> Supreme Court statt. Ein Schuldspruch führt zu Amtsenthebung und Disqualifikation filr öffentl. - » Ämter. Strafrechtl. Folgen können sich in einem weiteren, vom I. getrennten Gerichtsverfahren ergeben. Das sonst unumschränkte Begnadigungsrecht des Präsidenten ruht beim I.; bei Richtern ist dieses Verfahren wegen der lebenslangen Amtszeit der einzige Weg, sie bei Verfehlungen abzusetzen. Am spektakulärsten (und seltensten) sind I.s gegen Präsidenten. Nur einmal wurde ein solches Verfahren bis zum Ende durchgeführt; die Gegner A. Johnsons scheiterten 1867 im Senat nur knapp. 1974 trat R. Nixon zurück, bevor das
Verfahren zu seiner Absetzung wegen krimineller Aktivitäten führte (womit er auch die Begnadigung durch Präsident G. Ford ermöglichte). Aber auch sonst sind I.s extrem selten. 1789 bis 1996 gab es nur 14 I.s, von denen 7 zum Erfolg führten. Diese geringe Zahl verhüllt allerdings, daß viele Amtsträger in der Gewißheit eines drohenden I.s wie Nixon den Rücktritt gewählt haben. Sind I.s polit, oder jurist. Verfahren? Die Trennlinie ist nicht scharf gezogen. Einerseits verweisen das fehlende —> Begnadigungsrecht und die Trennung von der Strafverfolgung auf einen polit. Charakter; andererseits zeigen Präzedenzfälle, daß rein polit. I.s erfolglos blieben. Die Verfahren gegen den Richter am Supreme Court S. Chase (1805) oder gegen Präsident Johnson (1867) waren Versuche parteipolit. Gegner, die Angeklagten unter einem Vorwand zu Fall zu bringen. Beide Versuche scheiterten. Spätere polit, motivierte Verfahren wurden zwar gefordert (gegen Chief Justice E. Warren 1960), gelangten aber nicht bis vor den Senat. So ist dieses Verfahren ein sehr seltenes, aber doch wirksames Mittel zur Entfernung krimineller Elemente aus dem Bundesdienst. Lit: M. J. Gerhardt: The Federal Impeachment Process, Princeton 1996. J. R. Labovitz: Presidential Impeachment, New Haven 1978.
Michael Dreyer Imperatives Mandat (von lat. imperare = befehlen). Ein i.M. liegt vor, wenn deijenige, der ein -> Mandat (von lat. mandatimi = Auftrag) übernommen hat, sich strikt an vorgängige oder für jede Einzelentscheidung neu einzuholende Anweisungen des Auftraggebers halten muß. Der Gegenbegriff ist der des freien Mandats; bei ihm muß im Interesse und in Rückkoppelung mit dem Auftraggeber, doch nicht aufgrund von unmittelbar zu befolgenden Anweisungen, gehandelt werden. Wichtig sind beide Begriffe im Zusammenhang der Erörterung, wie —» Demokratie bzw. -> Repräsentation aus453
Imperatives Mandat zugestalten seien. Im Kern geht es um die Regelung der Beziehungen zwischen den Regierenden und den Regierten. Wird Demokratie als Annäherung an einen Idealzustand der Identität von Herrschenden und Beherrschten verstanden, so gilt jede arbeitsteilige Differenzung zwischen Regierenden und Regierten als - möglichst gering zu haltende - Abweichung vom Sollwert. Vor allem müssen eigenständige Entscheidungsspielräume der Regierenden dann so klein wie möglich gehalten werden. Neben der umfangreichen Einführung von —> Volksabstimmungen, also von plebiszitärer Demokratie, soll dem v.a. das i.M. der Repräsentanten dienen. Forderungen nach ihm unterscheiden sich i.d.R. darin, welcher Personengruppe das Recht zur Erteilung bindender Weisungen an den Inhaber eines i.M. s zuerkannt werden soll. Die am häufigsten erörterten Möglichkeiten sind: Räte; die Bevölkerung im Wahlkreis eines Abgeordneten; oder zuständige Parteigremien. Die am systematischsten ausgearbeitete normative Theorie des i.M.s will, daß von den Regierten auf örtlicher Ebene Räte mit möglichst umfangreichen Entscheidungsvollmachten der unmittelbar Betroffenen gebildet werden. Übergeordnete Räte sollen hingegen, und zwar mit möglichst wenigen Hierarchiestufen, nur jene Dinge entscheiden, welche die Räte an der Basis aufgrund überörtlicher Zusammenhänge nicht sinnvoll gestalten können (—> Subsidiarität). Damit sich die übergeordneten Räte nicht entgegen dem Leitprinzip unmittelbarer Demokratie eigenständige Gestaltungsspielräume erschließen, sollen die Mitglieder übergeordneter Räte von den jeweils ihre Basis darstellenden Räten gewählt, mit einem i.M. ausgestattet und jederzeit abberufbar sein. Im Zentrum aller Begründungen und Ausgestaltungen des i.M.s, und nicht nur ihrer im Rätegedanken gipfelnden demokratietheoretischen Radikalform, steht mangelndes -> Vertrauen zum demokrat. Potential polit. Repräsentation sowie
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Imperatives Mandat Mißtrauen gegenüber alternativen Möglichkeiten, die Regierenden bzw. Repräsentanten von der Zustimmungsbereitschaft der Regierten bzw. der Repräsentierten abhängig zu halten. Die Befürwortung eines rechtl. festgelegten i.M.s geht darum regelmäßig mit der Ablehnung einer repräsentativ ausgestalteten Demokratie einher, deren Kemelement das rechtl. freie, doch zugleich praktisch durch polit. Verantwortlichkeit in der Möglichkeit seiner willkürlichen Inanspruchnahme eingeschränkte Mandat ist. Das praktische Problem aller mit i.M. arbeitenden Formen polit. Arbeitsteilung ist deren geringe Effizienz sowie ihre funktionslogisch bedingte Neigung zur Blockade rascher bzw. wirksamer Entscheidungen. Grund dafür ist, daß es den Inhabern eines i.M.s meist an Verhandlungsspielräumen oder zumindest an ausreichender Verhandlungsmasse für Kompromisse bzw. sog. Paketlösungen fehlt. In der polit. Wirklichkeit brechen auf dem i.M. aufbauende Entscheidungsstrukturen darum rasch zusammen; oder das i.M. wird faktisch dem durch polit. Rücksichtnahmen eingegrenzten freien Mandat angenähert; oder es sorgen Vorentscheidungsprozesse außerhalb der vom i.M. geprägten Verhandlungsstrukturen dafür, daß allenthalben „gleiche Aufträge" erteilt werden. Beispiel für die letztere Entwicklungsmöglichkeit ist die Koppelung des Rätegedankens und des i.M.s mit der Führungsrolle der kommunistischen Partei in den realsozialistischen Staaten. Dergestalt wird der demokrat. Leitgedanke des i.M.s offenkundig in sein Gegenteil verkehrt. Histor. haben sich machtvolle Vertretungskörperschaften nur dort entwickelt, wo ihre Mitglieder ein rechtl. freies Mandat ausüben, etwa im Fall des engl. Parlaments (-> Parlamentsgeschichte, brit.). Hingegen sanken die mit i.M. ausgestatteten Ständevertretungen, etwa des fiz. Königreiches, zur Bedeutungslosigkeit ab, da sie kaum Verhandlungs- und Entscheidungsspielräume besaßen. Alle geschichtl.
Imperatives Mandat und polit. Erfahrungen sprechen also dagegen, im i.M. ein wirkungsvolles Mittel zur Sicherung von Demokratie zu sehen. In Dtld. machten als bislang letzte Partei die —> Grünen einen entsprechenden Lernprozeß durch. Während die Vorstellungen von einem i.M., das die Bürger erteilen sollten, recht blaß blieben, gewann mit dem Aufkommen starker polit. -> Parteien die Diskussion um das i.M. einen neuen Aspekt: Das Demokratiedefizit Parlament. Repräsentation könne dadurch geheilt werden, daß die Abgeordneten ihren Parteien gegenüber rechenschaftspflichtig bzw. von ihnen, i.S. eines i.M.s, abhängig gehalten würden. Aus dem Abgeordneten als einem freien Repräsentanten würde dergestalt ein techn. Zwischenglied, das die in Parteigremien gebildeten und durch allgemeine Wahlen quasi-plebiszitär mit demokrat. —> Legitimität ausgestatteten Parteipositionen in die Parlamente transferiert und durch Parlamentsbeschlüsse den Parteiwillen zum Staatswillen transformiert. Die so entstehende —» Parteiendemokratie sei dann die rationalisierte Version einer letztlich plebiszitären Demokratie (so die folgenreiche Parteienstaatslehre von G. Leibholz). Weil starke Parteien als Erfahrungsgrundlage solcher Sichtweisen erst nach der Entwicklung der liberalen Theorien repräsentativer Demokratie entstanden, wird die von ihnen bewirkte praktischpolit. Einschränkung einer willkürlichen Inanspruchnahme der rechtl. garantierten Spielräume meist als Widerspruch zum etwa in GG Art. 38,1 festgelegten - freien Mandat aufgefaßt und als Einfallstor des rechtl. untersagten i.M. aufgefaßt. Empirische Untersuchungen zeigen aber, daß die meisten dt. Abgeordneten hier durchaus keinen Widerspruch erleben: Über 80% verstehen sich als Inhaber eines freien, an die 6% als Inhaber eines i.M.s; zugleich sind aber drei Viertel von ihnen zumindest regionale Führer ihrer Parteien; und letztlich alle verstehen ihr Mandat dahingehend, die Interessen ihrer Wähler
Indemnität und die Positionen ihrer Parteien im Parlament gemäß eigener Urteilskraft vertreten zu sollen. Lit: U. Bermbach: Repräsentation, imperatives Mandat und Recall, in: K. v. Beyme (Hg.), Theorie und Politik, Den Haag 1971, S. 497ff.; P. Kevenhörster: Das imperative Mandat, Frankfurt/M. 1975.· C. Müller: Das imperative und freie Mandat, Leiden 1966; G. Schräfer: Die Grünen im Dt. Bundestag, Nürnberg 1985.
Werner J. Patzelt Indemnität Die I. befreit den -> Abgeordneten von der rechtl. Verantwortlichkeit für seine Äußerungen oder sein Abstimmungsverhalten im Parlament. Sie ist für die Mitglieder des —» Bundestages in Art. 46 Abs. 1 GG geregelt. Neben der Abstimmung sind alle Formen der Äußerung, insbes. mündliche und schriftliche -> Anfragen an die Regierung, Beiträge zur —> Debatte, —> Zwischenrufe und schriftliche —> Anträge von diesem Schutz erfaßt. Ausgenommen sind verleumderische Beleidigungen. Voraussetzung ist, daß sich das fragliche Verhalten im —> Plenum, in einem Ausschuß oder einer -» Fraktion, nicht also im außerparlament. Bereich zuträgt. Der Schutz richtet sich gegen jedwede staatl. Maßnahme außerhalb des Parlaments, also gegen strafrechtl., disziplinarrechtl. und ehrengerichtliche Sanktionen. Unzulässig sind auch zivilrechtl. Unterlassungs-, Widerrufs- und Schadensersatzklagen. Die I. schützt dagegen nicht vor Parlament. Ordnungsmaßnahmen (insbes. gem. §§ 36-38 GOBT). Die I. steht in engem Zusammenhang mit der Parlament. —> Immunität gem. Art. 46 Abs. 2-4 GG. Im Gegensatz zu dieser verbietet die I. jedoch generell die Verfolgung; diese kann also auch nicht durch eine Genehmigung des Bundestages ermöglicht werden. Während das Strafverfolgungshindernis der Immunität mit dem Ablauf des —> Mandats entfällt, bleibt der Schutz der I. auch nach diesem Zeitpunkt erhalten. Für die Mitglieder der Landtage garantieren die jeweiligen Landesverfassungen
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Individualrechte
Indigenat I. in vergleichbarer Weise; lediglich die Ausnahmeregelung für verleumderische Beleidigungen besteht nicht in allen Bundesländern. Ähnliches gilt in den Mitgliedstaaten der -> Europäischen Union sowie für die Mitglieder des -> Europäischen Parlaments, wenn auch z.T. andere Bezeichnungen gewählt werden. In Großbritannien und ähnlich auch in Irland besteht die Besonderheit, daß sich die Redefreiheit auch auf Beamte, Zeugen, Anwälte, Antragsteller und andere Personen erstreckt, die im Parlament das Wort ergreifen. Lit.: E. Hilgendorf: Die Entwicklungsgeschichte der Parlament. Redefreiheit in Dtld., Frankfurt/M. 1991.
Monika Jantsch Indigenat (lat. indigena = eingeboren) ist eine früher gebräuchliche Bezeichnung für die Zugehörigkeit einer Person zu einem Gemeinwesen (-» Gemeinde, Staat). Es bedeutet soviel wie Untertanschaft, Staats- oder Ortsangehörigkeit. Gem. Art. 3 der Reichsverfassung von 1871 bestand für das -> Deutsche Reich ein gemeinsames I. mit der Wirkung, daß —> Staatsbürger eines jeden —> Bundesstaates in jedem anderen Bundesstaat als Inländer zu behandeln waren und demgemäß die gleichen Rechte genossen wie die Einheimischen (z.B. Zulassung zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetrieb, zu ölfentl. Ämtern oder zur Erlangung der —> Staatsbürgerschaft). Art. 3 schuf damit eine wesentliche Voraussetzung der Reichsgleichheit und Reichseinheit. Die Regelung ähnelt der im —> Völkerrecht und - » Europäischem Gemeinschaftsrecht bekannten Inländergleichbehandlung ausländischer Staatsangehöriger. Der Grundgedanke des I.s ist heute in Art. 33 Abs. 1 GG enthalten, nach dem jeder Deutsche in jedem Bundesland die gleichen staatsbiirgerl. Rechte und Pflichten hat. R. M.-T. Indirekte Wahl
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Wahl
Individualrechte bilden die Grundlage der Rechtsordnung pluralistisch verfaßter - » Demokratien. Sie setzen den einzelnen -> Bürger, soweit er Träger der I. sein kann, als Rechtssubjekt in den Stand, seine Ansprüche gegenüber dem Staat Grundrechte) oder anderen (natürlichen oder jurist.) Personen als rechtmäßig geltend zu machen und notfalls vor dem zuständigen -> Gericht durchzusetzen. Sie sind somit begrifflich von den —> Kollektivrechten sowie - als Teil der -> subjektiven öffentlichen Rechte - von dem —> objektiven Recht abzugrenzen. In ihrer Struktur lassen sich I. in Rechte auf etwas (z.B. auf Leben), Freiheiten etwas zu tun oder dasselbe nicht zu tun (z.B. zu wählen) und Kompetenzen (z.B. eine Ehe zu schließen) unterscheiden. Die erst im 18. Jhd. gebräuchlich werdende Bezeichnung des einzelnen als Rechtssubjekt setzte rechtshistor. die Überwindung eines Verständnisses von -> Recht als ausschließlich objektive Regelung der Verhältnisse voraus, das in der röm. Rechtstradition vorgeherrscht hatte. Für die Voraussetzungen der Entstehung von I.n sind unterschiedliche Aspekte hervorgehoben worden: Ein wesentlicher Faktor für die Herausbildung der I. ist dabei in den semantischen Verschiebungen des Rechtsbegriffs i.S. einer persönlichen Befugnis zu sehen, die sich bereits für das 12. und 13. Jhd. (z.B. bei Wilhelm von Ockham um 1290-1350) nachweisen lassen. Zusätzlich könnten die Krise des scholastisch-naturrechtl. Ordodenkens und die sich zeitgleich herausbildenden besitzindividualistischen Ansprüche im 17. Jhd. die Durchsetzung der I. befördert haben. Darüber hinaus wird auch die normative Qualität der I. im Rahmen der polit. Theorie unterschiedlich beurteilt. War für Thomas Hobbes (1588-1679) das natürliche Recht eines jeden auf alles die denklogische Voraussetzung seines Leviathan, sind für den Utilitarismus natürliche Rechte des einzelnen „blanker Unsinn auf Stelzen" (Jeremy Bentham 1748-
Industrie- und Handelskammer 1832) und I. nur eine Funktion der Glücksmaximierung. Gegen den Utilitarismus richtet sich die liberale, an Kant anknüpfende Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls. Sie beruht als deontologische Ethik auf einem System allgemein verbindlicher Normen und stellt den einzelnen und seine Rechte in das Zentrum ihrer Gesellschaftskonzeption. Eine solche normative Qualität der I. ist in den letzten Jahren von Vertretern des —> Kommunitarismus - unter Rückgriff v.a. auf Aristoteles (384-322 v. Chr.) und Hegel (1770-1831) - aufgrund der gemeinschaftsschädigenden Wirkung der I. in Frage gestellt worden. Gleichwohl sind I. für eine gleichermaßen an —> Gerechtigkeit wie Rechtssicherheit orientierte Ethik ohne Alternative. LU.: R. Alexy: Individualrechte und kollektive Güter, in: ders., Recht, Vernunft und Diskurs, Frankfurt/M. 1995, 232ff; A. Etzioni: Rights and the Common Good, New York 1995; G. Jellmek: System der subjektiven öffentl. Rechte, Tübingen 2 1905.
Oliver Lembcke Industrie- und Handelskammer (IHK) -> Deutscher Industrie- und Handelstag —> Arbeitgeberverbände Ineligibilität Unter I. wird der rechtl. Ausschluß der Wählbarkeit zu öffentl. Vertretungskörperschaften verstanden. Dieser Ausschluß soll - ähnlich wie die -»• Inkompatibilität, die allerdings nur die Unvereinbarkeit von —> Amt und —> Mandat zum Gegenstand hat, während die I. bereits die Gültigkeit der Kandidatur oder Wahl eines Bewerbers beeinträchtigt namentlich dem Schutz der —» Gewaltenteilung dienen. Denn die zunehmende sog. Verbeamtung der -> Parlamente birgt nicht unerhebliche Risiken im Hinblick auf das materielle Gewaltenteilungsprinzip (—> s.a. parlamentarische Sozialstruktur). Während Art. 137 Abs. 1 GG die Möglichkeit eröflnet, durch —> Gesetz die Unvereinbarkeit eines Mandats mit einem in Art. 137 GG genannten Beamten- bzw.
Informationen zur politischen Bildung Dienstverhältnis vorzusehen, würde eine weiterreichende, generelle I. einen Verstoß gegen den Grundsatz der allgemeinen und gleichen Wählbarkeit (Art. 38 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG) darstellen und wäre daher verfassungswidrig. Durch die Wahlgesetze wird allerdings die Wählbarkeit, von der Art. 38 Abs. 2 GG nur das Alter als Kriterium indirekt regelt (vgl. hierzu auch § 15 Abs. 1 Nr. 2 BWG), erheblich stärker eingeschränkt als das aktive -> Wahlrecht. Ausgeschlossen von der Wählbarkeit zum -> Bundestag ist nach § 15 BWG nicht nur, wem das aktive Wahlrecht fehlt (Abs. 2 Nr. 1), sondern u.a. auch, wer am Wahltag nicht seit mindestens einem Jahr Deutscher i.S. des —> Grundgesetzes ist (Abs. 1 Nr. 1; —• s.a. Staatsbürgerschaft), bzw. wer infolge Richterspruchs die Wählbarkeit oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentl. Ämter nicht besitzt (Abs. 2 Nr. 2). Vergleichbare Regelungen finden sich in den gesetzlichen Bestimmungen zur Wahl der Landesund Kommunalparlamente. Das —> Bundesverfassungsgericht hat solche Beschränkungen der Wählbarkeit mit der Tradition gerechtfertigt. Lit: R. Bernhard: Richteramt und Kommunalmandat, Berlin 1983.
J. U. Informationen zur politischen Bildung ist ein mehrmals im Jahr erscheinendes Periodikum und die auflagenstärkste Publikation der —> Bundeszentrale für polit. Bildung. Jede Ausgabe ist einem übergreifend bedeutenden Themenkomplex gewidmet und gliedert sich, allgemeinverständlich sowie mit vielen Illustrationen, in fachlich-wissenschaftl. Sachdarstellungen, didaktische Kommentare für die Praxis der —> Politischen Bildung und gezielte Literaturhinweise. Die teilw. von Zeit zu Zeit neubearbeiteten Hefte ergeben ein Kompendium wichtiger Begriffe, Grundlagen, Theorien, Institutionen, Aufgaben sowie Vorgänge der Politik und gelten als die am häufigsten verwendete Materialquelle (für die Vorbereitung) des Politik-
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ΙΚΤ
Inkompatibilität
Unterrichts. Lit: W. Fricke: Die 'Informationen zur polit. Bildung' in der Schule. Anmerkungen zu den Verwendungsmöglichkeiten einer t)eliebten' Publikation, in: W. Cremer/I. Commichau (Red.), Zur Theorie und Praxis der polit. Bildung, Bonn 1990, S. 391ff. B.C.
Informations- und Kommunikationstechniken —> Parlamentskanal Informationsdienste -> parlamentarische Informationsdienste Informationsfreiheit —> Meinungsfreiheit Informationspflicht der Regierung -> Berichte der Bundesregierung Informationspolitik arbeit
Öffentlichkeits-
Initiativrecht -> Gesetzesinitiativrecht Inkompatibilität i.S. des —> Staatsrechts meint die Unvereinbarkeit der gleichzeitigen Ausübung zweier oder mehrerer Funktionen durch dieselbe Person. I. kann v.a. zwischen verschiedenen öffentl. Funktionen auftreten. Während der Betroffene bei der sog. -> Ineligibilität (NichtWählbarkeit), die das Zusammentreffen von —> Amt und -» Mandat verhindert (vgl. § 15 Π BWG), keine Wahlmöglichkeit besitzt, kann er bei inkompatiblen Ämtern entscheiden, welche Aufgabe er wahrnehmen will. Die I. folgt bei öffentl. Funktionen aus dem Grundsatz der —> Gewaltenteilung. Machthäufung und Ämterverfilzung sollen verhindert und eine effiziente Kontrolle der staatl. Organe gewährleistet werden, was voraussetzt, daß die Kontrollierenden mit den Kontrollierten personell nicht identisch sind. Das —> Grundgesetz enthält eine ganze Reihe ausdrücklicher I.sregeln: Art. 53a Abs. 1 S. 2 (Mitglied der —> Bundesregie458
rung / Mitglied des —» Gemeinsamen Ausschusses als -» Abgeordneter), Art. 55 (-> Bundespräsident / Minister-, Abgeordneten- oder sonstiges besoldetes Amt, gewerbliche oder berufliche Tätigkeit u.a.), Art. 94 Abs. 1 S. 3 (Bundesverfassungsrichter / Mitglied des —> Bundestages, des —> Bundesrates, der Bundesregierung oder eines entsprechenden Organs eines Landes u.a., vgl. auch § 3 ΠΙ, IV BVerfGG). Die -> Länderverfassungen enthalten ähnliche Bestimmungen. Auf die Abgeordneten des Bundestages erstreckt sich der Grundsatz der I. aber nicht nur im Zusammenhang mit herausgehobenen Ämtern: Art. 137 Abs. 1 GG i.V.m. dem -> Abgeordnetengesetz vom 18.2.1977 bestimmt, daß die Rechte und Pflichten eines dem Bundestag angehörenden Beamten, —> Richters, Soldaten oder -» Angestellten des öffentl. Dienstes für die Dauer der Mandatsausübung ruhen. Die Verfassungen der Länder enthalten für deren Parlamente entsprechende Vorschriften. Auch das Kommunalrecht kennt Unvereinbarkeitsregeln. Des weiteren bestimmt § 4 des dt. Richtergesetzes, daß ein Richter Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt und solche der gesetzgebenden oder vollziehenden Gewalt (mit Ausnahme der Gerichtsverwaltung) nicht zugleich wahrnehmen darf. Neben diesen Regelungen gibt es ungeschriebene Grundsätze, die den Rechtsgedanken den I. aufgreifen: So hält die h.L. auch ohne entsprechende Vorschrift des GG - die gleichzeitige Mitgliedschaft in Bundestag und Bundesrat für unzulässig (vgl. § 2 GOBR). Zur Begründung wird ausgeführt, daß eine Mitgliedschaft in beiden Gremien die Ergänzungs- und Kontrollfunktion des Bundesrates fühlbar beeinträchtigen könnte. Andererseits erachtet die h.L. die Funktion des Abgeordneten mit der des Ministers für vereinbar, da Parlament und Regierung in gleicher Weise polit. Funktionen ausüben und deshalb „gleiche Qualitäten ihrer Mitglieder" voraussetzen. In Ermangelung einer europ. Verfassung
Inkrafttreten
Innere Sicherheit
und eines einheitlichen Wahlverfahrens verfügen die Mitgliedstaaten der —> EU unter Beachtung des geltenden —> Europäischen Gemeinschaftsrechts über einen weiten Ermessensspielraum hinsichtlich der Festlegung von I.en zwischen der Ausübung bestimmter Ämter bzw. Tätigkeiten und dem Mandat im —> Europäischen Parlament. Die entsprechenden Regelungen weisen deshalb große Unterschiede auf. Die Mitgliedschaft im Bundestag ist vereinbar mit dem Mandat im EP. Lit: Schneider / Zeh. S.. 489ff.; G. Sturm: Die Inkompatibilität, München 1967.
Gerhard Deter Inkrafttreten —> Gesetz -> Gesetzgebung Innenminister / -ium -» Bundesministerium des Innern Innenpolitik bezeichnet die Gesamtheit aller institutionalisierten Verfahren, Handlungen und ihre Ergebnisse, welche als Teilbereiche der -> Politik auf die innere Ordnung und ihre Gestaltung eines polit. Gemeinwesens gerichtet ist, insoweit diese nicht anderen Politiken zugeordnet sind. Als zentrale innenpolit. Kompetenzbereiche sind zu nennen: staatl. Rechtsordnung, Verwaltungsorganisation und Kommunalwesen, - » Innere Sicherheit, —* Polizei, Bundesgrenzschutz, —> Öffentlicher Dienst, —> Asyl und Ausländerangelegenheiten sowie kulturelle Angelegenheiten des Blindes (s.a. -> Zivilschutz. —> Bundesministerium des Innern). Hg. Innere Führung —> Bundeswehr Innere Sicherheit Der Begriff IS kennzeichnet im politikwissenschaftl. Verständnis ein Politikfeld IS. Von einem Politikfeld kann dann gesprochen werden, wenn ein abgrenzbarer Kreis von Handelnden (Akteure) in einem Teilsegment des Polit. Systems (Polity) identifizierbar
ist, die auf der Grundlage von formellen und informellen Entscheidungs- und Willensbildungsverfahren (Politics) an der Produktion von Politikinhalten (Policy) in dem Teilsystem beteiligt ist. Die Politikinhalte können bestehen aus —> Gesetzen und -» Normen, sie können ebenso die Zuteilung staatl. Güter beabsichtigen (Subventionen, Fördermittel) oder aber die Beziehungen des Teilsystems zu anderen polit. Ebenen oder Politikfeldern zum Gegenstand haben (Bund-Länder-Beziehungen). IS definiert in diesem Sinne ein System von staatl. -> Institutionen und Einrichtungen, die durch -> Verfassung und -> Organe der demokrat. -> Willensbildung legitimiert sind, das öffentl. Gewaltmonopol im Rahmen rechtl. festgelegter Regeln exekutiv unter Anwendung auch von Zwangsmitteln auszuüben. IS als Politikfeld weist darauf hin, daß an der zugrunde liegenden Politikproduktion neben den exekutiven Institutionen und Einrichtungen (v.a. —> Polizei und —> Staatsanwaltschaften) weitere Akteure beteiligt sind. Zu nennen sind hier die —> Innenministerien, parlament. Institutionen (—> Bundestag, —> Landtage, v.a. deren Innenausschüsse), des weiteren —> Parteien und —> Verbände (Polizeigewerkschaften) sowie föderale Verhandlungsgremien (Innenministerkonferenz, Ausschüsse des —> Bundesrates). In den 50er und 60er Jahren sind die Beziehungen zwischen den Sicherheitsbehörden noch nicht so verdichtet, daß es sich rechtfertigt, von einem Politikfeld IS zu sprechen. Der entscheidende Schritt dazu wird Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre gelegt: Die -> Notstandsgesetze differenzieren die Arbeitsteilung zwischen Polizei und Militär, der —» Bundesgrenzschutz wird im Ergebnis von der Funktion einer Ersatzarmee für den Fall eines Bürgerkrieges freigestellt und konsequent zu einer Polizei des Bundes umgewandelt. Die neuen Protestformen und spätestens der Terrorismus verschaffen die -> Legitimation, um die Polizeien und Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern
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Innere Sicherheit mit einem großen Mitteleinsatz zu modernisieren. Diese Veränderungen sind eingebunden in eine umfangreiche Reform der öffentl. —> Verwaltung insg., die auf verbesserte Ressourcen- und Einsatzplanung, auf Aus- und Fortbildung abzielt. Dementsprechend müssen die Aktivitäten aller Sicherheitsbehörden sowohl vertikal (Bund - Länder) als auch jeweils horizontal (Bundesinnenministerium, Bundesgrenzschutz, —> Bundeskriminalamt, —> Bundesamt fur Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst, -> Bundesnachrichtendienst) stärker koordiniert werden. Im Ergebnis entsteht ein fester Verbund von Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder. Die Konjunktur des Begriffes IS ist mit dieser Entwicklung verbunden. Erst in den 60er Jahren taucht er vereinzelt auf, v.a. in der Diskussion der Notstandsgesetze. Mit der sozial-liberalen —> Koalition geht die IS dann in den polit, und amtlichen Sprachgebrauch ein. IS soll sich begrifflich bewußt vom Konzept der streitbaren Demokratie absetzen. Dieses ist trotz aller kritischen Differenzierungen, die formuliert worden sind, zum Ausdruck des dt. Staatsverständnisses der Adenauer-Ära mutiert. IS ist hierbei zunächst nicht mehr oder weniger konservativ als streitbare Demokratie - sie zielt jedoch auf eine andere Ebene. Streitbare Demokratie muß letztlich einen Kern demokrat. Werte (wie -» Grundrechte) definieren, die nicht hintergehbar sind und Aussagen darüber zulassen, was demokrat. als akzeptabel gilt und was nicht. Hierüber einen Konsens zu finden, der zudem für die Arbeit der Sicherheitsbehörden praktikabel werden kann, ist in einer pluralistischen -» Demokratie kaum einzulösen. Die sozial-liberale Regierung will in den 70er Jahren dagegen einen anderen Weg beschreiten: Sie will die Institutionen modernisieren, reformorientierte Experten in die Behördenämter einsetzen - im Vertrauen darauf, daß die neuen Strukturen, Prozesse und Akteure auch zu neuen fortschrittlichen Inhalten
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Innere Sicherheit führen. Im Ergebnis entsteht also nicht eine Zustandsbeschreibung dessen, was IS qualitativ bedeuten soll, sondern es differenziert sich ein institutionelles System der IS heraus. Und die inhaltliche Politikproduktion vollzieht sich, wie in anderen Politikbereichen auch, v.a. in internen Verhandlungsgremien des Politikfeldes. Vor diesem Hintergrund bleibt IS insbes. in den 70er und 80er Jahren ein höchst umstrittener Begriff - gerade von gesellschaftskritischer Seite wird er als Kampferklärung des Staates an die bürgerl. Freiheitsrechte verstanden. IS behauptet schließlich auch zu dem Zeitpunkt, als der Begriff kultiviert wird, einen neuen Machtanspruch des Staates. Im Kern steht er dafür, daß die allgemeinen polizeilichen Aufgaben (Bekämpfung der Kriminalität), die neuen speziellen Zielsetzungen (Bekämpfung des Terrorismus) und die nachrichtendienstlichen Tätigkeiten (Bekämpfung der Verfassungsfeinde) zu einem institutionellen Sicherheitsverbund zusammengeschlossen werden. Gleich welche Position zu den damit verbundenen Fragen eingenommen wird, bleibt es unübersehbar, daß der institutionelle Sicherheitsverbund ein empirisches Faktum bildet, sich ein entsprechendes Politikfeld herausgebildet hat. Dies und der einfache Umstand, über keine geeignete begriffliche Alternative zu verfügen, die genau diesen Sicherheitsverbund umschreibt, führen spätestens in den 90er Jahren dazu, IS auf breiter Basis (wissenschaftl., polit., gesellschaftskritisch) begrifflich zu etablieren. Eine neue Qualität erhält das bislang nationale System der IS dadurch, daß es sich im Zuge der europ. Integration zu einem System der —*• Europäischen Inneren Sicherheit weiterentwickelt. Lit: H. Busch u.a.: Die Polizei in der BRD, Frankiurt/M. 1985; R. Gössner (Hg.): Mythos Sicherheit, Baden-Baden 1995; H.-J. Lange (Hg.): Kontinuitäten und Brücke, Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Dtld., Opladen 1998; H. G. Jaschke: Streitbare Demokratie und Innere Sicherheit, Opladen 1991.
Institution
Institution Hans-Jürgen Lange Innerparlamentarische Willensbildung -> Willensbildung, politische —> s.a. Willensbildung, europäische Innerparteiliche Demokratie -> Partei Institution / -en 1. Unter I.en versteht man kollektive, auf Dauer gestellte Handlungs- und Denkweisen, die auf fraglos erwartbarer und erfahrbarer Gegenseitigkeit gründen. Als Verhaltens- und handlungsstabilisierende und -orientierende Sozialregulative gehen I.en aus der gesellschañl. Verallgemeinerung und Formalisierung von Nonnen hervor. Auf der Grundlage dieser allgemeinen Definition der I., die auf den Soziologen E. Dürkheim (1858-1917) zurückgeht, hat der Kultursoziologe A. Gehlen (19041976) ein umstrittenes, aber bis heute grundlegendes I.en Verständnis entwickelt, wonach die I. im Anspruch fragloser, objektiver Geltung den einzelnen lebenswichtig von der permanenten Improvisation je nach Gegebenheit zu treffender Entscheidungen entlastet. In dieser wohltuenden Fraglosigkeit der sozialen Elementardaten, die dem einzelnen als Hintergrunderfüllung kaum noch bewußt ist (Gehlen), gründet die kulturprägende Stabilisierungsleistung von I.en. Durch Verallgemeinerungsfähigkeit und Formalisierung werden I.en zu verbindlichen Regelsystemen, die soziales Handeln effektiv, berechenbar, dauerhaft, gegenseitig und jederzeit erwartbar machen. In der Entwicklung menschlicher Gesellschaft zeigt sich dies in Ordnungsprinzipien wie dem Rechtsgrundsatz „pacta sunt servanda" (Verträge sind zu halten), Regelungen der Tauschgerechtigkeit, des Leistungsgleichgewichts, in Schutzpflichten wie auch in der positiv rechtl. vertraglichen Obligation. Stabilität und Entlastung durch I.en haben einen Preis: Sie setzen eine institutionelle Verpflichtung voraus, in welche der einzelne zunächst unabhängig von seinem personal zure-
chenbaren Verhalten oder moralischsubjektivem Verschulden - gestellt ist. Nach Gehlen ist es dem einzelnen zumutbar, für objektive, institutionswidrige Handlungen auch dann einzustehen, wenn sie subjektiv unverschuldet sind. —> Verantwortung ftlr die Verletzung einer Norm ohne persönliche Zurechenbarkeit, Haftung ohne Schuld sind nur im Wirkungskreis von I.en zu begreifen und anzuerkennen. Verantwortung und Haftung für objektive Verletzung von I.en um deren Funktions- und Leistungserhalt willen zeigen sich z.B. in der Praxis der Amtshaftung. Umgekehrt haftet auch die I. für ein ihre Integrität beschädigendes Handeln oder Unterlassen ihrer Mitglieder, so etwa bei der Zurechnung von Amtspflichtverletzungen nach Art. 34 GG auf die autorisierende Körperschaft oder auf den Staat grds. (-> Staatshaftung). Für diese schutzgewährende Funktion der I. hat der Staatsrechtler C. Schmitt (18881985) den Begriff der institutionellen Garantie geprägt. 2. Während der vorstehende I.enbegriff zunächst I.en allgemein umfaßt, zeichnen sich polit. I.en durch ihren spezifischen sozialregulativen Bereich der zentralen Angelegenheiten des Gemeinwesens aus. Dementsprechend sind polit. I.en Regelsysteme der Herstellung und des Vollzugs allgemeinverbindlicher Entscheidungen und zugleich Instanzen der Vermittlung und Darstellung ihrer maßgeblichen Normen und Ordnungsprinzipien. Auf die gleichwertige Funktion der Steuerungsund Integrationsleistung polit. I.en, aus denen heraus sie auch ihre —> Legitimation gewinnen, hat in der aktuellen I.enforschung G. Göhler aufmerksam gemacht: Danach genügt es nicht, die zentralen I.en (v.a. -» Parlament, —> Regierung, Verwaltung, -» Gerichte, mithin die Verfassung des -» Grundgesetzes) nur in Hinblick auf polit. Steuerung durch Herstellung, Durchführung und Kontrolle von Sach- und Regel-Entscheidungen einer Gesellschaft zu verstehen. Darüber hinaus verkörpern polit. I.en Grundwerte und
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Institution Ordnungsprinzipien, v.a. —» Menschenwürde, —> Gerechtigkeit, —> Bürgerrechte, Bürgerpflichten, —» Gewaltenteilung, -> Volkssouveränität. Damit tritt neben die rechtsstaatl. Effizienz polit. - » Planung, ->· Führung und —» Steuerung das Erfordernis institutioneller Integration polit. Wertvorstellungen und Leitideen, deren positive Vermittlungsfähigkeit zu Akzeptanz, -» Vertrauen, -> Politischer Sozialisation und Politischer Kultur beitragen, die aber auch entgegengesetzt Mißtrauen und Ablehnung der Bürger bis hin zu polit. —> Extremismus hervorrufen können. Mit der komplexen Ausdifferenzierung modemer Gesellschaften hat sich - innerhalb und unterhalb der zentralen polit. I.en ein eigener I.entypus herausgebildet, welcher intermediäre Steuerungsfunktionen wahrnimmt, zudem zwischen den vielfaltigen gesellschaftl. Teilbereichen und Ebenen vermittelt und integriert. Zu ihnen zählen v.a. —> Parteien, -> Verbände, -> Gewerkschaften und -» Bürgerbewegungen. Ihnen ist gemeinsam, daß sie bestimmte gesellschaftl. -> Interessen formulieren, organisieren, bündeln und gegenüber wie innerhalb der Zentralinstitutionen im Prozeß der polit. —> Willensbildung mit dem Ziel ihrer Durchsetzung vertreten (s.a. —> Lobbyismus). Intermediäre I.en tragen i.d.S. zu gesellschaftl. Differenzierung, Interessenartikulation wie -integration bei. Insg. wird man festhalten können, daß das Interesse an I.en und auch die wissenschaftl. Beschäftigung mit ihnen wieder gewachsen sind. Dies hängt nicht zuletzt mit den polit. Umbrüchen der letzten Jahre im Zuge der —> Deutschen Einheit, der fortschreitenden europ. Integration sowie den Umbruchprozessen in Mittelund Osteuropa infolge des Auseinanderfalls der Sowjetunion zusammen, in deren Verläufen sich sowohl schleichender als auch revolutionärer I.enwandel (G. Göhler) vollzogen hat. Gerade für die weitere Entwicklung der mittelosteurop. Übergangsgesellschaften wird es entscheidend
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Interesse sein, daß sie I.en ausbilden, die nicht nur zu einer mindesterforderlichen Steuerungsleistung imstande sind, sondern auch einen Grundkonsens über Wertvorstellungen entwickeln, welche die von den ehedem autoritär-bürokratischen Strukturen dem Anspruch nach freigesetzte Interessenvielfalt bündeln. Zunehmend wird in diesen Ländern die Leitidee der europ. Integration für die Ausbildung, Transformation und Reform polit. I.en bestimmend, wie sie innerhalb der Mitgliedstaaten der - » Europäischen Union bereits seit langem dominiert. Lit: £ Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt/M. 21991;Â. Gehlen: Moral und Hypermoral, Wiesbaden '1986; G. Göhler: Institution - Macht - Repräsentation, BadenBaden 1997, S. 1 Iff. und S. 579ff ; ders. / K. Lenk/R. Schmalz-Bruns (Hg.): Die Rationalität polit. Institutionen, Baden-Baden 1990; C. Hubig (Hg.): Ethik institutionellen Handelns, Frankfurt/M. 1982; RM. Lepsius: Interessen, Ideen, Institutionen, Opladen 1990; C. Schmitt: Freiheitsrechte und institutionelle Garantien, in: ders.: Verfassungsrechtl. Aufsätze aus den Jahren 19241954, Berlin 3 1985, S. 140ff.
Gerlinde Sommer Institutionelle Garantie -> Institution Interesse / -n 1. Problemgehalt Das menschliche I. ist eine Konstellation aus triebmäßigen wie kultivierten Strebungen, Neigungen, Aufmerksamkeiten, Willensbekundungen und Ansprüchen emotionaler, intellektueller und aktionaler Art. Es konstituiert sich im Spannungsfeld von individuellem Ausstattungsgefüge, sozioökonom. Lage, polit.-kulturellen oder pädagogischen Anregungen und individueller wie gesellschaftl. Aufarbeitung von materiellen und immateriellen Lebensumständen. So gerät es zum zentralen Moment der Entwicklung der Persönlichkeit, des Gruppenlebens und des Geschichtsverlaufs. Die Breite und Differenzierung seiner Erscheinungsformen und unterschiedlichen inhaltlichen Ausprägungen begründet eine Pluralität der Lebensent-
Interesse würfe, Optionen und Sichtweisen, wettbewerbsartige Konkurrenzen, Konflikte sowie Regelungsbedarfe für das Zusammenleben und Organisationsweisen als Bündelung oder Priorisierung von I. und als streitbare Kooperation der Träger gemeinsamer oder wesensverwandter I. (—> s.a. Interessenbegriff). 2. Dimensionen Aufgrund ihrer Verwurzelung in natürlichen und kulturell hergestellten Bedürfnissen und deren sinnlichvitaler und produktiver Ausformung sind I. vielschichtig und teilw. disparat. Urform ist das I. am (Über-)Leben (persönliche und intergenerationelle Reproduktion der Existenz). Es ist insofern genuin emanzipatorischer Art, als es von Anbeginn der Menscheit eine Auseinandersetzung mit den Lebensumständen und Versuche der Befreiung von Zwängen und Gefahren durch Beherrschung der äußeren und inneren Natur impliziert. Die Verfeinerung dieses I. durch Formgebungen oder Ideen für die Qualität des (Über-)Lebens (Kultivierung der Stilarten dinglicher Existenz, Einrichtung von Institutionen, Separierung und Differenzierung von Lebenswelt und System) oder ihre Erweiterung bis Sublimierung durch wachsendes I. an immateriellen Formen der Lebensgestaltung (—> Menschenwürde, Bürgerbeteiligung und Selbstverwirklichung durch Einflußnahme auf Lebensumstände und Kultivierung musischer, spiritueller, geselliger oder staatsbürgerl. Komponenten menschlicher Entfaltung) differenziert die I.-Palette. Erweitert, befruchtet, differenziert und kompliziert wird diese durch die Zunahme der Zahl der Individuen, die Partikularisierung der -> Gesellschaft, die Ausdehnung interkultureller Beziehungen sowie die Ausprägungen von sozio-ökonom. und polit.kulturellen Strukturen oder Mechanismen irrationaler Herrschaftsausübung, Ungerechtigkeit und Manipulation. Zu scheiden sind darum subjektive oder gruppenspezifische Partikular-I. von objektiven und überindividuell beachtenswerten I. Im Zuge der Tradierung von Herr-
Interesse schaftsmustern und Lebensgewohnheiten haben sich überdies Formen praktischen I. (an der Herstellung nur von Handlungsfähigkeit unter gegebenen Bedingungen) und techn. I. (bloß an der Erweiterung von Funktionstüchtigkeit geläufiger Modalitäten) herausgebildet, die das emanzipatorische I. überlagert haben und seine Geltendmachung zusätzlich herausfordern. In den Umweltgefahren der Gegenwartsepoche (-> Ökologie) manifestiert sich die Akkumulation eines ungehemmten Primats praktischen und techn. I. 3. Parlament, und staatsbügerliche Relevanz Bleibt Politik der klassischen Aufgabe einer Gewährleistung von Rahmenbedingungen für ein gutes (Über-)Leben verbunden, muß die parlement. Demokratie dem emanzipatorischen I. Geltung verschaffen und dabei ihre eigenen Tendenzen zum bloßem Pragmatismus im -> Parteienstaat und zur bürokratischen Technokratie anonymisierter Apparate zu überwinden trachten. Vorrangige Aufgabe bleiben die Vermittlung und der Ausgleich zwischen den konkurrierenden I., wobei die Ebenen des individuellen (persönlichen und privaten), gruppenspezifischen (Wirtschaftszweig- oder berufsfeldbezogenen, schichten- und klassentypischen sowie nationalen) und (als Orientierung an der ganzen Menschenheit) gattungszentrierten I. ohne einseitige Bevorzugung mächtiger I.-Vetreter zu berücksichtigen sind. Die Bedrohung des (Über-)Lebens durch die Zerstörung der äußeren und inneren Natur des Menschen macht es erforderlich, dabei als öffentl. I. besondere Prioritäten zu setzen. Insofern deren Verwirklichung nicht nur eine Frage parlament. Mehrheiten ist, sondern Vorbereitung und Akzeptanz durch alle Beteiligten und Betroffenen erfordert, ist die kritische Erörterung der Verantwortbarkeit, - > Legitimation, Ausgestaltung, Variation, Überwindung und Neukonstituierung von I. gesamtgesellschaftl. Kommunikation aufgegeben. Sie erfordert auch eine Ausdehnung von Bürgerbeteiligung. Darum kommt -> Politischer Bil-
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Interesse
Interesse dung als Stimulanz und Strukturierung von Erkenntnis-I. die Aufgabe einer Reflexion der I.-Problematik und der Befähigung der Menschen zur Bewußtwerdung, Kritik, Artikulation, Durchsetzung und Zurückstellung oder Integration ihrer I. als Einzelpersonen, soziale Wesen und Gattungsangehörige zu (s.a. —> Interessenbegriff). Lit.: U. v. Alemann: Organisierte Interessen in der BRD, Opladen 1987; ders. / £ Forndran (Hg.): Interessenvermittlung und Politik, Opladen 1983; P. Massing / J. Reichel (Hg.): Interersse und Gesellschaft, München 1977; H. Neuendorff: Der Begriff des Interesses, Frankfurt/M. 1973.
Bernhard Claußen Interesse / -nbegriff Von lat. interesse = dazwischen liegen, dabei sein, für etwas oder jemanden von Wichtigkeit sein; in der mittelalterlichen Rechts- und Handelssprache substantiviert in der Bedeutung u.a. von Kapitalzins (so heute noch im Engl.), der für den Gläubiger einen Vorteil, Nutzen und Gewinn darstellt. Seit dem 16. Jhd. wird der Begriff zunehmend i.S. eines allgemeinen persönlichen Vorteils und Nutzens verstanden, was seit dem 19. Jhd. auch auf Gruppen und Klassen, auf —> Parteien und -> Verbände sowie auf ganze -» Staaten (nationales Interesse) verallgemeinert wird. Seit dieser Zeit faßten auch die Sozialwissenschaften den I.nbegriff neu und entwikkelten ihn zu einem ihrer zentralen Analysekonzepte (derzeit besonders verbreitet im Rahmen von rational choice-Theorien). Wenn alltagssprachlich gesagt wird, etwas liege im I. von Ego, mag jede der folgenden Behauptungen gemeint sein: Ego wünscht es sich; Ego strebt nach ihm; Ego schätzt es; oder Ego benötigt es aus gleichweichen Gründen. Doch nicht alles Benötigte wird geschätzt, nicht alle Wünsche münden in mühevolles Streben usw., weshalb die Rede von Egos Interesse notwendigerweise schillernd bleibt. Vor dem Hintergrund dieses unbeseitigbaren Problems wird im Bereich sozialwissenschaftl. Analyse unter I. meist verstanden:
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ein verhaltensorientierendes Ziel oder Bedürfnis von Einzelnen oder Gruppen in einem sozialen Umfeld, das zu erreichen bzw. zu befriedigen in irgendeiner für ihn wichtigen Weise das Wohlergehen eines Einzelnen oder eines Kollektivs fördern bzw. zu einem Vorteil führen würde. Vor allem 3 Aspekte sind an I.n zu unterscheiden: sie sind Verhaltensdispositionen; sie sind Ziele oder Bedürfnisse, aus einer Sache echten oder vermeintlichen Nutzen zu ziehen; und sie sind Reaktionen eines Akteurs auf Gegebenheiten seines Umfelds. So entfaltet, ist der Begriff des I.s ein Zentralbegriff sozial- bzw. politikwissenschaftl. Analyse und auch einer, der in der polit. Alltagssprache sehr häufig verwendet wird. Er lenkt nämlich die Aufmerksamkeit auf die Ursachen von Verhaltensregelmäßigkeiten außerhalb der Prägekraft von Normen und -> Gesetzen, und er hält zur Betrachtung der Gründe jener Prozesse an, die - in der wechselseitigen Koordinierung von Bedürfnissen und Erwartungen - das Handeln von Ego auf das von Alter (und umgekehrt) beziehen. Dabei kann der Begriff des I.s einesteils normativ verwendet werden; dann rechtfertigt er Handlungen als im I. des Akteurs liegend. Andemteils läßt sich der Inbegriff als ein rein empirischer verwenden; dann dient er zur Erklärung bzw. Vorhersage von Handlungen auf der Grundlage von näher zu spezifizierenden Eigenschaften des Akteurs und seines Umfelds. Eine ideengeschichtl. Skizze des Inbegriffs bzw. der I.ntheorie kann bei Aristoteles (384-322 v. Chr.) einsetzen. Dieser schrieb den Menschen ein Streben nach Selbstverwirklichung in der Gemeinschaft anderer zu, wovon dann abzuleiten ist, was um dieses zentralen I.s willen ebenfalls angestrebt werden muß. In der Neuzeit leitete T. Hobbes (15881679) vom I. der Menschen an der Sicherung ihres Lebens die Notwendigkeit der Staatsgründung ab; im Rahmen des Staates freilich müßten I.nkonflikte unterblei-
Interesse ben, da sie die Bestandskraft und friedenssichernde Rolle des Staates gefährdeten. Ganz anders argumentierten, auf der Grundlage gesicherter Staatlichkeit, die Utilitaristen und liberalen Sozialphilosophen des späten 18. Jhd.s. Nach A. Smith (1723-1790) trägt, steuert und fördert etwa die freie Konkurrenz rivalisierender Einzelinteressen die wirtschaftl. und gesellschaftl. Entwicklung einer —> Nation, und nach J. Bentham (1748-1832) läßt sich durch Verwirklichung vieler Einzelinteressen innerhalb eines gesicherten Ordnungsrahmens das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl von Bürgern verwirklichen. Natürlich ist dabei normativ wie empirisch das Verhältnis zwischen Privatinteressen und Gesamtinteresse bzw. - » Gemeinwohl stets prekär. J.-J. Rousseau (1712-1778) entwickelte eine äußerst einflußreiche polit. Theorie, die den Einzelinteressen und ihrem polit. Agieren gegenüber äußerst skeptisch war und den unbedingten Vorrang des Gemeinwohls verlangte. Die amerik. Verfassungsväter, v.a. in den —> Federalist Papers, gingen von ähnlichen Sorgen aus, führten das Argument aber dahingehend weiter, um der Freiheit des interessenverfolgenden Einzelnen willen müsse man den Streit auch selbstsüchtiger I.ngruppen tolerieren, allerdings durch ein System von checks and balances domestizieren und die Wahrung des Gemeinwohls einem repräsentativen Regierungssystem anvertrauen. Im Grunde sind damit alle fundamentalen Themen einer politikwissenschafll. I.nanalyse exponiert: das Verhältnis zwischen individueller -> Freiheit und polit. Stabilität, sowie zwischen partikularer I.ndefinition und dem Gemeinwohl. Für den Zweck konkreter und differenzierter Analyse werden I.n auf vielfache Weise gegliedert. Auf der Ebene des Gegenstandes gibt es die Unterscheidung nach beispielsweise polit., wirtschaftl., kulturellen, sozialen oder ökologischen I.n, entlang welcher man auch I.ngruppen klassifiziert. Schon abstrakter, doch auf gleicher Ebene ist die Entgegensetzung
Interesse materieller und moralischer I.n: die einen ausgerichtet auf Gehalt und Gewinn, orientiert an Arbeitssituation und Lebenslage, die anderen abzielend auf ethische Werte oder auf die Entfaltung von Sozialität. Auf hingegen analytischer Ebene ist eine weitere Reihe von Unterscheidungen angesiedelt. Wichtig ist zunächst die Trennung von manifesten und latenten I.n: bewußt, artikuliert, kodifiziert sind die einen, noch unbemerkt, noch nicht auf den Begriff und zu Bewußtsein gebracht sind die anderen. Sodann werden als reale I.n unzweifelhaft bestehende Bedürfnisse bezeichnet, als eingebildete, bloß perzipierte I.n hingegen letztlich unnötige, rein willkürliche Wünsche. Analog versteht man unter objektiven I.n solche, die Personen oder Gruppen tatsächlich besitzen, ohne sie schon als solche erkannt zu haben, unter subjektiven hingegen nicht verallgemeinerungsfahige, bloß vordergründige I.n Einzelner, welche letztere sich über ihre „eigentlichen" I.n täuschen. Wie im Fall der voranstehenden Unterscheidungen liegt das Problem darin, als „Analytiker" die eine Gruppe von I.n von der anderen valide und reliabel zu unterscheiden. Kaum minder schwierig gestaltet sich im Einzelfall die Unterscheidung von allgemeinen I.n, in deren Verwirklichung das Gemeinwohl bestehe, von verallgemeinerungsfähigen I.n, die potentielle Gemeinwohlverträglichkeit besitzen, und rein partikularen I.n, deretwegen Untergruppen und Teile eines Ganzen mit den ebenso partikularen I.n anderer Teilgruppen konkurrieren. Als Inbegriff des allgemeinen I.s eines (National-)Staates, das seinerseits hinsichtlich der allgemeinen I.n anderer (National-)Staaten sich als partikulares I. erweist, wird der Begriff des nationalen I.s gebraucht. In einer wieder anderen Betrachtungsperspektive, welche auf das Ringen um die Durchsetzung von I.n ausgerichtet ist, unterscheidet man zunächst organisierte I.n, die von arbeitsteilig, mitunter hochprofessionell agierenden I.ngruppen getragen werden, von nicht-organisierten I.n,
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Interesse die eben darum geringere Durchsetzungschancen haben. Im Vorfeld dieser Unterscheidung liegt die Entgegensetzung von leicht und schwer bzw. gar nicht organisationsfähigen I.n. Zu den ersteren gehören etwa solche im Bereich der Arbeitsbeziehungen, zu den letzteren allgemeine I.n wie jenes an einer stabilen, zur Reproduktion einer —> Gesellschaft nötigen Geburtenrate. Für eine politikwissenschaftl. Analyse nicht minder wichtig ist sodann die Unterscheidung von gut bzw. schlecht konfliktfähigen I.n. Gute Konfliktfähigkeit setzt zum einen Organisationsfähigkeit voraus, zum anderen die Möglichkeit einer I.ngruppe, ihren Konkurrenten für sie wichtige Güter oder Dienstleistungen effektiv zu entziehen. Beispielsweise sind die Gehaltsforderungen der Müllabfuhr viel konfliktfähiger als jene der Feuerwehr. Zu den Schwerpunkten politikwissenschaftl. I.nanalyse gehört 1. das normative Verhältnis von Gemeinwohl und Partikularinteressen. Hier stehen einander die Theorieschulen von Monismus und —> Pluralismus gegenüber. Die erstgenannten gehen davon aus, daß sich das Gemeinwohl a priori erkennen lasse, weswegen jeder I.nkonflikt seine Grenzen an klaren Gemeinwohlbestimmungen finde. Pluralismus geht hingegen davon aus, daß Gemeinwohlvorstellungen ihrerseits strittig sein können, selbst wenn man das Gemeinwohl als regulative Idee des I.nstreits akzeptiert; daß man die Verwirklichung oder Gefährdung von Gemeinwohl stets nur a posteriori feststellen könne; und daß man darum am besten legitime Vielfalt und die Zulässigkeit von I.nkonflikten akzeptiere, diesen Streit aber durch die Akzeptanz eines Minimalkonsenses hinsichtlich gemeinsamer Grundwerte, Verfahrensregeln und Ordnungsstrukturen domestiziere. 2. befaßt sich politikwissenschaftl. I.nanalyse empirisch mit den möglichen Organisationsweisen des Zusammenwirkens von Trägergruppen unterschiedlicher I.n; ihr Gegenstand sind dann die Institutionalisierungen monistischer (i.d.R. auto-
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Internationale Arbeitorganisation ritärer) bzw. pluralistischer (i.d.R. konstitutioneller, oft auch demokrat.) Staatskonzeptionen sowie die polit. Prozesse, die sich in ihrem Rahmen abspielen. 3. werden konkrete Systeme gesellschaftl. und polit. I.nvertretung, ihre Organisationen und Strukturen, Taktiken und Praktiken untersucht; I.nanalyse nimmt dann die Form der Verbände- und Bewegungsforschung, des Studiums von Politiknetzwerken, —> Lobbyismus und (neo-)korporativen Verhandlungssystemen an (—> Neokorporatismus, —> Korporatismus) Lit: H. Abromeit: Interessenvermittlung zwischen Konkurrenz und Konkordanz, Opladen 1993; M.R. Lepsius: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990.
Werner J. Patzelt Interessengruppen —> Interesse —> Interessenbegriff Interessenverbände -> Verbände —> s.a. Sozialverbände Interfraktioneller Ausschuß —> Fraktion Interimsausschuß -» Ausschuß Internationale Arbeitsorganisation Die Gründung der IAO geht auf Bestimmungen des Versailler Vertrages zurück. Sie wurde im Juni 1919 als Organisation des Völkerbundes gegründet. Seit 1946 ist die IAO eine Sonderorganisation der -> Vereinten Nationen. Die Mitgliedschaft steht allen Staaten offen, die Mitglied der UN sind, sowie solchen Staaten, die für ihren Antrag auf Mitgliedschaft bei der IAO eine Zweidrittelmehrheit finden. Die —> Bundesrepublik Deutschland gehört ihr seit 1951 an. Die IAO bekennt sich zu den leitenden Grundsätzen, daß die Arbeit keine Ware sei, daß die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit eine wesentliche Voraussetzung des beständigen Fortschritts sei, daß Armut den Wohlstand aller gefährde und daß der Kampf gegen Armut und Not unermüdlich geführt werden müsse. Das zentrale Organ der
Internationaler Gerichtshof
Internet
IAO ist die Internationale Arbeitskonferenz. Sie wird von Delegationen der Mitgliedstaaten beschickt. Diese bestehen aus 2 Regierungsvertretem und je 1 Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Dieses Organ beschließt mit Zweidrittelmehrheit u.a. über den Haushalt, über internationale Obereinkommen und Empfehlungen. Weniger bedeutsame Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefaßt. Kontroll- und Vollzugsorgan ist der Verwaltungsrat. Zu den Aufgaben des Verwaltungsrats gehört die Beaufsichtigung des Internationalen Arbeitsamtes (IAA). Dieses stellt den administrativen Unterbau der IAO dar. Die durch Umlagen finanzierte IAO erläßt nicht nur internationale Konventionen und unverbindliche Empfehlungen zu sozialen Fragen. Sie berät und hilft auch -» Entwicklungsländern bei sozialpolit. Maßnahmen. Darüber hinaus gehört die arbeitswissenschaftl. Forschung und Dokumentation zum Aufgabengebiet der IAO. Lit: W. Däubler u.a. (Hg.): Internationale Arbeits- und Sozialordnung, Köln 21994.
E.R. Internationaler Gerichtshof —»• Haager Internationaler Gerichtshof Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) —> Menschenrechte Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwirtR) —> Menschenrechte Internationaler Währungsfonds (IWF) Ziel des IWF (International Monetary Fund, IMF), 1944 in Bretton Woods (USA) gegründet, ist es, zwischen seinen Mitgliedstaaten ein System geordneter Währungsbeziehungen und möglichst stabiler Wechselkurse sicherzustellen. Damit sollen wirtschafispolit. Fehler der Zeit zwischen den Weltkriegen verhindert werden, in der Abwertungen sowie Devisenbewirtschaftung die weltwirtschaftl.
Probleme noch vergrößerten. Der IWF verwaltete daher zunächst ein System grds. fester, im Einzelfall aber anpaßbarer Wechselkurse. Seit dem Übergang zu frei schwankenden Wechselkursen (1971) überwacht der IWF die Wechselkurspolitik seiner Mitglieder in regelmäßigen Konsultationen. Für Staaten mit Zahlungsbilanzschwierigkeiten stellt er Anpassungskredite zur Verfugung, die nur bei Erfüllen wirtschaftspolit. Auflagen zur Ökonom. Gesundung des Schuldnerlandes ausgereicht werden und damit häufig eine Bedingung auch für die Darlehensvergabe durch andere Gläubiger darstellen. Lit.: R. Tetzlaff: Weltbank und Währungsfonds, Opladen 1996.
J. S. Internet Die Entstehung der globalen Informationsgesellschaft ist ein bestimmendes Merkmal der 90er Jahre. Sie verändert das Informations- und Freizeitverhalten vieler Menschen und hat das Potential, gleiches fur Konsumgewohnheiten und ebenso polit. Kommunikation und Entscheidungsfindung zu tun. Während der Abstand zwischen hoch und gering computerisierten Zivilisationen wächst, kommen auch aus letzteren kleine Eliten mit der sog. globalen InternetGemeinde enger zusammen. Zugleich droht innerhalb der Hochtechnologiegesellschaften die Schere zwischen sog. Computer-Analphabeten und Adepten der neuen Technologien aufzuklaffen. Sichtbarster Teil der Informationsgesellschaft ist das I., ein Verbundsystem von Computern, ähnlich dem weltweiten Telefonnetz. Zwischen diesen Computern lassen sich Nachrichten austauschen (E-mail), aber auch Texte und audiovisuelle Daten abfragen (Homepages), Dateien übertragen (ftp) und Programme auf anderen Computern starten (telnet). 1. Geschichte Wie viele technologische Neuerungen ist auch das I. ein Produkt des Kalten Krieges. In den 60er Jahren schuf die US-Regierung ein dezentrales Netzwerk zwischen ihren Rechenanlagen,
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Internet um die Kommunikation unter ihnen auch im Kriegsfall aufrecht zu erhalten. Später kamen v.a. Naturwissenschaftler über ihre Großrechner als Nutzer hinzu. Die Privatisierung, Kommerzialisierung und Politisierung setzte ein mit der Verbreitung preiswerter PCs und der Entwicklung eines Standards, der die Erstellung und Nutzung von Homepages ermöglichte. Beides ist seit Mitte der 90er Jahre gegeben, und damit wurde das I. für die Politik interessant: a) —> Bürger können via I. Informationen abrufen, Kontakt mit —> Abgeordneten und —> Behörden aufnehmen und ggf. sogar an neuen Formen partizipatorischer —> Demokratie teilhaben; b) Politiker können interessierte Wähler durch das Angebot einer Homepage ansprechen und mobilisieren. Zudem erspart die im I. verfügbare Information oft persönliche Auskünfte, ermöglicht also eine schlankere Verwaltung. Vorreiter sind die USA. 2. USA Im Wahlkampf 1992 spielte das I. noch keine Rolle, 1996 war seine polit. Nutzung bereits verbreitet. Über 25% der Wähler hatten I.zugang, 10% nutzten es als primäre Informationsquelle. Gut 90% der I.nutzer sind als Wähler registriert, und ihr Anteil an den tatsächlichen Wählern übertrifft ihren Bevölkerungsanteil. Alle Präsidentschaftskandidaten und Parteien hatten Homepages mit umfangreichen Informationsangeboten, zugleich aktivierten sie erfolgreich (wie Umfragen zeigen) Freiwillige und Wahlkampfspenden. Im —> Kongreß bildete sich eine überparteiliche I.gruppe, und die Zahl der Abgeordneten mit Homepages ist massiv gestiegen. Die Kongreßbibliothek ermöglicht einen elektronischen Zugriff auf die —> Gesetzgebung, und —> Behörden auf Bundes-, Staats- und Kommunalebene bieten Formulare zum Ausdrucken (oder gar Ausfüllen) an. Über das I. wurden bereits Wahlen vorgenommen, und einzelne Kommunen beteiligen über umfassende lokale Netze die Bürger an Entscheidungen in einer neuen Form direkter Demokratie. Polit, und andere -> Minder-
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Internet heiten tauschen sich in Diskussionsforen aus, und sofortige Informationsübermittlung wird mit E-mail fast kostenlos. Das Angebot ist gewaltig, aber die Einschätzung seiner Nutzung bleibt schwierig: Webcounter, die Besucher einer Homepage zählen, fehlen oft und sind zudem einfach zu manipulieren. Empirische Untersuchungen über Nutzung oder Nutzer des I. kranken an methodologischen Problemen, die durch die Anonymität der virtuellen Gemeinschaften bedingt sind. 3. Dtld. Hier ist die Entwicklung weniger fortgeschritten, was v.a. an der weit geringeren Vernetzung als in den USA liegt, aber auch am unterschiedlichen polit. System. Es gibt für Abgeordnete wenig Anreiz (außer den der technologischen Profilierung), individuelle Homepages anzubieten. —> Parteien- und -> Wahlsystem sind anders strukturiert als in den USA, zudem ist die - » politische Kultur weniger partizipatorisch. Doch sind inzwischen die obersten Regierungsinstitutionen in -> Bund und —» Ländern ebenso mit Angeboten vertreten wie —> Parteien und gesellschaftl. Gruppen. Der Standard der Homepages variiert erheblich. Neben amateurhaften Seiten stehen professionelle multimediale Angebote, deren Pflege großen Aufwand erfordert, die aber mit vielschichtigem Informationsgehalt die Besucher zur Wiederkehr animieren. 4. I. und —> Zivilgesellschaft Das Potential der globalen Informationsgesellschaft hat sich erst zu Bruchteilen entfaltet; das I. wächst exponentiell in Angebot und Nutzung. Schon heute steht es gleichrangig als Informationsquelle neben anderen Medien; inzwischen sind auch traditionelle Informationsmedien wie Zeitungen und —» Fernsehen (New York Times, CNN, ARD, Zeit, Spiegel etc.) virtuell abrufbar. Das I. verlangt, anders als traditionelle —> Massenmedien, die (Inter)Aktivität der Bürger. Man gelangt nicht passiv zu einer polit. Homepage, sondern wählt sie bewußt an oder „surft" zu ihr. So dient sie eher der Kommunikation mit Anhängern als breiter polit. Werbung.
Internet Durch alle Klassen und Länder geht die Trennung in „information-haves" und „information-have nots". Auch die fast völlige Dominanz der engl. Sprache im weltweiten I. bringt vielen Nutzem Probleme - andererseits wird damit in einer für das I. typischen Ambivalenz der Weg zur Weltverkehrssprache befördert. Kleine Gruppen (etwa MenschenrechtsAktivisten) können sich dadurch bestärkt fühlen, daß sie auch in der Diaspora über das I. mit Gesinnungsgenossen verbunden sind. Nur gilt gleiches für extremistische und terroristische Gruppierungen. Dies führt zu einem weiteren Problem: Computer kennen keine nationalen Grenzen, und vieles, was in Dtld. als Nazi-Propaganda o.ä. verboten ist, kommt über das I. herein. Politik und Technik (—> Technischer Staat) sind bislang machtlos dagegen, zumal nachdem 1997 in den USA der Communications Decency Act wegen des Verstoßes gegen die -> Meinungsfreiheit des 1. Verfassungszusatzes aufgehoben wurde. Angst hiervor werden primär Diktaturen haben müssen. Es gibt wohl kein Regime dieser Art, dessen Gegner nicht Diskussionsforen und Homepages unterhalten. Das hat Folgen; so begann der Sturz Mobutus (Kongo) mit „virtueller" Opposition im I.; der letzte Problembereich ist die Datensicherheit. Sensible Informationen, die via I. versendet werden, können fast mühelos abgefangen und mißbraucht werden. Diese Gefahren wiegen aber nicht die Möglichkeiten auf, die das I. für Kommunikation und Partizipation bietet und damit für zentrale Belange der Zivilgesellschaft. So ist letztlich die Bezeichnung „Datenautobahn" eine treffende Metapher: Sie zeigt die Freiheitschancen, aber auch die polit. Umweltgefahren des I. auf. Lit: L. M. Hagen (Hg.): Online-Medien als Quellen .polit. Information, Opladen 1998; M. Hagen: Elektronische Demokratie: Computernetzwerke und polit. Theorie in den USA, Hamburg 1997; K. Hinner: Gesellschaftl. Auswirkungen moderner Kommunikationstechnologien am Beispiel des Internet, Berlin 1996; H. J. Klein-
Interpellationsrechte steuber (Hg.): Der „Information Superhighway". Amerik. Visionen und Erfahrungen, Opladen 1996; W. Rash, Jr.: Politics on the Nets, New York 1997; M. Zöller (Hg.): Informationsgesellschaft - Von der organisierten Geborgenheit zur unerwarteten Selbständigkeit?, Köln 1997.
Michael Dreyer / Markus Lang / Oliver Lembcke Interparlamentarische Arbeitsgemeinschaft Parlamentarische Vereinigungen Interparlamentarische Union 1889 gegründet, gehören der IPU gegenwärtig 134 Parlamente unabhängig von ihrer demokrat. —> Legitimation an. Die Initiatoren der IPU verfolgten mit der Etablierung eines interparlament. Forums, in dessen Mittelpunkt die persönliche Zusammenarbeit von Volksvertretern verschiedener Staaten steht, die Idee der Friedenssicherung durch Streitschlichtung und Abrüstung. Bereits bis 1908 wurden so über 60 bilaterale Schiedsgerichtsbarkeitsverträge und der Ständige Internationale Gerichtshof initiiert. Die zweimal jährlich tagende Interparlamentarische Konferenz behandelt internationale polit., wirtschañl. und soziale Fragen und erarbeitet Entschließungen, die jedoch keine bindende Wirkung für die nationalen —> Parlamente besitzen. Die IPU fungiert als ein permanentes Instrument auswärtiger Politik nationaler Parlamente, dessen Ziele Friedenssicherung, friedliche Streitbeilegung (—> Frieden) und Wahrung der -> Menschenrechte durch internationale Zusammenarbeit von Parlamentariern und Parlamenten aller Mitgliedsländer sind. Lit: L. Despony: Functioning and .jurisprudence" of the Committee on the Human Rights of Parliamentarians of the Inter-Parlamentary Union, Geneva 1993; H. Ferdinand: Der dt. Bundestag und die interparlament. Versammlungen, Bonn 1989.
B. H.-G. /C. L. Interpellationsrechte —> Fragerecht der Abgeordneten 469
Irland
Irland, ir. Parlament Die Republik I. (Poblacht na hÉireann/ Éire) ist ein parlament.-demokrat. -> Verfassungsstaat und seit 1973 Mitglied der Europäischen Gemeinschaft / -> Europäischen Union. Sie wurde 1949 von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen, erlangte diese de facto jedoch bereits durch die Inkraftsetzung der irischen Verfassung (Bunreacht na hÉireann) am 29.12.1937, welche bis heute gültig ist. Vor dem Hintergrund des irischen Unabhängigkeitskampfes enthält die Verfassung als besondere Merkmale eine starke christl.-kath. Ausprägung sowie einen territorialen Anspruch auf die gesamte irische Insel i.S. einer Wiedervereinigung mit dem heutigen Nordirland. Ihre institutionellen Bestimmungen stehen hingegen der brit. staatsrechtl. Tradition sehr nahe. Irische Verfassungsorgane tragen gälische Bezeichnungen. Staatsoberhaupt ist ein Präsident (Uachtarán), der allgemein und direkt sowie auf 7 Jahre gewählt wird. Gemeinsam mit 2 Parlamentskammern (—• Zweikammersystem) repräsentiert der Präsident die gesetzgebende Gewalt, die Nationalparlament (Oireachtas) genannt wird. Die Parlamentskammern bilden ein Senat und ein Abgeordnetenhaus. Der Senat (Seanad Éireann) besteht aus 60 Mitgliedern, von denen 11 durch den Premierminister ernannt, 6 durch die Universitäten als Vertreter entsandt und 43 nach Berufsständen gewählt werden. Das Abgeordnetenhaus oder Repräsentantenhaus (Dáil Éireann) stellt das Zentrum der irischen - » Legislative dar. Ihm gehören 166 nach —> Verhältniswahlrecht allgemein gewählte Parlamentarier an. Eine ordentliche —» Legislaturperiode des Dáil dauert 5 Jahre und kann gem. Verfassung bis zu 7 Jahre umfassen. Die irische Regierung besteht aus einem vom Präsidenten auf Vorschlag des Dáil ernannten —> Premierminister (Taoiseach) und zwischen 7 und 15 von ihm nominierten Mitgliedern (gleichzeitig Mitglieder des Dáil und maximal 2 des Seanad).
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Italiei Von 1945 bis 1990 gehörten die irischen Staatspräsidenten der gemäßigt nationalistischen Volkspartei Fianna Fáil an. Ihnen folgten die parteilosen refoimerischen Politikerinnen Robinson (1990) und McAleese (1997). Im Dáil dominiert Fianna Fáil seit der irischen Unabhängigkeit mit Sitzanteilen zwischen 41 und 57%. Lit: W. Ismayr: Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 249ff.; Stationery Office (Hg.): Bunreacht na hÉireann, Dublin 1992; J. Elvert: Geschichte Irlands, München 1993.
Werner Rellecke Italien, ital. Parlament Die Ital. - » Republik besteht seit 1948, aus dem gleichen Jahr datiert die Verfassung des Landes. Das Gründungsmitglied der —> Europäischen Gemeinschaften ist eine parlamentarische —> Demokratie. Das Parlament besteht aus 2 Kammern (-> Zweikammersystem), der Abgeordnetenkammer (Camera dei Deputati) mit 630 Mitgliedern und dem —> Senat mit 325 Mitgliedern, wovon 10 als Senatoren auf Lebenszeit ernannt sind. Die Wahlen zur Abgeordnetenkammer und zum Senat werden alle 5 Jahre durchgeführt. Im April 1993 wurde per - » Volksentscheid die grundlegende Änderung des ital. Wahlrechts beschlossen. Seither gilt ein eingeschränktes —> Mehrheitswahlrecht, wonach drei Viertel der —• Abgeordneten beider Kammern nach dem Mehrheitsund ein Viertel nach dem Verhältnisprinzip gewählt werden. Italiener, die das 18. Lj. vollendet haben, sind wahlberechtigt. Passives Wahlrecht für die Abgeordnetenkammer wird mit Vollendung des 25. Lj. erworben, für den Senat mit 40 Jahren. —> Staatsoberhaupt ist der Staatspräsident, der für einen Zeitraum von 7 Jahren von einem Wahlmännerkollegium gewählt wird. Der Präsident ernennt den —> Ministerpräsidenten und auf dessen Vorschlag die -> Minister. Unter bestimmten Umständen kann der Präsident einen Volksentscheid herbeiführen. Die —> Exekutive liegt bei der Regierung, die des Vertrau-
ius sanguinis ens beider Parlamentskammern bedarf. Mit einfacher Mehrheit kann die Regierung durch ein - » Mißtrauensvotum gestürzt werden. Eine im Abstand von 3 Monaten herbeigeführte Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern wird für Verfassungsänderungen benötigt. Erreicht der Änderungsvorschlag lediglich eine absolute Mehrheit, kann ein Volksentscheid durchgeführt werden. Einzelne Abgeordnete haben die Möglichkeit, Gesetzesinitiativen einzubringen. —> Inkompatibilität zwischen Abgeordnetenmandat und Ministeramt besteht nicht. Das Parlament. System der ersten Phase der Ital. Republik wurde von den Christdemokraten auf der Regierungs- und von der Kommunistischen Partei auf der Oppositionsseite dominiert. In den 90er Jahren zeichnet sich auf der Rechten wie auf der Linken des Parteiensystems aufgrund des geänderten Wahlrechts eine Tendenz zur Bündnisbildung ab. Lit: L. V. Graf Ferraris (Hg.): Italien auf dem Weg zur „zweiten Republik"?, Frankfurt/M. 1995; W. Ismayr (Hg.): Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 509ff. Michael Orlandini
ius sanguinis —> Staatsangehörigkeit ius soli -> Staatsangehörigkeit IWF —» Internationaler Währungsfonds
Judikative —• Rechtsprechende Gewalt —• Gewaltenteilung Jugendamt —> Jugendbehörden Jugendbehörden sind Einrichtungen der staatl. und kommunalen Administration, die gesetzlich verpflichtet sind, die im —• Jugendrecht verankerten sozialrechtl. Leistungsangebote und Anspruchsrechte sicherzustellen sowie die normierten ordnungsrechtl. Eingriffsinstrumente wahr-
Jugendbehörden zunehmen. Nach dem Kinder- und Jugendhilferecht in Dtld. (KJHG) sind dies 1. die individuelle und soziale Förderung, Elternberatung und Erziehungsunterstützung, Schaffung einer kinder- und familienfreundlichen Umwelt, 2. die Leistungserbringung (Jugendarbeit und -sozialarbeit, Jugendschutz, Erziehungsförderung in der —> Familie, Betreuung in Tageseinrichtungen, Förder- und Integrationshilfen) und 3. die Erfüllung sog. anderer Aufgaben (Inobhutnahme, Mitwirkung bei -> Vormundschaft und Familiengerichten, Pflege und -erlaubnis, Jugendgerichtshilfe -(vgl. KJHG § 1 Abs. 3, § 2 Abs. 2 und 3). Nach der föderalistischen Verfassungsordnung sind die J. in Dtld. auf 4 Ebenen angeordnet: —> Bund —» Land - überörtlich - örtlich, d.h. kommunal bei den Verwaltungen der —»· Kreise / kreisfreien Städte. Auf kommunaler Ebene fungiert das Jugendamt seit 1953 als eine Art Sonderbehörde mit dualer Struktur: Verwaltung des Jugendamtes und Jugendhilfeausschuß (Gremium aus Vertretern öflentl. und freier Jugendhilfe) zusammen bilden das sog. Jugendamt. Während der Ausschuß grundsätzliche, konzeptionelle und ressortübergreifende Aufgaben wahrnimmt, obliegt der Verwaltung des Jugendamtes die konkrete Bewältigung der praktischen Jugendhilfe. So bleibt rechtl. gesichert, daß Verwaltung, Fachkompetenz und Freie Träger in allen Belangen der Jugendhilfe effektive Mitgestaltungsrechte wahrnehmen können, und auch selbstinitiierte und -organisierte Hilfe zum Zuge kommt. Diese Zweigliedrigkeit spiegelt sich auf überörtlicher Trägerschaftsebene in der Behörde Landesjugendamt, bestehend aus Verwaltung des Amtes und Landesjugendhilfeausschuß. Oberste Landesbehörde ist das zuständige Landesministerium, dem das Landesjugendamt und der Landesjugendhilfeausschuß zugeordnet sind. Faktisch liegt bei den Jugendämtern eine Allzuständigkeitskompetenz in der Jugendhilfe, die Landesjugendämter nehmen dafür die Funk-
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Jugendherberge
Jugendrecht
tion der Dienstleistung insbes. zur Koordination der Mitarbeiterqualifizierung und Fortbildung wahr. In den 16 Bundesländern sind gegenwärtig über 700 Jugendämter eingerichtet, freilich mit sehr unterschiedlicher personeller und sachlicher Ausstattung (s.a. —» Deutsches Jugendherbergswerk). Lit.: P.-C. Kunkel·. Grundlagen des Jugendhilferechts, Baden-Baden 1995; C.W. Müller:JugendAmt, Weinheim 1994; J. Münder u.a.: Frankfurter Lehr- und Praxiskomm, zum Kinder- und Jugendhilfegesetz, Münster, 3 199.
Gerhard Kral Jugendherberge —• Deutsches Jugendherbergswerk Jugendhilfe —> Jugendrecht —• Jugendbehörden Jugendrecht Das J., ein durch die Weimarer Rechtswissenschaft entwickelter Begriff, bezeichnet keine eigenständige Rechtsmaterie. Vielmehr umfaßt es alle gesetzlichen Regelungen, welche die Rechtsstellung von Kindern (bis zum 14. •Lj.) und Jugendlichen (bis zum 18. Lj.), insbes. deren Schutz, zum Gegenstand haben. Unter der Ordnung des —> Grundgesetzes ist Jugendschutz Ausfluß staatl. Achtung der -> Menschenwürde (Art. 1) und der —> Familie (Art. 6). Er stellt deshalb ein - » Staatsziel von bedeutendem Rang dar. Das J. umfaßt zunächst diejenigen geschriebenen bzw. ungeschriebenen Regelungen, welche die eigene Rechtssphäre des Jugendlichen betreffen. Hierzu zählen Fragen der Handlungs- und -> Geschäftsfähigkeit, der Grundrechts- und Strafmündigkeit sowie der Schadensersatzpflicht von Jugendlichen. Femer zählen hierzu Regelungen, die das Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kind betreffen, so u.a. die Befugnis zur Personenund Vermögensfürsorge. Eng damit verbunden sind die mehrfach geänderten und sozial-polit. umstrittenen Regelungen zur Rechtsstellung des nichtehelichen Kindes, 472
insbes. hinsichtlich der Fürsorgeberechtigimg des Vaters und seiner erbrechtl. Stellung. Überwiegend finden sich diese Normen im -> Bürgerlichen Gesetzbuch. Daneben befaßt sich ein 2. Normenkomplex des J.s mit Fragen der öffentl. Jugendhilfe und des Jugendschutzes im öffentl. Leben. Die im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB Vm) v. 26.6.1990 (BGBl. I S. 1163) geregelte öffentl. Jugendhilfe soll die Eltern bei ihrer Erziehungsäufgabe staatlicherseits beratend und leistend unterstützen. Bei Versagen der elterlichen Erziehung tritt an deren Stelle allerdings nicht der —» Staat, sondern ein vom Vormundschaftsgericht eingesetzter Pfleger oder -> Vormund. Zuständig zur Ausführung der öffentl. Jugendhilfe sind die von - » Kreisen und kreisfreien -» Städten errichteten Jugendämter (—> Jugendbehörden). Daneben werden Leistungen der Jugendhilfe auch von freien Trägern erbracht. Zu diesem Komplex gehören femer Regelungen, die dem Schutz von Jugendlichen in der -> Öffentlichkeit (Jugendschutzgesetz v. 25.2.1985 - BGBl. I S. 425) oder vor jugendgefährdenden Schriften und Medieninhalten (Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und Medieninhalte - i.d.F.v. 12.7.1985 - BGBl. I S. 1502) dienen. Auch die Regelungen zum Schutz von Jugendlichen im Erwerbsleben (Jugendarbeitsschutzgesetz v. 12.4.1976 - BGBl. I S. 965), insbes. das Kinderarbeitsverbot, lassen sich hier einordnen. Darüber hinaus zählen zu diesem Komplex all diejenigen strafrechtl. Bestimmungen, die Kinder und Jugendliche vor Angriffen seitens Erwachsener, insbes. auf ihre sexuelle und körperliche Integrität, schützen sollen. Schließlich umfaßt das J. staatl. Zwangsmaßnahmen gegen den Jugendlichen selbst, v.a. bei strafrechtl. Verfehlungen. Regelungen hierzu enthält das Jugendgerichtsgesetz (JGG) i.d.F. v. 11.12.1974 (BGBl. I S. 3427). Das JGG gilt dabei für Jugendliche und Heranwachsende (18 bis 21 Jahrè), die eine nach allgemeinen
Justiz
Junge Liberale Vorschriften mit Strafe bedrohte Verfehlung begangen haben. Zuständig für die Verhandlung von Jugendstrafsachen sind die Jugendgerichte. Das Jugendstrafrecht läßt sich dabei nicht von dem im Erwachsenenstrafrecht geltenden Gedanken der General- und Spezialprävention (-> Strafrecht), sondern vom Erziehungsgedanken leiten. Die Strafunmündigkeit von Kindern unter 14 Jahren ist aufgrund wachsender Jugendkriminalität in den letzten Jahren zunehmend in Frage gestellt worden. Lit:A. Deisenhofer: Jugendrecht Textausg., München 201994; W. Terpitz: Zwischen 14 und 18, Rechte und Pflichten der Jugendlichen, München 2 1991.
Ralf Müller-Terpitz Junge Liberale —> Freie Demokratische Partei (FDP) Junge Union —> Christlich-Demokratische Union (CDU) Jungsozialisten —> Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) Jurisdiktion -» Rechtsprechende Gewalt -> Gerichtsbarkeit Juristische Person Eine JP ist eine rechtl. geregelte Organisation, der die Rechtsordnung eigene —> Rechtsfähigkeit zuerkennt. Die JP ist von ihren Mitgliedern und deren Bestand oder Wechsel unabhängig. Der Umfang der Rechtsfähigkeit einer JP ist gegenüber demjenigen einer natürlichen Person insoweit beschränkt, als ihr die letzteren, vorbehaltenen Rechte (z.B. des —> Familienrechts, Erbrechts oder der —• Staatsangehörigkeit) unzugänglich sind. Die Grundrechtsfähigkeit JPen richtet sich nach dem Wesen des - » Grundrechts und der Art der JP; JPen sind parteifähig. Sie nehmen durch ihre -> Organe am Rechtsleben teil (Handlungsfähigkeit von JPen) und haften bei privatrechtl. Handeln gem. §§ 31, 89 BGB für die von diesen oder anderen ver-
fassungsmäßig berufenen Vertretern begangenen schadensersatzpflichtigen Handlungen (Deliktsfähigkeit von JPen). Es gibt JPen des —> Privatrechts und des öffentlichen Rechts. 1. JPen des Privatrechts erlangen ihre Rechtsfähigkeit durch staatl. Verleihung, Genehmigung oder regelmäßig - durch Eintragung in einem vom zuständigen -> Gericht geführten Register. Bekannteste Beispiele von JPen des Privatrechts sind außer dem —> Verein (§§ 2Iff. BGB) die Aktiengesellschaft (§§ ff. AktG) und die -> Gesellschaft mit beschränkter Haftung (§§ Iff GmbHG). Neben den körperschaftlich (mitgliedschaftlich) organisierten JPen kommt auch der —> Stiftung als Zweckvermögen mit eigener Rechtspersönlichkeit Bedeutung zu (§§ 80ff. BGB). 2. JPen des öfTentl. Rechts besitzen auf öffentl.-rechtl. wie auf privatrechtl. Gebiet Rechtsfähigkeit. Sie werden - sofern sie nicht (wie z.B. -> Gebietskörperschaften) seit unvordenklicher Zeit kraft natürlicher Entstehung am Rechtsleben teilnehmen - durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes errichtet, verändert und aufgelöst. Es kann sich hierbei um —> Körperschaften, —> Anstalten oder Stiftungen handeln. Sie üben als Träger öffentl. - » Verwaltung zumeist auch hoheitliche Gewalt aus. Im Rahmen staatl. Rechtsaufsicht verfügen sie über das —> Selbstverwaltungsrecht und in diesem Rahmen i.d.R. auch über die Befugnis, ihre Angelegenheiten durch —> Satzung zu regeln. Bei hoheitlichem Handeln von JPen des öffentl. Rechts erfolgt eine —> Staatshaftung (Art. 34 GG, § 839 BGB). Lit: E. Bernatzik: Ober den Begriff der jurist. Person, Wien 1996; MK 1, vor § 104ff.
Jörg Ukrow Jus publicum -> öffentliches Recht Justiz Materiell läßt sich unter J. das gesamte Rechtswesen bzw. die gesamte Rechtspflege verstehen. Als Organisationsbegriff umfaßt die J. die Gesamtheit der in die staatl. Rechtspflege einbezoge473
Justizbehörden
Kammergericht
nen Einrichtungen. Erfaßt sind die Gerichte als —> Institutionen der Rechtsprechung sowie der Gerichts- und J.Verwaltung, daneben auch die -> Staatsanwaltschaften, das Notariatswesen (-> s.a. Notar), die Rechtsanwaltschaft (-> s.a. Rechtsanwalt), die —» Justizministerien. Exakt definiert ist der Begriff nicht. Gelegentlich findet er sich auch als funktionaler Sammelbegriff für die „Dritte Gewalt" im System des gewaltenteilenden —> Rechtsstaats (-> Gewaltenteilung, -> s.a. Rechtsprechende Gewalt). J.M.
Justizbehörden -> Rechtsprechende Gewalt Justizvollzugsanstalt -> Strafvollzug Justizminister / -ium —» Bundesministerium der Justiz
durch Mehrheitsbeschluß andernorts vorbereiteten Entscheidungen sein. In —> parlamentarischen Regierungssystemen sind die seine (formellen) Entscheidungen vorbereitenden Willensbildungsprozesse zentral für die Koordination der Ressortpolitik; zu diesem Zweck dienen häufig auch besondere K. sausschüsse. In Parlament. Regierungssystemen untersteht ein K. (als zentrales staatl. Entscheidungsorgan mit kollektiver Verantwortung) formell oder informell der Kontrolle der —> Parlamente; in -> präsidentiellen Regierungssystemen ist es meist ein nur beratendes und darum viel weniger wichtiges Gremium. Im polit. System der —> EU sowie in Frankreich und Italien versteht man unter K. überdies die engste persönliche Beratergruppe (persönliche Vertraute, Politiker, hohe Beamte) eines EUKommissars oder Ministers (s.a. -> Bundesregierung). Lit.: J. Blondel/F. Müller-Rommel (Hg.): Governing Together, London 1993. {V.J. P.
K a b i n e t t Ursprünglich Bezeichnung (von frz. cabinet = kleines Zimmer, Beratungsraum) für das Beratungsgremium eines (absoluten) Herrschers, das seinerseits nur dem Herrscher selbst rechenschaftspflichtig war, ggf. erfolgte eine Differenzierung zwischen Ministerkabinett (polit. Beratung), Militärkabinett (Militärfragen) und Zivilkabinett (Fragen des öffentl. Dienstes). Inzwischen meist Bezeichnung für die regelmäßige (meist wöchentliche) Versammlung des Regierungschefs mit den (wichtigsten) Ministem (Ministerrat unter Leitung des Ersten Ministers bzw. —> Ministerpräsidenten); ggf. können an seinen Beratungen auch hohe -> politische Beamte teilnehmen. Je nach Struktur des Regierungssystems kann ein - meist 10 bis 40 Personen umfassendes - K. das zentrale polit. Führungsorgan (dann: Regierung) oder nachrangig, je nach polit. Rolle des Regierungschefs ein echtes Beratungsgremium oder eher ein Bestätigungsorgan von 474
Kabinettbildung -> Bundesregierung Kabinettprinzip —> Kollegialprinzip Kabinettvorlage auch Regierungsvorlage -> Gesetzgebung Kämmerei ist die traditionelle Bezeichnung für das kommunale Finanzdezernat (-> Gemeindeverwaltung). Sie leitet sich ab von der Bezeichnung für die Position des Aufsehers über die Vorrats- und Schatzkammer am mittelalterlichen Hof. J.M.
Kaffeesteuer —> Verbrauchsteuern Kammer —> Einkammersystem —» Zweikammersystem -> s.a. Industrie- und Handelskammer —> s.a. Landwirtschaftskammer Kammergericht -» Rechtsprechende Gewalt
Kanzlerprinzip
Kandidatenaufstellung Kandidatenaufstellung -> Parteien -> s.a. Abgeordneter —> s.a. Wahlrecht Kanzler Von lat. cancellarius = in der Antike Türhüter, seit dem 5. Jhd. Leiter der allgemeinem Zutritt versperrten Kanzlei (i.S. von Schreibstube zur Erledigung von Verwaltungsgeschäften). Seit dem 9. Jhd. Bezeichnung für den Leiter der gesamten königlichen oder fürstlichen Verwaltung; in diesem Sinne werden später Begriffe wie Reichs- oder Staatskanzler, Groß- oder Schatzkanzler geprägt. Leitet der K. die Geschäfte eines —> Bundes, so entsteht der Begriff -> Bundeskanzler. Auf seine administrative Ausgangsbedeutung reduziert, bezeichnet der Begriff heute noch den K. als Verwaltungschef einer —> Hochschule. Im Umfang, in welchem dem Leiter der Staatsverwaltung eigener polit. Gestaltungsspielraum, als Erstem —• Minister gar die Führung der polit. Geschäfte zuwächst und er sich überdies auf die Mehrheit eines —> Parlaments stützen kann, wird der K. zum Regierungschef und ggf. zum zentralen polit. Akteur (—> Kanzlerdemokratie). Die ihm zuarbeitende -> Behörde heißt entsprechend Reichs- bzw. Staatskanzlei oder Bundeskanzleramt. W.J. P.
Kanzlerdemokratie Begriff zur Beschreibung der starken Position, die der —> Bundeskanzler im dt. —• parlamentarischen Regierungssystem einnehmen kann. Entstanden in Nachbildung des Weimarer Begriffs der —> Präsidialdemokratie in zunächst publizistischer Verwendung, sollte der Begriff die seine persönliche Machtstellung stärkende Amtsführung des ersten Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, kritisieren. Da die zentrale Stellung des Bundeskanzlers im parlament. Regierungssystem Dtld.s institutionell angelegt und inzwischen auch weitgehend anerkannt ist, wandelte sich der ursprünglich polemische Charakter des Begriffs zu
einem nunmehr typologischen. Umstritten ist, ob die tatsächliche Ausprägung der K. von den Verfassungsgebern wirklich so gewollt war oder ob sie sich v.a. den besonderen Umständen der Regierungszeit Konrad Adenauers verdankt. Lit.: J. Küpper: Die Kanzlerdemokratie, Frankfurt/M. 1985; K. Niclauß: Kanzlerdemokratie, Stuttgart 1988. ¡V.J. P.
Kanzlermehrheit Mehrheit der Mitglieder des -> Bundestages, mit der nach GG Art. 63 Abs. 2 bzw. 67 Abs. 1 (konstruktives -> Mißtrauensvotum) der —> Bundeskanzler gewählt wird. Sie spielt femer im Zusammenhang mit GG Art. 77 Abs. 4 eine wichtige Rolle: Im Gesetzgebungsverfahren kann ein mit Mehrheit der Bundesratsstimmen beschlossener Einspruch des —> Bundesrates gegen ein Bundesgesetz mit der K. zurückgewesen werden. Während Gesetzesbeschlüsse des -> Bundestages auch mit -> einfacher Mehrheit, also unterhalb der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, zustande kommen können, läßt sich in diesem Fall überprüfen, ob sich die —> Regierung wirklich auf die Mehrheit unter allen Mitgliedern des Bundestages stützen kann. Das gleiche kann gem. GG Art. 68 Abs. 1 erreicht werden, wenn der Bundeskanzler die —> Vertrauensfrage stellt. Läßt sich bei einer solchen Vertrauensabstimmung nicht die K. erreichen, so kann der —> Bundespräsident unter gewissen Umständen den Bundestag auflösen (—> Parlamentsauflösung). 1982 wurde das Nichtzustandekommen der K. bei der Vertrauensfrage absichtlich herbeigeführt, so daß der Weg zu angestrebten Neuwahlen eröffnet wurde. Lit: W. Steffani (Hg.): Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG, Opladen, 1991. W.J. P.
Kanzlerprinzip Im angelsächs. Bereich prime ministerial government genannt; dort gemeinsam mit dem -> parlamentari475
Kapitalertragsteuer
Kapitalertragsteuer
sehen Regierungssystem, in Dtld. gemeinsam mit dem Aufkommen handlungsfähiger —> Ministerien in den konstitutionellen Monarchien (—> Konstitutionalismus) des 19. Jhd.s entstanden. Bezeichnet einen Grundsatz der Regierungsarbeit, nach welchem dem Regierungschef (-» Kanzler) aufgrund des Bestellungsmodus einer —• Regierung sowie der (faktischen) Verteilung von —> Kompetenzen in ihr eine zentrale, ggf. dominierende Stellung zuwächst. Dieser hat er dann auch gerecht zu werden, wenn er nicht als sog. schwacher Kanzler gelten und alsbald abgelöst werden will. Zu den konstitutiven Elementen des K.s sind zu rechnen: erheblicher Einfluß des Regierungschefs auf die Bestellung der übrigen Regierungsmitglieder; Vorrechte bei der organisatorischen und inhaltlichen Ausgestaltung der Regierung und Regierungsarbeit (z.B. -> Kompetenz-Kompetenz, Steuerungsrolle des Kanzleramtes im Regierungsprozeß, Kontrolle über die Tagesordnung der Kabinettsitzungen, zentrale —> Verantwortlichkeit des Regierungschefs vor dem Parlament); sowie polit. Prärogative (v.a.: Entscheidung bei Unstimmigkeiten zwischen den Ministerien, generell: —> Richtlinienkompetenz). Letztere ist ihrerseits aber meist nur solange wirksam, wie sie von den übrigen polit. Akteuren aufgrund des tatsächlichen Einflusses des Regierungschefs auf Parlament, regierungstragende Parteien und - » Öffentlichkeit als selbstverständlich akzeptiert wird; sie schwindet rasch jedoch, wenn ein Regierungschef sich ausdrücklich auf sie beruft. In Dtld. wird das (dominierende) K. begrenzt vom —> Ressort- und Kabinetts- bzw. —> Kollegialprinzip. La.: P. Haungs: Kanzlerprinzip und Regierungstechnik im Vergleich. Adenauers Nachfolger, in: APuZ 1/1 1989, S. 28ff; W. Hennis: Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik, in: Recht und Staat 1964, S. 7ff.
W.J. P. Kapitalertragsteuer Die K. ist eine
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besondere Form der Erhebung der —> Einkommensteuer (und —> Körperschaftssteuer) bei bestimmten inländischen Kapitalerträgen. Sie ist eine Gemeinschaftssteuer, ihr Aufkommen fließt zur Hälfte dem -> Bund und den -> Ländern zu. Durch die K. werden Einkünfte erfaßt, die nicht durch Erwerbstätigkeit erwirtschaftet werden, sondern die durch (befristete) Überlassung von Vermögen zu Nutzung entstehen. Die Besteuerung der Erträge wird durch sog. Quellenabzug (z.B. bei der kontofuhrenden Bank) beim Schuldner der Kapitalerträge oder bei der auszahlenden Stelle durchgeführt und nicht beim Bezieher der Einkünfte selbst. Diese Art der Besteuerung (Quellensteuer) mindert die Hinterziehungsquote, die bei nicht an der Quelle besteuerten Zinsen außergewöhnlich hoch ist. Ist von vorn herein anzunehmen, daß eine Veranlagung zur Einkommensteuer nicht in Betracht kommt, so erteilt das Finanzamt auf Antrag eine Nichtveranlagungsbescheinigung, aufgrund derer die Bank vom K.abzug absieht. Dem K.abzug in Höhe von 25% unterliegen im wesentlichen nur die inländischen Gewinnanteile aus Aktien und ähnlichen Beteiligungserträgen, jedoch nicht Zinsen aus festverzinslichen Wertpapieren und aus Sparguthaben. Seit dem 1.1.1989 wurde die sog. kleine K. als weitere Quellensteuer von 10% auf Zinsen aus Bankguthaben, festverzinslichen Anleihen und Investmentfonds sowie auf bestimmte Kapitalerträge aus Lebensversicherungen eingeführt. Wegen des massiven Kapitalabflusses in das Ausland und Kritik aus Wirtschaft und Öffentlichkeit wurde diese -> Steuer zum 1.7.1989 wieder abgeschafft. Von der befristeten Überlassung von Vermögen ist die endgültige Überlassung der Vermögenssubstanz, insbes. durch Veräußerung, zu unterscheiden. Nicht erfaßt sind die Einkünfte aus eigenem Betriebsvermögen von Gewerbebetrieben. Unter die K. fallen jedoch Entgelte für die Überlassung von Kapitalvermögen zu befristeten Nutzung.
Kartellamt
Kirche
Lit: Κ. Tipke: Steuerrecht, Köln 1987.
K.H. Kartellamt —> Bundeskartellamt Katholische Kirche kirchenrecht
Kirche -> Staats-
Kernenergie -> Atomrecht Kindergeld Wichtigste und älteste Transferleistung des Bundes an —• Familien ist das Κ., das es seit dem 1.1.1955 gibt. Damals wurde ein monatliches K. von DM 25 für dritte und weitere Kinder an Arbeitnehmer, Selbständige und mithelfende Familienangehörige gezahlt. Inzwischen wurden sowohl der Betrag, die Zahl der Kinder, für die ein Anspruch besteht, als auch der Kreis der Berechtigten erheblich erweitert. K. wird heute für jedes Kind gezahlt, das einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Dtld. hat. K. kann fur leibliche Kinder, Adoptiv-, Stief-, Pflegeoder Enkelkinder bezogen werden, die im Haushalt des Anspruchsberechtigten leben. Seit dem 1.1.1996 sind K. und Kinderfreibetrag in das —> Steuerrecht eingearbeitet und werden mit der Lohn- bzw. Einkommensteuerschuld verrechnet. Ab dem 1.1.1997 wird entweder ein monatliches K. von DM 220 für das erst und zweite, DM 300 für das dritte und DM 350 für jedes weitere Kind erstattet oder ein Freibetrag von jährlich DM 6912 berücksichtigt, je nachdem was im Einzelfall günstiger ist. Ν. Z.-H. Kirche / -n Begriffsbestimmung Der Begriff K. geht auf das althochdeutsche „kiricha", von dem spätgriechischen kyrikón (Gotteshaus) zurück (gr.: ekklesia, lat. : ecclesia). Es ist zum einen das Gebäude, in dem sich Christen zum Gottesdienst versammeln. Der heute allerdings vorherrschende gesellschañl. und mit ihm der sozialwissenschaftl. Sprachgebrauch bezeichnen mit K.n die sozialen Organisationsformen von Religion, insbes.
der christl. Bekenntnisse in ihrer jeweiligen geschichtl.-sozialen Erscheinungsweise (Konfession). Dabei wird der Begriff bald weiter (unter Einschluß aller Konfessionsangehörigen), bald enger (bezogen auf die kirchl. Organisationsformen) verwendet. Entwicklung Weltweit gehören der kath. K. ca. 989 Mio. Mitglieder an, die protest. K.n zählen ca. 391 Mio. (1995). In Dtld. haben die 24 ev. Landeskirchen ca. 27,92 Mio., die Kath. K. in 7 Erzbistümern und 20 Bistümern ca. 27,53 Mio. Mitglieder (1996). Die K.n in den neuen Ländern haben prozentual weitaus weniger Mitglieder als in den alten Ländern. 1995 erreichte die Zahl der Taufen in beiden K.n nicht die Zahl der Bestattungen. 1996 traten aus der Kath.n K. ca. 133.000, aus den ev. Landeskirchen ca. 296.782 Mitglieder aus. Die ev. K.n nahmen 1996 ca. 7,94 Mrd. DM, die kath. K. nahm 1996 ca. 8,4 Mrd. DM ein. Die große Zahl der Kirchenaustritte führt zu finanziellen Problemen in den K.n. Die 24 lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen haben sich zur Ev. K. in Dtld. (EKD) zusammengeschlossen. Daneben gibt es die Vereinigte Ev.-Lutherische K. Dtld.s (VELKD) und die Ev. K. der Union (EKU). K. (Religionsgesellschaften) und Staat Das Verhältnis von K. und -> Staat in der -> Bundesrepublik Deutschland wird im wesentlichen durch das -> Grundgesetz, die Verfassungen der Bundesländer und Vertragsrecht (Verträge zwischen den Bundesländern und den ev. K.n sowie der kath. K., —> Konkordate) bestimmt (—» Staatskirchenrecht im Unterschied zu dem „internen" Kirchenrecht). Der Begriff K. wird im GG im gleichen Sinne wie Religiongesellschaften verwandt. Er ist also weiter als der allgemeine Sprachgebrauch. Er schließt andere Religionsgesellschaften wie z.B. die jüdischen Gemeinden ein. Die Fundamentalnormen enthalten Art. 4 des GG. Danach sind die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen 477
Kirchensteuer
KM Κ
Bekenntnisses unverletzlich (Art. 4 Abs. 1 GG). Art. 4 Abs. 2 gewährleistet die ungestörte Religionsausübung (—> Glaubensund Gewissensfreiheit). Von allergrößter Bedeutung ist daneben Art. 140 GG. Darin werden die das Verhältnis von K. und Staat regelnden Bestimmungen (Art. 136, 137, 138, 139 und 141) der Weimarer Reichs Verfassung vom 11.8.1919 zum "Bestandteil dieses Grundgesetzes" erklärt. Danach besteht keine Staatskirche (Art. 137 Abs.l WRV). Die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften wird gewährleistet (Art. 137 Abs. 2, S. 1 WRV). Gem. Art. 137 Abs. 5, S. 1 WRV bleiben die Religionsgesellschaften - > Körperschaften des öffentl. Rechts (mit der wohl wichtigsten Folgerung des kirchl. Besteuerungsrechts). Art. 137 Abs. 6 WRV berechtigt die Religionsgesellschaften aufgrund der bürgerl. Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtl. Bestimmungen Steuern zu erheben. Nach Art. 138 Abs. 1 WRV werden die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Von Bedeutung ist schließlich auch Art. 7 GG. Gem. Art. 7 Abs. 2 GG haben die Erziehungsberechtigten das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. Nach Art. 7 Abs. 3 GG ist der Religionsunterricht in den öffentl. -> Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. In Art. 7 Abs. 4 wird auch den Religionsgesellschaften die Errichtung von -> Privatschulen gestattet. Lit.: Sä, III; HdbStKirchR.
Karl-Reinhard Titzck Kirchensteuer Staatl. Rechtsquellen des K.rechts liegen im Bundesverfassungsrecht, im -> Landesverfassungsrecht und einfachen - » Landesrecht. Kirchl. Rechtsquellen sind die K.ordnungen und die K Hebebeschlüsse der steuerberechtigten Religionsgemeinschaften. Voraussetzung für das Entstehen einer K.pflicht ist die
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Mitgliedschaft in einer steuererhebenden Religionsgemeinschaft. Die K.pflicht endet - außer bei Tod des Steuerpflichtigen und bei der Aufgabe des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthaltes - bei einem nach Maßgabe der geltenden staatl. Vorschriften erklärten Kirchenaustritt. Regelmäßig kann die K. heute als Zuschlag zur —> Einkommensteuer und -> Lohnsteuer, als Zuschlag zur —> Vermögenssteuer und als Zuschlag zu den Meßbeträgen der —> Gewerbesteuer sowie als Kirchengeld und nach kircheneigenem Steuertarif erhoben werden. Die bedeutendste und allgemein erhobene Art der K. ist die Kircheneinkommen-(Lohn-) Steuer. Verwaltet wird die K. regelmäßig von den Finanzämtern; ausnahmsweise wird sie von den —> Kirchen selbst verwaltet. K.streitfragen unterliegen der Nachprüfung durch die staatl. -> Verwaltungsgerichte, soweit sie nicht, wie in einigen Bundesländern geschehen, dem Finanzrechtsweg zugewiesen sind (-> s.a. Staatskirchenrecht). Lit.: J. Giloy: Kirchensteuerrecht und Kirchensteuerpraxis in den Bundesländern, Stuttgart 1987.
K.H.
Klassenwahlrecht Wahlrecht
->
Drei-Klassen-
Kleine Anfragen - » Fragerecht der Abgeordneten K M K = Kultusministerkonferenz; die KMK ist das polit, wichtigste Gremium zur überregionalen Koordination der -> Bildungs-, Wissenschafts- und - » Kulturpolitik, zugleich das Paradebeispiel erfolgreicher Länder-Länder-Kooperation im Kontext des kooperativen —> Föderalismus der BRD. Die KMK entstand im Oktober 1949 aus dem Bestreben, ungeachtet der verfassungsrechtl. verankerten Bildungs- und —> Kulturhoheit der Länder die Bildungs-, v.a. die Schul- und Hochschulpolitik, länderübergreifend und bundeseinheitlich abzustimmen, d.h. mög-
Koalition
Koalition
liehst einheitliche Regelungen für alle zu erzielen. Stellen auch die Vereinbarungen der regelmäßigen Treffen der Kultusminister / -Senatoren (Plenarsitzungen etwa alle 2 Monate) rechtl. lediglich Empfehlungen dar - verbindlich werden sie erst durch Landesgesetze oder Verordnungen -, so ist ihre Bindungswirkung wegen der jeweiligen Mehrheitsverhältnisse in den -> Landesparlamenten doch ganz erheblich. Trotz hoher Konsensbildungsschwellen (-> Einstimmigkeitsprinzip) hat die KMK mit zahlreichen Beschlüssen die -> Bildungspolitik der BRD maßgeblich geprägt und einen ganz erheblichen Einfluß auf die, im histor. wie internationalen Vergleich, beachtenswerte Vereinheitlichung und reformatorische Weiterentwicklung des —> Bildungssystems in den Teilstaaten der BRD gehabt. Die wichtigsten Beschlüsse zur Vereinheitlichung des Bildungssystems: Düsseldorfer Abkommen (1955), Hamburger Abkommen (1964), Saarbrilcker Rahmenvereinbarung (1960), Kollegstufenreform (1972), Vereinheitlichung des Fachhochschulwesens (1968), die heftig umstrittene Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse (seit 1982), Ermöglichung von Schul versuchen, zuletzt die Vereinheitlichung der gegensätzlichen Bildungssysteme nach der —> Deutschen Einheit (—> s.a. Bildungsverfassungsrecht, -> s.a. Kulturverfassungsrecht). G.K. Koalition 1. Allgemeine Verwendung Der Begriff K. wird in den Sozialwissenschaften in unterschiedlichem Bedeutungszusammenhang und mit verschiedenem Sinngehalt gebraucht. Eine eindeutige und präzise Begriffsbestimmung ist jeweils vom Kontext abhängig. Immerhin kann darauf verwiesen werden, daß der Begriff der K. in der Politikwissenschaft bestimmte, zumeist kooperative Interaktionsformen zur Vertretung oder Durchsetzung spezifischer Interessen bezeichnet. Zunächst kann eine K. also als ein soziales Phänomen betrachtet werden, als ein
Zusammenschluß bzw. die Kooperation verschiedener Gruppen oder Individuen zur Effizienzsteigerung ihrer Interessenvertretung, man denke etwa an den histor. geprägten Begriff der Arbeiterkoalition. Der in diese Richtung gehende K.sbegriff beansprucht eine allgemeine Gültigkeit für alle Bereiche sozialen Handelns, ist also nicht genuin dem polit. Bereich zuzuordnen. Erweitert man diesen K.sbegriff, so bezeichnet er den Zusammenschluß von mehreren Personen oder Gruppen zu gemeinsamem Handeln bzw. gemeinsamer Strategie in Widerstreit mit anderen innerhalb desselben Systems, wobei das Ziel nicht unbedingt klar präzisiert sein muß, sondern auch nur aus einer Antiposition heraus erwachsen kann, aber insg. der Durchsetzung eigener Interessen dient. 2. Der allgemeine polit. K.sbegriff Bei diesem muß ausgegangen werden von einem bestehenden polit. System als Wirkungsfeld, das durch Konkurrenz und Anerkennung des —> Mehrheitsprinzips als Mittel zur Lösung von polit. Konflikten charakterisiert ist. Um demokrat. legitimierte Mehrheitsentscheidungen zu finden, versuchen die am polit. Willensbildungsprozeß beteiligten polit. Akteure Absprachen zu treffen, um gemeinsame polit. Ziele durchzusetzen oder auch nur ihnen entgegenstehende polit. Ziele zu verhindern. Diese häufig ad-hoc gebildeten Verbindungen sind ohne formalen Bindungscharakter und lösen sich daher nach der Durchsetzung ihrer Ziele bzw. dem Erreichen ihrer Zweckbestimmung wieder auf. Für verschiedene zu treffende Entscheidungen können zum gleichen Zeitpunkt unterschiedliche Bündnisse nebeneinander bestehen. Diese häufig eher informellen Zusammenschlüsse sind durch Labilität gekennzeichnet, Zustandekommen und Erneuerung der Verbindung werden in einem Bargaining-Prozeß hergestellt. Beispiele für solche Abstimmungsbündnisse sind Subkoalitionen von —> Verbänden und Organisationen, aber auch innerhalb derer sowie ad-hoc gebil-
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Koalitionsfreiheit
Körperschaft des öffentlichen Rechts
dete K.en im amerik. —> Kongreß. 3. Der spezifische Begriff der Regierungskoalition Der sich auf den polit. Bereich insg. erstreckende K.sbegriff trifft zu wenig auf die Strukturgegebenheiten eines —> parlamentarischen Regierungssystems zu, da in jenem aufgrund des konstitutiven Merkmals des Zusammenwirkens von parlament. Mehrheit und -> Exekutive eine zu bildende K. einen stärkeren formalen Charakter und eine deutlich größere Stabilität aufweisen sollte. Unter einer Regierungskoalition in Parlament. Regierungssystemen soll verstanden werden: Eine organisierte Kooperation von mindestens 2 voneinander unabhängigen konkurrierenden -> Parteien in einem polit. Gemeinwesen, vorwiegend inner-, aber auch außerhalb des -> Parlaments, mit den primären Zielen der gemeinsamen Regierungsbildung und -Unterstützung sowie der Durchsetzung von programmatischen und pragmatischen Politikinhalten, deren zentrale Festlegungen in einem gemeinsamen Regierungsprogramm vereinbart werden. Die innerhalb eines polit. Systems wirkende Kooperation kann jederzeit von den beteiligten Parteien ohne jurist. Folgewirkung aufgekündigt werden, hat also nur eine polit, bindende Wirkung und ist eine Zusammenarbeit auf Zeit.
(1811) - entstanden als Ausdruck des aufgeklärten Absolutismus, der die Verarbeitung der konkret bestehenden Verfassungs- und Rechtszustände in inhaltlich vollständiger Form und klarer wie allgemeinverständlicher Sprache forderte, wobei der entstandene Text auf dauerhafte Geltung angelegt war. Mit der Durchsetzung des Nationalstaatsgedankens im Anschluß an die Fiz. Revolution (—> Nationalstaat) schufen sich alle europ., aber auch - mit gewissem zeitlichem Abstand - die lateinamerik. sowie die unabhängig gebliebenen Staaten Asiens eigene K.en, die auf dem Vorbild der napoleonischen bzw. mitteleurop. Gesetzbücher aufbauten. Eine zweite bedeutende K.swelle erlebte Europa um die Jhd.wende (span. Código civil 1889, dt. -> BGB 1900, schweizerisches Zivilgesetzbuch 1907/ 12). Auch wichtige Teile des -> Völkerrechts wurden zu dieser Zeit in den Haager Abkommen von 1899 und 1907 kodifiziert. Die K. von Völkerrecht seit der Mitte dieses Jhd. s (Genfer Seerechtskonventionen 1958, Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen 1961 und über konsularische Beziehungen 1963, Wiener Konvention über das Recht der Verträge 1969), UN-Seerechtsübereinkommen 1982) hat die Ablehnung des bisherigen Völkergewohnheitsrechts durch die im Zuge der Entkolonialisierung entstandenen Staaten gegenstandslos gemacht, zumal sich - insbes. im Rahmen der K. des Seerechts - auch neue Rechtsgedanken in den K.en finden.
Lit: U. Jun: Koalitionsbildung in den dt. Bundesländern, Opladen 1994; M. Sjölin: Coalition Politics and Parliamentary Power, Lund 1993.
Uwe Jun Koalitionsfreiheit heit
Vereinigungsfrei-
Koalitionsregierung —> Koalition Kodifikation Eine K. ist eine grds. abschließend konzipierte Zusammenfassung des gesamten Stoffes eines oder mehrerer Rechtsgebiete in einem einheitlichen -> Gesetz. Die ersten großen neuzeitlichen K.en - das Preuß. Allgemeine Landrecht (1794), der frz. Code Civil (1804) und das öst. Allgemeine Bürgerl. Gesetzbuch
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Lit.: H. Hofmeister: Kodifikation als Mittel der Politik, Wien 1986; D. Merten (Hg.): Kodikation gestern und heute, Berlin 1995.
Jörg Ukrow Körperschaft des öffentlichen Rechts Eine KdöR ist eine durch Hoheitsakt geschaffene mitgliedschaftlich verfaßte, unabhängig vom Wechsel der Mitglieder bestehende und grds. rechtsfähige Organisation, die der Erfüllung öffentl. Aufgaben dient. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber der —> Anstalt bzw.
Körperschaftsteuer
Kollegialprinzip
der —> Stiftung ist die mitgliedschaftliche Verfassung. An dieses Kriterium anknüpfend lassen sich insbes. Gebiets-, Real-, und Personalkörperschaften unterscheiden. Bei Gebietskörperschaften ergibt sich die Mitgliedschaft aus der Ansässigkeit in einem bestimmten Gebiet (z.B. - » Gemeinden), bei einer Realkörperschaft aus dem Vorliegen bestimmter tatsächlicher oder rechtl. Anknüpfungspunkte (z.B. Inhaberschaft an einem Unternehmen oder Betrieb für die IHK), bei Personalkörperschaften aus der Anknüpfung an bestimmte Eigenschaften von Personen, insbes. die Innehabung eines bestimmten Berufes (z.B. Rechtsanwalts- und Notarkammern, —> Hochschule). Auch —> Staaten, inter- und supranationale Organisationen (z.B. -> Vereinte Nationen, —> EG) lassen sich als KdöR begreifen. In einem eher untechn. Sinn werden in Art. 59 Abs. 2 GG auch —> Bundestag und —> Bundesrat als K. bezeichnet (vgl. auch Art. 28 Abs. 1 GG, der die Gemeinderäte als „gewählte Körperschaft" bezeichnet). Lit: Wolff/Bachofïl, §§ 84-86, 89,93-96. J. Β. Körperschaftssteuer Die Κ. belastet den ausgeschütteten und nicht ausgeschütteten Gewinn einer —> Körperschaft. Steuersubjekte der K. sind Kapitalgesellschaften (-> Gesellschaftsrecht, AGen, KGen auf Aktien, GmbH, Kolonialgesellschaften, bergrechtl. Gewerkschaften); Erwerbsund Wirtschaftsgenossenschaften; Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit; sonstige —> juristische Personen des privaten Rechts; nichtrechtsfähige - > Vereine, —> Anstalten; —> Stiftungen; und andere Zweckvermögen des privaten Rechts; Betriebe gewerblicher Art von jurist. Personen des öffentl. Rechts; jurist. Personen des öffentl. Rechts, soweit sie sich kapitalistisch betätigen. Maßgeblich ist allein die Rechtsform. Deshalb sind alle jurist. Personen des privaten Rechts K.subjekte. Nichtrechtsfähige Personenvereinigungen und Vermögensmassen des privaten Rechts sind dagegen nur dann
körperschaftssteuerpflichtig, wenn ihr Einkommen weder nach dem K.gesetz noch nach dem Einkommensteuergesetz unmittelbar bei einem anderen Steuerpflichtigen zu versteuern ist. (Subjektiv) befreit von der Steuerpflicht sind insbes. Kreditanstalten des öffentl. Rechts; Pensions-, Sterbe-, Kranken-, und Unterstützungskassen unter bestimmten Voraussetzungen; Berufsverbände, polit. - » Parteien, Steuersubjekte mit gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchl. Zwecken, soweit sie keinen wirtschaflichen Geschäftsbetrieb unterhalten. Steuerobjekt ist das Einkommen, Bemessungsgrundlage ist das zu versteuernde Einkommen im Kalendeijahr vor Verteilung an die Gesellschafter. Sie wird periodisch nach dem Jahreseinkommen bemessen und veranlagt. Lit.: H. Haas: Körperschaftssteuer, München "1996; J. Lange / W. Reiß: Lehrbuch der Körperschaftssteuer, Herne 81996; M Streck: Körperschaftssteuergesetz, München41995. Κ.
H.
Kollegialprinzip Von lat. collega = gleichberechtigter Amtsgenosse eines Beamten. Bezeichnet innerhalb von Verwaltungs- oder Gerichtsbehörden den Grundsatz, daß alle ihre Mitglieder (weitestgehend) gleichberechtigt in einem Kollegium zusammenwirken und Entscheidungen nach freien Diskussionen aufgrund formell oder informell festgestellter Mehrheit treffen. Im Bereich der Staatsleitung wird das K. meist als Kabinettprinzip bezeichnet und meint den Grundsatz, daß die Mitglieder eines - » Kabinetts (unter Vorsitz eines Ersten —> Ministers, —> Ministerpräsidenten, -> Kanzlers oder sonstigen Regierungschefs) gleichberechtigt die Regierungsgewalt ausüben, gemeinsam entscheiden und kollektiv die —> Verantwortung für die getroffenen Entscheidungen tragen (Kabinettsdisziplin). Am ausgeprägtesten im Schweizer Direktorialsystem, ist das K. typisch für die kontinentaleurop. Regierungen und geht meist mit dem ->
481
Kollektivrechte
Komitee für Grundrechte...
Ressortprinzip einher. In Dtld. wird das K. vom -» Kanzlerprinzip, in Großbritannien vom prime ministerial government dialektisch überlagert, in Frankreich außerhalb von Zeiten einer —• cohabitation von der Führungsrolle des Staatspräsidenten (s.a. —> Amt). W.J. P.
Kollektivrechte sind anders als -> Individualrechte kein selbstverständlicher Bestandteil einer freiheitlichen Rechtsordnung. Bereits bei der Verwendung des Begriffs K. ist häufig unklar, worauf sich der Anspruch richten und wer der Träger solcher Rechte sein soll: Allgemein lassen sich unter K.n Rechte verstehen, auf deren Grundlage eine Gruppe von Individuen einen Anspruch als rechtmäßig geltend machen kann. Diese Definition von K. i.w.S. kann sowohl Rechte -> juristischer Personen (z.B. Verbände) als auch die Summe individueller Rechte von Mitgliedern einer Gruppe (z.B. Berechtigung qua Quote) umfassen. I.e.S. könnten sich K. auf den Schutz einer Gruppe selbst beziehen, die eine gruppenspezifische Entwicklung anstrebt und deren Zugehörigkeit durch objektive Kriterien bestimmbar und subjektiv von den Mitgliedern gewollt ist (z.B. indigene Völker). Von einer solchen ließen sich analytisch Gruppen unterscheiden, deren Bestand auf der Verwirklichung von Zielen innerhalb einer Gesellschaft (z.B. Gleichberechtigung) beruht. Darüber hinaus sind K. polit, umstritten: Ihre Aktualität speist sich u.a. aus der Debatte um die Anerkennung des Rechts auf Entwicklung als kollektives oder individuelles —> Menschenrecht und aus der zunehmenden Sensibilisierung für die Minderheitenproblematik (—» Minderheit, nationale). Gleichwohl sind von den -> Vereinten Nationen - anders als vom Völkerbund - bislang nur das Selbstbestimmungsrecht der Völker (Art. 1 IPBPR und IPWSKR) und das Recht auf Lebenserhaltung von nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppen (Art. 2 482
der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes) als K. anerkannt worden. Da die Mehrheit der Staaten K. als ein Hindernis für die wirtschaftl. und polit. Funktionsfähigkeit eines Landes ansieht, sind K. sowohl im inner- als auch im zwischenstaatl. Recht eine Ausnahme (z.B. Banjul-Charta der OAU). Für westliche -> Demokratien, in denen Recht von der Autonomie des Individuums her gedacht und durch Individualrechte ausgestaltet wird, kommt hinzu, daß die liberale polit. Theorie auf die Begründung eines die -> Grundrechte des einzelnen achtenden Regierangssystems und eines kollektiv verbindliches Recht schaffendes —• Mehrheitsprinzip ausgerichtet ist und insofern wenig Bedarf für K. hat. In fragmentierten Gesellschaften können K. jedoch u.U. zur Toleranz zwischen (und ggf. innerhalb) kultureller Gruppen beitragen und sich damit mitunter als Instrument zur Befriedung eines polit. Systems erweisen. Lit.: M. Freeman: Are there Collective Human Rights?, in: Political Studies 1995, 25ff.; D. Sanders: Collective Rights, in: Human Rights Quarterly 1991, 368ÉF. Oliver
Lembcke
Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. Im Jahre 1980 gegründet, besteht das Komitee organisatorisch aus einem Mitgliederkreis von ca. 100 engagierten Prominenten und Experten zu rechtl. und spezifischen Menschenrechtsfragen. Darüberhinaus verfügt es über einen Förderkreis zur finanziellen Unterstützung sowie über einen Interessentenund Sympathisantenkreis von ca. 8.500 Einzelpersonen. Der Geschäftsführende Vorstand koordiniert den Vorstand (z.Z. 10 Mitglieder) und einen 21-köpfigen Arbeitsausschuß. Arbeits- und Projektgruppen engagieren sich in verschiedenen Arbeitsfeldern. Das Komitee begreift als seine Hauptaufgaben, einerseits aktuelle Verletzungen von —> Menschenrechten öffentl. zu machen und sich für diejenigen einzusetzen, deren Rechte verletzt worden
Kommandogewalt
Kommunale Demokratie
sind (z.B. sog. Demonstrationsdelikte, Justizwillkür, Diskriminierung (-> Diskriminierungsverbot), Berufsverbote, Ausländerfeindlichkeit, Totalverweigerung, Asyl- und Flüchtlingspolitik). Andererseits will das Komitee aber auch Verletzungen aufdecken, die nicht unmittelbar zutage treten und in den gesellschaftl. Strukturen und Entwicklungen angelegt sind. Die Gefährdung der Grund- und Menschenrechte hat viele Dimensionen, vom Betrieb bis zur Polizei, vom Atomstaat bis zur Friedensfrage, von der Umweltzerstörung bis zu den neuen Technologien (nicht zuletzt im Bereich der Biound —> Gentechnik), von der -> Meinungsfreiheit bis zum Demonstrationsrecht, von —> Arbeitslosigkeit bis zur sozialen Deklassierung, von den zahlreichen Minderheiten bis hin zu Fragen der —• Gleichberechtigung der Frau. Das Komitee arbeitet z.Z. mit Büros in Sensbachtal und in Köln. Hg-
Kommandogewalt -> Bundeswehr Kommunalabgaben —» Gemeindesteuern Kommunalaufsicht Die staatl. Aufsicht über die —> Kommunen steht den einzelnen —> Bundesländern zu, da dem —> Bund nach der bundesstaatl. Ordnung des —• Grundgesetz ein unmittelbares Recht zum Durchgriff gegen die —» Gemeinden fehlt, und es deshalb keine Bundeskommunalaufsicht gibt (BVerfGE 8, 122 (137); 26, 172 (181)). Formale Einschränkungen des —> Selbstverwaltungsrechts, die mit der Aufsicht verbunden sind, werden durch den —• Gesetzesvorbehalt des Art. 28 Abs. 2 GG gedeckt. Unterschieden werden 2 Arten der Aufsicht: —> Rechtsaufsicht und -> Fachaufsicht. Während die Rechtsaufsicht in Selbstverwaltungsangelegenheiten (weisungsfreien Angelegenheiten) besteht, sind die übertragenen staatl. Aufgaben (Weisungsaufgaben) der Fachaufsicht unterworfen. Rechtsaufsicht bedeutet aus-
schließlich Kontrolle der Gesetzmäßigkeit des Handelns; Fachaufsicht dagegen darüber hinaus auch Überprüfung der Zweckmäßigkeit kommunalen Handelns. Nichtrechtmäßige Ausübung der Aufsichtsfunktionen führt zur Amtspflichtverletzung und u.U. zur Haftung des Landes (Art. 34 GG, § 839 BGB). Lit: Α. Gern: Dt. Kommunalrecht, Baden-Baden 2 1997, S. 427ff. E.H.
Kommunale Aufgaben -» Gemeinde Kommunale Demokratie Kommunale Selbstverwaltung und demokrat. Prinzip stehen in engem Zusammenhang. Der Gedanke der Betroffenenmitwirkung, wie er jede Form der —> Selbstverwaltung trägt, zielt seiner Natur nach auf den status activus des Einzelnen. Der histor. (1.) wie auch der rechtsvergleichende Blick (2.) zeigen, daß die aktive Teilnahme an den öffentl. Entscheidungen auf der kommunalen Ebene oft auch dort möglich ist, wo das staatl. Gemeinwesen den Schritt zur —> Demokratie noch nicht vollzogen hat oder im übrigen eher zentralistische Strukturen herrschen. In Dtld. sind die Grundsätze der K.D. heute Verfassungsgebot (3.), ausgeformt wird sie sowohl durch repräsentative (4 ), als auch durch unmittelbare Partizipationsverfahren (5.), wobei sich die Strukturen zur Zeit in einem dynamischen Entwicklungsprozeß befinden (6.): 1. Städte sind histor. gesehen immer wieder als mehr oder weniger geschlossene polit. Einheiten in Erscheinung getreten. Gerade hier haben sich schon frühzeitig auch demokrat. Strukturen der Beteiligung der Stadtbürger ausgebildet. Dies gilt für antike gr. Stadtstaaten (die freilich noch keine überwölbenden staatl. Gebilde kannten) ebenso wie für sich selbstverwaltende Städte, die sich in Dtld. seit dem 10. Jhd. finden. Zwar variieren die städtischen Freiheiten hier erheblich und auch von einer egalitär-demokrat. Gleichheit sind diese zumeist oligarchi483
Kommunale Demokratie sehen Strukturen noch weit entfernt, immerhin aber werden bereits —> Bürgermeister gewählt, und es finden sich Mechanismen, die den Keim der heutigen K.D. enthalten. Nachdem sich die städtischen Freiheiten in der Zeit des Absolutismus erheblich reduziert hatten, werden die Bürger zu Beginn des 19. Jhd.s zunächst auf der Ebene der Städte wieder in öffentl. Entscheidungen einbezogen (histor. wegweisend ist die Stein'sehe Städteordnung vom 19.11.1808), wobei es durchaus um die Stärkung des Gemeinsinns und damit der Staatlichkeit selbst ging. Dabei erkennt schon C. von Rotteck (1775-1840) ansonsten kein Freund der Stein'schen Städteordnung, die freiheitliche Dimension einer gemeindlichen Selbstverwaltung, sei sie doch ein Gegenmittel zur Despotie. Die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung im 19. Jhd. wird auch von genossenschaftlichen und romantischen Vorstellungen getragen. Die damit einhergehende Idee, der —* Gemeinde könnten - » Grundrechte gegenüber dem Staat zustehen, schlägt sich in der -> Weimarer Reichsverfassung nieder, deren Art. 127 die kommunale Selbstverwaltung im Grundrechtsteil plaziert. Das -> Grundgesetz setzt die Bestimmung wieder in das staatsorganisationsrechtl. Normengefüge ein, von der Selbstverwaltung als Abwehrposition gegenüber dem Staat wird der Akzent damit auch formal wieder auf die K.D. als Partizipation an staatl. Entscheidung verlagert. 2. K.D. ist dabei keine dt. Besonderheit: Die Ausgestaltung der Spitze der Lokalverwaltung als Wahlamt (-» Wahlbeamte), die Einrichtung einer gewählten Vertretungskörperschaft mit rechtsetzender wie kontrollierender Kompetenz finden sich variantenreich ausgeführt weltweit. Während eine ausgeprägte Selbstverwaltung z.B. im anglo-amerik. Bereich auf langer Tradition beruht (gleiches gilt ohnehin für die Schweiz), hat das traditionell zentralistische Frankreich inzwischen gerade die Zuständigkeitsausstattung der kommunalen Ebene und damit die Bedeu-
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Kommunale Demokratie tung der dortigen demokrat. Strukturen verbessert. In Staaten mit hoher urbaner Bevölkerungskonzentration (Australien) kann der kommunalen Entscheidungsebene z.T. zentrale Bedeutung zuwachsen. Auf der Ebene des —> Europarats entfaltet eine Europäische Charta der Kommunalen Selbstverwaltung (BGBl. Π 1987 S. 66) völkerrechtl. Verpflichtungskraft. Innerhalb der -> Europäischen Union sind die Strukturen immerhin so vergleichbar, daß man sich auf ein allgemeines Kommunalwahlrecht im Aufenthaltsstaat als zentrales Element der —> Unionsbürgerschaft einigen konnte. 3. Unter dem GG sind wesentliche Elemente der K.D. zwingend vorgeschrieben (Art. 28 Abs. 1 S. 2-4 GG). In den Gemeinden und -> Kreisen müssen Vertretungen bestehen, flir deren Wahl die allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze gelten. Die Sondervorschrift des Satz 4, wonach in Gemeinden an die Stelle der Vertretung die Gemeindeversammlung treten kann, ist weithin bedeutungslos geblieben. Aufgrund der komplementären Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) ist gewährleistet, daß die auf kommunaler Ebene legitimierten Entscheidungsträger auch in der Sache über relevante Entscheidungsbefugnisse verfügen. Gleichwohl bleibt K.D. das demokrat. Element auf der Ebene der -> Gemeindeverwaltung. Legislativbefugnisse bestehen nicht, lediglich die Befugnis zum Erlaß autonomer —> Satzungen. Über die Mechanismen der K.D mittelbar wie unmittelbar kann gestaltend also nur insoweit auf die öffentl. Angelegenheiten eingewirkt werden, als der Rahmen der Gesetze dies erlaubt. Für die konkrete Ausgestaltung der in diesem Rahmen sich entfaltenden K.D. sind die Länder zuständig, dementsprechend unterschiedlich ist die Ausgestaltung im Detail (-> Gemeindeverfassung). Grundsätzlich ist die K.D. als repräsentative (-> Repräsentation) sowie neuerdings in verstärktem Maße auch als - » direkte Demokratie institutionalisiert.
Kommunale Demokratie 4. Demokrat. Partizipation vollzieht sich regelmäßig im Schwerpunkt durch - * Wahlen und im Wege der Repräsentation. Gewählt werden grds. jedenfalls ein Gemeinderat und ein Kreisrat, in kreisfreien Städten der Stadtrat, zusätzlich die Bezirksvertretungen. Wahlberechtigt sollen nach der Rechtsprechung des -> Bundesverfassungsgerichts nur Deutsche sein, da ansonsten die erforderliche demokrat. —> Legitimation nicht vermittelt werden könne (BVerfGE 83, 37ff./60ff.). Die inzwischen verwirklichte Einbeziehung der ansässigen Unionsbürger hat das Gericht jedoch ausdrücklich für möglich gehalten. Weithin durchgesetzt hat sich inzwischen daneben die Direktwahl des —> Bürgermeisters, in einigen Ländern kann er auch wieder abgewählt werden. Es gelten die üblichen Regeln zu Wahlmündigkeit (einige Länder gewähren das Wahlrecht inzwischen mit dem 16. Lj.) und Wahlausschluß, ausgeprägter als im Bereich des Bundes- bzw. Landesparlamentsrechts sind die vorgesehenen —> Inkompatibilitäten. Die Ratsmitgliedschañ ist regelmäßig Ehrenamt (—> Ehrenamtliche Tätigkeit), für Bürgermeister und ggf. Beigeordnete variiert Haupt- bzw. Ehrenamtlichkeit nach Gemeindegröße und im Detail von Land zu Land. Organisatorisch funktionieren die Räte als „Feierabend-Parlamente" (Ausschußwesen, Fraktionsbildung). Die polit. Willensbildung wird auch in den Gemeinden maßgeblich durch die polit. Parteien bestimmt, mit abnehmender Größe der Gemeinde wachsen aber die Bedeutung rein lokaler Verbindungen (—> Rathauspartei) bzw. die Erfolgschancen rein individueller Kandidatur. 5. Direktdemokrat. Mechanismen mit echter Entscheidungsbefugnis kannte lange Zeit (seit 1956) nur BW. Seit 1990 wurden aber (entsprechend der Entwicklung im Bereich der Landesgesetzgebung, -> Volksentscheid) alle übrigen Gemeindeverfassungen um entsprechende Regelungen ergänzt (in Beri, finden sich vergleichbare Regelungen für die Ebene der -> Bezirke), so daß die K.D. in Dtld. in-
Kommunale Demokrati zwischen neben der repräsentativen durchgehend auch eine direktdemokrat. Komponente aufweist. Die Ausgestaltung ist variantenreich. Üblicherweise sehen die Länder einerseits einen Einwohnerantrag (bzw. Bürgerantrag) vor, der eine Art Kollektivpetition der Einwohner bzw. ansässigen Bürger darstellt und lediglich zur Befassungspflicht des Repräsentationsorgans führt. Erzwungen werden kann eine Regelung nur durch ein gestuftes Verfahren, das regelmäßig aus Bürgerbegehren (mit dem eine Befassungspflicht des Rates erreicht wird) und (soweit der Rat dem Begehren nicht folgt) nachfolgenden —» Bürgerentscheid besteht. Auch hier variiert die Ausgestaltung in den sog. Negativ- und Positivkatalogen, durch die bestimmte Themenkataloge für unzulässig oder ausdrücklich für zulässig erklärt werden, in den Bestimmungen über Verfahren, in Antrags- und Zustimmungsquoren, Wiederholungssperren und Bindungswirkung. Erste Erfahrungen zeigen, daß gerade von den direktdemokrat. Möglichkeiten der kommunalen Ebene reger Gebrauch gemacht wird und auch durchaus hohe Beteiligungsquoren feststellbar sind. Als besonders weitreichend gilt und intensiv genutzt wird das Bay. Gesetz über den kommunalen Bürgerentscheid vom 27.10.1995, das seinerseits im Wege eines erfolgreichen Volksentscheids zustande kam; es wurde jedoch vom BayVerfGH mit problematischer Begründung (Verletzung der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung) für teilw. verfassungswidrig erklärt (BayVerfGH NJW 1997, S. 622). 6. Durch Änderungen im traditionellen Gemeindeverfassungsrecht in zahlreichen Ländern (Direktwahl der Bürgermeister, Einführung des Unionsbürgerwahlrechts, Absenkung des Wahlalters etc.) sowie insbes. durch die Hinzufilgung direktdemokrat. Entscheidungsformen ist die K.D. erheblich in Bewegung geraten. Insbes. das Zusammenspiel zwischen der repräsentativen und der direkten Demokratie auf der Gemeindeebene wirft noch zahl-
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Kommunale Finanzhoheit
Kommunale Finanzhoheit reiche Rechtsfragen auf. Angesichts weitreichender rechtl. Bindungen (nicht zuletzt auch durch —> Europäisches Gemeinschaftsrecht), notleidender Haushaltslagen) und der Komplexität der Sachaufgaben laufen Vorstellungen einer „Demokratie von unten" Gefahr, enttäuscht zu werden. Gleichwohl scheint die direkte Demokratie auf der Gemeindeebene derzeit ein größeres praktisches Potential aufzuweisen als die parallelen Ansätze einer gestärkten Volksgesetzgebung auf Landesebene. Lit: Α. Gern: Dt. Kommunalrecht, Baden-Baden 2 1997; O. Jung: Kommunale Direktdemokratie mit Argusaugen gesehen, in: BayVBl. 1998, S. 22ff.; F.L. Knemeyer: Bürgerbeteiligung und Kommunalpolitik, Baden-Baden 2 1997; H. Naßmacher: Keine Erneuerung der Demokratie „von unten", in: ZParl 1997,445ff; K. Ritgen: Bürgerbegehren und BQrgerbescheid, Baden-Baden 1997.
Jörg Menzel Kommunale Finanzhoheit Die KF ist Teil der den -> Gemeinden durch Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz gewährleisteten Selbstverwaltungsgarantie neben z.B. der Personal-, Planungs- und Organisationshoheit und beinhaltet eine eigenverantwortliche Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft. Die sog. Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung sind nach der Verfassungsreform von November 1994 nunmehr ausdrücklich in Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG geschützt. Den Gemeinden dürfte eine angemessene Finanzausstattung in dem Umfang gesichert sein, in dem der Bestand der kommunalen Selbstverwaltung als - » Institution davon abhängig ist. Die Einnahmen der Gemeinden aus originären Steuerquellen machen ein gutes Drittel ihrer gesamten laufenden Einnahmen aus. Dazu zählen die —> Grund- und -> Gewerbesteuer (Realsteuern), der Anteil der Gemeinden an der - » Einkommensteuer (z.Z. 15%) und die ihnen je nach —> Landesrecht zugewiesenen Einnahmen aus den örtlichen Aufwand- und —> Verbrauchsteuern (z.B. Hundesteuer,
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Getränkesteuer, Vergnügungssteuer, Jagdsteuer, Zweitwohnungssteuer) sowie neuerdings der Anteil der Gemeinden an der -> Umsatzsteuer, der die Einnahmeausfälle der Gemeinden aus der Abschaffung der -> Gewerbekapitalsteuer kompensieren soll. Den —> Hebesatz der Grund- und Gewerbesteuer dürfen die Gemeinden festlegen, die —> Länder können eine Obergrenze der Hebesätze vorschreiben. Durch Verfassungsergänzung von Oktober 1997 ist den Gemeinden jetzt „eine mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle" garantiert. Eine Ewigkeitsgarantie zu Gunsten der Gewerbesteuer bedeutet diese Einfügung in Art. 28 Abs. 2 S. 3 GG aber nicht; der Bundesgesetzgeber könnte die Gewerbesteuer durch eine andere wirtschaftskraftbezogene Steuer ersetzen. Einen Teil ihrer Gewerbesteuereinnahmen müssen die Gemeinden im Rahmen einer Umlage nach § 6 Gemeindefinanzreformgesetz an Bund und Länder abfilhren. Von der Möglichkeit in Art. 106 Abs. 5 GG, ein Hebesatzrecht der Gemeinden auch hinsichtlich ihres Einkommensteueranteils einzuführen, hat der Bundesgesetzgeber bisher nicht Gebrauch gemacht. Rechtsgrundlagen für die örtlichen Verbrauchund Aufwandsteuern sind die Kommunalabgabengesetze der Länder i.V.m. den einschlägigen Steuersatzungen der Gemeinden. Neben den —> Gebühren und Beiträgen, bei denen die Gemeinden einen Spielraum zur Annäherung an die Kostendeckung besitzen, zählen zu den weiteren bedeutenden Finanzierungsquellen der Kommunen die staatl. Finanzzuweisungen. Mit ihnen beteiligen die Länder, die nach der grundgesetzlichen Ordnung die Hauptverantwortung für die Finanzausstattung ihrer Kommunen tragen, ihre Kommunen an ihren Steuereinnahmen unter Bedarfsgesichtspunkten. Die Höhe der meist ungebundenen Zuweisungen wird nach abstrakten Merkmalen wie z.B. der Einwohnerzahl und der Steuerkraft der einzelnen Gemeinde berechnet. Durch zweckgebundene Zu-
Kommunale Selbstverwaltung Weisungen können die Länder das Ausgabeverhalten der Gemeinden lenken. Bei den Ausgaben haben die Kommunen größere Gestaltungsspielräume, die allerdings durch detaillierte staatl. Vorgaben,z.B. Mindeststandards eingeschränkt werden. Die Gemeinden spielen eine bedeutende Rolle bei den öffentl. Investitionen. Die Aufnahme von Krediten durch die Kommunen unterliegt der staatl. Aufsicht, um ihre mittel- und langfristige Handlungsfähigkeit zu wahren. Die -> Kreise verfügen im Gegensatz zu den Gemeinden kaum über eigene Steuereinnahmen, sondern finanzieren sich im wesentlichen aus Finanzzuweisungen der Länder und der Kreisumlage, die sie von ihren Mitgliedsgemeinden erheben. IM.: VerjG(E) 71, 25, 38 (Beschluß v. 9.10.1985); VerfGH NW, Urteil v. 4.3.1983, DVB1. 1983, S. 714f.; HJ. Brinkmeier: Kommunale Finanzwirtschaft, Köln 21990; HdbStR IV, S. 1190ff.
Jürgen Karstendiek Kommunale Selbstverwaltung ist in Art. 28 Abs. 2 GG und in den entsprechenden Bestimmungen der -> Landesverfassungen gewährleistet. Sie besteht in dem Recht, die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (im Rahmen der Gesetze) eigenverantwortlich zu regeln. Das Recht der K.S. steht neben den -> Gemeinden auch den -> Kommunalverbänden zu, wozu insbes. die —> Kreise (daneben aber ggf. auch —> Verbandsgemeinden, -> Bezirke und -> Landschaftsverbände) gehören. Geprägt ist die K.S. durch eigene Mechanismen demokrat. —> Legitimation, namentlich durch Wahlen zu einer Vertretung in Kreisen und Gemeinden (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG), durch Bürgermeisterwahlen und Abstimmungen. Wegen der Universalität des gemeindlichen Wirkungskreises sind die Gemeinden gem. Auslegung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 79 S. 127ÍT.) in begrenztem Umfang auch im kommunalen Binnenverhältnis zu den Gemeindeverbänden gegen Aufgabenentziehung geschützt (s.a. ->
Kommunalpolitik Kommunale Demokratie, s.a. —» Gemeindeverwaltung). J. M. Kommunale Spitzenverbände —> Kommunalverbände Kommunalpolitik Die K. umfaßt die Gesamtheit der Gesetzgebungs- und Verwaltungstätigkeit zur Wahrnehmung innergemeindlicher Aufgaben im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung. Sie ist ein Sammelbegriff für das polit. Handeln, das sich auf die öffentl. Angelegenheiten in —> Gemeinde, —> Stadt, —> Bezirk, —» Kreis, Distrikt richtet, also auf eine kommunale —> Gebietskörperschaft, die mit begrenzter Eigenverantwortung tätig wird und zugleich zu einem übergreifenden staatl. Gemeinwesen gehört. Sie ist von großer Bedeutung insbes. in gesellschaftspolit. Hinsicht. Das Recht einer Gemeinde oder Stadt, ihre Angelegenheiten im Rahmen der staatl. Ordnung selbst zu regeln, gab es für viele europ. Städte vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Auch das Selbstverwaltungsprinzip durch Heranziehung der —> Bürger zu - » ehrenamtlicher Tätigkeit bei städtischen Angelegenheiten im Preuß. des 19. Jhd.s gab Raum für örtliche Politik. In Europa wurde die K. nicht zuletzt im Zusammenhang mit Kriegen und Krisen überlagert durch immer enger werdende Regelungsnetze staatl. —> Gesetzgebung. Erst nach dem Π. Weltkrieg kam es wieder zu mehr polit. Dezentralisation. In den parlament. —> Demokratien Europas wurde die kommunale Ebene als Sockel des demokrat. Staates gesehen. Die polit. —> Parteien betrachten die K. als wichtigen Programmteil. Form und Verfahren der K. werden geprägt durch die staatl. gegebenen —» Kommnaiverfassungen (Gemeindeordnungen, Kreisordnungen u.ä.), die das Organisationsgefüge, die Aufgaben von Gremien und Amtsträgern regeln. Staatsform, vorherrschende polit. Grundauffassung und regionale Tradition sind maßgeblich für Art und Rang der K.; sie bestimmen z.B. den
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Kommunalrecht
Kommunalrecht Einfluß von -> Wählervereinigungen, Stärke des -> Bürgermeisters, Umfang der staatl. Kontrolle mit Genehmigungsvorbehält oder nur Rechtmäßigkeitsaufsicht. Wichtige Bereiche der K. sind hier die —> Sozialhilfe, die —> Jugendhilfe und Jugendwohlfahrt, die Einrichtung von Kindergärten und Spielplätzen. Weiterer Bereich der K. ist die Mitgestaltung der Alten-, Behinderten- und Obdachlosenhilfe und die Ausländerbetreuung. Weitere Themen sind kommunale Krankenhäuser, die Drogenberatung, Lebensmittel- und Apothekenaufsicht, kommunaler Personennahverkehr ( - » s.a. Verkehr) und kommunalwirtschaftl. Unternehmungen, wie z.B. Wasser, Elektrizität, Entsorgung; jeweils samt Gebühren- und Tariffragen. Die größte Freiheit genießt die K. im Kulturbereich, da hier kaum gesetzliche Verpflichtungen konkreter Art bestehen und die kommunale -> Kulturpolitik besonders stark auf die örtlichen Bedingungen und Besonderheiten abgestellt ist (—> s.a. Kulturverfassungsrecht). Die einschneidenste Grenze für die Entscheidungsspielräume der K. zieht der —> Staat durch die Regelung der Gemeindefinanzen. Hier sind die Kommunen stark eingegrenzt; allein der Staat entscheidet über allgemeine und spezielle Mittelzuweisungen in Form von Finanzausgleichen und Projektzuschüssen (—> s.a. Kommune, -> s.a. Kommunalverfassung). Lit.: H. U. Erichsen u.a. (Hg.): Kommunalverfassung in Europa, Berlin 1988; HdbKWP II; R.
Roth (Hg.): Kommunalpolitik, Opladen 1994; H.G. Wehling (Hg.): Kommunalpolitik in Europa, Stuttgart 1994.
Karl Heinz Schmitz Kommunalrecht bezeichnet die Gesamtheit aller Rechtsvorschriften, welche die Bildung, Rechtstellung, Aufgaben und die Auflösung von - » Gemeinden und —> Kommunalverbänden sowie das Recht ihrer Angestellten, -> Beamten und -> Arbeiter regeln. Das K. ist -> Landesrecht; häufig werden die kraft -> kommunaler Selbstverwaltung erlassenen Vor-
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schriften zum K. gezählt (s.a. —» Gemeinderecht, s.a. -> Gemeindeverfassung). Die K.sentwicklung der Länder der letzten Jahrzehnte ist durch ein tragendes Element gekennzeichnet: Es sind die direkt demokrat. Mitwirkungsrechte der Bürger sowohl bei der Personalauswahl (Direktwahl und -abwahl des Hauptverwaltungsbeamten) wie auch auf Sachfragen (Stärkung der plebsizitären Momente in den Gemeindeordnungen) gestärkt worden. Die gewählten Amtsinhaber sind außerdem selbst als Zeitbeamte zusätzlich für den Amtserhalt auf das Vertrauen der Räte (und der Wähler) angewiesen. Letztlich stärken diese Mechanismen die parteienstaatl. Struktur auch der Kommunal Verwaltung; das ist unausweichlich, wenn das Fachelement - der volksgewählte —> Bürgermeister muß seine Eignung nicht durch entsprechende Vorbildung etc. nachweisen, jeder Deutsche (und wohl auch jeder ansässige EU-Bürger) ist wählbar - geschwächt wird. Der herkömmliche Gemeindedirektor in der norddt. Doppelspitze war gewählter Fachbeamter (wenn auch - natürlich - mit der Unterstützung der Mehrheitsfraktion gewählt). Auch die plebiszitären Entscheidungsmitwirkungen darf man sich nicht parteilos vorstellen. Erfolgreich sein werden -> Bürgerbegehren u.a. häufig dann, wenn sich eine oder mehrere der ratsvertretenen Parteien der Initiative unterstützend annehmen. Solche zunehmende Parteiorientierung kommunaler Entscheidungen ist deshalb nicht unproblematisch, weil die kommunale Ebene gewaltenteilungsrechtl. Teil der Exekutive ist; sie ist heute hochgradig normgebunden mit tendenziell sich verringernden Spielräumen autonomer Gestaltung, was die Bedeutung der Fachbindung an sich eher steigern müßte. Ob es der richtige Weg ist, die Parteipolitisierung der —> Kommunalpolitik institutionell (noch) zu steigern, ist in bezug auf die Direktwahl der Spitzenämter fraglich. Lit: Α. Gern: Dt. Kommunalrecht, Baden-Baden 2 1997.
Wolfgang Löwer
Kommunalverbände
Kommune
Kommunalverbände können unterschieden werden in Gemeindeverbände, höhere K. und -> Zweckverbände. Gemeindeverbände Außer dem —> Landkreis (Kreis), der als Gemeindeverband bezeichnet wird und das -> Selbstverwaltungsrecht besitzt (Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG), bestehen solche verbandsmäßigen Zusammenschlüsse in -> Baden-Württemberg und -» Bayern als Verwaltungsgemeinschaften, in —> Niedersachsen als Samtgemeinden, in —> Rheinland-Pfalz als Verbandsgemeinden und in -> SchleswigHolstein als Ämter. Höhere K. Dabei handelt es sich um solche Verbände, die verschiedene überörtliche und überkreisliche Angelegenheiten einer zumeist histor. gewachsenen eigenständigen Region wahrnehmen. Wichtigste Vertreter sind: 1. die Landschaftsverbände in NRW (Landschaftsverband Rheinland und der Landschaftsverband Westfalen-Lippe) als kommunale Bund- oder Verbandskörperschaften, deren Mitglieder die im Verbandsbezirk gelegenen kreisfreien —> Städte und —> Kreise sind und insbes. Aufgaben der -> Wohlfahrtspflege, Jugendwohlfahrt, Gesundheitspflege, des Straßenbaus und der landschaftlichen Kulturpflege wahrnehmen; 2. die bay. Bezirke und der Bezirksverband Pfalz in Rh.-Pf. zur Erfüllung überörtlicher öffentl. Aufgaben. Lit. HdbKiVP I, § 10; H. Schroffer: Der kommunale Eigenbetrieb, Baden-Baden 1993; R. Stober: Kommunalrecht in der BRD, Stuttgart 21992, S. 26ff.
chen Kommunalverfassungssysteme sehen ebenso unterschiedliche Verwaltungsorgane mit teilw. unterschiedlichen Zuständigkeiten vor. -» Organe sind zum Handeln für eine -> juristische Person berufen. Als Hauptorgan in den -> Gemeinden und —> Landkreisen besteht die gem. Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG nach demokrat. Wahlgrundsätzen unmittelbar gewählte Vertretung (-» Gemeinderat, Gemeindevertretung, Rat, —> Stadtverordnetenversammlung). Ihr kommt in allen Bundesländern die kommunalpolit. Führung und die polit. Vertretung der Bürgerschaft zu. Sie legt Grundsätze für die -> Verwaltung fest und entscheidet über alle wichtigen und grundsätzlichen Angelegenheiten, soweit nicht die Verwaltungsleitung dafür zuständig ist. Die gewöhnlich als „zweites Organ" bezeichnete Verwaltungsspitze, ist z.T. noch sehr unterschiedlich ausgestaltet. So ist in den meisten Ländern ein —> Bürgermeister vorgesehen; daneben können auch ein Gemeindevorstand (-> Magistrat) und derzeit noch der Gemeindedirektor vorgesehen sein. Die Befugnisse weichen z.T. voneinander ab. Auch Biimengliederungen können eigene unmittelbar gewählte Organe haben. Organe anderer kommunaler Körperschaften (—> Zweckverband, Verwaltungsgemeinschaft) sind regelmäßig ein Vorsitzender und eine durch die Mitglieder bestimmte Versammlung. Lit Α. Gern: Dt. Kommunalrecht, Baden-Baden 1994, S. 176ÍF.; H. Schroffer: Der kommunale Eigenbetrieg, Baden-Baden 1993. E.H.
E.H. Kommunalverfassung -> Gemeindeverfassung Kommunalverwaltung —> Gemeindeverwaltung Kommunalwahlen -> Wahlen meinde
Ge-
Kommunale Organe Die unterschiedli-
Kommune (lat. = gemeinsam) Der Begriff der K. wird i.d.R. synonym zu —> Gemeinde und entsprechend synonym zu den Begriffsverbindungen von K. / Gemeinde verwandt. Im weiteren Sinne wird gewohneitssprachlich aber auch in der Staatspraxis K. dann verwandt, wenn die bezeichnete Sache zwar gemeindebezogen, aber in einem übergeordneten Zusammenhang gehört wie z.B. -> Kommunalaufsicht, -> Kommunalverbände, -» 489
Kompetenz
Kommunikation Kommunalpolitik Hg. Kommunikation 1. Begriff und Phänomen Als K. gelten alle Formen des Austausches von Informationen zwischen Personen(gruppen) im alltäglichen und öffentl. Leben sowie auf nationaler und internationaler Ebene. Sie erfolgt mit Hilfe von Zeichensystemen, insbes. durch Sprache und Schrift oder nonverbal. In komplexen Massengesellschaften ereignet sie sich vielfach apersonal und bedarf sie der Unterstützung durch techn. Medien (-> Massenmedien). 2. Bedeutung im Parlament. Regierungssystem Politikum ist K. aufgrund der Möglichkeiten der Ableitung, Ausübung und Überwindung von —> Herrschaft durch ihre Inhalte, Formen und Wirkungen. Daher ist der demokrat. Nutzen von K. von der Qualität des Informationsaustausches und den Möglichkeiten der Verfügung über Techniken der K. sowie der Informationsverarbeitung durch Entschlüsselung, Interpretation, Bewertung und Transformation in Handlungen abhängig. Das Parlamentarische Regierungssystem ist besonders auf die gehaltvolle und effiziente K. seiner Funktionsträger untereinander und mit der Bevölkerung angewiesen (—> Politikvermittlung). Aus den Zwängen des —> Parteienstaates erwachsen vielfaltige Gefahren einer Beschränkung auf strategische K. (Kalkülorientierung, Überredung, Opportunismus, Stimmenfang, Organisation von Zweckbündnissen etc.). Jedoch erfordert die Bewältigung der Konflikte aus vielfaltigen und einander widersprechenden —> Interessen eine verständigungsorientierte K. durch rationale Problemerörterung (-> Aussprache, - » Politische Sprache). 3. Staatsbürgerl. Belange Für die kritische Beobachtung und aktive Beeinflussung des polit. Geschehens ist kommunikative Kompetenz unerläßlich. Sie umfaßt u.a. die quellen- und ideologiekritische Auswertung der K. zwischen Individuen
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und in der Öffentlichkeit sowie die Fähigkeit zur disziplinierten, einfühlsamen und gehaltvollen Beteiligung an der polit. Κ.; diese Kompetenz kann nur in der Praxis staatsbürgerl. Betätigung wirksam erprobt und ausgeübt, sollte jedoch durch —> Politische Bildung grundgelegt, begleitet und verbessert werden. Lit: J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt/M. "1987; W.R. Langenbucher (Hg.): Politik und Kommunikation, München 1979; G.W. Wittkämper /A. Kohl (Hg.): Kommunikationspolitik, Dannstadt 1996. Bernhard Claußen Kommunikationsrechte, Meinungsfreiheit
politische —>
Kommunismus —> Sozialismus Kommunitarismus —» Gemeinschaft —> s.a. Gerechtigkeit -> s.a. Zivilgesellschaft Kompatibilität —> Inkompatibilität Kompetenz Die K. i.S. einer Aufgabenzuweisung begrenzt den rechtl. Handlungsrahmen a) einer staatsintemen Organisationseinheit gegenüber dem einer anderen bzw. b) einer internationalen Organisation gegenüber ihren Mitgliedstaaten. Oft wird der Begriff als Synonym für Zuständigkeit benutzt. Die zentrale K.norm des -> Grundgesetzes ist insoweit Art. 30 (Grundsatz der Länderkompetenz), die für den Bereich der —• Gesetzgebung durch Art. 70, für den Bereich der —> Verwaltung durch Art. 83 ergänzt wird. Es gilt innerstaatl. zu beachten, daß eine Aufgabenzuweisung durch K. nicht ipso iure die Befugnis der staatl. Organisationseinheit umfaßt, die zur Erfüllung der Aufgabe erforderlichen Eingriffe in die grundrechtl. geschützte Sphäre (Freiheits- und Eigentumsrechte) des -> Bürgers vorzunehmen: Es kann zwar von einer Befugnis auf eine K. geschlossen werden; dem umgekehrten Schluß steht allerdings der Vorbehalt des Gesetzes entgegen. Für das Verhältnis der —> EG
Kompetenz-Kompetenz zu ihren Mitgliedstaaten ist das Fehlen einer umfassenden Verbandskompetenz der EG prägend (vgl. Art. 3b Abs. 1 EGV). Lit: H.D. Jarass / B. Pieroth: GG, München 3 1995, Art. 30. J. U.
Kompetenz-Kompetenz Verwaltungsrecht 1. wird unter einer K. die Zuständigkeit eines Verwaltungsträgers verstanden, seine sachliche Zuständigkeit unter Einschränkung fremder Zuständigkeiten zu erweitem (z.B. im Verhältnis von -> Landkreisen zu Gemeinden). In einem -> Bundesstaat wird unter dem Begriff ferner die Befugnis verstanden, durch Änderung der Bundesverfassung Zuständigkeiten von den -> Ländern auf den -> Bund zu übertragen. Insoweit setzt Art. 79 Abs. 3 GG der K. des Bundes Schranken. Im —> Völkerrecht wird unter der K.-K. die -» Kompetenz eines Völkerrechtssubjekts verstanden, eigene Kompetenzen zu begründen. Im Unterschied zu einem —> Staat verfügt eine internationale Organisation nicht über diese K.; dies gilt auch für die -> EG. Zwar kommt Art. 235 EGV einer K. faktisch nahe. Darüberhinaus sind die Kompetenzen der EG durch die -> Einheitliche Europäische Akte und den —> EU-Vertrag zunehmend ausgedehnt worden. Dennoch bleibt für die EG auch weiterhin das Prinzip der begrenzten Ermächtigung prägend (Art. 3b Abs. 1, 189 Abs. 1 EGV). Hieran und damit verbunden an der fehlenden K.-K. der EG hat sich auch durch Art. F Abs. 3 EUV nichts geändert. Ut: BVerfGE 89, 155-213 (Maastricht-Entscheidung); T. Oppermann: Europarecht, München 1991, Rn 776ÍT. J. U.
Kongreß Unter einem K. wird im -> Staatsrecht zahlreicher Staaten dessen Gesetzgebungsorgan verstanden, das aus einer oder - wie z.B. in Argentinien, Brasilien und Indien - 2 Kammern (-> Zweikammersystem) bestehen kann. Im
Konkordanzdemokratie letztgenannten Fall wird regelmäßig eine größere Anzahl von Parlamentariern für eine Kammer (vielfach -» Abgeordnetenhaus genannt) gewählt, deren —• Wahlperiode kürzer als bei der zweiten Kammer ist und deren Parlamentarier insbes. lokale Interessen vertreten. Der zweiten, in manchen Fällen polit, bedeutsameren Kammer (vielfach —• Senat genannt) gehören i.d.R. weniger Mitglieder an, die auf eine längere Zeit gewählt sind und die Interessen von Einzelstaaten vertreten. Vorbild hierfür sind oft die USA: Nach Art. I der -> Verfassung der USA liegt die gesetzgebende Gewalt des Bundes beim K.; dieser besteht aus 2 Kammern, dem -> Senat und dem —> Repräsentantenhaus, die grds. eine gleichberechtigte Rolle im Gesetzgebungsprozeß spielen. Im —> Völkerrecht wurde unter einem Kongreß traditionell die Zusammenkunft von Staatenvertretern für den Abschluß völkerrechtl. Abkommen verstanden (z.B. -> Wiener Kongreß 1814/15, Berliner Kongreß 1878). Lit: R.H. Davidson / W. Oleszek: Congress and its Members, Washington 1981. J. U.
Konkordanzdemokratie (Übereinstimmungsdemokratie) ist der politikwissenschaftl. Begriff für den Typ einer —> Demokratie, in welcher die Entscheidungen über Konflikte nicht über das —» Mehrheitsprinzip, sondern über Kompromiß begünstigende, einvernehmliche Aushandlungsprozesse gesucht werden. Konsensuale Übereinstimmung wird v.a. durch die Einbeziehung von Minderheiten in die Regierungsverantwortung (-> Allparteienregierung) oder durch Vetoregelungen und Einstimmigkeitserfordemisse erzielt. Unterstützt werden diese Verfahren durch Proporz- und Paritätsregelungen bei der Besetzung öffentl. Ämter. Konkordanzdemokrat. Elemente finden sich im dt. Regierungssystem v.a. im Verfahren der Besetzung der obersten -> Bundesgerichte oder der —> Rundfunkanstalten. Sehr viel ausgeprägter finden sich Strukturen der K. 491
Konkordat
Konkurrierende Gesetzgebung
in —> Österreich, -> Belgien, den -> Niederlanden und v.a. im Regierungssystem der Schweiz. Sie gilt als typprägend für die K. Lit.: G. Lehmbruch: Konkordanzdemokratie, in: D. Nohlen (Hg.), Wörterbuch Staat und Politik, München 61996, S. 350ff
M.R. Konkordat (lat. concordare = Übereinstimmen, Übereinkommen). Vertrag zwischen der röm.-kath. —• Kirche, repräsentiert durch den Apostolischen Stuhl, und einem —> Staat; das K. dient der Regelung ihrer gegenseitigen Beziehungen. Hauptinhalt der K.e bilden die sog. gemischten Angelegenheiten, für die Staat und Kirche gleichsam zuständig sind. Dies betrifft vor allen Dingen die Religionsfreiheit und Freiheit der Kirche in allen ihren Wirkungsbereichen mit dem Recht der Selbstbestimmung sowie das Ämterbesetzungrecht (z.B. Bischofsernennung); überdies die Gewährung von Rechten seitens des Staates an die Kirche (Stellung als -> Körperschaft des öffentl. Rechts, Kirchensteuer); vermögenswirksame Leistungen des Staates; Öffentlichkeitsarbeit, Bildungswesen besonders in den -> Schulen (kirchl. Trägerschafl, Religionsunterricht); Fragen des Eherechts. Die vor 1945 geschlossenen Länder-K.e (Bay. 1924, Preuß. 1929, Baden 1932) gelten fort. Das Reichs-K. (1933, Nationalsozialismus) gilt im Verhältnis des -> Bundes zum Apostolischen Stuhl weiter; die Länder sind jedoch nicht in den Vertrag eingetreten und folglich nicht verpflichtet, das Reichs-K. hinsichtlich der Schulfrage zu berücksichtigen (BVerfGE von 1957). Nach 1945 sind das K. zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem Land ND als umfassende Regelung (1965) sowie der Staatsvertrag mit dem Saarl. ( 1969) zur Änderung konkordärer Bestimmungen über das Schulwesen abgeschlossen worden. In der BRD gibt es neben K.en auch Verträge mit ev. Kirchen (Kirchenvertrag). Die staatl. Zuständig492
keit zum Abschluß von K.en liegt primär bei den Ländern (-> s.a. Staatskirchenrecht). Lit: J. Listi (Hg.): Die Konkordate und Kirchenverträge in der BRD, 2 Bde., Berlin 1987; E. Lange-Ronneberg: Die Konkordate, ihre Geschichte, ihre Rechtsnatur und ihr Abschluß nach der Reichsverfassung vom 11.8.1919, o.O. 1929.
Karlheinz Hösgen Konkrete NormenkontroIIe Die konkrete NK ist ein Verfahren, in welchem ein Fachgericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines formellen und nachkonstitutionellen —• Gesetzes, die sich in einem konkreten Einzelfall stellt, dem Bundesverfassungsgericht oder einem -» Landesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegt (Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 13 Nr. 11, 80-82 BVerfGG). Sie sichert die Einheitlichkeit der Auslegung des -» Verfassungsrechts und entzieht Entscheidungen des —> Gesetzgebers der Verwerfung (nicht der Prüfung) durch die Fachgerichte. Voraussetzung ist, daß ein -> Gericht zur Überzeugung gelangt, daß eine Gesetzesnonn, welche nach dem Inkrafttreten des GG verkündet wurde (nachkonstitutionelle Norm), oder eine vorkonstitutionelle Norm, die nach diesem Zeitpunkt durch den Gesetzgeber bestätigt wurde, verfassungswidrig ist und die Entscheidung des konkreten Falles von der Verfassungsmäßigkeit dieser Norm abhängt (Entscheidungserheblichkeit). In diesem Falle ist das Gericht zur Aussetzung des Verfahrens und zur Vorlage an das BVerfG oder - bei Verletzung einer Landesverfassung - an ein Landesverfassungsgericht verpflichtet. IM.: G. Robbers: Verfassungsprozessuale Probleme in der öfifentl.-rechtl. Arbeit, München 1996.
J.B. Konkurrierende Gesetzgebung /-skompetenz Das -> Grundgesetz ordnet im Bereich der k.G. des —> Bundes den -» Ländern die Gesetzgebungsbefugnis zu, solange und soweit der Bund von seiner
Konrad-Adenauer-Stiftung Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch —> Gesetz Gebrauch gemacht hat (sog. Sperrwirkung des Bundesgesetzes; Art. 72 Abs. 1 GG). Der Bund hat in diesem Bereich nach der 1994 neu gefaßten Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG das Gesetzgebungsrecht nur, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatl. Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht. Ob dies der Fall ist, kann gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG, der ebenfalls 1994 in das GG aufgenommen wurde, durch das -> Bundesverfassungsgericht geprüft werden. Durch Bundesgesetz kann bestimmt werden, daß eine bundesgesetzliche Regelung, für die eine Erforderlichkeit in diesem Sinne nicht mehr besteht, durch —> Landesrecht ersetzt werden kann (sog. Rückholbefugnis, Art. 72 Abs. 3 GG). Der Umfang der k.G. des Bundes ergibt sich aus den Zuständigkeitskatalogen der Art. 74, 74a, 105 Abs. 2 und 115c Abs. 1 GG. Lit: C. Degenhart, in: M. Sachs (Hg.), GG. Komm., München 1996, Art. 72, 74, 74a; HdbStR IV, § 100. J. U.
Konrad-Adenauer-Stiftung Die KAS vermittelt —> Politische Bildung, erarbeitet durch Forschung und Beratung Grundlagen polit. Handelns national und international, verfolgt die geschichtl. Entwicklung der christl.-demokrat. Bewegung, fördert begabte junge Menschen, und, hier liegt der finanzielle Schwerpunkt, trägt zur internationalen Verständigung und zur entwicklungspolit. Zusammenarbeit weltweit bei. Zu den Zielen der internationalen Arbeit gehören traditionell die europ. Einigung und die transatlantische Zusammenarbeit, und in den Ländern der -> Dritten Welt die Förderung demokrat. und sozial-marktwirtschaftl. Entwicklungen. Die KAS gliedert sich in 4 Bereiche: Polit. Bildung mit 2 Bildungszentren (Eichholz bei Köln und Wendgräben bei
Konrad-Adenauer-Stiftung Magdeburg) sowie Bildungswerken in fast allen Ländern der BRD; Forschung und Beratung mit den Hauptabteilungen „Gesellschafts- und Innenpolitik", „Internationale Politik", „Kommunalwissenschaften" und „Polit. Akademie"; wissenschaftl. Dienste mit dem Archiv für Christi.-Demokrat. Politik und der Begabtenförderung für in- und ausländische Studenten und Internationale Zusammenarbeit, mit Auslandsbüros und Projekten in West- und Osteuropa, den USA sowie schwerpunktmäßig in den Ländern der Dritten Welt. Für die internationale Arbeit gibt die Stiftung allein mehr als 55% ihrer jährlichen Mittel aus. Die 1962 gegründete KAS hat zwar die Rechtsform eines eingetragenen —> Vereins, ist aber eine quasi-öffentl. Einrichtung, die zu über 95% aus öffentl. Mitteln (BMZ, BMA, BMI, BMBF sowie Länderministerien) finanziert wird. Sie unterliegt in ihrer Arbeit der regelmäßigen Kontrolle des -> Bundesrechnungshofes sowie der Prüfung der -> Gemeinnützigkeit durch das Finanzamts. Das Budget der KAS betrug 1996 insg. DM 216 Mio., ihre Bilanz wird jährlich im Bundesanzeiger veröffentlicht. Die Mitarbeiteizahl lag 1996 bei 620, davon 85 im Ausland. Der besondere Schwerpunkt der KAS in der -> Entwicklungspolitik liegt dabei im Aufbau demokrat. Parteienstrukturen, sozialer Marktwirtschaft und genossenschaftlich organisierter Landwirtschaft. Seit dem Ende des Warschauer Paktes sind die polit. und wirtschaftl. Transformation in den osteurop. Staaten ein neuer Aktionsschwerpunkt. Die internationale Arbeit der Stiftung erfolgt in aller Regel flexibler, zielgenauer und wirtschaftl. effizienter als dies ministerielle Maßnahmen könnten. Eine Besonderheit der KAS gegenüber den anderen —> politischen Stiftungen liegt in ihren eigenen Forschungskapazitäten in der Politik- und empirischen Sozialwissenschaft, die seit Anfang der 70er Jahre ausgebaut wurden mit dem Ziel, nicht nur den Dialog zwischen Wis493
Konservatismus
Konservatismus
senschaft und Politik zu fördern, sondern darüber hinaus durch eigene Forschungsarbeit polit., gesellschaftl. und Ökonom. Probleme von morgen vorausschauend zu analysieren und den Expertendialog über Lösungsvorschläge zu initiieren. Forschungsschwerpunkte sind: Empirische Parteien- sowie polit. Werte- und Verhaltensforschung, Wirtschafts- und Sozialordnung, —> Kommunalpolitik, —> Europapolitik, -» Außen- und Sicherheitspolitik. Weitere Akzente liegen im Zusammenhang von internationaler Wirtschaftspolitik, Ökologie- und Technologieentwicklung sowie auf dem Themenkreis Frauen und Politik. Für seine Analysen bedient sich der Bereich u.a. der Methoden der empirischen Sozialforschung und führt regelmäßig Umfragen durch. Alle Umfragedaten werden dem Zentralarchiv für empirische Sozialforschung der Universität zu Köln zur Nutzung zur Verfügung gestellt. Die Arbeit findet ihren Niederschlag in eigenen Schriftenreihen, Beiträgen in Fachzeitschriften sowie in öffentlichkeitswirksamen Konferenzen zur —» Innen- und —• Außenpolitik. Die Forschung der KAS trägt zur Bereicherung der dt. Wissenschaftslandschaft bei, weil sie in besonderer Weise gesellschafts- und politikrelevanten Fragestellungen von mittel- und langfristiger Bedeutung für die BRD, die europ. Integration und die internationale Politik verpflichtet und in den dt. und internationalen wissenschaftl. Vereinigungen verankert ist. Lit.: Konrad-Adenauer-Stiftung:
Jahresberichte.
Hans Joachim Veen Konservatismus Der Begriff „konservativ" wird in der wissenschaftl. Literatur ebenso wie in der polit. Publizistik auf vielfach verschiedene Weise gebraucht, was zugleich seine Schwierigkeit ausmacht. Neben der Verwendung als Kampfbegriff, der den polit. Gegner mit einem vermeintlich negativ konnotierten Attribut belegen soll, kann man 2 grds. verschiedene Definitionsweisen unterscheiden: Ausgehend vom lat. Wortsinn 494
erhaltend, bewahrend - wird der K.-Begriff häufig als universelle Kategorie ohne inhaltliche Substanz gebraucht. So wurden beispielsweise die innerparteilichen Gegner des früheren Generalsekretärs der KPdSU, Michail Gorbatschow, ebenso als konservativ bezeichnet wie der Verteidiger der röm. Republik, Marcus Porcius Cato, obwohl es zwischen orthodoxen Kommunisten und röm. Republikanern offensichtlich keinerlei andere inhaltliche Gemeinsamkeit gibt, als den jeweilig bestehenden polit. Zustand zu erhalten. Inhaltlich derart offen und unbestimmt gebraucht, beschreibt der Begriff kaum mehr als eine wie auch immer motivierte Ablehnung polit, und sozialer Innovation. In einer weniger wertfreien, kritischen Verwendung als universelle Kategorie kennzeichnet er das polit. Handeln, das auf die Bewahrung von sozialem Status quo und polit. HeiTSchaft zielt (sozialkonservativ). Eine dem entgegengesetzte Definitionsweise des Begriffs K. geht davon aus, daß es sich um ein histor., d.h. zeitgebundenes Phänomen handelt. Diese Art der Definition ordnet den K. der Moderne zu als geistig-polit. Gegenbewegung zu Rationalismus, Aufklärung, Säkularisierung und -> Liberalismus sowie später auch zum -> Sozialismus. In dieser Sichtweise (P. Kondylis, M. Greiffenhagen) geht die Epoche des K. mit dem polit. Bedeutungsverlust des europ. Adels, der zur sozialen Trägerschicht des klassischen K. wurde, mit dem endgültigen Sieg von -» Demokratie und —> Volkssouveränität zu Ende. Was danach kommt und als K. bezeichnet wird, ist in diesem Verständnis ein Amalgam aus bürgerl. Nationalismus, Marktliberalismus und einzelnen Versatzstücken des klassischen K. Zwar haben einige Autoren (K. Epstein, M. Greiffenhagen) darauf hingewiesen, daß es bereits vor der Frz. Revolution in der Reaktion auf die rationalen, sozial nivellierenden Tendenzen des absolutistischen Staates etwa bei Justus Möser zur Entwicklung eines genuin konservativen
Konservatismus Denkens gekommen sei; aber insg. ist die Forschung doch der These Karl Mannheims gefolgt, daß die Revolution den entscheidenden Anstoß flir die Entstehung des modernen K. gegeben habe. Erst durch sie sei die Gefährdung der unreflektiert gelebten Tradition ins Bewußtsein gehoben worden und aus Traditionalismus ein reflektierter, auf die Verteidigung der überlieferten Ordnung zielender K. geworden. Edmund Burkes Buch „Reflections on the Revolution in France", entstanden 1790, stellt insofern die Grundschrift des modernen K. dar, die insbes. im deutschsprachigen Raum in der Übersetzung von Friedrich von Gentz großen Einfluß ausübte. Burke kritisierte die Revolution v.a. deshalb, weil es ihr darum ging, für Frankreich eine auf abstrakten, rationalen Prinzipien gegründete neue -> Verfassung zu schaffen. Dagegen setzte er die Orientierung am konkret histor. Gewachsenen, das allein eine polit. Ordnung begründen könne. Eine solche polit. Ordnung müsse nicht starr bewahrt werden, dürfe aber nur in kleinen Schritten nach dem Maßstab der polit. Erfahrung verändert und reformiert werden. Burke stand hier offenkundig die berühmte ungeschriebene engl. Verfassung (-> Verfassung, brit.) vor Augen, die eben nicht auf abstrakten Prinzipien, sondern auf geschichtl. Erfahrungen beruhte. Diese Orientierung am konkret histor. Gewordenen wurde für das konservative Denken typisch und war zugleich dafür verantwortlich, daß der K. sich mehr als die anderen polit. Ideologien in Abhängigkeit von der jeweiligen nationalen politischen Kultur und deshalb besonders vielgestaltig ausprägte. Der Grund dafür, daß Veränderungen an einer histor. gewachsenen, mit göttlicher Legitimation versehenen Ordnung nur behutsam vorgenommen werden dürfen, lag in Burkes Verständnis des Staates. Wie sein geistesgeschichtl. Antipode Rousseau ging auch Burke davon aus, daß Staaten ein Gesellschaftsvertrag zugrundelag. Nur sah er diesen nicht als eine Vereinbarung von
Konservatismus Individuen an, sondern als ein Band, das frühere ebenso wie zukünftige Generationen mit der gegenwärtigen verband. Diese Kontinuität revolutionär zu zerstören, sei keiner Generation gestattet. Der Mensch als gesellschaftl. Wesen war jedoch nicht nur in die Folge der Generationen, sondern auch in -» Familie, Stand und —> Staat eingebunden. Auch diese Denkfigur Burkes der Bindungen des Menschen ist dem K. insg. eigen. Zugleich weist er auf ein weiteres typisches Phänomen. Burke war, wie viele spätere konservative Denker, ein bürgerl. Literat und Intellektueller. Seine Lehre von der ständischen Gliederung (-> Stände) der Gesellschaft und seine Betonung der Bedeutung der Aristokratie für die polit. Ordnung verband sich mit den - ideellen und materiellen - Interessen des grundbesitzenden Adels, dessen Privilegien von der Frz. Revolution ebenso wie die der —> Kirche abgeschafft worden waren. Burke hatte dies vehement kritisiert und stützte die von der Emanzipation des Bürgertums direkt bedrohte polit. Position des Adels. Vergleicht man die Entwicklung des K. in Dtld. und England bis zum Ende des I. Weltkrieges, so fällt auf, daß diese zwar ähnlich, aber um etwa fünfzig Jahre verschoben verlief. Dieser Zeitunterschied entspricht ungefähr dem engl. Vorsprung in der Entwicklung des modernen Industriekapitalismus. Das Zeitalter Metternichs, der Heiligen Allianz der konservativen Mächte Rußland, Ost. und Preuß., war in Dtld. die Blütezeit des K. als geistig-intellektueller Bewegung. Denker wie Adam Müller, Carl Ludwig von Haller, dessen Werk über die „Restauration der Staatswissenschaft" der Epoche den Namen gab, und Joseph Görres, die von der ständischen Mittelalterbegeisterung der polit. Romantik inspiriert waren, entwikkelten die konservative Lehre weiter und lieferten zugleich der herrschenden Politik die Legitimation. Friedrich Julius Stahl führte über die polit. Romantik hinaus, indem er das konservative Denken für den —> Konstitutionalismus öffnete und das —>
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Konservatismus monarchische Prinzip in dessen Mittelpunkt stellte. Stahl war zugleich einer der führenden Männer der sich während der Revolution von 1848 bildenden konservativen Partei, die in Preuß. in den folgenden Jahre erheblichen Einfluß auf die Politik ausübte. Während dieser Hochphase des klassischen K. in Dtld. vollzogen sich im engl. K. tiefgreifende Veränderungen. Die Wahlrechtsreform von 1832, die unter dem Eindruck der Juli-Revolution in Frankreich gegen den Widerstand der Tories durchgesetzt wurde, führte zu Wahlniederlagen und Spaltungen der sich nun als —> Conservative Party formierenden Tories. Unter der Führung von Benjamin Disraeli zog sie die Konsequenzen. Die Konservativen traten für die 2. Wahlrechtsreform von 1867 ein, welche die Wählerzahl noch einmal verdoppelte, und öffneten sich programmatisch für die unteren Mittelschichten. Bürgerl. Nationalismus („Jingoismus") und maßvolle Sozialreform wurden neben einer genuin konservativen Verteidigung der überlieferten —> Institutionen zu Eckpfeilern der Tory-Ideologie. Zwar blieb die Partei, die zugleich eine 'Massenorganisation aufbaute, zu großen Teilen von der Aristokratie geführt, doch ein unwiderruflicher Verbürgerlichungsprozeß hatte eingesetzt, der mit der Verfassungskonvention, daß der Premierminister ausschließlich dem -> Unterhaus entstammen müsse, nach dem I. Weltkrieg zum Abschluß kam. In Dtld. vollzog sich diese Entwicklung erst etwa eine Generation später. Der altpreuß. K. leistete Bismarck, der während des preuß. Verfassungskonflikts zuerst als Retter gefeiert worden war, und seiner Politik der Reichseinigung, die auf die -> Legitimität von Herrscherhäusern (Annexion des Königreichs Hannover, 1866) wenig Rücksicht nahm und zudem im Einklang mit den Nationalliberalen erfolgte, erbitterten Widerstand. Erst nach Bismarcks Wendung zur Schutzzollpolitik, welche die wirtschafll. Interessen des grundbesitzenden Adels begünstigte,
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Konservatismus söhnten sich die Konservativen mit dem Kanzler aus. In zunehmendem Maße verflachte der K. geistig und wurde zu einer reinen Interessenpartei, deren Politik sich in der Verteidigung des Schutzzolls und des verfassungspolit. Status quo, insbes. des preuß. -> Drei-Klassen-Wahlrechts, das den Konservativen eine Mehrheit im preuß. -> Landtag sicherte, und des -» monarchischen Prinzips erschöpfte. Erst im Vorfeld bzw. im Verlauf des I. Weltkriegs übernahm die Deutsch-Konservative Partei den bürgerl. (Kriegsziel)Nationalismus in der Hoffnung, durch die Führung der „nationalen Bewegung" ihre preuß. Machtbastion sichern zu können. Den Bankrott dieser Politik in Kriegsniederlage und Revolution überlebte die Partei nicht; ihre Reste gingen in der Deutsch-Nationalen Volkspartei auf, die mit ihrem radikalen Nationalismus und restaurativen Monarchismus ideologisch an den K. anknüpfte. Aber diese Partei war bürgerl. geführt und suchte (klein)bürgerl. Wählerschichten anzusprechen. Der preuß. Adel spielte zwar noch eine wichtige Rolle, insbes. in der Umgebung des Reichspräsidenten Hindenburg, aber mit der Durchsetzung von Demokratie und Volkssouveränität war die Epoche des klassischen K., der auf einem ständischmonarchischen Politikverständnis beruhte, ebenso wie in England zu Ende. Seitdem stellt sich die Frage, was überhaupt noch als konservativ zu bezeichnen ist. Der „konservativen Revolution", einer vielfältigen intellektuellen Bewegimg der -> Weimarer Republik, die durch die Ablehnung der modernen Massendemokratie gekennzeichnet war, ist es trotz erheblicher intellektueller Anstrengungen nicht gelungen, einen überzeugenden, für den K. halbwegs verbindlichen Gegenentwurf zur Demokratie zu entwikkeln. Statt dessen hat sie sich z.T. in Faschismus (—> Totalitarisme) und —> Nationalsozialismus verstrickt und den K., zumindest in Dtld., diskreditiert. Ähnlich wie in Großbritannien gibt es seit 1945 in Dtld. nur noch einen moderaten,
Konstitutionalismus
Konstitution demokrat. Liberalkonservatismus, der hauptsächlich in der -> CDU/CSU seine polit. Heimat gefunden hat. Seit den 70er Jahren ist in der polit. Publizistik viel vom Neokonservatismus die Rede, der v.a. in den USA eine Gegenreaktion auf die 68er neue Linke darstellt. Schon der zumeist mit einem Attribut versehene Gebrauch demonstriert die Begriffsunsicherheit im Hinblick auf den K.; gemeinsam ist den verschiedenen Varianten eine polit. Mentalität, die, um der anhaltenden Dynamik der Moderne Dämme zu errichten, Elemente konservativen Denkens (Skeptizismus gegenüber Abstraktionen, Orientierung an traditionellen Werten und lebenspraktischer Erfahrung, Bevorzugen von Eliten gegenüber Massen) mit anderen, zumeist liberal-kapitalistischen Ideologie-Elementen kombiniert. Lit: M. Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Dtld., Frankfijrt/M. 1986; P. Kondylis: Konservativismus, Stuttgart 1986; K. Lenk: Dt. Konservatismus, Frankfurt/M. 1989; K. Mannheim: Konservatismus, Frankfurt/M. 1984; A. Schildt: Konservatismus in Dtld., München 1998; C. v. Schrenck-Notzing (Hg.): Lexikon des Konservativismus, Graz 1996.
Torsten Oppelland KonstitutionVerfassung Konstitutionalismus 1. Begriff und allgemeine Entwicklung Der Begriff K. ist abgeleitet vom lat. „constitutio" (im alten Rom der Ausdruck für ein kaiserliches Gesetz) und bezeichnet die moderne Verfassungsentwicklung seit dem ausgehenden 18. Jhd., für die - zunächst in Nordamerika und in Frankreich - die Neubegründung polit. —• Herrschaft auf der Grundlage der —> Volkssouveränität kennzeichnend ist. Im 19. Jhd. wurde der K. zum Leitbild der europ. Staaten und später auch weit darüber hinaus. Fußend auf der Vorstellung der Aufklärung des 18. Jhd.s, daß ein Staatswesen sich auf ewig gültigen Vemunftprinzipien gründen sollte, bedient sich der K. des Mittels der Verfassung, durch welche die Bedingun-
gen legitimer polit. Herrschaft gesetzlich festgelegt werden. Gegenüber einfachen Gesetzen gelten die Normen der —> Verfassung als höherrangiges -> Recht, das nur erschwert und nach den Regeln der Verfassung abänderbar ist. Nach dem revolutionären Bruch mit der tradierten ständestaatl. feudalen Ordnung (—> Stände) in Nordamerika und in Frankreich gründet sich die durch Verfassungen konstituierte neue Staatsordnung auf ein bürgerl. Sozialmodell, das sich auf die Selbststeuerung aller gesellschaftl. Abläufe stützt und das auf den polit. Bereich übertragen wird. Jeder Mensch hat den naturrechtl. begründeten Anspruch auf -> Freiheit und -> Gleichheit und kann sein Handeln autonom gestalten (-> Liberalismus). Begrenzt wird sein Tun lediglich durch die gleiche Freiheit der anderen. Dem —> Staat verbleibt die begrenzte Aufgabe, die gesellschaftl. Autonomie zu schützen und dem Mißbrauch der Freiheit entgegenzuwirken. Für den K. ist charakteristisch, daß die Verfassung die staatl. Herrschaft erst begründet und deren Ausübung umfassend regelt. Eine vor oder außerhalb der Verfassung liegende Herrschaftsmacht wird vom K. verworfen. Der Schutz der individuellen und der gesellschaftl. Autonomie erfolgt durch die Gewährleistung von Grundrechten, die dem Einzelnen Abwehrrechte gegen die -> Staatsgewalt geben und dem Handlungspielraum des Staates Grenzen setzen. Allerdings hat der Staat im Interesse der Freiheit der anderen die Befugnis, die Freiheit des Einzelnen insoweit zu beschränken. Der Gefahr des Mißbrauchs staatl. Gewalt beugt der K. durch das Rechtsinstitut der —> Gewaltenteilung vor. Die klassische Dreiteilung der staatl. Befugnisse in solche der -> Gesetzgebung, —> der Exekutive und der Rechtsprechung und die Übertragung an je besondere —> Staatsorgane steht im Dienste des Schutzes individueller Freiheit und der Kontrolle der Staatsgewalt. Besonderes Gewicht mißt der K. der freigewählten -> Volksvertre497
Konstitutionalismus tung zu, welche die Freiheitsbeschränkungen im Interesse der gleichen Freiheit durch Gesetz verbindlich festlegt, an das die Exekutive gebunden und ohne das sie zu handeln nicht befugt ist. Durch die unabhängige Rechtsprechung ist gewährleistet, daß Recht und Gesetz eingehalten werden. Der K. ist an keine spezifische -> Staatsform gebunden; er wird in Monarchien und Demokratien verwirklicht. Unvereinbar ist er mit jeder Form absoluter Herrschaft. Die ersten konstitutionellen Staatsordnungen wurden - noch vor der Bundesverfassung von 1787 - in einigen nordamerik. Einzelstaaten geschaffen. In Europa war die erste frz. Verfassung vom 3.9.1791 wegweisend. Neben Verfassungen mit strikter Trennung von -> Legislative und —> Exekutive gab es solche, in denen - namentlich in den konstitutionellen Monarchien des 19. Jhd.s der Monarch gleichberechtigt mit dem Parlament an der Gesetzgebung beteiligt war. Mit der —> Demokratisierung des -> Wahlrechts und der Entstehung modemer —> Parteien keim es indessen zu einer -> Parlamentarisierung der Regierung, in deren Folge das strikte Gegenüber von monarchischer Regierung und vom Volk gewähltem Parlament aufgehoben wurde. Der entstehende Machtzuwachs der Regierung und der sie stützenden Parlamentsmehrheit führt zu einer Verlagerung der polit. Kontrolle allein auf die sich in der Minderheit befindende —> Opposition und damit zu einer Schwächung Parlament. Kontrolltätigkeit, der allenfalls durch die rechtsförmige Kontrolle durch Verfassungsgerichte (—> Verfassungsgerichtsbarkeit) entgegengewirkt wird. 2. K. in Dtld. Obwohl dem K. durch die späte dt. Naturrechtslehre (—> Naturrecht) des ausgehenden 18. Jhd.s und die Philosophie I. Kants (1727-1804) theoretisch der Boden bereitet war, fand er erst durch Napoleon Eingang in Dtld. mit der Verfassung für das frz. regierte Königreich Westfalen vom 15.11.1807. Ihrem Vorbild folgte die erste bay. Verfassung vom 1.5.1808 und 3 weitere kurzlebige Verfas-
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Konstitutionalismus sungen von Rheinbund-Staaten: Sachs.Weimar (1809), Frankfurt (1810) und Anhalt-Köthen (1810). Der -y Deutsche Bund von 1815 schrieb den ihm angehörenden Staaten vor, eine „landständische Verfassung" einzuführen (Art. 13 der Bundesakte), deren Begriff unklar blieb. Der Entfaltung des modernen K. setzte Art. 57 der Wiener Schlußakte von 1820 durch die Bestärkung des monarchischen Prinzips enge Grenzen, da die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupt des Staates vereinigt bleiben sollte. Die dt. frühkonstitutionellen Verfassungen zwischen 1816 und 1848 folgten dem Modell der frz. —> Charte Constitutionnelle von 1814, das in Frankreich nach der Rückkehr der Bourbonen das alte Königsrecht mit dem modernen K. zu verbinden suchte. Was in Frankreich eine vorübergehende Erscheinung war, wurde in Dtld. zum Prototyp der dt. konstitutionellen Monarchie, die einen Zwischen- und Übergangszustand von monarchischer zu parlament. Regierung und von der absoluten Monarchie zur westeurop. Demokratie bezeichnete (E.W. Böckenförde). Danach blieb die gesamte Staatsgewalt beim Monarchen, deren Ausübung allerdings an die Bestimmungen der Verfassung gebunden war. Der i.d.R. aus 2 Kammern (-> Zweikammersystem) bestehenden landständischen Vertretung wurden beschränkte Mitwirkungsbefugnisse bei der Steuerbewilligung und dem Erlaß von Gesetzen eingeräumt, die in -> Freiheit und —» Eigentum der Untertanen eingriffen. Begrenzte Freiheits- und Gleichheitsrechte waren den Landesangehörigen gewährleistet, allerdings keine polit. -> Grundrechte. Der Monarch war zwar ein Staatsorgan mit verfassungsmäßig geregelten Rechten und Pflichten, aber seine Person war „heilig und unverletzlich". Er konnte daher für seine Handlungen nicht selbst zur Verantwortung gezogen werden. Für alle seine Akte übernahmen Staatsminister durch Gegenzeichnung die Verantwortung (—> Ministerverantwortlichkeit). Bei Verletzungen der Verfassung konnten die Mini-
Konstitu tionalism us ster angeklagt und ihres Amtes enthoben werden. Nach der Revolution von 1848 entwarf die —> Frankfurter Nationalversammlung eine freiheitliche Verfassung, welche die Stellung des Parlaments aufwertete und der Entwicklung des K. breiten Raum ließ. Das Scheitern dieses Verfassungswerks und der für den K. negative Ausgang des preuß. Budgetkonflikts in den Jahren 1862-1866 mit der Folge, daß das monarchische Prinzip und nicht das der Volkssouveränität sich als Kern der preuß. Staatsordnung erwies, bereiteten den Weg zum nationalen Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs von 1871 (-> Deutsches Reich 1871), dessen monarchische Substanz durch ein immer stärker demokrat. und parlament. Gepräge des Regierungssystems sowie durch die sozialen Strukturen der Industriegesellschaft fortschreitend aufgezehrt wurde. Mit der Einführung des -> parlamentarischen Regierungssystems durch das verfassungsändernde Reichsgesetz vom 28.10.1918 wurde der Niedergang des monarchischen Prinzips eingeleitet, der sich in der November-Revolution von 1918 vollendete. Mit der parlament. Demokratie der —> Weimarer Reichsverfassung erlebte der K. in Dtld. seine volle Entfaltung, der durch Hitlers Diktatur nach 1933 (-» Nationalsozialismus) indes jäh zerstört wurde. Mit dem Wiedererstehen der dt. Länder nach dem Π. Weltkrieg und der Schaflung des Bonner -> Grundgesetzes im Jahre 1949 erlebt der K. in Dtld. seine zweite Blüte. Das Ende des kalten Krieges und der Zusammenbruch der Ostblock-Regime hat zu einer Belebung des K. in diesen Ländern geführt. Lit: E.-tV. Böckenförde / R. Wahl (Hg.): Moderne dt. Verfassungsgeschichte (1815-1914), Königstein 21981; D. Grimm: Dt. Verfassungsgeschichte 1776-1866, Frankfurt/M. 1988; E. R. Huber: Dt. Verfassungsgeschichte seit 1789, 8 Bde., Stuttgart 21967ff.; K. Kröger: Einführung in die jüngere dt Verfassungsgeschichte (18061933), München 1988; K. Loewenstein: Verfassungslehre, Tübingen 21969; C. Schmitt: Verfas-
Konsulat sungslehre, Berlin81994. Klaus
Kröger
Konstitutionelle Demokratie Bezeichnung für einen dem Prinzip der Volksherrschaft verpflichteten Verfassungsstaat. W.R.
Konstitutionelle Monarchie Bezeichnung für eine monarchische Staatsform, die durch Selbstbindung des Monarchen an eine -> Verfassung gekennzeichnet ist. W.R.
Konstruktives Mißtrauensvotum Mißtrauensvotum Konsul ist der offizielle staatl. Vertreter, der in einem —> Konsulat oder in einer anderen Auslandsvertretung seines —> Staates mit Zustimmung des Empfangsstaates konsularische Funktionen ausübt. Während —> Diplomaten die völkerrechtl. Vertretung eines Staates im Ausland auf Regierungsebene wahrnehmen, sind K.n Vertreter auf den Ebenen unterhalb der Regierung. Ihnen obliegen keine unmittelbar polit. Aufgaben. Die Rechtsstellung der K.n bestimmt sich nach dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen vom 24.4.1963. Die konsularischen Aufgaben bestehen insbes. im Schutz der Interessen des Entsendestaats und seiner Angehörigen sowie der Pflege der wirtschaftl. und kulturellen Beziehungen zum Empfangsstaat. Die konsularischen Vertretungen stellen Pässe und Reisedokumente aus, vertreten die Angehörigen des Entsendestaats vor den Gerichten und Behörden des Empfangsstaats. Lit: G. Hecker: Handbuch der konsularischen Praxis, München 1997; K. Hoffmann: Konsularrecht, Losebl., Starnberg 1997; U. Seidenberger: Die diplomatischen und konsularischen Immunitäten und Privilegien, FrankfUrt/M. 1994. K.H.
Konsulat Bezeichnung für das Amt, die Amtszeit und Dienststelle eines —> Kon499
Kontrasignatur suis. Rechtsgrundlage für das gegenwärtige Konsularwesen ist das Gesetz über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse vom 11.9.1974 (Konsulargesetz); s.a. —> Diplomatischer Dienst. K.H. Kontrasignatur heißt Gegenzeichnung. Gemeint ist damit, daß ein schriftlich ausgefertigter Rechtsakt nur dadurch Gültigkeit erlangt, daß ein dazu Befugter ihn ebenfalls unterschreibt. Die heutige polit. Bedeutung der K. geht auf den im 19. Jhd. aufkommenden -> Konstitutionalismus zurück. Damals setzte sich die Verfassungsregel durch, daß rechtmäßige Akte des Monarchen der Gegenzeichnung durch einen —> Minister oder den —> Ministerpräsidenten bzw. -> Kanzler bedurften. Dergestalt wurde die Regierungsgewalt des allein Gott verantwortlichen und damit keiner polit. Kontrolle unterliegenden Monarchen an die Mitwirkung seiner Minister gebunden. Indem auf diese Weise ein bei Mißachtung der —> Verfassung verantwortlich zu machendes und ggf. auch polit, zur Rechenschaft zu ziehendes Ministerium entstand, entwickelte sich Regierungsgewalt neben dem Monarchen. Wem der Träger solcher Regierungsgewalt mit welchen Folgen Rechenschaft schuldete, ob dem Monarchen allein oder auch der Volksvertretung, blieb nicht selten offen. Wie stark diese neben der Krone sich entwikkelnde Regierungsgewalt jeweils war, hing davon ab, wie folgenlos der Monarch einen Minister entlassen konnte, der die K. verweigerte. Solange die - » Ernennung und Entlassung eines Ministers - wie im —> Deutschen Reich von 1871 - alleiniges Recht des Monarchen war, besaß dieser die überlegene Stellung. Indessen wurde durch das so etablierte Konfliktpotential zwischen Monarch und Minister der rein persönliche Gebrauch der Staatsgewalt durch den Monarchen bereits eingeschränkt. Von der K. aus konnte sodann der entscheidende Schritt zu einer polit, zu Rechenschaft zu ziehenden Regierung
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Kontrollfunktion erfolgen. Er bestand darin, die Regierung nicht allein vom —> Vertrauen des —> Staatsoberhauptes, sondern auch von jenem der Volksvertretung abhängig zu machen. Dies geschah generell dadurch, daß Regierungsmitglieder für ihre Amtsführung des förmlich ausgesprochenen bzw. rücktrittsbewirkend zu entziehenden - Vertrauens des Parlaments bedurften. Für die Gegenzeichnung von Dekreten des Staatsoberhauptes mußte also von der Regierung vor dem Parlament die -> Verantwortung übernommen werden, so daß das Staatsoberhaupt gegen eine vom Parlament getragene Regierung kaum mehr Durchsetzungschancen hatte. Dergestalt wurde dem Parlament ein unmittelbarer Zugriff auf die -> Staatsleitung eröffnet und vollzog sich eine Parlamentarisierung der Regierung. Abgeschlossen ist dieser Prozeß im parlamentarischen Regierungssystem, in welchem dem Staatsoberhaupt so gut wie keine eigenständigen Rechtsetzungsakte mehr zustehen. In Dtld. bedürfen beispielsweise fast alle Akte des —> Bundespräsidenten der K. des -> Bundeskanzlers oder eines -> Bundesministers. Ausnahmen gibt es nur dort, wo der Bundeskanzler oder Bundesminister selbst nicht (mehr) in der Lage ist, die polit. Verantwortung für den fraglichen Rechtsakt zu übernehmen: beim Vorschlag eines Kandidaten zur Wahl zum Bundeskanzler durch den Bundestag; bei der Auflösung des Bundestages nach einer gescheiterten Vertrauensabstimmung; und beim Ersuchen an einen scheidenden Bundesminister, bis zur Amtsübernahme durch einen Nachfolger geschäftsführend im Amt zu bleiben. Lit: M. P. Hein: Gegenzeichnung, Berlin 1983.
Werner J. Patzelt Kontrollenquete —> Enquete Kontrollfunktion des Deutschen Bundestages —• Deutscher Bundestag —• s.a. Parlamentarische Verwaltungskontrolle
Kontrollrat Kontrollrat, alliierter -+ Alliierter Kontrollrat Kontrollrechte der Opposition —> Opposition Kooperativer Bundesstaat -> Föderalismus -> s.a. Bundesstaat Kooptation Verfahrensweise, um neue Mitglieder für ein Gremium zu gewinnen. Dabei bestimmen die schon vorhandenen Mitglieder einvemehmlich oder durch Mehrheitsbeschluß, wer als neues Mitglied aufgenommen werden soll. Die wesentlichen Alternativen zu dieser Verfahrensweise sind Mitgliedschaft durch Wahl, durch Delegation, von Amts wegen oder durch Geburt. K. ist i.d.R. ein korporatives Privileg, da weder Urwähler nach dem Demokratieprinzip noch vorgesetzte Amtsträger kraft Amtsgewalt die konkrete Zusammensetzung der jeweiligen Körperschaft bestimmen können. Lit: Κ. Loewenstein: Kooptation und Zuwahl, Frankfurt/M. 1973. W.J. P.
Koordinator der Bundesregierung für Luft- und Raumfahrt ist ein durch Beschluß des Bundeskabinetts bestellter - » parlamentarischer Staatssekretär im —» Bundesministerium für Verkehr mit Koordinierungsaufgaben und Berichtspflichten in Bezug auf die Hochtechnologiebranche der Luft- und Raumfahrt. Die Unternehmen der Branche sind stark von staatl. Entscheidungen im Verteidigungs-, Verkehrs- und Telekommunikationssektor abhängig. Aufgabe des Koordinators ist es, die strukturpolit. Leitziele der - » Bundesregierung für die Luft- und Raumfahrt aufzustellen, öffentl. Beschaflungsund Förderprogramme in der militärischen und zivilen Luftfahrt abzustimmen und die koordinierte Vergabe von öffentl. Aufträgen sicherzustellen. Der Koordinator erstellt jährlich einen Bericht zur Lage der dt. Luft- und Raumfahrtindustrie, der vom Bundeskabinett verabschiedet wird
Kraftfahrt-Bundesamt (-> s.a. Luftfahrt-Bundesamt, —> s.a. Luftverkehrsrecht). T.
Z.
Korporatismus Der Begriff K. (auch —» Neokorporatismus in Abgrenzung zum ständestaatl. Korporativismus; -> Stände) wurde in den 70er Jahren als Gegenbegriff zu pluralistischen Demokratietheorien geprägt und betont die zentrale Rolle des —> Staates bei der Organisierung kollektiver gesellschaftl. —> Interessen. —» Verbände nehmen eine intermediäre Stellung zwischen Mitgliedern und Staat ein und werden in die Formulierung und Ausführung von -> Politik eingebunden, wobei konsensorientierte Verhandlungslösungen gegenüber Mehrheitsentscheidungen dominieren. Beispiele sind einvernehmliche Regelungen zwischen Staat, Arbeitgebern und —> Gewerkschaften in der Tarifpolitik, die Einbindung von Wohlfahrtsverbänden in der —> Sozialpolitik oder die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Die Fruchtbarkeit des K.begriffs liegt (auch) in seiner Vieldeutigkeit. So findet der Begriff Anwendung auf so unterschiedliche Systeme wie Dtld., Öst. (Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft), die Schweiz, die Niederlande oder Schweden. Kontrovers sind die Demokratieverträglichkeit und Effizienz korporatistischer Arrangements. Während in den 80er Jahren K. oft mit Unbeweglichkeit und Marktunverträglichkeit gleichgesetzt wurde, erleben korporatistische Lösungen in den 90er Jahren wieder positivere Bewertungen (z.B. in den Niederlanden). Umstritten ist, inwieweit die Chance zur Ausbildung korporatistischer Strukturen auf gesamteurop. Ebene besteht. Lit: W. Streeck (Hg.): Staat und Verbände, Opladen 1994; R. Voigt (Hg.): Der kooperative Staat, Baden-Baden 1995. T.B
Kraftfahrt-Bundesamt Das KBA ist durch das Gesetz über die Errichtung eines Kraftfahrt-Bundesamtes vom 4.8. 501
Krankenkasse
Krankenversicherung
1951 als Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des -> Bundesministeriums für Verkehr für Aufgaben des Straßenverkehrs mit Dienstort in Flensburg errichtet worden. Folgende Aufgaben sind ihm durch Gesetze und -> Rechtsverordnungen zugewiesen: Das KBA genehmigt Typen von Fahrzeugen und Fahizeugteilen und überprüft die Qualitätssicherung bei Prüfstellen und Herstellern. Weiterhin führt das KBA die Dateien über kennzeichenpflichtige Fahrzeuge und ihre Halter (Zentrales Fahrzeugregister ZFZR), über Fahranfänger (Fahrerlaubnis auf Probe FaP), Verkehrsverstöße (Verkehrszentralregister VZR) und ab dem 1.1.1999 über Fahrerlaubnisinhaber (Zentrales Fahrerlaubnisregister ZFR). Die Behörde gibt Auskünfte aus diesen Registern; erstellt und veröffentlicht auf den Registergrundlagen Statistiken über Fahrzeugmängel und Gütertransporte. Das KBA gliedert sich in 4 Abt.en und wird von einem Präsidenten geleitet. Hg-
Krankenkasse —> Krankenversicherung Krankenversicherung In der K. unterscheidet man zwischen gesetzlicher und privater K. 1883 geschaffen, bildet die gesetzliche K. den ältesten Zweig des dt. -> Sozialversicherungssystems. Gesetzliche Grundlage ist heute im wesentlichen das SGB V.; Träger der gesetzlichen K. sind die Krankenkassen (Orts-, Betriebs-, Innungs- und Ersatzkassen, Landwirtschaftliche Krankenkasse, Bundesknappschaft, See-Krankenkasse). Während früher der größte Teil der Versicherten bestimmten Kassen zugewiesen war, können alle Versicherten seit 1.1.1996 die Krankenkasse im Prinzip frei wählen. Die K. kennt 3 Arten von Versicherten: Pflichtversicherte, freiwillig Versicherte sowie Familienversicherte. Versicherungspflichtig sind u.a. alle abhängig Beschäftigten, deren Einkommen 75% der Beitragsbemessungsgrenze der —> Rentenversicherung nicht übersteigt, Landwirte, Studen502
ten, Rentner der gesetzlichen Rentenversicherung. Freiwillig versichern können sich insbes. Personen, die aus unterschiedlichen Gründen aus der Versicherungspflicht ausscheiden. Familienversichert sind der Ehegatte und die Kinder von Mitgliedern, sofern sie nicht selbst versicherungspflichtig sind oder über nennenswertes eigenes Einkommen verfügen. Die Finanzierung der K. erfolgt v.a. über —• Beiträge, die nach dem Umlageverfahren berechnet werden, und die bei versicherten Arbeitnehmern je zur Hälfte vom Versicherten und vom - » Arbeitgeber zu tragen sind. Seit 1994 gibt es zwischen den verschiedenen Krankenkassenarten den sog. Risikostrukturausgleich, der strukturell verursachte Beitragssatzunterschiede und damit die Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Kassen abbauen soll. Ausgeglichen werden dabei nicht die Höhe der Ausgaben, sondern die finanziellen Auswirkungen der unterschiedlichen Risikobelastungen. Zu den gesetzlich genau definierten Aufgaben der K. gehören die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit der Versicherten und die Besserung ihres Gesundheitszustandes. Die Krankenkassen stellen die dafür erforderlichen Leistungen zur Verfügung, die nach dem Gesetz ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftl. sein müssen. Im einzelnen gewähren die Krankenkassen Leistungen zur Förderung der Gesundheit, zur Verhütung und Früherkennung von Krankheiten, zur Behandlung einer Krankheit sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft. Darüberhinaus bezahlen sie Versicherten bei Arbeitsunfähigkeit Krankengeld. Die Krankenbehandlung umfaßt ärztliche Behandlung, zahnäiztliche Behandlung einschließt. Versorgung mit Zahnersatz, Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heilund Hilfsmitteln, häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe, Krankenhausbehandlung sowie medizinische und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation. Die Leistungserbringung erfolgt weitgehend nach dem Sachleistungsprinzip. Seit
Kreis
Kreis
dem K.skostendämpfungsgesetz von 1977 sind für die Mitglieder sukzessive für verschiedene Leistungen immer höhere Zuzahlungen eingeführt worden. Seit Jahrzehnten kämpft die K. mit ständig steigenden Ausgaben und immer höheren Beitragssätzen. Ursachen hierfür sind neben der steigenden Lebenserwartung und dem medizinischen Fortschritt auch strukturelle Steuerungsdefizite im Bereich der Leistungserbringung. Auf Seiten der Versicherten sehen viele zu wenig Anreize für eine kostenbewußte Inanspruchnahme von Leistungen. Seit Ende der 80er Jahre gibt es eine heftige polit. Auseinandersetzung um die Zukunft der K. Lit: P. Bach / H. Moser / J. Wilmes: Private Krankenversicherung - Komm., Manchen 21993; Β. Schulin: Handbuch des Sozialversicherangsrechts I, München 1994; S. Weber: Die Organisation der gesetzlichen Krankenversicherung, Berlin 1995.
Martin Frey Kreis / -e Allgemein K.e bestehen in allen Ländern der —> Bundesrepublik Deutschland mit Ausnahme der —• Stadtstaaten —» Berlin, -> Bremen, -> Hamburg, zumeist mit der Bezeichnung -» Landkreis. Daneben gibt es kreisfreie —> Städte, die neben ihren gemeindlichen Aufgaben auch die K.funktionen erfüllen. Sie sind kommunale Gebietseinheit oberhalb der Gemeinden und unterhalb der Bezirksebene. Der K. umfaßt mehrere Gemeinden und regelt die kommunalen Aufgaben, für deren Erledigung die Gemeinden zu klein sind. Geschichte Im 16./ 17. Jhd. entwickelten sich die K.e als Selbstverwaltungskörperschaften der -> Stände, die jedoch im Absolutismus mehr und mehr in staatl. Verwaltungsbezirke mit fester Organisation umgewandelt wurden. Freiherr vom und zum Stein (1757-1831) hatte die Absicht, im Zuge der preuß. Reformen die K.e zu echten Selbstverwaltungskörperschaften zu machen. Dies scheiterte; K.A. Freiherr von Hardenberg (1750-1822) degradierte den -> Landrat zum aus-
schließl. Verwaltungsbeamten. Zwar hielten die K.ordnungen am ständ. Prinzip fest, jedoch wurden zunehmend die K.Vertretungen allein vom Besitz abhängig gemacht. Erst unter Otto Fürst Bismarck wurden durch die K.ordnung von 1872 die k. ständischen Befugnisse der Rittergüter beseitigt. Die K.ordnungen wurden ab 1884 auch für die westlichen Provinzen eingeführt. Diese K.ordnungen gestalteten die K.e zu Selbstverwaltungskörperschaften und zugleich zu staatl. Verwaltungsbezirken auf der unteren Ebene. Ihre Organe waren der K.tag, der K.ausschuß und der Landrat, der auf Vorschlag des K.tages vom Staatsministerium ernannt wurde. Diese Form der Organisation bestand im wesentlichen bis zur Zerschlagung Preuß. s 1945. Dem preuß. und fiz. Vorbild der Provinzialadministration folgten zu Beginn des 19. Jhds. auch andere dt. Länder. In Baden entstanden die —> Bezirke, in Sachs, die Amtshauptmannschaften und in Württemberg die Oberämter. Ausnahme war Bay.; hier vereinten die traditionellen Landgerichte noch bis 1861/62 Justiz und Verwaltung. Später wurde die Verwaltung Bezirksämtern übertragen und erst 1919 fand eine Ablösung durch die Landkreise statt. Vergleich mit anderen Ländern Öst.: Hier gibt es keine Gebietskörperschaften zwischen den Ländern und Gemeinden. Die dt. K.verwaltung wurde 1945 beseitigt. Auf der entsprechenden Verwaltungsebene sind die Bezirkshauptmannschaften, ergänzt durch einzelne Zweckverbände tätig. Die Städte nehmen - wie in Dtld. die kreisfreien Städte - neben den Gemeinden die Aufgaben der Bezirksverwaltung wahr. Schweiz: Höhere Gemeindeverbände existieren lediglich vereinzelt; K. i.S. eines Verwaltungskreises besteht nur im Kanton Graubünden. Wegen der engen Verbindung zwischen Gemeinde und Kanton besteht i.d.R. kein Bedürfnis nach weiteren Gebietskörperschaften. Status / Rechtsnatur Die Rechtsstellung der K.e ergibt sich im einzelnen aus den 503
Kreis z.T. sehr unterschiedlich gestalteten K.bzw. Landkreisordnungen der —> Länder. Die K.e sind -> Gebietskörperschaften (-> Körperschaft des öffentlichen Rechts) und —> Kommunalverbände. Die Merkmale einer Gebietskörperschaft liegen vor, weil Angehörige der K.e nicht die kreisangehörigen Gemeinden, sondern die K.einwohner sind. Die Stellung als Gemeindeverband ergibt sich daraus, daß die K.e i.S. der Staatsverfassungen an der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie teilhaben, und wegen der ihnen obliegenden verbandstypischen Ergänzungs-, Unterstützungs- und Ausgleichsaufgaben. Damit sind die K.e kommunale Gemeinwesen und folglich dezentralisierte Glieder der staatl. Verwaltungsorganisation mit eigener —> Legitimation. Darüber hinaus bildet ihr Gebiet zugleich den Bezirk der unteren staatl. Verwaltungsbehörden. Diese Doppelstellung ist Ausdruck der unentbehrlichen Präsenz der allgemeinen staatl. Verwaltung auf kommunaler Ebene und Modell für die organisatorische und personelle Verzahnung der staatl. und kommunalen Verwaltung. K.verfassung / Organe Die K.e handeln durch ihre —> Organe. In den Bundesländern existieren unterschiedliche K.verfassungen. Diese regeln den Bestand, die Kompetenzen und den Funktionszusammenhang der K.organe. Die K.verfassung ist in erster Linie in den K.ordnungen der Länder geregelt. Einige spezielle Gesetze (z.B. Kommunalwahlgesetze) treffen ergänzende Bestimmungen. Vereinzelt greift auf der Grundlage der Art. 84, 85 GG auch -> Bundesrecht. Einige Grundlinien der geltenden K.verfassung sind vom —> Grundgesetz vorgegeben. So fordert Art. 28 Abs. 1 GG die unmittelbare Wahl der Vertretungskörperschaft durch die wahlberechtigten Einwohner des K.es. Die K.verfassungen sehen i.d.R. 3 Entscheidungsträger vor, den K.tag (oberstes Organ und Vertretungsorgan; von Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG gefordert), den K.ausschuß (außer in BW) und den Hauptverwaltungsbeamten als
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Kreis Institution (Landrat; in ND und NRW: Oberkreisdirektor). Wesentliche Unterschiede in den Verfassungen betreffen die Verteilung der Entscheidungszuständigkeiten auf die jeweiligen Träger und die Rechtsstellung des Hauptverwaltungsbeamten. So reichen z.B. die Zuständigkeiten des K.ausschusses vom bloßen Hilfsorgan des K.tages bis zum Hauptverwaltungsorgan. Nach dem Zusammenspiel dieser Organe lassen sich 4 Typen von K.verfassungn unterscheiden: Direktorialverfassung, Landratsverfassung, Süddeutsche K. tags Verfassung und K.ausschußverfassung. Ihre Unterschiede sind jedoch nur schwer in ihrer Gesamtheit darzustellen. Vielmehr sind Annäherungen zwischen einzelnen Landesrechten feststellbar (z.B. zw. BW und Bay.). Aufgaben und Aufgabenentwicklung Bis in dieses Jhd. hinein war der K. vorwiegend Träger staatl. Aufgaben. Diese haben sich mit der Industrialisierung, v.a. aber durch die beiden Weltkriege und die Kriegsfolgelasten stark erweitert. Als neue Aufgaben wurden vielen K.en in den letzten Jahren die Müllentsorgung übertragen, welche bislang gemeindliche Aufgabe gewesen ist. Darüber hinaus spielen zunehmend Umweltaufgaben mit ihrer überörtlichen Problemlage eine wesentliche Rolle. In den letzten Jahrzehnten ist zudem eine stärkere kulturelle Aktivität hinzugekommen, die sich nicht zuletzt in Fördermaßnahmen niederschlägt. Die Aufgabenzuweisung an die K.e obliegt allein dem Gesetzgeber. Verfassungsrechtl. Vorgaben und Grenzen bei der Aufgabenwahrnehmung durch die K.e bestehen nur ftir den Selbstverwaltungsbereich. Bei der Zuständigkeitsbestimmung für Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises ist der Gesetz- und Verordnungsgeber grds. frei und kann insoweit nach Zweckmäßigkeitserwägungen entscheiden. Auch bei den K.en kann man ähnlich wie bei den Gemeinden die Aufgabenarten nach eigenem Wirkungskreis (Selbstverwaltungsaufgabe), Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises
Kreis (Pflichtaufgaben nach Weisung) differenzieren. Umfang und Bedeutung der K.aufgaben werden allerdings deutlicher, wenn man sie zunächst unter der Aufgabenhauptgruppengliederung (entsprechend dem Gutachten der kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung) betrachtet: Danach bestehen die Aufgaben der K.e in: Allg. Verwaltung (z.B. Personal, -> Kommunalaufsicht, Rechnungsprüfung), Finanzen (Kämmerei, Kasse, Liegenschaften, Verteidigungslasten), Recht, Sicherheit und Ordnung (z.B. Recht, Polizeiverwaltung, Sicherheit und Ordnung, Ausländer, Veterinärwesen, Straßenverkehr, Rettungsdienst), Schule und Kultur (z.B. Bibliotheken, Museen, Weiterbildung , Kultur), Soziales, Jugend und Gesundheit (z.B. Sport, Krankenhaus, Lastenausgleich), Bauwesen (K.planung, Kataster, Bauordnung, Wohnungsbaufbrderung), öffentl. Einrichtungen (Abfallbeseitigung), Wirtschaft und Verkehr (z.B. Landwirtschaft, Verkehrsförderung, wirtschafll. Betätigung). Zuständigkeitsabgrenzung K. und Gemeinde bilden zusammen die wesentlichen Körperschaften der kommunalen Selbstverwaltung. Beide werden durch Art. 28 GG gewährleistet. Da das K.gebiet aus dem Gebiet mehrerer Gemeinden besteht, diese Körperschaften somit im selben räumlichen Bereich tätig werden, tauchen Probleme bei der Zuständigkeitsverteilung zwischen Gemeinden und K.en auf. Die Kompetenzen lassen sich folgendermaßen abgrenzen: Die K.e sollen diejenigen Aufgaben erfüllen, welche die Leistungskraft der Gemeinden überfordern würden und folglich von diesen nicht erledigt werden können. Damit kommt den K.en hauptsächlich eine Ergänzungsfunktion zu. Die Wahrnehmung dieser örtlichen Aufgaben ist jedoch kein Eingriff in den verfassungsrechtl. geschützten Aufgabenbereich der Gemeinden, weil die Selbstverwaltungsgarantie für die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft nur im Rahmen
Kreis ihrer Leistungsfähigkeit bestehen kann. In besonderer Weise kommt es den K en zu, zwischen leistungsfähigen und leistungsschwächeren kreisangehörigen Gemeinden eine Lastenausgleich herzustellen. Die K.e dürfen dazu zwar dem staatl. Finanzausgleichssystem kein zweites, eigenes hinzufügen. Aber durch die Art der Vergabe von Zuschüssen und Aufträgen, durch die Platzierung von K.einrichtungen und durch Ausrichtung von Veranstaltungen haben die K.e dennoch die Möglichkeit, in der Form ausgleichend zu wirken, daß so den benachteiligten Gemeinden ein gewisser Impuls zur Entwicklung vermittelt werden kann. Daneben kommen dem K. die übergemeindlichen Aufgaben zu. Das sind solche, die notwendig auf den Verwaltungsraum des K.es und die gemeinsamen Bedürfnisse der Einwohner bezogen sind. Ihre Bewältigung greift über das Gebiet einer Gemeinde hinaus und erfaßt einen großen Teil des K.es oder den gesamten K. Finanzen Die K.e finanzieren sich größtenteils aus Zuweisungen des Bundes und aus Mitteln des jeweiligen Landes, die ihnen für ihre Aufgaben zugewiesen werden, sowie aus der K.umlage. Sie können diese Umlage nach den Landkreisordnungen und den Finanzausgleichsgesetzen der Länder von den Gemeinden und gemeindefreien Gebieten (diese müssen entsprechend ihrer Einwohnerzahl und ihrer Steuerkraft entsprechende Beträge aufbringen) erheben, soweit die sonstigen Einnahmen den finanziellen Bedarf nicht decken. Zudem nehmen die K.e —> Gebühren und Entgelte für ihre Leistungen ein (z.B. Kraftfahrzeugzulassung). Die Einnahmen aus -> Steuern (z.B. Jagdsteuer sowie v.a. ein landesrechtl. geregelter Anteil am Aufkommen der —> Grunderwerbsteuer) sind verschwindend gering. Vordergründig bei den Ausgaben sind die Aufgabenbereiche der sozialen Sicherung (z.B. -> Sozialhilfe), -» Schulen, Bau- und Wohnungswesen sowie - » Verkehr. Der höchste Ausgabenanstieg ist im Bereich der Abfallbeseitigung (-»
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Kreisangehörige Städte Abfallrecht) zu verzeichnen. Lit.: H.-G. Hennecke: Kreisrecht in den Ländern der BRD, Stuttgart 1994; ders. / H. Maurer / F. Schoch: Die Kreise im Bundesstaat, BadenBaden 1994; G. Seele: Die Kreise in der Bunderepublik Dtld., Bonn 1990.
Karlheinz Hösgen Kreisangehörige Städte -> Stadt Kreisfreie Städte -> Stadt Kreislaufwirtschaftsgesetz —> Abfallrecht Kreistag ist die polit. Vertretung des Kreises und seiner Bevölkerung. Nach Art. 28 Abs. 1 GG wird er in allgemeinen, freien, gleichen und geheimen -> Wahlen unmittelbar vom Volk gewählt. Der K. ist dennoch kein —> Parlament im staatsrechtl. Sinne. Seine Mitglieder genießen weder —> Immunität noch —> Indemnität, wohl aber gilt für sie das -> freie Mandat. Sie sind nicht an Weisungen einer -» Partei oder des -> Gemeinderats ihrer Wohnsitzgemeinde gebunden. Die Mitglieder des K.s sind ehrenamtlich tätig (-» Ehrenamtliche Tätigkeit) und werden meist auf 4 oder 6 Jahre gewählt. Die Bezeichnung der Mitglieder ist verschieden (Kreisräte, Kreisverordnete, K.sabgeordnete, K.smitglieder). Die Zahl der Mitglieder staffelt sich nach der Größe der Kreise. Die Aufgabe des Vorsitzenden erfüllt in -> Baden-Württemberg, —> Bayern, —> Rheinland-Pfalz und im —» Saarland der —> Landrat als Hauptverwaltungsbeamter im Kreis (kraft Amtes). Im Saarl. und in BW hat er allerdings kein Stimmrecht. Dagegen beruft der K. in den übrigen Bundesländern den Vorsitzenden aus seiner Mitte. Die Bezeichnung desselben ist wiederum verschieden (Kreispräsident, K.svorsitzender). Dem Vorsitzenden obliegen neben der repräsentativen Vertretung des K. die Einberufung, Leitung der Sitzungen, Ordnungsgewalt und die K.sverwaltung. Darüber hinaus gehende Befugnisse stehen ihm in ->
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Kriegsdienstverweigerung —> Hessen, —> Niedersachsen, -> Nordrhein-Westfalen und -> Schleswig-Holstein zu (z.B. Mitwirkung bei Eilentscheidungen). Der K. gliedert sich in Fraktionen und besitzt Ausschüsse als Hilfsorgane. Mit Ausnahme der neuen Bundesländer dürfen Entscheidungskompetenzen nicht oder nur begrenzt auf die Ausschüsse übertragen werden. Der K. ist Verwaltungsorgan, hat aber über dies hinaus die Kompetenz, Normen (v.a. —> Satzungen) zu setzen. Die Rechtsstellung des K. und sein Aufgabenbereich sind in den Kreisordnungen näher geregelt. Der Status und sein Verfahren gleichen dem des Gemeinderates. Der K. trifft prinzipiell die bedeutsamen, nicht auf andere Kreisorgane übertragbaren Entscheidungen Lit: —> Kreis
Karlheinz Hösgen Kreisverwaltung -> Kreis Kreiswehrersatzamt —> Bundeswehrverwaltung Kriegsdienstverweigerung Nach Art. 4 Abs. 3 GG darf niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz. Ursprünglich waren diese gesetzlichen Regelungen in den §§ 25-27 WpflG enthalten. Seit dem 1.1.1984 sind diese Vorschriften durch die Bestimmungen des K.sgesetzes (KDVG) ersetzt worden. Nach ständiger Rechtsprechung des —> Bundesverfassungsgerichts besteht der Kern des —> Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 GG darin, den Kriegsdienstverweigerer vor dem Zwang zu bewahren, in einer Kriegshandlung einen anderen töten zu müssen, wenn ihm sein Gewissen eine Tötung grds. und ausnahmslos verbietet. Nur in diesem Falle, d.h. wenn die Entscheidimg des Kriegsdienstverweigerers den Charakter eines unabweisbaren, den Ernst eines die ganze Persönlichkeit ergreifenden sittlichen Gebots trägt, ist
Kriegsdienstverweigerung eine Anerkennung möglich. Nicht ausreichend ist nach der Rechtsprechung desBVerfG, daß der Wehrpflichtige den Unterhalt bewaffneter Streitkräfte für polit, sinnlos, wirtschaftl. oder sozial schädlich hält, eine Abneigung gegen jede Art von Militär empfindet oder bestimmte Kriege mit bestimmten Waffen in bestimmten histor. Situationen ablehnt. Diese sog. situationsbedingte K. wird nicht anerkannt. Die Formulierung des Art. 4 Abs. 3 GG könnte zu der Annahme führen, ein Waffendienst in Friedenszeiten könne nicht verweigert werden. Aus Art. 1 (Schutz der - » Menschenwürde) und 12a Abs. 2 GG i.V.m. dem Zivildienstgesetz ergibt sich jedoch, daß derjenige, der den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen nicht erfüllen kann, auch im Frieden nicht zum Dienst mit der Waffe herangezogen werden darf. Die Formulierung „Kriegsdienst mit der WafTe" bedeutet nicht, daß der Soldat persönlich Waffen bedienen müßte. Der moderne Krieg mit seinen hochtechnisierten und arbeitsteiligen Abläufen läßt eine genaue Differenzierung zwischen Tötungshandlungen und anderen Handlungen nicht mehr zu. Der anerkannte Kriegsdienstverweigerer kann daher auch den Sanitätsdienst in der —> Bundeswehr verweigern. Eine Totalverweigerung, d.h. eine Verweigerung auch des Wehrersatzdienstes, ist nach der Rechtsprechung und der h.L. weder von Art. 4 Abs. 3 noch von Art. 4 Abs. 1 GG gedeckt. Nach Ansicht des BVerfG dürfen nur solche Wehrpflichtige als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden, bei denen mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, daß Gewissensgründe für die Verweigerung ausschlaggebend sind. Ein besonderes Anerkennungsverfahren wird nicht gefordert. Wenn jedoch auf ein derartiges Verfahren verzichtet wird, so ist nach der Rechtsprechung des BVerfG der Ersatzdienst so auszugestalten, daß die Entscheidung für ihn als starkes Indiz einer echten Gewissensentscheidung gelten kann. Aus diesem Grunde hat der
Kriegsdienstverweigerung Gesetzgeber im Jahre 1983 den Zivildienst gegenüber dem -> Wehrdienst deutlich verlängert, wobei er sich an der zulässigen Höchstdauer der Wehrübungen orientierte. Ober die Berechtigung, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, wird auf Antrag entschieden. Das frühere Anerkennungsverfahren vor den Ausschüssen und Kammern, in dem das Vorliegen echter Gewissensgründe auf Grund mündlicher Verhandlung festgestellt wurde, ist für ungediente Wehrpflichtige, die nicht einberufen und nicht schriftlich benachrichtigt sind, entfallen. Nach derzeitiger Rechtslage entscheidet in diesen Fällen das Bundesamt für den Zivildienst im schriftlichen Verfahren. Grundlage hierfür bilden ein ausführlicher Lebenslauf, eine persönliche ausführliche Darlegung der Beweggründe für die Gewissensentscheidung sowie ein Führungszeugnis nach dem Bundeszentralregistergesetz. Geprüft wird insbes., ob die dargelegten Beweggründe das Recht auf K. zu begründen tatsächlich geeignet sind (Schlüssigkeitsprüfung), und ob die gesamten äußeren Umstände keine Zweifel an der Wahrheit der Angaben des Antragstellers aufkommen lassen. Hat das Bundesamt Zweifel an der Wahrheit der Angaben über äußere Tatsachen, so gibt es dem Antragsteller zunächst Gelegenheit, sich sich ergänzend zu äußern. Gelingt es dem Antragsteller nicht, die Bedenken des Bundesamtes auszuräumen, so leitet dieses ohne weitere Tatsachenaufklärung den Antrag dem zuständigen Ausschuß für K. zu. Die Ausschüsse für K. werden bei den —> Kreiswehrersatzämtern gebildet. Ihre Zusammensetzung ist in § 9 KDVG geregelt. Sie entscheiden über den Antrag auf K. von Soldaten, Reservisten und einberufenen oder benachrichtigten Wehrpflichtigen; bei begründeten Zweifeln, bei Zweitanträgen und im Spannungs- und Verteidigungsfall (Art. 80a bzw. 115a GG) entscheiden diese auch; Regelungen über das vor ihnen stattfindende (förmliche) Verfahren, die Vertretung des An-
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Kriegsopferversorgung tragstellers, Entscheidungsgrundsätze und anderen sind in den §§ 10-16 KDVG getroffen. Gegen die Entscheidungen der Ausschüsse kann innerhalb von 2 Wochen Widerspruch eingelegt werden. Über ihn entscheiden die Kammern für K., die bei den Wehrbereichsverwaltungen gebildet werden (§ 18 KDVG). Danach ist der Rechtsweg vor die —> Verwaltungsgerichte gegeben. Der im wesentlichen kontinuierliche Anstieg der K.en von weniger als 1.000 K.en im Jahre 1957 auf rd. 125.000 Verweigerungsanträge im Jahr 1992 (1991 lag die Zahl unter dem Eindruck des Golfkrieges über 150.000) zeigt die praktische Bedeutung dieses Grundrechts an. Ob es sich bei allen Anträgen um echte Gewissensentscheidungen i.S. des Art. 4 Abs. 3 GG handelt, ist zumindest zweifelhaft. Ein Mißbrauch des Rechts auf K. ist in einem Teil der Fälle nicht auszuschließen. Dennoch behält dieses Grundrecht seine Berechtigung und seinen hohen verfassungsrechtl. Rang. Letztlich dient es dazu, die Menschenwürde des Staatsbürgers zu schützen, der aus echter Gewissensüberzeugung den Kriegsdienst verweigert. Lit.: BVerfGE 48, 127; BVer/GE 12, 45; BVerfGE 19, 135; H. Johlen: Wehrpflichtrecht in der Praxis, München 4 1996; W. Schwamborn / CM. Verch: Handbuch für Kriegsdienstverweigerer, Köln 121991; W. Steinlechner: Kriegsdienstverweigerungsgesetz, München 1990;
Christian Grimm Kriegsopferversorgung —> Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung KSE-Vertrag Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa vom 19.11. 1990 ist der bislang bedeutendste Abrüstungsvertrag für konventionelle Streitkräfte in Europa. Der Abschluß dieses Vertrages wurde insbes. durch die friedlichen Revolutionen in den Staaten Mittelund Osteuropas, die Bereitschaft zu einseitigen Truppenreduzierungen bei der UDSSR und einigen ihrer Verbündeten 508
KS E-Vertrag sowie die Verständigung zwischen Bundeskanzler Kohl und dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow auf den Rückzug der bisher in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte (ca. 366.000 Mann) sowie eine Reduzierung der Streitkräfte des vereinten Dtld.s auf 370.000 Mann bei ihren Gesprächen im Kaukasus im Juli 1990 erleichtert. Der Vertrag sieht eine Höchstgrenze von 40.000 Kampfpanzern, 60.000 gepanzerten Kampffahizeugen, 40.000 Artelleriewaffen, 13.600 Kampfflugzeugen und 4.000 Angriffshubschraubern für das gesamte Vertragsgebiet (Atlantik bis Ural mit Ausnahme der baltischen Staaten) vor. Jeder Vertragsstaat mußte seine Waffen erforderlichenfalls so reduzieren, daß 40 Monate nach Inkrafttreten des KSEVertrags a) ihre Gesamtzahl in jeder Gruppe der Vertragstaaten (-> NATO bzw. Warschauer Pakt) nicht größer war als die Hälfte der vorbezeichneten jeweiligen Höchstgrenzen für diese Waffen und b) er nicht mehr als 13.300 Kampfpanzer, 20.000 gepanzerte Kampffahrzeuge, 13.700 Artelleriewaffen, 5.150 Kampfflugzeuge und 1.500 Angriffshubschrauber besaß. Der Vertrag enthält femer Zählregeln, umschreibt die Reduktionszonen und bestimmt Verifikationsmethoden. Eine Reduktion der Personalstärken der konventionellen Streitkräfte in Europa sieht er allerdings noch nicht vor. Die Teilnehmerstaaten des Vertrages haben im übrigen am 23.7.1997 beschlossen, den Vertrag auf neue Erfordernisse einer kooperativen -> Sicherheitspolitik einzustellen und die sicherheitspolitisch nach dem Zerfall des Warschauer Pakts und der Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen NATO und Rußland überholte Gruppen- und Zonenstruktur des Vertrages durch ein neues, auf nationalen und territorialen Obergrenzen beruhendes Begrenzungssystem für die durch den KSE-Vertrag limitierten Großwaffen zu ersetzen. Lit: Vertrag über konventionelle Streitkräfte in
KSZE
Kulturhoheit der Länder
Europa v. 19.9.1990, BGBl. 1991 II S. 1154, 1992 II S. 1036; R. Hartmann: Erneuerung des KSE-Vertrages, in. IP 9/1997, S. 55ff.
Jörg Ukrow KSZE —>• Europäische Sicherheitskonferenz -> OSZE-Versammlung Kulturhoheit der Länder K. bezeichnet nach herkömmlichem Verständnis die Wahrnehmung öffentl. Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Rechtsprechungsbefugnisse durch den -> Staat im Bereich der Kultur. K. - Hoheit des Staates über die Kultur? Der Begriff K. ist prägnant, aber mißverständlich. Er suggeriert Machtbefugnisse und Eingriffsmöglichkeiten des Staates im kulturellen Bereich, die mit der freiheitlichen Staatsordnung und Kulturverfassung des —> Grundgesetzes nicht in Einklang zu bringen wären. Staatl. Zwang in kulturellen Fragen oder eine staatl. Lenkung der Kultur sind mit der bundesdt. Verfassung, insbes. mit Art. 5 Abs. 3 GG unvereinbar. Das GG garantiert einen weiten Bereich kultureller Autonomie, in den der Staat nicht eingreifen darf. Er ist zu kultureller Neutralität und Toleranz verpflichtet. Der noch aus vordemokrat. Zeit stammende Begriff K. darf deshalb nicht als staatl. Dominanz im Kulturbereich mißverstanden werden. Er meint lediglich das von der freiheitlichen Kulturverfassung des GG geforderte, legitimierte, aber auch begrenzte Tätigwerden des Staates im Kulturbereich. K. der Länder? Das —> Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Entscheidungen nicht von der K. ganz allgemein gesprochen, sondern immer die ausschließliche K. der - » Länder betont. Es hat damit klargestellt, daß die Bundesländer im bundesstaatl. System der -> Bundesrepublik Deutschland die maßgeblichen legislativen, exekutiven und judikativen -» Kompetenzen auf dem Gebiet der Kultur haben. —> Kulturpolitik ist in erster Linie Ländersache. Dennoch muß im bundesstaatl. System der BRD und in
der —> Europäischen Union K. differenzierter verstanden werden. Das GG weist den Kulturbereich im Grundsatz den Bundesländern zu ( Art. 30, 70ff, 83ff. GG ). Das -» Kulturverfassungsrecht nimmt deshalb in den —> Landesverfassungen i.d.R. einen herausragenden Platz ein. Dort finden sich kulturrelevante Regelungen, die über die Garantien des GG hinausgehen und den Landesverfassungen ein originelles kulturelles Profil geben. Insbes. zu den Themen Schule und -> Hochschule, Bildung und Religion formulieren die Landesverfassungen eigene prägnante Auffassungen. Der verfassungsrechtl. Bedeutung entspricht auch die polit. Wirklichkeit: Alle Bundesländer betreiben eine vielfältige, die ganze Bandbreite moderner Kultur umfassende, in allen Einzelheiten kaum noch zu überschauende Kulturpolitik. Dennoch gibt es kein Kulturmonopol der Bundesländer, denn das GG sieht auch für den —> Bund Kompetenzen im Bereich der Kultur vor. Dabei geht es v.a. um Aufgaben, die eindeutig gesamtstaatl., überregionalen Charakter haben oder die —> Repräsentation der BRD als Ganzes nach außen betreffen. Dazu gehören etwa die auswärtigen Kulturinstitute, kulturelle Entwicklungshilfe, die dt. Schulen im Ausland, die Dt. Welle, aber auch die Filmförderung, das Urheber- und Verlagsrecht, die Künstlersozialversicherung sowie die —> Rahmengesetzgebung für die Presse (—> Presserecht) und den Film. Noch bedeutsamer sind aber die ungeschriebenen - im Einzelfall nicht selten umstrittenen Kompetenzen, die der Bund auf kulturellem Gebiet in zunehmendem Maß in Anspruch nimmt. Eine weitere Ebene öffentl. kultureller Aktivitäten ist die kommunale Kulturpolitik der -» Städte und -> Gemeinden. Die Kommunen nehmen eine Fülle kultureller Aufgaben wahr: Sie betreiben Denkmalpflege, sie unterhalten Museen, Archive, Galerien, Theater, sie veranstalten Konzerte und Festivals, sie schreiben Preise und Stipendien aus. Die Städte und Gemeinden
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Kulturhoheit der Länder können sich dabei auf ihr in Art. 28 Abs. 2 GG garantiertes Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln, berufen. Diese kommunale Selbstverwaltungsgarantie hat auch einen kulturellen Aspekt, nämlich die kommunale K.; indem die Kommunen dieses Recht wahrnehmen, entsteht eine freiheitliche, spontane, vielfältige, btlrgemahe Kultur, die sowohl Traditionen lebendig hält als auch Innovationen anstößt. Im föderalen System der BRD (-* Föderalismus) gibt es also keine ausschließliche K. der Länder. Es gibt eine kooperative K., die von Bund, Ländern und Gemeinden wahrgenommen wird. Besonders deutlich wird der kooperative Charakter, wenn das GG Bund und Länder zu gemeinsamer Kulturpolitik verpflichtet oder ermächtigt - etwa im Hochschulbau (Art. 91a GG) oder in der Bildungsplanung und Forschungsförderung (Art. 91b GG). Die konkrete Abgrenzung der Kompetenzen und Aufgabenbereiche kann im Einzelfall schwierig und streitig sein. Das Ziel dieser geteilten K. ist aber eindeutig: Die Kulturpolitik von Bund, Ländern und Gemeinden soll sich ergänzen, wechselseitig befruchten und gegenseitig fördern. K. in der EU Seit dem Maastricht-Vertrag von 1992 ist die Kultur ein wichtiges Tätigkeitsfeld der EU. In Art. 3 des - » EU-Vertrages wird die Entfaltung des Kulturlebens in den Mitgliedstaaten ausdrücklich als Aktionsfeld der EU genannt. In den EU-Vertrag wurde - ebenfalls durch den Vertrag von Maastricht - ein neuer Art. 128 eingefügt, der für die EU Kompetenzen auf kulturellem Gebiet vorsieht. Die Union soll gleichzeitig durch ihre Kulturpolitik eine gemeinsame europ. Kultur fördern und die nationale und regionale kulturelle Vielfalt in den einzelnen Mitgliedstaaten schützen. Weil Rechtsakte, die von der EU erlassen werden, Geltung in den Mitgliedstaaten beanspruchen, hat die europ. Kulturpolitik direkte Auswirkungen auf die dt. Kultur-
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Kulturpolitik verfassimg. Neben Bund, Länder und Gemeinden als Träger der K. tritt deshalb die EU als vierter öffentl. Akteur. Die bereits erwähnte kooperative K. muß deshalb unter europ. Gesichtspunkten modifiziert werden: EU-Vertrag und GG bilden eine kooperative europ. Kulturverfassung. Die Kulturkompetenzen von EU, Bund, Ländern und Gemeinden ergänzen, modifizieren und beeinflussen sich wechselseitig. Insg. bilden sie in ihrer Summe die staatl. K. Lit: Μ.-E. Geis: Die „Kulturhoheit der Länder", in: DÖV 1992, S. 522ff.; D. Grimm: Kulturauftrag im staatl. Gemeinwesen, in: WdStRL 1984, S. 46ff.; P. Häberle: Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. Iff.; HdbVerß, S. 1201ff.; M. Niedobitek: Kultur und Europ. Gemeinschaftsrecht, Berlin 1992. Volker Neßler Kulturpolitik Als K. werden die staatl. Ziele im Bereich des kulturellen Lebens eines Volkes verstanden. Ihre wesentlichen Aufgaben sind die Förderung des kulturellen Schaffens, die Vermittlung kultureller Werte und die Erhaltung und Pflege des Kulturgutes. Die Ziele der K. werden einerseits in der Kulturförderung, Kulturwahrung und Kulturvermittlung, andererseits in der Kulturwerbung und internationalen kulturellen Zusammenarbeit gesehen. Nachdem K. unter dem Nationalsozialismus entsprechend dessen totalitären Ansatz ein Instrument der polit, und gesellschaftl. Gleichschaltung war, wurde die in Art. 5 Abs. 3 GG verankerte verfassungsrechtl. Garantie der Kunstfreiheit in den ersten Jahren der —> Bundesrepublik Deutschland zunächst i.S. eines Abwehrrechtes vor staatl. Eingriffen in die künstlerische Freiheit verstanden. Neben diesen die K. zunächst prägenden liberalen Ansatz trat zunehmend aber auch der Ansatz, die Garantie der Kunstfreiheit als Gestaltungsauftrag zu verstehen. Das - » Bundesverfassungsgericht förderte diese Entwicklung, welche die K.
Kulturpolitik
Kulturverfassungsrecht
auch heute noch prägt, indem es 1974 aus Art. 5 Abs. 3 GG neben dem Freiheitsrecht aller Kunstschaffenden zugleich die aktive Verpflichtung des Kulturstaats ableitete, ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern. Diese rechtl. Entwicklung verlief parallel zu einer Erweiterung des Begriffs der K : Diese wurde nicht mehr allein als die Summe der Maßnahmen verstanden, die der Pflege und Förderung von Kunst und Kulturschaffenden) gewidmet sind. Vielmehr trat neben diesen kunst- bzw. künstlerorientierten Ansatz ein rezipientenorientierter Schwerpunkt der K.: Aus demokratieund gesellschaftstheoretischen Erwägungen sollte auf die kulturelle Entwicklung der Bevölkerung aktiv Einfluß genommen werden. Kultur sollte ein Mittel zur Demokratisierung der —> Gesellschaft sein. Neben dieses insbes. in der Sozialdemokrat. K. weiterhin manifeste Ziel trat in den 80er Jahren zunächst in Kreisen der CDU/CSU ein stärker wirtschaftspolit. orientiertes Verständnis von K : Kultur wurde als eigenständiger Wirtschaftszweig und Standortfaktor wahrgenommen. Daneben gewann Kultur im nicht unerheblichen Bau von Museen verstärkt Bedeutung als Beitrag zur (inter-) regionalen und nationalen Identitätsfindung zurück.
Ausland sowie für die rechtl. und sozialen Rahmenbedingungen künstlerischer Berufe. Die eigentliche —> Kulturhoheit liegt nach der Zuständigkeitsverteilung des GG bei den Ländern, was in besonderer Weise geeignet ist, kulturelle Vielfalt sichern (—» s.a. Kulturverfassungsrecht). Kulturelle Vielfalt darf auch nicht durch die zunehmenden kulturellen Aktivitäten der —> EG beeinträchtigt werden, die in Art. 128 EGV eine - beschränkte - vertragliche Anerkennung gefunden haben (s.a. —> Kulturverfassungsrecht). Im Bereich der Kultur i.e.S. darf die EG nicht rechtsangleichend tätig werden (Art. 128 Abs. 5 EGV). Außerhalb dieses Bereichs ist die EG nach Art. 128 Abs. 4 EGV (kulturelle Querschnittsklausel) verpflichtet, bei allen ihren Handlungen den kulturellen Aspekten Rechnung zu tragen.
K. in den traditionellen Formen gestalterischen Handelns kann durch die öffentl. Hand (-> Bund, —> Länder, -> Gemeinden) wie durch Private zum einen durch die Unterhaltung eigener kultureller Einrichtungen, zum anderen durch die Förderung gesellschaftl. Organisationen und —> Institutionen sowie von Einzelpersonen erfolgen. K. stellt aber auch die Schaffung von rechtl. Rahmenbedingungen für die Kulturtreibenden (z.B. sozialpolit. Absicherung, Urheber- und Steuerrecht) dar. Von dieser regulatorischen Seite her sind die - » Kompetenzen des Bundes in der K. beschränkt. Erwähnung verdienen insbes. dessen Zuständigkeit für auswärtige Kulturangelegenheiten, den Schutz dt. Kulturgutes gegen Auswanderung in das
Kulturverfassung -> Kulturverfassungsrecht
Lit.: Β. Rasky / EM. Wolf Perez: Kulturpolitik und Kulturadministration in Europa, Wien 1995; G. Ress: Kultur und Europ. Binnenmarkt, Stuttgart 1991; ders. / J. Ukrow: Kultur - Art. 128 EGV, in: E. Grabitz / M. Hilf (Hg.), Komm, zur EU, München 1998.
Jörg Ukrow Kultusministerkonferenz -> KMK Kulturstaat —» Kulturverfassungsrecht
Kulturverfassungsrecht Als K. kann man zusammenfassend alle diejenigen Verfassungsnormen bezeichnen, die sich mit Kultur beschäftigen und in ihrer Summe einen konsistenten rechtl. Rahmen für die Kultur - eine Kulturverfassung - bilden. Die BRD als Kulturstaat Ob die -> Bundesrepublik Deutschland eine Kulturverfassung besitzt und damit ein Kulturstaat ist, ist in der Rechtswissenschaft nicht ganz unumstritten. Im -> Grundgesetz ( Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1) wird die BRD ausdrücklich als - » Rechtsstaat, als Sozialstaat, als —> Bundesstaat und 511
Kulturverfassungsrecht als demokrat. —> Staat bezeichnet. Eine Kennzeichnung als Kulturstaat findet sich in der -> Verfassung aber nicht. Es wäre aber verfehlt, den Stellenwert der Kultur im —> Verfassungsrecht deshalb zu unterschätzen. Art. 5 Abs. 3 GG ist eine Fundamentalgarantie des Kulturbereichs und enthält damit - zusammen mit der Garantie der —> Menschenwürde in Art. 1 GG und den anderen kulturrelevanten Nonnen des GG - die verfassungsrechtl. Staatskonzeption der BRD als Kulturstaat. Das hat das —> Bundesverfassungsgericht schon früh erkannt und von einem —> Staatsziel Kulturstaat gesprochen. Der Einigungsvertrag (-> Deutsche Einheit) hat mit verfassungsgleicher Qualität die Kulturstaatlichkeit inzwischen ausdrücklich anerkannt und betont. In Art. 35 Abs. 1 S. 3 sagt er in aller Deutlichkeit: „Stellung und Ansehen eines vereinten Dtld.s hängen außer von seinem polit. Gewicht und seiner wirtschaftl. Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab". Dieser verfassungsrechtl. Charakterisierung der BRD als Kulturstaat entspricht auch die Verfassungswirklichkeit, die von einer eindrucksvollen Vielfalt staatl. —> Kulturpolitik auf allen Feldern der Kultur - Bildung, Wissenschaft, Kunst, Religion, Medien, Sport - gekennzeichnet ist. Der hohe verfassungsrechtl. Rang der Kultur und das enorme Ausmaß staatl. Kulturpolitik belegen die Bedeutung, die der Bereich der Kultur für den Staat hat. Der Staat muß soziale Integration gewährleisten. Funktionierende staatl. -> Institutionen sind ein notwendiges, aber nicht ausreichendes Mittel dazu. Hinzukommen muß eine inhaltliche Integrationsbasis eine gemeinsame Kultur. Die Kulturverfassung des GG ist die rechtl. Konsequenz aus der Einsicht, daß jeder Staat eine gemeinsame Kultur braucht und also fordern muß, will er nicht seine Grundlage verlieren. Der Kulturstaat: Inhalt und Grenzen Histor. ist der von Fichte (1762-1814) entwickelte Begriff des Kulturstaats vor512
Kulturverfassungsrecht demokratisch und obrigkeitsstaatl. geprägt. Von diesen histor. Wurzeln hat sich die Kulturverfassung des GG radikal gelöst. Inhalt und Grenzen der Kulturstaatskonzeption des GG werden von den in der Verfassung verbürgten kulturellen -> Grundrechten und von der Menschenwürdegarantie in Art. 1 GG markiert. Art. 6 und 7 GG regeln den Bereich der Bildung und Erziehung. Die Freiheit von Presse, Film und Rundfunk - wichtige Aspekte moderner Kultur - wird durch Art. 5 Abs. 1 GG gewährleistet, der folgerichtig auch ein ausdrückliches Zensurverbot enthält. Von entscheidender Bedeutung ist Art. 5 Abs. 3 GG, der die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, von Forschung und Lehre garantiert. Zur grundgesetzlichen Kulturverfassung gehören schließlich auch Art. 4 GG und Art. 140 GG, durch welche die kulturellen Bereiche des Glaubens, der Weltanschauung und der Religion ebenso geregelt werden wie die Stellung der —> Kirchen im Staat. Entscheidend ist schließlich die Erkenntnis, daß Kultur untrennbar mit der im GG garantierten Menschenwürde verbunden ist. Die kulturellen —> Grundrechte sind zunächst Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Sie sichern einen Bereich kultureller —» Freiheit, in den der Staat nicht reglementierend eingreifen darf. Der moderne Kulturstaat ist gegenüber der Kunst zu strikter kulturpolit. Neutralität und Toleranz verpflichtet. Der Kulturstaat Dtld. ist also ein freiheitlicher Kulturstaat. Neutralität und Toleranz des Staates schaffen den Freiheitsraum für die Autonomie der Kultur, die nach heutigem Verständnis notwendiger Wesenszug jeder künstlerischen und kulturellen, also schöpferischen Entwicklung ist. Sensibel und konfliktträchtig ist insbes. der Bereich von Kunst und Wissenschaft, in dem die Grenzen, die dem Staat gezogen sind, besonders eng gefaßt sind. Von den damit verbundenen Auseinandersetzungen zeugen zahlreiche Entscheidungen des BVerfG, mit denen es Eingriffe des Staates in die Kulturautonomie abgewehrt und
Kulturverfassungsrecht gleichzeitig die Freiheit der Kultur verfassungsrechtl. schärfer konfluiert und weiterentwickelt hat. Neben dem Freiheitsaspekt hat der Kulturstaat allerdings auch eine partizipatorische Komponente. Die Kulturgrundrechte sind nicht nur Freiheitsrechte, sondern auch -> Teilhaberechte. Sie verbürgen Mitwirkungsrechte aller - > Bürger am Kulturstaat. Dieses —>• Bürgerrecht auf Kultur begründet kulturelle Leistungsveipflichtungen des Staates. Er muß dafilr sorgen, daß das Bürgerrecht auf Kultur auch tatsächlich realisiert werden kann. Der Staat muß zunächst einen ungehinderten Zugang für alle Bürger zu allen Kulturgütern sichern. Darin erschöpft sich seine Verpflichtung allerdings nicht. Er muß darüber hinaus die Kultur aktiv fördern und die Künste und Wissenschaften pflegen. Zu eigenen Initiativen ist er dort verpflichtet, wo sich Kultur ohne ihn nicht entwickelt. Dabei geht es etwa um die Gründung und Unterhaltung von -> Hochschulen, Akademien, Theatern, Museen, Orchestern, Bibliotheken und anderen Institutionen einer lebendigen Kultur. Der Kulturstaat muß und darf dabei der privaten Kulturförderung einen Freiraum lassen, private und staatl. Träger kultureller Institutionen müssen und sollen sich bei der Kulturförderung ergänzen. Der föderale Kulturstaat Die BRD ist ein Bundesstaat. Dementsprechend gibt es in Dtld. einen kooperativen -> Föderalismus: Die unterschiedlichen Kulturkompetenzen von —> Bund und —> Ländern ergänzen sich gegenseitig und ergeben erst in ihrer Summe den gesamten Bereich kultureller Staatstätigkeit. Auch wenn dem Bund durch die Verfassung eine ganze Reihe kultureller -> Kompetenzen zugewiesen sind, liegt das Schwergewicht der Staatstätigkeit im Bereich der Kultur bei den Ländern. Das ist vom GG gewollt, das die Kompetenzverteilung nach dem RegelAusnahme-Prinzip organisiert hat: Grds. sind die Länder für kulturelle Angelegenheiten - etwa für die Kulturverwaltung zuständig, etwas anderes gilt ausnahms-
Kulturverfassungsrecht weise bei kulturellen Aufgaben, die eindeutig überregional geprägt sind oder die auswärtige Kulturpolitik betreffen. Von erheblicher praktischer Bedeutung ist die kommunale Kulturpolitik. -> Städte und —> Gemeinden treten unübersehbar als Träger kultureller Institutionen und als Förderer kultureller Aktivitäten und Prozesse in Erscheinung: Ihre vielfaltigen Aktivitäten reichen von klassischer Kulturpolitik bis zu innovativen Formen von Stadtteilkulturarbeit. Neben der Kulturpolitik von Bund und Ländern bildet die Kulturpolitik in der Stadt deshalb eine eigenständige Säule staatl. Kulturpolitik. Die bundesstaatl. Struktur des Kulturstaats Dtld. ist eine wichtige organisatorische Bedingung für die Entstehung und Existenz kultureller Freiheit und Autonomie. Denn die damit verbundene plurale und dezentrale Organisationsstruktur der Träger öffentl. Kulturpolitik sichert die inhaltliche Pluralität und Toleranz der staatl. Kulturpolitik. Der Föderalismus ist aus dieser Sicht die Staatsorganisationsform, die dem freiheitlichen und demokrat. Kulturstaat angemessen ist. Der Kulturstaat in der EU Die BRD ist als Mitglied der —> EU in ein enges Geflecht europ. polit. Wechselwirkungen und verbindlicher Rechtsnormen eingebunden. Kaum ein Politikbereich ist von den europ. Einflüssen ausgenommen, nahezu jede nationale —> Politik wird im Verlauf der europ. Integration - wenn auch in unterschiedlicher Intensität europäisiert. Deshalb läßt sich kein Aspekt des dt. Rechts ohne einen Blick auf das -> Europäische Gemeinschaftsrecht vollständig verstehen. Auch der Kulturstaat Dtld. muß also in seiner Einbindung in die EU gesehen werden. Die EU war - damals noch als —> EWG, EAG und EGKS - ursprünglich rein Ökonom, konzipiert. Kulturelle Aspekte wurden allerdings immer wichtiger. Der 1992 geschaffene gemeinsame europ. Binnenmarkt verwirklichte nicht nur Wirtschaftsfreiheiten. Es entstanden gleichzeitig ein kultureller Binnenmarkt und eine multi-
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Kulturverfassungsrecht kulturelle -> Gesellschaft. Der Binnenmarkt erfaßt nämlich nicht nur den freien Verkehr Ökonom. Produkte, sondern im gleichen Maß auch den freien Verkehr von Produkten und Produktionen kultureller Qualität. Die EU hat die damit verbundene Notwendigkeit einer europ. Kulturpolitik erkannt: Der —> EU-Vertrag von 1992 erteilt der Union einen eigenständigen Kulturauftrag. Der neue Art. 128 des EU-Vertrags formuliert ein doppeltes Ziel: Die EU soll das gemeinsame kulturelle Erbe hervorheben, gleichzeitig aber auch die nationale und regionale Vielfalt der Kulturen der Mitgliedstaaten wahren. Durch die damit akzeptierte Gleichrangigkeit europ. und nationaler Kulturpolitik wird die entscheidende Frage nach der Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Kulturpolitik im Grundsatz beantwortet. Es gibt keine Alleinzuständigkeit, die Kompetenzen sind aufgeteilt zwischen der Union und den Mitgliedstaaten. Nationale und europ. Kulturkompetenzen bilden insg. eine gemeinsame, kooperative europ. Kulturverfassung. Konkret werden die Kompetenzen dann nach dem Prinzip der —> Subsidiarität verteilt, das in Art. 3b Abs. 2 des EUVertrags als allgemeiner Kompetenzzuweisungsmaßstab normiert ist. Kulturelle Kompetenzen liegen danach grds. bei den Mitgliedstaaten, es sei denn, die angestrebten polit. Ziele lassen sich effektiver auf europ. Ebene erreichen. Das Schulund Hochschulwesen z.B. fallt deshalb primär in den nationalen Kompetenzbereich. Die vom Bildungsministerrat der Union beschlossene Einfuhrung einer europ. Dimension im Schulwesen und im Hochschulwesen der Gemeinschaft kann allerdings nur auf europ. Ebene realisiert werden und ist deshalb Aufgabe der europ. Kulturpolitik. Inzwischen existiert eine Fülle von europ. Maßnahmen und Regelungen, die das nationale K. ergänzen, modifizieren oder erweitern. Das Spektrum reicht von Maßnahmen im Bereich des Urheberrechts, der Steuerer-
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KVAE leichterungen und der sozialen Sicherung für Kulturschaffende über -> EG-Richtlinien im Femsehbereich bis hin zu europ. Stipendien und Kulturpreisen. Die kulturellen Regelungen von GG und EU-Vertrag bilden eine neue Ebene des K.s: eine kooperative europ. Kulturverfassung. Lit: M.-E. Geis: Kulturstaat und kulturelle Freiheit, Baden-Baden 1990; P. Haberle: Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. Iff.; HdbStR III, S. 1235fr.; HdbVerß. S. 1201ff.; M. Niedobitek: Kultur und Europ. Gemeinschaftsrecht, Berlin 1992
Volker Neßler Kumulieren In Abweichung von den Regelungen des Parlamentswahlrechts wird in verschiedenen Kommunalwahlgesetzen der Bundesländer (u.a. -> BadenWürttemberg und Bayern) den Wählern die Möglichkeit der Mehrfachstimmgebung (-abgabe) eröffnet. Der Wähler (der kraft gesetzlicher Regelung etwa so viele Stimmen hat als - ehrenamtliche Mitglieder des - » Gemeinderats zu wählen sind) ist danach berechtigt, innerhalb eines Wahlvorschlages einem Bewerber mehrere Stimmen zu geben. Die Möglichkeit des Kumulierens ("Häufeins") verleiht der Wahl - ebenso wie die des (kombinierbaren) -> Panaschierens - den Charakter einer echten —> Persönlichkeitswahl. IV. Sch. KVAE Die Konferenz über vertrauensund sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE) war ein Treffen aller 35 am KSZE-Prozeß (-» Europäische Sicherheitskonferenz) beteiligten Staaten. Sie tagte vom 17.1.1984 bis zum 19.9.1986 in Stockholm. Grundlage für die Einigung der Teilnehmer auf die Schlußakte dieser Konferenz, die zum 1.1.1987 in Kraft trat, war die Bereitschaft der UDSSR und ihrer Vrbündeten, relativ weitgehende Inspektionen auf ihrem Territorium zu ermöglichen. We-
Labour Party sentlicher Inhalt des Schlußdokuments sind folgende sicherheitspolitisch bedeutsamen Rechte und Verpflichtungen: Austausch von Jahresübersichten (jeweils bis zum 15.11) über alle ankündigungspflichtigen militärischen Aktivitäten bekannt machen; rechtzeitige Bekanntgabe (mindestens 42 Tage vor ihrem Beginn) von Manövern mit mindestens 13.000 Soldaten oder 300 Panzern (bzw. bei amphibischen Landungen oder Fallschirmabsprüngen mit je mindestens 3.000 Mann), Einladung von Beobachtern zu Manövern ab einer Stärke des eingesetzen Personals von mindestens 17.000 Soldaten (bzw. bei amphibischen Landungen oder Fallschirmlandungen von Luftlandekräften mit je mindestens 5.000 Mann), Recht zur Überprüfung und Inspektion vor Ort im Falle von Zweifeln an der Richtigkeit der Angaben ohne Ablehnungsrecht des zu inspizierenden Landes. Manöver und umfangreiche Truppenbewegungen mit mehr als 75.000 Soldaten (bzw. 40.000 Soldaten) dürfen nur stattfinden, wenn sie 2 Jahre (bzw. ein Jahr) im voraus angekündigt worden sind. Die vereinbarten Maßnahmen sind in ganz Europa, vom Atlantik bis zum Ural, anwendbar. Mit dieser KVAE-Schlußakte sollte ein Mehr an militärischer Transparenz, Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit militärischer Aktivitäten geschaffen werden. Es wird den KSZE-Staaten praktisch unmöglich gemacht, unbemerkt große Truppenverbände zu mobilisieren und für Angriffszwecke einzusetzen. Militärische Handlungen größeren Umfangs werden damit einer gemeinsamen Kontrolle unterworfen. Die Bedeutung dieser Schlußakte hat durch den —> KSE-Vertrag entscheidend abgenommen. Lit: Dokument der Stockholmer KVAE v. 19.9.1986, BullBReg. 1986, S. 929ff. Jörg Ukrow
Landesamt für Verfassungsschutz Arbeiterparteien in den Staaten des brit. Commonwealth, v.a. Großbritannien und Neuseeland. Der Prototyp ist die im Jahre 1900 gegründete brit. L.P., die sich lange Zeit als Parlament. Arm der Gewerkschaftsbewegung verstand. In den Jahren nach 1918 verdrängte die L.P. die Liberalen und wurde neben der —» Conservative Party die stärkste polit. Kraft. Wesentlich bestimmte die Partei die brit. Politik in den Jahren 1945 bis 1951, als unter Premier Attlee zahlreiche Verstaatlichungen von Industriebetrieben vorgenommen wurden und sich der brit. Konsens in der Wirtschafts- und Sozialpolitik herausbildete (mixed economy). In den 60er und 70er Jahren war die L.P. insg. 11 Jahre lang Regierungspartei, scheiterte aber an innerparteilichen Auseinandersetzungen mit den nach wie vor in der -» Partei eine wichtige Rolle spielenden -> Gewerkschaften. Von der Krise der späten 70er und frühen 80er Jahre konnte sich die Partei nur schwer erholen. Erst eine Reihe von innerparteilichen Reformen mit der Zurückdrängung des gewerkschaftlichen Einflusses und der Marginalisierung der Parteilinken machte die L.P. wieder mehrheitsfähig. Der seit den Unterhauswahlen am 1.5.1997 regierende Premier Blair verfolgt eine sehr pragmatische Politik, die in weiten Teilen an die der Konservativen angelehnt ist. Lit: E. Shaw: Labour Party since 1945, Londen 1996. U.J.
Länder der Bundesrepublik Deutschland —> einzelne Bundesländer —> s.a. Föderalismus —> s.a. Bundesstaat Länderfinanzausgleich -> Finanzverfassung -> s.a. Finanzausgleich Länderkammer —> Bundesrat Land -> Staatsgebiet -> Bundesstaat —> einzelne Bundesländer
Labour Party ist der Parteiname für die
Landesamt für Verfassungsschutz —> 515
Landesbauordnung Verfassungsschutzbehörden Landesbauordnung —> Baurecht Landesbeamte —> Beamte Landesbehörde —> Behörde Landesgrundrecht / -e 1. Alle vor Inkrafttreten des -> Grundgesetzes entstandenen —> Landesverfassungen (Bay., Beri., Brem., Hess., Rh.-Pf. und Saarl.) enthalten eigene -> Grundrechte; unter den nach Inkrafttreten des GG zustande gekommenen Verfassungen nehmen einige (BW, ND und NRW) - z.T. neben vereinzelten eigenen Grundrechten - die Grundrechte des GG pauschal als eigene Bestandteile auf, während andere (Hamb, und SH) auf Grundrechte verzichten. Eine neue Aktualität der L.e ergibt sich aus den Verfassungen der am 3.10.1990 beigetretenen Länder (BB, M-V, Sach., LSA und TH), die aus dem Bestreben, die Abkehr von der repressiven Staatlichkeit der -> DDR auch in den Verfassungen erfahrbar zu machen, eigene Grundrechte gewährleisten. Schon wegen der gemeinsamen dt. Verfassungstradition der -> Paulskirchenverfassung und der —» Weimarer Reichsverfassung stimmen die Grundrechte der Landesverfassungen mit denjenigen des GG zwar inhaltlich und sprachlich im wesentlichen überein, gehen aber bisweilen im einzelnen über das GG hinaus; Beispiele sind das Verbot der -> Aussperrung (Art. 29 Abs. 5 Verf. Hess.), das Grundrecht auf -» Datenschutz (Art. 11 Verf. BB, Art. 33 Verf. Sach., Art. 6 Abs. 1 Verf. LSA), das Auskunftsrecht gegenüber der vollziehenden Gewalt (Art. 21 Abs. 4 Verf. BB; -> Auskunft), die Ausdehnung des Schutzbereichs des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit auf die seelische Unversehrtheit (Art. 5 Abs. 2 Verf. LSA) oder die Würde im Sterben (Art. 8 Abs. 1 Verf. BB), die Verkürzung der Frist zur richterlichen Vorführung nach einer Festnahme auf 24 Stunden (Art. 9 Abs. 3 Verf. BB), die
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Landesgrundrecht Einschränkbarkeit des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses nur bei einer mindestens nachträglichen richterlichen Kontrolle (Art. 16 Abs. 2 Verf. BB) oder die Gewährleistung von im GG als -» Bürgerrechten geschützten Rechten für alle Menschen (z.B. Art. 23 Verf. Sach., Art. 12 Verf. LSA, Art. 17, 20, 23 Verf. BB). Selten bleibt der durch L. geschützte Freiraum hinter dem des GG zurück, z.B. bei der ausdrücklichen Einschränkungsmöglichkeit der im GG nur immanenten Schranken unterliegenden Wissenschaftsfreiheit (Art. 31 Abs. 2 Verf. BB). 2. Das Verhältnis der L.e zu denen des GG stellt Art. 142 GG klar: „Ungeachtet der Vorschrift des Artikels 31 bleiben Bestimmungen der Landesverfassungen auch insoweit in Kraft, als sie in Übereinstimmung mit den Art. 1 bis 18 dieses GG Grundrechte gewähren". Diese Vorschrift erfaßt nicht nur die bei Inkrafttreten des GG bereits bestehenden, sondern auch später aufgenommene L.e und gilt ebenso für erst nach Inkrafttreten des GG verabschiedete Landesverfassungen. Im Fall ihrer „Obereinstimmung" kollidieren danach Bundes- und Landesgrundrecht nicht, sondern bestehen nebeneinander. „Übereinstimmung" i.S.v. Art. 142 GG liegt zunächst vor, wenn das L. nach Schutzbereich und Schranken den gleichen Inhalt wie ein Grundrecht des GG aufweist. Da das GG nach auf den -> Parlamentarischen Rat zurückführbarer Auffassung über Art. 142 einen Mindeststandard an Grundrechten garantieren, nicht aber verhindern möchte, daß die staatl. Gewalt in einzelnen Ländern gegenüber den -» Bürgern stärker gebunden wird, besteht „Übereinstimmung" auch, wenn eine Landesverfassung den grundrechtl. Freiraum weiter zieht als das GG, indem es entweder den Schutzbereich eines Grundrechts weiter oder seine Grenzen enger faßt oder ein Grundrecht gewährleistet, welches das GG nicht enthält. An einer „Übereinstimmung" i.S.v. Art. 142 GG zwischen einem L. und des GG fehlt es dagegen, wenn
Landesgrundrecht dem GG ein entgegenstehender Nonnbefehl zu entnehmen ist, ein von der Landesverfassung geschützter Freiheitsbereich solle nicht grundrechtl. Schutz unterliegen. Beispiel ist das vollständige Aussperrungsverbot in Art. 29 Abs. 5 Verf.Hess., das mit Ait. 9 Abs. 3 GG kollidiert. In diesem Fall bleibt es bei der Kollisionsnonn des Art. 31 GG -> „Bundesrecht bricht Landesrecht". Umstritten ist der (seltene) Fall, daß ein L. hinter dem Grundrechtsschutz des GG zurückbleibt: Nach wohl überwiegender Auffassung tritt auch hier das L. nach Art. 31 GG außer Kraft, weil anders der Sinn von Art. 142 GG, bundesweit einen grundrechtl. Mindeststandard zu sichern, verfehlt würde. Nach anderer Auffassung ist die Landesverfassung auf das Grundrechtsniveau aufzufüllen; eine weitere Ansicht sieht in diesem Fall keine Kollision zwischen Bundes- und Landesgrundrecht, sondern weist darauf hin, es stehe dem betroffenen Bürger frei, sich anstelle des L.s auf das weitergehende Grundrecht des GG zu berufen, an das auch das Land gebunden bleibt. 3. Die Einhaltung der L.e durch die staatl. Organe des Landes unterliegt der Kontrolle durch das jeweilige -> Landesverfassungsgericht. Nach den Verfassungen der Länder BB (Art. 6 Abs. 2), Bay. (Art. 120), Hess. (Art. 131 Abs. 1), Sach. (Art. 81 Abs. 1 Nr. 4), LSA (Art. 75 Nr. 6), MV (Art. Art. 53 Nr. 6) und TH (Art. 80 Abs. 1 Nr. l),Berl. (§ 17 Nr. 6 VerfGHG), Rh.-Pf. (§ 44 Abs. 1 VerfGHG) und Saarl. (§ 7 Nr. 10 VerfGHG) besteht insbes. die Möglichkeit einer —> Verfassungsbeschwerde (in Hess. Grundrechtsklage) für den einzelnen Bürger. Da die Bindung der staatl. Organe der Länder an die Grundrechte des GG durch die L.e unberührt bleibt, kann sich der Bürger wahlweise wegen einer Verletzung seiner L.e an das Landesverfassungsgericht oder - auch nach einer für ihn ungünstigen Entscheidung des Landesverfassungsgerichts wegen einer Verletzung der Grundrechte des GG an das —> Bundesverfassungsge-
Landesgrundrecht richt wenden. Obwohl Bundes- und Landesgrundrechte wegen Art. 142, 31 GG stets übereinstimmen und die Bindungswirkung der Entscheidungen des BVerfG nach § 31 BVerfGG auch für die Landesverfassungsgerichte gilt, ist die Gefahr divergierender Auslegung inhaltlich gleicher Grundrechte nicht auszuschließen. Kontrovers diskutiert wird, ob ein Landesverfassungsgericht die Maßnahme eines Landesorgans auch dann am Maßstab der L.e überprüfen darf, wenn sie auf einer Anwendung von Bundesrecht beruht. Während der HessStGH eine solche Kontrolle ablehnt und der BayVerfGH sie nur bei Verstößen gegen Verfahrensgrundrechte zuläßt, wird sie vom Beri. VerfGH - u.a. im „Honecker-Beschluß" bejaht. Der Vonang des Bundesrechts nach Art. 31 GG steht dem nicht im Wege, weil eine dort vorausgesetzte Kollision von Bundes- und —> Landesrecht nicht vorliegen kann, wenn L.e nach Art. 142 GG mit Grundrechten des GG übereinstimmen. Gegen eine Prüfung der Anwendung von Bundesrecht auf Übereinstimmung mit den jeweiligen L.en richtet sich die Befürchtung, es könne zu einer die Rechtseinheit gefährdenden —> Regionalisierung des Bundesrechts kommen. Allerdings betrifft dies wegen der durch Art. 31, 142 und Art. 100 Abs. 3 GG sowie § 31 BVerfGG getroffenen Absicherungen nur seltene Ausnahmefalle und ist insoweit als bundesstaatl. Konsequenz aus der vom GG akzeptierten Existenz von Grundrechtsräumen der Länder, die über denjenigen des GG hinausreichen können, hinzunehmen. Lit: BerlVerfGH, in: NJW 1993, S. 515ff. („Honecker-Beschluß"); J. Dietlein: Landesgrundrechte im Bundesstaat, in: Jura 1994, S. 57ff; P. Kunig: Die rechtsprechende Gewalt in den Ländern und die Grundrechte des Landesverfassungsrechts, in: NJW 1994, S. 687ff; U. Sacksofsky: Landesverfassungen und GG - am Beispiel der Verfassungen der neuen Bundesländer, in: NVwZ 1993, S.235ÍT. Nicolai
Müller-Bromley
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Landesgruppe
Landesparlament
Landesgruppe -> Bundestag
Rundfunkübertragungstechiiiken DAB, DVB).
Landeshaushaltsordnung -> Haushaltsordnung
Lit.: Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Dtld. v. 31.8.1991, ABl. d. Saarlandes v. 17.12.1991, S. 1290; Dritter Staatsvertrag zur Änderung nindfunkrechtl. Staatsverträge vom 26.8.1996/11.9.1996, Abi. des Saarlandes v. 16.12.1996, S. 1378; U. Bumke: Die öffentl. Aufgabe der Landesmedienanstalten, München 1995; G. Herrmann: Rundfunkrecht, München 1994.
Landeslisten -> Wahlrecht Landesmedienanstalten Für die Zulassung und Kontrolle privater Rundfunkveranstalter haben die Länder die L. als eigene rechtsfähige —> Anstalten des öffentlichen Rechts errichtet. Die Zulassung privater Rundfunkveranstalter und die Aufsicht über diese durch die L. richtet sich nach den §§ 20ff. des Rundfunkstaatsvertrages (RStV) sowie besonderen landesgesetzlichen Bestimmungen. Durch den 3. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wurden dabei die Kompetenzen der originären Organe der jeweiligen L. (Versammlung / Rundfunkkommission / Medienrat / Landesrundfunkausschuß sowie Vorstand / Direktor / Präsident) zugunsten der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) und der Konferenz der Direktoren der L. (KDLM) entscheidend beschränkt. KEK und KDLM wirken jeweils als —» Organ der zuständigen L.; Grund für diese Organisationsreform waren die bisherigen Schwächen im kooperativen —> Föderalismus auf der Ebene der L.; diese Zusammenarbeit erfolgt über die Arbeitsgemeinschaft der L. (ALM) und die Direktorenkonferenz der L. (DLM). Ihre Finanzierung erfolgt im wesentlichen durch ihren 2%-Anteil an der Rundfunkgebühr (§ 40 RStV). Aus dem 2%-Anteil können nach § 40 RStV nicht nur die Zulassungsund Aufsichtsfunktionen, sondern auch die Förderung offener Kanäle finanziert werden. Formen der nichtkommerziellen Veranstaltung von lokalem und regionalem —> Rundfunk können ebenfalls aus dem 2%-Anteil gefördert werden. Gleiches gilt - bis zum 31.12.2000 - für die Förderung von landesrechtl. gebotener techn. Infrastruktur zur terrestrischen Versorgung des gesamten Landes und zur Förderung von Projekten für neuartige
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(z.B.
Jörg Ukrow Landesparlament / -e I. Staatsform Dtld. s ist die eines republikanischen —> Bundesstaates. Das bedeutet, daß die -> Staatsgewalt zwischen dem Bund als Gesamtstaat und den 16 Ländern als Gliedstaaten aufgeteilt ist. Dies gilt für alle 3 Staatsgewalten, also auch für die —> Legislative. Neben dieser Aufteilung der Staatsgewalt zwischen Bund und den Ländern sind in zunehmendem Maße auch die -» Organe der -> Europäischen Union an der Staatsgewalt in Dtld. beteiligt. II.l. Größe der L.e Art. 20 Abs. 2 des -> Grundgesetzes legt die BRD als repräsentative —> Demokratie fest. Der Souverän, das Volk (—> Volkssouveränität) des jeweiligen Landes, wird von seinen von ihm gewählten —» Abgeordneten repräsentiert. Die L.e sind unterschiedlich groß. Ihre Größe orientiert sich im wesentlichen an der Einwohnerzahl. Trotzdem ist das Verhältnis von Abgeordnetenzahl zur Einwohnerzahl sehr unterschiedlich in den einzelnen Ländern. So vertritt z.B. ein Abgeordneter in —» Nordrhein-Westfalen 80.719, in —> Bremen aber nur 6.800 Ew.; hierbei sind -» Überhang- und Ausgleichsmandate noch nicht berücksichtigt. 2. Wahl, Wahlperiode und Selbstauflösung a) In allen Ländern werden die Abgeordneten in freier, gleicher, allgemeiner, geheimer und unmittelbarer —> Wahl gewählt. Die Wahlgrundsätze allerdings differieren. In den meisten Ländern werden die L.e nach den Grundsätzen eines mit der Personenwahl verbundenen
Landesparlament —> Verhältniswahlrechts gewählt. Das bedeutet, daß ein Teil der Abgeordneten in -> Wahlkreisen direkt mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen gewählt wird. Der andere Teil wird über Landeswahlvorschläge, sog. - * Landeslisten, in einem Verhältniswahlverfahren gewählt. Die Frage, welcher Anteil der Abgeordneten direkt und welcher über die Liste gewählt wird, ist von Land zu Land verschieden. In —> Bayern wird der —> Landtag in einem modifizierten Verhältniswahlsystem gewählt, wobei die Regierungsbezirke jeweils einen —> Wahlkreis bilden, in —• Hamburg und Brem, werden die -> Bürgerschaften im reinen Verhältniswahlsystem gewählt. b) Auch die Länge der -> Wahlperioden der L. differieren. Während -> BadenWürttemberg, —> Brandenburg, —> Niedersachsen, NRW, -> Rheinland-Pfalz, —» Saarland, —> Sachsen und Thüringen eine Wahlperiode von 5 Jahren festgelegt haben, beträgt die Wahlperiode in den übrigen Bundesländern 4 Jahre. c) Allen L.en steht das Recht zur vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode durch Selbstauflösung (—• Parlamentsauflösung) zu. Die Modalitäten für diese Selbstauflösung sind unterschiedlich geregelt. Abweichend von den übrigen Parlamentsanträgen bedürfen Anträge auf Auflösung in BW, Hamb, und —> Sachsen-Anhalt der Unterstützung von 1/4 der Abgeordneten, in M-V, in ND und TH sogar die eines Drittels. Der Antrag hat nur dann Erfolg, wenn er eine qualifizierte Mehrheit bekommt. In BW, -> Berlin, BB, Brem., MV, Saarl., Sachs., LSA, -> SchleswigHolstein und TH bedarf es einer Mehrheit von 2/3 der Mitglieder des Parlaments, in ND von 2/3 der abgegebenen Stimmen und in Bay., Hamb., - » Hessen, NRW und Rh.-Pf. der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments. In Brem, kann die Auflösung der Bürgerschaft auch durch -> Volksentscheid geschehen. Eine indirekte Selbstauflösung erfolgt in allen Ländern mit Ausnahme von Beri., Brem, und Sachs., wenn es den L.en nicht gelingt,
Landesparlament eine —> Regierung in das Amt zu bringen, oder wenn nach gescheitertem —> Vertrauensfrage der Regierung eine neue Regierung nicht gewählt wird. In einigen Fällen ist hier die Auflösung des —» Landtages zwingende Rechtsfolge (BW, BB, Brem., Hess., Rh.-Pf., Saarl. und TH). In anderen Fällen bedarf es eines Auflösungsaktes des Landtages (ND) oder seines Präsidenten (Bay., M-V). Auch kann das Auflösungsrecht bei der Regierung bzw. dem —> Ministerpräsidenten liegen (Hamb., LSA, SH). Ein Sonderfall ist in NRW gegeben. Hier steht der —> Landesregierung ein Recht auf Auflösung des Landtages zu, wenn ein von ihr eingebrachtes Gesetz vom Landtag abgelehnt, aber durch Volksentscheid angenommen wird. 3. Kompetenzen Die L.e sind Stätten der polit. -> Willensbildung. Sie wählen den -> Ministerpräsidenten, üben die gesetzgebende Gewalt aus und kontrollieren die Tätigkeiten von Landesregierung und Verwaltung. Hierbei sind die Befugnisse in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausgestaltet. Das gilt v.a. für die Mitwirkung der L.e bei der Kreierung der Landesregierungen als auch bei dem mit dem Kontrollrecht eng verbundenen Informationsrecht a) Entscheidend aber für die Stellung der L.e im Staatsgefüge ist, welche Gesetzgebungskompetenzen ihnen gegeben sind. Bei der Schaffung des Grundgesetzes 1949 lag die Gesetzgebungskompetenz in erster Linie bei den Ländern und nur in den enumerativ aufgezählten Fällen beim Bund (Art. 30, 31, 70 Abs. 1 GG). Seitdem hat sich aber der Schwerpunkt der Gesetzgebungskompetenz v.a. durch GGÄnderungen und durch extensive Auslegung v.a. von sog. Bedürfhisklauseln (Art. 72 GG) zum Bund hin deutlich verschoben. Hieran hat auch die GG-Reform von 1994 nichts Wesentliches geändert. Den L.en sind danach im wesentlichen nur 2 große Gesetzgebungsbereiche geblieben: der Bereich Kultur und der Bereich der —> inneren Sicherheit. Auch im Verhältnis
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Landesparlament zur EU besteht die Schwierigkeit der Abgrenzung der Kompetenzbereiche. Hier besagt der neu gefaßte Art. 3b EGV, daß die Gemeinschaft nur dann nach dem Prinzip der -> Subsidarität tätig werden darf, wenn die regionalen —> Gebietskörperschaften, das sind in Dtld. insbes. die Länder, das mit einer Maßnahme angestrebte Ziel nicht erreichen können. b) Eine wichtige Aufgabe des L.s ist es, für eine handlungsfähige Regierung zu sorgen. In den Ländern BW, Bay., Beri., Brem, und Hamb., ND, Rh.-Pf., Saarl. ist das L. an der Kreierung der gesamten Regierung beteiligt. In Beri, wählt das Abgeordnetenhaus den Regierenden -> Bürgermeister und auf seinen Vorschlag hin die übrigen Regierungsmitglieder (Senatoren). In Brem, wählt die Bürgerschaft zunächst den Präsidenten des Senats, sodann die übrigen Senatoren. In BW, Bay., Hamb., ND, Rh.-Pf. und Saarl. wählt das L. den Regierungschef. Die von ihm bestellten übrigen Regierungsmitglieder bedürfen der Bestätigung des L.s. Folgerichtig können in Beri, und Brem, einzelne Regierungsmitglieder vom Parlament abgewählt werden. In allen übrigen L.en wird nur der Ministerpräsident vom Parlament gewählt und abgewählt. Mit der Erledigung seines -+ Amtes erledigt sich auch das der übrigen Regierungsmitglieder. c) Die Kontrollrechte sind im wesentlichen das -> Zitierrecht von Regierungsmitgliedern in parlament. Gremien, die Möglichkeit, durch kleine und große Anfragen (—> Fragerecht der Abgeordneten) Auskünfte über Regierungsarbeit zu bekommen und das -> Akteneinsichtsrecht der Parlamentarier. Diese Rechte sind unterschiedlich in den Länderverfassungen geregelt, aber überall stellen sie die Grundausstattung des kontrollverpflichteten L.s dar. Zwar gehen alle L.e davon aus, daß die Regierung ihnen gegenüber verpflichtet ist, Akten vorzulegen bzw. Anfragen zu beantworten, diese Rechte sind aber nur in einigen Ländern in der Verf abgesichert. In allen Landta-
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Landesparlament gen können außerdem parlament. Untersuchungsausschüsse eingesetzt werden. Ihre Aufgaben sind dieselben wie die der Untersuchungsausschüsse beim Bundestag 4. Struktur und Arbeitsweise a) Die Abgeordneten aller Länder nehmen ihr Mandat so wahr, daß sie dafür steuerpflichtig alimentiert werden müssen. Die Entscheidung, ob sie ein Vollzeitmandat inne haben, so daß sie von der Alimentation leben müssen, oder nur ein Teilzeitmandat, das ihnen die Möglichkeit gibt bzw. sie vor die Notwendigkeit stellt, ihren Lebensunterhalt auch noch auf eine andere Weise zu verdienen, wird faktisch den Abgeordneten selbst überlassen. Daneben steht den Abgeordneten nach einer längeren Parlamentszugehörigkeit und von einem bestimmten Lebensalter an eine Altersversorgung zu. Schließlich werden ihnen die mandatsbedingten Mehrkosten (Reisespesen, Kosten eines Abgeordnetenbüros, Beschäftigung einer Hilfskraft usw.) erstattet. Die Regelungen der einzelnen L.en unterscheiden sich sehr voneinander. Ein Grund dafür ist, ob in dem einzelnen L. davon ausgegangen wird, daß der Abgeordnete seine ganze Arbeitskraft der Parlamentsarbeit widmen muß und deshalb voll zu alimentieren ist, oder ob er das nicht muß und deshalb nur teilw. alimentiert zu werden braucht. b) Nur in Brem, und Hamb, besteht eine -> Inkompatibilität zwischen Abgeordnetenmandat und Regierungsamt; werden Abgeordnete in die Regierung berufen, so ruht ihr Parlamentsmandat während ihrer Regierungsmitgliedschaft. Für die Angehörigen des - » öffentlichen Dienstes von mittelbaren oder unmittelbaren Bundeseinrichtungen liegt die Regelungsbefugnis der Inkompatibilität auch hinsichtlich eines Mandats in einem L. beim Bund. Auf der Grundlage des Art. 137 Abs. 1 GG regelt die Unvereinbarkeit zwischen Amt und Mandat im jeweiligen L. für die Angehörigen des öffentl. Dienstes der Länder und der —* Kommunen der Landesgesetzgeber. Für alle Abgeordnete der L.e ist in Spezialnormen geregelt, daß bei
Landesparlament Mitarbeitern in leitenden Funktionen des öffentl. Dienstes ihr Amt während der Innehabung eines L.smandates ruht. Die Einzelheiten dieser Regelung sind in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. c) Für Abgeordnete der Länder ist die —> Immunität und die —> Indemnität in den Landesverfassungen abgesichert. Die Regelungen des § 36 StGB und des § 152 a StPO gelten auch für sie. d) Jedes L. wählt zur Leitung seiner —> Sitzungen und als seinen Repräsentanten einen Parlamentspräsidenten, der z.Z. außer Brem, immer von der stärksten —» Fraktion gestellt wird. Seine Stellung ist vergleichbar mit dem des —> Bundestagspräsidenten. Er wird vertreten von Vizepräsidenten. —> Schriftführer unterstützen ihn bei der Sitzungsleitung. Der —> Ältestenrat oder das —> Präsidium, in dem alle 3 Fraktionen vertreten sind, beratten ihn und besprechen die - » Tagesordnungen der Plenarsitzungen. e) In allen L.en sind zur Vorbereitung der Plenarberatungen —> Ausschüsse bestellt. Aufgaben und Arbeitsweisen dieser Gremien entsprechen im wesentlichen denen des Bundestages. In Brem, gibt es neben den Ausschüssen noch sog. Deputationen. Sie werden von der Bürgerschaft eingesetzt, haben aber exekutive Funktionen. Die Ausschüsse können vom Landtag aufgelöst werden und ebenso weitere, z.B. Sonderausschüsse, gebildet werden. Zur Bearbeitung der an sie gerichteten Eingaben haben die meisten Länder -> Petitionsausschüsse eingerichtet. In ND allerdings werden die —> Petitionen von dem jeweils für die angesprochene Materie zuständigen Fachausschuß bearbeitet. f ) Alle L.e haben die Möglichkeit geschaffen, zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche oder bedeutsame Sachkomplexe besondere Kommissionen einzusetzen, sog. -> Enquetekommissionen. Ihnen gehören i.d.R. neben den Abgeordneten als Sachverständige auch Personen an, die nicht Mitglieder des L.s sind. In BB, Hamb., LSA und TH sind die En-
Landesrechnungshof quetekommissionen in der Verfassungen verankert. Die übrigen L.e regeln sie in ihrer Geschäftsordnung. g) Ebenso wie im Bundestag bilden sich in den L.en Fraktionen, h) Fraktionen und die Mitglieder des Landtages, welche die Regierung nicht stützen, bilden die Parlament. - » Opposition. Es ist versucht worden, die Rechte der Opposition in der Verfassung abzusichern. Ohne daß dies in Gesetzen seinen Niederschlag gefunden hat, ist festzustellen, daß heute das Kontrollrecht des L.s im wesentlichen von der Opposition wahrgenommen wird. Um ihr diese Möglichkeit zu gewährleisten, bekommt sie in allen L.en einen erhöhten Fraktionskostenzuschuß. Lit.: Ν. Achterberg: Parlamentsrecht, Tübingen 1984; HdbVerfR; Schneider / Zeh, S. 1719ff. und S. 1743if.; R. Graf v. Westphalen (Hg,): Parlamentslehre, München 2 1996, S. 489ff.
Uwe Bernzen Landesrechnungshof /-höfe LRHe sind im Verhältnis zueinander und zum -> Bundesrechnungshof selbständig und unabhängig. Das ergibt sich aus Art. 109 GG, der dies für die Haushaltswirtschaft des —> Bundes und der - » Länder ausdrücklich feststellt. Jeder LRH ist für sein Land eine oberste Landesbehörde sowie Organ der - » Finanzkontrolle, dessen Mitglieder unabhängig wie —> Richter sind. Die Regeln der Haushaltswirtschaft sind innerhalb des Bundesgebietes im wesentlichen einheitlich. Dies ergibt sich aus dem 1969 beschlossenen Haushaltsgrundsätzegesetz. Es enthält Regelungen für die -> Rechnungsprüfung und für die Entlastung der Regierung. Soweit sie nicht unmittelbar gelten, haben Landeshaushaltsordnungen sie in Landesrecht umgesetzt. Da alle LRHe die gleichen Aufgaben haben, nämlich in erster Linie den zuständigen parlament. Gremien die für die Beurteilung der Haushalts- und Wirtschaftsführung der —> Regierung wesentlichen Informationen zu liefern, gleichzeitig aber auch beratend zu wirken, hat der
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Landeszentralen für politische Bildung Erfahrungsaustausch für die LRHe hohe Bedeutung. Regelmäßig stattfindende Konferenzen der Präsidenten aller LRHe haben Arbeitskreise und Arbeitsgruppen für bestimmte Fachbereiche gebildet. Sie vertiefen den Erfahrungsaustausch. Ergebnis können Richtlinien oder Leitsätze als Arbeitshilfen für die konkrete Prüfungstätigkeit sein. Das kann bei Zuständigkeit mehrerer Rechnungshöfe (z.B. bei Steuern BRH und LRH) die Zusammenarbeit erleichtem oder bei gleichartiger, aber regional getrennter Zuständigkeit Unterschiede bei der Beurteilung von Prüfungsergebnissen vermeiden (z.B. bei -> Rundfunkanstalten). Eine wesentliche Aufgabe dieser Zusammenarbeit ist die Wahrung der Rechtseinheit durch einheitliche Rechtsanwendung. Im Jahr 1947 akzeptierten im praktisch rechtsfreien Raum die Präsidenten der neu gebildeten LRHe einmütig die 1922 geschaffene Reichshaushaltsordnung als gesetzliche Arbeitsbasis. Das gab den Anstoß für eine im ganzen einheitliche Rechtsentwicklung. Lit.: Κ. ¡Vittrock: Die Zusammenarbeit der Rechnungshöfe in der BRD, in: Die Verwaltung 1986, S. 363ÍT. Karl Wittrock
Landeszentralen für politische Bildung —> Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung Landesrecht ist die Gesamtheit der von den -> Ländern ausgehenden Rechtsätze (insbes. Landesverfassungs-, -gesetzesund -verordnungsrecht, auch Staatsverträge und Verwaltungsabkommen der Länder) sowie das als L. fortgeltende ehemalige Reichsrecht (vgl. Art. 123 Abs. 1 GG) bzw. Recht der DDR (vgl. Art. 9 und Anlage Π —> Einigungsvertrag). L. i.S. des Art. 31 GG ist auch das von juristischen Personen des Landes gesetzte Recht, wie z.B. - » Satzungen von -» Gemeinden oder sonstigen -> Körperschaften des öffentl. Rechts oder —> Anstalten des Landes (z.B. Satzungen der
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Landesregierung ARD-Landesrundfunkanstalten, des ZDF oder des Deutschlandradio), sowie Gewohnheitsrecht, das regional begrenzte Geltung hat. Nach der Rückholbefugnis des Art. 72 Abs. 3 GG kann durch Bundesgesetz bestimmt werden, daß eine bundesgesetzliche Regelung, die auf die -> konkurrierende Gesetzgebung des Bundes gestützt ist und für die eine Erforderlichkeit i.S. des Art. 72 Abs. 2 GG nicht mehr besteht, durch L. ersetzt werden kann. Insoweit ist auch die Fortgeltungsklausel des Art. 125a GG zu beachten. Lit. : AK-GG-Bothe, Ait. 31.
J. U.
Landesregierung / -en Die Regierungen der Gliedstaaten (-» Bundesländer) in einen —> Bundesstaat. In den 16 Ländern der —> Bundesrepublik Deutschland sind die Bezeichnungen für die L. unterschiedlich: Staatsregierung in den -> Freistaaten —• Bayern und -> Sachsen, —> Senat in den —> Stadtstaaten —> Berlin, —> Bremen und —> Hamburg. In —> Baden-Wtlrttemberg, -> Brandenburg, im -> Saarland und in —> Sachsen-Anhalt lautet die Amtsbezeichnung Regierung. Zur L. gehören der -» Ministerpräsident oder die Ministerpräsidentin und die -> Minister. In der bay. Staatsregierung besitzen gem. Art. 50 Π der Bay. Verfassung auch die -> Staatssekretäre Sitz und Stimme. In den Stadtstaaten heißen die Regierungschefs nicht Ministerpräsident, sondern Regierender —> Bürgermeister (Beri.), Bürgermeister (Brem.) und Präsident des Senats und Erster Bürgermeister (Hamb.). I.d.R. wird nur der Regierungschef vom —» Landesparlament gewählt. Während er in den alten Bundesländern - mit Ausnahme von -> Nordrhein-Westfalen und —> Schleswig-Holstein - zur -> Ernennung seiner Minister die Zustimmung des —> Landtages benötigt, gilt dies in den neuen Ländern nicht: Hier obliegen Ernennung und Entlassung der Minister - wie im Bund - allein dem Regierungschef. In den Stadtstaaten hingegen wird jedes einzelne
Landesregierung Mitglied der Regierung vom Abgeordnetenhaus bzw. der Bürgerschaft gewählt. Die Amtszeit der L. endet üblicherweise mit der —> Legislaturperiode des Landesparlaments, die in den dt. Ländern regulär entweder auf 4 oder auf 5 Jahre eingelegt ist, bzw. mit dem Zusammentritt des neugewählten Landtages. Dort, wo die Mitglieder der Regierung einzeln vom Parlament gewählt werden, kann dieses den Ministem auch individuell das -> Vertrauen wieder entziehen. Ansonsten stehen und fallen sie - außer bei Tod oder freiwilligem Rücktritt - mit dem Regierungschef bzw. dessen Vertrauen: Sein Rücktritt hat den Rücktritt des gesamten -> Kabinetts zur Folge. Dem Regierungschef kann das Parlament zumeist nur dadurch das Mißtrauen aussprechen, daß es mit Mehrheit einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin wählt (konstruktives —• Mißtrauensvotum). In Hamb, führt die Regierung die Geschäfte bis zur Wahl eines neuen -> Senats auch dann weiter, wenn sie selbst geschlossen zurückgetreten ist („ewiger Senat" Art. 37 Abs. 1 Hamb. Verfassung). Die Zusammenarbeit der Regierungsmitglieder findert im Spannungsfeld zwischen -> Richtlinienkompetenz des Regierungschefs, —> Kabinettprinzip und —» Ressortprinzip statt. Üblicherweise bestimmt der Regierungschef die —> Richtlinien der Politik der Landesregierung und trägt dafür die Gesamtverantwortung. In Hamb, hingegen wählte bis zur —> Parlamentsreform von 1996 der Senat aus seiner Mitte in geheimer Abstimmung seinen Präsidenten und dessen Stellvertreter jweils für die Dauer eines Jahres, d.h. der Regierungschef war dort nur „primus inter pares". Innerhalb der Richtlinien der Regierungspolitik leiten und verantworten die Landesminister ihren Geschäftsbereich allenthalben selbständig. Dieses Ressortprinzip kommt um so stärker zum Tragen, wenn Minister bzw. Senatoren selbst vom Parlament gewählt worden sind und vom Regierungschef allein nicht entlassen werden können,
Landesregierung wenn sie einen starken Rückhalt in der Landespartei haben und wenn der Regierungschef relativ schwach ist. Mehrheitsbeschlüsse sind in L.en selten. I.d.R. werden Kabinettsvorlagen zwischen den Fachressorts und der —• Staatskanzlei so lange abgestimmt, bis ein für alle Beteiligten tragbarer Kompromiß gefunden ist. Gelingt das nicht, entscheidet das Kabinett als Kollegialorgan über die zwischen Ressorts strittigen Fragen. Dieses Kabinettprinzip soll dazu beitragen, daß die L.en nach außen möglichst immer mit einer Stimme spricht - auch und gerade bei Koalitionen. In Hamb, faßt der Senat seine Beschlüsse jedoch mit Mehrheit; jedem Mitglied steht es frei, seine abweichende Auffassung zu Protokoll zu geben (Art. 42 Abs. Hamb. Verfassung). Dort kann also sogar der Regierungschef überstimmt werden. Die ohnehin geringen originären Kompetenzen der Länder sind durch die extensive Ausschöpfung der —> konkurrierenden Gesetzgebung durch den —> Bund (Art. 72 GG), die dem dt. —> Föderalismus eigentümliche -> Politikverflechtung und die Selbstkoordination der Länder untereinander auf der „dritten Ebene" (durch -» Ministerpräsidentenkonferenz, -> Kultusministerkonferenz usw.) sowie die europ. Integration ständig weiter beschnitten worden. Über den -> Bundesrat haben die L.en dafür vermehrte Zustimmungsrechte in der Bundes- und -> Europapolitik eingetauscht (Beteiligungsföderalismus). Den Landesparlamenten sind im wesentlichen noch die Bildungs- und —> Kulturpolitik sowie die —> Innere Sicherheit (Landespolizeien) zur Mitgestaltung und polit. Profilierung geblieben. Nach der —> Deutschen Einheit sind wieder Stimmen für einen Neuzuschnitt der Länder und damit auch für eine Reduzierung der Anzahl der L.en laut geworden. Was sich dadurch einsparen ließe, dürfte dann aber weitgehend für staatl. Mittelinstanzen wieder aufgewendet werden müssen (während es etwa in SH und ΤΉ keine Bezirksregierungen gibt). Die an den
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Landesrichter gibt). Die an den Bürgern gescheiterte Fusion der Länder Beri, und BBspricht dafür, daß die 16 L.en noch länger erhalten bleiben. Sie sind allerdings in den letzten Jahren fast überall verkleinert worden und umfassen gegenwärtig im Durchschnitt 8 Mitglieder. I.it.: J. Hartmann (Hg.): Handbuch der dt. Bundesländer, Frankfurt/M. 7 1997; K. König: Staatskanzleien, Opladen 1993; M. Ohlhauser: Regierung und Ministerialverwaltung in den dt. Ländern, Speyer 1992; Chr. Pestalozza ßearb.): Verfassungen der dt. Bundesländer, München '1995. Göttrik Wewer
Landesrichter —> Richter Landessteuern —> Steuer Landesverfassung / -srecht Das -> Grundgesetz geht von einem zweistufigen Gesamtstaatsaufbau aus, in dem die Staatsgewalt auf -» Bund und —> Länder aufgeteilt ist (duplex regimen). Die Bundesländer sind Staaten mit eigener gegenständlich beschränkter, nicht vom Bund abgeleiteter, sondern von ihm anerkannter staatl. Hoheitsmacht. Aus der Staatlichkeit der Länder resultiert das Recht zur u.a. Gestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung im Lande; dies erfolgt durch die jeweilige L. als rechtl. Grundordnung. Als Inbegriff von Rechtsnormen „bildet die Verfassung nicht die soziale Wirklichkeit ab, sondern richtet Erwartungen an sie, deren Erfüllung nicht selbstverständlich ist und deswegen rechtl. Stützung bedarf (Grimm). —> Verfassungsrecht und -Wirklichkeit können deshalb auseinanderfallen. Von anderen Landesrechtsnormen unterscheidet sich L.srecht durch seinen höheren Rang und durch den Gegenstand insoweit, als es sich konstituierend und normierend auf die oberste Landesgewalt bezieht. Eine L. kann nur fragmentarischer Natur sein; als Rahmenordnung des polit. Prozesses ist sie idealiter lückenhaft, auf polit. Ausfüllung angewiesen. Der Wunsch, durch die L. polit. Prozesse
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Landesverfassung weitgehend und lückenlos zu verrechtlichen, verkennt die daraus resultierende Abträglichkeit für die normative Kraft der L.; ob es eine verfassungsgebende Gewalt in den Ländern gibt und diese dem —> Pouvoir Constituant Sieyes' gleichzusetzen ist oder aus einer originären Verfassungsautonomie der Länder erwächst, ist im einzelnen umstritten. Die jeweilige L. wird in ihren Rechtswirkungen und ihrer Rechtsgestaltung durch die bundesstaatl. Verfassungshomogenität begrenzt (Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG). Konflikte entstehen insoweit weder im Bereich des Landesorganisationsrechts noch für die Fälle der Übereinstimmung zwischen GG und L.; entsprechendes gilt für landesverfassungsrechtl. Regelungen, die gleichlautend sind bzw. mehr an Rechten einräumen. Während letztere bestehen bleiben, werden Regelungen, die ein weniger an Rechten als die Bundesgrundrechte gewähren, demgegenüber gebrochen. Die in der BRD geltenden L.en lassen sich nach ihrem Entstehungszeitpunkt klassifizieren in solche, die vor dem GG (-> Hamburg, —> Hessen, —> Bayern, -> Rheinland-Pfalz, —> Bremen, -> Saarland) bzw. danach in Kraft traten (-> Schleswig-Holstein, —> Nordrhein-Westfalen, —> Niedersachsen, —> Baden-Württemberg), und in die in den Jahren 1991 - 1993 entstandenen Verfassungen der neuen Bundesländer. —> Berlin hat seine vorläufige Verfassung (1946) im Jahre 1950 und Ende 1995 durch eine überarbeitete Fassung ersetzt. In den L.en der Bundesländer spiegelt sich der Wille zur eigenständigen Ausgestaltung der Gemeinschaftsordnung unterschiedlich wider. Während die „vorgrundgesetzlichen" L.en in der Ausformung der Freiheitsrechte und Erziehungsziele noch ein bestimmtes (eigenes) Menschenbild erkennen lassen, orientieren sich die späteren L.en bereits an den Vorgaben des GG. Bis auf Hamb, haben auch die Länder, die vormals nur ein Organisationsstatut geschaffen hatten, ihre L.en mittlerweile reformiert (SH, 1990; ND, 1994). Neben dem Bekenntnis
Landesverfassung zur —• Volkssouveränität, zu Demokratie und —> parlamentarischem Regierungssystem ist die - » Gewaltenteilung das tragende Strukturprinzip aller Verfassungen. Regelungen zur Volksvertretung entsprechen Normierungen zur Wahl / Abwahl der -» Regierung, zur Regierungskohtrolle und zur Gesetzgebungskompetenz. Sie liegt beim —> Parlament, vielfach aber auch beim Volk (-> Volksentscheid). Die vollziehende Gewalt ihrerseits ressortiert in der Hand der Regierung, mit einem -> Ministerpräsidenten bzw. -> Bürgermeister als Spitze der —> Exekutive. Organisation und Zuständigkeit der rechtsprechenden Gewalt sind - bis auf die —> Landesverfassungsgerichtsbarkeit - „überwiegend" bundesrechtl. geregelt. Ihren originären Gestaltungsspielraum genutzt haben die Länder durch - im Vergleich zum GG - weitergehende Gewährleistungen im Bereich der —> Staatsaufgaben und von Formen der Volksgesetzgebung. Die durch den Umbruch 1989 sich ergebende histor. Aufgabe eines erneuerten GG wurde demgegenüber nur begrenzt erfüllt. Der große Gestaltungsspielraum der L.en im Hinblick auf die Regelung der Beziehungen zwischen —• Gesellschaft und —> Staat wird bei der Normierung von Grundrechten und -> Staatszielen unterschiedlich ausgefüllt. Eine gewisse Sonderrolle kommt in diesem Zusammenhang allerdings den jungen Verfassungen der neuen Länder zu (—> Sachsen 1992, -> Brandenburg 1992, —• Sachsen-Anhalt 1992, —> Mecklenburg-Vorpommern 1993, —> Thüringen 1993). Verfassungsgebung dort war auch ein Stück neuer Selbstfindung vor dem Hintergrund zuvor zerschlagener Landesexistenz und jahrzehntelanger verfassungsstaatl. ,Abstinenz". Die L.en der neuen Länder demonstrieren ihre verfassungsrechtl. Eigenständigkeit u.a. durch umfassende Grundrechtskataloge. Erkennbar wird das Bestreben, auf der Suche nach eigenem landesstaatl. Profil den grundgesetzlichen Gestaltungsspielraum auszunutzen. Ins-
Landesverfassungsgericht bes. diese Verfassungen stechen - neben der Stärkung der plebiszitären Komponente - hervor durch den Willen zu sozialer Selbstgestaltung (Recht auf Arbeit und auf Wohnung) und zur Betonung der Landesspezifika (z.B. kulturstaatl. Erbe in TH). Die „neueren" Verfassungen sind in ihrer Originalität besonders dazu befähigt, die Identifikation der Bürger mit „ihrer" Verfassung zu fördern und so die Modernisierung des verfassungsstaatl. Verfassungsrechts allgemein zu beflügeln. Führten die L.en in der Vergangenheit eher ein Schattendasein, werden sie -wie die Länder auch - ihren Einfluß beibehalten und behaupten können, wenn es ihnen gelingt, neue Akzente zu setzen und die Auslegung des GG zu beeinflussen Lit: HdbStR IV, S. 457ff.; M Niedobitek: Neuere Entwicklungen im Verfassungsrecht der dt. Länder, Speyer 1994; C. Pestalozza: Verfassungen der dt. Bundesländer - Textausgabe, München 51995; SIL I, S. 993ff.
Ulrich Rommelfanger
Landesverfassungsgericht / -sbarkeit Die Ausprägung einer eigenen L.sbarkeit garantiert die Beachtung der Höchstrangigkeit des eigenen —»• Landesverfassungsrechts im Wege justizförmiger Kontrolle. Als Komplement der Verfassungsstaätlichkeit eines —• Landes unterstreicht sie daneben dessen Eigenstaatlichkeit. Alle -> Bundesländer (bis auf —> Schleswig-Holstein) haben eigene L.e / Staatsund Verfassungsgerichtshöfe eingerichtet. Dies gilt auch für —» Berlin, das aufgrund seiner besonderen Rechtslage erst nach der Wiederherstellung der - » Deutschen Einheit eine eigene L.sgerichtsbarkeit ausbilden konnte. Der Prüfungs- und Entscheidungsmaßstab wird durch die jeweilige Landesverfassung sowohl begründet als auch begrenzt. Die Zuständigkeiten der L.e sind im einzelnen unterschiedlich ausgestaltet. Am stärksten vereinheitlicht ist die —> konkrete Normenkontrolle, die - da ein Gericht das bei ihm anhängige Verfahren bis zur Entscheidung des L.s aussetzt - auch „Rich-
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Landesverrat
Landesvertretung
tervorlage" genannt wird. Alle Bundesländer kennen im übrigen die -> abstrakte Normenkontrolle, bei der das L. eine Norm, losgelöst von einem konkreten Streit der Beteiligten, „abstrakt" am Maßstab der jeweiligen Landesverfassung überprüft. Bei der -> Organstreitigkeit, deren Ausgestaltung variiert, wird eine Streitigkeit zwischen Verfassungsorganen des Landes über verfassungsrechtl. Kompetenzen entschieden. Eine besondere Bedeutung, da sie zur Rüge von Grundrechtsverletzungen erhoben werden kann, kommt der -» Verfassungsbeschwerde zu (für —> Gemeinden und —> Kommunal verbände bei Verletzung des —> Selbstverwaltungsrechts - Kommunalverfassungsbeschwerde). Sie kann in —> Brandenburg, -> Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, —> Sachsen-Anhalt und —> Thüringen, in -> Hessen, Bay. und im —> Saarland von jedermann erhoben werden (in Bay. gegen Normen als —> Popularklage). Dieses Verfahren macht den Hauptteil der Tätigkeit der L.e aus. Lit.: C. Pestalozza: Verfassungsprozeßrecht, München 51991; Chr. Starck /K. Stern (Hg.): Landesverfassungsgerichtsbarkeit, 3 Bde., BadenBaden 1983. Ulrich
Rommelfanger
Landesverrat sind im Unterschied zum Hochverrat diejenigen Staatsschutzdelikte, welche die äußere Machtstellung der —> Bundesrepublik Deutschland im Verhältnis zu anderen -» Staaten konkret gefährden. Die Strafvorschriften der §§ 93-100 StGB erfassen aufgrund des 4. Strafrechtsänderungsgesetzes Taten, die sich gegen nichtdt. Vertragsstaaten der —> NATO und ihre in Dtld. stationierten Truppen richten. Ähnliche Vorschriften enthalten die StGB der Schweiz und von Öst. L. begeht, wer ein Staatsgeheimnis einer fremden Macht mitteilt oder sonst an einen Unbefugten gelangen läßt in der Absicht, die BRD zu benachteiligen oder eine fremde Macht zu begünstigen, und dadurch die Gefahr eines schweren 526
Nachteils für die äußere Sicherheit herbeiführt (§ 94 StGB). Fehlt die Schädigungsabsicht und wird ein amtlich geheimgehaltenes Staatsgeheimnis bekannt gemacht, so liegt ein Offenbaren von Staatsgeheimnissen vor (§ 95 StGB). Wer sich ein Staatsgeheimnis verschafft, um es zu offenbaren, wird wegen Auskundschaftung von Staatsgeheimnissen nach § 96 StGB (Spionage) bestraft. Lit.: Α. Schröder: Der Schutz von Staat und Verfassung, Berlin 1970. K.H.
Landesvertretung Die Vertretungen der 16 -> Länder beim —» Bund in Bonn (nach dem Umzug von —> Parlament und Regierung in Beri.) bilden einen wichtigen Bestandteil des föderalen Systems der BRD (-> Föderalismus). Die L.en nehmen mit Bezug auf Art. 50 und 53 GG die Interessen des jeweiligen Landes gegenüber dem Bund (-» Bundestag und -> Bundesrat; —> Bundesregierung: —> Ministerien, —> Behörden usw.) sowie ausländischen Missionen wahr. Der Aufgabenkreis der L.en wird durch —> Geschäftsordnungen oder Beschlüsse der —> Landesregierungen (LReg.en), Organisationserlasse oder sonstiger Vorschriften rechtl. festgelegt. Darüber hinaus kommt den L.en eine Informationsfunktion gegenüber zentralen -> Institutionen in der Bundeshauptstadt zu (z.B. den —> Massenmedien, —> Parteien, —> Verbänden). Hinzu kommen repräsentative Aufgaben (L.en als „Schaufenster" des jeweiligen Landes). Für die LReg.en erfüllen die L.en eine wichtige Kommunikationsfunktion (z.B. durch Berichterstattung über Vorhaben der BReg. oder anderer polit. Akteure). Organisatorisch sind die L.en entweder Teil eines besonderen Ministeriums für Bundesangelegenheiten, oder sie sind dem -> Ministerpräsidenten und seiner —> Staatskanzlei / Staatsministerium direkt zugeordnet. An der Spitze der L.en steht ein Bevollmächtigter des Landes beim Bund, i.d.R. ist dieser zugleich Mitglied der LReg. (des -> Senats), häu-
Landesverwaltung fig gleichzeitig mit der Zuständigkeit für ein weiteres —» Ressort betraut) oder ein —> Staatssekretär mit Kabinettsrang. Die L.en besitzen keinen diplomatischen Status mehr wie noch im monarchischen Föderalismus des Dt. Reiches von 1871. Lit.: H. Laufer / U. Münch: Das föderative System der BRD, München 71997, S. 203ff.; K. Reuter: Föderalismus, Grundlagen und Wirkungen in der BRD, Heidelberg31990. Hartmut Klatt Landesverwaltung Es handelt sich um die organisierte exekutive -> Staatsgewalt, die auf Grund der föderativen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland und der damit verbundenen verfassungsrechtl. Kompetenzregelungen in erster und wichtigster Linie von den ->• Verwaltungen der Länder ausgeübt wird. Nach Art. 30 GG ist die Wahrnehmung der Verwaltungsaufgaben eine schwerpunktmäßige Sache der —> Länder. Im wesentlichen obliegen den Ländern Kompetenzen in den Bereichen des Kommunalrechts, des Kultur-, Schul- und Hochschulwesens, des Rundfunkrechts, des Polizei- und Ordnungsrechts. Darüber hinaus führen sie die -> Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit das GG keine andere Regelung vorsieht. Auch in diesem Bereich regeln die Länder grds. die Einrichtung der —> Behörden und das —> Verwaltungsverfahren (Art. 84 GG). Ferner vollziehen sie als —> Bundesauftragsverwaltung (Art. 85 GG) - z.B. Verwaltung der Bundesautobahnen und Bundesfernstraßen nach Art. 90 Abs. 2 GG die Gesetze im Auftrage des Bundes. Die Aufgaben der L. können durch eigene Behörden (unmittelbare Staatsverwaltung) erfüllt werden. Sie können aber auch -> juristischen Personen des öffentlichen Rechts unter der Aufsicht des Staates zugewiesen werden (mittelbare Staatsverwaltung). Lit: H. Hill (Hg.): Reform der Landesverwaltung, Stuttgart 1995; K. König / M. Miller: Materialien zur Organisation und Refoim von Landesverwaltungen, Speyer 1995.
Landgericht H. W. Landeszentralen für politische Bildung -> Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung Landgericht ist das -> Gericht der —> ordentlichen Gerichtsbarkeit, das im Gerichtsaufbau zwischen dem Amtsgericht und dem Oberlandesgericht steht. Die L.e sind mit einem Präsidenten sowie mit Vorsitzenden —• Richtern auf Lebenszeit und weiteren Richtern (Richter auf Lebenszeit, auf Probe oder kraft Auftrags) besetzt. Beim L. sind Kammern als Spruchkörper gebildet; das sind in erster Linie Zivilkammern, Kammern für Handelssachen und Strafkammern (§§ 60, 94 GVG). Weitere Kammern werden nach besonderen Gesetzen bestimmt, z.B. Entschädigungskammern (§ 208 I BEG) und Kammern für Baulandsachen (§ 220 BauGB). Die einzelnen Kammern entscheiden grds. mit 3 Berufsrichtern. Ausnahmen hiervon bilden die Übertragung auf den Einzelrichter gem. § 348 —> Zivilprozeßordnung, die Kammer für Handelssachen (Vorsitzender als Berufsrichter und 2 Handelsrichter gem. §§ 105ff. GVG) sowie die Strafkammer (große Strafkammer: 3 Richter einschließl. dem Vorsitzenden Richter und 2 —> Schöffen; kleine Strafkammer: Vorsitzender Richter und 2 Schöffen). Entscheidungen des L.s können im Rahmen ihrer Zuständigkeit auch Urkundsbeamte und - » Rechtspfleger treffen. In Zivilsachen erstreckt sich die Zuständigkeit auf alle Streitigkeiten, die nicht den Amtsgerichten zugewiesen sind (§ 71 I GVG), insbes. bei einem Streitwert von über DM 10.000 sowie auf Ansprüche aus -> Staatshaftung (unabhängig vom Streitwert). Darüber hinaus entscheidet das L. über Berufungen und Beschwerden gegen Entscheidungen des ihm nachgeordneten Amtsgerichts (Ausnahme: Familien- und Kindschaftssachen, die zum OLG gehen; §§ 72, 119 Nr. 1 , 2 GVG. In Strafsachen ist das L. erstinstanzlich
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Land rat
Landkreis zuständig für alle Verbrechen (als Schwurgericht) und Vergehen, die nicht zur Zuständigkeit des Amtsgerichts oder OLG gehören (§ 74 GVG); es richtet die große Strafkammer. Das L. entscheidet femer über Berufungen und Beschwerden gegen Urteile und Beschlüsse der Amtsgerichte (§§ 73ff. GVG). Die kleine Strafkammer entscheidet insoweit in zweiter Instanz über Berufungen gegen Urteile des Strafrichters, die große Strafkammer überprüft Urteile des Schöffengerichts. Im Jugendgerichtsverfahren ist die Jugendkammer zuständig. Für Staatsschutz- und Wirtschaftsstraftaten gibt es gesonderte Kammern (Staatsschutzkammer § 74a GVG; Wirtschaftsstrafkammer § 74c GVG); diese können an einzelnen L.en konzentriert werden. In Ost. entspricht dem L. der Gerichtshof 1. Instanz; in der Schweiz das Kantonsgericht. Lit.: E. Kern: Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, o.O. 1954; O.R. Kissel: Gerichtsverfassung, München 2 1994.
Claudia Tiller Landkreis Die L.e bilden neben den kreisfreien —> Gemeinden (->· Städte), den Landratsämtern als untere staatl. Verwaltungsbehörde und den kreisangehörigen Gemeinden (—> Kreis) die Unterstufe der allgemeinen Staatsverwaltung. Rechtsgrundlage bilden die L.ordnungen der jeweiligen —> Bundesländer. Die L.e sind —> Kommunalverbände mit dem Recht zur Selbstverwaltung aus Art. 28 Abs. 2 GG. Organe der Kreisverwaltung sind Kreistag, Kreisausschuß und Landrat bzw. teilw. noch Oberkreisdirektor. Der Bezirk der unteren staatl. Verwaltungsbehörde wird durch das Gebiet des L.es definiert. Für die —* Behörden des L.es ist eine Doppelfunktion kennzeichnend. Einerseits erfüllen sie die Ihnen durch Gesetz übertragenen staatl. Verwaltungsaufgaben (Auftragsangelegenheiten), auf der anderen Seite die eigenen kommunalen Aufgaben, die zwar überörtlich, jedoch auf das Kreisgebiet beschränkt sind,
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weil diese über das finanzielle und verwaltungstechn. Leistungsvermögen der Einzelgemeinden hinausgehen (Selbstverwaltungsangelegenheiten). Daneben erfüllen die L.e durch den Landrat bzw. den Oberkreisdirektor in rechtl. Selbständigkeit vom L. die rein staatl. Aufgaben als untere staatl. Verwaltungsbehörde. Dementsprechend ist auch die staatl. Aufsicht, der sie unterliegen, verschieden. Der eigene Wirkungskreis wird durch die —> Kommunalaufsicht kontrolliert, die als —> Rechtsaufsicht nur die Rechtmäßigkeit des kommunalen Handelns zu überprüfen befugt ist. Im übertragenen, weisungsgebundenen Wirkungskreis dagegen unterliegen die L.e einer —> Fachaufsicht, die außer der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandels auch prüft, ob weisungsgemäß und zweckmäßig gehandelt wurde. Lit: R. Seidel: Die verfassungsrechtl. Aufgabenteilung zwischen Gemeinden und Landkreisen, Frankfurt/M. 1993.
K.H. S. Landschaftsverband —> Kommunalverbände Landstände -> Stände Landständische Verfassung -> Konstitutionalismus Landrat Rechtsstellung und Aufgabenbereich des L.s sind in den einzelnen Bundesländern aufgrund verschiedener Regelungen in den Landkreisordnungen unterschiedlich ausgestaltet. In den meisten Bundesländern ist der L. hauptamtlicher Kreis- oder Landesbeamter. Der L. als Hauptverwaltungsbeamter des —> Kreises ist zugleich Behördenleiter der Kreisverwaltungsbehörde und Vorsitzender des -> Kreistages oder auch des Kreisausschusses. In -> Niedersachsen und -> Nordrhein-Westfalen ist der L. ehrenamtlicher Vorsitzender des Kreistages und des Kreisausschusses. Hauptverwaltungsbeamter und Leiter der Kreisverwaltung ist hier der —• Oberkreisdirektor. L.e gibt es
Landtag
Landtag in allen Flächenländern. Der L. wird entweder von den -> Bürgern des Landkreises (z.B. —> Bay., —> Thüringen) oder vom Kreistag (z.B. Hessen, NRW) oder vom —> Staat mit Zustimmung des Kreistages (z.B. - * Rheinland-Pfalz, —> Saarland) gewählt. In seiner Funktion als Behördenleiter faßt der L. die kommunale und staatl. —> Verwaltung auf der Kreisstufe zusammen. In Kreisangelegenheiten erledigt er die laufenden Geschäfte. Darüber hinaus kann er dringliche Anordnungen treffen und unaufschiebbare Geschäfte besorgen. Weiterhin filhrt er die Beschlüsse des Kreistages und des Kreisausschusses aus. Dem L. steht meist ein Beanstandungsrecht gegenüber rechtswidrigen Beschlüssen des Kreistages und des Rreisausschusses zu. Als Leiter des L.samtes ist er nur an die Weisungen der vorgesetzten Behörde gebunden. Im 16./17. Jhd. war der L. landständischer Vertreter (-» Stände). Begriff und Institution gehen auf die frühere preuß. Staatsund Verwaltungsorganisation zurück. In dem Steinschen Kreisordnungsentwurf von 1808, im Hardenbergschen Kreisedikt von 1812 (L. als Marschkommissar und königlicher Kontrollbeamter) sowie in der preuß. Kreisordnung von 1872 (L. als Staatsbeamter und Leiter der Verwaltung eines Kreises) war dem L. bereits eine feste Stellung für die Verwaltungseinheit Kreis zugewiesen. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich auch in den anderen ehemaligen dt. Ländern. Jedoch war hier die Bezeichnung ftlr den leitenden Beamten im Kreis eine andere (Amtshauptmann) . Lit: M. Schmitz: Der Landrat, Baden-Baden
1991. Karlheinz Hösgert Landtag / -e L.e sind aus demokrat. —> Wahlen hervorgegangene Volksvertretungen der 13 Flächenstaaten der Bundesrepublik Deutschland. In den Stadtstaaten —> Hamburg und —> Bremen heißen die Landesparlamente Bürgerschaft, in -> Berlin -»· Abgeordnetenhaus. Auch in Öst.
tragen die —» Parlamente der Bundesländer die Bezeichnung L.; die L.e haben ihre Ursprünge in den Landständen der Territorialstaaten des Heiligen Rom. Reiches, ohne deren Zustimmung die Landesfürsten in bestimmten Fragen, insbes. der Besteuerung, nicht uneingeschränkt handlungsfähig waren. Sie bestanden regelmäßig aus der Ritterschaft, der Geistlichkeit und den Städten. Als Verfassungskörper traten sie im 15. Jhd. (zuerst 1430 in Bay.-München) auf und entwickelten sich dann, wenn auch in differenzierter Ausprägung, in allen Territorien. Mit der Durchsetzung des Absolutismus und dem zunehmenden Einfluß des fürstlichen Beamtentums sank die Macht der Stände in manchen Territorien bis zur Bedeutungslosigkeit, in anderen insbes. in Sachs. - konnten sie auch im 18. Jhd. einen beträchtlichen Einfluß bewahren. Die Versammlungen der Landstände hießen L.e. Dieser Name ging auf die mit den konstitutionellen Territorialverfassungen des 19. Jhd.s eingeführten Volksvertretungen über. Von den Landständen unterschieden diese sich insbes. dadurch, daß ihre Kompetenzen über das Steuerbewilligungsrecht hinausging, nicht nur bevorrechtete -> Stände zur Bildung von Vertretungskörperschaften berufen waren, sondern die L.e aus allgemeinen Wahlen hervorgingen, wenngleich durch das teilw. noch vorhandene Klassenwahlrecht die Wählerstimmen unterschiedliche Zählund Erfolgswerte besaßen, die -> Abgeordneten folglich nicht als Vertreter eines Standes fungierten (—> Konstitutionalismus). Im Königreich Preuß. hießen die repräsentativen Vertretungen der Provinzen Provinziallandtage. Ihre Abgeordneten wurden nicht allgemein, sondern in den —> Landkreisen von den Kreistagen, in den Stadtkreisen von den —> Magistraten und Stadtverordnetenkollegien gewählt. Im -> Nationalsozialismus wurden die L.e, nachdem schon das sog. Gleichschaltungsgesetz vom 24.3.1933 ihre von
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Landtag den Wahlergebnissen abweichende Zusammensetzung bestimmt hatte, am 30.1.1934 abgeschafft. Mit der Wiederherstellung demokrat. Verhältnisse nach der Zerschlagung des NS-Reiches und der Neubildung von Länderstrukturen durch die alliierten Siegermächte konstituierten sich 1946/47 durch allgemeine Wahlen zustandegekommene L.e. In der SBZ bzw. —> DDR wurde die Kontinuität demokrat. Wirkens durch zunehmende Zentralisierung stark eingeschränkt; mit der Abschaffung der Länder lösten sich am 25.7.1952 die L.e selbst auf. Erst nach der Wiedereinführung der Länder 1990 wurden im Osten Dtld.s wieder L.e gewählt. Die L.e sind Teil des parlamentarischen Regierungssystems der BRD. Verfassungsrechtl. leiten sich ihre Existenz und Position aus dem Homogenitätsgebot des Art. 28 GG ab. Im System der -» Gewaltenteilung bildet der L. auf Landesebene die -> Legislative. Seine signifikante Funktion ist die der Gesetzgebung einschließl. des —» Budgetrechts. Unter bestimmten Voraussetzungen lassen die -> Landesverfassungen zu, daß der L. seine Gesetzgebungsfunktion an die -» Exekutive überträgt (-> Rechtsverordnungen). Verbunden mit der Gesetzgebungsist die Artikulationsfunktion. Sie wird in den parlament. öffentl. —> Debatten verwirklicht und leitet sich aus dem Demokratiegebot der GG-Art. 20 und 28 ab. Über die Wahlfunktion (auch als Kreations- oder Herrschaftsbestellungsftmktion bezeichnet) bestellt der L. Organwalter der -> Politik oder entsendet Abgeordnete in Organe. Über die Wahl des Ministerpräsidenten bestimmt der L. maßgeblich die Zusammensetzung der -» Landesregierung. In vielen Ländern, z.B. —> Bayern, bedarf nicht nur die —» Ernennung des Ministerpräsidenten, sondern jedes einzelnen Regierungsmitgliedes der Bewilligung des L.s. Einzelne Landesverfassungen, z.B. die des -> Saarlandes, ermöglichen dem L., den Rücktritt einzelner Regierungsmitglieder zu erzwingen. Neben den Regierungen wählt der L. auch
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Landtag (alle oder einen Teil der) Mitglieder des Landesverfassungsgerichts, teilw. auch der oberen Landesgerichte, des —> Landesrechnungshofes und Landesbeauftragte, insbes. den für -> Datenschutz. Schließlich obliegt dem L. die Kontrolle der -» Regierung und —» Verwaltung. In einer Reihe von Ländern, z.B. -> Brandenburg, wird von der Verfassung darüber hinaus frühzeitige und vollständige Unterrichtung des L.s über die Vorbereitung bestimmter Maßnahmen der Exekutive verlangt. Über die Kontrollfunktion des L.s tritt v.a. die parlament. -> Opposition in Erscheinung. Der L. bedient sich dafür des traditionellen parlament. Instrumentariums (Große und Kleine -> Anfrage, Untersuchungsausschüsse usw.). In letzter Zeit wird der Verlust von Kompetenzen des L.s sowohl gegenüber der Exekutive als auch im Zusammenhang der bundesstaatl. Machtverlagerung zugunsten des —> Bundes beklagt. I.d.R. beträgt die -> Legislaturperiode 4, nur in wenigen Ländern, z.B. Saarl. und ND 5 Jahre. Die meisten Landesverfassungen sehen eine vorzeitige Selbstauflösung vor, in einigen Bundesländern - z.B. BB - ist auch die allerdings in der Praxis noch nicht eingetretene - —• Parlamentsauflösung durch —> Volksabstimmung vorgesehen. Dem grundgesetzlichen Homogenitätsgebot entsprechend gelten die in Art. 38 Abs. 1 GG für die Bundestagswahl vorgeschriebenen Prinzipien auch für die Wahlen der L.e. Der konkrete Wahlmodus orientiert sich im Grundsatz am Bundestagswahlgesetz mit seinem Zweistimmenwahlsystem (—> Wahlsystem). Differenzierte Ausgestaltungen sind z.B. beim Berechnungsmodus für die Mandatsverteilung oder bei der territorialen Aufteilung von Listen festzuhalten. Adäquat zum —> Bundeswahlgesetz werden viele L.e, z.B. der neuen Bundesländer jeweils hälftig durch Direkt- und Listenmandate besetzt, während in anderen die direkt gewonnenen Sitze dominieren. Die Stadtstaaten Hamb, und Brem, kennen nur die reine Listenwahl (im Land Brem, mit
Landtag selbständiger Liste für Bremerhaven). In anderen Ländern, z.B. NRW und BW, wird nur eine Stimme abgegeben, aus der sich dann sowohl der Wahlkreissieg als auch die Listenstimmen ableiten. In Bay. ermöglicht die begrenzt-offene Landesliste dem Wähler die Präferenz einzelner Kandidaten. Im Unterschied zum Bundestag haben die meisten L.e das Recht zur Selbstauflösung. In ihrer Größe unterscheiden sich die L.e beträchtlich voneinander. Der kleinste L. (Saarl.) hat 51, der größte (NRW) besteht aus 221 Abgeordneten (12. Wahlperiode, gesetzliche Mindestzahl 201). Die im Bundestag agierenden polit. —> Parteien bestimmen auch das polit. Bild der Parteienlandschaft in den L.en, von der Spezifik der -> CSU in Bay. abgesehen. Regional relativ stark verankerte Parteien haben anfängliche Wahlerfolge nicht halten können. Nur in -> Schleswig-Holstein stellt der Südschleswigsche Wählerverband (SSW) als von einer —• Sperrklausel befreiter Interessenvertreter der dän. und friesischen Minderheit einen Abgeordneten. In den L.en der neuen Länder ist die PDS stark vertreten. In ihren formalen, in der —> Geschäftsordnung geregelten Grundstrukturen entsprechen die L.e weitgehend der des —• Bundestages. Dennoch weichen Detailregelungen vielfach von den zentralstaatl. Strukturen ab. So haben in Bay. auch Einzelabgeordnete das Recht der Gesetzesinitiative. In BB wird die parlament. —> Immunität des Abgeordneten erst auf Verlangen des L.s hergestellt. In Hamb, verfügt der —> Senat gegenüber Beschlüssen der Bürgerschaft über ein aufschiebendes Vetorecht. Neuerdings ist - neben dem Grundsatz der —• Öffentlichkeit von Plenarsitzungen - auch ein Trend zur Öffentlichkeit von Ausschußsitzungen zu verzeichnen. Das hier zum Ausdruck kommende Bestreben nach mehr Bürgernähe kennzeichnet eine allgemeine Tendenz. Lit: J. Aretz (Hg.): Volksvertretungen, München 1992; A. Böhringer / W. W. Schmidt: Die Land-
Landtagswahl tage, in: Bundestag, Bundesrat, Landesparlamente, Rheinbreitenbach 1989, S. 97ff.; M. Friedrich: Landesparlamente in der BRD, Opladen 1975; F. Greß / R. Huth: Die Landesparlamente, Bonn 1998.
Werner Kiinzel Landtagsdrucksachen —• Bundestagsdrucksachen Landtagswahl / -en Das Gebiet der heutigen -» BRD war, ausgenommen die Zeit des —> Nationalsozialismus, histor. schon immer ein föderalistisches Staatengebilde, nie ein zentralistischer Einheitsstaat. Auch nach 1945 wurde, zunächst ausgehend von den westlichen Besatzungszonen, Dtld. als -> Bundesstaat mit 11 Bundesländern demokrat. neu organisiert (GG Art. 20,28,29), im Zuge der dt. Einigung 1990 auf 16 Länder erweitert und verfassungsrechtl. bestätigt. Die Parlament. Systeme dieser nunmehr 16 Länder bieten grds. sowohl den Bürgern mehr Mit- und Einwirkungsmöglichkeiten auf die polit. Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse als auch der BundestagsOpposition die Chance, Regierungsverantwortung in Ländern zu übernehmen und über den -» Bundesrat prägenden Einfluß auf die Bundesgesetzgebung auszuüben. Sie entsprechen weitestgehend dem —» Parlamentarismus auf gesamtstaatl. Ebene (GG Art. 28 Abs. 1 u. 3). Die Landtage sind die gewählten Vertretungskörperschaften in den 13 Flächenstaaten; in den Stadtstaaten —> Bremen und -> Hamburg sind es die Bürgerschaft und in —> Berlin das Abgeordnetenhaus. Die Volksvertretungen müssen aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen —> Wahlen hervorgehen. Die Landtage erfüllen in den Bundesländern die gleichen polit. Aufgaben wie der Bundestag auf gesamtstaatl. Ebene. Sie wählen die -> Ministerpräsidenten, in den Stadtstaaten: Bürgermeister und können sie auch wieder im Zuge eines —> Mißtrauensvotums absetzen (außer BW und Brem.).
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Landtagswahl Eine 2. Parlament. Kammer neben dem Landtag gibt es z.Z. nur in —> Bayern (-> Bayrischer Senat: 60 Mitglieder) als Vertretung der sozialen, wirtschaftl., kulturellen und kommunalen Körperschaften, in geheimer Abstimmung von den berufständischen Organisationen, Religionsgemeinschaften und —> Kommunalverbänden gewählt oder ernannt. Durch Verfassungsänderung aufgrund eines Volksentscheids (fast 70%-ige Mehrheit) gem. Bay Verf. Art. 72ff. vom Februar 1998 wird dieses einmalige Verfassungsorgan (BayVerf. Art. 34ff.) im Zuge einer generellen Parlaments- und Regierungsrefom im Jahr 2000 ersatzlos aufgelöst. Die Grundlagen für LT-W. sind in den Landesverfassungen, Landeswahlgesetzen und Landeswahlordnungen niedergelegt. Die Grundsätze der Wahl sind meist schon in den Verfassungen selbst festgeschrieben, verbunden mit dem Auftrag an den Landtag, Konkretisierungen in einem Wahlgesetz vorzunehmen. Alle LT-W. in der BRD werden als Verhältniswahlen, meist in Verbindung mit der Persönlichkeitswahl, sowie mit der Eingangshürde von 5% (—» Fünf-Prozent-Klausel) durchgeführt. So wird der Zugang zu den Landtagen rechtl. begrenzt und einer Parteien- / Fraktionenzersplitterung vorgebeugt. Die Vorschriften über diese Fünf-Prozent-Klausel sind in den Verfassungen mit unterschiedlichen Graden an Verbindlichkeit geregelt, von Kann-Bestimmung über Verpflichtung bis hin zu der Möglichkeit, auch weniger als 5% zu normieren. Die in Bay. ursprünglich praktizierte Klausel, in mindestens einem -> Wahlkreis / Regierungsbezirk 10% Stimmenanteil zu erringen, wurde bereits 1973 abgeschafft. Jedoch werden in Beri., BB und SH Stimmenanteile auch unter 5% berücksichtigt, wenn eine Liste / Partei ein -> Direktmandat errungen hat; die -» Sperrklausel gilt nicht in SH für den SSW, die Partei der dän. Minderheit, und in BB für die sorbische Minderheit. Im Vergleich der Bundesländer ist zu unterscheiden zwischen einfacher Verhält-
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Landtagswahl niswahl mit Listen in Mehrpersonenwahlkreisen (Brem., Hamb., Saarl.) und personalisierter Verhältniswahl mit Direktund Listenmandaten in —• Einerwahlkreisen, in denen neben den Direktmandaten weitere Sitze vergeben werden, so daß eine proportionale Sitzverteilung im Hinblick auf die Stimmenverteilung garantiert ist (BW 70/50, Bay. 104/100 - nach Verfassungsänderung durch Volksentscheid 1998 ab 2002 insg. 180 -, Beri. 90/60, BB 44/44, Hess. 55/55, M-V 36/35, Nd. 100/55, NRW 151/50, Rh.-Pf. 51/50, Sachs. 60/60, LSA 49/50, SH 45/30, ΤΉ 44/44). In 10 Ländern haben die Wähler 2 Stimmen, in 6 dagegen nur eine. In diesem Fall werden sowohl die Direktkandidaten gewählt als auch über die Verteilung der Mandate nach dem Gesamtstimmenergebnis entschieden. Für die Mandatsverteilung bildet das Land einen einzigen Wahlkreis, ausgenommen Bay.: Hier werden die Mandate in 7 Wahlkreisen vergeben (entspr. den 7 Regierungsbezirken). In Ländern, in denen nur -> Listenwahl möglich ist, gibt es große Wahlkreise ( Hamb. 1, Brem. 2, Saarl. 3). Bei personalisierter Verhältniswahl können sog. - » Oberhangmandate auftreten, wenn die Gesamtzahl der Direktmandate höher ist als die Zahl an Sitzen, die einer Listenverbindung / Partei proportional zu den erreichten Stimmen zustehen würde. Hier ist in den entsprechenden Landeswahlgesetzen im Unterschied zur BRD i.d.R. ein sog. Mandatsausgleich rechtl. vorgesehen (nicht in Brem., Hamb., Rh.Pf., Saarl.). Die —> Wahlperiode umfaßt in 10 Ländern 4 Jahre, in 6 5 Jahre (ab 2002 als 7. Land Bay.) und kann hier im Unterschied zum Bundestag durch Selbstauflösung (—> Parlamentsauflösung) oder z.T. durch —> Volksabstimmung vorzeitig beendet werden (keine Regelung nur Brem.). Die Wahlverfahren für die Landtage sind seit 1946 lange sehr stabil geblieben; erst ab Mitte der 80er Jahre kam es zu einer Reihe von Neuerungen, insbes. beim
Landtagswahl Umrechnungsverfahren von Stimmen in Mandate: die Methode -> D'Hondtsches Höchstzahlverfahren wurde mehrheitlich abgelöst durch das nach mathematischen Proportionen verfahrende —> Hare / Niemeyersches Berechungsverfahren (seit 1985 angewandt auch bei Bundestagswahlen - Mandatsverteilung nach D'Hondt nur noch in BW, Brem., Saarl., SH). In Bay. wurde erstmals 1994 die Aufteilung der 204 Sitze des Landtags auf die -> Fraktionen von CSU, SPD und Grünen nach dem Proporzsystem von Hare/Niemeyer berechnet (Konsequenz: gegenüber dem Verfahren nach D'Hondt wurden 7 Mandate anders zugeteilt). Die FDP war 1992 mit einer Wahlanfechtung vor dem BayVerfGH erfolgreich: Das Gericht erkannte die Anwendung des bis dahin üblichen Umrechnungsverfahrens nach d'Hondt als verfassungswidrig, weil es die kleineren Parteien benachteilige, und weil sich diese Nachteile durch die getrennte Auszählung in den 7 Regierungsbezirken des Freistaates noch summierten. Die letzten Ergebnisse der LT-W.en und damit die aktuellen Mehrheitsverhältnisse in den 16 Bundesländern haben erhebliche Relevanz für die Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeit des Bundestages, insbes. bei —> Zustimmungsgesetzen. In den Phasen, in denen die Mehrheit des Bundestages nicht mit den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat übereinstimmt, muß oft erst der gemeinsame —> Vermittlungsausschuß auf dem Wege des Kompromisses eine zunächst von der -> Opposition blockierte Parlamentsentscheidung ermöglichen, oder die Bundesratsmehrheit bleibt in ihrer Veto-Position zur Bundestagsmehrheit. Diese Lage prägt momentan erneut die Politik (von 69 Stimmen im Bundesrat entfallen auf die Koalitionspartner CDU/CSU/FDP nur 16, die übrigen 53 verteilen sich auf SPDRegierungen in 3 Ländern mit 13, CDU/ SPD-Regierungen in 4 Ländern mit 14 sowie SPD/GRÜNE bzw. SPD/STATT in 6 Ländern mit 26 Stimmen).
Landwirtschaft Lit.: J. Hartmann (Hg.): Handbuch der dt. Bundesländer, Bonn 31997; Konrad-Adenauer-Stiftung: Wahlergebnisse in der BRD und in den Ländern 1946-1994, St. Augustin 1995; W. Woyke: Stichwort: Wahlen, Opladen *1996.
Gerhard Kral Landwirtschaft Die natürlichen Standortbedingungen für die L. sind in Dtld. überaus vielfältig: Vom norddt. Tiefland mit ausgedehnten Moor- und Heideflächen und der Mecklenburger Seenplatte erstreckt sich der Produktionsraum über die Mittelgebirgslandschaften mit Höhen bis zu 1.500 Metern und z.T. tief eingegrabenen Flußtälern mit fruchtbaren Böden bis hin zum Hochgebirgesriegel der Alpen, wo bis in Höhenlagen von 2.000 Metern L. (Almwirtschaft) betrieben wird. Ähnliche Unterschiede wie im Erscheinungsbild der Landschaft finden sich in der Bodengüte und im Klima. Auch die L. hat in Dtld. verschiedene Gesichter. Im Süden sind die Betriebe im Durchschnitt kleiner als im Norden. Auffallender aber sind die Unterschiede zwischen dem früheren Bundesgebiet und den neuen Ländern. Im früheren Bundesgebiet prägen kleinere und mittlere Familienbetriebe das Bild. Von den knapp 510.000 Höfen ab 1 Hektar landwirtschafll. genutzter Fläche (1996) erwirtschaftet hier weniger als die Hälfte ihr Einkommen ausschließlich aus der L. oder hat noch einen kleineren zusätzlichen Verdienst (sog. Haupterwerbsbetriebe). Rd. 57% sind sog. Nebenerwerbsbetriebe, die ihr Haupteinkommen außerhalb der L. erzielen. Die Durchschnittsgröße aller Betriebe liegt im Westen bei gut 23 Hektar. In den neuen Ländern ist der Umstrukturierungsprozeß, der direkt nach der —> Deutschen Einheit eingesetzt hat, nahezu abgeschlossen. Aus den ehemals rd. 5.000 Großbetrieben waren bis 1996 rd. 31.000 Betriebe aller möglichen Rechtsformen und Größen entstanden. Davon waren rd. 25.000 landwirtschaftl. Einzelunternehmen ähnlich denen im Westen und etwa 2.800 Personengesell-
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Landwirtschaft schañen sowie rd. 2.900 sog. -> juristische Personen, v.a. Genossenschaften und GmbHs. Die Einzeluntemehmen erreichen im Durchschnitt 140 Hektar, die Genossenschaften 1.425 Hektar. Die unterschiedliche Struktur hat ihre Ursache in der Nachkriegsgeschichte. Im früheren Bundesgebiet hat wegen des techn. Fortschritts und der allgemeinen wirtschaftl. Entwicklung ein starker Strukturwandel stattgefunden. Von den rd. 2 Mio. Betrieben und knapp 5 Mio. Erwerbstätigen von 1949 bestehen heute noch knapp 510.000 Betriebe mit 1,2 Mio. Erwerbstätigen. Die Betriebsverfassung aber blieb erhalten. Die Betriebe werden nahezu alle als Einzelunternehmen (Familienbetriebe) geführt. Die L. in der ehemaligen —> DDR war in dieser Zeit gleich mehrfach radikalen Umbrüchen ausgesetzt. Mit der Bodenreform in der damaligen SBZ wurde 1/3 der Bodenfläche v.a. von Betrieben mit mehr als 100 Hektar enteignet und Kleinbauern, Landarbeitern und Umsiedlern gegeben. Ab 1952 entstanden Landwirtschaftl. Produktionsgenossenschaften (LPG). 1967 wurde der Obergang zu industriemäßigen Produktionsmethoden eingeleitet: Milchviehanlagen mit 2.000 Stück Vieh, Ställe für 40.000 bis 60.000 Mastschweine entstanden. Pflanzen- und Tierproduktion wurden getrennt. Gegen Ende der 80er Jahre bewirtschaftete eine „LPG Pflanzenproduktion" durchschnittlich 4.500 Hektar. Eine „LPG Tierproduktion" verfügte dagegen kaum über Flächen, dafür aber über riesige Tierbestände. Diese Art von L. erwies sich bei Eintritt in den gemeinsamen Agrarmarkt weder wirtschaftl. noch ökologisch als tragfähig. Inzwischen hat sich die wirtschaftl. Lage der L. in den neuen Ländern bereits deutlich stabilisiert. Der Aufbau einer modernen Ernährungswirtschaft geht zügig voran; zu dieser Entwicklung hat die Unterstützung der -> EU einen erheblichen Beitrag geleistet. Die -> Bundesregierung veröffentlicht alljährlich einen Agrarbericht, in dem die Einkommensentwicklung in der L. und die Politik
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Landwirtschaftskammern im Agrarbereich ausführlich dargestellt werden; (s.a. -> Landwirtschaftskammern; —> Landwirtschaftsrecht). HgLandwirtschaftskammern wurden von Anfang bis Ende des 19. Jhd.s in mehreren Provinzen des damaligen -> Deutschen Reiches (1871) gegründet. Ziel war es, den in der Landwirtschaft Tätigen (Arbeitnehmern wie Unternehmern) Mitbestimmung bei der Entwicklung der Agrarwirtschaft zu gewähren. L. haben die Aufgabe, im Einklang mit den Interessen der Allgemeinheit die in der - » Landwirtschaft (einschließl. - » Forst- und —> Fischwirtschaft, Gartenbau) Tätigen zu fördern. Sie sind —> Körperschaften des öffentl. Rechts, bestehend aus gewähltem Ehren- und Hauptamt mit Beamtenstatus. Oberstes Beschlußgremium ist die Kammerversammlung. Diese wählt Vorstand und Präsident sowie die Mitglieder der beratenden Fachausschüsse; in allen Gremien sind 2/3 Unternehmer und 1/3 Arbeitnehmer vertreten. Die Finanzierung erfolgt durch Pflichtbeiträge (Bewertungsbasis: Einheitswert des Betriebes), —> Gebühren für Sonderleistungen an die Betriebe nach Gebührenordnung und Zuschüsse der einzelnen Länder zur Durchführung von Hoheitsaufgaben, welche die jeweilige - » Landesregierung als jurist, und finanzielle Aufsichtsbehörde den Kammern übertragen kann. Das Bestehen der L. fand seine Unterbrechung bzw. sein Ende in einigen heutigen Bundesländern durch den Nationalsozialismus und zudem in der ehemaligen - » DDR. L. bestehen heute noch in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, NordrheinWestfalen, Bremen, Rheinland-Pfalz, und dem Saarland aufgrund von Landesgesetzen, die die Pflichtaufgaben (hauptsächl. Aus-, Fort- und Weiterbildung und Beratung), die Durchführung von Hoheitsaufgaben und kurz- oder langfristig übertragenen Aufgaben regeln. L. unterhalten ihre eigenen Institute der angewandten Wissenschaft, Analytik für amtlich vorge-
Landwirtschaftministerium
Laufbahn
schriebene Kontrollen und Versuchseinrichtungen zur Erarbeitung der Beratungsunterlagen. Lit: Gesetz über Landwirtschaftskammem vom 10.10.1986 (Nieders. GVB1. S. 325), zuletzt geänd. am 20.12.1995 (Nieders. GVB1. S. 478).
Friedrich von Detten Landwirtschaftsministerium -> Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Landwirtschaftsrecht Das L. stellt einen Teil des Agrarrechts dar, das alle Bereiche der Rechtsordnung bezeichnet, die auf die Besonderheiten des ländlichen Lebens und Arbeitens Rücksicht nehmen; hierzu gehört wesentlich das Marktorganisationsrecht, dessen Marktordnungen ftlr nahezu alle landwirtschaftl. Produkte von der Gemeinsamen Agrarpolitik der -> EU geprägt sind. Das Kerngebiet des L.s bilden von oder fllr einzelne —> Bundesländer erlassene Sonderregelungen des —> Erbrechts (Höfeordnungen), nach denen landwirtschaftl. Besitzungen ungeteilt an einen (= Anerbe) von mehreren Miterben (= weichende Erben) übergehen (Anerbenrecht). Daneben stehen das Landpachtrecht sowie die Genehmigungspflicht bei der Veräußerung landwirtschaftl. Grundstücke nach dem Grundstücksverkehrsgesetz. Für Streitigkeiten über Fragen des L.s bestehen besondere Landwirtschaftsgerichte (-» s.a. Landwirtschaft; —> Landwirtschaftskammern). Lit: Κ. Kroeschell: Dt. Agrarrecht, Köln 1983. J.S.
Laufbahn / - prinzip Das L.prinzip im —> öffentlichen Dienst der -> Bundesrepublik Deutschland steuert die Einstellungsvoraussetzungen zu öffentl. Ämtern, ihre besoldungsrechtl. Einstufung und die Beförderung nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung. Das L.prinzip gehört zu den hergebrachten Grundsätzen des -> Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) - allerdings nur in dem Sinn, als der öffentl. Dienst differenziert nach
Befähigung und Leistung ausgestaltet sein muß. Eine L. umfaßt alle Ämter derselben Fachrichtung, welche die gleiche Vor- und Ausbildung oder eine gleichwertige L.befähigung erfordern. Die Zugehörigkeit einer L. zu einer L.gruppe richtet sich nach den Eingangsämtern, wie sie in § 23 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG i.d.F. v. 29.9.1994 BGBl. I S. 2646) formuliert sind. Die das L.prinzip konstituierenden Gesetze, v.a. das Beamtenrechtsrahmen-, das Bundesbeamtengesetz und die Bundeslaufbahnordnung mit denen ihnen nachgebildeten Landesbeamtengesetzen und L.verordnungen kennen 4 L.en (einfacher, mittlerer, gehobener und höherer Dienst). Ihre bildungsrechtl. Zugangsvoraussetzungen korrespondieren mit der Struktur des dt. allgemeinen —> Bildungssystems als sie den Hauptschul-, Realschulabschluß, die Fachhochschulreife und die Absolvierung eines mindestens 3jährigen Hochschulstudiums für die jeweilige L. fordern. Dieser in Europa ohne Vergleich dastehende Zusammenhang von Staatsdienstbefähigung und Bildungsidee hat seine Wurzeln in der Entwicklung des dt. Territorialstaates, v.a. nach und infolge der Reformation und fand seine grundlegende Ausprägung im Neuhumanismus des beginnenden 19. Jhd.s; das L., welches auch das Tarifvertragsrecht der —> Angestellten gestaltet und überdies in die Gehaltsstruktur der freien Wirtschaft hineinwirkt, ist in den letzten Jahrzehnten vielfach Gegenstand der Kritik gewesen, ohne daß diese zu weiterreichenden Reformen geführt hätte, vor allen Dingen nicht zur Zusammenfassung der Laufbahnen zu einer Einheitslaufbahn. Lit.: Beamtenrechtsrahmengesetz - BRRG i.d.F. v. 27.2.1985 BGBl. I S. 462; Bundesbeamtengestz - BBG i.d.F. v. 27.2.1985 BGBl. I S. 479; Bundeslaußahnverordnung · BLV i.d.F. v. 8.3.1990 BGBl. I S. 449; Λ Graf v. Westphalen: Akademisches Privileg und demokrat. Staat, Stuttgart 1977; ders. : Hochschulausbildung und Staatsdienst in Dtld., Weinheim 1985.
Raban Graf von Westphalen
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Legalität Legalität bedeutet Gesetzmäßigkeit, d.h. die Übereinstimmung staatl. oder privaten Verhaltens mit dem geltenden positiven - » Recht. Im 19. Jhd. wurde die Forderung nach der L. staatl. Handelns eine v.a. gegen monarchische Willkür und Ermessensfreiheit gerichtete liberale staatsrechtl. Grundforderung, die insbes. im Erfordernis des -> Gesetzesvorbehaltes (d.h. einer gesetzlichen Grundlage und Ermächtigung für alle in —> Freiheit und —> Eigentum des —> Bürgers eingreifenden Handlungen des Staates) ihren Ausdruck fand. Die Bindung aller staatl. Gewalten an das geltende Recht, d.h. ihre Verpflichtung zu verfassungs- und gesetzmäßigem Verhalten, ist wesentlicher Bestandteil des formalen —• Rechtsstaates. Ein SpannungsVerhältnis zwischen (formaler) L. und (materieller) —» Legitimität entwickelt sich, wenn das positive Recht in Widerspruch zu grundlegenden, überpositiven Vorstellungen von —> Gerechtigkeit steht. Namentlich vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem NSUnrechtsregime (—> Nationalsozialismus) anerkennt das -> Grundgesetz die Existenz solchen ungeschriebenen Rechts (Bindung an Gesetz und Recht; Art. 20 Abs. 3 GG). Das GG enthält ferner in der Unantastbarkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 eine positivrechtl. Verankerung der Legitimität demokrat. —» Herrschaft, die einen legalen Verfassungsumstoß verhindern soll. Nach dem GG bedeutet vor diesem Hintergrund und der Anerkennung des —> Mehrheitsprinzips verfassungsmäßige L. zugleich demokrat. Legitimität. Gemäß der sog. Radbruch'schen Formel dürfte ein möglicher Konflikt zwischen materieller Gerechtigkeit als Legitimitätsanforderung und der formalen Rechtssicherheit, die mit dem L.sanspruch positiven Rechts verbunden ist, im übrigen dahin zu lösen sein, daß das positive Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das
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Legislative Gesetz als „unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat. Lit: BVerfG(E) 3, 225 (233); H. Hoffmann: Legitimität gegen Legalität, Neuwied 1964; H.H. Klein: Legitimität gegen Legalität?, in: B. Börner u.a. (Hg.), Einigkeit und Recht und Freiheit 2, Köln 1984, S. 645ff.
Jörg Ukrow Legalitätsprinzip Das L. verpflichtet die Strafverfolgungsbehörden im Strafverfahren, wegen aller strafbaren und verfolgbaren Handlungen einzuschreiten, sofern ein Tatverdacht besteht (vgl. §§ 152 Abs. 2, 160, 163 StPO, -> Strafprozeßrecht). Ausnahmen gelten nach dem - » Opportunitätsprinzip, das die Strafverfolgungsbehörden berechtigt, aus Gründen der Zweckmäßigkeit die Strafverfolgung nach ihrem Ermessen zu unterlassen, insbes. in Bagatellfällen. Das L. soll die Wahrung des Grundsatzes der -> Gleichheit vor dem -> Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie der Gesetzmäßigkeit der -> Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) sicherstellen. Es wird durch das Klageerzwingungsverfahren (§§ 172fif. StPO) und durch strafrechtl. Sanktion gesichert: Denn eine Verletzung des L.s durch die vorsätzliche Nichtverfolgung eines Schuldigen ist als Strafvereitelung im Amt (§ 258a StGB) strafbar. Lit: C. Roxin: Strafverfahrensrecht, München 24 1995, § 14.
J. U. Legislative Die L. oder gesetzgebende Gewalt ( lat. legem ferre = ein —> Gesetz einbringen sowie lat. legislatio = Gesetzgebung) formuliert, beschließt und annulliert -> Gesetze. Ihre Bedeutung erlangt sie vom Stellenwert der Gesetzesherrschaft in einem Staatswesen, so daß sie in einem -» Rechtsstaat über das wichtigste polit. Steuerungselement verfügt und an eine -> Verfassung oder polit. Werteordnung gebunden ist. Die Theorie der - » Gewaltenteilung stellt der L. die -> Exekutive als vollziehende Gewalt (Regierung) und die -> Judikative als richterliche oder rechtsprechende Gewalt zur
Legislative Seite. Institutionell kommt die L. dem —> Parlament gleich. Infolge der Gewaltenverschränkung ist eine kategorische Trennung von den beiden anderen Gewalten nicht möglich. Präsidiale —> Demokratien zeichnen sich im Unteschied zu Parlament. Demokratien durch eine schärfere Abgrenzung zwischen L. und Exekutive aus (-> präsidentielles, —> parlamentarisches Regierungssystem). Die L. wird i.d.R. durch 2 Parlamentskammem (z.B. —> Senat und -> Abgeordnetenhaus) repräsentiert, wobei das jeweilige Abgeordnetenhaus eine dominierende Stellung einnimmt. In föderalistischen Staaten erfüllt die zweite Kammer (—> Zweikammersystem) zumeist die Funktion einer Ländervertretung; daneben haben i.S. einer vertikalen Gewaltenteilung eigenständige —> Landesparlamente Legislativrechte. Im parlament.-demokrat. System der —> Bundesrepublik Deutschland stellt der Bundestag (sowie analog die Landesparlamente in den Bundesländern) die ranghöchste der polit. Institutionen dar. Die Wahl des —> Bundeskanzlers und der —» Bundesrichter (gemeinsam mit dem —> Bundesrat) sowie die Kontrolle der —> Bundesregierung sichern ihm diese übergeordnete Stellung. Das Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren obliegt andererseits auch der Bundesregierung; und das —> Bundesverfassungsgericht entscheidet auf Antrag und bindend über die Verfassungskonformität der Gesetzgebung. In der —• Europäischen Union sind die Legislativkompetenzen aufgrund der supranationalen Konstituierung ihrer polit. Organe bisher weiter verzweigt als auf nationaler Ebene der Mitgliedstaaten. Das —> Europäische Parlament wirkt an der Gesetzgebung in zunehmendem Maße mit, diese wird jedoch hauptsächlich von der exekutiv ausgerichteten EG-Kommission initiiert und formuliert. IM.: E.-W. Böckenförde: Gesetz und gesetzgebende Gewalt, Berlin 1958; J. J. Hesse / T. Ellwein·. Das Regierungssystem der BRD, Opladen '1997.
Legitimation Werner Reilecke
Legislaturperiode -> Wahlperiode Legitimation Die Frage nach der L. von —> Staat und —> Recht betrifft jene Leitprinzipien, welche die polit. Ordnung im Innersten zusammenhalten. Der archimedische Punkt, auf den Existenz und Herrschaftsgewalt des modernen demokrat. —> Verfassungsstaates zurückgeführt werden kann, ist die -> Volkssouveränität. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG gestaltet den Grundsatz der Volkssouveränität aus. Er legt fest, daß das -> Volk die Staatsgewalt, deren Träger es ist, außer durch —> Wahlen und ~> Abstimmungen durch besondere Organe der —> Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausübt. Der erforderliche Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatl. —> Herrschaft wird v.a. durch die Wahl des —> Parlaments, durch die von ihm beschlossenen -> Gesetze als Maßstab der vollziehenden Gewalt, durch den Parlament. Einfluß auf die Politik der —> Regierung sowie durch die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der -> Verwaltung gegenüber der Regierung hergestellt. Für die Beurteilung, ob dabei ein hinreichender Gehalt an demokrat. L. erreicht wird, haben die unterscheidbaren Formen der institutionellen, funktionellen, sachlichinhaltlichen und der personellen L. Bedeutung nicht je für sich, sondern nur in ihrem Zusammenwirken. Aus verfassungsrechtl. Sicht entscheidend ist nicht die Form der demokrat. L. staatl. Handelns, sondern deren Effektivität; notwendig ist ein bestimmtes L.sniveau. Für Organe und Amtswalter der staatl. und kommunalen Verwaltung genügt dabei i.d.R. ein mittelbarer L.szusammenhang, der durch eine ununterbrochene L.skette vom Volk über die von diesem gewählte Vertretung zu den mit staatl. Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern hergestellt wird. Aus dem Bereich des demokrat. zu legitimierenden Handelns scheiden im übrigen bloß vorbereitende und
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Legitimität
Legitimation rein konsultative Tätigkeiten grds. aus. L.ssubjekt im Bereich der allgemeinen Bundes- oder —> Landesverwaltung ist das jeweilige Bundes- oder Landesstaatsvolk. Nur das von ihm gewählte Parlament kann den Organ- und Funktionsträgern der -> Verwaltung auf allen ihren Ebenen demokrat. L. vermitteln. Das Demokratieprinzip hindert die -» Bundesrepublik Deutschland aber nicht an einer Mitgliedschaft in einer - supranational organisierten - zwischenstaatl. Gemeinschaft wie der —> EU. Voraussetzung der Mitgliedschaft ist aber, daß eine vom Volk ausgehende L. und Einflußnahme auch innerhalb des Staatenverbundes gesichert sind. Nimmt ein Verbund demokrat. Staaten wie die EG/EU hoheitliche Aufgaben wahr und übt dazu hoheitliche Befugnisse aus, sind es zuvörderst die Staatsvölker der Mitgliedstaaten, die dies über die nationalen Parlamente demokrat. zu legitimieren haben. Mithin erfolgt demokrat. L. durch die Rückkopplung des Handelns europ. Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten; hinzu tritt - im Maße des Zusammenwachsens der europ. Nationen zunehmend - innerhalb des institutionellen Gefüges der EU die Vermittlung demokrat. L. durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte -> Europäische Parlament. Entscheidend ist, daß die demokrat. Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige —> Demokratie erhalten bleibt. Vermitteln wie gegenwärtig - die Staatsvölker über die nationalen Parlamente demokrat. L., sind der Ausdehnung der Aufgaben und Befugnisse der EG vom demokrat. Prinzip her Grenzen gesetzt. Dem Dt. -> Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von · substantiellem Gewicht verbleiben. Lit.: BVer/GE 83, 60 - 81 (Ausländerwahlrecht Hamburg); BVerfGE 89, 155 - 2 1 3 (Maastricht);
N. Achterberg u.a. (Hg.): Legitimation des modernen Staates, Wiesbaden 1981; W. Kluth: Die demokrat. Legitimation der EU, Berlin 1995.
Jörg Ukrow 538
Legitimationsfunktion d. Bundestages -> Deutscher Bundestag Legitimität (Rechtmäßigkeit) L. bezeichnet die Rechtfertigung polit. Handelns und polit. Herrschaftsordnung durch allgemein verbindliche, letztbegründende sittlich-rechtl. Prinzipien menschlichen Zusammenlebens. Als materielle Rechtmäßigkeit steht L. in einem die formelle Gesetzmäßigkeit (—> Legalität) ergänzenden, die rechtmäßige Anerkennung von —• Herrschaft begründenden Verhältnis. Ideengeschichtl. gesehen wirkten unterschiedliche sich wandelnde Herrschaftslegitimität rechtfertigende Auffassungen, so v.a. die des inneren und äußeren -»· Friedens, der Herrschaft als Gottesgnadentum, der Gesetzmäßigkeit und Ordnung, der Förderung und Sicherung individueller und sozialer Wohlfahrt, der Form des Herrschaftserwerbs und der -ausübung, der Form der Willensbildung oder die Eingrenzung der Staatsgewalt durch -> Grundrechte und —> Gewaltenteilung. In der Beantwortung der Frage, aus welchen tatsächlichen Gründen die Mitglieder eines Herrschaftsverbandes legitimer Herrschaft Geltung und Anerkennung zusprechen und Gehorsam bezeugen, führte den dt. Soziologen M. Weber (1865-1920) zu einer Typologie legitimer Herrschaft. Dabei bedeutet Herrschaft für ihn die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden. Er unterscheidet 3 typische Gehorsamsmotivationen: Demnach kann legitime Herrschaft auf dem Glauben an die Legalität der Ordnung, auf dem Glauben an die legitimierende Kraft der Tradition oder auf dem Glauben an das Charisma des Herrschers, seine Vorbildlichkeit und Führungsfähigkeit beruhen. Heute geht die Demokratieforschung davon aus, daß verschiedene Faktoren und Quellen zusammenwirken müssen, um die L. einer Herrschaftsordnung zu sichern; so v.a. durch die konsensbildenden Verfahren allgemeiner und freier -> Wahlen und ->
Leistungsverwaltung Abstimmungen, der Geltung des -> Mehrheitsprinzips in parlament. Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen, der Rechtstellung der polit. —> Minderheit, den Zugang zu wie die Zeitlichkeit der öffentl. Ämter, Ausgestaltung partizipativer tatsächlicher Entscheidungsmitwirkung durch den Bürger (—> Bürgerbeteiligung) und Sicherung und freie Entfaltung der öffentlichen Meinung. Diese Verfahren müssen eingebettet sein in den allgemeinen Konsens des Gemeinwesens, wonach Verfassung, Rechtsordnung - hier v.a. die Rechtsprechung - den Richtigkeits- und Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen, und das alles staatl. Handeln im demokrat. Legitimationsprinzip der -> Volkssouveränität seine Begründung findet. Lit.: Geschichtl. Grundbegriffe III, S. 677ff.; M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922; P. Graf Kielmansegg / U. Matz (Hg.): Die Rechtfertigung polit. Herrschaft, Freiburg 1978.
Rabatt Graf von Westphalen Leistungsverwaltung Vor allem die verfassungsrechtl. (-> Sozialstaat) des Art. 20 Abs. 1 GG führte in der Nachkriegszeit zu einer qualitativen Umgestaltung der —> Verwaltung. Neben die herkömmlichen Verwaltungen der —> Ordnungs- und —» Eingriffsverwaltung ist die L. getreten, deren Wesen darin besteht, einzelne Gruppen oder alle Mitglieder des Gemeinwesens unmittelbar zu fördern. Es gilt heute als selbstverständlich , daß sich die Vorsorge der Verwaltung nicht nur auf die elementaren Bedürfnisse der Menschen beschränkt. L. erstreckt sich insbes. auf den Bereich der —» Daseinsvorsorge (z.B. Lieferung von Gas, Wasser, Strom), auf die soziale Sicherung (z.B. —> Sozialhilfe, -> Wohngeld, -> Jugendhilfe, Ausbildungs- und -> Arbeitsförderung), aber auch auf die Förderungen gesellschañs-, sozial-, wirtschafìs- oder kulturpolit. Ziele (z.B. finanzielle Zuwendungen für Badeanstalten, Kindergärten, Theater, Museen oder Bibliotheken). Durch die Maßnahmen der
Lesung L. soll nicht zuletzt die rechtl. und soziale Stellung des Bürgers begünstigt werden. Lit.: E. Forsthoff: Lehrbuch des Verwaltungsrechts, München 10 1973.
H. W. Lesung / -en Als L.en werden die Beratungen eines Gesetzentwurfes im Parlamentsplenum bezeichnet. Die Praxis, jeder Gesetzesvorlage 3 Beratungen im beschlußfassenden Gremium zu widmen, geht vermutlich auf die Rechtsetzungspraxis in den Vertretungskörperschaften der christl. Mönchsorden des Hochmittelalters zurück und soll sicherstellen, daß jedem Gesetzgebungsakt ein gründliches Abwägen von Argumenten vorausgeht. In Dtld. haben die 3 L.en, deren zeitliche Planung im -» Ältestenrat erfolgt, ganz unterschiedliche Aufgaben und Merkmale. Bei der Ersten L. einer Gesetzesvorlage kommt es nur dann zu einer —» Debatte, wenn dies vom Ältestenrat empfohlen oder von 5% der —> Abgeordneten verlangt wird. Auch dann ist die Debatte auf Grundsätzliches und Allgemeines beschränkt und besteht v.a. aus Erklärungen der —> Fraktionen und Regierung zum Gesetzentwurf; Änderungsanträge sind unzulässig. Im wesentlichen dient die erste L. dazu, den Gesetzentwurf vom -> Plenum an einen oder mehrere —» Ausschüsse zur Beratung zu überweisen. Geschieht weder dies noch eine sofortige Weiterbehandlung im Plenum in Gestalt der zweiten und dritten L., ist der Gesetzentwurf zu Fall gebracht. Die auf die erste L. folgenden nicht-öffentl. Ausschußberatungen stellen - und zwar außerhalb der L.en - den Kern der Parlament. Beratung eines Gesetzentwurfs dar. Dort wird für das Plenum ein fertiger, oft im Vergleich zur Gesetzesvorlage sehr veränderter, Gesetzestext ausgearbeitet. Der befaßte Ausschuß kann allerdings auch übereinkommen, eine Vorlage nicht weiter zu behandeln, womit sie zu Fall gebracht ist. In der Zweiten L. wird ein Gesetzentwurf auf der Grundlage der Beschlußempfehlung des (federführenden)
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Liberaler Rechtsstaat
Liberalismus
beratenden Ausschusses diskutiert. Schon diese Debatte dient nicht mehr einer ergebnisoffenen Beratung, sondern dazu, das in Ausschuß und Fraktion Verhandelte nun in zusammengefaßter und verdichteter Weise öffentl. darzustellen und einem Plenarbeschluß zuzuführen. Hieraus ergibt sich ihr nach außen gerichteter, oft konfrontativer Charakter. Bei dieser Debatte anwesend zu sein, ist für die meisten Abgeordneten sachlich unnötig, weswegen i.d.R. nur die betroffenen Ausschußmitglieder teilnehmen. Grds. behandelt die zweite L. jede selbständige Bestimmung der Gesetzesvorlage; zu jeder einzelnen selbständigen Bestimmung können auch Änderungsanträge gestellt werden. Meist bringen die Oppositionsfraktionen hier ihre in der Ausschußphase nicht zum Zuge gekommenen Vorstellungen noch einmal als Änderungsanträge vor. Weder wird dies von den Mehrheitsfraktionen als Abrücken vom im Ausschuß oft erreichten Konsens angesehen, noch werden die Oppositionsfraktionen davon überrascht, daß ihre Änderungsanträge auch jetzt keine Mehrheit finden. Die Dritte L. findet unmittelbar nach der zweiten L. statt, falls in dieser keine Änderungen beschlossen wurden. Während bei der zweiten L. jeder Abgeordnete Änderungsanträge stellen kann, bedürfen diese in der dritten L. der Unterstützung von 5% der Abgeordneten. Nur beim Vorliegen von Änderungsanträgen kommt es in der dritten L. erneut zu einer Debatte; sonst besteht sie nur aus der Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf. Dieser stellt den Gesetzesbeschluß des Bundestages dar (s.a. Gesetzgebung). Lit.: —» Gesetzgebung Werner J. Patzelt Liberaler Rechtsstaat - » Rechtsstaat -> Liberalismus Liberalismus 1. ist ein Sammelbegriff für im einzelnen äußerst heterogene und untereinander z.T. sich widersprechende 540
Überzeugungen, Theorien und Ideologien, in denen dem Schutz der individuellen —> Freiheit sowohl durch die konstitutionell garantierten —> Grund- oder Menschenrechte als auch durch einen in seinen Kompetenzen konstitutionell beschränkten -> Rechtsstaat höchste Priorität zukommt. Generell läßt sich zwischen einem polit. L., dem an einer möglichst umfangreichen grundrechtl. Garantie zur Entfaltung der Persönlichkeit gelegen ist, und einem Ökonom. L. unterscheiden, der diese Individualfreiheit auf eine weitgehend uneingeschränkte Verfügung über Privateigentum bezieht. Die jeweilige Konjunktur dieser L.varianten ist durch die unterschiedlichen gesellschaftl. Problemlagen sowie durch die Konkurrenz durch alternative polit. Theorien bedingt. 2. Für die Entstehung liberalen Gedankengutes im weitesten Sinne sind mehrere Entwicklungen verantwortlich. Unter Ökonom. Aspekt entstehen im Laufe des Frühkapitalismus allmählich eine v.a. durch den zunehmenden Femhandel initiierte Nationalökonomie und zugleich ein in die nationalen und internationalen Ökonom. Prozesse intervenierender -> Staat. Dieser v.a. im Außenhandel aufgrund seiner militärischen Schutzfunktion zunächst unentbehrliche Staat wird auf nationaler Ebene zunehmend der Adressat Ökonom. Liberalisierungsforderungen des emanzipationsbestrebten Bürgertums. In kultureller Hinsicht trägt auf der einen Seite die Renaissance zur Erschütterung des mittelalterlich-christl. Weltbildes bei, indem sie den Menschen zum Maß aller Dinge - auch der polit. Ordnungen macht. Auf der anderen Seite verstärkt die Reformation diese Relativierung des religiösen Weltbildes und macht religiöse und polit. Toleranz notwendig. Diese epochalen Ereignisse, zusammen mit der Entwicklung der Naturwissenschaften und der sie begleitenden philosophischen Aufklärung, erschüttern die traditionellen Vorstellungen der gerechten und guten polit. Ordnung grdl. und provozieren neue Legitimationsmodelle staatl. -> Herr-
Liberalismus schaft. 3. In Hobbes' (1588-1679) Theorie des bürgerl. Staates finden sich als wesentliche Aspekte des neuzeitlichen Selbstverständnisses eine Ablehnung der klassischen polit. Philosophie, ein radikaler Individualismus sowie eine methodische Orientierung an der Naturwissenschaft. Hobbes' Leviathan läuft zwar auf eine absolutistische und darum anti-liberale Staatstheorie hinaus, weil in ihr ausschließlich der vertraglich institutionalisierte allmächtige Souverän Recht setzt und die Untertanen ihm gegenüber keinerlei polit. Rechte besitzen. Dennoch gesteht Hobbes den Individuen seiner Vertragstheorie, die grds. als selbstinteressiert und nutzenmaximierend konzipiert sind, auch solche Freiheiten zu, die heute als liberal gelten: Diese beziehen sich in erster Linie auf die Ökonom. Beziehungen der einzelnen untereinander, aber auch auf die Wohnungs- und Berufswahl sowie auf Fragen der Kindererziehung. In einer klassisch gewordenen Formulierung begreift Hobbes Freiheit generell als Abwesenheit von äußeren Widerständen oder Zwängen. J. Locke (1632-1704), der weithin als eigentlicher Begründer liberaler Theorie gilt, hat in der 2. seiner „Zwei Abhandlungen über die Regierung" ein moderates Modell der Begründung polit. Ordnung entworfen. Der ebenfalls per Vertrag eingesetzte Souverän, der Garant naturrechtl. Ansprüche der Individuen, bleibt vom - * Vertrauen der Bürger abhängig und ist überdies absetzbar. Die polit. —> Gemeinschaft besitzt also das Recht, sich gegen Machtmißbrauch zu schützen. Zweck der Gemeinschaft bzw. der von ihr bestellten —» Regierung ist letztlich die Erhaltung des -> Eigentums, worunter Locke allerdings sowohl das Vermögen der Individuen als auch deren Leben und Freiheiten verstanden wissen will. 4. Erste Institutionalisierungen liberaler Grundrechte stellen die -> Bill of Rights von 1689 in England, die ebenfalls als Bill of Rights bezeichneten ersten 10
Liberalismus Amendments, die 1791 der —> Verfassung der USA hinzugefügt wurden sowie die Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte in Frankreich dar. Die amerik. Verfassung von 1787 ist darüber hinaus das bis in die Gegenwart Maßstäbe setzende Modell der Begrenzung und der komplizierten Verschränkung der polit. Gewalten als Grundvoraussetzung einer Herrschaft des Rechts im liberalen Sinne. Weitere Forderungen des polit. L., z.B. die Einführung des allgemeinen -» Wahlrechts und des Repräsentativsystems sowie der weitere Ausbau der Grundrechtskataloge, sind im Laufe des 19. Jhd.s v.a. in Großbritannien und Frankreich realisiert worden. Der seit dem —> Vormärz in unterschiedliche Lager gespaltene dt. L. konnte bis zu Anfang des 20. Jhd.s dagegen lediglich die Einführung des -> Konstitutionalismus als Erfolg verbuchen. 5. In Ökonom. Perspektive erfordert das liberale Prinzip der Freiheit von äußerem Zwang die möglichst uneingeschränkte Verfügung über die in Privatbesitz befindlichen Produktionsmittel. An diese auch als Theorie des Besitzindividualismus (MacPherson) kritisierte Ökonom. Variante des L., die bereits bei Hobbes und explizit bei Locke angelegt ist, knüpft A. Smith im 18. Jhd. an. Er geht in Der Wohlstand der Nationen von Hobbes' Modell der grds. eigennützig an Bedürfnisbefriedigung orientierten Individuen aus, gelangt jedoch zu einer gänzlich anderen Schlußfolgerung, weil er in diesem Ökonom. Individualismus nicht den Grund für einen potentiellen Krieg aller gegen alle, sondern die Voraussetzung sowohl des individuellen als auch des gesellschaftl. materiellen Wohls erblickt. Smith fordert daher eine staatl. Gewalt, die dem Wirken der „unsichtbaren Hand" als Koordinationsmechanismus individuellen Wirtschaftens größtmögliche Geltung verschafft. 6. War das Konzept einer auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln aufruhenden und durch Äquivalententausch in 541
Liberalismus Gang gehaltenen Marktwirtschaft für Smith noch weitgehend unproblematisch, so wird die soziale Frage in der zweiten Hälfte des 19. Jhd.s so zentral, daß auch Liberale nicht mehr umhinkönnen, Stellung zu beziehen. J.S. Mill (1806-1873) veranschaulicht in „Über Freiheit" zwar noch einmal die zentrale Bedeutung des liberalen Leitbegriffes und er hegt, beeinflußt durch Tocqueville (1805-1859), Befürchtungen im Hinblick auf die Massendemokratie. In seinen Ökonom. Schriften lassen sich jedoch Auffassungen finden, die mit denjenigen von J. Bentham (17481832) und J. Mill noch unvereinbar gewesen wären - etwa in bezug auf Einschränkungen bei der Nutzung von Produktionsmitteln und hinsichtlich der Interventionspflicht des Staates bei der Beschränkung der täglichen Arbeitszeit. Diese und andere Revisionen liberaler Theorie und Praxis reichen jedoch nicht aus, um den parteiförmig organisierten L. vor dem Hintergrund der sozialen Probleme der industrialisierten Staaten als überzeugende Alternative zu den sozialistischen Parteien als Vertretung der Arbeiterschaft bzw. zu den konservativen Parteien als Repräsentanten des verunsicherten und schrumpfenden bürgerl. Lagers erscheinen zu lassen. Ein eklatantes Beispiel für die generelle Krise des L. ist der rasche Niedergang der Liberal Party nach dem Auftauchen der —> Labour Party zu Anfang des 20. Jhd.s in Großbritannien. 7. Mit der Einführung von Sozialversicherungssystemen in zahlreichen europ. Staaten um die Jhd. wende und den wirtschaflspolit. Interventionen im Rahmen des New Deal in den USA als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise nach dem I. Weltkrieg sind die im einzelnen sehr unterschiedlich ausgestalteten Fundamente modemer Sozialstaatlichkeit gelegt. Der um eine Neufassung des L. bemühte Ökonom J. M. Keynes lieferte in den 30er Jahren die theoretische Begründung für den krisenbedingten Interventionismus des Staates, dem er eine zentrale Rolle bei
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Liberalismus der polit. —> Steuerung der gesamtwirtschaftl. Nachfrage zuwies. Das nicht unumstrittene Keynessche Konzept wurde später jedoch, u.a. auch in der BRD, nicht zum Bestandteil liberaler, sondern Sozialdemokrat. Wirtschaftspolitik. 8. Der sog. Neoliberalismus, der z.T. auf Vorstellungen des klassischen Wirtschaftsliberalismus zurückgreift, ist als Reaktion auf die zunehmenden staatl. Interventionspolitiken entstanden. In Dtld. tritt der Ordo-Liberalismus der Freiburger Schule zwar für einen starken Staat ein, aber dieser ist bei W. Eucken lediglich einer den Ökonom. Wettbewerb garantierenden Ordnungspolitik verpflichtet. A. Müller-Armack und W. Röpke kombinieren dagegen die Ökonom. Effizienz des Marktes mit der Notwendigkeit der Korrektur seiner aus normativer Sicht z.T. ungerechten Ergebnisse im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das zum wirtschaftspolit. Leitbild der frühen BRD wird. Demgegenüber warnen M. Friedman und F. A. v. Hayek vor den Gefahren eines allmächtigen intervenierenden bzw. planenden Staates für das Ökonom. System bzw. die Gesellschaft. 9. Zu Beginn der 70er Jahre hat mit der Neubelebung der Gesellschaftsvertragstheorie auch die Diskussion um den polit. L. neue Impulse erhalten. J. Rawls hatte in seinem Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit" solche Prinzipien zu begründen versucht, denen liberale Verfassungen genügen müssen. Dieser wesentlich auf Elemente aus Kants praktischer Philosophie rekurrierende Ansatz hat Widerspruch durch R. Nozick und J. M. Buchanan erfahren, die mit ihren auf Locke bzw. Hobbes gestützten Kontrakttheorien v.a. die durch das Rawlssche Differenzprinzip angelegte soziale bzw. sozialstaatl. Dimension des L. kritisieren. Diese durch Rawls (re)formulierten sozialen bzw. egalitären Implikationen des L. sind zentral bei Ronald Dworkin. Er geht davon aus, daß der Dreh- und Angelpunkt liberaler Theorie nicht im Prinzip der —> Freiheit, sondern in dem der —» Gleichheit
Linke Liste
Lohnsteuer
besteht, interpretiert als ein Grundrecht, das den Staat verpflichtet, alle Bürger nicht in erster Linie gleich, sondern v.a. als Gleiche zu behandeln. Die freie Verfügung über Privateigentum in einer kapitalistischen Marktwirtschaft wird nicht als ein Wert an sich, sondern als eine mehr oder weniger geeignete Strategie zur Optimierung des Grundwertes Gleichheit betrachtet. 10. Allen Varianten des polit. L., v.a. aber dem im Rahmen von Reagonomics und Thatcherismus praktizierten Wirtschaftsliberalismus ist in den 80er Jahren von seiten der Anhänger des -> Kommunitarismus die Mißachtung bzw. Zerstörung der sozialen Infrastruktur, auf die auch liberale Gesellschaften angewiesen seien, vorgeworfen worden. Diese partiell berechtigte Kritik kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der L. und seine Prinzipien zu den unverzichtbaren Bestandteilen moderner, demokrat. verfaßter Gesellschaften gehören. Lit: Α. Arblaster: The Rise and Decline of Western Liberalism, Oxford 1986; I. Berlin: Freiheit, Frankfiirt/M. 1995; R. Dworkin: Liberalism, in: ders., A Matter of Principle, Cambridge/Mass. 1985, S. lSlflf.; FA. ν. Hayek: Recht, Gesetzgebung und Freiheit, 3 Bde., Landsberg/Lech 1980ff.; D. Langewiesche: Liberalismus in Dtld., Frankfurt/M. 1988; J. Rawls: Polit. Liberalismus, Frankfurt/M. 1992; M.J. Sandel (Hg.): Liberalism and Its Critics. New York 1984.
Michael Becker Linke Liste / PDS —> Partei des Demokratischen Sozialismus —> s.a. Gruppe, parlamentarische Linksextremismus tischer
Extremismus, poli-
Listenwahl —> Wahl -> Wahlrecht Listenverbindung
Wahl
Lobby - » Lobbyismus Lobbyismus Ursprünglich publizistisch-
polemischer, inzwischen auch fachwissenschaftl. Begriff zur Beschreibung des Agierens von Interessengruppen. Abgeleitet von engl, lobby (= Vorraum, Foyer, Wandelhalle), meinte lobbying zunächst Versuche, im räumlichen Umfeld der Sitzungssäle von —> Parlamenten durch Informationen, Argumente, in Aussicht gestellte Vorteile bzw. angedrohte Nachteile auf die —> Abgeordnete Einfluß zu nehmen. Der letztgenannte Aspekt der unzulässigen oder gar illegalen Einflußnahme klingt im populären Sprachgebrauch bis heute nach. Mit oder ohne diesen Akzent wird im Deutschen unter Lobby verstanden der Kreis jener Personen, Organisationen und Institutionen, die auf die Sichtweisen und Entscheidungen von Parlamentariern, Regierungsmitgliedem oder Ministerialbeamten Einfluß nehmen wollen. L. meint sodann das Agieren jener Personen, Organisationen und Institutionen sowie die dabei benutzten formellen oder informellen, unanstößigen oder fragwürdigen Praktiken. Lit.: V. Eichener (Hg.): Europ. Integration und verbandliche Interessenvermittlung, Marburg 1994; M Strauch: Lobbying, Frankfurt/M. 1993.
W.J. P. Lohnsteuer ist eine besondere Erhebungsform der —» Einkommensteuer (—> Steuern) auf Einkünfte aus nichtselbständiger -> Arbeit. Sie ist ein Steuerabzug vom Arbeitseinkommen des Steuerschuldners. Die L.belastung ist abhängig von der Höhe des Arbeitsentgelts, dem Familienstand, der Kinderzahl und anderen individuellen Umständen. L.Schuldner ist der Arbeitnehmer. Dennoch wird die Veranlagung als sog. Quellenabzug direkt vom Arbeitgeber durchgeführt. Dieser hat die L. anzumelden, einzubehalten und abzuführen. Er handelt dabei als -> Organ der Finanzverwaltung. Für die Berechnung der Steuerbemessungsgrundlage und des jeweiligen Steuersatzes gelten die allgemeinen Vorschriften des Einkommensteuerrechts ergänzt durch LandesdurchführungsVOen. Dem L.abzug wer-
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Luftverkehrsrecht
Lohnsteuerhilfeverein den L.tabellen zu Grunde gelegt, in denen für die einzelnen Lohnzahlungen die Steuerbeträge ausgewiesen sind. Falscher Steuerabzug, bedingt durch Einkommensschwankungen, —> Arbeitslosigkeit, u.a. wird am Ende des Jahres durch einen L.ausgleich bzw. eine EinkommensteuerVeranlagung korrigiert. Nach dem Familienstand wird der Arbeitnehmer in 6 Steuerklassen mit entsprechend unterschiedlicher L.last eingeteilt. Den wichtigsten persönlichen Abzugsmöglichkeiten wird dadurch Rechnung getragen, daß Pauschalbeträge ohne Einzelnachweis anerkannt werden, bzw. diese bereits in den L.tabellen bei der Berechnung der L. berücksichtigt sind. Einbehaltung und Abfuhrung der L. werden durch Außenprüfung kontrolliert. Der Arbeitgeber haftet unter bestimmten Voraussetzungen für die einzubehaltende, abzuführende L.; den besonderen Steuerstrafbestand der Gefährdung von Abzugssteuern (§ 380 AO) verwirklicht, wer vorsätzlich oder leichtfertig seiner Verpflichtung Steuerabzugsbeträge einzubehalten oder abzuführen, nicht, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig nachkommt. Das Einbehalten und Abführen ist eine Gesamtpflicht. Diese Pflicht verletzt auch, wer einbehält, aber nicht abführt; der Versuch ist nicht strafbar. Lit.: Κ. Offerhaus (Hg.): Lohnsteuerrecht, Textausg., München 3 1993; E. Ranft / M Lange: Lohnsteuer, Achim ,2 1996; P. Wollny / C. Kühr (Bearb.): Entscheidungssammlung zum Lohnsteuerrecht, Losebl., Neuwied 1989ff.
K.H.
Lohnsteuerhilfeverein tungsgesetz
->
Steuerbera-
Lomé-Abkommen —> AKP-Staaten Lordkanzler Der L. (Lord Chancellor) übt in Großbritannien wichtige Funktionen in —> Legislative, —> Exekutive und —> Judikative aus. Er ist Mitglied des -> Oberhauses und präsidiert als dessen Vorsitzender über Plenarsitzungen. Zu544
gleich ist er als Regierungsmitglied im Kabinettsrang ftlr rechtspolit. Fragen zuständig. Er fungiert als oberster jurist. Amtsträger (chief legal officer) der Regierung. Darüber hinaus ist er der oberste Richter des Landes, der über Anhörungen der Law Lords präsidiert, die als höchste richterliche Berufungsisntanz fungieren. Darüberhinaus ernennt er Richter, hochrangige Rechtsanwälte (Queen's Counsels) und Vorsitzende von Tribunalen (—> s.a. Parlamentsgeschichte, brit.). Lit: Ν. Underbill: The Lord Chancellor, Lavenham 1978.
T.S. L P G = Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft —> Landwirtschaft Luftfahrt-Bundesamt Das LBA ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des -> Bundesministers filr Verkehr mit Sitz in Braunschweig; sie wurde aufgrund des Gesetzes über das Luftfahrtbundesamt vom 30.11.1954 (BGBl. I S. 354) gegründet. Aufgaben des LBA sind: Muster- und Verkehrszulassung von Luftfahrzeugen, Mitwirkung bei der Durchführung des Such- und Rettungsdienstes, Untersuchung von Störungen beim Betrieb von Luftfahrzeugen und seit 1996 auch sicherheitstechn. Überwachungsaufgaben an ausländischen Luftfahrzeugen, die dt. Flugplätze benutzen. T. Z.
Luftverkehrsrecht Das Recht des seit Jahren stetig wachsenden zivilen Luftverkehrs gewinnt unter Wirtschaft!. und umweltpolit. Aspekten an Bedeutung. Es besteht aus verschiedenen —> Gesetzen und —• Verordnungen, die sich auf die Luftfahrt, Luftfahrzeuge, Flughäfen und den Luftraum beziehen. Hinzu treten zivilrechtl. Normen und Abkommen (z.B. Warschauer Abkommen vom 12.10.1929), die Beförderungsleistungen und Haftung im Luftverkehr regeln. Die Gesetzgebungskompetenz liegt gem. Art. 73 Nr.6 GG beim —> Bund, jedoch geht europ.
Luxemburg
Macht
Recht dem nationalen Recht vor. Zentrale Rechtsnorm in Dtld. ist das Luftverkehrsgesetz (LuftVG vom 14.1.1981), dessen erste Fassung schon 1922 in Kraft trat. Die Benutzung des Luftraumes durch Luftfahrzeuge ist danach grds. frei, § 1 LuftVG. Das LuftVG und die Luftverkehrsverordnung (LuftVO vom 14.11. 1969) schaffen den Ordnungsrahmen u.a. für den Betrieb und die Zulassung von Luftfahrzeugen und das Verhalten im Luftverkehr sowie die Anlage von Flugplätzen. Überflugs- und Landerechte zwischen Staaten (5 Freiheiten der Luft) werden durch das Chicagoer Abkommen vom 7.12.1944 bestimmt. Internationale zwischenstaatl. Zivilluftfahrtorganisation ist die ICAO (International Civil Aviation Organisation) mit Sitz in Montreal. Bedeutendste Organisation der gewerblichen Luftfahrt ist die IATA (International Air Transport Association). Internationale Verkehrsflughäfen sind im Airport Council International (ACI) zusammengeschlossen. Lit.: W. Schwenk: Handbuch des Luftverkehrsrechts, Köln 21996; T. Zielke: Verkehrslenkung in Flughafensystemen, Berlin 1998.
Thomas Zielke Luxemburg, lux. Parlament Nach der im Kern bis heute gültigen und zuletzt 1956 revidierten Verfassung von 1868 ist L. ein konstitutionelles Großherzogtum auf demokrat.-parlament. Grundlage. L. zählt zu den 6 Gründungsmitglieder der —> Europäischen Gemeinschaft. Das Parlament (-> Chambre des Députés) übt im —> Einkammersystem die -> Legislative aus. Die 60 —> Abgeordneten werden nach dem —> Verhältniswahlrecht alle 5 Jahre direkt vom Volk gewählt. Wahlberechtigt sind alle L.er über 18 Jahren, das passive Wahlrecht besitzen alle L.er über 21 Jahren mit Wohnsitz im Land. Für alle 18- bis 60-jährigen besteht -> Wahlpflicht. Das Parlament weist ausgeprägte präsidentielle Züge auf. Zusammen mit der Regierung hat der Großherzog (seit 1964 Jean von Luxemburg) als - > Staats-
oberhaupt die Exekutivgewalt inne. Er ernennt und entläßt die -> Minister und regelt die Organisation der —> Regierung. Ein Mißtrauensantrag des Parlaments gegen die Regierung ist zwar mit relativer Mehrheit durchzusetzen, bleibt aber unverbindlich. Das Gesetzesinitiativrecht einzelner Abgeordneter ist beschränkt. Zudem bedarf jedes Gesetz eines vorhergehenden Gutachtens durch den 21köpfigen Staatsrat, dessen Mitglieder vom Großherzog auf Lebenszeit ernannt werden. Die eigentliche legislative Arbeit vollzieht sich aber in den Kommissionen. Zwar sieht die Verfassung plebi szitäre Elemente vor, diese finden aber praktisch keine Anwendung. In L. besteht eine -> Inkompatibilität zwischen Ministeramt und Abgeordnetenmandat. Dennoch ist der Anteil von aus dem Parlament rekrutierten Minister i.d.R. sehr hoch. Dominierende Fraktionen im Parlament sind die Christi.-Soziale Partei (CSV) und die gewerkschaftlich orientierte Sozialistische Arbeiterpartei (LSAP). Seit 1945 ungebrochen stärkste Fraktion ist die CSV, die mit Ausnahme einer —> Legislaturperiode (1974-79) permanent an der Regierung beteiligt gewesen ist. Lit.: H. Döring (Hg.): Parliaments and Majority Rule in Western Europe, Frankfurt/M. 1995; W. Ismayr (Hg.): Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 38 Iff.
Karen Radtke
IVIaastrichter Vertrag —> EU-Vertrag Macht ist die Chance, in einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, ganz gleich, worauf diese Chance beruht (Max Weber). M. ist nicht einfach amorph, sondern im Gegenteil sehr vielgestaltig; ihre Grundlagen können von persönlichem Charme über Amtsautorität und Wirtschaft. Stärke bis hin zum Besitz überlegener Waffen reichen; ihr Einsatz kann
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MAD
Magistrat
formell oder informell sein. M. ist im übrigen ein relationales Phänomen: Mit denselben M.grundlagen ausgestattet, kann A gegenüber Β machtvoll, gegenüber C aber machtlos sein. Bei der Anwendung von M. sind femer 3 Formen zu unterscheiden. Erstens kann A seinen Willen gegenüber Β durchsetzen (Durchsetzungsmacht). Zweitens kann A verhindern, daß eine von Β angestrebte Entscheidung überhaupt getroffen wird; dann hat sich A zwar nicht inhaltlich durchgesetzt, zumindest aber verhindert, daß Β sich durchsetzen kann (Verhinderungsmacht). Drittens kann A die Begriffe prägen, anhand welcher die Streitfrage formuliert und ausgemachten wird (etwa: „Schwangerschaftsunterbrechung" statt „Tötung ungeborener Menschen"). Dadurch kann A schon im Vorfeld einer Auseinandersetzung mit Β Einfluß darauf nehmen, welche Überzeugungskraft die vorgetragenen Argumente gewinnen dürften (semantische M.). -> Staatsgewalt —> s.a. Herrschaft. Lit.: Η. Ρ Opitz: Phänomene der Macht, Tübingen 1986.
W.J. P. MAD -> Militärischer Abschirmdienst Magdeburger Modell —» Minderheitsregierung Magistrat (in kleineren Gemeinden: Gemeindevorstand) Im Geltungsbereich der —» Magistratsverfassung (-» Hessen und neue Bundesländer) bildet der M. das administrative Gegenstück zur Stadtverordnetenversammlung. Er besteht nach der Gemeindeordnung aus einer nach Größe der -> Gemeinde bestimmten Anzahl von haupt- und nebenamtlichen Stadt- / Gemeinderäten. An der Spitze steht der für 6 Jahre direkt gewählte (Ober-)—> Bürgermeister. Die nebenamtlichen Stadträte werden von den Fraktionen bestimmt; sie geben damit ihr Stadtverordnetenmandat auf; nach ihrem evtl. vorzeitigen Ausscheiden werden sie durch
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einen gewählten —» Nachriicker ersetzt. Der M. ist ein Kollegialorgan, seine Mitglieder sind nicht an Weisungen Dritter gebunden. Die Hauptamtlichen erhalten ihre Dezernate vom Vorsitzenden, dem (Ober-)Bürgermeister, zugewiesen. Er kann während der Wahlzeit (hauptamtliche 6 Jahre, nebenamtliche 4 Jahre) Änderungen vornehmen, mit Ausnahme der von der Stadtverordnetenversammlung gebietsmäßig festgelegten Amtsinhaber (z.B. Stadtkämmerer, Baudezement, Rechtsdezement). Die hauptamtlichen Dezernenten werden von der Stadtverordnetenversammlung entsprechend den Mehrheitsverhältnissen gewählt. Die nebenamtlichen Stadträte übernehmen nur gelegentlich Dezernate oder Ämter. Sie verstehen sich v.a. als Vertreter ihrer - » Fraktionen (-> Parteien, —> Wählervereinigungen) in der Verwaltungsspitze. Zahlenmäßig können die hauptamtlichen Mitglieder von den nebenamtlichen überstimmt wérden. Der (Oberbürgermeister ist primus inter pares. Er vertritt die -> Stadt nach außen und - meistens mit einem weiteren Stadtrat - bei Rechtsgeschäften, die i.d.R. von der Stadtverordnetenversammlung genehmigt werden müssen. Er vertritt die M.smeinung gegenüber der Öffentlichkeit, kann jedoch auch eine abweichende Meinung öffentl. artikulieren. Er hat rechtsfehlerhaft erscheinende Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung / Gemeindevertretung anzuhalten. Konflikte entstehen innerhalb des M.s, wenn die polit. Zusammensetzung mehrheitlich von der Position des (Oberbürgermeisters abweicht. Der M. ist verantwortlich für die Erledigung der laufenden Verwaltung sowie der Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung. Er soll auf wichtigen Gebieten, z.B. der Stadtentwicklung, initiativ werden. Eine wichtige Aufgabe der kommenden Jahre liegt in der Umwandlung der Stadtverwaltung zum kommunalen Servicebetrieb unter Anwendung der in der Wirtschaft erprobten Verfahren, z.B. lean management, -» Budgetierung, freiere Haushaltsbewirtschaftung, größere
Magistratsverfassung Verantwortungs- und Handlungsspielräume für die Bediensteten. Ein Controlling wird über die Einhaltung der von den demokrat. Gremien beschlossenen Vorgaben wachen. Der M. kann zu seiner Unterstützung und Beratung Kommissionen bilden, die mit Ehrenbeamten (Stadtverordneten und / oder außerparlament. Experten) besetzt werden (z.B. Vergabe-, Baukommission, Widerspruchsausschuß). Das Verhältnis zwischen M. und Stadtverordnetenversammlung sollte kooperativ sein, damit die effiziente Handlungsfähigkeit beider Gremien gewährleistet wird. Über die Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung hinaus ist der M. im Vorfeld auf eine permanente Zusammenarbeit mit den Fraktionen angewiesen. Sie benutzen den Sachverstand der Verwaltung, und die Stadtverordnetenversammlung stellt die erforderlichen finanziellen Mittel bereit (Haushaltsplan), auch für die Personalstellen,über deren Besetzung der M. verfügt. Ein Organisationsplan regelt die Geschäflsverteilung innerhalb der Stadt- / Gemeindeverwaltung. Lit: —> Magistratsverfassung Wolfgang W. Mickel Magistratsverfassung Nach Art. 28 Abs. 1 GG muß das Volk in den —> Gemeinden eine Vertretung haben. Die sog. unechte MV. steckt in —• Hessen (ehemaligen amerik. Besatzungszone) - neben der —> süddeutschen und —• norddeutschen Ratsverfassung (ehem. frz. und brit. Besatzungszone) - sowie ähnlich in den ostdt. Bundesländern den gesetzlichen Rahmen für die Gemeinden in Gestalt der Gemeindeordnung ab. Sie verleiht den —> Kommunen das Recht der Selbstverwaltung, die Allzuständigkeit als administrative Befugnis. Die staatl. —> Kommunalaufsicht übt z.B. durch obligatorische Prüfung und Genehmigung des Haushaltsplans oder durch Entscheidungen in Streitfällen zwischen kommunalen Organen (-> Magistrat und Stadtverordnetenversammlung/in kleineren Gemeinden —>
Magistratsverfassung Gemeinderat und Gemeindevertretung oder —> Fraktionen) sowie über Finanzzuweisungen einen erheblichen polit, und verwaltungsmäßigen Einfluß aus. Solche unmittelbaren Eingriffe wären bei „echten" (souveränen) -> Parlamenten nicht möglich. Daraus resultiert die h.M. in der Kommunalwissenschaft: Kommunale Vertretungskörperschaften sind keine „echten Parlamente", aber als „demokrat. gewählte Beschlußorgane" dem ,3ereich der - » Legislative" zuzuordnen, wenn und insofern sie Ortsgesetze (-> Satzungen) erlassen. Nach der Judikatur des —> Bundesverfassungsgerichts werden —> Städte, Gemeinden und -> Kreise ihrem Stellenwert nach zu -> Bund und - » Ländern grds. als gleichwertige, unterste - und von daher gesehen erste - Ebene des mehrstufig aufgebauten Gemeinwesens BRD betrachtet. Man unterscheidet in den Gemeinden zwischen staatl. —• Auftragsverwaltung (z.B. Ordnungs-, Paß-, Einwohnermelde-, —> Standesamt) und freiwilligen Aufgaben (z.B. öffentl. Einrichtungen wie Theater, Bibliotheken, Schwimmbäder, Straßen, Parks). Gemeindeverwaltung war traditionell Hoheits- und —» Leistungsverwaltung. Sie befindet sich derzeit im Übergang zum bürgemahen Servicebetrieb. Viele gemeindliche Aufgaben sind landesund bundesgesetzlich festgelegte sog. Leistungsverpflichtungen (z.B. Sozialausgaben). Dazu kommen sog. Pflichtaufgaben als staatl. Auftragsangelegenheiten wie Standesämter, Bauüberwachung, Sozialhilfe. Die Gemeinden sind kommunale Gebietskörperschaften (—> Körperschaften des öffentlichen Rechts) und verfügen über keine eigene Staatlichkeit. Sie sind Selbstverwaltungsträger und damit der —> Exekutive zuzurechnen. Sie können als dritte Ebene der Politik (neben Land und Bund) bezeichnet werden. Ihre Steuerung erfolgt nach normativen Vorgaben, z.B. durch rechtl. (Gemeindeordnung), polit. (Ziele, Programme) und budgetäre Festlegungen (kommunales Haushaltsrecht). Der histor. Ort der MV. ist in der dt.
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IMagistratsverfassung Verfassungsbewegung des beginnenden 19. Jhd.s zu suchen, konkret in der preuß. Städteordnung des Freiherrn vom Stein (1808). Das —• Grundgesetz hat die Linie der Steinschen Städteordnung weitergeführt und bestimmt in Art. 28 Abs. 2: „Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln". Während des —» Nationalsozialismus erfolgte die formelle Abschaffung der Selbstverwaltung durch die Dt. Gemeindeordnung 1935. Nach dem Zusammenbruch 1945 erwiesen die Gemeinden sich als die einzigen relativ intakten öffentl. Verwaltungsinstitutionen. In der —> DDR wurden die Gemeinden zu lokalen Verwaltungsebenen des zentralistischen Einheitsstaates herabgestuft. Für die MV. ist Charakteristisch die Notwendigkeit einer ständigen Ausbalancierung der Macht zwischen den in den Fraktionen und in der Stadtverordnetenversammlung / Gemeindevertretung (an deren Spitze ein von diesem Gremium gewählter Vorsitzender steht) zusammengeschlossenen, auf Listen gewählten Bürgern (den Stadtverordneten / Gemeindevertretem) und dem von den Stadtverordneten / Gemeindevertretern gewählten, aus haupt- und nebenamtlichen Mitgliedern bestehenden —> Magistrat / Gemeindevorstand. Den Vorsitz nimmt der aus einer Volkswahl hervorgegangene (Ober-)—> Bürgermeister ein. Er hat u.a. das Recht, die —> Ressorts (Dezernate) den hauptamtlichen Magistratsmitgliedem zuzuteiten (mit Ausnahme der von der Stadtverordnetenversammlung / Gemeindevertretung für ein bestimmtes Dezernat, z.B. Kämmerei, Bauamt, Rechtsamt). Der (Ober-)Bürgermeister vertritt die Stadt nach außen und bei allen Rechtsgeschäften, er ist Sprecher des Magistrats, eine abweichende Meinung darf er öfTentl. bekannt geben, er muß ihm rechtsfehlerhaft erscheinende Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung / Gemeindevertretung anhalten. Die Macht der Fraktions- und
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Magistratsverfassu ng einiger Ausschußvorsitzender ist beachtlich (sog. Vorentscheidergruppe), die (Mehrheits-)Fraktionen sind ausschlaggebend für die Durchsetzung des polit. Willens in der Gemeinde. Je nach polit. Gewicht sind die Bürgermeister und Dezernenten darin eingebunden. Der Ausländerbeirat entsendet ein nicht stimmberechtigtes Mitglied in die Ausschüsse und - nach Zustimmung durch die Stadtverordnetenversammlung - einen nicht stimmberechtigten Vertreter in das Stadtparlament. Die nach der MV. vorgeschriebene Trennung von —> Verwaltung (vertreten durch den Magistrat) und Kommunalparlament entspricht einer konsequenten —> Gewaltenteilung. Insofern ist die MV. die weitaus demokratischste Gemeindeverfassung in Dtld. Im Gegensatz dazu kommt nach der süddt. Ratsverfassung dem Bürgermeister Organcharakter zu, der ihn zum unangreifbaren exekutiven Führer macht. Ein Organ wie den Magistrat gibt es dort nicht. Der Bürgermeister nach der MV. erhält zwar eine Direktlegitimation durch das Wahlvolk, aber seine Stellung ist die eines primus inter pares, ohne Weisungsrecht und Richtlinienkompetenz gegenüber den Dezernenten (Kollegialprinzip). Der erwartete Zuwachs an moralischer Autorität durch elektorales Personalplebiszit ist nicht eingetreten. Wo - oft bei geringer Beteiligung der Bevölkerung direkt gewählte (Oberbürgermeister einem polit, anders zusammengesetzten Magistrat und / oder einer anders orientierten Stadtverordnetenversammlung gegenüber stehen, ist der Zwang zum Kompromiß stark und die Politikvereitelung oft groß. Deshalb wird in der Kommunalwissenschaft auf die Inkonsequenz der hess. Lösung hingewiesen, die dem Bürgermeister nur eine Scheinautorität zuweist, aber im übrigen alles beim alten läßt. Nach dieser Ansicht sollte folglich der Magistrat abgeschafft werden. Dem steht die Erfahrung mit süddt. Bürgermeistern gegenüber, die (etwa zur Hälfte keiner Partei angehörend) mit erhebli-
Malteser-Hilfsdienst e.V.
Mandat
chen, unkontrollierten, fast autoritären Machtbefugnissen oft auf 8 Jahre ausgestattet sind. Lit: R. Kleinfeld: Kommunalpolitik, Opladen
1996; H.-G. Wehling (Hg.): Kommunalpolitik in Europa, Stuttgart 1994; R. Graf. v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, 47 Iff.
München
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1996, S.
Wolfgang W. Mickel Malteser-Hilfsdienst e.V. Der M. wurde 1953 von Malteser-Ritterorden und Caritasverband gegründet, um den OrdensWahlspruch „Wahrung des Glaubens und Hilfe den Bedürftigen" in zeitgemäßer Form zu verwirklichen. Anlaß zur Gründung bot zudem die Bitte der -» Bundesregierung, die beiden Konfessionen sollten Organisationen für die Ausbildung in Erster Hilfe und den Einsatz im Katastrophenfall (-> s.a. Zivilschutz) aufstellen. Bald weitete sich die Tätigkeit auf das soziale und caritative Gebiet aus. Pflegedienste für Kranke und Behinderte wurden übernommen, der Mahlzeitendienst „Essen auf Rädern", der Hausnotrufdienst zur Erhaltung der Selbständigkeit Zuhause, sowie Behindertenfahrdienste, Mobile Soziale Dienste und Ehrenamtliche Betreuungsgruppen eingerichtet. Die Auslandsarbeit wurde ausgebaut; so arbeiten seit 30 Jahren dt. Malteser in Vietnam. Sie sind in der Flüchtlingsbetreuung im thailändischen Grenzgebiet und in Nord-Uganda tätig und helfen bei der Basis-Gesundheitsversorgung in OstKongo. In Bosnien stehen Wiederaufbau und berufliche Wiedereingliederung im Vordergrund. In Rußland, im Baltikum und anderen Staaten Osteuropas werden Lebensmittelhilfe sowie medizinischsoziale Betreuung besonders für Kinder und alte Menschen geleistet. Schließlich wurde gemeinsam mit ausländischen Maltesern ECOM aufgebaut, das Emergency Corps of the Order of Malta, als humanitäre „schnelle Eingreiftruppe". Einer der wenigen wachsenden kirchl. Jugendverbände ist die 1979 gegründete Malteser Jugend. 1998 umfaßt der M.
über 900.000 Mitglieder, darunter mehr als 30.000 Ehrenamtliche (-> Ehrenamtliche Tätigkeit). Über die Malteser Werke GmbH ist der Malteserorden außerdem Träger von Krankenhäusern und Altenhilfeeinrichtungen. Hg. Mandat 1. Der Begriff M. leitet sich aus lat. Mandatum = Auftrag her und steht demgemäß filr Beauftragung, Weisung und Vollmacht. Er ist in verschiedenen Sachbereichen anzutreffen, u.a. im -> Völkerrecht oder bei der Beauftragung eines -> Rechtsanwalts mit der Wahrnehmung der gerichtlichen oder außergerichtlichen Angelegenheiten einer Person. Im polit. Sprachgebrauch umfaßt das M. die Ermächtigung des Abgeordneten, als Vertreter des gesamten - » Staatsvolks in dessen Interesse bestimmte Aufgaben wie z.B. die der Gesetzgebimg wahrzunehmen. Damit ist das M. Ausdruck des repräsentativen Systems einer demokrat. -> Verfassung. Grundprinzip jeder freiheitlichen —> Demokratie ist, daß alle -> Staatsgewalt vom Volke ausgeht (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 1 Abs. 2 WRV, -¥ Volkssouveränität). Im Gegensatz zur unmittelbar ausgeübten Demokratie, wie sie noch von Rousseau (1712-1778 —> s.a. volonté générale) deklariert wurde, realisiert das Volk seinen Gemeinwillen in der sog. repräsentativen Demokratie (—> Repräsentation) indirekt durch —> Wahlen und Abstimmungen sowie durch besondere Organe der -> Gesetzgebung, der —> vollziehenden und der —> rechtsprechenden Gewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Nachdem noch Rousseau der Meinung gewesen war, nur durch unmittelbare Beteiligung des Volkes an staatl. - » Herrschaft und —> Macht könne dieses seinen wahren Willen artikulieren, setzte sich allmählich in Frankreich und damit letztlich in ganz Europa unter dem Einfluß des fiz. Staatsmannes Sièyes (1748-1836) der Repräsentativgedanke durch. Ausschlaggebend waren v.a. die Erfahrungen des Flächenstaats Frankreich, in dem sich die
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Mandat direkte Beteiligung des gesamtes Volkes an der Gesetzgebung als praktisch nur sehr schwer durchführbar herausstellte. Unmittelbar mit dem Repräsentationsprinzip verknüpft ist der Gedanke des freien M.s. 2. Das M. des Abgeordneten ist in Art. 38 GG geregelt. Es entsteht durch die Wahl zum —> Bundestag. Nach Art. 38 Abs. 2 GG ist der Abgeordnete bei der Wahrnehmung des M. s nur seinem Gewissen unterworfen und in der M.sausübung frei, sog. freies M.; im Gegensatz zum Auftrag i.S.d. -> BGB ist also das M. des Abgeordneten nicht weisungsgebunden, da er Vertreter des ganzen Volkes ist. Er muß daher Anordnungen und Weisungen nicht ausführen. Zusagen oder Abmachungen, das M. in einer bestimmten Art und Weise auszuüben, sind unzulässig und wegen Verstoßes gegen Art. 38 Abs. 2 GG nichtig. Das freie M. ist als Gegensatz zum sog. —> imperativen M. zu sehen. Darunter versteht man die Wahrnehmung jeweils nur einzelner Wählerinteressen. Mittels bindend verstandener Weisungen an den Abgeordneten seitens der Wählerschaft erhält diese zwar unmittelbaren Einfluß auf die Gesetzgebung. Wiederum durch Sièyes setzte sich jedoch allmählich die Idee durch, daß der Abgeordnete frei von Instruktionen sein müsse. Wesentlicher Beweggrund war der Wunsch, die nationale Einheit Frankreichs zu stärken, indem man Partikularinteressen eines bestimmten Standes oder einer bestimmten Region in den Hintergrund drängte und bei der Gesetzgebung starker auf das Interesse des gesamten Volkes bzw. der -> Nation achtete. Bei der Wahrnehmung seines M.s hat der Abgeordnete also nicht die Einzelwillen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder -> Wählervereinigungen zu beachten, sondern vielmehr den aus dem gesamten Volk gebildeten Willen zu ermitteln. Repräsentative Demokratie und imperatives M. schließen sich somit aus. In engem Zusammenhang mit dem Begriff der repräsentativen Demokratie steht weiterhin der Begriff des —> Ge-
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Mandat meinwohls, da dieses als Anhaltspunkt für die Ermittlung des Volkswillens dienen sollte. Der den Abgeordnete wählende Bürger vertraut darauf, daß dieses Gemeinwohlinteresse Grundlage der Entscheidung des M.strägers ist und überträgt ihm die diesbezügliche Verantwortung. Das Gemeinwohl stellt somit gleichzeitig -> Legitimation des Abgeordneten und einzige Beschränkung der Freiheit des M.s dar. 3. Auf der Ebene des -> Europäischen Parlaments wird der Repräsentationsgedanke fortgesetzt. Die Freiheit des M.s der Mitglieder des EP ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 EinfA, § 2 EuAbgG und Art. 2 Abs. 2 GO EP. Der Erwerb des M.s richtet sich zwar nach den nationalen Bestimmungen, so daß in der BRD die europ. Abgeordneten unmittelbar vom Volk gewählt werden. Insofern besitzen die Abgeordneten eine nationale Legitimation und ein nationales M.; allerdings sind sie nicht nur Vertreter des dt., sondern des gesamten europ. Volkes und damit der europ. Gesamtinteressen. Sie haben trotz des nationalen M.erwerbs nicht nur die Interessen ihres Heimatlandes zu vertreten. Diese sog. Doppelnatur des M.s läßt sich letztlich aus der Präambel des EWGV herleiten, welche die Zielsetzung statuiert, einen zunehmend engeren Zusammenschluß der Völker Europas zu schaffen. 4. Mit der Wahl erfolgt nicht unmittelbar die Mandatierung des jeweiligen Abgeordneten. Dazu bedarf es vielmehr der durch ihn ausdrücklich oder schlüssig zu erklärenden M. sannahme in einem sog. Annahmeverfahren vor dem Bundeswahlleiter. Die Annahmeerklärung muß schriftlich erfolgen und darf nicht mit einer Bedingung oder einem Vorbehalt (z.B. dem, daß Ehepartner der M.sannahme zustimmt) verbunden werden, anderenfalls ist sie ungültig. Sie gilt dann als unwiderrufliche Ablehnungserklärung. Die Voraussetzungen für die Wählbarkeit bzw. NichtWählbarkeit eines Abgeordneten (sog. passives -» Wahlrecht) ergeben
Mandat sich aus § 15 Abs. 1 und 2 -» Bundeswahlgesetz. Die Wirksamkeit des M.erwerbs kann im sog. Wahlprüfungsverfahren nach dem BWprG überprüft werden. Man unterscheidet zwischen der Wahlprüfung i.w.S., d.h. der Überprüfung der Wirksamkeit der Wahlen zu einem -»· Parlament insg., und der sog. M.sprüfung, welche die Überprüfung der Wirksamkeit der Wahl einzelner Parlamentsmitglieder zum Gegenstand hat. Berechtigt, das Wahlprüfungsverfahren mittels sog. Einspruchs einzuleiten, sind bis zu 2 Monate nach dem Wahltag jeder Wahlberechtigte, jede Gruppe von Wahlberechtigten, jeder Landes- und der Bundeswahlleiter sowie der -> Bundestagspräsident. Gem. Art. 41 GG ist die Wahlprüfimg „Sache des Bundestages". Am Ende des Wahlprüfungsverfahrens trifft der BT eine Entscheidung, die gem. § 48 Abs. 1 BVerfGG innerhalb von 2 Monaten nach der Beschlußfassung beim BVerfG angefochten werden kann. Wesentliche M. sverlustgründe sind in § 46 BWG aufgezählt. Dies sind zum einem die Ungültigkeit des Erwerbs der Mitgliedschaft, die Neufeststellung des Wahlergebnisses, der Wegfall einer Voraussetzung der jederzeitigen Wählbarkeit (§ 15 Abs. 1 und 2 BWG) sowie die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der -» Partei oder Teilorganisation der Partei durch das —> Bundesverfassungsgericht. Weitere Verlustgründe sind die Übernahme inkompatibler Ämter oder der Tod des Abgeordneten. Die Verfassungswidrigkeit einer Partei kann nur dann einen M.sverlust zur Folge haben, wenn das BVerfG sie ausdrücklich für verfassungswidrig erklärt hat. Ihre bloß offensichtliche Verfassungswidrigkeit reicht nicht aus. Im Unterschied zu landesrechtl. Regelungen in einigen neuen Bundesländern sieht das Bundeswahlgesetz in der hauptamtlichen oder inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit bzw. dem Amt für Nationale Sicherheit der früheren -> DDR oder dessen Beauf-
Mandat tragten keinen M.sverlustgrund. Gleichwohl eröffnet § 44b BAbgG die Möglichkeit für ein diesbezügliches Überprüfungsverfahren vor dem BT. Weiterhin ist schließlich das Ruhen des M.s kein von bundesrechtl. Regelungen vorgesehener Verlustgrund. Dieser Begriff hat v.a. im Zusammenhang mit der Diskussion um die Trennung vom —> Amt und M. an Bedeutung gewonnen. Diesbezügliche Regelungen finden sich bisher nur in wenigen Ländern. Sie sehen vor, daß ein Abgeordneter, der in die Regierung seines Landes berufen wird, für die Zeit seiner Amtsübernahme auf das Abgeordnetenm. „verzichtet", mit der Folge, daß ein listenmäßig berufener Abgeordneter das M. während dieser Zeit ausübt. Im Falle der Amtsniederlegung des „verzichtenden" Abgeordneten rückt dieser wieder in die ursprüngliche Parlamentarierstellung ein, sodaß der nachgerückte Abgeordnete sein M. verliert. Der HessStGH hat diese Praxis des sog. ruhenden M.s für unvereinbar mit § 40a HessWG erklärt. Entsprechende Regelungen in Brem, und Hamb, könnten daher ebenfalls wegen Verstoßes gegen Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG (Gleichheit der Wahl) bzw. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG (Freiheit des M.s) ungültig sein. Schließlich kann der Abgeordnete bis zum Ablauf der —> Wahlperiode ohne Angabe von Gründen auf sein M. verzichten. Für die Verzichtserklärung sind in § 46 Abs. 3 BWG strenge Formvorschriften normiert. Sie ist bedingungsfeindlich und nach Bestätigung durch den —• Bundestagspräsidenten unwiderruflich. Eine Blankoverzichtserklärung, also eine in zeitlicher Hinsicht offene und in den Willen eines Dritten gestellte Erklärung, ist ungültig. Problematisch sind Verzichtserklärungen, die in einem Parteitagsbeschluß begründet sind, der den Abgeordneten verpflichtet, z.B. nach einer bestimmten Zeit sein M. niederzulegen, da sie einen Verstoß gegen den Grundsatz des freien M.s darstellen können. Praktische Relevanz hat diese Frage allerdings nicht mehr, da die einzige Partei im Bundestag, die das —»
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Mandat Rotationsprinzip für ihre Abgeordneten vorsah, diese Praxis nicht mehr betreibt ( - • Bündnis 90/Die Grünen). Einem etwaigen M.smißbrauch soll zum einem durch die Vorschriften über die -> Inkompatibilität und durch sog. Verhaltensregeln begegnet werden. Als bisher einzige Inkompatibilitätsvorschrift, d.h. eine Regelung betreffend die Unvereinbarkeit vom M. und Beruf, sieht § 5 BAbgG vor, daß ein öffentl.-rechtl. Dienstverhältnis für die Dauer des M.s ruht. Zu den —> Verhaltensregeln für Abgeordnete des BT, die Bestandteil seiner Geschäftsordnung sind, gehören im wesentlichen Anzeigepflichten und 3 Verbotstatbestände. Diese betreffen die Unzulässigkeit bestimmter -> Spenden und Zuwendungen und der Werbung mit der Abgeordneteneigenschaft im beruflichen und geschäftlichen Verkehr. Bzgl. Der Anzeigepflichten gibt es Veröffentlichungspflichtige und vertrauliche Angaben. Erstere werden im —> Amtlichen Handbuch des BT veröffentlicht, letztere nur dem Präsidenten des BT zur Kenntnis gegeben. Mit der Zur-Kenntnisnahme spricht er zwar keine Billigung aus, hat jedoch auch kein Recht zur Mißbilligung. Veröffentlichungspflichtige Angaben sind der während des M.s ausgeübte Beruf, Tätigkeiten im Vorstand oder anderen Gremien von Unternehmen, Körperschaften und Anstalten des öffentl. Rechts, von Vereinen und Stiftungen mit nicht ausschließlich lokaler Bedeutung sowie weiterhin jegliche Funktionen in Verbänden und ähnlichen Organisationen. Die Anzeigepflicht besteht unabhängig von der Entgeltlichkeit der jeweiligen Tätigkeit. Die M.sverteilung ergibt sich aus den in § 1 Abs. 1 BWG festgelegten Grundsätzen des personalisierten —> Verhältniswahlrechts. Dieses stellt eine Kombination zwischen einem Mehrheits- und Verhältniswahlsystem dar und beinhaltet 2 Stimmen für jeden Wähler. Mit einer Stimme wählt er einen Wahlkreisabgeordneten, mit der anderen eine Landesliste. Im -> Wahlkreis ist der Bewerber gewählt, der 552
Massenmedien die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste abgegebenen Zweitstimmen addiert, wobei die mit der sog. Erststimme von Abgeordneten der Partei direkt errungenen Sitze abgezogen werden. IM.: HessSTGH, in: NJW 1977, S. 2065ff.; R. Fleuter: Mandat und Status des Abgeordneten im Europ. Parlament, Pfaffenweiler 1991; W. J. Patzelt: Abgeordnete und Repräsentation, Passau 1993; Schneider / Zeh, S. 489ff.; C. Wefelmeier: Repräsentation und Abgeordnetenmandat, Stuttgart 1991; Λ Grafv. Westphalen: Parlamentslehre, München 21996.
Marion Siebert Marktwirtschaft -> Wirtschaft Massendemokratie -> Demokratie Massenmedien 1. Begriffsklärung M. sind Unternehmen oder Institutionen, die sich mit dem techn. Mittel der Massenvervielfältigung zum Zweck der Information oder Unterhaltung an die Allgemeinheit (als anonyme Öffentlichkeit) oder einen größeren Teil von ihr wenden. Alle M. dienen dazu, zum einen Kommunikatoren (Schriftstellern, Journalisten, Künstlern etc.) geeignetes Publikum und zum anderen Rezipienten Informationen i.w.S. zu vermitteln. Sämtlichen M. kommt über diesen Informationsnutzen hinaus erhebliche Bedeutung für die -> polit. Sozialisation zu. Je nach der Technik der Vervielfältigung kann zwischen verkörperten und körperlosen Medien (Massenvervielfältigung durch akustische und / oder optische Projektion) unterschieden werden. Entsprechend den Wahrnehmungsmöglichkeiten des Rezipienten unterscheidet man traditionell 3 Arten: Druckmedien (Printmedien), wie z.B. Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, akustische Medien, wie z.B. —> Rundfunk, Schallplatte, CD, und audio-visuelle Medien wie z.B. -> Fernsehen, Film, Video-Kasette. Multimediale M. (wie z.B. CD-ROM, Video-on-Demand) beginnen,
Massenmedien durch die Verbindung mehrerer Medien wie Sprache, Bild, Text und Ton diese klassische Aufteilung zu durchbrechen. Der Prozeß der Digitalisierung dürfte diese Abgrenzung noch zusätzlich erschweren. Stattdessen gewinnt in diesem Prozeß zunehmend die Unterscheidung zwischen rein rezeptiv organisierter einseitig-indirekter Massenkommunikation und interaktiv organisierter Massenkommunikation an Bedeutung. Die Schnittflächen zwischen der letztgenannten und Individualkommunikation sind fließend. 2. Verfassungsrechtl. Rahmenbedingungen Sämtliche M. sind vom Schutzbereich des Art. 5 GG erfaßt. Denn der Schutzbereich der Pressefreiheit und der Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Fernsehen nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG muß nicht zuletzt wegen der rasanten technologischen Entwicklung in diesem Bereich dynamisch interpretiert werden. Gleiches gilt für die menschenrechtl. Gewährleistung der Medienfreiheit in Art. 10 EMRK. Der grund- und menschenrechtl. Schutz hängt dabei nicht vom jeweiligen Inhalt oder Gehalt des Massenmediums ab. Die Reichweite des Schutzes unterscheidet sich allerdings nach der Rechtsprechung des BVerfG im Hinblick auf die Unterschiede der techn. Verbreitungsmöglichkeiten, der finanziellen Anforderungen für die Herstellung des Massenmediums sowie der medienpsychologischen Wirkungsmächtigkeit je nach der gewählten massenkommunikativen Ausdrucksform. Während nach dieser Rechtsprechung für die Freiheit der Presse das klassische liberale Grundrechtsverständnis gilt, ist die Rechtsprechung zum Rundfunk bislang stärker als von einem solchen individualrechtl. Ansatz vom Verständnis der Rundfunkfreiheit als dienender Freiheit geprägt gewesen, die eines positiven Ordnungsrahmens bedürfe: Materielle, organisations- und verfahrensrechtl. Bestimmungen müßten sicherstellen, daß der Rundfunk seinen verfassungsrechtl. vorgesehenen öffentl. Auftrag erfülle. Dabei leuchtet im Begriff der
Massenmedien Fernseh- bzw. Zuschauerdemokratie die zunehmende Bedeutung gerade audiovisueller M. für den demokrat. Willensbildungsprozeß auf Nach der Kompetenzverteilung des -> Grundgesetzes liegt der Schwerpunkt der Zuständigkeiten für den Bereich der M. bei den -> Ländern: Entsprechend der grundsätzlichen Regelungskompetenz der Länder nach den Art. 30, 70 GG hat der -> Bund lediglich die ausschließliche Zuständigkeit für die Telekommunikation (Art. 73 Nr. 7 GG, - » Telekommunikationsrecht), d.h. für den (sende-)techn. Bereich der M., den gewerblichen —> Rechtsschutz, das Urheber- und Verlagsrecht (Art. 73 Nr. 9 GG) und - nach h.M. den Auslandsrundfunk (als Element der Kompetenz für die auswärtigen Angelegenheiten, Art. 73 Nr. 1 GG), die konkurrierende Zuständigkeit für das Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG). Von seiner Kompetenz der -> Rahmengesetzgebung für die allgemeinen Rechtsverhältnisse der ->· Presse (Art. 75 Abs. 1 Nr. 2 GG) hat der Bund bislang keinen Gebrauch gemacht. Die bis 1994 bestehende Rahmengesetzgebungskompetenz für die allgemeinen Rechtsverhältnisse des Films besteht nicht mehr. Den Ländern kommt demgegenüber namentlich die Kompetenz zur Regelung von Organisation und Nutzung des Rundfunks und rundfunkähnlicher Dienste zu. 3. Einfachgesetzlicher Ordnungsrahmen Ein Recht der M. als geschlossenes Rechtsgebiet besteht in keiner der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der —> EU. Bezugspunkt des Medienrechts ist nicht die Massenkommunikation als solche, sondern sind einzelne Medien. In Dtld. tragen verschiedene medienspezifische Staatsverträge bzw. Gesetze dem Umstand Rechnung, daß sich das auf möglichst umfassende Unterrichtung zielende - » Individualrecht der Informationsfreiheit faktisch v.a. über M. realisiert. In diesen Regelungen wird zugleich berücksichtigt, daß M. nicht nur „Mittler§, sondern zugleich auch Faktor der öffentl. Meinungs-
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Massenmedien bildung sind: Die Auswahl- und Gestaltungsfunktion der Verantwortlichen in den M. gibt ihnen in bezug auf die Information als Grundlage von Meinungsbildung eine besondere Stellung, die um so stärker ist, je weniger das einzelne Medienunternehmen publizistischer Konkurrenz, sei sie intramedial oder intermedial, ausgesetzt ist. Bislang gibt es allerdings weder auf der Ebene der EU noch im dt. Recht eine spezifische, gegen intra- oder intermediale Konzentrationserscheinungen bei den M. gerichtete Kodifikation, sondern - in § 23 Abs. 1, S. 7 GWB - lediglich eine Sonderregelung für den Bereich der Presse sowie in den §§ 20ff. Rundfunkstaatsvertrag für den Bereich des Rundfunks. Eine einfachgesetzliche Ordnung hat der Bereich der Presse durch die Pressegesetze der Länder, der Bereich des Rundfunks (Hörfunk und Fernsehen) durch die rundfunkstaatsvertraglichen und landesrundfunkrechtl. Regelungen der Länder erfahren. Ein drittes entwickeltes Rechtsgebiet ist das Filmrecht, das neben dem Rundfunkund -> Presserecht besteht, im Vergleich zu diesen aber bisher geringere Aufmerksamkeit erfahren hat. Der BildschirmtextStaatsvertrag der Länder, der erstmalig einen rundfunkähnlichen Kommunikationsdienst regelte, ist durch den Mediendienste-Staatsvertrag der Länder abgelöst werden, der zum 1.8.1997 in Kraft getreten ist. Dieser Mediendienste-Staatsvertrag und das Teledienste-Gesetz des Bundes, das zeitgleich zum Mediendienste-Staatsvertrag in Kraft getreten ist, schaffen einen ersten, vom Gedanken der Zugangs- und Zulassungsfreiheit geprägten Ordnungsrahmen für die neuen multimedialen Dienste, wobei allein der Mediendienste-Staatsvertrag an die Allgemeinheit gerichtete Dienste, insbes. Verteildienste wie Femseheinkauf, Fernsehtext, Radiotext und vergleichbare Textdienste und Abrufdienste, bei denen Ton-, Text- oder Bilddarbietungen auf Anforderung aus elektronischen Speichern zur Nutzung übermittelt werden, zum Gegenstand hat.
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Materiales Gesetz Lit: Bericht der Bundesregierung über die Lage der Medien in der BRD 1994, Bonn 1994; H.D. Jarass: Die Freiheit der Massenmedien, BadenBaden 1978; G. Hermann: Rundfunkrecht, München 1994; P. Schiwy /¡V.J. Schütz (Hg.): Medienrecht, Neuwied '1994.
Jörg Ukrow Massenpetition -> Petition Maßnahmegesetz -> Gesetz Materiales Gesetz Materiale oder materielle -> Gesetze sind alle Rechtsnormen, die außerhalb des von der -> Verfassung vorgesehenen formellen Gesetzgebungsverfahrens erlassen werden. Das —> Grundgesetz und die —> Landesverfassungen enthalten für die Verabschiedung von Gesetzen durch den —> Bundestag oder die —> Landesparlamente formelle -> Gesetzgebungsverfahren. Gesetze, die im Rahmen dieser streng formalisierten Verfahren von Parlamenten erlassen werden, sind formelle Gesetze. Unter bestimmten, einschränkenden Voraussetzungen erlaubt das GG, daß neben dem Parlament auch die Regierung außerhalb der formellen Gesetzgebung Rechtsnormen, die sog. - » Rechtsverordnungen, erlassen darf. Rechtsverordnungen sind das wichtigste Beispiel für materiale Gesetze. Durch formelle Gesetze steuert das Parlament im demokrat. —> Rechtsstaat die polit. Entwicklung. Politik wird in Gesetzesform gegossen lind dadurch in die Praxis umgesetzt. Um das Parlament zu entlasten, ist es sinnvoll, daß die Regierung weniger wichtige Probleme und Details in Rechtsverordnungen regeln darf. Diese Gesetzgebungsbefugnis der Exekutive ist allerdings unter demokratietheoretischen Aspekten und dem Gesichtspunkt der -> Gewaltenteilung nicht unproblematisch. Denn Gesetzgebung ist in der —> Demokratie primär Aufgabe des demokrat. gewählten und legitimierten Parlaments. Deshalb sieht das GG in Art. 80 vor, daß die Regierung materiale Gesetze nur erlassen darf, wenn das Parla-
Materielle Rechtskraft ment sie dazu in einem formellen Gesetz ausdrücklich und hinreichend bestimmt ermächtigt hat. So bleibt die Befugnis, Gesetze zu erlassen, grds. beim Parlament, es kann sie aber in einzelnen Fällen streng begrenzt an die Regierung delegieren. V.N. Materielle Rechtskraft bedeutet, daß eine Entscheidung eines -» Gerichts letztverbindlich geworden ist und deshalb alle anderen Gerichte und staatl. Stellen an diese Entscheidung gebunden sind. Voraussetzung der m.R. ist die —> formelle Rechtskraft: Die gerichtliche Entscheidung kann nicht mehr durch weitere Rechtsmittel angegriffen werden. Das ist v.a. bei letztinstanzlichen Urteilen der Fall, gegen die überhaupt keine Rechtsmittel vorgesehen sind. Formelle Rechtskraft tritt aber auch ein, wenn ausdrücklich auf ein Rechtsmittel verzichtet wird oder eine Rechtsmittelfrist abgelaufen ist, ohne daß ein Rechtsmittel eingelegt worden wäre. M.R. soll den Rechtsfrieden herstellen und die Autorität der staatl. Gerichte sichern. Beides erfordert, daß jeder Rechtsstreit einmal ein Ende finden muß und die Entscheidung des Gerichts endgültig ist. Dabei besteht die Gefahr, daß im Einzelfall auch ein Fehlurteil materiell rechtskräftig, also endgültig werden kann. Im Interesse des Rechtsfriedens nimmt die dt. Rechtsordnung dieses Risiko als kleineres Übel aber bewußt hin. Um allerdings krasse Fehlentscheidungen von Gerichten beseitigen zu können, läßt das dt. Recht in eng umgrenzten Ausnahmefällen Durchbrechungen der m.R. zu. Beispiele dafür sind die sog. Wiederaufhahmeklage oder die Restitutionsklage. Leidet ein Urteil an besonders schwerwiegenden Fehlern, ist seine Aufhebung deshalb trotz Rechtskraft möglich. In solchen Fällen setzt sich der Gesichtspunkt der materiellen -» Gerechtigkeit, der eine Beseitigung des Fehlurteils verlangt, gegenüber der Sicherung des Rechtsfriedens durch.
Mecklenburg-Vorpommern V.N. Matternseiten -> Parlamentarische Informationsdienste Max-Planck-Gesellschaft -> Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Technologie -> Bundesforschungsanstalten MdB = Mitglied des Deutschen Bundestages —> Bundestag -> Abgeordneter MdEP = Mitglied des Europäischen Parlaments -> Europäisches Parlament —> Abgeordneter Mecklenburg-Vorpommern I. Geographische Angaben Das -> Bundesland M-V liegt im Nordosten der —> Bundesrepublik Deutschland. Das Land grenzt an -> Brandenburg, Niedersachsen und -> Schleswig-Holstein sowie an die Republik Polen. M-V wird im Norden von der Ostsee begrenzt und hat eine Küstenlänge von insg. 1.712km. Die Landesfläche umfaßt 23.170qkm. Das entspricht 6,5% der Gesamtfläche Dtld.s. Weitflächige Waldgebiete (sie bedecken 21% der Landesfläche) und die ausgedehnte mecklenburgische Seenplatte zeichnen das Land aus. 5,5% des Territoriums machen Gewässer aus. Darunter ist die Müritz mit 110,3km5 der größte dt. Binnensee. Der Küstenbereich ist stark gegliedert durch Bodden und Haffgewässer. Annähernd 2/3 der Wirtschaftsfläche werden landwirtschaftl. genutzt. Typisch für M-V sind dazu noch die alten ca. 2.650km AlleenStraßen. Die Klima- und Witterungsbedingungen werden durch den Übergang vom maritimen Einfluß im Küstenbereich zu kontinental gemäßigten Klima im Binnenland geprägt. II. Einwohner M-V hat rd. 1,8 Mio. Ew.; seit 1989 kam es zu hohen Wanderungsverlusten v.a. durch den Fortzug junger Menschen. Sie schwächen sich aber seit 1994 durch sinkende Fortzüge bei ansteigenden Zuzügen stetig ab. 1994 wurden 555
Mecklenburg-Vorpommern die Fortzüge erstmals durch Zuzüge annähernd ausgeglichen (jeweils 31.000). 1996 gab es einen Wanderungsgewinn (1.666). 385.700 Bewohner gehören einer der beiden ev.-lutherischen Landeskirchen an (21%), 73.700 sind röm.-kath. (4%). 1,7% der Ew. sind —» Ausländer. Die Ew. leben in 6 kreisfreien —• Städten und in 12 —> Landkreisen mit zusammen 1.079 —> Gemeinden. Landeshauptstadt ist Schwerin. 30% der Ew. leben in Gemeinden unter 2.000 Ew.; mit einem Anteil von 2,2% an der Bevölkerung Dtld.s und 78 Ew. je qkm ist M-V das am dünnsten besiedelte Bundesland. Die größten Städte sind: Rostock: 221.029, Schwerin: 111.029, Neubrandenburg: 79.041 Stralsund: 64.385 Ew.; die Arbeitslosigkeit beträgt derzeit 18%. III. Geschichte M-V war bis etwa 500 n. Chr. von germanischen Stämmen besiedelt. Nach deren Abzug während der Völkerwanderung nahmen bis zum Jahre 600 slawische Volksstämme das Land in Besitz. Mecklenburg 1060 wird von Sachs, aus auf der Burg Willigrad (germanisch: Michelenburg), später Mecklenburg (übersetzt: die große Burg) ein Bistum eingerichtet. 1160 besiegt Heinrich der Löwe den Stammesftlrst Niklot und gibt das Land dessen Sohn Pribislaw, der sich taufen läßt, zum Lehen. Die von Pribislaw begründete Dynastie herrscht in den verschiedenen Teilen des Landes bis 1918. Die beiden Städte Wismar und Rostock sind bedeutende Glieder der Hanse. Im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) wird Wallenstein zeitweilig mit dem Land belehnt. 1648 kommen Wismar, Neukloster und die Insel Poel an Schweden (bis 1803). Die Mecklenburgischen Herzogtümer (ab 1815 Großherzogtümer) M.Schwerin und M.-Strehlitz haben bis 1918 eine gemeinsame ständische Verfassung (—> Konstitutionalismus). 1849/50 galt eine demokrat. Verfassung in MecklenburgSchwerin. 1945 werden die Großheizogtümer gemeinsam mit Vorpommern zu MV (ab 1947 nur Mecklenburg) zusammengefaßt und Teil der SPZ (ab 1949 ->
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Mecklenburg-Vorpommern DDR). Das Land wird 1952 in die Bezirke Schwerin, Rostock und Neubrandenburg aufgeteilt und entsteht am 3.10.1990 wieder neu. Vorpommern In Vorpommern bildet sich ab der Jahrtausendwende die Herrschaft von slawischen Teilfürsten heraus, die sich das Greifengeschlecht nennen. Ihre Hauptstadt ist Stettin. 1181 erkennt Kaiser Friedrich I. Barbarossa Herzog Bogislaw I. als Herzog der Slawen und als Reichsfilrsten an. Im Westfälischen Frieden (1648) kommt Vorpommern mit Stettin an Schweden. 1813/15 kommt es an BB. 1945 wird Vorpommern, ohne Stettin und Swinemünde, mit Mecklenburg zusammengefügt. IV. Verfassung M-V hat sich eine Vollverfassung (G. v. 23.5.1993 GVOB1. M-V, S. 372) gegeben, die also neben den staatsorganisatorischen Regelungen auch solche über -> Grundrechte und -> Staatsziele enthält. Durch -> Volksinitiative, -> Volksbegehren und —• Volksentscheid wirkt das Volk an der —> Gesetzgebung mit. V. Polit. Lage Bei der -> Landtagswahl vom 16.10.1994 (Wahlbeteiligung 72,9%) erhielt die -> CDU bei 37, % der -> Zweitstimmen 30 Landtagsmandate, die -)• SPD bei 29,5% 23 und die PDS bei 22,7% 18 -> Mandate. Alle übrigen Wahllisten scheiterten an der —> FünfProzent-Klausel. CDU und SPD bilden eine -> Koalition. -» Ministerpräsident ist Dr. B. Seite (CDU). VI. Wirtschaft M-V hat eine Wirtschaftsstruktur mit den Schwerpunkten Ernährungsgewerbe, Schiffbau, Landwirtschaft, See- und Hafenwirtschaft sowie Fremdenverkehr. Die Werften sind die wichtigsten Industriekerne des Landes. Ansiedlung und Förderung von mittelständischen Betrieben, Förderung von Technologiezentren und Investitionen in die berufliche Ausbildung sind Schwerpunkte der —> Wirtschaftspolitik. In der Technologieförderung geht es u.a. um die Nutzung regenerativer Energien und nachwachsender Rohstoffe. Das -» Bruttoinlandsprodukt stieg 1996 real um 1,3%
Mecklenburg-Vorpommern (1995: 5,3%, 1994: 11,3%) und damit deutlich langsamer als in den Vorjahren. Es erreichte einen Wert von 44,4 Mrd. DM und hatte damit einen Anteil von 11,2% an der wirtschaftl. Gesamtleistung der neuen Bundesländer einschließl. Berlin-Ost. Gemessen an der Wirtschaftsleistung Dtld.s waren es 1,3%. Gegenüber 1991 ist das Bruttoinlandsprodukt 1996 real um 31% angestiegen, während es im Durchschnitt der neuen Länder 38,5% waren. Mit nur 10,1% Anteil (1996) leistet das verarbeitende Gewerbe einen deutlich kleineren Beitrag zur Wirtschaftsleistung im Vergleich zu den anderen neuen Ländern. Die konjunkturelle Gesamtentwicklung von 1991 bis 1996 wurde in M-V wesentlich vom Baugewerbe und den Dienstleistungsuntemehmen bestimmt. VII. Finanzen Der Haushaltsplan für das Jahr 1997 sah Einnahmen in Höhe von 14.525,9 Mio. DM und Ausgaben in gleicher Höhe vor. Das sind 21,8 Mio. DM weniger als 1996. Die wichtigsten Einnahmequellen sind: Im Land verbleibende Steuereinnahmen 41,9% der Gesamteinnahmen, —> Länderfinanzausgleich 6,4%, Bundesergänzungszuweisungen 13,8%, Kredite 10,4%. Die wichtigsten Ausgabekategorien sind Investitionen 26,7%, Personalausgaben 25,1%, kommunaler Finanzausgleich 17,6%, Schuldendienst 5%. VIII. Umwelt M-V zeichnet sich durch eine weitgehend intakte Umwelt aus. Es gibt 3 Nationalparks im Lande, die Vorpommersche Boddenlandschaft, Jasmund und Müntz, femer 2 Naturparks, ein Biosphärenreservat und mehrere geschützte Feuchtgebiete. Diese gesetzlich geschützten Bereiche, die vielen kleinen und großen Seen, die Wald- und Küstengebiete, dazu die Alleen sowie die weitgehend schonend betriebene Landwirtschaft machen den unverwechselbaren Reiz der Natur des Landes aus. IX. Kultur In M-V besteht ein dreigliedriges Schulsystem aus Haupt- und Realschule, Gymnasium und —> Gesamtschule
Mecklenburg-Vorpommern (-> Schule, —> Schulrecht). Das Abitur kann z.Z. noch nach 12 Schuljahren abgelegt werden. M-V hat —» Hochschulen in Rostock und Greifswald und Fachhochschulen in Rostock, Stralsund, Neubrandenburg und Wismar. Neben bedeutenden Zeugnissen der Vor- und Frühgeschichte gibt es im Land zahlreiche mittelalterliche Stadtkerne mit bedeutsamen Bauten aus der Gotik und der Renaissance, v.a. in den Hansestädten an der Ostsee. Darüber hinaus finden sich eine große Zahl kleiner gotischer Dorfkirchen, 2000 Schlösser, Herren- und Gutshäuser in den verschiedenen Baustilen der Jhd.e. Die Wahrung des Erbes bedeutender Künstler und Schriftsteller wie Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge, Emst Barlach, Fritz Reuter und Uwe Johnson wird als kulturelle Aufgabe gesehen. Beispielgebend hierfür ist die Barlach-Stiftung mit ihrem Sitz in Güstrow. Im Bereich des Theaters haben sich 4 Schwerpunkte gebildet: Schwerin, Rostock, Stralsund-Greifswald, Neubrandenburg-Neustrelitz. Große Orchester befinden sich in Schwerin und in Rostock. X. Tourismus Die weitgehend intakte Umwelt, die vielgestaltige Natur des Landes und die kulturellen Gegebenheiten sind gute Voraussetzungen für einen stetig wachsenden Tourismus. Hierbei kann MV auf200jährige Erfahrung zurückgreifen. Das Seebad Heiligendamm, 1773 gegründet, war das erste dt. Seebad. Unter Verzicht auf Massenbeherbergungsbetriebe setzt M-V v.a. auf mittelständische Hotels und Pensionen. Sommerfestspiele an verschiedenen Orten des Landes sowie ideale Möglichkeiten des Wassersports auf der Ostsee und den vielen Binnenseen, Flüssen und Kanälen sind die Hauptattraktionen des Landes. Derzeit sind ca. 30.000 Beschäftigte direkt in der Tourismusbranche des Landes tätig, davon ca. 11.500 in der Hôtellerie und ca. 13.000 in der Gastronomie. Lit: Landeszentrale für polit. Bildung (Hg.): Mecklenburg-Vorpommern, polit. Landeskunde, Schwerin 1995; R. Schneider: Kleine Geschichte
557
Medienpolitik
Medien des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Berlin 1993; Statistisches Landesamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 1997.
Uwe Bernzen Medien im politikwissenschaftl. Verständnis sind Träger der —> öffentlichen Meinung. Als Teil des öffentl. Meinungsund Willensbildungsprozesses sind sie als Vermittlungsinstitutionen unentbehrlich. Üblicherweise wird zwischen -> Massenmedien und M. der Individualkommunikation unterschieden. Zu den erstgenannten werden neben der —• Presse, Film und —> Rundfunk (als Sammelbegriff für Fernsehen und Hörfunk) gerechnet. Konstitutiv für Massenmedien ist eine geringe Zahl von Sendern, die sich an ein allgemeines, disperses Publikum wenden, dem keine eigenen Rücksendemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Davon zu unterscheiden sind M. der Individualkommunikation (vernetzte Computer und Telefon), die eine individuelle Kommunikationsmöglichkeit zwischen Sender und Empfänger ermöglichen (-> Internet). Bislang begründeten diese unterschiedlichen M.qualitäten entsprechende Regelungskompetenzen: In den meisten Ländern der entwickelten Welt wird die Individualkommunikation im Rahmen des Fernmeldewesens zumeist direkt staatl. reguliert (in der —> Bundesrepublik Deutschland als Bundeskompetenz), während die M. der Massenkommunikation zumeist einer gesellschaftl., zumindest jedoch kulturell verantworteten Aufsicht unterliegen (in der BRD begründet die —> Kulturhoheit der Länder ihre entsprechende Aufsichtsfunktion). Diese Unterscheidung verschwimmt zunehmend angesichts des Zusammenwachsens von Individual- und Massenkommunikation in der sog. -> Informationsgesellschaft. Diese bringt sowohl eine zunehmende Individualisierung der M.nutzung mit sich, als auch eine —> Globalisierung der Inhalte und Strukturen. Noch ist unklar, welche Konsequenzen beide Tendenzen für die Zu-
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kunft der M. ordnungspolitik besitzen, die bislang weitestgehend in nationalstaatl. Händen liegt. Europäisierungstendenzen sind bislang nicht zu erkennen. Der tatsächliche Einfluß der M. ist nach wie vor höchst umstritten. Weder Allmachtsvorstellungen noch solche der Ohnmacht der M. haben sich empirisch zuverlässig belegen lassen. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß die Wirkung der M. von den jeweiligen Dispositionen der Nutzer genauso abhängig ist, wie von ihrer Glaubwürdigkeit bzw. den Einstellungen der Journalisten. -> Medienpolitik findet daher zumeist als Machtpolitik statt, d.h. unter Standortgesichtspunkten bzw. solchen der Personalpolitik. Unumstritten ist, daß die M. bei der polit. Kommunikation eine zunehmend wichtige Rolle spielen und daß ihre dramaturgischen Eigenheiten direkten Einfluß auf die -> Politik und deren Präsentation (z.B. als symbolische Politik) haben. Lit: Κ. Berg. / M.-L. Kirfer (Hg.): Massenkommunikation, Baden-Baden 1995; W. Gellner: Ordnungspolitik im Fernsehwesen, Frankfurt/M. 1990.
Winand Gellner Medienanstalten stalten
Landesmedienan-
Medienpolitik hat das polit. Handeln zum Gegenstand, das sich auf Aufgaben, Funktionen, Rechtsstellung, Organisation und Kontrolle der —> Massenmedien bezieht. M. ist ein zentraler Bestandteil der Kommunikationspolitik, die den gesamten Prozeß der gesellschaftl. Kommunikation (Massen- wie Individualkommunikation) regelt. Das Ausmaß, in dem der allen freiheitlich-demokrat. verfaßten Staaten gemeinsame Grundsatz der —> Meinungsfreiheit im Rahmen der M. dieser Staaten verwirklicht wird, ist ebenso unterschiedlich wie die Art, in der den Massenmedien jener notwendige Raum an Freiheit und Unabhängigkeit vom —> Staat, von anderen gesellschaftl. Machtgebilden oder von privaten Monopolen
Medienpolitik
gesichert wird, dessen sie bedürfen, um ihre publizistischen und demokratiebezogenen Funktionen angemessen und ungehindert erfüllen zu können. Wesentliche medienpolit. Akteure sind in diesen Staaten 1. die -> Regierungen, die zum einen - neben den -> Parlamenten - den medienrechtl. Ordnungsrahmen bestimmen, zum anderen die öffentl. Meinungsbildung in ihrem Interesse zu beeinflussen suchen; 2. die polit. -> Parteien, die zum einen mit ihrer Programmatik u.a. auf die Entwicklung der Medienlandschaft einwirken (wollen), zum anderen auch in den Medien nicht zuletzt zur Verbesserung ihrer Wahlchancen Einfluß in personeller und programmlicher Hinsicht suchen; 3. -> Verbände, —» Gewerkschaften und sonstige Interessengruppen, die zum einen meist über eigene Publikationen bzw. Pressestellen verfügen, zum anderen, da von den Medien vielfältig betroffen, selbst ordnungspolit. Vorstellungen entwickeln; 4. die Medienorganisationen selbst, die im Interesse ihrer Eigentümer oder Verantwortlichen polit. Einfluß nehmen wollen sowie 5. die Rezipienten der Massenmedien, die individuell oder verbandlich strukturiert auf deren Angebot reagieren bzw. einwirken wollen. Schließlich kommt in der BRD dem -> Bundesverfassungsgericht mit seiner rundfunkrechtl. Judikatur, die stark richterrechtl. Züge aufweist, eine nicht unbedeutende Rolle als medienpolit. Akteur bei der Interpretation von Art. 5 GG zu. Denn für die M. in der BRD ist unter Art. S GG neben die klassische liberalrechtsstaatl. Aufgabe der Abwehr jeglicher Form staatl. Bevormundung der öffentl. Kommunikation die Aufgabe getreten, einen positiven Ordnungsrahmen für die Massenkommunikation zu schaffen, der diese vor Mißbrauch durch staatl. oder gesellschaftl. Machtkonzentrationen schützt. Entsprechende medienpolit. Kompetenzen und Zuständigkeiten liegen in der BRD nach der Kompetenzverteilung des GG (Art. 30,70 GG) grds. nur bei den -» Ländern. Zuständigkeiten des -> Bun-
Medienpolitik
des mit medienpolit. Ausstrahlungsmöglichkeiten bestehen insbes. im Bereich des Kartellrechts sowie des -» Telekommunikationsrechts. Allerdings sind diese Befugnisse entsprechend dem Grundsatz der —> Bundestreue länderschonend auszuüben. Einwirkungen auf die M. gehen schließlich - auch wenn dieser Politikbereich als solcher der EG nach dem gegenwärtigen Stand der Integration nicht zugeordnet ist - von den Querschnittskompetenzen der Gemeinschaft im Bereich des Gemeinsamen Marktes (Grundfreiheiten, Wettbewerbsrecht) aus. Hierin spiegelt sich die eingeschränkte Wirksamkeit national orientierter Ordnungspolitik im Hinblick auf den grenzübergreifenden Charakter audiovisueller Medien und das Entstehen weltweiter Wettbewerbsverhältnisse in der globalen Informationsgesellschaft, deren Symbol das -> Internet ist. Den Schwerpunkt medienpolit. Auseinandersetzungen in der BRD bildeten nach den 1. Rundfunkurteil des BVerfG zur Länderzuständigkeit in Rundfunkfragen (1961) bis Mitte der 70er Jahre die Diskussionen um das Pressewesen. Den Folgen einer verstärkt seit den 60er Jahren einsetzenden Pressekonzentration wollte man vornehmlich mit 3 Instrumenten begegnen: Fusionskontrolle, Finanzhilfen für die —> Presse und Regelungen der inneren Pressefreiheit. Zur regelmäßigen und systematischen Beobachtung der Presselandschaft wurde 1975 eine amtliche Pressestatistik gesetzlich verankert. Bemühungen um ein pressespezifisches Mitbestimmungsrecht scheiterten nicht zuletzt an rechtl. Bedenken. Seit Mitte der 70er Jahre verlagerten sich die medienpolit. Auseinandersetzungen auf den Bereich des -> Rundfunks. Für diese Entwicklung waren techn. Innovationen, die zu einer tiefgreifenden Veränderung der Sendebedingungen für Informationen und Programme führten, Voraussetzung. Erst seit 1987 ist - auf der Grundlage der mit Kabelpilotprojekten gewonnenen Erfahrungen - die Existenz einer dualen 559
Mehrheit
Mehrheitsprinzip
Rundfunkordnung in der BRD staatsvertraglich abgesichert. Die Mitte der 90er Jahre war medienpolitisch zum einen auf der Ebene des kooperativen —> Föderalismus der Länder durch die fortdauernde Kontroverse um die Zukunft des dualen Rundfunksystems in der BRD (Reichweite der Bestands- und Entwicklungsgarantie des öfTentl.-rechtl. Rundfunks einerseits; Grad der —» Deregulierung - insbes. in Zusammenhang mit Fragen des Medienkonzentrationsrechts - für den privaten Rundfunk andererseits), zum anderen durch die Kontroverse über neue audiovisuelle Dienste in der Schnittfläche von konfligierenden Regelungsbemühungen der Länder, des Bundes und der EU geprägt. Lit: Β. Gruber: Medienpolitik der EG, Konstanz 1995; G. Kopper: Medien- und Kommunikationspolitik der BRD, München 1992; M. WulffNienhiiser: Medienpolitik, Konstanz 1994.
Jörg Ukrow Mehrheit / -en —> Mehrheitsprinzip -> Abstimmung Mehrheitsdemokratie -> Mehrheitsprinzip Mehrheitsprinzip bezeichnet die übliche Regel zur Entscheidungsfindung in -> Wahlen und —» Abstimmungen demokrat. organisierter Gemeinwesen. Die Stimmenmehrzahl entscheidet zugleich verbindlich für die Minderheit in einer pragmatischen Entscheidungsregel ohne Wahrheitsanspruch. Basis ist die Gleichheit aller Beteiligten. Deshalb muß die Minderheit (—> Minderheit, politische) die Chance haben, später selbst Mehrheit zu werden, und deshalb bedarf das M. der Einschränkung durch Maßnahmen zum Minderheitenschutz, die es für die Unterlegenen akzeptabel machen. 1. Geschichte Seit der Antike ist das pro (Aristoteles 384-322 v. Chr.) und contra (Piaton 427-347 v. Chr.) des M.s umstritten, auch wenn es schon in der Praxis v.a. früher -> Parlamente (England) im560
mer wieder angewandt wird. Am Anfang der Frz. Revolution setzt sich das rousseauistische Prinzip der Abstimmung nach Köpfen über die Abstimmung nach —> Ständen in der Nationalversammlung durch. Der weitere Verlauf der Revolution zeigt auch Gefahren für die Freiheit durch das M.; konservative Denker treten im 19. Jhd. für .Autorität statt Majorität" (F.J. Stahl) ein, aber auch Liberale (—> Federalist Papers, J.St. Mill, A. de Tocqueville) setzen sich von der reinen —> Demokratie ab und rechnen „die Tyrannei der Mehrheit unter die Übel, gegen welche die Gesellschaft auf der Hut sein muß" (Mill). Elitetheorien im frühen 20. Jhd. (Mosca, Pareto, O. y Gasset) verunglimpfen demokrat. Mehrheiten als ,Masse", und totalitäre Ideologien lehnen das M. im Namen von „Führertum" oder histor. „Wahrheit" ab. Der Erfolg des -> Verfassungsstaates zeigt allerdings, daß zum (gemäßigten) M. keine demokrat. Alternative besteht. 2. Praxis Nahezu alle Formen liberaler Einschränkung des M.s kommen bereits in der —» Verfassung der USA vor mit ihren checks and balances, dem Grundrechtskatalog, der erschwerten Verfassungsänderung und der unterschiedlichen Zusammensetzung von -> Senat und -> Repräsentantenhaus, a) Institutionell wird das M. durch -> Gewaltenteilung (und —• Föderalismus) beschränkt, in der unterschiedliche Träger der Gewalten sich wechselseitig hemmen und kontrollieren. b) Erschwert wird das M. durch das Erfordernis über relative Mehrheiten hinausgehender Majoritäten (absolute Mehrheit), v.a. bei Verfassungsänderungen (Zweidrittelmehrheit), c) Zentrale Einschränkung ist aber der individuelle und kollektive Minderheitenschutz durch —• Grundrechte, die im GG Art. 79 Abs. 3 jeder wesentlichen Änderung entzogen sind. Erst mit diesen Modifikationen konnte das M. zu einem legitimitätsbegründenden Grundprinzip des demokrat. Verfassungs- und —> Rechtsstaats werden. IM.: B. Guggenberger / C. Offe (Hg.): An den
Mehrheitswahl
Meinungsfreiheit
der Unternehmer, der den Umsatz ausder Mehrheitsdemokratie, Opladen 1984; H. Hattenhauer / W. Kaltefleiter (Hg.): führt. Deshalb zählt die MwSt zu den indirekten —> Steuern. Der Unternehmer Mehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung, kann die MwSt in seine Endpreise einkalHeidelberg 1986; W. Steffani: Mehrheitsentscheikulieren und damit an die Konsumenten dungen und Minderheiten in der pluralistischen zumindest teilw. weitergeben. Soweit dies Verfassungsdemokratie, in: ZParl 1986, S. 569ff. gelingt, tragen die Konsumenten die Michael Dreyer Belastungen aus der MwSt. Durch einen Vorsteuerabzug bei Unternehmen wird Mehrheitswahl Mehrheitswahlrecht eine Steuerkumulierung vermieden. Der -» Mehrheitsprinzip allgemeine Steuersatz beträgt ab 1.4.1998 16%; der ermäßigte Satz z.B. für LebensMehrheitswahlrecht Das -> Wahlrecht mittel nur 7%. Die MwSt gehört zu den kennt 2 Grundtypen von Wahlsystem-> Gemeinschaftssteuem, die aufgrund regelungen: das M. und das —> Verhältdes Volumens eine besondere Stellung niswahlrecht. Beim M. erhält derjenige einnehmen. Nach Art 106 Abs. 3 GG wird Kandidat das Mandat, der (in einem -> das für 1997 auf rd. 242 Mrd. DM geWahlkreis) die meisten Stimmen erzielt schätzte Aufkommen auf Bund und die hat; die für die unterlegenen Kandidaten Länder verteilt. In 1998 erhält der Bund abgegebenen Stimmen finden keine Be3,64% des Aufkommens (ab 1999: 5,63) rücksichtigung. In der Staatspraxis gibt es vorab zur Finanzierung des zusätzlichen 2 Spielarten des M.s: Die relative MehrBundeszuschusses zur gesetzlichen —» heitswahl, nach der gewählt ist, wer die Rentenversicherung. Anschließend stehen meisten Stimmen erhalten hat, und die den -» Gemeinden 2,2% vom reduzierten absolute Mehrheitswahl, bei der obsiegt, Betrag als Ausgleich für den Wegfall der wer mehr als die Hälfte der Stimmen Gewerbekapitalsteuer zu. Der Rest gewinnt. Darüber hinaus sind in der Wiswird zwischen Bund (50,5) und —> senschaft modifizierte MehrheitswahlsyLänder (49,5) aufgeteilt. steme entwickelt worden. Hinter dem M. steht die Überlegung, daß MehrheitsentR. W. scheidungen für stabile Regierungsmehrheiten sorgen. Doch sowohl das klassische Meinung, öffentliche -> öffentliche Land der relativen Mehrheitswahl, GroßMeinung britannien (-> Verfassung, brit.), als auch das bedeutendste Land mit einer absoluMeinungsfreiheit Die in Art. 5 Abs. 1 ten Mehrheitswahl, Frankreich (-> VerGG gewährleistete M. soll wie die -> fassung, frz.), zeigen, daß das M. keine Glaubens- und Gewissensfreiheit in Art. 4 Garantie hierfür bietet (s.a. —> WahlsyGG die Freiheit der Kundgabe von Überstem -> s.a. Wahlrecht). zeugungen und Ansichten schützen. M. ist für einen unabhängigen Menschen unverW. Sek zichtbar. Seit der Epoche der Aufklärung wird sie zu den Leitideen einer menMehrparteiensystem -> Parteiendemoschenwürdig verfaßten -> Gesellschaft kratie gezählt. Ein offenes, pluralistisches Gesellschaftssystem in einem demokrat. GeMehrwertsteuer Die MwSt, besser Ummeinwesen bedarf als grundlegende geisatzsteuer genannt, ist eine allgemeine -> stig ethische Gesinnung der Toleranz und Verbrauchsteuer. Sie belastet grds. die Rüdes Respekts des prinzipiell als gleichden privaten und öffentl. Letztverbrauch wertig erachteten Mitmenschen. Nahezu erworbenen Güter und Dienstleistungen, alle demokrat. —> Staaten schützen daher deren Eigenverbrauch und deren Einfuhr in ihren -> Verfassungen die M.; den bein gleicher Höhe. Schuldner der MwSt ist Grenzen
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Meinungsfreiheit sonderen Stellenwert der M. als wichtiges —> Grundrecht betont auch das —• Bundesverfassungsgericht, das sie als eine der vornehmsten -> Menschenrechte bezeichnet, die für die -> freiheitliche demokratische Grundordnung konstituierend ist, weil sie erst die ständige geistige Auseinandersetzung als Lebenselement der -> Demokratie, ermöglicht (BVerfGE 7,198, 208).
1. Schutzbereich Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG gewährleistet für jeden das Recht, „seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten". Diese Möglichkeit der freien ungehinderten Unterrichtung wird auch als sog. Informationsfreiheit bezeichnet. Um sich zu komplexeren Sachverhalten eine Meinung bilden zu können, benötigt der Bürger eine ausreichende Information über Fakten und Zusammenhänge, die ihm die modernen —> Massenmedien —> Presse, —> Rundfunk, -> Fernsehen liefern. Die M. schützt zunächst in positivem Sinne das Äußern und Verbreiten einer Meinung. Die Subjektivität des Wertens steht im Vordergrund des verfassungsrechtl. Schutzes, so daß es auf die Richtigkeit, den Wert oder die Vernünftigkeit der Äußerung nicht ankommt (BVerfGE 65, 1, 41). Keine Meinungen stellen jedoch Tatsachenäußerungen dar. Bloße Werbetexte oder Bilder enthalten auch keine Meinungen. Sollten aber in den Tatsachenbehauptungen auch Elemente des Wertens enthalten sein, so handelt es sich jedenfalls dann um eine Meinung, wenn der tatsächliche Gehalt gegenüber der Bewertung in den Hintergrund tritt. Falls aber die Tatsachenbehauptung zur Meinungsbildung nicht beitragen kann, genießt sie keinen Schutz. Das trifft insbes. für bewußte oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen zu (Beispiel: Die Äußerung, es habe „im dritten Reich keine Judenverfolgung gegeben"; BVerfG: NJW 1994, S. 1780). Die Meinungsäußerungsfreiheit eröffnet dem —> Staatsbürger das Recht zur freien
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Meinungsfreiheit polit. Betätigung. Die Formulierung im GG „Wort, Schrift und Bild" enthält keinerlei Begrenzung auf bestimmte Kommunikationsträger. Die im Verfassungstext enthaltenen Äußerungsformen machen deutlich, daß die Verbreitung friedlich und gewaltfrei zu geschehen hat, weil es um den Schutz der geistig polit. Auseinandersetzungen geht. Die Anwendung körperlicher Gewalt fällt daher aus dem Schutzbereich der M., genau wie die Ausübung wirtschaftl. Drucks, wenn dies ausschließlich zu dem Zweck geschieht, der eigenen Meinung größeren Raum zu geben und stärkeren Nachdruck zu verschaffen (BVerfGE 25, 256, 315). Will aber der einzelne seine Kritik an den bestehenden polit. Verhältnissen äußern und seiner Meinung mehr Gewicht verschaffen, wird er sich mit polit. Gleichgesinnten zusammenschließen, um durch eine polit. Demonstration wirkungsvoller auf diesen Mißstand hinzuweisen. Auch die —» Demonstrationsfreiheit ist verfassungsrechtl. geschützt. 2. Informationsfreiheit Das GG gibt dem Bürger das Recht, v.a. die Informationsquelle, aus der er sich unterrichten will, auszuwählen, soweit sie allgemein zugänglich ist. Als Informationsquellen werden v.a. die Träger von Informationen, wie Zeitungen, —> Rundfunk und —> Fernsehen, Bücher, Schallplatten, Disketten, CD-ROMs und -> Internet angesehen. Unter diesen Begriff faßt man aber auch die Gegenstände der Information selbst, d.h. das betreffende wahrgenommene Ereignis, sei es eine Sportveranstaltung, polit. Demonstration, Verkehrsunfall oder eine Naturkatastrophe. Allgemein zugänglich sind aber nur die Quellen, die nach ihrer techn. Eignung dazu bestimmt sind, der Allgemeinheit Informationen zu liefern. Über die Zugänglichkeit für die Allgemeinheit entscheidet deijenige, der über die Informationsquelle verfügen kann. 3. Pressefreiheit Die freie, nicht dem staatl. Einfluß unterliegende Presse ist ein wesentlicher Eckpfeiler eines freiheitlich
Meinungsfreiheit demokrat. Systems. Die grundrechtl. in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG geschützte Pressefreiheit enthält eine Doppelnatur: Sie ist zunächst unverzichtbare Einrichtungsgarantie für eine offene lebendige Demokratie; zugleich dient sie aber auch als Grundrecht dem persönlichen Schutz des einzelnen Presseunternehmens und seiner Mitarbeiter. Dabei bezieht sich die Pressefreiheit auf periodisch erscheinende Druckerzeugnisse, die man als sog. PrintMedien (-» s.a. Massenmedien) bezeichnet, und soll v.a. die Freiheit der Berichterstattung sicherstellen. Inhaltlich umfaßt sie das Recht, die -> Öffentlichkeit über alle bekannt gewordenen Tatsachen zu unterrichten. Die Presseorgane können diese Tatsachen selbstverständlich auch bewerten und damit ihre Meinung äußern. Nicht der Berichterstattung zugänglich sind aber v.a. die private Intimsphäre oder Bereiche, die wie militärische Geheimnisse einer strengen —> Geheimhaltungspflicht unterliegen. Bei ihrer Tätigkeit ist die Presse zur wahrheitsgemäßen Berichterstattung verpflichtet und muß deshalb Nachrichten und Behauptungen vor ihrer Weitergabe auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Mehr als eine Plausibilitätskontrolle wird man dabei aber nicht verlangen können, soll die Pressearbeit nicht allzu stark behindert werden (BVerfGE 54, 208, 220). In den Schutzbereich' des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG fällt auch das Redaktionsgeheimnis, ist doch die Vertraulichkeit der gesamten Redaktionsarbeit notwendige Bedingung einer freien Pressetätigkeit. Dagegen wird die rechtswidrige Beschaffung von Informationen nicht geschützt, wohl aber deren nachträgliche Verbreitung (Beispiel: Einschleichen in Pressebetrieb, um die fragwürdige Art der Berichterstattung einer Zeitung aufzudecken; BVerfGE 66, 137 „Wallraff'). Aus der Pressefreiheit leitet sich aber auch die Pflicht des Staates ab, Gefahren entgegenzuwirken, die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen drohen, ist doch ein demokrat. verfaßtes Staatswesen auf eine
Meinungsfreiheit möglichst breite Vielfalt von Meinungen angewiesen. Werden nur noch wenige polit. Auffassungen infolge der immer stärker werdenden Pressekonzentration verbreitet, wird der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu einer breiten öffentl. Diskussion möglichst vieler Meinungen genommen. Deshalb hält das BVerfG den Gesetzgeber für verpflichtet, den Pressemarkt sorgfältig zu beobachten und ggf. regulierend einzugreifen (BVerfGE 20, 162,176). 4. Zensurverbot Eine Zensur, d.h. die gezielte Unterdrückung der Meinungs-, Informations- oder Pressefreiheit ist mit einem freiheitlich demokrat. Staatsgefüge nicht vereinbar. Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG erklärt daher: „Eine Zensur findet nicht statt". Gemeint ist damit die Zensur, die sich direkt auf Inhalt und Form der Meinungsäußerung sowie der Berichterstattung bezieht und aus weltanschaulichen, polit., religiösen oder moralischen Gründen ausgeübt wird. Eine aus anderen, etwa sitten- oder gesundheitspolizeilichen Gründen vorgenommene Beurteilung fällt dagegen nicht unter das Zensurverbot, sondern unter die Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 2 GG. 5. Schranken Meinungs-, Informationsund Pressefreiheit können nur durch allgemeine Gesetze beschränkt werden, die nicht die Meinung als solche verbieten, sondern dem Schutz anderer vorrangiger Rechtsgüter dienen. Eine weitere ausdrücklich erwähnte besondere Schranke i.S. von Art. 5 Abs. 2 GG bildet der Schutz der persönlichen Ehre und der Jugendschutz. Der Begriff des -> Gesetzes ist hier im weiten Sinne gemeint. Hierzu gehören nicht nur parlement., also -> formelle Gesetze, sondern auch —» materiale Gesetze, wie z.B. Satzungen und -> Rechtsverordnungen. Dabei muß im konkreten Fall das allgemeine Gesetz einen höheren Rang als die M. besitzen, so daß nur solche Rechtsgüter eine Einschränkung rechtfertigen, die im konkreten Fall einen höheren Wert filr sich beanspruchen können. Solch vorrangige
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Meinungsfreiheit Individualrechtsgüter sind etwa das Leben, die Freiheit, Gesundheit und das —> Eigentum oder die Kreditwürdigkeit einer Person. Als vorrangige Gemeinschaftsgüter kommen insbes. die öffentl. Sicherheit und Ordnung in Betracht. Dabei darf aber die freie Meinungsäußerung nur insoweit beschnitten werden, als dies zwingend erforderlich ist, um eine dringende Gefährdung der Allgemeinheit und der Demokratie zu beseitigen oder zu verhindern. Dem Jugendschutz dient v.a. das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften, die einen unzüchtigen, verrohend sich auswirkenden, zu Gewalttätigkeit oder Rassenhaß anreizenden oder den Krieg verherrlichenden Inhalt besitzen. 6. Persönlicher —> Ehrenschutz als besondere Schranke Ein besonders hohes Gewicht kommt in der öffentl. Diskussion dem Recht der persönlichen Ehre zu, das in der —> Menschenwürde (Art. 1 GG) seine verfassungsrechtl. Grundlage besitzt und in den Beleidigungsvorschriften das StGB (§§ 185ff.) seine nähere gesetzliche Ausgestaltung gefunden hat. Medienkritische Äußerungen dürfen danach keine Formalbeleidigung enthalten und sollten auch von einer persönlich herabwürdigenden Schmähkritik Abstand nehmen. Formalbeleidigungen fallen von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG heraus. Für eine Schmähkritik trifft das zwar nicht zu. Sie tritt aber, wenn sie eine schwere persönliche Kränkung enthält, bei der vorzunehmenden Güterabwägung regelmäßig hinter dem Ehrenschutz zurück (Beispiel: Die Wiedergabe des bekannten Tucholsky-Zitats: „Alle Soldaten sind Mörder"; BVerfGE 93, 266, 296). Jedoch sind innerhalb der Berichterstattung durch die Medien auch im Einzelfall überzogene herabwürdigende Äußerungen oder ehrenrührige Tatsachenbehauptungen unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen legitimiert und damit hinzunehmen (§193 StGB). Wegen ihrer wichtigen öffentl. Informationsaufgabe dürfen die
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Menschenrechte dürfen die Presseorgane nicht zu hohen Risiken wegen einer eventuellen Falschberichterstattung ausgesetzt werden, so daß insoweit ein etwas großzügigerer Maßstab als bei anderen Personen anzulegen ist (BVerfGE 54,208,220). IM.: HdbStR VI, S. 635ff. und S. 667ff.; M. Kriele: Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, in:
NJW 1994, S. 1897ff.; J. Schwartländer (Hg.): Meinungsfreiheit, 2 Bde., Kehl 1987; K.E. Wenzel: Das Recjt der Wort- und Bildberichterstattung, Köln 1994.
Wilfried Braun Meinungsäußerung, freie —> Meinungsfreiheit -> Grundrechte Menschenrechte Begriff und histor. Entwicklung M.e sind die fundamentalen, unverzichtbaren und unantastbaren Rechte, die jedem Menschen als solchem von Geburt an zustehen. Allererste geistesgeschichtl. Wurzeln der M.e lassen sich im Menschenbild der gr.röm. Stoa und des Christentums entdekken. Weiter ausgeformt wurde die Idee der M.e allerdings erst im 17. Jhd. durch das rationalistische -> Naturrecht und die liberalen Staatsdenker wie etwa J. Locke, ohne daß die M.e aber eine rechtl.-polit. Verbindlichkeit erlangt hätten. Das änderte sich im 18. Jhd. mit der amerik. Unabhängigkeit und der Frz. Revolution. In der amerik. —> Virginia Bill of Rights (1776) und der frz. Déclaration des droits de l'homme et du citoyen (1789) wurden erstmals rechtl. verbindlich M.e garantiert. Im 19. Jhd. wurde die Idee der M.e allmählich zu einem Faktor, der in der internationalen Politik beachtet wurde. Sichtbares Zeichen dieser Entwicklung war der Abschluß mehrerer völkerrechtl. Verträge gegen die Sklaverei. Bis zum Π. Weltkrieg führten die M.e allerdings ein Schattendasein im -* Völkerrecht und in der internationalen Politik. Erst die menschenverachtende Politik des —> Nationalsozialismus schärfte den Blick für die Bedeutung der M.e: Die Charta der —> Vereinten Nationen von 1945 nennt neben
Menschenrechte der Wahrung des Weltfriedens in Art. 1 auch das Ziel, die Achtung vor den M.en für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen. Dieses ambitionierte Ziel haben die Vereinten Nationen durch die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der M.e 1948 bekräftigt und konkretisiert. Internationaler Schutz der M.e Die M.e werden durch eine Vielzahl von weltweiten Verträgen geschützt. Die bedeutendsten sind der Internationale Pakt über bürgert. und polit. Rechte (IPbürgR) und der Internationale Pakt über wirtschaftl., soziale und kulturelle Rechte (IPwirtR), die beide 1976 in Kraft traten und inzwischen von den meisten, wenn auch nicht allen UN-Mitgliedstaaten unterzeichnet worden sind. Der IPbürgR schützt die klassischen polit. M.e: das -> Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Freiheit, -> Freizügigkeit, -> Meinungsfreiheit, —> Glaubens- und Gewissensfreiheit, auf —> Versammlungs- und Vereinsfreiheit. Er postuliert die Gleichberechtigung von Mann und Frau, schützt vor Folter und Sklaverei, garantiert die Rechte des Kindes und fordert bestimmte rechtsstaatl. Mindeststandards in Gerichtsverfahren. Sogar das M., zu heiraten und eine Familie zu gründen findet sich in seinem Katalog. Der IPwirtR erweitert den klassischen M.skatalog um die sog. M.e der 2. Generation: Er enthält u.a. das Recht auf Arbeit, auf soziale Sicherheit, auf körperliche und geistige Gesundheit, auf Erziehung und Bildung und auf einen angemessenen Lebensstandard. Er will vor Hunger schützen und schützt die Familie, die Mütter, die Kinder und Jugendlichen auf der M.sebene. Beide Pakte sind rechtl. verbindlich für die Staaten, die ihnen beigetreten sind. Allerdings setzt der IPwirtR einen gewissen Wohlstand voraus und bleibt deshalb für viele Staaten in der Praxis eher ein polit. Programm als ein verbindlicher M.skatalog. Die UN-Pakte haben darüber hinaus ein freilich eher schwaches - Überwachungs-
Menschenrechte system eingeführt: Die Mitgliedstaaten müssen in regelmäßigen Abständen Berichte über die M.ssituation in ihrem Land erstellen, die dann in speziellen M.sausschüssen diskutiert werden. Sanktionen für M.sverletzungen sind allerdings nicht vorgesehen. Neben diesen Pakten sind weitere weltweite Verträge von Bedeutung, etwa die Abkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1965) sowie jeder Diskriminierung der Frau (1979) und die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen von 1984. Regionaler M.sschutz Neben den weltweiten Abkommen hat sich ein teilw. sehr effektiver regionaler M.sschutz entwikkelt. Von besonderer Bedeutung auch und gerade in der Praxis ist das 1950 im Rahmen des —> Europarats entwickelte M.ssystem der —> Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Die EMRK und ihre Zusatzprotokolle enthalten im wesentlichen die klassischen M.e. Ihre Besonderheit liegt darin, daß sie einen gerichtlichen M.sschutz installiert hat, dem sich alle Unterzeichnerstaaten unterworfen haben. 2 Organe - die Europäische Kommission für M.e und der Europäische Gerichtshof für M.e - untersuchen M.sverletzungen im Einzelfall und treffen konkrete, die Unterzeichnerstaaten der EMRK rechtl. bindende Entscheidungen, ob und wie der betroffene Staat eine M.sverletzung begeht und beenden muß. Diese rechtl. Konstruktion und die Rechtsprechung der Organe hat zu einer Effektivität des M.schutzes geführt, die sonst kaum erreicht wird. Seit 1978 ist die Amerik. M.skonvention (AMRK) in Kraft, die von den meisten Staaten des amerik. Kontinents unterzeichnet wurde. Ahnlich wie die EMRK sieht sie 2 Organe - die Interamerik. M.skommission und den Interamerik. Gerichtshof für M.e vor, die M.sverletzungen in den Unterzeichnerstaaten untersuchen und ahnden. Die Effektivität der AMRK leidet allerdings darunter, daß wichtige Staaten etwa die USA - ihr nicht beigetreten sind. 1981 wurde im Rahmen der Organisation
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Menschenrechte für Afrikanische Einheit (OAU) die Banjul Charta der Rechte der Menschen und Völker verabschiedet. Sie weist der Entwicklung der M.e neue Wege: Sie proklamiert neben M.en auch das Prinzip der brüderlichen Solidarität zwischen allen Menschen und leitet daraus konkrete Rechte der Völker ab. Zu diesen sog. M.en der dritten Generation gehören etwa das Recht der Völker auf eigene wirtschaftl., soziale und kulturelle Entwicklung und Teilhabe am gemeinsamen Erbe der Menschheit, auf nationalen und internationalen —> Frieden und auf eine akzeptable und entwicklungsgünstige Umwelt. Die Charta sieht eine Kommission vor, die M.sverletzungen untersuchen soll. Sie kann allerdings - und das mindert die Effektivität des M.sschutzes - lediglich Empfehlungen an die betroffenen Regierungen abgeben, keine rechtl. verbindlichen Entscheidungen treffen. M.sschutz durch Private Neben dem staatl. Schutz der M. in der internationalen Politik und im Völkerrecht haben sich private Organisationen gebildet, die sich dem weltweiten Schutz der M.e verschrieben haben, sog. international non-govemmental organizations. Das ist sicher eine Folge der weltweiten Sensibilisierung für die Bedeutung der M.e; bereits 1898 wurde in Paris die Liga für M.e gegründet, die in vielen Staaten nationale Sektionen unterhält und inzwischen ihren Sitz in London hat. Die bekannteste international tätige M.sorganisation ist -> Amnesty International (ai); ai wurde 1961 gegründet und konzentriert sich auf den Schutz der M. von (polit.) Gefangenen. Die Organisation hat beratenden Status bei den Vereinten Nationen und beim —> Europarat. 1977 wurde ai mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Insg. gibt es eine kaum noch überschaubare Fülle nichtstaatl. internationaler M.sorganisationen. An der Weltkonferenz der UN über M.e 1993 in Wien nahmen z.B. etwa 1500 von ihnen teil. Die polit. Bedeutung dieser Organisationen ist nicht zu unterschätzen. Teilw. beruht ihr Einfluß auf
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Menschenrechte ihren rechtl. institutionalisierten Beziehungen zu den UN oder deren Unterorganisationen. Der Wirtschafts- und Sozialrat (.Economic and Social Council / ECOSOC), eines der 6 Hauptorgane der UN, etwa hat mehrere 100 nichtstaatl. internationale Organisationen formell anerkannt und mit verbindlichen Rechten und Mitwirkungsbefugnissen ausgestattet. Sie sind dadurch wichtige Konsultationspartner der UN mit erheblichem Einfluß auf die Entwicklung des Völkerrechts und des M.schutzes geworden. Abgesehen davon stellt schon die von ihnen durchgeführte Sammlung, Veröffentlichung und Bewertung von M.sverletzungen einen bedeutenden Beitrag zur Verbesserung des M.sschutzes dar. Private M.sorganisationen übernehmen oft dort eine Vorreiterrolle, wo der staatl., völkerrechtl. M.sschutz aus polit. Gründen nicht oder nur sehr eingeschränkt wirkt. Das gilt z.Z. v.a. für den asiatischen und den arabischen Raum. Dort gibt es keinen regionalen völkerrechtl. Schutz der M.e, aber zunehmende Aktivitäten privater M.svereinigungen. Effektiver M.sschutz? M.sverletzungen sind weiterhin auf der Tagesordnung. Das ist ein Zeichen dafür, daß die Effektivität des internationalen M.sschutzes nicht überschätzt werden darf. Der völkerrechtl. M.sschutz leidet v.a. unter 2 Problemen. M.sverträge binden nur diejenigen Staaten, die sie ratifiziert haben. Solange die meisten wichtigen Verträge - wie es bislang ist - nur von einem Teil aller Staaten unterzeichnet sind, ist der vertragliche M.sschutz schon aus diesem Grund begrenzt. Erschwerend kommt hinzu, daß die internationalen Verträge keine wirksamen Sanktionsmechanismen gegen M.sverletzungen vorsehen können. Denn die einzelnen Staaten unterwerfen sich einem internationalen Sanktionensystem nur sehr zögernd. Dementsprechend hat der völkerrechtl. M.sschutz in menschenrechtl. brisanten Bereichen nicht selten versagt. Das Urteil über den internationalen Schutz der M.e durch das Völker-
Menschenrechtskonvention recht relativiert sich aber, wenn man die Entwicklung des M.sschutzes als dynamischen Prozeß betrachtet. Noch am Beginn des Jhd.s war die -> Souveränität der nationalen Staaten rechtl. unantastbar. Vor diesem Hintergrund stellen völkerrechtl. Verträge, die Staaten zur Beachtung von individuellen M.en verpflichten, einen qualitativen Entwicklungssprung dar. Denn immerhin wird dadurch die einzelstaatl. Souveränität erheblich eingeschränkt. Neben der rechtl. Problematik enthalten die M.e auch eine polit. Dimension. Internationale M. s Verträge entfalten nicht nur eine - begrenzte - rechtl. Wirkung. Sie haben polit. Auswirkungen, die über die rechtl. Effekte weit hinausgehen. Die großen UN-Kodifikationen und die Arbeit der internationalen nichtstaatl. M.sorganisationen bringen das Problem der M.e immer wieder in die Weltöffentlichkeit. Sie erhöhen den Stellenwert, den die M.e in der internationalen Politik und im Bewußtsein von immer mehr Bürgern haben. Der damit verbundene polit. Druck zeigt Wirkung: Immer mehr nationale Verfassungen und Politiken verpflichten sich, die M.e zu schützen und zu fördern. Trotz anhaltender M. sVerletzungen ist die Leistungsbilanz des M.sschutzes in der 2. Hälfte dieses Jhd.s deshalb eindrucksvoll (s.a. —• Bürgerrechte, s.a. —> Grundrechte, s.a. -> Komitee für Grundrechte und Demokratie). Ut: E. Lawson: Encyclopedia of Human Rights, Washington 21996; M. Pape: Humanitäre Intervention, Baden-Baden 1997; G. Seidel: Handbuch der Grund- und Menschenrechte auf staail., europ. und universeller Ebene, Baden-Baden 1996; R. Wolfrum (Hg.): Handbuch Vereinte Nationen. München 21991.
Volker Neßler Menschenrechtskonvention -» Europäische Menschenrechtskonvention - » Menschenrechte Menschenwürde 1. „Die Würde des Menschen ist unantastbar", lautet in Art.
Menschenwürde 1 Abs. 1 S. 1 der erste Satz des —> Grundgesetzes. Schon diese exponierte Stellung zeigt die herausragende Bedeutung als höchster oder zentraler Richtwert der verfassungsmäßigen Ordnung, die das GG der M. unter dem Eindruck der menschenverachtenden NS-Zeit (—> Nationalsozialismus) zuerkennt. Sie wird unterstrichen durch die Aufnahme in Art. 79 Abs. 3 GG, der - * Verfassungsänderungen verbietet, welche die in Art. 1 niedergelegten Grundsätze berühren. Auch diejenigen -» Landesverfassungen, die eigene -> Grundrechte enthalten, schützen nahezu wortgleich die M. Was die Würde des Menschen ausmacht, ist zunächst eine fundamentale philosophisch-theologische Frage. Auch wenn die Verfasser des GG dem Ideengut christl. Naturrechts und der Philosophie I. Kants (1724-1804) verbunden gewesen sein dürften, ist dem GG doch, da es insg. eine gegenüber Religionen, Weltanschauungen und philosophischen Richtungen offene, pluralistische Wertordnung aufstellt, in bezug auf die M. nicht die Übernahme und schon gar nicht die Festschreibung einer bestimmten Antwort auf diese Frage zu unterstellen. Dennoch kann nicht ungeklärt bleiben, was unter Unantastbarkeit der M.e als -> Rechtsnorm zu verstehen ist. Nach der Rechtsprechung des —> Bundesverfassungsgerichts prägt die M. das Bild des GG vom Menschen als geistig-sittliches Wesen, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten; Freiheit meine dabei nicht die eines selbstherrlichen und isolierten, sondern eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums. Diese Umschreibung weist auf die zentrale Frage aller Grundrechte nach dem Ausgleich zwischen Selbstbestimmung und Gemeinschaftsgebundenheit des einzelnen hin, ist aber ebensowenig als handhabbare Definition zu verstehen wie die Bestimmung der M. als das, was den Menschen auszeichnet, also etwa Vernunft, Freiheit des Willens, Autonomie oder innerer und sozialer Wert und
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Menschenwürde Geltungsanspruch. Richtig dürfte es daher sein, mit dem BVerfG vom Versuch einer abstrakten, allgemeinverbindlichen Definition der M. i. S. von Art. 1 GG als unmöglich abzusehen und stattdessen in jedem Einzelfall auf die Bewertung eines konkreten Vorganges als Verletzung der M. abzustellen. Geeignetes Hilfsmittel hierzu ist die zwar bisweilen als Floskel kritisierte, aber doch weithin verwendete Objektformel des BVerfG, nach welcher der Mensch nicht zum Objekt staatl. Handelns werden darf, sondern stets als selbstverantwortliche Persönlichkeit mit Subjektqualität anerkannt werden muß. Art. 1 Abs. 1 GG markiert damit eine trotz vielfältiger Vorstellungen von M. weitgehend konsensfähige Tabugrenze, jenseits derer die Art und Weise des Umgangs mit Menschen als nicht mehr hinnehmbar angesehen wird. 2. Träger der M. ist nicht etwa nur „die Menschheit", sondern jeder einzelne Mensch kann Art. 1 GG als subjektives Recht für sich in Anspruch nehmen. M. steht danach dem Geisteskranken ebenso zu wie dem Asozialen oder Verbrecher, ein Verzicht ist weder ausdrücklich noch durch eigenes würdeloses Verhalten möglich. Sie bleibt auch für —> Bürger in Sonderstatusverhältnissen wie Schüler, Beamte, Soldaten oder Strafgefangene erhalten. Dagegen können weder Tiere noch -> juristische Personen Inhaber von M. sein. Wenn M. jeglichem menschlichem Leben zukommt und der Beginn menschlichen Lebens vom BVerfG mangels anderweitiger klarer Einschnitte im menschlichen Entwicklungsprozeß auf den 14. Tag nach der Empfängnis - nach der Nidation angesetzt wird, ist es konsequent, den Schutz der M. i. V.m. dem Grundrecht auf Leben in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf menschliches Leben vor der Geburt zu erstrecken. Ebenfalls anknüpfend an die Rechtsprechung des BVerfG wird ferner überwiegend angenommen, daß der aus der M. abzuleitende soziale Achtungsund Geltungsanspruch eine begrenzte Zeit
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Menschenwürde über den Tod hinaus Wirkungen entfaltet. 3. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verpflichtet alle staatl. Gewalt, die M. zu achten und zu schützen. Das Recht auf M. besteht danach gegenüber sämtlichen staatl. Organen der -> Legislative, -> Exekutive und -> Judikative. Ihre Pflicht zur Achtung der M. entspricht der primären Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den -> Staat; danach ist es dem Staat verboten, die M. des einzelnen zu verletzen. Weiter bedeutet Schutz nach der aus der Funktion der Grundrechte als objektiver Wertordnung hergeleiteten Schutzpflichtrechtsprechung des BVerfG das Gebot, aktiv für die Verwirklichung des Grundrechts zu sorgen, und die Pflicht, es vor Beeinträchtigungen durch Private zu schützen. Hieraus ist v.a. die (objektivrechtl.) Pflicht des Staates zur Gewährleistung eines - auch finanziellen - Existenzminimums abzuleiten. Da Art und Weise der Umsetzung dieser Pflichten mit Rücksicht auf Demokratieprinzip und -> Gewaltenteilung vorrangig dem Gesetzgeber obliegen und ihm dabei bis zur Grenze evidenter Verletzungen ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht, sind subjektive Leistungsansprüche - etwa auf -> Sozialhilfe - Art. 1 Abs. 1 GG nicht unmittelbar zu entnehmen; subjektive Rechte können sich aber aus einfachgesetzlichen Regelungen durch eine Auslegung im Lichte von Art. 1 Abs. 1 GG ergeben. Aus der umfassenderen Formulierung in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG, die M. sei unantastbar (nämlich nicht nur filr den Staat, sondern überhaupt), wird vielfach abgeleitet, die Abwehrseite gelte darüber hinaus auch zwischen Privaten, habe also unmittelbare Drittwirkung. Dies nimmt anknüpfend an Art. 1 Abs. 2 des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches der -> DDR - Art. 20 der Landesverfassung —> Brandenburg auf mit der Formulierung: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung seiner Würde". Da aber Art. 1 Abs. 1 GG einerseits nur gravierende Fälle jenseits einer Tabugrenze erfaßt und andererseits über die anerkannte mittelba-
Menschenwürde bare Drittwirkung im Rahmen der Abwehrrechte aus den §§ 823, 1004 BGB ohnehin wirksam wird, sind die praktischen Konsequenzen einer solchen unmittelbaren Drittwirkung gering. Gelegentlich wird - u.a. wegen der abgehobenen Funktion der M. als Wurzel und Geltungsgrund der Menschenrechte in Art. 1 Abs. 2 GG und wegen der Bezugnahme auf die „nachfolgenden" Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 GG - bezweifelt, daß es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG selbst um ein Grundrecht handelt. Das BVerfG spricht zwar - wohl anknüpfend an die Formulierung in Art. 79 Abs. 3 GG bisweilen vom „Grundsatz der M " , geht aber der Sache nach vom Grundrechtscharakter aus. Da der insbes. aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG abzuleitende Inhalt der Verpflichtung nach Abwehr- und Schutzfunktion der aus Art. 1 Abs. 3 GG für die folgenden Grundrechte abzuleitenden Bindung entspricht, ist mit der h.M. Art. 1 Abs. 1 GG als zwar herausgehobenes und elementares, aber eben doch als Grundrecht zu verstehen. 4. Der Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 GG läßt keine Schranken der M. erkennen. Von der wohl h.M. wird auch die Möglichkeit verfassungsimmanenter Schranken in Form kollidierender Verfassungsgüter verneint, weil Art. 1 Abs. 1 GG als oberster Verfassungswert stets Vorrang genieße und nicht einmal im Wege der Verfassungsänderung antastbar sei. Dem steht entgegen, daß die M. ihren Schutz nur als Rechtsnorm entfalten kann, insoweit der Auslegung und Definition bedarf und damit keineswegs so apodiktisch geschützt ist, wie es die Formulierung von der Unantastbarkeit glauben macht. Auch die Vorschrift in Art. 19 Abs. 2 GG, in keinem Fall dürfe ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt (-> Wesentlichkeitstheorie) „angetastet" werden, ist letztlich nur als strenge Mahnung an die Verhältnismäßigkeit zu verstehen. Ferner verbietet Art. 79 Abs. 3 GG keine Änderung von Art. 1, sondern nur eine Berührung der dort niedergelegten Grund-
Menschenwürde sätze. Schließlich wäre es ein Mißverständnis von Grundrechtsschranken, damit eine Herabsetzung des Schutzgutes zu verbinden; auch das —> Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG behält trotz des ihm beigegebenen einfachen —> Gesetzesvorbehalts seinen hohen Stellenwert. Besser als die mit der vollständigen Negation von Schranken bei Art. 1 Abs. 1 GG zwangsläufig verbundenen Versuche, geringfügige oder auf andere Verfassungsgüter etwa die Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG - gestützte Maßnahmen gar nicht erst als Verletzung der M. zu begreifen, dürfte es daher sein, grds. die Möglichkeit einer Beschränkung von Art. 1 Abs. 1 GG durch verfassungsimmanente Schranken zuzulassen; selbstverständlich ist dann stets im Rahmen einer Abwägung die zentrale Bedeutung von Art. 1 Abs. 1 GG angemessen zu berücksichtigen. 5. Beispiele für staatl. Verletzungen der M. sind Vernichtung „lebensunwerten" Lebens, Folter, zwangsweise medizinische Versuche an Menschen, im Verhältnis zur Tat besonders schwere oder grausame Strafen, Todesstrafe (abgesehen von Art. 102 GG), den menschlichen Willen umgehende Lügendetektoren oder „Wahrheitsdrogen" oder Zwang zur Existenz unter Ökonom, oder materiellen Bedingungen, die dem Menschen seine Subjektsqualität nehmen. Nicht die für einen Verstoß gegen die M. erforderliche Schwere erreichen Maßnahmen wie Eingriffe in die Haar- und Barttracht zwecks Gegenüberstellung mit Zeugen oder bei Soldaten aus militärischen Gründen, Friedhofszwang für Urnenbestattung oder Verpflichtung zum Verkehrsunterricht zur Vermeidung des Führerscheinentzuges. Die staatl. Schutzpflicht verlangt u.a. die Gewährung des Existenzminimums für Bedürftige und das Einschreiten gegen die gentechnolgische .Züchtung" von Menschen. Noch nicht vollständig gelöst ist die Frage, ob die Schutzpflicht den Staat auch zum Einschreiten verpflichtet, wenn die Grundrechtsträger ihrerseits auf ihre
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MERCOSUR
Militärischer Abschirmdienst
Würde verzichten oder sie nicht verletzt sehen, z.B. Aktricen in Peepshows. Ebenfalls noch nicht überzeugend geklärt, jedenfalls aber differenzierend zu beantworten ist die Zulässigkeit aktiver und passiver Sterbehilfe sowie gentechnologischer Maßnahmen zu Heilungszwecken. Lit: G. Düng: Der Gnindrechtssatz von der Menschenwürde, in: AöR 1956, S. 117ff.; T. Geddert-Steinacher: Menschenwürde als Verfassungsbegriff, Berlin 1990; HdbStR I., S. 815ff.; HdbVerfR, S. 161ff.; E. Niebier: Die Rechtsprechung des BVerfG zum obersten Rechtswert der Menschenwürde, in: BayVbl. 1989, S. 737ff.; Stern, III/l, § 58.
Nicolai Milller-Bromley MERCOSUR = Mercado Común del Sur Vertrag zwischen Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay zur Errichtung eines gemeinsamen Marktes MGFA -> Militärgeschichtliches Forschungsamt Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA) Das MGFA ist eine Forschungseinrichtung im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums der Verteidigung, 1957 gegründet, wurde der Dienstsitz 1994 von Freiburg i.Br. nach Potsdam verlegt. Schwerpunkte der wissenschaftl. Arbeit: Militärgeschichtl. Grundlagenforschung und Beiträge zur histor.-polit. Bildung in den Streitkräften. Gegenstand der modernen Militärgeschichte als Teildisziplin der allgemeinen Geschichtswissenschaft ist die Untersuchung der Rolle der bewaffneten Macht in Frieden und Krieg sowie in allen Bezügen und Wechselwirkungen zu —> Staat, Wirtschaft und -> Gesellschaft. Wichtige Projekte der Forschung: —> Nationalsozialismus und Π. Weltkrieg, Militärgeschichte der —> Bundesrepublik Deutschland und der -> DDR, Geschichte des atlantischen Bündnisses (-» NATO). Das Amt arbeitet eng mit dem Bundesarchiv-Militärarchiv sowie zahlreichen -> Hochschulen und wissenschaftl. Einrichtungen zusammen
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und präsentiert seine Forschungsergebnisse auf internationalen Tagungen und in wissenschaftl. Publikationen (über 400 Veröffentlichungen). Es unterhält die größte dt. Spezialbibliothek zur Militärgeschichte. Die gegenständlich-museale Darstellung der Militärgeschichte erfolgt über Wanderausstellungen und 2 Museen (Militärhistor. Museum Dresden, Luftwaffenmuseum Berlin-Gatow). Lit: Handbuch der Dt. Militärgeschichte 16481939, 6 Bde. 1964-1981; Das Dt. Reich und der II. Weltkrieg, (10 Bde. geplant 1979ff; Anfinge westdeutscher Sichelheitspolitik 1945-1956 (4 Bde. 1982-1996) Zeitschriften: Militärgeschichtl. Mitteilungen (MGM); Militärgeschichte N.F. Hg-
Militärischer Abschirmdienst Der MAD ist neben dem -> Bundesamt für Verfassungsschutz und dem —• Bundesnachrichtendienst einer der 3 Nachrichtendienste der —> Bundesrepublik Deutschland. Der MAD untersteht dem Bundesministerium der Verteidigimg. Gegründet wird er 1956 durch einen Erlaß. Als Vorläuferorganisation fungiert von 1950 bis 1956 die sog. Sicherungsgruppe im Amt Blank. Zwischen 1957 und 1984 trägt der Dienst die Bezeichnung: Amt für Sicherheit der Bundeswehr, danach Amt für Militärischen Abschirmdienst. Mit dem MAD-Gesetz vom 20.12.1990 erhält der Dienst erstmals eine gesetzliche Grundlage. Bis dahin ist seine Arbeit allein durch Erlasse des Bundesverteidigungsministeriums geregelt worden. Seine Befugnisse und die Verfahren der Parlament. Kontrolle seiner Tätigkeiten entsprechen jetzt denen des Verfassungsschutzes. Im Gegensatz zu diesem beschränken sich die Aufgaben des MAD auf die Streitkräfte. Er soll die Einrichtungen und das Personal der —• Bundeswehr im In- und Ausland insbes. vor Spionage und Sabotage durch gegnerische Geheimdienste schützen. Polizeiliche Befugnisse kommen ihm entsprechend des Trennungsgebotes der Arbeit von -> Polizei und Nachrichtendiensten nicht zu. Der
Militärseelsorge
Militärseelsorge MAD hat seinen Sitz in Köln. Er beschäftigt (Stand 1994) rd. 1.300 Bedienstete (1984: 2.100), von denen rd. 75% in regional gegliederten Dienststellen tätig sind. Die militärische Gegenspionage zählt nicht zu seinen Aufgaben, diese obliegt in der BRD allein dem BND als Auslands-Nachrichtendienst. Lit: Ch. Gröpl: Die Nachrichtendienste im Regelwerk der dt. Sicherheitsverwaltung, Berlin 1993; E. Schmidt-Eenboom (Hg.): Nachrichtendienste in Nordamerika, Europa und Japan, CDROM, Weinheim 1995.
Hans-Jürgen Lange Militärseelsorge ist der von der ev. und der kath. —> Kirche mittels staatl. Organisation und weitgehend staatl. Finanzierung geleistete Beitrag zur freien Religionsausübung in der —> Bundeswehr. Verfassungsrechtl. Grundlage ist das Grundrecht der —> Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie das auf ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Die institutionalisierte M. ist verfassungsrechtl. zulässig, denn nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 141 WRV sind die Religionsgesellschaften im Heer zuzulassen, was in Verbindung mit dem Grundrecht aus Art. 4 GG keine Beschränkung staatl. Handelns darstellt, sondern ein Minimum an Rechten gewährt, über das der —» Staat hinausgehen kann. Aus dem Verbot' der Staatskirche in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 —> Weimarer Reichsverfassung ergibt sich die religiöse Neutralität des Staates, keineswegs aber eine absolute Trennung von Staat und Kirche. § 36 -> Soldatengesetz normiert den Anspruch des Soldaten auf Seelsorge und ungestörte Religionsausübung. Rechtsgrundlage der ev. M. sind der Vertrag der -> Bundesrepublik Deutschland mit der Ev. Kirche in Dtld. zur Regelung der ev. M. vom 22.2.1957 und das Gesetz über die M. vom 26.7.1957. Hinsichtlich der neuen Länder gilt die Rahmenvereinbarung zur Durchführung der ev. Seelsorge in der Bundeswehr in den neuen Bundesländern zwischen der BRD und der Ev. Kirche in
Dtld. vom 12.7.1996, mit der als Zwischenlösung der ev. Kirche für die neuen Länder bis zum 31.12.2003 das Recht eingeräumt wird, Militärgeistliche abweichend vom Gesetz nicht als Bundesbeamte, sondern als Kirchenbeamte der EKD hauptamtlich einzusetzen, wobei der Bund der EKD die Kosten erstattet. Diese Sonderregelung wurde getroffen, weil die ostdt. Landeskirchen bisher nicht bereit waren, den M.vertrag zu übernehmen. Rechtsgrundlage der kath. M. ist Art. 27 des —> Konkordats zwischen dem Dt. Reich und dem Heiligen Stuhl vom 20.7.1933 sowie der Notenwechsel des —» Auswärtigen Amtes mit dem Heiligen Stuhl vom 2. und 3.9.1965, in dem die im Reichskonkordat vorgesehene Regelung der Beamtenverhältnisse durch Art. 2 des Gesetzes über die M. als erfolgt angesehen wird. Εν. M. Die Organisation ist kirchl. und staatl.; an der Spitze steht ein Militärbischof in ausschließlich kirchl. Dienst. Kirchenkanzlei und gleichzeitig Bundesoberbehörde ist das Ev. Kirchenamt für die Bundeswehr, das vom Militärgeneraldekan geleitet wird. Dieser untersteht in kirchl. Angelegenheiten dem Militärbischof, in staatl. dem -> Bundesminister der Verteidigung. Die Militärgeistlichen sind überwiegend Bundesbeamte auf Zeit. Wehrbereichsdekane üben die Aufsicht aus. In ihrer Eigenschaft als Bundesbeamte haben die Militärgeistlichen den Militärgeneraldekan als unmittelbaren und den Bundesminister der Verteidigung als obersten Dienstvorgesetzten. Für je 1.500 ev. Soldaten ist eine Militärgeistlichenstelle vorgesehen. Diese Organisation wird, soweit sie staatl. ist, vom Staat finanziert. Kath. M. Der Aufbau entspricht dem der ev. M.; Militärbischof ist ein residierender Diözesanbischof. Seine Kurie und zugleich -» Bundesoberbehörde ist das Kath. Militärbischofsamt, das vom Militärgeneralvikar geleitet wird. Aufgabe der Militärgeistlichen sind der Dienst am Wort und Sakrament und die Seelsorge. Die Militärgeistlichen stehen 571
Militärseelsorge für die Betreuung der Soldaten zur Verfügung, und sie beraten die Leiter der von ihnen zu betreuenden Dienststellen in allen Fragen der M. und in allgemeinen kirchl. Angelegenheiten. Militärgeistliche erteilen den sog. Lebenskundlichen Unterricht, in dem sittliche Fragen, welche die Lebensführung des Menschen und die Ordnung des Zusammenlebens betreffen, behandelt werden. Dieser Unterricht ist nicht Bestandteil der M., sondern Teil des Erziehungsprogramms der Streitkräfte. Dementsprechend ist die Erteilung des Lebenskundlichen Unterrichtes durch eine Dienstvorschrift des Bundesministers der Verteidigung und nicht in den Verträgen zwischen Staat und Kirchen über die M. geregelt. Der Lebenskundliche Unterricht ist verfassungsrechtl. zulässig, zumal Soldaten auf ihren Antrag von der Teilnahme zu befreien sind. Militärgeistliche werden von Pfarrhelfern unterstützt. In der kath. M. sind auch Pastoralreferenten (Laien im pastoralen Dienst mit theologischem Hochschulabschluß) tätig, die nicht in einem staatl. Anstellungsverhältnis stehen, deren Kosten aber der Staat aus nicht besetzten Planstellen für Militärgeistliche erstattet. Militärgeistliche haben aufgrund ihres Doppelstatus sowohl kirchl. als auch beamtenrechtl. Pflichten. Zu diesen gehört auch die Ausübung der Seelsorge. Die Verletzung von Beamtenpflichten wird staatlicherseits geahndet, wobei die staatl. Dienstaufsicht durch den Militärgeneraldekan bzw. den Militärgeneralvikar ausgeübt wird, was den Besonderheiten der M. Rechnung trägt. Allerdings kann der Militärbischof jegliche Ahndung im staatl. Bereich verhindern, indem er mittels eines Antrags die sofortige Entlassung des Militärgeistlichen aus dem Beamtenverhältnis veranlaßt. Auch in anderen EU-Staaten gibt es eine institutionalisierte staatl. finanzierte M.: Z.B. in Frankreich (trotz der Trennung von Staat und Kirche) gibt es einen röm.kath., einen protest, und einen israelitischen Zweig der M.; entsprechend in 572
Minderheit Belgien und den Niederlanden, während es in Italien nur eine röm.-kath. M. und in Großbritannien eine schwerpunktmäßig auf die Episkopalkirchen und die Kirche von Schottland ausgerichtete M., daneben auch eine röm.-kath. gibt. Lit: J. Ennuschat: Militärseelsorge, Verfassungsund beamtenrechtl. Fragen der Kooperation von Staat und Kirche, Berlin 1996; HdbSlKirchR II, S. 96Iff.
Rudolf Seiler Mikrozensus —> Volkszählung Minderheit / -en, nationale Eine allseits akzeptierte Definition des Begriffs der M. existiert weder im Völker- noch im Verfassungsrecht. Auf europ. Ebene wird unter M. i.d.R. eine Gruppe innerhalb eines staatl. Gebildes verstanden, die zahlenmäßig kleiner ist als der Rest der Bevölkerung dieses Gebildes und deren ethnische, religiöse oder sprachliche Charakteristika, die sie beizubehalten wünscht, sie von diesem Rest unterscheiden, ohne daß sie diesen Rest herrschaftlich dominieren würde. Solche M. existieren in der BRD in —> Brandenburg, —> Sachsen (Sorben) und -» Schleswig-Holstein (Dänen; Friesen). Deren Rechte werden - mangels Minderheitenschutzartikel im GG - grdl. durch —> Landesverfassungen innerstaatl. geschützt. So bestimmt Art. 25 Abs. 1 Bbg.Verf., daß das Recht des sorbischen Volkes auf Schutz, Erhaltung und Pflege seiner -> nationalen Identität und seines angestammten Siedlungsgebietes gewährleistet wird. Das Land, die -> Gemeinden und —» Gemeindeverbände fördern danach die Verwirklichung dieses Rechtes, insbes. die kulturelle Eigenständigkeit und die wirksame polit. Mitgestaltung des sorbischen Volkes. Nach Abs. 3 der Norm haben die Sorben das Recht auf Bewahrung und Förderung der sorbischen Sprache und Kultur im öffentl. Leben und ihre Vermittlung in Schulen und Kindertagesstätten. Im Siedlungsgebiet der Sorben ist nach Abs. 4 die sorbische Sprache in die
Minderheit öffentl. Beschriftung einzubeziehen. Die Ausgestaltung der Rechte der Sorben regelt nach Abs. 5 ein Gesetz. Dieses hat sicherzustellen, daß in Angelegenheiten der Sorben, insbes. bei der Gesetzgebung, sorbische Vertreter mitwirken. Vergleichbare Regelungen finden sich in Art. 6 SächsVerf, nach deren Abs. 2 in der Landes- und Kommunalplanung die Lebensbedürfnisse des sorbischen Volkes zu berücksichtigen sind und der deutschsorbische Charakter des Siedlungsgebietes der sorbischen Volksgruppe zu erhalten ist, sowie in Art. 5 Abs. 1 SHV. Bedeutung zum Schutz der M. kommt aber auch - » Bundesrecht wie z.B. § 6 Abs. 6, S. 2 BWG (Befreiung der M. von der Sperrklausel) sowie der Bonn-Kopenhagener Erklärung v. 29.3.1955 (BAnz Nr. 63 v. 31.3.1955,4. ff.) zu. Im -> Völkerrecht waren im Hinblick auf den territorialen Wandel in Europa nach dem Ende des I. Weltkrieges zahlreiche Bestimmungen in Friedensverträgen bzw. darauf aufbauenden Verträgen dem Schutz rassischer, sprachlicher und religiöser M. gewidmet. Seit dem Ende des Π. Weltkrieges ist der Schutz von M. weitgehend durch die Entwicklung des Schutzes individueller —> Menschenrechte, namentlich von allgemeinen (Art. 1 Abs. 3 der UNCharta; Art. 2 des Internationalen Pakts über bürgerl. und polit. Rechte v. 19.12.1966 pPbpR; BGBl. 1973 Π S. 1354]) und besonderen Diskriminierungsverboten (Übereinkommen gegen die Diskriminierung im Unterrichtswesen v. 15.12.1960 BGBl. 1968 Π S. 386, Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung v. 7.3.1966 BGBl. 1969 Π S. 962) zurückgetreten. Diskriminierungsverbote schützen die M. allerdings nicht vor der Gefahr der Assimilierung an die Mehrheit. Dem will Art. 27 IPbpR entgegenwirken. Danach darf Angehörigen von ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu be-
Minderheit kennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen. Auch das jüngste Rahmen-Übereinkommen des —> Europarates zum Schutz nationaler M. v. 1.2.1995 (ETS No. 157) sowie die Europäische Charta für Regional- und Minderheitensprachen v. 5.11.1992 des Europarates (ETS No. 148) haben auf regionaler Ebene an der Zurückhaltung des modernen Völkerrechts gegenüber Vorschriften zum Schutz von M., die über bloße, nicht direkt anwendbare und unpräzise formulierte Programmsätze hinausreichen, wenig geändert. Lit.: M. Brems: Die polit. Integration ethnischer Minderheiten aus staats- und Völkerrecht. Sicht, Frankfiirt/M. 1995; F. Capotarti: Minorities (mit Addendum v. R.HoSmann), in: R. Bernhardt (Hg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol.HI, Amsterdam 1993, S. 410ff.: JA. Frowein (Hg.): Das Minderheitenrecht europ. Staaten, Berlin 1993/94.
Jörg Ukrow Minderheit / -en, politische ist zunächst einmal jede gegenüber einer polit. Mehrheit unterlegene Gruppe. Polit, relevant wird dies, wenn sich Minderheit und Mehrheit nicht nur zufällig gegenüberstehen, sondern wenn diese Gruppen über längere Zeit sozial und polit, in —> Parlament, -» Parteien und —» Gesellschaft stabil bleiben. Die Gründe, die eine p.M. konstituieren, können sich wandeln oder auch ganz wegfallen. Völkerrechtl. Schutz genießen v.a. nationale Minderheiten (—> Minderheit, nationale, ethnisch, religiös, sprachlich), die aber nicht automatisch auch zu p.M.en werden. Hierzu muß neben den objektiven Faktoren zugleich ein subjektives polit. Gruppengefìlhl kommen. Um sich polit, artikulieren zu können, brauchen p.M.en die Ausdnickschancen, die Zivilgesellschaften mit ihren Prinzipien —> Freiheit, -> Demokratie und -> Rechtsstaat bieten. Vor allem 3 Arten von p.M.en haben hiervon Gebrauch gemacht. 1. Typen a) Soziologische Minderheiten sind potentielle Mehrheiten (nach Köp573
Minderheit
Minderheitsregierung
fen), die keinen gleichen Zugang zur polit. Macht haben. Die Gründe hierfür variieren stark, und die Fluktuation dieser Gruppen ist hoch. Histor. kann das liberale Bürgertum im vorrevolutionären Frankreich ebenso als soziologische Minderheit gesehen werden wie die Arbeiter im 19. Jhd. oder Frauen heute. Durch reformerische Integration können diese Minderheiten an der Mehrheitskultur teilhaben oder sie langfristig bestimmen (USA, GB); wird dies obrigkeitsstaatl. veweigert, können Revolutionen die Folge sein (Frankreich 1798, Rußland 1917). b) Religiöse Minderheiten haben i.d.R. keine Chance, selber zur Mehrheit zu werden, können dafür aber eine „Mehrheit an Bewußtsein" und die subjektive Sicherheit transzendentaler Wahrheit für sich beanspruchen. Religiöse Wahrheitsansprüche können zu Verfolgung und Bürgerkrieg (z.B. England 16. Jhd.) führen; oftmals sind polit.-religiöse Minderheiten dem nur durch Auswanderung (v.a. nach Amerika) entgangen. Zu dieser Kategorie zählen auch moderne religiöse und pseudo-religiöse Gruppen zumeist voluntaristisch-subjektiver Zusammensetzung mit messianischem Wahrheitsanspruch (z.B. verschiedene Fundamentalismen). Im positiven Sinne kann eine Vielzahl von kompromißbereiten und religiös toleranten Minderheiten zu einer Stärkung des demokrat. -> Pluralismus führen, c) Ethnische, „genetische" Minderheiten besitzen i.d.R. weder die Mehrheitschance noch die transzendentale Sicherheit. Die Resignation im Minderheitenstatus kann zu einer polit. Strategie der Integration (USA, Schweiz) oder des Separatismus (Jugoslawien, SU, Öst.-Ungarn) führen. Die gemeinsame Artikulation als p.M. ist in hohem Maße vom Bekenntnis und der Bewußtwerdung abhängig; (post-moderne Beispiele aus den USA sind die steigende Organisation von „Native Americans" oder Minderheiten sexueller Orientierung.
kratien versuchen, in bestehenden Parteien Nischen zu erobern oder sich selber zu organisieren. Histor. haben die Konfliktlinien Mehrheit / Minderheit wesentlich die Entstehung der europ. Parteiensysteme geprägt (Lipset/Rokkan); etwa durch die Entwicklung religiöser Parteien, Arbeiter- oder Bauernparteien. Nationale Minderheitenparteien gibt es in vielen Staaten Europas. 3. PM.en und Parlamente: P.M.en haben wichtige Funktionen in parlament. Demokratien, in denen die Mehrheitsfraktionen die Regierung stützen, und daher kaum wirksam kontrollieren. Als -> Opposition artikuliert die p.M. legitimen Dissens, kontrolliert öffentl. die Regierung und bietet eine Alternative für einen Machtwechsel. Stark ist ihre Stellung v.a. bei knappen Mehrheiten und bei —> Abstimmungen, die Verschärfungen des —> Mehrheitsprinzips verlangen (Zweidrittelmehrheit für Verfassungsänderungen). Da die Opposition aber i.d.R. über wenige aktiv-positive Gestaltlingsmöglichkeiten verfügt, sind ihre Schutzrechte um so wichtiger: mit Kleinen oder Großen Anfragen (-> Fragerecht) kann sie Auskunft von der Regierung verlangen, Untersuchungsausschüsse und Organklagen vor dem —> Bundesverfassungsgericht sind in Dtld. noch weiterreichende Möglichkeiten der p.M. Generell läßt sich abschließend festhalten, daß der Umgang mit p.M.en ein polit. Gradmesser der Liberalität einer Gesellschaft wie umgekehrt die Integrationsbereitschaft beider Seiten entscheidend ist für die demokrat. Stabilität des Gemeinwesens.
2. p.M.en und Parteien P.M.en können unter den Bedingungen liberaler Demo-
Michael Dreyer
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Lit: W. Gessenhorter / H. Fröchling (Hg.): Minderheiten - Störpotential oder Chance für eine friedliche Gesellschaft?, Baden-Baden 1991; B. Guggenberger / C. Offe (Hg.): An den Grenzen der Mehrheitsdemoknitie, Opladen 1984; W. Kymlicka (Hg.): The Rights of Minority Cultures, Oxford 1995.
Minderheitsregierung Die M. ist Aus-
Minderheitsregierung druck einer Regierungs- und Parlamentskrise im —» parlamentarischen Regierungssystem. Kennzeichnend für diesen Regierungstyp ist eine -> Regierung, die nicht das —> Vertrauen der Mehrheit der Mitglieder des -> Parlaments besitzt (instabile Regierung) und damit der Normalkonstellation des parlament. Regierungssystems, dem antipodischen Gegenüber von Regierungsmehrheit und Parlament. —> Opposition (stabile und handlungsfähige Regierung) nicht entspricht. Je größer die Zahl der im Parlament vertretenen -> Parteien ist und je weiter sie programmatisch auseinanderliegen, um so höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß die als Ausnahme gedachte M. zur Regel wird (z.B. -> Weimarer Republik). Typologisch lassen sich 2 Arten einer M. unterscheiden: Die parlament. gestützte M. (Bereitschaft der Stützfraktion(en) zu kontinuierlicher Zusammenarbeit in Personal· und Sachfragen ohne Zugehörigkeit zur Regierung, z.B. -> Sachsen-Anhalt seit Juli 1994) und die tolerierte M. (keine Bereitschaft der die Regierung tolerierenden Abgeordneten zur kontinuierlichen, sondern lediglich zur Ad-hocZusammenarbeit in Sachfragen, z.B. —• Hamburg 1982). Der —> Parlamentarische Rat war nach den schlechten Erfahrungen mit den instabilen Mehrheitsverhältnissen in' der Weimarer Republik bestrebt, stabile Regierungsmehrheiten möglichst weitgehend verfassungsrechtl. abzusichern. Aus 3 Gründen kann es jedoch auch im Rahmen des -> Grundgesetzes zur Bildung einer M. kommen: a) Nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG kann der —> Bundespräsident nach erfolgloser Wahl eines Mehrheitskanzlers und nach dem Verzicht auf die Altemativmöglichkeit der —> Parlamentsauflösung einen Minderheitskanzler ernennen; b) Ein mit Mehrheit gewählter —> Bundeskanzler verliert während der —• Legislaturperiode, z.B. durch Ausscheiden eines Koalitionspartners aus der Regierung, die Mehrheit. Sofern der Bundeskanzler in diesem Fall weder zurücktritt
Minderjährigkeit noch im Wege des konstruktiven -» Mißtrauensvotums (Art. 67 GG) abgewählt wird, bleibt eine M. im Amt; c) Ein mit —> Kanzlermehrheit gewählter Bundeskanzler hat von Anfang an keine echte Mehrheit, z.B. wenn einzelne Abgeordnete oder kleinere —> Fraktionen ihr —> Mandat und die damit verbundenen Vorteile nicht verlieren wollen, aber gleichzeitig nicht bereit sind, die Regierung dauerhaft zu unterstützen. Die M. hat zwar die gleichen Rechte und Befugnisse wie die Mehrheitsregierung, die Erfolgschancen zumindest einer nur tolerierten M. sind allerdings nur gering, auch wenn hier über den —> Gesetzgebungsnotstand (Art. 81 GG) die Möglichkeit gegeben wird, für eine begrenzte Zeit ohne Zustimmung des Bundestages mit Hilfe des Bundesrates und des Bundespräsidenten Gesetze zu verabschieden. Auf Bundesebene gab es bisher nur 3 kurze Phasen einer M., und zwar vom 27.10.1966 (Ausscheiden der FDP aus der CDU/CSU/FDP-Koalition) bis 1.12.1966 (Bildung der Großen —> Koalition), im Sommer/Herbst 1972 (Verlust der Mehrheit für die sozial-liberale Koalition durch Fraktionsaustritte) und vom 17.9.1982 (Ausscheiden der FDP aus der sozialliberalen Koaliton) bis 1.10.1982 (Bildung der Koalition aus CDU/CSU und FDP). Auch auf Landesebene hat es verschiedentlich - auch länger andauernde M.en gegeben. Die wohl umstrittenste ist das sog. Magdeburger Modell in LSA, eine Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit Stützung durch die PDS von Juli 1994 bis April 1998. Nach dem Ausscheiden der Grilnen aus dem Landtag LSA aufgrund der Landtagswahl vom 26.4.1998 wird eine SPD-M. unter Tolerierung durch die PDS fortgeführt. Ut.: K. Finkelnburg: Die Minderheitsregiening im dt. Staatsrecht, Berlin 1982; T. Puhl: Die Minderheitsregiening nach dem GG, Berlin 1986.
Werner Billing Minderjährigkeit Volljährigkeit
Rechtsfähigkeit —>
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Mineralölsteuer
Mihisterpräsidentenkonferenz
Mineralölsteuer —> Verbrauchsteuern Minister / -ium Von lat. minister = Diener, Helfer bzw. lat. ministerium = Dienstleistung, —> Amt, Dienstpersonal. Die heutigen M.ien sind histor. herzuleiten einesteils aus Gremien von Gehilfen und Beratern der Fürsten, andemteils aus den obersten -> Behörden der -> Landesverwaltung. Im dt. -> Konstitutionalismus des 19. Jhd.s bezeichnete der Begriff M.ium meist die gesamte, einem einzigen der Krone verantwortlichen M. unterstehende -> Regierung. Die einzelnen -> Ressorts wurden oft Ämter genannt (z.B. -> Auswärtiges Amt) und von - * Staatssekretären geleitet. Wo die Ressortleiter (z.B. für Justiz, Finanzen, Auswärtiges und Krieg, Finanzen, Inneres) auch selbst die Bezeichnung M. erhielten, wurde der leitende M. meist durch Bezeichnungen wie - » Ministerpräsident, -» Premierminister oder -> Kanzler hervorgehoben. Heute sind M.ien die obersten Bundesbzw. Landesbehörden. Im Inneren streng hierarchisch aufgebaut, stehen an ihrer Spitze polit. -> Beamte. Sie bedürfen des —» Vertrauens eines seinerseits gegenüber dem Parlament, meist auch gegenüber dem Regierungschef, unmittelbar verantwortlichen M.s. Dieser ist der oberste Vorgesetzte aller Mitglieder und aller nachgeordneten Behörden seines M.iums. Indem Parlamentarier an die Spitze der M.ien gestellt werden, gewinnt das Parlament unmittelbaren Einfluß auf die —> Exekutive. Hierin verwirklicht sich das —> parlamentarische Regierungssystem. (-> Bundesminister/ium -> s.a. einzelne Bundesministerien). Lit.: R. Rose: Ministers and ministries, Oxford
1987.
W.J. P.
Ministeranklage -> Minsterverantwortlichkeit - » s.a. Konstitutionalismus Ministerernennung —> Bundesregierung
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Ministerialverwaltung -> Verwaltung s.a. Bundeseigene Verwaltung Ministerkommittee -> Europarat Ministerpräsident / -en ist in Dtld. die traditionelle Bezeichnung des Leiters der —> Regierung eines -> (Bundes-)Landes. In den Ländern der -> Bundesrepublik Deutschland mit Ausnahme der Stadtstaaten -» Berlin, Bremen und Hamburg bildet der M. mit den Ministem (und ggf. den -> Staatssekretären, in -> Bayern, und Staatsräten, in - » BadenWürttemberg) die Landesregierung, der er vorsitzt. In den meisten Ländern wird nur der M. vom jeweiligen -> Landesparlament gewählt und beruft dann die übrigen Regierungsmitglieder, wobei er aber i.d.R. (Ausnahmen: -> NordrheinWestfalen, Schleswig-Holstein) der Parlament. Mitwirkung bedarf. Der M. bestimmt die Richtlinien der Politik, leitet die Regierungsgeschäfte und vertritt das Land nach außen. Er übt femer das Recht der —» Begnadigung aus. Der M. nimmt damit in den Ländern Funktionen wahr, die auf der Ebene des Bundes z.T. dem —» Bundespräsidenten, z.T. dem —> Bundeskanzler zukommen. Ut: HdbStR IV, § 97 Rn 23ff.
J. U. Ministerpräsidentenkonferenz Die MPK ist das wichtigste Instrument intraföderaler Zusammenarbeit zur Koordinierung von Länderinteressen. Sie findet i.d.R. drei- bis viermal im Jahr auf Ebene der Regierungschefs der -> Länder statt und befaßt sich mit allen die Länder berührenden landes- oder bundespolit. Fragen. Die organisatorische Vorbereitung und Betreuung der MPK erfolgt durch die -> Staats- oder Senatskanzlei des präsidierenden Landes, das jährlich wechselt. Die inhaltliche Vorbereitung erfolgt regelmäßig durch Besprechungen der Chefs der Staats- und Senatskanzleien der Länder, ggf. auch für eine spezifische Frage durch die einschlägige Ressortministerkonfe-
Ministerrat
Ministerrat renz. Der unmittelbaren Vorbereitung der MPK dienen insbes. —> A- und -> BLänder-Vorbesprechungen, d.h. Besprechungen der -> SPD- bzw. - * CDU/CSURegierungschefs. Bei Abstimmungen verfügt jedes Land über eine Stimme. Beschlüsse werden grds. einstimmig gefaßt. Es entspricht ständiger Praxis, daß die Beschlüsse der MPK in den einzelnen Ländern in der jeweils für erforderlich angesehenen Weise umgesetzt werden. Dies kann zu einer Beeinträchtigung der originären Entscheidungsspielräume der Landtage führen. Lit: H. Klatt: Interföderale Beziehungen im kooperativen Bundesstaat, in: VerwArch 1987, S. 186£F.; T. Knoke: Die Kultusministerkonferenz und die Ministerpräsidentenkonferenz, Hamburg 1966.
J. U. Ministerrat (Rat der EU) Begriff Der M. ist neben der —> Europäischen Kommission, dem —> Europäischen Parlament, dem -> Europäischen Rechnungshof und dem -> Europäischen Gerichtshof das fünfte EG-Organ. Aufgrund seiner herausragenden Bedeutung beim Erlaß gemeinschaftlicher Rechtsakte in Gestalt von —> EG-Verordnungen und -> EG-Richtlinien ist der M. das oberste Entscheidungsgremium im Rahmen der europ. Willensbildung (-» Willensbildung, europäische) und der eigentliche Gemeinschaftsgesetzgeber. Einst hatte jede der 3 -> Europäischen Gemeinschaften (-> EGKS, EG, —> EAG) ihren eigenen M.; durch den am 1.7.1967 in Kraft getretenen Vertrag zur Errichtung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften wurden diese 3 Räte durch einen gemeinsamen M. ersetzt, der heute die sich speziell für ihn aus allen 3 Gründungsverträgen ergebenden Kompetenzen wahrnimmt. Nach Inkrafttreten des —> EU-Vertrages hat er sich umbenannt in „Rat der EU". Dies erklärt sich daraus, daß der M., der seine wichtigsten Befugnisse aus der 1. Säule der -> Europäischen Union ableitet, durch
den EUV zusätzliche Befugnisse in den Bereichen der -> GASP (2. Säule) und der ZBJI (3. Säule) erhielt und der EUV vorsieht, daß die durch ihn gegründete EU über einen einheitlichen institutionellen Rahmen verfügt. Der M. ist trotz dieser Umbenennung nicht als EU-Organ anzusehen. Vorherrschend ist vielmehr die Ansicht, daß sich die EU, die mit dem —> Europäischen Rat über ein eigenes Organ verfügt, den M. und die Kommission der EG lediglich „ausleiht" (Organleihe), wenn diese ihre begrenzten Befugnisse auf den Gebieten der GASP und der ZBJI für die EU wahrnehmen. Abgrenzung zu anderen Räten Der M. darf als EG-Legislativorgan weder mit dem Straßburger —• Europarat noch mit dem durch die EEA vertraglich verankerten —> Europäischen Rat und auch nicht mit den „im Rat vereinigten Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten" verwechselt werden. Die letztgenannte Bezeichnung gilt, wenn die Mitglieder des M.es ausschließlich in ihrer Funktion als Regierungsvertreter zusammentreffen. Eine Beschlußfassung dieses Gremiums ist vorgesehen etwa für die Ernennung der Kommissionsmitglieder sowie der Richter und Generalanwälte des EuGH. Der Straßburger Europarat, der am 5.5.1949 mit der Unterzeichnung seiner Statuten durch die 10 Gründerstaaten entstand, verfolgt das Ziel, die Einheit und Zusammenarbeit zwischen den Völkern Europas zu fördern. Ferner hat er sich zur Aufgabe gesetzt, eine engere Verbindung zwischen seinen nunmehr 36 Mitgliedern herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern. Herausragende Leistungen hat er vor allem bei der Entwicklung des europ. Grundrechtsstandards vollbracht. Am deutlichsten sichtbar machen dies die -> Europäische Menschenrechtskonvention vom 4.11.1950 und die -> Europäische Sozialcharta vom 18.10.1961, die seinen Vorarbeiten zu verdanken sind. Hiervon zu unterscheiden ist wiederum der Europäische Rat, der sich aus den Gipfelkonferenzen der
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Ministerrat Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften entwickelt und erstmals durch die —> Einheitliche Europäische Akte eine vertragliche Grundlage gefunden hat. Dieser ist - anders als der M. - unstreitig ein EU-Organ, und zwar ihr Machtzentrum, das stets in eigener Initiative und nach dem -> Einstimmigkeitsprinzip entscheidet. Der Europ. Rat gibt der EU die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die polit. Zielvorstellungen für diese Entwicklung fest. Sofem er hierbei Einfluß auf die Politik der Europäischen Gemeinschaften nimmt, darf er die Kompetenzen der EGOrgane, insbesondere die des M.es, nicht beeinträchtigen. Die mit dem —> Amsterdamer Vertrag angestrebte Kohärenz zwischen den Europäischen Gemeinschaften und der EU bleibt somit eine Aufgabe der in beiden Gremien vertretenen Mitgliedstaaten, die durch entsprechende Verhaltensabstimmungen einen wichtigen Beitrag zu ihrer Verwirklichung leisten können. Aufgaben und Zusammensetzung Die Hauptaufgabe des M.es besteht im Erlaß gemeinschaftlicher Rechtsakte in Gestalt von Verordnungen und Richtlinien. Im Rahmen der EG und der EAG ist er das entscheidende Legislativorgan. Eine Ausnahme besteht nur im Anwendungsbereich des im Jahre 2002 auslaufenden EGKSV, welcher der Kommission vorrangige gesetzgeberische Befugnisse gibt. Bei der Rechtsetzung steht er in vielfältigen Beziehungen zu anderen EG-Organen. So unterliegt er der Rechtskontrolle durch den EuGH, kann nur auf Vorschlag der Kommission rechtsetzend tätig werden und muß in den einzelnen Rechtsetzungsverfahren auf jeweils unterschiedliche Art und Weise das EP einbeziehen. Zu seinen bedeutsamsten Kompetenzen gehören neben der Rechtsetzungsbefugnis, die er nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur wahrnehmen darf, soweit ihn das primäre Gemeinschaftsrecht hierzu ermächtigt, auch die Befugnis zum Abschluß völkerrechtl. Abkommen
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Ministerrat mit Drittstaaten und internationalen Organisationen, die Befugnis zur Aufstellung des Haushaltsplans in Zusammenarbeit mit dem EP sowie die Befugnis zur Abstimmung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten. Der Ministerrat besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaates auf Ministerebene, der nach innerstaatl. Recht befugt ist, für die Regierung verbindlich zu handeln. Soweit in ihm die Außenminister der Mitgliedstaaten zusammentreffen, spricht man vom „allgemeinen Rat". Je nach Sachzusammenhang treffen im M. auch andere Fachminister zusammen. Dies erklärt, warum er manchmal „Agrarministerrat", „Verkehrsministerrat" etc. genannt wird und in wechselnder Besetzung tagt. Nach dem EUV müssen im M. aber nicht mehr zwingend die Minister der mitgliedstaatl. Regierungen vertreten sein. Deshalb konnte die Bundesrepublik durch das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der EU vom 12.3.1993 bestimmen, daß sie bei Vorhaben des M.es, die ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen der Bundesländer berühren, durch einen Vertreter der Länder im Ministerrang vertreten werden kann. Durch den Amsterdamer Vertrag wird auch die Praxis der Mitgliedstaaten, gelegentlich einen nicht im Ministerrang stehenden Staatssekretär zu entsenden, erstmals auf eine vertragliche Grundlage gestellt. Die Arbeitsorte des M.es sind Brüssel und Luxemburg. Er wird von seinem Präsidenten, auf Antrag eines seiner Mitglieder oder der Kommission einberufen. Der Vorsitz wird von den Mitgliedstaaten nacheinander für jeweils sechs Monate wahrgenommen. Der M. hat am 6.12.1993 von seiner vertraglichen Ermächtigung Gebrauch gemacht, sich eine neue Geschäftsordnung zu geben. Diese regelt die weiteren Einzelheiten über die Einberufung und Durchführungen seiner Sitzungen, die NichtÖffentlichkeit und Vertraulichkeit seiner Beratungen, die Veröffentlichung der Abstimmungsprotokolle, die Festlegung einzelner Ta-
Ministerrat gungsordnungspunkte und über das schriftliche Abstimmungsverfahren. Der M. wird von seinem Generalsekretariat unterstützt, das einem Generalsekretär untersteht. Weitere Unterstützung erhält er vom „Ausschuß der ständigen Vertreter", der mit mitgliedstaatl. Vertretern im Botschafterrang besetzt ist, und dessen wesentliche Aufgabe darin besteht, die Arbeiten des M.es vorzubereiten. Der Amsterdamer Vertrag wertet diesen Ausschuß auf, indem er ihm die Befugnis überträgt, eigene Verfahrensbeschlüsse zu treffen. Oft wird in diesem Ausschuß bereits im Vorfeld der Sitzungen des M.es Konsens über einzelne Entscheidungen erzielt, so daß er eine zentrale Stellung in der europäischen Willensbildung einnimmt. Je besser dieses Konsensfindungssystem funktioniert, desto nachhaltiger kann der M. wegen der dann nur noch anstehenden Beschlußfassung durch diesen - auch „kleiner Ministerrat" genannten - Ausschuß entlastet werden. Probleme und Perspektiven Anders als bei der Kommission und beim EuGH, deren weitgehende Unabhängigkeit von mitgliedstaatl. Interessen in den Verträgen ausdrücklich hervorgehoben ist oder sich, wie beim EP, von selbst versteht, sind die Gemeinschaften und die Mitgliedstaaten sowie deren zum Teil gegenläufigen Interessen im M. polit, und rechtl. eng-miteinander verklammert. Die rechtl. Verklammerung kommt insbes. darin zum Ausdruck, daß die im M. vertretenen Regierungen der Mitgliedstaaten sowohl die Grundrechte ihres Landes als auch den in der Rechtsprechung des EuGH entwikkelten europ. Grundrechtsstandard beachten müssen. Als EG-Organ hat der M. sein Handeln nach dem Gemeinschaftsinteresse auszurichten. Eine Mindestgarantie dafür, daß er dies trotz seiner Besetzung mit Vertretern der Mitgliedstaaten schafft, stellt Art. 5 EGV dar, der sie zu gemeinschaftsfreundlichem Verhalten verpflichtet. Die unter dem Stichwort „Luxemburger Kompromiß" bekannte Praxis, auch dort, wo nur eine Stimmenmehrheit
Ministerrat im Rat erforderlich ist, nach Möglichkeit doch einstimmige Entscheidungen herbeizuführen, wenn ein durch eine Mehrheitsentscheidung überstimmter Mitgliedstaat diese Entscheidung aufgrund eigener „wichtiger Interessen" nicht akzeptieren will, ist im Hinblick auf Art. 5 EGV und aufgrund des Fehlens einer ausdrücklichen vertraglichen Grundlage nicht zu rechtfertigen. Soweit im EGV nämlich nichts anderes bestimmt ist, beschließt der M. mit der einfachen Mehrheit seiner Mitglieder. Dieses Mehrheitsprinzip wird aber selbst nach den Amsterdamer Vertragsreformen eher die Ausnahme bleiben, da für die meisten seiner Entscheidungen weiterhin Einstimmigkeit oder aber qualifizierte Mehrheiten vorgesehen sind. Letztere genügen nicht dem Grundsatz der Gleichheit der Ratsmitglieder, weil die größeren Mitgliedstaaten, wie etwa Deutschland, je 10 Stimmen haben, während kleinere nur über 2 bis 8 Stimmen verfügen. Die bisherige Weigerung der Mitgliedstaaten, zugunsten des Gemeinschaftsinteresses das Prinzip der einfachen Mehrheit zur Regel werden zu lassen, hängt auch mit dem vieldiskutierten Demokratiedefizit in den Europ. Gemeinschaften zusammen. Da die Befugnisse des EP im Rahmen der Rechtsetzung durch den Amsterdamer Vertrag erneut erweitert werden und die im M. vertretenen Mitgliedstaaten jeweils aus dem innerstaatl. Verfassungssystem heraus zumindest mittelbar demokrat. legitimiert sind, können Entscheidungen des M.es zwar als vermittelbar und akzeptabel bezeichnet werden. Diese Einschätzung verdient aber nur dann Zustimmung, sofern nicht ein Mitgliedstaat permanent oder allzu oft im M. überstimmt wird. Vor dem Hintergrund der kommenden Beitrittsverhandlungen, welche die EU kurzfristig auf 20 und mittel- bis langfristig auf sogar 27 oder noch mehr Mitgliedstaaten anwachsen lassen könnte, werden Mehrheitsbeschlüsse im M. immer wichtiger, da sich der Entscheidungsprozeß desto langwieriger gestaltet, je mehr Mitgliedstaaten in
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Ministerverantwortlichkeit ihm vertreten sind. Für die immer wichtiger werdende Frage nach der angemessenen Neugewichtung der Stimmen im Rat enthält der Amsterdamer Vertrag ein „Protokoll über die Organe im Hinblick auf die Erweiterung der EU". Nach diesem Protokoll soll spätestens ein Jahr vor einer Überschreitung der Zahl von 20 Mitgliedstaaten eine Regierangskonferenz einberufen werden, „um die Bestimmungen der Verträge betreffend der Arbeitsweise und der Zusammensetzung der Organe umfassend zu überprüfen" Um zu vermeiden, daß die demokrat. Legitimation und die wünschenswerten Bemühungen zur vollständigen Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips durch eine permanente Überstimmung einzelner Mitgliedstaaten Schaden nehmen können, wird die Verbesserung des Konsensfindungssystems im M. unabhängig von der künftigen Stimmengewichtung eine sehr wichtige Aufgabe bleiben. Lit.: Chr. Deubner /./. Janning: Zur Reform des Abstimmungsverfahrens im Rat der EU: Überlegungen und Modellrechnungen, in: Integration 1996, S. 146ff.; M Dreher: Transparenz und Publizität bei Ratsentscheidungen, in: EuZW 1996, S. 487fF.; A. Egger: Das Generalsekretariat des Rates der EU, Baden-Baden 1994; F. HayesRenshaw / H. Wallace: The Council of Ministers, London 1997; M. Mentler: Der Ausschuß der Ständigen Vertreter bei den Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 1996.
Carsten Nowak Ministerverantwortlichkeit Der Begriff der MV entwickelte sich im modernen —> Konstitutionalismus nach dem Modell der frz. -> Charte Constitutionnelle, das in Frankreich nach der Rückkehr der Bourbonen das alte Königsrecht mit dem modernen Konstitutionalismus zu verbinden suchte. Da der König für seine Handlungen nicht selbst zur Verantwortung gezogen werden konnte, übernahmen —• Minister für seine Akte durch Gegenzeichnung die Verantwortung. MV bedeutet die Pflicht der Minister, für ihr Tun oder Unterlassen öffentl. Re580
Ministerverantwortlichkeit chenschaft abzulegen und für Fehler oder Versäumnisse einzustehen. Unter den Begriffsarten wird v.a. zwischen der rechtl. und der polit. MV unterschieden. Der dt. Frühkonstitutionalismus (-> Vormärz), der die MV in Dtld. rezipierte, deutete sie ausschließlich als rechtl. -> Verantwortlichkeit, die durch die Ministeranklage (-> Staatsanklage) der Volksvertretung vor einem Staatsgerichtshof mit dem Ziel der Amtsenthebung durch Richterspruch geltend gemacht werden konnte. Diese rechtl. MV wurde in den -> parlamentarischen Regierungssystemen der -> Weimarer Republik und der —> Bundesrepublik Deutschland durch die polit. MV verdrängt, nach der der Amtsinhaber aufgrund eines Parlament. Mißtrauensvotums abberufen wird. Das —> Grundgesetz hat daher auf das Rechtsinstitut der Ministeranklage verzichtet, während eine Reihe heutiger - » Landesverfassungen es trotz fehlender Bedeutung übernommen hat. Die polit. MV spielt heute nur noch eine untergeordnete Rolle: Zum einen weil das Mißtrauensvotum nach dem GG nur gegen den —> Bundeskanzler und zudem nur unter erschwerten Bedingungen geltend gemacht werden kann (Art. 67 GG). Zum anderen weil in der parteienstaatl. —> Demokratie die —> Regierung und die sie stützende Parlamentsmehrheit zusammenwirken, so daß die Kritik und Kontrolle der Regierung in aller Regel der sich in der Minderheit befindenden —> Opposition obliegt, der es an einer Mehrheit für ein erfolgreiches Mißtrauensvotum fehlt. Bedeutsamer ist heute die Kontrolle der Regierungsmitglieder durch die -> Medien, denen es nicht selten gelingt, durch eigene Recherchen Fehler und Unterlassungen von Ministern aufzudecken und sie zum Rücktritt zu veranlassen. Lit: Κ. Kröger: Die Ministerverantwortlichkeit in der Verfassungsordnung der BRD, Frankfurt/M. 1972; U. Scheuner: Verantwortung und Kontrolle in der demokrat. Verfassungsordnung, in: FS G. Müller, Tübingen 1970, S. 379ff.;
Klaus Kröger
M ischfìnanzierung Mischfinanzierung Der grundgesetzlich nicht verwendete, staatsrechtl. Terminus der M., auch Gemeinschaftsfinanzierung, bezeichnet die gemeinsame finanzielle Erfüllung von Bundesaufgaben durch alle oder mehrere -» Länder (länderseitige M.) bzw. von Länderaufgaben durch den -> Bund (bundesseitige M.) oder die gemeinsame Finanzierung von Länderaufgaben durch mehrere Länder (horizontale M.). In der bundesstaatl. Verfassungswirklichkeit hat sich spätestens unter der -» Weimarer Reichsverfassung ein Übergewicht der bundesseitigen M entwickelt (sog. Fondswirtschaft, Dotationssystem). Im Hinblick auf die bundesstaatspolit. Risiken der bundesseitigen M., (Gefahren der Mittelverschwendung und einer Angebotsdiktatur des Bundes sowie der Umgehung des Finanzausgleichs) favorisiert das GG spätestens seit der Finanzreform 1969 auf der Grundlage der föderativen Aufgabentrennung (Art. 30, 70, 83, 92 GG) eine prinzipiell separierende allgemeine Ausgabenverteilung nach Maßgabe des sog. Konnexitätsgrundsatzes des Art. 104a Abs. 1 GG: Bund und Länder tragen danach gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer (Verwaltungs-)Aufgaben ergeben. Eine gemeinsame, zweckgebundene Finanzierung gliedstaatl., zumeist gesamtstaatl. bedeutsamer Aufgaben mit variablen Anteilsquoten des Bundes gestattet das GG nur in begrenzten Ausnahmefällen (Art. 104a Abs. 2-4; Art. 91a, Art. 91b Gemeinschaftsaufgaben, kooperativer -> Föderalismus; Art. 106 Abs. 8; Art. 106a; Art. 120 GG; sog. spezielle Ausgabenverteilung). Beispiele fllr gemeinsam finanzierte Geldleistungsgesetze sind: -> Wohngeld, Ausbildungsförderung, Wohnungsbauprämien; zu den Gemeinschaftsaufgaben gehört etwa der Hochschulbau. Die hier gewährten —> Finanzhilfen des Bundes sind zweckgebunden zu verwenden. Lit: F. Kirchhof: Empfehlen sich Maßnahmen, um in der Finanzverfassung Aufgaben- und
Mißbilligung Ausgabenverantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden stärker zusammenzuführen?, Manchen 1996.
J.W. Ή Mißbilligung / Tadelsantrag Das -> parlamentarische Regierungssystem der BRD kennt nur die polit. -> Verantwortung des —> Bundeskanzlers (BK) vor dem Parlament, die über das Instrument des konstruktiven —> Mißtrauensvotums gem. Art. 67 GG geltend gemacht werden kann. Um zu verhindern, daß einzelne —> Bundesminister aus der -> Bundesregierung herausgezwungen werden, wie dies in der -> Weimarer Republik nach der WRV möglich war und auch praktiziert wurde, hat man im —» Parlamentarischen Rat auf die verfassungsrechtl. Fixierung der individuellen -> Ministerverantwortlichkeit verzichtet. Infolgedessen kennt das —» Grundgesetz keine gegen einzelne BMin. gerichtete Mißtrauens- und M.s- (Tadels-) Voten. In der polit. Praxis sind jedoch gleichwohl Instrumente entwickelt worden, um die individuelle Ministerverantwortlichkeit vor dem -> Bundestag geltend machen zu können. So sind im BT wiederholt Mißbilligungs- und Tadelsanträge gegen den BK und BMin. eingebracht worden; darüber hinaus auch -> Anträge, in denen der BK zur Entlassung eines bestimmten BMin. aufgefordert wurde. In einem Fall (1966) sollte der BK durch einen entspechenden Antrag gezwungen werden, die -> Vertrauensfrage nach Art 68 GG zu stellen. Verfassungsrechtl. ist umstritten, ob solche im GG nicht vorgesehenen M.s- und Tadelsanträge gegen einzelne BMin. überhaupt zulässig sind. Im BT wurden die Anträge jedoch, unabhängig von den verfassungsrechtl. Bedenken, i.d.R. zur —> Abstimmung gestellt. Mit Ausnahme des Vertrauensfrage-Ersuchens an BK L. Erhard 1966 wurden alle Anträge mit Mehrheit abgelehnt oder auf andere Weise geschäftsordnungsmäßig erledigt, so daß für den jeweiligen BK auch polit, keine unmittelbare Notwendigkeit bestand zu
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Mißtrauensantrag
Monarchie
reagieren. Selbst wenn die Anträge auf M./Tadel eines BMin. wegen seines Verhaltens oder seiner Arbeit mit Mehrheit angenommen worden wären, hätte dies rechtl. keine zwingenden Folgen fllr die Betroffenen oder den jeweiligen BK gehabt.
Hartmut Klatt
konstruktive M. zweifellos die Stellung des BK gegenüber dem BT gestärkt, was mit dem Begriff der —> Kanzlerdemokratie, die das —> Grundgesetz ermöglicht hat, treffend charakterisiert worden ist. Im —> Bundestag ist vom Instrument des konstruktiven M.s bisher zweimal Gebrauch gemacht worden; 1974 erfolglos, 1982 mit Erfolg, als H. Schmidt durch Koalitionswechsel der FDP als BK abgewählt und H. Kohl zu seinem Nachfolger gewählt wurde.
Mißtrauensantrag -» Mißtrauensvotum -» s.a. Antrag
Lit: W. Ismayr: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992; A Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 186ff.
Lit : P. Schindler: Datenhandbuch zur Geschichte des Dt. Bundestages 1949 bis 1982, Baden-Baden 3 1984; A Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 2 1996, S. 58ff.
Mißtrauensvotum Das M. ist das einschneidenste und folgenreichste Instrument der Regierungskontrolle, das bei erfolgreicher Anwendung (Stimmenmehrheit) zum Sturz der Regierung führt. Im parlament. System der —> Weimarer Republik war verfassungsrechtl. das einfache M. verankert. Da eine negative Mehrheit des Reichstages ausreichte, um die Reichsregierung zu stürzen, ohne daß eine positive Parlamentsmehrheit gleichzeitig für eine neue Regierung zu sorgen hatte, führte diese destruktive Form des M.s mehrfach zu lange andauernden Regierungskrisen. Art. 54 WRV sah vor, daß sowohl der Reichskanzler als auch die Reichsregierung insg. zurücktreten mußten für den Fall, daß ihnen der Reichstag durch Mehrheitsbeschluß ausdrücklich das -> Vertrauen entzog. Aufgrund dieser negativen Erfahrungen einigte man sich im —> Parlament. Rat 1948/49 auf die sog. konstruktive Version des M.s. Nach Art. 67 GG kann die BT-Mehrheit dem —> Bundeskanzler (BK) das Mißtrauen nur dann aussprechen, wenn gleichzeitig eine BT-Mehrheit einen neuen Kanzler wählt, den der —> Bundespräsident zum Regierungschef ernennen muß. Durch diesen Mechanismus, der den Sturz eines Kanzlers. verfassungsrechtl. zwingend mit der Wahl eines neuen Kanzlers kombiniert, soll die Stabilität der Regierung gewährleistet werden. In der polit. Praxis hat das 582
Hartmut Klatt Mitberatung —> Ausschüsse Mitteilungen ausInformationsdienste dem Bundestag -» Parlamentarische Mittelbehörde —» Behörde —> Regierungspräsidium —• Bezirksregierung Monarchie —> Staatsformen —> s.a. Monarchie, parlamentarische -> s.a. Wahlmonarchie Monarchie, parlamentarische Als p.M. bezeichnet man ein —• parlamentarisches Regierungssystem, in dem das -> Staatsoberhaupt nicht durch demokrat. Wahlverfahren bestimmt wird, sondern durch das Prinzip der dynastischen Erbfolge. Dementsprechend ist das -> Amt auch nicht auf Zeit vergeben, sondern die Amtszeit endet durch Tod oder Abdankung des Monarchen. Strukturell unterscheidet sich die Position des Monarchen in der p.M., was die Aufgaben und Kompetenzen betrifft, nicht grdl. von der des -» Staatsoberhaupts in parlament. regierten Republiken. 1. Histor. Entwicklung Das System der p.M. ist in Europa entstanden. Dort, wo außerhalb Europas p.M.n existieren, ist diese —» Staatsform entweder nach dem Vorbild (Thailand, Japan) oder in direkter Abhängigkeit (die ehemaligen engl. Do-
Monarchie minions Kanada, Australien und Neuseeland, in denen nominell der engl. Monarch Staatsoberhaupt ist, der aber von örtlichen, alle Funktionen des Staatsoberhaupts ausübenden Generalgouvemeuren vertreten wird) von der europ. Entwicklung entstanden. Die wörtliche Bedeutung des aus dem Gr. stammenden Begriffs Monarchie, Herrschaft eines Einzelnen, beschreibt die Stellung des mittelalterlichen Königtums, das den Ausgangspunkt der Entwicklung zur p.M. darstellt, nur sehr unzureichend. Die polit. Wirklichkeit des Mittelalters war ebenso wie durch das Königtum durch die autonomen Herrschaftsrechte des Adels, die Freiheit der —> Kirche und in wachsendem Ausmaß ebenfalls die Freiheit der Städte geprägt. Die Stände Adel, Klerus und Bürgertum waren deshalb aus eigenem Recht an der Herrschaftsausübung beteiligt; v.a. die Bewilligung der Steuern war ein Privileg der Ständevertretungen. Es war eine Besonderheit der engl. Entwicklung, daß der Klerus sich hier nicht eigenständig ausbildete; so gab es nur Lords und Commons. Erst in der frühen Neuzeit gelang es den meisten europ. Monarchen, den Absolutismus als eine von der Mitwirkung der Stände weitgehend losgelöste (absolute) Herrschaft durchzusetzen. Die große Ausnahme war England (—> Parlamentsgeschichte, brit.). Hier schaffte es das Parlament aufgrund seiner starken Stellung, in einem blutigen Bürgerkrieg (1642-1648) den Übergang zum Absolutismus zu verhindern. Nach einer Phase der Parlamentsdiktatur wurde die Monarchie zwar restauriert, aber spätestens seit der Glorious Revolution (1688), einem vom Parlament erzwungenen Dynastiewechsel, war das Königtum durch die Anerkennung der -> Bill of Rights konstitutionell beschränkt. Während sich in England im 18. Jhd. ein System der Gewaltenteilung entwikkelte, in dem das Übergewicht innerhalb der -> Exekutive allmählich vom Monarchen zur vom Premierminister geführten —> Regierung überging, erwies sich
Monarchie der kontinentaleuropäische Absolutismus als eine verfassungspolit. Sackgasse, die letztlich in die Frz. Revolution einmündete. Erst unter dem Eindruck der Revolution setzte sich auch in den meisten europ. Staaten der -> Konstitutionalismus durch. Im Laufe des 19. Jhd.s entwickelte sich die konstitutionelle Monarchie in Großbritannien, —> Dänemark, - » Schweden (seit 1905 auch Norwegen), den —> Niederlanden und —> Belgien mit der graduellen Durchsetzung des demokrat. Prinzips der -> Volkssouveränität, die vornehmlich in der Erweiterung des -> Wahlrechts zum Ausdruck kam, zur p.M.; in den Staaten der Heiligen Allianz, Rußland, Preuß. (seit 1870/71 Vormacht im Dt. Kaiserreich) und Öst.-Ungarn, in denen das —> monarchische Prinzip stärkere Beharrungskräfte entfaltete, ging die Monarchie in der zweiten Welle der Revolution 1917/18 unter. Sonderfälle stellen die spanische und die japanische Entwicklung dar. In —> Spanien wurde die Monarchie erst nach dem Tode des Diktators Franco (1975), auf dessen Initiative dies seit 1969 gesetzlich festgelegt war, restauriert. Unter der Führung des Königs Juan Carlos I. kam es zu einer —> Demokratisierung, die 1978 mit einer Volksabstimmung über die neue Verfassung vollendet wurde. In Japan wurde die —> Parlamentarisierung der Monarchie nach der Niederlage im Π. Weltkrieg von der amerik. Besatzungsmacht erzwungen. 2. Stärken und Schwächen der p.M. In den polit. Kompetenzen und Funktionen unterscheiden sich die Staatsoberhäupter in p.M.n und Republiken kaum. Stets sind die polit. Aufgaben eher repräsentativer Natur. Die Staatsoberhäupter vertreten ihren —> Staat nach außen, ohne daß sie dabei einen Einfluß auf die konkrete —> Außenpolitik hätten. Sie repräsentieren den Staat auch nach innen, ohne daß der royal assent zu den —> Gesetzen oder die Ausfertigung der Gesetze durch einen —> Präsidenten ein materielles Prüfimgsrecht beinhalten würde. Auch die Ausübung der verschiedenen anderen Rechte, etwa der
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Multimediarecht
Monarchie —> Ernennung bzw. Entlassung des Regierungschefs und der —> Minister, von -> Beamten, Offizieren und —> Richtern oder der Auflösung des Parlaments (—> Parlamentsauflösung) kann ohne die Zustimmung von -> Parlament oder —• Regierung nicht erfolgen. Insofern gehört das Staatsoberhaupt, egal ob es sich um einen Monarchen oder einen Präsidenten handelt, in den von Walter Bagehot schon 1867 beschriebenen Bereich der dignified parts der —> Verfassung. Beide verfügen allerdings auch über die sog. Reservefunktion, die nur in der außergewöhnlichen Situation wirksam wird, daß das Parlament, oder genauer, die im Parlament vertretenen -> Parteien nicht zu einer eindeutigen Mehrheits- und Regierungsbildung in der Lage sind. Dann obliegt dem Staatsoberhaupt die Entscheidung über Neuwahlen oder weitere Versuche der Regierungsbildung. Angesichts der strukturellen Ähnlichkeit ist die Frage naheliegend, ob die p.M. spezifische Stärken oder Schwächen hat. Neben den polit.-repräsentativen Funktionen kommen dem Staatsoberhaupt symbolische, der nationalen Integration dienende Funktionen zu, bei deren Erfüllung die Monarchien mit ihrem zeremoniellen Prunk zweifellos besser ausgestattet sind. Anders als auf Zeit gewählte Staatsoberhäupter symbolisieren sie zudem die Kontinuität des Staates jenseits der wechselnden Regierungen. Durch die Art ihrer Bestellung sind Monarchen von vornherein dem Parteienkampf entzogen, was die polit. Neutralität des Staatsoberhaupts glaubhafter als bei einem polit, gewählten Präsidenten machen kann. Dagegen fehlt dem Monarchen naturgemäß jegliche demokrat. Legitimation. Angesichts der hohen Akzeptanz der Monarchie in der Bevölkerung aller p.M.n scheint dieses Defizit nicht allzu schwer zu wegen, zumal sich die meisten Königshäuser durch eine gewisse Volkstümlichkeit an das demokrat. Zeitalter angepaßt haben (—> s.a. Staatsformen). Lit: W. Kaltefleiter: Die Funktionen des Staats-
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oberhaupts in der Parlament. Demokratie, Köln 1970.
Torsten Oppelland Monarchisches Prinzip —> Konstitutionalismus Montanunion -» EGKS - » Hohe Behörde Mündliche Anfragen Abgeordneten
Fragerecht der
Münzen —> Währung Multimedia - * Multimediarecht Multimediarecht Das M. ist kein eigenständiges Rechtsgebiet, sondern ein Sammelbegriff für all diejenigen -> Normen, die Rechtsfragen im Zusammenhang mit Multimedia-Anwendungen („neue Dienste" genannt) regeln. Unter Multimedia ist die Vierschmelzung von Text, Grafik, Bild, Ton und Film (Video) in einer digitalen Form und in einem digitalen Medium zu verstehen. Zum Teil ermöglichen die Anwendungen einen interaktiven Dialog zwischen Nutzer und Inhalteanbieter. Multimedia-Anwendungen werden dabei überwiegend auf der Basis des Internet-Standardprotokolls TCP/IP angeboten, was weltweit völlig neue Formen der Kommunikation sowie des Waren- und Dienstleistungsaustauschs ermöglicht. In Reaktion auf diese Entwicklung hat der -> Bundestag das Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz (IuKDG) v. 22.7.1997 (BGBl. I S. 1870) - auch Multimedia-Gesetz genannt - erlassen. Es setzt eine Reihe von wichtigen Vorarbeiten des Rates für Forschung, Technologie und Innovation, des Petersberg-Kreises sowie der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „ M u l t i m e d i a " ^ Das als Rahmengesetz konzipierte IuKDG enthält mehrere Einzelgesetze, die spezifische Sachverhalte bei der Inanspruchnahme elektronischer Informations- und Kommunikationsdien-
Multmediarecht ste regeln. Als wichtigste Einzelgesetze sind das Teledienstegesetz (TDG), das Teledienstedatenschutzgesetz (TDDSG) sowie das Signaturgesetz (SigG) zu nennen. Regelungsgegenstand des TDG und TDDSG sind elektronische Infoimationsund Kommunikationsdienste, die für eine individuelle Nutzung von kombinierteren Daten wie Zeichen, Bilder oder Töne bestimmt sind und denen eine Übermittlung mittels Telekommunikation zugrunde liegt (§ 1 TDG —» s.a. Telekommunikationsrecht). Diese Dienste sind im Rahmen der allgemeinen —> Gesetze zulassungsund anmeldefrei (§ 4 TDG). Für ihren Inhalt wird eine gestufte Verantwortlichkeit der Diensteanbieter festgelegt (§ 5 TDG). Die datenschutzrechtl. Bestimmungen des TDDSG lassen sich aufgrund der neuen und vielfältigen Verarbeitungsmöglichkeiten personenbezogener Daten vom Grundsatz der Datenvermeidung leiten. Das SigG stellt die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Nutzung digitaler Signaturen bereit. Zukünftig soll mit digitalen Signaturen die Authentizität und Unverfälschtheit elektronisch übermittelter Daten im Rechtsverkehr gewährleistet werden. Eine solche Gewährleistung ist Voraussetzung für die breite gesellschaftl. Akzeptanz der neuen —> Medien. Daneben enthält das IuKDG gesetzliche Regelungen zur Anpassung des Straf-, Jugendschutz- und Urheberrechts an die neuen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Die Bundesländer haben zeitgleich zum IuKDG den Mediendienste-Staatsvertrag (MDStV) in Kraft gesetzt. Zweck des -> Staatsvertrages ist es, in allen Ländern einheitliche Rahmenbedingungen für die Nutzung von Mediendiensten zu schaffen (§ 1). Hierzu enthält der MDStV im wesentlichen wortgleiche Bestimmungen zum TDG und TDDSG. In Abgrenzung zu Telediensten versteht der Vertrag unter Mediendiensten an die Allgemeinheit gerichtete Verteil- und Abrufdienste (§ 2). Es muß allerdings bezweifelt werden, ob diese Abgrenzung praxistauglich ist.
Mutterschutz Die -> Europäische Union beschäftigt sich seit 1994 mit der Schaffung von Rahmenbedingungen für die neuen Dienste. Die -> Europäische Kommission hat hierzu am 3.12.1997 ein „Grttnbuch zur Konvergenz der Branchen Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie und ihren ordnungspolit. Auswirkungen" (KOM (97) 623) als Diskussionspapier vorgelegt. Die Kommission befürchtet, daß die verschiedenen nationalen Regelungen in den EU-Mitgliedstaaten die Entwicklung der neuen Dienste behindern könnten. Darüber hinaus hat die Kommission ein „Grünbuch über den Jugendschutz und den Schutz der Menschenwürde in den audiovisuellen und Informationsdiensten" (KOM (96) 486) sowie Mitteilungen über illegale und schädigende Inhalte im —> Internet (KOM (96) 487) und die sichere Datenübermittlung (KOM (97) 503) vorgelegt. Ferner wurde der Verbraucherschutz durch die Fernsehabsatzrichtlinie v. 20.5.1997 (Abl.EG Nr. L 144/19) auf neue Vertriebswege (Teleshopping, Einkauf via Internet) ausgedehnt. Auf der Basis des „Grünbuchs über Urheberrechte und verwandte Schutzrechte in der Informationsgesellschaft" (KOM (95) 582) wurden verschiedene Maßnahmen zur Harmonisierung des Urheberrechts in der EU angekündigt. Wichtiger erster Schritt ist dabei die zwischenzeitlich durch das IuKDG umgesetzte Datenbankrichtlinie. Lit: M. Bullinger /E.-J. Mestmäcker: Multimediadienste, Baden-Baden 1997; S. Engel-Flechsig /FA. Maennel / A. Tettenborn: Neue gesetzliche Rahmenbedingungen für Multimedia, Heidelberg 1998.
Ralf Müller-Terpitz Mutterschutz Das M.gesetz ist Bestandteil des Arbeitsschutzes. Es hat zum Ziel, die Gesundheit von Mutter und Kind während der Schwangerschaft, nach der Entbindung und während der Stillzeit vor Schäden zu bewahren, die durch Risiken und Überforderung am Arbeitsplatz drohen können.
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Mutterschutz Erste Anfänge des M.es gab es bereits 1878, als ein Beschäftigungsverbot für Wöchnerinnen während der ersten 3 Wochen nach der Entbindung eingeführt wurde. Noch in der Zeit des -> Deutschen Reiches 1871 wurde der M. kontinuierlich ausgebaut. Nach der Gründung der —> Bundesrepublik Deutschland, die in ihrem —> Grundgesetz in Art. 6 Abs. 4 jeder Mutter einen Anspruch auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft zusichert, wurde am 24.1.1954 das M.gesetz erlassen. In seinen Grundzügen gilt dieses Gesetz heute noch. Das M.gesetz gilt für alle Arbeitnehmerinnen, deren Arbeitsplatz in der BRD liegt, während der Schwangerschaft, der ersten 4 Monate nach der Entbindung und während der Stillzeit. Es gilt nicht für Selbstständige, Hausfrauen und Beamtinnen, Für letztere gelten die jeweiligen Vferordnungen über den M. für Beamtinnen des Bundes" und der Länder. Das M.gesetz regelt die Gestaltung des Arbeitsplatzes, Beschäftigungsverbote, Schutzfristen vor und nach der Entbindung, Stillpausen, den Kündigungsschutz und die gesundheitliche Versorgung während Schwangerschaft, Geburt und nach der Entbindung. 6 Wochen vor und 8 Wochen nach der Entbindung (bei Früh- und Mehrlingsgeburten 12 Wochen) besteht ein Beschäftigungsverbot. Auf eigenen Wunsch darf die Schwangere vor der Entbindung weiter erwerbstätig sein. Während dieser Schutzfristen hat die Arbeitnehmerin Anspruch auf Mutterschaftsgeld. Für Mitglieder der gesetzlichen Krankenkasse richtet sich die Höhe des Mutterschaftsgeldes nach dem durchschnittlichen Nettoentgelt der letzten 3 Kalendermonate vor Beginn der Schutzfrist. Es beträgt jedoch höchstens DM 25 pro Kalendertag. Ist das Mutterschaftsgeld niedriger als das duchschnittliche Nettoentgeld, so muß der Arbeitgeber die Differenz als Zuschuß zahlen. Für privat und nichtkrankenversicherte Arbeitnehmerinnen sowie für Arbeitslose gelten andere Regelungen. Werdende Mütter, die keinen Ansprach auf Mutterschaftsgeld haben,
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Nachhaltigkeit erhalten ein einmaliges Entbindungsgeld von DM 150. Für die Zeit der Schwangerschaft und 4 Monate nach der Entbindung steht die Arbeitnehmerin unter besonderem Kündigungsschutz. Eine Kündigung bedarf der Zustimmung der dafür zuständigen Landesbehörde und ist nur in wenigen Fällen erlaubt. Nimmt die Mutter Erziehungsurlaub, so gilt dieser Kündigungsschutz auch für die Zeit des Erziehungsurlaubs. Solange eine Mutter ihr Kind stillt, hat sie Anspruch auf Stillpausen von mindestens zweimal täglich 30 Minuten. Diese Zeit muß weder nachgearbeitet werden noch darf sie zu einem Lohnabzug führen. Lit:J. Zmarzlik/M. Zipperer/P. Viethen: Mutterschutzgesetz, Mutterschafisleistungen,
Bund-
serziehungsgeldgesetz, Köln 7 1994.
Nicole Zündorf-Hinte
Nachhaltigkeit Der Begriff der N. hat bereits eine lange Tradition in der Waldwirtschaft. Zunächst wurde damit jenes Prinzip der wirtschaftl. langfristigen Waldnutzung bezeichnet, das einen dauerhaften Holzertrag gewährleistet: Danach darf dem Wald nur so viel Holz entnommen werden, wie im gleichen Zeitraum wieder angebaut wird und nachwachsen kann. Dieses einfache Erhaltungsprinzip wurde seit dem 19. Jhd. auf weitere Funktionen des Waldes erweitert wie erhaltenswerter Landschafts- und Erholungsraum und auf seine spezifischen ökologischen Funktionen wie Wasserspeicherung, SauerstofTproduktion, Artenschutzgebiet und Schutzbereich vor Bodenerosion. 1980 hat die International Union for the Conservation and Nature (IUCN) zusammen mit anderen UN-Organisationen den Begriff „Sustainability" bzw. „Sustainable development" (Nachhaltige Entwicklung) in die World Conservation Strategy (WCS) eingeführt. Hier findet sich der Grundgedanke des N.sprinzips in verallgemeinerter Form als Leit-
Nachhaltigkeit Perspektive zur Erhaltung der natürlichen Lebens- und Produktionsgrundlagen wieder (s.a. -» Forstwirtschaft). Nachhaltige Entwicklung spielt heute als gesellschaftspolit. Leitbild eine herausragende Bedeutung in der internationalen Diskussion um eine ökologisch und sozial verträgliche Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung. Die häufig synonym verwandten Begriffe „zukunftsfähige, zukunftsbeständige oder dauerhaft tragfähige Entwicklung" weisen auf die Zielperspektive hin, die Selbstzerstörung des Menschen durch Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und der sozialen Beziehungen (z.B. durch wachsende Disparitäten zwischen Industrie- und —• Entwicklungsländern) zu vermeiden. Vor allem die globalen Umweltzerstörun-gen durch die techn.-industrielle Zivilisation und die wirtschaftl. und sozialen Entwicklungsprobleme in der Dritten Welt haben dazu geführt, daß die Fragen nach der Erhaltung der natürlichen Ressourcen bei gleichzeitiger Verbesserung der Lebensgrundlagen für viele Menschen in den Entwicklungsländern zu den zentralen Herausforderungen der internationalen Staatengemeinschaft wurden. Ausgangspunkte der internationalen Debatte über N. waren die UN-Conference on Human Environment 1972 in Stockholm und der im gleichen Jahr publizierte Bericht des Club of Rome „Grenzen des Wachstums". Erstmals wurden Umwelt- und Entwicklungsprobleme im internationalen Rahmen zusammen behandelt, was seinen ersten Niederschlag in der gemeinsamen Tagung von UNEP (UN-Environment Programme) und UNCTAD (UN-Conference on Trade and Development) 1974 in Cocoyok, Mexiko (Erklärungen von Cocoyok), fand. Grundlegende Beachtung fand die 1983 von den -> Vereinten Nationen eingesetzte „Weltkommission für Umwelt und Entwicklung" unter der Leitung der norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brandtland. Der 1987 veröffentlichte Bericht „Our Common Future" (Brundtland-Bericht) ist die erste
Nachhaltigkeit konzeptionelle Grundlage für die internationale Staatengemeinschaft, eine nachhaltige Entwicklung einzuleiten. Nachhaltige Entwicklung ist danach „ein Prozeß ständigen Wandels, dessen Ziel darin besteht, die Ausbeutung der Ressourcen, den Investitionsfluß, die Ausrichtung der technologischen Entwicklung und die institutionellen Veränderungen mit künftigen und gegenwärtigen Bedürfnissen in Einklang zu bringen." Die UN-Conference for Environment and Development 1992 in Rio de Janeiro (UNCED) hat das N.sprinzip als Leitbild für die zukünftige Weltentwicklung in ihren Grundlagendokumenten verankert. Insbes. in der „Rio-Deklaration" und der ,Agenda 21", dem Aktionsprogramm für das 21. Jhd., werden für die Industrie- und Entwicklungsländer Ziele, Instrumente und Maßnahmen zur Umsetzung des N.sprinzips dargelegt. Die BRD hat alle Rio-Dokumente unterzeichnet und, soweit erforderlich, ratifiziert. Sie hat sich zur nachhaltigen Entwicklung bekannt und in vielfältiger Weise zur Anwendung geeigneter Instrumente und Umsetzung von Maßnahmen verpflichtet. In der Rio-Deklaration wird das N.sprinzip wie folgt formuliert (Grundsatz 3): „Das Recht auf Entwicklung muß so erfüllt werden, daß den Entwicklungs- und Umweltbedürfnissen heutiger und künftiger Generationen in gerechter Weise entsprochen wird". Zur Umsetzung des Konzeptes der nachhaltigen Entwicklung werden seit Jahren Handlungs- oder Managementregeln entwickelt. Sie geben an, wie in Zukunft mit den natürlichen Ressourcen und sozialen Beziehungen umzugehen ist, wenn dauerhaft eine ökologisch und sozial verträgliche Entwicklung gewährleistet werden soll. Die -> Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt" des —> Deutschen Bundestages hat die 4 grundlegenden ökologisch-ökonom. Handlungsregeln wie folgt formuliert: 1. Die Abbaurate emeuerbarer Ressourcen soll ihre Regenerationsrate nicht überschreiten. Dies entspricht der Forderung
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Nachhaltigkeit nach Aufrechterhaltung der ökologischen Leistungsfähigkeit, d.h. (mindestens) nach Erhaltung des von den Funktionen her definierten ökologischen Realkapitals. 2. Nicht erneuerbare Ressourcen sollen nur in dem Umfang genutzt werden, in dem ein physisch und funktionell gleichwertiger Ersatz in Form erneuerbarer Ressourcen oder höherer Produktivität der erneuerbaren sowie der nicht-erneuerbaren Ressourcen geschaffen wird. 3. Stoffeinträge in die Umwelt sollen sich an der Belastbarkeit der Umweltmedien orientieren, wobei alle Funktionen zu berücksichtigen sind, nicht zuletzt auch die „stille" und empfindliche Regelungsfunktion. 4. Das Zeitmaß anthropogener Einträge bzw. Eingriffe in die Umwelt muß im ausgewogenen Verhältnis zum Zeitmaß der fur das Reaktionsvermögen der Umwelt relevanten natürlichen Prozesse stehen. N. erfordert grds. eine einheitliche Behandlung von Ökonomie, Ökologie und sozialen Entwicklungen im Hinblick auf inter- und intragenerative -> Gerechtigkeit. Wirtschaft. Leistungsfähigkeit muß somit verbunden werden mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und sozialer —> Verantwortung. Mit der Zielorientierung auf Zukunftsfähigkeit und Sicherung einer angemessenen Lebensqualität für alle Menschen verbindet das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung den Vorrang des Langfristigen gegenüber dem Kurzfristigen, des Allgemeinnutzes gegenüber dem individuellen Nutzen und der Solidarität gegenüber bindungslosem Egoismus. Das Konzept der N. hat für die meisten gesellschaftl. Handlungsfelder wie Produktions- und Dienstleistungsbereich, Konsumtions- und Nutzungsbereich, —• Energie, Mobilität / -> Verkehr, Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen, -> Land- und —> Forstwirtschaft und -> Entwicklungspolitik ein hohes Maß an Operationalisierung erfahren. Für alle Bereiche liegen Ansätze für Zielkonzepte, Instrumente und Maßnahmen vor. In der Praxis zielen diese v.a. auf eine grundle-
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Nachrichtendienst gende Effizienzsteigerung der techn. Produkte und Verfahren und der sozialen Organisation, eine konsistente Einbettung techn., wirtschaftl. und sozialer Prozesse in ökologische Kreisläufe, natürliche dynamische Gleichgewichte sowie einen sparsamen Umgang mit den Naturressourcen (Suffizienz). Um nachhaltige Entwicklung meßbar und bewertbar zu machen, werden geeignete N.sindikatoren entwickelt (z.B. Höhe des Stoff- und Energieverbrauchs, Menge der CCh-Ermssionen, Flächenverbrauch, Gesundheitsindex, Ernährung, Wohnen, Bildungszugang)· Das Leitbild der N. hat in den letzten Jahren weltweit eine große Resonanz gefunden. Sichtbarster Ausdruck sind nationale N.splanungen (z.B. Niederlande, Öst., Schweiz) sowie zahlreiche kommunale und regionale N.skonzepte zur Umsetzung der Agenda 21 (z.B. Seattle, Graz, Heidelberg, Berlin-Köpenick, München, Oberöst.). Auch in der Wirtschaft haben bereits einige Betriebe N. zur Untemehmens-Leitstrategie gemacht. Lit: BUND /MISEREOR (Hg.): ZukunftsfShiges Dtld., Basel 1996; Enquete-Kommission des Dt. Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt: Die Industriegesellschaft gestalten Perspektiven für einen nachhaltigen Umgang mit Stoff- und Materialströmen", Bonn 1994; R. Kreibich (Hg.): Nachhaltige Entwicklung, Weinheim 1996; Umweltbundesamt: Nachhaltiges Dtld., Berlin 1987. Rolf
Kreibich
Nachrichtendienste, Kontrolle der Grds. gilt ftlr die (parlament.) KdN im demokrat. Staat das Gleiche wie für alle anderen Zweige der Exekutive auch: Von der Bewilligung der Haushaltsmittel durch den -> Bundestag über die Rechnungsprüfung bis zu den üblichen Mitteln der Kontrolle durch Kleine und Große Anfragen (-» Fragerecht), Fragen in der Fragestunde bis zur Einsetzung von -> Untersuchungsausschüssen. Gleichwohl liegt es in der Natur der Sache, daß der Umfang der echten Staatsgeheimnisse, die
Nachrichtendienst zum Schutze der -> Republik nicht auf dem offenen Markt des —> Parlaments erörtert werden können, bei den Diensten ungleich größer ist als bei allen anderen -> Behörden. Gleiches gilt für die Kontrolle der Staatstätigkeit durch die allgemeine —> Öffentlichkeit und die —> Medien. Deshalb mußten und wurden zusätzliche Mittel der Kontrolle entwickelt nicht aus Mißtrauen gegen die Dienste und die bei ihnen Beschäftigten, sondern weil Wissen immer Macht bedeutet und geheimes Wissen gesteigerte Macht. Macht hat aber stets von sich aus die Tendenz zur Korruption. 1. Nach einer längeren Entwicklung hat der —> Bundestag 1978 das Gesetz über die Parlament. KdN(v. 11.4.1978 BGBl. I S. 453) beschlossen, das eine Parlament. Kontrollkommission (PKK) einsetzt, deren Mitglieder der Bundestag aus seiner Mitte wählt. Ihr müssen auch Mitglieder der —> Opposition angehören. Die Kontrolle durch die PKK tritt ausdrücklich neben die Kontrolle des Bundestages und seiner -> Ausschüsse. Die PKK kontrolliert nicht die Dienste unmittelbar, sondern die -> Bundesregierung, welche die polit. —> Verantwortung für die Dienste trägt. Dem Wortlaut nach hat die Regierung zwar die PKK über die Tätigkeit der Dienste „umfassend zu informieren", gleichwohl wird der Regierung ein gewisser Spielraum hinsichtlich von Zeit, Art und Umfang der Information eingeräumt. Das -> Gesetz geht davon aus, daß es zum Wesen von Kontrolle gehört, daß sie im nachhinein ausgeübt wird. Zwar kann die Regierung auch früher unterrichten, wobei jedoch das Geheimnis des Nachrichtenzugangs und der Quellenschutz in jedem Fall gewahrt bleiben sollen. Da die PKK kein -> Organ des Bundestages ist, gilt für sie auch Art. 43 Abs. 2 GG (unbeschränktes Zutrittsrecht der Mitglieder der Bundesregierung und des -> Bundesrats und ihrer Beauftragten) nicht. Ehe PKK hat eventuelle Zutrittsbefugnisse selbst mit Hilfe ihrer Geschäftsordnung zu regeln. Da die Kontrollbefugnisse
Nachrichtendienst der PKK weithin als unbefriedigend empfunden werden, kommt es immer wieder zu neuen Vorschlägen zur Verbesserung der Kontrolle (etwa durch einen Parlamentsbeauftragten oder ein neu zu schaffendes besonderes Verfassungsorgan). 2. Die Nachrichtendienste unterliegen der uneingeschränkten Kontrolle des Bundesrechnungshofes und des —» Datenschutzbeauftragten im Rahmen deren Zuständigkeiten. Ihr Haushalt wird durch ein besonderes Gremium des BundestagsHaushaltsausschusses festgelegt (§ 10a BHO). 3. Soweit die Nachrichtendienste in das —> Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) eingreifen, unterliegen sie der im Gegensatz zur PKK uneingeschränkten Kontrolle der —> G 10-Kommission, der gegenüber es kein Dienst- oder sonstiges Geheimnis und keinen Quellenschutz gibt. Die Kommission kontrolliert die Dienste unmittelbar und hat verfassungsrechtl. gesicherten Zugang zu allen Dienststellen, Einrichtungen und Akten der Dienste und aller anderen an Kommunikationen beteiligten Behörden (BVerfGE 30, 1) und privaten Betreibern von Kommunikationsanlagen. Die Mitglieder der G 10Kommission werden von 5 Bundestagsabgeordneten des G 10-Abgeordneten-Gremiums auf jeweils 4 Jahre gewählt und genießen richterliche Unabhängigkeit. Sie prüfen die Recht- und Zweckmäßigkeit aller EingrifTsmaßnahmen. Ohne ihre Genehmigung dürfen Überwachungsmaßnahmen nicht durchgeführt werden oder Betroffene nach Abschluß eines Eingriffs nicht unbenachrichtigt bleiben. 4. In Öst. wurde durch die Bundesverfassungsgesetznovelle 1991 ein ständiger Unter-Ausschuß des (Nationalrats-) Ausschusses für innere Angelegenheiten mit 17 Mitgliedern eingesetzt. Jedes Mitglied kann von dem zuständigen Minister Auskünfte verlangen, Unterlagen dürfen nur aufgrund eines Ausschußbeschlusses eingesehen werden. Hiervon ausgenommen sind Akten, die Quellenangaben enthalten, deren Bekanntwerden die nationale 589
Nachrücker
Nation
Sicherheit oder die Sicherheit von Menschen gefährden würde. Die Ausschußmitglieder werden auf Vertraulichkeit vereidigt, die das Mandat überdauert, ebenso alle anderen Mitglieder an Ausschußsitzungen (-> s.a. Bundesnachrichtendienst -> s.a. Militärischer Abschirmdienst). Ut: H. Borgs-Maciejewski / F. Ebert: Das Recht der Geheimdienste, Stuttgart 1986; A. Hirsch: Kontrolle der Nachrichtendienste, Berlin 1996; H. Roewer: Nachrichtendienstrecht der BRD Deutschend, Köln 1987; Schneider /Zeh, S. 1369ÍF.
Claus Arndt Nachrücker Der Begriff N. ist zwar gebräuchlich, die Wahlgesetze des —»• Bundes (-> Bundeswahlgesetz) und der —» Länder kennen ihn aber nicht. Dort werden N. Listennachfolger genannt. Hierunter ist diejenige Person zu verstehen, die als Wahlbewerber zu einer —> Volksvertretung im weitesten Sinne und in jedweder Art zunächst nicht zum Zuge gekommen ist. Sie erhält ein —» Mandat erst dadurch, daß ein gewählter —> Abgeordneter dieses - aus welchen Gründen auch immer, außer durch —> Parteiverbot verliert. Der N. steht jetzt als Erster auf der Wahlbewerberliste, auf welcher der gewählte Bewerber gestrichen wurde, und ist deshalb Nächstberufener bei der Vergabe des vakanten Mandats. Er muß daraufhin dem Wahlleiter sein Einverständnis hinsichtlich der Wahl in die Volksvertretung erklären und rückt damit in diese ein als Inhaber eines vollwertigen Mandats, und zwar während der laufenden —> Wahlperiode. Diese Art von Wiederbesetzung eines vakanten Sitzes in einer Volksvertretung kommt nur zur Anwendung bei —• Wahlsystemen mit —> Verhälniswahlrecht. Nur hier sind Wahllisten erforderlich. Allerdings ist ein solches Nachrücken nur zulässig, wenn der ausgeschiedene Abgeordnete kein —» Oberhangmandat inne hatte. Bei Parlamentssitzen, die durch reine —> Mehrheitswahl besetzt worden sind, müssen freigewordene Mandate durch Nachwahl 590
ergänzt werden oder bleiben bis zum Ende der Wahlperiode unbesetzt. In den Fällen, in denen ein Abgeordneter seine Fraktion und seine Partei verlassen hat und später erst sein Mandat in der Volksvertretung vakant wird, ist der Nächstberufene auf der Liste der Partei, für die der Ausgeschiedene einmal kandidiert hat, zu berufen. U.B. Nachtragshaushalt Bundeshaushaltsplan -> Staatshaushaltsplan NAFTA = North American Free Trade Agreement ist neben dem europ. Wirtschaftsraum die größte Freihandelszone der Welt. Neben Kanada und den USA gehört ihr Mexiko an. Namentliche Abstimmung —> Abstimmung Nation Der Begriff N., aus dem Lat. abgeleitet (natio, nationis = das Geborenwerden), ist zum einen ein ebenso grundlegender wie kontroverser, sich der unzweideutigen systematisch-definitorischen Verortung entziehender sozial- und geschichtswissenschaftl. Fachterminus, zum anderen ein (nicht selten emotional und ideologisch aufgeladener) Zentralbegriff des polit. Lebens des 19. und 20. Jhds. Die N. zählt unbezweifelbar zu den wirkungsvollsten polit. Organisationsformen der Moderne, der mit ihr untrennbar verknüpfte N.alismus zu den einflußreichsten und folgenträchtigsten polit. Ideologien und sozialen Bewegungen. Zu den wichtigsten Problemen der wissenschaftl. Erforschung der Phänomene N. und N.alismus zählen: die adäquate Definition, die nicht selten durch die Aufzählung von Attributen oder Voraussetzungen wie gemeinsame Sprache, Kultur, Abstammung, Religion, Rasse, Territorium, Geschichte, Tradition etc. umgangen wird; die Entwicklung von Typologien (wie etwa F. Meineckes Unterscheidung von Kulturund Staatsnation oder H. Kohns Kon-
Nation trastierung einer westlich-rationalen und einer östlich-organischen Version des N.alismus); die Bestimmung des Verhältnisses von N. und - » Staat sowie von N. und —> Demokratie; die Frage, ob N. und N.alismus als „soziale Konstruktionen" der Moderne entschlüsselt werden können, oder ob die Beachtung ihrer ethnischen Verwurzelung eine solche Deutung erheblich relativieren muß; die Frage, welche Rolle N. und N.alismus zukünftig mutmaßlich spielen werden bzw. sinnvollerweise spielen sollten. Will man sich diesen und zahlreichen weiteren Problemen des überaus komplexen Phänomenbereichs N. und N.alismus systematisch nähern, empfiehlt es sich, von der Forschungskontroverse zwischen eher modernistischen und eher naturalistischen Deutungslinien auszugehen. Zur modernistischen Richtung zählen sowohl die vielschichtigen modernisierungstheoretisch inspirierten Forschungen als auch die stärker polit.-historiographisch ausgerichteten staatsnationalen Perspektiven. Das staatsnationale Verständnis sieht einen engen Zusammenhang, mitunter auch eine - » Identität, zwischen N. und modernem Staat. Diese aus spezifisch westeurop. Entwicklungen gewonnene und meist mit der Ära der Frz. Revolution in Verbindung gebrachte, gelegentlich aber auch bis ins 16. Jhd. zurück verfolgte Sichtweise akzentuiert das Zusammenspiel von N.alisierung und Demokratisierung des Staates. Das Bemühen, die —> Legitimität polit. —> Institutionen in der —> Volkssouveränität zu begründen, nahm nach dieser Lesart eine nationale bzw. nationalistische Färbung an: -> Volk und Volksherrschaft wurden zunehmend mit N. und nationaler Selbstbestimmung identifiziert, der Staat als die institutionelle —> Repräsentation des Willens der N. begriffen, die N. und der N.alismus zur integrierenden Kraft und zum legitimierenden Prinzip eines Staates, der sich fortan als N.alstaat verstand. Das staatsnationale Denken findet seinen Anknüpfungspunkt demzufolge in den —•
Nation Staatsbürgern eines bestimmten staatl. organisierten Territoriums, betont die Einheit eines - » Staatsvolkes und abstrahiert weitgehend von der ethnokulturellen Zusammensetzimg der Bevölkerung. I.S. des Wortes von der N. als einer „täglichen Volksabstimmung" (E. Renan) wird ein N.sbegriff präferiert, der die auf subjektivem Bewußtsein und polit. Willen basierende Staatsnation in den Vordergrund rückt. Zwar wird durchaus anerkannt, daß insbes. die N.bildungsprozesse in Mittelund Osteuropa mit einem staatsnationalen Ansatz nicht zu begreifen sind; gleichwohl neigt staatsnationales Denken dazu, die Phänomene Staat und N. eng aneinander zu binden und den westeurop. Weg zum übertragbaren Modell zu erklären - ein Eindruck, der nicht zuletzt durch die im Kontext der Modernisierungstheorien entstandenen Arbeiten über Ration-building" und „State-formation" (insbes. von K.W. Deutsch) bestätigt wird. Was die histor. Entwicklungsetappen des so verstandenen europ. Nationalstaats angeht, hat eine von T. Schieder vorgeschlagene Periodisierung weite Verbreitung und Zustimmung gefunden. Schieder zufolge repräsentieren die integrierenden N.alstaaten Englands und Frankreichs die 1. Phase (17./18. Jhd.). Durch eine innerstaatl., den überkommenen Königs- bzw. Fürstenstaat nationaldemokratisch umgestaltende Revolution entstanden, basierten sie zuvörderst auf dem gemeinsamen staatsbürgerl. Willen und erst in 2. Linie auf einer Sprach- und Kulturgemeinschaft. In einer 2. Phase (19. Jhd.) bildeten sich u.a. in Dtld. und Italien nationale Einheitsbewegungen, die an histor. und kulturelle Faktoren anknüpften, N. als vorstaatl. Ordnung begriffen (RisorgimentoN.alismus) und den Typus des unifizierenden N.alstaats hervorbrachten. In der 3. Etappe im Gefolge des I. Weltkrieges schließlich dominierte der sezessionistische N.alstaat, der sich aus der Konkursmasse übernationaler Großreiche, also der zaristischen, der osmani sehen und der Habsburgermonarchie, bildete. Nach dem
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Nation I. Weltkrieg war Europa weitgehend nationalstaatl. strukturiert, wobei allerdings das Maß an nationaler Homogenität ein deutliches West-Ost-Gefälle aufwies (N.alitätenkonflikte). Vielfach wird von Anwälten des staatsnationalen Ansatzes in ihren Periodisierungen der Entwicklung der N. und des N.alstaats im 19. und 20. Jhd. darauf hingewiesen, daß die in der ersten Hälfte des 19. Jhds. noch dominanten demokrat.egalitären Vorstellungen in der zweiten Hälfte eher chauvinistisch-imperialistischen Ausprägungen, einem aggressivautoritären, „integralen" N.alismus, weichen mußten. Erst mit dem Ende der Weltkriegsepoche, der mit ihr einhergehenden Diskreditierung des N.alismus und dem machtpolit. Bedeutungsverlust Europas habe ein westlicher —> „Verfassungspatriotismus" (D. Sternberger) an Terrain gewonnen, in welchem dementsprechend der Staat stärker betont werde als die N.; staatsnationalen oder i.w.S. eurozentrisch geprägten Deutungen von N. und N.alismus wird durch eine insbes. in der angloamerik. Forschung stark vertretene „naturalistische" bzw. „ethnokulturelle" Interpretation widersprochen. In ihr wird auf einer strengen Unterscheidung zwischen Staat und N. bestanden und auf die ethnischen, vormodernen Wurzeln von N.en hingewiesen. Einer der engagiertesten Vertreter der ethnokulturellen Richtung, W. Connor, verwendet die Begriffe „Ethnie" und N. beinahe synonym und richtet sein Hauptinteresse auf das spannungsreiche bis widersprüchliche Verhältnis zwischen N. und Staat. Es rühre, so Connor, daher, daß die meisten sog. „N.alstaaten" in Wahrheit multinationaler Natur seien; nur ca. 10% aller Staaten firmierten zu Recht als „N.alstaaten". Andere ethnokulturell orientierte Autoren argumentieren i.d.R. zurückhaltender. Sie alle akzentuieren jedoch, daß N.en - in welchem Mischungsverhältnis auch immer - nicht lediglich, um A. Smiths idealtypisierende (und an das o.g. Be-
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Nation griffspaar Meineckes erinnernde) Unterscheidung aufzugreifen, „civic-territorial", sondern immer auch „ethnic-genealogical" Züge tragen. Die N., so die These, bleibt letztlich unverstanden, wenn ihr „ethnischer Kern" ausgeblendet wird. Dementsprechend genießen kulturell-symbolische Faktoren, wie der gemeinsame Name, der Ursprungsmythos, die gemeinsame Genealogie, das stark ausgeprägte Gemeinschaftsgefühl, das spezifische Territorium (homeland) oder die gemeinsame histor. Erinnerung und Kultur in ethnokulturell orientierten Arbeiten einen hohen Stellenwert. Insbes. das ausgeprägte Bewußtsein einer Genealogie sowie der kategorische Anti-Universalismus, also das Empfinden von distinkter Identität, Exklusivität und Paitikularität, unterscheiden die N. von anderen, gleichfalls identitätsstiftenden und Loyalität beanspruchenden polit, oder sonstigen —> Gemeinschaften. Fragt man nach den Ursachen und Voraussetzungen sowie nach den Gründen des erstaunlichen Beharrungsvermögen von N.en, läßt sich abermals die Sichtweise der gerade skizzierten ethnokulturellen Richtung von eher modernistischen oder instrumentalistischen Deutungen abgrenzen: Letztere, vertreten durch Autoren wie E. Gellner, E. Hobsbawm oder B. Anderson, widerspricht mit Nachdruck der Vorstellung, N.en seien gleichsam natürliche Erscheinungen. Wie auch immer die Akzentsetzungen im einzelnen aussehen mögen, grds. werden Entstehung und Funktion von N. und N.alismus eng an die revolutionierenden wie geschichtsmächtigen Strukturen und Prozesse der Moderne (Industrialisierung, Kapitalismus, Btlrokratisierung, Massenkommunikation, Säkularisierung etc.) gebunden. In diesem Zusammenhang wird die N. vielfach als kultureller Artefakt bzw. als soziale Konstruktion gedeutet. —> N.ale Identität wird unlösbar mit spezifischen histor.-gesellschaftl. (Interessen-) Konstellationen verknüpft gesehen; dieser Umstand versetze nationalistische Ideologieproduzenten in
Nation die Lage, nationale Identitäten zu konstruieren, ja mitunter regelrecht zu erfinden und den wechselnden Bedingungen entsprechend zu verändern. Ethnokulturell bzw. naturalistisch orientierte Autoren halten dem entgegen, daß es sich bei der reinen Erfindung von N.en und nationaler Identität um Ausnahmefälle handele. A. Smith z.B. sieht in N.en keine Konstruktionen, sondern weit eher Re-Konstruktionen nationaler Identität; diese spielen sich Smith zufolge in einem spezifischen histor.-gesellschaftl. Feld ab, auf dem sich nationale Ideologen zuvörderst als soziale und polit. Archäologen betätigen. Im Rahmen der Re-Konstruktion können bestimmte Symbole, Mythen, Rituale, Erinnerungen oder Wertmuster sowohl selektiert als auch neu- oder uminterpretiert werden. Insofern sind sie zwar durchaus veränderbar, müssen es sogar sein, da sich nur so die ständige Re-Konstruktion nationaler Identität in Gang halten läßt. Dies darf jedoch keinesfalls zu dem Schluß verleiten, die genannten Elemente nationaler Identität seien bloße Ideologien bzw. völlig beliebige oder auch nur beliebig manipulierbare Konstrukte; vielmehr beschreiben sie sowohl den Spielraum als auch die Grenzen, die von nationalistischen Akteuren bei Strafe des Scheiterns beachtet werden müssen. In der aktuellen, stark normativ geprägten wissenschaftl. Debatte über die zukünftige Rolle von N. und N.alismus mehren sich Stimmen, die in nationaler Identität und dem Festhalten an der N. mehr als nur Rückwärtsgewandtes zu erkennen vermögen. Vertreter dieses Ansatzes sind meist ethnokulturell orientiert und bestehen sowohl auf deskriptiv-analytischer als auch auf normativer Ebene auf einer strengen Unterscheidung zwischen Staat und N.; diese Unterscheidung soll helfen, den Blick über Europa hinaus auszuweiten und auf einen Ethnonationalismus zu lenken, der, wie insbes. W. Connor betont, jederzeit zum Sprengsatz für N.alstaaten werden kann, die in Wahrheit nichts anderes als multinationale Staaten
Nationale Identität sind und sich außerstande zeigen, die noch von K.W. Deutsch erwartete Assimilation und Homogenisierung zu erreichen. Sie soll des weiteren ermöglichen, die problematische Beziehung zwischen N.alismus und Demokratie auf eine neue Grundlage zu stellen, indem sie das Ideal der nationalen Selbstbestimmung vom demokrat. Ideal der Selbstregierung scheidet und so den Weg für die Entwicklung eines demokratieverträglichen, liberalen, polyzentrischen N.alismus frei macht. Schließlich soll sie dazu beitragen, gerade angesichts sich beschleunigender, komplexer Prozesse der —> Globalisierung und sie begleitender kosmopolit. „Weltkultur"-Utopien den sinn-, identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Wert der N. nicht zu unterschätzen. Lit: P. Alter: Nationalismus, Frankfurt/M. 1985; Β. Anderson: Die Erfindung der Nation, Frankfurt/M. 2 1993; E. Gellner: Nationalismus und Moderne, Berlin 1995; J. Hutchinson / A.D. Smith (Hg.): Nationalism, Oxford 1994; T. Schieder: Nationalismus und Nationalstaat, Göttingen 1991; A.D. Smith: Nations and Nationalism in a Global Era, Cambridge, UK 1995; Y. Tamir: Liberal Nationalism, Princeton 1993.
Ulrich Teusch Nationale Identität Seit den 80er Jahren ist - ausgelöst namentlich durch einige histor. Jahrestage (500. Geburtstag Luthers; 50. Jahrestag der Machtergreifung Hitlers; 40. Jahrestag des Endes des Π. Weltkrieges) - eine Renaissance der Beschäftigung mit der sog. n.I. der Deutschen festzustellen. Diese zunächst in den beiden dt. Staaten mit Blick auf Gemeinsames und Trennendes nach 4 Jahrzehnten der Teilung geführte Diskussion hat nach der staatl. Wiedervereinigung insbes. auch die Frage nach einem gemeinsamen Leitbild des vereinigten Dtld.s im Prozeß der Europäisierung und —• Globalisierung zum Gegenstand. Der Begriff der n.I. hat durch Art. F Abs. 1 EUV (Europa-) Rechtsqualität erlangt. Nach dieser Vorschrift achtet die EU die n.I. ihrer Mitgliedstaaten. Der Begriff ist weit zu ver-
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Nationalsozialismus
Nationalfeiertag stehen: Er umfaßt zum einen die Grundprinzipien der Verfassungsordnung der EU-Mitgliedstaaten in organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht. Hierzu zählen insbes. deren demokrat., rechts- und sozialstaatl. Prägung und die den —» Grundrechten zugrundeliegenden Rechtsprinzipien. Der Begriff nimmt aber nicht nur auf konstitutionelle, sondern auch auf sozio-kulturelle und geschichtl.-polit. Eigenarten Bezug. Insoweit weist er enge Verknüpfungen zum Rechtsbegriff der nationalen Vielfalt (Art. 128 Abs. 1 EGV) auf. Der —> EU-Vertrag steht insoweit einer Veränderung der rechtl. und polit. Lage in den Mitgliedstaaten der EU entgegen, aufgrund derer sich Völker der Mitgliedstaaten nicht mehr mit ihrem -> Staat als organisierter —> Nation identifizieren könnten bzw. in deren Ergebnis die kulturelle Identität eines Staates unterminiert würde. Eine Entwicklung der europ. Integration in Richtung auf einen Verlust des Wesensgehalts der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten ist durch Art. F Abs. 1 EUV ausgeschlossen. Die Achtung der n.I. stellt somit eine unionsrechtl. Schranke fur Kompetenzansprüche der EU dar und ergänzt insoweit die in Art. 3b EGV verankerten Prinzipien der begrenzten Ermächtigung; der —> Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit des Handelns der EG und ihrer Organe. Lit.: Α. Bleckmann: Die Wahrung der „nationalen Identität" im Unions-Vertrag, in: JZ 1997, S. 265ff.; J. Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität, St. Gallen 1993. Jörg
Ukrow
Nationalfeiertag —> Tag der Deutschen Einheit Nationalhymne -> Staatssymbole Nationalismus -> Nation Nationalrat -> Österreich Nationalrepräsentation -> Repräsentation 594
Nationalsozialismus Die Epoche des NS ist als prägendes Element in die -> polit. Kultur Dtld.s eingegangen: implizit als eine der histor. Bedingungen der Gegenwart, explizit durch die Vorstellungen, welche die lebende Generation von der NS-Epoche hat. Eine Auseinandersetzung mit den histor. und geistigen Grundlagen sowie der Herrschaftsstruktur des NS ist folglich schon von daher unabdingbar. Sie kann ferner generell zu einem angemesseneren Verständnis des demokrat. -> Verfassungsstaates fìlhren. 1. Als A. Hitler (1889-1945) am 30.1. 1933 Reichskanzler wurde, war für die meisten Zeitgenossen nicht klar abzusehen, wohin diese Kanzlerschaft führen würde. Für viele von ihnen konnte das Handeln der Regierung Hitler in den ersten Monaten als Umsetzung konservativer Vorstellungen und Fortftlhrung einer aus der Endphase der Weimarer Republik bekannten Politik erscheinen. Tatsächlich aber vollzog sich von Anfang an ein grundlegender polit.-rechtl. Wandel weg von der republikanischen Verfaßtheit des dt. Volkes hin zur totalitären Führerherrschaft Hitlers. Die Logik und Dynamik dieses Wandels waren von vornherein im Charakter der NS-Weltanschauung und der ihr entsprechenden Vorstellung von Politik angelegt, die sich im wesentlichen bereits in den 20er Jahren entwickelt hatten. Kennzeichnend für die NS-Weltanschauung war, daß sie den Charakter eines aus verschiedenen Elementen zusammengesetzten und keineswegs widerspruchsfreien programmatischen Konglomerats hatte. Aus diesem Grund konnten sich verschiedenste Schichten der Bevölkerung vom NS angesprochen fühlen. Als wichtigste Elemente der NS-Weltanschauung lassen sich die folgenden bestimmen: ein mit einer antiwestlichen und antidemokrat. Grundhaltung verbundener doktrinärer —• Nationalismus, ein in verschiedenen Spielarten schillernder antimarxistischer -> Sozialismus, die Idee von der Notwendigkeit dt. „Lebensraums"
Nationalsozialismus im Osten, Militarismus und ein Antisemitismus, der gegenüber dem herkömmlichen Judenhaß seine entscheidend neue Qualität dadurch erhielt, daß er sozialdarwinistisch interpretiert wurde. Der Antisemitismus war nicht kulturell-religiös, sondern biologisch motiviert. Der vom NS-Regime begangene millionenfache Mord an den Juden ist erst aus der Logik dieses biologisch-rassistischen Denkens heraus erklärbar. Beachtlich ist, daß zwischen dem Nationalismus und dem Rassedenken der Nazis ein Widerspruch bestand, der sich in der NS-Politik bald vielfältig auswirkte: Das biologistische Denken sprengte den Rahmen der —> Nation, indem etwa einerseits sog. ,/assisch minderwertige" Volksangehörige ausgegrenzt und schließlich ermordet wurden, sich andererseits die NS-Politik bald weniger an dt., sondern an germanischen, nordischen oder arischen Zielen orientierte. In der Konsequenz dieses Denkens lag z.B. auch, daß in den während des Krieges aufgestellten fremdländischen Verbänden der Waffen-SS etwa 15 verschiedene Nationalitäten repräsentiert waren. 2. Ein Verständnis der zentralen Merkmale der NS-Herrschaftsstruktur erschließt sich schon bei der Betrachtung der Formierungsphase des Regimes 1933/34. Zwar stellt das sog. -> Ermächtigungsgesetz vom 24.3.1933, mit dem sich der Reichstag nur gegen die Stimmen der SPD-Fraktion selbst entmachtete, indem er die Regierung Hitler zur parlamentsunabhängigen Gesetzgebung ermächtigte, ebenso einen wichtigen Schritt für die Etablienmg der des nationalsozialistischen —> Totalitarismus dar wie die Vereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten nach dem Tod Hindenburgs am 2.8.1934 durch das „Gesetz über das Oberhaupt des dt. Reiches" vom 1.8.1934. Durch beide Gesetze wurde die staatl. Macht Hitlers erheblich gesteigert. Diese Machtzentralisierung blieb aber für sich betrachtet noch am Rahmen der überkommenen Staatsord-
Nationalsozialismus nung orientiert. Das Spezifikum der NSHerrschaft liegt jedoch nicht in der konzentrierten Staatsmacht, sondern darin, daß sich neben dieser eine außerstaatl. Macht Hitlers entfaltete. Abzulesen ist das daran, daß sich Hitler seit dem 2.8.1934 „Führer und Reichskanzler" nannte: Damit trat neben seine staatl. Amtsgewalt die sich aus der „histor. Sendung" des „Führers" der NSDAPBewegung ergebende „Führergewalt". Der Führergewalt entsprach der Ausbau einer außerstaatl. polit. Verwaltung, die allein am Willen Hitlers ausgerichtet und durch keinerlei rechtl. Bindung eingeschränkt war. Gegenüber dieser Führerexekutive, deren Instrumente SS, Gestapo und SD (Sicherheitsdienst) waren, trat die polit. Bedeutung der staatl. Verwaltung im Laufe der Zeit - insbes. nach Beginn des Krieges 1939 - völlig zurück. Der Staat mit seiner Verwaltung wurde zum unselbständigen Instrument der Führerherrschaft: Hitlers Herrschaft war keine Herrschaft im Staat, sondern über den Staat. Angesichts dieser Spezifika, die auch einen der zentralen Unterschiede des NS zum ital. Faschismus darstellen, wurde das NS-Regime schon 1941 von E. Fraenkel in dessen gleichnamigem Buch als „Doppelstaat" bezeichnet. Zentrales Kennzeichen der außerstaatl. —> Exekutive war, daß sie nicht nach -> Recht und —> Gesetz und dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der —• Verwaltung funktionierte, sondern völlig personalisiert war: Zuständigkeiten wurden von Hitler letztlich willkürlich und ohne genaue Aufgabenbestimmung auf einzelne Personen übertragen (und unter persönlichen Gesichtspunkten wiederum weiterdelegiert) und waren Gegenstand der Konkurrenz der untergeordneten Ebenen. Auf diese Weise entstand ein geordnetes Chaos in der Verwaltung des Dritten Reiches. Demnach war das NS-Regime kein durchgeplantes, zentralistisch-monolithisches, sondern ein polykratisches Gebilde, keine rationale Institutionenordnung, sondern ein „atavistischer Perso-
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Nationalsozialismus nenverband" (D. Rebentisch). Aus dem polykratischen Charakter der NS-Herrschaftsstruktur ist jedoch nicht der Schluß zu ziehen, Hitler sei ein „schwacher Diktator" gewesen. Das Gegenteil ist der Fall: Durch die Ausrichtung aller Verwaltungsund polit. Maßnahmen am tatsächlich geäußerten oder antizipierten Führerwillen ebenso wie durch die Konkurrenzen und Rivalitäten in den untergeordneten Ebenen blieb Hitler die zentrale Figur des Dritten Reiches. Der Führerwille war, wie schon zeitgenössische Beobachter treffend charakterisierten, die Verfassung des Dritten Reiches. Man kann daher ohne weiteres die These vertreten, daß der NS im Kern Hitlerismus war. 3. Die nationalsozialistischen Vorstellungen hatten von Anfang an eine stark außenpolit. Orientierung. Dem Anschein nach ging es der hitlerschen Außenpolitik nach 1933 zunächst um eine friedliche Revision des Versailler Vertrages, tatsächlich aber waren seine Ziele von vornherein auf aggressive Expansion und Krieg ausgerichtet. Es handelte sich bei Hitlers Krieg nicht um einen nationalen, sondern um einen Weltanschauungskrieg: Hitler ging es um die Eroberung von „Lebensraum", letztlich aber um die Weltherrschaft der „stärkeren Rasse" über die „niederen Rassen" und v.a. um die Vernichtung des Judentums. Im letztgenannten Punkt war die Kriegspolitik Hitlers gewissermaßen Instrument des biologischen Rassismus: Erst unter den Bedingungen des Krieges konnte die Feindschaft gegenüber dem Judentum ihre radikalste Konsequenz - den Holocaust entfalten. 4. Der aggressive Antisemitismus wurde von Anfang an in NS-Politik umgesetzt. Dabei ist eine zunehmende Radikalisierung der NS-Judenpolitik von 1933 an zu konstatieren (z.B. ,Judenboykott" im April 1933, „Nürnberger Gesetze" 1935, Reichskristallnacht 1938, Einführung des „Judensterns" 1941), die schließlich in der Ungeheuerlichkeit des Völkermords endete. Die Radikalisierung läßt sich
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Nationalsozialismus kennzeichnen durch die Stufen zunehmender Diskriminierung und gesellschaftl. Ausgrenzung der Juden innerhalb des Reiches, im Krieg schließlich der Deportation und ab 1941 - also schon vor der „Wannsee-Konferenz" vom 20.1.1942 - der systematischen Ermordimg der jüdischen Bevölkerung Dtld.s und Europas v.a. in den Vernichtungslagern, die in den besetzten Gebieten Polens errichtet wurden. Die Ermordung der europ. Juden wurde auf industrialisierte Weise ausgeführt, deren kaltes Funktionieren erst mit dem Biologismus des nationalsozialistischen Antisemitismus erklärbar ist. Der Völkermord hatte keineswegs den Charakter von Pogromen, wie sie aus der Geschichte bekannt waren. Vielmehr handelte es sich um einen „techn. Genozid ohne Pogromstimmung" (M. Broszat). Ihm fielen weit über 5 Mio. Menschen zum Opfer, wobei daran zu erinnern ist, daß unter den Opfern des nationalsozialistischen Rassismus auch tausende von Angehörigen anderer Gruppen (Sinti, Roma, Homosexuelle und anderen) zu beklagen sind. 5. Hitlers Herrschaft ruhte auf einer plebiszitären Machtbasis, sie war gewollt und wurde vom ganz überwiegenden Teil der dt. Bevölkerung bis zum Ende des NS getragen. Die Motive der Zustimmung zum Regime waren unterschiedlicher Natur und nicht notwendig Folge uneingeschränkter Identifizierung mit dem NS. Eine breite polit. Opposition gab es nicht, und nach der Konsolidierungsphase des Regimes lag ab 1934 die effektive Möglichkeit, Hitler von innen her zu beseitigen, höchstens in der Hand entschiedener Einzelpersonen oder von Gruppen, die direkten Zugang zu den Gewaltarsenalen des Regimes hatten (also Wehrmacht oder SS). Gleichwohl gab es im Dritten Reich verschiedene Spielarten von Opposition und -> Widerstand gegen den Nationalsozialismus seitens einzelner und aus unterschiedlichen Milieus heraus (Kirchen, Sozialdemokratie, „Weiße Rose" etc.). Dem Ziel der Beseitigung Hitlers am
Nationalsozialismus nächsten kamen die militari sch-polit. Opposition, die das Attentat am 20.7.1944 unternahm und der von der Literatur meist vernachlässigte Georg Elser mit seinem Attentat am 8.11.1939: Elser war ein Handwerker, der kein polit. Konzept verfolgte, aber ein ausgeprägtes Rechtsempfinden hatte. Er sah in der NS-Herrschaft ein großes Unrecht, mit dem zahllose Menschen ins Verderben gestürzt würden. Elser handelte völlig auf sich gestellt und allein in der Gewißheit der Verwerflichkeit des NS. Seine Tat darf als leuchtendes Beispiel für Zivilcourage unter totalitärer Herrschaft nicht dem Vergessen anheimfallen. Wie auch beim Attentat vom 20. Juli 1944 entkam Hitler nur durch Zufall Elsers Anschlag. Der NS wurde nicht vom dt. Volk abgeworfen, sondern von den Alliierten militärisch niedergerungen und ging mit der bedingungslosen Kapitulation des Dt. Reiches am 8.5.1945 unter. 6. Das Erlebnis des totalen Zusammenbruchs des Dritten Reiches wurde nach dem Krieg zu einer der fundamentalen Legitimitätsgrundlagen der beiden 1949 gegründeten dt. Staaten: Sowohl die - » Bundesrepublik Deutschland als auch die -> DDR verstanden sich als Absage an die totalitäre Herrschaft Hitlers und als Überwindung jener polit. Traditionen, die den Weg in die Katastrophe geebnet hatten. In der DDR erfolgte die Interpretation des NS unter den Vorzeichen des MarxismusLeninismus. Dementsprechend sah man im NS die dt. Variante eines allgemeineren Phänomens, nämlich des Faschismus als einer Entwicklungsstufe des Kapitalismus. Dieses ideologische Interpretationsmuster diente dem sozialistischen also nicht-kapitalistischen - DDR-Regime zur Selbstlegitimation als „antifaschistisch" sowie als polit. Kampfmittel namentlich gegen die BRD, die nach dieser Auffassung als kapitalistischer Staat den Faschismus prinzipiell nicht überwunden hatte. Als „antifaschistischer" Staat entzog sich die DDR zugleich einer verantwortungsbewußten Auseinandersetzung
Nationalsozialismus mit der NS-Vergangenheit, was sich z.B. zum einen in der Ablehnung von Wiedergutmachungsansprüchen des jüdischen Volkes und zum anderen darin äußerte, daß es in der DDR weder eine freie öffentl. Debatte über die NS-Vergangenheit noch eine vom vorgegebenen sozialistischen Geschichtsbild unabhängige Erforschung des NS durch die Wissenschaft gab. Für die BRD stellt sich der Umgang mit der NS-Vergangenheit differenzierter dar. Die freiheitliche Verfassung des - » Grundgesetzes war die Antwort des westdt. Staates auf die totalitäre Vergangenheit: Das Bewußtsein vom polit., moralischen und rechtl. Unwert des NS führte zur bewußten Absage an jene Vorstellungsmuster, die Hitlers Herrschaft ermöglicht hatten, und gleichzeitig zur Bejahung der liberalen -> Demokratie. In den Anfangsjahren der zweiten dt. Republik blieben die Abwendung vom NS und die Hinwendung zum liberalen Verfassungsstaat jedoch in gewissem Sinne abstrakt: Die Fragen nach der polit, und moralischen Schuld der Deutschen und jedes einzelnen waren aus der öffentl. Diskussion weitgehend verdrängt. Dies wurde durch die Entwicklung des Kalten Krieges ebenso wie durch die Notwendigkeiten des Wiederaufbaus Westdtld.s und die große Zahl der Belasteten begünstigt: Diese Faktoren waren der öffentl. Auseinandersetzung mit dem NS nicht förderlich. So blieb die Zeit des Hitlerregimes bis zum Ende der 50ger Jahre überwiegend ein öffentl. Tabu. Dies änderte sich mit dem Beginn der großen gerichtlichen Verfahren gegen die NS-Gewaltverbrecher, wobei der sog. Ulmer Einsatzgruppenprozeß 1957/58 eine Art Initialzündung darstellte: Zum einen wurde nun die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit öffentl. geführt, zum anderen begann die westdeutsche Wissenschaft verstärkt und detailliert die nationalsozialistischen Massenverbrechen und die hinter diesen stehenden Strukturen zu erforschen. Seither ist die Auseinandersetzung mit dem NS
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Nationalsozialismus Bestandteil der bundesdt. öffentl. Diskussion und zugleich ein Aspekt des polit. Selbstverständnisses der Bevölkerung, weshalb die Debatten um den NS oft zugleich auch solche um die Interpretation des polit. Geschehens der Gegenwart, mithin Elemente der polit. Kultur Dtld.s darstellen. Die Diskussionen werden heute anders als in den vergangenen Jahrzehnten weniger durch Prozesse gegen die NS-Täter als vielmehr durch Fernseh- und Kinofilme oder Austellungen ausgelöst. Vor allem aber erhalten sie Impulse aus wissenschaftl. Debatten um den NS. Von besonderer Bedeutung war in der 2. Hälfte der 80er Jahre der sog. Historikerstreit, an dem sich J. Habermas, E. Nolte, Α. Hillgruber, E. Jäckel, C. Meier und andere beteiligten. In dieser öffentl. geführten Kontroverse erörterte man die Frage nach der Einmaligkeit der NS-Massenverbrechen vor dem Hintergrund des Vorwurfs, daß ein Leugnen der Einzigartigkeit des von Deutschen verübten Genozids eine Relativierung der Ereignisse zur Folge habe. Die Debatte, deren wissenschaftl. Ertrag als gering bewertet werden kann, führte deutlich vor Augen, daß die NS-Geschichte zwar für das polit. Selbstverständnis der Deutschen konstitutiv ist, zugleich aber auch in Gefahr steht, leichtfertig für die tagespolit. Auseinandersetzung instrumentalisiert zu werden, indem man polit. Konflikte der Gegenwart in die Vergangenheit projiziert. In jüngster Zeit hat D. J. Goldhagens Buch über Hitlers willige Vollstrecker die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dieses Werk kommt bzgl. der Frage nach den eigentlichen Motiven des Genozids an den europ. Juden zu dem Ergebnis, daß es sich hierbei um ein nationales Projekt der Deutschen gehandelt habe, also mit deren Wissen und Billigung vollzogen wurde. Treibende Kraft sei hierbei ein tief in der dt. Mentalität und Geschichte verankerter „eliminatorischer Antisemitismus" gewesen, der während des Dritten Reiches „ins Zentrum der polit. Kultur und der Gesellschaft Dtld.s" (Goldhagen) vorgedrungen
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Nationalsozialismus sei. Goldhagens Thesen sind nicht zuletzt deshalb stark umstritten, weil sie eine monokausale Erklärung für ein außerordentlich komplexes Phänomen unterbreiten und so hinter einen bereits erreichten Forschungsstand zurückfallen. Unabhängig von der wissenschaftl. Rechenschaftsfähigkeit der Behauptungen Goldhagens zeigt die Kontroverse um sein Buch jedoch abermals, wie wichtig die histor. und politikwissenschaftl. Erforschung des NS für das generationenübergreifende Erinnern und die immer wieder neu zu vollziehende Bildung der kollektiven polit. Identität der Deutschen ist. Vor diesem Hintergrund wird der NS auch in Zukunft Thema der öffentl. Debatte sein. 7. Eine abschließende Auflistung der Vorgänge im NS und deren Bewertung i.S. eines endgültigen Schlußstrichs unter die nationalsozialistische Vergangenheit ist weder möglich noch wünschenswert. Die immer wieder neu vorzunehmende Auseinandersetzung mit dem NS kann einen positiven Beitrag zur demokrat. polit. Kultur leisten. Wenn F. Neumann 1942 in seinem Buch Behemoth davon sprach, daß das NS-Regime keinen Staat i.S. der neuzeitlichen Tradition darstelle, so wird vor dem Hintergrund dieses treffenden Urteils und der Erfahrung des NS der humane Wert des Verfassungsstaates deutlich: Wo Politik nicht mehr wie in diesem in die Disziplin einer rechtl. Ordnung eingebunden ist und die polit. Gewalten in einer Person vereinigt werden, wo der -> Pluralismus beseitigt und dem Volk die Möglichkeit genommen wird, die polit. Führung ohne Blutvergießen abzuwerfen, dort gedeihen Unfreiheit, Menschenrechtsverletzungen, Willkür und Terror. Lit: W. Benz (Hg.): Legenden, Lügen, Vorurteile, München 1992; K.D. Bracher (Hg.): Dtld. 1933-1945, Düsseldorf21993; ders. /M. Funke / H.-A. Jacobsen (Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945, Bonn 1986; H. Buchheim / M. Broszat /H.-A. Jacobsen u.a.: Anatomie des SS-Staates, München 61994; J. Fest: Hitler, Frankfurt/M. 1987; G. Heinsohn: Warum Au-
Nationalstaat
Nationalversammlung
schwitz?, Reinbek 1995; Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der Nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987; I. Kershaw: Hitlers Macht, München 1992; P. Graf Kielmansegg: Lange Schatten, Berlin 1989; W. Noack: Die NSIdeologie, Berlin 1996; D. Rebentisch: Führerstaat und Verwaltung im II. Weltkrieg, Wiesbaden 1989; J. H. Schoeps (Hg.): Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur GoldhagenKontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg 1996.
Michael Henkel Nationalstaat Im Unterschied zum —> Sozial- und -» Rechtsstaat ist der N. kein Verfassungstatbestand. Doch seit dem Epochenwechsel von 1989/90 wird auch international der N. als Bezeichnung für einen souveränen, völkerrechtl. anerkannten —> Staat verwendet, dessen —> Nation als weitgehend identisch mit dem —> Staatsvolk (Demos) angesehen wird und insofern doch Bestand der —• Verfassung ist. Ein ethnisch heterogener N. umfaßt ein Staatsvolk, das in unterschiedliche ethnische Gruppen auf angestammten Territorien unterteilt ist. Eine Nation kann deshalb ethnisch in unterschiedlichen Staaten vertreten sein. Als N. können aber nur diejenigen Nationen gelten, die aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der Völker eine Staatsbildung erreicht und erhalten haben. Im Unterschied zum 19. Jhd. oder zum frühen 20 Jhd. sind außenpolitisch gesehen die N.en polit.- Ökonom, und militärisch meistens in Bündnissystemen integriert und insofern voneinander abhängig. Auf diese Weise geben sie nach „oben", z.B. an die -> Europäische Union, souveräne Rechte ab oder überlassen föderativen Organen (-> Bundesländern; - » Städten) staatl. Aufgaben. Als staatl. Akteure der Weltpolitik sind die N.en auf absehbare Zeit unersetzbar, zumal Vielvölkerstaaten sich nach 1989 in Europa nicht behaupten konnten. Ob der europ. Integrationsprozeß zu einer Auflösung oder nur zu einer stärken Angleichung der europ. N. im Zusammenhang
supranationaler Kooperation führt, ist noch nicht zu sagen. Als Träger und Garant der —> Menschen- und —> Bürgerrechte (Rechtsstaat) ist der moderne N. nicht in Frage gestellt. IM.: W. Conze: Die dt. Nation, Göttingen 21965; O. Dann: Nation und Nationalismus in Dtld. 1770-1990, München 1993; T. Mayer: Prinzip Nation, Opladen 21987; T. Schieder: Nationalismus und Nationalstaat, Göttingen 1991.
Tilman Mayer Nationalversammlung, französische Das frz. —> Parlament besteht aus 2 Kammern (-> Zweikammersystem): dem —• Senat und der frz. NV (Assemblée Nationale). Die Bezeichnung NV geht zurück auf die Frz. Revolution: 1789 wurden die Generalstände in NV umbenannt. Der NV gehören 577 —> Abgeordnete an, die auf 5 Jahre nach einem zweiphasigen —> Mehrheitswahlrecht - dem scrutin majoritaire à deux tours - gewählt werden. Der Senat ist eine Vertretung der Gebietskörperschaften. Er besteht aus 318 Senatoren, die auf Départmentsebene von speziellen Wahlkollegien gewählt werden. Beide Kammern sind gleichberechtigt bei Verfassungsreformen und der Verabschiedung von bestimmten - » Grundrechten. Bei der einfachen und der Finanzgesetzgebung hat - das bestimmt Art. 45 der -> frz. Verfassung - allerdings die NV im Konfliktfall das letzte Wort. Die frz. NV hat in der V. Republik deutlich geringere Kompetenzen als noch in der HL oder IV. Republik. Sie hat - anders als andere Parlamente - keine umfassende, sondern nur eine eingeschränkte Gesetzgebungskompetenz. Art. 34 der Verfassung begrenzt das Gesetzgebungsrecht auf die dort ausdrücklich aufgezählten Sachgebiete. Außerhalb dieser Materien hat die Regierung eine allgemeine Verordnungsmacht (pouvoir réglementaire). Die ungewöhnlich starke Stellung der Regierung gegenüber dem Parlament zeigt sich in weiteren Verfassungsbestimmungen. Nicht die NV selbst, sondern die
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NATO
NATO
Regierung bestimmt die Tagesordnung beider parlament. Kanunern. Sie kann durch sog. Blockabstimmungsverfahren Änderungen des Parlaments an —• Gesetzen verhindern, die von der Regierung ins Parlament eingebracht wurden. Schließlich kann die Regierung das Parlament vor dem Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) wegen Überschreitung seiner Gesetzgebungskompetenzen verklagen. Dieselbe Befugnis gegenüber den Verordnungen der Regierung hat die NV aber nicht. Symptomatisch für das Übergewicht der —> Exekutive gegenüber der NV sind Art. 11 und 12 der Verfassung: Der Staatspräsident darf am Parlament vorbei Referenden durchführen. Daneben hat er die Befugnis, die NV aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Dieses Beziehungsgeflecht zwischen Exekutive und Legislative läßt sich kaum in die klassischen Kategorien der Verfassungslehre einordnen. Es verbindet Elemente des -> Parlamentarismus, der Präsidialdemokratie und der plebiszitären -> Demokratie zu einem ganz eigenen Verfassungssystem, das sich letztlich nur als spezifisches Produkt der frz. (Verfassungs-) Geschichte verstehen läßt (—> s.a. Parlamentsgeschichte, frz.). Lit: M. Avril: Le parlement français, in: JöR
1989, S. 109ff.; U. Hühner / V. Constantinesco: Einführung in das frz. Recht, München 31994, S. 33ff ; U. Kempf: Von de Gaulle bis Chirac, Das polit. System Frankreichs, Opladen 3 1997.
Volker Neßler NATO Der Nordatlantikvertrag (North Atlantic Treaty Organisation) vom 4.4. 1949 dient der Gewährleistung der kollektiven Sicherheit seiner Mitglieder i.S. des Selbstverteidigungsrechts nach Art. 51 der Charta der —• Vereinten Nationen. Sie stellt aber auch eine Wertegemeinschaft dar, die auf einem gemeinsamen kulturellen Erbe beruht: Freiheit der Person, Rechtsstaatlichkeit, demokrat. Regierungsform. Das ermöglichte z.B. Frankreich 1966 das Ausscheiden aus dem militärischen Teil der Allianz bei
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gleichzeitigem Verbleib im polit. Bündnis. Kern der Btlndnispflichten ist der gegenseitige Beistand im Fall des Angriffs auf ein Mitglied in Europa oder Nordamerika. Zwar entscheidet jedes Mitglied selbständig, welche Maßnahmen es zur Erfüllung dieser Verpflichtung für erforderlich hält. Die gemeinsamen Verteidigungsplanungen in der militärischen Organisation der NATO, die erstmals bereits im Frieden die Grundlagen für eine gemeinsame Koalitionsarmee unter einheitlichem Oberbefehl für den Bündnisfall bereitstellt, führt jedoch zu weitgehenden faktischen Bindungen der Mitglieder. Das höchste Organ der NATO stellt der Nordatlantikrat dar, die einstimmig entscheidende Konferenz aller Regierungschefs oder Außen- oder Verteidigungsminister unter Vorsitz des Generalsekretärs. Militärpolit. Fragen erörtern die Vertreter der Staaten, die am integrierten Verteidigungssystem teilnehmen, im Ausschuß für Verteidigungsplanung, solche der Nuklearstrategie in der Nuklearen Planungsgruppe. Den NATO-Rat berät in militärischen Angelegenheiten der Militärausschuß, der aus den Stabschefs der Mitglieder besteht, die sich an der integrierten Verteidigung beteiligen. Gleichzeitig erteilt er den Obersten Alliierten Befehlshabern Richtlinien. Die NATO selbst besitzt keine Streitkräfte. Sie greift vielmehr auf Truppen der Mitglieder zurück, die dem NATO-Kommando in Friedenszeiten jedoch nur im geringen Umfang unterstellt sind (Eingreifverbände). Zum größeren Teil ist die Unterstellung erst für den Kriegsfall vorgesehen; dies betrifft die gesamte Kampftruppe der -> Bundeswehr. Seinen ersten Kampfeinsatz erlebte das Bündnis im Auftrag der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien (1995). Nicht zur eigentlichen Struktur der NATO gehört die Nordatlantische Versammlung, eine auf Initiative von Volksvertretern entstandene Versammlung von —> Abgeordneten der -> Parlamente der Mitglieder, die sich zum Ziel gesetzt hat, die
NATO Zusammenarbeit innerhalb des Bündnisses und dessen Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Der Keilte Krieg führte mit der zwangsweisen Übertragung des kommunistischen Gesellschaftssystems auf die osteurop. Staaten und der Blockade der Zufahrtswege nach -> Berlin 1948 in Westeuropa zu einem Gefühl der Bedrohung durch die Sowjetunion. Dem sollte die Gründung der NATO auch durch ein im Unterschied z.Z. nach dem I. Weltkrieg dauerhaftes Engagement der USA in Europa entgegenwirken. Seit der Verabschiedung des Harmel-Berichts durch den NATO-Rat 1967 hatte die NATO im Rahmen der Entspannungspolitik den Auftrag, neben der militärischen Verteidigung als Gegenspieler des Warschauer Pakts auch durch polit. Maßnahmen die Sicherheit in Europa zu gewährleisten. In der Folgezeit war insbes. der Beschluß des NATO-Rats von 1979 umstritten, der zum einen als Erwiderung auf die sowjetische Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen ein Verhandlungsangebot an die UDSSR, zum anderen die Aufstellung entsprechender Waffen in Westeuropa vorsah (NATODoppelbeschluß); da die Verhandlungen scheiterten, kam es 1983 tatsächlich zur Stationierung. Auf das Ende des Kalten Krieges mit der Auflösung des Warschauer Pakts (1991) reagierte die NATO zum einen mit der Übernahme neuer Aufgaben (Unterstützung der UN bei der Friedenssicherung, v.a. im ehemaligen Jugoslawien), zum anderen mit der Schaffung neuer Strukturen. Der NATO-Kooperationsrat soll seit 1991 den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den NATO-Mitgliedem, den Mitgliedern des ehemaligen Warschauer Pakts und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den Bereichen Sicherheit, Politik und Wirtschaft vertiefen. 1994 entstand in dessen Rahmen die Partnerschaft für den Frieden (Partnership for Peace), deren Arbeitsprogramm u.a. gemeinsame militärische Übungen vorsieht. Mit Rußland vereinbarte die NATO in der Grundakte über
Naturrecht gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit vom 27.5.1997 einen Ständigen Gemeinsamen NATO-RußlandRat. Zugleich hält die Grundakte fest, daß sie weder der NATO noch Rußland ein Vetorecht über Handlungen der jeweils anderen Seite einräumt. Dadurch wurde die Osterweiterung der NATO möglich. Die am 16.12.1997 unterzeichneten Protokolle sehen den Beitritt Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik für April 1999 vor. Lit: Β. Heidenreich (Hg.): Die Osterweiterung der NATO, Wiesbaden 1997; NATO (Hg.): NATO-Handbuch, Brüssel 1996; E. Reiter (Hg.): Europas Sicherheitspolitik im globalen Rahmen, Frankfurt/M. 1997
Johannes Siebelt Naturrecht Begriff N. ist eine rechtsphilosophische Kategorie, die das von Natur aus vorhandene, für alle Menschen geltende und für alle Zeiten gültige —• Recht bezeichnet. Den Gegensatz dazu bildet das sog. positive Recht, das vom Menschen, vom Gesetzgeber geschaffen worden ist und zeitlich begrenzt gilt. Weil es von Anfang an in der natürlichen Ordnung vorhanden sei, gehe das N. - so die N.sphilosophen - dem positiven Recht vor. Geschichte Die Wurzeln der N.slehre liegen in der Antike. Schon Heraklit (um 550-480 v. Chr.) sah in der Weltvernunft, dem Logos, die alles Geschehen beherrschende Macht. Naturrechtl. Ansätze finden sich auch bei den Sophisten. Später sah Aristoteles (384-322 v. Chr.) die Natur - und damit auch das N. - als das objektiv Gegebene und besten Zustand des Seienden an. Die Philosophie der Stoa baute die N.slehre weiter aus. Das kann nicht verwundern, denn im Zentrum ihrer Lehre standen die Allnatur, das göttliche Gesetz und die Vernunft. Das N. galt nicht mehr nur für die freien —> Bürger der Stadtstaaten, sondern für alle Menschen, unabhängig von ihrer sozialen Stellung: Jedem muß sein - natürliches Recht zugestanden werden. Die mittelalterliche, vom Christentum 601
Naturrecht geprägte Rechtsphilosophie griff den Gedanken eines objektiv, von Anfang an existierenden natürlichen Rechts wieder auf. Allerdings setzte sie an die Stelle der Natur Gott. Augustinus (354-430) und v.a. T. von Aquin (1224-1274) postulierten ein göttliches Recht, das Kraft göttlicher Schöpfung existiere und allem menschlichen Recht vorgehe. Jedes vom Menschen geschaffene -» Gesetz, das nicht mit dem göttlichen Recht übereinstimmte, war danach - so etwa T. von Aquin in seiner Summa theologica - als sog. lex corrupta grds. ungültig. Ahnliche Gedanken finden sich auch bei den Reformatoren, etwa bei der Rechtsauffassung M. Luthers (14831546). Die christl. N.slehre wirkt noch heute stark in der kath. Rechtslehre der Gegenwart nach. Als der Mensch im Zuge der Aufklärung in den Mittelpunkt des Interesses und der Erkenntnis rückte, löste sich das N. in der Neuzeit wieder von Gott. Das Werk des Niederländers H. Grotius (1583-1645) markiert den Beginn der modernen N.slehre. In seinem Hauptwerk De jure belli ac pacis (1625) geht Grotius - ganz im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen T. Hobbes (1588-1679) davon aus, daß der Mensch von Natur aus eine friedliche und vernünftig geordnete —> Gemeinschaft mit anderen Menschen brauche und suche. Deshalb zählt er zum N. alle diejenigen Regeln, die zwingende Bedingung einer solchen vernünftig geordneten Gemeinschaft sind. Die wichtigste davon ist der noch heute gültige Rechtssatz Pacta sunt servanda - Verträge müssen eingehalten werden. Damit hat Grotius auch die Methode der neuzeitlichen N.ler begründet: Man fragte nach der empirisch ermittelten Natur des Menschen und leitete daraus logisch schlußfolgernd die natürlichen Rechte und Pflichten des Menschen ab. Grotius, aber auch S. Pufendorf (1632-1694) und C. Thomasius (1655-1728), um nur die bekanntesten zu nennen, wollten auf diese Weise eine grundlegende und allgemeingültige Rechtsordnung nicht schaffen, sondern entdecken. Die N.ler sind allerdings über
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Naturrecht die Herausarbeitung weniger, sehr allgemeiner Prinzipien nicht herausgekommen. Dazu gehören etwa die Gebote, niemandem Schaden zuzufügen, Verträge zu halten, das -> Eigentum zu achten, andere als gleichberechtigt zu respektieren und die Bedürftigen zu unterstützen. Auch die -> Menschenrechte haben naturrechtl. Wurzeln. Als Mitte des 18. Jhd.s die Forderung nach Anerkennung der -» Menschenrechte aufkam, wurden sie ausdrücklich als natürliche Rechte des Menschen bezeichnet. Die N.sphilosohie beherrschte im 17. und 18. Jhd. nicht nur die Wissenschaft, sie hatte auch starke praktische Auswirkungen. Mehrere große Gesetzeskodifikationen dieser Zeit waren stark naturrechtl. geprägt: der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis (1756), das Preuß. Allgemeine Landrecht (1794), der frz. Code Civil (1804) und das Öst. Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch ( 1811). Problematik Mit diesen Gesetzbüchern hatte die N.sphilosophie allerdings ihren Zenit überschritten. Denn zu Beginn des 19. Jhd.s trat zunehmend ihre grundlegende, nicht zu überwindende Schwäche ins Blickfeld: Es existiert nicht die einheitliche Natur des Menschen, aus der sich zwingend Rechtsnormen ableiten ließen. Die Natur des Menschen ist vielfältig, uneindeutig und widersprüchlich. Das N. greift deshalb bestimmte Teile der menschlichen Natur auf und macht sie zur Grundlage von Rechtsnormen. Andere Aspekte, die ebenso zur menschlichen Natur gehören, werden dagegen ignoriert. Die Entscheidung, welcher Aspekt herangezogen wird, ist aber nur aufgrund einer vorgefaßten, wertgebundenen Einstellung zu treffen. Das N. sucht sich also aus der komplexen Wirklichkeit aufgrund einer wertenden Entscheidung diejenigen Gesichtspunkte heraus, die es für die Natur des Menschen hält. Letztlich setzt das N. deshalb den ethischen Wertmaßstab bereits voraus, den es an sich - in Form von natürlichen Rechtssätzen - erst aus der Natur ableiten will. Das absolute N. kann
Natur recht es deshalb nicht geben. Die Relativität des N.s wird illustriert durch die Tatsache, daß die Rechtswissenschaft inzwischen unterschiedliche Spielarten des N.s unterscheidet: nicht nur das aufklärerische N. des 17. und 18. Jhd.s, sondern auch ein antikes N. mit vielen Facetten, ein christl., ein marxistisches und ein islamisches N.; die damals neu aufkommende histor. Rechtsschule legte zur selben Zeit eine andere Schwäche der N.slehre offen: ihr völliges Ausblenden der histor. und gesellschaftl. Rahmenbedingungen des Rechts. Ihre Vertreter - etwa F.C. von Savigny (1779-1861) - wiesen darauf hin, daß das Recht jedes Landes von seiner Religion, Kultur, Tradition und Geschichte, möglicherweise sogar von seiner geographischen Lage und seinem Klima abhänge. Ein universales, allgemeingültiges N. könne es auch aus diesem Grund nicht geben. Diese Schwächen der N.sphilosophie förderten im 19. Jhd. das Aufkommen des Rechtspositivismus, der das N. verdrängte und bis zum Π. Weltkrieg die beherrschende Strömung in der modernen Rechtsphilosophie war. Anders als das N. sah der Rechtspositivismus das Recht in seiner Abhängigkeit von geschichtl. und sozialen Faktoren. Recht war nach seiner Auffassung das vom Menschen geschaffene, das positive Recht. Es war nicht universal und zeitlos wie das N., sondern in einer bestimmten histor. Situation erlassen, von äußeren Faktoren abhängig und nur zeitlich begrenzt gültig. Um die Jhd.wende entwickelte sich der Rechtspositivismus mehr und mehr zum reinen Gesetzespositivismus: Recht war danach alles, was im Gesetz niedergelegt war. Auf den Inhalt kam es dabei nicht mehr an, entscheidend war, daß das Gesetz in einem formell korrekten Gesetzgebungsverfahren verabschiedet worden war. Mit dieser Betonung der reinen Form des Rechts war zugleich die Abkehr vom N. überdeutlich, das noch die Wertentscheidungen und den Inhalt des Rechts in den Vordergrund gestellt hatte.
Natur recht Renaissance des N.s nach dem IL Weltkrieg Das Unrechtsregime des -» Nationalsozialismus pervertierte den Rechtsund Gesetzespositivismus vollständig, indem es offensichtliches Unrecht in Gesetzesform manifestierte. Das bekannteste Beispiel dafür sind die Nürnberger Rassegesetze. Diese Schandgesetze haben deutlich gezeigt, daß die rechtspositivistische Formel: Recht ist, was im Gesetz steht, nicht aufgeht. Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß in der Nachkriegszeit in Dtld. eine Renaissance des N.s einsetzte. Den Beginn markiert die nach dem berühmten Rechtsphilosophen G. Radbruch (1878-1949) genannte Radbruch'sche Formel: Das Gesetzesrecht hat Vorrang vor allen anderen Rechtsquellen, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur —> Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als sog. unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat. Besonders deutlich wird Radbruchs naturrechtl. Ausrichtung, wenn er extremen Unrechtsgesetzen den Rechtscharakter überhaupt abspricht. Extremes Unrecht ist für ihn kein Recht, auch dann nicht, wenn es wie bei den Nationalsozialisten - Gesetzesform hat. Die Radbruch'sche Formel prägte in der Nachkriegszeit die Rechtsprechung der dt. Gerichte, v.a. des —> Bundesgerichtshofs und des -> Bundesverfassungsgerichts. Im Lauf der Jahrzehnte verlor sie allerdings in dem Maß an Bedeutung, in dem die Anzahl der Gerichtsverfahren mit nationalsozialistischem Bezug zurückgingen. Seit der —> Deutschen Einheit erlebt die Radbruch'sche Formel - und damit das N. - eine erneute Renaissance. Bei der jurist. Aufarbeitung des SED-Unrechts greifen die Gerichte neben völkerrechtl. Überlegungen auf naturrechtl. Kategorien zurück. Besonders deutlich wird das bei den sog. Mauerschützenprozessen. In diesen Verfahren sind ehemalige DDR-Grenzsoldaten, die vor Jahren an der damaligen DDR-Grenze Flüchtlinge erschossen haben, wegen Tötungsdelikten angeklagt.
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Naturrecht Nach dem ehernen rechtsstaatl. Grundsatz Nulla poena sine lege - Keine Strafe ohne Gesetz - ist es ausgeschlossen, die Mauerschützen nach bundesdt. Recht zu verurteilen. Denn dieses Recht galt in der -> DDR nicht, als die Taten verübt wurden. Nach dem damals gültigen DDR-Recht waren die Schüsse der DDR-Grenzer allerdings gerechtfertigt. Nach Grenzzwischenfällen mit tödlichem Ausgang wurden die Schützen dementsprechend von den DDR-Behörden auch nicht strafrechtl. verfolgt, sondern im Gegenteil belobigt und ausgezeichnet. Die bundesdt. Gerichte kommen in ihren Urteilen dennoch zu einer Verurteilung der Mauerschützen unter Rückgriff auf die Radbruch'sche Formel und damit auf naturrechtl. Kategorien: Weil das DDR-Grenzregime in eklatanter Weise gegen die Menschenrechte verstoßen habe, könne das DDRRecht, insbes. das DDR-Grenzgesetz, die Schüsse nicht rechtfertigen. Der Bundesgerichtshof spricht ausdrücklich von einem offensichtlichen, unerträglichen Verstoß gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen die Menschenrechte. Die Zukunft des N.s Wegen seiner bereits genannten Schwächen - Uneindeutigkeit und Wertungsabhängigkeit - ist das N. als Grundlage einer funktionierenden Rechtsordnung ungeeignet. Die für den (Rechts)Alltag notwendige Verläßlichkeit und Rechtssicherheit können nur geschriebene Gesetze, -> Verordnungen und -> Satzungen gewährleisten. Die Mauerschützenprozesse zeigen aber, daß naturrechtl. Kategorien notwendig sind, um extreme, seltene Ausnahmesituationen rechtl. erfassen zu können. Positives Recht oder N. - dieser oft beschriebene Gegensatz führt deshalb in die Irre. Moderne Rechtsordnungen brauchen beides: geschriebene Gesetze und übergesetzliche, naturrechtl. Grundsätze. Lit: U. Eisenhardt: Dt. Rechtsgeschichte, München 2199 5; H. Hattenhauer: Europ. Rechtsgeschichte, Heidelbeg 1992; A. Kaufmann: Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegs-
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Naturschutz jahre - und was daraus geworden ist, in: M. Stolleis u.a. (Hg.), Die Bedeutung der Wörter Studien zur europ. Rechtsgeschichte, München 1991, S. lOSff.; H. Dreier: Gustav Radbruch und die Mauerschützen, in: JZ 1997, S. 42 Iff.
Volker Neßler Naturschutz / -recht Der Schutz der Natur umfaßt die Bewahrung, Pflege und Entwicklung der Pflanzen- und Tierwelt (-> Tierschutz) einschl. ihrer natürlichen Lebensgrundlagen. I.e.S. zählen N. und Landschaftspflege auf die nachhaltige (-> Nachhaltigkeit) Sicherung der Leistungsfähigkeit des Naturhaushalts, der Nutzungsfähigkeit der Naturgüter, den Erhalt der Pflanzen- und Tierwelt wie auf die Bewahrung der Vielfalt, Eigenart und Schönheit von Natur und Landschaft als bedingende Elemente menschlichen Lebens (BNatSchG i.d.F. v. 12.3.1987, BGBl. I S. 889). Das N.recht umfaßt als bedeutender Teil des —• Umweltrechts diejenigen Rechtsvorschriften, welche ausdrücklich den Schutz der Natur bezwecken. Der dem Gesetz zugrundeliegende Begriff von Natur ist keineswegs einheitlich, insofern er sowohl Wasserflächen, Böden, wildlebende Tiere und Pflanzen, Vegetation und örtliches Klima wie Naherholungsräume, Betretungsrechte und histor. Kulturlandschaften als Schutzgüter einschließt (§ 2). Die eigentlichen Gefährdungen v.a. der irreversible Verlust von Pflanzen- und Tierarten durch Flächenverbrauch, Übemutzung und Umwelteinwirkungen treten im Gesetz zurück. Auf der Grundlage örtlicher Gegebenheiten sollen die genannten Schutzziele v.a. durch die Aufstellung von Landschaftsplänen auf Landesebene oder ftlr Teile des Landes in Landesrahmenplänen unter Berücksichtigung der Raum- und Landesplanung verwirklicht werden. Vordringlicher Zweck der Landschaftspläne wird in der landschaftsgestalterischen Aufgabe gesehen, ein flächendeckendes Biotop-Verbundsystem zu errichten und zu sichern. Der —> Sachverständigenrat für Umweltfragen hält für diese zentrale
Naturschutz Aufgabe des N.es einen Gesamtflächenanteil von ca. 10% fllr erforderlich. Hierzu können Landschaftsteile als N.- und Landschaftsschutzgebiete, National- oder Natoparks oder als Naturdenkmale - hiermit werden Einzelschöpfungen der Natur bezeichnet - ausgewiesen werden. Es ist darauf hinzuweisen, daß die Frage, auf welchen rechtl. Grundlagen die Flächenausweisung - Sozialpflichtigkeit des Grundstückeigentums oder Entschädigung vollzogen werden soll, von erheblicher, wenn nicht ausschlaggebender Rolle für den Erfolg des Gebietsschutzes gilt. Z.Z. sind in der BRD ca. 5.000 N.gebiete (= 1,8% der Gesamtfläche), ca. 6.000 Landschaftsschutzgebiete (= 25% der Landesfläche) und 12 Nationalparks (= 2% der Fläche) ausgewiesen. Auf der Grundlage der „Fauna - Flora - Habitat"-Richtlinie der EU vom Mai 1992 wird unter dem Titel „Natura 2000" ein europaweites Netz von Schutzgebieten angestrebt. Unter besonderem Schutz stehen weiterhin wildlebende Tier- und Pflanzenarten. Die zum erheblichen Teil vom Aussterben bedrohten Arten sind in der Bundesartenschutzverordnung vom 18.9.1990 (BGBl. I S. 1677) aufgeführt; die Erhaltung ihrer Lebensräume ist auch hier vorrangiger Schutzzweck. Besondere Bedeutung haben diejenigen Bestimmungen, welche die Ein- und Ausfuhr von geschützten Arten zum Gegenstand haben. Zunächst im sog. Washingtoner Artenschutzabkommen ihm trat die BRD 1975 (BGBl. Π S. 773) bei - geregelt, wurde dieses Abkommen in das europäische Gemeinschaftsrecht übernommen (EG-VO Nr. 3626/82). Ebenfalls von großer Bedeutung ist die aus dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) stammende Biodiversitäts-Konvention, die anläßlich der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 auslag und 1993 in Kraft trat. Sie wird von 3 Anliegen beherrscht: Durchführung von Inventarisierungs-Programmen als Grundlage für die Errichtung zukunftsfähiger Schutzgebiete; Konkretisierung nachhaltiger Nutzungsformen der biologischen Vielfalt;
Neokorporatismus Transfer umweit- und sozialverträglicher Technologien in die -> Entwicklungsländer. Das Bundesnaturschutzgesetz ist ein von den Bundesländern auszuführendes Rahmengesetz; die Länder haben N.- und Landschaftspflegegesetze erlassen. Alle Landesgesetze sehen vor, daß Eingriffe in die Natur in einer Reihe von Fällen der —> Umweltverträglichkeitsprüfung unterliegen (s.a. —> Bodenschutzrecht —> s.a. Bundesamt für Naturschutz). IM.: P. Fischer-Hüftle: Naturschutz - Rechtsprechung für die Praxis, Losebl., Stuttgart 1993ff; E. Gassner: Bundesnaturschutzgesetz Komm., München 1996; K. Meßerschmidt / A. Bernatzky / O. Bohn: Bundesnaturschutzrecht Losebl., Heidelberg 1977ff.
Raban Graf von Westphalen Nebeneinkünfte Es handelt sich um einen steuerrechtl. Begriff. Grds. versteht man unter den steuerpflichtigen N.n die Einkünfte, die nicht Arbeitslohn sind. Dazu gehören v.a. Einkünfte aus selbständiger Arbeit (z.B. aus Gewerbebetrieb), Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, aus Kapitalvermögen und sonstige Einkünfte (z.B. -> Renten). Nach den Vorschriften über die Veranlagung bei Bezug von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (§ 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG) sind Arbeitnehmer zur Abgabe einer Steuererklärung verpflichtet, wenn die Summe der steuerpflichtigen N. mehr als 800 DM / Jahr beträgt (-» Beamte, -> Richter und Soldaten gelten lohnsteuerrechtl. als Arbeitnehmer). Betragen die N. mehr als 800 DM, aber weniger als 1.600 DM, wird ein gleitender Freibetrag gewährt; unter den Voraussetzungen des § 3 Nr. 26 EStG sind N. bis 2.400 DM steuerfrei. Lit: R. Wank: Nebentätigkeit, Wiesbaden 1995.
H. W. Nebenklage —> Strafverfahren Neokorporatismus charakterisiert die Einbindung organisierter Interessen in den polit. Entscheidungsprozeß. Ur605
Neokorporatismus sprtinglich bezeichnete der ältere Begriff des Korporatismus in der ständestaatl. Gesellschaft (—> Stände) die Übertragung staatl. Gewalt auf gesellschaftl. Verbandsorganisationen. Über die intermediäre Funktion von -> Verbänden als Mittler zwischen gesellschaftl. Individual- und Gruppeninteressen und dem —> Staat hinaus haben sich verstärkt gesellschaftl. Sektoren herausgebildet, die aufgrund ihrer institutionellen Selbstregelungs- und -Organisationsfähigkeit nicht mehr ausschließlich durch staatl. Akteure gesteuert werden. Zunächst konzentriert auf die Interessenvertreter von Kapital und -> Arbeit, die mit ihren jeweiligen Partnern auf der polit.-administrativen Ebene Formen neokorporatistischer Entscheidungsstrukturen entwickelt haben, ist dieser Zusammenhang gesellschaftl. Selbstregelungsprozesse heute deutlich weiter zu fassen. Staatl. und gesellschaftl. Regelungsinstanzen haben eine hohe Selbstreferenz herausgebildet, dennoch ist ein hoher Grad des Zusammenwirkens in komplexen Systemen immanent. Die Ausdifferenzierung und Verselbständigung gesellschaftl. und polit. Teilsysteme führten zu einer verstärkten Vernetzung polit. Entscheidungsebenen mit den Verbänden als Vertreter gesellschaftl. Teilinteressen, indem der Staat an letztere Entscheidungsmacht aber auch Konfliktpotential abgibt und sich damit partiell entlastet. Der umfassende Vertretungsanspruch der Verbände nach innen bewirkt, daß Prozesse neokorporatistischer Politikentwicklung kompromiß- und verhandlungsorientiert verlaufen. Um eine Dominanz von Einzelinteressen zu vermeiden, erscheinen jedoch staatl. Eingriffe in die korporatistischen Entscheidungsstrukturen unabdingbar. Andernfalls könnte die effektive, demokratietheoretisch durchaus sinnvolle Ergänzung zum repräsentativen System negativ umschlagen. Beispiele für neokorporatistische Arrangements sind konzertierte Aktionen, die Mitwirkung von Verbänden im Gesetzgebungsprozeß, die Tätigkeit von -> Industrie- und Han-
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Niederlande Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern u.v.m. Lit: W. Streeck (Hg.): Staat und Verbände, Opladen 1994; R. Voigt (Hg.): Der kooperative Staat, Baden-Baden 1995. Stefan Kesselt
Nettoinlandsprodukt
Sozialprodukt
Nettosozialprodukt -> Sozialprodukt Neues Forum —• Deutsche Demokratische Republik Neuwahlen -» Wahl —> Wahlrecht NGO = Non-Gouvernemental-Organisation. NGO ist die Sammelbezeichnung für gesellschaftl. Vereinigungen, welche sich an der öffentl., vielfach staatenübergreifenden Willensbildung beteiligen, ohne dazu mit einem amtlichen Auftrag ausgewiesen zu sein, z.B. -> Greenpeace, —> Amnesty International Hg.
Nichtöffentliche Anhörung —> Anhörung NichtÖffentlichkeit der Ausschußsitzungen —> Ausschuß Nicht-Regierungs-Organisationen NGO
->
Niederlande, niederl. Parlament Nach der Verfassung von 1814 entwickelten sich die N. zu einer konstitutionellen Erbmonarchie auf demokrat.-parlament. Grundlage. Das im Februar 1983 in Kraft getretene neue GG stützt sich in wesentlichen Teilen auf diese Tradition. Die N. zählen zu den 6 Gründungsmitgliedern der -> Europäischen Gemeinschaft. -> Staatoberhaupt ist die Königin (seit 1980 Beatrix Wilhelmina Armgard), deren Machtbefugnisse faktisch äußerst gering sind. Das Parlament (Staaten-Generaal) ist als ->· Zweikammersystem ausgestaltet und übt die -> Legislative aus. Die Wahl zu den beiden Kammern erfolgt alle 4
Niedersachsen
Niederlande Jahre nach dem -> Verhältniswahlrecht. Die 75 Mitglieder der ersten Kammer werden von den 12 Provinzräten, die 150 -» Abgeordneten der zweiten Kammer dagegen direkt von der Bevölkerung gewählt. Aktives und passives -» Wahlrecht besitzen alle N.er ab dem vollendeten 18. Lj.; entscheidendes parlement. Gremium ist die zweite Kammer, alle Gesetze bedürfen aber der Zustimmung beider Kammern. Außerdem muß der von der Königin berufene Staatsrat bei allen Gesetzen gehört werden. Verfassungsänderungen erfordern die Auflösung des Parlaments und eine Zweidrittelmehrheit in den neuberufenen Kammern. Plebiszitäre Elemente kennt die Verfassung nicht. Gemäß der Tradition ist der König Teil der -> Regierung. Die Regierungsbildung ist gesetzlich nicht geregelt, faktisch obliegt sie dem König oder einem von ihm ernannten Abgeordneten („formateur"). Der König ernennt und entläßt die —» Minister. Auch ein -> Mißtrauensvotum kennt die Verfassung nicht, das Parlament kann aber mit relativer Mehrheit die Entlassung einzelner Minister veranlassen. Es besteht —> Inkompatibilität zwischen Ministeramt und Abgeordnetenmandat. Die einzelnen Abgeordneten besitzen ein unbeschränktes Gesetzesinitiativrecht. Das Parlament besitzt gegenüber der Regierung aber nur einen geringen Einfluß auf den parlement. Ablauf. Die polit. Entscheidungsfindung wird mehr im Plenum denn in den Ausschüssen gesucht. Wichtigste Fraktionen im Parlament sind
Opladen 1997, S. 321ff.
Karen Radtke
Niedersachsen 1. Geschichte / Geographie Die brit. Militärregierung bildete am 1.11.1946 mit ihrer Verordnung Nr. 55 aus den bisherigen Ländern Braunschweig, Hannover (früher preuß. Provinz), Oldenburg und Schaumburg-Lippe das Land ND innerhalb der von ihr besetzten Zone. Entscheidenden Anstoß an dieser Neugründung eines Landes gab der Oberpräsident von Hannover Kopf (SPD) mit seinem „Niedersachsenplan", der die Zustimmung des brit. Miltärgouvemeurs fand. Kopf wurde anschließend zum ersten -> Ministerpräsidenten des Landes ernannt. Ihm folgten in den letzten 50 Jahren lediglich 5 weitere als Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten: Hellwege (Dt. Partei 1955-59), Diederichs (SPD 1961-70), Kübel (SPD 1970-76), Albrecht (CDU 1976-90) und Schröder (SPD, seit 1990). Kopf selbst übernahm von 1959 bis zu seinem Tod 1961 noch einmal die Aufgaben des Regierungschefs. ND ist mit einer Gesamtfläche von knapp 47.600 qkm das zweitgrößte Bundesland, der Anteil an der Gesamtfläche Dtld.s beträgt 13,3%. An Einwohnerzahl gemessen liegt ND mit seinen 7.780 Mio. Ew. an 4. Stelle unter den Bundesländern, mit 163 Ew. pro qkm ist das Land vergleichsweise dünn besiedelt. Der Ausländeranteil an der Bevölkerung liegt bei 6%. Die regionalen Identitäten spielen in ND nach wie vor eine verhältnismäßig große Rolle, die Sozialdemokrat. Partei der Arbeit so daß sich in einzelnen Landesteilen ein (PvdA), der Christl.-Demokrat. Appell ausgeprägtes Regionalbewußtsein erhalten (CDA), die rechtsliberale Volkspartei für hat. Verwaltungstechnisch gliedert sich Freiheit und Demokratie ( W D ) und die das Land in 4 Regierungsbezirke: Braunlinks der Mitte anzusiedelnden Demokraschweig, Hannover, Lüneburg und Weserten der D'66. Erstmals seit 1971 ist die Ems. Von Anbeginn hatte ND strukturell CDA seit der Wahl 1994 nicht mehr an bedingt mit wirtschaftl. Problemen zu der Regierung beteiligt; diese stellt seither kämpfen. Der Industrialisierungsprozeß die PvdA zusammen mit der W D und begann später als in anderen Regionen D'66. Dtld.s, so daß das agrarisch geprägte Land zunächst einen tiefgreifenden StrukturLit: O.W. Gabriel /F. Brettschneider (Hg.): Die wandel zu bewältigen hatte. Die geograEU-Staaten im Vergleich, Opladen »1994; W. phische Randlage bis zur Vollendung der Ismayr (Hg.): Die polit. Systeme Westeuropas,
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Niedersachseil -> Deutschen Einheit hat die Strukturschwäche ND mitbewirkt, trotz Kompensationszahlungen durch den Bund (Ergänzungszuweisungen, ZonenrandfÖrderung). Seit Mitte der 50er Jahre entwickelte sich das Land zunehmend zu einem Industriestandort, besonders stark vertretene Industriezweige sind die Autoindustrie einschließl. der Zulieferbetriebe und die Nahrungsmittelherstellung. Trotz rückläufiger Beschäftigungszahlen im produzierenden Gewerbe und einer deutlichen Zunahme des tertiären Sektors hat der industrielle Bereich für die niedersächs. Wirtschaft weiterhin eine große Bedeutung, insbes. im Südosten des Landes mit seinen Großstädten Braunschweig, Hannover, Hildesheim, Salzgitter und Wolfsburg. Nach der polit. Vereinigung Dtld.s haben sich die finanziellen Probleme ND weiter vergrößert, u.a. bedingt durch zurückgehende Bundeszuweisungen (Wegfall des Strukturhilfeprogramms), die Neustrukturierung des —> Länderfinanzausgleichs, Ökonom. Schwierigkeiten von Großbetrieben der „alten Industrien" und die im Vergleich mit anderen westlichen Bundesländern relativ hohe —> Arbeitslosigkeit (Arbeitslosenquote 1997 mehr als 12%), die z.T. erhebliche Steuermindereinnahmen zur Folge haben. Als Finanzplatz ist ND unterrepräsentiert, immerhin ist die Landeshauptstadt Hannover als Messeveranstaltungsort sehr attraktiv. Der internationale Rang verstärkt sich durch die Ausrichtung der Weltmesse „EXPO 2000". 2. Verfassung Die im April 1951 vom —> Landtag verabschiedete „Vorläufige Niedersächs. Verfassung" wurde abgelöst von der am 19.5.1993 im Landtag abschließend beratenen „Niedersächs. Verfassung", die am 1.6. desselben Jahres in Kraft trat. Wichtige Veränderungen sind die Möglichkeiten von Volksinitiative, -> -begehren und -> -entscheid, mehr Kontrollrechte für die Landtagsopposition und die Verlängerung der —> Legislaturperiode des Landesparlaments von 4 auf 5 Jahre, die jedoch erst ab der übernächsten ->
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Niedersachsen Wahlperiode (voraussichtlich 2002) gilt. Hinzu tritt die Hervorhebung bestimmter —• Staatsziele („den natürlichen Lebensgrundlagen verpflichteter Rechtsstaat", Art. 1) und sozialer Aspekte (Recht auf Bildung, Förderung von Wissenschaft, Kunst und Kultur sowie die ausdrückliche Berufung auf die Geltung der —> Grundrechte des —» Grandgesetzes. Eine Volksinitiative benötigt die Unterstützung von 70.000 Wahlberechtigten, falls diese erreicht wird, muß sich anschließend der Landtag mit der Initiative befassen. Ein Begehren, das mit einem ausgearbeiteten, Begründungen enthaltenen Gesetzentwurf versehen sein muß, braucht die Unterstützung von 10% der Wahlberechtigten. Bei Ablehnung des Begehrens durch den Landtag oder nach Ablauf einer Frist von 6 Monaten findet ein Volksentscheid darüber statt. Ein mit Mehrheit beschlossener Entwurf tritt nur dann in Kraft, wenn mindestens 25% der Wahlberechtigten an der Abstimmung teilgenommen haben. Einer durch Volksentscheid zustande gekommenen Verfassungsänderung müssen mindestens 50% der Wahlberechtigten zugestimmt haben. 3. Regierungssystem Der niedersächs. Landtag zählt regulär (ohne —> Überhangmandate) 155 -> Abgeordnete. Nach der Verfassung hat er die Aufgaben, Gesetze, insbes. den Landeshaushalt zu beschließen, den Ministerpräsidenten zu wählen, an der Regierungsbildung mitzuwirken und die Regierung zu kontrollieren (Art. 7). Daneben nimmt er seine kommunikativen Funktionen wahr, denen in ND aufgrund der ausgeprägten regionalen Orientierung der Abgeordneten eine recht hohe Bedeutung beizumessen ist. Das Landesparlament besitzt das Selbstauflösungsrecht (—> Parlamentsauflösung), den Antrag zu seiner Auflösung müssen mindestens ein Drittel der Parlamentarier unterzeichnet haben; der Beschluß zur Selbstauflösung kommt nur bei einer Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder des Landtags zustande, wobei diese qualifizierte Mehrheit minde-
Niedersachsen stens die Mehrheit aller Abgeordneten umfassen muß. Der Landtag besitzt das Recht der —> Akteneinsicht, des Zugangs zu allen öffentl. Einrichtungen und das -> Zitierrecht. Femer besteht eine Informationspflicht der -> Landesregierung gegenüber dem Landtag bei der Vorbereitung von Gesetzen und Großprojekten sowie bei polit. Inhalten von grundsätzlicher Bedeutung auf nationaler und internationaler Ebene (Art. 25). Die neue niedersächs. Verfassung hat dem Parlament weitgehende Kontrollrechte eingeräumt und somit der zunehmenden Aushöhlung der Machtkompentenz der Landesparlamente versucht entgegenzuwirken. Ähnlich wie in anderen Landtagen hat auch im niedersächs. der Anteil der Angehörigen des -> öffentlichen Dienstes deutlich zugenommen. Die -> Richtlinien der Politik des Landes bestimmt der vom Landtag gewählte Ministerpräsident, der nur durch ein konstruktives -> Mißtrauensvotum abgelöst werden kann. Die Landesregierung verfügt im Bundesrat über 6 Stimmen. Auf europ. Ebene unterhält sie ein Verbindungsbüro bei der -> EU in Brüssel. 4. Parteiensystem Der Konzentrationsprozeß im niedersächs. —> Parteiensystem vollzog sich deutlich langsamer als in anderen dt. Bundesländern: Das am Anfang der 50er Jahre entstehende -» Vielparteiensystem wirkte noch lange nach. Erst mit der Landtagswahl 1963 hatte sich die —> CDU innerhalb der bürgert. Parteien endgültig als stärkste Kraft durchgesetzt. Auf der linken Seite des niedersächs. Parteienspektrums blieb die —• SPD ohne nennenswerten Widerpart. Von einer kurzen Phase abgesehen (1955-57) blieb die SPD bis 1976 Regierungspartei in wechselnden - * Regierungskoalitionen. In den 70er Jahren begann das Parteiensystem sich stärker zu polarisieren mit der Folge, daß spätestens ab Mitte der 80er Jahre CDU und —> FDP auf der einen, die SPD und die schon frühzeitig in ND Erfolge aufweisenden -+ Grünen auf der anderen Seite sich gegenüberstehen. Die-
Norddeutsche Ratsverfassung ser Dualismus prägt das Parteiensystem bis heute, wobei eine relative Ausgewogenheit der Wählerpotentiale beider Großparteien zu konstatieren ist. Nach 14 Jahren Regierungszeit der CDU gelang es SPD und Grünen nach der Landtagswahl 1990, gemeinsam die Regierung zu bilden. Begünstigt durch das Ausscheiden der FDP aus dem Landesparlament nach den Wahlen 1994 erreichten die Sozialdemokraten eine knappe absolute Mehrheit an Mandaten, die sie bei den Wahlen Anfang Mäiz 1998 weiter ausbauen konnte. Lit: J. Hartmann (Hg.): Handbuch der dt. Bundesländer, Frankfurt/M. 3 1997, S. 348ff.; U. Jun: Koalitionsbildung in den dt. Bundesländern, Opladen 1994.
Uwe Jun Nordamerikanische
Verfassung
Verfassung der USA NordatlantiMPakt -> NATO Nordatlantische NATO
Versammlung
—>
Norddeutsche Ratsverfassung Die norddt. R. geht auf engl. Vorstellungen zurück, die in der Besatzungszeit in der brit. Zone verwirklicht worden sind (—> NordrheinWestfalen, —> Niedersachsen). Sie ist kompetenziell monistisch (mit einer Doppelspitze) strukturiert. Der Theorie des Modells nach sind sämtliche Kompetenzen zur Stärkung der bürgerschaftlichen Partizipation resp. des demokrat. Prinzips im Rat konzentriert (Monismus), d.h. er ist rechtl. allzuständig für die Entscheidung sämtlicher Gemeindeangelegenheiten. Geleitet wird der Rat von einem aus seiner Mitte gewählten Vorsitzenden, der ehrenamtlicher (Oberbürgermeister ist. Der Gemeindedirektor (Stadtdirektor, Oberstadtdirektor) führt die Beschlüsse des Rates aus. Die Geschäfte der laufenden Verwaltung sind ihm derart übertragen, daß der Rat im einzelnen Fall ein Geschäft der laufenden Verwaltung an 609
Nordrhein-Westfalen
Norddeutscher Bund sich ziehen kann. Auch sonst dem Gemeindedirektor vom Rat übertragene Aufgaben sind rückholbar. Unentziehbare Vorbehaltsaufgabe ist die Vertretung der -> Gemeinde nach außen. Der Gemeindedirektor wird in diesem Modell ebenso wie die Beigeordneten vom Rat gewählt; sie sind in ihrer Amtsführung vom Vertrauen des Rates abhängig. Die Beigeordneten sind nicht Mitglieder des Rates. Dieses System einer Doppelspitze bei rechtl. monistischer Kompetenzstruktur haben Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen inzwischen aufgegeben. -> Bürgermeister und Gemeinderäte werden ab 1999 für 5 Jahre direkt gewählt. Der Bürgermeister ist von da an auch Ratsvorsitzender. An der rechtl. monistischen Kompetenzstruktur ändert sich allerdings nichts: Die Geschäfte der laufenden Verwaltung gelten nach wie vor nur als auf den Bürgermeister übertragen, so daß die Allzuständigkeit des Rates kraft Rückholrechts erhalten bleibt. Insofern handelt es sich nur um eine modifizierte Süddeutsche Ratsverfassung. W.L. Norddeutscher Reich
Bund
Deutsches
Nordrhein-Westfalen bevölkerungsreichstes —• Bundesland der -> Bundesrepublik Deutschland, 34.068 qkm, ca. 17 Mio. Ew.; Landeshauptstadt ist Düsseldorf. Geschichte Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches im Mai 1945 erhielt Großbritannien das nordwestliche Dtld. entsprechend der Vereinbarungen der Anti-Hitler-Koalition als Besatzungszone zugewiesen. Der Zusammenschluß des Rheinlandes und Westfalens wurde durch Großbritannien und die USA herbeigeführt, um die von der UdSSR und Frankreich geforderte Intemationalisierung des Ruhrgebietes zu verhindern. Durch Verordnung der brit. Militärregierung vom 23.8.1946 wurde das Land aus der preuß. Provinz Westfalen und der Rheinprovinz 610
(Regierungsbezirk Aachen, Köln und Düsseldorf) gebildet. Am 21.1.1947 trat das Land Lippe hinzu. Zum ersten -> Ministerpräsidenten einer -> Allparteienregierung wurde bereits am 17.8.1946 R. Amelunxen (Zentrum) ernannt. Nach den ersten —> Landtagswahlen vom 20.4.1947 wählte der -> Landtag K. Arnold (CDU) zum Ministerpräsidenten. Dieser bildete ein Koalitionskabinett aus CDU, SPD, KPD und Zentrum unter Führung der CDU. Die zentralen Aufgaben der ersten —> Leindesregierungen bestanden in der Versorgung der Bevölkerung, der Eingliederung der Vertriebenen sowie dem Wiederaufbau in Industrie, Verwaltung, Schul- und Wohnungswesen. 1949 wurde das Ruhrstatut unterzeichnet. Ebenfalls 1949 wurde NRW mit seiner erklärten Zustimmung zum -» Grundgesetz Bundesland der BRD. Am 11.7.1950 trat die —> Landesverfassung in Kraft. Mit einer Landschaftsverbandsordnung schuf die Landesregierung 1953 die -> Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe. Der bundespolit. Konflikt zwischen CDU und -» FDP in der Wahlrechtsfrage führte am 20.2.1956 über ein konstruktives -» Mißtrauensvotum zum Sturz Arnolds und zur Bildung einer SPDFDP-Regierung unter F. Steinhoff. Seit den Landtagswahlen von 1958 wurde die Regierung zeitweise von der CDU, einer CDU-FDP-Koalition, der SPD oder einer SPD-Grilnen-Koalition regiert. Die FDP scheiterte 1980 an der -> Fünf-ProzentKlausel des Landeswahlgesetzes. Die —> Grünen sind erstmals seit 1990 im Landtag vertreten. Zu den landespolit. Hauptaufgaben zählten zwischen 1957 und 1970 die Überwindimg der Strukturkrise im Bergbau, der Ausbau und die Neugründung von —» Hochschulen (1968 Reform des Volksschulwesens). Als wichtigste landespolit. Aufgaben der 80er Jahre, die bis heute fortgelten, gestalten sich die Überwindung der Stahlkrise und ihre beschäftigungspolit. Fragen (z.B. Auseinandersetzungen um den Stahlstandort Duisburg-Rheinhausen). Hauptproblem ist
Nordrhein-Westfalen die Bekämpfung der -> Arbeitslosigkeit. Daneben sind Fragen der Ausländerpolitik, des —• Umweltschutzes und die Förderung neuer Technologien in den Vordergrund getreten. Verfassung / Wappen NRW wurde 1946 aus 3 Teilen zusammengeschlossen: der preuß. Rheinprovinz, Westfalen und Lippe. Dieser Zusammenschluß hat auch im Landeswappen seinen Niederschlag gefunden. Von der preuß. Rheinprovinz wurde der silberne Wellenbalken auf grünem Grund übernommen. Dieser symbolisiert den durch die niederrheinischen Gebiete fließenden Rheinstrom. Im rechten Teil des Wappens ist als traditionelles Sinnbild von Westfalen ein in Rot springendes, silbernes Roß zu sehen. In der unteren Spitze zwischen den beiden Teilwappen ist die Wappenblume der Grafen bzw. Fürsten von Lippe abgebildet - eine fünfblättrige rote Rose auf silbernem Grund. Nach der Verfassung vom 28.6.1950 liegt die -> Exekutive bei der -> Regierung. Dem aus der Mitte des Landtages gewählten Ministerpräsidenten steht die Richtlinienkompetenz sowie die —» Ernennung der Landesminister zu. Er ist vom —• Vertrauen des -> Parlaments abhängig. Er kann allerdings nur durch ein konstruktives Mißtrauensvotum (bei gleichzeitiger Wahl eines Nachfolgers) gestürzt werden. Gesetzgebendes Organ des Landes ist der Landtag. Er besteht aus mindestens 200 -> Abgeordneten, die auf 5 Jahre gewählt werden. In die —> Gesetzgebimg des Landtags können unter bestimmten Voraussetzungen auch die —> Bürger durch -> Volksentscheid und —> Volksbegehren eingreifen. Über Verfassungsstreitigkeiten entscheidet der Verfassungsgerichtshof mit Sitz in Münster. Verwaltung NRW gliedert sich in die 5 Regierungsbezirke Düsseldorf, Köln, Münster, Detmold und Arnsberg, in 31 —• Kreise, 23 kreisfreie -> Städte und 396 -> Gemeinden. Diese Struktur besteht seit der Gebietsreform von 1975 und einer damit verbundenen konzentrierten Neu-
Nordrhein-Westfalen einteilung. Überörtliche Aufgaben des Sozialwesens, der Kultur- und Landschaftspflege, des Straßenbaus und der Kommunalwirtschaft werden durch die beiden Landschaftsverbände Rheinland (Köln) und Westfalen-Lippe (Münster) wahrgenommen. Recht Über die 3 Oberlandesgerichte (mit Sitz in Düsseldorf, Hamm, Köln) sowie die 19 -> Landgerichte und 130 Amtsgeriche wird in NRW die -> ordentliche Gerichtsbarkeit ausgeübt. Für die Ausübung der —> Verwaltungsgerichtsbarkeit stehen das Oberverwaltungsgericht in Münster und 7 Verwaltungsgerichte zur Verfügung. Darüber hinaus obliegt die Ausübung der —> Sozialgerichtsbarkeit dem Landessozialgericht in Essen und 8 Sozialgerichten, die —• Arbeitsgerichtsbarkeit den 3 Landesarbeitsgerichten (Düsseldorf, Hamm, Köln) und 30 Arbeitsgerichten sowie die —> Finanzgerichtsbarkeit den 3 Finanzgerichten in Köln, Düsseldorf und Münster. Natur / Bodenschätze NRW gliedert sich grob in 2/3 Niederungsland und 1/3 Bergund Mittelgebirgsland. Viele der Flüsse sind in den niederschlagsreichen Bergländem zur Regulierung des Wasserhaushaltes, zur Wasserversorgung der Ballungsgebiete, z.T. auch zur Energieerzeugung gestaut. Die wichtigsten Bodenschätze sind die karbonischen Steinkohlenlager des Ruhrgebietes und im Aachener Revier sowie die tertiären Braunkohlelager am Rand der Ville. Weiterhin bilden die Eisenerze des Siegerlandes und die Blei- und Zinkvorkommen im Bergischen Land die Grundlage der Industrie. Das größte abbaufähige Bleierzvorkommen Westeuropas liegt bei Mechernich in der Kommerner Bucht. Steinsalze kommen im Kreis Wesel und bei Gronau vor. Für die Eisenhütten und Zementindustrie sind umfangreiche Kalksteinvorkommen wichtig. Bevölkerung / Siedlungsstruktur Die Stammbevölkerung besteht aus Westfalen und Rheinländern. Diese wurde aber nach dem Zuzug von einer großen Zahl 611
Nordrhein-Westfalen von Ost- und Westpreußen, Schlesiern, Polen zwischen dem 19. Jhd. bis zum Ende des I. Weltkrieges stark durchmischt. Ein weiterer Zugzugsstrom von Vertriebenen und Flüchtlingen nach dem Π. Weltkrieg beeinflußte die Bevölkerungsstruktur erneut. NRW hat die höchste Bevölkerungsdichte der BRD unter den Flächenstaaten. Diese weist erhebliche räumliche Unterschiede auf. Schwerpunkt ist der Ballungsraum Rhein-Ruhr; schwach besiedelte Gebiete sind Eifel, Ostwestfalen und Sauerland. NRW ist stark verstädtert; ca. 50% der Ew. leben in den 24 Großstädten. Die wesentliche Ausprägung zur heutigen Siedlungslandschaft zu einer der größten Verkehrsballungen der Erde (ca. 10 Mio. Ew. im Dreieck Hamm-Köln-Wesel) erfolgte im Zuge der Industrialisierung seit der Mitte des 19. Jhd.s. Der Ausbau des Rheins zum Großschiffahrtsweg, der verstärkte Steinkohleabbau, der Aufbau der Schwerindustrie und der Übergang vom kleinbetrieblichen Gewerbe zur fabrikmäßigen Herstellung, gefördert durch den Bau der Eisenbahn und den Ausbau des Straßennetzes waren Gründe für die rasche Vergrößerung der Städte. Bildung Etwa 6% der Schüler besuchen -> Privatschulen. Auf Hochschulebene bestehen 16 Einrichtungen mit Universitätsrang: 8 Universitäten (einschließl. PrivatUniversität in Herdecke) und eine Techn. Hochschule in Aachen, 6 Gesamthochschulen (einschließl. 1. dt. Femuniversität in Hagen) sowie eine Sporthochschule in Köln. Überdies hinaus hat NRW eine Kunstakademie, 3 Musikhochschulen und die Folkwang-Hochschule in Essen. Weiterhin bestehen 12 Fachhochschulen sowie 3 Landesfachhochschulen. Religion Ca. 4% der Bevölkerung sind kath., ca. 35% ev., der Rest gehört sonstigen Religionen an. Die kath. Christen gehören zu den Bistümern Köln, Paderborn, Aachen, Essen und Münster, die ev. zur Ev. Kirche im Rheinland, zur Ev. Kirche von Westfalen und zur Lippischen Landeskirche.
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Nordrhein-Westfalen Erwerbsstruktur / Wirtschaft Der größte Anteil an Beschäftigten besteht im produzierenden Gewerbe. Ca. 1/3 der Erwerbsbeteiligten ist im Dienstleistungssektor beschäftigt, gefolgt von Handel und Verkehr. Den geringsten Anteil an der Beschäftigung hat die Land- und Forstwirtschaft. NRW ist überdurchschnittlich von —> Arbeitslosigkeit betroffen. Schwerpunkt ist der Wirtschaftsraum RheinRuhr. Seit der zunehmenden Absatzkrise im Steinkohlenbergbau und einigen Stahlkrisen geht die zentrale Bedeutung des Ruhrgebietes zurück. Bedeutendstes Gebiet ist nunmehr das Rheinland mit Köln und Düsseldorf als wichtigsten Städten. Etwa 45% der Gesamtfläche werden landwirtschaftl. genutzt. Auf den Bördenflächen zählen zu den wichtigsten Anbaufrüchten Weizen, Wintergerste und Zukkerrüben. Auf den sandigeren Böden, besonders im Münsterland, herrschen Roggen- und Kartoffelanbau vor. Der Freilandgemtlseanbau konzentriert sich v.a. zwischen Düsseldorf und Mönchengladbach sowie zwischen Köln und Bonn. Die Baumschulen widmen sich hauptsächlich der Anzucht von Ziergehölzen, Rosen und Forstpflanzen. Wälder bedecken große Teile der Eifel, des Sauerlandes, des Rothaargebirges und des Teutoburger Waldes. Heute vorherrschende Betriebsart ist Hochwald. Der Holzeinschlag betrifft zu ca. 2/3 Nadelholz. Der Bergbau konzentriert sich im wesentlichen auf den Abbau von Steinkohlen- und Braunkohlenvorräten. Steinkohle wird in den Förderrevieren Ruhrgebiet, Raum Aachen und Ibbenbüren unter Tage abgebaut. Die Förderung ist aufgrund der o.g. Absatzkrise rückläufig. Etwa 50% des in der BRD erzeugten elektrischen Stroms werden in NRW erzeugt. Die Energieversorgung NRW basiert auf den Vorkommen von Kohle und Braunkohle sowie auf der Verwendung von Mineralöl und Erdgas. Industrie Auf Grund der reichen Bodenschätze, der guten Verkehrslage und der im nördlichen Rheinland und im Sieger-
Nordrhein-Westfalen
Notar
land schon vor der Industrialisierung dichten Besiedlung konnte sich die Industrie entwickeln. Ballungszentren der Industrie sind v.a. das Ruhrgebiet und die Rheinachse. Daneben zählen zu den wichtigen Industriegebieten der Aachener Wirtschaftsraum, das Niederrheingebiet, das Münsterland, Ostwestfalen-Lippe, das Siegerland und das Bergische Land. Das Ruhrgebiet gehört zu den bedeutendsten Schwerindustrierevieren der Erde. Vorherrschend sind Stahlerzeugung und Steinkohlenförderung. Schwermaschinenbau, Stahlbau, Kohlechemie, Massenglasherstellung, Großbrauereien und Nichteisenmetallverhüttung ergänzen ein umgestelltes Produktionsprogramm. So sind heute die wichtigsten Industriezweige gemessen an ihrem Umsatz die chemische Indunstrie, Maschinenbau, Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Straßenfahrzeugbau, eisenschaffende Industrie sowie die elektrotechn. und elektronische Industrie. Vor allem die chemische Industrie, der Maschinen- und Fahrzeugbau, die mineralölverarbeitende Industrie sowie die Herstellung von Kunststoffen und Gummiwaren sind in den Vordergrund getreten, während die beiden früher führenden Branchen Textilindustrie und Bergbau stark an Bedeutung verloren haben. Verkehr Sowohl im Straßen- als auch im Eisenbahnverkehr verfügt NRW über eines der dichtesten Netze in Europa. Das Eisenbahnnetz ist ca. zur Hälfte elektrifiziert. Überdies verfügt NRW über ein leistungsfähiges Netz des öffentl. Personennahverkehrs. Der Rhein und das von ihm ausgehende Kanalsystem sind die Leitlinien für den starken Binnenschiffsverkehr. Duisburg besitzt den größten Binnenhafen Europas und ist nach Hamb, zweitgrößter dt. Hafen. Über die Flughäfen Düsseldorf und Köln-Bonn ist NRW auch an den internationalen Luftverkehr angeschlossen. Lit.: J. Hartmann (Hg.): Handbuch der dt Bundesländer, Bonn 31997, S. 383ff.; W. Woyke: Nordrhein-Westfalen und die EG, Opladen 1991.
Karlheinz Hösgen
Norm / -en —> Recht —> Gesetz Normenkontrolle —> Abstrakte Normenkontrolle -> Konkrete Normenkontolle —> s.a. Verfassungsbeschwerde Normung —• Technikrecht Notar Der N. ist als unabhängiger Träger eines öffentl. Amtes auf dem Gebiet der vorsorgenden Rechtspflege tätig (§ 1 BNotO). Ihm obliegt neben anderen Aufgaben insbes. die Beurkundung von Rechtsvorgängen. Aufgaben und Rechtsstellung sind in der Bundesnotarordnung (BNotO) und im Beurkundungsgesetz geregelt. N.e führen ein Amtssiegel. Der N. ist freiberuflich (kein Gewerbe —> Gewerberecht) und grds. hauptberuflich tätig. Die Ausnahme bilden einige Gerichtsbezirke, in denen —> Rechtsanwälte für die Dauer ihrer Zulassung bei einem bestimmten Gericht als N.e zur gleichzeitigen Amtsausübung neben dem Beruf des Rechtsanwalts bestellt werden (sog. Anwaltsnotare). Zum N. darf nur ein deutscher Staatsangehöriger bestellt werden, der die Befähigung zum Richteramt erlangt hat, und der nach seiner Persönlichkeit und seinen Leistungen ftlr das Amt des N.s geeignet ist (§§ 5, 6 BNotO). Die Bestellung erfolgt durch die Landesjustizverwaltung. Die Anzahl der zu bestellenden N.e richtet sich danach, wie es eine geordnete Rechtspflege erfordert. Für seine Tätigkeit erhält der N. —> Gebühren und Auslagen nach der Kostenordnung. Er hat sein —> Amt getreu seinem Eide zu verwalten und ist als unparteiischer Betreuer der Beteiligten zur Verschwiegenheit verpflichtet. Darüber hinaus trifft ihn bei Beurkundungen eine Prüfvings- und Belehrungspflicht. Grds. darf er seine Urkundstätigkeit ohne ausreichenden Grund (z.B. Unvereinbarkeit mit seinen Amtspflichten) nicht verweigern. Er muß sich innerhalb und außerhalb seines Berufs achtungs- und vertrauenswürdig verhalten. Der N. ist ver-
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Noten pflichtet, eine Berufshaftpflichtversicherung zu unterhalten. Verletzt der N. die einem anderen gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er den daraus entstandenen Schaden zu ersetzen. Die N.e unterstehen der Dienstaufsicht des Landgerichtspräsidenten, des OLG-Präsidenten und der Landesjustizverwaltung. Für gerichtliche Entscheidungen in Disziplinarsachen sind die N.senate zuständig, die beim OLG und beim —> Bundesgerichtshof errichtet sind. Die N.e eines OLGBezirks bilden eine N.kammer. Überdies existiert eine Bundesnotarkammer. Karlheinz Hösgen. Noten —• Währung Notparlament —• Gemeinsamer Ausschuß —> Notstandsgesetzgebung Notstandsgesetze -> Notstandsgesetzgebung Notstandsgesetzgebung Der Begriff bezeichnet die Bedingungen der Rechtsetzung in einer krisenhaften, womöglich die Existenz von —• Staat und -> Verfassung gefährdenden Ausnahmelage und ist streng vom -> Gesetzgebungsnotstand zu unterscheiden. Rechtsetzung in Notstandslagen erscheint verfassungsgeschichtl. durchweg in der Form der Notverordnung als Reservat der -> Exekutive, als ius eminens oder Blankovollmacht der Krone. Noch in den Krisen der —> Weimarer Republik ließ der Reichstag nicht selten exekutivische Normgebung auf der Grundlage von —> Ermächtigungsgesetzen zu (Vollmacht-Verordnung) oder duldete die Handhabung des Art. 48 Abs. 2 der RV 1919 (Diktatur-Verordnung des Reichspräsidenten). Das —> Grundgesetz dagegen verweigert der —> Bundesregierung ein unabhängiges, allein von den Erfordernissen der exzeptionellen Lage bestimmtes Notverordnungsrecht. Gesetzgebung bleibt auch im Notstand prinzipiell eine Pflichtaufgabe der —> Legislative. So obliegt es der Ei614
Notstandsverfassung genverantwortung von —• Bundestag und -> Bundesrat, für die Wirksamkeit der Gesetzgebung im Ausnahmezustand zu sorgen und insbes. ihre —> Geschäftsordnungen anzupassen; notfalls bleibt die temporale -> Verfassungsdurchbrechung. Die Notstandsverfassung trägt dem unabweisbaren Konzentrationsbedürfnis für den Verteidigungsfall in spezieller Ausformung Rechnung, nicht durch Kompetenzverlagerung auf die Exekutive, sondern durch Straffung des Verfahrens und Verdichtung der Legislativgewalt auf Bundesebene. Der —> Bund verdrängt die -> Länder aus ihren Gesetzgebungszuständigkeiten (Art. 115c Abs. 1 GG). Seine umfassende legislative Kompetenz für den Verteidigungsfall nehmen Bundestag und Bundesrat auf eine Dringlichkeitserklärung der Bundesregierung in einem beschleunigten Verfahren wahr (Art. 115d GG). Im Falle der Handlungsunfähigkeit der regulären Gesetzgebungsorgane rückt der —• Gemeinsame Ausschuß auf eigenen Beschluß (Selbstinvestitur) in die Stellung von Bundestag und Bundesrat ein (Art. 115e GG). Als Notparlament nimmt er deren Rechte einheitlich wahr, doch eignet seinen Notgesetzen gegenüber dem Recht der Normallage nur eine strikt befristete Verdrängungswirkung (Art. 115k GG). Zudem ist ihm die -> Verfassungsänderung und insbes. auch die Verfassungsdurchbrechung verwehrt (Art. 115e Abs. 2 GG). Lit: E.-W. Böckenförde: Ausnahmerecht und demokrat. Rechtsstaat, in: FS M. Hirsch, BadenBaden 1981, S. 259ff; Stern II, §§ 52ff.
Ulrich Hufeid Notstandsverfassung, deutsche bezeichnet den Anspruch der Rechtsordnung, staatl. Gewalt auch im Ausnahmezustand zu verfassen, d.h. rechtl. zu binden und rechtloser, letztlich unbeherrschbarer Machtentfaltung in der Krise (Not kennt kein Gebot) vorzubeugen. Die N. in Dtld. ist keine selbständige Ordnung, die an die Stelle des -> Grundgesetzes tritt, sondern
Notstandsverfassung dessen integraler Bestandteil, konzipiert als nachrangiges, nur teilw. modifizierendes und auf die Wiederherstellung der Normalverfassung gerichtetes Sonderrecht. Das GG unterscheidet strikt den äußeren Notstand, insbes. den Verteidigungsfall, vom inneren Notstand, namentlich der Gefahr für den Bestand oder die —> freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Lande. Auf die Bedrohung von außen reagiert die —> Verfassung stufenweise mit dem Ziel, fìlr die Verschärfung der Krise gerüstet zu sein, ohne ihrer Eskalation Vorschub zu leisten: von der Zustimmung zur Vorbereitung auf Verteidigung und -» Zivilschutz im Vorfeld einer Spannungslage (Zustimmungsfall) über den Spannungsfall - oder Bündnisfall (-> NordatlantikPakt; —> Westeuropäische Union) - bis hin zum Angriff auf das -> Bundesgebiet mit Waffengewalt (Verteidigungsfall). Im Spannungsfall entsperrt der —» Bundestag die sog. einfachen Notstandsgesetze, gerichtet auf Ernährungsvorsorge und Schutz der Bevölkerung sowie die Sicherstellung der Verteidigungsbereitschaft, insbes. in den Bereichen Produktion und Verkehr (Art. 80a GG). Im Verteidigungsfall greifen nicht nur die Vorsorge- und Sicherstellungsgesetze, sondern auch die Modifikationen des -> Verfassungsrechts gem. Art. 115a ff GG. Sie führen zur Unitarisierung auf Zeit. Die -> Länder verlieren ihre Gesetzgebungskompetenzen (—> Notstandsgesetzgebung), v.a. aber wächst der —> Bundesregierung die Weisungsgewalt über die Länderverwaltungen zu. Im inneren Notstand ermöglicht das GG die Konzentration der —> Polizei. Zwar bleibt es im Grundsatz bei der Zuständigkeit der Länder zur polizeilichen Gefahrenabwehr. Doch vermag die Bundesregierung die Landesregierungen zur länderübergreifenden -» Amtshilfe anzuweisen, notfalls auch Bundesgrenzschutz und -» Bundeswehr einzusetzen, um räumlich ausgreifende Gefährdungen durch Naturkatastrophen oder Unglücksfälle wirksam zu bekämpfen (Art. 35
OAS Abs. 2 und 3 GG). Auch im innenpolit. Notstand erlaubt das GG nach dem Prinzip effektiver Gefahrenabwehr die Intensivierung der Bundesintervention (Art. 91 GG); im äußersten Fall einer existenziellen Bedrohung von —> Staat und Verfassung läßt es, wenn alle polizeilichen Mittel erschöpft sind, als ultima ratio den Einsatz der Bundeswehr zur Bekämpfung militärisch bewaffneter Aufständischer zu (Art. 87a Abs. 4 GG). Lit.: HdbStR VII, S. 387ff.; R. Mußgnug: Notstandsverfassung in Ost und West - Die Rechtslage im Bereich des GG, in: Recht in Ost und West, Sondemr. 1983, S. 26ff. Ulrich Hufeid
Novelle (Gesetzesnovelle) ist die Änderung oder Ergänzung eines bestehenden —> Gesetzes. Das novellierte Gesetz muß dabei in der Form geändert oder ergänzt werden, in der es selbst erlassen wurde. R. M.-T.
Novellierung —> Novelle Numerus Clausus (geschlossene Zahl) ist ein v.a. auf den Hochschulbereich bezogener Begriff, der die Beschränkung des Zugangs zu einem Studium, allgemein: zu einem Gewerbe, einem Beruf oder einer sonstigen Berufsausbildung durch die Festsetzung einer bestimmten Zahl von zuzulassenden Bewerbern bezeichnet. Grds. Verstößt der NC gegen die —> Berufsfreiheit (—• s.a. Hochschule). Hg-
NVA = Nationale Volksarmee -> Deutsche Demokratische Republik
O A S Die Organization of American States, die als loser Zusammenschluß schon seit 1889/90 existiert, wurde durch die Bogotá Charter vom 30.4.1948 als internationale gouvernementale Regionalorganisation mit Sitz in Washington, 615
Oberbergamt D.C. (USA) gegründet. Die Mitgliedschaft in der OAS steht allen unabhängigen amerik. Staaten offen. Die Mitgliedschaft Kubas in der OAS ist seit 1962 suspendiert; im übrigen gehören inzwischen sämtliche amerik. Staaten der OAS an. Oberstes Organ der OAS ist die Generalversammlung. Ständiges Organ der OAS ist das Generalsekretariat. Weitere Organe sind u.a. das Konsultationstreffen der Außenminister sowie das Interamerik. Jurist. Komitee und die Interamerik. Menschenrechtskommission. Letztere und der Interamerik. Gerichtshof für Menschenrechte bilden die - am Modell der —> Europäischen Menschenrechtskonvention orientierten - Organe der Amerik. Menschenrechtskonvention aus 1969. Die Mitglieder der OAS verpflichten sich zum Schutz der -> Region und zur gegenseitigen Hilfeleistung - auch bei indirekten Angriffen durch von außen gesteuerte Anzettelung innerstaatl. Unruhen. Die Aufgaben der OAS-sind aber nicht auf Verteidigungsfragen beschränkt; vielmehr wirkt die OAS auch ein der Harmonisierung des Rechtswesens innerhalb der Region mit. Sie hat ferner das Zustandekommen von Wirtschaftszusammenschlüssen in Lateinamerika gefördert. Die OAS ist eine Regionalorganisation, die vom Sicherheitsrat der -> Vereinten Nationen gem. Art. 53 zu militärischen Zwangsmaßnahmen herangezogen werden kann. Einen jüngsten Fall der Zusammenarbeit zwischen UNO und OAS stellen die abgestimmten Wirtschaftssanktionen und Militäroperationen dar, die zur Rückkehr von Präsident Aristide nach Haiti am 15.10.1994 führten. Lit: F.V. Garcia-Amador: Organization of American States (nebst Addendum 1996 v. C. Benedit), in: R. Bernhardt (Hg.), Encyclopedia of Public International Law, Amsterdam 1997, S. 8 lOff.; O.C. Stoetzer: The Organization of American States, Westport 2 1993. Jörg Ukrow
Oberbergamt —> Bergrecht
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Oberhaus Oberbürgermeister —• Bürgermeister -> Stadt Oberfinanzdirektion -> Finanzverwaltung Oberfinanzkasse —> Finanzverwaltung Oberhaus, britisches Verfassungsrechtl. ist das O. (House of Lords) Teil des souveränen brit. —> Parlaments (-» Verfassung, britische). Seit etwa 1340 spricht man im brit. Sprachgebrauch von Commons und Lords, wobei die Lords aus den Vertretern des höheren Klerus und Adels bestanden. Auch heute werden die Mitglieder des O.es nicht demokrat. gewählt. Zu seinen rd. 1200 Mitgliedern gehörten 1997 - neben 4 Mitgliedern der königlichen Familie (jedoch nicht die Königin) und etwa 700 Erbaristokraten - die Erzbischöfe und Bischöfe der Anglikanischen Kirche sowie die höchsten- Richter des Landes, die Law Lords. 1958 wurde durch Gesetz die Ernennung zum Mitglied auf Lebenszeit (Life Peer) möglich. Bis dahin waren die Adelstitel und O.sitze fast aller ernannten Peers (hereditary peers of first creation) erblich. Ausnahmen bildeten nur die obersten Richter (Law Lords) und die Bischöfe der Anglikanischen Staatskirche (Lords Spiritual). Ferner wurde Adeligen im Rahmen einer weiteren Reform 1963 die Möglichkeit gegeben, nach Verzicht auf ihre Adelstitel im —> Unterhaus zu sitzen. Rd. 1/3 der Lords sind gegenwärtig vom Monarchen auf Vorschlag des Premierministers ernannte Life Peers. 1983 wurde schließlich die Möglichkeit geschaffen, wieder erbliche Peers-Würden zu verleihen; dies geschieht aber nur in Ausnahmefällen. Parteipolitisch stehen die Mehrzahl der Lords der -» Conservative Party nahe. Die zweitgrößte Gruppe mit knapp einem Drittel der Lords, die überhaupt polit, einzuordnen sind, sind die parteipolitisch Unabhängigen, die sog. Cross Benchers. Mindestens 2 (Law Lords), gewöhnlich aber bis zu 4 Lords der Regierungspartei
Obstruktion
Oberhaus sind Minister im Kabinettsrang. Darüber hinaus fungieren i.d.R. bis zu 15 Mitglieder des O.es als „Junior Ministers" und etwa ein halbes Dutzend als —> Whips. Dadurch wird u.a. die Präsenz und -> Verantwortlichkeit der —> Regierung im O. sichergestellt. Eine Besonderheit des O.es ist, daß es nicht nur Exekutiv- und Legislativgewalt hat; zugleich gehörem ihm die höchsten Richter des Landes als Spitzen der Judikative an. Durch die Parliament Acts von 1911 und 1949 wurde das brit. O. wegen seines undemokrat. Rekrutierungsmodus weitgehend entmachtet und verfügt heute nur noch über ein eingeschränktes aufschiebendes —> Vetorecht bei allen Gesetzentwürfen außer Finanzgesetzen. Bei letzteren hat das O. keinerlei Einspruchsrechte mehr. Bei ersteren kann das O. die Verabschiedung eines Gesetzentwurfs für eine Parlamentssession verzögern. Wird der Gesetzentwurf in der folgenden -> Session erneut im Unterhaus verabschiedet, erlangt er auch ohne Zustimmung es O.es Gesetzeskraft. Die Bedeutung des aufschiebenden Vetos des O.es liegt v.a. darin, daß die ohnehin unter hohem Zeitdruck arbeitende Regierung zu Zugeständnissen gezwungen werden kann, um ein aufschiebendes Veto der Lords und damit einen weiteren Verzug im überfrachteten legislativen Zeitplan zu verhindern. Teilw. bringt die Regierung im 2. Durchgang des Gesetzgebungsprozesses selbst noch einmal Änderungsanträge ein, für die bei den Beratungen im Unterhaus keine Zeit mehr war. Auch werden Gesetze, die zwischen Regierung und -> Opposition nicht umstritten sind, oft zuerst im O. eingebracht, um das Unterhaus zu entlasten. Schließlich kann der oft erhebliche Sachverstand vieler Life Peers in der Ausschußphase für die Feinarbeit an Gesetzen genutzt werden. Seit Ende der 60er Jahre veränderte sich der Charakter des O.es entscheidend. Durch die seit 1958 mögliche Verleihung nicht vererbbarer Mitgliedschaft auf Lebenszeit an verdiente Persönlichkeiten des
ößentl. Lebens, der Kunst und der Wissenschaft entwickelte sich das O. zu einer —> Kammer, in der große Sachkompetenz gebündelt ist. Dadurch wurde die Parlament. Arbeit im O. außerordentlich belebt. Dennoch wurde seit Beginn des 20. Jhd.s die demokrat. - » Legitimität des nicht demokrat. gewählten O.es immer wieder in Zweifel gezogen. Reformversuche der Labour-Regierungen während der 60er Jahre schlugen allerdings fehl. Die 1997 gewählte Labour-Regierung unter Premierminister Tony Blair (—> Labour Party) plant, zunächst den erblichen Mitgliedern des O.es das Stimmrecht zu entziehen (-> s.a. Zweikammersystem). Lit: D. Shell: The House of Lords, Oxford 1988; ders. / D. Beamish (Hg.): The House of Lords at Work, Oxford 1993.
Thomas Saalfeld Oberkommando —> Bundeswehr Oberkreisdirektor
Kreis
Oberlandesgericht —> Rechtsprechende Gewalt Oberpostdirektion -> Deutsche Post AG Oberstadtdirektor - » Stadt Oberste Bundesbehörde -> Behörde —> Verwaltung Oberste Dienstbehörde —> Behörde Oberste Gerichtshof —> Rechtsprechende Gewalt Oberste Landesbehörde —> Behörde Oberster Finanzhof - » Finanzgerichte Observanz —• Parlamentsrecht Obstruktion Unter O. wird eine radikale Form der —> Opposition verstanden, ein gezielter Widerstand, mit dem unerwünschte Maßnahmen durchkreuzt wer617
OECD
Öffentliche Meinung
den sollen. I.e.S. versteht man unter O. den Versuch einer parlement. -> Minderheit, durch mißbräuchliche Ausnutzung von Minderheitenrechten den Verfahrensgang des —» Parlaments zu stören, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu beeinträchtigen und / oder Beschlüsse der Mehrheit zu be- bzw. verhindern. Als Mittel zur Verfolgung dieses Zieles werden z.B. Dauerreden (im U.S.-Senat sog. —> Filibuster), fortgesetzte Anträge auf zeitraubende Abstimmungen sowie das Herbeiführen der Beschlußunfähigkeit des Parlaments durch Auszug aus demselben eingesetzt. Es kann zwischen einer verfassungsfeindlichen, prinzipiellen O. und einer taktischen O. unterschieden werden. In den —> Geschäftsordnungen der Parlamente ist gegen O.sversuche regelmäßig Vorsorge getroffen, z.B. durch eine Beschränkung der —> Redezeit (vgl. z.B. § 35 GOBT), Sach- und Ordnungsrufe (vgl. z.B. § 36 GOBT), die Wortentziehung (vgl. z.B. § 37 GOBT) und - als schärfstes Mittel - den Ausschluß aus der Sitzung (vgl. z.B. § 38 GOBT). Lit.: D. Kellner: Parlament. Obstruktion, in: ZParl 1986, S. 423ff. J. U.
OECD Die Organization for Economic Cooperation and Development, dt. Organisation für Wirtschaftl. Zusammenarbeit und Entwicklung, ist eine internationale Organisation, die 1960 aus der Organization for European Economic Cooperation (OEEC) hervorging. Ihre Aufgabe ist die Planung, Förderung und Koordinierung der (Außenwirtschaftspolitiken ihrer Mitgliedstaaten. Im Vordergrund stehen dabei die marktwirtschaftl. und wachstumsorientierte Entwicklung der Weltwirtschaft, die Ausweitung und Liberalisierung des Welthandels sowie - in Zusammenarbeit mit dem —» IWF und der Weltbank - die Entwickungshilfe. Der OECD gehören die meisten westlichen Industriestaaten, u.a. auch die BRD, an. Sitz der Organisation ist Paris. Lit: Κ. Ipsen: Völkerrecht, München 31990, § 42
618
Rn. 3 ff. V. N.
Öffentliche Gewalt —> Staatsgewalt Öffentliche Hand -> Fiskus Öffentliche Meinung Ö.M. ist das Ergebnis des bewußten oder unbewußten Bestrebens von Individuen oder Kollektiven in einem polit. Verband, einen gemeinsamen Willen zum Ausdruck zu bringen. Insofern ist sie ein „pankulturelles" Phänomen (Noelle-Neumann), dessen Realisierung gleichwohl im Verlaufe histor.-polit. Wandlungen nicht nur unterschiedlich ausgeprägt, sondern auch unterschiedlich polit, relevant war bzw. ist. Im demokrat. System kommt Ö.M. insofern eine Schlüsselbedeutung zu, als -> Herrschaft in der -> Demokratie zustimmungsabhängig und deshalb auch begründungspflichtig ist. Histor. konnte erst mit der Herausbildung einer eigenen, zwischen -> Staat und —> Gesellschaft vermittelnden öffentl. Sphäre das Publikum im Zeitalter der Aufklärung zum Träger Ö.M. werden. Mit der „Unterordnung der Moral unter die Politik" (Kosellek) und dem Verlust der religiösen Letztbegründung von -> Politik erhält die Ö.M. einen Eigenwert für die Rechtfertigung und Begründung polit. Handelns. In allen modernen demokrat. Systemen, welcher konstitutionellen Ausprägung auch immer, findet der demokrat. Funktionsmechanismus der —> Legitimation durch Kommunikation in der Ö.M. sein konstitutionelles Regulativ. Dabei wirken auch heute noch 2 grds. unterschiedliche geistesgeschichtl. Traditionen nach. Während in der frz. Tradition mit Ö.M. stets Partizipationsideale einer —> volonté générale i.S. der Etablierung der Regierungsgewalt durch die -> Öffentlichkeit mitschwingen, gibt sich die angelsächs. „public opinion"Tradition damit zufrieden, diese zu kontrollieren. (Fraenkel) - Die Vorstellung allerdings, Demokratie beruhe auf Ö.M., sei gar Herrschaft der Ö.M., ist zumindest
Öffentliche Meinung mißverständlich. Sie verkennt, daß Ö.M. nicht automatischer Ausdruck der Wünsche und Meinungen des -> Volkes ist, daß die Zugänge zum System öffentl. Meinungsbildung nicht chancengleich verteilt sind und daß polit. Öffentlichkeit, zumal unter den Bedingungen moderner Wettbewerbs- und Mediendemokratien, das Produkt aktiver Meinungspflege ist. Dabei ist öffenliche Meinungsbildung zwingend auf ein intermediäres System der Interessenvermittlung und -repräsentation (-» Parteien, —> Verbände, Soziale Bewegungen, —> Massenmedien etc.) angewiesen. Erst durch Integration, Aggregation und Transformation von Meinungen entsteht eine kollektiv repräsentative und für die Staatswillensbildung relevante Ö.M. Begrifflich kann Ö.M. verstanden bzw. mißverstanden werden a) als veröffentlichte Meinung, b) als Spiegel aller relevanten Meinungen (Abbildtheorie), c) als herrschende Meinung i.S. der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung und d) als beherrschende Meinung etwa durch meinungsführende Medien. Keineswegs darf Ö.M. gleichgesetzt werden mit der Addition von Einzelmeinungen i.S. eines demoskopischen Meinungsbildes, wiewohl die -> Demoskopie inzwischen zum Dauerinstrument bei der Beobachtung des polit. Meinungsklimas geworden ist. Die sozialwissenschañl. Theoriebildung bietet unterschiedliche Erklärungsmodelle und Zugangsweisen für Ö.M.; das sozialpsychologische Erklärungsmodell (NoelleNeumann) versteht öffentl. Meinungsbildung als einen Prozeß sozialer Kontrolle und Ö.M. als „soziale Haut". Mit einem quasi-statistischen Wahmehmungsorgan ausgestattet und von Isolationsfurcht bestimmt registrieren Individuen und Kollektive das sie umgebende Meinungsklima. Dabei bieten sich grds. 2 Quellen der Umweltbeobachtung, direkt im unmittelbaren sozialen Kontakt und mittelbar über die Massenmedien. Ö.M. entwickelt sich danach als ein dynamischer, spiralförmiger Prozeß, der durch das tendenzi-
Öffentliche Meinung eile Verschweigen vermeintlich abweichender und das verstärkte Äußern vermeintlich vorherrschender Meinungen bestimmt wird. Das radikaldemokrat. Erklärungsmodell (Habermas) sieht in dem sog. Strukturwandel der Öffentlichkeit eine histor. Verfallsgeschichte. An die Stelle des freien Räsonnements in der aufgeklärten bürgerl. Öffentlichkeit ist die durch „demonstrative Publizität", durch professionelle Öffentlichkeitsarbeit „hergestellte" Öffentlichkeit in der modernen Massendemokratie getreten; Ö.M. als Ergebnis einer „Politik als Ritual" (Edelman), einer „Inszenierung des Scheins" (Meyer) oder einer Tendenz zur „symbolischen Politik" (Sarcinelli). Während ursprünglich die Intentionen in diesem Ansatz auf eine umfassende gesellschaftl. Selbstorganisation ausgerichtet waren, wird nun mehr und mehr unter Würdigung der unverzichtbaren Leistungen rechtsstaatl. Institutionen für das Zusammenspiel der institutionellen Willensbildung mit der spontanen, nicht-vermachteten und nicht auf Beschlußfassung programmierten Öffentlichkeit plädiert (Habermas). Das systemtheoretische Konzept von Ö.M. verzichtet auf alle Rationalitätserwartungen und Hoffhungen auf eine Revitalisierung zivilrepublikanischen Lebens. Ö.M. wird angesichts zunehmender funktionaler Differenzierung als Selektionssystem begriffen, dessen Hauptleistung in der Thematisierung besteht. Während Entscheidungsregeln die Meinungsbildung in den entscheidungsbefugten Instanzen steuern, wird die medienzentrierte öffentl. Meinungsbildung weithin von Aufmerksamkeitsregeln beeinflußt. Ö.M. ist aus systemtheoretischer Sicht ein „Kommunikationsnetz ohne Anschlußzwang" (Luhmann). Es ermöglicht die Beobachtung von Beobachtern" wie auch die Selbstbeobachtung des polit. Systems und trägt zur Ausbildung entsprechender Erwartungen bei. Das liberale Konzept von Ö.M. geht von 619
Öffentliche Meinung der nur sporadischen und punktuellen Beteiligung der Öffentlichkeit am polit. Prozeß aus. Dabei wird zwischen latenter, passiver und aktiver Öffentlichkeit (Dahrendorf) unterschieden. Nur letztere nehme regelmäßig am polit. Prozeß teil. Für die Aufrechterhaltung marktrationaler Verhältnisse im demokrat. Gemeinwesen komme es nicht auf umfassende Partizipation, sondern auf das Wechselspiel zwischen einer offenen, Vielfalt repräsentierenden, zur polit. Initiative fähigen aktiven Öffentlichkeit einerseits und einer zur Kontrolle fähigen latenten Öffentlichkeit andererseits an. Das Zusammenspiel von öffentl. Meinungsbildung und polit. Entscheidungsfindung ist in —> parlamentarischen Regierungssystemen der Gegenwart zu einem Kardinalproblem demokrat. Regierungsweise geworden. Mehr denn je ist Regieren in der parlament. —> Parteiendemokratie „government by discussion". Gefragt ist nicht nur die Fähigkeit zur medialen Präsenz, eine Voraussetzung, um überhaupt polit, sichtbar zu sein. Angesichts eines schleichenden Verlusts an hoheitlicher Handlungssouveränität und einer wachsenden Zahl Verhandlungsdemokrat. Arenen ist kommunikative Kompetenz im umfassenden Sinne gefordert. Gleichwohl bleibt das Spannungsverhältnis zwischen dem polit. Entscheidungssystem und der Ö.M., die trotz stärkerer Berücksichtigung letztlich aber doch nicht entscheiden muß. Lit.: W. V. d. Daele /F. Neidhardt (Hg.): Kommunikation und Entscheidung, Berlin 1996; R. Dahrendorf: Aktive und passive Öffentlichkeit, in: W. Langenbucher (Hg.), Polit. Kommunikation, Wien 21993, S. 42ff.; M. Edelman: Politik als Ritual, Frankfurt/M. 1976; E. Fraenkel: Dtld. und die westlichen Demokratien, Frankfurt/M. 1991 (zuerst 1964); J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied J 1995; W. Lippmann: Die öffentl. Meinung, Bochum 1990 (zuerst 1922); N. Luhmann: Geschichtl. Komplexität und öffentl. Meinung, in: ders., Soziologische Aufklärung, Opladen 21993, S. 170ff.; F. Neidhardt (Hg.): Öffentlichkeit,
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Öffentliches Recht öffentl. Meinung, soziale Bewegungen, Sonderheft 34/1994 der KZSS, Opladen 1994; E. Noelle-Neumann: Öffentl. Meinung, Frankfurt/M. 1989.
Ulrich Sarcinelli Öffentliche Verwaltung - » Verwaltung Öffentliches Recht umfaßt nach der heute vorherrschenden, von H.J. Wolff begründeten Sonderrechtstheorie (auch neuere Subjektstheorie) diejenigen - » Rechtsvorschriften, durch die ausschließlich Träger hoheitlicher Gewalt berechtigt oder verpflichtet werden können (also das Sonderrecht oder Amtsrecht des Staates, das nur bei Beteiligung des Staates als Subjekt anwendbar ist); zudem ist erforderlich, daß der Träger hoheitlicher Gewalt gerade in dieser Eigenschaft berechtigt oder verpflichtet wird (modifizierte Sonderrechtstheorie). Neben dem ö.R. steht das für jedermann geltende -> Privatrecht; beide gemeinsam bilden die gesamte Rechtsordnung. Auch der Staat kann - wie Jedermann" - von den Vorschriften des Privatrechts Gebrauch machen; im Zuge der „Privatisierung" öffentl. Aufgaben ist dies zunehmend der Fall. Die auf das röm. —• Recht zurückgehende Interessentheorie zählt zum ö.R. diejenigen Rechtsnormen, die dem öffentl. -> Interesse zu dienen bestimmt sind. Nach der im liberalen Rechtsstaatsverständnis des 19. Jhd.s wurzelnden Subordinationstheorie gehört eine Rechtsnorm zum ö.R., wenn ihr ein Verhältnis von rechtl. Überordnung (des Staates) zur Unterordnung (des Bürgers) zugrundeliegt. Den genannten und einigen weiteren, vereinzelt vertretenen Theorien gemeinsam ist, daß sie den typischen und weitestgehend unstreitigen Umfang des ö.R.s zutreffend erfassen. Zum ö.R. gehören stets —> Staats- und -> Verfassungsrecht, —> Verwaltungsrecht, -> Völkerrecht und weite Bereiche des —> Europäischen Gemeinschaftsrechts. Auch -> Strafrecht sowie das -> Zivil- und - » Strafprozeß-
Öffentlich-rechtliche Anstalt recht sind - allerdings weitgehend verselbständigte - Bereiche des ö.R.s. Dagegen lassen alle Theorien überzeugende Ergebnisse gerade für die Zweifelsfälle insbes. bei der Abgrenzung gegenüber dem Privatrecht - vermissen. Von praktischer Bedeutung ist diese Abgrenzung v.a. für den Rechtsweg zu den Verwaltungsoder ordentlichen Gerichten (§ 40 Abs. 1 S. 1 VwGO, § 13 GVG), für die Anwendbarkeit des —> Verwaltungsverfahrensgesetzes (§ 1 Abs. 1 VwVfG), für die Vollstreckung (§ 1,6—»· Verwaltungsvollstreckungsgesetz), für die Staatshaftung (Art. 34 GG) und für die Gesetzgebungskompetenz (Art. 74 Nr. 1 GG). Die Rechtsprechung behandelt Zweifelsfälle meist ohne Diskussion der Abgrenzungstheorien pragmatisch: Hausverbote werden nach dem Zweck des untersagten Besuches, Realakte (z.B. Autofahren, Äußerungen von Beamten) je nach Zielsetzung und Handlungszusammenhang dem öffentl. oder privaten Recht zugeordnet; Emissionen hoheitlich betriebener Verwaltungseinrichtungen (z.B. Sirenen, Deponien) oder Kirchen (z.B. Glockengeläut) unterliegen regelmäßig dem ö.R.. Die Zulassung zur Benutzung öffentl. Einrichtungen kann, auch wenn die Benutzung selbst privatrechtl. geregelt ist, nach der „ZweiStufen-Theorie" dem ö.R. zugerechnet werden. Lit: BVerwG in: DVB1 1994, S. 1245; BGHZ 102, 285; M. Bullinger: öffentl. und privates Recht in Geschichte und Gegenwart, in: M. Löwisch (Hg.), FS Rittner, München 1991, S. 69ff.; W. Hoffinann-Riem (Hg.): Öffentl. Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, Baden-Baden 1996; Wolff/Bachof, I, § 22 III.
Nicolai Mtiller-Bromley Öffentlich-rechtliche Anstalt -> Anstalt des öffentlichen Rechts Öffentlicher Dienst Einen allgemeingültigen Rechtsbegriff des Ö.D. gibt es nicht. Sowohl das —• Grundgesetz als auch die einfachen —• Gesetze verwenden diesen
Öffentlicher Dienst Begriff unterschiedlich. Die Abgrenzungskriterien erfolgen nicht nach der Art der Tätigkeit oder nach der normativen Ausgestaltung des Dienstverhältnisses, sondern der Begriff Ö.D. wird nach allgemeiner Auffassung formell verstanden. Entscheidend ist demnach die Zuordnung zu einer Anstellungskörperschaft. Als Ö.D. kann somit jede Beschäftigung im Dienst einer - » juristischen Person des —» öffentlichen Rechts, also des —> Bundes, eines —» Landes oder einer sonstigen —> Körperschaft (z.B. - » Gemeinde), ~> Anstalt oder —> Stiftung des öffentlichen Rechts bezeichnet werden. Nicht im Ö.D. stehen die Bediensteten privatrechtl. organisierter Unternehmen der öffentl. Hand, wie z.B. die Lufthansa AG oder die als AG oder GmbH geführten Verkehrsbetriebe und Energieversorgungseinrichtungen. Nach der genannten Definition gehören dem Ö.D. - » Beamte, —> Angestellte und Arbeiter, aber auch Berufsrichter und Berufssoldaten an. Begrenzt man das Personal des Ö.D. auf die Bediensteten der öffentl. —» Verwaltung, so gehören dem Ö.D. i.e.S. Personen an, die in einem öffentl.-rechtl. Dienst- oder Ausbildungsverhältnis stehen sowie Personen, die sich in einem privatrechtl. Arbeitsvertrags- oder Ausbildungsverhältnis befinden. Nach der amtlichen Statistik sind z.Z. als Beamte, Angestellte und Arbeiter etwa 5,7Mio. vollzeitbeschäftigt und über IMio. teilzeitbeschäftigt. Lediglich ein knappes Drittel des gesamten Personals des Ö.D. ist verbeamtet, während das Gros sich in privatrechtl. Arbeitsverhältnissen als Angestellte oder Arbeiter befindet. Das Recht der im Ö.D. Beschäftigten wird im wesentlichen durch die Verfassungen, einfache Gesetze sowie die Regeln des kollektiven und des Individualarbeitsrechts geprägt. Verfassungsbestimmungen, die in einer unmittelbaren Beziehung zum Ö.D. stehen, sind v.a. Art. 33 Abs. 2, 4 und 5 GG. Nach Art. 33 Abs. 2 GG wird jedem Deutschen Chancengleichheit hinsichtlich des Zugangs zu 621
Öffentlicher Dienst jedem öffentl. —> Amt garantiert. Das öffentl. Interesse an einer dem Leistungsprinzip verpflichteten funktionstüchtigen Verwaltung wird allein durch die Zugangs- und Auslesekriterien Eignung, Befähigung und fachliche Leistung geschützt. Verbunden damit ist die Forderung, daß niemand in ein Beamtenverhältnis berufen werden darf, der nicht die Gewähr dafür bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten. Das bedeutet nach der Rechtsprechung des —> Bundes, daß keine Umstände vorliegen dürfen, welche die Erfüllung der Pflicht zur - > Verfassungstreue durch den Beamtenbewerber zweifelhaft erscheinen lassen. Durch Art. 33 Abs. 4 und 5 GG ist das ->· Berufsbeamtentum verfassungsrechtl. garantiert. Die Väter des GG im - > Parlamentarischen Rat gingen davon aus, daß die Gesetzmäßigkeitm und parteipolit. Neutralität der Verwaltung am besten durch Berufsbeamte gesichert ist. Nach Art. 33 Abs. 4 GG ist die Ausübung hoheitsrechtl. Befugnisse als ständige Aufgabe i.d.R. Angehörigen des Ö.D. zu übertragen, die in einem öffentl.-rechtl. Dienst- und Treueverhältnis stehen. Das Recht des Ö.D. ist gem. Art. 33 Abs. 5 GG unter Berücksichtigung der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums zu regeln, womit nur das Recht der Beamten gemeint ist. Das Recht der Beamten des Bundes wird geregelt durch das BBG, die BDO und sonstige Gesetze. Die Rechtsverhältnisse der Beamten der Länder, Gemeinden, Gemeindeverbände und sonstiger der Aufsicht der Länder unterstehenden —> juristischen Personen des öffentl. Rechts regeln sich v.a. nach dem BRRG und den ergänzenden Landesbeamtengesetzen. Die jurist. Personen des öffentl. Rechts besitzen grds. die sog. - » Dienstherrenfähigkeit, d.h. sie besitzen nach § 121 BRRG das Recht, Beamte zu haben. Diese Befugnis besitzen nicht die öffentlichrechtl. Religionsgesellschaften und deren —> Verbände. Es bleibt ihnen allerdings überlassen, die Rechtsverhält-
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Öffentlicher Dienst nisse ihrer Beamten und Seelsorger entsprechend dem —> Beamtenrecht zu regeln (§ 135 BRRG). Art. 33 Abs. 4 GG läßt es zu, daß nichthoheitsrechtl. und ausnahmsweise ständige hoheitsrechtl. Befugnisse auch anderen Angehörigen des Ö.D., d.h. Angestellten und Arbeitern im Ö.D. übertragen werden können. Ihr Dienstverhältnis wird durch die Normen des BGB und des - » Arbeitsrechts sowie den speziellen Tarifverträgen für den Ö.D. bestimmt (Bundesangestelltentarifvertrag, Manteltarifvertrag für Arbeiter des Bundes und der Länder). Dem Umstand, daß die Arbeitnehmer im Ö.D. sehr oft dieselben Aufgaben der Beamten wahrnehmen, wurde v.a. durch verschiedene Anpassungen der Rechtsmaterien Rechnung getragen. So verweisen z.B. Tarifverträge ausdrücklich auf beamtenrechtl. Vorschriften. Aber auch das Amtshaftungs- und Erstattungsrecht, das - > Strafrecht oder das Personalvertretungsrecht haben durch weite Auslegungen, gemeinsame Begriffe und Vereinheitlichungen dazu beigetragen, daß Arbeitnehmer und Beamte des Ö.D. sich rechtl. und organisatorisch näher kamen. So ermöglicht das Peronalvertretungsrecht, welches im wesentlichen dem Betriebsverfassungsrecht für den Bereich der privaten —> Wirtschaft entspricht, eine einheitliche Interessenvertretung aller Beschäftigten des Ö.D.; das Recht der Beschäftigten im Ö.D. wird aber auch durch trennende Elemente geprägt. Z.B. kommt der Streik als zulässiges Arbeitskampfmittel nur für Angestellte und Arbeiter, nicht dagegen für Beamte in Betracht. In funktioneller Hinsicht obliegt dem Ö.D. die gesellschaftspolit. Pflicht, polit. Entscheidungen des - > Parlaments und der —> Regierung durchzusetzen. Ausgehend vom Prinzip der Volkssouveränität und der damit verbundenen Orientierung am —> Gemeinwohl hat der Ö.D. eine Ausgleichsfunktion. D.h. er hat einen Ausgleich der im pluralistischen Gemeinwesen vorhandenen Interessen herbeizuführen und dabei insbes. die Gruppen zu
Öffentlichkeit
Öffentlichkeit vertreten, die nicht oder nur schwach organisiert sind und sich kein Gehör verschaffen können. UL: F. Biehler: Das gesamte öffentl. Dienstrecht, Berlin 21996; H. Minz / P. Come: Recht des öffentl. Dienstes, Berlin ó1993; M. Sachs: GGKomm., München 1996; E. Schunk / H. De Clerck: Allgemeines Staatsrecht und Staatsrecht des Bundes und der. Länder, Siegburg 141993; F. Wagner: Beamtenrecht, Heidelberg31991.
Heinz Walz Öffentlichkeit Im Gegensatz zum Geheimen oder Privaten bezeichnet ö. den grds. jedem zugänglichen Bereich des gesellschaftl. und polit. Lebens, ö. als Prinzip (i.S. von Publizität, Transparenz, Zugänglichkeit etc.) und Ö. als kollektiver Akteur bzw. Ö. als System (i.S. von öffentl. Gewalt, öffentl. Hand, Medien-, Parteiöffentlichkeit, etc.) sind das Ergebnis eines histor. langen Prozesses, in dem -> Politik als ein ursprünglicher Arkanbereich zunehmend öffentl. Kontrolle unterworfen wurde. Ein „Strukturwandel" (Habermas) von Ö. ergibt sich in histor. Perspektive insofern, als die auf moderne Massenkommunikationsmittel gestützte Ö. nicht (mehr) dem Idealtypus eines Publikums (Bürgertum) von Privatleuten entspricht, die sich zum Zwecke des Räsonnierens über öffentl. Angelegenheiten treffen. Unter den Bedingungen der modernen Mediengesellschaft ist Û. nicht etwas, das entsteht, sondern etwas, das „gemacht" bzw. „hergestellt" wird. Mit Hilfe moderner Massenkommunikationsmittel werden Informationen öffentl. zugänglich. Dabei spiegelt die massenmediale Publizität nicht einfach eine vorfindliche Realität im verkleinerten Maßstab, sondern trägt erst zu einer Konstituierung von Wirklichkeit bei, die es ohne Publizität so nicht gäbe (s.a. —> Öffentliche Meinung). ö. ist kein festes Gebilde und keine institutionalisierte Dauergröße. Sie unterliegt nicht nur dem histor. Wandel, etwa von der segmentaren Ö. der Antike über die btlrgerl. ö. des Zeitalters der Aufklä-
rung bis hin zu virtuellen ö.en des modernen Medienzeitalters. Sie ist in modernen Systemen, wie andere soziale Gebilde auch, durch funktionale Differenzierung gekennzeichnet. Ö. ist segmentarisiert in Teilöffentlichkeiten - ggf. auch Gegenöffentlichkeiten - mit jeweils unterschiedlichen Funktionen: repräsentative Ö., inszenierte Ö. (Kampagnenöffentlichkeit), Protest-, Akklamationsöffentlichkeit etc.; stets geht es dabei nicht nur um das Erreichen öffentl. Aufmerksamkeit v.a. im Wege medialer Resonanz, sondern auch um die Durchsetzung von Interessen und um die Teilhabe an der —> Macht. Ö. als ein Handlungssystem existiert nicht im staats- und politikfreien Raum. Demzufolge gibt es i.d.R. auch keine transnationale Ö., abgesehen von gleichlaufenden Mobilisierungserfolgen in polit. Sondersituationen. So erweist sich die Nichtexistenz einer europ. Ö. als ein Kardinalproblem im Rahmen des Demokratiedefizits des europ. polit. Systems. Der Umfang des Ö.sgebots (z.B. gegenüber -» Parteien, —> Parlamenten etc.) ist wissenschaftl. und polit, umstritten. Dagegen gilt - demokratietheoretisch wie verfassungsrechtl. - der freie Austausch von Informationen für Meinungs- und Willensbildung im freiheitlich-demokrat. System als schlechthin konstitutiv. Die Verpflichtung zur Publizität ist insofern systemgewollt, als demokrat. Herrschaft der periodisch bestätigten Zustimmung insbes. durch Wahlen bedarf. Dieser Zustimmungsabhängigkeit entspricht die öffentl. Begründungspflicht, der demokrat. Institutionen und Akteure unterliegen. —> Regierung wie —> Opposition, Parlamente wie außerparlamentarische Bewegungen müssen Publizität suchen, Ö. herstellen, d.h. Ö.sarbeit aktiv betreiben, ö. ist eine Grundbedingung der Kontrolle von —> Herrschaft. Ein Kernproblem des -> parlamentarischen Regierungssystems stellt das Verhältnis von Parlament und Ö. dar. Dieses Verhältnis wird in hohem Maße davon beeinflußt, daß sich die Parlamente in -> Bund und -> Ländern
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Öffentlichkeit eher am Modell des -> Arbeitsparlaments als am Modell des —> Redeparlaments (z.B. Großbritannien) orientieren. Die Mitwirkung am Regierungsgeschäft, die exekutive Mitverantwortung begünstigt unbeschadet der in der -> Verfassung und in den —> Geschäftsordnungen vorgesehenen Kontrollinstrumentarien - Verhandlungsdemokrat. Miteinander und Parlament. Mitregieren. Die bisherigen Versuche verschiedener - » Parlamentsreformen, die Ö.sfunktion des Parlaments zu stärken, sei es des Parlaments insg. gegenüber der Regierung, sei es der parlament. -> Minderheit gegenüber der Mehrheit oder sei es des einzelnen —> Abgeordneten innerhalb der Institution, konnten an diesem Grundsachverhalt nur wenig ändern. Dies gilt auch für die nahezu vergeblichen Bemühungen, das Parlament zum Ort der polit. Erstinformation zu machen. Polit. Publizität wird heute mehr denn je über die Medien- und nicht über die Parlamentsöffentlichkeit hergestellt. Während das —• Plenum (Plenum als sog. Schaufenster) der Parlamente in Bund und Ländern nach den jeweiligen Geschäftsordnungen grds. öffentl. verhandelt, sind die Regelungen bzgl. der Ö. der Parlamentsausschüsse unterschiedlich. Nach wie vor tagen die —> Ausschüsse des —> Deutschen Bundestages i.d.R. nichtöffentlich. Langfristig gesehen hat allerdings die durchschnittliche Zahl der öffentl. -> Anhörungen kontinuierlich zugenommen. Im Gegensatz zum Deutschen Bundestag tagen die Ausschüsse einiger —> Landesparlamente i.d.R. öffentl.; insg. zeigt sich allerdings, daß das öffentl. Interesse an der parlament. Ausschußarbeit relativ gering ist. Im Kampf um das in der Mediengesellschaft knapper werdende Gut .Aufmerksamkeit" stehen auch die konstitutionell privilegierten und demokrat. in besonderer Weise legitimierten Parlamente unter wachsendem Druck, durch —> parlamentarische Ö.sarbeit die Verfahren und Entscheidungen des Parlaments der Medien- ebenso wie unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten nicht nur
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Öffentlich keitsa r beit transparent, sondern auch interessant zu machen. Lit: E. Fraenkel: Parlament und öffentl. Meinung, in: ders., Dtld. und die westlichen Demokratien, Frankfurt/M. I 1991 (zuerst 1964), S. 204ff.; J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 41995; F. Neidhardt (Hg.): Öffentlichkeit, öffentl. Meinung, soziale Bewegungen, KZSS Sonderheft 34/1994, Opladen 1994; U. Sarcinelli (Hg.): Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente, Baden-Baden 1994.
Ulrich Sarcinelli Öffentlichkeitsarbeit ÖA ist das Synonym für den aus der amerik. Politik und Wirtschaft der Jhd.wende stammenden Terminus Public Relations (PR). Mit diesem Ausdruck umschrieben amerik. Wirtschaftsunternehmen um 1900 ihre Strategie, gegen sie gerichtete Angriffe in der —> Öffentlichkeit durch effiziente und gezielte Pressepolitik zu neutralisieren. Die im dt. Sprachraum gebräuchlichen Begriffe der Reklame (ÖA im wirtschaftl. Bereich) und der Propaganda (ÖA im staatl. Sektor) spielen in der internationalen Diskussion keine Rolle. ÖA kann generell als Selbstdarstellung der Interessen eines Kommunikators durch Information definiert werden. Das Ziel besteht mithin in einer möglichst positiven, werbewirksamen Darstellung der Eigeninteressen eines Kommunikators in der Öffentlichkeit, unabhängig davon, ob es sich um Kommunikatoren im staatl. Bereich (z.B. -> Parlamente des —> Bundes und der -> Länder, —> Parteien, Fraktionen oder administrative Einrichtungen wie Verwaltungsbehörden) oder um Kommunikatoren im Ökonom. Sektor (z.B. Wirtschaftsuntemehmen aller Art, -> Verbände und Interessenorganisationen) handelt. Andere Definitionen für die staatl. Informationstätigkeit wie „Staatskommunikation" (H. Hill) oder „amtliche Politikvermittlung" (E. Czerwick) haben sich dagegen nicht durchsetzen können. Die ÖA der -> Staatsorgane und die von Wirtschaftsuntemehmen unterscheiden sich nicht prinzipiell; sie bedienen sich viel-
Öffentlichkeitsarbeit mehr derselben Formen; auch die Zielsetzung staatl. Infoimationstätigkeit und Ökonom. ÖA ist identisch (Optimierung der Zustimmung des Publikums durch polit. Werbung, Optimierung des Unternehmens durch Produktwerbung). Als Medien ftlr die ÖA werden alle Ausdrucksformen schriftlicher, mündlicher, graphischer, photographischer, filmischer, audiovisueller und multimedialer Techniken eingesetzt. Nach der Rezeption des Begriffs PR haben die Verbände und Organisationen, die in diesem Bereich tätig sind (z.B. Dt. Public Relations Gesellschaft - DPRG) versucht, das Element der Werbewirksamkeit aus der Begriffsbestimmung zu eliminieren, so wenn die DPRG PR bzw. ÖA als das „bewußte und legitime Bemühen um Verständnis sowie um Aufbau und Pflege von Vertrauen in der Öffentlichkeit" definiert. Zudem wird die Wechselseitigkeit der intendierten Kommunikationsprozesse postuliert, wenn ÖA als „Kommunikation,...durch sachlichen, verständlichen und überprüfbaren Informationsaustausch zu optimieren" interpretiert wird. Gemessen an der Praxis der ÖA müssen beide Aussagen als unzutreffend qualifiziert werden. 1. ÖA wird in der Kommunikationswissenschaft als einseitiger Informationsvorgang gekennzeichnet; ein Dialog mit den Adressaten würde durch ggf. kritische Einwände oder Gegenrede den erwünschten Werbeeffekt zumindest gefährden, wenn nicht grds. in Frage stellen. 2. Das primäre Ziel der ÖA mag zwar in der Schaffung bzw. Erhaltung von —» Vertrauen in der Öffentlichkeit bestehen; aber diese Zielsetzung wird durch die Absicht überlagert, im Wege der ÖA ein positives Image einer polit. - » Institution oder eines Unternehmens (Marke) zu schaffen bzw. zu stabilisieren, wobei das positive Image wiederum Rückwirkungen auf die Zustimmung der Wähler zur Politik einer bestimmten -> Regierung oder auf das Kaufverhalten des Konsumenten in Bezug auf ein bestimmtes Produkt des betreffenden Unternehmens hat bzw. haben soll.
Öffentlichkeitsarbeit ÖA bezweckt die Information eines allgemeinen Publikums auf dem direkten, unvermittelten Kommunikationsweg, ohne zwischengeschaltete Filter oder Interpretations-(Kontroll-)Mechanismen wie die -> Massenmedien; Pressearbeit zielt dagegen auf die Unterrichtung von - » Presse, —> Rundfunk und —• Femsehen, die dann ihrerseits einen bestimmten Teil des Publikums (Leser, Hörer, Zuschauer) mit entsprechend gefilterten oder selektierten Informationen versorgen. ÖA und Pressearbeit stellen insofern die wichtigsten Instrumente der Informationspolitik staatl. bzw. Ökonom. Kommunikatoren dar. Informationspolitik wird in diesem Sinn als ein unverzichtbares Führungsinstrument verstanden und genutzt. In welchem Ausmaß das Instrument der Informationspolitik ftlr die Etablierung totalitärer Regime eingesetzt werden kann, belegt die histor. Retrospektive und besonders das Beispiel des -> Nationalsozialismus 1933-1945. Mit der Machtübernahme Hitlers brach die Entwicklung des amtlichen Informationswesens in der —> Weimarer Republik abrupt ab. Durch die „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat" wurden die -> Grundrechte der —> Meinungs- und Pressefreiheit außer Kraft gesetzt. Presse und Rundfunk wurden „gleichgeschaltet" und zu Kontrollzwekken dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Leitung von J. Goebbels unterstellt. Die Presseabteilung der Reichsregierung wurde zum perfekten, staatl. gelenkten und im Dienste der nationalsozialistischen Ideologie stehenden Propagandaapparat ausgebaut. Nach Abschluß der Arbeiten des Parlamentarischen Rates und dem Inkrafttreten des -> Grundgesetzes konstituierten sich die zentralen Verfassungsorgane des neuen - » Bundesstaates BRD. In diesem Rahmen ordnete Bundeskanzler K. Adenauer im Oktober 1949 die Errichtung eines —> Presse- und Informationsamtes der -> Bundesregierung (BPA) als zentraler Informationsbehörde auf Bundesebene an.
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Öffentlichkeitsarbeit Im Verhältnis von Journalismus und ÖA, das in letzter Zeit in Fachkreisen verstärkt diskutiert wird, zeichnen sich gravierende Änderungen ab. Herrschte zunächst ein Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Sektoren der Informationspolitik aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzung vor, so ist heute eher eine Anpassung des Journalismus an die ÖA zu konstatieren. Diese Anpassung hängt wesentlich mit der Umbruchsituation des Mediensystems zusammen, die durch Kostenreduktion bei den Redaktionsetats und bei der Personalausstattung im Redaktionsbereich gekennzeichnet ist. Wissenschaftl. Untersuchungen haben einen Zusammenhang zwischen der Nutzung von Produkten der ÖA als journalistische Informationsquelle und der Personalausstattung bei Tageszeitungen aufgezeigt. Konkret heißt dies, daß der Einfluß von Informationsquellen, die auf Maßnahmen der ÖA zurückgehen, in dem Maße zunimmt, in dem das Fachpersonal in den Redaktionen verringert wird, da kritischer Journalismus ausreichend Zeit ftlr das Recherchieren und die Kontrolle von Informationen voraussetzt. Am Ende einer solchen Entwicklung steht ein sog. Verlautbarungsjoumalismus, der einer verfassungsmäßig besonders abgesicherten Kritik- und Kontrollfunktion der Massenmedien nicht mehr entsprechen würde. Die verschiedenen Kommunikatoren von ÖA-Maßnahmen würden sich in diesem Fall lediglich die höhere Glaubwürdigkeit des Mediensystems zunutze machen, um die Rezipienten mit ihren Werbebotschaften zu erreichen (-> Parlamentarische Informationsdienste - * s.a. Bundespressekonferenz). Lit.: E. Czerwick: Parlament und Politikvermittlung, in: U. Sarcinelli (Hg.), Politikvermittlung, Stuttgart 1987, S. 16 Iff.; Β. Baerns: Public Relations / Öffentlichkeitsarbeit, in: K. Koszyk / K.H. Pruys (Hg.), Handbuch der Massenkommu-
nikation, München 1981, S. 262S:,H. Hill (Hg.): Staatskommunikation, Köln 1993; H. Klatt: Öffentlichkeitsarbeit - Verfassungsauftrag oder Wahlpropaganda?, in: Gegenwartskunde 1980, S.
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Ökologie 19ff.; H. Quaritsch: Probleme der Selbstdarstellung des Staates, Tübingen 1977.
Hartmut Klatt öffentlichkeitsfunktion Bundestag
-»
Deutscher
Öko-Audit Das Ö.-A. ist ein umweltpolit. Instrument, das zur Versöhnung von Wirtschaft und -» Ökologie beitragen soll. Im Kern beinhaltet es die Einrichtung innerbetrieblicher UmweltmanagementSysteme, bei denen auf der Grundlage allgemein geltenden -> Umweltrechts konkrete Ziele für umweltgerechte Güter, Servicepraktiken, Herstellungsverfahren und Betriebsabläufe gesetzt und in einem kontinuierlichen Verbesserungsprozeß zu erreichen versucht werden. Intendiert ist eine Zertifizierung ökologisch verträglichen Wirtschaftens durch die Veröffentlichung und Registrierung einer nach sorgfältiger Prüfung durch unabhängige —> Umweltgutachter für gültig befundenen Umwelterklärung des Betriebs. Aus deren Imagegewinn und Informationsgehalt läßt sich Nutzen bei der Vermarktung von Produkten oder Dienstleistungen ziehen und ergeben sich somit Anreize zur Intensivierung ökologisch angemessener Maßgaben und Maßnahmen. Lit: J. Ganse u.a.: Öko-Audit - Umweltzertifizierung. München 1997.
B.C. Ökologie 1. Begriff Der Terminus Ö. steht für das reale Vorhandensein einer natürlichen Lebensumwelt mit vielfältigen störanfälligen und bereits gestörten Gleichgewichtsbeziehungen sowie für die spezialistische wie multiwissenschaftl. Bearbeitung ihres Zustandekommens, ihrer Entwicklung und ihrer Gefährdung einschließl. der Möglichkeiten ihrer Sanierung und Bewahrung. 2. Polit. Dimension Insofern das MenschNatur-Verhältnis gesellschaftl. geprägt ist, herrschaftlichen Charakter hat und über Eingriffe in die Ö. herrschaftsrelevante Rückwirkungen auf die Sinn-, Ordnungs-
Österreich
Offizialprinzip
und Handlungszusammenhänge des Gemeinwesens produziert, sind ökologische Probleme eine Herausforderung der polit. Gestaltung. Orientierung am Erfordernis der Wiederherstellung von Naturhaushalten und der Verhinderung weiterer Naturzerstörung ist als -> Umweltpolitik spezielle Aufgabe und - womöglich ordnungsrechtl. wirksame - Maßgabe für alle anderen Politikressorts und deren Vernetzung. 3. Staatsbärgerl. Bezüge im Parlament. Regierungssystem Die Parlament. Koordination disparater —> Interessen kann sich des ö.-Problems durch besondere Arbeitsmaximen annehmen (Primat der ö . Verträglichkeit oder - > Nachhaltigkeit aller polit. Entscheidungen und Regularien für das Zusammenleben und das Wirtschaften; z.B. —> Öko-Audit, -> Umweltverträglichkeitsprüfung). Staatsbürgerl. Engagement muß gewiß individuelle -> Verantwortung als persönliches umweltgerechtes Verhalten einschließen, jedoch auch darauf drängen, ökologische Fragen als öffentl. Angelegenheiten und im Rahmen einer Neuordnung des gesamten gesellschaftl. Mensch-Natur-Verhältnisses zu behandeln (s.a. —• Umweltverfassungsrecht, -> Umweltrecht, Umweltschutz). Lit: G. Altner u.a. (Hg.): Jahrbuch Ökologie, München 1992ff; J. Radioff (Hg.): Polit. Ökologie, Zeitschrift, München 1981ff. Bernhard Claußen Österreich, ö s t Parlament Die —> Republik Öst. ist ein demokrat.-parlament. —> Bundesstaat, dessen Verfassungsordnung auf dem Bundesverfassungsgesetz von 1920 i.d.F. von 1929 beruht. Öst. ist seit dem 1.1.1995 Mitglied der - > Europäischen Union. Das als -> Zweikammersystem gebildete Parlament besteht aus dem Nationalrat und dem Bundesrat, die gemeinsam die —> Legislative ausüben. Der Bundesrat vertritt die Interessen der Länder und besitzt grds. ein suspensives -> Vetorecht, bei Zuständigkeitsverschiebungen zu Lasten der Länder sogar ein absolutes. Die Mitglieder des Bundesrats werden von den 9 Landtagen entsandt,
ihre Zahl richtet sich nach der Bevölkerungsentwicklung. Das Schwergewicht hinsichtlich der polit. Entscheidungskompetenz liegt beim Nationalrat. Dieser besteht aus 183 -> Abgeordneten, die alle 4 Jahre nach dem —> Verhältniswahlrecht direkt vom Volk gewählt werden. Die 1993 in Kraft getretene neue Nationalwahlrechtsordnung sieht u.a. die bundesweite Einführung einer 4%-Klausel (-> Sperrklausel) vor. Das aktive —> Wahlrecht besitzen alle Staatsbürger mit Vollendung des 19., das passive mit Vollendung des 21. Lj.; der Bundespräsident wird direkt vom Volk für die Dauer von 6 Jahren gewählt. Er ernennt den —> Kanzler und auf dessen Vorschlag die Minister. Verfassungsänderungen erfordern eine Zweidrittelmehrheit im Parlament und eine —» Volksabstimmung. -> Volksbegehren, Volksabstimmung und Volksbefragung sind als plebiszitäre Elemente vorgesehen. Der Nationalrat kann durch -> Mißtrauensvotum mit relativer Mehrheit die jeweilige Regierung stürzen. Es besteht keine —> Inkompatibilität zwischen Ministeramt und Abgeordnetenmandat. Im parlament. Entscheidungsfindungsprozeß spielt die Fraktionszugehörigkeit eine wichtige Rolle. Wichtigste Fraktionen im Parlament sind die Sozialdemokrat. Partei Öst.s (SPÖ) und die Öst. Volkspartei (ÖVP), allerdings hat die rechtsgerichtete Freiheitliche Partei Öst.s (FPÖ) seit Ende der 80er Jahre deutlich an Einfluß gewonnen. Seit 1987 bilden die SPÖ und die ÖVP unter Führung der SPÖ eine Koalitionsregierung. Lit: F. Esterbauer: Das polit. System Öst.s, Graz 1995; W. Ismayr (Hg.): Die polit Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 479ff. Karen Radtke Offizialprinzip Das dt. -> Strafprozeßrecht wird vom Ö. beherrscht, d.h. die Strafverfolgung geschieht grds. von Amts wegen (ex officio), § 152 I StPO. Die Erhebung der öffentl. Klage ist daher regelmäßig dem Staat vorbehalten, der durch die —> Staatsanwaltschaft als An-
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Oktroyierte Verfassung klagebehörde verkörpert wird und der den mit der Straftat entstehenden materiellen Strafanspruch ohne Rücksicht auf den Willen des Verletzten durchsetzt. Die Ofiizialmaxime gilt allerdings nicht ohne Einschränkungen. Bei den Antragsdelikten (§§ 77ff. StGB; Gegensatz: Offizialdelikte) ist die Stellung eines Strafantrags des Verletzten Strafverfolgungsvoraussetzung. Bei den Ermächtigungsdelikten (z.B. §§ 90, 90b, 97 StGB) wird es in das Ermessen der zuständigen polit. —• Organe gestellt, ob bei Straftaten von polit. Bedeutung die Strafverfolgung überhaupt stattfinden soll. Durchbrochen wird das O. bei den Privatklagedelikten, § 374 StGB. Wenn kein öffentl. Interesse an der Strafverfolgung besteht, wird hier das Strafverfahren nicht von Amts wegen eingeleitet. Dem Verletzten ist es jedoch gestattet, den Strafanspruch im Wege der Privatklage durchzusetzen. Durch das O. unterscheidet sich der —> Strafprozeß fundamental vom -> Zivilprozeß, für den die Dispositionsmaxime gilt. Auch im röm. Recht, das die —> Popularklage sowie im germanischen Recht, das die Privatklage ausbildete, war der Grundsatz der Strafverfolgung durch den Staat noch nicht verankert. Erst mit dem Erstarken des Staatsgedankens wuchs auch ein öffentl. Interesse an der Ahndung von Straftaten (s.a. —> Rechtsprechende Gewalt). Lit: C. Roxin: Strafverfahrensrecht, München 23 1993, § 12. A.H.
Oktroyierte Verfassung —> Konstitutionalismus Ombudsmann
Bürgerbeauftragte / -r
Opportunitätsprinzip Das O. stellt es den Strafverfolgungsbehörden unter gewissen Voraussetzungen frei, ob sie eine bestimmte Straftat ahnden oder auf eine Bestrafung des Täters verzichten wollen. Im dt. -> Strafprozeßrecht ermöglicht das O. damit eine Reihe von Ausnahmerege628
Opposition 1 ungen vom -> Legalitätsprinzip (§ 152 Π, 170 I StPO), das grds. einen Verfolgungszwang von Straftaten fordert. Die Nichtverfolgung auf Grund des O.s wird in der StPO aber von konkreten Wertungs- und Beurteilungskriterien abhängig gemacht, insbes. im Bereich der Bagatelldelikte (§§ 153, 153a StPO), im Jugendstrafverfahren (§ 45 I JGG —• Jugendrecht), bei Auslandstaten (§ 153c StPO). Im —• Verwaltungsrecht bedeutet das O., daß die -> Behörde nach ihrem Ermessen handeln darf, wenn ihr dies gesetzlich eingeräumt worden ist oder für ein Gebiet eine gesetzliche Regelung gar nicht besteht. Ut: P. Baisch: Der Schutz des Opportunitätsprinzips im Ordnungswidrigkeitenrecht durch den Tatbestand der Rechtsbeugung, Tübingen 1992. A.H.
Opposition kann als anthropologische Konstante, als zutiefst in der menschlichen Natur verwurzelter "Instinkt" gefaßt werden. Gemeint sein kann mit O. auch eine Einstellung, mit der sich Personen oder Gruppen von der herrschenden Meinung oder vorherrschenden Zielen und Bestrebungen unterscheiden. Als polit. Phänomen markiert O. das Gegenüber von Macht und eine institutionalisierte Form des polit. Konflikts. Die Politikwissenschaft definiert O. im Lichte der Demokratietheorie. Danach meint O. die institutionalisierte Chance der Minderheitsauffassung, jeder Zeit zum Mehrheitswillen avancieren zu können. Nach ihrem Wirkungsbereich unterscheidet man die parlement, von der außerparlament. polit. O.; letztere wird von den im -» Parlament nicht vertretenen polit. -> Parteien, von der massenmedial veröffentlichten Meinung, von in Verbänden oder ad hoc-Gruppen (z.B. -> Bürgerinitiativen) organisierten gesellschaftl. - » Interessen und sozialen Bewegungen getragen. Die Parlament, polit. O. umfaßt dagegen sämtliche —• Fraktionen oder Parlamentsgruppen, die im polit.
Opposition Konflikt mit der parlament. Regierungsmehrheit stehen. Davon zu unterscheiden ist die sog. innere O., die sich aufgrund eines etwaigen, nicht im - » Plenum ausgetragenen, sondern in Fraktionssitzungen vorgetragenen Dissenz der Mehrheitsfraktion(en) mit Teilen der von ihr gestützten —> Regierung herstellt. Abweichend vom am Zwei-Parteiensystem orientierten engl. Verfassungsverständnis ist Parlament. O. im polit. System Dtld.s auch nicht identisch mit der jeweils größten, in der Regierung nicht vertretenen Partei. Das moderne O. sVerständnis resultiert aus einer histor. Entwicklung, die den polit. Konfliktverlauf durch das Parlament hindurchführt. Nicht mehr das Gesamtparlament steht der —> Exekutive gegenüber, diese wurde als Regierung im Parlament abhängig von der sie tragenden Parlamentsmehrheit und setzte eine Parlamentsminderheit frei, die sich entweder zur Alternativregierung formiert oder Interessen repräsentiert, die von der Regierung(-smehrheit) nicht abgedeckt werden. Der polit. Konflikt verläuft demnach durch das Parlament hindurch zwischen Regierung und parlament. Mehrheit auf der einen und der parlament. Minderheit auf der anderen Seite. Zu den wesentlichen Elementen, die histor. für die Institutionalisierung von polit. O. im Parlament kennzeichnend sind, gehören: die öffentliche Meinung und die rechtl. Normierung ihrer freien Artikulation, die Ablösung der - » Repräsentation korporierter Interessen durch eine Repräsentation, die am Individuum festmacht, die Herausbildung von verfassungsloyalen polit. Parteien und eines grundlegenden Konsens über die Geltung der Mehrheitsregel und parlament. Verfahrensweisen. Aus diesen histor. Entwicklungselementen können 2 Begriffstypen von parlament. O. abgeleitet werden, die jeweils ein eigenes Funktionsverständnis von O. verkörpern: die loyale O., sie erkennt das parlament. Mehrheitsprinzip an und verhält sich
Opposition loyal zum Verfassungsrahmen des polit. Systems und die totale O., die nicht nur den Regierungswechsel, sondern den Systemwechsel anstrebt. Je nachdem werden das Selbstverständnis und das Funktionsverständnis der parlament. O. eher durch Kooperation oder durch -> Obstruktion geprägt. Zu den Kernaufgaben der parlament. O. zählt die kritische Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik (Kritikfunktion). Diese Aufgabe ist insbes. dort bedeutsam, wo O., wie im engl. System, über keine Mittel für Gesetzesinitiativen verfügt (sieht man von den Private Member Bills ab) und deshalb auf parlament. —> Öffentlichkeit angewiesen ist. Demgegenüber relativiert sich die Bedeutung der Kritikfunktion im —> Arbeitsparlament, wo, wie im Bundestag, die O. über die entsprechende Besetzung der —» Ausschüsse an der Politikbearbeitung partizipiert und diese mitverantwortet. Mit der histor. Verlagerung des polit. Konfliktverlaufs durch das Parlament hindurch bekommt die parlament. Minderheit v.a. die Aufgabe, die Regierung zu kontrollieren. Hierzu verfügt die O. über eine Reihe von Minderheitenrechten, wie z.B. das Interpellations- oder -> Fragerecht (Art. 43 Abs. 1 GG und §§ 100-105 GOBT), das Recht, eine -» Aktuelle Stunde durchzuführen (§ 106 GOBT), eine —> Enquete-Kommission einzusetzen (§ 56 Abs. 1 S. 2 GOBT) sowie durch ad hoc-eingesetzte (z.B. —> Untersuchungsausschüsse gem. Art. 44 GG), spezielle Ständige (z.B. -> Petitionsausschuß gem. Art. 17 GG) und generell über —> Ständige Ausschüsse (z.B. durch öffentl. -> Anhörungen gem. § 70 Abs. 2 GOBT). Ihnen gemeinsam ist der Bezug zur Öffentlichkeit. O. bedarf für die Erfüllung ihrer Kritik- und Kontrollaufgaben in hohem Maße der Öffentlichkeit. Die strukturelle Verkoppelung von Parlament. O. und außerparlament. Öffentlichkeit ist histor. nicht nur in der Parlament. Institutionalisierung von polit. O. selbst angelegt. Sie entscheidet über die polit. Integrations- und Sozialisati-
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Opposition onsleistung des Parlaments auf der Grundlage seiner Öffentlichkeitsfunktion. Sie bietet der parlament. O. auch die Möglichkeit, sich als Regierungsalternative zu profilieren (Alternativfunktion). Parlament. O. hat die Aufgabe, sachliche, methodische und personelle Alternativen zur Regierung zu formulieren. Daraus zieht sie einen wesentlichen Teil ihrer polit. Identität und ihr Selbstverständnis als Medium zwischen polit.-parlament. System und —> Gesellschaft. Die zentrale Bedeutung von polit. O. für die demokrat. Verfassungsordnung steht im eigentümlichen Kontrast zu ihrer defizitären Verankerung in der Verfassung. Das —> Grundgesetz kennt den Begriff "O." nicht. Es bringt jedoch implizit die Relevanz der parlament. O. in den Prinzipien der - » freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ausdruck. So gehört zum Demokratiegebot des Art. 20 Abs. 1 GG das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung von O.; darüber hinaus trägt das GG der Entwicklung zum —> Parteienstaat dadurch Rechnung, daß es in Art. 21 GG die polit. Parteien in das Verfassungsrecht aufnimmt. Aus der sprachlichen Fassung und aus dem Zusammenhang mit Art. 20 GG (Demokratiebegriff) läßt sich folgern, daß Art. 21 Abs. 1 GG die Entscheidung für das Mehrparteiensystem enthält, das als Grundlage für O.sbildung zu werten ist. Die verfassungsrechtl. Gewährleistung der O.sbildung und -ausübung ist als Bestandteil der demokrat. Ordnung nach Art. 79 Abs. 3 GG unantastbar. Die Entwicklung der polit. (O.s-)Parteien zu Volksparteien, eine zunehmende Gouvernementalisierung der Politik sowie der Wandel der Gewaltenteilung im polit.-parlament. System erschweren die Wahrnehmung der verfassungstheoretisch und normativ der O. zugeschriebenen Funktionen in der Verfassungswirklichkeit. Das ( Volks-)Parteiensystem zeichnet sich aus durch eine (mit Wegfall des Ost-WestSystemkonflikts noch verstärkte) Entideologisierung und dadurch ermöglichte und
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Opposition weitgehend erfolgte Einebnung des polit. Konflikts zwischen Regierung(-smehrheit) und O.; hinzu kommt eine tendentielle Verlagerung der Politikformulierung und bearbeitung auf die Regierung und die —> Ministerialbürokratie. Sie führt zu einem schleichenden Funktionsverlust des Parlaments (bes. ausgeprägt auf der suprastaatl. Ebene des -> Europäischen Parlaments), der die parlament. O. teils integriert, teils paralysiert. Im modernen parlament. System stehen sich —> Exekutive und -> Legislative nicht mehr als gewaltenbalancierende Kollektivakteure gegenüber, sondern gehen in einer neuartigen Machtverschränkung auf, an der unterschiedliche Verfassungsorgane (z.B. —> Bundesrat und -> Bundesverfassungsgericht) und organisierte —> Interessen (z.B. Wirtschaftsverbände, —• Gewerkschaften, UmWeltorganisationen etc.) in föderalen, selbstverwaltungs- und korporatistischen Formen teilhaben. Mit ihnen teilt die Parlament. O. Kritik und Kontrolle der Regierungspolitik. Dies schwächt ihre tatsächliche Relevanz. Zugleich stellt aber die parlament. O. den einzigen Akteur dar, welcher der Regierung fortwährend Kritik und Kontrolle entgegensetzt. Sie tritt deshalb im gewaltenbalancierenden System an die Stelle des Gesamtparlaments. Dadurch bietet die parlament. O. zwar nicht die Gewähr, aber sie eröffnet die Chance jene parlament. Kernaufgabe zu erfüllen, die einst dem Parlament in die Wiege gelegt war: polit. Kommunikation zu stiften. Vom Gelingen einer herrschaftslegitimierenden und vemunftsichemden Kommunikation zwischen parlament.-opppositionellen und außerparlamentarisch-polit. Formen von Öffentlichkeit hängt nicht nur die praktische Bedeutung der polit. O. ab. Sie entscheidet auch über die Partizipationsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger sowie über die Innovationsfähigkeit des Parlaments und damit maßgeblich auch darüber, ob das polit. System, dem es seinen Namen gibt, eine vitale Zukunft hat: die parlament. —> Demokratie.
Ordnungswidrigkeit
Ordentliche Gerichtsbarkeit IM.: M. Grubmüller: Die Opposition im polit. Prozeß, München 1972; S. Habeland: Die verfassungsrechtl. Stellung der Opposition nach dem GG, Berlin 1995; H. Oberreuther (Hg.): Parlament. Opposition, Hamburg 1975; Schneider / Zeh, S. 1055ff.; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 508ff.
Leo Kißler Ordentliche Gerichtsbarkeit Die O.G. ist eine der in Art 95 Abs. 1 GG vorgesehenen Gerichtsbarkeiten. Sie umfaßt die —> Zivil-, die —> Strafgerichtsbarkeit (§13 GVG) und die freiwillige Gerichtsbarkeit. Daneben sind in zahlreichen Gesetzen für weitere Streitigkeiten die ordentlichen Gerichte für zuständig erklärt worden. Verfahrensgrundlage der o.G. sind insbes. die Zivilprozeßordnung (ZPO), die Strafprozeßordnung (StPO) und das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) sowie z.B. das Zwangsversteigerungsgesetz und die Konkursordnung. Die o.G. ist vierstufig, verfügt aber nur über 3 Instanzen: I. Die Amtsgerichte (einschließl. Familiengericht und Schöffengericht), 2. —> Landgerichte (letzte Instanz bei Entscheidungen der Amtsgerichte und erste Instanz bei einem Streitwert über 10.000 DM bzw. schwereren Strafsachen), 3. Oberlandesgerichte (in Beri. = Kammergerichte) und 4. der —» Bundesgerichtshof. Höchstes Gericht der o.G. des Landes Bay. ist das über dem Oberlandesgericht stehende Bay. Oberste Landesgericht. Die Bezeichnung o.G. läßt sich nur histor. erklären. Der Begriff resultiert daraus, daß früher nur die Gerichte der o.G. mit —» Richtern besetzt waren und nicht wie z.B. die -> Verwaltungsgerichte mit Beamten. Auch andere staatl. Institutionen wurden teilw. als Gericht bezeichnet. Nur die Gerichte der o.G. verfügten daher über die vollen Sicherungen der richterlichen Unabhängigkeit und nahmen gegenüber allen anderen Möglichkeiten des —> Bürgers, sein Recht zu suchen, eine herausragende Rolle ein. C. T.
Ordnungsbehörden —> Polizei Ordnungsrecht -> Ordnungswidrigkeit Ordnungsverwaltung Die O. gehört zur allgemeinen inneren —> Verwaltung und ist gegenüber der -> Polizei verselbständigt. Polizei und O. sorgen für die sog. gute Ordnung in einem Gemeinwesen, indem sie v.a. durch Abwehr von Gefahren und durch Unterbindung und Beseitigung von Störungen die öffentl. Sicherheit und Ordnung gewährleisten. Während die Polizei grds. auf vollzugspolizeiliche Aufgaben beschränkt ist, stehen für die O. fachspezifische Verwaltungsaufgaben, z.B. nach der Gewerbeordnung (—> Gewerberecht), dem Immissionsschutzgesetz (—> Immisssionsschutzrecht), dem —» Baurecht, dem Versammlungsgesetz oder dem Lebensmittelrecht im Vordergrund. Die O. ist i.d.R. auch —> Eingriffsverwaltung und somit eine auf dem Gebiete des —> öffentlichen Rechts handelnde Verwaltung (hoheitliche Verwaltung). Der Eingriff in die -> Freiheit und das —• Eigentum als die vorherrschende Art des Handelns der O. bedarf auf Grund des —> Gesetzesvorbehalts stets einer gesetzlichen Grundlage (-» s.a. Leistungsverwaltung, -> s.a. Eingriffsverwaltung). Lit : R. Schweickhardt: Allgemeines Verwaltungsrecht, Stuttgart 61991.
H. W. Ordnungswidrigkeit / -srecht Begrifflich ist eine O. eine rechtswidrige und vorwerfbare Handlung, die den Tatbestand eines -> Gesetzes verwirklicht, das die Ahndung mit einer Geldbuße (mindestens 5 DM bis zu - im Wirtschaftsrecht 1 Mio. DM und darüber hinaus) zuläßt. Die Androhung von (lediglich) Bußgeld unterscheidet die O. von einer Straftat. Im Gesetz über O.en finden sich die allgemeinen Vorschriften, die Regelungen des Bußgeldverfahrens ebenso wie eine Reihe von O.statbeständen, die u.a. Verstöße gegen staatl. Anordnungen, gegen die öffentl. Ordnung bzw. den Mißbrauch
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Organ
Organstreit
von Zeichen (Wappen etc.) ahnden. Die meisten Tatbestände für O.en sind aber in anderen Gesetzen, wie z.B. dem Straßenverkehrsgesetz, Vorschriften der Straßenverkehrsordnung bzw. -Zulassungsordnung enthalten. Für die Verfolgung von O.en ist - sofern nicht die O. mit einer Straftat konkurriert - grds. die Verwaltungsbehörde zuständig. Das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde seinerseits zerfallt in 2 Abschnitte: Vorverfahren und Erlaß des Bußgeldbescheides. Im Vorverfahren gilt - im Gegensatz zum Strafverfahren - das —> Opportunitätsprinzip. Die Verfolgungsbehörde entscheidet nach pflichtgemäßem Ermessen, ob sie ein Bußgeldverfahren einleitet. Bei geringfügigen O.en kann die Erhebung eines Verwarnungsgeldes erfolgen. Im anderen Fall findet ein Ermittlungsverfahren statt, das an die Vorschriften der Strafprozeßordnung (-> Strafprozeßrecht) angelehnt ist. Hält die Verwaltungsbehörde die O. für erwiesen, erläßt sie einen auf Geldbuße lautenden Bußgeldbescheid, gegen den binnen 2 Wochen Einspruch eingelegt werden kann. Wird kein Einspruch eingelegt, erwächst dem Bußgeldbescheid formelle und materielle Rechtskraft zu. Im Falle des Einspruchs kommt es zu einem gerichtlichen Verfahren vor dem Amtsgericht. Dieses Verfahren endet durch Beschluß, wenn der —> Richter eine Hauptverhandlung nicht für erforderlich hält, anderenfalls durch Urteil. Lit.: G. Rosenkötter: Das Recht der Ordnungswidrigkeiten, Stuttgart "1995. Ulrich
Rommelfanger
Organ ist eine auf gr. Organon (Werkzeug, Instrument, Körperteil) rückfiihrbare Bezeichnung, die regelmäßig einen Teil eines Ganzen bezeichnet, der für dieses oder in diesem wesentliche Funktionen wahrnimmt. Während der Begriff des O.s im allgemeinen Sprachgebrauch eher unspezifisch bleibt (z.B. Parteiorgan = Parteizeitung), dient der O.begriffjurist. insbes. zur Zuweisung von interner bzw. externer Zuständigkeit und —> Verant632
wortlichkeit. Wichtig ist der O.begriff i.d.S. quer durch die Rechtsordnung, wo als Rechtssubjekte Personenmehrheiten bzw. —» juristische Personen in Erscheinung treten, wie z.B. im Gesellschafts-, Vereins- und Verwaltungsrecht. Verfassungsorgane sind Inhaber verfassungsrechtl. zugewiesener Wahmehmungszuständigkeiten (die ggf. im Organstreitverfahren geltend gemacht werden können). O.haftung im -> Zivilrecht bezeichnet die Haftung jurist. Personen für ihre Handlungen (z.B. § 31 BGB für den Verein); O.haftung im —• Strafrecht meint umgekehrt die persönliche Haftung des —> Organwalters für die jurist. Person (s.a. -> Staatsorgan). Lit: Wolf/Bachof II, S. 45ff. J.M.
Organisationskompetenz des Bundeskanzlers -> Bundeskanzler Organklage -> Organstreit Organstreit ist das in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG und den §§ 13 Nr. 5, 63-67 BVerfGG geregelte Verfahren vor dem -» Bundesverfassungsgericht, mittels dessen eines der obersten Bundesorgane ( - • Bundespräsident, —> Bundestag, -> Bundesrat, -»• Bundesregierung) oder eine Teileinheit davon, soweit sie im —> Grundgesetz oder in der -» Geschäftsordnung von Bundestag oder Bundesrat mit eigenen Rechten ausgestattet ist, vom BVerfG nachprüfen lassen kann, ob es durch ein anderes dieser Organe in seinen vom GG gewährten Rechten verletzt worden ist. Als Teileinheiten des Bundestages können auch einzelne —> Abgeordnete, Ausschüsse und -> Fraktionen einen Antrag im O.verfahren stellen; —» Gruppen als informelle Teileinheiten dagegen nur, wenn sie gegenüber der Mehrheit eine Verletzung von Minderheitenrechten - z.B. das Recht eines Viertels der Abgeordneten auf Einsetzung eines —> Untersuchungsausschusses - rügen. Als in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG genannte, im (gegenüber dem GG
Organwalter
OSZE-Versammlung
niederrangigen) BVerfGG allerdings nicht erwähnte „andere Beteiligte" sind auch polit. —> Parteien wegen ihrer v.a. Art. 21 GG zu entnehmenden Einbeziehung in das Verfassungsleben im O.verfahren antragsberechtigt, soweit es um ihre verfassungsrechtl. Stellung geht. Der Antrag ist nur innerhalb von 6 Monaten zulässig, nachdem das beanstandete Verhalten dem antragstellenden —> Organ bekannt geworden ist. Kommt das BVerfG zu dem Schluß, dieses Organ sei tatsächlich in seinen ihm durch das GG übertragenen Rechten oder Pflichten verletzt, so kann es mit Rücksicht auf den hochpolit., mehrere Lösungen (z.B. Rücktritt) offen lassenden Charakter der Auseinandersetzung und im Interesse des Ansehens der beteiligten obersten Verfassungsorgane eine als verfassungswidrig erkannte Maßnahme nicht aufheben oder im Falle des Unterlassens nicht ein bestimmtes Handeln anordnen, sondern trifft nach § 67 S. 1 BVerfGG die bloße Feststellung, ob das beanstandete Verhalten gegen eine Bestimmung des GG verstößt. Wegen ihrer Bindung an die Verfassung sind die beteiligten Organe verpflichtet, in eigener Zuständigkeit das verfassungswidrige Verhalten zu korrigieren. Lit.: D. Lorenz: Der Organstreit vor dem BVerfG, in: Ch. Starck (Hg.), BVerfG und GG, Tübingen 1976, S. 225ffi; Ch. Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, München31991;
Nicolai Müller-Bromley Organwalter ist eine natürliche Person (bzw. eine Personenmehrheit, der oder die Befugnisse des -> Organs ausübt. J.M. OSZE-Versammlung Ursprünglich besaß die Vorläufereinrichtung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (-> Europäische Sicherheitskonferenz KSZE), kein Parlamentariergremium, da die 1975 die Schlußakte von Helsinki verabschiedende KSZE und ihre Folgekonferenzen der
intersystemaren Kooperation zwischen den Staaten der nördlichen Hemisphäre unter den Bedingungen des Ost-WestKonfliktes diente. Erst die nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation von den Staaten der KSZE unterzeichnete Charta von Paris für ein neues Europa (1990) sah die Einrichtung einer Parlament. Versammlung der KSZE unter Beteiligung von —> Abgeordneten aus allen Mitgliedstaaten vor. Deren erste Sitzung fand 1992 statt. Die Aufgabenstellung der Versammlung ist vage gehalten. Eine klare Funktion im Gefüge der OSZE ist ihr nicht zugewiesen. Sie befaßt sich auf ihren einmal jährlich für maximal 5 Tage in wechselnden Hauptstädten stattfindenden Treffen mit Fragen der Sicherheit, der Ökonom. Zusammenarbeit und der —> Menschenrechte. Ihre wichtigste Aufgabe, Parlamentarier aus den ehemals kommunistischen Staaten in den demokrat. —» Parlamentarismus einzuführen, kann sie daher kaum wahrnehmen. Die Versammlung hat eine eigene —> Geschäftsordnung, sie stimmt mit einfacher Mehrheit, in Ausnahmefallen mit Zweidrittelmehrheit ab. Das Komitee der Delegationspräsidenten entscheidet im Konsens, fallweise auch im Konsens minus eins. 3 Ausschüsse, jeweils zu einem der Hauptarbeitsbereiche der Versammlung eingerichtet, bereiten die Resolutionen vor. Die Versammlung versucht, ihren Einfluß durch Kontakte zu den anderen transnationalen Versammlung des euro-atlantischen Bereichs zu stärken. Bemerkenswert ist die für die transnationalen Versammlungen untypische Stärke des Delegationsprinzips in ihrer Arbeit. Dieser korrespondiert allerdings bisher auch eine hochrangige Besetzung der Delegationen aus den nationalen Parlamenten; (s.a. —> Europäische Sicherheitskonferenz). Lit: E. Barbé /Ν. Sainz: Die OSZE-Versammlung als Instrument einer neuen Friedensordnung, in: E. Kuper / U. Jun (Hg.), Nationale Interessen und integrative Politik in transnationalen Parlament. Versammlungen, Opladen 1997, S. 177ff.
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Pariser Verträge
Panaschieren Ernst Kuper
terzeichnung des Vertrages, der Zustimmung des durch die Verfassung bestimmten Gesetzgebungsorgans sowie dem Austausch der Ratifikationsurkunden voraus. K.-R.
Panaschieren Wie beim —> Kumulieren handelt es sich beim P. - in Abweichung vom Parlamentswahlrecht - um eine spezielle Methode der Stimmgebung (Stimmabgabe) im Rahmen des Kommunalwahlrechts verschiedener Bundesländer (u.a. -> Baden-Württemberg und —> Bayern). Danach ist der Wähler bei einer Mehrstimmenwahl nicht auf einen Wahlvorschlag beschränkt. Er ist vielmehr innerhalb der ihm zustehenden Stimmenzahl berechtigt, seine Stimmen auf Bewerber verschiedener Wahlvorschläge (Listen verschiedener Wahlvorschlagsträger, i.d.R. polit. —> Parteien) zu verteilen. In der Literatur wird gelegentlich auch die Möglichkeit, in einer Liste Namen zu streichen und dafür solche von Bewerbern anderer Listen einzusetzen oder aus Namen verschiedener Listen oder von frei zugefügten Namen eine neue Liste zusammenzusetzen, als P. beschrieben. In der Staatspraxis ist häufig eine Kombination der Modelle des Kumulierens und des Panaschierens feststellbar. W. Sch.
Paragraph / -en (gr. Paraphraphos = Zeichen am Rande von Buchrollen) bezeichnet die Abschnitte von -> Gesetzen, —• Rechtsverordnungen und —» Satzungen, in dem sie mit dem Symbol § gekennzeichnet werden (s.a. —> Artikel). Hg.
Paraphierung Unter P. versteht man insbes. den abgekürzten Namenszug. Der Begriff bezeichnet bei diplomatischen Verhandlungen, insbes. bei völkerrechtl. Verträgen, die vorläufige Unterzeichnung des ausgehandelten Vertragstextes, indem die Unterhändler den Text mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen abschließen. Die P. dient der Bestätigung des ausgehandelten Textes. Sie geht der Un634
T.
Pariser Verträge Nach dem Scheitern des EVG-Vertrages wurde am 23.10.1954 in Paris von den USA, Großbritannien, Frankreich und der BRD das Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes in der -> Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet; dadurch wurde eine Reihe von Verträgen, die schon 1952 zwischen diesen Staaten geschlossen worden waren, in geänderter Form neu bekräftigt. Die P.V. verbanden die Aufhebung des Besatzungsstatuts in der BRD mit deren Aufnahme in die —> WEU und die -> NATO. Kembestandteile der P.V. (BGBl. 1955 Π S. 215) waren neben dem genannten Protokoll der Vertrag über die Beziehungen zwischen der BRD und den 3 Mächten (-» Deutschlandvertrag) und der Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen (sog. Überleitungsvertrag). Der Vertrag über die Rechte und Pflichten ausländischer Streitkräfte und ihrer Mitglieder in der BRD (sog. Truppenvertrag), der Finanzvertrag, sowie das Abkommen über die steuerliche Behandlung der Streitkräfte und ihrer Mitglieder als Bestandteile der P.V. traten mit Inkrafttreten des NATOTruppenstatuts und des Zusatzabkommens am 1.7.1963 außer Kraft. Gleichzeitig mit dem Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes wurde von den 4 Staaten der Vertrag über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der BRD unterzeichnet. Ebenfalls am 23.10.1954 signierten die Vertreter Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, der Beneluxländer und der BRD den Vertrag über die Errichtung der Westeuropäischen Union und eine Reihe von Protokollen über den Beitritt Italiens und der BRD zur WEU. Darin verzichtete die BRD auf den Besitz von ABC-Waffen und willigte in Rüstungsbeschränkungen und -kontrollmaß-
Parlament
Parlament
nahmen ein. Gleichzeitig trat die BRD dem Nordatlantik-Pakt bei. Die vorbezeichneten Verträge und Protokolle als völkerrechtl. Grundnormen der Dtld.- und Sicherheitspolitik der BRD nach Gewinn ihrer außenpolit. —• Souveränität wurden, mit Ausnahme des Dtld. Vertrages, nach der staatl. Einheit Dtld.s (—> Deutsche Einheit) nicht aufgehoben, sondern wurden an die neue Situation durch Vereinbarungen der BRD mit den drei Mächten vom 27./28.9.1990 bzw. 5.12.1960 (BGBl. 1990 Π S. 1386, 1390, 1696) angepaßt. Lit.: W. Grewe: Der Obergang vom Besatzungsregime zu den Verträgen von Bonn und Paris, in: K. Döhring u.a., Dtld.-Veitrag, Berlin 1985, S.
7ff. Jörg Ukrow Parlament / -e Schon beim spätmittelalterlichen Übergang vom Lehnssystem zu den neuzeitlichen Machtstaaten bildeten sich „P.e" überall in Europa heraus, mit deren Hilfe die Fürsten versuchten, v.a. 2 Probleme besser in den Griff zu bekommen: Zum einen die Anbindung und Organisation ihrer Territorien, zum zweiten die Befriedigung ihres gestiegenen Finanzbedarfs. Aus dieser Zeit stammt der wohl auch erste Katalog von P.sfünktionen; der Dominikaner H. Romanus formulierte in der 2. Hälfte des 13. Jhd.s als Aufgaben eines P.s: die Beratung von Staatsangelegenheiten, die -> Gesetzgebung und die Kritik administrativer und richterlicher Mißbräuche. Entscheidend für die Frühzeit der P.e besonders in England war der Zusammenhang von Steuerbewilligung und Petitionswesen: Nur wenn „redress of grievances" erreicht wurde, genehmigte die Versammlung die königlichen Finanzvorhaben. Die Institutionalisierung dieser Übung fand schon im 14. Jhd. statt, als die Parlament. Forderungen als „bills" dem König zur Zustimmung überwiesen wurden; erteilte er diese, wurden sie -> Gesetz. Zusammen mit dem immer weiter ausgedehnten Recht der Versammlung, alle Angelegen-
heiten (nicht nur die auf das Lehnswesen bezogenen) zu beraten, und der Ausprägung der Beratungen zu Verhandlungen mit dem König, deren Ausgang dann für alle verbindlich galt, entwickelte sich eine -> Institution, die - in moderner Terminologie - Funktionen der Haushaltsgestaltung, Artikulation, Gesetzgebung und Kontrolle wahrnahm. Auch wenn es sich hierbei erst um Ansätze handelte - die königliche —> Prärogative galt bis ins 16. Jhd. -, so begründeten sie Englands Weg zum -> Parlamentarismus in einer Weise, welche die Herausbildung absoluter Monarchie weitestgehend verhinderte. Seit Heinrich VU!, verstand sich der König als „King in Parliament", als gleichberechtigt im Gesetzgebungsprozeß mit Lords und Commons; seit Elizabeth L trat der Repräsentationsgedanke allmählich in den Vordergrund, und mit der —> Bill of Rights wurde das P. zum Souverän (—> s.a. Souveränität), indem es Inhalt und Grenzen der königlichen Prärogative bestimmte. 100 Jahre vor der Frz. Revolution wurde in England das Königtum verfassungsmäßig eingegrenzt. Künftig war es das P., welches das —> Gemeinwohl herzustellen hatte, und der König war Recht und Gesetz untergeordnet (—> s.a. Parlamentsgeschichte, brit.). Das kontinentale Gegenbeispiel ist Frankreich, wo das P. 1440 bezeichnenderweise sein Recht zur Steuerbewilligung verlor, der Kampf um die Vormachtstellung von Fürsten oder —> Ständen und König zugunsten des letzteren ausging. Seither nahmen P.e im zentralistischen, absolutistischen Staat eher gerichtsförmige Aufgaben wahr, ihnen oblag aber auch, v.a. jenem in Paris, die Registrierung von königlichen Gesetzen und Ordonnanzen, wodurch diese erst rechtsgültig wurden. Diese P.e waren jedoch keine Ständeversammlungen, sondern nahezu ausschließlich von Adligen besetzt. So scheiterten auch einige Reformvorhaben im Ancien Régime am Widerstand des um seine Privilegien erbittert kämpfenden Adels in den P.en. Im Kontext der histor. Begrün-
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Parlament dung von P.en und ihren Funktionen ist das entscheidende Datum fllr Frankreich, daß die Generalstände - also wenn auch auf schmaler Basis, so immerhin gewählte Standesvertreter - 175 Jahre nicht einberufen wurden (-> s.a. Parlamentsgeschichte, frz.). Die Entwicklungsgeschichte des Dt. -> Reichstages (-> Parlamentsgeschichte, dt.) im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit belegt, daß im Heiligen Röm. Reich Deutscher Nation weder die Vertretung der Fürsten und Stände eigenständige —> Legitimität erringen konnte, noch die Krone über ihre theoretische göttliche Legitimation hinaus tatsächlich zur unumschränkten Herrschaftsgewalt zu werden vermochte (—> Deutsches Reich bis 1806). Anders als in England wurden die Rechte von Kaiser und Reichstag nie förmlich gegeneinander abgegrenzt. Einerseits schuf der Herrscher immer weniger reichstagunabhängiges Recht; andererseits waren Entscheidungen des Reichstages nur wirksam, wenn sie zu Entscheidungen des Kaisers wurden. Diese institutionalisierte Rivalität ließ weder den einen noch den anderen zum kraftvollen Zentrum, zum Kristallisationspunkt für die Nationbildung werden. Trotz der deutlich hervortretenden Unterschiede zwischen den P.en der großen europ. Staaten hinsichtlich ihrer histor. Entwicklung bis ins 19. Jhd. ist unbestritten, daß es sich in keinem Fall um demokrat. Institutionen handelte. Die demokrat. Fundierung und Anreicherung Parlament. Aufgaben geschah in Kontinentaleuropa erst mit der Entwicklung des Legitimationskonzepts der -> Volkssouveränität in der Frz. Revolution und sodann mit der Ausweitung des -» Wahlrechts im Laufe des 19. und zu Beginn des 20. Jhd.s; erst dadurch wuchs P.en die Funktion zu, das „Volk" - im demokrat. Sinne zu vertreten. Dem voran gingen aber parlament. Aufgaben, die den Kern der Institution histor. wie aktuell bilden: Das P. steht im Zentrum von -+ Staat und —> Gesellschaft, um den friedensstiftenden In636
Parlament teressenausgleich zu gewährleisten. Konnte dies in früheren Jhd. en von einer kleinen Oberschicht ohne nennenswerten legitimatorischen Rückgriff auf andere Bevölkerungsteile bewerkstelligt werden, so bedarf es dazu heute der Rekrutierung aus und der Anbindung an eine untereinander völlig gleichberechtigte Bürgerschaft. Daraus wird deutlich, daß die Outputseite von P.en, nämlich hoheitlichen Entscheidungen Geltung und Folgebereitschaft zu verschaffen, gleichsam eine Urfünktion ist, die histor. den Entstehungsgrund von P.en bildete und prinzipiell seine raison d'être ausmacht. Dies ist der eine Strang der P.sfunktionen, der weit hinter das 19. Jhd. zurückverweist; in diesem Bereich haben sich Instrumente verändert, sind neue hinzugekommen das Prinzip ist geblieben: Herrschaftslegitimation durch das P.; zu diesem Zweck nimmt es konkret folgende Aufgaben wahr: Wahl und Rekrutierung (von Führungspersonal in Legislative, -> Exekutive und —> Judikative); Gesetzgebung und Kontrolle (gegenüber der Regierung in unterschiedlichen Variationen je nach Regierungssystem, P.stypus, Gegenstand und Politikstil). Dabei erfordern Kompliziertheit und Vernetzung der anstehenden Probleme heute erhöhte parlament. Effizienz. Radikale Veränderungen haben sich beim zweiten Strang, der -> Repräsentation, ergeben. Hier ist ein deutlicher Bruch in den Grundlagen parlament. Existenz zu verzeichnen, da sich seit dem ausgehenden 18. und im Verlauf des 19. Jhd.s in Amerika und Europa die Begründung polit. Herrschaft und damit die Ansprüche an die Repräsentationsleistung des P.s revolutioniert haben. Die Legitimation des P.s und damit die Inputseite der P.sfunktionen ist demokratisiert worden. Dies geschah zunächst durch die schrittweise Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Inzwischen haben aber sowohl die Anforderungen an die Transparenz des polit. Entscheidungsprozessses als auch das Bedürfnis nach (v.a. un-
Parlament konventioneller, zeitlich und sachlich begrenzter) Partizipation wie die Diversifizierung von —> Interessen in der Gesellschaft so zugenommen, daß parlament. Repräsentation der ständigen Kommunikation zwischen Parlament und Bürgern bedarf. Artikulation von Interessen und Herstellung von Öffentlichkeit zur Legitimation des P.s sind also als weitere Aufgaben und nunmehr i.S. umfassender Verbindung zwischen P. und Gesellschaft, bzw. Wählern zu verstehen. Insg. haben also P.e Legitimation durch Repräsentation zu leisten, Repräsentation verstanden i.S. E. Fraenkels als das Recht und die Pflicht zur Entscheidung - zwar im Namen des —> Volkes, aber doch oder gerade deswegen frei getroffen; Einzel- und Gruppeninteressen aufnehmend und doch oder gerade deswegen gemeinwohlorientiert und allgemeinverbindlich. Von P.en wird heute mehr denn je erwartet, daß sie folgen, weil der Bestand an Gemeinsamkeiten von immer diversifizierteren und schwerer kalkulierbaren Interessen zurückgedrängt wird, die zunehmend Veto- und Verweigerungspotentiale gegenüber polit. Entscheidungen entfalten. Verständnis und Akzeptanz für die Konflikt- und Konsensmechanismen wie für die notwendige Professionalisierung der Volksvertretungen sind zumeist gering und verschlechtern sich noch im Zuge tatsächlicher oder medial produzierter Skandale, die bestehende (Vor-)urteile gegenüber dem repräsentativ-demokrat. -> Parlamentarismus vertiefen. Als Folge sollen P. und Politiker immer häufiger und immer zwingender an den Willen des Volkes gebunden werden. Gleichzeitig wird mehr denn je erwartet, daß sie führen, weil die anstehenden Probleme als einzelne und allemal in ihrer Summe als beispiellose Herausforderung erscheinen. Wollen P.e ihre zentrale, Ausgleich und damit —> Frieden stiftende Rolle im Gemeinwesen bewahren, müssen sie die Gratwanderung zwischen Folgen und Führen immer neu bewerkstelligen und Verständnis dafür schaffen, daß in diesem
Parlamentariergruppen nicht auflösbaren, sondern auszutarierenden Spannungsverhältnis die Gestaltungsdynamik liegt, die eine (post-)moderne Gesellschaft braucht. Lit: Κ. Kluxen: Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, Frankfurt/M. 1983; H. Oberreuter: Das Parlament als Gesetzgeber und Repräsentationsorgan, in: O. W. Gabriel (Hg.), Die EU-Staaten im Vergleich, Opladen 21994, S. 305ff.; Schneider / Zeh, S. 3ff; E. SchüttWetschky: Grundtypen parlament. Demokratie, Freiburg 1984; W. Steffani: Parlament. Demokratie - Zur Problematik von Effizienz, Transparenz und Partizipation, in: ders. (Hg.), Parlamentarismus ohne Transparenz, Opladen 21973, S. 17fT.; U. Thaysen: Parlament. Regierungssystem in der BRD, Opladen 1976; R. Grafv. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München11996.
Suzanne S. Schüttemeyer Parlamentär wird der bevollmächtigte Unterhändler zwischen kriegführenden Parteien genannt (s.a. -> Haager Landkriegsordnung). HgParlamentariergruppen Die außenpolit. Beziehungen des —> Deutschen Bundestages werden auch durch die bilateralen und regionalen P. gepflegt, die Informationsquelle, Forum zum internationalen Meinungsaustausch und Instrument der parlament. Kontrolle im außenpolit. Bereich für - * Abgeordnete sind. Die ersten P. wurden nach einer Initiative der Interparlament. Union in der 3. -> Wahlperiode (1959) gegründet. In der Folge geo- und regionalpolit. Entwicklungen wurden neue Gruppen gebildet und Länder in regionalen Gruppen zusammengefaßt. Die 45 P. (davon 31 bilaterale und 14 regionale) sowie 6 Länderbeauftragten (für Länder, zu denen es (noch) keine P. gibt) in der 13. Wahlperiode bieten parlament. Kontakte zu mehr als 160 Ländern mit dem Ziel, persönliche Verbindungen mit den Parlamentsmitgliedern der Partnerländer zu schaffen, Kenntnisse über die Partnerländer auf aktuellem Stand zu halten und sich mit dessen Repräsentanten auszutau-
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Parlamentarische Informationsdienste
Parlamentarische Demokratie sehen. Dt. Positionen werden erläutert und vertiefend vermittelt. Mitglieder der P. können auch ohne diplomatische Rücksicht bei schwierigen Themen (z.B. —> Menschenrechte) deutlich formulieren. Sie sind Ansprechpartner für ausländische Besucher aus —» Politik, - » Wirtschaft, Kultur und -> Medien, die sich über die polit. Lage in Dtld. oder über das dt. Parlament. System unterrichten wollen. Für Länder am Beginn der demokrat. Entwicklung sind die dt. Erfahrungen grundsätzliche Orientierung und Vorbild; die interfraktionelle Zusammensetzung der P. ist vorgelebte demokrat. Umgangsform. Sie gibt ein anschauliches Beispiel für abgewogene Standpunktvertretung und sachliche Auseinandersetzung mit Andersdenkenden und zugleich für den notwendigen Gemeinsinn. Stipendien oder Zuschüsse für humanitäre Initiativen werden nicht vergeben. M.H.
Parlamentarische Demokratie -> Parlamentarisches Regierungssystem - » s.a. Demokratie —> s.a. Staatsformen Parlamentarische Dienste -> Bundestagsverwaltung Parlamentarische Geschäftsführer Im -> Bundestag wurde die Position des PG seit 1949 stark ausgebaut. Dies lag 1. an der Reduzierung der —> Fraktionen und deren - teilw. drastischer - Vergrößerung. 2. verlagerte sich schon in den 50er Jahren die Selektion und Aggregation von Interessen vom Gesamtparlament und seinen Binnenstrukturen auf die Fraktionen und ihre sachpolit. Gliederungen. In dem mit komplexeren Gegenständen und komplizierter auszugleichenden Interessen konfrontierten —> Parlament wurde Arbeitsteilung und folglich Koordination zu einer immer wichtigeren Aufgabe in den Fraktionen. Gleiches galt 3. für die interfraktionell zu leistende Organisation der parlament. Arbeit. Inzwischen setzen die beiden großen Fraktionen regelmäßig
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5, die beiden kleinen 3 PG ein, denen faktisch jeweils ein Großteil der auf mehrere 100 Mitarbeiter angewachsenen Fraktionsverwaltungen unterstehen. Ihre Aufgabe ist 1. besonders im -> Ältestenrat und in Geschäftsführerbesprechungen die Planung der Plenarsitzungen einschließt. der Festlegung von Tagesordnung, Debattendauer und Redezeiten sowie die Einigung über die Einsetzung der -> Ausschüsse und die Verteilung der Ausschußvorsitze; 2. die innerfraktionelle Arbeitsorganisation, z.B. die Besetzung der Ausschüsse sowie Reglementierung und Koordinierung im Bereich der Rede-, Frage-, Antrags- und Stimmrechte der einzelnen —» Abgeordneten, wobei hier der Sicherung geschlossenen Auftretens nach außen besonderes Gewicht zukommt. Neben der Organisation des Parlamentsbetriebs üben die PG erheblichen Einfluß auf die Selektion und Koordination polit. Inhalte aus. Sie sind nämlich in ihren Fraktionen Mitglieder im geschäftsführenden Vorstand. In den Mehrheitsfraktionen unter Kanzler Kohl gehören sie den die Regierungsentscheidungen vorstrukturierenden Koalitionsrunden an. Das —> Amt des PG ist inzwischen ein zentraler Faktor in der hierarchischen Struktur der arbeitsteiligen Organisation Bundestag, dessen Problematik in der Ausbalancierung von Effizienz und Offenheit des Parlament. Prozesses liegt. Suzanne S.
Schüttemeyer
Parlamentarische Immunität —> Immunität Parlamentarische Informationsdienste Im Rahmen der Kleinen —> Parlamentsreform 1969 hat der —> Bundestag, analog zur -> Bundesregierung, die Instrumente der Presse- und —> Öffentlichkeitsarbeit für den Parlamentsbereich eingeführt und entsprechende Organisationseinheiten in der - » Bundestagsverwaltung geschaffen. Die administrative Zuordnung dieser Einheiten, zunächst im Presse- und Informationszentrum (PZ) zusammengefaßt, ist
Parlamentarische Informationsdienste
Parlamentarische Informationsdienste
wiederholt veränderten Notwendigkeiten angepaßt worden, wobei - trotz fließender Übergänge - die eigentliche Pressearbeit von der Öffentlichkeitsarbeit getrennt wurde. Nach der klassischen von der Kommunikationstheorie abgeleiteten Definition zielt Pressearbeit auf die Unterrichtung der -> Massenmedien, während Öffentlichkeitsarbeit, ohne die zwischengeschalteten Kontrollmechanismen von —> Presse und elektronischen -> Medien, die direkte Information der Bevölkerung beabsichtigt. Gemäß dieser Differenzierung verfügt der Bundestag im Rahmen der Pressearbeit über eine Reihe von Informationsdiensten (InfoD) zur Unterrichtung der Massenmedien. Zu diesen InfoD gehören die 1) Parlamentskorrespondenz mit dem Tagesdienst hib („heute im bundestag") und dem Wochendienst wib („woche im bundestag") und 2) „Mitteilungen aus dem Bundestag" sowie 3) Maternseiten. Der „BundestagsReport", inzwischen von einem privatwirtschaftl. Verlag herausgegeben, inhaltlich aber nach wie vor von der zuständigen Stelle der BT-Verwaltung mitbestimmt, stellt ein Medium dar, das mehr der Öffentlichkeitsarbeit zuzuordnen sein dürfte. Der Tagesdienst hib der Parlamentskorrespondenz 1) berichtet in mehreren Ausgaben, sofern notwendig, für die Journalisten und Korrespondenten in Bonn über die aktuelle Arbeit aller BTGremien sowie über neu eingegangene Gesetzentwürfe, über Anträge, Große und Kleine —> Anfragen von —> Fraktionen, Abgeordnetengruppen (-» Gruppe) und einzelnen -> MdB sowie über die entsprechenden Antworten und -> Berichte der Bundesregierung. Der Kreis der Adressaten geht über die Journalisten hinaus und bezieht auch Abgeordnete, Bundesministerien und -> Landesvertretungen mit ein. Die Berichterstattung der „Parlamentskorrespondenz" bezieht sich auch auf die Ergebnisse der vertraulichen Beratungen der —> Ausschüsse. Die Reformer von 1969 hatten mit dieser Ausnahmeregelung ein Gegengewicht gegen
die Nicht-Öffentlichkeit der BT-Ausschüsse schaffen wollen. Soweit ersichtlich, haben die Vertreter der Medien nur selten von diesem Angebot Gebrauch gemacht. Die Redaktion der „Parlamentskorrespondenz" ordnet alle in einer Sitzungswoche angefallenen Meldungen des Tagesdienstes nach Politikbereichen (d.h. weitgehend nach den Arbeitsbereichen der Ausschüsse) und veröffentlicht sie zusammengefaßt im Rhythmus der BT-Wochen in einem Wochendienst (wib), zu dessen Adressatenkreis auch Fachzeitschriften, dt. Vertretungen im Ausland ebenso wie ausländische Vertretungen in der BRD und Universitätseinrichtungen im In- und Ausland zählen. Der Kreis der Bezieher mußte in den letzten Jahren aus Gründen der Einsparung von Haushaltsmitteln eingeschränkt werden. Im Einzelplan (Epl) 0201 Deutscher Bundestag Titel 53101 sind mit Zweckbestimmimg „Parlamentskorrespondenz" sowie für Veranstaltungen mit Journalisten für 1997 1,6 Mio. DM veranschlagt. Der InfoD „Mitteilungen aus dem Bundestag" 2) erscheint unregelmäßig, nach Bedarf, und enthält Angaben über Parlamentstermine (Ort / Raum und Sitzungsbeginn, die Themen mit der Liste der als Auskunftspersonen geladenen Sachverständigen von -> EnqueteKommissionen), die für die Disposition von Bonner Korrespondenten der Presse und elektronischen Medien unerläßlich sind. Daneben werden auch fallweise amtliche Verlautbarungen des BT sowie Reden des Präsidenten veröffentlicht. Über „Maternseiten" 3) werden Redaktionen von Regional-, Lokalzeitungen, Anzeigenblättern und ähnlichen Periodika unentgeltlich vorgefertigte Zeitungsseiten mit journalistisch bearbeiteten und bebilderten Berichten über das parlament. Geschehen sowie mit Themen aus der aktuellen Arbeit der BT-Gremien zum Abdruck angeboten. Aufmachung und Format weisen die Maternseiten als redaktionelle Beiträge, nicht als Anzeigen aus. Aus der Abdruckintensität auf die
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Parlamentarische Kontrolle
Parlamentarische Sozialstruktur
Nutzungsintensität durch die Leser zu schließen, dürfte jedoch nur mit Einschränkungen möglich sein. Mit dem Übergang vom Blei- zum Lichtsatz wird sich der techn. Rahmen dieses Dienstes ändern. Für die Pressearbeit des Gesamtparlaments gilt, daß sie durch analoge Presseaktivitäten der Fraktionen unter deren spezifischen (partei-)polit. Aspekt z.T. ergänzt, nicht selten konterkariert wird. I.w.S. zu den Parlament. Informationsdiensten gehört das Informationsangebot des Bundestages über das -» Internet. Der Zugriff auf diese Angebote ist nicht auf die Vertreter der Massenmedien beschränkt, sondern ftlr jeden zugänglich, der über entsprechende techn. Anlagen (Internetfähiger Computer) verfügt. Das Informationsangebot, das ähnlich wie in den Materialien der Öffentlichkeitsarbeit des Parlaments über Printmedien strukturiert ist, umfaßt die Auflistung von Terminen, Daten und Fakten (z.B. der nächsten Plenarsitzungen, Wahltermine oder der letzten Plenarprotokolle). Für einige Politikbereiche werden mittels Auszügen aus Politikerreden Einstiegstexte geboten. Als zusätzliche Distributionsweg ist der sog. Bundestagsschop in Beri, hinzu gekommen, wo schriftliches Informationsmaterial erhältlich ist. Lit: P. Schindler: Datenhandbuch zur Geschichte des Dt. Bundestages 1983 bis 1991, Bonn 1994, S. 1340ff. Hartmut
Klatt
Parlamentarische Kontrolle -> Bundestag —> Parlament —> Parlamentarische Verwaltungskontrolle Parlamentarische Kontrollkommission —> Nachrichtendienste, Kontrolle der Parlamentarische Monarchie -» Monarchie, parlamentarische Parlamentarische Observanz -> Parlamentsrecht
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Parlamentarische Opposition sition Parlamentarische Repräsentation
Oppo-
Repräsentation
Parlamentarische Republik —> Republik Parlamentarische Sozialisation —• Politische Sozialisation Parlamentarische Sozialstruktur Die Funktionsfähigkeit parlement. Körperschaften hat unter dem Aspekt der personellen Zusammensetzung v.a. 2 Voraussetzungen: a) eine ausreichende Zahl speziell qualifizierter -> Abgeordneter, die den an sie gestellten Leistungsanforderungen nachkommen; b) eine Zahl von Mandatsträgem, die ihre Zeit ganz oder überwiegend der parlament. Tätigkeit widmen, um so die im —> Bundestag anfallende Arbeit zu bewältigen und die Kontinuität der parlament. —• Willensbildung sicherzustellen. In diesem Kontext ist die sozialstrukturelle Parlamentsanalyse entwickelt worden. Die „social background analysis" versucht, eine Reihe von Qualifikationsmerkmaien und Sozialdaten der Abgeordneten statistisch zu erfassen und mögliche Auswirkungen der personellen Zusammensetzung gesetzgebender -> Organe auf Form und Inhalt parlament. Arbeit aufzuzeigen. Methodische Vorbehalte sind in zweierlei Hinsicht möglich: a) Die Aussagefähigkeit der Indikatoren, die bei der Analyse und Interpretation der S. des —> Parlaments zur Messung einzelner Qualifikationsmerkmale und Einflußfaktoren benutzt werden, ist begrenzt, b) Die vorhandenen Statistiken weichen in Kategoriebildung und Methodik oft voneinander ab; ihre Angaben sind häufig ungenau und deshalb nur beschränkt verwertbar oder unbrauchbar (z.B. Angaben über Berufstätigkeit vor, während bzw. nach der Mandatsausübung). Gleichwohl lassen sich die Aussagekraft und damit die wissenschaftl. Relevanz sozialstruktureller Untersuchungen, z.B. kombi-
Parlamentarische Sozialstruktur niert mit verlaufssoziologischen Studien, nicht bestreiten. Histor. Aspekte In der Periode des klassischen -> Liberalismus repräsentierte neben dem Adel v.a. das Besitz- und Bildungsbürgertum die Wähler in den Parlamenten (-» Honoratiorenparlament). Diese soziale Homogenität wurde im Zuge der —> Demokratisierung des Wahlrechts, der Ausbildung des -» Parteiensystems und der wachsenden Bedeutung der Arbeiterbewegung im polit. Bereich von einer zunehmenden Heterogenität abgelöst. Während in den polit. Systemen westlicher Prägung die Parlament. S. weitgehend von den Rekrutierungs- und Selektionsmechanismen der —> Parteien abhängig ist, steuern autoritäre Regime und sozialistische Staaten die Kandidatenauswahl (über die Einheitspartei) planmäßig mit dem Ziel, möglichst eine die S. der Bevölkerung exakt abbildende Zusammensetzung (pseudo-)parlament. Gremien zu erreichen. Die Theorie von der Identität zwischen Regierenden und Regierten soll so in der polit. Praxis dokumentiert werden. Empirische Ergebnisse Die S. des 1994 gewählten Bundestages unterscheidet sich nur in Nuancen von der personellen Zusammensetzung der Vorgänger-Parlamente. Gewisse Trends lassen sich jedoch bei einem Vergleich der Bundesparlamente (incl. der -> Landtage) seit 1949 erkennen, so z.B. die steigende Zahl der Mandatsinhaber aus der staatl. und verbandlichen Angestellten- und Beamtenschicht, die Unterrepräsentation der Frauen und die zunehmende Akademisierung. Verglichen mit der Erwerbsstruktur der Bevölkerung sind überproportional in den Parlamenten folgende Gruppen vertreten: Angehörige des öffentlichen Dienstes; leitende -» Angestellte aus Großbetrieben der Wirtschaft und Spitzenfunktionäre großer —> Verbände und Interessengruppen. Unterdurchschnittlich sind neben den Frauen aktive Arbeitnehmer und Selbständige aus Handwerk, Handel und Landwirtschaft repräsentiert. Die Gründe für
Parlamentarische Sozialstruktur die unterdurchschnittliche Repräsentanz der Frauen in den Vertretungskörperschaften sind (wie auch im Bericht der —• Enquete-Kommission „Frau und Gesellschaft" dargelegt wird) in den mangelnden Möglichkeiten zur Mitarbeit in parteipolit. Gremien zu suchen. Infolge familiärer Doppelbelastung wird das polit. Engagement in den Parteien als den entscheidenden Selektionsinstanzen zwangsweise vernachlässigt. Die schulische und berufliche Ausbildung stellt ein wesentliches Rekrutierungskriterium dar. Das weisen alle Studien über die Kandidatenauswahl und die hierbei maßgebenden Selektionsmuster aus. Die Zahl der -» MdB, die eine höhere Schule besucht haben bzw. einen Hochschulabschluß vorweisen können, ist denn auch seit 1949 kontinuierlich gestiegen und liegt inzwischen bei über 75% aller MdB. Die akademische Ausbildung ist in zunehmendem Maße auch eine Voraussetzimg für den Aufstieg in führende parlament. und polit. Positionen. Dabei erweisen sich v.a. Jugendorganisationen sowie persönliche Referenten- und Geschäftsführerpositionen bei Spitzenpolitikern in den Parteien und Ministerien immer häufiger als Kanäle für den polit. Aufstieg. Schlüsselt man die akademische Ausbildung nach Fachrichtungen auf, dominieren nach wie vor Verwaltungs- und Wirtschaftsjuristen. Ökonom. Sachverstand ebenso wie Expertenwissen aus den Bereichen Technik, Ingenieurwesen und Naturwissenschaften sind demgegenüber eindeutig unterrepräsentiert, obwohl nach der -> Deutschen Einheit durch —> Abgeordnete aus den neuen Ländern die Zahl der MdB mit naturwissenschaftl. Berufen signifikant zugenommen hat. Angesichts der Priorität technologischer Entwicklungen in der modernen Industriegesellschaft muß eine solche Tendenz bedenklich stimmen. Es liegt nahe, zwischen der jurist, dominierten S. des Bundestages und den offensichtlichen Schwierigkeiten des Parlaments in Fragen der Technologiekontrolle, des —• Umweltschutzes oder der Kem-
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Parlamentarische Sozialstruktur energie zumindest einen indirekten Zusammenhang zu sehen. Als Indiz für die -> Repräsentation der —> Interessen im Parlament (Verbandsfärbung) wird häufig die große Zahl gewerkschaftlich organisierter MdB sowie die überdurchschnittlich große Zahl von Interessenvertretern und Angehörigen der betroffenen Berufsgruppen in den Fachausschüssen gewertet. So gehören dem Ernährungsausschuß des Bundestages in der Mehrzahl Landwirte und Vertreter agrarischer Interessenorganisationen an; der Innenausschuß gilt als Domäne der öffentl. Bediensteten und ihrer Berufsverbände. Es würde freilich ein einseitiges Bild ergeben, wollte man die Verbandsfärbung des Parlaments ausschließlich von der (früheren oder aktuellen) beruflichen Tätigkeit bzw. der damit häufig verbundenen Zugehörigkeit zu einem entsprechenden Berufsverband abhängig machen. Mindestens ebenso bedeutsam und im Gesetzgebungsprozeß relevant ist die Interessenvertretung durch selbständige Unternehmer, freiberuflich Tätige (z.B. Rechts- und Steueranwälte), Wirtschaftsmanager oder leitende Angestellte von Wirtschaftsverbänden. Zudem ist zu berücksichtigen, daß partikulare Interessen im Parlament zu verfolgen gem. Art. 38 GG nicht systemwidrig ist. Als problematisch erweist sich deshalb nicht die Verbandsfärbung als solche, sondern die relativ große Zahl der Abgeordneten, die bei Großbetrieben bzw. Konzemen oder bei Interessenverbänden hauptamtlich angestellt sind, und die deshalb die Interessen ihrer Arbeitgeber im Parlament (ggf. auch aus materiellen Gründen) weit einseitiger verfechten, als dies MdB tun, die lediglich einfache Mitglieder eines Berufsverbandes sind. Schichtenspezifisch betrachtet, kommen die MdB zum größten Teil aus der oberen und unteren Mittelschicht; nur einzelne Abgeordnete stammen aus der Unterschicht. Die S. des Bundestages kann insofern als das Ergebnis eines Prozesses gewertet werden, in dessen Rahmen parlament. Personal aus der Mittelschicht
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Parlamentarische Sozialstruktur rekrutiert wird. Zu berücksichtigen bleibt dabei allerdings, daß der soziale Aufstieg in die Mittelschicht z.B. von —> Arbeitern über die Parteien oder -> Gewerkschaften als Kanäle, meist schon vor der Kandidatenaufstellung zum Bundestag, abgeschlossen ist. Der Bundestag kann mithin als Mittelschichtenparlament qualifiziert werden; daraus lassen sich Folgerungen in dreifacher Hinsicht ableiten: l. Das Sozialprofil des Bundestages bedingt typische Muster auf der Ebene der Sprache, des polit. Stils und der Arbeitsweise. Hierzu gehört der Charakter der Plenardebatten als eher fachbezogene Auseinandersetzungen über gesetzgeberische Details anstelle grundsätzlicher polit. Kontroversen über anstehende Probleme und lebenswichtige Fragen. Zu nennen ist auch eine vielfach formalhafte Sprache der Parlamentsdebatten (Jurist. Fachjargon, Beamtendeutsch) sowie eine Tendenz zur freundschaftlichen Zusammenarbeit i.S. eines Harmoniemodells als Verhaltensmuster in vielen Parlament. Gremien. 2. Eine Korrelation zwischen Sozialprofil des Bundestages und dem Inhalt der -> Gesetzgebung läßt sich direkt nicht herstellen. Die Annahme, daß das Übergewicht bestimmter soziologischer Gruppen im Parlament sich unmittelbar zugunsten dieser Gruppen auswirkt, insofern deren Interessen im Gesetzgebungsprozeß weitergehend berücksichtigt werden als die von im Bundestag unterrepräsentierten Gruppen, erweist sich insg. als nicht haltbar. Die Überrepräsentation der Angehörigen des öffentl. Dienstes und die krasse Unterrepräsentation der Arbeiter ändert nichts daran, daß seit 1949 den grundsätzlichen Interessen aller Teile der Bevölkerung im großen und ganzen entsprochen wurde. Dies ist teilw. auf die massive außerparlamentarische Interessenvertretung gesellschaftl. Großorganisationen zurückzuführen und schließt Abweichungen nach oben und unten (d.h. Privilegierung bzw. Unterprivilegierung bestimmter Gruppen im einzelnen) natürlich nicht aus. 3. Die Parlamente in der
Parlamentarische Sozialstruktur BRD spiegeln keinen sozialen Querschnitt der Bevölkerung wider. Histor. gesehen sind weder der Bundestag noch die parlament. Vertretungskörperschaften anderer westlicher -> Demokratien in sozialstruktureller Hinsicht (Alters-, Bildungsund Berufsstruktur, Zahl der weiblichen Mitglieder) repräsentativ gewesen. Zu fragen wäre, ob es überhaupt wünschenswert sein kann, im Parlament soziale Repräsentation zu vermitteln. Denn die verfassungsmäßigen Aufgaben und die Funktionsfähigkeit des Parlaments ebenso wie die Leistungsanforderungen an seine Mitglieder bedingen in der S. des Bundestages bestimmte Abweichungen von der direkten proportionalen Vertretung der Bevölkerung. Freilich ist damit das Problem der sozialen (neben der polit.) -> Repräsentation keineswegs gelöst. Die Prinzipien der parlament. Demokratie erfordern die direkte Repräsentanz aller Bevölkerungsschichten in der parlament. Vertretungskörperschaft. Gerade die moderne Demokratietheorie und -forschung hat die Relevanz größerer Partizipationsmöglichkeiten aller gesellschaftl. Schichten am staatl. Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß im Zusammenhang mit der —> Legitimation des polit. Systems nachgewiesen. Neben einer Verbesserung der Rahmenbedingungen zur Erhöhung der Bereitschaft von Bürgern aus allen sozialen Gruppen, sich am Ausleseverfahren aktiv zu beteiligen, sind hier v.a. die Parteien als Rekrutierungs- und Selektionsinstanzen aufgerufen, Veränderungen bei der Kandidatenauswahl vorzunehmen. Lit: D. Herzog: Polit. Karrieren, Opladen 1975; A. Hess: Sozialstrukturen des 13. DL Bundestages: Berufliche und fachliche Entwicklungslinien, in: ZParl 1995, S. 567ff.; W. Ismayr: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992, S. 50ff.; H. Klatt: Zur Sozialstruktur des 11. DL Bundestages, in: Gegenwartskunde 1988, S. 45ff.; ders.: Die Verbeamtung der Parlamente. Ursachen und Folgen des Obergewichts des öffentl. Dienstes in Bundestag und Landtagen, in: APuZ Β 44/1980, S. 25ff.; P. Schindler: Datenhandbuch zur Geschichte des DL Bundestages 1983 bis 1991, Baden-Baden
Parlamentarische Verfahren 1994, S. 273ff. Hartmut
Klatt
Parlamentarische Verfahren Organisation und Struktur des -> Parlaments lassen sich vom Verfahren unterscheiden, wenn beide Aspekte in der polit. Praxis auch nicht voneinander zu trennen sind. Ausgangspunkt für die Ausprägung des P.V.s ist die Parlamentsautonomie, d.h. das Recht des —> Bundestages, seine Organisation und sein Verfahren im Rahmen des Selbstversammlungsrechts (Art. 39 Abs. 2 und 3 GG) sowie des Selbstorganisationsrechts (Art. 40 Abs. 1 GG) selbständig zu regeln. Die Gestaltung des P.V.s orientiert sich an den Aufgaben des BT (Wahl-, Gesetzgebungs-, Kontrollund KommunikationsfUnktion) sowie an der parlament.. und parteipolit. Gliederung des BT. Die rechtl. Grundlagen für das P.V. finden sich im Verfassungsrecht (Vorschriften und Vorgaben des GG, Rechtsprechung des —> Bundesverfassungsgerichts, in einzelnen gesetzlichen Vorschriften (einfache Bundesgesetze), zu einem großen Teil in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sowie in einer Reihe ungeschriebener Verfahrensregeln (Parlament. Gewohnheitsrecht, Übungen, und Gebräuche sowie interfraktionelle Vereinbarungen und Absprachen). In Art. 42 Abs. 1 und 2 GG werden 3 Grundsätze für das P.V. aufgestellt: Neben der Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Verhandlungen des BT (als Voraussetzung für die Forumsfunktion, einem Teil der kommunikativen Aufgabe des Parlaments) wird das Prinzip der einfachen Mehrheit für Sachentscheidungen des BT verfassungsrechtl. fixiert. Diese Verfahrensgrundsätze werden durch die GOBT ergänzt bzw. modifiziert. So tagen die BT-Ausschüsse i.d.R. nicht öffentl.; bei Kleinen —> Anfragen und einem Teil der Fragen für die -> Fragestunde wird schriftliches Verfahren praktiziert; für Sach- und Personalentscheidungen gelten in einer Reihe von Fällen qualifizierte Mehrheitserfordernisse.
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Parlamentarische Versammlung
Parlamentarische Verwaltungskontrolle
LU.: HdbStR II, S. 425ff.; H. Klatt: Parlament. System und bundesstaatl. Ordnung, in: Bundestag - Bundesrat - Landesparlamente, Rheinbreitbach 1991, S. 57ÍF.
Hartmut Klatt Parlamentarische Versammlung Europarat -> Westeuropäische Union
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Parlamentarische Verwaltungskontrolle 1. Der Kontrollbegriff verliert jOngst viel von seiner einstmaligen Klarheit. Ursprünglich galt als Kontrolle (K.) der nachträgliche Soll-Ist-Vergleich: Weicht ein tatsächliches Agieren von einer festgelegten Soll-Ordnung (z.B. -> Gesetz) ab, wird es sanktioniert und korrigiert. Heute kommt in der Sozialwissenschaft vermehrt das angelsächs. Wortverständnis "to control" hinzu: zielgerichtetes Beeinflussen und Begrenzen eines Gegenstandes. In diesem, weiteren Sinne sollen alle demokrat. Parlamente die —> Verwaltungen „kontrollieren", indem sie ihnen mit Gesetzen und mit dem Haushalt die zukunftsgerichteten Programme bereitstellen. In Systemen, die Parlament und Exekutivspitze unabhängig voneinander durch Wahlen legitimieren (so —> Verfassung der USA), kommt dem Parlament eine eigenständige VK im engeren, ersten Sinne zu, wahrgenommen z.B. durch Untersuchungen und Einzelbewilligungen. In -> parlamentarischen Regierungssystemen, welche die —> Exekutive aus der Parlamentsmehrheit hervorbringen, richtet sich sanktionsfähige K. des Parlaments zunächst einmal auf die Regierung: durch Sturz des —> Kanzlers über das konstruktive —> Mißtrauensvotum kann auch die Verwaltungsführung dieser Regierung „bestraft" werden. Abgesehen von diesem Fall wird im parlement. System unterstellt, daß die —> Regierung die Ausführung des legislativen Willens überwache, da es sich ja um die —• Gesetzgebung der sie selbst stützenden Mehrheit handele. Regierungskontrolle schließt nach diesem Idealbild VK ein, sie wird flankiert durch die Rechtmäßigkeitskontrolle seitens der
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-> Gerichtsbarkeit. 2. Dennoch gibt es auch Elemente einer separaten, parlement. VK im dt. System. Sie entstammen einerseits einer Zeit, in der das Parlament als Ganzes noch einer monarchistischen Exekutive gegenüberstand, andererseits versuchen sie gerade der heutigen Verzahnung von Parlamentsmehrheit und Regierung Rechnung zu tragen und die —> Minderheit mit direktem Informationszugang zu Verwaltungsangelegenheiten auszustatten. Das Herstellen parlament. -> Öffentlichkeit ist dabei die wichtigste, indirekte Korrekturchance; formelle Sanktionsmöglichkeiten bestehen i.d.R. nicht. 3. Wichtige Formen der öffentlichkeitswirksamen Informationsbeschaffung sind Große und Kleine —• Anfragen sowie die mündlichen Befragungen in der -> Fragestunde. Besonders die beiden letzten Formen werden der Detailliertheit vieler Verwaltungsmaterien gut gerecht, geraten aber genau aus diesem Grund oft in Gefahr, außerhalb des Parlamentes als belangloser Kleinkram wahrgenommen zu werden. Höhere Aufmerksamkeit erzeugt das parlament. Untersuchungsrecht: —» Enquete-Kommissionen ermöglichen es, den Informationsrückstand gegenüber der planenden und gesetzesvorbereitenden -> Ministerialbürokratie zu verringern, sie haben somit eine eher indirekte Kontrollwirkung. Direkt kontrollierend wirken Parlament. -> Untersuchungsausschüsse, die Mißstände im Verantwortungsbereich eines —> Ministers durch selbständige Tatbestandsermittlung aufklären sollen. Häufig beklagen aber Oppositionspolitiker, diese K.-Leistung werde dadurch hintertrieben, daß die Mehrheitsverhältnisse im Ausschuß jene im Parlament spiegeln. Es gibt allerdings genügend Beispiele dafür, daß auch die Regierungsparteien einer Kritik am Verwaltungshandeln Raum geben, solange keine Demontage der —• polit. Führung droht. Zudem hat diese Mitwirkung der Regierungsparteien den Vorzug, daß tatsächlich Eingriffe in die Verwaltungsorganisation
Parlamentarische Verwaltungskontrolle ausgelöst werden können. Für die Verwaltungen sind dann Ausschußuntersuchungen empfindsam, wenn diese extensiv von ihrem Recht der Zeugen· und Aktenanforderung Gebrauch machen. Der dabei sich einstellende ö f fentlichkeitseffekt entfällt beim —> Verteidigungsausschuß, der als —• ständiger Ausschuß zugleich die Rechte des Untersuchungsausschusses in seinem Bereich wahrnimmt. Durch diese Doppelfunktion kann er aber eine dauerhafte Beobachtung leisten, die sonst nur dem —> Haushaltsausschuß in Form der „mitwirkenden Haushaltskontrolle" möglich ist (z.B. durch Einzelbewilligung aufgrund von -> Sperrvermerken). Eine weitere Besonderheit des Verteidigungsbereiches ist der -> Wehrbeauftragte, mit dem die Parlament. K. erstmals explizit im GG (Art. 45b) benannt wurde. Als Hilfsorgan des Parlaments hat er ein autonomes Inspektionsrecht bei den Streitkräften; er stärkt somit die eigenständige Informationsbeschaffung. Eingerichtet wurde er aber zugleich als Beschwerdeinstanz für die Soldaten, er zählt somit zu den parlament. -> Institutionen, die fremdausgelöste K.n. erleichtern sollen. Diese Funktion teilt er mit dem Petitionsausschuß, der eine große Zahl verwaltungslastiger Eingaben (besonders aus dem Sozialversicherungsrecht) bearbeitet. Seit 1975 ist der Petitionsausschuß als Pflichtausschuß des -> Bundestages (Art. 45c GG) mit gestärkten Rechten zur —>• Akteneinsicht, Inspektion und Anhörung ausgestattet. Eigenständige Abhilfe bei Beschwerden ist nicht möglich, wohl aber empfehlende Einwirkung auf die Exekutive oder Initiierung beim —> Plenum (z.B. durch die jährlichen Berichte). Mit Ausnahme des Wehrbeauftragten sind die erwähnten Kontrollformen auch auf der Ebene der -> Landtage auffindbar. Dies gilt auch für die traditionsreichste K. mit der stärksten Hilfsorganisation: die Finanz- und Rechnungskontrolle. Diese wird in Vorbereitung der künftigen Haushaltsaufstellung durch den —> Rechnungsprüfiingsausschuß vorge-
Parlamentarischer Rat nommen, Grundlage der Arbeit sind die Prüfergebnisse des jeweiligen Rechnungshofes (-> Bundesrechnungshof —» Landesrechnungshof)· Da auch personell über den Haushaltsausschuß eine Verbindung mit der künftigen Etatbewilligung hergestellt werden kann, besitzt diese K. ein hohes Korrektur- und Sanktionspotential gegenüber der Verwaltung. Rechnungshofberichte (Bemerkungen), im Plenum erörtert, erzeugen auch beträchtliche Öffentlichkeit für angezeigte Mißstände. Allerdings steht diese K., wie auch die zuvor erörterten, unter der Kritik, sie beschränke sich zu sehr auf die nachträgliche Rechtmäßigkeitskontrolle des Ausgabeverhaltens, biete aber wenig positive Anleitung für ein zukunftgerichtetes, wirtschaftl. Staatshandeln. Lit: E. Busch: Parlament. Kontrolle. Ausgestaltung und Wirkung, Heidelberg "1991; PM. Stadler: Die parlament. Kontrolle der Bundesregierung, Opladen 1984.
Rainer Prätorius Parlamentarische Verantwortlichkeit -> Verantwortlichkeit -> s.a. Verantwortung Parlamentarische Vereinigungen sind Zusammenschlüssen von Parlamentariern und / oder an polit.-parlament. Fragen Interessierter aus Wissenschaft, Publizistik oder Verwaltung. Zu nennen sind u.a.: die Interparlament. Arbeitsgemeinschaft e.V. Bonn (IPA), Dt. Parlament. Gesellschaft e.V. Bonn und die Dt. Vereinigung für Parlamentsfragen e.V. Bonn, (s.a. —» Interparlamentarische Union, IPU). Hg. Parlamentarischer Rat Als P.R. konstituierten sich am 1.9.1948 in Bonn 65 stimmberechtigte Mitglieder und 5 Berliner -> Abgeordnete, die von den Militärgouverneuren der Alliierten (Frankfurter Dokumente v. Juli 1948) ermächtigt waren, auf dem Gebiet der 3 westlichen Besatzungszonen einem dt. Teilstaat das
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Parlamentarischer Rat -> Grundgesetz zu geben. Seine Bezeichnung als P.R. brachte ebenso wie das Beharren auf dem Begriff des GG (Basic Constitutional Law) den polit. Willen der —> Ministerpräsidenten zum Ausdruck, von einer endgültigen, die Spaltung Dtld.s verfestigenden —» Verfassung Abstand zu nehmen. Damit hatten sich die Länder der amerik., brit. und frz. Zone erfolgreich der Vorgabe der Alliierten widersetzt, eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Auch die Abkehr von der geschichtl. Tradition, die Verfassunggebung plebiszitär einzuleiten, erklärt sich aus dtld.polit. Sorge. So fand eine indirekte Wahl des P.R. in den —> Landtagen statt, welche die -> Mandate nach dem jeweiligen Stimmenanteil der -> Parteien im Landesparlament verteilten. Insg. stellten -> CDU/CSU und -> SPD je 27, die FDP 5 und die DP, das Zentrum sowie die KPD je 2 Abgeordnete. Sie wählten K. Adenauer zum Präsidenten. Inhaltlich gestaltete der P.R. das GG i.S. des Frankfurter Dokuments Nr. I, das den Bund auf eine demokrat. Verfassung mit Freiheitsrechten festlegte, auf eine „Regierungsform des föderalistischen Typs" mit einer „angemessenen" Zentralgewalt. Gestützt auf Vorarbeiten eines SachverständigenAusschusses (Herrenchiemseer Verfassungskonvent), erarbeiteten die Fachausschüsse, der Hauptausschuß und das Plenum eine Reihe von Textentwürfen, immer bemüht um Übereinstimmung mit den Militärgouvemeuren der Besatzungsmächte, die sich im Frankfurter Dokument Nr. I die Genehmigung des GG vorbehalten hatten. Der konsentierte Entwurf fand in der Schlußabstimmung am 8.5.1949 mit 53 gegen 12 Stimmen eine klare Mehrheit. Im Rückblick erscheint das Werk des P.R. als histor. Grundlegung im Prozeß der Verfassunggebung (—> Pouvoir constituant), die einen neuen Verfassungskonsens und die Chance dauerhafter —> Legitimation des GG ermöglicht hat (—• Bundesrepublik Deutschland). Lit: Dt. Bundestag / Bundesarchiv (Hg.): Der
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Parlamentarischer Staatssekretär Parlamentairsche Rat 1948-1949, Akten und Protokolle, 8 Bde., Boppard 1975ff.; HdbStR I, S. 219ff.; F..HM. Lange: Die Würde des Menschen ist unantastbar, der Parlament. Rat und das GG, Heidelberg 1993.
Ulrich Hufeid Parlamentarischer Staatssekretär Die —> Institution des PStS wurde 1967 (nach brit. Vorbild) mit dem Ziel eingeführt, Bundesminister „bei der Erfüllung ihrer Regierungsaufgaben" (§ 1 ParlStG von 1974) v.a. im Verhältnis zum —> Parlament zu entlasten. Seit 1974 kann ihnen auch der Titel —> Staatsminister verliehen werden. PStSe befinden sich in einem öffentl.-rechtl. Amtsverhältnis (§ 1 Abs. 3 ParlStG), sind de jure aber nicht Mitglieder der -> Bundesregierung. Sie müssen im Gegensatz zu Ministem oder dem -» Bundeskanzler dem -> Bundestag angehören, stellen damit eine Besonderheit innerhalb des —> parlamentarischen Regierungssystems in Dtld. dar. Sie werden vom —> Bundespräsidenten auf Vorschlag des Bundeskanzlers ernannt, der dabei Einvernehmen mit dem Bundesminister herzustellen hat, in dessen —> Ressort der PStS dient. Der Minister hat auch weitgehende Weisungsrechte gegenüber dem PStS. De facto erfüllen sie aber primär Regierungsfunktionen und vertreten den Minister (ohne Stimmrecht) im -> Kabinett, beantworten parlement. —> Anfragen (insbes. in der —> Fragestunde), nehmen an —• Sitzungen der —> Ausschüsse, ihrer —> Fraktion und deren Untergliederungen (Arbeitskreise / Arbeitsgruppen) teil oder treten nach außen als Vertreter des Ministeriums auf. Ihre Zahl stieg von ursprünglich 7 PStS 1967 auf teilw. mehr als 30 PStS (1990), übertrifft mithin die Zahl der Minister (15-20) erheblich. Die Erwartung dieser Institution als sog. Ministerschule hat sich nach anfänglichen Erfolgen nicht erfüllt. Heute fallen PStS unter die Koalitionsarithmetik und erweitem als eigener Karriereweg die Möglichkeiten, Parlamentarier in ein Regierungsamt zu bringen. PStS dürfen nicht
Parlamentarischer Untersuchungsausschuß mit beamteten -> Staatssekretären, mit denen sie ein nicht unproblematisches Verhältnis verbindet, verwechselt werden. Lit: F. P. Gallois: Rechtsstellung und Aufgaben des Parlament. Staatssekretärs, Mainz 1983. H.G.
Parlamentarischer Untersuchungsausschuß —> Untersuchungsausschuß —» s.a. Enquete Parlamentarisches -> Parlamentsrecht
Gewohnheitsrecht
Parlamentarisches Regierungssystem Eine spezifische Erscheinungsform der modernen repräsentativen -> Demokratie. Unter diesen Oberbegriff fallen auch andere Formen wie das —> präsidentielle Regierungssystem (-» Verfassung, amerik.), das Direktoralsystem (der Schweiz) und „Mischformen" zwischen parlament. und präsidentiellen Regierungssystemen (—> Verfassung, frz.). Im Unterschied zu anderen Spielarten der repräsentativen Demokratie bzw. des -> Parlamentarismus geht in PR die -» Regierung aus dem -» Parlament hervor und ist in ihrer Amtsführung und Amtsdauer vom -> Vertrauen des Parlaments bzw. dessen Mehrheit abhängig. Anstelle der klassischen —> Gewaltenteilung zwischen -> Legislative und -> Exekutive unterstützt und verteidigt diese Mehrheit im Parlament die Regierung, während sich deren Kontrolle und Kritik vorrangig auf die —> Opposition (parlament. Minderheit) verlagert. In Sonderfällen kann sich die Regierung nur auf eine Minderheit der -> Abgeordneten stützen, wird aber von weiteren toleriert. Für PR ist eine starke Position der —> Parteien und ihrer -» Fraktionen in der Volksvertretung charakteristisch. Nach Κ. v. Beyme lassen sich PR durch folgende institutionelle und polit. Merkmale von anderen abgrenzen: a) Die Mitglieder der Regierung werden i.d.R. aus dem Parlament rekrutiert; es besteht folglich keine —> Inkompatibilität zwischen Exekutive und Legislative, b) Die
Pari. Regierungssystem Regierung ist dem Parlament verantwortlich und muß zurücktreten, wenn das Parlament ihr das Vertrauen entzieht, c) Das Parlament kontrolliert die Regierung durch —> Anfragen, -> Ausschüsse und andere Instrumente, d) Parlamentsmehrheit und Regierung arbeiten eng zusammen, die institutionelle Gewaltenteilung wird zugunsten einer funktionellen zwischen Regierung und Opposition abgelöst. e) Das —> Staatsoberhaupt, in Ausnahmefällen sogar selbst vom Parlament gewählt, hat höchstens ein Ernennungsrecht für den Regierungschef und die Kabinettsmitglieder, das nicht gegen die Parlamentsmehrheit ausgeübt werden darf, f ) Das Parlament kann i.d.R. vom Staatsoberhaupt auf Verlangen des Regierungschefs aufgelöst werden (Ausnahme u.a. BRD), g) Der Regierungschef (—> Premierminister, -> Bundeskanzler) hat zumeist eine hervorgehobene Stellung bei der Auswahl seines Kabinetts und polit. Entscheidungen (—> Richtlinienkompetenz). h) Die —> Legitimität von Opposition, kritischer —> Öffentlichkeit und turnusmäßigem Regierungswechel wird allgemein anerkannt, i) Eine polit. -» Willensbildung über polit. Parteien und eine organisierte Parlamentsarbeit über Fraktionen haben sich grds. durchgesetzt. Das entscheidende Merkmal, daß die Regierung durch das Parlament abberufen werden kann, und damit die besondere —> Verantwortung der Mehrheit für die Stabilität der Regierung erfordert eine erhebliche Fraktions- und Koalitionsdisziplin. Zur weiteren Differenzierung PR kann dieses Merkmal durch andere ergänzt werden: wie die Auflösung des Parlaments geregelt ist (—> Parlamentsauflösung); ob und wie Abgeordnetenmandat und Regierungsamt miteinander vereinbar sind; ob es sich um einen Einheitsstaat oder einen —> Bundesstaat handelt; welcher -> Kammer der Volksvertretung in —> Zweikammersystemen das Recht zusteht, die Regierung abzuberufen. Typisch für PR ist eine „doppelte Exekutive" von Staatsoberhaupt und Re-
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Parlamentarisches Regierungssystem gierungschef, während in präsidentiellen Systemen beide Funktionen in einer Person vereint sind. Das Zusammenspiel von Staatsoberhaupt und Regierungschef kann zu unterschiedlichen Konstellationen führen. Grds. unterscheidet W. Steffani 4 mögliche Strukturtypen: a) eine weitgehend ausbalancierte Kompetenzverteilung zwischen Staatsoberhaupt und Regierung (Exekutivkooperation; Beispiele: ΙΠ. und IV. Republik Frankreich, Italien, öst.); b) dominierende Kompetenzen auf Seiten des Regierungschefs (Premier- bzw. Kanzlerdominanz oder -hegemonie: Großbritannien, BRD, Schweden); c) Kompetenzen eindeutig zugunsten des Staatspräsidenten (Präsidialdominanz; Beispiele: Weimarer Republik, V. Republik Frankreich, Finnland, Griechenland); d) fundamentale Schwächung der „doppelten Exekutive" zugunsten des Parlaments (Versammlungsdominanz; Beispiele: Konventsverfassung von 1793 in Frankreich, Versammlungsregierung, denkbar als entwickelte Rätesysteme). In den o.g. Merkmalen und ihrer Bündelung in der Formel vom PR werden die Rolle des Parlaments, der Legislative und ihr Zusammenspiel mit der Regierung besonders betont. Demgegenüber liegen Betonung und Augenmerk stärker auf der Exekutive, auf Regierung und -> Verwaltung, wenn vom polit.-administrativen System die Rede ist. Es wird also jeweils ein bestimmter Ausschnitt des Ganzen besonders ausgeleuchtet, während andere Bereiche eher unterbelichtet bleiben. Zum polit. System, das weiter reicht, zählen ausdrücklich auch die Parteien, -> Verbände, -> Bürgerinitiativen und weitere polit. Akteure. Hintergrund dieser Bezeichnungen ist eine allgemeine Systemtheorie, die sich gegenüber der älteren Institutionenkunde durchgesetzt hat. Das PR der BRD ist v.a. mit Blick auf die Stabilität der Regierung (—• Fünf-ProzentKlausel, Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, konstruktives Mißtrauensvotum, Kompetenzgrenzen des -> Bundespräsidenten usw.) konstruiert wor-
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Parl. Regierungssystem den, um ein neuerliches Scheitern wie das der Weimarer Republik tunlichst zu vermeiden. Dieses Bestreben ist nachvollziehbar, überschätzt jedoch die Bedeutung polit.-institutioneller Regelungen, von —> Verfassungen und —> Geschäftsordnungen für das Funktionieren und den Bestand repräsentativer Demokratien. Beides hängt viel eher von gesellschaftl., Ökonom, und polit.-kulturellen Rahmenbedingungen ab. Der These, es handele sich in Dtld. um ein strikt repräsentatives System, ist mit dem Hinweis auf plebiszitäre Elemente in den Verfassungen der Bundesländer und auf der kommunalen Ebene sowie auf quasi-plebiszitäre Elemente auf Bundesebene widersprochen worden (QuasiVolkswahl der Regierung, des Kanzlers): Während die Verfassungsregeln vorwiegend repräsentativen Charakter hätten, kämen ihre plebiszitären Elemente in bestimmten polit. Konventionen zum Ausdruck. Die Kritik am PR nimmt gleichwohl auch in Dtld. wieder zu. Zum Abbau von Parteien- und Politikverdrossenheit werden vielfach mehr plebiszitäre Instrumente und neue Politikformen gefordert - nicht als Alternative zum PR, sondern zu dessen Anreicherung. Leitstern dieser Kritik ist eine „starke", eine „deliberative" oder eine „reflexive" Demokratie mit ausgeprägter Bürgerbeteiligung. Sie richtet sich nicht nur gegen die etablierten Parteien und verfestigten Interessen, sondern auch gegen die strukturelle Asymmetrie zwischen Regierung und Verwaltung einerseits und Parlament andererseits. Gegenüber dieser systemimmanenten Kritik ist jene, die den Parlamentarismus gänzlich überwinden wollte, heute nahezu bedeutungslos. Histor. ist das présidentielle System älter als das parlement.. Über die histor.-empirische Entwicklung des Parlamentarismus und systematisch-funktionale Typologien hinaus wird in den letzten Jahren zunehmend nach der Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Regierungssysteme geforscht. Das Interesse richtet sich dabei weniger -
Parlamentarisches Untersuchungsrecht wie frührer - auf die Arbeitsweise des Parlaments (—> Redeparlament vs. —> Arbeitsparlament) und die Stabilität der Regierung, sondern vorrangig auf die materiellen Politikergebnisse (-> Wirtschaftswachstum, -> Arbeitslosigkeit, Wohlstandsniveau usw.), welche die jeweiligen Systeme hervorbringen oder zulassen. Einige Studien deuten hier auf charakteristische Strukturschwächen präsidentie] 1er Systeme und eine gegenüber PR geringere Fähigkeit zur Problemlösung hin. Diese erzielten in der Repräsentation und Wählerbeteiligung, bei der Förderung von Minderheiten und der Bekämpfung von Wirtschaftsproblemen insg. bessere Ergebnisse. Da alle polit. Systeme spezifische Stärken und Schwächen aufweisen, sollten solche Erkenntnisse jedoch nicht überinterpretiert werden. Sie decken sich allerdings mit amerik. Stimmen, die mit eben diesem Argument für die USA den Übergang vom präsidentiellen zu einem PR fordern. Die neuen Demokratien Osteuropas stellen vielfach noch Experimentierfelder zwischen Parlamentarismus und Präsidentialismus dar. Lit: U. Bermbach (Hg.): Hamburger Bibliographie zum parlament. System der BRD 19451970, Opladen 1973 (mehrere Ergänzungen); K. v. Beyme: Die parlament. Regieningssysteme in Europa, München 3 1973; Th. Ellwein / J. J. Hesse: Das Regierungssystem der BRD, Opladen 8 1997; A. Lijphart (ed.): Parliamentary vs. Presidential Government, Oxford 1992; P. Schindler: Datenhandbuch zur Geschichte des Dt. Bundestages, (mehrere Bde.) Bonn 1983ff; M.G. Schmidt: Demokratietheorien, Opladen 1995; W. Steffani: Parlament, und présidentielle Demokratie, Opladen 1979;/?. Grafv. Wesphalen (Hg.): Parlamentslehre, München M996.
Göttrik Wewer Parlamentarisches Untersuchungsrecht -> Enquete -> s.a. Untersuchungsausschuß Parlamentarisierung Im grundsätzlichen Begriffsverständnis ursprünglich der Prozeß einer Aufwertung von ständischen
Parlamentarisierung Vertretungsorganen (-> Stände) durch verfassungspolit. Änderungen in repräsentative —> Volksvertretungen. Analog ist auch die Einrichtung eines —> Parlaments als repräsentatives Entscheidungsorgan in einem polit. System als P. zu kennzeichnen. Der Prozeß der P. ging einher mit den Bestrebungen des Bürgertums, sich von der Herrschaft des Adels und der Kirche zu emanzipieren. Insofern kann er nicht mit —> Demokratisierung gleichgesetzt werden. Er schuf aber mit dem Parlament eine —> Institution, die es anderen gesellschaftl. Gruppen (Arbeiterschaft, Frauen) ermöglichte, sich die Teilhabe an der Macht zu erkämpfen. Der Begriff P. setzt die Entstehung des Parlaments als Typus der repräsentativen Volksvertretung voraus, in der durch Mehrheitsentscheidungen die Auswahl der -> Regierung, die Schaffung von -> Gesetzen, die Besteuerung und der Haushalt des -» Staates verbindlich beschlossen werden. Dieser Zustand wurde in Großbritannien am Ende des 19. Jhd.s erreicht. Das -> Unterhaus des Parliament of Westminster wurde zum Vorbild des Typus Parlament und lieferte auch den Namen (-> Verfassung, britische, —• Parlamentsgeschichte, britische). Dieser Typus des Parlaments setzte sich in vielen europ. Staaten durch. Seine Attraktivität hinsichtlich der —> Legitimation von -> Herrschaft zeigt sich auch darin, daß viele -> Diktaturen scheinbar eine P. durch die Schaffung von Vertretungskörperschaften vollzogen, die nach parlament. Formen arbeiteten, ohne jedoch die für ein Parlament unerläßliche plurale Diskussion zuzulassen. Die Fähigkeit zur Legitimation von Herrschaft durch parlament. Verfahren und Vertretungsmodalitäten hat nicht nur zur Einführung von parlament. arbeitenden Gremien im Staatsaufbau pluralistischer —> Demokratien mit —> Landesparlamenten, -> Gemeinderäten und —• Kreistagen geführt, sondern auch zur Übernahme dieser Verfahren in Gremien gesellschaftl. —> Verbände wie Vereine und —> Körper-
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Pa ria men ta rism us schatten des öffentlichen Rechts, aber auch der —> Verwaltung (Konferenzen) und der -> Wirtschaft (-> Betriebsrat). Durch diesen Trend zur P. vieler Bereiche des Lebens wird vor dem Demokratieprinzip dem Partizipationsanspruch der Bürger genüge getan, jedoch die -> Verantwortlichkeit der polit. Spitzengremien, auch die des nationalen Parlaments, letztlich geschwächt. Dieselbe Wirkung tritt in ambivalenter Weise durch ein seit der Zeit nach dem Π. Weltkrieg zu beobachtendes neues Phänomen auf: die P. der internationalen Beziehungen. Diese ist in 2 Formkreisen zu beobachten, in den internationalen Regierungsorganisationen und in transnationalen Versammlungen. Hatten die großen Diplomatenkonferenzen des 19. Jhd.s noch geheim verhandelt und nach dem Konsensprinzip beschlossen dies herrschte auch noch nach Art. 5 der Satzung in der Bundesversammlung des Völkerbundes (mit der einzigen Ausnahme von Verfahrensfragen) -, so entscheiden die Generalversammlung der -> Vereinten Nationen wie ihr Sicherheitsrat nach dem Parlament. —• Mehrheitsprinzip, obwohl Art. 2 (1) der Satzung die Bedeutung der souveränen —> Gleichheit aller Mitglieder und Art. 4 und 7 das Interventionsverbot in die inneren Angelegenheiten der Staaten betonen, so daß einerseits die Frage der —> Souveränität von überstimmten Staaten auftritt und andererseits die Frage nach der Art der Legitimation möglicher internationaler Interventionen in nationale Belange. Die öffentl. Verhandlung über internationale Fragen und nationale Belange, die für eine Weltfriedensordnung von Bedeutung sind, nach -> Satzung, —> Geschäftsordnung und parlament. Gepflogenheiten stärkt die Legitimation von Entscheidungsgremien in den Internationalen Beziehungen. Dies betrifft nicht nur die UNO selbst, ihre Nebenorganisationen, sondern auch Sonderorganisationen wie den Internationalen Währungsfonds, in dem allerdings nicht nach dem Prinzip „ein Staat - eine Stimme" abgestimmt wird, sondern nach
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Parlamentarisierung einem an den Kapitaleinlagen eines Mitgliedes ausgerichtetem gewichteten Modus. Beginnend mit der Beratenden (seit 1974: Parlament.) Versammlung des 1949 gegründeten —> Europarates entstanden bei einigen der durch europ. Regierungen gegründeten Internationalen Organisationen (-> EGKS /-> EG / —> EU, -*· WEU, —> OSZE-Versammlung) und durch direkte transnationale Kooperation von Parlamentariern in der Nordatlantischen Versammlung bei der —• NATO unter Einbeziehungen von Parlamentariern aus den USA und Kanada und im Nordischen Rat Gremien, in denen Parlamentarier aus den Mitgliedstaaten Probleme der Regierungsorganisation und der Mitgliedstaaten debattieren, in Resolutionen nationale Grenzen übergreifende polit. Konzeptionen verfassen und eine polit. -» Öffentlichkeit für Probleme der internationalen Beziehungen herstellen. Bis auf die seit 1979 direkt gewählten —> Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden die Mitglieder der Versammlungen von den nationalen Parlamenten delegiert. Typisch ftlr die Arbeitsweise der transnationalen Parlamentarier ist die Überschneidung vom Denken in Kategorien nationaler Orientierung und Loyalität einerseits und in Werte und Traditionen polit. Richtungen, die sich den Versammlungen zunehmend stärker in polit. -> Fraktionen organisieren, andererseits. Es entsteht eine polit. Klasse von transnational arbeitenden Parlamentariern, die zunehmend professionell integrative Politik zwischen den Staaten und Gesellschaften ihrer internationalen Organisation betreiben. Die Herstellung einer internationalen Öffentlichkeit durch P. der internationalen Beziehungen hat die eigenständige Handlungsfähigkeit der Regierungen bei der Führung der —> Außenpolitik eingeschränkt. Diese ist kein Arkanum der Regierung mehr, sondern muß zunehmend nach innen parlament. verantwortet und nach außen in den internationalen Foren
Parlamentarismus
Parlamentarismus
der Regierungen gerechtfertigt werden. Lit: Κ. Kluxen (Hg.): Parlamentarismus, Köln, Berlin 21969; E. Kuper: Transnationale Versammlung und nationales Parlament Einige Überlegungen zu Funktion und Leistung des Parlamentarismus in den internationalen Beziehungen, in: ZPart 1991, S. 620ff.; ders. / U. Jun (Hg.): Nationale Interessen und integrative Politik in transnationalen Parlament Versammlungen, Opladen 1997; F. W. Scharpf: Legitimationsprobleme der Globalisierung. Regieren in Verhandlungssystemen, in: C. Böhret / G. Wewer (Hg.), Regieren im 21. Jhd. - zwischen Globalisierung und Regionalisienmg, Opladen 1993, S.165ff
Ernst Kuper Parlamentarismus 1. P. bezeichnet eine bis ins Mittelalter zurückgehende polit. Vertretung (des Volkes) in Form in einer gewählten oder berufenen Versammlung, welche im Rahmen einer öffentl. Ordnung mit zentralen Beratungs- und Beschlußrechten bzgl. des Gesetzgebungsprozesses, insbes. der Haushaltsgesetzgebung und der Bildung und Kontrolle einer Regierung versehen und betraut ist. Die Begriffsgeschichte von Parlament und P. verweist auf ihren histor. Gebrauch. Zurückgehend auf das lat. „parabolare", aus welchem sowohl die ital. Bezeichnung „parlare" wie die frz. „parier" und das mittellat. „parlamentan" gebildet wurden, meint der Begriff zunächst, sich über einen Gegenstand besprechen oder beraten. Während seit dem 13. Jhd. in Frankreich die obersten Provinzgerichtshöfe Parlements genannt wurden - bis zur Frz. Revolution 1789 war das frz. Zentralparlament oberster Gerichtshof -, ordnet sich der Begriff in England als Parliament um die Versammlung des Königs mit den —• Ständen. In Spanien war die Bezeichnung Cortes, in Schweden Reichstag oder in den Niederlanden Generalstaaten dafür in Verwendung. Vor allem der Prozeß der Nationalstaatswerdung und mit ihm die Auflösung ständischer Ordnung sind als zentrale histor. Bedingungen der Entwicklung zur parlament. —• Repräsentation in Westeuropa zu nennen. Durch sie
unterscheidet sich der P. des modernen demokrat. Verfassungsstaates von dieser älteren Form fürstlicher Ratsversammlungen und der späteren ständestaatl. Vertretung. Der klassische P. verkörpert sich in der Entwicklung im engl. Parlament, welches sich mit beginnendem 18. Jhd. das Recht der Ministeranklage sicherte, aus dem sich im Zuge der -> Parlamentarisierung der Exekutive die -> Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament entwickelte. In der Systematik demokrat. Herrschaftsordnungen werden das —> parlamentarische und das —> présidentielle Regierungssystem als Grundformen des P. unterschieden. 2. In der Mitte des 19. Jhd. s wurde der aus dem Englischen entlehnte Begriff des Parlaments zum polit. Kampfbegriff. Gleichzeitig setzte sich die Wortbedeutung als generalisierende Bezeichnung einer repräsentativen Volksvertretung in Dtld. mit und durch die Einberufung der -> Frankfurter Nationalversammlung 1848 bleibend durch. Üblich waren bis dahin der Gebrauch der nicht synonymen Begriffe der Ständeversammlung, der Landstände und des —> Reichstages. Bekanntlich hat sich —> Landtag zur Bezeichnung der parlament. Vertretungen in den Flächenstaaten der Bundesrepublik bis heute erhalten. In die Zeit des —> Vormärz fällt dann auch die Entwicklung von Wortbildungen wie parlament. Regierung, parlament. Prinzip (J. Stahl), parlament. Parteien, parlament. Minister (R. v. Mohl) oder parlament. Verfassung (H. v. Gagern) und der höchst unterschiedliche polit. Sprachgebrauch von P.: exemplarisch - den polit. Strömungen bis zur Gegenwart hin nicht fremd - gilt P. zunächst als eine Form von Herrschaft, in welcher die „Regierung nach der Pfeife der Herren Müller und Schulze tanzen muß, welche die Führer der liberalen Majorität sind, solange es demselben nicht beliebt, die Ministerportefeuilles selbst in die Hand zu nehmen und sich Exzellenz titulieren" zu lassen - in den Worten des Mitglieds des preuß. Abge-
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Parlamentarismuskritik ordnetenhauses R. Reichensperger (18101892). Zu dieser Zeit bildete sich auch das Verständnis von Parlament und P. als einer Versammlung von plappernden (plapperment), lärmenden und schwatzenden Volksvertretern. Ging es den Befürwortern des P. um die Festigung und Stärkung des Parlaments und damit um eine kompetenzsichemde Ausweitung der —» Volkssouveränität, so behaupteten, die dem Spätabsolutismus verhafteten Konservativen die Unvereinbarkeit von P. und —> Konstitutionalismus und wandten sich infolgedessen gegen jede Beschränkung monarchischer Souveränität. 3. In der in den 20er Jahren dieses Jhd.s emeut einsetzenden -> Parlamentarismuskritik haben sich die Begriffe von Parlament und P. bereits soweit generalisiert und damit auch neutralisiert, daß von P. heute in dem Sinne die Rede ist, als er die Gesamtheit aller Institutionen und Verfahren des parlament. Regierungssystems umfaßt wie er zugleich - und dies dürfte den Kern heutigen Gebrauchs ausmachen - die geistige Auseinandersetzung mit ihm, seine Rechtfertigung und Kritik wie Theorie und Praxis begrifflich einschließt. Lit.: L. Bergsträsser: Die Problematik des dt. Parlamentarismus, München 1950; Geschichtl. Grundbegriffe IV, S. 649ff.; K. Kluxen (Hg.): Parlamentarismus, Köln 1967; ders.. Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, Frankfurt/M. 1983; E. Schütt-Wetschky: Grundtypen Parlament. Demokratie, Freiburt 1984.
Rabatt Graf von Westphalen Parlamentarismuskritik ist das kritische Reflektieren über die Eigenarten, Leistungsmöglichkeiten und Leistungsgrenzen von —> Parlamenten als Typ einer polit. -> Institution; über die Funktionen, die Parlamente je nach der Struktur des Regierungssystems erfüllen, in welchem sie agieren; sowie über die tatsächliche Struktur, gesellschaftl. Vernetzung und Funktionsweise konkreter Parlamente, die jeweils - anhand ihrerseits zu hinterfragender Maßstäbe - beurteilt werden. In 652
Parlamentarismuskritik konkreter P. mischen sich meist grundsätzliche Sichtweisen mit zeitabhängig modischen Diskussionsfiguren sowie mit tagespolitisch motivierten Argumenten. Gegen —> Parlamentarismus schlechthin sich wendende Kritik findet sich in westlich beeinflußten polit. Kulturen kaum mehr. Das Zentralargument ihrer „rechten" Spielart war ein technokratischetatistisches: Moderne Gesellschaften bräuchten sachgemäße Entscheidungen, die sich nur von gut ausgebildeten Experten im Bereich der —> Exekutive, nicht aber von ideologisch argumentierenden Politikern im Parlament als - wie mitunter formuliert wurde - „Quasselbude" fällen ließen. Das Zentralargument der „linken" Fundamentalkritik wandte gegen den Parlamentarismus ein, er stehe wirklicher -> Demokratie durch die Umsetzung des Repräsentations- anstatt des Räteprinzips eher im Wege und verhindere eine umfassende Bürgerbeteiligung an polit. Entscheidungen. Im übrigen wirke der Parlamentarismus nur solange integrations- und legitimationsstiftend, wie er noch von der Fiktion zehren könne, sich zur Kontrolle von Regierungsmacht zu eignen. Mit dem Ende der Attraktivität marxistischer Politikanalyse entfielen die wissenschaftssoziologischen Grundlagen der „linken" Fundamentalkritik, während der Zusammenbruch rechter autoritärer Regime in Südamerika und Südeuropa ebenso wie der Niedergang des realsozialistischen Autoritarismus den Kemgedanken ./echter" Fundamentalkritik um seine Überzeugungskraft brachte. Die heutige grundsätzliche P. wendet sich darum kaum mehr gegen Parlamentarismus an sich, sondern gegen seine konkreten Ausprägungen. Sie bewegt sich v.a. in 3Problembereichen: Sie betrifft das rechte Verständnis von repräsentativ ausgestalteter Demokratie; die Stellung des Parlaments im -> parlamentarischen Regierungssystem; und die Rolle von —> Parteien im Rahmen einer —> repräsentativen Demokratie. Hinsichtlich des ersten Themenbereichs
Parlamentarismuskritik bildet den meist unausgesprochenen Ausgangspunkt der Kritik die Vorstellung, durch Parlamente bewerkstelligte repräsentative Demokratie sei nur eine Ersatzoder Übergangslösung für die eigentlich anzustrebende direkte Demokratie. Nur soweit sich diese nicht realisieren lasse, wäre parlament. Demokratie akzeptabel. Folgerichtig wird dann für möglichst umfangreiche plebiszitäre Elemente im Rahmen einer Parlament. Demokratie plädiert. Diese Richtung der P. drängt den Gedanken in den Hintergrund, auch —> Politik und polit. Institutionenbildung seien Formen gesellschaftl. Arbeitsteilung. Darum wird femer verkannt, daß es hinsichtlich von Parlamenten diese Arbeitsteilung selbst unter demokratietheoretischen Prämissen nicht um jeden Preis rückzubauen, sondern nur so auszugestalten gilt, daß die Parlamentarier an die Wünsche und an die Zustimmungsbereitschaft der Bevölkerung gebunden bleiben. Im zweiten Themenbereich grundsätzlicher P. spielen traditionelle Gewaltenteilungsvorstellungen von einem strikten Gegenüber von -» Legislative und Exekutive eine folgenreiche Rolle. Sie wurden entwickelt, als der Aufstieg des engl. Parlaments zu einem Gleichstand mit der Macht der Krone geführt hatte (-> Verfassung, brit.). Im amerik. Regierungssystem wurde dieser Gleichstand im Gegenüber von —* Präsident und —> Kongreß verfassungsrechtl. fixiert (—> Verfassung der USA). Da auch in den dt. —> konstitutionellen Monarchien des 19. Jhd.s Regierung und Parlament einander strikt gegenüberstanden, wurde das Strakturmodell des -> präsidentiellen Regierungssystems zur Normvorstellung vom gewaltenteilig angemessenen Verhältnis zwischen Parlament und Regierung. Die engl. Weiterentwicklung der Parlamentsmacht bis hin zur faktischen polit. Abhängigkeit der Regierung von der Parlamentsmehrheit, also den Durchbruch zum parlament. Regierungssystem, vollzog in Dtld. das Verfassungsdenken hingegen nur müh-
Parlamentarismuskritik sam, das populäre Denken kaum nach. Der neue Dualismus zwischen Regierung und regierungstragender Parlamentsmehrheit auf der einen Seite und der parlament. -> Minderheit (d.h. der parlament. -> Opposition) auf der anderen Seite wird darum oft als Abweichung von der als vorbildlich geltenden Form des alten Dualismus einer -> Gewaltenteilung zwischen der Regierung und dem gesamten Parlament angesehen. Gerade die ordnungsgemäße Erfüllung seiner Funktionen im parlament. Regierungssystem wird einem Parlament dann kritisch, und letztlich entlegitimierend, als Verstoß gegen seine originären Aufgaben vorgehalten. Im einzelnen bezieht sich die Kritik dann auf die Entsendung führender Parlamentarier in die Regierung; auf die zur Regierungsstabilität beitragende Fraktionsdisziplin; sowie auf die Dominanz der Regierung als des exekutiven Arms der Parlamentsmehrheit - im Gesetzgebungsverfahren. Seinen Gipfel erreicht dieser Strang der P. dort, wo ausgerechnet die Verschmelzung von Parlamentsmehrheit und Regierung als Funktionsverlust der Parlamente und als deren Abstieg von der machtvollen Position eines institutionellen Gegenspielers zur Regierung ausgegeben wird. Solche P. ist, wie demoskopische Untersuchungen ebenso wie Befragungen von Abgeordneten zeigen, in Dtld. äußerst populär. Sie beruht auf einem gründlichen Mißverständnis des neuartigen Charakters des parlament. Regierungssystems. Im dritten Themenbereich grundsätzlicher P. werden Elemente der liberalen Parlamentarismustheorie, die sich vor dem Entstehen moderner Parteien entfaltete, gegen den von starken Parteien getragenen demokrat. Staat ins Feld geführt. Zum Vorwurf wird zumal parlament. Regierungssystemen dann gemacht, daß die Wahlentscheidung faktisch kaum auf einzelne Kandidaten für Abgeordnetenmandate, sondern auf Parteien und auf deren landesweite Führer bezogen ist; daß Abgeordnete i.d.R. Parteiführer auf regionaler Ebene sind und bleiben, so daß in-
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Parlamentarismuskritik nerparteiliche und innerfraktionelle Willensbildung eng miteinander verwoben sind und die Parteien insg. eine dominierende Stellung im polit. Willensbildungsund Entscheidungsprozeß besitzen; sowie daß die Abgeordneten Loyalitätsbindungen zu ihren Parteien in Form von Fraktionsdisziplin an den Tag legen und das im allgemeinen auch tun müssen, wenn sie wieder aufgestellt und von der Klientel ihrer Parteien gewählt werden wollen. P. nimmt dann entweder die Form einer Ablehnung der —> Parteiendemokratie an oder wendet umgekehrt den von starken Parteien getragenen Gedanken der Parteiendemokratie gegen das Prinzip Parlament. Repräsentation. Allzu selten wird hingegen bemerkt, daß zwar erst die parteienstaatl. Ausprägung parlament. Demokratie den Bürgern auch zwischen den - » Wahlen einen effizienten Einfluß auf die Abgeordneten sichert, daß aber zugleich nur das —> freie Mandat es dem Abgeordneten erlaubt, im Rahmen polit. Arbeitsteilung die von ihm zu erfüllende Dienstleistungsfunktion polit. —> Führung und Regierungskontrolle zu erfüllen. Im oft wenig bewußten Kontext solcher grundsätzlicher Kritiken, eingebettet in Mißverständnisse und vielfache Kenntnislosigkeit, sowie aktualisiert von skandalösen Einzelfällen, gibt es ferner die populäre P.; sie entfaltet sich i.d.R. als Abgeordnetenkritik. Ihr polit. Stellenwert geht daraus hervor, daß Parlamente und Abgeordnete in Dtld. wenig Vertrauen und Ansehen genießen. Die wichtigsten, hierzu beitragenden Kritikpunkte sind: die Abgeordneten wären von den Bürgern abgehoben, so daß die Bevölkerung sich nicht mehr in der parlament. getragenen Politik wiedererkenne; das Plenum erfülle nicht seine Aufgabe, unter Beteiligung aller Parlamentarier eine Stätte ergebnisoffener Beratung zu sein; die Parteien hätten einen zu großen Einfluß auf die Abgeordneten; dasselbe gelte für Interessengruppen; die Parlamentarier leisteten für zu hohe Gehälter zu wenig konkrete Arbeit; und insg. seien die Par-
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Parlamentarismuskritik lamente zu aufwendig und zu teuer. Angesichts solcher populärer P., doch auch hinsichtlich der grundsätzlichen P., wird ein sachkundiger Beobachter sich immer noch E. Fraenkels Beurteilung anschließen wollen: Das Kritikwürdigste am dt. Parlamentarismus ist die an ihm geübte Kritik. Indessen gibt es auch einen wichtigen und von diesem Diktum unbetroffenen Strang der P.; er setzt an bei der Frage, welche Steuerungs- und Kontrollfunktionen Parlamente in einer komplexen Industrie- und Wohlfahrtsgesellschaft zu erfüllen haben, und überprüft sodann, wie gut sie solche Anforderungen tatsächlich erfüllen. In Dtld. entfaltet sich die hieraus entspringende Kritik in 5 Bereichen: 1. geht es um die Erfüllung parlament. Funktionen innerhalb der schwer überschaubar gewordenen, mit vielfältigen, auch informellen Rückkoppelungen ausgestatteten —> Politikverflechtung zwischen der Landes-, Bundes- und europ. Ebene. 2. geht es um die Sachkundenot der Parlamente angesichts der enormen Ausweitung der parlament. zu kontrollierenden und mitzugestaltenden Staatstätigkeit zumal im —> Wohlfahrtsstaat und des entsprechenden Kompetenzvorsprungs der Exekutive. 3. geht es um die Formen des Zusammenwirkens zwischen den Parlamenten und den polit. Nebenmächten etwa den wichtigen Interessengruppen: weder dürfen diese in einem pluralistischen Staatswesen parlamentsabsolutistisch ausgegrenzt werden, noch darf es zum Versickern öffentl. zurechenbarer Entscheidungsverantwortung kommen (-» Lobbyismus). Auch darf der legitime Einfluß solcher Nebenmächte nicht zu Politikblockaden auf parlament. und Regierungsebene führen. Ein 4. Kritikbereich ist die kommunikative Schwäche von Parlamenten. Obwohl -> Legitimation durch Kommunikation (Heinrich Oberreuter) eine ihrer zentralen Aufgaben ist, stehen die Parlamente im kommunikativen Windschatten von Regierungen und Parteiführungen und ist die mediale Prä-
Parlamentsarchitektur senz des einzelnen Abgeordneten in der lokalen —> Presse weitestgehend entpolitisiert. 5. Bereich systemimmanenter P. ist schließlich die Rekrutierung für Parlament. Mandate, also die Sorge um die Qualität, Kompetenz, Interessenlage und Integrität jenes Personenkreises, für den eine parlement. Laufbahn attraktiv ist, ohne welche wiederum Regierungsämter im parlament. Regierungssystem meist nicht zu erreichen sind (-» s.a. Elite). Lit.: H. Becker: Die Parlamentarismuskritik bei Carl Schmitt und Jürgen Habermas, Berlin 1994; J. Defrasne: L' antiparlementarisme en France, Paris 1990; P. M. Huber: Zur Lage der Parlament. Demokratie, Tübingen 1995; R. Scholz: Krise der parteienstaatl. Demokratie?, Berlin 1983; H. Wasser (Hg.): Parlamentarismuskritik vom Kaiserreich zur BRD, Stuttgart 1974.
Werner J. Patzelt Parlamentsarchitektur In seinem Standardwerk „History of Building Types" ordnet Sir N. Pevsner (1976) Parlamentshäuser in die Rubrik „Government buildings from the eighteenth century, Houses of Parliament" ein, eine etwas unglückliche Entscheidung, denn in Systemen, in denen -> Parlamente die ihnen zugedachte Rolle spielen, sind sie nicht Teil der Regierung, sondern deren Kontrollinstanz. Die meisten Bauten, die für Regierungen errichtet bzw. umgebaut wurden, sind wenig mehr als Bürohäuser. Parlamente und Versammlungen müßten daher unter dem Rubrum „Bauwerke für Versammlungen" bzw. „Versammlungsstätten" eingereiht werden: Kultbauten (Kirchen, Tempel, Synagogen, Moscheen), Theater, Sportstätten, Arenen, Kinos etc. Ein Mischtypus ist das Rathaus; in Europa und anderswo verfügt die jeweilige Beratungsinstanz auch über einen Versammlungssaal, in dessen Gebäude der Bürgermeister, Stadtdirektor etc. und ihre Mitarbeiter über Büros und kleine Beratungsräume verfügen. Parlamentshäuser sind auch mit Büros für die Vertreter selbst sowie für die Parlamentsverwaltung ausgestattet. Das Gehäuse für
Parlamentsa rch itektu r ein Parlament hat eine vielschichtige Gestalt; teils Versammlungsstätte, teils Bürohaus. Die bedeutendsten Parlamente haben auch eigene Bibliotheksräume, aber nur ein Parlament, der amerik. —> Kongreß hat die Bibliothek in ein separates und speziell dafür errichtetes Haus, die Library of Congress, ausgelagert. Für die Zwecke eines Parlaments gibt es keine idealtypische Architektur, Versammlungsund Büroräume haben in allen möglichen Baustilen bereits bestanden: in Florenz im Palazzo Vecchio und in den Uffizi, in Rom im Palazzo Montecitorio, in London im St. Stephen's Chapel des Westminster Palace, in Paris im Palais Bourbon (assemblée nationale) und im Palais du Luxembourg (Senat). Frühe Parlamente in Dtld. fanden in umgebauten bzw. umgerüsteten Bürger- und Rathäusern statt. Auch für den eigentlichen Zweck der Abhaltung von parlament. Versammlungen gibt es keinen als verbindlich akzeptierten Baustil; Beispiele sind das USKapitol, der Reichstag, das Ungarische Parlament, die Parlamentsgebäude von London, Bem, Wien und der UNO. Dennoch gibt es, wenn nicht Regeln, so doch Anschauungen, die zu mißachten zum Bau von ungeeigneten Bauwerken führen können. Der Architekt muß wissen, ob das Parlament dem —> Einkammersystem bzw. dem —> Zweikammersystem zugehört; er muß weiter die Anzahl der Sitze, die Regeln für Erweiterungen oder Einschränkungen, -> Abstimmungen, Debattenablauf, d.h. alle Kompetenzbereiche des Parlaments kennen. Das Gelingen eines Parlamentsbaus hängt von dem guten Funktionieren des Plenarsaals ab, und dieses wird durch verschiedene Aspekte bestimmt: Dimensionen, Form, Sitzanordnung (Möblierung), Licht, Farbgebung, Plazierung der Gänge, Zu- und Abgang, Abstimmungsmodus. Techn. Fortschritt hat es erlaubt, innerhalb eines Jhd.s 2 Grenzen zu vernachlässigen: die der Hörbarkeit (elektrische bzw. elektronische Schallverstärkung) und die des Sehens (neue, effizientere Leuchtmittel). Dennoch
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Parlamentsarchitektur kann parlament. —> Demokratie erfolgreich in kleinen Räumen —> Unterhausund in sehr großen —> Europäisches Parlament in Strassbourg - praktiziert werden; sie funktioniert in eckigen Räumen Unterhaus - und in runden, in hohen und in tiefen, auch in elliptischen und ovalen -> Paulskirchenparlament - Räumen, und auch mit unterschiedlichen —> Sitzordnungen. Kein Parlament und keine Parlamentsbaukommission, in denen hierüber nicht gestritten wurde. Für jeden gibt es histor. Vorbilder: das Theatrum anatomicum in Padua (1594) oder seine Nachbildung in Paris (1771-75), sichtbar im Palais Bourbon, im Palais du Luxembourg, im US-Repräsentantenhaus. Häufig trifft man die Anordnung, wonach die Parlamentarier reihenweise an den Wänden eines eckigen Saales sitzen, z.B. frühere Konzile oder die Versammlungen des Vereinigten Landtags im Berliner Stadtschloß 1847. Auch die Verwendung von Glas oder Stein sagt nichts über die Zweckmäßigkeit des Bauwerks aus - die dt. Demokratie im gläsernen Bundestagsbau von Günter Behnisch funktioniert nicht besser oder schlechter als die engl, im steinernen, neogotischen Palace of Westminster von Sir C. Barry (18401862). Obwohl es verschiedentlich Aufrufe gegeben hat, als Kern eines Parlaments die Büroräume der —> Abgeordneten zu betrachten, ist es unmöglich, anders zu entwerfen, als vom Plenarsaal den Ausgangspunkt zu nehmen. Die wichtigste Aufgabe hängt mit der Sitzanordnung zusammen; schon 1916 schrieb der frz. Essayist, E. Lavisse: „Ein Architekt, der einen Plenarsaal entwirft, macht Politik". Die Sitzordnung drückt einiges über parlament. Brauch und Parlament. Selbstverständnis aus, sie beeinflußt zuweilen den Fortgang von —> Debatten und Abstimmungen. Allerdings ist es selten der Architekt allein, der diese Entscheidungen trifft; die meisten Sitzanordnungen sind Kompromisse, teils polit., teils polit.-ästhetische. Fast alle Parlamente haben versucht, etwas von der
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Parlamentsauflösung „Würde" des Hauses, von der Mischung zwischen Tradition und Zweckmäßigkeit und von der Kultur des Volkes durch den Bau zu transportieren. Schon das neue Reichstagsgebäude sollte nicht nur zweckmäßig, sondern zugleich ein Symbol der für Dtld. siegreichen kriegerischen Auseinandersetzungen sein, die zur Gründen des Deutschen Reiches 1871 führten. Häufig kommt es zu Zwistigkeiten über Art und Ausmaß von —• Repräsentation, wobei nicht selten kein Unterschied zwischen Repräsentieren i.S. des Stellvertretens oder des Darstellens gemacht wird. Sowohl beim Bau als auch bei der Ausstattung des von P. Wallot entworfenen Reichstagsgebäudes mit Kunstwerken zwischen 1882 und 1912 als auch in den Diskussionen über angemessene Kunst, über die Form des Bundesadlers im umgebauten Reichstag hat man erhitzte Debatten über die Art, histor. und polit. Persönlichkeiten und Vorgänge darzustellen, geführt. In solchen Fällen können nur lange Diskussionen mit allen Beteiligten ein ausgewogenes Maß treffen. Lit: M. S. Cuílen: Der Reichstag, Berlin 1995; W. Götze: Das Parlamentsgebäude, Leipzig 1960; J. Münzing: Parlamentsgebäude, Stuttgart 1977; P. Scott: Temple of Liberty, New York 1995; H. Wefmg: Parlamentsarchitektur, Berlin 1995.
Michael S. Cullen Parlamentsauflösung Der —• Bundestag kann sich nicht selbst auflösen. Dieses Recht steht verfassungsrechtl. vielmehr ausschließlich dem —> Bundespräsidenten zu. Dabei sind verschiedene Fälle der P. zu unterscheiden: a) Auflösung des BT im Anschluß an die Wahl des —> Bundeskanzlers (BK) gem. Art. 63 Abs. 4 GG, wenn der BT nicht in der Lage ist, mit der erforderlichen Mehrheit einen BK zu wählen; b) Auflösung des BT über die Ablehnung der -» Vertrauensfrage des BK gem. Art. 68 Abs. 1 GG. Der Präsident kann nach Art. 68 GG auf Vorschlag des BK den BT auflösen, wenn dieser nicht mehr das Vertrauen der Mehrheit
Parlamentsauflösung der BT-Mitglieder besitzt. In der polit. Praxis ist diese verfassungsrechtl. Bestimmung dahingehend modifiziert worden, daß über die Ablehnung der Vertrauensfrage eine vorzeitige Auflösung des BT erreicht wurde. 1972 und 1982 wurden von der jeweiligen Regierungsmehrheit Vorkehrungen getroffen um sicherzustellen, daß die Vertrauensfrage des BK mehrheitlich verneint wurde. Im 1. Fall 1972 blieben mehrere Mitglieder der sozialliberalen -> Bundesregierung der —» Abstimmung fern. Nicht abgegebene Stimmen wirken sich bei qualifizierten Mehrheitserfordernissen faktisch als Nein-Stimmen aus. Im 2. Fall 1982 enthielt sich die Mehrheit der Mitglieder der Regierungsfraktionen -> CDU/CSU und FDP der Stimme. Auch diese Enthaltungen wirkten sich faktisch als NeinStimmen aus. In den beiden Fällen kam es zur Ablehnung der Vertrauensfrage, obwohl der BK jeweils das Vertrauen der Parlament. Mehrheit besaß. Der BPräs. löste daraufhin den BT auf; er entsprach damit der Zielsetzung der Mehrheit bei der Ablehnung der Vertrauensfrage. Das -» Bundesverfassungsgericht, das 1982 das Verfahren zu prüfen hatte, über eine unechte Ablehnung der Vertrauensfrage zu vorgezogenen BT-Neuwahlen zu kommen (die neue Reg.koalition aus CDU / CSU und FDP wollte sich im Wege vorgezogener Neuwahlen ein reguläres Mandat der Wähler verschaffen und ihre Mehrheit im BT verbreitern), entschied mit Urteil vom 16.2.1983 (BVerfGE 62, Iff.), die Anordnung des BPräs. zur Auflösung des BT sei verfassungsgemäß gewesen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des BPräs. hätten die verfassungsrechtl. Voraussetzungen für die BT-Auflösung vorgelegen. Die Entscheidung über die Auflösung des BT liege im pflichtgmäßen Ermessen des BPräs.; in der öffentl. Diskussion sind diese Verfahren zur BT-Auflösung und die Entscheidung des BVerfG außerordentlich kontrovers beurteilt worden. Im Rahmen der Verfassungsreform 1989/94 wurde ein Selbstauflösungsrecht
Parlamentsautonomie des BT diskutiert, aber mit Rücksicht auf die Rechte und die Stellung des BPräs. nicht realisiert. Da nach der derzeitigen verfassungsrechtl. Lage lediglich über die negative Vertrauensfrage nach Art. 68 GG eine faktische Selbstauflösung des Bundestages möglich ist, wurde in Wissenschaft und Publizistik immer wieder die Frage gestellt, ob ein funktionsfähiger Parlamentarismus nicht des Instruments der Selbstauflösung des Parlaments bedarf. Dabei wird davon ausgegangen, daß durch das maßgebende Entscheidungsquorum für die Realisierung der Selbstauflösung sichergestellt werden kann, daß das Parlament wirklich nur in außerordentlichen Krisenlagen von diesem Recht Gebrauch macht, d.h. als ultimo ratio, wenn z.B. der Bundestag nicht mehr zur Bildung einer handlungsfähigen Regierungsmehrheit in der Lage wäre und insoweit funktionsuntüchtig geworden ist; offen bleibt, ob die Regierungskrise durch den Appell an die Wahlberechtigten und Neuwahlen wirklich gelöst werden kann. IM.: G. Püttner: Vorzeitige Neuwahlen - ein ungelöstes Reformproblem, in: NJW 1983, S. 15ff.; IV. Zeh: Bundestagsauflösung über die Vertrauensfrage - Möglichkeiten und Grenzen der Verfassung, in: ZParl 1983, S. 119ff. Hartmut Klatt
Parlamentsausschuß Committee
Ausschuß
Parlamentsautonomie Der -» Bundestag ist selbständiges oberstes -» Staatsorgan, das seine Angelegenheiten selbst ordnet, keiner Aufsicht eines anderen —» Organs unterliegt und nicht an Weisungen gebunden werden kann. Das GG sieht in Art. 40 vor, daß er seinen Präsidenten, dessen Stellvertreter und —» Schriftführer selbst wählt; femer, daß er selbst seine Organisation und sein Verfahren durch eine —> Geschäftsordnung regelt. Zu den Entscheidungen, die der Bundestag in eigener Sache treffen kann, gehören das -> Wahlrecht und die Wahlprüfung, die Verlänge-
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Parlamentsbeamte
Parlamentsdidaktik
rung oder Verkürzung der -> Wahlperiode, die Dauer der Sitzungsperioden, die Besetzung der parlament. Funktionen sowie die Bestimmung über den Sitz des Parlaments. Der Bundestag entscheidet auch selbst über die Rechtsstellung der Abgeordneten, wozu auch die Aufhebung der —> Immunität gehört, da diese als Schutz zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des gesamten Parlaments konzipiert ist. Zum Bereich der Rechtsstellung der Abgeordenten zählen auch deren Entschädigung und Versorgung. Die Selbstständigkeit des Parlaments zeigt sich außerdem in der Leitungsgewalt des —> Bundestagspräsidenten während der -> Sitzung, im Hausrecht und der Polizeigewalt (—> s.a. Hausinspektion) in den Räumen des Bundestages sowie in dem Verbot von Beschlagnahmen ohne Genehmigung des Präsidenten. Die Selbständigkeit wird ferner deutlich dadurch, daß der Bundestag einen eigenen Einzelplan im Haushalt des Bundes besitzt und damit über Mittel zur Erfüllung seiner Aufgaben verfügt, über deren Verwendung er selbst entscheidet. In diesem Zusammenhang ist auch die Entscheidung über die Mittel zu nennen, welche den —> Fraktionen aus dem Bundeshaushalt gewährt werden. Die Bildung der Fraktionen selbst unterliegt nach der Geschäftsordnung nur dann der Zustimmung des Bundestages, wenn sie Abgeordnete umfassen soll, die - abweichend vom Normalfall - nicht der gleichen Partei angehören bzw. Parteien, die in keinem Bundesland miteinander im Wettbewerb stehen und gleichgerichtete polit. Ziele verfolgen. Der Bundestag verwaltet sich selbst; der Präsident ist oberste Dienstbehörde und oberster Dienstvorgesetzter der Beamten und Angestellten der —» Bundestagsverwaltung. Lit.: W. Zeh: Parlamentarismus: Histor. Wurzeln - Moderne Entfaltung, in: E. Busch / E. Handschuh / G. Kretschmer / W. Zeh (Hg.), Wegweiser Parlament, Heidelberg51991, S. 1 Iff.
Britta Hanke-Giesers / Christoph Lotter Parlamentsbeamte 658
—» Bundestagsver-
waltung Parlamentsberichterstattung -> Parlamentarische Informationsdienste —• Berichtspflicht, parlamentarische Parlamentsbeschluß -> Beschlußfassung des Parlaments —> Schlichter Parlamentsbeschluß Parlamentsbrauch -> Parlamentsrecht Parlamentsdebatte -> Aussprache Parlamentsdidaktik Didaktik als Wissenschaft vom Lehren und Lernen wählt die Lerngegenstände aus und versucht, sie dem Lernenden z.B. durch Strukturierung, Reduzieren von Komplexität, Methodisierung, Veranschaulichung zu vermitteln. Dazu gehören auch Besuche von Lernorten, etwa Museen, Rathäusern, Parlamenten. Das —> Parlament als herausragende Stätte allgemeindidaktischer —• Politik erfüllt in Gestalt direkter, öffentl. Präsentation die Kriterien der Anschaulichkeit, Unmittelbarkeit und Bedeutsamkeit. Hier werden existentielle Entscheidungen für die -> Nation gefällt, und ein Dabeisein in Form aktueller oder virtueller (medial vermittelter) Präsenz fbrdert vermeintlich oder tatsächlich privilegierte Einsichten in polit.-parlament. Prozesse. Der didaktische Ansatz erfüllt einige Voraussetzungen für organisiertes, effektives Lernen. Nach den Ergebnissen der Kognitionspsychologie ermöglicht die Verbindung von Praxis und Theorie, von Anschauimg und Abstraktion - darin in der erkenntnistheoretischen Tradition der Verknüpfung von sinnlicher Wahrnehmung und Verstand stehend - die besten Bedingungen für das Gewinnen von Einsichten und begründeten Urteilen. Der außerschulische Lemort Parlament - ein Ort der Möglichkeit der direkten und indirekten staatl. Repräsentanz und durch den Kontakt zu den -> Abgeordneten wirkt attraktiv (manchmal auch ernüchternd) für den polit. Lemvorgang von
Parlamentsdidaktik Jugendlichen und Erwachsenen. Die Femsehübertragungen von Parlamentsdebatten sind dagegen allen Vorbehaltungen gegenüber den manipulativen Möglichkeiten dieses Mediums kritisch zu betrachten. Die Beschreibungen der Parlamente sind oft idealisierend. Sie setzen i.d.R. ein -> Arbeitsparlament voraus, in dem um Entscheidungen gerungen, polit. Streitkultur auf höchstem Niveau praktiziert wird. Solche Sternstunden parlament. Auseinandersetzung hat es in den ersten Jahrzehnten der (alten) BRD gegeben, als grundlegende Fragen der Nation quer durch die -> Fraktionen von hervorragenden Rednern debattiert wurden und die Ergebnisse der -> Abstimmungen bis zu Ende offen waren, z.B. beim dt. Wehrbeitrag, den —> Notstandsgesetzen, dem § 218 StGB, der Stationierung von Atomwaffen, der Sozialversicherung. Inzwischen sind die Plenarsitzungen häufig etwa im Gegensatz zum brit. -> Unterhaus und amerik. —> Kongreß - zu Schauveranstaltungen für die —> Öffentlichkeit degeneriert (während die Sachdiskussionen in den i.d.R. nichtöffentl. Ausschüssen unter den Fachleuten der Fraktionen erfolgen) und dienen der Erläuterung parteipolit. Standpunkte sowie der Abstimmung der —> Anträge durch die anwesenden Abgeordneten. Parlamentsbesuche deswegen für überflüssig zu erachten, scheint verfehlt. Im Gegenteil, sie verhelfen u.a. der Vergegenwärtigung von realistischen Politiksituationen. Warum sollten z.B. Hunderte von Bundestagsabgeordneten bemüht werden, wenn sowieso nur die Fachleute der Fraktionen die abzustimmende Gesetzesvorlage verstehen? Damit die Abstimmungsergebnisse infolge der Abwesenheit von Abgeordneten nicht verzerrt werden, pflegen die -> Fraktionsgeschäftsführer sich vorher über die notwendige Anzahl ihrer Mitglieder im -> Plenum zu verständigen. Bei schwierigen bzw. spektakulären Abstimmungen können die Abgeordneten aus ihren Büros kurzfristig in den Plenarsaal gerufen werden. Warum
Parlamentsdidaktik sollte der Abgeordnete während einer Sitzung nicht z.B. seine Akten lesen? Allerdings wird zugegeben, daß das Zeitunglesen in solchen Fällen eine schiefe Optik erzeugt und das Erscheinungsbild der -> Landtage, —• Kreistage und des Bundestages, des -> Europäischen Parlaments in den Augen der Zuschauer nicht gerade fördert. Andererseits kommt es didaktisch gerade darauf an: auf die Transparenz und Realistik polit. Verhaltensweisen und Entscheidungsvorgänge. Dies bedeutet unter methodischem Aspekt, daß Parlamentsbesuche in einen situativ kontextuellen Zusammenhang eingebunden werden müssen. Sie haben nichts mit Polittourismus zu tun. Desiderate sind jedoch eine intensive, wirklichkeitsnahe Vorbereitung (auch durch Beobachtungsaufgaben); eine Einfuhrung in die gerade verhandelte Materie (möglichst durch einen heimatlichen Abgeordneten); die Kenntnis einiger wichtiger parlament. Regeln, z.B. über die Festsetzung der Reihenfolge der Redner, die Verweisung in einen Ausschuß, das Verfahren der Endabstimmung und Termine, z.B. Gesetzesvorlage, -entwurf, erste, zweite —> Lesung; die genügend lange Teilnahme an einer Sitzung; eine Diskussion mit dem Abgeordneten (in erweiterter Form mit mehreren, hier nicht polemisch konkurrierenden Abgeordneten verschiedener —» Parteien). Von den Teilnehmern werden eine möglichst unvoreingenommene, aufgeschlossene Einstellung den Problemen gegenüber sowie vorbereitete Fragen erwartet, von den Abgeordneten eine sachliche, parteipolitisch gekennzeichnete Darstellung und Lösung(sansätze) der angesprochenen Themen. Einladungen erhält man durch den offiziellen Besucherdienst des Parlaments oder über einen Wahlkreisabgeordneten. Schließlich erfüllen Parlamentsbesuche neben einer aufklärerischen Funktion (das Verstehen von —» Politik) auch eine identitätsstiftende Aufgabe. Durch konkrete Inaugenscheinnahme des polit. Ambientes und den Umgang mit 659
Parlamentsdrucksache Parlamentariern erhalten Besucher eher die Möglichkeit, sich eine Vorstellung vom polit. Geschehen und seinen Akteuren zu machen. Gegenüber der Aktualität des Parlamentsbesuches hat die - hier nicht zu behandelnde - Virtualität des simulierten Parlamentsspiels, die oft die Komplexität auf unreflektierte eigene Erlebnisse reduziert und damit Politik simplifiziert, trotz ihrer vorgeblichen Handlungsorientierung nur einen eingeschränkten Wert. Lit. : H. Klatt: Die Landtage vor neuen Herausforderungen, in: G. Hepp u.a. (Hg.), Die schwierigen Bürger. Schwalbach/Ts. 1994, S. 69ff.; U. Sarcinelli: Parlamentsbesuche: Wege und Hindernisse bei der Auseinandersetzung mit der Parlament. Wirklichkeit, in: Gegenwartskunde 1993, S. 449ff; M. Wissel: Parlamentspädagogik und Multimedia - Erfahrungsbericht aus einem Projekt im Kieler Landtag, in: Gegenwartskunde 1995, S. 79ff; H.-U. Wolf: Parlamentsspiele eine Möglichkeit für handlungsorientierten Politikunterricht, in: Geschichte - Erziehung - Pädagogik 1994, S. 260ff.
Wolfgang W. Mickel Parlamentsdrucksache —> Bundestagsdrucksache Parlamentsfraktion —> Fraktion Parlamentsgeschäftsordnung —• Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages —> Parlamentsrecht Parlamentsgeschichte, britische Der brit. —> Parlamentarismus hat, gemessen an den anderen modernen parlement. Demokratien, die älteste Tradition. Es ist daher durchaus berechtigt, England als das Mutterland der —> Demokratie zu bezeichnen. Das heutige brit. Regierungssystem basiert jedoch nicht auf einer Verfassungsurkunde, sondern ist Ergebnis eines kontinuierlichen geschichtl. Prozesses (-> Verfassung, brit.). Die Ursprünge liegen bereits im 13. und 14. Jhd.; nachdem sich der Adel jahrelang gegen die Ausdehnung der zentralen 660
Pa rlamentsgesch ichte königlichen Macht gewehrt hatte, wurde 1215 die Magna Charta Libertatum festgeschrieben. Dieser Feudalvertrag war eine Garantie des Königs, die dem Hochadel und den Städten vor dem ganzen Land einklagbare grundlegende - » Freiheitsrechte einräumte und gilt als Grundstein des brit. Verfassungsrechts. Während der Regierungszeit Heinrichs m. (1216-1276) gewann die königliche Ratsversammlung, deren Anfänge bis in die Zeit Wilhelms des Eroberers (1066-1087) zurückreichen, an Bedeutung. Erstmals 1236 als -> Parlament bezeichnet, war dieser Terminus seit 1248 für die Ratsversammlung gebräuchlich. Während der 2. Hälfte des 13. Jhd.s wurden allmählich auch der niedere Adel und städtische Kaufleute zu den Versammlungen des königlichen Rates hinzugezogen um Rechtsfragen zu klären und Uber Zölle und Abgaben zu beraten. In diesen Zeiten, in denen die Macht des Königtums geschwächt war, konnten sich der Adel und das Bürgertum der Städte immer wieder Mitbestimmungsrechte sichern. Das Model Parliament von 1295 erhielt seinen Namen dadurch, daß es sich hier erstmals um eine weitestgehend repräsentative Versammlung handelte. Im 14. und 15. Jhd. wurden ständig -> Parlamente einberufen, um Geldmittel für die Kriege mit Frankreich (Hundertjähriger Krieg: 1337-1453), Schottland, Irland und Wales zu bewilligen. Der anhaltende Geldmangel der Krone, die frühe Entfaltung des Überseehandels sowie die Ausbreitung des Manufakturwesen und der Industrie führten schließlich dazu, daß das Haushaltsbewilligungsrecht endgültig in die Hände des Parlaments überging. Auch die Anfänge der Trennung von —> Oberhaus (House of Lords) und -> Unterhaus (House of Commons) fallen in diese Zeit. Als Folge des sog. Jhd. s der Revolution wurde 1689 durch die -> Bill of Rights schließlich auch die Befugnis zur Gesetzgebung auf das Parlament übertragen. Eine deutliche Zunahme der Bevölkerung
Parlamentsgeschichte
Parlamentsgeschichte
sowie das weitere Fortschreiten der Industrialisierung ließ neben der Frage nach den Befugnissen des Parlaments im 18. und 19. Jhd. auch immer mehr die Frage aufkommen, welchen Schichten der Bevölkerung die Möglichkeit einer - » Repräsentation im Parlament gewährt werden sollte. Im 19. Jhd. wurde das aktive -> Wahlrecht auf breite Kreise der Bevölkerung ausgedehnt, erhielt jedoch erst Anfang des 20. Jhd.s seine heutige Gestalt. Ein weiteres für die moderne Massendemokratie konstituierendes Element trat schon im 18. Jhd. hinzu: Es bildeten sich allmählich -> Parteien, die anfangs freilich jedoch lediglich Honoratiorenklubs und Adelscliquen waren. Hier liegen auch die Wurzeln des Zweiparteiensystems. Ursprünglich als Schimpfnamen verwendet, wurden die Bezeichnungen Tories für monarchistische - und Whigs für liberale Kreise gebräuchlich. Erst im 19. und frühen 20. Jhd. gewann jedoch die Partei als jedermann zugängliche Massenorganisation an Gestalt (—» Conservative Party, —> Labour Party). Lit.: Κ. Kluxen: Geschichte Englands, Stuttgart "1991.
Thomas Meyer Parlamentsgeschichte, deutsche Die Vorraussetzungen für die Entwicklung zu einer Parlament. Regierungsform in Dtld. waren, verglichen mit Frankreich (—> Parlamentsgeschichte, frz.) und England (-> Parlamentsgeschichte, brit.) wesentlich ungünstiger. Während Frankreich nach dem Hundertjährigen Krieg und England nach den normannischen Kriegen allmählich zu staatl. Einheiten zusammenwuchsen, bietet der Blick auf die Karten des -> Deutschen Reiches vom 17. bis Anfang des 19. Jhd.s ein völlig anderes Bild: Es handelte sich um einen lockeren Verbund von über 100 absolutistisch regierten Einzelstaaten, wobei Preuß. und Öst. die größten Machtblöcke darstellten. Dies führte dazu, daß die Idee der Gewinnung von Freiheits- und Bürgerrechten von Anfang an mit den Fragen der natio-
nalen Einheit und nach der geeigneten Staatsform verbunden war. Zusätzlich zur polit, und territorialen Zersplitterung waren die Industrialisierung und das Machtstreben des aufkommenden Bürgertums zunächst wesentlich weniger ausgeprägt als in England und Frankreich. Erste grundlegende Umwälzungen ergaben sich unter der Herrschaft Napoleons. Er strebte eine territoriale Neuordnung sowie Justiz- und Verwaltungsreformen in den von ihm besetzten Gebieten an. Einen Höhepunkt dabei stellte der Rheinbund (1806) dar. Mit der Schaffung des Rheinbundes wurden die Grundlagen des modernen Einheitsstaates (zentrale Bürokratie, Auflösung von regionalen ständischen Selbstverwaltungen ( - • Stände), Garantie bestimmter —> Freiheitsrechte, staatl. Kirchen· und Schulaufsicht) gelegt. Dies galt v.a. für Süddtld. (Bay. und Baden). Liberale und demokrat. Staatsideen, die bereits kurz nach der Frz. Revolution ins Dt. Reich eingedrungen waren, konnten sich somit etablieren. Während der „Revolution" von 1848 war die bürgerl. Emanzipationsbewegung zunächst einmal erfolgreich. Am 18.5.1848 fand sich in Frankfurt die —> Frankfurter Nationalversammlung ein. Der von ihr vorgelegte Katalog der Menschen- und Bürgerrechte, ein erster Verfassungsentwurf, trat jedoch nie in Kraft. Dennoch bildeten sich im -> Paulskirchenparlament schon wesentliche Elemente des —> Parlamentarismus heraus: Es gab fraktionsähnliche polit. Gruppierungen (polit. Klubs), es wurden aufgrund von Mehrheitsbildungen Kompromisse geschlossen und Absprachen getroffen und es zeigten sich erste Wurzeln einer - » Parteiendemokratie. Nach dem Scheitern der 48er „Revolution" erhielt Dtld. schließlich 1871 eine Verfassung (—> Verfassung des Dt. Reiches), die sich im wesentlichen an der Verfassung des von Bismarck 1867 gegründeten Norddt. Bundes anlehnte. Sie sah zwar einen in allgemeiner, direkter und geheimer Wahl (-> Drei-KlassenWahlrecht in Preuß.) gewählten Reichstag
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Parlamentsgeschichte
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vor (Art. 20), de facto hatte dieser jedoch kaum Machtbefugnisse. Ihm wurde zwar die Mitwirkung bei Etatberatungen und bei der Gesetzgebung eingeräumt, die eigentlichen Entscheidungen trafen jedoch Kaiser, Kanzler und Bundesrat. Der Kanzler wurde ohne Mitwirken des Reichstages vom Kaiser ernannt, im Bundesrat konnte Preuß. jederzeit Entscheidungen blockieren (—> Konstitutionalismus). Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und den Beratungen der verfassungsgebenden Nationalversammlung trat am 11.8.1919 die Weimarer Reichsverfassung in Kraft. Damit erhielt Dtld. die 1. Verfassung, in der das Prinzip der -> Volkssouveränität galt und der Reichstag als die Vertretung des dt. Volkes angesehen wurde. Ein entscheidender Fehler dieser Verfassung, der schließlich 1933 zur Herrschaft des —> Nationalsozialismus beitrug, war die überaus große Machtbefugnis des Reichspräsidenten. Durch das umfangreiche Notverordnungsrecht (Art. 48) konnte er die Regierung auch gegen den Willen des Reichstages jederzeit im Amt halten. Lit.: M. Botzenhart: Dt. Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848-1850, Düsseldorf 1977; K. Kluxen (Hg.): Parlamentarismus, Königstein 5 1980; M. Rauh: Die Parlamentarisierung des Dt. Reichs, Düsseldorf 1977; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 26ff.
Thomas Meyer Parlamentsgeschichte, französische Die Anfänge des frz. -» Parlamentarismus reichen bis ins 15. und 16. Jhd. zurück. In dieser Zeit wurden öfter Ständeversammlungen (—» Stände) durch den König einberufen, die, obwohl sie generell beratenden Charakter hatten, in finanziellen Dingen auch die königlichen Entscheidungen bewilligten. An diesen Versammlungen nahmen Vertreter des Adels, der Kirche und des Dritten Standes (Stadtbürgertum und Bauern) teil. Die Zusammensetzung stellte jedoch kein Spiegelbild der Bevölkerung dar. Aufgrund von großen
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Schwierigkeiten (lange Reisewege, Finanzierungsprobleme, mangelnde Unterkunftsmöglichkeiten usw.) wurden - trotz zentralistischer Bestrebungen - die Generalstände (états généraux) immer seltener nach Paris einberufen. Den Vorrang erhielten dagegen die Provinzialstände (états provinciaux), in deren Versammlungen dann auch die eigentlichen Entscheidungen getroffen wurden. In der Zeit des Absolutismus verloren diese ständischen Einrichtungen schließlich gänzlich an Bedeutung. Zwischen 1614 und 1789 wurden keine Versammlungen mehr einberufen. Neben den Ständeversammlungen bestand seit 1302 das sog. Parlament in Paris, welches das oberste Gericht Frankreichs darstellte. Zusätzlich zum Pariser Zentralparlament etablierten sich schon bald auch in den wichtigsten Provinzstädten (Toulouse, Grenoble, Bordeaux) Parlamente (Obergerichte). Ludwig XIV. (1643-1715) konnte jedoch während seiner Regierungszeit (1661-1715) diesen Provinzparlamenten die Macht nahezu gänzlich entziehen. Das Ziel der königlichen Politik war die Vereinheitlichung des Rechtswesens. Das Pariser Parlament erhielt daher schließlich das Registrierungsrecht für die königlichen Erlasse (ordonnances), die eben durch diese Registrierung Gesetzeskraft erlangten. In der zweiten Hälfte des 18. Jhd.s gewannen die Parlamente in den Provinzen ihre Macht nach und nach zurück. Sie erwiesen sich jedoch zunehmend als reformfeindliche, selbstsüchtige und standesorientierte Institutionen. Zudem begannen sie in den Provinzen auch Einfluß auf die königliche Steuerpolitik zu nehmen. Trotz der Abschaffung der Ämterkäuflichkeit und zahlreicher anderer Reformen während der Zeit des sog. Triumvirats (1770-1774) formierte sich in der Bevölkerung immer mehr Widerstand gegen die Herrschaft des Absolutismus. Obwohl auch die Parlamente gelegentlich gegen die Entscheidungen des Königs opponierten, galten sie doch als Verkörperung der absolutisti-
Parlamentsgesetz
Parlamentskanal
sehen Macht. Es bildeten sich daraufhin bereits im Vorfeld der Revolution in den Provinzen die sog. Notabelnversammlungen. Sie begannen das Steuerbewilligungsrecht an sich zu reißen und stießen daher zunächst auf den erbitterten Widerstand der Provinzialparlamente, konnten sich jedoch schließlich gegen sie durchsetzen. Das Jahr 1787 brachte schließlich eine entscheidende Wende. Das Pariser Parlament verweigerte gemeinsam mit den Notabeinversammlungen dem König die Bewilligung neuer Steuern, die den drohenden Staatsbankrott abwenden sollten. Außerdem wurde von Parlament und Notabein die Einberufung der Generalstände gefordert, die schließlich am 5.5. 1789 in Versailles zusammentraten und sich am 17.6.1789 zur —> Nationalversammlung (assemblé nationale) erklärten. Am 26.8.1789 erfolgte die Proklamation der Menschen- und Bürgerrechte (liberté, fraternité und égalité). Die erste Nationalversammlung, die sog. Constituante, verabschiedete 1791 die —> Verfassung (constitution dè 1791), die zum Vorbild aller bürgert. Verfassungen des 19 Jhd.s wurde. In diesen Jahren des polit. Umbruchs bildeten sich auch die ersten polit. Klubs, die Vorläufer der —> Parteien. Seit 1793, dem Beginn der I. Republik, herrschte zwar nominell in Frankreich die -> Demokratie. Bereits 1803 wurde sie jedoch durch den -» Staatsstreich Napoleons gestürzt. Bis zur Geburt der V. Republik (1958) bestanden demokrat. Regierungen in Frankreich meist nur kurz. Sie wurden ständig von monarchischen oder diktatorisch-autoritären Regimen abgelöst. Lit: J. Voss: Geschichte Frankreichs II, München 1980.
Thomas Meyer Parlamentsgesetz -> Gesetz gebung
Gesetz-
Parlamentskanal Die Vermehrung der Übertragungsmöglichkeiten von Fernseh-
programmen durch Kabel und Satellit bietet auch den -> Parlamenten die Möglichkeit eines eigenständigen P.s. Mit Blick auf den Erfolg des amerik. P.s C-SPAN (Cable-Satellite Public Affairs Network), der seit 1978 sendet, hat ab April 1997 auch in der —> Bundesrepublik ein entsprechender Spartensender seinen Programmbetrieb aufgenommen. Unter dem Namen „Phönix" wurden ARD und ZDF von den dafür zuständigen —• Ministerpräsidenten der -» Länder die entsprechenden finanziellen Mittel zugesagt, insbes. die wichtigsten -> Sitzungen von -> Bundestag und —> Bundesrat, —> Europäischem Parlament sowie auch der —> Landtage zu übertragen. Heftig umstritten blieb bis zuletzt, welchen Charakter die zusätzlichen Programme des P.s haben sollten. In einer Protokollerklärung zum 3. Rundfiinkänderungsstaatsvertrag haben die Ministerpräsidenten die Auflage gemacht, daß ein sog. „Parlaments- und Ereigniskanal" nicht als weiterer Nachrichtensender ausgelegt werden dürfe. Federführend bei Phönix ist neben dem ZDF v.a. der WDR. Hieran läßt sich die Besorgtheit der -> Medienpolitik erkennen, durch eine Ausgewogenheit zwischen üblicherweise der —> SPD zugeordnetem WDR sowie dem eher zum konservativen Spektrum ZDF zu erzielen. Bei C-SPAN, das mehr als 70% aller Femsehhaushalte erreicht und nach Angaben des Senders bei seinen Nutzem eine durchschnittliche Sehdauer von 2 Stunden pro Woche erreicht, handelt es sich dagegen um einen Sender, der von der privaten Rundfunkindustrie getragen wird. Der Sender, der neben den Kongreßdebatten öffentl. Reden, Symposien, Interviews, Persönlichkeitsprofile und Pressekonferenzen überträgt, wurde von den Kabelgesellschaften eingeführt, um damit publizistisches Ansehen zu gewinnen sowie die fehlenden polit. Inhalte der Hauptprogramme zu kompensieren. Das Jahresbudget von etwa 25Mio. Dollar nimmt sich gegenüber den dt. Planungszahlen von 39Mio. DM (1997) als gering aus, da der Sender über
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Parlamentskorrespondenz mehr als 200 feste Mitarbeiter verfügt, während bei Phönix weniger als 50 Personen (1997: 47) aus ARD und ZDF arbeiten. Dieses Jahresbudget soll schrittweise auf schließlich 52Mio. DM bei ca. 70 Mitarbeitern ansteigen. Aufgrund der Erfahrungen in den USA, aber auch in Frankreich und Großbritannien kann kein Zweifel darüber bestehen, daß ein P. eine wichtige Bedeutung für die Darstellung des Geschehens im Parlament sein kann. Lit.: C. Wagner: Das US-Network C-SPAN als Modell für ein dt. Parlamentsfernsehen?, Berlin 1996.
Winand Gellner Parlamentskorrespondenz -> Parlamentarische Informationsdienste Parlamentsmehrheit zip
Mehrheitsprin-
Parlamentspräsident / -in -> Bundestagspräsident / -in -> Speaker Parlamentsrecht 1. Begriff Das P. umfaßt die —> Rechtsnormen, die sich auf die vom —> Volk gewählten staatl. Repräsentationsorgane (—> Bundestag und —> Landesparlamente) beziehen und deren Organisation, Funktionen und Verfahren regeln. 2. Rechtsquellen a) Die Verfassungen des —> Bundes und der —> Länder enthalten grundlegende Regelungen des P.s, das -» Grundgesetz für den Bundestag v.a. Festlegung der Wahlrechtsgrundsätze (Art. 38), Dauer der —> Wahlperiode, Garantie des Selbstversammlungsrechts (Art. 39), Rechtsstellung der -> Abgeordneten (-> freies Mandat, Art. 38, -> Indemnität, Immunität, —> Zeugnisverweigerungsrecht und Entschädigung, Art. 46-48), Garantie der -> Geschäftsordnungsautonomie, Präsidentenamt (Art. 40), Wahlprüfimgsrecht (Art. 41), Grundsatz der ->• Öffentlichkeit und —y Mehrheitsprinzip (Art. 42); in Art. 63, 67 und 68 finden sich die für das -> parlamentarische Regierungssystem zentralen Vorschriften für die Wahl des -> 664
Parlamentsrecht Bundeskanzlers, konstruktives Miß' trauensvotum, —> Vertrauensfrage, Auflösungsrecht des —> Bundespräsidenten (kein Selbstauflösungsrecht Parlamentsauflösung), in Art. 43 das —> Zitierrecht sowie das Zutritts- und —> Rederecht der -> Bundesregierung (sowie des —> Bundesrates); Art. 70ff. regeln die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und Ländern sowie Grundzüge des Gesetzgebungsverfahrens; verfassungsrechtl. verankert sind ferner bestimmte —> Ausschüsse (—> Untersuchungsausschüsse, Art. 44; —» Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union, Art. 45; -» Ausschuß für Auswärtiges und -> Ausschuß für Verteidigimg, Art. 45a; —• Petitionsausschuß, Art. 45c), weiter der —> Wehrbeauftragte (Art. 45b), die Beteiligung des Bundestages am —> Gemeinsamen Ausschuß (Art. 53a), an der -> Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten (Art. 54), am -> Vermittlungsausschuß (Art. 77) und bei der Wahl der —> Richter des -> Bundesverfassungsgerichts und der Obersten Gerichte des Bundes (Art. 94, 95). b) Für den Bereich der Außenbeziehungen des -» Parlaments erfolgen Konkretisierung und Ergänzung der verfassungsrechtl. Regelungen durch einfache -» Gesetze, während im Bereich der inneren Geschäftsordnungsangelegenheiten Regelungen in Gesetzesform überwiegend als nicht zulässig angesehen werden. Einfache Gesetze auf Bundesebene sind hier z.B.: BWG, AbgG (11. Abschn.: Fraktionen), BannmG, PetitionsausschußG. Auf Landesebene bestehen vielfach entsprechende Gesetze. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Gesetze mit einzelnen parlamentsrechtl. Regelungen. c) Die aufgrund verfassungsrechtl. Ermächtigung erlassenen Geschäftsordnungen regeln unter Beachtung verfassungsrechtl. Vorgaben detailliert Organisation und Verfahren der Parlamente. Spezialmaterien werden vielfach in Anlagen geregelt (etwa -> Verhaltensregeln für Abgeordnete). Geschäftsordnungen haben
Parlaments recht Rechtsnormcharakter, stehen im Rang unter Verfassung und Gesetzen und binden grds. nur die Mitglieder des Parlaments; ihre Geltung ist auf die Dauer der Wahlperiode beschränkt (Grundsatz der —> Diskontinuität); Erlaß und Änderung erfolgen in einem vereinfachten Verfahren; Abweichungen im Einzelfall sind (mit qualifizierter Mehrheit) möglich, soweit nicht Verfassungsrecht und Minderheitsrechte entgegenstehen; bei der Auslegung sind parlement. Tradition und Praxis heranzuziehen, d) Das geschriebene P. wird ergänzt durch ungeschriebene rechtl. (Gewohnheitsrecht) sowie vielfältige außerrechtl. Regeln (Bräuche, Übungen, Usancen), die das Parlament. Leben maßgebend prägen. 3. Organisation des Parlaments Das Parlament wird gebildet durch die Wahl seiner Mitglieder, der Abgeordneten, deren innerparlamentarische Rechtsstellung gekennzeichnet ist durch —> Rederecht, Stimmrecht, Recht sich an Wahlen im Parlament und am parlement. Frage- und Informationsrecht zu beteiligen, Parlament. Initiativen zu ergreifen und sich mit anderen Abgeordneten zu einer —» Fraktion (oder —> Gruppe) zusammenzuschließen. Der in der konstituierenden Sitzung für die Dauer der Wahlperiode gewählte, nicht abwählbare —> Bundestagspräsident vertritt das Parlament nach außen, regelt intern seine Geschäfte, leitet im Wechsel mit seinen Stellvertretern und unterstützt durch —» Schriftführer (Sitzungsvorstand) die Plenarverhandlungen, übt das Hausrecht und die Polizeigewalt im Parlament (—» s.a. Hausinspektion) aus und ist Chef der Parlamentsverwaltung. Präsident und Stellvertreter (Vizepräsidenten), die neben ihrem Amt das Abgeordnetenmandat behalten, bilden (z.T. mit noch weiteren Mitgliedern) das Präsidium (Vorstand), das i.d.R. mehr beratende Funktion hat. Der -> Ältestenrat (früher: Seniorenkonvent) besteht aus dem Präsidenten als Vorsitzenden, seinen Stellvertretern und weiteren von den Fraktionen entsprechend ihrem Stärkeverhältnis benannten Mit-
Parlamentsrecht gliedern und ist das zentrale Steuerungsund Koordinationsgremium des Parlaments. Fraktionen sind Zusammenschlüsse von Abgeordneten, für deren Bildung regelmäßig eine Mindeststärke (Bundestag: 5% der Mitglieder) und polit. Homogenität (Zugehörigkeit zu derselben —> Partei o.ä. § 10 GOBT) vorgeschrieben ist (i.ü. evtl. Anerkennung als Gruppe). Die Rechtsstellung der Fraktionen ergibt sich aus Verfassung, Geschäftsordnung (innerparlamentarische Initiativ-, Mitwirkungs-, Beteiligungs- und Informationsrechte) sowie Fraktionsgesetzen (Fraktionszuschüsse). Innere Organisation und Verfahren sind in Fraktionsgeschäftsordnungen geregelt. Die Fraktionen, welche die Regierung nicht stützen, bilden die -> Opposition, die im GG und in der -> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (anders z.T. auf Landesebene) zwar nicht ausdrücklich erwähnt ist, jedoch die geschäftsordnungsrechtl. Minderheitenrechte (-* Minderheit, polit.) in Anspruch nehmen kann. Die Äusschüsse, welche die Entscheidungen des —> Plenums i.d.R. nur vorbereiten, werden, soweit es sich nicht um sog. Pflichtausschüsse handelt, autonom durch Plenarbeschluß, der gleichzeitig Aufgabenbereich und Mitgliederzahl festlegt, gebildet und bestehen ausschließlich aus Abgeordneten, die i.d.R. nicht durch das Plenum gewählt, sondern von den Fraktionen (und Gruppen) entsprechend ihrem Stärkeverhältnis benannt werden, so daß sich die Mehrheitsverhältnisse des Plenums in den Ausschüssen widerspiegeln. Zu den sog. ständigen Ausschüssen gehören neben den Fachausschüssen (Ausschüsse mit kontrollierender Funktion und Gesetzgebungsausschüsse), deren Aufgabenbereiche der Ressortgliederung der Regierung entsprechen, die Ausschüsse für parlamentseigene Angelegenheiten (z.B. —> Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung) und für die Wahl anderer Staatsorgane (z.B. -> Richterwahlausschuß). Nicht ständige Ausschüsse sind Sonderausschüsse zur Beratung bestimm-
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Parlamentsrecht ter einzelner Angelegenheiten und die Untersuchungsausschüsse (Art. 44 GG). —> Enquete-Kommissionen bestehen im Gegensatz zu Ausschüssen nicht nur aus Abgeordneten, sondern auch aus externen Experten, und verfügen nicht über besondere Beweiserhebungsrechte. Zur Wahrnehmung besonderer Parlament. Aufgaben werden Parlamentsbeauftragte - Wehrbeauftragter (Art. 45b GG), auf Landesebene z. T. —> Bürgerbeauftragte - bestellt, auf gesetzlicher Grundlage oder autonom Kommissionen, Gremien u.ä. eingerichtet oder Abgeordnete in externe Gremien entsandt. 4. Funktionen des Parlaments a) Mit der —> Gesetzgebung kommt den Parlamenten ein wesentlicher Anteil an der —> Staatsleitung zu. Der Gesetzesform bedürfen z.B. die Feststellung des -> Bundeshaushaltsplans (Art. 110 Abs. 2 GG), die Zustimmung zu bestimmten völkerrechtl. Verträgen (Art. 59 Abs. 2 GG), und es besteht die Tendenz, den —> Gesetzesvorbehalt über Eingriffe in Freiheit und Eigentum hinaus auf alle „wesentlichen" Entscheidungen auszudehnen (—> Wesentlichkeitstheorie). b) In Wahrnehmung ihrer Kreationsfunktion wählen die Parlamente eigene Organe und wirken durch Wahlen und Entsendung von Abgeordneten an der Bestellung anderer Staatsorgane mit. Neben der Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag und der Wahl der —» Ministerpräsidenten (und vielfach auch Mitwirkung bei der Bestellung anderer Regierungsmitglieder) durch die Landesparlamente sind hier v.a. zu nennen die Wahl des Bundespräsidenten durch die zur Hälfte aus den Mitgliedern des Bundestages bestehende —> Bundesversammlung, die Entsendung von 2/3 der Mitglieder des -> Gemeinsamen Ausschusses (Art. 53a GG) und der Hälfte der Mitglieder des —» Vermittlungsausschusses (Art. 77 GG) durch den BT sowie die Mitwirkung des BT bzw. der Landtage bei der Wahl oberster Richter, c) Die Kontrollfunktion der Parlamente umfaßt i.w.S. nicht nur Formen nachträglicher Reaktion,
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Parlamentsrecht sondern auch begleitende und vorauswirkende Formen parlament. Mitwirkung an der exekutiven Willensbildung (z.B. Zustimmungsvorbehalt beim Streitkräfteeinsatz i.R. von Art. 24 GG oder beim Erlaß von RVO) einschließl. der informellen, regelmäßig nichtöffentl., aber effektiven Einflußnahme der Mehrheit auf die Regierung. Die in Verfassungen und Geschäftsordnungen geregelten förmlichen Kontrollinstrumente, wegen ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit vorwiegend durch die Opposition genutzt, reichen vom Frage- und Informationsrecht über das Zitierrecht, die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen bis zum Mißtrauensvotum, das auf Bundesebene nur als konstruktives und allein gegen den Bundeskanzler vorgesehen ist (Art. 67 GG - auf Landesebene z.T. auch gegen einzelne —» Minister). Daneben gibt es Mißbilligungs, Entlassungs- und Tadelsvoten in Form sog. schlichter Parlamentsbeschlüsse. Die Ministeranklage vor einem Staatsgerichtshof findet sich z.T. noch auf Landesebene. Für einige Bereiche exekutiver Tätigkeit bestehen auf (verfassungs-)gesetzlicher Grundlage sog. Sonderkontrollen (Haushalts- und Rechnungskontrolle, Wehrkontrolle, Kontrolle der —> Nachrichtendienste). Kontrollfunktion hat schließlich die Anrufung der Verfassungsgerichte in sog. Organstreitverfahren (-> Organstreit), d) Die Öffentlichkeitsfunktion der Parlamente (Art. 42 GG) hat heute vornehmlich den Sinn, es den im Parlament vertretenen polit. Kräften zu ermöglichen, ihre im Vorfeld erarbeiteten Positionen im Plenum vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen und so beim Wähler polit. Anteilnahme, Zustimmung oder Kritik zu wekken. 5. Parlament. Verfahren a) Zu den Grundsätzen des parlament. Verfahrens gehören neben der Mündlichkeit der Verhandlung v.a. das verfassungsrechtl. für die Plenarverhandlungen festgeschriebene Prinzip der Öffentlichkeit (Sitzungsöffentlichkeit mit Ausnahmevorbehalt, ergänzt durch Verantwortungsfreiheit der
Parlamentsrecht der Bundesländer Berichterstattung, Art. 42 Abs. 1 S. 3 GG; Ausschüsse dagegen im Bundestag und vielfach auf Landesebene i.d.R. nichtöffentlich, z.T. auch geschlossen, vertraulich oder geheim) und das ebenfalls verfassungsrechtl. verankerte, durch Minderheitsrechte gemäßigte -» Mehrheitsprinzip in verschiedener Ausgestaltung (einfache, absolute, relative, qualifizierte Mehrheit, z.B. Art. 42, 63, 79 Abs. 2 GG). b) Für das Verfahren in der Vollversammlung (Plenum) regeln die Geschäftsordnungen v.a.: Einberufungsrecht und pflicht des Präsidenten; Verfahren bei Aufstellung, Festsetzung, Änderung der Tagesordnung; Form und Verfahren der Behandlung der Verhandlungsgegenstände (Gesetzentwürfe, Anträge etc.); Redeordnung mit Vorgaben zur Reihenfolge der Redner (Rede und Gegenrede, Fraktionsstärke) sowie Verteilung der Redezeit; Feststellung bzw. Vermutung der Beschlußfähigkeit; Durchführung und Form von Wahlen (geheim oder offen) sowie Abstimmungen (Handzeichen, Aufstehen, namentliche Abstimmung, Zählung der Stimmen, -* Hammelsprung); Befugnisse des sitzungsleitenden Präsidenten insbes. bei der Handhabung der parlement. Ordnungsgewalt; Frage- und Kontrollrechte gegenüber der Regierung sowie Protokollierung der Verhandlungen (Stenograph. Bericht) und Beurkundung der Beschlüsse, Amtl. -> Protokoll). Das Verfahren der Ausschüsse ist teils analog, teils im Hinblick auf ihre regelmäßig Plenarentscheidungen nur vorbereitende und mehr auf Kompromiß und Konsens ausgerichtete Aufgabenstellung abweichend geregelt, z.T. auch in ergänzenden Sondergeschäftsordnungen oder Gesetzen. IM.: N. Achterberg: Parlamentsrecht, Tübingen 1984; Ritzel/Bücker, W. Burhenne (Hg.): Recht und Organisation der Parlamente, Rechtsquellen, Bielefeld 1958ff.; Schneider / Zeh-, Troßmann //; Troßmann / Roll·, R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996.
Hermann J. Schreiner Parlamentsrecht der Bundesländer Die
Parlamentsrecht der Bundesländer Landesparlamente sind (anders als die Kommunalparlamente) Legislativorgane, in Funktion und Aufgabenstellung innerhalb der —> Landesverfassungen daher dem -> Bundestag vergleichbar. Dementsprechend ist das P. in vielerlei Hinsicht ein Spiegelbild des -> Parlamentsrechts auf Bundesebene. Die folgende Obersicht gilt nur einigen Besonderheiten auf Landesebene. 1. Spezifika des Landesparlamentarismus Die Arbeit in den Landesparlamenten divergiert wesentlich von deqenigen im Bundestag. Die Parlamente sind kleiner, die -> Abgeordnetenentschädigung niedriger, der Anteil des (jedenfalls faktischen) „Teilzeitparlamentarismus" entsprechend höher. Abweichungen zum Bundestag sind auch für die Aufgabenschwerpunkte feststellbar. Zwar schulden auch die Landesparlamente zunächst einmal die Gesetzgebung, indessen hat die weitgehende Ausübung konkurrierender Gesetzgebungskompentenzen durch den Bund sowie der „Ratifikationslagen-Effekt" im Bereich des kooperativen —> Föderalismus zu einer Reduktion der Aufgabenlast geführt (wobei entgegen mancher Darstellung die verbleibende Legislativ· Verantwortung nicht unterschätzt werden sollte). Aufgrund der grundsätzlichen Verantwortlichkeit der Länder für den Gesetzesvollzug (auch des —> Bundesrechts) ist den Landesparlamenten dafür gleichsam kompensatorisch eine besondere Rolle bei der Kontrolle der Exekutive zugewachsen. Die diesbezügl. Regelungen des P.s bildeten einen Schwerpunkt der Verfassungsreformen seit 1990. 2. Grundgesetzliche Vorgaben Das -» Grundgesetz läßt den Ländern hinsichtlich der Gestaltung ihres P.s weiten Freiraum. Die Verfassungshoheit der Länder ist in Art. 28 Abs. 1 GG garantiert, verlangt ist dort nur eine Homogenität der Grundstrukturen (Landesverfassungen). Der Freiraum gilt gerade dem P.; vorgegeben sind nur das demokrat. und rechtsstaatl. Prinzip sowie die freie, gleiche, allgemeine und geheime -> Wahl. Anders als 667
Parlamentsrecht der Bundesländer noch unter der —> Weimarer Reichsverfassung sind die im GG geregelten Details des P.s (—» Immunität, Indemnität, -» Untersuchungsausschüsse etc.) ausdrücklich nur auf den Bundestag bezogen und damit für die Länder nicht verpflichtend. Wenn also Regelungen dem bundesrechtl. Modell entsprechen, so beruht dies regelmäßig auf „freiwilliger" Kongruenz, nicht auf rechtl. Bindimg (mißverständlich daher BVerfGE 40, 296ÍF. für die Abgeordnetenalimentation). Im übrigen wird der Gleichklang der Regelungsmodelle (auch in der Rechtsprechungspraxis) vielfach überschätzt: die Durchsicht der Landesverfassungen offenbart gerade im Bereich des P.s interessante Varianten. 3. Die Landesparlamente Für das —> Wahlrecht zu den Landesparlamenten (in den Flächenstaaten: —> Landtage; in Brem, und Hamb.: Bürgerschaft, in Beri.: Abgeordnetenhaus) wird neben der dt -> Staatsangehörigkeit regelmäßig auf den Wohnsitz in dem jeweiligen Land abgestellt. Wahlrecht besteht mit dem 18. Lj., nur vereinzelt (Bay., Hess.) gilt für das passive Wahlrecht das 21. Lj.; die jüngst feststellbare Tendenz zur Absenkung des Wahlalters auf 16 Lj. beschränkt sich bislang auf die kommunale Ebene. Die -» Legislaturperiode beträgt 4 bzw. (zunehmend) 5 Jahre. Anders als der Bundestag kennen inzwischen alle Landesparlamente das Recht der Selbstauflösung (—> Parlamentsauflösung), entsprechende Verfassungsänderungen haben zuletzt Brem, und BW durchgeführt. Gelegentlich kann die Auflösung des Parlament auch durch -> Volksentscheid herbeigeführt werden (-> recall); in der Verfassungspraxis hat dies bislang aber kaum eine Rolle gespielt. 4. Abgeordnetenstatus Es überwiegen die Parallelen zur Bundesebene, zwar ist Art. 38 Abs. 1 GG für die Landtagsabgeordneten nicht anwendbar, doch folgt das Regelungsmodell auch hier überall dem Grundsatz des freien —> Mandats. Im Hinblick auf die Abgeordnetenentschädigung hatte das —> Bundesverfassungsgericht in einer problematischen Entschei668
Parlamentsrecht der Bundesländer dung für die Flächenstaaten Vollalimentation verlangt (BVerfGE 40, 296ff.), es hat diese Position aber zwischenzeitlich relativiert (BVerfGE 76, 256ff.); TH umgeht das Problem der „Entscheidung in eigener Sache" nun durch Indexierung der Diätenanpassung; die Vereinbarkeit dieser Lösung mit dem GG ist umstritten. Rechte und Pflichten der Abgeordneten sind z.T. in speziellen —> Abgeordnetengesetzen normiert, wie im übrigen auf der Landesebene insg. eine Tendenz zur verstärkten gesetzlichen Normierung des P.s zu verzeichnen ist. Indemnität, Immunität u.a. sind bisweilen en detail abweichend gestaltet (wobei die Unterschiede durch die Ausgestaltung im einfachen Bundesrecht in z.T. problematischer Weise nivelliert werden). Einige Verfassungen kennen das Institut der Abgeordnetenanklage, das aber in der Praxis kaum Bedeutung hat. Wichtige Besonderheiten finden sich in den Stadtstaaten (s.a. —> Verhaltensregeln für Abgeordnete). 5. Parlamentsorganisation und Verfahren Bei Vergleichbarkeit in den Grundstrukturen finden sich auch hier zahlreiche Variantenführungen. Jüngere (und jüngst novellierte) Verfassungen betonen allgemein lehrbuchartig die Rolle der —> Opposition im Parlament. Prozeß, konkret sind in den neueren Regelungen Minderheitenrechte (insbes. etwa im Untersuchungsausschußrecht) oft ausgeprägter als auf Bundesebene. Auch die —> Fraktionen finden zunehmend ausdrückliche verfassungsrechtl. Anerkennung (wobei etwa Art. 67 Abs. 2 BrandV, 77 Abs. 3 BremV den Fraktionszwang gleichwohl explizit für unzulässig erklären). Das -> Petitionsrecht hat z.B. in NRW eine über das GG hinausgehende Beachtung erfahren, Rh.Pf. kennt zusätzlich einen -> Bürgerbeauftragten. 6. Stellung der Parlamente im Verfassungssystem Als Gesetzgebungsorgan sind die Landesparlamente insofern „stärker" als der Bundestag, als hier zweite Kammern fehlen (die Abschaffung des - ohnehin mit schwachen Beteiligungsrechten
Parlamentsrecht der Bundesländer ausgestatteten - -> Bayrischen Senats wurde Anfang 1998 durch Volksentscheid beschlossen). Zum Teil kennen die Landesverfassungen allerdings weitergehende Einflußrechte der Regierung auf den Gesetzgebungsprozeß. Besonderheiten ergeben sich aus den Elementen einer -> direkten Demokratie in den Landesverfassungen. Im Rahmen plebiszitärer Verfahren haben die Landesparlamente ihrerseits unterschiedlich ausgestaltete Einwirkungsmöglichkeiten. Verfassungsänderungen können vereinzelt nur bei Zustimmung durch Volksentscheid vorgenommen werden (Hess.). Die Ausfertigung der Gesetze obliegt zumeist dem —> Ministerpräsidenten, einige neuere Verfassungen weisen diese Aufgabe indessen dem Parlamentspräsidenten zu. Der Ministerpräsident wird regelmäßig vom Parlament gewählt und bleibt (mit Modifikationen in Bay.) von dessen Vertrauen abhängig. In einigen Ländern werden anders als auf Bundesebene alle Regierungsmitglieder gewählt bzw. die Regierung insgesamt durch das Parlament bestätigt. Umgekehrt kennen einige Länder (z.B. Art. 99 Rh.-Pf.V) die sog. „ewige Landesregierung", die einer ausdrücklichen Bestätigung nach Parlamentswahlen nicht bedarf (billigend BVerfGE 27, 44fT.). Auch die Organisationsgewalt des Ministerpräsidenten hinsichtlich der Ressorts und Zahl der Ministerien ist (z.B. Art. 49 Bay.V) beschränkt. Die Informations- und Kontrollrechte der Parlamente (und hier insbes. der Parlamentsminderheiten) gegenüber der Regierung gehören zu den Schwerpunktthemen der jüngsten Verfassungsreformen (s.u.). 7. Stadtstaatenspeziflka Die größten Abweichungen vom bundesrechtl. Regelungspendant fmden sich in den Stadtstaaten. Entgegen der Anordnung des Art. 28 Abs. 2 GG vèrzichten die Stadtstaaten bei unterschiedlicher Ausgestaltung im Detail auf eine echte kommunale Ebene (diese Bereichsausnahme findet ihre Akzeptanz in Art. 106 Abs. 6 S. 3 GG). Die Bürgerschaft (bzw. in Beri, das Abge-
Parlamentsrecht der Bundesländer ordnetenhaus) nimmt Funktionen beider Ebenen (und damit auch originäre Verwaltungsfunktionen) wahr, was sich auch in der Ausgestaltung des P.s niederschlägt. Hamb, und Brem, kennen z.B. die —> Inkompatibilität von Bürgerschaftsmandat und Senatorenamt sowie ein „parlamentarisches Selbstreinigungsrecht" (Ausschluß von Abgeordneten aufgrund eines Beschlusses der Bürgerschaft im Fall von Amtsmißbrauch). 8. Verfassungsprozeßrecht Parlamentsrechtl. Streitigkeiten in den Ländern sind der —> Landesverfassungsgerichtsbarkeit zugewiesen. Nur in SH wird auf der Grundlage von Art. 99 BVerfG das BVerfG als LVerfG tätig, im übrigen hat das BVerfG eine (wenig bedeutsame) Reservezuständigkeit gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 (3) GG. Im Fall des Verstoßes des P.s gegen Art. 28 Abs. 1 GG tritt die Möglichkeit der —> abstrakten Normenkontrolle hinzu. 9. Entwicklungsperspektiven Seit etwa 1990 ist das P. in den Ländern erheblich in Bewegung geraten. Den Beginn machte SH mit einer nicht zuletzt von der Barschel/Pfeiffer-Aftäre geprägten Verfassungsreform. Neben der Neu-Gestaltung in den neuen Ländern stehen Verfassungsreformen in den meisten alten Ländern. Zudem ist unterhalb der Verfassungsebene eine Tendenz zur dichteren gesetzlichen Normierung zu verzeichnen, als sie sich bislang auf Bundesebene findet; der Bereich des autonomen Geschäftsordnungsrechts (—• Parlamentsautonomie) wird dementsprechend zurückgedrängt. Inhaltlich steht die Stärkung der Kontrollrechte sowohl der Parlamente insg. gegenüber den Regierungen als auch insbes. der parlement. -» Minderheiten im Mittelpunkt der Reformbewegung. Ein spezifisches Übergangsproblem des P.s der neuen Länder ist die Überprüfung von Abgeordneten auf StasiVerstrickung. Insgesamt läßt sich das P. als Musterbeispiel für die Chancen eines kompetetiven Föderalismusmodells heranziehen. Wegen der regelmäßig sicher669
Parlamentsreform
Parlamentsreform
gestellten praktischen Bedeutung der parlamentsrechtl. Regeln können die Länder untereinander und auch im Wechselspiel mit dem Bund von den Erfahrungen lernen, die mit neuen Regelungsmodellen gemacht werden. Lit. : Ν. Achterberg: Parlamentsrecht, Tübingen 1986; Schneider / Zeh, S. 1707ÉF.; A. Stiens: Chancen und Grenzen der Landesverfassungen im dt. Bundesstaat der Gegenwart, Berlin 1997; S. Storr: Verfassunggebung in den Ländern, Stuttgart 1995.
Jörg Menzel Parlamentsreform Das -> Parlament als sichtbarer Ort repräsentativer Volksvertretung unterliegt ebenso wie andere polit. -» Institutionen einem Wandlungsprozeß, der sich in P.en dokumentiert. Im -> parlamentarischen Regierungssystem übernimmt die —> Legislative durch die -> Wahl und mehrheitliche Unterstützung des Regierungschefs die zentrale polit. Ordnungsfunktion und ihr Selbstverständnis spiegelt sich in der Art und Weise, wie sie ihre organisatorischen Tätigkeiten regeln will, wider. Der Dt. —> Bundestag hat sich seit seinem Bestehen als wenig experimentier- und reformfreudig bzgl. seiner Organisationsstruktur gezeigt und weder ein systematisches Gesamtkonzept noch klare Zielvorgaben entwickelt, so daß das Konglomerat von vorliegenden Einzeländerungen nicht als P., sondern allenfalls als Parlamentskorrektur zu bezeichnen ist. Sie kann deshalb wenig Aufschluß über ein zu erstellendes Mosaik von Intensivierung und Effektivierung des parlament. Regierungssystems geben. Im architektonischen Bereich versuchte der Bundestag die Visualisierung von Demokratie durch große Glasflächen für den Plenarsaal zu erreichen und auch der Umbau des Reichstages - mit einer neuen Glaskuppel versehen - soll diesem Ziel dienen. Die Sitzreihen der —> Abgeordneten, ursprünglich konfrontativ zu den Regierungs- und Bundesratsbänken angeordnet, sind heute in einem Halbrund 670
aufgestellt. Gleichzeitig senkte man die Regierungs- und Bundesratsbänke ab und verminderte optisch so die Sonderstellung der Exekutiven und Föderativen gegenüber der Legislativen (-> s.a. Parlamentsarchitektur). Dem Gedanken, die Rechte und Pflichten des Bundestages mit denen der Bundesregierung und des —> Bundesrates zu verzahnen, dienten weitere Änderungen, die sich zum einen auf die Redezeit und zum anderen auf die Verantwortlichkeit der -> Exekutive im Parlament bezogen: Zwar besitzen die Mitglieder der -> Bundesregierung und des —• Bundesrats ein verfassungsrechtl. verbrieftes, jederzeitiges -» Rederecht im Parlament, doch strebte der Bundestag danach, die Länge der Rededauer in plenaren —> Aussprachen an seine zu koppeln. Ursprünglich blieb bei der Festlegung der Redezeit die der anderen Organe außer Betracht, erst seit Mitte der 60er Jahre legte der —> Ältestenrat fest, daß sich bei Überschreiten der vereinbarten Redezeit durch Regierungs· oder Bundesratsmitglieder auch die Redezeit der Legislative proportional zur Fraktionsstärke verlängert. 1974 vereinbarte der Ältestenrat schließlich, daß sich die Debattendauer nach einem Verteilerschlüssel (je 30% Redezeit für die Koalitionsfraktionen sowie die Regierung und 40% für die —> Opposition) zu richten habe. In der Rednerfolge praktizierte der Bundestag in den ersten 2 Dekaden eine monotone Abfolge: Nach einem Regierungsmitglied sprachen die Vertreter der Koalitionsfraktionen, bevor die Opposition zu Wort kam. Erst in der Kleinen P. von 1969 legte das Parlament fest, daß nach der Rede eines Mitglieds der Bundesregierung eine „abweichende Meinung" zu Wort kommen soll - bis heute kann es sich nicht auf den Begriff „oppositionelle Meinung" verständigen. Auch die Redezeit des einzelnen Abgeordneten wurde modifiziert: Konnte er anfangs noch maximal 1 Stunde und minimal 5 Minuten reden, so wurde die Rededauer auf 15 Minuten eingeschränkt, um
Parlamentsreform die Plenardebatten lebendiger zu gestalten. Zudem wurde jeder Fraktion für einen ihrer Sprecher 45 Minuten Redezeit zugestanden. Die bis zur Bildung der —> Großen Koalition geübte Praxis, daß ein beamteter —> Staatssekretär den verhinderten —> Minister im Parlament polit, vertrat, wurde nun durch die probeweise und spätere endgültige Einführung von —> Parlamentarischen Staatssekretären geändert. Damit sollte die für ein Parlament. Regierungssystem deutliche Verankerung der Exekutive im Parlament dokumentiert werden und zur -» Parlamentarisierung der Exekutive beitragen; in der nachfolgenden Praxis bewirkte sie eher eine Gouvemementalisierung, d.h. eine feste Einbindung des Personals in den Regierungsbereich und diente als Rekrutierungsstätte für Minister. Das Verlangen nach P.en im Parlament. Regierungssystem ist immer zugleich auch ein Kräftemessen zwischen den Koalitionsfraktionen sowie der Opposition und stößt dann auf ein günstiges Klima, wenn unklar ist, wer von beiden als Sieger aus der nächsten Wahl hervorgeht. Eine solche Konstellation hatte während der Großen Koalition zur Bereitschaft für eine Reihe von Änderungen im Parlament. Ablauf, die sich u.a. in der Kleinen Geschäftsordnungsreform von 1969 niederschlugen, geführt: Zum einen baute der Bundestag analog zum US-amerik. -> Kongreß einen parlament. Hilfsdienst auf und regelte zum anderen mehrere Geschäftsordnungsbestimmungen neu: Da bisher die Parlamentsmehrheit bestimmte, ob Abgeordnete aus mehreren —> Parteien eine -> Fraktion bilden können, besaß sie ein wirksames Instrument, Zusammenschlüsse von Abgeordneten zu verhindern, die lediglich Fraktionsstatus erlangen wollten. Nunmehr sah die CDU/CSUFraktion diese Regelung auch gegen sich selbst gerichtet und setzte eine Änderung, die sie ausnahm, durch. Gleichzeitig änderte der Bundestag die Fraktionsstärke, die er in der 1. -> Wahlperiode von 10 auf 15 Abgeordnete heraufgesetzt
ParlamentsreforiTi hatte, in 5% seiner Mitglieder, so daß die Mindestzahl nunmehr zwischen 26 (1969) und 34 (1994) schwankte. Folglich erhielt die über —> Direktmandate in den 13. BT gekommene —> PDS mit ihren 30 Mitgliedern keinen Fraktionsstatus. P. drückt sich auch als ein Prozeß aus, Instrumente zu entwickeln, um sich einerseits selbst besser darstellen zu können, andererseits aber gouvernementale Tätigkeiten effektiver zu kontrollieren. LiveÜbertragungen des Fernsehens und Hörfunks aus dem Plenarsaal ( 1966), fakultativ öffentl. Ausschußsitzungen (1969) und öffentl. -> Anhörungen vor den Ausschußsitzungen (1951) dienen diesem Zweck und sollen auch das Informationsbedürfnis der Wahlbürger befriedigen. Mit der Einführung der Fragestunde (1951) und der -> Aktuellen Stunde (1965) will das Parlament nicht nur die Exekutive effektiver kontrollieren und kritisieren können, sondern diese Funktion auch nach außen sichtbar werden lassen. Mit der Einsetzung von -> EnqueteKommissionen (1969) schafft es sich darüber hinaus die Möglichkeit, parlament. Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe vorbereiten zu können, und institutionalisierte (1990) ein Büro für Technikfolgen-Abschätzung (—» TAB) als ständige Einrichtung. Um den —• Lobbyismus transparenter zu machen, führte der Bundestag eine Vorschrift über die Registrierung von -> Verbänden und deren Vertreter ein (1972); um verantwortungsbewußtes Handeln der Parlamentarier sicherzustellen, erließ er -> Verhaltensregeln für Abgeordnete (1972, 1980 und 1987) sowie eine -> Geheimschutzordnung (1964). Da der Bundestag im Laufe seines 50-jährigen Bestehens wenig reformfreudig war, kam es zu keiner grundlegenden Reform; statt dessen rang er um Teilaspekte parlament. Abläufe, die zumeist der -> Ältestenrat vorentschied, wobei sich regierungstragende und oppositionelle Fraktionen nur auf den kleinsten Nenner einigen konnten. P.en haben daher kaum das dt. parlament.
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Parlamentsverdrossenheit Regierungssystem weiterentwickelt (—> s.a. Parlamentarismuskritik). Lit.: M. Freytag: Möglichkeiten und Grenzen einer Parlamentsreform für den Dt. Bundestag, Regensburg 1990; H. Oberreuter (Hg.): Parlamentsrefonn., Passau 1981; V. Szmula: Zum Selbstverständnis des Dt. Bundestages in: APuZ B39/1974, S. 19ff.; R. Grafv. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 292ff.
Volker Szmula Parlamentsverdrossenheit —• Parlamentarismuskritik Parlamentsverwaltung -> Bundestagsverwaltung Parlamentsvorbehalt 1. Begriff Kennzeichnend für den P. ist, daß die ihm unterfallenden Entscheidungen, Regelungen oder Maßnahmen vom - » Parlament selbst zu treffen sind, also anderen Entscheidungsträgern nicht, auch nicht im Wege der Delegation überlassen werden dürfen. Der P. ist damit ein Sach- bzw. Entscheidungsvorbehalt, seine Wahrnehmung nicht notwendig an die Gesetzesform gebunden. In den nachfolgend beschriebenen Varianten steht der P. letztlich mit dem Prinzip der -> Demokratie in Verbindung. 2. Der P. als „verdichteter" Gesetzesvorbehalt Am häufigsten erscheint der P. als besondere Ausprägung des -> Gesetzesvorbehaltes. Er steht dann im engen Zusammenhang mit der sog. —> Wesentlichkeitstheorie und erfaßt alle Regelungen, die dem Gesetzesvorbehalt unterfallen und als so wesentlich erscheinen, daß das Parlament sie selbst zu treffen hat und nicht der -> Exekutive überlassen darf. Mit diesem Inhalt setzte sich der Vorbehalt in den 70er Jahren exemplarisch zunächst im ->• Schulrecht durch: Das Parlament sollte sich seiner demokrat. -> Verantwortung nicht entziehen und alle (Grundrechts-Wesentlichen Entscheidungen für den schulischen Bereich selbst treffen. Im Umfang dieser Entscheidungen „verdichtete" sich der einer Delegation an
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Parlamentsvorbehalt die Exekutive grds. zugängliche Gesetzesvorbehalt zum P. kraft „Wesentlichkeit". Überflüssig ist der Gesetzesvorbehalt dadurch nicht geworden. Denn Regelungen von vergleichsweise geringerer Grundrechtsrelevanz (z.B. Versetzung in der Schule im Gegensatz zur Schulentlassung) können nach wie vor auf der Grundlage entsprechender Ermächtigungsgrundlagen von der Exekutive erlassen werden. Welche dies sind, wird vielfach wegen des vagen Wesentlichkeitskriteriums bis zur gerichtlichen Klärung kontrovers bleiben. Weitere Anwendungsfälle des P.es betreffen u.a. die friedliche Nutzimg der Kernenergie (BVerfGE 49, 89 Atomrecht), die Grundlinien der Rundfunkordnung (BVerfGE 57, 295 Rundfunk), die Stationierung nukleargestützter Mittelstreckenraketen (BVerfGE 68, 1 ) und das anwaltliche Standesrecht (BVerfGE 76, 171). Dabei zeigte sich, daß es je nach Sachbereich auch Entscheidungen geben kann, die zwar wesentlich erscheinen, gleichwohl aber nicht dem P. unterfallen, weil das —> Grundgesetz sie der Exekutive vorbehalten hat (z.B. die Zustimmung zur Aufstellung von Raketen als Bündnisverpflichtung nach Art. 24 Abs. 2, 59 Abs. 2 GG). Jüngst ist der P. auch im Verhältnis zur Rechtsprechung (—> rechtsprechende Gewalt) fruchtbar gemacht worden: Grundrechtswesentliche Regelungen im Verhältnis -> Bürger — > Staat dürfen nicht der Rechtsfortbildung durch die Fachgerichte überlassen werden (BVerfGE 88, 103). 3. P. für staatsleitende Entscheidungen Auf undeutlicher Grundlage hat das -> Bundesverfassungsgericht einen durch einfachen Beschluß auszuübenden P. fllr staatsleitende Entscheidungen in auswärtigen Angelegenheiten (-> auswärtige Gewalt, -> Staatsleitung) angenommen: zunächst im Maastricht-Urteil für den Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschaftsund Währungsunion (BVerfGE 89, 155) und wenig später „unmittelbar kraft Verfassung" für kritische Auslandseinsätze der —> Bundeswehr mit histor.-systemati-
Partei
Parlamentswahl sehen Erwägungen zur —• Wehrverfassung (BVerfGE 90, 286). Beide Entscheidungen sind über den Einzelfall hinaus lehrreich. Der P. bewirkt im Ergebnis eine Verschiebung der verfassungsrechtl. Institutionen zu Gunsten des Parlamentes. Eben deshalb bedarf er genauer verfassungsrechtl. Absicherung. Diese Absicherung leisten das vage Wesentlichkeitskriterium und allgemeine Aussagen zur staatsleitenden (demokrat.) Funktion des Parlaments nur begrenzt. Lit: E. Baader: Parlamentsvorbehalt, Wesentlichkeitsgrundsatz, Delegationsbefugnis, in: JZ 1992, S. 394ff.; U. Gassner: Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz, in: DÖV 1996, S. 18ff.; H. Gersdorf: Parlamentsvorbehalt vs. Gesetzesvorbehalt?, in: DÖV 1990, S. 514ff.; weitere Lit. -» Gesetzesvorbehalt.
Meinhard Schröder Parlamentswahl —> Wahl—> Wahlrecht Parliamentary parties Als P.P. werden die -> Fraktionen des brit. -> Unterhauses bezeichnet. Ihnen kommt innerhalb der brit. -> Parteien die Stellung besonderer Organisationseinheiten mit bestimmten Rechten (insbes. bei der Wahl des Parteichefs) zu. In der —• Conservative Party wird der Parteivorsitzende von der Fraktion gewählt, in der - » Labour Party wird er durch ein Wahlgremium gewählt, das zu 1/3 aus Vertretern der Fraktion (Parliamentary Labour Party), zu 1/3 aus Vertretern der angeschlossenen Organisationen (affiliated organisations) und zu 1/3 aus Vertretern der Mitgliedschaft (—> Constituency Parties) besteht. Die P.P. spielen darüber hinaus eine herausragende Rolle in der Organisation der parlament. Arbeit. Anders als im Dt. -> Bundestag sieht die Geschäftsordnung des Unterhauses (-» Commons Standing Orders) im großen und ganzen keine besonderen Antragsrechte der Fraktionen schlechthin vor. Der rechtl. formalisierte Schutz Parlament. Minderheitenrechte als Fraktionsrechte ist mit Ausnahme der sog. Opposition Days nicht üblich. An den 20
Opposition Days pro Parlamentsjahr bestimmt die —> Opposition den Gegenstand der Plenardebatten des Unterhauses, wobei an 17 Tagen die von der größten, an 3 Tagen die von der zweitstärksten Oppositionsfraktion vorgeschlagenen Themen diskutiert werden. Lit.: P. Norton: The organization of parliamentary parties, in: S.A. Walkland (Hg.), The House of Commons in the Twentieth Century, Oxford 1979, S. 7ff.
T.S. Partei / -en 1. Begriffsbestimmung In der Politikwissenschaft existieren viele z.T. durchaus voneinander abweichende Definitionen zum P.enbegriff. Die Abweichungen sind durch unterschiedliche Vorstellungen über -> Demokratie, —> Staat, -> Repräsentation, Konflikt und Konsens oder —> Legitimität von -> Herrschaft geleitet, so daß der P.enbegriff dem normativen Politikverständnis des jeweiligen Verfassers unterliegt. In jüngster Zeit hat es Versuche gegeben, durch die Reduktion auf zentrale Merkmale den P.enbegriff zu vereinheitlichen. Eine anschauliche und nachvollziehbare Definition stammt von U. von Alemann; demnach sind P.en sind auf Dauer angelegte gesellschaftl. Organisationen, die Interessen ihrer Anhänger mobilisieren, artikulieren und bündeln und diese in polit. Macht umzusetzen suchen - durch die Übernahme von Ämtern in Parlamenten und Regierungen. Die Dauerhaftigkeit unterscheidet P.en von kurzfristig gebildeten Initiativen oder single issue Groups, d.h. Gruppen, die sich lediglich auf ein polit. Thema konzentrieren und nach dessen Problemlösung wieder zerfallen. Ihre gesellschaftl. Verankerung soll deutlich machen, daß P.en keine staatl. Organe sind. Die direkte Umsetzimg von polit. -> Macht, d.h. das Privileg, den institutionellen Kontext des Entscheidungshandelns und der Machtzuweisung letztlich selbst zu bestimmen, unterscheidet P.en von - » Interessenverbänden oder sozialen Bewegungen (-» Bürgerbewegungen).
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Partei Wesentliche Gesichtspunkte sind somit in Alemanns Definition enthalten, jedoch sollte der P.enbegriff noch erweitert werden. Als P.en werden aufgefaßt: Organisationen, welche die Auslese und Rekrutierung der polit. —• Elite vornehmen, Ziele und Programme zur Durchsetzung im Prozeß der polit. —• Willensbildung formulieren, Kommunikation zwischen den polit. Eliten und den Wählern ermöglichen, an der Meinungsbildung mitwirken und Entscheidungen auf gouvernementaler Ebene möglichst zu steuern und zu koordinieren, zumindest aber zu beeinflussen versuchen. Gegenüber den Wählern suchen sie nach Unterstützung, intern betrachtet sind sie Organe der Interessenartikulation, -aggregation und -représentation, wobei sie als wesentliches Moment die Systemintegration von Gruppen und Individuen erfüllen. Ziel von P.en ist es, eine möglichst große Zahl von Wählern zu mobilisieren, um ein polit. Machtfaktor zu werden oder zu bleiben. P en sollen somit wesentlich dazu beitragen, die Legitimität eines polit. Systems zu sichern. Ihre Handlungsmöglichkeiten werden durch den Charakter des jeweiligen polit. Systems bestimmt, auf den sie selbst Einfluß nehmen können und daher auf diesen zurückwirken. In Demokratien bildet der Wettbewerbsrahmen des P.ensystems einen machtbegrenzenden und alternierenden funktionalen Bezugspunkt des Handlungskalküls von P.en. 2. Funktionen Der Funktionenkatalog zu P.en richtet sich oft nach dem Blickwinkel des Betrachters, der von seinem normativen Standpunkt aus zumindest eine unterschiedliche Gewichtung der differenten Aufgaben vornimmt. Entsprechend variiert in den verschiedenen Lehrbüchern die Anzahl der P.en zugeschriebenen Funktionen. In der polit. Realität lassen sich zumindest 4 unterschiedliche Funktionen ausmachen, die noch weiter ausdiflerenziert werden können: Artikulations- und Aggregationsfunktion P.en sollen die Vielzahl an heterogenen Interessen und Meinungen, die in einer 674
Partei Gesellschaft vorhanden sind, aufnehmen, zur Sprache bringen und bündeln. Darunter fällt nicht nur, die Summe der Interessen anzuhäufen, sondern innerparteilich gleichsam miteinander abzustimmen. Die Gesamtheit der vorhandenen gesellschaftl. Interessen und Meinungen wird in Wettbewerbsdemokratien nicht nur von einer P., sondern vom —> P.ensystem insg. repräsentiert. Ein-Punkt-P.en werden also von der Charakterisierung keinesfalls ausgeschlossen. Die von den P.en artikulierten und aggregierten Interessen fließen in den polit. Willensbildungsprozeß ein und können dadurch staatl. Handeln beeinflussen, wobei umgekehrt staatl. Handeln auf den inner- und zwischenparteilichen Willensbildungsprozeß Einfluß nimmt und somit in die Gesellschaft zurückvermittelt wird (Mediatisierung). Zielfindungsfunktion Die vorhandenen gesellschaftl. Interessen und Meinungen werden darüber hinaus von P.en in Programme umgesetzt. Damit wählen P.en die von ihnen weiterverfolgten Interessen im Hinblick auf die spezifischen Ziele der P. aus. Diese programmatischen Zielvorstellungen müssen der —> Öffentlichkeit zugänglich sein und ihr gegenüber begründet werden. Die Programme einer P. haben zumeist das Ziel, auf die verschiedenen innerparteilichen Gruppierungen integrativ zu wirken, d.h. diese zusammenzuführen und zusammenzuhalten, das Profil einer P. nach außen zu zeigen. Programmatische Zielvorstellungen können auch mobilisierend auf die Anhängerschaft wirken. Mobilisierungs- und Sozialisationsfunktion Polit. P.en beheimaten sozial oder interessengebunden oder durch gemeinsame polit. Ziele miteinander verbundene Gesellschaftsgruppen, die durch ihre Mitgliedschaft an polit. Prozessen partizipieren können. Durch interne Kommunikation, gemeinsame Veranstaltungen, durch die Arbeit vor Ort wirkt eine P. als Sozialisationsinstanz. Grds. sollte eine P. offen für alle interessierten -> Bürger sein. Die polit. Mobilisierung erfolgt in erster Linie in —> Wahlkämpfen, wobei Mitglie-
Partei der und Wähler gleichermaßen zur Teilnahme am polit. Prozeß aufgerufen werden. P.en sind für die Ausrichtung und Ausgestaltung von Wahlkämpfen verantwortlich. Nach dem dt. -> Parteiengesetz von 1967 haben P.en die Aufgabe, auf die Gestaltung der -> öffentlichen Meinung Einfluß zu nehmen und die aktive Teilnahme der Bürger am polit. Leben zu fördern. Elitenrekrutierungs- und Regierungsbildungsfunktion Eine der wichtigsten Funktionen von P.en ist, zu —> Wahlen Kandidaten aufzustellen, die das Ziel haben, in öffentl. -> Ämter zu gelangen und unmittelbar am polit. Entscheidungsprozeß in -> Parlamenten mitzuwirken oder exekutive Aufgaben wahrzunehmen. P.en rekrutieren und wählen die polit. —> Elite aus. Sie versuchen mit ihren Personen, Programmen und pragmatischen Konzepten in ein polit. System insg. so hineinzuwirken, daß sie polit. Entscheidungen mitsteuem bzw. mitgestalten können. P.en wollen polit. Macht erwerben, wobei Macht im wesentlichen durch Kontrolle oder zumindest Teilhabe an Regierungsentscheidungen zu erwirken ist. Letztlich sind es in Parlament. Demokratien P.en, die für die Bildung von Regierungen verantwortlich sind. P.en als Träger des polit. Willensbildungsprozesses erfüllen also wesentlich die Funktionen der Kanalisierung des Wählerwillens, der Kommunikation zwischen den -> Staatsorganen und der Öffentlichkeit, der Expression von Meinungen und Interessen und der Herausbildung polit. Eliten. Mit der Wahrnehmung dieser Funktionen sichern sie der Demokratie im Idealfall ein hohes Maß an Unterstützung und bewirken die Legitimation des polit. Prozesses und seiner Egebnisse. 3. Typologien und Organisationsstrukturen Die Politikwissenschaft kennt zahlreiche P.entypologien, entwickelt anhand von Kriterien wie Regimemerkmalen, Organisationsstrukturen, Ziele ihres Wirkens, Zugehörigkeit zu polit, ideologischen Familien, Struktur der Anhängerschaft sowie Reichweite und Grad der
Partei Partizipation oder einer Kombination dieser Aspekte. Arbeiten zu innerparteilicher Demokratie hatten bis in die jüngste Vergangenheit R. Michels „ehernes Gesetz der Oligarchie" zum Bezugspunkt. In neuerer Zeit herrscht jedoch weitgehende Einigkeit, daß die innerparteilichen Organisationsstrukturen moderner Großparteien mit der von Michels beobachteten Tendenz zur Oligarchie nicht mehr zutreffend beschrieben werden. Stattdessen ist die Rede von „lose verkoppelter Anarchie", von einem pluralistischen Stratarchiemodell mit mehreren Machtzentren und wechselseitigen Abhängigkeitsstrukturen", oder es wird von „struktureller Fragmentierung und Parzellierung" gesprochen. Das Ergebnis der P.enforschung bestimmt P.en in ihrer Binnenstruktur als sehr komplexe und durch Vielfalt gekennzeichnete Organisationen, die nicht zentral von oben nach unten gesteuert werden. Ihre Handlungsweisen, Strategien und Ressourcen unterliegen widersprüchlichen Interessen und Intentionen. Die verschiedenen individuellen und kollektiven Akteure (Eliten, Delegiertenkorpus, Arbeitsgemeinschaften, Einzelmitglieder) handeln nicht nur aus unterschiedlichen Motiven heraus, sondern sie perzipieren auch differente Bezüge und Erwartungen, so daß die Makelung von Interessen und das Aushandeln von innerparteilichen Kompromissen das Alltagsgeschäft von P.en bestimmen. Im folgenden sollen 3 Idealtypen von P.en unterschieden werden: a) Partizipationspartei Dieses Modell ist an Legitimitätserfordernissen innerparteilicher Demokratie orientiert und soll den Mitgliedern ein Höchstmaß an Mitwirkungsrechten sichern. Die Herausbildung von Machtstrukturen und Herrschaftsgruppen wird als undemokratisch empfunden und bewertet. Die innerparteiliche Machtverteilung soll sich an der Partizipationsneigung und -bereitschaft der Mitglieder orientieren. Die Mitglieder sollen Zielsetzung, Richtung und konkretes Verhalten auf allen Handlungsfeldern be-
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Partei stimmen, gleich auf welchen Organisationsebenen. Sie üben die Entscheidungsrechte und -kompetenzen in Urwahlen und Entscheiden aus. Funktionsfähig erweist sich dieses Modell nur bei ausreichender Kommunikationsleistung. b) Medienpartei Bei diesem Modell wird eine umfassende Partizipation der Mitglieder an der Formulierung von polit. Inhalten und Zielen sowie an der Personalrekrutierung als dysfunktional angesehen. Denn eine solche Partizipationsmöglichkeit würde den Spielraum der P.filhrung zu sehr einschränken, so daß Effizienz und Flexibilität der auf Stimmenmaximierung ausgerichteten Organisation erheblich gemindert ist. Bei zunehmender Dominanz der Medien im Prozeß der polit. Kommunikation dominiert die Perspektive des professionellen Kommunikators oder polit. Planers. Das einzelne Mitglied wird reduziert auf den polit. Konsumenten, der die Entscheidungen auf die P.führung überträgt. Das Geschehen verlagert sich auf die P.spitzen, die via Medien um Unterstützimg, d.h. primär Wählergunst buhlen. c) Gremienpartei Dieses Modell ist an Stabilitäts- und Funktionserfordernissen modemer Demokratien ausgerichtet. P.führungen sind hier pluralistische, responsive und offene Eliten mit internen Konkurrenzmechanismen zur Ausbalancierung von Machtbesitz und Machtstreben. Damit die als funktional notwendig und unumgänglich betrachteten P.eliten nicht zu oligarchische Strukturen entwikkeln, sollen Wahl, Kontrolle, Abberufund Austauschbarkeit dieser als Repräsentanten verstandenen Gruppe durch innerparteiliche Demokratie gewährleistet sein. Die polit. Entscheidungen werden von der P.führung in Abstimmung mit den P.gremien getroffen. Die einzelnen Subeinheiten genießen ein recht hohes Maß an Autonomie (s.a. -> Europäische Parteien). Lit.: U. von Alemann: Parteien, Reinbek 1995; Κ. v. Beyme: Parteien in westlichen Demokratien, München 1984; J. Borcherl/L. Golsch/U. Jun u.a. (Hg.): Das Sozialdemokrat. Modell, Opladen
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PDS 1996; G. Jasmut: Die polit Parteien und die europ. Integration, Frankfurt/M. 1995; O. Niedermayer/R.. Stöss (Hg.): Stand und Perspektiven der Parteienforschung in Dtld., Opladen 1993; A. Ware: Political Parties and Party Systems, Oxford 1996. Uwe Jun
Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) Die PDS ist die Nachfolgepartei der SED (-> Deutsche Demokratische Republik), ab 16 /17.12.1989 zunächst SED-PDS, seit dem 4.2.1990 PDS. Parteivorsitzender war von 1989 bis 1993 G. Gysi, ab 29.1.1993 L. Bisky. Die -> Partei gliedert sich in 6 Landesverbände in den neuen und 10 in den alten Bundesländern mit jeweils einem Landesvorstand. Die Landesverbände sind gegliedert in Kreisverbände, Basisorganisationen, Gruppen und sog. Plattformen. Die Anzahl dieser Gliederungen ist unmittelbar von Entwicklung und Stand der Mitgliederzahlen abhängig. Die Mitgliederzahlen sind seit 1989 rückläufig. Der Anteil der WestMitglieder an den Gesamtmitgliederzahlen liegt unter 4%. Die Bundesorgane der PDS sind der Bundesparteitag, der Parteivorstand, der Parteirat, die Bundeskommission und die Zentrale Finanzrevisionskommission. Nach ihrem offiziellen programmatischen Selbstverständnis definiert sich die PDS als eine sozialistische Partei, die mit dem staatssozialistischen Stalinismus gebrochen hat. Sie will die Vorherrschaft des {Capitals überwinden und durch demokrat. Reformen eine, nach eigener Auffassung, ökologische, solidarische, emanzipatorische, gerechte, freie und zivile Gesellschaft schaffen. Sie steht in prinzipieller Opposition zu den herrschenden gesellschaftl. Verhältnissen. Ihre polit. Ziele sollen mit parlament. und außerparlament. Mitteln erreicht werden. Die innerparteiliche Pluralität drückt sich in 3 Grundströmungen aus: Die um Integration bemühten Reformer (Reformsozialisten, Reformpragmatiker), die traditionellen Sozialisten und die basisdemokrat. Fundamentalisten (antiparlamenta-
Parteiendemokratie
Parteiendemokratie
risch und antimarktwirtschafil.). Vertretung im Bundestag: 1990-1994: 17 Sitze nach Bundestagswahl in 2 getrennten Wahlgebieten (Ost und West), 19941998: 30 Sitze durch 4 Direktmandate mit dem Status einer Gruppe. Vertretung in Landesparlamenten: 1994-1998 —» Mecklenburg-Vorpommern 22,6%, -> Brandenburg 18,7%, —> Sachsen-Anhalt 19,9%, -> Thüringen 16,6%, Sachsen 16,5%. Lit: A. Fraude: „Reformsozialismus" statt „Realsozialismus". Von der SED zur PDS, Münster 1995; G. Neugebauer / R. Stöss: Die PDS, Opladen 1996.
Udo Hagedorn Parteiendemokratie Der Begriff P. ist ebenso wie der verwandte Begriff des Parteienstaats - kein Rechtsbegriff i.e.S., sondern hat eine eher beschreibende Funktion und kann in sich durchaus unterschiedliche Akzente tragen. Sein demokrat. Element (-» Demokratie) verweist darin auf eine Ordnung polit. Willensbildung und polit. —» Herrschaft, innerhalb derer Entscheidungen durch den Willen des -> Volkes in irgendeiner Form legitimiert werden. Nimmt man den 2. Begriffsteil hinzu, so mag man unter dieser Ordnung ganz allgemein eine solche verstehen, an der, wie es das -> Grundgesetz in seinem Art. 21 Abs. 1 S. lausdrückt, in zentraler Position auch —> Parteien „mitwirken" Die Frage ist dann allerdings, was unter dieser Mitwirkung im einzelnen zu verstehen ist und wie sie näherhin vonstatten geht. Sie stellt sich in besonderer Weise für ein Demokratiemodell, das wie dasjenige der —> Bundesrepublik Deutschland von der - » Verfassung in nahezu reiner Form als Repräsentativsystem konzipiert ist. In diesem werden polit. Entscheidungen nicht vom Volke selbst, sondern von dazu berufenen Vertretern getroffen. Sollen sie gleichwohl als durch das Volk legitimiert gelten, müssen verschiedene Mechanismen vorhanden sein, die eine ausreichende Rückkopplung gewährleisten. Einer dieser
Mechanismen liegt in der polit. -> Wahl. Dazu müssen freilich personelle Alternativen vorhanden und sachliche formuliert sein, zwischen denen das Volk wählen kann. Darüber hinaus kann die Wahl allein die erforderliche Obereinstimmung immer nur punktuell sicherstellen. Auch zwischen den Wahlen muß aber ein ausreichendes Maß an Responsivität gewährleistet sein: Das Volk soll sich in den Entscheidungen der von ihm Gewählten jederzeit auch wiederfinden können. Zur Lösung diese Problems treten die Parteien auf den Plan. Geschichtl. gehören sie denn auch nicht zufällig in den Entstehungszusammenhang einer Parlament. Repräsentation, mit der eine bis dato von der Ausübung der —> Staatsgewalt ausgeschlossene Gesellschaft ihre Forderung nach polit. Mitsprache anmeldete. Zuerst im England des ausgehenden 17. Jhd.s, ab der Mitte des 19. Jhd.s dann auch in Dtld., etablieren sich zunächst innerhalb der —> Parlamente verschiedene polit. Gruppen auf der Grundlage gleicher Interessen oder Anschauungen, die nach und nach in die Gesellschaft hineinwachsen, später auch von dort in die Parlamente eindringen. Die besondere Funktion, die den Parteien dabei im Laufe ihrer Entwicklung in steigendem Maße zugedacht wird, ist die der Vermittlung: Sie sollen die Distanz zwischen —> Staat und -> Gesellschaft, zwischen Volkswillen und Staatswillen überbrücken - zwecks Ermöglichung einer Willensbildung von unten nach oben. Zu dieser können sie im wesentlichen auf dreifache Weise beitragen: zum einen durch den Zusammenschluß der aktionsbereiten Teile der Bevölkerung zu polit, handlungsfähigen Gruppen (Aggregationsleistung), zum zweiten durch die Reduktion der wesensmäßig unformierten gesellschaftl. Bedürfnisse, Interessen und Vorstellungen auf entscheidbare Alternativen (Reduktionsleistung), zum dritten durch die Übersetzung und Umwandlung der so gefilterten Interessen in Handlungsweisungen für die staatl. Organe (Transmissionsleistung).
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Parteiendemokratie Wegen dieser spezifischen Form der Vermittlung hat sich das —• Grandgesetz im Unterschied zur —> Weimarer Reichsverfassung - in seinem Art. 21 auch de jure zur P. bekannt. Sie v.a. ist auch gemeint, wenn den Parteien dort die Aufgabe zugewiesen wird, als „Einrichtungen des Verfassungslebens" (BVerfG) an der polit. Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Dazu müssen die Parteien auf der einen Seite in der gesellschaftl. Sphäre hinreichend verwurzelt sein, auf der anderen in die staatl. hineinwirken. Beides wird daher unter dem GG institutionell und faktisch abgesichert. Die Anbindung der Parteien an die Gesellschaft wird etwa geschützt durch das Gebot der innerparteilichen Demokratie (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG), das auch ihre Organisationsstruktur auf das Prinzip der Willensbildung von unten nach oben verpflichtet, femer durch das Konkurrenzprinzip des Mehrparteiensystems, das den Staat zur strikten Neutralität gegenüber dem Parteienwettbewerb verpflichtet, die Parteien aber dazu zwingt, sich ständig emeut auf die Suche nach Unterstützung zu begeben. Das Wirken der Parteien im Innenbereich des Staates macht sich dagegen v.a. bemerkbar in ihrer tragenden Rolle bei den Wahlen, in der Gliederung der Parlamente in Fraktionen, die von Abgeordneten gleicher Parteizugehörigkeit gebildet werden, sowie in der Besetzung der obersten Exekutivorgane mit führenden Parteipolitikem - allesamt wichtige Elemente einer parteienstaatl. Demokratie, die in einem System parlament. Repräsentation die gebotene Rückkopplung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten gewährleisten sollen. Die Frage ist allerdings, ob diese Rückkopplung auch so weit vorangetrieben werden kann, daß Repräsentanten und Repräsentierte, Staat und Gesellschaft vollständig ineinander aufgehen. Dies war das erklärte Projekt des Verfassungsrechtlers G. Leibholz, bis in die 70er Jahre hinein einer der einflußreichsten Theoretiker der P. und als Richter am 678
Parteiendemokratie BVerfG auch an dessen Rechtsprechung zu den Parteien maßgeblich beteiligt. Leibholz sah das aus dem letzten Jhd. überlieferte Repräsentativsystem durch den Typus des liberalen - * Honoratiorenparlaments charakterisiert, in dem unabhängige -> Abgeordnete als Vertreter des ganzen Volkes in völliger Weisungsfreiheit über den besten Weg zur Verwirklichung des Gemeinwohls stritten. Dieses System habe jedoch, so Leibholz, durch das Aufkommen der Parteien einen tiefgreifenden Strukturwandel erfahren. Die Parteien fungieren nunmehr als „Sprachrohr" des mündig gewordenen Volkes und verwirklichten so erst die moderne —> Massendemokratie, in der auch einzelne Abgeordnete nur mehr ihr verlängerter Arm sein können. Den „massendemokrat. Parteienstaat", wie er ihn nannte, beschrieb Leibholz in diesem Sinne als „eine rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie", in der die Parteien zumindest der Intention nach „das Volk sind". Das erscheint allerdings gleich in mehrfacher Hinsicht überzeichnet. Faktisch steht der angestrebten Gleichsetzung von Volk und Partei schon der Umstand entgegen, daß in der BRD gegenwärtig weniger als 4% der Aktivbürger in Parteien organisiert sind - mit stetig abnehmender Tendenz. In rechtl. Hinsicht wird dem unmittelbaren Durchgriff der Parteien auf den Staat v.a. mit dem durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten freien Mandat des Abgeordneten ein Riegel vorgeschoben. Auch sind die Parteien unter dem GG nicht die einzigen Organe der polit. Willensbildung: Nach Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG wirken sie vielmehr an dieser lediglich „mit" und müssen sich ihre Ambitionen auf die Macht mit —> Verbänden, -> Bürgerinitiativen sowie spontaneren Artikulationsformen einer polit. fungierenden —> Öffentlichkeit teilen. Immerhin liegt das Verdienst dieser Theorie darin, der typisch dt. Aversion gegen das „Parteiengezänk", die schon für die Weimarer Republik durchaus verhängnisvoll war, ein Ende zu machen und die
Parteiendemokratie Notwendigkeit der Parteien fllr ein System demokrat. Repräsentation zu belegen. Auf der anderen Seite ist indes nicht zu verkennen, daß die Euphorie über dieP., die aus ihnen noch spricht, mittlerweile einer gewissen Ernüchterung gewichen ist. Anstelle einer zu schmalen Aufgabenbasis wird heute unter Stichworten wie Ämterpatronage vermehrt eine Expansion der Parteien in Bereiche beklagt, die ihnen herkömmlich verschlossen waren. Parallel dazu hat sich eine weitreichende Etatisierung der Parteien vollzogen, die diese immer weiter mit dem Bereich der organisierten Staatlichkeit verschränkt hat. Beides unterläuft nicht nur die traditionellen Systeme von Funktionentrennung und Gewaltenbalance, sondern trägt auch dazu bei, daß sich die Parteien immer weiter von ihrer gesellschaftl. Basis entfremden. Politikwissenschaftler und Soziologen weisen denn auch schon seit längerem darauf hin, daß neben die Aggregations-, Reduktions- und Transmissions- zunehmend die faktische Integrationsleistung der Parteien getreten ist. Die Parteien sichern danach durch vornehmlich symbolische Aktionen polit. Entscheidungen nur noch die erforderliche Folgebereitschaft, gestalten diese aber weder bewußt mit noch vermitteln sie sie mit den vorherrschenden gesellschaftl. Präferenzen. Sie tragen so zur Stabilität des Gesamtsystems bei, ermöglichen aber nur noch in beschränktem Umfang Partizipation. Darüber hinaus mehren sich die Anzeichen, daß auch die Integrationskraft der Parteien nachläßt. Neben dem Mitgliederschwund sind es andere Faktoren, die an sich die Alarmglocken läuten lassen müßten: nach innen eine beinahe schon chronische Überalterung und weitgehend oligarchische Strukturen, von außen ein bis zur „Parteiverdrossenheit" reichendes Desinteresse an den Parteien, das sich in polit. Apathie, Wahlenthaltung oder der Hinwendung zu den radikaleren unter ihnen niederschlägt. Solche und andere Krisensymptome etwa durch den Einbau plebiszitärer Elemente zu korrigie-
Parteienfinanzierung ren oder zumindest zu relativieren, haben eine zögerliche —> Gemeinsame Verfassungskommission und ein nicht weniger zögerliches Parlament im Zuge der Bemühungen um eine Reform des GG jüngst abgelehnt. Nachdem diese Art von Therapie damit wohl für längere Zeit ad acta gelegt ist, kann die Lösung der Probleme der P. zu einem wesentlichen Teil nur noch von innen, also von den Parteien selber kommen. Davon, ob ihnen das gelingt, wird die Zukunft der P. entscheidend abhängen. Lit: BVerjGE 20, 56 (97ff.); 44, 125 (138ff., Minderheitsvotum 181ff); 85, 264 (284ff.); K. von Beyme: Parteien in westlichen Demokratien, München 1986; W. Frotscher: Die parteienstaatl. Demokratie, in: DVB1. 1985, S. 317ff.; HdbVerfR, S. 599ff.,· G. Leibholz: Strukturwandel der modernen Demokratie, Frankiurt/M. 1974; D. Tsatos / M. Morlok: Parteirecht, Heidelberg 1982. Uwe Volkmann
Parteienfinanzierung Zu den Reizthemen der —» Parteiendemokratie und des Parteirechts gehört die Frage, wie und woher sich die -> Parteien die Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgaben beschaffen. Waren sie ursprünglich allein auf selbst erwirtschaftete Einnahmen in Form von Mitgliedsbeiträgen und —> Spenden angewiesen, so finanzieren sie sich heute sowohl in der BRD als auch in zahlreichen anderen westlichen —» Demokratien in größerem Umfang aus direkten und indirekten Zuwendungen der öffentl. Hand. Von diesen Einnahmequellen sind indes lediglich die Mitgliedsbeiträge in polit, und verfassungsrechtl. Hinsicht unproblematisch. Die beiden anderen Finanzierungsarten - Parteispenden und staatl. -> Subventionen - begründen dagegen je nach Modalitäten und Umfang erhebliche Gefahren für die Fähigkeit der Parteien, die ihnen in der Parteiendemokratie zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen: Einnahmen aus privaten Spenden können, namentlich ab einer gewissen Größenordnung, für die mehr oder minder diskreten
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Parteienfinanzierung Pressionen kapitalkräftiger Kreise anfällig machen und diesen auch jenseits der geschriebenen oder ungeschriebenen Tatbestände polit. Korruption Einflußmöglichkeiten eröffnen, die im GG so nicht vorgesehen sind. Staatl. Zuwendungen entheben die Parteien demgegenüber womöglich der Notwendigkeit, sich für ihre Politik immer von neuem in der Bevölkerung rückzuversichem, und begünstigen u.U. alleine die Etablierten unter ihnen. In dem einen wie im anderen Falle wäre der polit. Prozeß verzerrt, der die für eine sachgerechte Aufgabenerfüllung notwendige Verwurzelung der Parteien in der -» Gesellschaft beeinträchtigt. Von daher verwundert es nicht, daß die P. immer wieder im Mittelpunkt der öffentl. Diskussion stand; dabei haben v.a. die Praktiken der illegalen Geldbeschaffung, die während der 80er Jahre bekannt und als „Parteispendenaffäre" schließlich zu einem der großen Politskandale der Nachkriegszeit wurden, das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des gegenwärtigen Parteiensystems stark angegriffen. Bis heute nicht restlos gelöst ist auch das Problem der Subventionierung der Parteien durch den Staat. Hierzu hatte das -> Bundesverfassungsgericht bis zur Mitte der 60er Jahre in 2 bemerkenswerten Urteilen eine restriktive Linie verfochten und sowohl gegen die steuerliche Begünstigung von Parteienspenden - eine Form der mittelbaren Staatsfinanzierung - als auch die Gewährung von Globalzuschüssen aus dem Bundeshaushalt erhebliche Vorbehalte angemeldet: Die Gewährung von Steuernachlässen auf —> Spenden hielt es für eine gleichheitswidrige Prämierung der Besserverdienenden und der sie ansprechenden Parteien, unmittelbare Zuwendungen der öffentl. Hand für einen Verstoß gegen das Prinzip der „Staatsfreiheit" der Parteien, das deren Verwurzelung in der Gesellschaft sichern sollte. Allerdings hatten die Karlsruher Richter im letzten der beiden Urteile ein wichtiges Schlupfloch gelassen, als sie es wegen der besonderen Bedeutung der Parteien für die
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Parteienfinanzierung Durchführung von Wahlen für zulässig erklärten, den Parteien die Kosten eines angemessenen Wahlkampfes zu erstatten. Damit war das Signal gegeben für den Einstieg in die teilw. Staatsfinanzierung der Parteien. Diese wurde in der Folgezeit unter dem Druck eines wachsenden, v.a. in ständiger Aufgabenmehrung und zunehmender Professionalisierung der Parteiapparate begründeten Geldbedarfs zu einem immer komplexeren System mittelbarer und unmittelbarer, finanzieller und sächlicher Zuwendungen ausgebaut. Zu ihm zählen nach Ansicht vieler Kritiker auch solche Leistungen, von denen nicht die Partei selbst, sondern mit ihnen verbundene oder ihnen nahestehende Organisationen profitieren: die polit. Jugendorganisationen, die parteinahen —» Stiftungen und die Fraktionen. Das BVerfO vollzog diese Entwicklung in einer in sich alles andere als stringenten Judikatur im wesentlichen nur noch nach. Gegen einzelne Modalitäten der staatl. P. meldete es immer wieder Bedenken an, ohne indes den eingeschlagenen Kurs noch prinzipiell zu korrigieren. Den - zumindest vorläufigen - Schlußpunkt setzte dann das Urteil vom 9.4.1992. Hier strich das BVerfG aus dem umfassenden Subventionssystem zwar einzelne Bestandteile wie die zwischenzeitlich wiedereingeführte Gewährung von Steuemachlässen für Großspender heraus, erkannte aber die de facto längst unumkehrbare Abhängigkeit der Parteien von staatl. Zuwendungen an und forderte lediglich, diese künftig so zu gewähren, daß der polit. Prozeß offen, der Parteiwettbewerb erhalten und die Rückbindung der Parteiführungen an ihre gesellschaftl. Basis erhalten bleibe. Zugleich begrenzte es die direkten Zuwendungen der Höhe nach für jede Partei auf die von ihr selbst erwirtschafteten Einnahmen (relative Obergrenze), für alle Parteien zusammen auf die ihnen im Mittel der Jahre von 1989 bis 1992 aus öffentl. Kassen zugeflossenen Mittel (absolute Obergrenze). In Umsetzung dieser Regelung ruht die staatl.
Parteiengesetz
Parteiengesetz Alimentierung der Parteien nunmehr im wesentlichen auf 3 Säulen: der -> Wahlkampfkostenerstattung, die nach der Zahl der von einer Partei erzielten Wählerstimmen bemessen wird (1,30 DM ftlr jede der ersten 5 Mio. Stimmen, für jede darüber hinausgehende Stimme 1 DM, § 18 m Nr. 1 und 2 PartG), einem Zuschuß von 0,50 DM auf jede Mark, die die Parteien aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen natürlicher Personen bis 6000 DM einwerben (§ 18 m Nr. 3 PartG), und der steuerlichen Abzugsfähigkeit von Parteispenden und Mitgliedsbeiträgen bis zu einem Betrag von 6.000 DM für Ledige bzw. 12.000 DM für Verheiratete (§§ 10b Π, 34g EStG). Auch dieses System hat sich indes bereits Kritik gefallen lassen müssen: Ob es in allen seinen Teilen den Vorgaben des BVerfG entspricht, ist nicht sicher, darüber hinaus verbleiben solche indirekten Zuwendungen wie die Globalzuschüsse an die parteinahen Stiftungen nach wie vor in einer nicht weiter aufgehellten Grauzone. Geführt hat die damit zum Abschluß gebrachte Entwicklung jedenfalls zu einer Mischfinanzierung, bei der die Bedeutung der Mitgliedsbeiträge über die Jahre zusehends geschrumpft ist. Diese machten nach den letzten vorgelegten Rechenschaftsberichten der Parteien nur noch bei der - » SPD und der —> PDS knapp die Hälfte der Gesamteinnahmen aus; bei - » CDU/CSU, -> FDP sowie -> Bündnis 90/Grüne lagen sie in der Vergangenheit z.T. erheblich darunter. Lit: BVerfG E 8, 52; 20, 56; 24, 300; 85, 264; H. Η. v. Arnim: Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, München 1996; C. Landfried: Parteifinanzen und polit. Macht, Baden-Baden 1990; R. Schwartmann: Verfassungsfragen der Allgemeinfinanzierung polit. Parteien, Berlin 1995.
Uwe Volkmann Parteiengesetz Das P. vom 24.7.1967 i.d.F. der Bekanntmachung vom 3.3.1989 (BGBl. I S. 327), das auf einer -> ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des -> Bundes beruht, konkretisiert und ergänzt entsprechend Art. 21 Abs. 3 GG
den in Abs. 1 dieser Norm verfassungsrechtl. vorgegebenen Rahmen für polit. —> Parteien in der —> Bundesrepublik Deutschland. Das P. ist in 8 Abschnitte untergliedert. Im 1. Abschn. (§§ 1-5), der allgemeine Bestimmungen enthält, wird insbes. der Begriff der Partei definiert (§ 2), deren verfassungsrechtl. Stellung und Aufgabe der Mitwirkung an der polit. —> Willensbildung des Volkes definiert (§ 1) und der Grundsatz der Gleichbehandlung der Parteien verankert (§ 5). Im 2. Abschn. (§§ 6-16) ist die innere Ordnung der Parteien geregelt. Die in §§ 7ff. enthaltenen zwingenden Vorschriften über Bildimg und Organisation der Parteien sollen namentlich dem inneren Gefüge der Parteien eine demokrat. Ordnung geben. Diesem Ziel dienen v.a. detaillierte Regelungen über die personelle Zusammensetzung der Mitglieder- bzw. Vertreterversammlung und deren Aufgaben, über Wahl, Zusammensetzung und Funktionen des Vorstandes sowie über die Rechte der Parteimitglieder. Letztere werden unda. durch die strengen Anforderungen, die an einen Parteiausschluß gestellt werden (§ 10 Abs. 4 und 5), geschützt. Der 3. Abschn. des P. (§ 17), der die Aufstellung von Wahlbewerbem zum Gegenstand hat, beschränkt sich im Hinblick auf die umfangreichen diesbezüglichen Regelungen in den Wahlgesetzen auf die Feststellung, daß diese Aufstellung in geheimer Abstimmung zu erfolgen hat. Der 4. Abschn. (§§ 18 - 22) zur -> Wahlkampfkostenerstattung und der 5. Abschn. (§ 22a) zum Chancenausgleich hat Fragen der —> Parteienfinanzierung zum Gegenstand. Auch einzelne Vorschriften des 8. Abschnitts (§§ 34 - 41), die Änderungen steuerrechtl. Bestimmungen herbeiführen, gehören in diesen Zusammenhang. Gerade die Bestimmungen des P. zur Parteienfinanzierung wurden vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des -> Bundesverfassungsgerichts immer wieder geändert. Der 6. Abschn. des P. ( § § 2 3 - 3 1 ) konkretisiert die in Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG statuierte Pflicht der Parteien, über die Her-
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Parteiensystem
Parteienprivileg kunñ und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen Rechenschaft zu geben. Der 7. Abschn. (§§ 32 - 33) hat Fragen des Vollzugs des Verbots verfassungswidriger Parteien nach Art. 21 Abs. 2 GG zum Gegenstand (-> s.a. Parteienverbot). Lit: Κ. Endlich: Recht und Praxis der polit. Parteien in der BRD, München 1992; D.T. Tsatsos (Hg.): Parteienrecht im europ. Vergleich, Baden-Baden 1990. Jörg Ukrow
Parteienprivileg Da über die -> Verfassungswidrigkeit polit. —• Parteien allein das -> Bundesverfassungsgericht entscheiden kann (Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG i.V.m. §§ 43ff. BVerfGG), sind sie gegenüber allen übrigen Vereinigungen „privilegiert". Denn sonstige verfassungsfeindliche, strafrechtswidrige oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtete Organisationen kann die —> Exekutive verbieten (Art. 9 Abs. 2 GG i.V.m. §§ 3fT. VereinsG). Lit.: W. Schmidt: Das Parteienprivileg zwischen Legalität und Opportunität, in: DÖV 1978, S. 468ÍT. C.R.
Parteienproporz ist im Unterschied zum Fraktionsproporz (vgl. z.B. § 12 GOBT) kein rechtl. geregeltes, sondern ein ausschließlich in der Verfassungspraxis zu beobachtendes Phänomen. P., d.h. die Besetzung von (polit. Führungs-) Positionen mit dem Ziel einer Berücksichtigung der -> Parteien entsprechend ihrer Stärke, gehört zum heutigen Bild des —> Parteienstaates in - » Verwaltung, - » Selbstverwaltung sowie Unternehmen mit Beteiligung der öfientl. Hand. Der Verzicht auf rechtl. Regelung spiegelt die verfassungsrechtl. Bedenken gegen P.-Überlegungen im staatl. Bereich wider. Namentlich verstoßen Bevorzugungen oder Benachteiligungen aus bloßen Gründen des P. im Bereich der —• Exekutive gegen Art. 33 Abs. 2 iVm Art. 3 Abs. 3 GG. Die Erscheinungsformen des allgemeinen P. 682
sind nicht streng arithmetisch für alle Parteien, sondern variabler ausgestaltet, z.B. in Form der Parteienparität zwischen den beiden großen Volksparteien bzw. polit. Lagern. Personalbestellungen unter dem Aspekt des P. finden sich insbes. bei solchen Einrichtungen, die von der Solidarität aller demokrat. Parteien nach innen (-> BKA, -> BND, -> BfV) und außen (-> Auswärtiges Amt) in besonderer Weise getragen sind. Ein besonders strittiges Feld der Berücksichtigung des P. sind öffentl.-rechtl. —• Rundfunkanstalten, in denen Überlegungen des P. eine nicht unbedeutende, im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG aber verfassungsrechtl. bedenkliche Rolle bei der Durchsetzung von Binnenpluralismus spielen. Lit: H. Schulze-Fielitz: Der informale Verfassungsstaat, Berlin 1984.
J. u. ParteieiKtaat -> Parteiendemokratie Parteienstaatliche Demokratie -> Parteiendemokratie Parteiensystem 1. Begriffsbestimmung Als ein P. können die Gesamtheit der in einem polk. System wirkenden —> Parteien und die regelmäßigen Wechselbeziehungen der einzelnen Parteien untereinander bezeichnet werden. Die Interaktionen werden hauptsächlich bestimmt durch die Anzahl, jeweilige Größenordnung (Mitglieder- und Wähleranteil, Fraktionsstärke), Binnenstruktur und ideologisch-programmatische Distanz zwischen den Parteien. Das P. soll gegenüber dem polit. System eine Legitimationsfunktion erfüllen, indem es bei —• Wahlen dem polit. System ein stabiles Fundament generalisierten -> Vertrauens, breite Zustimmung und emotional verankerten Massenrückhalt sichert und in periodischen Abständen erneuert. Der Struktur eines P.s kommt daher insbes. für das Funktionieren einer parlement. -> Demokratie eine hohe Bedeutung zu. Da das P. ein Subsystem des gesamten polit. Sy-
Parteiensystem stems ist, ist dessen Entwicklung abhängig von den polit., Ökonom, und gesellschaftl. Verhältnissen des Gesamtsystems. 2. Klassifizierung Zur Beschreibung, Unterscheidung und Klassifizierung von P.en sind sowohl quantitative wie qualitative Kriterien herangezogen worden. Als quantitatives Kriterium gilt die Anzahl der Parteien innerhalb des P.s. Als zentrale qualitative Kriterien zur Unterscheidung von P.en sehen Parteienforscher das Ausmaß, in dem Parteien die -> Gesellschaft durchdringen, die ideologisch-programmatischen Differenzen zwischen den Parteien und die Haltung der Parteien gegenüber der -> Legitimität des polit. Systems. Letztlich steht auch hinter diesen Überlegungen die Annahme, daß es einen Wettbewerb zwischen den Parteien gibt, dessen Form, Regelung, Reichweite und Dynamik die Unterschiedlichkeit von P.en bestimmen. P.e ohne Wettbewerb sind in fast allen Fällen Einparteiensysteme. Geraume Zeit hat die P.analyse nur die numerische Unterscheidung von Ein-, Zwei- und Mehr- oder -» Vielparteiensystemen vorgenommen. Der heuristische Nutzen und der Informationsgewinn rein quantitativer Klassifizierungen erwies sich jedoch als gering, so daß zunehmend qualitative Kriterien in den Mittelpunkt des Interesses rückten. LaPalombara und Weiner unterschieden in den 60er Jahren zwischen hegemonialen P.en (gekennzeichnet durch die hegemoniale Stellung einer Partei) und durch echte Konkurrenz geprägten P.en bzw. zwischen durch ideologischen Wettbewerb oder pragmatische Zusammenarbeit gekennzeichneten P.en. In hegemonialen P.en wird eine Partei durch die polit., gesellschafü. oder wirtschaftl. Strukturen so begünstigt, daß sie über einen großen Zeitraum allein oder in -> Koalitionen als dominante Partei die Regierungsmacht innehat. Altemierende Systeme sind dadurch gekennzeichnet, daß ein Wechsel der Regierungsparteien strukturell wahrscheinlich, zumindest aber möglich ist. Sartori hat diese Aspekte aufgenommen und die
Parteiensystem Klassifizierung weiter verfeinert, indem er quantitative und qualitative Faktoren in einen engen Zusammenhang gestellt hat. 2 Variablen sind in Sartoris Einteilung für die Unterscheidung von P.en von zentraler Bedeutung: Die Fragmentierung des P.s, die an der Anzahl der relevanten Parteien und der relativen stärke der einzelnen Parteien gemessen werden kann und die ideologisch programmatische Distanz zwischen den Parteien. Sartori stuft die Parteien als relevant ein, die über Parlamentssitze verfügen, Regierungsbildungspotential haben oder den Wettbewerb in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen vermögen. Der Parteienwettbewerb kann zentrifugal (aus der Mitte fort, hin zu den Extremen oder Antisystemparteien) oder zentripetal (auf die Mitte) ausgerichtet sein. Zu unterscheiden sind Zwei- von Vielparteiensystemen; letztere können unterteilt werden in begrenzt pluralistische (3-5 Parteien) und extrem pluralistische (mehr als 5 relevante Parteien). Bei zentrifugaler Ausrichtung des P.s ist die Struktur als polarisierter Pluralismus zu kennzeichnen, bei zentripetaler Ausrichtung als gemäßigter Pluralismus. Sartori geht davon aus, daß extrem pluralistische P.e eher dem Typus des polarisierten —> Pluralismus entsprechen, begrenzt pluralistische P.e eher dem gemäßigten Pluralismus. Diese Beobachtung entspricht nur bedingt der polit. Realität. Zweiparteiensysteme liegen vor, wenn keine 3. je eine der beiden großen Parteien vom Erringen der Regierungsmehrheit und damit der Einparteienregierung abhalten kann. In seiner Klassifizierung von P.en hebt Sartori die Relevanz von Antisystemparteien besonders hervor, jedoch ist dem entgegenzuhalten, daß in den meisten Wettbewerbsdemokratien der Gegenwart kaum echte relevante Antisystemparteien vorhanden sind, vielmehr fast alle relevanten Parteien als systemloyale Konkurrenzparteien auftreten. Auch nach der Transformation der osteurop. P.e überwiegen dort die systemloyalen Parteien mit Regierungsbildungs-
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Parteiensystem potential deutlich. 3. Ausprägungen und aktuelle Probleme Warum die einzelnen P.e unterschiedliche Strukturen aufweisen, ist weder linear noch deterministisch auf einen Faktor zurückzuführen. P.e sind einerseits Resultat polit, und gesellschaftl. Entwicklungen, andererseits beeinflussen sie aber wiederum das polit. System insg.. —• Wahlsysteme haben nur einen begrenzten Einfluß auf die Struktur von P.en und keinesfalls führt —> Mehrheitswahlrecht zwangsläufig zu Zweiparteiensystemen und —> Verhältniswahlrecht zu Mehr- oder Vielparteiensystemen. Hier sind andere Faktoren zu berücksichtigen wie Staatsaufbau, -> polit. Kultur oder das Vorherrschen von Konfliktlinien. Nach dem Ansatz von Lipset und Rokkan sind P.e durch das Vorhandensein dominanter Konfliktlinien innerhalb von Gesellschaften geprägt. Sie entwickeln sich aufgrund histor. spezifischer Anpassungsformen an gesellschaftl. Umweltbedingungen. Als grundlegende Cleavagestypen lassen sich einerseits Konflikte über ethnische, territoriale, ökologische und kulturelle Fragen, andererseits solche über sozio-ökonom. Probleme unterscheiden. Die in den 80er Jahren hervorgehobene Konfliktlinie zwischen Materialisten und Postmaterialisten ist in ihrer Bedeutung wieder zurückgegangen. Die Transformation von Konflikten in ein P. ist mitbestimmend für dessen Funktionsfahigkeit und beeinflußt somit auch die Legitimationskraft des polit. Systems insg., ist doch das P. das Instrument zur Artikulation und Aggregation der Interessenvielfalt der Wähler. Die Repräsentation von Interessen und die entsprechende —> Responsivität des P.s ist in jüngster Vergangenheit in westlichen Demokratien in Frage gestellt worden. Die Zunahme von Nicht- oder Protestwählern und damit einhergehend bestimmte Formen von Parteienverdrossenheit lassen die Frage aufkommen, inwieweit die P.e in den jetzigen Ausprägungen noch in der Lage sind, die Interessenvielfalt der Wähler zu artikulieren und zu
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Parteiverbot aggregieren. Lit: W. Gellner fT/g./'Umbruch und Wandel in westeurop. Parteiensystemen, Frankfurt/M. 199S; J. LaPalombara/M. Weiner (Hg.): Political Parties and Political Development, Princeton 1966; G. Sartori: Parties and Party Systems, Cambridge 1976; S. M. Lipset / St. Rokkan (Hg.): Party Systems and Voter Alignments, New York 1967; K. Niclauß: Das Parteiensystem der BRD, Paderborn 1995; A. Ware: Political Parties and Party Systems, Oxford 1996.
Uwe Jun Parteiprogramm —* Partei Parteispenden -> Parteienfinanzierung Parteiverbot Im Gegensatz zur -> Weimarer Reichsverfassung (Art. 130 I) hat der Grundgesetzgeber 1949 einerseits den polit. —> Parteien eine positive Rolle im polit. Willensbildungsprozeß zuerkannt (Art. 21 Abs. 1 GG), andererseits aber auch aus dem Versagen der formalen, wertrelativistischen -> Demokratie der Weimarer Republik gegenüber den sie bekämpfenden links- und rechtsextremistischen Parteien die Konsequenz gezogen und die Möglichkeit geschaffen, Parteien, die gegen die -> freiheitliche demokratische Grundordnung verstoßen oder den Bestand der —> Bundesrepublik Deutschland gefährden, für verfassungswidrig zu erklären und zu verbieten (Art. 21 Abs. 2 GG). Das Präventivinstrument des P.s ist Teil des verfassungsrechtl. Demokratieschutzes und Ausdruck des auf K. Loewenstein (1937) zurückgehenden Konzepts der wehrhaften oder —> streitbaren Demokratie, das in dieser Form histor. ohne Vorbild ist und nichts anderes bedeutet als die Inanspruchnahme des Rechts der Selbstverteidigung gegenüber verfassungsfeindlichen Kräften durch den demokrat. Staat. Es bedeutet allerdings und dies ist ein nicht gänzlich auflösbarer Widerspruch - Begrenzung der polit. Freiheit um der Erhaltung künftiger Freiheit willen. Um jeglichen Mißbrauch des Rechtsin-
Parteiverbot stituts des Ps auszuschließen, liegt die letzte Entscheidung, ob eine Partei verfassungswidrig ist oder nicht, im Gegensatz zum Vereinsverbot (Art. 9 Abs. 2 GG) beim -> Bundesverfassungsgericht (—> Parteienprivileg - Art. 21 Abs. 2 S.2 GG), das auch nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag tätig werden kann. Antragsberechtigt (jedoch keine Rechtspflicht) sind —• Bundestag, —> -rat und —> -regierung, im Fall einer sich nur auf ein Land erstreckenden Partei die jeweilige -> Landesregierung (§ 43 BVerfGG). Mit dem Verbot einer Partei sind auch der Mandatsverlust der dieser Partei angehörenden ->· Abgeordneten (§ 46 I Nr. 5 BWG) und das Verbot von Ersatzorganisationen (§ 46 ΠΙ BVerfGG) verbunden. In der Geschichte der BRD wurde vom P.sverfahren sehr unterschiedlich Gebrauch gemacht. In den ersten Jahren wurde es eher rigide gehandhabt und war weitgehend vom -> Legalitätsprinzip beherrscht. Dies führte - Antragsteller war jeweils die Bundesregierung - zum Verbot der SRP 1952 (BVerfGE 2, Iff.) und der KPD 1956 (BVerfGE 5, 85ff.). In den späteren Jahren trat das -> Opportunitätsprinzip in den Vordergrund. So gab es bis 1993 keinen Antrag mehr auf P.; ein Verbotsantrag wurde jedoch 1969 bzgl. der NPD sowie Anfang der 80er Jahre und erneut 1988 bzgl. der „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei" (FAP) diskutiert, schließlich aber aus polit. Gründen nicht gestellt. Nach den Mordanschlägen in Mölln (November 1992) und Solingen (Mai 1993) ist eine Reaktivierung des Instruments des P.s festzustellen. So haben der —> Senat von —> Hamburg gegen die „Nationale Liste" (NL) sowie die Bundesregierung und der Bundesrat gegen die FAP im September 1993 Anträge auf Feststellung der —> Verfassungswidrigkeit beim BVerfG gestellt, die das BVerfG allerdings wegen Fehlens der Parteieigenschaft im November 1994 als unzulässig zurückgewiesen hat (BVerfGE 91, 262ff, 276fF.). Daraufhin wurden im Februar 1995 die FAP vom Bundesinnenminister
Patent und die NL vom Hamb. Innensenator verboten. Da das Instrument des P.s einen einschneidenden Eingriff in den polit. Prozeß darstellt, sollte seine Anwendung aus demokratietheoretischen Gründen äußerst restriktiv gehandhabt werden, denn in der freiheitlich-rechtsstaatl. Demokratie muß prinzipiell die geistig-polit. und nicht die rechtl. Auseinandersetzung mit dem polit. —• Extremismus im Vordergrund stehen. Lit: W. Billing: Rechtsextremismus. Eine Herausforderung der wehrhaften Demokratie, in: Ders. / A. Barz / S. Wienk-Borgert (Hg.), Rechtsextremismus in der BRD, Baden-Baden 1993, S. 13 I f f ; H. Meier: Partei verböte und demokrat. Republik, Baden-Baden 1993.
Werner Billing Partizipation -> Bürgerbewegung Patent / -recht Das P.recht ist neben dem Gebrauchsmuster-, Geschmacksmuster-, Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht Bestandteil des gewerblichen —> Rechtsschutzes, d.h. deijenigen Normen, die dem Schutz gewerblich-geistiger Leistungen dienen. Das P. ist die einem Erfinder bzw. dessen Rechtsnachfolger vom —> Staat erteilte und befristete Befugnis, eine unter seinen Schutz gestellte Erfindung ausschließlich zu nutzen. Es gewährt damit eine eigentumsähnliche Rechtsposition, die allein den P.inhaber zur Herstellung, zum Gebrauch und zur Veräußerung des geschützten Gegenstandes berechtigt. Durch diese exklusiven Nutzungsrechte fördert der Staat die Offenlegung techn. Erfindungen zum Wohle der Allgemeinheit. Voraussetzungen und Rechtsfolgen der P.erteilung sind im P.gesetz i.d.F.v. 16.12.1980 (BGBl. 1981 I S . 1), im Europäischen P.übereinkommen v. 5.10.1973 (BGBl. 1976 Π S. 649, 826) sowie in internationalen Übereinkommen (Pariser Verbandsübereinkommen, Vertrag über die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des P.wesens, Straßburger P.Übereinkommen) geregelt. P.e können als Erzeugnis- oder
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Patentamt
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Verfahrenspatente erteilt werden. Zuständig hierfür ist das dem -> Bundesjustizministerium unterstellte -> Deutsche Patentamt (München). Der Erfinder kann jedoch auch ein europ. P., das in seinen Wirkungen den nationalen P.en gleichsteht, beim Europäischen Patentamt (München) beantragen. P.fähige Erfindungen sind solche, die neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind. Da allein der P.inhaber befugt ist, das P. zu nutzen, dürfen Dritte ohne seine Zustimmung den P. gegenständ weder herstellen noch gebrauchen oder Mittel hierzu anbieten. Der P.inhaber kann sein Nutzungsrecht jedoch ganz oder teilw. durch Lizenzvertrag auf Dritte übertragen. Gegenüber Rechtsverletzungen genießt er zivilrechtl. (Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche) sowie strafrechtl. Schutz. Die Schutzdauer für das P. beträgt 20 Jahre. Während der Schutzdauer muß eine Jahresgebühr entrichtet werden. Lit.: W. Bernhardt / R. Kraß 1er: Patentrecht, München 4 1986; W.-H. Roth: Patentrecht, in: H.J. Bunte (Hg.), Lexikon des Rechts, Berlin 1997, S. 255SF.
RalfMüller-Terpitz Patentamt
Deutsches Patentamt
Paulskirche —> Frankfurter Nationalversammlung Paulskirchenverfassung, -parlamcnt —> Frankfurter Nationalversammlung Personalisiertes Verhältniswahlrecht —» Verhältniswahlrecht —> s.a.Wahlrecht - » s.a. Wahlsystem Personalitätsprinzip -> Staatsangehörigkeit Persönlichkeitswahl —> Wahl —> Wahlrecht Petition / -sausschuß (von lat. petitio = Bitte) „Jedermann hat das Recht, sich
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einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten und Beschwerden an die zuständigen Stellen (also an alle Staatsbehörden) und an die Volksvertretung (gemeint sind die Parlamente von Bund und Ländern) zu wenden". Von diesem —> Grundrecht nach Art. 17 GG machten 1995 nicht weniger als 21.291 Bürger mit ihrer P. an den —> Bundestag Gebrauch. Unter „Bitten" werden vornehmlich Wünsche und Anregungen an den Gesetzgeber verstanden, unter „Beschwerden" hauptsächlich vermeintlich unkorrekte Verwaltungsentscheidungen. Daß der Bundestag und sein P. sausschuß (bzw. seine „Schwesterausschüsse" in den Bundesländern) in steigendem Maße um Rat und Tat, Auskunft und Abhilfe angerufen werden, muß auf den ersten Blick verwundem, denn zu Recht ist die BRD stolz auf den umfassend ausgebauten Gerichtsschutz und das gesetzlich zur Stärkung der —> Bürger gegenüber der Verwaltung geregelte Verwaltungsverfahren. Ein wichtiger Grund für das Aufgreifen dieses kostenlosen und unbürokratischen Vermittlungsweges zwischen Bürger und —> Verwaltung ist die zunehmende Hilflosigkeit des Bürgers im Dschungel des immer dichter werdenden sowie unüberschaubaren Normengeflechtes und der häufig schwer zu entwirrenden Zuständigkeit zahlloser Behörden. Das P.sverfahren unterliegt keinen äußeren Formen und Fristen; es gibt keinen Anwaltszwang; die P. muß aber schriftlich abgefaßt sein und darf keine Beleidigungen enthalten. Jede Person, also auch Minderjährige und Strafgefangene, kann sich an den P. sausschuß wenden. Das gleiche gilt auch für —> Beamte und Soldaten, wobei bei beiden bestimmte Einschränkungen zu berücksichtigen sind. Beförderungsfragen sind ebenso ausgeschlossen wie der Aufgabenbereich eines Beamten. Fühlen sich Soldaten in ihren Grundrechten oder in den Grundsätzen der —> Inneren Führung verletzt, haben sie sich an den —> Wehrbeauftragten des Bundestages zu wenden. Gleichsam als
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Nebenprodukt liefern die P.en Informationsmaterial für das —> Parlament. Es erhält so einen Oberblick über Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten beim Gesetzesvollzug, den es zur Wahrnehmung seiner klassischen Kontrollfunktion gegenüber der -> Regierung nutzen kann. Histor. wurzelt das P.srecht in den ständischen Beschwerderechten des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit. Als sog. altliberales Gedankengut fand es Eingang in die frühkonstitutionellen Verfassungen des 19. Jhd.s. 1849 wurde es in die —» Paulskirchenverfassung (§ 159) ebenso aufgenommen wie in die -> Verfassung des Dt. Reiches von 1871 (Art. 23) und 1919 in die —> Weimarer Reichsverfassung (Art. 126). Seit der Reform des P.swesens auf Bundesebene 1975 ist der P. sausschuß durch die Einfügung des Art. 45c in das GG in den Rang eines der wenigen verfassungsmäßig abgesicherten -> Ausschüsse gehoben worden. Gleichzeitig wurde auch das Gesetz über seine Befugnisse verabschiedet. Abschn. IX der GOBT wurde ebenfalls ergänzt und enthält in den §§ 108-112 die Regelungen zur Behandlung von P.en. Die Verfahrensgrundsätze des P.sausschusses i.d.F. von 1991 enthalten auch Anweisungen für die Auschuß-Mitarbeiter. Seit Dezember 1994 umfaßt der Ausschuß 32 Mitglieder. Durch die Reform von 1975 wurden auch seine Kompetenzen ausgeweitet: Ahnlich wie die meisten Landespetitionsausschüsse, die schon Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre eine vergleichbare Kompetenzausweitung vorweggenommen hatten, beinhalten die Befugnisse des P. sausschusses des Bundestages gegenüber der -> Bundesregierung und den Behörden des Bundes (z.B. Dt. Bundespost, Zollverwaltung, -> Bundesanstalt für Arbeit): a) —> Auskunftsrecht; b) Aktenvorlage; c) Zutritt zu allen Einrichtungen; d) Anhörung des Petenten sowie Zeugen- und Sachverständigenladung; e) Verpflichtung aller Verwaltungsbehörden und Gerichte zur Amtshilfe; fi Ladung von Ministem und hohen Beamten; g) Abhaltung von
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Ortsterminen. Ein Selbstaufgriffsrecht besitzt der P. sausschuß dagegen nicht. Jede beim Bundestag eingehende P. wird an den P. sausschuß weitergereicht, dessen Ausschußbüro, die Unterabteilung für P.en und Eingaben mit etwa 90 Mitarbeitern, das Anliegen registriert und prüft, ob die P. die formellen und inhaltlichen Voraussetzungen für eine sachliche Behandlung im P. sausschuß erfüllt. Anschließend versucht diese Abt. durch das Anfordern von Stellungnahmen bei den in der Sache betroffenen Ministerien und Behörden, den Sachverhalt weiter aufzuklären und schon in diesem Stadium eine für den Petenten positive Stellungnahme zu erreichen, was häufig auch geschieht. Sollte dies nicht der Fall sein, wird die von den Referenten des ,Ausschußbüros" erarbeitete Stellungnahme 2 Mitgliedern des P. sausschusses zugeleitet. Diese sog. Berichterstatter mit unterschiedlicher Parteizugehörigkeit stützen sich auf die ihnen unterbreiteten Vorschläge zur weiteren Sachaufklärung oder auf die empfohlene -> Beschlußempfehlung. Dieses Verfahren trifft bei ungefähr 10% aller P.en zu. Einigen sich die Berichterstatter auf einen Antrag zur weiteren Behandlung, findet keine Einzelberatung über die P. im Ausschuß statt, sondern der P. sausschuß beschließt über sie - ebenso wie über die schon vom Ausschußbüro geklärten Eingaben - im Rahmen der monatlichen Sammelübersichten. Diese werden anschließend dem —> Plenum des Bundestages zur endgültigen -> Beschlußfassung unterbreitet. Stimmen die Anträge der beiden Berichterstatter nicht mit dem Vorschlag des Ausschußbüros überein - was sehr selten der Fall ist -, dann erfolgt im Ausschuß eine Einzelberatung. Diese findet auch bei den wichtigsten Voten des Ausschusses statt, nämlich die P. der Bundesregierung zu überweisen: a) zur Berücksichtigung, d.h. das Anliegen ist berechtigt und Abhilfe scheint notwendig; b) zu Erwägung; das Anliegen sollte noch einmal geprüft und es sollte nach Abhilfemöglichkeiten gesucht werden; c) als
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Material, d.h. die P. soll bei der Vorbereitung von Gesetzentwürfen berücksichtigt werden; d) als schlichte Überweisung; in einem solchen Fall soll die Bundesregierung von dem Anliegen des Petenten unterrichtet werden. Außerdem kann der P. sausschuß eine P. abschließen, wenn die erforderliche Abhilfe bereits erfolgt ist, oder wenn das Handeln der Verwaltung nicht zu beanstanden und Abhilfe daher nicht möglich ist. Der wichtigste Vorschlag (zur Berücksichtigung) wird sehr selten genutzt meist in 0,16% aller Fälle, um diese Waffe nicht durch zu häufige Benutzung stumpf werden zu lassen. I.d.R. folgt die Bundesregierung diesen (wenigen) Empfehlungen. Der Verfahrensablauf macht deutlich, daß der P. sausschuß letztlich über alle Eingaben befindet, bevor er dem Bundestag seine Empfehlungen zur endgültigen Entscheidung zuleitet. Nach dessen abschließendem Votum erhält der Petent über die Beschlußfassung eine Nachricht und das Verfahren ist abgeschlossen. Aus dem Antragskatalog wird ersichtlich, daß der P. sausschuß als parlament. P.sinstanz nicht mit verbindlicher Wirkung in den Verwaltungsablauf eingreifen und keine Verwaltungsakte abändern oder aufheben kann. Er kann lediglich einen Beschluß des Plenums herbeiführen, die —> Exekutive möge ihr Handeln in diesem speziellen Fall noch einmal überprüfen. Insofern enthält auch der Beschluß des Bundestages über die vorgelegten Empfehlungen des Ausschusses kein parlament. Weisungsrecht und hat keine sanktionierende, sondern nur eine polit, und moralische Wirkung. Neben der P. des einzelnen Bürgers sind auch Massen- und Sammelpetitionen zulässig. Von beiden Arten, bei denen es sich entweder um dasselbe Anliegen mit wortgleichem Inhalt handelt oder die von einer Vielzahl von Petenten unterschrieben werden, wird zunehmend stärker Gebrauch gemacht. Fragt man nach einer Positivbilanz der im P.sausschuß behandelten P.en, so läßt sich 688
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über viele Jahre hinweg folgendes feststellen: Durchschnittlich werden etwa 10% der eingegangenen P.en positiv beschieden, d.h. dem Anliegen des Einsenders wurde entsprochen. Allerdings muß diese recht bescheidene Zahl insofern relativiert werden, wenn man bedenkt, daß ca. 40% der Eingaben durch Rat, Auskunft oder Materialübersendung an den Petenten erledigt wurden. Zwar handelt es sich hierbei oft nicht um eine einvernehmliche Erledigung, aber in etlichen Fällen konnte dem Petenten das korrekte Verhalten der Behörde ausführlich erläutert oder ihm ein Weg gewiesen werden, sein Anliegen auf andere Weise weiter zu verfolgen. Seit Inkrafttreten des Maastrichter -> EUVertrages am 1.11.1993 haben alle Unionsbürger sowie jede natürliche oder jurist. Person mit Wohnort in einem der Mitgliedsländer das Recht, eine P., „die in die Tätigkeitsbereiche der Gemeinschaft (fällt)", an den P.sausschuß zu richten (Art. 138d EGV). 1994/95 machten 1.352 Personen von ihrem Recht Gebrauch. Der P.sausschuß kann neben der Durchführung von Anhörungen und Ortsbesuchen von der —> Europäischen Kommission Akteneinsicht und Auskünfte verlangen. Seine —* Entschließungsanträge unterbreitet er dem —» Europäischen Parlament; außerdem kann er beeintragen, daß diese der Kommission bzw. dem Ministerrat unterbreitet werden; das Parlament unterrichtet er halbjährlich über die Ergebnisse seiner Beratungen (Art. 157GOEP). Ut: E. Friesenhahn: Zur neueren Entwicklung des Petitionsrechts in der BRD, in: U. Kempf / H. Uppendahl (Hg.), Ein dt. Ombudsman - Der Bürgerbeauftragte von Rheinland-Pfalz, Opladen 1986, S. 229fr.; HdbStR II, S. 73ff.; R. Schick: Petitionen - Von der Untertanenbitte zum Bürgerrecht, Heidelberg 31996; Schneider / Zeh, S. 122 Iff.; W. Graf Vitzthum: Petitionsrecht und Volksvertretung, Rheinbreihtbach 1985; T. Wärtenberger: Art. 45c GG (Zweitbearbeitung), in: R. Dolzer (Hg.), Komm, zum Bonner GG, Losebl., Heidelberg 1995, S. Iff ;
PTB
Petitionsausschuß Udo Kempf PetitionsausschuD -> Petition -> s.a. Ausschuß Petitionsrecht —> Petition PDS/LL Partei des Demokratischen Sozialismus Pflegeversicherung ist der 1995 nach fast 20-jährigen heftigen polit, und öffentl. Diskussionen zur Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit eingeführte Zweig der —> Sozialversicherung. Gesetzlich geregelt ist die P. im SGB XI.; die Versicherungspflicht in der P. folgt der Versicherung in der gesetzlichen -> Krankenversicherung. Privat Krankenversicherte müssen eine private Pflegeversicherung abschließen. Analog der gesetzlichen Krankenversicherung besteht für Familienmitglieder die Familienversicherung. Leistungsauslösendes Risiko ist die Pflegebedürftigkeit. Gemäß Gesetz sind pflegebedürftig Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem Maße der Hilfe bedürfen. Hinsichtlich der Leistungsgewährung werden 3 Stufen unterschieden: erhebliche Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I), Schwerpflegebedürftigkeit (Pflegestufe Π) und Schwerstpflegebedürftigkeit (Pflegestufe ΙΠ). Die P. gewährt folgende Leistungen: bei häuslicher Pflege die Pflegesachleistung (je nach Pflegestufe im Wert von 750, 1.800 und 2.800 DM monatlich) oder das Pflegegeld (400, 800, 1300 DM), Pflegehilfsmittel, techn. Hilfen, Verhinderungspflege, teilstationäre Pflege sowie Kurzzeitpflege; bei erforderlicher vollstationärer Pflege die Übernahme der allgemeinen Pflegeleistungen (ohne Unterkunft und Verpflegung) bis zur Höhe von 2.800 DM). Für Personen, die nicht erwerbsmä-
ßig einen Pflegebedürftigen mindestens 14 Stunden wöchentlich pflegen, übernimmt die P. die Aufwendungen für die soziale Sicherung. In der sozialen P. wird der Beitrag je zur Hälfe von den Versicherten und ihren Arbeitgebern aufgebracht (Ausnahme -> Sachsen). Er beträgt 1,7% des Einkommens bis zur Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung. Zur Kompensation des Arbeitgeberanteils wurde der Bußund Bettag als gesetzlicher Feiertag abgeschafft. Träger der P. sind die bei den Krankenkassen errichteten Pflegekassen. Zur Leistungserbringung bedienen sich die Pflegekassen der am Markt vorhandenen Leistungsanbieter, mit denen sie Versorgungsverträge abschließen. Für die private P. sieht das Gesetz eine Reihe von Regelungen vor, welche die Gestaltungsfreiheit bei Versicherungsverträgen erheblich beschränken (z.B. Kontrahierungszwang, Ausschluß von Kündigungsrechten, keine Staffelung der Prämien nach Geschlecht und Gesundheitszustand, Höchstbeiträge sowie beitragsfreie Mitversicherung von Kindern des Versicherten). Sonderregelungen gelten ferner für beihilfeberechtigte Beschäftigte des -> öffentlichen Dienstes (—> s.a. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung). Lit: T. Klie: Pflegeversicherung, Hannover 3 1996; B. Schulin: Handbuch des Sozialversicherungsrechts IV, München 1997.
Martin Frey Pflichtteil -> Gesetzlicher Erbteil - » Erbrecht Phönix -> Parlamentskanal Physikalisch-Technische Bundesanstalt Die PTB ist eine nachgeordnete —> Behörde im Geschäftsbereich des -> Bundesministeriums für Wirtschaft mit Sitz in Braunschweig und Beri, und ca. 1.600 Mitarbeiter. Gegründet 1950 als Nachfolgerin der Physikalisch-Techn. Reichsanstalt von 1887, die das erste natur- und 689
Planfeststellung
Planung
ingenieurwissenschaftl. Staatsinstitut der Welt war, hat sie heute folgende Aufgaben: Grundlagen- und Kontrolltätigkeit für das wissenschaftl., techn. und gesetzliche Meßwesen, Beratung der Gesetzgebungsorgane in Fragen des Meß-, Norm- und Prüfwesens; dabei z.B. Darstellung gesetzlicher Einheiten (wie Meter, Kilogramm, Liter, Weitergabe der gesetzlichen Zeit), Mitarbeit an der internationalen Vereinheitlichung physikalischer Einheiten, außerdem Baumusterprüfungen und anderen nach dem Atomgesetz (—> Atomrecht), Eichgesetz, Waffengesetz und Medizinproduktegesetz. T.
Z.
Planfeststellung /-«verfahren ist die rechtsverbindliche Entscheidung über ein öffentl. Vorhaben (z.B. Bau einer Autobahn), die durch —> Verwaltungsakt vollzogen wird. Sie erfolgt im Rahmen des P.sverfahrens (allgemein geregelt in §§ 72ff. —> Verwaltungsverfahrensgesetz). Innerhalb dieses Verfahrens sind nach Aufstellung und Bekanntgabe des (vorläufigen) Planes im Anhörungsverfahren die Interessen der Beteiligten (dem Träger des Vorhabens, anderen öffentl. Rechtsträgem sowie den durch das Vorhaben Betroffenen) zu erörtern und unter Optimierungsgesichtspunkten zu berücksichtigen. Die endgültige Entscheidung über den Plan erfolgt im P.sbeschluß der P.sbehörde als einem rechtsgestaltenden Verwaltungsakt: Durch die P. „werden alle öffentl.-rechtl. Beziehungen zwischen dem Träger des Vorhabens und den durch den Plan Betroffenen rechtsgestaltend geregelt" (§ 75 Abs. 1 S. 2 VwVfG). Das Planungsvereinfachungsgesetz vom 17.12. 1993 (BGBl. I S. 2123) ermöglicht unter bestimmten Bedingungen insbes. durch Wegfall des Anhörungsverfahrens in größerem Maße ein gegenüber dem P.sverfahren verkürztes Verfahren der Plangenehmigung, das indes die Rechtswirkung der P. entfaltet. Die Möglichkeit vereinfachter P.sverfahren wurde v.a. im Hinblick auf den raschen Aufbau einer
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modernen Infrastruktur in den neuen Bundesländern eingerichtet. Lit.: P. Badura: Das Verwaltungsverfahren, in: H.-U. Erichsen (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, Berlin 101995, S. 415ff. M. He.
Planung, politische P.B. stellt im polit. administrativen System (PAS) den Versuch dar, das Regieren zu rationalisieren. P.P. ist heute in nahezu allen westlichen —> Demokratien auf verschiedenen polit.adminstrativen Leitungsebenen des -» Staates institutionalisiert. Leitziel der p.P. ist die Verbesserung der staatl. Handlungsfähigkeit i.S. eines zukunftsorientierten Regierungshandelns, der Reduktion von Umweltkomplexität und der Erhöhung der Steuerungs- und Lernfähigkeit hoheitlicher Einrichtungen. Wichtige Instrumente der p.P. sind Vorhabenplanung, vorausschauende Koordination der Regierungsaktivitäten, Abstimmung der Teilpolitiken, Diskursverfahren, Nutzung externer -» Politikberatung, Erfolgskontrolle der Regierungsaktivitäten. Analytisch werden verschiedene Formen und Ziele der p.P. im Regierungsbereich unterschieden: Im Rahmen der Aufgabenplanung soll nach Prioritäten definiert werden, welche Aufgaben durch den Staat zu erfüllen sind. Die Resssourcenplanung hat zur Aufgabe, alle für den polit. Entscheidungsprozeß relevanten materiellen (Finanzen, Material) wie immateriellen (Informationen, polit. Konsens) Güter vorzuhalten. Durch die Programmplanung sollen polit. Ziele konkretisiert und in Form polit. Programme in administratives Handeln übersetzt werden. Die Ressourceneinsatzplanung hat zum Ziel, die erforderlichen Güter für die Programme bereitzustellen und zu bewirtschaften. Die Entscheidungsstruktur- und Organisationsplanung hat die Aufgabe, das Regierungs- und Verwaltungssystem auf die erfolgreiche Umsetzung der Ziele der Politik einzustellen. Im PAS der —*• Bundesrepublik Deutschland lassen sich 3 Entwicklungsschritte der p.P. unterschei-
Planung den. Der 1. Schritt umfaßt den Wandel von einer vorplanerisehen Phase hin zur Entwicklung eines Systems der Aufgabenplanung des Bundes und der Länder (Gesamtwirtschaftl. Rahmenplanung, Mittelfristige Finanzplanung, —> Gemeinschaftsaufgaben) unter der -> Großen Koalition (1966/1969). Der 2. Schritt der p.P. beinhaltet den Versuch einer mittelund langfristig orientierten Aufgaben- und Programmplanung durch den Bund unter Beteiligung der Länder zum Ende der 60er Jahre und die Einsicht in das Scheitern eines solchen Ansatzes bereits zu Beginn der 70er Jahre. Ziel dieser Systempolitik zu Beginn der sozial-liberalen Koalition war es, staatl. Aufgaben, Programme und Ressourcen im Hinblick auf eine verbindliche gesellschafìspolit. Gesamtkonzeption mittel- und langfristiger Verbundplanung von Bund und Ländern zu konzipieren. Planungszentrum dieses Konzepts aktiver Politik war das —> Bundeskanzleramt. Im Bereich der p.P. wurden auch die meisten der Bundesländer aktiv. Überzogene Annahmen über polit. Steuerbarkeit, Ressortegoismen und die föderale Eigenständig der Länder führten schnell zum Scheitern. Aktivitäten der p.P. wurden im wesentlichen auf die Bedürfnisse der Koordination von Bundeskanzler und Kabinett reduziert. Der 3. Schritt vollzieht sich von der wiederaufgelebten p. P. der 80er Jahre hin zum Verwaltungscontrolling. Die Bundesländer BW (z.B. Landessystemkonzept) und SH (Denkfabrik) wurden Mitte und Ende der 80er Jahre im Bereich der Aufgabenund Programmplanung initiativ. Angesichts der massiven Krise der öffentl. Haushalte kommt in den 90er Jahren verstärkt das neue Steuerungsmodell (NSM) der Aufgabenplanung, Ressourcenverwendungs- und Organisationsplanung v.a. auf kommunaler Ebene zum Einsatz. Lit: C. Böhret: Instrumente des Regierens in der BRD: Wandel und Kontinuität in der Regiemngspraxis, in: H.H. Haitwich / G. Wewer (Hg.), Regieren in der BRD I, Opladen 1990, S.
Plenum 113ff.; S. Bröchler: Handlungsfähigkeit des Staates in der Zivilgesellschaft, in: L. Clausen (Hg.), Gesellschaften im Umbruch, Frankfurt/M. 1996,
S. 441ff; E. Grande/R. Prätorius (Hg.): Modernisierung des Staates?, Baden-Baden 1997.
Stephan Bröchler Planwirtschaft
Wirtschaft
Plebiszit -> Volksentscheid Plenararbeit -> Plenum Plenardebatte -> Aussprache Plenarprotokoll —> Protokoll —• Plenum Plenarsaal -> Parlamentsarchitektur Plenarsitzung —» Plenum Plenum Als P. wird üblicherweise die Vollversammlung einer Vertretungskörperschaft, insbes. das in seiner Gesamtheit tagende —> Parlament bezeichnet. Die Stätte für Plenarsitzungen kann in einzelnen Fällen von Sondersitzungen von der regelmäßigen Tagungsstätte abweichen. Das kann auch für die Durchführung von Gedenksitzungen in Form von feierlichen Veranstaltungen gelten, die nicht oder nur z.T. als Arbeitssitzungen stattfinden. Die —> Sitzordnung im P. geht, soweit sie sich an dem Réchts-Links-Schema orientiert, auf Zeiten der Frz. Revolution zurück. Nach dem Sturz Napoleons bildete sich in der frz. —» Deputiertenkammer die seither überkommene Unterscheidung. Danach nahm der Adel den Ehrenplatz zur Rechten des Präsidenten in Anspruch, und der dritte Stand saß zu seiner Linken. Je mehr die heutigen -> Parteien in ihrem Gestaltungsanspruch über partikulare Interessen und Klassenstandpunkte hinausgehen, ist die tradierte Sitzordnung als Kennzeichen für eine aktuell vertretene -> Politik fragwürdig geworden. Das Rederecht im P. ist verfassungsrechtl. auf die Personenkreise beschränkt, die sich im —> parlamentarischen Regie691
Plenum rungssystem öffentl. gegenüberstehen. Grundlage des Rederechts für die Mandatsträger ist ihr Statusrecht (BVerfGE 10,4, 12), während die jederzeitige aktive Sitzungsteilnahme der Parlament, verantwortlichen -> Regierung verfassungsrechtl. durch das Anwesenheits- und Anhörungsrecht ihrer Mitglieder bzw. Beauftragten in Art. 43 Abs. 2 GG und auch entsprechenden landesrechtl. Regelungen gewährleistet wird. Daneben unterliegen mit parlement. Kontrollaufgaben beauftragte Amtsträger einer geschäftsordnungsrechtl. begründeten Redepflicht auf Verlangen, wie z.B. der -> Wehrbeauftragte des —> Deutschen Bundestages gem. § 115 Abs. 1 GOBT oder der Sächs. —> Datenschutzbeauftragte gem. § 72 Abs. 2 GO SächsLT. Soweit keine derartigen Rechtsgrundlagen bestehen, haben sonstige Personen kein Rederecht. Gästen kann aus besonderen Anlässen die Möglichkeit zur Rede im Plenarsaal nur außerhalb einer regulären Plenarsitzung oder außerhalb der -> Tagesordnung gewährt werden, wenn nicht für den besonderen Zweck eigens eine -> Sitzung einberufen wird. —> Abstimmungen im P. werden gewöhnlich durch Handzeichen oder durch Aufstehen oder Sitzenbleiben durchgeführt; bleibt das Ergebnis unklar oder wird die -> Beschlußfähigkeit des P.s angezweifelt, wird die Auszählung der Stimmen erforderlich. Namentliche Abstimmungen erfolgen auf Antrag, damit die Stimmabgabe des einzelnen Abgeordneten zu einer bestimmten Entscheidung persönlich zugeordnet und im Plenarprotokoll festgehalten werden kann. Geheime Abstimmungen sind nur bei —> Wahlen zulässig. Gesetzesberatungen und öffentl. -> Debatten im P. sind Bestandteil der Parlament. Kontrolle. Die in den -> Fraktionen und -> Ausschüssen vorberatenen Vorlagen erhalten in den Plenarsitzungen ihren polit, verbindlichen Inhalt meist in Form von Gesetzen oder Entschlüssen. Kernstück der Sitzungen sind die öffentl. Aussprachen, in denen das Parlament als 692
Plenum Forum der Meinungen wirkt und die öffentl. Sichtbarkeit der Auffassungen und Absichten gewährleistet. Insoweit kommt es nicht darauf an, daß der polit. Wille tatsächlich erst in der Summe der öffentl. Diskussion gefaßt wird. Entscheidend für die Legimität der Parlament. - » Demokratie ist, daß die Gründe für und gegen ein Vorhaben ebenso wie die Motive der unterschiedlichen polit. Kräfte in der Diskussion offenbar werden. Darin liegt in erster Linie das Ziel der Plenardebatte; durch Herstellen unverwechselbarer Zurechenbarkeiten vermag sie Bürger wie Parlamente kontrollfähig zu halten. Wichtige Vorgabe dafür ist die Beachtung des formalen Gleichheitsgrundsatzes, der den im P. vertretenen Fraktionen gleiche Wirkungsmöglichkeiten einräumt. Lediglich Unterschiede, die auf der unterschiedlichen Stärke der Gruppierungen beruhen, sind gerechtfertigt. Auch Parlament. —y Minderheiten haben vielfältige Aktionsmöglichkeiten; sie können Geschäftsordnungsanträge stellen, über die öffentl. abgestimmt, oder Verlangen äußern, denen inhaltlich entsprochen werden muß. In der Praxis wirkt sich die Chancengleichheit v.a. in dem Verhältnis zwischen Regierung - sowie der sie tragenden Mehrheit - und —> Opposition aus; auf diese ist im Unterschied zu früheren Zeiten, in denen das Parlament insg. als Widerpart der Regierung fungierte, immer mehr die Aufgabe der öffentl. Kritik und Kontrolle übergangen. Zur präzisen Dokumentierung des Geschehens wird über jede Sitzung ein Plenarprotokoll angefertigt; es gibt alles für die Öffentlichkeit Gesprochene und Hörbare wieder, also alle Worte zur Sitzungsleitung wie Worterteilungen, Aufrufe und —> Rügen und, in erster Linie, die Niederschriften der Reden. Der polit. Wille der Kontrahenten wie auch die praktizierten polit. Methoden erhalten dadurch ihren unveränderbaren Ausdruck. Eng mit dem im P. verwirklichten Prinzip der Öffentlichkeit parlament. Geschehens hängen Beratungsgegenstände, Debatten-
Pluralismus
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stil und Plenarpräsenz zusammen. Die Transparenzfunktion fördert einerseits fachlich qualifizierte und der Sache angemessene Darlegungen, unterschiedliche Zielvorstellungen der polit. Gruppierungen in aller Deutlichkeit bewußt zu machen, und leistet andererseits um der polit. Akzentuierung willen einer teilw. vorgeblichen Gegensätzlichkeit Vorschub. Die damit oft vrbundene Kritik unvollständiger Plenarpräsenz folgt einem überholten Repräsentationsverständnis und verkennt die integrative Funktion der Öffentlichkeit fllr die Beziehungen zwischen Wählern und Gewählten. Lit: Röhring / Sontheimer, S. 446ff.; Schneider /Zeh, S. 291ff.;R. Graf von Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 21996, S. 216ff; W. Zeh: Parlamentarismus, Heidelberg 41987, S. 75 ff.
Wolf-Hartmut Reckzeh Pluralismus bezeichnet gleichzeitig eine normative polit. Theorie und eine empirische Analyse der Strukturprinzipien modemer —» Demokratien. P. entstand als Folge der Aufklärung und der polit, und industriellen Revolutionen, die sich daran anschlössen. Als Konzept wendet er sich gegen jeglichen Monismus, sei es den des Ancien Regime, den autoritärer -> Diktaturen, oder, in unserem Jhd., den —> Totalitarisme. Im polit. Alltag bedeutet P. ein konkurrenzdemokrat. Modell, in dem vielgestaltige polit., soziale, wirtschaftl., religiöse und sonstige Interessengruppen miteinander ringen. Voraussetzung für einen friedlichen Verlauf dieses Ringens ist die gemeinsame Anerkennung rechtsstaatl. Verfahrensregeln, demokrat. Mehrheitsentscheidungen und des Minderheitenschutzes. P. verlangt weltanschauliche Neutralität des —> Staates und ist staatsorganisatorisch eng verbunden mit dem -> Föderalismus. Die Geschichte des P. ist nicht frei von Anfeindungen gewesen; sein Weg ähnelt dem der Demokratie im 20. Jhd. 1. Entwicklung des P.begriffs Als Theorie i.e.S. ist der P. erst im 20. Jhd. entstan-
den, v.a. in der angelsächs. Welt. Der Begriff findet sich bei W. James, der 1909 „A Pluralistic Universe" als philosophisches Konzept zur Abgrenzung vom Monismus entwickelte. In politikwissenschaftl. Analysen wird dieser Gedanke schnell aufgegriffen, etwa von A. Bentley, M.P. Follett und F.W. Coker. Bentley hatte bereits 1908 „The Process of Government" untersucht, nicht als Verfassungsabstraktion, sondern als lebendiges Wechselspiel von Gruppen und -» Interessen. Bentley ist es auch, der einen der Kernpunkte des frühen P. erstmals in den USA formuliert: den Angriff auf den Souveränitätsbegriff. Für ihn ist —> Souveränität kein notwendiger Bestandteil des Staates, sondern ein histor. mit der frühen Neuzeit entstandenes Konzept, das auch histor. wieder untergehen wird und das zur Analyse moderner Industriegesellschaften ungeeignet ist. Die Absage an die Souveränität ist von rechten Kritikern als Beleg für die vermeintliche Staatsfeindlichkeit des P. aufgegriffen worden. In England gelangte H. Laski in seinen Studies in the Problem of Sovereignty (1917), zu ähnlichen Schlüssen, von denen er sich in den 30er Jahren (aus kommunistischer Perspektive) distanzierte. Nach der Jhd.wende blühte der engl. P. unabhängig von den USA mit Arbeiten von E. Barker, G.D.H. Cole, J.N. Figgis, A.D. Lindsay und F.W. Maitland auf. Zwischen diesen Theoretikern gab es wenig Übereinstimmung; von einer Schule läßt sich kaum sprechen. Zu unterschiedlich waren ihre polit. Interessen; die sie zur Kirche von Schottland (Figgis) und den Gewerkschaften (Cole) führten. Eine mittlere Position nimmt E. Barker ein. Die Theoriediskussion begann 1900 mit F. Maitlands Einleitung zu dem Buch Political Theories of the Middle Age. England, wo sich das —> common law gegenüber dem kontinentaleurop. Einbruch des röm. Rechts behauptet hatte, wurde damit die Anknüpfung mittelalterlicher germanischer Rechtstraditionen an die moderne -» Gesellschaft vor Augen ge-
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Pluralismus führt. Zugleich führt dies zu den oft vernachlässigten deutschen Quellen der P.theorie. Der von Maitland übersetzte Text war ein Ausschnitt aus O. Gierkes (1868-1913) rechthistor. Lebenswerk über Das dt. Genossenschaftsrecht). Gierke hatte die germanische „reale Gesamtperson" der röm. Individual- und fiktiven Person gegenübergestellt und damit den Weg für ein dynamisches Verständnis des Gruppenpluralismus der Gegenwart gewiesen. Die letzte Konsequenz aus Gierkes Denken zog sein Schüler H. Preuß, der 1889 in „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften" die Souveränität ebenso kritisierte wie später Bentley und Laski. Preuß verband, anders als Gierke, P. mit Demokratie. Im dt. Kaiserreich (-> Deutsches Reich 1871) mit seinen autoritären polit. Strukturen hatten diese Überlegungen keine Zukunft. Es ist symptomatisch, daß Gierkes Ideen erst in England in ihrer Bedeutung erkannt wurden. Noch günstiger war das polit. Klima für den P. in den USA. 2. P. in den USA P. ist seit dem 18. Jhd. gelebte polit. Wirklichkeit in den USA. „E pluribus unum", das Motto auf dem Staatswappen, mag als symbolischer Ausdruck dessen gelten. Im berühmten 10. Aufsatz der —> Federalist Papers hat J. Madison in Verteidigung des Verfassungsentwurfes 1787 „two methods of curing the mischiefs of faction" untersucht; die eine sei die Unterdrückung der Ursachen, die zweite die Kontrolle der Effekte. Erstere führe zur Unfreiheit und wurde von Madison daher abgelehnt. Letztere aber begründete, auch ohne den Terminus zu nutzen, ein pluralistisches Verständnis legitimer konkurrierender Interessenvertretung in einer demokrat. Gesellschaft. Tocqueville (1805-1859) und weitere Beobachter der USA im 19. Jhd. haben immer wieder diese Verfassungswirklichkeit hervorgehoben. In der Verfassung ist es das 1. Amendment mit seiner Sicherung der Religions- und -» Meinungsfreiheit, das die staatsrechtl. Basis des P. sichert. Grundlage hierfür
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Pluralismus war der bereits existierende P., dessen religiöse und gesellschaftl. Vielfalt durch die offene Westgrenze (frontier), Individualismus und Pragmatismus geprägt wurden. Hinzu kommt die Befürwortung eines privatkapitalistischen Sozialsystems, das den —> Lobbyismus wirtschaftl. Interessengruppen ebenso positiv bewertet wie den sozialpolitisch engagierten Bürger, die sich etwa im 19. Jhd. zum Kampf gegen die Sklaverei, für Prohibition und Frauenwahlrecht zusammenfinden. Diese genuin pluralistische polit. Atmosphäre hat sich bis heute gehalten. Sie hat auch von Anfang an die sozialwissenschaftl. Analyse in pragmatische Bahnen gelenkt, die im P. (anders als in England) weniger ein theoretisches Konzept als eine behavioristisches Analysewerkzeug sah. Das gilt im Anschluß an Bentley für D. Truman (The Governmental Process, 1951) und v.a. für den bedeutendsten modernen pluralistischen Theoretikers, R. Dahl. Seine Analyse „Who Governs?" (1961) ist der Klassiker dieser Richtung, die er seitdem in zahlreichen Arbeiten fortgeführt hat. In seiner „Polyarchie" verbinden sich Minderheiten in je wechselnden Koalitionen zu polit. Kompromissen. 3. Neopluralismus in Dtld. In Dtld. mit seinen vielfältigen monistischen Traditionen hatte es der P. schwerer. Westlicher —> Liberalismus wurde im Kaiserreich, aber auch in der -» Weimarer Republik weitgehend abgelehnt, womit man sich auch das Verständnis für den P. verbaute. Einzelne pluralistische Stimmen (H. Preuß, E. Fraenkel) drangen nicht durch. Fraenkel hatte ein pluralistisches Konzept dialektischer Demokratie entwickelt. Aber es waren die Erfahrung des —> Nationalsozialismus, des stalinistischen Totalitarismus und dann das -> Exil in den USA ab 1938, die für Fraenkel bestimmend werden sollten. Die dortige Weiterentwicklung seiner Ideen ließ ihn nach der Rückkehr zum Begründer des Neopluralismus in Dtld. werden. Fraenkel hielt in seinem Werk Dtld. und die westlichen
Pluralismus Demokratien (1964) am Souveränitätskonzept fest. Wesentlich war aber die Verteidigung der —• Legitimität unterschiedlicher gesellschaftl. Gruppen, deren Konkurrenz zum —> Gemeinwohl „a posteriori" (im Gegensatz zum monistischen Gemeinwohl a priori) führt. Um einen solchen strittigen Sektor polit. -> Willensbildung zu ermöglichen, müssen die Regeln der Auseinandersetzung zu einem nicht-kontroversen Teil der Politik formiert werden. Dazu gehören rechtsstaatlich-demokrat. Verfahren ebenso wie die normative Entscheidung für soziale -»· Gerechtigkeit, —> Freüieit und naturrechtl. begründete -> Grundrechte. Diese Konzeption wurde in den 50er Jahren weitestgehend akzeptiert und später von W. Steffanie weiterentwickelt. Die 60er Jahre hingegen, in denen sich das Vorbild USA in Vietnam verstrickte und in denen die Studentenbewegung in Dtld. gesellschaftl. Reformen anmahnte, sah auch das P.konzept unter zunehmender Kritik, die sich z.T. an älteren Vorbildern orientieren konnte. 4. P.kritik In Anlehnung an rousseauistische Gedanken über ein a priori zu bestimmendes Gemeinwohl im Zeichen einer monistischen —> volonté générale ist von Anfang an am P. grundsätzliche Kritik geübt worden, sowohl von rechts wie von links. Prominentester Vertreter der ersten Richtung ist der Verfassungsrechtler C. Schmitt, für dessen staatstheoretisches Denken der Souveränitätsbegriff zentral ist. Im P. sah er die Auflösung des Staates in eine amorphe Masse egoistischer gesellschaftl. Gruppen, unter deren kompromißlerischem Schachern das Wohl von Staat und Volk verschwinden mußte. Demgegenüber warf die (überwiegend) marxistisch inspirierte Kritik dem P. vor, daß die vermeintliche Interessenvielfalt den Klassencharakter des Kapitalismus nur verschleiere. Es seien immer wieder die gleichen Interessen, die sich durchsetzten, so daß von einer Gleichgewichtigkeit der Gruppen nicht gesprochen werden könne (F. Scharpf, C. Offe). Die
Politik
Kritik, für die auch die Karriere des P.konzeptes im Kalten Krieg in der Auseinandersetzung der Systeme, eine gewichtige Rolle spielte, mündet gelegentlich im Gedanken eines sozialistischen P. (R. Eisfeld), der in der Nachfolge der gedanklichen Entwicklung Laskis den Sozialismus als die wahre Konsequenz eines richtig verstandenen antikapitalistischen P. sehen will. Diese Überlegungen haben sich jedoch nicht durchgesetzt. 5. P. und Demokratie Die Kritikwürdigkeit der empirischen Daseinsform pluralistischer Systeme kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Faktum eines vernünftigen P. (J. Rawls) das grundlegende Struktwprinzip differenzierter postindustrieller Gesellschaften ist. Das macht ein umfassendes Verständnis des P. nötig; einmal als normative Affirmation der Demokratie, zum anderen als empirische Analyse der Existenzbedingungen polit. Willensbildung. Hier hat die von Fraenkel formulierte Aufgabe nach wie vor ihre Gültigkeit: P. als Theorie eröffnet auf der Grundlage des nicht-kontroversen Sektors Raum für die Kontroversen einer Gesellschaft und P. als Wissenschaft untersucht sie. Lit.: R. Dahl: Who Governs?, New Haven London 1961; M. Dreyer: German Roots of the Theory of Pluralism, in: Constitutional Political Economy 1993, S.7ff.;£. Fraenkel: Dtld. und die westlichen Demokratien, Frankfurt/M. 1991; J. Hartmann / U. Thaysen (Hg.): Pluralismus und Parlamentarismus in Theorie und Praxis, Opladen 1992; H. Kremendahl: Pluralismustheorie in Dtld., Leverkusen 1977; W. Steffani: Vom Pluralismus zum Neopluralismus, in: H. Oberreuter (Hg.), Pluralismus, Opladen 1980, S. 37ff.
Michael Dreyer Pluralistische Demokratie —> Pluralismus —> Demokratie Politik Von gr. politiké téchne, d.h. Kunstfertigkeit hinsichtlich des Zusammenwirkens im Rahmen einer pòlis, hinsichtlich einer akzeptierten Ordnung geregelten Zusammenlebens. P.wissen695
Politik
schaftler, Staatsrechtler, Philosophen, Publizisten und P.er haben vielerlei P.begriffe entwickelt, die einzelne Aspekte von P. besonders betonen. Der Kembereich des Polit, scheint am klarsten von folgendem P.begriff erfaßt zu werden: P. ist jenes menschliche Handeln, das auf die Herstellung und Durchsetzung bzw. Verhinderung allgemein verbindlicher Regelungen und Entscheidungen in und zwischen Gruppen von Menschen abzielt. Indem er vom menschlichen Handeln ausgeht, betont dieser P.begriff Werte und Interessen als Ziel, Leidenschaft oder Berechnung, Rationalität oder Verblendung als Elemente von P.; außerdem impliziert er M. Webers (1865-1920) Begriff des sozialen Handelns, also des seinem Sinn nach auf andere Personen, Organisationen oder Handlungen bezogenen Handelns. Darum ist dieser P.begriff unmittelbar anschlußfähig ftlr die Rollenund Institutionentheorie, desgleichen für Theorien der biologischen Grundlagen menschlichen Handelns; dergestalt erlaubt er auch den Brückenschlag zwischen Mikro- und Makro-Analyse sozialer bzw. polit. Strukturen. Als Ziel von P. wird die Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit hervorgehoben, also von (Einzelfall-) Entscheidungen bzw. von fallübergreifenden Regelungen, an die sich jedes Mitglied einer Gruppe zu halten hat oder die im Verkehr zwischen Gruppen künftig gelten sollen. Solche Verbindlichkeit kann auf Konsens oder Zustimmung einer Minderheit beruhen; sie kann aber auch gegen Widerstreben durch Machtmittel gesichert werden müssen. Die Unterscheidung von Herstellung allgemeiner Verbindlichkeit in Gruppen bzw. zwischen Gruppen verweist auf der analytischen Makro-Ebene auf die Unterscheidung zwischen -> Innen- und -» Außenpolitik, auf der Meso-Ebene auf P. als pluralistischen Gruppenkonflikt und auf der Mikro-Ebene auf die Allgegenwart von P., sobald es darum geht, das Handeln mehrerer Personen zu koordinieren. Im übrigen wird P. nicht von ihrem Ergebnis her definiert, also daß
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Politik
P. nur dort sich ereigne, wo allgemeine Verbindlichkeit wirklich geschaffen werde; vielmehr stellt bereits das Ringen um die Fest- und Durchsetzung als allgemein verbindlich beabsichtigter Regeln und Entscheidungen P. dar. Dieser P.begriff umfaßt darum auch konterkarierende und scheiternde Bemühungen um allgemeine Verbindlichkeit. Alle klassischen oder populären P.begriffe finden sich im hier umrissenen enthalten. Vom Wertbezug dieses P.begriffs ist die Rede, wo P. definiert wird als das Streben nach der guten Ordnung einer Gesellschaft oder als Kampf um die Veränderung bzw. Bewahrung bestehender Verhältnisse. Vom Ringen um die Herstellung allgemein verbindlicher Regelungen ist die Rede, wo P. aufgefaßt wird als das Bemühen um die Sicherung des menschlichen Zusammenlebens. Die Durchsetzung von Verbindlichkeit durch Streben nach Zustimmung seitens der Regierten wird betont, wo man P. auffaßt als Entscheidungsfindung auf öffentl. Wege, als Regelung gesellschaftl. Konflikte über die Verteilung von Gütern oder als Gesamtheit jener Prozesse, die zur Herstellung und Akzeptanz für staatl. Entscheidungen dienen. Um den Aspekt der Durchsetzung solcher Verbindlichkeit gegen Widerstreben geht es, wo P. definiert wird als Kampf um die —> Macht bzw. -> Herrschaft im —> Staat, als Einsatz von Macht, als Unterscheidung von Freund und Feind sowie Auseinandersetzung mit dem letzteren, oder als Kampf von Klassen, Ständen oder Schichten; in den letzteren Fällen wird auch die Unterscheidung von P. in und zwischen Gruppen nachvollzogen. P. als leidenschafts- oder charismageleitetes menschliches Handeln wird angesprochen, wo sie definiert wird als Kunst der Führung von Menschen, Gruppen und Staaten. Grds. geht es bei P. um Inhalte (policy-Aspekt von P.); sie entfaltet sich in Prozessen (politics-Aspekt) und schafft, erhält, verändert oder zerstört Strukturen (polity-Aspekt). Wer P. betrachtet, hat darum - erstens -
Politik auf jene Inhalte (polit. Inhalte, policies) zu achten, die allgemein verbindlich gemacht werden sollen. Dabei geht es 1. um konkrete P.programme auf einzelnen P.feldern (z.B. Wohnungsbau- oder Rentenpolitik), andemteils um jene Interessen und Zwecksetzungen, Problemdefinitionen, Wertvorstellungen und Weltanschauungen, die den verfolgten polit. Inhalten zugrunde liegen. 2. sind jene Willensbildungs-, Entscheidungs- und Implementationsprozesse zu betrachten (polit. Prozesse, politics), in denen geklärt wird, was allgemein verbindlich gemacht werden soll, und in denen die beschlossenen Inhalte organisatorisch oder prozedural umgesetzt werden. Bei der Betrachtung von polit. Prozessen ist besonders auf die in ihrem Verlauf auszutragenden Konflikte zu achten, ferner auf die -> Normen, die in jenen Prozessen befolgt oder verletzt werden, sowie auf die Praktiken und Handlungsmethoden, in denen -> Willensbildung, Entscheidung und Implementation sich entfalten. Im übrigen reicht es nicht aus, die formell geregelten Prozesse zu betrachten; oft sind nämlich die informellen Prozesse und Alltagspraktiken auf der Hinterbühne der P. viel wichtiger als die öffentl. Schauseite von P.; 3. sind jene Organisationen, - » Institutionen und ganzen polit. Systeme zu betrachten (polit. Strukturen, polities), in denen bzw. mittels derer formelle und informelle polit. Prozesse ablaufen. Zu ihnen gehören Regierungssysteme und internationale —> Organisationen ebenso wie etwa -> Parteien, -> Verbände, - » Parlamente, - > Regierungen oder —• Verwaltungen. Polit. Strukturen geben polit. Prozessen ihre Richtung bzw. beschränken ihre Freiheitsgrade; sie werden durch polit. Prozesse hervorgebracht, aufrechterhalten, verändert oder zerstört; und sie sind - etwa als Institutionen - an bestimmten (polit.) Inhalten ausgerichtet und verkörpern diese Inhalte oder dienen zu deren Bekämpfung. Ferner beinhaltet P. 4 Dimensionen: Macht, Ideologie, Normen und —> Kommunikation. Auf mindestens
Politik dies alles muß gleichzeitig achten, wer konkrete polit. Inhalte, Prozesse oder Strukturen verstehen bzw. erklären will. Macht ist gewissermaßen der harte Kern von P.; Ideologie meint in einer weiten, v.a. im angelsächs. Raum verbreiteten Bedeutung jene (wertgeprägten) Weltbilder und Wirklichkeitsvorstellungen, auf deren Grundlage man handelt. Ideologie in diesem Sinne liegt jeglicher P. zugrunde. In einer engeren, im dt. Sprachraum verbreiteten Bedeutung meint Ideologie Weltbilder, die der tatsächlichen Beschaffenheit der Wirklichkeit nicht entsprechen, also „falsches Bewußtsein". Wegen der Kompliziertheit jener wirtschaftl., gesellschaftl. und natürlichen Zusammenhänge, mit denen P. zu tun hat, und wegen der Begrenztheit persönlicher bzw. in Organisationen verfügbarer menschlicher Erfahrungen ist es sehr wahrscheinlich, daß konkretem polit. Handeln jeweils eine nicht völlig zutreffende Vorstellung von jenem Wirklichkeitsausschnitt zugrunde liegt, der polit, gestaltet wird. Darum hat P. i.d.R. unvorhergesehene Folgen oder Nebenwirkungen, falls sie nicht ohnehin scheitert oder gar kontraproduktiv ist. Formelle Normen wie -> Verfassungen und -> Gesetze, sowie informelle Normen wie Verhaltens- und Erfahrungsregeln, prägen polit. Prozesse. Normen sind ferner das Ziel bzw. Produkt von P.; dabei kann es sich sowohl um bewußt gesetzte Rechtsnormen handeln als auch um Regeln praktischer Verhaltensklugheit, welche durch eine bestimmte Ausgestaltung polit. Strukturen (z.B. durch Einführung eines Parlament. Regierungssystems statt eines präsidentiellen) nahegelegt werden. Nicht zuletzt sind Nonnen Mittel zur Interpretation und Bewertung der Handlungen von polit. (Mit-)Akteuren. Auf diese letztere Verwendung von Normen zu achten, ist um so wichtiger, als in der P. die Reaktion auf eine polit. Handlung oft viel weniger davon abhängt, worin sie eigentlich besteht und was sie bewirkt, als vielmehr davon, wie sie aufgefaßt oder hingestellt wird.
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Politikberatung
Politikberatung
Kommunikation schließlich meint den wechselseitigen Austausch von Informationen und Sinndeutungen, ob im persönlichen Gespräch oder über —* Massenmedien. Als soziales Handeln ist P. ohnehin stets kommunikatives Handeln. Kommunikation ist außerdem gewissermaßen „der Kitt, der eine Gesellschaft bzw. ein Staatswesen zusammenhält", so die plastische Formulierung von N. Wiener. Nicht zuletzt sind massenmedial geprägte Kommunikationsprozesse in einer Demokratie von überragender polit. Bedeutung, weil die persönlichen polit. Weltbilder und Lagebeurteilungen der Bürger ganz wesentlich davon abhängen, was die Massenmedien über P.er und P. vermitteln (Medienwirklichkeit). Lit,: U. v. Alemann: Grundlagen der Politikwissenschaft, Opladen 1994; K. v. Beyme: Theorie der Politik im 20. Jhd., Frankfurt/M. 1991; WJ. Patzelt: Einführung in die Politikwissenschaft, Passau 1993; K. Rohe: Politik, Stuttgart 21994; D. Sternberger: Der Begriff des Polit., Frankfurt/M. 1961.
Werner J. Patzelt Politikberatung Aufgabe von P. ist es, Entscheidungshilfen für den ->• Staat zu entwickeln. Der Bedarf für wissenschaftl. P. resultiert aus Informationsdefiziten des polit.-administrativen Systems (PAS). Denn häufig verfügt der Staat angesichts der hohen Komplexität von Problemen nicht über ausreichende eigene Ressourcen zur Wahrnehmung von Problemen und zur Bewertung der Wirkungen polit. Handelns. Der Staat reagiert auf dieses Defizit intern mit der Ausdifferenzierung seines Apparates (z.B. Einstellung von Mitarbeitern, Errichtung von Ministerien, Referaten etc.) und extern durch die verstärkte Inanspruchnahme von P.; eine wichtige Funktion der P. besteht deshalb in der Informationsaufbereitung und dem Aufzeigen von Alternativen für das polit. Entscheidungshandeln. Damit nutzt das PAS wissenschaftl. P. als ein Instrument der Hilfe für Entscheidungen und trägt dadurch zur Verwissen698
schaftlichung des Staatshandelns bei. Adressaten der P. sind —» Parlamente, —> Regierungen und öfTentl. —> Verwaltung. Gegenstand der P. sind alle Politikfelder (z.B. Außen-, Wirtschafts- oder Technologiepolitik). Anbieter wissenschaftl. P. in Dtld. sind universitäre und außeruniversitäre Forschungsinstitute sowie weitere Ideenagenturen, die politikberatend tätig sind (z.B. —> Politische Stiftungen). Für die institutionalisierte Nutzung der P. arbeiten auf Bundesebene ca. 200 Einrichtungen der P., wie z.B. das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) oder das Dt. Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Fester Bestandteil der internen P. des -» Deutschen Bundestages sind z.B. -> Enquete-Kommissionen oder das -> Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB). Beratungsgremien der P. besonders der -> Bundesregierung sind z.B. der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftl. Entwicklung" oder die Stiftung „Wissenschaft und Politik" in Ebenhausen. Häufig erfolgt P. auch nicht fest institutionalisiert, durch die Vergabe von Einzelgutachten an Institute oder Forscher. Probleme der P. resultieren aus der hohen Eigenkomplexität und -logik von Politik und Wissenschaft. Deutlich wird dies besonders an unterschiedlichen Erwartungen der Politik an den Prozeß und die Ergebnisse der P.; so werden von Seiten der Politik neben dem Wunsch nach Entscheidungshilfe auch polit.strategische Ziele verfolgt, die in der parteipolit. Auseinandersetzung durch Inanspruchnahme von P. erreicht werden sollen. Der Bedarf nach P. ist dann auch in der wissenschaftl. Legitimation polit. Entscheidungen (Legitimationsbeschaffung), in der zeitlichen Herauszögerung einer solchen Entscheidung (Zeitgewinn) oder in der bloßen Demonstration von Aktivität gegenüber der -> Öffentlichkeit (symbolische Politik) begründet. Kritisiert wird neuerdings wieder die wissens- und expertenzentrierte Orientierung der P., welche die polit. Öffentlichkeit in der Meinungs- und Entscheidungsfindung ver-
Politiker
Politikvermitluiig
nachlässigt. So wird eine stärker beteiligungsorientrierte P. gefordert. Lit: Α. Murswieck (Hg.): Regieren und Politikberatung, Opladen 1994. S.B.
Politiker-» Berufspolitiker Politikverflechtung Als Begriff der Politikwissenschaft kennzeichnet P. eine für den -> Föderalismus der - » Bundesrepublik Deutschland charakteristische Entscheidungsstruktur, in der ein Großteil der -> Staatsaufgaben nicht durch selbständige Entscheidungen einzelner Entscheidungsträger, sondern durch das horizontale Zusammenwirken der Bundesländer und die vertikale Kooperation der Länder mit dem Bund wahrgenommen werden. Als Beispiel für letzteres ist die Aufgabenwahrnehmung in Form der —> Gemeinschaftsaufgaben zu nennen, während erstere sich im Rahmen von - » Ministerpräsidentenkonferenzen, —> Staatsverträgen und Verwaltungsabkommen abspielen. Lit: Α. Benz /F.W. Scharpf/R. Zintl: Horizontale Politikverflechtung, Frankiurt/M. 1992. M.R. Politikvermittlung bezeichnet in seiner allgemeinen Bedeutung alle Prozesse der i.d.R. medienvermittelten Darstellung und Wahrnehmung von —> Politik. Im Gegensatz zum verbreiteten diffusen polit. Alltagssprachgebrauch ist P. ein in der Forschung noch wenig erschlossener Wissenschaft. Terminus. P. bringt das erkenntnistheoretische Grundphänomen zum Ausdruck, daß Politik, wie überhaupt Wirklichkeit, für Akteure ebenso wie für das Publikum ein überwiegend massenmedial vermitteltes Geschehen ist, das polit. Realität nicht einfach abbildet. Sie wird vielmehr - subjektiv und objektiv - erst durch Publizität mitkonstituiert. Die im polit. Sprachgebrauch verbreitete Redewendung, eine polit. Entscheidung oder Entscheidungsabsicht seien nicht vermittelbar, macht auf einen weiteren Bedeu-
tungsaspekt von P. aufmerksam, die Herstellung von Akzeptanz. Diese kann, zumal im demokrat. System, auch durch die Optimierung von Öffentlichkeitsarbeit / Public Relations nicht beliebig erzeugt werden. Umso mehr ist P. eine conditio sine qua non demokrat. Handelns. P. kann einmal den einseitigen polit. Informationsaustausch bezeichnen, zum anderen aber auch zweiseitige Kommunikationsbeziehungen mit dem Ziel der Herstellung eines Konsens. P. erschöpft sich nicht in den polit. Bemühungen um Publizität (P. „nach außen"). Auch alle nichtöffentl., halböffentl. und diskreten Maßnahmen polit. Koordination, Verhandlungen, Interessenabklärungen und Konsensbildungspozesse sind spezifische Formen der P. (P. „nach innen") Aus sozialwissenschaftl.-empirischer Sicht interessieren die Akteure, Strategien, Instrumentarien und Prozesse, die für die Konstituierung von polit. Wirklichkeit maßgeblich sind. Dabei geht es um die Beschreibung und möglichst auch kausalanalytische Erklärung der Folgen asymmetrischer Beziehungen in P.sprozessen. In normativer Hinsicht unterliegt P. in der -> Demokratie, ob als P. nach innen oder als P. nach außen gedacht, bestimmten Mindestanforderungen, die für alle pluralistischen, offenen Systeme gelten. Diese Maßstäbe für ein demokrat. P.ssystem sind: generelle Zugangspluralität und Offenheit 1. , richtungspolit. Pluralität 2. i.S. einer Widerspiegelung verschiedener polit. Richtungstendenzen und gesellschaftl. relevanter Interessen, sachliche Differenzierung 3. durch abgestufte Angebote für unterschiedliche Adressaten und Teilöffentlichkeiten (z.B. den Grad an Unterhaltungs- bzw. Informationsorientierung) sowie kommunikative Rückkoppelung 4) zur Vermeidung eines einseitigen Informationsaustausches und einseitiger Interessenvermittlung. Analytisch können folgende funktionale Differenzierungen von P. unterschieden werden: eine informatorische Funktion 1. durch Weitergabe polit. Informationen, ei-
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Politische Bildung
Politische Beamte ne appellative Funktion 2. durch Reduktion und symbolische Verdichtung des Informationsgehalts, eine partizipative Funktion 3. durch die Bereitstellung von Chancen mittelbarer oder unmittelbarer Teilhabe an der Politik sowie eine polit.pädagogische Funktion 4. indem P. als Bestandteil eines umfassenden polit. Bildungs- und Sozialisationsprozesses (—> Politische Sozialisation, -> Politische Bildung) verstanden wird. Lit.: U. Sarcinelli (Hg.): Politikvermittlung, Bonn 1987; ders. (Hg.): Politikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft, Bonn 1998.
Ulrich Sarcinelli Politische Beamte § 31 Abs. 1 BRRG bestimmt den p.B., der jederzeit in den einstweiligen Ruhestand (Quieszierung) versetzt werden kann, wenn er ein —> Amt bekleidet, bei dessen Ausübung er in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen polit. Ansichten und Zielen der —> Regierung stehen muß. Histor. wurde die —> Institution des p.B. zu dem Zeitpunkt (ca. 1850) nötig, als sich das Lebenszeitprinzip im —> Berufsbeamtentum durchgesetzt hatte. Ansonsten bestünde für die polit. -> Führung keine Möglichkeit über das Neutralitätsprinzip hinausgehend, in seiner nächsten Umgebung an der Spitze der Beamtenhierarchie auch auf polit. Übereinstimmung als Qualifikationsmerkmal zu bauen. In § 36 BBG wird der Kreis der p.B. im —> Bund allgemein auf den Rang eines —> Staatssekretärs oder Ministerialdirektors, also die beiden höchsten Beamtenränge begrenzt. Hinzu kommen Positionen im -> auswärtigen Dienst und bei den Geheimdiensten, —» Generalbundesanwälte und der —> Bundesbeauftragte für den Zivildienst. Auch in den Bundesländern (mit Ausnahme —> Bayerns) finden sich ähnliche Bestimmungen. Empirisch läßt sich feststellen, daß insbes. nach Regierungswechseln von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, p.B. in den einstweiligen Ruhestand zu verset-
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zen. In diesen Fällen werden etwa 2/3 der Staatssekretäre und 1/3 der Ministerialdirektoren (funktional: Abteilungsleiter) ausgetauscht. Lit: D. Kugele: Der polit. Beamte, München 2 1978.
H.G. Politische Bildung 1. Begriff und Bedeutungen Als P. B. werden im öffentl. wie pädagogischen und überholten sozialwissenschaftl. Sprachgebrauch jede pädagogisch organisierte Befassung mit —» Politik (durch Unterricht, Erziehung, Information, Training, Schulung) sowie teilw. gar Propaganda oder jegliche öffentl. Thematisierung von Politik verstanden. Benannt werden damit zwar eigentümliche Varianten der - » Polit. Sozialisation. Doch dieser Kategoriengebrauch ist trennunscharf gegenüber darin liegenden Unterschieden und anderen Varianten. Auch verfehlt seine gedankenlose Verwendung und Vermischung nur vermeintlicher Synonyma eine Kennzeichnung der Besonderheiten von Bildung für den subjektiven und gruppenweisen Umgang mit Politik und die aus der Demokratie-Dynamik erwachsenden Implikationen dafür. Dem deskriptiven Terminus, der P. B. alles zurechnet, was faktisch als solche firmiert oder dafür bloß gehalten wird, entgegnen aufgeklärtes öffentl. wie pädagogisches Bewußtsein und insbes. real- und ideengeschichtl. versierte, theoretisch geläuterte und problemadäquate sozialwissenschaftl. Begriffsverwendung mit einer anderen Charakteristik. Danach ist P. B. eine besondere Qualität der Beschäftigung mit Politik: individuelle und kollektive geistige, affektkultivierende und handlungsorientierende aktive Auseinandersetzung mit ihren Erscheinungen, Hintergründen, Wesensgesetzen, Wirkungen, Funktionen und Entwicklungen. In diesem real vorfindlichen sowie für Entstehung, Erhalt und Prosperität der Selbstverfügungs-Fähigkeit der Individuen, sozialer Gruppen und der Gattung unverzichtbaren menschlichen Vermögen
Politische Bildung liegen Kriterien für die Begründung, Zielrichtung und Bestimmung geeigneter pädagogischer Angebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Interesse einer Befähigung zur kenntnisreichen, konstruktiv-kritischen, emotional wie handlungspraktisch engagierten und reflektierten staatsbürgerl. Existenz. Normativ ohne Vorschrift 'richtigen' polit. Denkens, Empfindens und Agierens, unterscheidet sich dieser Begriff vom deskriptiven und v.a. von der darin unkritisch gespiegelten Erziehung zu einseitig vorgegebenen polit. Werten, Oberzeugungen, Emotionen und Verhaltensweisen mit ihren zugehörigen Wissensbeständen und Deutungschemata. Denn es bleibt der in anderen Verständnisweisen seltener enthaltene Bezug zur Mündigkeit nicht auf das von Pädagogik unabhängige Funktionieren gemäß herrschender polit. Verhältnisse reduziert. Er schließt nämlich ein, daß für den Fall einsehbarer guter Gründe die gemeinschaftliche Veränderung dieser Verhältnisse durch Variation ihrer materiellen (Ökonom, und gesellschaftl.) wie ideellen (mentalen bzw. psychischen) Bedingungen, Strukturen und Elemente zulässig ist. Auch dergestalt normativ bestimmte P. B. entfaltet erzieherische Wirkungen und bedient sich einiger der - in ihrem Sinne verantwortbaren - Mechanismen ansonsten deskriptiv erfaßter Instruktions-, Lern- und Lehrformen (z.B. Information, Wissensaneignung, Veranschaulichung). Doch verbindet und erweitert sie diese durch Reflexionsprozesse, die ihren Wert für die Entwicklung und Differenzierung von Merkmalen der polit. Persönlichkeit zu prüfen und alle - während der - » Politischen Sozialisation unvermiedenen wie vorenthaltenen - Modalitäten politikbezogenen Lernens zu problematisieren gestatten. 2. Eckpunkte der Problemgeschichte Der Sache nach sind polit. Lernprozesse unerläßlich seit Beginn förmlicher Herrschaftsausübung. Ihre pädagogische Organisation wird im modernen (Verfassungs-)
Politische Bildung Staat erforderlich, weil aufgrund der Arbeitsteiligkeit in der Gesellschaft der Erwerb der für die Herrschaftspraxis nötigen Dispositionen für z.B. die Ausübung von Funktionen in -*• Legislative, —> Exekutive oder kontrollierender -> Öffentlichkeit sowie die Akzeptanz und Bewahrung oder Kritik und Ausgestaltung der Verfassungsordnung im Alltagsleben nicht gewährleistet sind. Neben anderen Institutionen kommt dem vergesellschafteten Erziehungs- und insbes. dem staatl. verantworteten Schulwesen mit entsprechenden Lernbereichen die besondere Aufgabe der Tradierung, Erschließung und Innovation der Sinn-, Ordnungs- und Handlungszusammenhänge des Regierungssystems und seiner typgemäßen —» Politischen Kultur zu. In geschlossenen Gesellschaften und Diktaturen aller Art wird diese Aufgabe als polit. Indoktrination und Entmündigung wahrgenommen. Aufklärung, Alternativen sowie Widerspruchs· und Widerstandsvermögen werden allenfalls subversiv entwickelt oder durch Unerträglichkeit der Staatsgewalt unabsichtlich erzwungen. Auch offene Gesellschaften und Demokratien unterschiedlichen Typs stehen noch in der Gefahr, über eine verselbständigte Tradierung die Erschließung und Innovation des polit. Systems zu verabsäumen, wenn politikbezogene Pädagogik einseitig auf Loyalitätsbeschaffung, Anpassung oder Apathieförderung hinausläuft und Erfordernisse einer nötigenfalls auch radikalen Reform geltender Normen, Institutionen, Arbeitsfelder und Prozesse der Regelung des Zusammenlebens und der Steuerung seiner materiellen wie ideellen Grundlagen nicht berücksichtigt. 3. Relevanzen für Parlamentarismus und Staatsbürgerlichkeit Im —> Föderalismus der —> parlamentarischen Demokratie der BRD genießt P. B., freilich ohne eindeutige oder abschließende Begriffspräzision und daher mit Offenheit für ihre Ausgestaltung gemäß veränderlicher histor. Anforderungen, mindestens mittelbar Verfassungsrang. Dem entspricht eine im inter-
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Politische Bildung nationalen Vergleich bemerkenswert breite und ausdifierenzierte Infrastruktur (Einrichtungen in staatl., öffentl.-rechtl. und privater Trägerschaft auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene) für die praktische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sowie für die Curriculumentwicklung, Theoriebildung und wissenschaftl. Erforschung (Unterrichtsfächer an —> Schulen, Tagungsstätten, Akademien, Stiftungen, Vereine, Fachbereiche an Volkshochschulen, Abteilungen in Kultusministerien, —• Bundeszentrale und Landeszentralen für polit. Bildung, Hochschulinstitute und Lehrstühle sowie -> Erwachsenbildung / Weiterbildung). Aufgrund von Sozialstruktur, Ökonom. Machtverhältnissen und Relikten vor- oder anti-demokrat. Staatsformen sind, wie in den meisten bürgerl.-westlichen Repräsentativ-Demokratien, als P. B. faktisch bislang nur affirmativ wirksame Versäumnisse, didaktische Konzepte und Praktiken dominant. Der Bedarf einflußreicher Interessengruppen an der Reproduktion des herrschenden polit. Systems ist überdies aus den Anstrengungen der Etablierung und Konsolidierung der demokrat. Ordnung sowie ihrer Verteidigung im lange Zeit prägenden Wettkampf der Systeme heraus erklärlich. Unter Bedingungen von Aufbau und Konsolidierung des Wohlfahrtsstaats findet er Legitimation durch Betroffene. Institutionenkunde, Tugendlehre und Einübung in formale Spielregeln geläufigen polit. Geschehens als vorwiegende Varianten affirmativer pädagogischer Leistungen bewegen sich aber unterhalb des Niveaus demokratieimmanenter Pluralismusgebote. Im Stile simpler Systemwerbung gehen sie über Vermittlung äußerlich bleibender Fakten und Appelle an Zustimmung oder allenfalls eine Vorbereitung auf traditionelle Partizipation (Teilnahme an Wahlen, Mitgliedschaft in Vereinigungen, Übernahme vorgezeichneter Amter) nicht hinaus. Gewiß ist die Einführung in Bestimmungsgründe, Regeln und Vorzüge der parlament. Regierungsform unerläß-
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Politische Bildung lieh. Sie ist aber nicht zuletzt um der Vitalisierung und Erneuerung des polit. Systems und der identitätsstiftenden Einbeziehung der Staatsbürger willen um die Beschäftigung mit Aporien, Reformerfordernissen und Transformationsmöglichkeiten zu ergänzen. Hintergrund dafür bilden dringend zu bewältigende Herausforderungen der (Welt-) Gesellschaft und der Berücksichtigung legitimer Ansprüche auf Mit- und Selbstbestimmung der Menschen im eigenen Lande und andernorts. Mit Hinweis auf die in anderen westlichen Ländern und insbes. in Übergangsgesellschaften Ost-Europas oder der Dritten Welt meist weitaus geringeren als in der BRD entwickelten Kapazitäten P. B. darf davon nicht abgelenkt werden. Gerade der Niedergang der dortigen Systeme bezeugt die fatalen Konsequenzen eines Ausbleibens von Vitalisierungs- und Innovationsimpulsen. P. B. muß darum folgendes spiegeln und bearbeiten: Zwar kann hinter den Errungenschaften etablierter Formen der Demokratie ohne Schaden für Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit nicht zurückgeblieben oder -gegangen werden. Doch ist nach Ansicht vieler Betroffener und Experten über ihre Vollzugsformen und üblichen Ergebnisse noch hinauszugelangen, weil sonst die zentralen ökologischen, sozialen und Ökonom. (Über-)Lebensprobleme der Menschheit nicht zu lösen sind. Insofern muß P. B. Tendenzen des Strebens nach einer Selbstregierung der Menschen in zivilgesellschaftl. Lebensverhältnissen gerecht werden, indem sie, ohne Kritikverzicht, auf Möglichkeiten einer facettenreichen Aktivbürgerschaft vorbereitet und um ihretwillen Wissenserwerb, Erkenntnisfindung, emotionale Entrüstung und Aktionsfähigkeiten mit verantwortungsethischen Problematisierungen als lustvoll-aufklärerischen und produktiven Prozeß polit. Reflexivität gestaltet. 4. Dilemmata und Entwicklungsmöglichkeiten Für P. B. sind verschiedene Wege gangbar, nicht aber alle Mittel zulässig. Selbstbestimmungsrecht und - » Pluralis-
Politische Kultur
Politische Bildung mus gebieten Respekt vor einer Vielfalt an Modellen und Versuchen, aber auch Infantilisierungsverzicht. Es ist daher unausweichlich und nützlich, daß sich über P. B. fachliche wie polit. Kontroversen entzünden. Internationale Beziehungen sind im Zeitalter der -> Globalisierung fehlgeleitet, wenn sie den Export hierzulande üblicher Formen P. B. betreiben. Eher sollten sie Erfahrungen und Vorstellungen in anderen Ländern koordinieren und filr die Reform der P. B. vor Ort fruchtbar machen. Als Folge sozioökonom. Verwerfungen der Gegenwartsepoche ist deren Zustand in der BRD z.Z. prekär: Partikularisierung ist in zahllose, unverbundene und aspekthafte Ansätze modernisierter affirmativer Programme gemündet, die, letztlich unpolitisch, Vermittlungstechniken von Zielen, Inhalten und Verfahren der Erkenntnisgewinnung abkoppeln. Nachwuchsförderung für Theorie und Praxis stagniert, ist rückläufig oder bereits eingestellt. Zuständige Wissenschaftsdisziplinen entziehen sich ihrer Verantwortung, sind mangelhaft koordiniert oder materialiter und personell nicht mehr hinreichend ausgestattet. Herrschende Strömungen im Fachdiskurs haben kritische Diskussionsbeiträge zurückgedrängt oder ausgeblendet und theoretisch wie praktisch Verständnis und Ansprüche P. B. ausgehöhlt. Die Unterwerfung der —> Bildungspolitik unter den herrschenden Ökonomismus und Wirtschaftlichkeitszwänge bei Bildungsträgern haben zu massiven Einschränkungen geführt, weil P. B. als ertraglos gilt. Während demokratieschädigende Vorgänge in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auf dringenden Bedarf an anspruchsvoller P. B. verweisen, belegen Studien zur Wirksamkeit üblicher pädagogischer Politikbehandlung erschreckende Wissenslükken, Indifferenzen, Deutungs- und Verständnismängel, Lethargieneigungen oder Sympathien für autoritäre, nationalistische und egoistische Modalitäten der Konfliktaustragung. Es wäre also dringend an der Zeit, P. B. in ihren anspruchsvollen Vari-
anten auszudehnen und ohne Verbeugung vor Zeitgeist im normativen Sinne zu erneuern. Weil sie nicht nur Erfordernis der Demokratie, sondern unerläßliches Element von Sozial- und Rechtsstaatlichkeit ist, ist sie auch nicht abstrakt mit Demokratie, sondern problemorientiert mit demokrat. zu regelnden Herausforderungen zu befassen, die diesen beiden Prinzipien moderner national- wie suprastaatl. Gebilde erwachsen. IM.: G Breit u.a. (Hg.): Grundfragen und Praxisprobleme der polit. Bildung, Bonn 1990; B.
Claußen: Polit. Bildung, Darmstadt 1997; ders. / B. Wellie (Hg.): Bewältigungen. Politik und Polit. Bildung im vereinigten Dtld., Hamburg 1995; Polit. Bildung im internationalen Vergleich, in: V. Nitzschke / F. Sandmann (Hg ), Metzler Handbuch für den polit. Unterricht, Stuttgart 1987, S. 50ff.; W.W.Mickel/D. Zitzlaff (Hg.): Handbuch zur polit. Bildung, Opladen 1988; W. Sander (Hg.): Handbuch polit. Bildung, Schwalbach 1997.
S. George u.a.:
Bernhard Claußen Politische Führung —> Führung, politische Politische Kultur 1. Dimensionen des Begriffs P. K. meint weniger Herrschaftsfunktion oder öffentl. Resonanz und Politisierungsabsicht von Erscheinungen des kulturellen Lebens als beobachtbare oder für wünschenswert gehaltene Qualitätsmerkmale des Polit, inner- und außerhalb seiner amtlichen Organe. Hauptsächlich steht der Begriff für die Gesamtheit aller wirksamen und gestaltungsfähigen Geftlhlsdispositionen, Überzeugungen, Einstellungen, Haltungen, Fähigkeiten und Verkehrsformen subjektiver wie kollektiver Art im Alltag gesellschaftl. Lebensbereiche, welche die üblichen Prämissen sowie förmlichen Regularien, -> Institutionen und Vollzugsweisen der Steuerung des Zusammenlebens stützen, reproduzieren, verlebendigen, konterkarieren, verändern und gefährden. Zugleich bezeichnet er den interdisziplinär-politikwissenschaftl. Forschungs-, Diskussions-
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Politische Kultur und Theoriezusammenhang ihrer systematischen Explikation. Als Kultur gelten 1.e.S. besonders hochwertige Reifegrade und Gütestandards sowie i.w.S. Zustandekommen, Ausprägung und Reichweite der Praxis der Formgebung für das alltägliche Leben bzw. die mittelbare und unmittelbare, sinnlich-konkrete wie symbolische Selbstartikulation von Menschen als Individuen und Rollenträger, Mitglieder sozialer Gebilde und Gattungsangehörige. 2. Histor.-systematische Gesichtspunkte Frühere und gegenwärtige Prototypen wie Varianten und Mischformen von -> Monarchie, —> Republik, -> Diktatur und -> Demokratie sind Ausdruck differenzierter Entwicklung menschlicher Kultur im Kontext geschichtl. und sozio-ökonom. Konstellationen. Mit formaliter unterschiedlichen Herrschaftsträgem beinhalten sie eine materialiter im Ablauf von -> Willensbildung und Entscheidungsfindung differente Kultur von Aristokratie, Oligarchie und —> Volkssouveränität, zu denen im modernen —> Staat Tendenzen der Büro-, Experto- und Technokratie hinzukommen. In ihnen drücken sich verschiedene Formen der -> Legitimation des Herrschafts-, der Organisation des Regierungs-, der Geltung des Rechtssystems usw. aus. Plastizität ihrer Ausgestaltbarkeit impliziert unterschiedliche Manifestationen und Entwicklungschancen für jeweils typgemäße Gewißheiten und Gewohnheiten bei der Regelung des Zusammenlebens und der Verfügung über deren materielle wie ideelle Grundlagen. Beständigkeit, Prosperität, Wandel, Zerfall oder Transformation finden darin Bestimmungsmomente und Ursachen. Wichtig sind dafür auch die Beschaffenheit der Austauschprozesse zwischen -> Staat und -> Gesellschaft bzw. zwischen Herrschenden und Beherrschten unter maßgeblichen, z.B. national- und weltökonom., sozio-dynamischen, geographischen und ökologischen Rahmenbedingungen. An deren Zustandekommen sind Päsentation und Durchsetzungsfähigkeit der
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Politsche Kultur Steuerungssysteme gegenüber der Gesellschaft beteiligt. Bedeutsam ist zudem, auf welcher Erwartungs-, Bewußtseins- und Fähigkeits-Grundlage sowie mit welchen Ausdrucks- und Organisationsweisen die Bevölkerung mit Determinanten, Ansprüchen und Stimulanzen der Politik i.S. rückkoppelnder (Re-)Aktionen umgeht. 3. Staatsbärgerl. Akzente unter Bedingungen des demokrat. Parlamentarismus Demokratien insbes. btlrgerl.-westlichen Typs sind programmgemäß auf den Ausgleich konkurrierender -> Interessen (zwischen den Gruppen einer differenzierten Gesellschaft sowie Allgemeinheit und heterogener Privatheit) angelegt, auf Zustimmung bis Unterstützung (auch durch -» Ehrenamtliche Tätigkeit außerhalb der polit. Institutionen) und damit auf Nachweise ihrer Funktionstüchtigkeit gegenüber den verfassungsmäßig als Souverän verankerten Betroffenen angewiesen. Zudem sind sie ohne Rekrutierung ihres Personals aus gesellschaftl. Subsystemen sowie ohne problemlösende Zuwendung zu den Herausforderungen der Gesellschaft und deren Spiegelung in konfligierenden Bedürfnissen, Wünschen und Relevanzen nicht überlebensfMhig. Aus alledem erwachsen P. K. mehrere große Problemzonen: Das subjektive kognitive, affektive, operative und moralische Vermögen der formell zuständigen Akteure in -> Legislative, -> Exekutive und -» Judikative sowie die gruppendynamischen Merkmale ihrer Interaktionen bei der Ausschöpfung und Aus- oder Umgestaltung des normativ-institutionellen Rahmens für problemadäquate, effiziente, verantwortungsbewußte und nachvollziehbare Steuerungsleistungen sind von zentraler Bedeutung für die kulturelle Qualität des polit. Systems. Persönlichkeitsprofile des Personals von -> Parlamenten und anderen Einrichtungen der Demokratie sind wichtig für die Definition und Bearbeitung von Aufgaben sowie die Vollzugsweisen von Prozessen. Wachsam· und Artikulationsfahigkeit der Öffentlichkeit sind unerläßliche Kor-
Politische Kultur rektive. Besonderem Rang kommen u.a. Stilformen, Glaubwürdigkeit, Authentizität und Überzeugungsfähigkeit in lfd. Auseinandersetzungen, v.a. über herausragende Schwierigkeiten und Skandale zu. Spezialistentum, Apparatschik, staatsmännisches Auftreten, Aura, Taktiererei, Volkstümlichkeit u.a.m. bezeichnen typische Erscheinungsmerkmale, die i.d.R. in zahlreichen Facetten nebeneinander vorkommen, jedoch zum andauernden oder phasenweisen Charakteristikum von Staats-, Regierungs-, Oppositions-, Parlaments- und Parteikultur werden, wenn sie je für sich größeren Gruppen oder herausragenden Führungskräften eigen sind. Beschaffenheit und Funktionsweise der Transitstellen zwischen Staat und Gesellschaft, die Infrastruktur der (Selbst-) Darstellung von Politik, der Konstitution und Geltendmachung von Öffentlichkeit sowie der Rückmeldung aus der Bevölkerung mit der Artikulation und Bündelung der Interessen einzelner ihrer Gruppen ist mitsamt den Zugangsmöglichkeiten eine weitere Ebene der Manifestation kultureller Eigenheiten von Demokratie-Typen. Dabei tritt das System den einzelnen in Architektur (-> Parlamentsarchitektur) und Symbolen sowie im Gehabe zuweilen verselbständigter -> Verwaltungen etc. gegenüber, sind Kommunikationsmedien der Kulturindustrie mit eigenen Gesetzmäßigkeiten in Großgesellschaften unverzichtbar und Organe z.B. der Anhörung auszuschöpfen und gemäß aktueller Notwendigkeiten immer wieder zu reformieren und zu ergänzen (Selbstbestimmungsrecht, Politikvermittlung). Wirksam sind Zugeständnisse der Funktionsträger aus den Entscheidungsgremien, die Erkämpfung von Rechten und Mitteln durch engagierte Staatsbürger sowie die Modernisierung apparativer Möglichkeiten. Schließlich ist die mentale, psychische, kompetenzmäßige und soziale Verfassung der Gesellschaftsmitglieder ausschlaggebend dafür, ob bzw. wie diese gemeinsam die Rolle als Souverän wahrzunehmen vermögen. Die Möglichkeiten ihrer gei-
Politische Kultur stigen und operativen Involvierung in den polit. Prozeß - insbes. über die Teilnahme an —> Wahlen hinaus - sind abhängig von vielfältigen Werten, Motivationen, Kenntnissen, Fähig- und Fertigkeiten. Grundlegende Disponierung für Demokratie generell und für spezielle Qualitätsklassen ihrer kulturellen Ausprägung erweisen sich in der Zuwendung zur nominell demokrat. Politik. Auch zeigen sie sich darin, ob nötige Persönlichkeitsmerkmale in größerer Zahl und in entsprechenden kollektiven Konfigurationen für eine Verwirklichung alltäglicher sozialer Demokratie vorhanden sind und in den Lebenswelten greifen können. An ihrem Zustandekommen ist neben institutionellen Chancen (z.B. der Diskussion und Partizipation) und der Funktionstüchtigkeit der intermediären Instanzen v.a. die —» Politische Sozialisation beteiligt. 4. Probleme und Perspektiven Schon die klassische Einteilung der westlichen Systeme in Parochial-, Untertanen-, Teilnahme- und Zivilkultur, die freilich nur noch grob gültig ist, zeigt, daß eine Kultur der Demokratie und mit ihr die Kultur des —> Parlamentarismus sowie der passiven oder aktiven Staatsbürgerlichkeit ihrer Angehörigen verschieden ausfallen kann. Dabei sind Varianten auf die (Grade der) Verwirklichung difterenter Demokratiekonzepte sowie auf histor.-gesellschaftl., sozio-geographische und allgemeinkulturelle Besonderheiten rückführbar. Sie verdeutlichen, daß die Einführung parlament. Systeme und deren Vervollkommung nicht zuletzt an Ökonom. Voraussetzungen geknüpft sind. Mit der Scheidung von staats- und nicht-staatsfixierten Gesellschaften lassen sich weitere Differenzen von Demokratie-Kultur, aber auch Merkmale der P. K. in anders verfaßten Gemeinwesen identifizieren. Sie bezeugen, daß weder die weltökonom. zu vermitteln versuchte Expansion westlicher Demokratie-Modelle noch die transformatorische Selbst-Demokratisierung anderer Systeme in eine undifferenzierte Universalrealität von Demokratie münden wird.
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Politische Leitung
Politische Sozialisation
Damit nicht intra- und zwischenstaatl. aus den für jegliche P. K. konstitutiven allgemeinkulturellen Gegensätzen Konflikte erwachsen, die polit, nicht mehr zu bearbeiten sind, ist nach innen und außen die Weiterentwicklung von Kulturen der Demokratie (als Staatsform und Regierungsweise) zugunsten einer demokrat. Kultur (der Verkehrsformen sowie der Verständigungs- und Regelungsweisen im Alltag) unverzichtbar. Bloße Erhaltung des Status Quo und Export formaler Demokratie-Modelle wären fatal. Denn Bewältigungsverluste und Demokratieeinbußen in westlichen Demokratien bei gleichzeitiger Ausbildung subpolit. Institutionen angesichts neuartiger Herausforderungen, verzerrte Politikvermittlung durch symbolische und inszenierte Politik sowie die Minimalisierung staatsbürgerl. Dispositionen für die repräsentative Demokratie aufgrund defizitärer -> Politischer Sozialisation verringern deren Erfolgsaussichten zunehmend. Im einzelnen harren die Bedeutungen dessen für die P. K. noch genauerer Erforschung. Darin liegende Probleme ließen sich mildern, wenn P. K. selbst stärker Gegenstand gesellschafll. Selbstreflexion und insbes. der —> Politischen Bildung wäre. Lit.: Κ. ν. Beyme: Die polit. Kultur Osteuropas im Wandel, in: ders., Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt/M. 1994, S. 328ff.;M. Grebenhagen/ S. Grebenhagen: Ein schwieriges Vaterland, München 1993; O. Niedermeyer / K. v. Beyme (Hg.): Polit. Kultur in Ost- und Westdtld.. Berlin 1994; P. Reichel (Hg.): Polit. Kultur in Westeuropa, Frankfurt/M. 1984.
Bernhard Claußen Politische Leitung -> Führung, politische Politische Parteien Partei —> s.a. CDU -> s.a. CSU -> s.a. SPD s.a. FDP -» s.a. Bündnis 90/Die Grünen -> s.a. PDS Politische Rechte - » Bürgerrechte Politische Regierungsplanung 706
Pia-
nung, politische Politische Richtungsentscheidung —> Führung, politische Politische Richtungskontrolle -> Deutscher Bundestag Politische Sozialisation 1. Begriff P. S. bezeichnet die kollektiv verdichtete Gesamtheit aller lebenslangen Lernprozesse, während der individuelle staatsbürgerlichpolit. Persönlichkeit zustandekommt, ausdifferenziert, dynamisiert, neu oder umstrukturiert und substantiell korrigiert wird. Es handelt sich dabei um Vorgänge einer Vermittlung zwischen personinternen Subjektstrukturen und den objektiv in der mittel- wie unmittelbaren Umwelt von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen vorfindlichen Herrschaftsverhältnissen. Vor allem geht es um innerpersonale Verarbeitung der widersprüchlichen Realität ideeller und materieller Ausprägungen der verbindlichen Regelung des Zusammenlebens, also um Auseinandersetzung mit —» Normen, -> Institutionen, Aufgaben, Akteuren, Begleitumständen, Vorgängen, Ereignissen, Ergebnissen, Präsentationsmodi, Funktionen und Wirkungen staatl. und sonstwie in der Gesellschaft geleisteter direkter wie indirekter Steuerungstätigkeiten beim Umgang mit öffentl. Angelegenheiten. 2. Dimensionen und Reichweiten P. S. ist als sozialer Interaktionszusammenhang der Reproduktion, Erschließung, Dynamisierung und kreativen Konstitution des Sinns, der Ordnungsprinzipien und Aktionsweisen der -» Politik vielschichtig, ambivalent und brüchig. Sie ist damit der zentrale Faktor für die Generierung, Reproduktion, Ausdifferenzierung und Erneuerung der geistig-moralischen wie stofflichen polit. -> Verfassung von —> Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. So fungiert sie als Produkt, Ausdrucksform und belebendes Element der -> Politischen Kultur und der sie prägenden Umstände. Unterschieden werden latente
Politische Sozialisation (beiläufige, unterschwellige, unbeabsichtigte, unbewußt bleibende) und manifeste (absichtsvolle, zielgerichtete, systematische, offene, bewußt wahrgenommene) P. S.; flankierend kommen Lernprozesse mit anderen Gegenständen hinzu, die auf die Entwicklung allgemeiner Pesönlichkeitsdispositionen (z.B. Unsicherheit, Angst, Neugier, Draufgängertum, Kreativität) hinauslaufen und staatsbürgerlich hochgradig relevant sein können. Der Prozeß P. S. enthält Aktivitäts- und Passivitätsanteile (etwa Aneigungs- und Prägephasen), die durch biographische Besonderheiten unterschiedlich ausgeformt sind. Frühe und meist latent sich ereignende P. S. führt ohne spätere Aufarbeitung zu langfristig stabilen Grundmustern der Strukturierung von Wahrnehmungen, Deutungen, Bewertungen und Strebungen im Umgang mit Politik. Als wichtigste Form manifester P. S. erwachsen daraus der - » Politischen Bildung Aufgaben der Differenzierung, Ergänzung und Korrektur. 3. Bezüge zum demokrat. Parlamentarismus P. S. hat in allen Staats- und Regierungsformen Relevanz für die Legitimations· und Loyalitätsbeschaffimg. In —> Parlamentarischen Regierungssystemen hat sie aufgrund der Spezifizität der Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung eine außerordentlich wichtige Funktion, wobei für ihr Zustandekommen neben der unmittelbaren Wirksamkeit des -> Parlamentarismus Strukturen, Praktiken und Mitglieder einer Vielzahl von Instanzen (Familie, Gleichaltrigen-Gruppen, Erziehungs-, Ausbildungs- und Freizeiteinrichtungen, Berufswelt, -> Massenmedien, alltagsübergreifende Existenzumstände, Militär, totale Institutionen etc.) verantwortlich sind. Zwischen den (Modellvarianten der) westlichen Demokratien gibt es zahlreiche, allerdings eher nuancenhañe Unterschiede bzgl. der Inhalte, Medien und Mechanismen der P. S.; gleichwohl bestehen etliche Gemeinsamkeiten, die allerdings primär auf Ähnlichkeiten in grdl. Lebensumständen mo-
Politische Sozialisation derner industrieller Massengesellschaften verweisen und darum auch abgewandelt in nicht-demokrat. Staatswesen anzutreffen sind: Auffällig sind im intra- wie internationalen Vergleich bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen hinsichtlich der Begründung, histor.-konkreten Entstehung und Entwicklung, Funktionsweise, Zusammensetzung, Konfliktlinien, Leistungsfähigkeiten, Reformprozesse und Probleme des Parlamentarismus im allgemeinen und der vorfindlichen Einzelparlamente auf supranationaler, nationaler, regionaler und kommunaler Ebene im besonderen erhebliche Kenntnis-, Interpretations- und Beurteilungslücken. Zwar gibt es vordergründig eine mehr gesinnungsorientierte als argumentativ begründete breite Akzeptanz des Parlamentarismus. Doch liegt selten hochgradige Identifikation mit dem parlament. System etwa ausgedrückt in innerer Anteilnahme, Verteidigungsbereitschaft und Selbstwahmehmung als Teil des demokrat. Souveräns - vor. Bei Ausbreitung gravierender sozio-ökonom. Schwierigkeiten der Alltagsexistenz schmilzt Formalakzeptanz. Ausgangspunkt dafür sind meist generalisierende Verärgerungen über exponierte Politiker, die sich leicht zu einer umfassenden Verdrossenheit verdichten, bei der nicht nur der Parlamentarismus schlechthin oder einzelne seiner realen wie vermeintlichen Negativerscheinungen, sondern Politik und Politisches insg. Ablehnung erfahren und schließlich völliges Desinteresse gegenüber öffentl. Angelegenheiten und dem Schicksal des Staates droht. Schwankungen dessen gibt es weniger zwischen den Geschlechtem, Altersgruppen oder in einem Stadt-LandGefälle als zwischen einzelnen Schichten und insbes. unterschiedlichen Niveaus allgemeiner, beruflicher und speziell —> Politischer Bildung. Danach wird der immens hohe Anteil derjenigen, die aus Verdruß nicht mehr oder aus Apathie noch nicht wenigstens an -> Wahlen teilnehmen, beständig größer. Ein kleinerer Teil ist - oft mehr aus Karriere- und Op-
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Politische Sozialisation portunitätsgründen als aus tiefgreifendem staatbürgerl. Verantwortungsbewußtsein zu konventioneller polit. Partizipation (Mitgliedschaften in —> Parteien, —> Verbänden, Übernahme von Ämtern in Organisationen oder Parlamenten usw.) bereit. Er deckt kaum noch Minimalbedarfe an Personal und / oder für die Aufrechterhaltung von Machtpositionen durch starke Mitgliederzahlen. Eine wachsende Minderheit tendiert zu unkonventioneller polit. Partizipation (Teilnahme an Protesten und einzelnen Aktionen eher als Mitwirkung in caritativen und selbsthilfeartigen Einrichtungen oder gar neuen Sozialen Bewegungen; -» Bürgerbewegung). Sie betrachtet teilw. solche Tätigkeiten als Ergänzung des ansonsten akzeptierten Parlamentarismus, enthält aber auch explizite Gegenerschaft ihm und seinen Repräsentanten gegenüber. Überdies gehen in dieser Minorität nicht komplett die Wahl-Verweigerer auf. Insofern beinhaltet die Gruppe Verdrossener und Apathischer weitaus mehr als Labilität bei Zugehörigkeit zu den anderen Gruppen ein großes Potential an latenter bis manifester Affinität zur Abkehr von Formen der Konfliktaustragung nach Regeln der Parlament. Demokratie zugunsten passiver bis aktiver Unterstützung gewaltförmiger Verhaltensmuster im mikrosozialen wie makropolit. Alltag und antidemokrat., insbes. rechtsextremistischer Programme, Vereinigungen und Leitfiguren. Hintergrund bilden großflächige Probleme des Ökonom, und davon abgeleiteten sozialstrukturellen Wandels: Einbußen an sozialen Bindungen und Orientierungssicherheiten (Individualisierung), persönliche und gattungsbezogene Existenzängste (Perspektivlosigkeit, Arbeitsplatzverlust, ökologische Krise) u.a.m. In der subjektiven Wahrnehmung Betroffener und objektiv sind daran einige Grenzen des Parlamentarismus (z.B. soziale Inhaltsabstraktkeit des bürgerl. Staates, Beschränkung der Beschneidbarkeit von Freiheitsrechten) und die unzulängliche Ausschöpfung seiner Möglichkeiten durch Man-
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Politische Sozialisation dats- und Funktionsträger (mit ihrer Folge als Begünstigung partikularer —> Interessen, Verdrängung von Problemen, Aufschiebung von Entscheidungen, Auslieferung an zerstrittene Experten u.ä.) beteiligt. Überdies scheint eine Krise des Systems der -> Politikveimittlung auf, dem eine angemessene Darstellung des Parlamentarismus vielfach ebensowenig gelingt wie eine hinreichende Organisation von Rückkopplungen zwischen der Gesellschaft und den Entscheidungsorganen. So wird polit. Entfremdung eher vergrößert als abgebaut. 4. Probleme und Perspektiven aktiver Staatsbürgerlichkeit Trotz aller Mängel garantiert P. S. speziell in der BRD noch immer ein hohes Maß an Stabilität, Funktionstüchtigkeit und Effizienz des demokrat. Parlamentarismus. Doch kann das für die Zukunft nicht fraglos prognostiziert werden. Es besteht eine Abhängigkeit von Herausforderungen globalen Ausmaßes, von denen man nicht weiß, ob sie das System überfordern werden. Im einzelnen wäre nach strukturellen Defekten und Lernfähigkeiten des Parlamentarismus als Institution und nach dem Potential des Personals in den entsprechenden Einrichtungen zu fragen. Die wenigen vorliegenden verallgemeinerungsfähigen Erkenntnisse sind zwiespältig. Von den generellen Befunden in der Gesamtbevölkerung weichen sie insofern ab, als sich in Parlamenten regelhaft Männer und Frauen befinden, deren Biographie und Eigenaktivität überdurchnittliche polit. Kenntnisse, Ambitionen und Kompetenzen begünstigt haben, die sich durch unmittelbare Beteiligung an der Politik noch überproportional ausdehnen. Doch auch bilden sich allgemein vorfindliche menschliche Schwächen ab. Sie wirken sich besonders nachteilig aus, wenn neben oft vorhandenem Fleiß, Engagement und innerer Überzeugung in Grundsatz- und Sachfragen Karriererismus, Opportunismus und Instrumentalismus freies Aktionsfeld haben. Weniger mangelnde parlamentsinterne Selbstkontrolle als strukturelle Begleitum-
Politische Sozialisation stände (z.B. Überlastung durch Potenzierung von Aufgaben, Druck durch zuweilen unredliche Praktiken der herrschenden —> Öffentlichkeit, Entwertung von Parlamenten durch mächtige Einflüsse außerhalb der Politik) können das forcieren. Selbst im günstigeren Falle verbliebe ein Überhang staatbürgerl. Aktivitäten bei —> Eliten. Auch dieser wäre, zumal angesichts der Partikularisierung und Erosion von Werten, Interessenfeldern und Qualifikationen in der Gesellschaft, die nicht nur parlament. vermittelt sein wollen, problematisch. Traditionelle Mobilisierung von Potentialen aktivbürgerl. Verhaltens dürfte nicht nur am z.Z. vorhandenen Mangel an ausreichenden Partizipationsinstitutionen, sondern an Geringfügigkeit der Potentiale scheitern. Wichtig ist daher Aufwertung subpolit. und unkonventioneller Teilnahmeformen, damit diese - mit Aufforderungscharakter und Multiplikation von Möglichkeiten - in der Politikvermittlung stärkere Berücksichtigung finden und deutlicher ins Bewußtsein dringen können. Immerhin bieten sie - mit Aussicht auf Milderung von Entfremdung - insbes. für Heranwachsende attraktive Chancen für polit. Lernen im Kontext sinnvoller und konkreter Aufgabenstellungen. Nötig sind auch die ideelle wie materielle Besserstellung und konzeptionelle Erneuerung der Polit. Bildung. Denn sie böte Gelegenheiten zur Aufarbeitung der P. S. sowie zur Problematisierung subpolit. Demokratieformen und ihrer Einfädelung in eine produktive Auseinandersetzung mit unerläßlich bleibenden Notwendigkeiten parlament. Politik. Lit: Β. Claußen (Hg.): Polit Sozialisation Jugendlicher in Ost und West, Bonn 1989; ders. /
R. Geißler (Hg.): Die Politisierung des Menschen, Opladen 1996; B. Claußen / K. Wasmund (Hg.): Handbuch der polit. Sozialisation, Braun-
schweig 1982; H. Dekker / R. Meyenberg (Hg.): Politics and the Younger European Generation, Oldenburg 1991; M Konopka: Vom Faschisten zum Ökopax, Frankfurt/M. 1992; WJ. Patzelt: Abgeordnete und der Beruf, Berlin 1995.
Bernhard Claußen
Politische Sprache
Politische Sprache 1. Begriff Oer Terminus P. S. erfaßt die Besonderheit der in professioneller -> Politik und Politikwissenschaft üblichen Fach- wie Jargonsprache sowie das in der —> Öffentlichkeit und ihren -> (Massen-)Medien oder / und im Alltag der Lebenswelten verwendete Vokabular zur sachlichen oder ideologischen Kommunikation über Politik. Seltener werden damit Begriffe, Wendungen oder Aussagengebilde der sonstigen —> Kommunikation gemeint, die aufgrund ihrer Absichten, Bedeutungen, Unbekanntheitsgrade und Funktionen allgemein herrschaftlichen Charakter z.B. der Einschüchterung, Ausgrenzung oder Anmaßung haben. 2. Parlament.-staatsbürgerl. Relevanz Die -» Kommunikation über öffentl. Angelegenheiten, das Begreifen polit, zu lösender Probleme sowie die Verständigung über Sachverhalte, ihre Hintergründe, Erscheinungen, Konsequenzen und Bewältigung sind trotz mancher anderer möglicher und evtl. ergänzend nützlicher Kommunikationsweisen ohne verbale Sprache und ihre insbes. spezialistische Begrifflichkeit nicht vernünftig möglich. P. S. ist daher inner- und außerparlamentarisch unverzichtbar. Vor allem ist sie nötig für verständigungsorientierte - also dem gegenständlichen und sozialen Verstehen, der verstandesmäßigen Bearbeitung, der Orientierung des individuellen und gemeinschaftlichen Handelns sowie der Einigung gewidmeten - Diskurse, mögen diese Mehrheitsentscheidungen vorbereiten, Konsens anstreben oder entscheidungsaufschiebende Divergenzen und weiteren Informationsbedarf verdeutlichen. Die -> Parlamente sind Sprachrohr für Kontroversen, Mehrheits- und Minderheitsauffasungen, Problemdefinitionen und Verkündigung von Lösungen hinsichtlich sachlicher Aufgaben und ideologischer Fragen. Zu staatsbürgerl. Aktivitäten gehört es, Konflikte, Interessen, Anschauungen, Meinungen und Lösungsangebote öffentl. zur Sprache zu bringen.
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Politische Stiftungen
Politische Stiftungen 3. Probleme und Aussichten P. S. ist konstitutives, dynamisierendes und wirkungsmächtiges Element der —> Politischen Kultur. Zugang zu ihr erfolgt als Teil allgemeiner und insbes. —» Politischer Sozialisation. In der zeitgenössischen -> Politikvermittlung (namentlich in kulturindustriellen Massenmedien und Neuen Technologien) wird angemessene P. S. verdrängt, indem Alltagsjargon, realitätsfremde bildhafte Begrifïlichkeit und begriffslose Bildersprache Verwendung finden. Damit sind teilw. neue Präsentations-, Betrachtungs- und Bearbeitunsgweisen verbunden, aber auch Verlust an kulturellen Traditionen, Werten und Fähigkeiten. Das Szenario einer Sprachlosigkeit der Staatsbürger gegenüber Existenzproblemen und konfligierenden Interessen verweist auf Gefahren der Eliminierung von demokrat. Regelungen oder von Politik überhaupt. Daher müßte -> Politische Bildung sich nicht auch noch in Bebilderungen verflüchtigen, sondern als Gestaltung kategorial kommunikativer Kompetenzen auslegen. Lit.: Α. Dörner (Hg.): Sprache des Parlaments und Semiotik der Demokratie, Berlin 1995; W. Seck: Polit. Kultur und Polit. Sprache Frankfurt/M. 1991; B. Spillner (Hg.): Sprache und Politik, Frankfurt/M. 1990.
Bernhard Claußen Politische Stiftungen Die P.S. sind eine dt. Besonderheit, die in anderen Ländern unbekannt ist und histor. Gründe hat. Mit Ausnahme der ->· Friedrich-Ebert-Stiftung, die bereits seit 1925 besteht, sind die P.S. Nachkriegsgründungen mit dem Zweck, durch —* politische Bildung und internationale Verständigung zur Konsolidierung der —• Demokratie in der 2. dt. Republik und zu ihrer Einbindung in die internationale Staatengemeinschaft beizutragen. Für diesen öffentl. Auftrag werden sie öffentl. finanziert. Sie sind im geistig-weltanschaulichen Umfeld der ihnen nahestehenden —> Parteien angesiedelt und arbeiten doch parteiunabhängig. Die -> Konrad-Adenauer-Stiftung ist mit
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der -> CDU weder organisatorisch noch finanziell verbunden, unterliegt nicht den Weisungen der Partei und darf mit ihren Mitteln auch nicht Parteiarbeit unterstützen, insbes. keine Wahlkampfhilfe, weder mittels empirischer Sozialforschung noch mit anderen Aktivitäten, leisten. Das —> Bundesverfassungsgericht, hat 1986 den eigenständigen Auftrag der P.S. bekräftigt und die Grenze zwischen Stiftungs- und Parteiarbeit präzisiert. Die P.S. tragen mit ihren unterschiedlichen normativen Kontexten, die Konrad-Adenauer-Stiftung orientiert sich in ihrer Arbeit am Grundwerteverständnis der Christi. —> Demokratie, zum polit.-ideellen und nicht zuletzt auch zum wissenschaftl. —> Pluralismus in der BRD bei. Demgemäß müssen, so das BVerfG, „alle dauerhaften ... polit. Grundströmungen in der BRD" angemessen öffentl. gefördert werden. Das BVerfG verbietet auf der anderen Seite, daß Politiker, die führende Ämter in der Partei bekleiden, vergleichbare Führungspositionen in den nahestehenden P.S. wahrnehmen. Namentlich gilt dies für Vorsitzende, Generalsekretäre und Schatzmeister. Insg. dürfen die Vorstände der P.S. nicht von Spitzenpolitikern dominiert sein. Der Vorstand der KAS besteht z.B. aus einer Mischung von Politikern, „eider statesmen" und Professoren. Aus diesen Regelungen resultiert eine Position von Distanz zur Partei im Konkreten und von Nähe im Grundsätzlichen, die nicht immer spannungsfrei ist, sich aber, so auch das BVerfG, in den letzten Jahrzehnten fruchtbar für die Entwicklung der polit. —» Öffentlichkeit in Dtld. und ftlr die europ. und internationale Zusammenarbeit ausgewirkt hat. Die P.S. sind aus dem nationalen und internationalen polit. Diskurs nicht mehr wegzudenken. Ein besonderer Vorzug liegt darin, daß sie aus unterschiedlichen Grundpositionen heraus Foren des Parteigrenzen überschreitenden Dialogs sind und als solche in Wissenschaft und Politik akzeptiert werden. Insbes. in ihren Aktivitäten in der -> Dritten Welt demon-
Polizei
Politische Verwaltung strieren sie, vor Ort häufig nebeneinander und komplementär tätig, selber die Pluralität der Meinungen und freiheitlich-demokrat. Wettbewerb. (—> Friedrich-Naumann-Stiftung —> Hanns-Seidel-Stfitung -> Heinrich-Böll-Stiftung). Lit: W. Gellner: Ideenagenturen in den USA und in Dtld., Opladen 1995; G. Langguth: Polit. Stiftungen und polit. Bildung in Dtld., in: APuZ B34/1993, S. 9ff.,· H. v. Vieregge: Parteistiftungen, Baden-Baden 1977.
Hans Joachim Veen Politische Verwaltung -> Verwaltung Politische Willensbildung -> Willensbildung, politsche -> s.a. Willensbildung, europäische Politisches Verhalten ist eine Grunddisposition des Menschen. Er kann sich nicht nicht verhalten. Sein Verhalten ist antriebsgesteuert, Art und Form sind sozial und genetisch bedingt. Qualifikationen werden durch Sozialisation und Erziehung erworben und permanent durch Erfahrungen, Einsichten etc. modifiziert. Man erwartet ein bestimmtes gesellschaftl. Verhalten als Mitglied eines -> Volkes, einer -> Familie, eines Berufsstandes, eines - » Vereins, einer —> Partei usw. (Rollenerwartungen). D.h. innerhalb einer gesellschaftl. Gruppe sind gemeinsame Verhaltensmuster zum Zwecke der Kohärenz und Identifikation erforderlich. PV ist ein Teil des allgemeinen Verhaltens. Es bewegt sich nach Regeln im Rahmen der vorgegebenen ideologischen biographisch-lebensgeschichtl. Möglichkeiten als Verhalten im öffentl. Raum schlechthin, speziell bei der (Mit-)Gestaltung der öffentl. Angelegenheiten. Der erwartete Verhaltensspielraum bewegt sich auf einer durch Erwerb und Gewohnheit festgelegten Skala anerkannter Grundmuster, z.B. konservativ, liberal, progressiv; spontan, überlegt, offen, verschlossen. Die Strukturen des Kollektiv- und Einzelverhaltens sind j e andere nach dem jeweiligen Stand der —• Politischen Sozialisation
und —> Politischen Bildung. Die Einzelentscheidung wird durch Rationalität und Emotionalität gesteuert, im Kollektiv dominiert die gemeinsame Entscheidung oder - in demokrat. Gesellschaften - der gewählte (und oft sich verselbständigende) Repräsentant. Als Teil der Kultur eines Landes ist PV u.a. an Solidarität, -> Gerechtigkeit und Gemeinsinn als den leitenden Prinzipien orientiert. Sie konkurrieren mit (individualistischem) Eigennutz, persönlichem Machtstreben. PV wird heute u.a. von der Auflösung sozialer Milieus, der Infragestellung tradierter Werte, Normen und Konventionen geprägt. Es hat in einer Zeit gesellschaftl. Wandels utilitaristisch-kalkulative Züge angenommen. Damit stellt sich die Frage nach der Instrumentalisierung PV für opportunistische Zwecke, nicht mehr in erster Linie für das —> Gemeinwohl. In praxi bezieht sich PV auf den angemessenen Umgang von Privatpersonen mit Personen des öffentl. Lebens. Eine polit. Verhaltenslehre wird die dauernd ändernden Verhaltensformen auf den verschiedenen Gebieten, z.B. für Diplomaten, Parlamentarier, Interessenvertreter, Inhaber hoher Ämter erforschen und i.S. eines quasi-verbindlichen Protokolls fixieren. Als Inhalt der Rollen-, Lern- und Kommunikationstheorie ist PV als gesitteter Umgang der Menschen miteinander unerläßlich. Deshalb ist es zur Wahrnehmung staatsbürgerl. (Teilnahme-)Rechte erforderlich, daß etwa -> Bürgerinitiativen sich mit den üblichen Formen des PV sowie den erfolgversprechenden Formen des öffentl. Protestes vertraut machen Lit.: T. Ellwein: Stuttgart 1964.
Politische
Verhaltenslehre,
Wolfgang W. Mickel Polizei ist nach heutigem Verständnis der Zweig der öffentl. —> Verwaltung, der sich mit der Abwehr aktueller Gefahren für Rechte und Rechtsgüter (öffentl. Sicherheit und Ordnung), der Strafverfolgung, der Verkehrsüberwachung sowie dem Vollzug von Anordnungen anderer ->·
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Polizei Behörden befaßt. Der Begriff bezeichnet sowohl diese Aufgaben wie die staatl. Organisationseinheit und das Personal, die sie wahrnehmen. Die P. übt (gemeinsam mit —> Gerichtsvollziehern und anderen Vollstreckungsbeamten) das staatl. Gewaltmonopol aus. In der Frühzeit des modernen Staates war „Polizey" der Oberbegriff für die gesamte öffentl. Verwaltung. Die Lehre von der „guten Polizey" befaßte sich mit der richtigen und zweckmäßigen Erfüllung der weit verstandenen - Aufgaben der -» Regierung. Wenn heute von „P.staat" gesprochen wird, verbindet sich damit die Vorstellung von willkürlicher Machtausübung, Unterdrückung polit. -> Opposition und Verfolgung Unschuldiger. Histor. steht der Begriff in einem anderen Zusammenhang, nämlich dem der —» Staatszwecktheorien. „P.staat" wurde-als kritischer Gegenbegriff zum „Wohlfahrtsstaat" gebraucht, also zu der Staatsform und ihrer Staatsidee, die das Handeln des Fürsten und seiner Verwaltung durch das umfassende Streben nach „Wohlfahrt" und „Glückseligkeit" der Untertanen legitimierte. Der btlrgerl. -> Rechtsstaat des 19. Jhd.s verstand sich als Gegentyp zu der früheren Ordnung, die durch übertriebene Fürsorglichkeit gekennzeichnet schien. Die —> öffentliche Meinung identifizierte schon damals die P. einfach mit den gegen die „freiere Entwicklung" kämpfenden Regierungen (Maier). Die P. wurde in der Folge nur noch als ein rechtl. streng einzubindender - Teil der staatl. Verwaltung verstanden und der P.begriff spielt für die Staatsaufgabendiskussion keine Rolle mehr. Nach dem Π. Weltkrieg ist die öffentl. Verwaltung in den meisten - » Bundesländern dadurch endgültig „entpolizeilicht" worden, daß alle speziellen Aufgaben der Gefahrenabwehr besonderen, fachlich kompetenten Verwaltungsbehörden (Ordnungsbehörden u.ä.) übertragen wurden. Aus der Baupolizei wurde die Bauaufsicht (—> Baurecht), aus der Gewerbepolizei die -> Gewerbeaufsicht usw., und an die
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Polizei Stelle der An- und Abmeldung bei der P. trat die Meldepflicht bei den „zivilen" Einwohnermeldeämtern. Der materielle P.begriff wurde durch diese Zuständigkeitsverlagerung vom formellen P.begriff abgelöst und hat nunmehr nur noch recht-stechn. Bedeutung. Der P. im formellen Sinne, also den im Vollzugsdienst tätigen Beschäftigten ist nur noch ein Teil der früher polizeilichen Aufgaben geblieben, insbes. diejenige, immer dann einzuschreiten, wenn entweder die Mittel der Fachbehörden und der Gerichte nicht ausreichen oder deren Maßnahmen zu spät kämen. Polizeiliches Handeln greift in aller Regel in Rechte der Individuen ein. Dies ist nur zulässig, wenn eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage dafür vorhanden ist (Vorbehalt des Gesetzes). Diese findet sich in den P.gesetzen der Länder und des Bundes (andere Bezeichnungen: Gesetz zum Schutz der öffentl. Sicherheit und Ordnung, Ordnungsbehördengesetz, Polizeiaufgabengesetz). Diese Gesetze regeln einerseits die Aufgaben, andererseits die Befugnisse der P.; in ,der „polizeilichen Generalklausel", wie sie insbes. im preuß. P.Verwaltungsgesetz von 1931 formuliert war, fielen Aufgabenzuweisung und Befugnisnorm noch zusammen; heute wird ihre Trennung für erforderlich gehalten, weil sonst keine hinreichende Klarheit über Umfang und Intensität der Befugnisse zu erzielen wäre. Den Kem der Aufgabennormen bildet die Pflicht der P., die „öffentl. Sicherheit" zu schützen; hierunter wird die Sicherheit der privaten wie öffentl. Rechtsgüter verstanden, also in einem umfassenden Sinn die Unverletztheit der Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des einzelnen, aber auch der Bestand und die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner —• Organe (-> Innere Sicherheit). Das Schutzgut „öffentl. Ordnung" soll dem Schutz ungeschriebener sozialer Normen dienen, deren Befolgung als „unentbehrliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens" angese-
Polizei hen wird. Doch fällt es angesichts einer immer intensiveren rechtl. Regelung schwer, noch Beispiele filr soziale Normen zu finden, die auf diese Weise geschützt werden müssen - überdies ist staatl. Schutz in diesem Bereich u.U. verfassungsrechtl. fragwürdig. Einige Länder haben den Begriff der öffentl. Ordnung inzwischen aus ihren P.gesetzen gestrichen. Beim Schutz privater Rechte wird die P. nur subsidiär tätig (—» Subsidiarität); vorrangig ist gerichtlicher —>• Rechtsschutz zu suchen. Im übrigen ist die P. zur Vollzugshilfe für andere Behörden zuständig und führt sonstige Aufgaben aus, die ihr gesetzlich übertragen sind, insbes. Verkehrsregelung und Strafverfolgung. In den beiden letztgenannten Bereichen bildet —y Bundesrecht die Rechtsgrundlage. In der -> Bundesrepublik Deutschland ist die P. im wesentlichen Sache der —> Länder: Die P.beamten sind überwiegend solche der Länder (ca. 200.000); eine P. des Bundes besteht in Gestalt des —> Bundesgrenzschutzes (24.000 Beamte), zu dem seit 1992 auch die Bahnpolizei gehört, und des —> Bundeskriminalamtes, das jedoch nur in Teilbereichen polizeiliche Befugnisse hat (4.000 Beamte). Die uniformierte Schutzpolizei ist überwiegend im Einzeldienst tätig; die in Verbänden organisierte Bereitschaftspolizei der Länder bildet eine Einsatzreserve für Großaktionen, z.B. bei unfriedlichen Demonstrationen. Die Kriminalpolizei (ca. 30.000 Beamte) ist die Spezialbehörde zur Aufklärung und Bekämpfung von Straftaten und -» Ordnungswidrigkeiten; sie arbeitet auf der Grundlage der Strafprozeßordnung (-> Strafprozeßrecht) im wesentlichen unter der Aufsicht der —> Staatsanwaltschaften. Die P. ist in der Vergangenheit immer wieder von den jeweils Herrschenden als Instrument zur Machterhaltung eingesetzt worden. Wie in jedem Sicherheitsapparat gibt es auch in der P. autoritäre Tendenzen und überzogene Sorge um die Erhaltung von „law und order". Dem stehen
Popularklage aber jetzt auch starke Kräfte gegenüber, die -sich als „Bürgerpolizei" oder „kritische Polizisten" verstehen und die - unterstützt von den Gewerkschaften - ihre eigenen Rechte als -> Staatsbürger selbstbewußt wahrnehmen. Lit: Ch. Gusy: Polizeirecht, Tübingen 31996; H. Lisken / E. Denninger (Hg.): Handbuch des Polizeirechts, München 21996; H. Maier: Die ältere dt. Staats- und Verwaltungslehre, München 2 1980. Hans Peter Bull
Polizeiverordnungen (ordnungsbehördliche —> Verordnungen) sind —> Rechtsverordnungen der —> Polizei (Ordnungsbehörden) nach Maßgabe des Polizei- und Ordnungsrechts der -» Bundesländer. Popularklage ist eine Klage, die von jedermann erhoben werden kann, ohne daß dabei eine eigene Betroffenheit oder konkrete Sachbefugnis geltend gemacht werden muß. Die P. ist dem dt. Rechtssystem grds. fremd, da dieses System am Interesse des —> Rechtsschutzes des einzelnen orientiert ist, das bei der P. prinzipiell nicht gegeben ist. Ferner ließe eine breitere Ermöglichung dieser Klageart eine Zunahme der heute ohnehin gegebenen Überlastung der —> Gerichte befürchten. Allerdings gibt es vereinzelte Ausnahmen. So ist etwa die Nichtigkeitsklage nach § 81 PatG (i.V.m. § 22 PatG) als P. ausgestaltet. Die bekannteste Ausnahme stellt die P. nach Art. 98 S. 4 BayVerf. dar. I.V.m. Art. 65 Bay Verf. Art. 2 Nr. 7 und Art. 55 BayVerfGHG hat der BayVerfGH danach „Gesetze und Verordnungen für nichtig zu erklären, die ein -> Grundrecht verfassungswidrig einschränken", wobei jedermann - natürliche wie -> juristische Personen des privaten und des -> öffentlichen Rechts sowie —> Parteien - antragsberechtigt ist. Damit hat jeder die Befugnis, als Wächter der Verfassungsordnung aufzutreten. Als eine Variante der P. wird die Verbandsklage diskutiert, die —> Vereinen oder —> Verbänden ermöglicht, in verwaltungsge-
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Portugal
Postreform
richtlichen Verfahren Rechte insbes. der Allgemeinheit geltend zu machen. Namentlich im Bereich des —> Umweltrechtes wird bisweilen gefordert, Naturschutzund ähnlichen Verbänden die Möglichkeit der Verbandsklage zu eröffnen. Bis auf Ausnahmen gibt es auch die Verbandsklage im dt. Recht nicht. M. He.
Portugal, port. Parlament Nach dem Sturz des autoritären Salazar-Regimes durch die sog. Nelkenrevolution 1974 entstand mit der Verfassung vom April 1976 eine Republik auf demokrat.-parlament. Grundlage. Allerdings wurde das Parlament erst 1982 zum tatsächlichen Zentrum der polit. Entscheidungsfindung; mit der damaligen Verfassungsänderung vollzog sich der Wandel von einer semipräsidentiellen zu einer parlament. —> Demokratie. Seit dem 1.1.1986 ist P. Mitglied der —> Europäischen Gemeinschaft. Die 250 —> Abgeordneten des als -» Einkammersystem gebildeten Parlaments, der Versammlung der -> Republik (Assembléia da República), werden nach dem —» Verhältniswahlrecht alle 4 Jahre direkt vom Volk gewählt. Das aktive -> Wahlrecht besitzen alle Bürger ab dem vollendeten 18. Lj., das passive ab dem vollendeten 19. Lj.; es besteht -> Wahlpflicht. Parlament und Regierung üben die -» Legislative aus. Generell besitzt das Parlament die Gesetzgebungskompetenz, in bestimmten Fällen liegt diese jedoch bei der Regierung. Der alle 5 Jahre direkt vom Volk gewählte Präsident besitzt ein suspensives —> Vetorecht, das aber mit absoluter Mehrheit vom Parlament überstimmt werden kann. Auf Vorschlag von Parlament oder Regierung kann der Präsident zu bestimmten Fragen einen —• Volksentscheid initiieren. Der Präsident ernennt den —> Ministerpräsidenten und auf dessen Vorschlag die —> Minister. Das Regierungsprogramm bedarf der Zustimmung des Parlaments. Bei Ablehnung muß die Regierung zurücktreten, bei dreimaliger Ablehnung kann das Parla-
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ment aufgelöst werden. Änderungen der Verfassung bedürfen einer Zweidrittelmehrheit der Versammlung. Dem Parlament steht ein gegen die Regierung gerichtetes Mißtrauensvotum zu, doch bedarf es zu deren Sturz einer absoluten Mehrheit. Es besteht Inkompatibilität zwischen Ministeramt und Abgeordnetenmandat. Das Gesetzesinitiativrecht der einzelnen Abgeordneten ist beschränkt. Da eine äußerst strenge Fraktionsdisziplin herrscht, kommt den —> Fraktionen und den Parteien eine herausragende Bedeutung im Parlament zu. Wichtigste Fraktionen sind die linksdemokrat. Sozialisten (PS) und die als konservativ-liberal geltenden Sozialdemokraten (PSD), die in den vergangenen Jahren auch im Wechsel die Regierung stellten. Lit.: W. Ismayr (Hg.): Die polit Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 589AF.; Ralf Sänger: Portugals langer Weg nach „Europa", Frankfiirt/M. 1994. Karen
Radtke
Positives Recht —> Recht Post -» Postreform Post- und Fernmeldegeheimnis —> Briefgeheimnis, Post- und Fernmeldegeheimnis Postbank -> Postreform Postdienst
Postreform
Postgesetz -» Postreform Postreform Das Post- und Femmeldewesen war seit seiner Entstehung in Dtld. organisatorisch ein Teil der öffentl. -» Verwaltung und wurde als Aufgabe vom -> Staat wahrgenommen. Dieser von der techn. Entwicklung bestimmte Politikbereich gehörte zur ausschließlichen Zuständigkeit des Zentralstaates (Reich bzw. Bund) und war in einem Fachministerium unter Leitung eines Ressortministers zusammengefaßt. Die rasante technologische
Postreform Entwicklung besonders auf dem Gebiet der Mikroelektronik und die wachsende weltwirtschaftl. Interdependenz (-> Globalisierung) erzwangen auch in der BRD in den 80er Jahren grundlegende Reformen in diesem Bereich. In 3 Reformschritten (1989; 1993/94 und 1997/98) wurde, nach Maßgabe gemeinschaftlicher Deregulierungsvorgaben der EG/EU, die Dt. Bundespost (DBP) organisatorisch vollständig umstrukturiert, wobei sich die konservativ-liberale -> Bundesregierung unter —> Bundeskanzler Helmut Kohl an den wirtschaftspolit. Zielvorstellungen der Privatisierung und —> Deregulierung im öffentl. Sektor orientierte. Erste Reformstufe (P. 1): Diese sah v.a. die Trennung der polit.-hoheitlichen Funktionen in der Telekommunikation (TK) und im Postwesen von den betrieblich-unternehmerischen Aufgaben vor. Die Hoheitsfunktionen blieben beim - » Bundesministerium für Post und Telekommunikation (BMPT), so u.a. die Schaffung eines Regulierungsrahmens für den Postund TK-Sektor sowie die Wahrnehmung der Rechte und Pflichten des Eigentümers -» Bund an den neugeschaffenen Unternehmen. Die DBP als Betriebsverwaltung wurde aus dem unmittelbaren Regierungsbereich herausgelöst und die betrieblich-unternehmerischen Aufgaben auf 3 neue öffentl. Unternehmen, nämlich DBP Telekom, DBP Postdienst und DBP Postbank übertragen. Durch die Herauslösung aus dem Regierungsbereich wurde die Unabhängigkeit der Unternehmensleitungen gestärkt. Da die verfassungsrechtl. Bestimmungen nicht geändert und die 3 Unternehmen weiterhin in der Rechtsform bundeseigener Verwaltung geführt wurden, mußte der Reformprozeß fortgesetzt werden. Zweite Reformstufe (Ρ. Π): Dabei wurde das Ziel verfolgt, angesichts der sich verstärkenden Intemationalisierung im TK- und Postsektor und des zunehmenden Konkurrenzdrucks die Wettbewerbsfähigkeit der Nachfolgeunternehmen der DBP durch Privatisierung national und interna-
Postreform tional zu stärken. Folglich wurden die 3 öffentl. Unternehmen in die private Rechtsform der AG gem. Art. 143b GG umgewandelt. Es entstanden die Telekom AG, die Dt. Post AG und die Postbank AG als selbständige Unternehmen. Zugleich wurde die bisherige —> Staatsaufgabe „Post und Fernmeldewesen" als privatwirtschaftl. Sektor konstituiert. Hierfür waren —> Verfassungsänderungen erforderlich. In Art. 87 GG wurde die Bestimmung über die Bundesverwaltung DBP gestrichen; im Gegenzug wurde in dem neuen Art. 87f GG verfassungsrechtl. fixiert, daß die Dienstleistungen im Postund TK-Sektor in Zukunft als privatwirtschaftl. Tätigkeiten durch die Nachfolgeunternehmen der DBP, d.h. die 3 o.g. AGen, und durch andere private Wettbewerber angeboten werden. Durch staatl. Maßnahmen soll gewährleistet werden, daß die Dienstleistungen im Post- und TK-Sektor flächendeckend, angemessen und ausreichend erbracht werden. In Art. 143b GG wurden weitere Festlegungen getroffen (Umwandlung des Sondervermögens DBP in Unternehmen privater Rechtsform; Dauer der Eigentümerposition des Bundes als Inhaber der Kapitalmehrheit an den 3 AGen). Dritte Reformstufe (Ρ. ΙΠ): Im Mittelpunkt dieser Phase des Reformprozesses stand das Telekommunikationsgesetz (TKG —> Telekommunikationsrecht). Mit der Entschließung des -> Europäischen Rates vom 22.7.1993 zur Liberalisierung des Sprachtelefondienstes zum 1.1.1998 und der Entschließung des Rates vom 22.12. 1994 zur Liberalisierung der Netzinfrastruktur hatte die -> EU wesentliche Grundentscheidungen zur Öffnung des Marktes im TK-Sektor getroffen. Diese Vorgaben der EU zur Liberalisierung der TK-Märkte in der Gemeinschaft mußten in innerstaatl. Recht umgesetzt werden. Mit dem TKG wurde ein regulatorischer Ordnungsrahmen für den TK-Sektor geschaffen. Die gesetzgeberischen Maßnahmen zur Herstellung von Wettbewerb auf dem dt. TK-Markt gehen von der An-
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Postreform nähme aus, daß der Markt für TKDienstleistungen auch nach dem Wegfall der Monopole noch für längere Zeit von dem bisherigen Inhaber der Monopole, der Telekom AG, bestimmt sein wird. Potentielle neue Wettbewerber hätten ohne besondere regulatorische Vorkehrungen des Staates keine Chance gegenüber der Telekom AG als dominantem Anbieter. Ziel des TKG ist es daher, die staatl. Rahmenbedingungen auf dem TKMarkt so zu gestalten, daß ein chancengleicher Wettbewerb durch die neu hinzukommenden Anbieter ermöglicht wird. Die regulierenden Eingriffe in das Marktverhalten des beherrschenden Unternehmens werden insofern als sektorspezifische Regelungen zur Ergänzung des allgemeinen Wettbewerbsrechts verstanden. Im TKG werden folgende Regulierungsinstrumente statuiert: Lizenzpflicht für Anbieter von TK-Dienstleistungen; Verpflichtung zur Bereitstellung von Universaldiensten; Genehmigung von Entgelten; Anordnung von offenen Netzzugängen; Zusammenschaltungspflichten. Darüber hinaus wird nach dem TKG eine besondere Regulierungsbehörde für TK und Post als Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des —> Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi und BMF übernahmen die verbleibenden Aufgaben des BMPT, das zum Jahresende 1997 aufgelöst wurde) errichtet, welche die Regulierungsaufgaben aus dem TKG und anderen Gesetzen (z.B. Postgesetz) wahrnehmen soll. Ziel des sehr eng gefaßten regulatorischen Ordnungsrahmens ist es, durch die Einführung von Wettbewerb auf dem TKMarkt ein preiswertes, leistungsfähiges und modernes Angebot an TK-Dienstleistungen zum Nutzen von Verbrauchern und Wirtschaft sicherzustellen. Hierin wird eine entscheidende Voraussetzung dafür gesehen, daß das gewaltige innovatorische und wirtschaftl. Potential der TK als Grundlage für die zukünftige Entwicklung der Informationsgesellschaft und für die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Dtld. vollstän-
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Postreform dig erschlossen werden kann. Für das Postwesen ist die dritte Reformstufe Ende 1997 ebenfalls abgeschlossen worden. Das Postgesetz, durch das der Postmarkt für den nationalen und internationalen Wettbewerb geöffnet werden soll, konnte erst nach langwieriger Parlament. Beratung verabschiedet werden. Da es auf EU-Ebene Liberalisierungsmaßnahmen im Post-Bereich mit entsprechenden Vorgaben seit dem 1.12.1997 in einer -» EG-Richtlinie gibt, war die Befristung und Ausgestaltung des Beförderungsmonopols der Post für Briefe zwischen der Regierungsmehrheit und der —> Opposition umstritten. Die Positionen der Kontrahenten in der Auseinandersetzung um das Postgesetz waren äußerst kontrovers. Die Regierungsparteien —> FDP und —> CDU/-» CSU wollten den reservierten Bereich (Exklusivlizenz) der Post AG (Gelbe Post) zeitlich und sachlich beschränken. Danach hätte die Gelbe Post nur bis Ende 2002 eine Exklusivlizenz für die Beförderung von Briefen bis maximal 100 Gramm Gewicht behalten. Damit wäre zwar der Hauptteil des Briefgeschäfts (8,3 Mrd. DM Umsatz) vorerst im Monopol der Post AG geblieben. Der Markt für Massendrucksachen (Infopost) wäre jedoch, als Zukunftsmarkt von besonderer Bedeutung, für den Wettbewerb geöffnet worden. Die -> SPD und die SPD-regierten Länder, die im —> Bundesrat die Mehrheit stellten, befürchteten freilich, daß ein solch eng bemessener reservierter Bereich nicht ausreichen würde, um die derzeit der Gelben Post entstehenden Verluste aus dem Universaldienst und die Pensionslasten aus der Privatisierung des Unternehmens finanzieren zu können. Deshalb hielt es die SPD für erforderlich, in den reservierten Bereich auch die Beförderung von Infopost (adressierte Massensendungen) bis 100 Gramm Gewicht hinzuzunehmen, und die Grenze bei der Briefpost auf 100 Gramm Gewicht festzulegen. Zudem lehnten die Sozialdemokraten und ihre Ländermehrheit die Befristung der Exklu-
Postreform sivlizenz ab, da gegenwärtig nicht abzusehen sei, wie lange und in welchem Umfang eine Exklusivlizenz zur Sicherung des Universaldienstes und zur Finanzierung der besonderen Lasten für die Post AG erforderlich sei. Vielmehr sollten fïlr einen bestimmten Zeitraum jährlich regelmäßig entsprechende Überprüfungen vorgenommen werden. Hauptstreitpunkt in der letzten Phase der Auseinandersetzung war jedoch die Forderung der SPD, im Postgesetz den künftigen Konkurrenten der Gelben Post verbindlich vorzuschreiben, daß sie - durch Auflagen bei der Lizenzverteilung - überwiegend voll sozialversicherungspflichtige Mitarbeiter beschäftigen müßten. Durch diese Regelung sollte ausgeschlossen werden, daß die neuen Marktteilnehmer aus Gründen der Kostensenkung allein auf der Basis von 610- bzw. 520-Mark-Jobs arbeiteten. Die Dt. Postgewerkschaft befürchtete nämlich, daß beim großflächigen Einsatz solcher nicht sozialversicherter Beschäftigter (sog. Tumschuhbrigaden) der Wettbewerb zu Lasten der Post AG verzerrt würde und bis zu 30.000 Mitarbeiter der Gelben Post ihren Arbeitsplatz verlieren könnten. Der im -> Vermittlungsausschuß in buchstäblich allerletzter Minute ausgehandelte und von -> Bundestag und Bundesrat mit Mehrheit angenommene Kompromiß zum Postgesetz sieht folgende Regelungen am dem 1.1.1998 vor: Für Briefe bis 200 Gramm und Massendrucksachen (Infopost) bis 50 Gramm soll die Post AG noch 5 Jahre lang das Monopol behalten. Eine Lizenz zur Beförderung von Postsendungen soll nur an solche mit der Gelben Post konkurrierenden Unternehmen vergeben werden, welche die üblichen Arbeitsbedingungen garantieren. Damit sichert das neue Postgesetz die Postversorgung und soziale Mindeststandards bei der Beschäftigung von Arbeitnehmern. Ut: Entwurf eines Postgesetzes (PostG), BTDrucks. 13/7774 v. 30.5.1997; BR-Dmcks. 147/ 97; Entwurf eines Telekommunikationsgesetzes (TKG) BT-Drucks. 13/4438 v. 23.4.1996; Ent-
Potsdamer Abkommen wurf für ein Begleitgesetz zum Telekommunikationsgesetz (BegleitG), BT-Drucks. 13/8016 v. 23.6.1997; L. Grämlich: Ende gut, alles gut? Anmerkungen zum neuen Postgesetz, in: NJW 1998, S. 866ff. ; H. Klan: Postreform II, in: Jahrbuch Telekommunikation und Gesellschaft, Heidelberg 1995, S. 335ff.; K.-D. Scheurler u.a. (Hg.):Telekommunikationsrecht, München 1997.
Hartmut Klatt Potsdamer Abkommen Unterzeichnet am 2.8.1945 durch die Regierungschefs der USA, der UdSSR und Großbritanniens. Wichtigste Vereinbarungen: Vorbereitung von Friedensverträgen mit Italien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland durch den Rat der Außenminister (der Unterzeichnerstaaten, Frankreichs und Chinas). Anschließend Friedensvertrag mit Dtld., der von einer dann einzusetzenden dt. Regierung angenommen werden muß. Für die Übergangszeit 5 dt. Zentralverwaltungen unter der Leitung des —> Alliierten Kontrollrats, in dem die Oberbefehlshaber der 4 Besatzungszonen die höchste Regierungsgewalt in Dtld. ausüben. Behandlung des Landes als wirtschaftl. Einheit. Vollständige Entmilitarisierung, Verbot aller nazistischen Organisationen (—» Nationalsozialismus), Entfernung aller aktiven NSDAP-Mitglieder aus ihren Ämtern, Bestrafung der Kriegsverbrecher. Umgestaltung des polit. Lebens auf demokrat. Grundlage, Zulassung polit. -> Parteien und —> Gewerkschaften, Freiheit der Rede, der Presse und der Religion. Dezentralisierung der staatl. Struktur, sobald wie möglich Wahlen zu —> Volksvertretungen auf Kommunal-, Kreis- und Landesebene, Vernichtung des dt. Kriegspotentials und der Konzentration der Wirtschaftskraft. Entscheidung über die polnische Westgrenze erst auf einer Friedenskonferenz, jedoch Zustimmung zur Verwaltung des Gebiets östlich von Oder/Neiße durch Polen, ebenfalls zur Überführung der dt. Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn. Wesentliche Bestimmungen des PA waren 717
Pouvoir Constituant
Pouvoir Constitués
schon bald überholt. Frankreich widersetzte sich der Einsetzung von dt. Zentralverwaltungen, der Ost-West-Konflikt verhinderte den Abschluß eines Friedensvertrags. Trotzdem hatte es für die dt. Nachkriegspolitik große Bedeutung. Es widerlegte die Behauptung, daß Dtld. 1945 von den Siegermächten geteilt worden sei und bildete eine der Grundlagen für die Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten für Dtld. als Ganzes und -> Berlin, die erst mit der Wiedervereinigung Dtld.s im Jahre 1990 erloschen. Unter Berufung auf das PA hat die -> Bundesrepublik Deutschland bis zur -> Deutschen Einheit die Oder-Neiße-Grenze nicht als endgültig anerkannt. Lit.: F. Faust: Das Potsdamer Abkommen, Frankfurt/M "1969.
Otto Wenzel Pouvoir Constituant Der p.c. ist das zur Erzeugung einer rechtl. Grundordnung begabte Subjekt, das im Wege der Verfassunggebung einen —> Staat zum —> Verfassungsstaat formt. Als verfassende Gewalt unterscheidet sich der p.c. fundamental von den Organen, die er mit der Konstitution hervorbringt (—> pouvoir constitués). Diese Geschöpfe entläßt er in die Herrschaft des —> Rechts, während seine Schöpfungsleistung ein polit. Vorgang ist. Eine legitime —> Verfassung erwächst aus kluger Politik. Nach dem demokrat. Axiom gehört die Ursprungsgewalt dem Volk. Abbé E.J. Siéyès (17481836) gilt als bedeutender Theoretiker der verfassunggebenden Gewalt des -> Volkes (—> Volkssouveränität). Auf diese beruft sich auch das —> Grundgesetz in seiner - » Präambel. In Wirklichkeit gründet das - noch handlungsunfähige - Volk nicht durch einmaligen Stiftungsakt in der Vergangenheit, sondern - handlungsfähig geworden - durch gegenwärtige und fortdauernde Annahme der grundlegenden Verfassungsentscheidungen. Aus kluger Politik des Volkes im tagtäglichen Verfassungsplebiszit wächst einer legitimen Grundordnung immer neue —> Legitimität
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zu. Im Wirken des p.c. wird sichtbar, daß auch der auf umfassende Rechtsbindung angelegte Verfassungsstaat der Grundlegung im Politischen bedarf. Am Anfang entscheidet eine Gründungselite polit. (Verfassunggebende Nationalversammlung, —> Parlamentarischer Rat). Sie führt das Volk in eine Verfassung, die weniger im Verfahren ihrer Beurkundung, aber um so mehr nach Inkrafttreten und solange sie in Geltung steht, auf —• Legitimation durch (formlose, konkludente) Annahme und Zustimmung der -> Staatsbürger angewiesen ist. Während das Gründungsorgan verschwindet, bleibt es auf Dauer Sache des Volkes, die verfaßten Organe und die Verfassung insg. zu tragen oder revolutionär - abzulösen. Auch das ist letztlich eine polit. Leistung und Anstrengung, idealiter aus staatsbürgerl. Ethos. Lit: J. Isensee: Das Volk als Grund der Verfassung, Opladen 1995.
Ulrich Hufeid Pouvoir Constitués Der Begriff bezeichnet die konstituierten, d.h. im Wege der Verfassunggebung gegründeten und fortan verfassungsrechtl. gebundenen, verfaßten -> Staatsgewalten. Er ist ein Komplementärbegriff: Während -» pouvoir constituant auf den polit. (Ur-)Grund der Verfassungsstaatlichkeit verweist, kommt im Begriff der p.c. sein Konzept der umfassenden Verrechtlichung zum Ausdruck. Der —> Verfassungsstaat kennt keine legale Staatsgewalt außerhalb seiner Grundordnung, —> Legislative, —> Exekutive und —> Judikative sind p.c.; indem das —> Grundgesetz die Voraussetzungen und Grenzen seiner eigenen Änderung festlegt, erstreckt es das Prinzip der Verfaßtheit auf die Legislative auch in ihrer Funktion der Verfassungsgesetzgebung (—> Verfassungsänderung). Die Gebundenheit der p.c. an das Verfassungsgesetz bewirkt nicht allein Limitation staatl. -> Herrschaft, sondern verbürgt auch —> Legitimation. —> Legalität vermittelt —> Legitimität. U. Hu.
Präambel Präambel P.n sind feierlich formulierte Vorsprüche wichtiger Rechtsvorschriften (insbes. Verfassungen) und (insbes. völkerrechtl.) Verträge. Sie geben zumeist Aufschluß über die histor. Bedingungen und Ziele filr die nachfolgenden rechtl. Regelungen. Die P. des -> Grundgesetzes zeichnet zunächst die histor. Bedingungen und die Motivation fiir die Verfassungsgebung nach. Die am 3.10.1990 durch Ausdehnung des GG auf die Länder der —> DDR hergestellte -» Deutsche Einheit schlug sich daher in einer Änderung der P. durch Art. 4 Nr. 1 des -> Einigungsvertrages nieder: Die in der Ursprungsfassung von 1949 enthaltene Aufforderung an das gesamte dt. Volk zur Vollendung der Einheit und Freiheit Dtld.s (Wiedervereinigungsgebot) wurde ersetzt durch die Feststellung, die Deutschen hätten die Einheit und Freiheit Dtld.s vollendet; ein neuer Schlußsatz, damit gelte dieses GG für das gesamte dt. Volk, stellt neben der Anwendbarkeit des GG in den alten und neuen Ländern klar, daß eine weitere Ausdehnung der durch das GG konstituierten Staatsgewalt auf weitere Gebiete - etwa Dtld. in den Grenzen von 1937 - nicht angestrebt wird; der frühere Hinweis auf die nur übergangsweise Geltung des GG wurde gestrichen. Unverändert blieben die Anrufung Gottes —> sowie die Leitbilder des vereinten Europa und des Friedens in der Welt. Als Bestandteil der -> Rechtsnorm GG hat die P. neben der polit, auch rechtl. Bedeutung. Schwierig und umstritten ist dies für die Anrufung Gottes, der neben der weltanschaulichen „ A b s a g e an promethischen Größenwahn" rechtl. allenfalls das Verbot einer absoluten —> Staatsgewalt und das Verbot des Atheismus als Staatsreligion - u.a. bereits in Art. 1 und 4 enthalten - zu entnehmen sein dürften. Das Wiedervereinigungsgebot der Ursprungsfassung sowie die Gebote der —> europäischen Integration und des —» Friedens sind Staatszielbestimmungen, die
Präsidentielles Regierungssystem dem Staat ein verbindliches Ziel vorgeben, ihm in bezug auf den einzuschlagenden Weg aber einen weiten Gestaltungsspielraum lassen. Die ihnen zu entnehmende hohe Wertigkeit der geschützten Güter ist zugleich bei der Auslegung anderer Verfassungsbestimmungen und sonstiger Rechtsnormen zu berücksichtigen. Lit: BVerfGE 36, 1 (Grundvertragsurteil); BVer/GE 77, 137 (Teso-Beschluß); IV. Geiger: Präambel des GG, in: EuGRZ 1986, S. 121ff; P. Häberle: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: J. Listi / H. Schambeck (Hg.), FS J. Broermann, Berlin 1982, S. 21 Iff.; Nicolai Miiller-Bromley
Prärogative (lat. = Vorwahl / Vorrecht) ist die Bezeichnung für exklusive Vorrechte und die Machtbefugnisse des Monarchen, die Kompetenzen des —> Parlaments zu beschränken oder dieses aufzulösen; weiterhin zählen dazu das souveräne -> Vetorecht im Gesetzgebungsprozeß und das Ernennungsrecht der Mitglieder der ersten Kammer (—> Zweikammersystem). Zur P. gehört auch das Recht, den Belagerungszustand zu erklären, Notverordnungen zu erlassen und bei NichtZustandekommen des Haushaltsgesetzes ohne dieses zu regieren (-> s.a. Konstitutionalismus). In England bildeten die Auseinandersetzungen um den Umfang der Rechte der P. eine Hauptursache für die Verfassungskämpfe des 17. Jhd.s (—> Parlamentsgeschichte, brit.). Im demokrat. Verfassungsstaat bezeichnet P. die von Verfassung und Gesetz umgrenzten Exekutivbefugnisse des Staatsoberhaupts. Hg.
Präsident -> Verfassung der USA —> Verfassimg, französische -» Bundespräsident —> Bundestagspräsident Präsidentenanklage -> Impeachment Präsidentielles Regierungssystem Das PR (moderner: Politiksystem) stellt innerhalb der westlichen -> Demokratien eine durch besondere Muster und Techniken 719
Präsidentielles Regierungssystem der Willensbildung und Entscheidungsfindung ausgestaltete Regierungsform dar. Im Vergleich zum —> parlamentarischen Regierungssystem, dem vorherrschenden Typus innerhalb der westlichen Demokratien, wird das PR durch Merkmale, Politik- und Interaktionsmuster bestimmt, die sich deutlich von denjenigen in anderen Regierungssystemen unterscheiden. Das PR bezeichnet ein System, in dem die -> Institution des Präsidenten eine sich deutlich aus der Regierungsstruktur hervorhebende, alle anderen Merkmale überragende Funktion zugewiesen erhält. Dadurch wird, im Gegensatz zu anderen demokrat. polit. Systemen, die ebenfalls über die Einrichtung des Präsidenten als -> Staatsoberhaupt verfügen, eine deutliche Unterscheidung betont. Verfassungsrechtl. basiert die Bestimmung dieses Typus v.a. auf einer institutionell konstruierten Gewaltenteilung, wie sie exemplarisch in den USA in Gestalt der Institution des Präsidentenamtes sowie in Form des —> Kongresses (-> Repräsentantenhaus; —> Senat) zum Vorschein kommt. Für Parlament. Demokratien gilt demgegenüber eine Gewaltenverschränkung von -> Legislative und -> Exekutive. Allerdings zeigt die Entwicklung in den USA auch, daß im 19. Jhd. die Form des „congressional government" (Wodrow Wilson) dominant gewesen ist, während sich im 20. Jhd. diejenige des PR herausgebildet hat. Des weiteren ist für die Begriffsbildung von Bedeutung, welche Kreations- und Abberufungsfunktionen dem —> Parlament im Hinblick auf die Auswahl und Bestellung der Regierung zugewiesen werden. Beim parlement. Regierungssystem wird betont, daß das Parlament und seine entsprechenden Funktionen (Regierungsbildung) als entscheidendes Merkmal in Erscheinung treten, wird doch aus der Mitte des Parlamentes die Regierung gewählt, die sich wiederum auf die Mehrheit im Parlament stützen kann (z.B. Großbritannien, Dtld., Öst.). Bei der präsidentiellen Demokratie in den USA existieren zwar erhebliche
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Präsidentialles Regierungssystem und bedeutsame eigenständige Kontroll-, Interventions- und gesetzgeberische Initiativfunktionen des Kongresses. Es gibt jedoch, bis auf das Impeachment (Präsidentenanklage auf Amtsenthebung), keine Funktionen in Bezug auf die Abwahl des Präsidenten und der Regierung. Demgegenüber gibt es in parlament. Demokratien verschiedene Möglichkeiten, den Regierungschef, und damit die Regierung, auch vorzeitig abzuwählen. Besonders hervorzuheben ist das im dt. -> Grundgesetz normierte konstruktive -> Mißtrauensvotum. Auch in Bezug auf die Gesetzgebungsmöglichkeiten gibt es relevante Differenzierungen. Der Präsident ist in den USA nicht befugt, eigenständig Gesetze in den Kongreß einzubringen; das Gesetzgebungsrecht steht nur dem Kongreß zu. Dieser formelle Ausschluß spielt allerdings verfassungspolitisch keine Rolle, besteht doch jederzeit die Möglichkeit, über —> Abgeordnete oder Senatoren der eigenen Partei einen entsprechenden Gesetzesentwurf zu lancieren. Institutionell und praktisch-polit. existiert weiterhin zwischen beiden Regierungstypen eine bedeutsame Differenz im Hinblick auf die Stellung und die Funktion der polit. -» Parteien. In parlament. Systemen werden sie als der Motor der polit. Entwicklung usw. bezeichnet, innerhalb des Parlaments gibt es i.d.R. Fraktionsdisziplin. In den USA hingegen hat die präsidentielle Ausgestaltung zu relativ schwachen polit Parteien geführt, deren Organisationsstruktur und Funktionen zudem anders ausgeprägt sind als in parlament. Systemen. In den USA spielt das „logrolling" eine bedeutende Rolle, d.h. es werden quer durch die polit. Zusammengehörigkeit der Abgeordneten und Senatoren hinweg Abstimmungspakete geschnürt. Die Kompetenzen des Kongresses bzw. des Senates sind in gewichtigen Bereichen von erheblicher Bedeutung: Diese rücken das nach wie vor weit verbreitete Bild der „mächstigsten Person der Welt" in ein differenzierteres Licht. In Bezug auf die
Präsidentielles Regierungssystem Verabschiedung des Haushaltes kommen dem Kongreß gewichtige Mitspracherechte zu. Die Haushaltsumstrukturierung erfolgte im 20. Jhd. nicht mittels eines Amendments (Verfassungsänderung), sondern war einfachgesetzlicher Art. Die an den Kongreß gebundene Zustimmung des Haushalts kann insbes. bei einer anderen polit. Ausrichtung zwischen Präsident und der Mehrheit im Kongreß eine Rolle spielen und die Möglichkeit einer Blockadepolitik eröffnen. Eine solche Blockadepolitik war von den Grilndungsvätern der amerik. Verfassung so nicht beabsichtigt. Neben der Bedeutung des Kongresses insg. kommen im besonderen dem Senat, der Zweiten Kammer (—> Zweikammersystem), gewichtige Kontroll- und Mitspracherechte zu, die den Präsidenten in die komplizierten Entscheidungsprozesse einbinden. So kann der Präsident die Richter für den -> Supreme Court (Bundesverfassungsgericht) benennen, sein Vorschlag ist allerdings an die Zustimmung des Senats gebunden. Ähnlich bedeutende Rechte kommen dem Senat auch in der Außenpolitik zu. Alle Botschafter und Sonderbeauftragten bedürfen der Zustimmung durch den Senat. In der wissenschaftl. Diskussion hat es immer wieder eine Debatte über die verschiedenen Regierungstypen und ihre Klassifizierung gegeben. So wurde die -» Weimarer Republik (1919-1933) in der älteren Literatur oftmals als ein Präsidialsystem bezeichnet, wenngleich es sich dort um ein eindeutig, wenngleich durch stark ausgeprägte Machtfunktionen des Präsidenten qualifiziertes parlement. System gehandelt hat. Ebenfalls umstritten ist die Einordnung der V. Republik (ab 1958) in Frankreich gewesen (-> Verfassung, frz.). Besonders die ausgeprägte Persönlichkeit von Charles de Gaulle, seine an starken polit. Institutionen ausgerichtete Handschrift bei der Konzipierung der Verfassung, die contra legem eingeführte direkte Wahl des Staatspräsidenten 1962 und seine Politik haben zu dem Fehlschluß geführt, die V. Republik als
dentielles Regierungssystem Präsidialsystem zu qualifizieren. Neuere Einschätzungen, die v.a. auch durch die Praxis der —> Cohabitation - der frz. Form einer Art Großen —> Koalition - mitbestimmt werden, sprechen von einem parlament. -präsidentiellen Regierungssystem. Ebenfalls umstritten ist die Einordnung der Transformationsgesellschafen und des Prozesses von Institutionenbildung in Mittel- und Osteuropa in der Diskussion. Juan J. Linz hat die These vertreten, das sich gerade für diese Gesellschaften am besten ein parlement. Regierungssystem mit differenzierten polit. Parteien als Agenturen der Formung, Differenzierung und polit. Kulturbildung eignen würde. A. Lijphart argumentiert in eine ähnliche Richtung, betont allerdings die Notwendigkeit konsensdemokrat. Formen und Institutionen sowie eines Proportionalwahlrechts. Der auch von westlichen Vorbildern inspirierte Institutionentransfer verdeutlicht, daß Polen als parlament.präsidentielles, Rußland hingegen als präsidentiell-parlament. Regierungssystem eingeordnet werden kann (K. v. Beyme; W. Merkel). Schließlich könnte vermutet werden, daß die direkte Wahl des Staatspräsidenten ein maßgebliches Kriterium für die Bestimmung eines Regierungssystems ist. Der empirische Befund sieht allerdings gemischt aus und eignet sich von daher nicht zu Verallgemeinerungen. Eine direkte Wahl kannte die Weimarer Republik; femer heutige Regierungssysteme wie Österreich, —> Finnland, Frankreich und —> Irland. In den USA findet de facto, zwischengeschaltet nur über das Wahlmännergremium, eine Art direkter Wahl statt. Für die Transformationsgesellschaften in Mittel- und Osteuropa gilt dies für Polen, Rußland, die Ukraine, Litauen und Rumänien. Die direkte Wahl kann sowohl in parlament. Systemen (öst., Irland, Finnland) mit einem institutionell schwach ausgebildeten Staatspräsidenten, im parlament. präsidentiellen System (Frankreich) als auch in einem präsidentiellen System (USA) in westlichen Demokratien vor-
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Präsidialdemokratie
Präsidium
handen sein. Bezogen auf die mittel- und osteurop. Transformationsgesellschaften bietet es sich typologisch an, die Kategorie präsidentiell-parlament. für Rußland und die Ukraine zu verwenden. Bei Polen läßt sich eine Art Wandel hin von einem präsidentiell-parlament. zu einem Parlament.-präsidentiellen System beobachten. Lit: Κ. v. Beyme: Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt/M. 1994; W. Jäger/ W. Welz (Hg.): Regierungssystem der USA, München 1995; J.L. Lirtz/A. Valenzuela (Hg.): The Failure of Presidential Democracy, 2 Bde., Baltimore 1994; W. Merkel: Institutionalisierung und Konsolidierung von Demokratien in Ostmitteleuropa, in: deis. / E. Sandschneider / D. Segert (Hg.), Systemwechsel 2, Opladen 1996, S. 73ÉF.; M. G. Schmidt: Demokratietheorien, Opladen 1995; A. Waschkuhn: Polit. Systeme, in: A. Mohr (Hg.), Grundzüge der Politikwissenschaft, München 1995, S. 237ff.
Wolfgang Luthardt Präsidialdemokratie —> Demokratie —> Présidentielles Regierungssystem Präsidialkabinette - » Weimarer Republik Präsidium des Deutschen Bundestages Dem P. des Dt. Bundestages gehören der —> Bundestagspräsident und die (derzeit 4) Vizepräsidenten an, die mit den Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages für die Dauer der -> Wahlperiode gewählt werden. Waren von der 3. bis zur 9. Legislaturperiode (195783) neben dem traditionell jeweils von der stärksten —> Fraktion gestellten Präsidenten aufgrund interfraktioneller Absprachen alle Fraktionen mit mindestens einem Vizepräsidenten im P. vertreten (die zweitstärkste Fraktion seit 1961 mit zweien), lehnten die Koalitionsfraktionen -> CDU/CSU und FDP seither die Wahl eines Vizepräsidenten der neuen Fraktion Die Grünen ab. Auch beim (erneuten) Einzug von —> Bündnis 90/Die Grünen 1994 widersetzten sie sich einer Erhöhung der Zahl der Vizepräsidenten, unterstützten nun aber nach einer Abspra722
che die Wahl einer von Bündnis 90/Die Grünen gestellten Vizepräsidentin auf Kosten der SPD-Fraktion, die erstmals seit 1961 nun mehr mit einem Mitglied im P. vertreten ist. In der —> Geschäftsordnung wurde der Anspruch jeder Fraktion auf Mitgliedschaft im P. durch mindestens einen Vizepräsidenten festgelegt (§ 2 Abs. 1, S. 2 GOBT). Das P. wurde seit Beginn der 6. Wahlperiode (1969) schrittweise deutlich aufgewertet. Nach wie vor besitzt es rechtl. allerdings nur wenige Befugnisse. Seit 1969 muß der Präsident das Benehmen mit dem P. herstellen, wenn er -> Beamte des höheren Dienstes ernennt, einstellt oder in den Ruhestand versetzt: bei leitenden Beamten ab Ministerialrat bedarf er dessen Zustimmung (§ 7 Abs. 4 GOBT). Verträge von erheblicher Bedeutung schließt der Präsident im Benehmen mit seinen Stellvertretern ab. Seit 1972 ist das P. verpflichtet, über die Einhaltung der —> Verhaltensregeln bei Abgeordneten zu wachen (Ani. 1, § 8 GOBT), und zudem wurden ihm mit der gesetzlichen Neuregelung der —> Parteienfinanzierung 1984/89 neue Aufgaben zugewiesen (§ 23a —» Parteiengesetz). In der Parlamentspraxis befaßt sich das P. mit allen wichtigen Aufgaben und Fragen, die dem Präsidenten selbst oder dem amtierenden Präsidenten übertragen sind und entscheidet zwar nicht rechtl., häufig aber faktisch. Seine Aufwertung als kollegiales Beratungsorgan, das regelmäßig und etwa ebenso oft tagt wie der —> Ältestenrat, ergibt sich konsequent aus der abwechselnden Leitung der Plenarsitzungen durch die 5 P.smitglieder, die eine gleichgewichtige kollegiale Beratung aller damit zusammenhängenden Fragen nach sich zieht. Diese Übung hat damit zu tun, daß bei einem parteipolitisch (noch) ambitionierten, jedenfalls aber an eine —> Partei gebundenen Präsidenten eben doch eine gewisse „parteiliche Optik" vermutet wird. Allerdings werden die meisten der im P. angesprochenen Fragen noch einmal im Ältestenrat besprochen. Faktisch han-
Prävention
Prävention
delt der Präsident im P. seit 1969 zunehmend als primus inter pares. Vor allem aufgrund ihrer gemeinsamen Verantwortung für die Plenarsitzungen, aber auch bei Entscheidungen, die in den Zuständigkeitsbereich des Bundestagspräsidenten selbst fallen, sind die P.smitglieder meist an einvernehmlichen Voten dieses Gremiums interessiert. Trifft der Präsident eine Entscheidung in einer wichtigen Angelegenheit alleine, muß er ggf. mit entschiedener Kritik in der nächsten Sitzung des Ältestenrats und möglicherweise mit Unmutsäußerungen aus den Fraktionen rechnen; dies gilt zumal dann, wenn seine Entscheidungsbefugnis nicht unumstritten ist. Angesichts der Bedeutung des P.s als Koordinations- und Lenkungsorgan erscheint die Mitwirkung aller Fraktionen als selbstverständlich. Eine Folge des Ausschlusses der Grünen vor 1994 war eine relativ häufige kontroverse Befassung des Ältestenrats mit Fragen, die sich unter anderen Voraussetzungen im P. hätten abklären lassen. Durch die regelmäßigen P.ssitzungen sollen die Sitzungen des Ältestenrates entlastet werden. Bei entsprechender Vorberatung im P. können manche Erörterungen im Ältestenrat abgekürzt und gelegentlich auch kontroverse Punkte vorab geklärt werden. Bemerkenswert ist, daß sich auch „kollektive" Interessen der P.smitglieder bilden, die gelegentlich im Ältestenrat und gegenüber den —» Parlamentarischen Geschäftsführern gemeinsam vertreten werden. Lit: W. Ismayr: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992; Schneider/Zeh,
S. 795ff.
Wolfgang Ismayr Prävention bedeutet, daß die staatl. ausgeübte Gewalt durch Gesetz- und Normgebung bzw. durch ausführendes Verwaltungshandeln erkannte Probleme bereits vor ihrer Entstehung bzw. dem Eintreten eines Konfliktfalles löst bzw. sein Eintreten verhindert. Die typischen Felder des präventiven staatl. Handelns sind das Wirtschaftsverwaltungs- und das
—> Umweltrecht. Der P.sgedanke wurzelt im Prinzip der -» Vorsorge und steht im Gegensatz zu dem durchgängig im Strafund Ordnungsrecht verwirklichten Repressions- bzw. Sanktionsgedanken, d.h. der nachträglichen Bestrafung für Fehlverhalten. Das Hauptziel des auf P. gerichteten Verhaltens des Staates ist es, Gefahren und Schädigungen für die Allgemeinheit (Gesundheit, Vermögen etc.) bzw. die Umwelt zu verhindern, die durch die Betätigung der —> Freiheit des einzelnen verursacht werden können. Die bedeutendste Auswirkung des auf P. gerichteten Staatsverhaltens ist daher auch die Beschränkung der grundrechtl. eröffneten und gewährleisteten Freiheitssphären, insbes. der Eigentums-, der Berufsund der Handlungsfreiheit des einzelnen Bürgers. Das präventive Staatshandeln gehört systematisch zum öffentl., insbes. dem -> Verwaltungsrecht. Typische Maßnahmen sind die —> Planung, das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt und das repressive Verbot mit Befreiungsmöglichkeit. Die Planung erfolgt von der Ebene der gesamtstaatl. Raumordnimg, § § 4 und 5 ROG, hinab bis zur lokalen Bauleitplanung, § § 5 und 8 BauGB. Diese Planung hat zum Ziel, die Nutzung der vorhandenen, nicht' vermehrbaren Räume festzulegen und auszugleichen. Neben diese allgemeine Raumplanung tritt die spezielle Fachplanung, z.B. der Verkehrswegeplan, Luftreinhalte- oder Lärmminderungspläne, §§ 47 und 47a BImSchG. Zweck jeder Planung ist die Konfliktbewältigung. Sie muß also die sich aus den unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten und -absichten der Räume ergebenden Konflikte erkennen und planerisch durch entsprechende Festsetzungen bewältigen. So definiert die BauNVO bestimmte Gebietstypen, wie z.B. das allgemeine Wohngebiet, und bestimmt in Konkretisierung des Gebots der Konfliktbewältigung ftlr die gemeindliche Bauleitplanung verbindlich, welche Nutzungen in dem jeweiligen Gebiet zu- bzw. unzulässing
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Prävention sind. Als besondere Instrumente der Planung sind die —> Umweltverträglichkeitsprilfimg, das Raumordnungsverfahren und das —> Planfeststellungsverfahren zu nennen. Bei diesen 3 Verwaltungsverfahren geht es um die Überprüfung von Standorten und den konkreten Ausgleich von Interessen. Das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt verbietet ein Verhalten, auf das ein grundrechtl. Anspruch besteht, um durch eine vorherige Kontrolle festzustellen, ob das beabsichtigte Verhalten Konflikte mit anderen Rechten bzw. sogar deren Gefährdung oder Schädigung oder eine solche der Allgemeinheit verursacht. Beispiele sind die Baugenehmigung, die Gaststättenerlaubnis und die immissionsschutzrechtl. Erlaubnis, auf die wegen Art. 12 Abs. 1 bzw. 14 Abs. 1 GG grds. ein Anspruch besteht. In den gesetzlichen Vorschriften werden typische Risiken, die sich durch die beabsichtigte Betätigung aktualisieren können, formuliert. Entspricht das Vorhaben des Bürgers entweder von Anfang an oder nach der Erfüllung entsprechender Nebenbestimmungen diesen, hat der Vorhabenträger einen Anspruch auf die Genehmigung. Die zuständige -> Behörde hat bei Vorliegen der Genehmigungsvoraussetzungen kein wie auch immer geartetes Nützlichkeitsoder Gestaltungsermessen, um die Betätigung oder das Vorhaben trotzdem zu untersagen. Im Gegensatz zu dem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt verbietet das repressive Verbot mit Befreiungsmöglichkeit ein Vorhaben bzw. eine Tätigkeit grds., weil von ihr eine Gefährdung des —• Gemeinwohls oder der Rechte einzelner ausgeht. Als Beispiel ist v.a. das grundsätzliche Verbot der Benutzung von Gewässern zu nennen. Die Regelung des § 2 WHG rechtfertigt sich aus der Tatsache, daß Wasser ein wirtschaftl. knappes Gut und zur Versorgung aller mit Trinkwasser existentiell ist. Weitere Beispiele sind § 9 Abs. 1 BWaldG (Rodungsgenehmigung) und §§ 21 Abs. 1 i.V.m. 31 BNatSchG (Verbot
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Prävention des Handels mit bestimmten Tieren und Pflanzen). Eine Benutzung von Gewässern kann aber ausnahmsweise erlaubt werden, wenn die im Gesetz formulierten Schutzinteressen nicht gefährdet sind. Die Tatsache, daß die geplante Benutzung Interessen der Allgemeinheit nicht gefährdet, gibt dem Antragsteller im Unterschied zum präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt keinen Anspruch auf eine entsprechende Erlaubnis. Vielmehr ist in diesem Fall für die Behörde ein Ermessens- und Entscheidungsspielraum eröffnet. Gestattet sie die begehrte Benutzung, ist diese Genehmigung und nicht ein vorgängiges subjektives Recht des Antragstellers konstitutiv für die Rechtsbegründung des Bürgers. Die Risiken, die durch die P. verhindert werden sollen, können sich auch erst nach Aufnahme der Betätigung bzw. Ausführung des Vorhabens aktualisieren. Ein Gewerbetreibender wird unzuverlässig, ein Gebäude baufällig, oder eine Anlage überschreitet die zulässigen Grenzwerte. In diesem Fall muß die zuständige Behörde repressiv tätig werden und die erteilte Erlaubnis zurücknehmen bzw. bei erlaubnisfreien Tätigkeiten (§ 1 GewO) diese untersagen. Insoweit ist die repressive (verfolgende) Tätigkeit eine Ergänzung des Präventivgedankens, der nicht alle Risiken ausschließen kann. Außerdem führt auch die wirksame Verfolgung und Beseitigung der Verstöße zu einer Prävention, weil der Anreiz zur Nachahmung gesetzesverletzender Handlungen eingeschränkt wird. Schließlich sind noch repressive Verbote ohne Befreiungsmöglichkeit zu nennen. Hierbei handelt es sich um das Verbot derartig sozial-unwertiger Tätigkeiten, daß eine Erlaubnis grds. unter keinem Gesichtspunkt denkbar ist. In diesem Zusammenhang sind die straf- und ordnungsrechtl. Verbote zu nennen. Lit: Β. Bender/R. Sparwasser /R. Engel: Umweltrecht, Heidelberg *1995; H. Jarass: Bundesimmissionsschutzgesetz, München 31995; R. Schmidt: Einführung in das Umweltrecht, Mün-
Premierminister
Presse- und Informationsamt
chen "1995; Λ Wahl (Hg.): Prävention und Vorsorge, Bonn 1995.
Ulrich Hösch Premierminister —> Verfassung, britische Presse Die Verbreitung von Informationen und Meinungen durch die P., deren Freiheit in der -> Bundesrepublik Deutschland durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG (-> Meinungsfreiheit) geschützt ist, geht auf die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jhd. zurück. Die P. war das erste Massenmedium, das Informationen, Meinungen und Unterhaltung an eine grds. unbegrenzte Anzahl von Personen vermitteln konnte. Der Begriff der P. i.e.S. erfaßt periodische Druckschriften (z.B. Zeitungen, Zeitschriften) wie nicht-periodische Druckschriften (z.B. Bücher, Broschüren, Flugblätter). Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG und den Regelungen des —> Presserechts liegt aber i.d.R. ein weiter P.begriff zugrunde, der auch audiovisuelle Speichermedien wie Ton- und Videobänder erfaßt, die Informationen körperlich zur weiteren Verbreitung gegenüber einer unbestimmten Anzahl von Personen festhalten. Die infolge der Schulpflicht stark ansteigende Lesefähigkeit in der -» Gesellschaft und damit verbunden höhere Auflagenpotentiale sowie die verbesserte Technik waren wesentliche Ursachen für den Durchbruch von P.erzeugnissen als allgemein für die Bevölkerung zugänglichen —> Massenmedien. Die Werbung von Anzeigekunden bildet dabei seit dem 18. Jhd. noch vor dem Erlös aus dem Verkauf von P.produkten - die wesentliche Finanzierungsform der P.; durch die P. bekam der Einfluß der Massenmedien auf die —> öffentliche Meinung, auf die polit. -> Willensbildung, auf die Integration und das Selbstverständnis von Gruppen und der Gesamtgesellschaft wie auf die Verbreitung neuer, u.U. revolutionärer Ideen eine neue Qualität. Die P. konnte sich als Integrationsfaktor und Instrument zur Beeinflussung der -> Bürger und Unterta-
nen zwar einerseits auf die Förderung durch die Obrigkeit stützen, andererseits war sie vielfach auch Gegenstand von (Vor-) Zensur. Dies gilt insbes. für (tagesbzw. wochen-) aktuelle Zeitungen und Zeitschriften. Die Befreiung der P. von solchen staatl. Eingriffen stellte daher von Beginn an einen wesentlichen Bestandteil des Kampfes um die liberalen —» Grundrechte dar. Die Verbreitung von —• Rundfunk und —> Femsehen hat die Auflagenentwicklung der P. entgegen ursprünglichen Befürchtungen nicht wesentlich beeinflußt. Einer Verdrängung der P. durch neue audiovisuelle Medien stand bislang v.a. die relativ starke lokale und regionale Komponente der P.berichterstattung entgegen. Zudem hat die Auflage der P. durch zielgruppenorientierte Fachzeitschriften seit den 80er Jahren stark zugenommen. Diese Entwicklung hat indessen an monomedialen Konzentrationsprozessen im Bereich der P. wie multi-medialen Konzentrationserscheinungen mit für die Freiheit der Meinungsbildung kritischen Phänomenen wie cross-promotion nichts geändert. Lit: Bericht der Bundesregierung über die Lage der Medien in der BRD 1994, Bonn 1994; M. Löffler: Presserecht, München "1997.
Jörg Ukrow Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Für die Koordinierung der Informationspolitik im Bereich der —> Bundesregierung ist im Okt. 1949 das Presse- und Informationsamt der BReg. (Kurzform Bundespresseamt - BPA) errichtet worden. Der rechtl. Charakter des BPA ist weder durch eine spezielle Rechtsnorm noch durch einen formellen Erlaß festgelegt. Das -» Amt ist kein -> Bundesministerium, sondern eine oberste -» Bundesbehörde, die unmittelbar dem -» Bundeskanzler (BK) untersteht. Geleitet wird das BPA von einem —> Staatssekretär als „Chef des BPA" und „Sprecher der Bundesregierung" mit jeweils einem Stellvertreter für die Funk725
Presse- und Informationsamt tion des Behördenchefs und des Regierungssprechers. Obwohl der Amtschef keinen Kabinettsrang besitzt, nehmen er und sein Stellvertreter an den Sitzungen des Kabinetts teil. Die Aufgaben des BPA sind in einem Organisationserlaß des BK vom 18.1.1977 festgelegt. Zusätzliche Organisations· und Verfahrensbestimmungen sind in § 81ff. —> GGO I sowie im -> Bundeshaushaltsplan Einzelplan 04, Kapitel 0403 BPA, Vorbemerkung, enthalten. Danach ist das Amt als Zentrale der BReg. für den Verkehr mit der - » Presse und allen sonstigen Nachrichtenträgem zuständig, für die 1. Unterrichtung des -> Bundespräsidenten, der BReg. und der anderen Verfassungsorgane (z.B. des Bundestages) auf dem gesamten Nachrichtensektor über die weltweite Nachrichtenlage (interne Informationsfunktion); 2. Erforschung und Darstellung der —» öffentlichen Meinung durch demoskopische Umfragen (—> Demoskopie) als Entscheidungshilfe für die polit. Arbeit der BReg.; 3. Unterrichtung der —> Bürger und der -> Medien über die - » Politik der BReg. durch Darlegung und Erläuterung ihrer Vorhaben und Ziele (externe Informationsfunktion); 4. Vertretung der Politik der BReg. auf den Pressekonferenzen gegenüber den Organen der öffentl. Meinungsbildung; 5. Polit. Information des Auslands im Zusammenwirken mit dem —> Auswärtigen Amt; 6. Koordinierung der ressortübergreifenden Öffentlichkeitsarbeit (ÖA) zwischen BPA und Bundesministerien bei Maßnahmen von allgemeinpolit. Bedeutung (Koordinierungsfunktion); 7. Förderung des dt. Nachrichtenwesens im In- und Ausland (auch auf den Gebieten der Bildberichterstattung, Film, —> Rundfunk, - » Fernsehen). Die Organisationsstruktur des BPA ist wiederholt geändert und wechselnden personellen und / oder sachlichen Erfordernissen angepaßt worden. Derzeit ist das Amt in 5 Abt.en (Zentralabt., Kommunikation, Nachrichten, Inland, Ausland) gegliedert. Die Aufgaben des Amt726
Presse- und Informationsamt schefs und der Regierungssprecher werden in speziellen Büros erledigt. Abgesehen von besonderen Organisationseinheiten für die Nachrichtensammlung und Verarbeitung entsprechen Aufbau- und Ablauforganisation weitgehend der von Ministerien. Das BPA hat gegenüber den auf ihren Geschäftsbereich beschränkten —> Ressorts, die i.d.R. über ein Pressereferat und ein Referat für Öffentlichkeitsarbeit im Leitungsbereich verfügen, eine umfassende informationspolit. Zuständigkeit für die Politik der BReg.; im Rahmen der allgemeinen Einsparungsmaßnahmen des —> Bundes auf dem Personalsektor ist auch die Zahl der BPA-Mitarbeiter reduziert worden (1975: 765; 1997: 639 Planstellen und Stellen). Die Haushaltsmittel des BPA für die Öffentlichkeitsarbeit (ÖA) Inland waren Mitte der 70er Jahre stark erhöht worden (1976: 15,45Mio. DM); 1997 waren für die Allgemeine ÖA Inland 24,45Mio. DM angesetzt. Hinzu kommen allerdings noch Etatmittel für Sondermaßnahmen (z.B. in Titel 68505 1,5 Mio. DM mit der Zweckbestimmung allgemeiner informationspolit. Maßnahmen). Für die „Polit. ÖA Ausland" waren 1997 49,936Mio. DM ausgewiesen; auch hier sind unter anderen Titeln verbuchte Etatmittel hinzuzurechnen. Ein die Tradition des umstrittenen —• Reptilienfonds aus der Regierungszeit Bismarcks fortführender Geheimfonds stand dem BK auch in den 70er Jahren noch zur Verfügung. Aber die Sonderausgaben aus diesem geheimen Titel 53101 unterlagen der Prüfung des Präsidenten des -»· Bundesrechnungshofes und der parlament., allerdings vertraulichen Kontrolle durch ein interfraktionelles Gremium des -> Haushaltsausschusses des BT. Zudem wurde der Titel 300 seit 1969 stark gekürzt (1976: 5,4Mio. DM), so daß die Finanzierung von Werbemaßnahmen in großem Stil zugunsten der BReg. und der sie tragenden -> Parteien in den 70er Jahren vom Volumen des Geheimfonds her wenig Erfolg versprach. Als Konsequenz aus dem Urteil des BVerfG vom 2.3.1977 hat
Presse- und Informationsamt die damalige —> Opposition von CDU / CSU eine Einschränkung der ÖÄ der BReg. (Verringerung der Personal- und Sachausgaben in den Bereichen ÖAInland aller Ressorts um 50%) im BHP1 1977 gefordert. Die entsprechenden Ansätze wurden im BHP1 1977 jedoch nur um ca. 10% gekürzt. Polit, und jurist, ist unbestritten, daß eine umfassende Informationspolitik als eine wesentliche Aufgabe gerade auch eines demokrat. Staates gegenüber seinen Bürgern anzusehen ist. —> Legitimation und Funktionsfähigkeit des —> parlamentarischen Regierungssystems erfordern eine weitgehende Partizipation der Wähler. Polit. Beteiligung und Mitwirkung der Bürger auf allen gesellschaftl. Gebieten aber setzen die Möglichkeit voraus, , sich über das polit. Geschehen eingehend unterrichten zu können. Zum Informationsanspruch des Bürgers gem. Art. 5 Abs. 1 GG gehört, auch über die Politik der BReg., ihre Leistungen und Ziele informiert zu werden. Der Prozeß der polit. Meinungs- und -> Willensbildung in einem demokrat. System bedarf deshalb als eines wesentlichen Faktors, der regierungsamtlichen Informationstätigkeit und ÖA. Das BVerfG hat die in Art. 5 GG (-> Informationsfreiheit) und Art. 20 GG (Demokratiegebot) verankerten verfassungsrechtl. Grundlagen der Arbeit des BPA konkretisiert, indem es 1966 feststellte, daß die ÖA der BReg. mit dem demokrat. Grundsatz der freien und offenen Meinungsbildung vom Volk zu den —> Staatsorganen vereinbar sei (BVerfGE 20, 100). Das Gericht schränkte aber gleichzeitig ein, die ÖA von BReg. und gesetzgebenden Körperschaften habe sich auf ihre Organtätigkeit zu beziehen. Sie könne als unbedenklich gelten, soweit sie der Öffentlichkeit die Politik sowie die künftig zu lösenden Fragen darlege und erläutere (BVerfGE 20, 100). In seinem Urteil vom 2.3.1977 (BVerfGE 44, 125ff.) hat das BVerfG versucht, die Grenzen der ÖA der BReg. abzustecken. Nicht nur verfassungsrechtl. zulässig, sondern auch not-
Presse- und Informationsamt wendig sei staatl. ÖA, soweit sie 1. den Grundkonsens über die Staatsordnung lebendig erhalte; 2. die Bürger über Entscheidungen, Lösungsvorschläge u.ä. der Staatsorgane informiere; 3. Zusammenhänge offenlege und auch für unpopuläre Maßnahmen Verständnis wecke; 4. die Bürger beim Erlaß neuer Gesetze und Rechtsvorschriften über ihre Rechte und Pflichten unterrichte (BVerfGE 44, 147/148). Unzulässige ÖA liegt nach der Entscheidung des BVerfG vor, soweit die Reg. parteiergreifend auf den —> Wahlkampf einwirke und Wahlwerbung für Personen oder Gruppen betreibe, die die Mehrheitsparteien unterstützen und die Oppositionsparteien bekämpfen. Insbes. in der sog. heißen Phase des Wahlkampfes unterliege die BReg. dem Gebot äußerster Zurückhaltung und dem Verbot, öffentlichkeitwirksame Maßnahmen aus Etatmitteln zu finanzieren. Fraglich bleibt allerdings weiterhin, wie im Einzelfall die Grenze zwischen zulässiger bzw. verfassungswidriger ÖA zu ziehen ist. Jedenfalls war diese Grenzziehung in der polit. Praxis wiederholt strittig; die jeweilige Opposition kritisierte insofern Maßnahmen der ÖA der BReg. als verfassungswidrig. Der öffentl. Kontrolle zur Einhaltung dieser verfassungsgerichtlichen Vorgaben dient die vierteljährliche Veröffentlichung der Maßnahmen der ÖA des BPA im -> Bulletin der BReg. (vgl. Bulletin Nr. 38 vom 15.5. 1997, S. 410ff.). I.w.S. sind auch die Maßnahmen zur - » polit. Bildung, die auf Bundesebene von der —> Bundeszentrale für Polit. Bildung realisiert werden (1997: 29,45Mio. DM), der ÖA zuzuordnen. Lit.: H. Hill: Staatskommunikation, Köln 1993; H. Klatt: Öffentlichkeitsarbeit - Verfassungsauftrag oder Wahlpropaganda?, in: Gegenwartskunde 1980, S. 19ff.; W. Kordes / H. Pollmann: Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Düsseldorf 101989; F. Schürmann: Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, Berlin 1992.
Hartmut Klatt
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Presseamt Presseamt -> Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Pressefreiheit -» Meinungsfreiheit Pressegesetze -> Presserecht Presserecht Das P. als die Gesamtheit der Vorschriften, welche die allgemeinen Rechtsverhältnisse der —» Presse regeln, ist für die Presse in Dtld. im wesentlichen in den Pressegesetzen der -> Länder enthalten. Zwar besteht eine -> Rahmengesetzgebungskompetenz des —> Bundes für die allgemeinen Rechtsverhältnisse der Presse (Art. 75 Abs.l S. 1 Nr. 2 GG), von der aber bislang kein Gebrauch gemacht wurde. Allerdings betreffen zahlreiche Regelungen des Bundes auch die Presse; spezifisch pressebezogen ist das Gesetz über eine Pressestatistik v. 1.4. 1975. Pressespezifische Vorschriften der -> EG existieren bislang - mangels Kompetenzzuweisung im EG-Vertrag - nicht; es gibt allerdings Bestrebungen zur Regelung des Pressewerberechts und der Pressekonzentration. Es existiert aber auch keine Bereichsausnahme für die Presse im EG-Vertrag: Presseunternehmen und -beschäftigte können daher von den EG-Grundfreiheiten Gebrauch machen und unterliegen den Wettbewerbsregeln der EG. Die - weitgehend übereinstimmenden Pressegesetze der Länder bekräftigen die Garantie der —> Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG), schreiben die Zulassungsfreiheit von Pressetätigkeit fest und postulieren die öffentl. Aufgabe der Presse, wenn sie in Angelegenheiten von öffentl. Interesse an der Meinungsbildung mitwirkt. Die Pressegesetze regeln ferner Rechte und Pflichten der Presse. Sie verpflichten die Presse u.a., der Sorgfaltspflicht zu genügen, in jedem Druckwerk ein Impressum aufzunehmen, einen verantwortlichen Redakteur zu bestellen und Gegendarstellungen zu in einem Druckwerk aufgestellten Tatsachenbehauptungen abzudrucken. Geregelt wird ferner die presse728
Privatrecht strafrechtl. Verantwortlichkeit des verantwortlichen Redakteurs und des Verlegers. Bzgl. der Beschlagnahme im Rahmen einer Strafverfolgung enthalten die Pressegesetze Sonderregelungen, die das Beschlagnahmerecht und z.T. die vorläufige Beschlagnahme durch - * Polizei und -> Staatsanwaltschaft ausschließen. Ob diese Bestimmungen ungeachtet der §§ 11 Im, 11 In StPO weitergelten, ist strittig. Das - » Zeugnisverweigerungsrecht der Presseangehörigen ist abschließend in § 53 StPO geregelt; abweichende Regelungen in Pressegesetzen sind unwirksam. Einige Pressegesetze gewähren den Vertretern der Presse gegenüber den -> Behörden ein Recht auf Auskunft. Lit.: M. Löffler: Presserecht, München "1997; ders. / R. Ricker: Handbuch des Presserechts, München 3 1994.
Jörg Ukrow Pressure-Group Von engl, pressure = Druck, Zwang. Letztlich gleichbedeutend mit dem Begriff Interessengruppe. Der Begriff wird aber, insbes. in publizistischen Zusammenhängen, v.a. dann gebraucht, wenn das Potential von Interessengruppen zur aktiven Einflußnahme auf -> Regierung, —> Parlament und - » Öffentlichkeit hervorgehoben werden soll. Wie dem Begriff -> Lobbyismus haftet ihm oft ein negativ charakterisierender Akzent an. Dieser ist meist fehl am Platz, weil sich ohne die Herstellung von Konfliktfähigkeit und ohne aktive Einflußnahme —• Interessen nur selten vertreten lassen. Lit.: JJ. Richardson: Pressure groups, Oxford 1993.
W.J. P. Preußischer Landtag -> Landtag Preußisches Abgeordnetenhaus -» Abgeordnetenhaus Privatrecht Das dt. —> Recht beruht auf der dem röm. Recht entnommenen Zweiteilung in privates und -> öffentliches
Privatrecht Recht, d.h. eine Rechtsnorm ist entweder dem einen oder dem anderen Rechtsgebiet zuzuordnen. Im öffentl. Recht geht es vorwiegend um das Verhältnis des -> Bürgers zum —> Staat, für welches Überbzw. Unterordnung (Staat / Bürger) sowie Fremdbestimmung typisch sind. Demgegenüber regelt das P. die Beziehungen der einzelnen Personen untereinander auf der Grundlage der rechtl. Gleichberechtigung (Bürger / Bürger) und Selbstbestimmung (Privatautonomie). Die Differenzierung zwischen beiden Rechtsgebieten hat v.a. Bedeutimg für den Rechtsweg: Während privatrechtl. Streitigkeiten den —> Zivilgerichten zugewiesen sind, gehören öffentl.rechtl. Streitigkeiten (nicht verfassungsrechtl. Art) zum Zuständigkeitsbereich der -> Verwaltungsgerichte. Kemgebiet des P. ist das Zivilrecht. Es wird daher auch als allgemeines P. (bürgerl. Recht) bezeichnet und dem auf bestimmte Personenkreise bzw. Lebensbereiche beschränkten besonderen P. gegenübergestellt. Sachgebiete des Sonderprivatrechts sind etwa das Handels-, —> Gesellschaftsund Wettbewerbsrecht. Eine Mittelstellung nimmt das —• Arbeitsrecht ein, das zwar privatrechtl. Herkunft ist (vgl. Dienstvertrag des BGB, §§ 61 Iff), aber durch zahlreiche öffentl.-rechtl. Vorschriften überlagert wird. Das allgemeine P. ist im wesentlichen kodifiziert im -> BGB, das Sonderprivatrecht dagegen in zahlreichen Einzelgesetzen verstreut (z.B. HGB, AktG, GmbHG, GWB, UWG). Besonderer Erwähnung bedarf das Einführungsgesetz zum BGB (EGBGB), welches u.a. das (dt.) Internationale P. (IPR) enthält, also Regeln für zivilrechtl. Fälle mit ,Auslandsberührung", sowie darüber hinaus das gesamte zivilrechtl. Übergangsrecht für die neuen Bundesländer nach dem -> Einigungsvertrag. Der Grundsatz der Privatautonomie, der Verfassungsrang besitzt (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG - allgemeine Handlungsfreiheit), enthält als Schweipunkt die -> Vertragsfreiheit. Sie beinhaltet die Abschluß- und die Inhaltsfreiheit. Darüber hinaus zählen
Privatrecht folgende Prinzipien dazu: die Formfreiheit, danach bedürfen z.B. Verträge zu ihrer Wirksamkeit regelmäßig keinerlei Form, sie können also auch mündlich geschlossen werden; die Testierfreiheit, wonach der Erblasser über sein Vermögen im Hinblick auf seinen Tod grds. frei verfügen darf (-» Erbrecht); die Vereinsautonomie, welche es dem —> Verein erlaubt, seine Angelegenheiten durch —> Satzung selbst zu regeln. Akteure des P.s sind natürliche Personen (Menschen) und jurist. Personen (z.B. eingetragener Verein, Aktiengesellschaft, GmbH). Sie gestalten ihre Rechtsverhältnisse durch Rechtsgeschäfte, und zwar i.d.R. durch mehrseitige, z.B. Vertrag, ausnahmsweise durch einseitige, z.B. Kündigung. Personenvereinigungen ohne —> Rechtsfähigkeit sind etwa BGB-Gesellschaft, OHG, KG und Partnerschaftsgesellschaft. Ein weiteres Kennzeichen des P.s ist der Minderjährigenschutz. Er wird auf rechtsgeschäftlicher und deliktischer Ebene in unterschiedlichem Umfang gewährt, je nachdem, ob die Betreffenden das 7. Lj. vollendet haben oder nicht (vgl. §§ 104ff., 828 BGB). Zu den Eigentümlichkeiten des dt. Rechts gehört ferner das Trennungs- und Abstraktionsprinzip. Danach erwirbt beispielsweise der Käufer nicht bereits durch den Abschluß des Kaufvertrages (Verpflieh- tungsgeschäft) das - » Eigentum am Kaufobjekt. Vielmehr bedarf es dazu eines davon getrennten Geschäfts, der sog. Übereignung (Verfügungsgeschäft). Beide Rechtsgeschäfte sind nicht nur rechtl. eigenständig, sondern in ihrer Wirksamkeit voneinander unabhängig, eben abstrakt. Daraus folgt, daß eine evtl. Unwirksamkeit des Kaufvertrags die Wirksamkeit der Übereignung regelmäßig unberührt läßt - und umgekehrt. Das Schadensersatzrecht basiert auf dem Verschuldensgrundsatz, d.h. keine Haftung ohne Verschulden. In Ausnahmefällen, die überwiegend außerhalb des BGB geregelt sind, wird verschuldensunabhängig gehaftet - sog. Gefährdungshaftung (Beispiel: Halterhaftung
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Privatrecht nach § 7 StVG). Das BGB kennt allerdings keine Generalklausel, sondern sieht einzelne Haftungstatbestände vor (vgl. §§ 823ff. BGB). Zu ersetzen ist regelmäßig nur der Vermögensschaden (Ausnahme: § 847 BGB - Schmerzensgeld). Anders als in der Umgangssprache unterscheidet man im P. zwischen Eigentum, das ein allumfassendes Recht an einer (beweglichen oder imbeweglichen) Sache gewährt, und dem Besitz, mit dem eine (lediglich) tatsächliche Herrschaft beschrieben wird. Das Eigentum unterliegt nach Art. 14 GG bestimmten Schranken (Sozialpflichtigkeit). Neben dem Gesetzesrecht hat auch das Gewohnheitsrecht eine gewisse Bedeutung für das P. (Beispiel: Haftung nach den Grundsätzen der positiven Vertragsverletzung). Auch wenn das BGB in weiten Teilen nach fast 100 Jahren unverändert gilt, hat der —> Gesetzgeber dem polit., gesellschaftl. und Ökonom. Wandel Rechnung getragen. So finden sich etwa Elemente des Verbraucherschutzes im Reisevertragsrecht des BGB sowie in Sondergesetzen (z.B. VerbrKrG, AGBGesetz, ProdHaftG, HWiG), Aspekte des Mieterschutzes wiederum in zahlreichen (zwingenden) Normen des BGB („Soziales Mietrecht"). Hier wie auch im Familienrecht spiegeln Gesetzesänderangen häufig grundlegende Verfassungsentscheidungen wider (z.B. —> Sozialstaatsprinzip - Art. 20 Abs. 1 GG, Gleichberechtigung von Mann und Frau - Art. 3 Abs. 2 GG, Stellung des nichtehelichen Kindes - Art. 6 Abs. 5 GG). Vor allem Grundrechte spielen bei der Auslegung von Generalklauseln (z.B. §§ 138, 242 BGB) eine wichtige Rolle. Im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG sind die Zivilgerichte insoweit zur Kontrolle von solchen Verträgen verpflichtet, die „einen der beiden Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind" (BVerfG). Damit soll verhindert werden, daß Verträge als Mittel der Fremdbestimmung dienen. Als Reaktion auf veränderte Bedürfnisse sind in der Wirt-
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Privatschulen schaftspraxis gesetzlich nicht oder nur ansatzweise geregelte Vertragsarten (Leasing, Factoring) bzw. Rechtsinstitute (Sicherungsübereignung, Globalzession) entstanden. Schließlich hat auch die höchstrichterliche Rechtsprechung ihren Anteil an der Fortentwicklung (z.B. durch Herausarbeitung eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts). Das dt. P. wird zunehmend beeinflußt durch europ. —> Gemeinschaftsrecht. Als Mittel dazu dienen vorzugsweise —> EGRichtlinien. Die Schwerpunkte der Rechtsangleichung liegen dabei - unter Beachtung des Prinzips der -> Subsidiarität (Art. Β EU-Vertrag) - im Gesellschaftsrecht sowie beim Verbraucherschutz. Weitergehende Überlegungen zur Schaffung eines europ. P. (Gemeinschaftsprivatrecht) stecken allerdings noch in allerersten Anfängen. Lit: BVerfij 19.10.1993, BVer/GE 89, 214ff.; H.-J. Bauschke / H.-D. Braun: Bausteine des Privatrechts, Köln 1996; E. Steindorff: EGVertrag und Privatrecht, Baden-Baden 1996; F. Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 21967.
Hans-Dieter Braun Privatschulen sind allgemeinbildende, in Art. 7 Abs. 4 S. 5 Grundgesetz verfassungsrechtl. anerkannte -> Schulen in freier Trägerschaft. P. nehmen nicht etwa private Aufgaben wahr, sondern stellen einen unter staatl. Aufsicht stehenden konstitutiven Bestandteil des -> Bildungssystems dar. Durch besondere Wertorientierungen und pädagogische Konzepte handelt es sich bei den P. um eine in einer pluralen —> Gesellschaft notwendige Ergänzung im Bildungsangebot. Die etwa 2.000 P. in der BRD (neben den Konfessionsschulen mit über 300.000 Schülern, 18 Landerziehungsheime, 162 Freie Waldorfschulen und 74 MontesomSchulen) stellen allerdings nur einen Anteil von 6% der Schulen (Niederlande 70%, Spanien 30°/Ω, Frankreich 18%, Großbritannien 8%). Lit: R. Graf v. Westphalen (Hg.): Privatschulen
Proporz
Prozeßkostenhilfe
im öffentl. Schulwesen, Bonn 1985.
C. D. Proporz —> Parteienproporz Protokoll Gem. Art. 116 GOßT wird über jede -> Sitzung des —> Bundestages ein Stenographischer Bericht (Plenarprotokoll) gefertigt. Durch ihn wird der Inhalt der nach der -> Verfassung öffentl. Verhandlungen grds. allen Interessierten nachträglich zugänglich. Das P. wird vom Stenographischen Dienst des Bundestages erstellt, wobei die Stenographen sich jeweils alle 5 Minuten ablösen. Für das P. ist grds. das gesprochene Wort zugrunde zu legen; die Stenographen nehmen jedoch redaktionelle Änderungen vor, soweit sie z.B. grammatikalische Fehler oder Satzstellung betreffen. Parallel wird der Sitzungsverlauf von besonders erfahrenen Stenographen aufgenommen, die sich halbstündig abwechseln. Anschließend wird die Niederschrift jedem Redner zur Prüfung vorgelegt, der sie innerhalb von 2 Stunden zurückzugeben hat. Tut er dies nicht, wird die Niederschrift in Druck gegeben. Durch die Korrekturen, die der Redner an der Niederschrift vornimmt, darf der Sinn der Rede oder ihrer einzelnen Teile nicht geändert werden. Wann dies der Fall ist, wird in der -> Geschäftsordnung nicht eindeutig definiert. Unter dem Gesichtspunkt, daß der Bericht die —> Debatte authentisch wiedergeben soll, ist im allgemeinen gegen rein stilistische Korrekturen nichts einzuwenden. Sofern sich über die Zulässigkeit einer Korrektur Zweifel ergeben, versucht der Stenographische Dienst, mit dem Redner eine Verständigung herbeizuführen. Sollte dies - in der Praxis ausnahmsweise - nicht möglich sein, ist die Entscheidung des —> Bundestagspräsidenten einzuholen. Nach dieser zweiten Durchsicht werden die erforderlichen Vorbereitungen für die Drucklegung getroffen. Der gedruckte Bericht liegt am Tag nach der - » Sitzung vor. Die Plenarprotokolle werden an die Mitglieder des Bundestages verteilt sowie
kostenlos an zahlreiche Empfanger, wie z.B. die —> Landesparlamente, versandt. Von den Plenarprotokollen zu unterscheiden ist das in § 120 GOBT vorgesehene Amtliche P.; dies ist ein Beschlußprotokoll und wird vom Präsidenten unterzeichnet. In den Ausschüssen des Bundestages wird ein stenographisches P. nur teilw. erstellt, überwiegend handelt es sich um zusammenfassende Wiedergaben der Redebeiträge. Lit.: Schneider/Zeh, S. 975ff. Britta Hanke-Giesers / Christoph Lotter Prozentklausel —> Fünf-Prozent-Klausel -> Sperrklausel Prozeßkostenhilfe (früher: Armenrecht) ist die vollständige oder teilw. Befreiung einer minderbemittelten Partei (eines Beteiligten) von den Prozeßkosten. Prozeßkosten (im Strafrecht Verfahrenskosten) sind alle Kosten, die ein Beteiligter unmittelbar aufwenden muß, um den Rechtsstreit zu führen. Diese setzen sich aus den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten (meist Anwaltsgebühren) zusammen. Anwendungsbereich Eine P. sehen die meisten Verfahrensordnungen - teilw. durch Verweisung auf §§ 114ff. ZPO - vor (z.B. § I I a ArbGG, § 14 FGG, §§ 379a, 397a, 406g StPO, § 166 VwGO, § 142 FGO, § 73a SGG, §§ 18, 129ff. PatG). Überdies ist eine solche für die Amtsgeschäfte des -> Notars (§ 17 Π BNotG) vorgesehen. Voraussetzungen 1. Grds. ist für die Bewilligung der P. das Stellen eines Antrages erforderlich. 2. Subjektive Voraussetzung ist, daß die Partei die Kosten der Prozeßführung aus ihrem Einkommen nicht, nur z.T. oder nur in Raten aufbringen kann (§ 114 S 1 ZPO). In den beiden letzten Fällen wird P. bewilligt; jedoch muß die Partei Raten aus dem Einkommen und / oder einen Beitrag aus ihrem Vermögen leisten (soweit zumutbar; § 115 I, Π ZPO). Entsprechende Unterlagen über die Einkommens- und evtl. Vermö-
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Prozeßkostenhilfe gensverhältnisse sind vorzulegen. Maßgebend ist das Nettoeinkommen, von dem noch sonstige Belastungen abzuziehen sind (§ 115 I ZPO). Überdies werden unterhaltsberechtigte Personen berücksichtigt (§ 114 S. 2 ZPO). Grds. muß der Antragsteller sein gesamtes verwertbares Vermögen einsetzen, soweit dies zumutbar ist (§ 115 Π ZPO, § 88 BSHG). Auf die Höhe der voraussichtlichen Prozeßkosten kommt es grds. nicht an. P. wird allerdings nicht bewilligt, wenn die Kosten der Prozeßführung der Partei 4 Monatsraten und die aus dem Vermögen aufzubringenden Teilbeträge voraussichtlich nicht übersteigen (§ 115 ΠΙ ZPO). Keine P. hat trotz des Vorliegens der Voraussetzungen die Partei zu beanspruchen, wenn sie in Kenntnis der Tatsache, daß sie Mittel zur Prozeßfiihrung benötigt, Einkünfte oder Vermögen vermindert oder Beträge als Darlehen weggibt bzw. wenn sie die Vermögensminderung grob fahrlässig herbeigeführt hat. 3. Objektiv setzt die Bewilligung der P. voraus, daß die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder -Verteidigung nicht mutwillig ist. Überdies muß sie hinreichende Aussicht auf Erfolg haben (§ 114 S. 1 ZPO). Die Erfolgsaussicht ist sowohl eine Tatfrage (Beweis des behaupteten Sachverhalts) als auch eine Rechtsfrage (ergibt sich aus dem Sachverhalt die angestrebte Rechtsfolge; der Standpunkt des Antragstellers muß zumindest vertretbar sein). Erfolgsaussicht heißt jedoch nicht Erfolgsgewißheit. Die Voraussetzungen dürfen unter dem grundrechtl. Aspekt der Rechtsschutzgleichheit für Bemittelte und Unbemittelte nicht überspannt werden (BVerfG in NJW 1992, 889). Auf die Erfolgsaussicht kommt es nicht mehr an, wenn man in 1. oder 2. Rechtszug obsiegt hat und der Gegner —> Rechtsmittel einlegt (§ 119 S. 2 ZPO; sog. Muß-Prozeßkostenhilfe). Mutwilligkeit liegt vor, wenn trotz Erfolgsaussicht das -> Gericht von einer verständigen Partei ohne P. nicht oder nicht mit dem vorgesehenen Verfahren in Anspruch genommen würde (z.B.
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Prozeßkostenhilfe weil der Schuldner auf Dauer zahlungsunfähig ist). Bewilligungsverfahren Trotz der o.g. empfohlenen Großzügigkeit muß das Gericht vor der Bewilligung sorgfältig prüfen, ob ihre Voraussetzungen vorliegen. Für die Staatskasse ist die P. mehr denn je eine schwere Belastung. So sehr der Minderbemittelte unverzüglich Beistand verdient, um zu seinem Recht zu kommen, so verwerflich ist es, ihm einen sog. faulen Prozeß aus fremder Tasche zu ermöglichen. Der Antrag ist an das für das beabsichtigte Verfahren zuständige Gericht zu richten (§§ 117, 127 I ZPO). Dieser muß die Darstellung des Streitgegenstandes unter Angabe der Beweismittel sowie eine Erklärung über die Einkommensverhältnisse auf einem Vordruck (VO über Vordrucke vom 24.11.1980, BGBl. I S. 2163) enthalten. Der Antrag kann auch zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärt werden. Über die Bewilligung entscheidet das Gericht nach Anhörung des Gegners zu den objektiven Voraussetzungen und ggf. weiteren Ermittlungen (beschränkte Beweiserhebung). Die Bewilligung erfolgt für jeden Rechtszug gesondert (§ 119 S. 1 ZPO); auch im Mahnverfahren nur für dieses, nicht zugleich für das mögliche folgende Streitverfahren. Die Bewilligung kann nur beschränkt durch die Staatskasse, die Verweigerung (oder Entziehung) grds. unbeschränkt mit der Beschwerde angefochten werden (§127 Π, ΙΠ ZPO). Wirkungen 1. Die Staatskasse kann Gerichts· und Gerichtsvollzieherkosten (-> Gerichtsvollzieher) nur nach Maßgabe der gerichtlichen Entscheidung (z.B. Raten) gegen die Partei geltend machen. Die Partei ist von einer Sicherheitsleistung für die Prozeßkosten befreit ( § 1 1 1 ZPO). 2. Besteht für ein Verfahren Anwaltszwang, wird der Partei ein von ihr gewählter, zur Vertretung bereiter, sonst ein vom Gericht bestellter Rechtsanwalt beigeordnet (§ 121 I ZPO); die Erteilung einer Prozeßvollmacht an ihn bleibt erforderlich. Darüber hinaus kann auch in Verfahren
Prozeßrecht
Quorum
ohne Anwaltszwang auf Antrag ein Rechtsanwalt beigeordnet werden, dann nämlich, wenn der Gegner anwaltlich vertreten ist oder die Vertretung erforderlich erscheint, etwa wegen der rechtl. Schwierigkeit oder der persönlichen Ungewandtheit (§ 121 Π ZPO). Daneben kann ein Verkehrsanwalt beigeordnet werden (§ 121 m ZPO). Statt Beiordnung eines Verkehrsanwaltes können der Partei die Kosten der Reisen zu ihrem Prozeßbevollmächtigten aus der Staatskasse erstattet werden. Die Anwälte werden aus der Staatskasse bezahlt (§ 12Iff. BRAGO). Desgleichen ist die Erstattung von Reisekosten für Reisen zu Verhandlungen, Vernehmungen oder Untersuchungen vorgesehen. Ansprüche auf Vergütung kann er gegen die von ihm vertretene Partei nicht geltend machen (§ 122 I 3 ZPO), wohl aber gegen den unterlegenen Gegner (§ 126 ZPO). Die Partei, der P. bewilligt wurde, zahlt jedoch die Vergütung mit den Raten oder dem Vermögensbeitrag ab. Darüber hinaus sind freiwillige Zahlungen an den Anwalt zulässig. Änderung, Aufhebung der Bewilligung Das Gericht stellt die Ratenzahlung vorläufig ein, wenn die Eigenleistungen der Partei die Kosten decken oder diese aus einem Kostenerstattungsanspruch erlangt werden (§ 120 m ZPO). Das Gericht kann die Bewilligung auflieben, wenn die Voraussetzungen hierfür nicht vorgelegen haben, oder wenn die Partei mit einer Rate oder sonstigen Zahlung länger als 3 Monate im Rückstand ist (§ 124 ZPO). Bei Verschlechterung der subjektiven Voraussetzungen können die Leistungen der Partei herabgesetzt, bei Verbesserung heraufgesetzt werden (§ 120 IV ZPO). Lit: Α. Schoren / J. Dehn: Beratungshilfe, Prozeßkostenhilfe - Komm., Heidelberg 41993; T. Künzel: Unstimmigkeiten im Recht der Prozeßkostenhilfe, Bochum 1994. Claudia Tiller Prozeßrecht Ehe dt. Rechtsordnung kennt kein einheitliches Recht für den gerichtli-
chen Prozeß. Wichtige Regelungen für alle Gerichtszweige finden sich im Gerichtsverfassungsgesetz vom 1.10.1879 (seither vielfach geändert, -> Gerichtsverfassung). Im übrigen haben die einzelnen Gerichtszweige ihre jeweiligen Verfahrensgesetze, von zentraler Bedeutung sind die - » Zivilprozeßordnung, die Strafprozeßordnung (Strafverfahren) und die Verwaltungsgerichtsordnung (—> Verwaltungsgerichtsbarkeit). Auch die Verfassungsgerichte von - » Bund und —> Ländern verfügen über je eigene Prozeßordnungen. Das P. ist auch grundgesetzlich geprägt (insbes. Art. 19 Abs. 4 , l O l f f . GG); als „prozessuales Urrecht" (Bundesverfassungsgericht) ist das Recht des rechtl. Gehörs vor Gericht (Art. 103 Abs. 1 GG) hervorzuheben. Die Prozeßordnungen konkretisieren diese Vorgaben und sind an ihnen zu messen (—> Rechtsprechende Gewalt). J.M. Public Relations -> Öffentlichkeitsarbeit Publizitätspflicht desregierung
Berichte der Bun-
Putsch - » Staatsstreich
Qualifizierte Mehrheit —> Abstimmung Quorum Notwendige Mindestanzahl an Unterschriften wähl- oder stimmberechtigter —> Bürger, um z.B. die Zulassung eines Neubewerbers für eine —> Wahl oder die Durchführung eines -> Bürgerentscheids zu erreichen (Unterschriftenquorum). Bei einem Zustimmungsquorum muß die bejahende Mehrheit wiederum einen Mindestanteil der insg. stimmberechtigten Bürger ausmachen, damit etwa ein Bürgerentscheid als erfolgreich angenommen wird. Lit: G. Rüther (Hg.): Repräsentative oder plebiszitäre Demokratie - eine Alternative?, Baden733
Quote
Rah mengesetzgebu ng
Baden 1996. D.M. Quote -> Quotenregelung Quotenregelung 1. Eine Q. ist eine Regelung, mittels derer ein für unausgewogen erachteter Zustand in Richtung auf eine stärkere Berücksichtigung eines unterrepräsentierten Personen- oder Objektkreises korrigiert werden soll. 2. Bekannteste Beispiele im innerstaatl. Recht sind die Q.en, mittels derer das faktische Defizit an —> Gleichbehandlung von Frauen im Erwerbsleben, namentlich im —> öffentlichen Dienst, abgebaut werden soll. Die Verfassungs- und Gemeinschaftsrechtskonformität solcher Q.en ist im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen (z.B. Art. 3 Abs. 3 GG), der auch für Männer gilt, umstritten. Q.en sehen i.d.R. u.a. vor, daß bei gleicher Qualifikation von Bewerberinnen und Bewerbern im öffentl. Dienst und einer Unterrepräsentation von Frauen auf der betreffenden Beförderungsebene Bewerberinnen bevorzugt befördert werden. Der —• Europäische Gerichtshof hat entschieden, daß eine solche Regelung den Anforderungen des EG-Rechts genügt, sofern die Q. eine sog. Öffnungsklausel enthält, die den männlichen Bewerbern, welche die gleiche Qualifikation wie die weiblichen Bewerber besitzen, in jedem Einzelfall garantiert, daß die Bewerbungen Gegenstand einer objektiven Beurteilung sind, bei der alle die Person der Bewerber betreffenden Kriterien berücksichtigt werden und der den weiblichen Bewerbern eingeräumte Vorrang entfällt, wenn eines oder mehrere dieser Kriterien zugunsten des männlichen Bewerbers überwiegen. Solche Kriterien dürfen allerdings gegenüber den weiblichen Bewerbern keine diskriminierende Wirkung haben. Art. 119 EGV (Art. 141 EGV n.F.) erhält im übrigen durch den —> Amsterdamer Vertrag einen neuen Abs. 4, wonach der Grundsatz der Gleichbehandlung die
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Mitgliedstaaten der EU im Hinblick auf die effektive Gewährleistung der vollen Gleichstellung von Männern und Frauen im Arbeitsleben nicht daran hindert, zur Erleichterung der Berufstätigkeit des unterrepräsentierten Geschlechts oder zur Verhinderung bzw. zum Ausgleich von Benachteiligungen in der beruflichen Laufbahn spezifische Vergünstigungen beizubehalten oder zu beschließen. Eine vergleichbare Regelung enthält Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG. 3. Ein nicht zuletzt im Hinblick auf die Einmischung in die Kulturkompetenz der Mitgliedstaaten umstrittenes Beispiel für eine Q. sind auch die Quoten, die nach Art. 4ff. der EGFernsehrichtlinie von Fernsehveranstaltern zugunsten europ. Werke sowie von Werken unabhängiger Produzenten einzuhalten sind. Ut: C. Deller: Die Zulässigkeit von satzungsrcchtl. und gesetzlichen Quotenregelungen zugunsten von Frauen in polit. Parteien, Köln 1994. Jörg Ukrow Quellensteuer —> Kapitalertragsteuer
Rätedemokratie —> Direkte Demokratie Rahmengesetzgebung Neben die ausschließliche und konkurriende -> Gesetzgebung des -> Bundes stellt das -> Grundgesetz in Art. 75 die R.; eine entsprechende Gesetzgebungsbefugnis besteht, wenn eine Angelegenheit durch die Gesetzgebung einzelner - » Länder nicht wirksam geregelt werden kann, wenn die Regelung einer Angelegenheit durch ein Landesgesetz die Interessen anderer Länder oder der Gesamtheit beeinträchtigen könnte oder wenn die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit es erfordern. Gegenstände der R. sind die Rechtsverhältnisse der im -> öffentlichen Dienst der Länder, -> Gemeinden und anderer -> Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Personen, die allgemeinen
Ratifizierung
Rah mengesetzgebu ngskom petenz Grundsätze des Hochschulwesens (-» Hochschule), die allgemeinen Rechtsverhältnisse der —> Presse und des Films, das Jagdwesen, der —> Naturschutz und die Landschaftspflege, die Bodenverteilung, die Raumordnung und der Wasserhaushalt sowie das Melde- und Ausweiswesen. Die Besonderheit der R. besteht darin, daß der Bund hier auf Regelungen beschränkt ist, die der Ausfüllung durch die Länder fähig und bedürftig sind. Die Regelung führte allerdings in der Praxis - wie auch die konkurriende Gesetzgebung - zu einem Vorrang der Bundesgesetzgebung. K.-R. T.
Rahmengesetzgebungskompetenz Rahmengesetzgebung
-»
Rat der EU —• Ministerrat Rat der 5 Weisen —> Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Rat von Sachverständigen für Umweltfragen Mit dem R. wurde 1971 per Einrichtungserlaß ein unabhängiges Beratungsgremium für die -> Bundesregierung eingerichtet. Der R. ist dem —• Bundesumweltministerium fachlich zugeordnet. Zu den Aufgaben des R.es zählt es, die Umweltsituation und -» Umweltpolitik in Dtld. und deren Entwicklungstendenzen darzustellen und zu begutachten sowie umweltpolit. Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder Beseitigimg aufzuzeigen. Alle 2 Jahre ist entsprechend diesem Auftrag ein Gutachten zu erstellen. Zudem können nach eigener Wahl zusätzliche Gutachten und Stellungnahmen erarbeitet werden. Das Bundesumweltministerium kann darüber hinaus die Erstellung weiterer Gutachten und Stellungsnahmen erbitten. Aus Gründen der Unabhängigkeit dürfen die 7 Mitglieder des R es weder der Regierung noch den Parlamenten des Bundes oder eines Landes angehören. Da sie auch keinem Verband
oder Wirtschaftsorganisation angehören dürfen, sind die Ratsmitglieder überwiegend Hochschullehrer. Der R. wird fachlich und administrativ in seiner Arbeit von einer Geschäftsstelle in Wiesbaden unterstützt und ist eingebunden in die Zusammenarbeit der Europäischen Umwelträte. Lit: Rat von Sachverständigen für Umweltfragen: Umweltgutachten 1998, Stuttgart 1998. A.S.
Rathauspartei R.en sind ständige durch -» Satzung, Programm oder Vorstand festgefügte Organisationen, die den polit. -» Parteien jedoch nicht beitreten wollen und sich sogar bewußt von diesen abgrenzen. Dennoch ist ihr Ziel, durch Erringung kommunaler Mandate Einfluß auf die —> Kommunalpolitik zu nehmen. In dieser Form haben die R.en in der Kommunalpolitik der —> Bundesrepublik Deutschland beachtliche .Erfolge verzeichnen können. Der Begriff der R. ist im Gegensatz zur polit. Partei nicht im -> Parteiengesetz definiert. Dementsprechend herrscht über die Verwendung des Begriffs Unklarheit. Nach einer verbreiteten Definition fallen unter den Begriff der R.en auch sog. —> Wählervereinigungen, die nur vorübergehend zusammentreten, um Vorbereitungen für bestimmte, konkret bevorstehende —> Wahlen zu treffen. Im Sprachgebrauch werden unter einer R. verschiedentlich auch die sog. Wählervereinigungen verstanden. Nach den Erfolgen in der Vergangenheit scheint jedoch die polit. Bedeutung der R.en im Rückgang begriffen. Lit: H. Kaack/R. Roth (Hg.): Handbuch des dt. Parteiensystems, 2 Bde., Leverkusen 1980. K.H. S.
Ratifizierung Ein völkerrechtl. Vertrag oder ein —> Staatsvertrag der Länder kann vorsehen, daß er nicht bereits mit der Unterzeichnung durch die Vertreter der vertragsschließenden —> Staaten (Art. 12 WVRK) bzw. Länder bzw. dem Austausch der Vertragsurkunden (Art. 13 WVRK) wirksam wird, sondern erst, wenn das zur 735
Ratsverfassung
Recall
völkerrechtl. Vertretung des Staates bzw. staatsrechtl. Vertretung des Landes befugte -» Organ zugestimmt hat, durch den Vertrag rechtl. gebunden zu sein (Ratifikation) und hierüber eine Ratifikationsurkunde errichtet wird (Art. 14 WVRK). Mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden bzw. deren Hinterlegung bei einem der Vertragsstaaten (Art. 16 WVRK) bzw. -länder wird der Vertrag wirksam, sofern sein Inkrafttreten nicht von weiteren Voraussetzungen (z.B. Mindestzahl an R.en) abhängig gemacht worden ist (Art. 24 Abs. 2 WVRK). Zwischen Unterzeichnung und R. erfolgt, soweit innerstaatl. erforderlich, die Zustimmung anderer (insbes. gesetzgebender) staatl. Organe (vgl. Art. 59 Abs. 2 GG) und die Transformation des Vertragsinhalts in innerstaatl. —• Recht. Lit.: Κ. Ipsen: Völkerrecht, München 31990, § 10.
J. U.
Ratsverfassung —> Gemeindeverfassung Raumordnung / -«verfahren Unter R. versteht man die über die kleinste Verwaltungseinheit (—> Gemeinde) hinausgehende, die einzelnen Fachplanungen (z.B. Straßen, Wasser, Schiene) zusammenfassende und aufeinander abstimmende räumliche Gesamtplanung. Das R.srecht umfaßt sachgebietlich alle Vorschriften, welche die räumliche Planung der öffentl. Hand auf allen Verwaltungsebenen regeln; das Gesamtplanungsrecht findet sich im R.sgesetz des Bundes (ROG v. 8.4. 1965 i.d.F. v. 18.8.1997BGBl. IS. 2081). Dieses Gesetz ist ein Rahmengesetz, durch das der Bund von seiner ihm in Art. 75 Abs. 1 Nr. 4 eingeräumten R.skompetenz Gebrauch macht und dessen zentrale Aufgabe darin zu sehen ist, den Gesamtraum der BRD und seine Teilräume durch übergeordnete R.spläne wie durch Abstimmung raumbedeutsamer Planungen und Maßnahmen zu entwickeln und zu ordnen. „Übergeordnet" bezeichnet dabei den Vorrang der R. gegenüber der Bau736
leitplanung, die nach dem Baugesetzbuch Angelegenheit der Gemeinde ist wie die räumlichen Fachplanungen (—> Baurecht). R. richtet sich zunächst an die Planungsträger (z.B. Behörden, Gemeinden) und hat als solche keine rechtsunmittelbare Wirkung für den Bürger, folglich ist die R. nicht gerichtlich anfechtbar mit der möglichen Folge einer Verkürzung des —> Rechtsschutzes gegenüber dem Staat. Lit.: W. Erbguth / J. Schöneberg: Raumordnung»- und Landschañsplanungsrecht, Köln 2 1992. Hg.
Recall Darunter ist ein (jederzeit) mögliches Abberufungsbegehren bzw. eine Abwahl von Inhabern eines Wahlamts zu verstehen. R. ist ein verfassungspolit. Begriff. Mit der —• Kompetenz zur —> Wahl ist nicht notwendig die Kompetenz zur Abwahl verbunden. Es ist denkbar, daß sich Gewählte von ihren Wählern loslösen. Dem soll der R. entgegenwirken, indem er eine ständige Kontrolle ermöglicht. In den USA ist der R. in erster Linie auf kommunaler, aber auch auf staatl. Ebene verbreitet. Seit Anfang der 90er Jahre nehmen in der BRD Formen direktdemokrat. Personalentscheidungen zu. Vor allem kommunale Spitzenrepräsentanten bedürfen einer unmittelbaren —> Legitimation durch das -> Volk. In den neuen Bundesländern ist von der Abwahlmöglichkeit, die im Kommunalrecht vorgesehen ist, so häufig Gebrauch gemacht worden, daß der R. beschränkt worden ist. Die -> Parlamente haben die Befugnis, den Regierungschef bzw. die -> Regierung zu wählen und abzuwählen. Ob die vom Parlament gewählten —> Parlamentspräsidenten abgewählt werden können, wenn dies nicht ausdrücklich vorgesehen ist, ist umstritten. Der R. eines —> Abgeordneten verstieße gegen das freie —> Mandat und kann als stringente Form des —> imperativen Mandats bezeichnet werden. Der Abgeordnete ist unabhängig, sein Status kann ihm weder vom Wähler noch von seiner -> Partei oder —> Frak-
Rechnungshof tion genommen werden. Die möglichen Ausnahmen (Abgeordnetenanklage und —> Parteiverbot) sind kein R. Lit: Η. Κ. Heußner: Der „Recall" in den USA eine Anregung für die BRD, in: KJ 1993, S. 21ff. S.H.
Rechnungshof -> Bundesrechnungshof -> Landesrechnungshof —> Europäischer Rechnungshof Rechnungsprüfung ist bei enger Interpretation ganz i.S. dieses Wortes das kalkulatorische Nachvollziehen der Schlüssigkeit und der Korrektheit eines Zahlenwerkes, bestehend aus Einnahme- oder Ausgabepositionen. Die BHO erweitert dieses Prüfungsminimum. Danach ist zu prüfen, ob jede Rechnungsposition mit den Festlegungen des Haushaltsgesetzes und des -> Bundeshaushaltsplans übereinstimmt, ob sie begründet ist und ob es korrekte Belege gibt. R. ist in diesem Rahmen Prüfung der Ordnungsmäßigkeit. Das waren die Anforderungen, die am Anfang der Entwicklung die 1714 gegründete Generalrechenkammer zu erfüllen hatte. Auch heute noch spielt R. im dargestellten Sinn eine Rolle. Zwar ist die rein kalkulatorische Prüfung im Zeitalter des Computers wesentlich vereinfacht. Aber dennoch sind Stichproben unverzichtbar, um die Integrität der geldverwaltenden Stellen zu sichern. Vor allem muß es Belegprüfung geben. Im Rahmen des Möglichen wirkt es präventiv, wenn jeder, der mit Steuermitteln umgehen muß, weiß, daß Prüfungen - oft unerwartet - stattfinden. Aber auch die Rechnungshöfe (—• Bundesrechnungs-, —> Landesrechnungshof, —• europäischer Rechnungshof) verschließen sich nicht der R., zumal das -> Grundgesetz ihnen die Verantwortung ñlr die Prüfung der Jahresrechnung überträgt. Die Rechtsentwicklung in mehr als 2 Jhd.en hat den Inhalt des ursprünglichen Auftrages erweitert. Als die preuß. Könige schon im 18. Jhd. prüfen ließen, ob wirtschaftl. verfahren und ein guter Erfolg
Rechnungsprüfungsausschuß eingetreten sei, bedeutete R. auch Prüfung des Inhaltes des Verwaltungshandelns. R. erhielt Elemente der —» Verwaltungskontrolle. Dokumentarisch zeigt das die erste Veröffentlichung von Bemerkungen" zu den Jahresrechnungen für 1859 und 1860 im Jahre 1862. Da schon damals und auch bis in unsere Zeit die Bindung an die Haushaltsrechnung der Aktualität der Berichterstattung entgegenstand, gibt es seit 1969 im GG neben dem Auftrag zur R. den Auftrag, die Haushalts- und Wirtschaftsführung zu prüfen. Damit ist Finanzkontrolle neben der R. ein eigenständiger und zeitnah zu erfüllender Auftrag. Lit: Η. Dommach / E. Heuer: Komm, zum Haushaltsrecht, Neuwied 1997. Karl Wittrock
Rechnungsprüfungsausschuß Der RPA ist das wichtigste Organ des -> Parlaments im Entlastungsverfahren, das den Abschluß des Haushaltskreislaufs bildet. Er ist ein Parlamentsausschuß, der überprüft, ob die —> Regierung die polit. Ziele eines (abgelaufenen) Haushalts eingehalten hat; er führt also keine Belegprüfung durch. Vergleichbare Gremien gibt es in allen —> Landesparlamenten und im -> Europäischen Parlament. Im —> Bundestag ist der RPA seit der 1. -» Wahlperiode ein Unterausschuß des -> Haushaltsausschusses (§ 55 GOBT). Deshalb sind alle Mitglieder des RPA zugleich Mitglieder des Haushaltsausschusses. So ist gewährleistet, daß die Erkenntnisse, die bei der (nachträglichen) Rechnungsprüfung gewonnen werden, bei der (zukunftsgerichteten) Haushaltsbewilligung berücksichtigt werden können. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses gehört traditionell der größten Oppositionsfraktion an, während dem RPA ein Mitglied der größten Mehrheitsfraktion vorsitzt. Dies macht deutlich, daß der Bundestag die Parlament. Haushaltskontrolle als Aufgabe des Gesamtparlaments versteht. Der RPA stellt dem -» Haushaltsgesetz und dem —• Bundeshaushaltsplan des Entla-
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Recht
Recht
stungsjahrs die Haushaltsrechnung des -> Bundesfinanzministeriums in der Ist-SollRelation des Bundesrechnungshofsberichts gegenüber. Das Ergebnis der Beratungen wird vom RPA fast immer einstimmig beschlossen. Nur selten kommt er zu Beurteilungen, die von denen des -> Bundesrechnungshofs abweichen. Der RPA legt sein gesamtes Beratungsergebnis dem Haushaltsausschuß vor und empfiehlt einen Beschlußvorschlag für das -> Plenum. In dem Bericht des RPA ist angegeben, ob der Bundesrechnungshof eine Sache weiterverfolgen und ggf. neu berichten soll, ob ein -> Ressort eine Verhaltensänderung zugesichert hat und ähnliches mehr. Diesem Bericht ist der Entlastungsantrag beigefügt. Der Haushaltsausschuß übernimmt das Ergebnis meist ohne längere Beratung und leitet dem Plenum einen entsprechenden eigenen Beschlußvorschlag zu. Lit.: S. Hölscheidt: Der Haushaltsausschuß des Dt. Bundestags, Rheinbreitbach 1988.
Sven Hölscheidt Recht I. R. als Sozialnorm R. wird im objektiven Sinn als die Gesamtheit aller R.snormen verstanden, deren handlungsund verhaltensregelnde Wirksamkeit in hoheitlich geregelten, ggf. auch zwangsweisen Verfahren gründet, deren Anwendung legitimer staatl. Ermächtigung bedarf und deren zeitlich wie örtlich begrenzter Geltungsanspruch gegenüber denjenigen, die diesen R.snormen unterworfen sind, auf Legitimitätsüberzeugung (Legitimität) beruht. In diesem Verständnis figurieren R.snormen als eine besondere Form sozialer Normen und somit als Teilmenge aller dauerhaft verfestigten, standartisierten und typisierten Sozialbeziehungen, deren strukturelle Ordnung sie erzeugen, und damit schaffen sie Orientierung- und sinngebende Sozialgebilde bis hin zur Gesellschaft. Diese Bestimmung des R.s klammert die Frage nach dem Wesen des R.s und der materiellen Richtigkeit von R. aus und weist diese der Kategorie der -> Gerechtigkeit zu.
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I. Normfunktionen Strukturelle Ordnungen sozialer Gebilde speisen sich v.a. in gesellschaftsgeschichtl. Perspektive aus einer Vielzahl von Normquellen, so aus Brauchtum, Konventionen, Sitte (Anstand), Religion, Sachen (Technik), Moral, Kunst oder Mode. In ihrer Gesamtheit wird die gesellschaftsspezifische Form der Vermittlung von Verhaltens- und Handlungsmustern allgemein als Kultur bezeichnet. Den Umstand, daß der Mensch lebenssituativ unausweichbar auf strukturierte, d.h. erwartbare, bewährte und enttäuschungsstabile Erwartungen zurückgreifen muß, um die übergroße Komplexität und Kontingenz sozialer Gegebenheit handlungspragmatisch zu minimieren, erklärt die philosophische Anthropologie mit dem Hinweis auf seine - im Gegensatz zum Tier - mangelhaften Instinktleistungen, seine körperliche Mittellosigkeit und seine Weltoffenheit. Soziale Normbildung wird in dieser Sichtweise zur Kompensationsleistung, deren allgemeine Funktion in dem angedeuteten Vermögen liegt, sozialen Beziehungen einen gemeinschaftlichen, gleichbleibenden und damit erwartbaren Sinn zu geben und soziale Situationen wiederholbar zu definieren (Soziale Rolle). Aus dieser Leistung resultieren eine Reihe weiterer Funktionen. Zu nennen sind: a) Nonnen reduzieren die handlungssituative Entscheidungskomplexität auf i.d.R. wenige bewährte Handlungs- und Verhaltensvarianten; sie entlasten von Entscheidungsdruck. b) Normen schaffen Erwartungssicherheit durch das zur Verfügung stehende Repertoire von Verhaltensregelmäßigkeiten, c) Normen koordinieren aus demselben Umstand menschliches Verhalten und Handeln unter dem Gesichtspunkt eines (gemeinsamen) Zieles, d) Normen stellen das wichtigste gesellschaftl. Instrument sozialer Integration dar, insofern sie als Handlungserwartungen Ausdruck gemeinsamer Werte, innerer Einstellungen oder moralischer Anschauungen innerhalb einer Gesellschaft sind. Die Form, durch welche sichergestellt wird, daß die normativ
Recht geforderten Verhaltensweisen auch im Konfliktfall und gegen die eigenen Ansprüche und Interessen befolgt werden, bezeichnet man als gesellschaftl. Steuerung oder auch soziale Kontrolle. Über deren zentrale Mechanismen, der Sozialisation und Sanktion stellen sie die Erzeugung normkonformen Verhaltens und Handelns in Sozialgebilden regelhaft sicher. Die eingangs formulierte Bestimmen von R. deutete bereits an, daß R.snormen sich von Sozialnormen durch die Absicherung ihrer Durchsetzung durch eigene, von der Gesellschaft bereit gestellte Verfahren unterscheiden (—> z.B. Verwaltungsgerichtsbarkeit, —> Strafgerichtsbarkeit). Während soziale Normen Erzwingbarkeit und Geltung nur im Rahmen sozialer Sanktionen kennen, beruht die verbindliche Geltung der R.snormen und damit die R.ssicherheit auf der Gewißheit, gesellschaftl. Ge- und Verbote mittels der dafür vorgesehenen Zwangsverfahren durchzusetzen. Das Gerichtsverfahren gilt als exemplarisches und bedeutendes - wenn auch nicht ausschließliches - Verfahren der R.sdurchsetzung; es ist geprägt durch folgende Verfahrensmerkmale: grundrechtsgleicher Anspruch auf —> Rechtliches Gehör (Art. 103 GG), R.sbeistand (-> Rechtsanwalt) und den —* Gesetzlichen Richter (Art. 101 GG); weiterhin die richterliche Unabhängigkeit (Art. 92, 97 GG Richter), die Schriftlichkeit der Entscheidung wie ihre Überprüfbarkeit durch ein höheres -» Gericht, die Öffentlichkeit des Verfahrens und die geregelte Form des auf Wahrheitsfindung zielenden Beweisverfahrens. Hinzu zu rechnen sind zudem: die gerichtliche Endentscheidung und ihre Durchsetzung mittels staatl. Stellen (s.a. -> Vollstreckungsbehörden, -» Gerichtsvollzieher, -> Strafvollzugsanstalten, —> Verwaltungsbehörden). 2. Zur Leistung von Rsnormen Die Frage, was R.snormen in hochausdifferenzierten Gesellschaften leisten, beantwortet sich zunächst mit dem Hinweis, daß sie eben das leisten, was soziale Nonnen generell
Recht bewältigen. Darüberhinaus wird man als elementare Funktion des R.s die Erzeugung und Sicherung des inneren —> Friedens durch Konfliktlösung und -Vorbeugung nennen. An den histor. Ort von Privatjustiz (Faustrecht, Lynchjustiz, Fehde) und an die Stelle gewaltsamer hoheitlichungeregelter Auseinandersetzungen ist das Verbot der eigenmächtigen Durchsetzung von R.sansprüchen zwischen Bürgern getreten mit dem Verweis auf die Gerichte. Die -> Gerichtsbarkeit kann selbst als die greifbare Form des innergesellschaftl. Gewaltverbots einerseits wie des legitimen staatl. Gewaltmonopols des -» Staates andererseits begriffen werden. Im —> Strafrecht ist dieser Anspruch darüber hinausgehend so geregelt, als das Opfer einer Straftat i.d.R. nicht einmal mehr als Kläger auftritt und der —> Staatsanwalt auch gegen dessen Willen Anklage erheben muß (Anklagemonopol). Konfliktvorbeugung leisten die R.snormen infolge ihres generell-abstrakten Charakters (—> s.a. Gesetz): Unabhängig von Person und Einzelfall ist für jedermann im Vorherein feststellbar, welche erwünschte oder unerwünschte R.sfolge ein bestimmtes Tun oder Unterlassen im gegebenen Tatbestandsfall auslöst. Nicht minder zentral ist die Sicherung der —> Freiheit durch das R.; dies in dreifacher Weise: Das R. schützt den Einzelnen vor Übergriffen des Staates, vor allem durch die Institute der —> Bürger- und Menschenrechte, den Grundsatz der —> Gewaltenteilung, den —> Gesetzesvorbehalt, den -> Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Bindung aller staatl. Gewalt an Gesetz und —> rechtsprechende Gewalt (—• s.a. Verfassung, -> s.a. Rechtsschutz). Gleichfalls hat das R. den Schutz des Einzelnen vor Übergriffen anderer zu sichern, woraus ihm (erst) gesicherte Bedingungen der Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit erwachsen. Insofern ist die rechtl. Beschränkung die Voraussetzung fïlr Freiheit - wie es in Art. 4 der frz. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 formuliert wurde -,
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Recht
wenn es dort heißt, daß die Freiheit darin bestehe, alles tun zu können, was anderen nicht schadet (s.a. —> Prävention —» s.a. Vorsorge). Aus dem letztgenannten Umstand resultiert die positive, umfassende Formung der wirtschaftl. und sozialen Bedingungen der auf individuellen Lebensvollzug gerichteten Gestaltungfunktion von R.; damit wird auf die Möglichkeiten hingewiesen, die den Bürgern etwa aus dem Vermögen erwachsen, wünschbare R.e an Sachen und Personen zu begründen, zu verändern oder auszulöschen. Gleiches gilt auch für andere Träger von R.en, etwa für Körperschaften, Stiftungen oder Anstalten (s.a. Gesellschaftsrecht, —> Handelsrecht, —> s.a. Testamtent, s.a. Erbrecht). Während der Anspruch des R.sstaates auf die Gewährleistung rechtlicher —> Gleichheit dem Ideenkreis des 19. Jhd.s zugeordnet wird, entspringt seine heutige Funktion, sozialen Ausgleich und soziale Sicherheit für jedermann zu gewährleisten, dem Sozialstaatsgedanken des 20. Jhd.s. Diese Funktion des R.s verdichtet sich im Begriff des -> Sozialstaats und setzt die Anschauung um, nach welcher rechtl. Gleichheit materieller Voraussetzungen und Rahmenbedingungen bedarf, in erster Linie soziale Sicherheit und ein gewisses Maß an sozialer Unabhängigkeit, um so tatsächliche Freiheit zu ermöglichen. Durch eine daraufgerichtete fördernde, schützende und gewährleistende Staatstätigkeit verpflichtet die Sozialstaatsklausel (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG) den Staat, die sozialen Lebensbedingungen für jedermann so gerecht zu gestalten, daß ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird (-> s.a. Sozialpolitik, —* Sozialrecht, —» Daseinsvorsorge, —> Sozialversicherung). Die sozialstaatl. Funktion des R.s umschreibt damit bereits seine abschließend zu nennende Leistung, nämlich die —> Steuerung gesellschaftl. Prozesse. Der Staat ist heute in alle wesentlichen Bereiche sozialer Existenz gestaltend verwoben; über das R. nimmt er die Aufgabe sozialer Regelung
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Recht
oder letztinstanzlicher Steuerung wahr. 3. Rechtsgeschichte Formen des R.s in vorstaatl. Gesellschaften belegen, daß die Existenz von R. den Staat nicht zur Voraussetzung hat. Schwach ausdifferenzierte (Stammes-)Gesellschaften verfügen i.d.R. über R.sordnungen, welche religiös begründet und sittlich gewohnheitsrechtl. überliefert werden. Dies gilt auch für das weitgehend mündlich tradierte germanische Volksrecht, das mit Erstarkung des fränkischen Königtums (ca. 900 n. Chr.) seine ersten schriftlichen Niederlegungen erfahren hat. Von großer Bedeutung wird der in niederdt. verfaßte und aus dem 13. Jhd. stammende Sachsenspiegel (1220/30) des Eike von Repgow. Der Sachsenspiegel ist eine Zusammenstellung des Landrechts als dem Gewohnheitsrecht des sächs. Volksstammes und dem Lehnsrecht als Ordnung des Feudaladels. Er wird als das bedeutendste dt. R.sbuch des Mittelalters bezeichnet und dient als Grundlage für das Allgemeine Sachsenrecht, als Vorbild für den Schwabenspiegel (1274/75) und den Dt. Spiegel (ca. 1275). Bis ins 19. Jhd. hinein hat der Sachsenspiegel über den dt. Sprachraum hinaus Bedeutung gehabt. Seine bleibende Formung erfährt das partikulare dt. Gewohnheitsrecht unter dem Einfluß des röm. R.s, vermehrt seit dem 14. und 15. Jhd.; die Bedeutung des röm. R.s, welches in Form des Corpus Iuris Civilis zunächst in Oberitalien und allmählich über die universitär gelehrte R.swissenschaft in Dtld. rezipiert wird, liegt wesentlich in seiner, die lokalen Volksrechte überwindenden Anschauung einer einheitlichen Staatsgewalt. Als solches wurde es für die erstarkenden dt. Territorialstaaten nach der theoretischen Rezeptionsperiode zum stärksten Gestaltungsmittel des vorabsolutistischen Staates bis zum 16. Jhd. und bereitete so wesentlich die Verrechtlichung von Staat und Verwaltung vor. Ähnliches galt für die aufkommende Stadtkultur, die ebenso eines der Komplexität ihrer Sozialbeziehungen adäquates R. bedurfte und es im abstrakten röm. R. fand. Das Bedürfnis
Recht nach gelehrter R.beratung für Hof und Kirche, für Stadt, Gemeinde und Territorium ließ neben den Kirchenrechtler (Kanoniker) den gelehrten Juristen als neuen notwendigen Berufsstand treten. Die Errichtung und Besetzung des 1495 erhobenen Reichskammergerichts, als oberstem Gericht des —> Deutschen Reiches (bis 1806) mit Sitz in Speyer und nach 1673 bis 1806 in Wetzlar, hat diesen Rezeptionsprozeß erheblich unterstützt. Anzumerken ist, daß der Prozeß der Anwendung des röm. R.s in unterschiedlichem Umfang für ganz Europa galt und man insofern in ihm ein wesentliches Element einer gemeinsamen europ. R.skultur sehen darf, welches im Prozeß der gegenwärtigen R.svereinheitlichung auf der Ebene der EU aktuelle Bedeutung erfährt. Als Beispiel einer Verschmelzung dt. und röm. R.smaterien sei an das erste Strafgesetzbuch, die sog. Peinliche Gerichtsordnung (Constitutio Criminalis Carolina C.C.C.) Karls V. erinnert, die dieser 1532 zum Reichsgesetz erhob, und welche bis ins 18. Jhd. - regional bis ins 19. Jhd. - zugleich als Prozeßordnung Geltung hatte. Weitere vom röm. R. ausgehende R.skodifikationen finden sich dann - dem Prozeß der Territorialstaatsbildung folgend und bereits im Verständnis des —> Naturrechts stehend - im Zeitalter des Absolutismus. Zuvorderst genannt sei das Allgemeine Landrecht für die preuß. Staaten (ALR 1794), dessen annähernd 20.000 Paragraphen das —» Staats-, Lehn-, —* Kirchen-, —» Straf- und -> Privatrecht umfaßte (Verwaltungs- und Prozeßrecht waren wie das Militärrecht nicht aufgenommen worden). Vorausgegangen war die Zusammenstellung eines Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis (1756); und dem ALR folgten das öst. Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (1811) und mit starkem Einfluß auf Deutschland der Code Civil (1804) - das bis heute im Kern gültige fiz. Zivilrecht, dessen Grundlagen die Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit von Eigentum und Individuum und die Unabhängigkeit des
Recht R.s gegenüber der Religion ganz unter dem Einfluß der frz. Revolution standen. Den Prozeß der großen Kodifikationen aus dt. Sicht schlössen die Preuß. Allgemeine Gewerbeordnung (1845), das Inkrafttreten des -> Bürgerlichen Gesetzbuches (1900), mit seiner stark röm.-rechtl. beeinflußten Gliederung in 5 Bücher, und die Zusammenfassung der Gesetzeswerke zur Kranken-, Unfall- und Invaliditäts- und Altersversicherung zur Form der Reichsversicherungsordnung (RVO 1911) ab. Gesamtkodifikationen erstrecken sich in der Gegenwart auf das Sozialrecht in Form des -> Sozialgesetzbuches (SGB 1975) und die Zusammenfassung des —> Umweltrechts in die systematische Kodifikation eines Umweltgesetzbuches (UGB), dessen allgemeiner Teil seit 1990 als Entwurf vorliegt. II. Zur Systematik des R.s R. stellt ein System von verbindlichen Verhaltensanweisungen dar, welches grundsätzlich mit dem hoheitlichen Anspruch auf Beachtung versehen ist. Im demokrat., vielfach gestuften, gewaltengeteilten Gemeinwesen ist ein solches System notwendig höchst komplex. Dieser Befund gilt für alle modernen Rechtssysteme der Gegenwart. Sie sind deshalb alle mit dem Problem konfrontiert, die für die Situation - den Fall - maßgeblichen Rechtsquellen bestimmen zu müssen. Die Grundforderung des R.s ist, wenn es Steuerungswirkung erfolgreich entfalten will, Widerspruchsfreiheit, weil der Normbetroffene in seiner Handlungssituation gegenläufige Normbefehle nicht befolgen kann. Normen unterschiedlicher Herkunft und zeitliche Entstehung („das gute alte Recht" oder das gute neue?) müssen zu einem kohärenten System geordnet werden. Der moderne Staat hat den monozentrischen Zustand hinter sich gelassen; R. leitet sich nicht vollständig aus einem Zentrum ab (real hat es das wohl kaum einmal längerfristig getan), sondern ist Ergebnis eines pluralen Prozesses der R.sentstehung. Auf verschiedenen Ebenen (Völkerrecht, EU, Bund, Land, Gemeinde, sonstige sat-
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Recht zungsbefugte Selbstverwaltungsträger) wird R. gesetzt. Dazu treten die normativen Wirkbereiche der Exekutive und auch rechtsinterpretatorische Spielräume der Judikative als Quelle von neuem R.; R. als System zu erfassen, ist folglich angesichts der Pluralität der R.setzer ein schwieriges Unterfangen. Gelingen kann es nur, wenn man die Facetten des R.s von einem Gravitationszentrum aus betrachtet. Dieser ruhende Pol liegt nach wie vor im Staat, der sich zwar grds. integrationsoffen präsentiert, dabei aber immer noch diejenige Ebene darstellt, auf der die maßgeblichen Regeln über die Ordnung des R.s und die Systematik seiner Facetten zu suchen sind. 1. R.skreis Das dt. R. gehört dem kontinentaleuropäischen R.skreis an, dem im Bereich der westlichen R.stradition insb. der anglo-amerik. R.skreis gegenübersteht. Die Zuordnung zur kontinentaleurop. Tradition impliziert insbes. das Gesetz als Ausgangspunkt der R.sanalyse. Wenn sich auch die Realitäten der R.skreise in vielfältige Weise angenähert haben (gesteigerte Bedeutung der Präjudizes - vorausgehende richterliche Entscheidung - einerseits, des statute - Gesetzesrecht - andererseits), so denkt der dt. Jurist bis heute eher vom Gesetz her, während der Jurist des —• Common Law das Präjudiz in den Vordergrund rückt. Im Zentrum der Gerichtsentscheidung steht dementsprechend hier die Auslegung des Gesetzes, dort ist es die bisherige R. sprechung. Als zweites Typisierungsmerkmal kann die Tatsache der Verfassungsstaatlichkeit genannt werden. Gemeint ist die Funktionalierung der Verfassung als Prüfmaßstab für das parlamentsbeschlossene Gesetz. Dieses Grundverständnis verbindet etwa mit den USA, scheidet aber von der engl, oder frz. Tradition mit einer starken Betonung der Parlamentssouveränität (—> Verfassungsgerichtsbarkeit). Prägend ist schließlich die föderale Auffächerung des R.s, die inzwischen eine doppelte Dimension aufweist. Einerseits verbindet sie das dt. R.
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Recht mit demjenigen anderer Bundesstaaten (Schweiz, USA, Kanada, Australien etc.), andererseits mit demjenigen der weiteren Mitgliedstaaten der EU. 2. R.ssystem Das geltende positive R. beruht auf verschiedenen Ursprüngen. Die allgemeinen Grundsätze des —» Völkerrechts, das —> Europäische Gemeinschaftsrecht, -» Bundesrecht, —> Landesrecht und das autonome Recht der Kommunen und sonstiger satzungsbefugter Selbstverwaltungsträger entstehen auf verschiedenen Ebenen und stützen sich auf verschiedene Arten der Legitimation. Abgesehen von der Stufe der allgemeinen Regeln des Völkerrechts wirken aber in jedem Fall eigens gewählte Körperschaften an der Legitimierung des dort gesetzten R.s mit. Als System fügt sich das solchermaßen heterogen gesetzte R. nur dann, wenn sich jede Ebene im Rahmen einer ihm zugewiesenen Zuständigkeit bewegt. Für den Konfliktfall verdrängt höherstufiges R. regelmäßig dasjenige der darunter liegenden Ebenen, die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts gehen grds. dem nationalen Gesetzesrecht vor (Art. 24 S. 2 GG), ebenso das europ. Gemeinschaftsrecht, das sogar geltungsstärker als nationale Grundrechte sein kann; in Fundamentalentscheidungen beharrt der Staat gleichwohl ggf. auf seinem souveränen R. der Letztentscheidung. Im Konflikt von Bundes- und Landesrecht bricht Bundesrecht Landesrecht (Art. 31 GG, —> Bundesrecht bricht Landesrecht) und das staatl. Gesetz bricht das R. der autonomen Körperschaften (vgl. für die Gemeinden Art. 28 Abs. 2 GG: „im Rahmen der Gesetze"). Rechtl. gesehen setzt der Vorrang auf allen Ebenen aber wie angedeutet die Wahrung der Kompetenz voraus. Die Kompetenzfrage wird damit zu einem Zentralproblem der vielfach gestuften R.sordnung; nicht zufällig hat die Verfassungsgerichtsbarkeit eine ihrer Wurzeln in dem Bedürfnis justizieller Entscheidung von Zuständigkeitsfragen im Bundesstaat. 3. R-shierarchie Die Komplexität des
Recht R.ssystems wird noch gesteigert durch die Stufiing der positivierten Normen auf den verschiedenen Ebenen. Das Europarecht besteht aus Primär- und Sekundärrecht, Bundes- und Landesrecht erscheinen jeweils in der Ausprägung von Normen Verfassungs-, Gesetzes, Verordnungs- und Satzungsrecht. Im Grundsatz ist die Hierarchie hier indessen klarer, denn regelmäßig stehen die verschiedenen Normtypen in einem Ableitungsverhältnis. Der Gesetzgeber ist an den Vorrang der Verfassung gebunden, Exekutivnormen (R. s Verordnungen) können nur im Rahmen der Gesetze erlassen werden. Entsprechend muß europ. Sekundärrecht mit dem Primärrecht vereinbar sein. Einfach ist die Bestimmung dessen, was rechtens ist, aber auch im Hinblick auf diese Stufenfolge oft nur im Grundsatz. Aufgrund des zumeist höheren Abstraktionsgrades des jeweils übergeordneten R.s stellt die Frage der Vereinbarkeit mit höherrangigem R. vielfach ein schwieriges Auslegungsproblem dar. 4. R.squellen Neben die bisher erörterten Formen und Stufen legislativen (bzw. legislativ ermächtigen) R.s treten ergänzende R.squellen. Gerade in den legislativ nicht oder unzureichend erfaßten Bereichen wirken ergänzende Mechanismen, kann Gewohnheitsrecht bedeutsam bleiben bzw. werden. Hierbei handelt es sich um die durch allgemeine Übung und allgemeine Anerkenntnis bewirkte Verdichtung von Gewohnheit zu R.; seine Bedeutung nimmt mit dem Grad der Kodifizierung des R.s ab, heute spielt es nur noch verhältnismäßig selten eine Rolle, es kann sich indessen auf allen Stufen der R.sordnung bilden. In die Nähe einer faktischen R. squelle rückt demgegenüber das Richterrecht. R.sbildend wirkt im dt. R. an erster Stelle das -> Bundesverfassungsgericht. Seine Entscheidungen entfalten Bindungswirkung und ggf. sogar Gesetzeskraft (§ 31 BVerfGG). Aber auch die übrige höchstrichterliche R. sprechung entfaltet eine präjudizierende Kraft, die rechtsgestal-
Recht tende Züge aufweist. Rechtl. gesehen handelt es sich hier indessen immer nur um eine faktische Wirkung; anders als im anglo-amerik. R.skreis ist jedes Untergericht nämlich rechtl. frei, bei der Auslegung des Gesetzes von der bisherigen (auch höchstrichterlichen) R. sprechung abzuweichen, freilich mit dem Risiko, durch eine höhere Instanz aufgehoben zu werden. Die Anlehnung an die höchstrichterliche R. sprechung (oder auch nur die R.sprechung der eigenen Oberinstanz) ist also rechtlich nichts anderes als der (die eigene Auslegungsarbeit ersetzende) Verweis auf die Anwendung und Auslegung des R.s durch eine höhere Instanz. Praktisch wächst der höchstrichterlichen R.sprechung durch diese informelle Anlehnung der Untergerichte gleichwohl eine rechtsvereinheitlichende Kraft zu, die ebenso unübersehbar wie gesetzgeberisch gewollt ist (regelmäßig ist gerade das Bedürfnis nach Klärung der R.slage ein Grund für die Zulassung der Revision). 5. R.sauslegung R.ssätze weisen gerade im dt. R. (im anglo-amerik. Bereich wirkt sich die „Case-law" (= Fallrechts-) Tradition auch gesetzgebungstechn. aus und führt zu verstärkter Kasuistik im Gesetz) tradtionell einen hohen Abstraktionsgrad auf. Ihre Anwendung auf den Einzelfall ist daher regelmäßig mehr als ein mechanischer Vorgang, sondern erfordert eine methodisch geschulte Arbeitsweise. Die Auslegung des R.s ist Thema der jurist. Methodenlehre. Für die Bestimmung des Inhalts einer Norm unterscheidet man seit F.C. v. Savigny (1779-1861) traditionell zwischen der grammatischen, der histor., der systematischen und der teleologischen (zweckorientierten) Auslegung. Naturgemäß kann die Anwendung dieser Kriterien zu verschiedenen Ergebnissen führen. Da sich das Verhältnis der Auslegungskriterien zueinander nicht in eine strenge Hierarchie fügen läßt (auch der histor. Auslegung - „Wille des Gesetzgebers" kommt kein zwingender Vorrang zu), sind in einem solchen Fall ggf. mehrere Lösungen vertretbar, woraus eine divergierende
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Rechtliches Gehör
Recht auf Arbeit R.spraxis resultieren kann, der dann erforderlichenfalls durch eine klärende höchstrichterliche Entscheidung oder durch Gesetzespräsisierung abgeholfen wird. Für die Auflösung von Normenkollisionen lassen sich ebenfalls einige Grundsätze aufstellen: hier verdrängt die höhere die niedere Norm („lex superior derogat legi inferiori", die jüngere die ältere Norm („lex posterior derogat legi priori") sowie die spezielle die allgemeine Norm („lex specialis derogat legi generali"). R.sauslegung bleibt auch hier im Detail oft ein komplexer und unsicherer Vorgang. Anzumerken ist noch, daß der R.sbegriff im jurist. Sinne doppeldeutig in dem Sinne ist, daß er einerseits das R. als objektive staatl. Sollens-Ordnung bezeichnet, andererseits aber auch die aus dieser objektive» R.smasse abgeleitete subjektive Zuweisung eines Anspruchs meinen kann (,A hat ein Recht auf..."). Während das Zivilrecht in diesem Sinne sogar im Grundsatz der Beschreibung wechselseitiger subjektiver Repositionen dient, stellt sich im öffentl. R. oft die Frage, ob ein R.ssatz über seine objektive Dimension hinausgehend auch einen subjektiven Anspruch Einzelner begründet (-* subjektives öffentliches Recht). Lit.: Κ. Engisch: Einfthning in das jurist. Denken, Stuttgart "1983; D. Grimm (Hg.): Einführung in das Recht, Paderborn 21995; K. Lorenz: Jurist. Methodenlehre, Berlin 61991; T. Schilling: Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, Berlin 1994; P. Stein: Röm. Recht und Europa, Frankfurt/M. 1996; U. Wesel: Geschichte des Rechts, München 1997.
Teil I: Rabatt Graf von Westphalen Teil Π. Jörg Menzel Recht auf Arbeit -» Soziale Grundrechte
rechte). Es ist nicht nur ein Abwehrrecht gegenüber staatl. Eingriffen, sondern enthält auch eine objektive Entscheidung des -> Grundgesetzes, welche die staatl. Organe verpflichtet, sich schützend und fördernd vor die in Art. 2 Abs. 2 S. 1 genannten Rechtsgüter zu stellen: So resultiert z.B. der Anspruch auf ein -> Existenzminimum gegenüber dem —> Staat ebenso aus dem R. wie der Anspruch gegenüber dem Staat auf Schutz vor Gefährdungen des R. durch Privatpersonen. Bei der Erfüllung dieser Schutzpflicht hat der Staat allerdings einen erheblichen Spielraum. Auch das werdende Leben genießt den Schutz dieses R.; insoweit ist allerdings zu beachten, daß dessen R. im Verhältnis zu dem entsprechenden R. der Mutter Beschränkungen unterliegt. Die Grundrechtsberechtigung endet mit dem (Him-)Tod. Das R. auf Leben schützt das körperliche Dasein, die biologisch-physische Existenz. Das R. auf körperliche Unversehrtheit schützt nicht nur die Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne, sondern auch vor nichtkörperlichen Einwirkungen, die in ihrer Wirkung einem körperlichen Eingriff gleichzustellen sind. Das R. kann gem. Art. 2 Abs. 2 S. 3 auf Grund eines Gesetzes beschränkt und Eingriffe dadurch gerechtfertigt werden. Der Eingriff in das R. muß allerdings geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein (wie z.B. beim sog. finalen Rettungsschuß, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, eine gegenwärtige Gefahr für das Leben Dritter abzuwenden). Völkerrechtl. sind das Recht auf Leben und das Folterverbot in Art. 2 und 3 EMRK und in Art. 6 und 7 des Internationalen Pakts über bürgert. und polit. Rechte v. 19.12.1966 (BGBl. 1973 Π S. 1354) geschützt.
Recht auf Bildung -> Soziale Grundrechte
Lit.: HdbStR VI, § 128.
Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit Das R. ist als JedermannGrundrecht in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtl. verankert (-» Grund-
Recht auf Wohnung —> Soziale Grundrechte
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Jörg Ukrow
Rechtliches Gehör Das prozessuale Ur-
Rechtmäßigkeit
Rechtsanwalt
recht des Art. 103 Abs. 1 —> Grundgesetz weist einen unmittelbaren Bezug zum Schutz der —> Menschenwürde und zum -> Rechtsstaatsprinzip auf. Es soll verhindern, daß mit dem Menschen „kurzer Prozeß" gemacht wird. Gewährleistet ist das Recht, sich (i.d.R.) vor Erlaß der Entscheidung eines -> Gerichts in tatsächlicher und rechtl. Hinsicht zum Streitstoff äußern zu können, Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen. Das Recht auf Gehör verlangt, daß einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen Stellung zu nehmen den Beteiligten Gelegenheit gegeben war. Das Gericht muß das Vorbringen der Parteien zur Kenntnis nehmen und erwägen. Eine Entscheidung, die - sei es auch unverschuldet - gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstößt, kann mit Erfolg gerügt werden, wenn sie auf dem Verstoß beruht. Die Verletzung, die Gegenstand einer -> Verfassungsbeschwerde sein kann (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG), kann ggf. im Rechtsmittelzug geheilt werden. Art. 103 Abs. 1 GG findet für das Verwaltungsverfahren eine Ergänzung in §§ 28, 63fF. -> Verwaltungsverfahrensgesetz des -> Bundes und den parallelen Bestimmungen der —> Länder (—> s.a. Recht). Lit:HdbStRVI,
§ 155.
J . U.
Rechtmäßigkeit -> Legitimität Rechtsakt ist jeder auf die Setzung oder Anwendung von —> Recht bzw. auf einen rechtl. Erfolg gerichtete Akt einer natürlichen oder —> juristischen Person. Es lassen sich einseitige und mehrseitige R.e, verbindliche und unverbindliche R.e, R.e mit und ohne Rechtsquellenqualität, R.e mit und ohne Außenwirkung, R.e des innerstaatl., des —> Europarechts (vgl. Art. 189 EGV) und des -> Völkerrechts unterscheiden. Innerhalb völkerrechtl. R.e kann zwischen R en von -> Staaten und von internationalen Organisationen differenziert werden. Innerhalb des innerstaatl.
Rechts lassen sich R.e des privaten und des -> öffentlichen Rechts und innerhalb der letztgenannten namentlich R.e der unterschiedlichen Staatsgewalten unterscheiden. So ist z.B. der völkerrechtl. Vertrag der klassische mehrseitige R. des Völkerrechts mit Rechtsquellenqualität und Außenwirkung, während z.B. Anerkennung, Verzicht, Protest und Versprechen Beispiele für einseitige völkerrechtl. R.e von Staaten mit Außenwirkung ohne Rechtsquellenqualität sind. Der —> Verwaltungsakt ist z.B. der typische einseitige verbindliche R. der innerstaatl. —> Verwaltung mit Außenwirkung, das Urteil der typische R. der judikativen Gewalt. Die Existenz von allgemeinen Rechtsgrundsätzen und Gewohnheitsrecht als Rechtsquellen belegt, daß nicht sämtliches Recht in seinem Anwendungsbefehl auf R.e zurückgeführt werden kann.
Lit.: W. Flume: Rechtsakt und Rechtsverständnis, Paderborn 1990; K. Ipsen: Völkerrecht, München 3 1990, §§ 9ff. J . U.
Rechtsanwalt Der R. ist der berufene und unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten und übt als unabhängiges Organ der Rechtspflege einen freien Beruf (kein Gewerbe —> Gewerberecht) aus (§§ Iff. BRAO). Zur R. schaft kann durch die Landesjustizverwaltung nur zugelassen werden, wer die Befähigung zum Richteramt erlangt hat oder als Angehöriger der EG eine Eignungsprüfung bestanden hat (§ 4 BRAO). Der R. ist freizügig (§ 5 BRAO), muß aber bei einem bestimmten Gericht der —> ordentlichen Gerichtsbarkeit zugelassen sein (Lokalisationsgebot, § 18 BRAO) und in dessen Bezirk eine Kanzlei einrichten. Der bei einem Amtsgericht zugelassene R. ist auf Antrag auch beim übergeordneten Landgericht zuzulassen. Die Zulassung beim Oberlandesgericht setzt eine fünfjährige Anwaltstätigkeit voraus (§20 BRAO) und ist im allgemeinen mit einer Zulassung bei einem anderen Gericht nicht vereinbar (Ausnahme = Si745
Rechtsanwalt multanzulassung § 226 Π BRAO). Die Zulassung beim -> Bundesgerichtshof ist ebenfalls ausschließlich. Der R. ist mit Ausnahme des Anwaltsprozesses und der —> Arbeitsgerichtsbarkeit befugt, vor allen —> Gerichten und —> Behörden aufzutreten (als Prozeßbevollmächtigter und Verteidiger). Der R. kann sich, sofern er die entsprechende Qualifikation nachweist, als Fachanwalt für —> Steuerrecht, - » Verwaltungsrecht, -> Arbeitsrecht oder -> Sozialrecht bezeichnen. Der Beruf des R.s kann grds. auch nebenberuflich (§ 46 BRAO) oder zugleich mit einem anderen Beruf (§§ 7, 14 BRAO) ausgeübt werden, jedoch muß der Erstberuf die für die Ausübung des Anwaltsberufs erforderliche zeitliche Freiheit lassen und der Doppelberuf mit der unabhängigen Stellung des R.s und dem Ansehen der R.schaft vereinbar sein (z.B. Steuerberater). Der R. übt seinen Beruf entweder allein aus, als angestellter- Anwalt, in einer Anwaltssozietät oder einer Bürogemeinschaft. Das Rechtsverhältnis des R.s zu seinem Mandanten stellt einen Geschäftsbesorgungsvertrag (Mandat) dar. Er ist nicht verpflichtet, das Mandat anzunehmen, muß aber die Ablehnung unverzüglich erklären (§ 44 BRAO). Der Anwalt darf nicht tätig werden, wenn er in derselben Rechtssache als —> Richter, -> Notar o.ä. tätig war oder eine Partei im entgegengesetzten Interesse beraten oder vertreten hat (Parteiverrat). Die Vergütung des R.s richtet sich nach der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGO), sofern nicht eine davon abweichende Honorarvereinbarung getroffen wird. Die Berufspflichten ergeben sich aus dem Gesetz oder dem Standesrecht. Seinen Beruf hat der R. gem. § 43 BRAO gewissenhaft auszuüben. Er muß sich darüber hinaus innerhalb und außerhalb seines Berufs achtungs- und vertrauenswürdig verhalten. Insbes. darf er keine Bindungen eingehen, die seine berufliche Unabhängigkeit gefährden. Das Berufsgeheimnis verpflichtet ihn zur Verschwiegenheit; er ist zur sorgfältigen Verwaltung fremden Ver-
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Rechtsaufsicht mögens (Anderkonto) und zur Fortbildung verpflichtet. Der R. unterliegt keiner Dienstaufsicht, sondern einer Standesaufsicht. Er ist Pflichtmitglied der als -> Körperschaft des öffentlichen Rechts organisierten R.skammer seines OLG-Bezirks. Pflichtverletzungen werden daher vom Vorstand der R.skammer gerügt oder im ehrengerichtlichen Verfahren geahndet (§ 113£T BRAO). Lit: M. Heussler / H. Prutting: Bundesrechtsanwaltsordnung, Komm., München 1997.
Karlheinz Hösgen Rechtsaufsicht im Verwaltungsrecht ist im Unterschied zur -> Fachaufsicht darauf beschränkt, das Handeln einer mit dem Recht der -> Selbstverwaltung ausgestatteten —> juristischen Person des —> öffentlichen Rechts (z.B. Gemeinden, —> Rundfunkanstalten, —> Medienanstalten) auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Beaufsichtigungsobjekt sind nicht die Verwaltungsbehörden oder die einzelnen Amtswalter des selbstständigen Verwaltungsträgers, sondern dieser selbst. Systematisch lassen sich eine repressive, d.h. nachträglich einsetzende, und eine präventive, d.h. vor Vollendung eines -» Rechtsaktes der jurist. Person eingreifende (beratende) R. unterscheiden. Im übrigen besteht zwischen R. und anstaltsinterner Kontrolle zumindest bei Landesrundfunkanstalten ein Verhältnis der Subsidiarität i.S. einer Nachrangigkeit der R.; Aufsichtsmittel der zuständigen übergeordneten Aufsichtsbehörde sind namentlich das Informationsrecht (im zur Erfüllung der Aufsichtsaufgabe erforderlichen Umfang), das Beanstandungsrecht (bei rechtswidrigen Handlungen), das Anordnungsrecht (bei rechtswidrigem Unterlassen) und die Ersatzvomahme (falls der Beanstandung oder Anordnung nicht nachgekommen wird). Im Hinblick auf -> unbestimmte Rechtsbegriffe sind Beurteilungsspielräume und Einschätzungsprärogativen des beaufsichtigten Verwaltungsträgers, im Hinblick auf Ermessensentscheidungen dessen Ermessen-
Rechtssetzung der EU
Rechtsbehelf Spielraum durch die R. zu beachten. Die eingreifenden Aufsichtsmittel unterliegen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.
Rechtschreibreform —> Deutsche Sprache
Lit.: M. Schuler-Harms: Rundfìinkaufsicht im Bundesstaat, Baden-Baden 1995; J. Salzwedel: Staatsaufsicht in der Verwaltung, in: WDStRL 1965, S. 206ff.
Rechtsextremismus politischer
J. U. Rechtsbehelf Wie das -> Beschwerderecht so gehört auch der R. zu den jurist, nicht exakt definierten Begriffen. Üblicherweise wird darunter jedes von der Rechtsordnung anerkannte Mittel verstanden, mit dem formlos oder förmlich gegen eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung vorgegangen werden kann. Der Begriff des R.s ist damit im Verhältnis zum —> Rechtsmittel weiter gefaßt. Zu den R.en zählen neben den Rechtsmitteln etwa Einspruch, Erinnerung, Gegenvorstellung und der - » Widerspruch. Ober die Möglichkeit eines R.s ist vielfach mit der angreifbaren Entscheidung eine R.sbelehrung zu erteilen. Lit.: R. Schmidt: Verwaltungsrechtl. Rechtsbehelfe, Bremen 1997.
J.M. Rechtsbeschwerde Die R. ist eine Sonderform der —> Beschwerde, die ihrer Funktion nach dem —> Rechtsmittel der —> Revision ähnelt. Sie dient also der Überprüfung von Rechtsfehlern (nicht aber von Fehlem der Tatsachenfeststellung) in gerichtlichen Beschlüssen durch ein höheres -> Gericht. Vorgesehen ist die R. insbes. im —• Ordnungswidrigkeiten- und Strafvollzugsrecht (§ 79 OWiG 116 StVollz G), in der -> freiwilligen Gerichtsbarkeit (§§ 27 FGG, 78 GBO), im arbeitsgerichtlichen Verfahren (§ 92 ArbGG; -»· Arbeitsrecht), im Patent-, Gebrauchsmuster· und Warenzeichenrecht (§§ 100 PatG, 10 V GebrauchsmusterG, 13 V WarenzeichenG, —> Patent) sowie im Kartellrecht (§ 74 GWB). Die R. ist regelmäßig form- und fristgebunden. J.M.
—> Extremismus,
Rechtsetzung der EU 1. Allgemeines zu den R.sverfahren Die R.sorgane (—> Rat, -> Europäische Kommission, —> Europäisches Parlament) bedürfen einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung in den Gründungsverträgen, sog. Prinzip der begrenzten Ermächtigung, um rechtsetzend tätig zu werden. Dieses Prinzip zeigt sich insbes. in Art. 189 Abs. 1 EGV, wonach die Rechtsetzungsorgane in der Konstellation Rat und Kommission oder Europäisches Parlament und Rat gemeinsam nach Maßgabe dieses Vertrages die in diesem vorgesehenen —> Rechtsakte erlassen. Demzufolge setzt die R. die Verbandskompetenz voraus und desweiteren die Wahl der vertraglich vorgesehenen Form des Rechtsaktes. Ausnahmen können bestehen, wenn der Vertrag vielfache Varianten in der Beteiligung zuläßt, vgl. z.B. Art. 130s EGV (Verfahren der Zusammenarbeit gem. Art. 189c EGV; Verfahren der Mitentscheidung gem. Art. 189b EGV; Verfahren einfacher Konsultation insg. möglich). Weiterhin wird der Grundsatz der begrenzten Ermächtigung durch die Ermächtigung zur Vertragslükkenschließung nach Art. 235 EGV (Art. 95 EGKSV, Art. 203 EAGV) unterlaufen. Danach erläßt der Rat einstimmig Vorschriften, soweit ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich ist, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes Ziele zu verwirklichen, und die im EGV dafür benötigten Befugnisse nicht vorgesehen sind. Die europ. R. erfolgt grds. in einem dreistufigen Verfahren; die einzelnen Abschnitte umfassen die Initiative zur R. durch die Kommission, die anschließende Beratung beim Europäischen Parlament und beim Rat sowie die abschließende Entscheidung durch den Rat. Grds. liegt das Initiativrecht und die Vorbereitung 747
Rechtsetzung der EU zur R. bei der Kommission, die Beschlußfassung beim Rat, die öffentl. Beratung und Kontrolle beim Europäischen Parlament. Auch der —> Wirtschafts- und Sozialausschuß, der ->• Ausschuß der Regionen sowie in Einzelfällen der —> Europäische Rechnungshof können Stellungnahmen an Rat und Kommission richten. Die Beratung durch den Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen kann dabei nach den Verträgen auch verpflichtender Natur sein, d.h. der Rechtsakt kann erst nach einer entsprechenden Anhörung ergehen. Im Rahmen der R. kommt es zu Wechselbeziehungen zwischen den EU-Organen (Kommission, Europäisches Parlament und Rat), die in 2 —> Lesungen im Parlament und Rat unter aktiver Begleitung durch die Kommission erfolgen können. Andererseits sind in Einzelfällen der Rat und die Kommission allein befugt, Normen oder Einzelmaßnahmen zu beschließen. Die Mitwirkung des Europäischen Parlaments erfolgt - abhängig von der Art des Verfahrensgegenstandes - in 3 Formen der Mitentscheidung (Zustimmungs-, Reoperations- oder Mitentscheidungsverfahren) und in 3 Formen der Anhörung (mit Konzertierungsverfahren, obligatorische und fakultative Anhörung). Die folgenden Verfahrensarten bestehen nach dem EGV: - das Mitentscheidungsverfahren gem. Art. 189 b EGV für 15 Anwendungsbereiche. - das Kooperationsverfahren gem. Art. 189c EGV für 14 Anwendungsbereiche. - Verfahren der Zustimmung des Europäischen Parlaments in 8 Anwendungsbereichen. - Verfahren der Zustimmung des Rates gem. Art. 138e Abs. 4 EGV für Regelungen der Ausübung der Aufgaben des —> Bürgerbeauftragten. - Verfahren der Anhörung des Europaischen Parlaments (Mit / ohne Konzertierung - das Konzertierungsverfahren ist in das Anhörungsverfahren integriert und entspricht somit nicht einem eigenständi748
Rechtsetzung der EU gen Rechtsetzungsverfahren. Es geht auf eine Gemeinsame Erklärung von Rat, Kommission und EP vom 4.3.1975 zurück, und ist grds. für ins Gewicht fallende Rechtsakte mit finanziellen Auswirkungen vorgesehen. Das Verfahren kann vom Rat oder EP eingeleitet werden, wenn der Rat beabsichtigt, von der Parlament. Stellungnahme abzuweichen. In diesem Fall tritt ein Gremium aus Vertretern von Rat, Kommission und EP zusammen, welches innerhalb von 3 Monaten eine Annäherung der Standpunkte zur Aufgabe hat. Die Gemeinsame Erklärung beinhaltet nach überwiegender Ansicht Rechtswirkungen zwischen den Organen i.S. einer durch Selbstbindung eingegangenen Verpflichtung zur Einhaltung des beschlossenen Verfahrens) bei über 40 Anwendungsbereichen. - Konkordanzverfahren nach Art. 138c EGV zur Festlegung der Einzelheiten des Parlament. Untersuchungsrechts (welches im gegenseitigen Einvernehmen von Rat, EP und Kommission erfolgt). - Verfahren der Unterrichtung des Europäischen Parlaments (insbes. Währungsfragen). 2. Einzelne Verfahrensarten a) Kooperationsverfahren Art. 189c EGV (1) Sog. erste Lesung: Die Kommission formuliert einen Vorschlag und gibt dem Europäischen Parlament die Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Rat legt nach der Stellungnahme des EP mit qualifizierter Mehrheit einen gemeinsamen Standpunkt fest. (2) Zweite Lesung: Dem EP wird der gemeinsame Standpunkt zugeleitet. Dieser kann vom EP mit einfacher Mehrheit innerhalb von 3 Monaten gebilligt werden oder mit der absoluten Mehrheit abgelehnt oder auch abgeändert werden. Hierbei ist die Zustimmungsfiktion zu Lasten des EP zu beachten, da ohne eine Äußerung auf Seiten des Parlaments bei Fristablauf von einer parlament. Zustimmung ausgegangen wird. (3) Abschließender bzw. endgültiger Ratsbeschluß: Soweit das EP den gemeinsamen Standpunkt ablehnt, kann der Rat diese Ablehnung
Rechtsetzung der EU nur durch einstimmigen Beschluß innerhalb von 3 Monaten überstimmen. Falls das EP lediglich Abänderungen in bezug auf den gemeinsamen Standpunkt vorgeschlagen hat, werden diese der Kommission vorgelegt, welche ihren Vorschlag (unter Beachtung der Abänderungsvorschläge des Europäischen Parlaments) überarbeiten kann und dem Rat übermittelt, was innerhalb eines Monats zu erfolgen hat. Innerhalb von 3 Monaten verabschiedet der Rat den von der Kommission überarbeiteten Vorschlag mit qualifizierter Mehrheit oder ändert ihn einstimmig. Soweit kein Ratsbeschluß ergeht, gilt der Vorschlag der Kommission als nicht angenommen. Für den Fall, daß der Vorschlag der Kommission Abänderungsvorschläge des EP enthält, bedarf es der Einstimmkeit beim Rat zu deren Änderung. Von der Kommission nicht übernommene Abänderungsvorschläge des EP setzen zur Annahme durch den Rat -» Einstimmigkeit voraus. Aufgrund der Letztentscheidungskompetenz des Rates in diesem Verfahren kann das Parlament lediglich Anderungsvorschläge einbringen. Die Bedeutung der Funktion des Parlaments ist trotzdem nicht zu verkennen, solange jene Anderungsvorschläge tatsächlich vom Rat übernommen werden, was in der Praxis zunehmend der Fall ist. b) Mitentscheidungsverfahren nach Art. 189b EGV: Mit dem EUV wurde dieses Verfahren erstmals eingeführt und sichert dem EP echte Mitwirkungsrechte, da ohne die Zustimmung des Parlaments ein Rechtsakt nicht mehr im Alleingang des Rates erlassen werden kann. Das Verfahren weist Parallelen zum Vermittlungsverfahren zwischen dem -> Deutschen Bundestag und —> Bundesrat (-> Vermittlungsausschuß) auf. Es besteht die Möglichkeit des Vermittlungsverfahrens zwischen Rat und Parlament, wenn keine Einigung erzielt werden kann. Dieses Verfahren eröffnet die Möglichkeit einer dritten Lesung im Europäischen Parlament. Bis zur zweiten Lesung ähnelt der Ablauf dem Verfahren der Zusam-
Rechtsetzung der EU menarbeit. c) Anhörung des EP Das Parlament wird in diesem Verfahren lediglich angehört. Dieses nur beschränkte Mitwirkungsrecht erfährt insofern Beachtung, als eine unterlassene oder fehlerhafte Anhörung des EP einen Verfahrensfehler darstellt, welcher zur Aufhebung des betroffenen Rechtsakts führt. Beispielsweise ist ein derartiger Verfahrensfehler gegeben, wenn der Rat einen Kommissionsvorschlag, der nach Anhörung des Europäischen Parlaments erfolgte, abändert und das Europäische Parlament nicht erneut konsultiert. d) Unterrichtung des EP Die nachträgliche Unterrichtung des Parlaments stellt die schwächste Mitwirkungsform dar und erfolgt vorwiegend in den Bereichen der Währungsfragen. e) Zustimmung des EP Das Zustimmungsverfahren bezieht sich vorwiegend auf konstitutionelle Rechtsakte, die das Erscheinungsbild und die Struktur der Gemeinschaft sowie der EU prägen. Ohne die Zustimmung des EP kann der Rat nicht entscheiden, bzw. ein Beschluß des Rates ohne parlement. Mitwirkung wäre nicht wirksam. Die Zustimmung des EP setzt grds. eine einfache Mehrheit voraus, für das einheitliche Wahlverfahren und für Beitritte bedarf es der Mehrheit der dem Parlament angehörigen Mitglieder. Die Ausweitung der Anwendungsbereiche dieses Verfahrens auf weitere Beschlüsse vergleichbarer erheblicher Bedeutung ist bereits während der Regierungskonferenzen zur EEA und zum EUV z.B. fur das Finanzsystem, Art. 201 EGV, und Vertragsänderungen, Art. Ν EUV, ohne Resultate erörtert worden. 3. Handlungsformen und Rechtswirkung Die R. der Union erfolgt grds. in den Handlungsformen Verordnung, R.und Entscheidung, vgl. Art. 189, 108a EGV. Hierbei ist auf die konkrete Handlungsermächtigung und für die Rechtswirkung auf das konkrete Ziel der Norm abzustellen. 4. Veröffentlichung und Inkrafttreten der 749
Rechtsetzungskompetenz Rechtsakte -> EG-Verordnungen sind nach Art. 191 Abs. 1 EGV (163 Abs. 1 EAGV) im Amtsblatt der EG zu veröffentlichen, um Rechtswirksamkeit zu erlangen. Zu dem durch die Verordnung selbst festgelegten Zeitpunkt oder am zwanzigsten Tag nach der Veröffentlichung treten diese in Kraft. Grds. liegt ein ausreichender Zeitraum zwischen Veröffentlichung und Inkrafttreten der Verordnung, damit die Adressaten unterrichtet werden können. -> EG-Richtlinien und Entscheidungen im Bereich des EGV und EAGV sind den in diesen selbst genannten Adressaten bekanntzugeben und werden durch die Bekanntgabe wirksam, vgl. Art. 191 Abs. 2 EGV (Art. 163 EAGV). Die Richtlinien und Entscheidungen, die von allgemeinem Interesse sind, werden zu Informationszwecken im Amtsblatt der EG veröffentlicht. Lit.: R. Bieber: Europäische Gesetzgebung nach dem Vertrag von Maastricht, in: ZG 1994, S. 297ff.; B. Beutler /Λ Bieber / J. Pipkorn u.a.: Die EU, Baden-Baden "1993, S. 212ÉF.
Dietmar O. Reich Rechtsetzungskompetenz bedeutet die —• Kompetenz, -> Recht zu setzen. Da Recht sich nicht auf die Summe formeller bzw. materieller -> Gesetze beschränkt, wie sich z.B. aus Art. 20 Abs. 3 GG (Recht und Gesetz) ergibt, sind Rechtsetzungsund Gesetzgebungskompetenz nicht dekkungsgleich, letztere vielmehr nur eine Teilmenge der ersteren. Ein Rechtsetzungsmonopol des —> Staates besteht nicht. Kompetent zur Setzung von für den Staat bzw. innerstaatl. verbindlichem Recht sind vielmehr auch Private (vgl. z.B. [Tarif-] Verträge, Vereinssatzungen) und internationale Organisationen. Ein besonderes Gewicht kommt dabei der R. der —> EG zu, da —> Gemeinschaftsrecht (Anwendungs-) Vorrang gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht genießt. Innerstaatl. ist die Entwicklung der R. in Dtld. namentlich durch eine Differenzierung der —> Staatsgewalt in Form der -> Gewaltenteilung einerseits - mit der Kon750
Rechtsföhigkeit sequenz der R. von -> Legislative wie -> Exekutive (Verordnungsermächtigung des Art. 80 GG) -, dem Prinzip des -> Bundesstaates (mit R. von —> Bund und -> Ländern) andererseits geprägt. Innerhalb der Verteilung der R. zwischen Bund und Ländern gehen Art. 30, 70fif. GG von der Regel der Länderkompetenz aus; demgegenüber liegt das faktische Schwergewicht der R. beim Bund. Dieser verfügt neben der in Art. 71-75 GG ausdrücklich aufgelisteten -> ausschließlichen, -» konkurrierenden, und -> Rahmengesetzgebung über Kompetenztitel kraft Sachzusammenhangs (namentlich Annexkompetenzen) bzw. aus der Natur der Sache. Lit: HdbStR III, § 61.
J. U. Rechtsfähige Anstalt —> Anstalt des öffentlichen Rechts —> Rechtsfähigkeit Rechtsfähiger Verein -» Verein —> Rechtsfähigkeit Rechtsfähigkeit Natürliche wie -> juristische Personen besitzen die Fähigkeit, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. Diese beginnt beim Menschen mit Vollendung der Geburt und endet mit seinem (neuerdings Gehirn-) Tod. Von dem Regelfall des Beginns hat das -> BGB Ausnahmen zugelassen. So kann das zwar gezeugte, aber noch nicht geborene Kind Erbe werden (§ 1923 Π), es kann einen Pfleger erhalten (§ 1912) oder eigene Schadensersatzansprüche (z.B. wegen entgangenen Unterhalts) erlangen. Besondere aktuelle Bedeutung hat dies u.a. im Zusammenhang mit der Infizierung mit Aids. Der Begriff R. korrespondiert mit dem der Parteifähigkeit im Prozeßrecht. Wer rechtsfähig ist, kann auch vor -> Gericht Kläger und Beklagter sein. Abzugrenzen ist die R. von der -> Geschäftsfähigkeit, welche darauf abzielt, ob jemand Rechtsgeschäfte (z.B. Verträge) wirksam abschließen kann. Geschäftsunfähig sind Mindeij ährige bis zur Vollendung des 7. Lj.; danach bis zur —• Volljährigkeit (18
Rechtshilfe
Rechtshilfe
Lj.) sind sie beschränkt geschäftsfähig, d.h. sie bedürfen von Ausnahmen abgesehen (z.B. Taschengeld-Geschäfte) der Zustimmung der gesetzlichen Vertreter. Neben den Menschen stattet die Rechtsordnung auch gewisse Vereinigungen mit eigener R. aus (Jurist. Personen). Diese sind Träger eigener Rechte und Pflichten; sie haben eine eigene, von ihren Mitgliedern unabhängige rechtl. Existenz. So können sie Verträge abschließen, Rechte (z.B. —> Eigentum) erwerben und übertragen oder Erbe sein. Für die jurist. Person handeln ihre Organe, durch deren Handlungen sie rechtl. gebunden wird. Wichtige jurist. Personen des -> Privatrechts sind die Aktiengesellschaft oder die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Dagegen besitzen die offene Handelsgesellschaft (oHG), die Kommanditgesellschaft (KG) oder die Partnerschaftsgesellschaft (PartG) keine R. (-> Gesellschaftsrecht); auch im -> öffentlichen Recht kommen jurist. Personen vor (z.B. —> Körperschaften und -» Anstalten). Lit : H.-J. Bauschke / H.D. Braun: Bausteine des Privatrechts, Köln 1996, S. 26; d/es. .Grundlagen des Zivilrechts, Regensburg 3 1995, S. 82.
Hans-Joachim Bauschke Rechtshilfe ist die Vornahme einer richterlichen Amtshandlung auf Ersuchen eines anderen -> Gerichts. Im Wege der R. kann nur um eine Tätigkeit gebeten werden, die zur sachlichen Zuständigkeit des ersuchenden Gerichts selbst gehört, welche es auch selbst wirksam vornehmen kann, es aber aus Zweckmäßigkeitsgründen dem ersuchten —» Richter überträgt (z.B. Zeugenvernehmung am Wohnort des Zeugen). Ob das Gericht die Maßnahme selbst vornehmen will oder darum im Wege der R. bittet, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Grundlage der R. ist ein R.ersuchen. Dieses hat die erbetene Tätigkeit genau und abschließend zu bezeichnen. Dem ersuchten Gericht darf vom ersuchenden Gericht keine eigene Entscheidung überlassen werden.
Der angerufene Richter ist lediglich der verlängerte Arm des ersuchenden Richters. Das Anliegen ist an das Amtsgericht zu richten, in dessen Bezirk die Amtshandlung vorgenommen werden soll (§ 157 I GVG). Alle Gerichte sind im Bereich ihrer Gerichtsbarkeit zur R. verpflichtet (§ 156 GVG, §§ 13, 106 ArbGG, §§ 14,173 VwGO, § 13 FGO, § 5 SGG). Die Bitte um R. darf grds. nicht abgelehnt werden (§ 158 GVG). Sie ist jedoch abzulehnen, wenn die bestimmte Handlung nach dem Recht des ersuchten Gerichts verboten ist. Ist das angerufene Gericht örtlich nicht zuständig, so gibt es das Gesuch an das zuständige Gericht ab. Dagegen kann es nicht prüfen, ob die ersuchte Handlung für das Verfahren erforderlich oder ob das Ansinnen zweckmäßig ist. Wird das Ersuchen abgelehnt, entscheidet das OLG (§ 159 GVG). Im Gegensatz zur R. bezeichnet man die Hilfeleistung, um die eine -»· Behörde das Gericht oder eine andere Behörde bittet, als —> Amtshilfe. Internationale R.e Die Befugnis zur Vornahme staatl. Akte endet an der Staatsgrenze. Deshalb ist internationale R. erforderlich. Als solche bezeichnet man die Unterstützung, die dem Gericht eines Staates durch Behörden oder Gerichte eines anderen Staates gewährt wird. Diese wird entweder aufgrund mehrseitiger Übereinkommen, zweiseitiger Abkommen oder auch vertraglos geleistet. Fehlt es an einem R.abkommen, so richtet sich die Gewährung von R. allein nach den innerstaatl. Vorschriften des ersuchten Staates. Dieser macht sie gewöhnlich davon abhängig, daß die Gegenseitigkeit gewährleistet ist. Für die internationale R. bestehen zahlreiche Verträge; z.B. fìir Zivilsachen die Haager Abkommen von 1965 und 1970, für Strafsachen Auslieferungs(—• Auslieferung als weitestreichendste R.maßnahme im Strafrecht) und R.verträge. Die Ersuchen werden zumeist auf diplomatischem Wege übermittelt, da der unmittelbare Weg von Gericht zu Gericht nur eingeschränkt zulässig ist. In ver-
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Rechtsmittel
Rechtsnorm
schiedenen Rechtsangelegenheiten (z.B. polit. Strafsachen) wird gewöhnlich keine R. geleistet. R. wird generell verweigert, wenn durch ihre Gewährung wesentliche Grundsätze der nationalen Rechtsordnung (ordre public) insbes. —• Grundrechte verletzt würden. In Zivilsachen ist die R.ordnung für Zivilsachen vom 19.10.1956 (ZRHO, BAnz Nr.1/1957 mit späteren Änderungen) maßgebend. Die bedeutendsten multilateralen Übereinkommen sind die Haager Übereinkommen von 1965 und 1970. Sie werden durch bilaterale Vereinbarungen mit verschiedenen Staaten ergänzt. Vertragliche R.abkommen in Strafsachen sind u.a. das Europ. Auslieferungsübereinkommen vom 13.12.1957 (BGBl. 1964 Π S. 1386 mit späteren Ergänzungen), das Europ. Übereinkommen über die R. in Strafsachen vom 20.4.1959 (BGBl. 1964 Π S. 1369 mit späteren Ergänzungen), das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21.3. 1983 (BGBl. 1991 Π S. 1006), sowie bilaterale Auslieferungsverträge. Lit.: O. R. Kissel: München 1995.
Gerichtsverfassungsgesetz,
Claudia Tiller Rechtsmittel Das R. ist eine qualifizierte Form des —> Rechtsbehelfs. Mit ihm kann der Betroffene die Überprüfung einer ungünstigen Gerichtsentscheidung durch ein höheres —> Gericht erreichen. Die Möglichkeit des R.s intensiviert damit die verfassungsmäßige Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) durch -> Rechtsschutz gegen Gerichtsentscheidungen. Zu den R. zählen die Berufung (Prüfung der Urteile des ersten Rechtszuges auf Fehler bei der Tatsachenerhebung und Rechtsfindung), die Revision (Prüfung der Urteile der Berufungsgerichte auf Rechtsfehler) sowie die —> Beschwerde. Gekennzeichnet - und gegenüber den sonstigen Rechtsbehelfen qualifiziert ist das R. durch den Devolutiveffekt (Prüfung durch eine höhere Instanz) und den Suspensiveffekt (Hemmung des Eintritts der Rechtskraft). Die Einlegung eines R.s ist regel-
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mäßig an bestimmte Voraussetzungen (Frist, Form, Mindeststreitwert, Zulassungsverfahren etc.) gebunden; die Arbeitsbelastung der Gerichte hat hier in den letzten Jahren zu signifikanten Verschärfungen geführt (einschneidend zuletzt etwa das 6. Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung vom 1.11. 1996, BGBl. I S. 1626). Auf das Bestehen eines R.s ist durch die R.belehrung hinzuweisen. J.M.
Rechtsnorm / -en (Rechtssatz) ist jede hoheitliche, generell-abstrakte Reglung, die auf eine unbestimmte Vielzahl von Fällen anwendbar ist (abstrakt) und sich an eine unbestimmte Vielzahl von Personen (generell) wendet (—• s.a. Recht). Aufgrund der allgemein verbindlichen Regelungen ist die R. Gesetz im materiellen Sinn. Die R.en werden eingeteilt in —y öffentliches Recht und —• Privatrecht. Sie können Bestandteil eines formellen Gesetzes, einer —> Rechtsverordnung, einer öffentl.-rechtl. -> Satzung, eines für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrages oder des Gewohnheitsrechts sein. Die R. ist dadurch geprägt, daß sie eine Rechtsfolge an einen Tatbestand knüpft. Diese Vorschrift nennt also Voraussetzungen (Tatbestände) und setzt für den Fall des Vorliegens eine bestimmte Folge fest. Beispiel hierfür ist § 303 StGB: „Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört" (Tatbestand), „wird mit Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren oder mit Geldstrafe bestraft" (Rechtsfolge). Neben der vollständigen R. stehen unvollständige R.en, die nicht unmittelbar Tatbestand und Rechtsfolge miteinander verknüpfen, sondern z.B. lediglich eine Geltungsanordnung treffen. Hierzu gehören erläuternde, einschränkende, verweisende oder fingierte Rechtssätze. Schwierigkeiten ergeben sich häufig für die Juristen in Rechtsprechung und Verwaltung bei der Feststellung, ob sich der ihnen vorliegende konkrete Sachverhalt unter einen abstrakten Tatbestand subsumieren läßt,
Rechtspolitik
Rechtspflege v.a. dann, wenn ein in der R. verwendeter Begriff auslegungsbedürftig (nicht eindeutig) ist. Dabei helfen bestimmte Auslegungsmethoden: 1. die grammatische Auslegung (nach Wortlaut und Wortsinn des Textes), 2. die histor. Auslegung (nach Entstehungsgeschichte der R.), 3. die systematische Auslegung (Stellung der R. im Normengefüge) und 4. die teleologische Auslegung (Zweck, der mit R.en verfolgt werden soll). Einige R.en eröffnen dem Rechtsanwender einen Entscheidungsspielraum, welcher eine, dem konkreten Einzelfall angemessene Reaktion ermöglicht (Ermessensentscheidungen). Lit: Κ. Lorenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaften, Berlin "1991, Kap. 2.
Claudia Tiller Rechtspflege —> Rechtssprechende Gewalt -> Justiz Rechtspfleger ist ein -> Beamter des gehobenen Justizdienstes. Er nimmt die ihm durch das Rechtspflegergesetz übertragenen Aufgaben der Rechtspflege wahr (§ 1 RPflG). Mit den Aufgaben eines R.e kann nur betraut werden, wer nach dem Abitur oder einem gleichwertigen Abschluß einen Vorbereitungsdienst von mindestens 3 Jahren (als R.anwärter) abgeleistet und die R.prüfung bestanden hat (§ 2 RPflG). Wer die Befähigung zum Richteramt erworben hat, kann auf Antrag auch zum R. bestellt werden. Der R. entscheidet selbständig und ist nur dem Gesetz unterworfen (§ 9 RPflG); er kommt daher der Stellung eines —> Richters beim Amtsgericht nahe. Ihm sind vor allen Dingen Aufgaben der Gerichtsbarkeit übertragen, die nicht zum Kembereich der rechtsprechenden Gewalt gehören (§§ 3, 4 RPflG). Der Aufgabenkreis des R.e beinhaltet insbes. Vereins-, Vormundschafts-, Nachlaß- und Teilungssachen, Handels- und Grundbuchsachen, Mahnverfahren wie Zwangsvollstreckung, Zwangsversteigerung und -Verwaltung, Kostenfestsetzung, Prozeßkostenhilfebewilligung sowie Konkurs- und Ver-
gleichsverfahren. R. werden auch als Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tätig und nehmen Aufgaben der Justizverwaltung wahr (§§26, 27 RPflG). Hinsichtlich der Übertragung von Aufgaben auf den R. unterscheidet man zwischen Voll-, Vorbehalts· und Einzelübertragung. In allen Fällen hat der R. trotz bestehender Zuständigkeit eine einzelne Sache dem Richter vorzulegen, wenn er von einer ihm bekannten Stellungnahme des Richters abweichen will, sich bei der Bearbeitung rechtl. Schwierigkeiten ergeben, ausländisches Recht anzuwenden ist oder zwischen dem ihm übertragenen Geschäft und dem eines Richters ein enger Zusammenhang besteht, so daß eine getrennte Behandlung nicht sachdienlich ist (§ 5 RPflG). Über Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Richter und R. entscheidet der Richter durch Beschluß (§ 7 RPflG). Die Wahrnehmung eines R.geschäfts durch den Richter ist trotz Kompetenzüberschreitung wirksam. Bei der umgekehrten Konstellation ist das Geschäft nur wirksam, wenn der R. es nach dem RPflG überhaupt wahrnehmen könnte, ansonsten unwirksam (§8 RpflG). Für die Ausschließung und Ablehnung des R. sind die für den Richter geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden. Über die Ablehnung des R.s entscheidet der Richter (§ 10 RPflG). Gegen die Entscheidungen des R.s ist der Rechtsbehelf der „ E r i n n e r u n g " zulässig (§ 11 RPflG) mit der Folge, daß das Gericht, dem der R. angehört, die Entscheidung herbeiführen muß. Lit: E. Arnold/ Κ. Meyer-Stolle: Rechtspflegergesetz, Bielefeld 41994.
Claudia Tiller Rechtspolitik bezeichnet die Gesamtheit aller institutionalisierten Verfahren und Handlungen wie ihre Ergebnisse, welche als Teilbereich der —> Politik auf die Gestaltung des —» Rechts und damit auf die Rechtsordnung eines polit. Gemeinwesens gerichtet sind. Träger der R. sind im Verfassungsstaat zunächst die —> 753
Rechtssatz
Rechtsschutz
Parlamente und die —> rechtsprechende Gewalt, v.a. die Verfassungsgerichtsbarkeit (s.a. Bundesministerium der Justiz). Hg-
Rechtssatz /-sätze —> Rechtsnorm Rechtsschutz bedeutet allgemein den durch die Rechtsordnung eingeräumten Schutz -> subjektiver Rechte und Rechtsgüter vor Verletzung und Gefährdung. Zu unterscheiden sind primärer und sekundärer R.; während der primäre gerichtliche R. Verletzungen und Schäden vermeiden soll, bevor sie eintreten, bezeichnet man den Ausgleich eingetretener Rechtsverletzungen durch Schadensersatz bzw. Entschädigung als sekundären R., der durch das teilw. durch Art. 34 GG verfassungsrechtl. Abgesicherte Staatshaftungsrecht gewährt wird. Umfassenden gerichtlichen Primärrechtsschutz gegen den —> Staat gewährt Art. 19 Abs. 4 GG jedem, der durch die öffentl. Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Der R. muß dem —> Bürger die Möglichkeit geben, seinen Standpunkt wirkungsvoll vorzutragen - insofern spielt das —> Grundrecht auf rechtl. Gehör des Art. 103 GG mit hinein -, der Streitgegenstand muß umfassend tatsächlich und rechtl. durch den —» Richter gewürdigt werden und die Streitigkeit durch eine verbindliche und durchsetzbare gerichtliche Entscheidung entschieden werden. Der Begriff der öffentl. Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG erfaßt die gesamte -* Exekutive, also —> Regierung, Verwaltungsbehörden und Beliehene. Ausgenommen sind aber Eingriffe in das -> Postund Femmeldegeheimnis (Art. 10 GG), bei denen eine parlament. Kontrolle an die Stelle des gerichtlichen R.es tritt. Art. 19 Abs. 4 GG verspricht nur R. gegen öffentl.-rechtl. Handeln des Staates, so daß privatrechtl. Handeln ebenfalls nicht erfaßt wird. Das beruht darauf, daß ein hoheitlicher Eingriff, also eine einseitig verfügte Rechtsbeeinträchtigung, nur in dem durch Über-Unter-Ordnung gepräg-
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ten öffentl.-rechtl. Verhältnis erfolgen kann, sich privatrechtl. Staatshandeln dagegen zwangsläufig auf Gleichordnungsebene vollzieht. Nicht garantiert wird R. gegen Rechtsprechungsakte (R. durch die Gerichte, nicht gegen sie). Verfassungsrechtl. ist also kein gerichtlicher Instanzenzug vorgeschrieben. Auch legislative Akte und solche ausländischer Staatsgewalt werden nicht von dem grundrechtl. R.versprechen erfaßt. Das gilt auch für Maßnahmen der —> Europäischen Gemeinschaften, die nicht vor nationalen Gerichten angegriffen werden können. R. wird aber primär vor dem —> Europäischen Gerichtshof und sekundär durch einen gemeinschaftsrechtl. Schadensersatzanspruch gewährt. Zu beachten ist, daß der R.anspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG für den Bereich der Enteignungsentschädigung durch Art. 14 Abs. 3 GG, für den der —»• Amtshaftung durch Art. 34 S. 3 GG verdrängt und der Zivilrechtsweg verfassungsrechtl. vorgeben wird. Rechtshistiorisch ist Art. 19 Abs. 4 GG gegenüber dem ähnlich lautenden Art. 107 der —> Weimarer Reichsverfassung („Im Reiche und in den Ländern müssen nach Maßgabe der Gesetze Verwaltungsgerichte zum Schutze der einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden bestehen"), der nicht als unmittelbar anwendbares Recht, sondern als Gesetzgebungsauftrag verstanden wurde, ein Novum, da er als Grundrecht unmittelbare Geltung gegenüber aller Staatsgewalt beansprucht. Das zeigt sich etwa an der subsidiären aber unabdingbaren Eröffnung des Zivilrechtsweges. Das verfassungsrechtl. R.versprechen des Art. 19 Abs. 4 GG erfüllt einfachrechtl. in erster Linie die Generalklausel des § 40 VwGO, die den Rechtsweg zu den allgemeinen —> Verwaltungsgerichten für alle öffentl.-rechtl. Streitigkeiten nichtverfassungsrechtl. Art eröffnet, sofern keine abdrängende Sonderzuweisung an eine andere Gerichtsbarkeit besteht. Insofern sind insbes. die Zuständigkeiten der -> Finanzgerichte in Steuersachen und der ->
Rechtsschutz Sozialgerichte in Sozialversicherungsangelegenheiten zu beachten. Soweit keine spezielle gerichtliche Zuständigkeit besteht, kann aufgrund von Art. 19 Abs. 4 GG die -> ordentliche Gerichtsbarkeit subsidiär (—> Subsidiarität) angerufen werden. Aufgrund der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel des § 40 VwGO kommt dieser Vorschrift keine Bedeutung mehr zu. Vor Erlaß der VwGO herrschte in der —> Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet des Verwaltungsprozeßrechts Rechtszersplitterung, da nach dem Π. Weltkrieg in den Besatzungszonen unterschiedliche Regelungen galten. Etwa die für die amerik. Zone gültige Militärrechtsverordnung Nr. 165 gewährte Verwaltungsrechtsschutz nach dem Enumerationsprinzip nur gegen bestimmte Handlungsformen der Verwaltung (-> Verwaltungsakt). So bestimmte die behördliche Handlungsform darüber, ob der Bürger überhaupt um primären R. nachsuchen konnte. Diesem mit dem umfassenden R.versprechen des Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbaren Zustand hat die Generalklausel des § 40 Abs. 1 VwGO ein Ende gemacht. Die behördliche Handlungsform dirigiert nur noch die zulässige Klageart, also das „Wie" des R.es. Verwaltungsrechtl. R. spielt häufig in mehrpoligen Rechtsverhältnissen, an denen neben dem Staat auch mehrere Bürger beteiligt sind, so z.B. bei der Nachbarklage gegen Baugenehmigungen oder anlagenrechtl. Erlaubnisse, die den Vorhabenträger begünstigen, den drittbetroffenen Nachbarn dagegen evtl. belasten (Verwaltungsakt mit Doppelwirkung). Das -» Prozeßrecht darf sich bei der Gewährung von R. also nicht darauf beschränken, nur den Belangen des belasteten Dritten Rechnung zu tragen, sondern muß auch die Interessen des begünstigten Adressaten der Verwaltungsmaßnahme angemessen berücksichtigen. Dem entspricht seine Beteiligung in Anfechtungssachen als notwendiger Beigeladener, §§ 65f. VwGO. Neben den Gerichten ist auch die Ver-
Rechtsprechende Gewalt waltung dazu berufen, den Rechten des Bürgers hinreichende Geltung zu verschaffen, was insbes. die Forderung nach Grundrechtsschutz durch Verfahren verdeutlicht. Daneben gibt es förmliche und formlose verwaltungsinterne —> Rechtsbehelfe. Förmlicher Rechtsbehelf sind der Widerspruch (-> Widerspruchsverfahren) gem. §§ 68ff. VwGO, mit dem ein belastender Verwaltungsakt angefochten oder der Erlaß eines begünstigenden begehrt werden kann, und der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung eines belastenden Verwaltungsaktes gem. § 80 VwGO. Formlose Rechtsbehelfe, die ohne Beachtung einer Form oder Frist eingelegt werden können, sind die Gegenvorstellung (Kundgabe einer abweichenden Beurteilung durch den Bürger), die Dienstbeschwerde gegen das dienstliche Verhalten und die —> Dienstaufsichtsbeschwerde gegen das persönliche Verhalten eines —> Beamten. Die formlosen Rechtsbehelfe haben im —> Petitionsrecht (Art. 17 GG) ihren Ursprung, bieten aber keine Möglichkeiten zur zwangsweisen Durchsetzung und sind daher in der Praxis nur von geringer Bedeutung. Lit: F. Hufen: Verwaltungsprozeßrecht, München 1996; Maunz / Zippelius, § 12 III 7 (Art. 19 Abs. 4 GG), § 40; K. Redeker / JJ. v. Oertzen: Verwaltungsgerichtsordnung, Stuttgart 121997; H.W. Rengeling / A . Middeke /M. Gellermann: Rechtschutz in der EU, München 1994. Tobias Linke
Rechtsprechende Gewalt / Judikative Die -> Bundesrepublik Deutschland ist entsprechend den Vorgaben des Bonner -» Grundgesetzes ein sozialer und demokrat. -> Rechtsstaat. Das Rechtsstaatsprinzip bedingt auf der einen Seite Rechtssicherheit und auf der anderen Seite -> Gerechtigkeit. Voraussetzung hierfür sind die Prinzipien der -> Gewaltenteilung, der Bindung der -> Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und der Gesetzmäßigkeit der -» Verwaltung. Gewaltenteilung bedeutet die strikte Trennung von gesetzgebender, ausführen755
Rechtsprechende Gewalt der und richterlicher Funktion, und zwar jeweils durch getrennte, voneinander unabhängige —> Institutionen, um die Konzentration staatl. Macht in den Händen eines einzelnen oder einer gesellschaftl. Gruppe zu verhindern. Dieses Verfassungsprinzip des Art. 20 GG ist gem. Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich. Im Rahmen dieser Aufteilung der —> Staatsgewalt sorgt die r.G. für die verbindliche Rechtsauslegung und für die Anwendung der Rechtsnormen auf den jeweils konkreten Einzelfall. Die r.G. obliegt gem. Art. 92 GG den unabhängigen -> Gerichten, an deren Spitze das —> Bundesverfassungsgericht und die 5 obersten Gerichtshöfe des Bundes (-> Bundesgerichte) stehen. Sie werden komplettiert durch die Gerichte der Länder. Neben der Rechtsfindung im konkreten Einzelfall kommt der Auslegung von Rechtsnormen durch die r.G. eine große Bedeutung zu. Oftmals reicht die einfache Unterordnung eines Sachverhaltes unter einen gesetzlichen Tatbestand (Subsumtion) nicht aus, um einen Fall zu entscheiden. In derartigen Fällen ist eine ergänzende Auslegung von Normen durch die Judikative eine wichtige Aufgabe. Sie ist immer dann notwendig, wenn die Bedeutung rechtl. Begriffe im Einzelfall genau bestimmt werden muß. Im modernen Rechtsstaat ist die Judikative vielfältig gegliedert, in ihrem Aufbau und ihrer Struktur spiegeln sich die verschiedenartigen Aufgaben und das rechtsstaatl. Bedürfnis nach umfassendem —> Rechtsschutz wider. In der BRD ist die r.G. in verschiedene Gerichtsbarkeiten unterteilt. Neben der -> Ordentlichen Gerichtsbarkeit (Zivil- und Strafgerichte), deren Begriff sich aus der histor. Entwicklung herleitet, wurden Zweige besonderer Gerichtsbarkeit geschaffen, wie z.B. die —> Verwaltungs-, -> Sozial-, —> Finanz- und -> Arbeitsgerichtsbarkeit. Die —» Ordentliche Gerichtsbarkeit umfaßt die Zivil- und Strafgerichte (Amtsgerichte, Landgerichte, -» Oberlandesgerichte und —> Bundesgerichtshof) sowie die Angelegenheiten der 756
Rechtsstaat freiwilligen Gerichtsbarkeit. Etwa 3/4 der bundesdt. -> Richter sind in diesem Bereich tätig. Während vor den Zivilgerichten privatrechtl. Streitigkeiten zwischen —> Bürgern entschieden werden, führen die Strafgerichte Prozesse durch, in denen die —> Staatsanwaltschaft Verstöße gegen strafrechtl. Normen zur Anklage bringt. Die -+ Arbeitsgerichtsbarkeit ist zuständig für Streitigkeiten zwischen den —> Tarifvertragsparteien, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie für bestimmte Angelegenheiten der Mitbestimmung. Es bestehen Arbeitsgerichte, Landesarbeitsgerichte und als oberste Instanz das Bundesarbeitsgericht. Vor den Verwaltungsgerichten (Verwaltungsgericht, Oberverwaltungsgericht bzw. Verwaltungsgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht) werden öffentl.-rechtl. Streitigkeiten nichtverfassungsrechtl. Art ausgetragen, z.B. Streitigkeiten mit -» Behörden. Sozialgerichte (Sozialgericht, Landessozialgericht, Bundessozialgericht) entscheiden hauptsächlich über Streitigkeiten in Angelegenheiten der -» Sozialversicherung, der —> Arbeitslosenversicherung und in Angelegenheiten der Schwerbehinderten. -> Finanzgerichte (Finanzgericht, Bundesfinanzhof) entscheiden über steuerrechtl. Streitigkeiten, wie z.B. Anfechtung von Steuerbescheiden. Schließlich besteht für die Bürger bei Grundrechtsverletzungen durch die öffentl. Gewalt die Möglichkeit, —> Verfassungsbeschwerde beim BVerfG in Karlsruhe einzulegen. Lit: C. Häsemeyer (Hg.): Rechtsprechung heute, Frankfiiit/M. 1996; R. Hoppe (Hg.): Rechtsprechungslehre, Köln 1992; H. D. Jarass / B. Pieroth: GG-Komm., München "1997.
Hans Meyer-Albrecht Rechtsstaat Grundlegende Bedeutung Das R.sprinzip gehört zu den elementaren Prinzipien des - » Grundgesetzes, die als sog. Verfassungsstrukturbestimmungen die Grundlagen des —> Staates und der —» Verfassung formen. Sein Inhalt wird in Art. 20 Abs. 3 GG kurz und präzise benannt: Die Ausübung jeglicher —> Staats-
Rechtsstaat gewalt ist an die Verfassung, die Gesetze und das —» Recht gebunden. Das - » Parlament als oberster Souverän in der —> Demokratie ist im R. also nicht frei, es muß die Vorgaben der Verfassung beachten. Darüberhinaus sind auch die —> Verwaltung und die unabhängigen Gerichte gebunden. Das R.sprinzip prägt die gesamte Rechtsordnung und ist in einer Fülle von einzelnen Bestimmungen konkretisiert und für den Rechtsalltag handhabbar gemacht worden. Als abstraktes Prinzip, das den Staat zu seiner Verwirklichung verpflichtet, und durch die Summe seiner Konkretisierungen schützt und sichert es die -> Freiheit der —> Staatsbürger vor dem Staat. Die Bedeutung der R. sidee reicht aber über das GG hinaus. Das R.sprinzip ist in nahezu jeder westeurop. Verfassung zu finden. Eine ganze Reihe der osteurop. Reformstaaten hat den R.sgedanken inzwischen in die Verfassung integriert, ein Großteil verfolgt jedenfalls das polit. Ziel, rechtsstaatl. Verhältnisse zu schaffen. Die -> Europäische Union ist von R.sgrundsätzen geprägt. Die —> Europäische Menschenrechtskonvention, eine der wichtigsten europ. Verträge, garantiert elementare Menschenrechte, die Konkretisierungen der R. sidee sind. Histor. Entwicklung Die Wurzeln der R. sidee lassen sich histor. weit zurückverfolgen. Die Grundidee des R.s kam bereits im Altertum auf. In seiner Nikomachischen Ethik schreibt Aristoteles: Das Gesetz aber hat eine zwingende Kraft; es ist ein Ordnungsprinzip, das auf sittlicher Einsicht und Vernunft beruht. Damit war schon in aller Prägnanz das Wesen des R.s charakterisiert. Dennoch wurde der R. erst im 19. Jhd. zu einer KernVorstellung des Staatsdenkens und des —> Staatsrechts. Sein Ziel ist es, die Machtausübung des Staates zu begrenzen und die —>• Freiheitsrechte der Staatsbürger institutionell zu garantieren. Im Laufe der histor. Entwicklung erhielt das Konzept des R.s maßgeblich eine formale Prägung. R.lichkeit bedeutete danach, daß alle
Rechtsstaat staatl. Machtäußerungen auf Gesetze zurückführbar und an Gesetzen meßbar sein sollten. Der formale R. war durchaus erfolgreich. Durch die —» Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und einen umfassenden - » Rechtsschutz gegen Akte der öffentl. Gewalt gelang es ihm, den Willkürstaat zu überwinden und die Freiheit der Staatsbürger erst zu schaffen, dann zu sichern. Der formale R. ist ein Beleg für die These von der „Form als der geschworenen Feindin der Willkür." (Ihering) Im nationalsozialistischen Unrechtsstaat (—• Nationalsozialismus) allerdings trat die Begrenztheit des bloß formalen R.s offen zutage: Die Gesetze selbst enthielten nicht selten krasses Unrecht. Formale, rechtstechn. Regeln hatten nicht ausgereicht, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu verhindern. Daraus wuchs die Erkenntnis, daß der R. nicht nur formal, als ein „System rechtstechn. Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit" (Forsthoff) verstanden werden dürfe. Das GG hat daraus die Konsequenzen gezogen. Über die rein formal-techn. Regeln hinaus hat es den R. auf ein inhaltliches Ziel verpflichtet: Den Schutz der - » Menschenwürde, die Verwirklichung und Sicherung von —> Freiheit und - » Gleichheit der Staatsbürger, den sozialen Ausgleich in der Gesellschaft. Genau in dieser Verbindung von Form und Inhalt liegt die Eigenart des bundesdt. R.skonzepts. Der R. im System des GG Die Verfassung der —> Bundesrepublik Deutschland stellt ein einheitliches System dar. Dementsprechend bildet auch das R.sprinzip mit anderen Fundamentalnormen des GG ein System gegenseitiger Zusammenhänge, Ergänzungen und Verstärkungen. Besonders deutlich wird das in Art. 28 GG, der von „Grundsätzen des republikanischen, demokrat. und sozialen Rechtsstaates i.S. dieses GG" spricht. Der R. des GG kann also nicht isoliert betrachtet werden, wenn man seine volle Bedeutung erfassen will.
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Rechtsstaat Er muß in jedem Fall in seiner Beziehung zur Demokratie und zu den Prinzipien des —» Bundesstaates und des —» Sozialstaates gesehen werden. R. und Demokratie sind beides Formen rationaler —> Herrschaft, von Machtteilung und von Abwehr des Machtmißbrauchs. Beide setzen dabei aber unterschiedliche Akzente und ergänzen und verstärken sich dadurch. Die Demokratie ist das dynamische und gestaltende Element in diesem gemeinsamen System. Sie umfaßt den lebendigen polit. Prozeß, der - im Idealfall jedenfalls - immer neue Ideen und Problemlösungen hervorbringt, diskutiert und durchsetzt. Demgegenüber ist der R. eher das beharrende und bewahrende Moment im GG. Er formuliert die grundlegenden Ziele der Verfassungsordnung - Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, sozialer Ausgleich -, schafft dauerhafte —» Institutionen und stellt techn. Regeln zur Verfügung. Ohne diesen grundsätzlichen Rahmen würde das (polit.) Leben in der modernen, hochdifferenzierten Gesellschaft nicht funktionieren können. Augenfällig zeigt sich das bei den Reformentwicklungen der osteurop. Staaten, die jedenfalls in ihrer Mehrzahl diese Bedeutung des R.s erkannt haben und daraus verfassungspolit. Konsequenzen ziehen. Umgekehrt ist aber der R. ebenfalls auf die Demokratie angewiesen. Denn erst der demokrat. Prozeß kann die Inhalte schaffen, die der R. dann schützen und bewahren soll. Ergänzt werden beide durch das Bundesstaats- und das Sozialstaatsprinzip. Der R. des GG ist ein sozialer R.; denn zu den grundlegenden Zielen, die ihm von der Verfassung gesetzt werden, gehört auch der soziale Ausgleich. R. und Demokratie leben von den unterschiedlichen Spannungen und versuchen, sie konstruktiv umzusetzen. Als ausgleichendes Element wird ihr eher spannungsreiches Miteinander durch das Sozialstaatsprinzip ergänzt, das ganz dezidiert den Abbau und Ausgleich sozialer Spannungen verfolgt. Dieses verschränkte und aufeinander bezogene System wird durch ein weiteres Element abgerundet:
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Rechtsstaat das Bundesstaatsprinzip. Es fügt der horizontalen Gewaltenteilung des R.s eine vertikale Gewaltenteilung, besser: Gewaltenverschränkung hinzu. Die Staatsmacht wird aufgeteilt zwischen -> Bund und -> Ländern. Gleichzeitig wird' die demokrat. Struktur der BRD modifiziert und aufgelockert. Insg. wird die Anzahl der unterschiedlichen Akteure im polit. Prozeß vergrößert, die polit. Auseinandersetzung wird vielfältiger, das Spektrum der eingebrachten und berücksichtigten Interessen wird größer. Ausprägungen des R.s Das R.sprinzip ist im Lauf der Zeit durch eine ganze Reihe von Rechtsgrundsätzen konkretisiert worden, die den Alltag der Staatsbürger unmittelbarer betreffen als das abstrakte Prinzip an sich. Die Gewaltenteilung und die Grundrechte sind als integrale Bestandteile des R.s bereits genannt worden. Von besonderer Bedeutung als Konkretisierungen des R.sprinzips sind der Gesetzesvorrang und der —> Gesetzesvorbehalt, die Rechtssicherheit, das Verhältnismäßigkeitsprinzip, die Staatshaftung und die Garantie eines effektiven Rechtsschutzes durch unabhängige Gerichte. Der Vorrang des Gesetzes bedeutet, daß die Verwaltung bei ihrem Handeln nicht gegen geltendes Recht verstoßen darf. Der Staatsbürger wird durch diesen, vor Gericht einklagbaren Grundsatz gegen rechtswidriges Staatshandeln geschützt. Ebenfalls dem Schutz des Staatsbürgers dient der Gesetzesvorbehalt: —> Behörden dürfen ohne eine gesetzliche Ermächtigung nicht in Rechtsgüter der Bürger eingreifen. Eingriffe sind also dem Gesetz vorbehalten. An dieser Stelle wird die bereits erwähnte enge Verbindung von R. und Demokratie deutlich. Der -> Gesetzesvorbehalt hat nämlich nicht nur eine rechtsstaatl., die Freiheit des Bürgers schützende Funktion. Er hat daneben eine demokrat. Funktion. Als sog. —> Parlamentsvorbehalt bestimmt er nämlich, daß das Parlament als oberster demokrat. Souverän alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muß und sie nicht der
Rechtsstaat Regierung überlassen darf. Von erheblicher Bedeutung für den Alltag der Staatsbürger ist der Grundsatz der Rechtssicherheit. Die Rechtsordnung muß bestimmt, klar und verläßlich sein. Die Bürger müssen sich auf das Recht einrichten und auf seinen Bestand vertrauen können. Auch das ist ein Aspekt der Freiheit. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz schützt die Bürger davor, daß der Staat im Übermaß in ihre Rechte eingreift. Ein ausgefeiltes System der Staatshaftung rundet den rechtsstaatl. Freiheitsschutz ab: Wenn der R. Rechte seiner Staatsbürger verletzt hat, muß er dafür haften und Schadensersatz oder Entschädigung leisten. Das R.sprinzip sichert die materiellen Freiheitsgarantien prozessual ab: Es enthält nämlich auch die Garantie eines umfassenden und effektiven gerichtlichen Schutzes gegen alle Übergriffe des Staates. Probleme Gefahren drohen dem R.sprinzip von 2, sich nur scheinbar ausschließenden Tendenzen: dem Abbau rechtsstaatl. Sicherungen und der Übemormierung weiter Teile von Staat und Gesellschaft. Stets aktuell ist die Gefahr, daß rechtsstaatl. Grundsätze in der Staatspraxis verletzt werden und dadurch die Freiheitssphäre der Bürger eingeschränkt wird. Das gilt sowohl für das Handeln einzelner Behörden als auch für den —> Bundestag. Nicht jedes Gesetz, das vom Parlament verabschiedet wird, genügt inhaltlich rechtsstaatl. Anforderungen. Nicht selten führt ein - tatsächlicher oder scheinbarer - Zielkonflikt zwischen der R.lichkeit staat1. Handelns und seiner Effizienz zu einem Abbau rechtsstaatl. Freiheitssicherungen. Eine Fülle von Beispielen für diesen Befund findet sich v.a. im Umwelt- und Planungsrecht, aber auch im Strafrecht und der Strafprozeßordnung (-> Strafprozeßrecht). Gleichzeitig ist der R. durch eine ganz andere Entwicklung gefährdet. Durch ein Übermaß an Gesetzen, - > Verordnungen, - » Verwaltungsvorschriften - Schlagwort Normenflut - droht der R. zum bloßen
Rechtsverordnung Vorschriftenstaat zu werden. Ein Mehr an Normen, Regeln, Rechtsmittelinstanzen und Gerichtsurteilen erhöht aber nicht zwangsläufig die rechtsstaatl. Substanz einer Rechtsordnung. Die fortschreitende Verrechtlichung aller Lebensbereiche führt im Gegenteil nicht nur zur Immobilität von Staat und Gesellschaft. Sie beseitigt durch die Übernormierung gerade die Freiheit der Staatsbürger, die der R. erhalten will. Wie bei allen grundlegenden Verfassungsbestimmungen kommt es auch beim R.sprinzip darauf an, immer wieder eine Balance zwischen notwendiger rechtl. Fundierung der Freiheit und schädlicher, Freiheit beschränkender Übernormierung zu finden. Dabei gibt es keinen statischen Idealzustand, der ein für allemal erreicht und gesichert werden könnte. Die Verwirklichung von Verfassungszielen ist ein dynamischer, permanenter rechtl. und polit. Prozeß, an dem eine Fülle von Akteuren beteiligt ist. Lit.: D. Basta (Hg.): Rechtsstaat Berlin 1993; HdbStR L, S. 987ff.; HdbVerß, S. 719ff.; Hesse·. R. Hofman (Hg.): Rechtsstaatlichkeit in Europa, Heidelberg 1996; P. Kunig: Das Rechtsstaatsprinzip, Tübingen 1986; S. Smid (Hg.): Gerechtigkeit und Rechtsstaat, Frankfurt/M. 1996.
Volker Neßler Rechtsstaatlichkeit —» Rechtsstaat Rechtsstaatsprinzip —> Rechtsstaat Rechtsverordnung / -en Die R. ist eine Handlungsform der —» Exekutive zur Ausübung rechtsetzender Gewalt. In der Parlament. —> Demokratie - mit der Repräsentationskörperschaft des Volkes im Zentrum der Staatlichkeit und dem Parlamentsgesetz an der Spitze der Normenhierarchie - erscheint Rechtsetzung als Pflichtaufgabe des -> Parlaments, die R. der Exekutive demgegenüber als begründungsbedürftige Ausnahme. Andererseits hat sich die exekutivische Normgebung im modernen Industriestaat als unabweisbare Ergänzung der parlement. —> Gesetzgebung erwiesen. So ergingen in Dtld.
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Rechtsverordnung während der 12. Wahlperiode des Bundestages (1990-1994) 1.695 R.en, aber nur 493 —> Gesetze. In dieser Spannungslage bedürfen die konkurrierenden Rechtsquellen verfassungsrechtl. Zuordnung. Das -» Grundgesetz bindet in Art. 80 Abs. 1 die Verordnungsgebung an eine Ermächtigung durch Gesetz (Delegationsvorbehalt), adressiert an die —> Bundesregierung, einen -» Bundesminister oder die —> Landesregierungen (Erstdelegatare). Die Ermächtigung kann, wenn es das ermächtigende Gesetz zuläßt, im Wege der Subdelegation auf nachgeordnete Stellen in der —> Verwaltung weiter übertragen werden. Unbestimmte Generalermächtigungen sind unzulässig. Art. 80 Abs. 1 GG verlangt, daß Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt sein müssen. Die R. erweist sich danach als unselbständige, vom Parlamentsgesetz sowohl abgeleitete als auch begrenzte Rechtsquelle. Zu Unrecht gilt Art. 80 GG als verfassungsfestes Verbot parlament. Selbstentmachtung nach Art der —> Ermächtigungsgesetze in der Zeit der —> Weimarer Republik. Denn in der Form der Verfassungsdurchbrechung begaben sich damals verfassungsändernde Mehrheiten ihrer Legislativgewalt; Ermächtigungsgesetze dieser Art stießen heute nicht auf die Restriktionen des Art. 80 GG, sondern auf die Grenzen der -» Verfassungsänderung. Über den Wortlaut von Art. 80 GG hinaus begrenzt der auf die -> Wesentlichkeitstheorie gestützte -> Parlamentsvorbehalt die Delegationsbefugnis des Gesetzgebers. Beschränkt und konzentriert sich das Parlament nach dieser Doktrin auf das Wesentliche, auf die bei ihm monopolisierten polit. Leitentscheidungen, so verbleiben der R. die - freilich unverzichtbaren fachorientierten Durchfilhrungsvorschriften und die Regelung nachrangiger, techn. Details. Die sog. Zustimmungsverordnung will sowohl der Rechtsetzungsverantwortung als auch dem Entlastungsbedarf des Par760
Rechtsweg laments Rechnung tragen: Mit der Ermächtigung unter Zustimmungsvorbehalt gibt der —> Bundestag dem schnelleren und einfacheren Verfahren der Verordnungsgebung Raum, doch sichert er sich zugleich entscheidenden Einfluß auf das Wirksamwerden der R. (Art. 80 Abs. 2 GG: Zustimmung des —• Bundesrates). Unzulässig ist dagegen ein Änderungsvorbehalt, mit dem der Bundestag das Recht zur inhaltlichen Korektur der R. durch Parlamentsbeschluß in Anspruch nimmt (sog. Änderungsverordnung). Insoweit ist das Parlament auf seine ureigene Handlungsform verwiesen, auf das —> formelle Gesetz, welches jederzeit an die Stelle einer R. treten kann (Vorrang des Gesetzes). Die -> Bundesländer sind nicht an das legislative Delegationsmodell des Art. 80 GG gebunden, doch verlangt das Homogenitätsgebot (Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) die demokrat. und rechtsstaatl. Anbindung der Verordnungsgebung an die parlament. Gesetzgebung auch in den Ländern (-> s.a. Verwaltungsverordnung -> s.a. Satzung). Lit.: HdbStR III, S. 387ff; H. Schneider: Gesetzgebung, Heidelberg 21991 ; S. Studenroth: Einflußnahme des Bundestages auf Erlaß, Inhalt und Bestand von Rechtsverordnungen, in: DÔV 1995, S. 525ff. Ulrich Hufeid
Rechtsvorschriften sind für jedermann verbindlich geltende —> Rechtsnormen (Rechtssätze) des geschriebenen -> Rechts. Der Begriff vereint alle Formen des —> Gesetzes im materiellen Sinne (-> Verfassung, förmliches Gesetz, —> Rechtsverordnung, -> Satzung). Sie sind von Verwaltungsvorschriften, die nur die staatl. Verwaltung (intern) binden, und sonstigen gesellschaftl. Regeln (Sitte, Ethik, Moral, gewohnheitsmäßige Prinzipien) abzugrenzen. C. T.
Rechtsweg —> Rechtswegegarantie
Rechtswegegarantie Rechtswegegarantie ist die jedermann zustehende Möglichkeit, staatl. Verletzungen seiner Rechte gerichtlich überprüfen zu lassen. Da der Wert von Rechten mit ihrer gerichtlichen Durchsetzbarkeit steht oder fällt, bildet die als prozessuales —> Grundrecht oder formelles Hauptfreiheitsrecht bezeichnete R. ein tragendes Element des Rechtsstaatsprinzips (Schlußstein im Gewölbe des -> Rechtsstaates). In Dtld. ist sie erstmals in den Grundrechtsteilen des -> Grundgesetzes - Art. 19 Abs. 4 - und der Verfassungen der Länder (-> Landesverfassungen) enthalten. Da ein -> Rechtsschutz gegen den Staat durch staatl. Gerichte nur dann Sinn ergibt, wenn die Richter nicht an staatl. Weisungen gebunden sind, ist die durch Art. 97 GG gewährleistete Unabhängigkeit der Richter eng verbunden mit der R.; ferner garantiert Art. 19 Abs. 4 GG eine vollständige Nachprüfung durch das Gericht einschließl. einer gerichtlichen Tatsachenermittlung sowie insg. ein effektives und faires Verfahren. Nicht umfaßt ist die Möglichkeit, mehrere Instanzen zu durchlaufen. Wenn keine Zuständigkeit eines speziellen Gerichts (z.B. Verwaltungs-, Finanz-, Sozialgericht) vorliegt, steht nach Art. 19 Abs. 4 S. 2 GG immer der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten (Amts-, Land-, Oberlandesgericht, BGH) offen. Die öffentl. Gewalt, vor der Art. 19 Abs. 4 GG nach seinem Wortlaut den —> Bürger schützt, ist die vollziehende Gewalt, die z.B. —• Verwaltungsakte erläßt. Dagegen leitet die h.M. u.a. aus der histor. Entwicklung der R. ab, daß die —• Gesetzgebung nicht zur öffentl. Gewalt i.S. von Art. 19 Abs. 4 GG zählt; damit sind Gesetze grds. nicht gerichtlich nachprüfbar, sondern unterliegen allein der Kontrolle durch das BVerfG nach den speziellen Vorschriften der Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 4a, 100 GG. Ebenso wird die Rechtsprechung nicht zur öffentl. Gewalt i.S. von Art. 19 Abs. 4 GG gezählt. IM.: HdbStR VI, S. 1233ff; E. Schmidt-Aßmann: Art. 19 Abs. 4 GG als Teil des Rechts-
Rede staatsprinzips, in: NVwZ 1983, S. Iff. Nicolai Müller-Bromley
Rede, parlamentarische Der Begriff -> Parlament für die —> Volksvertretung stammt aus dem frz. (parier) / engl. Sprachraum und bezeichnet den Ort, an dem geredet wird (parliament). Die Sprache ist damit das wichtigste Element der Verständigung bei der Herstellung des polit. Willens in der demokrat. Volksvertretung. Neben der Abstimmungsbeteiligung ist die R. die entscheidende Form die Teilnahme an der Parlament. Arbeit. Dies gilt sowohl für das -> Plenum wie für die -> Ausschüsse, wobei die R. in beiden Gremien unterschiedlichen Zwekken dient. Während in den Ausschüssen das fachlich-polit. Ringen um die inhaltliche Gestaltung von —> Gesetzen und anderen Vorlagen (Entschließungen, Erklärungen usw.) im Vordergrund steht, ist die Aufgabe der Plenarrede, dem -» Volk und der -> Öffentlichkeit zu erläutern, aus welchem Grunde eine bestimmte Materie gesetzlich gerade so oder warum sie nicht anders geregelt, warum eine bestimmte —> Politik verfolgt oder nicht verfolgt werden soll. Adressat der Plenarrede sind daher nicht die im Parlament anwesenden Abgeordneten, sondern neben dem —> Protokoll (das die wichtigste Quelle der Gesetzesmaterialien für die spätere Auslegung durch Wissenschaft, Praxis und —> Gerichte darstellt) die allgemeine Öffentlichkeit. Es ist deshalb ein schwerwiegendes Mißverständnis, wenn es als Vorwurf verstanden wird, eine R. im Parlament werde „zum Fenster hinaus" gehalten. Gerade das ist ihr eigentlicher Zweck. Es mag dahingestellt bleiben, ob es je histor. ein -> Honoratiorenparlament i.d.S. gegeben hat, daß an diesem Ort rhetorisch und intellektuell begnadete Persönlichkeiten durch R. und Gegenrede einander von der Richtigkeit ihrer Auffassungen und Standpunkte überzeugt haben, um so aus der Dialektik von Argument und Gegenargument zur objektiv richtigen oder dem abstrahierbaren —> Gemeinwohl am ver-
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Rede nünftigsten dienenden Synthese des besten Gesetzes oder der richtigen Sachentscheidung zu gelangen. Selbst wenn man voraussetzte, daß es so etwas wie ein jedermann einschließendes objektives Gemeinwohl gäbe, das abstrakt von Interessen und Machtlagen feststell- und durchsetzbar wäre, dann müßte seine Verwirklichung daran scheitern, daß es kein Kriterium seiner Objektivität gibt. Wollte man das Gegenteil annehmen, dann salbte man in gefährlicher Weise jede Mehrheitsentscheidung mit der Fähigkeit, mit Hilfe der Entscheidungen von dem Irrtum unterworfenen Menschen objektive Wahrheiten zu erzielen. Noch niemand hat darlegen können, wie ein solcher dialektischer Sprung erklärbar sein sollte. Das Parlament ist daher die Btlhne der —> Nation. Von seinem Rednerpult aus haben die Abgeordneten den Wählern und der Welt zu erläutern, warum sie und ihre -> Fraktion ein bestimmtes Gesetz so zu formulieren oder es abzulehnen wünschen sowie ihr Abstimmungsverhalten zu begründen. Sie haben hier zu erklären, daß und warum sie eine bestimmte Politik verfolgen oder für falsch halten. Hier ist der Ort und die R. das Mittel, um Sinn, Erfolg oder Mißerfolg der Ausschußberatungen für jedermann nachvollziehbar zu machen. Die parlament. Plenarrede ist daher so zu halten und zu gestalten, daß sie diesen Zwecken dienen kann. Fachspezifische Bestandteile sollte sie nur insoweit enthalten, als das Protokoll später der wissenschaftl. Bearbeitung Material und Hinweise zu geben vermag, daß also das deutlich wird, was gemeinhin als der Wille des Gesetzes (des Gesetzgebers) bezeichnet wird (obwohl bei der im GG vorgenommenen Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen auf mehrere Verfassungsorgane und der Zusammensetzung des -» Bundestages aus einer großen Zahl von Abgeordneten der „Wille des Gesetzgebers" keineswegs immer eindeutig feststellbar ist). Die —> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages schreibt vor, daß R.n grds. in freiem Vortrag zu halten
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Rede sind. Die Benutzung von Aufzeichnungen ist jedoch gestattet (§ 33 GOBT). Das Verlesen von Manuskripten ist daher verboten, wenngleich es in der Praxis nicht selten vorkommt und in den wenigsten Fällen vom amtierenden Präsidenten beanstandet oder gar gerügt wird. In Öst. ist diese Frage nicht geregelt. Während die GOBT keine Vorschrift darüber enthält, schreibt § 105 des öst. Geschäftsordnungsgesetzes vor, daß die dt. Sprache ausschließliche Verhandlungssprache ist. Gleichwohl gilt in Dtld. das Gleiche. Dennoch sind im Bundestag ausnahmsweise auch schon mundartliche R.n mit Genehmigung des Präsidenten gehalten worden. Im Protokoll erscheinen sie jedoch hochdeutsch. Die Mundartfassung wird als Anlage mit abgedruckt. Sollte einmal ein Abgeordneter einer anerkannten (d.h. von der —> Fünf-Prozent-Klausel des Wahlgesetzes befreiten) ethnischen Minderheit (Sorben, Dänen usw.) gewählt werden, wird man ihm den Gebrauch seiner Muttersprache jedoch nicht verwehren können. Im Bundestag beträgt die normale R.zeit in Debatten grds. 15 Minuten je Redner, in —> Aktuellen Stunden sowie bei Erklärungen zur Aussprache (zu Äußerungen, die sich auf die eigene Person des Abgeordneten in der Debatte bezogen haben), zur Abstimmung und solchen außerhalb der Tagesordnung 5 Minuten. Die Gesamtredezeit je Tagesordnungspunkt beschließt der Bundestag auf Vorschlag des —> Ältestenrats. Fraktionen können für einen ihrer Sprecher 45 Minuten in Anspruch nehmen. Spricht ein Mitglied oder Beauftragter der Bundesregierung oder des Bundesrates, deren R.zeit im Hinblick auf Art. 43 Abs. 2 GG nicht beschränkbar ist, länger als 20 Minuten, dann kann eine Fraktion, die eine abweichende Meinung vertreten will, eine entsprechende R.zeit verlangen. Während in Öst. die Ausschüsse des —» Nationalrats mit Zweidrittelmehrheit die R.zeit ihrer Mitglieder, die über 15 Minuten hinausgeht, beschränken können, verweist die GOBT nur allgemein auf
Rederecht
Redefreiheit eine sinngemäße Anwendung der für das Plenum geltenden Vorschriften auch in den Ausschüssen. R.zeitbeschränkungen in Ausschüssen des Bundestages kommen jedoch in der Praxis nicht vor. Lit: P. Scholz: Rederecht und Redezeit im Dt. Bundestag, in: ZParl. 1987, S. 23ff.; Schneider/ Zeh, S. 917ff. und S. 939ff.
Claus Arndt Redefreiheit -> Meinungsfreiheit Redeparlament ist die Bezeichnung für eine Form parlement. Tätigkeit, die ihr Zentrum in der nach außen gerichteten, medienorientierten -» Debatte hat. Der Typ des R.s wurde von M. Weber (18641920) dem des —> Arbeitsparlaments entgegengesetzt. Öffentl. Ausschußverfahren und Plenardebatten zielen im R. weniger darauf, in -> Rede und Gegenrede innerparlament. Meinungsibldung zu betreiben als dem Adressaten, der polit. —> Öffentlichkeit, die Begründung und Rechtfertigung für das jeweilige Entscheidungshandeln unter Berücksichtigung künftiger Wahlentscheidungen eindrücklich darzustellen. Die typisierende Dichotomie von R. und Arbeitsparlament und damit ihre heuristische Funktion dürften zur Analyse Parlament. Arbeit in der Gegenwart nur noch einen sehr begrenzten Wert haben. Lit: H. Oberreuter: Das Parlament als Gesetzgeber und Repräsentativorgan, in: O.W. Gabriel (Hg.), Die EG-Staaten im Vergleich, Bonn 1992, S. 305ff.;M Weber: Gesammelte polit. Schriften, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen51988.
Hg. Rederecht Berechtigt, im Bundestag (einschließl. seiner —> Ausschüsse und Kommissionen) das Wort zu ergreifen, sind zunächst einmal die Mitglieder des —• Parlaments. Dies ergibt sich aus der Natur der Sache und bedarf an sich keiner besonderen Begründung oder Bestimmung. Das R. ergibt sich unmittelbar aus dem —> Grundgesetz als staatsrechtl. Befugnis. Seine Grenzen oder Beschränkungen müssen daher unmittelbar auf die
—> Verfassung gestützt werden, wobei die —> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT) durch ihre ausdrückliche Erwähnung in Art. 43 Abs. 1 S. 2 GG als ebenfalls materielles —> Verfassungsrecht auch als eine hierfür zulässige Regelung anzusehen ist. Neben der Teilnahme an —> Abstimmungen ist es das wichtigste Recht des -> Abgeordneten. Es ist jedoch kein Grundrecht des Parlamentsmitglieds, sondern eine Auswirkung seines staatsrechtl. Status aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Nach dem Grundsatz der Chancengleichheit steht es allen Abgeordneten gleichermaßen zu und darf (auch durch die GOBT) nur im Interesse der Funktionsfähigkeit des Parlaments und seiner —> Fraktionen beschränkt werden. Solche Beschränkungen müssen jedoch ggf. alle Abgeordneten gleichmäßig betreffen und dürfen nur erfolgen, um die Aufgabe des Parlaments, Forum der - » Nation zu sein, zu sichern und zu ermöglichen, sowie um einen geordneten Geschäftsgang zu gewährleisten. Zur Erzielung der parlament. Würde und Disziplin darf einzelnen Abgeordneten bei konkret unparlament. Verhalten im Einzelfall das Wort entzogen werden. Allerdings darf ein Abgeordneter das Wort erst ergreifen, wenn es ihm vom amtierenden Präsidenten (im —» Plenum) bzw. vom Ausschußvorsitzenden erteilt worden ist ( § 2 7 Abs. 1 GOBT) Neben den Abgeordneten sind aber auch weitere Personen befugt, im Bundestag während dessen Sitzungen zu sprechen. So gewährt Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG den Mitgliedern des - » Bundesrates und der - » Bundesregierung das Recht Jederzeit gehört zu werden". Dieses Recht unterliegt grds. keiner Beschränkung. Insbes. ist es nicht an die Einhaltung einer ggf. vorhandenen Rednerliste gebunden oder auf den gerade aufgerufenen Tagesordnungspunkt beschränkt. Eine gewisse Einschränkung nach den konkret redeberechtigten Personen hat sich jedoch in der Staatspraxis entwickelt. So wird trotz des Wortlauts von Art. 43 Abs. 2 GG im
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Rederecht Plenum nur Mitgliedern des Bundesrates (also —> Ministerpräsidenten, —> Bürgermeistern der Stadtstaaten, -> Ministern und Senatoren der Länder) - nicht aber ihren Beauftragten (z.B. Länderbeamten) das Wort erteilt, während in den Ausschüssen diese Differenzierung nicht vorgenommen wird. Gleiches gilt für die Bundesregierung, wobei allerdings bisweilen auch (beamtete) —> Staatssekretäre mit einbezogen werden. Auf —> parlamentarische Staatssekretäre wird Art. 43 Abs. 2 GG nur angewandt, wenn sie als Vertreter (Beauftragte) der Regierung sprechen, da sie als Abgeordnete ohnedies redeberechtigt sind. In der Literatur ist streitig, ob Personen, die über Art. 43 Abs. 2 GG ein R. im Bundestag besitzen, inhaltlichen Beschränkungen ihrer Redebeiträge unterliegen. Dies würde gelten für Bundesminister, die kein Bundestagsmandat besitzen, und für Bundesratsmitglieder und deren Beauftragte. Nach richtiger Auffassung dürfen diese Personen nur in der Eigenschaft sprechen, die ihnen die Redebefugnis verschafft, nicht jedoch in einer anderen (ungeachtet der auf der -> Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesregierung beruhenden Bindung an die Kabinettsdisziplin - also mandatslose Bundesminister nicht z.B. als Parteivorsitzende, Kanzlerkandidaten). Das Gleiche gilt für Bundesratsmitglieder, wobei bei diesen besonders kontrovers diskutiert wurde, ob sie nur die Auffassung des Verfassungsorgans, dem sie angehören (ggf. nur die seiner Mehrheit), oder auch die einzelner Länder vertreten dürfen. Die Staatspraxis hat sich hier in verfassungshistor. Anknüpfung an die Stellung der Mitglieder des Reichsrates nach der (bismarckschen) -» Reichsverfassung (Art. 9), aber in Ablehnung gewisser Tendenzen während der Geltung der -> Weimarer Reichsverfassung (Art. 33 Abs. 2 S. 2) dafür entschieden, den Bundesratsmitgliedern und ihren Beauftragten das Recht zuzugestehen, die Auffassung der Länder darzulegen, die sie entsandt haben. Im übrigen unterliegen
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Rederecht diese Redeberechtigten trotz gegenteiliger Auffassungen bei ihren Debattenbeiträgen den gleichen Beschränkungen wie mandatslose Mitglieder der Bundesregierung. Die praktische Relevanz dieser Streitfragen ist jedoch nicht groß, da man einerseits prinzipiell dem amtierenden Präsidenten eine inhaltliche Redezensur nur in einem äußerst engen Maßstab wird zubilligen können und andererseits häufig kaum erkennbar sein dürfte, ob ein Redner die ihm gezogenen Grenzen deutlich und erkennbar überschreitet. Anders ist die Frage allerdings zu beantworten, wenn der Redner ausdrücklich erklärt, in einer nicht zulässigen Eigenschaft zu sprechen. Gestützt auf seine —> Geschäftsordnungsautonomie als oberstes Verfassungsorgan (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG) kann der Bundestag auch anderen Personen das R. einräumen. Dies geschieht von Fall zu Fall im Rahmen internationaler Höflichkeit und Übung als Ehrung für besonders herausragende Persönlichkeiten (Staatsoberhäupter usw.). In § 115 GOBT hat der Bundestag vorgesehen, daß dem —> Wehrbeauftragten das Wort bei der Aussprache über seinen Bericht zu erteilen ist, wenn eine Fraktion oder 5% der anwesenden Abgeordneten es verlangen. In den Ausschüssen sind nur deren Mitglieder sowie Regierungsmitglieder, Regierungsbeauftragte (Beamte) sowie Bundesratsmitglieder und deren Beauftragte redeberechtigt, in Enquetekommissionen auch die Mitglieder, die nicht Abgeordnete sind (Sachverständige). Die Regelung des R.s im Öst. Nationalrat ist der deutschen ähnlich. In Wien ist die Parlamentsgeschäftsordnung als förmliches Gesetz ausgebildet. Staatssekretäre dürfen jedoch nur bei Abwesenheit ihres Ministers oder mit dessen Einvernehmen sprechen. Redeberechtigt sind auch die Präsidenten des Rechnungshofes sowie die Mitglieder der Volksanwaltschaft jeweils bei Beratimg ihrer Berichte (§§ 18-20, 60, 63, GOG). Diese für Plenarsitzungen geltende Regelung gilt im Prinzip auch für Ausschußberatungen. Dort kann
Rederecht von Nicht-Abgeordneten auch vom Nationalratspräsidenten eingeladenen Sachverständigen und anderen Auskunftspersonen das Wort erteilt werden. Bundesräte können an Ausschußsitzungen ebenso wie Abgeordnete anderer Ausschüsse teilnehmen. Beide haben aber kein R.; Ausschußfremden Abgeordneten kann jedoch beratende Stimme eingeräumt werden. Bei der Beratung von Volksbegehren müssen die Ausschüsse Beauftragte der Antragsteller zuziehen. Lit.: C. Arndt: Zum Rederecht der Mitglieder des Bundesrates im Bundestag, in: ZParl 1976, S. 3171Γ.; Schneider / Zeh. S. 919ff; P. Scholz: Rederecht und Redezeit im Dt. Bundestag, in: ZParL. 1982, S. 24ff.; W. Steffani: Zum Rederecht von Mitgliedern des Bundesrates im Bundestag, in: ZParl 1976, S. 322ff.; H. J. Vonderbeck: Rederecht der Mitglieder des Bundesrates und ihrer Beauftragten im Dt. Bundestag, in: DÖV 1976, S. 555ff.
Claus Arndt Rederecht von Nicht-Abgeordneten —> Rederecht Redezeit -> Rederecht
s.a. Ältestenrat
Rednerliste —» Ältestenrat Referendum —» Volksentscheid Referentenentwürfe —> Gesetzgebung Regeln der Technik -> Technikrecht Regierbarkeit In den 70er Jahren populär gewordener Begriff zur Bezeichnung von Grenzen der polit, und materiellen Handlungsfähigkeit des -» Staates. Am Fall von westlichen demokrat. Industriegesellschaften entwickelt, ließe er sich wohl zu einer umfassenden Theorie polit. Steuerungsprobleme ausgestalten. Dies gilt um so mehr, als der Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten, soweit er durch ihre Reformunfähigkeit verschuldet wurde, als Folge von Problemen der R. aufgefaßt werden kann. Grundlage der Entfaltung dieses Begriffes
Regierbarkeit war die in allen westlichen —> Demokratien zu beobachtende starke Ausdehnung der Staatstätigkeit. Sie wurde einesteils durch die Errichtung und den Ausbau des —> Wohlfahrts- und —> Sozialstaates, andemteils durch weit ausgreifende staatl. Gestaltungsversuche im Bereich der Wirtschafts- und Strukturpolitik verursacht. Dies führte zu äußerst enger Verflechtung von —> Politik und -> Wirtschaft, zu großer und schwer zu beherrschender Komplexität der polit.-administrativen Systeme sowie zur Zunahme gesellschaftl. Erwartungen an die in Aussicht gestellten Leistungen des Staates. Unmittelbar anschauliche Folgen dieser Entwicklung sind: hohe Staatsverschuldung mit darum stark verengten finanziellen Handlungsspielräumen; umfassende und dabei widersprüchliche Forderungen von Interessengruppen und -> Öffentlichkeit an den Staat, die zu inkonsistenten und auch kontraproduktiven Entscheidungen führen; ein allgemeines Verblassen der liberalen Vorstellung von der bloß subsidiären Rolle des Staates (-> Subsidiarität); sowie Absinken des —> Vertrauens der -> Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates, was sich dann in Form von Politik- und Politikerverdrossenheit äußert und die Legitimitätsgrundlagen von polit. Systemen bedroht, die sich in derartige R.sprobleme begeben haben. Unter dem Druck von Finanzierungs- und Legitimitätsproblemen wird seit über einem Jahrzehnt versucht, die Ausdehnung der Staatstätigkeit als zentrale Ursache derzeitiger R.sprobleme wieder zurückzunehmen, indem bisherige Staatsaufgaben in den privaten Sektor verlagert, -> Deregulierungen angestrebt und öffentl. Mittel gekürzt werden. Lit: R. Czada: Verhandlungsdemokratie, Interessenvermittlung, Regierbarkeit, Opladen 1993; J. Heidorn: Legitimität und Regierbarkeit, Berlin 1982; W. Hennis / P. Graf Kielmansegg / U. Matz (Hg.): Regierbarkeit, 2 Bde., Stuttgart 1977ff; F. Ronneberger: Das Syndrom der Unregierbariceit und die Macht der Medien, Nürnberg 1983.
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Regierender Bürgermeister Werner J. Patzelt Regierender Bürgermeister —> Bürgermeister —> Berlin -> Bremen -> Hamburg Regierung Während unter R. früher jegliche Staatstätigkeit verstanden wurde, kommt dem Begriff der R. mit der Durchsetzung des Gedankens der -> Gewaltenteilung ein begrenzter Gehalt zu. Kennzeichnend für die R. im -> parlamentarischen Regierungssystem ist dabei die Abhängigkeit der R. vom -> Vertrauen des —> Parlaments. 1. R. im funktionellen Sinne ist die Spitze der —»• vollziehenden Gewalt. In diesem Sinne umfaßt die R. 2 verschiedene Aufgabenbereiche: Zum einen die oberste Leitung und Überwachung des Vollzugs des bestehenden —y Rechts, zum anderen die Mitwirkung an Entwurf und Gestaltung der inneren und äußeren Verhältnisse eines staatl. Gemeinwesens. Handlungsinstrumente dieser vollzugsbezogenen Tätigkeit sind namentlich allgemeine —> Verwaltungsvorschriften und (Einzel-) Weisungen an die untergeordneten —> Behörden. Die Mitwirkung an der Staatsleitung findet ihren Ausdruck u.a. im Recht der R. zur Gesetzesinitiative. An der R.stätigkeit i.S. der Staatsleitung sind neben dem als R. bezeichneten —> Staatsorgan ggf. weitere Staatsorgane (z.B. Parlament, Staatspräsident) beteiligt. 2. R. im organisatorischen (personellen) Sinne ist das von der —> Verfassung als R. bezeichnete staatl. Organ. Sie ist nicht auf die Wahrnehmung von Aufgaben materieller R. (Staatsleitung) beschränkt. R. im organisatorischen Sinne kann - wie in —> präsidentiellen Regierungssystemen - einer Einzelperson oder - wie in Dtld., Öst. und der Schweiz - einem Gremium anvertraut sein. Im —> Bund ist es - in Dtld. und Öst. - die —> Bundesregierung, bestehend aus dem -> Bundeskanzler und den —» Bundesministern (Art. 62 GG, Art. 69 Verf. Öst.; in der Schweiz: Bundesrat). In den —> Ländern der BRD ist R. in diesem 766
Regierung Sinne die jeweilige Landes- bzw. Staatsregierung. Sie besteht i.d.R. aus dem —> Ministerpräsidenten und den (Landes)Ministern (vgl. z.B. Art. 86 SaarlVerf) bzw. -> Staatsministem (Art. 43 Abs. 2 BayVerf). In -> Bayern sind auch die —> Staatssekretäre Mitglieder der R. (Art. 43 Abs. 2 BayVerf). Art. 45 Abs. 2 BWVerf sieht die Möglichkeit vor, Staatssekretäre und ehrenamtliche Staatsräte zu weiteren Mitgliedern der R. zu ernennen. In den Stadtstaaten heißt die Landesregierung —> Senat. Sie besteht aus dem (Regierenden, Ersten) —> Bürgermeister als Regierungschef und den Senatoren (Art. 40 BerlV; Art. 107 Abs. 1, 112 Abs. 1, 114 Verf. BremVerf, Art. 33,41 Abs. 1 HambVerf). Die Arbeit der R. wird durch die jeweilige Gewichtung von —> Kanzler-, —> Ressortund -> Kollegialprinzip geprägt. Die R. berät und entscheidet i.d.R. über besonders bedeutsame Angelegenheiten und über Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Ministern. In einigen Ländern mit dreistufigem Behördenaufbau werden auch die höheren Verwaltungsbehörden als (Bezirks-)regierungen bezeichnet, die jeweils für einen R.s-bezirk zuständig sind und an deren Spitze der —> Regierungspräsident steht. 3. Im Völkerrecht wird unter R. die Gesamtheit derjenigen staatl. Organe bezeichnet, die diesen im zwischenstaatl. Verkehr vertreten. Die R. im völkerrechtl. unterscheidet sich häufig von der innerstaatl. R. im organisatorischen Sinne. R. im völkerrechtl. Sinne ist oft das —> Staatsoberhaupt, daneben auch Regierungschef, Außenminister und diejenigen Organe, die innerstaatl. zum Auftreten im zwischenstaatl. Verkehr ermächtigt sind. Einer Anerkennung der R. durch Drittstaaten bzw. deren formell rechtmäßiger Kreation bedarf es zur Vertretungsbefugnis im völkerrechtl. Verkehr nicht. Entscheidend für die Vertretungsbefugnis ist im Hinblick auf den das Völkerrecht prägenden Effektivitätsgedanken ausschließlich, daß die R. (fast) das ganze -> Staatsgebiet beherrscht und von Seiten der
Region
Regierungsbezirk Bevölkerung keinen erheblichen Widerstand erfährt. Für einen -> Staat kann es immer nur eine R. im völkerrechtl. Sinne geben. Existieren während oder nach einer Revolution oder eines -> Staatsstreichs 2 R en, so ist die nach innerstaatl. —> Verfassungsrecht legale R. zumindest zunächst so lange völkerrechtl. vertretungsberechtigt, bis sich die andere R. in weiten Teilen des Staatsgebietes endgültig effektiv durchgesetzt hat. Flüchtet eine R. während eines internationalen bewaffneten Konflikts, so kann sie dort mit Zustimmung des Gastlandes eine Exilregierung bilden. Lit: HdbStR II, § 50; III, § 67; K. Ipsen: Völkerrecht, München 3 1990, § 22 VI; Stern II, § 39.
Jörg Ukrow Regierungsbezirk - » Bezirk Regierungskoalition —• Koalition Regierungspräsident sidium
Regierungsprä-
Regierungspräsidium Es handelt sich in verwaltungsorganisatorischer Hinsicht um die Bezeichnung der staatl. -> Mittelbehörden in bestimmten Bundesländern (z.B. in -> Baden-Württemberg und —» Sachsen). In —» Niedersachsen, —> Nordrhein-Westfalen und -> Rheinland-Pfalz heißt die Behörde der staatl. Mittelinstanz Bezirksregierung. In diesen Ländern richten sich die Namen der Regierungsbezirke grds. nach den Behördensitzen. Dieser Regelung ist auch die -> Landesregierung von -> Sachsen-Anhalt gefolgt. -> Bayern, das sich in 7 Regierungsbezirke gliedert, hat in seinen -> Bezirken als mittlere Verwaltungsbehörde Regierungen eingerichtet, deren Namen mit dem jeweiligen Landesteil verbunden sind (z.B. Regierung von Schwaben). In kleineren Bundesländern wie z.B. - » Schleswig-Holstein und -» Saarland, aber auch in den Stadtstaaten —> Berlin, -> Bremen und - » Hamburg, wurde auf die Einrichtung von Mittelinstanzen verzichtet. - *
Thüringen hat sich für ein Landesverwaltungsamt entschieden, das quasi als R. mit landesweiter Zuständigkeit fungiert. Innerhalb der dreistufigen Verwaltung ist die staatl. Mittelbehörde die Mitte sowie der Mittler zwischen den polit. Ebenen der —> Ministerien und der —> Kommunen. I.S. der Mittlerfunktion vertritt der Regierungspräsident einerseits die Interessen der Landesregierung im Bezirk, andererseits versteht er sich als der Sachverwalter der Belange der Region gegenüber dem Land. Als klassisches Charakteristikum einer Mittelinstanz gilt ihre fächerübergreifende Bündelungsfunktion, indem spezielle Fachinteressen aus den Landesministerien zusammengefaßt, für den Bezirk aufbereitet und an die v.a. kommunalen Adressaten weitergegeben werden. I.S.· einer Gewährleistungsfunktion garantieren die Mittelbehörden einen rechtmäßigen und einheitlichen Verwaltungsvollzug durch ihre —> Fach- und Dienstaufsicht über die nachgeordneten staatl. Behörden. Grds. unterstehen die Behörden der staatl. Mittelinstanz der Dienstaufsicht des Landesinnenministers sowie der -> Fachaufsicht des Ministers, für dessen Geschäftsbereich sie Aufgaben bearbeiten. Lit.: DVemGesch; C. Mecking: Die Regionalebene in Dtld., Stuttgart 1995;
Heinz Walz Regierungssprecher -> Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Regierungsvorlage auch Kabinettvorlage -> Gesetzgebung Region R.en sind Gebiete, deren Bewohner sich aus polit., ethnischen, wirtschaftl., histor. oder kulturellen Gründen näher zusammengehörig fühlen. Beispiele dafür sind etwa Schottland, die Bretagne, das Baskenland oder Bay.; R.en spielen in der internationalen Politik eine wichtige Rolle. Die polit. Arbeit der —> Vereinten Nationen ist von jeher durch regionale Staatengruppen oder Machtblöcke ge-
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Region prägt. Regionale Gruppen, nicht einzelne Staaten stehen im Zentrum der Willensbildung innerhalb der Vereinten Nationen. Außerhalb der Vereinten Nationen existiert eine Fülle von internationalen, aber regionalen Staatenorganisationen v.a. mit wirtschaftl. oder militärischen Zielsetzungen. Beispiele sind die —> NAFTA und die —> NATO. Bedeutung haben die R.en auch im europ. Bereich. Innerhalb des institutionellen Systems der —» EU haben die R.en inzwischen verbindliche rechtl. Befugnisse und ein nicht zu unterschätzendes polit. Gewicht. Das belegen etwa der —» Ausschuß der R.en und das Prinzip der —> Subsidiarität. Auf der nationalen Ebene sind die R.en ein wichtiger polit, und kultureller Identifikations- und Kristallisationspunkt. Besonders deutlich wird das durch die Rolle, die regionale Traditionen beim Aufbau der neuen —» Bundesländer gespielt haben und noch spielen. R.en bieten den Bürgern als überschaubare, histor. gewachsene Einheiten oft eine bessere Identifikationsmöglichkeit als die übergeordneten, konstruierten und anonymen polit, und kulturellen Systeme. Ihre räumliche und sachliche Problemnähe versetzt sie in die Lage, adäquate Lösungen zu finden. Allerdings birgt eine einseitige Betonung der R.en die Gefahr, daß der Blick für überregionale Aspekte und Notwendigkeiten der Politik verloren geht. Welche fatalen Folgen damit verbunden sein können, zeigt das Wiederaufflackern regionaler ethnischer Konflikte im ehemaligen Jugoslawien oder in der ehemaligen Sowjetunion. Es bleibt deshalb eine permanente Aufgabe der nationalen und internationalen Politik, eine optimale Zuordnung von Aufgaben an regionale, nationale, supranationale oder globale Ebenen zu finden. Lit.: Α. Benz: Regionen als Machtfaktor in Europa?, in: VerwArch 1993, S. 328ff; R. Hrbek / S. Weyand: Betrifft: Das Europa der Regionen, München 1994; G. Lottes (Hg.): Region, Nation, Europa, Heidelberg 1992; K. Schmitt: Regionen, Regionalisierung und Föderalismus in Europa, in:
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Regionalisierung P.M. Huber (Hg.), Das Ziel der Europ. Integration, Stuttgart 1996, S: 55ff.
Volker Neßler Regionalisierung Weltweit nimmt die Bedeutung der —» Regionen zu. Immer stärker wird die Region zu einer relevanten kulturellen Bezugsebene und zu einem maßgeblichen polit. Entscheidungszentrum. Dieser als R. charakterisierte Prozeß steht in einem engen Zusammenhang mit den kulturellen Modernisierungsprozessen der Gegenwart einerseits und der Europäischen Integration andererseits. Mit der Modernität der heutigen Gesellschaften wächst gleichzeitig ihre Internationalität und ihre Uniformität. Während kulturelle Eigenheiten der einzelnen Gesellschaften abnehmen, gleichen sich die Kulturen immer mehr an. Die damit verbundenen Identitätsgefthrdungen provozieren eine Rückbesinnung auf die kleineren, kulturell, ethnisch und polit, eigenständigen - und damit identitätsstiflenden - Regionen. Föderalistische Staaten (-> Föderalismus) berücksichtigen die Bedeutung der Regionen, indem sie ihnen im Staatsaufbau eine eigene, vom Zentralstaat unabhängige Bedeutung und Rolle zuweisen. Die R. leistet einen Beitrag zur Überwindung zentralistischer, nationalstaatl. geprägter Ordnungen und fördert den kulturellen und polit. —> Pluralismus. Neben dieser letztlich freiheitlichen und demokrat. Funktion lassen sich aber auch Gefahren nicht übersehen: Provinzialismus und sogar Separatismus können ihre Wurzeln im Regionalismus haben. Die Ambivalenz der R. wird an ihrer Rolle bei der europ. Integration deutlich. Grds. sind die Regionen Verbündete des europ. Zusammenschlusses, denn beide zielen auf eine Relativierung des —> Nationalstaats. Je stärker allerdings die europ. Integration voranschreitet, desto deutlicher wird die Angleichung der einzelnen Kulturen und polit. Ordnungen. Das provoziert inzwischen den Widerstand der regionalen Ebene gegen die weitere Integration. Eine Vertiefung der
Reichstag
Regulierungsbehörde Integration scheint deshalb nur möglich, wenn die Regionen stärker als bisher miteinbezogen werden. Die - » Europäische Union scheint das zu realisieren: Der —> Maastrichter Vertrag nimmt Rücksicht auf die Belange der Regionen und beteiligt sie am polit. Prozeß innerhalb der Union. Lit: -> Region
Volker Neßler Regulierungsbehörde -> Postreform Reich —> Deutsches Reich (bis 1806) —> Deutsches Reich (1871-1918) -> Weimarer Republik Reichsabschied Am Ende eines -> Reichstags wurden seine Beschlüsse (sog. Reichsschlüsse) zu einem R. (recessus imperii) zusammengefaßt. Wirksam wurde ein Reichsschluß erst nach Zustimmung des Kaisers. Hatte der Reichsschluß einen abstrakt-generellen Inhalt, erlangte er Gesetzeskraft. Für die Untertanen und -» Bürger entfaltete er aber erst Rechtsverbindlichkeit, wenn der Landesherr oder die Reichsstadt ihn auch ausführte. Als Jüngsten R. bezeichnet man denjenigen R., der auf dem letzten nicht ständigen Reichstag 1654 in Regensburg erlassen wurde. Der 1663 in dieser Stadt eröffnete Reichstag trat nicht mehr auseinander (sog. Immerwährender Reichstag). LU.-.HRGIV, Sp. 519ÍF. C.R. Reichskanzler -> Verfassung des Deutschen Reiches 1871 —> Weimarer Reichsverfassung Reichspräsident —> Weimarer Reichsverfassung Reichsrat —> Weimarer Reichsverfassung Reichsregierung —> Weimarer Reichsverfassung
Reichsstände —> Stände Reichstag -> Finnland -» Schweden Reichstag (bis 1806) Der BegrifT dient zur Bezeichnung unterschiedlicher Phänomene. Zwar wird er auch filr die zutreffender —> Hoftag genannten herrscherberufenen Versammlungen der Reichsfursten („Große des Reiches") des mittelalterlichen Reiches vor der Ausbildung fester Verfassungsformen verwandt. Im eigentlichen Sinne meint der R. aber die sich seit etwa 1470 ausgebildete und seit etwa 1500 voll entfaltete Versammlung der Reichsfürsten und ihrer Ratgeber. Seine Wurzeln hatte der R. im Hoftag des Königs, in der Konstituierung des Kurfürstenkollegiums, in polit, und wirtschaftl. Verdichtungsprozessen sowie in einer Intensivierung des nationalen Bewußtseins, wie sich zeigen läßt: 1. Zum Hoftag lud der Herrscher die Reichsfürsten zwecks Rat und Hilfe. 2. Das Kurfürstenkollegium war zwar durch den Erlaß der Goldenen Bulle (1356) seitens des Kaisers und damit für das Reich legitimiert; dies kam auch in der Bestimmung zum Ausdruck, daß sich die Kurfürsten jährlich versammeln sollten. 3. Aus der Vielzahl der im Spätmittelalter zur Verdichtung der Reichsgewalt drängenden Prozesse sei nur die Zunahme der Zahl der gelehrten Juristen genannt, die an der Verrechtlichung der Reichsgewalt beteiligt waren. 4. Das zunehmende Landes- und Nationalbewußtsein artikulierten insbes. die humanistischen Schriftsteller. Auch die Bestrebungen am Ende des 15. Jhd.s, den lehnrechtl. Herrschafts verband des Reiches in einen modernen Staat umzuwandeln, waren nicht zuletzt Ausdruck der damals virulenten reichspatriotischen Bewegung. Der R., der seine endgültige Gestalt bis 1555 fand, bildete nicht nur das Forum der durch Geburt zur —> Herrschaft bestimmten Elite, sondern zunehmend auch dasjenige einer jurist, gebildeten Schicht von Fachleuten zumeist btlrgerl. Herkunft. 769
Reichstag Seine Entstehung verdankt er nicht planendem polit. Willen, sondern eher dem aus verschiedenen Ursachen herrührenden finanziellen Druck, den der König an das Reich weitergab. Einen Höhepunkt der sich allmählich vollziehenden Herausbildung des neuen Organs stellte der R. zu Worms (1495) dar: 1. Die Kurfürsten als die bis dahin einzig geordnete, dem König gegenüberstehende Verfassungsinstitution traten als die organisierenden und die Versammlung führenden hervor, während König Maximilian in die Rolle eines Außenstehenden gedrängt wurde. Damit war die entscheidende Wende im Vergleich zur Praxis des Hoftages vollzogen. 2. Die Reichsstädte und freien Städte, Hauptzahler bei gleichbleibender Machtlosigkeit, wurden seit 1489 als dritter, unterer „Rat" eingeladen. 3. Erst als letzte Gruppe fanden sich die Fürsten bereit, in einem zweiten, gesondert von den standesgleichen Kurfürsten tagenden Rat, aber vereint mit den Prälaten und den rangniedrigeren Grafen und Herren mitzuwirken. Aus der Beteiligung der Fürstengruppe folgten notwendig schwierige rechtl. Probleme, die aus ungeklärten Fragen der internen Rangfolge, der Abstimmungsmodalitaten und der Bindung der Abwesenden an die Beschlüsse der Versammlung resultierten. Daß sich die Fürsten trotz ihrer Konkurrenz zur Förderung der Reichsinteressen zusammenfanden, ist als Ausdruck eines tiefgreifenden Bewußtseinswandels hin zu mehr Solidarität gedeutet worden. Das Ergebnis dieser veränderten Haltung dem Reich gegenüber war das sog. Reichstagsdtld.; der Begriff weist darauf hin, daß die Erbländer des Königs, der dort möglichst ohne Einflüsse von außen schalten wollte, im R. auch später nur noch unzureichend vertreten waren. Diejenigen, welche - wie die Eidgenossen, Hamburg und Bremen - die neuen Lasten nicht tragen wollten, blieben dem R. fem. Als hinderlich für die gemeinsame Willensbildung erwiesen sich zudem regionales Denken, die andauernde Rivalität
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Reichstag zwischen Habsburgern und Wittelsbachern sowie die zahllosen praktischen Probleme, die aus dem notwendigen Kräfteausgleich resultierten und die zu lösen, König und R. nur unzureichend in der Lage waren. Andererseits setzten der Zwang zur Bewältigung fiskalischer Schwierigkeiten und die wachsende Solidarität bedeutende Kräfte frei, die das neue Verfassungsorgan stärkten. Zunehmende fachliche Kompetenz der polit. Verantwortlichen, die Sozialbeziehungen langfristig revolutionierenden Neuerungen wie der Buchdruck und das Postwesen, nicht zuletzt aber auch das jedenfalls in der humanistisch gebildeten Öffentlichkeit spürbar werdende Nationalbewußtsein forderten die gemeinsame Willensbildung nachhaltig. Den Beteiligten wurde bald klar, wie sehr der Nutzen des R.es die bloße Bewältigung finanzieller Probleme überstieg. Er bot ihnen ein geeignetes Forum, um gemeinsam interessierende Fragen zu erörtern und ggf. konsensuell zu lösen. Auf diese Weise wuchs dem Reich neben dem Hof des Kömgs ein weiteres Kraftzentrum zu, der als Ort des Diskurses und polit. Handelns größte Bedeutung für die Reichsgeschichte des späten Mittelalters und der Neuzeit gewann. Der durch die Herausbildung des neuen Verfassungsorgans institutionalisierte Dualismus der Reichsgewalten trug entscheidend dazu bei, daß sich die Staatlichkeit des Reiches zu verdichten vermochte. Als Ergebnis des Entfaltungsprozesses des neuen Organs wurde die bis dahin fast ausschließlich auf das Königtum gestützte Verfassung des Reiches auf eine breitere Basis gestellt und modernisiert, woraus ein Zuwachs an Verrechtlichung der Staatlichkeit folgte. So wurde der R. zu einem zentralen Ergebnis der Reichsreform. Verlierer war das Königtum, denn in der Folge kam es nicht zuletzt durch die Zusagen der Herrscher in der Wahlkapitulation zu einer - im Vergleich zum Mittelalter - deutlichen verfassungsrechtl. sanktionierten Verengung der Herrscherrechte. Nichtsdestoweniger ge-
Reichstag wann der R. aber keine selbständige Legitimierung. Seine Beschlüsse entsprachen niemals denjenigen eines —> Parlaments. Sie betrafen Selbstverpflichtungen und Dienste i.S. der hergebrachten Leistung von Rat und Hilfe. Darüber hinausgehende Entscheidungen erlangten nur durch Vertrag mit dem König Geltung. Auf eine neue rechtl. Grundlage wurde der R. durch die Verträge des Westfälischen Friedens 1648 infolge des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) gestellt. Seit 1663 tagte der R. dauerhaft. Doch war diese formale Aufwertung lediglich eine Folge der offenen Probleme, die der Westfälische Friede nicht gelöst hatte, und keineswegs Ausdruck gewachsenen Einflusses. An der Schwelle des 18. Jhd.s überholten der Hof des Kaisers und die Fürstenhöfe den R. als Entscheidungszentrum dann endgültig. Die Emanzipation der beiden dt. Großmächte vom Reich läßt den Untergang der alten Reichsverfassung und damit auch das Ende des R.es, welches kam, als Kaiser Franz die Krone des Reiches unter dem Druck Napoleons 1806 niederlegte, als zwangsläufig erscheinen (-> Deutsches Reich bis 1806). Hoftag und R., deren Geschichte sich vom 10. bis zum 19. Jhd. verfolgen läßt, haben in dieser langen Zeit eine zentrale Rolle im Rechts- und Friedenssystem des Gemeinwesens der Deutschen gespielt und dadurch moderne Verfassungsorgane vorbereitet. Sie trugen maßgeblich zum Staatswerdungsprozeß einer der ältesten Nationen des Kontinents bei - mehr noch, sie dürfen als ein zentrales Symbol des Zusammenhangs der dt. Geschichte über ein Jahrtausend hinweg gelten. LiL: H. Boockmann: Geschäfte und Geschäftigkeit auf dem Reichstag im späten Mittelalter, in: HZ 1988, S. 2971E; DVerwGesch I, S. 53ffi; HRG IV, S. 78 Iff; T. C. Martin: Auf dem Weg zum Reichstag, Göttingen 1993; P. Moravi: Zu Stand und Perspektiven der Ständeforschung im spätmittelalterlichen Reich, in: H. Boockmann (Hg.), Die Anfänge der ständischen Vertretungen in Preuß. und seinen Nachbarländern, München
Rentenüberleitung 1992, S. Iff.; Schneider / Zeh, S. 3fF.
Gerhard Deter Reichstag (nach 1806) -> Deutsches Reich (1871-1918) -> Weimarer Republik Reichstagsgebäude -> Parlamentsarchitektur Reichsverfassung -> Verfassung des Deutschen Reiches (1871-1918) -> Weimarer Reichsverfassimg Relative Mehrheit -> Abstimmung Religionsfreiheit - » Glaubens- und Gewissensfreiheit Rente ist eine regelmäßig wiederkehrende Geldleistung aufgrund von Rechtsansprüchen, der keine Gegenleistung im gleichen Zeitraum gegenübersteht. In der Ökonomie ist R. der Begriff für Einkommen, das nicht auf Arbeitsleistung beruht, sondern z.B. auf Grund und Boden oder Geld vermögen. R. ist auch die Bezeichnung für den Preis eines Gutes, der sich wegen der Begrenztheit des Angebots allein durch die Nachfrage bestimmt. In der —> Sozialversicherung versteht man unter R. einen regelmäßig gezahlten Geldbetrag bei Erfüllung bestimmter Anspruchsvoraussetzungen. Überwiegend gehen R.nzahlungen vorherige Beitragszahlungen voraus. Zu unterscheiden sind R.n in Form des Ruhegehalts als Vergütung für frühere Dienstleistungen, R.n aufgrund eines gesetzlichen Versorgungsanspruchs (z.B. Kriegsbeschäftigtenrenten), R.n aufgrund von Versicherungsansprüchen (Unfallrenten, Altersrenten, Hinterbliebenenrenten, Erziehungsrenten, Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten) sowie R.n aufgrund von Verträgen (betriebliche Altersversorgung) . s.a. —» Rentenversicherung Lit: W. Brachmann / E.W. Schmidt: Das neue Rentenrecht, Freiburg 21995.
M.F. Rentenüberleitung ist die Sammelbe-
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Rentenüberleitung Zeichnung für die gesetzlichen Einzelregelungen und Maßnahmen zur Übertragung des westdt. Rentenversicherungsrechts auf das Beitrittsgebiet. Aufgrund der in der —> DDR völlig anders ausgestalteten Alterssicherung sowie der sehr langfristigen Wirkung von Alterssicherungsregelungen gehörte die Überführung der Bestandrenten und der Anwartschaften nach der —» Deutschen Einheit zu den schwierigsten sozialpolit. Herausforderungen. Bereits in Art. 20 Abs. 2 Staatsvertrag war festgelegt worden, daß Ansprüche und Anwartschaften aus den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR in die Rentenversicherung zu überführen (Systementscheidung) und die Leistungen mit dem Ziel zu überprüfen sind, ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen. Während die Eingliederung der „normalen" Sozialversicherten der ehemaligen DDR in die Rentenversicherung abgesehen von umfangreichen Verwaltungsarbeiten nur wenig Probleme bereitete und bei den Betroffenen i.d.R. erhebliche Verbesserungen (Dynamisierung der Renten, Anspruch auf Hinterbliebenenrenten) brachte, führte die Umsetzung der Vorgaben des Staatsvertrages bei vielen Versicherten der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme zu bis heute anhaltender Ablehnung und zu teils heftigen Protesten. Das Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz sah insbes. für Personen, deren Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze lag, z.T. erhebliche Begrenzungen und Kappungen vor. Insbes. die ehemaligen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit mußten eine Kürzung ihrer Renten und Anwartschaften auf 0,75 Entgeltpunkte hinnehmen. Äußerst unzufrieden sind zudem v.a. die Hochschullehrer der früheren DDR, die mit der Überführung in die Rentenversicherung die für DDR-Verhältnisse teilw. sehr hohen Versorgungszusagen einbüßten und heute beanspruchen, wie beamtete Hochschullehrer im Westen versorgt zu werden.
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Rentenversicherung LU.: D. Merten: Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, Berlin 21994. M.F.
Rentenversicherung Im Jahr 1889 wurde die RV gegründet. Sie ist als Sozialsicherungssystem heute im SGB VI geregelt. Arbeitgeber und -nehmer zahlen anteilig bis zur Beitragsbemessungsgrenze von 100.800 DM (West) bzw. 84.000 DM (Ost) (1998) Beiträge von 20,3 v.H. des Jahresbruttoeinkommens an die RV. Die Beiträge sind lohnbezogen und dienen als Grundlage insbes. für eine lohn- und beitragsbezogene Altersrente (§§ 35ff. SGB VI), welche jährlich der Nettoentwicklung von Löhnen und Gehältern angepaßt wird. Freigestellt von der Beitragspflicht sind insbes. geringfügig Beschäftigte und —> Beamte. Weiterhin erhält die RV einen Bundeszuschuß, der sich an den Veränderungen der Bruttolöhne und des Beitragssatzes orientiert. Ab 1998 wird zusätzlich ein Bundeszuschuß gewährt, der sich am Aufkommen eines Punktes der -> Mehrwertsteuer orientiert. In der RV müssen die jeweiligen Ausgaben als Umlage durch die Einnahmen finanziert werden. Dadurch wird zwischen den jeweils Aktiven und den jeweiligen Rentnern umverteilt (sog. Generationenvertrag). Es wird kein individuelles Kapital vom einzelnen Versicherten angespart, das ihm samt Zinsen im Alter zur Verfügung stehen würde. Neben den Altersrenten gehört u.a. (§ 23 Abs. 1 SGB I) die Erwerbsminderungsrenten, Witwen-, Witwer- und Waisenrenten als Absicherung der Hinterbliebenen und die Förderung der medizinischen, berufsfördernden und ergänzenden Rehabilitation (§§ 9ff. SGB VI) zu den Leistungen der RV. Ist ein Versicherter arbeitsunfähig oder kann er wegen der Leistung zur Rehabilitation eine ganztägige Erwerbstätigkeit nicht ausüben, so kann er Übergangsgeld aus der RV erhalten. Wesentliche Träger der RV sind für die -> Angestellten die —> Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und für die -> Arbeiter die 23 Landesver-
Repräsentantenhaus
Repräsentation
sicherungsanstalten. Daneben ist z.B. die Bundesknappschaft für die Beschäftigten in bergbaulichen Betriebe zuständig, wobei damit neben der gesetzlichen gleichzeitig eine betriebliche Altersicherung erfolgt (§§ 125ff. SGB VI). Lit: Bundesministerium filr Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Ubersicht über das Sozialrecht, Bonn 4 1997, S. 115ff.
Raimund Weiland Repräsentantenhaus, amerikanisches Das United States House of Representatives bildet zusammen mit dem US —> Senat das Gesamtparlament (—> Kongreß) der USA. Die 435 stimmberechtigten Mitglieder des R.es werden auf 2 Jahre nach relativem -> Mehrheitswahlrecht direkt in den Einzelwahlkreisen gewählt. Die Parteien (-» Demokratische und —> Republikanische Partei) organisieren die Besetzung der Führungspositionen und den Ablauf der Geschäfte (—» Geschäftsordnung), doch kennt das R. keine strikte Fraktionsdisziplin. Jeder -» Abgeordnete verfügt über ein individuelles Gesetzesinitiativrecht, die zuständigen Fachausschüsse (-» standing committees) bzw. deren Unterausschüsse entscheiden, in welcher Form die Gesetzesvorschläge im —> Plenum zur —> Abstimmung gelangen. Bis Anfang der 1970er Jahre wurden die Ausschußvorsitze nach Dienstalter (—> Senioritätsprinzip) besetzt, seitdem durch geheime Wahl in den Fraktionsversammlungen. Die Stellung des einfachen Abgeordneten wurde zudem durch Ausweitung der Mitarbeiterstäbe gestärkt. Die weitreichenden Befugnisse des R.es gibt die am. Bundesverfassung ( - • Verfassung der USA) von 1787/88 vor: Recht der Steuerbewilligung, der Haushaltserstellung, der Regulierung des Handels zwischen den Bundesstaaten, der Kriegserklärung, der laufenden Kontrolle des Verwaltungshandelns (oversight) und auf Amtsklage (—> impeachment) gegen den -» Präsidenten, Bundesbeamte und Bundesrichter. Im Unterschied zu parlament. Verfassungsformen kann die US-Legisla-
tive jedoch nur in außergewöhnlichen Fällen die Regierung einsetzen oder abberufen. Das R. ist in ein komplexes System institutioneller —> Gewaltenteilung und funktionaler Gewaltenverschränkung (checks and balances) eingebunden. Gesetze, aber auch die Besetzung aller Personalstellen im Bundesdienst bedürfen der Zustimmung des Senats, der zudem für die Ratifizierung internationaler Verträge zuständig ist. Der Präsident kann gegen die Beschlüsse des Kongresses ein —> Veto einlegen, das nur unwirksam wird, wenn sowohl Senat als auch R. es mit Zweidrittelmehrheit zurückweisen. Das Ausmaß von Kooperation, bzw. Rivalität zwischen R., Senat und Präsident ist stark situationsabhängig. Lit.: U. Thaysen / R.H. Davidson / R.G. Livingston (Hg.): US-Kongreß und Dt. Bundestag, Opladen 1988; D. Bacon (Hg.): The Encyclopedia of the United States Congress, New York 1995.
Christoph Scherrer Repräsentation (lat repräsentatio = Vergegenwärtigung, Darstellung) 1. Demokratische R. Unter demokrat. R. versteht man die rechtl. autorisierte Ausübung der Funktionen von -» Legislative, -> Exekutive und -> Judikative durch verfassungsmäßig bestellte oder gewählte —• Staatsorgane oder andere Träger der —> Staatsgewalt, die mittelbar oder unmittelbar durch das souveräne -» Staatsvolk legitimiert und auf die treuhänderische Wahrnehmung des Gemeininteresses (—> Gemeinwohl) durch —> Staatszielbestimmungen zeitlich, sozial und sachlich differenziert verpflichtet sind. Nach dem repräsentativen Prinzip werden im demokrat. Verfassungsstaat in direkten, turnusmäßigen —> Wahlen die Parlament. -> Abgeordneten als Volksvertreter ermittelt. Darüber hinaus ist R. von grundlegender Bedeutung für Kreation, Bestand und Legitimation des gesamten staatl. Handelns. Denn mittels des repräsentativen Prinzips wird die Herrschaftsgewalt im Rahmen der Verfassung auf funktional differenzierte Repräsentativor-
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Repräsentation gane verteilt. Die Anwendung des Amtsgedankens (-> Amt) ermöglicht diese grundlegende Unterscheidung zwischen Sachkompetenz und personellem Amtswalter, die daraus resultierende institutionelle Teilung von Zuständigkeiten, den Aufbau von Verweisungskontexten, innerhalb derer - » Verantwortlichkeit sachlich, zeitlich und sozial ein- und begrenzbar ist. So verfestigt sich die das R.sprinzip prägende Auffassung der polit, zu verantwortenden, rechenschaftspflichtigen Handlungsermächtigung gegenüber der autorisierenden Instanz (letztlich dem Volkssouverän). Wenn auch die Besetzung der Verfassungsorgane unmittelbar durch das Volk geschieht oder mittelbar auf dieses rückführbar ist, so ergibt sich die Legitimität demokrat. R. nicht nur aus der kausalen Herleitung polit. Herrschaft im Wege demokrat. Verfahren, sondern auch aus ihrer finalen Zweckdienlichkeit. Denn ist Herrschaft als Amt zu verstehen, welches aufgrund einer verbindlichen Ziel- und Zwecksetzung zu Rechenschaft verpflichtet, so beruht der demokrat. Verfassungsstaat auf Beauftragung, anvertrauter Machtausübung und —> Verantwortung gegenüber den Autorisierenden. Er begründet und bestätigt zunächst den Unterschied zwischen Regierten und Regierenden. Damit ist das Kernstück demokrat. R. benannt. Nach dem repräsentativen Prinzip werden im demokrat. Verfassungsstaat aus der Gesamtheit die polit. Entscheidungsträger ermittelt. Das repräsentative Verfahren ist über die Beziehung von Wählern und Abgeordneten hinaus von grundlegender Bedeutung im demokrat. Gemeinwesen. Denn die Delegation von Handlungskompetenz durch Beauftragung, die damit verbundene Begrenzung der Machtausübung gemäß dem erteilten Auftrag, eine folglich gegliederte Ordnung von Entscheidungs- und Zuständigkeitsbefugnissen und die Kontrolle der Amtsführung finden sich auf allen Ebenen der Staatsordnung wieder. Lebt das demokrat. Amt aus der Unterscheidung von Auftragenden und Ausführenden, Reprä-
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Repräsentation sentierten und Repräsentierenden, so wird polit. Herrschaft als Rechtsverhältnis konstituiert. Hierzu bedürfen repräsentative Verfahren einer Rechtsordnung, welche von den Herrschaftsunterworfenen wie den Herrschaftsteilhabenden gleichermaßen anerkannt ist. In diesem Verständnis geht die repräsentative Herrschaftstechnik der —> Gewaltenteilung als Vorbedingung der Verteilung polit. Macht voraus. R. schafft Gewaltenteilung. 2. Ideengeschichtl. Wurzeln Die R.figur hat eine lange vordemokrat. Tradition, welche sich in der Kirchen- und Privatrechtsgeschichte bis in das röm. Recht zurückverfolgen läßt. Im Unterschied zur demokrat. R. sidee - wie sie oben ausgeführt wurde - beruht die röm.-rechtl. Vorstellung von R. auf der rechtl. Identifikation zweier Personen miteinander. Dieses Verständnis intendiert tatsächliche, wirkliche Vergegenwärtigung, keine vorstellungs- oder vertretungsweise R.; dieses personalidentische R.sverständnis prägte die mittelalterliche öffentl. Darstellung der Personenverbandsordnung ebenso wie die altständische polit, und gesellschaftl. R. des —> Ständestaates und seiner Wertehierarchie. Die demokrat. (liberale) R.sidee hingegen zielt auf die treuhänderische Wahrnehmung materiell gebundener Herrschaft. Ideengeschichtl. findet sich diese Auffassung besonders deutlich in der Vertragstheorie Lockes (1632-1704): Die Garantie staatsbürgerl. Freiheit, persönlicher Unversehrtheit und des privaten Eigentums beruhen für Locke nicht nur auf der formal-institutionellen Rechtsautorität, sondern auf einer materiellen Bindung staatl. Gewalt, die zunächst an den aus dem —> Naturrecht hergeleiteten Zielen und Zwecken orientiert sein soll, von denen er als fundamentales Naturgesetz die Erhaltung und den Schutz menschlichen Lebens grds. nennt. Folglich kann keine staatl. Zwangsmaßnahme gültig und ethisch vertretbar sein, die diesem Gesetz widerspricht. Aus dieser Veipflichtung leitet
Repräsentation Locke die normative Forderung her, daß Herrschaftsmacht von den zu Regierenden zur treuhänderischen Wahrnehmung verliehen ist, im Vertrauen auf einen bestimmten Zweck, durch eben diesen begrenzt und im Falle eines Verstoßes an die Autorisierenden zurückfallend. Das repräsentative Prinzip umfaßt demnach einesteils die Organisation treuhänderisch wahrzunehmender polit. Handlungsmacht, welche auf Zustimmung und —> Vertrauen beruht und -» Verantwortung voraussetzt; anderenteils normativ intentional staatl. Handeln ausrichtet. Die Legitimation polit. Entscheidungen liegt dabei für Locke im —> Mehrheitsprinzip. Für die demokratietheoretische Diskussion ist die Frage nach der Verbindung von R. und —> Volkssouveränität bis heute überaus wichtig geblieben. Während Rousseau (1712-1774) das Diktum aufstellte, wonach sich Demokratie und Volkssouveränität einerseits, Gewaltenteilung und R. andererseits ausschließen, und auf dieser Grundlage sein einflußreiches Konzept einer —> direkten Demokratie mit —> imperativem Mandat aus dem Postulat der Identität von Regierenden und Regierten entwickelte, wurde in der Folge von Locke und des frz. Revolutionspolitikers Sieyes (1748-1836) die liberal demokrat. Argumentation verfestigt, wonach R. und Volkssouveränität durchaus vereinbar sind und sich im Konzept der repräsentativen Demokratie miteinander verbinden lassen. Vor allem Sieyes hat in seiner auf die frz. Nationalversammlung einflußreichen Flugschrift „Was ist der Dritte Stand?" mit der polit.philosophischen Begründung der Nationalrepräsentation aus dem Prinzip der Volkssouveränität beide Prinzipien in Einklang gebracht. Ausgehend von der Kritik an der polit. Bedeutungslosigkeit des Dritten Standes in der feualen Privilegiengesellschaft, erklärt Sieyes den Dritten Stand zur frz. Nation und spricht ihr souveräne Staatsgewalt und Gesetzesmonopol zu. Da die Nation ihren gemeinschaftlichen Willen ab einer bestimmten
Repräsentation territorialen Größe nicht mehr unmittelbar selbst ausüben kann, vertraut sie dieses Recht einer „Regierung durch Vollmacht" an, die im Auftrag der souveränen Nation handelt. Sieyes erkennt das Repräsentativprinzip nicht nur für die gesetzgebende, sondern auch für die verfassungsgebende Versammlung an. Für ihn setzt Herrschaft durch R. nicht nur eine Verfassung voraus, welche Auftrag, Organisation etc. verbindlich regelt, sondern er stellt fest, daß erst die Verfassung die repräsentierte Nation polit, handlungsfähig macht. Folglich spricht für das Repräsentativprinzip weit mehr als das techn. Argument der polit. Organisation eines Flächenstaates. Darüber hinaus ist das Argument der durch arbeitsteilige Stellvertretung bewirkten höheren Rationalität und Effektivität ebenso bedeutsam wie der Vorzug des durch öffentl. Diskurs ermittelten Allgemeinwohls. Zentral für Sieyes ist jedoch, daß mittels R. der Nationalsouverän die Herrschaftsgewalt auf funktional differenzierte Stellvertretungsorgane verteilen und durch die Verfassung rechtl. binden, mithin dem Grundsatz polit. Verantwortung unterwerfen kann. 3. R. und plebiszitäre Elemente Das System verantwortbarer Herrschaftsausübung durch Amtswalter mit Zurechnungs- und Zuständigkeitsbereichen, zu welchem das repräsentative Prinzip führt, birgt die Gefahr, daß das Volk als aktive polit. Größe absorbiert wird. Wenn auch die bundesdt. Verfassung von repräsentativen Elementen dominiert wird, was sich aus den histor. Entstehungszusammenhängen des —> Grundgesetzes erklären läßt, so verschließt sich das GG nicht grds. der Möglichkeit einer verfassungsmäßigen Ergänzung um direktdemokrat. Partizipationsformen, wie sie auf kommunaler Ebene im Institut des -> Bürgerentscheids vielerorts praktiziert werden. Dafür spricht allein schon in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG die Formulierung, daß die Staatsgewalt „vom Volk in Wahlen und Abstimmungen" ausgeübt wird. Hier ist das Volk jedoch nicht als —» pouvoir
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Repräsentation constituant angesprochen, sondern als höchster —» pouvoir constitué, welcher zudem unter die Bestandsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG fällt. Direktdemokrat. Entscheidungen und Volksgesetzgebungsverfahren könnten daher in die konstitutionelle Grundordnung nur als der Verfassung nachrangig eingebettet werden. Sie sind allerdings nicht als Alternative zur demokrat. R. zu werten, sondern haben da an ihnen nur die Aktivbürgerschaft teilhaben kann - auch repräsentativen Charakter. Aus diesem Grunde und aus dem Umstand des Verfassungsvorranges haben sie sich einer sachlich zwingenden Prüfung zu unterziehen, ob die in Rede stehenden Gesetzesentwürfe und. Sachentscheidungen den Bedingungen genügen, welche die Demokratieprämisse an verantwortbare Herrschaft stellt. Keineswegs kommt ihnen allein deswegen eine höhere Legitimität zu, weil der Volkssouverän unmittelbar handlungsfähig wird. 4. R. und Industriegesellschaft R. als treuhänderische Wahrnehmung der polit. Geschäfte nach Maßgabe fundamentaler Verfassungsnormen sollte dem Ziel verpflichtet sein, das zu ermitteln, was von öffentl. Interesse und dem Gemeinwohl dienlich ist. Die arbeitsteilige Delegation von Handlungskompetenz an unterschiedliche R.sorgane war und ist zudem mit einer Rationalitäts- und Effektivitätssteigerung polit. Herrschaft verbunden und nährte die Vorstellung eines Vorwärtsschreitens von Gesellschaft, Kultur und sozioökonom. Lebensformen. Die Chance der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung künftiger Generationen steht in der modernen Industriegesellschaft mit ihren techn. Potentialen (—> s.a. Gentechnik, —> Atomrecht) und möglicher irreversibler Entwicklungen in Frage. Die neuartige zeitliche, sachliche und soziale Offenheit gesellschaftl. und polit. Gestaltungskraft macht es unerläßlich, in den öffentl. Diskurs die Reflexion der Zulässigkeit staatl. und gesellschaftl. Handelns und Unterlassens verstärkt mit einzubeziehen. Dafür sprechen Vorschläge, welche die mandatari-
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Reptilienfonds sche Grundrechtswahrnehmung künftiger Generationen und der natürlichen Lebenswelt als Mitgegenstand der R. betonen. Ob die demokrat. R. den Anforderungen als Steuerungsinstanz der durchaus breit vorhandenen Einsicht der Gesellschaft in ihre Gegenwarts- und Zukunftsinteressen genügen und eine wirksame institutionelle Reflexion der unmittelbaren Nutzenkalküle auf ihre Verträglichkeit mit den gleichen Entfaltungsrechten künftiger Generationen leisten kann, muß offen bleiben. Der Idee nach sollt sie diese Funktion auch im Konnex treuhänderischen Grundrechtsschutzes erfüllen. Lit: E.-W. Böckenförde: Demokratie und Repräsentation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt/M. 1991, S. 379ff.; E. Fraenkel: Dtld. und die westlichen Demokratien, Stuttgart 5 1973, S. 113ff.; H. Hofmann: Repräsentation, Berlin 21990; J. Kimme: Das Repräsentativsystem, Berlin 1988; G. Leibholz: Strukturprobleme der modernen Demokratie, Frankfurt/M. 3 1974, S. 78ff.; K. Loewenstein: Verfassungslehre, Tübingen 31975; H. Rausch (Hg.): Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentatiwerfassung, Darmstadt 1968; U. Scheuner: Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, in: FS H. Huber, Bern 1961, S. 222ff; Schneider / Zeh, S. 165ff.; R. Wassermann: Die Zuschauerdemokratie, München 1989; E. Vollrath: Identitätsrepräsentation und Differenzrepräsentation, in: G. Orsi / Κ. Seelmann / S. Smid u.a. (Hg.), Recht und Moral, Frankfurt/M. 1993, S. 65ff.; C. Wefelmeier: Repräsentation und Abgeordnetenmandat, Stuttgart 1991. Gerlinde Sommer Repräsentative Demokratie —• Parlamentarisches Regierungssystem —> Präsidentielles Regierungssystem —> Demokratie —> Repräsentation Reptilienfonds Als R. werden Haushaltsansätze bezeichnet, für die keine konkrete Zweckbestimmung im —* Bundeshaushaltsplan vorgesehen ist. Der Begriff wird z.B. im Zusammenhang mit sog. verdeckter —» Parteienfinanzierung verwendet. Er ist die histor. Bezeichnung für
Republik Geldmittel, die Bismarck aus dem Weifenfonds zur Unterstützung der regierungsfreundlichen -> Presse verwendete, ohne darüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Der Begriff geht auf eine Rede Bismarcks zurück, in der er die Agenten der nach dem dt. Krieg von 1866 abgesetzten Herrscher von Hannover und Kurhessen als „bösartige Reptilien" bezeichnet hatte. Heute werden Dispositionsfonds z.B. von Bundes- und Landesministem als R. bezeichnet. K.-R. T. Republik Der von dem lat. Ausdruck res publica abgeleitete Begriff bezeichnet einerseits einen in besonderer Weise verfaßten Staat, und er enthält andererseits die Forderung, daß die - » Staatsgewalt an das —> Gemeinwohl gebunden sein soll. In der röm. Antike ist res publica die konkrete öffentl. (z.B. militärische) Angelegenheit, der öffentl. Besitz, das öffentl. Interesse oder abstrakt die polit. Gesamtlage des Volkes im Gegensatz zu den Privatsachen (res privata). Indem Cicero (106-43 v. Chr.) die res publica als Sache des Volkes definiert, das durch Übereinstimmung in Rechtsfragen und im gegenseitigen Nutzen miteinander verbunden ist, wird der normative Grundzug des Begriffs deutlich: Die Sorge um die gute innere und äußere Verfassung und das Wohl des (röm.) Volkes ist die Aufgabe der mit der polit. - » Herrschaft Betrauten. Eine bestimmte Form der Herrschaft ist damit aber nicht zwingend verbunden, so daß der Begriff auch in der Kaiserzeit weiter verwendet wird. Während in röm. Zeit der Maßstab für eine gerechte Führung und Verwaltung der res publica also immanent ist, führt Augustinus (354-430) einen entscheidenden Bedeutungswandel ein: Wo die -> Gerechtigkeit (des christl.) Gottes nicht herrsche, da seien die Menschen nicht durch Rechts- und Interessensgemeinschaft vereint, da gebe es kein Volk und keine Sache des Volkes. Da er aber den Römern
Republik gleichwohl zugesteht, irgendwie in ihrer Art doch einen Staat gebildet zu haben, wenn auch keinen gerechten, so unterscheidet er die „wahre" res publica von einer weitgehend nur formalen. Mit der hochmittelalterlichen Rezeption der neuplatonischen Auffassung vom Staat als einem dem menschlichen Körper analog aufgebauten Organismus wird die R. als abstrakter Verband aus Fürst, Administration und Bürgern verstanden, der in seiner Gesamtheit Rechts- und Handlungsträger ist und der nicht auf die aktuelle Volksgemeinschaft beschränkt, sondern prinzipiell auf unbeschränkte Dauer angelegt ist. Während die R. hier aber doch noch auf das Volk bezogen blieb, wurde sie in den Souveränitätslehren mit der höchsten Gewalt (summa potestas) im Staate gleichgesetzt, während das Volk als Untertanen der Herrschaft unterworfen wird. Res publica ist damit die Sicherung der souveränen Staatsgewalt, die Staatsräson (so bei Machiavelli 14691527). Gemeinsam ist allen diesen Oberlegungen, daß die res publica keineswegs mit einer bestimmten Staatsform zwingend verbunden ist, vielmehr sowohl monarchische, aristokratische und demokrat. Formen möglich sind, häufig eine gemischte Staatsverfassung bevorzugt wird. Dies gilt im Grundsatz auch für die naturrechtl. Staatslehren (-> Naturrecht), denen zufolge die im Naturzustand als frei und gleich gedachten Menschen durch Vertragsschluß untereinander die bürgerl. —> Gesellschaft bilden und eine Herrschaft errichten, die einem Monarchen übertragen werden kann. Sofern der Herrschaftsvertrag aber nicht einseitige Unterwerfung, sondern ein Verhältnis gegenseitiger Rechte und Pflichten begründet, wie in den Lehren Lockes (1632-1704), Montesquieus (1689-1755) und insbes. Rousseaus (1712-1778), bedingt der gute Zustand der res publica eine bestimmte Form der Herrschaft. R. wird so zum Gegenbegriff gegen die als Willkür polemisierte Herrschaft des absolutistischen Monarchen. Bei Kant (1724-1804) be-
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Republik deutet R. Herrschaft allgemeiner, vernunftgeleiteter Gesetze. Sie setzt —> Gewaltenteilung und ein Repräsentativorgan voraus, in dem die -> Staatsbürger an der —> Gesetzgebung mitwirken; andererseits ist die bürgerl.-republikanische —> Verfassung eine Voraussetzung für den Weltfrieden. Wenn R. als Staatsform verstanden wird, die den Bürger an der Herrschaft mitwirken läßt, ihn gar zum Souverän erhebt, dann heißt dies auch, daß sich der sittliche Anspruch des normativen R.begriffs an den Bürger wendet: Die R. verlangt von ihm eine spezifische Tugendhaftigkeit, die über den Gesetzesgehorsam weit hinausgehend —> Verantwortung und uneingeschränkten Einsatz für die gemeinsame Sache umfaßt. Diese Ideen, aber auch die idealisierten R.en der gr. und röm. Antike, der mittelalterlichen Stadtstaaten und Reichsstädte aufgreifend, forderte der polit. Republikanismus den demokrat. regierten Volksoder Freistaat; „R." wurde zum Kampfbegriff gegen die Monarchie als dem Inbegriff des Obrigkeitsstaats. Die bedeutendste Konkretisierung erfuhr dieser Gedanke in der amerik. Bundesverfassung. In der Interpretation der -> Federalist Papers (1788) richtete sich die republikanische Verfassimg aber nicht nur gegen eine monarchische (oder aristokratische) Autokratie, sondern auch gegen radikaldemokrat. Bestrebungen, in denen ebenfalls die Gefahr gesehen wurde, daß mächtige Sonderinteressen das Gemeinwohl verfalschen. Diese Unterscheidung von R. und —> Demokratie kommt in den Namen der —» Republikanischen und der - » Demokratischen Partei zum Ausdruck. R. war demnach ein —» Verfassungsstaat, in dem das Volk durch eine gewählte Versammlung repräsentiert wird, der die individuellen —» Menschen- und Bürgerrechte wahrt und in dem getrennte, auf Zeit bestellte und sich gegenseitig kontrollierende und hemmende Organe der —> Legislative, der -» Exekutive und der -» Judikative die staatl. Macht ausüben (—> Verfassung der USA).
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Republik Auf dem europ. Kontinent stellte sich die Frage, ob die Übernahme der repräsentativen Demokratie des nordamerik. R.begriffs zum Sturz der bestehenden Monarchien führen würde oder ob in der Form der konstitutionellen Monarchie eine repräsentativ-demokrat. verfaßte polit. Herrschaft mit der überkommenen monarchischen Staatsform vereint werden könnte, wie dies zunächst in der ersten frz. Revolutionsverfassung, die am 3.9.1791 in Kraft trat, der Fall war. Doch setzte sich bald die radikale, antimonarchische Richtung durch und beschloß die Abschaffung der Monarchie (21.9.1792) und die Hinrichtung des Königs (21.1.1793). Vor allem in den von frz. Truppen besetzten Gebieten Südwestdtld.s konnte der radikale R.anismus Fuß fassen und in Mainz 1793 für kurze Zeit eine R. nach frz. Vorbild ausrufen. Schon im —» Vormärz begann sich jedoch abzuzeichnen, daß für die nationalliberale Bewegung die Forderungen nach nationaler Einigung, -> Grundrechten und konstitutioneller Beschränkung der Staatsgewalt größeres Gewicht hatten, als die von den Radikalen betriebene Abschaffung der Monarchie. Wie schon in den frühen süddt. Verfassungen Bay.s (1808/18), Badens (1818), Württembergs ( 1819) und HessenDarmstadts (1829) waren auch der Verfassungsentwurf der —> Frankfurter Nationalversammlung von 1849 und die Verfassung des —> Deutschen Reichs von 1871 nach dem Typus der konstitutionellen Monarchie (—» Konstitutionalismus) gebildet, die beiden letzteren allerdings mit der bedeutenden Neuerung eines nach dem allgemeinen (Männer-) —• Wahlrecht gebildeten Parlaments. In dem Maße, in dem die konstitutionellen Monarchien den Forderungen nach einer Repräsentatiwersammlung, nach Grundrechten, Gewaltenteilung, - » Rechtsstaatlichkeit und selbst nach sozialer Gerechtigkeit entsprachen, verlor der R.begriff seinen materiellen Bedeutungsgehalt und beschränkte sich auf die formale Unterscheidung von Staaten mit einem (erbli-
Republik chen) monarchischen oder einem gewählten -> Staatsoberhaupt. Allerdings kann auch dieser formale Begriff der R. insofern polit. Sprengkraft entwickeln, als eine vollständige Durchsetzung der rationalen Legitimierung der Staatsgewalt auf der Grundlage der —> Volkssouveränität, wie sie der republikanischen Staatsform eigen ist, die - » Legitimation eines monarchischen Staatsoberhaupts durch das Gottesgnadentum oder der dynastischen Tradition als unglaubwürdig erscheinen läßt. In Dtld. beschränkten sich noch am Vorabend der Revolution von 1917 selbst maßgebliche Vertreter der -> SPD auf eine -> Parlamentarisierung der Reichsverfassung, d.h. die Wahl der Reichsregierung durch den Reichstag, und lehnten eine Abschaffung der Monarchie ab. Weniger verfassungspolit. Überlegungen als vielmehr das Versagen des dt. Kaisers und der dt. Landesfürsten im I. Weltkrieg und der äußere Druck, der von den 14 Punkten des amerik. Präsidenten Wilson (1856-1924) ausging, führten zur Abdankung Kaiser Wilhelms Π. (1859-1941) und zur Ausrufung der R. durch Philipp Scheidemann (1865-1939) am 9.11.1917. Sowohl in der —> Weimarer Reichsverfassung wie auch im —> Grundgesetz wird der Begriff R. nur noch als Bezeichnung der Staatsform verwendet. Während in Art. 1 WRV an prominenter Stelle erklärt wird: „Das Deutsche Reich ist eine R " , kommt im GG der Begriff zunächst nur im Staatsnamen - » Bundesrepublik Deutschland vor (—» Präambel, Art. 20 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 2). Allerdings bestimmt Art. 28 Abs. 1 GG, daß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern „den Grundsätzen des republikanischen, demokrat. und sozialen Rechtsstaates i.S. dieses GG entsprechen" muß. Demnach hat die Bezeichnung R. im Namen -> Bundesrepublik Deutschland normativen Charakter, die R. zählt zu jenen Grundsätzen, deren Änderung nach Art. 79 Abs. 3 GG unzulässig ist. Die Einführung einer Monarchie ist also in Dtld. weder auf Bundesebene noch in einem Bundesland
Republik auf legalem Wege möglich. In den Verfassungen der Bundesländer ist die republikanische oder freistaatl. Staatsform ausdrücklich in —> Baden-Württemberg (Art. 23), -> Bayern (Art. 1), Hess. (Art. 65), M-V (Art. 2) und -> Niedersachsen (Art. 1Π) verankert. Neben Bay. findet sich das republikanische Prinzip auch in den Staatsnamen —> Freistaat —» Sachsen (Präambel, Art. 1) und Freistaat -> Thüringen (Präambel, Art. 441). Wie - » Hessen (Art. 64) bezeichnet sich die Freie Hansestadt —> Bremen als „ein Glied der dt. R." (Art. 64). Nach überwiegender Lehrmeinung geht aber die Bedeutung dieser Bekenntnisse zur R. in den Prinzipien des freiheitlich-demokrat. Rechtsstaates, die im GG und in allen —> Landesverfassungen verankert sind, auf. Dementsprechend verzichten die einschlägigen Verfassungskommentare weitgehend darauf, den Inhalt des republikanischen Prinzips eigens zu erläutern. Neuerdings werden Versuche unternommen (W. Henke), die Lehre von der R. weiterzuführen. R. bedeute, „daß die Staatsordnung der BRD auf menschlicher Vernunft und Erfahrung beruht, daß in ihr die Notwendigkeit der Regierung und die Unverzichtbarkeit der bürgerl. —> Freiheit durch die Einrichtung von Ämtern vereinbar gemacht wurden, daß die Ämter durch freie Wahl auf Zeit besetzt werden, daß in ihnen allein nach Verfassung, Gesetz und Recht Gewalt ausgeübt werden darf und daß bessere Einsichten oder höhere Gewißheiten, gleich wie sie begründet werden, kein besseres Recht zur Regierung begründen können". Indem darüber hinaus festgestellt wird, daß das „Einfügen der persönlichen Macht in das Amt und Bürgertugend" Voraussetzungen für den Bestand der R. seien, führt er den Begriff auf seine ältere, moralphilosophische Bedeutung eines emphatischen Eintretens des Bürgers für die „gemeinsame Sache" zurück. In der aus den USA übernommenen Diskussion über —• Zivilgesellschaft und Kommunitarismus hat der R.begriff in diesem Sinne neue Aktualität
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Republikanische Partei
Republikaner gewonnen. Als Herausforderung dieses R.bewußtseins ist die zunehmende - » Globalisierung öffentl. Angelegenheiten zu sehen, wobei auf die Idee der R. zurückgegriffen wird, um einerseits die nationalstaatl. Souveränität zu bewahren und um andererseits eine Bindung trans- und supranationaler Entscheidungsinstanzen an das Gemeinwohl zu fordern. Dies betrifft auch die —> Europäische Union. Nach herrschender Lehre ist sie kein Staat und demnach auch keine R.; die von ihr ausgehenden Hoheitsakte bedürfen und erhalten ihre demokrat. Legitimation in den Mitgliedstaaten, wie das BVerfG in seiner Entscheidung vom 12.10.1993 zum - » EU-Vertrag von Maastricht ausführte. Die Zukunft wird zeigen, ob und inwiefern sich eine europ. R. im Bewußtsein ihrer Bürger ausbildet und die entsprechenden polit. Strukturen i.S. des R.begriffs vertieft werden müssen. La.: HdbStR I, S. 863ffi; Maunz / Dürig: Komm. z. GG, Art. 20, Abschn. III; A. Honneth (Hg.): Kommunitarismus, Frankiurt/M. 3 1995; J. Isensee: Republik - Sinnpotential eines Begriffe, in: JZ 1981, S. I f f ; D. Langewiesche: Republik und Republikaner, Essen 1993; Geschichtl. Grundbegriffe V, S. 550ff.
Karl G. Kick
konnten damit erfolgreich entweder Potential ansprechen, das im Zuge komplexer sozialer und wirtschaftl. Wandlungsund Modernisierungsprozesse generell wächst. Nur 1/5 der Wählerschaft kann i.e.S. als rechtsextrem eingestuft werden. Die ideologisch geprägte Kemwählerschaft liegt heute bei ca. 2-3%. Die Brükke ins bürgerl., konservative Lager konnte nicht geschlagen werden, da hier die entschiedene Abwehr gegenüber antidemokrat. und rechtsradikalen Positionen von Anfang an stärker war. Die Partei, die seit Ende 1992 vom —> Verfassungsschutz bundesweit mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet wird, kann als rechtsextrem i.S. eines antidemokrat. Konservatismus mit national-populistischen Zügen eingestuft werden (—» Extremismus, polit ). Nach wie vor kennzeichnend für ihr Politik-Verständnis ist die thematische Konzentration und die fast ausschließliche Fixierung auf das Ausländer- und Asylthema. Die Patentlösung der R. für alle Probleme endet in der Sackgasse nationalistischer Abschottung (s.a. - » DVU). Lit.: Α. Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus, Bonn 1993; HJ. Veen: Rechtsextremistische und rechtspopulistische Parteien in Europa (EU) und im Europaparlament, in: BMI (Hg.), Texte zur Inneren Sicherheit I, Bonn 1997, S. 63ff.
U. N. Republikaner, Die Die R. formierten sich 1983 durch Abspaltung von der —> CSU. Nach einer ersten spektakulären Erfolgsserie in der ersten Hälfte des Jahres 1989 in Beri, und bei den Europawahlen fielen die R. in der Wählergunst zunächst rasch zurück. Der zuletzt hohe Erfolg bei der -> Landtagswahl vom März 1996 in -> Baden·Württemberg mit rd. 10% deutet aber darauf hin, daß der Aufschwung dieser Partei unter den besonderen Bedingungen des dt. Vereinigungsprozesses zwar ins Stocken, nicht aber zum Stillstand gekommen ist. Bei ihren Wahlerfolgen auf regionaler Ebene ist es den R.n gelungen, vor allen Dingen Proteststimmen wirtschaftl. und sozial sehr unterschiedlicher Gruppen wahlwirksam zu binden. Sie
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Republikanische Partei (USA) Die R.P. ist eine der beiden großen —» Parteien, neben der —> Demokratischen Partei, die den äußeren Rahmen für die polit. Auseinandersetzung in den USA bestimmen. Die amerik. Parteien sind im Gegensatz zu den europ. lose Bündnisse regionaler Parteiverbände ohne starken Nationalverband und hierarchischen Aufbau, die sich zum -> Wahlkampf enger zusammenschließen, um danach wieder in ihre regionalen Einheiten zu zerfallen. Seit dem Ende der 70er Jahre hat die R.P. jedoch mit Hilfe des Republican National Committee ein effizientes System zum Sammeln von Wahlkampfspenden aufgebaut. Die R.P. wurde 1854 von Anhängern
Responsible gouvernment verschiedener Parteien gegründet, welche die Zulassung der Sklaverei in bislang sklavenfreien Territorien ablehnten. Bereits 1860 konnte die Partei mit A. Lincoln erstmals den Präsidenten stellen und wurde durch den Rücktritt der Südstaatenabgeordneten zu Beginn des amerik. Bürgerkriegs (1861-65) zur Mehrheitspartei. In den folgenden Dekaden waren hohe Schutzzölle für Industrielle und Arbeitnehmer, freies Land für Farmer, der Ausbau der Infrastruktur und eine moralisch protest. Rhetorik die Eckpfeiler der republikanischen Koalition. Durch die Weltwirtschaftskrise, für die sie mitverantwortlich gemacht wurde, verlor die Partei Anhänger, besonders in der industriellen Arbeiterschaft und unter Schwarzen. In den Wahlkämpfen 1968 und 1972 warb Präsident Nixon jedoch erfolgreich um die Stimmen der weißen Mittelschicht, die, besonders im Süden, gegen die Bürgerrechtsbewegung Widerstand leisteten. Seitdem konnte sich die R.P. durch ihre Erfolge im Süden und Südwesten meistens in Präsidentschaftswahlen durchsetzen, unterlag im —> Kongreß jedoch i.d.R. den Demokraten. Obwohl das soziale Profil der Parteien und ihrer Wähler immer mehr verschwimmt, ist die R.P. auch heute die konservativere Partei, die stark in der Geschäftswelt verankert ist und sich als Vertreterin der moralischen Werte der weißen protest. Mittelschicht sieht. Die Programmatik beinhaltet u.a. die Förderung der freien Marktwirtschaft und des Freihandels, Steuersenkungen, höhere Verteidigungsausgaben und eine härtere Verbrechensbekämpfung. Ev.-fundamentalistische und protektionistisch orientierte Gruppen versuchen jedoch in den letzten Jahren ihren Einfluß in der Partei zu vergrößern. Lit: FJ. Sorauf: Party Politics in America, Boston51984. Cornelia Horn Responsible gouvernment —> Verantwortung —> Verantwortlichkeit
Rheinland-Pfalz
Responsivität -> Verantwortlichkeit Ressort / -prinzip (von frz. ressort = Bereich, Bezirk, Gebiet) Bezeichnung für den rechtl. abgegrenzten Geschäfts- bzw. Aufgabenbereich eines Regierungsmitglieds; hierin gleichbedeutend mit dem Begriff Ministerium (z.B. Innenressort bzw. Innenministerium). R.prinzip meint, daß der entsprechende R.minister die Tätigkeiten seines - » Ministeriums selbständig leitet und für sie (selbst wenn er sie nicht persönlich veranlaßt hat) die polit. —> Verantwortung gegenüber Regierungschef, —> Kabinett, -> Parlament und —» Öffentlichkeit trägt. R. Verantwortlichkeit zieht nach sich, daß der entsprechende Fachminister bei Unregelmäßigkeiten oder ungeschickter Politik in seinem R. Forderungen nach Rücktritt i.d.R. nicht standhalten kann (s.a. —> Ministerverantwortlichkeit). ¡V.J. P. Ressortgliederung der Ausschüsse - » Ausschuß Revision - * Rechtsmittel —> s.a. Bundesgericht Rheinland-Pfalz 1. Entstehung Das Land Rh.-Pf. ist das Ergebnis der nach dem Π. Weltkrieg ohne Rücksicht auf histor. gewachsene Räume entstandenen Besatzungs- und Zonenstruktur in Dtld. (D). Am 30.8.1946 durch die frz. Besatzungsmacht gegründet, stellte es zum Zeitpunkt seiner Entstehung mehr als andere Länderneugliederungen im Nachkriegsdtld. ein heterogen zusammengesetztes, künstliches Staatsgebilde dar, bestehend aus 4 verschiedenen histor. gewachsenen Räumen: aus den Regierungsbezirken Koblenz und Trier als Teilen der preuß. Rheinprovinz, aus Montabaur als Bestandteil der preuß. Provinz Hess.-Nassau, aus Rheinhess., zugehörig zu Hess.-Darmstadt und aus der Pfalz, verbunden mit Bay. Das Land stieß daher anfangs auf erheblichen
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Rheinland-Pfalz Widerstand eines Teils der polit. —> Parteien und in der Bevölkerung. Heute halten die maßgeblichen Politiker aller Parteien das Land für eine gelungene Konstruktion mit einer unverwechselbaren Eigenständigkeit und mit einem hohen Identifikationsgrad der Bevölkerung. 2. Wirtschaft und Gesellschaft Auf einer Fläche von 19851,44 qkm (5,56% der Gesamtfläche D) lebten Ende 1995 in Rh.-Pf. 3,978 Mio. Ew. (4,85°/Ω der Gesamtbevölkerung), darunter 7,2% Ausländer (heutiges Bundesgebiet 8,7%). Die Siedlungs- und Konfessionsstruktur weicht in signifikanter Weise vom Bundesdurchschnitt ab. So lebten Ende 1996 29,4% der Bevölkerung (D 8,0%) in -> Gemeinden unter 2.000 Ew. gegenüber nur 14,1% (D 31,4%) in Großstädten. Das dominant kath. Land (1996: Katholiken 49,36%, Protestanten 33,8%) ist nach dem —> Saarland und —» Bayern das Bundesland mit dem dritthöchsten Katholikenanteil. Die berufsstrukturelle Gliederung des Landes und der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei den rh.-pf. —» Arbeitern (DGB 1996: Rh.-Pf. 31,21%, D 29,16%) entsprechen weitgehend der D. insg.. Das Land ist in höherem Maße als andere Bundesländer mittelständig geprägt mit einer Dominanz von Klein- und Mittelbetrieben. War Rh.-Pf. in den 50er Jahren noch vorwiegend agrarisch-ländlich strukturiert, so hat es sich in der Zwischenzeit vom letzten Platz in der Ökonom. Rangfolge der Bundesländer auf eine mittlere Position vorgearbeitet und den Wandel vom Agrarland zum leistungsfähigen Wirtschaftsraum vollzogen. Gemessen an der Zahl der Erwerbstätigen kommt im produzierenden Gewerbe der Chemie das größte Gewicht zu, gefolgt vom Maschinenbau, dem Straßenfahrzeugbau und der Elektrotechnik. Eine besondere Bedeutung im primären Wirtschaftssektor fällt dem Weinbau zu. Eifel, Hunsrück und Westpfalz stellen mit einer weit über dem Durchschnitt liegenden Arbeitslosenquote auch heute noch strukturschwache Pro782
Rheinland-Pfalz blemgebiete dar. 3. Regierungssystem Die —> Verfassung, nach heftigen Kontroversen am 18.5.1947 per -> Volksabstimmung mehrheitlich angenommen (52,9%), ist wie keine andere Landesverfassung von der kath. Naturrechtslehre beeinflußt, erkennbar v.a. im Grundrechtsteil. Im Gegensatz zum GG enthält sie auch ein Recht auf und eine Pflicht zur —> Arbeit (Art. 53) und als Programmsatz - die Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer (Art. 56). Bis Ende 1997 wurde sie 33mal - ein Rekord unter den Bundesländern - geändert bzw. ergänzt. Aus jüngster Zeit sind hier zu nennen die Direktwahl der —> Bürgermeister und -> Landräte (1993) und die Einführung des —> Wahlrechts für Angehörige der EU-Staaten (1995). Da der Text der —> Landesverfassung durch die Überlagerung bundesdt. Rechts und aufgrund der gesellschaftl. Entwicklung in vielen Punkten zwischenzeitlich überholt ist, wurde der Ruf sowohl nach einer Anpassung an die aktuelle Rechtslage als auch nach einer weitergehenden Reform immer stärker, so daß im März 1991 zunächst eine Bereinigung der Landesverfassung vorgenommen wurde. Zu einer weitergehenden, substantiellen Reform ist es jedoch trotz Einsetzung einer —> Enquete-Kommission durch den Landtag aufgrund eines mangelnden Konsenses zwischen den Parteien nicht gekommen. Zu den obersten Verfassungsorganen des Landes zählen neben dem —> Staatsvolk (—> Volksbegehren und —> Volksentscheid, Art. 107ff., 115 und 129 ILV) der Landtag, die -> Landesregierung, der Verfassungsgerichtshof und der sog. Zwischenausschuß (Art. 92 LV), der für den Fall einer parlamentslosen Zeit die Rechte der Volksvertretung wahrnimmt. Der Landtag wird seit 1991 auf 5 (zuvor 4) Jahre bestellt und besteht (ebenfalls seit 1991) - vorbehaltlich eventueller —* Überhang- und Ausgleichsmandate - aus 101 Mitgliedern, die nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt werden (Art. 80 I
Rheinland-Pfalz und 83 I LV i.V.m. §§ 26 und 30 LWahlG). Die -> Wahlperiode kann vorzeitig beendet werden durch Selbstauflösung (Art. 84 I LV -> Parlamentsauflösung), Volksentscheid (Art. 1091 LV) und als Folge eines destruktiven Mißtrauensvotums (Art. 99 V LV). Alle 3 Formen einer vorzeitigen Beendigung blieben bisher jedoch ohne praktische Bedeutung. Bei der Bildung und Abberufung der Landesregierung kommt dem Landtag ein stärkeres Mitspracherecht zu als dem —> Bundestag in bezug auf die Bundesregierung So ernennt der Ministerpräsident zwar die Minister, die Landesregierung als Ganzes bedarf jedoch vor der Übernahme der Geschäfte noch der ausdrücklichen Bestätigung durch den Landtag (Art. 98 LV i.V.m. § 48 Π GO LT). In strikter Anwendung des parlement. Prinzips - und weit über die Regelung des GG hinausgehend - kann der Landtag zudem mit der Mehrheit seiner Mitglieder nicht nur dem Ministerpräsidenten, sondern auch jedem Minister und der Regierung als Ganzes das Vertrauen entziehen mit der Folge, daß sie zurücktreten müssen (Art. 99 LV). Darüber hinaus kann der Ministerpräsident nur mit Zustimmung des Landtages einen Minister entlassen (Art. 98 Π LV). Aufgrund der stabilen Mehrheitsverhältnisse blieben diese Bestimmungen jedoch bisher ohne praktische Relevanz. Die -> CDU spielte aufgrund der für sie günstigen Sozialstruktur des Landes von der ersten Landtagswahl (1947) bis zur 12. Wahlperiode (1991) - dies ist für die CDU einmalig in der BRD - die dominierende Rolle in Rh.-Pf. und stellte in dieser Zeit auch stets den Ministerpräsidenten. Seitdem wird das Land erstmals von einer -> SPD / -> FDP-Koalition unter einem SPD-Ministerpräsidenten regiert. Eine Besonderheit in D stellt der dem skandinavischen -> Ombudsman nachgebildete und auf 8 Jahre vom Landtag mit Mehrheit seiner Mitglieder gewählte —> Bürgerbeauftragte (seit 1974) dar, der - in einem eigenen Gesetz verankert - als
Richter Hilfsorgan des —> Petitionsausschusses Ansprechpartner für beschwerdeführende Bürger und Mittler zwischen Verwaltung und Bürger sein soll. Der Verwaltungsaufbau in Rh.-Pf. sieht unterhalb der Landesebene neben staatl. Sonderverwaltungsbehörden auf der Mittel-, Unter- und Ortsstufe Bezirksregierungen als ressortübergreifende staatl. Mittelinstanz mit einem -> Regierungspräsidenten an der Spitze für die seit 1968 3 (zuvor 5) Regierungsbezirke vor und auf der nächsten Ebene die Verwaltungsbehörden der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften (—> Landkreise, kreisfreie -> Städte sowie kreisangehörende —> Gemeinden und Verbandsgemeinden). Lit.: W. Billing: Land Rheinland-Pfalz, in: U. Andersen / W. Woyke (Hg.), Handwörterbuch des polit. Systems der BRD, Opladen 31997, S. 309ff.; O.W. Gabriel / W. Jann: Rheinland-Pfalz, in: J. Hartmann (Hg.), Handbuch der dt. Bundesländer, Frankfurt/M.31997, S. 433ff.; P. Haungs (Hg.): 40 Jahre Rheinland-Pfalz, Mainz 1986; R. Ley (Hg.): Staats- und Verwaltungsrecht für Rheinland-Pfalz, Baden-Baden31992.
Werner Billing Richter sind die mit sachlicher und persönlicher Unabhängigkeit ausgestatteten, von den -> Beamten statusmäßig sich unterscheidenden und in den -> Verfassungen und R.gesetzen des -> Bundes und der —> Länder mit eigenen Rechten und Pflichten ausgewesene Amtsträger der —> rechtsprechenden Gewalt. Neben den vorwiegend auf Lebenszeit (eng begrenzte Ausnahmen: §§ 8ff. DRiG) bestellten BerufsR. (Ende 1996: 20.840, davon 25,7% Frauen; Voraussetzung nach §§ 5ff. DRiG: Erste und Zweite jurist. Staatsprüfung oder ordentlicher Professor des Rechts an einer dt. Universität) gibt es auch auf Zeit berufene ehrenamtliche R. (z.B. -> Schöffen in der Strafgerichtsbarkeit; §§1, 44fT. DRiG). Durch das Laienelement soll im Spruchkörper eine integrative soziale Mischung (—> Gewaltenteilung) und eine größere Nähe
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Richter zum -> Bürger (z.B. in der Strafgerichtsbarkeit) und zu den Interessengruppen (z.B. in der - » Arbeitsgerichtsbarkeit) erreicht werden (-» Demokratie). Eine besondere R.kategorie stellen schließlich die auf Zeit gewählten Verfassungsrichter dar. Aufgabe des R.s ist es, als unparteilicher Dritter entweder in der institutionellen Form des EinzelR.s (nur beim —> Amtsgericht möglich) oder des Kollegialgerichts und in einem der Rechtsprechung adäquaten Verfahren Rechtsstreitigkeiten und andere Formen der Infragestellung des —> Rechts (z.B. Strafgerichtsbarkeit) in allen Sektoren des staatl. und gesellschaftl. Lebens verbindlich zu entscheiden und so den Rechtsfrieden zu bewahren oder wiederherzustellen (Rechtsprechungsmonopol des R.s auf der Ebene der Staatsgewalt; Ausnahme: Art. 10 Abs. 2 und 84 Abs. 4 GG). Der R. ist dabei an -> Gesetz und —> Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG) und in seiner Rechtsprechungstätigkeit weder Weisungen noch einer seine Unabhängigkeit beschneidenden Dienstaufsicht unterworfen (sachliche Unabhängigkeit, § 26 DRiG). Merkmale der persönlichen Unabhängigkeit sind zumindest bei den endgültig eingestellten R.n insbes. die grundsätzliche Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit (streng geregelte Ausnahmen: §§ 30ÍT. DRiG). Mit dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit vereinbar ist eine polit. Betätigung (z.B. in einer polit. - » Partei oder in einem —» Gemeinderat) insoweit, als dabei das —> Vertrauen in die Unparteilichkeit des R.s nicht beeinträchtigt wird (§ 39 DRiG). Absolute -> Inkompatibilität besteht jedoch zwischen dem R.amt und der Zugehörigkeit zur —> Legislative oder —> Exekutive (Gewaltenteilungsprinzip, § 4 DRiG). Auch in seinem sonstigen Verhalten hat sich der R. zurückzuhalten. Bestehen Zweifel an der Unparteilichkeit eines R.s, so kann der R. zum Schutze eines Verfahrensbeteiligten wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden.
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Richter Der R. ist kein Rechtsprechungsautomat i.S. Montesquieu* (1689-1755). Er hat vielmehr, da das Recht selten deutungsfrei fest fixiert ist und somit einen Auslegungs- und Entscheidungsspielraum läßt, sowohl die jeweilige -> Rechtsnorm wie auch die ihr zugrundeliegende polit, und soziale Wirklichkeit zu interpretieren und bestimmt somit letztlich den Inhalt des Rechts. Dem R. fällt daher polit. Macht zu. Damit ist die Frage nach der -> Verantwortlichkeit des R.s, nach einer mit der richterlichen Unabhängigkeit zu vereinbarenden Kontrolle und nach der —> Legitimation des R.s in der parlament. und gewaltenteiligen Demokratie aufgeworfen. Zu unterscheiden sind - auf Verfassungsrichter allerdings nicht in allen Elementen anwendbar - die Binnenkontrolle (Kollegialentscheidung, Instanzenzug, Beurteilungswesen - hier allerdings Grenzziehungsproblem gegenüber Unabhängigkeitsprinzip) und die Außenkontrolle (R.bestellung, Öffentlichkeit, R.anklage - Art. 98 Abs. 2 und 5 GG; bisher nicht relevant), wobei die Dienstaufsicht durch Gerichtspräsident und Minister (Kollisionsmöglichkeit mit Unabhängigkeitsprinzip) beiden Kategorien zuzuordnen ist. Das Verfahren der R.bestellung in Bund und Ländern differiert beträchtlich. So werden die R. des -> BVerfG je zur Hälfte von einem Wahlausschuß des Bundestages und vom Bundesrat mit 2/3Mehrheit gewählt (Art. 94 Abs. 1 GG, §§ 5ff. BVerfGG). Dagegen werden die R. der obersten —> Bundesgerichte bei erstmaliger Berufung vom jeweils zuständigen -> Bundesminister zusammen mit einem -> Richterwahlausschuß, bestehend aus den jeweils zuständigen Ministern der 16 Bundesländer und einer gleichen Zahl von vom Bundestag nach den Regeln des —> Verhälniswahlrechts gewählten Mitgliedern, berufen (Art. 95 Abs. 2 GG, §§ 1-5 und 12f. RiWG) und besitzen daher eine mittelbare demokrat. und eine föderative Legitimation. Vor der Wahl ist der
Richterwahlausschuß
Richteranklage Präsidialrat (R.vertretung) des Gerichts zu hören, an das der R. berufen werden soll (§§ 49 und 54ff. DRiG). Bei Beförderungen entscheidet der zuständige Minister nach Anhörung des Präsidialrats alleinverantwortlich. Die Berufung der LandesR. erfolgt sehr unterschiedlich: entweder durch die Exekutive allein (z.B. Bay.) oder gemeinsam durch Exekutive und R.wahlausschuß bei differierender Zusammensetzung des Ausschusses (Parlament.-judikativ, z.B. Beri., oder Parlament.-exekutiv-judikativ, z.B. Hamb.). Bei Beförderungen ist in allen Ländern in einigen Ländern auch bei einer Erstberufung (z.B.M-V) - vor jeder -> Ernennung oder Wahl eines R.s der jeweils zuständige Präsidialrat zu beteiligen. Lit: HdbStR III, S. 815ff.; F. Lansnicker: Richteramt in Dtld., Frankfurt/M. 1996; G. SchmidtRäntsch / J. Schmidt-Räntsch: Dt. Richtergesetz. Richterwahlgesetz. Komm., Manchen 5 1995.
Werner Billing Richteranklage Wenn ein Bundesrichter im Amt oder außerhalb des Amtes gegen die Grundsätze des —> Grundgesetzes oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes verstößt, so kann das —» Bundesverfassungsgericht mit 2/3-Mehrheit auf Antrag des -» Bundestages anordnen, daß der Richter in ein anderes Amt oder in den Ruhestand zu versetzen ist (Art. 92 Abs. 2 GG i.V.m. §§ 30fT. DRiG); im Falle eines vorsätzlichen Verstoßes kann auf Entlassung erkannt werden (Art. 98 Abs. 2 GG). Für die Landesrichter gilt ebenfalls die Zuständigkeit des BVerfG (BVerfGG § 18 Nr. 9; § 58). Für ehrenamtliche Richter (-> Ehrenamtliche Tätigkeit) gelten Art. 97 Abs. 2 GG wie die §§ 30ff. DRiG nicht. Die Rechtsprechung des BVerfG verlangt in Auslegung der richterlichen Unabhängigkeit aber auch bei diesen, daß die vorzeitige Amtsenthebung nur auf gesetzlicher Grundlage und gegen den Willen des Richters nur aufgrund einer richterlichen Entscheidung zulässig ist (s.a. -> Gerichtsverfassung).
Lit: J. Schmidt-Räntsch: München '1995.
Dt. Richtergesetz,
HgRichterwahlausschuß Das -> Grundgesetz sieht - obligatorisch für die obersten -» Gerichtshöfe des Bundes und fakultativ für die Gerichte der Länder - die Beteiligung von RWA bei der Berufung von -> Richtern vor (Art. 95 Abs. 2 und 98 Abs. 4 GG). Der RWA des Bundes besteht aus den jeweils zuständigen -> Ministern der 16 Bundesländer (Mitgliedschaft kraft Amtes) und einer gleichen Zahl von vom —» Bundestag nach den Regeln des Verhälniswahlrechts für die Dauer der —> Wahlperiode bestellten Mitgliedern (Mitgliedschaft kraft Wahl), die nicht -> Abgeordnete sein müssen, es jedoch i.d.R. sind (§§ 2-5 RiWG). Er ist somit gemischt parlament.-exekutiv und unitarisch-föderativ zusammengesetzt. Diese Zusammensetzung gewährleistet gegenüber der traditionellen Richterberufung allein durch die —> Exekutive eine stärkere mittelbare demokrat. und eine föderative —> Legitimation der Richter; den Vorsitz fuhrt der jeweils zuständige, jedoch nicht stimmberechtigte Bundesminister ( § 9 1 RiWG). Ein Vorschlagsrecht steht jedem Ausschußmitglied und dem zuständigen Bundesminister zu (§ 10 I RiWG). Der zu berufende Richter bedarf - nach vorheriger Anhörung des jeweiligen Präsidialrats (Richtervertretung; §§ 55ff. DRiG) - der Zustimmung sowohl des nichtöffentlich tagenden und - bei geheimer Abstimmung - mit einfacher Mehrheit entscheidenden RWA (§§ 9 Π und 12 I RiWG) als auch des zuständigen Bundesministers und der anschließenden —> Ernennung durch den -> Bundespräsidenten ( § 1 3 RiWG). Bei Beförderungen von Bundesrichter ist der RWA allerdings nicht beteiligt. Einige Bundesländer haben ebenfalls RWA eingerichtet (Beri., Brem., BB, Hamb., Hess., SH, TH), die unterschiedliche Kompetenzen haben und unterschiedlich zusammengesetzt sind: entweder
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Richterwahlgesetz parlament.-judikativ (z.B. Beri., Hess.) oder parlament.-exekutiv-judikativ (z.B. Brem., Hamb.) und mit unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Gruppen, wobei die richterlichen und anwaltlichen Mitglieder entweder vom Parlament (z.B. Beri.) oder von der Richter- bzw. Anwaltschaft (z.B. Brem.) gewählt werden. Grds. entscheiden die RWA mit einfacher, in Hess, mit absoluter und in Beri, und SH mit 2/3-Mehrheit. In nahezu allen Fällen (Ausnahme: Brem, und Hamb.) ist außerdem die Zustimmung des jeweils zuständigen Ministers bzw. der Landesregierung erforderlich. In BW und Rh.-Pf. entscheiden bei einem Dissens zwischen Minister und Präsidialrat ein gemischt parlament.judikativ zusammengesetzter RWA (BW) bzw. Schiedsausschuß (Rh.-Pf.) gemeinsam mit dem Minister. In Brem., Hamb., Hess, und TH ist der RWA generell bei Beförderungen, in Beri, und SH nur im Falle des Präsidenten eines oberen Landesgerichts, der vom Parlament gewählt wird, nicht beteiligt. Zusammensetzung und Kompetenzen der RWA sind in der Vergangenheit wiederholt und aus unterschiedlicher Richtung kritisiert worden. Dies betrifft v.a. zum einen Art und Umfang der Mitwirkung der Richter und zum andern den Einfluß der polit. -> Parteien auf die Personalpolitik. Von den RWA zu unterscheiden ist der ->• Wahlausschuß für die Richter des BVerfG, der die vom Bundestag zu berufenden Verfassungsrichter wählt (Art. 94 Abs. 1 GG, § 6 BVerfGG). Lit: E. Teubner: Die Bestellung zum Benifsrichter in Bund und Ländern, Köln 1984. Werner Billing
Richterwahlgesetz —» Richterwahlausschuß Richtlinien der Politik Nach Art. 65 S. 1 GG bestimmt der -> Bundeskanzler die R.d.P. und trägt dafür die —> Verantwortung. Diese Verfassungsnorm entsprach Art. 56 S. 1 —» Weimarer Reichsverfassung, der die Richtlinienkompetenz des 786
Römische Verträge Reichskanzlers festlegte. R.d.P. sind grundlegende und richtungsweisende Entscheidungen des Kanzlers. Formerfordernisse für dieses Instrument polit. -» Führung bestehen nicht. Als ausfüllungsbedürftige und -fähige Leitlinien dürfen sie nicht den Charakter von Einzelweisungen annehmen. Wohl aber können sie Grundsatzfragen der Regierungsorganisation betreffen. Die Richtlinien binden die —> Bundesminister bei der Leitung ihrer -> Ressorts (Art. 65 S. 2 GG) und das Kabinett bei Kollegialentscheidungen. Rechtl. begrenzen polit. —> Parteien und Koalitionsvereinbarungen nicht die Richtlinienkompetenz. Die meisten —> Landesverfassungen weisen dem —> Ministerpräsidenten in der —> Landesregierung eine dem Bundeskanzler vergleichbare Stellung zu. Lit: H. Maurer: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers, in. FS W. Thieme, Köln 1993, S. 123ffi
C.R. Richtlinienkompetenz -> Bundeskanzler Risikovorsorge -> Vorsorge Römische Verträge Mit dem Begriff der R.V. bezeichnet man die beiden letzteren von insg. 3 völkerrechtl. Verträgen zur Gründung der -> Europäischen Gemeinschaften, die nunmehr die Grundlage der —» Europäischen Union darstellen. Der erste dieser 3 Verträge ist der am 18.4.1951 in Paris unterzeichnete Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (-» EGKS —• Pariser Verträge). Die beiden anderen Verträge, der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (—> Euratom) und der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurden am 25.3.1957 im Rom unterzeichnet (in Kraft getreten zum 1.1.1958) und werden deshalb auch als die R.V. bezeichnet. Die Gründungsverträge und insbes. auch der EWG-Vertrag wurden zwischenzeitlich mehrfach
Rotation
Runder Tisch
durch weitere Verträge ergänzt und reformiert. Auch die beiden letzten Reformverträge, der Maastrichter —> EU-Vertrag vom 7.2.1992 und der -> Amsterdamer Vertrag vom 2.2.1997 werden mit dem Namen der Städte assoziiert, in denen die Unterzeichnungen stattfanden. Durch den Maastrichter Vertrag wurde die in Rom gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen Gemeinschaft ausgebaut.
ihr Mandat zur Verfügung stellen müssen, um anderen den Platz frei zu machen, die den Rest der Legislaturperiode benötigen, um sich ihrerseits einzuarbeiten. Die R. schwächt die Schlagkraft einer Fraktion, v.a. im Aufgabenbereich „Regierungskontrolle"
LU.: P.H. Spaak: Memoiren eines Europäers, Hamburg 1969, S. 297ff„ 317ff. J.B.
Rüge Die R. ist parlament. Brauch und die mildeste Form, über die der amtierende —> Bundestagspräsident im Geschäftsgebahren verfügt, wenn er die Ordnung verletzt sieht. Sie findet als Ordnungsinstrument in der -> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages nur indirekt ihre Erwähnung in der Bestimmung über die Niederschrift von —> Zwischenrufen. Ist dem Präsidenten ein solcher entgangen, kann er ihn in der nächsten —> Sitzung zur Sprache bringen und ggf. rügen; dagegen gibt es keinen Einspruch wie bei einem Ordnungsruf oder Ausschluß. In der parlament. Praxis kann der Präsident das Verhalten eines —> Abgeordneten, aber auch das von Mitgliedern der -> Bundesregierung und des -> Bundesrats beanstanden, ohne ihn bzw. sie förmlich zur Ordnung zu rufen; dann liegt lediglich eine R. vor.
Rotation /-sprinzip Unter R. ist im Parlamentsrecht der Mandatsverzicht eines Parlamentsabgeordneten während der laufenden —• Legislaturperiode zu verstehen, der mit dem ausschließlichen Zweck geschieht, einem Listennachfolger die Mandatstlbemahme zu ermöglichen, um dadurch eine zeitliche Begrenzung des polit. —> Amtes —> Mandat zu erreichen. Diese R. wurde von der Partei —> Die Grünen seit etwa 1980 propagiert und von ihren Abgeordneten in den verschiedenen dt. -> Parlamenten und kommunalen Vertretungskörperschaften i.d.R. derart praktiziert, daß die gewählten -> Abgeordneten dieser —• Partei in einem Parlament oder einer Vertretungskörperschaft nach der Hälfte der Legislatur ihre Mandate niederlegten, um dem Nächstberufenen Platz zu machen. Die R. ist zulässig, selbst wenn dieser Mandatsverzicht auf einem Parteibeschluß beruht, sofern sich der Abgeordnete nur freiwillig diesem Beschluß fügt. Sie ist unzulässig, wenn der Mandatsverzicht gegen den Willen des Abgeordneten, z.B. aufgrund eines Blankoverzichts, erfolgt, der durch die -> Fraktion zu einem Zeitpunkt eingereicht wird, den sie bestimmt. Die R. wird z.Z. kaum mehr praktiziert und hat deshalb an polit. Bedeutung verloren. Der große Nachteil der R. wird darin gesehen, daß Parlamentarier, die sich gerade in die Parlament. Arbeitsweise und in eine spezielle polit. Materie eingearbeitet haben,
Lit: G. Frank / R. Stober (Hg.): Rotation im Verfassungsstreit, Baden-Baden 1985. U.B.
V.S.
Runder Tisch Bezeichnung für ein informales, kooperatives Forum primär zur Kommunikation und Konsultation, im weiteren aber auch zur Konsensfindung bei Konflikten zwischen verschiedenen gesellschaftl. Gruppen. Als polit. Instrument trat der R.T. erstmals in Polen Anfang 1989 unter der Regierung Jaruzelski in Erscheinung, als die Gewerkschaftsbewegung Solidamosc der Regierung gegenübersaß und für die polit. Opposition informelle Machtteilhabe und eine höhere —> Öffentlichkeit erreichen konnte. Nach diesem Vorbild konstituierte sich in der Schlußphase der -> DDR nach dem Zusammenbruch des Alleinherrschaftsan787
Rundfunk
Rundfunk
spruches der SED der Zentrale R.T., dem Vertreter der Regierung, der - » Bürgerbewegungen, der neuen demokrat. -> Parteien und der —> Kirchen angehörten. Ursprünglich als Instrument zur Krisenbewältigung gedacht, entwickelte sich der Zentrale R.T. von einem Organ der Bürgerbeteiligung zum wichtigsten polit. Steuerungsinstrument in der Zeit zwischen der friedlichen Revolution und den ersten freien Wahlen am 18.3.1990. Mit diesen hatte der Zentrale R.T. sein vorrangiges Ziel, die Vorausetzungen für eine demokrat. legitimierte parlement. Volksvertretung zu schaffen, erreicht. In den letzten Jahren haben sich zahlreiche R.T.e zu Fragen der Gewalt, der -> Umweltpolitik, der Stadt- und Regionalplanung, der Bürgerbeteiligung u.v.m. gebildet. Als Form der gesellschaftl. Selbstorganisation basiert die Funktionalität R.T.e auf der gleichberechtigten und möglichst umfassenden Berücksichtigung aller von einem bestimmten Konflikt Betroffener. R.T.e versuchen mittels einer erhöhten Partizipation von —» Bürgern, durch einen breiten Dialog zukunftsfähige, sachgerechte und konfliktmindemde Problemlösungen zu formulieren. In diesem Zusammenhang werden R.T.e auch häufig als Bausteine einer Modernisierung der -> Demokratie i.S. einer Ergänzung zum Repräsentationsprinzip des polit. Systems und zum traditionellen Verwaltungshandeln gesehen. Darüber hinaus finden sich R.T.e auch als Elemente in Mediationsverfahren o.ä. Konsultations- bzw. Planungsprozessen. Lit.: Forum Bürgerbewegung / Ev. Akademie Berlin-Brandenburg / Stiftung Mitarbeit (Hg.): Partizipation am Runden Tisch. Nr. 6/7, Berlin 1996.
Stefan Kessen Rundfunk / -anstalten 1. Im klassischen Sinn steht R. für eine für die Allgemeinheit bestimmte Veranstaltung von Darbietungen in Wort, Ton und Bild unter Benutzung elektrischer Schwingungen eingeschlossen Darstellungen, die ver788
schlüsselt verbreitet werden oder gegen besonderes Entgelt empfangbar sind, sowie Femsehtext (Staatsvertrag über den R. im vereinten Dtld. vom 1.1.1992, geändert am 19.8.1996 und in Kraft getreten am 1.1.1997). R. kann Sprache, Musik und bewegte Bilder übertragen und ist der Oberbegriff für Hörrundfunk und Fernsehrundfunk, kurz R. und —> Fernsehen. J u n k " verweist auf die Ursprünge der Sendetechnik, die auf der Übertragung elektromagnetischer Wellen durch Sendeantennen basiert. Die Frage der Zuordnung der neuen Multimedia-Dienste zum R. ist entscheidend für die Frage der Genehmigungsbedürftigkeit nach dem jeweiligen Landesmedienrecht (—> Mulitmediarecht). Gegenwärtig gehen das —> Europäische Parlament und die dt. - » Bundesländer von einem weiten R.begriff und damit einer Länderkompetenz auch für neue Dienste aus, vgl. den Staatsvertrag über Mediendienste, wonach für Multimedia-Dienste Zulassungspflicht bestehen soll, wenn diese in der Bedeutung für die öffentl. Meinungsbildung einem R.programm i.S. des R.staatsvertrags gleichkommen. Der Bund hält hingegen nicht anders als die -» Europäische Kommission und der —> Europäische Rat - eine enge Interpretation des R.begriffs für richtig (vgl. die von der ->· Bundesregierung am 2.5.1996 vorgelegten Eckwerte zu einem „Gesetz über Informations- und Kommunikationsdienste"). Um Überschneidungen zum Mediendienste-Staatsvertrag der Länder zu vermeiden, verständigte man sich darauf, daß die Länder ihre Zuständigkeiten in den Bereichen PayTV, Pay-per-View sowie Abrufdienste u.ä. behalten, soweit es sich um Unterhaltungsangebote handelt, der Bund hingegen künftig zuständig sein soll für Bereiche wie Datendienste, insbes. On-lineDienste, elektronische Post, Telebanking, Telearbeit, Telelearning, elektronische Buchungsdienste, außerdem Jugend-, Daten- und Verbraucherschutz (—> Internet). 2. Die Ausgestaltung des R.wesens steht traditionell im öffentl. Interesse. Zu den
Rundfunk Zielen der R.politik gehört die Sicherung von -> Meinungsfreiheit, —> Pluralismus und Informationsvielfalt. Das -> Bundesverfassungsgericht hat in einer Reihe von Urteilen die besondere Bedeutung des R.s für die - > Gesellschaft betont. Ihm kommt danach „sowohl für die Verbindung zwischen dem Volk und den —• Staatsorganen wie für deren Kontrolle als auch für die Integration der Gemeinschaft in allen Lebensbereichen eine maßgebende Wirkung" zu (BVerfGE 35, 202, 222). R. ist ein Forum für die freie Meinungsbildung und als solches grdl. für das Wert- und Wissensgefüge einer Gesellschaft und die Sozialisation seiner -> Bürger. Als Medium der öffentl. Kommunikation, der polit. Information, aber auch als Unterhaltungsmedium, ist R. ein Kollektivgut: Jede Person hat zu jedem Zeitpunkt Zugang zu einem von einem R.sender ausgestrahlten Programm, vorausgesetzt sie befindet sich im Versorgungsgebiet des Empfangers und besitzt ein geeignetes Empfangsgerät (ausgenommen Pay-Radio, also abonnierte Sonderprogramme). R. ist darüber hinaus ein Konsumgut: die Verbreitung von R. ist ein Angebot an jedermann, das Konsumgut zu beziehen. Neue Partizipationsmöglichkeiten eröffnen die in Dtld. nach dem Vorbild der PublicAccess-Regelungen in den USA geschaffenen Offenen Kanäle, die aus dem Gebührenaufkommen der —> Landesmedienanstalten finanziert werden und zu denen jeder Bürger Zutritt hat. R. besitzt daneben auch Herrschaftsfunktion; der in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten R.freiheit, der auch private R.betreiber grds. unterstehen, kommt insoweit abwehrende Bedeutung i.S. einer „Freiheit des R.s von staatl. Beherrschung und Einflußnahme" zu; daneben bedarf es Regelungen zur Schaffung „einer positiven Ordnung, welche sicherstellt, daß die Vielfalt der entstehenden Meinungen im R. in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet" (BVerfGE 57,295, 320). 3. Der in seiner Frühphase während der Weimarer Republik Privatwirtschaft!.
Rundfunk organisierte, unter staatl. Aufsicht stehende R. wurde während des Dritten Reichs (-> Nationalsozialismus) von einem gleichgeschalteten, propagandistischen Staatsrundfunk abgelöst, um schließlich nach Übergabe der westalliierten Besatzungssender 1948/49 in der - » Bundesrepublik Deutschland auf der Basis von - » Anstalten des öffentl. Rechts eine weitgehend föderale, öffentl.-rechtl. Organisationsform zu finden. In dem bis in die 80er Jahre hinein vorherrschenden, sich selbst verwaltenden, nach Staatsfreiheit und nach Interessenunabhängigkeit strebenden öffentl.-rechtl. R.system, zu dem neben den Landesrundfunkanstalten der ARD, das ZDF und das seit 1.1.1994 gemeinsam von diesen beiden getragene Dtld.radio (Vorläufer: Dtld.funk (19621993); RIAS Berlin (1945-1993); DSKultur (1990-1993)) zählen, sollte das Konzept gesellschaftl. Kontrolle sicherstellen, daß R. der Gesamtgesellschaft und nicht einzelnen Gruppen verhaftet ist. Die interne gesellschaftl. Kontrolle wurde durch weitgehend ständisch besetzte Aufsichtsgremien, dem R.rat bzw. beim ZDF dem Femsehrat, gewährleistet, dem Mitglieder der gesellschaftl. relevanten Gruppen (—> Parteien, —• Kirchen, —> Interessenverbände aus Kultur und Bildung etc.) angehören. Die öffentl.-rechtl. R.organisation läßt sich als ein im öffentl. -> Eigentum stehender, marktferner, durch Gebühren der Gerätebesitzer, beschränkten Werbezeitenverkauf und andere Erträge (z.B. Erträge aus Programmverwertungen, Zinsen, Finanzausgleich) finanzierter Sektor charakterisieren, der ausgerichtet am Programmauftrag angebotsorientiert arbeitet. Der klassische Programmauftrag, wie er in den R.gesetzen und Staatsverträgen formuliert ist, ist auf Information, Bildung und Unterhaltung gerichtet und der wahrheitsgemäßen Berichterstattung verpflichtet. Demgegenüber ist das mit der Zulassung privatwirtschaftl. ProgrammVeranstalter in den Kabelpilotprojekten durch die Landesmediengesetze seit 1984 eingeführte duale
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Rundfunk R.system, das seine rechtl. Basis durch den R. staatsvertrag vom April 1987 fand, überwiegend marktwirtschaftl. Natur. Die kommerziellen Veranstalter, die in den meisten Bundesländern von externen gesellschaftl. Kontrollinstanzen, den öffentl.-rechtl. Landesmedienanstalten überwacht werden, setzen auf Wettbewerb als Steuerungsmechanismus; sie finanzieren sich überwiegend durch Werbezeitenverkauf und / oder Nutzerentgelte. Ihre Leistung erbringen sie nachfrageorientiert, an den Wünschen und Bedürfnissen von Zielgruppen (Kunden) ausgerichtet, wobei sie als Zielerreichung Rentabilität ihrer Wirtschaftsaktivitäten anstreben. Ein gesamtgesellschaftl. Auftrag, das Programm so zu gestalten, daß sich in ihm die Meinungsvielfalt der Gesellschaft binnenplural widerspiegelt, besteht nicht; man geht vielmehr davon aus, daß sich inhaltliche Ausgewogenheit durch die Vielzahl der Programme außenplural einstellt - anders allerdings in Öst., wo § 4 Abs. 2 des Regionalradiogesetzes vorschreibt, daß auch private Veranstalter für Binnenpluralität zu sorgen haben. In der —> DDR, wo der R. zentralistisch organisiert war, gab es in den 80er Jahren 5 verschiedene Programme (Radio International; Radio DDR 1; Berliner R.; DT 64; DS Kultur). Nach der Herstellung der Deutschen Einheit wurden in den neuen Bundesländern neue Landesrundfunkanstalten gegründet (Mitteldeutscher R., MDR; Ostdeutscher R., ORB), die ihre Programme nach westdt. Vorbild organisierten; mit dem von den 16 Regierungschefs der Bundesländer am 31.8.1991 unterzeichneten „Staatsvertrag über den R. im vereinten Dtld", der am 1.1.1992 in Kraft trat, wurde eine bundesweit geltende Rahmenordnung geschaffen; der frühere R. der DDR wurde aufgelöst. 4. Anders als in den USA, an dessen privatwirtschaftl. Konkurrenzmodell sich die duale R.ordnung in Dtld. zunächst orientierte, war R. in Europa lange Zeit kein Zweig privater Wirtschaftstätigkeit, sondern im wesentlichen eine Sache
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Rundfunk staatl. Versorgung mit kulturellen Gütern. Lediglich Luxemburg überließ den R. von Anfang an einer privaten Kapitalgesellschaft (Compagnie Luxembourgeoise de Télédiffusion, CLT); 1954 traten dann in Großbritannien und 1974 in Italien private R.veranstalter neben die halbstaatl. R.anstalten. Frankreich und die BRD folgten zu Beginn der 80er Jahre, und 1987 ließen schließlich Belgien, Spanien, Portugal, Griechenland sowie die Schweiz privatwirtschaftl. Hörfunk- bzw. Fernsehveranstalter zu. Private Hörfunkprogramme finden sich heute in fast allen europ. Staaten, ausgenommen Albanien; zumeist existieren eine große Zahl lokaler Hörfunkstationen (z.B. Frankreich, Italien, Portugal) und in mehreren Ländern auch nicht-kommerzielle Lokalradios (z.B. „radio libre" in Belgien). Fast in allen Staaten wurden jedoch in der Praxis Einschränkungen zugunsten des Schutzes der nationalen Kultur und der polit. Ordnung gemacht (z.B. kulturelle Programmauflagen für private Programme; Konzessionsvergabe an regierungsnahe Unternehmen), um unerwünschte Wettbewerbseffekte zu vermeiden. Dank der Ausbreitung der Kabel- und Satellitentechnik ist es für Europäer zunehmend möglich, Angebote aus dem europ. Ausland zu nutzen, wenngleich nach wie vor inländische R.programme, v.a. regionale und lokale Hörfunkproduktionen bevorzugt werden. Auf der Ebene der —> Europäischen Union gibt es Bestrebungen, R. nicht als kulturelles, sondern als Wirtschaftsgut zu betrachten, und obgleich der EWG-Vertrag keine ausdrückliche Zuständigkeit der Union vorsieht (vgl. aber der neu einjgefügte Art. 128 EWGV, der den audiovisuellen Bereich im Rahmen der -> Kulturpolitik erfaßt), unternahm der —> Europäische Gerichtshof schrittweise eine Einbeziehung von Fernsehen und Hörfunk in das —» Europäische Gemeinschaftsrecht (Rechtssache Sacchi, 155/73 Slg. 1974, S. 409ff; Rechtssache Debauve, 52/79, Slg. 1980, S. 833ff.) und qualifiziert grenzüberschreitenden R. re-
Rundfunk gelmäßig als „Dienstleistung" i.S.d. Art. 60 EWGV. Hierin liegt in der Tendenz eine Einschränkung der föderalen Länderkompetenzen. Staatl. gelenkte oder zumindest beeinflußte Aus Sendungen von R.anstalten, die sich in erster Linie an Hörer im Ausland wenden und somit auch diplomatische Funktionen im Prozeß internationaler Kommunikation übernehmen, werden weltweit in nahezu 100 Ländern betrieben (z.B. BBC, Radio France Internationale, Dt. Welle, Radio Vatikan, Radio Liberty/Radio Free Europe; Voice of Palestine), wobei die meisten Stationen sich in Europa, dem Nahen und Mittleren Osten und Asien befinden. 5. Aufgrund der raschen Digitalisierung der elektronischen Medien entwickelt sich ein neues, durch Multimedia geprägtes R.system. Für den Nutzer ergeben sich erhöhte Kommunikations- und Partizipationschancen. Die Verknüpfung bisher getrennter Übertragungswege der Individual- und Massenkommunikation führt zu einem wenig übersichtlichen Regulierungswettbewerb zwischen Bund, Ländern und EU. Neue Formen der Zusammenarbeit werden notwendig. Anzeichen existieren, daß die Gestaltbarkeit der R.entwicklung im Zuge wirtschaftl.-techn. Wandels abnimmt und es zu einer Reduzierung der Regulierungsverantwortung kommt. Durch die zu beobachtende Individualisierung und Kommerzialisierung der Programmangebote verliert die kulturelle Funktion des R. systems an Bedeutung, R.Ökonom. Fragestellungen, etwa hinsichtlich der steigenden Anbieterkonzentrationen oder der Finanzierung des öffentl.-rechtl. R.s, werden hingegen immer wichtiger. Schon werden im Zuge einer Ökonomisierung des R.s Szenarien entwickelt (vgl. das Anfang 1997 vorgelegte „Grundsatzpapier zu Leitlinien der zukünftigen Kommunikationsordnung"), die davon ausgehen, daß sich die Kommunikationsordnung der Zukunft in die Wirtschaftsordnung einfügen müsse. Aufgabe einer zukünftigen Medienrecht-
Saarland setzung wird es sein, einen Ordnungsrahmen abzustecken, der die Medienkompetenz der Verbraucher sowie die öffentl. Diskussion um die sich wandelnde R.landschaft fördert. Lit: M. Bullinger: Der Rundfunkbegriff in der Differenzierung kommunikativer Dienste, in: AfP 1996, S. I f f ; D. Dörr: Der Dritte Rundfunkänderungsstaatsvertrag aus verfassungsrechtl. Sicht, Maßnahmen zur Vielfaltsicherung gelungen?, in: Media Perspektiven 1996, S. 621ff ; R. Hartstein / IV.-D. Ring / J. Kreile u.a: Komm, zum Staatsvertrag der Länder zur Neuordnung des Rundfunkwesens, München 2 1995, Allgemeine Erläuterungen, Rn. 77ff.; W. Hoffmann-Riem: Der Rundfiinkbegriff in der Differenzierung kommunikativer Dienste, in: AfP 1996, S. 91ff ; O. Jarren /Β. Knaup / Η. Schatz (Hg.): Rundfunk im polit. Kommunikationsprozeß, Münster 1995.; M. Knothe: Novellierung des Rundfünkstaatsvertrags, in: ZUM 1997, S. 6ff.
Sabine von Schorlemer
Saarland 1. Allgemeines Das SL ist mit einer Fläche von 2.569,99 qkm der kleinste der Flächenstaaten der —> Bundesrepublik Deutschland. Dabei ist es mit 1,084 Mio. Ew. (Ende 1994) relativ dicht besiedelt (422 Ew. / qkm - Bundesdurchschnitt: 228). Das SL erwirtschaftete in 1994 mit ca. 424.000 Erwerbstätigen (1,18% der bundesweit Erwerbstätigen) ein Bruttoinlandsprodukt von 41,49 Mrd. DM (1,24% des BIP der BRD). Das S. ist auf dem Weg von einer klassischen Montan- zu einer modernen europ. Industrieund Dienstleistungsregion. Allein im Dienstleistungssektor sind zwischen 1985 und 1995 mehr als 31.000 Arbeitsplätze neu entstanden. Hierdurch gelang es, den Rückgang an Arbeitsplätzen in anderen Wirtschaftszweigen auszugleichen und darüber hinaus 14.000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die 1992 vor dem —> Bundesverfassungsgericht erstrittene Teilentschuldung, die dem SL bis 1998 jährliche Zahlungen von 1,6 Mrd. DM bringt, ist
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Saarland die Grundlage für eine dauerhafte Sanierung der Landesfinanzen. 2. Geschichte Das SL hat sich als polit. Einheit im wesentlichen erst nach dem Ende des I. Weltkrieges entwickelt. Bis zu diesem Zeitpunkt gehörte der größte Teil des heutigen SL zu den preuß. Rheinlanden, der kleinere Teil zum Bay. Rheinkreis (Rheinpfalz). Frankreich wollte das saarl. Montanrevier nach dem I. Weltkrieg annektieren. Die 1920 in Kraft getretenen Saar-Regelungen des Versailler Vertrages stellten einen Kompromiß zwischen diesen Annexionswünschen und der Selbstbestimmungskonzeption von US-Präsident Wilson dar: Das sog. Saargebiet wurde der Verwaltung des Völkerbundes unterstellt; Frankreich erhielt als Reparationsleistungen das Eigentum an den Saargruben. Nach 15 Jahren sollte die Bevölkerung über den endgültigen Status des Gebietes entscheiden. Bei dieser Abstimmung sprachen sich, ungeachtet der Machtübernahme Hitlers am 30.1.1933 (-» Nationalsozialismus), am 13.1.1935 90,7% der Saarländer für eine Rückgliederung nach Dtld. aus. Das neue „SL" wurde gleichgeschaltet und rasch zum Aufmarschgebiet für die dt. Expansionspolitik nach Westen. Nach dem Π. Weltkrieg strebte Frankreich erneut die Abtrennung des SL aus dem dt. Staatsverband an: wirtschaftl. Union mit Frankreich bei gleichzeitiger polit. Teil-Union waren die entscheidenden Elemente dieses Konzeptes. Dieser saarl. Sonderweg behinderte allerdings ab 1950 die europäische Integration, da er einer dt.-frz. Verständigung im Wege stand: Sowohl in der neu entstandenen BRD als auch im SL - dort zunächst in der Illegalität - wurde zunehmend Kritik an diesem Sonderweg geübt. Adenauer und Schuman verfolgten mit dem von ihnen konzipierten Saarstatut (1954) die Absicht, dieses Hindernis mittels einer Europäisierung des S.es zu beseitigen: die Saar sollte bis zu einem Friedensvertrag einen europ. Status erhalten. In einer —> Volksabstimmung sprachen sich allerdings nach erbitterten Aus-
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Saarland einandersetzungen am 23.10.1955 67,7% der Abstimmenden gegen das Statut aus. Bei den -» Landtagswahlen vom 18.12. 1955 erhielten die -> Parteien, die für die polit, und wirtschaftl. Eingliederung des SL in die BRD waren, die Mehrheit. In dem Luxemburger Vertrag vom 27.10. 1956 trug Frankreich diesem Mehrheitswillen Rechnung: Es stimmte der Rückgliederung des S.es gegen wirtschaftl. Zugeständnisse zu. Daraufhin machte der saarl. Landtag erstmalig von der Beitrittsklausel des Art. 23 GG Gebrauch und erklärte am 14.12.1956 den Beitritt des SL zum Geltungsbereich des —> Grundgesetzes zum 1.1.1957. Die Wirtschaftsund Währungsunion mit Frankreich sollte noch bis zum 6.7.1959 bestehen bleiben. Die Christi. Volkspartei unter J. Hoffmann, die nach 1945 die bestimmende polit. Kraft im SL war, verlor nach ihrer Niederlage bei den Abstimmungen 1955 ständig an Bedeutung und schloß sich 1959 der -> CDU an, die - z.T. in Alleinregierung, seit 1977 in einer Koalition mit der FDP - bis zum Jahre 1985 die polit. Entwicklung des SL, insbes. unter dem Ministerpräsidenten F.-J. Röder (19591979), prägte. Seit 1985 wird das S. von einer SPD-Alleinregierung unter Ministerpräsident O. Lafontaine (—> SPD) geführt. 3. Staatl. Ordnung Der erste Hauptteil der —> Verfassung enthält einen umfangreichen Katalog von —> Grundrechten und —> Grundpflichten. Namentlich sind hierin auch umfangreiche Bestimmungen zur Organisation des Schulwesens im S. enthalten (Art. 27ff. SVerf), die zuletzt im März 1996 unter Verzicht auf die verfassungsrechtl. Verankerung der Hauptschule als Schulform abgeändert wurden. Das Staatsorganisationsrecht beginnt mit einem Bekenntnis zur - » Demokratie: Alle Staatsgewalt im SL geht vom Volke aus (Art. 61 SVerf). Neben der —> Gesetzgebung durch den Landtag des S.es besteht die Möglichkeit von -» Volksbegehren und -» Volksentscheid (Art. 99 SVerf). Unmittelbar gewählt werden im
Saarland SL, das in den Stadtverband Saarbrücken und 5 —> Landkreise gegliedert ist, neben dem Landtag auf kommunaler Ebene der Stadtverbandstag (§ 205 KSVG), der Stadtverbandspräsident (§ 212 KSVG), die -> Kreistage (§ 156 KSVG) und -> Landräte (§ 177 KSVG) sowie die - 52 Gemeinderäte (§ 32 KSVG) und Bürgermeister (§ 56 KSVG). Oberste - > Staatsorgane sind der —> Landtag, die - * Landesregierung und der Verfassungsgerichtshof. Der Landtag des SL besteht aus 51, auf 5 Jahre gewählten - » Abgeordneten (Art. 65 ff. SVerf). Die Landesregierung besteht aus dem -> Ministerpräsidenten und den - » Ministem (Art. 86 SVerf). Der Ministerpräsident, der von der -> absoluten Mehrheit der Mitglieder des Landtages gewählt wird, ernennt und entläßt mit Zustimmung des Landtages die Minister (Art. 87 Abs. 1 SVerf). Ministerpräsident und Minister scheiden aus dem —> Amt, wenn ihnen der Landtag mit absoluter Mehrheit der Mitglieder des Landtages das —> Vertrauen entzieht (Art. 88 SVerf). Die Aufgaben des Verfassungsgerichtshofs sind weitgehend denjenigen des —> Bundesverfassungsgerichts nachgebildet (Art. 96f. SVerf). Das SL bekennt sich seit 1992 - als erstes Land - in seiner Verfassung zur Förderung der europ. Einigung und zur Beteiligung eigenständiger Regionen an der Willensbildung der —> EU (-> Willensbildung, europäische). Es arbeitet danach mit anderen europ. -> Regionen zusammen und unterstützt grenzüberschreitende Beziehungen zwischen benachbarten Gebietskörperschaften und Einrichtungen (Art. 60 Abs. 2 SVerf). Lit: Verfassung des Saarlandes v. 15.12.1947 (Amtsbl. S. 1077), zuletzt geänd. durch Gesetz v. 27.3.1996 (Amtsbl. S. 422); Kommunalselbstverwaltungsgesetz - KSVG - v. 15.1.1964 i.d.F. der Bekanntmachung v. 22.6.1994 (Amtsbl. S. 1077), zuletzt geänd. durch Gesetz v. 24.4.1996 (Amtsbl. S. 623); H.-W. Hermann u.a.: Das Saarland, Saarbrücken 21991 ;P. Krause: Verfassungsentwicklung im Saarland 1958-1979, in: JböR 1980, S. 393ff.; J. Plöhn / A. Barz: Saar-
Sachenrecht land, in: F. Esche / J. Hartmann (Hg ), Handbuch der dt. Bundesländer, Frankfurt/M. 51997, S. 470ff.; W. Thieme: Die Entwicklung des Verfassungsrechts im Saarland von 1945 bis 1958, in: JböR 1960, S. 423ff. Jörg Ukrow Sachenrecht Das S. regelt die Rechtsverhältnisse der körperlichen Gegenstände (Sachen), vereinzelt auch an Rechten in ihrer rechtl. Zuordnung zu bestimmten Personen. Es ist im wesentlichen im 3. Buch des -> BGB (§§ 845-1296), aber auch in verschiedenen Nebengesetzen, z.B. der Erbbaurechtsverordnung, dem Höferecht, dem Wohnungseigentumsgesetz, dem landesrechtl. Nachbarrecht enthalten. Gegenstand des S.s sind neben dem Besitz als rein tatsächlicher Sachherrschaft die unmittelbaren oder dinglichen Rechte an einer Sache. Hierbei handelt es sich anders als im —> Schuldrecht - nicht um relative, d.h. nur die Parteien des Schuldverhältnisses bindende, sondern um absolute, also gegenüber jedermann wirkende -> Rechte. Das zentrale dingliche Recht ist das —> Eigentum. Es ist grds. unbeschränkt und als das umfassendste Herrschaftsrecht, das die Rechtsordnung an einer Sache zuläßt, verfassungsrechtl. garantiert und geschützt (Art. 14 Abs. 1 GG). Als weitere dingliche Rechte, die sich wie Besitz und Eigentum auf bewegliche Sachen (Fahrnis) und / oder auf Grundstücke (Liegenschaften) erstrecken können, kommen die beschränkt dinglichen Rechte in Betracht. Das sind Belastungen des Eigentums durch Nutzungsund Verwertungsrechte. Art und Zahl der dinglichen Rechte sowie der Umfang ihrer Abänderbarkeit sind durch Gesetz abschließend geregelt: Typenzwang und Typenfixierung des S.s im Gegensatz zur —>· Vertragsfreiheit im Schuldrecht. Besitz, Eigentum und Nießbrauch können an allen Sachen, Pfandrechte nur an beweglichen Sachen und an Rechten begründet werden; mit Erbbaurecht, Dienstbarkeit, dinglichem Vorkaufsrecht, Real-
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Sachsen
Sachsen last und Grundpfandrechten können nur Grundstücke belastet werden. Weitere Grundprinzipien des S.s sind der Spezialitätsgrundsatz, der besagt, daß dingliche Rechte jeweils nur an konkreten einzelnen Sachen, nie an Sachgesamtheiten (z.B. Vermögen) bestehen können, und der Publizitätsgrundsatz, der verlangt, daß dingliche Rechte nach außen erkennbar sein müssen. Publizitätsmittel ist bei beweglichen Sachen der Besitz, bei Grundstücken das —> Grundbuch. Das Publizitätsmittel ist Grundlage für a) die Eigentumsübertragung (Übergabe der beweglichen Sache oder Eintragung des Grundstücks im Grundbuch (§ 929 bzw. § 873 BGB), b) die Vermutung fllr die Innehabung des Eigentums oder anderer Rechte (§§ 891, 1006 BGB), c) den Eigentumserwerb kraft guten Glaubens (§§ 892ff., 932ff. BGB). Das sachenrechtl. (dingliche) Rechtsgeschäft ist von dem zugrundeliegenden schuldrechtl. Grundgeschäft getrennt. Beide sind rechtl. völlig selbständig (Abstraktionsprinzip). Mängel des Grundgeschäfts lassen daher die Gültigkeit des dinglichen Rechtsgeschäfts i.d.R. unberührt. Die Nichtigkeit des schuldrechtl. Kausalgeschäfts kann jedoch zu Ansprüchen aus ungerechtfertigter Bereicherung (§§ 812ÍT. BGB) führen. Das S. des BGB hat seine Wurzeln sowohl im röm. als auch im dt. Recht, wobei aus dem röm. Recht insbes. die Unterscheidung von Eigentum und Besitz übernommen wurde, während überwiegend im dt. Recht die unterschiedliche Behandlung von Fahrnis und Liegenschaften sowie der Gutglaubensschutz und das Grundbuchsystem ihren Ursprung haben. Lit.: BVerfGE 24, 367 (389); K. Müller: Sachenrecht, Köln "1997; K.H. Schwab: Sachenrecht, München 26 1996.
Annette von Harbou Sachsen ist seit der Herstellung der -> Deutschen Einheit am 3.10.1990 -> Land der -> Bundesrepublik Deutschland und kraft Landtagsbeschlusses vom 27.10. 1990 -> Freistaat. Dieser grenzt im Osten 794
an die Republik Polen und die Tschechische Republik, umfaßt 18.412 qkm und hat 4,56Mio. Ew.; —> Hauptstadt ist Dresden. Der Norden S.s ist Teil des Norddt. Tieflandes, das mit der Leipziger Tieflandbucht weit nach Süden reicht. Das Sächs. Bergland leitet zum Erzgebirge über, im Osten schließen sich Elbsandsteingebirge und die Oberlausitz an. Wichtige Flüsse sind Elbe, Mulde und Spree. S. ist das bevölkerungsreichste Land im östlichen Dtld. —> Hochschulen bestehen in Leipzig, Dresden, ChemnitzZwickau und Freiberg. Intensiver Ackerbau (Weizen, Zuckerrüben, Gemüse) findet sich in den Bördenlandschaften, bedeutender Braunkohlenabbau südlich von Leipzig. Wichtige Industriezweige sind der Maschinenbau, Fahrzeugbau (Zwikkau), Elektro-, Textil-, chemische und keramische Industrie (Meißen), Mikroelektronik (Dresden, Freiberg), Spielwarenindustrie und Musikinstrumentenbau im Erzgebirge und Vogtland. Das heute mit dem Namen S. verbundene Land steht in einer lang zurückreichenden histor. Kontinuität: Nach dem Sturz Heinrichs des Löwen und dem Zerfall des sächs. Stammesherzogtums restituierte sich aus den östlichen an der Elbe gelegenen Gebietsteilen 1180 das Herzogtum S. unter askanischer Herrschaft; sie ging wie das noch heute gezeigte Landeswappen 1423 mit der Kurwürde auf die meißnischen Markgrafen aus dem Hause Wettin über. Unter ihrer Herrschaft wurde S. seit dem Ausgang des 15. Jhd.s die im mitteldt. Raum haftende Bezeichnung für den Kurstaat zwischen Erzgebirge und Wittenberger Elbniederung. Das Wettiner Geschlecht blieb bis zum Ende der Monarchie 1918 die bestimmende sächs. Dynastie, die den Kurstaat mit Beständigkeit zu einem weitgehend geschlossenen Flächenstaat ausbaute. Voraussetzung für die den sächs. Raum im wesentlichen prägende Wirtschafts- und Kulturgeschichte war eine friedliche und auf Interessenausgleich bedachte Entwicklung der sozialen Strukturen. Der Vertrag von Triptis über
Sachsen Modalitäten der Herrschaftsausübung aus dem Jahre 1293 ist ein erster Nachweis der Einbeziehung der die polit. Ordnung tragenden Kräfte in die sich zu einem dualistischen System ausbildende Landesherrschaft. Die weitere Ausformung und Beteiligung der Landstände fand ihre Bestätigung in dem ersten förmlichen Landtag von 1438 in Leipzig. Die erwachsenden Rechte zur sozialen und staatl. Mitordnung ließ Friedrich August I., dem Dresden seine nachwirkende Bedeutung in der Kulturgeschichte verdankt, 1728 kodifizieren, womit die -> Stände als Machtfaktor der Landespolitik anerkannt waren. Die Nachwirkungen der Frz. Revolution und der Befreiungskriege, in deren Verlauf die Landesfarben Weiß und Grün entstanden, sowie die einsetzende Frühindustrialisierung mündeten mit einer Staatsreform in den -> Konstitutionalismus. Kernstück war, teilw. unter Anlehnung an liberale württembergische und badische Vorbilder, die erste sächs. -> Verfassung vom 4.9.1831. Sie konnte in den nachfolgenden Jahrzehnten manchen Veränderungen angepaßt werden, blieb aber bis zum Ende der Monarchie hinter den polit.-ideellen Forderungen der demokrat. Bewegung von 1848 nach der Beschränkung staatl. —> Macht und nach der -> Gleichheit aller -> Staatsbürger vor dem -» Gesetz zurück. Der Übergang zum —• parlamentarischen Regierungssystem folgte auch in S. erst der Novemberrevolution von 1918. Nach den 1. allgemeinen, gleichen, geheimen und unmittelbaren Wahlen am 2.2.1919 erhob die nunmehr zweite sächs. Verfassung vom 1.11.1920 das Volk zum Träger der Staatsgewalt. Der damit eröffnete Abschn. parlement. Willensbildung war nur von kurzer Dauer. Schon ab 10.3.1933 nahmen mit der nationalsozialistischen Machtergreifung die Beschränkungen der demokrat. verantworteten Eigenstaatlichkeit ständig zu, bis diese durch das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30.1.1934 völlig beseitigt wurde. Nach dem Ende des -> Nationalsozialismus und
Sachsen dem Untergang der dt. Staatsgewalt wurde im sowjetisch besetzten Teil Dtld.s durch Zulassen polit. Parteien „in den Provinzen und föderalen Ländern" bereits am 10.6.1945 der Anstoß zur Wiedererrichtung staatl. Strukturen seitens der Militäradministration gegeben. Ihre Grundvorgabe war eine jegliche polit. Ideenkonkurrenz ausschließende antifaschistische Neuorientierung, in deren Folge sich Sozialdemokrat, und kommunistische Partei zur Sozialistischen Einheitspartei (SED) zusammenschlössen, in S. am 6.4. 1946. Sie gewann in den einzigen ohne das spätere System der Einheitsliste durchgeführten allgemeinen Wahlen die Mehrheit der Stimmen für den ersten sächs. Nachkriegslandtag. Parlament. Bestrebungen zum Wiederaufbau rechtsstaatl. Verhältnisse mittels der dritten sächs. Verfassung vom 28.2.1947 konnten zu keinerlei Erfolg führen, weil die polit, und gesellschaftl. Entwicklung durch den demokrat. Zentralismus marxistisch-leninistischer Prägung dominiert wurde. Im Wege dieser Entwicklung löste sich der Landtag am 25.7.1952 auf. S. hatte als Gebietskörperschaft zum zweiten Mal im gleichen Jhd. seine Eigenstaatlichkeit eingebüßt. Der friedlichen Erhebung gegen den Apparat sozialistischer Staatlichkeit (-> Sozialismus) und die ideologische Klassifizierung im Herbst 1989 folgte die staatl. Wiederrichtung S.s unter bewußter Anknüpfung an die jhd.elange Tradition. Am 14.10.1990 wählte die Bevölkerung in freier, allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl ihr erstes —> Landesparlament. Mit der Konstituierung des Sächs. Landtags am 27.10.1990 begannen auch, gestützt auf Anregungen und Vorarbeiten in der breiten Volksbewegung, die Arbeiten für eine neue sächs. Verfassung. Am 26.5.1992 stimmten in der Schlußabstimmung von 151 anwesenden - » Abgeordneten 132 für die Verfassung, 15 Abgeordnete dagegen, und 4 enthielten sich der Stimme. Die 4. Sächs. Verfassung trat am 6.6.1992 in Kraft (SächsGVBl. 1992, S. 243f.). Sie ist nach
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Sachsen-Anhalt
Sachsen-Anhalt
Aufbau und Inhalt eine Vollverfassung. In der Ausgestaltung von Grundrechten (-> Landesgrundrechte), der Aufnahme von —> Staatszielen und der Betonung unmittelbarer -> Demokratie sind Erfahrungen aus der Wende eingeflossen und neue Wege eingeschlagen worden. Das Recht zur Gesetzesinitiative liegt bei der Staatsregierung, im Landtag und beim Volk mittels Volksantrag. Der vom Landtag gewählte —• Ministerpräsident bildet die Staatsregierung; er bestimmt die Richtlinien der Politik und kann durch ein konstruktives —»• Mißtrauensvotum abgelöst werden. Eine Änderung der Verfassung durch den Landtag ist mit der Mehrheit von 2/3 seiner Mitglieder und durch —> Volksentscheid mit der absoluten Mehrheit der Stimmberechtigten möglich. Lit.: Κ. Blaschke: Landstände, Landtag, Volksvertretung, in: Sächsischer Landtag (Hg.), 700 Jahre polit. Mitbestimmung in Sachsen, Dresden 1994, S. 13ff.; R. Kötzschke / H. Kretschmar: Sächsische Geschichte, Augsburg 1995; B. Kunzmann: Die Verfassung des Freistaates Sachsen, Berlin 1993; R. Stober: Quellen zur Entstehungsgeschichte der Sächsischen Verfassung, Dresden 1993.
Wolf-Hartmut Reckzeh Sachsen-Anhalt entstand als föderales Glied Dtld.s im Juli 1945 als Provinz Sachsen unter den Bedingungen der sowjetischen Besetzung im Ergebnis des Π. Weltkrieges. Die wesentlichen Vorgängerterritorien des Landes waren die preuß. Provinz Sachsen und das Land Anhalt. Von der Provinz Sachsen war allerdings bereits am 1.7.1944 ihr kleinster Regierungsbezirk Erfurt abgetrennt und —• Thüringen zugeschlagen worden. Außerdem kamen nach dem Prinzip der Vermeidung von Ex- und Enklaven braunschweigische Territorien (Teile des Kreises Blankenburg und Calvörde), thiir. Exklaven (Allstedt) und weitere Kleinterritorien zu S-A. Bei den ersten Landtagswahlen im Oktober 1946 erlitt die SED ihre deutlichste Wahlniederlage in einem Land der SBZ
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(—» Deutsche Demokratische Republik). LDP und CDU verfügten über die Mehrheit im —> Landtag, die sich jedoch nicht in der Regierungsbildung niederschlug. -> Ministerpräsident einer -> Allparteienregierung wurde der frühere Landeshauptmann der preuß. Provinz Sachsen, Erhard Hübener (DDP/LDP). Provinzial- bzw. Landeshauptstadt war die Stadt Halle. Auf Beschluß des am 18.11.1946 erstmals tagenden Landtags wurde die Bezeichnung „Provinz Sachsen-Anhalt" eingeführt. Am Charakter der Provinz änderte sich dadurch nichts, ebensowenig, als im Jahre 1947 nach der Auflösung des Staates Preuß. die Bezeichnung Land S-A eingeführt wurde. Wie die anderen Länder der SBZ wurde S-A im Jahre 1952 aufgelöst. Aus den Kerngebieten des Leindes wurden die DDR-Bezirke Halle und Magdeburg gebildet, zu denen auch die aufgeteilten Territorien des früheren Landes Anhalt gehörten. Weitere Teile S-A kamen zu anderen Bezirken der ->· DDR. Die brandenburgische Stadt Havelberg und ihre Umgebung wurden dagegen dem Bezirk Magdeburg zugeschlagen. Am 3.10.1990 (-> Deutsche Einheit) wurde S-A als Land der —> Bundesrepublik Deutschland neu gebildet. Es umfaßte jetzt die früheren DDR-Bezirke Halle und Magdeburg außer dem Kreis Artern (zu TH) sowie den Kreis Jessen. Alle früheren Gebiete S-A, die nicht zu den Bezirken Halle und Magdeburg gehörten, blieben auf der Grundlage von —> Volksabstimmungen bei -> Sachsen, -> Brandenburg und TH. S-A verfügte nach seiner Wiedergründung über eine Fläche von 20.445 qkm mit einer Einwohnerzahl von 2,96 Mio.; Landeshauptstadt wurde die Stadt Magdeburg (288.000 Ew.). Die ersten —> Landtagswahlen nach der Wiedergründung des Landes vom 14.10.1990 hatten folgende Ergebnisse (Sitze; Anteil in %): -> CDU 48; 39,0%, SPD 27; 26,0%, -> FDP 14; 13,5%, PDS 12; 12,0%, - » Bündnis 90/Die Grünen 5; 5,3%. Die Landesregierung wurde von einer -> Koalition von CDU und FDP
Sachsen-Anhalt gebildet. Erster Ministerpräsident war G. Gies (CDU). Nach den Landtagswahlen vom 26.6.1994 wurde das Land von einer -» Minderheitsregierung regiert, die unter Duldung durch die PDS von SPD und Bündnis 90/Die Grünen getragen wurde. Bei den Landtagswahlen im April 1998 verlor die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ihr Parlament. Mandat; eine SPDRegierung wird als von der PDS tolerierte Minderheitsregierung unter Ministerpräsident R. Höppner fortgeführt. Die rechtsextremistische —> DVU zog mit 12,9% in den Landtag ein. Im Gegensatz zu der nur kurzen Zeit der Existenz des Landes S-A verfügt die Geschichtslandschaft an der Mittelelbe, unteren Saale und am Ostharz über außerordentlich lange und bemerkenswerte Traditionen, die oft maßgeblich mit dt. und europ. Entwicklungen verbunden waren. In der Frühzeit dt. Geschichte befand sich in diesem Raum das polit., wirtschaftl. und kulturelle Zentrum des entstehenden dt. Reiches unter den ottonischen Kaisern bzw. Königen. Mit Heinrich I. (876-936) und Otto dem Großen (912-973) hatten die ersten dt. Herrscher hier ihre bevorzugten Plätze der Machtentfaltung, von denen Quedlinburg bzw. Magdeburg herausragten. Im Verlaufe des Mittelalters gelangte durch die Eroberung, Christianisierung und Kolonisierung der Gebiete östlich von Elbe und Saale der Raum von einer Grenzlage in die seine Geschichte fortan prägende dt. Mittellage. Vom Gebiet des heutigen S-A gingen nachhaltige wirtschaftl. und kulturelle Impulse für Mittel- und Osteuropa aus. In der dt. und europ. Rechtsgeschichte ragen der „Sachsenspiegel" (um 1220) des Eike von Repgow und das Magdeburger Stadtrecht heraus. Mit dem Wirken Martin Luthers (1483-1546) im mitteldt. Raum mit dem Zentrum Wittenberg wurde die Geschichtslandschaft zur Heimat der Reformation. Der lutherische Protestantismus prägte nachhaltig Geschichte und Kultur der Geschichtslandschaft. Im Ergebnis des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) wur-
Sachsen-Anhalt de die Geschichtlandschaft im wesentlichen Bestandteil des brandenburgischpreuß. bzw. des sächs. Staates. Von den selbständig gebliebenen Territorien erreichten die anhaltischen Staaten die größte Bedeutung. Vor allem die Dessauer Fürsten Leopold I. (der „Alte Dessauer") auf militärischen und dessen Enkel Leopold ΙΠ. Friedrich Franz auf kulturellem und landeskulturellem Gebiet erlangten mit ihrem Werk besondere Bedeutung. Herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Musik sind mit den Namen G.F. Händel, G.P. Telemann, J.S. Bach, J.F. Fasch, H. Schütz u.a. verbunden. Nach der Gründung der preuß. Provinz Sachsen im Ergebnis des Wiener Kongresses von 1815 erfolgte eine erneute Integration der Geschichtslandschaft v.a. im Zeichen der einsetzenden Industrialisierung. Es entstand ein modemer Wirtschaftsraum, der durch eine hochentwikkelte Landwirtschaft, Anbau und Verarbeitung von Zuckerrüben, die Braunkohlenförderung sowie eine spezifische Maschinenbauindustrie gekennzeichnet war. Nach 1861 entstand hier mit der Kaliindustrie ein weltweit neuer Industriezweig. Braunkohlen- und Kalibergbau bildeten am Ende des 19. Jhd.s eine wesentliche Basis für die chemische Industrie, die sich in Mitteldtld. etablierte und v.a. im Raum Bitterfeld sowie Merseburg / Halle Zentren ausprägte. Außerdem wurde die Region zu einem Zentrum der dt. Elektroenergieerzeugung. Nach der Jhd.wende wurde der hochmoderne Wirtschaftsraum noch zu einem wesentlichen Standort fur den Beginn der modernen Luftfahrt durch die Entwicklungen und Herstellungen von Flugzeugen von H. Junkers in Dessau. Der in der Zeit der —> Weimarer Republik entstandene hochmoderne dt. und europ. Wirtschaftsraum stand im Gegensatz zu seiner die Wirtschaft hemmenden zersplitterten staatl. Gliederung. Pläne für eine staatl. Neugliederung mit dem Ziel der Gründung von S-A aus dieser Zeit konnten wegen der Errichtung der NSDiktatur in Dtld. nicht realisiert werden.
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Sachverständigenrat für Umweltfragen In der Zeit des -» Nationalsozialismus erfuhr der Wirtschaftsraum noch eine an den Zielen des Regimes orientierte wirtschaftl. Aufwertung durch Produktionsstätten wie das BUNA-Werk, die BRABAG und eine Vielzahl von Rüstungsbetrieben. Die günstige geographische Lage wurde durch die Modernisierung des Verkehrsnetzes zu Lande (Autobahnen, Eisenbahnen), zu Wasser (Mittellandkanal) und in der Luft (Großflughafen Halle / Schkeuditz) weiter aufgewertet. Wegen der Mittellage war der Mittelelberaum auch von den letzten Kriegshandlungen des Π. Weltkrieges in Dtld. betroffen. Der größte Teil S-A wurde von amerik. Truppen besetzt. Vereinbarungsgemäß zogen sich die westlichen Besatzungstruppen Anfang Juli 1945 aus S-A zurück und überließen das Land den sowjetischen Truppen, zu deren Zone es gehörte. Lit.: E. Holtmann / Β. Boll: Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1995; M. Greifenhagen (ed.): Die neuen Bundesländer, Stuttgart 1994; M. Tullner: Geschichte des Landes Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2 1996.
Mathias Tullner Sachverständigenrat für Umweltfragen -> Rat von Sachverständigen für Umweltfragen Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Zur periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftl. Entwicklung in der BRD und zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolit. verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit wurde durch Gesetz vom 14.8.1963 (BGBl. I S. 685) der SVR gebildet. Der SVR hat jährlich bis zu Mitte November ein Gutachten über die gesamtwirtschaftl. Lage und die absehbare Entwicklung vorzulegen. Die Mitglieder des SVR (sog. „5 Weisen") werden vom Bundespräsidenten ernannt und dürfen weder einer Regierung, einem Parlament, einer Verwaltung des Bundes oder der Länder angehören noch Repräsentanten eines Ver-
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Schattenkabinett bandes sein. Die Besetzung des SVR erfolgt in der Praxis nach Proporzgesichtspunkten, sodaß jeweils ein Mitglied das besondere Vertrauen der —> Gewerkschaften bzw. der -> Arbeitgeberverbände besitzt. HgSADC = Southern African Developement Community Sammlung des Bundesrechts -+ Bundesrecht Sammelübersicht - » Petition Satzung bezeichnet im —> öffentlichen Recht einen bestimmten Normtypus, der von Körperschaften mit Selbstverwaltungsstatus im Rahmen ihres eigenen Wirkbereichs erlassen wird. Es handelt sich damit bei der S. um eine Kategorie der Rechtsquellenlehre (-» Recht). S en stehen nonnenhierarchisch unterhalb der —> Gesetze und auch unterhalb der —> Rechtsverordnungen. Ihr Geltungsbereich ist jedoch garantiert, soweit das betreffende —> Selbstverwaltungsrecht reicht. So ist insbes. das S.srecht der —> Gemeinden, der öffentl. -> Rundfunkanstalten und der —» Hochschulen daher in Teilen verfassungsgeschützt. Der konkrete Entfaltungsraum für das S.srecht ergibt sich aber hier wie auch sonst (z.B. § 34 SGB IV für die —> Sozialversicherungsträger) aus dem einfachen Gesetz. Im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit Gesetz und Verfassung sind die S.en voll justiziabel. Der Begriff der S. ist auch im -> Zivilrecht verbreitet und bezeichnet dort die gesetzlich vorgesehenen, aber konkret selbstgesetzten normativen Grundlagen -» juristischer Personen (Verein, GmbH, AG). J.M. SBZ = Sowjetisch Besetzte Zone -> Deutsche Demokratische Republik Schattenkabinett bezeichnet die perso-
Schleswig-Holstein
Schengener Abkommen nelle Zusammensetzung einer künftigen -» Regierung, die durch eine -> Wahl oder eine Regierungsumbildung zustande kommen könnte. Die Funktionsträger dieser potentiellen neuen Regierung sind noch nicht im -> Amt, sondern bloße Gegenspieler der Regierung, haben aber trotzdem schon eine besondere Bedeutung, weil sie für jede Funktion eine Alternative personifizieren und sich aus ihrem Schattendasein zu wirklichen Funktionsträgern wandeln können. Der Begriff S. kommt aus der Praxis des brit. Parlamentarismus. B. H.-L.
Schengener Abkommen Im Vorgriff auf die im —> EU-Vertrag vorgesehene Zusammenarbeit auf den Gebieten der Einwanderungspolitik und der inneren Sicherheit (-> Europäische Innere Sicherheit) hat ein Teil der EU-Staaten die S.A. geschlossen. Hierbei handelt es sich um das Übereinkommen über den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 14.6.1985 (Schengen I) und das Übereinkommen zur Durchführung dieses Abkommens vom 19.6.1990 (Schengen Π). Dieses trat am 26.3.1995 in Kraft und stellt den grenzüberschreitenden Personenverkehr zwischen den Vertragsstaaten dem Inlandverkehr insoweit gleich, als Kontrollen an den Binnengrenzen sowie an See- und Flughäfen entfallen. Ausnahmen aus Gründen der öffentl. Sicherheit sind nur noch nach Konsultationen der Vertragsstaaten und stets nur für begrenzte Zeit zulässig. Als Kompensation dient eine verstärkte Zusammenarbeit der Polizeibehörden, die grenzüberschreitende Verbrechensverfolgungen und Observationen einschließt. Mit Wegfall der Binnen-Kontrollen ist die Kontrolle an den Außengrenzen der Vertragsstaaten um so bedeutsamer geworden. Diese umfaßt Paß-, Fahrzeug- und Gepäckkontrollen sowie fahndungstechn. Überprüfungen. Neben einer begrenzten Vereinheitlichung der Visapolitik bestehen asylrechtl. Regelungen für Drittstaatsangehörige (—>
s.a. Asyl), die das Dubliner Abkommen vom 13.6.1990 ergänzen. Gemäß Schengen Π entscheidet ein Vertragsstaat über einen Asylantrag mit Wirkung für alle anderen. Daneben befaßt es sich mit der -> Rechtshilfe in Strafsachen, mit verstärkten Maßnahmen zur Bekämpfung der Drogenkriminalität sowie mit der Harmonisierung innerstaatl. Waffenrechts. Ein weiteres Kemelement stellt ein Zentralcomputer in Straßburg dar, der die nationalen Fahndungssysteme der Vertragsstaaten direkt miteinander verbindet. Für nicht beigetretene Mitgliedstaaten gelten zunächst weiterhin die Bestimmungen des EGV über den freien Personenverkehr, die Grenzkontrollen aus Gründen der öffentl. Sicherheit zulassen. Dies modifiziert aber ein Protokoll zum -> Amsterdamer Vertrag, durch das Schengen Π mit Inkrafttreten des AmV direkt in den rechtl. Rahmen der EG einbezogen und so der Kontrolle durch das —> Europäische Parlament unterworfen wird. Ausgenommen bleiben Irland, das Vereinigte Königreich und Dänemark. Lit: R. Bieber: Die Abkommen von Schengen über den Abbau von Grenzkontrollen, in: NJW 1994, 294ff.;M Hilf/E. Pache: Der Vertrag von Amsterdam, in: NJW 1998, S. 705ff. Carsten Nowak
Schleswig-Holstein Gliedstaat der —> Bundesrepublik Deutschland, Landeshauptstadt Kiel. Nördlichstes —> Bundesland - im Süden der (cimbrischen) jütischen Halbinsel. Land zwischen der Elbe und den Meeren (mit der Ostseeinsel Fehmarn, mit der - einzigen - dt. Hochseeinsel Helgoland und mit den nordfriesischen Inseln und Halligen), zwischen Flensburg und Lauenburg (Elbe). Tor, Fährhaus und Landbrücke von Mitteleuropa zum europ. Norden. Nord- und Ostsee sind durch NO-Kanal und Elbe / Lübeck-Kanal verbunden. Als OstseeAnrainerstaat mit traditionell (Lübeck als Haupt der Hanse) großer Wirtschaft 1. und kultureller Ausstrahlung in den gesamten Ostseeraum. Landgrenzen mit Dänemark, 799
Schleswig-Holstein mit —» Mecklenburg-Vorpommern, -> Niedersachsen (Elbe) und —> Hamburg; Küstenlängen (ohne Inseln) an der Ostsee 328, an der Nordsee 202km. Landesschutzdeiche an der Westküste 357km. Fläche 15770 qkm; im wesentlichen identisch mit dem Gebiet der früheren preuß. Provinz Schleswig-Holstein. Das sind insbes. die ehem. Herzogtümer Schleswig (seit 1920 ohne Nordschleswig), Holstein (ohne Altona und Wandsbek) und Lauenburg, die - bis 1937 - Freie und Hansestadt Lübeck, die frühere hamb. Stadt Geesthacht, die - bis 1937 - zu Oldenburg gehörenden Gebietsteile (1937 / 1970 Landkreis Eutin) und die - bis 1864 - königlich dän. Enklaven Westerlandföhr / Amrum und List (Sylt). Bevölkerung 1939 1.58; 1949 2.76 (+1.18 als Kriegsfolge: Flüchtlingsland Nr. 1; 1997 2.75 Mio. Ew. in 4 kreisfreien Städten und 11 -» Landkreisen mit insg. 1.127 kreisangehörigen -> Gemeinden. Naturräumliche Gliederung Marsch (Westküste mit vorgelagertem Wattenmeer einschließl. Marschinseln und Halligen), Hohe Geest und Vorgeest (sog. Mittelrücken und nordfriesische Geestinseln Sylt, Föhr, Amrum), Hügelland (Ostküste, Südosten mit zahlreichen Förden und Binnenseen, z.B. Holsteinische Schweiz und Naturpark Lauenburger Seen). Geschichte Sie ist v.a. durch die geographische Lage des Landes geprägt worden. Die gemeinsame Geschichte von Holstein (zwischen Eider und Elbe) und Schleswig (zwischen Königsau und Eider) beginnt im 14. Jhd. (1326 und 1386), die Geschichte eines polit, handlungsfähigen Personenverbandes „Land Schleswig und Holstein" erst 1460 (Ripen / Kiel) mit der Wahl des dän. Königs Christian I. zum Herzog von Schleswig und Grafen von Holstein und Stormam und dessen mit weiteren Zusagen verbundenem Gelöbnis, „diese Lande ... in gutem Frieden zu erhalten und daß sie ewig zusammen ungeteilt bleiben". Im europ. Revolutionsjahr 1848 wird die Erhebung gegen Dänemark Fanal der dt. Nationalstaats-
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Schleswig-Holstein bewegung. Der Versuch Dänemarks, 1863 durch eine dän.-schleswige —> Verfassung das Herzogtum Schleswig einzugliedern (Eiderstaat) führt zum Krieg mit Ost. und Preuß. und zum Verzicht Dänemarks auf die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Erstere werden 1866/67 mit Preuß. vereinigt (Provinz SH). Nach einer Volksabstimmung (1920) wird Nordschleswig (20% der Provinzfläche) an Dänemark abgetreten. Im Mai 1945 übernimmt die brit. Besatzungsmacht die oberste Regierungsgewalt und leitet den preuß. Provinzialverband (in Kiel) und den Regierungsbezirk (in Schleswig) in eine eigenständige Landesordnung über. Nach Auflösung Preuß.s durch Kontrollratsgesetz vom 22.2.1947 und mit der 1. demokrat. Wahl eines schleswig-holsteinischen —> Landtages am 20.4.1947 also mit der Konstituierung des zentralen —» Staatsorgans der Parlament.-demokrat. Ordnung - endet der Prozeß der Staatswerdung. Einheimische, Flüchtlinge und Heimatvertriebene nutzen gemeinsam die Chance zum Neubeginn. Unter polit. Führung der Kabinette Steltzer (—> CDU 1946), Lüdeman (-> SPD 1947 /48), Diekmann (SPD 1949), Bartram (CDU 1950), Lübke CDU 1951/54), v. Hassel (CDU 1954/63), Lemke (CDU 1963/71), Stoltenberg (CDU 1971/82), Berschel (CDU 1982/87), Schwarz (CDU geschäftsführend 1987/88) Engholm (SPD 1988/93) und Simonis (SPD seit 19.3. 1993) ist SH zu einem leistungsfähigen Bundesland ausgebaut worden. Verfassung Das -> Volk bekundet seinen Willen durch Wahlen zum -> Landtag, zu den Gemeindevertretungen, —> Kreistagen und durch —> Abstimmungen (Initiativen aus dem Volk, -> Volksbegehren, —• Volksentscheid. Der Landtag (i.d.R. 75 —» Abgeordnete) wird künftig auf 5 Jahre nach einem Verfahren gewählt, das die —> Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen des —> Verhälniswahlrechts verbindet. Er ist das oberste Organ der polit. -> Willensbildung. Neben seinen klassischen Aufgaben (Wahl des -» Ministerpräsiden-
Schlichter Parlamentsbeschluß
Schlichter Parlamentsbeschluß
ten, konstruktives —* Mißtrauensvotum, Ausübung der gesetzgeberischen Kontrolle der vollziehenden Gewalt) behandelt das Parlament Angelegenheiten von öffentl. Interesse. Der Landtag wählt mit der Mehrheit von 2/3 der abgegebenen Stimmen die Präsidenten der obersten Landesgerichte und filr 12 Jahre Präsidenten und Vizepräsidenten der —> Landesrechnungshöfe. Der Oppositionsführer hat Verfassungsrang. Die Landesverfassung gewährleistet (entsprechend Bonn / Kopenhagener Erklärungen über die Rechte der Minderheiten im dt.-dän. Grenzland vom 29.3.1955) die Freiheit des Bekenntnisses zu einer nationalen —> Minderheit. Das Bekenntnis entbindet nicht von den allgemeinen staatsbürgerl. Pflichten. Die Erziehungsberechtigten entscheiden, ob ihre Kinder die Schule einer nationalen Minderheit besuchen sollen. Die dän. Minderheit und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung. Die Partei der dän. Minderheit (SSW) ist von der -> FünfProzent-Klausel des Landeswahlgesetzes befreit. Sie ist nach dem Landtags-Wahlergebnis vom 23.3.1996 mit 2 Abgeordneten im Parlament vertreten (Weitere Sitzverteilung: SPD 33, CDU 30, -> Bündnis 90/Die Grünen 6, -> FDP 4). Lit: C. Degn: Schleswig-Holstein - eine Landesgeschichte, Neumünster 1994; Das große Schleswig-Holstein-Buch, Hamburg 1996; Statist. Landesamt (Hg): Statistisches Jahrbuch Schleswig-Holstein 1996, Kiel 1996.; R. Titzck (Hg.): Landtage in Schleswig-Holstein gestern - heute morgen, Husum 1987. Rudolf
Titzck
Schlichter Parlamentsbeschluß Die übliche Form der Parlament. Entscheidung mit außenwirksamer Verpflichtungskraft ist das —• Gesetz. Nach dem gängigen Verständnis des —> Parlamentsvorbehalts bedürfen insbes. alle grundrechtseingreifenden und auch die sonst wesentlichen Entscheidungen der -> Beschlußfassung des Parlaments in der Form der -> Gesetzgebung. Für den S.P. (im Sinne des
histor. Begriffsschöpfers R. Thoma (18741952) weit verstanden als jede nicht gesetzesförmige Parlamentsentscheidung) bleibt demnach als verbindliche Entscheidungsform vor allem im Kontext der —> Parlamentsautonomie sowie dort Raum, wo dies durch das -» Grundgesetz angeordnet ist (nach einem engeren Begriffsverständnis handelt es sich hierbei nicht um S.P., sondern um qualifizierte Parlamentsbeschlüsse). Das - » Bundesverfassungsgericht hat aus den Regeln des GG zur -> Wehrverfassimg abgeleitet, daß auch die Entscheidung über Auslandseinsätze der - » Bundeswehr verfassungsrechtl. einen (schlichten) Zustimmungsbeschluß des —» Bundestages erfordert (BVerfGE 90, 286fT.). Parlamentsbeschlüsse ohne eine solche konkrete verfassungsrechtl. Verankerung sind nach ganz überwiegender Auffassung regelmäßig Appelle ohne normative Verbindlichkeit; polit, können sie natürlich „wirksam" sein). Das betrifft etwa Stellungnahmen des Bundestages zur Außenpolitik („Die Bundesregierung wird aufgefordert,...") oder auch in Angelegenheiten, die kompetenziell den Ländern zugewiesen sind. In der Staatspraxis werden gelegentlich auch grundrechtsrelevante bzw. allgemein wesentliche Entscheidungen durch S P. entschieden. Verfassungsrechtl. umstritten war, ob der Bundestag durch S P. nach der Wiedervereinigung über seinen künftigen Sitz entscheiden durfte (—> Hauptstadt). Bay. und NRW setzen die grundrechtseingreifenden Rundfunkgebührenstaatsverträge mittels S.P. landesintern um (gebilligt durch BVerfGE 90, 60ff.). Verfassungspolit. wird die erweiterte Zulassung des S.P. als flexible Form Parlament. Entscheidung jenseits des Gesetzes diskutiert. Lit: H. Butzer: Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, in: AÖR 1994, S. 61ff.; M. Kühnreich: Das Selbstorganisationsrecht des Dt. Bundestages unter besonderer Berücksichtigung des Hauptstadtbeschlusses, Berlin 1996. Jörg Menzel
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Schlußabstimmung Schlußabstimmung -> Abstimmung Schöffe / -n (zu schaffen), früher oft Laienrichter genannt; Bezeichnung flir die ehrenamtlichen —> Richter in der Strafgerichtsbarkeit. S.n wirken in der Hauptverhandlung bei den S.ngerichten der -» Amtsgerichte, bei der kleinen und großen Strafkammer der -» Landgerichte, bei den Schwurgerichten - dort bis 1972 Geschworene - und bei den Jugendkammern (Jugendschöffen) mit. Den bei den Amtsgerichten gebildeten Spruchkörper, bestehend aus einem Berufsrichter und 2 S.n, nennt man S.ngericht. Bei Zuziehung eines 2. Berufsrichters in komplexeren Sachen handelt es sich um das sog. erweiterte S.ngericht. Das Amt des S.n (§§ 28-58 GVG) ist ein Ehrenamt (-» Ehrenamtliche Tätigkeit), das nur von Deutschen ausgeübt werden kann und angenommen werden muß, wenn keine Hinderungs- oder Ablehnungsgründe vorliegen. Parlamentsmitglieder, Arzte und sonstiges medizinisches Personal können die Berufung ablehnen. Weiterhin ist vorgesehen, daß bestimmte Personen nicht zu S.n berufen werden können (z.B. Amtsunfähige) oder sollen ( z.B. Personen unter 25 und über 70, Regierungsmitglieder). Die S.n werden auf 4 Jahre durch den S.nwahlausschuß, der beim Amtsgericht besteht, auf Grund von Vorschlagslisten der -> Gemeinden gewählt. Von den Gemeindevertretungen werden mit einer Zweidrittelmehrheit alle 4 Jahre Vorschlaglisten fur S.n aufgestellt. Gegen die Vorschläge in den ausliegenden Listen können Einsprüche vorgebracht werden. Ein Ausschuß, bestehend aus einem Amtsrichter als Vorsitzendem, einem Verwaltungsbeamten und 10 von den Stadtoder Kreisverwaltungen gewählten Vertrauenspersonen, entscheidet über die Einsprüche und wählt aus den Vorschlägen die für die nächsten 4 Geschäftsjahre erforderliche Zahl der Hauptschöffen. Für die Wahl selbst ist ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Neben den Hauptschöffen werden für den Fall des
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Schöffe Wegfalls eines Haupts.n sog. Hilfsschöffen gewählt. S.n sind in gleichem Maße wie die Berufsrichter unabhängig. Während der Hauptverhandlung üben sie das Richteramt in vollem Umfang und mit gleichem Stimmrecht wie die Berufsrichter aus. Bei Abstimmungen stimmen sie vor dem Richter. Die S.n sind verpflichtet, über die Beratimg und Abstimmung Stillschweigen zu bewahren. An Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung wirken sie nicht mit. In Öst. unterscheidet man S.n und Geschworene. Die Mitwirkung von S.n ist bei bestimmten Delikten und bei Strafverfahren, die eine Freiheitsstrafe von mehr als 10 Jahren erwarten lassen, vorgesehen. Die S.ngerichte gehören zu den Gerichtshöfen erster Instanz. Die Berufung zum S.namt regelt das S.n-Listengesetz von 1946. In der Schweiz existiert die Bezeichnung nicht. Allerdings gehören auch hier den Strafgerichten unterer Instanz in den meisten Kantonen Laienrichter an. Geschichte Der Begriff S. taucht erstmals 774 im Zuge einer Gerichtsreform Karls des Großen auf, durch welche die bislang von Fall zu Fall eingesetzten Rachinbiirgen durch S.n abgelöst wurden. Den Sitz eines S.n nannte man S.nstuhl. Im frühen Mittelalter wurden die S.n bei jedem Thing bestimmt. Das echte Thing wurde unter gräfl. Vorsitz abgehalten. Der von den S.n gemachte Urteilsvorschlag bedurfte noch der Zustimmung der Gerichtsgemeinde. Seit der karolingischen Gerichtsreform gab es ständige S.nkollegien. Die S.n wurden nun von den Grafen oder Königsboten unter Mitwirkung des Volkes aus den einflußreichen Thingpflichtigen besonders den größeren Grundbesitzern ausgesucht. Bei einigen Gerichtsverhandlungen waren die S.n alleinige Urteiler in Vertretung der Gerichtsgemeinde. Das Erfordernis des Grundbesitzes zur wirtschaftl. Unabhängigkeit der S.n führte dazu, daß sich ein eigener S.nstand herausbildete, was ebenfalls im 13. Jhd. zu einer Vererblichkeit des S.namtes führte. Gegen Ende des
Schuldrecht
Schriftführer Mittelalters wurden die S.n in die Niedergerichtsbarkeit zurückgedrängt. Eine Ausnahme davon bildete noch das Ferngericht. Mit Ausnahme der Stadt- und Dorfgerichte sanken die S.n mit der Rezeption des röm. -> Rechts zur Bedeutungslosigkeit herab. Durch das Aufkommen des gelehrten Richtertums wurden die S.n durch die Rechtsprechung der landesherrlichen Verwaltungsbeamten oder Gerichte verdrängt. Lediglich in der Strafgerichtsbarkeit hielten sich teilw. die S.n bis ins 18. Jhd.; in der Strafgerichtsbarkeit wurde der S. als Laienrichter im 19. Jhd. wieder eingeführt. Lit: G. Meinen: Die Heranziehung zum Schöffenamt, München 1993.
Karlheinz Hösgen Schriftführer Der —> Bundestag wählt gem. Art. 40 GG neben dem Präsidenten und seinen Stellvertretern die S.; die Anzahl der S. ist nicht festgelegt, sondern wird nach der —> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zwischen den -» Fraktionen vereinbart, wobei diese entsprechend ihrer Stärke anteilig berücksichtigt werden müssen. In der 13. —> Wahlperiode gibt es 35 S.; Die S. bilden gemeinsam mit dem —» Bundestagspräsidenten den Sitzungsvorstand . Sie unterstützen den Präsidenten durch die Wahrnehmung einer Reihe von in der festgelegten sowie sonstiger Aufgaben nach dessen Weisung. Hierzu zählen das Verlesen der Schriftstücke, Festhalten der Verhandlungen, Führung der Rednerlisten, Aufruf der Namen, Korrektur der Plenarprotokolle sowie die der Stimmzettel. Ist der Sitzungsvorstand über das Ergebnis uneinig, muß die Zählung der Stimmen durch den sog. —> Hammelsprung wiederholt werden. B. H.-G. /C. L. Schriftliche Fragen -» Fragerecht der Abgeordneten Schuldrecht Das S. regelt die privatrechtl. Beziehungen zwischen 2 oder
mehreren Personen. Die einschlägigen Vorschriften sind im wesentlichen im 2. Buch des -> BGB (§§ 241-853) enthalten, werden aber durch zahlreiche Sondergesetze, z.B. das HGB, ergänzt. Der wichtigste Entstehungstatbestand des S.s ist der Vertrag (§ 305 BGB), durch den i.d.R. ein Schuldverhältnis zwischen den Beteiligten begründet wird, kraft dessen der Gläubiger berechtigt ist, vom Schuldner eine Leistung zu fordern (§ 241 BGB). Die Bedeutung des S.s ergibt sich v.a. aus der Vielzahl seiner Regelungen für den geschäftlichen Verkehr im privaten und wirtschaftl. Bereich. Maßgebend sind hierfür neben den allgemeinen Bestimmungen über Begründung, Ausgestaltung, Abwicklung und Erlöschen von Schuldverhältnissen im Allgemeinen Teil des S.s (§§ 241-432 BGB) eine Reihe von gesetzlich typisierten vertraglichen Schuldverhältnissen in den §§ 433ÍT. BGB (Besonderer Teil des S.s), zu denen u.a. Kauf, Miete, Pacht, Darlehen, Dienst- und Werkvertrag gehören und die vorrangig dem Austausch von Gütern und Sachleistungen dienen. Diese gesetzlich speziell geregelten Vertragstypen sind aber nur als Beispiele zu werten, denn die Vertragsparteien können ihre Beziehungen grds. frei gestalten, von den geregelten Bestimmungen abweichen und auch Vertragsformen mischen bzw. miteinander kombinieren. Das folgt aus dem wichtigsten Grundprinzip des S.s, der -> Vertragsfreiheit, die ihre Grundlagen in der verfassungsrechtl. geschützten Privatautonomie des einzelnen hat (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG). Das S. kennt daher keinen Typenzwang wie das —» Sachenrecht. Gesetzliche Schuldverhältnisse können sich aber auch aus zurechenbaren Schädigungen ergeben, die eine Ersatzpflicht gegenüber dem Schädiger begründen (Recht der unerlaubten Handlungen, §§ 823ff. BGB) oder dem Ausgleich ungerechtfertigter Vermögensverschiebungen (§§ 812ff. BGB). Das S. ist demnach nicht durch die Gleichartigkeit der Lebensvorgänge gekennzeichnet, die es regelt, sondern
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Schule
Schulaufsicht allenfalls durch die Gleichartigkeit der Rechtsfolgen, d.h. grds. die Verpflichtung zu einer bestimmten Leistung gegenüber einer bestimmten Person. Für alle Schuldverhältnisse gilt der Grundsatz der Relativität, d.h. durch das Schuldverhältnis werden nur die an ihm unmittelbar beteiligten Personen berechtigt und verpflichtet. Die Forderung des Gläubigers auf die Leistung besteht nur als relatives Recht gegenüber dem konkreten Schuldner. Damit besteht ein grundlegender Unterschied zu den dinglichen, sog. absoluten Rechten des Sachenrechts (z.B. Eigentum), die gegenüber jedermann wirken. Die Beschränkung der Wirkung des Schuldverhältnisses auf die Parteien ist röm.-rechtl. Ursprungs. Das BGB läßt einige Ausnahmen von diesem Prinzip zu (z.B. Vertrag zugunsten Dritter, §§ 328ff. BGB). Lit. : H. Brox: Allgemeines Schuldrecht, München 23 1996; ders. : Besonderes Schuldrecht, München 21 1996; Palandt-Heinrichs: BGB, Komm. München 561997, Einleitung von § 241, Rn 1.
Annette von Harbou Schulaufsicht —> Schulrecht Schule / -n S.en sind —> Institutionen, in denen kognitives, soziales und polit. Lernen von Schülern durch Lehrer auf bestimmte Ziele hin organisiert wird. Nach Art. 7 Abs. 1 des —> Grundgesetz stehen Zielrichtung und Organisation des Lernens unter der Aufsicht des -> Staates. Entsprechend dem föderalistischen Prinzip des GG und der —> Kulturhoheit der Länder üben die Bundesländer die S.aufsieht durch S.gesetze, durch Lehrpläne, Verwaltungsvorschriflen, die S.leitung und -> Beamte des Kultusministeriums bzw. durch deren Beauftragte in Bezirksregierungen und Kreisverwaltungen aus. Auch —> Privatschulen bedürfen nach Art. 7 Abs. 4 GG der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen (—> Schulrecht). Funktion Unabhängig von der jeweiligen Organisationsstruktur hat die allgemeinbildende S.e mindestens 4 Funktionen:
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Die Qualifikations-, Selektions-, Integrations- und Legitimationsfunktion. Entsprechend ihrer Qualifikationsfunktion muß die S.e die Schüler für ihre Berufsrolle, ihre Bürgerrolle und ihre soziale Rolle qualifizieren. Das Ziel ist der informierte, lernfähige, selbständige und partizipationsfähige -> Bürger. Mit der Qualifizierung von Jugendlichen ist die Selektionsfunktion, die Auswahl der Schüler nach Kenntnissen und Fähigkeiten, verbunden. Dies bedeutet eine Verteilung von Berufsrollen und den damit gekoppelten sozialen Chancen. Eng verknüpft miteinander sind die Integrations- und Legitimationsfunktion der S.e; Schüler übernehmen im schulischen Erziehungs- und Sozialisationsprozeß Werte und Normen der —» Gesellschaft und werden dadurch in diese integriert. Gleichzeitig erhält durch diesen Prozeß das gesellschaftl. und das polit. System -> Legitimation. Organisation Das S.system der BRD ist in den Primarbereich (1.-4. Klasse), in den Sekundarbereich I (5.-10. Klasse) und in den Sekundarbereich Π 11.-13. Klasse) untergliedert. 1996/1997 besuchten 10,5 Mio. Kinder und Jugendliche in Dtld. die allgemeinbildenden S.en. Im Primarbereich, den Grundschulen, erlernen die Schüler ab dem 6. Lj. Grundfertigkeiten für ihr späteres S.leben. Immer stärker wird schon hier der Versuch gemacht, durch offene Unterrichtsformen selbsttätiges und selbständiges Lernen sowie soziale Kompetenz einzuüben. Im Sekundarbereich I wird eine Differenzierung in die S.typen Gymnasium, Real-, Hauptund Sonderschule vorgenommen, und es werden -> Gesamtschulen angeboten. Die Orientierungsstufe (Klasse 5 und 6), welche auch oft von den verschiedenen S.typen unabhängig existiert, dient dazu, die Schüler so zu fördern, daß sie den ihren jeweiligen Begabungen entsprechenden Bildungsweg ab der 6. Klasse einschlagen können. Das dreigliedrige S.system, in dem Schüler mit ähnlichen Begabungsschwerpunkten in entsprechenden S.typen mit homogenen Lemgruppen
Schule unterrichtet werden sollen, befindet sich in einem Wandlungsprozeß. So bevorzugen Eltern für ihre Kinder zunehmend die Realschule und das Gymnasium auf Kosten der Hauptschule, was tendenziell die Trennung zwischen Real- und Hauptschule aufhebt. Das Saarl. schaffte 1996 durch —> Verfassungsänderung diese Trennung ab; in anderen Ländern werden neben diesen beiden S.typen sog. Regionalschulen angeboten, welche die beiden S.typen in sich vereinen. Außerdem nimmt die Anzahl der integrierten Gesamtschulen zu, in denen die Leistungsdifferenzierung nach der gemeinsamen Orientierungsstufe in Kursen vorgenommen wird (1996/97: 522.000 Schüler). Integrierte Gesamtschulen sind in 11 Bundesländern als Regelschulen anerkannt, in anderen Ländern (BW, Bay., LSA, TH) können sie als Ergänzung zum dreigliedrigen S.system eingerichtet werden. In Sachs, werden keine Gesamtschulen errichtet. Andererseits steigt die Anzahl der Schüler an den Privatschulen (47.000 Schüler 1995/96). Auch werden besonders nach der -> Deutschen Einheit, die Länge der S.zeit (nach dem 12. oder nach dem 13. S.jahr Abitur) und die gegenseitige Anerkennung des Abiturs durch die Bundesländer diskutiert. Nach dem Beschluß der Kultusminister der Bundesländer vom Dezember 1995 in Mainz legen dt. Schüler nach dem 13. S.jahr das Abitur ab; wenn eine bestimmte Stundenzahl gewährt ist, schon nach dem 12. S.jahr (in ostdt. Bundesländern üblich). Auch sind die Leminhalte vereinheitlicht (durchgängige Belegung der Kemföcher Deutsch, Mathematik und erste Fremdsprache), damit die Vergleichbarkeit des Abiturs als bundesweite Zugangsberechtigung zu allen Studiengängen möglich ist. Perspektiven Die Attraktivität der Privatschulen in der BRD ist mit den neuen Anforderungen an die S.e verbunden. Sie kann als Wunsch nach einer Veränderung der Methoden und der Lerninhalte interpretiert werden. Niedrige Klassenfrequenzen, individuelle Lernmethoden so-
Schule wie die besondere religiöse oder weltanschauliche Prägung der Privatschulen scheinen einer steigenden Anzahl von Eltern und Schülern eher dazu geeignet, die gewünschten Qualifikationen zu vermitteln. Die Weiterentwicklung des S.systems, seiner inneren Struktur sowie der Lehr- und Lernmethoden werden noch viel stärker von der Erkenntnis geleitet sein müssen, daß sich das Wissen in modernen Gesellschaften zunehmend größerer Geschwindigkeit wandelt. Die handlungsorientierten, das selbständige Lernen fördernden Methoden sowie der sinnvolle Umgang mit Massenmedien und mit der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie müssen eine stärkere Berücksichtigung erfahren. Die Diskussion um die Weiterentwicklung des S.systems in der BRD wird verstärkt auch von europapolit. Argumenten geprägt, weil die Schüler mit meist 13 Jahren länger als der weitaus größte Teil der europ. Nachbarn in der EU die allgemeinbildenden S.en besuchen. Auch die für die dt. S.e typische Verbindung von Unterricht und Erziehung, i.d.R. auf den Vormittag begrenzt, wird sich in der Konkurrenz mit den pädagogischen Konzepten (Leben und Lernen in der S.e / Ganztagsschule) und den S.systemen (meist Gesamtschulen zumindest bis etwa zur Klasse 10) der europ. Nachbarn bewähren müssen. Lit.: H. Badertscher (Hg.): Wieviel Staat braucht die Schule?, Bern 1995; Bundesministerium jiir Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (Hg.): Grund- und Strukturdaten 1994 / 1995, Bonn 1995; C. Deichman: Interesse und Schule, eine politikwissenschaftl. und pädagogische Reflexion, in: Polit. Bildung 1993, S. 4 4 f f ; H. Fritzsche (Hg.): Taschenlexikon schul- und hochschulrechtl. Entscheidungen, Losebl., Berlin 19960".; W. Horner: Bildungseinheit, Anpassung oder Reform? Die Integrationsfrage im Bildungswesen der neuen Bundesländer, in: R. Hettlage / K. Lenz, Dtld. nach der Vereinigung, München 1995, S. 142ff; W. Wallrabenstein: Offene Schule - offener Unterricht, Hamburg 1991.
Carl Deichmann 805
Schulrecht Schulrecht Das dt. Schulsystem ist in hohem Maß durch Rechtsnormen geprägt. Zum gesamten S. zählen dabei zunächst Normen des —> Grundgesetzes und der -> Landesverfassungen, die sich ausführlich mit dem Schulwesen befassen. Von Bedeutung sind daneben die Schulgesetze der einzelnen Bundesländer und eine Fülle von Bildungsplänen und Erlassen der Schulverwaltungen. Schule und Staat Art. 7 Abs. 1 GG bestimmt kurz und bündig: Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. Diese enge Verbindung von -> Schule und -> Staat hat in Dtld. eine lange Tradition. Im 18. Jhd. hat der preuß. Staat die Volksschule gegründet; im 19. Jhd. wurde in Preuß. die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Seit dieser Zeit übt der Staat in Dtld. eine weitgehende Schulaufsicht aus und bestimmt nicht nur die Organisation des Schulwesens, sondern auch seine Bildungsinhalte. Selbst die Erfahrungen mit der Schule im totalitären Regime des —> Nationalsozialismus haben nicht zu einem Rückzug des Staates aus dem Schulwesen geführt. Das GG hat daraus im Gegenteil die Konsequenz gezogen, die schulische Bildung in den Dienst des freiheitlichen —> Verfassungsstaates zu stellen. Die in der Schule gelehrten Inhalte haben sich geändert, nicht aber der grundsätzliche Zugriff des Staates auf das Schulwesen. Erziehungsauftrag der Schule Das GG und - stärker noch - die Landesverfassungen geben der Schule einen Erziehungsund Bildungsauftrag. Gleichzeitig lassen sich den Verfassungen verbindliche Erziehungsmaßstäbe und Erziehungsziele entnehmen. Das GG setzt dabei einen Rahmen, den die Verfassungen der Bundesländer in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen inhaltlichen Nuancen ausfüllen. Aus den -> Grundrechten und dem Menschenbild des GG ergibt sich das wichtigste Erziehungsziel: die Entwicklung eigenverantwortlicher Persönlichkeiten zwischen individueller
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Schulrecht Entfaltung und sozialer Bindung. Die bay. Landesverfassung postuliert zusätzlich die „Liebe zur bayrischen Heimat" als Erziehungsziel, Brem, fordert die Erziehung zur Zivilcourage. Die Beispiele zeigen die Bandbreite, innerhalb derer sich die Erziehungsziele und -maßstäbe der Bundesländer bewegen. Die neuen Länder haben z.T. ihre spezifischen Erfahrungen mit der Zeit des -> Sozialismus in die Formulierung ihrer Erziehungsziele einfließen lassen. Der Erziehungsauftrag der Schule steht in einem Spannungsverhältnis zum Erziehungsrecht der Eltern, das in Art. 6 Abs. 2 GG (-+ Elternrecht) verbürgt ist. Im außerschulischen Bereich haben die Eltern den Vorrang, in der Schule dominiert der Staat, die Eltern haben aber verfassungsrechtl. abgesicherte Mitsprachemöglichkeiten. Schule in Rechtsstaat und Demokratie Die -» Bundesrepublik Deutschland ist ein -> Rechtsstaat und eine -> Demokratie. Das hat nicht nur Auswirkungen auf den Inhalt der schulischen Bildung. Wie kaum ein anderes Rechtsgebiet ist das S. von —> Verordnungen und Erlassen der Schulverwaltungen geprägt. So notwendig dies unter Effizienzgesichtspunkten ist, im demokrat. Rechtsstaat darf die Rechtsetzung durch die —> Verwaltung nicht die -> Parlamente in den Hintergrund drängen. Denn sie sind durch die —> Wahlen unmittelbar demokrat. legitimiert und deshalb in erster Linie für den Erlaß von Rechtsnormen zuständig. Um dieser Gefahr zu begegnen, hat das —» Bundesverfassungsgericht die -> Wesentlichkeitstheorie entwickelt: Wesentliche und grundlegende Entscheidungen müssen die Parlamente selbst treffen, die Kultusverwaltungen haben nur außerhalb dieses Bereichs das Recht, Verordnungen und Erlasse herauszugeben. Als wesentlich hat das BVerfG etwa die Festlegung der Schulpflicht, die Einführung und Ausgestaltung des Sexualkundeunterrichts, die Einführung der —> Gesamtschule oder die Reform der gymnasialen Oberstufe angesehen. Den Erfordernissen eines demo-
Schulrecht krat. Rechtsstaats entsprechend, sind die —> Landtage durch die Wesentlichkeitstheorie zu wichtigen Mitinhabern der Schulaufsicht geworden. Schule im Föderalismus Nach der Kompetenzverteilung des GG sind das Schulwesen und das S. - als Teil ihrer -> Kulturhoheit - in erster Linie Ländersache (-> Föderalismus). Die Länder müssen zwar die schulverfassungsrechtl. Vorgaben des GG beachten. Innerhalb dieses Rahmens sind sie aber frei, eigene Akzente in der Schulpolitik und im S. zu setzen. Aus dieser differenzierten Kompetenzverteilung im Schulwesen hat sich ein pluralistisch orientierter Bildungswettbewerb entwickelt, der zu teilw. erheblichen Unterschieden in den Schulsystemen der Bundesländer geführt hat. Ein Beispiel dafür ist der unterschiedliche Stellenwert, den die Gesamtschule in den einzelnen Ländern hat. Die Bundesländer haben schon früh erkannt, daß mit der föderalen Freiheit im Bildungsbereich die Gefahr einer Zersplitterung des Schulsystems verbunden ist. Schon 1948 haben sie deshalb eine —> Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) eingerichtet, die Unterschiede beseitigen und die -> Bildungspolitiken harmonisieren soll. Ob die KMK dieser Aufgabe gerecht geworden ist, ist allerdings zweifelhaft. Neben den Ländern besitzt auch der Bund Kompetenzen im Bereich des Bildungsund Schulwesens. Seine - begrenzten Befugnisse hat er v.a. im —> Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft konzentriert. Allerdings hat auch das -> Auswärtige Amt schulpolitisch bedeutsame Kompetenzen: Die dt. Auslandsschulen und die Arbeit der Goethe-Institute fallen in seinen Aufgabenbereich. Facetten des Schulsystems In Dtld. hat sich ein differenziertes Schulsystem entwickelt. Die allgemeinbildenden Schulen sind vielfach noch gegliedert in Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien. Dabei gibt es verschiedenartige Fachrichtungen und Schulzüge. Daneben existieren Gesamtschulen, die ebenfalls von
Schweden Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Profile aufweisen. Neben den allgemeinbildenden Schulen gibt es noch die berufsbildenden Schulen, die wichtiger Bestandteil des dualen Berufsausbildungssystems in Dtld. sind. Diese Vielfalt - Kritiker sprechen allerdings von „organisiertem Chaos" - des dt. Schulsystems ist die direkte Auswirkung des bildungspolit. Wettbewerbs unter den Bundesländern. Erweitert wird die Typenvielfalt im Schulwesen durch die -> Privatschulen, die unter dem besonderen Schutz des GG stehen. Art. 7 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das Recht, private Schulen zu errichten. Er verpflichtet den Staat darüber hinaus auch, Privatschulen zu fördern und - in Grenzen - zu finanzieren. Lit: A. Díttmann: Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, in: WDStRL 1995, S. 47ff.;
HdbVerß S. 1363ÉF.; HdbStR VI, S. 329ff; H. D. Jarass: Zum Grundrecht auf Bildung und Ausbildung, in: DÖV 1995, S. 674ff
Volker Neßler Schulsystem -> Schule -> Schulrecht Schweden, schwed. Parlament Das Königreich S. besteht als parlament. Erbmonarchie seit 1809, die Verfassung des Landes wurde 1974 erneuert. S. ist seit 1995 Mitglied der —» Europäischen Union. Das -» Staatsoberhaupt (seit 1973 König Carl XVI. Gustav) hat gemäß Verfassungstext und in der polit. Praxis geringe Kompetenzen. Der Reichstag im —» Einkammersystem S.s, übt allein die —» Legislative aus. Die 349 Mitglieder des Reichstags werden im Abstand von 3 Jahren nach dem -> Verhältniswahlrecht gewählt. Es gilt eine -» Sperrklausel in Höhe von 4 v.H.; wahlberechtigt sind alle, die das 18. Lj. vollendet haben. Die -» Exekutive des Landes liegt bei der Regierung. Das Staatsoberhaupt ist entgegen früheren Regelungen an der Regierungsbildung nicht beteiligt. Der vom Parlament gewählte Staatsminister (Minister807
SED
Selbstverwaltung
Präsident) ernennt und entläßt die —> Minister. Die Durchfilhrung von —> Gesetzen und —> Verordnungen kontrolliert bei Bedarf der vom Parlament ernannte - » Ombudsmann. Verfassungsänderungen müssen vom Parlament in 2 aufeinanderfolgenden —> Legislaturperioden beschlossen werden. Elemente der direkten Demokratie sind in S. vorgesehen. So können beratende —> Volksabstimmungen durchgeführt werden, auch die Möglichkeit der Durchfilhrung einer Volksabstimmung über Verfassungsänderungen ist gegeben, wenn ein Drittel der Reichstagsmitglieder dies beschließt. Diese Form der Volksabstimmung ist allerdings lediglich bei Ablehnung einer Verfassungsänderung bindend und somit negativ beschlußfassend. —» Mißtrauensvoten gegen den Staatsminister und damit gegen die Regierung sind mit absoluter Parlamentsmehrheit möglich, wobei für diesen Fall vorgezogene Neuwahlen nicht vorgesehen sind. Das Abgeordnetenmandat ruht während der Ausübung eines Ministeramtes (—» Inkompatibilität). Einzelne —> Abgeordnete können uneingeschränkt Gesetzesinitiativen einbringen. Traditionell dominiert die Sozialdemokrat. Arbeiterpartei das schwed. Parteiensystem als stärkste parlament. Kraft, gefolgt von der konservativen Moderaten Sammlungspartei. Lit.: W. Ismayr (Hg.): Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 91ff.; O. Petersson: Die polit. Systeme Nordeuropas, Baden-Baden 1989.
Michael Orlandini SED = Sozialistische Einheitspartei Deutschlands —> Deutsche Demokratische Republik Seetestament —> Testament Sektion /-en —> Abteilungen des Parlaments Selbstauflösung /-srecht —• Parlamentsauflösung 808
Selbstbefassungsrecht -> Parlamentsautonomie —• s.a. Ausschuß Selbstorganisationsrecht des Parlaments -> Parlamentsautonomie -> s.a. Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Selbstverwaltung /-srecht Seit dem 19. Jhd. haben sich verschiedene Formen der polit., wirtschaftl., berufsständischen, sozialen und kulturellen S., hauptsächlich in Gestalt von öffentl.-rechtl. S.skörperschaften wie z.B. in den -> Industrie- und Handelskammern, Handwerks- und —> Landwirtschaftskammem sowie weiteren berufsständischen Kammern, den - genossenschaftlich organisierten —> Sozialversicherungsträgern, den —> Hochschulen und den —> Rundfunkanstalten entwickelt. In dem Gedanken der S. kam zumindest ursprünglich auch eine Wendung gegen den damals noch vom - » monarchischen Prinzip beherrschten —> Staat zum Ausdruck, doch verband sich mit diesem Abwehrprinzip von vornherein das Ziel einer Aktivierung und Beteiligung der bürgerl. - » Gesellschaft an den öffentl. Angelegenheiten. Unter S. wird vor diesem Hintergrund heute im jurist. Sinne die selbständige Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben durch Träger der mittelbaren Staatsverwaltung - im Unterschied zur unmittelbaren Staatsverwaltung durch Bundes- oder Landesbehörden verstanden. Im Vordergrund stand und steht dabei die kommunale S. in den —> Gemeinden und —> Kreisen. Das - » Grundgesetz gibt der kommunalen S. verfassungsrechtl. Schutz durch eine ausdrückliche Garantie: Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener —» Verantwortung zu regeln (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG). Die Gewährleistung des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG sichert den Gemeinden einen grds. alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfassenden Auf-
Selbstverwaltung gabenbereich sowie die Befugnis zu eigenverantwortlicher Führung der Geschäfte in diesem Bereich. Die kommunale S. ist damit i.S. einer institutionellen Garantie Gegenstand einer objektiven Gewährleistung, die von der öffentl. Gewalt des —> Bundes und der —> Länder, v.a. auch von der Bundes- und Landesgesetzgebung zu beachten ist. Der -> Gesetzesvorbehalt überläßt dem Gesetzgeber die Ausgestaltung und Formung der Garantie kommunaler S. dementsprechend nicht beliebig. Zum einen setzt der Kernbereich der S.sgarantie ihm eine Grenze; hiemach darf der Wesensgehalt der gemeindlichen S. nicht ausgehöhlt werden. Zum Wesensgehalt gehört namentlich die Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die nicht durch Gesetz bereits anderen Trägem öffentl. Verwaltung übertragen sind, ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen. Aber auch außerhalb des Kernbereichs ist der Gesetzgeber nicht frei: Die gesetzliche Aufgabenverteilung zwischen Staat und Kommunen steht stets im Spannungsverhältnis zwischen Verwaltungseffizienz und Bürgemähe. Das GG hat sich innerhalb der Länder für einen nach Verwaltungsebenen gegliederten Staatsaufbau entschieden, der auf S.skörperschaften ruht, die mit Allzuständigkeit (i.S. des Aufgabenzugriffsrechts) für Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ausgestattet sind. Mit dieser Stärkung der dezentralen Verwaltungsebene wollte der Verfassungsgeber auf die gegenläufigen zentralistischen Tendenzen während des —> Nationalsozialismus antworten. Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG enthält daher auch außerhalb des Kernbereichs der Garantie ein verfassungsrechtl. Aufgabenverteilungsprinzip hinsichtlich der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zugunsten der Gemeinden, das der Zuständigkeitsverteilende Gesetzgeber zu berücksichtigen hat. Auf diese Weise sichert Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG den Gemeinden einen Aufgabenbereich, der grds. alle Angelegenheiten der örtlichen Ge-
Senat meinschaft umfaßt. Solche sind diejenigen Bedürfnisse und Interessen, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben. Eine Aufgabe mit relevantem örtlichen Charakter darf der Gesetzgeber den Gemeinden nur aus Gründen des Gemeininteresses, v.a. also dann entziehen, wenn anders die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung nicht sicherzustellen wäre. Demgegenüber scheidet das bloße Ziel der Verwaltungsvereinfachung oder der Zuständigkeitskonzentration als Rechtfertigung eines Aufgabenentzugs ebenso aus wie bloße Gründe der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit der öffentl. Verwaltung, solange ein Belassen der Aufgabe bei den Gemeinden nicht zu einem unverhältnismäßigen Kostenanstieg führen würde. Zudem darf der Gesetzgeber den Gemeinden eine Aufgabe mit relevantem örtlichen Charakter nur dann entziehen, wenn die den Aufgabenentzug tragenden Gründe gegenüber dem verfassungsrechtl. Aufgabenverteilungsprinzip des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG überwiegen. Durch Gesetz und aufgrund Gesetzes können Gemeinden aufgelöst, in andere Gemeinden eingegliedert („eingemeindet") oder in ihren Grenzen verändert werden, soweit dabei der gewährleistete Grundtatbestand der kommunalen S. in seinen Wesenszügen nicht mißachtet wird. Lit: BVerfGE 79, 127 - 161 (Rastede); E.T. Emde: Die demokrat. Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, Berlin 1991; R. Hendler: Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, Köln 1984; L. Schrapper: Kommunale Selbstverwaltungsgarantie und staatl. Genehmigungsrecht, Köln 1992.
Jörg Ukrow Select committees -> Committees - » Unterhaus, britisches —> Repräsentantenhaus, amerikanisches Senat 1. In der Röm. Republik eine Versammlung von Staatsmännern zur Vertretung des Volkes. 2. Einige Länder, z.B. die USA, Italien, Polen und viele latein809
Senat amerik. Staaten kennen einen S. als zweite, gleichberechtigte Kammer ihres Parlaments. 3. Der Senat bildet zusammen mit dem - » Repräsentantenhaus das Gesamtparlament ( - » Kongreß) der USA. Der S. verkörpert das föderative Element des US-Regierungssystems; die —> Verfassung der USA garantiert jedem Einzelstaat 2 Senatoren. Bis zur Verfassungsänderung 1912 wurden Senatoren auf 6 Jahre von den Parlamenten der Einzelstaaten gewählt, seitdem in relativer Mehrheitswahl direkt; in 3 Blöcken alle 2 Jahre. Der gesamte Einzelstaat bildet den -»> Wahlkreis. Im S. organisieren die Parteien (—> Demokratische Partei und —> Republikanische Partei) die Besetzung der Führungspositionen und den Geschäftsablauf. Jeder der heute 100 Senatoren hat individuelles -> Gesetzesinitiativrecht; Fachausschüsse entscheiden, in welcher Form die. Gesetzesvorschläge im -> Plenum zur —> Abstimmung gelangen. Die starke individuelle Stellung der Senatoren, die sich u.a. aus einem weitgefaßten Rede- und Vorschlagsrecht (—» Filibuster) ergibt, verhindert strikte Fraktionsdisziplin und beschränkt die Kontrolle des Mehrheitsführers über den legislativen Geschäftsablauf. Der S. arbeitet daher stark auf konsensualer Basis (unanimous consent agreements), gefährdet vom Dissens eines einzigen Senators. Neben der von der USVerfassung vorgesehenen gleichberechtigten Rolle bei Gesetzgebung und laufender Kontrolle des Verwaltungshandelns (oversight) hat der S. einige besondere Kompetenzen, z.B. die - > Ratifizierung völkerrechtl. Verträge mit Zweidrittelmehrheit und die Bestätigung von Ernennungen hoher polit. Beamter und Bundesrichter. Diese Kompetenzen und die Tatsache, daß eine vom Repräsentantenhaus ausgehende - » Impeachment gegen den Präsidenten vom S. bestätigt werden muß, verweisen auf die Rolle, die die Verfassungsgeber dem S. im System institutioneller —> Gewaltenteilung und funktionaler Gewaltenverschränkung zudachten: die
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Sitzordnung staatsmännische Mäßigung des im Parlament direkt zum Ausdruck kommenden Volkswillens. 4. Die -> Landesregierungen der Stadtstaaten der BRD heißen S.; —> s.a. Berlin, —> Bremen, - > Hamburg -> s.a. Bayrischer Senat; ebenso die Kammern der —• Bundesgerichte und - » Obersten Landesgerichte. Lit: D. Bacon (Hg.): The Encyclopedia of the United States Congress, New York 1995; R H. Davidson / W. J. Oleszek: Congress and its Members, Washington, DC 1996.
Thomas Greven Senatskanzlei ist - abweichend von den übrigen Ländern, in denen dieses Büro die Bezeichnung —> Staatskanzlei trägt - in den Ländern -> Berlin, -> Bremen und -> Hamburg die Bezeichnung für das Büro des jeweiligen Regierungschefs. Chef der 5. ist i.d.R. ein —> Staatssekretär bzw. Staatsrat, ggf. aber auch ein Senator (—> Senat). Die Stellung der S. ist jeweils in den —> Geschäftsordnungen der —> Landesregierungen geregelt. J. U. Senatspräsident —> Bremen —> Hamburg Senatsprinzip'-» Zweikammersystem Seniorenkonvent —> Ältestenrat Senioritätsprinzip —• Ancienitätsprinzip Session Zeitliche Bezeichnung für einen Parlament. Sitzungsabschnitt —> Unterhaus, britisches Sicherheitspolitik -> Äußere Sicherheit / Verteidigungspolitik Sitzordnung Die parlement. —> Debatten im -> Plenum eines -> Parlamentes sind nicht nur von den Debattenbeiträgen der Redner am Rednerpult und vom aufmerksamen Zuhören der übrigen Parlamentarier gekennzeichnet, sondern auch davon, daß die Parlamentsmitglieder durch - »
Sitzordnung Zwischenrufe und durch non-verbale Äußerungen auf die Debatte Einfluß nehmen wollen und der freisprechende Redner auf die Impulse, die aus dem Plenum kommen, eingeht und reagiert. Um an dieser lebhaften Parlament. Debatte teilnehmen zu können, ist es für die —» Abgeordneten nicht unerheblich, wo sie im Plenarsaal plaziert sind. Je näher sie dem Rednerpult sitzen, desto mehr werden sie in dieses Geschehen eingreifen können. Auch für die -»· Fraktionen ist es nicht unerheblich, ob sie in der Mitte des Plenarsaals sitzen oder mehr am Rande. Aus diesem Grunde ist die S. im Plenarsaal für das Parlamentsleben von nicht unerheblicher Bedeutung. Bilder aus dem dt. -» Reichstag vor der Jhd.wende zeigen Redner, die an der Rednertribüne von anderen Abgeordneten umlagert sind. Diese hat es offenbar nicht auf ihren Plätzen gehalten, und sie haben sich zum Redner begeben. Den Reichstagspräsidenten scheint das nicht gestört zu haben. Zu erklären ist dieses Verhalten durch die Akustik im Plenarsaal, die noch nicht durch Lautsprecheranlagen verändert werden konnte. Heutzutage kann - durch techn. Mittel bedingt - jeder Abgeordnete auf jedem Platz auch Redner mit leisen Stimmen hören. Die akustischen Gründe fallen also bei der Vergabe von Parlamentssitzen fort, zumal in den meisten Plenarsälen Saalmikrofone aufgebaut worden sind, die leicht von jedem Platz zu erreichen sind, um von dort -> Zwischenfragen an den Redner zu stellen. 1. Platz des einzelnen Abgeordneten In der Zeit des Frühkonstitutionalismus (—> Konstitutionalismus) in Dtld., vom —> Wiener Kongreß bis 1848, waren die Parlamente v.a. —• Honorationsparlamente. Einzelpersönlichkeiten wurden von den Wahlberechtigten in die Parlamente hineingewählt, oder der Landesherr ernannte sie. Bei der Festlegung der S. wurde dann versucht, einen Sitzblock gleichgesonnener Abgeordneter durch Vergabe der Plätze im Losverfahren,oder in einer Vergabe nach Alter oder nach
Sitzordnung Standeszugehörigkeit oder nach Alphabet zu verhindern, um damit auch die Fraktionsbildung zu erschweren. Die Fraktionen galten als Machtzusammenballung und waren deshalb gefährlich. Schon in der -> Frankfurter Nationalversammlung von 1848 ergab sich aber bald eine feste S. nach den sich bildenden Fraktionen. Dabei vergab dann die Fraktion die ihr zustehenden Plätze im Plenarsaal, so daß sich von dieser Zeit an die Frage, wo der einzelne Abgeordnete plaziert ist, v.a. dadurch beantworten läßt, daß geklärt wird, wo die einzelne Fraktion, welche die ihr zustehenden Sitzplätze vergibt, plaziert ist. Die Frage nach dem Platz eines einzelnen Abgeordneten ist heute nur noch von Bedeutung bei fraktionslosen -> Abgeordneten, insbes. bei solchen, die ihre Fraktion verlassen haben. Das —> Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung, in der es sich mit der Stellung des fraktionslosen Abgeordneten auseinandersetzt (BVerfGE 80, 188ff.), die Mitwirkungsrechte des Abgeordneten am Parlament. Geschehen in den Mittelpunkt gestellt, so das -> Rederecht, das Stimmrecht, das Frage- und Informationsrecht, das Initiativrecht. Es hat im übrigen aber festgestellt, daß die Organisation des Parlaments heute weitgehend durch die Fraktionen bestimmt wird. Dieses sei auch rechtens, wenn die genannten Rechte des fraktionslosen Abgeordneten gewahrt würden. Die Frage der Plazierung des Abgeordneten gehört nicht in diesen Bereich der Rechte. Es ist also deshalb denkbar, daß der Parlamentspräsident dem fraktionslosen Abgeordneten einen Platz in den hinteren Reihen des Parlaments anweist. Einen Anspruch auf einen bestimmten, vielleicht sogar noch herausgehobenen, Sitzplatz hat der fraktionslose Abgeordnete nicht. 2. Fraktionen Entscheidend für die S. im Plenarsaal ist die Verteilung der Plätze auf die Fraktionen. Hierbei ist es von Bedeutung, wieviele Fraktionen es im Parlament gibt. Je mehr Fraktionen, desto schwieriger die gerechte S.; damit hängt 811
Sitzordnung die S. unmittelbar mit dem —> Wahlsystem zusammen. Ein reines -> Mehrheitswahlrecht, wie z.B. in Großbritannien, bringt i.d.R. nur 2 Fraktionsblöcke mit sich. Diese können dann, da eine der Fraktionen die —> Regierung stellt und die andere dazu in —> Opposition ist, deutlich voneinander getrennt plaziert werden. Das geschieht in Großbritannien auch, hier sitzen sich die regierungsstützende Fraktion und die Opposition gegenüber und der Präsident des Hauses (—> Speaker) an der Stirnseite des Plenarsaals zwischen den beiden Blöcken. Ein Wahlsystem mit mehr oder weniger großen Anteilen des —> Verhältniswahlrechts - wie in Dtld. - hat ein Mehrfraktionenparlament zur Folge, in dem häufig keine der Fraktionen im Stande ist, allein die Regierung zu bilden und —> Koalitionen die Regierung stützen müssen, die im Lauf einer —> Legislaturperiode auch noch wechseln können. Hier ist es sinnvoll, diese Fraktionen nebeneinander auf festen Segmenten der im Halbkreis angeordneten Sitze zu plazieren. Dieses System der Plazierung hat sein Vorbild in der —> frz. Nationalversammlung von 1830, wo in einem Plenarsaal, wie in einem Amphitheater halbrund ansteigend, die Abgeordneten saßen, und zwar die konservativsten Abgeordneten, die der von der Krone abhängigen Regierung am nächsten standen, auf dem rechten Flügel und diejenigen, die am meisten auf Veränderung im polit. Leben drängten, am linken Rand und zwischen ihnen in Abstufungen die Fraktionen, die eine Mittelstellung zwischen diesen beiden Extremen einnahmen. Rechts und Links wurde dabei vom Präsidenten her gesehen. Dieses System wurde in den Ländern Kontinental-Europas übernommen. An dieser S. hat sich bis heute nichts geändert. Obwohl die weltanschaulichen und polit. Gegensätze der —• Parteien und damit auch der Fraktionen - schwächer geworden sind und die großen Volksparteien ein sehr weites polit. Spektrum abdecken, so daß ihre Abgeordneten nicht so ohne weiteres in das
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Sitzordnung Rechts-Links-Schema hineinpassen, ist das Attribut „links" oder „rechts" oder „Mitte" heute noch immer wichtig, nicht nur für die Plazierung im Parlament, sondern fllr die polit. Standortbestimmung der Fraktionen und der Parteien. In der Vergangenheit haben sich immer wieder Parteien auch nach ihrem Platz im Parlament benannt, z.B. die Partei des Zentrums in Dtld. und die Partei Venstre (die Linke) in —> Dänemark. Allerdings ist bei der S. der gegenwärtigen dt. Parlamente dennoch keine Einheitlichkeit festzustellen. Die -> FDP sitzt z.B. im —> Bundestag rechts von der -> CDU, im 1. Landtag von Mecklenburg-Vorpommern saß sie aber links von der CDU in der Mitte. Die Partei von —> Bündnis 90 / Die Grünen sitzt im Bundestag rechts von der —> SPD, in der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt -> Hamburg aber links von ihr. Der Thür. Landtag hat sich offenbar ganz von dem Rechts-Links-Schema getrennt, dort sitzt die CDU-Fraktion im Mittelblock des Saals, links von ihr die SPD-Fraktion und rechts von ihr die PDS-Fraktion. Beim Hinzukommen einer neuen Fraktion im Parlament ist die Frage der Plazierung im Plenarsaal eine der wichtigsten, die vor der Konstituierung des gewählten Parlaments entschieden werden muß. Hierbei gibt es regelmäßig größere Schwierigkeiten, weil als Links-Partei bezeichnet zu werden von manchen Fraktionen als Ehre angesehen wird, andere Fraktionen wiederum Wert darauf legen, eine Partei der Mitte zu sein und kaum eine Wert darauf legt, als Rechts-Partei bezeichnet zu werden. Für die Koalitionsbildung ist die Plazierung der Fraktionen unerheblich. Die Fraktionen behalten ihre Sitze, egal welche Koalitionen sich im Parlament bilden. Die S. des einzelnen Abgeordneten in seinem Fraktionsblock richtet sich zumeist nach der Bedeutung des jeweiligen Abgeordneten für die Fraktion, d.h. also, Fachsprecher und Ausschußvorsitzende sitzen häufig auf bevorzugten Plätzen. Die Führung der Fraktion sitzt vorne am nächsten zum Präsidenten und zum
Soldatengesetz
Sitzordnung Redner, die Neulinge und die weniger „wichtigen" Abgeordneten sitzen weiter hinten und werden deshalb häufig „Hinterbänkler" genannt, eine Bezeichnung, die vom brit. —> Unterhaus übernommen wurde. Im Landtag von -> Baden-Württemberg allerdings werden die Sitze innerhalb einer Fraktion nach dem Alphabet vergeben, nachdem vorher der Fraktionsvorstand die vorderen Plätze eingenommen hat. Dieses System der Sitzvergabe, nach Fraktionen geordnet, findet sich auch in den USA wieder, sowohl im —> Repräsentantenhaus wie auch im —> Senat finden sich die beiden Blöcke der —» Demokratischen Partei und der —> Republikanischen Partei rechts und links vom Parlamentspräsidenten im Halbrund angeordnet. Im Repräsentantenhaus haben die Fraktionsführer herausgehobene vordere Plätze. Die S. im —> Europäischen Parlament folgt in ihrer Anordnung dem kontinental-europ. System. Die Plätze sind in einem Halbrund um den erhöhten Sitz des Parlamentspräsidenten angeordnet. Die Festlegung der S. geschieht durch die „Konferenz der Präsidenten", welcher der Präsident und die Vorsitzenden der Fraktionen angehören. Sie geschieht nach dem oben beschriebenen Rechts-Links-Schema. 3. Regierung Während im brit. Unterhaus die Regierung in die Regierungsfraktion eingeordnet wird und mit ihr auf deren Plätzen Platz nimmt, hat die Regierung im kontinental-europ. System ihren Platz erhöht und in Front zu den Abgeordneten. Sie sitzt etwa auf gleicher Höhe mit dem Parlamentspräsidenten; im Dt. Bundestag sitzt die -> Bundesregierung rechts vom Präsidentensitz. Die Regierungsmitglieder haben, sofern sie auch Abgeordnete des Parlaments sind, im Plenarsaal ihren Abgeordnetenplatz, der häufig ein weit hintenliegender Platz ist, weil sie diesen selten einnehmen und deshalb keinen günstigeren Platz benötigen. Die Mitglieder des —> Bundesrats sitzen im Bundestag in gleicher Position wie die Regierung
links vom Präsidentensitz. Lit.: H. Kramer: Fraktionsbindungen in den dt. Volksvertretungen 1819-1849, Berlin 1968; W. Lambach: Die Herrschaft der Fünfhundert, Hamburg 1926\Röhring/ Sontheimer.
Uwe Bernzen Sitzung —> Plenum Sitzungsvorstand —> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages —> Parlamentsrecht SMAD = Sowjetische Militäradministration in Deutschland —> Deutsche Demokratische Republik Soldatengesetz Das SG vom 19.3.1956 (BGBl. I S. 114), dessen praktischer Zweck zunächst darin bestand, das mit Ablauf des 31.3.1956 außer Kraft tretende Freiwilligengesetz zu ersetzen, behandelt den Status des Soldaten sowie seine Rechte und Pflichten einschließl. des Verhältnisses von Untergebenen und Vorgesetzten und ist damit gleichsam die Grundnorm. Der Gesetzgeber wollte, daß die —> Bundeswehr als Teil der -> Exekutive dem Primat der —> Politik untergeordnet ist und für den Soldaten die Regeln des demokrat. —» Rechtsstaats und die —> Grundrechte uneingeschränkt zu gelten haben, soweit nicht zwingende, funktionsbedingte Einschränkungen erforderlich sind. Dies bedingt ein in der dt. Wehrrechtsgeschichte völlig neuartiges Spannungsverhältnis in der Person des einerseits streng funktionsgebundenen Soldaten und des andererseits freiheitlich erzogenen „Staatsbürgers in Uniform". Alle Vorschriften des SG, die sich mit der näheren Ausgestaltung der Rechte und Pflichten des Soldaten befassen, und ihre Interpretation müssen von dem Prinzip des „Staatsbürgers in Uniform" und dem darin enthaltenen Grundsatz ausgehen, daß die staatsbürgerl. Rechte des Soldaten erhalten bleiben, soweit dies vom militärischen Funktionsprinzip her vertretbar erscheint. Der 1. Abschn. des SG i.d.F.
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Sonderabgaben
Solidaritätszuschlag vom 19.8.1975 enthält die Bestimmungen, die für die -> Streitkräfte insg. gelten. In § 1 werden die Begriffe Soldat, Vorgesetzter und Disziplinarvorgesetzter definiert, die §§ 2-5 regeln Dauer des Wehrdienstverhältnisses, Ernennungs- und Verwendungsgrundsätze, Dienstgradbezeichnungen, Uniform und Gnadenrecht. Die §§ 6-36 behandeln Rechte und Pflichten der Soldaten, u.a. Verbot der Einschränkung der staatsbürgerl. Rechte, Eid und feierliches Gelöbnis, Gehorsam, Pflicht zur Kameradschaft, zur Teilnahme an der Gemeinschaftsverpflegung und zum Wohnen in der Gemeinschaftsunterkunft, Nebentätigkeit, Haftung, -> Wahlrecht, -> Laufbahnprinzip, Anspruch auf Urlaub, Geld- und Sachbezüge, Heilfürsorge, —» Beschwerde, -» Militärseelsorge. Die Bestimmungen werden zum großen Teil durch Vorschriften in anderen Gesetzen ergänzt. Die §§ 37-57 enthalten das Statusrecht der Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit (Begründung des Dienstverhältnisses, Beförderung, Beendigungsgründe) unter weitgehender Angleichung an die beamtenrechtl. Grundsätze. Lit: W. Scherer / R. Alff: Soldatengesetz, München 1988; W. Stauf. Soldatengesetz, BadenBaden 1987. Wolfgang Stauf
Solidaritätszuschlag Der SolZ ist eine —> Steuer. Nach einem langwierigen Gesetzgebungsverfahren beschloß der —» Bundestag am 24.4.1991 das —• Gesetz zur Einführung eines befristeten SolZ und zur Änderung von Verbraucher- und anderen Gesetzen (Solidaritätsgesetz BGBl. I, S. 1318). Begründet wurde die Einführung des SolZ mit den jüngsten Veränderungen der Weltlage und den damit verbundenen finanziellen Anforderungen an die —> Bundesrepublik Deutschland. Neben dem Golfkrieg und der Unterstützung osteurop. Länder wurden auch zusätzliche, früher nicht absehbare Aufgaben in den neuen Bundesländern erwähnt. Im Art. 1 des Solidaritätsgesetzes ist das sog. SolZGesetz geregelt, nämlich die Erhebung 814
des SolZ; Dieser ist als —» Ergänzungsabgabe zur -> Einkommensteuer und zur —> Körperschaftssteuer nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG ausgestaltet, d.h. er ist eine selbständige Steuer, die nur aus (erhebungs-)techn. Gründen an die Einkommen- und Körperschaftssteuer gekoppelt ist. Abgabepflichtig sind nach § 2 SolZG alle unbeschränkt und beschränkt Einkommen- und Körperschaftssteuerpflichtigen, deren Steuerpflicht nicht vor dem 14.5.1991 geendet hat. Die Bemessungsgrundlage für den SolZ ist nach § 3 SolZG die Einkommensteuer und Körperschaftssteuer. Nach der Tarifvorschrift des § 4 SolZG beträgt der SolZ in den Veranlagungsfällen 3,5% und bei Vorauszahlungen Abzug Steuern je 7,5%. Ein weiterer staatl. Finanzierungsbedarf führte jedoch zu einer Verlängerung der Geltungsdauer des SolZ, die zunächst auf 1 Jahr begrenzt war. Zur Finanzierung der durch die —> Deutsche Einheit bedingten anhaltend hohen Transfers wurde mit dem SolZG (BGBl. I, S. 975) ab 1.1.1995 wiederum eine Ergänzungsabgabe zu Einkommenund Körperschaftssteuer erhoben. Gegenüber dem Erhebungszeitraum 1991/92 wurde der SolZ nunmehr zeitlich unbefristet erhoben und betrug 7,5% der Bemessensgrundlage. In einer koalitionsinternen Auseinandersetzung über Befristung und Höhe des SolZ hat die -» FDP ihre Forderung durchgesetzt, den SolZ von 7,5 auf 5,5% ab 1998 zu verringern. Mit der Rückführung des SolZ soll die Steuerlast für Bürger und Investoren in den alten und neuen Bundesländern gleichermaßen gesenkt werden. Lit: S. Schomburg: Der Solidaritätszuschlag. Rechtslage und Gestaltungsüberlegungen, in: Die Wirtschaftsprüfung, 1991, S. 433ff. U.N.
Sonderabgaben Die S. stellen neben den —> Steuern, —> Gebühren und -> Beiträgen eine weitere Gruppe der öffentl.rechtl. —> Abgaben dar. Sie werden zur Finanzierung besonderer Aufgaben von bestimmten Gruppen von —> Bürgern
Souveränität erhoben. Die Zusatzlast der S. bedarf als sog. Fremdkörper des -» Verfassungsrechts besonderer Rechtfertigung. Man unterscheidet insbes. Finanz-Abgaben (bei außergewöhnlichem Finanzbedarf), Ausgleichsabgaben (zur Korrektur eines Ungleichgewichtes durch staatl. Interventionen) und Lenkungsabgaben (zur Belastung bestimmter, dem Staat unerwünschter Verhaltensweisen). Von den Gebühren und Beiträgen unterscheiden sich S. dadurch, daß sie unabhängig von den Leistungen des Staates erhoben werden. Daneben gehören S. auch nicht zu den Steuern, da ihr Aufkommen nicht dem öffentl. Haushalt zufließt, sondern zumeist in Sonderfonds mündet. Β. V. Souveränität Die Staatensouveränität, funktionell im Hochmittelalter entstanden und 1583 von Jean Bodin (1530-1596) in die Rechtswissenschaft eingeführt, hat im Laufe der Jhd.e einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Heute kann es S. nur unter dem -> Völkerrecht geben. Ein —> Staat ist souverän, wenn allein das Völkerrecht die Grundlage seiner Beziehungen zu anderen Staaten ist und er rechtl. keinen Weisungen eines fremden Staates unterlegt. Gibt ein Staat vertraglich wesentliche Funktionen seiner —> Staatsgewalt auf, verliert er seine S.; fügt er sich in einem Vertrag einem Status der Ungleichheit, büßt er zumindest an S. ein. Ein Staat erlangt S. durch seine effektive Unabhängigkeit. Deshalb läßt sich die S. nicht aus bloßen Erklärungen anderer Völkerrechtssubjekte oder aus Verträgen herleiten. Die S. bildet neben den 3 konstitutiven Staatsmerkmalen (-> Staatsvolk, —> Staatsgebiet und —> Staatsgewalt) kein 4. Element. Unmittelbare völkerrechtl. Beziehungen zu anderen Völkerrechtssubjekten setzen die Handlungsfähigkeit eines Staates voraus. Einem handlungsunfähigen Staat fehlt die S.; der handlungsfähige Staat übt seine Rechte im eigenen Namen durch vertretungsbefugte Organe (Staatsoberhaupt, Regierungschef,
SPD Außenminister) aus. Obwohl das -> Europäische Gemeinschaftsrecht erheblich auf die Mitgliedstaaten einwirkt, gelten die EU-Staaten weiterhin als souverän. Denn sie bleiben Herren der Verträge, die der euopäischen Integration zugrunde liegen. Von der Staatensouveränität ist die innere S. zu unterscheiden, die nach dem jeweiligen —> Verfassungsrecht der rechtl. höchsten Gewalt im Staat zukommt. In demokrat. Staaten liegt sie beim Volk (—> Volkssouveränität, Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Lit: HdbStR I, S. 691ff.; H. Heller: Die Souveränität, Berlin 1927; H. Quaritsch: Souveränität, Berlin 1986; C. Raap: Die Souveränität der BRD unter besonderer Berücksichtigung des militärischen Bereichs und der dt. Einheit, Frankfurt/M. 1992; ders. : Ist das vereinte Dtld. souverän?, in: BayVBl. 1992, S. 1 lf.
Christian Raap Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) Die SPD ist als -> Partei der linken Mitte mit Verankerung im gewerkschaftlichen Milieu im —> Parteiensystem Dtld. s zu verorten. 1. Gründung Mit dem am 28.5.1863 in Leipzig auf Initiative Lassalles gegründeten .Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV)" beginnt die Geschichte der parteipolit. Organisation der Arbeiterschaft, welche die SPD als ihre Geburtsstunde betrachtet. In seinem „Offenen Antwortschreiben", dem programmatischen Gründungsaufruf, forderte Lassalle die Arbeiterschaft auf, sich als selbständige polit. Partei zu konstituieren. In Opposition zu Lassalles ADAV versammelten sich am 8.8.1869 in Eisenach Mitglieder verschiedener Arbeiter- und Arbeiterbildungsvereine um August Bebel und W. Liebknecht, um die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei" (SDAP) ins Leben zu rufen. Zwar vereinigten sich beide Gruppierungen der Arbeiterschaft 1875 in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei, die sich 1890 in Sozialdemokrat. Partei Dtld.s umbenannte, doch deren Gegensätze wirkten noch lange Zeit im inner815
SPD parteilichen Leben nach. Während die Lassalleaner vornehmlich auf die Reformfahigkeiten des Staates setzten, um die soziale Lage der Arbeiter allmählich zu verbessern, Mehrheiten in —> Parlamenten zu gewinnen und polit. Entscheidungen durchzusetzen (Reformismus bzw. Revisionismus), forderte die von Marx und Engels beeinflußte SDAP die Abschaffung aller Klassenherrschaft und die Überwindung der privatkapitalistischen Produktionsweise mit dem Ziel der Emanzipation der Arbeiterschaft im polit. System. Deutlich wird diese Differenz im Erfurter Programm von 1891; in dem von Kautsky verfaßten 1. Teil wird die Notwendigkeit der Umwandlung des kapitalistischen Privateigentums in gesellschaftl. —> Eigentum gefordert, im 2. von Bernstein konzipierten Teil werden soziale und polit. Forderungen erhoben, die auch in einem kapitalistischen Staat durchgesetzt werden können. 2. Kaiserreich Die prägenden Erfahrungen der SPD im - > Deutschen Reich (18711918) waren die der polit. Unterdrückung (am sinnfälligsten deutlich durch das Sozialistengesetz) und Ausgrenzung. Die SPD entwickelte sich zur reinen Klassenpartei der Industriearbeiter. Immerhin zählte sie schon 1913 mehr als eine Mio. Mitglieder und Wahlerfolge stellten sich ein: Nach den Wahlen zum —> Reichstag im Jahre 1912, in der sie fast 35% der Stimmen erhielt, zog sie mit 110 —> Abgeordneten als stärkste - » Fraktion ins Parlament ein. Heftige innerparteiliche Kontroversen löste die Bewilligung der Kriegskredite durch den Reichstag mit Zustimmung der SPD-Fraktion im Jahre 1914 aus, welche die zwischenzeitliche Abspaltung der „Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD)" zur Folge hatte. Die USPD löste sich 1922 wieder auf, und deren Mitglieder gingen zur KPD oder kehrten in die SPD zurück. 3. Weimarer Republik Zu Beginn der —> Weimarer Republik übernahm die SPD recht unvorbereitet die Regierungsverantwortung: Der Sozialdemokrat Philipp
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SPD Scheidemann rief in Beri, die —> Republik aus, sein Parteifreund Friedrich Ebert wurde erster Reichskanzler, später erster Reichspräsident (1919-25). Nach den ersten Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919, bei der die SPD 37,9% der Stimmen erhielt, bildeten die Sozialdemokraten gemeinsam mit Zentrum und DDP die sog. Weimarer Koalition, die aber schon nach den Reichstagswahlen 1920 die Mehrheit verlor. Die SPD blieb dennoch bis 1922 Regierungspartei, stellte aber erst 1928 wieder den Reichskanzler in einer Großen —> Koalition, bestehend aus SPD, Zentrum, DDP, DVP und Bay. Volkspartei. Eine geplante Neuregelung der Arbeitslosenversicherung führte Ende März 1930 zum Bruch der Koalition. Die Ziele der SPD in Weimar, die Stabilisierung der Republik und ihrer —> Institutionen sowie die Durchsetzung von demokrat. und sozialen Programmen, konnten sich nicht behaupten. Die SPD, die sich in der Weimarer Republik zur Trägerin der parlement. -> Demokratie entwickelte, zeigte 2 Gesichter: sowohl radikal-revolutionär (s. Heidelberger Programm von 1925) als auch parlament.-reformistisch (s. Politik der Reichstagsfraktion oder der von der SPD getragenen preuß. Landesregierung). Sie blieb aber trotz einiger Öffhungsversuche im wesentlichen eine in der Industriearbeiterschaft verhaftete Klassenpartei, die sich in der Form einer Solidargemeinschaft organisierte. Diese umfaßte alle Lebensbereiche und äußerte sich in einem weit entwickelten und ausdifferenzierten Vereinswesen (-> s.a. Nationalsozialismus). 4. BRD Auf diese Solidargemeinschaft konnte die SPD bei ihrem Wiederaufbau 1945 bauen. Unmittelbar nach dem Ende des Π. Weltkrieges bildeten sich in allen 4 Besatzungszonen lokale und regionale Sozialdemokrat. Gebietsverbände, die auf die Bildung überregionaler Organisationsstrukturen drängten. Dennoch entstand zunächst keine gesamtdeutsche Partei, da in der SBZ die Sozialdemokraten um O. Grotewohl mit der KPD zur SED fusio-
SPD nierten. In den westlichen Besatzungszonen schloß hingegen die SPD personell, organisatorisch und programmatisch an Weimar an und wurde unter der Führung Kurt Schumachers zur mitgliederstärksten Partei - 1947 zählten die Sozialdemokraten 875.000 Mitglieder. Die erste Bundestagswahl 1949 war eine herbe Enttäuschung für die SPD: Sie erreichte nur 29,2% der Stimmen und ging in die -> Opposition. Dort hielt sie am Primat der polit. Vereinigung fest, lehnte Westintegration und Wiederaufrüstung ab und stand dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft kritisch gegenüber. Unter Schumachers Nachfolger Ollenhauer kam die Partei bei den folgenden Bundestagswahlen nicht aus dem 30%-Turm heraus. Erst mit den auf dem Stuttgarter Parteitag 1958 beschlossenen Organisationsreformen und dem 1959 verabschiedeten Godesberger Programm begann die polit, und soziale Öffnung der SPD zur sog. Volkspartei. Die Stuttgarter Reform hob den Vorrang der Parteiorganisation gegenüber Bundestagsfraktion und Landesregierungen der SPD auf. Damit einher ging ein Wandel der Mitgliedschaft, der sich in den 70er Jahren rasant vollzog: Die facharbeiterliche Milieubindung der Sozialdemokratie lockerte sich zunehmend, der Arbeiteranteil an der Gesamtmitgliedschafi beträgt nur noch knapp 35%. Demgegenüber gewann die SPD gerade zu Beginn der 70er Jahre neue Mitglieder aus den Gruppen der —> Beamten und —> Angestellten, vornehmlich aus dem -» öffentlichen Dienst. 1976 überschritt die Partei die Millionengrenze an Mitgliedern, mehr als die Hälfte war erst nach 1969 beigetreten. Seitdem geht die Mitgliederzahl sukzessive leicht zurück, heute bewegt sie sich bei ungefähr 900.000. In den 60er Jahren galt die SPD als moderne Reformpartei, als Trägerin der Modernisierung der BRD, bereit zur Regierungsverantwortung. Mit —> CDU und -> CSU bildete sie von 1966 bis 1969 eine -> Große Koalition, die heute als Schritt zur Sozialdemokrat. Kanzlerschaft
SPD in der sozialliberalen Koalition (1969-82) gesehen werden muß. Der erste SPDBundeskanzler W. Brandt prägte in seiner Regierungserklärung 1969 das Motto der ersten Jahre der SPD-Kanzlerschaft: „Mehr Demokratie wagen". Darunter zu verstehen sind innenpolit. Reformen des - » Rechtsstaates, eine keynesianische Wirtschafts- und Finanzpolitik, der Ausbau des Wohlfahrtsstaates und der Bildungssysteme und nach außen eine Entspannungspolitik, insbes. gegenüber Osteuropa. Die Kanzlerschaft H. Schmidts (1974-82) war gekennzeichnet von Krisenmanagement, Pragmatismus sowie innerparteilichen Konflikten wie auch von polit. Auseinandersetzungen mit dem Koalitionspartner —> FDP, die schließlich mit dem Bruch der Koalition 1982 endete In den 80er Jahren war die SPD vornehmlich damit beschäftigt, sich nach 16 Regierungsjahren wieder in der Rolle der Opposition zurechtzufinden. An der Spitze vollzog sich ein Generationswechsel: H.-J. Vogel, der den Vorsitz von W. Brandt übernahm, war nur eine Zwischenstation zu den sog. ,Enkeln" Brandts, die in den späten 60er und frühen 70er Jahren zur SPD fanden, wie Vogels Nachfolger Engholm, Scharping und Lafontaine, der auf dem Mannheimer Parteitag 1995 Scharping nach einer Kampfabstimmung ablöste. Die Vorgehensweise Lafontaines stellt ein Novum in der Geschichte der SPD dar: Ohne vorherige Ankündigung kandidierte er auf dem Parteitag gegen den zu diesem Zeitpunkt amtierenden Vorsitzenden Scharping und stürzte ihn vom Amt des Parteivorsitzenden. Dabei war Scharping nur 3 Jahre zuvor durch eine Urwahl aller Mitglieder zum Parteivorsitzenden gewählt worden. Wesentlich unter Lafontaines Einfluß entstand das derzeit gültige Parteiprogramm, das Berliner Programm von 1989, das einen Versuch darstellt, Ökonom., ökologische und soziale Fragen in einer nach vorne gewandten Form zu beantworten. Mit Lafontaine als Kanzlerkandidaten erreichte die SPD bei den ersten gesamtdt. —> Wahlen
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Soziale Bewegung am 2.12.1990 nur 33,4% der Stimmen; gerade im Osten Dtld.s fand die SPD eine vergleichsweise geringe Unterstützung. Die im Oktober 1989 in der ehemaligen -> DDR neu gegründete SPD (zunächst als SDP) verband sich im September 1990 auf dem Vereinigungsparteitag mit der westdt. SPD. Die Mitgliederzahl der ostdt. Verbände beläuft sich auf knapp 30.000. Die gegenwärtigen Probleme der SPD liegen vornehmlich in der Unbestimmtheit ihrer Politikangebote, die derzeit von der Parteiführung mehrheitlich favorisierte Koalitionsoption mit -> Bündnis 90/Die Grünen mehrheitsMiig werden zu lassen und im relativ hohen Durchschnittsalter ihrer Mitglieder und —> Eliten. Die SPD setzt ihre Chancen der Mehrheitsfähigkeit im Wahljahr 1998 auf den populären, auch konservativ-liberale Wählerkreise ansprechenden niedersächs. Ministerpräsidenten G. Schröder als Kanzlerkandidaten. Lit.: P. Lösche: Kleine Geschichte der dt. Parteien, Stuttgart 1993; ders. /F. Walter: Die SPD, Darmstadt 1992; K. Klotzbach: Der Weg zur Staatspartei., Berlin 1982; S. Miller /H. Potthoff: Kleine Geschichte der SPD, Bonn 7 1991. Uwe Jun
Soziale Bewegung / -en -> Bürgerbewegung Soziale Grundrechte 1. S.G. beruhen auf dem Gedanken, —> Freiheit als Möglichkeit unabhängiger Lebensgestaltung bestehe nicht schon dann, wenn die —> Bürger Eingriffe des -> Staates in ihren durch die —> Grundrechte definierten Lebensraum abwehren können, sondern erst dann, wenn auch innerhalb dieses Lebensraumes jeder Bürger über ein ausreichendes Maß an inhaltlichen Existenzbedingungen verfüge; kommen Bürger nicht ausreichend in den Genuß so verstandener Freiheit, sei der Staat verpflichtet, sie ihnen durch aktives Hineinwirken in den gesellschaftl. Lebensraum zu verschaffen. Typische s.G. sind das Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung, Recht auf Wohnung. 818
Soziale Grundrechte 2. Die Verwirklichung s.G. setzt eine Instanz voraus, die über Art und Maß der erforderlichen staatl. Maßnahmen entscheidet. Würden s.G. als subjektive, vom einzelnen vor —> Gericht einklagbare Rechte verstanden, läge diese Entscheidung letztlich bei der Gerichtsbarkeit. Dies wäre unvereinbar mit den Prinzipien des -> Rechtsstaates und der —> Demokratie, nach denen wesentliche Entscheidungen vom unmittelbar demokrat. legitimierten Gesetzgeber, andere von den übrigen Staatsorganen im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabenbereiches getroffen werden müssen. Ferner ist ein einklagbarer Anspruch gegen den Staat nur möglich, wenn der Staat über das eingeklagte Gut verfügen kann; mit einem subjektiven Recht auf Arbeit wäre daher ein staatl. regulierter Arbeitsmarkt, mit einem subjektiven Recht auf Wohnung ein regulierter Wohnungsmarkt usw. verbunden - die Verwirklichung so verstandener Freiheit hätte die Einschränkung der Freiheit als staatsfreien Lebensraum zur Folge. Im Ergebnis können daher s.G. prinzipiell keine subjektiven Rechte sein, sondern verpflichten als objektives Recht den Gesetzgeber und die übrigen staatl. Organe, bei ihren jeweiligen Entscheidungen - sei es bei polit. Entscheidungen über Erlaß und Ausgestaltung von Gesetzen, sei es beim Ausfüllen von Spielräumen im Zuge der Gesetzesanwendung - aktiv die in den s.G. niedergelegten Werte zu verfolgen. Wie die staatl. Organe diese Verpflichtung einlösen, unterliegt ihrem weiten Gestaltungsspielraum, der gerichtlich nur auf evidente Verstöße überprüfbar ist. 3. Anknüpfend an Grundgedanken der Aufklärung und der Frz. Revolution von 1789 enthielt für Dtld. erstmals die Weimarer Reichsverfassung Verpflichtungen des Staates in den Bereichen —> Arbeit (Art. 163 Abs. 2), Wohnung (Art. 155 Abs. 1), Bildung (Art. 143 Abs. 1) und -» Sozialversicherung (Art. 161); allerdings wurden diese s.G. ebenso wie sämtliche Grundrechte der WRV nur als
Soziale Grundrechte polit. Programm für den Gesetzgeber aufgefaßt, so daß schon deshalb für den Bürger keine rechtl. Durchsetzungsmöglichkeit bestand. 4. Im -> Grundgesetz sind - nach den Erfahrungen des —> Nationalsozialismus alle Grundrechte subjektive Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat, die gerichtlich - notfalls mit der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG - einklagbar sind. Auf s.G., die weder subjektive Rechte noch detailliert gerichtlich überprüfbar wären, hat das GG verzichtet. Allerdings sind die Grundrechte des GG über die abwehrrechtl. Seite hinaus zugleich Elemente einer objektiven Wertordnung: Wenn das GG bestimmten Gütern den Rang von Grundrechten zuweist, liegt darin ihre Anerkennung als besondere Werte, die der Staat bei seinem gesamten Verhalten berücksichtigen muß. Daher hat aus dieser Funktion der Grundrechte das —> Bundesverfassungsgericht objektiv-rechtl. Verpflichtungen des Staates hergeleitet, die Grundrechte selbst nicht zu beeinträchtigen, sie vor Beeinträchtigungen durch Dritte zu schützen und sie zu fördern. Hieraus ergibt sich i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG die objektiv-rechtl. Verpflichtung des Staates, aktiv für die Verwirklichung der grundrechtl. geschützten Werte in der gesellschaftl. Realität zu sorgen und damit - i.S. s.G. - in den Lebensraum der Bürger hineinzuwirken. Auch die im GG enthaltenen -> Staatszielbestimmungen in Art. 20 (-> Sozialstaat), Art. 20a (-> Umweltschutz), Satz 1 Satzteil 2 der Präambel (Gebote des -> Friedens und der europ. Integration), Art. 109 Abs. 2 (Gebot des gesamtwirtschaftl. Gleichgewichts) verpflichten den Staat als objektives Recht zur Verwirklichung der in ihnen festgelegten Ziele; im Unterschied zu den Grundrechten des GG gewähren sie keine subjektiven Rechte. Staatszielbestimmungen entsprechen damit strukturell den s.G.; da das GG unter Grundrechten nur Rechte versteht, die in ihrer zentralen
Soziale Grundrechte Funktion - anders als die s.G. - vom einzelnen einklagbar sind, wird der Gefahr von Mißverständnissen, enttäuschten Erwartungen und damit Glaubwürdigkeitsverlust der -> Verfassung am besten durch den terminologischen Verzicht auf den Begriff s.G. zugunsten von Staatszielbestimmungen begegnet. Verfassungspolitisch ist die Aufnahme s.G. bzw. Staatszielbestimmungen in das GG seit langem Gegenstand heftiger Diskussion, zuletzt in der —> Gemeinsamen Verfassungskommission. Argumente dagegen sind v.a., das im Vergleich zu anderen Verfassungen (z.B. der WRV, der Länder und anderer Staaten) auf jurist. Durchsetzbarkeit angelegte und als Garant einer demokrat. und rechtsstaatl. Ordnung bewährte GG könne durch Aufnahme praktisch nicht justitiabler polit. Ziele aufgeweicht werden, und die Aufnahme wohlklingender, rechtl. aber nahezu irrelevanter Ziele würde die nötige polit. Umsetzung weder erleichtern noch beschleunigen, sondern sie als Alibi eher verschleiern. Für eine entsprechende Ergänzung des GG wird angeführt, nur eine Verfassung, welche die zentralen Anliegen der -> Gesellschaft widerspiegele, behalte ihre normative Kraft und gewährleiste daher auf Dauer die demokrat.-rechtsstaatl. Ordnung. Im Ergebnis ist eine Aufnahme s.G. als Staatszielbestimmungen in das GG nur dann sinnvoll, wenn sie klar von den Grundrechten als Abwehrrechten und anderen justitiablen Verfassungsbestimmungen abgesetzt werden. 5. Die Verfassungen der -> DDR vom 7.10.1949 und vom 7.10.1968/7.10.1974 enthielten ebenso wie die übrigen Verfassungen der früheren sozialistischen Staatengemeinschaft (-> Sozialismus) s.G., verzichteten allerdings stattdessen auf einklagbare („btlrgerl.") Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber dem Staat. 6. In nahezu allen dt. Landesverfassungen (Ausnahme: Hamb.) fmden sich s.G. oder Staatszielbestimmungen (—> s.a. Landesgrundrechte). Überwiegend sind 819
Soziale Marktwirtschaft dies die Rechte auf Bildung oder Erziehung, auf Arbeit und auf Wohnung, die neben die als Abwehrrechte einklagbaren Grundrechte der jeweiligen Verfassung oder, soweit diese keine eigenen Grundrechte gewährt, des GG treten. 7. Auf internationaler Ebene haben sich in der vom -> Europarat erarbeiteten —• Europäischen Sozialcharta vom 18.10. 1961 inzwischen 19 Staaten (darunter Dtld.) verpflichtet, s.G. als polit. Ziele umzusetzen. Ferner wurde im Rahmen der —> Vereinten Nationen der Pakt über wirtschaftl., soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 abgeschlossen, durch dessen Unterzeichnung bisher 134 Staaten (darunter Dtld.) die Verpflichtung eingegangen sind, umfassende s.G. bei ihrer Politik zu verwirklichen. Lit.: E.-W. Böckenförde /J. Jekewitz / Th. Ramm (Hg.): Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, Heidelberg 1981; J. Limbach: Soziale Staatsziele, in: Für Recht und Staat, FS H. Helmrich, München 1994, S. 279ff.; G. Seidel: Handbuch der Grund- und Menschenrechte auf staatl., europ. und universeller Ebene, Baden-Baden 1996; H.-J. Wipfelder: Die verfassungsrechtl. Kodifizierung sozialer Grundrechte, in: ZRP 1986, S. 140ff.
Nicolai Müller-Bromley Soziale Marktwirtschaft —> Wirtschaft Soziale Randgruppen —> Minderheit Soziale Selbstverwaltung war von den Anfangen an tragendes Prinzip der Organisation der dt. —> Sozialversicherung und in gewissem Umfange vergleichbar der kommunalen -» Selbstverwaltung. Abweichend von anderen Staaten wird die Sozialversicherung in Dtld. nicht durch staatl. —> Behörden, sondern durch eigenständige Verwaltungen mit eigenständiger Rechtspersönlichkeit unter unmittelbarer Beteiligung der Betroffenen durch gewählte Selbstverwaltungsorgane durchgeführt. Lit: D. Leopold: Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, St. Augustin 4 1992.
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Sozialgerichtsbarkeit M.F. Sozialer Rechtsstaat -*• Rechtsstaat -> Sozialstaat Sozialgericht / -e -> Sozialgerichtsbarkeit Sozialgerichtsbarkeit Die S. ist ein besonderer Zweig der —» Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sie ist zuständig für sozialversicherungsrechtl. Streitigkeiten (-> Kranken-, -> Unfall-, -> Rentenversicherung), für die Gebiete der —> Arbeitslosenversicherung und sonstige Tätigkeiten der -> Bundesanstalt für Arbeit, der Kriegsopferversorgung und Streitigkeiten, die das Kassenarzt- und Krankenhausrecht betreffen. Es entscheidet femer aufgrund von Sonderzuweisungen über Streitigkeiten nach dem Soldatenversorgungsgesetz, dem Gesetz über den Bundesgrenzschutz, dem Gesetz über den Zivildienst, dem Bundesseuchengesetz, dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten und dem Kindergeldrecht. Verfahrensgrundlage bildet das Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die S. hat 3 Instanzen ( § 2 SGG): Sozialgerichte, Landessozialgerichte und das Bundessozialgericht. Kammern und Senate sind mit Berufsund Laienrichtern besetzt. In bestimmten Fällen geht der Klage ein Vorverfahren ( - • Widerspruchsverfahren) voraus, in dem Recht- und Zweckmäßigkeit des —> Verwaltungsakts zu prüfen sind (§§ 78ff. SGG). Durch Klage vor den Sozialgerichten kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung, die Gewährung der durch den Verwaltungsakt abgelehnten Leistung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Mit der Klage kann auch auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses, der Zuständigkeit eines bestimmten -> Sozialversicherungsträgers, der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts sowie auf Feststellung, ob eine Gesundheitsstörung oder
Sozialgesetzbuch
Sozialhilfe
Tod die Folge eines Arbeitsunfalls, einer Berufskrankheit oder einer Schädigung i.S. des BVG sind (§ 55 SGG), geklagt werden. Voraussetzung ist ein berechtigtes Interesse des Klägers an der Feststellung (§ 53ÍT. SGG). Überdies ist ausnahmsweise eine einstweilige Verfügung zulässig. Das Verfahren wird von Amts wegen betrieben, der Sachverhalt von Amts wegen erforscht (§ 103SGG). Die Beteiligten können sich in jeder Lage des Verfahrens durch prozeßfähige Bevollmächtigte vertreten lassen. In der mündlichen Verhandlung können die Beteiligten mit Beiständen erscheinen (§ 73 SGG). Vor dem Bundessozialgericht besteht Vertretungszwang. Örtlich zuständig ist grds. das Sozialgericht, in dessen Bezirk der Kläger seinen Wohnsitz oder Sitz hat (Ausnahme z.B. Sitz der Kassenaiztstelle bei Kassenaiztfragen; in anderen Fällen ist auch Sitz des Beschäftigungsortes möglich). Das Verfahren vor den Sozialgerichten aller Instanzen ist kostenfrei, soweit nichts anderes bestimmt ist (§ 183 SGG); nur die -> Körperschaften und -> Anstalten des öffentlichen Rechts müssen für jede Streitsache, an der sie beteiligt sind, eine Gebühr entrichten. Für die Vollstreckung der gerichtlichen Entscheidungen gelten die §§ 705ff. ZPO entsprechend.
dem Bürger keine eigenständigen, subjektiven Ansprüche erwachsen, handelt es sich eher um sozialpolit. Gestaltungsvorstellungen des Gesetzgebers. Rechtsansprüche erwachsen nur aus den Bestimmungen des „ B e s o n d e r e n Teils" des SGB, in welchem die einzelnen Bereiche der Sozialversicherung geregelt werden; diese sind (bisher): Buch 3: —»· Arbeitsförderung (1.1.1998 in Kraft getreten); Buch 4: Gemeinsame Vorschriften für die -> Sozialversicherung (1.7.1977); Buch 5: Gesetzliche -> Krankenversicherung (1.1.1989), Buch 6: Gesetzliche —> Rentenversicherung (1.1.1992); Buch 7: Gesetzliche Unfallversicherung (1.1.1997); Buch 8: Kinder- und Jugendhilfe (1.1.1991, Jugendrecht); Buch 11: Soziale —• Pflegeversicherung (1.4.1995 / 1.7.1996). Das Buch 10 gehört wiederum zum allgemeinen Teil des SGB und regelt die Verwaltungsverfahren für die Behörden, welche für die Ausführung des SGB zuständig sind. Es trat am 1.8.1980 in Kraft. Die Einfügung der Bereiche: —> Kinder- und Eiziehungsgeld, —> Sozialhilfe, Wohngeld, Eingliederung Behinderter und Ausbildungsförderung steht noch aus.
Tiller
Lit.: P. Clausing: Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung. Text und Erläuterungen, Berlin 71991 ; J. Spinnarke: Soziale Sicherheit in der BRD, Heidelberg 51990; D. Wiegand: Das europ. Gemeinschaftsrecht in der Sozialversicherung, St. Augustin 21993. Rabatt Graf von Westphalen
Sozialgesetzbuch Das SGB ist eine noch nicht abgeschlossene vereinheitlichende Zusammenfassung des dt. -» Sozialrechts zu einem Gesetzeswerk (-> Kodifikation). Erste Ansätze zu einem SGB gehen bereits in die 50er Jahre zurück; zum 1.11. 1976 trat der „Allgemeine Teil" des SGB als dessen Buch 1 in Kraft. Er umfaßt in den §§ 2-10 die sozialen Rechte: Bildungs- und Arbeitsförderung, Sozialversicherung, Entschädigung, Familienaufwand, Wohnung, Kinder- und Jugendhilfe, Sozialhilfe und die Eingliederung Behinderter. Da aus diesen „Rechten"
Sozialhilfe Nachrangig nach der generellen Absicherung aller Risiko- und Bedürfnisfälle des Lebens durch die Sozialversicherungs- oder Versorgungsgesetze gilt die S. als letztes Auffangnetz bei individueller Notlage. S. wird nach den Grundsätzen -> Subsidiarität, individuelle Bedürftigkeit und Zumutbarkeit immer dann gewährt, wenn weder eigenes Einkommen, Vermögen oder Unterhalt durch Dritte noch andere (vorgelagerte) staatl. Leistungen einer Person, einem Haushalt bzw. einer —> Familie eine menschenwürdige Lebensgestaltung (Art. 1 GG)
Lit: J. Meyer-Ladewig: München 61998.
Sozialgerichtsgesetz, Claudia
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Sozialhilfe
Sozialismus
ermöglichen (BSHG § 2). Die S. ist seit 1961 bundesgesetzlich verankert. Die S. umfaßt gem. BSHG § 1 1. Hilfe zum Lebensunterhalt (Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Körperpflege, Hausrat und Heizung) und 2. Hilfe in besonderen Lebenslagen (Behinderung und Alter, Aufbau oder Sicherung der Lebensgrundlagen). Auf die Mehrzahl der Leistungen besteht ein Rechtsanspruch. Trotz der knapp bemessenen Leistungen kann die S. vor Armut, Unterversorgung und Verelendung schützen. Andererseits ist der Kreis deijenigen, die trotz Anspruchsberechtigung - aus Scham vor Stigmatisierung, mangelndem Selbstbewußtsein oder Unwissenheit - die S. nicht beantragen, recht groß (ca. 2 Mio. bei 4,5 Mio. Leistungsempfängern). Die örtlichen Träger und Leistungsbehörden sind die —> Landkreise / Kreisfreien —> Städte; für die Aufgabenerfüllung nach BSHG und weitere Dienste (je nach kommunaler Organisation z.B. Familienberatung, Suchtberatung, Schuldnerberatung u.a.m.) sind die Sozialämter zuständig, in Koordination mit den Trägem der Freien —> Wohlfahrtspflege. Die Ausgaben für die S. sind ebenso wie die Zahl der Empfangsberechtigten kontinuierlich Jahr für Jahr angewachsen (von 3 Mrd. DM 1970 auf über 52 Mrd. DM 1995, davon 19 Mrd. DM als Hilfe zum Lebensunterhalt), ein Indiz für die zunehmende Tendenz von Verarmung, Unterversorgung und Ausgrenzung von immer mehr Haushalten; davon sind v.a. Kinder und Jugendliche, Familien mit mehreren Kindern und Alleinerziehende betroffen. Aufgrund der Einführung der 2. Stufe der -> Pflegeversicherung sanken erstmals seit 1963 die Ausgaben für die S. (1996: 49,8 Mrd. DM). Lit: Bundesministerium f . Gesundheit (Hg.): Das Sozialhilferecht, Bonn 1997; A. Brühl: Mein Recht auf Sozialhilfe, München 121995; W. Schellhorn: Das Bundesozialhilfegesetz, Komm., Berlin 1993; J. Schulz (Hg.): Sozialhilfe, Weinheim 1994.
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Sozialismus Der Begriff des S. bezeichnet die Gesamtheit von Theorien und Programmen, die auf die Verwirklichung eines Gesellschaftssystems abzielen, das sich durch —» Gleichheit der Lebenschancen auszeichnet und das im Geist der Solidarität verwurzelt ist: Leitvorstellung ist das zwanglos von allen Menschen bejahte -> Gemeinwohl; die individuellen Interessen werden entweder diesem Gemeinwohl untergeordnet oder aber mit ihm gleichgesetzt. Das Bedeutungsfeld des Begriffs erstreckt sich zudem auf polit. Bewegungen, die auf die Verwirklichung eines solchen Gesellschaftssystems abzielen, wie auch auf das projektierte Gesellschaftssystem selbst: In diesem Sinne ist dann etwa von sozialistischer Agitation und von sozialistischen Staaten die Rede. Der Begriff des S. setzt sich im Laufe des 19. Jhd.s im polit. Vokabular fest. Er bildet den Kristallisationspunkt für den Protest gegen das Massenelend, das sich im Zuge der Industrialisierung ausbreitet. Im Mittelpunkt der sozialistischen Gesellschaftskritik steht die Eigentumsfrage: Der Kapitalismus wird als System der Ausbeutung verurteilt, in dem sich die Besitzenden auf Kosten und zu Lasten der arbeitenden Annen bereichem. Der -> Liberalismus wird als zynische Ideologie angegriffen: Die —> Freiheit sei den Besitzlosen ein Hohn, weil sie den Reichen ausgeliefert sind, solange sie sich an die Spielregeln des Marktes halten. Solidarität tue not, um zunächst einmal die Konkurrenz unter den Besitzlosen abzustellen. Zu den Formen der Solidarisierung gehört der Zusammenschluß in —> Genossenschaften und -> Gewerkschaften wie auch der Zusammenschluß in Arbeiterparteien. Allerdings sind die rechtsstaatl. Rahmenbedingungen für solche Zusammenschlüsse nicht ohne weiteres als gegeben anzusehen: Wo die Solidarisierung durch Polizei und Justiz unterbunden wird, werden konspirative Organisationsformen gewählt. Wo Freiräume für öffentl. Enga-
Sozialismus gement und kollektive Interessenvertretung verfassungsmäßig garantiert sind, treten legale Formen der Solidarisierung in den Vordergrund. Alle Formen des sozialistischen Protestes beruhen auf der These, daß individueller Widerstand zum Scheitern verurteilt, kollektiver Widerstand aber erfolgversprechend sei. Was dabei genau als S. zu gelten hat, ist Gegenstand von Kontroversen, die sich auf 3 Dimensionen erstrecken: Gestritten wird über die Ziele, die Mittel und über die Grundsätze. Hinsichtlich der Ziele ist nach kommunistischen, anarchistischen und demokrat. Varianten zu unterscheiden. Hinsichtlich der Mittel ist nach revolutionären und reformistischen Varianten zu unterscheiden. Hinsichtlich der Grundsätze ist nach religiös-dogmatischen, utopisch-visionären, theoretischtechnokratischen und diskursiv-pragmatischen Varianten zu unterscheiden. Der Kommunismus strebt eine Ordnung an, in der allen Menschen alles gemein ist. Die Machtverhältnisse gelten als Spiegel der Besitzverhältnisse. Wenn es kein Mein und Dein mehr gebe, dann sei die Spaltung der —• Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte hinfällig, es verschwinde die Unterdrückung und jede Benachteiligung; allen Menschen sei die freie und volle Entfaltung ihrer Anlagen möglich. Zentralistische Versionen des Kommunismus zielen darauf ab, die Unterschiede zwischen Reich und Arm auf polit. Wege einzuebnen, wobei der Staat im Zuge der Verwirklichung perfekter sozialer Harmonie als Machtapparat verschwinden und nur mehr als Verwaltungsapparat zur Steuerung von Produktion und Distribution fortbestehen soll. Andere Versionen des Kommunismus zielen auf die Verwirklichung dezentraler Gütergemeinschaften ab und sind darin dem Anarchismus nahe verwandt, für den allerdings nicht die Ökonomie, sondern die Politik den Kern des Übels ausmacht. Im Wortsinn strebt der Anarchismus nach Herrschaftslosigkeit; Vorrang hat von daher die Vernichtung der -> Staatsgewalt:
Sozialismus Die Menschen sollen alle polit. -> Institutionen zerschlagen und sich in kleinen überschaubaren Gemeinschaften spontan reorganisieren. Ein Sanktionsapparat sei nicht nötig, vielmehr verhalte es sich so, daß Polizei und Justiz selbst jene Übel hervorrufen, die sie zu bekämpfen beanspruchen. Angestrebt werden lockere Föderationen, die durch zwanglose Absprachen zusammengehalten werden. Bei diesen Absprachen ist ein Gestaltungsspielraum gegeben, der sowohl die Kollektivierung von —• Eigentum ermöglicht wie auch die individuelle Reproduktion auf eigenem Grund und Boden oder in der eigenen Werkstatt. Da formale Organisation ausgeschlossen und insbes. jede Hierarchisierung entschieden verurteilt wird, sind industrielle Formen der Arbeitsteilung weitgehend ausgeschlossen: Projektiert wird ein Leben in dörflicher Schlichtheit. In Absetzung vom Kommunismus wie vom Anarchismus kristallisieren sich im Laufe des 19. Jhd.s korporative und demokrat. Modelle des S. heraus, die auf die Abmilderung der Klassengegensätze zwischen Reich und Arm abzielen. Korporative Modelle sind auf die Reorganisation der Gesellschaft von oben herab angelegt: Die Besitzenden und Gebildeten sollen nicht nur Almosen geben, sondern durch das schreiende Elend dazu bewegt werden, sich mit den Notleidenden in Vereinigungen zusammenzuschließen, die in einem generalisierten Familiensinn wurzeln. Anders als die korporativen Modelle sind die demokrat. Modelle des S. darauf angelegt, die Gesellschaft von unten herauf zu verändern. Dazu gehört der genossenschaftliche und gewerkschaftliche Zusammenschluß, insbes. aber die Einforderung des allgemeinen und gleichen —> Wahlrechts. Dessen Verwirklichung nämlich gebe der Volksmasse die Mittel an die Hand, durch Wohlfahrtsgesetze ihrem Elend abzuhelfen, ohne die Freiheit und die Selbstverantwortung des einzelnen zu vernichten. Der korporative S. zeichnet sich durch das
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Bestreben aus, die gesellschaftl. Widersprüche gewaltlos abzubauen. Durchsetzungsfahig ist der philantropische Appell allerdings nicht, wiewohl er im Laufe des 19. Jhd.s häufig und im Laufe des 20. Jhd.s gelegentlich wiederholt wird. Auch der demokrat. S. ist auf die Strategie der Reform ausgerichtet, wobei allerdings ein Vorbehalt erhoben werden kann: Die Frage nach dem Recht auf eine polit. Revolution stellt sich dort, wo es keine demokrat. Bedingungen gibt und wo die Herrschenden keine Bereitschaft zeigen, sich auf eine -> Demokratisierung einzulassen. Wo die Kriterien der -> Volkssouveränität erfüllt sind, hat sich die revolutionäre Option für den demokrat. S. erledigt; der Ausgleich ist dann in legaler Form zu verwirklichen. Demgegenüber wird von der Warte sozialrevolutionärer Positionen aus geltend gemacht, daß durch Reformen nur Symptome behandelt würden, der Kem des Problems aber unberührt bleibe, selbst wenn eine demokrat. Verfassung gegeben sei. Das Geld beherrsche die vermeintlich demokrat. -> Presse ebenso wie die vermeintlich demokrat. —> Parteien; zwangsläufig werde das Volk solange manipuliert, wie es auf diese Einrichtungen vertraue. Bei anarchistischen und kommunistischen Konzepten steht der Gedanke im Vordergrund, daß Ausbeutung und Unterdrückung nur mit Gewalt beendet werden können. Für den Anarchismus geht es ganz unmittelbar um die Vernichtung des Staates, bei den meisten Spielarten des Kommunismus dagegen um die Eroberung der Staatsgewalt, damit die Eigentumsverhältnisse per Regierungsdekret eingeebnet werden können. Sowohl beim Kommunismus wie beim Anarchismus gibt es neben aggressiven auch pazifistische Varianten, die auf die Kraft des Wortes bauen. Diese philantropischen Appelle führen, da die Massenwirkung ausbleibt, zu verschiedenen Versuchen, fernab der Zivilisation ein Exempel für die Gerechtigkeit zu statuieren. Die meisten dieser Experimente sind nur von kurzer Dauer, lediglich religiös
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motivierte Gruppen mit rigiden Dogmen sind in der Lage, die Vergemeinschaftung des Besitzes für längere Zeit aufrechtzuerhalten. Ob nun aber gewaltsame oder friedfertige Methoden gewählt werden: Für den Kommunismus wie für den Anarchismus ist durchgängig die totale Umwälzung der bestehenden sozialen Verhältnisse geboten. Wo nicht unterstellt wird, daß der Mensch schon von Natur aus gut sei, wird es zum geschichtl. Auftrag erhoben, den Menschen in ein durch und durch gutes Wesen zu verwandeln. Die egoistische Ausrichtung am individuellen Vorteil und Gewinn gilt in diesem Sinne als histor. Verirrung, deren Sinn allein darin besteht, daß die Menschheit sich in einem schmerzvollen Lernrpozeß selbst perfektioniert. Bei den Grundsätzen des korporativen S. mischen sich religiöse, utopische und pragmatische Elemente zu Programmen, vermittels derer die Gesellschaft als Organismus erneuert werden soll, in den die Individuen fest eingegliedert sind. Demgegenüber rechnet der reformorientierte demokrat. S. mit der Divergenz individueller Interessen. Auch die Solidarisierung speist sich in diesem Sinne zu einem guten Teil aus egoistischen Motiven und nicht aus purem Altruismus. Dementsprechend sollen immer wieder Verbesserungen durch soziale Kompromisse angestrebt werden, ohne daß jemals ein perfekter Endzustand verbürgt wäre. Nach anarchistischer und kommunistischer Auffassung ist diese diskursiv-pragmatische Strategie der Vermittlung als Zeichen moralischer Korruption zu verurteilen: Mit dem Bösen dürfe nicht paktiert werden. Religiös-dogmatische Richtungen beschwören den Archetyp eines glücklichen Urzustands und rufen in diesem Sinne zur Umkehr auf, wohingegen utopisch-visionäre Richtungen futuristisch das Bild eines nie dagewesenen glücklichen Endzustands der Menschheit beschwören; in beiden Fällen wird die Ordnung totaler Harmonie bis ins Detail ausgemalt. Orthodox-technokratische Rich-
Sozialismus tungen lehnen die Rückkehr zum Ursprung wie auch den Entwurf eines zukünftigen Endzustands als naive Phantasterei ab und erheben demgegenüber den Anspruch, aufgrund wissenschaftl. Erkenntnisse den Verlauf der Menschheitsgeschichte bestimmen zu können, so daß sich abstrakte Prinzipien für die Befreiung ergeben, aber keine konkreten Ordnungsvorschriften. Obwohl diesem Theoriestrang ein kritischer wissenschaftl. Impuls zugrundeliegt, hat sich der Wahrheitsanspruch der radikalen Intelligenz in der polit. Umsetzung als zwanghaft und verbohrt erwiesen; die praxisleitenden Annahmen über das Wesen des Menschen und den Gang der Geschichte sind nicht zur Diskussion gestellt, sondern mit inquisitorischen und polizeistaatl. Methoden behauptet worden. Bei der histor. Einordnung des S. sind 5 Phasen zu unterscheiden, wobei die Periodisierung von Überschneidungen nicht frei ist: Die Zeit der utopischen Projekte datiert etwa auf den Zeitraum von der Frz. Revolution 1789 bis zur Mitte des 19. Jhd.s. Für den Versuch, das revolutionäre Frankreich im Zeichen strikter Gleichheit abermals zu revolutionieren, bezahlt G. Babeuf mit seinem Leben. Zu den namhaftesten Verfechtern sozialer Experimente gehören im frühen 19. Jhd. C.H. de Saint-Simon, Ch. Fourier und R. Owen. Bis zum I. Weltkrieg dauert die Phase der Herausbildung der organisierten Arbeiterbewegung. Zu den ersten Wortführern des Anarchismus zählen P.-J. Proudhon und M. Bakunin, zu den Vordenkern eines Kommunismus mit wissenschaftl. Anspruch K. Marx und F. Engels. Gegen Ende des Jhd.s profilieren sich S. und B. Webb als Verfechter eines demokrat. Reformsozialismus, der sowohl in den brit. Gewerkschaften als auch bei der —• Labour Party Anklang findet. Die Herausbildung der organisierten Arbeiterbewegung kulminiert in der russischen Oktoberrevolution 1917 und in der dt. Novemberrevolution 1918. Während erstere zur
Sozialismus Etablierung einer kommunistischen Parteidiktatur führt, zu deren Initiatoren Lenin und Trotzki zählen, mündet letztere in der Etablierung eines instabilen demokrat. Systems. Beide Revolutionen stehen am Anfang der Phase der Spaltung revolutionärer und reformistischer Parteien, die durch das Scheitern des Anarchismus in Spanien markiert wird, wie auch durch den Staatsterror in der Sowjetunion, der mit dem Tode Stalins im Jahre 1953 ein Ende findet. Mit dem Ende des Π. Weltkriegs beginnt die Phase des Ost-WestKonflikts. Die Ineffizienz des bürokratischen Sozialismus und der wachsende bürgerrechtl. Widerstand gegen die Einparteienherrschaft führt in den 80er Jahren in der Ära von M. Gorbatschow zu dem Versuch, die Sowjetunion durch eine Politik des Umbaus und der Öffnung zu modernisieren. Perestroika und Glasnost erlangen indes eine Dynamik, die schließlich von der Staatsgewalt nicht mehr kontrolliert werden kann, so daß es am Ende dieser Phase im Zuge von Bürgerrechtsbewegungen zum Zusammenbruch des bürokratischen S. in Osteuropa kommt. Im Gefolge des Umbruchs sind Bürgerkriege und Putschversuche zu beobachten, in der Mehrzahl der Staaten des Ostblocks geht die Erneuerung jedoch friedlich vonstatten. Als Symbol für diesen Wandel steht die Öffnung der Berliner Mauer im Herbst 1989 (-» DDR Deutsche Einheit). Im Laufe des 20. Jhd.s hat sich die Hoffnung, die Menschen von allem Schlechten und Bösen befreien und ein Reich vollkommenen Glücks herstellen zu können, gründlich erledigt. Der Tenor der Kritik am Anarchismus und am Kommunismus lautet dahin, daß sie sich in praktischen Versuchen teils als nette Illusionen, teils als katastrophale Irrwege erwiesen haben; in der Philosophie mögen sie als Grenzbestimmungen zum Begriff der Gerechtigkeit im Gespräch bleiben, als polit. Strategien der Weltverbesserung seien sie definitiv gescheitert. Die Kritik am korporativen S. konzentriert sich auf den Punkt,
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daß Gesellschaften sich nicht organisch gliedern lassen und daß der Versuch einer solchen Integration um so monströser geraten muß, je weiter die Modernisierung vorangeschritten ist. Sporadisch werden philantropische Reformansätze allerdings in karitativen Einrichtungen aufrechterhalten. Am eindrucksvollsten fällt die Bilanz des demokrat. S. aus, dem auch von Kritikern attestiert wird, daß er in der Ära des Wohlfahrtsstaates eine Reihe von polit. Erfolgen erzielt hat. Am Ende des 20. Jhd.s stellen sich dem demokrat. S. indes neue Überlebensfragen, da die Verteilungsspielräume und die Sicherungsmechanismen des Wohlfahrtsstaates durch die Intensivierung globaler Konkurrenz substantiell angriffen werden. Lit.: W. Euchner (Hg.): Klassiker des Sozialismus, 2 Bde., München 1991; F. Furet: Das Ende der Illusion, München 1996; A. Giddens: Jenseits von Rechts und Links, Frankfùrt/M. 1997; A. Gorz: Und jetzt wohin? Zur Neubestimmung des Sozialismus, Berlin 1991; W. Hofmann: Ideengeschichte der sozialen Bewegung im 19. und 20. Jhd., Berlin ®1979; G. Lichtheim: Kurze Geschichte des Sozialismus, Köln 1972; C. Quesel: Soziale Emanzipation, Frankfurt/M. 1994.
Carsten Quesel Sozialnorm / -en -> Recht Sozialpolitik Man unterscheidet praktische und theoretische (wissenschaftl.) S.; unter praktischer S. versteht man (national-)staatl. Maßnahmen auf dem Gebiet des Arbeitsschutzes, der —> Sozialversicherung, der —* Betriebsverfassung und des sonstigen —> Arbeitsrechts sowie des Arbeitsmarktes. In diesem engeren Sinn wurzelt die S. in der ,»Arbeiterfrage" des 19. Jhd.s.; sie bezieht sich mit ihren Maßnahmen auf Menschen, die als Folge ihrer wirtschaftl. abhängigen Stellung im Kapitalismus besonderen Gefährdungen, Schäden, Benachteiligungen und Notsituationen ausgesetzt sind. Die Ausweitung der Adressaten der S. über den Kreis der abhängig Beschäftigten hinaus hat schon bald zu nicht unproblematischen, weit826
greifenden und unspezifischen Begriffsdefinitionen geführt. Nach verbreiteter Auffassung versteht man heute unter (praktischer) S. die zielgerichtete Verbesserung der wirtschaftl. und sozialen Stellung wirtschaftl. und / oder sozial schwacher Personenmehrheiten durch geeignete Mittel sowie Maßnahmen zur Verhinderung einer derartigen Schwäche. Neben der staatl. ist die betriebliche und die intersowie supranationale S. von Bedeutung. Die theoretische S. ist eine sozialwissenschaftl. Fachdisziplin, welche die praktische S. analysiert. Migration, ->· Globalisierung und die polit, beschleunigte Integration von Wirtschafts- und Sozialräumen haben die nationalstaatl. begrenzte S. frühzeitig als ergänzungsbedürftig erscheinen lassen. Der internationalen S. kam deshalb schon bald ein wachsendes Gewicht zu. Neben internationalen Deklarationen, Sozialrechtsabkommen und den Übereinkommen der —> Internationalen Arbeitsorganisation haben die sozialpolit. Aktivitäten europ. Institutionen an Bedeutung gewonnen. Hervorzuheben sind die sozialpolit. Aktivitäten des - » Europarats, insbes. das Europ. Fürsorgeabkommen von 1953, das Europ. Niederlassungsabkommen von 1955, die -> Europäische Sozialcharta von 1961 und die Europ. Ordnung der Sozialen Sicherheit von 1964. Von einer europ. S. i.e.S. als Teil einer internationalen S. spricht man mit Blick auf die sozialpolit. Aktivitäten der —> Europäischen Gemeinschaften. Diese ergibt sich aus den Sozialvorschriften der Europäischen Gemeinschaftsverträge. Diese Sozialpolitik begleitet den Prozeß der Herausbildung des europ. Binnenmarktes mit seiner Freizügigkeit für Arbeitskräfte. Diese europ. S. ermöglicht die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer. Die S. der Europ. Gemeinschaften berührt aber auch die Gleichstellung von Mann und Frau, den Gesundheits- und Arbeitsschutz. Sie umfaßt einen mehrfach reformierten Europ. Sozialfonds, Maßnahmen zu einer gemeinschaftlichen Beschäftigungspolitik,
Sozialprodukt
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sie berührt Mitbestimmungsfragen, die Bekämpfung der Armut und der Ausgrenzung. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die sozialpolitisch relevante Rechtsprechung des —> Europäischen Gerichtshofs. Als europ. Modell der S. ist 1989 eine Gemeinschaftscharta der —> sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von Staats- bzw. Regierungschefs angenommen worden. Der —> EU-Vertrag hat mit dem angefügten Protokoll über die S. und dem sozialpolit. Abkommen den Spielraum für eine europ. S. erweitert, ohne den Vorrang nationalstaatl. S. in Frage zu stellen. Lit.: Europ. Kommission (Hg.): Soziale Gemeinschaftspolitik, Brüssel 1996; U. Müller / R. Prunzel: Soziales Europa. Das Handbuch der EU-Förderinstrumente, Losebl. Freiburg i. Br. 1995ff.; E. Reidegeld: Staatl. Sozialpolitik in Dtld., Opladen 1996.
Eckart Reidegeld Sozialprodukt 1. Das S. bezeichnet den in —> Geld gemessenen Wert aller in einer Volkswirtschaft innerhalb einer Wirtschaftsperiode, meist ein Jahr, erzeugten Sachgüter und Dienstleistungen, die im gleichen Zeitraum aber nicht im heimischen Produktionsprozeß wieder verbraucht wurden, abzüglich des Imports. Es entspricht dem Inlandsprodukt, vermindert um die von Ausländern im Inland und vermehrt um die von Inländern im Ausland verdienten Einkommen. Das S. gilt als Maßstab für die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft und gemessen in Bezug auf die Größe der Bevölkerung als Indikator des wirtschaftl. Wohlstands. 2. Bei der Ermittlung des S.s geht man nach vom sog. Inländerkonzept aus. Es erfaßt, was von Inländern im In- und Ausland erwirtschaftet wurde. Ob jemand als Inländer zählt, ist dabei nicht von dessen —> Staatsangehörigkeit, sondern von dessen ständigen Wohnsitz abhängig. Das S. kann auf 3 Arten ermittelt werden: a) Entstehungsrechnung: Summe der Beiträge der Wirtschaftssektoren (Land-, Forst- und Fischwirtschaft, Warenprodu-
zierendes Gewerbe, Handel und Verkehr, Dienstleistungsbereiche und Staat) zum Bruttoinlandsprodukt zzgl. Des Saldos der Erwerbs- und Vermögenseinkommen zwischen In- und Ausland; b) Verteilungsrechnung: Bruttoeinkommen aus unselbständiger -> Arbeit zzgl. Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen ergibt das Nettosozialprodukt zu Marktpreisen; c) Verwendungsrechnung: Das Bruttosozialprodukt zu Marktpreisen ergibt sich aus dem privaten Verbrauch (Konsum) zzgl. dem Staatsverbrauch (für zivile Zwecke und Verteidungsaufwand) zzgl. den Investitionen (Ausrüstungs-, Bau-, Vorratsinvestitionen) zzgl. dem Außenbeitrag (Ausfuhr minus Einfuhr). 3. Im Unterschied zum Inländerkonzept erfaßt das Inlandskonzept, dem bei internationalen Vergleichen der Vorzug gegeben wird, was in den räumlichen Grenzen eines Staates von In- und Ausländern erwirtschaftet wird. 4. Zwischen den verschiedenen Inlandsund Inländerkonzeptionen bestehen folgende Zusammenhänge: Das Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen umfaßt die im Inland erbrachte Wirtschaftsleistung. Nach Abzug der Abschreibungen erhält man das Nettoinlandsprodukt zu Marktpreisen. Durch den Abzug des Saldos aus indirekten —> Steuern und —» Subventionen gelangt man zum Nettoinlandsprodukt zu Faktorkosten; dies ist gleichbedeutend mit der inländischen Wertschöpfung und stellt den Wert der Faktoreinkommen dar. Um das Bruttosozialprodukt zu ermitteln, muß das Bruttoinlandsprodukt um die vom Ausland erhaltenen Faktoreinkommen vermehrt und um die an das Ausland geleisteten Faktoreinkommen gemindert werden. Durch Abzug der Abschreibungen ergibt sich das Nettosozialprodukt zu Marktpreisen, nach Abzug des Saldos aus indirekten Steuern und Subventionen erhält man das Nettosozialprodukt zu Faktorkosten. Dies entspricht dem den Inländern zugeflossenen Faktoreinkommen und wird daher auch als Volkseinkommen bezeichnet.
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Sozialrecht
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5. Werden die nominalen Begriffe um die Inflationsrate bereinigt, erhält man die realen Sozial- oder Inlandsprodukte. 6. Einwände gegen die Verwendung des S. als alleinigen Wohlstandsindikator sind: Verteilungsfragen bleiben unbeachtet; öffentl. Güter werden mit ihren Herstellungskosten bewertet und außerdem doppelt gezählt, wenn sie in der Produktion eingesetzt sind; erfaßt werden nur Markt-Leistungen, nicht die Schattenwirtschaft oder die Leistungen in den privaten Haushalten; Arbeitszeit und Freizeit bleiben unbeachtet; Wohlstandsverluste durch Umweltverschmutzung und Lärm werden nicht berücksichtigt; werden solche Schäden beseitigt, steigt das S.; Verringerungen des Wohlstandspotentials künftiger Generationen bsp. durch Abbau natürlicher Ressourcen sind unberücksichtigt; das S. enthält keine sozialen oder polit. Faktoren (soziale Sicherheit, Freiheit). Lit.: L. Hühl: Wirtschaftskreislauf und Gesamtwirtschaftl. Rechnungswesen, in: D. Bender u.a. (Hg.), Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik I, München 1995, S. 49ffi; U.-P. Reich / A. Braakmann: Das Sozialprodukt einer Volkswirtschaft, Stuttgart 1995; A. Stobbe: Volkswirtschaftl. Rechnungswesen, Berlin 1994.
Thomas Fehrmann Sozialrecht Die Frage, welche Rechtsgebiete zum S. zählen und wodurch sich diese Rechtsgebiete auszeichnen, ist strittig. Das -> Grundgesetz und die übrige Rechtsordnung der BRD kennen keinen feststehenden Begriff des S.s. Die Wissenschaft hat verschiedene Definitionsansätze herausgearbeitet, daneben stehen unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen im polit.-alltäglichen Sprachgebrauch. Die Mehrdeutigkeit des Wortbestandteils „sozial" hat zur Verwirrung beigetragen. So findet sich die Begriffsbildung „soziales Recht" und die Vorstellung, dieses Rechtsgebiet zeichne sich v.a. durch seinen Wertbezug aus. Gleichzeitig verweist „sozial" jedoch auch auf den Regelungsgegenstand dieses Rechtsge-
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biets, die - » Gesellschaft. Der Bezugspunkt ist, da sich der Begriff S., abgesehen von einigen Vorläufern, erst zu Beginn des 20. Jhd.s verallgemeinert, zweifellos die moderne kapitalistische Industriegesellschaft. Das S. war zu dieser Zeit an gesellschaftl. Problemlagen und Spannungen orientiert, die als die „soziale Frage" i.S. der Arbeiter-, später auch der Angestelltenfrage auf die weltgeschichtl. Bühne getreten waren. Diese Zuordnung schien bis in die —> Weimarer Republik als tragfähig. Sie führte dazu, daß vieles, was heute nach gängigem Verständnis unter Sozial- und Arbeitsrecht rubriziert wird, damals umfassend als - > Arbeitsrecht bezeichnet wurde. Dazu zählten Rechtsnormen, die den Arbeitsvertrag, die Betriebsverfassung, die Arbeitszeit, den Arbeitsschutz, die Schlichtung, die Arbeitsvermittlung, die Arbeiterversicherung usw. regelten. Darüber hinaus galt es von vornherein als Mittel der —» Sozialpolitik. Es sollte durch die schrittweise Verbesserung der Arbeitssituation, durch die Hebung der Lebenslage und durch die Hegung von Konflikten in der industriellen Arbeitswelt die -> Legitimität der polit. Ordnung festigen und zur Stabilität der —> Gesellschaft beitragen. Nach einer wechselvollen Geschichte, nach dem schweren Mißbrauch des S.s durch den —> Nationalsozialismus, hat sich die S.smaterie insbes. während der Jahre der wirtschaftl. Posperität und Vollbeschäftigung in der -> Bundesrepublik Deutschland differenziert und ausgeweitet. In Fortsetzung eines weit zurückreichenden Trends wurden neue soziale Schichten und Gruppen angesprochen, neue Sozialversicherungspflichten und möglichkeiten geschaffen, neue „Risiken" formuliert, neue Leistungsgründe und Leistungen eingeführt und alte modifiziert, neue -> Institutionen gebildet oder bestehende umgeformt. Das alles stellt die Rechtswissenschaft vor Schwierigkeiten der Begriffsbildung. Trotz der Tatsache, daß der Bezug des S.s zur Lohn- bzw. Erwerbsarbeit und damit zur Arbeitsgesell-
Sozialrecht schaft dominant geblieben ist, erscheint dieser Bezugspunkt, der auf die histor. „soziale Frage" verweist, heute vielen als zu eng. In dieser Situation entspricht es einem pragmatischen Vorgehen, unter Ausscheidung des Gebietes, das heute als Arbeitsrecht bezeichnet wird, alles das als S. zu bezeichnen, was Bestandteil des Sozialgesetzbuches, der umfassenden S.skodifikation der BRD ist bzw. werden soll. So gesehen zählen zum S.: das SGB I - Allgemeiner Teil, das SGB HI —> Arbeitsförderung, das SGB IV Gemeinsame Vorschriften für die —> Sozialversicherung, das SGB V -» Krankenversicherung, das SGB VI -> Rentenversicherung, das SGB VII —> Unfallversicherung, das SGB Vm - Kinder- und -> Jugendhilfe, das SGB X Verwaltungsverfahren usw. und das SGB XI Soziale —> Pflegeversicherung. Bis zu ihrer Integration in das SGB gelten folgenden Gesetze als besondere Teile des Gesetzbuches: -> Bundesausbildungsförderungsgesetz, Schwerbehindertengesetz, Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte, Gesetz über die Krankenversicherung der Landwirte, Bundesversorgungsgesetz, Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung, Bundeskindergeldgesetz (—• Kindergeld), Wohngeldgesetz und Wohngeldsondergesetz (-> Wohngeld), Bundessozialhilfegesetz (-> Sozialhilfe), Adoptionsvermittlungsgesetz, Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation, Unterhaltsvorschußgesetz, Vorruhestandsgesetz und der Erste Abschn. des Bundeserziehungsgeldgesetzes. Eine solche Delegation der Begriffs- und Gegenstandsbestimmung an den Gesetzgeber kann nicht zufriedenstellen. Ein umfassender S.sbegriff, wie er sich im SGB andeutet, läßt sich gewinnen, wenn man als S. den öffentl.-rechtl. Nonnbereich begreift, der sich auf die Bewältigung von „Notlagen" bezieht, die sich aus bestimmten Lebenssituationen ergeben. Im Zuge eines polit.-administrativen Aushandlungs- und Konfliktgeschehens werden jene „Notlagen" jurist, umschrieben,
Sozialrecht deren Bewältigung in Form von Selbstund Familienhilfe nicht oder nicht vollständig zugemutet wird bzw. bei fehlenden Fähigkeiten und Hilfsmitteln nicht zugemutet werden kann. Für den Fall des Vorliegens oder des Eintritts solcher schutzbedürftiger Lebenslagen und -Situationen wie Krankheit, Mutterschaft, Arbeitslosigkeit, Armut, Alter, Invalidität, Unfälle, Berufskrankheiten, Familienlasten, Behinderung, Tod des Familienernährers, Ausfall des Unterhaltspflichtigen, mangelnden Handlungskompetenzen usw. sichert das S. ein Geld-, Dienst- und Sachleistungsangebot, das in histor. unterschiedlichen Formen und Ausmaßen dem Ausgleich und der Behebung dieser Notlagen dient. Hinzu tritt die Aufgabe, den Eintritt dieser Notlagen präventiv zu vermeiden. Diese Inhalts- und Umfangsbestimmung des S.s umfaßt jene Normbereiche, die in der Armen-, Arbeiter- und Angestelltenfrage wurzeln. Sie geht aber auch über diese hinaus und trägt der säkularen Ausdehnung der Adressatenkreise etwa in die Bereiche der selbständigen Arbeit hinein Rechnung. Im Gegensatz zum Sprachgebrauch in bestimmten europ. Ländern und zu internationalen S.sdeklarationen bleibt v.a. das Arbeitsrecht ausgeklammert. Das S. verpflichtet die Sozialleistungsträger typischerweise zu erheblichen finanziellen Aufwendungen. Es steht damit im Gegensatz zu anderen Rechtsgebieten, die einen vergleichbaren finanziellen Aufwand nicht erfordern. Diese Ressourcenabhängigkeit zahlreicher Gebiete des S.s führt unter bestimmten Bedingungen (v.a. in der Wirtschaftskrise, bei hoher -» Arbeitslosigkeit, bei -> Staatsverschuldung, erheblicher Kostensteigerung für Sach- und Dienstleistungen) zu einer extremen Schnellebigkeit und konflikthaften Politisierung der Substanz der entsprechenden Rechtsnormen mit der Folge der Leistungseinschränkung. Bei der großen Bedeutung des S.s für die Lebenslage der Bevölkerung können daraus Probleme der Legitimität und Stabilität der beste-
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Sozialstaat henden Ordnung erwachsen. Bedingt durch internationale Verflechtungen und Integrationsvorgänge läßt sich eine Intemationalisierung bzw. Europäisierung der S.sordnung beobachten. Dementsprechend zählen z.B. auch die S.sabkommen, die Übereinkommen der -> Internationalen Arbeitsorganisation und des -» Europarats sowie die einschlägigen Bestimmungen des —> Europäischen Gemeinschaftsrechts zum S., das von der BRD beachtet werden muß. Diese Quellen des S.s bilden eine wichtige Grundlage der internationalen Sozialpolitik. Lit.: W. Bake: Die sozialpolit. Kompetenzen der EU, Baden-Baden 1994; H. Bley: Sozialrecht, Frankfurt/M. T1993; W. Gitter: Sozialrecht, Mün-
chen "1996; B. Baron v. Maydell / F. Ruland (Hg.): Sozialrechtshandbuch (SRH), Neuwied 1996.
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Eckart Reidegeld Sozialstaat / -sprinzip Der Begriff S. wird nicht immer vom Begriff -> Wohlfahrtsstaat geschieden. Er zeichnet sich in der Diskussion der BRD durch einen verfassungsrechtl. und einen sozialpolit. Bezugspunkt aus. Das —> Grundgesetz bezeichnet in Art. 20 die -> Bundesrepublik Deutschland als einen „demokrat. und sozialen —> Bundesstaat", und Art. 28 bestimmt, daß die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des „republikanischen, demokrat. und sozialen —• Rechtsstaates i.S. dieses GG" entsprechen muß. Verpflichtungen zu sozialstaatl. Aktivitäten finden sich auch in den —> Länderverfassungen. S.sklauseln bzw. soziale -> Staatsziele sind zudem in den Verfassungen zahlreicher europ. und außereurop. Staaten enthalten. Am Ende einer langen Tradition sozialpolit. bzw. sozialstaatl. Denkens stehend, die vom Staatsdenken des kontinentaleurop. Absolutismus über bürgerl. und christl. sowie sozialdemokratisch-gewerkschaftsgeprägte Ansätze fuhrt, waren es nach der Katastrophe des —> Nationalsozialismus verschiedene Schulen der Ver830
fassungsanalyse bzw. -lehre, die die Bedeutung des S.sprinzips recht unterschiedlich interpretierten. Für die Verfassungsanalyse, die der Gesellschaftskritik und Arbeiterbewegung nahestand (vertreten z.B. durch W. Abendroth), beinhaltete das verfassungsrechtl. S.sprinzip der BRD eine Verpflichtung zu tiefgreifender aktivreformerischer Umgestaltung der Sozialund Wirtschaftsordnung in Richtung auf sozialistische Positionen und Institutionen. Die konservative Staatslehre hingegen (vertreten etwa durch E. Forsthoff) wertete die Bedeutung des S. sprinzip ab und betonte die Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips des GG und seinen Vorrang. In unterschiedlichem Ausmaß losgelöst vom verfassungsrechtl. Bezugspunkt und der verfassungsrechtl. Diktion versteht man unter dem S. auch schlicht den —> Sozialpolitik betreibenden —> Staat. Dieser S. beschränkt sich nicht mehr, wie der liberale Rechtsstaat, vorwiegend auf die Garantie des —• Eigentums, der formalen Freiheit und —» Gleichheit, die Gewährleistung der inneren Ordnimg als Voraussetzung für den freien Wirtschaftsverkehr. Er ist auch keine Antwort auf den absolutistischen Obrigkeitsstaat. Der S. reagiert vielmehr auf die Folgen der polit, und sozialen Umwälzungen, welche die kapitalistische Industriegesellschaft prägen. Es ist ein Staatstyp, der zusätzlich zu den klassischen Aufgabenfeldem seine Tätigkeit auf die polit. Beeinflussung des Sozialen gerichtet hat. In enger Abhängigkeit vom sozialökonom. Krisen- und Entwicklungsprozeß und von den jeweils durchsetzungsfähigsten Interessen, hat er —> Politik, —> Recht, Rechtsprechung und Verwaltung in den Dienst der Gestaltung des Sozialen gestellt. Der S. ist eine Negation des Glaubens an die Funktionstüchtigkeit der Selbstregulierungsmechanismen von —» Wirtschaft und —» Gesellschaft. Von Anfang an ist die Ausbildung des S.s mit weitreichenden polit. Zielen verbunden. Die Erringung und Erhaltung von Massenloyalität, die Beeinflussung
Sozialstaat des Wahl- und Organisationsverhaltens, die Erzeugung von Durchhaltewillen und polit. Akzeptanz stehen - neben anderen Motiven und Interessen - an der Wiege des S.s und begleiten seinen Weg. Die polit. Bedeutung des S.s ist auch in den Wirtschafts-, Sozial- und S.skrisen zu erkennen, wenn Maßnahmen des Ab- und Umbaues des S.s so gestaltet, benannt und begründet werden, daß der polit. Schaden, insbes. die Abwendung von den verantwortlichen polit. Kräften, möglichst gering bleiben soll. Die Arbeiterversicherungspolitik unter Reichskanzler O. Fürst von Bismarck gilt als die eigentliche Geburtsstunde des nationalen dt. S.s. Ein rechts- und sozialpolit. Konflikt um das spektakuläre Unfallgeschehen in der Industrie stand am Anfang. Dieser sollte nach Bismarck's Willen durch eine -> Unfallversicherung gelöst werden. Die konkreten Verhandlungen im polit.-administrativen Apparat des Kaiserreichs (—• Deutsches Reich 18711918) führten allerdings dazu, daß 1883 zunächst das Krankenversicherungsgesetz, 1884 das Unfallversicherungsgesetz und 1889 das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz verabschiedet wurden. Gegenüber dieser Sozialversicherungsgesetzgebung hatten es andere Formen der sich aus der Armenpflege abhebenden Arbeiterpolitik im Kaiserreich bedeutend schwerer. Der Arbeiterschutz entwickelte sich nur mühsam weiter, die staatl. Regelung der —• Betriebsverfassung kam nicht über Ansätze hinaus, die staatl. Anerkennung und die Gestaltung eines Einflußbereichs für die damals weithin verhaßten -> Gewerkschaften unterblieb. Erst als sich der Obrigkeitsstaat im I. Weltkrieg dazu durchrang, zur Erhaltung der Massenloyalität und zur Instrumentalisierung der Arbeiterbewegung sozialpolit. Konzessionen zu machen, kam es zu einer neuen Etappe der S.sentwicklung, die sich in der —> Weimarer Republik fortsetzte. Die Gewerkschaften und ihre Tätigkeit wurden anerkannt, die Arbeitszeit wurde zunächst drastisch verkürzt.
Sozialstaat 1920 wurde das Betriebsrätegesetz verabschiedet, der Kündigungsschutz für - » Angestellte wurde ausgebaut. 1927 wurde die Arbeitsvermittlung und —> Arbeitslosenversicherung reichseinheitlich gestaltet. Das Schlichtungswesen erfuhr ebenso seine Regelung wie der —> Tarifvertrag. Der Wohnungsbau wurde zu einem Gegenstand sozialstaatl. Intervention. Die -> Arbeitsgerichtsbarkeit wurde eingeführt, das Fürsorge- und Versorgungswesen ausgestaltet. Der Weimarer S., der in umfassender und detaillierter Weise in der —• Weimarer Reichsverfassung von 1919 verankert war, wurde im hohen Maße davon geprägt, daß ihm stabile sozialökonom. Fundamente fehlten. War es zunächst die Inflation, welche die Geldleistungen entwertete, so war es nach einer kurzen Phase der Stabilisierung die auch Dtld. erfassende Weltwirtschaftskrise, die seine Fundamente zerstörte. Der „S." des NS-Regimes (—> Nationalsozialismus) vernichtete jede Mitwirkung der Arbeiterbewegung am S., strukturierte die Arbeitsverfassung im autoritären Sinne um, grenzte Personen aus dem Leistungsbezug aus oder verringerte ihre Sozialleistungen, wenn sie aus polit, und rassistischen Gründen diskriminiert werden sollten. Die Arbeitsverwaltung wurde zu einem Instrument der Arbeitskräftelenkung und rücksichtslosen Arbeitskräftebeschaffiing umgeformt. Arbeitsbeschaffung und Zwangsarbeitsdienst standen am Anfang des Weges von der Massenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise zur aufrüstungs- und kriegsbedingten Arbeitskräfteknappheit. Tiefgreifende Umstrukturierungen, Diskriminierungen und Mißbrauch für Zwecke der Kriegsführung, menschenverachtende Medizinverbrechen und staats- bzw. rassepolitisch begründete Leistungsverbesserungen und Versprechungen, eine ebenso begründete Bevölkerungspolitik und ein ideologischdemagogischer Arbeiterkult prägten das Gesamterscheinungsbild der NS-Sozialpolitik in seinen Grundzügen bis 1945. Auseinandersetzungen um die zukünftige
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Sozialstaat Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die Entnazifizierung der Sozialpolitik, Fragen des sozialpolit. Umgangs mit Kriegsschäden und-'Kriegsfolgen standen in den ersten Nachkriegsjahren im Vordergrund. Alsbald wurde die Selbstverwaltung in der - » Sozialversicherung wiederhergestellt, wurden Mitbestimmungsgesetze verabschiedet, die Tarifautonomie und das Arbeitskampfrecht wurden nach dem Vorbild der Weimarer Republik ausgestaltet. Erneut erhielten die Gewerkschaften auf diese Weise die Möglichkeit der Mitgestaltung der Sozialpolitik und der Entlohnungs- und Beschäftigungsbedingungen. Unter vorübergehend einmalig günstigen polit, und sozialökonom. Rahmenbedingungen (Vollbeschäftigung, rasch steigende Löhne und Gehälter, hohes und relativ störungsfreies Wirtschaftswachstum, Parteienkonkurrenz, Ost-West-Gegensatz) begann, an Formen und Erfahrungen der Weimarer Republik anknüpfend, in der BRD ein durchgreifender Auf- und Ausbau des S.s. Manche Gebiete der Sozialpolitik wurden, soweit dies nicht bereits geschehen war, vom engeren Bezug zur Arbeiter- bzw. Angestelltenfrage gelöst. Neue soziale Gruppen und Schichten wurden in den S. einbezogen. 1957 wurden Geldleistungen der Sozialversicherung erstmals dynamisiert. Die Arbeitsmarktpolitik erhielt 1969 mit dem —> Arbeitsförderungsgesetz eine neue Grundlage. Der Gesamtbereich der Fürsorge erfuhr 1961 eine Weiterentwicklung. Von 1945 bis 1989/90 zeigte das Beispiel der SBZ bzw. DDR, daß auch der real existierende Sozialismus ohne die Ausformung eines umfassenden S.s nicht auskam und unter anderen Systembedingungen teilw. andersgeartete Formen entwickelte. In der BRD zerfielen ab 1974 die für die Entwicklung des S.s günstigen Rahmenbedingungen. Konsolidierungen, Kürzungen und Erhöhungen der Sozialbeiträge rückten in den Vordergrund. Dennoch sind auch während dieser Entwicklungsphase einige Leistungsverbesserungen zu 832
Sozialstaat beachten (z.B. Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung, vorübergehender Ausbau der Arbeitsmarktpolitik, Einführung einer flexiblen Altersgrenze). In den 1990er Jahren verschlechtern Massenarbeitslosigkeit, die sozialen und finanziellen Folgen der —> Deutschen Einheit, der sich verändernde Bevölkerungsaufbau, geringere Wachstumsraten, geringe Lohnzuwächse, Kostensteigerungen bei den Leistungserbringern, ein strikter Sparkurs der öffentl. Hände, bedeutende Verschiebungen der polit. Kräfteverhältnisse und weitere Faktoren die Realität und Entwicklungsperspektive des S.s. Der S. hat sich in einem konflikthaften Prozeß herausgebildet und gehört seit Anbeginn zu den umstrittensten Erscheinungen des polit. Lebens. In der BRD kritisieren wirtschaftsliberale und konservative Kräfte v.a. seine Expansionstendenz, die Anspruchsinflation, die Kostenbelastung der Unternehmen, die Außerkraftsetzung von (Arbeits-) Marktmechanismen durch starre Regelungen und hohe Sozialleistungen, die „freiheitsberaubende" Tendenz, die Zerstörung des Leistungswillens und der Selbstverantwortung, die Anreize zu mißbräuchlicher Inanspruchnahme, den Mißbrauch im Parteienwettbewerb, die sozialstaatsbedingte Staatsverschuldung. Facettenreich ist die Kritik aus sozialwissenschaftl. Sichtweise an der Professionalisierung, Verrechtlichung, Bürokratisierung, Monetarisierung, an Prozessen der Ausgrenzung und Verarmung trotz ausgebauten S.s, an seiner Orientierung an der Arbeitsgesellschaft, die u.a. an der Lebenssituation der Frau vorbeigehe, ökologisch-alternative und teilw. auch wirtschaftsliberale Kräfte sehen in der derzeitigen S.skrise die Chance zu einem Umbau in Richtung Grundsicherung. Die Befürworter des S.s, zu denen insbes. die Gewerkschaften zählen, betonen die grundgesetzliche Verankerung des S.s, seine Bedeutung für die Sicherung von realer Freiheit und von -» Menschenwürde. Sie heben seinen Stel-
Sozialverbände
Sozialstaatsprinzip lenwert filr die Erhaltung des sozialen Friedens und der polit. Stabilität hervor, betonen seine Funktionsnotwendigkeit im Kapitalismus und seine produktivitätssteigemde Wirkung. Der Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat ist insbes. aus politikwissenschaftl. und histor. Sicht Gegenstand vergleichender Analysen geworden. Dabei sind die Bedingungen für die Entstehung, Ausformung und Entwicklung des S.s analysiert worden. Es fehlt auch nicht an Versuchen, die S.en verschiedener Länder nach bestimmten Merkmalen zu klassifizieren. Der dt. und andere S.en kennen von Anfang an erhebliche sog. Auslandsberührungen. Sie haben dieser Tatsache durch eine Internationalisierung bzw. Europäisierung der sozialstaatl. Ordnungen Rechnung getragen. Das Schwergewicht der Ausgestaltung des S.s liegt allerdings weiterhin auf der Ebene der Nationalstaaten. Lit: G. Bäcker u.a.: Sozialpolitik und soziale Lage in der BRD. 2 Bde., Köln 21989; H.-H. Hartwich: Sozialstaatspostulat und gesellschaftl. status quo, Opladen 3 1978; H. Lampert: Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin 2 1991; D. Merten / R. Pitschas: Der europ. Sozialstaat und seine Institutionen, Berlin 1993; M Opielka (Hg.): Die ökosoziale Frage, Frankfurt/M. 1985; O. Schulz: Maastricht und die Grundlagen einer Europ. Sozialpolitik, Köln 1996.
Eckart Reidegeld Sozialstaatsprinzip -> Sozialstaat Sozialstruktur des Deutschen Bundestages —> Parlamentarische Sozialstruktur Sozialverbände Bezeichnung für eine Sonderform von -> Verbänden in den sozialpolit. Aufgabenfeldern, die soziale Hilfen auf freier oder freigemeinnütziger Grundlage in organisierter Form leisten, sich darin von den öffentl. Trägern unterscheiden, aber auch nicht auf gewerbliche Gewinnerzielung ausgerichtet sind. In - * Medien und Wissenschaft wird der Begriff z.T. 1.) nur für Reichsbund und VDK
(mit 2 Mio. Mitgliedern die beiden dominanten Verbände von Wehr- und Kriegsdienstopfern, Sozialrentnern, Behinderten und Hinterbliebenen) verwendet, z.T. 2.) erweitert um Behindertenorganisationen wie Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL), Vereinigung Integrationsförderung (VIF) und Lebenshilfe, 3.) generell aber auch als Synonym für die Gesamtheit aller Wohlfahrtsverbände, die Spitzenverbände der Freien -> Wohlfahrtspflege (AWO, DCV, DW, DRK, DPWV, ZWST) eingeschlossen. Wie in anderen westlichen Industrieländern mit gemischt-konfessioneller Struktur sind diese privat-freigemeinnützigen Organisationen in Dtld. ein gewichtiger Faktor in —> Sozialpolitik und —> Wohlfahrtspflege, v.a. in kinder-, jugend- und familienpolit. Aufgabenbereichen, bei der Pflege älterer Personen und Behinderter sowie bei Beratung, Betreuung und Fürsorge für sozial schwache Gruppen (Migranten, Obdachlose). Im Unterschied zu anderen Staaten haben die Träger der Freien Wohlfahrtspflege in Dtld. einen gesetzlich abgesicherten Vorrangstatus vor öffentl. Trägern, sind staatl. besonders legitimiert und privilegiert (KJHG, BSHG): Das Prinzip der Subsidiarität begründet gegenüber der öffentl. Wohlfahrtspflege einen bedingten Vorrang der freien Träger. Diese stehen 1.) jenseits der rein informellen Sphäre von -> Familie und Nachbarschaft und 2.) intermediär im Schnittfeld der beiden gegensätzlichen Sphären von —> Staat (gesetzliche Aufgaben, aber nicht als Handlungsverpflichtung) und Markt (Freiwilligkeit, aber ohne das Handlungsmotiv Profiterzielung). Nach rechtl. Status sind sie private Institutionen, nehmen aber öffentl. Aufgaben wahr. Sie sind so in das System der sozialstaatl. Leistungsgewährung eingebunden und hochgradig staatl. alimentiert - man spricht bei vergleichbaren Vereinigungen im anglo-amerik. Raum von „voluntary / non-profit organizations" und dem „independent / third sector". Aufgrund ihrer freiwilligen Erbringung auch
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Sozialversicherung
Sozialversicherungsträger
gesetzlicher Dienste und Leistungen - bis hin zu einer fast monopolartigen Stellung in einzelnen Leistungsbereichen bzw. Regionen - und ihres Einsatzes in Sozialbereichen, die staatl. nicht normiert sind, sind sie ein herausragender gesellschaftl. Machtfaktor bei der Mitgestaltung der Sozialpolitik, mit erheblichem Einfluß auf Gesetzgebung, Implementation und soziale Entwicklung. Von den -> Interessenverbänden i.e.S. unterscheidet sie ferner, daß sie - neben ihrem öffentl. Status in Trägerschaft staatl. Aufgaben - insbes. für solche Klientelgruppen advokatorische Interessenvertretung organisieren, deren Belange aufgrund von sozialer Benachteiligung, Unterversorgung oder Ausgrenzung unberücksichtigt bleiben (fehlende Organisations- und Konfliktfähigkeit). Allein die Gruppe der 6 Spitzenverbände unter den S. stellt mit der Freien Wohlfahrtspflege nach dem Staat den zweitgrößten Arbeitgeber dar: Ober 1 Mio. Mitarbeiter (zuletzt: 1,12 Mio., davon 723.765 vollzeitbeschäftigt) in 91.200 Einrichtungen mit 3,2 Mio. Plätzen / Betten. Sie stellt die größte Zahl der Plätze für den Zivildienst (-> Kriegsdienstverweigerung) bereit und motiviert schätzungsweise 2,5 bis 3 Mio. ehrenamtliche Mitarbeiter (—> ehrenamtliche Tätigkeit). Lit: Κ.-H. Boeßenecker: Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in der BRD, Münster 1995; Gesamtstatistik der Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege, Bonn 1997; J. Schmid: Wohlfahrtsverbände in modernen Wohlfahrtsstaaten, Opladen 1996.
Gerhard Kral Sozialversicherung Die gesetzliche SV basiert auf der Notwendigkeit, weite Bevölkerungsteile gegen Nachteile großer Lebensrisiken zu sichern. Die SV soll subsidiar eingreifen (—> Subsidiarität), wenn trotz Eigenverantwortlichkeit eine individuelle Absicherung nicht möglich ist. Die Unterstützung sozial Schwacher erfolgt dabei solidarisch durch sozial Stärkere. Es erfolgt somit keine am indi834
viduellen Risiko orientierte privatwirtschaftl. Versicherung. Die Zweige der SV sind die gesetzliche —> Krankenversicherung, die —» Arbeitslosenversicherung, die -> Rentenversicherung (RV) und die —> Unfallversicherung (UV). Seit 1995 ist die -> Pflegeversicherung hinzugekommen. Ausgenommen der UV zahlen sowohl Arbeitgeber als auch -nehmer Beiträge an die Träger der SV. Die Beiträge berechnen sich nach dem Einkommen der Versicherten, wobei sie unterhalb einer Geringverdienergrenze entfallen. Für Einkommen oberhalb einer Beitragsbemessungsgrenze sind keine Beiträge zu entrichten. Beide Beitragsgrenzen werden jährlich nach Ost- und Westdtld. getrennt festgesetzt. Neben Beitragseinnahmen erhalten einige SV-Zweige wie die RV staatl. Zuschüsse. Innerhalb der 2 Beitragsgrenzen besteht eine Verpflichtung zur Mitgliedschaft. Bei Personen mit einem Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze kann je nach Regelung der einzelnen SV-Zweige eine Mitgliedschaft freiwillig möglich sein. Weiterhin besteht dann die Option einer privaten Absicherung. Den Beiträgen stehen Leistungen im Bedarfsfall gegenüber, z.B. ärztliche Versorgung im Krankheitsfall für entsprechend Versicherte. Die Träger der SV sind meist selbständige -> Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie sind im Rahmen der Selbstverwaltung, bestehend i.d.R. aus Vertreterversammlung und Vorstand bzw. Verwaltungsrat, eigenständig tätig. Staatl. Aufsichtsbehörden kontrollieren aber die Selbstverwaltung. Lit: Bundesministerium för Arbeit und Sozialordnung (Hg.): Obersicht über das Sozialrecht, Bonn 41997; J. Frerich: Sozialpolitik, München '1996.
Raimund Weiland Sozialversicherungssystem -> Sozialversicherung Sozialversicherungsträger sind Institutionen zur Durchführung der Kranken-,
Sozialversicherungswahlen -> Pflege-, -> Unfall- und —» Rentenversicherung. Nach § 29 Abs. 1 SGB VI sind sie rechtsfähige —» Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung (—> Soziale Selbstverwaltung). Aufgrund des für die -» Sozialversicherung konstitutiven Eigenverantwortlichkeitsprinzips beschränkt sich die Aufsichtstätigkeit des Staats grds. auf die Rechtskontrolle (§ 87 Abs. 1 SGB VI), wobei es allerdings Ausnahmen vom Grundsatz der -> Rechtsaufsicht gibt. Die Zuständigkeit der staatl. Aufsichtsbehörden richtet sich nach dem Territorialprinzip. Entsprechend wird zwischen bundes- und landesunmittelbaren Versicherungsträgern unterschieden. Unter ersteren werden jene Versicherungsträger verstanden, deren Zuständigkeit sich über das Gebiet eines Landes erstreckt. Ihre Beaufsichtigung obliegt dem -> Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen, ausgenommen die Gebiete der Unfallverhütung und der Ersten Hilfe bei Unfällen, die der Aufsicht durch das —> Bundesministerium für Arbeit unterliegen. (§§ 87, 90 Abs. 1 SGB VI, Art. 87 Abs. 2 GG). Die staatl. Aufsicht über die landesunmittelbaren Versicherungsträger obliegt den Arbeitsministern und Senatoren als den für die Sozialversicherung zuständigen obersten -> Verwaltungsbehörden. Durch Neufassung des Art. 87 Abs. 2 GG können auch soziale Versicherungsträger, deren Zuständigkeit sich über das Gebiet eines Landes, aber nicht über mehr als 3 Länder hinaus erstreckt, als landesunmittelbare Körperschaften geführt werden, wenn sich die beteiligten Länder über das aufsichtsführende Land verständigen. 1997 gab es rd. 340 bundesunmittelbare S. Lit.: M. Hein: Die Verbände der Sozialversicherungsträger in der BRD, München 1990.
Martin Frey Sozialversicherungswahlen Bezeichnung für die Wahlen der im allgemeinen paritätisch (Ausnahmen: Ersatzkassen, Landwirtschaft!. Unfallversicherung, Knappschaftsversicherung) von Versicherten-
Spanien und Arbeitgebervertretem besetzten Selbstverwaltungsorgane, der Versichertenältesten und Vertrauensmänner bei den Trägern der -> Sozialversicherung. Die alle 6 Jahre stattfindenen Wahlen sind frei und geheim und werden nach den Grundsätzen des -> Verhälniswahlrechts durchgeführt, wobei —> Arbeitgeber und Versicherte die Vertreter ihrer Gruppe getrennt wählen. Wahlberechtigt sind über 16 Jahre alte Versicherte, Arbeitgeber und Rentner. Gewählt wird ausschließlich mittels Briefwahl. Die über Listen zu wählenden Kandidaten können nur von den -» Gewerkschaften oder anderen Arbeitnehmervereinigungen mit sozial- und berufspolit. Zwecksetzung sowie den Vereinigungen der Arbeitgeber nominiert werden. Einigen sich Arbeitnehmer- oder Arbeitgebervereinigungen auf eine einzige Vorschlagsliste, gelten die in der Liste genannten Kandidaten ohne Wahlhandlung als gewählt (sog. Friedenswahl). 1993 wurde lediglich bei 27 von insg. 1.400 Versicherungsträgern tatsächlich gewählt, v.a. bei den großen Versicherungsträgem. Die Wahlbeteiligung ist mit seit Jahrzehnten rd. 44% eher gering. M. F. Spätkonstitutionalismus —> Konstitutionalismus Spanien, span. Parlament Nach mehr als 35 Jahren Franco-Diktatur leitete König Juan Carlos I. bei Amtsantritt 1975 die —> Demokratisierung des Landes ein. Gemäß der Verfassung vom Dezember 1978 ist Spanien eine demokrat.-parlament. Erbmonarchie. Seit dem 1.1.1986 ist S. Mitglied der —> Europäischen Gemeinschaft. Das als -> Zweikammersystem gebildete (Cortes Generales) besteht aus dem Kongreß (Congreso de los Diputados) und dem Senat (Senado), der die Interessen der Provinzen vertritt. Die rd. 350 Mitglieder des Kongresses werden nach dem Verhältniswahlrecht alle 4 Jahre direkt vom Volk gewählt. Entsprechend erfolgt auch die Wahl von 208 der 255 Senats835
Sparkassen
Speaker
mitglieder (je 4 pro Provinz). Die übrigen 47 werden von den Parlamenten der autonomen Gemeinschaften (—> Regionen) ernannt, die eingerichtet wurden, um der ursprünglich zentralistischen Provinzialstruktur entgegenzuwirken. Aktives und passives —> Wahlrecht besitzen alle Staatsangehörigen ab dem vollendeten 18. Lj .; beide Kammern üben die —• Legislative aus, Gesetzesentwürfe werden aber im Kongreß beraten und verabschiedet. Dem Senat steht nur ein suspensives -> Vetorecht zu. Verfassungsänderungen bedürfen der Dreifiinftelmehrheit beider Kammern, auf Wunsch eines Zehntels einer Kammer auch einer Volksabstimmung. Konsultative —> Referenden und -> Volksinitiativen sind als plebiszitäre Elemente vorhanden. Staatsoberhaupt ist der König. Er ernennt den —> Ministerpräsidenten und auf dessen Vorschlag die —> Minister. Allerdings wird in S. der Ministerpräsident direkt vom Parlament gewählt. Dem Parlament steht ein gegen die Regierung gerichtetes —> Mißtrauensvotum zu, doch bedarf es zu deren Sturz einer absoluten Mehrheit. Es besteht keine —> Inkompatibilität zwischen Ministeramt und Abgeordnetenmandat. Das Gesetzesinitiativrecht der einzelnen -> Abgeordneten ist beschränkt. Wichtigste Fraktionen im Kongreß sind die sozialdemokratisch ausgerichtete Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE), die konservative Volkspartei (UCD, daraus hervorgehend später die PP) und die katalanische Regionalpartei Convergència i Unió (CiU). Nach 4 —> Legislaturperioden gelang den Konservativen 1996 wieder der Wahlsieg über die PSOE. Lit.: O. IV. Gabriel / F. Brettschneider (Hg.): Die EU-Staaten im Vergleich, Opladen 2 1994; W. Ismayr (Hg.): Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997, S. 549ff.
Karen Radtke Sparkassen sind Universalbanken im Eigentum der öffentl. Hand. S. sind überwiegend öfTentl.-rechtl. In der BRD existieren noch einige wenige freie S.; die 836
bedeutenderen ÖfTentl.-rechtl. S. sind —• Anstalten des öffentlichen Rechts. Sie besitzen eine eigene Rechtspersönlichkeit. Ihre Träger sind - » Gemeinden, Ämter (-» Amt), Kreise und —> Zweckverbände. Die S. besitzen kein Grundkapital, sondern nur eine aus Überschüssen gebildete Sicherheitsrücklage. Daher haften die genannten Träger für Verbindlichkeiten (Gewährträgerhaftung). S. können von ihrem Gewährträger mit Kapital ausgestattet werden (Dotationskapital). Gegenwärtig gibt es in Dtld. 596 selbständige S.; sie sind gemeinnützige Kreditinstitute, welche aber im Wettbewerb mit anderen Banken stehen. In ihrer Geschäftstätigkeit unterliegen sie gesetzlichen risikomindernden Einschränkungen. Rechtsgrundlagen der S. sind die S.gesetze der Länder. Diese geben grundlegende Vorschriften für die Verfassung und Verwaltung, legen die unbeschränkte Gewährträgerhaftung für Verbindlichkeiten fest und regeln die öffentl. Aufsicht über die S.; Organe sind der Verwaltungsrat, der die Richtlinien der Geschäftspolitik bestimmt und die Geschäftsführung des Vorstandes überwacht, sowie der Vorstand, der gesetzlicher Vertreter der S. ist und grds. die Geschäftsführung nach Maßgabe der Gesetze, der Satzung und der Geschäftspolitik ausübt. Lit: U. Güde: Geschäitspolitik der Sparkassen, Stuttgart 1989.
D. V. SPD —> Sozialdemokratische Deutschlands
Partei
Speaker = Präsident des brit. Unterhauses und des amerik. —> Repräsentantenhauses. Zuerst Beauftragter der Krone, dann Sprecher gegen den Monarchen, seit Mitte des 18. Jhd.s neutral, oft -> Hinterbänkler. Traditionell wird der S. auf Vorschlag des —• Premierministers vom ganzen Haus gewählt. Zu seinen Aufgaben zählen: zeremonielle Handlungen, Leitung der Debatte durch Erteilung des Rede- und Antragsrechts. Er stimmt nur ab, um ein Patt zugunsten des Statusquo
Spenden zu brechen. Repräsentantenhaus: Durch Kombination der Kompetenzen des Präsidenten (u.a. Erteilung des Rederechts, Anwendung der —> Geschäftsordnung des Kongresses, Überweisung der Gesetzesvorlagen an die Ausschüsse, Kontrolle der Tagesordnung) und des Führers der Mehrheitspartei (u.a. Ausschußsitzverteilung, Nominierung der Vorsitzenden) ist der S. faktisch zweitmächtigster polit. Akteur der USA. Der S. muß laut -> Verfassung der USA nicht dem Parlament angehören; er war aber nur in den ersten Jahren neutral, danach stets Mitglied der Mehrheitspartei. Zwischen 1910 und den frühen 1970er Jahren wurden durch Reformen die Ausschußvorsitzenden gegenüber dem S. unabhängiger, in den letzten Jahern wurde hingegen die Stellung des S. wieder gestärkt. Lit: D. Bacon (Hg.): The Encyclopedia of the United States Congress, New York 1995. T. G.
Spenden sind unentgeltliche Zuwendungen oder Geschenke. Ein Leistungsaustausch schließt die Annahme einer Schenkung aus; S. sind schenkungssteuerfrei. Durch das S.abzugsrecht soll der private Altruismus stimuliert werden. Zur Entlastung der öffentl. Haushalte sollen über das S.aufkommen hinaus weitere Mittel für altruistische Zwecke beschafft werden. Wurden sie zur Förderung gemeinnütziger Zwecke an eine gemeinnützige Einrichtung geleistet, so sind sie - obwohl sie private Einkommensverwendungen sind im Rahmen bestimmter Höchstgrenzen von der Steuerbemessungsgrundlage als Sonderausgaben bei der —> Einkommensteuer abzugsfähig. Durch die S.abzugsvorschriften werden die Spender prämiert. Die möglichen S.empfänger ergeben sich aus einer Verordnung zum Einkommensteuergesetz. S. können Geld- oder Sachspenden sein. Nicht als S. von der -» Steuer abzugsfähig ist der Wert zugewendeter Nutzungen oder Leistungen. Es wird unterschieden in Direktspenden und Durchlaufspenden. Letztere gehen im all-
Sperrklausel gemeinen an die —> Gemeinden; diese leiten die S. dann - nach Erteilung einer S.bescheinigung (S.quittung) an den Spender - dem Endempfänger, etwa einen Sportverein oder Theaterverein, zu. Die Direktspenden gelangen unmittelbar vom Spender zum Empfänger. Zur Finanzierung ihrer allgemeinen Tätigkeit sind auch die polit. -> Parteien (—> Parteienfinanzierung) berechtigt, S. anzunehmen. Davon ausgenommen sind S. polit. —» Stiftungen, gemeinnütziger Einrichtungen, ausländische S. sowie S., die erkennbar in Erwartung eines bestimmten wirtschaftl. oder polit. Vorteils gewährt werden. Bei rechtswidrig erlangten S. verliert die Partei ihren Anspruch auf —• Wahlkampfkostenerstattung in doppelter Höhe des S.betrages. Lit.: Κ. Tipke: Steuerrecht Köln 1987. K.H.
Sperrklausel Durch eine S. wird eine -» Partei oder -» Wählervereinigung von der Verteilung der Sitze in einem Parlament ausgeschlossen, die bei der —> Wahl nicht eine bestimmte Mindestzahl von gültigen Stimmen im gesamten Wahlgebiet, in einem Teil des Wahlgebiets oder eine bestimmte Anzahl von -> Mandaten in den -> Wahlkreisen erzielt hat. So werden durch die -> Fünf-Prozent-Klausel des § 6 Abs. 6 BWG (Ausnahme für Parteien nationaler —> Minderheiten wie den Südschleswigschen Wählerverband als Partei der dän. Minderheit in —» Schleswig-Holstein) Parteien von der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten für die Wahl zum —> Bundestag ausgeschlossen, die nicht mindestens 5% der im gesamten Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten oder - wie die -> PDS bei der Wahl 1994 - in mindestens 3 Wahlkreisen einen Sitz errungen haben. Solche S.n bestehen auch bei den Wahlen zu den Landes- und (i.d.R.) zu den Kommunalparlamenten. Die Vereinbarkeit solcher S.n mit dem -» Verfassungsrecht auf -> Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 S. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2
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Staat
Sperrminorität GG) ist, zumindest soweit sie nicht verfassungsrechtl. verankert sind, umstritten. Das —> Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die Verfassungsmäßigeit der Fünf-Prozent-Klausel betont. Zur Begründung verweist es insbes. auf die Abwehr der Gefahr eines handlungsunfähigen Parlaments sowie die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges der polit. —> Willensbildung des Volkes, die mit der S. verbunden sind. Diese Rechtsprechung ist - zumindest was die Höhe der S. betrifft auf nicht unerhebliche Kritik gestoßen. Lit.: U. Wenner: Sperrklauseln im Wahlrecht der BRD, Frankfurt/M. 1986.
J. U. Sperrminorität 1. Eine S. besteht bei einem Gewicht der parlament. —> Opposition, daß dieser gestattet, —> Verfassungsänderungen zu verhindern bzw. die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsakten, welche die parlament. Mehrheit erlassen hat, zu kontrollieren. In Dtld. kann eine Opposition, falls sie im —> Bundestag über die S. von einem Drittel plus einem -» Abgeordneten verfügt, im Hinblick auf das -> Quorum des Art. 79 Abs. 2 GG verfassungsändernde Beschlüsse im —> Parlament verhindern. Sie kann aber auch eine Umgehung des Zweidrittelerfordernisses des Art. 79 Abs. 2 dadurch verhindern, daß ein Drittel der Abgeordneten das -> Bundesverfassungsgericht gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG anruft, um feststellen zu lassen, daß ein —» Gesetz mit dem —> Grundgesetz unvereinbar ist, d.h. nur bei Änderung der -> Verfassung verfassungskonform wäre. Eine S. ist dem dt. —> Staatsrecht auch bei der Wahl der —» Richter des BVerfG vertraut, wie sich aus § 6 Abs. 5 BVerfGG ergibt. 2. Im übrigen besteht eine S. insbes. im Aktienrecht: eine Gruppe, die im Besitz von mehr als 25 und weniger als 50 v.H. der Aktien ist, kann hier Hauptversammlungsbeschlüsse bestimmten Inhalts, die einer Dreiviertel-Kapitalmehrheit bedürfen, verhindern (vgl. z.B. §§ 179 Abs. 2 ,
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262 Abs. 1 Nr. 2, 293f., 319, 340, 353fT. AktG). IM.: Schneider/Zeh,
S. 1357ff.
J. U. Sperrvermerk -> Haushaltssperre Spionage - » Landesverrat Staat Begriff Der S. läßt sich - als polit. Gemeinwesen betrachtet - nach seiner inneren Ordnung, seinem sozialethischen Prinzip, seinen Kernaufgaben und einem für ihn spezifischen Mittel charakterisieren. Demnach garantiert er eine Ordnung, die ihn - seit der Zeit des -> Konstitutionalismus - gewaltenteilig (—> Gewaltenteilung) gliedert: Er handhabt seine höchste polit. Gewalt als -> Gesetzgebung, als —• Regierung und - » Judikative. Das Prinzip seiner ganzen Tätigkeit wird in der Berücksichtigung bzw. Förderung des -> Gemeinwohls gesehen. Seine klassischen Nutzenfunktionen sind die Gewährleistung von —> Frieden, —> Recht und allgemeiner Wohlfahrt. Keinesfalls als alleiniges, indes als spezifisches Mittel steht ihm legitime physische Gewalt zu Gebot; private Gewalt wurde - etwa im Fall von Ehrenhändeln mit der Waffe seit dem 17. Jhd. in die Illegalität abgedrängt. Der das 18. und 19. Jhd. kennzeichnende Prozeß der Trennung von (polit.) S. und (privater) -> Gesellschaft scheint heute obsolet. Die industrielle Massengesellschaft und die ihr entsprechende verbände- und parteienvermittelte Partizipation an Regierung, Gesetzgebung und —> Verwaltung haben den S. in die organisierte Gesellschaft zurückgeholt. Wenn sich ein Volk als —> Nation, d.h. als einen geschichtl. und kulturell geprägten, mit dem Willen zu polit. Selbstbestimmung ausgestatteten Verband begreift, beansprucht es, ein —> Nationalstaat zu werden. Vereinigen sich mehrere auf einem Territorium siedelnde Völkerschaften bzw. ethnische Gruppen im Willen zu einem gemeinsamen polit. Verband, bilden sie für längere Zeit oder vorüberge-
Staat hend einen Nationalitätenstaat (z.B. Schweiz, vormalige UdSSR oder Bundesrepublik Jugoslawien). Staatsmerkmale antworten auch auf geographische Lagen (insularer, Kontinentalstaat), auf wechselnde Herausforderungen von Bündnissen (europ. S.ensystem), auf innere Befriedungs- und innere bzw. äußere Entwicklungsaufgaben (—> Rechtsstaat, Wohlfahrts- bzw. Verwaltungs-, Macht-, Militär-, Kolonial-, Handelsstaat), auf den Anspruch sozialer Schichten, sie an Herrschaftsentscheidungen zu beteiligen (aristokratischer, kapitalistischer, proletarischer, liberaler bzw. demokrat. —> Verfassungsstaat), auf S.seinung oder -Verbindung (unitarischer oder —> Bundesstaat). Im ausgehenden 20. Jhd. ist der S. als die maßgebliche Rechts-, Ordnungs- und Wirkungseinheit in der globalen Völkerrechtsgemeinschaft allgemein anerkannt. Konkrete Herrschaftsverbände weichen jedoch vom maßgeblichen Typus mehr oder weniger stark ab: Sie tragen damit dem Umstand Rechnung, daß das internationale System die Ausübung der äußeren und der inneren —> Souveränität nicht mehr unbegrenzt zuläßt. Zunehmend ergeben sich rechtl. oder de-facto-Abhängigkeiten von regionalen Machtgruppen und Supermächten. Entsprechend verzichten viele S.en auch auf die Geltendmachung ihres Gewaltmonopols im Inneren, haben ihr Rechtssetzungsmonopol gesellschaftl. Gruppen geöffnet (Tarifhoheit), verzichten auf die Geltendmachung der Gerichtshoheit gegenüber eigenen —> Staatsbürgern (Verzicht auf Auslieferungsersuchen an fremde S.en). Begriffsgeschichte Das Lehnwort aus dem lat. status (spanisch estado, fìz. état, niederländisch Staat, von dort der im Deutschen üblich gewordene Plural S.en) begann in den neueren europ. Sprachen seit dem 15. und 16. Jhd. seine Karriere. In Dtld. wurde es - nach später Eingewöhnung - während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) heimisch. Seither findet man die Wortbildungen damaliger Modesprache —> Staatsräson (nach fiz.
Staat Räson d'Etat), Staatspflicht (die Selbstbindung des Monarchen an die Erfordernisse des -» Amtes), Staatsmann (i.S. von fürstlichem Ratgeber nach Staatsräson), - » Staatsbürger (i.S. von Aktivbürger als polit. Amtsträger). Die Merkmale, die das neue Wort in sich aufnahm, unterscheiden es spezifisch von älteren Herrschaftsmodellen: Ein S. macht seinen Anspruch als höchste, unteilbare, unbefristete Instanz der -> Herrschaft geltend, er ist abstrakt und unterscheidet sich vom Personal des Regierens, er versteht sich als Quelle positiven Rechts, alleiniger Inhaber des Rechts zu Kriegserklärung und Friedensschluß, zu Gesetzgebung und Justiz, zur Berufung von Amtspersonen, zu gewaltgestützter Sanktion. Er beansprucht dieses Recht - unbeschadet verfassungsrechtl. oder völkerrechtl. Selbstbindung - auf seinem ganzen Territorium und auf dem jeweiligen Kriegsschauplatz. Legitimation Grdl. ist die Frage nach dem Verhältnis des S.es zum Menschen, die in der polit. Anthropologie behandelt wird. Der S. wird einmal als ein Merkmal am Menschen selbst angesehen (Aristoteles: anthropos zoon politikon), zum andern als künstliche Veranstaltung von Individuen, die sich zu einem sog. Zivilstatus verabreden (J. Locke 1632-1704). Im 1. Fall ist der S. als polit. Herrschaftsordnung mit dem Menschen gleichursprünglich, der Mensch soll als Bürger zur Entfaltung kommen; im 2. Fall ist er eine zweckhafte Einrichtung. Auch wenn der S. zum Menschen gehört, bedeutet das nicht, daß alles Menschliche polit, werden müsse. Mit der im frühen Christentum durchgesetzten Unterscheidung weltlicher und geistlicher Dinge entstand jedenfalls für den (zunächst heidnischen) S. eine elementare Bereichsbeschränkung. Er war nicht mehr für das Seelenheil seiner Bürger, sondern allenfalls für den Schutz der —» Kirchen zuständig, die sich der Seelsorge widmeten. Der christl. Vorbehalt gegenüber einem zunächst heidnischen, später weltlichen S. lautete: Gebt dem Staat, was des Staates, und Gott, was Gottes ist. Der
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Staat Trennungsstrich zwischen polit, (oder S.s.)Recht und religiösem (oder kirchl.) Recht bildet die Grundlage der Rechtsgeltung personaler —> Menschenrechte (Wissenschafts-, Religions-, Meinungsfreiheit), mögen diese geschichtl. auch vielfach gegen kirchl. Einspruch durchgesetzt worden sein (-» s.a. Staatskirchenrecht). Neuere Entwicklungen Indem der liberale Rechtsstaat im Verhältnis zur demokrat. Industriegesellschaft seine Handlungsfelder in fast alle Bereiche der -> Daseinsvorsorge und Angleichung sozialer und regionaler Lebensbedingungen ausweitete, gelangte er an die Grenzen der Ressourcenbeschafiung, verlor an Problemlösungsfahigkeit und an Kraft zu selbständiger Steuerung. Indem er sich den Forderungen von —> Öffentlichkeit, —> Verbänden, - » Parteien öffnete, vertauschte er polit. Steuerung mit gesellschaftl. Anpassung, blähte öffentl. Haushalte weit jenseits der S.seinnahmen auf, begnügte sich mit der Rolle eines Verhandlungspartners unter anderen (-> Neokorporatismus). Die Vermehrung der polit, zu bestellenden Felder, die Erweiterung der S.squote und die Ausweitung öffentl. Leistungen gaben dem S. keine größere Macht über die Gesellschaft, saturierte diese auch nicht, sondern weckten Forderungen und machten den S. von der Gesellschaft, mit der er sich verband, desto abhängiger. Dieser Befund wird heute vor dem Hintergrund polyzentrischer Strukturen so interpretiert, daß verschiedene Teilsysteme je eigenen Logiken folgen und Eingriffe ohne kybernetisch verfeinerte Anpassungsmechanismen nicht mehr erfolgreich wären, wie der US-Politologe D. Easton 1965 zeigte. Gesellschaftl. Überforderung und Steuerungsdefizite sind Herausforderungen des S.s, auf die teils autoritäre, teils korporatistische, teils liberale Gegenstrategien erörtert wurden bzw. werden: Die einen sezten auf den starken S. - so der Staatsrechtler C. Schmitt 1932 -; andere - wie der Verwaltungsrechtler E. Forsthoff 1971 - sehen
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Staat den S. zugunsten eines industriegesellschaftl. Funktionalismus sich verabschieden bzw. sich mit mächtigen gesellschaftl. Verbänden verständigen (Neokorporatismus) oder auf indirekte Führungsweisen ausweichen (dezentrale Steuerung); wieder andere setzen auf einen radikalen Rückschnitt der -> Staatsaufgaben (S.sEntlastung z.B. durch Privatisierung), auf Verschlarikung der Bürokratie, auf Steuerung gesellschaftl. Prozesse durch Wettbewerb (Privatisierung) oder auf Verlagerung von Steuerungszentren auf eine überstaatl. oder auf subnationale Ebenen (europ. Integration - » Subsidiarität). Auch wenn der S. nicht länger als geschichtl. Selbstzweck (Idee) oder als notwendiger Ausdruck nationaler Selbstbestimmung (Nationalstaat) begriffen wird, gilt er nach wie vor als histor. und national bedingtes polit. Steuerungszentrum, das für aktuelle Ökonom, und gesellschaftl. Entwicklungsaufgaben unverzichtbar ist und an jeweilige Herausforderungen angepaßt werden muß. Aktuelle Probleme Mit dem S. war ursprünglich das Primat des Politischen gesetzt. Die informationstechnisch unterstützten und liberal geordneten globalen Märkte (—> Globalisierung) des 20. Jhd.s geben der —> Wirtschaft genauere Zeichen vor als —> Politik es vermag. S.en sind daher von der Leistungsfähigkeit der ihr zugeordneten - » Wirtschaft abhängig geworden; ihre Politik dient der Verbesserung Ökonom. Standortfaktoren (Dienstleister der Marktwirtschaft), wobei einzelne staatl. Steuerungsleistungen auch von gesellschaftl. Organisationen erbracht werden können. Auf solchen Politikfeldern erscheint der S. dann als sog. semisovereign state: Er formuliert Erwartungen, ohne ihnen durch Sanktionen die Befolgung zu sichern (governance statt government). Was die internationale Politik anbetrifft, so respektierte die S.enordnung des 19. Jhd.s die Souveränität ihrer Mitglieder unbedingt. Einmischungen in sog. innere Angelegenheiten duldeten keine Ausnahme. Die heutige S.enwelt
Staatsangehörigkeit kennt demgegenüber internationale Angelegenheiten, die diese Prinzipien relativieren. Der —> Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entscheidet rechtsverbindlich gegen Verletzer-Staaten. Der —» Internationale Gerichtshof in Haag hat im Falle von Völkermord jedem S. nach seinen Möglichkeiten eine Verhinderungspflicht auferlegt. Auch wird diskutiert, in welchen Fällen S.en ggf. militärisch zu sog. humanitären Interventionen berechtigt sind, bzw. ob der Sicherheitsrat der —> Vereinten Nationen die von ihm zu treffende Feststellung von sog. Friedensgefährdungen mit Zwangsmaßnahmen beantworten darf. Zu den bestimmenden Tendenzen gehört auch der Zusammenschluß von Regionalbündnissen (z.B. EU. Für das Gemeinwesen oberhalb der nationalstaatl. Ebene stand früher der Begriff des Reiches. Was heute an seine Stelle getreten ist, läßt sich staatsrechtl. noch nicht angemessen definieren und entläßt - jedenfalls nach der Auffassung des -> Bundesverfassungsgerichts - die Mitgliedstaaten nicht aus der Verpflichtung zu verfassungsentsprechender Gemeinwohlsorge für das jeweilige —> Staatsvolk. Lit: Κ. v. Beyme: Steuerung und Selbstregelung. Zur Entwicklung zweier Pradigmen, in: Journal für Sozialforschung 1995, S.197ff.; D. Easton: The Political System, New York 1965; P.B. Evans (Hg.): Bringing the State Back In, Cambridge 1985; E. Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971; E. Grande / R. Prätorius (Hg.): Modernisierung des Staates?, Baden-Baden 1997; H. Kuhn: Der Staat, München 1968; R. Nozick: Anarchie, Staat, Utopia, München 1979; C. Schmitt: Starker Staat und gesunde Wirtschaft (1932), in: ders., Staat, Großraum, Berlin 1995, S.71ff.; M. Weber: Gesammelte Polit. Schriften, Tübingen 3 1971; ders.: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen '1972; P.-L. Weinacht: Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes, Berlin 1968.
Paul-Ludwig Weinacht Staatsangehörigkeit / -srecht 1. Allgemeines Durch die S. tritt der Erwerber als
Staatsangehörigkeit - » Staatsbürger in ein Rechtsverhältnis zum jeweiligen Heimatstaat. Mit ihr sind gemäß nationaler Gesetzgebung sowohl Rechte als auch Pflichten verbunden, die den Staatsangehörigen vom Ausländer und Staatenlosen unterscheiden. Maßgeblich für den (automatischen) Erwerb der S. ist in jedem Staat die Abstammung von Angehörigen desselben Staates (ius sanguinis). Daneben kennen viele Staaten auch den Erwerb durch Geburt oder längeren Aufenthalt im -> Staatsgebiet (ius soli). Das -> Völkerrecht schränkt nationales Recht insoweit ein, als jeder Staat seine S. nur an Personen verleihen darf, die zu ihm in einer Beziehung stehen. Er darf sie nicht durch zwangsweise Ausbürgerung aberkennen, sie ungerechtfertigt vorenthalten oder aber zwangsweise —> Einbürgerungen vornehmen; keinem Staat steht eine Entscheidung über eine fremde S. zu. Darüber hinaus trifft das Völkerrecht Regelungen über die Vermeidung von Staatenlosigkeit und Mehrstaatigkeit. Grds. kann ein Staat nur eigenen Staatsangehörigen diplomatischen Schutz gewähren. EG-Recht tritt in neuerer Zeit zusehends dem S. srecht zur Seite, indem es Vorschriften zur Angleichung des Rechtsstatus von Unionsbürgem (-> Unionsbürgerschaft) enthält. Nach der Ablösung früher antik-röm. Ansätze zu einem S.srecht durch Lehensprinzipien und aufenthaltsortbezogene Untertanenverhältnisse in Mittelalter und früher Neuzeit vollzog sich seine Entwicklung erst im 18. und 19. Jhd.; in Dtld. kommt v.a. dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStaG) von 1913 grundlegende Bedeutung zu. Es hat in weiten Teilen bis heute Bestand. 2. Dt. S.srecht Das —> Grundgesetz beinhaltet neben der nicht näher definierten dt. S. (Art. 16) auch den weiter gefaßten Begriff des „Deutschen" (Art. 116). Hierzu zählen neben den Staatsangehörigen auch Personen ohne dt. S., die als Flüchtlinge und Vertriebene dt. Volkszugehörigkeit im dt. Staatsgebiet (Grenzen von 1937) Aufnahme gefunden haben
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Staatsangehörigkeit bzw. noch finden (Spätaussiedler, bis 1990 auch DDR-Bürger) und als Statusdeutsche den Staatsangehörigen weitgehend gleichgestellt werden. I.V.m. anderen Gesetzen nimmt das GG neben der Einschränkung der Grundrechtsgarantie von —> Versammlungsfreiheit, —> Vereinigungsfreiheit, Freizügigkeit und -> Berufsfreiheit auf Deutsche auch eine entsprechende Zuschreibung sonstiger Rechte und Pflichten vor (v.a. —> Wahlrecht, Zugang zum —> öffentlichen Dienst, —> Wehrpflicht). Art. 16 GG enthält das strikte Verbot der Entziehung der dt. S. und engt die Möglichkeiten des Verlustes auf Fälle ein, in denen kerne Staatenlosigkeit eintritt. Ein Verlust in Form der Ausbürgerung erfolgt jedoch regelmäßig, wenn ein im Ausland lebender Deutscher eine fremde S. erwirbt, er von einem Ausländer adoptiert wird und dessen S. annimmt, durch Antrag auf Entlassung (nach Beendigung von Dienstverhältnissen und Wehrpflicht) oder Verzichtserklärung jeweils im Falle von Mehrstaatigkeit. Im Gegensatz zu den meisten EU-Staaten, die Elemente des ius soli in ihr S.srecht integriert haben, und anders als die BRD pragmatisch bei der Hinnahme von Mehrstaatigkeit verfahren, wird gemäß RuStaG die dt. S. allein durch das ius sanguinis vermittelt und aufgrund dt. S. eines Eltemteils (eheliche Geburt) oder der Mutter (nichteheliche Geburt) zuerkannt. Eine Ausnahmeregelung gilt nur für Findelkinder, auf die de facto das ius soli Anwendung findet, wenngleich de iure eine dt. Abstammung fingiert wird. Weiterhin erwirbt die S. ein von Deutschen adoptiertes Kind sowie - durch Legitimation - ein nichteheliches Kind zum Zeitpunkt der Heirat der Eltern, falls nur der Vater Deutscher ist. RuStaG und —• Ausländerrecht sehen sowohl eine Einbürgerung von Ausländern im behördlichen Ermessen als auch einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung in Abhängigkeit von der Aufgabe der bisherigen S., der Aufenthaltszeit und materiellen Voraussetzungen vor. Das Ge-
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Staatsanwaltschaft setz zur Regelung von Fragen der S. enthält Bestimmungen für die Einbürgerung von Statusdeutschen; durch sie wird ein voraussetzungsloser Rechtsanspruch begründet, der nur bei einer Gefährdung der Sicherheit Dtld.s entfällt. 3. Bewertung Trotz Internationalisierung und europ. Rechtsangleichung kommt der S. eine wichtige Funktion zu. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Staatsbürgern ist insbes. dort von Gewicht, wo angesichts starker Zuwanderung aus dem Ausland ein dauerhaft ausschließender, auf Nationalität fixierter Charakter des S.srechts von desintegrativer Wirkung wäre. Das dt. S.srecht muß insofern und auch im internationalen Vergleich als problematisch angesehen werden. Es trägt gesellschaftl. Veränderungen nur bedingt Rechnung und hält bislang an einem völkischen Konzept fest. Insbes. unter europ.-vergleichenden Gesichtspunkten und in Hinblick auf die denkbare Perspektive einer ausgestalteten Europäischen Unionsbürgerschaft erscheint es angemessen, auch das dt. S.srecht des ius soli zu ergänzen. Lit.: Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStaG); Gesetz zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit (StAngRegG); R. Brubaker: Staats-Bürger, Hamburg 1994; K. Hailbronner / G. Renner: Staatsangehörigkeitsrecht, München 1991;//. Weidelener/F. Hemberger: Dt. Staatsangehörigkeitsrecht, München 4 1993.
Holger Hinte Staatsanklage —* Impeachment Staatsanwalt / -schaft Die Institution der S.schaft entspringt frz. Vorbild; sie hat sich in Dtld. im 19. Jhd. schrittweise durchgesetzt. Ihre Hauptfunktionen sind: Ermittlung von Straftaten (insoweit unterstüzt durch die Polizei), Vertretung der Anklage vor Gericht und Strafvollstrekkung. Mitwirkungsrechte der S.schaft bestehen daneben bei einigen bürgerl. Rechtssachen. Gewaltenteilungsrechtl. ist die S.schaft eigentlich Teil der —»• Verwaltung, funktional ist sie aber auf die
Staatsanzeiger
Staatsaufgaben
Rechtspflege bezogen. Die so verortete Stellung der S.schaft zwischen den Gewalten führt in den Einzelheiten zu Problemen. Hierzu trägt bei, daß das GG die S.schaft trotz ihrer grundlegenden Bedeutung für die Strafrechtspflege „vergessen" hat. Auch auf der einfachgesetzlichen Ebene bleiben die organisationsrechtl. maßgeblichen §§ 141ff. GVG (-> Gerichtsverfassung) sowie die StPO fragmentarisch; Reformforderungen ist der Gesetzgeber bislang nicht gefolgt. (Öst. verfügt demgegenüber seit 1986 über ein S.schaftsG). Die S.Schäften sind organisationsstrukturell an die —> Gerichte geknüpft. Eine S.schaft besteht bei dem -» Bundesgerichtshof (-> Generalbundesanwalt), bei den Oberlandesgerichten (Generalstaatsanwalt) und den Landgerichten, nur ausnahmsweise auch bei den Amtsgerichten. In ihren amtlichen Verrichtungen ist die S. schaft von den Gerichten unabhängig (§ 150 GVG). Der S. muß die Befähigung zum Richteramt besitzen (bei den Amtsgerichten können auch Amtsanwälte tätig werden, zumeist -> Beamte des gehobenen Dienstes bzw. Rechtsreferendare), er wird wie ein -> Richter alimentiert. Dem Charakter als Verwaltungsbehörden entsprechend besteht aber (entgegen dem unabhängigen Richter) grds. Weisungsabhängigkeit (§ 146 GVG), wobei die Einzelheiten z.T. problematisch sind. Devolution (Selbstübernahme bestimmter Tätigkeiten) und Substitution (Befassung eines anderen S.) stehen dem Behördenchef ebenfalls zu (§ 145 GVG). Es gibt also auch kein Recht auf den „gesetzlichen S." Umstritten ist, ob und unter welchen Voraussetzungen S.e (entsprechend den Richtern) als befangen abgelehnt werden können. Lit: W. Geisler: Stellung und Funktion der Staatsanwaltschaft im heutigen dt. Strafverfahren, in: ZStrW 1981, S. 1109ff.; O. Katholnigg: Strafgerichtsverfassungsrecht, Köln 21995.
Jörg Menzel Staatsanzeiger Die Verkündungsgesetze
der —• Länder sowie deren gemeinsame Geschäftsordnungen sehen neben den Gesetz- und Verordnungsblättern sowie den -> Amtsblättern der -> Ministerien den S. als eine besondere Form der Verlautbarung vor, mit der Mitteilungen der —> Verwaltung amtlich bekanntgemacht werden. I.d.R. besteht der S. aus einem amtlichen und öflentl. Teil. Während im amtlichen Teil die Ministerien v.a. ihre Bekanntmachungen, Erlasse, Richtlinien und Verordnungen veröffentlichen, sind im öflentl. Teil u.a. Eintragungen ins Vereinsregister und Handelsregister sowie Zwangsversteigerungen, Gesamtvollstrekkungen, aber auch Stellenausschreibungen zu finden (s.a. —> Bundesanzeiger). Lit.: C. Kurt / K. Friedrich: Organisations- und Bürokunde für die Verwaltung, Herford 1993.
H. W. Staatsaufgaben 1. Begriffs, sind solche dem öffentl. -> Interesse entsprechenden Aufgaben, auf die der —> Staat nach Maßgabe bzw. in den Grenzen der -> Verfassung zugreift. Eine herrschende Dogmatik der Abgrenzung zwischen S., —> Staatszwecken und —> Staatszielen hat sich bisher ebensowenig entwickelt wie eine abstrakte und damit allgemeingültige Lehre von den S.; letztere scheitert daran, daß sich die Aufgaben des Staates nur empirisch-histor., d.h. durch Betrachtung konkreter Staaten in ihrem jeweiligen Entwicklungszustand feststellen lassen. Es kann zwischen ausschließlichen (d.h. ausschließlich vom Staat wahrnehmbaren und ihm daher exklusiv vorbehaltenen) und konkurrierenden S., zwischen obligatorischen S. (die der Staat erfüllen muß) und fakultativen S. (die der Staat freiwillig übernimmt) sowie zwischen finalen S. (die unmittelbar ein öflentl. Interesse verfolgen) und instrumentalen S. (die dem öflentl. Interesse nur indirekt zu dienen bestimmt sind) unterschieden werden. 2. Aufgaben des Staates der Neuzeit Allen modernen Staaten ist das Bekenntnis zu zumindest 3 großen Aufgabenkomplexen eigen, die allerdings vor dem Hintergrund
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Staatsaufgaben unterschiedlicher ideologischer, gesellschaftl. und Wirtschaft! Rahmenbedingungen z.T. höchst unterschiedlich interpretiert und wahrgenommen werden: der Gefahrenabwehr nach außen, der Sicherung des inneren —> Friedens sowie der Sicherung und Befriedung wirtschaftl. und sozialer Grundbedürfnisse. 3. S. nach dem GG Der Begriff der S. taucht im - » Grundgesetz zwar nicht auf. Von Aufgaben des Staates bzw. der staatl. Ebenen sprechen allerdings Art. 30 und 104a Abs. 1. S. werden im GG als Ausdruck seiner föderalen Prägung (-> Föderalismus) danach im wesentlichen aus Vorschriften erkennbar, die solche Aufgaben dem —> Bund oder den -> Ländern zuordnen. Nur wenige Art. des GG enthalten ausdrückliche Aufgabenzuweisungen. In ihnen wird v.a. der beschriebene Kern der Aufgaben des modernen Staates rezipiert: „Verteidigung" nach außen (Art. 87a Abs. 1), „Aufrechterhaltung / Wiederherstellung der öffentl. Sicherheit und Ordnung" (Art. 35 Abs. 2) und „Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die -> freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes" (Art. 91 Abs. 1) im Innern, „Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftl. Gleichgewichts", ,Ausgleich unterschiedlicher Leistungskraft im Bundesgebiet" und „Förderung des wirtschaftl. Wachstums" (Art. 104a Abs. 4 S. 2, 109 Abs. 4) zur Sicherung wirtschaftspolit. Grunderfordernisse und Aufsicht über das gesamte Schulwesen (Art. 7 Abs. 1 ) zur Sicherung eines sozialen Grundbedürfnisses. Spezielle —> Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern sind in Art. 91a, 91b fixiert. Der Integrationsoffenheit dt. Staatlichkeit trägt der Auftrag der „Verwirklichung eines vereinten Europas" (Art. 23 Abs. 1) Rechnung. Im übrigen können zahlreiche fakultative S. namentlich auch aus den Kompetenzkatalogen des GG (Art. 73ff.) abgeleitet werden. Einen S.bezug weisen auch die —> Grundrechte auf: Sie stellen als Abwehrrechte nicht bloß eine Negation
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Staatsaufsicht möglicher S. dar, sondern können ausnahmsweise Rechte auf Leistungen des Staates begründen, die dieser als Aufgabe zu erbringen hat. Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge als ausdrückliche Vorschriften, aus denen auf obligatorische S. geschlossen werden kann, haben durch den Auftrag des Art. 5 des —> Einigungsvertrages vom 31.8.1991 zwar zusätzliche positiv-staatsrechtl. Bedeutung gewonnen. An der generellen Zurückhaltung des GG gegenüber der verfassungsrechtl. Proklamation von obligatorischen S. hat sich indessen nichts geändert. Zwar wurde der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Art. 20a GG als neues objektiv-rechtl. Staatsziel in das GG aufgenommen. Die in der -» gemeinsamen Verfassungskommission von -> Bundestag und —> Bundesrat diskutierte Aufnahme weiterer Staatszielbestimmungen (zum Tierschutz, zum Schutz ethnischer Minderheiten sowie sozialer Staatsziele) unterblieb indessen. Die verfassungspolit. Einwände gegen eine Verankerung obligatorischer S. im GG gründen v.a. auf Bedenken im Hinblick auf die institutionellen Bedingungen der polit. —> Willensbildung in der Parlament. —> Demokratie und auf die begrenzte Leistungsfähigkeit des —» Verfassungsrechts für die Steuerung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik: Die Festlegung oder Privilegierung bestimmter obligatorischer S. kommt nicht nur einer Beschränkung der polit. Gestaltungsvollmacht gleich, die in einer Parlament. Demokratie der - » Volksvertretung vorbehalten ist. Sie bedeutet auch im Maße der Justitiabilität dieser S. eine Verlagerung der Letztentscheidung vom Parlament auf die —> Verfassungsgerichtsbarkeit. LU.: HdbStR VII, § 159 Rn 14ff. sowie III, § 58 und § 57 Rn 132ff.; H. P. Bull: Die Staatsaufgaben nach dem GG, Franklurt/M.21977.
Jörg Ukraw Staatsaufsicht waltung
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Bundesaufsichtsver-
Staatsbürger Staatsbürger Begriff Als Bürger des -> Staates gelten Staatsangehörige in Beziehung auf verfassungsbegründete polit. Rechte und Pflichten. Unter diesen stellt die Teilnahme an der -» Gesetzgebung ein Grundmerkmal dar, das in rechtsstaatl. -> Demokratien in plebiszitärer und in repräsentativer Form auftritt und sich in freier, pluraler Meinungs- und -> Willensbildung konkretisiert. Als (plebiszitäre) Stimmbürger sind S. zugleich Volksververtreter. Währnd bis ins 19. Jhd. hinein der Besitz des Bürgerrechts des Vorrecht weniger war (Besitz und Bildung), ist es in fundamentaldemokrat. Gesellschaften zum Annexinstitut der —> Staatsangehörigkeit und damit zum Jedennanns-Recht geworden. Geschichte des Begriffs Im Dt. und Frz. ist das Wort Bürger (bourgeois) von lat. burgus abgeleitet, welche die vor wehrhaften Mauern gelegene (Vor-Burg) bezeichnet. Ihre Bewohner waren Kaufleute. Seit dem 12. Jhd. waren sie zusammen mit Handwerkern die Kembevölkerung der -» Stadt. Bürger bildeten neben Adel und Geistlichkeit einen neuen „dritten" Stand, dessen Merkmal nicht Geburt oder Sakrament, sondern Leistung war. Im Deutschen erscheint im 17. Jhd. das Wort S. erstmals zur Bezeichnung ämterfähiger Mitglieder eines btlrgerl. Gemeinwesens. Mit der Frz. Revolution begriff sich das Bürgertum als der allein berechtigte Träger (—• Nation) des nach seinen Verfassungsvorstellungen gestalteten Staates (-* Grundrechte, -> Gewaltenteilung, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangenes -> Parlament). Die Staatsteilnehmer verstanden sich nach röm.-republikanischer Bürgertradition als citoyens (von lat. civis). Im bourgeois sah man jetzt den Kapitalisten, im Untertan das Objekt fürstlicher Huld und Strenge. Zwar spräche der preuß. König noch im 19. Jhd. von „seinen Untertanen", doch verweist der seit 1866 mit gleichem -> Wahlrecht ausgestattete „Reichsbürger" auf demokrat. Grundsätze, die sich mehr moralisch
Staatsbürger als Verbands- oder parteipolit. entfaltet haben. Totalitäre Staaten haben den S.begriff auf das Rechtlich-Formale beschränkt (z.B. S.kunde, DDR-Bürger) und ihn weder ethisch noch polit, gefüllt (das Glied der durchpolitiserten Gesellschaft, der Sowjetmensch, der Volksgenosse, -> Totalitarisme, -> Sozialismus). In der aktuellen öffentl. Sprache in Dtld. findet der (Staats-)Bürger-Begriff z.T. mit altliberalem (Bürger-Initiative), z.T. mit stadtbürgerl. Akzent Verwendung (ausländische Mitbürger). Ethische Aspekte Mit der S.Schaft waren und sind verschiedenartige Begründungen und Ansprüche verbunden: Angefangen von de Entfaltung des Menschen als Polisbildendes Wesen (Aristoteles 384-322 v. Chr.) über militärische Tugenden (Machiavelli 1469-1527), Gottesfurcht und hausväterliche Tugend (Luther 14831546) bis hin zu verfassungs- und verwaltungsgestützter Beanspruchung der Bürger- und —> Menschenrechte. Bei alledem steht bürgerschaftliche Moral zwischen allgemeinen, beruflichen und polit. Moralgeboten, die einander tragen und ergänzen, aber auch in Konflikt zueinander treten können. Aristoteles nannte diejenige Verfassung die beste, in der Bürger ihr volles Menschentum zur Entfaltung bringen können. Humanität kann jedoch zuweilen den Verzicht auf den polit. Status des Bürgers verlangen so wie umgekehrt die beispielhafte Erfüllung von -» Bürgerpflichten auf Kosten menschlicher oder beruflicher Forderungen gehen kann. Kleine Problemfälle entstehen bei dem je möglichen Ausgleich zwischen Anforderungen an Hausvater, Christ und Bürger (heute: Markt-, Beitrags-, Sozialund S., EU-, Weltbürger); große Problemfälle entstehen in Widerstands- und Aufopferungssituationen. Widerstand bezieht seine sittliche Größe aus der Gefahr, in die der Widerstand-Leistende sich begibt; aber ohne Eigeninitiative und Mut zur Tapferkeit kann man nicht einmal am polit. Meinungs- und Willensbildungsprozeß im Rechtsstaat teilnehmen.
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Staatsbürger Rechtl. Differenzierung und Entdifferenzierung Die geschichtl. Entwicklung bürgerschaftlicher Rechte geht vom ständischen Privileg zum verfassungsrechtl. Status des Individuums. In den Parteidiktaturen Osteuropas wurde dieser Status von sog. Bürgerrechtsbewegungen im Gefolge der KSZE angemahnt und durch die Wende des Jahres 1989 weithin realisiert. Menschen- und Bürgerrechte sind geschichtl. als Abwehr- und als Gewährleistungsrechte gefordert worden: Im ersten Fall hat man in der -» Staatsgewalt ein bedrohliches Risiko wahrgenommen, vor dem Individuen und -» Gesellschaft zu schützen sind, im zweiten Fall sah man im Staat einen unparteiischen Schiedsrichter und wirksamen Helfer, die man gegen gesellschaftl. Mächtige braucht und auf die man sich verlassen will. Liberale haben lange Zeit die staatsskeptische Sicht bevorzugt und die Wirksamkeit des Staates zu begrenzen gesucht; Konservative und Sozialisten haben im Staat die je unterschiedlich definierte vernünftige Form der Gesellschaft gesucht und erwartet, daß er - mittels seiner Verwaltung - „die Persönlichkeit zur Freiheit" erhebe bzw. eine „neue Gesellschaft" ins Leben führe. Ein allgemeiner staatsbürgerl. Status, wie das —> Grundgesetz ihn geschaffen hat, war zunächst nicht vorstellbar, allenfalls eine Pluralität von Beziehungen zum Staat. G. Jellinek hat sie in seiner Status-Lehre auf den Begriff gebracht: 1) als status negativus, d.h. als staatsfreie Individualsphäre, die durch Abwehrrechte gegen obrigkeitliche Willkür gesichert ist, 2) als status positives, d.h. als staatsverbürgte Sozialsphäre, in der der einzelne Anspruchsrechte auf das Tätigwerden der staatl. Verwaltung besitzt, 3) als status activus, d.h. als polit. Sphäre, in welcher der Bürger an der staatl. Willensbildung teilnimmt. Der status negativus ist der allgemeine Status des Jedermann, er ist rein formal und verweist auf jenen Aspekt des Rechtsstaats, der das naturrechtl. WiderstandsModell gegen (ungerechte) Gewalt abbil-
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Staatsbürger det. Der status positives findet im —> Sozialstaat seinen Halt, er enthält die Rechte der Beitrags-, Steuer- und / oder Sozialbürger, die auf dem Hintergrund der von ihrer Erwerbsarbeit lebenden Marktbürger funktionieren. Mit dem status activus betreten wir die Welt des demokrat. -» Verfassungsstaats, der den Rechtsboden für den Wahl- und Abstimmungsbürger bildet. Im demokrat. Verfassungsstaat des GG fließt der größere Teil der unterschiedenen Rechte zu einem allgemeinen staatsbürgerl. Status zusammen, der konkrete, inhaltlich bestimmte und begrenzte Rechte und Pflichten umfaßt, in deren Aktualisierung und Erfüllung die rechtl. Ordnung des Gemeinwesens Wirklichkeit gewinnt. Die polit. Rechte sind volljährigen Mitgliedern des Staatsvolks, d.h. Staatsangehörigen zur Ausübung innerhalb des eigenen Staates vorbehalten; die -» EU gibt Angehörigen ihrer Mitgliedstaaten polit. Rechte auch zur Wahrnehmung in anderen Mitgliedstaaten (—> Unionsbürgerschaft). Staatsangehörigkeit gibt Rechte, fordert Pflichten und bietet Schutz. Zu den Pflichten gehören —* Verfassungstreue, Gesetzesgehorsam und die Bereitschaft zur Erbringung gesetzlich bestimmter Leistungen. Diplomatischer Schutz wird gegenüber fremden Mächten gewährt, etwa als Bemühung um Repatriierung. In BRD und -> DDR gab es bis 1967 eine einheitliche dt. Staatsangehörigkeit, die auf dem Rechts- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22.7.1913 beruhte, die zuletzt nur im Geltungsbereich des GG anerkannt war und seit dem Untergang der DDR wieder in ganz Dtld. gilt. Die Regeln für den Erwerb der Staatsangehörigkeit, nämlich Personalitäts- oder Gebietsprinzip, haben den Zweck, den Prozeß der demographischen Reproduktion und polit, bedingten Bevölkerungsgewinns im Blick auf die Selbstbestimmung des Staatsvolkes für die Allgemeinheit, aber auch für das Individuum verläßlich zu ordnen. Beide Prinzipien werden kombiniert, wenn Kinder eigener Staatsange-
Staatsbürgerliche Rechte und Pflichten
Staatsformen
höriger im Ausland geboren werden (Doppel· oder Mehrfachstaatsangehörigkeit). Da daraus Pflichtenkollisionen und Loyalitätskonflikte auf Bürgerebene und diplomatische Verwicklungen auf zwischenstaatl. Ebene entstehen können, gilt Mehrfachstaatsangehörigkeit, in der manche einen Weg der Ausländerintegration sehen, als unerwünscht. Für eine (nachträgliche) -> Einbürgerung ist rechtl. nur das Interesse des aufnehmenden Staates, nicht des Antragstellers maßgeblich. Eine Ausnahme für Dtld. bot Art. 116 GG, der Volksdeutschen, die als Flüchtlinge oder Vertriebene in das Gebiet der BRD kamen oder zwischenzeitlich einen Ausrei seantrag gestellt haben, Anspruch auf Einbürgerung gewährt. Lit: G. Birtsch (Hg): Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerl. Gesellschaft, Göttingen 1987; Geschichtl. Grundbegriffe I, S. 672ff.;; HdbStR V und VI; Hesse; G. Jellinek: Allgemeine Staatslehre (1900), Darmstadt 'i960, S. 418ff.; H. Maier: Wie universal sind die Menschenrechte?, Freiburg 1997; B. Sutor: Kleine polit. Ethik, Bonn 1997; P.-L. Weinacht: Staatsbürger. Zur Geschichte und Kritik eines polit. Begriffs, in: Staat 1969, S. 41ff.
erste umfangreiche Systematik von S., indem er 6 maßgebliche Grundmodelle als Gegensatzpaare nach 3 numerischen und 2 ethischen Kriterien unterschied: Zu den guten S. i.S. von gemeinwohlorientierten zählen Monarchie bzw. Monokratie (Einzelherrschaft), Aristokratie (Herrschaft der Besten) und Politie (Bürgergemeinschaft für Herrschaft aller). Ihnen gegenüber stehen als schlechte oder Willkürherrschaften: Tyrannis (Herrschaft zum Nutzen des Herrschers), Oligarchie (Herrschaft Weniger als Herrschaft zum Nutzen der Reichen) und Demokratie (Volksherrschaft als Herrschaft zum Nutzen der Armen). Eine 2. gröbere Typologie, die in Anlehnung an Piaton (427-347 v. Chr.) von Machiavelli (1469-1527) definiert wurde, unterscheidet allein zwischen Monarchie als Einzelherrschaft und —> Republik (Freistaat) als Herrschaft vieler. Wegen des Zurücktretens monarchischer Herrschaft gegenüber der umfangreichen Ausformung anderer Herrschaftstypen in der Neuzeit führt diese Zweiteilung zu einer starken Überzahl republikanischer S. und ist deshalb wenig aussagefähig. Die moderne S.lehre entwickelte weitere Einteilungsschemata, die zumeist weniger formal ausgerichtet sind, die allgemeine Dominanz der numerischen Dreiteilung (einer, wenige, viele) jedoch nicht brechen konnte. Reine S. stellen Idealtypen dar, die praktisch immer auch Elemente anderer S. enthalten. Eine solche Mischung ist deshalb in allen Herrschaftsordnungen wahrzunehmen und stellt ein wichtiges Kriterium für die Beständigkeit eines Staatswesens dar. Im Laufe der Geschichte unterlagen die Definitionen einzelner S. einem Wandel im Zusammenhang mit einer ständigen Differenzierung der herrschaftlichen Grundmodelle. Die Monarchie galt in der Antike als Einzelherrschaft an sich. Seit dem Mittelalter setzte sich die Vorstellung eines gekrönten Monarchen durch, dessen —> Legitimation auf Gottesgnadentum und / oder erblichem Adel beruht. Als ausgeprägtes Beispiel für eine Einzelherrschaft
Paul-Ludwig Weinacht Staatsbürgerliche Rechte und Pflichten —> Bürgerrechte —> Grundpflichten Staatsdienst —> Öffentlicher Dienst Staatsetat -> Staatshaushaltsplan —> Bundeshaushaltsplan Staatsflagge -> Staatssymbole Staatsformen sind kategorisierende Organisationsmodelle staatl. —> Herrschaft. Sie entsprechen den Staatstypen und dienen der vergleichenden Analyse in histor., verfassungtheoretischer und staatsphilosophischer Perspektive. Seit der gr. Antike werden Staaten nach der Anzahl der Herrschenden und deren ethischer Ausrichtung typologisiert. Aristoteles (384-322 v. Chr.) formulierte die
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Staatsformen dient die absolutistische Monarchie (z.B. Frankreich unter Ludwig XIV.), deren Selbstverständnis die Identität von Herrscher und Staat umfaßt. Der aufgeklärte Absolutismus sieht den Herrscher als den ersten Diener des Staates und an ethische Normen gebunden (z.B. das Großherzogtum Toskana unter Leopold). —> Konstitutionelle Monarchien sind durch eine Selbstbindung des Monarchen an eine -> Verfassung definiert (z.B. das Königreich Bay. von 1818). Moderne parlement. Monarchien (z.B. -> Verfassung, brit.) zählen zu den Volksherrschaften i.S. repräsentativer —> Rechtsstaaten. Der absolutistischen Monarchie ist die autokratische (selbstherrschaftliche) Diktatur eng verwandt. Während in der Antike und in modernen Verfassungsstaaten diktatorische Vollmachten hinsichtlich ihrer Dauer und Aufgabenstellung klar definiert sind, entsteht die autokratische Diktatur mit der eigenmächtigen Erringung der Herrschaft durch einen einzelnen, um den sich i.d.R. ein Personenkult mit charismatischer Legitimation bildet. Die totalitäre Diktatur des 20. Jhd.s (z.B. -> Nationalsozialismus in Dtld. unter Hitler, Stalinismus in der Sowjetunion) stützt sich auf eine alle Gesellschaftsbereiche und -gruppen einschließende Weltanschauungs- oder Heilslehre. Aufgrund der Ausweitung und Differenzierung staatl. Aufgaben in industrialisierten Gesellschaften haben moderne Diktaturen den Hang zur Ausformung von Führungseliten oder -cliquen i.S. eines oligarchischen Elements (-» s.a. Totalitarismus). Zu den S., die sich durch die Herrschaft einer Gruppe auszeichnen, zählen besonders Ein-Parteien-Staaten (z.B. Volksrepublik China) oder Junta- bzw. MilitärHerrschaften (z.B. Türkei unter General Evren). Vielfach ist in diesen Staaten jedoch der Übergang zur Monokratie fließend, da die Tendenz besteht, den Parteivorsitzenden mit diktatorischen Vollmachten auf Lebenszeit auszustatten. Die demokrat. S. bezeichnen heute - entgegen der negativen aristotelischen Definition -
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Staatsformen Volksherrschaften i.S. eines repräsentativen Verfassungs- bzw. Rechtsstaates. Im Vergleich zu Monarchie und Oligarchie tendiert die - > Demokratie zur Mischform. Bevölkerungsgröße und Staatsfläche sowie die Kompliziertheit des gesellschaftl. Lebens machen eine arbeitsteilige polit. —> Repräsentation erforderlich. Hierdurch ergeben sich oligarchische Elemente durch die Ausbildung polit. Eliten. Aus denselben Gründen sind direktdemokrat. S., in denen das gesamte -> Staatsvolk alle polit. Entscheidungen vornimmt, praktisch nicht anzutreffen; direktdemokrat. Elemente existieren jedoch in Form von -> Volksentscheiden oder Bürgerversammlungen in vielen modernen Demokratien. Die parlement. Demokratie ist durch eine zentrale Stellung des —» Parlamentes gekennzeichnet, die besonders in der Wahl des Regierungschefs und in einer engen Verschränkung von —> Legislative und - » Exekutive deutlich wird (z.B. BRD). Die präsidiale Demokratie wird charakterisiert durch die Einheit von —> Saatsoberhaupt und Regierungschef, der direkt gewählt wird, sowie eine scharfe Trennung von Exekutive und Legislative bzw. Präsident und Parlament (z.B. -> Verfassung der USA). Sie enthält im Unterschied zur Parlament. Demokratie stärkere monokratische Elemente. Das zentrale Legitimationsmoment demokrat. Staaten stellen freie - » Wahlen mit personellen und sachlichen Alternativen dar. Dies unterscheidet sie maßgeblich von anderen S. Die Formen demokrat. Herrschaft im besonderen verdeutlichen, daß die S.lehre v.a. in der Lage ist, einzelne Elemente staatl. Mischformen unter der Dominanz eines Grundmodells aufzudecken. Aus diesem Grunde ist sie ein wichtiger Impulsgeber für die polit. Theorie im allgemeinen und die vergleichende Regierungslehre im besonderen. Lit: Aristoteles: Politik, München 51984; A. Demandi: Antike Staatsformen, Berlin 1995; N. Machiavelli: Der Fürst, Stuttgart 61978; T. Stammen: Regierungssysteme der Gegenwart, Stutt-
Staatsgebiet
Staatsgewalt
gart '1972; R. Zippelius: Allgemeine Staatslehre, München 101988.
Barbara Hartlage-Laufenberg
Werner Reilecke
Staatsgesetzliche Grundrechte -> Bürgerrechte —» Grundrechte
Staatsgebiet Das S ist ein abgegrenzter Teil der Erdoberfläche. Die Grenzen können natürliche sein (z.B. Meer, Flüsse, Gebirge) oder willkürlich gezogen werden (vgl. z.B. die Landkarte der USA). Grenzt das S. an das Meer, gehören 12 (früher: 3) Seemeilen (eine Seemeile = 1,8 km früher die Reichweite eines Kanonenschusses) noch mit zum S., sog. Küstenmeer. Den Anrainerstaaten steht im Bereich bis zu 200 Seemeilen (sog. Wirtschaftszone) die Nutzung der Ressourcen zu (v.a. der Fischfang) sowie an dem der Küste vorgelagerten Festlandsockel die Nutzung des Meeresbodens (insbes. Erdöl- und Erdgasförderung). Diese Regelungen, die auf internationalen Abkommen basieren, führen in der Praxis immer wieder zu Streitigkeiten, bis hin zu regelrechten Seegefechten. Das S. setzt sich ins Erdinnere fort (wichtig u.a. für Bodenschätze). Ebenso gehört der Luftraum dazu, soweit er techn. beherrschbar ist (z.Z. ca. 100 km, wichtig z.B. für Überflugrechte). Wegen der Erdkrümmung verengt sich das S. unter der Erde im selben Maße, wie es sich im Luftraum erweitert. Das S. muß nicht zusammenhängen, sondern kann durch fremdes S. getrennt sein, sog. Exklave bzw. Enklave je nach Standort des Betrachters (z.B. besteht das Bundesland —> Bremen aus den Städten Brem, und - durch —• Niedersachsen davon getrennt - Bremerhaven). Der Erwerb von S. erfolgt im wesentlichen durch Okkupation (Inbesitznahme eines staatenlosen Gebiets), Annexion (gewaltsame Aneignung fremden S.es) und Zession (vertragliche Abtretung, z.B. in einem Friedensvertrag). Im S. besitzt der Staat die Gebiets- bzw. Territorialhoheit, d.h. die - » Staatsgewalt. Die in einem S. lebenden Menschen sind, soweit sie die betreffende -> Staatsangehörigkeit besitzen, das-> Staatsvolk. Lit: HdbStR I, § 16; Stern I, § 7.
Staatsgewalt Die S. als eines der 3 den -> Staat konstituierenden Merkmale ist die polit. Organisation des auf einem —> Staatsgebiet lebenden - * Staatsvolks. Sie übt Gebietshoheit über das Staatsgebiet und Personalhoheit über das Staatsvolk und sonstige sich im Staatsgebiet aufhaltenden Personen aus. Die S. umfaßt die gesamte staatl. Herrschaftsmacht und äußert sich in den rechtsverbindlichen Entscheidungen ihrer —» Organe. Nach Art. 20 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz geht in der —> Bundesrepublik Deutschland alle S. vom Volke aus (—» Volkssouveränität). Dies ist unmittelbarer Ausdruck des Demokratieprinzips. Zu unterscheiden ist zwischen der unmittelbaren und mittelbaren Ausübung der S. durch das Volk. Unmittelbare Ausübung der S. bedeutet, daß das Volk die betreffende Frage selbst ohne Zwischenschaltung einer anderen Instanz entscheidet. In den Art. 20 Abs. 2 S. 2, 29 Abs. 2 S. 1, Abs. 4, Abs. 8 S. 3, 38, 118 und 118a sieht das GG eine solche unmittelbare Ausübung der S. nur für die —> Wahlen zum —• Bundestag und Änderungen von Landesgrenzen vor. Im Unterschied dazu kennen einzelne —> Landesverfassungen auch die Instrumente des —> Volksbegehrens und -> Volksentscheids sowohl für den Fall der -> Gesetzgebung, z.B. Art. 71, 72 Abs. 1 und 74 BayVerf. als auch für die -> Parlamentsauflösung während der —> Legislaturperiode (Art. 18 Abs. 3 BayVerf.). Auch die verfassungsgebende Gewalt, die die S. konstituiert, geht nach dem GG nicht unmittelbar von dem Volk aus. So sind weder das ursprüngliche GG noch seine folgenden Änderungen, insbes. auch die aus Anlaß der Wiedervereinigung, nicht durch Volksentscheid beschlossen worden, vgl. Art. 143 GG a.F. Auch hier gehen einzelne Landesverfassungen einen anderen Weg, indem sie die Wirksamkeit
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Staatsgewalt der Verfassung(sänderung) von der Zustimmung des Volkes abhängig machen, vgl. Art. 75 BayVerf. Die mittelbare Ausübung der S. erfolgt durch ein oder mehrere besondere Organe. Für die BRD nennt Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG besondere Organe der —> Gesetzgebung, der -> vollziehenden Gewalt (-> Verwaltung) und der —> rechtsprechenden Gewalt. Es handelt sich um eine funktionelle Teilung der nur vom Volk ausgehenden S.; nur der Bundestag wird durch Wahlen vom Volk unmittelbar legitimiert. Denkbar wäre auch die Wahl der —> Regierung bzw. des Regierungschef, vgl. z.B. die Präsidentschaftswahlen in Frankreich (—> Verfassung, frz.) und den Vereinigten Staaten (-> Verfassung der USA -> präsidentielles Regierungssystem), als auch die Wahl von -> Richtern unmittelbar durch das Volk. Die vom Volk ausgehende S. wird in der BRD von den Organen der Gesetzgebung (Bundestag), der vollziehenden Gewalt (Bundesregierung und Verwaltungsbehörden) und der Rechtsprechung repräsentiert (repräsentative oder mittelbare —> Demokratie). Diese Organe handeln nicht in eigenen Namen und Interesse, sondern im Namen des Volkes. Die Dreiteilung der S. durch das GG, vgl. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 2 S. 2 und 20 Abs. 3 GG, in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung dient v.a. der gegenseitigen Kontrolle dieser Organe und der Verhinderung von Machtmißbrauch. Sie ist unmittelbarer Ausdruck des —> Rechtsstaatsprinzips. Man spricht in diesem Zusammenhang von der vertikalen -> Gewaltenteilung der einen S. in 3 Teilgewalten. Daneben kennt das GG die horizontale Gewaltenteilung zwischen den verschiedenen S.en der BRD und der Bundesländer, vgl. Art. 30, 70, 83 und 92 GG. Neben der mittelbaren Ausübung der S. durch besondere Organe wird die vom Volk ausgehende S. auch dadurch kanalisiert, daß sie grds. nur über die polit. -» Parteien, Art. 21 GG, als Mittler ausgeübt werden kann. Die Teilgewalten sind bestimmten Bin850
Staatsgewalt düngen unterworfen. Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind sie alle an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, Rechtsprechung und Verwaltung darüber hinaus an -> Gesetz und -> Recht. Das Parlament als Gesetzgeber schafft unterhalb der Verfassung das geltende Recht. Dabei ist es nur an die im GG genannten materiellen Wertungen und die im GG und der -> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages aufgestellten Verfahrensvorschriften gebunden. Das Parlament kann grds. das von ihm geschaffene Recht abändern und rückgängig machen, solange es dabei die verfassungsmäßige Ordnung beachtet. Die höhere demokrat. -> Legitimation des Parlaments gegenüber Rechtsprechung und Verwaltung rechtfertigt auch diesen größeren Handlungsspielraum. Soweit aus der gesetzgebenden Staatsgewalt sogar eine verfassungsgebende Gewalt wird, werden in Art. 79 GG weitere strenge formelle und materielle Bindungen aufgestellt. Die Handlungsform der gesetzgebenden Staatsgewalt ist das formelle Parlamentsgesetz. Es hat eine abstraktgenerelle Wirkung. Während dem Gesetzgeber im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung grds. ein weiter polit. Gestaltungsspielraum zusteht, sind die beiden anderen Gewalten bei ihrem Handeln gesetzesprogrammiert und -gebunden. Insbes. die Verwaltung als der dem Bürger am häufigsten gegenübertretende Teil der S. - bedarf für ihr Tätigwerden grds. einer gesetzlichen Ermächtigung (-> Gesetzesvorbehalt) und muß sich bei ihrer Tätigkeit im Rahmen des geltenden Rechts bewegen, d.h. nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen (Gesetzesvorrang). Allerdings werden der Verwaltung in einer Reihe von gesetzlichen Regelungen Entscheidungsspielräume eingeräumt. So werden ihr im Interesse der Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit durch Ermessensvorschriften, unbestimmte Rechtsbegriffe und Prognose- und Einschätzungsspielräume sowie eigenständige Entscheidungskompetenzen eingeräumt. Die typi-
Staatsgewalt sehen Handlungsformen der Verwaltung sind die -> Verordnung, der —> Verwaltungsakt, der öffentl.-rechtl. Vertrag und die —> Verwaltungsvorschrift. Die Wirkungen reichen von der abstrakt-generellen über die konkret-individuelle Regelung bis hin zu einer grds. rein verwaltungsintemen Wirkung. Die Handlungen der Verwaltung unterliegen der gerichtlichen Kontrolle, insoweit das Recht zur verbindlichen Letztentscheidung der rechtsprechenden S. zukommt. Die Kontrolle der Handlungen der Verwaltung erfolgt gem. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG durch die Gerichte, wobei regelmäßig nach § 40 Abs. 1 VwGO der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. Die Gerichte bilden sich bei der Kontrolle ihre eigene Überzeugung. Mit Ausnahme der sog. normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften, z.B. TA Lärm, sind die Gerichte bei der Beurteilung des Verwaltungshandelns wiederum nur an die in Art. 20 Abs. 3 GG genannten Rechtsquellen gebunden. Besondere Bedeutung kommt dabei dem sog. Richterrecht zu. Es handelt sich um eine im Rahmen des Art. 20 Abs. 3 GG zu berücksichtigende verbindliche Rechtsquelle, die durch höchstrichterliche Rechtsprechung zu Problemkreisen entsteht, die keine gesetzliche Regelung erfahren haben. Richterrecht ist nur praeter legem nicht contra legem möglich. Solche Regelungslücken sind vorhanden, wenn der Gesetzgeber der Verwaltung Handlungsund Entscheidungspielräume zuweist oder Konfliktkonstellationen übersehen hat bzw. solche aufgrund der gesellschaftl., nicht vorhersehbaren Weiterentwicklung zutage getreten sind. Die rechtsprechende S. kontrolliert auch die Gesetzgebung, nämlich insoweit als diese bei ihrem Handeln die verfassungsmäßige Ordnung verletzt. Allerdings ist nicht jedes Gericht, sondern nur das Bundesverfassungsgericht zu dieser Kontrolle berechtigt. Es wird entweder gem. Art. 100 Abs. 1 GG im Wege der -> konkreten Normenkontrolle durch Vorlage eines Gerichts, durch Klage eines in Art. 93 GG genannten
Staatsgewalt Verfassungsorgans oder Bundeslandes oder durch die -> Verfassungsbeschwerde eines Bürgers mit dem Problem befaßt. Gem. § 31 ΒVerfGG kommt einigen Entscheidungen des BVerfG die Wirkung von Gesetzen zu. Die typische Handlungsform der rechtsprechenden Gewalt ist das Urteil. Es wirkt von Ausnahmen abgesehen grds. nur für den Einzelfall und zwischen den Beteiligten. Eine Besonderheit der funktionellen S.enteilung ist die Regierungsgewalt. Die Bundesregierung ist systematisch der vollziehenden S. zuzurechnen. Allerdings kommt ihr gem. Art. 65, 76 Abs. 1, 110 Abs. 3 und 113 GG eine besondere Rolle zu. So bestimmt der —> Bundeskanzler die —» Richtlinien der Politik, die -» Bundesminister tragen selbständig die Ressortverantwortung, die Bundesregierung ist berechtigt, Gesetzesvorschläge in den Bundestag einzubringen (und bringt tatsächlich etwa 76% der Gesetzesinitiativen auf den Weg); sie hat den -> Bundeshaushaltsplan aufzustellen und als Gesetzesvorschlag in den Bundestag einzubringen. Sie ist also in weitem Maße für die polit. -> Steuerung durch Initiative verantwortlich. Aus diesem Grund unterliegt sie im polit.-gestaltenden Teil ihrer Arbeit einer geringeren Gesetzbindung als die sonstige vollziehende S.; die Bundesregierung ist durch die Art. 43 Abs. 1 und 44 GG einer besonderen Kontrolle der gesetzgebenden Gewalt ausgesetzt. Schließlich kann die Bundesregierung durch die gesetzgebende Gewalt im Wege eines -» Mißtrauensvotums nach Art. 67 Abs. 1 GG ausgetauscht werden. Besondere Bedeutung kommt bei der Kontrolle der Regierungsgewalt durch das Parlament der -> Opposition zu. Regelmäßig wird die Bundesregierung von der Mehrheit des Bundestages getragen, so daß es zwischen Parlament und Regierung nicht zu Differenzen kommen wird. Nur die Opposition wird in diesem Rahmen ein Interesse daran haben, als klärungsbedürftig ausgemachte Sachverhalte zu diskutieren und an die Öffentlichkeit zu
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Staatshaftung
Staatshaftung
bringen. Eine gewisse Kontrollfunktion kommt insoweit auch dem Bundesrat als Vertretung der Länder zu. Die S. ist die Gesamtheit der durch die Organe der öffentl. Gewalt verbindlich und abschließend zum Ausdruck gebrachten polit, und rechtl. Entscheidungen. Sie wird im Namen des Volkes und damit mittelbar auch durch das Volk, unmittelbar durch die besonderen Organe der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt ausgeübt. Lit: P. Badura: Staatsrecht, München 21996; W. Berg: Staatsrecht, Stuttgart 2 1997; C. Degenhart: Staatszielbestimmungen, Staatsorgane, Staatsfunktionen, Heidelberg 131997; Hesse-, H.P. Ipsen: Staatsrecht I, Neuwied '1997; G. Jellinek: Allgemeine Staatslehre, Kronberg31976. Ulrich
Hösch
Staatshaftung / -srecht Im modernen -> Staat können hoheitliche Maßnahmen in vielfältiger Weise zu schwerwiegenden Rechtsbeeinträchtigungen der -> Bürger fuhren. Die Rechtsnormen und ungeschriebenen Rechtsinstitute, die dafür Ausgleichsansprüche bereitstellen, bilden das S.srecht; es dient als sekundärer -> Rechtsschutz der Freiheitssphäre des Bürgers, sofern der gerichtliche primäre —> Rechtsschutz gegen den Staat nicht ausreicht. Die Grundzüge des S.srechts entwickelten sich in den vergangenen Jhd.en aus unterschiedlichen Wurzeln. So wurde der allgemeine Aufopferungsgedanke, demzufolge der Bürger Eingriffe von hoher Hand hinzunehmen hatte, der Staat ihm dieses Opfer für das —> Gemeinwohl aber entschädigen mußte (dulde und liquidiere), bereits im Allgemeinen Landrecht für die Preuß. Staaten von 1794 niedergelegt. Daraus entwickelte sich im Zuge der Industrialisierung und ihres steigenden Flächenbedarfs fllr den Eisenbahnbau als Infrastrukturmaßnahme die Enteignung als der gezielte entschädigungspflichtige Zugriff des Staates auf das private Grundeigentum. Später wurde der Kreis der entschädigungsbewehrten Eigentumsgegen-
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stände erweitert, bis die Entwicklung in der umfassenden Garantie des Art. 14 GG gipfelte, die jedes Vermögenswerte —> subjektive Recht umfaßt. Art. 14 Abs. 3 GG legt fest, daß Enteignungsgesetze die Entschädigung bereits regeln müssen, um wirksam zu sein (Junktimklausel). Den allgemeinen Aufopferungsgedanken hat der -> Bundesgerichtshof zu unterschiedlichen richterrechtl. Instituten fortentwikkelt, deren Voraussetzungen danach variieren, ob der Eingriff rechtmäßig oder rechtswidrig ist: Rechtmäßige Eigentumsbeeinträchtigungen werden als enteignender, rechtswidrige als enteignungsgleicher Eingriff entschädigt. Den Anspruch sprach der BGH früher unmittelbar aus Art. 14 Abs. 3 GG zu, da die fllr rechtmäßige Enteignungen obligatorische Entschädigung erst recht fllr rechtswidrige Eingriffe zu leisten sei. Der Bürger erhielt die Wahl, ob er einen rechtswidrigen Eingriff abwehren oder gegen Kompensation dulden wollte. Diesen Ansatz hat das —> Bundesverfassungsgericht in der Naßauskiesungsentscheidung verworfen, den Vorrang des Primärrechtsschutzes aufgestellt und die möglichen Eigentumseingriffe systematisiert. Als Folge berufen sich die Zivilgerichte heute auf den Aufopferungsgedanken des ALR. Für Einbußen an den immateriellen Gütern Leben und Gesundheit stehen der Aufopferungsanspruch (rechtmäßiger Eingriff) und der aufopferungsgleiche Eingriff (rechtswidriger Eingriff) bereit. Voraussetzung aller Ansprüche ist, daß hoheitlich in ein geschütztes Rechtsgut (Eigentum, Leben, Gesundheit) eingegriffen wird, wodurch dem Betroffenen ein die Grenze der Zumutbarkeit übersteigendes Opfer für die Allgemeinheit abverlangt wird. Bei rechtswidrigen Beeinträchtigungen konstituiert die Rechtswidrigkeit die Unzumutbarkeit des Sonderopfers. Der weit zu verstehende Eingriffsbegriff erfaßt alle hoheitlichen Maßnahmen, die unmittelbar zu einer Beeinträchtigung eines geschützten Rechtsgutes führen. Allgerdings sind normative Eingriffe nicht aufgrund des
Staatshaftung Richterrechts auszugleichen, da die Einführung der Haftung für gesetzesförmiges Unrecht unter -> Parlamentsvorbehalt steht. Eine Ausnahme gilt aufgrund ihrer Objektsbezogenheit für Bebauungspläne. Spezialgesetzliche Regelungen können die ungeschriebenen Entschädigungsinstitute verdrängen. Insofern ist das S.sgesetz der —• DDR zu beachten, das in den neuen Bundesländer als -» Landesrecht (teils stark novelliert) fortgilt. Ansonsten trifft das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht für die Entschädigung spezielle Regelungen, die zumeist auch für sonderordnungsbehördliche Maßnahmen, wie insbes. baurechtl. Genehmigungen oder Ordnungsverfügungen etc., gelten. Bundesrechtl. Entschädigungsemsprüche enthalten zahlreiche Bestimmungen des Besonderen Verwaltungsrechts (vgl. §§ 39fT. BauGB, §§ 49ff. BundeseuchenG, § 32 PlanzenschutzG, §§ 66ff. TierseuchenG etc.). Neben die Entschädigungsansprüche kann ein deliktischer Schadensersatzanspruch aus § 839 BGB, Art. 34 GG (—> Amtshaftung) treten, der auf die zivilrechtl. Haftung des -> Beamten für verschuldete Amtspflichtverletzungen zurückgeht. Diese ursprünglich persönliche Beamtenhaftung aus § 839 -> BGB wird durch Art. 34 GG in zweifacher Hinsicht zur Amtshaftung modifiziert: Zum einen wird der statusrechtl. Beamtenbegriff des § 839 BGB zum haftungsrechtl. Terminus gem. § 839 BGB, Art. 34 GG funktionalisiert. Beamter ist in diesem Sinne jeder, der in Ausübung eines öffentl. -> Amtes tätig wird; auf die dienstrechtl. Stellung als Beamter oder -> Angestellter kommt es nicht an. Zum zweiten übernimmt der Staat oder die Körperschaft die Ersatzpflicht, die den Schädiger mit der Amtsführung betraut hat. Entsprechendes bestimmte bereits Art. 131 Abs. 1 der -> Weimarer Reichsverfassung von 1919, die Schuldübernahme des Staates enthielt zuvor schon das Gesetz über die Haftung des Reichs für seine Beamten von 1910. Im Unterschied zur Entschädigung, die dem billi-
Staatshaftung gen, aber nicht völligen Ausgleich der erlittenen Einbußen dient, gewährt der Schadensersatzanspruch gem. §§ 249ÍT., 847 BGB einen umfassenden Ausgleich aller erlittenen Schäden sowie entgangenen Gewinne und Schmerzensgeld. Folge der Haftungsüberleitung aus § 839 BGB, Art. 34 GG ist, daß grds. nur Geldersatz, nicht aber die Vornahme einer Amtshandlung als Naturalrestitution verlangt werden kann, die der Beamte als Privater nicht hätte leisten können. Die entstehende Lücke füllt der Folgenbeseitigungsanspruch, der bei Grundrechtseingriffen die Beseitigung fortdauernder Eingriffsfolgen als Restitution des status quo ante gewährt. Ihm korrespondiert ein (vorbeugender) Unterlassungsanspruch gegen rechtswidrige Eingriffe des Staates in -> Freiheit und —> Eigentum. Gemeinsam ist allen Ansprüchen des S.srechts, daß Mitverschulden des Geschädigten zu Kürzung oder Ausschluß führt. Den schuldhaften Nichtgebrauch eines —> Rechtbehelfs sanktioniert für die Amtshaftung § 839 Abs. 3 BGB. Ansonsten ist der Gedanke des § 254 BGB entsprechend zu berücksichtigen. Der Rechtsweg für das S.srecht ist geteilt: Während die Entschädigungs- und die Amtshaftungsansprüche vor den ordentlichen Gerichten geltend zu machen sind, kann der Betroffene Folgenbeseitigung und Unterlassung vor den Verwaltungsgerichten einklagen. Der Neuregelungsversuch des S.sgesetzes vom 26.6.1981 ist vor dem BVerfG mangels Gesetzgebungskompetenz des Bundes gescheitert - ein Hindernis, das die Aufnahme der S. als konkurrierende Kompetenzmaterie in Art. 74 Nr. 25 GG mittlerweile ausgeräumt hat. Zum Schutz der Länderinteressen fordert Art. 74 Abs. 2 GG die Zustimmung des -> Bundesrates. Für das -> Europarecht hat der Europäische Gerichtshof entschieden, daß die nicht rechtzeitige oder ausbleibende Umsetzung einer -> EG-Richtlinie zum Ersatz verpflichtet, sofern die Richtlinie den Schutz der Geschädigten bezweckt, unbedingt und hinreichend bestimmt ist und so
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Staatskirchenrecht
Staatshaushaltsplan bei ihrer Umsetzung in nationales Recht kein eine Haftung evtl. ausschließender Gestaltungsspielraum verbleibt. Lit.: BVerfGE 61, 149ff. (Staatshaftungsgesetz);
BVer/GE 58, 300ff. (Naßauskiesung); F. Ossenbiihl: Staatshaftungsrecht, München "1991; S. • Pfab: Staatshaftung in Dtld., München 1997;
H.W. Rengeling /A. Middeke /M. Gellermann: Rechtschutz in der EU, München 1997, § 9, § 38.
Tobias Linke Staatshaushaltsplan Ein S. wird in der Regel für ein oder mehrere Jahre durch ein Haushaltsgesetz festgestellt. In föderal organisierten Staaten gibt es keinen einheilichen S., sondern eigene Haushaltspläne für die jeweiligen Gebietskörperschaften. Der S. umfaßt eine Zusammenstellung der für einen bestimmten Zeitraum (meist ein Jahr) geplanten Einnahmen, Ausgaben und —> Verpflichtungsermächtigungen des öffentl. Budgets. Das -> Haushaltsrecht regelt Aufstellung und Vollzug des S.es, er wird in der Regel der -» Legislative von der —> Exekutive zur Beratung und Beschlußfassung vorgelegt und in Form eines —> Gesetzes beschlossen. Ein S. gliedert sich in Einzelpläne und den Gesamtplan. Die Einzelpläne gelten für die einzelnen Verwaltungszweige und sind in Kapitel, Titel und Titelgruppen unterteilt. Ein Gesamtplan setzt sich aus der Zusammenfassung der Einzelpläne in einer Haushaltsübersicht, einer Finanzierungsübersicht und einem Kreditfinanzierungsplan zusammen. Bei Änderungen in der laufenden Budgetperiode müssen Nachtragshaushalte vorgelegt und verabschiedet werden. Lit.: H. Wiesner: Öffentl. Finanzwirtschaft I. Haushaltsrecht, Heidelberg® 1992.
T.B. Staatskanzlei -> Landesregierung Staatskirchen -> Kirchen —> Staatskirchenrecht Staatskirchenrecht 1. Begriff und Systematik St. ist derjenige Teil des —• öffent854
lichen Rechts, der die Beziehungen zwischen —> Staat und —> Kirche regelt. Diese Definition enthält freilich mehrere Ungenauigkeiten. Dem faktischen Inhalt dieses Rechts gem., müßte von den Beziehungen zwischen Staaten und Kirchen gesprochen und mindestens in Betracht gezogen werden, inwieweit auch Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zum Regelungsbereich dieses Rechts hinzugehören. Aber die Terminologie „Staat und Kirche" macht mindestens eines klar: Beim St. handelt es sich um ein Recht älteren Typs. Es entstammt seinem Kern nach der Epoche vor den beiden Weltkriegen und damit der Zeit noch vor der tiefgehenden Umgestaltung des internationalen Rechtes, des Handels-, Versicherungs- und Finanzrechtes durch die Gründung der -» Vereinten Nationen, der EG bzw. —> Europäischen Union und anderer internationaler Organisationen. Der weitaus größte Teil allen St. s besteht aus verfassungs- und vertragsrechtl. Regelungen auf einzelstaatl. Ebene. Im Bereich des Verfassungsrechts lassen sich wiederum 3 Haupttypen unterscheiden: der der Staatskirche, in dem eine oder mehrere Kirchen Teil der Staatsorganisation selbst und darum natürlich auch Inhalt des die Staatsorganisation betreffenden Verfassungsrechts sind; der der unvollständigen bzw. der vollständigen Trennung, in dem Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften dem Staat gegenüber selbständige Organisationen als —> Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind, aber laut Verfassungs- und Vertragsrecht von allen öffentl. Funktionen ausgeschlossen sind (laizistisch-antiklerikale Form der Trennung), St. demnach nur die Form staatlicherseits den Kirchen auferlegten Rechtes haben kann, oder in dem durch Verfassungsrecht eine staatl. Kompetenz für Fragen der Religion und Weltanschauung schlechthin ausgeschlossen und somit weiterer verfassungsrechtl. oder einfachgesetzlicher Regelungsbedarf als nicht bestehend vorausgesetzt wird (radikal demokrat. Form der Trennung).
Staatskirchenrecht 2. Inhaltliche Ausgestaltung der verschiedenen Typen -2.1 Staatskirche Hier entsteht für jede Verfassung, die den Gleichheits- und Freiheitsprinzipien der modernen -> Demokratie genügen will, das Problem, wie das Vorhandensein von Staatskirche mit den Normen der —> Glaubens· und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) in Einklang gebracht werden soll. Ein besonders anschauliches Beispiel für das Aufeinandertreffen der demokrat. Grundrechtsanforderungen und jener oben charakterisierten älteren staatsrechtl. Traditionen, liefert die Verfassung des EUMitgliedstaates —> Griechenland. Einerseits steht an ihrem Anfang eine feierliche Anrufung der heiligen Dreieinigkeit, wie sie aus den Präskripten mittelalterlicher Kaiserurkunden bekannt ist und ein Art. 3, der die besondere Stellung der gr.orthodoxen Kirchen als in Griechenland „vorherrschende Religion" beschreibt und als Konsequenzen aus ihr die Anerkennung der dogmatischen und kirchenrechtl. Entscheidungen der 7 altkirchl. Konzilien sowie die normative Gültigkeit des Kanons der Bibel des Alten und Neuen Testamentes konstatiert. Andererseits enthält die gleiche Verfassung ein Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Religion (Art. 5 Abs. 2) sowie eine grundsätzliche Gewährleistung der religiösen -> Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 13, Abs. 1-5) Eine solches Miteinander als Kompromiß zwischen verschiedenen Rechtstraditionen in einer Verfassung wurde nur möglich, weil die einen, die status- und korporationsrechtl. der Staatskirche, im modernen gesellschaftl. Leben weiterhin nur noch histor. Bedeutung haben und darum insoweit den Bereich demokrat. Grundrechte nicht tangieren oder gar ausschließen müssen. Ganz ähnliches läßt sich auch über andere Länder mit mehr oder weniger stark ausgeprägten staatskirchl. Traditionen sagen. Zu welcher Flexibilität und Regelungsvielfalt diese status- und korporationsrechtl. Traditionen führen, zeigt in geradezu extremer Weise das Vereinigte
Staatskirchenrecht Königreich, das 2 verschiedene Staatskirchen, die anglikanische in England, die reformierte in Schottland, nebeneinander zuläßt neben den staatskirchenfreien Landesteilen Wales und Nordirland, wo die anglikanische Kirche gleichberechtigt neben anderen Kirchen existiert. 2.2 Teiltrennung der Kooperation Allzu offenkundig hatten sich die Kirchen 1914 hinter die Kriegspolitik des dt. Kaiserreichs gestellt, als daß sie dessen Sturz und die Ausrufung der Republik ohne Auswirkung auf ihre öffentl. Autorität hätten überstehen können. Dennoch waren deren Revisionen durch die —• Weimarer Reichsverfassung im Ganzen höchst maßvoll. Sie bestätigte den durch das Ende der herrschenden Dynastien ohnehin eingetretenen Zusammenbruch des landeskirchl. Summepiskopates (Landesherr als „oberster Bischof'). Und es war hauptsächlich dies, was den Inhalt des entscheidenden Satzes von Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung ausmachte: ,3s besteht keine Staatskirche" (Art. 137, Abs. 1 WRV). Denn wenn er nicht diesen Inhalt gehabt hätte- der Inhalt dieses Satzes wäre weitgehend rätselhaft angesichts der in den übrigen Absätzen des Artikels 137 enthaltenen Bestätigungen traditioneller Inhalte des alten St.es, v.a. dem mit zahlreichen Privilegien ausgestatteten Status der beiden Volkskirchen als Körperschaft des öffentl. Rechtes, der ihnen fast uneingeschränkt erhalten blieb, was sich besonders im Steuer-, Eigentums·, Feiertags- und Anstaltenseelsorgeprivileg auswirkte. Unverkennbar war freilich, daß die Weimarer Reichsverfassung ihre staatskirchenrechtl. Regelungen lediglich als einen Zwischenschritt hin auf eine endgültige und vollständige Trennung von Staat und Kirche verstand. Stellte sie doch all ihre Art. unter den der vollen —> Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 135 WRV), sah die Ablösung aller überlieferten Staatsleistungen an die Kirchen vor (Art. 138 Abs. WRV), unterstellte auch nach den kirchl. Grundsätzen zu erteilenden Religionsunterricht der
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Staatskirchenrecht staatl. Aufsicht und Verantwortung (Art. 149 Abs. 1 WRV) und ordnete schließlich im übrigen das ganze staatskirchl. Verfassungsrecht den Übergangsbestimmungen der Verfassung zu. Verglichen mit der verfassungsgebenden Weimarer Nationalversammlung, befand sich der —> Parlamentarische Rat 1949 in beinahe der entgegengesetzten Situation. Diesmal war es der Staat, der aus der Barbarei der Hitlerdiktatur (—> Nationalsozialismus), in einer tiefen Grundlagenkrise aller seiner moralischen und polit. Voraussetzungen, hervorgegangen war, während die Kirche als einzige nicht durch die Diktatur vereinnahmte Institution, ja sogar als Trägerin der opponierenden Bekennenden Kirche eine solche Autorität zurückgewonnen hatte, daß sogar Rufe nach der Rückkehr zum „christl. Staat" des 19. Jhd.s laut wurden. Der Parlament. Rat war in seiner Mehrheit nicht willens, diesen Stimmungen zu folgen, sondern zog aus der Menschenrechtswidrigkeit der Naziherrschaft die einzig richtige Konsequenz, indem er die Unantastbarkeit der Menschenwürde zum ersten und obersten Verfassungsprinzip erklärte und darum den Grundrechtekatalog als Basis einer streng föderalisierten Staatsorganisation vorausgehen ließ. Da das -> Grundgesetz, wie schon sein Name sagte, wegen der Unvollständigkeit seines Geltungsbereiches lediglich eine vorläufige vor der endgültigen gesamtdt. Verfassung bleiben sollte, schloß man sich auch staatskirchenrechtl. dem Weimarer Modell der Übergangslösung einer unvollständigen Trennung an, die nur durch das Aufbrechen ihrer Systematik von dem Gefalle zur vollständigen Trennung gelöst wurde, was im Endergebnis darauf hinauslief, die Art. 136-139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung als Art. 140 des GG im vollen Wortlaut zu übernehmen. Es verdient nicht unerwähnt zu bleiben, daß die Stärke dieser staatskirchenrechtl. Traditionen sich auch darin bewies, daß selbst die Verfassung der —• DDR von 856
Staatskirchen recht 1949 die staatskirchenrechtl. Art. der Weimarer Reichsverfassung mit einigen Ausnahmen übernahm, die aber die Grundstruktur der unvollständigen Trennung nicht außer Kraft setzten. Und trotz ständig wiederholter gegenteiliger Behauptungen gilt auch für den berühmten Art. 39 der DDR-Verfassung von 1968 / 1974, die den Herrschafts- und Führungsanspruch der marxistisch-leninistischen Weltanschauung proklamierte und darum die Weimarer Kirchenartikel aus dem Verfassungstext strich, daß auch er das Kooperationsmodell nur einschränkend modifizierte. 2.3 Vollständige Trennung Im Fall der Trennungssysteme ist wichtiger als die Schilderung von Beispielen klarzustellen, daß es, wie vorstehend angedeutet, 2 Arten desselben gibt, grundverschieden im Ausgangspunkt wie den Ergebnissen. Die erste aus der Frz. Revolution stammende, seit 1905 Verfassungswirklichkeit und seit 1958 Bestandteil der Selbstdefinition des frz. Staates gewordene („Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokrat. und soziale Republik", Frz. Verfassung, Art. 1) bedeutet eine Festlegung auf den Laizismus, d.h. den vollständigen Ausschluß jeder Art von Klerus aus der Teilhabe an oder Einfluß auf die öffentl. Gewalt. Daß damit die Anerkennung der vollen Religionsfreiheit einhergehen kann, ergibt sich nicht nur aus den entsprechenden Diskriminierungsverboten der frz. Verfassung, zu der die Menschenrechtserklärung vom 26.8.1789 mit dem entsprechenden Art. 10 gehört. Es ergibt sich auch aus der Sache. Ob die Eliminierung des religiösen Einflusses auf die öffentl. Gewalt der Autorität der Religion schadet oder nützt, ergibt sich alleine daraus, wie die Anhänger der Religion mit dieser Sachlage umgehen. Als religionsfeindlich oder -schädigend, können jedenfalls nur diejenigen eine solche Trennung ansehen, die den öffentl. und gesellschaftl. Einfluß der Religion alleine an ihrer Nähe zur Macht- und Herrschaftssphäre messen, d.h. zivilreligiösen
Staatskirchenrecht und damit fundamentalistischen und vorchristl. Vorstellungen anhängen. Ganz anders steht es um das Trennungsprinzip, daß die —> Verfassung der USA (1791) in dem berühmten Satz des 1. Amendments formuliert hat: „Der Kongreß darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Religion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Mißständen zu ersuchen.". Zweierlei ist an diesem Satz von epochaler Wichtigkeit. Das Erste ist der Ausschluß jeder Kompetenz und Kompetenznorm für die Legislative in Religionsangelegenheiten außer der einen, der Gewährleistung und des Schutzes der Religionsfreiheit. Insofern ist dieser Verfassungssatz die klarste verfassungsrechtl. Anwendung jener Einsicht der Reformation, daß die Bestätigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit allein dem Prinzip gehorcht „sine vi, sed verbo" („ohne Gewalt, sondern durchs Wort"), demnach wie Luthers Verbrennung des mittelalterlichen Kirchenrechts dokumentierte, auch der gesetzgebenden und richterlichen Gewalt entzogen ist. 3. Histor. Kontext Sein vordemokrat. Ursprung erweist sich als die eigentliche Problematik des St.es. Liegen seine Wurzeln doch in der Zeit nach dem Westfälischen Frieden von 1648, als das ältere Verfassungsprinzip „cuius regio - eius religio" („wes das Land, des die Konfession") an dem fast überall auftretenden Nebeneinander der Konfessionen scheitert. Damit war die Regelung der Verhältnisse zwischen kirchl. und weltlicher Jurisdiktion aufgrund des Nebeneinanders und Gegenübers von Kirche, Rathaus und —> Schule unmöglich geworden, wie es den Kirchenordnungen des Reformationsjahrhunderts das Übliche war. In der 2. Hälfte des 17. Jhd.s galt es, den Anforderungen des einheitlichen Flächenstaates und seiner einheitlichen Administration mit neuen kirchen- und staatsrechtl. Kate-
Staatkirchenrecht gorien nachzukommen. 3 Lösungskonzepte wurden von Juristen und Theologen jener Epoche ins Gespräch gebracht. Der erste und konservativste ging nach traditioneller Weise vom Faktum der Herrschaft und der Person des Herrschers aus, dem kraft seiner Funktion auch bischöfliche Kompetenz zugeschrieben wurde, freilich mit verschiedenen staatsoder kirchenrechtl. Begründungen. Daher der Name Episkopalsystem. Die Gegenthese vertrat das Territorialsystem, das die —> Souveränität der Landeshoheit auch gegenüber den Konfessionen, und zwar allen in den Grenzen eines Territoriums ansässigen, zur Geltung zu bringen unternahm. Es sind frühaufklärerische und frühabsolutistische Gedanken, die sich im Konzept des Temtorialismus zu Wort meldeten. Eben darum konnte man gegen dieses System einwenden, daß es der Eigenständigkeit der Kirchen nur ungenügend Rechnung trage. Hier bot sich ein anderer Gedanke aufklärerischen Rechtsdenkens als Lösungsinstrument an: der der Vereinigungsfreiheit, den man nur auf die Kirche anzuwenden brauchte, indem man sie als „Religionsgesellschaft" interpretierte, als eine zur Pflege einer bestimmten Religion errichtete Assoziation gleichberechtigter Mitglieder, eine Art Kollegium, wonach dieses System denn auch als Kollegialismus geschichtl. wirksam geworden ist und die beiden anderen weitgehend zu verdrängen vermochte. Die in fast allen staatskirchenrechtl. Texten auftretende Bezeichnung „Religionsgemeinschaft" ftlr „Kirche" ist ein besonders signifikanter Ausdruck dieser Herrschaft des Kollegialsystems. „Diese Theorie ist dank ihrer konfessionsneutralen Ausgestaltung zur Grundlage des modernen pluralistischen St.es der Religionsgemeinschaften im säkularen Staat geworden", heißt es in einem weitverbreiteten Lehrbuch (von Campenhausen). Erlaubte dieses System dem Staat doch, seine Politik zu stützen auf jene schon im Titel 11 des Preuß. Landrechtes formulierte Klassifikation aller Religions-
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Staatskommissar
Staatsoberhaupt
gesellschaften in privilegierte (die großkirchl. Konfessionen), geduldete (nichtchristl. Religionen, Sekten und Sondergemeinschaften) und unerlaubte (mit der öffentl. Ordnung unvereinbare Gruppierungen). Es waren nicht zuletzt diese Erfahrungen mit den Funktionsschwächen des traditionellen St.es, die in der gemeinsamen Verfassungskommission (—• Deutsche Einheit) durch einen Antrag von Seiten -» Bündnis 90/Die Grünen eine neue öffentl. Debatte seiner Grundlagen auslösten. Wie man weiß, ist diese Debatte mit der Ablehnung jenes Antrages nicht beendet worden. Sie kann alleine dadurch beendet werden, daß die Beziehungen von Staatsrecht und Kirchenrecht auf Grundlagen gestellt werden, die rechtl., polit, und theologisch den Herausforderungen genügen, denen die Demokratie durch Nationalismus wie zivilreligiöse und fundamentalistische Bewegungen ausgesetzt ist. Lit.: A. v. Campenhausen: Staatskirchenrecht, München 3 1996; H.E. Feine: Kirchl. Rechtsgeschichte I, Weimar M972; HdbStKirchR J I, S. 65 Iff. und S. 8 5 f f ; J. Listi / Η. Müller / Η. Schmitz (Hg.): Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts, Berlin 1980; Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BTDrucks. 12/6000 v. 5.11.1993.
Wolfgang Ullmann
Staatskommissar Der S. ist ein von der —> Exekutive eingesetzter Beauftragter, der an Stelle des eigentlich zuständigen Staats- oder Selbstverwaltungsorgans dessen Aufgaben und Befugnisse ganz oder teilw. ausübt. Ein S. darf nur eingesetzt werden, solange und soweit das betroffene —» Organ nicht in der Lage ist, seine Verwaltungsaufgaben selbst ordnungsgemäß zu erledigen, und weniger einschneidende Maßnahmen zur Herstellung ordnungsgemäßer Zustände nicht verfügbar sind. Die Bestellung eines S.s (Beauftragten) ist insbes. ein Mittel der -» Kommunalaufsicht, das in allen Gemeinde- und Kreisordnungen vorgesehen ist. Soweit sonstige kommunalaufsichts858
rechtl. Maßnahmen nicht ausreichen, kann ein Beauftragter bestellt werden, der alle oder einzelne Aufgaben der —y Kommunen auf deren Kosten wahrzunehmen hat. Der Beauftragte erlangt dabei die Stellung eines Kommunalorgans (s.a. —> Bundeszwang). R. M.-T.
Staatsmacht -> Staatsgewalt Staatsminister Mit der Neufassung des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse von —> Parlamentarischen Staatssekretären (ParlStG 1974) besteht die Möglichkeit, diesen den Titel S. zu verleihen. Diese Regelung wurde v.a. aus protokollarischen Gründen getroffen, um primär bei internationalen Kontakten die Stellung des betreffenden parlament. Staatssekretärs hervorzuheben. Folgerichtig tragen deshalb seit 1974 die PStS im -> Auswärtigen Amt und im -» Bundeskanzleramt diesen Titel. Verwechslungsmöglichkeiten bestehen nicht nur mit -> Bundesministem, sondern v.a. mit Ministem bestimmter Bundesländer (z.B. -» Bayern oder -» Sachsen), die ebenfalls S. heißen. H.G.
Staatsnotstand —»• Notstandsverfassung s.a. Gemeinsamer Ausschuß Staatsoberhaupt Im demokrat. -> Verfassungsstaat gibt es 3 verschiedene Typen des S.s. Im strikt gewaltentrennenden, —> präsidentiellen Regierungssystem, wie es am reinsten in den USA verwirklicht ist, ist das S. die —> Exekutive; die -> Regierung besteht lediglich aus -> Staatssekretären, die in einem Unterstellungsverhältnis zum allein durch Volkswahl legitimierten Präsidenten stehen. Im System der bipolaren Exekutive, wie etwa in Frankreich, geht der Präsident als S. und Chef der Exekutive ebenfalls aus allgemeinen -> Wahlen hervor. Allerdings ernennt er einen Regierungschef, der dem —> Parlament verantwortlich ist. Solange der Präsident von der Parlamentsmehrheit
Staatsorgan
Staatsorgan
unterstützt wird, ist dieser i.d.R. die dominierende Figur innerhalb der Exekutive; erst wenn sich die Parteienkonstellationen durch den ungleichen Wahlturnus verändern (-» cohabitation), kommt es zu einer Annäherung an parlament. Verhältnisse, d.h. der dem Parlament verantwortliche -> Premierminister spielt eine größere Rolle, und der Präsident beschränkt sich stärker auf repräsentative Funktionen; eine gegenseitige Blockade ist ebenfalls denkbar. Auch das -> parlamentarische Regierungssystem kennt die Teilung der Exekutive zwischen S. und Regierungschef. Jedoch liegen hier die genuin polit. Kompetenzen fast ausschließlich beim Regierungschef, der von der Parlamentsmehrheit gewählt und getragen wird. Es spielt keine Rolle, ob das S. ein Monarch (-> Parlamentarische Monarchie) oder ein durch direkte Volkswahl legitimierter oder indirekt gewählter Präsident ist, die —> Ernennung des Regierungschefs durch das S. bildet lediglich den Vollzug einer Parlamentsentscheidung, die Ernennung der —> Minister geschieht auf Vorschlag des Regierungschefs. Die Funktionen des S. sind auf die —> Repräsentation des Staates nach außen und innen beschränkt, ohne daß damit ein direkter Einfluß auf die konkrete -> Außen- oder -> Innenpolitik des -» Staates verbunden wäre. Die Inkraftsetzung der —> Gesetze durch das S. ist ein staatsnotarieller Akt, dem kein —> materielles Prüfungsrecht innewohnt. Das S. soll über den - » Parteien stehend eine Integrationsfunktion ausüben und spielt nur dann eine polit. Rolle, wenn das Parlament bzw. die Parteien sich unfähig zeigen, zu einer Mehrheitsbildung zu kommen (Reservefunktion). -> s.a. Bundespräsident Lit: W. Kaltefleiter: Die Funktionen des Staatsoberhaupts in der parlament. Demokratie, Köln 1970.
Torsten Oppelland Staatsorgan / -e S.e sind „Werkzeuge" des -> Staates. Ihre Tätigkeit wird dem
Staat - z.B. im Rahmen der - » Staatshaftung - zugerechnet. S.e üben —> Staatsgewalt aus. Sie bilden und äußern dabei den Willen des Staates. Es lassen sich 3 Typen von S.en unterscheiden: 1. Verfassungsorgane sind solche S.e, die in ihrem Status und in ihren wesentlichen Kompetenzen unmittelbar von der —• Verfassung konstituiert werden, wobei sie keinem anderen Organ untergeordnet sind. Sie haben an der obersten Staatsleitung teil und prägen das Wesen des Staates. Um solche Verfassungsorgane handelt es sich in der BRD auf der staatl. Ebene des Bundes beim —> Bundestag (Art. 38ff. GG), Bundesrat (Art. 50ff. GG), Gemeinsamen Ausschuß (Art. 53a GG), dem -> Bundespräsidenten (Art. 54ff. GG), der —» Bundesregierung (Art. 62ff. GG) und dem -> Bundesverfassungsgericht (Art. 93f. GG). Diese Verfassungsorgane sind einander grds. gleichgeordnet, es sei denn, die Verfassung ordnet selbst eine Über- oder Unterordnung an. Sie liegt z.B. in der Unterworfenheit aller Organe der -> Exekutive und der —> Judikative unter die von den Legislativorganen (Bundestag, Bundesrat) beschlossenen -> Gesetze. 2. Oberste S.e sind zwar in der Verfassung verankert und unterstehen keiner anderen Instanz. Sie erhalten ihre Aufgaben aber im wesentlichen nicht durch die Verfassung selbst, sondern durch einfache Gesetze. Um solche S.e handelt es sich in der BRD auf der staatl. Ebene des Bundes bei der —• Bundesbank (Art. 88 GG), dem -> Bundesrechnungshof (Art. 114 Abs. 2 GG) und den obersten -> Bundesgerichten (Art. 95 GG). 3. Weitere S.e sind sonstige Organe des Staates, deren Handlungen diesem bzw. der staatl. Ebene, für die es handelt, zugerechnet werden. Eine verfassungsrechtl. Erwähnung finden die S.e zum einen in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, der das Prinzip der -> Gewaltenteilung, das tragende Organisationsprinzip des GG, als Mittel einer rationalen und sachgerechten Organisation des Staates verankert. Verfassungsrechtl. verankert
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Staatsrat
Staatsräson ist, bezogen auf die Ebene des Bundes, der Begriff der S.e ferner in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, der mit dem Organstreitverfahren (—> Organstreit) ein Mittel zur Lösung von —> Verfassungskonflikten zwischen obersten Bundesorganen bereitstellt. Die wesentliche die S.e untereinander treffende Pflicht ist diejenige zur Organtreue. Diese Verpflichtung zu Loyalität und Beachtung der Funktionen der jeweils anderen S.e verpflichtet die S.e zu wechselseitiger Rücksichtnahme bei der Ausübung von —> Kompetenzen. Insoweit weist die Pflicht zur Organtreue als verfassungsimmanente Verpflichtung zu wechselseitigem Ausgleich auf der horizontalen Ebene des Bundes deutliche Parallelen zur Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten und zur Bundestreue im Bundesstaat auf. Sie duldet, weil sie im verfassungsrechtl. Kompetenzgefüge begründet ist, namentlich keine Einschränkung aufgrund polit. Erwägungen. Lit: C. Degenhart: Staatszielbestimmungen, Staatsorgane, Staatsfunktionen, Heidelberg ,3 1997; HdbStR II, §§ 40-56; G. Jellinek: Allgemeine Staatslehre, Kronberg/Ts.31976.
Jörg Ukrow Staatsräson Der Begriff der S. entwikkelte sich parallel zur Herausbildung des neuzeitlichen Staates im 16. Jhd.; er meint die Orientierung des staatl. Handelns am Wohl und Erhalt des —> Staates selbst. S. läßt sich daher treffend auch als Staatswohl bezeichnen. Die Diskussion um die S. problematisiert vielfach das Verhältnis und die Spannung zwischen S. einerseits, —> Recht und Moral andererseits. Zu deren Beurteilung ist in Rechnung zu stellen, daß die Leistung des Staates, den innergesellschafll. -> Frieden herzustellen und zu gewährleisten, selbst sittliche Qualität hat. Angesichts der Tatsache, daß S. also primär Friedensräson ist, erscheint die Annahme einer Antinomie von S. und Recht bzw. Moral dem Phänomen der S. nicht angemessen. Im übrigen darf die S. im —> Verfassungsstaat den durch die —> Verfassung gesetzten rechtl. Rahmen 860
nicht durchbrechen. Innerhalb dieses Rahmens jedoch hat das staatl. Handeln freien Spielraum. Beim Abwägen innerhalb dieses Spielraums kann die Aufrechterhaltung der Integrität des Staates gegenüber dem Wohl des einzelnen Priorität genießen, wie es etwa im „Schleyerurteil" des BVerfG (BVerfGE 46, 160) deutlich zum Ausdruck kommt. Hier wurde die Gefährdung des Lebens des von Terroristen entführten H.-M. Schleyer um der Fähigkeit des Staates willen, allgemein Schutz zu gewähren, bewußt in Kauf genommen. Den Forderungen der Terroristen, das Leben Schleyers für staatl. Gegenleistungen einzutauschen, wurde nicht entsprochen. Das —> Bundesverfassungsgericht erklärte dieses Handeln aus Gründen der S. für verfassungsrechtl. unbedenklich. Lit: F. Meinecke: Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (1924), München "1976; P. Nitschke: Staatsräson kontro Utopie, Stuttgart 1995; Λ Schnur (Hg.): Staatsräson, Berlin 1975.
M. He. Staatsrat / DDR Der S. wurde 1960 errichtet, um dem damaligen SED-Chef Ulbricht eine zusätzliche staatsorganisatorische Machtbasis zu schaffen. Mit der DDR-Verfassung von 1968 wurde eine dominierende Stellung des S. im Staatsaufbau der -> DDR begründet. Die Befugnisse des S. wurden nach dem Sturz Ulbrichts 1971 stark beschnitten. Die Kompetenzen des S., der als Organ der Volkskammer der DDR von dieser gewählt wurde und ihr formell verantwortlich war (Art. 50, 66 der DDR-Verfassung 1974), beschränkten sich nach der DDRVerfassung 1974 im wesentlichen darauf, die Tätigkeit der „örtlichen Volksvertretungen" sowie des Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwalts der DDR zu überwachen (Art. 70, 74 Abs. 1), und grundsätzliche Beschlüsse zu Fragen der Sicherheit und Verteidigung der DDR zu fassen (Art. 73). Die Aufgabe des S., die DDR völkerrechtl. zu vertreten (Art. 66 Abs. 2), erlaubte es dem neuen SED-Chef
Staatssekretär
Staatsrecht Honecker nach seiner Wahl zum Vorsitzenden des S. 1976, die DDR als Staatsoberhaupt zu repräsentieren. Auch der S. unterlag im übrigen bis zur friedlichen Revolution in der DDR 1989 stets der in Art. 1 der DDR-Verfassung sowie im Programm der SED verankerten führenden Rolle der SED. IM.: Stichwort „Staatsrat", in: DDR-Handbuch, Köln '1985, S. 1298ff. J. U.
Staatsrecht Bis in die Zeit der —> Weimarer Reichsverfassung wurde S. umfassend verstanden als Summe derjenigen Rechtsnormen, die auf den -> Staat und die gesamte Organisation der Tätigkeit staatl. Organe im Innern bezogen sind. Diese Definition ist nach der Verselbständigung einzelner Gebiete wie -> Verwaltungsrecht, -> Strafrecht oder Prozeßrecht überholt, klingt aber noch in der gelegentlichen Bezeichnung des —> Völkerrechts - anknüpfend an Kant (17241804) - als „äußeres S." an. Nach heutiger Auffassung zählen zum S. diejenigen Rechtsnormen des öffentlichen Rechts, welche die grundlegenden Funktionen des Staates in ihren tragenden Prinzipien, in ihrer wesentlichen Organisation und in ihrem Grundverhältnis zum -> Bürger ordnen. Hierzu zählen Staatsorganisation, Verfassungsstrukturprinzipien, Staatsziele und -> Grundrechte. Da das S. dem Inhalt nach die -> Verfassung des Staates bestimmt, ist es identisch mit dem materiellen —> Verfassungsrecht. Die zentralen Nonnen des S.s sind der Form nach in der Verfassung niedergeschrieben und damit zugleich der Form nach (formelles) Verfassungsrecht. Allerdings gibt es auch außerhalb der Verfassung für die Organisation der obersten Verfassungsorgane konstitutive Normen, z.B. in den Geschäftsordnungen von —> Bundestag, —> Bundesrat und -> Bundesregierung, im BVerfGG, BMinG, BWG oder im Gesetz über die Wahl des -> Bundespräsidenten; S. geht insoweit über das formelle Verfassungsrecht hinaus.
Femer finden sich in der geschriebenen Verfassung Normen, die materiell nicht zum S. gehören, sondern etwa zum Verwaltungsrecht wie die Regelungen des GG über Amtshaftung (Art. 34) und -> Amtshilfe (Art. 35); insoweit reicht das formelle Verfassungsrecht über das S. hinaus. S. und formelles Verfassungsrecht bilden demnach 2 Mengen, die sich im wesentlichen, aber nicht vollständig überschneiden. Nach anderer Auffassung kommt bereits in der Aufnahme einer Vorschrift in die Verfassung zum Ausdruck, daß sie vom Verfassunggeber als grdl. angesehen wird und somit stets dem S. zuzurechnen ist; hiemach ist das gesamte Verfassungsrecht Bestandteil des S.s, während das S. über das Verfassungsrecht hinausreicht. Lit: E. Stein: Staatsrecht, Tübingen "1998, § 1 V, S. 6f.Stern I, § 1 II-V, S. 7ff. Nicolai Müller-Bromley
Staatsschuldenverwaltung —> Bundesschuldenverwaltung Staatsschutz —> hörden
Verfassungsschutzbe-
Staatssekretär Der S. ist der geborene Vertreter des —• Ministers in der Ressortleitung und verantwortlich für den Geschäftsbetrieb des Ministeriums. Der beamtete S. repräsentiert die permanente Verwaltungsfunktion des Ministeriums als oberste Bundes- oder Landesbehörde. Zugleich unterstützt er die polit. —> Führung des -»· Ressorts als alter ego des Ministers; ihm ist von Amts wegen der diskrete Zugang zum Machthaber eröffnet. Er agiert als ständiger Vertreter des Ministers, nicht nur als Ersatzvertreter bei dessen Verhinderung. Der Antinomie seiner Doppelfunktion als weisungsgebundener Spitzenbeamter und polit. Ministergehilfe entspricht der Status des sog. —> politischen Beamten, der jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden kann (vgl. § 36 Abs. 1 Nr. 1 BBG für die S.e des -> Bundes). Die polit. -> 861
Staatssicherheitsdienst Verantwortlichkeit gegenüber dem —> Parlament liegt indessen allein beim Minister; dessen Vertretung in der -» Regierung obliegt einem Ministerkollegen (vgl. § 14 Abs. 1 GOBReg). Einen besonderen Rang haben S.e inne, soweit sie nach -> Landesverfassungsrecht der —• Landesregierung angehören. So sind z.B. in Bayern die S.e zwar als Führungspersonen im Ministerium an die Weisungen des -> Staatsministers gebunden, nicht jedoch bei der Ausübung ihres Stimmrechts in der Staatsregierung; im Falle der Verhinderungsvertretung des Ministers erwächst ihnen eigene Verantwortung gegenüber dem Landtag. Sie stehen in einem öffentl.-rechtl. Amtsverhältnis eigener Art. Auch die —> parlamentarischen S.e des Bundes und die polit. S.e in —> Baden-Württemberg sind nicht -» Beamte, erfüllen aber wie die beamteten S.e Vertretungs-, Beratungs- und Entlastungsfunktionen. U.Hu. Staatssicherheitsdienst (Stasi) —» Deutsche Demokratische Republik -> Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Staatsstreich Ein S. (frz. Coup d'État) ist die gewaltsame Beseitigung der bestehenden Herrschaftsgewalt eines ->· Staates zugunsten einer anderen. Im Unterschied zur Revolution - einem Umsturz „von unten" - stellt der S. einen Umsturz „von oben" dar: Initiatoren des S.s sind i.d.R. Regierungsmitglieder, hohe Beamte oder Offiziere. Dies unterscheidet einen S. vom Putsch, der von untergeordneten (i.d.R. Offiziers-) Personen oder Gruppen ausgeht (z.B. Kapp-Putsch vom März 1920 in Beri.; Militär-Putsch in Spanien 23./24.2. 1981). Im Gegensatz zur Revolution und zum Bürgerkrieg, die sich jeweils über einen längeren Zeitraum hinziehen und ein größeres geographisches Gebiet erfassen können, zeichnet den S. zum einen das Moment der Schlagartigkeit und kurzen Dauer des Ereignisses (oft nur ein 862
Staatssymbole Tag), zum anderen das Moment der geographischen Begrenzung auf wenige, zentrale Plätze (oft nur die —> Hauptstadt) aus. Den S. kennzeichnet ferner i.d.R. die Besetzung solcher Einrichtungen, die für die Ausübung moderner Herrschaftsgewalt existentiell sind: Regierungsgebäude, Rundfunk- und Telekommunikationseinrichtungen sowie sonstige zentrale Einrichtungen der Infrastruktur. Histor. Beispiele eines S.s sind u.a. in Frankreich der Sturz des Direktoriums durch Napoleon Bonaparte am 18./19. Brumaire Vin (9./ 10.11.1799) und die Auflösung der Nationalversammlung durch Charles Louis Napoleon am 2.12.1851, in Italien die Einrichtung der Diktatur Mussolinis 1922, in Dtld. die Absetzung der preuß. Landesregierung durch die Reichsregierung unter von Papen am 20.7.1932. Ein S. ist zwar formalrechtl. illegal, kann sich aber - wie der 20. Juli 1944 belegt (-> Widerstand gegen den Nationalsozialismus) - ggf. auf das naturrechtl. -» Widerstandsrecht stützen. Regelmäßig ist ein erfolgreicher S. bislang indessen mit der nicht nur kurzzeitigen Etablierung einer autoritären oder totalitären Herrschaftsform verknüpft gewesen. In der —> Bundesrepublik Deutschland würde ein S. das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG auslösen. Lit: J. Fest: Staatsstreich, Berlin 1994.
Jörg Ukrow Staatssymbole versinnbildlichen ein Staatswesen und haben nach innen eine integrative, nach außen eine repräsentative Funktion. Dazu gehören v.a. Flaggen, Wappen, Siegel, Amtsschilder, Hymnen und Nationalfeiertage. Insbes. bei der Vereinigung von Staaten (z.B. zur EU) bekommen die S. für das Identifikationsbedürfnis der —• Bürger herausragende Bedeutung, weil sie die Verschiedenheit der ethnischen Herkunft und Kultur betonen. Gem. Art. 22 GG ist die dt. Bundesflagge schwarz-rot-gold; damit wird an den revolutionären, demokrat. Charakter dieser Farbzusammenstellung im —> Vormärz
Staatsteilhabe
Staatsverschuldung
angeknüpft. Die Handelsflagge für Handels· und Kauffahrtenschifle ist damit identisch. Auf Wappen und Siegeln wird der Bundesadler geführt (Bekanntmachung bzw. Erlaß des Bundespräsidenten vom 20.1.1950, BGBl. I S. 26), ebenso auf den Amtsschildern der Bundesbehörden (Erlaß des Bundespräsidenten vom 25.9.1951, BGBl. I S. 927). Als Nationalhymne wurde das „Lied der Deutschen", ein Gedicht von Hoffmann von Fallersleben (Melodie: Joseph Haydn) 1952 auf Vorschlag des Bundeskanzlers durch ein Antwortschreiben des Bundespräsidenten eingeführt; bei staatl. Veranstaltungen ist nur die 3. Strophe zu singen. Als Nationalfeiertag wurde der 3. Oktober festgelegt (Art. 2 Π des Einigungsvertrages), in Erinnerung an den Beitritt der —• DDR nach Art. 23 GG a.F. am 3.10.1990. Damit wurde der bis dahin als nationaler Gedenktag geltende 17. Juni (Arbeiteraufstand 1953 in der DDR) ersetzt (-> Tag der Deutschen Einheit). Der Bundespräsident stiftet den „Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland" (Erlaß v. 7.9. 1951, BGBl. I S. 831), der in verschiedene Stufen eingeteilt ist. Eine gesetzliche Regelung der Ordensstiftung und -Verleihung erfolgte durch das Bundesgesetz über Titel, Orden und Ehrenzeichen (v. 26.7.1957, BGBl. I S. 844). Den Bundesländern stehen aufgrund ihrer Staatlichkeit eigene S. zu. Die EU wird symbolisiert durch Flagge und Enblem mit einem Kreis 12 goldgelber Sterne und durch eine Hymne (Ode an die Freude, 4. Satz der 9. Symphonie Ludwig v. Beethovens). Zerstörung, Verächtlichmachung oder Verunglimpfung der S. ist strafbar (§§ 90a I Nr. 2, Π; 104,104 a StGB). Lit: H. Hattenhauer: Geschichte der dt Nationalsymbole, München *1990; HdbStR I , § 17; Stern I, § 9. Barbara
Hartlage-Laufenberg
Staatsteilhabe —> Parlamentarisches Weisungsrecht Staatsverfassung —• Verfassung
Staatsvermögen wird gebildet durch das Vermögen der Länder und das —» Bundesvermögen Staatsverschuldung 1. Begriff SV bezeichnet den durch Kreditaufnahme finanzierten Bestand an Verbindlichkeiten des Staates gegenüber Dritten. I.e.S. handelt es sich dabei um den kumulierten Bestand an Schulden. Mitunter wird der Begriff allerdings auch zur Erfassung der jährlichen Haushaltsdefizite öffentl. Gebietskörperschaften benutzt. Dabei ist zu beachten, daß die in öffentl. Sonderfonds oder —> Institutionen angesammelten Verbindlichkeiten formal zwar ausgegliedert sind, tatsächlich aber i.S. einer sinnvollen histor. oder internationalen Vergleichbarkeit mitberücksichtigt werden müssen. Wichtige Begriffe der Diskussion sind die Nettokreditaufnahme (Bruttobetrag der Neuverschuldung minus Tilgung), Schuldenstandsquote (Verhältnis von SV zum - » Bruttosozialprodukt) und Zinslastquote (Verhältnis Zinslast der SV zu BSP). Sie dienen v.a. der volkswirtschaftl. Bewertung öffentl. Haushaltsfinanzierung. 2. Volkswirtschaftl. Aspekte der SV Neben moralischen (Belastung künftiger Generationen) und polit. (z.B. Abhängigkeit von ausländischen Gläubigern) Bedenken gegen SV werden immer wieder volkswirtschaftl. Argumente gegen sie vorgebracht. Es sind dies insbes. 3 Argumentationsstränge. 1. die öffentl. Hand konkurriert auf den Kreditmärkten mit privaten Kreditnachfragern und trägt so tendenziell zur Zinssteigerung bei. 2. staatl. „deficit spending" verdrängt private Investitionen bzw. Konsumnachfrage (sog. crowdingout) und führt, zusammen mit der oben erwähnten Zinsverteuerung, zu Preissteigerungen. Diese Effekte wirken in ihrer Tendenz wachstumshemmend. 3. schließlich ziehen höhere Zinsen Kapitalanleger aus dem Ausland an. So kommt es zu einem Aufwertungsdruck für die eigene Währung gegenüber anderen, der seinerseits die Exportchancen der heimischen
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Sta a tsvertrag
Staatsvolk
—> Wirtschaft verschlechtert. Diese theoretischen Vorwürfe konnten allerdings von der empirischen Wirtschaftsforschung eindeutig nicht nachgewiesen werden, was u.a. mit der extremen Komplexität des Zusammenwirkens volkswirtschaftl. Variablen begründet werden kann. Tatsächlich spielen die jeweilige wirtschafll. Situation (Auf- oder Abschwung) sowie die Verwendung der durch SV finanzierten Mittel (Konsum oder Investition) eine wesentliche Rolle für volkswirtschaftl. Effekte von SV. 3. Institutionelle Aspekte der SV Während etwa die —> Finanzverfassung der BRD in Art. 115 GG die Kreditaufnahme des -> Bundes regelmäßig an das Investitionsvolumen koppelt, haben andere Staaten, wie etwa die USA, Großbritannien, Frankreich, Italien oder Kanada keine verfassungsrechtl. Schranken. Allerdings hat der Interpretationsspielraum des —» Grundgesetzes (ungeachtet Ausfilhrungsgesetz und Urteil des - » Bundesverfassungsgerichts) eine effektive Wirksamkeit nicht sicherstellen können. Auch in den USA wurde immer wieder über eine verfassungsrechtl. Beschränkung der SV auf Bundesebene diskutiert, nachdem fast alle Einzelstaaten über entsprechende Bestimmungen in ihren Verfassungen verfügen. In Übereinstimmung mit der Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft und trotz einer starken Befürwortung in der Bevölkerung sind entsprechende Bemühungen um ein ,.Balanced Budget Amendment" bislang gescheitert. Lit. : Β. Kampmann: Staatsverschuldung, BadenBaden 1995;//. Schlesinger/M. Weber/G. Ziebarth: Staatsverschuldung - ohne Ende?, Darmstadt 1993; R. Sturm: Staatsverschuldung, Opladen 1993.
Markus Müller Staatsvertrag Ein S. ist nach der Verfassungsordnung des -> Grundgesetzes zum einen ein völkerrechtl. Vertrag, der nicht nur Verwaltungsabkommen (Art. 59 Abs. 2 S. 2 GG) ist. Gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG ist dies ein Vertrag, der die polit.
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Beziehungen des -> Bundes regelt (sog. polit. Vertrag, der die Existenz, territoriale Integrität, Unabhängigkeit, Stellung oder das Gewicht des Staates in der Staatengemeinschaft berührt) oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung bezieht (d.h. Verpflichtungen des Bundes enthält, zu deren Erfüllung es eines Gesetzes bedarf). Die -> Länder können im Rahmen ihrer Gesetzgebungskompetenz S.e mit auswärtigen Staaten nur mit Zustimmung der —> Bundesregierung schließen (Art. 32 Abs. 3 GG). Die Länder können zum anderen auch untereinander einen S. über alle Gegenstände ihres Aufgabenbereichs (d.h. nicht nur ihrer Gesetzgebungszuständigkeit) schließen. Dieses Mittels bedienen sich die Länder namentlich im Bereich des —> Rundfunks und der neuen -> Medien. Es ist auch in Art. 29 Abs. 8 GG (zur Neugliederung des Bundesgebietes) vorgesehen (s.a. -> Auswärtige Gewalt). Lit.: HdbStR
IV, § 105 Rn 49ff.
J. U. Staatsverwaltung -> Verwaltung Staatsvolk Das S. ist neben dem -> Staatsgebiet und der —> Staatsgewalt das dritte den -> Staat konstituierende Element. Es besteht aus der Summe der Staatsangehörigen. Wer Staatsangehöriger ist bzw. werden kann, regelt jeder Staat in seinem Staatsangehörigkeitsrecht selbst. Die -» Staatsangehörigkeit kann nach dem Abstammungsprinzip (ius sanguinis), nach dem Territorialitätsprinzip (ius soli) oder durch Einbürgerung erworben werden. Abstämmlings- und Territorialitätsprinzip knüpfen an die Geburt an. Nach dem Abstammungsprinzip ist maßgeblich, welche Staatsangehörigkeit die Eltern des Neugeborenen haben. Für das Territorialitätsprinzip ist der Ort der Geburt maßgeblich. Dies ist der Grund, warum sich gebärende Mütter immer wieder in die Botschaften von Staaten flüchten, die das Territorialitätsprinzip praktizieren. Allerdings sind auch diejenigen, die nicht
Staatsvolk Staatsangehörige sind, sich aber auf dem Staatsgebiet aufhalten, z.B. Touristen oder Gastarbeiter, der Staatsgewalt unterworfen. Insoweit kommt es zu einer Unterscheidung zwischen S. und Volk im soziologischen Sinn. Darunter ist die ->· Gemeinschaft der Menschen zu verstehen, zwischen denen sich aufgrund gemeinsamer räumlicher, kultureller und sozialer Lebensumstände ein Zusammengehörigkeitsgefühl oder eine polit. Schicksalsgemeinschaft entwickelt hat. Dieses Volk im soziologischen Sinn ist zwar in vielen Bereichen (Steuern, Sozialabgaben, Polizeirecht; Ausnahme: Wehrpflicht) einheitlich der Staatsgewalt unterworfen, hat aber nicht die gleichen Möglichkeiten der Einflußnahme. Von dem S. geht sowohl die verfassungsgebende, den Staat als solchen konstituierende Gewalt als auch die Staatsgewalt aus. Wie sich z.B. auch aus der —» Präambel des -»· Grundgesetzes ergibt, gibt sich das Volk und nicht der Staat eine -> Verfassung. Der Staat ist eine Folge dieser Volksentscheidung. Das Volk ist souverän. Die —> Volksouveränität, d.h. daß alle verfassungsgebende Gewalt und alle Staatsgewalt vom Volk ausgehen, findet unmittelbaren Ausdruck auch im Demokratieprinzip. Das Wort —> Demokratie kommt aus dem Griechischen. Es setzt sich zusammen aus εμοσ (demos), Volk, Gebiet, und κρατειν (kratein), herrschen. Demokratie drückt damit umfassend übersetzt die —• Herrschaft des in einem Gebiet lebenden Volkes über sich selbst aus. Man kann daher auch von Selbstbestimmung des Volkes sprechen. Diese Selbstbestimmung richtet sich sowohl nach außen gegen die Bestimmungsversuche anderer Völker als auch nach innen, gegen den Versuch einzelner Gruppen des Volkes, die Staatsgewalt an sich zu bringen. Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes findet nach innen 2 Schranken. Die eine ist eine formale Schranke. Das Volk bedarf zur Ausübung seiner Gewalt einer Organisation, die, um so größer das jeweilige Volk wird, immer stärker repräsentative Züge trägt. Diese Organi-
Staatsvolk sation bezieht sich sowohl auf das Verfahren als auch auf die Organe der Ausübung der Staatsgewalt durch das S. (Art. 20 Abs. 2 GG). Die 2. materielle Schranke des Selbstbestimmungsrechts sind das —> Rechtsstaatsprinzip im allgemeinen und die —> Grundrechte im besonderen. Das Selbstbestimmungsrecht und die damit verbundene Staatsgewalt und Entscheidungsbefugnis dürfen nicht bestimmte unveräußerliche und unverletzliche Rechte (Art. 1 Abs. 2 GG) beschneiden, aushöhlen oder gar beseitigen. Dies ist insbes. deshalb wichtig, weil nur so ein effektiver Schutz von Minderheiten, insbes. polit, anders denkenden gewährleistet werden kann. Diese Bindung an die -> Menschenrechte führt auch zu einer Beschränkung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes. Darüber hinaus kann sich das S. freiwillig auch noch in seiner verfassungsgebenden, insbes. verfassungsändernden Gewalt beschränken (Art. 79 Abs. 3 GG). Für die -> Bundesrepublik Deutschland bestimmt die Präambel des GG, daß das dt. Volk das mit verfassungsgebender Gewalt ausgestattete S. ist. Die Bestimmung, wer zu diesem S. gehört, erfolgt formell nach dem Kriterium der Staatsangehörigkeit. Für die BRD werden die Fragen der Staatsangehörigkeit im Art. 116 GG und im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz und seinen Änderungsgesetzen geklärt. Gem. Art. 116 GG ist Deutscher, wer die dt. Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener dt. Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling im Gebiet des Dt. Reiches nach dem Stand vom 31.12.1937 Aufnahme gefunden hat. Wesentliche Folge der Staatsangehörigkeit sind die Gewährleistung der staatsbürgerl. Rechte des entsprechenden Staates (Art. 33 Abs. 1 GG). Von ganz besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Recht, an der polit. -> Willensbildung durch -» Wahl der —> Staatsorgane teilzunehmen. Zwar ergibt sich aus Art. 38 GG nicht ausdrücklich, daß das aktive und passive -+ Wahlrecht nur Deutschen vorbehalten
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Staatsvolk ist. Jedoch kann die Wahl als Akt der -> Legitimation und Übertragung von Staatsgewalt nur von den Angehörigen des S.s ausgeübt werden. Nur sie sind Träger der Staatsgewalt und damit berechtigt, sie in der durch die jeweilige Verfassung vorgesehenen Form auszuüben. Eine Ausnahme von dieser Regelung enthält Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. den Kommunalwahlgesetzen der Länder. Danach haben bei den Wahlen in —> Kreisen und —> Gemeinden auch Personen, welche die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der -» EU besitzen, nach Maßgabe des EG-Rechts das aktive und passive Wahlrecht. Diese Regelung beruht auf den Art. 8 und 8b Abs. 1 EGV und der Richtlinie 94/80/EG vom 19.12.1994, wonach grds. jeder Unionsbürger, ohne Staatsangehöriger zu sein, an seinem Wohnsitz die Möglichkeit des aktiven und passiven Kommunalwahlrechts haben muß. Ein Kommunalwahlrecht für sonstige Ausländer ist verfassungswidrig, da auch die Gemeinden Staatsgewalt ausüben, die nur durch das S. legitimiert werden kann. Neben der Möglichkeit an Wahlen teilzunehmen, ist die Zugehörigkeit zum S. auch von Bedeutung für die Innehabung und Ausübung anderer Rechte. So sind von den Grundrechten die -> Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), die -> Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG), die -> Freizügigkeit (Art. 11 GG), die Freiheit der Berufswahl (-> Berufsfreiheit Art. 12 GG) und der Schutz vor —> Ausbürgerung und —> Auslieferung (Art. 16 GG) nur Deutschen und damit Angehörigen des S.s vorbehalten. Das gleiche gilt für das —> Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG. Dadurch werden die Angehörigen des S.s gegenüber den übrigen sich auf dem Staatsgebiet aufhaltenden Menschen auch bei der Gestaltung ihres täglichen Lebens privilegiert. Der Grund für diese Vorzugsstellung ist einmal, ihnen bestimmte polit., die Staatsgewalt gestaltende und ausübende Rechte vorzubehalten, zum anderen NichtStaatsangehörige bei ihrer Betätigung und ihrem Aufenthalt überwachen
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Staatsvolk zu können. Weiter haben nur die Angehörigen des S.s, also Dt., das Recht auf Zugang zu öffentl. Ämtern nach Maßgabe ihrer Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung (Art. 33 Abs. 2 GG). Insbes. die Verbeamtung ist Deutschen vorbehalten. —• Beamte im Staatsdienst, insbes. —> Verwaltung und —> Rechtsprechende Gewalt können also nur Deutsche werden. Diese Vorzugsstellung stellt aber nur scheinbar eine Durchbrechung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 3 GG dar. Danach darf niemand u.a. wegen seiner Abstammung, Heimat oder Herkunft benachteiligt werden. Allerdings kann dieser Grundsatz keine Geltung beanspruchen, wenn es um die Ausübung der Staatsgewalt durch das S. bzw. durch die von ihm konstituierten Organe geht. Die Beamten der rechtsprechenden und vollziehenden Gewalt üben hoheitsrechtl. Befugnisse aus. Zu dieser Ausübung werden sie durch die weitergegebene Staatsgewalt des S.s berechtigt. Insoweit verlangt das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, daß die Staatsgewalt auch von Staatsangehörigen und nicht von Fremden ausgeübt wird. Hinzu kommt das Wortlautargument, daß Art. 3 Abs. 3 GG nicht ausdrücklich die Staatsangehörigkeit bezeichnet. Herkunft, Abstammung und Heimat können nicht ohne weiteres der Staatsangehörigkeit gleichgesetzt werden. Für Ausländer aus Mitgliedstaaten der EU schreibt allerdings das -» Diskriminierungsverbot des Art. 6 Abs. 1 EGV die Inländergleichbehandlung der EU-Ausländer vor. Diese Gleichbehandlung bezieht sich aber (noch) v.a. auf die vom -> EUVertrag gewollte und geförderte Schaffung eines wirtschaftl. Binnenmarktes und der Wirtschafts- und —> Währungsunion. Eine Auflösung der einzelnen polit. Staaten ist nicht beabsichtigt. Insoweit bleibt es auch bei den unterschiedlichen S.ern und Staatsgewalten. Die von Art. 8 EGV eingeführte —> Unionsbürgerschaft ist nicht originär. Sie wird durch die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaates automatisch vermittelt. Mit ihr verbunden sind
Staatswohl
Staatsziel
einige Rechte, die den Beginn einer originären Unionsbürgerschaft darstellen können, mit der auch eine vollständige polit. Gleichstellung der Unionsbürger mit den Angehörigen des jeweiligen S.s verbunden wäre. Im Moment sind zu nennen die Freizügigkeit (Art. 8a EGV), das Kommunalwahlrecht (Art. 8b EGV) und der diplomatische und konsularische Schutz der Unionsbürger im Drittausland durch alle Vertretungen der Mitgliedstaaten (Art. 8c EGV). Das Recht auf Unterstützung und Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Vertretungen eines Staates genießen sonst nur die Angehörigen des S.s, wenn sie sich im Ausland befinden. Lit.: P. Badura: Staatsrecht, München 21996; W. Berg: Staatsrecht, Stuttgart 21997; Hesse, H.-P. Ipsen: Staatsrecht I, Neuwied ®1997; G. Jelhne: ^Allgemeine Staatslehre, Kronberg '1976. Ulrich Hösch Staatswohl
Gemeinwohl
Staatsziel / -bestimmungen 1. S.e sind aus der Staatstheorie hergeleitete, polit, geforderte oder rechtl. positivierte Ziele, an denen sich das Staatshandeln ausrichten soll, wobei es nicht darauf ankommt, aus welcher Weltanschauung, polit. Theorie oder Problemlösungsstrategie heraus sie entwickelt wurden. Beschränkt man die S.e nicht auf Prinzipien geringen oder mittleren Abstraktionsgrads, so umfassen sie auch Ziele, die herkömmlich als —> Staatszwecke gekennzeichnet werden. Da der Begriff des Staatszwecks einen Anklang an naturrechtl. Konzepte aufweist, eignet sich der Begriff des S.s eher als neutrale, nicht an ein theoretisches oder religiöses System gebundene Bezeichnung ftlr Zielsetzungen des —> Staates. Empirisch im Verfassungsvergleich lassen sich heute 5 Grundstaatsziele des Verfassungsstaates identifizieren: 1. Schutz und Förderung der individuellen -> Freiheit (materielle Rechtsstaatlichkeit -> Rechtsstaat), 2. Orientierung staatl. Handelns auf sozialen Ausgleich und Gewährung
sozialer Sicherheit (—>. Sozialstaat), 3. Förderung von Bildung, Wissenschaft und Kultur (Kulturstaatlichkeit), 4. Ausrichtung des staatl. Handelns auf aktive Friedensgestaltung nach außen (-> Frieden) und 5. Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen (Umweltstaatlichkeit). Diese 5 Grundstaatsziele sind Ausprägungen des -> Gemeinwohls und erfassen zugleich herkömmliche und neue Aspekte des klassischen Staatszwecks der Sicherheit. Im Zuge der europ. Integration haben wesentliche Aspekte der genannten S.e bereits in die Zielstruktur der EU Eingang gefunden. Im übrigen findet durch völkerrechtl. Verträge eine Koordinierung der Zielsetzungen der Staaten und damit eine Internationalisierung der S.e statt. 2. Der Begriff des S.s wird häufig auch verkürzend für die nonntheoretische Kategorie der S.bestimmungen verwandt. Bei ihnen handelt es sich um Verfassungsnormen, welche die —• Staatsgewalt, d.h. —> Legislative, -> Exekutive und Judikative, auf die Verfolgung bestimmter Ziele rechtsverbindlich verpflichten, ohne dem —> Bürger subjektive, d.h. gerichtlich einklagbare Rechte zu gewähren. Damit sind S.bestimmungen abzugrenzen von Gesetzgebungsaufträgen, die grds. nur den Gesetzgeber verpflichten, und Programmsätzen, die der Rechtsverbindlichkeit entbehren. Sie sind ferner von den -> Grundrechten zu unterscheiden, welche subjektivrechtl. Gehalt aufweisen. Wenngleich der Begriff der S.bestimmung eine Schöpfung der dt. Staatstheorie der Nachkriegszeit (H.P. Ipsen) ist, um teleologische Prinzipien des GG wie das Wiedervereinigungsgebot oder das Sozialstaatsprinzip zu bezeichnen, finden sich S.bestimmungen der Sache nach in zahlreichen ausländischen -> Verfassungen. Dort werden sie meist als Leitprinzipien bezeichnet, etwa in der Verbindung „Leitprinzipien der Wirtschafts- und Sozialpolitik" (vgl. z.B. die indische Verfassung von 1949 oder die span. Verfassung von 1978). Die S.bestimmungen sind hier
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Staatsziel i.d.R. konkreter gefaßt und dienen vornehmlich der verfassungsrechtl. Verankerung sozialer Rechte, denen man im Hinblick auf die Notwendigkeit der Bereitstellung und Konkretisierung staatl. Leistungen keinen unmittelbaren subjektivrechtl. Gehalt zuschreiben will. Mittlerweile enthält auch die Mehrzahl der dt. -> Landesverfassungen Zielbestimmungen, die Ausprägungen v.a. der Sozial-, Kultur- und Umweltstaatlichkeit sind. Die 1992/93 verabschiedeten Verfassungen der neuen Länder sprechen ausdrücklich von S.en, die dem jeweiligen Land die Pflicht auferlegten, sie „nach seinen Kräften ... anzustreben und sein Handeln danach auszurichten" (so die Formulierung in der sächs., sachs.-anhalt. und thilr. Verfassung). 3. S.bestimmungen (im GG neben dem Sozialstaatsprinzip z.B. das in Art. 20a verankerte Ziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen) ermächtigen die Exekutive nicht zu Grundrechtseingriffen, die mit der Schrankensystematik der Grundrechte nicht vereinbar wären. Sie können aber in verfassungsrechtl. Abwägungsprozessen, etwa bei der Konkretisierung verfassungsimmanenter Schranken, Bedeutung gewinnen, femer bei der Auslegung anderer Verfassungsbestimmungen oder der Gesetze sowie als Kriterium bei der Ermessensausübung. Der den S.bestimmungen immanente Auftrag an den Staat, ein bestimmtes Ziel anzustreben oder zu verwirklichen, richtet sich in erster Linie an den Gesetzgeber. Nach den Grundsätzen der vom -> Bundesverfassungsgericht entwickelten —> Wesentlichkeitstheorie hat dieser die wesentlichen Grundlinien der Zielverwirklichung selbst festzulegen. 4. Die Beachtung von S.bestimmungen kann von einer —> Verfassungsgerichtsbarkeit kontrolliert werden. Sofem nicht wie in Portugal ein besonderes Verfahren zur Feststellung einer Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen besteht (bedeutsam für den Fall des Untätigbleibens im Hinblick auf die Zielverwirklichung), 868
Staatszweck können S.bestimmungen lediglich im Normenkontrollverfahren (also nach einem Tätigwerden des Gesetzgebers) als Prüfungsmaßstab herangezogen werden. Eine Verfassungswidrigkeit ist aber nur dann anzunehmen, wenn eine gesetzliche Regelung einer S.bestimmung offensichtlich zuwiderläuft. Angesichts der meist sehr abstrakten Fassung der Zielbestimmungen wird dies nur in äußerst seltenen Fällen festzustellen sein. Da S.bestimmungen dennoch die Freiheit des parlement. Gesetzgebers bei der Sozialgestaltung einschränken, wird vor einem Ausbau dieser Normkategorie in den Verfassungstexten und der damit verbundenen Gefahr des Abgleitens in einen verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat gewarnt. Diese Gefahr dürfte indes nur dann bestehen, wenn Verfassungen die unter Ziffer 1 genannten Grundstaatsziele detailliert ausdifferenzieren oder die Verfassungsgerichtsbarkeit ihre Zurückhaltung bei der Kontrolle gesetzgeberischer Entscheidungen vornehmlich polit. Charakters aufgibt und sich nicht mehr mit der erwähnten Evidenzkontrolle begnügt. Lit.: Bundesminister des Innern und vom Bundesminister der Justiz (Hg.): Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmung / Gesetzgebungsaufträge", Bericht, Bonn 1983; P.C. Fischer: Staatszielbestimmungen in den Verfassungen und Verfassungsentwürfen der neuen Bundesländer, München 1994; D. Merten: Ober Staatsziele, in: DÖV 1993, S. 368ff.; L.H. Michel: Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation unter besonderer Berücksichtigung der Positivierung des Umweltschutzes im GG, Frankfurt/M. 1986; U. Scheuner: Staatszielbestimmungen, in: FS E. Forsthoff, München 1972, S. 325ffi; K.-P. Sommermann: Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997.
Karl-Peter Sommermann Staatszweck 1. In einem weiten Sinne ist S. jeder Zweck, an dem ein —> Staat sein Handeln ausrichtet, gleich ob dieser Zweck im positiven —• Verfassungsrecht niedergelegt ist oder lediglich staatstheoretisch oder polit, postuliert wird. Der
Staatszweck Begriff der S.e ist nach diesem Verständnis im wesentlichen identisch mit dem der —> Staatsziele, soweit letzterer nicht in einem normtheoretischen Sinne, d.h. zur Bezeichnung von Staatszielbestimmungen, gebraucht wird. Teilw. wird eine Abgrenzung dadurch vorgenommen, daß man von S.en nur hinsichtlich Zielsetzungen höheren Abstraktionsgrades spricht. 2. In einem engeren Sinne können S.e als Zwecke verstanden werden, die jedem Staat als Gemeinwesen eigen und in diesem Sinne zeitlos sind. Dieses Verständnis knüpft an naturrechtl. —> S.theorien an, läßt sich für die Zwecke des —> Gemeinwohls und - als dessen Mindestausprägung - der Gewährung von Sicherheit aber auch empirisch begründen. So war und ist in allen Staaten der Schutz vor äußeren und inneren Gefahren nicht hinweg zu denkender Zweck staatl. Handelns. Zielrichtung und Ausgestaltung des Sicherheitszwecks variieren in der Geschichte freilich erheblich. Mißbräuchlich wurde er auch immer wieder zur Rechtfertigung von Kriegshandlungen oder Unterdrückungsmaßnahmen herangezogen. Neben die klassische Zielsetzung des Schutzes der Rechte und Rechtsgüter traten als weitere Aspekte des Sicherheitszwecks im 20. Jhd. v.a. die Gewährung Sozialer Sicherheit sowie der Schutz vor techn. Risiken und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen. 3. Im staatstheoretischen Schrifttum werden die S.e in verschiedene Kategorien unterteilt. Geläufig sind Unterscheidungen zwischen notwendigen (den Staat erst legitimierenden) und fakultativen (dem Staat freistehenden) S.en oder absoluten (dem Staat wesensmäßig immanenten) und relativen (geschichtl. bedingten) Zwecken. Die meisten Kategorisierungen gehen auf den Staatsrechtler G. Jellinek (1851-1911) zurück, der Anfang des 20. Jhd.s in seiner „Allgemeinen Staatslehre" eine zusammenfassende Analyse der damals bereits im Niedergang befindlichen S.theorien unternahm.
Staatszwecktheorien Lit: M. W. Hebeisen: Staatszweck, Staatsziele, Staatsaufgaben, Zürich 1996; D. Murswiek: Umweltschutz als Staatszweck, Bonn 1995.
Karl-Peter Sommermann Staatszwecktheorien 1. S. (Staatszwecklehren) gibt es, seit über den —> Staat als organisiertes Gemeinwesen nachgedacht wird. Die Frage nach dem -> Staatszweck ist eng mit der Frage nach der Rechtfertigung des die Gewalt monopolisierenden Staates verknüpft. Allen staatl. organisierten Gemeinwesen liegt als Ausgangspunkt und zugleich abstraktester Staatszweck die Verfolgung gemeinsamer Interessen, das -> Gemeinwohl, zugrunde. Was Inhalt dieses Gemeinwohls (bonum commune oder auch salus publica) sei, wurde in der Geschichte sehr unterschiedlich beantwortet. Für Aristoteles (382-322 v. Chr.) und später T. von Aquin (1225-1274) war es das Gute, d.h. tugendgemäße Leben. Der bereits von ihnen angesprochene bzw. vorausgesetzte Sicherheitszweck (Schutz vor äußeren und inneren Gefahren) gewinnt in der neuzeitlichen Naturrechtslehre (—> Naturrecht), insbes. auch in den Vertragstheorien zur Entstehung des Staates, zentrale Bedeutung. Der Schutz vor Schaden und Unrecht, das sich Menschen gegenseitig antun können, wird v.a. bei Hobbes (1588-1679) und Pufendorf (1632-1694) zur Grundlage einer weit ausholenden Rechtfertigung des Staates. Unter Beibehaltung des Ziels der Sicherheitsgewährung tritt in der eudämonistischen Staatslehre von Thomasius (16551728) und Wolff (1679-1754) der Wohlfahrtszweck in den Vordergrund: Der die -> Staatsgewalt repräsentierende Fürst wird zugleich für das Glück seiner Untertanen zuständig. In der Staatstheorie der Aufklärung ist es in Dtld. v.a. Kant (1724-1804), welcher sich gegen die obrigkeitliche Sorge für das Glück der Bürger wendet. Das öffentl. Wohl ist für ihn nicht mehr Grundlage für eine Bevormundung der Untertanen und Verordnung einer der Obrigkeit genehmen Glückseeligkeit, sondern ist auf die Si-
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Staats zwecktheorien cherung gesetzmäßiger —» Freiheit gerichtet. Eingriffe des Staates dienen danach nur noch dazu, die Freiheitssphäre eines jeden Bürgers zu schützen. 2. Die rationalistische Kritik an den überkommenen Staatszwecklehren trug zugleich den Keim einer zunehmenden Pluralisierung der Staatszweckvorstellungen in sich. Die Praxis erwies, daß die Anwendung von Vernunftprinzipien nicht zu einem absoluten, allgemein gültigen —> Staatsrecht führte. Die Erkenntnis der Relativität von Staatszwecklehren führte unter der Herrschaft des staatsrechtl. Positivismus schließlich dazu, daß die Verbindlichkeit von S. für das positive Recht völlig negiert wurde. Zuletzt wandte sich noch einmal G. Jellinek (1851-1911) in seiner .Allgemeinen Staatslehre" den S. zu. Systematisierend stellt er die Lehren von den expansiven Staatszwecken, die zur Rechtfertigung ausgreifender Staatstätigkeit insbes. im absolutistischen —> Wohlfahrtsstaat entwickelt wurden, den Lehren von den limitierenden Staatszwekken, die auf eine Begrenzung der Staatstätigkeit und damit Stärkung der Stellung des Individuums abzielen, gegenüber. Auf einer anderen Ebene liegt seine Unterscheidung zwischen absoluten Staatszwecken, die überzeitliche Geltung beanspruchen, und relativen Staatszwecken, die vom Zeitgeist abhängen. Im Ergebnis öffnet Jellinek den Staat jedem möglichen Kulturzweck. Die radikale Verneinung einer den positiven Gesetzgeber bindenden Staatszwecklehre findet sich schließlich bei H. Kelsen (1881-1973), weshalb man ihm später vorgeworfen hat, staatstheoretisch zu einer völligen Entfesselung des Staates beigetragen zu haben. Eine in sich geschlossene Staatszwecktheorie blieb allein in der christl. Soziallehre erhalten, sieht man einmal von den sich an naturrechtl. Argumentationsweise orientierenden Abarten von S. der totalitären Regime ab. Erst die Renaissance der Naturrechtslehre nach dem Π. Weltkrieg belebte auch die Frage nach dem Staatszweck (vorübergehend) neu.
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Stadt 3. Für die moderne Staatslehre des demokrat. -> Verfassungsstaats bleibt der Staatszweckpluralismus eine feste Größe. Die Wahl und Ausdifferenzierung der Staatszwecke ist dem demokrat. Willensbildungsprozeß überantwortet. In der staatstheoretischen Diskussion der letzten Jahrzehnte wurde allerdings deutlich, daß dem modernen Verfassungsstaat weithin konsensfähige Staatszwecke zugrunde liegen, deren Begründung nicht notwendig in einer rationalistischen Theorie oder in metaphysischen Postulaten gesucht werden muß, sondern die in intersubjektiv nachvollziehbaren Erfahrungen, v.a. auch Unrechtserfahrungen, wurzelt. Fragen, die früher im Rahmen der S. erörtert wurden, werden heute zudem, insbes. sobald es um die Konkretisierung geht, auf der Ebene der —> Staatsziele bzw. —> Staatsaufgaben abgehandelt. Diese beiden Kategorien bieten den Vorteil, daß sie, was ihre Begriffsgeschichte anbetrifft, nicht mit naturrechtl. oder metaphysischen Lehren identifiziert werden. Lit: Κ. Hespe: Zur Entwicklung der Staatszwecklehre in der dt. Staatsrechtswissenschaft des 19.Jhd.s, Köln 1964; G. Jellinek: Allgemeine Staatslehre, 31913, S. 230ff; F. Murhard: Der Zweck des Staats, Göttingen 1832; H.-C. Link / G. Ress: Staatszwecke im Verfassungsstaat nach 40 Jahren GG, in: VVDStRL 1990, S. 7ff.
Karl-Peter Sommermann Stadt / Städte 1. Die S. als komplexer Siedlungs- und Lebensraum erfüllt wesentliche Grundfunktionen der menschlichen Existenz: Sie gilt als Zentrum des Wohnens und Arbeitens, der Produktion und Versorgung, des Handels, des Verkehrs, der Bildung und der Verwaltung sowie des Zusammenlebens in der -» Gemeinschaft. I.d.R. dürfen sich —> Gemeinden mit mehr als 10.000 Ew. „S." nennen, 100.000 Ew. markieren die Grenze zur Großstadt, die als meist kreisfreies Oberzentrum Versorgungsfunktionen für die gesamte Region erbringt. Die Gemeindeordnungen der Länder differenzieren Siedlungsgemeinden ebenfalls nach Grö-
Stadt ßenklassen und geben großen, kreisangehörigen S.en besondere Bezeichnungen wie z.B. Große Kreisstadt (-> BadenWürttemberg, Bayern), Selbständige S.e (-» Niedersachsen) oder Mittelstadt (-> Saarland). Industrie, Gewerbe, Handel und Dienstleistungen dominieren die städtische Wirtschaftsstruktur. S.e verfügen zudem i.d.R. über ein ausdifferenziertes, spezialisiertes administratives und polit. System, dessen Vertretungskörperschaft parlament. Charakter annimmt. 2. Kreisfreie S.e und S.e bilden (neben Gemeinden und -> Gemeindeverbänden) als staatsrechtl. Bestandteile der Länder quasi die 3. demokrat. legitimierte und normsetzende Stufe in der vertikalen -> Gewaltenteilung der demokrat. Staatsorganisation. Damit unterliegen sie den maßgeblichen Gestaltungsprinzipien des republikanischen, demokrat. und sozialen -> Rechtsstaates und müssen z.B. über eine —> Volksvertretung verfügen und im Rahmen der Gesetze agieren. Die Verfassungen von —> Bund und Ländern garantieren den S.en als kommunaler Gebietskörperschaft das Recht, alle Angelegenheiten der „örtlichen Gemeinschaft" in eigener Verantwortung zu regeln (kommunale —> Selbstverwaltung). Diese Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 GG) schützt die kommunale Ebene institutionell, nicht jedoch die individuelle Gemeinde oder S. in ihrem Bestand. Sie sichert ihr neben der genannten Allzuständigkeit für die örtlichen Belange zu, diese ohne staatl. Auftrag und sachliche Kontrolle, aus eigener Kompetenz heraus zu erledigen (Eigenverantwortlichkeit) sowie eigenständig gestaltend und rechtsetzend im Rahmen der Gesetze tätig zu werden (Selbständigkeit). Die S.e und Gemeinden haben somit das Recht, ihre Aufgaben als Rechtssubjekte mit eigenen Hoheitsrechten (Satzungs-, Personal-, Gebiets-, Finanz-, Planungs- und Organisationshoheit) wahrzunehmen. Die wirtschaftl., soziale und kulturelle —> Daseinsvorsorge gilt nach wie vor als der zentrale Kembestand kommunaler Aufga-
Stadt ben. Neben der Erledigung dieser Selbstverwaltungsaufgaben kommt den S.en, da direkt in den Verwaltungsaufbau der Länder eingegliedert, eine Doppelfunktion als unterer Landesbehörde zu, innerhalb derer sie staatl. Aufgaben zu erfüllen haben. Dennoch verstehen sie sich nicht als lediglich mittelbare Staatsverwaltung, sondern vielmehr als Vertreter der örtlichen Gemeinschaft und ihrer Belange gegenüber dem Staat. Der Dt. -> Städtetag übernimmt als kommunaler Spitzenverband der kreisfreien S.e, der größeren kreisangehörigen S.e sowie der S.staaten deren Interessenvertretung in —> Staat und -> Öffentlichkeit. Diese Interessenvermittlung sieht sich zudem über die Geschäftsordnung der —> Bundesregierung und des -> Bundestages (sowie über ähnliche Regelungen in den meisten Bundesländern) in den Gesetzgebungsprozeß eingebunden: Sobald staatl. Vorhaben Auswirkungen auf S.e und Gemeinden haben, müssen deren Spitzenverbände angehört werden. 3. Die ältesten befestigten Großsiedlungen, wie etwa Jericho (9. Jhd. v. Chr.) im vorasiatischen Raum, blieben noch weitgehend singulär. Erst in Ägypten, v.a. jedoch in der gr.-röm. Antike entwickelte sich das menschliche Zusammenleben zu einer zunehmend städtischen Kultur. Die gr. „polis" als polit. Organisation gleichberechtigter Bürger mit Eigentumsrechten an Boden sowie polit. Entscheidung durch die versammelten Bürger, den Magistrat oder den S.herrscher gab das polit.-rechtl., die röm. Militärbefestigungen (castra romana) nicht selten das städtebauliche Grundmuster vor. Dennoch unterscheidet sich die mittelalterliche westeurop. S. in wesentlichen Merkmalen von den antiken Vorbildern: Diese kannten weder die rechtl. Scheide zwischen S. und Land, noch den Markt als stimulierendes Zentrum sowohl des Nahverkehrs als auch des Femhandels mit Hansen und Gilden. Ebenso fehlte die typische städtische Topographie mit Bürgerbauten, Befestigungsanlage und Kirchenwesen sowie die 871
Stadt Versorgungsfiinktion, das Prinzip der Daseinsftirsorge sowie die innere Ordnung. Neben die röm. S. mit ihrer wirtschaftl. und machtpolit. Funktion traten die wikingerzeitlichen, international geprägten Handelsplätze des Nordens, die örtlichen Machtzentren der fränkischen Epoche sowie die Ansiedlungen nicht mehr unmittelbar agrarischer Berufe als weitere Wurzeln der mittelalterlichen dt. S. hinzu. Gerade die funktionale Trennung der S. von ihrem Umland kennzeichnet den westlichen nachantiken S.typus. Sie zeigte sich neben dem Siedlungsgrundriß v.a. in der rechtl. Befreiung und Autonomie der S.e. Der S. als Raum eigener Gesetze und besonderer differenzierter Gesellschaftsund Wirtschaftsfunktionen entsprang ein eigenständiges bürgerl. Selbstverständnis und Selbstbewußtsein, das sich in -> Verfassung und -> Recht, aber auch in -> Kirche, Bildung, Handel und Gewerbe, Versorgung und Fürsorge sowie vielerart im Genossenschaftsverband niederschlug. -> Freiheitsrechte (persönliche —> Freiheit von der Leibeigenschaft durch mehrjährigen Aufenthalt in der S.) und städtische Privilegien (Schutz, Freizügigkeit, Eigentumserwerb) zeugten hiervon. Selbst die am stärksten ausgeprägteste Autonomie und S.freiheit der freien Reichsstädte wie Nürnberg, Augsburg, Köln oder Lübeck führte jedoch nie zu völliger Rechtsfreiheit und städtischer -> Souveränität auch in ihrer Blütezeit blieben die S.e immer der landesherrschaftlichen Obrigkeit des Kaisers unterstellt. Auch die Gründung verschiedener S.ebünde in den Machtkämpfen gegen Kaiser und erstarkende Territorialfürsten konnte den zunehmenden Niedergang der in den Zunftordnungen erstarrten S.e nicht aufhalten (—> Zünfte). Der Absolutismus der Barockzeit schließlich degradierte die S. vollends zur Kulisse fürstlicher Machtentfaltung und stand jeglicher bürgerl. polit. Emanzipation kategorisch entgegen. Erst die preuß. S.eordnung des Freiherm vom Stein wies dem städtischen Gemeinwesen
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Stadt und dessen Vertretung i.S. einer kommunalen Selbstverwaltung" (nicht ,,-regierung") eine spezifisch polit. Aufgabe und damit einen neuen Sinn als 3. Kraft neben Reich und Land zu, ohne jedoch die staatl. Souveränität und Aufsicht in Frage zu stellen. Etwa zeitgleich legte die S. mit der aufkommenden Industrialisierung ihre histor. Gestalt ab. Die mittelalterlichen Schutzmauern fielen, der kapitalistische -> Liberalismus setzte eine gewaltige Siedlungsentwicklung jenseits jeglicher S.planung frei. Massenquartiere, Zersiedlung, Verkehrsnachfrage oder Umweltbelastung waren Konsequenzen, die einen Grundstock heutiger Probleme der S.e legten. Die Umbrüche der Industrialisierung in —> Wirtschaft, Staat und -> Gesellschaft führten zu einer Verstädterung fast aller Lebensbereiche, S. und Dorf verloren ihr histor. Gesicht und ihre Bedeutung. S.regionen und zentrale Orte mit ihren Verflechtungen und Versorgungsfunktionen für das Umland - verstärkt noch durch die in den 60er und 70er Jahren durchgeführten kommunalen Gebietsreformen - prägen statt dessen heute das Bild. 4. Der Wandel der sozio-ökonom. Bedingungen des Gesamtsystems sowie die zunehmende Verflechtung vertikaler Interaktionsprozesse zwischen staatl. und kommunaler Ebene brachten auch für letztere gravierende Konsequenzen mit sich. Die ständige Erweiterung öffentl. Aufgaben in der -> Sozial-, -» Wirtschafts- und Strukturpolitik, die damit verbundene staatl. Normüberflutung sowie die Zentralisierungstendenzen der zunehmenden -> Politikverflechtung entzogen immer mehr ursprünglich kommunale Aufgabenbereiche deren ausschließlicher Kompetenz. Andererseits übertrug der Bund durch seine Gesetzgebung zunehmend die Erfüllung staatl. Aufgaben auf die lokale Ebene. Verstärkte Einbindung in staatl. - » Planung sowie Lenkung im Wege finanzieller Spezialzuweisungen schränkten die städtische Handlungsfreiheit zusätzlich ein. Die gesamtwirtschaftl. Strukturprobleme
Stadtverordnete
Stadtverordnete
greifen zudem die Ökonom. Basis der S.e stark an: Bei sich verschlechternder Steuereinnahmeentwicklung lassen permanente Massenarbeitslosigkeit und Verelendung die städtischen Sozialausgaben (-> Sozialhilfe) explodieren und treiben die Verschuldungsraten mancher S.e gerade in strukturschwachen Regionen in existenzbedrohende Höhen. Der Wandel der Industrie- hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft schlug sich nicht nur in dem städtebaulichen Phänomen der Citybildung bei drohender Verödung der Innenstädte nieder. Zunehmende Einkommensdifferenzierung und Erodierung der Mittelschicht setzen zudem Segregationsprozesse in Gang - innerstädtische Gentrification bei zunehmender Verslumung der Außenbezirke spiegeln die sich verschärfenden sozialen Verwerfungen ebenso wider wie steigende Kriminalitätsraten oder Wohnungsnöte auf dem Marktsegment der preiswerten Mietwohnungen. Zusätzliche akute Problemlagen wie Sanierungs- und Investitionsbedarf, Umweltbelastungen, Abfallund Verkehrsproblematik kumulieren zu einem Problemset, das die Großstädte Mitte der 90er Jahre zu einer Wiederauflage ihres Appells aus den 70er Jahren „Rettet unsere S.e jetzt!" veranlaßte. Lit: H. Boldt/D. C. Umbuch / IV. Haus u.a.: Der moderne Staat, Mannheim 1988; J. Friedrichs (Hg.): Die Städte in den 80er Jahren, Opladen 1985; W. Haus/G. Schmidl-Eichstaedt /R. Schäfer u.a.: Städte, Kreise und Gemeinden, Mannheim 1986; HdbKWP; J. Hotzan: dtv-Atlas zur Stadt, München 1994; G. Kronawitter (Hg.): Rettet unsere Städte jetzt!, Düsseldorf 1994.. DirkMeisel
Stadtverordnete / -r (in kleinen Gemeinden: Gemeindevertreter / Gemeinderat). Der (obsolete) Begriff stammt aus der preuß. Städteordnung (1808) und bedeutet „der von den (privilegierten) Wählern zur Stadt Gesandte" (Verordnete). Nach der —• Magistratsverfassung wie nach der (ähnlichen) ostdt. Kommunalverfassung werden die Gemeindevertreter in der
Kommunalwahl von den dt. Wahlbürgem sowie von den EU-Bürgern auf Listen der —> Parteien und —> Gruppen (freien —> Wählervereinigungen) für 4 Jahre in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer —> Wahl gewählt. Das aktive und passive Wahlrecht wird ab dem 18 Lj., in manchen Bundesländern dem 16 Lj. ausgeübt. Die gewählten und in -> Fraktionen organisierten Volksvertreter bilden zusammen die S.nversammlung / Gemeindevertretung / den Gemeinderat. In der -> Geschäftsordnung wird die erforderliche Mindestgröße für den Fraktionsstatus einer Gruppe festgelegt. Nur Fraktionen erhalten i.d.R. finanzielle Zuschüsse für ihre Arbeit und sind je nach Mitgliederzahl an den Ausschüssen beteiligt. Der kommunale Mandatsträger ist nach Art. 38 Abs. 1 GG Vertreter der ganzen —> Gemeinde und nur seinem Gewissen verpflichtet. In Wirklichkeit vertritt er die polit. Linie seiner Partei / Wählergruppe, die ihn nominiert hat. Er ist der Fraktionsdisziplin unterworfen und genießt weder -> Immunität noch -» Indemnität (was ihn zusätzlich abhängig macht). Sein —» Mandat übt er als Ehrenamt (—> Ehrenamtliche Tätigkeit) aus, für das - mit Ausnahme größerer Städte - nur eine geringe Aufwandsentschädigung gewährt wird. Er ist eingebunden in ein Geflecht von Einflußversuchen und Beziehungen, das den Zeitaufwand infolge fortschreitender —> Demokratisierung qua außerparlament. Mitspracherechte unverhältnismäßig ausdehnt. Zusätzlich leistet er Ausschuß- und Fraktionsarbeit, nimmt teil an Arbeitskreisen und Fortbildung, Parteiveranstaltungen, repräsentativen Ereignissen, hält Kontakte zu Vereinen und Verbänden, -> Bürgerinitiativen usw. In den über 16.000 Gemeinden in der BRD nehmen tausende von Bürgern kommunale Mandate wahr, findet polit. Beteiligung als Aktivlegitimation statt. Die Beteiligungsstrukturen haben sich seit der außerparlament. Bewegung gegen Ende der 60er Jahre vom reinen Repräsen873
Stadtstaaten
Städtetag
tationsprinzip zum (legitimen) Partizipationsprinzip gewandelt. Dies wird in Gestalt von gemeindeverfassungsrechtl. Initiativrechten (-> Bürgerbegehren, -entscheid) und Aktivitäten von Bürgerinitiativen, Orts- und Ausländerbeiräten zum Ausdruck gebracht. Damit ist eine Öffnung des polit. Systems verbunden, die stärkere Berücksichtigung des Bürgerwillens bei Zurückdrängung formaler (repräsentativer) Grundsätze und Prinzipien. Dabei entsteht die Frage, inwieweit Kommunalpolitiker sich auf reine Grundsatzentscheidungen zurückziehen sollen. Dies rührt an die Unterscheidung zwischen Sach- und Partei- / Gruppenpolitik in den Kommunen. Wenn Gemeindepolitik ausschließlich als Sachpolitik interpretiert wird, S. / Gemeinde Vertreter nicht mehr die Verwaltung kontrollieren und Anträge stellen (sollen), sind sie kaum noch als „Politiker" zu bezeichnen. Ihr Selbstverständnis gleicht dann mehr dem eines Wählerbeauftragten. Das sachpolit. Verständnis von —> Kommunalpolitik ist v.a. in den süd(west)dt. Bundesländern anzutreffen. IM.: —> Magistratsverfassung Wolfgang W. Mickel
Stadtstaaten -> Berlin —> Bremen Hamburg Stadtverordnetenversammlung gistrat —> Stadtverordnete
Ma-
Städtetag Der dt. S. ist der älteste und größte der 3 sog. kommunalen Spitzenverbände, die als freiwillige Vereinigungen der kommunalen Gebietskörperschaften diese auf Bundesebene vertreten. Aus Gründen der Unabhängigkeit konstituierte sich der S. 1905 als privatrechtl. Organisation in Form eines nicht-eingetragenen —> Vereins, der seine Arbeit entsprechend nicht aus staatl. Geldern, sondern durch eine jährliche Beitragsumlage seiner Mitglieder finanziert. Vorrangig die kreisfreien -> Städte (1996: 116), die größeren und mittleren kreisangehöri874
gen Städte sowie die —> Stadtstaaten gehören dem S. unmittelbar (267 Städte) oder mittelbar (6.031) über dessen Landesverbände an. Als entscheidungbefugte Organe fungieren die Hauptversammlung, der Hauptausschuß, das Präsidium, der Präsident sowie der Hauptgeschäftsführer. Die Hauptversammlung setzt sich aus Delegierten der unmittelbaren Mitgliedsstädte sowie der Mitgliedsverbände zusammen und tagt alle 2 Jahre, um über Angelegenheiten von besonderer Bedeutung zu beschließen, die der Hauptausschuß vorlegt. Dieser kommt i.d.R. dreimal im Jahr zusammen und regelt v.a. die finanziellen Belange des Verbandes (Beiträge, Haushaltsplan). Das Präsidium bereitet die Sitzungen der anderen Organe vor und begleitet ständig die Arbeit der Hauptgeschäftsstelle, wodurch es die aktuelle kommunalpolit. Arbeit entscheidend prägt. Der Präsident als Vorstand bedarf für seine Willenserklärungen der Mitzeichnung des Hauptgeschäftsführers, dem die Geschäfte der laufenden Verwaltung obliegen. Jegliche Beschlüsse und Wahlen des Deutschen S.es bedürfen einer Dreiviertelmehrheit der abgegebenen Stimmen, eine Satzungsbestimmung, der man die große Wirkung und Beständigkeit des Verbandes zuschreibt. Die Aufgabenstellung des S.es besteht verbandsintem in Erfahrungsaustausch, Beratung und Information der Mitgliedsstädte. Die verbandsexterne Tätigkeit zielt auf die Mitwirkung an der —> Gesetzgebung des -> Bundes und der —> Länder sowie auf die Vertretung der Ziele und Interessen der —> Kommunen in weiteren staatl. und gesellschaftl. -> Institutionen, Organisationen und —> Verbänden. Gemäß der -> Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages sowie der Bundesministerien sind die kommunalen Spitzenverbände zu allen Vorlagen und Initiativen zu hören, die Auswirkungen auf die —• Gemeinden haben könnten. In den meisten Bundesländern bestehen ähnliche Regelungen.
Stände
Stände Ut: W. Haus /G. Schmidt-Eichstaedt u.a.: Der moderne Staat, Mannheim 1986; HdbKWP; W. Krüger / H. Thielen: Die Mitglieder des Dt. Städtetages, München 1994.
DirkMeisel Stände / -Staat Die Verwendung der Begriffe Stand bzw. ständisch ist von außerordentlicher Vieldeutigkeit. Im histor. -fachwissenschaftl. Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff das Wesensmerkmal einer hierarchischen sozialen Ordnung, die als gottgegeben und naturgemäß legitimiert wurde und die der im 18. und 19. Jhd. sich ausformenden modernen Staatsbürgergesellschaft vorausging. In derartigen Gesellschaftsordnungen wurde typischerweise zwischen Adel, Klerus, Bürgertum und mitunter auch Bauern, zwischen Wehr-, Lehr- und Nährstand unterschieden. Diese in sich differenzierten und sich im Zeitablauf verändernden Gesellschaftseinheiten besaßen als S. ungleiche Rechte und Pflichten, ein ausgeprägtes Standesbewußtsein bzw. Standesethos, ein verschieden großes Ansehen, eine unterschiedliche Erziehung und Lebensführung. Der Adel galt als erster Stand mit zahlreichen öffentl. und privaten Vorrechten. Er war eng mit dem Klerus verbunden. Die große Masse der Bevölkerung zählte zum Nährstand und war entsprechend unterprivilegiert, teilw. sogar unfrei. Die Standesgrenzen waren relativ undurchlässig. Faßbar waren die S. und ständischen Unterschiede z.B. in Eheordnungen (mit dem Gebot der Ebenbürtigkeit), Titelzuweisungen, besonderen Anreden, Sitzordnungen, Bodenordnungen, im Zugang zu bestimmten Berufen und Herrschaftsfiinktionen und im Steuerrecht. Die Zuweisung zu einem Stand geschah durch Geburt bzw. Herkunft, durch Kooptation oder Standeserhöhung. Außerhalb der ständischen Ordnung standen fahrende Leute (Vaganten), Andersgläubige (Juden, Ketzer) und die unehrlichen Berufe wie z.B. Henker und Abdekker. Die ständische Ordnung war, wie die häufig verzeichneten ländlichen und städ-
tischen Unruhen zeigen, keineswegs eine heile, spannungsfreie und von allen akzeptierte Welt. Diese vom Mittelalter bis teilw. ins 19. Jhd. bedeutsame Ordnung der sozialen und staatl.-jurist. Ungleichheit unterlag in ihrer Spätphase einem Prozeß der tiefgreifenden und unumkehrbaren Infragestellung. Das in der Aufklärung wurzelnde -> Naturrecht wandte sich gegen das Prinzip der Ungleichheit und des Standesvorrechts, insbes. soweit es sich aus der Herkunft oder Geburt ergab. Die ständische Ordnung wurde durch die Frz. Revolution in Frankreich beseitigt. In Dtld. hingegen erfuhren die S. gegen heftige Kritik der Aufklärung eine letzte bedeutsame und differenzierte staatl. Regelung im ALR von 1794. Dennoch war die alte Sozialund Staatsordnung inzwischen so erschüttert, daß staatl. Modernisierungsstrategien und bürgerl. Angriffe unter der Losung von —> Freiheit und —> Gleichheit und bei Betonung von Leistung, Verdienst und Eignung auch in Dtld. den Niedergang der ständischen Ordnung beschleunigten. Ständische Oberreste, Restaurationsansätze und erst recht eine mehr oder weniger gedankenlose Verwendung des Wortes Stand (z.B. Personenstand, Mittelstand, 4. Stand) haben bis heute überdauert. Die Entprivilegierung des Adels, die Säkularisation der —> Kirche, die Bauernbefreiung, die Gewerbefreiheit leiteten zur staatsbürgerl. Gleichheit und zur rechtl. Freisetzung des Individuums als Grundlage einer neuen industriell-kapitalistischen Wirtschafts-, Sozial- und Staatsordnung über. Die auf die S.gesellschaft aufbauende Staatsform war der S.staat. Er war vom 13. bis 17. Jhd. die vorherrschende Staatsform Mittel- und Westeuropas. Die S. besaßen gegenüber dem obersten Herrschaftsträger bestimmte Freiheiten und Rechte. Diese brachten sie gegenüber dem Träger der zentralen -* Staatsgewalt zur Geltung, wenn es auf S.Versammlungen, etwa auf den —> Reichstagen des Heiligen Röm. Reichs Deutscher Nation (-> Deut875
Stände sches Reich bis 1806) um die Gesetzgebung, die Verwaltung oder die Bewilligung von Steuermitteln ging. Bereits der Feudalismus mit seinem Machtanspruch untergrub den Einfluß der S. auf polit. Ebene. Die Zurückdrängung und Oberwindung dieser intermediären Gewalten und Vertreter partikularer Interessen nahm von Land zu Land sehr unterschiedliche Formen an. Vor dem Hintergrund der sich entwickelnden bürgert. —> Gesellschaft und angesichts der „sozialen Frage" des 19. Jhd.s mit den krassen Klassengegensätzen und Klassen- und Parteikämpfen, lebte der ständische Gedanke wieder auf. Die Idee einer alternativen, harmonischen und organischen Gliederung der modernen Industriegesellschaft in Berufsständen und der Überwindung der modernen polit. —> Verfassungen bewegte romantische, konservative, kath. und nationale Kreise. Von erheblicher Relevanz wurden diese Vorstellungen, als sie nach dem I. Weltkrieg und in den großen Krisen des 20. Jhd.s von zeitgenössischen rechtsgerichteten Kräften aufgegriffen und zu Konzeptionen umgeformt und verdichtet wurden, die den demokrat. —>• Parlamentarismus und die industrielle Arbeitsverfassung autoritär überwinden sollten. In dieser Form waren berafsständische Vorstellungen (z.B. bei O. Spann) gegen alle demokrat. Kräfte, insbes. gegen die polit. Linke gerichtet. In Öst. bestand 1934 bis 1938 ein entsprechendes, teilw. an der autoritär interpretierten kath. Soziallehre orientiertes Regime. Berufsständische Vorstellungen propagierten und realisierten das faschistische Italien und die diktatorischen Regierungssysteme in Portugal unter Salazar und in Spanien unter General Franco. Berufsständisches Vokabular und entsprechende Ansätze spielten auch im -> Nationalsozialismus eine gewisse Rolle. Diese Nähe berufsständischer Ansätze zu autoritär-faschistischen Ordnungsentwürfen und Regimen führte dazu, daß heute das Interesse an berufsständischen Ordnungen erloschen ist. Sie wider-
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Ständiger Ausschuß sprechen auch grundlegenden Verfassungsbestimmungen der BRD. Lit: L. Gall: Von der ständischen zur bürgert. Gesellschaft, München 1993; Geschichtl. Grundbegriffe VI, S. 155ff.; A. R. Myers: Parliaments and Estates in Europe to 1789, London 1975; G. Schmidt (Hg.): Stände und Gesellschaft im Alten Reich, Wiesbaden 1989.
Eckart Reidegeld Ständestaat -» Stände Ständige Konferenz der Kultusminister —• KMK Ständiger Ausschuß 1. Bis zu seiner Aufhebung durch das 33. Gesetz zur Änderung des GG v. 23.8.1976 (BGBl. I S. 2381) sah Art. 45 GG vor, daß „der Bundestag einen s.A. (bestellt), der die Rechte des -> Bundestages gegenüber der Bundesregierung zwischen 2 -> Wahlperioden zu wahren hat". Ständig war dieser —> Ausschuß insofern, als er nicht unter dem Grundsatz der —> Diskontinuität stand. Durch die —> Verfassungsänderung von 1976, nach der die Wahlperiode eines Bundestages erst mit dem Zusammentritt des neuen Bundestages endet (Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG), ist diese Einrichtung eines s.A. mangels parlamentsloser Zeit überflüssig geworden. 2. S. A.e in dem Sinne, daß ihre Einrichtung - im Unterschied zur Einrichtung sonstiger Ausschüsse - verfassungsrechtl. vorgegeben ist, sind nach Art. 45a Abs. 1 GG der —> Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten, nach Art. 45 GG der —» Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union und der —> Ausschuß für Verteidigung sowie nach Art. 45c der -» Petitionsausschuß des Bundestages. S.A.e im vorbezeichneten Sinne sind auch der —» Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2 S. 1 GG (vgl. auch § 1 seiner Geschäftsordnung) und der -> Richterwahlausschuß nach Art. 95 Abs. 2 GG. 3. Die s.A.e iSv § 54 GO BT sind demgegenüber Ausschüsse, die nicht lediglich - wie die Sonderausschüsse des Bundestages - für
Standesamt
Statistisches Bundesamt
einzelne Angelegenheiten eingesetzt sind, sondern generell der Vorbereitung der Verhandlungen des Bundestages dienen, wobei sich der Geschäftsbereich der einzelnen Ausschüsse i.d.R. mit demjenigen von —> Bundesministerien deckt. 4. Innerhalb der Ausschüsse in der Verwaltung ist ein standiger Ausschuß im Gegensatz zu einem ad-hoc-Ausschuß ein auf Dauer oder auf Zeit eingesetzter Ausschuß, der während dieser Zeitspanne bestimmte Aufgaben ohne besonderen Einzelauftrag zu erfüllen hat. Lit: Stern II, § 26 III 1, IV 2. Jörg Ukrow Standesamt Die Aufgaben des S.es sind staatl. Angelegenheiten, die den -> Gemeinden zur Erfüllung nach Weisung übertragen werden (§ 51 PStG). Jede Gemeinde muß einem, von der zuständigen Verwaltungsbehörde gebildeten S.sbezirk zugeordnet sein. Für jeden S.sbezirk sind Standesbeamte in der erforderlichen Anzahl zu bestellen (bei kleineren Gemeinden ist der - » Bürgermeister zugleich Standesbeamter). Zum Standesbeamten darf nur bestellt werden, wer die dt. —> Staatsbürgerschaft und wer nach Ausbildung und Persönlichkeit die für das Amt des Standesbeamten erforderliche Eignung besitzt. Er ist zuständig für den Erlaß des Aufgebots und die Vornahme der Eheschließung (-> Ehe). Darüber hinaus obliegt ihm die Führung der Personenstandsbücher, die Erteilung von Personenstandsurkunden sowie die Entgegennahme namensrechtl. Erklärungen. Lehnt der Standesbeamte die Vornahme einer Amtshandlung ab, kann er durch das Amtsgericht (auf Antrag der Beteiligten oder der Aufsichtsbehörde) dazu verpflichtet werden. Auf das gerichtliche Verfahren in Personenstandssachen sind die Vorschriften der -> freiwilligen Gerichtsbarkeit anzuwenden. K.H. Standing committees —• Committees-» Unterhaus - > Repräsentantenhaus
START Die Strategie Arms Reduction Talks zwischen den USA und der UdSSR bzw. Rußland haben bislang zu 2 Abkommen geführt. Sie zielen darauf, vorrangig die Zahl der am stärksten destabilisierenden strategischen Nuklearwaffensysteme sowie deren Zielangriffskapazität zu verringern. Nachdem USA und UdSSR im START-Abkommen vom 31.7.1991 bereits den Abbau von bis zu 50% der jeweils vorhandenen Zahl strategischer Nukleargefechtsköpfe (auf Raketen) vereinbart hatten, sieht der START-Π-Vertrag vom 3.1.1993 nunmehr die Beseitigung aller „schweren" ICBM (d.h. der größten Interkontinentalraketen) sowie aller „MIRV-ICBM" (d.h. landgestützten Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen) bis spätestens 1.1.2003 vor. Bis dahin soll ferner die Gesamtzahl der strategischen Nukleargefechtsköpfe auf 3.500 verringert werden, die nur noch in Einfachraketen zu Lande und Raketen zur See getragen werden dürfen. Bodenbewegliche ICBM bleiben mit nicht mehr als 1.100 Gefechtsköpfen zugelassen. Auch wenn der START-Π-Vertrag bislang mangels -> Ratifizierung durch das russische Parlament noch nicht in Kraft getreten ist, werden die strategischen NuklearwafTensysteme in den USA wie in Rußland einseitig abgebaut bzw. sind nur noch z.T. einsatzbereit. Lit: L. Rühl: Auf dem Wege zu einem Abschrekkungsminimum. Der START-II-Vertrag und seine Folgeprobleme, in: EA 1993, S. 499ff. J. U. Stasi-Unterlagen-Gesetz -> Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Statistisches Bundesamt ist eine selbständige Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des -> Bundesministeriums des Innern mit Sitz in Wiesbaden, einer Zweigstelle in Beri, und einer Außenstelle in Düsseldorf. Darüber hinaus unterhält es ein Verbindungsbüro in Bad Godesberg,
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Stenographischer Bericht das v.a. die Bundesministerien und den —• Bundestag bei der Nutzung des Statistischen Informationssystems des Blindes (STATIS-BUND) berät und unterstützt. Zu den Veröffentlichungen des Amtes zählen ca. 1.500 Titel, darunter u.a. das Statistische Jahrbuch für die BRD, das Statistische Jahrbuch für das Ausland und die Monatszeitschrift „Wirtschaft und Statistik". Das Bundesamt ist Geschäftsstelle des —> Rats von Sachverständigen für Umweltfragen und des -> Sachverständigenrats zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Hg-
Steuer
Stenographisches Protokoll -> Protokoll
auf Einkünften aus Domänen und Regalien aufbauen. Eine allgemeine S.pflicht hat sich erst mit dem modernen —> Nationalstaat durchgesetzt, für den die Besteuerung das zentrale Finanzierungsinstrument ist. Der moderne —> Staat ist (insbes. infolge der Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat) durch die Einführung eines stehenden Heeres und eine kontinuierliche Expansion der -> Staatsaufgaben durch einen steigenden Finanzbedarf gekennzeichnet, der im wesentlichen durch S.n gedeckt wird. So werden im Bund mehr als 90% der Einnahmen (ohne Kreditaufnahme) aus S.n erzielt. Im Laufe der Zeit hat sich eine Vielzahl von S.arten herausgebildet, was weniger auf rationalen Kriterien als dem histor. und interessenpolitisch bedingten, oft widersprüchlichen Nebeneinander verschiedener S.formen beruht.
Steuer / -η 1. S.n sind Leistungen, die -> Bürgern eines Gemeinwesens zur Eizielung öffentl. Einnahmen auferlegt werden. Der Charakter von S.n hat sich histor. stark gewandelt. In den westlichen Marktgesellschaften der Gegenwart sind Geldleistungen (im Gegensatz zu Realleistungen) die dominante Erbringungsform. I.S. des - » Steuerrechts zeichnen sich S.n dadurch aus, daß sie a) zwangsweise und b) ohne bestimmte Gegenleistung erbracht werden müssen sowie c) dem Prinzip der —> Rechtsstaatlichkeit entsprechend an einen bestimmten, gesetzlich festgeschriebenen Tatbestand geknüpft sind. Den Zwangscharakter teilen S.n mit anderen Arten der -> Abgaben. Von -> Gebühren und —> Beiträgen grenzen sie sich dadurch ab, daß sie nicht als Entgelt für eine spezifische öffentl. Leistung erhoben werden. 2. Bis weit in die Neuzeit wurden S.n weitgehend als Finanzierungsinstrument für Ausnahmesituationen betrachtet (stiure oder steura als Pflicht zur außerordentlichen Hilfe in der Not als Teil der allgemeinen Hilfeleistungspflicht des Gefolgsmanns). Die Finanzwirtschaft des vormodemen Staates mußte weitgehend
3. Der S.pflicht unterliegen sowohl natürliche als auch -> juristische Personen. Die S.gesetzgebung muß klar festlegen, wer aufgrund welchen Tatbestandes welche S. entrichten muß, d.h. den jeweils S.pflichtigen, die Bemessungsgrundlage sowie den S.tarif festlegen. Die Bemessungsgrundlagen sind variabel. Bei der Ertragssteuer etwa können sowohl Einheitswerte als auch tatsächliche Ist-Erträge die Bemessungsgrundlage darstellen. Beim S.tarif kann man zwischen Grenz- und Durchschnittssteuersatz unterscheiden. Der Grenzsteuersatz gibt die Belastung bei der Erhöhung der Bemessungsgrundlage um eine Einheit an. Der Durchschnittssteuersatz gibt die prozentuale Belastung der Bemessungsgrundlage an. Im Falle eines proportionalen Tarifs (wie etwa bei der -> Mehrwertsteuer) stimmen Grenz- und Durchschnittssteuersatz überein. Im Falle eines progressiven S.tarifs (wie bei der —> Einkommensteuer) nimmt der S.satz bei steigender Bemessungsgrundlage zu, weshalb der Grenzsteuersatz über dem Durchschnittssteuersatz liegt. Eine ausgebaute S.bürokratie (Finanzverwaltung) ist mit der Erhebimg der S.n befaßt. In vielen Gesellschaften besteht eine spezifische
Stenographischer Bericht —> Protokoll Stenographischer Dienst -» Protokoll
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Steuer S.moral, d.h. die moralische Bewertung von S.delikten hebt sich von der allgemeinen Rechtsauffassung und Gesetzesmoral der Bevölkerung deutlich ab. Aus diesem Grunde wurde für S.delikte ein besonderes S. strafrecht geschaffen. 4. S.einnahmen sind die notwendige Voraussetzung für die Erbringung öffentl. Leistungen, die nicht rein marktförmig organisiert werden können oder sollen. Was als öffentl. Leistung betrachtet wird, hängt von den Setzungen der jeweiligen Gesellschaft ab. Während die innere und äußere Sicherheit und der Schutz des —» Eigentums weithin akzeptierte öffentl. Güter sind, sind etwa Gesundheit und Bildung in vielen Staaten umstritten. Neben diesen fiskalischen Funktionen können 5.n auch nichtfiskalischen Funktionen i.S. einer allgemeinen staatl. Beeinflussung des wirtschaftl. Verhaltens dienen. Prohibitivsteuern etwa sind bewußt hoch angesetzt, damit der Konsum oder die Einfuhr eines bestimmten Gutes unterbleiben. Sie erfüllen ihren Zweck am besten, wenn keine Einnahmen erfolgen. Höhere S.n auf den Verbrauch von natürlichen Ressourcen (wie eine Energiesteuer) können versuchen, negative Externalitäten des Wirtschaftsgeschehens (etwa Umweltverschmutzung) zu beeinflussen. Durch eine variable Besteuerung verschiedener Faktoren (wie —> Arbeit, - » Energie und Kapital) kann Einfluß auf die relative Profitabilität verschiedener wirtschaftl. Aktivitäten genommen werden. Auch —> Zölle werden unter S.n gefaßt. Zölle dienen sowohl fiskalischen Zwekken (Einnahmeerzielung) als auch nichtfiskalischen Zwecken (etwa Schutz bestimmter einheimischer Wirtschaftszweige vor ausländischer Konkurrenz). 5. Die Rechtfertigung von S.n hängt eng mit der Rechtfertigung von Staatstätigkeit zusammen. Insbes. in der Anfangsphase des Ausbaus moderner Staatlichkeit finden sich ausführliche staatstheoretische Debatten über die grundsätzliche Berechtigung des Staates, S.n zu erheben. Idealtypisch kann man 2 Positionen unter-
Steuer scheiden: die individualistisch-rationalistische und die organizistisch-kollektivistische Staatstheorie. Aus der Sicht einer individualistisch-rationalistischen Staatstheorie (etwa i.S. der Vertragstheorien) werden S.n als Gegenleistung für vom Staat gewährte Vorteile (insbes. den Schutz und die Sicherung des Eigentums) interpretiert. Die Höhe der S.n sollte sich somit nach der Höhe der vom Staat gewährten Leistung bemessen (Äquivalenzprinzip, auch Entgeltprinzip oder Nutzenprinzip). A. Smith (1723-1790) etwa entwickelte den Gedanken der Proportionalbesteuerung, womit die Idee des privatwirtschaftl. Tausches auf die Beziehung zwischen Bürger und Staat übertragen wird. Der Staatshaushalt wird i.S. einer privaten Wirtschaftseinheit verstanden und S.n als der Preis, den der einzelne an den Staatshaushalt für die gewährte Leistung entrichtet. Radikalisiert wird dieser Gedanke in der sog. Assekuranztheorie, die S.n mit einer an den Staat gezahlten Versicherungsprämie gleichsetzt. Dieser individuelle Äquivalenzgedanke, der von einem Vertragsschluß zwischen Bürger und Staat ausgeht, wurde zu einem generellen Äquivalenzgedanken weiterentwickelt. Bestimmte Leistungen des Staates und seiner Gebietskörperschaften sollen in Form von S.n denjenigen Teilnehmergruppen am Wirtschaftsgeschehen aufgebürdet werden, für die sie primär erbracht werden. So wird die —> Gewerbesteuer der -> Gemeinden damit begründet, daß die Infrastruktur für das örtliche Gewerbe bereitgestellt wird. Die Anwendung des Äquivalenzprinzips wirft mehrere Probleme auf. Zum einen gibt es keine gesicherten Indikatoren, welche die Kosten der Inanspruchnahme öffentl. Leistungen durch Individuen oder Gruppen genau erfassen könnten. Dies gilt insbes. für öffentl. Güter wie innere und äußere Sicherheit, die nicht ausschlußfähig sind. Zum anderen kann das Äquivalenzprinzip nicht als Grundlage verteilungs- und stabilitätspolit. Maßnahmen gelten, da an-
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Steuer sonsten etwa die Bezieher von Sozialleistungen diese selbst finanzieren -müßten. Hingegen begreifen organizistischkollektivistische Staatstheorien S.n als dem Staate um dessen höherer Zwecke willen darzubringendes Opfer. Der Staat wird als „Wirklichkeit der sittlichen Idee" (Hegel 1770-1831) begriffen, der unabhängig vom Individuum existiert und mit absoluter Macht herrscht - auch in Fragen der Besteuerung, in denen der Staat nach bestimmten Gerechtigkeitsvorstellungen (—> Gerechtigkeit) entscheidet. Die Höhe der S.n habe sich allein nach der Leistungsfähigkeit des S.pflichtigen zu richten (Leistungsfähigkeitsprinzip), wodurch eine Progressivbesteuerung gerechtfertigt wird (die auch dem sinkenden Grenznutzen bei steigendem Einkommen entspricht). Die Art der vom Staat zu erbringenden Leistungen spielt für die Bemessung der individuellen S.belastung keine Rolle. Dem Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechend sind Personen mit gleicher Leistungsfähigkeit in gleicher Weise zu belasten (horizontale S.gerechtigkeit). Als Indikator gilt meist das Einkommen, zudem das Vermögen. Einer horizontalen S.gerechtigkeit entsprechend sind Personen mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit unterschiedlich zu besteuern. Die Ausgestaltung der Progression ist jedoch umstritten. Die sog. Opfertheorie besagt, daß der durch die S. bewirkte individuelle Nutzenverlust (das Opfer) bei allen 5.pflichtigen gleich zu gestalten sei Eine genaue Berechnungsgrundlage kann jedoch wissenschaftl. nicht festgelegt werden. Diese ist von den polit. Setzungen in einer Gesellschaft abhängig. 6. Im 20. Jhd. hat sich das Leistungsfähigkeitkeitsprinzip unabhängig von einer organizistischen Staatstheorie weitgehend durchgesetzt, da es den Gerechtigkeitsvorstellungen des entwickelten Wohlfahrtsstaates entspricht. Die liberalen Abwehrrechte sind durch soziale —> Bürgerrechte ergänzt worden, bei deren Verwirklichung dem Staat eine maßgebliche Rolle zukommt. Durch ihre Progressi vi tät dient 880
Steuer die Besteuerung zugleich der partiellen Korrektur der Einkommens- und Vermögensverteilung (Umverteilungsgerechtigkeit). Dieser Aspekt erfährt im Rahmen einer libertären Revision des Wohlfahrtsstaates zunehmende Kritik. Anhänger eines miminal state etwa halten die hohe S.belastung gesellschaftl. Leistungsträger für ethisch nicht vertretbar und der Gesamtleistungsfähigkeit des Gemeinwesens abträglich. Unter dem Motto „Leistung muß sich wieder lohnen" fordern sie eine Senkung der S.belastung bei gleichzeitigem Rückbau der Staatstätigkeit, um die Eigeninitiative der Bürger zu fördern. Das S.system der Nationalstaaten beruht auf der Annahme eines im wesentlichen auf das -> Staatsgebiet beschränkten Marktgeschehens mit relativ geringen und gut kontrollierbaren grenzüberschreitenden Bewegungen der Faktoren Güter, Kapital und Arbeit. Diese Voraussetzungen werden im Zuge der zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen (—> Globalisierung) fraglich. Es fällt Staaten zunehmend schwerer, S.n zu erheben und S.sätze autonom festzulegen. Der Faktor Kapital ist (ebenso wie qualifizierte Arbeitskräfte) zunehmend mobil und richtet sich dabei nach den jeweils niedrigeren S.niveaus. Dadurch entsteht ein Anpassungsdruck auf Hochsteuerländer, ihre S.sätze zu senken. Dies gilt insbes. in wirtschaftl. hoch integrierten Räumen wie der -> Europäischen Union, weshalb die Bemühungen um eine Steuerharmonisierung innerhalb der EU im Zuge der Währungsunion verstärkt werden. Durch vielfältige Möglichkeiten sind multinationale Unternehmen in der Lage, ihre (durch die nationalen S.behörden ehedem nur schwer kontrollierbaren) Profite in Niedrigsteuerländem zu versteuern. Der steigende Anteil des über das —>• Internet abgewickelten elektronischen Handels macht es Regierungen immer schwerer, Verkaufssteuern zu erheben. Die S.last wird zunehmend auf wenig mobile Faktoren wie gering qualifizierte Arbeitnehmer abgewälzt (s.a. -> Grund-
Steuerpolitik
Steuerberater erwerb-, -> Grund-, —> Kapitalertrags-, -> Kirchen-, Körperschafts-, -> Lohn-, -> Vermögens-, -> Verbrauchsteuer). Lit: R. A. Musgrave u.a.: Die öffentl. Finanzen in Theorie und Praxis 1, Tübingen 61994; K. Oechsle: Die steuerlichen Grundrechte in der jüngeren dt. Verfassungsgeschichte, Berlin 1993; E. Schremmer (Hg.): Steuern, Abgaben und Dienste vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1994; U. Schultz (Hg.): Mit dem Zehnten fing es an, München31986. Thorsten Benner
die ihnen amtlich bekannt geworden sind, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse ohne Zustimmung des Betroffenen nicht offenbaren oder anders verwerten. Finanzbehörden sind zur Mitteilung von Besteuerungsgrundlagen an —> Körperschaften des öffentlichen Rechts, Sozialleistungsempfänger und Subventionsgeber allerdings befugt (s.a. - » Geheimhaltungspflicht). Hg-
Steuerklassen -> Lohnsteuer Steuerberater -> Steuerberatungsgesetz Steuerpflicht -> Grundpflichten Steuerberatungsgesetz Das StBerG regelt die Hilfeleistung in Steuersachen, die von Einzelpersonen oder Vereinigungen nur aufgrund gesetzlicher Befugnis ausgeübt werden darf. Kraft StBerG besitzen Steuerberater, —• Rechtsanwälte, Steuerberatungsgesellschaften, Wirtschaftsprüfer, Steuerbevollmächtigte ferner im Rahmen ihrer Berufstätigkeit -> Notare, Patentanwälte, Treuhänder, Prüflings- und Berufsverbände diese Befugnis (§§ 3,4 StBerG v. 4.11.1975 zuletzt v. 13.12.1990 BGBl. I S. 2756). Lohnsteuerhilfevereine bedürfen einer Satzung und einer Haftpflichtversicherung als Bedingung ihrer —»• Rechtsfähigkeit und als Voraussetzung ihrer notwendigen behördlichen Anerkennung; sie unterstehen der Aufsicht der Oberfinanzdirektionen. Steuerberater und -bevollmächtigte benötigen nach einem entsprechenden rechts- oder Wirtschaftswissenschaft!. Studium und einer dreijährigen Praxiserfahrung eine behördliche Bestellung durch die obersten Landesfinanzbehörden. Ihre Berufspflichten sind in den §§ 57-77 StBerG geregelt; bei den Oberfinanzdirektionen sind zur beruflichen —> Selbstverwaltung Steuerberatungskammem eingerichtet. Hg-
Steuergeheimnis meint die steuerliche Verschwiegenheitspflicht von Amtsträgern und Sachverständigen; diese dürfen steuerliche Verhältnisse oder Tatsachen,
Steuerpflichtiger Bezeichnung für denjenigen, der eine -> Steuer schuldet oder eine Steuererklärung abzugeben hat; der Begriff umfaßt auch diejenigen, die für eine Steuer haften, Bücher und Aufzeichnungen zu ftlhren haben oder andere ihnen durch die Steuergesetze auferlegten Verpflichtungen zu erfüllen haben (s.a. - » Steuerrecht). Hg.
Steuerpolitik umfaßt die Besteuerung verschiedener Größen zur Erreichung meist wirtschafts- und finanzpolit. Ziele. Mit der Erhebung der —> Steuern und deren spezifischer Ausgestaltung werden bestimmte staatspolit. Ziele verfolgt, die heute weit über den Zweck der (bloßen) Mittelbeschaffiing (fiskalisches Ziel) hinausgehen. So werden u.a. die Verbrauchslenkung (Allokation) durch spezielle —> Verbrauchsteuern und Steuervergünstigungen (z.B. für Vorsorgesparen), die Umverteilung (Distribution) mit Hilfe von progressiven Steuern und die Stabilität der wirtschaftl. Entwicklung z.B. durch Konjukturzuschläge in Boom-Zeiten bzw. Steuererleichterungen in der Rezession erreicht. Durch diese Art der Besteuerung findet ein bewußtes Abweichen von der Forderung nach einer weitgehenden Neutralität statt. Die damit einhergehende Befrachtung der Besteuerung mit nichtfiskalischen Steuerfunktionen ist zu einem
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Steuerung
Steuerrecht nicht unwesenlichen Teil für die Kompliziertheit des modernen —> Steuerrechts verantwortlich. Lit: S.F. Franke: Steuerpolitik in der Demokratie, Berlin 1993; C. Randzio-Plath (Hg.): Zur Steuerpolitik der EG im Binnenmarkt, Sindelfingen 1993. K.H.
Steuerrecht umfaßt die Gesamtheit aller —> Rechtsvorschriften, welche die Erhebung und Verteilung von -> Steuern, die Ausgestaltung der Steuerpflicht und des Steuerzugriffs sowie den —• Rechtsschutz in Steuerangelegenheiten zum Gegenstand hat. Die staatsbürgerl. Pflicht zur Steuerleistung beruht ausschließlich auf Gesetz. Die Abgabenordnung (AO ν. 16.3.1976 zuletzt v. 1996 BGBl. I S. 2049), welche die Rechtsbeziehung zwischen Steuerbürger und Staat, das Besteuerungsverfahren sowie das Recht der Steuerordnungswidrigkeiten und das Steuerstrafrecht enthält, - sie wird häufig als steuerliches Grundgesetz bezeichnet - zählt die gesetzliche Voraussetzung zur Steuerleistung zu den Merkmalen des Steuerbegriffs selbst. Das dt. S. kennt bisher keine einheitliche Zusammenstellung der Steuergesetze in Form eines Steuergesetzbuches. Die Gesetze lassen sich a) nach der Steuergesetzgebungshoheit oder b) nach der Steuerertragshoheit systematisieren, a) Die Gesetzgebungszuständigkeit zerfällt in landes- und bundesrechtl. Zuständigkeiten: Fischerei-, Getränke-, Grunderwerbs-, Hunde-, Jagd-, Kirchen-, Schankerlaubnis- und Vergnügungssteuer beruhen auf Landesrecht. Neben der Abgabenordnung sind die wichtigsten Steuergesetze des Bundes die zur —> Einkommensteuer, -> Körperschaftsteuer, —> Umsatzsteuer, Mineralöl· und Tabaksteuer (—> Verbrauchsteuer) sowie die Außen-, Erbschafts- und Gewerbesteuer, b) Geordnet unter dem Gesichtspunkt, welcher Gebietskörperschaft die Steuereinnahmen zufließen (Steuerertragshoheit Art. 106 GG), unterscheidet man Gemeinschafts-, Bundes-, Landes- und Gemeindesteuern. Das Auf-
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kommen aus den Gemeinschaftssteuern, Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer, fließt Bund und Ländern gemeinsam zu. Die Gemeinden sind beteiligt. Einnahmen aus der Brantwein-, Mineralöl-, Wein-, Tabak-, Tee-, Versicherung-, Zucker- und Wechselsteuer sowie aus den Zöllen gehen an den Bund. Den Ländern eröffnen sich Einnahmen u.a. aus der Erbschaft-, Feuerschutz-, Kraftfahrzeug-, Bier-, Rennwett- und Lotteriesteuer zu, während die Gemeinden neben ihrem o.g. Teil aus den Gemeinschaftssteuern v.a. Einnahmen aus der —> Grund-, — G e werbe- und —> Grunderwerbsteuer haben. Die —> Kirchensteuer geht den Religionsgemeinschaften zu. Das S. wird ergänzt durch die entsprechenden Durchführungsverordnungen zu den Steuergesetzen. Lit: Κ. Koch (Hg.): Abgabenordnung Komm., Köln 51996; O.G. Lipproß: Allgemeines Steuerrecht, Münster 71996; K. Tipke/J. Lang: Steuerrecht, Köln l2 1996.
Raban Graf von Westphalen Steuersätze —> Steuern Steuerung, politische Durch p.S. versucht der —> Staat in westlichen Demokratien die Binnenstrukturen des polit.administrativen Systems zu gestalten und auf die Gesellschaft Einfluß zu nehmen. Herkömmliche p.S. setzt ein handelndes Subjekt voraus, das durch gezielte Beeinflussung des Objekts absichtsvoll ein Ziel verfolgt, welches das betreffende System verändern soll. Wichtiger Akteur der p.S. ist der Staat als das polit.-administrative (Teil-)System (PAS) der Gesamtgesellschaft. Aufgrund seiner —> Legitimation trifft er im Unterschied zu anderen Teilsystemen (z.B. - » Wirtschaft) kollektiv bindende Entscheidungen ftlr alle gesellschafll. Teilsysteme. Hierzu bedient sich staatl. Handeln verschiedener Steuerungsinstrumente, wie z.B. Gebote und Verbote, Anreize, Angebote, Oberzeugungsstrategien und Informationsangebote, Vorbilder. Eine wichtige Restriktion von p.S. besteht in der Komplexität modemer
Steuerung Gesellschañen, die als funktional hoch ausdifferenziertes System verstanden werden kann. Je nachdem, wie die Folgen der Systemkomplexität für die p.S. bewertet werden und wie die Funktion des PAS in bezug auf die anderen Teilsysteme eingestuft wird, lassen sich verschiedene Strategien unterscheiden: Der traditionelle handlungstheoretische Ansatz interpretiert die Komplexität der Gesellschaft zwar als Restriktion der p.S., vertritt jedoch den Standpunkt, daß erfolgreiche p.S. besonders mit den Instrumenten regulativer Politik (Gebote / Verbote) möglich ist. Dem PAS kommt in dieser Strategie die Funktion des Zentrums der Gesellschaft zu. Der inkrementale Ansatz der p.S. verfolgt angesichts der hohen Umweltkomplexität die Strategie kleinschrittiger Reformen und kontrollierter Veränderungen. Der Staat verzichtet hierbei auf strukturelle Interventionen in die Gesellschaft. Im Ansatz selbstreferentieller Systeme folgt aus der evolutionär bedingten funktionalen Differenzierung der Gesellschaft die Selbstorganisation (Autopoiesis) der Teilsysteme. Ausdruck dieses Prozesses ist, daß moderne Gesellschaften über kein alleiniges Zentrum der p.S. mehr verfügen. Vielmehr sind die Teilsysteme durch Selbststeuerung charakterisiert, die eine zielgenaue Fremdsteuerung durch das PAS scheitern lasse. Während hierarchische Strategien der p.S. die Steuerungsfähigkeit des Staates überschätzen, laufen inkrementale Strategien aufgrund ihrer Status-quo-Orientierung Gefahr, erforderlichen Innovationen hinterherzuhinken. Demgegenüber verlieren Strategien der Selbststeuerung das Zusammenwirken der gesellschaftl. Teilsysteme systematisch aus dem Blick. Strategien der Kontextsteuerung und Netzwerkansätze stellen aktuelle Versuche dar, die genannten Ansätze zu verbessern und weiterzuentwickeln. In Anknüpfung an die Systemtheorie Luhmanns versucht die Strategie der Kontextsteuerung, die Integration der Gesamtgesellschaft neu zu begründen. Dem Staat als Supervisor fällt
Stiftung des öffentlichen Rechts die Aufgabe zu, die Effekte des Handelns der Teilsysteme im Hinblick auf den Zusammenhalt der Gesamtgesellschaft zu beobachten und ggf. Entscheidungen an die Systeme zur Revision durch die Teilsysteme zurückzuverweisen. Netzwerkansätze nehmen die funktionale Differenzierung als Ausgangspunkt für einen qualitativ neuen Typus von p.S.; Steuerung in Netzwerken soll durch engen Kommunikations- und Koordinationsverbund repräsentativer Akteure der Teilsysteme (z. B. Staat, Wirtschaft, Wissenschaft) bei der Lösung von Problemen erfolgen. Lit: Α. Görlitz: Polit. Steuerung, Opladen 1995; R. Mayntz: Gesellschaftl. Selbstregulierung und polit. Steuerung, Frankfurt/M. 1995; J. Weyer / U. Kirchner / L. Riedl u.a.: Technik, die Gesellschaft schafft, Berlin 1997; H. Willke: Supervision des Staates, Frankfurt/M. 1997.
Stephan Bröchler Steuervergünstigungen -> Subventionen Stiftung -> Politische Stiftung Stiftung des öffentlichen Rechts Eine SdöR ist eine durch den Stiftungsakt (z.B. -> Gesetz) und i.d.R. die Verleihung der öffentl. -> Rechtsfähigkeit errichtete Organisation zur Verfolgung eines bestimmten öffentl. Zwecks durch die in der Stiftungsordnung vorgesehenen Organe (Vorstand, ggf. Kuratorium, Stiftungsrat, Geschäftsführer) mittels eines Kapitalbestands. Die Einrichtung einer SdöR ist nur möglich im Rahmen der Kompetenzen des diese errichtenden Hoheitsträgers. Stifter kann jede natürliche oder -> juristische Person sein, also auch eine Privatperson. Grds. ist der Stiftungszweck aus den Erträgen des Stiftungsvermögens zu verfolgen; das Stiftungsvermögen bleibt damit erhalten. Beispiel einer SdöR ist die „Stiftung Preuß. Kulturbesitz" des Bundes und der Länder. Privatrechtl. Stiftungen unterliegen gleichfalls der staatl. Aufsicht und können öffentl. Aufgaben erfüllen (z.B. die „Stiftung Volkswagenwerk", die „Fritz-Thyssen-Stiftung").
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Stiftung Wissenschaft und Politik La: Wolff/Bachof II, §§ 102, 103. J.B. Stiftung Wissenschaft und Politik Bundesforschungsanstalten -> Politikberatung Stiftungsverband Regenbogen -> Heinrich-Böll-Stiftung Stimmengleichheit
Wahlrecht
Stimmensplitting Sofern der Wähler bei Parlamentswahlen, wie etwa bei Wahlen zum —> Bundestag, 2 Stimmen hat, kann er diese beiden Stimmen splitten: Er kann seine Erststimme (für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten) dem Kandidaten eines Wahlvorschlagsträgers und seine Zweitstimme (für die Wahl einer Landesliste) einem anderen Wahlvorschlagsträger (einer anderen polit. —> Partei) geben. Rd. 15% der Wähler „spalten" heute bei Bundestagswahlen ihre beiden Stimmen. W. Sch. Strafbefehl (§§ 407ÍT. StPO) Im Verfahren vor dem Strafrichter und im Verfahren, das zur Zuständigkeit des Schöffengerichts gehört, können bei Vergehen auf schriftlichen Antrag der —> Staatsanwaltschaft die Rechtsfolgen der Tat durch schriftlichen S. ohne Hauptverhandlung festgesetzt werden (§ 407 StPO). Der S. ergeht aufgrund des in den Akten zusammengetragenen Beweismaterials. Dieses summarische Verfahren dient sowohl der Vereinfachung des Strafprozesses im Interesse der staatl. Strafrechtspflege als auch den Interessen des Täters, dem daran gelegen sein kann, daß sein StrafTall unauffällig und schnell erledigt wird. Durch S. kann der -> Richter folgende Rechtsfolgen der Tat allein oder nebeneinander festsetzen (§ 407 Π StPO): 1. Geldstrafe, Verwarnung mit Strafvorbehalt, Fahrverbot, Verfall, Einziehung, Vernichtung, Unbrauchbarmachung, Bekanntgabe der Verurteilung, Geldbuße gegen eine -> juristische Person; 2. Ent-
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Strafgesetzbuch ziehung der Fahrerlaubnis bis zu 2 Jahren; 3. Absehen von Strafe; 4. Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, wenn der Angeschuldigte einen Verteidiger hat bzw. ein solcher vom Gericht bestellt wird, und wenn die Strafaussetzung zur Bewährung angeordnet wird. Der Richter ist im Schuldund Strafausspruch an den Antrag der Staatsanwaltschaft gebunden. Hält er den Angeschuldigten nicht für hinreichend tatverdächtig, so lehnt er den Erlaß eines S.s ab. Hat er sonst Bedenken, beraumt er die Hauptverhandlung an. Ein S., gegen den nicht innerhalb von 2 Wochen Einspruch erhoben worden ist, steht einem rechtskräftigen Urteil gleich. Werden neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht, die geeignet sind, eine Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begründen, ist allerdings eine Wiederaufnahme des Verfahrens möglich. Wenn der Angeschuldigte rechtzeitig Einspruch gegen den S. einlegt, findet eine Hauptverhandlung statt, die mit einem Urteil abschließt. Bleiben der nunmehr Angeklagte und sein Verteidiger der Hauptverhandlung fem, wird der Einspruch ohne Beweisaufnahme durch Urteil verworfen. Bei der Urteilsfällung ist der Richter an die im S. verfügte Strafe nicht gebunden. Er kann den Angeklagten daher auch schlechterstellen. Im Jugendstrafverfahren darf gegen Jugendliche kein S. erlassen werden; gegen Heranwachsende nur, wenn der Richter nicht Jugendstrafrecht anwendet (§ 791, § 109Π 1 JGG,—• s.a. Jugendrecht). IM.: H.-H. Jescheck / T. Weigend: Lehrbuch des Strafrechts, allgemeiner Teil, Berlin 5 1996; R. Maurach u.a.: Strafrecht, Heidelberg "1995; C. Roxin: Strafverfahrensrecht, München 241995.
Karlheinz Hösgen Strafgerichte -> Rechtsprechende Gewalt -> Strafrecht - * Strafverfahren Strafgerichtsbarkeit Gewalt -> Strafrecht
Rechtsprechende Strafverfahren
Strafgesetzbuch —• Strafrecht
Strafgewalt Strafgewalt
Strafrecht Staatsgewalt
Strafkammer -> Rechtsprechende Gewalt -> Strafrecht Strafprozeß / -recht ->• Strafverfahren Strafrecht Kaum ein Rechtsgebiet dokumentiert die Unterworfenheit des Einzelnen unter den —> Staat in einer dem S. vergleichbaren Schärfe. Das Recht zu strafen ist Staatsmonopol, anders als im Bereich der Gefahrenabwehr (—> Polizei) kennt der neuzeitliche Staat im S. keinerlei Selbsthilferecht des Opfers. Mit dem S. sichert der —> Rechtsstaat die zentralen Normen der Gemeinschaft, aber er greift mit der (Androhung von) Strafe auch in Freiheitspositionen der Rechtsunterworfenen ein. Die Ausgestaltung des S.s steht damit im Spannungsfeld widerstreitender Verfassungswerte und ist von höchster staatspolit. Relevanz. Neben dem hier zu erörternden materiellen S., das die Grundlagen, Tatbestände und Rechtsfolgen der Straftaten betrifft, gehören zum S. das Recht des -> Strafverfahrens, der -> Strafvollstreckung und des -> Strafvollzugs. 1. Zur Geschichte des Strafens Abweichendes Verhalten negativ zu sanktionieren, gehört zu den Gemeinsamkeiten aller entwickelten - auch vorstaatl. - Gesellschaften. Staatl. S. entsteht dementsprechend mit der Ausbildung von Staatlichkeit selbst. Nachdem sich bereits im Frankenreich Strukturen eines S.s ausgebildet hatten, werden die wiedererstarkte „privatstrafrechtl." Fehde und Blutrache im Zuge der Entstehung der Territorialstaaten erneut zurückgedrängt und das Recht zur Strafe staatlich monopolisiert. Wegweisend für das dt. S. ist die (an der Schwelle zur Neuzeit stehende) Constitut e Criminalis Carolina Kaiser Karl V. (1532), die materielles und prozessuales S. in einem ersten reichsweiten Strafgesetz normiert. Schon die „Carolina" ist dabei ansatzweise von dem Versuch geprägt, staatl. Strafinteresse und den
Schutz des Angeklagten auszugleichen (z.B. durch Verfahrensvorschriften für den Einsatz der Folter zur Geständniserzwingung). Seit der Aufklärung geht es vor allem um Humanisierung des S.s, insbes. etwa um Zurückdrängung der „peinlichen" Strafe. Über die Gesetzbücher des aufgeklärten Absolutismus und die Reform-Kodifikationen des 19. Jhd.s. (wegweisend insbes. das von Feuerbach verfaßte Bay. Strafgesetzbuch von 1813) führt die Entwicklung zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871. 2. Zum Grund des Strafens Die Frage nach der Rechtfertigung fllr staatl. Strafen gehört zu den Grundproblemen der Rechtsphilosophie. Unterschieden werden absolute und relative Straftheorien. Ihren Grund in der Reaktion auf die Straftat selbst und damit als absolutes Gebot der —> Gerechtigkeit interpretieren Kant (1724-1804) und Hegel (1770-1831) die Strafe. Berühmt ist die Formulierung Kants in der Metaphysik der Sitten: „Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (z.B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse auseinander zu gehen, und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind". Für die relativen Straftheorien liegt der Grund des Strafens in der Prävention, für sie stehen namentlich Feuerbach (1775-1833; Ziel der gesellschaftsbezogenen Generalprävention) und F. v. Liszt (1851-1919; Ziel der täterbezogenen Spezialprävention). Das heutige S. beruht auf Elementen der verschiedenen Ansätze. Als moderner Ansatz tritt deqenige der Stabilisierungsfunktion auf,durch die der Staat seinen Schutzauftrag erfüllt: S. macht die gesellschaftl. Werte bewußt und schafft Vertrauen. Hier gelangt der SUhnegedanke durch die Hintertür in das Lager der Präventionstheorie: nur ein S., das hinreichend sühnt, ist gesellschaftl. akzeptiert und kann seine Stabilisierungsfunktion erfüllen.
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Strafrecht 3. Grundgesetzliche Leitentscheidungen Das S. ist vielfältig verfassungsrechtl. determiniert: Speziell strafrechtsbezogen sind im GG die Abschaffung der Todesstrafe (Art. 102) sowie das Gesetzlichkeitsgebot und das Verbot der Mehrfachbestrafimg (Art. 103 Abs. 2, 3). Das Verbot der Todesstrafe wirft Rechtsprobleme heute v.a. im Hinblick auf —> Auslieferung und - » Rechtshilfe auf, wenn in einem ausländischen Verfahren die Todesstrafe droht. Ob die Todesstrafe menschenwürdewidrig und daher wegen Art. 79 Abs. 3 GG auch nicht im Wege der -> Verfassungsänderung einfilhrbar ist, bleibt streitig. Das Gebot der Gesetzlichkeit hat mehrere Facetten. Insbes. verlangt es die hinreichende Bestimmtheit der gesetzlichen Strafvorschrift und verbietet Rückwirkung. Letzteres bereitet insbes. bei der Aufarbeitung staatsgetragener Verbrechen Schwierigkeiten (zuletzt etwa bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts). Das Verbot der Mehrfachbestrafung (ne bis in idem) erfaßt über den Wortlaut hinaus das Verbot, nach erfolgtem Freispruch wegen der gleichen Tat erneut angeklagt zu werden. Auch die allgemeinen (also nicht speziell auf das S. bezogenen) Grundrechte definieren Rahmenbedingungen für die gesetzliche Gestaltung des S.s; insbes. in seinen Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch hat das BVerfG die Pflicht des Staates betont, das Grundrecht auf Leben auch strafrechtl. zu schützen (BVerfGE 39, Iff.; 88, 203ff). Umgekehrt hat es in seiner Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe hervorgehoben, daß die —• Menschenwürde eine Chance auf Wiederentlassung in die Freiheit verlange (BVerfGE 45, 187ff.). 4. Das Strafgesetzbuch Zentrales Regelwerk für das dt. materielle S. ist das Strafgesetzbuch (StGB) vom 15.5.1871, seither vielfach geändert. Hier sind zwar nicht alle, aber die zentralen Straftatbestände sowie die allgemeinen Regeln über Straftat und Rechtsfolge enthalten. Das StGB gliedert sich rechtstechn. in einen 886
Strafrecht Allgemeinen (AT) und einen Besonderen Teil (BT). Im AT finden sich grds. auf alle Straftatbestände anwendbare Regeln des S.s, geregelt werden insbes. der (räumliche und zeitliche) Geltungsbereich des S.s, Begehensformen (Vorsatz und Fahrlässigkeit, Handeln und Unterlassen, Vollendung und Versuch, Täterschaft und Teilnahme), Rechtswidrigkeit und Rechtfertigung, Schuld und Schuldausschließung, die Grundlagen der Strafsanktion (Haupt- und Nebenstrafen, Maßregeln der Besserung und Sicherung) sowie Regeln für die Strafverfolgung (Strafantrag, Verjährung etc.). Die Regeln des AT sind sowohl ftlr die einzelnen Straftatbestände des BT anwendbar wie auch für die außerhalb des StGB normierten Straftatbestände. Sachlich sind die Regelungen zur Straftat (Voraussetzungen der Strafbarkeit) und zur Strafsanktion (Rechtsfolgen der Straftat) zu unterscheiden. Das StGB wurde vielfach geändert; neben zahlreichen punktuellen Eingriffen stehen einige grundlegende Reformen: der AT ist im Jahr 1975 gründlich reformiert worden, die bisher umfangreichste Überarbeitung des BT hat das 6. StrRG vom 26.1.1998 (BGBl. I S . 164) gebracht. Unterhalb der Ebene des S. kann Verhalten gem. dem —> Ordnungswidrigkeitenrecht durch sanktioniert werden. 5. Die Straftat Um festzustellen, ob eine zu bestrafende Tat vorliegt, ist nach dt. S. eine dreistufige Prüfung erforderlich, die sich in Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld gliedert. Grds. ist die Erfüllung des Tatbestandes (z.B. Tötung eines Menschen) auch rechtswidrig. Gerechtfertigt ist sie nur ausnahmsweise bei Vorliegen von Rechtfertigungsgründen (z.B. Tötung in Notwehr). Neben das aus Tatbestand und Rechtswidrigkeit bestehende Tatunrecht tritt sodann als verfassungsgeforderte Voraussetzung für die Strafe die persönliche Vorwerfbarkeit, also die Schuld des Täters: Sie kann bei Vorliegen schuldausschließender bzw. entschuldigender Umstände entfallen, was zwar die Strafe ausschließt, das Verhalten
Strafrecht
aber nicht rechtmäßig macht. Der Grundtypus der Straftat ist die vorsätzliche und vollendete Begehungstat. Die sog. MinusVarianten der fahrlässigen und versuchten Begehung sowie der Begehung durch Unterlassen begründen die Strafbarkeit unter jeweils besonderen Umständen. Auch Anstiftung und Beihilfe zu Straftaten sind strafbar. Der Katalog der Straftaten im StGB (§§ 80-358) ist nach den geschützten Rechtsgütem gegliedert, zu denen sowohl individuelle Rechtsgüter (körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Eigentum, Ehre etc.) als auch allgemeine und staatl. Interessen (innere und äußere Sicherheit, unbestechliche Amtsführung, Schutz der Umwelt etc.) gehören. Vielfältige Normen des Nebenstrafrechts treten hinzu. 6. Die Strafsanktion Über die Form „richtigen" Strafens wird schon immer heftig gestritten, prägend sind die verschiedenen Ansätze zum Grund des Strafens. Todes- und Körperstrafen sind bis heute international weit verbreitet. Das dt. StGB kennt im Erwachsenen-S. als Hauptstrafen nur die Freiheits- und die Geldstrafe. Freiheitsstrafe kann lebenslänglich verhängt werden, aus der Menschenwürde folgt nach der Judikatur des BVerfG jedoch das Postulat, die Chance auf Wiedererlangung der Freiheit einzuräumen (diese Prüfung findet heute regelmäßig nach 15 Jahren statt). Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren können zur Bewährung ausgesetzt werden; kurzfristige Freiheitsstrafen bis zu 6 Monaten sollen nur in Ausnahmefällen verhängt werden (§ 47 Abs. 1 StGB). Geldstrafe wird nach Tagessätzen, also im Grundsatz abhängig von der finanziellen Leistungskraft des Täters verhängt. Das System der Strafsanktionen wird ergänzt durch die Nebenstrafen, zu denen neben dem Fahrverbot neuerdings die umstrittene Vermögensstrafe (Einziehung von Vermögen, ohne daß dessen Herkunft aus der Tat nachgewiesen sein muß) gehört. Rechtspolit. ist die Diskussion z.Z. etwa durch die Forderung nach einem Ausbau des
Strafrecht
Täter-Opfer-Ausgleichs oder auch der Einführung des mittels „elektronischer Fessel" gesicherten Hausarrests. Keine Strafsanktionen im eigentlichen Sinne sind die Maßregeln der Besserung und Sicherung. Auch sie sind im StGB (§§ 6Iff.) geregelt, ihr konzeptioneller Zweck liegt jedoch ausschließlich in der Prävention und ihre Verhängung ist daher unabhängig von der persönlichen Vorwerfbarkeit (Schuld) des Täters. Zu den Folgen der Straftat gehört auch die Eintragung in das -> Bundeszentralregister. 7. Jugend-S. Kinder unter 14 Lj. sind nach dt. S. straflos (§ 19 StGB), für Jugendliche und Heranwachsende gelten sodann besondere Regeln. Zentrale Rechtsquelle ist das Jugendgerichtsgesetz (JGG), betroffen sind sowohl das materielle S. als auch Strafverfahren und Strafvollzug. Anwendbar ist es zwingend bis zum 18. Lj., bei entsprechendem Täter- oder Tatprofil auch bis zum 21. Lj. (maßgeblich ist das Alter zur Tatzeit). Der Leitgedanke liegt in der Zurückdrängung des Sühneprinzips und der Stärkung des (Re-)Sozialisierungsziels; Jugendstraftaten werden daher primär durch Erziehungsmaßregeln sanktioniert, bei Bedarf können darüber hinaus Zuchtmittel und nur im Extremfall Jugendstrafe verhängt werden (—> Jugendrecht). 8. Internationales S. Obwohl das S. zum Kembereich souveräner Staatlichkeit zählt, sind Tendenzen der Internationalisierung erkennbar. In diversen internationalen Übereinkommen ist das sog. Weltrechtspflegeprinzip vereinbart, durch das nationale Gerichtsbarkeiten ermächtigt oder sogar verpflichtet werden, Auslandstaten ohne Rücksicht auf den Tatort und dessen Recht zu bestrafen. Nachdem sich die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse noch als Ausnahmeerscheinung in der Folge des H. Weltkrieges qualifizieren ließen, zeichnet sich nunmehr mit der Einrichtung Internationaler Ad-hoc-Gerichtshöfe für die Kriegsverbrechen während der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien sowie in Rwanda ein neues
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Strafrecht Zeitalter des internationalen S.s ab; im Bereich der -> Vereinten Nationen wird zur Zeit an dem Statut für einen ständigen Internationalen Gerichtshof (International Criminal Court) gearbeitet. 9. S.s-Politik Die konkrete Ausgestaltung des S.s ist regelmäßig (nicht nur in Dtld.) von rechtspolit. großer Bedeutung. Dem Ruf nach dem S. zur Bekämpfung von Mißständen steht die Mahnung gegenüber, daß es sich nicht um ein Allheilmittel zur Lösung gesellschaftl. Problemlagen handele. Der aus dem Sühnegedanken oder Abschreckungserwägungen folgenden Forderung nach „harter" Strafe steht die dem Resozialisierungsgedanken oder auch dem Verzeihensprinzip entspringende Forderung nach „humaner" Strafe gegenüber. Grds. wird zudem die Funktionsgerechtigkeit des S.s als Mittel gesellschaftl. Verhaltenskontrolle diskutiert. Zwar spielt die abolitionistische Forderung nach Ersetzung des S.s durch sonstige Mechanismen der Verhaltenskontrolle praktisch weltweit keine Rolle, realpolit. Kontroversen kennzeichnen aber einzelne Bereiche, so die Diskussion um Entkriminalisierung von Bagatelldelikten (Ladendiebstahl Beförderungserschleichung), Schwangerschaftsabbruch oder Drogenmißbrauch bzw. um die Intensivierung des „white-collar"-S.s (Korruption, industrielle Umweltverschmutzung, —> s.a. Umweltstrafrecht). Tendenziell ist das S. derzeit durch die Ausweitung der Straftatbestände wie auch durch Erhöhung der Strafdrohungen gekennzeichnet. Die praktizierte S.s-Politik steht damit gelegentlich unter dem Verdacht des Problemlösungsersatzes oder symbolischer, weil (vermeintlich) kostenfreier Gesetzgebung. Lit: IV. Hassemer: Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, München 2 1990; H.H. Jescheck: Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, Berlin '1995; H.-P. Kauhl: Auf dem Weg zum Weltstrafgerichtshof, in: Vereinte Nationen 1997, S. 177ff.; E. Kempf: Die Funktion von Strafrecht und StrafVerteidigung in einer modernen Gesellschaft, in: NJW 1997, S. 1729ff.;A Schönke/H.
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Strafverfahren Schröder: Strafgesetzbuch, Komm., Mönchen 25 1997; K. Tiedemann: Verfassungsrecht und Strafrecht, Heidelberg 1991.
Jörg Menzel Strafregister -> Bundeszentralregister Straftat -> Strafverfahren
Strafrecht
Strafverfahren Das S. ist das gesetzlich geordnete Verfahren zur Ermittlung von Straftaten und zur Festsetzung der gebotenen Strafe. Es dient der Durchsetzung des materiellen —> Strafrechts. Gleichzeitig steht das S.srecht schon seit den ältesten Prozeßrechtskodifikationen auch im Lichte des Schutzes des Angeklagten (sowie sonstiger Verfahrensbetroffener). So enthielt bereits die Cautio Criminalis Carolina als maßgebliche dt. Strafrechtskodifikation der frühen Neuzeit einschränkende Maßgaben zur Beweiserhebung, insbes. limitierte sie den Gebrauch der Folter als Mittel zur Herbeiführung des seinerzeit für die Verurteilung beinahe unerläßlichen Geständnisses. Wichtigste Rechtsquelle ist heute die Strafprozeßordnung (StPO) i.d.F. vom 7.4.1987 (BGBl. I S. 1074, seither häufig geändert), Sonderregeln finden sich z.B. im Jugendgerichtsgesetz (JGG, —> Jugendrecht) oder - für das Steuerstrafrecht - in der Abgabenordnung. Zentrale Verfahrensrechte des Angeklagten - innerstaatl. verbindlich und ggf. vor dem -> Europäischen Gerichtshof in Straßburg beschwerdefähig - sind in der -> Europäischen Menschenrechtskonvention normiert. 1. Verfassungsrechtl. steht das S. - wie das Strafrecht insgesamt - im Spannungsfeld gegenläufiger Prinzipien; S.srecht ist daher in gewisser Weise angewandtes —> Verfassungsrecht (BVerfGE 32, 373 (383)). Einerseits resultiert aus der Schutzpflicht des Staates für die Sicherheit von Menschen und Einrichtungen das verfassungsrechtl. Bedürfnis wirksamer Kriminalitätsbekämpfung. Wenn die Verfassung den Schutz der fundamentalen Rechtsgüter auch durch das Strafrecht
Strafverfahren gebietet (BVerfGE 39, Iff.), dann gehört hierzu im Grundsatz auch das Gebot einer tatsächlichen Effektivität durch Bereitstellung eines geeigneten S.s; auf der anderen Seite verlangen die —> Grundrechte der Betroffenen nach Begrenzung der Mittel und Methoden des S.s: die wichtigsten speziell auf das S. bezogenen Grundrechte sind das Recht auf den —> gesetzlichen Richter (Art. 101 GG), das Recht auf -> rechtliches Gehör vor Gericht, das Doppelbestrafimgsverbot (Art. 103 GG) sowie die Begrenzungen bei Freiheitsentziehungen (Art. 104 GG). Die zentralen Rechtsgrundsätze „in dubio pro reo" (im Zweifel für den Angeklagten), die hiermit zusammenhängende Unschuldsvermutung (Verbot der Behandlung als „schuldig" vor deren Nachweis), den Grundsatz „nemo tenetur se ipsium accusare" (das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen), das Recht zur Wahl eines Verteidigers und das dem anglo-amerik. Strafverfahren entstammende Prinzip des fairen Verfahrens (fair trial) leitet das -> Bundesverfassungsgericht aus dem —» Rechtsstaatsprinzip (ggf. in Zusammenhang mit der Menschenwürde und weiteren Verfassungsprinzipien) ab. Daneben verbietet die —> Menschenwürde (Art. 1 GG) den Einsatz von Folter, Lügendetektoren oder bewußtseinsverändernder Mittel beim Verhör. Weitere Sperrwirkungen resultieren aus speziellen Grundrechten im Rahmen der Ermittlungstätigkeit, etwa aus Art. 10 GG für Eingriffe in das -» Briefgeheimnis, Post- und Fernmeldegeheimnis, aus Art. 13 GG für Eingriffe in den (weit definierten) Bereich der Wohnung und aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung (—> Datenschutz). 2. Grundstruktur und Gang des S.s sind zunächst geprägt vom sog. —• Offizialprinzip. Danach ist Strafverfolgung grds. Sache des Staates, sie ist also heute i.d.R. unabhängig vom Willen und von Handlungen Privater (insbes. der Opfer von Straftaten). Durchbrechungen dieses Grundsatzes finden sich im heutigen Recht noch bei den Antrags- und Privatklagedelikten
Strafverfahren sowie in der Möglichkeit der Nebenklage. Prägend für das S. ist daneben das Akkusationsprinzip (Anklagegrundsatz). Es hat die organisatorische Trennung von Anklagebehörde (-» Staatsanwaltschaft) und -» Gericht zur Konsequenz; die Gerichte können gem. § 151 StPO nicht von Amts wegen untersuchen, sondern nur auf Erhebung der Klage hin („Wo kein Kläger, da kein Richter"). Das S. gliedert sich entsprechend der Aufgabenteilung regelmäßig in das staatsanwaltschaftliche Ermittlungs- und das gerichtliche Hauptverfahren: 5. Das S. beginnt mit dem Hinweis auf das Vorliegen einer „verfolgbaren Straftat" (§152 Abs. 2 StPO), der sich aus einer Strafanzeige (auch bei anonymer Anzeige), einem Strafantrag (des Verletzten) oder aus sonstiger Kenntnis (Presseberichte, Zufallskenntnisnahme etc.) ergeben kann. Verfolgbar ist die Straftat nur, wenn keine Verfolgungshindernisse (Verfolgungsveijährung, Strafantrag bei Antragsdelikten, Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung, diplomatische bzw. Parlament. -» Immunität etc.) entgegenstehen. Liegen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfolgbaren Straftat vor (Anfangsverdacht), sind die notwendigen Ermittlungen durchzuführen (—> Legalitätsprinzip). Praktisch liegt dies zunächst bei der —> Polizei, die alle Straftaten zu erforschen und dabei dem Ersuchen und dem Auftrag der Staatsanwaltschaft nachzukommen hat; Teile der Polizei sind als „Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft" auch mit originär staatsanwaltschaftlichen Befugnissen ausgestattet. Die Ermittlungen sind objektiv zu führen, sie müssen also auf belastende und entlastende Umstände gleichermaßen gerichtet sein. Die Eingriffsbefugnisse der Ermittlungsbehörden sowie die Rechte des Beschuldigten (rechtl. Gehör, Schweigerecht, Akteneinsicht, Rechtsbeistand) und der Zeugen (insbes. die -» Zeugnisverweigerungsrechte aus persönlichen und beruflichen Gründen) sind in der StPO im Detail geregelt. Aus Verstößen gegen das
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Strafverfahren Ermittlungsrecht können Beweisverwertungsverbote resultieren. Für schwerwiegende Maßnahmen ist oft die Entscheidung des zuständigen Ermittlungsrichters erforderlich (Durchsuchung, Abhörmaßnahmen, eidliche Zeugenvernehmung). Unter weitgehender richterlicher Kontrolle steht insbes. die Entscheidung über die —> Untersuchungshaft wie auch über die neu eingeführte —> Hauptverhandlungshaft. 4. Mit dem Abschluß der Ermittlungen bestehen verschiedene Möglichkeiten für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft. Liegt ein für die Einleitung des Hauptverfahrens hinreichender Tatverdacht nicht vor, stellt sie das Verfahren ein (§ 170 Abs. 1 StPO). Soweit ein hinreichender Tatverdacht demgegenüber zu bejahen ist, kommen wiederum mehrere Möglichkeiten in Betracht. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren gleichwohl einstellen (§§ 153-154e StPO). Insbes. kann sie in geringfügigen Sachen die Einstellung wegen geringer Schuld gemäß § 153 StPO verfügen. Darüber hinaus kann sie - soweit die Schwere der Schuld nicht entgegensteht - mit Zustimmung des Gerichts und des Beschuldigten die Einstellung mit Auflagen und Weisungen verbinden (Geldbuße, gemeinnützige Arbeit, Ersatz von Schäden etc., § 153a StPO). Die Wahrnehmung der Möglichkeiten der §§ 153, 153a StPO liegt im Entscheidungsermessen der StA (-> Opportunitätsprinzip). Probleme kann hier die Versuchung zum „Deal" (Geständnis gegen Einstellung) aufwerfen, insg. wird die Tendenz zur (gerichtsentlastenden) Ausdehnung dieser Bestimmungen zum Teil als „Handel mit der Gerechtigkeit" kritisiert. Für verfassungsrechtl. geboten hat das BVerfG die Verfahrenseinstellung im Fall geringfügiger Rauschgiftdelikte (BVerfGE 89, 69ff.) erklärt und damit die an sich systematisch korrekte Erklärung der teilweisen Nichtigkeit der einschlägigen Strafbestimmungen vermieden. 5. Hält die Staatsanwaltschaft zwar eine
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Strafverfahren strafrechtl. Sanktion ftlr erforderlich, die Durchführung derHauptverhandlung aber für entbehrlich, so kann sie den Erlaß eines -> Strafbefehls beantragen (§ 407 StPO). Abgesehen von Nebenstrafen und der Verwarnung mit Strafvorbehalt kann in diesem Verfahren Geldstrafe und (soweit der Angeklagte einen Verteidiger hat) Freiheitsstrafe auf Bewährung von bis zu 1 Jahr verhängt werden. Statistisch erfolgen über 50% der Anklageerhebungen im Strafbefehlsverfahren. Wird das Verfahren nicht eingestellt und kommt auch kein Strafbefehl in Betracht, beantragt die Staatsanwaltschaft bei Gericht die Eröffnung des Hauptsacheverfahrens, worüber das Gericht im sog. Zwischenverfahren entscheidet. Im Hauptverfahren selbst stellt dann die Hauptverhandlung das Kernstück dar. Die Leitung der Verhandlung, die auch bei größeren Verfahren nicht länger als für 30 Tage unterbrochen werden darf, obliegt dem (Vorsitzenden) Richter. Es gelten der Mündlichkeits- und der Öffentlichkeitsgrundsatz. Zeugen und Sachverständige sind persönlich zu hören (Unmittelbarkeitsgrundsatz). Der Ablauf der Verhandlung ist in der StPO im Detail festgelegt, die Verhandlung beginnt mit der Vernehmung des Angeklagten zur Person und dem Verlesen der Anklage durch den Staatsanwalt und endet mit den Plädoyers und den Anträgen von Staatsanwalt und Verteidigung sowie dem letzten Wort des Angeklagten (§ 285 StPO). Soweit das Verfahren nicht noch während der Hauptverhandlung eingestellt wird, endet die Verhandlung mit der Verkündung des Urteils, gegen das im Fall der Verurteilung grds. -> Rechtsmittel zulässig ist. 6. Aufgrund des Spannungsverhältnisses zwischen dem Interesse an effektiver Strafverfolgung und Sicherung individueller Freiheit stehen Einzelfragen des S.s (großer Lauschangriff) immer wieder im Zentrum rechtspolit. Kontroversen. Insg. einschneidender für die Struktur des rechtsstaatl. S.s sind indessen die Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfah-
Strafvollzug
Strafvollstreckung rens und zur Entlastung der Justiz. Die Ausweitung der Möglichkeiten der Verfahrenseinstellung gegen Auflagen, des Strafbefehlsverfahrens sowie die Stärkung des beschleunigten Verfahrens (zuletzt die Einführung der —• Hauptverhandlungshaft) mögen entlasten und auch sonst manchen rechtspolit. Vorteil bringen (so erspart der Strafbefehl die Prangerwirkung des Hauptverfahrens), aber sie dürfen aus dem schnellen Verfahren keinen „kurzen Prozeß" machen. Lit: T. Kleinknecht / L. Meyer-Goßner: Strafprozeßordnung, Komm., München 431997; C. Roxin: Strafverfahrensrecht, München 241997; J. Wolter: Verfassungsrecht im Strafprozeß- und Strafrechtssystem, in: NStZ 1993, S. Iff.
Jörg Menzel Strafvollstreckung Die Vollstreckung rechtskräftiger Strafentscheidungen obliegt den -> Staatsanwaltschaften (§ 451 StPO). Grundsätzlich sind rechtskräftige Entscheidungen unmittelbar zu vollstrekken, unter bestimmten Voraussetzungen können jedoch Strafaufschub bzw. Strafunterbrechung angeordnet werden. Die Vollstreckung von Geldstrafen richtet sich nach der Justizbeitreibungsordnung sowie der ergänzenden Einforderungs- und Beitreibungsordnung (EBAO): Zahlt der Verurteilte auf Aufforderung hin nicht (Zahlung durch Dritte ist unzulässig!), erfolgt die zwangsweise Vollstreckung. Erst im Fall der Uneinbringlichkeit tritt an die Stelle der Geld- die Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 S. 1 StGB); deren Anordnung unterbleibt jedoch, wenn damit eine unbillige Härte verbunden wäre (§ 459f. StPO). In einigen Bundesländern kann die Ersetzung der Ersatzfreiheitsstrafe durch gemeinnützige Arbeit gestattet werden. Die Vollstreckung von Freiheitsstrafen erfolgt durch Ladung zum Strafantritt (§ 27 StVollstrO) bzw. die Veranlassung der Überführung in eine Justizvollzugsanstalt (§ 28 StVollstrO), bei Gefährdung des Vollstreckungserfolgs können ein Vorführungs- oder Haftbefehl und ein Steckbrief erlassen werden. Bei der Berechnung der
Strafzeit ist die —> Untersuchungshaft anzurechnen. Zur Strafvollstreckung i.w.S. gehört auch der -> Strafvollzug. Lit.: Α. Wagner: Strafvollstreckung, München 1997.
J.M. Strafvollzug ist der Teilbereich der -» Strafvollstreckung, der Durchführung und Organisation der Freiheitsstrafe (nicht der —> Untersuchungshaft) in Justizvollzugsanstalten sowie der freiheitsentziehenden Maßnahmen der Sicherung und Besserung betrifft. Das S.srecht regelt also die Ablauforganisation der Haft. 1. Innerhalb des strafrechtl. Sanktionensystems ist die Freiheitsstrafe eine im wesentlichen neuzeitliche Erscheinung, durch die sukzessive insbes. die Todes-, Körper- und Verstümmelungsstrafen abgelöst werden. Zuchthäuser mit eher präventiv-polizeilicher Erziehungsfunktion denn respressiv-strafrechtl. Ausrichtung entstehen in London und Amsterdam des 16. Jhd.s.; das Modell gelangte dann über die Hansestädte nach Dtld.; ausgelöst durch aufsehenerregende Berichte über die Zustände in den europ. Gefängnissen setzt gegen Ende des 18. Jhd.s. eine Reformbewegung ein. Wie vor ihm A. de Toqueville so reist auch Ν. H. Julius nach Amerika, um das dortige Gefängniswesen zu studieren und verfaßt hierüber einen Bericht (1837). Der in den USA verbreitete religiöse Ansatz einer inneren Besserung der Gefangenen durch absolute Einkehr (solitary system) bzw. Einkehr und Arbeit (silent system) setzt sich im Dtld. des 19. Jhd.s. aber nicht mehr durch. In der Anstaltsordnung Spandaus aus dem Jahr 1833 heißt es schlicht: „In der ganzen Anstalt muß eine militairische Subordination herrschen, die unter den Züchtlingen durch unbedingten Gehorsam bei Verbannung allen Raisonnirens erhalten werden muß". Ein solchermaßen auf die äußere Ordnung abstellender Ansatz deckt sich auch mit einer liberalrechtstaatl. Sicht, der therapeutische Experimente grds. suspekt sein müssen.
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Strafvollzug Nach der Betonung des Resozialisierungsgedankens in der —> Weimarer Republik sowie dem vollständigen Rückfall in ein reines Vergeltungsprinzip im —> Nationalsozialismus („Der deutsche Staat verhandelt mit den Verbrechern nicht, er schlägt sie nieder") erhält der S. in einer schrittweisen Entwicklung seit 1945 seine heutige Gestalt. 2. Die nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe ist typologisch die schärfste Strafform des dt. S.s (individuell kann natürlich eine Geldstrafe als belastender eingestuft werden denn eine kurze Freiheitsstrafe), der S. damit in besonderer Weise grundrechtsrelevant. Seit der sog. Strafgefangenen-Entscheidung (BVerfGE 33, Iff ), in der es konkret um die Kontrolle der Gefangenenpost ging, ist anerkannt, daß die —> Grundrechte auch im früher sog. besonderen Gewaltverhältnis (inzwischen spricht man zumeist von einem Sonderstatusverhältnis), in dem sich der Gefangene (aber auch der Schüler, Beamte, Soldat etc.) befindet, Geltungskraft beanspruchen. Die Forderung des BVerfG nach Schaffung einer parlamentsgesetzlichen Grundlage (anstelle der bis dahin üblichen Gestaltung durch -> Verwaltungsvorschriften) für die notwendigerweise zahlreichen Grundrechtseingriffe im S. wurde schließlich durch das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) vom 16.3. 1976 (BGBl I S. 581; seither vielfach geändert) erfüllt. Das Gesetz regelt z.B. die Entscheidung über geschlossenen und offenen Vollzug, über Vollzugslockerungen, Fragen der Unterbringung und Verpflegung, Besuchsrecht, Hafturlaub und Ausgang, Arbeit (verfassungsrechtl. umstritten ist die derzeitige Regelung des Arbeitsentgelts), Religionsausübung, Gesundheitsfürsorge, Freizeitangebote und soziale Hilfe, das Dispziplinarrecht sowie -> Rechtsbehelfe, Einrichtung und Befugnisse der Anstaltsbeiräte sowie auch das Organisationsrecht der Vollzugsbehörden. Ergänzt wird das StVollzG insbes. durch die Maßgaben des Jugendgerichtsgesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe bei
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Strafvollzug Jugendlichen sowie über das Recht der Länder hinsichtlich des Vollzugs der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. 3. Die Sinnhaftigkeit der Freiheitsstrafe wird im Grundsatz wie im Detail ihrer Ausgestaltung kontrovers diskutiert. Praktische Bedeutung hat indessen nicht die Forderung nach Abschafiüng (kein moderner Staat hat diesen Schritt getan), sondern die Frage nach der Ausgestaltung und der gesellschaftl. Erwartungshaltung an den Strafvollzug. Resozialisierungsund Sicherungsvollzug stehen in einem natürlichen Spannungsverhältnis, das sich in Zeiten knapper Haushaltslagen intensiviert. Die heutigen Aufgaben des S. in grundsätzlicher Hinsicht formuliert § 2 StVollzG: Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Während sich das -> Strafrecht insgesamt im Spannungsfeld verschiedener Zweckvorstellungen entfaltet, soll der Vollzug der Haft gemäß gesetzgeberischer Entscheidung also im Zeichen der Prävention (und der gesellschaftl. Reintegration des Täters) stehen, dem Sühnegedanken scheint mithin durch die Tatsache der Haft selbst abschließend Rechnung getragen zu sein. In der Praxis stehen sich indessen auch hier die verschiedenen Grundpositionen zwischen Resozialisierungs- und Sicherungsvollzug, bzw. zwischen hartem und weichem Vollzug gegenüber, und rechtspolit. wird (entsprechend einem gewandelten öffentl. Meinungsklima) die Forderung nach einer Erweiterung der Aufgabenbeschreibung für den Strafvollzug im StVollG erhoben. Praktisch geht es bei der Diskussion insbes. um Fragen des offenen Vollzugs, der Vollzugslockerungen und des Hafturlaubs (§§ 10-13 StVollzG). Einige Gerichte halten in diesem Zusammenhang die Berücksichtigimg der verschiedenen Strafzwecke trotz der speziellen Beschrei-
Strahlenschutz
Streitbare Demokratie
bung des Vollzugsziels für zulässig. Für die Entscheidung über Hafturlaub aus der lebenslangen Freiheitsstrafe hat auch das BVerfG in einer umstrittenen Entscheidung die Berücksichtigung der Schwere der Tatschuld im Grundsatz gebilligt (BVerfGE 64, 285); konkret wurde der Verfassungsbeschwerde allerdings stattgegeben). Trotz bundeseinheitlicher Gesetzeslage haben unterschiedlichen Akzentuierungen auch zu einer feststellbaren föderalen Disparität in der Ausgestaltung des S. geführt (-> Bundesstaat). Ut: R.-P. Calliess / H. Müller-Dietz: StrafVoIlzugsgesetz, Kommentar, München '1998; G. Kaiser / HJ. Kerner / H. Schöch: Strafvollzug, Heidelberg "1992; K. Kruis / G. Cassardt: Verfassungsrechtl. Leitsätze zum Vollzug von Strafund Untersuchungshaft, in: NStZ 1995, S. 521ff., 574ff.
Jörg Menzel Strahlenschutz —> Immissionsschutzrecht Streik -> Arbeitskampf Streitbare Demokratie Das Konzept der s.D. ist Teil eines im Grundgesetz verankerten umfassenderen demokratietheoretischen Verständnisses, das von 3 wechselseitig aufeinander bezogenen Begriffen geprägt ist: -> Pluralismus, Wertgebundenheit und Wehrhaftigkeit. Diese Demokratiekonzeption stellt histor. die folgerichtige verfassungsrechtl. Antwort zum einen auf das Versagen der formalen, wertrelativistischen -> Demokratie der —> Weimarer Republik dar, das in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft (—> Nationalsozialismus) mündete, und zum anderen auf die Bedrohung durch den —> Kommunismus nach dem Π. Weltkrieg. Ideengeschichtl. reichen die Wurzeln des Konzepts der s.D. bis zur gemischten Verfassung in der Antike zurück. Ihr eigentlicher Begründer ist jedoch K. Loewenstein mit seinem 1937 erschienenen Aufsatz „Militant Democracy and Fundamental Rights". Die verfassungsrechtl. Verankerung des Konzepts der s.D.
stellt im GG - aber auch in manchen —> Landesverfassungen - ein verfassungsrechtl. Novum und bis heute auch eine Einmaligkeit in der Geschichte des demokrat. -> Verfassungsstaates dar. S.D. bedeutet nichts anderes als die Inanspruchnahme des Rechts auf Selbstverteidigung durch den demokrat. -> Staat. Schutzobjekt ist die -> freiheitliche demokratische Grundordnung in der Definition des —> Bundesverfassungsgerichts. Der Demokratieschutz ist zielgerichtet gegen antidemokrat. Bestrebungen von unten und von oben, die sich der demokrat. Freiheiten und Verfahren bedienen, um eben diese Freiheiten abzuschaffen und den Umsturz des demokrat. Systems zu betreiben. Die Setzung von Grenzen der Freiheitsausübung für Feinde der Demokratie geschieht unter Sicherung einer prinzipiell offenen —> Gesellschaft und damit grds. um der Erhaltung der —> Freiheit willen. Ein gewisser Zielkonflikt zwischen dem Freiheitspostulat einerseits und der Forderung der wehrhaften Demokratie nach Schutz der Verfassung andererseits läßt sich allerdings nicht ganz vermeiden und ist daher im Zweifel zugunsten von Freiheit und Toleranz aufzulösen. Zur Abwehr extremistischer Bewegungen verfügt die s.D. über ein vielfaltiges Instrumentarium. Typologisch läßt sich dieses in verfassungsrechtl., administrativen, strafrechtl. und diskursiven Demokratieschutz unterteilen, wobei der 1. und der 4. Typ den eigentlichen Kembereich der s.D. ausmachen. Der präventiv-repressiv wirkende verfassungsrechtl. Demokratieschutz kommt im GG zum Ausdruck in den Instrumenten des -> Parteiverbots (Art. 21 Abs. 2 GG), der -> Grundrechtsverwirkung (—» Grundrechte; Art. 18 GG), der Präsidenten- und der Richteranklage (Art. 61, 98 Abs. 2 und 5 GG), des Vereinigungsverbots (Art. 9 Abs. 2 GG) und der Treuepflicht der Angehörigen des -> öffentlichen Dienstes (—» Verfassungstreue; Art. 5 und 33 Abs. 5 GG). In den ersten Jahren der —> Bundesrepublik Deutschland wurden die
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Subjektives öffentliches Recht
Streitkräfte Schutzvorkehningen rigide gehandhabt und waren weitgehend vom Prinzip der -> Legalität beherrscht (u.a. Verbot der SRP 1952, der KPD 1956 und - bis 1964 - von 119 Vereinigungen). In den späteren Jahren trat das -»· Opportunitätsprinzip in den Vordergrund, und die Schutzmaßnahmen wurden von dem weiten Vorfeld der direkten Aktion auf die Gewaltgrenze zurückgenommen. Nach dem Brandanschlag von Rechtsextremisten auf 2 von Türken bewohnte Häuser in Mölln Ende November 1992 ist eine Reaktivierung des verfassungsrechtl. Schutzinstrumentariums festzustellen. Der diskursive Demokratieschutz wirkt präventiv und stellt die bedeutendste Äußerungsform der s.D. dar. Gefordert ist daher der demokrat. bewußte und engagierte —> Bürger, der immun gegen jeglichen —> Extremismus und dauerhaft ein wirksamer Widerpart in der geistig-polit. Auseinandersetzung mit dem polit. Extremismus ist. Lit.: W. Billing: Rechtsextremismus. Eine Herausforderung der wehrhaften Demokratie, in: ders. / A. Barz / S. Wienk-Borgert (Hg.), Rechtsextremismus in der BRD, Baden-Baden 1993, S. 13 Iff.; ders. : Streitbare Demokratie und polit. Extremismus, in: Bundesminister des Innern (Hg.), Texte zur Inneren Sicherheit, Bd. 1/1997, Bonn 1997, S. 7ff.
Werner Billing Streitkräfte —> Bundeswehr Subjektives öffentliches Recht Unter einem s.R. versteht man die einem Rechtssubjekt durch eine Rechtsnorm zuerkannte Rechtsmacht, zur Verfolgung eigener Interessen von einem anderen ein bestimmtes Tun, Dulden oder Unterlassen fordern und durchsetzen zu können. S.e R.e finden sich sowohl im —> Privatrecht (als relatives s.R. gegenüber einem Vertragspartner oder als absolutes s.R. gegenüber jedermann, z.B. § 823 BGB) als auch im —> öffentlichen Recht. Der Unterschied besteht darin, daß im Bereich des öfTentl. Rechts die Rechtsmacht, ein Tun, 894
Dulden oder Unterlassen fordern und durchsetzen zu können, durch nationale und supranationale (insbes. solche des —> europäischen Gemeinschaftsrechts) öffentl.-rechtl. Nonnen verliehen wird. Jedem s.ö.R. entspricht korrespondierend eine Rechtspflicht. Auf diese Weise entstehen ganz verschiedene Rechtsbeziehungen. Die Grundrechte und einfache staatl. —> Rechtsnormen gewähren dem Bürger (nicht nur dem -> Staatsbürger) s.ö.R. gegenüber dem Staat. Das Recht der —> EU, also das im wesentlichen aus den Gründungsverträgen und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen bestehende primäre Gemeinschaftsrecht und das im wesentlichen aus -> EG-Verordnungen, - » EG-Richtlinien und Entscheidungen bestehende sekundäre „einfachgesetzliche" Gemeinschaftsrecht, gewährt den Bürgern (nicht nur den Unionsbürgern) s.ö.R. gegenüber der EU, verpflichtet darüber hinaus aber auch die Mitgliedstaaten (man kann insofern durchaus von einem s.ö.R. der EU gegenüber den Mitgliedstaaten sprechen), den Bürgern subjektive Rechtspositionen durch staatl. Gesetz (etwa durch Umsetzung einer Richtlinie) einzuräumen. Versäumen es die Mitgliedstaaten, ihrer Pflicht gegenüber der EU nachzukommen, ergeben sich für die Bürger aus dem Recht der EU unmittelbar s.ö.R. gegenüber dem säumigen Mitgliedstaaten (z.B. unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien, ggf. sogar Schadensersatz). Zwischen den rechtl. selbständigen bzw. selbständig handlungsfähigen Teilen (Organe) des Staates und seiner Untergliederungen und zwischen den Mitgliedstaaten und der EU bestehen gleichfalls s.ö.R. (z.B. Amtshilfepflichten, Verfahrensbeteiligungsrechte, Organrechte). Die —> Europäische Menschenrechtskonvention verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Einräumung von bestimmten s.ö.R. Darüber hinaus zeichnet sich ab, daß auch das —> Völkerrecht Grundlage von s.R. sein kann, z.B. im Bereich von sog. zwingenden Menschenrechtsnonnen oder im Bereich des völkerrechtl. Frem-
Subjektives öffentliches Recht denrechts (materielle und verfahrensrechtl. internationale Mindeststandards). Wesentliches Element des s.ö.R. ist die Rechtsdurchsetzungsmacht, die es seinem Träger verleiht. Dem Inhaber eines s.ö.R. steht ein effektives Gerichtsverfahren zur Durchsetzung seines Rechts offen. Der Bürger als Träger eines s.ö.R. kann somit ein Handeln oder Unterlassen vom Staat nicht nur fordern, sondern dies auch gerichtlich durchsetzen und ist damit, wie das Würdegebot des Art. 1 GG fordert, nicht bloß Objekt staatl. Handelns (-> Menschenwürde). Umgekehrt ergibt sich aus dem Konzept der s.en ö.en R.e, daß es keinen allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch gegen den Staat gibt. Alle staatl. Gewalt ist zwar an —• Gesetz und —> Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG), der gewaltunterworfene Bürger kann diese Pflicht gegen den Staat aber grds. nur geltend machen, wenn er selbst in einem ihm zustehenden Recht verletzt ist. Der Rechtsweg zu den allgemeinen und besonderen (Sozial- und Finanzgerichten) —> Verwaltungsgerichten und - subsidiär, d.h. nach Erschöpfung des Rechtswegs zu den Fachgerichten - zum —» Bundesverfassungsgericht ist sogar auf die Durchsetzung von s.em ö.en R. beschränkt. So ist z.B. die Zulässigkeit einer verwaltungsgerichtlichen Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage gem. § 42 Abs. 2 VwGO davon abhängig, daß der Kläger die Möglichkeit einer Verletzung eines ihm selbst zustehenden s.en R.s substantiiert zu behaupten vermag. Auch die —» Verfassungsbeschwerde, die sich gegen Akte der -> Judikative (letztinstanzliche Urteile der Fachgerichte), der -> Exekutive (sofern effektiver Rechtsschutz anderweitig nicht zu erlangen ist) und der —» Legislative (gegen den Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar betreffende Gesetze) richtet, hat die Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten, also von s.en ö.en R en zur Voraussetzung (Art. 93 Nr. 4a GG i.V.m. 13 Nr. 8a, 90 BVerfGG). Allerdings hat das BVerfG den Schutz der
Subjektives öffentliches Recht Bürger durch die s.ö.R. vermittelnden Grundrechte dadurch erheblich erweitert, daß es die Verletzung von Grundrechten (insbes. der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG) auch dann annimmt, wenn der staatl. Eingriff ausschließlich deshalb rechtswidrig ist, weil er im Widerspruch zu Rechtsnormen steht, die dem Bürger keine s.ö.R. einräumen (z.B. die Verletzung von Kompetenz· oder Verfahrensvorschriften). Mit der jüngsten Novellierung der VwGO wurde auch die Antragsbefugnis im verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren an die Verletzung s.ö.R. geknüpft. Die enge Verknüpfung von materiellrechtl. s.ö.R. und verfahrensrechtl. Klagebefugnis ist nicht ohne Probleme. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG (auf völkerrechtl. Ebene verstärkt durch die Art. 6 und 13 der EMRK) verlangt, daß sich der Bürger gegen jeden Eingriff der öffentl. Gewalt gerichtlich zur Wehr setzen können muß. Andererseits ist evident, daß nicht jeder gegen jedes vermeintliche Unrecht gerichtlich vorgehen kann, will man die Effektivität nicht nur des Rechtsschutzes aufs Spiel setzen. Vor allem bei dreiseitigen Verhältnissen (sog. Nachbarklagen, aber auch Konkurrentenklagen), bei denen die öffentl. Gewalt als Genehmigungsbehörde durch die Erteilung der Genehmigung (oder die Gewährung eines sonstigen Vorteils) für das Vorhaben des einen Bürgers in die Interessen eines anderen Bürgers (Nachbar oder Mitbewerber) eingreift, ist die Abgrenzung zwischen objektiven Rechtsnormen und s.ö.R., d.h. solchen, die zumindest auch dem Schutz des Dritten und nicht nur öffentl. Interessen dienen, und die der Dritte gerichtlich geltend machen kann, nicht leicht, beruht mehr auf Kasuistik als auf systematischen Erwägungen und ist oft mehr Ergebnis als Voraussetzung der Gewährung von Rechtsschutz. Lit: H. Maurer: Allgemeines Verwaltungsrecht, München "1997; J. Masing: Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, europ. Impulse für eine Revision der Lehre vom
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Subsidiarität
Subsidiarität
subjektiv-öffentl. Recht, Berlin 1997; D. Triantafyllou: Zur Europäisierung des subjektiven öffentl. Rechts, in: DÔV 1997, S. 192ff; R. Wahl: Die doppelte Abhängigkeit des subjektiven öffentl. Rechts, in: DVB1 1996, S. 641ff.
Jürgen Bröhmer Subsidiarität Begriff'S, ist in sozialphilosophischer Verwendung eine Konkretisierung von —> Gerechtigkeit. Das S.sprinzip beansprucht Berücksichtigung in den Verhältnissen zwischen Personen und personnahen Sozialkreisen und polit. System. Anders als bei staatspolit. Grundsätzen, wie z.B. Zentralität, —> Souveränität, Hierarchie, nimmt S. ihren Ausgang bei der Selbständigkeit und Selbstverantwortung des Einzelnen. Unter Nutzung entsprechender sozialer Strukturformen, z.B. des —> Föderalismus begünstigt das Prinzip die Rechte der personnahen untergeordneten Gemeinschaften und schützt sie vor Überwältigung und Auszehrung. S. - lat. Subsidium - bedeutet Beistand, Hilfe. Geschichte S. ist strukturell mit der Idee des Föderalismus verwandt, kompetenziell verstärkt sie die Selbständigkeit und Selbstverantwortung der Person und die Selbstregierung bzw. Selbstverwaltung von —>• Familie, gesellschaftl. Vereinigungen, - » Städten innerhalb eines Reiches. In solcher Hinsicht ist die subsidiäre Idee älter als das Begriffswort. Zu Beginn des 17. Jhd.s entwirft der dt. Jurist J. Althusius (1557-1638) ein Bild vom Reich, das dieses aus einer Stufenfolge von kleineren privaten (consociationes) und öffentl. Verbindungen (universitates) entstehen läßt; jede der unteren Teilgemeinschaflen gehört einer höheren an, behält ihr gegenüber jedoch ihre besonderen - privaten, gemischten oder zuletzt öffentl. - Aufgaben, und keine vermag die Stelle einer anderen auszufüllen (Politica). Seit dem ausgehenden 18. Jhd. tritt - in liberalem Kontext - die Selbständigkeit des Individuums gegenüber den Gemeinschaften deutlicher hervor. So legt etwa A. Lincoln (1808-1865) dem einzelnen nahe, alles zu
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besorgen, was er irgend aus eigener Kraft erreichen könne, zumal die Regierung nicht befugt sei, etwas von dem an sich zu ziehen, was die Menschen ebensogut selber tun könnten. Seine klassische Formulierung hat das S.sprinzip in einem Rundschreiben Papst Pius XI. aus dem Jahr 1931 gefunden, das die Rechte der Familien und religiösen Gemeinschaften gegen den Zugriff des - einen einseitig individualistischen -> Liberalismus in falscher Weise überwindenden - totalen (faschistischen) Staates begründete: Danach müsse es Grundsatz sein, daß dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Inititative und mit seinen eigenen Kräften leisten könne, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden dürfe; so verstoße es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen könnten, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen. Jede Gesellschaftstätigkeit sei ihrem Wesen nach subsidiär; sie solle die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, dürfe sie aber nicht zerschlagen oder aufsaugen. Polit. Ausdifferenzierung des Prinzips S. gehört unter die Klasse innenpolit. Grundsätze als Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft. Sie ist geeignet, das polit. Räsonnement von Engführungen zu schützen: gegen liberalistischen Individualismus und gegen Kollektivismus. Das hat seinen Grund in der Formalität und situativen Offenheit des Prinzips: S. kann fördernd, also positiv, und beschränkend, also negativ, angewendet werden: Im 1. Fall zielt es auf die übergeordnete Gemeinschaft und ihre Pflicht zu begünstigender Intervention, im 2. Fall auf die untergeordnete Gemeinschaft und deren Pflicht zur Selbstbeschränkung. Als regulierendes bzw. subventionspolit. Interventionsprinzip kann es aktiv sein, wenn es in Angelegenheiten, die über den Rahmen möglicher Selbsthilfe hinausgehen, zu staatl. Handeln aufruft (—> Staatsaufgaben), beschränkt
Subsidiarität aktiv, wenn es nur die zur Selbsthilfe notwendigen Voraussetzungen nahelegt, und passiv, wenn es Interventionen verbietet, damit der Wille zu Selbsthilfe und Selbstregierung gerade herausgefordert wird. Die situativ angemessene Anwendung des Grundsatzes hängt an Kompetenzrahmen, Ressourcenausstattung, polit. Tugenden der Handelnden. Die Option für passive S. bzw. das Verbot von Interventionen von oben nach unten entscheidet sich z.B. am Ausmaß möglicher Selbsthilfe-Fähigkeit. Rechtl. Ausdifferenzierung des Prinzips Die Offenheit und situative Anwendungsbreite von S. hat Juristen bislang Überwegend davon abgehalten, in ihr ein Verfassungsprinzip zu sehen. Man nimmt in ihr allenfalls ein Rechtsbildungs-Prinzip wahr, das in -> Gesetzen und - » Verordnungen konkretisiert werden muß. Im dt. Recht geschah das im Recht der —» Sozialhilfe (§ 1 Abs. 2 Hilfe zur Selbsthilfe und § 2 BSHG Selbsthilfe-Fähigkeit, Hilfe durch Angehörige und freie Träger), in § 4 Abs. 2 und 3 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG Vorrang der Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien —> Jugendhilfe und Bestärkung von verschiedenen Formen der Selbsthilfe), nicht zuletzt in der —> Kommunalverfassimg (Allzuständigkeit, Selbstverwaltung aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft) oder im Berufswesen, Gesundheitswesen, im Bildungswesen (Selbstverwaltung). Das europaweit bedeutendste Demonstrationsobjekt für eine rechtl. Konkretisierung von S. bietet der Text des Maastrichter EU-Vertrages (Art. Β EUV, Art 3b EGV). Auf Mitgliedstaats-Ebene sind ihm diverse Verfassungsartikel gefolgt, z.B. Art. 23 n.F. GG; in diesem die Grundlage des Einigungs-Beschlusses der Volkskammer ablösenden neuen GG-Artikel verpflichtet sich Dtld. zur Mitwirkung an einer möglichst strikten Handhabung des S.sprinzips in der -> EU. Europ. Rechtsbedeutung hat der S.sgrundsatz als Kompetenzausübungsschranke der EU erhalten
Subsidiarität (Art 3b Abs. 1 EGV). Mit dieser Schranke soll die rasante unitarisierende Integrationsdynamik begrenzt werden, durch welche die Mitgliedstaaten Gefahr laufen, auch in solchen Rechten verkürzt zu werden, die sie im Vertrag nicht ausdrücklich auf die übergeordnete europ. Ebene übertragen haben. Art. 3b Abs. 2 EGV stellt ergänzend einen Kompetenzausübungsmaßstab zur Verfügung für den Fall, daß EU und Mitgliedstaaten in derselben Sache Zuständigkeiten haben (sog. konkurrierende Zuständigkeiten). Der S.sgrundsatz verlangt nun, daß Mitzuständigkeiten von Seiten der EU gliedstaatsfreundlich definiert und gehandhabt werden müssen, im Zweifel also gegenüber einer Mitzuständigkeit der Gliedstaaten zurückzunehmen sind. Für die rechtl. Handhabung verläßlicher als dieser Maßstab ist freilich der förmliche Ausschluß von Harmonisierungsmaßnahmen im Vertrag (Art. 126if EGV). 2 Kriterien nennt Art 3b EGV, nach denen die konkurrierende Zuständigkeit geregelt werden soll: 1. Die EU interveniert nicht, wenn die Mitgliedstaaten über hinreichende Mittel zur Zielerreichung verfügen (passive S.); 2. Die EU interveniert, wenn sie der Auffassung ist, die Ressourcen ließen sich zur Zielerreichung bei ihr, also gemeinschaftsrechtl. effektiver bündeln (aktive S ). Dem hat man - von Seiten einiger Mitgliedstaaten, darunter auch Dtld. s - die Forderung nach einer Abfolge (zweistufiges Prüfverfahren) entgegengesetzt: Die erwiesene Geltung des ersten Kriteriums solle die Prüfung des zweiten entbehrlich machen (passive vor aktiver S.). Die Bedeutung, die das sozialphilosophische, polit, und Rechtsbildungsprinzip der S. hat, zeigt sich auf staatl. Ebene in der wachsenden Bedeutung föderativer Strukturen (Russische Föderation, Belgien, Spanien, Italien), auf supranationaler Ebene im feierlich deklarierten Willen der 15 EU-Vertragsstaaten, daß künftig „die Entscheidungen entsprechend dem S.sprinzip möglichst bürgernah getroffen werden" (Präambel des EUV). Schließlich er-
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Subventionen
Süddeutsche Ratsverfassung
streckt sich die Bedeutung des Prinzips auf einen umfassenderen „Föderalismus freier Staaten", der - nach I. Kant (17241804) in einen Völkerbund, einmünden werde. In jedem dieser Fälle begünstigt der Grundsatz in Fragen der Gestaltung bzw. Zuständigkeit das Personennahe, Kleine, Untergeordnete, Vielfältige, Besondere, ist insoweit aber nicht trennscharf und bleibt daher ergänzender Prinzipien und rechtl. Konkretisierungen bedürftig. Lit.: Bundesverband der Kath. ArbeitnehmerBewegung Dtld.s (Hg.): Texte zur kath. Soziallehre, Kevelaer 41977; J. Delors: The Principle of Subsidiarity: Contribution to the Debate, in: Subsidiarity, Maastricht 1991, S. 7 S / , J . Isensee: Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Berlin 1968;//. Lecheler: Das Subsidiaritätsprinzip Strukturprinzip einer EU, Berlin 1993; S. Magiera: Föderalismus und Subsidiarität als Rechtsprinzipien der EU, in: H. Schneider / W. Wessels (Hg.), Föderale Union -Europas Zukunft?, München 1994, S.71ff.; D. Merten (Hg.): Die Subsidiarität, Berlin 21994; P.-L. Weinacht·. Europa eine Staatenunion. Strategien aktiver und passiver Subsidiarität, in: ders. (Hg.), Concordia discors Europas prekäre Einheit, Baden-Baden 1996, S.127ff. Paul-Ludwig
Weinacht
Subventionen Staatl. Stellen gewähren Dritten finanzielle Hilfen als S. mit dem Ziel der Beeinflussung der Wirtschaftsstruktur. Die begriffliche Abgrenzung von S. ist nicht eindeutig. Während die Wirtschaftsforschungsinstitute auch indirekt wirkende Transfers zu den S. zählen, wird von der -» Bundesregierung eine engere, am Haushalt orientierte Definition gewählt: S. bestehen danach aus —> Finanzhilfen (Fh.) und Steuervergünstigungen (Stv.). Im folgenden wird diese Abgrenzung zugrunde gelegt. Danach sind Fh. direkte Geldleistungen. Stv. ergeben sich aufgrund steuerlicher Ausnahmeregelungen. In der volkswirtschaftl. Gesamtrechnung werden unter S. nur die Fh. für laufende Projekte verstanden. Fh kommen insbes. als Erhaltungs- oder als 898
Anpassungshilfen vor. Letztere dienen dem Abfedern eines Strukturwandels, während Erhaltungshilfen langfristig gewährt werden, z.B. weil ein Wirtschaftszweig aus gesamtwirtschaftl. Gründen erhalten werden soll. Problematisch ist dabei die Hartnäckigkeit einmal bewilligter S. gegenüber Versuchen ihrer Einschränkung oder gar Aufhebung. Die Bundesregierung berichtet alle 2 Jahre über die Entwicklung der S. (§ 12 StWG): Nach dem aktuellen Bericht beträgt das Soll des Gesamtvolumens der S. in Dtld. in 1997 rd. 115,2 Mrd. DM. Davon entfallen auf den ->· Bund 40,2 Mrd. DM. Der Anteil der alten -> Länder beträgt 76,6 und der neuen Länder 38,6 Mrd. DM. Der Rest entfällt insbes. auf die EU. Beispielsweise erhielten die —• Landwirtschaft 11,2%, das Wohnungswesen 26,3% und die gewerbliche Wirtschaft etwa die Hälfte der Gesamtsumme an S. des Bundes. Die Fh. des Bundes betrugen 1997 im Soll rd. 23,3 Mrd. DM, z.B. als Hilfen bei der Verstromung der dt. nicht konkurrenzfähigen Steinkohle (7 Mrd. DM) und für den sozialen Wohnungsbau (rd. 11 Mrd. DM). Wichtige Stv. ergeben sich aus Sonderabschreibungen für betriebliche Investitionen und Ausrüstungsinvestitionen in den neuen Ländern und im Bereich der Eigentumsförderung im Wohnungsbau. Dies führen 1998 zu geschätzten Steuerausfällen von jeweils rd. 7 Mrd. DM, davon ca. 43% beim Bund. Lit: Ν. Andel: Finanzwissenschaft, Tübingen 3 1992, S. 249ff.; BMF (Hg.): 16. Subventionsbericht vom 29.8.1997, BTDnicks. 13/8420. Raimund
Weiland
Süddeutsche Ratsverfassung Die Süddt. R. - entstanden im 19. Jhd. in den konstitutionellen Ländern Bayern, Württemberg und Baden (-* Konstitutionalismus) folgt einem dualistischen Prinzip: Neben dem aus Volkswahlen hervorgegangenen für 5 Jahre gewählten Gemeinderat steht der ebenfalls unmittelbar für 8 Jahre gewählte —> Bürgermeister. Die Beschlußkompetenzen liegen schwerpunktmäßig
Supreme Court
Supreme Court
beim Rat. Er legt die Grundsätze für die Verwaltung der —> Gemeinde fest und entscheidet über alle Angelegenheiten der Gemeinde, soweit nicht der Bürgermeister kraft Gesetz zuständig ist oder der Gemeinderat dem Bürgermeister bestimmte Aufgaben übertragen hat. Der Bürgermeister - in Gemeinden ab 2.000 Einwohnern ist er hauptamtlich tätig - vollzieht die Beschlüsse des Rates, vertritt die Gemeinde nach außen und ist Leiter der —> Gemeindeverwaltung. Aus eigener Zuständigkeit nimmt er die Geschäfte der laufenden Verwaltung und die ihm gesetzlich oder vom Rat zugewiesenen Aufgaben wahr. Der Bürgermeister ist als Hauptverwaltungsbeamter stimmberechtigter Ratsvorsitzender. Dieses Verfassungssystem besteht - von Einzelheiten im Detail abgesehen - heute in —> Bayern, -> Baden-Württemberg, —> Sachsen, Sachsen-Anhalt, —> Thüringen und -> Rheinland-Pfalz, in —> NordrheinWestfalen (mit Modifikation, -> Norddeutsche Ratsverfassung), wenn ab 1999 der Bürgermeister vom Volk gewählt wird, in -> Niedersachsen (seit 1996), in Schleswig-Holstein (seit 1998) und in —> Mecklenburg-Vorpommern ab 1999. W.L.
Supreme Court bezeichnet das oberste Gericht der USA, bestehend aus 9 Richtern (seit 1869), von denen einer als Chief Justice primus inter pares ist. Ebenso wie die Richter der unteren Bundesgerichte der USA werden sie vom —> Präsidenten nominiert und nach Bestätigung durch den —> Senat auf Lebenszeit ernannt. Amtszeiten von 10 oder 20 Jahren sind nicht selten; entsprechend sorgfältig sind die Präsidenten mit ihren Ernennungen. Die Kompetenzen des S.C. umfassen alle Bereiche des -» Rechts; er ist, neben geringer originärer Rechtsprechung, die letzte Revisionsinstanz für Gerichte des Bundes und der Staaten. Dafür besitzt er weitgehende Freiheit bei der Auswahl der Fälle, die er hören will. Jährlich werden über 5.000 Fälle vor den S.C. gebracht (mit
steigender Tendenz), von denen er keine 100 hört (mit sinkender Tendenz). Sprechen sich 4 der 9 Richter dafür aus, ist ein Fall angenommen. Annahme oder Ablehnung erfolgen i.d.R. ohne Begründung. Die Urteile jedoch sind z.T. ausführlich und, in auch für Laien verständlicher Sprache begründet. Neben dem eigentlichen Urteil werden auch anders motivierte Zustimmungen (concurring opinions) und abweichende Meinungen (dissenting opinions) veröffentlicht. Der Dissens von gestern kann das Urteil von morgen werden; viele Dissense der Vergangenheit sind heute bekannt wie die bedeutendsten Urteile selber. Die Verfassung der USA. die sich in Art. 3 nur knapp mit dem S.C. befaßt, ist in über 200 Jahren nur durch 27 Amendments (Zusätze) geändert worden. Rechtsschöpfimg und Verfassungswandel durch Richter entsprechen angelsächs. Tradition, und so ist es dem S.C. gelungen, seine polit, gleichgewichtige Rolle als „co-equal branch of government" neben Präsident und -> Kongreß zu behaupten. Die wesentlichen Urteile spiegeln die Verfassungsentwicklung der USA wider, und das Gericht hat sich stets mit den Problemen auseinandersetzen müssen, die auch die polit. Geschichte der USA bewegten. Man kann die Entwicklung des S.C. in 4 Epochen teilen, wobei die erste Zeit nach dem Zusammentreten 1790 außer acht bleiben kann. In einer Ära polit. Harmonie setzte das Gericht keine Akzente. Das änderte sich, als Jefferson 1800 die Wahl gewann und die Verlierer mit J. Marshall (Chief Justice 1801-1835) einen Parteigänger in letzter Minute an die Spitze des S.C. setzten: a) 1801-1835 J. Marshall gilt als der bedeutendste Richter der USA. Er steht für den Ausbau der Bundesmacht und für die rechtl. Vereinheitlichung des Wirtschaftsgebietes USA. Alles dies setzte er gegen erheblichen Widerstand der Präsidenten in Urteilen durch, die z.T. als Präzedenzfälle bis heute von überragender Bedeutung sind. 4 Urteile müssen erwähnt werden: In Marbury vs. Madison
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Supreme Court (1803), dem wohl wichtigsten Urteil des S.C. überhaupt, formulierte Marshall das Prinzip der ,judicial review", das das Gericht zum Hüter der (in diesem Punkt unklaren) Verfassung machte. In McCulloch vs. Maryland (1819) entwickelte er die Theorie der „implied powers", wonach die Kompetenzen des Bundes zugleich alle Mittel umfassen, die für ihre volle Ausschöpfung erforderlich sind. Im Dartmouth College-Fall (1819) sicherte er liberale Vertragsfreiheit vor einzelstaatl. Eingriffen, in Gibbons vs. Ogden (1824) endlich schuf er mit seiner Interpretation der „commerce clause" der Verfassung ein einheitliches, einzelstaatl. Restriktionen nicht unterworfenes Wirtschaftsgebiet der USA. Marschall gab mit seinen Urteilen der Verfassung eine liberale Interpretation zum Schutze nationaler Wirtschaftsinteressen, die er durch die Politik der Präsidenten von Jefferson bis Jackson bedroht sah. b) 1835-1864 Fast ebenso lange wie die Amtszeit Marschalls währte die seines Nachfolgers G. Taney, in der viele wirtschaftsliberale Exzesse behoben und die rechtl. Grundlagen für den späteren Ausbau des Sozialstaates gelegt wurden. Taneys Leistungen werden bis heute durch den Konflikt um die Sklaverei überschattet, in den sich der S.C. bereitwillig verwickeln ließ. Im berüchtigten Dred Scott-Fall (1857) sprach das von Richtern aus dem Süden beherrschte Gericht den Schwarzen jegliche Bürgerrechte ab und leistete damit einen erheblichen Beitrag zum Ausbruch des Bürgerkrieges. c) ¡864-1937 Nach dem Krieg mußte der S.C. seine Position neu sichern. Er tat es mit einem Rückfall in den Wirtschaftsliberalismus, der über Jahrzehnte jede staatl. Sozialpolitik unmöglich machte. Vehikel war das 14. Amendment (1868), dessen due process-Klausel (in etwa: Rechtsstaatsgarantie) so interpretiert wurde, daß fast jeder Eingriff in privates Vermögen und -> Vertragsfreiheit (etwa durch staatl. Arbeitszeitbegrenzungen) 900
Supreme Court verfassungswidrig war. Tiefpunkt der Epoche war das Urteil Plessy vs. Ferguson (1896), das die Rassentrennung legitimierte. Dauerhafter als viele Urteile dieser Zeit sind die Dissense der Richter O.W. Holmes (1902-32) und L.D. Brandeis (1916-39); sie wurden fast alle später Mehrheitsmeinungen. In den 30er Jahren drohte Roosevelts „New Deal" an der intransigenten Haltung des Gerichts zu scheitern, bis 1937 ein Richter sein Stimmverhalten änderte und damit eine neue Epoche einleitete. d) 1937 bis heute Ab 1937 nutzte das Gericht das 14. Amendment nicht mehr zur Verhinderung jeder Sozialpolitik, sondern zur Durchsetzung der —> Bürgerrechte, indem es die zunächst nur den Bund bindende —> Bill of Rights auf Staaten und Kommunen ausdehnte. Motor der Entwicklung war E. Warren (Chief Justice 1953-69); die wichtigsten Urteil seiner Ära sind Brown vs. Board of Education (1954), in dem Plessy und die Rassendiskriminierung in Bausch und Bogen aufgehoben wurden; Gideon vs. Wainwright (1964) und Miranda vs. Arizona (1966), die strafprozessuale Rechte von Angeklagten sicherten; sowie Baker v. Carr (1962) und Reynolds vs. Simms (1964), in denen ungleiche Wahlkreise für verfassungswidrig erklärt wurden. Seit 1969 sind von Republikanischen Präsidenten viele konservative Richter ernannt worden, darunter die Chief Justices W. Burger (1969-1986) und W. Rehnquist (seit 1986). Die Folgen sind in der Forschung umstritten. Wenn auch einige Urteile liberal-aktivistisch blieben (etwa 1973 die extreme Liberalisierung der Abtreibung in Roe vs. Wade), läßt sich doch die Veränderung des Gerichts in seinen Urteilen ablesen. Präsidentenwahlen entscheiden eben auch darüber, wer die Richter nominiert. Unter den obersten 3 Gewalten der USA genießt der S.C. heute das höchste Ansehen. Seine große Macht zur Rechtsgestaltung beruht wegen der lebenslangen Position der ungewählten Richter aber auf
Technikfolgenabschätzung
TAB einer demokrat. problematischen -> Legitimation, die das Gericht in der Vergangenheit immer wieder bestimmt hat, diese Macht vorsichtig einzusetzen und nie völlig und für lange mit der -> Öffentlichen Meinung zu brechen. Es ist anzunehmen, daß es diese Strategie weiter verfolgen wird. Lit: H. J. Abraham: Justices & Presidents, New York 3 1992; D. P. Currie: The Constitution in the Supreme Court, 2 Bde., Chicago 1985/90; M. Dreyer: Recht und Politik: Die Geschichte des amerik. Supreme Courts, in: Histor. Mitteilungen 1994, S. 161ff.; AT. L. Hall (Hg.): The Oxford Companion to the Supreme Court of the United States, New York 1992.
Michael Dreyer
T A B —> Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag Tadelsantrag -> Mißbilligung Tag der Deutschen Einheit Zum Gedenken an den Volksaufstand in der —• DDR am 17.6.1953 wurde der 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag in der Bundesrepublik Deutschland und in Berl./West erklärt. Er galt bis 1990. Mit der Zusammenführung beider dt. Staaten am 3.10.1990 (-> Deutsche Einheit) wurde der 3. Oktober zum nationalen Feiertag erhoben; der 17. Juni ist Gedenktag geblieben (s.a. -> Staatssymbole). Lit: I. Spittmann: Tag der dt. Einheit, in: W. Weidenfeld / K.-R. Körte (Hg.), Handwörterbuch zur dt. Einheit, Bonn 1991, S. 660ff.
Tagesordnung -> Ältestenrat -> Sitzung
verfassungsrechtl. Ordnung betreffen können (normativer Teil). Die Fähigkeit zum Abschluß solcher Verträge kommt —> Gewerkschaften, einzelnen —> Arbeitgebern und Vereinigungen von Arbeitgebern zu ( § 2 Tarifvertragsgesetz). Tarifgebunden sind die Mitglieder der - » Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des T.es ist. Der schuldrechtl. Teil eines T.es regelt u.a. die Friedenspflicht. Diese verbietet den -> Arbeitskampf gegen den laufenden T.; darüber hinaus verpflichten sich die Vertragsparteien, auf ihre Mitglieder i.S. eines tarifgemäßen Verhaltens einzuwirken. Der normative Teil gilt unmittelbar und zwingend zwischen den T.sparteien. Abweichungen müssen entweder im T. zugelassen oder für den Arbeitnehmer günstiger sein. Das Recht der T.sparteien, unabhängig von direkter staatl. Einflußnahme die .Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" zu regeln, ist grundgesetzlich geschützt (Art. 9 Abs. 3 GG) und vielfältig in der europ. bzw. internationalen Arbeitsrechtsordnung verankert (-> s.a. Arbeitsrecht). Lit.: W. Däubler: TarifVertragsrecht, Baden-Baden'1993.
E.R.
Tarifvertragsparteien Die T. verwirklichen ihre aus dem Koalitionsgrundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG herrührende Tarifautonomie v.a. durch den Abschluß von —> Tarifverträgen, die Abschluß, Inhalt und Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtl. Fragen mit normativer Wirkung regeln können. Tariffìhig sind —> Gewerkschaften, —» Arbeitgeberverbände und einzelne —> Arbeitgeber. Lit:A. Stein: TarifVertragsrecht, Stuttgart 1997.
H.-J. Β Tarifvertrag Der T. ist ein Vertrag zwischen Parteien mit Tarißähigkeit zur Regelung ihrer Rechte und Pflichten (schuldrechtl. Teil) sowie zur Regelung von Fragen, die den Inhalt, den Abschluß und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen und die betriebliche und betriebs-
Technikfolgenabschätzung hat sich seit Beginn der 70er Jahre als Sammelbezeichnung für eine Reihe von Verfahren, Konzeptionen und Methoden der sozialwissenschafil., philosophisch-ethischen und theologischen wie natur- und inge901
Technikrecht meurwissenschaftl. Reflexion über Voraussetzungen, Wirkungen und Folgen der technikinduzierten Gestaltung modemer Gesellschaften durchgesetzt. T. bezeichnet ein planmäßiges, systematisches Verfahren der Analyse einer Technik, ihrer Alternativen wie ihrer gesellschaftl. und ökologischen, gewollten und nichtgewollten, synergistischen und kumulativen Folgen und sekundären möglichen Wirkungen und Konsequenzen unter Offenlegung der Wertgrundlagen, auf welche sich die „Abschätzung" bezieht. In der BRD hat sich in den letzten 2 Jahrzehnten eine T.skapazität von ca. 270 Institutionen mit weit über 1.000 Projekten ( 1998) etabliert. Sie sind u.a. Teil des European Technology Assessment Network (ETAN) und des European Technology Assessment Infrastructure (ETAI), neben denen noch das European Parliamentary Technology Assessment Network (EPTA) als Zusammenschluß der Parlament. T.sinstitutionen steht (-> Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag). Lit.: R. Graf von Westphalen (Hg.): Technikfolgenabschätzung als polit. Aufgabe, München '1997. Hg.
Technikrecht Das T. ist kein abgeschlossenes Rechtsgebiet, sondern umfaßt verschiedene spezialgesetzliche Rechtsmaterien, die sich mit gefährdenden Anlagen, Stoffen oder Geräten befassen und gewisse Übereinstimmungen in ihrer Zielsetzung und Regelungsstruktur aufweisen. Insbes. werden dem T. die Rechtsbereiche der Gerätesicherheit, der atomaren Sicherheit, des Immissionsschutzes, der Wasserwirtschaft, der Gentechnik und der Energiewirtschaft zugerechnet. Insoweit ist das T. häufig deckungsgleich mit dem - » Umweltrecht. Es setzt bei der präventiven Verhinderung einer gegenstandstypischen Gefahr an und soll vermeidbare Risiken verhindern bzw. unvermeidbare Risiken auf ein zumutbares Maß reduzieren. Aufgrund des Grundrechtsschutzes des ->
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Technikrecht Grundgesetzes besitzt der —> Staat gegenüber seinen -> Bürgern die Verantwortung für die Gestaltung und Wirkung technikrelevanter Zusammenhänge. Er ist verfassungsrechtl. verpflichtet, alle Gefahren der Technik für einzelne —> Grundrechte, insbes. für Leben und Gesundheit der Menschen, durch geeignete Zulassungs- und Kontrollinstrumente abzuwehren. Neben diesem Ziel der Beschränkung techn. Risiken ist er auch zur -> Daseinsvorsorge für seine Bürger verpflichtet und muß die mit anderen ggf. konfligierenden Grundrechte auf wirtschaftl. Betätigung, Berufsausübung und Eigentumschutz in die im Einzelfall erforderliche Abwägung einbeziehen. Die jeweiligen Spezialgesetze verwenden bei der Bestimmung der Beschaffenheitsund Verhaltensanforderungen an techn. Gegenstände durchweg -> unbestimmte Rechtsbegriffe, mit denen eine regelmäßige Anpassung an die fortschreitende Entwicklung ohne langwieriges Rechtsetzungsverfahren ermöglicht wird. Als gesetzliche Technikklauseln werden verschiedene unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet. Während als allgemein anerkannte Regeln der Technik in der Fachpraxis erprobte, bewährte und nach vorherrschender Fachmeinung den sicherheitstechn. Anforderungen entsprechende Regeln gelten, bezeichnet der Stand der Technik gem. § 3 Abs. 6 BImSchG den gesicherten Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen. Der Stand von Wissenschaft und Technik fordert darüber hinaus, die neuesten wissenschaftl. Erkenntnisse auch zu berücksichtigen, wenn sie noch keinen Eingang in die Praxis gefunden haben. Die inhaltliche Konkretisierung dieser Standards erfolgt durch verschiedene Arten von techn. Regeln. Neben solchen in für nachgeordnete Behörden verbindlichen Verwaltungsvorschriften und in Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften, die nur fllr Unternehmer und Versicherte bindend sind, gibt es 2 weitere bedeutende Kategorien. Norma-
Technikrecht tive Standards werden nach verschiedenen Spezialgesetzen durch die Regelwerke öffentlich-rechtl. techn. Ausschüsse, z.B. des Dt. Dampfkesselausschusses gem. § 11 GSG, des Kemtechn. Ausschusses gem. der Bekanntmachung des Bundesinnenministers aus dem Jahre 1981 oder des Techn. Ausschusses für Anlagensicherheit gem. § 31a BImSchG, erstellt. Sie werden grds. durch allgemeine -> Verwaltungsvorschriften oder ministerielle Weisungen verwaltungsintem verbindlich gemacht. Die von privatrechtl. Normungsvereinigungen, wie z.B. dem Dt. Institut für Normung (DIN) oder dem Verein Dt. Ingenieure (VDI), geschaffenen überbetrieblichen techn. Regeln oder Normen werden aufgrund eines übereinstimmenden Verfahrens von dem jeweiligen Fachausschuß erarbeitet, nach fristgemäßem Einspruch erneut beraten und eventuell nach einem Schlichtungs- oder sogar Schiedsverfahren verabschiedet und veröffentlicht. Wegen ihrer Entstehungsweise und Herkunft besitzen diese techn. Normen keine Wirkung als -> Rechtsnormen, sondern haben nur empfehlenden Charakter. Eine stärkere rechtl. Bindungswirkung können techn. Regeln im Wege normativer Rezeption entfalten. Eine direkte Wiedergabe ihres Inhalts in -> Gesetzen oder —> Verordnungen ist sehr selten. Eine mittelbare Rezeption techn. Regeln erfolgt über die Verwendung der genannten gesetzlichen Technikklauseln in Form generalklauselartiger -» imbestimmter Rechtsbegriffe. Bei der Verweisung auf techn. Regeln unterscheidet man zwischen der statischen Verweisung (z.B. gem. § 2 Nr. 12 1. BImSchV), die aufgrund mangelnder Flexibilität nur bei einer abgeschlossenen techn. Entwicklung sinnvoll ist, und der dynamischen bzw. gleitenden Verweisung (in einer nonnergänzenden und einer nonnkonkretisierenden Variante), die auch Aktualisierungen einbezieht. Da bei einer Bezugnahme auf die jeweils geltende Fassung einer techn. Regel der private Regelgeber faktisch Rechtsetzungsaufgaben wahrnehmen wür-
Techiiikrecht de, ist die normergänzende dynamische Verweisung wegen Verstoßes gegen den Demokratiegrundsatz des Art. 20 Abs. 2 GG grds. verfassungswidrig. Dagegen erfolgt die Konkretisierung bei der Festlegung der jeweiligen techn. Anforderungen im Rahmen unbestimmter Rechtsbegriffe in verfassungsrechtl. zulässiger Weise. Diese normkonkretisierende dynamische Verweisung hat lediglich die Wirkung einer widerlegbaren gesetzlichen Vermutung. Aufgrund der wachsenden wirtschaftl. Verflechtungen der Staaten haben die internationale und europ. Normung zur Harmonisierung techn. Regeln und zum Abbau der techn. Handelshemmnisse im grenzüberschreitenden Warenverkehr immer größere Bedeutung erlangt. Auf der Ebene der —> Europäischen Gemeinschaften wurde im Jahre 1985 vom —> Europäischen Rat die sog. „neue Konzeption auf dem Gebiet der techn. Harmonisierung und der Normung" verabschiedet, wonach Richtlinien zur Angleichung der Rechtsvorschriften nur die grundlegenden Sicherheits- und Gemeinwohlanforderungen festlegen. Diese sind von den Behörden der EU-Mitgliedstaaten als erfüllt zu betrachten, soweit ein Produkt den einschlägigen europ. Normen, die in den verschiedenen techn. Bereichen von den Normungsgremien - v.a. von —> CEN - erlassen werden, entspricht. Um die Gleichwertigkeit von Sicherheitszertifikaten zu gewährleisten, hat der Rat die verschiedenen Zertifizierungsvarianten für die Harmonisierungs-Richtlinien in dem sog. „Globalen Konzept für Zertifizierung und Prüfwesen" aus dem Jahre 1989 systematisiert. Der Nachweis der Nonnkonformität kann durch das europ. Konformitätszeichen (CE) geführt werden. Lit.: Ν. Anselmann: Techn. Vorschriften und Normen in Europa, Bonn 1991; G. Breulmann: Normung und Rechtsangleichung in der Europ. Wirtschaftsgemeinschaft, Berlin 1993; B. Ebinger: Unbestimmte Rechtsbegriffe im Recht der Technik, Berlin 1993; P. Marburger: Die Regeln der Technik im Recht, Köln 1979; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München
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Technischer Staat 2
Technischer Staat
1996, S. 429fr.
Irene L. Heuser Technischer Staat Der Begriff T.S. wurde Anfang der 50er Jahre von dem frz. Sozialwissenschaftler J. Ellul entwickelt und etwa 10 Jahre später von H. Schelsky in die dt. Diskussion eingeführt. Ahnlich wie die Begriffe Technokratie, Technodemokratie oder technological politics bezieht er sich auf die tiefgreifenden Veränderungen von -> Politik, —> Staat und -> Demokratie unter dem prägenden Einfluß der modernen wissenschaftl.-techn. Entwicklung. Schelskys These vom Heraufziehen eines T.n S.es löste eine in den 60er und 70er Jahren lebhaft geführte, gleichwohl in vielerlei Hinsicht defizitäre, von zahlreichen Mißverständnissen durchzogene und seither wieder verebbte Technokratie-Debatte aus. Im Unterschied zum Begriff des T.S. bezeichnet Technokratie üblicherweise die Herrschaft einer besonderen Gruppe von Technikern oder Experten, die im Zuge des wissenschaftl.-techn. Fortschritts zur herrschenden Klasse aufsteigen oder zumindest wichtige Schlüsselpositionen besetzen und zentrale gesellschaftl. Steuerungsfunktionen übernehmen. Insoweit bilden Technokratie-Theorien eine Variante der Elite-Theorien. Entsprechende Vorstellungen weisen eine bis ins frühe 19. Jhd. zurückgehende und u.a. mit dem Namen des frz. Soziologen Saint-Simon verbundene Tradition auf. In vielen Fällen waren sie nicht lediglich wissenschaftl., sondern auch polit, motiviert, so etwa in der amerik. Technokratie-Bewegung der 30er Jahre. Nach 1945 ist eine Reihe von Untersuchungen (u.a. von J. Meynaud, J.K. Galbraith und E. Kogon) zur Frage erschienen, ob und inwieweit insbes. westliche polit. Systeme von technokratischen —> Eliten beherrscht oder beeinflußt sind. Am anderen Ende des Bedeutungsspektrums steht die technikphilosophisch inspirierte Vorstellung von Technokratie als einer Herrschaft der Technik. Dieses Verständnis, das struktu-
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relle und prozessuale Gesichtspunkte in den Vordergrund rückt, bildet auch die Grundlage für Schelskys Analyse des T.S.: Schelsky behauptet, daß durch die Konstruktion einer wissenschaftl.-techn. Zivilisation ein neues Grundverhältnis von Mensch zu Mensch geschaffen werde, in welchem das Herrschaftsverhältnis seine alte persönliche Beziehung der -> Macht von Personen über Personen verliere, an die Stelle der polit. - » Normen und —> Gesetze aber Sachgesetzlichkeiten der wissenschaftl.-techn. Zivilisation träten, die nicht als polit. Entscheidungen setzbar und als Gesinnungs- und Weltanschauungsnormen nicht verstehbar seien. Im Zuge dieses Transformationsprozesses kommt es Schelsky zufolge zu einem tiefgreifenden Wandel der Grundlagen staatl. Herrschaft. Die techn. bzw. techn. induzierten Sachgesetzlichkeiten höhlen zum einen auf vielfältige Weise den hergebrachten polit. Charakter des Staates aus, indem sie den Handlungsspielraum mehr und mehr einengen und Politik darauf beschränken, das ohnedies Notwendige bzw. Unvermeidbare zu erkennen und zu tun, d.h. Anpassungsprozesse zu vollziehen bzw. durchzusetzen. Zum anderen erzwingen oder bedingen sie eine beständige Ausdehnung des staatl. Aktionsradius, verursachen also ein „Staatswachstum", das den Staat zwar techn. mächtiger, polit, jedoch ohnmächtiger werden läßt. Die Technisierung des Staates bzw. die Fusion von Technik und Politik führen (wie im Verhältnis von Mensch und Technik generell) zu einer Verkehrung des Zweck-Mittel-Verhältnisses; die Zwecke werden nicht mehr autonom (d.h. polit.) gesetzt, sondern von den Mitteln (d.h. techn.) determiniert. In der Folge werden die überkommenen Schlüsselbegriffe der Politik- und Staatstheorie (-> Staatsräson, —> Staatsziel, innere und äußere —> Souveränität etc.) zwar nicht obsolet, doch sie füllen sich mit neuen, techn. bestimmten Inhalten. Weil im T.S. lediglich eine Apparatur läuft, die sachgemäß bedient sein will, gibt es in ihm,
Technischer Staat anders als die technokratische Elitentheorie annimmt, keine wirklich entscheidenden oder herrschenden Personen mehr; der Politiker des „T.S." ist vielmehr „Techniker des Staates", Analytiker, Konstrukteur, Planender, Verwirklichender. Auch die klassische Auflassung der —» Demokratie wird fragwürdig, ja zur Illusion; der T.S. entzieht, ohne im eigentlichen Sinne anti-demokrat. zu sein, der Demokratie ihre Substanz, weil techn. Fragen nicht sinnvoll zum Gegenstand demokrat. - » Willensbildung gemacht werden können. Im Vordergrund stehen die techn. Effektivität und Effizienz, steht der Staat als Organisation, als techn. Körper. Handlungsmaximen sind ein optimales Input-Output-Verhältnis, der Erhalt und die stetige Verbesserung der Funktionsund Leistungsfähigkeit. Wie in der Technik im allgemeinen, so dominiert auch in der technisierten Politik das Streben nach absoluter Effizienz, wird der one best way zum Orientierungspunkt. Eine polit, oder ideologisch begründete Weigerung, das Wirken techn. oder techn. bedingter Sachgesetzlichkeiten zu beachten, kann, so Schelsky, ernste Folgen heraufbeschwören und - wie er bereits Anfang der 60er Jahre mit Blick auf den sowjetischen Machtbereich mutmaßte - im Extremfall sogar zum Zusammenbruch des polit. Systems führen. Die Kritik an Schelsky war zum einen ideologiekritisch motiviert, insofern sie ihm eine Affirmation der von ihm konstatierten Trends unterstellte und ihn des technokratischen —> Konservatismus bezichtigte. Dabei übersah sie allerdings geflissentlich, daß ähnliche Argumentationsmuster in Frankreich und den USA von dezidierten Gesellschaftskritikern vorgetragen wurden. Des weiteren argumentierte sie empirisch, indem sie Schelskys Aussagen mit der polit. Wirklichkeit hochtechnisierter Gesellschaften kontrastierte; in den 70er und 80er Jahren setzte sie unter Verweis auf die heftigen Auseinandersetzungen um techn. Großprojekte der These von einer Technisie-
Technischer Staat rung der Politik die einer Politisierung der Technik entgegen. Dieser Strang der Kritik neigte dazu, den von Schelsky mehrfach betonten idealtypisierenden bzw. Modell-Charakter seiner Überlegungen zu gering zu veranschlagen. Schließlich verneinte die Kritik nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern auch die Möglichkeit eines T.S. mit dem Argument, daß es für polit. Fragen niemals, wie von Schelsky angeblich suggeriert, eine eindeutig beste Lösung geben könne, zumal schon für rein techn. Probleme vielfach mehrere gleich effiziente Lösungen möglich seien. Hier offenbart die Kritik eines der eingangs angesprochenen debattenprägenden Mißverständnisse, denn Schelsky hatte keineswegs behauptet, daß es für polit. Fragen techn. Lösungen gebe; sein Argument lautete vielmehr, daß die Politik zunehmend mit techn., also un-polit. oder zumindest politikfremden Fragen konfrontiert würde, die nicht zum Gegenstand von im eigentlichen Sinne polit. Entscheidungen gemacht werden könnten. Sowohl für die bundesdeutsche Debatte über den T.S. als auch für die internationale Debatte über das Verhältnis von Technik und Politik ist symptomatisch, daß die wissenschaftl. Kontroversen weniger daher rühren, daß etwa die Existenz bestimmter Phänomene von der einen Seite behauptet und der anderen geleugnet würde, sondern daher, daß· aufgrund unterschiedlicher, teilw. gegensätzlicher und den Kontrahenten nicht hinreichend bewußter bzw. von ihnen nicht reflektierter Politik- und Technikverständnisse diese Phänomene unterschiedlich wahrgenommen, eingeordnet, gewichtet, interpretiert und bewertet werden. So bevorzugen die Kritiker der These vom T.S. ein soziozentrisches Technikverständnis, das i.d.R. auf materielle Technik (Artefakte) eingegrenzt ist und die gesellschaftl. Einflußfaktoren betont, die den techn. Prozeß bestimmen und Chancen für die polit, und soziale Steuerung, Gestaltung und Kontrolle von Technik eröffnen. Schelsky u.a. präferie-
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Technischer Staat ren hingegen eine technozentrische Sichtweise, in der Technik als ein hochkomplexes, eigendynamisches, aus materiellen und immateriellen Komponenten bestehendes, die gesamte Gesellschaft durchdringendes und strukturierendes sowie global ausgreifendes System begriffen wird. Während sich die soziozentrisch orientierten Kritiker des T.S. durch die seitherigen Entwicklungen bestätigt sehen, eher einen Zuwachs an Demokratie, Partizipation und polit. Entscheidungsaltemativen erkennen und zahlreiche Konzepte zur sozial-, demokratie- und umweltverträglichen Techniksteuerung erarbeitet haben, hat die technozentrische Perspektive bedeutsame Wandlungen erfahren. Hatte Schelsky noch den Eindruck erweckt, als bestünde die Möglichkeit, daß eine einsinnig-lineare, widerspruchsfreie techn. Entwicklung in einem zwar unentrinnbaren, aber stabilen techn. Gehäuse enden könnte, wird in den Arbeiten derzeit maßgeblicher Autoren (J. Ellul, L. Winner u.a.) die fundamentale Ambivalenz, Widersprüchlichkeit und zunehmende Kontraproduktivität modemer Technik akzentuiert und eine wachsende, techn. bedingte Krisen- und Katastrophenanfälligkeit der techn. Zivilisation konstatiert. Diese Einsicht ist umso irritierender, als Alternativen nicht in Sicht sind - im Gegenteil: Die Technik bildet mehr denn j e ein zur Exklusivität tendierendes Medium der gesellschaftl. Integration, die Abhängigkeit modemer Gesellschaften von funktionierenden und expandierenden techn. Systemen ist irreversibel und existentiell. Dieser Widerspruch führt modernes staatl. bzw. polit. Handeln in ein schwerwiegendes Dilemma, in eine gefahrenträchtige Krisenkonstellation. Die möglichen politik- und demokratiegefährdenden Folgen eines dergestalt außer Kontrolle geratenen techn. Fortschritts bestehen aus technozentrischer Sicht nicht länger in der noch von Schelsky prognostizierten unpolitischstabilen Ordnung auf höchstem techn. Niveau, sondern in einer verbreiteten Un-
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Technischer Staat fähigkeit, der zahlreichen techn. und techn. induzierten Herausforderungen Herr zu werden, in einem Politik-, Staatsund Demokratieversagen großen Stils, das zu ernsten Legitimationsproblemen führen und letztlich die von Autoren wie H. Jonas oder J. Ellul befürchteten irrationalen Auswege ermutigen könnte: Rückgriff auf repressive oder despotische Machtmittel im Innern, wachsende Konfliktbereitschaft nach außen. Paradoxerweise läßt aber gerade diese höchst unerfreuliche Entwicklungsmöglichkeit stärkere polit. Eingriffsmöglichkeiten erkennen, als es noch die Konzeption Schelskys tat. Unter der Voraussetzung einer umfassenden und illusionslosen Lage-Analyse und eingedenk der Tatsache, daß viele der zu bearbeitenden Probleme längst globale oder zumindest grenzüberschreitende Dimensionen angenommen haben, besteht die Chance eines genuin polit. Handelns nach technozentrischer Lesart heute darin, den ernsthaften und entschlossenen Versuch zu unternehmen, die zu erwartende und partiell schon eingetretene Krisen-Konstellation abzuwenden oder wenigstens zu entschärfen. Wesentliches Charakteristikum einer solchen (verantwortungsethisch inspirierten) Politik und zugleich Bedingung der Möglichkeit ihres Erfolges ist die Bereitschaft, konsequent antizipatorisch zu agieren, d.h. sich herausbildende Probleme zum frühestmöglichen Zeitpunkt wahrzunehmen und mutig auf die polit. Tagesordnung zu setzen. Je frühzeitiger die Antizipation gelingt, desto größer sind i.d.R. die Chancen für authentisches und erfolgreiches polit. Handeln. Die Krise der techn. Zivilisation muß somit keineswegs das Ende jeglicher Politik und Demokratie bedeuten, wohl aber stellt sie histor. neuartige, außerordentliche Anforderungen an polit. Führungsbereitschaft und -fähigkeit. Lit.: R.B. Day / R. Seiner / J. Masciulli (Hg.): Democratic Theory and Technological Society, Armonk 1988; J. Ellul: The Technological System, New York 1980; C. Koch / D. Senghaas
THW
Telekommunikation
(Hg.): Texte zur Technokratiediskussion, Frankfurt/M. 1970; H. Schelsky: Der Mensch in der wissenschaftl. Zivilisation, in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf 1965, S. 439ff; M.R. Smith / L. Marx (Hg.): Does Technology Drive History?, London 1994; U. Teusch: Freiheit und Sachzwang, Baden-Baden 1993; L. Winner (Hg.): Democracy in a Technological Society, Boston 1992.
Ulrich Teusch Technisches Hilfswerk (THW) -> Bundesanstalt Technisches Hilfswerk -> s.a. Zivilschutz Technokratie —> Technischer Staat Technologie /-n, neue -» Medien Technologiepolitik —> Forschungs- und Technologiepolitik Teilhaberechte Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob die -> Grundrechte über ihre Funktion als Abwehrrechte des -> Bürgers gegen staatl. Eingriffe hinaus als subjektive Rechte des Bürgers auf Teilhabe an staatl. Leistungen (daher auch als Leistungsrechte bezeichnet) zu verstehen sind. Soweit Grundrechte als derivative T. auf eine Beteiligung an bestehenden Leistungssystemen gerichtete T. interpretiert werden, handelt es sich um nichts anderes als den geläufigen Anspruch auf —> Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG. Umstritten ist dagegen, ob die Grundrechte auch als originäre T. fungieren können, indem sie dem einzelnen Bürger einen Anspruch auf Leistungen des Staates ohne Rücksicht auf bestehende Leistungssysteme und andere staatl. Aufgaben gewähren. Das -> Bundesverfassungsgericht schließt dies - z.B. bei der Schaffung von Studienplätzen - unter Hinweis auf die Abhängigkeit der Bürger des modernen -> Sozialstaates von staatl. Leistungen nicht vollständig aus, stellt die Grundrechte in dieser Funktion aber unter den Vorbehalt des Möglichen i.S. dessen, was der einzelne vernünftigerweise von
der Gesellschaft erwarten kann. Vor allem weist es darauf hin, daß ein unbegrenztes subjektives Anspruchsdenken auf Kosten der Allgemeinheit unvereinbar mit dem Sozialstaatsprinzip sei. Der Ausgleich zwischen den Belangen der Gemeinschaft und des einzelnen auf Teilhabe an den begrenzten staatl. Ressourcen sei wie bei den -> sozialen Grundrechten - in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers und der anderen staatl. Organe innerhalb ihres jeweiligen Aufgabenbereiches. Im Schrifttum wird den Grundrechten vereinzelt eine Funktion als originäre T. zuerkannt v.a. mit dem Argument, die staatl. Leistung grundrechtl. —> Freiheit sei Voraussetzung der Grundrechte in ihrer primären Funktion als subjektive Abwehrrechte. Überwiegend dagegen wird die unmittelbare Ableitung originärer Leistungsansprüche aus den Grundrechten verneint, weil es gegen die Prinzipien des —> Rechtsstaates und der —• Demokratie verstoße, wenn ohne parlement. Willensbildungsprozeß die —> Gerichte im Wege der Grundrechtsauslegung über die Verteilung der staatl. Ressourcen entscheiden müßten (s.a. -> Bürgerrechte). Lit.: BVer/GE 33, 303-358 (numerus-claususUrteil); Stern III/l, S. 690ff. Nicolai
Miiller-Bromley
TELEKOM -> Deutsche Telekom AG s.a. Telekommunikation Telekommunikation / -srecht nennt man den Inbegriff der Rechtsnormen, die das Femmelderecht und die Benutzung der Femmelde-/ T.seinrichtungen regeln. Die Liberalisierung des T.smarktes ist seit dem 1.1.1998 mit dem Wegfall des Sprachmonopols der —» Deutschen Telekom AG vollzogen. Rechtsgrundlage für die Schaffung und Förderung von Wettbewerb auf dem Gebiet der T. ist das T.sgesetz (TKG BGBl. I 1996, S. 1120; in Kraft seit dem 1.8.1997). Das TKG enthält eine neue umfassende Regelung des früher als Fernmeldewesen bezeichneten Rechtsgebietes. Es hat die einschlä907
Telekommunikation gigen Gesetze zum Fernmeldewesen abgelöst. Entwicklung Das TKG markiert den vorläufigen Abschluß eines langjährigen Prozesses der allmählichen Liberalisierung der T.smärkte und der Privatisierung von Dienstleistungen der T.; die Post- sowie T.sreformen wurden durch telekommunikationspolit. Entscheidungen und Rechtsetzungsakte der -> Europäischen Union vorangetrieben und geprägt. In seinen Entschließungen vom 22.7.1993 und 22.12. 1994 hat der Rat der EU festgelegt, daß die T.sinfrastrukturen und der öffentl. Telefondienst zum 1.1.1998 liberalisiert werden sollen. Die -> Postreform I von 1989 zielte im Bereich der T. u.a. auf die Verselbständigung der Telekom und auf die partielle Öffnung der T.smärkte, die Aufhebung des Endgerätemonopols und die Liberalisierung der T.sdienste mit Ausnahme des Sprachtelefondienstes sowie des Mobil- und Satellitenfunks. Die Postreform II von 1994 schuf mit einer Änderung des —> Grundgesetzes (Art. 87f. GG) die verfassungsrechtl. Voraussetzungen für die vollständige Aufgabenprivatisierung im Bereich der T.; die Monopolrechte der Dt. Bundespost Telekom wurden auf die Dt. Telekom AG übertragen. Die im Rahmen der Postreform Π verabschiedeten Gesetze, welche die ordnungspolit. Rahmenbedingungen für die T.smärkte regelten, waren bis zum 31.12.1997 befristet worden und sind inzwischen außer Kraft getreten. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte nach dem Willen des Gesetzgebers der gesetzliche Rahmen für die Liberalisierung der T.smärkte geschaffen sein. Mit der Verabschiedung des TKG hat der Gesetzgeber dieses Ziel erreicht und die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erfüllung des Verfassungsauftrages aus Art. 87f. GG geschaffen. Danach sollen Dienstleistungen im Bereich der T. als privatwirtschaftl. Tätigkeiten durch die Dt. Telekom AG und andere private Anbieter erbracht werden. T.sdienstleistungen sind gewerbliche Angebote von T. einschließl. des
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Telekommunikation Angebots von Übertragungswegen für Dritte. Diese unterliegen der Regulierung und der Entgeltregulierung. Regelungen dazu beinhaltet das TKG. Inhalt Das TKG enthält in seinem 1. Teil (§§ 1-5) neben der gesetzlichen Zweckbestimmung einen Katalog von Zielen, Begriffsbestimmungen sowie Anzeige- und Berichtspflichten, denen jeder Anbieter von T.sdienstleistungen unterliegt. Wesentliches Ziel ist es, durch Regulierung einen chancengleichen und funktionsfähigen Wettbewerb zu schaffen und die Interessen der Nutzer auf dem Gebiet der T. zu wahren. Im 2. Teil (§§ 6-22) sind Grundregeln für die Regulierung von T.sdienstleistungen im lizenzpflichtigen Bereich enthalten. Überdies regeln diese Vorschriften Rechtspflichten zur Erbringung von Universaldienstleistungen bzw. zur Zahlung von Dienstleistungsabgaben. Der 3. und 4. Teil des TKG umfassen Bestimmungen, die eine Regulierung marktbeherrschender Unternehmen ermöglichen. Zu den wesentlichen Regulierungsinstrumenten gehören die Genehmigimg von Entgelten, der offene Netzzugang und die Zusammenschaltung von Netzen. § 39 TKG spricht 2 Kembereiche für die Öffnung des T.smarktes an: Die Entgeltregulierung und den Netzzugang. Die regulatorischen Rahmenbedingungen für die Entgelte und den Netzzugang sind von essentieller Bedeutung, damit auf dem T.smarkt nach der nunmehr vollständigen Marktöflnung auch tatsächlich Wettbewerb entstehen kann. § 35 TKG als erster Anwendungsfall des § 39 TKG verpflichtet den Betreiber eines T.snetzes, der T.-sdienstleistungen für die Öffentlichkeit anbietet und auf einem solchem Markt über eine marktbeherrschende Stellung nach § 22 GWB verfügt, anderen Nutzern Zugang zu seinem Netz oder Teilen desselben zu ermöglichen. Hierunter sind neben dem Zugang über für sämtliche Nutzer bereitgestellte Anschlüsse (allgemeiner Netzzugang) auch der Zugang über besondere Anschlüsse (besonderer Netzzugang) und hier insbes.
Testament
Telekommunikation die Zusammenschaltung des T.snetzes des marktbeherrschenden Netzbetreibers mit öffentl. T.snetzen anderer Betreiber zu verstehen. § 37 TKG als 2. Anwendungsaltemative des § 39 TKG verpflichtet die -» Regulierungsbehörde nach Anrufiing durch einen Beteiligten zur Anordnung einer Netzzusammenschaltung, wenn zwischen den Betreibern öffentl. T.snetze eine solche Zusammenschaltungsvereinbarung nicht zustande kommt. Um potentiellen Wettbewerbern den Einstieg in den Markt tatsächlich zu ermöglichen, sind spezifische zusätzliche Regelungen zum TKG erforderlich, die es der Regulierungsbehörde ermöglichen, marktbeherrschende Unternehmen in besonderer Weise zu regulieren. Dazu gehört auch die Genehmigung von Tarifen in wesentlichen Dienstleistungsbereichen. Entsprechende Regelungen finden sich u.a. in der T.s-Entgeltregulierungsverordnung (TEntgV) und der Netzzugangsverordnung (NZ). Der 5. und 6. Teil des TKG umfassen Grundregeln für die staatl. Verwaltung zweier knapper Ressourcen, zum einen des aufgrund internationaler Festlegungen begrenzten Nummernraums und zum anderen des begrenzten Vorrats an Frequenzen für funktechnische Anwendungen. Der 7. Teil beinhaltet Grundregeln der Frequenzordnung mit den Instrumenten eines Frequenzbereichszuweisungsplans (§ 45 TKG), eines Frequenznutzungsplans ( § 4 6 TKG) und der Frequenzzuteilung (§ 47 TKG). Im 8. Teil ist die Benutzung der Verkehrswege und sonstiger Grundstücke für Zwecke der T. geregelt. Nach § 50 TKG hat der -> Bund das ausschließliche Recht, öffentl. Wege unentgeltlich für Zwecke der T. zu nutzen. Er kann dieses Recht auf Lizenznehmer übertragen. Ein Mitbenutzungsrecht an bereits vorhandenen Leitungen besteht gem. § 51 TKG, wenn die Neuerrichtung einer Linie einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordert. Überdies sind das bei der Errichtung von T.swegen zu beachtende Rücksichtnahmegebot und die Nutzung im Wege von Dienstbarkeiten
geregelt. Der 9. Teil (§§ 59-65 TKG) beinhaltet Vorschriften über die Zulassung, das Inverkehrbringen, die Einhaltung bestimmter Anforderungen und die Anschaltung von Endeinrichtungen sowie die Benutzung von Sendeanlagen. Im 10. Teil sind die Errichtung, Aufgaben und Befugnisse sowie die Binnenorganisation der Regulierungsbehörde geregelt. Die Regulierungsbehörde ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des —> Bundesministeriums für Wirtschaft. §§ 73-79 TKG sehen für wesentliche Regulierungsentscheidungen ein Beschlußkammerverfahren vor. Vorschriften über die Wahrung des Fernmeldegeheimnisses, zur Gewährung des -> Datenschutzes, zur Netzsicherheit und zur techn. Umsetzung von Maßnahmen zur Überwachung der T. sind im 11. Teil enthalten. Der 12. Teil beinhaltet Straf- und Bußgeldvorschriften. LiL: M. Bothe / W. Kilian: Rechtsfragen grenzüberschreitender Datenflüsse, Köln 1992, S. 132ff.; M. Geppert / E.-O. Ruhte / F. Schuster: Handbuch der Telekommunikationspraxis und Grundlagen des Telekommunikationsrechts, Baden-Baden 1998; H. Schäfer: Telekommunikationsgesetz (TGK), Köln 1998. Claudia
Tiller
Telekommunikationsgesetz —> Telekommunikation —» Postreform Territorialhoheit Staatsgebiet
—• Staatsgewalt —>
Territorialitätsprinzip —• Staatsangehörigkeit Terrorismus -> Extremismus Testament Das T. ist eine vom Erblasser einseitig getroffene Verfügung von Todes wegen, in dem dieser den oder die Erben bestimmt (§ 1937 BGB, -> s.a. Erbrecht). Das T. ersetzt damit die gesetzliche durch die gewillkürte Erbfolge. Außer der Bestimmung eines Erben ist es dem Erblasser aber durch T. auch möglich, lediglich einen Verwandten oder den Ehegatten 909
Testament von der gesetzlichen Erbfolge auszuschließen, ohne daß er einen Erben einsetzen muß (z.B. Enterbung § 1938 BGB, Vermächtnis § 1939 BGB). Auch kann er durch ein T. bestimmte Anordnungen treffen (z.B. Auflagen § 1940 BGB). Der Erblasser kann ein T. nur persönlich errichten (§ 2064 BGB), sich also weder im Willen noch in der Erklärung vertreten lassen; jedoch ist Beratung und Beistand zulässig. Voraussetzung einer wirksamen T.serrichtung ist die Testierfähigkeit (§ 2229 BGB). Ein Minderjähriger ist bis zur Vollendung des 16. Lj. testierunMig. Mit Vollendung des lö.Lj. erlangt er beschränkte Testierfähigkeit, d.h. er kann ohne Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters letztwillige Verfügungen treffen (allerdings nur vor einem -> Notar, §§ 2233 I, 2232 BGB). Erst mit -> Volljährigkeit setzt die volle Testierfahigkeit ein. Dem Erblasser steht grds. frei, wie er den Inhalt seines T.s gestaltet (sog. Testierfreiheit; eingeschränkt durch den —> gesetzlichen Erbteil). Zu unterscheiden sind folgende Arten von T.en: l.Ordentliches T. Dieses kann jederzeit in der Form eines eigenhändigen oder öffentl. T.s errichtet werden. Beide Formen sind gleichwertig. Allerdings hat das öffentl. T. für den Grundbuchverkehr besondere Bedeutung; es ersetzt den zum Nachweis der Erbfolge erforderlichen Erbschein (§ 35 GBO). Darüber hinaus hat es den Vorzug der zwingenden besonderen amtlichen Verwahrung (§§ 34 I BeurkG, 2258a, 2258d BGB) und der rechtskundigen Beratung des Erblassers (§§ 17, 30 BeurkG). a) Das eigenhändige T. muß von Anfang bis Ende eigenhändig (handschriftlich; nicht mit Schreibmaschine) geschrieben und unterschrieben sein. Es soll eine Ortsund Datumsangabe enthalten; die Unterschrift soll Vor- und Familiennamen beinhalten. Es genügt aber auch jede andere Unterzeichnung, die keinen Zweifel an der Person des Erblassers bestehen läßt. Das Fehlen von Orts- und Datumsangabe schadet nur, wenn dadurch die Geltung 910
Testament des T.s gegenüber einem anderen T. nicht sicher festgestellt werden kann. Widerruf des T.s ist möglich, durch bewußte Vernichtung der T. surkunde, durch neues T. oder durch entsprechende Kenntlichmachung des Aufhebungswillens. Das eigenhändige T. kann der Erblasser auch in amtliche Verwahrung geben (§ 2248 BGB). Ehegatten können ein gemeinschaftliches T. errichten (§§ 2265ff. BGB). Zur Errichtung in privater Form genügt es, wenn der eine Ehegatte das T. in der vorgeschriebenen Form eigenhändig abfaßt und der andere die gemeinschaftliche Erklärung mit unterschreibt. Einseitiger Widerruf des gemeinschaftlichen T.s kommt jedoch nur unter erschwerten Bedingungen in Betracht. b) Das öflentl. T. wird durch Niederschrift eines Notars errichtet (§ 2231 BGB) und zwar entweder durch mündliche Erklärung (bloßes Kopfnicken etc. genügt nicht) oder durch Übergabe einer Schrift mit der Erklärung, daß diese seinen letzten Willen enthalte. Der Erblasser kann die Schrift offen oder verschlossen übergeben; sie braucht nicht von ihm geschrieben zu sein (§ 2032 BGB). Das öflentl. T. soll auf Verlangen des Notars unverzüglich in besondere amtliche Verwahrung des Amtsgerichts (§§ 2258a, 2258b BGB) gegeben werden (§ 34 BeurkG). Wird die in amtliche Verwahrung genommene Urkunde dem Erblasser zurückgegeben, gilt das öflentl. T. als widerrufen (§ 2256 BGB). 2. Außerordentliches T. (Nottestamente und Seetestamente) Außerordentliche T.e können nur aus besonderem Anlaß errichtet werden, in den Fällen, in denen der Erblasser nicht oder nicht mehr in der Lage ist, ein öflentl. T. vor einem Notar zu errichten (§§ 2249 I, 2250 I BGB). Diese verlieren 3 Monate nach ihrer Errichtung kraft Gesetzes ihre Gültigkeit, wenn der Erblasser noch lebt (§ 2252 I BGB). Nottestamente sind möglich bei naher Todesgefahr des Erblassers durch mündliche Erklärung vor dem —> Bürgermeister und 2 Zeugen (sog. Bürgermei-
Thüringen
Testierfähigkeit stertestament, § 2249 BGB). Ist dies nicht möglich, oder ist der Aufenthaltsort des Erblassers derart abgesperrt, daß ein öffentl. T. vor einem Notar nicht errichtet werden kann, so kann es durch mündliche Erklärung gegenüber 3 - während der ganzen T.errichtung anwesenden - Zeugen errichtet werden (sog. Dreizeugentestament, § 2250 BGB). Das Seetestament (§ 251 BGB) ist ebenfalls ein Dreizeugentestament. Es setzt allerdings keine Seenot oder einen besonderen Notstand voraus. Es kann während einer Seereise an Bord eines dt. Schiffes außerhalb eines inländischen Hafens vor 3 Zeugen erklärt werden. Über jedes außerordentliche T. ist eine Niederschrift aufzunehmen, die den Grundsätzen eines öffentl. bzw. eigenhändigen T.s entsprechen muß (§§ 2249 I, 2250 ΠΙ BGB). Besonderheiten gelten für das Konsulartestament (Errichtung vor einer dt. Auslandsvertretung). IM.: A. Frieser: Wie gestalte ich mein Testament?, München 31997.
Karlheinz Hösgen Testierfähigkeit —> Testament Thüringen In der Mitte Dtld.s gelegen, stellt ΤΉ den flächenmäßig kleinsten, aber mit 2,5 Mio. Ew. einen vergleichsweise dicht besiedelten ostdt. Flächenstaat dar. Histor. durch Kleinstaaten geprägt und bis in die Gegenwart weitgehend durch kleinere Siedlungseinheiten charakterisiert, verfügt der —> Freistaat mit der Landeshauptstadt Erfurt (207.000 Ew. per 30.6.1997), der ehemaligen Bezirkshauptstadt Gera (120.000) und der Universitätsstadt Jena (100.000) lediglich über 3 Großstädte. Das heutige Gebiet des Freistaats weist eine lange, wechselhafte Geschichte auf, die sich bis ins 5. Jhd. zum Königreich der Thüringer (lat. „toringi") zurückverfolgen läßt. Zu den kulturellen und polit. Blütezeiten T.s gehörten der Aufstieg zum mächtigen Territorialstaat unter den auf der Wartburg residierenden Ludowinger Landgrafen im 12. und 13. Jhd., die Re-
formationszeit, als es u.a. Wirkungsstätte Luthers war, und das frühe 19. Jhd.; während der Herrschaft Carl Augusts von Sachsen-Weimar entwickelte sich sein Herzogtum zu einem Zentrum des geistigkulturellen Lebens in Dtld. und wurde schließlich zu einem der Ausgangspunkte der liberalen polit. Bewegungen und zur Geburtsstätte der Burschenschaften. Als polit. Einheit entstand TH, damals noch ohne die preuß. Gebiete um Erfurt, erst nach der Revolution von 1918/19 durch den Zusammenschluß der 7 thür. Freistaaten im Mai 1920. In den ersten Jahren der -» Weimarer Republik wurde das Land von wechselnden Linkskoalitionen, ab 1924 dann von den bürgerl. —> Parteien regiert, bevor diese 1930 ihre absolute Mehrheit verloren. Als eigenständiges Land bestand TH de facto nur bis 1934, als die Nationalsozialisten, die bereits 1930 in der Landesregierung vertreten waren und ab 1932 die Regierungsmehrheit stellten (-> Nationalsozialismus), es zu einem bloßen Verwaltungsbezirk herabstuften, dem später aus polit. Gründen der Regierungsbezirk Erfurt zugeordnet wurde. Auch nach dem Π. Weltkrieg ist dem 1945 neugegründeten Land TH nur eine kurze Existenz beschieden gewesen: Zwar wurde während der sowjetischen Besatzungszeit ein —» Landtag gewählt, in dem die SED über die Hälfte der 100 Mandate verfügte und der nach denkbar kurzer Beratungszeit im Dezember 1946 eine Verfassung verabschiedete. Die fortschreitende Entmachtung der Landtage und Landesregierungen mündete jedoch 1952 in die Auflösung der Länder, TH wurde in die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl aufgeteilt. Erst nach dem polit. Umbruch in der -> DDR und zeitgleich mit der -> Deutschen Einheit erfolgte am 3.10.1990 auf der Grundlage des sog. Ländereinführungsgesetzes die Wiedergeburt des Landes TH; das Land umfaßt die früheren Bezirke Erfurt, Gera und Suhl sowie die ehemaligen Landkreise Artern, Altenburg und Schmölln. Bereits 11 Tage nach seiner
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Thüringen Konstituierung fanden Landtagswahlen statt, in denen die —> CDU knapp die absolute Mehrheit der Sitze verfehlte (44 von 89 Mandaten). In ihrem histor. Stammland und ihrer einstigen Hochburg wurde die —> SPD mit 21 Mandaten nur zur zweitstärksten polit. Kraft und stellte zunächst die größte Oppositionsfraktion. Darüber hinaus konnten die —> FDP (9) sowie die Listenverbindungen LL-PDS (9) und Neues Forum / Grüne / Demokratie Jetzt (6) die fünfprozentige -> Sperrklausel überwinden und dadurch in den Thür. Landtag einziehen. Mit den Landtagswahlen im Oktober 1994 verringerte sich die Zahl der -> Fraktionen auf 3, da weder der FDP noch —> Bündnis 90/Die Grünen der Wiedereinzug in den Landtag gelang. Bei leichten Verlusten der CDU, die 42 der 88 Mandate erhielt, konnten v.a. die Sozialdemokraten (29) und die —> PDS (17) Stimmengewinne erzielen. In der ersten —> Legislaturperiode wurde TH von einer —> Koalition aus CDU und FDP unter -> Ministerpräsident J. Duchac regiert, dem nach seinem Rücktritt Anfang 1992 der frühere rh.-pf. Ministerpräsident B. Vogel im Amt des Regierungschefs nachfolgte. Auch in der seit November 1994 amtierenden Großen Koalition aus CDU und SPD, in der die Sozialdemokraten 4 der 8 Fachminister stellen, ist Vogel Ministerpräsident geblieben. In den Jahren 1990-94 hat der Thür. Landtag durch eine rege Gesetzgebungstätigkeit (Verabschiedung von 200 Gesetzen) die rechtl. Voraussetzungen für den Aufbau des Landes geschaffen. Zu den wichtigsten Projekten der ersten Legislaturperiode gehörten die Verfassungsgebung und die Gebietsreform. Nach langwierigen Verhandlungen wurde am 25.10. 1993 mit den Stimmen der Regierungskoalition und der SPD die Verfassung des Freistaats TH als letzte der neuen Länder verabschiedet, die damit die als Organisationsstatut konzipierte Vorläufige Landessatzung von 1990 ablöste. Sie wurde im -> Volksentscheid vom 16.10.1994 mit 70% der Stimmen bestätigt. Während sich
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Thüringen der Verfassungstext im Bereich des Staatsorganisationsrechts eng an das —• Grundgesetz anlehnt, sind im Grundrechtsteil u.a. mit der Aufnahme zahlreicher —> Staatszielbestimmungen eigene Wege beschritten worden. Als plebiszitäre Verfahren sind -> Volksbegehren und Volksentscheid vorgesehen; getrennt davon besteht durch den sog. Bürgerantrag die Möglichkeit, mit bestimmten Materien den Landtag zu befassen. Zu den Besonderheiten der Verfassung des Freistaats gehören die Begrenzung der Personalkosten auf 40% des Gesamthaushalts sowie die Bindung der Abgeordnetendiäten an die Einkommens- und Preisentwicklung. Ende 1997 sind die -> Diäten durch eine -» Verfassungsänderung bis zum Ende der 2. Wahlperiode eingefroren worden. Weit umstrittener als die Landesverfassung war die 1993 beschlossene Gebietsreform, durch welche die Zahl der —> Kreise von 35 auf 17 und die der —> Gemeinden von etwa 1.700 auf etwa 1.200 reduziert wurde. Zu den kreisfreien —> Städten gehören neben den Großstädten Erfurt, Gera und Jena auch Suhl, Weimar und Eisenach. Ist bereits die Gebietsreform vorwiegend an (Ökonom.) Effizienzkriterien orientiert worden, so haben wirtschaftspolit. Entscheidungen zweifellos die zentrale Herausforderung aller bisherigen Landesregierungen dargestellt. Wie in den anderen ostdt. Bundesländern mußte auch die thür. Wirtschaft im Prozeß der marktwirtschaftl. Umgestaltung nach 1989 zunächst gravierende Produktionseinbrüche und als deren Folge Massenentlassungen verkraften. Seit 1992 sind bei anhaltend hoher, 1997 nochmals gestiegener Arbeitslosigkeit deutliche Wachstumsraten zu verzeichnen, die zu einem gewissen Teil auf das zeitweilig prosperierende Baugewerbe zurückgehen. Fortschritte macht auch die Wiederbelebung der in TH traditionell starken mittelständischen Wirtschaft, v.a. des Handwerks. Die vergleichsweise gute Infrastruktur und nicht zuletzt auch die Exi-
Tierschutz
Totalitarismus
Stenz moderner Produktionsstätten und zukunftsfähiger Hochtechnologiebetriebe lassen eine langsame wirtschaftl. Gesundung erwarten. Dennoch wird auf absehbare Zeit die wirtschañl. Konsolidierung der polit, hinterherhinken und TH mittelfristig auf Bundeszuweisungen angewiesen bleiben. Lit: M. Edinger /O. Lembcke /E.HM. Lange: Thüringen, in: J. Hartmann (Hg.), Handbuch der dt. Bundesländer, Frankfurt/M. 31997, 613ff.; H. Patze / IV. Schlesinger (Hg.): Geschichte Thüringens Bde. I-VI., Köln 1967-1985; K. Schmitt (Hg.): Die Verfassung des Freistaats Thüringen. Weimar 1995; ders. (Hg.): Thüringen. Eine polit Landeskunde, Weimar 1996.
Michael Edinger Tierschutz / -recht Den Zweck des T.rechts erläutert § 1 des T.gesetzes i.d.F vom 18.8.1986 (BGBl. I 1319): Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen. Es geht also um den Schutz des individuellen Tieres vor Leidenszufilgung durch den Menschen, nicht um Artenschutz, der insbes. in den Naturschutzgesetzen von Bund und Ländern geregelt ist (-» Naturschutzrecht). Das TierSchG enthält materielle Vorgaben insbes. für die Tierhaltung (§ 2f.), für das Töten einschließl. des Schlachtens von Tieren (§ 4-4b), allgemein für Eingriffe an Tieren (§ 5ff.) sowie insbes. für Tierversuche zu Forschungszwecken (§ 7ff., tierforschende Einrichtungen sind danach u.a. zur Bestellung eines T.beauftragten verpflichtet) sowie für Tierzucht und -handel (§§ 111 lc). Die Schutzintensität ist im einzelnen abgestuft, zahlreiche Maßgaben des TierSchG sind nur auf Wirbeltiere bezogen. Wirbeltiere ohne „vernünftigen Grund" zu töten sowie Tierquälerei sind strafbar (§ 17), sonstige Verstöße gegen das TierSchG stellen in weitem Umfang - » Ordnungswidrigkeiten dar (§ 18). Das
TierSchG wird durch zahlreiche Rechtsverordnungen konkretisiert, als Bundesgesetze verbindlich sind auch diverse Übereinkommen des Europarates. Die —> Bundesregierung erstattet dem Bundestag alle 2 Jahre einen T.bericht (§ 16d TierSchG, -> s.a. Berichte der Bundesregierung). Jurist, umstritten ist, ob der T. auf Bundesebene Verfassungsrang hat. Im Rahmen der Verfassungsreform von 1994 hat sich die Forderung nach der Einführung einer —> Staatszielbestimmung T. einstweilen nicht durchgesetzt (Art. 20a GG erfaßt nach überwiegender Auffassung nur den Artenschutz). Rechtsprobleme zieht die unsichere Verfassungslage im Hinblick auf tierschutzbegründete Einschränkungen der Religionsfreiheit (Einschränkung des „Schächtens" gem. jüdischem und moslemischem Ritus, § 4a TierSchG) und Forschungsfreiheit (Begrenzung von Tierversuchen, §§ 7ff. TierSchG) nach sich. Lit.: M. Kloepfer / M. Rossi: Tierschutz in das Grundgesetz, in: JZ 1998, S. 369ff.; A. Lorz: Tierschutzgesetz, Komm., München 41992.
Jörg Menzel Totalitarismus 1. Phänomen T. bezeichnet eine diktatorische Herrschaftsordnung, die dem demokrat. Verfassungsstaat fundamental entgegengesetzt ist und sich von anderen Varianten der Diktatur wesentlich unterscheidet. Eine totalitäre Diktatur zeichnet sich durch Monismus, eine exklusive Ideologie und Massenmobilisierung aus, eine autoritäre dagegen durch eingeschränkten —> Pluralismus, eine traditionelle Geisteshaltung und polit. Apathie. Totalitäre Herrschaftsordnungen sind sowohl antidemokratisch, pseudodemokratisch und postdemokratisch als auch antikonstitutionell, pseudokonstitutionell und postkonstitutionell. Der Gegensatz zwischen T. und demokrat. Verfassungsstaat ist in erster Linie im Antikonstitutionalismus und nicht in der antidemokrat. Haltung begründet, denn erst die Konstitutionalisierung des Demokratisierungsprozesses führte zu der Ein-
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Totalita rismus sieht, daß es keine Unfehlbarkeit polit. Entscheidungen geben kann und daher auch keine völlige Freiheit des Handelns der Regierenden. Alle totalitären Diktaturen ignorieren diese Lehre aus der Geschichte. Ihr Wesen läßt sich in dem Leitsatz zusammenfassen: Das Ziel einer vermeintlich - vollkommenen Ordnung rechtfertigt alle Mittel. Rechts- und linkstotalitäre Diktaturen stehen sich zwar i.d.R. feindlich gegenüber, aber die Struktur ihrer Herrschaftsordnung und ihrer Weltanschauung ähneln sich. Die totalitäre Ideologie trägt Züge einer polit. Religion. Wer die „heilige" Lehre nicht achtet, den verfolgt die „Inquisition" in Gestalt einer polit. Polizei. Anhänger totalitärer Diktaturen verneinen bewußt die beiden tragenden Säulen des demokrat. Verfassungsstaates, die Akzeptanz des Pluralismus und die unbedingte Achtung der —> Menschenrechte. Der Glaube im Besitz der objektiven Wahrheit zu sein, bedingt den Versuch einer ideologischen „Gleichschaltung" der Bevölkerung - damit wird der Pluralismus zerstört. Dem T. bedeutet zudem der einzelne Mensch nichts und das Kollektiv alles - das ermöglicht rücksichtslose Verletzungen der Menschenrechte im Namen der „guten" Sache. Der T. vernichtet systematisch die Grundlagen des demokrat. Verfassungsstaates, zugleich instrumentalisiert er demokrat. und konstitutionelle Elemente (-> Plebiszite, -> Verfassungen, —> Wahlen etc.) und führt sie ad absurdum. Der -> Staatsbürger ist der Willkür der Herrschenden unterworfen. Totalitäre Diktaturen beruhen nicht nur auf Zwang, sondern auch auf der freiwilligen Zustimmung eines wesentlichen Teils der Bevölkerung. Populistische Parolen, pompöse Massenveranstaltungen und ein umfangreiches Prämiensystem dienen als Lockmittel. Sowohl die sozialistische Gemeinschaft (-> Sozialismus) als auch die sog. Volksgemeinschaft (-> Nationalsozialismus) versprachen den folgsamen Untertanen gesellschaftl. Geborgenheit. -» Arbeitslosigkeit und wirtschaftl.
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Totalita rismus Krisen existieren in totalitären Diktaturen offiziell nicht. Von der vermeintlichen Reibungslosigkeit, mit der die Herrschenden scheinbar dem ideologischen Ziel entgegenstreben, lassen sich viele blenden, zumindest solange das Regime Erfolge oder auch nur Pseudoerfolge vorweisen kann. Auf der Strecke bleiben alle, die sich verweigern, oder denen von vornherein in der angestrebten homogenen Gemeinschaft kein Platz zugedacht war. Die Machthaber lasten alle Übel der Welt bestimmten „Rassen" (Nationalsozialismus) oder „Klassen" (Kommunismus) an. Die Vernichtung der Angehörigen dieser Gruppen erscheint ihnen daher legitim, wenn nicht sogar notwendig. Ein bedeutender Teil der Untertanen ist bereit, dieses Urteil der Machthaber willig oder zumindest gleichgültig zu vollstrecken. Diese Voraussetzungen können zum Genozid führen: Die mit Abstand größten Staatsverbrechen des 20. Jhd.s gehen auf das Schuldenkonto der totalitären Diktaturen. Ob der T. ein Phänomen dieses Jhd.s ist oder schon in früheren Epochen seine Spuren hinterlassen hat, darüber streitet die Wissenschaft. Der T. ist allerdings nur sinnvoll als histor. Gegenpart zum demokrat. Verfassungsstaat zu verstehen, daher sollte der Begriff nur auf Diktaturen angewandt werden, die entstanden, nachdem dieser Ende des 18. Jhd.s die polit. Bühne betrat. 2. Begriffsgeschichte Bereits 1919 sprach A. Pacquet, KoiTespondent der „Frankfurter Zeitung", in seinen Briefen aus Moskau vom „revolutionären Totalismus Lenins". Der Begriff, geboren aus der geistigen Gegnerschaft zu dieser Form der Diktatur, verschwand zunächst in der Versenkung, 1923 tauchte er in leicht variierter Form wieder auf. Der spätere Führer der antifaschistischen —» Opposition in Italien, Giovanni Amendola, geißelte den „totalitären Geist" der faschistischen Bewegung. Innerhalb kurzer Zeit fand die Bezeichnung ihren festen Platz im Vokabular der antifaschistischen Opposition Italiens. Ab 1925 nannten auch die Fa-
Totalitarismus schisten - allen voran Mussolini - ihre Bewegung totalitär. Bald war der Ausdruck in aller Munde und diente v.a. zur Beschreibung des faschistischen Italiens, des Dritten Reiches und der Sowjetunion. Die erste bedeutende vergleichende Analyse totalitärer Diktaturen lieferte 1926 der frühere Ministerpräsident Italiens, F. Nitti, ein liberaler Demokrat. Er sah Bolschewismus und Faschismus als „die zwei vollkommenen Verleugnungen des liberalen Systems und der Demokratie" an. Der Nichtangriffspakt zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion führte ab 1939 dazu, daß Nationalsozialismus und Bolschewismus verstärkt unter vergleichender Perspektive betrachtet wurden. Im November 1939 fand das erste wissenschaftl. Symposium der T.forscher statt. Die Ansicht herrschte vor, der Bolschewismus habe durch das Abkommen eindrucksvoll seine Verwandtschaft mit dem NS-Regime bestätigt. Die polit. Fronten waren in dieser Zeit klar gezogen. Auf der einen Seite die totalitären Diktaturen, auf der anderen die demokrat. Verfassungsstaaten. Schon bald folgte aber ein erneuter Umschwung. Der Angriff des Dritten Reiches auf die Sowjetunion führte zu einer Kriegsallianz der demokrat. Westmächte mit der kommunistischen Diktatur. Die polit. Entwicklung forderte auch von den Sozialwissenschaften ihren Tribut. Der Kommunismus blieb für einige Jahre aus der T. analyse ausgespart und der Begriff den auf der gegnerischen Kriegsseite verbündeten Rechtsdiktaturen - Dtld., Italien und Japan - vorbehalten. Erst als nach dem Ende des Π. Weltkriegs das Bündnis zwischen UdSSR und USA zerbrach und der Kalte Krieg begann, wurde die Sowjetunion erneut zum Objekt der T.forschung. In den folgenden Jahren erlebte der Ansatz seine Blütezeit. Viele der bedeutendsten Vertreter der T.forschung - H. Arendt, E. Fraenkel, W. Gurian, H. Marcuse, F.L. Neumann, S. Neumann - sind dt. Emigranten, die vor dem nationalsozialistischen T. geflohen waren. Auf der zweiten großen Konferenz
Totalitarismus zur T.forschung 1953 präsentierte erstmals C.J. Friedrich seinen Ansatz. Er behauptete, daß die totalitäre Gesellschaft des Faschismus und die des Kommunismus sich in den Grundzügen gliche, also mehr Ähnlichkeit miteinander als mit anderen Regierungs- und Gesellschaftssystemen hätten und daß die totalitäre Gesellschaft histor. einzigartig und sui generis sei. Diese Thesen seien eng verbunden und müßten gemeinsam untersucht werden. Damit artikulierte er die Prämissen der Hauptströmung der T.forschung. Er nannte 5 konstitutive Merkmale totalitärer Herrschaft: eine offizielle Ideologie mit Heilsanspruch; eine einzige, hierarchisch organisierte Massenpartei; das Waffenmonopol; das Monopol der Massenkommunikationsmittel und ein System terroristischer Polizeikontrolle. Später ergänzte er in Zusammenarbeit mit Z. Brzezinski den Katalog um ein 6. Merkmal: die zentral gelenkte —> Wirtschaft. Der stärker dynamisch orientierte T.ansatz geht dagegen von der Annahme aus, daß die Struktur des Herrschaftssystems nur Mittel zum Zweck ist. Das wesentliche Kennzeichen des T. sei, ein neuartiges Wertesystem durchsetzen zu wollen. Vertreter dieser Konzeption sind u.a. M. Drath und R. Löwenthal. Die unterschiedliche Definition des T.begriffs hat bedeutende Folgen für die Analyse des Phänomens. Steht die revolutionäre Dynamik im Mittelpunkt der Betrachtung, ist es naheliegend, die Zeit nach der Etablierung des Regimes als „nach-totalitär" zu bezeichnen. Mit Blick auf die Sowjetunion gilt in diesem Fall nur die Phase bis zum Tode Stalins als totalitär. Sieht der Forscher dagegen die Herrschaftsstrukturen als maßgebend an, spricht er erst dann von einer Überwindung des T., wenn bestimmte Merkmale wie das polit. Erkenntnismonopol der herrschenden Partei abgeschafft sind. Aus diesem Blickwinkel erscheint die Sowjetunion auch im Zeitraum nach 1953 als totalitär. Ab Ende der 60er Jahren geriet die T.forschung unter Beschuß. 3 Gründe sind
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Treue zur Verfassung
Treuhandanstalt
zu nennen: Der deutliche Rückgang des offenen Terrors in den sowjetkommunistischen Staaten, die Befürchtung das Konzept gefährde die beginnende Entspannungspolitik zwischen den „Supermächten" USA und UdSSR sowie die zunehmende Verbreitung neomarxistischer Positionen im Zuge der Studentenbewegung von 1968. Der Streit um den T.begriff entwickelte sich in auffälliger Abhängigkeit von den polit. Konstellationen. Die heftigen Auseinandersetzungen um den T.begriff wurzeln darin, daß er sowohl ein empirisch-analytischer Begriff zur Bezeichnung eines bestimmten Phänomens ist als auch ein normativer Begriff zur negativen Bewertung einer Herrschaftsform. Die Neubelebung der T.forschung setzte bereits vor dem Zusammenbruch der sowjetkommunistischen Diktaturen ein. Die große Zahl der Menschen in Osteuropa, darunter ehemals führende Funktionäre der kommunistischen Parteien, die das gerade überwundene Herrschaftssystem als totalitär bezeichneten, beschleunigte aber erheblich die Renaissance der T.forschung, die mit einer Neubelebung des Konzepts der „polit. Religionen" einhergeht. Neue T.ansätze sind bislang allerdings noch nicht vorgelegt worden. Lit.: H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986; CJ. Friedrich / Ζ K. Brzezinski: Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957; E. Jesse (Hg.): Totalitarismus im 20. Jhd., Baden-Baden 1996; JJ. Linz: Totalitarian and Authoritarian Regimes, in: F.I. Greenstein / N. W. Polsby (Hg.), Handbook of Political Science 3, Massuchusetts 1975, S. 3ff.; H. Maier (Hg.): Totalitarismus und Polit. Religionen, Paderborn u.a. 1996;B. Seidel/S. Jenkner (Hg.): Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968; Α. Söllner/R. Walkenhaus / K. Wieland (Hg.): Totalitarismus, Berlin 1997; W. Wippermann: Totalitarismustheorien, Darmstadt 1997.
Steffen Kailitz Treue zur Verfassung —> Verfassungstreue
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Treuhandanstalt Die THA war eine —» Anstalt des öffentlichen Rechts, die bis zum Zeitpunkt ihrer Auflösung am 31.12.1994 die Aufgabe hatte, die Wirtschaft der ehemaligen —> DDR zu entflechten und zu privatisieren. 1. Von Btlrgerrechtlem angestoßen, wurde durch den Ministerrat der DDR am 1.3.1990 beschlossen, eine Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums zu gründen (sog. Ur-Treuhandanstalt) Die eigentliche THA beruht auf dem von der frei Volkskammer der DDR beschlossenen Treuhandgesetz vom 17.6.1990 (GB1.I DDR 1990, S.300). Sie löste die Ur-THA am 1.7.1990 ab. Durch Art. 25 Abs. 1 Einigungsvertrag galt das Treuhandgesetz weiter. Die THA wurde zu einer rechtsfähigen Anstalt des öffentl. Rechts, über die der Bundesfinanzminister im Einvernehmen mit dem Bundeswirtschaftsminister die —> Fach- und —> Rechtsaufsicht ausübte. 2. Aufgaben der THA waren die Privatisierung, Sanierung oder Stillegung ehemaliger in private Rechtsform überftihrter Staatsbetriebe. Sie hatte u.a. auch Aufgaben im Bereich der Rückübertragung von enteigenetem Vermögen, Erteilung von Investitionsvorrangbescheiden und der Verwaltung von Vermögen der ehemaligen Parteien und Massenorganisationen der DDR (sog. Sondervermögen) wahrzunehmen. 3. Die THA stand wegen betriebswirtschaftl. notwendiger Untemehmensstillegungen oder nominal niedriger Verkaufserlöse oft im Zentrum der öffentl. Kritik. Von dem aufgrund von Aufspaltungen der heterogenen DDR-Kombinate auf 13.815 Unternehmen angewachsenen Gesamtportfolio (Abschlußstatistik v. 31.12. 1994) waren am Stichtag 3.718 Unternehmen in Liquidation. Der realisierbare Gesamtwert der DDR-Untemehmen erwies sich in der Praxis als weitaus niedriger, als weite Fachkreise vorhergesehen hatten. Oft waren Privatisierungen erst nach Kostenübemahme der offenen und verdeckten Umweltaltlasten auf den Be-
Umweltbundesamt
TLG triebsgrundstücken möglich. Am 31.12. 1994 war die Privatisierung mit einem Restbestand von 192 Unternehmen abgeschlossen. Die restlichen Aufgaben wurden auf die Nachfolgeorganisationen Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft (TLG) wie die Beteiligungs- und Management-GmbH (BMGB) übertragen.
Abs. 1 BWG). Die umstrittene Regelung ist vom -> Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung vom 10.4.1997 für verfassungskonform erklärt worden (BVerfGE 95, 335ff.). W. Sch.
Lit: BvS (Hg.): Abschlußstatistik der Treuhandanstalt, Berlin 1995; W. Fischer u.a. (Hg.): Treuhandanstalt - Das Unmögliche wagen, Berlin, 1993; J. Turek: Treuhandanstalt in: W. Weidenfeld u.a. (Hg), Handwörterbuch zur dL Einheit, Bonn 1991, S. 667ff.
Umsatzsteuer -» Mehrwertsteuer
Thomas Zielke Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft (TLG) Treuhandanstalt TREVI —> Europäische Innere Sicherheit Truppendienstgerichte —> Wehrdisziplinarordnung —> s.a. Wehrstrafgesetz Truppendienstkammern —> Bundeswehr Überhangmandat Bei Parlamentswahlen mit Zweistimmensystem, wie bei Wahlen zum -> Bundestag, kann die Gesamtzahl der einer polit. —> Partei in einem Land nach dem Verhältnis der auf ihre Landesliste entfallenen Zweitstimmen - zustehenden Sitze geringer sein als die Zahl der von ihr - aufgrund der Erststimmen nach den Grundsätzen des —> Mehrheitswahlwahlrechts - in den Wahlkreisen des Landes direkt errungenen Sitze. Hat eine Partei in den Wahlkreisen eines Landes derart über ihren Verhältnisanteil an der Gesamtzahl der Sitze im Land hinaus —» Mandate erfungen, so bleiben ihr diese „überhängigen" Sitze, auch wenn sie den ermittelten proportionalen Sitzanteil auf Landesebene übersteigen, erhalten (§ 6 Abs. 5 BWG). In diesem Fall erhöht sich die Gesamtzahl der Abgeordnetensitze und damit auch die gesetzlich festgelegte Mitgliederzahl des —> Parlaments (§ 1
Umweltbundesamt Das 1974 gegründete U. ist eine selbständige Bundesoberbehörde mit Sitz in Beri. Mit der Gründung des -> Bundesumweltministeriums im Jahre 1986 wechselte das U. in dessen Zuständigkeit. Die Änderung des Errichtungsgesetzes am 8.5.1996 schreibt als neuen Dienstort Dessau fest. Zu den Aufgaben des U.es zählt die wissenschaftl. Unterstützung des Bundesumweltministeriums auf dem Gebiet des —> Umweltschutzes, der Aufbau und die Führung des Informationssystems zur Umweltplanung sowie der zentralen Dokumentation, die Aufklärung der Öffentlichkeit in Umweltfragen etc. Zudem hat das U. zahlreiche Vollzugs- und Koordinierungsaufgaben. Nach einer umfassenden Neuorganisation - als Folge der 1994 erfolgten Eingliederung des Instituts für Wasser-, Boden- und Lufthygiene des früheren Bundesgesundheitsamtes - ist das U. gegliedert in die Fachbereiche Umweltplanung und -Strategien (I), Umweltqualität und -anforderungen (II), umweltverträgliche Technikverfahren und Produkte (III), Stoffbewertung und Vollzug (IV) sowie Institut für Wasser-, Boden- und Lufthygiene (V). Das U. erstellt in regelmäßigem Turnus eine Dokumentation zu Umweltdaten und gibt zudem einen Jahresbericht „Daten zur Umwelt" heraus. Das U. bildet heute zusammen mit den den —> Bundesämtern für Strahlenschutz und Naturschutz das wissenschaftl. Fundament der —> Umweltpolitik des Bundes. A.S. 917
Umweltgutachter
Umweltpolitik
Umweltgutachter Als U. wirken fachkundige Personen, Gremien, Forschungsstätten, Dienststellen und —> Behörden zwecks dauernder Beratung oder Erstellung von Expertisen zu allen Belangen der innerwirtschaftl. oder polit. Entscheidungsfindung zu Belangen der -> Ökologie (Einschätzung von örtlichen bis globalen Naturzuständen und Schadstoffbelastungen oder Evaluation von Schutzmaßgaben und -Vorkehrungen etc.; - » Technologiefolgen-Abschätzung). Unerläßlich sind sie für die Auflage von RegierungsProgrammen, parlament. Beratungen sowie die Unterstützung von —> Verbänden und Initiativen für den —> Umweltschutz. Lit.: G. Michelsen (Hg.): Umweltberatung, Bonn 1997.
B.C. Umweltpolitik in Dtld. als eigenständiges Politikfeld gibt es erst seit Beginn der 70er Jahre. Grundlage der U. war das 1971 veröffentlichte erste Umweltprogramm der -» Bundesregierung mit dem dort formulierten Bekenntnis zum Vorsorge-, Verursacher- und Kooperationsprinzip. Diese Prinzipien stellen nach wie vor das Grundgerüst der dt., aber auch der europ. U. dar. Mit dem —> Rat von Sachverständigen für Umweltfragen wurde 1971 ein unabhängiges Beratungsgremium für die Politik eingerichtet. 1974 wurde das -> Umweltbundesamt in Beri, gegründet. Die ersten Jahre dt. U. waren geprägt durch eine medial ausgerichtete Ausweitung der Umweltgesetzgebung (Abfallgesetz —• Abfallrecht, Wasserhaushaltsgesetz —> Wasserrecht, Bundesimmissionsschutzgesetz -» Immissionsschutzrecht). Diese Phase der U. wurde durch die wirtschaftl. Rezession nach wenigen Jahren unterbrochen. Gegen Ende der 70er Jahre führte ein zunehmendes gesellschaftl. Interesse an der U. veranlaßt durch umstrittene Großvorhaben zu einer breiten Umweltbewegung, die u.a. in die Gründung einer ökologischen Partei mündete (—> Die Grünen). Diese Entwicklung
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zwang die etablierten —> Parteien zu einem stärkeren umweltpolit. Engagement. So kam es auch zu weiteren Verabschiedungen wichtiger Rechtsvorschriften (z.B. -> Umweltstrafrecht, Chemikalienrecht, Störfallverordnung). Mit dem Regierungswechsel 1982 wurde diese Form der U. zunächst kontinuierlich fortgeführt. So griff die neue Bundesregierung auf das „Ökologische Aktionsprogramm" der sozial-liberalen -> Koalition zurück. Den Schwerpunkt bildete dabei die Luftreinhaltepoiitik (Waldsterben; saurer Regen). Trotz der Erfolge in diesem Bereich wurde die staatl. U. zunehmend mit dem Vorwurf einer nur noch symbolisch reaktiven U. belegt. Eklatante Schwächen zeigten sich v.a. im Gesetzesvollzug, aber auch in den unzureichenden Maßnahmen in den Bereichen Bodenschutz, ->• Naturschutz sowie auch auf dem Abfallsektor. Als Reaktion sowohl auf den Atomunfall in Tschernobyl als auch auf die ständig wachsende Zunahme bundesstaatl. Aufgaben im -> Umweltschutz wurde 1986 das -> Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gegründet - nicht zuletzt um den Vollzugs- und Programmdefiziten wirkungsvoller begegnen zu können. Eine breite Diskussion setzte zu dieser Zeit um neue, das Ordnungsrecht ergänzende und ersetzende Instrumente (Umweltabgaben, Selbstverpflichtungen, Umwelthaftung, —> Umweltverträglichkeitsprüfung) ein. Doch trotz günstiger Rahmenbedingungen verharrte die U. in ihrer medialen Ausrichtung. Die Entwicklung eines fundamental neuen Programms zur ökologischen Modernisierung gelang nicht. Die letzte Etappe der U. ist gekennzeichnet einerseits von der Konferenz der -)· Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro und damit von einer -> Globalisierung der U.; andererseits führten die im gleichen Jahr einsetzende rezessive Entwicklung der dt. Wirtschaft und die damit einhergehenden einschneidenden Strukturveränderungen de facto zu einer ökologischen Gegenre-
Ilmweltpolitik formation. Die wesentlichen umweltpolit. Debatten der letzten Jahre (Umweltabgaben, integrierter Umweltschutz, Stoffkreisläufe) sind nicht vorangekommen. Nur noch wenige Gesetzesvorhaben konnten nach langem Vorlauf abgeschlossen werden (-» Kreislaufwirtschaftsgesetz, -> Bodenschutzrecht, Umweltauditgesetz —> Ökoaudit). Der vermeintliche Gegensatz „Umweltschutz contra Arbeitsplätze" rückte wieder in den Vordergrund der umweltpolit. Diskussion und führte sukzessive zu einem Rückbau ökologischer Standards. Gefordert wird deshalb v.a. ein Konzept zur Überwindung der defensiv und sektoral ausgerichteten U. Die europ. U. ist stark davon bestimmt, daß die -» Europäische Union v.a. eine Wirtschaftsgemeinschaft ist. Allerdings gehört die U. nach der -> Einheitlichen Europäischen Akte (1987), dem -» EUVertrag von Maastricht (1992) und dem —> Amsterdamer Vertrag (1997) zu den wichtigsten Bereichen der Gemeinschaftspolitik. Dementsprechend ist das europ. Umweltrecht erheblich angewachsen und wird mutmaßlich die nationale Politik zunehmend dominieren. Allerdings weicht die lange Zeit vorherrschende dt. Regelungsdichte der Grenzwertfestlegungen (Emissionsstandards) nach dem Stand der Technik wird daher zugunsten einem eher angelsächs. Verständnis von —> Rahmengesetzgebung und Festlegung von Umweltqualitätszielen aufgelöst. Hierbei werden den Mitgliedstaaten größere Handlungsspielräume zur Umsetzung der EU-Vorgaben zugestanden. In den Umweltaktionsprogrammen werden grundsätzliche Leitlinien der EU - wenn auch zunehmend unverbindlicher - festgeschrieben. Lit: C. Hey: Umweltpolitik in Europa, München 1994; E. Müller: Innenwelt der Umweltpolitik, Opladen 21995; H. Weidner: 25 years of modem environmental policy in Germany, Berlin 1995; ders.: Basiselemente einer erfolgreichen Umweltpolitik, Berlin 1996.
Armin Sandhövel / Christoph Schmihing
Umweltrecht Umweltrecht Durch die zunehmende Umweltbelastung hat sich seit den 70er Jahren die -»· Umweltpolitik als eigenständiges Politikfeld etabliert. Der Gesetzgeber reagierte auf die neue umweltpolit. Herausforderung mit einer heute kaum mehr übersehbaren Dichte an Regelungen, die nahezu alle Bereiche erfaßt hat. Staatsziel Umweltschutz Die Staatszielbestimmung -» Umweltschutz (Art. 20a GG) wurde 1994 in das —> Grundgesetz aufgenommen. Die Vorschrift basiert auf einem Vorschlag der -> Gemeinsamen Verfassungskommission des Bundestages und Bundesrates. Damit vollzog der Verfassungsgesetzgeber eine Aufwertung des Umweltschutzes, die in den meisten —> Landesverfassungen über den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen bereits Berücksichtigung gefunden hatte. Der Schwerpunkt des Schutzes der Umwelt liegt allerdings auf der Ebene der einfachen Gesetze und der untergesetzlichen Vorschriften. Gesetzgebungskompetenzen Das U. gliedert sich in —> Bundes- und —> Landesrecht. Von großer Bedeutung ist die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes gem. Art. 75 GG für den Naturschutz und die Landschaftspflege, die Bodenverteilung, die Raumordnung und den Wasserhaushalt. Der Bund ist in diesen Bereichen u.a. mit dem Bundesnaturschutzgesetz (—> Naturschutzrecht), dem Raumordnungsgesetz und dem Wasserhaushaltsgesetz (—> Wasserrecht) tätig geworden. Daneben beruht eine Vielzahl von Vorschriften auf der —> konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes gem. Art. 74 GG (z.B. —> Umweltstrafrecht, der Schutz gegen radioaktive Strahlen, das Stoffrecht, die Luftreinhaltung, Lärmbekämpfung, Abfallbeseitigung). Der Bund hat im Rahmen dieser Zuständigkeit u.a. das Immissionsschutzgesetz (—> Immissionsschutzrecht, das Umwelthaftungsgesetz, das Atomgesetz (-> Atomrecht) und das Chemikaliengesetz (-+ Chemikalienrecht) erlassen. In den meisten Regelungsberei-
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Umweltrecht chen sind die Landesgesetzgeber darauf beschränkt, die Bundesrahmengesetze auszufüllen (z.B. Wasserhaushaltsgesetz, Landeswassergesetze), bzw. im Bereich der konkurrierenden Zuständigkeit des Bundes die vorhandenen Regelungen des Bundes zu ergänzen (z.B. Kreislaufwirtschaftsgesetz, Landesabfallgesetze —> Abfallrecht) . U. als Rechtsgebiet Aufgrund der weitreichenden Effekte sowie des umfassenden Aufgabenbereichs kann man das U. nicht als homogenes Rechtsgebiet im herkömmlichen Sinne bezeichnen. Umweltrelevante Regelungen befinden sich vielmehr in den klassischen Rechtsgebieten Zivilrecht, -> Strafrecht sowie schwerpunktmäßig im —> Umweltverwaltungsrecht. Letzteres regelt die Voraussetzungen aber auch die Grenzen für umweltbezogene Eingriffe bzw. umweltrelevante Aktivitäten. Es orientiert sich dabei an den medialen Schutzbereichen Wasser, Boden, Luft, Lärm, Natur und Landschaft. Dieses Konzept wird vielfach als reformbedürftig eingestuft. Viele umweltrelevante Gefahren bedrohen nicht nur isoliert ein Medium, sondern wirken auf die Umwelt und / oder den Menschen insg. ein. Mit dem Entwurf eines Umweltgesetzbuches (Allgemeiner Teil (1990), Besonderer Teil (1994)) soll eine umfassende Harmonisierung des U.s erreicht werden, welche dieser Problematik gerecht wird. Das Umweltstrafrecht hat mit der Integration umweltspezifischer Straftatbestände in das —> Strafgesetzbuch 1980 eine Aufwertung erfahren, die mit einer 2. Reform 1994 fortgesetzt wurde. Allerdings spielt es trotz kontinuierlich steigender Zahlen von Fällen und Verurteilungen sowie einigen spektakulären Fällen nur eine untergeordnete Rolle. Ebensowenig konnte das Umweltprivatrecht bislang entscheidende Impulse ausstrahlen. Von dem Umwelthaftungsgesetz (1991) wurde insoweit eine Verbesserung erwartet; allerdings liegen noch keine Erkenntnisse vor, die diese Erwartung bestätigen.
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Umweltrecht Gesetze und untergesetzliches Regelwerk Im U. geben die Gesetze regelmäßig nur die groben Leitlinien und Orientierungspunkte vor. Sie enthalten häufig ausfllllungsbedürftige oder noch zu konkretisierende Regelungsbereiche. Zu diesem Zweck bedient man sich der —> Rechtsverordnungen, -> Verwaltungsvorschriften, oder techn. Normen (z.B. DIN-Normen). Die Gesetze werden von den -> Parlamenten im Rahmen des zeitaufwendigen Gesetzgebungsverfahrens erlassen. Im Gegensatz dazu sind für den Erlaß von Verordnungen die Exekutivorgane zuständig. Sie werden überwiegend in techn. Zusammenhängen, die einer schnellen Veränderung unterworfen sind und daher einer schnelleren Umsetzung bedürfen, verwandt, da das Gesetzgebungsverfahren hier für zu schwerfällig gehalten wird. Aus ähnlichen Erwägungen werden vielfach Verwaltungsvorschriften - im U. häufig als Techn. Anleitung (z.B. TA Luft) bezeichnet - als Regelungsform gewählt. Die Verwaltungsvorschriften behandeln meist techn. und organisatorische Detailfragen. Sie sind keine Außenrechtssätze, sondern binden als innerdienstliche Weisung grds. nur die Tätigkeit der —> Behörden bei der Ausführung der Gesetze. Die nicht-hoheitlichen Regelwerke der verschiedenen —> Normungsverbände (DIN, VDI etc.) sind grds. nicht rechtsverbindlich. Gleichwohl spielen sie in der Praxis eine große Rolle. U. der EU In der —> Einheitlichen Europäischen Akte (1987), dem -> EU-Vertrag von Maastricht (1992) und dem -> Amsterdamer Vertrag (1997) kommt mit der Übertragung der Aufgabe „Schutz der Umwelt" eine Aufwertung des europ. U.s zum Ausdruck. So ist der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung (—> Nachhaltigkeit) in der -» Präambel des Vertrages über die —> Europäische Union und in den Grundsätzen des Vertrages über die -> Europäische Gemeinschaft verankert worden. Korrespondierend dazu zieht die EU immer mehr Kompetenzen an sich, so daß in Zukunft noch stärker nationale Gesetze
Umweltschutz
Umweltstrafrecht
vom —> Europarecht beeinflußt sein werden. Die Europäische Umweltpolitik basiert im wesentlichen auf den Art. 130rt EGV. Neben spezifischen Zuständigkeitsregeln enthält der EGV eine Querschnittsklausel, welche die Berücksichtigung des Umweltschutzes in den anderen Politikbereichen vorschreibt. Im europ. U. dominiert die Rechtsform der —• EGRichtlinie. Diese wendet sich i.d.R. an alle Mitgliedstaaten und enthält die zwingende Aufforderung, ein bestimmtes Ziel innerhalb einer Frist umzusetzen, wobei der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung in der Wahl der Form und der Mittel frei ist. Vereinzelt werden umweltbezogene Rechtsakte in Form von Verordnungen umgesetzt. Ihr Inhalt ist für alle Mitgliedstaaten unmittelbar verbindlich. Ausblick Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Erhaltung des Wirtschaftsstandortes Dtld. ist das U. als zu restriktiv und investitionshemmend bezeichnet worden. Trotz erheblicher Kritik an der Richtigkeit dieser Einschätzung verbunden mit der Befürchtung, daß der Umweltschutz durch diese Maßnahmen verringert werden wird, hat die Politik mit einer Reihe von gesetzlichen Maßnahmen zur Verfahrensbeschleunigung und Deregulierung reagiert. Neben dieser umstrittenen Regulierungsaktivität zeichnet sich eine Tendenz ab, U. verstärkt durch die Etablierung und Verwendung von Selbstverpflichtungen der Wirtschaft sowie durch Kooperationsmodelle zwischen —> Staat und —> Wirtschaft durchzusetzen. Lit: Β. Bender/R. Engel/ R. Sparwasser: weltrecht, Heidelberg 5 1995; M. Kloepfer: weltrecht, München 1990; P.C. Storm: weltrecht, Berlin 6 1995; ders. / S. Lohse: Umweltrecht, Losebl., Berlin 1994ff.
UmUmUmEG-
Armin Sandhövel / Christoph Schmihing Umweltschutz Obwohl es bereits im letzten Jhd. verschiedene Bestrebungen zum Schutz der Natur sowie zur Gewässerund Luftreinhaltung gab, wird der Begriff des U.es - als Übersetzung der amerik. Bezeichnung environmental protection -
erst seit den 70er Jahren, insbes. seit dem Umweltprogramm der -» Bundesregierung von 1971, verwendet. Er vereinigt in komplexer Weise die Funktionen der Prävention von künftigen Belastungen der Umweltmedien Luft, Wasser und Boden bzw. der Biosphäre, der repressiven Begrenzung gegenwärtiger Belastungen der natürlichen Lebensgrundlagen und der reparativen Beseitigung bereits eingetretender Umweltschäden durch Sanierung bzw. Rekultivierung. Den Schwerpunkt gesetzgeberischer Aktivitäten bilden die Bereiche Natur- und Landschaftspflege, Abfallvermeidung bzw. -entsorgung, Gewässerschutz, Immissionsschutz, Kontrolle von Chemikalien, Strahlenschutz, Bodenschutz und Klimaschutz. Lit.: Κ. Eckrich: die Harmonisierung des Umweltschutzes in der EU, Frankfurt/M. 1994; K.-G. Wey: Umweltpolitik in Dtld., Opladen 1982. /. H.
Umweltstrafrecht Unter das U. i.e.S. faßt man einerseits die Straftaten, die sich unmittelbar gegen die einzelnen Umweltmedien Boden, Wasser und Luft richten. § 324 StGB stellt die Verunreinigungen eines Gewässers unter Strafe. Andererseits zählt man zum U. die Delikte, die im Zusammenhang mit einer potentiell umweltgefährdenden Tätigkeit stehen. Hier wird bereits eine die Umwelt nur gefährdende Handlung mit Strafe bedroht. Der Gesetzgeber hat 1980 die Straftaten gegen die Umwelt in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Mit der Übernahme der Tatbestände aus den verschiedenen Umweltgesetzen wurde insbes. dem gestiegenen Umweltbewußtsein der Bevölkerung Rechnung getragen. Seit der Einführung der Umweltstraftaten haben die erfaßten Fälle kontinuierlich zugenommen. Mit dem 2. Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität wurde 1994 der Katalog der Umweltstraftatbestände mit dem Ziel erweitert, einen gleichmäßigeren Schutz der einzelnen Umweltmedien zu gewährleisten und Strafbarkeitslücken zu schließen. Im Einklang mit der allgemeinen
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Umweltverfassungsrecht
Umweltverfassungsrecht
Aufwertung der Bodenschutzpolitik wurde ein eigener Bodenschutztatbestand (-> Bodenschutzrecht) geschaffen. Durch das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität ist eine weitere Zunahme der Fälle zu erwarten. Der Anteil der Umweltstraftaten an der Gesamtkriminalität ist mit ca. 0,4% gering. Im Vergleich zur Gesamtkriminalität weist die Umweltkriminalität aber einige Besonderheiten auf. Mit ca. 65% übertrifft die Aufkärungsquote im U. deutlich die Aufkärungsquote der Gesamtkriminalität (ca. 42%). Für einzelne Delikte (z.B. Unerlaubtes Betreiben von Anlagen) wird sogar ein Quote von über 90% erreicht. Die hohen Aufklärungsquoten liegen z.T. am qualifizierten Anzeigeverhalten durch -» Behörden und -> Polizei, z.T. aber auch an der Eigenart einzelner Delikte. Überwiegend enden die Verfahren mit ihrer Einstellung; nur ganz ausnahmsweise werden Gefängnisstrafen verhängt. Im Bereich der umweltgefährdenden Abfallbeseitigung werden Täter vermehrt auch zu Haftstrafen verurteilt. Dies ist sowohl auf eine deutliche Zunahme der Fälle als auch eine Verschärfung der Tathandlungen (organisierte Kriminalität) zurückzuführen. Im U. muß nach Ansicht von Experten mit einer sehr hohen Dunkelziffer gerechnet werden; die ermittelten Fälle stellen nur die Spitze des Eisberges dar. In Anbetracht dieses Umstandes und der hohen Einstellungsquote bei den ermittelten Verfahren geht vom U. keine entscheidende Wirkung aus. Lit.: R. Busch: Unternehmen und Umweltstrafrecht, Osnabrück 1997; R. Michalke: Umweltstrafsachen, Heidelberg 1991; D. Sack: Umweltschutz - Strafrecht, Losebl., Stuttgart 1978ff. Christoph
Schmihing
Umweltverfassungsrecht Das U. besteht aus den Normen des positiven —> Verfassungsrechts, welche sich auf den Schutz oder die Förderung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen beziehen. Seit den 70er Jahren haben solche Nor922
men in eine wachsende Zahl von —> Verfassungen Eingang gefunden (vgl. Art. 66 der portugiesischen Verfassung von 1976, Art. 45 der spanischen Verfassung von 1978, Art. 21 der niederländischen Verfassung von 1983). Das -> Grundgesetz deutete zunächst nur in den Bestimmungen über die Gesetzgebungskompetenzen auf —» Staatsaufgaben im Umweltbereich hin; verfassungsrechtl. Schutzpflichten des —» Staates konnten nur aus den —> Grundrechten, insbes. dem —> Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) hergeleitet werden. Unabhängig von der eher zurückhaltenden verfassungsrechtl. Lage entwickelte sich seit den 70er Jahren in der BRD auf einfachgesetzlicher Ebene ein ausdifferenziertes —• Umweltrecht. Nach der -» Deutschen Einheit wurde 1994 im Zuge der Verfassungsreform eine —> Staatszielbestimmung über den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen der gegenwärtigen und künftigen Generationen in das GG eingefügt (Art. 20a GG). Die -» Landesverfassungen widmen dem Thema z.T. erheblich weiter gehende Regelungen. Dies gilt namentlich für die Verfassungen der neuen Bundesländer, aber auch etwa für die bay. Verfassung, welche bereits 1946 den Natur- und Landschaftsschutz ausdrücklich verankerte und später durch weitere Elemente, wie den Artenschutz, den Schutz des Naturhaushalts oder den sparsamen Umgang mit —> Energie, ergänzt wurde. Da die Einräumung eines einklagbaren Grundrechts auf —> Umweltschutz von den -> Gerichten kaum zu handhaben wäre, überwiegen im inund ausländischen Verfassungsrecht Staatszielbestimmungen, mithin Verfassungssätze, die alle —> Staatsgewalt binden, dem Einzelnen aber kein subjektives Recht vermitteln. Dennoch prägen sie als Auslegungs- und Ermessenskriterien die gesamte Rechtsordnung, somit auch das Grundrechtsverständnis. Auf verfassungsrechtl. Ebene gewinnen sie nicht nur als immanente Schranken vorbehaltlos gewährter Grundrechte, sondern auch als im
Umweltverträglichkeit Rahmen der Verhältnismäßigkeit gesetzlicher Regelungen zu berücksichtigende Abwägungselemente Bedeutung (-> s.a. Umweltstrafrecht). Lit: M. Kloepfer: Umweltschutz und Verfassungsrecht, in: DVB1 1988, S. 305ff; ders.: Umweltschutz als Verfassungsrecht: Zum neuen Art. 20a GG, in: DVB1 1996, S. 73ff.
Karl-Peter Sommermann Umweltverträglichkeit Unter dem Stichwort U. wird die Bewertung des Verhältnisses von bestimmten techn. und baulichen Anlagen zu den natürlichen Umweltmedien vorgenommen. Die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) ist ein unselbstständiger Bestandteil eines anderen verwaltungsbehördlichen, insbes. eines —> Planfeststellungs-, eines immissionsschutzrechtl. oder eines -> Raumordnungsverfahrens. Sie soll die Auswirkungen eines Vorhabens auf Menschen, Tiere, Pflanzen, Boden, Wasser, Luft, Klima, Landschaft, Kultur und sonstige Sachgüter ermitteln, beschreiben und bewerten. Für welche Vorhaben eine UVP durchzuführen ist, bestimmt das -> Gesetz in einem Anhang: u.a. Anlagen nach § 4 Abs. 1 BImSchG, Herstellung, Beseitigung und Umgestaltung von Gewässern, § 31 WHG, Bau von Bundesfernstraßen oder Magnetschwebebahnen. An dem Verfahren der UVP sind neben dem Vorhabenträger und der für die Durchführung des eigentlichen Verfahrens zuständigen -> Behörde, alle anderen Behörden zu beteiligen, deren Aufgabenbereich durch das Vorhaben berührt ist. Dies können z.B. sein: —> Gemeinden, die untere Naturschutzbehörde, das Landesamt für Umweltschutz, Behörden benachbarter Staaten, die Straßenverkehrsbehörde. Die —> Öffentlichkeit ist in dem Verfahren zu hören, allerdings ohne daß für einzelne ein subjektives Recht auf Anhörung begründet wird. Das Verfahren endet mit einer zusammenfassenden Darstellung und Bewertung der Auswirkungen des Vorhabens auf die o.g. Güter sowie Wechselwirkungen zwischen diesen. Die-
ünbestimmte Rechtsbegriffe sen. Dieser abschließenden Darstellung kommt allerdings keine weitere Bedeutung zu. Die Genehmigungsfahigkeit des Vorhabens beurteilt sich unabhängig von dem Ergebnis der UVP allein nach dem Maßstab des dem Hauptverfahren zugrunde liegenden Gesetzes. Insoweit bedeutet die UVP einen zusätzlichen Zeitund Verwaltungsaufwand ohne ein umsetzbares Ergebnis, insbes. weil auch Vorhabenalternativen nicht eigenständig von Amts wegen geprüft werden, sondern nur in dem vom Vorhabenträger vorgegebenen Umfang. Lit.: W. Erbguth/A. Schinck: UVPG, München 2 1996; H.-J. Peters: Die UVP-Richtlinie der EG und die Umsetzung in das dt. Recht, Baden-Baden 1994. Ulrich Hösch
Umweltverträglichkeitsprüfung -> Umweltverträglichkeit Unbestimmte Rechtsbegriffe Die Bezeichnung ist ein terminus technicus, mit dem die Verwaltungsrechtswissenschaft vage oder wertungsoffene, in der Handhabung unsichere Begriffe der Gesetzessprache absetzt von prägnanten R.n. Unbestimmte empirische (deskriptive) R., z.B. „Nachtzeit" oder „Gefahr", bergen Anwendungsprobleme, fordern Konkretisierung beim Vollzug aus dem Zweck des —• Gesetzes in der Anknüpfung an Fakten. Mit der Anwendungsentscheidung kann insbes. eine - unsichere - Prognose verbunden sein. Normative (wertausfüllungsbedürftige) R. werfen bereits Auslegungsprobleme auf, indem sie metarechtl. Standards in das Gesetz einschleusen, z.B. die guten Sitten bei der gewerberechtl. Beurteilung der Schaustellung von Personen (§ 33a GewO) oder den Stand der Technik im -> Immissionsschutzrecht. Ähnlich inkorporiert das Gerätesicherheitsgesetz die „allgemein anerkannten Regeln der Technik", während das Gentechnikgesetz (—• Gentechnikrecht) und das Atomgesetz (-» Atomrecht, z.B. auch für die Beförderung von Kernbrennstoffen) Vorsorgemaß923
Unfallversicherung
Unfallversicherung nahmen „nach dem Stand von Wissenschaft und Technik" fordern. Im dt. Verwaltungsrecht wird traditionell zwischen unbestimmten R.n - typischerweise auf der Tatbestandsseite der Norm - und Ermessen auf der Rechtsfolgenseite unterschieden. Während das Verwaltungsermessen einen Entscheidungsfreiraum in behördlicher Eigenverantwortung eröffnet und die richterliche Kontrollbefugnis entsprechend begrenzt ist (§114 VwGO), folgt aus der Rechtswegegarantie in Art. 19 Abs. 4 GG, daß die Konkretisierung unbestimmter R. letztinstanzlich Sache der -> Gerichte ist. Davon sind Ausnahmen kraft Gesetzes anerkannt (Beurteilungsermächtigungen). Sie führen zu einer Letztentscheidungskompetenz der —> Behörde, z.B. bei prüfungsspezifischen Wertungen im Rahmen einer Berufszugangsprüfung. LU.: BVerfGE 84, 34ff; B. Ebinger: Der unbestimmte Rechtsbegriff im Recht der Technik, Berlin 1993.
Ulrich Hufeid
Unfallversicherung Die gesetzliche U. bildet den Zweig der —» Sozialversicherung, der den sozialversicherungsrechtl. Umgang mit Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten regelt. Mit der Einführung im Jahre 1884 wurde die zivilrechtl. Entschädigungspflicht des einzelnen Unternehmers für Betriebsunfälle durch verschuldensunabhängige und öffentl.-rechtl. Versicherungsansprüche abgelöst. Weitere Grundsätze der U. sind: Orientierung der Versicherungsleistungen am Schadenersatzprinzip, Versicherungsschutz unabhängig von der formalen Begründung eines Versicherungsverhältnisses, alleinige Finanzierung durch die Unternehmer, Ausschluß von Haftungsansprüchen des —> Arbeitgebers gegen den Unternehmer, Durchführung durch eigene Körperschaften (im gewerblichen und landwirtschaftl. Bereich durch Berufsgenossenschaften), Gliederung der Berufsgenossenschaften nach Branchen, die Unternehmen mit vergleichbaren Unfallrisiken zusammen-
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fassen, Präventionsauftrag der U.sträger zur Verhütung von Arbeitsunfällen. Nachdem sich die U. zunächst nur auf Unternehmen mit besonders hohen Unfallrisiken erstreckte, wurden im Laufe der Zeit immer weitere Bereiche in den Versicherungsschutz einbezogen. Seit 1942 ist die U. nicht mehr als Betriebsversicherung, sondern als Personenversicherung ausgestaltet, welche die Entschädigungsansprüche der Versicherten regelt. Die bedeutenste Erweiterung des Versichertenkreises in jüngerer Zeit war 1971 die Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf Kindergartenkinder, Schüler und Studenten. Daneben sind von der U. heute so unterschiedliche Gruppen wie Lebensretter, Blutspender, Entwicklungshelfer und ehrenamtlich Tätige (—> s.a. Ehrenamtliche Tätigkeit) erfaßt. Gesetzliche Grundlagen der U. sind seit 1996 das SGB VD (zuvor Drittes Buch RVO) sowie die Berufskrankheitenverordnung. Die wesentlichen Aufgaben der U. sind die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten einschließl. der Abwehr arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren sowie nach einem Arbeits- bzw. Wegeunfall oder einer Berufskrankheit die Heilbehandlung, Maßnahmen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation zur Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, die Erleichterung der Verletzungsfolgen durch Maßnahmen der sozialen Rehabilitation sowie die Entschädigung durch Geldleistungen, insbes. durch Übergangsgeld, Verletztengeld und -» Renten. Träger der gesetzlichen U. sind 35 gewerbliche Berufsgenossenschaften, 20 landwirtschaftl. Berufsgenossenschaften und 54 U.sträger der öffentl. Hand. Insg. sind über 80% der Wohnbevölkerung in der gesetzlichen U. versichert. Bei der Durchführung der Unfallverhütung, der Entschärfung von Unfallgefahren sowie der Verbesserung der Arbeitsbedingungen werden die Mitgliedsuntemehmen von techn. Aufsichtsbeamten der Berufsgenossenschaften unterstützt. Diese überwachen auch die durch autonome Rechtsetzung erlassenen
Unmittelbare Wahl
Unionsausschuß Unfallverhütungsvorschriften. Lit: Β. Schulin (Hg.): Handbuch des Sozialversicheningsrechts II, München 1996; J. Schwede: Unfallversicherungsrecht, Köln 1997; F. Watermann: Unfallversicherung, Komm. Losebl., Stuttgart 41997ff.
Martin Frey Unionsausschufl - * Ausschuß für Angelegenheiten der EU Unionsbürgerschaft Die Bestimmungen über die U. wurden durch den —> EUVertrag in den EGV eingefügt. Der EGV begründet mit der Einführung einer U. konkrete europ. —* Bürgerrechte. Unionsbürger ist nach Art. 8 Abs. 1 EGV, wer die —> Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Dadurch ist für den Erwerb und den Verlust der U. auf die nationalen Vorschriften des jeweiligen Mitgliedslandes zur Staatsangehörigkeit abzustellen. Nach Art. 8a Abs. 1 EGV besteht allgemeine Freizügigkeit im Unionsgebiet, d.h. jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Dieses Recht kann jedoch nur vorbehaltlich anderer und in den Durchführungsvorschriften normierten Beschränkungen und Bedingungen (wie z.B. den Nachweis ausreichender Existenzmittel und einer Krankenversicherung) ausgeübt werden. Gem. Art. 8b Abs. 1 EGV verfügt jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, über das aktive und passive —• Wahlrecht bei -> Kommunalwahlen in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat. Dadurch wird der Unionsbürger den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats gleichgestellt. Art. 8b Abs. 2 EGV begründet für den Unionsbürger das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum —> Europäischen Parlament am Ort seines Wohnsitzes in einem anderen Mitgliedstaat nach den für dessen Staatsangehörige geltenden Bestimmungen.
Nach Art. 8c EGV genießt der Unionsbürger einen besonderen Auslandsschutz. Alle Mitgliedstaaten gewähren den Unionsbürgern wie ihren eigenen Staatsangehörigen erforderlichen konsularischen und diplomatischen Schutz in oder gegenüber einem Drittstaat, wenn der Heimatstaat in dem betreffenden Drittstaat nicht entsprechend vertreten ist. Dieses Recht erfahrt insofern eine Einschränkung, als hierfür das Einverständnis des Drittstaates erforderlich ist. Gem. Art. 8d EGV besitzt jeder Unionsbürger das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament nach Art. 138d EGV. Weiterhin kann er sich an den nach Art. 138e EGV eingesetzten —> Bürgerbeauftragten (Ombudsmann) wenden. Die —> Petition muß Angelegenheiten der Tätigkeitsbereiche der Gemeinschaft betreffen. Petitionsberechtigt ist neben dem Unionsbürger jede natürliche oder - » juristische Person, die ihren Wohnort oder satzungsgemäßen Sitz in einem Mitgliedstaat hat. Voraussetzung für die Ausübung des Petitionsrechts ist die unmittelbare Betroffenheit. Dabei kann das Petitionsrecht allein oder im Wege der Sammelpetition mit anderen Unionsbürgern oder Personen ausgeübt werden. Das Beschwerderecht des Unionsbürgers gegenüber dem Ombudsmann muß sich gem. Art. 138e Abs. 1 EGV auf Mißstände bei der Tätigkeit der Organe oder Institutionen der Gemeinschaft, mit Ausnahme des -» Europäischen Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz in Ausübung ihrer Rechtsprechungsbefugnisse, beziehen. Insg. erhält der Staatsbürger durch die zusätzliche U. erweiterte Rechte, auf die er sich innerstaatl. und gesamteuropäisch berufen kann. Lit.: H.-G. Fischer: Die Unionsbürgerschaft, in: EuZW 1992, S. 566ff.; M. Hilf: Die Union und die Bürger, in: integration 1997, S. 247.
Dietmar O. Reich Universität —» Hochschule Unmittelbare Wahl -> Wahl
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Unterausschuß Unterausschuß —> Ausschuß Unterbehörde —* Behörde Untere Verwaltungsbehörde —> Behörde Unterhaus, britisches Als U. wird die gewählte 2. Kammer des brit. Parlaments bezeichnet (-» Zweikammersystem). Seit 1265 begannen engl. Könige, wenngleich mit Unterbrechungen, regelmäßig —> Parlamente einzuladen, die aus Vertretern des hohen und niederen Klerus, des hohen Adels, der Grafschaften und Städte bestanden. 1343 vereinigten sich die Vertreter der Grafschaften (knights) und der Städte (burgesses) im brit. Parlament erstmals zu den Commons, den Gemeinen (U ), die getrennt von den Lords (-> Oberhaus) berieten. Nach einer auf das 16. Jhd. zurückgehenden Verfassungskonvention besteht das brit. Parlament aus 3 Elementen: der Krone, dem Oberhaus und dem U.; die Gewichte innerhalb der Trias „Krone-im-Parlament" haben sich seit dem 17. Jhd. zunehmend zugunsten des U.es verschoben. Die Macht der Krone wurde seit der Glorious Revolution (1689) Zug um Zug zurückgedrängt. Nach der schrittweisen —» Demokratisierung des —> Wahlrechts seit 1832 war auch die Entmachtung des aristokratischen Oberhauses nur eine Frage der Zeit. Seit den Parliament Acts von 1911 und 1949 dominiert auch rechtl. das demokrat. gewählte und legitimierte U. klar gegenüber den anderen beiden Bestandteilen der Trias „Krone-im-Parlament". Die 659 Abgeordneten des U.es werden nach dem relativen —> Mehrheitswahlrecht in —> Einerwahlkreisen gewählt. Eine —> Wahlperiode erstreckt sich über höchstens 5 Jahre. Innerhalb dieser Frist ist der -> Premierminister jederzeit berechtigt, den Monarchen um die Auflösung des Parlaments zu ersuchen und Neuwahlen anzuberaumen. Der Monarch kommt dem Auflösungsersuchen des Premierministers grds. nach. Die Wahlperioden gliedern sich in etwa einjährige
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Unterhaus Parlamentssessionen (sessions). Diese Sessionen werden alljährlich von der Königin durch die sog. „Queen's Speech" im Plenarsaal des Oberhauses eröffnet, wo sich die Mitglieder beider Häuser des Parlaments versammeln. Diese königliche Eröffnungsansprache wird von der Regierung entworfen und enthält deren wichtigste Gesetzgebungsvorhaben im kommenden Sitzungsjahr. Gesetze, die nach Ablauf eines Sitzungsjahres nicht verabschiedet sind, müssen erneut eingebracht werden. Der Gesetzgebungsprozeß ist daher durch ein hohes Maß an Zeitdruck gekennzeichnet. Obwohl die Geschäftsordnung des U.es (-» Commons Standing Orders) die Einbringung von Gesetzen aus der Mitte des Hauses durch einzelne Abgeordnete (Private Members' Bills) erlaubt, wird die Gesetzgebungstätigkeit des U.es in Wirklichkeit weitgehend von der Regierung kontrolliert. Diese Dominanz der Exekutive ist in hohem Maße Ergebnis ihrer Kontrolle der Parlamentsmehrheit. Die brit. Regierung ist aufgrund der Geschäftsordnung des U.es im allgemeinen Herrin des Gesetzgebungsverfahrens und kontrolliert die zur Gesetzesberatung verfügbare Zeit über ihre Mehrheit streng. Ein Minister im Kabinettsrang (Leader of the House) und die Fraktionsgeschäftsführer (-» whips) sind dafür zuständig, daß Regierungsgesetze mit geringstmöglichem Zeitverzug verabschiedet werden. Zur Beratung von Gesetzentwürfen aus der Mitte des Hauses (darunter fallen auch alle Gesetzentwürfe aus den Reihen der Opposition) steht nur wenig Zeit zur Verfügung. Sie haben i.d.R. nur dann Erfolgschancen, wenn sie von der Regierung zumindest stillschweigend gebilligt werden. Gesetzentwürfe, die staatl. Finanzausgaben zur Folge haben, bedürfen zusätzlich der ausdrücklichen Billigung des Finanzministers. Der Gesetzgebungsprozeß verläuft in 3 -> Lesungen, wobei die Ausschußberatungen im Gegensatz zum —> Deutschen Bundestag erst nach der 2. Lesung beginnen,
Unterhaus nachdem das U. bereits über die Grundlagen eines Gesetzes beschlossen hat. Die Ausschußberatungen sind der Feinarbeit am Gesetzestext gewidmet. Die mit der Detailberatung von Gesetzen im allgemeinen beauftragten Standing Committees (-> Committees) werden ad hoc für die Beratung eines bestimmten Gesetzentwurfs eingesetzt und bestehen im wesentlichen aus Fraktionsexperten. Die zuständigen Minister und zumindest ein Fraktionsgeschäftsführer sind ebenfalls Ausschußmitglieder. Sie sind dafür verantwortlich, daß auch in den Standing Committees die Abstimmungsdisziplin der Fraktionen streng gewahrt bleibt. Die Standing Committees haben nicht das Recht, —> Anhörungen durchzuführen und beschränken sich darauf, den Gesetzentwurf Satz für Satz zu beraten. Nach dem Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens im U. durch eine Beratung im Ausschuß vorgeschlagener Änderungen (Report Stage), eine 3. Lesung und die Schlußabstimmung wird ein (dort eingebrachter) Gesetzentwurf an das Oberhaus zur Beratung überwiesen. Schlägt dieses Änderungen vor, muß der Entwurf erneut vom U. beraten werden. Das Oberhaus kann vom U. verabschiedete Finanzgesetze überhaupt nicht, andere Gesetze nur noch für ein Sitzungsjahr verzögern. Wird die Vorlage dann erneut vom U. beschlossen, erlangt sie auch ohne Zustimmimg der Lords gesetzliche Geltung. Nach Abschluß der Beratungen erhält ein Gesetzentwurf durch die Unterschrift der Königin Gesetzeskraft (Royal Assent). Der überparteilich agierende Parlamentsvorsitzende (Speaker) beteiligt sich im allgemeinen nicht an Aussprachen und Abstimmungen. Nur bei Stimmengleichstand hat er die entscheidende Stimme, ist aber verpflichtet, diese im Zweifel für die nominelle Mehrheit des U.es abzugeben. Der -> Speaker erteilt bei Aussprachen Abgeordneten das Wort, wählt bei der Plenarberatung von Gesetzentwürfen die Änderungsanträge aus, die im Plenum des U.es debattiert werden sollen und sorgt in
Unterhaus engen Grenzen für Disziplin im U.; nach seiner Wahl durch die Mitglieder des U.es tritt er aus seiner Partei aus und wird als Person (normalerweise) ohne Gegenkandidaten wiedergewählt. Die Kontrolle des U.es durch die Regierung erfolgt weitgehend durch die in Abstimmungen geschlossen auftretende Mehrheitsfraktion. Die Führungspersönlichkeiten der Mehrheitsfraktion bilden die Regierung und bestimmen das Geschehen im Hause, solange sie von der Regierungsmehrheit unterstützt werden. Die Kontrolle wird dadurch erleichtert, daß über 1/3 der Regierungsfraktion besoldete oder unbesoldete Regierungsämter ausüben. Die Geschlossenheit der Fraktionen im brit. U. war bis Ende der 50er Jahre außerordentlich hoch. Insbes. seit Beginn der 70er Jahre können die Fraktionsführungen der beiden großen Parteien die unbedingte Gefolgschaft ihrer Hinterbänkler (backbenchers) nicht mehr voraussetzen. Seitdem kommt es im Durchschnitt bei etwa 1/5 der Abstimmungen zu abweichendem Stimmverhalten. Meist handelt es sich nur um wenige Abgeordnete, so daß Regierungsmehrheiten im allgemeinen nicht gefährdet werden. Es gehört zum Handwerk der Fraktionsgeschäftsführer (whips) der Regierungsseite, frühzeitig Unbehagen bei den Hinterbänklem zu „spüren" und durch eine Mischung aus Druck, Verhandlungen und Zugeständnissen, eine Abstimmungsniederlage der Regierung zu vermeiden. Öffentl. Kritik der Regierung als Kontrollform betreibt in erster Linie die parlament. Opposition. Ihre Tätigkeit im Parlament richtet sich v.a. auf die Beeinflussung der öffentlichen Meinung in einem permanenten Wahlkampf, für den das Parlament trotz der gewachsenen Rolle des Femsehens eine immer noch wichtige Arena bildet. Zum einen wird die besondere Rolle der größten Oppositionspartei durch ihre verafssungspolit. Akzeptanz als Altemativregierung anerkannt. In diesem Zusammenhang werden dem Führer der größten Oppositionsfraktion und deren
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Unterhaus ersten Parlament. Geschäftsführern (Chief Whips) in beiden Häusern des Parlaments sowie einigen weiteren Fraktionsgeschäftsführern aus Haushaltsmitteln Gehälter bezahlt. Zum anderen werden den beiden größten Oppositionsfraktionen des U.es in jedem Sitzungsjahr 20 Tage eingeräumt, an denen sie (und nicht nur die Regierungsmehrheit) den Gegenstand der Plenardebatten frei wählen können. Von diesen 20 sog. Opposition Days erhält die größte Oppositionsfraktion 17 und die zweitstärkste 3 Tage. Anders als der Dt. Bundestag, dessen Mitglieder sich in starkem Maße als Angehörige eines hauptsächlich in Fraktionsarbeitskreisen und Ausschüssen tätigen Arbeitsparlaments verstehen, gilt das brit. U. nach wie vor als ausgesprochenes -»· Redeparlament, dessen Arbeitsschwerpunkt eindeutig bei Debatten im Plenum liegt. Die Debatten werden in hohem Maße von einem permanenten Schlagabtausch zwischen Regierung und Opposition bestimmt. Daran ändert auch die zunehmende Professionalisierung der Abgeordnetenrolle in Großbritannien nichts. Die -» Wissenschaftlichen Dienste sowie die personelle und sachliche Ausstattung der Abgeordneten bleiben hinter derjenigen der Mitglieder des Dt. Bundestages zurück. Das zunehmende Bedürfnis der Abgeordneten nach Sachwissen wird, v.a. bei Politikern der Opposition und Hinterbänklern der Regierungsseite, vielfach durch professionelle Lobby-Firmer, (political consultancies) gedeckt. Dies hat zu einer dramatischen Zunahme des Lobbyismus und seiner damit verbundenen Probleme der Amtsethik geführt. Der zunehmende Anteil von —> Berufspolitikern, die auch als Hinterbänkler eine konstruktive Rolle im Parlament suchen, hat auch zur Einführung eines umfassenden Systems ressortbezogener Aufsichtsausschüsse (Select Committees, Committees) im Jahre 1979 beigetragen, deren wichtigstes Ziel es ist, die Politik der Regierung kontinuierlich und kritisch zu durchleuchten. Schließlich hat die Profes-
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UntersuehungsausschuG sionalisierung der Abgeordnetenrolle seit den 70er Jahren zu einer deutlichen Intensivierung der Wahlkreisarbeit durch die meisten Abgeordneten geführt, die dadurch versuchen, ihre Wiederaufstellungs- und Wiederwahlchancen zu verbessern. Lit.: JA.G. Griffith / M. Ryle: Parliament: Functions, Practice and Procedures, London 1989; P. Norton: Does Parliament Matter?, Hemel Hempstead 1993; T. Saalfeld: Das brit. Unterhaus 1965 bis 1986, Frankfurt/M. 1988; D.D. Searing: Westminster's World: Understanding Political Roles, Cambridge 1994.
Thomas Saalfeld Unterrichtung - » Berichte der Bundesregierung Untersuchungsausschuß / -ausschüsse 1. Der -» Bundestag und alle —> Landesparlamente haben das Recht der Parlament. Untersuchung. Für diesen Zweck werden U.e eingesetzt, die durch die —> Verfassung mit besonderen Rechten ausgestattet sind. U.e sind wie alle anderen -> Ausschüsse des Parlaments dessen Hilfsorgane und haben die Aufgabe, Entscheidungen des —> Plenums vorzubereiten. Sie sind jedoch im Gegensatz zu den Fach- oder ständigen Ausschüssen sog. ad hoc-Ausschüsse, die mit einem konkreten Untersuchungsauftrag versehen konstituiert und nach dessen Erledigung aufgelöst werden. Einen Sonderfall stellt der -> Verteidigungsausschuß des Bundestages dar. Sachlich zuständig für den Bereich der militärischen Verteidigung hat er selbst die Rechte eines U.; thematischer Gegenstand einer Untersuchung kann alles sein, was in den Zuständigkeitsbereich des Parlaments gehört und von öffentl. Interesse ist. Die Praxis in der BRD hat sich auf Mißstands- und Skandaluntersuchungen verengt (wozu auch die Einführung von parlament. -» Enquete-Kommissionen beigetragen hat), die zur Klärung von Vorgängen im Verantwortungsbereich der -> Regierung oder des Parlaments selbst eingesetzt werden.
Untersuchungsausschuß Schwerwiegende Vorfälle dieser Art, die 1.d.R. erst durch die Berichterstattung in den —> Medien bekannt geworden sind, haben stets ein Untersuchungsverfahren nach sich gezogen. Der sog. Steiner / Wienand-Komplex mutmaßlicher Abgeordnetenbestechung im Bundestag oder der Spionagefall Guillaume, beide in den 70er Jahren, sowie die Flick-/ Parteispendenafläre Mitte der 80er Jahre sind nur einige markante Beispiele dafür. 2. Das moderne parlement. Untersuchungswesen hat seine Wiege in England, dessen Vorläufer bis in das 11. Jhd. zurückreichen. Von wenigen Ansätzen in der ersten Hälfte des 19. Jhd.s abgesehen hat in Dtld. der Gedanke eines parlament. Untersuchungsrechts seine Geburtsstunde erst mit der Revolution von 1848. Die -> Weimarer Reichsverfassung führte den mit hoheitlichen Befugnissen ausgestatteten U. als Instrument der parlament. -> Minderheit ein. Entsprechende Regelungen finden sich im —> Grundgesetz und den —> Landesverfassungen: Das Parlament ist berechtigt und auf Antrag einer Minderheit der —> Abgeordneten - im Falle des Bundestages eines Viertels seiner Mitglieder (Art. 44 GG) - verpflichtet, einen U. einzusetzen, der nach Maßgabe des Untersuchungsauftrags Tatsachen zu ermitteln hat. Dafür stehen dem Ausschuß Instrumente zur Verfügung, die ihn zur schärfsten „Waffe" parlament. Kontrolle machen. In sinngemäßer Anwendung von strafprozessualen Vorschriften hat er die Beweise zu erheben, die i.S. der Aufgabenstellung für erforderlich gehalten werden; die Beweisaufnahme fmdet i.d.R. in öffentl. —> Sitzung statt. Damit wird den U. die Befugnis gegeben, wie ein Gericht Zeugen zu vernehmen und grds. auch Einsicht in Akten zu verlangen. Zudem können sie —> Rechts- und —» Amtshilfe aller Gerichte und Verwaltungsbehörden in Anspruch nehmen. Das Minderheitenrecht bezieht sich meistens auch auf die Beweisaufnahme des Ausschusses. Für die U.e des Bundestages wird es durch Art. 44 GG ausdrücklich
Untersuchungsausschuß auf dessen Einsetzung durch das -> Plenum beschränkt. Für das Untersuchungsverfahren selbst gilt dann der Normalfall der demokrat. Mehrheitsentscheidung. Somit bedürfen Beweisbeschlüsse des Ausschusses der Mehrheit seiner Mitglieder. Die rechtl. Konstruktion höhlt das Minderheitenrecht aus, wenn es sich nicht auch auf das Kernstück der Untersuchung, die Beweiserhebung, erstreckt. Um das zu vermeiden, werden die Verfahrensregeln eines Entwurfs der -> Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft (IPA) aus dem Jahre 1969 angewandt, wonach das Minderheitenrecht auf die Beweisaufnahme durchgreift. Die Anwendung der sog. IPA-Regeln wird jeweils mit der Einsetzung eines U.es vom Bundestag beschlossen. 3. Aus normativer Sicht dienen U.e der objektiven Sachaufklärung. Faktisch sind sie Foren der parteipolit. Auseinandersetzung; je stärker der Untersuchungsgegenstand die jeweiligen Parteiinteressen tangiert, desto deutlicher kommt das zum Ausdruck. Die Ausschußmitglieder verhalten sich rollenloyal, sie agieren als Vertreter einer Oppositions- bzw. regierungstragenden —> Fraktion. Offenkundig werden Beweisanträge häufig nicht um der Sachaufklärung willen gestellt, sondern um einen führenden Politiker aus den Reihen des polit. Gegners in den Zeugenstand zu bekommen und diesen medienwirksam als eine Art Angeklagten erscheinen zu lassen. Die Würdigung der Ermittlungsergebnisse (im U. und im Plenum) bewegt sich im Rahmen des üblichen parlament. Konfliktmusters: Polit, relevante Fakten bewerten die Abgeordneten der Opposition anders als die der Mehrheitsfraktion(en). Es ist daher nicht ganz unproblematisch, wenn mit justiziellen Mitteln (einschließl. der Möglichkeit der Zeugenvereidigung) ein polit, motiviertes Untersuchungsverfahren durchgeführt werden kann. 4. Die Reform der parlament. Untersuchung steht in der BRD seit 1964 auf der Tagesordnung, als sich der 45. Dt. Juri929
Verantwortung
Untersuchungsgrundsatz stentag ausführlich mit Funktion, Struktur und Verfahren von U.en beschäftigte. Der Bundestag hat sich bis heute nicht zu einer Novellierung durchringen können. Es hat seither mehrere Entwürfe für ein eigenständiges Gesetz zur (Neu-)Regelung des Untersuchungsverfahrens gegeben, von denen jedoch keiner verabschiedet wurde. Die jeweilige Regierungsmehrheit hat sich nicht zuletzt deshalb verweigert, weil es stets auch um eine Stärkung der Minderheitenrechte ging. Lit.: W. Damkowski (Hg.): Der Parlament. Untersuchungsausschuß, Frankfiirt/M. 1987; B. Frey: Parlament. Kontrolle und Untersuchungsrecht, Hamburg 1992; R. Kipke: Die Untersuchungsausschüsse des Dt. Bundestages, Berlin 1985; K. J. Parlsch: Empfiehlt es sich, Funktion, Struktur und Verfahren der parlament. Untersuchungsausschüsse grdl. zu ändern?, in: Verhandlungen des 45. DJT, Karlsruhe, Bd. 1, T. 3., München 1964; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 2 1996, S. 289ff.
sehen ein auf Freiheitsstrafe lautendes Urteil ergangen ist, oder das OLG entschieden hat, daß ein wichtiger Grund z.B. die besondere Schwierigkeit oder umfangreiche Ermittlungen die weitere Haft rechtfertigen (kein wichtiger Grund ist die Überlastung der Justiz). Grds. wird die U. auf die durch Urteil verhängte zeitige Freiheitsstrafe oder Geldstrafe angerechnet (§ 51 StGB). Die Einzelheiten des Vollzuges der U. sind teils in der StPO, teils in der Untersuchungshaftvollzugsordnung geregelt. Der Verhaftete darf nicht mit Strafgefangenen und i.d.R. auch nicht mit anderen U.-gefangenen im Raum untergebracht werden. Der Beschuldigte kann gegen die U. Antrag auf Haftprüfimg (§117 StPO) stellen oder Haftbeschwerde (§ 304 I StPO) einlegen (s.a. Hauptverhandlungshaft). Lit.: P. Höflich / W. Schrierer: Grundriß Vollzugsrecht, Berlin 1996; R. Schlothauer / H.-J. Wieder: Untersuchungshaft, Heidelberg 2 1996.
Rüdiger Kipke Untersuchungsgrundsatz —> Amtsermittlungsgrundsatz Untersuchungshaft (§ 112ff. StPO) ist keine durch Urteil verhängte Freiheitsstrafe, sondern eine vorläufige Maßnahme, welche die Durchführung des Strafprozesses v.a. im Ermittlungsverfahren sichern soll. Die Zwecke der U. bestehen in der Durchsetzung des Anspruchs der Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters. Sie ist nur zulässig, wenn gegen den Beschuldigten dringender Tatverdacht besteht und ein Haftgrund vorliegt. Die U. kann nur durch den —» Richter angeordnet werden. Sie darf nur solange dauern, wie ihre Voraussetzungen vorliegen und die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Sie ist stets nach Freispruch und im Ermittlungsverfahren auf Antrag der -» Staatsanwaltschaft aufzuheben. Sie darf grds. nicht länger als 6 Monate dauern. Eine Überschreitung ist nur ausnahmsweise dann zulässig, wenn inzwi930
K.H.
US-Kongreß -> Kongreß USA
Verfassung der USA
Verantwortung 1. Begriff V. ist Grundnorm sozialen Verhaltens und Handelns. Das alteuropäische Verständnis von V. prägt eine doppelte Verweisung: Zum einen zeigt sich deijenige verantwortungsbewußt, der die Folgen seines Handelns eigenem Tun zuordnet. Zum anderen kann ein Geschehniszusammenhang auf ihn verweisen, so daß ihm von einer oder der Instanz, in deren Auftrag er handelt, eine Träger- bzw. Mittäterschaft an dem Geschehen zugerechnet wird oder zugerechnet werden muß. V. meint Redeund Antwortstehen, Rechenschaft für eigenes Handeln oder Unterlassen wie auch für zugerechnetes Tun vor einer autorisierten Instanz ablegen. Die Grundstruktur von V. besteht demnach aus einer
Verantwortung verantwortungsfähig handelnden Person, einer V.sinstanz und dem zu verantwortenden Sachverhalt. Je nach Genese und Form gibt es verschiedenartige V.sbeziehungen, die sich durch V.sinstanz, Reichweite, Maßstab, Sanktion und V.ssubjekt voneinander unterscheiden. So sind als grundlegende, die zwischenmenschliche Lebensgemeinschaft bestimmende V.sbindungen die religiöse, soziale, rechtl., polit. V. und die Eigenverantwortung zu nennen. 2. Teilbarkeit V. ist teilbar. Die Teilbarkeit ermöglicht Aufbau und Eingrenzung klarer Zuständigkeitsbereiche, innerhalb derer Rechenschaft abgelegt sowie für Handlungsfolgen eingestanden und gehaftet werden kann. Somit ist im Teilbarkeitsprinzip die institutionelle Praktikabilität von V. angelegt, denn diese führt zu konkreter Wahrnehmung wie differenzierten Kompetenzen und kann daher verbindlich sozialen und polit. Ordnungen zugrunde gelegt werden. V. kann in ihrer Eigenschaft, in -> Verantwortlichkeiten) teilbar zu sein, in vielfältige Handlungsfunktionen zerlegt und in Funktionszusammenhänge geordnet werden. Dabei entsprechen den nach Ordnungsinstanzen aufgebauten Zuständigkeiten auch klare Zurechenbarkeiten, denen wiederum eindeutig herleitbare Handlungsketten vorauslaufen. Eine Instanzenhierarchie mit fest umgrenzten Kompetenzbereichen entsteht so aus der stufenweisen Bildung von Verweisimgszusammenhängen und ihrer Koordination in differenzierten und dabei homogenen Handlungssystemen. Der sachlichen, zeitlichen und sozialen Einund Begrenzung folgen Berechenbarkeit, Zuverlässigkeit und klare Urheberschaft. Rationalisierung und Versachlichung von V. führen zu kalkulierbarer Verfahrensund Systembildung, deren Maßstab die Rechtmäßigkeit oder die Normtreue ist. Geteilte V. in Form von Ordnungshierarchien prägt heute nahezu alle Bereiche der modernen Gesellschaftsorganisation, z.B. die Rationalisierung der industriellen Arbeitsteilung und die bürokratische
Verantwortung Formalisierung der —> Verwaltung. Rationalisierung und Formalisierung bedeuten hier die Übersetzung von V. in vorschriftsformierte, sachlich stabile Verantwortlichkeiten. Dies bedingt sowohl, daß mehrere Personen in einem V.szusammenhang mitwirken können, als auch die Möglichkeit eröffnet ist, in und durch Personenverbindungen verantwortlich zu handeln. Im —> Verfassungsstaat erstreckt sich diese Kompetenz auf -> juristische Personen, -> Anstalten und —> Körperschaften des öffentlichen Rechts wie auch auf die polit. -» Institutionen und die Träger öffentl. Ämter (-> Amt). Darüberhinaus gehend ist die Teilbarkeit von V. grundlegende Voraussetzung für kontrollier- und sanktionierbare —» Politik und —» Herrschaft. Denn das Prinzip der -> Repräsentation in Verbindung mit den Ideen der -> Volkssouveränität und —> Gewaltenteilung begründet die normative Anschauung, daß alle —> Staatsgewalt in der -> Demokratie dem Grundsatz polit. V. unterworfen sein soll. Dabei binden die Fundamentalnorm der —> Menschenwürde und die sich aus ihr herleitenden —> Grundrechte staatl. Herrschaft material und richten sie intentional aus. V. als demokrat. Handlungs- und Verhaltensnorm wurzelt somit in der treuhänderischen Wahrnehmung von Herrschaft im Dienst der an Menschenwürde-Norm und -> Bürgerrechten wie —> Bürgerpflichten orientierten —> Staatszwecken und —> Staatszielen. 3. V. im parlament. Regierungssystem Der Aufweis von V. ist wesentliches Strukturelement des demokrat. Verfassungsstaates, in welchem die Ausübung polit. —> Macht auf mehrere, sich wechselseitig kontrollierende Akteure aufgeteilt und das Kontrollinstrumentarium als Ganzes in der —» Verfassung bzw. im -> Staatsrecht kodifiziert ist. Hervorzuheben ist das durch V. bestimmte Charakteristikum des —> parlamentarischen Regierungssystems, wie es auch die -> Bundesrepublik Deutschland prägt. Die Parlament. Regierungsweise zeichnet sich durch die V. der 931
Verantwortung -> Exekutive gegenüber dem —> Parlament aus und beruht auf der Parlament. Entscheidungsbefugnis, über Ernennung und Abberufung der Regierung zu bestimmen (-> Mißtrauensvotum). In England, wo sich die Parlament. Regierungsform um die Mitte des 18. Jhd.s durchsetzte (—> Verfasung, brit.), ist hierfür der Begriff „Responsible Gouvernment" geläufig. Responsible Gouvernment bezeichnet eine Herrschaftsweise, bei der die Regierung zu ihrer Amtsführung das —> Vertrauen des Parlaments benötigt und in ihrem Bestand von einer tragenden Parlament. Mehrheit abhängig ist. Demnach wird hier die Vorstellung, daß demokrat. Herrschaft an Zustimmung, Vertrauen und V. gebunden ist, auf Kreation und Bestand der Exekutive wie die Durchsetzung der Regierungspolitik angewandt. Das —> Grundgesetz verwendet davon abgesehen den Begriff der V. in der -> Präambel und in den GG-Art. 28 Abs. 2, 34, 42 Abs. 3, 46 Abs. 1 und 2 sowie 65. In den genannten Artikeln überwiegt das kompetenz- und amtsrechtl. Verständnis von in Verantwortlichkeiten geteilter V.; so wenn der V. des —> Bundeskanzlers für die —» Richtlinien der Politik die ministerielle Ressortverantwortung (Art. 65 Abs. 1 und 2 —> Ministerverantwortlichkeit —> s.a. Ressortprinzip) korrespondiert. 4. Normative Substanz Unbelassen der zentralen Bedeutung von V. im Rahmen demokrat. Staatsorganisation, die sich in einem langen histor. Prozeß vom -> Standestaat über den Konstitutionalismus des 19. Jhd., den Semiparlamentarismus der —» Weimarer Republik und dann gegen den -» Totalitarismus des -> Nationalsozialismus schließlich in der BRD durchgesetzt hat, darf die normative Substanz von V. nicht außer Acht gelassen werden, auf die v.a. der Philosoph H. Jonas 1979 in seinem vielbeachteten Buch „Das Prinzip Verantwortung" angesichts der Risiken der technologischen Moderne aufmerksam gemacht hat. Im Grunde trägt nämlich jede gestaltende Maßnahme dazu 932
Verantwortlichkeit bei, eine soziale Wirklichkeit zu konstituieren, die auf Bedürfhisse und Interessen, Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten vorgreift, diese erweitern oder auch einschränken kann. Gestaltungspoteniale und Interaktionen der verschiedenen Akteure im polit, und gesellschaftl. Raum erzeugen v.a. in Hinblick auf die Folgen technologischer Entwicklungen für Mensch und Umwelt (—> u.a. Gentechnik, -> Atomrecht - * Umweltschutz), —> Globalisierung und europ. Integration eine zunehmend komplexer werdende staatl. Gesetzgebungs- und Verordnungspraxis bei gleichzeitiger Transformation nationaler Souveränitätsrechte auf Organe der —> Europäischen Union. Damit hat die Frage nach der konkreten Zuordnung von polit. V. schon längst eine neue Qualität gewonnen, zumal Prognosesorgfalt und Vorausschau mit besonderem Augenmerk auf die mögliche Irreversibilität von Entscheidungen und der Tragweite ihrer Risiken gefordert sind (s.a. -> Prävention, —> Vorsorge, -> Nachhaltigkeit). Lit: Κ. Bayern (Hg.): Verantwortung, Darmstadt 1995; H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 7 1987; N. Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt/M. 3 1983; P. Saladin: Verantwortung als Staatsprinzip, Bern 1984; ders.: Wozu noch Staaten?, Bern 1995; W. Schulz: Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972.
Gerlinde Sommer Verantwortlichkeit 1. V. ist eine Kernnorm polit. Handelns und der —» Legitimität polit. Systeme. Sie bedarf der Institutionalisierung, die mindestens ein Gegenüber von rechenschaftspflichtigen Amtsinhabern einerseits verbürgt, von Adressaten der Rechenschaftspflicht andererseits, die über Sanktionen bei Verletzung polit. V. verfügen. Wo einzelne Personen oder eine Gruppe ein Entscheidungsmonopol für sich beanspruchen (absolute Monarchie; autoritäre und totalitäre Regime, -> Totalitarismus) und zugleich „volle V. vor der Welt und gegenüber allen folgenden Generationen" (Ludwig
Verantwortlichkeit XIV.) filr alles Handeln und Unterlassen in ihrem Herrschaftsbereich übernehmen, kann von polit. V. nicht gesprochen werden. Sie wird zur Fiktion, weil weder „Welt", (Welt-)Geschichte noch alle folgenden Generationen als Adressaten der Rechenschaftspflicht, die Sanktionen für unverantwortliche Politik verhängen können, in Frage kommen. Adressaten der Rechenschaftspflicht von polit. Verantwortlichen sind stets gewählte Vertreter der wahlberechtigten Bevölkerung eines Landes, die -> Öffentlichkeit oder der Souverän bzw. das —> Volk in seiner Gesamtheit. Die Sanktionen hängen von der Art der Verletzung polit. V. ab: Ahndung durch öffentl. Kritik ohne Verlust des —> Amtes (punishment by publicity) ist unter allen Möglichkeiten die mildeste; Amtsenthebung (konstruktives - » Mißtrauensvotum; Mandatsverlust) die schwerer wiegenden Sanktionsformen (Präsidentenklage: -> impeachment). Letzte Mittel polit. Sanktionen gegenüber unverantwortlichen (Willkür-)Herrschern sind -> Widerstandsrecht und Tyrannenmord. Festzuhalten ist: Ohne wirksame Sanktionsmöglichkeiten läuft Rechenschaftspflicht polit, ins Leere. 2. Die Kemnorm polit. V. setzt voraus, daß auf einzelnen Ebenen einer V.-Hierarchie Umfang der V. und —> Kompetenz klar bestimmt und begrenzt sind. Erst dann ist polit. V. institutionell und personell zurechenbar. Wo diese Voraussetzung fehlt, ist V. faktisch nicht existent. Das bedeutet, daß Institutionalisierung von V. Personalisierung einschließt. Die Bildung von Kommissionen behindert oft klare Zurechenbarkeit von polit. V., je größer die Zahl ihrer Mitglieder ist. Deshalb sind sie vielfach als Schleier kritisiert worden, die es ihren Mitgliedern ermöglichen, sich ihrer V. zu entziehen. Auf Seiten der Regierenden erfordert V. selbständige Entscheidungsbefugnisse. Wo diese fehlen (z.B. -> imperatives Mandat), werden Politiker zu fremdbestimmten Vollzugsorganen eines wandelbaren Mehrheitswillens (—> Mehrheitsprinzip). Eine rationale
Verantwortlichkeit Verantwortungssituation setzt insofern relative und zeitlich befristete Bürgerfeme (freies -> Mandat; Dauer von Amtsperioden) voraus. Denn verantwortliches Handeln verlangt polit. Entscheidungen im Hinblick auf unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten unter der Voraussetzung relativer und nur unvollständiger Information. Wenngleich polit, verantwortliches Handeln inhaltlich an —> Grundrechte und -werte gebunden ist, so erschöpft sie sich nicht in Subsumtion unter vorgegebene Normen. Vielmehr sind bei Inanspruchnahme wissenschaftl. fundierter Politikberatung konkurrierende Entscheidungsoptionen zu berücksichtigen. Die unter Abwägung aller Gesichtspunkte und öffentl. Kritik schließlich getroffene Wahl kann dennoch in der Wählerschaft umstritten und unpopulär sein. Da polit. V. Fähigkeit und Bereitschaft zu polit. —> Führung einschließt, und damit grundlegende Voraussetzung von V. ist, muß eine Regierung sich dem Risiko der Unpopularität stellen, soll V. nicht zu einer Leerformel werden. 3. Die polit. Kosten unpopulärer Entscheidungen können und sollen durch das Gegengewicht zur relativen Bürgerferne, nämlich Responsivität verringert werden, wenngleich sie nicht zu vermeiden sind. Responsivität ist die Pflicht der Amtsinhaber gegenüber den Bürgern während der —> Legislaturperiode zu berichten, ihre mittelfristigen Ziele auf Wahlkreisebene, in gedruckten und elektronischen —> Medien darzulegen und zur Diskussion zu stellen; auf Gegenvorschläge, Anregungen und Kritik zu reagieren. Durch Responsivität wird Bürgemähe realisiert. Voraussetzung hierfür sind freilich Interesse und Informiertheit der —> Bürger (Bürgerkompetenz). Fehlen beide, so ist das polit. System um die zivile Triebkraft gebracht, derer es seiner Funktionsfähigkeit halber bedarf. 4. Ein weiteres Problem der Realisierung polit. V. erwächst aus Versuchen, V.Träger auf unterschiedlichen Ebenen einer V.-Hierarchie zu umgehen: Sie es durch
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Verantwortlichkeit Einflußnahme auf übergeordnete (oder konkurrierende) Instanzen. Auch die Erklärung anstehender Personal- oder Sachentscheidungen zur „Chefsache" in einer —> Kanzlerdemokratie bzw. einem Premierministersystem, ist eine Durchbrechung personeller und institutioneller V.; dieser Durchbrechung erfolgreich entgegenzuwirken, setzt nicht allein persönliche Integrität und Zivilcourage eines polit, verantwortlichen Amtsinhabers voraus, sondern gleichermaßen Rückhalt in der -> Fraktion, im —> Kabinett wie der eigenen —> Partei und der Öffentlichkeit. Fehlen diese Voraussetzungen, liegt ein Rücktritt vom Amt nahe. Vor einer Flucht aus polit. V. wird man dann sprechen müssen, wenn -> Regierung und —• Opposition die V. auf eine andere Ebene verlagern z.B. durch Anrufung des —> Bundesverfassungsgerichts. Dies gilt für innenpolit. Reformvorhaben ebenso wie für außen- und sicherheitspolit. Fragen (Ostpolitik, Beteiligung an friedenschaffenden Maßnahmen der -> WEU und der —> NATO). In vergleichbaren Fällen praktiziert der amerik. -> Supreme Court i.d.R. Selbstzurückhaltung (iudicial selfrestraint). 5. Wenn schon im nationalstaatl. Rahmen Institutionalisierung und Durchsetzung polit. Schwierigkeiten begegnen, so gilt dies um so mehr für die supranationale Ebene eines Staatenverbundes wie der -> Europäischen Union. Ein lückenloses Netzwerk polit. V. läßt sich aus einer Vielfalt von Gründen auf unabsehbare Zeit nicht institutionell umsetzen. Eine in diese Richtung gehende polit. Erwartung hat auch in den Anfangen des Integrationsprozesses nicht bestanden. Erst das Zusammentreffen von Vertiefung und Osterweiterung hat verstärkt Klagen über eine unresponsive Eurokratie geführt. Die viel beklagte ÖfTentlichkeitsscheu von —> Ministerrat und -> Europäischer Kommission bei gleichzeitig verstärkten Anstrengungen, das Image der -> EWG bzw. EU durch gezielte Public-Relations-Kampagnen zu verbessern, sind Kristallisations-
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Verband keme der Kritik am Verlauf des Integrationsprozesses. Ein von Kommissionspräsident Jacques Delors 1993 angekündigter „Kreuzzug für die Demokratie" auf supranationaler Ebene hat durchgreifende Reformen bisher nicht bewirkt und nicht bewirken können. Denn die EU gilt sowohl in ihrer gegenwärtigen und mehr noch in ihrer zukünftigen Form (15+N Mitgliedstaaten) weithin als strukturell demokratieunfähig. Vor allem Ökonom, und soziale Heterogenität, Sprachenvielfalt, welche die Entstehung einer Kommunikationsgemeinschaft d.h. einer europ. Öffentlichkeit als Voraussetzimg von Demokratiefähigkeit gewährleistet, ist ebenso polit. Desiderat wie ein europ. „Wir"-Bewußtsein als Grundlage eines belastbaren Gemeinsinns, der fallige Lastenumverteilungen polit, mittragen könnte. Das vertraute Leitbild der repräsentativen -> Demokratie mit lückenloser polit. V. ist mithin ein unangemessener Maßstab für ein Mehrebenensystem supranationaler Art. Deshalb wird zu Recht nach adäquateren Leitbildern, nämlich nach einer normativen Theorie der polit. V. gefragt, die diesem polit. Gebilde eigener Art angemessen wäre. So dringlich die Frage ist, eine Antwort auf die Herausforderung an die Politikwissenschaft, die sie bedeutet, ist derzeit nirgendwo in Sicht. Vielleicht wird die Antwort aus der Praxis des „europ. Sysiphus" erwachsen (—>· s.a. Ministerverantwortlichkeit). Lit.: A.-H. Birch: Representative and responsible government, London 1972; C. J. Friedrich (ed.): Responsibility, New York 1960; E.-J. Lampe (Hg.): Verantwortlichkeit und Recht, Opladen 1989; H. Mandl: Politik in der Demokratie, Baden-Baden 1998; G. Sommer: Institutionelle Verantwortung, München 1997.
Hella Mandt Verband / Verbände V.e sind nichtstaatl. Vereinigungen, die wirtschaftl., soziale, kulturelle, egoistische oder altruistische —> Interessen ihrer Mitglieder wahrnehmen. Sie wenden sich gegen widerstrei-
Verband tende Interessen, auch an die -»• öffentliche Meinung und suchen v.a. Träger der öffentl. Gewalt, -» Parlamente, —>• Regierung, -> Verwaltung und —> Parteien zu beeinflussen. Die Möglichkeiten der Einflußnahme erstrecken sich auf vielfältige Formen wie u.a. die Mobilisierung der öffentl. Meinung, polit. Streik und Boykott, personelle Durchdringung von Parteien und Parlamenten, den Entzug von polit, und finanzieller Unterstützung. Das -> Grundgesetz läßt die V.e unerwähnt. Im Unterschied zu den polit. Parteien wird den V.en im GG auch kein Anteil an der polit. —> Willensbildung eingeräumt. Infolgedessen fehlen auch verfassungsrechtl. Anforderungen an ihre innere Ordnung. Das eigentliche Recht der Vereinigung ist im —» BGB geregelt. Der übergreifende Rechtsbegriff ist dort der —> Verein, der auch V.e mit umfaßt. V.e sind Bestandteil des polit. Systems und fungieren neben den Parteien als wichtigste Vermittlungsinstanz zwischen —> Bürger und —> Staat: Sie verschaffen dem Staat wichtige Informationen über gesellschaftl. Interessen und Auswirkungen staatl. Maßnahmen und bieten zusätzliche Kommunikationswege für die Verfolgung spezieller Interessen. Zudem verschaffen sie staatl. Maßnahmen Akzeptanz, wenn die Interessen der Verbandsmitglieder in die Entscheidung eingegangen sind. Die Zahl der offiziell in Dtld. registrierten V.e hat sich in den letzten 25 Jahren auf über 1.600 nahezu verdreifacht. Die Zusammensetzung des V.spektrums hat sich dabei deutlich gewandelt. Insbes. Sozial- und Kulturverbände sowie Gruppen, die sich der Bekämpfung gesellschaftsbedrohender Risiken verschrieben haben, sind in diesem Zeitraum überproportional gewachsen. Eine umfassende Typologie der V.e kann nach gesellschaftl. Handhingsfeldem vorgenommen werden: —> Wirtschaft (z.B. —> Gewerkschaften, -> Arbeitgeberverbände, Kammern), soziales Leben und Gesundheit (z.B. Wohlfahrtsverbände, Seniorenvereine), Freizeit und Erholung (z.B.
Verband Sportverbände, Motorclubs), Religion, Weltanschauung und gesellschaftl. Engagement (z.B. —> Kirchen, Umwelt- und Naturschutzverbände), Kultur, Bildung und Wissenschaft (z.B. Weiterbildung, Denkmalschutz). Zahlreiche Spitzenverbände sind nur als Dachverbände auf nationaler Ebene tätig; die eigentliche Mitgliedschaft besteht aus Einzelverbänden. Die Zentralisierung von Kompetenz bei der —> EU läßt die Bedeutung nationaler V.e insg. schrumpfen, diese entwikkeln zunehmend eigene europ. Organisationsformen. Die Formalisierung der Anhörungs- und Beteiligungsrechte muß auf europ. Ebene aber noch vollzogen werden. Als Großorganisationen treten viele V. heute mit einem Bündel von Zielen, Zwecken und bürokratischer Verwaltung ihren Mitgliedern als selbständige Macht entgegen, mit der eine Identifikation nicht durchweg möglich ist. Den einzelnen Mitgliedern bleibt als Reaktion auf Schwächen ihrer Organisation meist nur die Wahl zwischen Widerspruch oder Abwanderung. Eine unübersehbare Tendenz insbes. bei Großorganisationen wie den Gewerkschaften ist die Zunahme von regionaler Autonomie durch die Dezentralisierung von Absprachen zwischen den Interessenvertretern. Grds. werden sich v.a. die großen V.e an diese Entwicklungen anpassen müssen, indem sie die Bedürfnisse ihrer Mitglieder ernster nehmen, ihnen mehr Mitsprache einräumen und mehr Serviceleistungen anbieten. In der Praxis zeigen sich indes auch Probleme des V. seinflusses, die dem pluralistischen Idealbild eines sich aus dem freien Spiel der gesellschaftl. Kräfte von selbst ergebenden Interessenausgleichs entgegenstehen (-> Pluralismus). Zunächst besitzen widerstreitende organisierte Interessen nicht immer die gleiche Stärke. Außerdem verfügen nicht alle partikularen Interessen über dasselbe Maß an Organisations- und Konfliktfähigkeit. Darüber hinaus nehmen als Folge stark erweiterter -> Staatsaufgaben und des damit zusammenhängenden
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Verbrauchsteuer
Verband Wandels im Verhältnis von Staat und —» Gesellschaft die V.e in wachsendem Umfang an staatl. Entscheidungen direkt teil und gelangen auf diese Weise selbst in den Besitz öffentl. Gewalt. Damit gibt es Teilhaber an polit. Entscheidungen, die nicht in den Legitimations- und Verantwortungszusammenhang einbezogen sind, dem die Verfassung die staatl. Entscheidungsträger unterwirft. Die Folge ist ein Schutzdefizit auf Seiten der Nichtbeteiligten, und zwar sowohl der ausgeschlossenen Staatsorgane als auch der übergangenen gesellschaftl. Gruppen. Dieser quasi öffentl. Status der V.e ist somit strukturell bedingt und daher nicht ohne weiteres umkehrbar. Radikale Lösungen wie die strikte Trennung von Staat und Wirtschaft oder die konsequente Verstaatlichung wichtiger wirtschaftspolit. Funktionen sind aus verfassungsrechtl. und v a. polit. Gründen unmöglich. Eine stärkere V.sdemokratisierung würde noch nicht das V.sproblem lösen. Eine Konstitutionalisierung der V.e, ähnlich den Parteien, würde die Grenze zwischen sektoraler und allgemeiner Entscheidungsteilhabe auflösen und somit das Demokratieproblem verschärfen. Zunehmend diskutiert wird in diesem Zusammenhang das Prinzip der -> Subsidiarität. Danach soll die größere Einheit wie z.B. der Staat nur diejenigen Aufgaben hilfsweise übernehmen, die von den kleinsten Einheiten (Familie, Gruppen, V.e) nicht bewältigt werden können. Dies würde bedeuten, daß die V.e mehr Raum zur Entfaltung und Hilfe zur Selbsthilfe erhielten (s.a. —> Neokorporatismus). Lit. : U. v. Alemann: Organisierte Interessen in der BRD, Opladen 1987; HdbVerfR, S. 657ff; R. Mayntz (Hg.): Verbände zwischen Mitgliederinteressen und Gemeinwohl, Gütersloh 1992; B. Reichert / F. van Look: Handbuch des Vereins· und Verbandsrechts, Neuwied 6 1995; M. Sebald!: Organisierter Pluralismus, Opladen 1997; W. Slreeck (Hg.): Staat und Verbände, Opladen 1994.
Ulrich Niemann
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Verband Deutscher Bürgervereine e.V. ist der 1955 gegründete Dachverband regionaler und kommunaler Bürgervereine in der BRD mit Sitz in Bremen. Zu seinem Aufgabenkreis gehört die Koordinierung der Arbeit der angeschlossenen -> Verbände und -> Vereine. Darüberhinaus vertritt der Verband die Interessen der Bürger gegenüber Bundestag und Bundesregierung insb. auf den Gebieten Sicherheit, Verkehrsplanung, Lärm und Umweltschutz, Fragen des gesunden Wohnens und Bauen, Wirtschafts- und Finanzpolitik, sozialen Fragen sowie Schul-, Kultur- und Bildungsfragen. Hg. Verbandsgemeinde bände
Kommunalver-
Verbandsklage - » Popularklage Verbrauchsteuer Die V.n belasten den Konsum gesetzlich ausgewählter, verbrauchsfähiger Waren (Warensteuern). Die Belastungsentscheidung trifft speziellen Konsum, insbes. Alkoholika, Mineralöl und Tabak, hebt diese besonderen V.n von der —> Umsatzsteuer ab, die nach ihrer Belastungswirkung als allgemeine V. erscheint. Wie die Aufwandsteuer auf die Innehabung bestimmter Gegenstände, z.B. die Hundesteuer, zeichnet sich die V. durch ihre Objektbezogenheit aus; sie nimmt keine Rücksicht auf die persönlichen Verhältnisse der Konsumenten. Sie ist eine Vermögensverwendungssteuer, knüpft an die objektive Zahlungsfähigkeit des Verbrauchers die Vermutung seiner wirtschaftl. Leistungsfähigkeit. Die V. entsteht mit dem Übergang einer belasteten Ware aus dem Steuerlager in den ungebundenen Verkehr: Steuerschuldner ist der Produzent, Händler oder Importeur, der die Ware aus dem Herstellungsbetrieb oder der Lagerstätte entfernt oder zum Eigenverbrauch entnimmt. Doch gibt er die Steuerlast über den Preis an den Konsumenten weiter. Infolge dieser Abwälzbarkeit gilt: Steuerträger ist der Verbrau-
Verein
Verbrauchsteuer cher. Der Steuertarif bestimmt sich nach einem mengenbezogenen Bemessungsmaßstab, z.B. Kaffeesteuer „bei einer Ware, die mehr als 100 bis 300 Gramm Röstkaffee je Kilogramm enthält, 0,85 Dt. Mark je Kilogramm der Ware" (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 KaffeeStG). Der Ertrag aus den V.n fließt dem -> Bund zu (Bundessteuern), ausgenommen aus traditionellen Gründen die den —> Ländern vorbehaltene Biersteuer sowie die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, deren Aufkommen den —> Gemeinden zusteht (z.B. Getränkesteuer beim „Verzehr an Ort und Stelle"). Die gesetzliche Ausgestaltung des V.rechts beruht seit 1993 auf der V.harmonisierung im EG-Binnenmarkt auf der Grundlage von Art. 93 EGV. Die V.gesetze verweisen zur Bestimmung der Steuerobjekte i.d.R. auf die Kombinierte Nomenklatur, die Warennomenklatur des europ. Zollkodex (—> s.a. GATT); die Steuern auf Salz, Zucker, Leuchtmittel und Tee sind im Zuge der Harmonisierung abgeschafft worden. Steuerpolit., aber auch verfassungsrechtl. Rechtfertigungsprobleme ergeben sich daraus, daß die V. dem Konsumenten Sonderlasten auferlegt, welche die Umsatzsteuerbelastung noch einmal verstärken. Als besonderer Rechtfertigungsgrund lassen sich prohibitive Wirkungen ins Feld führen, die Beschränkung von Konsum mit gesundheits- oder sozialschädlichen Folgen (passives Rauchen, Kosteneffekte im Gesundheitswesen). Jedoch muß die Abgabe objektiv auch auf die Erzielung von Einnahmen angelegt sein (Finanzierungsfunktion der -> Steuern) und überhaupt ein Leistungsfähigkeit indizierender Verbrauch stattfinden (Problem der kommunalen Verpackungssteuer). Mit der Rechtfertigung der Mineralölsteuer als Ausgleich für die Inanspruchnahme öffentl. Verkehrseinrichtungen drängt der - dem Steuerbegriff fremde - Äquivalenzgedanke in das V.recht. Lit: Κ. H. Friauf: Komunale Steuern auf Einwegverpackungen, in: GewArch 1996, S. 265ffi; D. Müller: Struktur, Entwicklung und Begriff der
Verbrauchsteuern, Berlin 1997.
Ulrich Hufeid Verdienstorden -> Bundesverdienstorden Verein I. Der V. im bürgert. Recht Ein V. i.S. des - » BGB ist ein auf Dauer angelegter, körperschaftlich organisierter Zusammenschluß mehrerer Personen, die einen gemeinsamen Zweck verfolgen. Dabei äußert sich die körperschaftliche Organisation in einem einheitlichen Namen, in der Vertretung durch einen Vorstand und in der Unabhängigkeit vom Wechsel der Mitglieder. Der V. i.S.d. BGB ist rechtsfähig (§§ 21-53 BGB) oder nichtrechtsfähig (§ 54 BGB), wirtschaftl. V. (§ 22) oder nichtwirtschaftl., sog. Idealverein (§ 21 BGB). 1. Der rechtsfähige V. (r.V.) als Grundtyp der —» juristischen Person des —> Privatrechts setzt einen Gründungsvertrag zwischen den künftigen Mitgliedern voraus. Er muß bereits die Verfassung des zukünftigen V., insbes. also die —* Satzung enthalten. Ist der Geschäftsbetrieb eines V. auf wirtschaftl. Tätigkeit mit Gewinnerzielungsabsicht gerichtet, so erlangt er, sofern keine Sondervorschriften eingreifen (wie für die Aktiengesellschaft, die GmbH bzw. die —> Genossenschaft), die —» Rechtsfähigkeit durch staatl. Verleihung (Konzession-System, § 22 BGB). Nicht wirtschaftl. V.e (sog. Idealvereine) werden rechtsfähig durch Eintragung in das V.sregister des nach dem Sitz des V.s zuständigen Amtsgerichts (NormativSystem, §§ 21, 55ff. BGB). Ein Idealverein soll nur eingetragen werden wenn mindestens 7 Mitglieder vorhanden sind, eine schriftliche Satzung mit einem vorgeschriebenen Mindestinhalt (über Ein- und Austritt der Mitglieder, Beitragshöhe, Bildung des Vorstands, Berufung der Mitgliederversammlung) vorgelegt wird und die zu unterrichtende Verwaltungsbehörde nicht oder erfolglos Einspruch einlegt. Der Name des V.s erhält mit der Eintragung den Zusatz „eingetragener V." (e. V., § 65 BGB). Die Verfassung eines
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Verein r. V. muß mindestens 2 Organe vorsehen: Mitgliederversammlung und Vorstand. Oberstes Organ des V.s ist regelmäßig die Mitgliederversammlung. Durch ihre Beschlußfassung werden die Angelegenheiten des V.s erledigt, soweit sie nicht dem Vorstand oder einem anderen V.sorgan zugewiesen sind (§ 32 Abs. 1, S. 1 BGB). Zur Gültigkeit eines Beschlusses ist grds. die Zustimmung der Mehrheit der erschienenen Mitglieder erforderlich (§ 32 Abs. 1, S. 3 BGB). Bei einer Satzungsänderung ist eine Mehrheit von 3/4 der erschienenen Mitglieder notwendig, bei Zweckänderung Einstimmigkeit (§ 33 Abs. 1 BGB). Der Vorstand kann aus mehreren Personen bestehen (§ 26 Abs. 1 BGB). Er hat die Stellung eines gesetzlichen Vertreters. Seine gerichtliche und außergerichtliche Vertretungsmacht ist grds. unbeschränkt, kann aber durch die Satzung mit Wirkung gegen Dritte beschränkt werden (§ 26 Abs. 2 BGB). Der Vorstand wird i.d.R. von der Mitgliederversammlung bestellt. Die Bestellung ist grds. jederzeit widerruflich. Auf die Geschäftsführung des Vorstands finden im Innenverhältnis i.d.R. die Vorschriften über den Auftrag (§§ 664 ff. BGB) entsprechende Anwendung (§§ 27, 40 BGB). Die Vertretung nach außen bei mehreren Vorstandsmitgliedern regelt die Satzung; ist gegenüber dem V. eine Willenserklärung abzugeben, so genügt - zwingend - auch bei Gesamtvertretung die Abgabe gegenüber einem einzigen Vorstandsmitglied (passive Vertretung, § 28 Abs. 2 BGB). Die Satzung kann femer neben dem Vorstand anderen Personen für bestimmte Geschäftsbereiche selbständige Leitungsbefugnisse übertragen (sog. verfassungsmäßige Vertreter); ihre Vertretungsmacht erstreckt sich im Zweifel auf alle üblichen Geschäfte des zugewiesenen Geschäftskreises (§ 30 BGB). Im übrigen bestimmt die Satzung die Verfassung des V.; sie kann insbes. Beginn und Ende der Mitgliedschaft regeln. Sie beginnt durch Mitwirkung am Gründungsvertrag, sonst durch (Beitritts-)
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Verein Vertrag zwischen V. und Mitglied. Aus einer überragenden (nicht zwingend monopolartigen) Machtstellung des V. im wirtschaftl. oder sozialen Bereich kann sich ggf. ein Aufhahmeanspruch ergeben (Kontrahierungszwang). Die Mitgliedschaft endet, solange der V. weiter besteht, durch - jederzeit oder nur in bestimmter Frist möglichen — Austritt (§ 39 BGB). Die Satzung kann auch Bestimmungen über V.smaßnahmen („Vereinsstrafen") gegen Mitglieder wegen Verletzung von V.spflichten enthalten. Der Ordnungsgewalt des V. unterliegt auch die Regelung des Ausschlusses von Mitgliedern. Der V. haftet für jeden Schaden, den der Vorstand, ein Vorstandsmitglied oder ein anderer verfassungsmäßig berufener Vertreter durch eine in Ausführung der ihm zustehenden Verrichtungen begangene, zum Schadensersatz verpflichtende Handlung einem Dritten zufügt (§ 31 BGB). Dem V. steht auch bei deliktischer Haftung - anders als sonst bei Haftung aus § 831 BGB - nicht die Möglichkeit des Entlastungsbeweises zu. Die Bedeutung der V.haftung liegt insbes. darin, daß ihre Grundsätze für alle jurist. Personen des Privatrechts (insbes. AG, GmbH, Genossenschaft) gelten, darüber hinaus nach ständiger Rsprechung auch für die oHG und die KG, obwohl diese keine jurist. Personen sind, sowie kraft ausdrücklicher Verweisung (§ 89 BGB) für die Haftung der jurist. Personen des - * öffentlichen Rechts, soweit diese privatrechtl. handeln. Die Rechtsfähigkeit des V. endet durch Eröffnung des Konkursverfahrens wegen Überschuldung (§ 42 BGB) sowie bei Entziehung durch die Verwaltungsbehörde (§§ 43f. BGB). Der V. wird ferner beendet durch Zeitablauf (§ 74 BGB), Selbstauflösung (§ 41 BGB) sowie bei Fortfall aller Mitglieder. Sinkt beim Idealverein die Mitgliederzahl unter 3 ab, so hat das Amtsgericht auf Antrag des Vorstands oder nach 3 Monaten von Amts wegen die Rechtsfähigkeit zu entziehen (§ 73 BGB). Nach der Auflösung muß, so-
Verein fem das Vermögen nicht an den Fiskus fällt, die Liquidation stattfinden (§§ 47ff. BGB). 2. Auf den nicht rechtsfähigen Verein (n.r.V.) finden die Vorschriften über die Gesellschaft bürgerl. Rechts Anwendung (§ 54, S. 1 BGB). Wegen der körperschaftlichen Organisation (Vorstand, Mitgliederversammlung, Name, Zweck, Dauer, Unabhängigkeit von Eintritt und Austritt der Mitglieder) passen jedoch viele Regeln des —> Gesellschaftsrechts nicht. Die Rechtsprechung wendet daher auch auf den n.r.V. weitgehend das Recht des rechtsfähigen V. an, soweit dieses nicht ausdrücklich auf die Rechtsfähigkeit abstellt. Der n.r.V. ist daher nicht aktiv klagebefugt (anders § 10 ArbGG), immer aber verklagbar, d.h. passiv parteifähig (§ 50 Abs. 2 ZPO). Aus einem Rechtsgeschäft, das für den n.r.V. abgeschlossen wird, haftet zunächst der Handelnde persönlich (mehrere als Gesamtschuldner, § 54, S. 2 BGB). Die Mitglieder des n.r.V. haften für Vertragsschulden als Gesamtschuldner (§ 427 BGB) und für ein Verschulden des Vorstands über § 278 BGB (Erfüllungsgehilfe), für eine unerlaubte Handlung dagegen nur über § 831 des BGB mit der Möglichkeit des Entlastungsbeweises. Diese Haftung der Mitglieder, die an sich - mangels Rechtsfähigkeit des n.r.V. - auch deren Privatvermögen betrifft, wird bei Vertragsschulden oftmals - auch stillschweigend - auf eine Haftung mit dem Anteil am Vereinsvermögen beschränkt sein. II. Der Verein im öffentl. Recht Nach § 2 Abs. 1 VereinsG handelt es sich bei einem V. ohne Rücksicht auf die Rechtsform um jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder jurist. Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisatorischen Willensbildung unterworfen haben. Keine V.e i.S. des VereinsG sind polit. -> Parteien i.S. des Art. 21 GG, -> Fraktionen des -> Deutschen Bundestages und der - » Landesparlamente sowie Religionsge-
Vereinigungsfreiheit meinschaften und weltanschauliche Vereinigungen i.S. des Art. 140 GG i.V. mit Art. 137 WRV (§ 2 Abs. 2 VereinsG). Im Unterschied zum V. im bürgerl. Recht fallen weder der Gesamtname noch die Mehrorganschaft noch die Unabhängigkeit von der Person der Mitglieder ins Gewicht. So ist zwar jeder Verein i.S. des BGB, der mehr als 2 Mitglieder hat, zugleich V. i.S. des öffentl. V.srechts, nicht jedoch umgekehrt auch jeder V. i.S. des öffentl. V.srechts zugleich V. i.S. des BGB. Das VereinsG regelt das Verbot von V.en, deren Zwecke oder Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten (§§ 3ff. VereinsG). Weitergehende Verbotsmöglichkeiten bestehen gegenüber Ausländervereinen und ausländischen V.en (§§ 14f. VereinsG). Mit dem Verbot ist i.d.R. die Beschlagnahme und die Einziehung des V.Vermögens verbunden (§§ 3, lOff. VereinsG). Lit. : MKI vor § 21 - § 79; R. Märkte: Der Verein im Zivil- und Steuerrecht, Stuttgart ®1995; E. Sauter (Hg.): Der eingetragene Verein, München "1997.
Jörg Ukrow Vereinigte Staaten von Amerika —> Verfassung der USA Vereinigungsfreiheit Die V., d.h. das Recht, —> Vereine und —> Gesellschaften zu bilden, ist als sog. Deutschen-Grundrecht in Art. 9 Abs. 1 GG verfassungsrechtl. verankert. Die V. bezieht sich vom Schutzbereich her auf jeden freiwilligen, privatrechtl. Zusammenschluß einer Personenmehrheit mit einer gewissen organisatorischen Festigkeit, der einem gemeinsamen (polit., sportlichen, kulturellen oder sonstigen) Zweck dient. Diese V. umfaßt namentlich auch das Grundrecht, sich zu polit. -> Parteien zusammenzuschließen; die verfassungsrechtl. Stellung der Parteien bestimmt sich nach Art. 21 GG und dem -> Parteiengesetz. Art. 9 Abs. 3 GG als sog. Jedermann939
Vereinigungsfreiheit Grundrecht schützt als Sonderfall der allgemeinen V. die sog. Koalitionsfreiheit, d.h. das Recht, Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu bilden. Solche —> Koalitionen sind die Berufsverbände der Arbeitnehmer und Arbeitgeber (-> Gewerkschaften und —> Arbeitgeberverbände) einschließl. ihrer Spitzenorganisationen (DGB und BDA). Die allgemeine V. und die Koalitionsfreiheit umfassen beide zum einen ein individuelles Freiheitsrecht zur Bildung von, zum Beitritt zu sowie zur Betätigung innerhalb von Vereinigungen (sog. positive V.) sowie zum Fembleiben von und Austritt aus Vereinigungen (sog. negative V.; deren Schutzbereich umfaßt nach h.M. nicht das Fernbleiben von öfTentl.-rechtl. Zwangsvereinigungen wie z.B. -> Industrie- und Handelskammern; insoweit ist Art. 2 Abs. 1 GG grundrechtl. Maßstabsnorm). Zum anderen erfassen allgemeine V. und Koalitionsfreiheit ein kollektives Freiheitsrecht der Vereinigungen selbst, das die Existenz und Funktionsfähigkeit der Vereinigungen umfaßt. Art. 9 Abs. 3 GG enthält darüber hinaus die Institutsgarantie des Kernbestandes eines Tarifvertragssystems. Art. 9 Abs. 3 GG schützt nicht nur vor staatl. Eingriffen, sondern entfaltet unmittelbare Drittwirkung auch gegenüber Beeinträchtigungen durch Private. Der Hinweis in Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, wonach Abreden, welche die Koalitionsfreiheit einzuschränken oder zu behindern suchen, nichtig und darauf gerichtete Maßnahmern rechtswidrig sind, bezieht sich auf alle privat- oder arbeitsrechtl. Vereinbarungen einschließl. der Tarifverträge. Die allgemeine V. des Art. 9 Abs. 1 steht nicht unter —> Gesetzesvorbehalt; Art. 9 Abs. 2 GG rechtfertigt aber das Verbot von Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten (vgl. auch §§ 3ff. VereinsG). Im übrigen kann sich eine Rechtfertigung von
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Vereinte Nationen Eingriffen in die V. aus kollidierendem —» Verfassungsrecht ergeben. Weitergehende Eingriffsrechte bestehen im Zusammenhang mit der V. von Ausländern, die durch die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützt ist. Völkerrechtl. sind die V. und Koalitionsfreiheit in Art. 11 —> Europäische Menschenrechtskonvention und in Art. 22 des Internationalen Pakts über bürgerl. und polit. Rechte v. 19.12.1966 (BGBl. 1973 Π S. 1354) sowie in Art. 8 des Internationalen Pakts über wirtschaftl., soziale und kulturelle Rechte v. 19.12.1966 (BGBl. 1973 Π S. 1570) geschützt (-> Menschenrechte). Lit: BVerfGE 60, 290 - Mitbestimmungsurteil; HdbStR VI, §§ 144, 151; N. Nolte/M. Planker: Vereinigungsfreiheit und Vereinsbetätigung, in: Jura 1993, S. 635ff ; B. Reichert / F. van Look: Handbuch des Vereins- und Verbandrechts, Neuwied 61995.
Jörg Ukrow Vereinsregister —> Verein Vereinte Nationen Die VN wurden unter dem Eindruck des Π. Weltkrieges am 26.6.1945 in San Francisco mit Unterzeichnung ihrer Charter durch 49 Länder gegründet. Völkerrechtl. gesehen ist die Charta ein internationaler Vertrag, der aber auch Züge einer -> Verfassung aufweist. Wichtigste Ziele sind die Erhaltung des —> Friedens, die Wahrung der -> Menschenrechte und die wirtschaftl. und soziale Entwicklung. Hauptorgane sind die Generalversammlung, der Sicherheitsrat, der Wirtschafts- und Sozialrat, der Internationale Gerichtshof und das Sekretariat. Seit der Unabhängigkeit des letzten Treuhandgebietes (1994) ruht die Arbeit des Treuhandrates. Die beiden dt. Staaten wurden zeitgleich im Jahre 1973 durch Beschluss der Generalversammlung in die VN aufgenommen. Der späte Beitritt hatte dtld.polit. Gründe. So hätte eine frühere Aufnahme der BRD auch die der DDR und damit deren internationale Anerkennung zur Folge gehabt. Daher war
Verfassung
Verfassung dieser Schritt erst mit der Ostpolitik der Ära Brandt möglich. Im —> Deutschen Bundestag beschäftigt sich ein Unterausschuß VN und Internationale Organisationen des —• Auswärtigen Ausschusses mit der Weltorganisation. In jüngster Zeit steht eine Reform der VN im Mittelpunkt einer Diskussion um ihre Zukunft. Der im Dezember 1996 gewählte Generalsekretär, Kofi Annan, hat diese zu seinem Programm erklärt. Reform zielt dabei nicht nur auf eine effiziente Organisation ab, sondern auf grundlegende Veränderungen in den Hauptorganen. So gilt es als sicher, daß Dtld. und Japan als ständige Mitglieder in den Sicherheitsrat aufgenommen werden. Bestrebungen von Nicht-Regierungsorganisationen, etwa der Weltparlamentarierkonferenz, auf eine —» Demokratisierung oder -> Parlamentarisierung der VN dürften hingegen wenig Aussicht auf Erfolg haben. Lit: Charta der Vereinten Nationen und Statut des Internationalen Gerichtshofs, Genf 1983; E.O. Czempiel: Die Reform der UNO, München 1994.
Dieter König Verfassung Der Begriff V. bezeichnet in einem allgemeinen Sinne die innere Ordnung und den Zustand einer dauerhaften sozialen Vereinigung, im Staatsrecht!. Sinne kennzeichnet er die besondere Rechtsform der polit. Grundordnung eines -> Staates. Diese Grundordnung kann in einer V.surkunde niedergelegt sein (z.B. Belgien, Frankreich, BRD) oder im Zusammenhang mehrerer grundlegender Staatsgesetze - V.sgesetze - (Großbritannien) bestehen. Neuzeitliche V.sgesetze sind das Ergebnis polit. Auseinandersetzungen. In einer V. kommen die in einer -> Gesellschaft vorherrschenden Strukturen, Interessen und Werthaltungen zum Ausdruck. Ihrer Funktion nach zielen V.sgesetze auf die Konstitution der - * Staatsgewalt und ihre Bindung durch Festlegung von Verfahren der Herrschaftsausübung (wie Bildung von Regie-
rungen, Gesetzgebung und Ausführung von Gesetzen), judizielle Kontrolle der Staatsgewalt sowie die Bestimmung des rechtl. und damit polit.-gesell schaftl. Status einzelner oder gesellschaftl. Vereinigungen im und gegenüber dem Staat. Unterschiede im Staatsverständnis sind für die Funktion einer V. von zentraler Bedeutung. Während in den angloamerik. Ländern, aber auch in Frankreich, der StaatsbegrifT gegenüber dem Nationbegriff keine besondere Ausprägung erfährt er ist hier reduziert auf einen personell und räumlich begrenzten Ort polit.-gesellschaftl. Auseinandersetzungen, innerhalb dessen die jeweils vorherrschenden Interessen ihren Ausdruck im Gouvemment (Regierungsgewalt) finden -, trat in Dtld. anstelle des Fürstenstaates der Staat als —> juristische Person, gegliedert in unterschiedliche —> Organe und Organvertreter. Akzeptanz und Konsensfähigkeit einer V. ergeben sich im Ausgleich unterschiedlicher Interessen, in der Abstraktheit und Allgemeinheit ihrer Aussagen, welche unterschiedliche Interpretationen und Identifikationen zulassen, und in der Verbindung von inhaltlichen Festlegungen und Verfahrensregelungen. V.en wirken einheits- und entscheidungsbildend. V.en aufgeklärter —• Demokratien kennzeichnen bestimmte Prinzipien: 1. Volkssouveränität In der Herausbildung des bürgerl. Staates waren es die Ideen der -> Freiheit, Vemünftigkeit und der in der Natur der Menschen begründeten -> Gleichheit der Person, welche die Idee der —> Volkssouveränität und den Anspruch auf parlament. Mitbestimmung durch das Volk, das hieß zunächst durch das Bürgertum, begründeten und legitimierten. Volkssouveränität verbindet sich i.d.R. mit Parlamentssouveränität und dem —> Rechtsstaatsprinzip, welches bedeutet, daß die oberste polit. Gewalt immer in der Form des Gesetzes ausgeübt wird und Eingriffe in Freiheit und -> Eigentum nur auf gesetzlicher Grundlage erfolgen können. 2. Mehrheitsprinzip Die Staatsgewalt wird 941
Verfassung vom Volk in -> Wahlen und -»· Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Die Gesetzgebung ist im -> Grundgesetz als repräsentativ-parlament. Verfahren ausgestaltet. Verbindliche Rechtssetzung als Gesetzgebung kommt als Beschluß einer Parlament. Mehrheit zustande. Das -> Mehrheitsprinzip ist allgemeiner Bestandteil demokrat.-parlament. Verfahren, und es gilt auch, soweit die Aktivbürger mittels -> Volksbegehren oder —» Volksentscheid an der Bestimmung der polit. Ordnung unmittelbar mitwirken. Das Mehrheitsprinzip bedeutet, daß eine Mehrheit von Repräsentanten der Souveränitätsträger die konkrete staatl. Ordnung im Rahmen der V. bestimmen kann. Diese Mehrheit braucht aufgrund von Regelungen des -> Wahlsystems (z.B. —> Verhältniswahlrecht mit Sperrklausel in der BRD, —> Mehrheitswahlrecht in Großbritannien) nicht die Mehrheit der Aktivbürger zu sein. Das Mehrheitsprinzip beinhaltet Befugnisse, welche funktional auf die Herstellung einer verbindlichen Ordnung abzielen oder sich aus der Beherrschung von -> Institutionen herleiten, welche spezifische Leistungen für das Staatssystem erbringen. So beinhaltet es das Recht zur verbindlichen Setzung polit. Entscheidungen im Rahmen der V.sordnung und die Regierungsgewalt (Wahl der Regierung). Diese besitzt wiederum eine Organisationskompetenz für die Ausgestaltung des Verwaltungssystems, soweit es nicht der Gesetzgebung unterliegt, und eine Informationsgewalt (-> s.a. Presseund Informationsamt, polizeiliche Überwachung) sowie ein - häufig eingeschränktes - Verfügungsrecht über das Militär. Die Konstitution der —> Regierung ist in den westlichen V.en unterschiedlich geregelt: Neben -> präsidentiellen Regierungssystemen (—> Verfassung der USA) bestehen Kanzlersysteme (BRD, Großbritannien) und Minister (präsidenten)systeme (-> Italien). V.en enthalten eine Begrenzung der
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Verfassung Mehrheitsgewalt durch a) Verfahrensund Beteiligungsregelungen (mehrstufige Gesetzgebungsverfahren, Bindung von Verordnungsrecht, Anhörungs- und Beratungsverfahren, —• Öffentlichkeit parlament. Beratungen, Zustimmungsbediirftigkeit von Personalentscheidungen; b) Befristung und Rückbindung (Wahlfristen) sowie c) durch eine Überprüfbarkeit von Herrschaftsakten durch V.s- oder Staatsgerichtshöfe; d) Beschränkungen und Kontrolle ergeben sich auch aus der Öffentlichkeitswirksamkeit der Medien und letztlich aus dem verfassungspolit. Grundkonsens. Die Ausübung staatl. -> Herrschaft ist institutionell differenziert. Dies nicht nur in Organe der —• Legislative, -> Exekutive und —> Judikative, sondern i.d.R. auch durch einen föderalen Aufbau des Staates mit eigenen Gesetzgebungs-, Verwaltungsund Rechtsprechungskompetenzen der föderalen Einheiten und in Einrichtungen mit Selbstverwaltungskompetenz (—> Föderalismus, —» Bundesstaat). Zweck solcher Strukturen sind die Gliederung des Staates entsprechend histor. und regionaler Eigenheiten, eine interessennahe polit. Entscheidungsfindung und ein entsprechend aufgabennaher Vollzug sowie Stärkung staatl. Integrationsföhigkeit. Verbindendes Element sind i.d.R. die polit. Parteien. 3. Grundrechte und Menschenrechte Im Spannungsverhältnis zwischen Volkssouveränität und Mehrheitsprinzip stehen die —> Grundrechte. Sie vermitteln Freiheits(und Teilhabe-)ansprüche im und gegenüber dem Staat; sie sichern den polit. Status und schützen —> Minderheiten. Als inhaltliche Bestimmung der polit.-gesellschaftl. Ordnung materialisieren sie die individuelle Rechtsstellung, welche sich aus dem Prinzip der Volkssouveränität ergibt, und binden die Herrschaftsmacht, welche das Mehrheitsprinzip verleiht (z.B. Art. 1 Abs. 3 GG). Die Einhaltung einer V. in der polit. Praxis kann der demokrat. Auseinandersetzung anvertraut sein, wenn ein hinrei-
Verfassung chender, in der Tradition gefestigter Konsens gegeben ist (etwa in Großbritannien). In Staaten, in denen aufgrund ihrer histor., sozioökonom. und soziokulturellen Befindlichkeiten die genannten Voraussetzungen nicht vorhanden sind, bedarf es der institutionalisierten Gewährleistung des Normprogramms. Der „Ausweg" der Rechtsordnung ist die Maßgeblichkeit der verbindlichen Entscheidung als notwendige Bedingung rechtsstaatl. Ordnung, wenn sich die jeweilige V.swirklichkeit nicht unangefochten zur V.snorm erheben soll. Polit. Auseinandersetzungen werden damit auch zum Streit um die V.sauslegung. Die Entscheidungskompetenz über die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit staatl. Organhandelns mit der V. liegt beispielsweise nach dem GG letztlich beim -> Bundesverfassungsgericht (Art. 93 GG). Die Art und Weise der Ausgestaltung der V.sjustiz prägt wesentlich die -> politische Kultur einer Gesellschaft mit. Zwischen V.sordnung und -> Politik besteht ein latenter Widerspruch. Während Politik rational und irrational die Entfaltung einer Gesellschaft als Bürgerund -> Zivilgesellschaft intendiert, faßt die V. diese Entfaltung in rationale Formen der Rechtsordnung. V.en zielen auf die Gewährleistung des rechtl., sozialen und kulturellen Bestandes einer Gesellschaft und weniger auf die Deklaration zukünftiger Gestaltungsaufgaben und der Wege dorthin. Dies zeigt sich beispielsweise in der Diskussion um die Berücksichtigung von -+ Teilhaberechten, -> Umweltschutz, Sicherheitsrechten u.a. im GG. V.sänderungen als Anpassungen an Vollzugsprobleme sind häufig. V.srevisionen als Anpassung der rechtl. Konstitution einer Gesellschaft an sich verändernde Aufgaben und Werthaltungen finden selten, v.a. im Zusammenhang mit revolutionären Veränderungen statt. V.sändérungen sind i.d.R. an besondere Verfahren gebunden, was den zeitübergreifenden und allgemeinen Charakter von V.en stärkt. Vor diesem Hintergrund ist es auch
Verfassung verständlich, daß es zwar Diskussionen um eine europ. V. gibt, aber bislang keine konkreten Ausarbeitungen hierzu, wenn nicht der EU-Vertrag als V. verstanden wird. Nahezu alle V.en der westlichen Demokratien enthalten - allerdings unterschiedliche - Vorschriften zum Schutz der V. Lit.: E.-IV. Böckenförde: Staat, Verfassung, Demokratie, Frankfurt/M. 1991; Dt. Bundestag (Hg.): Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Bonn 1993; M. Friedrich (Hg.): Verfassung, Darmstadt 1978; D. Grimm: Die Zukunft der Verfassung, Frankfurt/M. 1991; Hesse, H. Mohnhaupt / D. Grimm: Verfassung, zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 1995; U.K. Preuß (Hg.): Zum Begriff der Verfassung, Frankfurt/M. 1994. Klaus Grimmer
Verfassung des Deutschen Reiches (1871-1918) Das Gesetz über die Reichsverfassung trat am 4.5.1871 in Kraft. Die RV war im wesentlichen mit der Verfassung des Norddt. Bundes von 1867 identisch. Eine Reihe von Änderungen betrafen v.a. Sonderrechte (Reservatsrechte) der süddt. Staaten Bay., Württemberg und Baden. Das Reich bestand aus 25 Einzelstaaten, von denen 22 Monarchien (Königreiche Preuß., Bay., Württemberg und Sachs.; Großherzogtümer Bad., Hess., Meckl.-Schwerin, Meckl.-Strelitz, Sachs.Weimar-Eisenach, Oldenburg, Herzogtümer Anhalt, Braunschweig, Sachs.-Meiningen, Sachs.-Altenburg, Sachs.-CoburgGotha; Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß ältere Linie, Reuß jüngere Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe) und 3 freien Städte (Hamb., Brem., Lübeck) waren. Jeder —> Bürger eines Einzelstaates war durch ein gemeinsames —> Indigenat im ganzen Reich und damit in allen anderen Bundesstaaten „Inländer" In der Präambel wurde das Reich als - » Bund der dt. Fürsten bezeichnet und der Name „Deutsches Reich" festgelegt. Das Reich war jedoch kein Fürstenbund, da die jeweiligen Monarchen mit ihren Re-
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Verfassung gierungen als Staatsorgane die Einigung vollzogen hatten und der vom Volk gewählte konstituierende —> Reichstag an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt war. Außerdem hatten die —> Landtage der dt. Teilstaaten mit Ausnahme von Braunschweig die RV ratifiziert. Im Gegensatz zur Präambel der RV war das -> Deutsche Reich somit ein Staatenbund und keineswegs ein Fürstenbund. Die RV war in ihrem Text relativ kurz gehalten und stellte im wesentlichen ein Organisationsstatut dar. Ein Grundrechtekatalog fehlte, da diese in den Landesverfassungen enthalten waren. Den einzelnen Staaten des Reiches sollte die Anerkennung der RV nicht durch zu viele Detailbestimmungen erschwert werden. Die Verfassungsbestimmungen bedurften daher einer permanenten Interpretation in der Praxis, sie enthielten dadurch die Möglichkeit der Weiterentwicklung wie die der Einengung. Das Reich hatte nach seiner Verfassung sowohl föderalistische wie unitaristische Elemente. Die Einzelstaaten hatten zwar keine —> Souveränität, wohl aber eine eigene Hoheit und damit eigene Aufgabenbereiche und Zuständigkeiten, die eigene —> Verfassungen und Parlamente (bis auf beide meckl. Staaten) einschlössen. Wie schon in der RV von 1849 oblag den Einzelstaaten die staatl. Verwaltung auf der Grundlage der Reichsgesetze. Auf allen Gebieten, auf denen das Reich nicht aktiv wurde, galt die Zuständigkeit der Einzelstaaten. Allerdings hatte das Reich das Recht, seine Zuständigkeiten auf dem Wege der Verfassungsänderung zu erweitem. Es hatte die Kompetenz auf den Gebieten der Außenpolitik, des Militärs und die gesetzgeberische Kompetenz für Wirtschaftsfragen, die Zoll- und Außenhandelspolitik, das Rechtswesen und schließlich auch für die Sozialpolitik. Es galt das Prinzip, daß Reichsrecht Landesrecht „bricht" (-> s.a. Bundesrecht bricht Landesrecht). An der Spitze des Reiches stand der dt. Kaiser, der gleichzeitig König von Preuß. war. Dem Kaiser stand das Bundespräsi-
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Verfassung dium zu. Er berief Bundesrat und Reichstag ein, vertagte und schloß beide Gremien. Er verfügte über die Berufung und Absetzung des Reichskanzlers und des leitenden Regierungspersonals. Ihm oblag die völkerrechtl. Vertretung des Reiches, die Ausfertigung und Verkündung der Reichsgesetze, die Vollstreckung von Bundesexekutionen. Der Kaiser hatte als oberster Kriegsherr den Oberbefehl über das Heer und die Kriegsmarine. Der von ihm ernannte Reichskanzler war i.d.R. gleichzeitig auch preuß. —> Ministerpräsident und Außenminister. Der Reichskanzler war dem Kaiser verantwortlich (—> Ministerverantwortlichkeit). Er war nicht von Mehrheitsverhältnissen im Parlament abhängig und konnte somit vom Parlament nicht gestürzt werden. Neben dem Reichskanzler gab es keine Reichsminister. In der Praxis übernahm die preuß. Regierung Funktionen der Reichsregierung. Auf Reichsebene bestanden zunehmend Reichsämter, die von —> Staatssekretären geleitet wurden. Beide Einrichtungen waren miteinander verwoben, indem beispielsweise die Staatssekretäre des Reiches preuß. Minister waren. Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine parallele Verwaltung, die jedoch immer ineinander verschränkt blieb. Der Bundesrat - zusammengesetzt aus Bevollmächtigten der einzelnen Regierungen nach einem Schlüssel, der die preuß. Hegemonie sicherte - war höchstes Organ des Bundes. Den Vorsitz im Bundesrat führte der Reichskanzler. Die in der Verfassung enthaltene These, die Teilstaaten bzw. deren Fürsten seien die Träger der Souveränität und bildeten mit dem Bundesrat die eigentliche —> Exekutive, erwies sich als Fiktion. Der Bundesrat als Verfassungsorgan entwickelte sich weder zu einem reinem Föderativorgan noch zu einem Oberhaus. Er blieb jedoch mit dem Reichstag zusammen Gesetzgeber. Dennoch ging die Bedeutung des Bundesrates im Rahmen der RV in der Praxis zunehmend zurück. Wohl aber wurde der Bundesrat besonders von Reichskanzler O.
Verfassung
Verfassung von Bismarck als Gegengewicht gegen den Reichstag eingesetzt. Dem Bundesrat gegenüber stand der Reichstag als Vertretung des -> Volkes, der in allgemeiner und freier —> Wahl gewählt wurde. Der Reichstag beschloß die Gesetze des Reiches, hatte aber keinen Einfluß auf die Zusammensetzung der Regierung. Der Reichskanzler war dem Reichstag gegenüber nicht verantwortlich. Weiterhin hatte der Reichstag das -> Budgetrecht sowie in gewisser Weise ein Kontrollrecht mittels -> Anfragen, -» Interpellationen, Haushaltsanträge usw. In jedem Falle war er Ort von polit. —> Öffentlichkeit. Wie auch dem Bundesrat stand ihm die Gesetzesinitiative zu. Die stärkste Maßnahme gegen die Stellung des Reichstages war seine Auflösung und Neuwahl, die der Monarch bzw. der Reichskanzler und auch der Bundesrat veranlassen konnten. Die konstitutionelle RV blieb bis Oktober 1918 in Kraft. Erst zu diesem Zeitpunkt erfolgte durch eine Verfassungsänderung die Bindung des Reichskanzlers und der Staatssekretäre des Reiches an die Mehrheit im Parlament. Diese Verfassungsänderung wurde jedoch nicht mehr wirksam, da die Novemberrevolution eine gänzlich neue Verfassungssituation begründete (-> Konstitutionalismus, -»· Weimarer Republik, —> Weimarer Reichsverfassung). Lit: E. R. Huber: Dt. Verfassungsgeschichte seit 1789, III, Stuttgart 31988, T. Nipperdey: Dt. Geschichte 1866-1918, II, München 1992; O. Kimminich: Dt. Verfassungsgeschichte, BadenBaden21987.
Mathias Tullner Verfassung, britische Die V. des Vereinigten Königreichs unterscheidet sich von deijenigen der Bundesrepublik Deutschland und der meisten Demokratien (mit der Ausnahme Israels und Neuseelands) darin, daß sie nicht kodifiziert und nur teilw. aufgeschrieben ist. Die bestehende „lebende V." ist das Ergebnis einer durch große histor. Kontinuität und schrittweisen Wandel gekennzeichneten Entwick-
lung, in der sich sowohl der Umfang des Staatsgebietes als auch der materielle Gehalt der V. immer wieder änderte. Völkerrechtl. besteht das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland in seinen gegenwärtigen Grenzen seit 1949. Unter der Bezeichnung Großbritannien wurden seit 1707 England, Wales und Schottland zusammengefaßt (Act of Union). Zum Vereinigten Königreich gehören darüber hinaus die 6 Grafschaften im Nordosten der Insel Irland (Nordirland). Die Isle of Man in der Irischen See sowie die Kanalinseln Jersey und Guernsey (einschließl. einiger kleiner benachbarter Inseln) sind als „Crown Dependencies" rechtl. halb-autonom. Die brit. V.sgeschichte wurde wesentlich durch die V.sentwicklung Englands geprägt. Freilich ist es angesichts des Prozeßcharakters der engl. V.sgeschichte umstritten, von welchem Zeitpunkt an man überhaupt von einer engl. V. sprechen kann. Häufig wird die normannische Eroberung von 1066 und die damit verbundene (keineswegs radikale) Umgestaltung des engl. Rechtssystems als Ausgangspunkt der mittelalterlichen V.sgeschichte Englands angesehen. Der größte Teil der V. ist in einfachen Parlamentsgesetzen niedergelegt (statute law). Das -> Parlament kann solche V.sgesetze jederzeit mit einfacher Mehrheit außer Kraft setzen oder verändern. Beispiele für einfache Parlamentsgesetze mit V.srang sind die Habeas Corpus Act von 1679, die -> Bill of Rights von 1689, die Act of Union von 1707, die Parliament Acts von 1911 und 1949 sowie die Ratifizierungsgesetze zum Beitritt Großbritanniens zu den -> Europäischen Gemeinschaften (1972) und ihre Ergänzungen (1986 und 1993). Neben den gesetzlichen existieren gewohnheitsrechtl. V.sbestandteile. Dabei handelt es sich um überkommene Rechtsgrundsätze, die nicht durch parlament. Mehrheitsentscheid gesetzt, sondern durch richterliche Entscheidungen in Einzelfällen fortgebildet oder bestätigt 945
Verfassung wurden. Solches auf Gerichtsentscheidungen in Einzelfällen beruhendes Recht ist an Präzedenzfällen orientiert. Ein Beispiel für wichtige gewohnheitsrechtl. verankerte V.sgrundsätze sind die sog. Prärogativrechte der Krone (Royal Prerogative). Heute übt der Monarch diese Prärogativrechte auf Vorschlag der -> Minister und insbes. des Premierministers aus. Auf königlicher Prärogative beruhende Beschlüsse bedürfen formal nicht der Zustimmung des Parlaments. Sie können auch nicht durch die Gerichte in Frage gestellt werden. Unter königliche Prärogative fallen u.a. die - » Ernennung und Entlassung von Ministem durch den Premierminister, Begnadigungen durch den Innenminister, die Übertragung von Adelstiteln, die Erklärung von Kriegen und der Abschluß internationaler Verträge. Als dritte wesentliche Quelle des brit. V.srechts gelten sog. V.skonventionen („constitutional conventions"). Darunter versteht man informelle Nonnen, die von allen Beteiligten anerkannt und i.d.R. auch eingehalten werden. Sie sind kein Bestandteil des formellen Rechtskörpers und daher auch nicht vor Gericht einklagbar. Aufgrund einer Konvention sind z.B. Premierminister und Minister kollektiv und individuell dem Parlament verantwortlich. Nicht einer V.sbestimmung, sondern einer Konvention zufolge muß eine Regierung, die in einer Vertrauensabstimmung im —> Unterhaus unterliegt, zurücktreten und Neuwahlen des Parlaments veranlassen. Eine weitere wichtige, seit dem frühen 18. Jhd. bestehende V.skonvention besagt, daß der Monarch allen vom Parlament verabschiedeten Gesetzen seine Zustimmung zu geben hat. Neben den 3 oben beschriebenen Quellen des V.srechts werden zur Interpretation der V. grundlegende V.sinterpretationen führender V.srechtler oder anderer Experten herangezogen. Klassische Interpretationen sind Arbeiten von J Austin (17901859), A.V. Dicey (1835-1922), Sir I. Jennings (1903-1965), Sir K. Wheare
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Verfassung (1907-1979), O.H. Phillips (1907-1986) und E.C.S. Wade (1895-1978). Trotz der mangelnden Kodifizierung sind bestimmte Grundpfeiler der brit. V. identifizierbar: 1. Die -> Souveränität des Parlaments ist das Kernstück der brit. V.: Das Parlament hat das Recht, jedes Gesetz zu verabschieden oder aufzuheben. Keine Person oder —> Institution hat das Recht, ein vom Parlament ordnungsgemäß verabschiedetes Gesetz außer Kraft zu setzen. Nur das Parlament selbst kann ein früheres Gesetz aufheben. Kein Parlament ist an die Beschlüsse eines früheren Parlaments gebunden. In diesem Zusammenhang ist jedoch hervorzuheben, daß das souveräne Parlament nach der brit. V.stradition aus Krone, Oberhaus und Unterhaus besteht. Innerhalb dieser Trias „Krone-im-Parlament" verschob sich das Kräftegleichgewicht seit dem 17. Jhd. von einer klaren Vormachtstellung des Monarchen und des Oberhauses zugunsten des Unterhauses und dessen Mehrheit. In der heutigen V.swirklichkeit ist die Souveränität des Parlaments in erster Linie mit einer bemerkenswerten Handlungsfreiheit der Regierung gleichzusetzen, solange diese über eine disziplinierte Mehrheit im Unterhaus verfügt. 2. Die Gesetzesbindung, die sog. „rule of law" gilt als zweiter wesentlicher Pfeiler der brit. V.; obwohl keine allgemein anerkannte Definition dieses V.sgrundsatzes existiert, besteht Einigkeit darüber, daß u.a. folgende Grundsätze darunter fallen: Strafen können nur verhängt werden, wenn eine Person gegen ordnungsgemäß zustandegekommene Gesetze des Landes verstößt und von einem ordentlichen Gericht für schuldig befunden wird. Niemand steht über dem Gesetz. Jedermann unterliegt unabhängig von seinem Rang denselben Gesetzen und kann bei Rechtsverstößen von ordentlichen Gerichten verfolgt werden. 3. Obwohl das Vereinigte Königreich eine bis ins Mittelalter zurückgehende, ausgeprägte Tradition kommunaler Selbstverwaltung besitzt, liegt nach der V. letztlich
Verfassung alle polit. Macht beifti Zentrum in London. Das Land ist ein unitarischer Staat. Dies ist logische Folge des Grundsatzes der Parlamentssouveräntität. örtliche Behörden haben keine eigenständigen, von Londoner Parlamentsbeschlüssen unabhängigen Rechte. Gebietskörperschaften mit vom Londoner Parlament unabhängigen Kompetenzen bestehen im Vereinigten Königreich nicht. Daran wird vorerst auch die Schaffung gewählter Regionalparlamente und -regierungen in Schottland, Wales und Nordirland nichts ändern. 4. Für das —> parlamentarische Regierungssystem des Vereinigten Königreichs ist die Verschmelzung von Parlamentsmehrheit und Regierung typisch. Die Mehrheitspartei wird durch die von ihr geübte Abstimmungsdisziplin gewissermaßen zu einer „Verlängerung der Regierung in das Parlament" (G.A. Ritter). Die Regierung kann nur im Amt bleiben, solange sie über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Typischerweise bekleiden etwa 100 Abgeordnete der Mehrheitsfraktion besoldete oder unbesoldete Regierungsämter innerhalb und außerhalb des Kabinetts. 5. Durch den Beitritt des Vereinigten Königreichs zu den —> Europäischen Gemeinschaften (1.1.1973) hat das Parlament Entscheidungskompetenzen in einer Reihe von Politikfeldern an die Organe der EG (seit 1993: —» Europäischen Union) abgetreten. Die -> Römischen Verträge (1957), die —• Einheitliche Europäische Akte (1987) sowie der Maastrichter EU-Vertrag (1993) und eine große Zahl anderer europ. Rechtsnormen gelten als Bestandteil der brit. V. Angesichts der Interpretier- und potentiellen Manipulierbarkeit vieler V.sgrundsätze wurde in Großbritannien seit den 70er Jahren der Ruf nach einer umfassenden V.surkunde mit garantierten Menschen- und Bürgerrechten lauter. So fordert die Bürgerrechtsorganisation „Charter 88" die Einführung eines Grundrechtskatalogs (ähnlich wie im GG der
Verfassung BRD), der dem Zugriff einer einfachen Parlament. Mehrheit entzogen ist. 1998 wurde die —* Europäische Menschenrechtskonvention durch das von der Regierung Blair eingebrachte Menschenrechtsgesetz (Human Rights Act) in den brit. Rechtskörper eingegliedert. IM.: P. Norton: The Constitution in Flux, Oxford 1982; D. Oliver: Government in the United Kingdom, Milton Keynes 1991; GΑ. Ritter: Parlament und Demokratie in Großbritannien, Göttingen 1972; E.C.S. Wade: Constitutional and Administrative Law, London "1993.
Thomas Saalfeld Verfassung, französische Die geltende frz. V. der 5. Republik beruht im wesentlichen auf dem Text der Constitution vom 4.10.1958 (93 Art.), die durch -> Volksabstimmung bestätigt und seither zehnmal geändert worden ist. Das dt. —> Gundgesetz von 1949 wurde im Vergleich dazu bislang 43 mal geändert. Seit 1791 waren 14 Verfassungen in Kraft, einige schufen -> konstitutionelle Monarchien (1791, 1814, 1830). V.sarchitekten waren 1958 namentlich der damalige Ministerpräsident General de Gaulle und dessen Justizminister M. Debré. Nach den staatsgestaltenden Grundentscheidungen der V. v. 1958 und entsprechend der fortwirkenden älteren V.stradition ist Frankreich eine unteilbare, laizistische, demokrat., soziale und rechtsstaatl. - » Republik ( Art. 1). Staat und Kirche sind strikt getrennt. Träger der nationalen —> Souveränität ist das frz. Volk, das diese durch allgemeine, gleiche und geheime —> Wahlen und —> Volksentscheide ausübt (Art. 3). Die polit. -> Parteien und Gruppen wirken an der - » Willensbildung des Volkes mit (Art. 4). Sie müssen die V.sprinzipien der nationalen Souveränität und -> Demokratie respektieren. In der Präambel der V. bekräftigt das frz. Volk erneut die Erklärung der —• Menschenrechte von 1789 und das Prinzip der nationalen Souveränität. Der Wahlspruch der Republik lautet: Liberté, Egalité, Fraternité. Die V.
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Verfassung von 1958 enthält keinen expliziten Grundrechtskatalog. Ausdrücklich schützt die V. die spezielle Rechtsgleichheit, die Glaubensfreiheit und vor willkürlicher Freiheitsentziehung (Art. 2, 66). Mit dem Verweis der Präambel auf die Menschenund Bürgerrechte von 1789 und die (sozialen) Grundrechte der Präambel der V. von 1946 erlangen die dort statuierten Rechte und traditionellen „fundamentalen Rechtsprinzipien" allerdings V.skraft Hierzu gehören u.a.: (Rechts-)Gleichheit, Handlungs-, Meinungs-, Gewissensfreiheit, Eigentum, Asylrecht, Vereinigungsfreiheit, Recht auf Arbeit, auf betriebliche Mitbestimmung, auf Ausbildung und soziale Versorgung und Schutz der Familie. Eine dem dt. V.srecht vergleichbare individuell-konkrete Verfassungsbeschwerde existiert bislang nicht. Der Schutz der vom Gesetzgeber ausgestalt- und beschränkbaren Grundrechte obliegt dem V.sgerichtshof (abstrakt-präventiv), der Straf-, Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit und dem 1973 eingeführten Amt des „Vermittlers" (médiateur). Der —> Europäischen Menschenrechtskonvention mit ihrer Individualbeschwerde, die wie andere völkerrechtl. Verträge grds. dem Parlamentsgesetz vorgehen, ist Frankreich erst 1981 voll wirksam beigetreten. Zentrale polit. Institutionen (V. sorgane) sind der Präsident der Republik, die Regierung, das Parlament und die „Räte" (conseils). Die frz. Exekutive besteht aus dem Präsidenten (Staatschef) und der Regierung (Premierminister und Minister). Die verfassungsrechtl. und noch mehr die staatspraktischen Machtbefugnisse des Präsidenten (Art. 5-19) sind auch in Zeiten einer sog. cohabitation beachtlich. Seit der V.sreform 1962 wird der Präsident in allgemeiner und zweiphasiger Mehrheitswahl direkt vom Volk gewählt. Die Amtszeit beträgt 7 Jahre, bei unbeschränkter Wiederwahl. Der Präsident ernennt den Premierminister ohne Zustimmung des Parlaments. Diskretionär und ohne -> Kontrasignatur durch den Premier darf der Präsident u.a. einen
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Verfassung Volksentscheid (Referendum) anberaumen, die —> Nationalversammlung auflösen, ggf. diktatorische Notstandsrechte ausüben und dem Premier das -> Vertrauen entziehen. Der Präsident führt den Vorsitz im Ministerrat und in anderen wichtigen Gremien, er vertritt die Republik nach außen, ratifiziert völkerrechtl. Verträge, ernennt Mitglieder des V.srates, ist dort antragsbefugt und kann jederzeit in die Alltagsarbeit des Parlaments mittels sog. -> Botschaften eingreifen. Er besitzt auch die Befehlsgewalt über die Streitkräfte, die nunmehr als Berufsarmee organisiert werden sollen. Unter Mitwirkung der Regierung (Gegenzeichnung, Vorschlagsrecht oder Einvernehmen) obliegt dem Präsidenten die Ausfertigung und Verkündung der Gesetze und Verordnungen, die Akkreditierung der —» Botschafter, die Ausübung des Begnadigungsrechts, die Berufung und Abberufung der Minister und die Ernennung der hohen Beamten und Offiziere. Im Jahre 1995 hat der neo-gaullistische vormalige Premier Jacques Chirac den seit 1981 amtierenden sozialistischen Präsidenten François Mitterand im Amt abgelöst. Die vom Präsidenten abhängige Regierung (Art. 20-23) unter Leitung des Premierministers führt die Politik. Die Regierung ist nicht nur Exekutiv-, sondern auch Legislativorgan. Insbes. besitzt sie ausgreifende autonome und abgeleitete, auch gesetzesändernde Verordnungsbefugnisse (Art. 21, 34, 37f.: sog. ordonnances, décrets, arrêtés). Auch allgemeine Akte der Exekutive sind grds. verwaltungsgerichtlich überprüfbar; sie schwächen aber die Rechtsstellung des Parlaments. Das Ministeramt ist mit anderen Ämtern, Mandaten oder Berufen grds. unvereinbar. Das Parlament als Legislative ist das 3. V.sorgan im frz. Staat (Art. 24-51). Es besteht seit der ΙΠ. Republik aus 2 Kammern: der -> Nationalversammlung (assemblée nationale, vor 1946: —» chambre des députés) und dem —> Senat. Die 577 Abgeordneten der Nationalversammlung werden derzeit alle 5 Jahre in Mehrheits-
Verfassung wähl mit ggf. 2 Wahlgängen gewählt. Das aktive Wahlalter beträgt 18, das passive Wahlalter 23 Jahre. Das Parlament besitzt keine prinzipielle Allzuständigkeit. Dem Parlaments- und materiellen Regelungsvorbehalt unterliegen (lediglich) die in Art. 34 der V. enumerativ und abschließend genannten Materien (z.B. Grundrechte, Strafrecht, Steuerrecht, Wahlrecht, Beamtenrecht sowie Rahmengesetze zum Kommunal-, Schul-, Arbeitsrecht). Neben diesen einfachen (formellen) Gesetzen (lois ordinaires) entscheidet das Parlament über V.sänderungen und materiell verfassungsergänzende Organgesetze (lois organiques). Letztere regeln in v.srechtl. bestimmten Fällen staatsorganisationsrechtl. Fragen und stehen im Rang über den einfachen Gesetzen. Hinsichtlich der verbleibenden Materien besitzt die Regierung die erwähnten Verordnungsbefugnisse. Bestimmte Gesetzesvorlagen kann der Präsident einem Referendum unterbreiten („Volksgesetze", Art. 11 n.F. z.B. zur Staatsorganisation, Sozial- und Wirtschaftspolitik und dem Völkervertragsrecht). Die Nationalversammlung kann der Regierung unter staatspraktisch engen Voraussetzungen das Vertrauen entziehen. Die Regierung ihrerseits kann eine Gesetzesvorlage mit der Vertrauensfrage verbinden; die Vorlage gilt als beschlossen, wenn die Nationalversammlung kein („destruktives") —> Mißtrauensvotum abgibt. Der Senat besteht aus derzeit 321 Senatoren, die für 9 Jahre (mittelbar) von kommunalen Vertretern gewählt wurden. Der Senat wird alle 3 Jahre zu einem Drittel erneuert und dient zur Vertretung der Gebietskörperschaften der Republik (Art. 24). Beide Kammern müssen eine Gesetzesvorlage beschließen; in bestimmten, wichtigen Konfliktfiillen hat allerdings die Nationalversammlung das letzte Wort (Art. 45-47). Die Versammlung beider Kammern entscheidet über V.sänderungen (Art. 89). Die Integrität des Territoriums und die republikanische Staatsform sind unantastbar. Vor dem Hintergrund der krisenhaften Erfahrungen
Verfassung unter der V. der ΙΠ. bzw. IV. Republik (1940-58) schwächte und „rationalisierte" die V. von 1958 im Zusammenspiel mit der Staatspraxis die Kontroll- und Legislativrechte des Parlaments zugunsten der dualen Exekutive. Die theoretische Einordnung des originären Kompetenzgefiiges der V. Republik zwischen -> Parlamentarismus und —> Präsidialdemokratie ist uneinheitlich. Seit Juni 1997 amtiert eine Linkskoalition der Parteien PS, PLF, Grüne unter dem Premier Jospin. Die frz. Räte, ebenfalls zumeist V. sorgane, erfüllen Kontroll-, Beratungsund / oder Gerichtsfunktionen. Der V.srat (conseil constitutionnel, Art. 56-63), der aus 9 jeweils für 9 Jahre ernannten Mitgliedern besteht, übt eine - zunehmend bedeutsam werdende - reine präventive V.skontrolle aus (primär: Grundrechtsund Kompetenzschutz). Und zwar obligatorisch u.a. hinsichtlich der Wahlanfechtung, der noch nicht ausgefertigten Organgesetze und der Geschäftsordnung des Parlaments; und auf Antrag bestimmter V.sorgane hinsichtlich i.d.R. beschlossener einfacher Gesetze und internationaler Verträge je vor Inkrafttreten. Eine nachträgliche Normenkontrolle, ein —> Organstreit oder eine Individualbeschwerde sind nicht möglich. Das Gericht entscheidet innerhalb eines Monats. Der conseil supérieur de la magistrature (Art. 64-66) garantiert die Unabhängigkeit der Rechtspflege. Der conseil économique et social (Art. 69-71) berät die Regierung in wirtschaftl. und sozialen Fragen. Der conseil d'Etat (Art. 37-39; Staatsrat) berät die Regierung im Gesetzgebungsverfahren. Mit seiner gerichtlichen Abt. bildet er zugleich das oberste frz. Verwaltungsgericht, das auch in Sozial- und Finanzrechtssachen zuständig ist. Der Rechnungshof (cour des comptes) und seine 25 regionalen Rechnungshöfe sind einflußreiche, unabhängige Kontroll- und Beratungsorgane für das öffentl. Finanzwesen (vgl. Art. 47). Gem. dem V.sprinzip der unteilbaren Republik ist Frankreich kein föderalistischer (Bundes-
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Verfassung
Verfassung
)Staat, sondern —> Einheitsstaat. Dessen vormaligen Zentralismus haben in den 80er Jahren einfachgesetzliche Maßnahmen der Dekonzentration und besonders der Dezentralisation abgemildert. Von Verfassungs wegen (Art. 72) sind die Gemeinden (mehr als 36.000), Departements (derzeit 96 im Mutterland) und die überseeischen Gebiete sog. Gebietskörperschaften mit einfachgesetzlich begrenzter Satzungs- und Verwaltungsautonomie. Die kommunalen Dezentralisierungsgesetze haben u.a. die seit 1956 bestehenden Regionen (22) aufgewertet und die Selbstverwaltungsrechte der Kommunen zu Lasten des commissaire de la République (vormals: Präfekt) erweitert und verstärkt. Der Präfekt napoleonischen Ursprungs ist der allgemeine Vertreter der Zentralregierung „vor Ort" (auf Ebene der Départements). Die (revidierte) frz. V. und Rechtsordnung öffnen sich heute weitgehend dem internationalen und europ. Recht (Art. 5255). Der im Jahr 1992 eingeführte Europaartikel (Art. 88-1-4) hat das V.srecht an die Besonderheiten des —> Europäischen Gemeinschaftsrechts, insbes. An den im selben Jahr abgeschlossenen —> EU-Vertrag von Maastricht angepaßt. Lit: G. Burdeau u.a.: Manuel de droit constitutionnel, Paris 23 1993; A.C. Colliard: Libertés publiques, Paris 7 1989; P. Grote: Das Regierungssystem der V. frz. Republik, Baden-Baden 1995; P. Häberle (Hg.): JöR 1989, S. 45ff. (mit Beiträgen vornehmlich in frz. Sprache); J.W. Hidien: Investieren in Frankreich, Köln 1991, S. 35ff.
Jürgen W. Hidien
Verfassung, konstitutionelle —> Konstitutionalismus Verfassung der USA 1. Die Verfassung (V.) der USA ist die älteste nationale demokrat. V. mit kontinuierlicher Geltung bis zum heutigen Tag. Die hohe geschichtl. Autorität folgt auch daraus, daß V.-sänderungen (Amendments) den Text nur ergänzen, ohne zu tilgen: auch später 950
rechtsunwirksame Artikel (z.B. das 18. Amendment) bleiben im Text. In den mehr als 2 Jhd.en seiner Geschichte wurde diese V. 27 mal ergänzt, das dt. -> Grundgesetz hingegen wurde binnen 41 Jahren 40 mal geändert. Als histor. „Kern" gelten die ersten 7 Art., die 1787 in Philadelphia beschlossen wurden, und die ersten 10 Amendments von 1791 (die sog. -» Bill of Rights). 2. Die 7 Ursprungsartikel sind eine rein organisatorische V.: Sie ordnen -> Kompetenzen und etablieren -> Institutionen sowie Verfahren. Am Beginn steht der —> Kongreß als Ausdruck der demokrat. Regelungsmacht (soweit sie dem Bund zugesprochen wird); erst der zweite Art. konstituiert das Präsidentenamt, hier sind die Aufgaben und Kompetenzen wesentlich konkreter und damit eingrenzend bestimmt. Die nachfolgenden Art. regeln die —> Judikative des Bundes, föderale Beziehungen, Änderung und -> Ratifikation der V. sowie Übergangsbestimmungen. In ihren institutionellen Gewichten begünstigt die V. (trotz der zutreffenden Bezeichnung: Präsidentielle Demokratie) eindeutig die —> Legislative, da sie alle wesentlichen Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes nach innen an Gesetze bindet. Allerdings wird dem -> Präsidenten mit dem -> Vetorecht eine erhebliche Teilhabe an dieser allgemeinen Gesetzgebung eingeräumt (Art. 1, See. 7). Umgekehrt partizipiert aber auch der Kongreß an den Kompetenzen des Präsidenten: z.B. bedürfen die Besetzung zahlreicher hoher Ämter wie auch die internationalen Verträge der Zustimmung des -> Senats. 3. Am Senat mit seinem Einbezug in exekutive Funktionen kann auch die Herkunft der V. als föderalistisches Dokument abgelesen werden. Die Einzelstaaten bestanden als verfaßte Einheiten vor dem Bund; Bundeskompetenz war demnach stets abgetretene Macht. Als Schutz und Gegeneinfluß wurden darum die Staaten als solche beim Bund repräsentiert: während das —> Repräsentantenhaus Wahlbezirke proportional zur Bevöl-
Verfassung kerung zumißt, wird jeder Staat unabhängig von seiner Größe durch 2 Senatoren repräsentiert. Folgerichtig ist dann auch diesem Organ eine besondere Wächterfunktion gegenüber exekutiver Macht zugedacht. Föderalistisch ist auch die Herkunft der —» Bill of Rights zu interpretieren: die darin erhaltenen Garantien von Freiheits- und —» Bürgerrechten waren zentrale Voraussetzung für die Ratifikation der V. durch die Einzelstaaten. Vordergründig schützen sie zwar allein das Individuum, als Schranke gegen zentralstaatl. Machtanmaßung sichern sie aber auch den —> Föderalismus. So garantiert das Recht, Waffen zu besitzen, zugleich die Nationalgarden der Staaten (2. Amendment); nachfolgend wird konsequenterweise das nationale Militär in seiner Macht nach innen eingeschränkt (Schutz der Wohnung und der zivilen Gerichtsbarkeit: 3.-5. Amendment). Als wichtigster Schutz vor Zentralisation wurde aber bereits mit dem 3. Art. der —» Supreme Court eingeführt, dem 1787 v.a. Kompetenzen als letztes Appelationsgericht und in Organstreitigkeiten (z.B. zwischen Bund und Staaten) zugeschrieben wurden. 1803 kam es zu einer der 2 wichtigsten Innovationen in der V.sgeschichte: der Einführung der .judicial review", der Prüfung der V.smäßigkeit von Gesetzen, die sich der Supreme Court in der Entscheidung „Marbury vs. Madison" selbst zubilligte. Gerade die Freiheits- und Schutzrechte der Bill of Rights ermöglichten Interpretationsspielräume, in denen die Judikative den rechtl. Wandel vorantrieb (z.B. durch Bekämpfung der Rassendiskriminierung 1954). Die zweite bedeutende Innovation war die Ausbildung des „Administrative State" ab dem frühen 20. Jhd.: die in der V. nicht vorgesehene Zentralisation von Macht im Präsidentenamt und die eigenständige Rechtssetzung durch nationale Verwaltungsbehörden. Die von der V. gewünschte Dominanz der Legislative ist somit durch die beiden anderen Gewalten in der Realität angefochten.
Vefassungsgebende Versammlung 4. Die V. ist eingebettet in ein Rechtssystem, das insbes. im zivilrechtl. Gebiet durch —• common law-Traditionen geprägt ist, welche frühere Gerichtsentscheidungen als zentrale Rechtsquelle ansehen. Diese Traditionen stärken die Judicial review" und werfen die Frage auf, auf welche Weise die V. dem Wandel der Zeiten angepaßt werden soll: durch V.sänderung oder durch V.swandel unterhalb dieses Niveaus. Einige berühmte Amendments markieren Wenden in der V.sgeschichte: die Abschaffung der Sklaverei 1865, die Einführung der Bundeseinkommensteuer 1913 und des Frauenwahlrechts 1920, die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten 1951 und die Senkung des Wahlalters 1971 sind wichtige Beispiele. Doch die Hürden für Amendments sind hoch (Art. 5), daher hat sich wichtiger V.swandel auch durch Rechtsprechung (Beispiel: Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs 1973) oder institutionelle Verschiebung (Beispiel: „administrative state", s.o.) zugetragen. Wie weit dies legitim ist, bleibt in der V.slehre dauerhaft umstritten. Die „original intent"-Schule fordert, daß die V. stets strikt i.S. der ursprünglichen Gesetzgeber zu lesen und Wandel nur durch Amendments statthaft sei. „Interpretative" Schulen billigen jeder Generation das Recht zu, Prinzipien der Verfassung rechtsschöpfend auf die eigene Situation anzuwenden; sie unterscheiden sich darin, inwieweit sie dieses Recht beim Supreme Court allein oder beim demokrat. Willensbildungsprozeß insg. verankern. Lit.: RA. Burt: The Constitution in Conflict, Cambridge 1992; W.F. Murphy / J.E. Fleming / SA. Barber: American Constitutional Interpretation, Westbury N.Y. 2 1995; JA. Rohr: To Run A Constitution, Lawrence Ks. 1986; C.R. Sunstein: The Partial Constitution, Cambridge 1993.
Rainer Prätorius Verfassungsgebende Nationalversammlung -> Weimarer Republik Verfassungsgebende Versammlung ->
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Verfassungsänderung Pouvoir constituant —• Volkssouveränität Verfassungsänderung l. Im Recht der V. wächst der -» Legislative die Befugnis zu, ihre gesetzgebende Gewalt auf das Verfassungsgesetz zu erstrecken. V. ist von einfacher -> Gesetzgebung qualitativ verschieden, wenn das Verfassungsgesetz in der Hierarchie der -> Normen höheren Rang beansprucht und alle staatl. Gewalten rechtl. bindet (Vorrang der Verfassung). Aus der Gebundenheit auch der Legislative an die vorrangige Verfassung einerseits und der Änderungsbefugnis andererseits ergibt sich eine prekäre Doppelstellung der gesetzgebenden Gewalt: Sie ist der Verfassung unterworfen und zugleich Subjekt der Verfassungsgesetzgebung. Rechtl. Verfaßtheit rechtfertigt und begrenzt die Ausübung von -> Herrschaft. Die Verfassung legitimiert und limitiert die -> Staatsgewalt im Wege der Verrechtlichung polit. Macht. Indem das GG eines -> Staates auch den verfassungsändernden Gesetzgeber „verfaßt", d.h. rechtl. bindet, sucht es seinen Vorranganspruch umfassend durchzusetzen. In der geschlossenen Verfassungsordnung gibt es kein voraussetzungsloses, rechtl. unbegrenztes staatl. Handeln mehr. Hört alle -> Souveränität in diesem Sinne auf, gehört auch die verfassungsändernde Gewalt zu den verfaßten Gewalten (-> pouvoir constitué) und ist streng zu unterscheiden von der verfassunggebenden Gewalt (-> pouvoir constituant). 2. Das —> Grundgesetz für die -> Bundesrepublik Deutschland geht diesen Weg der umfassenden Verrechtlichung. Zum Recht des GG, das seine - » Präambel auf die verfassunggebende Gewalt des Dt. Volkes zurückführt, gehören auch die in Art. 79 GG statuierten Voraussetzungen und Grenzen der V.; in Art. 79 GG wird die V. ermöglicht und zugleich rechtl. gebunden. In diesen Grenzen vermag der Gesetzgeber das Verfassungsrecht zu vermehren (Ergänzung) oder zu reduzieren (Streichung), inhaltlich zu korrigieren (Änderung i.e.S.) oder in seiner Geltung teilw.
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Verfassungsänderung zu beschränken (Durchbrechung). Mit diesen 4 Grundtypen der V. vermittelt der Gesetzgeber zwischen dem Verrechtlichungsanspruch der Verfassung und dem Gestaltungsauftrag der —> Politik. Daraus ergeben sich Chancen und Risiken. Die Änderungsbefugnis eröffnet die Chance, die dem polit. Prozeß vorgegebenen Verfahrensregeln und inhaltlichen Direktiven anzupassen, Zweifelsfragen und Konfliktstoff durch Verfassungsregelung dem polit. Streit zu entziehen und mit Gesetzgebungsaufträgen oder neuen -> Staatszielen (z.B. -> Umweltschutz) die Politik der Zukunft vorzuprägen. So kann es der Legislative gelingen, das von der Verfassung bewirkte Gleichgewicht zwischen -> Recht und -> Politik auf Dauer zu erhalten. Andererseits besteht die Gefahr, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber nur schwer korrigierbaren Fehlentwicklungen Vorschub leistet. Sucht er stets die verfassungsfeste Lösung polit. Fragen, droht die Konstitutionalisierung der Politik: Die Verfassungsnonn übersteht auch den Mehrheitswechsel und bleibt verbindlich, bis sich qualifizierte Mehrheiten für die Korrektur finden; schrumpfende Zweidrittelmehrheiten behalten als -> Sperrminoritäten das Sagen; das Verfahrensrecht der V. verdrängt das demokrat. -> Mehrheitsprinzip. Die Überfrachtung des Verfassungsrechts mit Staatszielen, Programmsätzen oder Bewirkungsaufträgen (z.B. die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern) sorgt für Erwartungen, die der Staat möglicherweise nicht einlösen kann. Umgekehrt droht die Politisierung der Verfassung, wenn das GG zur Gewährleistung konkreter polit. Entscheidungen partiell außer Geltung gesetzt wird (—> Verfas-sungsdurchbrechung). 3. Gem. Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG kann das GG nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des GG ausdrücklich ändert oder ergänzt. Damit gilt der Satz: Keine V. ohne Textänderung. Er gewährleistet die kodifikatorische Geschlossenheit der Verfassungsurkunde.
Verfassungsänderung Das Gebot der Textänderung zwingt den Gesetzgeber, sein Änderungsgesetz offen in den Gesamtzusammenhang des GG einzufügen. Die gesteigerte Publizitätsgewähr sorgt nicht nur für Klarheit und Anschaulichkeit des Verfassungsrechts. Indem das Textänderungsgebot die Rücknahme des alten und den Nachweis des neuen Rechts fordert, kommt der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht umhin, sich selbst und künftiger Verfassungsinterpretation Rechenschaft über die Reichweite der Änderung zu geben. Diese Offenbarungspflicht beugt der in der —> Weimarer Republik praktizierten stillschweigenden V. ohne Textänderung vor. Solche von der Verfassungsurkunde losgelöste Verfassungsgesetzgebung begünstigt eine sich verselbständigende, von der Rücksicht auf die (noch) geltende Verfassungsrechtslage unabhängige Politik. Problematisch erscheinen deshalb solche V.en, die das Gebot der Textänderung in Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG zurückdrängen. So hat der Verfassungsgesetzgeber wiederholt Recht außerhalb des GG unter den Schutz einer salvatorischen Generalklausel gestellt - z.B. völkerrechtl. Verträge (vgl. Art. 79 Abs. 1 S. 2 GG) oder auf die neuen Länder bezogenes spezielles -> Bundesrecht (Art. 143 GG). Verfassungsgesetzgebung in dieser Form entlastet zwar die Legislative vom Nachweis einzelner Kollisionstatbestände, widerstreitet aber dem Prinzip der kodifikatorischen Geschlossenheit der Verfassungsurkunde. Das gilt insbes. auch für die Kompetenzausstattung der - » Europäischen Union durch Integrationsgesetz, welches an die Stelle des GG das völkervertragliche Organisations- und Verfahrensrecht treten läßt und daraus abgeleitetes Sekundärrecht der supranationalen Gemeinschaft mit Vorrang auszeichnet. Der innerstaatl. Verzicht auf Verfassungsgeltung vollzieht sich ohne Änderungen im Text der Verfassungsurkunde. Zwar hat das GG den Integrationsgesetzgeber als verfassungsändernden Gesetzgeber konstituiert und seit 1992 weitgehend
Verfassungsänderung hend dem Regime des Ait. 79 GG unterworfen (Art. 23 GG). Doch die Verweisung in Art. 23 Abs. 1 S. 3 auf Art. 79 GG spart das Gebot der Textänderung aus. 4. Das verfassungsändernde Gesetz kommt nur mit der Zustimmung von 2/3 der Mitglieder des —> Bundestages und 2/3 der Stimmen des —> Bundesrates zustande (Art. 79 Abs. 2 GG). Die V. ist auf breiten Konsens und typischerweise auf das Zusammenwirken von Regierungsmehrheit und —> Opposition angewiesen. Das Erfordernis qualifizierter Zustimmung entzieht die Verfassung der Bestimmungsmacht des einfachen Gesetzgebers, schützt das GG vor der Konkurrenz mit dem einfachen Gesetz und sichert so den Vorrang der lex superior. Die Abkehr vom Grundsatz, daß die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheidet (Ait. 42 Abs. 2 S. 1 Halbs. 1 GG), entspricht der Funktion der Verfassung, dem polit. Prozeß nur in einer rechtl. prästabilierten Grund- und Rahmenordnung Raum zu geben. Innerhalb der Rahmenordnung entscheidet der Bundesrat mit der Mehrheit der Stimmen (Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG), der Bundestag mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, „soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt" (Art. 42 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 GG); geht es um die Grundordnung selbst, bestimmt Art. 79 Abs. 2 GG „anderes", entfernt mit den qualifizierten Mehrheitsanforderungen das Verfahrensrecht der V. vom Mehrheitsprinzip und nähert es dem Einigungsprinzip. Zweidrittelmehrheiten sind auch erforderlich, um durch Integrationsgesetz solchem Recht der EU Geltung zu verschaffen, das inhaltliche Änderungen des GG bewirkt (Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG). Ansonsten vermag der Bund durch einfaches Gesetz Hoheitsrechte auf die EU oder zwischenstaatl. Einrichtungen zu übertragen, obwohl der Integrationsakt stets den Geltungsbereich der grundgesetzlich festgelegten Kompetenz- und Verfahrensordnung schmälert. Zudem bindet der Integrationsgesetzgeber die BRD an
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Verfassungsänderung das primäre —> Europäische Gemeinschaftsrecht mit der Folge, daß dort geregelte Materien nicht nur dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers, sondern auch den Zweidrittelmehrheiten verlorengehen. Die Änderung der völkervertraglichen Grundlagen knüpft der Europäische Unionsvertrag an Vereinbarungen einer Regierungskonferenz und die Ratifizierung in allen Mitgliedstaaten (Art. 48 EUV). Integrationsgesetzgebung erweist sich als Selbstentmachtung des verfassungsändernden Gesetzgebers. 5. Art. 79 Abs. 3 GG statuiert Grenzen der V.; sie gelten vorbehaltlos auch Rüden Integrationsgesetzgeber (Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG). Danach sind auch für den Verfassungsgesetzgeber unabänderlich die Gliederung des Bundes in Länder, die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze. Insbes. die letztgenannte Verweisung wirft interpretatorische Schwierigkeiten auf. Schlechthin unantastbar und vorbehaltlos aufgegeben ist die Garantie der -> Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Ebenso unverrückbar bleibt - auch im Zuge fortschreitender supranationaler Integration - die Staatlichkeit der BRD. Die Grundsätze aus Art. 20 GG jedoch: das Demokratieprinzip und die —> Rechtsstaatlichkeit, das —• Sozialstaatsprinzip und die Bundesstaatlichkeit (—> Bundesstaat) sieht das BVerfG als Grundsätze nur im Prinzipiellen, aber nicht gegen systemimmanente Modifikationen geschützt. Das Verfassungsgericht erhält sich so die Fähigkeit, Kollisionen der gleichrangigen Fundamentalnormen aufzulösen und Konfliktlagen aus gegensätzlichen Verfassungsaufträgen pragmatisch zu entscheiden. Zuletzt hat das Gericht die Verselbständigung der -> Europäischen Zentralbank als Modifikation des Demokratieprinzips gerechtfertigt. 6. Mit Art. 79 Abs. 3 GG gewinnt die grundlegende Unterscheidung zwischen V. und Verfassunggebung konkrete nor954
Verfassungsänderung mative Gestalt. In dieser Norm behauptet das GG seinen Vorranganspruch gegenüber der verfassungsändernden Gewalt und bewahrt seine Identität, solange sie Beachtung findet (Art. 79 Abs. 3 GG als Identitätsgarantie). V. findet nur in den dort gezogenen Grenzen statt. Was jenseits der Norm liegt, entbehrt der vom GG vermittelten Verfassungslegalität, speist sich allein aus revolutionärer Kraft. Ob aus der Revolution eine neue, legitime Verfassunggebung hervorgeht, ist eine Frage axiomatischer, nicht mehr normativer Bestimmung. 7. Vom rechtsstaatl. Prinzip aus, daß nicht Menschen, sondern Gesetze herrschen sollen, erscheint der Fortbestand nicht nur der Fundamentalnormen, vielmehr des gesamten Verfassungsgesetzes als Regel, seine Änderbarkeit als Ausnahme. Aus der Perspektive des Demokratieprinzips muß umgekehrt der Bestehensanspruch allein des Art. 79 Abs. 3 GG als Ausnahme gelten, weil hier der demokrat. Selbstherrschaft legal unüberwindbare Schranken entgegenstehen. In diesem Spannungsverhältnis stehen alle Erscheinungsformen der V.; die Verfassungsentwicklung in Dtld. unterscheidet sich allerdings wesentlich vom angelsächs. Gegenmodell der starren Verfassung. Seit Inkrafttreten des GG hat die Legislative in quantitativ erheblichem Umfang von ihrem Recht zur V. Gebrauch gemacht. Hinter den bis 1997 ergangenen 43 Änderungsgesetzen verbergen sich marginale Korrekturen und weitreichende Ergänzungen (z.B. —> Notstandsverfassung). Die jüngste Verfassungsreform geht auf Empfehlungen des Einigungsvertrages (—> Deutsche Einheit) und Beratungen in der —> Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat zurück (42. Änderungsgesetz vom 27.10.1994). IM.: BVer/GE 30, Iff. - Abhörurteil; BVerfGE 89, 155ff. - Maastricht-Urteil.; A. Bauer / M. Jestaedt: Das GG im Wortlaut; Änderungsgesetze, Synopse, Textstufen und Vokabular zum GG, Heidelberg 1997; H. Dreier: Grenzen demokrat. Freiheit im Verfassungsstaat, in: JZ
Verfassu ngsdu rch brech u ng
Verfassungsbeschwerde 1994, S. 741ÊF.; HdbStR. I, S. 775ffi,· U. Hufeld: Die Verfassungsdurchbrechung, Berlin 1997; R. Scholz /K.G. Meyer-Teschendorf: „Politisiertes" Verfassungsrecht und „Depolitisierung" durch Verfassungsrecht, in: DÖV 1998, S lOff.
Ulrich Hufeld Verfassungsbeschwerde Die Vb. ist ein Rechtsschutzverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, mit dem sich einzelne Personen gegen die Verletzung von -> Grundrechten (Art. 1-19 GG) oder grundrechtsgleichen Rechten (Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103, 104 GG) zur Wehr setzen können (vgl. Art. 93 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90, 92-95 BVerfGG Rechtschutz). Eine Vb. kann grds. jede natürliche Person oder Personenmehrheit, einlegen, die Träger eines der genannten Rechte sein können. Der Beschwerdeführer muß in seiner schriftlichen Begründung (§ 23 Abs. 1 BVerfGG) darlegen, daß er durch einen Akt der öffentl. Gewalt selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem der genannten Rechte verletzt wurde (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Grds. setzt die V. die Erschöpfung des —> Rechtswegs zu den Fachgerichten voraus ( § 9 0 Abs. 2 BVerfGG) und ist fristgebunden (vgl. § 93 BVerfGG). Prüfungsmaßstab für das BVerfG ist ausschließlich das GG. Ist die Vb. zulässig und begründet, hebt das BVerfG die angefochtene Entscheidung auf. Wird der Vb. gegen ein -> Gesetz stattgegeben, ist dieses für nichtig zu erklären oder ggf. für verfassungswidrig, wenn eine Nichtigerklärung zu weitreichende Folgen hätte. Lit: D. Dörr: Die Verfassungsbeschwerde in der Prozeßpraxis, Köln 2 1997.
J. B. Verfassungsdurchbrechung Die V. ist eine Erscheinungsform der —> Verfassungsänderung. Im Wege der V. setzt sich der -» Gesetzgeber unter Wahrung der Voraussetzungen einer Verfassungsänderung über einen Verfassungssatz hinweg, ohne daß die Geltung des durchbrochenen Verfassungssatzes im übrigen berührt
wird. In dieser Form vermag die —> Legislative - mit Blick auf aktuelle polit. Konstellationen - ihre verfassungsrechtl. Gebundenheit ausnahmsweise zu lockern. Das Verfahren liegt nahe, wenn sich die gem. Art. 79 Abs. 2 GG erforderlichen —» Zweidrittelmehrheiten zwar für ein konkretes polit. Projekt finden, jedoch nicht für die allgemeine Revision der „störenden" -> Norm. -» Bundestag und —> Bundesrat beschließen dann lediglich eine im Verfassungstext nachgewiesene partielle Geltungsbeschränkung. Dergestalt hat der verfassungsändernde Gesetzgeber z.B. im Zuge der -> Deutschen Einheit die Bestandsgarantie der sowjetzonalen Enteignungen 1945-1949 (sog. Bodenreform) verfassungsrechtl. abgesichert (Art. 143 Abs. 3 GG). Die V. unterscheidet sich wesentlich von der (ideal-)typischen Verfassungsänderung, die - ohne Ansehen der polit. Tagesordnung - abstrakte Grundnormgebung ist und die sachliche, zeitliche und territoriale Allgemeinheit des Verfassungsgesetzes bewahrt. Die V. widerstreitet dem Vorrang- und Verrechtlichungsanspruch der Verfassung, die Vorgabe und nicht Gegenstand des polit. Prozesses sein soll. Aus diesem Grunde ist die V. prinzipiell rechtfertigungsbedürftig. Sie ist andererseits auch rechtfertigungsfähig: Die temporale V. nimmt Rücksicht auf tatsächliche Umstände, die der uneingeschränkten Geltung von Verfassungsnormen entgegenstehen, aber zielt zugleich auf die Wiederherstellung der Normalverfassung (—> s.a. Notstandsverfassung). Die territoriale V. schützt regionale Traditionen, rechtl. oder tatsächliche Besonderheiten in bestimmten Räumen oder einzelnen Ländern und leistet so einen Beitrag zur bundesstaatl. Integration - z.B. Art. 118a GG, der -> Berlin und -> Brandenburg von den allgemeinen Regeln der Länderneugliederung freistellt. Wie die örtliche öffnet auch die sachliche Durchbrechung das Verfassungsrecht für jeweils angemessene, zweckmäßige Regelungen und erweist sich damit als Maßnahmegesetz auf
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Verfassungseid
Verfassungsgerichtsbarkeit
Verfassungsebene und Institut der Einzelfallgerechtigkeit. Lit: H. Ehmke: Verfassungsänderung und Verfassungsdurchbrechung, in: AöR 1953/1954, S. 385ff.; U. Hufeid: Die Verfassungsdurchbrechung, Berlin 1997.
Ulrich Hufeid Verfassungseid -> Amtseid Verfassungsgerichtsbarkeit V. ist heute integraler Bestandteil westlich geprägter Verfassungsstaatlichkeit. Der Weg bis zu diesem Befund ist nicht geradlinig verlaufen. Wenn V. gerne als „Schlußstein" der Verfassungsstaatlichkeit bezeichnet wird, deutet dies bereits an, daß sie nicht am Beginn moderner Staatlichkeit gestanden hat. 1. Wenn man in vergröberndem Zugriff auf das Thema die theoretische Konstruktion moderner Staatlichkeit mit der Konzeption von T. Hobbes ((1588-1679) identifiziert, sieht man wesentliche Strukturmerkmale: Der Bürgerkrieg als „schrecklichster der Schrecken" ist nur überwindbar, wenn der -> Staat das Gewaltmonopol effektiv behaupten kann, d.h. der Staat muß durch die alleinige rechtl. und faktische Befähigung zur einseitigen Willensbildung und -durchsetzung stärker sein als alle intermediären Kräfte in der Gesellschaft und auch stärker als alle individuell privatautonome Kraft. Zur Friedenssicherung nach innen und außen muß der Staat Hoheitsträger mit Monopolstellung sein. Moderne Staatlichkeit ist also durch die superordinierte Staatsgewalt über den gehorsampflichtigen subordinierten Bürger gekennzeichnet. Diese hobbesianische Sicht steuert Bleibendes und Wichtiges für den modernen Staat bei: Er ist territorial begrenzte Macht- und Rechtseinheit - aber er ist, wegen seiner hoheitlichen Willensmacht, nicht ungefährlich. Hobbes sieht das Problem nicht; er ist von der Bürgerkriegssituation so sehr erschüttert, daß er eine Macht, die den Bürgerkrieg beenden kann, allemal für eine Verbesserung der
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Lage des einzelnen hält. Er stellt sich aber nicht mit der nötigen Intensität dem dahinterliegenden Problem, wie institutionell verhindert werden kann, daß der Schrecken, der in dem Wort kulminiert, nach dem der Mensch des Menschen Wolf ist („homo homini lupus est") durch jenes Erschrecken abgelöst wird, das entsteht, wenn „princeps homini lupus est" gilt. Solche Denaturierung der —> Staatsgewalt ist vielfache histor. Realität, die durch die techn. Realisation sogar eine Steigerung erfahren hat, die der engl. Jurist Hobbes im Schrecken erfahren - sich nicht einmal vorzustellen vermocht hätte. Seine Hoffnung auf christl. determinierte moralische Bindung des Herrschers als Lösung dieses Problems konnte nicht ernstlich genügen, weil sie sich allzu leicht als bloß frommer Wunsch herausstellen konnte und herausgestellt hat - um aus der jüngsten Vergangenheit nur den -> Nationalsozialismus zu nennen. Andererseits lehrt die Gegenwart, man schaue nur auf das zerfallene Jugoslawien unserer Tage, daß die elementare Angst vor der Abwesenheit von Staatsgewalt im Bürgerkrieg unverändert aktuell ist. Die Lösung des Problems mag man mit dem Schlagwort „westliche Verfassungsstaatlichkeit" erfassen, die wiederum in der Sattelzeit der Aufklärung mit den sich verfeinernden Staatsvertragskonstruktionen vorbereitet worden ist. Das Gefahrenpotential des mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten hochheitlichen Staates liegt in seiner schrankenlosen Qmnikompetenz (der Staat in der Epoche der techn. Realisation sogar seine Omnipräsenz - die der histor. absolutistische Staat faktisch nicht besessen hat: „Moskau ist weit!" - zur Seite stellen kann, was den Staat des 20. Jhd.s eben so ungeheuer gefährlich macht). Die modernen Staatsvertragskonstruktionen erkannten, daß der Hoheitlichkeit des Staates Schranken gezogen werden mußten. Sie sahen, daß das Individuum den Staat zu seinem Nutzen eingerichtet hat, als Einrichtung der Sicherheits- und Wohlfahrtgewähr (vom „pursuit
Verfassungsgerichtsbarkeit of happiness" wird im ersten Gründungsdokument westlicher Verfassungsstaatlichkeit für die späteren USA die Rede sein). Für solche Zweckverfolgung wird der Bürger gehorsams- und leistungspflichtig. Die Naturrechtslehrbücher der Aufklärung (-> Naturrecht) verdeutlichen, daß sich die Zwecke des Staates aber auch in diesen Zielen erschöpfen: Mehr Freiheit, als für die Verfolgung solcher Zwekke erforderlich ist, will der Bürger nicht aufgeben. Damit ist ein cantus firmus angeschlagen, der die Folgediskussion um die Struktur staatl. Willensbildung und um die Staatsfunktionen bestimmen wird. Die Deklaration der Menschenrechte 1789 und die -> Bill of Rights in der USVerfassung sind die greifbaren Signale des Siegeszuges des Selbstbehalts an —> Freiheit des Bürgers dem Staat gegenüber. 2. Die prinzipiellen Lösungsvorschläge sind für die verfassungsmäßige Seite grosso modo in das amerik. und das frz. Modell zu unterscheiden: Beide Modelle erkennen, daß die monarchische Herrschaftsstruktur durch das demokrat.-republikanische Formprinzip abgelöst werden mußte, Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung des Volkes. Die Ausgestaltung der Modelle unterscheidet sich aber erheblich. Das Modell Rousseaus (17121778), das für Frankreich prägend geworden ist, vertraut auf das Mehrheitsprinzip, das auf der fiktionalen Identifizierung des -> volonté général mit dem volonté de tous beruht und damit die Ergebnisse staatl. Willensbildung einer maßstabsgebundenen Kontrolle entzieht. Rousseau als Genfer Bürger findet seine Aversion gegen die Fremdkontrolle des volonté général bis heute in der Schweizer Bundesverfassung (Art. 113 Abs. 3 SchBV) wieder. Dem Schweizer Bundesgericht ist die Gültigkeitskontrolle der Bundesgesetzes (kantonale Gesetze müssen hingegen auf ihre Vereinbarkeit mit Bundesrecht geprüft werden) versagt. Das hängt auch damit zusammen, daß die Schweiz eine breite Zone volksunmittelbarer Gesetzgebung kennt. Repräsentatives Entscheiden
Verfassungsgerichtsbarkeit läßt sich durch das Amtsprinzip, dem der Repräsentant unterworfen ist, an Gesetz und Recht binden; solche Bindungen sind für den plebiszitär agierenden Bürger nur schwer postulierbar mit der Folge, daß er auch nicht verfassungsgerichtlich korrigierbar ist. Auch der frz. Verfassungsrat (Conseil Constitutionel, —> Verfassung, frz.) ist bis heute auf eine präventive Kontrolle von Gesetzen beschränkt. Dieser frz.-rousseauistische Rechtskreis hat gegenüber einer den Willen des parlament. Normgebers korrigierenden Gerichtsbarkeit auch stets das Argument des AntiDemokratischen zur Hand, wenn demokrat. legitimierte Mehrheitsentscheidungen richterlich kontrolliert werden. Der Fall der Normverwerfung ist besonders evident: Der Richter wird zum negativen Gesetzgeber. 3. Eine erste Idee einer gestuften Rechtsordnung - gedankliche Voraussetzung für den richterlich zu sichernden Vorrang der —> Verfassung - liefert, bevor der Gedanke eines omnikompetenten Gesetzgebers sich in England endgültig bahnbricht, Sir E. Coke (1552-1634) als oberster Richter in seinen Meinungsverschiedenheiten mit den Stuarts, als er 1610 im berühmten Bonham's Case entschied, daß Akte des Parlaments gegen allgemeine Rechtsgrundsätze verstoßen könnten und dann als nichtig zu verwerfen seien. Coke hat sich mit dieser Lehre in England nicht durchsetzen können; die „doctrine of judicial supremacy" ist aber gleichsam in die amerik. Kolonien ausgewandert, und sie hat dort Wurzeln geschlagen, wie einige Entscheidungen der Staatengerichte zeigen,die eine Überprüfbarkeit von Parlamentsakten am Maßstab der Verfassung bejahen bzw. die Vorstellung einer Omnipotenz des Parlaments als Angriff auf Ehre und Selbstverständnis des Staates verwerfen, in dem nur Gott und die Verfassung omnipotent seien (Trevett vs. Weeden (Rhode Island) 1786: It is the business of the court „to judge and determine what acts of the general assembly were agreeable to the Constitution"; Ba957
Verfassungsgerichtsbarkeit yard vs. Singleton (North Carolina) ( 1787); Lindsay and others vs. Charleston Commissioners, (South Carolina) (1796); Kamper vs. Hawkins, 1 Virginia Cases 20, 36, 38, 60 (Virginia) (1793): „The supposed 'omnipotence of parliament', which is an abominable insult upon the honor and good sence of our country, as nothing is omnipotent as it relates to us, either religious or political, but the God of Heaven and our Constitution." (Judge Tyler p. 60). 4. Der Gedanke, der damit grundgelegt wird, daß eine Verfassung als „paramount law of the land" —> Grundrechte in einer gewaltengegliederten -> Demokratie gewährt, war in den Kolonien in Nordamerika also durchaus geläufig. Die -> Verfassung der USA nimmt dieses Gedankengut 1787 als Prinzip auf: Sie schreibt die Limitierung der -> Staatszwecke schon in der Präambel fest. Weiter ergibt sich der Vorrang der Verfassung z.B. ganz deutlich aus der der Verfassung bald nach ihrem Erlaß zugefugten Bill of Rights, die mit einem staatsrechtl. aufregenden Satz beginnt, der signifikanterweise in der Déclaration des droit de l'homme von 1789 gefehlt hatte: „Congress shall make no law . . . " (First Amendment), das die dann aufgezählten Freiheiten verletzen dürfe. Adressat grundrechtl. Bindung ist folglich die gesetzgebende Gewalt, also die Mehrheit, der ein unbeschränktes hoheitliches Handlungsmandat nicht zugestanden wird. „Maior pars homini lupus est" ist damit als Möglichkeit ebenfalls ausgeschlossen. Dieser Gedanke des Minderheitenschutzes war in den Kolonien naturgemäß besonders plausibel, waren doch ein erheblicher Teil der Siedler deshalb aus ihren Herkunftsländern ausgewandert, weil ihre Minderheitenrechte dort mißachtet worden waren. Aber auch die Mehrheit muß gelegentlich vor sich selbst geschützt werden. Diese Ideen einer alle Staatsgewalt bindenden Verfassung sollte auch effektiv sein, mußte also kontrolliert werden kön-
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Verfassungsgerichtsbarkeit nen. Die Verfassung vertraut die Wahrung ihres Vorrangs deshalb dem Richter an. Diese gewaltenteilungsrechtl. außerordentlich weittragende Konzeption findet sich in einer überraschend knappen, aber auch überraschend vielsagenden Formel. „All cases or controversies arising under this Constitution" sollen durch den -> Supreme Court entschieden werden (Art. ΠΙ sec. 2). Wenn man so will, ergibt sich der Vorrang der Verfassung schon aus der Sprechweise, daß die zu entscheidenden Rechtsfragen solche sind, die als „arising under the Constitution" bezeichnet werden. Damit sind, was der zitierte Art. DI sec. 2 noch näher verdeutlicht, die Wurzeln verfassungsgerichtlicher Zuständigkeit gelegt. Für den Supreme Court geht es um einen entscheidbaren Fall, wenn die Staatsleitungsorgane in einen Kompetenzkonflikt geraten ( - » Organstreit), oder wenn Union und Gliedstaaten (states) oder die Gliedstaaten untereinander über ihre wechselseitigen Pflichten streiten (foderale Streitigkeiten, BundLänder-Streitigkeiten). Damit sind die wesentlichen und klassischen Verfassungs- und Staatsgerichtsfunktionen benannt. Hinzu tritt noch das Anklageverfahren gegen den Präsidenten, das grosso modo in den Sektor der Verfassungsschutzzuständigkeiten der Verfassungsgerichte gehört (-> Impeachment). In der Verfassung nicht explizit geregelt ist die Frage, ob der Richter nunmehr auch den Gesetzgeber korrigieren durfte mit der Behauptung, ein Gesetz sei verfassungswidrig. War die Frage nach der Gültigkeit einer Norm ein „case"? - Der Supreme Court hat die Frage bekanntlich unter Chief Justice Marshall in Marbury vs. Madison (1803) insoweit bejaht, wie die Frage der Nonngültigkeit im Rahmen eines Rechtsstreits Inzident aufgeworfen wird. Der Supreme Court Richter nimmt also ohne ausdrückliche verfassungsrechtl. Ermächtigung die Kompetenz in Anspruch, Gesetze für nichtig zu erklären. Die Supreme-Court-Lösung bettet die verfassungsgerichtliche Streitschlichtung in
Verfassungsgerichtsbarkeit die Funktionen eines obersten Bundesgerichts ein, das vornehmlich (Bundes-) Revisionsgericht ist. Diese Lösung ist im angelsächs. Rechtsraum sowie in Mittelund Südamerika bis heute durchaus verbreitet. Ein solches oberstes Gericht ist nicht (nur) Verfassungsfachgericht. Den obersten Richtern steht zur Verfassungsauslegung nur das letzte Wort zu - nicht das erste und letzte. 5. Der Sogkraft des amerik. Weges hat sich westliche Verfassungsstaatlichkeit nicht mehr entziehen können. Allerdings ist organisatorisch die Verfassungssicherung in der jüngeren und jüngsten Vergangenheit nicht mehr Revisionsgerichten, sondern zumeist verselbständigten spezialisierten Verfassungs-(fach)gerichten zugewiesen worden. Pionier-Funktion kommt insofern der Reichsverfassung der Paulskirche zu (-> Frankfurter Nationalversammlung). Sie richtet in den §§ 125ff. RV 1849 ein Reichsgericht ein, dem Organstreitfunktionen (in einem weitverstandenen Sinne), föderale Streitschlichtungsaufgaben zwischen dem Reich und den Gliedern und unter den Reichsgliedern sowie gewisse Verfassungsaufsichtsfunktionen über die gliedstaatl. Verfassungen - übrigens auch auf Initiative des einzelnen Bürgers hin (§ 125 lit. f.) - zugewiesen wurden. Hinzu kam die Verfassungsbeschwerde (§ 125 lit. g): „Zur Zuständigkeit des Reichsgerichts gehören Klagen dt. -> Staatsbürger wegen Verletzung der durch die Reichsverfassung ihnen gewährten Rechte". Nach diesem Modell konnten Verfassungsrechtsfragen nicht mehr im Ungewissen bleiben. Die Staatsorgane, Reich und Glieder, sowie die Bürger werden, soweit ihre eigene Kompetenz- oder Grundrechtssphäre betroffen ist, zum Hüter der Verfassung, indem ihnen der Weg zum Verfassungsfachgericht geöffnet wird. 6. Wegen des Scheiterns der Revolution ist der Reichsgerichtsvorschlag Episode geblieben. Die -» Weimarer Reichsverfassung hat die markante Linie der Paulskirche nur einigermaßen verdünnt aufge-
Verfassungsgerichtsbarkeit nommen. Organstreitigkeiten sollte der Reichsstaatsgerichtshof (RStGH) - subsidiär zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit - nur bei Verfassungsstreitigkeiten in einem Land entscheiden dürfen (mit weitherziger Auffassung zur Parteifähigkeit, z.B. polit. Parteien: NSDAP von Mecklenburg vs. Mecklenburg vom 22.5.1928, RGZ 120 Anhang S. 19) - nicht für Reichsorganstreitigkeiten; insofern war nur die Ministeranklage vorgesehen. Föderal war der RStGH für Interessenkonflikte der Glieder (berühmter Fall: Baden vs. Württemberg wegen Donauversickerung, RGZ 116 Anhang S. 18) und die Konflikte zwischen Reich und Ländern zuständig (Art. 19 Abs. 1 sowie Art. 15 Abs. 3 WRV für die Aufsichtsstreitigkeiten) (berühmter Fall am Ende der -> Weimarer Republik der „Preußenschlag", die Amtsenthebung der Preuß. Regierung durch die nationalsozialistische Reichsregierung, s. Preußen vs. Reich vom 25.7. 1932 RGZ 137 Anhang S. 65). Für Normkollision zwischen Landes- und Reichsrecht war nach Art. 13 Abs. 2 WRV allgemein das Reichsgericht und für Spezialfälle der Reichsfinanzhof (und nicht der RStGH) zuständig. Ein Verfahren —» abstrakter Normenkontrolle war nicht vorgesehen; die Frage der Zulässigkeit der -> konkreten Normenkontrolle (nach dem Vorbild von Marbury vs. Madison, s. o.) war in der Verfassung nicht beantwortet, so daß diese Frage zu den großen staatsrechtl. Kontroversen der Weimarer Republik gehörte. Gegen Ende der Weimarer Republik waren die Weichen dann in Richtung auf eine konkrete Normenkontrolle gestellt. Die WRV sah also eine begrenzte Verfassungsfachgerichtsbarkeit vor. Das Prinzip einer spezialisierten Verfassungsfachgerichtsbarkeit ist dann unter der maßgeblichen Mitwirkung von H. Kelsen und A. Merkl zuerst in dem Bundesverfassungsgesetz der Republik Österreich vom 1.10.1920 verwirklicht worden. Föderale Streitschlichtung, Organstreitverfahren (noch nicht voll ausgeprägt), 959
Verfassungsgerichtsbarkeit Normenkontrolle und Verfassungsbeschwerde sind die Schwerpunktkompetenzen des öst. Verfassungsgerichtshofes. Nach dem I. Weltkrieg beginnt sich die Einsicht durchzusetzen, daß erst richterliche Kontrolle (also Verwaltungs- und V.) die Hoheitlichkeit des Staates rechtsstaatl. erträglich macht, und daß dies auch für die Herrschaftsform gilt, in der die Herrschaftsausübung auf das Volk zurückgeführt werden muß (—> Volkssouveränität). Schon als Element des polit. Gefiiges moderiert sie Staatsgewalt, als korrektive Kraft weist sie ihr Schranken. Aus Selbstschutzgründen erwächst auch dem Bürger die —> Legitimation, ein solches Verfahren mit dem Ziel zu initiieren, dem Staat seine verfassungsrechtl. Schranken aufzuzeigen. Aus dem gefährlichen Leviathan des T. Hobbes wird der gezähmte westliche Verfassungsstaat. Der Preis dafür ist allerdings eine gewisse Juridifizierung der Politik. Nach dem Π. Weltkrieg ist der Siegeszug des Prinzips Verfassungsfachgerichtsbarkeit nicht mehr aufzuhalten gewesen. Italien und die Bundesrepublik Deutschland haben Voll-Verfassungsgerichtsbarkeiten im Sinne von Verfassungsfachgerichten etabliert; Portugal und Spanien sind nach ihren Revolutionen diesem Vorbild gefolgt. In Asien hat Korea solche V. adoptiert. Der Umbruch in Osteuropa hat überall zur Übernahme des Modells Fach-Verfassungsgerichtsbarkeit geführt. In allen Verfassungsreformen der jüngeren Vergangenheit ist das Prinzip ,richterliche Kontrolle" gegenüber der Staatsgewalt und zur Sicherung des staatl. Willensbildungsprozesses gestärkt worden. 6. Der dt. —> Bundesstaat leistet sich unter dem Grundgesetz den „Luxus" einer duplizierten V. Neben dem - » Bundesverfassungsgericht mit seiner Verantwortlichkeit für die Bewertung der grundgesetzlichen Maßgaben verfügen auch (mit Ausnahme Schleswig-Holsteins) alle Länder über je eigene Verfassungsgerichte, deren Tätigkeit sich insbes. am Maßstab der jeweiligen Landesverfassung ausrichtet. (->
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Verfassungskonflikt Landesverfassungsgerichtsbarkeit). Funktionale V. übt schließlich auch noch der -»· Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg aus. Lit: A. v. Brünneck: Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, Baden-Baden 1992; U. Scheuner: Die Oberlieferung der dt. Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jhd., in: Bundesverfassungsgericht und GG, Bd. 1, Tübingen 1976. S. Iff.; R. Wahl: Der Vorrang der Verfassung, in: Staat 1981, 485ff; K.-G. Zierlein: Die Bedeutung der Verfassungsrechtsprechung für die Bewahrung und Durchsetzung der Staatsverfassung. Ein Oberblick über die Rechtslage in und außerhalb Europas, in: EuGRZ 1991, S. 30 Iff. Wolfgang Löwer Verfassungskonflikt Ein V. ist ein Konflikt zwischen verschiedenen Verfassungsorganen bzw. durch die —> Verfassung mit jeweils eigenen —» Kompetenzen ausgestatteten Ebenen der Hoheitsgewalt über deren Rechte bzw. Pflichten aufgrund einer Verfassung. Bedeutende V.e in der dt. Verfassungsgeschichte der Neuzeit sind zum einen der Hannoversche V. 1837, zum anderen der preuß. V. 1861- 1866. Im Hannoverschen V. verweigerte der neue König Emst August von Hannover, der schon früh gegenüber der Verfassung von 1833 geltend gemacht hatte, daß sie - wie in vorabsolutistischen Zeiten - an die Zustimmung aller Erben gebunden sei, nach seiner Thronbesteigung 1837 den Eid auf die Verfassung, vertagte den - » Landtag und erklärte am 1.11.1837 die Verfassung für ungültig. Den Eid der Beamten auf die Verfassung erklärte er für erloschen. Am 18.11.1837 erklärten 7 Göttinger Professoren, sie hielten sich weiterhin an ihren Eid gebunden. Diese wurden daraufhin fristlos entlassen, 3 von ihnen des Landes verwiesen. Die Opposition wandte sich gegen diesen —> Staatsstreich an den Bundestag, der auf Betreiben Preuß. s und Öst. s nicht eingriff, was im folgenden zur Schwächung von Ansehen und Autorität des Deutschen Bundes beitrug. Im-
Verfassungskonflikt merhin nahm die neue Verfassung des Königreichs Hannover aus 1840 auf den öffentl. Protest der liberalen Kräfte zumindest in Teilbereichen Rücksicht. Der preuß. V. hatte die seit 1860 betriebene Heeresreform zum Gegenstand. Gegen die Aufwertung der Armee auf Kosten der Landwehr und gegen die dreijährige Dienstzeit, die der 1860 vorgelegte Gesetzentwurf beinhaltete, wandte sich die Mehrheit des preuß. -» Abgeordnetenhauses. Nachdem das Abgeordnetenhaus 1860 und 1861 die begonnene Reorganisation in sog. Provisorien durch Bewilligung der geforderten Finanzmittel jeweils vorläufig gestützt hatte, forderte es nach dem Wahlsieg der liberalen Opposition ab 1861 eine Verstärkung des Parlament. —> Budgetrechts und verweigerte dem Militäretat mangels Kompromißbereitschaft des Königs 1862 die Zustimmung. Der von Wilhelm I. auf dem Höhepunkt des V. 1862 zum —> Ministerpräsident berufene Bismarck regierte fortan ohne Budget. Seine Regierung erklärte die Beschlüsse des -> Landtages, dessen liberale Mehrheit sich ungeachtet mehrfacher Auflösungen des Parlaments nicht änderte, für ungültig. Bismarck entwickelte ferner die sog. Lückentheorie, wonach bei fehlendem Haushaltsbeschluß des -> Parlaments die —• Regierung berechtigt sei, die Verwaltung wie bisher fortzuführen. Nach der Lösung der Schleswig-Holstein-Frage 1864 gelang ihm allmählich die Spaltung des liberalen Lagers; mit Einbringung und Annahme der sog. Indemnitätsvorlage nach dem Sieg Preuß. s im Krieg gegen Öst. 1866 wurde der V. verfassungsrechtl. beigelegt. Im (Verfassungs-) —> Rechtsstaat der BRD werden V. im Rahmen des durch das GG zur Verfügung gestellten Konfliktlösungsmechanismus bewältigt. Hierzu zählen namentlich die in Art. 93 Abs. 1 GG aufgelisteten Verfahrenstypen vor dem -> Bundesverfassungsgericht. Demgegenüber fehlt es an einer entsprechend deutlichen Klärung der Möglichkeiten zur Lösung von V. im Hinblick auf die Euro-
Verfassungspatriotismus päisierung des materiellen —> Verfassungsrechts. Die Rechtsprechung des BVerfG zu eigenen Kontrollkompetenzen im Hinblick auf Hoheitsakte des Gemeinschaftsrechts ist geeignet, solche V. mit europ. Bezug wegen der unterschiedlichen Vorrangansprüche des nationalen Rechts in der Interpretation des BVerfG und des Europarechts in der Interpretation des —> Europäischen Gerichtshofs zu fördern. Lit.: P. Lange: Die Letztentscheidungsbefugnis des BVerfG bei Verfassungskonflikten, in: Verwaltungsrundschau 1979, S. 48ff.; T. Nipperdey: Dt. Geschichte 1800 - 1866, München 1983.
Jörg Ukrow Verfassungskontrolle —> Bundesverfassungsgericht Verfassungsorgan / -e —> Staatsorgan Verfassungspatriotismus Gegenüber einem am Volk und an blutsmäßiger Abstammung orientierten und im Laufe der dt. Geschichte moralisch diskreditierten Nationalpatriotismus meint V. eine Form von kollektiver Identitätsstiftung, die sich auf republikanische Tradititon und die Bildung einer demokrat. Kultur bezieht. In der —> Verfassung und den in ihr kodifizierten -> Menschenrechten kristallisieren sich die Gemeinsamkeiten der —> Republik. Die Idee hat frühe Wurzeln, wird aber in der hier definierten Weise begründet in einem Artikel von Dolf Stemberger zum 30. Jahrestag der Verkündung des —> Grundgesetzes. Darin heißt es, daß sich unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotismus ausgebildet habe, der eben auf die Verfassung sich gründe. Das Nationalgefühl bleibe verwundet, die Westdt. lebten nicht im ganzen Dtld. Aber sie lebten in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das sei selbst eine Art von Vaterland. U.a. wurde die Vorstellung eines „aufgeklärten Patriotismus" von R. von Weizsäcker aufgegriffen, v.a. 1986 im „Historikerstreit" von J. Habermas prononciert vorgetragen. Die Vorstel-
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Verfassungsrecht
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lung vom V. hat deskriptive und normative Dimensionen. Von liberaler und linker Seite wird sie wegen ihres rationalen Anspruchs und ihrer ethischen Zielvorstellungen begrüßt, während konservative Kritiker auf mangelnde emotionale Bindefahigkeit dieses Konstrukts hinweisen. Als Problem bleibt offen, inwieweit durch den V. die Spannung zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit thematisiert wird. Abzuwarten ist, ob das Konzept nach der dt. Vereinigung noch eine breit akzeptierte Legitimationsgrundlage bietet. Lit: G.C. Behrmann / S. Schiele: Verfassungspatnotismus als Ziel polit. Bildung?, Schwalbach/Ts. 1993; J. Gebhardt: Verfassungspatriotismus als Identitätskonzept der Nation, in: APuZ 14/1986, S. 29ff; J. Habermas: Eine Art Schadensabwicklung, in: Historikerstreit, München 3 1987, S. 62fF.
Klaus-Peter Hufer Verfassungsrecht Das V. hat sich - anders als die Staats- und Verfassungslehre - stets auf eine konkrete —> Verfassung zu beziehen. Das dt. V. versteht die Verfassung als rechtl. Grundordnung eines Gemeinwesens und ist damit Teil des dt. -> Staatsrechts. Insoweit die Verfassung nicht nur die Ordnung des staatl. Lebens erfaßt (—» Ehe, —> Familie etc.), reicht das V. über das Staatsrecht hinaus, andererseits ist es beschränkt auf die grundlegenden Rechte des —> Staates. Dazu zählen v.a. sämtliche Rechtssätze der Verfassung (formelles V.) sowie weitere einfachgesetzliche Regelungen (z.B. Bundeswahlgesetz) oder —» Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane (materielles V.). Die Eigenart des (formellen) V.s beruht zum einen auf seinem Rang innerhalb der innerstaatl. Normenhierachie a), zum anderen auf der Besonderheit seines Regelungsgegenstands b): a) Als höchstrangiges Recht im Staat wird der Geltungsgrund des V.s nicht von einer anderen Rechtsnorm abgeleitet, sondern ruht in ihm selbst („Die Verfassung sagt ich zu sich selbst", Luhmann). Entspre962
chend sind die im Rang unter dem V. stehenden Rechtsnormen verfassungskonform auszulegen und werden im Falle einer Normenkollision mit dem V. ex tunc nichtig (Stufenordnung). Darüber hinaus regelt die Verfassung die Rangordnung des V. und ihre eigene Änderbarkeit / Nichtänderbarkeit (vgl. Art. 79 Abs. 1-3 GG). b) V. ist polit. Recht. Das bedeutet, daß es erstens die Kompetenzen und Formen der polit. -» Organe sowie ihre Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse regelt (z.B. Art. 65 GG), daß es zweitens die Strukturprinzipien des Staates normiert (vgl. Art. 20 und 28 GG) und daß es drittens in Form der -» Grundrechte einen prinzipiellen Wertrahmen als Schranke des polit. Prozesses vorgibt. Aus diesen Funktionen ergibt sich, daß zur Verwirklichung der Verfassung das V. weder beliebig gestaltbar noch abschließend zu kodifizieren ist, sondern offen für die gesellschaftl. Entwicklung eines polit. Gemeinwesens bleiben muß. Daher kommt der Konkretisierung und Aktualisierung des V. durch die Verfassungspraxis der Verfassungsorgane, durch die Regelungen des Gesetzgebers und durch Rechtsfortbildung des —> Bundesverfassungsgerichts eine entscheidende Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang erscheint als eine der gegenwärtig wichtigsten Herausforderungen die Intemationalisierung (vgl. dazu die Transformationsregel des Art. 25 GG) und insbes. die Europäisierung des V.s. Nach Abschluß des Maastrichter -> EU-Vertrages ist diesem Prozeß verfassungspolitisch durch die Neufassung des Art. 23 GG Rechnung getragen worden, der nunmehr den vormals aus der —> Präambel und dem Art. 24 Abs. 1 GG entnommenen Gedanken der grundsätzlichen Offenheit gegenüber dem -> Europäischen Gemeinschaftsrecht expliziert. Lit: HdbVerfR, S. 3ff.; J. Ipsen (Hg.): Verfassungsrecht im Wandel, Köln 1993.
Oliver Lembcke
Verfasungsreform
Verfassungsschutzbehörden
Verfassungsreform -> Gemeinsame Verfassungskommission Verfassungsschutz schutzbehörden
-»
Verfassungs-
Verfassungsschutzbehörden Der —> Parlamentarische Rat hat aus den Erfahrungen der gegenüber Verfassungsfeinden mit unzureichenden Schutzvorkehrungen ausgestatteten —> Weimarer Republik gelernt und - erstmals in Dtld. - mit der Verankerung der wehrhaften —> Demokratie im GG dem Problem der Sicherung der Grundlagen der Verfassungsordnung hohe Priorität eingeräumt. Zum Instrumentarium der wehrhaften Demokratie gehören neben dem verfassungs- und strafrechtl. auch der verwaltungsrechtl. Verfassungsschutz; hierzu zählen v.a. die Verf. Β : das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit Sitz in Köln (1996: 2.215 Bedienstete) und - entsprechend der föderativen Struktur der BRD und gleichgeordnet - die Landesämter für Verfassungsschutz (in 10 Ländern, u.a. in Bay. und TH) bzw. die speziellen Abt.en in den Innenministerien der Länder (in 6 Ländern, u.a. in MV und Rh.-Pf.). Die Ämter für Verfassungsschutz sind selbständige Bundes- bzw. Landesoberbehörden und unterstehen dem jeweiligen Innenminister. Das BfV ist - seinen Aufgabenbereichen entsprechend - heute organisatorisch in 6 Abt.en gegliedert. Neben der Abt. Ζ „Personal, Haushalt, Justitiariat, EDV" und der Abt. I, die sich allgemeinen zentralen Fragen widmet, besteht es aus 4 Fachabt.en: Rechtsextremismus und -terrorismus, Linksextremismus und -terrorismus, Spionagebekämpfung / Geheim- und Sabotageschutz und Sicherheitsgefährdende Bestrebungen von Ausländern. Verfassungsrechtl. verankert (Art. 73 Nr. 10b und 87 Abs. 1 S. 2 GG), wirken die zur Zusammenarbeit untereinander verpflichteten Verf.B. (§ 1 BVerfSchG) als eine Art Frühwarnsystem präventiv im Vorfeld der polizeilichen Gefahrenabwehr
und Strafverfolgung. Ihre Aufgabe besteht darin, auf den ihnen gesetzlich zugewiesenen Tätigkeitsfeldern (§ 3 BVerfSchG) über offene, allgemein zugängliche Quellen (80% der Informationsgewinnung) und - in gesetzlich eng begrenztem Rahmen und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (§ 8f. BVerfSchG) mit Hilfe nachrichtendienstlicher Mittel (heimliche Informationsbeschaffung, z.B. Einsatz von V-Leuten, Post- und Telefonüberwachung) Informationen insbes. über verfassungsfeindliche Bestrebungen und Aktivitäten zu sammeln, die Daten auszuwerten und zu speichern und ihre Kenntnisse in erster Linie an den jeweils zuständigen Minister, aber z.B. auch an die —> Staatsanwaltschaft und die —> Polizei und - über die der -> Öffentlichkeit zugänglichen Verfassungsschutzberichte - an interessierte gesellschaftl. —> Institutionen weiterzuleiten. Um die Gefahr einer Machtanhäufung beim Verfassungsschutz möglichst auszuschließen, sind die Verf.B. organisatorisch von der Polizei getrennt und besitzen keine polizeilichen Befugnisse, d.h. sie dürfen weder Personen festnehmen noch Wohnungen durchsuchen oder Gegenstände beschlagnahmen. Polizei und Verfassungsschutz sind jedoch zum Zwecke des Informationsaustausches auf eine enge Zusammenarbeit angewiesen. Gleiches gilt auch für das Verhältnis zwischen dem Verfassungsschutz und den beiden anderen, organisatorisch selbständigen Nachrichtendiensten, dem -> BND (Auslandsaufklärung) und dem —> MAD (zuständig für die Sicherheit der —> Bundeswehr). Um einen freiheitsgefährdenden Mißbrauch der Kompetenzen durch den Verfassungsschutz möglichst zu unterbinden, unterliegt dieser einer Vielfalt von Kontrollen. Es lassen sich 4 Kontrollebenen unterscheiden: die verwaltungsinterne Kontrolle durch den jeweils zuständigen Minister (-> Dienst- und -> Fachaufsicht), den -> Rechnungshof und den -» Datenschutzbeauftragten, die parlament. Kontrolle (insbes. durch die parlament.
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Verfassungsschutzbehörden Kontrollkommission), die richterliche Kontrolle (aufgrund des Tätigkeitsfeldes ist —> Rechtsschutz jedoch nur begrenzt möglich) und die Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Trotz der strengen Rechtsbindung und der umfangreichen Kontrolle des Verfassungsschutzes ist verschiedentlich Unbehagen wegen einzelner nachrichtendienstlicher Methoden und deren Anwendung in der Praxis (z.B. Fall Traube 1975/76) artikuliert worden. Es bleibt letztlich ein nicht gänzlich aufzulösendes Spannungsverhältnis zwischen Verf. schütz (Wert: Effektivität) und Rechtsstaatlichkeit (Wert hier: Persönlichkeitsschutz), das im Zweifelsfall zugunsten der Freiheit entschieden werden muß. In den 70er Jahren geriet der Verf. schütz aufgrund seiner Mitwirkung bei der Prüfung der —> Verfassungstreue von Bewerbern für den —> öffentlichen Dienst und der dadurch bedingten Ausweitung seiner Tätigkeit in eine Akzeptanzkrise. Die Folge davon war eine verstärkte Diskussion darüber, ob in einer freiheitlichen, offenen Gesellschaft Verf.B. abgeschafft, zumindest aber ihre Aufgaben eingegrenzt werden sollten. Die veränderten internationalen und innerdt. Rahmenbedingungen seit 1989 führten dann zu einem - teilw. erheblichen - Personalabbau. Auch die Frage einer Existenzberechtigung von Verf.B. wurde erneut aufgeworfen. 1992 vollzog sich, bedingt durch den starken Anstieg rechtsextremistischer Gewalttaten, ein Wandel. Die Verf.B. erfuhren wieder eine Aufwertung, und unter den demokrat. Parteien (Ausnahme: linker Flügel von -> Bündnis 90/Die Grünen) besteht heute ein breiter Konsens über die Notwendigkeit eines institutionellen Verfassungsschutzes und weitgehend ebenso über dessen Aufgabenstellung. Lit: W. Billing: Verfassungsschutz, in: K. Sontheimer / H.-H. Röhring (Hg.), Handbuch des polit. Systems der BRD, München 21978, S. 606ff.; Bundesamtßr Verfassungsschutz (Hg.): Verfassungsschutz in der Demokratie, Köln 1990; dass. (Hg.): Bundesamt für Verfassungsschutz.
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Verfassungstreue Aufgaben - Befugnisse - Grenzen, Köln 1992; HJ. Schwagerl: Verfassungsschutz in der BRD, Heidelberg 1985.
Werner Billing Verfassungsstaat -* Verfassung -> Konstitutionalismus Verfassungsstreitigkeit -> Bundesverfassungsgericht Verfassungstreue „Treue zur Verfassung" wird verfassungsrechtl. ausdrücklich nur in Art. 5 Abs. 3 S. 2 GG gefordert: Die Lehre fällt danach nicht in den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit, wenn gegen die V. verstoßen wird. Die Begrenzung des Art. 5 Abs. 3 S. 2 entspricht der allgemeinen beamtenrechtl. Pflicht zur V. (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 2 BRRG, § 7 Abs. 1 Nr. 2 BBG). Diese stellt den Kern der beamtenrechtl. Treuepflicht gem. Art. 33 Abs. 4 GG dar. Aber auch die sonstigen Angehörigen des —> öffentlichen Dienstes (-> Angestellte, —• Arbeiter) sind zur V. verpflichtet. Die Grundentscheidung des GG für eine -> streitbare Demokratie (Art. 2 Abs. 1, 9 Abs. 2, 18, 20 Abs. 4, 21 Abs. 2, 79 Abs. 3, 91, 98 Abs. 2 GG) schließt es aus, daß der —> Staat, dessen verfassungsmäßiges Funktionieren von der freien inneren Bindung seiner Bediensteten an die geltende -> Verfassung abhängt, zum Staatsdienst Bewerber zuläßt und im Staatsdienst Bewerber beläßt, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnen und bekämpfen. Dabei ist die Pflicht zur V. einer Differenzierung je nach Art der dienstlichen Obliegenheiten nicht zugänglich. Die Pflicht zur V. gilt erst recht für die -> Staatsorgane, was seinen Ausdruck z.B. im -> Amtseid von -> Bundespräsident, —> Bundeskanzler und -> Bundesministern findet (Art. 56, 64 Abs. 2 GG). Der gewöhnliche -> Bürger unterliegt demgegenüber keinem Gebot zur V.; in ausländischen Staaten wird ebenfalls V. im öffentl. Dienst verlangt; diesbzgl.e Maßnahmen unterliegen
Verhaltensregeln für Abgeordnete
Verfassungswidrigkeit dort einer erheblich geringeren Kontrolle als in der BRD. Lit: E.-W. Böckenförde / C. Tomuschat / D. Umbach (Hg.): Extremisten und öffentl. Dienst, Baden-Baden 1981; H.-H. Schräder: Rechtsbegriff und Rechtsentwicklung der Verfassungstreue im öffentl. Dienst, Berlin 1985.
Jörg Ukrow Verfassungswidrigkeit -> Verfassungsbeschwerde —> Verfassimgsgerichtsbarkeit Verhältnismäßigkeit —• Rechtsstaat Verhaltensregeln für Abgeordnete Die V. für Mitglieder des -> Bundestages ergänzen den Pflichtenkreis der Abgeordneten aus —> Grundgesetz und —> Geschäftsordnung des Dt. Bundestages um eine Reihe von Anzeige- und Veröffentlichungspflichten sowie das Verbot, bestimmte Zuwendungen anzunehmen. Die Abgeordneten als Vertreter des Volkes sollten im Idealfall aus allen Berufskreisen kommen, also auch aus dem Kreis der selbständigen Berufe (s.a. -> Parlamentarische Sozialstruktur). Sie können ihren Beruf im Prinzip neben ihrem Mandat fortführen. - » Inkompatibilitäten zwischen Mandat und Beruf gibt es nur für den —> öffentlichen Dienst (Art. 66 GG, § 5 Abs. 1 BMinG, § 42 BRRG). Ein gesetzliches Verbot der sonstigen freien Berufsausübung von Abgeordneten wäre sogar verfassungswidrig. Aus dieser Gleichzeitigkeit von Mandat und Berufsausübung können sich z.B. bei -> Rechtsanwälten und leitenden Angestellten oder Verbandsvertretern Konflikte ergeben. Die V. dienen der Vermeidung von Interessenkonflikten zwischen Mandat und wirtschaftl.-beruflichen —> Interessen der Abgeordneten und schaffen ein gewisses Maß an Transparenz der Verknüpfungen zwischen Parlament und sozialen bzw. wirtschaftl. Kräften. Die V. werden auf Grundlage von § 44a -> Abgeordnetengesetz vom Bundestag beschlossen und als Anhang I zur GOBT veröffentlicht. Ausführungsbestimmungen, die vom Präsi-
denten des Bundestages erlassen werden, konkretisieren die einzelnen Bestimmungen. 1. Die ersten V. für Abgeordnete wurden 1972 vom Bundestag beschlossen unter dem Eindruck einer Affäre, bei der es um einen Fraktionswechsel in Zusammenhang mit einem entgeltlichen Beratervertrag ging. Bereits mehrere Male zuvor hatte der Bundestag das Problem von Interessenkonflikten bei der Wahrnehmung des Mandats diskutiert, jedoch ohne zu konkreten Ergebnissen zu gelangen. Die V. von 1972 sahen Offenlegungspflichten für Nebentätigkeiten und Beraterverträge der Abgeordneten sowie für Spenden und Einnahmen aus Gutachten über einen festgesetzten Betrag hinaus vor. Im Rahmen der Geschäftsordnungsreform im Jahre 1980 wurden die V. als Konsequenz aus dem Diäten-Urteil des -> Bundesverfassungsgerichts von 1975 (BVerfGE 40, 296) um das Verbot bestimmter Zuwendungen an Abgeordnete ergänzt. Ferner wurden die V. durch Einfügung des § 44a AbgG auf eine gesetzliche Grundlage gestellt, die bis dato fehlte; der frühere Zustand war rechtsstaatlich bedenklich gewesen. Im Jahr 1986 wurden die V. weitgehend überarbeitet und die Regelung des § 44a AbgG konkretisiert und vertieft. Der ursprünglichen Konzeption, die V. in das AbgG zu integrieren, wurde jedoch nicht gefolgt. 2. Auch die Parlamente einer Reihe ausländischer Staaten haben Bestimmungen erlassen, welche die Offenlegung privater Interessen der Abgeordneten vorsehen. Bei der Debatte über die deutschen V. dienten die Vorschriften des —» US-Kongresses und des brit. —> Unterhauses als Vorbild. In den USA sieht der „Ethics in Government Act" von 1978 detaillierte Offenlegungspflichten für Abgeordnete und Senatoren vor. Darüber hinaus enthalten die Geschäftsordnungen von Senat und Repräsentantenhaus (-> Geschäftsordnung des US-Kongresses) einen Verhaltenskodex, der neben einer allgemeinen Abgeordnetenethik auch Verbote
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Verhaltensregeln für Abgeordnete bestimmter Zuwendungen vorsieht. Fragen des Verhaltenskodex werden von besonderen Ausschüssen der beiden Häuser behandelt. Verstöße gegen den Verhaltenskodex können mit Sanktionen bis zum Mandatsverlust geahndet werden. Im brit. Unterhaus wird dem Offenlegungsprinzip durch Führung eines öffentl. Registers (Register of Members' Interest) Rechnung getragen. In diesem werden Angaben über Nebentätigkeiten, bestimmte Zuwendungen, Auslandsreisen und Kapitalbeteiligungen der Abgeordneten gemacht. Bei Verstößen können Sanktionen durch das Parlament verhängt werden. Ähnliche Regelungen gibt es ferner in Australien, Japan, Kanada und Spanien. In Frankreich (—> Nationalversammlung, frz.) gibt es dagegen keine konkreten V., da hier das Prinzip der Inkompatibilität von Mandat und bestimmten Nebentätigkeiten gilt. Auch das Europäische Parlament hat auf Grundlage von Art. 9 seiner -> Geschäftsordnung (des EP) V. für seine Mitglieder beschlossen, die in Anlage I zur GO veröffentlicht sind. Danach sind die Abgeordneten verpflichtet, ein unmittelbar finanzielles Interesse an einem behandelten Thema dem Parlament mündlich mitzuteilen. Femer sollen die Parlamentarier Angaben über ihren Beruf und entgeltliche Tätigkeiten machen, die in einem Register zu veröffentlichen sind. Sanktionen gegen Zuwiderhandlungen sind jedoch nicht vorgesehen. 3. Formal-rechtl. sind die V. eine Ausnahmeerscheinung. Obwohl § 18 GOBT die V. als Bestandteil der GOBT ansieht, gehören sie nicht zum Geschäftsordnungsrecht im engeren Sinne, da sie nicht im Rahmen der Geschäftsordnungsautonomie des BT (Art. 40 GG) erlassen werden, die dafUr keine ausreichende Rechtsgrundlage bietet, sondern auf der Basis des aus diesem Grunde 1980 eingefügten § 44a AbgG. Sie werden durch einfachen Parlamentsbeschluß erlassen und sind somit kein Gesetzesrecht. Da die V. die persönliche Rechtsstellung der Abgeordneten, insbes. ihre Berufsausübung neben dem
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Verhaltensregeln für Abgeordnete Mandat betreffen, können sie nicht lediglich als eine besondere Form des Parlament. Innenrechts angesehen werden. Da sie —> Grundrechte des Mandatsträgers als Staatsbürger berühren, haben sie auch Außenwirkung. Sie gehören also zum Sondersatzungsrecht des Bundestages. Die V. betreffen daher nicht lediglich den Bereich der eigenen Organisation des Bundestages, sondern berühren auch die Grundrechtssphäre des zum Abgeordneten gewählten Bürgers. Dennoch müssen die V. nicht als Gesetz, aber auf gesetzlicher Grundlage erlassen werden. Ein Gesetzgebungsverfahren ist nicht obligatorisch. Die V. haben in § 44a AbgG eine hinreichende gesetzliche Grundlage. § 44a AbgG beruht auf der Ermächtigung des Art. 38 Abs. 3 GG und stellt eine Konkretisierung der in Art. 38 Abs. 1 GG gewährleisteten Unabhängigkeit der Abgeordneten dar. Art. 44a AbgG ist im Prinzip keine unzulässige Beschränkung der Freiheit des Mandats. Die V. schaffen vielmehr einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen dem freien Mandat und dem Status des Abgeordneten einerseits sowie der Berufsfreiheit des zum Abgeordneten gewählten Bürgers andererseits. Ferner setzt —> Demokratie eine gewisse - » Öffentlichkeit und Transparenz der polit. Entscheidungsprozesse voraus, wozu die V. beitragen. Das schließt nicht aus, daß einzelne V. die wirtschaftl. und berufliche Bürgerfreiheit des Abgeordneten unverhältnismäßig beschränken könnten, wenn sie die jetzt bestehenden Geund Verbote erheblich verschärfen. Da der Abgeordnete kein —> Amt, sondern eben ein Mandat (Art. 38 GG, trotz der mißverständlichen Formulierung in Art. 48 GG) ausübt, darf er auch nicht über die V. „ver(be)amtet" werden, d.h. Pflichten unterworfen werden, die seine Bürgerstellung unverhältnismäßig beschränken. 4. Die V. versuchen den im GG nicht präzisierten Pflichtenstatus des Abgeordneten zu aktivieren. Das ist deshalb schwierig, weil der Abgeordnete kaum konkrete Rechtspflichten hat. Eine even-
Verhaltensregeln für Abgeordnete tuelle Pflicht zur Wahrnehmung seines Mandats (§ 13 Abs. 2 GOBT) kann allenfalls durch Wegfall der Kürzung der Kostenpauschale (Diäten) (§ 14 AbgG) sanktioniert werden. Ansonsten gibt es gerade wegen der Freiheit des Mandats keine zulässigen Sanktionsmöglichkeiten. Vor diesem rechtl. Hintergrund sind die Möglichkeiten zur Durchsetzung der V. zu sehen. Die V. unterscheiden zwischen Anzeigepflichten und Veröffentlichungspflichten. In § 1 sind eine Reihe von Tätigkeiten genannt, die der Abgeordnete beim Präsidenten des Bundestages anzuzeigen hat. Für bestimmte Tätigkeiten besteht darüber hinaus nach § 3 eine Pflicht zur Veröffentlichung im —> Amtlichen Handbuch. Veröffentlicht wird danach lediglich der vor oder nach der Mandatsübernahme ausgeübte Beruf des Abgeordneten und die während der Mitgliedschaft im Bundestag ausgeübten Tätigkeiten im Vorstand oder einem sonstigen Gremium von Unternehmen, -> Körperschaften, -> Anstalten des öffentlichen Rechts, —> Vereinen oder —> Stiftungen mit nicht ausschließlich lokaler Bedeutung sowie Funktionen in Verbänden und ähnlichen Organisationen. Außerdem sind gemäß §§ 3, 4 Abs. 3 Spenden an einen Abgeordneten durch einen einzelnen Spender, die im Kalendeijahr 20.000 DM übersteigen, zu veröffentlichen. Sofern dieser Betrag nicht überschritten ist, die Spende den Betrag von 10.000 DM jährlich jedoch übersteigt, besteht nur eine Anzeigepflicht. Bei diesen Spenden besteht auch ein mittelbarer Zusammenhang zur —> Parteienfinanzierung (vgl. BVerfGE 85, 264). Lediglich anzeigepflichtig sind ferner Tätigkeiten im Vorstand oder anderen Gremien eines Unternehmens, einer Körperschaft oder Anstalt öffentl. Rechts, soweit sie in den letzten 2 Jahren vor der Mandatsübernahme ausgeübt wurden. Femer sind neben der Mitgliedschaft im Bundestag bestehende Beraterverträge und ähnliche Tätigkeiten, sowie die Erstattung von Gutachten, Veröffentlichun-
Verhaltensregeln für Abgeordnete gen und Vortragstätigkeiten, soweit das Entgelt hierfür 5.000 DM im Monat bzw. 30.000 DM im Jahr übersteigt, anzuzeigen. Die Anzeigepflicht besteht femer für Vereinbarungen, wonach dem Abgeordneten während oder nach Beendigung der Parlamentsmitgliedschaft bestimmte Tätigkeiten übertragen oder Vermögensvorteile zugewendet werden sollen. Soweit der Betrag von 5.000 DM im Monat bzw. 30.000 DM im Jahr überschritten ist, sind auch die aus diesen Tätigkeiten erzielten Einkünfte anzugeben, wobei Einkünfte aus der Mitgliedschaft in Vorständen und anderen Gremien nur dann anzeigepflichtig sind, wenn die Tätigkeit nach Aufstellung als Wahlwerber für den Bundestag aufgenommen wurde. Beteiligungen an Kapital- oder Personengesellschaften sind anzeigepflichtig, wenn der Abgeordnete mehr als 25% der Stimmrechte hält. Abgeordnete, die als Rechtsanwälte für oder gegen die Bundesrepublik oder bundesunmittelbare Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentl. Rechts auftreten, haben dieses anzuzeigen, sofern das Honorar für diese Tätigkeit 5.000 DM übersteigt. Diese spezielle Anzeigepflicht hat auch gegenüber standesrechtl. Schweigepflichten Bestand. Der —> Rechtsanwalt müßte seinen Mandanten darauf hinweisen. Insofern liegt ein echter Eingriff in das Berufsfeld des Rechtsanwalts vor. Im übrigen umfassen die Anzeigepflichten gem. § 1 Abs. 4 nicht die Mitteilung von Tatsachen, für die gesetzliche —> Zeugnisverweigerungsrechte oder Verschwiegenheitspflichten bestehen. Ein Anwalt muß daher - von dem erwähnten Fall der Vertretung staatl. Einrichtungen abgesehen - auch nicht mitteilen, welche Personen bzw. Unternehmen er vertritt. Eine solche Offenlegungspflicht wäre unverhältnismäßig und würde im übrigen auch in die Rechtsstellung Dritter eingreifen. Eine besondere Offenlegungspflicht besteht für Ausschußmitglieder. Diese haben Interessenverknüpfungen mit dem Beratungsgegenstand durch ihre berufliche oder eine auf Ho-
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Verhaltensregeln für Abgeordnete norarbasis geführte Tätigkeit vor der Beratung mitzuteilen. Eine Interessenverknüpfung führt aber nicht zum Ausschluß des Mitgliedes von der Beratung. Ebenso hat die Offenlegung von Interessenkonflikten durch bestimmte Nebentätigkeiten keine unmittelbare Konsequenz für den Abgeordneten. Eine Bewertung von Interessenverknüpfungen durch Präsident oder Bundestag findet nicht statt. Eine Eingriffsmöglichkeit besteht lediglich gem. § 8 für den Fall, daß der Abgeordnete seinen Offenlegungspflichten nicht nachgekommen ist. Sanktion für einen Verstoß gegen die V., den der Präsident des Bundestages feststellt, ist die Veröffentlichung als -> Bundestagsdrucksache. Gegen die Feststellung kann der Angeordnete durch Anrufung des BVerfG im Organstreitverfahren (—> Organstreit) vorgehen (Art. 93 Abs.l Nr. 1 GG). Über die Offenlegungspflichten hinaus sehen die V. in 3 Fällen ein Verbot vor. Gem. § 4 Abs. 4 i.V.m. § 25 Abs. 1 und 3 —» Parteiengesetz ist den Abgeordneten die Annahme von Spenden, die auch einer Partei nicht zugewendet werden dürfen, verboten. Unzulässig ist femer nach § 5 der Hinweis auf die Mitgliedschaft im Bundestag in beruflichen und geschäftlichen Angelegenheiten (Werbeverbot). Dieses Verbot muß allerdings aus Gründen des Verfassungsrechts restriktiv gehandhabt werden. Der Abgeordnete darf im polit, wie im gesellschaftl. Bereich durchaus auf seine Mitgliedschaft im Bundestag hinweisen. Verboten ist lediglich der Hinweis zu beruflichen oder geschäftlichen Zwecken. Das wichtigste Verbot stellt das Verbot der Annahme unzulässiger Zuwendungen in § 9 dar. Nach dem allgemein gehaltenen Wortlaut des § 9 ist die Annahme anderer als der gesetzlich vorgesehenen Zuwendungen oder Vermögensvorteile untersagt. Als Ausführungsvorschrift des § 44 a Abs. 2 Nr. 4 AbgG bezweckt § 9 das Verbot von Zuwendungen, die der Abgeordnete im Hinblick auf sein Mandat nur deshalb erhält, weil von ihm erwartet wird, daß er
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Verhaltensregeln für Abgeordnete im Bundestag die Interessen des Zahlenden vertreten und nach Möglichkeit durchsetzen wird. Dieses Verbot wurde als Konsequenz des Diäten-Urteils des BVerfG (BVerfGE 40, 296) 1980 in die V. eingefügt. Die Formulierung, die heute in § 44a Abs. 2 Nr. 4 AbgG enthalten ist, entspricht fast wortwörtlich dem Urteilstext des BVerfG und muß daher im Lichte dieses Urteils ausgelegt werden. Danach ist eine Zuwendung dann unzulässig, wenn Leistung und Gegenleistung in keinem angemessenen Verhältnis stehen. Sanktionen zur Durchsetzung der Verbote stehen, abgesehen von der erwähnten Möglichkeit der Veröffentlichung des Verstoßes, nicht zur Verfügung, außer des 1994 eingefügten Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung in § 108e StGB, der die Strafbarkeit des Verkaufs einer Stimme in einer Volksvertretung vorsieht. 5. Das Verhältnis von Anzeige- und Veröffentlichungspflichten macht deutlich, daß die V. keineswegs den häufig geforderten „gläsernen Abgeordneten" schaffen. Das Überwiegen bloßer Anzeigepflichten zeigt, daß dem Verhaltensrecht die Intention zugrunde liegt, Interessenkonflikte weitgehend parlamentsintern zu regeln. Die Effektivität von Offenbarungspflichten, die nur dem Präsidenten gegenüber bestehen, der seinerseits selbst bei erkennbaren Interessengegensätzen keine Eingriffsbefugnisse hat, hat bislang zu ernsthaften Problemen keinen Anlaß gegeben. Es ist natürlich schwer zu beurteilen, wie weit von einer vom Bundestag geltend gemachten „Selbstreinigung" durch interne Offenlegungspflichten gesprochen werden kann. Problematisch ist dieses allerdings hinsichtlich Vereinbarungen, die Vermögensvorteile i.S.v. § 1 Abs. 2 Nr. 8 gewähren, sowie im Hinblick auf die eingeschränkte Verpflichtung zur Veröffentlichung von Spenden an den Abgeordneten. Im Spannungsverhältnis zwischen Sicherung der Unabhängigkeit und Freiheit des Mandats und der Stellung der Abgeordneten als Vertreter
Verhaltensregeln für Abgeordnete des ganzen Volkes (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) einerseits und der Freiheit der Berufsausübung (Bürgerstellung) andererseits, das im übrigen auch in dem Verbot der Behinderung der Mandatsausübung (Art. 48 Abs. 2 GG) reflektiert wird, schlagen die V. aus Verfassungsgründen deutlich in Richtung einer weiten Mandatsfreiheit aus. Für eine vorsichtige Anwendung der Offenlegungspflichten spricht das Argument, daß die völlige Transparenz i.S.d. „gläsernen Angeordneten" die Gefahr böte, die parlament. Arbeit des Abgeordneten zu sehr unter dem Aspekt der jeweiligen Nebentätigkeit oder Nebeneinkünfte zu beurteilen und damit einer Art unangemessener disziplinarischen Kontrolle durch das Bundestagspräsidium zu stellen. Der Abgeordnete soll nicht gehindert werden, seinen Beruf weiter auszuüben bzw. den Wiedereinstieg abzusichern. Zu erwägen wäre, die reinen Anzeigepflichten so auszugestalten, daß eine parlamentsinterne Auseinandersetzung mit möglichen Interessenkonflikten ermöglicht wird, d.h. die Offenlegungspflicht müßte eventuell gegenüber einem speziellen Gremium des Bundestages bestehen, das zu diesem Zweck einzurichten wäre. Trotz aller Kritik gehen die V. über eine bloße ,Alibifunktion" hinaus. Die in den V. enthaltenen Verbote bekämpfen den Extremfall - den rechtl. nur schwer faßbaren, polit, aber sanktionierbaren ,^Mißbrauch" des Mandats. Die Offenlegungspflichten sind nicht völlig ungeeignet, eine gewisse Zurückhaltung der Abgeordneten bei Nebentätigkeiten und Zuwendungen zu bewirken, wenn sie auch nicht ausreichen, um Interessenkonflikte völlig auszuräumen. Die Verhaltensregeln sind publiziert in der Anlage 1 zur -> Geschäftsordnung des Dt. Bundestages, GOBT v. 1980, BGBl. 1980 I, S. 1237 i.d.F. v. 1986, BGBl. 1987 I, S. 147, und 1995, BGBl. 1995 I, S. 1246, mit Ausführungsbestimmungen v. 1987, BGBl. 1987 I, S. 1758 i.d.F. v. 1995, BGBl. 1996 I, S. 50.
Verkehr Lit: BVerfGE 40, 296-352; BVerfGE 85, 264; H. Η. v. Arnim: Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, München 1996; S. Barton: Der Tatbestand der Abgeordnetenbestechung (§ 108e StGB), in: NJW 1994, S. 1098ff.; H. Freund: Abgeordnetenverhalten, Ausübung des Mandats und persönliche Interessen, Frankfurt/M. 1986; ders. : Änderung des Verhaltensrechts für Mitglieder des Deutschen Bundestages, in: DÖV 1987, S. 435ff; Κ. M. Meessen: Beraterverträge und freies Mandat, FS U. Scheuner, Berlin 1973, S. 43Iff; J. Meister: Die Regelung wirtschaftl. Interessenkonflikte von Abgeordneten des Kongresses der USA, Heidelberg 1976; D. Pohl: Drittzuwendungen an Bundestagsabgeordnete, in: ZParl 1995, 385ff.; Schneider / Zeh, § 19; IV. Weber: Parlament. Unvereinbarkeiten (Inkompatibilitäten), in: AöR 1930, S. 239ff.
Georg Ress Verhältniswahl -» Verhältniswahlrecht Verhältniswahlrecht Das V. ist neben dem -> Mehrheitswahlrecht das in der Staatspraxis bekannteste und bedeutendste Verfahren der Umsetzung der Wählerentscheidung in -> Mandate. Danach erfolgt die Verteilung der (gesetzlich festgelegten) Sitze auf die einzelnen Wahlvorschlagsträger, i.d.R. die polit. -> Parteien, nicht nach dem reinen —> Mehrheitsprinzip, sondern (nach Maßgabe näherer gesetzlicher Bestimmung über die Berechnung) nach ihrem Anteil an den bei der Wahl insg. abgegebenen Stimmen. Hinter diesem System der proportionalen Verteilung der Mandate steht ein (pluralistisches) Demokratieverständnis, das allen polit. Gruppierungen die Möglichkeit gewähren möchte, entsprechend dem jeweiligen Wahlergebnis im —• Parlament vertreten zu sein und dort an der Willensbildung und Entscheidungsfindung teilnehmen zu können (s.a. Wahlsystem). W. Sch. Verkehr Im ursprünglichen Sinn bezeichnet V. jede Form orts- und zeitabhängiger sozialer Kontakte. Heute wird unter V. 969
Verkehr jede orts- und zeitabhängige Veränderung von Personen, Gütern und Nachrichten subsumiert. Der V. mit techn. Hilfsmitteln entwickelte sich aus dem grundlegenden Bedürfnis des Menschen nach Mobilität. Die Industriegesellschaft und ihre Weiterentwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft hat mit der rasanten Zunahme überregionaler und globaler Personen-, Waren- und Nachrichtenströme zu einer sprunghaften Steigerung der V.sleistungen (Personen-, Tonnenkilometer, Informationsmenge pro Zeiteinheit) geführt. Hohe Mobilität gehört heute zu den wichtigsten Voraussetzungen des Wirtschafts- und Sozialverkehrs. Gleichzeitig hat der V. zu großen Belastungen der natürlichen Lebens- und Produktionsgrundlagen geführt: Flächenverbrauch, Ressourcenverbrauch, Schadstoffe, Klimagase, Lärm, Unfallrisiken, Mobilitätsblockaden, soziale Disparitäten. Wegen der grundlegenden Ökonom., sozialen, ökologischen und kulturellen Bedeutung von Mobilität und V.ssystemen rücken V.spolitik und V.swirtschaft immer mehr in das Zentrum des polit, und wirtschaftl. Handelns. Generell wird zwischen Individual-Verkehr (IV) (Fußgänger, Privatfahrzeuge) und öffentl. V. (ÖV) mit für jeden zugänglichen V.smitteln (Straßen-, U-, S-, Eisenbahn, Bus, Schiff, Flugzeug) unterschieden. Für künftige Mobilitätsentwicklungen und V.sfolgen ist die Unterscheidung von motorisiertem V. (Pkw, Lkw, Bahnen, Busse, Flugzeug, Schiff, Pipeline) und nicht motorisiertem V. (Fußgänger, Fahrrad, Nachrichten) von Bedeutung. Bei den V.szwecken Berufs-, Geschäfts- und Dienstreise-, Einkaufs-, Freizeit- und Urlaubsverkehr nimmt das Auto mit 75 bis 85% den Hauptanteil am motorisierten IV ein. Lediglich im Ausbildungsverkehr ist der Anteil des ÖPNV (Öffentl. Personennahverkehr) mit ca. 42% etwa gleich stark. Während die Ausbildungs- und Berufsverkehre an den gesamten motorisierten V.sleistungen anteilmäßig weiter abnehmen, sind die Freizeit- und Urlaubsverkehre zusammen
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Verkehr auf fast 60% stark angestiegen. In den Jahren 1991 bis 1996 nahm in der BRD die Anzahl der Kraftfahrzeuge von 43,1 auf 48,1 Mio., die Zahl der Pkw und Kombi von 36,8 auf 41,0 Mio., der Lkw (einschließl. Zugmaschinen) von 3,7 auf 4.2 Mio. und der Krafträder von 2,0 auf 2.3 Mio. zu. Während die Zahl der V.stoten rückläufig ist (1996: 8.758 V. stote) blieb die Zahl der leichten und schweren Unfälle in etwa gleich (1996: 494.000 Verletzte). Hauptursachen für die Unfälle sind Alkoholgenuß und überhöhte Geschwindigkeit. Das enorme Wachstum des V.s läßt sich am Anstieg der V.sleistungen ablesen. Im Personenverkehr nahmen die V.sleistungen (in Mrd. Personenkilometern) von 88 (1950: noch ohne Saarl. und Berlin-West) auf 457 (1970) und 914 (1996) zu, im Güterverkehr (in Mrd. Tonnenkilometern) von 70 (1950: noch ohne Saarl. und Berl.-West) auf 215 (1970) und 426 (1996). Diese Entwicklung ist sehr einseitig zugunsten des motorisierten Individualverkehrs auf der Straße und zu Lasten der Eisenbahn, des öffentl. Straßenpersonenverkehrs und der Binnenschiffahrt verlaufen. Während im Personenverkehr 1950 die Eisenbahnen einen Anteil von 36,4% hatten, nahm dieser bis 1996 auf 6,8% ab, der motorisierte Individualverkehr demgegenüber von 35,0% (1950) auf 81,7% (1996) zu. Der Anteil des öffentl. Straßenpersonenverkehrs nahm von 28,0% (1950) auf 8,5% (1995) ab und der Luftverkehr von 0,1 (1950) auf 2,9% (1996) zu. Im Güterverkehr hatten die Eisenbahnen 1950 einen Anteil von 56,0%, die Binnenschiffahrt 23,7% und der Straßengüterverkehr 20,3%. Im Jahre 1996 dominierte demgegenüber der Straßengüterverkehr mit 64,6% gegenüber den Eisenbahnen (16,4%), der Binnenschiffahrt (15,2%) und dem Rohrleitungstransport mit 3,8%. Noch immer ist weltweit ein Ende der Zunahme der Motorisierung und der V.sleistungen nicht in Sicht. Für die BRD sind es verschiedene Entwicklungen, die das weitere Ansteigen der Personen- und
Verkehr Gütertransportleistungen bewirken und noch längerfristig hohe Zuwachsraten erwarten lassen: a) die Entwicklung zum europ. Binnenmarkt mit einer weiteren Liberalisierung des Personen- und Warenaustauschs; b) der steigende Personenund Wirtschaftsaustausch mit den Mittelund Osteurop. Staaten; c) die Flexibilisierung von Produktionskonzepten und die globale Organisierung der Unternehmensstrukturen; d) der Abschluß des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens -> GATT 1994 zur Liberalisierung des Welthandels; e) der Trend zu neuen Lebensstilen und Lebensweisen (Individualisierung, Single-Haushalte, Mobilität) mit einem stark anwachsenden Freizeitverkehr sowie der Zunahme von Arbeits-, Bildungs- und Kulturaktivitäten über große Distanzen (Globalisierung von Mobilität). Grundlage für den Ausbau und den Erhalt der V.swege ist der 1992 verabschiedete Bundesverkehrswegeplan. Er sieht für die Jahre 1993-2010 Investitionen im V.ssektor von ca. 450 Mrd. DM vor mit etwa gleichen Anteilen für den Fernstraßen- und Schienenwegeausbau (jeweils ca. 200 Mrd. DM). Die integrierte Gesamtverkehrsprognose für den Bundesverkehrswegeplan geht für den Zeitraum 1988 bis 2010 von einem Wachstum der motorisierten V.sleistungen im Personenverkehr von 32% und im Straßengüterverkehr von 78% aus. Diese Prognosen liegen eher an der unteren Grenze der zu erwartenden V.sleistungen. Neue Prognosen ergaben für den gleichen Zeitraum Zunahmen beim motorisierten Personenverkehr von 40 bis 50% und für den Straßengüterverkehr von 80 bis 100%. Wegen der elementaren Bedeutung des V.s für die arbeitsteilige Gesellschaft und eine Zusammenführung räumlich getrennter Lebensfunktionen (Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Versorgung, Kultur), hat sich der Staat einen großen Einfluß auf das V.swesen gesichert. Dieser wird v.a. durch -> Gesetze und -> Verordnungen sowie durch den Bau und den Betrieb der
Verkehr Infrastrukturanlagen (Straßen, Schienenwege, Wasserwege, Hafenanlagen, Telekommunikationsnetze etc.) wahrgenommen. Erst in den letzten Jahren wurden die staatl. Monopole durch Privatisierungs- und Liberalisierungsmaßnahmen, v.a. auch im Rahmen der europ. Einigungsbestrebungen, aufgelöst (z.B. Privatisierung von —> Post, —> Bundesbahn und -> TELEKOM). Der V. ist heute der Verbrauchsbereich, bei dem die geringsten Chancen bestehen, daß Ressourceneinsparziele erreicht werden. Insbes. wird bezweifelt, daß die Verpflichtungserklärungen der BRD auf der Rio Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 und auf der Berliner Klimakonferenz 1995, den klimaschädlichen Kohlendioxidausstoß bis zum Jahr 2005 (Basisjahr 1990) um 25% zu reduzieren, angesichts steigender Energieverbräuche im V.ssektor zu erreichen ist (s.a. —> Nachhaltigkeit). Wegen der wirtschaftl., ökologischen, sozialen und kulturellen Folgen, die mit einem weiteren Ansteigen der Personen- und Güterverkehrsströme verbunden sind, werden von verschiedenen Seiten grundlegende Änderungen in der V.spolitik gefordert (z.B. —> EnqueteKommission des Dt. Bundestags „Schutz der Erdatmosphäre", 1994). Weitgehende Einigkeit besteht über die abstrakte Zielsetzimg, daß eine hohe Mobilität erforderlich ist, jedoch verbunden mit einer Reduktion des besonders schädlichen motorisierten Individualverkehrs und seiner Folgen. Über die konkreten Vorgehensweisen einer veränderten V.spolitik gibt es allerdings gravierende Meinungsunterschiede und gesellschaftl. Konflikte. Zu den wichtigsten derzeit diskutierten Strategien, Instrumenten und Maßnahmen für einen zukunftsfähigen V. gehören: 1. Integrative V.sstrategien und V.ssysteme.· Verknüpfung der verschiedenen V.sträger durch Verbesserung der Schnittstellen zwischen dem Fußgänger-, Fahrrad-, Straßen-, Schienen-, Schiffs- und Flugverkehr, Entwicklung neuer Logistiken; Optimierung der Transportketten im
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Verkehr Personen- und Güterverkehr, 2. Techn. Effizienzsteigerungen der V.sträger: kleine, leichte, effiziente und intelligente Pkw und Lkw (Drei-Liter-Pkw, effiziente und lärmarme Fahrzeugflotte, Solarmobile, Öko- und Stadtfahrzeuge); Effizienzverbesserungen öffentl. Fahrzeuge; 3. Optimierung der V.sabläufe und V.sströme: Einsatz neuer V.smanagement-Systeme, Nutzung telematischer Techniken für Informations-, Kommunikations-, Leitund Zielführungssysteme; 4. V.sverlagerung auf sozial und ökologisch verträgliche V.sträger: Stärkung des Fuß-, Fahrrad· und ÖV durch Ausbau der öffentl. V.s-infrastrukturen und Verbesserung der Übergangsmöglichkeiten (z.B. Fahrradmitnahme in den S-, U- und Straßenbahnen, Bussen, Eisenbahnen und Schiffen); Attraktivitätssteigerung öfTentl. V.sangebote; Flexibilität des ÖPNV; Angebot umweltfreundlicher Mobilitätsdienstleistungen; 5. Reduktion des V.saufkommens durch Veränderung der Raum- und Siedlungskonzepte: Städte der kurzen Wege; Zusammenführung von Wohn-, Arbeits-, Freizeit- und Einkaufsbereichen; Innenstadtverdichtung; telematische Unterstützung von Raumüberwindung (z.B. Telearbeit, Telelernen, Telecommerce); 6. V.sminderungswirkungen durch preisund ordnungspolit. Steuerungsmaßnahmen: Anhebung der Kfz- und Mineralölsteuern; Parkraumbewirtschaftung, V.sberuhigungsmaßnahmen (Spielstraßen, Tempo 30, Fußgänger- und Lärmschutzzonen), Verbrauchs- und Emmissionslimits, Tempo-Oobergrenzen, lokale Fahrverbote; (s.a. -> Bundesministerium für Verkehr). Ein sozial und ökologisch verträglicher V. ist eine entscheidende Schlüsselgröße für eine nachhaltige Mobilität und Wirtschaftsweise. Nur ein abgestimmtes Bündel von techn. und sozialen Innovationen und weitreichende ordnungs- und preispolit. Entscheidungen werden die Entwicklung eines zukunftsfähigen integrierten V.ssystems ermöglichen. Angesichts der rasanten Entwicklung der neuen Informations- und Kommunikationstechni-
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Vermittlungsausschuß ken (Fax, Personal Computer, Mobilfunk, Multimedia, ISDN, - » Internet etc.) sollte v.a. auch physischer V. durch Nachrichtenverkehr ersetzt werden. Lit: BMV/Dl. Institut für Wirtschaftsforschung: Verkehr in Zahlen, Bonn 1997ff. G. Aberle: Transportwirtschaft, München 1997; EnqueteKommission des Dt. Bundestages „Schutz der Erdatmosphäre": Mobilität und Klima, 2. Bericht, Bonn 1994; R. Gaßner / R. Kreibich / R. Nolte (Hg.): Zukunftsfähiger Verkehr, Weinheim 1997.
Rolf Kreibich Verkehrspolitik -> Verkehr Verkehrszentralregister —> KraftfahrtBundesamt -» s.a. Auskunft Verkündung eines Gesetzes —> Gesetzgebungsverfahren VermittlungsausschuD Der dt. -» Föderalismus unterscheidet sich von anderen föderalen —> Demokratien durch große institutionelle Unterschiede, die von Bedeutung für den polit. Prozeß sind. Zu nennen sind hierbei die eigentümliche Ausgestaltung des - » Bundesrates als Vertretungsorgan der —> Landesregierungen, die Zustimmungspflichtigkeit relevanter Gesetze, die Stimmenspreizung und der V.; die verfassungsrechtl. bezweckte und verfassungspolitisch maßgebliche Wirkung des Bundesrates als sog. Weichensteller der föderalen Kompetenzverteilung bedingt ein Organ, welches im Konfliktfalle zwischen -> Bundestag und Bundesrat als Verhandlungsund Ausgleichsorgan unterschiedlicher polit. Akteure, Interessen und Vorstellungen fungieren soll. Die Stellung und Aufgaben des V.es werden im —> Grundgesetz (Art. 77 GG), Zusammensetzung und das Verfahren durch eine -> Geschäftsordnung geregelt. Jedes Bundesland bestimmt einen Vertreter (16), die gleiche Anzahl (16) wird aus dem —> Parlament entsandt. Angesichts des großen Anteils an formell zustimmungspflichtigen Gesetzen (über 60%) ergibt sich ein
Vermögenssteuer
Verpflichtungsermächtigung
erheblicher Einfluß des Bundesrates sowie eine gewachsene Bedeutung des V.es. Die Rolle des Ausschusses wird sowohl im Falle einer Mehrheit der —> Regierung in Bundestag und Bundesrat als auch bei unterschiedlichen polit. Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat bedeutsam. Bei einer gleichzeitigen polit. Mehrheit in Regierung und Bundesrat tritt ein Phänomen stärker auf, welches die größte polit. Minderheit aufgrund informeller Konsensmechanismen stärker einbezieht. Bei parteipolitisch verschiedenen Mehrheitsverhältnissen in Bundestag und Bundesrat hingegen kann der polit. Konflikt überwiegen. Dies bedeutet allerdings nicht, daß der V. in beiden polit. Konstellationen als neutraler Schlichter, als ein sog. Überparlament oder gar als eine dritte Kammer zu qualifizieren ist. Trotz wiederholter Kritik hat sich seine Einrichtung und das Verfahren bisher insg. bewährt. Die Rolle als Bindeglied zwischen Parlament und Bundesrat zeigt, daß der V. innerhalb der dt. Verhandlungsdemokratie wichtige Elemente der Gesamtverantwortung (E. Benda) im Hinblick auf den polit. Entscheidungsprozeß ausübt (s.a. -> Gesetzgebung). Lit.: JJ. Hesse / T. Ellwein: Das Regierungssystem der BRD, Opladen "1997; F. W. Scharpf: Optionen des Föderalismus in Dtld. und Europa, Frankfurt/M. 1994.
Wolfgang Luthardt Vermögenssteuer war eine, nunmehr durch Gesetzesänderung weggefallene, Besitzsteuer, die als subjektive Steuer sowohl vom Vermögen natürlicher Personen als auch vom Vermögen von —> Körperschaften erhoben wurde. Der Steuersatz betrug für natürliche Personen 1 v.H., soweit in dem steuerpflichtigen Vermögen land- und forstwirtschaftl. Vermögen, Betriebsvermögen enthalten sind 0,5 v.H.; ftlr Kapitalgesellschaften und andere -> juristische Personen i.S.d. Körperschaftssteuergesetzes (-» Körperschaftssteuer) 0,6 v.H.; gesetzliche Grundlage war das V.gesetz. Steuergegenstand war das nach
den Vorschriften des Bewertungsgesetzes bewertete Vermögen. Die Zusammenrechnung des land- und forstwirtschaftl., des Grund-, Betriebs- und sonstigen Vermögens ergab das Rohvermögen, nach Abzug von Schulden und sonstigen Abzügen das Gesamtvermögen, sowie nach Abzug der Freibeträge das steuerpflichtige Vermögen. Die Hauptveranlagung erfolgte alle 3 Jahre. Lit.: R. Rössler/M. Troll /R. Halaczinsky u.a.: Bewertungsgesetz und Vermögenssteuergesetz. München "1995. K.H.
Verordnung Die V. gehört als Rechtsquellenbegriff zum supranationalen Recht der -» Europäischen Gemeinschaft (—> EG-Verordnungen). Im dt. Recht kennzeichnet der Begriff verschiedene Formen exekutivischer Rechtsetzung, abgeleitete (—> Rechtsverordnung) und autonome (—» Verwaltungsverordnung, -» Verwaltungsvorschrift); Notverordnung, VollmachtVerordnung und Diktatur-Verordnung sind geschichtl. Begriffe der —> Notstandsgesetzgebung. Der Begriff der Sonderverordnung steht für Verwaltungsvorschriften in den Sonderstatusverhältnissen, die sich durch besondere Nähe des —> Bürgers zum —> Staat auszeichnen (z.B. —> Schule, Justizvollzugsanstalt); erfaßt sind damit etwa Ausbildungs- und Prüfungsordnungen oder Anstaltsordnungen, soweit sie nicht dem —> Gesetzesvorbehalt unterliegen (—> s.a. Polizeiverordnung). Lit: H.-U. Erichsen (Hg.): Allgemeines Verwaltungsrecht, Berlin 1995. U.Hu.
Verpflichtungsermächtigung In die -» Staatshaushaltspläne von -» Bund und —> Ländern werden VE eingestellt (Art. 112 GG; § 22 HGrG; § 38 BHO), wenn im jeweils lfd. Haushaltsjahr Verpflichtungen für zukünftige Haushaltsjahre entstehen können, z.B. zur Realisierung von Baumaßnahmen. Durch die VE wird dem Grundsatz der Fälligkeit Rechnung getragen, wonach in einem Haushaltsplan nur 973
Versammlungsfreiheit die Ausgaben veranschlagt werden dürfen, die im entsprechenden Jahr fällig werden. VE dürfen im laufenden Haushaltsjahr nur soweit und nicht eher in Anspruch genommen werden, als sie zur wirtschaftl. und sparsamen Verwaltung erforderlich sind. Im Haushaltsvollzug des lfd. Haushaltsjahres können auch über- und außerplanmäßige VE durch das —» Bundesministerium der Finanzen genehmigt werden, wenn unvorhergesehene und unabweisbare Ereignisse eintreten. Von den VE sind die gesetzlichen Ermächtigung zur Aufnahme von Krediten (§ 18 BHO) und zur Übernahme von Gewährleistungen (§ 39 BHO) zu unterscheiden. Für laufende Geschäfte und für Verpflichtungen zu Lasten übertragbarer Ausgaben werden keine VE benötigt (§ 38 Abs. 4 BHO). R. W. Versammlungsfreiheit Dieses -> Grundrecht ist ein -» Bürgerrecht. Art. 8 Abs. 1 GG garantiert allen Deutschen i.S. von Art. 116 GG das Recht, sich ohne Anmeldung oder staatl. Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Wie die -> Meinungsfreiheit ist die V. ein Kommunikationsgrundrecht, wodurch die -> Bürger kollektiv ihre Meinung öffentl. sichtbar und wirksam äußern können. Der V. gebührt in einem freiheitlichen Staatswesen ein besonderer Rang, gilt sie als Zeichen der —> Freiheit, Unabhängigkeit und Mündigkeit der Bürger. Über die ungehinderte Persönlichkeitsentfaltung reicht sie zugleich hinaus, weil die V. als sog. -> Demonstrationsfreiheit wie die Meinungsfreiheit zu den grundlegenden Funktionselementen eines demokrat. Gemeinwesens zu zählen ist (BVerfGE 87, 399,409). I. Schutzbereich Die V. dient der bewußten Entfaltung des Individuums in der -> Gemeinschaft, so daß ihr Zweck nicht unbedingt auf eine Meinungsäußerung gerichtet sein muß, sondern die Versammlung auch der schlichten Information der Teilnehmer dienen kann. Stets muß aber das menschliche Kollektiv durch einen gemeinsamen Zweck verbunden sein. Die
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Verschlußsache bloße Ansammlung, d.h. das zufällige Zusammenkommen von Menschen, wird deshalb nicht von Art. 8 GG erfaßt. Als Abwehrrecht kommt die V. v.a. andersdenkenden —> Minderheiten (polit.) zugute. Sie gewährleistet den Teilnehmern das Selbstbestimmungsrecht, über Ort, Zeitpunkt, Art und Inhalt der Veranstaltung ohne staatl. Zwang frei entscheiden zu können (BVerfGE 69, 315, 343). 2. Schranken Geschützt wird nur die friedliche und waffenlose Versammlung. Die einzelne Zusammenkunft büßt ihren friedlichen Charakter ein, wenn sie einen gewalttätigen Verlauf nimmt, d.h. Gewalt gegen Körper oder Sachen ausgeübt wird. Dafür genügt es aber nicht, daß einzelne Störenfriede Ausschreitungen begehen. Darüber hinaus wird der verfassungsrechtl. Schutz versagt, wenn die Teilnehmer Waffen mit sich führen. Demzufolge sind unter Waffen nur Gegenstände zu verstehen, die wegen ihrer besonderen Gefährlichkeit eine hohe Verletzungsgefahr schaffen. Wird die Versammlung in geschlossenen Räumen abgehalten, so unterliegt die Veranstaltung keinen weiteren Beschränkungen. Insbes. bedarf sie keiner Anmeldung. Jedoch hat der Veranstalter, der zu einer öffentl. Versammlung in geschlossenen Räumen auffordert, in der Einladung seinen Namen anzugeben. Neben der Verfolgung gewalttätiger Ziele können deshalb Versammlungen in geschlossenen Räumen nur dann verboten werden, wenn der Veranstalter damit auch die Ziele einer verbotenen Partei bzw. Vereinigung fördern will. Im Unterschied dazu unterliegen Versammlungen „unter freiem Himmel" einer nach Art. 8 Abs. 2 GG zulässigen gesetzlichen Beschränkung durch das Versammlungsgesetz. Lit.: HdbStR VI, S. 739ff.; R. Krüger: Versammlungsrecht, Stuttgart 1994; S. Ott / H. Wächter: Gesetz über Versammlungen und Aufzüge, Komm., Stuttgart 61996.
Wilfried Braun Verschlußsache pflicht
—•
Geheimhaltungs-
Verteidigungsausschuß
VerteidigungsausschuD -> Ausschuß Verteidigungsrainisterium —> Bundesministerium der Verteidigung Verteidigungspolitik -> Äußere Sicherheit / Verteidigungspolitik Vertrag fiber die Europäische Union —> EU-Vertrag Vertrag von Amsterdam -> Amsterdamer Vertrag Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik fiber die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - » Deutsche Einheit Vertragsfreiheit Die V. ist der wichtigste Bestandteil der Privatautonomie. Man versteht darunter die Möglichkeit des einzelnen (Bürgers), seine Privatangelegenheiten durch einverständliche Absprachen mit anderen rechtl. verbindlich zu regeln. Der V. liegt der Gedanke zugrunde, daß im Zweifel die Beteiligten einen sachgerechteren Interessenausgleich im Einzelfall erzielen (können), als es durch eine notwendigerweise abstrakte und pauschale gesetzliche Regelung möglich wäre. Als Abschlußfreiheit beinhaltet sie die Entscheidungsfreiheit, überhaupt einen Vertrag zu schließen sowie sich seinen Vertragspartner auszusuchen (Auswahlfreiheit). Dabei sind Diskriminierungen prinzipiell hinzunehmen (Ausnahme z.B. § 611a —> BGB), es sei denn, daß die Ungleichbehandlung strafrechtl. Normen (§ 185 StGB - Beleidigung) verletzt. Femer gestattet die V., einen geschlossenen Vertrag einverständlich wieder aufzuheben (sog. actus contrarius). Eine gesetzliche Verpflichtung zum Vertragsabschluß (Kontrahierungszwang) kommt wegen Art. 12 GG (-> Berufsfreiheit) bzw. Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) im —> Privatrecht nur ausnahms-
Vertrauen weise vor (z.B. für Taxiuntemehmen nach dem PBefG). Ein weiterer Aspekt der V. ist die Inhalts- oder Gestaltungsfreiheit. Danach bleibt es grds. den Beteiligten überlassen, welchen Inhalt sie ihrem Vertrag im einzelnen geben. Sie können sogar gesetzliche Bestimmungen ersetzen (z.B. Vereinbarung eines Haftungsausschlusses beim Gebrauchtwagenkauf) bzw. modifizieren. Soweit dies im Wege von —> Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) geschieht, zieht das AGBGesetz der Inhaltsfreiheit jedoch Grenzen. Im übrigen wird ihr Rahmen durch die §§ 134, 138 BGB generell abgesteckt. Der Schwerpunkt der Inhaltsfreiheit liegt dort, wo die Vereinbarungen im wesentlichen nur die Beteiligten treffen, also v.a. bei den schuldrechtl. Verträgen (§§ 433ff. BGB - mit Ausnahme des Wohnungsmietrechts). In anderen Bereichen, z.B. im -> Familienrecht und -> Gesellschaftsrecht, ist die inhaltliche Gestaltungsfreiheit deutlich geringer. Lit.: H.-J. Bauschke/H.-D. Braun: Grundlagen des Zivilrechts, Regensburg 3 1995; W. Grunsky: Vertragsfreiheit und Kräftegleichgewicht, Berlin 1995.
Hans-Dieter Braun Vertrauen, politisches Das Vorhandensein bzw. die Abwesenheit von gegenseitigem V. ist die Ausgangsfrage für jegliche staatl. Organisation. T. Hobbes (15881679) beantwortete sie negativ und mußte deshalb ein Staatswesen konstruieren, das seine Bürger ständig in Schach hielt, da ansonsten ihre natürlichen Triebe unvermeidbar zum Krieg aller gegen alle führen würden. J. Locke (1632-1704) bejahte die Möglichkeit gegenseitigen V.s, sah aber auch, daß dieses mißbraucht werden könnte; deshalb postulierte er die -> Herrschaft der —> Gesetze, nicht der Menschen über Menschen, sah ein Widerstandsrecht der —> Bürger vor für den Fall des Mißbrauchs der anvertrauten —> Macht und schuf ein Konzept der -> Gewaltenteilung, um solchem Machtmißbrauch institutionell vorzubeugen. Das prinzipiell
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Vertrauen mögliche V. konnte in einem Staatswesen konkretisiert werden, indem es gegen den prinzipiell ebenso möglichen V.sbruch durch Mechanismen der Kontrolle abgesichert wurde. In den —• Federalist Papers, die J. Jay, Α. Hamilton und J. Madison 1787 zur Erläuterung und Verteidigung der US-amerik. Verfassung veröffentlichten, wurden diese Grundgedanken zu einem System der Checks and Balances ausgebaut und die staatl. —> Institutionen strikt an das V. der Bürger, das immer wieder zu rechtfertigen und einzuholen sei, gebunden. Zur gleichzeitigen Sicherung der Effizienz einer derart eingehegten Regierung wurde die repräsentative —> Demokratie begründet, die nicht die jederzeitige Aufkündigung des V.s bei schuldoder fehlerhafter Umsetzung ermöglicht, sondern Handlungsspielräume eröffnet, indem V. auf Zeit, d.h. für festgesetzte Zeiträume, verliehen wird. Aber selbst innerhalb dieser Zeiträume sind die V. Gewährenden nicht schutzlos der V.swürdigkeit der handelnden Betrauten ausgeliefert, sondern können auf konstitutionelle und institutionelle Hemmnisse gegen Mißbrauch vertrauen. Das V. in Personen, daß sie die ihnen anvertrauten Interessen und Aufgaben erfüllen möchten, wird ergänzt und gegengelagert durch V. in überpersonale Regeln und Institutionen. Diese theoretisch-konzeptionellen Überlegungen entfalten für die Stabilität der demokrat.-repräsentativen Regierungsform höchst praktische Bedeutung. Auf individuelle Freiheit und Freiwilligkeit gegründet, bedarf sie des V.s der —> Bürger untereinander, in die polit. Akteure und Institutionen sowie der Überzeugung von der prinzipiellen Werthaftigkeit ihrer Grundsätze, ihrer ,Regulativen Ideen" (E. Fraenkel). Dabei bestehen unterschiedliche Annahmen darüber, in welchem Maße und bei wievielen Bürgern dieses V. ausgeprägt sein muß, damit keine Bestandsgefährdung der Demokratie eintritt. Das ständige, aktuelle Vorhandensein aller V.sdimensionen bei der großen Mehrzahl der Bürger mag im Regelfall
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Vertrauen entbehrlich sein, mehr oder minder passiv-gleichgültige Akzeptanz genügen, solange es keine anti-demokrat. Eliten nennenswerten Ausmaßes gibt. In Bedrohungssituationen - von innen oder außen wird V. zur unverzichtbaren Voraussetzung der Überlebensfähigkeit einer Demokratie. Im polit. Alltagsgeschäft entlaste V. zudem die Handlungsträger und Institutionen, stelle ihnen eine Art „Blanko-Scheck" (Gamson) aus: Die Erfüllung aller Forderungen zu jeder Zeit entfällt somit als Bedingung für polit. Unterstützung, insbes. des Systems als ganzem; gegen die eigenen aktuellen Interessen gerichtete Entscheidungen können akzeptiert werden, weil von ihrer prinzipiellen Fairneß und der Angemessenheit der Verfahren ausgegangen, keine systematisch-strukturelle, sondern in zuverlässigen Regeln revidierbare Benachteiligung angenommen wird. Um die nähere Qualifizierung und empirische Quantifizierung dieser Zusammenhänge bemühen sich in der Politikwissenschaft besonders die Politische-KulturForschung und die Systemtheorie. D. Easton unterscheidet zwischen „specific" und „diffuse support". Spezifische Unterstützung wird den polit. Amtsinhabem für konkrete Leistungen gewährt, wobei sie nicht auf der gezielten Wahrnehmung und Abwägung des eigenen Vorteils durch Handlungen des Systems zu beruhen braucht; auch ein allgemeines Gefühl, im großen und ganzen „gut" regiert zu werden, das ohne nähere Beschäftigung mit Einzelleistungen von Amtsinhabem aus den über die Zeit nur grob erfahrenen Mustern des Outputs entsteht, vermag spezifische Unterstützimg hervozubringen. Diffuse Unterstützimg ist unabhängig von den täglichen Leistungen des polit. Systems und wird ihm um seiner selbst willen gewährt. Easton differenziert diese Form der Unterstützung weiter in V. und -> Legitimität. Letztere wird als mindestens vage Überzeugung der Bürger definiert, daß die Legitimität beanspruchenden Elemente des polit. Systems gut und
Vertrauen richtig i.S. der eigenen Wertvorstellungen sind oder handeln. V. soll das Gefühl der Systemmitglieder bezeichnen, daß auch dann im Grundsatz gemäß ihren Interessen gehandelt wird, wenn die Amtsinhaber nicht ständig der Kontrolle ausgesetzt wären; es sei eine Art symbolischer Zufriedenheit. Auch W: Gamson versteht polit. V. als eine Art diffuser Unterstützung, die auf 4 Objekte gerichtet ist: Amtsinhaber, polit. Institutionen, öffentl. Philosophie und die polit. Gemeinschaft. V. ist in zahlreichen empirischen Untersuchungen, insbes. in der amerik. Politikwissenschaft verwendet worden. Dabei ist eine Kontroverse darüber entstanden, ob es ein Gradmesser für die Einstellungen zum polit. System, seinen Strukturen und Verfahren generell, unabhängig von seinen konkreten Leistungen, oder lediglich für die Zufriedenheit mit der amtierenden Regierung sei. Um dies abschließend zu entscheiden, wäre es nötig, in Umfragen, die V. in verschiedene polit. Objekte zu ermitteln suchen, auch die Motive für die jeweiligen Antworten mit einzubeziehen oder V. in den Fragetexten so unmißverständlich zu operationalisieren, daß sicher zwischen den Objekten und Dimensionen der erfragten polit. Einstellungen unterschieden werden kann. Das ist der wissenschaftl. —> Demoskopie bisher nicht gelungen. Was mit der Frage nach dem „V. in das polit. System" oder „in die Demokratie", was mit der Formulierung: „Haben Sie V. in -*• Parteien, - * Parlament, —> Bundesverfassungsgericht etc.?" gemessen wird, kann im Vergleich zu anders formulierten Kontrollfragen und im zeitlichen Längsschnitt mehr oder minder plausibel vermutet, bisher aber nicht wissenschaftl. zweifelsfrei bewiesen werden. Mit diesen (analytischen und methodologischen) Einschränkungen bescheinigten Untersuchungen in den 80er Jahren den Westdeutschen durchweg demokrat. Normalität. Ihr V. in die Demokratie und in die zentralen Institutionen dieser Staatsform sei inzwischen im großen und ganzen nicht mehr anders als
Vertrauen jenes der Bevölkerungen der älteren westlichen Demokratien. Auch ihre Fähigkeit und Bereitschaft zu öffentl. Kritik und Kontrolle, von einigen Autoren als demokratienotwendiges Korrelat zu V. besonders hervorgehoben und bei den Westdt. in den 50er Jahren nach Studien von Almond und Verba nicht besonders verbreitet, habe sich angeglichen. Seit Beginn der 90er Jahre ist aber ein Rückgang des polit. V.s in zentrale Institutionen des demokrat. Staates zu verzeichnen, und sogar die positiven Antworten auf Fragen nach der System- und Demokratiezufriedenheit nehmen ab. Dabei ist dies keineswegs in erster Linie der statistische Effekt der hinzugekommenen ostdt. Bevölkerung, deren niedrigere V.swerte angesichts ihrer Sozialisation und Umbrucherfahrungen im übrigen nicht verwunderlich sind. Der Befund sinkenden V.s wird nämlich nicht nur für Dtld., sondern auch für andere westliche Demokratien gestellt. Dies legt den Schluß nahe, daß es sich bei den gemessenen Einstellungsveränderungen um Reaktionen auf Probleme handelt, die allen (post-)modernen Gesellschaften gemein sind. Die wachsenden Schwierigkeiten, wirtschaftl. Rezession bzw. Umstrukturierung und -» Globalisierung sowie gesellschaftl. Diversifizierung und soziale Unsicherheiten polit, zu bewältigen, dürften hier eine besondere Rolle spielen, ebenso wie die in vielen Ländern gestiegene Bereitschaft der Bürger, sich häufiger in unkonventionellen Formen, wenn auch nicht dauerhaft in die Politik einzumischen. Trifft dies zu, handelt es sich also „nur" um eine Verschlechterung im Urteil über die Handlungs- und Problemlösungsfähigkeit der konkreten Amtsinhaber oder der Institutionen in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung oder Gestalt. Hier kommt eine weitere - soziologischsystemtheoretisch herausgearbeitete - Dimension polit. V.s in den Blick. Durch V. wird, so N. Luhmann, Komplexität reduziert. Bei zunehmender Komplexität und Variabilität der -> Gesellschaft wächst für
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Vertrauensfrage den einzelnen der Bedarf nach ihrer Reduktion. Er ist angewiesen darauf, die bisherige Vertrautheit einer begrenzten Umwelt durch allgemeineres Systemvertrauen zu ersetzen, das auch angesichts des gesteigerten Koordinationsbedarfs des Systems nötig ist für die Erhaltung seiner Effektivität. Die bei einem stetig wachsenden - individuell nicht mehr anzueignenden oder auch nur zu kontrollierenden - Wissensbestand unverzichtbare Arbeitsteilung funktioniert nur durch V.; indem V. die Toleranz für Mehrdeutigkeit stärkt, eröffnet es eine höhere Komplexität für die Reaktion auf Ereignisse, mehr Möglichkeiten für die Problemlösung. Die gegenwärtigen polit., Ökonom, und sozialen Herausforderungen benötigten also ein hohes Maß an V.; gleichzeitig scheint aber ihre Komplexität so überwältigend, daß V. zerstört oder gar nicht erst aufgebaut wird. Für angemessene Antworten auf hochkomplexe Probleme brauchen die Akteure V.; wenn ihnen dies immer weniger entgegengebracht wird, bleiben ihre Antworten unzureichend, was seinerseits V. vermindert, wodurch die Handlungsfähigkeit weiter reduziert wird. Dieser mögliche Teufelskreis verdeutlicht, daß auch nur mangelndes V. in die polit. Handelnden für den Bestand freiheitlicher Demokratie prekär werden kann. Lit.: G. A. Almond/ S. Verba: The Civic Culture, Boston 1965; B. Barber: The Logic and Limits of Political Trust, New Brunswick 1983; D. Easton: A Re-Assessment of the Concept of Political Support, in: British Journal of Political Science 1975, S. 435ff.; O.W. Gabriel: Polit. Kultur, Postmaterialismus und Materialismus in der BRD, Opladen 1986; P. Haungs (Hg.): Politik ohne Vertrauen?, Baden-Baden 1990; N. Luhmann: Vertrauen, Stuttgart 3 1989; A. Waschkuhn: Partizipation und Vertrauen, Opladen 1984.
Suzanne S. Schüttemeyer Vertrauensfrage Die V. der —• Regierung bzw. des Regierungschefs ist ein in den meisten -> parlamentarischen Regierungssystemen mögliches und praktizier978
Vertrauensfrage tes Verfahren zur Lösung von Krisen zwischen Parlament und Regierung. Sie wird üblicherweise mit dem Ziel gestellt, die parlement. Mehrheit dauerhaft oder jedenfalls ad hoc zu sichern, kann aber auch dazu eingesetzt werden, Neuwahlen herbeizuführen. In parlament. Regierungssystemen besteht ein meist komplexer Zusammenhang zwischen Verfahren und Praxis des systemnotwendigen -> Mißtrauensvotums, der —> Parlamentsauflösung und der V.; nur in vergleichsweise wenigen Staaten ist die V. allerdings in der -> Verfassimg ausdrücklich verankert und verfahrensmäßig geregelt (unter den westeurop. Ländern in Frankreich, —> Griechenland, —> Portugal, —> Bundesrepublik Deutschland, -> Spanien). Entsprechend der Verfassungskonvention der meisten Länder ist eine Regierung zum Rücktritt verpflichtet, wenn sie mit der —> Abstimmung über ein wichtiges Regierungsvorhaben ausdrücklich die V. verknüpft hat. Neben dieser in den meisten Ländern möglichen und überwiegend praktizierten Form kann die Regierung die V. auch ohne Verbindung mit einem Gesetzesvorhaben stellen. Bei der V. liegt die Initiative - jedenfalls formell bei den Regierungen bzw. Regierungschefs, die sich dieses Verfahrens nicht zuletzt zur Disziplinienmg der eigenen —> Fraktionen und ggf. zur Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens (Frankreich, -> Italien) bedienen. So nutzten die oft instabilen Regierungen Italiens häufig die V. zur Disziplinierung möglicher „Hekkenschützen" aus den eigenen Reihen, die aus Fraktionsinteresse heimlich gegen die eigene Regierung stimmen. Regelmäßig waren seit den 50er Jahren nicht Mißtrauensanträge, sondern gescheiterte V.n Anlaß für den Regierungsrücktritt, doch wären diese ohne die verfassungsmäßige Garantie einer Mißtrauensregelung (Art. 94 Ital. Verf.) möglicherweise anders verlaufen. In Frankreich kann die V. (nach Art. 49 Abs. 3 der -> Verfassung, fiz.) als „schärfstes Geschütz" des rationalisierten -»• Parlamentarismus eingesetzt werden,
Vertrauensfrage indem sie der Premierminister nach Beschluß im Ministerrat an einen bestimmten Gesetzentwurf koppelt, was auch häufig geschieht. Er kann den Gesetzentwurf dann ohne Parlament. (Schluß-)Abstimmung durchsetzen, wenn innerhalb der folgenden 24 Stunden kein Mißtrauensantrag mit absoluter Mehrheit angenommen wird. Hingegen kann der Regierungschef in Spanien (in Absprache mit dem Kabinett) die V. nur in Bezug auf sein Regierungsprogramm oder eine allgemeine polit. Erklärung stellen, nicht aber, um einen Gesetzentwurf durchzusetzen. Auch in der BRD verfügt der -> Bundeskanzler mit der V. nach Art. 68 GG über ein Mittel zur Stabilisierung seiner Position oder zur Initiierung von Neuwahlen. Er kann sie auch mit anderen Entscheidungen, insbes. einer Gesetzesvorlage verbinden, doch ist dieser Fall bisher noch nicht vorgekommen. Zwischen dem Antrag des Kanzlers und der Abstimmung müssen 48 Stunden liegen. Erst einmal hat ein Bundeskanzler die V. mit der Absicht gestellt, sich der Zustimmung der Koalitionspartner für die weitere polit. Arbeit zu versichern und seine eigene Partei zu disziplinieren. Die V. Bundeskanzler H. Schmidts vom 5.2.1982 - bereits ein Alarmsignal - konnte trotz der Zustimmung aller Koalitionsabgeordneter den Zerfall des Regierungsbündnisses nicht mehr aufhalten. Ob dieses spektakuläre Verfahren den Erosionsprozeß möglicherweise noch beschleunigte, mag dahingestellt sein. Jedenfalls haben diese Erfahrungen die Attraktivität dieses Verfahrens als Stabilisierungsinstrument nicht eben gefördert. Zweimal hingegen wurde die V. gestellt, um von allen Bundestagsparteien angestrebte Neuwahlen einzuleiten: Angesichts der durch Fraktionswechsel und Parteiaustritte entstandenen „Patt-Situation" zwischen der SPD / FDP-Koalition und der CDU/CSU-Opposition 1972 und wenige Wochen nach der Wahl H. Kohls zum Bundeskanzler durch ein konstruktives Mißtrauensvotum (17.12.1982). Nach Art. 68 GG kann der
Vertrauensfrage -> Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen, sofern ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das —> Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages findet. Das Recht zur Auflösung erlischt allerdings, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt. Angesichts eines noch immer fehlenden Selbstauflösungsrechts des Bundestages verbleibt nur dieser sehr komplizierte Weg der Parlamentsauflösung mittels der V. und unter Beteiligung aller 3 Verfassungsorgane, solange eine Regierung im Amt ist. Unionsparteien und FDP hatten im September 1982 nach dem Ausscheiden der FDP aus der Regierung das Angebot abgelehnt, über eine V. Bundeskanzler H. Schmidts die Auflösung des Bundestages in die Wege zu leiten, der seine Bereitschaft von einer Absprache der Parteien abhängig machte, auf eine Wahl Kohls nach Art. 86 Abs. 1 S. 2 GG zu verzichten. Sie versuchten dann aber ihrerseits - mit Erfolg über eine Abstimmung nach Art. 68 GG zu einem von der neuen Koalition vereinbarten und in der Regierungserklärung Kohls zugesicherten Termin (6.3.1983) zu Neuwahlen zu gelangen. Die parlament. Mehrheit der Koalition, die wenige Wochen zuvor H. Kohl zum Kanzler gewählt und tags zuvor den Bundeshaushalt verabschiedet hatte, mußte bekennen, daß sie Kohl kein Vertrauen (mehr) schenke, um anschließend mit ihm als Kanzlerkandidaten in den -> Wahlkampf zu ziehen - ein verfassungsrechtl. problematisches und heftig umstrittenes Verfahren. Verfassungsjuristen und die grds. aber ebenfalls an Neuwahlen interessierte SPD-Opposition verwiesen auf die Gefahr, daß durch dieses Verfahren ein Präzedenzfall geschaffen und es der Regierung(smehrheit) künftig erleichtert werden könnte, einen für sie günstigen Neuwahltermin zu nutzen, möglicherweise mit dem Ziel, einzelne -> Abgeordnete, —> Gruppen und Fraktionen aus dem
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Bundestag fernzuhalten. Eine derart motivierte Anwendung des Art. 68 GG wollte auch das —> Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil als verfassungswidrig ausschließen. Als Indiz gegen einen Formenmißbrauch des Art. 68 GG sah es allerdings die „Einmütigkeit der im Bundestag vertretenen Parteien" an, zu Neuwahlen zu gelangen (BVerfGE 62, 1, 42ff.). Lit.: W. Ismayr (Hg.): Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997; Ders.: Der Dt. Bundestag, Opladen 1992; Schneider/Zeh, S. 1309ff.
Wolfgang Ismayr
Verwaltung Der Begriff V. ist nicht dem —> Staatsrecht oder - » öffentlichen Recht vorbehalten. Er wird z.B. auch gebraucht für die Verwaltung eigenen Vermögens oder die V. eines Unternehmens. Im Staats- und ->• Verfassungsrecht ist die V. neben —> Gesetzgebung und -> Judikative die dritte Gewalt nach dem -»• Grundgesetz. Art. 20 Abs. 2 GG spricht von der vollziehenden Gewalt. Diese umfaßt die mit weitgehenden polit. Freiheiten ausgestattete Regierungsgewalt und dieV.; die V. hat eine hierachische Behördenstruktur. An der Spitze stehen die zuständigen —> Bundes- und Landesministerien. Die Aufgabe der V. besteht in der Ausführung der —> Gesetze, d.h. das generell-abstrakte Gesetzesprogramm für jeden konkreten Einzelfall umzusetzen. Sie dient damit unmittelbar der Schaffung von Individualgerechtigkeit und der Umsetzung der gesetzlich fixierten öffentl. Ziele. Die V. ist bei dieser Aufgabe nicht frei. Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist sie an die verfassungsmäßige Ordnung, Recht und Gesetz gebunden. Diese sich aus dem -> Rechtsstaatsprinzip ergebenden Bindungen schränken den Gestaltungsspielraum weitgehend ein. Die verfassungsmäßige Ordnung umfaßt die Regeln des GG, insbes. die Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzips. Gesetz umfaßt jede geschriebene Rechtsnorm, also jedes (nicht nur) formelle Gesetz sowie namentlich -> Rechtsverordnungen und - » Satzungen, unmittelbar anwendbares —> Europäisches Ge-
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meinschaftsrecht, nicht aber —> Verwaltungsvorschriften und Richterrecht. Allerdings ist die V. wegen ihres hierachischen Aufbaus intern an Verwaltungsvorschriften gebunden. Richterrecht entwickelt Bindungswirkung gegenüber der V., wenn es unbestimmte Rechtsbegriffe, Ermessens- und Beurteilungsspielräume in eine bestimmte Richtung konkretisiert. Das Richterrecht fällt insoweit unter den Begriff Recht i.S. des Art. 20 Abs. 3 GG. Dieser Begriff dient dem Ziel, der —> Gerechtigkeit als Maßstab und Ziel staatl. Handelns Geltung zu verschaffen. Er umfaßt auch das sog. Gewohnheitsrecht. Die V. als vollziehende Staatsgewalt bedarf grds. einer gesetzlichen Ermächtigung für ihr Tätigwerden (Vorbehalt des Gesetzes). Dies gilt insbes. für die —> Eingriffsverwaltung. Gemeint ist der Fall, daß die V. durch ihr Handeln in die Grundrechte der betroffenen —• Bürger eingreift. Dies ist insbes. im Polizei- und -> Ordnungsrecht, aber auch im Steuerund Anlagengenehmigungsrecht der Fall. Daneben gibt es den Bereich der —> Leistungsverwaltung. Diese verteilt die staatlicherseits bereitgestellten Finanzmittel. Beispiele sind die Gewährung von Sozialleistungen und -> Subventionen. Auch wenn der Bereich der Leistungsverwaltung mittlerweile weitgehend durchnormiert wurde, so fehlt es doch in bestimmten Bereichen immer noch an einer gesetzlichen Programmierung der V., z.B. im Recht der Vergabe von Subventionen. Daß eine gesetzliche Grundlage filr die -> Eingriffsverwaltung fehlen darf, wird damit begründet, daß die V. hier nicht die Grundrechte des betroffenen Bürgers beschränke, sondern ihn erst in die Lage setze, sie auszuüben. Allerdings ist insbes. im Wirtschaftsverwaltungsrecht zu beachten, daß Leistungen an ein Unternehmen dessen Konkurrenten benachteiligen können. Das Problem besteht darin, den Punkt zu ermitteln, ab dem die Benachteiligung rechtl. Relevanz erlangt. Die Handlungen der V. dürfen nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen (Vorrang
Verwaltung des Gesetzes). Verstoßen sie trotzdem dagegen, sind sie entweder anfechtbar oder nichtig. Sind sie nur anfechtbar, muß der betroffene Bürger seine Rechte geltend machen, ansonsten wird das rechtswidrige Handeln der V. bestandskräftig. Die gilt insbes. für das typische Instrument des V.shandelns, den —> Verwaltungsakt, § 35, S. 1 VwVfG. Soweit die V. dagegen befugt ist, materielle Rechtsnormen (Rechtsverordnungen und Satzungen) zu schaffen, müssen diese mit höherrangigem Recht übereinstimmen, sonst sind sie nichtig. Der V. wird in vielen Gesetzen ein Handlungs- und Entscheidungsspielraum eingeräumt. Dies ist verfassungsrechtl. geboten, weil der V. als unabhängigem Teil der -> Staatsgewalt eine eigene originäre Entscheidungskompetenz zukommen muß. Praktisch ist es geboten, weil die nicht vorhersehbare Vielzahl von unterschiedlichen Fällen der V. einen Spielraum zur Verwirklichung der Individualgerechtigkeit ermöglichen muß und die Gesetzgebung nicht in der Lage ist, jede mögliche Fallgestaltung zu erfassen. Techn. wird dieser Spielraum der V. durch unbestimmte Rechtsbegriffe, Ermessenvorschriften, Beurteilungsspielräume und Prognoseentscheidungen eingeräumt. -> Unbestimmte Rechtsbegriffe (z.B. öffentl. Sicherheit und Ordnung), Beurteilungsspielräume (z.B. Prüfimgsentscheidungen) und Prognoseentscheidungen (z.B. —• Umweltverträglichkeit eines Vorhabens) setzen auf der Tatbestandsseite einer Rechtsnorm an. Die zuständige Behörde ermittelt, ob ein Sachverhalt (Tatbestand) gegeben ist, an den die Rechtsnorm eine bestimmte Rechtsfolge knüpft. Bei dieser Ermittlung muß die Behörde alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen, hat aber den entsprechend im Gesetz kenntlich gemachten Entscheidungsspielraum. Bei Ermessensvorschriften knüpft die Rechtsnorm an einen bestimmt formulierten Tatbestand die Möglichkeit der Behörde, etwas zu unternehmen. Im Gesetzestext
Verwaltung drückt sich dieses Ermessen regelmäßig durch das Wort „kann" aus. Die Behörde hat hier die Möglichkeit, zu entscheiden, ob sie einschreiten will (Entschließungsermessen), und wie sie einschreiten will (Auswahlermessen). Bei der Ermessensausübung ist die Behörde verpflichtet, ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten, § 40 VwVfG. Reduziert sich aufgrund des Sachverhaltes und der gesetzlichen Vorgaben der Handlungsspielraum der Behörde auf eine einzige Entscheidungsalternative, hat sie diese zu wählen (sog. Ermessensreduzierung auf Null). Die behördliche Ausübung von gesetzlich gewährten Entscheidungsspielräumen erfolgt aber nicht ohne Determinierung und / oder Kontrolle. So können durch V.srichtlinien unbestimmte Rechtsbegriffe techn. und rechtl. handhabbar gemacht werden. Diese Determinierung erfolgt durch die V. selbst. Dies gilt insbes. für V.svorschriften, wie die TA Lärm oder die TA Luft. Hier werden - » unbestimmte Rechtsbegriffe, wie z.B. „unzumutbare Lärm- oder Geruchsbelästigimg" durch die Festlegung genauer Meßverfahren und Grenzwerte für Einzelfälle handhabbar gemacht. V.svorschriften werden i.d.R. von den Spitzenbehörden der V. erlassen. I.d.R. sind das die Bundes- oder Landesregierungen bzw. einzelne Ministerien. Die Wirksamkeit solcher V.svorschriften kann von der Anhörung der beteiligten —> Kreise und der Zustimmung des —> Bundesrates abhängig sein. V.svorschriften dienen dazu, eine einheitliche, gleichmäßige Rechtsanwendung durch die V. in dem Gebiet der betroffenen Rechtsnorm zu gewährleisten. Die Ausübung der Entscheidungsspielräume der V. unterliegt aber von wenigen Ausnahmen abgesehen einer gerichtlichen Nachprüfung. Diese Nachprüfung bedeutet, daß die Rechtsprechung z.B. das verbindliche Letztauslegungsmonopol ftlr unbestimmte Rechtsbegriffe hat. Diese Auslegung erlangt dann für die V. durch Richterrecht
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Verwaltung eine gewisse Verbindlichkeit. Für den Bürger bedeutet diese Kontrolle der V. durch die Rechtsprechung die Verwirklichung effektiven -> Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der öffentl. Gewalt i.S. von Art. 19 Abs. 4 GG. Fühlt sich der Bürger durch entsprechende Handlungen der V. in seinen Rechten verletzt, so kann er diese Handlungen von dem zuständigen Gericht auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen lassen. Bei der Ausführung von Gesetzen sind verschiedene Konstellationen zu unterscheiden. Grds. gibt es die Unterscheidung zwischen der Ausführung von Landes- bzw. von - » Bundesgesetzen. Die erste ist selbstverständlich Aufgabe der Länder, für die zweite wird unterschieden. Art. 83 GG bestimmt, daß die Länder die Bundesgesetze grds. als eigene Angelegenheiten ausführen. Hier kommt, wie in den Art. 30 und 70 GG der mit dem Bundesstaatsprinzip (—• Bundesstaat) verbundene Primat der Länder bei der Wahrnehmung staatl. Aufgaben zum Ausdruck (vertikale —» Gewaltenteilung). In diesem Fall (z.B. BImSchG) regeln die Länder Einrichtung und Verfahren der Behörden. Dem Bund steht allein die -> Rechtsaufsicht über die Tätigkeit der Länder zu. Er kann mit Zustimmung des Bundesrates allgemeine V. s Vorschriften erlassen. Neben der Ausführung der Bundesgesetze als eigene Angelegenheit sind noch die jeweils abschließend im GG geregelte -> Auftragsverwaltung und die bundeseigene V. vorgesehen. Im Fall der Auftragverwaltung, Art. 85 GG, regeln zwar die Länder die Einrichtung der Behörden, der Bund bestimmt aber das Verfahren und hat erhebliche Mitspracherechte bei der Ausbildung der entsprechenden Beamten und bei der —> Ernennung der Leiter der -> Mittelbehörden (z.B. Art. 87b Abs. 2 , 87c - AtomG -, 90 Abs. 2 - Bundesfernstraßen -). Außerdem unterstehen die Landesbehörden den Weisungen der zuständigen obersten Bundesbehörde, und der Bund übt Rechts- und —>· Fachaufsicht über die Tätigkeit der Behörden aus.
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Verwaltungsgericht Im Rahmen der bundeseigenen V. hat der Bund die Möglichkeit, eine V. mit eigenem Unterbau zu schaffen (z.B. V. der —> Bundeswasserstraßen, - » Bundesgrenzschutz), eigene Bundesoberbehörden zu errichten (z.B. —> Bundeskartellamt, -> Umweltbundesamt, Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften) oder sich bundesunmittelbarer —> Körperschaften und —> Anstalten des öffentlichen Rechts (z.B. -> Sozialversicherungsträger) zu bedienen. In jedem Fall kommt der V. als dem bürgerunmittelbarsten Teil der Staatsgewalt bei der Ausführung der Gesetze eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des Verhältnisses Staat - Bürger zu. Lit: M. Brenner: Der Gestaltungsauftrag der Verwaltung in der EU, Tübingen 1996; K. König (Hg.): Öffentl. Verwaltung in Dtld., Baden-Baden 1996/97; H. Klages: Verwaltungsorganisation, Speyer 1997; H. Maurer: Allgemeines Verwaltungsrecht, München "1997; C.H. Ule / H.W. Laubinger: Verwaltungsverfahrensrecht, Köln "1995. Ulrich Hösch
Verwaltungsakt § 35, S. 1 —> Verwaltungsverfahrensgesetz definiert den V. als hoheitliche Maßnahme, die eine —> Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des —> öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbar Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Beispiele: Bauerlaubnis; Gewerbeverbot; Gebührenbescheid einer —> Gemeinde. §§ 35-53 VwVfG und § 6ff. —» Verwaltungsvollstreckungsgesetz enthalten besondere Vorschriften u.a. über die Bekanntgabe, die Wirksamkeit, den Widerruf und die Rücknahme sowie die Vollstreckung von V.en. C.R.
Verwaltungsgemeinschaft - > Kommunalverbände Verwaltungsgericht tungsgerichtsbarkeit
/ -e
Verwal-
Verwaltungsgerichtsbarkeit Verwaltungsgerichtsbarkeit Die V. besteht in ihrer heutigen Struktur erst seit 1953. In jenem Jahr wurde durch Gesetz vom 23.9.1952 das —> Bundesverwaltungsgericht errichtet. Damit wurde der grundgesetzliche Auftrag erfüllt, auf dem Gebiet der V. ein oberstes -» Bundesgericht zu konstituieren. Die V. steht damit gleichrangig und eigenständig neben den anderen Gerichtsbarkeiten (-> Rechtsprechende Gewalt). Im Gegensatz zu anderen Gerichtsbarkeiten kann die V. nicht auf eine histor. Tradition zurückblicken. Das -> Deutsche Reich hatte sich zur Regelung spezieller Rechtsmaterien weitestgehend darauf beschränkt, gerichtsähnliche Spruchkörper zu schaffen. Lediglich in den Ländern wurden eigenständige V.en geschaffen, so z.B. 1863 der Badische Verwaltungsgerichtshof oder 1875 das Preuß. Oberverwaltungsgericht. Bestrebungen nach einer Vereinheitlichung höchstrichterlicher Verwaltungsrechtsprechung scheiterten in der Folgezeit jedoch immer wieder daran, daß die Länder ein Übergewicht des Reiches befürchteten. Zwar wurde im Jahre 1941 durch ein Dekret Hitlers das Reichsverwaltungsgericht geschaffen, es errang jedoch keinerlei judikative Bedeutung. Im Sommer 1944 wurde schließlich die gesamte V. abgeschafft (-> Nationalsozialismus). Heute sind Gesetz- und Rechtmäßigkeit der öffentl. —» Verwaltung, so wie sie sich aus Art. 20 GG ergeben, die tragenden Fundamente des demokrat. —• Rechtsstaates. Aufgabe der V. ist es, die Entscheidungen der öffentl. Verwaltung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und den - » Bürgern -> Rechtsschutz gegenüber fehlerhaften Handlungen der -> Behörden zu gewähren. Vor den -> Gerichten der V. geht es daher stets um öffentl.-rechtl. Streitigkeiten nichtverfassungsrechtl. Art. Diese werden im Rahmen der allgemeinen V. durch unabhängige, von den Behörden getrennte Verwaltungsgerichte entschieden. Für die Gebiete des besonderen -> Verwaltungsrechts, nämlich das Finanz- und Sozial-
Verwaltungsgerichts barkeit recht, besteht eine eigene Gerichtsbarkeit mit Finanz- und Sozialgerichten (-> Finanzgerichte, Sozialgerichtsbarkeit). Aber auch Disziplinar- und Dienstgerichte, berufsständische Gerichte und das Bundespatentgericht (-> Patentrecht) werden der besonderen V. zugerechnet. Vor den Gerichten der V. stehen sich als Parteien sowohl Bürger und Behörden als auch einzelne Behörden einander selbst gegenüber. Die V. ist dreistufig aufgebaut. In den Bundesländern bestehen z.Z. 52 Verwaltungsgerichte (VG) als erste Instanz. Die 16 Oberverwaltungsgerichte (OVG) bzw. Verwaltungsgerichtshöfe (VGH) haben die Funktion der Berufungsinstanz; sie haben ihren Sitz in Schleswig (OVG), Greifswald (OVG), Hamb. (OVG), Brem. (OVG), Lüneburg (OVG), Beri. (OVG), Magdeburg (OVG), Münster (OVG), Kassel (VGH), Weimar (OVG), Bautzen (OVG), Koblenz (OVG), Mannheim (VGH), Saarlouis (OVG) und München (VGH). Oberste Instanz mit Sitz in Beri, ist das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG). Während es noch 1952 polit, schwierig war, den Sitz des BVerwG nach -> Berlin zu vergeben, hat sich nunmehr, nachdem im Vier-Mächte-Abkommen über Beri, vom 3.9.1971 die Standortfrage geklärt wurde, die Unabhängige Föderalismuskommission von —> Bundestag und -> Bundesrat im Jahre 1992 dafür ausgesprochen, den Sitz des BVerwG von Beri, nach Leipzig zu verlegen, wo es voraussichtlich ab dem Jahr 2003 seine Arbeit aufnehmen wird. Die Verwaltungsgerichte entscheiden in Kammern, die jeweils mit 3 Berufsrichtern und 2 ehrenamtlichen Richtern (-> Ehrenamtliche Tätigkeit) besetzt sind, soweit der Rechtsstreit nicht einem Einzelrichter übertragen wurde. I.d.R. sind die Senate an den Oberverwaltungsgerichten mit 3, bei abweichender Landesgesetzgebung auch mit 5 Berufsrichtem besetzt. Die Senate des BVerwG treffen ihre Entscheidungen mit 5 Berufsrichtern; bei Grundsatzentscheidungen tritt der Große -> Senat mit insg.
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Verwaltungsgerichtsbarkeit 7 Berufsrichtern (einschließl. des Präsidenten desBVerwG) zusammen. Die Verwaltungsgerichte sind grds. Rechts- und Tatsacheninstanz. Ihnen obliegt zuvörderst die Aufklärung des Sachverhaltes und darauf aufbauend die erstinstanzliche Entscheidungsfindung. Die Berufungsinstanzen sind ebenfalls noch Rechts- und Tatsacheninstanzen und entscheiden über Berufungen oder Beschwerden gegen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte. In einigen besonderen Fällen sind die Oberverwaltungsgerichte / Verwaltungsgerichtshöfe auch erstinstanzlich zuständig, z.B. in Flurbereinigungssachen, atomrechtl. Genehmigungsverfahren und Verfahren der -> Abfallentsorgung. Das BVerwG hingegen ist Revisionsinstanz, d.h. es prüft auf -> Revisionen hin die richtige Anwendung von - » Bundesrecht, ist also eine reine Rechtsinstanz und nur in wenigen Ausnahmefällen auch erste (und zugleich letzte) Tatsachen- und Rechtsinstanz. Wesentliche Merkmale der heutigen V. sind die Unabhängigkeit ihrer Richter, deren Stellung in den Vorschriften des Dt. Richtergesetzes geregelt ist, und für die rechtssuchenden Bürger die Gewährleistung von Rechtsschutz gegen die Verletzung subjektiver Rechte durch Organe der staatl. Gewalt. Die Gerichte der V. verfahren dabei nach dem nur hier geltenden —» Offizialprinzip, d.h. der einer Klage zugrunde liegende Sachverhalt wird von Amts wegen aufgeklärt, und Prozeßhandlungen der Beteiligten können bei Unklarheiten nach dem mutmaßlichen Willen der Parteien ausgelegt werden. Vor den Verwaltungsgerichten kann im Wege der Klage (Anfechtungsklage) die Aufhebung eines belastenden - » Verwaltungsaktes oder die Durchführung eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes (Verpflichtungsklage) begehrt werden. Ferner kann im Wege einer Feststellungsklage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses beantragt werden. Der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage geht i.d.R. ein —> Widerspruchsverfahren bei
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Verwaltungsrecht der zuständigen Verwaltungsbehörde voraus. Lit: F. Hufen: Verwaltungsprozeßrecht, München 21996; K. Redeker / H.-J. v. Oertzen / M. Redeker: Verwaltungsgerichtsordnung, Komm., Stuttgart 121997; C.D. Classen: Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Tübingen 1996. Hans Meyer-Albrecht Verwaltungshochschulen -> Hochschulen Verwaltungskontrolle -> parlamentarische Verwaltungskontrolle —> s.a. Verwaltung —> s.a. Bundesrechnungshof Verwaltungsrecht Das V. ist ein wichtiges Teilgebiet des - » öffentlichen Rechts. Es regelt zum einen die rechtl. Beziehungen zwischen den —> Bürgern und den staatl. und kommunalen —» Behörden (z.B. im Polizei- und Ordnungsrecht, —> Baurecht, Ausländerrecht, Fürsorgerecht, —> Beamtenrecht) und anderen Hoheitsträgern, zum anderen dienen die Vorschriften des V.s aber auch dem Schutz der Bürger vor willkürlichem Verwaltungshandeln. Die öffentl. —> Verwaltung mit ihrer ordnenden, planenden und leistenden Funktion benötigt Rechtssätze, nach denen sie tätig wird. Dies können insbes. Erlasse, (kommunale) -> Satzungen, Verordnungen oder —> Gesetze sein. Diese Rechtssätze enthalten allgemeine Grundsätze für das Verwaltungshandeln inklusive Regelungen für die Organisation der —> Verwaltung, für die öffentl. Güter und Leistungen sowie Regelungen für die Organisation des - > öffentlichen Dienstes. Die Verwaltungsaufgaben des modernen -> Staates können in 3 Kategorien aufgeteilt werden: Ordnungs-, Leistungs- und Planungsverwaltung. Die -> Ordnungsverwaltung ist die wohl älteste Form staatl. Handelns; hier wird dem gesellschaftl. Bedürfnis von Sicherheit und Ordnung Rechnung getragen, wobei im gesetzlich definierten Einzelfall auch ein Eingriff in —• Freiheit
Verwaltungsreform und —> Eigentum der Bürger möglich werden kann. Die —> Leistungsverwaltung bezieht sich im wesentlichen auf das expansive staatl. Gebiet der -> Daseinsvorsorge, während die Planungsverwaltung die Aufgabe hat, künftige Entwicklungen unter dem Aspekt des -> Gemeinwohls planerisch in Angriff zu nehmen. Auf Grund der Vielfältigkeit staatl. Handelns und auf Grund des rechtsstaatl. verbrieften Verfassungsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG), wonach sich jegliches Verwaltungshandeln an —> Recht und —> Gesetz zu orientieren hat, ergibt sich geradezu zwangsläufig ein hoher Grad der Verrechtlichung mit der Folge, daß die Vielfalt rechtl. Normen für die Bürger mitunter kaum noch zu überschauen ist. Lit.: H.-U. Erichsen: Allgemeines Verwaltungsrecht, Berlin 1995; R. Schweickhardt (Hg.): Allgemeines Verwaltungsrecht, Stuttgart 7 1995; U. Steiner (Hg.): Besonderes Verwaltungsrecht, Heidelberg'1995.
Hans Meyer-Albrecht Verwaltungsreform ist eine substantielle, zielorientierte, sytematisch vorbereitete und durchgeführte Veränderung von wesentlichen Strukturelementen der öffentl. —» Verwaltung. Die V. kann sich auf die Aufgaben, die Organisation und das Verfahren, auf das Personal sowie auf die Finanzen und die Kontrolle der Verwaltung beziehen. Sie ist keine neue Erscheinung (z.B. Stein'sche Reformen), aber in starkem Maße von dem jeweiligen Verfassungssystem geprägt. Die V. ist eine Daueraufgabe. Eine hohe —> Staatsverschuldung und eine schwierige wirtschaftl. Situation, die zu geringeren Steuereinnahmen führt, zwingen zu einer Reform, deren oberstes Ziel eine leistungsfähige und effektive Verwaltung sein muß. In letzter Zeit wurden verstärkt auch Überlegungen angestellt, v.a. betriebswirtschaftl. Elemente oder Modelle auf die öffentl. Verwaltung zu übertragen. Im Mittelpunkt stehen hier „Lean Management", kontinuierlicher Verbesseningsprozeß (Kaizen), Qualitätssicherung,
Verwaltungsverfahren kaufmännische Buchführung oder Controlling. Große Bedeutung kommt zunächst einer Funktionalreform zu. Im Vordergrund stehen Aufgabenanalyse und -kritik bei allen staatl. —• Behörden, aber auch im kommunalen Bereich. Notwendig erscheint v.a. eine Überprüfung der Rolle des Staates, bei welcher der Eigenverantwortlichkeit des einzelnen und dem Prinzip der —> Subsidiarität Rechnung getragen werden sollte. Zu wichtigen Fragestellungen gehören z.B.: Haben sich staatl. Aufgaben überlebt? Welche Aufgaben können von Privaten gleich gut oder besser erledigt werden (Privatisierung)? Erfolgt die Aufgabenerledigung auf der richtigen Verwaltungsebene? Neben einer Funktionalreform kommt der Rechts -und Verwaltungsvereinfachung eine wichtige Rolle zu. Die Rechtsbereinigungsgesetze belegen eher einen sog. Wildwuchs unter den Rechtsvorschriften, als daß sie Übersichtlichkeit und Rechtsklarheit bewirkt hätten (Überregulierung). Ziel ist daher eine -> Deregulierung. Ein weiteres wichtiges Stichwort ist die Reform des öffentl. Dienstrechts. Hierbei geht es um die zeitgemäße Weiterentwicklung eines modernen öffentl. Dienstes. Diskutiert wurden z.B. Führungspositionen auf Zeit, verstärkte Teilzeitmöglichkeiten, individuelle Leistungzulagen etc. Diese sind allerdings an den hergebrachten Grundsätzen des -» Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) zu messen. Lit.: StL V, Art. Verwaltungsrefom.
Karl-Reinhard Titzck Verwaltungsvereinfachung -> Verwaltungsreform Verwaltungsverfahren / -sgesetz Das VwVfG des -» Bundes vom 25.5.1976 stellt eine Vereinheitlichung der Verfahrensgrundsätze der —> Verwaltung des Bundes dar. Daneben existieren - im wesentlichen gleichlautende - Verfahrensgesetze der einzelnen Bundesländer. Mit dem VwVfG wurde nicht neues Recht 985
Verwaltungsverfahrensrecht geschaffen, sondern es wurden die geltenden, von der Rechtsprechung und auch von der Verwaltung entwickelten Grundsätze festgeschrieben und damit für den - » Bürger transparent gemacht. Mit dem Beitritt gelten die geschaffenen Grundsätze auch in den neuen Bundesländern. Zentraler Begriff ist der des -> Verwaltungsakts. Mit diesem Instrument verwirklicht die Verwaltung ihre Ziele, setzt Rechte des Bürgers durch und gewährt Rechtssicherheit und Rechtsfrieden. Verwaltungsakte sind Verfügungen, Entscheidungen oder andere hoheitliche Maßnahmen von —> Behörden. Sie ergehen nur im hoheitlichen Bereich. Meist ist auch der Bürger als einzelner angesprochen. Im privaten Bereich handelt die Behörde wie jeder Bürger, also nicht mit Verwaltungsakt. Gelegentlich ist dem Verwaltungsakt ein Verfahren vorausgegangen. Grundsätze dieses Verfahrens sind ebenfalls im VwVfG geregelt. Gegen einen Verwaltungsakt, der in Rechte eines Bürgers eingreift, kann sich dieser mit -> Widerspruch und auch mit einem gerichtlichen Verfahren zur Wehr setzen. Neben dem Verwaltungsakt sind der öffentl.-rechtl. Vertrag und besondere Verfahrensarten (z.B. —> Planfeststellung) enthalten. Für das —• Sozialrecht im Sozialgesetzbuch Teil X und für das Steuerrecht in der Abgabenordnung gelten spezielle gesetzliche Regelungen, die teilw. vom VwVfG abweichen (—> s.a. Verwaltungsverfahrensrecht). Lit.: F.O. Kopp:
Verwaltungsverfahrensgesetz,
Komm., München 6 1996.
Alfons Ermer Verwaltungsverfahrensrecht Das V. regelt im wesentlichen den Umgang der - » Bürger mit den -> Behörden. Während die Verwaltungsgerichtsordnung das Prozeßverfahren vor den Verwaltungsgerichten kodifiziert, betrifft das V. lediglich den status ante, also das Verfahrensstadium, welches i.d.R. einem förmlichen Verwaltungsprozeß vorgeschaltet ist. Zwar ist gem. Art. 20 Abs. 3 GG die
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Verwaltungsverfahrensrecht öffentl. -> Verwaltung schon von Verfassungs wegen an —> Recht und —> Gesetz gebunden, es fehlte bislang jedoch an einer speziellen Kodierung und damit an einer Anspruchsgrundlage für Bürger, welche die zuständigen Verwaltungsgerichte um —> Rechtsschutz gegen Akte staatl. Handelns ersuchen wollten. Während nach dem Π. Weltkrieg mit den nach 1945 erlassenen Verwaltungsgerichtsgesetzen der Länder und der Verabschiedung des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes 1952 eine moderne -> Verwaltungsgerichtsbarkeit geschaffen wurde, blieb das - » Verwaltungsverfahren lange Zeit uneinheitlich und ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung. Dies änderte sich grdl., als im Mai 1976 das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes (BGBl. I S.1253) verabschiedet wurde und anschließend die Bundesländer - inhaltlich weitgehend übereinstimmend - diese Regelungen in jeweiliges —> Landesrecht übernahmen. Das V. gilt nach den Bestimmungen des Einigungsvertrages vom 31.8.1990 mit Anlage I (BGBl. Π S. 889) und dem Einigungsvertragsgesetz vom 23.9.1990 (BGBl. Π S. 885) mit Wirkung ab dem 29.9.1990 auch im Gebiet der neuen Bundesländer; dort sind mittlerweile jedoch ebenfalls Landesverwaltungsverfahrensgesetze in Kraft getreten, die sich im wesentlichen mit den Bundesregelungen decken. Das V. dient im wesentlichen dem Rechtsschutz der Bürger. Diese sind nun in der Lage, auf gesetzlicher Grundlage ihre Rechtsansprüche gegenüber den Behörden zu wahren und notfalls mit Hilfe der Verwaltungsgerichte durchzusetzen. Das V. ist somit nicht nur eine bloße formalgesetzliche Regelung, sondern ein wesentlicher Bestandteil des demokrat. -> Rechtsstaates geworden. Zum einen deshalb, weil nunmehr den materiell-rechtl. Erfordernissen eines modernen demokrat. Rechtsstaates von Gesetzes wegen Rechnung getragen wurde, zum anderen aber auch deswegen, weil mit dem V. zugleich Ordnungselemente und Rationalisierungs-
Verwaltungsverfah rensrecht ansätze in das bislang recht statisch wirkende Verwaltungshandeln übernommen wurden. Gem. § 13 VwViG sind Beteiligte an einem Verwaltungsverfahren zunächst der Antragsteller und der Antragsgegner, ferner die Adressaten eines behördlichen Verwaltungsaktes und die öfTentl.-rechtl. Vertragspartner sowie diejenigen Personen, die von der Behörde zu dem Verfahren hinzugezogen worden sind. Damit entspricht die Stellung der Beteiligung betroffener Bürger der einer Partei im Prozeßrecht. Voraussetzung für diese Beteiligteneigenschaft ist einmal die Beteiligungsfähigkeit. Gem. § 11 VwVfG sind neben natürlichen und jurist. Personen auch Vereinigungen und Behörden fähig, am Verfahren beteiligt zu sein. Darüber hinaus muß auch die Handlungsfähigkeit der Beteiligten gegeben sein. Fähig zur Vornahme von Verfahrenshandlungen sind gem. § 12 VwVfG geschäftsfähige bzw. als geschäftsfähig anerkannte natürliche Personen (-> Geschäftsfähigkeit), -> juristische Personen und Vereinigungen sowie Behörden bzw. deren Leiter, Vertreter oder Beauftragte. Die Beteiligten haben gem. § 14 VwVfG grds. das Recht, ihre Angelegenheit selbst vor der Behörde zu vertreten bzw. einen Bevollmächtigten ihres Vertrauens zu bestellen oder sich eines Beistandes zu bedienen. Für die Bürger wichtig ist zudem § 3 VwVfG. Danach haben sie einen Rechtsanspruch auf ein Verfahren vor der sachlich und örtlich zuständigen Behörde. Dies ist nicht nur eine schlicht formale Bestimmung, sondern auch ein wesentliches Erfordernis des Rechtsschutzes der Bürger. Diese sind nun in der Lage, durch die entsprechenden Veröffentlichungen in den Amtlichen Bekanntmachungen o.ä. festzustellen, welche Behörde für ihren konkreten Fall sachlich und örtlich zuständig ist. Eine weitere Erleichterung für die Beteiligten ist, daß das Verfahren gem. § 10 VwVfG zunächst formfrei ist. Dies bedeutet konkret, daß es keinerlei Formalien gibt, die zwingend einzuhalten wären. Das Gesetz regelt
Verwaltungsverfahrensrecht darüber hinaus in Satz 2, daß das Verfahren einfach und zweckmäßig durchzuführen ist. Dies gilt für die normalen Verfahren vor den Behörden; es gibt jedoch auch förmliche Verwaltungsverfahren (§§ 63ff. VwVfG) und -> Planfeststellungsverfahren (§§ 72ff. VwVfG), deren Verfahren stärker gerichtsförmig ausgeprägt sind. Gem. §§10, 67f., 73 Abs. 6 VwVfG ist das Verwaltungsverfahren grds. nichtöffentlich und schriftlich. Ein öffentl. und dazu noch mündliches Verfahren ist sowohl in den allermeisten Fällen aus verwaltungsökonom. als auch aus Gründen des individuellen Rechtsschutzes kaum erforderlich; der Behörde bleibt es selbstverständlich überlassen, in geeigneten Fällen eine derartige -> Öffentlichkeit herzustellen. Seitens der Behörde dürfen am Verfahren nur solche Personen teilnehmen, die unparteilich und bezogen auf den sachlichen Gegenstand objektiv und unbefangen zu entscheiden in der Lage sind (§§ 20, 21 VwVfG). Ob ein solches Verfahren tatsächlich eingeleitet wird, bleibt nach dem —• Offizialprinzip, soweit gesetzlich nichts anderes vorgesehen ist, grds. dem Ermessen der Behörde überlassen (§ 22 VwVfG). Gem. §§ 28, 66, 67f. VwVfG haben die am Verfahren Beteiligten einen Anspruch darauf, daß die Behörde ihnen —> Rechtliches Gehör gewährt und das von ihnen Vorgetragene bei der zu treffenden Entscheidung ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Für die Anhörung genügt es hingegen, wenn die Behörde gegenüber den Beteiligten auf die Möglichkeit zur Geltendmachung möglicher entscheidungserheblicher Tatsachen in geeigneter Weise hinweist. Ein Anspruch auf mündliche Anhörung besteht nicht; die Behörde kann die am Verfahren Beteiligten auf die Möglichkeit schriftlicher Eingaben hinweisen. IM.: Verwaltungsverfahrensgesetz, Textausgabe, München 1997; H.D. Braun: Allgemeines Verwaltungsrecht, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozeß, Regensburg 1997; R. Brühl: Entscheiden im Verwaltungsverfahren, Stuttgart 1990; C.H. Ule: Verwaltungsverfahrensrecht,
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Verwaltungsverordnung
Verwaltungsvorschrift
Berlin 1995.
Hans Meyer-Albrecht Verwaltungsverordnung tungsvorschrift
—> Verwal-
Verwaltungsvollstreckung / -sgesetz Die V. erfolgt nach dem VwVG. Das VwVG des —> Bundes dient dabei der Vollstreckung von —» Verwaltungsakten des Bundes und der bundesunmittelbaren -> juristischen Personen des —> öffentlichen Rechts. Die einzelnen Bundesländer und deren jurist. Personen öffentl. Rechts verfahren nach eigenen Gesetzen, die teilw. mit dem -> Verwaltungszustellungsgesetz zusammengefaßt sind. Unterschieden wird im -> Gesetz zwischen der Vollstreckung wegen Geldforderungen und der Vollstreckung zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen, wobei die Vollstreckung grds. im Verwaltungswege oder durch die jeweils zuständige —> Behörde erfolgt. Falls keine Behörde eigens bestimmt ist, sind die Stellen der Bundesfinanzverwaltung Vollstreckungsbehörde. Für -> Steuern und Sozialabgaben sowie fllr Justizbeitreibungen gelten eigene Gesetze. Für die Vollstreckung wegen einer Geldforderung sind Voraussetzungen: der Leistungsbescheid, die Fälligkeit der Leistung und der Ablauf der Frist von 1 Woche seit Bekanntgabe. Für die Vollstreckung zur Erzwingung von Handlungen, Duldungen oder Unterlassungen ist grds. die Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes Voraussetzung. Sofortiger Vollzug ist im Rahmen enger gesetzlicher Bestimmungen zulässig (so zur Verhinderung einer Straftat). Zwangsmittel sind die Ersatzvomahmen, Zwangsgeld und unmittelbarer Zwang. Bei der Ersatzvornahme wird ein anderer mit der Vornahme der Handlung auf Kosten des Pflichtigen beauftragt. Das Zwangsgeld soll den Pflichtigen zur Vornahme der Handlung anhalten. Bei Uneinbringlichkeit kann das Gericht Ersatzzwangshaft anordnen. Unmittelbarer Zwang führt zur
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Erzwingung der Handlung, Duldung und Unterlassung direkt beim Pflichtigen. Die Zwangsmittel sind i.d.R. vorher anzudrohen. Für den unmittelbaren Zwang durch die -> Bundeswehr und für den Zivildienst (—» Kriegsdienstverweigerung) gelten eigene Bestimmungen. Ut: H. Engelhardt / M. App: Verwaltungsvollstreckungsgesetz, Verwaltungszustellungsgesetz, Komm., München 41996.
A.E. Verwaltungsvorschrift Die V. (auch Verwaltungsanweisung und -Verordnung genannt) dient übergeordneten Verwaltungsinstanzen innerhalb der Exekutive, die Organisation und das Handeln der —> Verwaltung im Rahmen der Gesetzesbindung autonom zu bestimmen. Das Erzeugungsverfahren ist nicht formalisiert, seine Grundlage ist die exekutivische Organisations- und Geschäftsleitungsgewalt. Als organisatorische (z.B. —> Geschäftsordnungen) und formierende, verhaltenslenkende Vorschriften (z.B. Ermessensrichtlinien) sind sie auf das Handeln des -> Staates gegenüber den —> Bürgern bezogen. Doch gehören sie nicht zum Außenrecht (Staat - Bürger) wie das -> Gesetz, die -> Rechtsverordnung und die -> Satzung, sondern beschränken sich in ihrer unmittelbaren Wirksamkeit auf den Innenbereich der Verwaltung (Innenrecht). Sie binden grds. weder die —> Gerichte noch die Bürger, vielmehr bezwecken sie die (Selbst-) Organisation und (Selbst-)Steuerung der vollziehenden Gewalt. Die gesetzesergänzenden, gesetzesausfüllenden und gesetzeskonkretisierenden Vorschriften der Verwaltung stehen nicht selten unter Bürokratieverdacht, etwa wenn im —> Steuerrecht neben die zahlreichen Steuergesetze etwa 40.000 V.en treten. Dabei ist aber zu bedenken, daß diese Regelungen die Rechtsanwendung erleichtern (Entlastungswirkung) und verstetigen (insbes. im Steuerrecht: Gleichmäßigkeit der Besteuerung), insg. Rechtssicherheit bewirken. Keinesfalls vermag die Verwaltung mit autonomer
Vielparteiensystem
Verwaltungszustellung Rechtsetzung ihre Bindung an das Parlamentsgesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) zu lokkem, der Vorrang des Gesetzes bleibt unangetastet. υ. Hu.
Verwaltungszustellung / -sgesetz Das Gesetz gilt für das Zustellungsverfahren der Bundesbehörden, bundesunmittelbaren —> Körperschaften und —> Anstalten und regelt die Zustellung von Schriftstükken in Urschrift, Ausfertigung und beglaubigter Abschrift. Für die Zustellung gibt es verschiedene Möglichkeiten. Durch die Post kann mit Urkunde zugestellt werden. Mittels eingeschriebenem Brief gilt dieser mit dem 3. Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang nachzuweisen. Durch Bedienstete kann die Behörde gegen Empfangsbekenntnis oder mittels Vorlegens der Urschrift zustellen. Zustellung an gesetzliche Vertreter oder an Bevollmächtigte ist möglich. Auch Ersatzzustellung an andere Hausgenossen oder ggf. den Vermieter ist möglich, falls dieser bereit ist, das Schriftstück in Empfang zu nehmen und weiterzugeben. Offen tl. Zustellung ersetzt die direkte Zustellung, wenn der Aufenthaltsort des Empfängers des Schriftstücks unbekannt ist. Da die Zustellung den Lauf von Fristen in Gang setzen kann (z.B. Widerspruchs· und Klagefrist), ist der Zustellungsnachweis besonders wichtig. Mit der Zustellung ist der Zugang einer Willenserklärung nach Bürgerl. Recht gegeben. Zustellung ist auch regelmäßig Voraussetzung für die Zwangsvollstreckung. Oft sind deshalb in den Bundesländern, die für ihren Bereich eigene Gesetze haben, Verwaltungszustellung und -Vollstreckung in einem Gesetz zusammengefaßt (-> Verwaltungsvollstreckung). Ut: G. Sadler: Verwaltungszustellungsgesetz, Komm., Heidelberg 31996. A.E.
Verwirkung von Grundrechten —> Grundrechtsverwirkung
Veto / -recht war ursprünglich das Recht des Volkstribunen der Röm. Republik, Mehrheitsbeschlüsse zu blockieren; später wurde es zum Einspruchsrecht der Monarchen gegen aufkommende Parlamente. Heute kann in -» Zweikammersystemen ein V. für eine Kammer bestehen, wobei ein absolutes von einem nur suspensiven (aufschiebenden) V. unterschieden wird. Im polit. System der USA (-> Verfassung der USA) müssen beide Kammern identische Fassungen eines Gesetzes beschließen. Innerhalb von 10 Tagen kann der Präsident sein V. einlegen, das wiederum mit Zweidrittelmehrheiten überstimmt werden kann. Eine Variante ist das sog. pocket veto, bei dem der Präsident nicht explizit sein V. einlegt, die Sitzungsperiode aber vor Ablauf der 10 Tage endet. Das heute diskutierte line item veto würde dem Präsidenten ein V. gegen einzelne Gesetzespassagen einräumen. Seine Verfassungsmäßigkeit ist fraglich. Das legislative veto hat eine diesbzgl. negative Entscheidung des -» Supreme Court überdauert. Gesetze mit breitem Auslegungsspielraum für die Exekutive sehen hierbei vor, daß exekutive Maßnahmen innerhalb eines festgelegten Zeitraums mit einfachen Mehrheiten blockiert werden können. Lit: D. Bacon (Hg.): The Encyclopedia of the United States Congress, New York 1995.
T. G. Vielparteiensystem Dieser Typus eines -> Parteiensystems kann unterteilt werden in begrenzt pluralistische Mehrparteiensysteme (3-5 relevante Parteien) und extrem pluralistische (mehr als 5 relevante Parteien). Die Relevanz mißt sich an Wählerund Mitgliederstärke, parlament. Präsenz und damit einhergehend der Möglichkeit, den polit. Wettbewerb zu beeinflussen. Die häufig in früheren Jahren gemachte Annahme, daß die Existenz eines V.s zu einer größeren Instabilität des polit. Sytems führt, konnte empirisch nicht belegt werden. 989
Virginia Bill of Rights
Völkerrecht U.J.
Virginia Bill of Rights -> Bill of Rights -» s.a. Grundrechte —> s.a. Menschenrechte Vizekanzler -» Bundeskabinett Völkerrecht Die -> Staaten als auch heute noch wichtigste Ordnungsfaktoren der internationalen Politik können mit ihren jeweiligen nationalen Rechtsordnungen andere Staaten auf Grund der ihnen zukommenden -» Souveränität nicht binden. Es bedarf daher zur Regelung der zwischenstaatl. Beziehungen einer besonderen Rechtsordnung, des V.s. Dessen ursprüngliche Rechtssubjekte sind die Staaten. Vor allem seit dem Ende des Π. Weltkriegs sind die Internationalen Organisationen, allen voran die -> Vereinten Nationen, als weitere V.ssubjekte entstanden. Nach wie vor streitig ist, inwieweit der Einzelne Rechtssubjekt des V.s ist, etwa auf Grund der internationalen Verbürgungen der -»· Menschenrechte. V. ist das Recht, das die Beziehungen der V.ssubjekte untereinander regelt. Es entstammt entweder internationalen Verträgen, bildet sich durch länger andauernde einheitliche Übung mit Rechtsüberzeugung als Gewohnheitsrecht oder wird so das Statut des —> Haager Internationalen Gerichtshofs - aus den „von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen" abgeleitet. Das V. besitzt keine besonderen Organe zu seiner Durchsetzung. Nur in Teilbereichen bestehen insoweit Befugnisse internationaler Organisationen. Im übrigen obliegt es jedem Staat selbst, für die Durchsetzung des V.s zu sorgen. Das V. steht zum innerstaatl. Recht nicht in einem ÜberUnter-Ordnungsverhältnis, sondern bildet eine eigene Rechtsordnung. Der Vollzug des V.s im nationalen Bereich setzt daher voraus, daß es nach den von der jeweiligen nationalen - * Verfassung vorgesehenen Formen innerstaatl. anwendbar gemacht wird. In Dtld. ist für Verträge ein
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-> Gesetz erforderlich; lediglich die allgemeinen Regeln des V.s sind nach Art. 25 GG ohne weiteres Bestandteil des —> Bundesrechts. Wichtigster Grundsatz des V.s ist das auch gewohnheitsrechtl. geltende allgemeine Friedensgebot (-> Frieden, Art. 2 der Charta der Vereinten Nationen). Hierin unterscheidet sich das moderne vom klassischen V., das - in der Praxis der europ. Staaten seit dem Westfälischen Frieden (1648) entstanden - Krieg und Frieden als die beiden grundlegenden Rechtszustände des internationalen Verkehrs kannte; als Ausfluß der staatl. Souveränität anerkannte es das Recht zum Krieg, dessen Durchführung und Folgen es durch verbindliche Regels für die KriegsfUhrung (—> Haager Landkriegsordnung) abzumildern versuchte. Das moderne V. hingegen läßt auf der Grundlage der Staatengleichheit, des Grundsatzes der gegenseitigen Achtung der territorialen Unversehrtheit und des daraus abgeleiteten Interventionsverbots nur die individuelle oder kollektive Verteidigung (Art. 51 UN-Charta) als Notwehr auf einen V.sbruch durch bewaffneten Angriff zu. Als sog. V. der Zusammenarbeit regelt es neben den herkömmlichen Gebieten des Rechts der -> Diplomaten und —> Konsulaten sowie des Rechts der völkerrechtl. Verträge in einer Vielzahl mehrseitiger Abkommen Fragen des Wirtschafts- und Arbeitsrechts (-> Welthandelsorganisation, -> Internationaler Währungsfond —> Weltbank, -> ILO) sowie des —> Umweltschutzes. Zudem befaßt es sich mit der Nutzung, gleichzeitig aber auch dem Schutz internationaler Gemeinschaftsräume wie der Hohen See (Seerechtskonvention) und der Antarktis. Zu den Kennzeichen des modernen V.s gehört schließlich der Schutz der -> Menschenrechte durch den Internationalen Pakt über bürgert, und polit. Rechte, den Internationalen Pakt über wirtschaftl., soziale und kulturelle Rechte sowie in Europa die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (—> Europ.
Volk
Volksentscheid
Menschenrechtskonvention). Lit: R. Geiger: GG und Völkerrecht, München 2 1994; K. Ipsen: Völkerrecht, München 31990; /. Kimminich: Einführung in das Völkerrecht, Tübingen61997.
Johannes Siebelt Volk -> Staatsvolk Volksabstimmung —• Volksentscheid Volksbegehren -> Volksentscheid Volkseinkommen —> Sozialprodukt Volksentscheid (auch Volksabstimmung, Volksbeschluß, Plebiszit, Referendum) ist ein Instrument der direkten - » Demokratie, eine unmittelbare Entscheidung der stimmberechtigten Bürgerschaft über öffentl. Angelegenheiten mit Gesetzeskraft bis hin zur Verfassungsgebung und - > Parlamentsauflösung. Der Entscheid kann obligatorisch sein, d.h. zwingend vorgeschrieben, oder fakultativ, d.h. als Wahlmöglichkeit existieren. V.e sind auch in -> Diktaturen bekannt; doch dienen sie dort lediglich als Instrument scheindemokrat. Akklamation ohnehin längst gefällter autoritäter Führerentscheidungen. Man kann Personalplebiszite gegenüber Sachentscheidungen abgrenzen: Erstere betreffen die Auswahl der polit. —> Führung (Präsidentschaftswahlen in Frankreich, USA), letztere regeln sachpolit. Angelegenheiten (Referendum), z.B. einfache -> Gesetzgebung oder —> Verfassungsänderungen - wie zuletzt in Bay. am 1.10.95 zur Aufnahme von -> Bürgerbegehren und -entscheid sowie am 8.2.1998 (3 V.e zur Parlamentsreform, u.a. Abschaffung des -> Bayerischen Senats). Nach den wichtigsten Instrumenten einer Volksabstimmung und bzgl. ihrer demokrat. Relevanz ist zu differenzieren zwischen Volksbefragung (von oben initiiertes Plebiszit), Volksbegehren (Volksinitiative, internationale Initiative) und V. (Referendum): Während die Volksbefra-
gung nur konsultativen Charakter hat und mit ihr die -> öffentliche Meinung zu einer bestimmten Angelegenheit erkundet werden soll, ohne daß aus dem Befragungsergebnis rechtl. Verbindlichkeiten erwachsen, ist das Volksbegehren / die Volksinitiative der Initiativakt einer Mindestzahl von Abstimmungsberechtigten, mit der die Erörterung einer Sachfrage oder die Entscheidung über sie durch —> Parlament oder -> Regierung verlangt werden kann. Beim Volksbegehren hat die Stimmbürgerschaft das Recht, durch eine bestimmte Anzahl von Unterschriften der Abstimmungsberechtigten (—» Quorum) dem Parlament die Vorlage eines bestimmten Gesetzgebungswerkes abzuverlangen oder ihm einen Gesetzentwurf zur Abstimmung vorzulegen. In der überwiegenden Mehrheit der Gebietskörperschaften, die Volksbegehren zulassen, bilden diese die Vorstufe zu einem V.; der V. schließlich ist die verbindliche Entscheidung der Stimmbürger über eine Streitfrage, vielfach eben als Letztentscheidung über ein vorgelagertes Volksbegehren, in einem eigenständigen Abstimmungsgang oder zusammen mit der nächsten Wahl. Eine Sonderform des V.s ist das Referendum i. S. der Befugnis, eine vom Parlament oder der Regierung bereits getroffene Entscheidung letztverbindlich zu sanktionieren oder zu verwerfen. Ein solches Gesetzesreferendum kommt in der Schweiz zustande, wenn es 30.000 Stimmberechtigte oder 8 Kantone verlangen. Auch jede Verfassungsänderung bedarf obligatorisch eines Referendums, außerdem sind auf Bundes- wie Kantonsebene für bestimmte Staatsverträge und polit.-administrative Entscheidungen fakultative Referenden vorgesehen. Damit ist die Schweiz auch im internationalen Vergleich das polit. System mit dem größten Arsenal an direktdemokrat. Instrumenten, die durchaus stabilisierende und konservierende Funktionen erfüllen und die praktizierte —> Kondordanzdemokratie durch das Bestreben stärken, schon
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Volksentscheid im Vorfeld der Gesetzgebung die Gesetzesvorlagen referendumsfest zu machen. Hier hat die große Bedeutung von V. und Referendum den Prozeßcharakter der Politik und den Inhalt der Staatstätigkeit nachhaltig geprägt (Referendumsdemokratie). Eine beschränkte Mitwirkung des Volkes bei polit. Sachentscheidungen sehen die Verfassungen der meisten westlichen Demokratien vor, und in Gliedstaaten der USA sind die demokrat. Volksrechte weit verbreitet. In - » Österreich ist ein V. obligatorisch bei Gesamtänderungen der Verfassung vorgesehen, bei Gesetzesbeschlüssen fakultativ (BuVerf. Art. 43f). Bei einer Teiländerung findet ein fakultatives Referendum statt, wenn dies 1/3 der Mitglieder des National- oder Bundesrates verlangt, in bestimmten Fällen ist dieses Verfahren auch bei Gesetzen möglich. Auch Landesverfassungen kennen den V. (Salzburg, Tirol, Vorarlberg). Volksbegehren und Volksbefragung sind sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene vorgesehen. Die —> Weimarer Reichsverfassung kannte als direktdemokrat. Elemente neben der Wahl / Abwahl des Reichspräsidenten (WRV Art. 41, 43) die Mitwirkung des Volkes an der Gesetzgebung durch V. und Volksbegehren auch als Anordnung des Reichspräsidenten (WRV Art. 73, 75). Im Gegensatz zur WRV und im Unterschied zur Schweiz oder Öst. zählt die BRD zu den Staaten, in denen auf nationaler Ebene das plebiszitäre Element außerordentlich schwach ausgeprägt ist. Das -> Grundgesetz ist in Bezug auf plebiszitäre Elemente äußerst zurückhaltend und konsequent als repräsentative Verfassungsordnung ausgestaltet. Eine Mitwirkung des Volkes in Form von Volksbegehren und V. ist nur bei Gebietsänderungen vorgesehen (Art. 29, 118a GG), obwohl beide Partizipationsformen bereits von der Enquete-Kommission Verfassungsreform intensiver diskutiert wurden und durch die friedliche Revolution im Vorfeld der dt. Einigung erhöhte Ak-
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Volksentscheid tualität gewonnen hatten. In den einzelnen Bundesländern sind direktdemokrat. Institutionen jedoch häufiger, und auf kommunalpolit. Ebene ist in manchen Gebieten der BRD die unmittelbare Bürgerbeteiligung relativ weit ausgebaut, z.B. im Rahmen der Süddt. —• Ratsverfassung, beachtenswert insbes. in -» Bayern seit der Änderung der BayVerf. 1995. Herauszuheben ist hier die BayVerf. von 1946: Sie wurde durch Volksabstimmung in Kraft gesetzt, schreibt ein obligatorisches Verfassungsreferendum vor und sichert nicht nur die Mitwirkung des Volkes an der Gesetzgebung durch Volksbegehren und V., sondern auch die Abberufung des Landtags durch die Staatsbürger über V. (BayVerf. Art. 2, 4, 18, 71-75). Im Vergleich zu den anderen Bundesländern wurde bisher in Bay. von den direktdemokrat. Mitgestaltungsmöglichkeiten reger Gebrauch gemacht (10 V.e, 3 V.e ohne vorausgegangene Volksbegehren zur Verfassungsänderung, 17 Zulassungsanträge für ein Volksbegehren, 9 Volksbegehren). Inwieweit in V.en über Sachfragen eine Strukturwidrigkeit zur repräsentativen Demokratie gegeben sein könnte, wird unter Verfassungsrechtslehrern kontrovers diskutiert. Der Wille des Volkes wird nicht mehr durch Repräsentativorgane mediatisiert, sondern setzt sich, als empirischer Volkswille, direkt um in polit. Entscheidungen. In Demokratien mit repräsentativer Verfassungsordnung wird so der Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß aus den gewählten Repräsentativorganen heraus- und in die Hände des Volkes zurückverlagert; den gewählten Organen fällt in diesen Fragen keine -> Verantwortlichkeit mehr zu. Auch wenn das Volk verfassungsgemäß besondere Organe mit der Gesetzgebung beauftragt (Wahlen), so manifestiert sich auch in einer repräsentativen Demokratie seine - » Souveränität in besonderem Maße, wenn es darüber hinaus die Gesetzesinitiative und den -beschluß auch selbst herbeifuhren kann (Abstimmungen, meist jedoch
Volkskammer nur als Ergänzung zu den Wahlen in Ausnahmefallen) - dies meist jedoch nur in Ausnahmefällen als Ergänzung zu den Wahlen. Lit: Κ. Bugiel·. Das Institut der Volksabstimmung im modernen Verfassungsstaat, in: ZParl 1988, S. 394ff.; F. Hettler: Der Volksentscheid, in: Der Staatsbürger 1998, S. Iff; W. Luthardt: Institutionen direkter Demokratrie in der Schweiz und anderen westeurop. Staaten - ein empirischer Beitrag zur Demokratietheorie, in: ZParl 1992, 146ff; K. Troitzsch: Volksbegehren und Volksentscheid, Meisenhain 1979. Gerhard Kral Volkskammer —> Deutsche Demokratische Republik Volkssouveränität bezeichnet das demokrat. Verfassungsprinzip, wonach alle —» Staatsgewalt vom Volk ausgeht (Art. 20 Abs. 2 GG). Dem - > Staatsvolk ist das Gesetzesmonopol und damit die Letztentscheidungsbefugnis verfassungsrechtl. und institutionell zugesprochen. V. stellt daher das grundlegende Prinzip demokrat. Legitimation polit. Herrschaft seit dem 18. Jhd. dar, wie es sich z.B. in der frz. Menschenrechtserklärung (1789/91) und den Virginia - > Bill of Rights (1776) findet. I. Wenn auch die Idee der V. älter als der demokrat. - » Verfassungsstaat ist und sich Ansätze bereits bei spätmittelalterlichen Staatsdenkern wie Marsilius v. Padua (1290-1342) zeigen, so hat das Prinzip der V. seine emanzipatorischdemolaat. Bedeutung erst im Laufe des 18. Jhd.s, v.a. durch Rousseau (17121778) gewonnen und wurde dann in und infolge der Frz. Revolution zum polit. KampfbegrifT gegen feudale und ständische Privilegien und für die Durchsetzung des allgemeinen, freien und gleichen - > Wahlrechts. Zunächst ist die V. eng verbunden gewesen mit dem Prinzip der —> Souveränität, wie es von dem frz. Rechtsgelehrten J. Bodin (1529/30-1596) entfaltet wurde. War im Absolutismus der Monarch Repräsentant der Einheit des
Volkssouveränität Staates und Verkörperung der Souveränität, so wechseln Rousseau und die in seiner Denktradition stehenden V.stheorien zunächst den Träger der Souveränität aus: Die Fürstensouveränität mit ihren Attributen der Unveräußerlichkeit, Unteilbarkeit und Unverjährbarkeit wird auf den Volkssouverän übertragen, der Monarch durch das Volk ersetzt. Indem Rousseau die monarchische Souveränität auf das Volk überträgt, zielt seine Idee der V. auf die unmittelbare und ständige polit. Handlungsfähigkeit des Volkssouverän. Dieser ist daher nur dann souverän, wenn er selbst Herrschaft ausübt, mithin keine Unterschiede zwischen Herrschenden und Beherrschten, Innehabe und Ausübung der Staatsgewalt bestehen. Da Souveränität nach Bodin unveräußerlich, unteilbar und unveijährbar ist, kann sie nicht auf andere übertragen oder durch sie vertreten werden, ohne daß sie selbst von ihrem Inhaber veräußert wird. Wenn nur die Identität von Regierten und Regierenden Freiheit und Selbstbestimmung gewährleistet, schließen sich folglich V. und —> Demokratie einerseits, —> Gewaltenteilung und —> Repräsentation, da sie in der Teilung der Staatsgewalt durch Beauftragung und Vollmacht ein Herrschaftsverhältnis konstituieren, andererseits aus. 2. Hingegen haben die Demokratietheoretiker des modernen Verfassungsstaates (z.B. Sieyes 1748-1836) unter gewandelten gesellschaftl. und polit. Bedingungen das repräsentative Prinzip mit der Idee der V. verbunden. Sie knüpften dabei an die naturrechtl. Vorstellung (—» Naturrecht) an, daß individuelle Autonomie und Selbstbestimmung des kraft Geburt mit unveräußerlichen Rechten ausgestatteten Menschen jeder gesellschaftl. und polit. Organisation vorauslaufen. Damit sind die naturrechtl. begründete ursprüngliche —> Freiheit und - > Gleichheit aller Menschen konstitutive Bedingung jedes polit. Gemeinwesens. Der Staat wird in der Folge in einem rechtschöpferischen Akt von den Einzelnen als Kreationssubjekt willentlich ge-
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Volkssouveränität schaffen. Rechtsfigur für den Zusammenschluß autonomer Individuen zu einem Herrschaftsverband ist der Gesellschaftsvertrag. Daher erklärt sich die Souveränität des Volkes als logisches Ergebnis der Herleitung sozialer Verfügungsgewalt aus individueller Autonomie und findet ihren stärksten Ausdruck in der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, im —> pouvoir constituant. In diesem liberal-demokrat. Verständnis begründet Demokratie kein unmittelbares Herrschaftsrecht wie bei Rousseau, sondern benennt normative Bedingungen, denen legitime, d.h. verantwortbare -> Herrschaft genügen muß. Denn Ziel des aus einem ursprünglichen Vertrag freier und gleicher Einzelner konstitutierten polit. Verbandes ist die Sicherung der für alle gleichberechtigt geltenden —> Menschenund Grundrechte. Demokratie geht nicht nur aus der V. hervor, sondern setzt auch den Verfassungsstaat voraus. Solange dieser besteht, handelt der Volkssouverän nicht selbst, sondern durch seine bestellten Repräsentanten und eingesetzten Organe. Damit ist die Frage nach dem Ort der Souveränität im demokrat. Verfassungsstaat gestellt. Hilfreich ist die Unterscheidung zwischen Volkssouverän und V.; der demokrat. Verfassungsstaat kennt einen unmittelbar handlungsfähigen Volkssouverän, der sich über alle Verfassungsprinzipien hinwegsetzen kann (—» s.a. Kompetenz-Kompetenz) nicht. Statt dessen wird der gemeinschaftliche Wille nach dem hierfür unerläßlichen repräsentativen Prinzip organisiert, welches zudem durch arbeitsteilige Stellvertretung eine höhere Rationalität und Effektivität polit. Handelns ermöglicht. Daher hat der Volkssouverän seine Souveränität mit dem Akt der Verfassungsgebung an die konstituierte Ordnung gebunden. Ihm sind damit zugleich Rechte und Kompetenzen wie auch Pflichten zugewiesen. Der Volkswille nimmt folglich in den institutionellen Formen der -> Verfassung Gestalt an. Die Souveränität wird demnach im demokrat. Gemeinwe-
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Volksvertretung sen durch Repräsentation als Entscheidungsmonopol einer in sich konsistenten Kompetenzordnung organisiert, welches der treuhänderischen Wahrnehmung der in den Grundrechten verbürgten Schutzgüter verpflichtet ist. 3. Damit hat sich die Vorstellung, V. bedeute, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, im modernen demokrat. Verfassungsstaat zwar institutionell ausdifferenziert und verfestigt; direkte polit. Partizipationsformen der Bürger - ehemals histor. Impetus für die polit.-emanzipative Bedeutung der V. sidee - sind zugleich, abgesehen von den turnusmäßigen -> Wahlen, in der repräsentativen Demokratie aufgehoben und im Grunde - außer auf kommunaler Ebene (—• Bürgerentscheid) nur noch durch die Beteiligung über intermediäre —> Institutionen, wie —> Parteien, —> Verbände und sonstige Interessengruppen möglich. Insofern bleibt das in der rousseauistischen Denktradition stehende Argument, die demokrat. Legitimation von Herrschaft durch das Prinzip der V. müsse um das demokrat. Korrektiv des auf institutionalisierter Rechtsstaatlichkeit fußenden Gemeinwesens ergänzt werden, aktuell: Wenn nämlich der instiututionellen Formalisierung und Zwecktransformation mit dem Einwand der demokrat. Selbstgesetzlichkeit diskursiver Meinungs- und Willensbildung begegnet wird, mithin die Demokratieabhängigkeit des -> Rechtsstaates in Rede steht. Lit.: J. Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992; W. Kersting: Polit. Philosophie des Gesellschaftsvertrages, Darmstadt 1994; P. Graf Kielmansegg: Volkssouveränität, Stuttgart 1977; M. Kriele: Einführung in die Staatslehre, Opladen 5 1994; H. Kurz (Hg.): Volkssouveränität und Staatssouveränität, Darmstadt 1970; M G . Schmidt: Demokratietheorien, Opladen 1995.
Gerlinde Sommer Volksvertreter -> Abgeordneter Volksvertretung —> Parlament
Volkswille Volkswille générale
Volkszählung Repräsentation -> Volonté
Volkszählung Eine V. ist eine umfassende statistische Erhebung von Angaben über den Stand der Bevölkerung innerhalb eines -> Staatsgebiets, deren räumliche Verteilung und deren Zusammensetzung nach demographischen und sozialen Merkmalen sowie über ihre wirtschaftl. Betätigung zu einem bestimmten Zeitpunkt (Stichtag). Dies unterscheidet die V. vom Mikrozensus: Er betrifft nur einen Teil der Bevölkerung; allerdings lassen sich mit ihm aufgrund verfeinerter statistischer Methoden ähnliche Zwecke rationaler Informationsbeschaffung wie mit einer V. erreichen. Die mit einer V. erreichbaren Angaben stellen unentbehrliche Grundlagen für gesellschaftspolit. und wirtschaftspolit. Entscheidungen des Bundes, der —> Länder und —> Gemeinden dar. Die Ergebnisse der V. sind Unterlage fur zahlreiche Verwaltungszwecke. Allein die Einwohnerzahl ist z.B. ftlr die Stimmen der Länder im —• Bundesrat, für die Abgrenzung der Bundestagswahlkreise (-> Wahlkreis), für den —> Finanzausgleich, für die Größe der Gemeindeparlamente und vieles andere mehr von Bedeutung. Auch die -> Parteien, die Tarifpartner, die Wirtschaftsverbände und Berufsverbände, die Wissenschaft und sonstige wichtige Gruppen des öffentl. Lebens sind auf die Zählungsergebnisse angewiesen. Diese sind ferner Ausgangspunkt für die Fortschreibung der laufenden Entwicklung und Auswahlgrundlage für gesetzlich angeordnete Erhebungen auf Stichprobenbasis. V.en sind bereits aus dem Altertum bekannt (z.B. bei Ägyptern und Juden, Bürgerlisten Griechenlands, Census in Rom). In der —> Bundesrepublik Deutschland fanden V.en 1950, 1961, 1970 und 1987, in der - » DDR 1950, 1964 und 1971, in Ost. 1951, 1961 und 1971, in er Schweiz 1950, 1960 und 190 statt. Für eine bundesweite V. ergibt sich die Kompetenz
des Bundes aus Art. 73 Nr. 11 GG. Die Erhebung dient der Erfüllung einer Bundesaufgabe. Bei der Ermittlung des Umfangs der Kompetenznorm kommt der Staatspraxis wesentliche Bedeutung zu. Danach kann in den Programmen für Bundesstatistiken auch statistischen Anforderungen der Länder Rechnung getragen werden, weil sich Gesetzes-, Verwaltungs- und Planungszuständigkeiten von Bund und Ländern vielfaltig überschneiden. Unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitung wird der Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten (-> s.a. Datenschutz) anläßlich einer V. von dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG umfaßt. Das —> Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grds. selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Einschränkungen dieses Rechts auf „informationelle Selbstbestimmung" sind nur im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig. Sie bedürfen einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage, die dem rechtsstaatl. Gebot der Normenklarheit entsprechen muß. Bei seinen Regelungen hat der Gesetzgeber ferner den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Auch hat er organisatorische und verfahrensrechtl. Vorkehrungen zu treffen, welche der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken. Bei den verfassungsrechtl. Anforderungen an derartige Einschränkungen zum Zwecke der V. ist zu unterscheiden zwischen personenbezogenen Daten, die in individualisierter, nicht anonymer Form erhoben und verarbeitet werden, und solchen, die für statistische Zwecke bestimmt sind. Bei der Datenerhebung für statistische Zwecke kann eine enge und konkrete Zweckbindung der Daten nicht verlangt werden. Der Informationserhebung und -Verarbeitung müssen aber innerhalb des Informationssystems zum Ausgleich entsprechende
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Volljährigkeit
Volonté générale
Schranken gegenüberstehen. Den dargelegten verfassungsrechtl. Anforderungen genügte das Erhebungsprogramm des Volkszählungsgesetzes 1980 nicht in jeder Hinsicht. Lit.: BVerfGÎ, 65, l ; E. Domschke / D.S. Goyer: The handbook of national population Censuses, New York 1992; S.-M. Kühnel: Zwischen Boykott und Kooperation, Teilnahmeabsicht und verhalten bei der Volkszählung 1987, Frankftirt/M. 1993.
Jörg Ukrow Volljährigkeit Die V. tritt mit der Vollendung des 18. Lj. ein (§ 2 -> BGB). Am 18. Geburtstag ist man bereits volljährig. Die V. ist u.a. i.d.R. mit voller Geschäfts-, Testier- (§§ 2, 2229 BGB), Ehe- (§ 1 EheG) und Deliktsähigkeit nach bürgerl. Recht (§ 828 Abs. 2 BGB), Strafmündigkeit als Heranwachsender (§§ 1, 105, 106 JGG), aktivem und passivem -> Wahlrecht zum —> Bundestag, dem —» Europäischen Parlament und den —> Landesparlamenten sowie zum —> Betriebsrat (§ 7 BetrVG) und dem Beginn der -» Wehrpflicht (§ 1 WehrpflG) verknüpft; (s.a. -» Rechtsfähigkeit, s.a. Geschäftsfähigkeit). Lit.: MKI, § 2. J. u. Vollziehende Gewalt / Exekutive Entsprechend der —> Gewaltenteilung ist die v.G. oder —• Exekutive die staatl. Gewalt, die mit dem Vollzug der Rechtsnormen beauftragt ist. In der —> Bundesrepublik Deutschland sind das alle staatl. Verwaltungsstellen der -> Gemeinden, —> Kreise und sonstigen —> Gemeindeverbände, der -> Länder und des -> Bundes. Auch die Bundesregierung und die —> Landesregierungen als Verwaltungsspitzen zählen dazu. Der Gesetzesvollzugsauftrag erhält durch Art. 20 Abs. 3 GG Verfassungsrang und zugleich bindenden Charakter. Die Bindung der -» Verwaltung an die materiellen —> Gesetze (Parlamentsgesetze, —> Rechtsverordnungen und —»• Satzungen) besteht aus dem -> Gesetzesvorbehalt
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(keine Verwaltungsmaßnahme ohne gesetzliche Ermächtigung, „Ob" der Maßnahme) und dem Gesetzesvorrang (inhaltliche Vereinbarkeit der Maßnahmen mit dem Gesetz, „Wie" der Maßnahme). Dennoch ermächtigen Art. 80 GG und die entsprechenden Vorschriften der - » Landesverfassungen die Regierung als Verwaltungsspitze, selbst Rechtsnormen (Rechtsverordnungen) zu erlassen. Diese —> Kompetenz kann auch auf niedere —> Behörden übertragen werden, wie es z.B. im Polizei- und Ordnungsrecht der Länder üblich ist. Eine ähnliche Kompetenz haben die Gemeinden (Art. 28 Abs. 2 GG) und andere Selbstverwaltungskörperschaften (z.B. —> Hochschulen, Berufskammem) im Rahmen ihrer Selbstverwaltung. Sie können die ihnen übertragenen Angelegenheiten durch autonomes Satzungsrecht regeln. Dennoch ist es mißverständlich und terminologisch unzutreffend, wenn zuweilen der —> Gemeinderat als „Gemeindeparlament" bezeichnet wird. Trotz seiner Rechtsetzungsfunktion ist und bleibt er Verwaltungsorgan. Die Verteilung der Verwaltungskompetenzen ist im Verhältnis zwischen Bund und Ländern durch die Art. 83ff. GG geregelt und liegt gem. Art. 83 GG grds. bei den Ländern. Die Behördenzuständigkeit zwischen den verschiedenen Verwaltungsstellen einer Gebietskörperschaft wird in speziellen Gesetzen, zumeist dem jeweiligen Fachgesetz bzw. zu diesem ergangenen Ausführungsregelungen bestimmt. Lit.: P. Badura: Staatsrecht, München 21996, S.
508fr.; Maunz/Zippelius, § 38. Tobias Linke Volonté générale oder der Gemeinwille ist ein zentraler Begriff in Rousseaus Contrat Social, der sich das Problem stellt, wie die —• Herrschaft des -> Gesetzes mit polit. Freiheit zu vereinbaren sei. Die Lösung dieses Problems liegt in einem Vertrag, durch den die Kontrahierenden ihre natürliche Freiheit aufgeben und sich zu Gliedern eines Kollektivkörpers machen. Ein solcher polit. Körper
Vorsorge
Vorbehalt des Gesetzes bzw. eine —>· Republik besitzt, vergleichbar mit einem einzelnen Menschen, einen Willen, der auf seine Erhaltung und sein Wohlergehen ausgerichtet ist und der anläßlich einer Versammlung des souveränen Volkes geäußert werden muß. Dieser gemeine Wille ist zu unterscheiden von einem Gesamtwillen (volonté de tous), der sich aus einer bloßen Addition der vielen selbstinteressierten Partikularwillen ergibt. Im Unterschied dazu muß der Gemeinwille vergleichsweise voraussetzungsreichen Anforderungen genügen. Danach muß der Souverän (-> Souveränität) hinreichend unterrichtet und tugendhaft sein, die einzelnen -> Bürger sollen keinerlei Verbindung untereinander haben, und es dürfen keine Parteiungen existieren. Diese verkörpern, vom Standpunkt des polit. Körpers aus, organisierte Partikularwillen - obwohl sie organisationsintern jeweils als v.g. begriffen werden können: Ein Gemeinwille kann also auf ganz unterschiedlichen Ebenen konstituiert werden. Weil ein real vorfindbarer Gemeinwille jederzeit als nicht authentisch deklariert werden kann, sind Rousseaus bahnbrechender Idee, mit der v.g. die Geltung von —> Gesetzen von der allgemeinen Zustimmung der Bürger abhängig zu machen, häufig totalitäre Implikationen unterstellt worden (s.a. —» Volkssouveränität).
Biedermeier allzusehr das Unpolitische des Zeitalters herausstellt und dadurch den polit. Aufbruch nach 1830 verleugnet. Zudem ist sie ein Epochenbegriff vornehmlich von Literatur- und Kunstgeschichte. In der Sache bezeichnet V. das Nebeneinander von polit. Modernisierung und vorindustrieller Wirtschaft und Gesellschaft, von —> Konstitutionalismus und vorindustrieller Armut. Die Epoche stellt indessen keine Einheit dar. Das Jahr 1830 hat sie gespalten. Beginnt 1815/18 eine Zeit (einzelstaatl.) Verfassungsgebung, so 1830 eine Zeit „gelebter" Verfassungen: Die parlament. Versammlungen werden zu Stätten polit. -> Opposition und entwickeln Anfänge eines ständischen Gruppenwesens; —> Vereine und Versammlungen (Hambacher Fest) schaffen eine neue Form polit. -> Öffentlichkeit. Schließlich hat die Bezeichnung V. auch darin ihre Berechtigung, daß sie auf die vormärzlichen Ursprünge der Revolution von 1848/49 verweist. Die - » Frankfurter Nationalversammlung zehrte von der Tradition frühkonstitutioneller —> Landtage, der Praxis des Wählens wie der ständischen Organisation. Gleiches gilt für Presse, Vereine und Versammlungen. In der Revolution von 1848/49 kam polit, zur Geltung, was sich im V., namentlich nach 1830 entwickelt hatte.
Lit: I. Feischer: Rousseaus polit. Philosophie, Frankfurt/M. 1975.
dt. Vormärz, Stuttgart 3 1978; T. Nipperdey: Geschichte 1800-1866, München 3 1993.
Michael Becker
Lit.: W. Conze (Hg.): Staat und Gesellschaft im Dt.
Hartwig Brandt
Vorbehalt des Gesetzes —> Gesetzesvorbehalt
Vormund / -schaft -> Gesetzlicher Amtsvormund
Vormärz bezeichnet die Epoche vom —> Wiener Kongreß (1815) bis zur (März) Revolution von 1848, verkürzt auch deren unmittelbare Vorgeschichte, d.h. die Zeit seit 1830 bzw. 1840. Den konkunierenden Epochencharakterisierungen Restauration und Biedermeier hat sich die Bezeichnung als überlegen erwiesen. Denn restaurativ war die Epoche allenfalls bis 1830, während die Bezeichnung
Vorsorge Der V.grundsatz betrifft die Frage, inwieweit der —> Staat berechtigt und evtl. verpflichtet ist, erkannte zukünftige Gefahren und Problemlagen für die -> Gesellschaft, aber auch für den einzelnen -> Staatsbürger durch geeignete Maßnahmen bereits im Vorfeld zu verhindern oder zumindest abzumildern. Die V. ist im weitesten Sinne Gesellschaftsgestaltung. Diese wird durch den —> Gesetz-
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Votum
Wählervereinigung
geber im Rahmen des grundgesetzlich Zulässigen generell-abstrakt bestimmt und durch die —> Verwaltung für den Einzelfall konkretisiert. V. bedeutet eine Begrenzung des individuellen Lebensrisikos - damit aber auch der individuellen Freiheit - durch gesellschaftl./staatl. Verantwortung und Handlungen. Besonders ausgeprägt ist die V. bei der —> Prävention. V. ist rechtl. differenziert bereits auf der Ebene des —> Grundgesetzes angelegt. 1. Aus dem —> Sozialstaatsprinzip i.V.m. der —> Menschenwürde ergibt sich die staatl. Verpflichtung, für die Fälle V. zu treffen, in denen der einzelne Lebensrisiken nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen kann. Beispiele sind die staatl. Fürsorge und Transferleistungen, aber auch die —> Sozialversicherungen. Daneben tritt die im GG nicht geregelte sog. Daseinsvorsorge (anders: Art 152, 83 Abs. 1 Bay Verf.). Sie meint die Versorgung mit Energie, Wasser, Dienstleistungen der Personenbeförderung und Infrastrukturgewährung. Es handelt sich - wie auch bei der Sozialversicherung - nicht notwendig um eine staatl. Aufgabe. Jedoch wird sie vielfach durch öffentl. Unternehmen wahrgenommen. 2. Aufgrund von Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 20a GG trifft den Staat auch die Pflicht, Risiken und Gefahren für den einzelnen, die Gesellschaft und die Umwelt zu ermitteln und zu minimieren. 3. Nach Art. 109 Abs. 2 GG hat der Staat bei seiner Haushaltsgestaltung auch V. für die Erhaltung bzw. Schaffung des gesamtwirtschaftl. Gleichgewichts (angemessenes Wirtschaftswachstum; hohes Beschäftigungsniveau; außenwirtschaftl. Gleichgewicht; Preisstabilität) zu treffen. 4. Schließlich und v.a. hat der Staat V. für seine eigentlichen Funktionen, Sicherheit nach außen und Befriedung nach Innen zu treffen. Lit.: F. Ewald: Der Vorsorgestaat, Frankfiirt/M. 1993; M. Kloepfer: Der Umweltstaat, Berlin 1989.
Ulrich Hösch Votum (von lat. Votum = feierlich abge998
gebene Stimme, Versprechen, Gelübde) bezeichnet 1. generell eine Stellungnahme und 2. speziell die Stimmgebung einer an einer -» Wahl oder -> Abstimmung teilnehmenden Person. Im Unterschied zu diesem individuellen V. besagt der Begriff 3. die Stellungnahme eines Kollektivorgans bzw. der Mehrheit der Mitglieder dieses —> Organs (z.B. ein Repräsentativorgan auf einer polit. Ebene) zu einer zur Diskussion und Abstimmung vorgelegten Thematik. Eine verfassungsrechtl. besondere Relevanz kann insbes. in polit. Krisenzeiten ein Parlamentsbeschluß erlangen, gegenüber der Regierung oder einem Regierungsmitglied das Vertrauens- oder Mißtrauensvotum auszusprechen (z.B. Konstruktives Mißtrauensvotum und —> Vertrauensfrage nach GG Art. 67 und 68, GOßT §§ 97 und 98). In einem Sondervotum können 4. zudem Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts seit 1970 zu einer Senatsentscheidung eine abweichende Meinung (dissenting opinion) oder zu deren Begründung (concurring opinion) niederlegen (BVerfGG § 30). G.K.
Wählervereinigung / -en auch als Freie Wähler oder Bürgervereinigungen bezeichnet, sind nicht an eine —• Partei gebundene polit. Vereinigungen von —> Bürgern, die mit einer eigenen Liste an —> Wahlen (in Dtld. v.a. als sog. —> Rathausparteien an Kommunalwahlen) teilnehmen, ohne auf Dauer den Status und damit die verfassungsrechtl.-materielle Absicherung einer Partei anzustreben (vgl. GG Art. 21, PartG § 2, §§ 18ff. und 32f.). Als Zusammenschlüsse von Wählern zum Zweck gemeinsamer Listenaufstellung für eine Wahl unterscheiden sie sich von den polit. Parteien v.a. durch ihre in regionaler, zeitlicher und z.T. auch sachlicher Hinsicht eingeschränkte Aktivität und durch das Fehlen einer dauer-
Wahl
Wählerverzeichnis haften überregionalen Organisation. Programmatik und Mitgliederstruktur sind sehr vielfältig, häufig geprägt durch ein Übergewicht gewerblich-mittelständischer Interessenvertretung (Freie Berufe, Selbständige, Handwerker, Einzelhändler, kleine bis mittlere Unternehmer). Die W.en in der BRD sind in einigen Bundesländern auf kommunaler Ebene eine durchaus ebenbürtige polit. Kraft neben den Parteien (z.B. in BW und Bay.). Nahmen darüber hinaus W. in der Vergangenheit auch immer an Bundestagsund Landtagswahlen teil - sie können nach dem BWG einen eigenen Wahlvorschlag einreichen, jedoch nur, wenn auf entsprechenden Antrag ihre Parteieigenschaft durch den —> Bundeswahlausschuß festgestellt worden ist -, so erwiesen sich ihre Kandidaten gegen die Konkurrenz der etablierten Parteien nahezu ohne Chancen: Seit 1953 errang kein Angehöriger einer Wählervereinigung mehr ein Bundestagsmandat, und einem Landtag gehört nur eine einzige W. an, der Südschleswigsche Wählerverband —• Schleswig-Holsteins (seit 1996 mit 2 Mandaten), weil für ihn die -> Fünf-ProzentKlausel nicht gilt. Lit: H. Kaack/R. Roth (Hg.): Handbuch des dt. Parteiensystems, 2 Bde., Leverkusen 1980.
G. K. H.
Wählerverzeichnis —> Wahlrecht Währung Dem Begriff der W. kommt eine doppelte Bedeutung zu. Zum einen bezeichnet er die in einem -> Staat gültige Geldeinheit. So heißt es in § 1 des Währungsgesetzes: „Mit Wirkung vom 21.6.1948 gilt die Dt.-Mark-Währung". Zum anderen steht der Begriff für die Geldverfassung eines Landes, also die gesetzliche Ordnung seines Geldwesens. Hierzu gehört zunächst die Festlegung der gesetzlichen Zahlungsmittel, d.h. der Zahlungsmittel, die jeder Zahlungsempfänger zu Erfüllung von Geldverbindlichkeiten anzunehmen verpflichtet ist. In Dtld. sind dies die Banknoten der —>
Deutschen Bundesbank, die infolge ihrer Funktion als gesetzliches Zahlungsmittel mit unbegrenztem Annahmezwang ausgestattet sind, während die Annahmepflicht für auf Pfennige lautende Münzen auf 5 DM, für solche, die auf Mark lauten, auf 20 DM beschränkt ist. Bei völliger Zerrüttung des Geldwesens eines Staates erfolgt eine W.sreform. Für sie ist kennzeichnend, daß beim Übergang von der alten zur neuen W. aufgrund staatl. Anordnung ein Teil der Geldverbindlichkeiten erlischt, so daß Geldvermögen vernichtet wird. Hiervon zu unterscheiden sind W.sumstellungen, bei denen sämtliche Geldbeträge zu einem einheitlichen Kurs in die neue W. umgerechnet werden. Eine solche W.sumstellung findet in der Endstufe der —» Europäischen Währungsunion beim Übergang von der DM-W. zur Euro-W. statt. Lit: KM. Barfuß: Geld und Währung, Wiesbaden '1993; G. Mussei: Grundlagen des Geldwesens, Ludwigsburg31994. J.S.
Währungsreform —> Währung Währungsumstellung —> Währung Wahl / -en W.en sind 1. generell ein Vorgang des Auswählens, ein Instrument zur Auswahl von Entscheidungsaltemativen, eine Methode zur Wahrnehmung der Chance von Auswahl-Alternativen; 2. in der Politik ein Verfahren zur Bildung von entscheidungsbefugten Gremien, herrschaftsausübenden —> Organen und —> Körperschaften des öffentl. Rechts, zur Bestellung oder Abwahl von Inhabern öffentl. Ämter durch die im jeweiligen —> Wahlsystem näher bezeichneten Stimmberechtigten, gem. den anzuwendenden W.rechtsgrundsätzen. Sie sind formalisiertes Verfahren zur Bestellung und Legitimierung von Organen und Vertretungskörperschaften in Staaten, in Gebietskörperschaften (—> Kommunen), in anderen Körperschaften, aber auch in Organisationen und Personenvereinigun-
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Wahl gen. Über die j e gültige Variante von W.verfahren werden auf den verschiedenen polit. Ebenen Abgeordnete ermittelt (Parlamentswahlen auf EU-, Bundes-, Landesebene: EP-Direktwahl seit 1979, BT-, LT-Wahl), Gemeinde-, Stadt-, Kreisund Bezirksräte (Kommunalwahlen), Amtsinhaber (z.B. -> Bürgermeister oder -> Landräte; parlamentsintern -> Ministerpräsidenten, —> Bundeskanzler, -> Richter des BVerfG; über die BVers. der BPräs.), aber auch —> Kirchen- / Verbandsvorstände oder Personal- / Betriebsräte. W en von Repräsentativorganen und Amtsinhabem sind so zu unterscheiden von den rein sachlich-materiellen Abstimmungen (Plebiszit, -> Bürger-, -> Volksentscheid). Mit den W.en wird i.d.R. dennoch mit der Personalentscheidung mittelbar gleichzeitig auch eine Sachentscheidung getroffen über Programme, Zielsetzungen und polit. Prioritäten. Seit in Gemeinschaften —> Macht existiert, in Gesellschaften -> Herrschaft ausgeübt wird, müssen die Organe und Träger in einem allgemein akzeptierten Verfahren ermittelt werden (Techniken der Bestellung: kraft Geburt, Erbfolge, kraft Amtes / ex officio, -> Ernennung, Kooptation, Akklamation, Losentscheid, Usurpation durch Putsch oder Revolution). W. sind die legitime demokrat. Methode zur Bestellung von Vertretungsorganen des -> Volkes. W en bilden die Grundlage des liberalen Demokratieveständnisses, wonach sich die polit. Führung periodisch aus allgemeinen W.en durch die Bürger rekrutieren muß. Zu ihren wichtigsten Funktionen gehört, daß für die Wähler eine Auswahl zwischen personellen und sachlichen, (partei-)polit., Alternativen möglich ist. W.en sind eines der wichtigsten verfassungsmäßigen -> Bürgerrechte und stellen in repräsentativen Verfassungsordnungen die einfachste, allgemeinste Form der unmittelbaren polit. Beteiligung, der partizipierenden Einflußnahme von Bürgern dar, für einen Großteil der Bevölkerung wohl die ein-
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Wahl zige - vor den Instrumenten von - » Abstimmungen über Sachfragen, Bürger- / —> Volksbegehren, Bürger- / —> Volksentscheid, aktive Mitgliedschaft in -> Parteien, -> Verbänden, - » Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen, Kandidatur bei W.en, Demonstrationen, Streiks u.a.m. Die Abgabe der Stimme bei W.en ist die allgemeinste Form polit. Beteiligung in der repräsentativen —» Demokratie. Auf sie hin orientieren sich die anderen Formen der polit. Partizipation. Der offene und freie Wettbewerb um gesamtgesellschaftl. Entscheidungsbefugnisse und polit. Gestaltungsrechte gehört - als zentrales Instrument zur Konsensbildung und Konfliktregelung - wie die —• Meinungs-, Rede-, —• Presse-, —> Religions-, —> Versammlungs- und —> Vereinigungsfreiheit zu den unverzichtbaren Grundelementen einer modernen demokrat. Ordnung. W.en finden aber in fast allen polit. Systemen statt, nicht nur in Demokratien, auch in autoritär regierten Staaten und diktatorischen Systemen, hier meist ohne W.freiheit und Auswahlmöglichkeit. Damit kommen den W.en, j e nach Verfassungstyp, ganz unterschiedliche Funktionen zu: Man unterscheidet nach dem Grad des zugelassenen Wettbewerbs, der Freiheit, der Chance zu ungehindeter Meinungsbildung und der Auswahlfreiheit sog. Kompetitive W.en in demokrat. Verfassungsstaaten (freier Wettbewerb, uneingeschränkte W.freiheit, Chancengleichheit im W. kämpf), Semi-Kompetitive in halbdemokratisch-autoritären und sog. Nicht-Kompetitive W.en in totalitären Systemen (z.B. früher AkklamationsW. in der ehemaligen SU und —> DDR). Man kann femer differenzieren nach dem Ausmaß polit. Beteiligung (gemessen anhand des Anteils der W. berechtigten an der erwachsenen Bevölkerung) zwischen inklusiven W.en, die einen großen Teil der erwachsenen Bevölkerung erfassen, und exklusiven W., die nur einem geringen Teil der erwachsenen Bevölkerung Beteiligungschancen bieten. Die westlichen Demokratien ga-
Wahl rentieren über das allgemeine W.recht nahezu allen erwachsenen Bürgern die Chance und das Recht, über Wahl oder Abwahl der Legislativ- und Exekutivorgane mitzuentscheiden. Es gibt sehr vielfältige Verfahren, nach denen gewählt werden kann: Es überwiegen als Grundtypen die Mehrheitswahl (Persönlichkeitswahl) und die Verhältniswahl (Proportional- und Listenwahl) mit gegensätzlichen Auswirkungen. Mehrheitswahl besagt, daß der Kandidat gewählt ist, der die absolute oder relative Mehrheit der Stimmen erzielt, Verhältniswahl, daß die polit. Repräsentation möglichst exakt die Verteilung der Stimmen auf die Parteien, Listen, Wählervereinigungen widerspiegelt. Nach dem Grundsatz der Mehrheitswahl (angewandt in 7 von 23 westlichen Industrieländern) ist gewählt, wer in einem -> Wahlkreis die Mehrheit der Stimmen erringt. Bei absoluter Mehrheitswahl (z.B. Australien) ist mindestens die Hälfte der abgegebenen Stimmen erforderlich. Sofem diese Mehrheit im ersten W.gang für keinen Kandidaten erreicht ist, findet je nach W.recht 1. Eine Stichwahl nur zwischen den beiden Kandidaten statt, die im ersten W.gang die meisten Stimmen erzielten (so Präsidentenwahl in Frankreich und in einigen Bundesländern mit Direktwahl des Bürgermeisters); dieses Verfahren wurde auch im Dt. Kaiserreich bis 1914 bei der W. zum - * Reichstag angewendet. Oder es kommt 2. zu einem zweiten W.gang, bei dem beliebig viele, sogar neue Kandidaten antreten können (z.B. Kommunalwahl BW). Bei der einfachen oder relativen Mehrheitswahl in —> Einerwahlkreisen (z.B. Großbritannien mit 651 Abg., Kanada, Neuseeland, USA) wird sofort der Kandidat gewählt, der in einem W.kreis die meisten Stimmen erhält, ungeachtet des Stimmenanteils. Ohne Einfluß auf die Zusammensetzung der Vertretungskörperschaft bleiben alle Stimmen, die auf die anderen Kandidat(inn)en im W.kreis entfielen. Von daher läßt sich gegen dieses Verfahren
Wahl einwenden, es verstoße gegen die W.gleichheit und -gerechtigkeit, während die Verhältniswahl das höchstmögliche Maß an W.gleicheit und Entsprechung von Stimmen- zu Mandatsanteil garantiere. Die Verhältniswahl (geistesgeschichtl. der Frz. Revolution von 1789 zuzuordnen und heute angewandt in der überwiegenden Mehrzahl der westlichen Industrieländer) basiert auf dem Grundprinzip der —> Gleichheit bzw. dem Grundsatz, daß jede Listenverbindung oder Partei entsprechend ihrem Stimmenanteil —» Abgeordnete in die Vertretungskörperschaft entsenden kann. Die Zahl der von jeder Liste gewählten Abgeordneten ergibt sich aus dem Verhältnis, in dem die für diese Liste abgegebenen Stimmen zur Gesamtzahl aller abgegebenen Stimmen steht. Der daraus resultierenden Gefahr von Stimmen· / Parteienzersplitterung (—> Weimarer Republik: Reine Verhältniswahl, WRV Art. 17 und 22; automatische Methode der Umrechnung, d.h. 1 Mandat = 60.000 Stimmen) kann dadurch entgegengewirkt werden, daß nach W.recht den Listen Mandate erst dann zugeteilt werden, wenn sie einen festgelegten Prozentsatz der Gesamtstimmenzahl überwunden haben (Sperrklausel). Das W.verfahren zum —» Bundestag kombiniert als Personalisierte Verhältniswahl mit Erststimme (Personenwahl in früher 248, seit 1990 in 328 Einerwahlkreisen mit relativer Mehrheit) und Zweitstimme (Listenwahl von Landeslisten für ebenfalls 328 Grundmandate) die Vorteile beider Verfahren und beugt einer potentiellen Parteien- / Stimmenzersplitterung wie z.B. in der Weimarer Republik durch die —> Fünf-Prozent-Klausel vor. Die eine Hälfte der Mandate wird also nach den Grundsätzen der relativen Mehrheitswahl in den 328 W. kreisen ermittelt und die andere über die von den Parteien zu erstellenden Landeslisten (Reihenfolge festgelegt) nach den Prinzipien der Verhältniswahl. Der Zweitstimme kommt dabei eine besondere Bedeutung zu: Nach
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Wahl ihr bemißt sich die Gesamtzahl der Mandate für jede Partei / Liste. Gem. BVerfGE vom 29.9.1990 wurde zur ersten gesamtdt. W. das W.gebiet in 2 Teile (BRD und Beitrittsgebiet) unterteilt und in den neuen Bundesländern Listenverbindungen zur Erleichterung des Einzugs in den Bundestag zugelassen. Um in den Bundestag einzuziehen, mußte eine Partei / Listenverbindung nur in einem der 2 W.gebiete über 5% der abgegebenen Stimmen erhalten. Zur Umrechnung der Stimmen in Mandate wurde erstmals 1987 (11. Bundestag) das -> Hare / Niemeyersche Berechnungsverfahren eingesetzt, bei dem die Gesamtzahl der zu vergebenden Sitze mit der Gesamtzahl der erreichten Zweitstimmen einer einzelnen Partei / Liste multipliziert und das Produkt durch die Zweitstimmen-Gesamtzahl aller Parteien geteilt wird. Die Zuteilung der Mandate ergibt sich aus dem Wert der ermittelten ganzen Zahlen vor dem Komma, noch verbleibende Sitze werden vergeben in der Reihenfolge der höchsten Zahlenbruchteile nach dem Komma. Bis zur W. des 10. Bundestages (1983) wurde zur Berechnung der Sitzverteilung das -> d'Hondtsche Höchstzahlverfahren verwendet, das im Endergebnis - im Unterschied zum Proportionalverfahren - die größeren Parteien bevorzugt. Gewinnt eine Partei / Liste nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl (Erststimme) mehr Direktmandate als ihr nach der Aufteilung gemäß der Listenauswertung (Zweitstimme) zustünde, erhält sie automatisch die erworbenen Direktmandate als —> Überhangmandate, ohne daß für die anderen Parteien / Listen im Bundestag Ausgleichmandate vorgesehen sind (13. Bundestag, konstituiert am 10.11.1994 mit 672 Abg., d.h. mit 16 Überhangmandaten insbes. aus den neuen Bundesländern). Ab der 15. Wahlperiode (Wahl 2002) wird die Zahl der Abgeordneten von 656 auf 598 und die der Wahlkreise auf 299 reduziert werden. Bei der Bundestagswahl 1998 erfolgen bei den 6 Wahlkreisen Neuabgrenzungen, deren Wählerzahl um
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Wahlbeamte auf Zeit mehr als 1/3 vom Durchschnitt abweicht. Nach GG Art. 38 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 gelten für die W.en zu den Vertretungskörperschaften des Volkes in Bund, Ländern und Kommunen als W.grundsätze die Prinzipien: allgemein (alle Bürger ab einem bestimmten Mindestalter, mit Erreichung der —> Volljährigkeit, sind wahlberechtigt und i.d.R. auch wählbar); unmittelbar (Durchführung der W. ohne Zwischenschaltung von W.männem - bei mittelbarer / indirekter W. wählen die Urwähler nicht direkt die Personen in Vertretungskörperschaft oder Amt, sondern W.männer, die dann ihrerseits die Mandats- oder Amtsträger bestimmen, so in Preuß. bis 1918 und heute in den USA bei der Wahl des Präsidenten); frei (Durchführung ohne Zwang und Kontrolle); gleich (gleicher Zählwert jeder gültigen Stimme - im Unterschied zu Pluralwahlrecht oder zum früheren -> DreiKlassen-Wahlrecht, bei dem z.B. in Preuß. zur W. des Landtages bis 1918 die wahlberechtigten Männer entsprechend ihrer Steuerleistung in 3 Klassen eingeteilt waren mit der Folge, daß ganz wenige Wohlhabende in Klasse 1 ebenso ein Drittel der W.männer wählten wie mehrere 1000 Industriearbeiter der Klasse 3); geheim (verdeckte, nicht öffentl. Stimmabgabe, Schutz vor Kontrolle durch Dritte, insbes. staatl. Organe). Lit.: Bundeszentrale für polit. Bildung (Hg.): Wahlen, Bonn 1994; W. Ismayr (Hg.): Die polit. Systeme Westeuropas, Opladen 1997; D. Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 5 1996; W. Steffiini / U. Thaysen (Hg.): Demokratie in Europa, Opladen 1995; E. Thurich: Parteien, Bürger und Wahlen, Bonn 1996; W. Woyke: Stichwort: Wahlen, Opladen '1996.
Gerhard Kral Wahlanfechtung -> Wahlrecht Wahlbeamte auf Zeit sind -> Beamte, deren Berufung in das Beamtenverhältnis eine besondere Wahl erfordert. W. sind regelmäßig Beamte auf Zeit (§ 95ff. BRRG). Sie können haupt- und ehren-
Wahlkampfkostenerstattung
Wahleinspruch amtlich tätig sein (-» Ehrenamtliche Tätigkeit). W. spielen v.a. im kommunalen Bereich eine wichtige Rolle. Kommunale W. sind Beamte auf Zeit, die ihre Sonderbezeichnung nach der Art ihrer Auswahl aus einem Bewerberkreis erhalten haben. Zu den wichtigsten gehören der Hauptverwaltungsbeamte in der —» Gemeinde (—> Bürgermeister bzw. Gemeindedirektor), der Beigeordnete in der Gemeinde und im —> Kreis sowie der Hauptverwaltungsbeamte (Landrat bzw. Oberkreisdirektor). Letzterer kann ausnahmsweise auch ein Staatsbeamter sein (z.B. in Rh.-Pf.). Kommunale W. werden entweder direkt vom Volk gewählt (z.B. in —> Bayern und —> Thüringen) oder von ihrer Vertretungskörperschaft. Ihre Wahlzeit ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich. Sie differiert beim Hauptamt von 4 bis 12 Jahren, während sie im Nebenamt prinzipiell mit der -> Wahlperiode der Vertretungskörperschaft endet. Für Wahlbeamte gelten neben den §§ 9 5 ff. BRRG, vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Regelungen (z.B. Thür. Gesetz über kommunale Wahlbeamte v. 16.8. 1993) die allgemeinen Beamtengesetze. Lit: W. Fürst (Hg.): GesamtKomm. öffentl. Dienstrecht I, Berlin 1994.
K.H. Wahleinspruch —> Wahlrecht Wahlergebnis, amtliches -> Wahlrecht Wahlgebiet —> Wahlkreis Wahlgesetz —» Bundeswahlgesetz Wahlgeheimnis -> Wahlrecht Wahlgrundsätze -> Wahl Wahlkampf Im Mittelpunkt der Wahlvorbereitung der —> Parteien steht neben der Kandidatenaufstellung der öffentl. Wettbewerb zwischen den konkurrierenden polit. Gruppierungen und ihren Kandidaten um die Gunst der Wähler(stim-
men), der W. (Vorwahlkampf, Zwischenwahlkampf, W. „in der heißen Phase"). Bedeutsamste Instrumentarien sind die Wahlwerbung in den —> Massenmedien —> Rundfunk und —> Femsehen (etwa Ausstrahlung von Wahlsendungen, Wahlwerbespots, Politikerdiskussionsrunden), die Anzeigen- und Inseratwerbung in regionalen und überregionalen Tages- und Wochenzeitungen und in Zeitschriften / Illustrierten sowie die Plakatwerbung auf Straßen und Plätzen mittels Wahlinformations- und Werbeständen. Zur Reduzierung der Wahlpropaganda, zur Führung eines fairen W.es und zur zeitlichen Begrenzung bestimmter zentraler W. formen und -aktivitäten und damit zur Verminderung der W.kosten schließen die Parteien gelegentlich sog. W.abkommen ab. In der Praxis haben sie keine nennenswerte praktische Bedeutung erlangt, zumal ihnen kaum eine rechtl. Relevanz zukommt (nur polit.-moralische Konsequenzen), falls die Vereinbarungen nicht eingehalten werden). W. Sch. Wahlkampfkostenerstattung Das Recht der W. sah bis zum 1.1.1994 die Erstattung der Kosten eines angemessenen -» Wahlkampfes an die -> Parteien vor. Das -> Bundesverfassungsgericht koirigierte mit seinem Urteil vom 19.7.1966 (BVerfGE 20, 56ff.) seine frühere Rechtsprechung, daß eine Finanzierung der allgemeinen Tätigkeit der Parteien aus staatl. Haushaltsmitteln mit Art. 20 Abs. 2, 21 Abs. 1 GG unvereinbar sei. Den Parteien könnten jedoch die Kosten eines angemessenen Wahlkampfes ersetzt werden. Daran knüpfte bis zum 1.1.1994 das Recht der W. im -> Parteiengesetz an. Danach wurden zuletzt die Wahlkampfkosten der Parteien mit DM 5,00 für jeden bei der —> Bundestagswahl Wahlberechtigten pauschaliert. Der Betrag wurde auf diejenigen Parteien verteilt, die mindestens 0,5 v.H. der im Wahlgebiet abgegebenen - » Zweitstimmen erhalten haben. Entsprechende Regelungen konnten von
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Wahlkreis
Wahlmonarchie
den Ländern für Landtagswahlen getroffen werden. Mit seinem Urteil vom 9.4.1992 (BVerfGE 85, 264ff.) kehrte das BVerfG zu seiner ursprünglichen Auffasssung zurück, die eine allgemeine Finanzierung der polit. Partreien zuläßt. Der Bundesgesetzgeber regelte daraufhin das Recht der Parteienfinanzierung neu. Es knüpft jetzt nicht nur an den Wahlerfolg an, sondern berücksichtigt auch die Zahl der Mitglieder der Parteien und die von ihnen vereinnahmten Beiträge und Spenden. Lit: K.-R. Titzck: Verfassungsfragen der Wahlkampfkostenerstattung, Baden-Baden 1990. K.-R. T.
Wahlkreis Bei —> Wahlen zu parlement, oder kommunalen Vertretungskörperschaften wird das jeweilige Wahlgebiet in W.e eingeteilt. W.e sind räumlich abgegrenzte Einheiten (selbständige Wahlkörper), in denen die dort wahlberechtigte Bevölkerung (bei Bundestagswahlen mit ihrer Erststimme) ohne Berücksichtigung der in anderen Teilen des Wahlgebietes abzugebenden Stimmen einen W.abgeordneten (ggf. auch mehrere) wählt. Die W.e dienen so als Grundlage für die Zuteilung von Sitzen; aus den W.en werden -> Mandate vergeben. Nach der Zahl der im W. zu vergebenden Mandate spricht man von Einerwahlkreisen (so bei der Wahl zum Bundestag) oder von sog. Mehrerwahlkreisen, d.h. Einmannwahlkreisen mit nur einem Bewerber für jeden Wahlvorschlagsträger oder Mehrmannwahlkreisen (2er-, 3er-, 4erwahlkreise usw.) mit potentiell je einem Bewerber jedes Wahlvorschlagsträgers für jedes Mandat. Die Abgrenzung der W.e erfolgt durch den Gesetzgeber auf der Grundlage näherer Regelungen in den Wahlgesetzen des Bundes (-> Bundeswahlgesetz) und der Länder sowie (im Bund) von Vorschlägen einer unabhängigen Sachverständigenkommission (W.kommission). Dem W. entspricht nach Maßgabe des Landesrechts der Stimmkreis. W. Sch.
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Wahlleiter —> Bundeswahlgesetz Wahlmänner -> Wahl Wahlmännerausschuß (Wahlausschuß) Nach Art. 94 GG werden die Mitglieder des —> Bundesverfassungsgerichts je zur Hälfte vom -> Bundestag und vom -» Bundesrat gewählt. Gem. § 6 BVerFGG setzt der Bundestag hierzu einen W. („Wahlausschuß"), bestehend aus 12 Abgeordneten zur Wahl der Bundesverfassungsrichter ein. Hg.
Wahlmonarchie Ebenso wie die Monarchie ist auch die W. eine -» Staatsform, in der im Gegensatz zur Republik eine besonders legitimierte Person, der Monarch, selbständiges, dauerndes Staatsoberhaupt ist. Die Rechtfertigung der monarchischen Staatsform beruht neben religiösen und charismatischen Vorstellungen i.d.R. v.a. auch auf der Unantastbarkeit des Erbrechts; in der W. wird der Monarch demgegenüber durch einen Wahlakt berufen. Es kann sich um eine freie Wahl handeln oder um eine solche, welche die Wähler an bestimmte Anwärter (Mitglieder einer oder mehrerer Familien: Geblütsrecht) bindet. Wahlberechtigt kann das Volk (z.B. alle Waffenfähigen oder die Gesamtheit des Adels), aber auch ein zahlenmäßig eng begrenztes Wahlkollegium (z.B. die Kurfürsten) sein. Als besondere Form der Monokratie steht die Wahl- ebenso wie die Erbmonarchie nicht allein im Gegensatz zur älteren Tyrannis und der jüngeren Diktatur, sondern ebenso zur -> Demokratie und Aristokratie. Kennzeichnend für das germanische Königtum war es, daß der Herrscher einer Volksversammlung auf Lebenszeit gewählt wurde. Die W., die sich nicht nur im -> Deutschen Reich (bis 1806), sondern auch in Polen, Böhmen und Ungarn wenigstens in der Theorie (in Böhmen und Ungarn bestand jahrhundertelang faktisch ein Erbrecht des Hauses Habs-
Wahlordnung
Wahlrecht
burg) lange hielt, trug Züge einer Aristokratie. Im Hochmittelalter entwickelte sich aus der Gruppe der wahlberechtigten Reichsfiirsten ein besonders privilegiertes Fürstenkollegium, die Kurfürsten. Seit der Erhebung Rudolfs von Habsburg (1273) blieb deren Recht zur alleinigen Wahl des dt. Königs unangefochten. In der goldenen Bulle Karls IV. von 1356 wurde dieses Privileg gegen den päpstlichen Anspruch auf Mitsprache bestätigt. Seit dem Spätmittelalter nahm die W. der dt. Kaiser durch die Aufeinanderfolge zahlreicher Herrscher aus dem Hause Habsburg jedenfalls nach außen hin Züge einer erblichen Monarchie an. Nichtsdestoweniger unterstreicht die Tatsache, daß die Kurfürsten den Kaisern Wahlkapitulation abzutrotzen vermochten, einmal mehr den Charakter des dt. Königtums als einer W. Nach der Frz. Revolution 1789 und der Verbreitung des Gedankens der -> Volkssouveränität verlor die monarchische Staatsform auch in Europa stark an Bedeutung. Infolge der Erschütterungen durch den I. und Π. Weltkrieg wurden zahlreiche der noch bestehenden W. beseitigt, und zwar auch in Asien und Afrika. Sieht man von Malaysia und den Vereinigten Arabischen Emiraten ab, existieren W.n heute nicht mehr. Lit: HRG III, S. 626ff
Gerhard Deter Wahlordnung —> Wahlrecht Wahlperiode Es entspricht dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG, daß Parlament, und kommunale Vertretungskörperschaften von der wahlberechtigten Bevölkerung nur auf Zeit gewählt werden (-> Demokratie). In diesem Sinne werden die Mitglieder des Bundestages ebenso wie die meisten -> Abgeordneten der —> Landesparlamente auf 4 Jahre gewählt, d.h. die W. (oder Legislaturperiode) beträgt 4 Jahre. Nach anderen -» Landesverfassungen dauert sie 5 Jahre (z.B. in -> Nordrhein-Westfalen; so auch in verschiedenen ausländischen Verfassungen
(z.B. -> frz. und —• brit. Verfassung). Die W. beginnt mit dem erstmaligen Zusammentritt (der konstituierenden Sitzung) des gewählten -> Parlaments; sie endet mit dem Zusammentritt eines neu gewählten Parlaments (Art. 39 Abs. 1 GG). Es gibt mithin keine parlamentslose Zeit. W. Sch. Wahlpflicht Im Gegensatz zum Wahlrecht einiger ausländischer Staaten (z.B. Belgien, Italien) kennt das dt. -> Wahlrecht keine gesetzliche W.; eine W., sei es ohne oder mit Sanktionen bei Nichtteilnahme (etwa Bußgeldbewehrung), wird nach h.M. in der Wissenschaft - auch bei Stimmenthaltungsmöglichkeit und Zulässigkeit ungültiger Stimmabgabe - als mit dem Verfassungsgrundsatz der Freiheit der Wahl (vgl. Art. 38 Abs. 1 S. 1, Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG) unvereinbar angesehen, der nicht nur das „Wie", sondern auch das „Ob" der Wahlteilnahme erfaßt. W. Sch. Wahlprüfungsausschuß -> Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Wahlprüfungsbeschwerde -> Wahlrecht Wahlprüfungsrecht -> Geschäftsordnungsausschuß —> s.a. Mandat Wahlrecht Es gehört zu den grundlegenden Prinzipien eines freiheitlichen demokrat., parlament.-repräsentativen und föderativen —> Rechtsstaats, daß das —> Volk auf Bundes- und Länderebene eine Vertretung hat, daß diese Vertretung jeweils aus -> Wahlen hervorgeht und in regelmäßigen, periodisch wiederkehrenden, im voraus bestimmten Abständen auch wieder durch Wahlen abgelöst und neu legitimiert wird (Neuwahl). Das Recht der Wahlen zu den parlament. Vertretungskörperschaften auf Bundesund Länderebene (—> Bundestag, —> Landtage, -> Abgeordnetenhaus, —> Bürgerschaft) sowie zu den kommunalen Ver-
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Wahlrecht tretungskörperschaften (—> Kreise, -> Gemeindeverbände, —>• Gemeinden) ist entsprechend der bundesstaatl. Kompetenzverteilung z.T. —> Bundes-, z.T. -> Landesrecht. Es ist geregelt im -> Bundeswahlgesetz sowie in den Landes- (Landtags-), Kommunal- (Gemeinde-), Bezirksund Landkreiswahlgesetzen. Die organisatorischen und techn. Regelungen der amtlichen Vorbereitung und Durchführung der Wahlen (Wahlverfahren) sind im wesentlichen in der —> Bundeswahlordnung und der Bundeswahlgeräteverordnung sowie in den Landeswahlordnungen und Kommunalwahlordnungen enthalten. Das —» Wahlprüfungsrecht ist in speziellen Wahlprüfungsgesetzen des Bundes und der Länder normiert. Die Wahlen zum -> Europäischen Parlament in der BRD finden auf der Grundlage des (nationalen) Europawahlgesetzes, des Europaabgeordnetengesetzes und der Europawahlordnung statt. Grundlegende verfassungsrechtl. Prinzipien des W.s auf Bundes- und Länderebene sind die Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit, Gleichheit und Geheimhaltung der Wahl (vgl. Art. 28 Abs. 1 S. 2, Art. 38 Abs.l S. 1 GG). Das Wahlverfahren muß danach so gestaltet sein, daß die zu wählenden —> Abgeordneten von allen wahlberechtigten —> Staatsbürgern allein (direkt, unmittelbar) durch die Stimmabgabe der Wähler - d.h. ohne Zwischenschaltung eines fremden Willens zwischen Wählern und Gewählten - bestimmt werden. Der Wahlberechtigte muß sein aktives und passives W. ohne physischen Zwang und psychologischen Druck oder sonstige unzulässige direkte Einflußnahme auf die Entschließungsfreiheit (Wahlbeeinflussung) ausüben können (Wahlfreiheit). Die Stimme jedes Wählers muß den gleichen Zählwert, beim —> Verhältniswahlrecht zusätzlich den gleichen Erfolgswert haben. Der eigentliche Wahlakt (Stimmabgabe) muß so durchgeführt werden können, daß unbekannt bleibt, welche Wahlentscheidung der einzelne Wahlberechtigte getroffen hat
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Wahlrecht (Wahlgeheimnis). Die Ausgestaltung des W.s im einzelnen ist auf Bundes- und Länderebene weitgehend ähnlich; Abweichungen ergeben sich aus - häufig traditionellen - länderspezifischen Gegebenheiten und aktuellen (partei-)polit. Bewertungen. W.sreformüberlegungen sind allenthalben an der Tagesordnung. Das W. zum Bundestag ist wie in der Mehrzahl der westlichen Industriestaaten, als Verhältniswahlrecht ausgestaltet, kombiniert mit einem Element des -> Mehrheitswahlrechts - personalisiertes Verhältniswahlrecht -. Der Wähler hat (wie etwa auch in —> Portugal und —> Spanien) 2 Stimmen. Eine Erststimme für die Wahl eines Wahlkreisabgeordneten (Wahlkreisbewerber) und eine Zweitstimme für die Wahl der Landesliste einer polit. -> Partei. Ein Stimmensplitting ist möglich. Die Erststimmenwahl ist eine Wahl in einem Einerwahlkreis; gewählt wird in jedem —> Wahlkreis nur ein Abgeordneter (Persönlichkeitswahl). Die Wahlkreiseinteilung erfolgt auf der Grundlage näherer gesetzlicher Regelung und von Vorschlägen einer unabhängigen Sachverständigenkommission (Wahlkreiskommission) durch den Gesetzgeber. Die Zweitstimmenwahl ist eine Listenwahl mit „gebundenen / starren" Landeslisten der Parteien, die der Wähler nicht verändern kann (Wahl unter parteipolit. Präferenz). Landeslistenvorschläge können nur von Parteien, Wahlkreisvorschläge sowohl von Parteien als auch von Wahlberechtigten (—» Wählervereinigungen, Wahlvereine) eingereicht werden (Wahlvorschlagsrecht). Unter gesetzlich näher geregelten Voraussetzungen sind von sog. neuen Parteien (mit Ausnahme von Parteien nationaler Wählerminderheiten) und von Einzelbewerbem Unterschriften von Wahlberechtigten beizubringen - Unterschriftenquorum) - , um an der Wahl teilnehmen zu können (Wahlzulassung durch die Kreis- und Landeswahlausschüsse). Die Wahlchancen parteiloser Bewerber und von Bewerbern neuer Parteien sind in der Staatspraxis im Vergleich zu von eta-
Wahlrecht blierten Parteien getragenen Bewerbungen relativ gering. Die Kandidatenaufstellung der Parteien (Nomination der Wahlkreiskandidaten und der Landeslistenbewerber) erfolgt in Mitglieder- oder in allgemeinen oder besonderen Vertreterversammlungen. Die Zulassung der Kreiswahlvorschläge und der Landeslisten liegt in den Händen der Kreis- und der Landeswahlausschüsse (Wahlzulassung). Das aktive und das passive W. (Wahlberechtigung und Wählbarkeit) sind für Bundestagswahlen an die Vollendung des 18. Lj. gebunden (Art. 38 Abs. 2 GG). Wahlberechtigt sind i.ü. alle Deutschen i.S. des Art. 116 Abs. 1 GG, die nicht (auf der Grundlage einer richterlichen Entscheidung) vom W. ausgeschlossen wurden (W.sverlust) und in einem Wählerverzeichnis eingetragen sind. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Auslandsdeutsche wahlberechtigt. Ausländer sind auf Bundesebene nicht wahlberechtigt (-> Ausländerwahlrecht). Die Wählbarkeit unterliegt ähnlichen Beschränkungen wie die Wahlberechtigung. Wer sich um einen Sitz im BT bewirbt, hat Anspruch auf einen —> Wahlvorbereitungsurlaub (Art. 48 Abs. 1 GG). Die Ausübung des W.s erfolgt durch Stimmabgabe im Wahllokal mittels Urnen- bzw. Wahlgerätewahl oder per Briefwahl. Die Form der Briefwahl (Abgabe des Stimmzettels in einem verschlossenen Wahlbriefumschlag unter Beifügung eines Wahlscheines mit einer Versicherung an Eides Statt, daß die Stimmabgabe persönlich erfolgt ist) hat nach anfänglicher Zurückhaltung heute bei den Wahlberechtigten eine große Akzeptanz gefunden (1994: 13,4%). Die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen liegt zwischen 77 und 91% (1994: 79%). Der Wahltag, der ein Sonntag oder gesetzlicher Feiertag sein muß, wird durch Anordnung des Bundespräsidenten festgelegt. Für die amtliche Wahlorganisation (behördliches Wahlvorbereitungsverfahren) sind neben den Gemeinden als Wahlbehörden (zuständig u.a. für die Erstellung und Führung der Wählerver-
Wahlrecht zeichnisse, Bereitstellung von Wahlräumen) unabhängige Wahlorgane (Wahlleiter, -ausschüsse) verantwortlich: Der Bundeswahlleiter und der Bundeswahlausschuß für das gesamte Wahlgebiet, ein Landeswahlleiter und Landeswahlausschuß für jedes Land, ein Kreiswahlleiter und ein Kreiswahlausschuß für jeden Wahlkreis, ein Wahlvorsteher und ein Wahlvorstand für jeden Wahlbezirk und mindestens ein Wahlvorsteher und ein Wahlvorstand für jeden Wahlkreis zur Feststellung des Briefwahlergebnisses. Die Ermittlung und Feststellung des Wahlergebnisses erfolgen durch die Wahlorgane. Dabei stellt der Bundeswahlausschuß fest, wieviele Sitze auf die einzelnen Landeslisten entfallen. Berechnungsgrundlage ist das Hare / Niemeyersche Berechnungsverfahren. An der Verteilung der Listensitze nehmen nur Parteien teil, welche die —> Fünf-ProzentKlausel oder die —> Grundmandats-Klausel überwunden haben. Die Regelung gilt nicht für Parteien nationaler Wählerminderheiten. Sog. -» Überhangmandate bleiben der betroffenen Partei erhalten. Das Ergebnis der Wahl wird statistisch erfaßt (Wahlstatistik). Die durch die Wahl veranlaßten notwendigen Ausgaben (amtliche Wahlkosten) werden den Ländern zugleich für ihre Gemeinden (Gemeindeverbände) seitens des Bundes erstattet. Den Parteien gewährt der Staat finanzielle Mittel als Teilfinanzierung der allgemein ihnen nach dem GG obliegenden Tätigkeiten. Grundsätze und Umfang der staatl. Finanzierung, in der auch die —» Wahlkampfkostenerstattung inbegriffen ist, sind im —> Parteiengesetz festgelegt (—• s.a. Parteienfinanzierung). Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar auf das Wahlverfahren beziehen, können (nur) mit den im BWG und in der BWO vorgesehenen Rechtsbehelfen sowie darüber hinaus im Wahlprüfungsverfahren angefochten werden (Wahlanfechtung). Gegenstand der Wahlprüfung ist sowohl die Prüfung des gesamten 1007
Wahlsystem
Wahlrecht Wahlverfahrens als auch die darauf gegründete Mandatszuweisung, mithin die gesetzmäßige Zusammensetzung des BT (Wahlprüfungsfunktionen). Die Wahlprüfung erfolgt auf Einspruch (Wahleinspruch), mit dem der Wahlberechtigte W. s Verletzungen (Wahlfehler) substantiiert geltend machen muß. Die Wahlprüfung ist Sache des BT (Art. 41 Abs. 1 GG), dessen Entscheidung vom —> Wahlprüfungsausschuß des Parlaments vorbereitet wird. Die Einzelheiten des Wahlprüfungsrechts sind im Wahlprüfungsgesetz normiert. Gegen die Entscheidung des BT ist als einzige Remonstrationsmöglichkeit die Wahlprüfungsbeschwerde an das - » Bundesverfassungsgericht zulässig (Art. 41 Abs. 2 GG). Sonstige Wahlprüfungsinstanzen gibt es nicht; spezielle Wahlprüfungsgerichte wie in der —> Weimarer Republik hat der Bundesgesetzgeber nicht geschaffen. Die Einzelheiten des Verfahrens der Wahlprüfungsbeschwerde sind im BVerfGG normiert. Das materielle Wahlprüfungsrecht hat keine gesetzliche Fixierung erfahren, so daß es prinzipiell keine geschriebenen Wahlprüfungsgrundsätze gibt. Aufgrund des objektiven Charakters der Wahlprüfung kann eine Beschwerde nur dann Erfolg haben, wenn die festgestellte Gesetzesverletzung auf die gesetzmäßige Zusammensetzung des BT von Einfluß ist (Mandatsrelevanz als allgemeiner Wahlprüfungsgrundsatz). Das Gericht stellt als Wahlprüfungsfolgen ggf. Verfassungs- und Rechtsverstöße fest und entscheidet über die Gültigkeit oder (teilw.) Ungültigkeit der angefochtenen Wahl und u.U. auch eines Mandatserwerbs. Lit.: Β WG; BWO; BündeswahlgeräteVO (-> Bundeswahlgesetz); Wahlprüfungsgesetz v. 12.3. 1951 (BGBl. I S. 166), zuletzt geänd. durch Gesetz v. 28.4.1995 (BGBl. I S.582); Bundesverfassungsgerichtsgesetz i.d.F. v. 11.8. 1993 (BGBl. 1 S. 1473); zu Wahlstraftaten s. §§ 107, 107a, 107b, 107c , 108, 108a, 108b StGB; HdbStR, II, S. 249ff.; D. Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 21990; W. Schreiber: Handbuch des Wahlrechts zum Dt. Bundestag.
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Kamm, zum BWG, Köln '1998; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parlamentslehre, München 2 1996, S. 43ff.; W. Woyke: Stichwort: Wahlen, Bonn'1996.
Wolfgang Schreiber Wahlrechtsgleichheit -> Wahlrecht Wahlrechtsgrundsätze -> Wahlrecht Wahlrechtsreform
Wahlrecht
Wahlrechtsverlust —> Wahlrecht Wahlsystem Die polit. -> Repräsentation in -> Parlamenten hängt wesentlich von der Ausgestaltung des W.s ab. Das W. ist das Grundprinzip des Verfahrens, in dem die Wähler ihre polit. Meinung, ihren polit. Willen und konkret ihre Partei- und Kandidatenpräferenz in Stimmen ausdrücken und die Stimmenzahlen anschließend in -> Mandate umgesetzt werden. Dieses Grundprinzip bestimmt die wesentlichen Abläufe des gesamten Wahlprozesses, im besonderen die Einteilung des Wahlgebietes in —> Wahlkreise oder vergleichbare räumliche Wahleinheiten, die Wahlbewerbung (Einzelkandidatur, Listenkandidatur; freie, lose gebundene oder starre Liste; Möglichkeit der Listenverbindung), die Stimmabgabe (Einzeloder Mehrstimmgebung; Präferenzstimmgebung; —• Kumulieren, —• Panaschieren) und die StimmenVerwertung (Stimmenverrechnungsverfahren). Das W. steuert damit im Ergebnis u.a. sowohl die Formierung der polit. Kräfte als auch die Wahlentscheidung des Wählers und ihre Auswirkung auf die Zahl, die Struktur sowie die parlement. Mandatsstärke der an der Wahl beteiligten polit. Kräfte. Nachdem der Grundgesetzgeber (im Unterschied zu einigen Landesgesetzgebem) das W. nicht in der —> Verfassung verankert hat, ist die Frage nach dem „richtigen" W. ein ständiger, hochgradig polit. Diskussionspunkt auf Bundesebene, immer wieder „aus polit, aktuellem Anlaß" neu aufkeimend, aber auch immer wieder
Wahlsystem „in der Versenkung verschwindend". Bei Bindung an die Wahlrechtsgrundsätze der Art. 28 Abs. 1 S. 2 und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG sind die Gesetzgeber im Bund und in den Ländern in der Ausgestaltung des W.s grds. frei. W.e werden danach unterschieden, ob sie stärker darauf ausgerichtet sind, die unterschiedlichen Wählermeinungen im Repräsentativorgan widerzuspiegeln oder ob in ihnen primär (profilierte) Persönlichkeiten zum Zuge kommen sollen. Dementsprechend unterscheidet man herkömmlicherweise 2 Grundtypen von W.en: Die Mehrheitswahl (-> Mehrheitswahlrecht) und die Verhältniswahl (—> Verhältniswahlrecht). Unter Mehrheitswahl wird eine Wahl verstanden, bei der gewählt ist, wer die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt, wobei die für die unterlegenen Bewerber abgegebenen Stimmen nicht zur Wirkung kommen. Bei der Verhältniswahl (= Proportionalwahl) werden die Abgeordnetensitze den einzelnen Wahlvorschlagsträgern (i.d.R. polit. -> Parteien) grds. im gleichen Verhältnis zugeteilt, wie für sie Stimmen abgegeben worden sind. Von diesen beiden Grundtypen leiten sich alle geltenden W.e ab. Die Wahlforschung hat weltweit mehr als 300 auf diese 2 Grundprinzipien zurückfÜhrbare Wahlverfahren festgestellt, wobei eine Kombination von Elementen der beiden Grundtypen häufig ist. Mehrheitswahlsystem Der Begriff Mehrheitswahl steht für ein Entscheidungsprinzip, bei dem - nach Aufgabe des histor. überkommenen Grundsatzes der -> Einstimmigkeit der -> Abstimmungen - die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheiden soll. Der Mehrheitswahl liegt die Zielvorstellung zugrunde, bei Wahlen eine klare Mehrheitsbildung und Entscheidung über die polit. Führung herbeizuführen, also eine polit. Partei mittels Parlament. Mehrheitsfindung eindeutig für die Regierungsbildung zu befähigen. In der Staatspraxis und in der Wissenschaft wird innerhalb des Grundprinzips der Mehrheitswahl zwischen der relativen
Wahlsystem und der absoluten Mehrheitswahl unterschieden. Bei der relativen Mehrheitswahl, die ein Zweiparteiensystem begünstigt und deshalb in besonderem Maße hemmend gegenüber Dritt- und Splitterparteien wirkt, gilt als gewählt, wer - unabhängig von der Gesamtzahl der im Wahlkreis abgegebenen Stimmen - die meisten gültigen Stimmen auf sich vereinigt, wer also mehr Stimmen erlangt als irgendein anderer Bewerber; das kann u.U. der Vorsprung von einer einzigen Stimme sein, so daß im Extremfall die stimmenstärkste Partei nicht die meisten Mandate erreicht. Weitere Modifikationen der relativen Mehrheitswahl sind denkbar. Klassischer Anwendungsfall des relativen Mehrheitswahlsystems ist Großbritannien. Bei der absoluten Mehrheitswahl ist derjenige gewählt, der mehr als die Hälfte der abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereinigt. Erreicht im ersten Wahlgang kein Bewerber die —> absolute Mehrheit, findet i.d.R. ein 2. Wahlgang statt. Bei diesem gilt als gewählt, wer die einfache Mehrheit erlangt hat (Bspl. Wahl zur —» frz. Nationalversammlung). Denkbar ist auch, daß eine Stichwahl mit erneut absoluter Mehrheit nur unter den beiden stimmenstärksten Bewerbern des ersten Wahlganges stattfindet (Bpsl. Wahl des frz. Staatspräsidenten). Weitere Variationen sind möglich. Bei allen Modalitäten der Mehrheitswahl bleiben die für die unterlegenen Bewerber abgegebenen Stimmen unberücksichtigt. Verhältniswahlsystem Grundprinzip der Verhältniswahl, die geistesgeschichtl. in der Frz. Revolution von 1789 mit der Betonung des Grundsatzes der - » Gleichheit ihren Ursprung hat, ist, daß die —• Mandate den Trägern der Wahl vorschläge grds. im gleichen Verhältnis zugeteilt werden, wie sie bei der Wahl Stimmen erzielt haben; die jedem Wahl vorschlagsträger zugefallenen Stimmen werden zusammengerechnet und die zu vergebenden Sitze dann nach dem zahlenmäßigen Verhältnis der erzielten Gesamtstimmen zwischen ihnen verteilt. Das Verhältniswahl-
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Wahlsystem system läuft darauf hinaus, daß im Grundsatz keine der abgegebenen gültigen Stimmen unberücksichtigt bleibt, solange noch Mandate zu verteilen sind. Zur genauen Berechnung des Proporzes sind ein Fülle von Berechnungsarten und Gestaltungsmöglichkeiten denkbar, u.a. das -> Hare / Niemeyer'sehe Berechnungsverfahren und das —> d'Hondt'sche Höchstzahlverfahren. Unabhängig vom konkreten Berechnungsverfahren führt das reine Verhältniswahlsystem zur Parlament. Vertretung auch kleiner Parteien und auch Splitterparteien. Dies kann aber die Funktionsfahigkeit des Parlaments und die Bildung aktionsfähiger Regierungen erschweren oder sogar verhindern und damit letztlich das Funktionieren des - » parlamentarischen Regierungssystems in Frage stellen. Um dieser Entwicklung vorzubeugen, werden im Verhältniswahlsystem regelmäßig Speirklauseln, wie die -»· Fünf-Prozent-Klausel und die —> Grundmandats-Klausel, eingefügt, die den an Wahlen teilnehmenden Parteien einen bestimmten Mindeststimmen- oder Mindestmandatsanteil vorschreiben, um an der Mandatsverteilung teilnehmen zu können. Auch ergänzende Unterschriflenquoren für die Einreichung der Wahlvorschläge dienen der Sicherung der parlament. Regierungsweise. Die Verhältniswahl steht damit, unabhängig von der Frage der techn. Abwicklung der Mandats Verteilung, im Gegensatz zur Mehrheitswahl, mit der Tendenz und Zielvorstellung, die Sitzverteilung im Parlament und damit die Machtverteilung im Staat als „getreues" (partei-)polit. Abbild der Wählerentscheidung zu gestalten. Die „Spiegelbildlichkeit" von Wählerentscheidung und Parlamentssitzen ist das Ideal der Verhältniswahl. Das W. bei Bundestagswahlen Seit dem Bestehen der -> Bundesrepublik Deutschland beruht das W. auf dem Gedanken, daß die Sitzverteilung im Parlament nach den Prinzipien der Verhältniswahl erfolgen soll, daß aber dem Wähler hinsichtlich eines Teils der Abgeordneten die
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Wasserrecht Möglichkeit gegeben sein soll, auf die personelle Zusammensetzung des BT direkt Einfluß zu nehmen. Das in diesem Sinne als „personalisierte Verhältniswahl" gestaltete Bundestagswahlrecht (§ 1 Abs. 1 S. 2 BWG) ist kein „Mischwahlsystem", sondern ein Verhältniswahlsystem, das mit einem mehrheitswahlrechtl. Element angereichert ist (Kombinationswahlsystem): Ein Teil der Abgeordneten wird mittels der sog. Erststimme mit relativer Mehrheit in Einerwahlkreisen, der andere mittels der sog. Zweitstimme „en bloc" aufgrund „gebundener" („starrer") Landeslisten der Parteien nach den Grundsätzen der Verhältniswahl in den Ländern gewählt. Grdl. für die Parlament. Mandatsstärken der Parteien sind die abgegebenen gültigen Zweitstimmen. Da bei der Berechnung der Landeslistenmandate die auf Landesebene jeweils erzielten Direktmandate nach näherer gesetzlicher Bestimmung abgezogen werden, bestimmt sich die Zahl der auf die einzelnen Parteien entfallenden Sitze - es sei denn, daß - » Oberhangmandate angefallen sind - nach den Grundsätzen der Verhältniswahl. Die Auslese der Wahlkreiskandidaten hebt den grundsätzlichen Charakter der Bundestagswahl als einer Verhältniswahl nicht auf. Ut: HdbStR II, S. 258ff. und S. 299ff.; D. Nohlen: Wahlsysteme der Welt, München 1978; ders.: Wahlrecht und Parteiensystem, München 2 1990, S. 78ff; W. Schreiber: Handbuch des Wahlrechts zum Dt. Bundestag, Komm, zum BWG, Köln 61998.
Wolfgang Schreiber Wahlvorbereitungsurlaub - » Wahlrecht Wahlvorschlagsrecht -> Wahlrecht Waldzustandsbericht —• Forstwirtschaft Wasserrecht Das W. umfaßt verschiedene Rechtsnormen, die den Zustand der Gewässer und ihre Nutzung regeln. Neben dem primär Verkehrszwecken dienenden Wasserstraßen- und Wasserwegerecht hat
Wehrbeauftragte
Wasserrecht der Staat im Recht der Wasserwirtschaft die Kontrolle über den Wasserhaushalt dem öffentl.-rechtl. Benutzungsregime des Wasserhaushaltsgesetzes (WHG) aus dem Jahre 1957 unterzogen. Nach § 2 Abs. 1 WHG bedarf jede im Katalog des § 3 Abs. 1 und Abs. 2 WHG aufgeführte Benutzung eines Gewässers der vorherigen behördlichen Erlaubnis oder unwiderruflichen Bewilligung. Beide Genehmigungsakte sind bei Beeinträchtigung des -> Gemeinwohls, insbes. einer Gefährdung der öffentl. Wasserversorgung, zu versagen. Dem Gewässerbewirtschafhingsrecht ist das Vorsorgeregime des § 7a WHG (-> s.a. Vorsorge, s.a. Prävention) vorgeschaltet. Eine Erlaubnis für das Einleiten von Abwasser darf nach § 7a Abs. 1 WHG nur erteilt werden, wenn die jeweiligen Mindestanforderungen, welche die —> Bundesregierung mit Zustimmung des —> Bundesrates durch —> Verwaltungsvorschriften festlegt, eingehalten werden. Seit der 5. WHG-Novelle (1986) gelten für gefährliche Abwässer laut Abwasserherkunftsverordnung der Stand der Technik, im übrigen die allgemein anerkannten Regeln der Technik (—> s.a. Unbestimmte Rechtsbegriffe). Im Gegensatz zur Benutzung bedarf der Ausbau eines Gewässers eines -> Planfeststellungsverfahrens mit umfassender Abwägung. Neben den Vorschriften für Wasserschutzgebiete ( § 1 9 WHG) und zum Umgang mit wassergefährdenden Stoffen (§§ 19a ff. WHG) wird der Grundwasserschutz durch den Besorgnisgrundsatz des § 34 Abs. 2 WHG gewährleistet. Die Abwasserabgabe nach dem gleichnamigen Gesetz ist als Sonderabgabe für das Einleiten von Abwasser in ein Gewässer zu entrichten; sie fließt den —> Ländern zu. Insg. wurde der Bewirtschaftungsspielraum, der den Ländern mit der Rahmenkompetenz nach Art. 75 Nr. 4 GG eingeräumt wurde, in den letzten Jahren kontinuierlich eingeschränkt. Lit: R. Breuer: Öffentl. und privates Wasserrecht, München 1987; P. Gieseke / W. Wiedemann / M. Czychowski: Wasserhaushaltsgesetz,
München 61992. Irene L. Heuser Wasserstraßen - » Bundeswasserstraßen Wehrbeauftragte / -r Zum Schutz der —> Grundrechte der Soldaten und als Hilfsorgan des -> Bundestages bei der Ausübung der parlament. Kontrolle über die - » Bundeswehr ist gem. Art. 45b GG die —> Institution des W.n geschaffen worden. Er wird vom Bundestag in geheimer —> Wahl mit der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache gewählt. Die Amtszeit beträgt 5 Jahre. Wiederwahl ist zulässig. Er untersteht der Dienstaufsicht des Bundestagspräsidenten. Näheres zu seinen Aufgaben und Befugnissen regelt das Gesetz über den W.n des Deutschen Bundestages. Im Mittelpunkt der Tätigkeit des oder der W.n steht die Überwachung der Einhaltung der —> Grundrechte der Soldaten und der Grundsätze der -> Inneren Führung. Die Grundrechte gelten für Soldaten grds. in gleichem Umfang wie für Zivilpersonen. Lediglich die Grundrechte der - » Meinungsfreiheit, der -> Versammlungsfreiheit und des Rechts zu gemeinsamen -> Petitionen können durch Gesetze eingeschränkt werden (Art. 17a GG). Der W. erstattet für jedes Kalendeijahr dem Bundestag einen schriftlichen Jahresbericht. Wird er auf Weisung des Bundestages oder des Verteidigungsausschusses tätig, so legt er über das Ergebnis der Prüfung auf Verlangen einen Einzelbericht vor. Darüber hinaus kann sich jeder Soldat ohne Einhaltung des Dienstweges unmittelbar an den W.n wenden. Wegen der Anrufung des W.n darf der Soldat nicht dienstlich gemaßregelt oder benachteiligt werden. Die wichtigsten Befugnisse des W.n sind das Recht auf -> Auskunft und —> Akteneinsicht gegenüber dem —> Bundesminister der Verteidigung und allen diesem unterstellten Dienststellen und Personen. Diese Rechte können ihm nur vom Bundesverteidigungsminister selbst oder dessen ständigem Vertreter im Amt
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Wehrbeschwerde
Wehrdienst
aus zwingenden Geheimhaltungsgründen verweigert werden. Die Verweigerung ist vor dem Verteidigungsausschuß zu vertreten. Lit: E. Busch: Der Wehlbeauftragte, Heidelberg
"1991; R. Graf v. Westphalen (Hg.): Parla2
mentslehre, München 1996, s. 289ff.
plinarordnung. Unabhängig von der W.ordnung hat jeder Soldat das Recht, sich unmittelbar an den —> Wehrbeauftragten zu wenden. Ut.: H.V. Böttcher /K Dau: Wehrbeschwerdeordnung, München 1'l1997.
Christiati Grimm
Christian Grimm Wehrbeschwerde Die W.ordnung gibt dem Soldaten in gesetzlich geregelter Form das Recht, sich gegen jede Beeinträchtigung seiner Rechtsposition zu beschweren und nach Ausschöpfung des innerdienstlichen Beschwerdeweges -> Rechtsschutz vor unabhängigen -> Gerichten zu beantragen. Der Soldat kann sich beschweren, wenn er glaubt, von Vorgesetzten oder von Dienststellen der —> Bundeswehr unrichtig behandelt oder durch pflichtwidriges Verhalten von Kameraden verletzt worden zu sein (§ 1 WBO). Er darf dienstlich nicht gemaßregelt oder benachteiligt werden, wenn seine Beschwerde nicht auf dem vorgeschriebenen Wege oder nicht fristgerecht eingelegt worden ist. Dieses Verbot der dienstlichen Benachteiligung gilt auch dann, wenn die eingelegte Beschwerde unbegründet war ( § 2 WBO). Die Beschwerde ist i.d.R. bei dem nächsten Disziplinarvorgesetzten des Beschwerdeführers einzulegen (§ 5 WBO). Sie darf frühestens nach Ablauf einer Nacht und muß binnen 2 Wochen eingelegt werden, nachdem der Soldat vom Beschwerdeanlaß Kenntnis erhalten hat (§ 6 WBO). Über die Beschwerde wird schriftlich entschieden (Beschwerdebescheid § 12 WBO). Gegen den Bescheid kann der Beschwerdeführer weitere Beschwerde einlegen. Für diese Entscheidung ist der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte zuständig. Ist die weitere Beschwerde erfolglos geblieben, so kann er unter den Voraussetzungen des § 17 WBO Antrag auf Entscheidung des Truppendienstgerichtes stellen. Einzelheiten zum Verfahren vor den Truppendienstgerichten regeln die §§ 62-73 der -> Wehrdiszi-
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Wehrdienst ist der auf der Grundlage des Wehrpflichtgesetzes und des Soldatengesetzes zu leistende Dienst der —> Soldaten. (Berufssoldaten, Zeitsoldaten und Wehrpflichtige). Der auf Grund der —> Wehrpflicht zu leistende W. umfaßt den Grundwehrdienst, den W. in der Verfügungsbereitschaft, die Wehrübungen und den unbefristeten W. im Verteidigungsfall (§ 4 WpflG). Zum Grundwehrdienst einberufen werden Wehrpflichtige, die zum Zeitpunkt des Dienstbeginnes das 25. Lj. noch nicht vollendet haben (Regelaltersgrenze, § 5 Abs. 1 S. 1 WpflG). Von diesem Grundsatz gibt es jedoch zahlreiche Ausnahmen, z.B. für den Fall, daß der Wehrpflichtige wegen einer ausbildungsbedingten Zurückstellung nach § 12 WpflG nicht vor Vollendung des 25. Lj. zum Grundwehrdienst herangezogen werden konnte. In diesem Falle kann er nach Abschluß seiner Berufsausbildung bis zur Vollendung des 28. Lj. zum W. einberufen werden. In den Fällen des § 5 Abs. 1 S. 2 WpflG beträgt die Höchstaltersgrenze 32 Jahre. Der Grundwehrdienst dauert 10 Monate. Er beginnt i.d.R. in dem Kalenderjahr, in dem der Wehrpflichtige sein 19. Lj. vollendet. Im Anschluß daran gehören Wehrpflichtige für 2 Monate der Verfügungsbereitschaft an. In dieser Zeit können sie auf Anordnung des -> Bundesministeriums der Verteidigung zu weiterem W. herangezogen werden. Dieser wird allerdings auf die Dauer der Wehrübungen angerechnet. Während der Verfügungsbereitschaft müssen die Wehrpflichtigen für Mitteilungen der Wehrersatzbehörde jederzeit erreichbar sein und bevorstehende Änderungen ihres gewöhnlichen Aufenthalts, ihrer Wohnung oder Anschrift unverzüglich der Wehrer-
Wehrpflicht
Wehrdienstverweigerung satzbehörde melden. Wehrübungen dienen der Aufrechterhaltung oder Auffrischung des Ausbildungsniveaus und damit der Gewährleistung der Einsatzfähigkeit für den Verteidigungsfall. Eine Wehrübung dauert höchstens 3 Monate. Die Gesamtdauer der Wehrübungen beträgt bei Mannschaften höchstens 9, bei Unteroffizieren höchstens 15 und bei Offizieren höchstens 18 Monate. Im Jahre 1994 hat das —> Bundesverfassungsgericht entschieden, daß dt. Soldaten an internationalen Missionen der -» Vereinten Nationen, auch an Kampfeinsätzen außerhalb des Gebietes der —> Nato, teilnehmen dürfen. Voraussetzung ist jedoch in jedem Falle die konstitutive Zustimmung des -> Bundestages mit einfacher Mehrheit. Auch gediente Wehrpflichtige können gem. § 6a WpflG zu diesen Auslandseinsätzen herangezogen werden, soweit sie sich freiwillig und schriftlich hierfür bereit erklärt haben. Lit: Ch. Grimm: Allgemeine Wehrpflicht und Menschenwürde, Berlin 1982; H. Johlen: Wehrpflichtrecht in der Praxis,.München 41996.
Christian Grimm Wehrdienstverweigerung dienstverweigerung
->
Kriegs-
Wehrdisziplinaranwalt nach § 74 der —> Wehrdisziplinarordnung ist der zum Vertreter der Einleitungsbehörde im disziplinargerichtlichen Verfahren bei den Truppendienstgerichten bestellte -» Beamte, der im Hauptamt Rechtsberater der Einleitungsbehörde ist. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung ist er kein eigenständiges —> Organ der Rechtspflege der -> Bundeswehr, sondern Vertreter des Dienstherm. Seine Stellung entspricht weitgehend der des —> Staatsanwalts und ist bei der Kommandobehörde organschaftlich ausgestaltet. Neben der Vertretung der Einleitungsbehörde obliegen ihm Führung von Ermittlungen und Vorermittlungen, Fertigung und Einreichung der Anschuldigungsschrift, Einlegung der Berufung, Vollstreckung gerichtlicher
Disziplinarmaßnahmen sowie als Gnadenstelle Vorbereitung der Gnadenentscheidungen. Lit: W. Stauf: Wehrdisziplinarordnung, BadenBaden 1990.
w. s.
Wehrdisziplinarordnung Die WDO i.d.F. vom 4.9.1972 (BGBl. I S. 1665) mit späteren Änderungen ist eine einheitliche Verfahrensordnung für die Würdigung besonderer Leistungen durch förmliche Anerkennungen (§§ 3-6) und die Ahndung von Dienstvergehen durch Disziplinarmaßnahmen (§§ 7-134). Unterschieden wird zwischen der Verhängung einfacher Disziplinarmaßnahmen: Verweis, strenger Verweis, Disziplinarbuße, Ausgangsbeschränkung, Disziplinararrest durch Disziplinarvorgesetzte (§§ 23ÍT.) und von Disziplinarmaßnahmen im disziplinargerichtlichen Verfahren (§§ 54ff.: Gehaltskürzung, Beförderungsverbot, Dienstgradherabsetzung, Entfernung aus dem Dienstverhältnis; Kürzung oder Aberkennung des Ruhegehalts) durch Wehrdienstgerichte (§§ 62ff.). Die Pflichten des Soldaten und den Begriff des Dienstvergehens bestimmt das -> Soldatengesetz (s.a. -» Wehrdisziplinaranwalt). Lit: W. Stauf: Wehrdisziplinarordnung, BadenBaden 1990. w.s.
Wehrersatzdienst —> Kriegsdienstverweigerung -> s.a. Wehrpflicht Wehrhoheit
Wehrpflicht
Wehrpflicht ist die Pflicht der Bürger, -» Wehrdienst zu leisten und sich dafür ausbilden zu lassen. In Dtld. trifft diese Pflicht gem. Art. 12a Abs. 1 GG i. V.m. § 1 WpflG alle Männer vom vollendeten 18. Lj. an (Allgemeine W.), wenn sie Deutsche i.S. des -» Grundgesetzes (-> Staatsangehörigkeit) sind und ihren ständigen Aufenthalt in der BRD haben (Inlandsdeutsche). Die W. unterscheidet sich von anderen staatsbürgerl. Pflichten
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Wehrpflicht (-» Bürgerpflichten) v.a. dadurch, daß sie den Einsatz der ganzen Person, im Extremfall auch den Einsatz des eigenen Lebens fìir die -> Gemeinschaft fordert. Ihre Rechtfertigung liegt nach der Rechtsprechung des —> Bundesverfassungsgerichts darin, daß der -» Staat, der —> Menschenwürde, Leben, —> Freiheit und -> Eigentum als Grundrechte anerkennt und schützt, dieser verfassungsrechtl. Schutzverpflichtung nur mit Hilfe der Bürger nachkommen kann. Individueller Schutzanspruch und die Pflicht, zur Sicherung der demokrat. Verfassungsordnung beizutragen, entsprechen einander. Die Aussagen des BVerfG sind insofern nicht unproblematisch, als der Schutz dieser Rechtsgüter und des Bestandes der BRD und ihrer -> freiheitlichen demokratischen Grundordnung wohl auch durch eine Berufsarmee sichergestellt werden könnte. Die W. trifft volljährige Männer auch dann, wenn sie ihren ständigen Aufenthalt außerhalb der BRD haben und entweder ihren früheren ständigen Aufenthalt hier hatten oder einen Paß oder eine Staatsangehörigkeitsurkunde der BRD besitzen oder sich auf andere Weise ihrem Schutz unterstellt haben (Auslandsdeutsche). Unter bestimmten Voraussetzungen können auch Ausländer und Staatenlose durch -> Rechtsverordnung der W. unterworfen werden (§ 2 WpflG). Eine derartige Rechtsverordnung ist bisher nicht erlassen worden. Frauen unterliegen der W. nicht. Sie können lediglich im Verteidigungsfalle gem. Art. 12a Abs. 4 GG unter den dort genannten Voraussetzungen zu Dienstleistungen im Sanitäts- und Heilwesen sowie in ortsfesten militärischen Lazarettorganisationen herangezogen werden. Waffendienst dürfen sie nach derzeitiger Verfassungslage auf keinen Fall, d.h. auch nicht auf Grund freiwilliger Meldung leisten. Die hier zu Tage tretende Ungleichbehandlung von Männern und Frauen ist vom BVerfG als grundgesetzkonform behandelt worden. Auch Kriegsdienstver-
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Wehrpflicht weigerer (-> Kriegsdienstverweigerung) sind wehrpflichtig! Sie erfüllen aber im Falle ihrer Anerkennung ihre W. durch Ableistung des Zivildienstes (Wehrersatzdienst, § 3 Abs. 1 WpflG). Als weitere Dienste, die unter gewissen Voraussetzungen zur Erfüllung der W. geleistet werden können, sind zu nennen: der Dienst nach dem Katastrophenschutzgesetz (-> Zivilschutz), der Entwicklungsdienst und der Dienst im -> Bundesgrenzschutz. Die W. ruht bei Deutschen, die ihren ständigen Aufenthalt und ihre Lebensgrundlage im Ausland haben, wenn auf Grund der Umstände des Einzelfalles anzunehmen ist, daß sie nicht mehr auf Dauer nach Dtld. zurückkehren wollen. Das Ruhen endet, sobald die Absicht erkennbar wird, den ständigen Aufenthalt im Ausland aufzugeben und nach Dtld. zurückzukehren oder sobald die Lebensgrundlage nach Dtld. verlegt wird. Die W. endet für Mannschaftsdienstgrade mit Ablauf des Jahres, in dem sie das 45. Lj. vollenden. Im Verteidigungsfalle liegt die Grenze bei 60 Jahren. Für Unteroffiziere und Offiziere endet die W. mit Ablauf des Jahres, in dem sie das 60. Lj. vollenden. Für Wehrpflichtige für bestimmte Aufgaben (das sind solche, die wegen ihrer beruflichen Ausbildung oder Tätigkeit im Verteidigungsfall für bestimmte Aufgaben herangezogen werden können) gilt die Altersgrenze der Unteroffiziere und Offiziere (§ 49 WpflG). Für Berufssoldaten gilt § 51 Soldatengesetz: ihre W. endet mit Vollendung des 65. Lj. Seit der Wiederbewaffnung der BRD ist die Frage nicht verstummt, ob eine Berufsarmee anstelle der W.armee die Aufgaben der Verteidigung übernehmen könnte. Verfassungsrechtl. sind beide Varianten zulässig, da Art. 87a GG nur die „Aufstellung von Streitkräften" nennt, ohne sich in einer bestimmten Richtung festzulegen. Darüberhinaus stellt Art 12a GG nur eine Kann-Bestimmung dar. Das Argument, eine —> Demokratie erfordere notwendigerweise die Allgemeine W. ist aus histor. Sicht und im Hinblick auf
Wehrstrafgesetz
Wehrpflichtarmee demokrat. Staaten ohne W. nicht haltbar. Anzumerken ist im übrigen, daß eine Armee ohne Berufssoldaten nicht existieren kann. Auch die derzeitige Wehrform in Dtld. stellt eine Mischform dar. Neben dem großen Anteil der W.igen dienen in der Bundeswehr Zeit- und Berufssoldaten. Aus den zahlreichen Argumenten für und gegen die eine oder andere Wehrform seien nur erwähnt: Die W.armee garantiert in höherem Maße die Verbindung von Armee und - » Gesellschaft. Die W.armee kann auf ein breites Bildungsund Ausbildungsangebot zurückgreifen. Die Kosten einer reinen Berufsarmee übersteigen diejenigen einer W.armee um ein Vielfaches. Gegen die W.armee spricht, daß die Wehrgerechtigkeit kaum noch gewährleistet werden kann, daß auf Grund relativ kurzer Wehrdienstzeiten der notwendige Ausbildungsstand für die Kriegs- und Überlebensfahigkeit der W.igen kaum noch erreicht wird und letztlich, daß der massive Eingriff in die Persönlichkeitssphäre des W.igen (bis hin zur Forderung der Hingabe des eigenen Lebens) unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatl. Verhältnismäßigkeitsgebotes höchst problematisch ist.
Abkommen von 1949 zu nennen.
Lit: BVerfGE 48, 127; BVerfGE 12, 45; Ch. Grimm: Allgemeine Wehrpflicht und Menschenwürde, Berlin 1982; G. Hahnenfeld / W. BoehmTettelbach: Wehrpflichtgesetz, Losebl., München 1988;//. Johlen: Wehipflichtrecht in der Praxis, München "1996,· H. Schieckel / J. Krech / P. Schiwy: Zivildienstgesetz (Losebl.), Starnberg 1996; W. Steinlechner: Wehrpflichtgesetz, München 5 1996.
Lit.: W. Stauf: Erläuterungen zum Wehrsoldgesetz, in: Das Dt. Bundesrecht, Losebl., BadenBaden 1997, S. 7ff.
Christian Grimm Wehrpflichtarmee —> Wehrpflicht Wehrrecht Das nationale W. umfaßt die Gesamtheit der sich auf die militärische Verteidigung der BRD durch die —> Bundeswehr unter Einschluß der -» Wehrverfassung beziehenden Normen. Aus dem Bereich des internationalen W.s sind insbes. die —> Haager Landkriegsordnung von 1907 sowie die 4 Genfer Rot-Kreuz-
Lit.: W. Stauf: Die Bewärhung des Wehrrechts in der Praxis aus der Sicht des Rechtsberaters und Wehrdisziplinaranwalts, in: Zeitschrift fur Wehrrecht und Kriegsvölkerrecht 1987, S. 625ff.
W. S. Wehrsoldgesetz Das WSG gilt für Soldaten, die aufgrund der —> Wehrpflicht —> Wehrdienst leisten (WSG i.d.F. v. 30.3.1993 - BGBl. I S. 422), und steht im Zusammenhang mit § 30 Abs. 1 S. 1 —> Soldatengesetz, wonach der Soldat Anspruch auf Geld- und Sachbezüge, Heilfürsorge, Versorgung, Reise- und Umzugskostenvergütung hat. Die Regelungen des WSG entsprechen weitgehend den Bestimmungen im Bundesbesoldungsgesetz für Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit. Wehrpflichtige erhalten an Stelle der Dienstbezüge Wehrsold (§ 2) oder bei Wehrübungen von nicht länger als 3 Tagen Dienstgeld (§ 8). Sämtliche Sachbezüge (Verpflegung, Unterkunft, Dienstbekleidung, §§ 3-5) werden ebenso wie die HeilfÜrsorge (§ 6) unentgeltlich gewährt. Bei Beendigung des Grundwehrdienstes erhalten Wehrpflichtige ein Entlassungsgeld (§ 9).
w. s. Wehrstrafgesetz / -gerichte Das WStG i.d.F. vom 24.5.1974 (BGBl. I S. 1213) ist Sonderstrafrecht für Soldaten der - » Bundeswehr sowie für Anstifter und Gehilfen, auch wenn sie nicht Soldaten sind. Es regelt die vom —>• Strafgesetzbuch abweichenden Rechtsgrundsätze über Verbindlichkeit eines Befehls, Strafen usw. und enthält Bestimmungen über die militärischen Straftaten (Dienstentziehung, Fahnenflucht, Wachvergehen usw.) Straftaten nach dem WStG werden wie alle strafbaren Handlungen von den zivilen Strafgerichten abgeurteilt. Für den Verteidigungsfall läßt Art. 96 Abs. 2 GG aber Wehrstrafgerichte zu, die anders als
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Wehrverfassung
W e i m a r e r Reichsverfassung
die Wehrdienstgerichte zum Geschäftsbereich des -> Bundesministers der Justiz gehören. Für diese eingeschränkte Sondergerichtsbarkeit ist kein oberes Bundesgericht vorgesehen; diese Aufgabe wurde dem -> Bundesgerichtshof zugewiesen. Von der Ermächtigung des Grundgesetzes, das Nähere durch Bundesgesetz zu regeln, wurde bislang kein Gebrauch gemacht. Gleichwohl wurden rd. 900 —» Richter und —> Beamte von Justiz und Rechtspflege der Bundeswehr für Wehrstrafgerichte vorgesehen und bis 1984 auch regelmäßig zu Informationstagungen und Übungen einberufen. Lit.: J. Schob / E. Lingens: Wehrstrafgesetz, München 31998; J. Wilk / W. Stauf: Wehrrecht von A-Z, München 1987, S. 240 ff.
GG). Mit diesem Normengerüst, zu dem noch die Feststellung des Verteidigungsfalles als primär parlament. Kompetenz (Art. 115a GG) sowie im Grundrechtsteil die verfassungsrechtl. Begründung des grundrechtsbewehrten -> Soldaten als des —> Staatsbürgers in Uniform kommen (Art. 1 Abs. 3 und 17a GG), sind die ambivalenten Aufgaben der W. eines jeden parlament. verfaßten demokrat. Staates gelöst worden: Eingliederung der Streitkräfte in die parlament. kontrollierte —> Exekutive und Sicherung ihrer Auftragserfüllung. Lit: O. Fröhler: Grenzen legislativer Gestaltungsfreiheit in zentralen Fragen des Wehrverfassungsrechts, Berlin 1995.
Wolfang Stauf
W.S.
Wehrverfassung ist die Summe aller Rechtssätze des -> Grundgesetzes, die sich mit dem Wehrwesen beschäftigen. Dem Verfassungsgeber von 1956 ging es um eine weitgehende Harmonisierung von Staats- und Wehrverfassung sowie um eine system- und funktionsgerechte Einbettung der -> Streitkräfte in das Verfassungsgefilge des gewaltenteilenden -> Rechtsstaats. Die W. gehört zu den wenigen Materien des GG, deren kodifikatorische Konzepte bis heute unverändert geblieben sind. Zu ihren Grundentscheidungen gehören: Aufteilung des Oberbefehls, Zuweisung der Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte fin den -> Bundesminister der Verteidigung mit Übergang auf den - » Bundeskanzler nach Verkündigung des Verteidigungsfalles, dadurch Verbesserung der parlament. Kontrolle mit ihren eigenen Institutionen des Verteidigungsausschusses und des -> Wehrbeauftragten (Primat der Politik). Desweiteren: Verfassungsrechtl. Verankerung der Streitkräfte, ihres Auftrages und ihrer Funktionsfahigkeit grundsätzliche Aussagen über Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr in Krisenfallen und über Aufgaben der Bundeswehrverwaltung (Art. 65a, 115b, 45a, 45b, 87a und 87b
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Weimarer Koalition blik
Weimarer Repu-
Weimarer Nationalversammlung Weimarer Republik
—>
Weimarer Reichsverfassung Die Verfassung der - » Weimarer Republik (19191933) ist bis heute von Bedeutung, weil sie das (negative) Gegenbild ist, von der sich das Bonner —> Grundgesetz abhebt. Im Unterschied zur —> Verfassung der —> Bundesrepublik Deutschland war die WRV eine stark präsidial bestimmte —> Demokratie. Der Reichspräsident wurde nach Art. 41 direkt vom Volk auf 7 Jahre gewählt, emannte.und entließ den Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister und konnte „die zur Wiederherstellung der öffentl. Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht" (Art. 48). Zu diesem Zweck durfte er auch -> Grundrechte außer Kraft setzen. Allerdings: „Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen". Zudem konnte der Reichspräsident den Reichstag auflösen, er war Oberbefehlshaber der Streitkräfte, und er konnte einen —> Volksentscheid anberaumen, um ein vom Reichstag verabschie-
Weimarer Reichsverfassung detes Gesetz zu verhindern. Er war in Notfällen zum Erlaß von Notverordnungen befugt und konnte so die Gesetzgebungskompetenz des Parlaments in den Hintergrund drängen. Unter Reichspräsident von Hindenburg (1926-1934) und Reichskanzler Brüning (1930-1932) wurden diese Verordnungen extensiv eingesetzt, so daß das Reich schon vor 1933 entparlamentarisiert wurde. Diese negativen Erfahrungen eines Mißbrauchs führten dann dazu, daß die Stellung des —> Bundespräsidenten heute weitgehend repäsentativ ist. Stattdessen wurde die Stellung des —> Bundeskanzlers gestärkt, denn der Reichskanzler war sowohl vom -» Vertrauen des Reichspräsidenten als auch des Reichstages abhängig, was sein Amt institutionell schwächte. Dazu trugen auch die Volksentscheide und das Fehlen einer -> Sperrklausel im Wahlrecht bei. Gleichermaßen wurde in der BRD das Weimarer Verhältniswahlrecht durch eine Kombination von -»· Mehrheits- und —» Verhältniswahlrecht ersetzt, denn das reine Verhältnis- und Listenwahlsystem der ersten dt. Republik hatte eine Zersplitterung der Parteienlandschaft und dementsprechend instabile Regierungen zur Folge. Mit der Weimarer Verfassung wurde allerdings das Frauenwahlrecht in Dtld. eingeführt. Mit der WRV wurde im Vergleich zur —* Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 das Verhältnis von Reich und Ländern neu geregelt, und zwar zugunsten der zentralen Ebene. So konnte ein Veto des Reichsrates, der Vertretung der Länder im Reich, mit einer 2/3-Mehrheit des Reichstages oder durch einen Volksentscheid überstimmt werden. Es gab kein absolutes -> Vetorecht, wie es der -> Bundesrat heute in bestimmten Bereichen vorsieht. Die bisherigen Sonderrechte der Länder wurden fast gänzlich beseitigt, die -> Finanzverfassung angesichts der Nöte der Nachkriegszeit zentralisiert. Länder und -» Gemeinden wurden abhängig von den Zuweisungen des Reiches. Die frohere Dominanz Preuß.s im Kaiserreich wurde
Weimarer Republik eingeschränkt. Die in der WRV statuierten Grundrechte sicherten sowohl die traditionellen liberalen Freiheiten als auch Elemente sozialer —> Demokratie, wie z.B. die Gemeinwohlbindung des Eigentums und die Gleichberechtigung von Arbeitern / Angestellten und Unternehmern. Durch die Einrichtung eines allerdings bedeutungslos gebliebenen Reichswirtschaftsrates, in dem verbandliche Interessen vertreten waren, wollte man an die Forderungen der Räte von 1918/19 anknüpfen. Lit.: Anschütz / Thoma; C. Gusy: Weimar - die wehrlose Republik?, Tübingen 1991, H. Mommsen: Die verspielte Freiheit, der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933, Frankfiirt/M. 1990.
Jürgen Bellers Weimarer Republik Nach dem ersten Tagungsort der verfassunggebenden Nationalversammlung, Weimar (6.2.-30.9. 1919, dann Beri.), wird das republikanisch und demokrat. verfaßte Deutsche Reich WR genannt. Allgemein wird mit dem Begriff der Zeitraum dt. Geschichte vom Ende des I. Weltkrieges bis zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30.1.1933 bezeichnet. In der polit. Sprache der BRD ist WR häufig Ausdruck für die Schwierigkeiten und das Scheitern der ersten dt. -> Demokratie, wie überhaupt für die Gefährdung demokrat. Ordnungen. Der Hinweis auf „Weimar" dient als Negativbeispiel, als Kritik an polit, oder sozialen Fehlentwicklungen, nicht selten aber auch als Schlagwort oder Ressentiment. Zu den wesentlichen Problemen, welche die WR kennzeichnen, gehört die mangelnde Akzeptanz der neuen staatl. Ordnung, die aus der Kriegsniederlage in einem teils revolutionären, teils aber auch Züge der Kontinuität aufweisenden Prozeß hervorgegangen war. Am 9.11.1918 verkündete Reichskanzler Prinz M. v. Baden eigenmächtig den Rücktritt des Kaisers und übertrug das Amt des —> Reichskanzlers auf F. Ebert (1871-1925),
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Weimarer Republik den Partei- und Fraktionsvorsitzenden der - » SPD; am gleichen Tag rief P. Scheidemann (1865-1939 SPD) in Beri. Die -> Republik aus. Die Sozialdemokratie, seit 1916 in die Mehrheitspartei und die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Dtld.s" (USPD) gespalten, war auf diese Situation nicht vorbereitet. Ebert versuchte im Zusammenwirken mit der Obersten Heeresleitung und der Beamtenschaft die Voraussetzungen für einen geordneten Übergang zur —> parlamentarischen Demokratie zu schaffen, wie dies bereits in der Verfassungsreform vom Oktober 1918 eingeleitet worden war. Dagegen drängten der linke Flügel der USPD und der Spartakusbund (seit 1.1.1919 KPD) auf eine Fortführung und Steigerung der revolutionären Aktionen der Soldaten und Arbeiter mit umstrittenen Zielsetzungen, die von vagen rätedemokrat. Vorstellungen bis zur „Diktatur des Proletariats" reichten, aber kaum eine Chance auf Realisierung hatten. In dieser Auseinandersetzung behauptete sich die gemäßigte Mehrheitsrichtung: Am 19.1.1919 fanden -> Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung statt, erstmals nach dem Verhältniswahlrecht und mit der passiven und aktiven Wahlberechtigung nicht nur für Männer sondern auch für Frauen über 20 Jahre. Die Weimarer Parteienkoalition aus SPD, Zentrum und der liberalen Deutschen Demokrat. Partei (DDP) erhielt mit 328 von 423 Mandaten die Mehrheit. Neben der Ausarbeitung einer Reichsverfassung hatte die Nationalversammlung weitere Funktionen: Sie wählte am 11.2. 1919 Ebert zum Reichspräsidenten, der eine vorläufige Reichsregierung unter Scheidemann einberief, und sie bildete, zusammen mit dem Staatenausschuß aus Vertretern der dt. Länder, das vorläufige Gesetzgebungsorgan. Damit war der Grundstein für eine demokrat. und föderale Ordnung gelegt. Das Abkommen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften über die Zentralarbeitsgemeinschaft vom 15.11.1918 bildete zudem die Vorentscheidung für eine liberale, sozialpart-
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Weimarer Republik partnerschaftliche Wirtschaftsordnung. Gegen diese Entwicklung bildete sich auf der Linken und der Rechten eine Fundamentalopposition, die gewaltsam das System zu beseitigen trachtete. Während der Linken die Umwälzungen nicht weit genug gingen, diffamierte die Rechte die Republik und ihre Anhänger mit der Behauptung, sie hätten die im Felde unbesiegte dt. Armee durch einen „Dolchstoß in den Rücken" verraten und so die Kriegsniederlage verschuldet. Vor allem in Beri, kam es zu bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen zwischen der extremen Linken und den zur Verteidigung der Republik rekrutierten Freikorps. K. Liebknecht (1871-1919), und R. Luxemburg (1870-1919) wurden festgenommen und in der Haft ermordet. Bis Ende 1923 erschütterten Umsturzversuche und Terror die Republik: Im Januar 1920 kam es im Gefolge eines Eisenbahnerstreiks zum Sturm auf das Reichstagsgebäude; im März des Jahres war die Auflösung der Freikorps der Anlaß für den rechtsgerichteten Putschversuch unter W. Kapp (18571922), der am Generalstreik der Gewerkschaften scheiterte, wobei freilich gegen bewaffnete Arbeiterformationen wiederum die Freikorps eingesetzt wurden; 1921 unternahm die KPD mit Unterstützung von Komintern-Emissären in der sog. Märzaktion im Industriegebiet um Halle einen Umsturzversuch; Rechtsextremisten ermordeten am 26.8.1921 Finanzminister M. Erzberger (*1875 Zentrum) und am 24.6.1922 Außenminister W. Rathenau (»1867 DDP); in München versuchten A. Hitler (1889-1945) und E. Ludendorff (1867-1937) am 8./9.11.1923 einen Putsch nach dem Vorbild der ital. Faschisten. Die polit. Mitte war darüber hinaus auch im Parlament von links und rechts bedrängt. Bei den ersten Reichstagswahlen am 6.6.1920 verlor die Weimarer —> Koalition die Mehrheit, die sie nicht wieder erlangen sollte. Zwar veränderten sich die Kräfteverhältnisse im Parlament bei den folgenden Wahlen, aber sie be-
Weimarer Repunlik reiteten einer Mehrheitsbildung im Prinzip immer dieselben Schwierigkeiten: Relativ stärkste Partei war bis 1932 die SPD, aber wie die großen Verluste 1920 zeigten, lehnte ein bedeutender Teil ihrer Wählerschaft die Zusammenarbeit mit Zentrum und Liberalen ab. Noch schwerer war eine Große Koalition unter Einschluß der rechtsliberalen DVP oder gar der am rechten Rand angesiedelten DNVP durchzusetzen; sie gelang für kurze Zeit unter G. Stresemann (1878-1929 DVP), dann unter W. Marx (1863-1946 Zentrum, mit DNVP) und H. Müller (1876-1931 SPD) von 14.11.1926 bis 27.3.1930. Eine linke Koalition aus SPD und USPD oder KPD war aufgrund der ideologischen Gegensätze undenkbar, auch hätte ihr die Mehrheit gefehlt. Die Aufgabe der Regierungsbildung fiel somit meist an die zweitgrößte Partei, das Zentrum (in Bay. seit 1918: Bay. Volkspartei, BVP). Die Partei des polit. Katholizismus, btlrgerl., doch in allen Schichten verankert, war bis 1932 an allen Regierungen beteiligt und stellte neunmal den Kanzler. Mehrheitsfähig war auch sie nur im sog. Bürgerblock mit DVP und DNVP. Der Niedergang des in 2 Parteien gespaltenen polit. Liberalismus schwächte bürgerl. Koalitionen (1932 erhielten DDP und DVP zusammen nur mehr 2,2% der Stimmen). Als Ausweg blieben nur Minderheitskabinette entweder unter Duldung der SPD oder der DNVP oder mit wechselnden Mehrheiten. Das Problem der heterogenen Oppositionen wurde durch das in der Verfassung verankerte uneingeschränkte -> Verhältniswahlrecht zwar verstärkt, aber nicht alleine verursacht. Die fragilen Koalitionen wurden durch schwierige Auseinandersetzungen über die außen- sowie wirtschafts- und sozialpolit. Probleme der Zeit stark belastet. Außenpolit. Ziel aller Parteien war eine Revision des Versailler Friedensvertrags. Die Kritik an den Friedensbedingungen führte jedoch nicht zu einem nationalen Grundkonsens, sondern destabilisierte die Regierungen. So trat das Kabinett Schei-
Weimarer Republik demann wegen des Friedensvertrags zurück, der dann auf Druck der Alliierten am 23.6.1919 von der Nationalversammlung angenommen und durch den Außenminister H. Müller der Regierung Bauer (1870-1944 beide SPD) unterzeichnet wurde. Über die alliierten Reparationsforderungen stürzten die Kabinette Fehrenbach 1921 (1852-1926), Wirth 1922 (1879-1956) und im Zusammenhang mit der Besetzung des Ruhrgebiets, mit der Frankreich die Reparationszahlungen erzwingen wollte, die Regierung Cuno 1923. Der Versuch, durch eine Verständigungspolitik die Friedensbedingungen zu erleichtem und Dtld. internationale Gleichberechtigung zu verschaffen, wurde von der extremen Rechten, v.a. von den Nationalsozialisten, zum Kampf gegen den demokrat. Staat instrumentalisiert. Nach der Auseinandersetzung um den Vertrag von Rapallo mit der UdSSR (16.4.1922), in dessen Gefolge die Ermordung Erzbergers fallt, gelang dies v.a. im Zusammenhang mit dem Dawes-Plan (1924) und dem Young-Plan (1928) zur Regelung der Reparationszahlungen. Die wirtschaftl. Probleme kulminierten in der Inflation, die 1923 ihren Höhepunkt erreichte (1 Dollar = 4,2 Billionen Mark). Ihre Ursache war die Verschuldungspolitik des Kaiserreichs, die in der Republik fortgesetzt wurde, nicht zuletzt um die Reparationsforderungen zu unterlaufen. Der Währungsschnitt vom 15.11.1923 bedeutete die fast völlige Entwertung aller Sparguthaben und eine Proletarisierung der Mittelschicht, v.a. aber eine weitere Spaltung und Radikalisierung der Gesellschaft mit der (wissenschaftl. nicht haltbaren) Behauptung, einflußreiche jüdische Kreise aus Industrie und Landwirtschaft hätten die Inflation bewußt geschürt und aus ihr Gewinn gezogen. Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise beendete eine kurze Phase der Stabilisierung. Die ohnedies hohe Arbeitslosigkeit stieg bis Anfang 1933 auf über 6 Mio. (bei nur 12 Mio. Beschäftigten). Am Streit um eine Sanierung der 1927 eingeführten Arbeits-
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Weimarer Republik losenversicherung zerbrach am 27.3.1930 die Große Koalition unter Kanzler Müller (SPD). Die folgende Regierung Brüning (Zentrum) wurde zwar im Reichstag von der SPD toleriert, doch begann damit die Endphase der WR, gekennzeichnet durch den Aufstieg der NSDAP, die Zunahme polit, und sozialer Unruhen und die bis weit in die polit. Mitte verbreiteten Bestrebungen, das parlament. System in ein autoritäres Präsidialregime umzubauen. Eine wesentliche Ursache der Unbeständigkeit der insg. 20 Regierungen der WR war das Selbstverständnis der —• Parteien: Wie im Kaiserreich verstanden sie sich als oppositionelle Gegenkraft zur Reichsregierung, während die im —> parlamentarischen Regierungssystem notwendige Zusammenarbeit von Regierung und Parlamentsmehrheit und die dazu erforderlich Kompromißbereitschaft in einer Koalition weithin abgelehnt wurden. Die Verfassung kam dieser destruktiven Haltung entgegen, da Art. 54 es dem Reichstag ermöglichte, sowohl den Reichskanzler als auch einzelne Minister zu stürzen, ohne (wie im GG) eine neue Regierung bilden zu müssen. Dem Reichspräsidenten fiel dagegen die konstruktive Rolle zu. Wie der Reichstag direkt vom Volk gewählt, ernannte er den Kanzler und vermochte durch Notverordnungen nach Art. 48 WRV den Gesetzesvorhaben der Regierung auch bei fehlender parleraient. Zustimmung Geltung zu verschaffen. Sowohl Reichskanzler Ebert wie sein Nachfolger P. v. Hindenburg (1847-1934; Wahl am 26.4.1925) haben sich dieses Mittels bedient, letzterer freilich immer stärker mit der von seinen Beratern (insbes. Staatssekretär O. Meißner 1880-1953 und General K. v. Schleicher 1882-1934) beförderten Absicht, die polit. Ziele der DNVP zu unterstützen und überhaupt den Parlament. Charakter des Weimarer Regierungssystems zugunsten eines Präsidialsystems zurückzudrängen. Das Scheitern der WR, das von der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur nach dem 30.1.1933 zu unterscheiden ist, war inso-
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Weltbank fern nicht die unvermeidliche Folge der skizzierten Probleme, sondern das bewußt herbeigeführte Ergebnis parlamentarismusfeindlicher Kräfte (-> s.a. Weimarer Reichsverfassimg, -> s.a. Nationalsozialismus). Lit: H. James: Dtld. in der Weltwirtschaftskrise 1924-1936, Stuttgart 1988; E. Kolb: Die Weimarer Republik, München 31993; P. Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985; P. Longerich: Dtld. 1918-1933, Hannover 1995; G. Schutz: Zwischen Demokratie und Diktatur, 3 Bde., Berlin 1987-1992; H. A. Winkler: Weimar 1918-1933, München 1993.
Karl G. Kick Weißes Haus (engl. The White House). Das W.H. in der 1600 Pennsylvania Avenue in Washington ist seit 1800 Amtsund Wohnsitz der Präsidenten der USA. Die Offenheit der amerik. —> Demokratie soll dadurch unterstrichen werden, daß jedermann den Sitz des Präsidenten besuchen und sich in ausgewählten Räumlichkeiten umsehen darf (insoweit gilt das W.H. als Symbol des freien und demokrat. Amerikas). Das W.H. als Sitz der exekutiven Gewalt liegt unweit des Kapitols (Sitz der Legislative, -> Senat, -> Repräsentantenhaus) und des —> Supreme Court (Oberster Bundesgerichtshof). Der Grundstein für den Bau wurde 1792 durch George Washington gelegt; es wurde vom irischen Architekten James Hoban im klassizistischen Stil errichtet (-* s.a. Parlamentsarchitektur). Κ.
H.
Weltbank Die Gründung der Internationalen Bank ftlr Wiederaufbau und Entwicklung, häufig W. genannt, erfolgte zusammen mit der des —> Internationalen Währungsfonds (IWF) 1944 in Bretton Woods (USA). Mitglied der W. kann nur ein Staat werden, der auch dem IWF angehört. War zunächst der Wiederaufbau der durch den Π. Weltkrieg zerstörten Volkswirtschaften Zweck der Bank, so stellt sie heute das führende Institut der Finanzierung der Entwicklungshilfe dar.
WEU
Welthandelsorganisation Hierzu nimmt es auf den internationalen Finanzmärkten auf Grund seiner Kreditwürdigkeit als internationale Organisation preisgünstig Gelder auf und vergibt sie als Darlehen an —> Entwicklungsländer. Die Mittel der Bank fließen nur an Regierungen. Ärmere Länder unterstützt sie durch Kreditvergabe einer Tochterorganisation, der Internationalen Entwicklungsorganisation, die Darlehen zinslos mit sehr langen Laufzeiten aus Beiträgen der Mitgliedstaaten und Erträgen der W. zur Verfügung stellt. J.S. Welthandesorganisation Aufgabe der 1994 in Marrakesch gegründeten W. (World Trade Organisation, WTO) mit Sitz in Genf ist die Sicherung und Entwicklung des bestehenden internationalen multilateralen Handelssystem. Hierzu ist sie mit der Verwaltung einer Reihe völkerrechtl. Verträge betraut. Dazu gehören als wichtigste das —> GATT und das ähnlich angelegte Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services, GATS), das der Liberalisierung des grenzüberschreitenden Austausche von Dienstleistungen den Weg ebnen soll. Von besonderer Bedeutung sind die Regeln zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten über Fragen des internationalen Handels. Die Streitschlichtungsausschüsse (Panels) und ein Ständiges Berufungsgremium hören - anders als der —> (Haager) Internationale Gerichtshof - ohne besondere Zustimmung des beklagten Mitglieds Beschwerden wegen der Verletzung des GATT oder eines anderen von der WTO verwalteten Abkommens.
J.S. Welt-Wetter-Wacht - > Deutscher Wetterdienst Wesentlichkeitstheorie / -grundsatz Die W. beschreibt, welche staatl. Akte durch den - > Gesetzgeber zu regeln sind und nicht allein der —> Verwaltung Uberlassen
werden dürfen. Nicht selten ergeben sich hier schwierige Abgrenzungsfragen. Immer „wesentlich" sind Entscheidungen, die —> Grundrechte beschränken oder durch die kollidierende Grundrechte gegeneinander abgegrenzt werden (vgl. z.B. BVerfGE 47, 46, 79). Die W. konkretisiert den Vorbehalt des Gesetzes, der im Unterschied zum Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht ausdrücklich im GG verankert ist. Der Vorbehalt des Gesetzes besagt, daß bestimmte staatl. Akte der Grundlage in einem förmlichen Gesetzes bedürfen (—> s.a. Parlamentsvorbehalt). K.-R. T. Westeuropäische Union / WEU-Versammlung Seit dem - » EU-Vertrag (1992) ist die WEU ein - wenn auch institutionell gesonderter - Bestandteil der - » EU. Trotz der Einbindung der WEU in die - > GASP der EU besteht die Versammlung der WEU neben dem —» Europäischen Parlament der EU fort und befaßt sich mit Fragen der Sicherheitspolitik und der Rüstungskooperation in Europa. Seit der Wende in Mittel- und Osteuropa ist sie auch Gremium der Diskussion über Fragen der Einbeziehung der mittel- und osteurop. Länder in die europ. Sicherheitsarchitektur. Vertraglich im 1954 revidierten Brüsseler Vertrag von 1948 begründet, fristete sie wie die WEU überhaupt bis in die 80er Jahre ein Schattendasein. - » NATO und Nordatlantische Versammlung hatten für die Sicherheitspolitik die größere Bedeutung. Aber auch die Ansätze zum Ausbau der WEU als dem europ. Pfeiler der westlichen Verteidigung haben die Stellung der Versammlung kaum gestärkt, obwohl sie das einzige Forum der öffentl. Diskussion einer europ. Sicherheitspolitik ist. Ihren in der Ausschußarbeit entstandenen, vom Plenum beschlossenen Empfehlungen und Resolutionen, die an Rat, nationale —» Parlamente und —> Regierungen wie andere Organisationen gerichtet werden, kommt eine wichtige Initiativ-
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Whip
Widerspruchverfahren
funktion zu. Daneben hat die Kontrollfunktion gegenüber dem Rat Bedeutung. Mitglied der Versammlung sind diejenigen —» Abgeordneten, die von den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten in die Parlament. Versammlung des -> Europarates entsandt werden. Der gewichtete Verteilungsschlüssel für die nationalen Delegationen ist deshalb der gleiche. Hinzu kommen Beobachter aus EU-Staaten, die nicht Vollmitglied der WEU sind und aus Staaten, die assoziierte Partner der WEU in Mittel-Osteuropa sind. Außer nach dem Delegationsprinzip ist die Versammlung auch nach dem Fraktionsprinzip organisiert. Die Bedeutung beider Prinzipien für die Entscheidungen wechselt. Eine klare Rollenbestimmung für die Versammlung ist für deren künftige Rolle im Rahmen des EU-Systems wichtig; Voraussetzung dafür ist eine Entkopplung der Mitgliedschaft zum Europarat.
Darüber hinaus stellen sie einen wichtigen Kommunikátionskanal zwischen Fraktionsführung und einfachen Abgeordneten dar. In den am brit. „WestminsterSystem" orientierten Parlamenten sind sie für die Geschlossenheit der Fraktion verantwortlich. Im brit. -> Unterhaus haben die W.s der Regierungspartei im allgemeinen Regierungsämter inne, der Chief W. nimmt an Kabinettsitzungen teil. Hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zum Dt. Bundestag, in dem —• Parlamentarische Geschäftsführer gewählte Funktionsträger der Fraktionen (und nicht als solche öffentl. besoldete Regierungsmitglieder) sind. Die besondere Stellung der W.s wird auch bei der größten Oppositionspartei deutlich, in der der Chief W., der Deputy Chief W. und ein Assistant W. ebenfalls besondere Gehälter aus der Staatskasse (und nicht etwa aus Fraktionsmitteln) erhalten.
Lit.: U. Jun / E. Kuper: Die Versammlung der Westeurop. Union (WEU): Neuanfang oder Auflösung?, in: dies. (Hg.), Nationale Interessen und integrative Politik in transnationalen parlement. Versammlungen, Opladen 1997, S. 149ff; L. Leinert: Die Parlament. Versammlung der Westeurop. Union, in: ZParl 1980, S. 388ff.
Lit.: D.D. Searing: Westminster's World, Cambridge 1994, S. 240ÍT. T. S.
Emst Kuper
Whip / -s W.s sind -> Abgeordnete in den —> Parlamenten englischsprachiger Länder, deren Rolle mit deijenigen der dt. -> Fraktionsgeschäftsführer vergleichbar ist. Sie haben v.a. die Aufgabe, die Arbeitsabläufe in den -> Fraktionen zu steuern. Im allgemeinen ernennt oder wählt eine Fraktion einen „chief w." (Erster Parlament. Geschäftsführer) und mehrere ,junior w.s" (Parlament. Geschäftsführer). Der Ausdruck geht auf den „whipper in" (Einpeitscher) in der engl. Jägersprache zurück, dessen Aufgabe v.a. darin besteht, die Meute der Jagdhunde bei der Verfolgung des Wildes zusammenzuhalten. In einigen Parlamenten steuern die W.s in mehr oder weniger formalisierten interfraktionellen Absprachen auch den Zeitplan des Parlaments (the usual channels).
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Widerspruch -> Widerspruchsverfahren Widerspruchsverfahren Im W. werden verwaltungsbehördliche Entscheidungen durch die -> Verwaltung selbst - auf Antrag hin - überprüft. Geregelt ist das Verfahren in §§ 68ff. VwGO. Der Widerspruch ist frist- und formgebunden; auf die Möglichkeit und die Formalien der Einlegung hat die Rechtsbehelfsbelehrung (—> Rechtsbehelf) hinzuweisen. Die Durchführung des W.s ist Voraussetzung der Erhebung einer Verpflichtungs- oder Anfechtungsklage (—» Verwaltungsgerichtsbarkeit); im -> Beamtenrecht ist sie darüber hinausgehend grds. Voraussetzung der gerichtlichen Klage. Der Widerspruch wird bei der Ausgangsbehörde eingelegt. Diese kann ihm abhelfen (= stattgeben) oder, wenn sie den Widerspruch für unberechtigt hält, die Sache der Widerspruchsbehörde (i.d.R. die nächsthöhere Behörde) zur Entscheidung zuleiten; in gesetzlich definierten Ausnah-
Widerstand mefàllen entscheidet die Ausgangsbehörde selbst über den Widerspruch. Im W. werden sowohl die Rechtsmäßigkeit als auch die Zweckmäßigkeit einer Verwaltungsentscheidung überprüft, die Prüfung ist also umfassender als im Gerichtsverfahren, wo nur die Rechtmäßigkeit nicht aber die Ausübung des -> Ermessens überprüft wird. Lit.: P. Weides: Verwaltungsverfahren und Widerspruchsverfahren, München 3 1993. J.M.
Widerstand gegen den Nationalsozialismus umfaßte aktives und passives Verhalten, das gegen den —• Nationalsozialismus in Dtld. zwischen 1933 und 1945 gerichtet war. Es drückte sich in den unterschiedlichsten Formen aus: Von der geistigen Selbstbehauptung über die Widersetzlichkeit gegen die Indoktrination des Regimes bis hin zu der auf den Sturz des NSStaates gerichteten fundamentalen polit. —> Opposition. W. ging von einem breiten, vielfältigen Spektrum unterschiedlichster polit, und sozialer Gruppierungen der dt. Bevölkerung aus, aber er blieb insg. das Verhalten von wenigen, die sich nicht gegen das NS-Herrschaftssystem durchsetzen konnten. Die christl. Kirchen kämpften vorwiegend für die Erhaltung ihres eigenen Aktionsraumes, sie widersetzten sich damit dem Totalitätsanspruch des NS- Staates. Innerhalb der ev. Kirche wandte sich die Bekennende Kirche mit Martin Niemöller v.a. gegen den Mißbrauch des Evangeliums durch die nationalsozialistischen Deutschen Christen. Auf kath. Seite sicherte 1933 das —> Konkordat zwischen Vatikan und Dt. Reich zwar scheinbar die Erhaltung der kath. Organisationen, aber die zunehmende Verletzung der —> Menschenrechte wurde von einer großen Anzahl von Priestern, etwa von C.A. Graf von Galen scharf verurteilt. Zum polit. W. traten dagegen nur wenige Christen, wie etwa der ev. Theologe D. Bonhoeffer und der Jesuitenpater A. Delp. Der frühe polit. W. nach 1933 wurde v.a.
Widerstand von der Arbeiterschaft geprägt. Die Aktivitäten der polit. Linken zielten mit der Verbreitung illegaler Schriften, dem Aufbau illegaler Zellen auf einen Massenwiderstand zum Sturz des Regimes. Es gelang jedoch der Gestapo, bis 1937 fast alle größeren W.sgruppen der Kommunisten, Sozialdemokraten und Sozialisten zu zerschlagen. Erst mit Beginn des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion 1941 kam es zu einer Reakti vierung kommunistischer und sozialistischer W. Sektionen. Der Π. Weltkrieg mit den NS-Gewaltverbrechen in Polen und der Sowjetunion, der Deportation und Ermordung der Juden Europas und der Erfahrung der militärischen Niederlage führte zur Stärkung des W.swillens und der W.saktivitäten. So gab es etwa im Kriegsalltag Deutsche, die aus Mitgefühl versuchten, Verfolgten des Regimes, Juden, Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitem zu helfen, dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzend. Auch illegale jugendoppositionelle Gruppen, die sich zumeist eher apolitisch aus den Autonomiebestrebungen gegen den Monopolanspruch der Hitleijugend entwickelt hatten und in kirchl., jugendbündischen oder sozialistischen Traditionen verankert waren, wurden durch den Krieg zum polit. W. motiviert. 1942/43 rief die Weiße Rose, vorwiegend Münchner Studenten um H. und S. Scholl und A. Schmorell in Erwartung der Westalliierten in 6 Flugblättern zum Sturz der mörderischen -> Diktatur und zur sofortigen Beendigung des Krieges auf. Schon Ende 1941 hatte eine Berliner W.sgruppe um A. Hamack und H. Schulze-Boysen, die später als Rote Kapelle bezeichnet wurde, in Flugschriften die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen angeprangert und zur Sicherung der nationalstaatl. Eigenständigkeit Dtld. s die unmittelbare Beendigung des Krieges und eine Verständigung mit der Sowjetunion gefordert. Die zuletzt genannten 2 Gruppen wurden bis 1942/43 von der Gestapo aufgedeckt. Viele ihrer Mitglieder wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.
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Widerstand Auch der aktive polit. W. des nationalkonservativen Bürgertums und der traditionellen Führungseliten, die z.T. anfänglich das NS-Regime unterstützt hatten, verstärkte nach der Niederlage von Stalingrad und durch die Kenntnis von den NS-Gewaltverbrechen im Osten seine Umsturzbestrebungen. Von herausragender Bedeutung war dabei eine konservativ-autoritäre Gruppe um Männer der Staatspraxis wie J. Popitz und U. von Hasseil, deren zentrale Figur C. Goerdeler, der ehemalige Oberbürgermeister von Leipzig, war. Er stand nicht nur in enger Verbindung mit einzelnen Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführern wie J. Leber und W. Leuschner, sondern auch mit dem „Kreisauer Kreis", der sich seit 1940 um H J. Graf von Moltke und P. Graf Yorck von Wartenburg formiert hatte. Diese Gruppe erarbeitete Pläne zur gemeinsamen polit, und christl.-moralischen Erneuerung Dtld.s und Europas nach dem Krieg. All diesen Gruppen war bewußt, daß nur von militärischer Seite ein Umsturz möglich war. Doch alle Umsturzpläne der militärischen Opposition um Generaloberst Beck seit 1938 und auch Anschläge auf Hitlers Leben scheiterten. Weder der Versuch des Schreiners G. Elser, Hitler am 8.11.1939 im Münchner Bürgerbräukeller durch einen Sprengkörper zu töten, noch der Plan H. von Tresckows, einer der führenden oppositionellen Offiziere, seit 1942 Hitler durch Attentate zu beseitigen, gelang. Auch der Anschlag auf Hitler am 20. Juli 1944 durch C. Schenk Graf von Staufenberg, um den sich seit 1943 ein Kreis v.a. jüngerer Offiziere gesammelt hatte, schlug fehl. Graf Stauffenberg hatte engen Kontakt zu den zivilen Verschwörern um Goerdeler, Leber und von Moltke. Nach gelungenem -> Staatsstreich sollte ein auf der Wiederherstellung der „Majestät des Rechts" beruhendes Staatswesen in Dtld. errichtet werden. Außenpolitisch hofften die Verschwörer die Einheit des Dt. Reiches gegen Zugeständnisse an die Westalliierten bewahren zu können. Dieser
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Widerstandsrecht letzte Versuch, die Zukunft Dtld.s' aus eigener Kraft zu beeinflussen, besaß allerdings durch die alliierte Forderung nach bedingungsloser Kapitulation seit 1943 keinerlei polit. Grundlage. Mehr als 110 Beteiligte an der Verschwörung des 20. Juli 1944 wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Nach dem Π. Weltkrieg kam und kommt dem W. gegen den Nationalsozialismus trotz seines polit. Scheiterns für die Begründung eines neuen, entschieden antinationalsozialistischen staatsbürgerl. Bewußtseins in beiden dt. Teilstaaten und auch im wiedervereinigten Dtld. herausragende Bedeutung zu. Das Handeln der Menschen im W. wird heute als ein „Aufstand des Gewissens" unter den Bedingungen einer verbrecherischen Diktatur gewertet. Wenn auch die meisten Neuordnungspläne unterschiedlichster Herkunft nicht Ausdruck eines liberal-demokrat. Staats- und Rechtsverständnisses waren und damit auch nicht als direkte polit.geistige Vorläufer des -> Grundgesetzes der BRD verstanden werden können, so lassen sich viele Wertvorstellungen in einem christl. oder humanistischen Gesinnungsethos verorten, das als Vermächtnis auch im demokrat. —> Verfassungsstaat Herausforderung der Gegenwart bleibt. La.: W. Benz / W. H. Pehle (Hg.): Lexikon des Widerstandes, Frankfurt/M. 1994; K. J. Müller (Hg.): Der dt. Widerstand 1933-1945, Paderborn
1990; J. Schmädeke / P. Steinbach (Hg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Mün-
chen 1986; P. Steinbach / J. Tuchel (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994.
Christiane Moll Widerstandsrecht 1. Begriffsarten Das „klassische", geschichtl. überkommene W. fragt nach der Zulässigkeit passiven Ungehorsams und / oder gewaltsamer Aktionen gegen staatl. Herrschaftsgewalt, deren Begründung oder deren Ausübung den Maßstäben des übergeordneten —> Rechts widerspricht. Es ist darauf gerichtet, das alte (gute) Recht wiederherzu-
Widerstandsrecht stellen. Im Gegensatz dazu steht die Revolution, durch welche die alte Rechtsordnung umgestürzt und durch eine neue ersetzt wird. Mit der Schaffung und dem Ausbau des gewaltenteiligen —> Verfassungsstaates (—> Konstitutionalismus) mit individuellen Rechtsschutzbehelfen wurde das W. entbehrlich, da nunmehr gegen Machtmißbrauch weitgehende Rechtsmittel zur Verfügung stehen. In der Nachkriegszeit normierten die Landesverfassungen von -> Hessen (1946), -> Bremen (1947) und Berlin (1950) ein W. gegen verfassungswidrig bzw. grundrechtswidrig ausgeübte —• Staatsgewalt als Reaktion auf die Willkürherrschaft des -> Nationalsozialismus. Diese Neuerung hat mit dem klassischen W. wenig gemein, die sich zudem einer präzisen rechtl. Regelung weitgehend entzieht. Ihr Schutzzweck reduziert sich darauf, die geschaffene Verfassungsordnung in ihrem Bestand zu bewahren. Auf gleicher Linie liegt auch das im Jahre 1968 im Zuge der -> Notstandsverfassung neu in das GG eingefügte W. des Art. 20 Abs. 4. Um kein W. handelt es sich bei dem in den letzten Jahren auch in der BRD propagierten sog. —> zivilen Ungehorsam, da es sowohl an den Voraussetzungen des klassischen W.s als auch des W.s der Nachkriegsverfassungen fehlt. 2. Geschichtl. Entwicklung Aus antiken, germanischen und frühchristl. Wurzeln entstanden, entfaltete sich das W. im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit. Stand zunächst die Vorstellung im Vordergrund, daß sich der unrechtmäßig handelnde Herrscher selbst außerhalb der gottgewollten Ordnung stellte und damit sein Herrscherrecht verwirkte, so entwikkelte sich unter naturrechtl. Auffassungen (-> Naturrecht) die Lehre von der Begründung aller herrschaftlichen Gewalt durch Vertrag zwischen Herrscher und Volk, dem bei Mißbrauch der Herrschaftsbefugnisse ein W. zufiel. Sie wich seit dem 13. Jhd. mehr und mehr der ständestaatl. Vorstellung von der - » Volkssouveränität, nach der den mittelal-
Widerstandsrecht terlichen -> Ständen des Adels, der Geistlichkeit und der -> Städte nicht nur herrschaftliche Mitwirkungsrechte zustanden, sondern auch ein W. bei Mißbrauch der Herrschaftsgewalt des Herrschers oder bei Verletzung ständischer Rechte. In den Lehren der Reformation wurde das W. unterschiedlich aufgenommen. Während die calvinistischen Monarchomachen (Königsbekämpfer) die Ausübung des W.s bis zum Tyrannenmord als von Gott geboten erachteten, lehnten die Lutheraner ein Antasten der christl. Obrigkeit grds. ab und hielten nur im Einzelfall passiven Widerstand für zulässig. Mit der stärkeren Verweltlichung der staatl. —> Herrschaft und dem Vordringen des Absolutismus, der zur Einebnung der Rechtsbefugnisse der Stände und zur Ausdehnung uneingeschränkter Herrschaftsrechte des Landesherrn führte, traten die Widerstandslehren mehr und mehr zurück. In dem Ende des 18. Jhd.s aufkommenden Konstitutionalismus wurde das W. durch verfassungsrechtl. geregelte Machtkontrolle, durch die Garantie von Menschen- und —» Bürgerrechten und durch einen schrittweise ausgebauten -> Rechtsschutz abgelöst. Um die Wende vom 19. zum 20. Jhd. war die Diskussion um das W. ganz versiegt. Praktische Bedeutung erlangte das W. durch die Widerstandsbewegung gegen das nationalsozialistische Regime, insbes. durch die Verschwörung des 20. Juli 1944 (-» Widerstand gegen den Nationalsozialismus). 3. Ausgestaltung und Problematik des W.s des GG Das W. des Art. 20 Abs. 4 GG richtet sich gegen jede unrechtmäßige Beseitigung der -> freiheitlichen demokratischen Grundordnung, „wenn andere Abhilfe nicht möglich ist". Es ist dabei gleichgültig, ob die verfassungswidrigen Handlungen von staatl. Organen oder von revolutionären Kräften ausgehen, welche die Verfassung beseitigen wollen. Widerstandsberechtigt sind alle Deutschen als Einzelpersonen oder als Gruppen; Vereinigungen und —> Verbände können als
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Widerstandsrecht Korporationen widerstandsberechtigt sein. Widerstand darf indes nur geleistet werden, wenn ein auf die Beseitigung der freiheitlichen demokrat. Grundordnung gerichtetes „Unternehmen" vorliegt, was für den Bürger oft schwer erkennbar sein dürfte. Über Mittel und Formen des zu leistenden Widerstands sagt das GG nichts. Von Widerstandshandlungen kann erst dann gesprochen werden, wenn Bürger zu Maßnahmen Zuflucht nehmen, die nach der bestehenden Rechtsordnung regulär ungesetzlich sind (-» Rechtsstaat), insbes. zu Ungehorsam oder gewaltsamen Aktionen. Die Tötung von Menschen dürfte indessen nur in außergewöhnlichen Lagen gerechtfertigt sein. Als besonders wirksame Waffe der Widerstandsberechtigten könnte sich der polit. Streik erweisen, sofern breite Bevölkerungskreise sich daran beteiligen. Im ganzen zeigt sich, daß der widerstandsbereite Bürger sich vor eine Fülle unüberschaubarer und oft auswegloser Entscheidungen zu einem Zeitpunkt gestellt sieht, in dem Parlament und Regierung i.d.R. handlungsunfähig oder -unwillig sind. So verständlich es auch erscheint, dem Bürger ein W. als äußerstes Mittel der Nothilfe zum Erhalt oder zu Wiederherstellung der Grundstrukturen der demokrat. Ordnung zuzubilligen, so zweifelhaft ist es jedoch, ob dieses hochgesteckte Ziel jemals erreicht werden könnte. Die rechtsstaatl. —> Demokratie beruht auf dem Konsens, daß allein eine allgemein als unverbrüchlich angesehene Grundordnung die offene und freie polit. Auseinandersetzung davor bewahren kann, in Gewalttätigkeit auszuarten und letztlich in einen Bürgerkrieg umzuschlagen. Und solange dieser Konsens fortbesteht, wird es eine ernst zu nehmende Widerstandslage kaum geben. Geht er indessen verloren, mit der Folge, daß die Grundstrukturen der demokrat. Ordnung zu Bastionen im Kampf gegen die zu Feinden abgestempelten Gegner umgedeutet und mißbraucht werden, vermag die Ausübung des W.s nichts auszurichten. Im Gegenteil
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Wiener Kongreß erweist sich in dieser Lage das W. nicht als Mittel zur Rettung, sondern unvermeidlich als noch größere Bedrohung der demokrat. Ordnung: Es wird gleichsam zum Steigbügel für den Ritt in den Bürgerkrieg. Insofern ist das im GG normierte W. kein taugliches Mittel zur Bewahrung der demokrat. Grundordnung. Lit: J. Isensee: Das legalisierte Widerstandsrecht, Bad Homburg 1969; K. Kröger: Widerstandsrecht und demokrat. Verfassung, Tübingen 1971; StL V., Sp. 989«; K. Wohendorff: Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 1916 (Nachdruck: Aalen 21968).
Klaus Kröger Wiedervereinigung -» Deutsche Einheit Wiener Kongreß Der W.K. (1814/15) ist jene Versammlung der europ. Mächte, aus der, nach der militärischen Niederwerfung des napoleonischen Empire, eine neue Ordnung der Staaten, ein Hegemonialsystem der 5 Mächte England, Rußland, Öst., Preuß. und Frankreich hervorging. Er hat zugleich für die Staatenwelt des alten —• Deutschen Reiches (bis 1806) eine neue Verfassungsordnung (-> Deutscher Bund) geschaffen. Das Vertragswerk, das aus den Verhandlungen hervorging, beendete eine Epoche der Kriege und eröffnete eine länger andauernde Periode des -> Friedens. Andererseits setzte sich Metternich, der Hauptkonstrukteur des W.K. mit dem vermittelnden Prinzips der -» Legitimität sowie einer vormodern-ständischen Gesellschaftsordnung nicht durch. Der W.K. hat Territorien neu geordnet und Verfassungsverhältnisse reguliert. Im Westen Europas entstanden, erweitert um das ehemals habsburgische Belgien, die Vereinigten Niederlande, in Italien entstand ein vergrößertes Königreich Piemont-Sardinien. Rußland trat mit der Erwerbung von „Kongreßpolen" einen weiteren Schritt nach Europa hinein, während Öst. und Preuß. ihre Besitzstände konsolidierten.
Willensbildung
Willensbildung
Öst. tauschte Salzburg und Oberitalien gegen den Außenposten Belgien. Preuß. dehnte sich durch den Erwerb des Rheingebiets und der Saar nach Westen aus. Der W.K. favorisierte das Verfassungssytem der -> konstitutionellen Monarchie: Machtteilung zwischen fürstlicher Gewalt und —> Volksvertretung. Dabei schuf die frz. -> Charte Constitutionnelle das Muster, welches nachfolgend zum Exportprodukt wurde. Freilich hielten sich weder Rußland noch öst. noch Preuß. an die Vorgaben, die sie selbst mit geschaffen hatten. Für das Territorium des alten Reiches kreierte der W.K. einen Zusammenschluß souveräner Staaten. Öst. und Preuß. verwandelten ihn 1819 in ein gemeinsames Protektorat (—> s.a. Konstitutionalismus). Lit.: Κ. Griewank: Der Wiener Kongreß und die europ. Restauration 1814/15, Leipzig 21954; H.
v. Srbik: Metternich, der Staatsmann und der Mensch, 3 Bde., München 1925-54.
Hartwig Brandt Willensbildung, europäische Begriff In Westeuropa hat sich neben den nationalen polit. Systemen eine weitere, supranationale Politikebene etabliert: die —» Europäische Union. Die Mitgliedstaaten der EU haben im Lauf der europ. Integration wichtige Kompetenzen an die EU abgetreten. Dabei haben sich neue Strukturen der polit. W. herauskristallisiert, die von einer engen Verflechtung der nationalen Politik- und Entscheidungszentren mit der europ. Ebene gekennzeichnet sind. Man kann in diesem Zusammenhang von europ. W. sprechen. Die europ. Ebene Das zentrale Organ der W. auf europ. Ebene ist der —• Rat der EU, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten oder den jeweiligen nationalen Fachministem zusammensetzt. Er trifft alle grundlegenden und weitreichenden Entscheidungen. Vor allem erläßt er i.d.R. die Rechtsakte der EU. Die -> Europäische Kommission wird als Motor der Integration bezeichnet. Sie entwickelt Ideen und Initiativen, die
sie dem Rat zur Entscheidung und Umsetzung vorlegt. Eine noch ambivalente Rolle im Institutionengefüge der EU spielt das - » Europäische Parlament. Zwar hat es weniger Kompetenzen als ein klassisches nationales —» Parlament. Der Gesetzgeber in der EU beispielsweise ist nicht das EP, sondern der Rat. Seine Befugnisse sind aber durch die letzten Revisionen der europ. Verträge erheblich erweitert worden. Abgesehen davon geht der polit. Einfluß des Parlaments deutlich über das hinaus, was ihm seine rechtl. Befugnisse an sich zugestehen. Die zentralen Akteure der W. auf europ. Ebene sind damit genannt. Eine Rolle spielen aber auch noch andere Organe der EU - der —> Wirtschafts- und Sozialausschuß, der —> Ausschuß der Regionen und der —> Europäische Gerichtshof - sowie eine nicht mehr zu überblickende Anzahl von Lobbyisten, die sich in Brüssel angesiedelt haben. An der europ. W. sind darüber hinaus weitere Organisationen außerhalb der EU beteiligt: Der —> Europarat, die —» KSZE / OSZE und die -> OECD. Zwischen ihnen und der EU bestehen Beziehungen und Wechselwirkungen, die ebenfalls die polit. W. in Europa beeinflussen. Die Verflechtung mit der nationalen Ebene Charakteristisch für die europ. W. ist die enge Verflechtung des europ. Politikprozesses mit der nationalen Politik. Im - » Rat der EU - einem europ. Organ sitzen die nationalen —> Minister der Mitgliedstaaten, die von nationalen Parlamenten kontrolliert werden. Die Mitglieder der Kommission werden von den Mitgliedstaaten vorgeschlagen und nach Zustimmung des EP ernannt. Das EP schließlich besteht aus —> Abgeordneten, die nicht nur Mitglied einer - » Partei, sondern gleichzeitig Bürger eines nationalen Staates sind. Ihre Anbindung an die nationale Politik wird durch die Modalitäten ihrer Wahl verstärkt: Die Abgeordneten werden von nationalen Parteien zur Wahl aufgestellt und in Europawahlen gewählt, die von nationalen, nicht europ. Kandidatenlisten geprägt sind. Auch im
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Willensbildung Bereich der Rechtssetzung bestehen Verflechtungen und Wechselwirkungen: Europ. Organe schaffen das europ. Recht, die Ausführung des —> Europäischen Gemeinschaftsrechts ist dann aber i.d.R. Aufgabe der einzelnen Mitgliedstaaten. Die Ursache für die Verflechtungen liegt im Mechanismus der europ. Integration begründet: Souveräne nationale Staaten schließen sich enger zusammen und transferieren einen Teil ihrer nationalen —» Souveränität auf gemeinsame, supranationale Institutionen. Die EU erwächst also in einem sukzessiven Prozeß aus ihren Mitgliedstaaten. Die —> Politikverflechtungen sind deshalb gleichzeitig Voraussetzung, Produkt und später Hindernis dieses Integrationsprozesses. Probleme: Transparenz, Effizienz, Demokratie Die europ. W. muß die nationalen, nicht selten entgegengesetzten Interessen aller 15 Mitgliedstaaten in einem polit. Prozeß integrieren. Das hat zu einer vernetzten, hochkomplexen Struktur der europ. W. mit spezifischen Problemen geführt. Der W.sprozeß ist wenig transparent. Die Abläufe der polit. Prozesse und die Einflußnahmen privater Lobbyisten sind von außen kaum einsehbar. Die EU weist nicht das Maß an Transparenz auf, das in modernen —> Demokratien als notwendig angesehen wird. Auch die Effizienz des W.sprozesses ist nicht optimal. Die schiere Anzahl der beteiligten Akteure und komplizierte Beteiligungsund Abstimmungsverfahren zwischen den —> Institutionen und den verschiedenen Politikebenen fuhren zu Zeit- und Reibungsverlusten und verhindern nicht selten gute Ergebnisse ganz. Von besonderer Bedeutung ist das Demokratieproblem, mit dem die europ. W. belastet ist. Trotz seiner unmittelbaren demokrat. Legitimation ist das EP - das wurde bereits erwähnt - nicht das zentrale Gesetzgebungsorgan der EU. Daraus läßt sich aber nicht - wie es manchmal geschieht - folgern, die EU sei insg. undemokratisch. Denn immerhin ist die EU auch kein Staat, für sie müssen deshalb
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Willensbildung andere Demokratiemaßstäbe gelten. Alle Entscheidungen, die am Ende eines polit. Prozesses auf europ. Ebene stehen, sind demokrat. legitimiert, entweder unmittelbar oder mittelbar. Entscheidungen des direkt gewählten EP sind unmittelbar demokrat. legitimiert. Rechtsakte, die der Rat erläßt, sind immerhin mittelbar demokrat. legitimiert. Denn die im Rat sitzenden nationalen Minister sind von ihren jeweiligen nationalen Parlamenten gewählt und werden von ihnen kontrolliert. Die mittelbare demokrat. —> Legitimation der EU durch die nationalen Parlamente ist eine Übergangslösung, die dem bisherigen Stand der europ. Integration entspricht und noch ausreicht. Das -> Bundesverfassungsgericht hat in seiner Maastricht-Entscheidung aber zu Recht festgestellt, daß das EP gestärkt werden muß, wenn die europ. Integration weiter vertieft werden soll. Eine Stärkung des Europaparlaments setzt voraus, daß die Kompetenzen des Parlaments umfassend erweitert werden. Entscheidend ist dabei v.a., daß das EP den Ministerrat als Gesetzgeber der EU ablöst und selbst die europ. Rechtsakte verabschiedet. Eine kompetentielle Aufwertung des EP wäre notwendig, allerdings nicht ausreichend. Wie jedes Parlament muß auch das EP in eine lebendige polit. Infrastruktur eingebettet sein, um seine Aufgabe erfüllen zu können. Auf europ. Ebene existiert eine polit. Infrastruktur erst in Ansätzen. Eine europ. —> öffentliche Meinung läßt sich noch kaum feststellen. —> Europäische Parteien und —» Verbände existieren zwar, sie werden aber von ihren nationalen Pendants dominiert und können selten eigenständige, europ. Impulse entwickeln. Der Aufbau einer europ. polit. Infrastruktur ist deshalb eine wichtige Aufgabe bei der —> Demokratisierung der europ. W. Lit: Α. Bleckmann: Europarecht, Köln 6 1997; V. Neßler: Europ. Willensbildung, Schwalbach 1997.
Volker Neßler
Willensbildung, politische Willensbildung politische ist der auf die Ausbildung des Gemeinwillens hinzielende Prozeß. Dieser Prozeß der Herausbildung eines allgemeinen Willens, der damit auch für die Gesamtheit der -> Gesellschaft verpflichtend ist, umfaßt sowohl gesellschaftl. als auch polit. -> Institutionen im Rahmen eines gegebenen polit. Systems. Häufig als umgangssprachlich aus der politikwissenschaftl. Terminologie ausgeblendet, gibt es doch gute Gründe zur Beibehaltung bzw. Modifizierung des Begriffs. In ideengeschichtl. Perspektive wird zumeist auf die Begrifflichkeit von Rousseau (1712-1778) hingewiesen, dessen beide Formen des Gemeinwillens, die —> Volonté générale und die Volonté de tous, den einerseits normativen, andererseits empirischen Gehalt der p.W. umfassen sollen. Danach stelle die Volonté générale das Ziel gesellschaftl. und polit. Wollens dar, während es sich bei der volonté de tous um die jeweiligen Einzelwillen handele. Eng verknüpft mit dem so ideengeschichtl. verorteten Begriff der p.W. ist demnach das Konzept des pluralistischen -> Gemeinwohls, das sich nicht a priori, sondern grds. nur ex post feststellen läßt. Die p.W. ist demnach als der Prozeß des Ausgleichs der verschiedenen —> Interessen im Rahmen eines pluralistischen Gesellschaftssystems zu verstehen. Die prozeßhafte Dimension des Begriffs ergibt sich demnach mit Zwangsläufigkeit. Eine Erweiterung des Begriffs der p.W. um den Aspekt der Bildung der -> öffentlichen Meinung ist indes sinnvoll. Der häufig anzutreffende Einwand, bei der p.W. handele es sich allein um ein machtzentriertes, dezisionistisches „Produkt" der Ideengeschichte, wird damit entkräftet. Insoweit jedenfalls der Begriff des Öffentl. Meinungs- und Willensbildungsprozesses denjenigen der p.W. ersetzt, erhält die gesellschaftl. -> Öffentlichkeit und damit die Staatsbürger selbst eine hervorgehobene Bedeutung im Hinblick auf den polit. Prozeß. Nicht nur die -> Parteien und Interessengruppen, die - »
Wirtschaft Verwaltung und -» Parlamente, sondern insbes. die —> Medien werden damit zu einem konstitutiven Faktor dieses Prozesses. Besonders bedeutsam für den öffentl. Meinungs- und Willensbildungsprozeß ist das sog. „agenda-setting", d.h. also die Themenstruktur der öffentl. Meinung. Das —> Grundgesetz der - » Bundesrepublik Deutschland läßt im übrigen keinen Zweifel an der umfassenden Bedeutung der p.W.: In Art. 21 Abs. 1 werden zwar im besonderen die polit. Parteien genannt, die am Prozeß der p.W. mitwirken. Damit wird aber im Umkehrschluß sicher kein Exklusivrecht behauptet. Der häufig aus empiristischer Perspektive erhobene Vorwurf, daß die p.W. lediglich die Perspektive der Macht erfaße, geht dahingehend ins Leere. Bislang leidet die Diskussion um den öffentl. Meinungs- und Willensbildungsprozeß an fehlenden verbindlichen Definitionen, so daß der Begriff aus der jeweils unterschiedlichen Theorieperspektive recht beliebig verwendet wird. In Anlehnung an Siegfried Landshut scheint es jedenfalls sinnvoll, die Begriffe der -> Volkssouveränität und der öffentl. Meinung zusammenzubringen: Danach setzt der Begriff der Volkssouveränität das Volk als eine einheitliche Instanz voraus, deren Einheitlichkeit in ihrem Willen bestehe. Jene sei die Voraussetzung der in sich eindeutigen Volonté générale des Volkes als einer Gesamtheit, die sich durch einen sich seiner selbst bewußten Willen konstituiere. Diesem voluntatitiven Aspekt steht die öffentl. Meinung als diskursive Gegenfolie gegenüber. Im Wettstreit der verschiedenen gesellschaftl. Meinungen konkretisiert sich schließlich der polit. Gemeinwille. La.: O.W. Gabriel /E. Holtmann (Hg.): Handbuch polit. System der BRD, München 1997, S. 499ff; S. Landshut: Kritik der Soziologie und andere Schriften zur Politik, Neuwied 1969.
Winand Gellner Wirtschaft 1. W. ist ein individueller und gesellschaftl. Lebensbereich, der die Versorgung mit knappen Gütern (Waren 1029
Wirtschaft und Dienstleistungen) zum Inhalt hat. Die Knappheit ergibt sich aus dem Spannungsverhältnis der menschlichen Bedürfhisse einerseits und den beschränkten zur Befriedigung dieser Bedürfnisse bereitstehenden Mitteln andererseits. Sie ist (Mer relativ und nicht zu verwechseln mit dem Begriff der Seltenheit. Güter haben die Eigenschaft, Bedürfnisse zu befriedigen. Die wenigsten Güter sind frei verfügbar (freie Güter), meistens sind sie knapp und müssen hergestellt werden (wirtschaftl. Güter). Die Erzeugbarkeit hängt vom Vorhandensein und der Effizienz von Produktionsfaktoren ab. Wirtschaften macht demnach Wahlhandlungen erforderlich, da die Knappheit der Ressourcen zu einer Verwendungskonkurrenz der Güter um Produktionsfaktoren führt und begrenzte Einkommen zur alternativen Verwendung zwingen (Opportunitätskosten). 2. Die Güterherstellung ist ein Prozeß der Kombination von Produktionsfaktoren. Als Produktionsfaktoren gelten —> Arbeit, natürliche Ressourcen und Kapital. Unter Arbeit wird jede Art manueller oder geistiger Beschäftigung verstanden, die auf die Erzielung von Einkommen gerichtet ist. Natürliche Ressourcen sind alle natürlichen Hilfsquellen, wie Boden, Bodenschätze, Wasser, Luft u.a.m., die in der Produktion verbraucht oder benutzt werden. Als Kapital werden alle bei der Erzeugung beteiligten Produktionsmittel bezeichnet wie z.B. Werkzeuge, Maschinen und Anlagen. Das Kapital besteht also aus Gütern, die in vorangegangenen Produktionsprozessen erzeugt wurden (produzierte Produktionsmittel, Realkapital). Volkswirtschaftl. kann Kapital daher nur durch Erspamisbildung, d.h. Nicht-Konsum von Einkommensteilen gebildet werden. Das Geldkapital ist kein Produktionsfaktor in diesem Sinn, da aber Geld Verfügungsmacht über Realkapital verschafft, wird der Begriff Kapital im allgemeinen Sprachgebrauch sowohl für produzierte Produktionsmittel als auch für Geld verwendet. Eine wesentliche Rolle
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Wirtschaft spielt bei der Erzeugung von Gütern neben der Quantität auch die Qualität der Produktionsfaktoren wie Ausbildungsstand und Motivation der Arbeitskräfte, Organisation des Produktionsprozesses und techn. Stand der Produktionsanlagen. Wegen seiner Bedeutung wird das techn. Wissen häufig als eigenständiger Produktionsfaktor behandelt. 3. Die Knappheit der Ressourcen und der Güter zwingt die Menschen und die -> Gesellschaft zu wirtschaften. Darunter versteht man den rationalen Einsatz der begrenzten Mittel, um möglichst viele Bedürfnisse abzudecken. Gemäß dem Ökonom. Prinzip heißt dies, mit den gegebenen Mitteln einen möglichst großen Nutzen zu erzielen (Maximalprinzip) oder ein vorgegebenes Ziel mit einem möglichst geringen Aufwand zu erreichen (Minimalprinzip). Logisch nicht möglich ist es, mit dem geringsten Aufwand den höchsten Erfolg anzustreben, da nicht gleichzeitig nach 2 Richtungen ein Extremwert bestimmbar ist. In Befolgung des Ökonom. Prinzips kann durch eine alternative Güterverwendung das Maß der Bedürfnisbefriedigung nicht mehr erhöht werden. Vom Ökonom. Standpunkt aus gesehen wird bei alternativer Produktionsmöglichkeit eines Gutes nicht die Produktionstechnik gewählt, die den Output mit dem mengenmäßig geringsten Input erzeugt, sondern die, deren Output am wenigsten in der Herstellung kostet. 4. Die Knappheit an Gütern kann durch Arbeitsteilung gemildert werden, was v.a. auf den Erklärungsansatz von A. Smith (1723-1790) zurückgeführt wird, wonach sich die meisten Menschen nur mühselig und schlecht versorgen können, wenn jeder alles erzeugen müßte, was er für die Lebensführung braucht. Wenn jedoch in einer arbeitsteiligen W. darauf verzichtet wird, ausschließlich für den eigenen Bedarf zu produzieren, nimmt das Gütervolumen zu. Der Produktionsprozeß wird dabei in Teilverrichtungen zerlegt, die von spezialisierten Produktionsfaktoren durchgeführt werden. Die Spezialisierung er-
Wirtschaft laubt bei den Produktionsfaktoren die Konzentration auf die Arbeitsbereiche, in denen die höchste Effizienz erreicht wird. Dabei können die Kostenvorteile der Massenproduktion sowie die schnelleren LernefTekte genutzt werden. Infolge der Arbeitsteilung werden die Tauschvorgänge zunehmen und die Märkte sich ausdehnen, so daß über die höhere Produktivität der Produktionsfaktoren die Grundlage für wirtschaftl. Wohlstand gelegt wird. Die erzeugte Gütermenge ist im Ergebnis größer als bei Eigenversorgung der Menschen unter Verzicht auf Arbeitsteilung. Nachteilig sind der mit der Arbeitsteilung einhergehende größere Koordinationsaufwand sowie die negativen psychologischen und sozialen Rückwirkungen der Arbeitsteilung. Die wohlfahrtssteigemden Wirkungen der Arbeitsteilung machen sich besonders bemerkbar, wenn die Arbeitsteilung weltweit orientiert ist, d.h. international offene Märkte realisiert werden, nachgewiesen haben dies A. Smith und D. Ricardo (17721823). Arbeitsteilung erleichtert die Bildung von Interessengruppen und damit das Entstehen von „Gmppendemokratien" 5. Arbeitsteiliges Wirtschaften verstärkt die Abhängigkeit der Menschen voneinander und erfordert den Tausch von Gütern. Die Probleme unmittelbaren Tausches Gut gegen Gut (Naturaltausch) hinsichtlich Art, Quantität und Qualität der Güter führen zur Nutzung des Geldes als Tauschmittel (Geldwirtschaft). Die Tauschvorgänge werden damit wesentlich erleichtert. Neben der Tauschmittelfunktion wird Geld als Recheneinheit für die Transaktionen und als Wertaufbewahrungsmittel (Kaufkraftspeicher) benutzt. Letzteres macht die Erspamisbildung individuell sinnvoll und schafft volkswirtschaftl. die Voraussetzung für die Errichtung eines Produktionsapparates. Aus diesen Zusammenhängen leitet sich die herausragende Bedeutung des Geldwertes ab und zeigt die schwerwiegenden negativen Folgen auf, die mit dem Verlust des
Wirtschafts- und Sozialausschuß Geldwertes durch Inflation verbunden sind. 6. Die Wirtschaftsordnung (auch -system) befaßt sich mit der Frage der Lenkung arbeitsteiliger Volkswirtschaften. Werden die arbeitsteiligen Prozesse von einer zentralen Stelle aus gelenkt, spricht man von Zentralverwaltungswirtschaft; koordinieren sich die Wirtschaftssubjekte selbst über den Markt, spricht man von Marktwirtschaft (auch Verkehrswirtschaft). Beide Lenkungsformen sind Idealtypen. Praktisch verwirktlicht sind dagegen Realtypen der Wirtschaftsordnung (Soziale Marktwirtschaft), die Mischformen der Idealtypen darstellen. Sie sind durch das Verhältnis von W. und Staat bestimmt. Beschränkt sich die Staatstätigkeit auf das Anbieten kollektiver Güter und ist das Individuum darüber hinaus in seinem Handeln völlig frei, spricht man von „laissez-faire-Marktwirtschaft". Nach neoliberaler Auffassung wird dem Staat die Aufgabe zuteil, eine W.sordnung zu planen und zu realisieren, die einen von direkten staatl. Einflußnahmen freien Ablauf des W.sprozesses gewährleistet. 7. Soziale Marktwirtschaft Hier wird dem Staat zusätzlich zur neoliberalen Konzeption der W.sordnung eine Verteilungsund Stabilisierungsaufgabe übertragen. Die soziale Marktwirtschaft verbindet dabei das Prinzip der freien Märkte mit dem des sozialen Ausgleichs. Das ständige Auspendeln beider Prinzipien sorgt dafür, daß sie eine offene, dynamische W.sordnung ist. Lit.: U. Baßeier u.a.: Grundlagen und Probleme der Volkswirtschaft, Köln 1995; E. Böhler: Nationalökonomie, Zürich 1964; H. Hanusch: Einführung in die Volkswirtschaftslehre, Berlin 1994; PA. Samuelson: Volkswirtschaftslehre I, Köln 1981 \H.-J. Thieme: Wirtschaftssysteme, in: D. Bender u.a. (Hg.), Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik I, München 1995, S. Iff.; A. Woll: Allgemeine Volkswirtschaftlehre, München 1996.
Thomas Fehrmann Wirtschafts- und Sozialauschuß Der 1031
Wirtschafts- und Sozialausschuß WSA ist eine Institution mit Beratungsfunktion im Entscheidungsverfahren der —> Europäischen Union, die den Interessen des wirtschaftl. und sozialen Lebens Gehör verschaffen soll. Die Kemvorschriften für den WSA finden sich in den Art. 4 Abs. 2, 193ff. EGV. Diese allgemein gehaltenen Vorschriften werden durch eine Geschäftsordnung ergänzt, die für die Praxis wichtig ist. Der WSA besteht aus 222 Vertretern der verschiedenen Gruppen des wirtschaftl. und sozialen Lebens (Erzeuger, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Landwirte, Verbraucher, Handwerker, Freiberufler etc.). Die Zahl der Mitglieder je Mitgliedstaat ist an dessen Größe orientiert, so daß z.B. auf Dtld., Frankreich, Italien und Großbritannien 24 Mitglieder und auf Luxemburg 6 Mitglieder entfallen. Die Mitglieder werden vom Rat auf Vorschlag der Mitgliedstaaten durch einstimmigen Beschluß auf 4 Jahre ernannt. Sie sind nicht an Weisungen gebunden. Der WSA wählt aus einer Mitte den Präsidenten und das Präsidium auf 2 Jahre. Der Präsident ist dafür verantwortlich, daß die Arbeiten des Ausschusses reibungslos verlaufen. Der WSA wird von seinem Präsidenten auf Antrag des Rates oder der —> Europäischen Kommission einberufen, kann aber auch von sich aus zusammentreten. Der WSA umfaßt fachliche Gruppen, die für die Hauptsachgebiete des EGV zuständig sind. Für seine Verwaltung steht ihm ein Sekretariat mit einem Generalsekretär an der Spitze zur Verfügung. Die Aufgabe des WSA ist es, den Sachverstand seiner Mitglieder in den Willensbildungsprozeß der EU (-> Willensbildung, europäische) einzubringen. In den im EGV vorgesehenen Fällen muß der WSA vom Rat oder von der Kommission angehört werden. Solche Fälle sind z.B. Maßnahmen zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Niederlassungsfreiheit, soziale Fragen und Bildungsfragen. Er kann von Rat und Kommission gehört werden, falls sie es für zweckmäßig erachten. Der WSA gibt Stellungnahmen ab, die sein —> Plenum in
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Wirtschaftsordnung öffentl. - > Sitzung mit einfacher Mehrheit beschließt. Sie werden im Amtsblatt der EG veröffentlicht. Der WSA hat eine reine Beratungsfünktion, keine Entscheidungsbefugnis; seine Einflußmöglichkeiten sind dadurch begrenzt. Deshalb stellt sich die Frage, ob es vorteilhaft ist, daß der WSA in den ohnehin sehr komplizierten Entscheidungsverfahren der EU mitwirkt. Sven Hölscheidt Wirtschaftsministerium -> Bundesministerium für Wirtschaft Wirtschaftsordnung 1. Der Begriff ist nicht einheitlich definiert. Versuche einer Definition gehen davon aus, daß die W. Verhaltensspielräume für die an der —> Wirtschaft beteiligten Wirtschaftssubjekte (wie Produzenten, Konsumenten, Investoren, Unternehmer) vorgibt. In Abgrenzung davon zeigt die Wirtschaftsverfassung den rechtl. Ordnungsrahmen der Wirtschaft auf. Das Wirtschaftssystem beschreibt dagegen die prinzipiellen Ordnungsmechanismen des Wirtschaftens, wie die Frage der Eigentumsgestaltung als Individual- oder Gemeineigentum und den Wirtschaftstyp, wie Marktwirtschaft oder Planwirtschaft. So wird die W. bezeichnet als Gesamtheit der rechtl. Vorschriften, Koordinationsmechanismen, Zielsetzungen, Verhaltensweisen und Institutionen, die den Aufbau und Ablauf der Volkswirtschaft bestimmen. Eine rahmenbildende W. ist demnach ohne eine bestehende Wirtschaftsverfassung und eine polit. Entscheidung für ein bestimmtes Wirtschaftssystem nicht möglich. 2. Im Absolutismus erlangte die wirtschaftl. Situation des Staates und seiner Bewohner als Machtfaktor Bedeutung. Wirtschaftspolit. Ordnungsvorstellungen wurden von dem Gedanken bestimmt, daß der absolute Landesfürst alle Maßnahmen ergreifen sollte, damit „der Reichtum des Landes ... beständig vermehret werde" (v. Justi 1758). Staatl. Regelungen und Oberaufsicht, Erlaubnispflichten, Konzes-
Wirtschaftsordnung sionen, die Verleihung von Monopolen und Zunftzwang bildeten den Ordnungsrahmen des Wirtschaftslebens (Merkantilismus). Liberalere Ordnungsvorstellungen (—» Liberalismus) wurden gegen Ende des 18. Jhd.s durch den Nationalökonomen A. Smith (1723-1790) vertreten. Ihm lag die Annahme zugrunde, daß der -> Staat die Wirtschaft möglichst weitgehend dem freien Spiel der Kräfte überlassen solle. Obwohl in Dtld. bis ins 19. Jhd. hinein dem Staat als Ordnungsfaktor und Wirtschaftssubjekt von den Ökonomen (wie F. List 1789-1846) wieder eine erheblich größere Bedeutung zugemessen wurde, gewann die —> Gewerbefreiheit die Oberhand über Zunftzwänge. Dies wurde durch die aufkommende industrielle Produktionsweise gegenüber den Manufakturen begünstigt und erforderlich. Die aus der Industrialisierung entstandenen sozialen Probleme und die Neigung der Industrie zu Wettbewerbsverfalschungen durch Kartellbildung führten erneut zu einer größeren ordnungspolit. Rolle des Staates als Wettbewerbswächter und Garant sozialer Mindeststandards (Interventionalismus). Von J.S. Mill (1806-1873) wurde die Frage nach der Güterverteilung und -Umverteilung gestellt. J.M. Keynes (1883-1946) entwickelte Konzepte staatl. Einflußnahme auf Wirtschaftsprozesse mittels einer gesamtwirtschaftl. Steuerung. In Dtld. wurde nach der Reichsgründung 1871 und in den folgenden Jahrzehnten u.a. durch die Einführung der Sozialversicherung, der -> Gewerbeordnung, des Bürgerlichen Gesetzbuches und einer Kartellgesetzgebung ein umfassender ordnungspolit. und rechtl. Rahmen für die Wirtschaft geschaffen. Die Auseinandersetzung mit Konjunkturschwankungen, Wirtschaftskrisen und sozialem Elend der Industriearbeiter erbrachte im 20. Jhd. unterschiedliche Lösungsansätze mit den Gegenpolen einer möglichst staatsfreien rein marktwirtschaftl. Ordnung einerseits und dem Konzept der Zentralverwaltungs(Plan-)wirtschaft - andererseits. Letztere geht von einer umfassenden staatl. Len-
Wirtschaftsordnung kung allen Wirtschaftens aus. Privateigentum ist nur beschränkt zugelassen, alle Produktionsmittel hingegen in unterschiedlichen Formen vergesellschaftet oder verstaatlicht. In Dtld. führte dieses in der -> DDR praktizierte System dort letztlich zum wirtschaftl. Zusammenbruch. In Westdtld. setzte sich nach anfanglichen Sozialisierungstendenzen in der Nachkriegszeit die von L. Erhard, dem ersten Wirtschaftsminister der BRD, propagierte „Soziale Marktwirtschaft" durch. 3. Das —> Grundgesetz trifft keine ausdrückliche Entscheidung für eine W. oder ein Wirtschaftssystem. Jedoch lassen sich aus verschiedenen Grundrechten und anderen grundgesetzlichen Normen Wertentscheidungen entnehmen, die für die Ausgestaltung der W. maßgeblich sind. Zu nennen sind u.a. die Gewährleistung des Privateigentums einerseits und die Möglichkeit der (entschädigungspflichtigen) Enteignung oder Sozialisierung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln andererseits. Hinzu treten die —> Berufsfreiheit, Koalitionsund Vereinigungsfreiheit, die Prinzipien des —> Rechts- und -> Sozialstaats sowie die Forderung an Bund und Länder, im Rahmen ihrer Haushaltspolitik das gesamtwirtschaftl. Gleichgewicht zu beachten. Aus diesen Postulaten hat sich ein vom Gesetzgeber formuliertes und von den Wirtschaftsteilnehmem praktiziertes komplexes System gebildet, das auch die Mitwirkung der Branchen- und Spitzenverbände (-* Verbände) sowie der -» Gewerkschaften an der Gesetzgebung und an wirtschaftspolit. Entscheidungen durch Interessenvertretung beinhaltet. Hierzu gehört auch die unabhängige Rolle der —> Bundesbank in der Geld- und Zinspolitik. Insofern bilden die grundgesetzlichen und einfachgesetzlichen Normen den Rahmen, der durch wirtschaftspolit. Entscheidungen der -> Bundesregierung auszufüllen ist. Lit.: H. D. Jarass: Wirtschaftsverwaltungsrecht, Frankfiirt/Μ. 2 1984; U. Baßeier / J. Heinrich / IV. Koch: Grundlagen und Probleme der Volks-
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Wirtschaftspolitik Wirtschaft, Köln
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Wirtschaftsrecht
1995
Thomas Zielke Wirtschaftspolitik bezeichnet die zielgerichtete Einflußnahme auf das wirtschaftl. Geschehen. Handlungsträger können ein Angehöriger des nationalen polit.-administrativen Systems, eine internationale, supranationale oder eine private Institution, z.B. —> Tarifvertragsparteien, Großunternehmen sein. Im Zentrum der W. steht die Ziel-Mittel-Problematik, d.h. zunächst die Festlegung der Ziele. In der Bundesrepublik Deutschland sind dies die Ziele des „Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" von 1967, wonach -> Bund und —> Länder die Erfordernisse des gesamtwirtschaftl. Gleichgewichts zu beachten haben. Die Maßnahmen sind so zu treffen, daß sie im Rahmen der marktwirtschaftl. Ordnimg gleichzeitig zu Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftl. Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem -> Wirtschaftswachstum beitragen. Dieser Katalog wird heute ergänzt durch eine „gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung" und eine „lebenswerte Umwelt". Die eingesetzten Instrumente der W. müssen zielkonform sein, d.h., in einer funktionalen Beziehung zum Ziel stehen, und sie müssen systemkonform sein, d.h., mit der zugrundeliegenden Wirtschaftsordnung übereinstimmen. Es werden v.a. 2 Bereiche der W. unterschieden: a) Ordnungspolitik, welche die Gestaltung der Wirtschaftsordnung (Soziale Marktwirtschaft) zum Gegenstand hat, und b) Prozeßpolitik, welche die gesamtwirtschaftl. Nachfrage beeinflußt zum Zweck der Stabilisierung. Erschwert wird W. durch die Wirkungsverzögerungen, die zwischen Problemerkennung, Instrumentenauswahl (demokrat. Entscheidungsprozeß), Instrumenteneinsatz, Reaktion der Adressaten und Wirkung der gewählten Mittel liegen. Wesentliche Politikfelder sind: Wettbewerbs-, Geld-, Finanz-, Wachstums- und
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Strukturpolitik, Außenwirtschaftspolitik (Außenhandels-, Wechselkurs-, Integrationspolitik), Lohn- und -> Umweltpolitik. Lit: J. Altmann: Wirtschaftspolitik, Stuttgart 6 1995; C.-F. Laaser: Europ. Integration und nationale Wirtschaftspolitik, Tübingen 1993; B. Molitor: Wirtschaftspolitik, München 1995.
Thomas Fehrmann Wirtschaftsrecht Das W. ist der Teil der Rechtsordnung, der sich mit der —» Wirtschaft befaßt. Es normiert und steuert alle Bereiche der Wirtschaft und ist dementsprechend weitgefächert. Wie jedes Rechtsgebiet basiert auch das W. auf dem —» Grundgesetz. Das GG trifft zwar keine Entscheidung für eine konkrete —> Wirtschaftsordnung. Es enthält aber eine Reihe von Bestimmungen, die prägend ftlr die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland sind. Hervorzuheben sind dabei das Grundrecht der —> Berufsfreiheit in Art. 12 GG, die Garantie des privaten - > Eigentums in Art. 14 GG und das Recht, wirtschaftl. Vereinigungen zu bilden in Art. 9 Abs. 3 GG. In ihnen findet sich das Bild des freien, aber sozial verpflichteten Unternehmertums. Wirtschaftl. Betätigung wird längst nicht mehr nur vom dt. W. gesteuert. Von zunehmender Bedeutung ist das europ. W., welches das dt. Recht ergänzt und immer stärker auch überlagert und verdrängt. Der EGVertrag garantiert europaweit wirtschaftl. Grundfreiheiten: die Freiheit des Warenverkehrs, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit und die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Um diese Ziele zu erreichen, hat die —» Europäische Union eine Fülle von detaillierten Regelungen erlassen, die wirtschaftl. Tätigkeiten in Europa erfassen und steuern. W. gibt der Wirtschaft eine verläßliche Basis. Es stellt verbindliche Regeln zur Verfügung und hilft durch die —> Gerichte bei der Beilegung von Streitfällen. Dadurch schafft es Rechts- und Planungssicherheit, ohne die ein langfristig orientiertes wirtschaftl. Handeln nicht möglich
Wirtschaftsverfassung
Wohlfahrtspflege
wäre. Die schleppende wirtschaftl. Entwicklung in einigen osteurop. Refoimstaaten illustriert plastisch, wie schädlich Rechtsunsicherheit und Willkür für den Aufbau eines effektiven Wirtschaftssystems sind. Wirtschaftsgesetze sind dringend notwendig, ein Übermaß an gesetzlicher Regulierung ist allerdings schädlich. Zu viele Gesetze und Verordnungen ersticken alle unternehmerische Initiative und lähmen die Wirtschaft. Die Kunst des Gesetzgebers besteht also darin, immer wieder das richtige Maß an wirtschaftsrechtl. relevanten Normen auszubalancieren. La.: ¡V. Hakenberg: Grundzüge des europ. Wirtschaftsrechts, München 1994; F. Rittner: Wirtschaftsrecht, Tübingen 2 1987; R. A. Schätze (Hg.): Handels- und Wirtschaftsrecht, München "1997; J. Schwappach (Hg.): EU-Rechtshandbuch für die Wirtschaft, München 21996.
Volker Neßler Wirtschaftsverfassung ->· Wirtschaftsordnung Wirtschaftswachstum meint die in Prozenten ausgedrückte Zunahme des wirtschaftl. Leistungspotentials der Volkswirtschaft. Ziel ist die Steigerung des gesellschaftl. Wohlstandes oder des Volkseinkommens. Stetiges und angemessenes W. im Rahmen der marktwirtschaftl. -> Wirtschaftsordnung ist nach § 1 Stabilitätsgesetz (vom 8.6.1967) Aufgabe der —• Wirtschaftspolitik. Ausgehend vom -> Bruttosozialprodukt werden nominelles W. (nach gegenwärtigen Preisen), reales W. (zu konstanten Preisen in einer Basisperiode, übliche Bemessungsmethode) und Pro- Kopf-W. unterschieden. Problematisch ist, daß nur Güter oder Dienstleistungen zu Marktpreisen erfaßt werden können, öffentl. Leistungen (wie Bildungseinrichtungen, Lehrer) aber nur als Kostenfaktoren auftauchen. W.skritik setzt an der Unterscheidung zwischen quantitativem W. (der Produktionsmenge) und qualitativem W. (Qualität der Erzeugnisse, Lebensumstände) im
Hinblick auf z.B. die Umweltbedingungen an. Lit: H. Gabler: Wirtschafts-Lexikon, 4 Bde., Wiesbaden u 1997. T.
Z.
Wissenschaftliche Dienste —> Bundestagsverwaltung Wissenschaftsrat Der W. wurde 1957 durch ein Abkommen zwischen der —> Bundesregierung und den -» Länderregierungen gegründet. Das Abkommen muß alle 5 Jahre verlängert werden. Zu den Aufgaben gehören insbes. Empfehlungen zur inhaltlichen und strukturellen Entwicklung von -» Hochschulen und Wissenschaft. Darüber hinaus wurden ihm Aufgaben im Rahmen des Hochschulbauförderungsgesetzes übertragen. Der Rat gliedert sich in eine wissenschaftl. und eine Verwaltungskommission sowie in eine Vollversammlung. Die Mitglieder werden auf Vorschlag der großen Forschungsorganisationen vom —» Bundespräsidenten ernannt. J. Be. Woche im Bundestag (wib) —> Parlamentarische Informationsdienste Wohlfahrtspflege Mit dem Begriff der W. verbindet sich die öffentl. Sorge und Unterstützung für gefährdete oder notleidende Mitmenschen, deren Existenz nicht gesichert ist und / oder besondere soziale Schwierigkeiten einer Teilnahme am Leben in der ->· Gemeinschaft entgegenstehen; im weiteren auch die —» Fürsorge und Gefahrenabwehr für die Allgemeinheit. Sie unterliegt der —» Konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72 und 74 GG) und ist durch —> Landesrecht (z.B. Bay Verf. Art. 83) den -> Kommunen / —> Kommunalverbänden übertragen, die sie im Rahmen der Selbstverwaltungsaufgaben wahrnehmen. Die wichtigsten Aufgabenfelder sind die -> Sozialhilfe (BSHG), die -> Jugendhilfe (KJHG) und die Gesundheitshilfe, deren Dienste und Lei-
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Wohlfahrtspflege stungen 1. in öffentl. Verantwortung durch Komunalbehörden (Sozialamt Jugendamt - Gesundheitsamt), meist 2. in enger Koordination mit den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege erbracht werden. Lit: A. Evers / T. Olk (Hg.): Wohlfahrtspluralismus, Opladen 1996. G.K. Wohlfahrtspflege, Freie Ein Großteil der Aufgaben der W. wird in Dtld. von freien Trägern wahrgenommen, den —> Sozialverbänden, angeführt von den in der Bundesarbeitsgemeinschaft B A G F W zusammengeschlossenen anerkannten Spitzenverbänden (AWO, DCV, DW, DRK, DPWV, ZWST). Diese für Dtld. typische Form der sozialen Hilfe ist aus Nächstenliebe oder Bürgersinn motiviert, privatrechtl. organisiert, aber den Gesetzen verpflichtet und geht über die Nachbarschaftshilfe hinaus. Im Unterschied zu anderen Staaten haben die Einrichtungen, Dienste und Maßnahmen in der dt. Rechtsordnung einen mehrfach gesetzlich abgesicherten Vorrang vor öffentl. Maßnahmen, deren Träger zur Förderung und Kooperation mit den freien Trägern verpflichtet sind. Lit.: Κ.-H. Boeßenecker: Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in der BRD, Münster 1995; J. Schmid: Wohlfahrtsverbände in modernen Wohlfahrtsstaaten, Opladen 1996. G.K. Wohlfahrtsstaat Der Begriff der Wohlfahrt hat im dt. Sprachraum eine Wortgeschichte, die bis in das Mittelalter zurückreicht. In der deutsch geschriebenen polit. Literatur des 16. bis 18. Jhd.s diente dieser Begriff bereits zur Bezeichnung eines Hauptzweckes des damaligen Staates. Schon bald wird er auch auf das Armenwesen angewandt und eingeengt. Er nähert sich in dieser Verwendung dem Begriff der Wohltätigkeit und hat hier bis heute (etwa in den Begriffen Wohlfahrtsverband, —> Wohlfahrtspflege) seinen Platz. Aufgrund seiner histor. Verwendung vornehmlich in der älteren Staats-
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Wohngeld und Verwaltungslehre bezeichnet man als W. einmal den histor., aufgeklärt-absolutistischen Obrigkeitsstaat des 17. und 18. Jhd.s, der sich des Zwangs und der Bevormundung bediente, und der durch die Förderung des Untertanenglücks zugleich das Wohl des Staates mehren wollte. Wenn man heute die Bundesrepublik Deutschland oder andere Industriestaaten als W.en bezeichnet, kann es sein, daß der Begriff bedeutungsgleich mit dem Begriff - > Sozialstaat sein soll. Von konservativen oder wirtschaftsliberalen Kräften benutzt, sollen häufig Vorstellungen des fürsorgenden und bevormundenden Staates mobilisiert werden, der zur Ursache zahlreicher wirtschaftl. und sozialer Probleme geworden sei. Wissenschaftlich sinnvoll ist der Begriff W. nur, wenn m a n mit ihm einen Staat bezeichnet, der im umfassenden Sinn interventionistisch handelt und dadurch in vielfältiger Form die Lebenslage der Bevölkerung beeinflußt. Diese Einwirkung erfolgt dabei nicht nur durch die - > Sozialpolitik, sondern auch z.B. durch die - > Bildungspolitik, die Wirtschafts- bzw. Beschäftigungsförderungspolitik, die Infrastrukturpolitik, die —> Steuer- und —> Umweltpolitik. Dabei ist ein solcher Staat weder neutral noch vernünftig, noch unbegrenzt handlungsfähig. Er ist von zahlreichen nationalen und internationalen Einflußfaktoren, v.a. von sozialen Veränderungen, polit. Kräfteverhältnissen und Absichten, fiskalischen Ressourcen und Ökonom. Entwicklungen abhängig. Lit.: Α. Evers / T. Olk (Hg.): Wohlfahitspluralismus, Opladen 1996; J. Schmid: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich, Opladen 1996. Eckart
Reidegeld
Wohngeld erhalten einkommenschwächere Haushalte im sozialen und im nicht preisgebundenen Wohnungsbau, wenn die Miethöhe ihre Zahlungsfähigkeit überschreitet. Wenn die sachlichen und persönlichen Bedingungen (u.a. NichtÜberschreiten einer Einkommensschwelle bezogen auf die Zahl der Haushaltsangehöri-
ZBJI
Wohnung gen) gegeben sind, besteht ein Rechtsanspruch auf W.; auch einkommensschwächere Wohneigentümer können W. erhalten. W. ist Subjektförderung, im sozialen Wohnungsbau erfolgt als Pendant hierzu eine Objektförderung. 1994 vergaben —» Bund und -> Länder fast 6 Mrd. DM. W. wird in 3 Formen gewährt: als Tabellenwohngeld in Abhängigkeit von Familieneinkommen, Haushaltsgröße und Mietbelastung; als pauschaliertes W., vergeben in vereinfachter Form, für Empfänger von —> Sozialhilfe oder von Kriegsopferfürsorge; oder als ein übergangsweise günstiger ausgestaltetes W. für die neuen Bundesländer. Lit: R. Lenhard /R. v. Brunn: Das neue Wohngeldrecht, München 3 1993. J. Be.
Wohnung, Recht auf Da das Wohnen zu den basic needs, den vitalen, existentiellen Grundbedürfhissen des Menschen zählt, und das Gut „Wohnung" somit weder verzieht- noch ersetzbar ist, leitet sich daraus eine normativ-polit. -> Verantwortung des —» Staates für die Sicherstellung eines Mindestandards an Wohnversorgung für die Bevölkerung ab. Während dieses -> soziale Grundrecht oder ein entsprechendes —> Staatsziel auch im Verlauf der letzten Reform nicht in das GG (-> Gemeinsame Verfassungskommission) aufgenommen wurden, findet sich ein solcher Anspruch in verschiedenen —> Länderverfassungen in unterschiedlicher Verbindlichkeit (Bay. Art. 106, Beri. Art. 19, TH Art. 15, M-V Art. 17). Lit: L. Kühne-Büning / J. HB. Heuer: Grundlagen der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, Hamburg 1994. D.M.
Wortentziehung -> Rederecht Worterteilung -> Rederecht Wortmeldung —• Rederecht
Z A V —> Zentralstelle für Arbeitsvermittlung Zählwertgleichheit —> Wahlrecht ZBJI Der durch den —> EU-Vertrag neu eingeführte Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres stellt (wie die —> GASP) eine lediglich intergouvernementale, d.h. völkerrechtl. Kooperationsform dar. Demzufolge werden die Rechtshandlungen in den Bereichen der ZBJI grds. den Mitgliedstaaten selbst zugerechnet, nicht aber der EU. Die Mitgliedstaaten haben mit Art. K. 9 EUV jedoch bereits die Option festgehalten, ausgewählte Bereiche der ZBJI in den EGV und damit in das —> Europäische Gemeinschaftsrecht aufzunehmen. Dies hat bereits in 2 Fällen im Rahmen der Visapolitik stattgefunden, vgl. Art. 100c EGV. Danach bestimmt der —> Europäische Rat (auf Vorschlag der -> Europäischen Kommission und nach Anhörung des -> Europäischen Parlaments) die EUDrittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der EUMitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen. Dadurch wären beispielsweise restriktivere Listen eines Mitgliedstaates nicht zulässig. Weiterhin erläßt der Rat Maßnahmen zur einheitlichen Visagestaltung (welches zu einheitlichen Visumaufklebem für die Pässe der Antragsteller führte). Nach Art. K. 1 EUV betrachten die Mitgliedstaaten 9 Bereiche der ZBJI als Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse: Asylpolitik; Kontrolle des Überschreitens der Außengrenzen der EU; Einwanderungs- und Fremdenpolitik; Bekämpfung der Drogenabhängigkeit; Bekämpfung von Betrügereien im internationalen Maßstab; Justitielle Zusammenarbeit in Zivilsachen; Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen; Zusammenarbeit im Zollwesen; Polizeiliche Zusammenarbeit zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus, des illega-
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Zentrale für Arbeitsvermittlung
ZBJI len Drogenhandels und sonstiger schwerwiegender Formen der internationalen Kriminalität i.V.m. dem Aufbau eines unionsweiten Systems zum Austausch von Informationen im Rahmen eines europ. Polizeiamtes (-> Europol, -> Europäische Innere Sicherheit). Die Handlungsformen des Rates im Rahmen der ZBJI sind der Gemeinsame Standpunkt, welcher nicht rechtl. verbindlich ist; Gemeinsame Maßnahmen, die völkerrechtl. verbindliche Beschlüsse sind; die Ausarbeitung von (völkeiTechtl.) Übereinkommen der Mitgliedstaaten, für die u.U. die Kompetenz des -> Europäischen Gerichtshofes zur Anwendung und Auslegung vorgesehen werden kann, vgl. Art. K. 3 EUV; sowie (völkerrechtl.) Durchführungsmaßnahmen zu jenen Gemeinsamen Maßnahmen und von Übereinkommen. Letztere können auch unmittelbare Rechtswirkung und / oder Anwendungsvorrang gegenüber nationalem Recht entfalten. Hierfür sind im einzelnen beim Abschluß des jeweiligen Übereinkommens die verfassungsrechtl. Bestimmungen der Mitgliedstaaten zu beachten. Den Regelungen des -> Amsterdamer Vertrags zufolge werden Teile der ZBJI sowie des sog. Schengen-Besitzstandes (-> Schengener Abkommen) in den EGVertrag überführt. Danach soll ein schrittweiser Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erfolgen. Zugleich werden die verbleibenden. Teile der ZBJI unter dem neuen und engeren Titel „Bestimmungen über die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen" gestrafft und dabei teilw. der Jurisdiktion des EuGH unterstellt. Lit.: Κ.-P. Nanz: Der 3. Pfeiler der EU: Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik, in: integration 1992, S. 126ff.; P.C. Müller-Graf: Justiz und Inneres nach Amsterdam - die Neuerungen in erster und dritter Säule, in: integration 1997, S. 271ÍF.; R. Rupprecht: Justiz und Inneres nach dem Amsterdamer Vertrag, in: integration 1997, S. 264ff.
Dietmar O. Reich
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Zensuswahlrecht —> Drei-Klassen-Wahlrecht —> Wahlrecht -> Konstitutionalismus Zentralbank -> Bankensystem Zentralbankrat —• Deutsche Bundesbank Zentrales Fahrerlaubnisregister (ZFR) —> Kraftfahrt-Bundesamt Zentrales Fahrzeugregister (ZFZR) -> Kraftfahrt-Bundesamt Zentralstelle für Arbeitsvermittlung Die ZAV ist eine Dienststelle der -> Bundesanstalt für Arbeit mit besonderen Aufgaben im Bereich der Beratung und Vermittlung (§ 368 SGB ΠΙ). Wer professionelle Orientierungshilfe auf dem Arbeitsmarkt sucht, findet in der ZAV seit 1954 einen verläßlichen Partner mit weltweiten Verbindungen. Die besondere Stärke der ZAV ist die objektive Beratung, die durch die gesetzlich festgelegte neutrale Mittlerposition und durch wirtschaftl. Unabhängigkeit gewährleistet ist. Die ZAV bietet ein breites Dienstleistungsangebot. Das Büro Führungskräfte der Wirtschaft (BFW) konzentriert sich ausschließlich auf die Beratung und Vermittlung von Führungskräften, die für Positionen des Top-Managements bei größeren Wirtschaftsunternehmen in Frage kommen. Die Managementvermittlung National berät und vermittelt Führungskräfte der obersten Leitungsebene in kleinen und mittleren Unternehmen und unabhängig von der Unternehmensgröße Führungskräfte der oberen Leitungsebene. Weitere Schwerpunkte bilden die Beratung und Vermittlung von Chefärzten, Oberärzten und Klinikmanagern sowie von behinderten Akademikern und Führungskräften. Die internationale Arbeitsvermittlung vermittelt Fach- und Führungskräfte ins Ausland, aber auch aus dem Ausland nach Dtld. Die Aktivitäten konzentrieren sich auf die Vermittlung in
Zeugnisverweigerungsrecht
Zitierrecht
der -> Europäischen Union und anderen Industrieländern, auf die Vermittlung im Rahmen der entwicklungspolit. Zusammenarbeit, auf die Vermittlung von Führungskräften zu internationalen Organisationen und auf die Vermittlung junger Arbeitnehmer und Studenten zur sprachlichen und beruflichen Fortbildung. Die zentrale und internationale Managementund Fachvermittlung für Hotel- und Gaststättenpersonal (ZIHOGA) informiert und berät bei der Karriereplanung und vermittelt national wie international sowohl Nachwuchskräfte direkt nach dem Ausbildungsabschluß als auch Fachkräfte und Führungskräfte im oberen und obersten Management. Auftraggeber sind namhafte Hotel- und Restaurantbetriebe sowie Unternehmen der Gemeinschaftsverpflegung. Die zentrale Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung (ZBF) vermittelt und berät Schauspieler, Sänger, Regisseure, Dramaturgen, Tänzer und Fachpersonal aus künstlerisch-techn. Berufen. Sie informiert über den Arbeitsmarkt in den Bereichen Theater, Film und Femsehen. Die Zeitschrift Markt + Chance, ein überregionaler Stellen- und Bewerberanzeiger filr alle Berufe, wird von der ZAV produziert und vertrieben, der Bezug und Insertionen in Markt + Chance sind kostenlos. Hg-
Zeugnisverweigerungsrecht Ein -> Gericht kann nur dann gerecht entscheiden, wenn eine Klage mit nachvollziehbaren und ggf. vorliegenden Tatsachen sowie sonstigen Beweismitteln untermauert ist. Ein wichtiges Instrument der Beweiserhebung ist der Zeugenbeweis, so wenn ein Dritter einen Dieb beobachtet hat und darüber berichten kann. In diesem Zusammenhang ist das Z. bedeutend. Ein Zeuge braucht dann nicht u.U. vor Gericht aussagen, wenn er in persönlichen Beziehungen zum Kläger oder Angeklagten steht, d.h. wenn er Verwandter oder mit dem Beklagten / Kläger verlobt oder verheiratet ist; oder wenn er Journalist bzw. Seelsorger (Beichtgeheimnis), -> Abge-
ordneter oder Arzt ist. Durch das Recht der Aussageverweigerung soll sowohl der Zeuge als auch der Beklagte vor Nachteilen bewahrt werden. Nach § 53 I Nr. 5 und § 97 StPO können Journalisten bzgl. ihrer Informationsquellen (nicht hinsichtlich ihrer eigenen Recherchen) vom Z. Gebrauch machen. Ein Beschlagnahme von Unterlagen aus diesen Informationsquellen ist nicht gestattet. Dadurch sollen v.a. diese Informanten geschützt werden. Selbst erarbeitete Unterlagen können aber beschlagnahmt werden. Gegenüber der Steuerfahndung kann der Journalist nur bzgl. des redaktionellen Teils, nicht bzgl. des Anzeigenteils die Aussage verweigern. Insbes. der Schutz von Abgeordneten und Journalisten ist in einem demokrat. Gemeinwesen zur Sicherung der Kontrolle von Macht und -> Herrschaft bedeutsam. Die ärztliche Schweigepflicht (auch anderer Heil- und Beratungsberufe) beruht auf dem spezifischen Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Ausnahmen sind beim Aizt z.B. nur möglich, wenn er vom Patienten von der Schweigepflicht entbunden wird, wenn es ein höherwertiges Interesse zu wahren gilt (z.B. bei Seuchengefahr) oder bei Mitteilungen an die Sozialleistungsträger. Lit: H. Baier: Strafprozessuale Zeugnisverweigerungsrecht außerhalb der Strafprozeßordnung, Frankfurt/M. 1996. Jürgen Bellers
Zitierrecht Von lat. citare = vorladen. Unter Z. versteht man das Recht eines -> Parlamentes oder eines Parlamentsausschusses, die Anwesenheit eines bestimmten Regierungsmitgliedes bei einer —> Sitzung oder bei einem festgelegten Tagesordnungspunkt zu verlangen, sowie ein Regierungsmitglied ggf. auch spontan herbeizurufen. Gegenstück des Z.es ist die Pflicht des herbeizitierten Regierungsmitgliedes, vor dem herbeirufenden Gremium Rede und Antwort zu stehen. Dergestalt ist das Z. eines der parlament. Kontrollrechte. Weil einer Herbeirufung der Cha1039
Ziviler Ungehorsam
Zitierrecht rakter einer persönlichen Demütigung des Zitierten eignet, bemühen sich Regierungsmitglieder stets, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Somit wirkt das Z., wie die meisten Kontrollrechte, schon durch die Antizipation seiner Anwendung. Heute ist das Z. v.a. dadurch wichtig, daß es eine grundsätzliche Kooperationsbereitschaft der Regierungsmitglieder gegenüber dem Parlament und seinen —> Ausschüssen sicherstellt. Zum Zweck der Erlangung von —> Auskünften sind hingegen heutige Parlamente auf dieses Mittel im wesentlichen nicht mehr angewiesen, und zwar ganz im Gegensatz zu dessen Entstehungszeit, als königliche und fürstliche Regierungen Informationen vorenthielten (—> Konstitutionalismus). In Dtld. nimmt das Z. auf Bundesebene die Form an, daß der —> Bundestag und seine Ausschüsse jederzeit die Anwesenheit jedes Mitglieds der —> Bundesregierung, also nicht von parlament. oder beamteten Staatssekretären, verlangen können. Den Antrag auf Herbeirufung eines Regierungsmitglieds kann jeder —> Abgeordnete stellen; er braucht jedoch die Unterstützung von soviel anwesenden Abgeordneten, wie einer Fraktionsstärke entspricht. Außerdem bedarf es eines Beschlusses der Mehrheit der anwesenden Parlamentarier. Nach dem Grundsatz der Organtreue darf das Z. nicht mißbräuchlich, also zur Verhinderung der Erfüllung anderer Amtspflichten eines Regierungsmitgliedes, ausgeübt werden; umgekehrt darfein —• Minister solche Pflichten nicht vorschützen, um dem -> Plenum oder einem Ausschuß auszuweichen. Üblicherweise teilen Minister den —• Parlamentarischen Geschäftsführern mit, zu welchen Zeiten sie durch ihre Amtspflichten an der Teilnahme an Plenaroder Ausschußsitzungen verhindert sind; dann schließt der parlament. Komment eine Zitienmg aus. Lit.: H.-W. Meier: Zitier- und Zutrittsrecht im Parlament. Regierungssystem, Berlin 1982.
Werner J. Patzelt
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Zivildienst -> Kriegsdienstverweigerung Bundesamt für den Zivildienst Bundesbeauftragte/ -r für den Zivildienst Ziviler Ungehorsam Unter z.U. versteht man eine begründete, öffentl. und gewaltlose polit. Handlung innerhalb einer polit. -> Gemeinschaft, mit der einzelne Bürger auf gravierende Ungerechtigkeiten aufmerksam machen und an den Gerechtigkeitssinn der Mitbürger appellieren. Handlungen des z.U. sind zugleich als unkonventionell und, weil sie die kalkulierte Verletzung einer geltenden -> Rechtsnorm implizieren, als illegal, jedoch nicht als illegitim zu betrachten. Z.U. ist von einem legalisierten -> Widerstandsrecht zum Schutz der Rechtsordnung als ganzer zu unterscheiden, wie es z.B. durch Art. 20 Abs. 4 GG garantiert wird, aber auch von einer Verweigerung aus Gewissensgründen, bei der private, z.B. religiöse Oberzeugungen mit einzelnen Gesetzen kollidieren. Die generelle Gewaltlosigkeit unterscheidet z.U. kategorisch von polit. Terrorismus. Z.U. setzt voraus, daß eine Verfassung existiert, die das polit. Zusammenleben der Bürger grds. regelt. Zu seiner Legitimation werden konstitutionelle, d.h. öffentl. anerkannte prinzipielle Gründe vorgebracht: Es wird behauptet, daß durch ein konkretes Gesetz die Verfassung verletzt wird, z.B. weil es nicht alle Bürger als Gleiche behandelt. Akte des z.U. zielen weder auf eine Geringschätzung noch gar auf eine Beschädigung des demokrat. —> Rechtsstaates. Sie setzen vielmehr voraus, daß alle legalen Möglichkeiten des Protestes erfolglos ausgeschöpft worden sind und sich die Protagonisten der Ahndung ihres Gesetzesübertrittes nicht entziehen werden. Von den strafverfolgenden -> Behörden wird die Anerkennung der symbolischen und uneigennützigen Dimension des Bürger-Protestes erwartet, die u.U. von einer strafrechtl. Sanktion absehen läßt. Der z.U. geht also nicht davon aus, daß Recht immer dasjenige ist, was Gesetz ist,
Zivilgesellschaft
Zivilgeselischaft
versteht sich aber dennoch als legitimer Beitrag zu einer Auseinandersetzung um die angemessenste Konkretisierung der Prinzipien des demokrat. Rechtsstaates. Lit.: J. Habermas: Ziviler Ungehorsam -Testfall filr den demokrat Rechtsstaat, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 79ff.; H. Kleger: Der neue Ungehorsam, Frankfurt/M. 1993.
Michael Becker Zivilgesellschaft 1. Der Begriff der Z. (engl, civil society) gehört mittlerweile zum festen Repertoire des polit. Diskurses und der politiktheoretischen Analytik häufig unter Bezugnahme auf das antike Ideal einer aktiven Bürgergesellschaft. Zur Reaktivierung solcher Vorstellungen trugen die v.a. von Oppositionellen erhobenen Forderungen nach einer demokrat. Neuordnung der kommunistischen —> Diktaturen in Europa bei (z.B. Charta 77). Dabei haben sich in der Endphase dieser Diktaturen und nach ihrem Zusammenbruch die auf Mitbestimmung und Mitwirkung beim Aufbau der gesellschaftl. und polit. Strukturen gerichteten Hoffnungen (z.B. -> Runder Tisch) mit dem Begriff der Z. verbunden. Entsprechend ist ein wesentliches Charakteristikum der Z. ihre Unvereinbarkeit mit autoritären und totalitären Systemen. Eine darüber hinausgehende Begriffsklärung steht vor dem Problem, daß der Begriff aufgrund seiner Popularität mittlerweile unscharf geworden ist und als Bezeichnung ftlr verschiedene Konzepte dienen kann. 2. In einem groben Überblick über die Begriffsgeschichte lassen sich 3 Bedeutungsinhalte unterscheiden: a) Ursprünglich bezeichnete die bürgerl. -> Gesellschaft im antiken Verständnis eine bestimmte Qualität der polit. HeiTschaftssphäre: Prägend dafür war die gr. polis, die sich nach Ansicht ihrer Bürger von den barbarischen und nichtstädtischen Gemeinschaften durch ein zivilisiertes Zusammenleben unterschied, in dem die freien Bürger nach selbstbestimmten Regeln und im Einvernehmen miteinander
ihre polit. Ordnung organisierten (Isonomie). Im Röm. Reich meinte die societas civilis die bürgerl. Gemeinde als Herrschaftsverband (civitas) und umfaßte zugleich ihre Funktion fur die Sorge um die allgemeinen öffentl. Angelegenheiten (res publica). Ein solcher Sprachgebrauch hat sich bis in das 18. Jhd. hinein erhalten; noch bei Kant (1724-1804) finden sich entsprechende Formeln (z.B. „civitas sive societas civilis"). Gleichwohl verblaßte in der Neuzeit unter dem Einfluß der naturrechtl. Vertragslehren (-> Naturrecht) zunehmend die antike Vorstellung von der Gesellschaft als einer von der Natur vorgegebenen polit. Arena, b) Im Zentrum stand vielmehr die Frage - etwa bei Hobbes (1588-1679) und Locke (1632-1704) nach der Konstruktion von —> Staat und Gesellschaft und der Überwindung des vorstaatl. Naturzustandes durch vertragliche Übereinkunft der Individuen untereinander. Dabei wurden dem Staat Friedensund Ordnungsfunktionen für das Zusammenleben der Bürger zugeschrieben. Dieser theoretisch formulierte Gegensatz der bürgerl. Gesellschaft zum Staat und damit zur —» Politik hatte sich im 19. Jhd. auch im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert. Die Gesellschaft wurde als staats- und politikfreie Sozial- und Wirtschaftsordnung verstanden, in der die (bürgerl.) —> Interessen durch die Gesetze des Marktes reguliert werden sollten. Einflußreich für die begriffliche Unterscheidung zwischen Staat und bürgerl. Gesellschaft war die Philosophie Hegels (1770-1831), bei dem sich allerdings über diese einfache Dichotomie hinausgehend bereits die Einsicht in die Notwendigkeit einer wechselseitigen Durchdringung beider Sphären findet. Wie vor ihm Rousseau (1712-1778) begriff Hegel konsequenterweise den Bürger nicht nur als Bourgeois (Privatmann), sondern auch als Citoyen (polit. Bürger). Gegen die sozialen Verhältnisse einer bürgerl. Gesellschaft, die gleichbedeutend mit der Klassenherrschaft der besitzenden Bourgeoisie gegenüber den besitzlosen sog. Proletariern sei,
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Zivilgesellschaft richtete sich die Kritik von Marx (18181883) und Engels (1820-1895). c) Im neueren Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff Z. i.d.R. weder die Gleichsetzung von gesellschaftl. und polit. Sphäre noch den Gegensatz zwischen beiden, sondern eine vermittelnde Position. Diese versteht den nichtstaatl. Handlungsraum nicht als unpolit. Raum, sondern mißt den unterschiedlichen, auf freiwilliger Basis entstandenen Akteuren in dem Graubereich zwischen privater und staatl. Sphäre die Funktion einer am -> Gemeinwohl orientierten Interessenartikulation zu. 3. a) Die notwendige Bedingung einer Z. ist der Schutz vor willkürlichen staatl. Eingriffen. Diesem Zweck dienen v.a. —• Institutionen wie die rechtsstaatl. Bindung der polit. Akteure an das —> Gesetz sowie die Garantie von —» Grund- und —> Menschenrechten zur selbstbestimmten Lebensführung des Einzelnen im Rahmen der Rechtsordnung. Ein solches liberales Konzept muß nicht - wie etwa bei Locke in eine unpolit. Gesellschaft münden, sondern kann ausgehend von einer durch Konflikt und Konkurrenz gekennzeichneten Demokratietheorie die Z. als einen autonomen Bereich des Polit, im pluralistischen Interessenwettbewerb um die staatl. Macht ansehen, b) In der Sicht eines anderen - i.d.R. kommunitaristischen Ansatzes erscheinen liberale Konzepte defizitär, weil keine noch so gut begründete Verfaßtheit einer demokrat. Gesellschaft - wie es beispielsweise der heutige polit. —> Liberalismus von Rawls zum Ziel hat (well-ordered society) - ohne entsprechende gesellschaftl. Voraussetzungen funktioniert. Verwiesen wird dabei und anderen auf Montesquieu (16891755), der die Bedeutung selbstverwalteter Körperschaften als Gegengewicht zur staatl. Autorität hervorhob, und Tocqueville (1805-1859), der in den freien Assoziationen der amerik. Gesellschaft das tägliche Training demokrat. Verhaltens erblickte. Nach kommuntaristischer Auffassung stellen solche sich frei bildenden gesellschaftl. Beziehungsnetzwerke (Wal-
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Zivilgesellschaft zer) einer Z. nicht nur eine notwendige Verbindung zwischen der privaten und der staatl. Ebene dar, sondern ermöglichen zugleich durch die aktive Verständigung der teilnehmenden Bürger die Bildung von „sozialem Kapital" (Putnam), von der eine Demokratie notwendig zehren können muß, will sie Bestand haben (-> Gemeinschaft), c) Andere Konzepte, die häufig unter dem Stichwort der deliberativen —> Demokratie (z.B. Habermas) diskutiert werden und vor dem Hintergrund der Diskursethik und der kritischen Theorie entstanden sind, weisen der Z. ihren Platz außerhalb der „vermachteten" institutionellen Strukturen einer Gesellschaft zu. Nicht die etablierten Kommunikationskanäle, sondern erst die spontane Kommunikation im systemisch (noch) nicht integrierten Bereich der Lebenswelt erzeugt nach dieser Auffassung eine öffentl. Basis, auf deren Grundlage sämtliche Interessen - auch die schwer organisierbaren - Zu- und Eingang in die demokrat. Willensbildungsprozesse finden. 4. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Konzepten der Z. die Annahme, daß die Z. ein notwendiges Korrelat zum Effzienzerfordemis staatl. Institutionen darstellt und an den Leistungen eines polit. Systems mitwirkt: a) durch die Sicherung der individuellen —> Freiheit sowie der eigenen autonomen gesellschaftl. Sphäre. b) durch ihre Angebote gegenüber dem staatl. Bereich, die sich nicht nur auf programmatische Inhalte erstrecken, sondern v.a. in der Sozialisierung und Internalisierung demokrat. Tugenden (Demokratie lebt vom Mitmachen) und ggf. in der Institutionalisierung alternativer Partizipationsformen bestehen. Dazu gehört auch ihre Funktion, staatl. Institutionen dadurch zu entlasten, daß soziale Probleme vor Ort - etwa durch verstärkte kommunalpolit. Entscheidungen - oder im Bereich der Z. selbst - z.B. durch Nachbarschaftshilfe - gelöst werden. Und schließlich kann eine Z. zur Akzeptanz des gesamten polit. Systems beitragen: Indem sie nicht nur zur Partizipation an
Zivilgerichtsbarkeit
Zivilgericht der -> Willensbildung auffordert, sondern auch die sozialen Konflikte in einer pluralen Gesellschaft durch überlappende Mitgliedschaften in den Beziehungsnetzwerken überbrückt. Insofern soziale Integration als notwendige Voraussetzung und Produkt eines demokrat. Systems angesehen wird, stellt die Z. in dem Zwischenbereich zwischen Privat- und staatl. Sphäre den gesellschaftl. Kitt für die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse demokrat. Institutionen dar. Lit: J. Cohen / A. Arrato: Civil Society and Political Theory, Cambridge 1992; R. Putnam: Making Democracy Work, Princeton 1993; Geschichtl. Grundbegriffe II., S. 719ffi; U. Rödel: Vom Nutzen des Konzepts der Zivilgesellschaft, in: ZPol 1996, S. 669ff; C. Taylor: Der Begriff der „bürgert Gesellschaft" im polit. Denken des Westens, in: M. Brumlik / H. Brunkhorst (Hg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993, 117ff.; M. Walzer: Zivile Gesellschaft und amerik. Demokratie, Berlin 1992.
Oliver Lembcke Zivilgericht / -e - » Zivilgerichtsbarkeit Zivilgerichtsbarkeit —» ist die Gerichtsbarkeit für das —> Privatrecht (Zivilrecht) und damit ein Teil der -> ordentlichen Gerichtsbarkeit. Nach § 13 GVG gehören alle bürgerl. Rechtsstreitigkeiten, wie sie sich etwa aus dem - » Bürgerlichen Gesetzbuch, dem Handelsgesetzbuch (HGB -> s.a. Handelsrecht), dem Aktiengesetz (AktG), dem Gesetz betreffend die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) sowie dem Scheck- und Wechselgesetz (ScheckG, WechselG, —> s.a. Gesellschaftsrecht) u.a. ergeben, vor die ordentlichen Gerichte. Die Z. ist femer für solche Rechtsstreitigkeiten zuständig, die ihr kraft Gesetzes zugewiesen sind (z.B. gem. Art. 14 Abs. 3 S. 4, Art 15 S.2 GG für den Streit um die Höhe der Enteignungsentschädigung; gem. Art 19 Abs. 4 GG für die Verletzung von Rechten durch die öffentl. Gewalt; gem. § 217 I BauGB filr Baulandsachen). Darüber hin-
aus umfaßt die Z. auch die -> freiwillige Gerichtsbarkeit (z.B. Vormundschafts-, Nachlaßgericht, Vereins-, Handelsregister, Grundbuchamt) und Familiensachen, für welche die Familiengerichte zuständig sind (—> s.a. Familienrecht). Zivilprozeß / Zivilgericht Verfahrensgrundlage bilden die ZPO, das GVG und das ZVG. Im Zivilprozeß unterscheidet man zwischen dem Erkenntnisverfahren, das der Feststellung von Rechten dient, und dem Vollstreckungsverfahren (—> Zwangsvollstreckung), das die Durchsetzung der gerichtlich festgestellten Rechte zum Gegenstand hat. Der Zivilprozeß beginnt mit der Klage einer Partei. Für das Verfahren sind der Verhandlungsgrundsatz, die Dispositionsmaxime, der Unmittelbarkeitsgrundsatz, der Grundsatz der Mündlichkeit, der Öffentlichkeit, die Konzentrationsmaxime und das -> rechtliche Gehör maßgeblich. Eine gerichtliche Entscheidung über den mit der Klage geltend gemachten Anspruch (Sachentscheidung) kann nur ergehen, wenn die Klage zulässig ist, d.h. wenn die Prozeßvoraussetzungen (Sachurteilsvoraussetzungen) erfüllt sind. Für das erstinstanzliche Verfahren umfaßt die sachliche Zuständigkeit der Amtsgerichte (§§ 23ff, 71 GVG) vermögensrechtl. Streitigkeiten bis 10.000 DM, femer - ohne Rücksicht auf den Streitwert - Mietsachen, Kindschafts- und Unterhaltssachen sowie Familiensachen (Familiengericht als besondere Abteilung des Amtsgerichts). Die —> Landgerichte sind zuständig für alle übrigen Streitigkeiten, insbes. für alle Amtshaftungsansprüche, auch wenn der Streitwert unter 10.000 DM beträgt. Der Rechtsstreit in Handelssachen kann auf Antrag einer Partei statt vor der Zivilkammer vor der Kammer für Handelssachen geführt werden. Die örtliche Zuständigkeit richtet sich nach dem allgemeinen oder besonderen Gerichtsstand (§§ 12ff. ZPO). Allgemeiner Gerichtsstand ist der Wohnsitz des Schuldners, d.h. der Kläger muß grds. das Wohnsitzgericht des beklagten Schuldners anrufen. Er hat eben-
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Zivilgerichtsbarkeit falls die Möglichkeit, einen besonderen Gerichtsstand zu wählen (z.B. Erfüllungsort). Daneben gibt es auch örtliche Zuständigkeiten, die zwingend vorgeschrieben sind (ausschließlicher Gerichtsstand; z.B. für Mietstreitigkeiten ist ausschließlich das Gericht zuständig, in dessen Bezirk sich die Räume befinden). Eine Zuständigkeitsvereinbarung ist eingeschränkt möglich, i.d.R. jedoch nur zwischen Vollkaufleuten zulässig (§ 38 ZPO). Das erstinstanzliche Verfahren endet - sofern es nicht anderweitig, z.B. durch Prozeßvergleich abgeschlossen wurde - durch Urteil (§§ 300ff. ZPO). Im Falle der Unzulässigkeit der Klage ergeht ein Prozeßurteil, andernfalls ein Sachurteil. Gegen die erstinstanzlichen Urteile des Amtsgerichts und des Landgerichts kann - sofern der Beschwerdewert in vermögensrechtl. Streitigkeiten 1.500 DM übersteigt - Berufung beim Landgericht bzw. beim Oberlandesgericht eingelegt werden. Gegen Berufungsurteile der Oberlandesgerichte findet die - > Revision beim BGH statt. Familiengericht ist eine Abteilung des Amtsgerichts, die für Familiensachen (§ 23b GVG) insbes. für Ehescheidung und ihre Folgeregelungen wie Unterhalt, Versorgungsausgleich, Personensorge für Kinder u.a. zuständig ist. Die sachliche Zuständigkeit des Familiengerichts als Spezialspruchkörper ist für die in § 23b GVG genannten Familiensachen ausschließlich. Das gilt auch für die sich aus § 606 ZPO, § 36 FGG ergebende örtliche Zuständigkeit. Bei jedem Amtsgericht besteht (Ausnahme § 23c GVG) kraft Gesetzes ein Familiengericht; eine Gestaltungsfreiheit durch die Geschäftsverteilung ist nicht gegeben. Grds. ist es für andere Streitigkeiten und Verfahren nicht zuständig; jedoch kann das Präsidium dem Familiengericht die Vormundschaftssachen ganz oder teilw. zusätzlich zuweisen (§ 23b Π 1 GVG), ohne das diese dadurch auch zu Familiensachen werden. Eine Erweiterung darüber hinaus ist nicht zulässig. Da die Familiensachen teilw. zivil-
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Zivilprozeßordnung prozessualer Natur und teilw. Angelegenheiten der —» freiwilligen Gerichtsbarkeit sind, hat das Familiengericht für die Erledigung der einzelnen Vorgänge das jeweils maßgebliche Verfahrensrecht anzuwenden. Im Gegensatz zum Zivilprozeß gilt in Ehe- und Kindschaftssachen anstelle der Dispositionsmaxime der Untersuchungsgrundsatz. Die Verhandlung in Familiensachen ist nicht öffentl. (§ 170 GVG). Dagegen sind Unterhaltsstreitigkeiten und Streitigkeiten bzgl. des ehelichen Güterrechts jedoch nur dann nicht öffentl., wenn sie mit einer Familiensache zusammen verhandelt werden. Eine weitere Besonderheit besteht darin, daß für Familiensachen nach § 78 Π ZPO teilw. Anwaltszwang besteht, während ansonsten ein solcher vor dem Amtsgericht nicht existiert. Unterschiede zum Zivilprozeß bestehen auch hinsichtlich des Rechtsmittelzuges. Gegen Entscheidungen ist Berufung und Beschwerde zum Oberlandesgericht (Familiensenat), hiergegen ggf. Revision zum —• Bundesgerichtshof vorgesehen (—» s.a. Rechtsmittel). Lit: O.R. Kissel: Gerichtsverfassungsgesetz, München 1994; K. Schellhammer: Zivilprozeß, Heidelberg 1992. Claudia Tiller Zivilprozeß —» Zivilprozeßordnung Zivilprozeßordnung Die ZPO regelt bundesrechtl. das Verfahren vor den Zivilgerichten in bürgerl. rechtl. Streitigkeiten ( § 1 3 GVG). Sie wird durch weitere -> Gesetze ergänzt bzw. (teilw.) verdrängt. Zu beachten sind auch die prozessualen -> Grundrechte der Art. 101, 103 GG (Anspruch auf rechtl. Gehör, den -> gesetzlichen Richter und ein faires Verfahren). Geregelt werden das Erkenntnisverfahren, in dem über einen streitigen Anspruch entschieden wird, und das nachfolgende -> Zwangsvollstreckungsverfahren zur Durchsetzung des zuerkannten Anspruches. Die ZPO wurde 1877 als eines der 3 kaiserlichen Reichsjustizgesetze (Gerichtsverfassungsgesetz, ZPO,
Zivilrecht Strafprozeßordnung) erlassen, die selbst heute noch - wenngleich nach vielfacher Änderung - gültig sind. Sie haben Gerichtsaufbau und gerichtliche Verfahren vereinheitlicht und die zuvor durch unterschiedliches prozessuales Gewohnheitsrecht der Einzelstaaten (gemeines Prozeßrecht) bestehende Rechtszersplitterung beendet. Lit: F. Baur / G. Walter: Einführung in das Recht der BRD, München 61992, § 8; O. Jauering: Zivilprozeßrecht, München 241993. T.L.
Zivilrecht -> Privatrecht Zivilschutz Der Z. hat die Aufgabe, mit nichtmilitärischen Mitteln die Bevölkerung vor Kriegseinwirkungen zu schützen und deren Folgen zu beseitigen oder zu mildem. Mit dieser Aufgabe ist der Z. Teil der zivilen Verteidigung, die neben der Aufgabe des Schutzes der Zivilbevölkerung in einem Verteidigungsfall auf folgendes abzielt: Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsfunktionen, Versorgung der Bevölkerung und Streitkräfte mit notwendigen Gütern und Leistungen, Unterstützung der Streitkräfte bei der Herstellung und Aufrechterhaltung ihrer Verteidigungsfähigkeit und Operationsfreiheit. Die genannten 4 traditionellen Hauptaufgaben der zivilen Verteidigung sind auch heute - nach der Auflösung des Warschauer Paktes und der damit verbundenen sicherheitspolit. Entspannung nach wie vor von Bedeutung, wenn auch auf niedrigerem Bereitschaftsstand. Das Verbundsystem der zivilen und militärischen Sicherheitsvorsorge (Gesamtverteidigung) erhöht die Fähigkeit des —> Staates zur Abschreckung potentieller Gegner, indem die Funktionsfähigkeit der —> Regierung und der Streitkräfte sowie das Überleben der Bevölkerung sichergestellt werden. Der -> Bund hat die —> ausschließliche Gesetzgebungskompetenz über die Verteidigung einschließl. des Schutzes der Zivilbevölkerung. Die -> Länder führen die Bundesgesetze auf dem
Zivilschutz Gebiet der zivilen Verteidigung, und zwar insbes. auf dem Gebiet des Z., i.d.R. im Auftrag des Bundes aus, soweit der Bund diese Aufgaben ausnahmsweise nicht in bundeseigener —» Verwaltung durchführt. Demgegenüber sind die auf Friedenszeiten bezogenen Aufgaben des Katastrophen· und Brandschutzes sowie des Rettungsdienstes originäre Länderaufgaben, für die die 16 Bundesländer entsprechende Rechtsgrundlagen geschaffen haben. Im Bereich des vom Bund für den Verteidigungsfall vorgehaltenen Z. und des von den Ländern und —> Kommunen finanzierten Katastrophenschutzes ist von Bund und Ländern ein integriertes einheitliches Hilfeleistungssystem geschaffen worden, das sich auf die Mitwirkung folgender staatl. und privater Organisationen abstützt: Freiwillige Feuerwehren bei den Kommunen (mit über 1,1 Mio. Mitgliedern), -» Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW mit 45.000 Helfern und 17.000 Reservehelfern), Dt. Rotes Kreuz (mit ca. 300.000 Helfern) sowie -> Malteser Hilfsdienst, Johanniter-Unfall-Hilfe, -> Arbeiter-Samariter-Bund und Dt. Lebensrettungs-Gesellschaft. Die Neukonzeption des Z.es von 1995 und das Zivilschutzneuordnungsgesetz vom 25.3.1997 haben zum Ziel, der grdl. verbesserten Sicherheitslage in Mitteleuropa Rechnung zu tragen. Dies bedeutet, daß eine Reihe von Aufgaben ihre Bedeutung verloren hat und besondere Strukturen des Z.es aufgelöst werden können. Dazu gehört z.B. ein besonderes bundeseigenes Warnsystem, der Schutzraumbau, die Unterhaltung unterirdischer Hilfskrankenhäuser und der Vorhalt großer Arzneiund Sanitätsmittellager sowie der Bundesverband für den Selbstschutz. Die Reform des Z.es ist sachlich geboten und trägt zugleich den Notwendigkeiten einer konsequenten Sparpolitik Rechnung, v.a. durch Abbau überflüssiger Bürokratien. Die bisherigen 4 Zivilschutzbehörden des Bundes werden auf 2 reduziert (THW und -> Bundesamt für Zivilschutz).
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ZKA
Zollkriminalamt
Durch die angestrebte engere Verzahnung des Z.es mit dem Katastrophenschutz der Länder bleibt der Sicherheitsstandard für die —> Bürger erhalten. Der Bund konzentriert seine Maßnahmen zur Ergänzung des Katastrophenschutzes auf die besonders wichtigen Bereiche Brandschutz, ABC-Schutz, Sanitätswesen und Betreuung. Darüber hinaus hält der Bund für die Bergung das THW vor, das den Katastrophenschutz der Länder und Kommunen verstärkt. Wesentlich ist, daß die freiwilligen und ehrenamtlichen Helfer auch in Zukunft das tragende personelle Element im Zivil- und Katastrophenschutz darstellen (-> Ehrenamtliche Tätigkeit). Helfer können bei siebenjähriger Mindestverpflichtungszeit für den Dienst im Zivilund Katastrophenschutz vom -> Wehrdienst freigestellt werden (-» Kriegsdienstverweigerung). Lit: V. (Vendorf: Zivilschutztruppen im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern, Baden-Baden 1993.
Günther Wittschen ZKA —> Zollkriminalamt Zölle sind -> Steuern, die nach Maßgabe des Zolltarifs an die Warenbewegung über die Grenze vom Ausland in das Inland geknüpft werden. Z. werden als Einfuhrzölle bei der Einfuhr bestimmter von Ausland hereinkommender Waren oder als Ausfuhrzölle bei der Ausfuhr gewisser Waren erhoben. Neben den Ein- und Ausfuhrzöllen unterscheidet man autonome Z., Finanzzölle, Wert-, Gewichtsund Stückzölle, je nach Art der Erhebung. Grundlegende Vorschriften für das gesamte Zollrecht enthält das Zollverwaltungsgesetz. Hauptsächlich werden die Erfassung des Warenverkehrs, die Zollbehandlung, Verzollung, Zollfreistellung, die Zollverwaltung und die Zollstraftaten und - » Ordnungswidrigkeiten geregelt. Die Zollverwaltung ist Teil der -» Finanzverwaltung. Die —> Behörden sind Bundesbehörden. An der Spitze steht das —> Bundesministerium der Finanzen.
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Darunter sind die Oberfinanzdirektionen, örtliche Behörden der Hauptzollämter einschließl. der Zollämter, Grenzkontrollstellen, Zollkommisariate und die Zollfahnungsämter (-> s.a. Zollkriminalamt). Lit: W. Schomburg: Lexikon der dt. Steuer- und Zollgeschichte, München 1992; O. Schwarz / H. Friedl (Bearb.): Zollrecht, Losebl.-Komm., Köln 1994ff.
K.H. Zollkriminalamt Das ZKA ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des —• Bundesministeriums der Finanzen mit Sitz in Köln. Es ist Zentralstelle für den dt. Zollfahndungsdienst und zentral für das Auskunfts- und Nachrichtenwesen der Zollverwaltung zuständig. Das ZKA unterstützt die Zollfahndungsämter und andere Dienststellen der Zollverwaltung bei der Verhütung und Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten nach der Abgabenordnung und anderen Gesetzen. Die Organisationsform des ZKA besteht aus Gruppen und Fachreferaten. Seine gesetzlichen Aufgaben und Befugnisse ergeben sich aus § 5a —> Finanzverwaltungsgesetz (FVG) und den §§ 39ff. Außenwirtschaftsgesetz (AWG). Das ZKA sammelt Nachrichten und Unterlagen für den Zollfahndungsdienst, wertet sie aus und unterrichtet die Zollfahndungsämter und andere Zolldienststellen über die gewonnenen Erkenntnisse. Es ist Erfassungs- und Übermittlungsstelle für Daten in Informationssystemen der Zollverwaltung und in solchen Systemen, an welche die Zollverwaltung angeschlossen ist. Zudem wirkt das ZKA bei der Überwachung des Wirtschaftsverkehrs mit Wirtschaftsgebieten außerhalb des Geltungsbereichs dieser Gesetze mit. In Anwendung der zwischenstaatl. Vereinbarungen über die gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen verkehrt das ZKA mit ausländischen Behörden. Darüber hinaus koordiniert und lenkt das ZKA die Ermittlungen der Zollfahndungsämter und wirkt bei den Ermittlungen mit. Es kann den Zollfahndungsämtem und anderen
Zünfte
Zweikammersystem
ermittlungsführenden Dienststellen der Zollverwaltung fachliche Weisungen erteilen. In Fällen von übergeordneter Bedeutung ermittelt es auch selbständig. HgZünfte waren europaweit verbreitete, genossenschaftliche Zusammenschlüsse von Handwerkern, Gewerbetreibenden und bestimmten Berufsgruppen. Die Z. reichen histor. teilw. bis in das Altertum zurück. In Dtld. wurden sie erstmals im 11/12. Jhd. urkundlich erwähnt. Die Z. waren Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaften mit Handwerksmeistern als Vollgenossen und abhängigen Gesellen und Lehrlingen. Sie entfalteten ein vielgestaltiges Brauchtum und sorgten durch Kassen und solidarische Hilfeleistungen für die soziale Sicherung der Zunftgenossen. Meistens obrigkeitlich bestätigte oder erlassene Zunftordnungen normierten organisatorische und wirtschaftl. Fragen. Wirtschaftl. versuchten die Z. durch die Regelung der Zulassung zu gewerblicher Tätigkeit, durch die Festlegung von Betriebsgrößen, Produktionsmengen, Rohstoffbezug, Verkaufsvorschriften, Arbeitszeitbeschränkungen, Qualitätskontrollen usw. den Zunftgenossen eine gesicherte Daseinsgrundlage zu verschaffen. Dieses Bestreben der Z. wurde zunehmend als Zunftegoismus und Zunftmißbrauch kritisiert und für die zahlreichen wirtschaftl. und sozialen Verfallserscheinungen der sich auflösenden Ständegesellschaft (s.a. —» Stände) verantwortlich gemacht. Das 19. Jhd. setzte dem Zunftwesen mit der —• Gewerbefreiheit ein Ende. Lit.: R. Wisseil: Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, 6 Bde., Berlin 21971-88; J. Ziekow: Freiheit und Bindung des Gewerbes, Berlin 1992.
E.R.. Zusammenschlüsse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern —> Tarifvertragsparteien Zustimmungsgesetze
Gesetzgebung
Zweckverband Zu Z.en schließen sich —> Gemeinden und Gemeindeverbände zur Erfüllung einzelner oder mehrerer zusammenhängender Aufgaben der öffentl. -> Verwaltung zusammen (Wasser-, Abwasser-, Fürsorge-, Jugendhilfezweckverbände). Ist solch ein Zusammenschluß auf freiwilliger Basis erfolgt, spricht man von einem „Freiverband"; werden Gemeinden und —> Landkreise dagegen zur Erfüllung von Pflichtaufgaben zusammengeschlossen, von einem „Pflichtverband". In NRW gibt es daneben noch das Institut des sog. „gesetzlichen Z.es" (vgl. § 22 NWGKG). Sonderformen des Z.es bestehen etwa in Gestalt des Gemeindeaufgabenverbandes und der Verwaltungsgemeinschaft als Gemeindeverwaltungsverband. Die Rechtsgrundlagen finden sich in den einzelnen Landesgesetzen über kommunale Gemeinschafts- bzw. Zusammenarbeit. Nach ihrer Rechtsnatur sind Z.e -> Körperschaften des öffentlichen Rechts (Verbandskörperschaft), allerdings keine Gebietskörperschaften, weil es ihnen nach h.M. an der Gebietshoheit fehlt. Sie besitzen —> Dienstherrenfähigkeit und dürfen auch —> Beamte haben. Ut.: HdbKWP II, S. 406ff.; R. Stober: Kommunalrecht in der BRD, Stuttgart21992, S. 170ff.
E.H. Zwei+Vier-Vertrag —> Deutsche Einheit Zweidrittelmehrheit - » Abstimmung Zweikammersystem In zahlreichen westlichen -» Demokratien existiert neben der Volksvertretung eine zweite parlament. Versammlung. Diese oft —> Senat, —» Oberhaus, aber auch Erste Kammer genannte -> Institution ist insofern Zweite Kammer, als sie gemeinhin gegenüber der Volksvertretung als nachrangig angesehen wird. Als das Konzept der -> Volkssouveränität und schließlich die Wahlgleichheit —> Parlamente mit direkter demokrat. —> Legitimation ausstattete und sie - mindestens normativ - zum Kernstück moderner
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Zweikammersystem -> Verfassungsstaaten machte, bedurfte es eines neuen Grundkonsenses: Entweder galt es, die zuvor allein staatstragenden Stände und Klassen sowie strukturell nicht mehrheitsfähige religiöse, ethnische und soziale —> Interessen und Gruppen in das gewandelte polit. System zu integrieren; oder es mußte zwischen der radikaldemokrat. Konzeption reiner Mehrheitsherrschaft und jenen Kräften vermittelt werden, die einen neuen Absolutismus jenen des Parlaments - befürchteten; ebenfalls ein neuer Grundkonsens war zu etablieren, als sich Staaten, Kantone, Provinzen unter einem staatl. Dach zusammenfanden und dafür ihre -> Souveränität partiell aufgaben. In solchen Phasen des Übergangs und des gewandelten oder zusätzlichen Legitimationsbedarfs entstanden Zweite Kammern. Jene Vertretungen, die ihre Legitimation aus dem Repräsentationsprinzip „one person, one vote" beziehen, sind in ihrer Existenz unangefochten. Für sie gibt es eine grundlegende Kompetenzvermutimg, an sie mit ihrer so gut wie fraglos geltenden egalitär-demokrat. Basis hat man sich gewöhnt (—> Einkammersystem). Zweite Kammern hingegen repräsentieren territoriale Gliederungen, Berufsstände oder soziale Schichten, Einheiten also, mit denen nicht oder nicht mehr eine ebenbürtige Legitimationsüberzeugung verbunden wird. Oder sie beruhen auf demselben demokrat. Repräsentationsprinzip wie die Erste Kammer in ihrem jeweiligen polit. System. In beiden Fällen ergibt sich für Zweite Kammern immer wieder die Frage nach ihrer Daseinsberechtigung. Bei andersartiger oder älterer Repräsentationsbasis als die Erste erweist sich besonders in Konfliktsituationen, wie tragfahig diese Grundlagen (noch) sind; bei gleichartiger Repräsentationsbasis entstehen Zweifel an der Notwendigkeit einer - teuren und zeitaufwendigen - Verdoppelung parlament. Strukturen. In Europa zeigen die Beispiele —> Dänemarks und -> Schwedens, die ihre Zweiten Kammern 1953 bzw. 1969/70 ab-
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Zweikammersystem schafften, daß unitarische Staaten kein günstiges Umfeld für Z.e sind, sofern sie gesellschaftl. weitgehend homogen sind und keine nennenswerten Regionalisierungstendenzen aufweisen. Der Fortbestand Zweiter Kammern wird in solchen Ländern zunächst gesichert durch reformerische Anpassung der überkommenen Repräsentationsgrundlage(n) an die akzeptierte demokrat.-egalitäre Legitimation. Diese bedingt jedoch unausweichlich, daß es der Zweiten Kammer nicht gelingen kann, als „sanier pars", als „chambre de réflexion" - gleichsam über der als kurzatmig empfundenen Alltagspolitik - in der durch -» Parteien strukturierten modernen Demokratie zu agieren. Dadurch wird sie obsolet. Zweite Kammern, die Adel oder Berufsstände repräsentieren, haben ihre gesellschaftl. Basis verloren. Ohne eine solche Machtposition vermögen Zweite Kammern gegenüber den Ersten weder bei der Verteilung von -> Kompetenzen noch bei der aktuellen Erfüllung von Parlamentsfiinktionen und schon gar nicht bei Konflikten zu bestehen. Sie können ihre Existenz letztlich nur durch nachhaltige Veränderung erreichen: Entweder, wie im Seanad —» Irlands, wird die Vertretung von Berufsständen in der Besetzungspraxis parteipolitisch überlagert und fungiert die Zweite Kammer als Rekrutierungs- und Expertenhilfe anstatt als Konkurrent der Volksvertretung und kann so als das Element der Konsens- und Akzeptanzverbreiterung dienen. Oder es wird, wie im Falle des brit. —> House of Lords, nach einem gesellschaftl. Konsens über eine andere Repräsentationsgrundlage gesucht, um die gänzliche Abschaffung zu vermeiden. Von den möglichen Repräsentationsgrundlagen Zweiter Kammern scheint einzig die Vertretung territorialer Einheiten noch sicheren Bestandsschutz zu bieten. Diese ist in ganz unterschiedlichen Formen in westlichen Demokratien anzutreffen: 1. Die Zweite Kammer ist voll in den Prozeß gesamtgesellschaftl. Interessenvermittlung integriert; sie wacht über
Zweite Lesung
Zwischenruf
die Machtverteilung zwischen Bund und Gliedern, vertritt auch regionale Sonderund Minderheitsinteressen, ist aber ebenso gleichberechtigter Partner der Ersten Kammer bei der Lösung von regionsunabhängigen Konflikten. Unter den hier gegebenen Bedingungen eines föderalen Grundkonsenses und akzeptierter Verfahren der Auflösung von Blockadesituationen zwischen den Kammern ist die Direktwahl der Zweiten Kammer möglich. 2. Die Zweite Kammer existiert in einem föderalisierten Regierungssystem des Westminster-Modells, dessen Verfassungsgrundlagen und Strukturprinzipien die Etablierung eines föderalen Grundkonsenses erschweren. Bei Gleichstellung der Kammern besteht die Gefahr gegenseitiger Blockade; bei Nachrangigkeit der Zweiten können regionale Interessen in einem Maße benachteiligt werden, das Sezessionsbestrebungen hervorruft. 3. Zweite Kammern bilden die Keimzelle für Regionalkammem, deren Wahlmodus und Kompetenzumfang noch bestimmt werden muß im Kontext der Politischen Kultur, der Verfassungstraditionen und Machtkonstellationen des jeweiligen Landes. 4. Eine Sonderstellung nimmt der dt. -> Bundesrat ein. Wie Fall 1. operiert er auf einem föderalen Grundkonsens, repräsentiert Regionen lind nimmt am gesamtgesellschafU. Interessenausgleich teil. Der Modus seiner Zusammensetzung macht ihn aber gleichzeitig zur Länderkammer und zum Bundesorgan.
Zwischenfrage —• Rede Zwischenruf / -e Z.e sind in modernen —> Volksvertretungen Gewohnheitsrecht und geben häufig erst den Parlament. -> Debatten Lebendigkeit. Sie bezwecken ein Mehrfaches: Den Redner in seinem Redefluß zu unterbrechen, ihn evtl. aus dem Konzept zu bringen, ihn zu veranlassen, auf die Bemerkung einzugehen, ihn zu beschimpfen oder zu belobigen oder aber zur Erheiterung des Plenums beizutragen. Vor allem im Deutschen Bundestag hat sich das Instrument des Z.s als probates Mittel erwiesen, sich als Abgeordneter jenseits der starren Redeordnung Gehör zu verschaffen; die Praxis zeigt, daß die Parlamentarier hiervon regen Gebrauch machten. Der amtierende Präsident kann aufgrund seiner Ordnungsgewalt Z.e ahnden und ggf. den Z.er von der weiteren -> Sitzung des —> Plenums (bis höchstens 30 Tage) ausschließen. Dies tat er z.B. im November 1949, als der Oppositionsführer K. Schumacher (SPD) im Verlauf einer erregt geführten Bundestagsdebatte über das Petersberger Abkommen dem Bundeskanzler K. Adenauer (CDU) zugerufen hatte: „Kanzler der Alliierten". V. S.
Lit: J. Mastias / J. Grangé: Les secondes chambres du parlement en Europe occidentale, Paris 1987; J. Money / G. Tsebelis: By Cameralism, Cambridge 1997; IV. H. Riker: The Justification of Bicameralism, in: IPSR 1992, S. lOlff.; S. S. Schüttemeyer / R. Sturm: Wozu Zweite Kammern? Zur Repräsentation und Funktionalität Zweiter Kammern in westlichen Demokratien, in: ZParl 1992, S. 517ff.
Suzanne S. Schüttemeyer Zweite Lesung —> Gesetzgebung Zweitstimme -> Wahlrecht 1049