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German Pages 242 [244] Year 2003
Jochen Streb • Staatliche Technologiepolitik und branchenübeigreifender Wissenstransfer
Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Im Auftrag der Herausgeber des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte herausgegeben von Reinhard Spree
BEIHEFT 4
Jochen Streb Staatliche Technologiepolitik und branchenübergreifender Wissenstransfer Über die Ursachen der internationalen Innovationserfolge der deutschen Kunststoffindustrie im 20. Jahrhundert
Akademie Verlag
ISBN 3-05-003873-X
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2003 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Ingo Ostermaier, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Gedruckt in Deutschland
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
11
1
Problemstellung
1.1
Nationale Unternehmen im internationalen Standortwettbewerb. 13
1.2
Unternehmerische Innovationsprozesse
15
1.3
Staatliche Technologiepolitik
18
1.4
Technologische Kooperation
21
1.5
Schumpetersche Diversifizierung
25
2
Innovationskapital als Inputfaktor unternehmerischer Innovationsprozesse
2.1
Anwachsendes Innovationskapital
2.2
Die Planungsphase des unternehmerischen Innovationsprozesses 32
2.2.1 2.2.2
Technologische und ökonomische Unsicherheit Informationsquellen
29 32 36
2.2.2.1
Interne Informationsquellen
38
2.2.2.2
Externe Informationsquellen
41
2.2.3
Unsicherheit reduzierende Staatsnachfrage
51
2.3
Die F&E-Phase des unternehmerischen Innovationsprozesses
60
2.3.1 2.3.2
Technologische Pfade Personen- und organisationsgebundenes Wissen
60 68
2.4
Die Marketingphase des unternehmerischen Innovationsprozesses
74
2.4.1
Absatzstrategien für Innovationen und innovative Absatzstrategien
74
6 2.4.2 2.4.2.1
Der Wettlauf um neue Märkte Der Vorteil, Erster zu sein
2.4.2.2
Netzwerkexternalitäten
84
2.5
Schwindendes Innovationskapital
90
3
Staatliche Technologiepolitik als Initiator unternehmerischer Innovationsprozesse
3.1
Die Produktinnovation Synthesekautschuk: Der Aufstieg einer neuen Industriebranche in Deutschland und in den USA
3.1.1
Gemeinsamkeiten: Staatliche Zielvorgabe, technologische Grundlage und quantitative Zielerreichung 97 Unterschiede: Effizienzsteigerungen, Synthesekautschukinventionen und Kundenorientierung 101
3.1.2
79 79
97
3.2
Der Einfluß der staatlichen Nachfragepolitik auf die deutsche und die amerikanische Synthesekautschukindustrie
110
3.2.1
Entscheidung unter Unsicherheit: Die Auswahl der BUNA S Technologie auf Drängen des Staats Amerikanische Selbstkosten- versus deutsche Festpreisverträge
110 115
3.3
Der Einfluß der staatlichen Patent- und Wettbewerbspolitik auf die deutsche und die amerikanische Synthesekautschukindustrie
122
3.3.1 3.3.2
Amerikanischer Informationsaustausch versus deutscher Patentschutz Vertikale Integration in den USA versus Monopol in Deutschland
122 127
3.4
Ergebnis und Ausblick
130
4
Technologische Kooperation: Die Durchführung des branchenübergreifenden Wissenstransfers in der deutschen Kunststoffindustrie
4.1
Produktdifferenzierung durch Bündelung von Standardkunststoff und innovativem Wissen
134
Kundenbindung durch den kontinuierlichen Transfer von innovativem Wissen
138
4.3
Die Durchfuhrung des branchenübergreifenden Wissenstransfers durch die deutschen Kunststofferzeuger
147
4.3.1
Der Anfang der technologischen Kooperation
148
3.2.2
4.2
7 4.3.2 4.3.3
Die Entwicklung der technologischen Kooperation Das Ende der technologischen Kooperation
152 157
4.4
Ergebnis und Überleitung
168
5
Schumpetersche Diversifizierung: Die Nutzung des branchenübergreifenden Wissenstransfers in der deutschen Kunststoffindustrie
5.1
Die Schumpetersche Diversifizierung des KunststoffVerarbeiters Freudenberg 171
5.2
Die Nutzung des Innovationskapitals
181
5.2.1
Die Nutzung externer Informationsquellen
181
5.2.1.1
Informationsmakler
181
5.2.1.2
Vertikale technologische Kooperation mit Lieferanten
187
5.2.1.3
Horizontale Partnerschaften
196
5.2.2
Die Absatzstrategien
199
5.2.2.1
Traditionelle Kundenkontakte
199
5.2.2.2
Vertikale technologische Kooperation mit Kunden
200
5.2.2.3
Die Mimikry eines Erstanbieters
202
5.3
Der Vorteil, Zweiter zu sein
203
5.4
Die Grenzen der Schumpeterschen Diversifizierung
204
5.4.1 5.4.2
Schwindendes Innovationskapital Fehlendes Innovationskapital
204 206
5.5
Ergebnis
207
6
Schlußfolgerungen
6.1
Technologiepolitische Handlungsempfehlungen
211
6.2
Nationale Systeme des branchenübergreifenden Wissenstransfers
214
7
Anhang
217
8
Archiv- und Literaturverzeichnis
219
9
Personen- und Unternehmensverzeichnis
239
Verzeichnis der Tabellen und Schaubilder
Tabelle 1
Der Anteil ausgewählter Industriebranchen der Bundesrepublik Deutschland an den Weltexporten in den Jahren 1971 und 1980
22
Die Verteilung der akkumulierten Exporte der acht größten Kunststoffexporteure, 1952-1985
23
Anteil der staatlichen Nachfrage am Absatz der USamerikanischen Halbleiterindustrie, 1955-1976, in Prozent
52
Gesamtproduktion, Durchschnittspreis und staatliche Nachfrage in der US-amerikanischen Erzeugung integrierter Schaltkreise, 1962-1968
54
Einige unternehmensspezifische technologische Traditionen in der internationalen Chemieindustrie
62
Inländischer Verbrauch von Kautschuk und Produktion von BUNA S in Deutschland und in den USA, 1937-1945
101
Die Entwicklung der Produktionskosten einer Mengeneinheit BUNA S im deutschen Werk Schkopau (1939-1944) und im Durchschnitt der 15 amerikanischen Synthesekautschukfabriken (1943-1945, 1948/49)
103
Entwicklung der Produktionskosten einer Mengeneinheit BUNA S und der darin enthaltenen Aufwendungen für Butadien, Styrol und Fabrikationsspesen, in Schkopau (Werk Buna I), I. Vierteljahr 1941 bis I. Vierteljahr 1944
106
Preise ftir die Standardkunststoffe Polyvinylchlorid, HochdruckPolyethylen und Polystyrol in Westdeutschland, Großbritannien und in den USA, 1955 und 1960, jeweils in DM je Kilogramm
135
Tabelle 10
Die Hauptabnehmer von BUNA S im Jahr 1937
189
Tabelle 11
Jährliche Wachstumsraten der Gesamtfaktorproduktivität
217
Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4
Tabelle 5 Tabelle 6 Tabelle 7
Tabelle 8
Tabelle 9
9 Schaubild 1
Zur Unterscheidung von Humankapital, sozialem Kapital und Innovationskapital eines Unternehmens
30
Schaubild 2
Der dreistufige unternehmerische Innovationsprozeß
31
Schaubild 3
Informationsquellen in der Planungsphase von unternehmerischen Innovationsprozessen
37
Die optimale technologische Distanz in einer horizontalen Partnerschaft
45
Der technologische Pfad der Hochdrucksynthesen einschließlich wichtiger technologischer Querverbindungen
63
Die Anteile von Betamax und VHS an der kumulierten Menge aller erzeugten Videorecorder, 1975-1988
86
Entwicklung des New Yorker Marktpreises für Naturkautschuk (1942=100) und der Ausgaben der I.G. Farben für die Synthesekautschukforschung (1942=100)
111
Die Entwicklung der BUNA S Produktionsmenge in Prozent der vom Staat ex ante vorgegebenen Kapazität in der amerikanischen Synthesekautschukindustrie (1941-1945) und im deutschen Werk Schkopau (1937-1943)
121
Schaubild 9
Das Spiel des branchenübergreifenden Wissenstransfers
139
Schaubild 10
Die technologische Verwandschaft des Synthesekautschuks BUNA S und der Standardkunststoffe Polyvinychlorid, Polystyrol und Polyethylen
153
Die überdurchschnittliche Gesamtfaktorproduktivität der deutschen KunststoffVerarbeiter im nationalen Vergleich 1951-1980, in Prozentpunkten
160
Die überdurchschnittliche Gesamtfaktorproduktivität der deutschen KunststoffVerarbeiter im internationalen Vergleich, 1951 -1976, in Prozentpunkten
163
Die „Terms of Trade" zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA für Polyvinylchlorid und Polyethylen, 1968-1980, 1968=100
166
Die fiktiven „Terms of Trade" zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA für Polyvinylchlorid und Polyethylen, 1968-1980, 1968=100
167
Struktur der Produktion von Freudenberg 1900-1995
172
Schaubild 4 Schaubild 5 Schaubild 6 Schaubild 7
Schaubild 8
Schaubild 11
Schaubild 12
Schaubild 13
Schaubild 14
Schaubild 15
10 Schaubild 16
Struktur der Abnehmerindustrien von Freudenberg 1900-1995
173
Schaubild 17
Die Schumpetersche Diversifizierung von Freudenberg
175
Schaubild 18
Bayers Vulkollan Lizenzabkommen mit Kunststoffverarbeitern in Westdeutschland, im restlichen Europa und in Übersee, in Verhandlung und abgeschlossen, März 1954 und März 1955
192
Vorwort
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Jahr 2002 von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Eckart Schremmer, an dessen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte in Heidelberg ich elf Jahre die Freude hatte, mitarbeiten zu dürfen. Prof. Dr. Eckart Schremmer ist es stets auf ganz hervorragende Weise gelungen, eine Atmosphäre der wissenschaftlichen Neugierde und Offenheit zu schaffen, die seine Mitarbeiter dazu ermutigte, eigenständige und methodisch sehr unterschiedliche Forschungsprojekte zu verfolgen und diese zum gegenseitigen Vorteil sehr engagiert miteinander zu diskutieren. Der herzlichen Gastfreundschaft von Herrn Prof. Timothy Guinnane verdanke ich einen zehnmonatigen Forschungsaufenthalt an der Yale University in Connecticut, USA. In dieser nicht nur wissenschaftlich sehr anregenden Zeit sind die wesentlichen Konzepte der vorliegenden Studie entstanden. Ohne die finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft wäre der Aufenthalt in den USA nicht möglich gewesen. Für wertvolle Hinweise und konstruktive Kritik möchte ich mich sehr herzlich bei Herrn Prof. Dr. Armin Schmutzler, Sabine Streb, Peter Strenger und insbesondere Herrn Prof. Dr. Malte Faber bedanken, der mir als Zweitgutachter meiner Habilitationsschrift zahlreiche wichtige Anregungen zur Überarbeitung meiner Arbeit gab. Dank sagen möchte ich auch Frau Dr. Sibylla Schuster vom Freudenberg Firmenund Familienarchiv, Frau Kristina Winzen vom BASF-Archiv und Herrn HansHermann Pogarell vom Bayer-Archiv, die mich bei meinen Recherchen mit Rat und Tat unterstützten. Schließlich möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Reinhard Spree als dem Herausgeber der Beihefte des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte sowie bei Herrn Manfred Karras vom Akademie Verlag für die Möglichkeit bedanken, die vorliegende Arbeit dort veröffentlichen zu können.
1
Problemstellung
1.1
Nationale Unternehmen im internationalen Standortwettbewerb
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte der schrittweise Wiederaufbau einer zuvor durch zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise desintegrierten Weltwirtschaft. Im Zuge dieser erneuten „Globalisierung"1 verschärfte sich der Wettbewerb zwischen den nationalen Industriestandorten,2 deren Zahl zudem durch die aufholende Entwicklung asiatischer und - seit den 1990er Jahren - auch osteuropäischer Marktwirtschaften beständig anwächst. Im Allgemeinen meint der Begriff Standortwettbewerb, daß nationale Volkswirtschaften auf Grundlage ihrer immobilen Ressourcen, zu denen auch gestaltbare komparative Vorteile wie die Qualität des Humankapitals oder der wirtschaftspolitische Datenkranz gehören, um knappe international mobile Produktionsfaktoren rivalisieren.3 In Deutschland beschäftigt man sich in diesem Zusammenhang insbesondere mit der Frage, auf welche Weise der Abfluß von ungebundenem Kapital in andere Regionen verhindert werden kann.4 Auf diese Frage werden verschie1
2
3
4
Geoffrey Jones spricht angesichts einer „first global economy" vor dem Ersten Weltkrieg vom Entstehen einer „new global economy" nach 1945. Vgl. Jones, Geoffrey, The Historical Development of Multinationals from the 1930s to the 1980s, präsentiert in der European Historical Economics Society Summer School „Structural Change in Historical Perspective: The Role of Firms", Lissabon 21.-25. August 2000. Einige Autoren lehnen es ab, das ökonomische Konzept des Wettbewerbs auf Volkswirtschaften anzuwenden. Vgl. z.B. Krugman, Paul, Competitiveness: A Dangerous Obsession, in: Foreign Affairs 73, 1994, S. 28-44. Vgl. auch Schumacher, Dieter u.a., Technologische Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, DIW Beiträge zur Strukturforschung 155, Berlin 1995, S. 17 ff. Vgl. Siebert, Horst, On the Concept of Locational Competition, Kiel Working Papers 731, 1996, S. 2. Vgl. z.B. die verschiedenen Beiträge in Kantzenbach, Erhard und Otto G. Mayer (Hg.), Deutschland im internationalen Standortwettbewerb, Veröffentlichung des HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung - Hamburg 18, Baden-Baden 1994/95.
14 dene Antworten gegeben. Vereinfachend können ein primär auf Kostensenkungen ausgerichteter Ansatz und eine vorrangig auf Produktivitätssteigerungen abzielende Strategie unterschieden werden.5 Wirtschaftspolitisch induzierte Kostensenkungen, so der Gedanke, sollen es in Deutschland angesiedelten Industrieunternehmen ermöglichen, auf Märkten für standardisierte Massengüter mit Wettbewerbern aus anderen Industrieländern und aufstrebenden Schwellenländern zu konkurrieren. Diskutiert werden neben der Senkung von Unternehmenssteuern und der Reduzierung von Umweltstandards insbesondere die Verringerung der Lohnkosten mittels einer Reform des Sozialversicherungssystems oder durch eine Deregulierung des Arbeitsmarktes. Die Vorstellung ist, daß hierdurch verhindert werden kann, daß deutsche Unternehmen ihre Produktionsstätten in Niedriglohnländer verlagern oder Vorleistungsgüter in zunehmendem Umfang von billigeren ausländischen Lieferanten beziehen. Allerdings findet diese Politik der Standortsicherung dort ihre Grenze, wo sie ihr eigentliches Ziel verfehlt, eine möglichst hohe Wohlfahrt der einheimischen Bevölkerung zu erreichen und zu sichern. Vertritt man nämlich wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung die Auffassung, daß Vollbeschäftigung unter Beibehaltung der „deutschen Spitzenposition in der Einkommens- und Wohlstandshierarchie"6 verwirklicht werden sollte, verbleiben als das am meisten geeignete Mittel zur Standortsicherung Produktivitätssteigerungen durch „Innovationen, technischen Fortschritt und Teilhabe an der Erschließung neuer Märkte" 7 . Hierzu benötigen die Unternehmen die Befähigung, „neue Spezialprodukte und neue technische Problemlösungen in einem Maße entwickeln zu können, das es gestattet, steigende Einkommen bei hohem Beschäftigungsstand zu erzielen, obwohl nachstoßende Wettbewerber allmählich das technische Wissen und die organisatorischen Fähigkeiten erwerben, diese Produkte ebenfalls herzustellen."8 Gleichwohl mußte der Sachverständigenrat in den oben zitierten Gutachten konstatieren, daß diejenigen komparativen Vorteile der deutschen Wirtschaft, die aus innovativem technologischem Wissen resultieren, in den letzten Jahrzehnten im Schwinden begriffen sind. Diese negative Einschätzung teilen auch ausländische Beobachter: „Germany continues to make the best nineteenth-century products on earth - heavy turbines, wonderful cars, and precision tools. But it cannot compete when it comes to high technology - robots, telecommunications,... Computers, semiconductors, consumer electronics. Its attempts at manufacturing twenty-first-century products are feeble and
5 6
7 8
Vgl. Porter, Michael, The Competitive Advantage ofNations, London 1990, S. 39. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Im Standortwettbewerb. Jahresgutachten 1995/96, Stuttgart 1995, S. 173. Ebd. S. 181. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Investieren für mehr Beschäftigung. Jahresgutachten 1981/82, Stuttgart 1981, S. 191. „The aim is to support high wages and command premium prices in international markets." Porter, Advantage ofNations, S. 7.
15
its moves to seil them on world markets are blithely smashed by both Japanese and American competitors."9 Aus diesem Grund ist nach der im Jahr 1995 geäußerten Auffassung des Sachverständigenrats eine Wiederbelebung der Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft vonnöten, für die es „grundlegender Änderungen eingefahrener Verhaltensweisen bei den Akteuren der Wirtschaftspolitik, darüber hinaus auch institutioneller Innovationen"10 bedarf. Zur Konkretisierung dieser doch eher vagen Formulierungen gilt es, die Funktionsweise unternehmerischer Innovationsprozesse en détail zu untersuchen. Diese Analyse soll in der vorliegenden Arbeit am Beispiel der deutschen Kunststoffindustrie erfolgen. Die hierbei zu beantwortende zentrale Frage lautet, welche Möglichkeiten Unternehmensmanagement und staatliche Entscheidungsträger besitzen, das Innovationspotential nationaler Unternehmen zu stärken, damit diese auch von einem Standort mit vergleichsweise hohen Faktorkosten aus mobile Produktionsfaktoren anwerben und international konkurrenzfähig bleiben können. Die Vorgehensweise wird in den folgenden vier Abschnitten kurz erläutert.
1.2
Unternehmerische Innovationsprozesse
Über die Diskussion hinaus, ob Innovationen11 ohne anfangliche Verbindung zur wirtschaftlichen Sphäre ausgehend von einem unabhängigen Wissenschaftsbetrieb entwickelt werden oder doch eher als das endogene Ergebnis einer bereits zu Beginn vorhandenen latenten Marktnachfrage aufzufassen sind,12 wurden unternehmerische Innovationsprozesse von Ökonomen lange Zeit als nicht näher zu untersuchende „Black box" behandelt. Dies änderte sich jedoch spätestens im Jahr 1982 mit dem Erscheinen eines bahnbrechenden Werks von Nelson und Winter,13 in dem aufbauend auf den Arbeiten von Cyert und March14 mit der Beschreibung lokaler und kumulativer Suchpro-
9
10
" 12
13
14
Nussbaum, Bruce, The World after Oil. The Shifting Axis of Power and Wealth, New York 1983, S. 84. Sachverständigenrat, Standortwettbewerb, S. 173. Eine Neuheit wird im folgenden vom Zeitpunkt ihrer Erfindung bis zur keinesfalls zwangsläufig erfolgenden Markteinführung als Invention und danach als Innovation bezeichnet. Vgl. Schmookler, Jacob, Invention and Economic Growth, Cambridge/Mas. 1966; Walsh, Vivien, Invention and Innovation in the Chemical Industry: Demand-Pull or Discovery-Push?, in: Research Policy 13, 1984, S. 211-234. Nelson, Richard R. und Sidney G. Winter, An Evolutionary Theory of Economic Change, Cambridge/Mas., London 1982. Cyert, Richard M. und James G. March, A Behavioral Theory of the Firm, Englewood Cliffs/NJ 1963.
16
zesse wesentliche Elemente für das Verständnis von mikroökonomischen Innovationsvorgängen identifiziert wurden.15 Ausgangspunkt der Überlegungen von Nelson und Winter ist die These, daß sich das unternehmerische Bemühen um Innovationen unter großer Unsicherheit vollzieht, da sich die angestrebten neuartigen Produkte oder Verfahren definitionsgemäß stets hinter dem Horizont des bereits verfügbaren technologischen Wissens befinden. Unsicherheit bedeutet somit, daß die in einem Unternehmen organisierten Personen ex ante weder die Erfolgswahrscheinlichkeit eines bestimmten Innovationsversuchs abzuschätzen vermögen, noch dazu in der Lage sind, die exakten Eigenschaften einer gelungenen Innovation vorherzusehen.16 Modelle, die das Bemühen um Innovationen als eine Entscheidung abbilden, bei der die Menge der erreichbaren neuartigen Produkte einschließlich ihrer objektiven Eintrittswahrscheinlichkeiten den Entscheidungsträgern vor ab bekannt sind, verkennen daher den eigentlichen Charakter von unternehmerischen Innovationsvorgängen. 17 Zur Reduzierung ihrer Unsicherheit beschränken Unternehmen ihre Suchprozesse üblicherweise auf die technologische und ökonomische Nachbarschaft bereits etablierter Erzeugnisse, da nur dort der im Unternehmen schon vorhandene Erfahrungsschatz für die aktuell anliegenden Forschungs- und Entwicklungsprojekte nutzbar gemacht werden kann. Diese Beschränkung auf traditionelle Stärken führt längerfristig dazu, daß sich die Innovationsversuche eines Unternehmen entlang eines speziellen Entwicklungspfades bewegen, auf dem sich die aus den einzelnen Innovationsprozessen gewonnenen Erkenntnisse Schritt für Schritt akkumulieren.18 Weil sich durch diesen pfadabhängigen Prozeß19 auch anfänglich nur kleine Unterschiede zwischen verschiedenen Unternehmen einer Branche im Zeitverlauf erheblich vergrößern können, sind die histo-
16
17 18
19
Eine Literaturübersicht findet sich in Dosi, Giovanni, Sources, Procedures, and Microeconomic Effects of Innovation, in: Journal ofEconomic Literature 26, 1988, S. 1120-1171. Vgl. auch Rosenberg, Nathan, Exploring the Black Box. Technology, Economics and History, Cambridge 1994. Faber und Proops bezeichnen eine solche Informationslage zur besseren Unterscheidung als Unwissenheit, während der Begriff Unsicherheit auf Situationen beschränkt wird, in denen lediglich die Eintrittswahrscheinlichkeiten verschiedener präzise definierter Ereignisse unbekannt sind. Vgl. Faber, Malte und John L.R. Proops, Evolution, Time, Production and the Environment, 2.Aufl., Heidelberg u.a.O 1993, S. 114 ff. Vgl. Nelson, Winter, Evolutionary Theory, S. 201. Vgl. Dosi, Giovanni, Technological Paradigms and Technological Trajectories: A suggested Interpretation of the Determinants and Directions of Technical Change, in: Research Policy 11, 1982, S. 147-162. Vgl. auch die Ausführungen zur „Topographie" technologischer Entwicklungspfade bei Sahal, Devendra, Technological Guideposts and Innovation Avenues, in: Research Policy 14, 1985, S. 61-82. Allgemein heißt ein Prozeß pfadabhängig, wenn der Handlungsspielraum der Gegenwart durch die Handlungen in der Vergangenheit bestimmt wird. Vgl. Arthur, W. Brian, Competing Technologies, Increasing Returns, and Lock-In by Historical Events, in: Economic Journal 99, 1989, S. 116-131.
17
rischen Startbedingungen von großer Bedeutung. Da zudem das jeweils angesammelte Wissen zumindest teilweise als „Tacit knowledge"20 organisations- und personengebunden ist und daher nicht einfach von einem Unternehmen auf das andere übertragen werden kann, sind komparative Vorteile von Unternehmen auf einem superioren Entwicklungspfad von Konkurrenten mit einer inferioren Technologie kurzfristig kaum wettzumachen.21 Cantwell zeigt anhand von Patentstatistiken, daß die langfristigen technologischen Unterschiede zwischen den Unternehmen einer Branche im internationalen Vergleich eher größer sind als auf nationaler Ebene. Das Beharrungsvermögen derartiger komparativer Vorteile scheint erstaunlich groß zu sein. So hat sich beispielsweise die technologische Vorherrschaft der deutschen Chemieunternehmen schon mehr als 100 Jahre und die der britischen Textilerzeuger gar seit dem 18. Jahrhundert erhalten.22 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das oben von Nussbaum behauptete Nachhinken in neuen Schlüsseltechnologien als langfristige Bedrohung des Wirtschaftsstandorts Deutschland gedeutet wird. Neuere Untersuchungen fuhren die langfristige technologische Dominanz von bestimmten nationalen Industriebranchen auf die Überlegenheit „nationaler Innovationssysteme" zurück.23 Zu Deutschlands Aktivposten werden in diesem Zusammenhang vor allem das ausdifferenzierte öffentliche Ausbildungssystem und die Vielzahl spezialisierter Forschungseinrichtungen gezählt. Allerdings gibt es auch in hochentwickelten Volkswirtschaften ein Nebeneinander von international erfolgreichen und international wenig konkurrenzfähigen Industriezweigen. Hier soll deshalb die Auffassung vertreten werden, daß die überdurchschnittliche Innovationsfahigkeit einer nationalen Industriebranche nicht nur auf Besonderheiten der gesamten Volkswirtschaft, sondern auch auf branchenspezifischen Fähigkeiten beruht. Zur Illustration dieser Hypothese wird der unternehmerische Innovationsprozeß im Folgenden als ein Verfahren interpretiert, das interne und externe Informationsquellen zur Erzeugung von innovativem Wissen verwendet.24 Hierdurch wird implizit unter-
20
21
22
23
24
Vgl. Polanyi, Michael, Personal Knowledge, 11./12. Aufl., Chicago 1989; Senker, Jacqueline, Tacit Knowledge and Models of Innovation, in: Industrial and Corporate Change 4, 1995, S. 425447. Die Pfadabhängigkeit unternehmerischer Innovationsprozesse hilft zu erklären, warum die internationale Arbeitsteilung zwischen den entwickelten Volkswirtschaften trotz gesamtwirtschaftlicher Konvergenz weiter zunimmt. Zum empirischen Befund vgl. Dollar, David und Edward N. Wolff, Competitiveness, Convergence and International Specialization, Cambridge/Mas., London 1993. Vgl. Cantwell, John, Technological Lock-in of Large Firms since the Interwar Period, in: European Review of Economic History 4,2000, S. 147-174. Vgl. Lundvall, Bengt-Ake (Hg.), National Systems of Innovation. Towards a Theory of Innovation and Interactive Learning, London 1992; Nelson, Richard R., National Systems of Innovation: A Comparative Study, Oxford 1993. Vgl. Rothwell, Roy, Industrial Innovation: Success, Strategy, Trends, in: Mark Dodgson und Roy Rothwell (Hg.), The Handbook of Industrial Innovation, Cheltenham, Brookfield 1994, S. 33-53.
18
stellt, daß durch die quantitative Messung von F&E (Forschungs- und Entwicklungs-) Investitionen oder von F&E-Beschäftigten nur ein Teil der im Innovationsprozeß benötigten Inputfaktoren erfaßt werden kann. Zu berücksichtigen ist zusätzlich - und hierauf wird in dieser Arbeit besonderen Wert gelegt - der Faktoreinsatz in anderen informationsbeschaffenden Aktivitäten wie zum Beispiel dem Aufbau und der Pflege von Kommunikationskanälen zu anderen Unternehmen oder staatlichen Entscheidungsträgern. Eine detaillierte Erörterung dieser Auffassung erfolgt in Kapitel 2, in dem der unternehmerische Innovationsprozeß in eine Planungsphase, eine F&E-Phase sowie in eine Marketingphase untergliedert wird. Zur Verdeutlichung der Pfadabhängigkeit der unternehmerischen Innovationsprozesse wird außerdem in diesem Kapitel die Bezeichnung Innovationskapital eingeführt, welche diejenigen Fähigkeiten von Individuen und Gruppen begrifflich zusammenfaßt, die bei der technologischen Entwicklung neuartiger Produkte und Verfahren sowie bei der ökonomischen Erschließung neuer Märkte von Nutzen sind. Die sorgfältige Analyse des in einem Unternehmen vorhandenen Innovationskapitals mag nicht nur die ex post Erklärung bestimmter Innovationsprozesse ermöglichen, sondern darüber hinaus auch eine Vorhersage über die zukünftigen Innovationsmöglichkeiten bestimmter Unternehmen oder Branchen erlauben. In Kapitel 2 wird anhand von die Funktionsweise unternehmerischer Innovationsprozesse illustrierender wirtschaftshistorischer Fallbeispiele en passant auch die technologische und ökonomische Vorgeschichte des Aufstiegs der deutschen Kunststoffindustrie dargelegt. Thematische Schwerpunkte sind hierbei die industriellen Forschungslaboratorien als organisatorische Innovation der deutschen Teerfarbenindustrie (Kapitel 2.2.2.1), die vertikale technologische Kooperation zwischen den deutschen Teerfarbenproduzenten und den nachgelagerten Textilunternehmen (Kapitel 2.4.1), der transatlantische Wissenstransfer nach dem Ersten Weltkrieg (Kapitel 2.2.2.1), der horizontale Informationsaustausch zwischen Standard Oil (New Jersey) und der I.G. Farben (Kapitel 2.2.2.2), die Entfaltung des technologischen Pfads der Hochdrucksynthesen (Kapitel 2.3.1) sowie der deutsche Übergang von der Kohle- zur Petrochemie nach dem Zweiten Weltkrieg (Kapitel 2.5).
1.3
Staatliche Technologiepolitik
Immer dann, wenn nach Einschätzung der interessierten Öffentlichkeit die Innovationsfähigkeit der privaten Wirtschaft zu erlahmen droht, drängt die Frage, ob der Staat durch Forschungssubventionen oder andere direkte Eingriffe die Erfolgswahrscheinlichkeit unternehmerischer Innovationsprozesse erhöhen kann, in den Vordergrund technologiepolitischer Debatten. Folgende Überlegungen legen es nahe, diese Frage zu verneinen. Da die Entscheidungsträger bei der Auswahl bestimmter Innovationsprojekte in unvermeidbarer Unsicherheit über den einzuschlagenden Weg und das zu erreichen-
19
de Ziel handeln, verwundert es wenig, daß die Mehrzahl dieser Versuche scheitert. So führen nach Einschätzung von Pavitt etwa 10 % aller von Unternehmen begonnener F&E-Vorhaben letztendlich zu einem kommerziellen Durchbruch.25 Daher bedarf es der technologischen Kreativität möglichst vieler Akteure, damit letztendlich einige wenige nicht vorhersagbare Erfolge erzielt werden können.26 Welche der ursprünglich ausgewählten Projekte diese sein werden, weiß auch der staatliche Entscheidungsträger ex ante nicht. Begünstigt er trotzdem einzelne Vorhaben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß er auf das falsche Pferd setzt und Steuergelder vergeudet. Viel schlimmer als dieser fiskalische Verlust ist jedoch, daß das staatliche Eingreifen unbegünstigte Projekte im gleichen oder bei anderen Unternehmen entmutigen mag, so daß sich die Zahl der konkurrierenden Innovationsversuche und damit deren kumulierte Erfolgswahrscheinlichkeit verringert. Vor diesem Hintergrund wird die Meinung des Sachverständigenrats verständlich, daß es nicht die Aufgabe des Staats sein kann, die Durchführung bestimmter unternehmerischer Innovationsprozesse zu fördern oder gar zu initiieren. Stattdessen sollte sich der Staat darauf beschränken, durch eine geeignete Bildungs- und Wissenschaftspolitik innovationsfreundliche Rahmenbedingungen für die private Wirtschaft zu schaffen.27 Dieser plausiblen Einschätzung steht allerdings die wirtschaftshistorische Feststellung entgegen, daß zumindest im 20. Jahrhundert viele wichtige Innovationen ihre Entstehung der Ausübung staatlicher Nachfragemacht verdankten. Besonderer Bedeutung kam hierbei dem Militär zu, das beispielsweise die Entwicklung von Radio, Telefon, Flugzeug, Computer und Halbleiter maßgeblich beeinflußte.28 Freeman und Soete vermuten, daß sich viele Unternehmen offensichtlich nur dann an die besonders riskante Entwicklung einer bahnbrechenden Produktinnovation heranwagen, wenn sie im Erfolgsfall auf einen staatlich garantierten Absatz vertrauen können.29 Obwohl die staatlichen Entscheidungsträger eher noch weniger als die Unternehmen prognostizieren können, welches der zur Auswahl stehenden Innovationsvorhaben schließlich zum Erfolg führen wird, zieht Levin deshalb den Schluß, daß die wirtschaftshistorischen Beispiele erfolgreicher Zusammenarbeit zwischen Staat und privater Wirtschaft verallgemeinert
26
27 28
29
Vgl. Pavitt, Keith, Key Characteristics of the Large Innovating Firm, in: British Journal of Management 2, 1991, S. 41-50. Vgl. Mokyr, Joel, Institutions, Technological Creativity and Economic History, in: Alberto Quadrio Curzio, Marco Fortis und Roberto Zoboli (Hg.), Innovation, Resources and Economic Growth, Berlin u.a.O. 1994, S. 39-59; Hayek, Friedrich August von, Competition as a Discovery Procedure, in: ders. (Hg.), New Studies in Philosophy, Politics, Economics, and the History of Ideas, London 1978, S. 179-190. Vgl. Sachverständigenrat, Standortwettbewerb, S. 181. Vgl. Landes, David S., Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, Köln 1973, S. 391 ff.; Nelson, Richard R. (Hg.), Government and Technical Progress. A Cross-Industry Analysis, New York u.a.0 1982. Vgl. Freeman, Christopher und Luc Soete, The Economics of Industrial Innovation, 3. Aufl., London, Washington 1997, S. 258.
20 werden können und zu einer technologiepolitischen Rezeptur fuhren, die in allen Branchen, in denen der Staat als Nachfrager auftritt, angewandt werden kann.30 Allerdings bleibt offen, auf welche Weise die konkrete Ausgestaltung der staatlichen Beschaffungsverträge, der Forschungssubventionen und anderer technologiepolitischer Instrumente das Ausmaß der unternehmerischen Unsicherheit und somit die Erfolgswahrscheinlichkeit der Innovationsprozesse beeinflußt. Der Versuch, diese Wissenslücken mit Hilfe von einzelnen wirtschaftshistorischen Fallbeispielen zu schließen, fuhrt zum methodischen Problem der „Counterfactual hypothesis".31 Es gilt dann nämlich die Frage zu beantworten, was in dem fiktiven Fall passiert wäre, in dem unter sonst gleichen Rahmenbedingungen eine bestimmte technologiepolitische Maßnahme, die tatsächlich ergriffen wurde, nicht durchgeführt worden wäre. Durch den Vergleich der ökonomischen Entwicklung in mehreren Fallbeispielen, die sich in ihren Rahmenbedingungen möglichst ähnlich sind, aber in den zu untersuchenden Instrumentvariablen voneinander abweichen, kann dieses methodische Problem weitgehend vermieden werden. Zu fragen ist hier, ob unterschiedliche tatsächliche Entwicklungen in den betrachteten Fällen auf den Einsatz unterschiedlicher technologiepolitischer Maßnahmen zurückgeführt werden können. An letzterem Verfahren orientiert sich die Vorgehensweise in Kapitel 3, in welchem ein Vergleich der Instrumente und Ergebnisse der staatlichen Förderung der Synthesekautschukindustrie in Deutschland und in den USA vor und während des Zweiten Weltkriegs erfolgen wird. Entsprechend der technologiepolitischen Konzeption von Levin unterstützten die nationalen Regierungen beider Länder den Innovationsprozeß durch die Ausübung staatlicher Nachfragemacht. Als weitere wesentliche Gemeinsamkeit kommt hinzu, daß mit der Grundrezeptur für den Synthesekautschuk BUNA S in beiden Ländern die gleiche Basisinnovation am Anfang der weiteren Entwicklung stand. Erhebliche Unterschiede finden sich hingegen bei der detaillierten Ausgestaltung der technologiepolitischen Maßnahmen - und hinsichtlich der Resultate der unternehmerischen Innovationsprozesse. Schon hier ist ausdrücklich zu betonen, daß die zu erzielenden Ergebnisse eines Vergleichs der Entwicklung der US-amerikanischen und der deutschen Synthesekautschukindustrie vor und während des Zweiten Weltkriegs natürlich vor dem Hintergrund zweier völlig unterschiedlicher Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen zu interpretieren sind. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft in den USA standen Diktatur, Menschenrechtsverletzungen und zunehmenden planwirtschaftlichen Eingriffen des Staats in Deutschland gegenüber. Überlagert und im ökonomischen Bereich teilweise sogar wieder eingeebnet wurden diese fundamentalen Unterschiede von den in beiden Ländern vorherrschenden Bedingungen einer Kriegswirtschaft. 30
31
Vgl. Levin, Richard C., The Semiconductor Industry, in: Richard R. Nelson (Hg.), Government and Technical Progress. A Cross-Industry Analysis, New York u.a.O. 1982, S. 94. Vgl. Fogel, Robert William, The Specification Problem in Economic History, in: Journal of Economic History 27, 1967, S. 283-308.
21
Es wird sich zeigen, daß selbst unter den repressiven Rahmenbedingungen des Dritten Reichs die technologiepolitischen Eingriffe des Staats oftmals nur dann funktionierten, wenn sie die noch in der deutschen Wirtschaft vorhandenen marktwirtschaftlichen Anreizmechanismen nutzten. Nicht zuletzt dieser Befund bekräftigt meine Auffassung, daß auch ein Fallbeispiel aus einer Phase staatlich gelenkter Kriegswirtschaften wesentliche Erkenntnisse darüber ermöglichen kann, wie eine erfolgreiche Technologiepolitik für friedliche Marktwirtschaften auszugestalten ist.
1.4
Technologische Kooperation
Mit der Analyse der komparativen Stärken und Schwächen der deutschen Synthesekautschukproduktion während des Zweiten Weltkriegs wird in Kapitel 3 derjenige rote Faden aufgegriffen werden, der die wesentliche unternehmenshistorische Problemstellung dieser Arbeit zum Thema hat: In den Kapiteln 3 bis 5 wird nämlich von verschiedenen Blickwinkeln aus der Frage nachgegangen werden, auf welche Ursachen der außerordentliche technologische und wirtschaftliche Erfolg der westdeutschen Kunststoffindustrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgeführt werden kann. Insbesondere gilt es in diesem Zusammenhang zu klären, inwieweit die Entwicklung nach der Zäsur von 1945 als Weiterführung der ökonomischen Weichenstellungen der vorausgegangenen Jahrzehnte gedeutet werden muß. Insofern will diese Arbeit auch einen Beitrag zu einem von Petzina präzisierten Forschungsprogramm leisten, das nach wirtschaftlichen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Nationalsozialismus und der sich anschließenden Wiederaufbauphase fragt.32 Die deutsche Kunststoffindustrie setzt sich aus den auf Kunststoff verarbeitende Maschinen spezialisierten Unternehmen der Maschinenbauindustrie, den Kunststoff erzeugenden Unternehmen der Chemieindustrie und den KunststoffVerarbeitern zusammen. Die außerordentliche internationale Wettbewerbsfähigkeit dieses nationalen Clusters wird durch die überdurchschnittlich hohen Anteile am Weltexport belegt. Wie Tabelle 1 zeigt, belief sich der durchschnittliche Anteil der westdeutschen Volkswirtschaft an den Weltexporten im Jahr 1980 auf 9,6 %. Hingegen betrugen die entsprechenden Anteile der Hersteller von Kunststoff verarbeitenden Maschinen 35,1 %, der Kunststofferzeuger 21,7 % und der Kunststoffverarbeiter 21,5 %. Hierbei ist insbesondere bemerkenswert, daß die Kunststofferzeuger und die Hersteller von Kunststoff verarbeitenden Maschinen
Vgl. Petzina, Dietmar, Wirtschaftliche Rekonstruktion nach 1945 - Kontinuität oder Neubeginn?, in: ders. und Ronald Ruprecht (Hg.), Wendepunkt 1945? Kontinuität und Neubeginn in Deutschland und Japan nach dem 2. Weltkrieg, Bochum 1991, S. 62-74. Vgl. auch Abelshauser, Werner, Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder. Deutschlands wirtschaftliche Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg und die Folgen für die Nachkriegszeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47, 1999, S. 503-538.
22 auch im Vergleich zu ihren jeweils übergeordneten und gleichfalls international renommierten westdeutschen Industriegruppen Chemische Industrie sowie Maschinenund Fahrzeugbau, die im Jahr 1980 16,7 % respektive 16,8 % der Weltexporte leisteten, überdurchschnittliche Weltmarkterfolge erzielten. Tabelle 1
Der Anteil ausgewählter Industriebranchen der Bundesrepublik Deutschland an den Weltexporten in den Jahren 1971 und 1980a
Industriebrancheb Volkswirtschaft insgesamt Kunststoffindustrie: - Kunststofferzeuger (583) (Polymerisationsprodukte) - Hersteller von Kautschuk und Kunststoff verarbeitenden Maschinen (72842) - Kunststoffverarbeiter (893) Chemische Industrie (5) Maschinen- u. Fahrzeugbau (7) a b c
Weltexportanteile der BRD 1971 1980 11,3 % 9,6 % 25,6 %
21,7%
37,7 % c
35,1 %
19,9 % 18,7% 17,8 %
21,5% 16,7% 16,8 %
United Nations (Hg.), Yearbook of International Trade Statistics, New York, verschiedene Jahrgänge. Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Branchenklassifizierung gemäß der Standard International Trade Classification nach der zweiten Revision, 1975. Diese Zahl bezieht sich auf das Jahr 1978, in der erstmals im „Yearbook of International Trade Statistics" der deutsche Exportwert für diese Industriebranche ausgewiesen wurde.
Die Zahlen für das Jahr 1971 vermitteln ein ähnliches Bild. Auffallig ist jedoch, daß die Kunststofferzeuger in den siebziger Jahren mit einem Rückgang von 25,6 % auf 21,7 % überdurchschnittlich an Anteilen an den Weltexporten verloren haben. Offensichtlich hatte diese Industriebranche zu diesem Zeitraum den Gipfel ihrer internationalen Marktdominanz bereits überschritten. Tabelle 2, in der dargestellt wird, wie sich die von den acht größten Kunststoffexporteuren des Weltmarkts insgesamt erzielten Exporte im Zeitverlauf auf diese Erzeugerländer verteilt haben, bestätigt diesen durch Tabelle 1 vermittelten Eindruck. Insgesamt kann die in Tabelle 2 veranschaulichte Entwicklung grob in eine erste Phase von 1952 bis einschließlich 1970 und in eine zweite Phase von nach 1970 bis 1985 aufgeteilt werden. In der ersten Phase verbesserten die Gründungsmitglieder der
23
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl33 sowie Japan ihre internationale Marktposition zu Lasten von Großbritannien und den USA deutlich, deren gemeinsamer Exportanteil in dieser Periode von fast 74 % auf 23,1 % sank. Insbesondere stieg Westdeutschland ausgehend vom dritten Rang zum größten Exporteur von Kunststoffen auf. In der zweiten Phase stagnierte die Entwicklung in Westdeutschland. Zwar konnte man den ersten Rang unter den Kunststoffexporteuren verteidigen, verlor aber gleichzeitig leicht an Anteilen an den akkumulierten Exporten der acht betrachteten Produzenten. Hingegen stiegen die entsprechenden Quoten der Länder Belgien/Luxemburg, Frankreich und den Niederlanden auch in der zweiten Phase vorwiegend auf Kosten von Italien und Japan weiter an. Den US-amerikanischen Kunststofferzeugern gelang es, in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ihren langfristigen negativen Trend zu stoppen und Exportmarktanteile zurückzuerobern. Tabelle 2
Jahr
1952" 1957 1962 1967° 1970 1975 1980 1985 a b c
Die Verteilung der akkumulierten Exporte der acht größten Kunststoffexporteure, 1952-1985
Belgien/ Luxemburg" 2,5 % 1,8% 2,8 % 3,5 % 6,2 % 9,8 % 12,4% 12,2 %
Bundes- FrankGroßrepublik reich briDeutschtannien land 14,4 % 30,4 % 3,1 % 23,5 % 3,7 % 20,6 % 24,6 % 6,0 % 16,6% 27,6 % 6,6 % 10,2% 27,7 % 7,5 % 7,6 % 26,9 % 10,0% 7,3 % 25,2 % 12,1 % 7,3 % 25,2 % 12,3 % 6,4 %
Italien
2,0 % 5,6 % 11,3% 12,2% 8,7 % 9,5 % 8,8 % 8,2 %
Japan
1,2% 1,8% 5,7 % 12,4% 16,7 % 13,0% 8,2 % 10,1 %
Niederlande
3,0 % 4,6 % 5,9 % 7,4 % 10,1 % 12,8 % 11,9% 12,3 %
USA
43,3 % 38,4 % 27,1 % 20,0 % 15,5% 10,7 % 14,1 % 13,4%
1952 bis 1962 ohne Luxemburg. 1952 bis 1962 Kunststoffe in Tonnen. Hufbauer, G.C., Synthetic Materials and the Theory of International Trade, London 1966, S. 129. 1967 bis 1985 polymerisierte Kunststoffe in 1000 US-$. United Nations (Hg.), Yearbook of International Trade Statistics, New York verschiedene Jahrgänge.
Wie in den nachfolgenden Kapiteln ausführlich gezeigt werden wird, war eine wichtige Voraussetzung für die in Tabelle 2 dokumentierten Markterfolge der westdeutschen Kunststofferzeugung das frühzeitige Engagement der deutschen Chemieunternehmen Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl wurde von Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden zum 25. Juli 1952 gegründet.
24
auf dem neuen technologischen Pfad der Kunststoffe. Richtungweisend war hierbei die in Deutschland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Atmosphäre der „Ersatzstoffeuphorie", die durch die chemische Erzeugung von Düngemitteln, Sprengstoffen und Kautschuk im Ersten Weltkrieg ausgelöst wurde und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Bestreben nach Autarkie gipfelte. Frühe Basisinnovationen waren die 1913 von der BASF entwickelte Hochdrucksynthese von Ammoniak und die von den Farbwerken Höchst 1917 zur industriellen Reife gebrachte Acetylenerzeugung auf Basis von Kohle und Kalk. Die Ammoniaksynthese führte in der Düngemittel- und Sprengstoffproduktion zur Unabhängigkeit von Chilesalpeterimporten und schuf zusammen mit der nach ihrem Vorbild entwickelten Methanolsynthese (1922) die Grundlage für die Polykondensation von Harnstoff-Formaldehyd-Harzen.34 Acetylen wurde während des Ersten Weltkriegs zur Sprengstofferzeugung und zur Kautschukherstellung benötigt und entwickelte sich darüber hinaus in den dreißiger Jahren zu einem wichtigen Rohstoff der Kunststofferzeugung.35 Eigentlicher Motor der Erschließung des technologischen Pfades der Kunststoffe war in Deutschland jedoch die Suche nach neuen Herstellungsverfahren von synthetischem Kautschuk, in dessen technologischer Nachbarschaft wichtige Kunststoffarten wie Polyvinylchlorid oder Polystyrol ihrer wirtschaftlichen Nutzung harrten.36 Kapitel 4 beschäftigt sich anhand des Beispiels der anwendungstechnischen Abteilung des Chemieunternehmens BASF mit der Frage, wie es den westdeutschen Kunststofferzeugern gelang, ihr in den dreißiger und vierziger Jahren angesammeltes innovatives Wissen durch technologische Kooperation mit vor- und nachgelagerten Industriebranchen in andauernde wirtschaftliche Erfolge zu übersetzen. Lundvall und von Hippel betonen in diesem Zusammenhang die Möglichkeit nachgelagerter Sektoren, durch Artikulieren ihrer zukünftigen Bedürfnisse die Auswahl der Forschungs- und Entwicklungsprojekte in den vorgelagerten Sektoren maßgeblich zu beeinflußen.37 Hier wird gezeigt werden, daß eine vorgelagerte Industriebranche ihrerseits über die Option verfügt, die Entwicklung in nachgelagerten Sektoren zu lenken, indem sie aus eigenem Antrieb Produktinnovationen für nachgelagerte Märkte konzipiert und diese Informationen ihren Kunden zusammen mit den Standarderzeugnissen als Güterbündel anbie-
34
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36
37
Vgl. Raichle, Ludwig, LU 35. Die Hochdrucksynthesen der BASF, in: Die BASF 2, 1952, S. 2127. Vgl. Nagel, Alfred von, 2HC=CH2 Äthylen, H O C H Acetylen, Schriftenreihe des Firmenarchivs der Badischen Anilin- & Sodafabrik AG 7, Ludwigshafen 1971. Vgl. Schaubild 10 „Die technologische Verwandschaft des Synthesekautschuks BUNA S und der Standardkunststoffe Polyvinylchlorid, Polystyrol und Polyethylen" in Kapitel 4.3.2. Vgl. Lundvall, Bengt-Ake, Innovation as an Interactive Process: from User-Producer Interaction to the National System of Innovation, in Giovanni Dosi (Hg.), Technical Change and Economic Theory, London, New York 1988, S. 349-369; von Hippel, Erik, A Customer-Active Paradigm for Industrial Product Idea Generation, in: Research Policy 7, 1978, S. 240-266.
25 tet.38 Dieser branchenübergreifende Wissenstransfer kann vertraglich fixiert in Form von Lizenzabkommen oder ohne vertragliche Bindung innerhalb einer langfristigen Kommunikationsbeziehung erfolgen. In beiden Fällen werden innovative Erkenntnisse von forschungsintensiven Industriebranchen zu Industriebranchen mit geringen eigenen Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen übertragen, wodurch sich nationale Cluster international wettbewerbsfähiger Industriezweige formen können. Die Ausführungen im abschließenden Kapitel 5 werden verdeutlichen, daß ein Unternehmen sein innovatives Wissen über fremde Märkte nicht zwangsläufig an andere Branchen transferieren muß, sondern unter bestimmten Umständen auch zur eigenen Diversifizierung nutzen kann.
1.5
Schumpetersche Diversifizierung
Unternehmen agieren in einer sich beständig wandelnden Umwelt, in der die erfolgreiche Innovation von gestern heute imitiert und morgen vom Markt verschwunden sein wird. Es stellt sich daher die Frage, wodurch sich diejenigen Unternehmen auszeichnen, die das Schicksal ihrer ursprünglichen Produkte vermeiden und trotz der permanenten Veränderung von Technologien, Präferenzen und Wirtschaftspolitiken langfristig den Wettbewerb dominieren.39 Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung untersucht Chandler in einer breit angelegten empirischen Studie die wirtschaftliche Entwicklung von langlebigen Unternehmen in den USA, Deutschland und Großbritannien im Zeitraum von 1870 bis 1940. Er kommt zu dem Ergebnis, daß sich die nachhaltig wachsenden Unternehmen dieser Periode nicht auf ihre traditionellen Produktionsbereiche beschränkt haben, sondern stattdessen ihre Erzeugung in einem pfadabhängigen Prozeß Schritt für Schritt diversifizierten.40 Empirische Untersuchungen zur Entwicklung der US-amerikanischen Industrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestätigen die Vermutung einer positiven Korrelation zwischen der sogenannten „Related diversification" und einem langfristigem Unternehmenswachstum.41 38
39
40
41
Hiervon zu unterscheiden ist derjenige branchenübergreifende Informationsfluß, der durch den Austausch von neuen Maschinen oder anderen Vorleistungsgütern erfolgt, in denen das innovative Wissen inkorporiert ist. Vgl. Wolff, Edward N., Spillover, Linkages, and Technical Change, Economic Research Reports. C.V. Starr Center for Applied Economics New York 96-37,1996. Vgl. Collins, James C. und Jerry I. Porras, Built to Last. Successful Habits of Visionary Companies, New York 1997. Vgl. Chandler, Alfred D. Jr., Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge/Mas., London 1990. Der in der angelsächsischen Literatur „Related diversification" genannte Prozeß wird im folgenden als „pfadabhängige Diversifizierung" bezeichnet. Vgl. Berry, Charles H., Corporate Growth and Diversification, Princeton/NJ. 1975; Lemelin, André, Relatedness in the Patterns of Interindustry Diversification, in: Review of Economics and Statistics 64, 1982, S. 646-657; Palepu,
26 Dieser wirtschaftshistorische Befund kann durch „Economies of Scope", das heißt durch Verbundvorteile erklärt werden. Verbundvorteile liegen vor, wenn es möglich ist, zwei oder mehr unterschiedliche Güter innerhalb eines diversifizierten Unternehmens zu insgesamt niedrigeren Kosten als in mehreren, jeweils auf ein Gut spezialisierten Unternehmen zu erzeugen und abzusetzen.42 Dies ist immer dann der Fall, wenn in dem diversifizierten Unternehmen ein Inputfaktor zur Verfügung steht, der zu keinen oder vergleichsweise niedrigen zusätzlichen Kosten für Produktion oder Absatz zusätzlicher Güter verwendet werden kann. Ein Beispiel hierfür ist eine unternehmenseigene Verkaufsorganisation, die dazu in der Lage ist, ohne nennenswerten Mehraufwand neu hinzukommende Produktgruppen an einen bereits vorhandenen Kundenkreis zu vermitteln. Diese Überlegungen erlauben folgende Definition: Nur diejenigen Diversifizierungsstrategien heißen pfadabhängig, die durch die Mehrfachnutzung eines Inputfaktors dem sich diversifizierenden Unternehmen einen Wettbewerbsvorsprung gegenüber Spezialisten verschaffen. Hiervon zu unterscheiden ist die pfadunabhängige Diversifizierung, bei der traditionelle und neue Tätigkeitsbereiche nicht oder nur geringfügig auf gemeinsame Ressourcen zurückgreifen, so daß keine Verbundvorteile entstehen. Zur Nutzung der Verbundvorteile bedarf es allerdings nicht zwangsläufig der Diversifizierung eines Unternehmens. Wenn der in Frage kommende Inputfaktor zu moderaten Transaktionskosten43 auf dem Markt gehandelt werden kann, ist es vielmehr ebenso möglich, daß dieser von einem dritten Marktteilnehmer mehreren Nutzern gleichzeitig zur Verfügung gestellt wird. So könnte sich die gerade angesprochene Verkaufsorganisation auch verselbständigen und als unabhängiger Zwischenhändler den Absatz für verschiedene spezialisierte Erzeuger organisieren. Nur im Falle hoher Transaktionskosten werden Verbundvorteile zu einer hinreichenden Voraussetzung für die Entstehung von diversifizierten Unternehmen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere an den in einem Unternehmen akkumulierten Wissensbestand zu denken, der oftmals Handlungsspielräume in verschiedenen Tätigkeitsbereichen eröffnet. Der Handel mit derartigem unternehmensspezifischem Know-how bietet, wie die in den Kapiteln 4 und 5 durchgeführte Diskussion des branchenübergreifenden Wissenstransfers in der deutschen Kunststoffindustrie verdeutlichen wird, beiden Marktseiten Möglichkeiten zu opportunistischem Verhalten.44 So ist der Anbieter von Informationen versucht, den Nachfrager
42
43
44
Krishna, Diversification Strategy, Profit Performance and the Entropy Measure, in: Strategie Management Journal 6, 1985, S. 239-255; Rumelt, Richard P., Diversification Strategy and Profitability, in: Strategic Management Journal 3, 1982, S. 359-369. Vgl. Panzar, John C. und Robert D. Willig, Economies of Scope, in: American Economic Review Papers and Proceedings 71, 1981, S. 268-272; Teece, David J., Economies of Scope and the Scope of the Enterprise, in: Journal of Economic Behavior and Organization 1, 1980, S. 223-247. Transaktionskosten umfassen die Aufwendungen für Entwurf, Verhandlung und Durchsetzung einer Vereinbarung zwischen Tauschpartnern. Vgl. Williamson, Oliver E., Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus. Unternehmen, Märkte, Kooperation, Tübingen 1990, S. 22 f. Williamson (Institutionen des Kapitalismus, S. 54) definiert opportunistisches Verhalten als „Verfolgung des Eigeninteresses unter Verwendung von List".
27 über deren tatsächlichen Wert zu täuschen oder zentrale Erkenntnisse zurückzuhalten. Der Nachfrager wiederum wird die Neigung verspüren, möglichst viele Informationseinheiten kostenlos zu erhalten oder die ökonomische Gegenleistung sogar vollständig zu verweigern. Vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung solcher Vertragsverletzungen sind mit einem erheblichen Anstieg der Transaktionskosten verbunden. Deshalb mag für ein bisher spezialisiertes Unternehmen die effizientere Lösung darin bestehen, auf den Marktaustausch von Wissen zu verzichten und dieses stattdessen zur Diversifizierung zu nutzen. Überdurchschnittliche Wachstumschancen ergeben sich hieraus insbesondere dann, wenn sich die Diversifizierungsstrategie nicht auf die Imitation gängiger Produkte und Verhaltensweisen beschränkt, sondern versucht wird, auch jenseits bekannter Produkte innovative Leistungen zu erbringen. Da sowohl die im Unternehmen beschäftigten Individuen als auch die Organisation als Ganzes nur über begrenzte Kapazitäten zur Aufnahme und Verarbeitung von Informationen verfugen,45 geht die Zunahme des spezifischen Wissens über eine einzelne Produktgruppe zwangsläufig mit der Vernachlässigung von Fähigkeiten einher, die das Unternehmen benötigen würde, um konkurrenzfähige Leistungen in anderen Bereichen zu erbringen.46 Hierdurch wächst die Gefahr, daß das Unternehmen seine Wettbewerbsfähigkeit verliert, wenn aufgrund unvorhersehbarer exogener Ereignisse wie der Entdeckung einer neuen überlegenen Technologie durch Dritte47 oder eines grundlegenden Modewandels das bisherige Produktionsprogramm und das hiermit verknüpfte Wissen wertlos werden. Eine Verringerung dieses Risikos kann durch eine auf den vorhandenen Fähigkeiten aufbauende Erschließung neuer Märkte herbeigeführt werden, da diese einerseits die Risiken einer zu engen Spezialisierung vermeidet und andererseits den unternehmensspezifische Wissensbestand zur Erzielung von Verbundvorteilen nutzbar macht. Diese Form der auf dem vorhandenen Wissensbestand aufbauenden pfadabhängigen Diversifizierung wird als Strategie der Schumpeterschen Diversifizierung bezeichnet 48 Im einzelnen empfiehlt sie, die im Rahmen des Diversifizierungsprozesses
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47
48
Vgl. Simon, Herbert A., A Behavioral Model of Rational Choice, in: Quarterly Journal of Economics 69, 1955, S. 101. Vgl. Leonard-Barton, Dorothy, Core Capabilities and Core Rigidities: A Paradox in Managing New Product Development, in: Strategic Management Journal 13, 1992, S. 111-125. Das viel zitierte Beispiel hierzu liefern die britischen Sodaproduzenten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ein zu langes Festhalten am überholten Leblanc-Verfahren ihre marktführende Stellung an die kontinentaleuropäischen und US-amerikanischen Verwender des innovativen Solvay-Verfahrens verloren. Vgl. Lindert, Peter H. und Keith Trace, Yardsticks for Victorian Entrepreneurs, in: Donald N. McCloskey (Hg.), Essays on a Mature Economy: Britain after 1840, Princeton 1971, S. 239-274. Joseph Alois Schumpeter betont in seinem Werk die zentrale Aufgabe der Unternehmer, durch eine neue Kombinationen vorhandener Produktionsmittel Innovationen hervorzubringen. Vgl. z.B. Schumpeter, Joseph Alois, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 5. Aufl., Berlin 1952, S. 99 f.
28 erfolgenden Innovationsversuche jeweils auf die unmittelbare technologische und ökonomische Nachbarschaft der etablierten Produktgruppen zu beschränken, weil man in diesem Bereich zumindest teilweise auf die im ursprünglichen Tätigkeitsfeld angesammelten Erfahrungen zurückgreifen kann, wodurch sich die Erfolgswahrscheinlichkeit gegenüber Innovationsversuchen auf Gebieten, in denen das Unternehmen keine spezifischen Erfahrungen besitzt, erheblich erhöht. Gelingt es dem Unternehmen durch diese Diversifizierungsstrategie tatsächlich, sein spezifisches Wissen in einen neuen Geschäftsbereich zu transferieren, kann dieser in Zukunft als Basis für weitere Diversifizierungsansätze dienen.49 Im Zeitablauf ergibt sich wiederum ein pfadabhängiger Prozeß, in dem das Unternehmen seine Aktivitäten Schritt für Schritt auf jeweils durch spezifisches Wissen verbundene innovative Produktfelder ausdehnt, und in dem veraltete Produktgruppen gegebenenfalls ohne Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens aufgegeben werden können. In Kapitel 5 wird die Strategie der Schumpeterschen Diversifizierung am Beispiel des Unternehmens Freudenberg aus Weinheim verdeutlicht, das sich Mitte des 20. Jahrhunderts ausgehend von der Ledererzeugung insbesondere in Richtung der Synthesekautschuk- und Kunststoffverarbeitung diversifizierte. Die Analyse der Unternehmensgeschichte Freudenbergs wird die von Foss vertretene Vermutung stützen, daß die Grenzen der horizontalen und vertikalen Ausdehnung eines Unternehmens nicht nur durch Transaktionskostenerwägungen, sondern vor allem auch durch untemehmensspezifische Kompetenzen definiert werden.50 Außerdem wird sich zeigen, daß die Kunststoffverarbeiter nicht auf Gedeih und Verderb auf den in Kapitel 4 diskutierten branchenübergreifenden Wissenstransfer von den vorgelagerten Chemieunternehmen angewiesen waren, sondern auch über andere externe Quellen innovativen Wissens verfügten, unter denen der von Wissenschaftlern oder Unternehmensberatern eingenommene Rolle des Informationsmaklers große Bedeutung zukam.
49
50
Vgl. Teece, David J., Richard Rumelt, Giovanni Dosi und Sidney Winter, Understanding Corporate Coherence. Theory and Evidence, in: Journal of Economic Behavior and Organization 23, 1994, S. 17. Vgl. Foss, Nicolai Juul, Theories of the Firm: Contractual and Competence Perspectives, in: Journal of Evolutionary Economics 3, 1993, S. 127-144.
2
Innovationskapital als Inputfaktor unternehmerischer Innovationsprozesse
2.1
Anwachsendes Innovationskapital
Zum Hervorbringen neuartiger Produkte und innovativer Produktionsverfahren benötigen Unternehmen besondere Fähigkeiten, die zur begrifflichen Abgrenzung gegenüber anderen Inputfaktoren je nach Autor als „Firm-specific competences",1 „Technological capabilities",2 „Dynamic capabilities"3 oder als Teil der „Core capabilities"4 betitelt werden. Diese Begriffsvielfalt darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die zitierten Verfasser zumindest implizit die Vorstellung teilen, daß in unternehmerischen Innovationsprozessen ein spezifisches Kapitalgut eingesetzt wird, das die Erfolgswahrscheinlichkeit dieser Aktivitäten beträchtlich zu erhöhen vermag, und das deshalb in dieser Arbeit als Innovationskapital bezeichnet wird. Wie Schaubild 1 illustriert, wird das Innovationskapital als eine Teilmenge der in einem Unternehmen in Form von Humankapital und sozialem Kapital akkumulierten Wissensbestände interpretiert. Das Humankapital5 umfaßt im Allgemeinen alle individuellen Fähigkeiten und Erfahrungen der Unternehmensangehörigen, die für die zielgerichtete und erfolgreiche Durchfuhrung produktiver Aktivitäten benötigt werden. Dem Innovationskapital zuzurechen sind diejenigen Humankapitalbestände, die hierbei nicht ausschließlich der gegenwartsbezogenen Produktion bereits bekannter Produkte dienen, sondern bei der Erzeugung von neuem, zukünftig ökonomisch nutzbarem Wissen eingesetzt werden.
1 2
3
4 5
Vgl. Pavitt, Key Characteristics, S. 42. Vgl. Bell, Martin und Keith Pavitt, Technological Accumulation and Industrial Growth: Contrasts between developed and developing countries, in: Daniele Archibugi und Jonathan Michie (Hg.), Technology, Globalisation and Economic Performance, Cambridge 1997, S. 84 ff. Vgl. Teece, David J. und Gary P. Pisano, The Dynamic Capabilities of Firms: An Introduction, in: Industrial and Corporate Change 3, 1994, S. 541. Vgl. Leonard-Barton, Core Capabilities, 112f. Zum Begriff des Humankapitals vgl. Becker, Gary S., Investment in Human Capital: a Theoretical Analysis, in: Journal of Political Economy 70 Supplement, 1962, S. 9-49.
30
Schaubild 1
Zur Unterscheidung von Humankapital, sozialem Kapital und Innovationskapital eines Unternehmens Humankapital
Soziales Kapital
Darüber hinaus schließt das Innovationskapital auch Bestandteile von sozialem Kapital mit ein, sofern dieses wiederum in unternehmerischen Innovationsprozessen von Nutzen ist. Der von Coleman geprägte Begriff des sozialen Kapitals bezieht sich generell auf diejenigen sozialen Beziehungen zwischen Wirtschaftssubjekten, welche dazu beitragen, die Produktivität wirtschaftlicher Vorgänge zu erhöhen.6 Für die hier diskutierten Innovationsprozesse von besonderer Bedeutung sind soziale Netzwerke, die den Informationsfluß innerhalb eines Unternehmens und zwischen verschiedenen Unternehmen erleichtern. Somit ergibt sich folgende allgemeine Definition: Das Innovationskapital eines Unternehmens setzt sich aus allen Wissensbeständen (Teile des Human- und des sozialen Kapitals) zusammen, die bei der zielgerichteten Entwicklung ökonomisch erfolgreicher neuer Produkte und Produktionsprozesse eingesetzt werden können. Innovationskapital kann durch Lernen und die Suche nach neuen Informationen anwachsen, sich aber gegebenenfalls ebenso wie andere Kapitalbestände im Zeitablauf entwerten. Kapitel 2 widmet sich nunmehr der Präzisierung dieser Begriffsbestimmung. Es wird sich zeigen, daß sich das Innovationskapital als immaterieller Wissensbestand weitgehend der unmittelbaren Quantifizierung entzieht. Gleichwohl wird es möglich sein, das
6
Vgl. Coleman, James S., Social Capital in the Creation of Human Capital, in: American Journal of Sociology 94 Supplement, 1988, S. S95-S120.
31 Innovationskapital eines Unternehmens mit Hilfe qualitativer Kriterien hinreichend genau zu beschreiben und vergleichbar zu machen. Schaubild 2
Der dreistufige unternehmerische Innovationsprozeß
Ökonomisches Innovationskapitai
Technologisches Innovationskapital verringert Unsicherheit
1*1 .ANl
PHASE
Auswahl eines F&E-Projekts
Technologisches Innovationskapital
erhöht Erfolgswahrscheinlichkeit :;
*
: : -
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: :
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. ' ™ i'
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t Technologische Invention Erfolg oder Mißerfolg
Ökonomisches Innovationskapital
neue Informationen
neue Informationen
erhöht Erfolgswahrscheinlichkeit
Ökonomische Innovation Erfolg oder Mißerfolg
32 Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, auf welche Weise Innovationskapital die erfolgreiche Durchfuhrung von Innovationsprojekten erleichtert. Zur Beantwortung dieser Frage ist es sinnvoll, den unternehmerischen Innovationsprozeß wie in Schaubild 2 geschehen in eine Planungsphase, in eine F&E-Phase und in eine Marketingphase zu untergliedern. In der Planungsphase entscheidet die Unternehmensführung, welche der zur Auswahl stehenden Forschungs- und Entwicklungsprojekte tatsächlich ausgeführt werden sollen. In der sich anschließenden F&E-Phase wird im Rahmen der ausgewählten Projekte versucht, durch Überschreiten der technologischen Wissensgrenze Inventionen zu schaffen. Gelingt dies, bemüht man sich in der abschließenden Marketingphase, diese Inventionen in gewinnbringende Innovationen zu überfuhren. In allen drei Phasen steigert das bereits im Unternehmen vorhandene Innovationskapital die Produktivität der jeweiligen Tätigkeiten. Gleichzeitig produziert jeder Innovationsprozeß als Kuppelprodukt neue technologische und ökonomische Informationen, die als Stromgröße in einem Rückkopplungsprozeß den Bestand an verfügbarem Innovationskapital vergrößern und hierdurch die Erfolgswahrscheinlichkeit zukünftiger Innovationsprojekte zusätzlich erhöhen. Somit bedeutet die Durchführung unternehmerischer Innovationsprozesse immer auch eine Investition in Innovationskapital. In den nächsten Abschnitten werden diese Zusammenhänge ausführlich diskutiert.
2.2
Die Planungsphase des unternehmerischen Innovationsprozesses
2.2.1
Technologische und ökonomische Unsicherheit
Ex post mag ein zurückblickender Betrachter die erfolgreiche Markteinführung eines bahnbrechenden neuen Produkts wie der Dampfmaschine oder des Computers als Ergebnis einer zwangsläufigen Entwicklung deuten. Ex ante jedoch handeln unternehmerische Entscheidungsträger in großer technologischer und ökonomischer Unsicherheit. Hierbei bedeutet technologische Unsicherheit, daß vor Abschluß der F&E-Phase niemand weiß, ob ein bestimmtes Forschungsprogramm zu den gewünschten Resultaten fuhren wird. Zudem gibt es oftmals nicht einmal eindeutige Vorstellungen darüber, welche konkreten technologischen Eigenschaften eine angestrebte Invention besitzen muß, um die ihr zugedachten Funktionen zu erfüllen. Dies wird beispielhaft durch die Vielfalt der zeitgenössischen technologischen Ansätze zur Konstruktion der Invention Dampfmaschine belegt, die unter anderem ihre Funktion als Quelle von Bewegungsenergie nicht nur wie von James Watt entworfen bei niedrigem Druck, sondern auch
33 wie von Richard Trevithick nachgewiesen, gefahrlos bei hohem Druck erfüllen konnte.7 Ökonomische Unsicherheit kommt hinzu, weil die Entscheidungsträger auch nicht mit Sicherheit vorhersagen können, ob die erwünschte technologische Invention gegebenenfalls in einen ökonomischen Erfolg überfuhrt werden kann. Dieses Problemfeld umfaßt unter anderem Fragen nach den Kosten von Forschung und Entwicklung und des Aufbaus von Produktionskapazitäten, nach dem Umfang der zukünftigen Nachfrage, nach der Preisentwicklung bei Substituten oder nach dem Zeitpunkt des Auftretens von Imitationen. Das potentielle Ausmaß der ökonomischen Unsicherheit zeigt beispielsweise die Aussage des damaligen Präsidenten und Gründers von IBM, Thomas J. Watson, Sr., der noch um 1950 glaubte, daß es sich nicht lohnen würde, Computer für den privaten Markt zu entwickeln, da bereits der im Hauptquartier von IBM stationierte Rechner „could solve all the important scientific problems in the world involving scientific calculations".8 Die hierdurch nur angedeutete empirische Relevanz der verschiedenen Formen von unternehmerischer Unsicherheit läßt sich exemplarisch anhand zweier Innovationsprozesse in der Luftfahrtindustrie demonstrieren. Zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts suchten die US-amerikanischen Flugzeugbauer nach einer technischen Alternative zu den bisher gebräuchlichen Fahrgestellen, die, da sie unverkleidet am Flugzeugrumpf fixiert waren, durch einen hohen Luftwiderstand das Flugzeug bremsten und erhebliche Treibstoffkosten verursachten.9 Aus aerodynamischen Gesichtspunkten lag die Idee nahe, ein einziehbares Fahrgestell zu konstruieren. Allerdings bestand erhebliche technologische Unsicherheit darüber, ob diese Lösung auch die Gesamtkosten dieser Vorrichtung minimieren würde. Zu deren Abschätzung waren nämlich neben den Ausgaben für Treibstoff zusätzlich die Gesichtspunkte der Belastbarkeit, der Zuverlässigkeit und der Wartungsfreundlichkeit zu berücksichtigen, bei denen das technisch anspruchsvollere einziehbare Fahrgestell eher schlechter abschnitt als die robusteren unbeweglichen Varianten. Da die vorhandenen Informationen keine eindeutige Entscheidung zugunsten einer bestimmten Lösung zuließen, verwundert es wenig, daß die verschiedenen Flugzeugbauer auf der jeweiligen Grundlage ihres unternehmensspezifischen Innovationskapitals unterschiedliche Innovationsprojekte auswählten. So wurden neben verschiedenen Varianten von einziehbaren Fahrgestellen auch mehrere Alternativen fixierter Fahrgestelle entwickelt, die zur Senkung des Luftwiderstands mit „Hosen" aus Metall verkleidet waren. Tatsächlich konnten diese verschiedenen Ansätze zunächst auf dem Markt koe7
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Vgl. Mokyr, Joel, The Lever of Riehes. Technological Creativity and Economic Progress, New York, Oxford 1990, S. 88 f. Zitiert nach Katz, Barbara G. und Almarin Phillips, The Computer Industry, in: Richard R. Nelson (Hg.), Government and Technical Progress. A Cross-Industry Analysis, New York u.a.O. 1982, S. 171. Die folgenden Ausführungen beruhen auf Vicenti, Walter G., The Retractable Airplane Landing Gear and the Northrop Anomaly: Variation-Selection and the Shaping of Technology, in: Technology and Culture 35, 1994, S. 1-33.
34 xistieren. Für die US-amerikanische Flugzeugindustrie ergab sich damit die Möglichkeit, durch die gleichzeitige Erprobung verschiedener technologischer Alternativen schrittweise zusätzliches Wissen zu erwerben, das für weiterführende Innovationen genutzt werden konnte. Beispielsweise wurde das Fahrgestell zunächst durch Muskelkraft, später durch einen Elektromotor oder mit Hilfe einer Hydraulik eingezogen. Auf längere Sicht wurde es hierdurch leichter, die konkurrierenden Ansätze hinsichtlich ihrer technologischen und ökonomischen Funktionstüchtigkeit rangzuordnen. Der endgültige Triumph des einziehbaren Fahrgestells erfolgte allerdings erst dann, als aerodynamische Erwägungen aufgrund einer zu Beginn der dreißiger Jahre nicht vorhersehbaren Steigerung der maximalen Fluggeschwindigkeit für alle Entscheidungsträger unverkennbar Priorität erlangten. Dieses Beispiel verdeutlicht, daß es den unternehmerischen Entscheidungsträgern in der Planungsphase von Innovationsprozessen aufgrund von unvollständiger Information nicht möglich ist, ein rationales Urteil zugunsten einer, wenn überhaupt, nur ex post zu identifizierenden, objektiv besten Lösung zu treffen. Deshalb ist auch nicht zu erwarten, daß man hinsichtlich eines bestimmten Innovationsziels in unterschiedlichen Unternehmen zur gleichen Entscheidung gelangt. Stattdessen werden auf Grundlage unternehmensspezifischer Entwicklungspfade verschiedenartige Innovationsvorhaben ausgewählt werden. Diese Variationsbreite ist durchaus positiv zu bewerten. So legt zumindest die skizzierte Evolution der Fahrgestelle von Flugzeugen die Vermutung nahe, daß sich mit der Zahl der voneinander abweichenden Innovationsprojekte auch die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß nach dem Eintreten eines nicht vorhersehbaren Umweltzustandes eine Alternative zur Verfügung steht, die unter den offenbarten neuen Rahmenbedingungen technologisch und ökonomisch sinnvoll eingesetzt werden kann. Aus diesen Überlegungen ergibt sich ein mögliches Kriterium zur Beurteilung staatlicher Technologiepolitik: Unter sonst gleichen Bedingungen sind diejenigen technologiepolitischen Eingriffe vorzuziehen, welche die vergleichsweise größte Vielfalt von unternehmerischen Innovationsprojekten gewährleisten. Wenn der Staat zu der Auffassung gelangt, daß die private Wirtschaft in einem bestimmten Bereich die notwendige Innovationsbereitschaft vermissen läßt, mag er sich versucht fühlen, einen eigenen Innovationsprozeß zu initiieren. Allerdings ist es wegen der diskutierten Unvollständigkeit der verfügbaren Informationen kaum vorstellbar, daß staatliche Planung auf die Dauer und im Durchschnitt dazu in der Lage sein könnte, die Effizienz des gerade beschriebenen Wettbewerbs der dezentralen unternehmerischen Suchprozesse zu erreichen. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit des Fehlschlagens eines zentralen staatlichen Projektes gerade dort sehr groß, wo Unternehmen angesichts erheblicher Unsicherheit Zurückhaltung üben. Gleichwohl soll das nun betrachtete Scheitern des Überschallpassagierflugzeuges Concorde nicht als ein Beleg für eine behauptete generelle Unzulänglichkeit staatlicher Innovationsvorhaben gedeutet werden. Vielmehr kann anhand dieses Beispiels vortrefflich veranschaulicht werden, daß in der
35 Planungsphase von Innovationsprojekten dem Problem der ökonomischen Unsicherheit ähnliche große Bedeutung zukommt wie dem der technologischen Unsicherheit. Im März 1959 gelangte das britische „Supersonic Transport Aircraft Committee", das sich aus Vertretern der Luftfahrtbehörde und der einheimischen Luftfahrtindustrie zusammensetzte, zu der Prognose, daß Anfang der siebziger Jahre das Marktvolumen für zivile Überschallpassagierflugzeuge 150 bis 500 Einheiten betragen würde.10 Aufgrund dieser vielversprechenden Einschätzung entschlossen sich der britische und französische Staat im Jahr 1962 zur gemeinsamen Entwicklung eines Überschallpassagierflugzeugs namens Concorde, das ähnlich wie später der europäische Airbus die USamerikanische Vorherrschaft auf dem Markt für zivile Passagierflugzeuge beenden sollte. Da im Verlauf des langwierigen Innovationsprozesses immerhin 16 verschiedene Luftfahrtgesellschaften eine Option zur Abnahme von insgesamt 74 Flugzeugen zeichneten, blieb der Optimismus der fünfziger Jahre lange Zeit erhalten. Noch im Jahr 1972 veranschlagte man den zu erwartenden Absatz der Concorde auf mindestens 100 Einheiten. Diese Hoffnungen schwanden schlagartig Anfang 1973, als die US-amerikanische Luftfahrtgesellschaft PanAm ihre Option auf sieben Einheiten stornierte und die verbleibenden potentiellen Abnehmer diesem Beispiel folgten. Letztendlich verblieb den beteiligten Regierungen hierauf nur die Reaktion, Ende 1976 das Innovationsprojekt komplett einzustellen. Da für die bereits fertiggestellten Maschinen keine privaten Käufer gefunden werden konnten, wurden die staatlichen Luftfahrtgesellschaften British Airways und Air France dazu veranlaßt, vierzehn der insgesamt sechzehn produzierten Maschinen zu übernehmen. Der Mißerfolg der Concorde ist als das Ergebnis einer vollständigen Fehleinschätzung der wirtschaftlichen Perspektiven dieses Projektes zu interpretieren. Dieser Irrtum ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die staatlichen Entscheidungsträger über keine erprobten Kommunikationsbeziehungen zu ihren anvisierten Kunden verfügten, durch die sie zuverlässige Informationen über deren wirtschaftliche Bedürfnisse hätten erhalten können. Darauf deutet beispielsweise der nachträgliche Kommentar eines Beteiligten zu den britisch-französischen Kooperationsvereinbarungen von 1962 hin: „So we had the Concorde, what we did not have were any buyers. It must be the only airline project ever launched without some preliminary understanding with the airlines of what their requirements were and what the market for it might be." u Das Ergebnis dieser Vorgehensweise war, daß die Luftfahrtgesellschaft PanAm bei der Annullierung ihrer 10
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Die folgenden Erläuterungen basieren auf Berg, Hartmut und Gerhard Mammen, Alternative Strategien staatlicher Technologieförderung: Eine Analyse der Projekte „Concorde" und „Airbus", Jahrbuch für Sozialwissenschaft 32, 1981, S. 346-379. Vgl. auch Berg, Hartmut und Notburga Tielke-Hosemann, Luftfahrt-Industrie, in: Peter Oberender (Hg.), Marktökonomie. Marktstruktur und Wettbewerb in ausgewählten Branchen der Bundesrepublik Deutschland. München 1989, S. 109-166. Zitiert nach Berg, Mammen, Alternative Strategien, S. 351.
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Option die technologische Funktionsfahigkeit der Concorde zwar durchaus anerkannte, aber gleichwohl auf den Kauf dieser Innovation verzichtete, weil das Überschallpassagierflugzeug aufgrund der hohen Betriebskosten pro Passagier mit den herkömmlichen Maschinen des Typs Boing B-747 oder Douglas DC-10 nicht konkurrieren konnte. Die Betreiber des Concorde-Projektes waren offensichtlich bis zum Rückzug von PanAm nicht dazu in der Lage zu erkennen, daß die Nachfrage nach Überschallflügen bei kostendeckenden Preisen zu gering war, um die Concorde rentabel zu betreiben. Angesichts ihrer erheblichen ökonomischer Unsicherheit hätten die engagierten Regierungen gut daran getan, zunächst zusätzliche Informationen zu sammeln oder aber ganz auf die Entwicklung der Concorde zu verzichten. Je größer nämlich die Unsicherheit in der Planungsphase von Innovationsprozessen ist, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, daß ein unzureichendes Innovationsprojekt ausgewählt wird.
2.2.2
Informationsquellen
Unternehmerische Entscheidungsträger besitzen die Möglichkeit, ihre Unsicherheit in der Planungsphase von Innovationsprozessen durch Befragung von Informationsquellen zu reduzieren. Schaubild 3 gibt einen Überblick über die verschiedenen unternehmerischen Informationsquellen. Zunächst gilt es, interne und externe Informationsquellen zu unterscheiden. Hierbei soll das Adjektiv „intern" verdeutlichen, daß beim interpersonellen Transfer von innovativen Informationen die Grenzen des Unternehmens nicht überschritten werden. Hingegen weist der Begriff „extern" darauf hin, daß Sachkundige außerhalb des eigenen Unternehmens zu Rate gezogen werden. Der Informationsaustausch mit externen Trägern von neuartigem Wissen kann „direkt" über eine persönliche Kommunikationsbeziehung oder „indirekt" über Informationsmakler erfolgen, die mit oder ohne Einverständnis des eigentlichen Urhebers von innovativen Erkenntnissen diese weiteren Nutzern zur Verfugung stellen. Im Falle der unmittelbaren Kommunikation zwischen dem Nachfrager und dem Anbieter von innovativem Wissen wird es sich als sinnvoll erweisen, die horizontale technologische Kooperation zwischen Unternehmen der gleichen Produktionsstufe und die vertikale technologische Kooperation zwischen Lieferanten und Kunden auseinanderzuhalten. Gerade letztere kann von den beteiligten Unternehmen auf vielfaltige Weise ausgestaltet werden. Insbesondere besteht die Möglichkeit, die vertikale technologische Kooperation sowohl mit als auch ohne vertragliche Absicherung durchzufuhren.
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Schaubild 3
Informationsquellen in der Planungsphase von unternehmerischen Innovationsprozessen Informationsquellen
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2.2.2.1 Interne Informationsquellen Konzentrieren wir uns zunächst auf die internen Informationsquellen, unter welchen in der Planungsphase von Innovationsprozessen insbesondere den unternehmenseigenen Forschungslaboratorien große Bedeutung zukommt. Dies gilt zumindest dann, wenn die Mitarbeiter einer industriellen Forschungsgruppe bereits in der Vergangenheit Innovationsprojekte in dem in Frage kommenden Bereich der Wissensgrenze durchgeführt haben. Die hierdurch erlangten Erfahrungen bedeuten nämlich technologisches Innovationskapital, das auch zur Bewertung der Erfolgsaussichten der aktuellen Vorhaben verwendet werden kann. Dabei ist es vergleichsweise unerheblich, ob die vorausgegangenen Projekte in einem Erfolg oder einem Mißerfolg mündeten, da es in der Planungsphase ebenfalls nützlich ist zu wissen, auf welchem Weg ein angestrebtes Innovationsziel wahrscheinlich nicht erreicht werden kann. Als Begründer der industriellen Forschungslaboratorien gelten die Unternehmen der deutschen Chemieindustrie, die Ende des 19. Jahrhunderts mittels dieser neuartigen Unternehmensabteilung versuchten, den neu entdeckten technologischen Pfad der Teerfarben planmäßig zu erschließen.12 Die folgende, ausführlichere Betrachtung der Entstehungsgeschichte dieser organisatorischen Innovation lohnt hier auch deshalb, weil in Abschnitt 2.4.1 dieser Arbeit gezeigt werden wird, daß parallel hierzu die anwendungstechnischen Abteilungen der deutschen Chemieunternehmen aus der Taufe gehoben wurden, welche die Aufgabe erhielten, den branchenübergreifenden Wissenstransfer mit den nachfolgenden Wertschöpfungsstufen durchzuführen. Die ursprüngliche Idee, den bei der Leuchtgaserzeugung als Kuppelprodukt anfallenden Steinkohleteer als Ausgangsbasis für die industrielle Erzeugung von Farbstoffen zum Färben und Bedrucken von Textilien zu nutzen, entstand nach der Jahrhundertmitte in England und Frankreich. So entdeckte im Jahr 1856 der Engländer William H. Perkin am Londoner Royal College of Chemistry im Laboratorium des deutschen Chemikers August Wilhelm von Hofmann den violetten Farbstoff „Mauve", verließ hierauf die Hochschule und widmete sich von nun an zusammen mit seinem Vater der kommerziellen Nutzung dieser wissenschaftlichen Invention. Drei Jahre später fand der französische Wissenschaftler Emanuel Verguin in Lyon die rote Teerfarbe „Fuchsin". Bald darauf wurden auch die ersten blauen und gelben Farbstoffe hervorgebracht. Die technologisch hinterher hinkenden deutschen Firmen beschränkten sich zunächst auf die möglichst schnelle Imitation der ausländischen Innovationen. Festzuhalten ist, daß die Entwicklung dieser ersten Generation von Teerfarbstoffen noch nicht auf einer methodischen Suche nach bestimmten Schattierungen und anderen Farbeigenschaften basierte. Stattdessen spielte oftmals der Zufall eine große Rolle. Dies sollte sich mit der
Vgl. zu den folgenden Ausführungen Beer, John Joseph, The Emergence of the German Dye Industry, Urbana 1959; Lepsius, B., Deutschlands Chemische Industrie 1888-1913, Berlin 1913; Miiller-Filrstenberger, Georg, Kuppelproduktion. Eine theoretische und empirische Analyse am Beispiel der chemischen Industrie, Heidelberg 1995, S. 227-240.
39 Etablierung von industriellen Forschungslaboratorien in der deutschen Chemieindustrie grundlegend ändern. Es war nicht zuletzt die Einführung eines reichseinheitlichen deutschen Patentrechts im Jahr 1876, was deutsche Chemieunternehmen wie BASF, Bayer oder Hoechst 13 dazu veranlaßte, ihre Strategie der schnellen Imitation aufzugeben und sich statt dessen verstärkt um eigene Innovationen im Bereich der Teerfarbstoffe zu bemühen. Die entscheidende Neuerung der hierzu errichteten unternehmenseigenen Forschungsabteilungen war, daß in diesen erstmals arbeitsteilig und systematisch nach ökonomisch verwertbaren Farbstoffinventionen gesucht wurde. 14 Dabei widmeten sich die an einem zentralen Ort versammelten Wissenschaftler je nach individueller Eignung entweder der kreativen Entwicklung von neuen chemischen Verbindungen oder der eher anwendungsorientierten Erprobung neuer Teerfarben. Eine dritte Gruppe versuchte, auf Grundlage von wissenschaftlichen Veröffentlichungen neuartige Erkenntnisse der öffentlichen Forschungseinrichtungen möglichst schnell nachzuvollziehen und hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Bedeutung zu beurteilen. Der Wissensaustausch zwischen diesen verschiedenen Bereichen wurde gefordert, um zu vermeiden, daß aufgrund einer zu großen Isolierung der spezialisierten Individuen die durch Teamarbeit erreichbaren Innovationen übersehen wurden. Die hierzu eingeführten Institutionen wie regelmäßige Gesprächskreise oder Seminare gehörten mit zum organisationsgebundenen Innovationskapital dieser Unternehmen. Schließlich widmete man sich in den Forschungslaboratorien auch der Ausbildung des eigenen Nachwuchses. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis diese organisatorische Innovation zu den angestrebten Produktinnovationen führte. So übernahm die deutsche Chemieindustrie spätestens mit der erfolgreichen Markteinführung des synthetischen Indigofarbstoffes im Jahr 1897 auf dem technologischen Pfad der Teerfarbstoffe die Führung vor den zurückfallenden französischen und englischen Konkurrenten. Bereits etablierte industrielle Forschungslaboratorien sind jedoch nicht die einzige verfügbare interne Informationsquelle von unternehmerischen Entscheidungsträgern. Im Allgemeinen kann ein technologisch rückständiges Unternehmen auch versuchen, durch das Anwerben externer Wissensträger interne Wissenslücken zu schließen. Insbesondere liegt die Vorgehensweise nahe, innovativen Konkurrenten die auf Schlüsselpositionen tätigen Fachkräfte durch entsprechende Gehaltsangebote abzuwerben und als neue
Die Badische Anilin- & Soda-Fabrik (BASF) wurde 1865 in Ludwigshafen gegründet. Ursprung der Bayer AG ist die 1863 in Wuppertal-Barmen errichtete Farbstoffabrik Friedr. Bayer & Co. Die Hoechst AG, die seit der Fusion mit dem französischen Chemieunternehmen Rhone-Poulenc im Jahr 1999 unter dem Namen Aventis agiert, basiert auf der im Jahr 1863 in Frankfurt-Höchst gegründeten Theerfarbenfabrik Meister, Lucius & Co. Vgl. Meyer-Thurow, Georg, The Industrialization of Invention: A Case Study from the German Chemical Industry, in: ISIS 73, 1982, S. 363-381.
40 Mitarbeiter in das eigene Unternehmen zu integrieren.15 Diese Möglichkeit verdeutlichen beispielhaft die juristischen Auseinandersetzungen um Jose Ignazio Lopez, dem Mitte der neunziger Jahre vorgeworfen wurde, Betriebsgeheimnisse von General Motors an seinen neuen Arbeitgeber Volkswagen verraten zu haben. Ähnliche Vorgänge finden sich auch im weiteren Verlauf der Geschichte der internationalen Teerfarbenindustrie. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs standen den USamerikanischen Chemieunternehmen alle Patente der deutschen Teerfarbenproduzenten zur freien Verfügung. Wider Erwarten mußte man jedoch feststellen, daß die darin enthaltenen Informationen die Imitation der deutschen Erzeugnisse kaum erleichterten. Dies belegt die im Jahr 1919 getroffene Aussage von R. E. Rose, Leiter des technischen Laboratoriums des US-amerikanischen Chemieunternehmens Du Pont: „The truth is that it takes nearly as much effort to decipher the correlation between patent and commercial dye as it does to discover the color originally."16 Aus diesem Grund gelangte man bei Du Pont zu der Überzeugung, daß für eine schnelle Imitation der deutschen Teerfarbenprodukte personengebundenes Wissen deutscher Wissenschaftler und Techniker von Nöten war, das man nur durch Abwerben derselben von den deutschen Chemieunternehmen gewinnen konnte. Irenee du Pont faßte diese Überlegungen im Jahr 1921 zusammen: "After two years work in the development of the dye industry we felt sure that many needless experiments could be avoided if there were available in this country men who had practical experience in the dye industry. ... Like you, I have no doubt that American chemists in time can solve the same problems which were solved by the German chemists. Neither Germany nor the United States has a monopoly in brains, but there is a grave economic waste, both in money and time, in slowly and laboriously performing over again experiments which have already been made."17 Folgerichtig versuchte man, deutsche Chemiker auch gegen bestehende rechtliche Vereinbarungen zum Übertritt in das US-amerikanische Unternehmen zu überreden, wozu man bis zu 25000 US-Dollar Jahresgehalt bot, was das Zehn- bis Fünfzehnfache ihres bisherigen Einkommens bedeutete. Tatsächlich gelang es Du Pont, durch diese Offerte mindestens 10 deutsche Chemiker abzuwerben. Hier zeigt sich zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, daß die unternehmensübergreifende Diffusion von neuem technologischem Wissen in aller Regel mit opportunistischem Verhalten der Entscheidungsträger verbunden ist, dessen Ausprägungen vom Vertrauensmißbrauch bis hin zur Industriespionage reichen. Dies gilt nicht nur für die internationale Chemieindustrie und wird im Folgenden durch eine Reihe weiterer Beispiele belegt werden.
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Vgl. Gersbach, Hans und Armin Schmutzler, Endogenous Spillovers, the Market for Human Capital, and Incentives for Innovation, Diskussionsschriften der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Heidelberg 248, 1997. Zitiert nach Hounshell, David A. und John Kenley Smith, Jr., Science and Corporate Strategy. Du Pont R&D, 1902-1980, Cambridge 1988, S. 90. Ebd. S. 94.
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Die Geschichte der vorindustriellen Salzgewinnung liefert einen historischen Prototyp für die institutionelle Ausgestaltung des unternehmensübergreifenden Technologietransfers durch mobile Wissensträger vom Typ eines Jose Ignazio Lopez.18 Ende der 1770er Jahre drohte den technologisch rückständigen bayerischen Salinen aufgrund mangelnder Produktqualität der Verlust des Schweizer Absatzmarktes an die Tiroler Salzerzeuger. Der landesherrliche Betreiber der bayerischen Salinen sah sich deshalb genötigt, die Verfahrensinnovationen fortschrittlicher Konkurrenten zu imitieren. Das Wissen über die gewünschten Neuentwicklungen war jedoch nicht als Blaupause verfügbar, sondern an die Person Johann Sebastian Claiß gebunden, der nach einem siebenjährigen Aufenthalt in England in Winterthur eine Fabrik zur Schwefelsäureherstellung betrieb und von 1779 bis 1781 erfolgreich die Schweizer Saline Bex modernisiert hatte. Zur Nutzbarmachung dieser spezifischen Kenntnisse galt es, die verschiedenen Unternehmerfunktionen zwischen Landesherr und wanderndem Unternehmer aufzuteilen. So übernahm der bayerische Landesherr die Finanzierung der Neuinvestitionen, während Claiß die innovative Umgestaltung der Salinen oblag. Das Produktions- und Absatzrisiko wurde von beiden unternehmerischen Entscheidungsträgern gemeinsam getragen. Insgesamt verblieb der wandernde Unternehmer so lange in Bayern, bis er seine innovativen Kenntnisse durch den Aufbau neuer Anlagen und die Reorganisation der Produktionsvorgänge vollständig übermittelt hatte. In diesem von 1782 bis 1806 andauernden Prozeß gewannen die bayerischen Salinen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zurück. Gleichzeitig wuchs der personengebundene Wissensbestand von Claiß in einem Rückkopplungsprozeß durch „Learning by doing" weiter an. Von diesen zusätzlichen Erfahrungen im Umgang mit der Technik der Salzgewinnung profitierten wiederum die Lothringer Salinen, deren Erneuerung Claiß hierauf übernahm. 2.2.2.2 Externe Informationsquellen Die beiden zuletzt dargestellten Fallbeispiele belegen, daß auf einem bestimmten Gebiet rückständige Unternehmen durchaus die Möglichkeit besitzen, ihr Innovationskapital durch die Eingliederung von zuvor bei anderen Unternehmen beschäftigten Personen auf ein Niveau zu erhöhen, das es ihnen erlaubt, im Innovationswettbewerb zu bestehen. Oftmals ist es allerdings gar nicht notwendig, unternehmensfremde Wissensträger abzuwerben, da überdies verschiedene externe Informationsquellen existieren, welche einen Unternehmensgrenzen überschreitenden Technologietransfer erheblich zu erleichtern vermögen. Betrachten wir zunächst die direkte vertikale technologische Kooperation zwischen Unternehmen unterschiedlicher Wertschöpfungsstufen. Zwischen Lieferanten und Kunden können innovative Informationen in beide Richtungen fließen. So hebt von Hippel (Customer-Active Paradigm) mit Recht hervor, daß bei wissenschaftlichen Instrumenten oder anderen Gütern, die individuell nach 18
Vgl. Schremmer, Eckart, Technischer Fortschritt an der Schwelle zur Industrialisierung: ein innovativer Durchbruch mit Verfahrenstechnologie bei den alpenländischen Salinen, München
1980.
42 bei wissenschaftlichen Instrumenten oder anderen Gütern, die individuell nach Kundenbedürfnissen ausgestaltet werden, die Initiative für Produktinnovationen oftmals von den nachgelagerten Industriebranchen ausgeht. Beispielsweise ist es denkbar, daß ein KunststoffVerarbeiter angesichts neuartiger Ansprüche seiner Nachfrager das Konzept für eine innovative Verarbeitungsmaschine entwickelt und daraufhin einen Hersteller von Kunststoff verarbeitenden Maschinen in seine Pläne einweiht.19 Dem vorgelagerten Unternehmen werden möglicherweise eine ganze Reihe solcher Anliegen angetragen. In diesem Fall steht der Maschinenbauer vor der Aufgabe, unter den ihm vorgeschlagenen Produktideen die Aussichtsreichste auszuwählen. Führt ein derart initiiertes Innovationsvorhaben letztendlich zu einem Markterfolg, mögen sich für beide Seiten wirtschaftliche Vorteile ergeben. Gleichwohl muß der ursprüngliche Ideengeber immer damit rechnen, daß sich die Möglichkeiten zur Erzielung eines Monopolgewinns auf seinem Absatzmarkt vergleichsweise schnell schwinden werden, da sein Lieferant versucht sein wird, die gemeinsam hervorgebrachte Produktinnovation möglichst bald auch an andere Nutzer abzusetzen. Die Erwartung eines solchen Verhaltens wird die Kommunikationsbereitschaft eines innovativen Kunden mutmaßlich erheblich dämpfen. Daher ist davon auszugehen, daß zwei Unternehmen, die in der Vergangenheit durch wiederholtes gegenseitiges Wohlverhalten in den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses investiert haben, der effiziente Austausch innovativer Informationen leichter fallt. Eine durch Vertrauen gekennzeichnete Kommunikationsbeziehung zählt daher zum ökonomischen Innovationskapital beider Unternehmen. Selbstverständlich besteht auch die Möglichkeit, daß ein Lieferant die Kapazitäten seiner Forschungseinrichtungen zur Entwicklung von Produktinnovationen für die Absatzmärkte seiner Kunden nutzt. Allerdings ist eine solche Vorgehensweise nur dann wahrscheinlich, wenn sie auch dem Eigeninteresse des Innovators dient. Es stellt sich daher die Frage, unter welchen Umständen ein Wissenstransfer vom Lieferanten zum Kunden die ökonomische Situation des Erstgenannten zu verbessern vermag. Betrachten wir zunächst die Situation des gerade angesprochenen Herstellers von Kunststoff verarbeitenden Maschinen. Es sei angenommen, daß jener um eine innovative Kunststoffware weiß, die nur mit Hilfe seiner eigenen, kurzfristig nicht imitierbaren Maschinen produziert werden kann. In dieser Konstellation bietet es sich zweifellos an, diese innovativen Kenntnisse an potentielle Kunden zu übermitteln, da diese zur Verwirklichung ihrer hierdurch eröffneten Absatzchancen die vom Maschinenbauer angebotenen Anlagen benötigen, für welche sie überdies aufgrund der eigenen Gewinnerwartungen überdurchschnittlich hohe Preis zu zahlen bereit sein werden. Insofern besitzen die Erzeuger von technologisch komplexen Ausrüstungsgegenständen durchaus die Möglichkeit, den Absatz ihrer eigenen Produkte durch die Entwicklung von Innovationen für nachgelagerte Märkte zu fordern. 19
Zu den empirischen Hintergründen dieses Beispiels vgl. z.B. Mahn, Hermann, Herbert Orth, Klaus-Helmut Roitzsch und Willi Wöckener, Kalandertechnik, in: Wolfgang Glenz (Hg.), Kunsts t o f f - ein Werkstoff macht Karriere. München, Wien 1985, S. 231-271.
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Diese Überlegungen lassen sich nicht ohne Einschränkungen auf den Fall der technologischen Kooperation zwischen einem Lieferanten von vergleichsweise einfachen Massengütern und seinen potentiellen Kunden übertragen. Letztere sind nämlich keineswegs gezwungen, den Wissenstransfer durch eine Bevorzugung des Wissensgebers zu honorieren, sondern können nach Erhalt der innovativen Informationen ihre Nachfrage weiterhin primär nach anderen Kriterien wie zum Beispiel dem Produktpreis auf die verschiedenen Anbieter des homogenen Vorprodukts verteilen. Will sich der innovative Lieferant unter diesen Bedingungen einer ökonomischen Gegenleistung versichern, tut er gut daran, für seine Entdeckung ein Patent zu erwerben und sein Wissen nur gegen Zahlung einer entsprechenden Lizenzgebühr Interessenten zur Verfugung zu stellen. Wenn diese Vorgehensweise nicht möglich ist, hängt nach Auffassung von Vanderwerf das Verhalten des Lieferanten in erster Linie von der prognostizierten Marktentwicklung ab.20 So mag sich der Lieferant durchaus auch für einen vertraglich nicht abgesicherten Wissenstransfer entscheiden, falls er nur mit hinreichender Sicherheit erwarten kann, daß nach Markteinführung der von ihm für den nachgelagerten Markt entwickelten Produktinnovation die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nach dem benötigten Vorprodukt erheblich steigen wird. In diesem Fall wird nämlich auch der innovative Lieferant entsprechend seiner Marktanteile von dem durch den Nachfrageboom ausgelösten Anstieg des Absatzpreises des Vorprodukts profitieren. Vanderwerf untersucht die Voraussetzungen für eine derartige Sachlage. Er kommt zu dem Ergebnis, daß Wissenstransfers von Lieferanten von Massengütern zu ihren Kunden mit der größten Wahrscheinlichkeit auf denjenigen Märkten stattfinden werden, die durch wenige große Lieferanten und viele kleine Kunden gekennzeichnet sind. Die geringe Anzahl von großen Lieferanten steigert die individuellen Anreize zur Durchführung von Wissenstransfers, da sie zu gewährleisten hilft, daß ein Informationsgeber aufgrund seiner vergleichsweise großen Marktanteile von den durch ihn hervorgerufenen Nachfragesteigerungen in hinreichendem Umfang profitiert. Das Vorhandensein vieler kleiner Kunden verstärkt die Notwendigkeit von Wissenstransfers, da es den kleinen Nutzern des transferierten Wissens oftmals an den finanziellen Kapazitäten mangelt, die sie benötigen würden, um die Produktinnovationen selbst zu entwickeln. Diese Aussagen gelten unter anderem gerade auch für den Kunststoffmarkt, der sich durch wenige große Kunststoff erzeugende Chemieunternehmen und viele kleine Kunststoffverarbeiter auszeichnet. Somit werden nach Ansicht von Vanderwerf die Möglichkeiten und Grenzen der vertikalen technologischen Kooperation zwischen den Anbietern von Massengütern und deren Kunden weitgehend durch die makroökonomische Marktstruktur determiniert. Das spezifische Verhalten der einzelnen Unternehmen spielt hingegen bei diesen Überlegungen keine bedeutende Rolle, ist eher passiv hinnehmend und nicht von strategi-
Vgl. VanderWerf, Pieter A., Explaining Downstream Innovation by Commodity Suppliers with Expected Innovation Benefit, in: Research Policy 21, 1992, S. 315-333.
44 sehen Erwägungen gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu wird in Kapitel 4 am Beispiel des Kunststofferzeugers BASF demonstriert werden, daß Lieferanten durchaus die Möglichkeit besitzen, durch eine geeignete Strategiewahl im Rahmen eines kontinuierlichen Wissenstransfers nachgelagerte Unternehmen ohne vertragliche Absicherung längerfristig als Abnehmer ihrer Massenprodukte zu binden. Darüber hinaus wird in Kapitel 5 anhand der vertikalen technologischen Kooperation zwischen dem Kunststofferzeuger Bayer und dem Kunststoffverarbeiter Freudenberg untersucht werden, ob es einem Lieferanten durch Abschluß eines Lizenzvertrages möglich ist, eine angemessene ökonomische Gegenleistung für das bereitgestellte innovative Wissen zu erzwingen. Beiden Beispielen ist gemeinsam, daß die Kunststoffverarbeiter innerhalb ihrer unternehmerischen Innovationsprozesse fehlendes eigenes Fachwissen erfolgreich durch Innovationskapital in Form etablierter Kommunikationsbeziehungen zu vorgelagerten Kunststofferzeugern substituieren. An dieser Stelle wenden wir uns nun dem Fall der horizontalen technologischen Kooperation zu. Ein Austausch von innovativem Wissen zwischen unabhängigen Unternehmen der gleichen industriellen Ebene ist unter Konkurrenzbedingungen kaum zu erwarten und kommt höchstens dann in Frage, wenn der Wettbewerb zuvor durch Kartellabsprachen beschränkt wurde oder aufgrund großer räumlicher Entfernung nicht stattfindet. Allerdings muß selbst in diesen Fällen der Informationsgeber damit rechnen, daß der Informationsempfänger nach Erhalt des innovativen Wissens versuchen wird, ihm durch Aufkündigen der wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen oder mittels Gründung einer räumlich nahen Tochtergesellschaft auf seinem eigenen Markt Konkurrenz zu machen. Da im Verhältnis zwischen Unternehmen der gleichen Branche auf Vertrauen basierende wiederholte Marktbeziehungen weitaus seltener sind als in den vertikalen Beziehungen zwischen Lieferant und Kunde, kann derartiges opportunistisches Verhalten hier wohl in aller Regel nur dadurch vermieden werden, daß die am Informationsaustausch beteiligten Unternehmen ihre gegenseitige Unabhängigkeit zumindest teilweise aufgeben und sich beispielsweise durch Kapitalbeteiligungen oder joint ventures zu horizontalen Partnerschaften zusammenfinden. Im Rahmen einer derart abgesicherten horizontalen Partnerschaft kann es möglich sein, firmenspezifisches technologisches Innovationskapital durch den regelmäßigen Austausch von Informationen und Fachkräften, die als Träger von nicht kommunizierbarem Wissen dienen, allen beteiligten Firmen verfugbar zu machen. Diese Vorgehensweise lohnt vor allem, wenn die Partneruntemehmen auf verschiedenen regionalen Märkten unter unterschiedlichen Umweltbedingungen wirtschaften, weil dann mit größerer Wahrscheinlichkeit die technologischen Pfade zwar ähnlich, aber nicht gleich sind, so daß die Unternehmen tatsächlich voneinander lernen können. In diesem Fall besitzt eine Firma die Möglichkeit, dem Vorbild ihres Partners schnell zu folgen, eine
45 im Ausland erfolgreiche neue Produktgruppe den eigenen Verhältnissen entsprechend zu modifizieren und in ihrem eigenen Absatzgebiet einzuführen.21 Schaubild 4
Die optimale technologische Distanz in einer horizontalen Partnerschaft
Diese Überlegungen werfen die Frage auf, ob es möglich ist, die optimale technologische Distanz zwischen den Unternehmen einer horizontalen Partnerschaft ex ante zumindest annäherungsweise zu identifizieren. Hierauf gibt es keine einfache Antwort. Einerseits sollte die Abweichung zwischen den jeweiligen Entwicklungspfaden möglichst groß sein, da mit wachsenden Unterschieden auch die Wahrscheinlichkeit zunimmt, daß ein Partner mit Produktideen aufwarten kann, die für den jeweils anderen eine bisher unbekannte Neuheit darstellen. Andererseits wächst mit zunehmender technologischer Distanz aber auch die Gefahr, daß es dem potentiellen Imitator an den spezifischen Fähigkeiten mangelt, die benötigt werden, um die neuartige Technologie des Partners erfolgreich auf das eigene Unternehmen zu übertragen. Somit ergibt sich das Vgl. hierzu die Ausführungen zu den horizontalen Partnerschaften zwischen KunststoffVerarbeiter Freudenberg und japanischen Unternehmen in Kapitel 5.2.1.3.
dem
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Lernpotential einer horizontalen Partnerschaft aus dem Zusammenspiel der sich bei zunehmender technologischer Distanz gegenläufig verändernden Kurven der erwarteten Neuheit und der erwarteteten Transferierbarkeit.22 Wie aus diesem „Trade-off' die optimale technologische Distanz einer horizontalen Partnerschaft ermittelt werden könnte, ist in Schaubild 4 angedeutet.23 Die Funktionsweise einer horizontalen Partnerschaft kann anhand der technologischen Kooperation zwischen Standard Oil (New Jersey) und der I.G. Farben in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg verdeutlicht werden.24 Gleichzeitig wird durch die Darstellung dieses Beispiels ein wichtiger Bestandteil der Vorgeschichte der in Kapitel 3 diskutierten Synthesekautschukproduktion während des Zweiten Weltkriegs erläutert. Das Interesse von Standard Oil (New Jersey) an einer Zusammenarbeit mit der I.G. Farben wurde Mitte der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts durch die deutsche Entwicklung des Bergius Prozesses geweckt. Dieses Verfahren ermöglichte nicht nur die Umwandlung von Kohle in Treibstoff, sondern auch das, wenn nötig, vollständige katalytische Aufspalten von Rohöl in Benzin, wovon sich das US-amerikanische Erdöl verarbeitende Unternehmen, das ein Versiegen der amerikanischen Ölquellen befürchtete, eine effizientere Verarbeitung des Rohöls versprach. Während eines Aufenthalts bei der BASF in Ludwigshafen im März 1926 konnten sich die Amerikaner von der Qualität der Forschungseinrichtungen des deutschen Konzerns überzeugen. Frank A. Howard, Vize-Präsident von Standard Oil (New Jersey) und Mitglied der Besuchergruppe, berichtet: „At Ludwigshafen I was plunged into a world of research and development on a gigantic scale such as I had ever seen. The Badische was one of the largest, oldest and most successful chemical companies in the world. The management had had time to balance the cost of new industries against the earnings which they produced, and had reached the conclusion that sound industrial research was the most profitable of all their investments."25 Es waren nicht zuletzt diese Beobachtungen vor Ort, die Standard Oil (New Jersey) dazu veranlaßten, eine über den Bereich des Bergius Prozesses hinausgehende technologische Kooperation mit der I.G. Farben anzustreben: „Last of all, there was the matter of technical cooperation between the Badische organization and Standard's. On each side technical knowledge and experience in its own industry, laboriously acquired over the years and added to day by day was one of the most valuable
Vgl. Noteboom, Bart, Towards a Learning Based Model of Transactions, in: John Groenewegen (Hg.), Transaction Cost Economics and Beyond, Dordrecht u.a.O. 1996, S. 327-349. In Schaubild 4 wurde der Verlauf der Kurven „Transferierbarkeit" und „Neuheit" so ausgewählt, daß sich ein eindeutig zu identifizierendes Optimum ergibt. Zukünftigen empirischen Untersuchungen bleibt es überlassen herauszufinden, ob der Verlauf dieser Kurven wie dargestellt konkav oder aber konvex ist. Vgl. Howard, Frank A., Buna Rubber. The Birth of an Industry, New York 1947; Morris, Peter J.T., Synthetic Rubber: Autarky and War, in: Peter J.T. Morris und Susan T.I. Mossman (Hg.), The Development of Plastics, Cambridge 1994, S. 54-69. Howard, Buna Rubber, S. 13.
47 assets."26 Der geplante Austausch von technologischen Informationen setzte allerdings voraus, daß der Wettbewerb zwischen den beiden Unternehmen weitgehend ausgeschaltet wurde. Folgerichtig vereinbarten das US-amerikanische Unternehmen und der deutsche Chemiekonzern am 9. November 1929 eine Aufteilung der Produktmärkte außerhalb von Deutschland. Standard Oil (New Jersey) beschränkte sich auf diejenigen chemischen Verfahren, die mit der Verarbeitung von Rohöl und Erdgas eng verknüpft waren; die Herstellung und der Absatz aller anderen Produkte blieb der I.G. Farben vorbehalten. Ein knappes Jahr später gründeten die beiden Partner in Baton Rouge, Louisiana, das gemeinsame Unternehmen Joint American Study Company (JASCO), dessen Aufgabe es war, Inventionen beider Unternehmen zur Marktreife zu fuhren und diese dann gegebenenfalls außerhalb Deutschlands zu vermarkten. Um die zur Erfüllung dieser Vorgabe notwendigen technologischen Kenntnisse zu transferieren, entsandten beide Gründungsunternehmen wissenschaftliche und technische Mitarbeiter als Träger personengebundenen Innovationskapitals für befristete Zeiträume zur JASCO. Darüber hinaus wurden die von dieser Vereinbarung betroffenen Patentrechte an die JASCO übertragen, darunter auch jene für den von der I.G. Farben hervorgebrachten Synthesekautschuk BUNA S. Nach dem deutschen Überfall auf Polen erschien es Standard Oil (New Jersey) und der I.G. Farben opportun, ihre horizontale Partnerschaft offiziell zu beenden. Daher kam man Ende September 1939 auf einem Treffen in den Niederlanden überein, daß die I.G. Farben ihre Anteile an der JASCO auf Standard Oil (New Jersey) übertragen sollte. Ferner wurde eine geographische Aufteilung der gemeinsam gehaltenen Patente beschlossen. Standard Oil (New Jersey) erhielt die exklusiven Patentrechte in den USA, im Britischen Empire, in Frankreich und im Irak, die I.G. Farben in der übrigen Welt. Wie in Kapitel 3.1.1 gezeigt werden wird, trug zweieinhalb Jahre später das in die USA transferierte Wissen über BUNA S maßgeblich zur Überwindung der dortigen Kautschukkrise bei. Die transatlantische Kooperation zwischen Standard Oil (New Jersey) und der I.G. Farben führte überdies zur Entwicklung einer zusätzlichen Synthesekautschukart namens Butyl, deren Entstehungsgeschichte vortrefflich die im Allgemeinen zu erwartenden Chancen und Schwierigkeiten einer derartigen horizontalen Partnerschaft veranschaulicht.27 Im April 1932 wurde den Vertretern von Standard Oil (New Jersey)
26 27
Ebd. S. 19. Zu den Problemen des Informationsaustauschs in der horizontalen Partnerschaft zwischen dem US-amerikanischen Chemieunternehmen Du Pont und der britischen ICI, die sich trotz eines 1929 abgeschlossenen „Patents and Processes Agreements" gegenseitig technologische Informationen über die wichtigen Innovationen Neoprene und Nylon (Du Pont) sowie Polyethylen (ICI) vorenthielten, vgl. Hounshell, Smith, Science, 191-205. Vgl. auch Cantwell, John und Pilar Barrera, The Localisation of Corporate Technological Trajectories in the Interwar Cartels: Cooperative Learning versus an Exchange of Knowledge, in: Economics of Innovation and New Technology 6, 1998, S. 257-290.
48 während einer Zusammenkunft in Ludwigshafen freimütig eröffnet, daß Mitarbeiter der BASF eine technische Möglichkeit gefunden hatten, Isobutylen, ein Nebenprodukt der Erdölspaltung, zu einem Kunststoff zu polymerisieren, der beispielsweise zur Erhöhung der Viskosität von Motorenöl verwendet werden konnte. Allerdings gelang es der I.G. Farben entgegen anfänglicher Hoffnungen nicht, Isobutylen zu einem brauchbaren Synthesekautschuk zu vulkanisieren. Diese Leistung blieb den Wissenschaftlern von Standard Oil (New Jersey) überlassen, die im Jahr 1937 erkannten, daß es durch die Zugabe einer geringen Mengen von Butadien möglich wurde, Isobutylen zu Butyl zu verarbeiten, das in den USA während des Zweiten Weltkriegs zur zweitwichtigsten Synthesekautschukart nach BUNA S werden sollte. Entgegen der Vereinbarungen zum Informationsaustausch hielt man diese Entdeckung vor der I.G. Farben geheim, da man befürchtete, daß dieser Partner andernfalls auf Basis seines bereits vorhandenen technologischen Innovationskapitals im Bereich der Synthesekautschuke schnell einen Vorsprung bei der Weiterentwicklung dieser Invention gewinnen würde. Umso erfreuter registrierte man deshalb bei Standard Oil (New Jersey) im Jahr 1938, daß die I.G. Farben diese Übervorteilung offensichtlich nicht übelnahm: „I reviewed with Dr. ter Meer our new development, Butyl. We had filed our patent application in the U.S. Patent Office the preceeding year, and would be compelled to file it in England, France, Germany and other foreign countries within a few months to protect our patent rights here. Ter Meer's reaction was satisfactory. He raised no question of the relation of our Butyl to their Vistanex."28 Angesichts der augenscheinlichen Tatsache, daß aufgrund einer zumindest latenten Konkurrenzbeziehung jedes der Mitglieder einer horizontalen Partnerschaft bemüht sein wird, möglichst viele fremde Informationen zu erlangen und gleichzeitig möglichst wenig eigenes Wissen preiszugeben, erscheint das längerfristiges Scheitern derartiger Vereinbarungen sehr wahrscheinlich.29 Umso größer mögen die Wettbewerbsvorteile derjenigen Unternehmen einer Wertschöpfungsstufe sein, denen es trotz dieser Schwierigkeiten gelingt, einen institutionellen Rahmen für eine stabile technologische Kooperation zu finden. In Kapitel 5 werde ich diese Thesen anhand der technologischen Partnerschaften des Kunststoffverarbeiters Freudenberg mit der Japan Vilene Company und mit Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) vertiefend diskutieren. Der firmenübergreifende Transfer von technologischem Wissen muß nicht zwangsläufig wie in den Fällen der vertikalen technologischen Kooperation und der horizontalen Partnerschaft beschrieben direkt von Unternehmen zu Unternehmen erfolgen, sondern kann sich auch indirekt über außenstehende Dritte vollziehen. Diese im Folgenden als Informationsmakler bezeichnete Personen besitzen aufgrund ihrer vergleichsweise unabhängigen Stellung Zugang zu Informationen über unternehmensinterne Vorgänge, die vor konkurrierenden Unternehmen sorgfaltig verborgen werden. Daher besteht ihre 28 29
Howard, Buna Rubber, S. 62. Zur Instabilität von Joint ventures vgl. Kogut, Bruce, The Stability of Joint Ventures: Reciprocity and Competitive Rivalry, in: Journal of Industrial Economics 38, 1989, S. 183-198.
49 Funktion im Allgemeinen darin, Unternehmen gegen Zahlung eines Honorars mit denjenigen Informationen zu versorgen, welche offizielle Unternehmensangehörige nicht oder nur zu unverhältnismäßig hohen Kosten beschaffen können. Im Rahmen der Planungs- und der F&E-Phase von Innovationsprozessen sind dies insbesondere Nachrichten über fremde Innovationen in der technologischen oder ökonomischen Nachbarschaft der eigenen Produkte. Die Vermittlung dieses Wissens an Unternehmen vor- oder nachgelagerter Produktionsstufen kann mit Zustimmung des Innovators erfolgen, der auf diesem Weg Lieferanten von oftmals ebenfalls innovativen Vorprodukten oder neue Kunden zu gewinnen sucht. In diesem Fall nutzt der Innovator die bestehenden Kommunikationsbeziehungen zwischen Informationsmakler und anderen Unternehmen bewußt für seine Zwecke. Hingegen könnte man meinen, daß der Informationstransfer an Unternehmen der gleichen Produktionsstufe, der diese zur schnelleren Imitation befähigt, vom Innovator grundsätzlich nicht gewünscht wird. In diesem Fall würde er innovatives Wissen nur dann außenstehenden Personen offenbaren wollen, wenn er darauf vertrauen könnte, daß diese ihre neu erworbenen Kenntnisse nicht ohne sein Einverständnis weiterleiten. Informationsmakler würden sich dann auf einem schmalen Grat bewegen. Sie müßten nämlich gegenüber den Gebern von Informationen um Vertrauen werben, das zu brechen ihre eigentliche Aufgabe wäre. Insoweit würde der Begriff Industriespionage diesen Vorgang durchaus angemessen beschreiben. Allerdings ist es alternativ auch denkbar, daß ein Innovator um die Indiskretion des Informationsmaklers weiß, aber gleichwohl mit diesem kommuniziert, da er sich für die Verbreitung seines eigenen Wissens durch die im Gegenzug erhaltenen Informationen über innovative Entwicklungen in einer Vielzahl anderer Unternehmen angemessen entschädigt fühlt. In diesem Fall werden Informationsmakler als rechtmäßige Institution zur Vermeidung der insgesamt hohen Transaktionskosten eines jeweils bilateralen Informationsaustauschs zwischen den verschiedenen Unternehmen genutzt. Die Funktion eines Informationsmaklers kann von unterschiedlichen Personen oder Organisationen ausgefüllt werden. So widmet sich Kapitel 5 ausführlich den derartigen Rollen von Wissenschaftlern und vorgelagerten Industrieunternehmen. Vor ab sei bereits festgehalten, daß Wissenschaftler dann die Voraussetzungen zum Informationsmakler erfüllen, wenn sie im jeweiligen Auftrag mehrerer Unternehmen Forschungsprojekte zur Unterstützung der entsprechenden industriellen Laboratorien betreiben. Wie bereits oben im Rahmen der Erläuterung der vertikalen technologischen Kooperation angedeutet, eignen sich vorgelagerte Unternehmen ihrerseits insbesondere dann zum Informationsmakler, wenn sie komplexe Anlagegüter wie zum Beispiel neue Verarbeitungsmaschinen im Dialog mit dem einzelnen Kunden nach dessen technologischen Bedürfnissen maßgeschneidert anfertigen. In diesem Fall erlernen sie nämlich spezifisches Know-how, das auch von anderen Verarbeitern gewinnbringend genutzt werden kann. Allerdings vermögen nicht nur die Lieferanten von materiellen Vorprodukten den Informationsfluß zwischen ihren Kunden zu beschleunigen. Vielmehr sind gerade Un-
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ternehmensberatungen als Anbieter von hochspezialisiertem Wissen für diese Tätigkeit prädestiniert. Die Vermutung liegt deshalb nahe, daß Unternehmensberatungen, die in aller Regel für eine Vielzahl von Unternehmen einer bestimmten Branche tätig werden, nicht zuletzt die Aufgabe haben, ein Unternehmen über die Neuentwicklungen seiner Konkurrenten zumindest implizit im Rahmen technologischer oder organisatorischer Empfehlungen zu unterweisen.30 Dieser Überblick muß sich nicht auf private Akteure beschränken. Vielmehr ist auch denkbar, daß sich staatliche Organisationen als Informationsmakler betätigen. Hierfür mag das japanische Ministerium für internationalen Handel und Industrie (MITI) als Beispiel dienen. Nach Auffassung von Fransman befindet sich diese Behörde in der Mitte eines großen und komplexen Informationsnetzwerks, dessen Hauptspeichen durch die historisch gewachsenen Kommunikationsbeziehungen zwischen dem MITI und den japanischen Industrieunternehmen gebildet werden.31 Die zentrale Position dieser staatlichen Organisation ergibt sich aus dem Umstand, daß sie im Gegensatz zu den einzelnen Unternehmen über die Kapazitäten verfügt, um große Menge an eingehenden Information sammeln, lagern, und auswerten zu können. Insbesondere ist es dem MITI durch die Verknüpfung der individuellen Erkenntnisse mehrerer Unternehmen möglich, Innovationschancen für ganze Industriebranchen oder gar Branchencluster zu erkennen, die den betroffenen Unternehmen aufgrund ihrer engeren Perspektive verborgen bleiben. In seiner Funktion als Informationsmakler könnte sich das MITI darauf beschränken, neu entdecktes Wissen an die japanische Wirtschaft zu übermitteln. Dadurch wird allerdings nicht gewährleistet, daß die privaten Unternehmen diesen Input tatsächlich als Ausgangsbasis für eigene Forschungsanstrengungen nutzen. Aus diesem Grund initiiert das MITI oftmals eigene Innovationsprozesse. Die dabei ergriffene Vorgehensweise kann beispielhaft anhand des „Very Large Scale Integration (VLSI)" Projekts erläutert werden.32 Konkretes Ziel dieses von 1976 bis 1979 andauernden Innovationsprogramms war es, durch die eigenständige Entwicklung eines Speicherchips mit 64000 Bytes Speicherkapazität den US-amerikanischen Vorsprung auf diesem technologischen Pfad aufzuholen. Zur Realisierung dieses Projektes wählte das MITI mit Fujitsu, Hitachi, NEC, Mitsubishi und Toshiba fünf japanische Unternehmen aus, die bereits an früheren Forschungsprojekten des MITI erfolgreich mitgewirkt hatten. Ausgehend von diesem 30
31
32
Vgl. Christiansen, James A., Management Consulting Organizations, INSEAD Working Paper 97/01/SM , Fontainebleau 1994. Vgl. auch Siggel, Eckhard, Learning by Consulting: A Model of Technology Transfer through Engineering Consulting Firms, in: Canadian Journal of Development Studies 6, 1985, S. 27-44. Vgl. Fransman, Martin, The Japanese Innovation System: How does it work?, in: Mark Dodgson und Roy Rothwell (Hg.), The Handbook of Industrial Innovation, Cheltenham, Brookfield 1994, S. 67-77. Vgl. Chesnais, François, Technical Co-Operation Agreements between Firms, in: STI Review 4, 1988, S. 51-119; Katz, Michael L. und Janusz A. Ordover, R&D Cooperation and Competition, in: Brookings Papers on Economic Activity. Microeconomics, 1990, S. 137-203.
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Kern wurden zusätzlich vertikale Kommunikationsbeziehungen zu Maschinenbauern und den Lieferanten der benötigten Vorprodukte geknüpft. Die durchgeführten F&E Projekte wurden jeweils zur Hälfte aus Unternehmensmitteln und durch staatliche Darlehen finanziert. Ergänzend zur Forschungstätigkeit in den einzelnen Unternehmen wurde ein gemeinsames Laboratorium gegründet, in das alle Kooperationspartner Mitarbeiter entsandten. Erwartungsgemäß waren auch in dieser horizontalen Partnerschaft die Unternehmen zunächst bemüht, eigene Erkenntnisse den Konkurrenten vorzuenthalten. Allerdings führte die Beteiligung des MITI zu einer Disziplinierung der privaten Mitglieder des gemeinsamen Forschungsprogramms. Da das einzelne Unternehmen befürchten mußte, bei unkooperativem Verhalten zu zukünftigen Innovationsprojekten des MITI nicht mehr eingeladen zu werden, gab es nach Einschätzung von Katz und Ordover mehr Informationen preis als es in einer vergleichbaren Situation ohne Mitwirkung des MITI getan hätte. Letztendlich gelang der japanischen Halbleiterindustrie durch das VLSI Projekt der technologische Anschluß an die US-amerikanischen Konkurrenten. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die vertikale oder horizontale technologische Kooperation, gleichgültig, ob sie unmittelbar oder über einen Informationsmakler erfolgt, die unternehmerische Unsicherheit in der Planungsphase von Innovationsprozessen merklich verringern kann. Da der Aufbau solcher Kommunikationsbeziehungen neben anderen Ressourcen insbesondere Zeit benötigt, zählen sie zum kurzfristig nicht imitierbaren Innovationskapital eines Unternehmens.
2.2.3
Unsicherheit reduzierende Staatsnachfrage
Das gerade beschriebene Beispiel des japanischen VLSI Projekts ist ein positiver Beleg für die von staatlichen Entscheidungsträgern oftmals gehegte technologiepolitische Hoffnung, daß unter geeigneten Rahmenbedingungen eine Behörde durch die Verbreitung innovativer Informationen in Verbindung mit der Übernahme von Koordinierungsaufgaben erfolgversprechende unternehmerische Innovationsprozesse in Gang zu setzen vermag. Darüber hinaus bietet die Geschichte der Halbleiterindustrie auch ein richtungsweisendes Muster für einen gelungenen technologiepolitischen Eingriff höherer Intensität: Zumindest wird mit einiger Berechtigung vermutet, daß sich die USamerikanischen privaten Innovatoren jeweils deshalb vergleichsweise frühzeitig zur riskanten Markteinführung der beiden bahnbrechenden Inventionen des Transistors und des integrierten Schaltkreises entschlossen haben, weil sie im Erfolgsfall auf eine hinreichend große Nachfrage des Staates vertrauen konnten.33 Der Verlauf der technologischen Entwicklung in einer Volkswirtschaft wird oftmals maßgeblich durch die in der Gesellschaft vorherrschende Wertvorstellung über die Vgl. Levin, Semiconductor Industry; Mowery, David C. und Nathan Rosenberg, Paths of Innovation. Technological Change in 20th-Century America, Cambridge 1998, S. 124-135.
52
Rangordnung verschiedener Innovationsziele beeinflußt. So mag die nationale Begeisterung für synthetisch hergestellte Naturprodukte im rohstoffarmen Deutschland ihren Teil dazu beigetragen haben, daß sich die deutschen Chemieunternehmen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auf Forschungsprojekte konzentrierten, die auf die Substitution bisher importierter Rohstoffe ausgerichtet waren. Die Palette reichte hierbei von Farbstoffen über Düngemittel und Benzin bis hin zu Kautschuk und Textilfasern. In den USA war es in erster Linie das Militär, das seit dem Zweiten Weltkrieg von den im Bereich der Elektrotechnik tätigen Erfindern insbesondere die Entwicklung kleinerer Bauteile einforderte, die benötigt wurden, um in den ambitionierten Luft- und Raumfahrtprojekten, aber auch in eher prosaischen Fällen wie bei von Soldaten zu transportierenden Funk- und Radiogeräten Gewicht und Energie zu sparen. Tabelle 3
Jahr 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 a
Anteil der staatlichen Nachfrage am Absatz der US-amerikanischen Halbleiterindustrie, 1955-1976, in Prozent3 Anteil der Staatsnachfrage in Prozent 38 36 36 39 45 48 39 39 35 28 28
Jahr 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976
Anteil der Staatsnachfrage in Prozent 27 27 25 17 21 13 12 6 9 8 10
Levin, Richard C., The Semiconductor Industry, in: Richard R. Nelson (Hg.), Government and Technical Progress. A Cross-Industry Analysis, New York u.a.O. 1982, S. 60.
Daher verwundert es auch wenig, daß sich das US-amerikanische Verteidigungsministerium bereitwillig zur Subventionierung einer Pilotfabrik entschloß, nachdem im Jahr 1947 Wissenschaftler des Bell Laboratoriums in Englewood, New Jersey, verkündet hatten, einen Transistor auf Germaniumbasis entwickelt zu haben, der im Vergleich zu den bisher gebräuchlichen Elektronenröhren nicht nur kleiner war und weniger Energie benötigte, sondern auch eine geringere Störanfälligkeit als letztere aufwies. Aufgrund dieser offensichtlichen Vorteile setzte sich dieses zunächst in der Fernmeldetechnik verwendete Halbleiterelement bald auch in den technologisch benachbarten Anwen-
53 dungsbereichen durch. Auf dem Gebiet der Computertechnik war es das Unternehmen IBM, das im Jahr 1954 den ersten vollständig mit Germaniumtransistoren ausgestatteten Rechner vorstellte. Im gleichen Jahr trat Texas Instruments mit dem ersten Prototyp eines Siliziumtransistors an die Öffentlichkeit. Dieses Unternehmen hatte sich von Beginn an auf die Verwendung von Siliziumkristallen konzentriert, da man, wie sich herausstellte, mit Recht vermutete, daß ein Siliziumtransistor aufgrund seiner größeren Hitzebeständigkeit militärischen Ansprüchen in besonderem Maße genügen würde. Tatsächlich nährte sich die heranwachsende Halbleiterindustrie in großem Umfang von der staatlichen Nachfrage. So zeigt Tabelle 3, daß zwischen 1955 und 1963 jährlich stets über ein Drittel der US-amerikanischen Halbleiterproduktion von staatlichen Behörden übernommen wurde. Vor allen Dingen fällt auf, daß der Anteil der Staatsnachfrage im Zeitraum von 1958 bis 1960 gegenüber 1957 um beachtliche 12 Prozentpunkte anstieg. Dieser Befund ist auf das „Minuteman Missile Reliability Program" zurückzufuhren, in dessen Rahmen die Air Force in großem Umfang die neuartigen Germaniumund Siliziumtransistoren zur Verwendung in ihren Raketen erwarb. Die Bedeutung der staatlichen Nachfrage als Katalysator privater Innovationsprojekte kann insbesondere anhand des Beispiels des integrierten Schaltkreises verdeutlicht werden, der im Jahr 1958 nahezu zeitgleich von Texas Instruments und Fairchild hervorgebracht wurde. Hierbei bezeichnet der Begriff integrierter Schaltkreis die innovative Vorgehensweise, auf einem geeigneten Trägermaterial mehrere Transistoren fest miteinander zu einem sogenannten Mikrochip zu verbinden, der später als Mikroprozessor oder als Speicherchip in Computern und anderen Geräten Anwendung finden sollte. Anfang der sechziger Jahre herrschte jedoch noch große Unsicherheit über den Nutzen dieser letztendlich bahnbrechenden Innovation. So beschloß beispielsweise der fuhrende Computerhersteller IBM im Jahr 1962, in seiner neuen Baureihe auf den Einsatz von integrierten Schaltkreisen zu verzichten. Dieses risikoscheue Urteil des wichtigsten privaten Nachfragers hätte die weitere Entwicklung des Mikrochips zumindest erheblich verlangsamen können. Allerdings entschieden sich im gleichen Jahr die staatliche Luft- und Raumfahrtbehörde NASA und die Air Force dazu, integrierte Schaltkreise für das Navigationssystem des Apollo Raumschiffs beziehungsweise der Minuteman Rakete einzusetzen. Die weitreichenden ökonomischen Folgen dieses Beschlusses veranschaulicht Tabelle 4. In der von 1962 bis etwa 1964 andauernden Anlaufphase der Produktion setzten die Anbieter von integrierten Schaltkreisen diese nahezu vollständig an staatliche Behörden absetzten. Aufgrund von mangelnden privaten Interesses bedurfte es offensichtlich der Nachfrage des Staates, um die privaten Unternehmen dazu zu veranlassen, die Produktion des Mikrochips von der Ebene der Forschungslaboratorien auf ein industrielles Niveau anzuheben und somit dieses Innovationsprojekt erfolgreich abzuschließen. Die risikoaversen potentiellen Nutzer in der Privatwirtschaft profitierten auf zweifache Weise von dieser Vorreiterrolle des Staates. Einerseits wurden im Rahmen der staatlichen Projekte die Funktionsfähigkeit und Verläßlichkeit dieser Innovation unter Beweis ge-
54 stellt. Andererseits ermöglichte der Anstieg der Produktionsmenge augenscheinlich eine erheblich Verringerung des durchschnittlichen Absatzpreises eines integrierten Schaltkreises, der sich bereits nach vier Jahren nur noch auf ein Zehntel des ursprünglichen Betrags von fünfzig US-Dollar belief. Nachdem sich infolgedessen die mit dem Einsatz von Mikrochips verbundene unternehmerische Unsicherheit beträchtlich verringert hatte, verdrängten die privaten Nachfrager den Staat sehr schnell aus seiner dominierenden Stellung. Tabelle 4
Jahr
US-amerikanische GeDurchschnittspreis eines samtproduktion an integ- integrierten Schaltrierten Schaltkreisen, in kreises, in US-Dollar Millionen US-Dollar
1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 a
Gesamtproduktion, Durchschnittspreis und staatliche Nachfrage in der US-amerikanischen Erzeugung integrierter Schaltkreise, 1962-1968"
4° 16 41 79 148 228 312
50,00 c 31,60 18,50 8,33 5,05 3,32 2,33
Anteil der staatlichen Nachfrage am Absatz der US-amerikanischen Gesamtproduktion an integrierten Schaltkreisen, in Prozentb 100 c 94° 85° 72 53 43 37
b
Mowery, David C. und Nathan Rosenberg, Paths of Innovation. Technological Change in 20' h -Century America, Cambridge 1998, S. 133. Die staatliche Nachfrage umfaßt hier die Nachfrage des Verteidigungsministeriums, der
c
Atomic Energy Commission, des CIA, der Federal Aviation Agency und der NASA, Diese Zahlen sind geschätzt.
Nicht nur die US-amerikanischen Halbleiterproduzenten, sondern beispielsweise auch die Computer- und die Flugzeughersteller dieses Landes mögen ihren Aufstieg zu einer marktfiihrenden Stellung im internationalen Wettbewerb dem Militär zu verdanken haben, das durch Forschungssubventionen und staatliche Aufträge die technologische und ökonomische Unsicherheit in der frühen Entwicklungsphase dieser neuen Branchen entscheidend reduzierte.34 Levin (Semiconductor Industry) vertritt die Auffassung, daß dieser empirische Befund zu einer als „Military model" bezeichneten technologiepoliti-
Vgl. Katz, Phillips, Computer Industry, sowie Mowery, David C. und Nathan Rosenberg, The Commercial Aircraft Industry, in: Richard R. Nelson (Hg.), Government and Technological Progress. A Cross-Industry Analysis, New York u.a.O. 1982, S. 101-161.
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sehen Konzeption abstrahiert werden kann, die in allen Wirtschaftsbereichen, in denen der Staat über Nachfragemacht verfugt, angewandt werden kann. Das „Military model" umfaßt vier Stufen: die staatliche Zielvorgabe, die Subventionierung privater Forschungsprogramme, die Ausübung der Staatsnachfrage, und schließlich flankierende wettbewerbsfordernde Maßnahmen. Zweck der staatlichen Zielvorgabe ist es, durch eine möglichst genaue Charakterisierung der anzustrebenden Eigenschaften einer potentiellen Innovation entsprechende Forschungsprogramme in privaten Unternehmen hervorzulocken. Im Idealfall sollte das projektierte Erzeugnis außerhalb der gegenwärtigen Produktionsmöglichkeiten der Unternehmen liegen, aber nicht offensichtlich utopisch sein, sondern im Rahmen des verfügbaren Wissens mittelfristig realisierbar erscheinen. Mit dieser Zielsetzung signalisiert der Staat den Unternehmen, daß er bereit ist, die Innovation gegebenenfalls zumindest in der Anfangsphase ihres Produktlebenszykluses zu einem kostendeckenden Preis nachzufragen. Dieses implizite Versprechen reduziert die ökonomische Unsicherheit der Unternehmen, beseitigt sie aber nicht. Unter anderem ist zu diesem Zeitpunkt weiterhin offen, ob es möglich sein wird, längerfristig auch private Nachfrager zu gewinnen. Da die staatliche Konkretisierung des Forschungsziels überdies die Frage unbeantwortet läßt, auf welchem technischen Weg dieses tatsächlich erreicht werden kann, bleibt auch die technologische Unsicherheit der Unternehmen in großen Teilen erhalten. Sobald private Unternehmen damit begonnen haben, konkrete Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Realisierung der staatlichen Zielvorgabe durchzufuhren, sollte der Staat erfolgversprechende Projekte durch finanzielle Zuschüsse unterstützen. Dieser vom „Military model" geforderte staatliche Eingriff kann den Innovationsprozeß beschleunigen, sofern durch die teilweise Übernahme der Forschungs- und Entwicklungskosten die ökonomische Unsicherheit der subventionierten Unternehmen zusätzlich verringert wird, und diese hierauf ihre Forschungsprogramme aufstocken. Die wichtigste Schwäche dieser Maßnahme ist, daß die technologische Unsicherheit staatlicher Entscheidungsträger meistens mindestens genauso groß ist wie jene der privaten Unternehmen. Deshalb besteht die große Gefahr, daß unzulängliche Projekte staatlich unterstützt und potentiell erfolgreiche Projekte durch die Verweigerung einer Subvention entmutigt werden. Insoweit widersprechen Forschungssubventionen der in Kapitel 2.2.1 aufgestellten Forderung, daß technologiepolitische Eingriffe die Vielfalt unternehmerischer Innovationsprojekte nicht vermindern sollten. Hinzu kommt eine weitere Schwierigkeit. Eine nationale Regierung mag sich aufgrund ihres finanziellen Engagements dazu berechtigt fühlen, zur Realisierung bestimmter inländischer Beschäftigungsoder Produktionsziele die in den unternehmensspezifischen Forschungsprogrammen neu erlangten Informationen auch anderen Unternehmen zugänglich zu machen. In diesem Fall werden die subventionierten Unternehmen versucht sein, die Erzeugung
56 von beobachtbaren und transferierbaren Erkenntnissen weitgehend zu vermeiden, und sich statt dessen auf die Produktion von „Tacit knowledge" beschränken. Wir werden in Kapitel 3.3.1 zeigen, daß sich die US-amerikanischen Reifenproduzenten während des staatlichen Synthesekautschukprogramms (1942-1955) tatsächlich getreu dieser Hypothese verhielten. Die Ausübung staatlicher Nachfrage ist neben der Zielvorgabe das eigentliche Kernstück der von Levin (Semiconductor Industry) skizzierten technologiepolitischen Konzeption. Sobald die Innovation Marktreife erreicht hat, erfüllt der Staat seine mit der Zielvorgabe implizit verbundene Zusage, und fragt das neue Produkt zu einem Preis nach, der nicht nur die fixen und variablen Kosten der eigentliche Produktion, sondern auch die Aufwendungen des vorausgegangenen Innovationsprozesses abdeckt. Die Vorstellung geht dahin, daß im weiteren Verlauf infolge der durch Größenvorteile und Lernkurveneffekte ermöglichten Preissenkungen die anwachsende private Nachfrage die staatlichen Käufe ergänzt oder sogar vollständig ersetzt. Offensichtlich existiert hier aber ein technologiepolitischer Zielkonflikt zwischen der Reduzierung der Unsicherheit vor und dem Setzen von Anreizen zur EfFizienzsteigerung nach erfolgter Innovation. So ist es einerseits zur größtmöglichen Verringerung der unternehmerischen Unsicherheit sinnvoll, ex ante zu versprechen, die staatliche Nachfrage über einen langen Zeitraum hinweg zu kostendeckenden Preisen auszuüben. Andererseits wird sich ein Unternehmen ex post desto eher um innerbetriebliche Effizienzerhöhungen bemühen und diese dann mittels Preissenkungen an seine privaten Kunden weitergeben, je kürzer der Zeitraum einer gesicherten staatlichen Nachfrage ist und je größer die in den staatlichen Beschaffungsverträgen vereinbarten Möglichkeiten zur Gewinnsteigerung durch Kosteneinsparung sind. Auch die von Levin (Semiconductor Industry) im Rahmen seines „Military models" angesprochenen flankierenden Maßnahmen zur Wettbewerbsförderung dienen vorrangig dem Effizienzziel. Vorgesehen ist, daß der Staat den freien Marktzutritt gewährleistet und seine Nachfrage nach dem innovativen Produkt nach Möglichkeit auf mehrere Anbieter verteilt. Dies kann unter anderem bedeuten, daß der ursprüngliche Innovator keinen oder einen nur geringen Patentschutz erhält, oder gezwungen wird, sein technologisches Wissen mit Konkurrenten zu teilen. Aufgrund der verringerten Gewinnerwartung schwinden hierdurch jedoch auch die Innovationsanreize für das Unternehmen. Erneut generiert das „Military model" einen „Trade-off' zwischen weniger Unsicherheit ex ante und größerer Effizienz ex post. Zusammenfassend sollte deutlich geworden sein, daß nicht zuletzt aufgrund der genannten Zielkonflikte das von Levin vorgeschlagene „Military model" auf seinem Weg zu einer brauchbaren technologiepolitischen Konzeption zumindest noch der Verfeinerung bedarf. Möglichkeiten hierzu werden in Kapitel 3 anhand eines Vergleichs der deutschen und der US-amerikanischen Synthesekautschukerzeugung während des Zweiten Weltkriegs ausfuhrlich diskutiert werden. Hier soll nun durch eine kurze Dar-
57 Stellung der westdeutschen Werftpolitik der frühen siebziger Jahre die grundsätzliche Problematik staatlicher Zielvorgaben aufgezeigt werden. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts errangen die japanischen Produzenten durch eine geschickte Kombination aus innovativen Produktions- und Absatzstrategien eine führende Stellung auf dem internationalen Schiffbaumarkt.35 So wurden beispielsweise Fertigungshallen zur wetterunabhängigen Produktion errichtet und das Nieten der Schiffsbleche durch das weniger arbeitsaufwendige Schweißen ersetzt. Die wichtigste Veränderung war jedoch der Übergang von der Einzel- zur Serienfertigung. Während die traditionellen Schiffbauer aus England oder der Bundesrepublik Deutschland auf Basis einer breiten Angebotspalette letztendlich Unikate nach individuellen Kundenwünschen produzierten, konzentrierten sich ihre japanischen Konkurrenten auf die Herstellung standardisierter Tanker und Massengutfrachter. Aufgrund der hierdurch ermöglichten Kosteneinsparungen dominierten die Japaner bald den Preiswettbewerb in diesem wichtigen Marktsegment. Folgerichtig kam ein von der Bundesregierung im Jahr 1970 in Auftrag gegebenes Gutachten zu der Einschätzung, daß die unbefriedigende Absatzlage der deutschen Werftindustrie in erster Linie darauf zurückzuführen sei, daß man es in der Vergangenheit versäumt hatte, dem Vorbild der innovativen Japaner schnell zu folgen. Es wurde daher empfohlen, nachholend in den Aufbau eigener Kapazitäten zur Produktion von Großschiffen zu investieren. Die bundesdeutsche Regierung folgte diesem Rat: Im Rahmen eines Tankersonderprogramm erhielten deutsche Reeder, die Großtanker bei deutschen Werften in Auftrag gaben, einen Baukostenzuschuß von 15 % und zusätzliche Kredithilfen. In Ergänzung zu diesen indirekten Investitionsanreizen wurden den Werften direkte Subventionen zur Errichtung von Tankerdocks gewährt. Unglücklicherweise erwies sich dieser staatlich vorangetriebene Kapazitätsaufbau aufgrund der beiden Ölkrisen als existenzgefährdende Fehlinvestition der privaten Unternehmen. So nahm der Seehandel mit Rohöl gemessen in Tonnenmeilen zwischen 1975 und 1985 um 51,4 % ab. Dementsprechend wurde das Volumen der internationalen Tankerflotte im gleichen Zeitraum um knapp 18 % verringert. Die Nachfrage nach neuen Tankern brach zusammen. Die fehlgeschlagene staatliche Förderung des Großtankerbaus in der Bundesrepublik Deutschland und das in Kapitel 2.2.2.2 beschriebene, erfolgreiche japanische VLSI Projekt im Bereich der Halbleitertechnik gleichen sich bezüglich ihrer Zielsetzung. In beiden Fällen versuchte der Staat, mittels einer Zielvorgabe für die einheimische Industrie den technologischen Vorsprung fortschrittlicher ausländischer Konkurrenten in einem koordinierten Kraftakt aufzuholen. Unterschiedlich waren hingegen unter anderem die Reifegrade der jeweils betroffenen Märkte. Der Markt für Speicherchips expandierte in den siebziger Jahren mit großer Geschwindigkeit, was den Japanern die Chance gab, nach Erreichen der US-amerikanischen Fähigkeiten ihrerseits die technologische Vgl. Gröner, Helmut und Martina Sindelar, Werftindustrie, in: Peter Oberender (Hg.), Marktökonomie. Marktstruktur und Wettbewerb in ausgewählten Branchen der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, S. 79-108.
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Führung zu übernehmen. Hingegen war der Markt für Großtanker zu Beginn der siebziger Jahre wohl schon weitgehend gesättigt, weshalb auch bei Ausbleiben des negativen exogenen Schocks der beiden Ölkrisen ein nachhaltiger ökonomischer Erfolg der deutschen Werftpolitik wenig wahrscheinlich gewesen wäre. Für uns gilt es aus diesem Beispiel zu lernen, daß das „Military model" schon deshalb kein technologiepolitisches Allheilmittel darstellt, weil den staatlichen Entscheidungsträgern bei der Formulierung von Zielvorgaben ebenso Fehlurteile unterlaufen können wie privaten Unternehmern. Besondere Skepsis ist deshalb angebracht, weil der Staat zudem die Macht besitzt, die Unternehmen durch Setzung geeigneter Anreize auf seinen technologiepolitischen Kurs zu zwingen, wodurch die Anzahl der konkurrierenden Innovationsprojekte empfindlich dezimiert wird. Gleichwohl ist festzuhalten, daß Preis- und Abnahmegarantien des Staates durchaus dazu geeignet sind, die unternehmerische Unsicherheit in der Planungsphase von Innovationsprozessen zu verringern. Diese Feststellung bedeutet im Allgemeinen nicht, daß technologiepolitische Eingriffe des Staates zum Innovationskapital eines Unternehmens zu zählen sind. Allerdings erscheinen abschließend zwei Ergänzungen vonnöten. Wenn staatliche Technologiepolitik über einen längeren Zeitraum hinweg einem konstanten Muster folgt und darüber hinaus nicht systematisch zwischen den verschiedenen Unternehmen einer nationalen Branche diskriminiert, kann sie als Bestandteil des nationalen Innovationssystems gedeutet werden, das in seiner Gesamtheit die unternehmensübergreifende Entwicklung der nationalen technologischen Pfade lenkt. Unter den bisher genannten Beispielen mögen hierzu die in Autarkiebestrebungen gipfelnde deutsche Favorisierung synthetischer Rohstoffe und die Miniaturisierungswünsche des US-amerikanischen Militärs zählen. Falls der Staat hingegen längerfristig bestimmte Unternehmen aufgrund traditioneller Beziehungen bevorzugt, muß dieses unter demokratischen Gesichtspunkten zumindest unfaire Verhalten aus Sicht des begünstigten Unternehmens als unternehmensspezifisches Innovationskapital interpretiert werden. Nach Auffassung von Simon Reich ist die epochenübergreifende Branchengeschichte der deutschen Automobilunternehmen für letzteren Fall ein ausgezeichnetes Beispiel.36 So glaubt Reich beobachten zu können, daß die Automobilunternehmen Ford und Opel im Dritten Reich aufgrund ihrer amerikanischen Eigentümer gegenüber Firmen wie BMW oder Mercedes Benz und dem im Besitz der Deutschen Arbeitsfront befindlichen Volkswagen Werk gezielt benachteiligt wurden. Über die sich hieraus ergebenden kurzfristigen Vorteile hinaus hätten sich den bevorzugten Unternehmen persönliche Beziehungen zum Verwaltungsapparat und zum Bankensektor eröffnet, die den Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur überlebten. Infolgedessen hätten jene Unternehmen auch nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Notfall auf die Unterstützung durch
Vgl. Reich, Simon, The Fruits of Fascism. Postwar Prosperty in Historical Perspective, Ithaca, London 1990.
59
Staat und Geschäftsbanken zählen können, wodurch sich unter anderem natürlich auch das Risiko ihrer Innovationsprozesse verringert hätte. Außenseiter wie Ford oder Opel hätten diesen Vorteil nicht besessen. Somit haben nach Auslegung von Reich die wirtschaftspolitischen Weichenstellungen der dreißiger Jahre die längerfristigen Entwicklungspfade der in Deutschland ansässigen Automobilunternehmen entscheidend beeinflußt. Auch andere Autoren sind der Ansicht, daß die vor 1945 entstandenen Kommunikationsbeziehungen zwischen Wirtschaft und Staat in der Nachkriegszeit fortbestanden. Volker Berghahn resümiert: „Insgesamt erinnert die Zusammenarbeit zwischen Ministerialbürokratie und Wirtschaft Anfang der fünfziger Jahre eher an eine durchaus bewährte deutsche Tradition - an eine Kontinuität, die sich nahezu ungebrochen über das Ende der NS-Wirtschaft und die Währungsreform erhalten hatte."37 Offensichtlich wurde der ökonomische Graben zwischen dem Dritten Reich und der Bundesrepublik Deutschland nicht nur von einer technologischen Brücke, sondern auch von einem stabilen Beziehungsgeflecht überwunden. Doch auch wenn in dieser Arbeit die Bedeutung von langfristigen Pfadabhängigkeiten immer wieder betont wird, bedürfen die These von Reich, wenn nicht des Widerspruchs, so doch der Ergänzung. So findet sich beispielsweise eine sehr wichtige Ursache des großen Nachkriegserfolgs von Volkswagen in der diskriminierende Politik der Besatzungsmächte, die dem Wolfsburger Unternehmen bereits im August 1945 die Produktion von Personenkraftwagen erlaubten, während dies nicht nur Opel und Ford, sondern auch den anderen in Deutschland ansässigen Automobilunternehmen bis zum Jahr 1948 untersagt blieb. Diesen zeitlichen Vorsprung wußte Volkswagen zur Gewinnung von wichtigen privaten und öffentlichen Kunden wie Bahn und Post zu nutzen, die diesem Lieferanten auch in der Folgezeit treu blieben.38 Halten wir fest, daß ein Unternehmen über seine etablierten Kommunikationsbeziehungen zu anderen Unternehmen, Informationsmaklern und staatlichen Behörden zusätzliche Informationen erlangen kann, welche die Entscheidungsfindung in der Planungsphase von Innovationsprozessen erleichtern. Ob die selektierten Projekte letztendlich tatsächlich zu einem ökonomischen Erfolg führen, hängt zunächst einmal von dem in der nachfolgenden F&E-Phase zur Verfugung stehenden technologischen Innovationskapital ab.
Berghahn, Volker, Unternehmen und Politik in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/Main 1985, S. 231. Vgl. auch Shonfield, Andrew, Modern Capitalism: The Changing Balance of Public and Private Power, Oxford 1965, S. 240 ff. Vgl. Turner, Ian, Das Volkswagenwerk - ein deutsches Unternehmen unter britischer Kontrolle, in: Josef Foschepoth und Rolf Steininger (Hg.), Britische Deutschland- und Besatzungspolitik 1945-1949, Paderborn 1985, S. 281-300.
60
2.3
Die F&E-Phase des unternehmerischen Innovationsprozesses
2.3.1
Technologische Pfade
In der F&E-Phase unternehmerischer Innovationsprozesse wird versucht, im Rahmen der zuvor ausgewählten Forschungsprojekte Inventionen hervorzubringen, die über ihre technologische Machbarkeit hinaus erwarten lassen, daß sie nach Markteinführung zu einem mindestens kostendeckenden Preis abgesetzt werden können. Die Erfolgswahrscheinlichkeit dieses Vorhabens steigt, wenn die Mitarbeiter der industriellen Laboratorien bei Ausfuhrung ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf bereits bekannte Methoden und Heuristiken zurückgreifen können, die sie sich in der Vergangenheit bei der Beschäftigung mit ähnlichen Projekten erworben haben. Aufgrund der menschlichen Neigung, an bereits Bekanntem und Bewährtem festzuhalten, können Unternehmen nach Auffassung von Cyert und March darüber hinaus überhaupt nicht umhin, ihre Suche nach Inventionen auf den bereits vorhandenen Erfahrungen ihrer Mitarbeiter aufzubauen: „Search is biased. The way in which the environment is viewed and the communications about the environment that are processed through the Organization reflect variations in training, experience, and goals of the participants in the Organization."39 Diese Form der Pfadabhängigkeit wurde erstmals von Nelson und Winter in den Mittelpunkt einer ökonomischen Analyse von Strukturwandel und Technischem Fortschritt gestellt. Die beiden Autoren modellieren den unternehmerischen Innovationsprozeß als eine je Periode einmal durchgeführte Ziehung aus einer vorgegebenen Menge potentieller Neuheiten, bei der den Inventionen in der Nachbarschaft des technologischen status quo erheblich höhere Eintrittswahrscheinlichkeiten zugeordnet sind als denjenigen Entdeckungen, die sich in großer technologischer Distanz zur herkömmlichen Erzeugung befinden. Hierdurch werden in den Computersimulationen von Nelson und Winter kleine Veränderungen zur Regel und diskontinuierliche Technologiesprünge zur seltenen Ausnahme. 40 Längerfristig ergibt sich ein unternehmensspezifischer technologischer Pfad, dessen Verlauf maßgeblich von dem zu Beginn vorhandenen Wissensbestand der im Unternehmen beschäftigten Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler bestimmt wird. Wenn es wegen Personen- oder Organisationsgebundenheit zumindest in kurzer Frist nicht möglich ist, derartiges Innovationskapital durch Imitati-
39 40
Cyert, March, Behavioral Theory, S. 121. Vgl. Nelson, Winter, Evolutionary Theory, S. 210-212, S. 246-262.
61
on von einem Unternehmen auf das andere zu übertragen, können sich anfangliche technologische Unterschiede zwischen den Unternehmen im Zeitverlauf verfestigen.41 Hinzu kommt, daß sich innerhalb eines Unternehmens das technologische Innovationskapital in einem Rückkopplungsprozeß entlang der eingeschlagenen Entwicklungsrichtung weiter aufbaut, wodurch sich für diesen Bereich der Wissensgrenze die Erfolgswahrscheinlichkeit zukünftiger unternehmerischer F&E-Vorhaben Schritt für Schritt erhöhen kann. Diese Aufwärtsspirale42 fuhrt dazu, daß Unternehmen über überraschend lange Zeiträume hinweg die Führung auf einem bestimmten technologischen Pfad verteidigen. Im Falle eines Inventionswettlaufs zwischen verschiedenen Unternehmen ist nämlich zu erwarten, daß unter sonst gleichen Bedingungen dasjenige Unternehmen gewinnt, welches in dem in Frage kommenden Technologiebereich über die längste Forschungstradition verfugt. Empirische Beobachtungen bestätigen diese plausible theoretische Erklärung. Beispielsweise identifizieren Achilladelis, Schwarzkopf und Cines durch eine Befragung amerikanischer und europäischer Chemieunternehmen unternehmensspezifische technologischen Traditionen („Corporate technological traditions"), die ihrer Definition zufolge immer dann vorliegen, wenn ein Unternehmen, das mit der frühzeitigen Patentierung einer Basisinnovation („Radical innovation") zur Erschließung einer neuartigen Technologie beigetragen hat, auch in den nachfolgenden Jahrzehnten eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Patenten in diesem Technologiebereich aufweist.43 Demgemäß kann das Vorliegen einer bestimmten unternehmensspezifischen technologischen Tradition hier auch als ein Beleg für eine anhaltende Führerschaft auf dem entsprechenden technologischen Pfad verstanden werden. Tabelle 5 zeigt eine Auswahl der von Achilladelis, Schwarzkopf und Cines ermittelten unternehmensspezifischen technologischen Traditionen. Tabelle 5 erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie kann daher nur zur Illustration der Arbeiten von Achilladelis, Schwarzkopf und Cines, aber nicht als Grundlage für eine weitergehende Analyse der internationalen Verteilung der technologischen Pfade in der Chemieindustrie dienen. Nichtsdestotrotz vermittelt auch diese fragmentarische Aufstellung den durchaus zutreffenden Eindruck, daß in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert die technologische Entwicklung auf dem Gebiet der Kunststoffe, Synthesekautschuke und Synthesefasern vornehmlich von einigen wenigen USamerikanischen und deutschen Unternehmen vorangetrieben wurde.44
Vgl. auch Pavitt, Keith, Sectoral Patterns of Technical Change: Towards a Taxonomy and a Theory, in: Research Policy 13, 1984, S. 353. Vgl. Kamien, Morton I. und Nancy L. Schwartz, Market Structure and Innovation, Cambridge 1982, S. 70 f. Vgl. Achilladelis, Basil, Albert Schwarzkopf und Martin Cines, The Dynamics of Technological Innovation: The Case of the Chemical Industry, in: Research Policy 19, 1990, S. 1-34. Vgl. z.B. Hufbauer, Synthetic Materials, 38-41. Von nachgeordneter Bedeutung waren die Innovationsstandorte Großbritannien, Frankreich und Italien.
62 In den verbleibenden Kapiteln 3, 4 und 5 werden wir uns ausführlich mit dem technologischen Pfad der Kunststoffe und Synthesekautschuke beschäftigen. An dieser Stelle wenden wir uns dem Beispiel der in Zeile 2 von Tabelle 5 angedeuteten Erschließung des technologischen Pfads der Hochdrucksynthesen durch das deutsche Chemieunternehmen BASF zu, das die bisherigen theoretischen Aussagen zu den Ursachen und Folgen der Akkumulation von technologischem Innovationskapital in der F&E-Phase unternehmerischer Innovationsprozesse hervorragend verdeutlicht.45 Tabelle 5
Einige unternehmensspezifische technologische Traditionen in der internationalen Chemieindustrie3
Unternehmen
Land
Technologische Tradition
Basisinnovationb
BASF
D
BASF Bayer Bayer B.F. Goodrich Celanese Celanese
D D D USA USA USA
Zwischenprodukte der organischen Chemie Polystyrol Kunststoffe Synthesekautschuk Polyurethan Kunststoffe PVC Kunststoffe Synthesefasern Zwischenprodukte der organischen Chemie Polystyrol Kunststoffe
Ammoniaksynthese Polystyrol 1928 Synthesekautschuk 1910 Polyurethan 1942 PVC 1930 Zellulose Acetat 1924 Essigsäure 1933 Polystyrol
1932
Synthesefasern Polypropylen Kunststoffe und Fasern
Nylon Polypropylen
1936 1954
DOW Chemi- USA cal Du Pont USA Montedison I
a b
Zeitpunkt der Basisinnovation 1913
Achilladelis, Basil, Albert Schwarzkopf und Martin Cines, The Dynamics of Technological Innovation: The Case of the Chemical Industry, Research Policy 19, 1990, S. 9. Eine bestimmte Basisinnovation kann in der Untersuchung von Achilladelis, Schwarzkopf und Cines auch mehreren Unternehmen zugeordnet sein, da diese Autoren als Zuordnungskriterium nicht die erstmalige Markteinführung, sondern das entsprechende Patent verwenden, das in manchen Fällen von verschiedenen Unternehmen für jeweils einen nationalen oder regionalen Markt erworben wurde.
Vgl. Hughes, Thomas Parke, Das „technologische Momentum" in der Geschichte. Zur Entwicklung des Hydrierverfahrens in Deutschland 1898-1933, in: Karin Hausen und Reinhard Rürup (Hg.), Moderne Technikgeschichte. Köln 1975, S. 358-383; Plumpe, Gottfried, Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904-1945, Berlin 1990, S. 203-296; Raichle, Hochdrucksynthesen.
63 Ausgangspunkt des technologischen Pfads der Hochdrucksynthesen war die im Jahr 1913 erfolgte Einführung der industriellen Synthese des Ammoniaks, der als Stickstoffverbindung zur Erzeugung von Düngemitteln, synthetischen Farbstoffen und Sprengstoffen genutzt werden kann. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts diente als industrielle Stickstoffquelle hauptsächlich der in der Natur vorhandene Natronsalpeter, dessen einzige nennenswerte Abbaustätte die Atacama Wüste in Chile war. Nur in vergleichsweise geringen Mengen entstand gebundener Stickstoff auch in Form von Ammoniumsulfat als Nebenprodukt der Steinkohleverkokung. Aufgrund seiner intensiv betriebenen Landwirtschaft war Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs der größte Importeur von Chilesalpeter. Bei Ausfall dieser Einfuhren drohte aber nicht nur der Niedergang der inländischen Nahrungsmittelproduktion, sondern auch der Zusammenbruch der deutschen Sprengstofferzeugung, was insbesondere im Kriegsfall fatale Konsequenzen haben konnte. Schaubild 5
Der technologische Pfad der Hochdrucksynthesen einschließlich wichtiger technologischer Querverbindungen
SYNTHETISCHE WERKSTOFFE
HOCHDRUCKSYNTHESEN
ERDÖLVERARBEITUNG
Ammoniaksynthese (1913)
i Kunstharz, Aminoplaste
Methanolsynthese (1923)
Kunststoff Polyisobutylen, Synthesekautschuk Butyl
Isobutylölsynthese (1923)
Hochleistungstreibstoff
Kunststoff Hochdruckpolyethylen
Treibstoffsynthese (1926)
Erdölkracken
64 Vor diesem Hintergrund lag für die deutschen Chemieunternehmen der Gedanke vermutlich nahe, wie bereits im Bereich der Textilfarben erfolgreich vorgeführt, das knappe Importgut durch ein synthetisch hergestelltes Substitut zu ersetzen, das auf Grundlage einheimischer Rohstoffe erzeugt werden konnte. Es verwundert daher wenig, daß das Chemieunternehmen BASF rasch auf die Mitteilung reagierte, daß es dem Karlsruher Professor Fritz Haber im Jahr 1909 gelungen war, unter Laborbedingungen den in der Luft reichlich vorhandenen Stickstoff mit Wasserstoff zu Ammoniak zu verbinden. Unter Leitung des Chemikers Carl Bosch, der zudem über Erfahrungen in der Stahlerzeugung verfügte, übernahm eine Gruppe von Mitarbeitern der BASF im Jahr 1910 die Aufgabe, die Versuchsanordnung von Fritz Haber auf ein industrielles Niveau zu übertragen. Das größte Problem dieses Vorhabens bestand darin, daß sich die herkömmlichen Druckbehälter nicht für die Ammoniaksynthese eigneten, die sich bei großem Druck und hoher Temperatur unter Mitwirkung des aggressiven Wasserstoffs vollzog. Deshalb konstruierte die F&E Mannschaft der BASF in Zusammenarbeit mit dem Stahlerzeuger Krupp einen innovativen doppelwandigen Stahlreaktor, dessen Innenwand aus wasserstoffresistentem Weicheisen bestand und dessen äußerer Stahlmantel einem Druck von 300 at46 sowie einer Temperatur von 500° Celsius standhalten konnte. Zur Beschleunigung der Reaktion entwickelte man außerdem einen neuartigen Eisenkatalysator. Schon im Jahr 1913 nahm die erste industrielle Ammoniaksyntheseanlage in Oppau bei Ludwigshafen ihren Betrieb auf. Der bald darauf einsetzende Erste Weltkrieg beschleunigte den Ausbau der Kapazitäten in Oppau und in einer zweiten Großanlage in Leuna, da die deutsche Regierung darauf drängte, den nun tatsächlich eintretenden Ausfall von Chilesalpeterimporten durch eine entsprechende Steigerung der inländischen Ammoniaksynthese zu kompensieren. Nach Kriegsende wurde die neuartige Technologie von den ausländischen Chemieunternehmen schnell imitiert, so daß im Jahr 1930 weltweit bereits 47 % der industriell genutzten Stickstoffverbindungen mittels Hochdrucksynthese und nur noch 19 % aus Chilesalpeter gewonnen wurden.47 Die innovative Leistung, die bei wachsender Weltbevölkerung besorgniserregende Abhängigkeit der landwirtschaftlichen Produktion von einem nicht erneuerbaren natürlichen Rohstoff aufgehoben zu haben, fand ihre entsprechende Anerkennung. So erhielten Fritz Haber im Jahr 1919 für die Synthese von Ammoniak aus seinen Elementen und Carl Bosch zusammen mit Friedrich Bergius für ihre Verdienste um die Entdeckung und Entwicklung der chemischen Hochdruckverfahren im Jahr 1931 jeweils den Nobelpreis für Chemie. Über diese eher kurzfristigen Erfolge hinaus bedeutete die Entdeckung der Ammoniaksynthese für die BASF die Grundsteinlegung einer langfristigen Forschungsstrategie, die sich nahezu zwangsläufig aus dem neu erlangten personengebundenen Innovations-
46 47
Eine technische Atmosphäre (at) entspricht einem Druck von 0,9806665 bar. Vgl. Plumpe, I.G. Farben, S. 222.
65 kapital ergab. Einerseits hatten sich die mit der Ausarbeitung der Ammoniaksynthese befaßten Chemiker und Ingenieure in den drei neuen Technologiebereichen Hochdruck, Hochtemperatur und katalytische Hydrierung einzigartige Erfahrungen und Problemlösungstechniken angeeignet, die versprachen, die Erfolgswahrscheinlichkeit ähnlicher F&E Vorhaben erheblich zu erhöhen. Andererseits gelangten maßgebende Teilnehmer des ursprünglichen Projekts in Führungspositionen, die es ihnen ermöglichten, durch entsprechende Entscheidungen dieses Potential auch tatsächlich zu nutzen. Allen voran ist hier Carl Bosch ins Feld zu fuhren, der den Vorstandsvorsitz der BASF ab 1919 und den der I.G. Farben ab 1925 innehatte. Hinzu kamen Wissens- und Entscheidungsträger wie Alwin Mittasch, Carl Krauch und Mathias Pier, die ihre spezifischen Fähigkeiten jeweils im Ammoniak-Laboratorium der BASF erworben hatten.48 Es war Mathias Pier, unter dessen Leitung im Jahr 1923 mit der synthetischen Herstellung von Methanol der zweite große Schritt auf dem technologischen Pfad der Hochdrucksynthesen begangen wurde. Das Produktionsverfahren der Methanolsynthese, bei der Kohlenmonoxid und Wasserstoff zu Methanol verbunden werden, stimmte weitgehend mit dem technischen Prozeß der Ammoniaksynthese überein. Der wesentliche Unterschied war der Einsatz eines neuartigen Zinkoxidkatalysators. Der auch als Holzgeist bezeichnete einfache Alkohol Methanol war vor Einführung dieser Innovation als Nebenprodukt der Holzverkohlung erzeugt worden und als solches ein wichtiger Exportartikel der amerikanischen Holzkohleindustrie gewesen. Methanol dient als chemisches Zwischenprodukt unter anderem zur Herstellung von Formaldehyd, das wiederum zur Erzeugung von Kunstharzen und der Kunststoffgruppe der Aminoplasten genutzt werden kann. Beispielsweise entwickelten die Mitarbeiter der BASF einen Kaurit genannten synthetischen Harnstoff-Formaldehyd-Leim, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Bindemittel für Spanholzplatten der deutschen Möbelindustrie zu einem ungeahnten internationalen Markterfolg verhelfen sollte.49 Insofern ergaben sich hier erstmalig Querverbindungen zwischen den beiden technologischen Pfaden der Hochdrucksynthesen und der synthetischen Werkstoffe. Die Serie pfadübergreifender Fortschrittsimpulse brach hiernach nicht ab. So war im Rahmen des Methanolprojektes den Wissenschaftlern der BASF aufgefallen, daß das Ergebnis dieser Synthese durch die Veränderungen des Drucks, der Temperatur oder des eingesetzten Katalysators beeinflußt werden konnte. Eine dieser Variationen führte zur Gewinnung von Isobutylöl, aus dem durch Wasserabspaltung Isobutylen entstand, das zu einem Schmiermittel oder Kunststoff polymerisiert oder zu einem Hochleistungstreibstoff weiterverarbeitet werden konnte.50 Wie bereits erläutert, gelangte man außer48 49
50
Vgl. Hughes, Momentum, S. 361 ff. Vgl. Radkau, Joachim, Technik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt/Main 1989, S. 232; Scheiber, Johannes, Harnstoff und Formaldehyd. Die Geschichte ihrer Entdeckung und ihres chemischen Verhaltens, in: Die BASF Heft 5/6, 1957, S. 196-205. Vgl. Nagel, Alfred von, Methanol, Treibstoffe, Schriftenreihe des Firmenarchivs der Badischen Anilin- & Sodafabrik 5, Ludwigshafen 1970, S. 11 ff.
66 dem vierzehn Jahre später bei Standard Oil (New Jersey) zu der Erkenntnis, daß es möglich war, Isobutylen durch das Beimischen von Butadien zu dem Synthesekautschuk Butyl zu vulkanisieren. 51 Im Jahr 1924 entschloß sich die BASF unter Führung von Carl Bosch, das auf dem technologischen Pfad der Hochdrucksynthesen angesammelte Innovationskapital auch zur Suche nach einem Verfahren zur Gewinnung von synthetischem Mineralöl einzusetzen. Analog zu der bisherigen Vorgehensweise sollte nun Braunkohle in Verbindung mit Wasserstoff in einem Hochdruckreaktor in verschiedene Kohlenwasserstoffe aufgespalten werden. Wichtigste Probleme des im Vergleich zu den bisher durchgeführten Hochdrucksynthesen komplizierten Verfahrens waren wiederum die Entwicklung eines geeigneten Katalysators sowie die Konstruktion eines Reaktors, der nunmehr einem Druck von bis zu 700 at und Temperaturen bis 600° Celsius zu widerstehen hatte. Im Jahr 1926 waren die entsprechenden F&E Arbeiten soweit fortgeschritten, daß man den Aufbau einer industriellen Versuchsanlage in Leuna beschloß. Aufgrund des niedrigen Marktpreises von Erdöl bedurfte es allerdings staatlicher Preis- und Absatzgarantien durch die Nationalsozialisten, um die I.G. Farben im Jahr 1933 dazu zu motivieren, über das Stadium von Pilotanlagen hinaus zu gehen und große Fabriken zur Treibstoffsynthese zu errichten. 52 Indes änderten auch die während des Dritten Reichs erlangten Produktionserfahrungen nichts an dem letztendlich negativen Befund, daß der aus Braunkohle gewonnene Synthesetreibstoff unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht mit dem erheblich billigeren Erdölprodukt konkurrieren konnte. Aus diesem Grunde bedeutete das Ende der nationalsozialistischen Subventionen auch das Ende der Treibstoffsynthese in Deutschland. Dieses Beispiel verdeutlicht, daß nicht jede technologisch mögliche Lösung unter den gegebenen Preisverhältnissen auch eine ökonomisch zulässige Lösung ist. Deshalb sollten im Allgemeinen alle Beteiligten versuchen, wirtschaftlich begründete Einschränkungen schon in der von technologischen Erwägungen dominierten F&E-Phase angemessen zu berücksichtigen. Allerdings kann sich nach Auffassung von Achilladelis, Schwarzkopf und Cines entlang eines technologischen Pfads nicht nur der spezifische Wissensbestand des F&E Personals, sondern auch die subjektive Risikoneigung der beteiligten Entscheidungsträger erhöhen. 53 So mag eine bisher ununterbrochene Kette erfolgreich abgeschlossener F&E Projekte manchen zu der optimistischen Vorstellung verleiten, daß auch die zukünftigen Projekte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in einem Erfolg münden werden. Inwieweit der Versuch der I.G. Farben, den technologischen Pfad der Hochdrucksynthesen auf das Feld der Benzinhydrierung auszudehnen, als eine solche pfadabhängige Fehleinschätzung gedeutet werden muß, ist offen. Radkau folgend läßt sich den damaligen Entscheidungsträgern vorwerfen, daß sie in Begeisterung über ihre 51 52
53
Vgl. Vgl. vom Vgl.
Kapitel 2.2.2.2. Leuna-Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Ammoniakwerk Merseburg GmbH 14. Dezember 1933, BASF-Archiv Akte Pier 83. Achilladelis, Schwarzkopf und Cines, Dynamics, S. 5.
67 technologischen Handlungsspielräume vergaßen, die geringen ökonomischen Chancen des Synthesetreibstoffs zu berücksichtigen. 54 Allerdings kann man angesichts der Mitte der zwanziger Jahren vorherrschenden Auffassung, daß die Erdölreserven der Erde innerhalb weniger Jahrzehnte erschöpft sein würden, alternativ auch zu der Ansicht gelangen, daß die Idee, synthetischen Treibstoff aus Braunkohle zu gewinnen, den Zeitgenossen durchaus als ein auch wirtschaftlich vielversprechender Ansatz erscheinen mußte. Letztere Einschätzung wird nicht zuletzt durch den Umstand bestätigt, daß sich US-amerikanische Wissenschaftler während der mit der ersten Ölkrise (1973/74) verbundenen Veränderung der relativen Preise wieder ernsthaft für die vierzig Jahre zurückliegende Mineralölsynthese der I.G. Farben interessierten. 55 Hinzu kommt, daß das im Rahmen des Synthesetreibstoffprojekts neu erworbene Wissen nach dem Scheitern dieses Vorhabens nicht wertlos wurde, sondern gewinnbringend in technologisch benachbarte Gebiete eingebracht werden konnte. Zumindest ist Nagel der Auffassung, daß die während der Erforschung der Treibstoffsynthese hinzugewonnenen Erkenntnisse die technologische Entwicklung des Erdölkrackens erheblich beschleunigten. Außerdem hätte das zusätzlich akkumulierte Innovationskapital der BASF geholfen, das von der britischen ICI entdeckte Hochdruckverfahren zur Herstellung des Kunststoffs Polyethylen rasch zu verstehen und zu imitieren. 56 Abschließend sei ausdrücklich betont, daß es keinesfalls notwendig ist, daß die einem Innovationsprozeß zugrundeliegende Invention in demjenigen Unternehmen entdeckt wird, welches die technologische Neuheit letztendlich als Erster auf dem Markt anbietet. Vielmehr ist es häufig der Fall, daß Inventionen von staatlichen Forschungseinrichtungen, von unabhängigen Erfindern oder von anderen Unternehmen hervorgebracht und erst danach vom innovativen Unternehmen übernommen und zur Marktreife geführt werden. Diese Auslagerung des eigentlichen Inventionsvorgangs bedeutet allerdings nicht, daß das innovative Unternehmen auf wesentliche Teile seines technologischen Innovationskapitals verzichten kann, da sein F&E Personal weiterhin dazu in der Lage sein muß, vielversprechende Inventionen Dritter zu erkennen, zu verstehen und weiterzuentwickeln. In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, daß das Modell des unternehmerischen Innovationsprozesses überdies zur Beschreibung der Zusammenhänge bei einer schnellen Imitation verwendet werden kann. Diese gerade am Beispiel von Hochdruck-Polyethylen angesprochene Strategie sieht im allgemeinen vor, die Innovation eines Konkurrenten in möglichst kurzer Zeit zu kopieren, um an den ökonomischen Vorteilen des Erstanbieters 57 zu partizipieren. Auch bei Verwirklichung
54 55
56 57
Vgl. Radkau, Technik in Deutschland, S. 175, 266. Vgl. Gimbel, John, Science, Technology and Reparations. Exploitation and Plunder in Postwar Germany, Stanford 1990, S. 73. Vgl. Nagel, Methanol, S. 71 f. Vgl. Liebermann, Marvin B. und David B. Montgomery, First-Mover Advantages, in: Strategie Management Journal 9, 1988, S. 41-58.
68
dieses Vorhabens ist bereits vorhandenes Innovationskapital von großem Nutzen.58 So hilft es, potentielle Innovationsquellen auszuwählen und sorgfältig zu beobachten, was zunächst einmal notwendig ist, um auf zum Vorschein kommende Neuheiten von Konkurrenten rasch reagieren zu können. Ferner erleichtert Innovationskapital die nachfolgenden Schritte der schnellen Imitation, die technologischen Eigenschaften eines bisher unbekannten Produkts schnell zu reproduzieren und anschließend geeignete Absatzpolitiken für einen noch unterentwickelten Markt zu konzipieren. Auf Grundlage dieser Überlegungen werden wir in Kapitel 5 die Strategie der schnellen Imitation am Beispiel des Kunststoffverarbeiters Freudenberg eingehend untersuchen.
2.3.2
Personen- und organisationsgebundenes Wissen
Allerdings existiert die gerade beschriebene Möglichkeit zur schnellen Imitation in aller Regel nur dann, wenn die jeweils vorhandenen Bestände an Innovationskapital im innovativen und im imitierenden Unternehmen in weiten Teilen übereinstimmen. Aus diesem Grund sollte die Präsentation dieser Strategie beim Leser nicht die Vorstellung wecken, daß auch substantielle technologische Unterschiede durch alleinigen Rückgriff auf kodifizierte Informationen zu überbrücken sind, welche Schriftliches wie wissenschaftliche Veröffentlichungen oder Patente, aber auch Musterstücke der innovativen Produkte oder Produktionsfaktoren umfassen können. Vielmehr wird die Nachahmung erfolgreicher Innovationen erheblich durch den Umstand erschwert, daß ein mehr oder minder großer Teil des hierzu benötigten Wissens nicht in Form kodifizierter Informationseinheiten von Unternehmen zu Unternehmen transferiert werden kann, sondern als „Tacit knowledge" personen- oder organisationsgebunden ist. Es ist diese Nichtübertragbarkeit von personen- oder organisationsgebundenem Innovationskapital, die verhindert, daß sich die Entwicklungspfade verschiedener Unternehmen schnell angleichen, und welche somit erklärt, warum bestimmte Unternehmen, nationale Branchen oder Branchencluster über längere Zeiträume hinweg einen wissensbasierten Wettbewerbsvorteil verteidigen können.59 Michael Polyani fußt seine bahnbrechenden Ausführungen zu „Tacit knowledge" auf die Beobachtung, „daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen."60 Für diese These nennt der Autor vielfältige empirische Belege. Beispielsweise erkennen Menschen ein
59
60
Vgl. Cohen, Wesley M. und Daniel A. Levinthal, Innovation and Learning: The Two Faces of R&D, in: Economic Journal 99, 1989, S. 569-596. Vgl. Maskell, Peter und Anders Malmberg, Localised Learning and Industrial Competitiveness, in: Cambridge Journal of Economics 23, 1999, S. 167-185. Polanyi, Michael, Implizites Wissen, Frankfurt/Main 1985, S. 14. In dieser Übersetzung der im Jahr 1966 erschienenen Originalausgabe „The Tacit Dimension" wurde der englische Begriff „tacit" mit dem deutschen Ausdruck „implizit" wiedergegeben. Im Rahmen dieser Arbeit wird versucht, die von Polanyi verwendete Wortbedeutung durch die Begriffe „personengebunden" respektive „organisationsgebunden" zu erfassen.
69 ihnen bekanntes Gesicht rasch auch in großen Menschenmengen wieder, sind aber gleichzeitig oftmals nicht dazu in der Lage zu präzisieren, auf Grundlage welcher physiognomischer Merkmale sie dies tun. Ähnliches gilt für Tätigkeiten wie Schwimmen oder Radfahren. So wird der versierteste Radfahrer nicht erläutern können, was er eigentlich genau unternimmt, um während der Fahrt das Gleichgewicht zu halten. Schließlich finden sich gerade innerhalb der ökonomischen Sphäre Hinweise auf Wissensbestandteile, die nicht durch Worte beschreibbar und somit nicht in Form von „Blaupausen" oder „Gebrauchsanweisungen" übertragbar sind. Polyani fuhrt das Beispiel einer von einem ungarischen Unternehmen importierten Maschine zur Herstellung von Glühbirnen an, die aufgrund von fehlenden spezifischen Erfahrungen der neuen Betreiber über ein Jahr lang nicht genutzt werden konnte, obwohl deren exaktes Gegenstück in Deutschland reibungslos funktionierte. 61 Die Darlegungen in den folgenden Kapiteln werden zeigen, daß diese Anekdote keinen irrelevanten Einzelfall beschreibt. Angesichts von „Tacit knowledge" beschränkt sich der unternehmensübergreifenden Transfer von innovativen Produktionsverfahren in aller Regel nicht auf die Lieferung von Maschinen, sondern ist statt dessen auch mit der zeitweisen Überlassung von erfahrenen Fachkräften verbunden, welche durch praktische Unterweisungen und im Rahmen gemeinsam ausgeübter Tätigkeiten ihr personengebundenes Wissen an die Anzulernenden übermitteln. An dieser Stelle ist festzuhalten: Wenn Wissen nicht in Worte gefaßt werden kann, bedarf es zum vollständigen Informationstransfer des persönlichen Kontakts zu einem Wissensträger. Diese persönlichen Kontakte werden mit zunehmender räumlicher Entfernung und anwachsenden kulturellen Unterschieden schwieriger. Es erscheint daher plausibel anzunehmen, daß es zwischen den Unternehmen innerhalb einer Region zu einem häufigeren Austausch von personengebundenem Wissen kommt als zwischen den Unternehmen unterschiedlicher Regionen oder womöglich Nationen. Für die empirische Relevanz dieser Vermutung spricht beispielsweise eine Untersuchung von Vertova, welcher die auf Basis von Patentstatistiken festgestellte relative technologische Ähnlichkeit von deutschen und schweizerischen Unternehmen der Chemie und Elektrotechnik auf die räumliche Nähe, die gemeinsame Sprache und das sich gleichende Erziehungssystem beider Länder zurückführt. 62 In einem allgemeineren Kontext könnte die These, daß der unternehmensübergreifende Austausch von personengebundenem
61 62
Vgl. Polyani, Personal Knowledge, S. 52. Vertova ordnet Patente, welche von der US-amerikanischen Patentbehörde zwischen 1890 und 1990 Unternehmen aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Schweden, der Schweiz und der USA gewährt wurden, insgesamt 56 verschiedenen technologischen Bereichen zu. Hierdurch gelingt es ihm, neben Deutschland und der Schweiz auch die USA und Schweden sowie Großbritannien und Frankreich als Länder mit einem jeweils ähnlichen technologischen Entwicklungspfad zu identifizieren. Vgl. Vertova, Giovanna, Technological Similarity in National Styles of Innovation in a Historical Perspective, in: Technology Analysis & Strategie Management 10, 1998, S. 437-449.
70 Wissen mit zunehmender geographischer und kultureller Distanz abnimmt, den von Porter dargestellten Befund erklären helfen, daß oftmals nicht einzelne Unternehmen verschiedener Länder, sondern nationale Branchen oder Branchencluster den internationalen Wettbewerb in einem bestimmten Marktsegment dominieren. Aufgrund des Vorhandenseins von personen- und organisationsgebundenem Wissen sind die technologischen Unterschiede zwischen den Branchen verschiedener Regionen oder Nationen offensichtlich von größerer Persistenz als man angesichts der hohen und im Zeitalter des Internet noch zunehmenden Mobilität des kodifizierten Wissens erwarten könnte. Allerdings besitzen Unternehmen durchaus wirtschaftliche Anreize, sich mit der Überwindung derartiger internationaler Technologiegefälle zu befassen. Insbesondere erhöht sich in Analogie zu den in Schaubild 4 in Abschnitt 2.2.2.2 zusammengefaßten Überlegungen mit zunehmender technologischer Distanz auch der im Erfolgsfall zu erwartende ökonomische Nutzen gelungener Imitationen. 63 Deshalb ist es nicht verwunderlich zu beobachten, daß sich Unternehmen beharrlich um die Träger von personengebundenem Wissen aus anderen Regionen oder Nationen bemühen. Das bereits in Abschnitt 2.2.2.1 dargestellte Beispiel aus der Geschichte des amerikanischen Chemieunternehmens Du Pont, das nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Fachkräfte aus der deutschen Teerfarbenindustrie abwarb, belegt, daß dies häufig auch gegen den Willen des ursprünglichen Arbeitgebers geschieht. Wie zuletzt die öffentliche Diskussion in Deutschland um eine „Green Card" für Fachkräfte aus dem Bereich der Informationstechnologien gezeigt hat, werden die Erfolgsaussichten derartiger unternehmerischer Initiativen außerdem maßgeblich von den jeweils vorherrschenden politischen Rahmenbedingungen im aufnehmenden Land beeinflußt. Ein frühes Beispiel für eine staatliche Förderung der Einwanderung von Wissensträgern ist die preußische Privilegienpolitik zugunsten französischer Glaubensflüchtlinge am Ende des 17. Jahrhunderts. Das von Ludwig XIV. erlassene Edikt von Fontainebleau vom 18. Oktober 1685, in welchem die Zerstörung protestantischer Kirchen, das Verbot protestantischer Gottesdienste und ein Konversionszwang bestimmt wurden, löste eine Auswanderungswelle der französischen Hugenotten aus. Nur drei Wochen später verfugte in Preußen der große Kurfürst Friedrich Wilhelm das Potsdamer Edikt vom 8. November 1685, das den Hugenotten in Preußen die Niederlassungs- und Religionsfreiheit zusicherte: „Wir Friedrich Wilhelm ... thun kund ..., nachdem die harten Verfolgungen und rigoureusen proceduren, womit man eine Zeithero in dem Königreich Frankreich wider Unsere der Evangelisch-Reformierten Religion zugethane Glaubens-Genossen verfahren, viel Familien veranlasset, ihren Stab zu versetzen, und aus selbigem Königreiche hinweg in andere Lande sich zu begeben, daß Wir dannenher aus gerechtem Mitleiden ... bewogen werden, mittels dieses von Uns eigenhändig unterschriebenen Edicts denenselben eine sichere und freie retraite in alle unsere Lande und Provincien in Gnaden zu offerieren,
Allerdings verringert sich mit zunehmender technologischer Distanz gleichzeitig auch die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Imitationsversuchs.
71
und ihnen daheneben Kund zu thun, was für Gerechtigkeiten, Freyheiten und Praerogativen Wir ihnen zu concedieren gnädigst gesonnen seyen." 64 Ohne Zweifel war der primäre Zweck dieses preußischen Toleranzedikts die rasche Unterstützung der verfolgten protestantischen Glaubensbrüder aus Frankreich. Gleichzeitig bot sich hierdurch aber auch die wirtschaftspolitische Chance, mittels einer offensiven Einwanderungspolitik die personengebundene Technologie der französischen Seidenindustrie zu importieren. Deshalb bemühte man sich in der Folgezeit insbesondere um französische Seidenfabrikanten, denen über die Freiheitsrechte des Potsdamer Edikts hinaus jeweils spezielle Gewerbeprivilegien gewährt wurden. Als Musterbeispiel soll hier Jean Biet angeführt werden, welcher, nachdem er 30 Jahre lang in Paris eine Manufaktur zur Herstellung von Seide betrieben hatte, am 10. April 1686 die Erlaubnis erhielt, auf preußischem Gebiet Seidenmanufakturen zu errichten und nach eigenem Ermessen mit Arbeitskräften auszustatten. 65 Darüber hinaus wurde Jean Biet unter anderem die zollfreie Einfuhr von Werkzeugen und Vorprodukten gestattet sowie ein zinsloser staatlicher Kredit in Höhe von über 5000 Reichstalern gewährt. Die durch derartige Maßnahmen erwirkte internationale Mobilität von Trägern personengebundenen Wissens ist ein Nullsummenspiel: Was das tolerante und aufnehmende Land - hier Preußen - an Innovationskapital hinzugewinnt, bedeutet für das intolerante und verfolgende Land - hier Frankreich - entsprechende Verluste. Wenn es den Entscheidungsträgern eines technologisch rückständigen Landes nicht gelingt, die Träger personengebundenen Wissens zur Einwanderung in das eigene Territorium zu bewegen, verbleibt immer noch die Möglichkeit, einheimische Fachkräfte mit dem expliziten Auftrag ins Ausland zu schicken, dort in persönlichen Kontakt zu den anvisierten Wissensträgern zu treten. Für diese Vorgehensweise liefert die Geschichte der Industrialisierung Europas vielfältigen Anschauungsunterricht. 66 So hatte man in dem sich als erste Volkswirtschaft industrialisierenden England frühzeitig die drohende Gefahr erkannt, daß ausländische Unternehmer versuchen würden, zur Schließung der sich öffnenden technologischen Lücke englische Spezialisten abzuwerben. Deshalb wurde bereits im Jahr 1719 erfahrenen englischen Handwerkern die Emigration auf das europäische Festland untersagt. Auf dieses Auswanderungsverbot reagierte man in den nachhinkenden europäischen Ländern unter anderem mit dem Versuch, das angestrebte neuartige Wissen durch Besuche und zeitweise Arbeitsver-
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66
Zitiert nach Ancillon, Charles, Geschichte der Niederlassung der Réfugiés in den Staaten seiner Kurfürstlichen Hoheit von Brandenburg, in: Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins 15,8, Berlin 1939, S. 17. Vgl. Etablissement des Seidenstofffabricanten Jean Biet zu Berlin. 10. April 1686 - Ende April 1687, in: Gustav Schmoller und Otto Hintze (Bearb.), Acta Borussica (Abtl. 6): Die Preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich den Großen, Bd 1: Akten bis 1786, Berlin 1892, S. 3-5. Vgl. zu den folgenden Ausführungen Kindleberger, Charles P., Technological Diffusion: European Experience to 1850, in: Journal of Evolutionary Economies 5, 1995, S. 229-242.
72
hältnisse in englischen Fabriken zu gewinnen. Hierbei zeichnete sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Preuße Peter Beuth durch eine besonders planmäßige Vorgehensweise aus. Beuth hatte in seiner Eigenschaft als Mitglied des preußischen Finanzministeriums selbst die neuen industriellen Produktionsstätten in England, aber auch Belgien, Frankreich, Holland und anderen deutschen Ländern besucht. Als Konsequenz seiner persönlichen Beobachtungen gründete er in Preußen sogenannte Gewerbeschulen, in denen Jugendliche zwischen 12 und 16 Jahren in den neuen industriellen Produktionsverfahren ausgebildet wurden. Die besten Gewerbeschüler wurden hiernach für einen bestimmten Zeitraum zur Arbeit in ausländische Fabriken geschickt, um ihnen so die Gelegenheit zu geben, im persönlichen Kontakt zu den etablierten Beschäftigten deren personengebundenes Wissen zu erlernen. Schließlich bemühte sich Beuth auch um kodifiziertes innovatives Wissen. Auf seine Anweisung hin wurden ausländische Maschinen importiert, nachgebaut und dann den preußischen Unternehmern zur Verfügung gestellt. Der langfristige technologische Einfluß sowohl der eingewanderten französischen Hugenotten als auch der befristeten Aufenthalte preußischer Arbeitskräfte in vor allem englischen Fabriken auf die preußische Wirtschaft darf nicht geringgeschätzt werden. Wie das nachfolgende Beispiel der wirtschaftlichen Entfaltung der deutschen Druckmaschinenindustrie vortrefflich verdeutlicht,67 kann es von entscheidender Bedeutung sein, potentiellen Imitatoren den persönlichen Kontakt zu wichtigen Träger von personengebundenem Wissen zu ermöglichen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte England auch auf dem Gebiet des Buchdrucks zeitweise die technologische und ökonomische Führerschaft übernommen. Daher verwundert es wenig, daß der um eine radikale Verbesserung der Drucktechnik bemühte deutsche Drucker Friedrich König nach London emigrierte, wo es ihm im Jahr 1809 glückte, eine Gruppe von Druckereibesitzern und Zeitungsherausgebern dazu zu überreden, gegen eine Beteiligung an etwaigen zukünftigen Gewinnen Risikokapital zur Finanzierung seiner Entwicklungsarbeiten bereitzustellen. Tatsächlich gelang es König drei Jahre später, zusammen mit seinem ebenfalls deutschen Mitarbeiter Andreas Bauer die erste funktionsfähige Rotationsdruckmaschine hervorzubringen, die gegenüber den herkömmlichen Druckmaschinen eine immense Steigerung der Druckgeschwindigkeit ermöglichte. Bei dem Versuch, diesen technologischen Durchbruch in einen ökonomischen Erfolg umzumünzen, stießen König und Bauer jedoch auf den unerwarteten Widerstand ihrer Londoner Kapitalgeber, die verhindern wollten, daß die neuartigen Maschinen auch ihren englischen und ausländischen Konkurrenten zur Verfügung gestellt wurden. Aufgrund dieser Auseinandersetzungen beschlossen die beiden Deutschen im Jahr 1818, ins bayerische Oberzell überzusiedeln, wo der dortige Landesherr ihr Unternehmen mit Gewerbeprivilegien ausstattete, die weitestgehend jenen entsprachen, die bereits über 100 Jahre zuvor dem Seidenfabrikant Jean Biet in Preußen gewährt worden waren.
67
Vgl. Porter, Advantage of Nations, S. 180-195.
73 In den folgenden Jahrzehnten diente das expandierende Unternehmen König & Bauer als Ausbildungsstätte für die nachwachsenden Führungskräfte dieser neuen Branche, die im persönlichen Kontakt zu den beiden ursprünglichen Wissensträgern offensichtlich die Kenntnisse erlangten, welche zum erfolgreichen Betreiben von innovativen Unternehmen des Druckmaschinenbaus benötigt wurden. So befinden sich unter den von ehemaligen Mitarbeitern gegründeten „Spin-offs" von König & Bauer unter anderem Müller & Hellwig in Wien (1836), die spätere Maschinenfabrik Augsburg Nürnberg (MAN, 1840), die späteren Heidelberger Druckmaschinen (1850) sowie AlbertFrankenthal (1861). Im Zuge dieses Gründungsbooms wechselte die technologische und ökonomische Führung im Bereich des Buchdrucks von England wieder auf Deutschland über. Zudem siedelten sich in räumlicher Nähe zu der wachsenden Branche die Erzeuger von Papiermaschinen und Druckerschwärze an. Somit bewirkte die aufgrund eines historischen Zufalls im bayerischen Oberzell erfolgte Gründung von König & Bauer in einer nachfolgend logischen und pfadabhängigen Entwicklung die geographische Konzentration des industriellen Clusters der Druckindustrie im süddeutschen und angrenzenden alpenländischen Raum.68 Die vorangegangenen Erläuterungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß zumindest ein Teil des technologischen Innovationskapitals eines Unternehmens nicht an bestimmte Personen, sondern an die Organisation als Ganzes gebunden ist, und daher auch nicht durch das Abwerben einzelner Wissensträger auf andere Unternehmen übertragen werden kann. Als Beispiel hierfür mag die Unternehmenskultur des USamerikanischen Unternehmens 3M dienen, das im 20. Jahrhundert eine Kette aufeinander aufbauender Innovationen hervorbrachte, die vom Schmirgelpapier bis hin zu selbstklebenden Notizzetteln reicht.69 Das Charakteristische der Unternehmenskultur von 3M ist, daß in diesem Unternehmen eine von dem Verhalten einzelner Personen unabhängige Atmosphäre geschaffen wurde, die auch den durchschnittlichen Mitarbeiter zu überdurchschnittlichen Bemühungen um Inventionen motiviert. Laut Collins und Porras wird die Besonderheit dieser Atmosphäre durch Leitsätze wie „Listen to anyone with an original idea, no matter how absurd it might sound at first" oder „If you put 70
fences around people, you get sheep. Give people the room they need" zutreffend wiedergegeben. Tatsächlich finden sich innerhalb von 3M vielfältige Mechanismen zur Förderung der individuellen Kreativität. Hier sollen stellvertretend nur die „15 percent rule" und das Konzept der „Dual ladder" erläutert werden. Die „15 percent rule" besagt, daß die technischen Mitarbeiter von 3M bis zu 15 Prozent ihrer Arbeitszeit auf selbstgewählte Forschungs- und Entwicklungsprojekte verwenden dürfen. Das Konzept der „Dual ladder" ermöglicht es Angehörigen der F&E Abteilungen, in das höhere Mana68
Die deutsche Druckmaschinenindustrie dominiert noch heute den Weltmarkt. Beispielsweise betrug der Anteil der deutschen Druckmaschinenhersteller an den Weltexporten im Jahr 1985 über 50 Prozent.Vgl. ebd. S. 180.
69
Vgl. Collins, Porras, Built to Last, S. 150-168. Ebd. S. 152.
70
74 gement aufzusteigen, ohne daß sie dafür ihre bisherige Tätigkeit vollständig aufgeben müssen. Hierdurch wird die sonst übliche Entwicklung verhindert, daß gerade immer die begabtesten Mitarbeiter der Forschungslaboratorien diese im Verlauf ihres beruflichen Aufstiegs verlassen. Natürlich können solche organisatorischen Einzelmaßnahmen von weniger innovativen Konkurrenten jederzeit nachgeahmt werden. Kurzfristig wird diese Vorgehensweise jedoch höchstwahrscheinlich wenig Erfolg haben, da es hier weniger auf die einzelne Bestimmung als auf die übergeordnete kreativitätsfördernde Unternehmenskultur ankommt, die nur durch die langfristige und konsistente Anwendung derartiger Mechanismen erzeugt werden kann. Fassen wir zusammen: Da sich technologisches Innovationskapital nur Schritt für Schritt durch „Learning by Döing" akkumuliert und zudem oftmals nicht kommunizierbar, sondern als „Tacit knowledge" personen- oder organisationsgebunden ist, kann es von konkurrierenden Unternehmen kurzfristig nicht imitiert werden. Deshalb besitzen die mit einem bestimmten technologischen Pfad vertrauten Unternehmen gegenüber neu hinzukommenden Konkurrenten einen nur schwer wettzumachenden Vorsprung. Allerdings ermöglichen die technologisch aufeinander aufbauenden Inventionen einem Unternehmen nur dann den langfristigen Erhalt seiner Wettbewerbsfähigkeit, wenn es schließlich auch gelingt, diese in der den Innovationsprozeß abschließenden Marketingphase in gewinnbringende Innovationen zu überfuhren.
2.4
Die Marketingphase des unternehmerischen Innovationsprozesses
2.4.1
Absatzstrategien für Innovationen und innovative Absatzstrategien
Am Ende einer geglückten F&E Phase müssen die unternehmerischen Entscheidungsträger darüber befinden, ob im Anschluß der Versuch unternommen werden soll, einen Markt zu finden oder gar erst selbst zu erschaffen, auf dem das neuartige Produkt gewinnbringend abgesetzt werden kann. Wird diese Frage bejaht, verwandelt sich die technologische Invention in eine ökonomische Innovation, die in der nun beginnenden Marketingphase gelingen oder auch scheitern kann. Die Erfolgswahrscheinlichkeit steigt, wenn die Innovation in für die Vermarktung wichtigen Eigenschaften den etablierten Erzeugnissen des Unternehmens gleicht, da in diesem Fall bei der Ausarbeitung von Absatzstrategien auf bereits vorhandenes ökonomisches Innovationskapital zurückgegriffen werden kann. Wie die Ausfuhrungen zu den Marketingaktivitäten des Kunststoffverarbeiters Freudenberg in Kapitel 5 ausfuhrlich belegen werden, können hierbei insbesondere traditionelle Kundenkontakte, bereits vorhandene Kapazitäten zur Kun-
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denberatung und Kundenausbildung sowie ein etablierter Markenname von Bedeutung sein. Traditionelle Kundenkontakte verschaffen einem innovativen Unternehmen bei der Vermarktung einer Innovation drei gewichtige Vorteile: 1 Erstens werden im Rahmen der regelmäßig wiederkehrenden Verkaufsgespräche Informationen über die konkreten Bedürfnisse und Vorlieben der Kunden übermittelt, die im Sinne von von Hippel (Customer-Active Paradigm) schon vor der eigentlichen Marketingphase bei der detaillierten Ausgestaltung des neuartigen Produkts berücksichtigt werden können, um so die Zahlungsbereitschaft der potentiellen Abnehmer zu erhöhen. Zweitens bietet die Möglichkeit, eine Innovation einem traditionellen Kundenkreis präsentieren zu können, eine einfache Lösung für das ansonsten eher schwierige Problem, als unbekannter Anbieter einer Neuheit die Aufmerksamkeit potentieller Nachfrager zu gewinnen. Drittens erleichtert ein bereits bestehendes Vertrauensverhältnis die Aufgabe der Vertriebsorganisation, den potentiellen Kunden von der Funktionstüchtigkeit und vom ökonomischen Nutzen der vorgestellten Innovation zu überzeugen, da Letzterer mit einigem Recht davon ausgehen kann, daß die Verkäufer die langfristige aufgebaute Geschäftsbeziehung nicht durch die nur einmal mögliche unlautere Vermittlung einer für den Käufer letztendlich wertlosen Ware gefährden werden. 2 Bereits vorhandene Kapazitäten zur Kundenberatung und Kundenausbildung können einem Produzenten die erstmals in Abschnitt 2.2.2.2 angedeutete Gelegenheit bieten, durch eine branchenübergreifende Übermittlung von innovativem Wissen den Umsatz seiner auf dem Markt gehandelten Erzeugnisse zu erhöhen. Dabei ist es von nur untergeordneter Bedeutung, ob das in Frage kommende Erzeugnis selbst eine Innovation ist oder nicht. Hier wird nun am Beispiel der schon angesprochenen deutschen Teerfarbenindustrie kurz erläutert, wie Kundenberatung und Kundenausbildung zur Vermarktung von innovativen Produkten eingesetzt werden können. In Kapitel 4 werden wir anhand des wiederholten Technologietransfers in der westdeutschen Kunststoffindustrie ausfuhrlich zeigen, daß diese Strategien darüber hinaus auch für die Absatzforderung von Standardgütern verwendbar sind. In Abschnitt 2.2.2.1 wurde der kometenhafte Aufstieg der deutschen Chemieunternehmen zu einer weltweit marktbeherrschenden Stellung auf dem Gebiet der synthetischen Farbstoffe auf die Errichtung von industriellen Forschungslaboratorien zurückgeführt, in denen das erste Mal auf Unternehmensebene systematisch nach
'
Vgl. hierzu auch das Fallbeispiel des mittelständischen Maschinenbauers Fischer & Krecke, dessen Innovationsfähigkeit und Exporterfolge durch den „hohen Qualitätsstandard gefördert durch die Belegschaft und die Versuchsanstalten", durch „die Flexibiltät auf Kundenwünsche einzugehen", und durch „das Pflegen persönlicher Kontakte zu den Kunden" erklärt werden. Delhaes-Guenther, Linda von, Das Unternehmen in der Region. Exporterfolge der Bielefelder Unternehmung Fischer & Krecke in den 1950er Jahren, in: Westfälische Forschungen 50, 2000, S. 23-49.
2
Vgl. Macaulay, Stewart, Non-contractual Relations in Business: A Preliminary Study, in: American Sociological Review 28, 1963, S. 55-67.
76 Produktinnovationen gesucht wurde. Nun ist ergänzend hinzuzufügen, daß die deutschen Teerfarbenproduzenten ihre internationalen Markterfolge auch dem Einsatz der damals innovativen Kundenberatung und Kundenausbildung verdanken.3 Für die Durchführung dieser neuartigen Absatzstrategien waren die sogenannten Coloristischen Abteilungen verantwortlich, welche als anwendungstechnische Unternehmensbereiche die Aufgabe hatten, Märkte für die neu entwickelten Teerfarben zu erschließen, und die zu diesem Zweck sowohl mit technischem als auch mit kaufmännischem Personal besetzt waren. Die eigentliche Kundenberatung übernahmen Chemiker, die nicht nur mit den theoretischen Eigenschaften der neuen Teerfarben vertraut waren, sondern auch selbst die praktischen Verfahren des Färben und Bedrucken von Textilien erlernt hatten.4 Daher verstanden sie auch die technologischen Probleme und die „Fachsprache" ihrer Kunden.5 Diese Kundenberater leisteten den Technologietransfer, indem sie während der Verkaufsgespräche den Textilproduzenten ausführlich erklärten, für welche Textilien und in welchen Verfahren die innovativen Teerfarben ihres Unternehmens genutzt werden konnten. Wenn beim Färben oder Bedrucken trotzdem unvorhergesehene Schwierigkeiten auftraten, waren die Kundenberater darüber hinaus bereit und befähigt, die Textilproduzenten bei der Optimierung ihrer Produktion mit Rat und Tat unmittelbar zu unterstützen. An dieser Stelle ist zu betonen, daß auch neuartige Absatzstrategien nicht wie Manna vom Himmel fallen, sondern ähnlich wie Produktinnovationen in aller Regel in einem pfadabhängigen evolutionären Prozeß entstehen. Dies belegen vortrefflich die Ausführungen des Insiders Otto Zohlen, welcher rückblickend für das Chemieunternehmen BASF beschreibt, wie sich die Kundenberatung von einer sporadisch eingesetzten Maßnahme zur planmäßigen und zielgerichteten Absatzstrategie entwickelte und zudem zusätzlich Bedeutung als Mittel zur Informationserzielung gewann: „In den ersten Jahren ... wurden Fachkräfte nur dann zur Kundschaft entsandt, wenn technische Schwierigkeiten zu beheben waren, oder wenn eine Reklamation zu bereinigen oder eine Konkurrenz zu bekämpfen war. Der Techniker leistete lediglich dem Verkäufer Hilfestellung. Seine Tätigkeit blieb also zunächst auf Einzelfälle beschränkt. Doch bald mußte man erkennen, daß die technische Hilfe nicht nur den Verkauf erleichterte, indem dem Kunden praktische Erfahrungen vermittelt wurden. Von ebenso großer Bedeutung und Wichtigkeit erwies es sich in der Folge, daß durch die Tätigkeit in den 3
4
5
Vgl. Beer, German Dye Industry, S. 91-94; Stokes, Raymond G., Opting for Oil. The Political Economy of Technological Change in the West German Chemical Industry, 1945-1961, Cambridge 1994, S. 20. „Eine besonders wichtige Aufgabe für die Kleinfärberei und die GroßfMrberei bestand darin, daß in beiden Stationen alle neuen Techniker und Färbereichemiker ihre praktische Ausbildung erhielten, ehe sie als technische Reisende zur Kundschaft entsandt... wurden." Zohlen, Otto, Geschichte der AWETA 1865-1939, BASF-Archiv Q 001. Da sich die Effizienz der Kommunikation zwischen Berater und Kunden auch erhöht, wenn beide die gleiche Muttersprache besitzen, setzten die Coloristischen Abteilungen im Ausland nach Möglichkeit einheimische Chemiker ein. Vgl. Beer, German Dye Industry, S. 92.
77
verschiedensten Färbereibetrieben weitere praktische Erfahrungen gesammelt wurden, die der Anwendungstechnik zugute keimen. Und allmählich ging man schon vor der Jahrhundertwende dazu über, die Verkaufsbezirke systematisch technisch besuchen zu lassen."6 Um 1900 entwickelten die Coloristischen Abteilungen zusätzlich die Absatzstrategie der Kundenausbildung, welche beinhaltete, Angehörige der Textilindustrie in Lehrwerkstätten der Chemieunternehmen in den jeweils neuesten Techniken des Färbens und Bedruckens zu unterrichten. Diese Ausbildung war kostenlos und offensichtlich von Vorteil für die Auszubildenden. Die Chemieunternehmen hofften, sich hierdurch die Loyalität ihrer Kunden zu erwerben. Darüber hinaus schuf man mit Hilfe der Kundenausbildung Präferenzen, da den potentiellen Nachfragern nur Kenntnisse über die jeweils eigenen innovativen Erzeugnisse vermittelten wurden. Zusammenfassend wurde durch Kundenberatung und durch Kundenausbildung versucht, die in- und ausländischen Textilproduzenten durch den kontinuierlichen Transfer von innovativem Wissen als langfristige Abnehmer zu gewinnen. Diese Absatzstrategien waren das Vorbild, nach dem die deutschen Chemieunternehmen Mitte des 20. Jahrhunderts den in Kapitel 4 beschriebenen branchenübergreifenden Wissenstransfer zu den Kunststoffverarbeitern gestalteten. Die Erstanbieter einer bestimmten Innovation haben nicht selten den Vorteil, daß die Nachfrager eine Bindung zu dem sich etablierenden Markennamen entwickeln und selbst dann ihrem traditionellen Lieferanten treu bleiben, wenn hinzukommende Konkurrenten ein Produkt von objektiv gleicher Qualität zu niedrigeren Preisen anbieten. Diesen Verhalten ist rational, wenn die Nachfrager nur über unvollständige Informationen verfugen und daher vor dem Kauf einer Imitation nicht wissen, ob deren Eigenschaften der Qualität des „Originals" entsprechen.7 Wenn nach Einschätzung der Käufer eine positive Wahrscheinlichkeit besteht, daß das unerprobte Produkt qualitativ schlechter ist als das zufriedenstellende Angebot des Erstanbieters, verursacht ein Markenwechsel aus subjektiver Sicht des Käufers Kosten. In diesem Fall wird die Bindung an das Produkt des Erstanbieters nur dann aufgebrochen, wenn die Preisdifferenz zwischen dem bekannten Produkt und der unbekannten Imitation groß genug ist, diese Kosten zu kompensieren. Für ein Unternehmen, dem es bereits gelungen ist, sich auf einem bestimmten Produktionsgebiet das Ansehen eines Anbieters von qualitativ hochwertigen Gütern zu erarbeiten, liegt es nahe, seinen guten Ruf auf eine dem Verbraucher unbekannte Innovation zu übertragen, indem es diese ebenfalls unter dem schon etablierten Markennamen anbietet. Diese Absatzstrategie erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Innovationsversuchs, weil sie den unsicheren Nachfragern glaubhaft signalisiert, daß der Anbieter vom Nutzen seiner Innovation überzeugt ist. Anderenfalls würde er nämlich wahrscheinlich auf die Verwendung seines langfristig 6 7
Zohlen, Otto, Geschichte der AWETA 1865-1939, BASF-Archiv Q 001. Vgl. Schmalensee, Richard, Product Differentiation Advantages of Pioneering Brands, in: American Economic Review 72,1982, S. 349-365.
78 aufgebauten Markennamens verzichten, da davon auszugehen ist, daß Verbraucher, die von einer Innovation enttäuscht wurden, zukünftig auch beim Kauf eigentlich altbewährter Erzeugnisse zögern werden, sofern diese den gleichen, nun in Frage gestellten Markennamen tragen. 8 Die beschriebenen Verfahren, erstens mittels traditioneller Kundenkontakte, zweitens über die Beratungsleistungen von anwendungstechnischen Abteilungen oder drittens durch die Nutzung eines bereits etablierten Markennamens den Absatz neuartiger Produkte zu fördern, stellen keine umfassende Aufzählung der Absatzstrategien für Innovationen dar. Eine solche abschließende Liste kann auch gar nicht erstellt werden, da Innovationen nicht nur im Bereich der Produkte und Produktionsfaktoren, sondern auch im Marketingbereich möglich und zum Erhalt der langfristigen Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens unumgänglich sind. Ein Musterbeispiel für den kombinierten Einsatz von neuartigem Produkt und innovativer Absatzstrategie ist die im folgenden erläuterte Eroberung des US-amerikanischen Marktes für Farbfernsehgeräte durch japanische Produzenten in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. 9 Noch in den sechziger Jahren wurden hochwertige Farbfernsehgeräte, insbesondere dann, wenn sie mit innovativen Details aufwarten konnten, in den USA ausschließlich in Fachgeschäften verkauft, die ihren Kunden zusätzlich zum Warenangebot die Möglichkeit zu ausführlichen Informationsgesprächen boten. Der Absatz über den Versandhandel und über die großen Warenhausketten blieb hingegen auf die billigeren und technologisch rückständigen Apparate beschränkt, für deren Nutzung die Nachfrager keine sachkundigen Erläuterungen benötigten. Diese Zweiteilung des Marktes erscheint auch rückblickend schon deshalb sinnvoll, weil die Methode der US-amerikanischen Produzenten, ihre neuartigen Farbfernsehgeräte von geschultem Verkaufspersonal anbieten zu lassen, auf der Ebene der Endverbraucher der soeben gepriesenen Absatzstrategie der Kundenberatung entspricht. Dennoch wählten die japanischen Produzenten nicht zuletzt deshalb eine andere Vorgehensweise, weil ihnen in den frühen sechziger Jahren gerade bei Fachverkäufern noch das Vorurteil anhaftete, ein Anbieter minderwertiger Imitationen zu sein. Die innovative Absatzstrategie der Japaner bestand darin, zum Vertrieb ihrer eigenen Innovationen zunächst die scheinbar ungeeigneten Massenabsatzkanäle zu wählen. Eine Besonderheit des einheimischen japanischen Marktes ist, daß aufgrund der räumlichen Enge von Wohnungen und Städten im dicht besiedelten Japan eine ver-
8
Vgl. Wernerfeit, Birger, Umbrella Branding as a Signal of N e w Product Quality, in: Rand Journal of Economics 19, 1988, S. 458-466. Vgl. auch Klein, Benjamin und Keith B. Leffler, The role of market forces in assuring contractual performance, in: Journal of Political Economy 89, 1981, S. 615-641.
9
Vgl. Peck, Merton J. und Robert W. Wilson, Innovation, Imitation and Comparative Advantage: The Performance of Japanese Color Television Set Producers in the U.S. Market, in: Herbert Giersch (Hg.), Emerging Technologies: Consequences for Economic Growth, Structural Change and Employment, Tübingen 1982, S. 195-212.
79 gleichsweise starke Nachfrage nach verkleinerten Versionen marktüblicher Produkte herrscht, die den technologischen Pfad der japanischen Unternehmen maßgeblich beeinflußt. So entwickelte man anfanglich für die japanischen Konsumenten auch Farbfernsehgeräte, deren Bildröhren deutlich kleiner als die der amerikanischen Produkte waren. Die japanischen Unternehmen erkannten im Gegensatz zu ihren USamerikanischen Konkurrenten bald, daß auch in den USA ein Nachfragepotential für tragbare Kleinbildfernseher vorhanden war, die dort vor allem als Zweit- oder Drittgeräte eingesetzt wurden. Zur Erschließung dieses Marktsegments wählte man nun nicht den Fachhandel, sondern die auf hohe Stückzahlen spezialisierten Absatzkanäle. Beispielsweise lieferte Toshiba bereits im Jahr 1964 eines Farbfernsehgerät an die Warenhauskette Sears, dessen Bildschirmdurchmesser mit 16 inches 10 um 5 inches kleiner war als jener des kleinsten US-amerikanischen Erzeugnisses. Der Markterfolg blieb nicht aus, da die japanischen Produkte nicht nur durch technologische Neuheiten - die fortgesetzte Miniaturisierung machte den Einsatz von Transistoren unumgänglich, sondern auch durch niedrige Preise zu gefallen wußten. Nachdem die US-amerikanischen Konsumenten und Verkäufer erst einmal von der Qualität der japanischen Farbfernsehgeräte überzeugt waren, gelang Unternehmen wie Sony oder Matsushita nun auch mit Großbildgeräten überdies der Schritt in die Fachgeschäfte. Als Ergebnis dieser Marketingbemühungen wuchs allein zwischen 1970 und 1977 der Marktanteil japanischer Produkte auf dem US-amerikanischen Markt für Farbfernsehgeräte von 14,9 % auf 33,2 % an." Die innovative Vorgehensweise, den Markt für technologisch anspruchsvolle langlebige Konsumgüter über Massenabsatzkanäle zu erschließen, blieb nicht auf Farbfernsehgeräte beschränkt. So werden wir in Kapitel 2.4 zeigen, daß die japanische Unternehmen diese Absatzstrategie auch bei der Eroberung des westdeutschen Marktes für Fotoapparate erfolgreich einsetzten. An dieser Stelle verdeutlicht das Beispiel des japanischen Kleinbildfarbfernsehgerätes, daß auch in der Marketingphase von unternehmerischen Innovationsprozessen keine allgemein gültigen Patentrezepte vorherrschen, sondern Kreativität gefragt ist.
2.4.2
Der Wettlauf um neue Märkte
2.4.2.1 Der Vorteil, Erster zu sein In diesem Kapitel rückt der bisher vernachlässigte Umstand, daß oftmals mehrere Unternehmen in einer Art Wettlauf versuchen, ein bestimmtes neuartiges Produkt als Erster hervorzubringen, in den Mittelpunkt der Analyse. Die Unternehmen konkurrieren
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Ein inch entspricht etwa 2,54 cm. Vgl. Peck, Wilson, Innovation, S. 199.
80 deshalb um die Erschließung eines neuen Marktes, weil Produktion und Absatz einer Innovation dem ersten Anbieter eine ganze Reihe ökonomischer Vorteile gegenüber seinen nachhinkenden Konkurrenten verschaffen können.12 Zunächst kann der Innovator so lange Monopolgewinne realisieren, bis es seinen Wettbewerbern gelingt, Markteintrittsbarrieren in Form von Patenten oder Produktionsgeheimnissen zu überwinden und seine Erzeugnisse zu imitieren. Aber selbst nach dem Auftreten von Imitationen bleibt der „First-Mover" oftmals in einer überlegenen Marktposition. Wie bereits angedeutet, mag sein bereits etablierter Markenname die Konsumenten an seine Produkte binden. Außerdem ist es möglich, daß er die aufkommende Konkurrenz selbst bei vergleichsweise hohen Faktorlöhnen im Preiswettbewerb unterbieten kann, da er wegen seines größeren aktuellen und größeren akkumulierten Produktionsvolumens nur ihm zufallende Kostensenkungen durch Größenvorteile und durch Effizienzsteigerungen in Folge von „Learning by doing"13 verzeichnet. Hierbei meint „Learning by doing", daß die Unternehmensangehörigen während der Durchführung der Erzeugung permanent Erfahrungen hinzugewinnen und dadurch Schritt für Schritt lernen, wie durch einen geschickteren Einsatz der Produktionsfaktoren oder durch kleine technische Verbesserungen14 die Produktivität des Produktionsverfahrens gesteigert werden kann. Dieser Effekt kann durch sogenannte Lernkurven der allgemeinen Form c = c„ • Q" dargestellt werden, wobei c die aktuellen Grenzkosten der Produktion, Co die Grenzkosten der Produktion der ersten Einheit, Q die kumulierte Produktionsmenge und b die „Lernelastizität" bezeichnen. Liebermann schätzt für den Zeitraum von 1958 bis 1973 anhand der Preisentwicklung von 24 verschiedenen chemischen Produkten, zu denen auch einige Zwischen- und Endprodukte der Kunststofferzeugung zählen, daß eine Verdopplung der kumulierten Produktionsmenge in der chemischen Industrie jeweils mit einer Kostenreduzierung von ungefähr 23 % einherging.15 Aus diesen Lernkurveneffekten ergeben sich entsprechende Wettbewerbsnachteile für spät hinzukommende Produzenten. Dies gilt nicht nur für die Kunststofferzeugung, sondern beispielsweise auch für die nachgelagerte KunststoffVerarbeitung. So betrugen nach den Erfahrungen des Kunststoffverarbeiters Freudenberg aus Weinheim die auf den Umsatz bezogenen Gewinnmargen als Alleinanbieter einer Innovation zwischen 18 und 25 Prozent und nach dem Auftreten von Imitationen aufgrund der
13
14
15
Vgl. Lieberman, Montgomery, First-Mover Advantages. Vgl. Arrow, Kenneth J., The Economic Implications of Learning by Doing, in: Review of Economic Studies 29, 1962, S. 155-173. Hollander zeigt für fünf Betriebsstätten des US-amerikanischen Chemieunternehmens Du Pont, daß im Zeitraum von 1929 bis 1952 zwischen 35 % und 83 % der jährlichen Verringerung der durchschnittlichen Produktionskosten der Kunstfaser Rayon nicht durch Skalenerträge oder größere technologische Veränderungen, sondern durch kleine einfache Verbesserungen der Produktionstechnik herbeigeführt wurden. Vgl. Hollander, Samuel, The Sources of Increased Efficiency: A Study of Du Pont Rayon Plants, Cambridge/Mas. 1965, S. 118. Vgl. Lieberman, Marvin B., Patents, Learning by Doing, and Market Structure in the Chemical Processing Industry, in: International Journal of Industrial Organisation 5, 1987, S. 272.
81
durch Produktionserfahrung möglich gewordenen Kostensenkungen immerhin noch 10 Prozent, während „... die Kosten des Wettbewerbes bei gleichen Preisen praktisch diesen keinen Gewinn mehr belassen."16 Nachhinkenden Unternehmen verbleiben zwei Möglichkeiten, diese Eintrittsbarriere17 zu überwinden und ihre Produktionskosten dem niedrigeren Niveau des Erstanbieters anzugleichen. Zum einen können sie versuchen, in jeder Periode eine größere Menge als ihr erfahrener Konkurrent zu produzieren, um so durch ein schnelleres Hinabgleiten entlang der Lernkurve ihren Rückstand systematisch aufzuholen. Das Problem hierbei ist, daß es die produzierten Mengen auch abzusetzen gilt, was sich angesichts der noch vergleichsweise hohen Produktionskosten bei Vermeidung von Verlusten schwierig gestalten wird. Zum anderen besitzen spät hinzukommende Unternehmen die Chance, von Anfang an eine effizientere Produktionstechnologie als der Erstanbieter zu verwenden. So war es nach Auffassung von Veblen genau diese Vorgehensweise, die es den deutschen Unternehmen während ihrer Industrialisierung erlaubte, den Erfahrungsvorsprung der zuerst industrialisierten britischen Unternehmen nicht nur aufzuholen, sondern sogar selbst in vielen Bereichen die technologische Führung zu übernehmen.18 Veblen vertritt die Ansicht, daß die britischen Unternehmer kaum Möglichkeiten hatten, diese Entwicklung zu vermeiden: „All this does not mean that the British have sinned against the canons of technology. It is only that they are paying the penalty for having been thrown into the lead and so having shown the way."19 Bei der Interpretation dieses Fallbeispiels gilt es allerdings zu bedenken, daß diese Strategie zur Überwindung von Kostennachteilen auf der nicht trivialen Voraussetzung basiert, daß das hinterher hinkende Unternehmen bereits über die Fähigkeiten verfugt, die notwendig sind, um die Mängel der Produktionstechnologie des Erstanbieters zu erkennen und bei der eigenen Erzeugung zu vermeiden. Der zeitliche Vorsprung des Erstanbieters kann sich schließlich auch im Bereich zukünftiger Forschung und Entwicklung auszahlen. Während sich seine Konkurrenten nämlich noch um die Imitation seiner „alten" Innovationen bemühen, besitzt der „FirstMover" die Gelegenheit, bereits mit der Suche nach „neuen" Inventionen in der technologischen Nachbarschaft seiner früheren Erfolge zu beginnen. Die theoretischen Kon16
17
18
19
Gewinnmargen bei der Helia-Fertigung. Maschinenschriftliches Schreiben von Herrn Wassermann an Hermann Freudenberg, 4. Oktober 1967, Freudenberg Firmen- und Familienarchiv 3/01318,. Vgl. Spence, A. Michael, The Learning Curve and Competition, in: Bell Journal of Economics 12, 1981, S. 49-70. Vgl. Veblen, Thorstein, Imperial Germany and the Industrial Revolution, New York 1918, S. 125-128, 187 f. Veblen, Imperial Germany, S. 128. Für eine Diskussion der These, daß die britischen Unternehmer am Ende des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zu ihren deutschen Standesgenossen im Sinne eines Buddenbrook-Effekts ihren „Pioniergeist" verloren hatten, vgl. Berghoff, Hartmut und Roland Möller, Tired Pioneers and Dynamic Newcomers? A Comparative Essay on English and German Entrepreneurial History, 1870-1914, in: Economic History Review 47, 1994, S. 262-287.
82 Sequenzen dieses Frühstarts untersuchen Fudenberg et al., die einen Patentwettlauf modellieren, in dem die Wahrscheinlichkeit, daß ein bestimmtes Unternehmen die angestrebte Invention tatsächlich entdeckt, um so größer ist, je mehr Erfahrungen die Mitarbeiter der F&E-Abteilung bereits in dem betroffenen Wissensgebiet angesammelt haben. 20 Auch wenn der Umfang der jeweiligen Erfahrungen hierbei vereinfachend durch die Gesamtdauer der bisherigen Forschungsanstrengungen gemessen wird, entspricht die dieser Hypothese zugrundeliegende Idee doch weitgehend der in Abschnitt 2.3.1 entwickelten Vorstellung, daß ein Unternehmen beim Voranschreiten auf einem technologischen Pfad Innovationskapital akkumuliert, welches die Erfolgschancen zukünftiger F&E Projekte steigert. Fudenberg et al. zeigen, daß unter der Annahme, daß die Unternehmen die Innovationsbemühungen ihrer Konkurrenten jederzeit genau beobachten können, die spät hinzugekommenen Unternehmen keine Chance haben, das zuerst gestartete Unternehmen einzuholen, und deshalb ganz darauf verzichten werden, überhaupt in einen Patentwettlauf einzutreten. Dem ist so, weil der Erstanbieter seinen ursprünglichen Erfahrungsvorsprung und damit seine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit allein dadurch verteidigen kann, daß er immer dann, wenn die hinterher hinkenden Unternehmen Forschungsinvestitionen tätigen, sofort mit entsprechenden Aktivitäten nachzieht. Der Erstanbieter bleibt somit aufgrund seines Frühstarts auf seinem technologischen Pfad ein Monopolist, der nur dann in weitere Forschungsprojekte investieren wird, wenn er sich hiervon eine Gewinnsteigerung gegenüber seiner aktuellen Situation verspricht. Diese gleichwohl eher unrealistische Konstellation kann anhand eines von Tirole an21
geführten Metaphers verdeutlicht werden. So entspricht die oben beschriebene Situation einem Wettlauf zwischen den beiden gleich guten Läufern Anton und Bert, den Anton mit einem geringen Vorsprung beginnen darf. Unter der Annahme, daß Anton zusätzlich Augen im Hinterkopf hat, mit denen er das Verhalten von Bert jederzeit überwachen kann, wird Anton das Rennen mit geringer Geschwindigkeit angehen und nur dann beschleunigen, wenn Bert sich seinerseits durch Temposteigerung bemüht, seinen Rückstand zu verkleinern. Da Bert unter diesen Umständen keine Chance hat zu gewinnen, wird er ganz auf das Rennen verzichten. Anton kann dann als einziger verbleibender Läufer nur dadurch zu einer schnelleren Gangart motiviert werden, daß ihm über seinen selbstverständlichen Siegerpreis hinaus beispielsweise eine Prämie für einen Geschwindigkeitsrekord geboten wird.
20
Vgl. Fudenberg, Drew, Richard Gilbert, Joseph Stiglitz und Jean Tirole, Preemption, Leapfrogging and Competition in Patent Races, in: European Economic Review 22, 1983, S. 3-31. Zur Modellierung von Patentwettläufen, in denen die Erfolgswahrscheinlichkeit nur durch die aktuellen Forschungsinvestitionen bestimmt wird vgl. beispielsweise Dasgupta, Partha und Joseph Stiglitz, Uncertainty, Industrial Structure, and the Speed of R&D, in: Bell Journal of Economics 11, 1980, S. 1-28.
21
Vgl. Tirole, Jean, Industrieökonomik, München 1995, S. 892 f.
83
In der Realität gibt es allerdings keine Augen im Hinterkopf. Bert wird deshalb den Wettkampf trotz seines Starthandicaps annehmen, wenn er erwartet, daß sich ihm während des Rennens die Möglichkeit bietet, in einem unbeachteten Augenblick Läufer Anton einzuholen. Notwendige Voraussetzung hierfür ist, daß der ursprünglich gewährte Vorsprung nicht zu groß ist. Unternehmen können die Investitionsbemühungen ihrer Konkurrenten ebenfalls nicht lückenlos kontrollieren. Deshalb kann auch das auf einem technologischen Pfad führende Unternehmen nicht erwarten, daß andere Unternehmen gänzlich darauf verzichten werden, seine Position durch eigene F&E-Projekte anzugreifen. Immerhin kann es aber davon ausgehen, daß die eigenen Forschungsvorhaben mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einem Erfolg führen werden als die der nachhinkenden Wettbewerber. Levin et al. versuchen, die jeweilige Bedeutung der verschiedenen Vorteile, Erster zu sein, abzuschätzen. 22 Hierzu befragten sie 650 hochrangige F&E-Manager aus 130 verschiedenen Zweigen der US-amerikanischen Industrie, welche Faktoren es ihrem Unternehmen vorrangig ermöglichen, sich trotz drohender Imitationen durch Konkurrenten überdurchschnittlich hohe Innovationsgewinne anzueignen. Im Falle von Produktinnovationen wurde im Durchschnitt über alle Antworten die Auffassung vertreten, daß das Erreichen hoher Innovationsgewinne in erster Linie von den Anstrengungen der Absatzorganisationen abhängt, deren Aufgabe es sei, die Nachfrager so schnell wie möglich mit dem bisher unbekannten Produkt vertraut zu machen und eine Bindung an den Markennamen zu schaffen, bevor die ersten Imitationen auftreten. Dieser Befund bestärkt die hier vertretene Auffassung, daß die Marketingphase für den Erfolg unternehmerischer Innovationsprozesse eine wesentliche Rolle spielt. Als weitere wichtige Ursache hoher Innovationsgewinne wurden Kostenvorteile gegenüber den Konkurrenten genannt, die sich aufgrund des früheren Markteintritts durch Lernkurveneffekte ergeben. Hingegen wurde den vor Imitationen schützenden Patenten nur eine vergleichsweise geringe Bedeutung beigemessen. So betrugen die jeweiligen Mittelwerte der Beurteilung auf einer Skala von 1 (=„not at all effective") bis 7 (=„very effective") für die Absatzorganisation 5,59, für den Lernkurveneffekt 5,09 und für die Patente 4,33. 23 Abweichend von den Antworten aus den anderen Branchen gaben die Vertreter der chemischen Industrie allerdings an, daß insbesondere in den Bereichen der organischen Chemie und der Kunststoffe, zu denen auch die Synthesekautschuke zählen, Patente das effektivste Mittel zur Sicherung von Innovationsgewinnen seien. Dieses Ergebnis überrascht nicht. Einerseits ist es relativ einfach, für neuartige chemische Verbindungen Patente zu erlangen und Patentverletzungen vor Gericht einzuklagen. Andererseits können diese Innovationen, sofern sie nicht durch Patente geschützt sind, vergleichsweise
23
Vgl. Levin, Richard C., Alvin K. Klevorick, Richard R. Nelson und Sidney G. Winter, Appropriating the Returns from Industrial Research and Development, Cowles Foundation for Research in Economics at Yale University Paper 714, 1989. Vgl. ebd. S. 792, 794.
84 schnell von Konkurrenten analysiert und dupliziert werden. Es ist daher plausibel anzunehmen, daß die Bereitschaft von Kunststofferzeugern, nach Innovationen zu suchen, erheblich sinkt, wenn es nicht möglich ist, durch Patente gewinnmindernde Imitationen zumindest zu verzögern. Wir werden auf diesen Punkt in Kapitel 4 am Beispiel der Synthesekautschukforschung während des Zweiten Weltkriegs ausführlich zurückkommen. Wichtig ist festzuhalten, daß Unternehmen unterschiedlicher Branchen offensichtlich auch unterschiedliche Methoden zur Sicherung ihrer Innovationsgewinne präferieren. In diesem Abschnitt wurde davon ausgegangen, daß es der Innovator ist, welcher die Vorteile, Erster zu sein, realisiert. Im folgenden werden wir zeigen, daß es im Falle von Netzwerkexternalitäten nicht so sehr darauf ankommt, als Erster auf dem Markt anzubieten, sondern als Erster mit seiner Absatzmenge einen bestimmten kritischen Schwellenwert zu erreichen. 2.4.2.2
Netzwerkexternalitäten
Sogenannte Netzwerkexternalitäten liegen immer dann vor, wenn sich der individuelle Nutzen aus dem Konsum eines Gutes mit steigender Konsumentenzahl erhöht. 24 Ein typisches Beispiel für ein Gut mit dieser Eigenschaft ist das Faxgerät. Der allererste Käufer dieser Vorrichtung hatte daran zunächst wahrscheinlich nur wenig Freude, da es noch niemanden gab, dem er ein Fax hätte senden oder von dem er ein Fax hätte erhalten können. Die Situation änderte sich allerdings schlagartig, als ein zweiter Nutzer hinzukam, weil sich nun erstmalig die Gelegenheit bot, das Gerät seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen. Da sich bis heute mit jedem hinzukommenden Faxanschluß die Handlungsmöglichkeiten der Mitglieder dieses Kommunikationsnetzes weiter vergrößern, ist es sinnvoll anzunehmen, daß jeder neue Teilnehmer allen bereits vorhandenen Betreibern eines Faxgerätes einen zusätzlichen, wenn vielleicht auch mit steigender Teilnehmerzahl abnehmenden Nutzengewinn verschafft. Dieser einleuchtende Fall soll nicht den Eindruck vermitteln, daß Netzwerkexternalitäten auf den Bereich der Kommunikation beschränkt sind. Sie treten vielmehr überall in der Wirtschaft auf. So erhöht sich beispielsweise auch der Nutzen des Besitzers einer speziellen Automarke mit einer sich vergrößernden Menge von Gleichgesinnten, weil die zunehmende Verbreitung eines bestimmten Wagentyps in der Regel auch eine wachsende Zahl von spezialisierten Serviceeinrichtungen nach sich zieht, welche die gegebenenfalls benötigten Ersatzteile aufgrund von Größenvorteilen zudem noch zu sinkenden Preisen anbieten können. Im Rahmen dieser Arbeit sind Netzwerkexternalitäten deshalb von Bedeutung, weil sie den ohnehin schon großen Stellenwert der Marketingphase unternehmerischer Innovationsprozesse noch zusätzlich steigern. Diese Aussage sei zunächst an einem fiktiven
24
Vgl. Katz, Michael L. und Carl Shapiro, Systems Competition and Network Effects, in: Journal of Economic Perspectives 8, 1994, S. 94.
85 Beispiel erläutert.25 Nehmen wir einmal an, daß das gerade angesprochene Faxgerät von zwei konkurrierenden Unternehmen Ix und Zet zeitgleich auf dem Markt eingeführt wird. Beide Marken erfüllen ihren Zweck innerhalb des eigenen Netzwerkes perfekt, sind aber technologisch nicht kompatibel, so daß es nicht möglich ist, ein Fax vom einen Netzwerk an das andere zu senden. Darüber hinaus unterscheiden sich die Marken hinsichtlich ihres Designs so stark, daß alleine nach optischen Gesichtspunkten die eine Hälfte der Konsumenten Gerät Ix und die andere Hälfte Gerät Zet präferiert. Aufgrund der Netzwerkexternalitäten orientieren die Konsumenten ihre Kaufentscheidung jedoch nicht nur an ihren geschmacklichen Vorlieben, sondern auch an der jeweiligen Größe der beiden konkurrierenden Netzwerke. Es ist davon auszugehen, daß die Konsumenten den von ihnen bevorzugten Gerätetyp immer dann kaufen werden, wenn dessen Netzwerk größer oder gleich dem Netzwerk des Konkurrenzproduktes ist. Komplizierter wird die Entscheidungssituation, wenn das Netzwerk der als besser empfundenen Marke kleiner ist. In diesem Fall wird es nämlich einen kritischen Größenunterschied der Netzwerke geben, ab dem die Konsumenten sich für den Kauf der aus ihrer Sicht häßlicheren Marke entscheiden werden, weil der Nutzengewinn der Teilnahme an einem größeren Netzwerk den Nutzenverlust aus der Verwendung des abstoßenden Designs mehr als aufwiegt. Da im Anschluß an diesen Umschwung alle Konsumenten einen bestimmten Gerätetyp bevorzugen werden, wird sich dieser am Ende auf dem Markt durchsetzen. Das Interessante an diesem Verdrängungsprozeß ist, daß man ex ante nicht vorhersagen kann, ob Faxgerät Ix oder Faxgerät Zet den Markt erobern wird. Der Ausgang dieses Wettkampfs hängt nämlich davon ab, ob sich anfänglich eher Konsumenten mit einer Vorliebe für Ix oder Nachfrager mit einer Präferenz für Zet zum Kauf eines Faxgerätes entschließen werden. Die Verteilung dieser frühen Kaufakte mag historischer Zufall sein. Sie kann aber auch von den beiden konkurrierenden Geräteherstellern durch Marketingmaßnahmen aktiv beeinflußt werden. In der Tat läßt sich beispielsweise zeigen, daß der inzwischen historische Wettstreit zwischen den Videosystemen Betamax und VHS letztendlich durch die frühzeitig ergriffenen beziehungsweise versäumten Absatzstrategien der beteiligten Wettbewerber entschieden wurde.26 Zum Verständnis dieses Fallbeispiels muß man sich zunächst bewußt machen, daß ein Videosystem ähnlich wie beispielsweise Fotografie- oder Computersysteme gemeinhin aus einer Hardwarekomponente, das ist der Videorecorder zur Aufnahme und Wiedergabe von auf Fensehgeräten abspielbaren Bild- und Tonaufzeichnungen, und aus einer Softwarekomponente, das sind die als Datenspeicher benötigten Videocassetten, besteht. Während der Videorecorder in der Regel einen festen Standort besitzt und daher nur einem begrenzten Nutzerkreis zur Verfügung steht, können bespielte Videocassetten nacheinanVgl. Arthur, Competing Technologies. Vgl. Cusumano, Michael A., Yiorgos Mylonadis und Richard S. Rosenbloom, Strategie Maneuvering and Mass-Market Dynamics: The Triumph o f V H S over B E T A , Harvard Business School Working Paper 91-048, 1990.
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der von vielen Konsumenten verwendet werden. Sie bieten daher das Potential für Netzwerkexternalitäten. In den frühen siebziger Jahren versuchten mehrere Unternehmen aus Japan, den USA und Europa ein Videosystem für die Nutzung in privaten Haushalten zu entwickeln. Die japanische Sony Corporation gewann diesen Innovationswettlauf und führte im April 1975 unter dem Namen Betamax ein Videosystem in den Markt ein, welches sich gegenüber den zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger marktreifen Produkten der Konkurrenten Toshiba und Sanyo, Matsushita, RCA sowie Philips als das technologisch überlegene Produkt erwies. Mitte der siebziger Jahre war daher zu vermuten, daß es dem erfahrenen Innovator Sony nachfolgend auch gelingen würde, seine Vorteile als Erstanbieter zur vollständigen Eroberung des Marktes für Videosysteme zu nutzen. Schaubild 6 demonstriert, daß sich diese Erwartung überraschenderweise nicht erfüllte. Schaubild 6
Die Anteile von Betamax und VHS an der kumulierten Menge aller erzeugten Videorecorder, 1975-1988"
0% 1975
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a
Cusumano, Michael A., Yiorgos Mylonadis und Richard S. Rosenbloom, Strategie Maneuvering and Mass-Market Dynamics: The Triumph of VHS over BETA, Harvard Business School Working Paper 91-048, 1990.
87 Da Videorecorder ein langlebiges Konsumgut sind, kann der in Schaubild 6 dargestellte Anteil eines bestimmten Videosystems an der kumulierten Menge aller produzierten Videorecorder zumindest mittelfristig als der Marktanteil des betreffenden Produkts interpretiert werden. Demnach betrug der Marktanteil der von Sony erzeugten BetamaxRecorder bei Markteinführung 100 %. Schon im nachfolgenden Jahr 1976 brach jedoch die Victor Company of Japan (JVC) mit einem Videosystem namens Video Home System (VHS), das mit Betamax nicht kompatibel war, dieses Monopol auf. Schaubild 6 verdeutlicht, daß das VHS-System im Folgenden das zuerst eingeführte BetamaxSystem Schritt für Schritt aus dem Markt verdrängte. Dieser Erfolg ist nicht auf die technologische Überlegenheit des vergleichsweise ähnlichen VHS-Systems, sondern auf die Marketingaktivitäten seiner Produzenten zurückzufuhren, die den Absatz von VHS-Videorecordern in einer ersten Phase unmittelbar und in einer zweiten Phase über die Verbreitung von bereits bespielten Leihcassetten mittelbar erheblich beschleunigten. Konsumenten orientieren sich bei ihrer Kaufentscheidung oftmals am Vorbild ihrer Freunde oder Nachbarn. 27 Aus diesem Grund ist es selbst dann, wenn keine Netzwerkexternalitäten der oben beschriebenen Form vorliegen, eine besonders erfolgversprechende Vorgehensweise, viele frühe Käufer für das eigene Erzeugnis zu gewinnen, weil hierdurch die Wahrscheinlichkeit erhöht werden kann, daß sich auch die zunächst noch zögernden und auf Vorbilder wartenden Nachahmer für dieses Produkt entscheiden. Deshalb war die JVC in Zusammenarbeit mit ihrem Mutterunternehmen und wichtigstem Verbündeten Matsushita wohl auch besonders bemüht, schnell eine große Anzahl von Partnerunternehmen zu rekrutieren, welche die neuartigen VHS-Recorder weltweit in vergleichsweise großen Stückzahlen vertrieben. 28 Zur Erreichung dieses Ziels war man gewillt, seinen Lizenznehmern selbsterstellte Videorecorder ohne Markenbezeichnung zu liefern, die diese dann unter ihrem jeweils eigenen Namen an die Endverbraucher weiterverkauften. Hierdurch verzichteten JVC und Matsushita zumindest teilweise auf den wichtigen Vorteil eines Erstanbieters, Kunden an den eigenen Markennamen binden zu können. Sony war hierzu nicht bereit. 29 Netzwerkexternalitäten entstanden, als dritte Unternehmen Ende der siebziger Jahre begannen, bereits bespielte Videocassetten an die privaten Nutzer von Videorecordern gegen Entgelt auszuleihen. Dabei lag es für die Verleiher nahe, aufgrund beschränkter Lagerkapazitäten ihr Angebot an Videocassetten auf dasjenige Videosystem zu kon-
Vgl. Leibenstein, Harvey, Bandwagon, Snob, and Vehlen Effects in the Theory of Consumers' Demand, in: Quarterly Journal of Economics 64, 1950, S. 183-207. Vgl. auch Rogers, Everett M., Diffusion of Innovations, 3. Aufl., New York, London 1983, S. 245. Die europäischen Vertreter der VHS-Gruppe waren Blaupunkt, Zaba, Nordmende, Telefunken, SEL, Thorn-EMI, Thomson-Brandt, Granada, Hangard, Sarolla, Fisher und Luxer. Vgl. Cusumano, Mylonadis, Rosenbloom, Strategie Maneuvering, S. 34. „In retrospect, as Akio Morita, then Sony's president, later acknowledged, he and Masaru Ibuka, then Chairman, made a and (should have worked harder to get more companies together in a family to support the Betamax format)." Ebd. S . U .
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zentrieren, das unter ihren Kunden bereits stärker verbreitet war. Angesichts dieser Ungleichverteilung mußte es aber andererseits allen neu hinzukommenden Nutzer eines Videorecorders vernünftig erscheinen, sich für den Kauf des Produkts zu entscheiden, für das bereits eine größere Anzahl und Vielfalt von Leihcassetten zur Verfugung stand. Dieses Verhalten verstärkte wiederum die ökonomischen Anreize für die Verleiher, ihr Angebot auf das dominierende Videosystem zu beschränken. Da die VHS-Gruppe ihren Anteil auf dem Markt für Videorecorder schon seit 1978 auf über 5 0 % ausgedehnt hatte, hätte sie unter sonst gleichen Bedingungen passiv abwarten können, wie diese durch Netzwerkexternalitäten angetriebene Aufwärtsspirale ihrem Produkt zur vollständigen Eroberung des Marktes verholfen hätte. Nichtsdestotrotz versuchte man, auch diese Entwicklung zu beeinflussen und den Marktanteil von VHS-Leihcassetten aktiv zu steigern. Hierzu entwickelte Matsushita Geräte zur schnellen Vervielfältigung von Videobändern, mit deren Hilfe es möglich wurde, die Videotheken zu vergleichsweise niedrigen Preisen mit VHS-Leihcassetten zu beliefern. Diese Maßnahme half, den Verdrängungsprozeß zu beschleunigen, so daß Sony und seine Partner die Erzeugung von Betamax-Recordern Ende der achtziger Jahre völlig einstellten. Im Konkurrenzkampf zwischen den Produzenten der Produkte Betamax und VHS hatten sich schließlich diejenigen Erzeuger behauptet, die Nachahmungseffekte und Netzwerkexternalitäten angemessen berücksichtigten und sich deshalb in der Marketingphase des unternehmerischen Innovationsprozesses besonders um die frühen Konsumenten bemühten. Da die beiden Videosysteme als technologisch gleichwertig eingeschätzt werden, ist dieser Ausgang des Verdrängungswettbewerbs nicht als ein volkswirtschaftlich ineffizientes Ergebnis zu deuten. David weist jedoch am Beispiel der Schreibmaschinentastatur QWERTY darauf hin, daß Netzwerkexternalitäten auch zur Folge haben können, daß sich letztendlich ein inferiores Produkt durchsetzt.30 Ein erheblicher technischer Mangel der ersten Schreibmaschinen war, daß sich ihre Typenhebel bei höherer Schreibgeschwindigkeit oftmals verhakten und zu einem ungewollten Mehrfachanschlag eines Buchstabens führten. Der US-amerikanische Erfinder Christopher Latham Sholes versuchte deshalb in den späten sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts diejenige Anordnung der Typenhebel zu identifizieren, welche die Häufigkeit dieser Funktionsstörung minimierte. Das Ergebnis dieses „Trial- and Error"Prozesses findet sich noch heute auf jeder amerikanischen Computertastatur und wird anhand der ersten fünf Buchstaben der obersten Reihe als QWERTY bezeichnet.31 QWERTY mochte in diesen Anfangsjahren das Problem der sich verhakenden Typenhebel tatsächlich am besten gelöst haben, war aber in keiner Weise auf die ergonomischen Bedürfnisse der Schreiber ausgerichtet. Spätestens nach Einführung des Typenrades wäre es daher nahegelegen, zu einer Typenanordnung überzugehen, die eine effizientere Bedienung der Tastatur erlaubt. Trotz durchaus vorhandener Alternativen 30
31
Vgl. David, Paul A., Clio and the Economics of Qwerty, in: American Economic Review Papers and Proceedings 75, 1985, S. 332-337. Auch die deutsche Tastatur QWERTZ entspricht weitgehend dem Konzept von QWERTY.
89
hält gleichwohl die überwältigende Mehrheit der Nutzer von Schreibmaschinen- und Computertastaturen bis heute am überholten QWERTY fest. Dieses Verhalten kann ebenfalls auf die Netzwerkexternalitäten eines Hardware/Software Gefüges zurückgeführt werden. In diesem Fall bilden die Schreibmaschinen mit einer bestimmten Typenanordnung die Hardware und die Maschinenschreiber, welche aufgrund ihrer speziellen Ausbildung nur bei einer einzigen Typenanordnung ihre volle Leistungsfähigkeit entfalten können, die Software. Es ist davon auszugehen, daß am Ende des 19. Jahrhunderts die Mehrzahl der Unternehmen bereits in die Anschaffung der zum damaligen Zeitpunkt vergleichsweise funktionstüchtigen Schreibmaschinen mit QWERTY Tastatur investiert hatten. Dementsprechend suchten sie auch nach Schreibkräften, die mit dieser Typenanordnung vertraut waren. Für einen Arbeitnehmer, der seine Chancen auf eine Einstellung als Maschinenschreiber optimieren wollte, lag deshalb die Entscheidung nahe, seine Fähigkeiten auf einer QWERTY Tastatur zu trainieren. Hierdurch verringerte sich wiederum das Angebot an auf alternativen Tastaturen ausgebildeten Personen, so daß es für die Unternehmen nun auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründen sinnvoll war, sich auf QWERTY Schreibmaschinen zu konzentrieren. Auf diese Weise setzte sich QWERTY schrittweise als Standard des Marktes durch. Gleichwohl fragt sich, warum bis heute kein Übergang zu einer effizienteren Typenanordnung stattgefunden hat. Das Beharrungsvermögen von QWERTY läßt sich wohl nur dadurch erklären, daß das einzelne Unternehmen die kurzfristig anfallenden Kosten des Systemwechsels, welche die Anschaffung neuer Schreibgeräte und die Umschulung des Personals umfassen, höher bewertet als die sich erst mittelfristig ergebenden zusätzlichen Gewinne aufgrund höherer Schreibgeschwindigkeiten. An dieser Stelle ist festzuhalten, daß es bei Vorliegen von Netzwerkexternalitäten weniger von der Effizienz des neuartigen Produkts als von der Effizienz der jeweiligen Marketingabteilung abhängt, welche der konkurrierenden Innovationen sich durchsetzt. Insofern kann auch das Verhalten von Individuen den Gang der Wirtschaftsgeschichte durchaus entscheidend beeinflussen.32 Im Verlauf der bisherigen Ausführungen von Kapitel 2 wurde ausfuhrlich erläutert, wie in den drei Phasen des unternehmerischen Innovationsprozesses Innovationskapital anwächst und genutzt wird. Im folgenden Abschnitt 2.5 wird nun abschließend diskutiert, aus welchen Gründen sich das Innovationskapital eines Unternehmens verringern kann.
Vgl. hierzu auch David, Paul A., Heroes, Herds and Hysteresis in Technological History: Thomas Edison and „The Battle of the Systems" Reconsidered, in: Industrial and Corporate Change 1, 1992, S. 129-179.
90
2.5
Schwindendes Innovationskapital
Die vorangegangenen Erläuterungen sollten verdeutlicht haben, daß es in erster Linie das anwachsende technologische und ökonomische Innovationskapital ist, das es Unternehmen wie zum Beispiel den in Abschnitt 2.3.2 angesprochenen deutschen Herstellern von Druckmaschinen ermöglicht, über lange Zeiträume hinweg die Führung auf einem bestimmten technologischen Pfad und damit auch ihre dominierende Stellung im internationalen Wettbewerb zu verteidigen. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle jedoch noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß bereits akkumuliertes Innovationskapital zwar die Erfolgswahrscheinlichkeit unternehmerischer Innovationsversuche erhöht, nicht aber einen andauernden Strom profitabler Innovationen garantiert. Aus diesem Grund ist es jederzeit möglich, daß ein Unternehmen mit geringeren spezifischen Erfahrungen die mit einer bestimmten Technologie vertrauten Unternehmen in einem einzelnen Innovationswettlauf besiegt. Dieser Fall ist nur unwahrscheinlicher als sein Gegenteil. 33 Selbst dann, wenn man die Möglichkeit ausschließt, daß es hinterher hinkenden Unternehmen gelingen kann, die auf einem technologischen Pfad fuhrenden Firmen durch eine Reihe glücklicher Entdeckungen zu überholen, ist die technologische und ökonomische Vorherrschaft letzterer nicht für alle Zeiten zementiert. Vielmehr kann der in Schaubild 2 dargestellte positive Rückkopplungsprozeß zwischen dem sich akkumulierenden Innovationskapital und der Zahl der erfolgreich abgeschlossenen Innovationsprojekte auch unterbrochen werden. Hierbei ist zwischen exogenen und endogenen Gründen für diese Zäsur zu unterscheiden. Exogene Gründe liegen vor, wenn das auf einem technologischen Pfad angesammelte Innovationskapital aufgrund eines grundlegenden Präferenzwandels der Konsumenten oder der Einfuhrung einer neuartigen und überlegenen Technologie durch Dritte wertlos wird. Als ein frühes Beispiel für die zuerst genannte Ursache kann die Veränderung des vorherrschenden Modegeschmacks während des Übergangs vom Rokoko zum Klassizismus am Ende des 18. Jahrhunderts dienen, die bewirkte, daß sich die von den landesherrlichen Manufakturen geheimgehal-
Hiermit wird nicht behauptet, daß kleine und unerfahrene Unternehmen nicht dazu in der Lage wären, neuartige Produkte hervorzubringen. Nicht zuletzt aufgrund des weiter unten diskutierten Dinosaurier-Effekts sind sie vielmehr ein ausgezeichneter Standort für bahnbrechende F&EProjekte. Wie wir allerdings auch wissen, ist der unternehmerische Innovationsprozeß mit erfolgter Invention noch nicht abgeschlossen. So fehlt es den „Newcomern" oftmals am ökonomischen Innovationskapital, um ihre Erfindung in der sich anschließenden Marketingphase erfolgreich abzusetzen. In diesem Fall droht die Übernahme durch die großen und alteingesessenen Unternehmen, welche dann die neuartigen technologischen Informationen mit ihrem eigenen Wissen um geeignete Absatzstrategien zu einer erfolgreichen Innovation zusammenfugen. Vgl. Teece, David J., Profiting from Technological Innovation: Implications for Integration, Collaboration, Licensing and Public Policy, in: Research Policy 15, 1986, S. 285-305.
91 tenen Produktionsverfahren zur Erzeugung von leonischen Schmuckdrähten für glanzmetalldurchwirkte Stoffe, Pailletten oder Borten nahezu vollständig entwerteten. 34 Der Fall eines Innovationskapital zerstörenden exogenen Technologiewandels findet sich auch in der Technikgeschichte der deutschen KunststofFindustrie. Wie die Darstellung des technologischen Pfads der Hochdrucksynthesen in Abschnitt 2.3.1 bereits andeutete, wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Vorprodukte für die Kunststoff- und Synthesekautschukerzeugung ausschließlich auf Grundlage der deutschen Kohlevorkommen gewonnen, obwohl spätestens in den dreißiger Jahren Entwicklungen in der USA vermuten ließen, daß die kostengünstigere Vorgehensweise zur Erzeugung dieser Güter die Aufspaltung von Rohöl war. 35 Nach Auffassung von Gurland war diese einseitige Beschränkung auf eine letztendlich inferiore Technologie zumindest zum Teil auf die Überproduktionskrise des deutschen Kohlebergbaus zurückzuführen, der deshalb in Kooperation mit der Chemieindustrie neue Absatzmärkte für sein Erzeugnis zu erschließen suchte. 36 Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten kam hinzu, daß aufgrund der angestrebten Autarkie der Rückgriff auf die einheimische Kohle der Verwendung des Einfuhrguts Rohöl eindeutig vorgezogen wurde. In der exportorientierten Bundesrepublik Deutschland spielten derartige politische Erwägungen allerdings keine Rolle mehr. Stattdessen mußte die westdeutsche Kunststoffindustrie, wollte sie ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten, die Erzeugung ihrer Vorprodukte von der Rohstoffbasis Kohle auf Erdöl umstellen. Den Anfang machte die BASF, die im Jahr 1953 zusammen mit der Deutschen Shell die gemeinsame Tochtergesellschaft Rheinische Olefinwerke GmbH in Wesseling gründete, die sich im folgenden insbesondere auf die Erzeugung von Ethylen, Ethylbenzol und Polyethylen konzentrierte. 37 Diese Umstellung auf die Petrochemie machte nicht wenige der auf dem technologischen Pfad der Kohlechemie erlangten Erfahrungen schlagartig wertlos. 38 Unternehmen können nicht verhindern, daß exogene Einflüsse einen aussichtsreichen technologischen Pfad in einer ökonomischen Sackgasse enden lassen. Allerdings können sie sich bemühen, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, daß das Ende einer 34
Vgl. Schremmer, Eckart, Die Wirtschaft Bayerns, München 1970, S. 561-570.
35
Vgl. Hölscher, Friedrich, Kautschuke, Kunststoffe, Fasern. Sechs Jahrzehnte technischer Herstellung synthetischer Polymere, Schriftenreihe des Firmenarchivs der Badischen Anilin- und Sodafabrik AG 10. Ludwigshafen 1972, S. 15, 29.
36
Vgl. Gurland, A.R.L., Technological Trends and Economic Structure under National Socialism, in: Studies in Philosophy and Social Science 9, 1941, S. 226-263. Vgl. Mittmann, Detlef, Die chemische Industrie im nordwestlichen Mitteleuropa in ihrem Strukturwandel, Wiesbaden 1974, S. 73. Vgl. auch Stokes, Opting for Oil.
37
38
So zum Beispiel das innovative Reppe-Verfahren zur Gewinnung von Butadien, das noch nach dem Zweiten Weltkrieg das besondere Interesse US-amerikanischer Untersuchungsteams fand. Vgl. Kapitel X X V „Reppe Chemistry" in DeBell, John M., William C. Goggin und Walter E. Gloor, German Plastics Practice, published with permission of the Department of Commerce, Springfield/Mas. 1946.
92 bestimmten Technologie nicht gleichzeitig auch das Ende ihres Geschäftserfolgs bedeutet. Ein vielversprechender Ansatz ist hierbei insbesondere die in Abschnitt 1.5 vorgestellte Strategie der Schumpeterschen Diversifizierung, die Unternehmen empfiehlt, ihr Innovationskapital auf benachbarte technologischen Pfade zu transferieren, um so zu gewährleisten, daß veraltete Produktgruppen ohne Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit aufgegeben werden können. In Kapitel 5 werden wir diese Vorgehensweise am Beispiel des Kunststoffverarbeiters Freudenberg ausfuhrlich erläutern. Wenn es den unternehmerischen Entscheidungsträgern allerdings am Willen mangelt, das vorhandene Innovationskapital für weiterführende Innovations- und Diversifizierungsprojekte zu nutzen, kann ein Unternehmen auch bei Ausbleiben von exogenen Störungen die Führerschaft auf einem bestimmten technologischen Pfad verlieren. Diese endogene Ursache von schwindendem Innovationskapital wird von Mensch als Dinosaurier-Effekt bezeichnet.39 In der Tat charakterisiert dieser Begriff anschaulich die Lage in einem Unternehmen, das aufgrund seiner bisherigen Innovationsleistungen so groß geworden ist, daß Bürokratismus, Risiko-Aversion und Hybris neue Innovationsversuche wirkungsvoll blockieren. In diesem Zusammenhang meint der Ausdruck Bürokratismus, daß in einem wachsenden Unternehmen der Schumpetersche Unternehmer in zunehmendem Maße durch einen Verwaltungsapparat von Managern mit jeweils nur beschränkten Verantwortlichkeiten verdrängt wird, die an bahnbrechenden Neuerungen nur ein geringes Interesse haben, weil Innovationen auch innerhalb des Unternehmens bestehende Kompetenzen entwerten können und damit gegebenenfalls ihre bisherige Machtgrundlage zerstören.40 Die Gefahr, daß unternehmerische Entscheidungsträger zur Sicherung ihrer eigenen Position über Gebühr an Traditionen und Routinen festhalten, wurde beispielsweise von Thomas J. Watson Jr., der das Unternehmen IBM in den fünfziger Jahren auch gegen interne Widerstände zu einem weltweit führenden Computererzeuger umformte, deutlich erkannt: „If an organization is to meet the challenges of a changing world, it must be prepared to change everything about itself except (its basic) beliefs as it moves through corporate life. ... The only sacred cow in an organization should be its basic philosophy of doing business."41 Risiko-Aversion bedeutet im Allgemeinen, daß Entscheidungsträger die Neigung besitzen, eine sichere Auszahlung einer riskanten Alternative mit gleich hohem Erwartungswert vorziehen.42 Beispielsweise wird sich ein risiko-averses Individuum, daß vor die Wahl gestellt wird, entweder einen Betrag von 500 Euro oder ein Lotterielos zu erhalten, das mit 50prozentiger Wahrscheinlichkeit eine Niete und mit 50prozentiger 39
40 41 42
Vgl. Mensch, Gerhard, Das Technologische Patt. Innovationen überwinden die Depression, Frankfurt/Main 1975, S. 66. Vgl. Schumpeter, Joseph Alois, Konjunkturzyklen, Göttingen 1961, S. 717 f. Zitiert nach Collins, Porras, Built to Last, S. 81. Vgl. Mas-Colell, Andreu, Michael D. Whinston und Jerry R. Green, Microeconomic Theory, New York, Oxford 1995, S. 185.
93 Wahrscheinlichkeit einen Gewinn von 1000 Euro repräsentiert, für die erste Möglichkeit entscheiden. Für die hier diskutierte Situation folgt aus dieser Verhaltensannahme, daß die risiko-aversen Manager vorzugsweise in risikoarme kleine Verbesserungen ihres bestehenden Produktionsprogramms investieren, anstatt das Wagnis einzugehen, Unternehmenskapital für ambitionierte Innovationsprojekte einzusetzen, deren Endergebnis letztendlich nicht vorhergesagt werden kann. 43 Gerade dieses Argument mag hauptsächlich für große und etablierte Unternehmen gelten, da diese im Gegensatz zu neuen und kleinen Unternehmen tatsächlich viel zu verlieren haben. Hybris heißt schließlich, daß die Erfolge der Vergangenheit die unternehmerischen Entscheidungsträger zu der Überzeugung verführen können, daß andere Unternehmen keine Chance besitzen, die Führungsrolle des eigenen Unternehmens zu gefährden. Diese Selbstüberschätzung trägt wie Bürokratismus und Risiko-Aversion dazu bei, daß eine Abkehr von dem einmal eingeschlagenen Weg kaum in Erwägung gezogen wird. Die empirische Relevanz dieser theoretischen Ausführungen wird vortrefflich durch den Niedergang der westdeutschen Kameraindustrie belegt, die während der Wirtschafts wunderjahre ihre dominierende Stellung im internationalen Wettbewerb vollständig an ihre japanischen Konkurrenten verlor. Diesen Führungswechsel verdeutlichen beispielhaft die Veränderungen auf dem westdeutschen Kameramarkt, wo sich der Marktanteil der deutschen Produzenten von über 96 % im Jahr 1960 auf unter 15 % im Jahr 1978 verringerte, während der entsprechende Wert der japanischen Erzeuger im gleichen Zeitraum von etwas über 3 % auf über 50 % anstieg.44 Das überraschend hohe Tempo dieses Wandels kann wohl nur durch das außergewöhnliche Zusammentreffen der vom Dinosaurier-Effekt gelähmten deutschen Kameraproduzenten mit den kreativen Branchenneulingen aus Japan erklärt werden, deren Innovationspotential anfänglich insbesondere in der Marketingphase der unternehmerischen Innovationsprozesse zu Tage trat. Der Beginn des Abstiegs der westdeutschen Kameraindustrie wird paradoxerweise durch einen der letzten großen technologischen Höhepunkte dieser nationalen Branche markiert. So präsentierte im Jahr 1954 das Unternehmen Leica seine neue Sucherkamera M 3, deren Verarbeitung und Ausstattung im Rahmen des damals verfügbaren Wissens eine technologischen Perfektion erreicht hatten, die zumindest kurzfristig von keinem Konkurrenten nachgeahmt werden konnte. Allerdings entfaltete diese Innovation 43
Vgl. Bercovitz, Janet E.L., John M. de Figueiredo und David J. Teece, Firm Capabilities and Managerial Decision Making: A Theory of Innovation Biases, in: Raghu Garud, Praveen Rattan Nayyar und Zur Baruch Shapira (Hg.), Technological Innovation: Oversights and Foresights, Cambridge 1997, S. 233-259.
44
Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich auf dem US-amerikanischen Exportmarkt für Fotoapparate bereits in den fünfziger Jahren. Vgl. hierzu und im folgenden Albach, Horst und Cornelia Oberthür, Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Photokameraindustrie gegenüber der japanischen Konkurrenz, in: Horst Albach (Hg.), Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, o. O. 1982, S. 93-123; Pietsch, Gerhard, Qualitätswettbewerb und Qualitätspolitik der Betriebe dargestellt am Beispiel der deutschen Kameraproduzenten, Köln, Opladen 1968.
94 unerwartete Nebenwirkungen. Sie trug nämlich maßgeblich dazu bei, in der westdeutschen Kameraindustrie den Irrglauben zu festigen, daß die eigene Marktführerschaft durch die aufkommenden japanischen Wettbewerber nicht ernsthaft bedroht werden konnte. Diese Hybris zeigen exemplarisch zwei Zitate aus der Fachzeitschrift PhotoTechnik und -Wirtschaft aus dem Jahr 1960: „... es erscheint jedoch fraglich, ob das japanische Angebot gegen die seit Jahrzehnten bekannten und bewährten Fabrikate Deutschlands und der anderen westeuropäischen Länder überhaupt größere Chancen hat." Vielmehr „... spricht alles dafür, daß die deutsche phototechnische Industrie die starke Position auf dem Photomarkt der Welt nicht nur zu behaupten, sondern noch zu festigen verstehen wird. Die Abneigung des Photohandels, japanische Kameras zu führen, stellt einen weiteren Riegel dar, so daß die deutsche Photoindustrie zurzeit die Konkurrenz Japans auf dem eigenen Markt nicht allzusehr zu fürchten braucht." 45 Wie der letzte Satz dieser Verlautbarungen belegt, wurde die deutsche Selbstsicherheit zusätzlich durch den Umstand genährt, daß in der Bundesrepublik Deutschland der Absatz von Kameras fast ausschließlich über den konservativen Fachhandel erfolgte, der den japanischen Erzeugern, die anfänglich nur Produkte der unteren Qualitätsstufe anboten, zunächst verschlossen blieb. Diese Wettbewerbsbedingungen führten die japanischen Kameraerzeuger einerseits zu der Einsicht, daß es angesichts des technologischen Vorsprungs der deutschen Sucherkameras aussichtsreicher war, die eigenen Aktivitäten auf das neu entstehende Marktsegment der einäugigen Spiegelreflexkameras zu konzentrieren. Andererseits machten sie deutlich, daß zur Erschließung des westdeutschen Kameramarktes innovative Absatzstrategien benötigt wurden. Die erste einäugige Spiegelreflexkamera (24x36) mit Zentralverschluß wurde im Jahr 1953 von der Zeiss Ikon AG unter dem Namen Contaflex angeboten. Diese Innovation bot dem Benutzer gegenüber Sucherkameras den Vorteil, während der Vorbereitung der Aufnahme das gewünschte Bild auch bei wechselnden Brennweiten jeweils in dem Ausschnitt und der Bildschärfe betrachten zu können, in der es später auch auf dem Negativ erscheinen würde. Darüber hinaus gewährleistete der im Kameragehäuse angebrachte Verschluß, daß die Wechselobjektive vergleichsweise preisgünstig verkauft werden konnten. Somit entsprach das Konzept der einäugigen Spiegelreflexkamera auch dem wichtigen Leitmotiv japanischer Innovationsprojekte, hochwertige Technologie breiten Käuferschichten zu erschwinglichen Preisen zugänglich zu machen. Nicht zuletzt deshalb wurde sie bald von japanischen Unternehmen kopiert und auf dem japanischen Markt abgesetzt. Diese durch die konkrete historische Situation bedingte Entscheidung für die Spiegelreflex- und gegen die Sucherkamera war von entscheidender Bedeutung für den nachfolgenden Aufstieg der japanischen Kameraindustrie, da sie den allgemeinen Präferenzwandel vorwegnahm, der Mitte der sechziger Jahre auf den internationalen Kameramärkten einsetzte. Die westdeutschen Kameraproduzenten besaßen als Erstanbieter der einäugigen Spiegelreflexkamera natürlich ebenfalls das technologi-
Zitiert nach Albach, Oberthür, Photokameraindustrie, S. 115.
95
sehe Innovationskapital, das notwendig war, um ihre Angebotspalette auf diese exogene Veränderung des Konsumentengeschmacks vorzubereiten. Nichtsdestotrotz setzten sie ihren Schwerpunkt weiterhin auf die herkömmlichen Sucherkameras. Das vergleichsweise niedrige japanische Lohnniveau erlaubte es den japanischen Produzenten, ihre Fotoapparate auf den internationalen Märkten zu entsprechend niedrigen Preisen anzubieten. In der Bundesrepublik Deutschland weigerte sich der mit der Kameraindustrie in einem System der vertikalen Preisbindung verbundene Fachhandel jedoch zunächst standhaft, die japanischen Erzeugnisse in sein Sortiment aufzunehmen. Deshalb blieb den japanischen Unternehmen keine andere Wahl, als nach innovativen Einlassen in den westdeutschen Kameramarkt zu suchen. In der Tat gelang es, Versandhandel und Warenhäuser als hierfür geeignete Absatzkanäle zu gewinnen. Eine Redner auf der Hauptversammlung des Verbandes der Deutschen Feinmechanischen und Optischen Industrie vom 24. Oktober 1958 beschreibt die aus seiner Sicht unerwünschte marktöffnende Wirkung dieser Vorgehensweise: „Es handelt sich darum, daß die ausländischen Hersteller keine Hemmungen haben, auch außerhalb des Fachhandels zu liefern und naheliegenderweise Versandfirmen oder Warenhäusern großzügige Angebote machen. Dies wiederum stärkt deren Position, von der deutschen Industrie gleichfalls Belieferung zu verlangen, da anderenfalls für die weitere Zukunft ausschließlich ausländische Fabrikate forciert würden, woran den deutschen Industriefirmen sicherlich nicht sehr gelegen sein kann. Auf der anderen Seite steht der einschlägige Fachhandel, der mit einigem Recht seine Existenz sichern will und für den Fall der Belieferung von fachfremden Verkaufsorganisationen durch die deutschen Hersteller seinerseits mit der Forcierung ausländischer Fabrikate droht." 46 Letztendlich gelangten die japanischen Kameras auf diese Weise auch in die Fachgeschäfte. Das Wissen um diesen Marketingerfolg gebietet eine Neubewertung der in Abschnitt 2.4.1 beschriebenen Handlungsweise der japanischen Produzenten von Kleinbildfernsehern in der Mitte der sechziger Jahre. So war deren Absatzstrategie, den US-amerikanischen Markt über den Versandhandel zu erschließen, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr innovativ, sondern die bewußte Wiederholung einer bereits auf dem deutschen Kameramarkt erfolgreich durchgeführten Maßnahme. Das absatzpolitische Innovationspotential der japanischen Kameraproduzenten war mit der Nutzung neuer Absatzkanäle jedoch noch nicht erschöpft. Vielmehr übertrug man zudem dem unabhängigen Japan Camera Inspection Institute (JCII) die Aufgabe, den Export mangelhafter Kameras durch eine stichprobenhafte Kontrolle der Ausfuhrwaren zu verhindern. Hierdurch sollte erreicht werden, daß die internationalen Verbraucher längerfristig ihr Mißtrauen gegen die angeblich minderwertigen japanischen Imitate verloren. Auch diese Zielsetzung gelang. So entwickelte sich die von der JCII verwendete goldene „Passed" Plakette im Folgenden gar zu einem regelrechten Gütesiegel für hochwertige Kameras. Längerfristig entwuchs die japanische Kamerain-
46
Zitiert nach Pietsch, Qualitätswettbewerb, S. 64.
96 dustrie ihrer Rolle als Imitator und übernahm mit der Verwendung elektronischer Bauteile nun selbst die Führung auf dem technologischen Pfad der Kameras. Das Beispiel der deutschen Kameraindustrie belegt, daß die unter dem Begriff Dinosaurier-Effekt zusammengefaßten Einflußfaktoren durchaus dazu in der Lage sind, die Innovationsbemühungen eines ehemals fortschrittlichen Unternehmens lahmzulegen. In einem solchen Fall mag sich der Staat versucht fühlen, den schlafenden Riesen wachzurütteln und durch direkte technologiepolitische Eingriffe auf eine Wiederaufnahme unternehmerischer Innovationsprozesse hinzuwirken. Im nun folgenden Kapitel 3 wird anhand der technologiepolitischen Förderung der Syntheskautschukproduktion in Deutschland und in den USA während des Zweiten Weltkriegs untersucht werden, ob und unter welchen Bedingungen ein derartiges Unterfangen von Erfolg gekrönt sein kann. Der branchen- und länderübergreifende Überblick über Innovationskapital und unternehmerische Innovationsprozesse ist damit abgeschlossen. In den nächsten drei Kapiteln werden wir uns im Detail und aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem technologischen und ökonomischen Aufstieg der deutschen Kunststoffindustrie beschäftigen.
3
Staatliche Technologiepolitik als Initiator unternehmerischer Innovationsprozesse1
Wie in Abschnitt 2.2.3 gezeigt, versteht Levin das aus der US-amerikanischen Wirtschaftsgeschichte filtrierte „Military model" als eine technologiepolitische Konzeption, die sich grundsätzlich in allen Industriebereichen, in denen der Staat als Nachfrager auftritt, zum Setzen von Innovationsanreizen eignet. Um eine genauere Vorstellung über die Auswirkungen von staatlichen Eingriffe in den Innovationsprozeß privater Unternehmen zu gewinnen, werden nun in einer empirischen Analyse die jeweiligen technologischen und ökonomischen Entwicklungen in der deutschen und der USamerikanischen Synthesekautschukindustrie während des Zweiten Weltkriegs miteinander verglichen.
3.1
Die Produktinnovation Synthesekautschuk: Der Aufstieg einer neuen Industriebranche in Deutschland und in den USA
3.1.1
Gemeinsamkeiten: Staatliche Zielvorgabe, technologische Grundlage und quantitative Zielerreichung
Nach dem Jahrhundertwechsel stieg die Nachfrage der europäischen und nordamerikanischen Volkswirtschaften nach Naturkautschuk parallel zum Wachstum der neuen Automobilindustrie stark an. Entsprechend erhöhten sich die Kapazitäten der in Südostasien und dort insbesondere in Malaya (heute Teil von Malaysia) und Indonesien ange1
2
Eine kürzere Version dieses Kapitels erschien unter dem Titel „Internationale Wettbewerbsfähigkeit durch nationale Technologiepolitik. Die staatliche Förderung der Synthesekautschukproduktion im deutsch-amerikanischen Vergleich" erstmalig in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte 50,2002, S. 367-397. Naturkautschuk wird aus dem Milchsaft (Latex) des aus Brasilien stammenden Baum Hevea brasiliensis gewonnen.
98 3
siedelten Kautschukplantagen. Im Verlauf dieser Entwicklung wurde der freie Zugang zu den südostasiatischen Naturkautschukmärkten zu einer unabdingbaren Voraussetzung für die wirtschaftliche Prosperität der westlichen Industrienationen und in zunehmendem Maße auch für militärische Erfolge in den modernen Bewegungskriegen des 20. Jahrhunderts. In einer Veröffentlichung des US-amerikanischen Präsidenten aus dem Jahr 1950 heißt es hierzu: „A modern war cannot be fought without great quantities of rubber ... The rubber in the tires of one type of Army tank carrying tractor trailer would make more than 400 passenger car tires. Rubber is required for the tires, de-icers and self-sealing gas tanks of airplanes, for landing crafts and tanks, for life rafts and pontoons, footwear and raincoats - and for literally hundreds of other items of military equipment. Over 10 percent of the total weight of a modern submarine is rubber." 4 Diese Zusammenhänge mußte Deutschland bereits während des Ersten Weltkriegs erkennen, als der Rückgang der Naturkautschukimporte durch die sowohl quantitativ als auch qualitativ unzureichende Methylkautschukproduktion der Farbenfabriken Bayer nicht kompensiert werden konnte. Eingedenk dieser Erfahrung maß Adolf Hitler in seiner 1936 verfaßten Geheimen Denkschrift über die Aufgaben eines Vierjahresplans dem Kautschuk besondere Bedeutung zu. So sollte im Rahmen der geplanten militärischen und wirtschaftlichen Aufrüstung auch der Aufbau einer deutschen Synthesekautschukindustrie erfolgen: „Es ist ebenso augenscheinlich die Massenfabrikation von synthetischem Gummi zu organisieren und sicherzustellen. Die Behauptung, daß die Verfahren vielleicht noch nicht gänzlich geklärt wären und ähnliche Ausflüchte haben von jetzt ab zu schweigen. ... Es ist vor allem nicht die Aufgabe staatlichwirtschaftlicher Einrichtungen, sich den Kopf über Produktionsmethoden zu zerbrechen. ... Die Frage des Kostenpreises dieser Rohstoffe ist ebenfalls gänzlich belanglos, denn es ist immer noch besser, wir erzeugen in Deutschland teurere Reifen und können sie fahren ... ,"5 Hitler überließ somit die Entscheidungen über die chemische Zusammensetzung des Synthesekautschuks und über das geeignete Produktionsverfahren den privaten Unternehmen, so daß seine Zielvorgabe deren technologische Unsicherheit in der Planungsphase des Innovationsprozesses nicht reduzierte. Gleichzeitig versprach er aber implizit, daß der nationalsozialistische Staat bereit sein würde, kostendeckende Preise für den Synthesekautschuk zu gewähren, was zumindest die ökonomische Unsicherheit der potentiellen Produzenten erheblich verringerte.
3
4
5
Die weltweite Jahresproduktion von Naturkautschuk wuchs von 48000 Tonnen im Jahr 1900 über 295000 Tonnen im Jahr 1920 auf 825000 Tonnen im Jahr 1930. Vgl. Hölscher, Kautschuke, S. 2325. Synthetic Rubber Recommendations of the U.S. President transmitted to the Congress together with a Report on Maintenance of the Synthetic Rubber Industry in the United States and Disposal of Government-owned Synthetic Rubber Facilities, o.O. 1950, S. 17 f. Denkschrift Hitlers über die Aufgaben eines Vierjahresplans, abgedruckt in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3, 1955, S. 208.
99 Noch im Jahr 1936 begann der deutsche Chemiekonzern I.G. Farben mit dem Bau einer industriellen Großanlage zur Produktion von Synthesekautschuk in Schkopau (Werk Buna I), deren Ausstoß im Jahr 1939 mit 20800 Jahrestonnen erstmalig eine den Begriff Massenfertigung rechtfertigende Größenordnung erreichte. Mit Werk Buna II in Hüls (Baubeginn 1938, Massenproduktion ab 1941), Werk Buna III in Ludwigshafen/Oppau (Baubeginn 1940, Massenproduktion ab 1943) und Werk Buna IV in Auschwitz (Baubeginn 1941, nicht fertiggestellt) wurden in den Folgejahren noch drei weitere I.G. Farben Werke zur Synthesekautschukproduktion errichtet.6 Hergestellt wurde vor allem die Synthesekautschukart BUNA S, ein Mischpolymerisat aus 70 % Butadien und 30 % Styrol, das unter den verfügbaren Synthesekautschukalternativen am besten geeignet für die Reifenproduktion war. Im Jahr 1939 waren die USA mit einem Anteil von 53 % am Weltkonsum der mit Abstand größte Verbraucher von Naturkautschuk, welcher gemessen an seinem Einfuhrwert zugleich auch das wichtigste amerikanische Importgut war. Gleichwohl existierten am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in den USA keine staatlichen Pläne, durch den Aufbau einer einheimischen Synthesekautschukindustrie die aus militärischer Sicht gefährliche Abhängigkeit von den Naturkautschukimporten aus Südostasien zu reduzieren. Es dauerte bis zum 21. Mai 1941 bis die Mitte 1940 gegründete, staatliche Hang delsgesellschaft Rubber Reserve Company den Auftrag erhielt, vier Synthesekautschukwerke zu finanzieren. Die jährliche Kapazität dieser Produktionsstätten sollte zusammengenommen 10000 long tons 9 betragen; eine Kapazitätserhöhung auf 40000 long tons wurde lediglich diskutiert. Der Vergleich mit dem US-amerikanischen Verbrauch von insgesamt 775000 long tons importiertem Naturkautschuk im Jahr 1941 zeigt, daß dieses Vorhaben immer noch keinen ernsthaften Versuch darstellte, sich auf einen erheblichen Rückgang der Naturkautschukimporte vorzubereiten. Der Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 und die nachfolgende japanische Invasion des südostasiatischen Raums im Januar 1942 schnitten die USA innerhalb von nur zwei Monaten weitgehend von den Naturkautschukmärkten dieser Region ab. Erst diese Ereignisse bewogen die amerikanische Regierung, die geplante Kapazität der staatlich finanzierten Synthesekautschukfabriken über 120000 long tons im Dezember 1941 und 400000 long tons im Januar 1942 auf insgesamt 805000 long tons im April 1942 zu erhöhen. 10 Die amerikanische Kautschukkrise während des Zweiten Weltkriegs schien durch den Umstand verschärft zu werden, daß die von amerikanischen Unternehmen entwickelten Synthesekautschukarten Duprene (Du Pont) auf Basis von Chlor und Butylkau6 7
8
9 10
Vgl. Plumpe, I.G. Farben, S. 385, 390. Vgl. Synthetic Rubber Recommendations, Appendix A; Herbert, Vernon und Attilio Bisio, Synthetic Rubber. A project that had to succeed, Westport/Connecticut, London 1985, S. IX. Die ursprüngliche Aufgabe der Rubber Reserve Company war es, durch den Aufkauf von Naturkautschuk staatliche Reservekapazitäten für den militärischen Bedarf aufzubauen. Eine long ton entspricht 1016 Kilogramm = 1 , 0 1 6 metrische Tonnen. Vgl. Synthetic Rubber Recommendations, S. 23.
100
tschuk (Standard Oil (New Jersey)) aus Isobutylen und aus Butadien zur Produktion von Fahrzeugreifen wenig geeignet waren. Dank der in Abschnitt 2.2.2.2 ausführlich beschriebenen Vorkriegszusammenarbeit zwischen Standard Oil (New Jersey), USA, und I.G. Farben, Deutschland, verfügte man jedoch über die Patente und das technologische Wissen zur Herstellung der deutschen Synthesekautschukart BUNA S. Nach anfänglicher technologischer Unsicherheit11 einigten sich im März 1942 Rubber Reserve Company und amerikanische Kautschukverarbeiter auf die gemeinsame Vorgehensweise, vorwiegend BUNA S zu produzieren. So sah der endgültige Produktionsplan vom April 1942 dann auch vor, daß von den 805000 long tons jährlicher Gesamtkapazität 705000 long tons der Herstellung von BUNA S dienen sollten, das in den USA als GR-S (Government Rubber-Styrene Type) bezeichnet wurde. 12 Insgesamt wurden in den USA statt der 1941 geplanten 4 Synthesekautschukwerke 15 staatlich finanzierte Produktionsstätten errichtet. Betrieben wurden diese von den vier großen amerikanischen Kautschukverarbeitern Firestone Tire Rubber Co., B.F. Goodrich Co., Goodyear Synthetic Rubber Corp. und U.S. Rubber Co. (jeweils drei Werke) sowie von der Copolymer Corp., General Tire & Rubber Co. und National Syn13
thetic Rubber Corp. (jeweils ein Werk). Tabelle 6 zeigt, daß es sowohl Deutschland als auch den USA während des Zweiten Weltkriegs gelang, zumindest nach rein quantitativen Maßstäben den Rückgang ihrer Naturkautschukimporte durch die Produktion von BUNA S zu kompensieren. Allerdings waren beide Länder aufgrund der zunächst nur unzureichenden BUNA S Produktion gezwungen, zu ihrem jeweiligen Kriegseintritt den Kautschukverbrauch gegenüber dem Vorkriegsniveau deutlich zu senken. Diese durch den Rückgang der Naturkautschukimporte ausgelöste Versorgungskrise war jedoch gemessen am jeweiligen inländischen Vorkriegsverbrauch in Deutschland spätestens ab 1942 und in den USA ab 1944 überwunden. In Deutschland übertraf im Jahr 1943 die BUNA S Produktion den inländischen Verbrauch; Überschüsse wurden an Verbündete exportiert. In den USA erlaubte die Nutzung der drei Beschaffungsquellen Synthesekautschukproduktion, Naturkautschukimporte und Kautschukrecycling im Jahr 1945 einen neuen Verbrauchsrekord. Dieser quantitative Befund darf allerdings nicht
Nach einem im März 1940 erfolgten Vorschlag von Harvey Firestone Jr sollte jeder amerikanische Reifenhersteller denjenigen Synthesekautschuk produzieren dürfen, den er für die Reifenherstellung am besten geeignet hielt. Vgl. Morris, Peter J.T., The American Synthetic Rubber Research Program, Philadelphia 1989, S. 29. Um die gemeinsame technologische Grundlage zu verdeutlichen, wird der amerikanische GR-S im folgenden weiterhin als BUNA S bezeichnet. The Government's Rubber Projects, Bd. 2., A History of the U.S. Government's Natural and Synthetic Rubber Programs 1941-1955, originally prepared 1948 in the Division of Information, Reconstruction Finance Cooperation, under the direction and supervision of William Peyton Tidwell by Brendan J. O'Callaghan, 1955 revised and brought up-to-date under the supervision of Bertram H. Wimer, S. 486 f. Das amerikanische Synthesekautschukprogramm umfaßte außerdem den Aufbau von 17 Butadienfabriken und 5 Produktionsanlagen für Styrol.
101
darüber hinwegtäuschen, daß BUNA S den Naturkautschuk in vielen Anwendungsgebieten nicht oder zumindest nicht gleichwertig ersetzen konnte. 14 Tabelle 6
Jahr
Inländischer Verbrauch von Kautschuk und Produktion von BUNA S in Deutschland und in den USA, 1937-1945
Deutschland Produktion Konsum von BUNA S Natur- und in Tonnen" Synthesekautschuk in Tonnenb
(I) 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 a
(II) 2110 3994 20576 37137 65889 94166 110569 97493
(III)
USA Produktion Konsum von (II) in Prozent BUNAS Natur- und von (III) in Tonnen" Synthesekautschuk in Tonnen0 (IV) (V) (VI)
101940
3,9
68004 77280 97584 91008
54,6 85,3 96,5 121,5
231 3781 185175 680992 730914
1049010 659650 791532 977256 1056686
(V) in Prozent von (VI) (VII)
0,0 0,6 23,4 69,7 69,2
Dunbrook, R.F., Historical Review, in: G. Stafford Whitby (Hg.), Synthetic Rubber, New York, London 1954, S. 52 f. (Metrische) Tonnen umgerechnet aus long tons, wobei 1 long ton = 1 , 0 1 6 Tonnen. Länderrat des Amerikanischen Besatzungsgebiets, Statistisches Handbuch von Deutschland 1928-1944, München 1949, S. 312. Herbert, Vernon und Attilio Bisio, Synthetic Rubber. A Project that had to succeed, Westport/Connecticut, London 1985, S. 127. (Metrische) Tonnen umgerechnet aus long tons, wobei 1 long ton = 1,016 Tonnen.
b c
3.1.2
Unterschiede: Effizienzsteigerungen, Synthesekautschukinventionen und Kundenorientierung
Das kurzfristige Problem, den kriegsbedingten Mangel an Naturkautschuk möglichst schnell durch die Herstellung eines qualitativ hinreichenden Synthesekautschuks zu beheben, wurde in beiden betrachteten Ländern auf Grundlage der BUNA S Technologie gelöst. Das ist eine wesentliche Gemeinsamkeit der deutschen und amerikanischen Synthesekautschukproduktion während des Zweiten Weltkriegs. Bezüglich des eher Vgl. Morris, American Synthetic Rubber Research, S. 41.
102
längerfristigen Problems, einen zur Reifenherstellung verwendbaren Synthesekautschuk zu entwickeln, der auch ohne staatliche Subventionen unter marktwirtschaftlichen Bedingungen in Preis und Qualität mit Naturkautschuk konkurrieren konnte, zeigten sich allerdings am Ende des Zweiten Weltkriegs drei wesentliche Unterschiede, denen wir uns im folgenden nacheinander zuwenden werden: Die deutschen Erzeuger von BUNA S konnten größere innerbetriebliche EffizienzSteigerungen realisieren als die amerikanischen Unternehmen. Die deutschen industriellen Forschungslaboratorien besaßen einen Vorsprung bei der technologischen Entwicklung von über den Vorkriegswissensstand hinausgehenden Synthesekautschukinventionen. Nur der in den USA produzierte BUNA S wurde durch die Zugabe eines Weichmachers den technologischen und ökonomischen Bedürfnissen der Reifenhersteller angepaßt. Ein Vergleich der in den Spalten (III) und (V) von Tabelle 7 aufgezeigten jeweiligen Entwicklung der deutschen und amerikanischen Produktionskosten einer Mengeneinheit BUNA S zeigt, daß die amerikanischen Synthesekautschukerzeuger in den Jahren nach Erreichen des industriellen Fertigungsniveaus größere Kostenreduktionen erzielten als die deutschen Produzenten. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die diesem Vergleich zugrundeliegenden empirischen Daten nicht nur die Aufwendungen für die in den Synthesekautschukwerken eingesetzten Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital, sondern auch die Kosten der Beschaffung von Butadien, Styrol und anderen Vorprodukten beinhalten. Die beobachtbare Differenz in der Produktionskostenentwicklung kann daher auf eine ganze Reihe von Ursachen zurückgeführt werden. Zu denken wäre an eine unterschiedliche Veränderung der Faktorlöhne oder der Preise der benötigten Vorprodukte, an ein unterschiedliches Bemühen der Manager um innerbetriebliche Effizienzsteigerungen oder an Größenvorteile aufgrund eines größeren Produktionsvolumens je Werk. Aufgrund der in beiden Ländern im Betrachtungszeitraum gültigen allgemeinen Preis- und Lohnstopps 15 kann die sich öffnende Kostenschere nicht durch abweichende Lohn- und Zinsänderungen erklärt werden.
In Deutschland waren die Preise und Löhne bereits im Jahr 1936 auf dem bestehenden Niveau eingefroren worden. Vgl. Verordnung über einen allgemeinen Preisstopp vom 26.11.1936, Reichsgesetzblatt I, 1936, S. 955 f. In den U S A erfolgte eine entsprechende Regelung im April 1942 durch die „General Maximum Price Regulation". Vgl. Mills, Geofrey und Hugh Rockoff, Compliance with Price Controls in the United States and the United Kingdom during World War II, in: Journal o f Economic History 47, 1987, S. 197-213.
103
Tabelle 7
Jahr"
(I) t t+1 t+2 t+3 t+4 t+5 t+6 a
b
c
d
e
Die Entwicklung der Produktionskosten einer Mengeneinheit BUNA S im deutschen Werk Schkopau (1939-1944) und im Durchschnitt der 15 amerikanischen Synthesekautschukfabriken (1943-1945, 1948/49)
Produktionskosten einer Mengeneinheit BUNA S in Deutschland in den USA (Schkopau) auf Basis von Butadien auf Basis von Butadien aus auf Basis von Butadien aus Erdöl (1iktiv)d aus Acetylenb Alkohol und aus Erdölc Index cents/pound Index RM/100 kg cents/pound Index (VI) (VII) (IV) (V) (III) (II) 216,22 100 35,50 100 14,22 100 164,23 76 30,70 86 14,61 103 74 159,65 23,10 65 14,34 101 167,57 77 152,03 70 e 64 13,60 38 13,60 137,57 96 13,80 39 13,80 97 Als Ausgangszeitpunkt t wurde dasjenige Jahr gewählt, in dem nach Anlaufen der Produktion erstmals ein industrielles Fertigungsniveau (Schkopau: 20173 Jahrestonnen BUNA S, USA: durchschnittlich 12345 Jahrestonnen BUNA S) erreicht wurde. Für Deutschland ist t=1939 und t+5=1944, für die USA gilt t=1943 und t+6=1949. Produktionskosten in Schkopau (Werk Buna I) in RM/lOOkg. Vgl. Bayer-Archiv, Bestand: Ausschüsse und Kommissionen, Aktentitel: TEA-Büro, Signatur: 13/17, Mikrofiche 161, Blatt 12 und 13. Durchschnittskosten der 15 amerikanischen BUNA S Fabriken in cents/pound. Vgl. Herbert, Bisio, Synthetic Rubber, S. 130 f.; Synthetic Rubber Recommendations S. 44. Der Anteil des aus Erdöl gewonnenen Butadiens betrug 1943 17,63 %, 1944 35,13 %, 1945 59,45 % und in den Jahren 1948 und 1949 jeweils 100 %. Die Berechnung der fiktiven Produktionskosten der Jahre 1943 bis 1945, die sich bei ausschließlicher Verwendung von aus Erdöl gewonnenen Butadiens ergeben hätten, beruht auf folgenden Annahmen: 1. Der Preis des aus Alkohol gewonnenen Butadiens ist 3,9 mal so hoch wie der Preis des aus Erdöl gewonnenen Butadiens (Herbert, Bisio, Synthetic Rubber, S. 131). 2. Gemäß der historischen Produktionsmengen benötigten die amerikanischen BUN A S Fabriken filr die Herstellung einer Mengeneinheit BUNA S in den Jahren 1943 bis 1945 0,77, 0,74 beziehungsweise 0,72 Einheiten Butadien (Ebd. S. 128-130). Eine short ton, die für Butadien in den USA verwendete Maßeinheit, entspricht 907,2 kg oder 0,8929 long tons. Diese Zahl bezieht sich nur auf die Produktionskosten im 1. Vierteljahr 1944.
104 Da die USA ihr niedrigstes Kostenniveau nach Kriegsende bei erheblich gedrosselter Produktion erreichte, können auch die in der Synthesekautschukerzeugung auftretenden technischen Größenvorteile 16 nicht zur Begründung der Kostendifferenz herangezogen werden. 17 Hingegen kann gezeigt werden, daß die amerikanischen Produktionskostensenkungen zum überwiegenden Teil durch technologische Veränderungen bei der vorgelagerten Butadienerzeugung von außen in die BUNA S Fabriken hineingetragen wurden. Das für die Produktion von BUNA S notwendige Butadien konnte während des Zweiten Weltkriegs alternativ aus drei verschiedenen Ausgangsprodukten erzeugt werden: aus Acetylen mit Hilfe der von der I.G. Farben verwendeten Aldol- und ReppeVerfahren, aus Alkohol auf Grundlage einer von der amerikanischen Carbid and Carbon Chemicals Corporation eingeführten Methode, oder aus Erdöl gemäß eines von der Standard Oil Development Company entwickelten Prozesses.18 In den USA war Butadien der eigentliche Engpaßfaktor des Synthesekautschukprogramms.19 Aus diesem Grund griff man zunächst verstärkt auf aus Getreidealkohol gewonnenes Butadien zurück, dessen Produktion zwar fast viermal so teuer wie die des aus Erdöl erzeugten Butadiens war, das andererseits aber wesentlich schneller durch bereits bestehende Produktionsanlagen bereitgestellt werden konnte. Erst im Verlauf des fortschreitenden Kapazitätsaufbaus verdrängte das billigere Butadien aus Erdöl, das noch 1943 nur mit einem Anteil von knapp 18 % zur BUNA S Produktion beigetragen hatte, schrittweise das Butadien aus Alkohol. In den Jahren 1948 und 1949 wurde nur noch Butadien aus Erdöl eingesetzt. Somit realisierten die amerikanischen BUNA S Produzenten in den vierziger Jahren erhebliche Kosteneinsparungen, die nicht auf eigene Anstrengungen zur Erhöhung der innerbetrieblichen Effizienz, sondern auf die Substitution des teuren Butadiens aus Alkohol durch das billige Butadien aus Erdöl zurückzuführen sind. Um diese beiden Einflußgrößen der Produktionskostenentwicklung auseinanderhalten zu können, wurde
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Vgl. Todd, Douglas, Synthetic Rubber in the German War Economy: A Case of Economic Dependence, in: Journal of European Economic History 10, 1981, S. 163. In den ersten drei jeweils betrachteten Produktionsjahren verlief das Wachstum der Produktionsmengen im deutschen Werk Schkopau und im Durchschnitt der 15 amerikanischen Synthesekautschukfabriken ähnlich. In Schkopau wuchs die jährliche Erzeugung von BUNA S zwischen 1939 und 1941 von 20173 über 34999 auf 40705 Tonnen, in einem durchschnittlichen amerikanischen Werk zwischen 1943 und 1945 von 12345 über 45399 auf 48728 Tonnen. Vgl. Dunbrook, R.F., Historical Review, in G. Stafford Whitby (Hg.), Synthetic Rubber. New York, London 1954, S. 52 f. Vgl. Whitby, G. Stafford, Introduction, in: G. Stafford Whitby (Hg.), Synthetic Rubber, New York, London 1954, S. 9-11. Vgl. Government's Rubber Projects S. 454 ff.
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hier in einem Gedankenexperiment angenommen, daß die Butadienproduktion der USA schon ab 1943 vollständig auf Erdöl fußte. Spalte (VII) in Tabelle 7 zeigt das Ergebnis dieser Fiktion: Ohne den kostensenkenden Einfluß des technologischen Wandels in der Butadienerzeugung wären die Produktionskosten für eine Mengeneinheit BUNA S in den ersten sieben Jahren der amerikanischen Synthesekautschukherstellung nahezu konstant geblieben. Die deutsche BUNA S Produktion erlebte im Betrachtungszeitraum keinen vergleichbar dramatischen technologischen Substitutionsprozeß. Daher können die im deutschen Schkopau erzielten Produktionskostensenkungen von 36 % unter den gegebenen Rahmenbedingungen nur durch eine Mobilisierung innerbetrieblicher Effizienzreserven in der BUNA S Erzeugung und in den im Werk Buna I integrierten vorgelagerten Produktionsstufen verursacht worden sein. 20 Vermutlich offenbarten sich manche Einsparungsmöglichkeiten in beiden Ländern erst nach dem Erreichen bestimmter kumulierter Produktionsmengen. In Deutschland waren aber augenscheinlich die ökonomischen Anreize stärker, das Potential dieser in Kapitel 2.4.2.1 diskutierten Lernkurveneffekte auch tatsächlich zu nutzen. So verdeutlicht Tabelle 8, daß die zwischen dem 1. Vierteljahr 1941 und dem 1. Vierteljahr 1944 im Werk Buna I in Schkopau erfolgte Verringerung der Produktionskosten einer Mengeneinheit BUNA S von 13 % sowohl auf geringere Aufwendungen für Butadien und Styrol als auch auf Einsparungen bei den „Fabrikationsspesen", die neben Arbeit und Kapital insbesondere auch den Produktionsfaktor Energie berücksichtigen, zurückzufuhren ist. Die gesunkenen Aufwendungen für die Vorprodukte können ihrerseits zum Teil durch Effizienzsteigerungen in den vorgelagerten Produktionsstufen, zum anderen durch deren sparsamere Verwendung bei der eigentlichen Produktion von BUNA S erklärt werden. 21 Offensichtlich verspürten die deutschen BUNA S Produzenten eine erheblich größere Neigung als die amerikanischen Erzeuger, ihre Produktionskosten durch Rationalisierungsmaßnahmen, durch die Modifizierung der Produktionsverfahren oder durch 22
einen sorgsameren Umgang mit den Vorprodukten zu senken. In Abschnitt 3.2.2 werden wir versuchen, diesen Befund durch die unterschiedliche Ausgestaltung der staatlichen Nachfragepolitik in Deutschland und den USA zu erklären. Eine weiterhin offene 20
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Vgl. Leibenstein, Harvey, Allocative Efficiency vs. X-EfFiciency, in: American Economic Review 56,1966, S. 392-415. Aufgrund einer effizienteren Nutzung von Butadien bei der BUNA S Erzeugung sanken zwischen dem 1. Vierteljahr 1941 und dem 4. Vierteljahr 1943 die Aufwendungen für Butadien mit 8% stärker als die Produktionskosten einer Mengeneinheit Butadien, die sich im gleichen Zeitraum nur um 3% reduzierten. Vgl. Bayer-Archiv, Bestand: Ausschüsse und Kommissionen, Aktentitel: TEA-Büro, Signatur: 13/17, Mikrofiche 161, Blatt 12 und 13. Vgl. beispielsweise zum Rückgang der Reparaturkosten die BUNA-Kalkulation des 1. Vierteljahres 1944 vom 10.6.1944 und zur Rückgewinnung von Kohlenwasserstoff die Bemerkungen zu den BUNA-Kalkulationen Schkopau 4. Quartal 1942 vom 15.3.1943, beide im Bayer-Archiv, Bestand: Ausschüsse und Kommissionen, Aktentitel: TEA-Büro, Signatur: 13/17, Mikrofiche 161, Blatt 13.
106 und wichtige Frage ist, inwieweit die Senkung der Arbeitskosten der Erzeugung von BUNA S und seiner Vorprodukte nicht durch Effizienzsteigerungen, sondern durch eine zunehmende Beschäftigung von Zwangsarbeitern herbeigeführt wurde. 23 Tabelle 8
Vierteljahr
Entwicklung der Produktionskosten einer Mengeneinheit BUNA S und der darin enthaltenen Aufwendungen für Butadien, Styrol und Fabrikationsspesen, in Schkopau (Werk Buna I), I. Vierteljahr 1941 bis I. Vierteljahr 1944a Produktionskosten einer Mengeneinheit BUNAS
RM/ 100 kg I. 1941 158,40 II. 159,79 III. 159,40 IV. 160,78 I. 1942 167,22 II. 165,97 III. 169,75 IV. 167,29 I. 1943 145,13 II. 156,51 III. 151,46 IV. 151,00 I. 1944 137,57 a b
darin enthaltene Aufwendungen für Butadien
Styrol
Index RM Index RM 94,62 100 100 25,16 101 95,43 101 25,38 101 98,16 104 26,10 102 99,09 105 24,81 106,36 112 22,97 106 112 21,92 105 106,04 102,77 107 109 22,72 106 99,45 105 22,63 94 21,69 92 88,56 92,00 99 97 22,84 90,62 96 96 22,70 92 21,62 95 87,51 85,22 87 90 21,10
Fabrikationsspesen1' Index RM 100 22,14 101 21,60 104 18,79 99 19,65 91 20,35 87 20,34 90 22,38 90 23,24 86 20,93 91 21,71 90 20,31 86 19,48 84 18,99
Index 100 98 85 89 92 92 101 105 95 98 92 88 86
Vgl. Bayer-Archiv, Bestand: Ausschüsse und Kommissionen, Aktentitel: TEA-Büro, Signatur: 13/17, Mikrofiche 161, Blatt 13. Die als „Fabrikationsspesen" ausgewiesenen Faktorkosten umfassen Lohnkosten, Energiekosten, Reparaturkosten, zugerechnete Gemeinkosten und Steuern sowie Abschreibungen und Zinsen.
In einer Kalkulation des Rechnungshofes des Deutschen Reichs vom September 1941 wird die Auffassung vertreten, daß in der Bauwirtschaft die Arbeitskosten bei einer Beschäftigung von Kriegsgefangenen im Vergleich zum Einsatz deutscher Bauarbeiter in etwa konstant bleiben, da die geringeren Löhne der Kriegsgefangenen durch ihre ebenfalls geringere Produktivität gerade ausgeglichen werden. Vgl. Bundesarchiv R 2301/7138 Blatt 329.
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An dieser Stelle bleibt zu fragen, ob die Produktionskosten des Synthesekautschuks abzüglich der Aufwendungen fur Vorprodukte auch in absoluten Werten in Deutschland niedriger waren als in den USA. Gemäß den von Morris ermittelten Zahlen waren die Kosten der Mischpolymerisation von BUNA S in Deutschland mit 5,9 cents je pound im ersten Vierteljahr von 1943 nur wenig geringer als in den USA, wo diese 6,3 cents je pound im Mai 1944 betrugen. 24 Allerdings verwendete Morris bei der Umrechnung der deutschen Kosten von 32,30 Reichsmark je 100 kg BUNA S mit 1 USDollar = 2,50 Reichsmark den offiziellen Wechselkurs von 1940, der wohl kaum dem tatsächlichen Wertverhältnis dieser beiden Währungen in den Jahren 1943 und 1944 entsprach.25 Aufgrund des von Deutschland nicht mitgegangenen Abwertungswettlaufs der frühen dreißiger Jahre und der 1936 begonnenen, durch die Devisenbewirtschaftung abgeschirmten, zurückgestauten Inflation ist statt dessen anzunehmen, daß die Reichsmark zu dieser Austauschrelation erheblich überbewertet war. Tatsächlich setzte die alliierte Besatzungmacht im Jahr 1945 einen Wechselkurs von 1 US-Dollar =10 Reichsmark fest. Zu diesem Wechselkurs beliefen sich die deutschen Herstellungskosten von BUNA S auf lediglich 1,5 cents je pound und waren damit beträchtlich niedriger als jene in den USA. Der Vorsprung der über den Vorkriegswissensstand hinausführenden deutschen Synthesekautschukforschung offenbarte sich am Ende des Zweiten Weltkriegs im Rahmen einer breit angelegten amerikanischen Bestandsaufnahme deutscher Produktionstechnologien. Die Amerikaner hatten frühzeitig erkannt, daß sie als Besatzungsmacht die Möglichkeit hatten, das in Deutschland akkumulierte Wissen als eine moderne Form von Reparationszahlung für eigene militärische und ökonomische Zwecke zu nutzen. Diese Zielsetzung wird beispielsweise von dem Brigadegeneral Georges F. Doriot im Vorwort eines im Jahr 1946 erschienenen Berichts über die Produkte und Produktionsverfahren der deutschen Kunststoffindustrie explizit ausgesprochen: „Some months ago the Office of the Quartermaster General sent a group of observers into Germany. Their mission was to investigate any technical developments in the field of plastics which might have immediate application to the plastics research program of the Quartermaster Corps in connection with the war in the Pacific. ... The findings of these investigations include a great deal of scientific and technical information which is believed to be of interest to the research workers of the plastics industry. This information is released to the plastics industry in the hope that it will be of value in research and development work." 27 24
25
26 27
Vgl. Morris, Peter J.T., The Development of Acetylene Chemistry and Synthetic Rubber by I.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft 1926-1945, unveröffentlichte Dissertation Oxford 1982, vorhanden im BASF Archiv unter Nr. 941, S. 233. Todd (Synthetic Rubber, S. 159) basiert seinen Produktionskostenvergleich auf einen Umrechnungskurs von 1 US Dollar = 2,84 DM. Vgl. Bidwell, R.L., Currency Conversion Tables, London 1970, S. 23. Debell, Goggin, Gloor, German Plastics, S. III.
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Zur Koordinierung dieses unfreiwilligen transatlantischen Wissenstransfers wurden am 30. Oktober 1944 das „Technical Industrial Intelligence Committee" (TIIC) und am 31. Mai 1945 die „Field Information Agency, Technical" (FIAT) ins Leben gerufen, die von 1945 bis 1948 aus amerikanischen Industriellen und Wissenschaftlern zusammengesetzte Untersuchungsteams nach Deutschland entsandten. Der Auftrag dieser Untersuchungsteams bestand darin, durch Betriebsbesichtigungen und durch die Befragung von Mitarbeitern industrieller Forschungs- und Entwicklungsabteilungen unbekannte deutsche Technologien aufzuspüren und Informationen hierüber in Form von Fotografien und schriftlichen Berichten in die USA weiterzuleiten. Aufgrund dieser Nachforschungen verfugte das amerikanische Department of Commerce Mitte 1948 über insgesamt 500000 Dokumente in einem Umfang von 5 Millionen Seiten. Ein Teil dieser gewaltigen Informationsmenge wurde der amerikanischen Wirtschaft durch Publikationen zugänglich gemacht. Darüber hinaus erhielten die amerikanischen Unternehmen 28
das Recht, unveröffentlichte Dokumente einzusehen. Die Forschungsprojekte der I.G. Farben auf dem Gebiet des Synthesekautschuks waren ein bevorzugtes und wiederholtes Ziel amerikanischer Ermittlungen. Diese begannen bereits vor Kriegsende, als im Frühjahr 1945 ein den militärischen Truppen unmittelbar nachfolgendes Untersuchungsteam nacheinander BUNA III in Ludwigshafen/Oppau und BUNA II in Hüls besichtigte. Nach der im August 1946 geäußerten Auffassung von Carl S. Marvel, Chemieprofessor an der Universität von Illinois, der selbst an den Nachforschungen in Deutschland beteiligt war, führten die gesammelten Informationen zu einer grundlegenden Neuorientierung der amerikanischen Synthesekautschukforschung: „A very large proportion of the present research effort in the Government Synthetic Rubber Program is based on the leads that were obtained through these Technical Intelligence Reports."29 Neue Erkenntnisse ergaben sich insbesondere aus der deutschen Grundlagenforschung in den Bereichen des sogenannten „kalten Kautschuks" (Cold rubber), des mit Mineralöl gestreckten Kautschuks (Oilextended rubber) und des „synthetischen Naturkautschuks": Cold rubber: Während des Zweiten Weltkriegs wurde der amerikanische BUNA S in 12 Stunden bei 50° Celsius polymerisiert, obgleich eine niedrigere Polymerisationstemperatur grundsätzlich wünschenswert gewesen wäre, da ein bei niedrigeren Temperaturen durchgeführter Polymerisationsvorgang einen für die Reifenherstellung besser geeigneten Synthesekautschuk hervorbrachte. Gegen eine Senkung der Temperatur sprach jedoch, daß hierdurch die Polymerisationsdauer stark angestiegen wäre, wodurch sich die pro Zeiteinheit produzierbare Menge des dringend benötigten Synthesekautschuks beträchtlich vermindert hätte. Die amerikanischen Beobachter stellten nun fest, daß in den I.G. Farben Laboratorien ein Verfahren zur „kalten" Polymerisation konzipiert 28 29
Vgl. Gimbel, Science, S. 6 f., 60 f., 70 f. Ebd. S. 150.
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worden war. Durch die Kombination eines Oxidations- und eines Reduktionsmittels war es möglich, Synthesekautschuk in 12 Stunden bei nur 10° Celsius oder in weniger als einer Stunde bei 40° Celsius herzustellen.30 Als Vorteile ergaben sich eine Steigerung der Produktionsmenge, ein geringerer Energieverbrauch und eine bessere Verarbeitbarkeit des Synthesekautschuks. Oil-extended rubber: In Deutschland wurden während des Zweiten Weltkriegs Methoden entwickelt, BUNA S durch die Zugabe von Mineralöl zu strecken. Diese Vorgehensweise bot ähnliche Vorteile wie der „Cold rubber": Sie erhöhte die Menge des verfugbaren Synthesekautschuks, verringerte dessen Preis je Mengeneinheit und verbesserte dessen Verarbeitbarkeit.31 „Synthetischer Naturkautschuk": Ein großer Nachteil des aus Butadien und Styrol hergestellten Synthesekautschuks war, daß er nicht zur Produktion von großer Belastung ausgesetzten Flugzeug- und LKW-Reifen verwendet werden konnte. I.G. Farben Wissenschaftler vertraten im Herbst 1945 gegenüber einem amerikanischen Untersuchungsteam den Standpunkt, daß dieser Anforderung wahrscheinlich nur ein Synthesekautschuk genügen würde, dessen molekularer Aufbau dem des aus Isopren zusammengesetzten Naturkautschuks entspräche. Tatsächlich zeigte sich im folgenden Jahrzehnt, daß es mit Hilfe der vom deutschen Chemiker Karl Ziegler entwickelten Katalysatoren möglich war, synthetisches Polyisopren herzustellen, dessen Eigenschaften weitestgehend mit denen des Naturkautschuk übereinstimmten.32 In allen drei Fällen gelang es US-amerikanischen Unternehmen, die Anregungen aus Deutschland aufzugreifen, zu verbessern und zur Marktreife zu fuhren. Die industrielle Fertigung von Cold rubber begann 1948 durch die Copolymer Corporation, von Oilextended rubber 1951 durch Goodyear und von „synthetischem Naturkautschuk" 1955 durch Goodyear und Goodrich. Diese schnelle und erfolgreiche Überführung deutscher Inventionen zu amerikanischen Innovationen rechtfertigt den Schluß, daß der deutsche Vorsprung im Bereich der über den Vorkriegswissensstand hinausgehenden Synthesekautschukforschung nicht durch mangelnde technologische Kompetenz der amerikanischen Unternehmen erklärt werden kann. Wir werden in Abschnitt 3.3.1 zeigen, daß es wohl eher die staatliche Patentpolitik während des Zweiten Weltkriegs war, welche die amerikanischen Kautschukerzeuger dazu veranlaßte, erfolgversprechende Forschungsprojekte zunächst nicht durchzufuhren und bis zu einem, für die Friedenszeit erwarteten Politikwechsel zurückzuhalten.
30
31 32
Vgl. DeBell, Goggin, Gloor, German Plastics, S. 438 ff.; Livingston, John W. und John T. Cox Jr., The Manufacture of GR-S, in: G. Stafford Whitby (Hg.), Synthetic Rubber, New York, London 1954, S. 214; Morris, American Synthetic Rubber Research, S. 34; Weidlein, E.R., Synthetic Rubber Research in Germany, in: Chemical and Engineering News 24, 1946, S. 771. Vgl. Morris, American Synthetic Rubber Research, S. 36 ff. Vgl. Weidlein, Research in Germany, S. 771.
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Von der Qualität des während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland produzierten Synthesekautschuks waren die amerikanischen Untersuchungsteams weitaus weniger beeindruckt als von den Inventionen der I.G. Farben Forschungslaboratorien. Bemängelt wurden in erster Linie die Zähigkeit und Härte des deutschen BUNA S, die den an den weicheren Naturkautschuk gewöhnten Kautschukverarbeitern erhebliche technische Probleme bei der Reifenproduktion bereiteten.33 Die Vorgehensweise der amerikanischen Synthesekautschukerzeuger, BUNA S durch die Zugabe schwefelhaltiger Weichmacher für die nachfolgende Verarbeitungsstufe vorzubereiten, war der deutschen Methode des „Thermischen Abbaus" sowohl in technologischer als auch in ökonomischer Hinsicht überlegen. Da schwefelhaltige Weichmacher für Synthesekautschuke als Invention aber ihrerseits bereits 1937 von I.G. Farben Wissenschaftlern in Leverkusen entwickelt worden waren,34 kann diese unzureichende Berücksichtigung der Verarbeitungsprobleme ihrer Kunden nicht auf eine technologische Unterlegenheit der deutschen Synthesekautschukproduzenten zurückgeführt werden. Stattdessen wird in Abschnitt 3.3.2 versucht werden, die unterschiedliche Kundenorientierung der deutschen und amerikanischen BUNA S Produzenten durch ihre unterschiedliche Marktstellung zu erklären.
3.2
Der Einfluß der staatlichen Nachfragepolitik auf die deutsche und die amerikanische Synthesekautschukindustrie
3.2.1
Entscheidung unter Unsicherheit: Die Auswahl der BUNA S Technologie auf Drängen des Staats
Ein potentieller Synthesekautschukerzeuger, der in der Planungsphase des Innovationsprozesses darüber nachdachte, ein kostspieliges Forschungsprogramm zur Entwicklung eines Synthesekautschuks zu initiieren, handelte unter großer ökonomischer Unsicherheit. Ohne zu wissen, ob, wie und zu welchen Kosten ein Synthesekautschuk produziert werden kann, galt es nämlich auf Grundlage weniger Informationen einschätzen, ob die grundsätzliche Aussicht bestand, daß das angestrebte Produkt unter marktwirtschaftlichen Bedingungen der Konkurrenz des Naturkautschuk gewachsen war. Nur dann, wenn diese Frage zunächst einmal vorläufig bejaht wurde, war es sinnvoll, sich der technologischen Unsicherheit zuzuwenden und ein bestimmtes Forschungsprogramm Vgl. Bebb, R.L. und L.B. Wakefield, German Synthetic-Rubber Developments, in: G. Stafford Whitby (Hg.), Synthetic Rubber, New York, London 1954, S. 952. Vgl. Morris, Autarky and War, S. 58.
Ill
auszuwählen. Resultierte dieses F&E-Projekt dann wirklich in einer konkreten Synthesekautschukinvention, rückte das Problem der ökonomischen Unsicherheit auf Basis einer nun erweiterten Informationsmenge erneut in den Vordergrund. Jetzt galt es in einer eigens auf die spezielle Invention zugeschnittenen Bewertung zu entscheiden, ob der entwickelte Synthesekautschuk hinsichtlich Qualität, Anwendungsbreite und Preis im Wettbewerb mit Naturkautschuk bestehen konnte. Erst wenn auch diese Frage mit hinreichender Sicherheit mit ,ja" beantwortet werden konnte, war tatsächlich an den Aufbau von Produktionskapazitäten und die Vermarktung des Synthesekautschuks zu denken. Schaubild 7
Entwicklung des New Yorker Marktpreises für Naturkautschuk (1942=100)a und der Ausgaben der I.G. Farben für die Synthesekautschukforschung (1942=100)b
Jahr
a b
New York price for plantation ribbed smoked rubber, cents a pound. 1913, 1920-1922: Plumpe, I.G. Farben, S. 341,349. 1923-1942: Howard, Buna Rubber, S. 8. Morris, Acetylene Chemistry, S. 158. Werte aus Schaubild abgelesen.
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In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientierten sich die potentiellen Synthesekautschukerzeuger bei der Beurteilung der grundsätzlichen Marktchancen von Synthesekautschuk in erster Linie am Preis des auf den südostasiatischen Plantagen erzeugten Substituts. Je höher der gegenwärtige und der erwartete zukünftige Preis für Naturkautschuk, desto eher waren die Unternehmen bereit, das Wagnis einzugehen, in die Entwicklung von Synthesekautschuk zu investieren. Diesen einfachen Zusammenhang zeigt Schaubild 7, in dem für den Zeitraum von 1920 bis 1942 die Entwicklung sowohl des New Yorker Marktpreises für Naturkautschuk als auch die im Rahmen ihres Synthesekautschukprogramms getätigten Forschungsausgaben der I.G. Farben abgetragen sind. Der Fall der Naturkautschukpreise nach dem Ende des Ersten Weltkriegs veranlaßte die Engländer unter Leitung des damaligen Colonial Secretary Winston Churchill in ihren südostasiatischen Kolonien zum 1. November 1922 den sogenannten StevensonPlan einzuführen, der zum Zwecke der Preisstabilisierung die Menge des zu exportierenden Kautschuks auf 60 % des Exportvolumens von 1920 beschränkte. Auf den im Jahr 1924 erneut sinkenden Preis reagierte man mit einer zusätzlichen Verknappung des Angebots auf nunmehr 50 % der Referenzmenge.35 Diese Maßnahme schoß jedoch über das Ziel hinaus, da sie im Zusammenspiel mit einer stark anwachsenden Nachfrage den Marktpreis des Naturkautschuks auf einen Höchststand von 72,5 cents je pound emporkatapultierte, wodurch die Chemieunternehmen erstmals die Auffassung gewannen, daß es möglich sein könnte, einen im Preiswettbewerb konkurrenzfähigen Synthesekautschuk zu entwickeln. So entschloß sich im Jahr 1926 der Vorstand der gerade gegründeten I.G. Farbenindustrie AG die Synthesekautschukforschung, die von Bayer nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund des niedrigen Naturkautschukpreises aufgegeben worden war, wieder aufzunehmen. 36 Das amerikanische Chemieunternehmen Du Pont hatte diese Entscheidung bereits ein Jahr zuvor gefällt. Tatsächlich ließen Synthesekautschukinventionen nicht lange auf sich warten. Die I.G. Farben entwickelte nacheinander im Jahr 1929 BUNA S auf Basis von Butadien und Styrol und im Jahr 1930 BUNA N als Mischpolymerisat aus Butadien und Acrylnitril. Du Pont folgte 1931 mit Duprene.37 Schließlich gelang es 1937 wie schon in Kapitel 2.2.2.2 erläutert der amerikanischen Standard Oil (New Jersey) auf Grundlage der von der I.G. Farben erhaltenen technologischen Informationen einen Synthesekautschuk aus Butadien und Isobutylen zu vulkanisieren. Während aber die Früchte der Synthesekautschukprogramme noch reiften, wurde ihr ökonomischer Nutzen bereits
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Vgl. Morris, Acetlyne Chemistry, S. 153. Vgl. Hölscher, Kautschuke, S. 25 f. Nach Aussage von Fritz ter Meer war einer der wichtigsten Gründe für die Entstehung der I.G. Farben AG, daß die beteiligten Chemieunternehmen das erhebliche finanzielle Risiko der Forschung in den Bereichen Synthesekautschuk, Kunststoffe und Synthesetreibstoff nur gemeinsam tragen konnten. Vgl. ter Meer, Fritz, Die I.G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft. Ihre Entstehung, Entwicklung und Bedeutung, Düsseldorf 1953, S. 24. Vgl. Morris, Autarky and War, S. 56.
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wieder in Frage gestellt, da infolge der Weltwirtschaftskrise der Marktpreis des Naturkautschuks bis auf ein Minimum von nur noch 3,4 cents je pound im Jahr 1932 fiel. Auf absehbare Zeit schien Synthesekautschuk unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht mit Naturkautschuk konkurrieren zu können. Jedoch wandelte sich in Deutschland die Situation nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erneut. Angesichts der nationalsozialistischen Autarkiepolitik beurteilte die I.G. Farben die Marktchancen ihrer Synthesekautschukinventionen nicht mehr nur auf Grundlage des Marktpreises des Naturkautschuks, sondern zunehmend auch nach der Wahrscheinlichkeit, mit der zu erwarten war, daß der Staat Preis- und Abnahmegarantien für Synthesekautschuk gewähren würde. So bewog die Ankündigung der Reichswehr im Jahr 1933, an einem Synthesekautschuk für die Reifenherstellung interessiert zu sein, die I.G. Farben trotz weiterhin niedriger Naturkautschukpreise, ihre Forschungssubventionen in diesem Bereich wieder zu erhöhen. Gleichwohl verweigerte sich die I.G. Farben zunächst standhaft dem seit 1934 immer stärker werdenden Drängen der Nationalsozialisten, die industrielle Produktion von Synthesekautschuk aufzunehmen. 38 Wie ist dieses Zögern zu erklären? Natürlich mußte der deutsche Chemiekonzern angesichts der Preisentwicklung auf dem Naturkautschukmarkt damit rechnen, daß sich der kostspielige Aufbau von Produktionskapazitäten für Synthesekautschuk im Falle eines Ausbleibens der staatlichen Nachfrage als eine erhebliche Fehlinvestition erweisen könnte. Dieses Argument ließe sich aber auch für die Herstellung von synthetischem Treibstoff anführen, was die I.G. Farben in jenem Fall jedoch nicht daran hinderte, bereits am 14. Dezember 1933 mit dem Reich den
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Aufbau einer industriellen Anlage zur Erzeugung von Synthesebenzin zu vereinbaren. Die Zurückhaltung der I.G. Farben ist daher wohl eher auf die Befürchtung zurückzuführen, durch ein zu frühzeitiges Festlegen auf eine bestimmte Synthesekautschukart längerfristig auf das falsche Pferd zu setzen und dadurch gegenüber Konkurrenten ins Hintertreffen zu geraten. Jede Entscheidung zugunsten der Produktion einer bestimmten Synthesekautschukart war nämlich zumindest mittelfristig irreversibel, da sie mit spezifischen Investitionen in Sach- und Humankapital verbunden war, die bei einem Überwechseln zu einer Produktionsalternative nicht genutzt werden konnten. Somit war die Entscheidung für eine bestimmte Synthesekautschukart immer auch eine Entscheidung gegen ihre bereits bekannten Alternativen. Hinzu kam, daß sich nach Aufnahme der Produktion auch die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen zwangsläufig stärker auf das ausgewählte Produkt konzentrieren würden, so daß die Entdeckung bisher unbekannter Synthesekautschukvarianten außerhalb des nun verengten Blickwinkels unwahrscheinlicher würde. Dieses „Lock-in" in ein bestimmtes Produktions- und Forschungsprogramm kann zu einem erheblichen Wettbewerbsnachteil werden, wenn sich im weiteren Verlauf eine 38 39
Vgl. Plumpe, I.G. Farben, S. 359 f. Vgl. Leuna-Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und dem Ammoniakwerk Merseburg GmbH vom 14. Dezember 1933, BASF-Archiv, Akte PIER 83.
114
der nicht gewählten Alternativen oder eine Neuentwicklung als das überlegene Produkt herausstellt, und eine Anpassung der Produktion kurzfristig nicht oder nur zu erneut hohen Eintrittskosten möglich ist. Die Möglichkeit, erst durch eine ex post zu erkennende Fehlentscheidung auf einen inferioren Entwicklungspfad festgelegt zu werden, erklärt, warum die I.G. Farben die Aufnahme der Synthesekautschukproduktion aufschob und zunächst alle verfugbaren Alternativen sorgfältig prüfte. Die Hoffnungen der I.G. Farben konzentrierten sich zunächst auf den Synthesekautschuk Duprene von Du Pont, der auf Basis von Chlor kostengünstiger zu produzieren war als die hauseigenen BUNA Varianten. Es zeigte sich aber, daß sich Duprene aufgrund mangelnder Härte nicht zur Reifenherstellung eignete. Danach wurde BUNA N favorisiert. Im Jahr 1935 ergaben jedoch Tests, daß nach dem damaligen Wissenstand funktionstüchtige Fahrzeugreifen nicht ausschließlich aus BUNA, sondern nur aus einer Mischung aus BUNA und Naturkautschuk erzeugt werden konnten. Da es wiederum nicht möglich war, BUNA N mit Naturkautschuk zu verbinden, schied auch diese Alternative als Reifenwerkstoff aus. 40 Gegen die verbleibende Alternative BUNA S sprach, daß im Jahr 1935 noch keine Lösung für das Problem gefunden war, daß dieser vergleichsweise harte Synthesekautschuk nicht auf den herkömmlichen Maschinen der Reifenhersteller zu verarbeiten war. Unter diesen Umständen mochte es den Entscheidungsträgern der I.G. Farben ratsam erscheinen, auf die industrielle Produktion von Synthesekautschuk vorerst zu verzichten, und stattdessen mittels weiterer Forschungsund Entwicklungsprojekte nach einem überlegenen Synthesekautschuk zu suchen. Gleichwohl entschloß man sich schließlich, dem Drängen des Staats nachzugeben, und sich auf die Produktion von BUNA S festzulegen. Den hierbei auftretenden Zwiespalt illustrieren die von Fritz ter Meer im September 1935 geäußerten Worte: „Mein Standpunkt in der Angelegenheit ist Ihnen bekannt. Ich hätte gerne noch eine gewisse ruhige Weiterentwicklung des ganzen Problems im Versuchungsstadium bei unseren einzelnen Werken gesehen und zwar sowohl zwecks weiterer Ausbildung der einzelnen Fabrikationsphasen und Förderung der Verarbeitungsseite. ... [Aber:] Ich halte ... eine weiter ablehnende Haltung nicht für zweckmäßig, wenn die Militärbehörden das Verlangen auf Errichtung einer ersten Anlage in Mitteldeutschland stellen und die Erzeugung abzunehmen sich stark machen." 41 In ihren Bemühungen, das ökonomische Risiko einer industriellen Synthesekautschukproduktion zu verringern, beschränkte sich die I.G. Farben nicht auf Verhandlungen mit dem nationalsozialistischen Staat. Vielmehr versuchte das traditionell exportorientierte Unternehmen während der dreißiger Jahre, US-amerikanische 42
Reifenhersteller als Abnehmer der BUNA Marken zu gewinnen. Dieses Vorhaben scheiterte unter anderem deshalb, weil zu diesem Zeitpunkt in der amerikanischen Industrie offensichtlich die Meinung vorherrschte, daß die Qualität der aus Synthesekau40
Vgl. Morris, Acetlyne Chemistry, S. 176 ff.
41
Zitiert nach Plumpe, I.G. Farben, S. 365.
42
Vgl. Dunbrook, Historical Review, S. 40.
115 tschuk hergestellten Produkte nicht an die der aus Naturkautschuk produzierten Güter heranreichte. 43 Hinzu kamen Unterschiede in der Unternehmenskultur. So beruhte die größere Skepsis der US-amerikanischen Reifenhersteller gegenüber den BUNA Kautschuken wahrscheinlich zum Teil einfach darauf, daß sie im Gegensatz zu dem deutschen Chemieunternehmen nicht auf eine lange Tradition erfolgreicher Syntheseprodukte zurückblicken konnten. Letztendlich war es aber vor allem der niedrige Marktpreis des Naturkautschuks, der die amerikanischen Produzenten dazu bewog, vor der Produktion oder Verarbeitung von BUNA S zurückzuschrecken. Vertreter der Standard Oil Development Company erläuterten diese Auffassung der Industrie auf einem Treffen des Munition Boards vom 16. November 1939: „This Company cannot afford to develop BUNA S on a large scale since there is little or no commercial market. Buna S is believed to be the best known rubber substitute for tire manufacture. The price of natural rubber in normal times deters extensive development of this substitute. ... No company wants to pioneer the development of BUNA S on such a large scale that would be necessary to make the United States self-sufficient in respect to rubber peacetime competition with natural rubber prevents, and the resultant burden is too much." 44 Im Gegensatz zur I.G. Farben waren die amerikanischen Unternehmen deshalb nicht bereit, eigene Mittel in den Aufbau von Produktionskapazitäten für BUNA S zu investieren. Daher bedurfte es in den USA nicht nur staatlicher Preis- und Abnahmegarantien, sondern zusätzlich der staatlichen Finanzierung der Produktionsanlagen, um die privaten Unternehmen angesichts ihrer ökonomischen Unsicherheit zur Aufnahme der BUNA S Produktion zu bewegen. 45
3.2.2
Amerikanische Selbstkosten- versus deutsche Festpreisverträge
In Abschnitt 3.1.2 wurde gezeigt, daß die im Betrachtungszeitraum im deutschen Synthesekautschukwerk Schkopau erzielten Kostensenkungen primär auf innerbetriebliche Effizienzsteigerungen zurückzufuhren sind, während die Kostensenkungen in den amerikanischen Unternehmen vorrangig durch den exogenen technologischen Wandel in der Butadienerzeugung verursacht wurden. In diesem Abschnitt wird nun untersucht, ob
44 45
Diese Einschätzung wird beispielsweise durch das Verhalten von Du Pont belegt, das seinen Synthesekautschuk Duprene im Jahr 1936 in Neoprene umbenannte, um hierdurch zu verhindern, daß sich dessen negatives Image auf das gesamte Unternehmen übertrug. Vgl. Morris, Autarky and War, S. 50. Zitiert nach Howard, Buna Rubber, S. 95 f. Längerfristig erwiesen sich die in der Nachkriegszeit entwickelten Synthesekautschukinnovationen allerdings ungeachtet aller Befürchtungen als der Konkurrenz des Naturkautschuks durchaus gewachsen. Im Jahr 1964 wurde erstmals unter marktwirtschaftlichen Bedingungen mehr als die Hälfte des Weltbedarfs an Kautschuk mittels Synthesekautschuk befriedigt. Vgl. Hölscher, Kautschuke, Zeittafel.
116
dieser empirische Befund durch Unterschiede in der jeweiligen Ausgestaltung der staatlichen Beschaffungsverträge erklärt werden kann. Für die staatliche Auftragsvergabe stehen traditionellerweise zwei Standardvertragstypen, der Festpreis- und der Selbstkostenvertrag, zur Verfügung. 46 Beide Vertragsalternativen weisen allerdings aufgrund asymmetrischer Informationsverteilung unerwünschte Effizienz- und Anreizeigenschaften auf. Beim Festpreisvertrag werden die Abnahmepreise zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses und damit unabhängig von den ex post beobachtbaren Produktionskosten festgelegt. Während der Preisverhandlungen hat ein Synthesekautschukerzeuger daher die Möglichkeit, durch falsche Angaben über die nur ihm bekannten Produktionskosten hohe Abnahmepreise durchzusetzen und Informationsrenten zu erzielen. Aus diesem Grund werden durch den Festpreisvertrag diejenigen Unternehmen ökonomisch begünstigt, die den staatlichen Auftraggeber erfolgreich täuschen. Diese Form der adversen Selektion47 kann durch Verwendung eines Selbstkostenvertrages, bei dem die Abnahmepreise erst bei Lieferung auf Grundlage der ex post beobachtbaren Produktionskosten festgelegt werden, vermieden werden. Da dem Unternehmen bei dieser Vertragsform alle angefallenen Kosten erstattet werden, bietet der Selbstkostenvertrag allerdings keine Anreize, durch Erhöhung der innerbetrieblichen Effizienz die Produktionskosten nach Vertragsabschluß zu senken. In diesem Fall ist „Moral hazard" 48 zu erwarten. Der Synthesekautschukerzeuger wird keine persönlichen Anstrengungen zur Senkung der Produktionskosten unternehmen. Die jeweiligen Vor- und Nachteile beider Vertragsformen sind unter Berücksichtigung des vorherrschenden staatlichen Zielsystems gegeneinander abzuwägen. Dominiert die technologiepolitische Zielsetzung, längerfristig einen im Preiswettbewerb mit Naturkautschuk konkurrenzfähigen Synthesekautschuk zu erhalten, sollte der Festpreisvertrag dem Selbstkostenvertrag vorgezogen werden. Hier ist zu fragen, welche technologiepolitischen Auswirkungen die während des Zweiten Weltkriegs zwischen den Synthesekautschukerzeugern und den staatlichen Auftraggebern vereinbarten Beschaffungsverträge entfalteten. In Deutschland bildete zunächst der zum Zwecke des Aufbaus des BUNA-Werkes Schkopau im Sommer 1937 abgeschlossene Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der I.G. Farbenindustrie AG die rechtliche Grundlage für Produktion und Absatz von BUNA S. 49 Gemäß Paragraph 8 dieses Vertrages wurde der Aufbau der Produktionskapazitäten fiir 24000 Jahrestonnen Synthesekautschuk ungefähr zu einer Hälfte aus eigenen Mitteln der I.G. Farben und zur anderen Hälfte durch ein zu fünf Prozent zu verzinsendes Reichsdarlehen finanziert. Durch ihre Bereitschaft, Eigenmittel für den Kapazitätsaufbau aufzuwenden, signalisierte die I.G. Farben eine im Grundsatz 46
47
48 49
Vgl. Laifont, Jean-Jacques und Jean Tirole, A Theory of Incentives in Procurement and Regulation, Cambridge/Mas., London 1993. Vgl. Akerlof, George A., The Market for „Lemons": Quality Uncertainty and the Market Mechanism, in: Quarterly Journal of Economics 84, 1970, S. 488-500. Vgl. Arrow, Kenneth J., Essays in the Theory of Risk-Bearing, Amsterdam 1970. Hoechst Archives TEA Akten 1446-1457.
117
Kapazitätsaufbau aufzuwenden, signalisierte die I.G. Farben eine im Grundsatz positive Einschätzung der zukünftigen Marktchancen von Synthesekautschuk. Der Absatz des Synthesekautschuks sollte direkt an die Kautschuk verarbeitende Industrie erfolgen. Allerdings war zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch keine Lösung für das Problem gefunden, daß BUNA S wegen seiner vergleichsweisen Härte auf den vorhandenen Maschinen nicht zu Fahrzeugreifen verarbeitet werden konnte. Aufgrund dieser technologischen Unsicherheit vereinbarten die Vertragspartner in Paragraph 9, daß das Reich gegebenenfalls die gesamte Jahresproduktion von bis zu 30000 Tonnen übernehmen würde. Unabhängig davon, ob die I.G. Farben ihre BUNA Produktion an private Unternehmer oder an den Staat absetzte, garantierte das Reich in Paragraph 10 zudem einen kostendeckenden Preis. Dieser Garantiepreis berücksichtigte neben den zurechenbaren Produktionskosten auch Abschreibungen und die Verzinsung des eingesetzten Kapitals. Zusätzlich erhielt die I.G. Farben laut Paragraph 4 je Mengeneinheit BUNA eine Vergütung für abgeschlossene und laufende Forschungs- und Entwicklungsprojekte auf dem Gebiet des Synthesekautschuks. Unterschritt der im Handel mit den Kautschukverarbeitern tatsächlich erzielte Preis den Garantiepreis, wurde der Minderbetrag vom Reich erstattet. Im umgekehrten Fall mußte die I.G. Farben den Mehrerlös an das Reich abführen. Der jeweils gültige Garantiepreis sollte auf Grundlage der Buchfuhrungsergebnisse des Werkes Schkopau in einer Vorkalkulation immer auf ein halbes Jahr festgesetzt und danach gegebenenfalls veränderten Produktionskosten angepaßt werden. Insoweit schufen die Vereinbarungen zwischen Reich und I.G. Farben einen Selbstkostenvertrag. Um den Betreibern des BUNA-Werkes gleichwohl einen Anreiz zur Kostensenkung zu geben, wurde dieser Selbstkostenvertrag durch die in Paragraph 11 eingeführte Ersparnisprämie in Richtung eines einfachen Anreizvertrages modifiziert.50 Im Folgenden sollte die I.G. Farben 10% aller auf innerbetriebliche Maßnahmen zurückzuführenden Kosteneinsparungen als zusätzlichen Gewinn erhalten. Nach der im Jahr 1938 erfolgten Einführung des „Thermischen Abbaus" von BUNA S reduzierte sich die ökonomische Unsicherheit der I.G. Farben erheblich, da hiermit der gesicherte Absatz von Synthesekautschuk an die Reifenproduzenten des durch Devisenbewirtschaftung und Naturkautschukzölle geschützten deutschen Marktes nun gewährleistet schien. Folgerichtig verzichtete die I.G. Farben bei allen nachfolgenden Vereinbarungen über den Aufbau zusätzlicher Produktionskapazitäten auf staatliche Preis- und Absatzgarantien.51 Dies bedeutete allerdings nicht, daß der Chemiekonzern als monopolistischer Anbieter von Synthesekautschuk frei über die Höhe des BUNA S Preises entscheiden konnte. Grundsätzliches Ziel der nationalsozialistischen Preispolitik war es, die freien Marktpreise durch staatlich vorgegebene, sogenannte „volkswirt50
51
Zur Ausgestaltung von Anreizverträgen in der nationalsozialistischen Rüstungswirtschaft vgl. Streb, Jochen und Sabine Streb, Optimale Beschaffungsverträge bei asymmetrischer Informationsverteilung. Zur Erklärung des nationalsozialistischen „Rüstungswunders" während des Zweiten Weltkriegs, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 118, 1998, S. 275-294. Vgl. Plumpe, I.G. Farben, S. 347 ff.
118
schaftlich gerechtfertigte" Preise zu ersetzen, die, unter der Nebenbedingung, den privaten Unternehmern eine kostendeckende Produktion zu ermöglichen, die volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren in die staatlich gewünschte Verwendung steuern sollten. Seischab erklärte im Jahr 1944: „Die Preisbildung hängt nicht mehr vom „freien Spiel der Kräfte" ab. Sie ist keine Angelegenheit des privaten Interesses, sondern eine gemeinwirtschaftliche Funktion, die, soweit sie dem Unternehmer weiterhin obliegt, unter fester Verantwortung und stetiger Kontrolle steht." 52 So waren bereits im Jahr 1936 durch die Verordnung über einen allgemeinen Preisstopp alle Löhne und Preise auf dem bestehenden Niveau eingefroren worden. Über die Höhe des Preises von neuen, bisher nicht gehandelten Gütern wie BUNA S entschied der Reichskommissar für Preisbildung, der darüber hinaus die Aufgabe hatte, Preissenkungen für kriegsnotwendige Güter durchzusetzen. Tatsächlich wurde auf Druck des Reichskommissars für Preisbildung der Preis eines Kilogramms BUNA S von 4 RM im Jahr 1937 über 3 RM in den Jahren 1938 und 1939 auf 2,30 RM ab 1940 verringert. Für das Jahr 1942 war eine weitere Preisreduzierung auf 1,75 RM je Kilogramm BUNA S vorgesehen, die dann aber aufgrund der hohen Baukosten von BUNA IV in Auschwitz nicht durchgeführt wurde. 53 Faktisch lieferte die I.G. Farben ihren Synthesekautschuk somit auch an die privaten Nachfrager zu staatlich verordneten Festpreisen. Da außerdem damit gerechnet werden mußte, daß der Reichskommissar für Preisbildung zusätzliche Preissenkungen einfordern würde, wurden die von den Festpreisen ausgehenden Anreize zur Kostensenkung noch verstärkt. In den USA erfolgte die Regulierung der Synthesekautschukproduktion mittels Pacht- und Betreiber-Verträgen, die jeweils als bilaterale Vereinbarung zwischen zuständiger staatlicher Behörde und privatem Kautschukverarbeiter ausgehandelt wurden.54 In den „Agreements of Lease" verpflichteten sich die privaten Unternehmen, die geplanten Synthesekautschukfabriken so schnell wie möglich zu errichten und mit den notwendigen Maschinen auszustatten. Durch die vollständige Finanzierung dieses Kapazitätsaufbaus erwarb die staatliche Defense Plant Corporation das Eigentum an den neuen Produktionsanlagen. Diese wurden den Kautschukverarbeitern auf zunächst fünf Jahre für die symbolische Summe von einem Dollar je Jahr verpachtet. Der eigentlichen Synthesekautschukproduktion widmeten sich die „Plant Operating Agreements", die als Selbstkostenverträge ausgestaltet waren. Die privaten Unternehmen produzierten BUNA S im Auftrag und auf Risiko der staatlichen Rubber Reserve Company. Zur Deckung der eher weit gefaßten Produktionskosten, die zum Beispiel
Vgl. Seischab, Hans, Kalkulation und Preispolitik, o.O. 1944, S. 5. Vgl. Morris, Acetyne Chemistry, S. 229; Plumpe, I.G. Farben, S. 387. Vgl. Appendix XXIII „Agreement of Lease" und Appendix XXVII „Typical Copolymer Plant Operating Agreement" in Government's Rubber Projects. Diese Anhänge wurden nur dem Originalmanuskript beigefügt und werden in den National Archives Washington/DC, Entry 2 6 „Administrative Histories of the RFC's Wartime Programs", Location 570, 65:33:7 / B o x 16 aufbewahrt.
119
auch Forschungs- und Entwicklungskosten sowie Aufwendungen für die Ausbildung neuer Arbeitskräfte mit einschlössen, unterhielt die Rubber Reserve Company für jeden Betreiber ein Bankguthaben, über das dieser frei verfügen konnte. Die Synthesekautschukerzeuger besaßen somit die Möglichkeit, ihre jeweils anfallenden Produktionskosten in voller Höhe und ohne zeitliche Verzögerung aus staatlichen Mitteln zu finanzieren.55 Eine derartige Blankovollmacht ist auch unter dem Regime von Selbstkostenverträgen eher unüblich. In aller Regel werden stattdessen auf Grundlage der jeweils aktuellen Buchführungsdaten vom Staat zu zahlende Selbstkostenpreise für die zu erzeugenden Güter errechnet, die hiernach bis zur nächsten Kostenüberprüfung unverändert gelten. Die Zeitdauer zwischen den aufeinanderfolgenden Revisionen des Selbstkostenpreises kann unterschiedlich lang sein. Dabei gilt, daß der Selbstkostenvertrag umso stärkere Anreize zur innerbetrieblichen Effizienzsteigerung entfaltet, je länger dieses „Regulatory lag" 56 ist. Dem ist so, weil die Unternehmen während der Gültigkeitsdauer eines bestimmten Selbstkostenpreises, innerhalb derer keine staatlichen Kostenkontrollen durchgeführt werden, ähnlich wie bei Festpreisverträgen durch Kostensenkungen ihre Gewinne über die vereinbarte Marge hinaus steigern können. Innerhalb des US-amerikanischen Synthesekautschukprogramms existierten aufgrund der jederzeit verfügbaren Bankguthaben jedoch keine solchen Regulierungslücken. Deshalb gingen von den „Plant Operation Agreements" nicht einmal die bei Verwendung von Selbstkostenverträgen normalerweise noch übriggebliebenen Anreize zur Kostensenkung aus. Zusätzlich zur vollständigen Kostenerstattung bekamen die privaten Synthesekautschukerzeuger eine in Abhängigkeit von der produzierten Gesamtmenge abnehmende staatliche Vergütung je Mengeneinheit BUNA S.57 Ihrerseits verkaufte die Rubber Reserve Company BUNA S zu 18,5 cents je pound für zivile Verwendungszwecke und zu 36 cents je pound bei militärischem Bedarf. Diese Absatzpreise waren nicht kostendeckend und resultierten bis Mitte 1945 in einem staatlichen Verlust von insgesamt 220,5 Millionen US-Dollar. Der Preis für Naturkautschuk wurde während des Zweiten 58
Weltkriegs auf 22,5 cents je pound festgesetzt. Um die Planungsphase des Kapazitätsaufbaus zu verkürzen und den Erfahrungsaustausch zwischen den einzelnen Werken zu erleichtern, beschloß man, daß die sieben am Regierungsprogramm beteiligten Unternehmen BUNA S nach einem einheitlichen Re-
55
56
57
58
Über die Rechtmäßigkeit dieser Ansprüche wurde dann nachträglich alle sechs Monate anhand der Buchführungsunterlagen entschieden. Vgl. Baumol, William J. und Alvin K. Klevorick, Input Choices and Rate-of-Return Regulation: an Overview of the Discussion, in: Bell Journal of Economics 1, 1970, S. 184 f. Diese verringerte sich ausgehend von 0,9 cents je pound in Schritten von 15000 long tons BUNA S über 0,75 cents, 0,6 cents, 0,5 cents und 0,4 cents auf schließlich 0,3 cents je pound ab 75000 long tons Jahresproduktion. Vgl. Government's Rubber Projects, S. 520 f.
120 59
zept in möglichst identischen „Standardfabriken" produzieren sollten. Aufgrund dieser Rahmenbedingungen wäre es möglich gewesen, durch eine Modifizierung der Beschaffungsverträge eine sogenannte „Yardstick competition" 60 zu etablieren, von der erheblich stärkere Anreize zur Kostensenkung ausgegangen wären als von den tatsächlich verwendeten Selbstkostenverträgen. Voraussetzung für Yardstick competition ist, daß wie im Falle der amerikanischen Synthesekautschukproduktion ein vom Staat benötigtes Gut von mindestens zwei verschiedenen Unternehmen unter vergleichbaren Produktionsbedingungen erzeugt wird. Unter diesen Umständen kann der Staat mit jedem dieser Unternehmen vereinbaren, daß es bei Lieferung einen Abnahmepreis erhält, dessen Höhe sich nicht wie beim Selbstkostenvertrag an den eigenen Produktionskosten, sondern nur an den durchschnittlichen Produktionskosten aller anderen Unternehmen orientiert. Die hierdurch gesetzten Anreize zur Kostensenkung wirken wie Zuckerbrot und Peitsche. Wenn es dem Unternehmen gelingt, seine Produktionskosten unter den Durchschnitt der Industrie zu senken, erzielt es einen zusätzlichen Gewinn. Im umgekehrten Fall erleidet es einen Verlust und muß bei einem längerfristigen Versagen seiner kostensenkenden Maßnahmen den Konkurs befurchten. Letztere Möglichkeit mag die Anwendung einer Form der Yardstick competition im amerikanischen Synthesekautschukprogramm verhindert haben. Da der amerikanische Staat während des Zweiten Weltkriegs auf keinen Erzeuger von BUNA S verzichten konnte, wäre seine Drohung, den Konkurs ineffizienter Unternehmen hinzunehmen, nicht glaubwürdig gewesen. Die Verwendung der statt dessen eingesetzten Selbstkostenverträge erklärt, warum sich die amerikanischen Synthesekautschukerzeuger weniger um Kosteneinsparungen bemühten als die unter den Bedingungen eines Festpreisvertrages wirtschaftenden I.G. Farben. Glaubt man den zeitgenössischen Beobachtern, so gab es gleichwohl einen intensiven Wettbewerb zwischen den verschiedenen amerikanischen Synthesekautschukwerken, die ihre relative Überlegenheit allerdings nicht durch Kostensenkungen, sondern durch eine schnelle Erhöhung der Produktionsmenge zu demonstrieren suchten.61 Manche Autoren fuhren dieses Verhalten auf „Wartime patriotism" zurück. 62 Hier wird hingegen die Auffassung vertreten, daß die weiterhin vorherrschende ökonomische Unsicherheit der privaten Unternehmen als die dominierende Ursache der beobachteten Bemühungen um Produktionssteigerungen zu deuten ist. Angesichts der negativen Einschätzung der zukünftigen Marktchancen des Synthesekautschuks mußte nämlich damit gerechnet werden, daß nach Beendigung des Krieges und der vollständigen Wiederherstellung der Handelsverbindungen zu den südostasiatischen Kautschukplantagen der Umfang der amerikanischen Synthesekautschukkapazitäten zumindest erheblich redu-
60
61 62
Vgl. Livingston, Cox, Manufacture, S. 178. Vgl. Shleifer, Andrei, A Theory of Yardstick Competition, in: Rand Journal of Economics 16, 1985, S. 319-327. Vgl. Government's Rubber Projects S. 492; Livingston, Cox, Manufacture, S. 176. Vgl. Herbert, Bisio, Synthetic Rubber, S. 95; Morris, American Synthetic Rubber Research, S. 50.
121
ziert werden würde. Somit mußte es dem Management und den Beschäftigten eines Synthesekautschukwerkes zur längerfristigen Sicherung ihrer Positionen und Arbeitsplätze unabdingbar erscheinen, sich gegenüber den anderen Fabriken positiv hervorzuheben. In einer Atmosphäre der Furcht vor einer kriegsentscheidenden Unterversorgung mit Kautschuk, in der die Höhe der Produktionskosten eine nur sehr untergeordnete Rolle spielte, war der beste Weg zur Profilierung der, mit den überall ähnlichen Produktionsanlagen größere Mengen von BUNA S hochwertiger Qualität zu erzeugen als die Konkurrenten. Schaubild 8
Die Entwicklung der BUNA S Produktionsmenge in Prozent der ex ante vom Staat vorgegebenen Kapazität in der amerikanischen Synthesekautschukindustrie (1941-1945) und im deutschen Werk Schkopau (1937-1943) a
120,00%
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Jahr
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Die Kapazität betrug in Schkopau 75000 Jahrestonnen im Jahr, in den USA 705000 long tons pro Jahr. Zu den Produktionsmengen vgl. Dunbrook, Historical Review, S. 52 f.
Schaubild 8 zeigt die Entwicklung der BUNA S Produktionsmenge in der amerikanischen Synthesekautschukindustrie und im deutschen Werk Schkopau in Prozent der ex ante vorgegebenen Produktionskapazitäten. Dabei werden bei der amerikanischen Produktion nicht wie in Schkopau die ersten sieben, sondern nur die ersten fünf Produkti-
122 onsjahre betrachtet, da danach aufgrund des Kriegsendes tatsächlich eine Reihe von Synthesekautschukwerken stillgelegt und die Erzeugung gedrosselt wurde. Auch wenn man berücksichtigt, daß die Produktionsanlage in Schkopau nur schrittweise auf letztendlich 75000 Jahrestonnen BUNA S erweitert wurde und in der USA von Anfang an eine Gesamtjahreskapazität von 705000 long tons geplant war, bleibt auffallig, daß die amerikanische Erzeugung in wesentlich kürzerer Zeit bis hin zur Kapazitätsgrenze gesteigert wurde. Dieser empirische Befund stützt die Vermutung, daß in den USA aufgrund des Wettbewerbs zwischen den verschiedenen Synthesekautschukproduzenten die Anreize zur Produktionsmengenerhöhung stärker waren als in Deutschland. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß die staatliche Nachfragepolitik die Synthesekautschukerzeuger in den USA mittels Selbstkostenverträgen in erster Linie zu Produktionssteigerungen und in Deutschland durch die Vorgabe von wirtschaftlichen Bedingungen, die einem Festpreisvertrag simulierten, eher zu Kostensenkungen motivierte.
3.3
Der Einfluß der staatlichen Patent- und Wettbewerbspolitik auf die deutsche und die amerikanische Synthesekautschukindustrie
3.3.1
Amerikanischer Informationsaustausch versus deutscher Patentschutz
Der US-amerikanische Staat investierte von 1943 bis 1955 55,6 Millionen US-Dollar in 63
die Synthesekautschukforschung. Die I.G. Farben setzte von 1927 bis 1944 insgesamt etwa 73,1 Millionen Reichsmark für ihre verschiedenen Synthesekautschukprogramme ein. 64 Diese Summe entsprach, je nach dem, welcher der oben diskutierten Wechselkurse zugrundegelegt wird, einem Wert zwischen 7,3 und 29,2 Millionen US-Dollar. Angesichts dieser Zahlen erscheinen die Forschungsaktivitäten der I.G. Farben wesentlich effizienter als die des amerikanischen Synthesekautschukprogramms. In Deutschland wurden nämlich mit einem geringeren finanziellen Aufwand als in den USA nicht nur die BUNA Kautschuke zur Marktreife geführt, sondern auch die technologischen Grundlagen für die Synthesekautschukinventionen „Cold rubber", „Oil-extended rubber" und „synthetischer Naturkautschuk" erarbeitet, während in den USA nach der erfolgreichen Imitation von BUNA S die Entwicklung zunächst stagnierte. Wie ist die63
Vgl. Morris, American Synthetic Rubber Research, S. 53. Unter den geförderten Institutionen befanden sich bis Juni 1949 24 Industrieunternehmen sowie 19 Universitäten und vier Forschungsinstitute, wobei etwa 6 0 % der bis dahin gewährten Mittel in Höhe von 23 Millionen USDollar an die privaten Unternehmen flössen. Vgl. Synthetic Rubber Recommendations S. 117 f.
64
Vgl. Morris, Acetyne Chemistry, S. 158.
123 ses Effizienzgefalle zu erklären? Zur Beantwortung dieser Frage ist es notwendig zu untersuchen, wie die jeweilige Patentpolitik des amerikanischen und des deutschen Staats in Verbindung mit den jeweils vorherrschenden Wettbewerbsbedingungen die Rentabilität der über den Vorkriegswissensstand hinausfuhrenden Synthesekautschukforschung beeinflußte. 65 Ein Synthesekautschukerzeuger wird nämlich nur dann in zusätzliche riskante Forschungsprogramme investieren, wenn für den Fall einer erfolgreichen Innovation die zu erwartenden Gewinne groß genug sind, um die Kosten der vorangegangenen Projekte, auch der gescheiterten, zumindest abzudecken. Die I.G. Farben besaß die ökonomische Sicherheit einer staatlich garantierten Monopolstellung, in der potentiellen Imitatoren der Marktzutritt wirksam verwehrt werden konnte. 66 Solange sie die Nachfrage des Staats nach Synthesekautschuk befriedigten, mußten sie nicht befürchten, daß es in der staatlich gelenkten nationalsozialistischen Wirtschaft Außenseitern erlaubt würde, eine eigene Synthesekautschukproduktion aufzubauen. Wie die im Jahr 1937 erfolgte Errichtung der „A.G. fiir Erzbergbau und Eisenhütten Hermann Göring" gezeigt hatte, schreckten die Nationalsozialisten allerdings auch nicht davor zurück, öffentliche Unternehmen zu gründen, wenn ihre Wünsche von der privaten Industrie nicht erfüllt wurden. 67 Diese Möglichkeit mochte die I.G. Farben nicht zuletzt dazu bewogen haben, trotz ökonomischer Unsicherheit dem Aufbau der Synthesekautschukfabriken zuzustimmen. Wie auch immer, dank des durch Patente zusätzlich gesicherten Synthesekautschukmonopols konnte sich die I.G. Farben Innovationsgewinne bei BUNA S im Rahmen des vom Staat vorgegebenen Preissetzungsspielraums in vollem Umfang aneignen. Bei einer Konzentration auf den kurzfristigen ökonomischen Erfolg hätte gleichwohl die Gefahr bestanden, daß aufgrund des fehlenden Wettbewerbsdrucks die Innovationsbereitschaft des Monopolisten erlahmt wäre. Offensichtlich rechnete die mit langen Planungszeiträumen vertraute I.G. Farben jedoch auf längere Sicht mit einer Rückkehr zu einer eher marktwirtschaftlich organisierten Weltwirtschaft, in der ihre Synthesekautschuke mit Naturkautschuk und den amerikanischen Entwicklungen würden konkurrieren müssen. Für diesen Fall war es sinnvoll, innerhalb der geschützten Bedingungen der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft Synthesekautschukinnovationen vorzubereiten, die den Konkurrenzprodukten in preislicher und qualitativer Hinsicht zumindest ebenbürtig waren. 68 Die Vermutung, daß nicht wenige der zeitgenössischen Entscheidungsträger deutscher Unternehmen die planwirtschaftlichen und außenhandelshemmenden Elemente
66
67 68
Vgl. hierzu auch die Ausführungen zur Untersuchung von Levin et al (Returns from Industrial Research) in Kapitel 2.4.2.1. Nach Auffassung von Goldberg sind aus diesem Grund durchaus Fälle denkbar, in der es staatlich gewährleisteter Marktzutrittsbeschränkungen bedarf, um Unternehmen zur Entwicklung von Innovationen zu ermutigen. Vgl. Goldberg, Victor P., Regulation and Administered Contracts, in: Bell Journal of Economics 7, 1976, S. 435. Vgl. Petzina, Dieter, Autarkiepolitik im Dritten Reich, Stuttgart 1968, S. 103 f. Vgl. Morris, Acetylene Chemistry, S. 186-192, 225.
124 der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik nicht als Ausdruck einer langfristig gültigen neuen Wirtschaftsordnung, sondern als kurzfristige Notwendigkeiten einer durch Weltwirtschaftskrise und Aufrüstung bedingten Übergangsphase deuteten, 69 wird beispielsweise auch durch eine Fallstudie von Hans Mommsen und Manfred Grieger über die deutsche Automobilindustrie gestützt. So stellen diese beiden Autoren auf Grundlage von Archivmaterial fest, daß Manager des entstehenden Volkswagenwerks noch kurz vor und sogar nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vorrangig darum bemüht waren, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Vermarktung eines zivilen Volkswa70
gens im In- und Ausland zu schaffen. Die US-amerikanische Regierung hatte angesichts der unmittelbaren Versorgungskrise während des Zweiten Weltkriegs die Finanzierung der BUNA S Produktionsanlagen und der weiterführenden Synthesekautschukforschung mit dem Ziel übernommen, private Wirtschaft und Militär in kürzester Frist mit einer genügenden Menge eines qualitativ hinreichenden Naturkautschuksubstituts zu versorgen. Unter diesen Rahmenbedingungen sprachen zwei Argumente gegen die Vergabe exklusiver Patentrechte an einzelne Synthesekautschukerzeuger. Erstens wurde dem Ziel einer schnellen Erhöhung von Quantität und Qualität der Synthesekautschukproduktion am besten gedient, wenn neues technologisches Wissen nicht nur dem eigentlichen Entdecker zur Verfugung stand, sondern unmittelbar an alle anderen Unternehmen weitergegeben wurde, ohne daß Lizenzgebühren diesen Informationsfluß hemmten. Zweitens konnte der Staat nur dann darauf hoffen, nach Beendigung des Krieges seine Synthesekautschukkapazitäten an private Betreiber veräußern zu können, wenn deren Nutzung nicht durch die Patentrechte anderer Unternehmen blockiert war.71 Aufgrund dieser Überlegungen schien die am 3. Juli 1942 mit den Synthesekautschukerzeugern abgeschlossene Vereinbarung über den Austausch von Patenten und technologischen Informationen aus Sicht des amerikanischen Staats wohlbegründet. Man einigte sich darauf, daß jedes der privaten Unternehmen seine die Kautschukproduktion betreffenden Patente auf die Rubber Reserve Company übertrug, die diese im Gegenzug allen am Regierungsprogramm beteiligten Produzenten verfügbar machte. Weder die ursprünglichen Patenteigentümer noch die Rubber Reserve Company erhiel-
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Jonas Scherner verdanke ich den Hinweis auf eine Akte aus dem Bestand der Deutschen Bank, in welcher darüber berichtet wird, daß die I.G. Farben und das Unternehmen Glanzstoff im Jahr 1934 den vom Staat geforderten Aufbau von Zellwollkapazitäten „aus berechtigter Sorge [ablehnten], daß früher oder später die freie Einfuhr der sehr viel billigeren Baumwolle die Absatzmöglichkeiten großer Stapelfasermengen ungünstig beeinflussen können". Deutsche Bank Archiv BArch R 8119/P 185. Vgl. Mommsen, Hans und Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, 3. Aufl., Düsseldorf 1997, S. 335,405. Vgl. Solo, Robert A., Synthetic Rubber: A Case Study in Technological development under Government Direction, Study of the Subcommittee on Patents, Trademarks, and Copyrights of the Committee on the Judiciary United States Senate, Eight-fifth Congress, Second Session, Study No. 8, Washington 1959, S. 37.
125
ten hierfür eine finanzielle Entschädigung. Außerdem wurde ein mit den Synthesekautschukproduzenten besetzter technischer Ausschuß eingerichtet, in dessen Rahmen neue technologische Informationen ausgetauscht werden sollten.72 Die zusätzlich mit den einzelnen Unternehmen individuell ausgehandelten Forschungsverträge beinhalteten keine an den Ausgang der Projekte geknüpften Erfolgsprämien. Die anfallenden Forschungsaufwendungen wurden in voller Höhe aus staatlichen Mitteln finanziert, gleichgültig ob das Forschungsprogramm mit der Entdeckung eines neuen Synthesekau73
tschuks endete oder fehlschlug. Unter diesen Umständen war der Schumpetersche Wettbewerb zwischen den Synthesekautschukproduzenten ausgeschaltet. Kein Unternehmen konnte sich durch die Entwicklung einer Invention einen Vorteil gegenüber seinen Konkurrenten verschaffen, da es weder ein exklusives Patent erwerben konnte noch sein neues Wissen geheimhalten durfte. Vielmehr war ein innovatives Unternehmen eher benachteiligt, weil es die für die Synthesekautschukforschung eingesetzten spezifischen Ressourcen von anderen Projekten abziehen mußte, die, sofern sie außerhalb des regulierten Bereichs angesiedelt waren, im Erfolgsfall eine höhere Rendite versprachen. Derart gesetzte Anreize legten es für die amerikanischen Unternehmen nahe, auf die Suche nach bahnbrechenden Innovationen zunächst zu verzichten und statt dessen nur kleine technologische Verbesserungen anzustreben und die staatlichen Fördergelder zur Erhöhung der eigenen zukünftigen Innovationsfähigkeit zu nutzen. Die kleinen technologischen Verbesserungen in der amerikanischen Synthesekautschukerzeugung während des Zweiten Weltkriegs betrafen in erster Linie die Optimierung des BUNA S Rezeptes und des Polymerisationsverfahrens.74 Diese neuen Informationen mußten zwar ebenfalls innerhalb des Technischen Ausschusses veröffentlicht werden, waren aber trotzdem nicht ohne Probleme zu imitieren. Vielfach war die Anwendung dieser Verbesserungen nämlich mit den spezifischen Fähigkeiten bestimmter Betriebsangehöriger verknüpft und daher als „Tacit knowledge" zumindest nicht ohne praktische Unterweisungen durch diese Fachkräfte in anderen Betrieben wiederholbar. Somit ermöglichten es gerade diese kleinen Verbesserungen einer Synthesekautschukfabrik, sich durch höhere Produktionsmengen und Produktqualität gegenüber den anderen Werken hervorzuheben. Zur erfolgreichen Entwicklung von Innovationen wie auch zur schnellen Imitation neuer Produkte von Konkurrenten benötigt ein Unternehmen eine Forschungsabteilung, die mit hochqualifizierten und vor allem mit dem Forschungsgegenstand vertrauten Mitarbeitern besetzt ist und über Laborgeräte, Meßinstrumente und Maschinen verfügt, die dem neusten Stand der Technik entsprechen.75 Die amerikanischen Synthesekau72
73 74 75
Zu den mit den Butadien- und Styrolerzeugern ausgehandelten Vereinbarungen über den Patentund Informationsaustausch vgl. Howard, Buna Rubber, S. 175 f. Vgl. Solo, Synthetic Rubber, S. 43. Vgl. Morris, American Synthetic Rubber Research, S. 56 f. Vgl. Cohen, Levinthal, Innovation and Learning.
126
tschukerzeuger nutzten deshalb die vom Staat bewilligten Forschungssubventionen auch, um ihre Forschungsabteilungen in der wettbewerbsarmen Phase während des Zweiten Weltkriegs entsprechend aufzurüsten und so auf die erhöhten Anforderungen vorzubereiten, die sich nach einer Privatisierung der Synthesekautschukproduktion ergeben würden. 76 Offensichtlich erarbeitete man sich außerdem mit Hilfe der staatlichen Zuschüsse neue Technologien, die für die BUNA S Produktion nicht verwendbar waren, für die Zukunft aber einen Wettbewerbsvorteil bedeuten konnten. 77 Um die Geheimhaltung technologischen Wissens zu erleichtem, beschäftigten die Unternehmen zudem zusätzlich zu den offiziell am Regierungsprogramm beteiligten Wissenschaftlern „private" Forschungsabteilungen, die sich im Stillen weiterführenden Synthesekautschukprojekten widmeten. 78 Nach dem Bekanntwerden der deutschen Forschungsergebnisse in der Nachkriegszeit versuchten Außenseiter, die sich nicht zum Austausch von Informationen und Patenten verpflichtet hatten, einen technologischen Vorsprung in der Synthesekautschukproduktion zu gewinnen. So war es die nicht dem Synthesekautschukprogramm angeschlossene Phillips Petroleum Company, die im Jahr 1947 „Cold rubber" auf Grundlage der I.G. Farben Rezeptur zur Marktreife führte, obgleich bei Goodrich, Goodyear oder U.S. Rubber bereits ab 1941 Verfahren zur Niedrigtemperaturpolymerisation erprobt, aber nicht mit letztem Nachdruck verfolgt worden waren. 79 Die Hoffnungen der Phillips Petroleum Company auf alleinige Marktführerschaft wurden jedoch enttäuscht. Angesichts der erneuten Krisensituation nach Ausbruch des Koreakrieges bestand der amerikanische Staat darauf, dieses Unternehmen in sein Synthesekautschukprogramm einzugliedern und seine Resultate den anderen Produzenten zugänglich zu machen. Bereits im Jahr 1954 belief sich der Anteil von „Cold rubber" an der 80
gesamten BUNA S Produktion auf zwei Drittel. Dieser Vorfall hatte die amerikanischen Synthesekautschukproduzenten gelehrt, daß ihre übergeordnete Strategie, Neuentwicklungen so lange zurückzuhalten, bis die Wiedereinführung exklusiver Patente die Aneignung hoher Innovationsgewinne ermöglichen würde, nicht mehr durchzuhalten war. Stattdessen versuchte man nun, die Verpflichtung zum Patent- und Informationsaustausch durch die Kooperation mit außenstehenden Unternehmen zu umgehen. Die General Rubber and Tire Company entwickelte in Zusammenarbeit mit dem nach Ende des Zweiten Weltkriegs von dem amerikanischen Synthesekautschukpro76
77 78
79 80
Vgl. Solo, Robert A., Research and Development in the Synthetic Rubber Industry, in: Quarterly Journal of Economics 68, 1954, S. 81 f. Vgl. ebd. S. 76. Hierzu liefert wiederum Goodrich einen ausgezeichneten empirischen Beleg. Dieses Unternehmen isolierte seine offizielle Forschungsabteilung durch Auslagerung an die Kent State University, während eine mit „pioneering" Synthesekautschukprojekten befaßte Gruppe am Firmensitz Akron angesiedelt blieb. Vgl. Morris, American Synthetic Rubber Research, S. 28. Vgl. Solo, Research and Development, S. 75 f. Vgl. Morris, American Synthetic Rubber Research, S. 34 f.
127
gramm ausgeschlossenen kanadischen Unternehmen Polymer Corporation „Oilextended rubber" auf kanadischem Boden. Abweichend von den bisher üblichen Gepflogenheiten bot man diese Innovation Ende 1950 dem amerikanischen Staat zum Kauf an, was dieser jedoch ablehnte. Fünf Monate später stellte Goodyear sehr zum Ärger der General Tire and Rubber Company, die eine unzulässige Imitation ihres Einfalls beklagte, Informationen über einen eigenen „Oil-extended rubber" vereinbarungsgemäß kostenlos Regierung und Konkurrenten zur Verfügung. Im Jahr 1954 entdeckte man in einem von Goodrich und Gulf Petroleum gemeinsam gegründeten Unternehmen, daß auf Basis der von Karl Ziegler in Deutschland entwickelten Katalysatoren aus Isopren ein „synthetischer Naturkautschuk" polymerisiert werden konnte, der auch für die Produktion von LKW- und Flugzeugreifen geeignet war. Um die technologischen Einzelheiten dieser Erkenntnis nicht im Rahmen des Synthesekautschukprogramms veröffentlichen zu müssen, fügte man während des Produktionsvorgangs Ethylen hinzu, um so vorgeben zu können, daß man an einem nicht die Synthesekautschukforschung betreffenden Kunststoffmischpolymerisat aus Ethylen und Isopren arbeiten würde. Die Rechtsabteilung von Goodrich kam dann jedoch zu dem Schluß, daß die gemeinsame Tochter mit Gulf Petroleum nicht an die Verpflichtungen des Mutterunternehmens gebunden war, so daß man die Täuschungsmanöver beendete und im Dezember 1954 mit dieser Innovation an die Öffentlichkeit trat. Nach der Privatisierung der staatlichen Synthesekautschukproduktion und der damit verbundenen Rückkehr zu exklusiven Patentrechten im Sommer 1955 offenbarten auch andere ame81
rikanische Unternehmen ihr bisher in Fesseln gehaltenes Innovationspotential. So konnten sowohl Firestone in Zusammenarbeit mit Goodyear als auch die Shell Chemical Company und Phillips Petroleum noch vor Ende des Jahres jeweils die eigenständige Entwicklung eines „synthetischen Naturkautschuks" bekannt geben. 82 Zusammenfassend stützt der Vergleich der über den Vorkriegswissenstand hinausgehenden Forschungsprogramme in den USA und Deutschland die These, daß ein Unternehmen nur dann zu kostspieligen Forschungsinvestitionen mit unsicherem Ausgang bereit sein wird, wenn das hierdurch eingegangene Risiko durch die Möglichkeit zu überdurchschnittlich hohen Innovationsgewinnen aufgewogen wird. Dieser Zusammenhang muß vom technologiepolitischen Entscheidungsträger berücksichtigt werden.
3.3.2
Vertikale Integration in den USA versus Monopol in Deutschland
Die technologischen und ökonomischen Auswirkungen einer Innovation bleiben in aller Regel nicht auf diejenige Wertschöpfungsstufe beschränkt, in der diese ursprünglich entwickelt wurde. Vielmehr verursachen die von ihr ausgelösten Veränderungen der
82
Zur Privatisierung der amerikanischen Synthesekautschukproduktion vgl. Herbert, Bisio, Synthetic Rubber, S. 172-193, und Solo, Synthetic Rubber, S. 116-121. Vgl. Morris, American Synthetic Rubber Research, S. 45 f.
128 Produktionstechnologie und der relativen Preise auch Anpassungsprozesse in den vorund nachgelagerten Sektoren. In diesen bedarf es oftmals umfangreicher spezifischer Investitionen, weil die erfolgreiche Adaption der Innovation eigene Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen, Umstellungen bei den Produktionsverfahren oder eine Neuorientierung der Absatzorganisationen voraussetzen kann. Da jede Stufe diese Anpassungskosten möglichst niedrig halten möchte, ist es nicht unerheblich, an welcher Stelle der Wertschöpfungskette über die konkrete Ausgestaltung einer Innovation entschieden wird. Deren Charakteristika sind nämlich nicht eindeutig determiniert, sondern können entsprechend der Bedürfnisse des Entscheidungsträgers innerhalb eines bestimmten Spielraums variiert werden. Eigenschaften, die auf einer Produktionsstufe ökonomisch sinnvoll und kostensparend sind, können jedoch in vor- oder nachgelagerten Bereichen unerwünscht und kostspielig sein. Daher kann es zur Koordinierung der unterschiedlichen Ansprüche an eine technologische Neuentwicklung durchaus von Vorteil sein, wenn die betroffenen Industrien vertikal integriert sind. Dies gilt zumindest dann, wenn die gemeinsame Organisation den branchenübergreifenden Informationsaustausch erleichtert und die Probleme aller Produktionsstufen im Interesse des 83
Gesamtunternehmens angemessen berücksichtigt. Wie anhand des unterschiedlichen Bemühens um die Verarbeitbarkeit von BUNA S gezeigt werden kann, wurde auch im Fall der Synthesekautschukproduktion während des Zweiten Weltkriegs die technologische Entwicklung nicht unwesentlich davon beeinflußt, welche Wertschöpfungsstufe über die Entscheidungsgewalt verfugte. In Deutschland besaß das Chemieunternehmen I.G. Farben als alleiniger Anbieter die Marktmacht, bestimmte technische Eigenschaften von BUNA S auch gegen die Vorstellungen ihrer Kunden, der Kautschukverarbeiter, durchzusetzen. Hingegen übten in den USA die Reifenhersteller die Kontrolle aus, weil die Synthesekautschukerzeugung faktisch in ihren Unternehmen als vorgelagerte Stufe integriert war. Die Entscheidungsträger beider Länder teilten die Überzeugung, daß der Synthesekautschuk BUNA S unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht mit Naturkautschuk konkurrieren konnte. Unterschiedlich waren allerdings die Konsequenzen, die amerikanische Verarbeiter und deutscher Erzeuger aus dieser Einschätzung zogen. Betrachten wir zunächst die Vorgehensweise der amerikanischen Reifenhersteller. Für den „Thermischen Abbau", der aufgrund der nur kurzen Lagerfahigkeit des derart behandelten BUNA S bei den Verarbeitern erfolgen mußte, benötigte man eine umfangreiche eigenständige Produktionsanlage. Da die amerikanischen Reifenhersteller die Verwendung von BUNA S nur als kriegsbedingten Intermezzo betrachteten, hegten sie jedoch nicht die Absicht, spezifische Investitionen in Maschinen zu tätigen, die nur für die Synthesekautschukverarbeitung genutzt werden konnten. 84 Anstatt die deutsche Methode zu imitieren, suchte man daher nach Möglichkeiten, das I.G. Farben Rezept so
84
Vgl. Armour, Henry Ogden und David J. Teece, Vertical Integration and Technological Innovation, in: Review of Economics and Statistics 62, 1980, S. 470-474. Vgl. Livingston, Cox, Manufacture, S. 177 f.
129
zu modifizieren, daß BUNA S ohne Vorbehandlung verarbeitbar war. Diese Entscheidung fiel umso leichter, als die hierfür notwendigen Forschungsanstrengungen im Rahmen des staatlichen Synthesekautschukprogramms aus staatlichen Mitteln finanziert werden konnten. Wie bereits angesprochen gelang es 1942, durch die Zugabe eines von der I.G. Farben 1937 entdeckten, aber nicht eingesetzten schwefelhaltigen Weichmachers das Verarbeitungsproblem aus Sicht der amerikanischen Reifenhersteller zufriedenstellend zu lösen. Von Vorteil war hierbei wohl auch, daß die ersten Synthesekautschukfabriken nicht bei den Erdölvorkommen, sondern in räumlicher Nähe zu den Verarbeitungsstätten errichtet wurden, was die brachenüber^reifende Zusammenarbeit von Technikern und Wissenschaftlern erheblich vereinfachte. Auch die deutschen Kautschukverarbeiter präferierten nicht den „Thermischen Abbau" von BUNA S, zumal sich bei der Anwendung herausstellte, daß dieses Verfahren nicht nur zusätzliche Kosten verursachte, sondern außerdem technisch nur schwer zu beherrschen war, so daß die Qualität des zu verarbeitenden BUNA S erheblich 87
schwankte. Trotzdem besaß die I.G. Farben offensichtlich wenig Neigung, ihre eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Entwicklung eines direkt verarbeitbaren BUNA S zu nutzen. 88 Wie ist diese Zurückhaltung zu erklären? In Abschnitt 3.2.1 wurde gezeigt, daß der nationalsozialistische Staat die I.G. Farben zur industriellen Produktion eines Synthesekautschuks drängte, der im Falle einer Versorgungskrise zu Fahrzeugreifen verarbeitet werden konnte. Dieser staatlichen Zielvorgabe war mit der Entdeckung des „Thermischen Abbaus" Genüge getan. Da die I.G. Farben davon ausging, daß BUNA S gleichwohl weder in preislicher noch in qualitativer Hinsicht mit Naturkautschuk würde konkurrieren können, bestand für sie darüber hinaus kein Anlaß, auf die Wünsche von Kunden einzugehen, die innerhalb der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft keine andere Wahl hatten, als BUNA S zu verwenden, und die unter anderen Umständen Naturkautschuk auch einem direkt verarbeitbaren BUNA S vorgezogen hätten. Stattdessen konzentrierte sich die I.G. Farben auf ihre weiterführenden Synthesekautschukprojekte wie beispielsweise „Cold rubber", von denen man sich die Entdeckung konkurrenzfähiger Produkte versprach, die gegebenenfalls BUNA S vollständig ersetzen würden.
84 87 81
Vgl. Morris, American Synthetic Rubber Research, S. 30 f. Vgl. Solo, Synthetic Rubber, S. 27. Vgl. Bebb, Wakefield, German Synthetic-Rubber Developments, S. 950 ff. Erst die zunehmende ökonomische Knappheit der bisher verwendeten Leinölsäure bewog die I.G. Farben 1943, das ebenfalls 1937 entwickelte Diproxid als Weichmacher einzusetzen, das die Verarbeitbarkeit von BUNA S zwar verbesserte, aber den „Thermischen Abbau" nicht verzichtbar machte. Vgl. Morris, Acetyne Chemistry, S. 187.
130
3.4
Ergebnis und Ausblick
Zusammenfassend erbrachte die Analyse des technologischen und ökonomischen Aufstiegs der Synthesekautschukindustrie in Deutschland und in den USA folgende Ergebnisse: Angesichts des niedrigen Marktpreises von Naturkautschuk kamen die potentiellen Synthesekautschukerzeuger sowohl in Deutschland als auch in den USA in den dreißiger Jahren zu der pessimistischen Auffassung, daß der zur Reifenproduktion geeignete Synthesekautschuk BUNA S unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht mit Naturkautschuk konkurrieren konnte. Es bedurfte daher in beiden Ländern staatlicher Preis und Absatzgarantien und in den USA zudem noch der staatlichen Finanzierung der Produktionsanlagen, um die ökonomische Unsicherheit der privaten Unternehmen zu überwinden und sie zur Aufnahme der industriellen Fertigung von BUNA S zu bewegen. Die unterschiedliche Ausgestaltung der staatlichen Beschaffungsverträge erklärt, warum die deutschen Synthesekautschukerzeuger ihre Produktionskosten durch innerbetriebliche Effizienzsteigerungen erheblich stärker verringerten als die amerikanischen Produzenten, deren Kosteneinsparungen in erster Linie auf einen technologischen Wandel in der vorgelagerten Butadienproduktion zurückzufuhren sind. Eine Erhöhung der Gewinne war in Deutschland unter den faktischen Bedingungen eines Festpreisvertrages nämlich in erster Linie durch Kostensenkungen und in den USA im Rahmen der Selbstkostenverträge durch Produktionssteigerungen möglich. Der infolge der negativen Zukunftserwartungen gleichwohl vorhandene Wettbewerb zwischen den amerikanischen Synthesekautschukfabriken verstärkte noch das Bemühen um eine Erhöhung von Produktionsmenge und Produktqualität in den USA. Die während des amerikanischen Synthesekautschprogramms gültigen Vereinbarungen zum Austausch von Patenten und technologischen Informationen führten dazu, daß die amerikanischen Synthesekautschukerzeuger über den Vorkriegswissensstand hinausreichende Forschungsprojekte zurückhielten, bis eine Privatisierung der Synthesekautschukindustrie die Aneignung von Innovationsgewinnen wieder möglich machte. Hingegen boten Monopolstellung und Patentschutz der deutschen I.G. Farben die notwendigen Anreize zur Entwicklung der technologischen Grundlagen der Synthesekautschukinventionen „Cold rubber", „Oil-extended rubber" und „synthetischer Naturkautschuk". Daß die vom amerikanischen Staat bewilligten Forschungssubventionen an die privaten Unternehmen jedoch längerfristig keine Verschwendung bedeuteten, sondern zum Aufbau leistungsfähiger Forschungsabteilungen genutzt wurden, wird durch die Geschwindigkeit belegt, mit der die amerikanischen Produzenten in der unmittelbaren Nachkriegsphase die deutschen Anregungen in erfolgreiche Innovationen transformierten.
131
In den USA bemühte man sich stärker als in Deutschland um eine Verbesserung der Verarbeitbarkeit von BUNA S, da die amerikanischen Reifenhersteller im Gegensatz zu den deutschen Verarbeitern die ökonomische Macht besaßen, von den Erzeugern Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen einzufordern, die spezifische Investitionen in Synthesekautschuk verarbeitende Maschinen vermeidbar machten. Dies zeigt, daß die technologischen Eigenschaften einer für mehrere Produktionsstufen bedeutsamen Innovation nicht unwesentlich dadurch beeinflußt werden, welche Produktionsstufe über die Entscheidungsgewalt verfügt. Diese Ergebnisse verdeutlichen, daß es für staatliche Technologiepolitik kein allgemeingültiges Patentrezept auf dem Abstraktionsniveau des „Military models" von Levin gibt. Offensichtlich liegt der Teufel im Detail der Ausgestaltung von Beschaffungsverträgen, Forschungssubventionen und Patentvereinbarungen. Darüber hinaus impliziert der hier durchgeführte Vergleich auch nicht die generelle technologiepolitische Überlegenheit der Regulierungsinstrumente „Festpreisvertrag" und „exklusives Patent". Insbesondere gilt es zu berücksichtigen, daß die im nationalsozialistischen Deutschland erzielten Kosteneinsparungen und Forschungsleistungen der Synthesekautschukindustrie unter für demokratische Gesellschaften unerträglichen politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgten. Nichtsdestotrotz war es für die Nachkriegsentwicklung der westdeutschen Kunststoffindustrie von zentraler Bedeutung, daß der vor und während der nationalsozialistischen Diktatur in der Synthesekautschukforschung erworbene Bestand an technologischem Innovationskapital auch die Erschließung des technologischen Pfads der Kunststoffe ermöglichte. Insbesondere wurden die folgenden wichtigen Produkt- und Verfahrensinventionen in der technologischen Nachbarschaft der BUNA Kautschuke entdeckt. Wissenschaftler der BASF konzipierten 1930 ein Verfahren, durch welches das zur Bunasynthese benötigte Styrol auch zu dem Kunststoff Polystyrol polymerisiert werden konnte. Das Polystyrol bildete zudem die Basis für den seit 1952 von der BASF erzeugten Schaumstoff Styropor, der vor allem in der Bauwirtschaft Anwendung fand. Das für die Bunaproduktion entwickelte Verfahren der Emulsionspolymerisation ermöglichte 1931 die Erzeugung von Polyvinylchlorid durch die BASF. Die Mischpolymerisation von Styrol, Butadien und Acrylnitril führte zu wäßrigen Dispersionen (Latices), die für die Produktion von Kunstleder genutzt werden konnten. Das 1940 von dem I.G. Farben Werk Wolfen entwickelte Polyacrylnitril diente der Produktion der Kunstfaser Dralon. Die Produktion von BUNA S induzierte über das Zwischenprodukt Styrol die industrielle Erzeugung des Ausgangsprodukts Ethylen und schuf dadurch nicht nur die Kapazitäten, sondern auch die Erfahrungen, die nach dem Zweiten
132 Weltkrieg die schnelle Imitation des 1937 von der britischen ICI durch Hochdruckpolymerisation erzeugten Polyethylens möglich machten. Außerdem führte Hoechst 1955 ein Niedrigdruckverfahren zur Erzeugung von Polyethylen ein. Schließlich motivierte die Suche nach einem Synthesekautschuk spezielle Forschungsprojekte bei Bayer, die zur Entwicklung der Polyurethane führten, die seit den sechziger Jahren zunehmende Bedeutung auf dem Kunststoffmarkt gewannen. In den Wirtschaftswunderjahren zwischen 1948 und 1973 standen die Nachfolgeunternehmen der I.G. Farben nunmehr vor der Aufgabe, den Innovationsprozeß erfolgreich abzuschließen und ihre Kunststoffe unter marktwirtschaftlichen Bedingungen in Konkurrenz zu einer zunehmenden Zahl preisgünstiger ausländischen Anbieter zu vermarkten.
4
Technologische Kooperation: Die Durchführung des branchenübergreifenden Wissenstransfers in der deutschen Kunststoffindustrie
In diesem Kapitel wird untersucht, aus welchen Gründen und über welche Kommunikationskanäle die Kunststoff erzeugenden westdeutschen Chemieunternehmen in den Nachkriegsjahrzehnten Teile ihres Innovationskapitals an die Kunststoffverarbeiter und die Produzenten von Kunststoff verarbeitenden Maschinen übertrugen. Die zur Beantwortung dieser Frage zunächst durchgeführte theoretische Analyse stützt sich auf spieltheoretische Konzepte der Industrieökonomik. In einem ersten Schritt wird dargelegt, daß Chemieunternehmen, die über spezifische Kapazitäten zur Erzeugung von für nachgelagerte Branchen nützlichen Informationen verfügen, die Möglichkeit besitzen, mittels Bündelung von Standardgut und innovativem Wissen den Preiswettbewerb mit kostengünstiger produzierenden Konkurrenten zumindest für einen bestimmten Zeitraum zu vermeiden und positive Gewinne zu erzielen. In einem zweiten Schritt werden die ökonomischen Bedingungen der Informationsübertragung von den Chemieunternehmen zu den Kunststoffverarbeitern anhand eines zweistufigen Spiels des branchenübergreifenden Wissenstransfers im Detail analysiert. Hierbei wird sich insbesondere zeigen, daß es den inländischen Chemieunternehmen nur dann gelingen kann, Kunststoffverarbeiter als langfristige Kunden zu binden, wenn die durch die Übermittlung des innovativen Wissens bewirkten zusätzlichen Erlöse der Kunststoffverarbeiter größer sind als die zusätzlichen Kosten, die ihnen dadurch entstehen, daß sie die benötigten Kunststoffe nicht bei den preisgünstigeren ausländischen Konkurrenten beschaffen. Da die Kunststoffverarbeiter diese Abwägung zu Beginn jeder Periode auf Grundlage zusätzlicher Informationen von neuem durchführen, ist es zudem möglich, daß eine zunächst funktionierende technologische Kooperation nach einigen Perioden aufgekündigt wird. Die Ergebnisse der nachfolgenden empirischen Untersuchung des branchenübergreifenden Wissenstransfers in der deutschen Kunststoffindustrie stützen diese theoretischen Hypothesen.
134
4.1
Produktdifferenzierung durch Bündelung von Standardkunststoff und innovativem Wissen
Wenn sich ein Unternehmen mit vergleichsweise hohen und kurzfristig nicht veränderbaren Produktionskosten dem Preiswettbewerb stellt, wird es aus dem Markt gedrängt werden, da Konkurrenten mit niedrigeren Produktionskosten die Möglichkeit nutzen werden, ihre Angebotspreise gerade unterhalb seiner Grenzkosten festzulegen.1 Dieses Schicksal drohte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg auch den Kunststofferzeugern in Westdeutschland. So ergaben sich in den fünfziger Jahren kurzfristig nicht behebbare Kostennachteile insbesondere aufgrund der bereits in Abschnitt 2.5 angesprochenen Verwendung einer unter den gegebenen relativen Preisen inferioren Technologie, bei der die Gewinnung der für die Kunststoffproduktion notwendigen Vorprodukte nicht auf Erdöl oder Erdgas, sondern auf Kohle basierte. Mittelfristig gelang es, diesen Rückstand durch die Zusammenarbeit mit Erdöl verarbeitenden Unternehmen aufzuholen. Allerdings drohte dem Produktionsstandort Westdeutschland hierauf die Gefahr, gegenüber Ländern mit eigenen Erdgasvorkommen wie zum Beispiel Italien oder den Niederlanden ins Hintertreffen zu geraten.2 Außerdem siedelten sich seit den sechziger Jahren nicht nur US-amerikanische Kunststofferzeuger zur Verringerung der Kosten des Erdöltransports in der Nähe der Nordseehäfen Antwerpen und Rotterdam an.3 Hinzu kam, daß der politisch bedingte, starke Ölpreisanstieg der siebziger Jahre für Länder mit eigenen Erdölvorkommen wie zum Beispiel Saudi-Arabien die Entwicklungsstrategie nahelegte, in eigene Kapazitäten für die Kunststofferzeugung zu investieren. In der Tat stieg deshalb der Anteil der „anderen Länder" an den weltweiten Produktionskapazitäten für Ethylen zu Lasten der traditionellen Produzenten in den USA, Westeuropa und Japan von 5,7 % im Jahr 1970 über 11,8 % im Jahr 1980 auf 25,1 % im Jahr 1990 stark an.4 Schließlich mochte auch die vergleichsweise strenge Umweltschutzgesetzgebung die westdeutschen Produzenten gegenüber ihren europäischen Konkurrenten benachteiligen.5 Viele dieser natürlichen oder politisch vorgegebenen Standortnachteile konnten von den westdeutschen Kunststofferzeugern auch längerfristig nicht abgebaut werden. Tabelle 9 verdeutlicht, daß der in Abschnitt 1.4 erläuterte Aufstieg Westdeutschlands zum weltgrößten Kunststoffexporteur6 in den Nachkriegsjahrzehnten fürwahr nicht auf
1 2 3
Vgl. Tirole, Industrieökonomik, S. 458. Vgl. Aftalion, Fred, A History o f the International Chemical Industry, Philadelphia 1991. Vgl. Mittman, Chemische Industrie, S. 250, 256, 293.
4
Vgl. Chapman, Keith, The International Petrochemical Industry. Evolution and Location, Oxford, Cambridge/Mas. 1991, S. 17 ff.
5
Vgl. Mittman, Chemische Industrie, S. 174, 366. Vgl. Tabelle 2 „Die Verteilung der akkumulierten Exporte der acht größten Kunststoffexporteure, 1952-1985" in Kapitel 1.4.
6
135
vergleichsweise günstige Angebotspreise für die im Außenhandel dominierenden Standardkunststoffe Polyvinylchlorid, Polystyrol und Polyethylen zurückgeführt werden kann. Vielmehr wurde in den Jahren 1955 und 1960 Hochdruck-Polyethylen sowohl von britischen als auch von US-amerikanischen Unternehmen zu deutlich niedrigeren Preisen vertrieben als von der westdeutschen Konkurrenz. Einen Preisvorteil besaß Westdeutschland lediglich bei Polyvinylchlorid gegenüber den USA und bei Polystyrol gegenüber Großbritannien. Tabelle 9
Preise für die Standardkunststoffe Polyvinylchlorid, HochdruckPolyethylen und Polystyrol in Westdeutschland, Großbritannien und in den USA, 1955 und 1960, jeweils in DM je Kilogramm3
Kunststoffart
Jahr
Westdeutschland
Polyvinylchlorid
1955 1960 1955 1960 1955 1960
2,25 1,75 5,40 3,00 3,00 2,10
HochdruckPolyethylen Polystyrol
a
Großbritannien DM je kg 2,25 1,65 4,10 2,70 3,35 2,60
USA 3,20 1,85 3,75 2,40 2,70 1,60
Freeman, Christopher, The Plastics Industry: A Comparative Study of Research and Innovation, in: National Institute Economic Review 26, 1963, S. 30.
Diese empirischen Befunde rechtfertigen die Vermutung, daß die internationalen Markterfolge der westdeutschen Kunststofferzeuger in den Wirtschaftswunderjahren nicht als Ergebnis von Kostenvorteilen, sondern als ein Beleg für ihre Befähigung zu deuten sind, durch die Wahl geeigneter Absatzstrategien etwaige Nachteile im Preiswettbewerb mehr als auszugleichen. Insbesondere bot sich den westdeutschen Kunststofferzeugern im Betrachtungszeitraum die Chance, durch Produktdifferenzierung dem Preiswettbewerb mit günstiger produzierenden ausländischen Konkurrenten auszuweichen.7 Produktdifferenzierung bedeutet im Allgemeinen, daß konkurrierende Unternehmen ein bestimmtes Produkt in jeweils unterschiedlichen Qualitäten anzubieten versuchen. Diese Strategie ist nicht erst bei Kostennachteilen eines Anbieters, sondern bereits bei symmetrischen Produktionskosten eine naheliegende Handlungsalternative, da unter diesen Umständen der reine Preiswettbewerb dazu führt, daß alle Unternehmen ihren Angebotspreis gleich den Grenzkosten setzen müssen und somit keine Gewinne erzielen. Ausgehend von dieser Konstellation können mehrere Anbieter ihre Situation verbessern, indem sie die ungleiche Verteilung der Einkommen und Präferenzen der
7
Vgl. Shaked, Avner und John Sutton, Relaxing Price Competition through Product Differentiation, in: Review of Economic Studies 49, 1982, S. 3-13.
136 Konsumenten mittels Produktdifferenzierung zur Schaffung eigener Marktnischen nutzen, in denen sie jeweils über einen bestimmten Preissetzungsspielraum verfügen und positive Gewinne realisieren.8 Das Konzept der Produktdifferenzierung unterstellt implizit, daß die für die Beurteilung der Qualität maßgeblichen Eigenschaften untrennbar mit dem zu bewertenden Produkt verbunden sind. Dies muß allerdings nicht zwangsläufig der Fall sein. Vielmehr ist auch denkbar, daß ein Unternehmen die Attraktivität eines Standarderzeugnisses dadurch zu steigern sucht, daß es dieses zusammen mit einem zweiten Produkt als Güterbündel9 anbietet, dessen jeweiliges Qualitätsniveau nur von der Beschaffenheit des hinzugekommenen zweiten Guts bestimmt wird. So bemühten sich die deutschen Chemieunternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg, die Qualität der von ihnen gelieferten Kunststoffe durch das Hinzufügen technologischer Informationen zu erhöhen, welche die Kunststoffverarbeiter über innovative Verwendungsmöglichkeiten der von ihnen benötigten Kunststoffe in Kenntnis setzten. Die Erarbeitung derartiger Informationen erfolgte mittels spezieller Forschungs- und Entwicklungsprojekte in eigens eingerichteten anwendungstechnischen Abteilungen, die, wie in Kapitel 2.4.1 gezeigt, ihrerseits als institutionalisierter Träger der Marketingphase des Innovationsprozesses eine schon während des Teerfarbenbooms erprobte organisatorische Innovation der deutschen Chemieindustrie darstellten. Da auch die Imitation dieser organisatorischen Neuerung Zeit benötigte, war die internationale Konkurrenz kurzfristig nicht dazu in der Lage, vergleichbares innovatives Wissen für die KunststoffVerarbeiter bereitzustellen. Die deutschen Chemieunternehmen verfügten daher über ein zeitlich befristetes Monopol für diese Dienstleistung. Theoretisch wäre es denkbar, daß ein derartiger Monopolist auf die Bündelung von Standardgut und innovativem Wissen verzichtet und stattdessen versucht, seine anwendungstechnischen Kenntnisse isoliert zu vermarkten. Aufgrund der vergleichsweise hohen Transaktionskosten eines nur auf immaterielle Informationen beschränkten Handels war es allerdings für die deutschen Chemieunternehmen schwierig, ihr Wissensmonopol zur Erzielung eines zumindest kostendeckenden Preises oder gar von Renten zu nutzen. Da bei Streitfallen gegenüber juristischen Instanzen kaum nachzuweisen war, ob der Transfer von spezifischem Wissen vereinbarungsgemäß erfolgt war oder nicht, war insbesondere für die Kunststoffverarbeiter die Versuchung groß, die ökonomische Gegenleistung für das empfangene innovative Wissen ganz oder teilweise zu
8
9
Shaked und Sutton (Relaxing Price Competition) zeigen,daß bei symmetrischen Kosten das Unternehmen, welches den Markt zuerst betritt, die vergleichsweise höchste Qualität anbieten und hierdurch den größten Gewinn erwirtschaften wird. Vgl. zum „Bundling" Phänomen Adams, W. J. und J.L. Yellen, Commodity Bundling and the Burden of Monopoly, in: Quarterly Journal of Economics 90, 1976, S. 475-498.
137
verweigern.10 Durch die Bündelung von technologischer Information und Kunststoff, an dessen Lieferung die Bezahlung des gesamten Güterbündels geknüpft wurde, konnten diese Schwierigkeiten, wenn auch nicht beseitigt, so doch verringert werden, weil der korrekte Austausch bestimmter Kunststoffmengen erheblich leichter zu beobachten ist als der von immateriellen Informationen.11 Gleichzeitig war es hierdurch möglich, den Preiswettbewerb auf dem Kunststoffmarkt zu umgehen und einen höheren Preis als die Wettbewerber zu realisieren, da die Kombination aus Kunststoff und technologischer Information aus Sicht der Verarbeiter eine höhere Qualität als die Offerte der Konkurrenz besaß.12 Somit ermöglichte die Bündelung den gewinnbringenden Absatz zweier Produkte, deren isolierte Vermarktung den deutschen Chemieunternehmen im Fall des innovativen Wissens aufgrund hoher Transaktionskosten und im Fall der Kunststoffe wegen Kostennachteilen erhebliche Probleme bereitet hätte. Allerdings änderte sich die Wettbewerbssituation der deutschen Kunststofferzeuger erneut, als die ausländischen Konkurrenten durch den Aufbau eigener anwendungstechnischer Abteilungen ebenfalls neue technologische Informationen bereitstellen konnten, da sich von diesem Zeitpunkt an der Preiswettbewerb auf die Ebene der Güterbündel verlagerte. Unter diesen Umständen hatten die deutschen Chemieunternehmen nur dann eine Chance, im Markt zu bestehen, wenn sie ihre Kostennachteile bei der Kunststoffproduktion durch entsprechende Kostenvorteile bei der Entwicklung innovativen Wissens ausgleichen konnten. Schwierigkeiten ergaben sich jedoch bereits zuvor, weil das Güterbündel aus Kunststoff und Information nur vergleichsweise locker geschnürt werden konnte. Da das innovative Wissen getrennt von Bestellung und Lieferung der Kunststoffe vorab durch Beratung oder Ausbildung vermittelt werden mußte, war nämlich für die Kunststoffverarbeiter die Versuchung weiterhin groß, im Rahmen einmaliger Geschäftsbeziehungen den deutschen Chemieunternehmen die ökonomische Gegenleistung für den Wissenstransfer zu verweigern und nach Erhalt der gewünschten Informationen die benötigten Kunststoffe bei Konkurrenten zu beziehen, die mit niedrigeren Preisen lockten. Diese Anfechtung war weitaus weniger stark, wenn die Kunststoffverarbeiter damit rechnen mußten, daß man ihnen aufgrund von nicht kooperativem Verhalten in der Gegenwart Informationen über andere technologische Neuentwicklungen in der Zukunft verwei10
11
12
Zur spieltheoretischen Grundstruktur von Markttransaktionen vgl. Greif, Avner, The Fundamental Problem of Exchange: A Research Agenda in Historical Institutional Analysis, in: European Review of Economic History 4, 2000, S. 255. Die Vorstellung, daß die Transaktionskosten auf Märkten für technologische Informationen durch Bündelung mit einfacher zu beobachtenden Produkten verringert werden können, findet sich im Rahmen entwicklungspolitischer Fragestellungen auch bei Arora, Ashish, Contracting for Tacit Knowledge: the Provision of Technical Services in Technology Licensing Contracts, in: Journal of Development Economics 50, 1996, S. 233-256. Dies bedeutet nicht, daß durch diese Bündelung Monopolmacht vom Markt für technologische Informationen auf den Markt für Kunststoffe übertragen wird. Vgl. zu dieser Problematik Whinston, Michael D., Tying, Foreclosure, and Exclusion, in: American Economic Review 80, 1990, S. 837-859.
138
gern würde. Daher waren die deutschen Chemieunternehmen bestrebt, durch das Anbieten immer neuer Informationen die Kunststoffverarbeiter längerfristig als Kunden zu binden. An dieser Stelle ist als Zwischenergebnis festzuhalten, daß sich in den Nachkriegsjahrzehnten der Wettbewerb zwischen den westdeutschen Kunststofferzeugern und ihren kostengünstiger produzierenden internationalen Konkurrenten auf zwei zeitlich einander nachfolgenden Strategieebenen vollzog. In der unmittelbaren Nachkriegszeit besaßen die westdeutschen Anbieter aufgrund der F&E-Leistungen ihrer nur mittelfristig nachzuahmenden anwendungstechnischen Abteilungen die Möglichkeit, durch Produktdifferenzierung mittels Bündelung ruinöse Preiskämpfe zu vermeiden. Seit dem Ende der sechziger Jahre gelang es den ausländischen Wettbewerbern jedoch, durch die Imitation der Strategie, Standardware und innovative Information gebündelt abzusetzen, den Preiswettbewerb wieder zu ihren Gunsten zu verstärken.
4.2
Kundenbindung durch den kontinuierlichen Transfer von innovativem Wissen
Die vertikale technologische Kooperation zwischen selbständigen Unternehmen verschiedener Produktionsstufen der deutschen Kunststoffindustrie wird in diesem Abschnitt mit Hilfe eines in Schaubild 9 abgebildeten zweistufigen Spiels modelliert.13 Die hierzu getroffenen Annahmen sind stilisierte Fakten der von Freeman beschriebenen ökonomischen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg.14 Es gibt zwei Spieler, ein Kunststoff erzeugendes Chemieunternehmen und ein Kunststoff verarbeitendes Unternehmen. Das Chemieunternehmen steht stellvertretend für die wenigen großen deutschen Kunststofferzeuger; der Kunststoffverarbeiter vertritt die Vielzahl kleiner und mittlerer Unternehmen seiner Branche im In- und Ausland. Es wird angenommen, daß der Kunststoffverarbeiter aufgrund seiner geringen Größe keine eigenen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten entfaltet. Stattdessen ist es die anwendungstechnische Abteilung des deutschen Chemieunternehmens, die nach Innovationen für den nachgelagerten Markt sucht. Da zudem die ausländischen Kunststofferzeuger nicht über entsprechende Forschungskapazitäten verfugen, die aufzubauen Zeit benötigt, ist das deutsche Chemieunternehmen kurzfristig die einzige Informationsquel-
13
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Ein Überblick über die Theorie der Wiederholten Spiele geben zum Beispiel Aumann, Robert J., Repeated Games, in: George R. Feiwel (Hg.), Issues in Contemporary Microeconomics and Welfare, Albany/NY 1985, S. 209-242, und Pearce, David G., Repeated Games: Cooperation and Rationality, in: Jean-Jacques Laffont (Hg.), Advances in Economic Theory. Sixth World Congress of the Econometric Society in Barcelona in August 1990, Bd 1, Cambridge 1992, S. 132-174. Vgl. Freeman, Christopher, The Plastics Industry: A Comparative Study of Research and Innovation, in: National Institute Economic Review 26, 1963, S. 22-62.
139
le für innovative Verarbeitungsmöglichkeiten von Kunststoffen. Ferner wird angenommen, daß das deutsche Chemieunternehmen aufgrund eines exogen vorgegebenen Standortnachteils auf dem Markt für Standardkunststoffe im reinen Preiswettbewerb nicht konkurrenzfähig ist, da die ausländischen Wettbewerber aufgrund ihrer niedrigeren Grenzkosten c 0 die Möglichkeit besitzen, das deutsche Unternehmen durch geringfügiges Unterbieten seiner Grenzkosten c, längerfristig vollständig aus dem Markt zu drängen. Somit beziffert die Differenz c, - c0 den Umfang des exogenen Standortnachteils des deutschen Chemieunternehmens. Dieses besitzt allerdings die Möglichkeit, den Preiswettbewerb zu vermeiden, indem es dem Kunststoffverarbeiter ein Güterbündel aus Standardkunststoff und innovativem Wissen offeriert. Schaubild 9
Das Spiel des branchenübergreifenden Wissenstransfers
Chemieunternehmen
Stufe 1
X
NT
(0
,R0(x)-p0x0)
\
T
\
Stufe 2 NC
Kunststoffverarbeiter
\
C
-Po*,) Strategien: Auszahlungen:
NT „Kein Transfer", T „Transfer", NC „Keine Kooperation", C „Kooperation". R(x) „Erlös des Kunststofferzeugers", p und x „Preis und Menge des zu verarbeitenden Kunststoffs", Cj „fixe Kosten des Transfers", c „variable Kosten der Kunststofferzeugung".
Informationen über Produkt- und Verfahrensinnovationen werden dem KunststoffVerarbeiter durch Schulungen und durch die Präsentation von neuen Maschinen und den hiermit herstellbaren Kunststoffwaren vermittelt. Diese branchenübergreifende Wis-
140 sensübertragung erfolgt in aller Regel bevor sich der Kunststoffverarbeiter zum Kauf der Kunststoffe des informationsenthüllenden Chemieunternehmens vertraglich verpflichtet. Somit vollzieht sich das Spiel des branchenübergreifenden Wissenstransfers zwischen Chemieunternehmen und Kunststoffverarbeiter in zwei Stufen. Das in der ersten Stufe handelnde Chemieunternehmen hat die Auswahl zwischen den beiden Strategien „Kein Transfer (NT)" und „Transfer (T)". Die Strategie „Kein Transfer" bedeutet, daß das Chemieunternehmen darauf verzichtet, innovatives Wissen für den Kunststoffverarbeiter zu entwickeln und an diesen weiterzuleiten, und sich stattdessen aus dem Markt für Standardkunststoffe vollkommen zurückzieht. Die Auszahlung des Chemieunternehmens ist dann gleich null. Die Auszahlung des Kunststoffverarbeiters ergibt sich aus der einfachen Gewinnfunktion Ri(x)-pixr Hierbei bezeichnen /?,(*) den Erlös aus dem Absatz der Kunststoffwaren, p, den Preis und x, die Menge des zu verarbeitenden Kunststoffs. Durch den Übergang von Subscript 0 zu Subscript 1 werden diejenigen Größen kenntlich gemacht, die sich gegenüber der Ausgangsituation ohne Wissenstransfer verändern. Drei vereinfachende Annahmen werden getroffen: Die Faktorkosten des Kunststoffverarbeiters werden vernachlässigt und gleich null gesetzt. Die vom Kunststoffverarbeiter je Stück Kunststoffware eingesetzte Menge an Kunststoff ist stets gleich, unabhängig davon, welche spezielle Kunststoffware gerade produziert wird. Deshalb kann Xj hier auch als eine indirekte Maßzahl für die Menge der insgesamt abgesetzten Kunststoffwaren genutzt werden. Offen bleibt, ob die Absatzmenge an Kunststoffwaren nach Erhalt der innovativen Informationen im Vergleich zur Ausgangssituation größer, kleiner oder gleich ist. Der Wissenstransfer erhöht den Erlös des Kunststoffverarbeiters von /?„(*) auf (x), da die innovative Kunststoffware von nicht informierten Konkurrenten nicht imitiert werden kann. Spielt das Chemieunternehmen die Strategie „Kein Transfer", realisiert der Kunststoffverarbeiter keine durch innovatives Wissen ermöglichte Erlössteigerung. In diesem Fall kauft er seine Vorprodukte bei den ausländischen Anbietern zum Preis p0, so daß sich seine Auszahlung auf R0(x)-p0x0 beläuft. Es wird angenommen, daß der Preiswettbewerb zwischen den verschiedenen ausländischen Kunststofferzeugern dazu fuhrt, daß ihre Angebotspreise p0 gerade ihren Grenzkosten c0 entsprechen. Wenn sich das deutsche Chemieunternehmen für die Strategie „Transfer" entscheidet, entstehen ihm unabhängig vom weiteren Geschehen fixe Kosten in Höhe von Cr, die als Kosten des Wissenstransfers die Aufwendungen für die Entwicklung der Produktinnovation und für die eigentliche Informationsübermittlung umfassen. Der Wert der gesamten Auszahlung des Chemieunternehmens hängt ab vom Verhalten des Kunst-
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stoffVerarbeiters in der zweiten Stufe des Spiels des branchenübergreifenden Wissenstransfers. Jener kann in Betracht ziehen, die Vorleistungen des Chemieunternehmens zu honorieren, „Kooperation (C)" zu spielen und die benötigten Kunststoffe beim deutschen Anbieter zum Preis pi,p] >p0, zu kaufen. Allerdings würden hierdurch seine Kosten von p0x, auf steigen. Eine Mindestbedingung für das Spielen der Strategie „Kooperation" ist daher, daß die Auszahlung des Kunststoffverarbeiters in diesem Fall mindestens so hoch ist wie in der Situation ohne Wissenstransfer:
(1) Sofern der KunststoffVerarbeiter tatsächlich kooperiert, erhält das Chemieunternehmen eine Auszahlung in Höhe von p]xi -c]x] -CT. Es wird die Übermittlung von neuen Informationen deshalb nur dann in Erwägung ziehen, wenn dieser Term mindestens so groß ist wie die Auszahlung von null, die sich das Chemieunternehmen durch die Wahl der Strategie „Kein Transfer" garantieren kann. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Mindestbedingung für das Spielen von „Transfer", die besagt, daß der vom deutschen Chemieunternehmen zu erzielende Kunststoffpreis mindestens so groß sein muß wie die Summe aus den Grenzkosten der ausländischen Kunststofferzeuger, dem exogen vorgegebenen deutschen Standortnachteil und den einer Mengeneinheit Kunststoff zugerechneten Kosten von Entwicklung und Übermittlung des innovativen Wissens: (2) Berücksichtigt man außerdem, daß das deutsche Chemieunternehmen durch die mit der Bündelung von Standardkunststoff und innovativer Information einhergehenden Produktdifferenzierung unter Umständen die Möglichkeit besitzt, einen positiven Stückgewinn m, m > 0, zu realisieren, folgt schließlich für die Höhe von p]: (3) Somit wird in diesem Modell die Höhe von px durch eine exogene und eine endogene Komponente bestimmt. Die exogene Komponente umfaßt die kurzfristig nicht veränderbaren Kostenparameter c 0 , c, und CT sowie die Höhe der Nachfrage x,, deren konkrete Werte sich aus den im In- und Ausland eingesetzten Technologien, den Präferenzen der Endverbraucher und anderen Standortmerkmalen ergeben. Der durch die Bündelung von Standardkunststoff und innovativem Wissen eröffnete endogene Preissetzungsspielraum des deutschen Chemieunternehmens findet hingegen seinen quantita-
142 tiven Ausdruck in der Variablen m. Es bleibt die Frage zu beantworten, durch welche ökonomischen Bedingungen dieser endogene Preissetzungsspielraum beschränkt wird. In dem auf einen Durchgang beschränkten Spiel des branchenübergreifenden Wissenstransfers kann der Kunststoffverarbeiter nicht bindend zur Kooperation verpflichtet werden. Wenn er stattdessen nach Erhalt des innovativen Wissens „Keine Kooperation (NC)" spielt, bezieht er die kurzfristig maximale Auszahlung /?, (x) - p0x] mit (4)
/>„*,>/?,(*)
Das deutsche Chemieunternehmen, welches in diesem Fall keine Kunststoffe verkaufen kann, erzielt eine negative Auszahlung in Höhe von -CT. Rückwärtsinduktion zeigt, daß dieses Spiel, sofern es nur einmal gespielt wird, ein einziges Nash-Gleichgewicht in den Strategien „Kein Transfer" und „Keine Kooperation" besitzt: Das Chemieunternehmen wählt in der ersten Stufe „Kein Transfer", da es weiß, daß es für den gewinnmaximierenden KunststoffVerarbeiter in der zweiten Stufe bei nur einmal vorkommendem Marktkontakt rational sein wird, sich für die Strategie „Keine Kooperation" zu entscheiden und seine Produktinnovationen mit Hilfe der billigeren ausländischen Kunststoffe zu produzieren. Allerdings ist es unrealistisch anzunehmen, daß dieses Spiel nur ein einziges Mal gespielt wird. Nehmen wir an, daß das Chemieunternehmen aus noch näher zu untersuchenden historischen Gründen bereits über die Fähigkeit zur Entwicklung von innovativem Wissen für die Kunststoffverarbeiter verfügt, welche zumindest zum Teil auf spezifischem Human- und sozialem Kapital beruht, das in der zweitbesten Verwendungsalternative einen weitaus geringeren Ertrag hervorbringen würde. Daher wird das Chemieunternehmen bestrebt sein, dieses Innovationskapital langfristig zu nutzen und nicht nur eine, sondern einen beständigen Strom von Produktinnovationen für den nachgelagerten Markt der Kunststoffwaren zu erzeugen. Gelingt dieses Vorhaben, erlangt das Chemieunternehmen die Möglichkeit zu drohen, daß es einen unkooperativen Kunststoffverarbeiter in Zukunft nicht mehr über Produktinnovationen informieren wird. Diese Drohung gewinnt erheblich an Glaubwürdigkeit und Macht, wenn das Chemieunternehmen nicht mit einem, sondern mit vielen Kunststoffverarbeitern zusammenarbeitet, wie das in der Realität in aller Regel der Fall ist. Die Glaubwürdigkeit der Drohung ist in diesem Fall größer, weil es sich das Chemieunternehmen leisten kann, auf einen kleinen Abnehmer zu verzichten. Die Macht der Drohung steigt, weil der KunststoffVerarbeiter befürchten muß, gegenüber seinen Konkurrenten an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren, wenn er von zukünftigen Produktinnovationen ausgeschlossen wird.15 Nicht nur aus diesem Anlaß präferiert der einzelne KunststoffVerarbeiter eine möglichst exklusive technologische Kooperation mit den vorgelagerten Chemieunternehmen. Beispielsweise beklagte der Weinheimer Kunststoffverarbeiter Freudenberg die zu breite Streuung von innovativem Wis-
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Der branchenübergreifende Wissenstransfer ist daher nicht als kurzfristiges, nur einmal durchgeführtes Spiel, sondern als ein langfristiges Wiederholtes Spiel zu deuten. Wir benötigen drei weitere Annahmen, um dieses Wiederholte Spiel vollständig zu beschreiben: Das Wiederholte Spiel hat einen unendlichen Zeithorizont. Da die Spieler zu keinem Zeitpunkt des Spiels exakt voraussagen können, wieviele Perioden die technologische Kooperation noch andauern wird, ist eine Strategiewahl durch Rückwärtsinduktion nicht möglich.16 Die Spieler diskontieren ihre zukünftigen Auszahlungen mit Hilfe eines Diskontierungsfaktors a, a G (0,1). Dieser Diskontierungsfaktor ist ein Maß für die „Geduld" der Spieler. Je größer a ist, umso stärker berücksichtigen die Spieler weit in der Zukunft liegende Auszahlungen bei ihrer Strategiewahl in der Gegenwart. Ein bestimmter Wissenstransfer des Chemieunternehmens erhöht die Erlöse des Kunststoffverarbeiters nur für die Dauer einer einzigen Periode von R0(x) auf Rt (x). Erhält der Kunststoffverarbeiter in der nächsten Periode nicht wiederum Informationen über „neue" Produktinnovation, fallt sein Erlös wieder auf R0(x) zurück. Es ist nun zu untersuchen, ob es möglich ist, in diesem Wiederholten Spiel die Strategiekombination „Transfer" und „Kooperation" durchzusetzen, die Pareto-superior zum Nash-Gleichgewicht „Kein Transfer" und „Keine Kooperation" des nur einmal durchgeführten Spiels ist.17 Nehmen wir an, daß das Chemieunternehmen, welches das Wiederholte Spiel gleichzeitig mit einer Reihe von Kunststoffverarbeitern spielt, jeweils einer einfachen „Friß-oder-stirb Strategie"18 folgt: In Periode 0 spielt das Chemieunternehmen die Strategie „Transfer".
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sen durch die Chemieunternehmen, weil diese zur Folge hätte, daß der einsetzende Preiswettbewerb zwischen den die Produktinnovation anbietenden Kunststoffverarbeitern die zusätzlichen Erlöse erheblich schmälern würde. Gleichwohl sah sich Freudenberg gezwungen, zum Erhalt seiner Schumpeterschen Wettbewerbsfähigkeit mit den informationsgebenden Chemieunternehmen zu kooperieren. Vgl. Standortbestimmung CEEFORM und Aufbau der CEEFASKIN-Fertigung, Freudenberg & Co Firmen- und Familienarchiv 3/03233. Vgl. Rubinstein, Ariel, Comments on the Interpretation of Repeated Game Theory, in: JeanJacques Laffont (Hg.), Advances in Economic Theory. Sixth World Congress of the Econometric Society in Barcelona in August 1990, Bd. 1, Cambridge 1992, S. 175-181. Vgl. auch Telser, Lester G., A Theory of Self-enforcing Agreements, Journal of Business 53, 1980, S. 28. Zum allgemeinen Ansatz vgl. Friedman, James W., A Non-cooperative Equilibrium for Supergames, in: Review of Economic Studies 28, 1971, S. 1-12. In der angelsächsischen Literatur wird die „Friß-oder-stirb Strategie" als „Trigger-Strategy" bezeichnet.
144 In Periode t spielt das Chemieunternehmen die Strategie „Transfer", wenn der Kunststoffverarbeiter in allen vorangegangenen Perioden 0 , . . . , / - 1 die Strategie „Kooperation" gewählt hat. Wenn der Kunststoffverarbeiter in einer Periode t „Keine Kooperation" wählt, spielt das Chemieunternehmen ab Periode t +1 nur noch „Kein Transfer", um den nicht-kooperativen Kunststoffverarbeiter durch die dauerhafte Rückkehr zum Nash-Gleichgewicht des nur einmal durchgeführten Spiels zu bestrafen. Zweck dieser „Friß-oder-stirb Strategie" ist es, den Kunststoffverarbeiter als langfristigen Kunden zu binden. Dieses Ziel wird nur dann verwirklicht, wenn es möglich ist, die Strategiekombination „Transfer" und „Kooperation" als Teilspiel perfektes NashGleichgewicht des Wiederholten Spiels zu implementieren, was impliziert, daß der kooperierende Kunststoffverarbeiter den Gegenwartswert seines langfristigen Auszahlungsstroms nicht durch einmaliges Abweichen von der Gleichgewichtsstrategie erhöhen kann. Unter welchen Umständen ist diese Bedingung erfüllt? Nehmen wir an, daß der Kunststoffverarbeiter in den Perioden 0 bis t - 1 „Kooperation" spielt, in der Periode t zur Strategie „Keine Kooperation" abweicht, um den kurzfristigen Auszahlungsstrom dieser Periode zu maximieren, und zur Strafe für dieses Verhalten ab Periode t +1 vom Wissenstransfer des Chemieunternehmens vollständig ausgeschlossen wird. Der Gegenwartswert seines langfristigen Auszahlungsstroms beträgt dann: (5) (1 + a +... + a"')[R,{x)-p,xx]
+ a'[R,(x)
- p0xj
+ (a,+'
+ a
2
-)[R
0
(*) - P0*„ J
beziehungsweise j i -r^-t 1-a
(6)
Rlix)-
p,xj
+ a'[Ri(x)
- p0xj
i+i + -—[R0(x) 1-a
-p
x0J
Die Strategiekombination „Transfer" und „Kooperation" ist ein Teilspiel perfektes Nash-Gleichgewicht, wenn dieser Term nicht größer ist als der Gegenwartswert des langfristigen Auszahlungsstroms eines KunststoffVerarbeiters, der immer „Kooperation" spielt: (V) 1
1-r^-tRiix)
1 - p , x j + a [R,{x)
Durch Umformen erhält man
- p0 x, ] + -f— [R0 0 0 - p
0
x j < -
[R,(x)
- p,xj
145 (8)
a+'[Roi.x)-p0x0
- R,{x)
+p
0
x j