114 52 24MB
German Pages [404] Year 2001
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 144
V&R
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ulimann, Hans-Ulrich Wehler
Band 144
Sylvia Kesper-Biermann Staat und Schule in Kurhessen 1813-1866
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Staat und Schule in Kurhessen 1813-1866
von
Sylvia Kesper-Biermann
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen
Umschlagabbildung: Schule
Kolorierter Holzschnitt von Franz Graf von Pocci (1807-1876), zuerst 1867 in seinem Bilderbuch »Lustige Gesellschaft« veröffentlicht.
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufnahme
Kesper-Biermann, Sylvia :
Stadt und Schule in Kurhessen 1813-1966/ von Sylvia Kesper-Biermann . Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2001 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft ; Bd. 144) Zugl.: Gießen, Univ., Diss. 1998 ISBN 3-525-35950-0 Gedruckt mit Unterstützung der Fazit-Stiftung, des Hessischen Kultusministeriums und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. © 2001, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.
Inhalt
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
7
Vorwort
9
Einleitung
11
I.
21
Die Rahmenbedingungen der Schulentwicklung
II. Das Elementarschulwesen 1. Staat contra Kommune: Die Diskussion über die Volksschulgesetzgebung 2. Schulen und Schüler a) Probleme und Wirkungen der allgemeinen Schulpflicht b) Grundversorgung durch Mindeststandards im Schulhausbau ... c) »Die ersten und nothwendigsten Elemente aller menschlichen Bildung« d) Strukturbedingungen und persönliches Wirken im Schulalltag 3. Lehrer a) Die Institutionalisierung der Ausbildung b) Disziplinierung ohne Privilegierung c) Existenzsicherung durch den Staat d) Volksbildung als Beruf III. Das Gymnasialwesen 1. Vereinheitlichung und Verstaatlichung: Die Reform der Gelehrtenschulen 2. Schulen und Schüler a) Das Gymnasium als Staatsanstalt b) Allgemeine Menschenbildung auf neuhumanistischer Grundlage c) Qualifikation als Kriterium für den Universitätsbesuch d) Unterrichtsrealität zwischen staatlicher Reglementierung und den Interessen von Schülern und Eltern
45 45 73 73 89 108 125 138 138 159 177 194 207 207 229 229 240 261 279
5
3. Lehrer a) Theorie und Praxis in der zweiphasigen Ausbildung b) Der Philologe als »Unterrichtsbeamter« c) Normalbesoldung und standesgemäße Lebensführung d) Gelehrte im Dienst des Staates
291 291 310 326 338
Schluß
349
Abkürzungsverzeichnis
359
Quellen- und Literaturverzeichnis
361
Register
399
6
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abbildungen Abb. 1: Struktur der kurhessischen Schulverwaltung 1813-1821 Abb. 2: Struktur der kurhessischen Schulverwaltung nach 1821 Abb. 3: Analphabeten in den Kreisen des Regierungsbezirks Kassel 1871 Abb. 4: Musterriß eines Schulhauses 1839 Abb. 5: Lehrplan für die evangelischen Schulen der Kreise Fulda und Hünfeld 1828 Abb. 6: Grundlehrplan des Fuldaer Lehrerseminars 1836 Abb. 7: Tagesablauf im Lehrerseminar Schlüchtern 1854 Abb. 8: Ansicht und Grundrisse des Lyceum Fridericianum 1779-1839 Abb. 9: Normallehrplan für die kurhessischen Gymnasien 1838 Abb. 10: Studenten der Philosophischen Fakultät an der Universität Marburg 1830/31-1866
27 35 86 97 110 148 151 233 244 314
Tabellen Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8:
Analphabeten im Regierungsbezirk Kassel nach Religionsbekenntnis 1871 Analphabeten im Regierungsbezirk Kassel 1871 Öffentliche Volksschulen in Kurhessen 1861 Staatsausgaben für das kurhessische Elementarschulwesen 1831-1866 Anteil der Bildungsausgaben am Gesamtstaatsetat in Preußen und Kurhessen Lehrer-Schüler-Verhältnis in kurhessischen Elementarschulen 1861 Zahl der Schüler pro Elementarschule 1848 Konfession und Stadt-Land-Verteilung der kurhessischen Volksschullehrer 1861
87 88 90 105 107 127 128 138 7
Tab. 9: Soziale Herkunft der Homberger Seminaristen 1837-1866 Tab. 10: Besoldungsverhältnisse der kurhessischen Elementarschullehrer 1831/32 Tab. 11 : Einkommen der Volksschullehrer in den Provinzen Marburg, Fulda und Hanau 1848 Tab. 12: Einkommen der kurhessischen Volksschullehrer 1856 Tab. 13: Einkommen der städtischen Volksschullehrer Kurhessens 1856 Tab. 14: Staatliche Ausgaben für das Gymnasialwesen in Kurhessen 1831-1866 Tab. 15: Abiturienten der kurhessischen Gymnasien 1844/45-1863/64 Tab. 16: Eintritts- und Abgangsklasse der Schüler des Kasseler Gymnasiums 1835-1860 Tab. 17: Normalbesoldungsetat der kurhessischen Gymnasiallehrer 1833 Tab. 18: Normalgehaltsetat der kurhessischen Gymnasiallehrer 1863 ... Tab. 19: Besoldungsverhältnisse kurhessischer Gymnasiallehrer und Obergerichtsbeamter 1848
8
139 181 183 185 187 239 277 282 330 334 337
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte und geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Sommersemester 1998 vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommen wurde. Mein Dank gilt zuerst meinem Doktorvater Professor Dr. Helmut Berding, der den Fortgang der Arbeit stets unterstützt und engagiert begleitet hat. Professor Dr. Diethelm Klippel übernahm nicht nur das Zweitgutachten, sondern gab hilfreiche Hinweise, insbesondere aus rechtshistorischer Sicht. Das Graduiertenkolleg »Mittelalterliche und neuzeitliche Staatlichkeit« der Gießener Universität ermöglichte durch ein Stipendium konzentriertes Arbeiten. Den Diskussionen im Rahmen des Kollegs verdankt die Studie viele Anregungen. Besonderer Dank gilt api. Professor Dr. Winfried Speitkamp für die Bereitschaft zu zahlreichen Gesprächen sowie die kritische und kenntnisreiche Kommentierung des Manuskripts. Freundschaftliche Unterstützung erhielt ich von Martina Henze und Petra Overath, die stets die erste Instanz für alle Fragen und Probleme bildeten. Jens Eisfeld las den Text Korrektur. Den Herausgebern der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft« bin ich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe verbunden. Das Hessische Kultusministerium, die Fazit-Stiftung, Frankfurt am Main, und die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein unterstützten die Drucklegung mit einem Zuschuß. Paderborn, im März 2001
Sylvia Kesper-Biermann
9
Einleitung
Das Schulwesen gilt in der historischen Forschung als wichtiger Faktor für die Entwicklung von Staat und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts: »Schulgeschichte ist nicht mehr etwas Spezielles, sondern ein zentrales Stück moderner Geschichte, und das gilt gerade für Deutschland«,1 stellte Thomas Nipperdey 1983 fest. Die Ursache dafür ist in der grundsätzlichen Änderung des Verhältnisses von Staat und Schule zu suchen. Während die Schule in Alteuropa nicht zum staatlichen Einflußbereich gehört hatte, begannen die deutschen Territorien seit dem späten 18. Jahrhundert, in das Bildungswesen einzugreifen und es nach ihren Bedürfnissen umzugestalten. Ihr Zugriff intensivierte sich im 19. Jahrhundert, und die Schulpolitik entwickelte sich zu einem zentralen Bestandteil staatlicher Tätigkeit. Dieser Prozeß verlief jedoch nicht nur in eine Rjchtung; vielmehr wirkten die veränderten Strukturen im Schulwesen auf den Staat zurück, so daß von einer Wechselwirkung auszugehen ist, welche die politischen und gesellschaftlichen Zustände wesentlich prägte. Die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik wandte sich in den siebzigprJahren Fragen der Bildungsgeschichte zu.2 Zum einen führte die Bildungsreformdebatte seit dem Ende der sechziger Jahre zum Blick in die Vergangenheit, um von dort aus Anregungen für die Gestaltung der Gegenwart zu erhalten. Das machen beispielsweise Arbeiten über die Schulverwaltung deutlich, die nach historischen Alternativkonzepten suchten und damit Argumente für die zeitgenössische Diskussion bereitstellen wollten.3 Zum anderen verursachte die in der Geschichtswissenschaft vollzogene Hinwendung zur Sozialgeschichte einen grundlegenden Wandel in den Themen wie Methoden der Bildungsgeschichte. An die Stelle der sogenannten »Historischen Pädagogik«, deren Interesse primär geistes- und institutionengeschichtlichen Themen gegolten hatte, trat die »Historische Bildungsforschung«,4 die Bildung »in ihrem
1 Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 451. 2 Zur Entwicklung der bildungshistorischen Forschung in den letzten dreißig Jahren vgl. Herrmann, Aufgaben; Kuhlemann, S. 11-13; Baumgart, Bildungsforschung; Neugebauer, Stand; zuletzt Tenorth, Lob. 3 Einige Beispiel sind: Potthoff, Schulgemeinde; Heinemann, Dezentralisation; ders., Forschung. 4 So der programmatische Titel einer Aufsatzsammlung von Ulrich Herrmann: »Historische Bildung^forschung und Sozialgeschichte der Bildung. Programme - Analysen - Ergebnisse«.
11
gesellschaftlichen Kontext, in ihrer Abhängigkeit von und ihrer Bedeutung für ökonomische, soziale und politische Veränderungen«5 erforschen wollte. In bewußter Abkehr von einer pädagogischen Theoriegeschichte sollten sozialgeschichtlich orientierte Analysen die Wirklichkeit des Bildungswesens und seine Eingebundenheit in die Gesellschaft erfassen.6 Diese Richtung brachte eine Reihe von Arbeiten hervor, die sich mit dem Zusammenhang von Bildung und Politik sowie Bildung und Wirtschaft beschäftigten.7 Ferner konnten mit Hilfe quantifizierender Methoden unter anderem Fragen nach dem Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung, dem Umfang des Schulbesuchs, der sozialen Herkunft von Schülern und Lehrern sowie der Akademikerausbildung beantwortet werden.8 Schließlich richtete sich das Interesse auch auf den Zusammenhang von Bildung und Sozialstruktur.9 Die Ergebnisse dieser Forschungen ermöglichten erste Uberblicksdarstellungen zu Beginn der achtziger Jahre10 und mündeten 1987 in das »Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte«.11 Seit Beginn der neunziger Jahre wirft die Historische Bildungsforschung neue Fragen auf, die eine Erweiterung der als zu eng empfundenen sozialgeschichtlichen Perspektive beabsichtigen.12 Sie richten sich erstens auf eine stärkere Berücksichtigung nicht-institutionalisierter Formen von Bildung und Erziehung, zum Beispiel innerhalb der Familie, im Sinne einer »Historischen Sozialisationsforschung«.13 Zweitens soll die an Strukturen orientierte Sichtweise der Sozialgeschichte durch eine »Alltagsgeschichte des Bildungswesens« ergänzt werden, um mit Hilfe mikrohistorischer Untersuchungen die »Funktion des Schulehaltens in die soziokulturelle Gesamtsituation >vor Ort< einbetten« zu können.14 Drittens betonen neuere konzeptionelle Überlegungen die Notwendigkeit von Regionalanalysen, die der Wechselwirkung zwischen »lokalen, regionalen und staatlichen Impulsen« nachgehen und damit eine Grund-
5 Baumgart, Bildungsforschung, S. 384. 6 Vgl. Lundgreen, Historische Bildungsforschung, bes. S. 102f. 7 Hier seien als Beispiele nur die Arbeit von Titee über die »Politisierung der Erziehung« und die von Lundgreen über »Bildung und Wirtschaftswachstum im Industrialisierungsprozeß« genannt. Vgl. dazu auch die Rezension von Herrlitz, Untersuchungen. 8 Vgl. zu den Methoden allgemein Lundgreen, Quantifizierung; zu Alphabetisierung und Schulbesuch die Arbeiten von François; zur Sozialstruktur der Gymnasialschüler Kraul, Gymnasium und Gesellschaft; Koppenhöfer, Hofmann; zu den »Akademikerzyklen« Titze. 9 Vgl. z. B. die Arbeiten von O'Boyle und Kaelble. 10 Zu nennen sind Herrlitz/Hopf/Titze (zuerst 1980) u. Lundgreen, Sozialgeschichte, 1980; ferner Bölling, Sozialgeschichte, 1983, zur Lehrerschaft. 11 Bd. 3 des »Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte« behandelt den hier untersuchten Zeitraum (1800-1870). 12 Vgl. zu den »Grenzen der sozialgeschichtlichen Perspektive« Tenorth, Lob, S. 355f. 13 Vgl. allgemein Neugebauer, Bildungsgeschichte, S. 227 u. 235; zur Historischen Sozialisationsforschung Herrmann, Sozialisationsforschung. 14 Dälmann, S. 3.
12
lagp fur den zunehmend als wichtig angesehenen innerdeutschen wie europäischen Vergleich schaffen.15 Hier setzt die vorliegende Untersuchung über das Schulwesen im Kurfürstentum Hessen zwischen 1813 und 1866 an. Sie nimmt ein Territorium in den Blick, das die bildungshistorische Forschung bislang nicht beachtete. Im Mittelpunkt des Interesses stand vielmehr das als vorbildlich und richtungsweisend geltende Preußen. So beziehen sich die Gesamtdarstellungen über das deutsche Schulwesen im 19. Jahrhundert fast ausschließlich auf die preußische Entwicklung.16 Arbeiten zu anderen Staaten liegen nur in geringer Zahl vor;17 lediglich Bayern erfuhr mit einer vom preußischen Modell dezidiert abweichenden Gestaltung des höheren Schulwesens - teilweise in vergleichender Form - nähere Berücksichtigung.18 Die Untersuchung eines deutschen Mittelstaates wie Kurhessen differenziert das bestehende Bild und zeigt Alternativmodelle auf. Sie kann ferner zur Antwort auf die Frage beitragen, ob die Bildungsverfassung in Preußen tatsächlich - wie gemeinhin angenommen - repräsentativ für die deutschen Verhältnisse in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts gewesen ist oder ob diese Einschätzung aus der Retrospektive die Situation gegen Ende des Jahrhunderts auf die vorangegangene Zeit projiziert.19 Schließlich eröffnet die Betrachtung eines mittleren Staates wie Kurhessen die Möglichkeit, verschiedene Schulformen, Handlungsebenen und -träger in den Blick zu nehmen sowie in der Analyse unterschiedliche Fragestellungen zu einer Gesamtschau zu verbinden. Der zeidiche Rahmen der Arbeit erstreckt sich von der Wiederherstellung des Kurfürstentums nach dem Ende der napoleonischen Ara 1813 bis zum Ende seiner eigenstaatlichen Existenz durch die preußische Annexion von 1866. Damit steht die Ubergangsphase vom traditionellen zum modernen Schulwesen im Mittelpunkt der Untersuchung. 20 Uber einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren können Entwicklungslinien aufgezeigt, modernisie-
15 Jtisnumn, Bildungsbewegungen, S. 422; Tenorth, Lob, S. 350-352; allgemein zur vergleicbend-historischen Bildungsforschung Schriewer. 16 Vgl. etwa die Beiträge im Handbuch der Bildungsgeschichte, Bd. 3, und das Vorwort zu HmKtzfHopfflTitze, S. 10. Auch Margret Kraul behandelt in ihrer Geschichte des »deutschen« Gymnasiums nur die preußische Entwicklung (Kraul, Deutsches Gymnasium, S. 11). 17 A b Beispiele seien genannt: Friederich, Volksschule (Württemberg); Diihlmeier (Schaumburg-Lippe); Schönemann (Braunschweig). 18 Den Forschungsstand zur bayerischen Schulgeschichte des 19. Jahrhunderts faßtjetzt Bd. 2 des »Handbuchs der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens« zusammen. Einen Vergleich zwischen der bayerischen und preußischen Schulverfassung nimmt Schleunes vor; Apel, Ausbildung, vergleicht die Gymnasiallehrerausbildung in beiden Staaten. 19 Zur Kritik an der preußenzentrierten Forschung vgl. die Rezension zu Kuhlemanns Arbeit von Biasing, S. 304f. 20 Vg|. zusammenfassend zur Modernisierungstheorie und ihrer Nutzbarkeit für die Geschichtswissenschaft Wehler, Modernisierungstheorie.
13
rungsfördernde Faktoren sowie Widerstände und gegenläufige Tendenzen ausgemacht werden. Um die Ausgangslage zu charakterisieren, greift die Darstellung teilweise bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurück. Das Königreich Westphalen, in dem das Kurfürstentum 1806 aufgegangen war, findet nur insofern Berücksichtigung, als Kontinuitäten bzw. Brüche in der Schulpolitik nach 1813 festzustellen sind. Die Vorarbeiten, auf denen eine Untersuchung des Schulwesens in Kurhessen aufbauen kann, weisen eine unterschiedliche Dichte und Qualität auf Den Forschungsstand zur kurhessischen Geschichte des 19. Jahrhunderts haben in den letzten Jahren vor allem Arbeiten zu Politik und Verfassung des Kurstaates erheblich erweitert. Hier sind zunächst die Studien von Helmut Seier, Winfried Speitkamp, Ewald Grothe und Ulrich von Nathusius zu nennen.21 Ferner entstand eine Reihe von Dissertationen, die sich mit einzelnen Aspekten der sozialen und rechtlichen Entwicklung des Kurfürstentums, beispielsweise dem Armenwesen, dem Pauperismus, dem Gefangniswesen oder der Rechtsprechung des Oberappellationsgerichts, beschäftigten.22 Eine zusammenfassende Darstellung des kurhessischen Schulwesens fehlt. Die neuere Forschung hat sich in zeitlicher, räumlicher oder inhaltlicher Hinsicht nur Teilbereichen zugewandt. Die »Sozialgeschichte des Schulwesens in Hessen-Kassel« von Franz H. Schlung, die als Uberblicksdarstellung vom Mittelalter bis zur Gegenwart angelegt ist, widmet dem 19. Jahrhundert nur knapp dreißig Seiten.23 Sie ist zudem im wesentlichen auf die Verhältnisse der Stadt Kassel beschränkt. Helmut Gembries untersucht in seiner Dissertation die Diskussionen im Landtag über die Volksschulgesetzentwürfe zwischen 1830 und 1850.24 Zwei Aufsätze über das Gymnasium in Hanau, die neuere bildungsgeschichtliche Fragestellungen berücksichtigen, liegen von Jürgen Osterhammel vor.25 Uwe Zuber behandelt im Rahmen seiner Dissertation über das Verhältnis von Staat und Kirche in Fulda unter anderem das dortige Bildungswesen bis 1830.26 Das jüdische Unterrichtswesen Kurhessens ist unlängst von Dorothee Schimpf in einer Dissertation untersucht worden.27 Für den Zustand des hessen-kasselschen Schulwesens im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ist schließlich aufdie knappe Zusammenfassung bei Jörg Meidenbauer zu verweisen.28
21 Vgl. zu Seier die entsprechenden Titel im Literaturverzeichnis; Speitkamp, Restauration; Grothe, Verfassungsgebung; Nathusius, Kurfürst. 22 Vgl. Grindel, Armenpolitik; Kukowski, Pauperismus; Kolling; Theisen, Machtspruch. 23 Vgl. Schlung, Sozialgeschichte, S. 105-132. 24 Vgl. Gembries, Studien. 25 Vgl. Osterhammel, Akademie u. ders., Menschenbildung. 26 Vgl. Zuber, bes. S. 315-336. 27 Vgl. Schimpf, Emanzipation. 28 Vgl- Meidenbauer, Aufklärung, S. 45-56.
14
Außer einer Anzahl von Festschriften zu den Jubiläen einzelner Anstalten, die hier nicht im einzelnen aufgeführt werden sollen, seien aus der älteren Forschung noch zwei Werke mit allgemeinerem Charakter vorgestellt. Der aus dem Jahr 1911 stammende Uberblick über die »Entwickelung des Unterrichtswesens in Hessen-Cassel vom 8. bis zum 19. Jahrhundert« von Wilhelm Daniel Wolff thematisiert das 19. Jahrhundert nur am Rande und wurde mit dem Ziel verfaßt, die »unbedingte Zugehörigkeit des Schulwesens zur Kirche« zu beweisen.29 Der standespolitischen Position der Volksschullehrerschaft ist die 1900 veröffentlichte Arbeit von Heinrich Theodor Kimpel verpflichtet.30 Dabei handelt es sich um die einzige Darstellung des kurhessischen Elementarschulwesens im 19. Jahrhundert, die sich durch großen Detailreichtum auszeichnet. Ihre Aussagekraft wird jedoch zum einen durch die dezidiert subjektive Perspektive einer »Leidensgeschichte«31 der Lehrerschaft eingeschränkt, welche die Interpretation beherrscht. Zum anderen macht der Autor keine Quellenangaben, und es unterlaufen ihm eine Reihe von Ungenauigkeiten und Verwechslungen. Ein gemeinsames Merkmal der jüngeren wie der älteren Untersuchungen zum kurhessischen Schulwesen liegt darin, daß sich die allgemeinen Darstellungen in der Regel nur auf die althessischen Provinzen Nieder- und Oberhessen beziehen. Die vielfach abweichenden Verhältnisse in den neueren Landesteilen, besonders im katholischen Fulda, finden dagegen keine Berücksichtigung. Diesen verengten Blickwinkel will die vorliegende Untersuchung erweitern, um ein vollständigeres, aber auch differenzierteres Bild des Schulwesens im Kurfürstentum zu zeichnen. Die Arbeit betritt auch hinsichtlich der Quellen Neuland. Das reichhaltige und praktisch lückenlos überlieferte ungedruckte Material befindet sich im Staatsarchiv Marburg und wurde größtenteils weder von der jüngeren noch von der älteren Forschung ausgewertet. Von besonderer Wichtigkeit für die Fragestellung dieser Untersuchung sind die Bestände des Innenministeriums sowie der vier Provinzialregierungen als oberste und mittlere Verwaltungsbehörden. Akten der unteren Instanzen, also der Kreisämter, sowie die Visitationsberichte der Oberschulinspektoren für einzelne Elementarschulen konnten nur exemplarisch herangezogen werden. Daneben fand die Überlieferung der Konsistorien zum Schulwesen im Staatsarchiv Marburg und im Landeskirchlichen Archiv der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck in Kassel Berücksichtigung. Die Urteile des Oberappellationsgerichts dienten als Grundlage für die Analyse der Rechtsprechung in Schulsachen.
29 Wolff, Unterrichtswesen, S. 146. 30 Vgl. Kimpel, Volksschulwesen, sowie die weiteren Arbeiten des Autors im Literaturverzeichnis. 31 Vgl. das Vorwort ebd., Bd. 1, S. III-VII, Zitat S. III.
15
Die Arbeit stützt sich neben den Archivalien auf zahlreiche gedruckte Quellen. Dazu gehören die amtlichen Gesetz- und Verordnungssammlungen32 sowie die Landtagsprotokolle.33 Zu nennen sind ferner die kurhessischen Lehrerzeitungen, die vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte Auskunft über Selbstverständnis, Forderungen und Arbeitsbedingungen der Elementarpädagogen geben.34 Für das Gymnasialwesen bieten die jährlich von den einzelnen Anstalten herausgegebenen Schulprogramme eine Fülle von Informationen über Schüler, Lehrer und Unterrichtsinhalte.35 Darüber hinaus wurden zeitgenössische Schriften zu verschiedenen Bereichen des kurhessischen Schulwesens und autobiographische Literatur gesichtet.36 Die Quellen enthalten eine Reihe von statistischen Angaben, die in die Auswertung einbezogen wurden. Es handelt sich dabei jedoch nicht um kontinuierliche amtliche Erhebungen zum Schulwesen, wie sie in Preußen schon 1822 einsetzten.37 In Kurhessen fanden vielmehr wte in den anderen deutschen Staaten nur vereinzelte Zusammenstellungen zu administrativen Zwecken statt.38 Aus diesem Grunde liegen nur wenige Zahlen zum kurhessischen Schulwesen vor, so daß viele Fragen offenbleiben müssen. Zudem ist zu beachten, daß die Angaben teilweise eine größere Genauigkeit suggerieren, als sie tatsächlich besitzen. Die neuere Forschung sieht erst Zahlen nach 1870 als zuverlässig an und beurteilt die Aussagekraft früherer amtlicher Statistiken unter anderem aufgrund von Unsicherheitsfaktoren in der Art der Erhebung äußerst kritisch.39 Die vorliegende Arbeit trägt das verstreute Material zusammen und interpretiert es unter den genannten Vorbehalten. Die Untersuchung behandelt die zentralen Bereiche des kurhessischen Bildungswesens: Elementarschulen40 und Gymnasien. Beide Schulformen machten als öffentliche und allgemeinbildende Unterrichtsanstalten den größten Teil der Lehranstalten aus und wurden von der Mehrheit der schulpflichtigen Jugend besucht. Außerdem repräsentieren sie das »niedere« wie das »höhere« Schulwesen und verdeutlichen zwei verschiedene Formen staatlichen Zugriffs auf das Unterrichtswesen. Die Arbeit klammert die anderen Facetten des Schulwesens wie Fach-, Sonder- und Privatschulen, jüdische Lehranstalten 32 Sammlung Fürstlich-Hessischer Landesordnungen (HLO), 1766-1816; Neue Sammlung der Landesordnungen (Neue Sammlung), 1828-1839; Sammlung von Gesetzen, Verordnungen, Ausschreiben (SG), 1814-1866. 33 Kurhessische Landtags-Verhandlungen (KhLtV), 1830-1866. 34 Vgl. die einzelnen Titel im Literaturverzeichnis. 35 Vgl. zu den Programmen allgemein Ullrich, Schulprogramme. 36 Vgl. ζ. B. Binder; Geiße, Geschichte; Zehner; Trabert. 37 Vgl. allgemein zur historischen Bildungsstatistik Titee, Bildungsstatistik, bes. S. 65f. 38 Vgl. mit Bezug auf Kurhessen Ficker, Schulstatistik, S. 268. 39 So z. B. Mühlbauer, Arbeiterkind, S. 147, Anm. 100, zu Bayern. 40 Synonym mit dem Begriff der Elementarschule wird im folgenden der der Volksschule verwendet.
16
u n d höhere Mädchenschulen aus, weil sie in Kurhessen Randerscheinungen blieben. Das trifft auch auf die geringe Zahl der Realschulen zu, die in d e m industriell kaum entwickelten Land nur von untergeordneter Bedeutung waren. Z u d e m handelte es sich beim kurhessischen Typ der Realschule in der Regel nicht - wie in Preußen - u m voll ausgebaute Anstalten zur Ableistung der Schulpflicht. Sie fungierten vielmehr als zweiklassige Aufbauschulen im Anschluß an den Besuch einer städtischen Elementarschule. 41 D e n Ausgangspunkt der vorliegenden U n t e r s u c h u n g bildet die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Schule im Kurfürstentum. Da der staatliche Z u griff auf das Bildungswesen die Schulgeschichte des 19. Jahrhunderts wesentlich prägte, ist es notwendig, hier anzusetzen. Gleichzeitig hatte das Bildungswesen eine wichtige Funktion »für die Entfaltung und Erhaltung staatlicher Herrschaft in Deutschland«. 42 Ü b e r diesen Weg, besonders über die Schulpflicht, trat der Staat in ein direktes Verhältnis zu den Untertanen: »Der Staat wird Schulstaat«. 43 Ausgehend von dieser Grundlage wirft die Arbeit vier Fragen auf. Erstens ist zu ermitteln, inwieweit sich die allgemeine Ausdehnung staatlicher Tätigkeitsfelder im 19. Jahrhundert auf das Schulwesen erstreckte. Es soll u n tersucht werden, wann, aus welchen G r ü n d e n und mit welchen Zielen sich der kurhessische Staat d e m Schulwesen zuwandte u n d wie weit sein Einfluß reichte. Dabei ist zwischen Absicht und Wirkung staatlichen Handelns zu unterscheiden. Die Arbeit analysiert, inwiefern eine Modernisierung des Bildungswesens in Kurhessen stattfand, ob sie das Ergebnis gezielter Reformpolitik des Staates war oder sich unbeabsichtigt vollzog. U n t e r »Staat« in diesem Z u s a m menhang ist die Exekutive zu verstehen, welche die schulpolitischen M a ß nahmen plante und durchführte. Sie wird nicht als monolithischer Block betrachtet; vielmehr ist nach den verschiedenen Institutionen der Bürokratie sowie einzelnen Personen zu differenzieren und ihre jeweilige Rolle zu analysieren. Es wird gefragt, wer welche bildungspolitischen Konzepte aufgriff und umsetzte. Die Arbeit will aber nicht bei der traditionellen etatistisch orientierten U n t e r s u c h u n g obrigkeitlicher M a ß n a h m e n und Absichten bezüglich des Schulwesens stehenbleiben, sondern überprüfen, inwieweit die staatlichen Vorgaben praktisch umgesetzt w u r d e n u n d die Realität des Schulalltags bestimmten. Das kann im Bereich des Elementarschulwesens n u r exemplarisch geschehen. Z u diesem Zweck w u r d e die Volksschule in Udenhausen (Kreis Hofgeismar) ausgewählt, die als eine Anstalt mit einem Lehrer, gelegen in einer niederhessischen Landgemeinde mit sechshundert Einwohnern, als
41 Eine Darstellung der kurhessischen Realschulen fehlt, vgl. die knappe Z u s a m m e n f a s s u n g bei Knabe, Ubersicht, hier bes. S. 362f. 42 Friedeburg, Bildung, S. 173. 43 Nipperdey, Deutsche Geschichte, S. 451.
17
charakteristisch gelten kann und sich zudem durch eine gute Quellenlage auszeichnet.44 Der Blick auf den Staat wird zweitens durch die Betrachtung der Schule als Bestandteil der Gesellschaft ergänzt. In diesem Zusammenhang geht es darum, den »Vorgang der Durchsetzung und Behauptung konkurrierender Ansprüche auf die Schule und durch sie« darzustellen.45 Die bildungspolitischen Positionen der Beteiligten und ihre Aktivitäten sind ebenso zu untersuchen wie die Formen der Interessenvertretung. Es ist zu fragen, wer in Kurhessen Modernisierungen im Schulwesen befürwortete und wer sie ablehnte. So lassen sich Widerstände gegen die Politik der Schulbürokratie und die Grenzen ihrer Durchsetzungsfahigkeit aufzeigen, und es wird möglich, die Schule als Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zu erfassen. Bei den schulpolitischen Akteuren, die neben der Staatsverwaltung Einfluß auf das Unterrichtswesen nahmen, sind zunächst die Landesherren sowie Kirchen, Kommunen und Lehrer zu nennen. Die Darlegung ihrer Positionen und ihres Einflusses auf das Schulwesen gehört zu den traditionellen Anliegen der bildungshistorischen Forschung. Die vorliegende Arbeit geht darüber hinaus und bezieht auch bislang kaum beachtete Gruppen in die Untersuchung mit ein. Das trifft auf den Landtag als schulpolitischen Akteur,46 auf die Schüler und in höherem Maße auf die Eltern zu. Schließlich ist die Justiz zu nennen, nach deren Einfluß auf die Gestaltung des Bildungswesens im 19. Jahrhundert bisher noch nicht gefragt wurde. Das Schulwesen soll drittens nicht isoliert betrachtet, sondern in die allgemeine soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklung Kurhessens im 19. Jahrhundert eingeordnet werden. Da die Untersuchung einen zentralen Aspekt für das Verständnis der innenpolitischen und gesellschaftlichen Entwicklung des Kurstaates beleuchtet, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur kurhessischen Landesgeschichte.47 Sie trägt außerdem zur Diskussion über die Rückständigkeit bzw. Modernität des Kurfürstentums im 19. Jahrhundert bei.48 Die Verknüpfung von Bildungsgeschichte und allgemeiner Geschichte kann darüber hinaus Wechselwirkungen zwischen Schule, Staat und Gesellschaft aufzeigen und die Rolle des Bildungswesens im Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft bestimmen.
44 Vgl. zur Ortsgeschichte Schäfer, Udenhausen. Eine zeitgenössische Beschreibung des Ortes und seiner Bewohner, vom zuständigen Pfarrer am 6.2.1840 verfaßt, StAM 17h, Nr. 1582, Bd. 1. 45 So die Definition von Neukum, S. 3. 46 Vgl. Roeder, Gemeindeschule, S. 540, als eine der wenigen Ausnahmen zu Preußen. Auf den Landtag nehmen auch Bezug Neukum (zu Bayern) und Wunder, Dorfschulmeister (zu Baden). 47 Vgl. Seier, Verfassungskämpfe, S. XXV. 48 Vgl. allgemein ders., Modernisierung, S. 431f., 463f. (Bilanz), sowie die Zusammenfassung bei Speitkamp, Restauration, S. 596-600; als ein Beispiel die Bewertung der Gesetzgebung der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts bei Grothe, Verfassungsgebung, S. 480-483.
18
Die vorliegende Arbeit richtet schließlich viertens den Blick über den Kurstaat hinaus u n d vergleicht die Entwicklung des kurhessischen Schulwesens mit der in anderen deutschen Staaten. So kann eine E i n o r d n u n g in den größeren Z u sammenhang der allgemeinen Bildungsgeschichte des 19. Jahrhunderts erfolgen. Dabei ist zu beurteilen, wie m o d e r n das Bildungswesen Kurhessens im deutschen Vergleich gewesen ist. Es wird untersucht, in welchen Bereichen u n d in welchem U m f a n g sich die Staatsbehörden u n d die anderen schulpolitischen Akteure über die Verfassung der Lehranstalten in den Ländern des D e u t schen Bundes informierten und sich daran orientierten. Die Analyse richtet ihr Augenmerk ebenfalls auf die Teilnahme Kurhessens an der innerdeutschen Kommunikation über das Schulwesen u n d leistet damit einen Beitrag zur » U n tersuchung der Wechselwirkung der Bildungsbewegungen zwischen den einzelnen deutschen Territorien«. 49 Die Mechanismen, Formen u n d Inhalte des Austausches innerhalb der deutschen Staatenwelt hat die historische Forschung bislang noch nicht beachtet. D o r t wie in der Vergleichenden Erziehungswissenschaft stießen n u r die internationalen Beziehungen dieser Art, vornehmlich mit d e m europäischen Ausland, auf Interesse. 50 Hier kann das kurhessische Beispiel erste Ergebnisse liefern. Da entsprechende Vergleiche n u r auf der Basis schon vorliegender Forschungen erfolgen können, wird Preußen durchgehend als Bezugspunkt herangezogen. Die übrigen Länder des Deutschen Bundes finden aufgrund der Forschungslage n u r zu einzelnen Bereichen u n d in unterschiedlichem U m f a n g Berücksichtigung. 51 D e r vergleichenden Betrachtung u n d E i n o r d n u n g m u ß eine gründliche Analyse der kurhessischen Verhältnisse zugrundeliegen. Die U n t e r s u c h u n g der Struktur u n d der Entwicklung des Elementarschul- u n d Gymnasialwesens im Kurstaat erfolgt f ü r die beiden Schulformen getrennt, da höheres u n d niederes Schulwesen im 19. J a h r h u n d e r t als in sich abgeschlossene Bereiche galten. Damit ist auch die Gliederung der Arbeit in drei systematische Hauptteile vorgegeben. Der erste Teil hat einleitenden Charakter u n d arbeitet die R a h m e n b e dingungen der Schulentwicklung in Kurhessen heraus (I). Da er schulformübergreifende Gesichtspunkte behandelt, wird er vorangestellt. Zunächst geht es u m die wirtschaftliche u n d gesellschaftliche Entwicklung des Kurfürstentums im Untersuchungszeitraum. Darauf folgt ein Uberblick über den Bereich von Schulverwaltung u n d Schulaufsicht als institutionellem R a h m e n des U n terrichtswesens. Die folgenden Teile w e n d e n sich den Elementarschulen (II) und den Gymnasien (III) zu u n d behandeln drei Aspekte in chronologischer 49 Jeismann, Bildungsbewegungen, S. 406, Anm. 6, vgl. auch S. 403. 50 Vgl. den entsprechenden Abschnitt in ders., Gymnasium, Bd. 2: »Das preußische Gymnasium im Urteil des Auslandes«; zur Vergleichenden Erziehungswissenschaft Zymek, Ausland, bes. S.
1-6; Hausmann, Century. 51 Das österreichische Bildungswesen, das als Orientierungsgröße für Kurhessen keine Rolle spielte, wird nicht miteinbezogen.
19
und systematischer Hinsicht. Die weitgehend parallele Untergliederung ermöglicht es, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen niederem und höherem Schulwesen aufzuzeigen. Am Anfang steht jeweils ein Abschnitt, der in chronologischer Abfolge die schulpolitischen Entwicklungen und Auseinandersetzungen zwischen 1813 und 1866 darstellt (II.l bzw. III. 1). In diesem Zusammenhang wird auch die Diskussion allgemeiner Regelungen für Elementarschulen und Gymnasien in Form von Gesetzesvorhaben oder Verordnungen berücksichtigt. Diese Kapitel bilden gleichzeitig den Hintergrund für die folgenden Punkte, deren zeitliche Einordnung damit erleichtert wird. Im einzelnen geht es im Bereich von Schulen und Schülern (II.2 bzw. III.2) entsprechend einer zeitgenössischen Einteilung sowohl um die sogenannte »äußere Schuleinrichtung«, das heißt die Schulhäuser und die Finanzierung, als auch um die »innere Einrichtung«, also Bildungskonzepte und Lehrinhalte. Der Blick richtet sich darüber hinaus auf die Schullaufbahn und den Schulalltag sowie auf das Verhältnis der Eltern zu den Lehranstalten. Schließlich vervollständigt jeweils ein schulformspezifischer Gesichtspunkt das Bild: Bei den Elementarschulen geht es um den Bereich von Schulpflicht und Schulbesuch, bei den Gymnasien um die Maturitätsprüfung und den Übergang zur Universität. In einem weiteren Schritt werden die Lehrer beider Schulformen behandelt (II.3 bzw. III.3). Dabei stehen ihre Ausbildung, rechtliche Stellung und Besoldung sowie ihr Selbstverständnis und die Vereinsbildung im Mittelpunkt. Das Schlußkapitel schließlich resümiert die Untersuchungsergebnisse und führt beide Schulformen zusammen. Die genannten vier Analysegesichtspunkte werden systematisch aufgegriffen und abschließend beurteilt.
20
I. Die Rahmenbedingungen der Schulentwicklung
Das Schulwesen eines deutschen Staates prägten im 19. Jahrhundert nicht nur schulpolitische Konzepte, Akteure und Konflikte; vielmehr spielten auch die allgemeinen territorialen Gegebenheiten bezüglich Wirtschaft und Gesellschaft eine Rolle. Die 1803 zum Kurfürstentum erhobene Landgrafschaft HessenKassel umfaßte nach der territorialen Neuordnung auf dem Wiener Kongreß 1815 eine Fläche von 173 Quadratmeilen.1 Sie setzte sich aus den Fürstentümern Nieder- und Oberhessen, Hanau, Hersfeld und Fritzlar, der Grafschaft Ziegenhain und dem Großherzogtum Fulda sowie den isenburgisch-standesherrlichen Gebieten zusammen. Dazu kamen die beiden Exklaven der Herrschaft Schmalkalden und der Grafschaft Schaumburg. Nieder- und Oberhessen mit Hersfeld und Ziegenhain (Althessen) bildeten das Kerngebiet der ehemaligen Landgrafschaft, an die 1736 die Grafschaft Hanau gefallen war. Durch die Säkularisation hatte sich Hessen-Kassel nur um einige kurmainzische Amter vergrößert, die seit 1803 das Fürstentum Fritzlar bildeten. Auf dem Wiener Kongreß erhielt Kurhessen den größten Teil des ehemaligen Hochstifts Fulda, der als Großherzogtum Fulda Althessen mit dem Fürstentum Hanau verband. Gleichzeitig ging allerdings die Niedergrafschaft Katzenelnbogen verloren. Die standesherrlichen Gebiete schließlich erwarb das Kurfürstentum 1816 in einem Vertrag mit Hessen-Darmstadt.2 Obwohl Kurhessen über ein fast vollständig geschlossenes Territorium verfügte, blieben die Unterschiede zwischen den einzelnen Landesteilen bestehen. Das galt insbesondere für das Verhältnis Althessens zu den »neueren« Gebieten Hanau und Fulda. Neben unterschiedlichen rechtlichen Traditionen und Bestimmungen, die sich auch im Schulwesen niederschlugen, belasteten hauptsächlich die Wirtschaftsgegensätze das Verhältnis zwischen Hanau und Kassel. Verschiedenheiten in der Struktur, im Entwicklungsstand, in der Währung und Marktorientierung führten vielfach zu Verstimmungen.3 Fulda fühlte sich schon aufgrund der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche als »Fremdkörper«4 im kurhessischen Staat. 1 Seier, Modernisierung, S. 434. 2 Detaillierte Angaben zu den Gebietsveränderungen bei Speitkamp, Restauration, S. 42-A4. 3 Vgl. Seier, Hanau und Kurhessen, S. 131-133. 4 Schafer, Wirtschaftliche Entwicklung, S. 166; ders., Eingliederung, S. 94f. Z u m fuldischen »Sonderbewußtsein« und den Schwierigkeiten der Integration siehe auch Zuber, S. 242-245.
21
Die Einwohner des Kurfürstentums Hessen bekannten sich nämlich in ihrer überwiegenden Mehrheit (knapp 83 %) zum Protestantismus. Den größten Anteil machten die Reformierten, vornehmlich in Niederhessen, mit rund 50 % der Gesamtbevölkerung aus. Die Lutheraner, etwa 18 %, konzentrierten sich in Oberhessen sowie in Schaumburg und Schmalkalden. Nach der Vereinigung der beiden evangelischen Konfessionen in der Hanauer Union 5 von 1818 lebten im dortigen Landesteil vorwiegend Unierte, die rund 14 % der Bevölkerung ausmachten. Z u m katholischen Glauben bekannten sich insgesamt 14,6 % der Kurhessen, vornehmlich im Fürstentum Fritzlar und dem Großherzogtum Fulda. Rund 2,5 % der Bevölkerung gehörten der jüdischen Glaubensgemeinschaft an. 6 Besonders für das konfessionell ausgerichtete Elementarschulwesen war die Religionszugehörigkeit der Bevölkerung von Bedeutung. Insgesamt lebten 1816 rund 568.000 Menschen in Kurhessen; bis 1865 stieg die Bevölkerung auf 754.000 Einwohner. 7 Drei Viertel von ihnen wohnten auf dem Land, ein Viertel wohnte in Städten. In Fulda betrug der Anteil der Stadtbewohner nur ca. 17 %. Diese Quoten blieben zwischen 1813 und 1866 weitgehend konstant. 8 Die Mehrheit der 62 Städte im Kurfürstentum beherbergte weniger als 2.000 Einwohner, die hauptsächlich Ackerbau betrieben. N u r in Kassel und Hanau wohnten 1827 mehr als 10.000 Personen. 9 Der Kurstaat ist bis 1866 im wesentlichen als ein kleingewerblich-agrarisch strukturiertes Territorium zu betrachten. Die Landwirtschaft war der dominierende Bereich der kurhessischen Wirtschaft, in dem drei Viertel der Beschäftigten arbeiteten. 10 Sie konnte aber nur einer Minderheit ein ausreichendes Einkommen sichern, da der Agrarsektor mit gravierenden Problemen zu kämpfen hatte. Z u m einen brachten die kargen Böden nur geringe Erträge; zum anderen waren die meisten Bauernstellen aufgrund der Realteilungspraxis sehr klein, und die Landbevölkerung hielt lange an althergebrachten Anbaumethoden (Dreifelderwirtschaft) fest.11 An kostspielige Innovationen zur Modernisierung der Agrarproduktion war nicht zu denken. Traten zusätzlich Konjunkturkrisen auf kam es zu schweren Hungersnöten, die zyklisch bis zur Mitte des Jahrhun-
5 Vgl. dazu Heppe, Kirchengeschichte, Bd. 2, S. 375-385. 6 Z a h l e n errechnet nach: Die Bevölkerung Kurhessens, S. 1 lOf. 7 Einzelheiten zur Bevölkerungsentwicklung bei Bullik, S. 18-22, u n d neuerdings Kukoivski, Pauperismus, S. 355-374; Nathusius, Kurfürst, S. 68-73. 8 Vgl. dazu jetzt Kukawski, Pauperismus, S. 374—381; ferner m i t leicht unterschiedlichen Angaben Bullik, S. 24—26; Möker, S. 24f.; Speitkamp, Restauration, S. 45. Z u Fulda: Schäfer, W i r t schaftliche Entwicklung, S. 136. 9 Kassel: 24.825 E i n w o h n e r , H a n a u : 13.792 E i n w o h n e r . Z a h l e n bei Speitkamp, K o m m u n a l verfassung, S. 6 u. 161. 10 Seier, Modernisierung, S. 435. Vgl. allgemein zu Wirtschaft u n d Wirtschaftspolitik u n d f ü r das Folgende: Kukowski, Pauperismus; Hahn, Hessischer Wirtschaftsraum; ders., Wirtschaftliche Integration; Möker, Industrielle Revolution; Schäfer, Wirtschaftliche Entwicklung. 11 Vgl. Hildebrand, Statistische Mitteilungen, S. 20.
22
derts immer wieder auftraten. Die Landbevölkerung traf zusätzlich der Niedergang der Textilgewerbe, die als Nebenerwerb weit verbreitet waren und vielfach als Regulativ gedient hatten, indem sie in Krisenzeiten den mageren Ertrag der Bauernstellen aufbesserten. 12 Das galt vor allem für Niederhessen und Fulda, wo das Leinen- und Wollgewerbe eine wichtige Stellung einnahm. Das kurhessische Handwerk kämpfte ebenfalls mit Strukturschwächen. Zur geringen Nachfrage im Inland gesellte sich die zunehmend spürbare Konkurrenz industrieller Fertigwaren und die Ubersetzung vieler Handwerkszweige. Die 1816 wiedereingeführte Zunftordnung verhinderte zudem die freie Entwicklung der Gewerbe und konnte gleichzeitig eine ausreichende Versorgung der Handwerksmeister nicht mehr gewährleisten. Die Verteilung und Dichte der Gewerbe im Kurstaat wies deutliche regionale Schwerpunkte auf. Wirtschaftlich am weitesten fortgeschritten war Hanau in unmittelbarer Nähe zu Frankfurt und dem aufstrebenden Rhein-Main-Raum, für den die Genuß- und Luxusgüterindustrie produzierte. 13 In Kurhessen behinderte auch die staatliche Politik die Modernisierung der Wirtschaft. Sie verfolgte insgesamt das Ziel einer »Abschottung des Kurstaats vom gewerblichindustriellen Modernisierungsprozeß« 14 und strebte die Konservierung der agrarisch-kleinbäuerlichen Wirtschaftsordnung an. Eine grundlegende Reform der spätfeudalen Agrarverfassung blieb genauso aus wie die Gewerbefreiheit. Die wirtschaftlichen Veränderungen beeinflußten die Sozial- und Gesellschaftsstruktur des Kurfürstentums nachhaltig. Insgesamt ist über diesen Aspekt kurhessischer Geschichte jedoch nur wenig bekannt. Statistische Aufzeichnungen existieren in größerer Zahl erst ab den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts und sind zudem kaum ausgewertet.15 Nathusius gibt für die Jahrhundertmitte den Anteil der Unterschichten (Tagelöhner, Knechte, Gesellen, Fabrikarbeiter, niedere Bedienstete, Invaliden und Unterstützungsempfänger) an der Gesamtbevölkerung mit rund 43 % an; die Mittelschichten (Haupterwerbsbauern, Handwerker, Händler, Wirte, Beamte) machten demnach 57 % aus.16 Z u r Oberschicht gehörten die kurfürstliche Familie und deren Verwandte sowie der landsässige Adel. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wird auf unter ein Prozent geschätzt.17 Summa beziffert dagegen den Anteil der bürgerlichen Mittel- und Oberschichten in der Residenzstadt Kassel um die Mitte des Jahrhunderts auf acht bis 15 %.18 Aussagen über Entwicklungen und Ver12 Vgl. Kukowski, Pauperismus, S. 417-420; Nathusius, Kurfürst, S. 48f. 13 Vgl. dazu Kukowski, Pauperismus, S. 438-442. Zu Hanau: Brandt, Wirtschaft im Raum Hanau, bes. S. 59-78. 14 Kukowski, Gesellschaftspolitik, S. 172. 15 Vgl. dazu ders., Pauperismus, S. 9-12. 16 Zum Schichtungsmodell und den Ergebnissen Nathusius, Kurfürst, S. 74-91. 17 Ebd., S. 91. Zum kurhessischen Adel: Pedlow, hier S. 17. 18 Summa, S. 114f. Unter Mittel- und Oberschichten faßt er mittlere und kleinere Handwerksmeister, Beamte, wohlhabendere Kaufleute und Handwerker sowie Fabrikanten und akade-
23
Schiebungen innerhalb der Sozialstruktur zwischen 1813 und 1866 sind wegen des fehlenden statistischen Materials außerordentlich schwierig. Kukowski stellt seit den dreißiger Jahren eine Verkleinerung des Bauernstandes fest. Viele Klein- und Kleinstbauern verloren ihr Land aufgrund der schlechten Wirtschaftslage u n d drängten in den gewerblich-handarbeitenden Sektor, der aber diesen Z u s t r o m an Arbeitskräften in Verbindung mit d e m Bevölkerungswachstum nicht auffangen konnte. Diese Entwicklung bezeichnet Kukowski als »Proletarisierung« 19 weiter Teile der Einwohnerschaft. Sie führte zur massenhaften Verarmung breiter Bevölkerungsschichten vor allem in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Während der Hungerkrise 1847 etwa waren zwei Drittel der Bevölkerung unterstützungsbedürftig. 2 0 Die Massenarmut, der »Pauperismus«, gehörte zu den zentralen Problemen des Kurstaates. Er war dort nicht nur ein vormärzliches Phänomen, sondern blieb wegen der schlechten Agrarkonjunktur auch nach der Jahrhundertmitte bedeutend. 2 1 Schulverwaltung und Schulaufsicht geben nicht n u r Aufschluß über die Organisation des Schulwesens eines Staates, sondern spiegeln auch seine Bedeutung u n d Stellung wider. U n t e r Schulverwaltung werden im folgenden diejenigen Behörden verstanden, die f ü r die Leitung, Planung u n d Organisation des Schulwesens zuständig waren. Die Kontrolle, inwieweit die einzelnen Schulen die obrigkeitlichen Vorschriften befolgten, sowie die Dienstaufsicht über die Lehrer umfaßt der Begriff der Schulaufsicht. 22 Die Entwicklung der Schulverwaltung u n d Schulaufsicht im Kurfürstentum Hessen zwischen 1813 u n d 1866 läßt sich zusammenfassend in zwei Phasen einteilen, deren Trennlinie die Verwaltungsreform von 1821 bildet. Die Situation in den Jahren zuvor ist allgemein gekennzeichnet durch vormoderne Verwaltungsstrukturen, die sich auch im Schulwesen in einer Vielzahl von Behörden, ungeklärten Kompetenzen und einem geringen Zentralisierungsgrad niederschlugen. Eine Ausnahme bildete das Großherzogtum Fulda, das aufgrund der Beibehaltung der Schuladministration der Rheinbundzeit schon über eine vollkommen verstaatlichte Schulverwaltung verfügte. Es diente j e doch offensichtlich nicht als Vorbild für die Neuorganisation der Behörden von 1821, welche die kurhessische Schulverwaltung zentralisierte, vereinheitlichte u n d hierarchisierte. Gleichzeitig w u r d e das gesamte Schulwesen verstaatlicht. misch gebildete Freiberufler. Legt man diese Berufe zugrunde, so ergibt sich ein Bevölkerungsanteil von 7,65 %. Geht man vom Einkommen aus (über 200 Taler jährlich), ergibt sich eine Quote zwischen 12 und 15 %. 19 So Kukowski, Proletarisierung. 20 Grindel, Disziplinierung, S. 96. 21 Vgl. Kukowski, Pauperismus. 22 Der Inhalt und die Bedeutung der Begriffe variieren in der juristischen, pädagogischen und historischen Literatur stark. Zur unterschiedlichen Definition und Abgrenzung vgl. u. a. Heckel, Umfang; ders., Einführung, S. 40-47; Lengen, Schulrat und Innovation, S. 1-6; Hammer, Schulverwaltung, S. 43^t7; v. Campenhausen, Schulaufsicht, S. 281 f.; Willich, S. 35-42; Spaniol, S. 18-59.
24
Wilhelm I. standen nach seiner Rückkehr aus dem Exil im Jahre 1813 zwei Modelle staatlicher Verwaltungsorganisation zur Verfügung. Es handelte sich zum einen um das Gefüge der althessischen Behörden von 1806, zum anderen um die Verwaltungsstruktur der beiden napoleonischen Modellstaaten Westphalen und Frankfurt. Letztere zeichnete sich durch eine nach französischem Vorbild zentralisierte und hierarchisierte Administration aus.23 In dem dreistufigen System stand ein Generaldirektor bzw. Generalkurator des öffentlichen Unterrichts als Zentralbehörde an der Spitze, auf der mittleren (Departe ments-)Ebene waren in Westphalen die Präfekten und in Frankfurt Schulkommissionen, die sogenannten Oberschul- und Studiendirektionen, für das Unterrichtswesen zuständig. Die Schulangelegenheiten auf der untersten Ebene fielen in den Aufgabenbereich der Distrikts-, Stadt- und Ortsmaires, die im Großherzogtum Frankfurt mit den Ortsgeistlichen zusammenarbeiteten. Wilhelm I. stellte im Sinne der proklamierten Restitution der »alten Verfassung« die althessische Verwaltungsstruktur wieder her,24 ein kompliziertes System ineinander verschachtelter Behörden und Kompetenzen. An der Spitze der Zivilverwaltung stand der Geheime Rat unter dem Vorsitz des Kurfürsten. Auf der mittleren Ebene führte man die Regierungen wieder ein. Die Regierung in Kassel war für Niederhessen, das Fürstentum Hersfeld, die Grafschaft Ziegenhain und die Herrschaft Schmalkalden zuständig; darüber hinaus versah sie aber auch gesamtstaatliche Aufgaben. Ferner bestanden Regierungen in Marburg (für Oberhessen), Hanau (für das Fürstentum Hanau) und Rinteln (für die Grafschaft Schaumburg). Das Großherzogtum Fulda erhielt 1816 analog eine Regierung in Fulda. Auf der untersten Ebene übernahmen Amtleute administrative und jurisdiktionelle Aufgaben. Die Oberleitung der protestantischen Kirchenverwaltung sowie die geistliche Gerichtsbarkeit hatten die Konsistorien inne. Die geistlich-weltlichen Gremien setzten sich aus Regierungsmitgliedern und Geistlichen zusammen und bestanden bei den Regierungen in Kassel, Marburg, Hanau und Rinteln. 25 Das Kasseler Konsistorium war reformiert, den Behörden in Marburg und Rinteln gehörten Lutheraner und Reformierte an. In Hanau existierten bis zur Union von 1818 zwei getrennte Konsistorien für die beiden evangelischen Konfessionen, danach ein uniertes. Die Konsistorialbezirke gliederten sich in Diözesen, denen Superintendenten oder Inspektoren vorstanden. Diesen untergeordnet waren die Metropolitane, die einen Zusammenschluß mehrerer Pfarreien, eine sogenannte »Klasse«, unter sich hatten. Das letzte Glied in der Kirchenhierar23 Zur Verwaltungsorganisation in Westphalen und Frankfurt allgemein vgl. Knemeyer, Regierungsreformen, S. 61-81; zur Schulverwaltung Speitkamp, Staat und Bildung, S. 558-561. 24 Vgl. zu Einzelheiten: Speitkamp, Restauration, S. 61-67; Klein, Hessen-Nassau, S. 23-25. 25 Zu Entstehung und Aufgaben der Konsistorien sowie zur Kirchenverfassung allgemein vgl. Wolff, Unterrichtswesen, S. 201 ;Heppe, Kirchengeschichte, Bd. 2, S. 275-285; Bath, Kirchenverfassung; ders., Kirchenstatistik; Ledderhose, Kurhessisches Kirchenrecht, S. 26-38.
25
chie bildeten die Ortspfarrer. Eine Neuordnung der katholischen Kirchenverhältnisse erforderte der Erwerb Fuldas 1815.26 Kurhessen strebte ein Landesbistum an, das alle 70 katholischen Pfarreien des Landes umfassen sollte. Der Papst errichtete die Diözese 1821 als Teil der oberrheinischen Kirchenprovinz. In der Kirchenhierarchie folgten auf den Bischof und das Domkapitel die Landdechanten auf der mittleren Ebene. Ihnen untergeben waren die Ortspfarrer. Zwischen 1813 und 1821 lagen die Kompetenzen für das Schulwesen bei einer Vielzahl kirchlicher, staatlicher und kommunaler Behörden mit oft nicht klar voneinander abgegrenzten Zuständigkeiten. Darüber hinaus bestanden erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Landesteilen, wo die gewachsenen Strukturen nebeneinander fortbestanden. Von einer einheitlichen Schulverwaltung konnte 1813 also noch keine Rede sein. In Nieder- und Oberhessen gehörte das Schulwesen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zum Aufgabenbereich der Konsistorien und der untergeordneten kirchlichen Behörden. 27 Die Kommunen beteiligten sich bei den Stadtschulen auf der untersten Ebene. Den städtischen Schulkommissionen gehörten Geistliche, der Bürgermeister und Magistratsmitglieder an, teilweise kam auch der Rektor hinzu. 28 Die höheren Schulen und die Lehrerseminare verfügten über eigene Verwaltungsbehörden, sogenannte Direktionen, welche entweder dem Landesherrn oder höheren Behörden wie den Konsistorien oder dem Oberschulrat unmittelbar unterstanden. 29 1814 setzte Wilhelm I. den 1805 erstmals eingerichteten Oberschulrat als zentrale Fachbehörde für das Schulwesen Althessens wieder ein.30 Damit verfolgte Kurhessen wie andere deutsche Staaten um 1800 das Ziel, eine Zentralisation der Kompetenzen im Schulwesen auf höchster staatlicher Ebene zu erreichen. Im Unterschied aber etwa zum preußischen Oberschulkollegium oder zum Schuldirektorium in Braunschweig-Wolfenbüttel erarbeitete der kurhessische Oberschulrat keine umfassenden Reformpläne, sondern kümmerte sich hauptsächlich um Einzelfragen. 31 Eine Ursache dafür mag gewesen 26 Vgl. dazu Mirbt, S. 76-96. 27 Vgl. zum Folgenden Ledderhose, S. 384-388. 28 Vgl. § 13 der Schulordnung vom 7.7.1656, HLO, Bd. 2, S. 335; Wolff, Unterrichtswesen, S. 140f.; Ledderhose, Kurhessisches Kirchenrecht, S. 387. 29 Vgl. z.B. zum Kasseler Lyceum Fridericianum: Schenkungsbrief des Kurfürsten über das Lyceum Fridericianum vom 23.4.1779, KhLtV, März 1835, Anlage 383, Sp. 23f.; zum Lehrerseminar Marburg das Gründungsreskript vom 27.3.1805, StAM 16, Rep. VI, Kl. 36, Nr. 1, Bd. 2, Bl. 7 10. 30 Vgl. Höchster Befehl wegen Errichtung eines Ober-Schulrathes, vom 27.6.1805, HLO, Bd. 8, S. 245; Beschluß des Geheimen Rats vom 21.1.1814, StAM 17h, Nr. 47, Bl. 66. Zuber, S. 330, verwechselt in Anlehnung an Kimpel das Regulativ vom 17.2.1818 mit der Wiedereinsetzung. 31 Einzelheiten zur Tätigkeit des Oberschulrates werden in den Abschnitten zu den einzelnen Schulformen geschildert. Zum preußischen Oberschulkollegium von 1787 vgl. Heinemann, Vorfeld, v. a. S. 152-185. Zu Braunschweig-Wolfenbüttel Schmitt, Schulreform.
26
(Ν
00 I Cl Ml
G 3
Λ u 4) .fi u 1) -T3 l-i 3 J2 3 11 C/3 -o
27
sein, daß seine Hauptaufgabe in der Verwaltung der vom Kurfürsten gestifteten Landschulkasse lag. Der Behörde gehörten deshalb keine Schulfachleute, sondern Beamte anderer höherer Staatsbehörden an.32 In allen deutschen Staaten führte die Einrichtung von zentralen Fachbehörden für das Schulwesen zu Konflikten mit traditionellen Kräften, vor allem den Kirchenbehörden. In Kurhessen beruhten sie darauf, daß eine genaue Definition der Zuständigkeiten fehlte. Das Kasseler Konsistorium und der Oberschulrat einigten sich schnell und unspektakulär. Der Kurfürst erließ am 17. Februar 1818 im Einverständnis mit dem Oberschulrat ein Regulativ, das im wesentlichen den Vorschlägen des Konsistoriums entsprach.33 Das Recht zur Gründung neuer Schulen und der Änderung in der Einrichtung bestehender sowie Maßnahmen zur Errichtung und Reparatur von Schulgebäuden gingen auf den Oberschulrat über. Ferner übernahm er die Einstellung der Lehrer, die bisher das Konsistorium verpflichtet hatte. Es handelte sich dabei um eine kleine Gruppe von Lehrern an Stadtschulen. Für die Anstellung aller anderen Pädagogen blieben weiterhin die Superintendenten und Inspektoren zuständig.34 Den Konsistorien verblieb die kirchliche Gerichtsbarkeit über die Schulgüter und die »in den Schulhäusern begangenen Ausschweifungen«35 sowie über die Lehrer, die gleichzeitig ein Kirchenamt innehatten und sich in dieser Funktion etwas zuschulden kommen ließen. Vergehen der Lehrer »als solche« dagegen waren jetzt der Gerichtsbarkeit des Oberschulrats unterworfen. Das Marburger Konsistorium, das von der Neuordnung der Verhältnisse ebenfalls betroffen und nicht an den Verhandlungen beteiligt worden war, protestierte gegen das Regulativ, da es keinerlei Kompetenzen an den Oberschulrat abgeben wollte.36 Der Geheime Rat berücksichtigte die Einwände und entschied am 2. Juni 1818, daß das Marburger Konsistorium die Einstellung der Lehrer und die Leitung der Schulhausbauten in Oberhessen vornehmen solle; die Aufsicht über das Betragen der Lehrer wurde aber ausdrücklich dem Oberschulrat vorbehalten, der auch Einstellungsempfehlungen aussprechen konnte.37 Insgesamt übte die Fachbehörde also nominell die Leitung fast aller Schulen in Althessen aus, faktisch hatte sie aber nur Einfluß auf Schulen und Lehrer in Niederhessen. 32 Vgl. den Beschluß des Geheimen Rats zum Oberschulrat vom 27.6.1805, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 29. Zu Aufbau und Tätigkeit der Landschulkasse unten Kap. II.3.C. 33 SG, Bd. 2, 1818, Nr. V, S. 12f. Vgl. dazu das Schreiben des Kasseler Konsistoriums an den Oberschulrat vom 12.11.1817, StAM 17h, Nr. 46. 34 Vgl. den Bericht des Oberschulrats an den Kurfürsten vom 22.5.1818, StAM 17h, Nr. 48. 35 Kurfürstliches Regulativ vom 17.2.1818, SG, Bd. 2, 1818, Nr. V, S. 12f. 36 Schreiben des Marburger Konsistoriums an den Kurfürsten vom 17.4.1818, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 29. 37 Bericht des Oberschulrats an den Kurfürsten vom 22.5.1818 und Beschluß des Geheimen Rats vom 2.6.1818, StAM 17h, Nr. 48. Die Disziplinargewalt über die Lehrer wurde nicht, wie Zuber, S. 332, behauptet, den Regierungen zugewiesen.
28
In Hanau ernannte der Kurfürst im Juli 1814 eine Kommission, die Vorschläge über die Einrichtung des Unterrichtswesens in diesem Landesteil erarbeitete.38 Ihrer Ansicht nach sollte eine »obere Schulbehörde« die Leitung des gesamten Schulwesens im Fürstentum übernehmen. Einen entsprechenden Instruktionsentwurf fügte sie bei, der exakt dem Aufgabenbereich der Schulund Studiendirektion der Frankfurter Zeit entsprach. 39 Die Kommissionsmitglieder hatten die Vorteile einer zentralisierten und vereinheitlichten Verwaltung erkannt und wünschten ihre Fortsetzung. Der Kurfürst entsprach ihrem Wunsch und beauftragte die Kommission mit der »oberen Leitung des Schulwesens im Hanauischen«; 40 er unternahm jedoch nichts, um diesen Anspruch tatsächlich, in erster Linie gegen die Konsistorien, durchzusetzen. Die Kirchenbehörden hatten nämlich 1813 die Verwaltung der Stadt- und Landschulen unter ausdrücklicher Bestätigung des Kurfürsten wieder übernommen. 41 Das bedeutete, daß die Schulkommission faktisch nur Einfluß auf das Gymnasium und die Bürger- und Realschule in der Stadt Hanau hatte; alle anderen Schulangelegenheiten regelten weiterhin die Konsistorien.42 Auf die Eingaben der Kirchenbehörden wie auch der Schulkommission, zugunsten einer einheitlichen Verwaltung das gesamte Schulwesen dem inzwischen unierten Konsistorium zu übergeben, reagierte der Geheime Rat regelmäßig mit der Entscheidung, daß es bei der bestehenden Einrichtung bleibe.43 In Fulda lagen wesentlich andere Ausgangsbedingungen vor als in den übrigen Landesteilen. Man konnte nicht auf frühere Einrichtungen zurückgreifen und wollte zudem der katholischen Kirche das Schulwesen nicht überlassen, sondern es dem Staat unmittelbar unterordnen. Deshalb lag es nahe, die Organisation der. Schulverwaltung aus dem Großherzogtum Frankfurt beizubehalten. Das Organisationsedikt für das Großherzogtum Fulda von 1816 bestätigte die Schul- und Studiendirektion einschließlich der personellen Zusammensetzung.44 Die Behörde vereinigte als einzige im Kurfürstentum alle Zuständigkeiten im Unterrichtswesen auf sich. Der Fuldaer Regierung untergeordnet gehörten sämtliche höheren und niederen Lehranstalten aller Konfessionen sowie das Lehrerseminar in Fulda zu ihrem Wirkungskreis. Sie kontrollierte die 38 Beschluß des Geheimen Rats vom 14.7.1814, StAM 315d, Nr. 349. 39 Vgl. auch den Bericht der Schulkommission an den Kurfürsten vom 16.10.1814, StAM 81 Ba, Gef. 43/44, Nr. 68, Bl. 94-117. 40 Beschluß des Geheimen Rats vom 14.7.1814, StAM 315d, Nr. 349. 41 Beschluß des Kurfürsten vom 13.12.1813, ebd. 42 Vgl. den Bericht der Schulkommission Hanau an den Oberschulrat in Kassel vom 9.1.1818, StAM 81 Ba, Gef. 43/44, Nr. 68, BI. 311f. 43 Vgl. die Berichte der Schulkommission und des Konsistoriums an den Kurfürsten sowie die Beschlüsse des Geheimen Rats vom 27.3. und 13.10.1818, ebd., Bl. 314-321. 44 §§ 49-53 des Edikts betrefFen das Schulwesen, SG, Bd. 1, 1816, Nr. XVIII, S. 127f. Vgl. auch Zuber, S. 331, Anm. 89. Zur Schulverwaltung im Großherzogtum Frankfurt vgl. Scherg, S. 431-439; Zuber, S. 325-330. Die zentrale Bestimmung war das Schulpatent vom 1.12.1812, abgedruckt bei Scherg, S. 99-106.
29
Unterrichtsinhalte und -methoden und verwaltete das Vermögen der einzelnen Anstalten. Außerdem übernahm sie die Funktion einer Dienstaufsichtsbehörde, prüfte die Lehrer und stellte sie ein.45 Das bedeutete, daß in Fulda die Schulverwaltung vollkommen verstaatlicht war. Zwar beteiligten sich weiterhin Geistliche daran, sie unterstanden aber einer rein staatlichen Behörde, Kirchenbehörden hatten keinen eigenständigen Einfluß mehr. 46 Betrachtet man die komplizierten Strukturen der kurhessischen Schulverwaltung zwischen 1813 und 1821 im ganzen, fallen die fehlende Zentralisation der Kompetenzen, die Uneinheitlichkeit der Behördenorganisation sowie die unvollendete Verstaatlichung als wichtigste Merkmale ins Auge. Insgesamt tritt der Eindruck einer Ubergangszeit hervor, in der alte Strukturen neben neueren Einrichtungen bestanden, eine Gesamtreform nach einem übergreifenden Konzept jedoch ausblieb. Mehr als »einzelne praktische Teillösungen« konnten unter Wilhelm I. wohl auch nicht erreicht werden. 47 Dieser Zustand rief öffentliche Kritik hervor, beispielsweise von den Landständen, die 1816 in einem Gutachten zur Verwaltungsreform eine Neugestaltung der Schulbehörden forderten. Sie orientierten sich dabei - bis in die Wortwahl - am westphälischen Modell und favorisierten eine Vereinheitlichung und Zentralisierung unter einem »Generaldirektor des öffentlichen Unterrichts«. 48 Die Verwaltungsreform von 1821 setzte an den Mängeln der bisherigen Behördenorganisation an und beabsichtigte eine Zentralisation, Vereinheitlichung und Verstaatlichung der Verwaltung. Der Behördenaufbau sollte hierarchisch organisiert, und die Kompetenzen sollten eindeutig festgelegt werden. Mit Hilfe dieser Reform wollte man auch die bisher noch nicht vollzogene administrative Integration der neuen Landesteile erreichen. Wilhelm II. setzte unmittelbar nach seinem Regierungsantritt eine Kommission ein, die das sogenannte »Organisationsedikt«49 erarbeitete. In ihm spielten althessische, preußische und westphälische Elemente mit unterschiedlicher Gewichtung eine Rolle. Die Neuorganisation der Schulverwaltung läßt keine eindeutigen Rückschlüsse auf eventuelle Vorbilder zu. Eine Anknüpfung an althessische Vorgaben sowie an das westphälische oder das Frankfurter Modell ist nicht ersichtlich. Eine gewisse Parallele zur preußischen Schulverwaltung bildet die Unterordnung des Volksschulwesens unter die Regierungen, bei denen in
45 Vgl. den Bericht der Schul- und Studiendirektion an das Innenministerium vom 12.9.1821, StAM 16, Rep. VI, Kl. 24, Nr. 4. 46 Vgl. Darmstaedter, S. 228f. 47 So Wulfmeyer, Bezirksräte, S. 167. 48 Die Vorschläge der Stände zur Verwaltungsreform vom 17.3.1816, in: Seier/Speitkamp, Akten, S. 217f. (Zitat: S. 218). 49 Verordnung, die Umbildung der bisherigen Staatsverwaltung betreffend, vom 29.6.1821, SG, Bd. 3, 1821, Nr. XII, S. 29-61. Z u r Entstehung und zu den Hauptpunkten der Reform: Speitkamp, Restauration, S. 495-505; Wulfmeyer, Bezirksräte, S. 169-183; Klein, S. 25-27.
30
Preußen allerdings eigene Abteilungen für das Kirchen- und Schulwesen bestanden.50 Das Organisationsedikt etablierte anstelle der alten Einheitsverwaltung eine moderne, spezialisierte Fachadministration. Der Geheime Rat wurde abgeschafft; an der Spitze der Verwaltung stand nun ein in vier Fachressorts (Justiz, Inneres, Finanzen, auswärtige Angelegenheiten und Kurfürstliches Haus) aufgeteiltes Staatsministerium; ein Jahr später kam noch das Kriegsministerium hinzu. Grundsätzlich bearbeiteten die einzelnen Ministerien eigenständig die Gegenstände ihres Bereichs. Besonders wichtige Fragen oder Entscheidungen, die mehrere Ressorts betrafen, beriet das Gesamtstaatsministerium unter der Leitung des Kurfürsten. Zur Vereinheitlichung des Staatsgebietes schuf man die vier Provinzen Niederhessen (einschließlich der Grafschaft Schaumburg), Oberhessen, Fulda (einschließlich der Herrschaft Schmalkalden) und Hanau. Auf dieser mittleren Verwaltungsebene, dem Innenministerium untergeordnet, sah das Organisationsedikt die Errichtung von Provinzialregierungen vor, die aus einem Direktor oder Präsidenten und drei bis sechs stimmberechtigten Mitgliedern bestanden. Dort konzentrierten sich die Aufgaben der inneren Verwaltung.51 Da sich die Gebietseinteilung der Provinzen an den alten Landesteilen orientierte, waren sie von der Größe und Einwohnerzahl her sehr unterschiedlich. Die Kasseler Regierung verlor zwar ihre gesamtstaatlichen Kompetenzen, ragte aber weiterhin schon allein wegen des Umfangs des Regierungsbezirks und der räumlichen Nähe zu den obersten Staatsbehörden heraus.52 Im Schulwesen zog das Innenministerium den dortigen Schulreferenten wesentlich häufiger zu Gutachten heran als die Referenten der anderen Regierungen. Auf der untersten Ebene, den 22 (ab 1830: 21) Kreisen, versahen Kreisräte (ab 1834: Landräte) die Geschäfte der Zivilverwaltung. Die Justiz wurde endgültig von der Verwaltung getrennt, zudem eine eigene (protestantische) Kirchenverwaltung eingerichtet. Die Konsistorien in Kassel, Marburg und Hanau sowie die Konsistorialdeputation in Rinteln erfüllten jetzt diese Aufgaben. Das gesamte Schulwesen gehörte zum Geschäftsbereich des Innenministeriums, das die allgemeinen schulpolitischen Grundlinien festlegte. Ihm wurden die für einige der Gelehrtenschulen und Lehrerseminare bestehenden Direktionen untergeordnet, welche die unmittelbare Leitung der Anstalten beibehielten. Die Verwaltung der Elementar- und Bürgerschulen (Volksschulen) sowie der Gelehrtenschulen und Seminare ohne eigene Direktion gehörte von nun an zu den Aufgaben der Provinzialregierungen, 53 auf die sämtliche Befug50 Vorbrodt/Herrmann, S. 49. 51 Diilfer, Regierung Kassel, S. 216. 52 Vgl. Wulfmeyer, Bezirksräte, S. 176. 53 Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Regierungen, anders als es ders., S. 166, behauptet, keine Befugnisse im Schulwesen.
31
nisse des Oberschulrates, der Konsistorien und der Schulbehörden in Fulda und Hanau übergingen. Entsprechend hörten der Oberschulrat, die Schulkommission in Hanau und die Schul- und Studiendirektion in Fulda auf zu bestehen. Bei den Provinzialregierungen übernahm ein Referent als nicht stimmberechtigtes Mitglied die Schulangelegenheiten. Nach den Bestimmungen des Organisationsedikts sollte dieses Amt in der Regel ein Geistlicher ausüben. Teilweise waren bei einer Regierung mehrere Schulreferenten für unterschiedliche Bereiche, ζ. B. für evangelische und katholische oder höhere und niedere Schulen, zuständig. Aufder untersten Ebene bildeten aufdem Land die Kreisräte mit den Pfarrern und in den Städten die Schulkommissionen die sogenannten »Schulvorstände«, die Verwaltungsaufgaben für die einzelnen Elementar- und Bürgerschulen übernahmen. Das Organisationsedikt schuf wie in den anderen deutschen Staaten feste Instanzenzüge von der Ministerialebene über die Mittelbehörden bis zu den Lokalbehörden. Es löste die Schulverwaltung von der Kirchenadministration und verstaatlichte sie vollständig. Kurhessen vollzog diesen Schritt konsequent auch auf institutioneller Ebene. Während in anderen Territorien - beispielsweise in Württemberg - die kirchlichen Behörden die Schulverwaltung weiterhin, nun aber im staatlichen Auftrag, ausübten,54 gingen die Kompetenzen im Kurstaat auf die entsprechenden staatlichen Organe über. Der Stellenwert des Schulwesens, gemessen an der Behördenbrganisation, war im deutschen Vergleich gering. Während in Preußen 1817, in Württemberg 1819 und in Sachsen 1831 aus den ehemaligen Fachbehörden Unterrichtsministerien hervorgingen und Bayern sowie kleinere Staaten zumindest Ministerialabteilungen für die Schulen einrichteten,55 ernannte man im Innenministerium sowie bei den Provinzialregierungen lediglich einen Referenten. Dabei ist jedoch in Rechnung zu stellen, daß Kurhessen gegenüber den genannten Staaten vergleichsweise klein war und somit über eine kleinere Zahl an Lehranstalten und -personal verfügte. Die geringe personelle Ausstattung der kurhessischen Schulverwaltung ist also nicht mit der Bedeutung dieses Bereiches in der staatlichen Politik gleichzusetzen. 1831 richtete das Innenministerium eine sogenannte Obere Unterrichtskommission zur »Begutachtung der in den Angelegenheiten des öffentlichen Unterrichts vorzunehmenden Verbesserungen«56 ein. Ihr gehörten der Staatsrechtsprofessor Sylvester Jordan, der Rintelner Gymnasialdirektor und Konsistorialrat Kaspar Christoph Gottlieb Wiß, der Schulreferent der Kasseler Provinzialregierung Friedrich August Sundheim, der Inspektor des Kasseler
54 Vgl. Friederich, Aufsicht, S. 29. 55 Vgl. Jeismann, Schulpolitik, S. 110-113; zu Sachsen Meyer, Jahrhundert, bes. S. 1-11; zu Preußen Müsebeck, S. 153-178. 56 Beschluß des Innenministeriums vom 29.12.1831, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 2, Bl. 20.
32
Lehrerseminars August Wilhelm Jakob Vogt, August Vilmar - zu diesem Zeitpunkt Gymnasiallehrer in Hersfeld - sowie der Regierungssekretär Hermann Müller an. Damit waren Fachleute für alle Bereiche des Schulwesens, darunter auch bekannte Mitglieder des Landtages, versammelt. Das Gremium erarbeitete bis Anfang 1833 Vorschläge für Reformen im Schulwesen; danach trat es kaum noch in Erscheinung und hörte wohl 1835 endgültig auf zu bestehen. 57 Gembries schildert das Ende der Kommission als bewußte »Ausschaltung« durch Hassenpflug, der die Vertreter anderer schulpolitischer Grundpositionen entfernen wollte. Im Fall Jordans scheint diese Annahme zuzutreffen, da dieser schon Mitte 1832 im Zuge der Landtagsauflösung faktisch von der Kommissionsarbeit ausgeschlossen wurde. 58 Im Hinblick auf das Gremium als solches ist jedoch eher anzunehmen, daß es nicht als Dauereinrichtung geplant war, sondern nach der Erledigung der ihm gestellten Aufgaben aufgelöst werden sollte. Die Staatsregierung setzte nämlich bei den anderen Reformprojekten der frühen dreißiger Jahre ebenfalls regelmäßig Kommissionen nur zu dem Zweck ein, Reformvorschläge bzw. Gesetzentwürfe zu erarbeiten. 59 Schließlich büßte die Kommission während der Amtszeit Hassenpflugs keineswegs ihren »Einfluß auf die Bildungspolitik der Regierung« ein.60 Im Gegenteil ist festzustellen, daß viele ihrer Reformvorschläge grundlegend für die Schulpolitik der dreißiger Jahre werden sollten.61 Auch wenn sie nur relativ kurz bestand, hatte sie doch beträchtlichen Einfluß auf die Entwicklung und Gestaltung des kurhessischen Schulwesens. Die Schulreformen der dreißiger Jahre in Kurhessen führten im Bereich der Verwaltung zu Veränderungen, die Gymnasien und Lehrerseminare betrafen. Das Innenministerium übernahm nun die direkte Verwaltung dieser Anstalten unter Ausschaltung von Mittelbehörden. Die Neuordnung bedeutete zum einen, daß sich der Einfluß der Provinzialregierungen künftig ausschließlich auf das niedere Schulwesen erstreckte. Z u m anderen wurden die bestehenden Direktionen für einzelne Schulen aufgehoben. Für das Gymnasialwesen richtete das Innenministerium am 29. Juni 1836 ein neues Gremium, die sogenannte »Schulkommission für Gymnasialangelegenheiten«, ein.62 Sie sollte die Staatsbehörde unterstützen und bildete in gewisserWeise eine Fortsetzung der Oberen Unterrichtskommission, da sie als »technischer Beirath« und »Revisionsbehörde« lediglich beraten konnte. »Alle und jede Verwaltung«, also jegliche selbständige Entscheidungskompetenz, wurde ausdrücklich ausgeschlos57 So Gembries, S. 166. Das Ende der Kommission bleibt unklar, da sich in den Akten kein formeller Auflösungsbeschluß findet. 58 Ebd., S. 164. 59 Vgl. zusammenfassend Grothe, Verfassungsgebung, S. 478. 60 Gembries, S. 164. 61 Vgl. dazu oben Kap. II.l. 62 Beschluß des Gesamtstaatsministeriums, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 9, Bd. 1.
33
sen.63 Die Kommission setzte sich wechselnd aus drei der insgesamt sechs Gymnasialdirektoren zusammen. Ab 1837 übernahm sie außer ihren gutachterlichen Tätigkeiten die Aufgabe, die praktischen Prüfungen der Gymnasiallehrer vorzunehmen. 64 Anders als im Elementarschulwesen waren in diesem Bereich Lehrer als Fachleute an der staatlichen Verwaltung beteiligt. Die Reorganisation der Gymnasialverwaltung in Kurhessen hatte die strikte institutionelle Trennung von höherem und niederem Schulwesen zur Folge, die auch in anderen Staaten, beispielsweise Preußen, erfolgte.65 Sie bestätigte die allgemein in den deutschen Staaten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beobachtende Entwicklung, höhere und niedere Lehranstalten als zwei nebeneinander bestehende Bildungswege zu etablieren. Neue Impulse auf dem Gebiet der Verwaltung gaben die Ereignisse von 1848/49. Das Märzministerium unter Eberhard griff die bestehende Kritik an der Verwaltungsstruktur des Kurfürstentums auf und erarbeitete noch 1848 mit dem Landtag ein Gesetz zur Neuorganisation der Administration. 66 Es hob die Einteilung des Staatsgebietes in Provinzen auf und setzte an deren Stelle neun Bezirke (Kassel, Eschwege, Rotenburg, Fritzlar, Marburg, Fulda, Hanau, Schmalkalden, Schaumburg). Die Bezirksbehörden übernahmen unter der Aufsicht des Innenministeriums die Aufgaben der Provinzialregierungen. Ihnen wurden als »Bezirks-Unterbehörden« sogenannte Verwaltungsämter untergeordnet, die an die Stelle der Kreisämter traten.67 Für den Bereich des Unterrichtswesens bedeutete das Veränderungen bei der Volksschulverwaltung, da die Aufgaben der Provinzialregierungen auf die Bezirksvorstände übergingen. Ihnen unterstanden zudem die Lehrerseminare. Auf der obersten Ebene griff das Märzministerium auf eine Einrichtung der ersten Verfassungsjahre zurück. Der Landesherr berief am 16. Februar 1849 den Regierungsrat Eduard Wiegand, August Wilhelm Jakob Vogt - j e t z t Archivrat - , den Pfarrer Carl Friedrich Meyer, den Gymnasiallehrer Heinrich Rieß sowie den Realschulrektor Heinrich Gräfe zu Mitgliedern der sogenannten Oberschulkommission. 68 Sie sollte dem Innenministerium als beratendes Gremium zugeordnet werden. Zu ihren Aufgaben gehörte die Erstellung von Gut63 Vgl. das Pro Memoria August Vilmars vom 14.8.1835, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 6, Bd. 2, Bl. 45-47. 64 Beschluß des Gesamtstaatsministeriums vom 28.9.1836, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 9, Bd. 1. 65 Vgl.Jeismann, Schulpolitik, S. 111. 66 »Gesetz, die Bildung neuer Verwaltungsbezirke und die Einfuhrung von Bezirksräthen betreffend«, vom 31.10.1848, SG, Bd. 11, 1848, Nr. XXXIII, S. 237-244; »Verordnung, die U m bildung der inneren Landesverwaltung betreffend«, vom 22.12.1848, ebd., Nr. XXXVIII, S. 277283. Vgl. allgemein Rusche, S. 234-243. 67 Vgl. zu den Zuständigkeiten der Behörden im einzelnen Wulfmeyer, Bezirksräte, S. 203205; Klein, S. 30f.; Dülfer, Regierung Kassel, S. 185-187. 68 StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 57.
34
cυ αϊ > υ -β C
rt 'S.
ε Q
•n-
(Λ T3 C
3
>
£
υ -C Ιunbescheiden< sein und uns mit dem gesetzlich festgestellten Minimum von 100 resp. 150 Thlr. zufrieden erklären. Gestattet dasselbe auch nicht, sich ganz und durchaus als Mensch zu fühlen und legt dasselbe dem Lehrer manche Beschränkung auf, deren man ihn im Interesse der Menschheit, welcher er dient, überhoben wünschen möchte, so ist dasselbe doch immer geeignet, ihn der drückendsten N o t h zu überheben und von Nahrungssorgen frei leben zu lassen«.264
Amtliche Berechnungen aus dem Jahr 1847 setzten das Existenzminimum für eine fünfköpfige Familie in Oberhessen auf 50 bis 80 Taler jährlich fest; für die zweite Jahrhunderthälfte werden 90 bis 130 Taler genannt.265 Die Untergrenze entsprach in etwa dem Jahreseinkommen eines Tagelöhners. Die Volksschullehrer erhielten zu diesem Zeitpunkt deutlich mehr; ihr Einkommen von 100 Talern entsprach in der ersten Jahrhunderthälfte in etwa dem Verdienst eines Schneider- oder Schuhmachermeisters. 266 In der Residenzstadt Kassel klassifizierte Summa die Einkommensgruppe von 200 bis 900 Talern in den fünfziger und sechziger Jahren als Mittelschicht, zu der danach auch die Volksschullehrer mit einem Mindesteinkommen von 250 Talern zählten.267 Z u ähnlichen Einschätzungen gelangt auch die neuere Forschung zu anderen deutschen Staaten. So kommt Tenorth etwa für Preußen zu dem Ergebnis, daß das reale Einkommen der Volksschullehrer auf dem Land seit 1840 über dem der einfachen Landbevölkerung lag. Kuhlemann bestätigt diesen Befund und stellt für die Mehrheit der preußischen Stadtlehrer das Einkommensniveau »mittlerer Arbeitereinkommen« fest. Breyvogel spricht von einer »gesi263 Vgl. Gutachten des Hersfelder Inspektors Pfaff an das Innenministerium vom 8.8.1848, LkAK, Gesamtkonsistorium Kassel, Generalakten, Nr. 584, Bl. 13f., sowie Offen, hier S. 135f. 264 Schimmelpfennig, S. 190. 265 Vgl. Nathusius, Kurfürst, S. 91, Anm. 198. 266 Vgl. Bohmbach, S. 335-339; Hahn, Wirtschaftsraum, S. 409; ähnlich Möker, S. 120-128; zu den Lebensverhältnissen der Unterschichten Grindel, Armenpolitik, S. 80-87. 267 Summa, S. 111.
188
cherte[n] Distanz zu den Lebensbedingungen der sozialen Unterschichten«. Anders stellte sich die Situation der Elementarlehrer in Holstein dar, wo sie nach neueren Untersuchungen schlechter gestellt waren als die Landarbeiter (»Insten«), Allerdings veränderte sich die Besoldung der dortigen Elementarpädagogen - entgegen der Entwicklung in den anderen deutschen Staaten zwischen 1814 und 1854 kaum.268 Im deutschen Vergleich gehörten die kurhessischen Volksschullehrer nicht zu den Spitzenverdienern, sondern lagen eher am unteren Ende der Einkommensskala. So erhielten die Elementarpädagogen in Sachsen seitdem Volksschulgesetz von 1835 eine Mindestbesoldung von 120 Talern, die sich 1858 auf 150 Taler erhöhte. 269 Die durchschnittlichen Einkünfte eines preußischen Landschullehrers betrugen 1861181 Taler, seine Kollegen in Kurhessen erhielten 1856 nur 134 Taler. Nimmt man die Stadtlehrer hinzu, ergibt sich ein ähnliches Gefalle: Der Durchschnitt aller Lehrergehälter lag in Preußen zwischen 1850 und 1860 bei 200 Talern, in Kurhessen war er 1856 mit rund 152 Talern um fast 50 Taler geringer. Bei den preußischen Durchschnittswerten ist allerdings immer zu beachten, daß sie regionale Verschiedenheiten verschleiern. Eine generelle Schlechterstellung der kurhessischen Volksschullehrer gegenüber den preußischen läßt sich daraus wohl nicht ableiten. Heinrich Gräfe war 1845 sogar der Meinung, »daß die kurhessischen Volksschullehrer zu den bestbesoldeten in den deutschen Landen gehören«.270 Die Einkommensdifferenzen spiegelten vielmehr die Tatsache wider, daß der Kurstaat allgemein zu den ärmeren Territorien gehörte. Dafür spricht auch, daß sich schon das Ausgangsniveau beider Staaten unterschied. Die Volksschullehrer im Bezirk des Oberschulrats erhielten 1821 durchschnittlich 82 Taler, während das Einkommen in Preußen zwischen 1820 und 1830 schon bei 145 Talern lag. Der Anstieg während des 19. Jahrhunderts war in beiden Territorien also mit 65 bis 70 Talern zwischen 1820 und 1860 in etwa gleich, bewegte sich in Kurhessen lediglich auf einem niedrigeren Niveau. Die Ursachen für die Klagen der kurhessischen Elementarlehrer seit den dreißiger Jahren lagen also in erster Linie nicht in einer akuten Notlage begründet, sondern drückten die Diskrepanz zwischen dem eigenen Selbstverständnis und der tatsächlichen Lage aus.271 Die Lehrer verglichen sich überall in Deutschland nämlich nicht mit der einfachen Landbevölkerung oder den städtischen Handwerkern, sondern orientierten sich an den Subalternbeamten oder - allerdings weniger häufig - an den Gymnasiallehrern. 272 Wie Heinrich 268 Vgl. Tenorth, Lehrerberuf, S. 258; Kuhlemann, S. 288f.; Breyvogel, S. 307; Offen, S. 139-142. 269 Die Besoldungsverhältnisse, S. 29, dort auch Angaben zu weiteren Staaten. 270 Gräfe, Kurhessen, S. 36. 271 Z u Preußen: Tenorth, Lehrerberuf, S. 258; vgl. auch Breyvogel, S. 306. 272 Petition der Elementarlehrer an das Innenministerium vom 22.11.1839; vgl. auch die Petition der Lehrer des Kreises Fulda an das Innenministerium vom 7.12.1839, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 1, Bd. 6; Clemen, Lehreradresse, S. 40-42; allgemein zum Vergleich mit den Subalternbeamten Meyer, Selbstverständnis, S. 39f.
189
Bezzenberger in einer Denkschrift über die Besoldungslage der Kasseler Lehrer bemerkte, ging es ihnen u m die Erreichung bzw. Sicherung eines ihrer Stellung als angemessen betrachteten Lebensstandards. Dazu gehörte seiner M e i n u n g nach unter anderem die Möglichkeit, eine Dienstmagd zu beschäftigen. 273 Der ständige Verweis auf die schlechten Lebensbedingungen und das Elend der Elementarlehrerfamilien zu Beginn des Jahrhunderts konnten als Legitimation neuer Forderungen dienen. Vor der E i n f ü h r u n g einer staatlich garantierten Mindestbesoldung war Althessen andere Wege gegangen, u m das E i n k o m m e n der Volksschullehrer zu verbessern. D o r t zahlte der Staat Besoldungszulagen an einzelne Lehrer. Z u diesem Zweck hatte Kurfürst Wilhelm I. am 13. Juli 1803 eine sogenannte »Schulverbesserungskasse« eingerichtet. 274 Die G r ü n d u n g von Kassen mit vergleichbarer Zielsetzung n a h m e n auch andere Staaten u m 1800 vor; in Sachsen beispielsweise schuf der Landesherr 1799 eine »Schullehrerbesoldungskasse«.275 In den Jahren 1818 bis 1821 verwendete die Kasse von 1803 durchschnittlich 7.400 Taler jährlich auf die Verbesserung der Lehrergehälter. Der einzelne Volksschullehrer empfing im Schnitt eine Unterstützung von 10 Talern pro Jahr. 276 Landesherr u n d Staatsregierung ergriffen nach 1813 Maßnahmen, u m in den anderen Landesteilen ähnliche Einrichtungen zu schaffen. So w u r d e 1815 in Rinteln ein Schulverbesserungsfonds f ü r die Grafschaft Schaumburg eingerichtet, eine Schulkasse f ü r das Fürstentum Hanau folgte nur wenig später.277 Im Großherzogtum Fulda reagierte der Kurfürst auf eine Initiative der Schul- und Studiendirektion und bestätigte mit der Verordnung vom 28. Oktober 1817 einen in der französischen Zeit geschaffenen »Landesschul-Fonds«. In den Jahren 1818 u n d 1819 gab er insgesamt rund 5.450 Gulden an die Lehrer weiter. 278 Laut Gründungsverordnung sollten diese Gelder »zur Unterstützung der Schullehrer bei bedeutenden Unglücksfällen, zu besonderer Belohnung der durch Eifer, Einsicht und nützliche Wirksamkeit sich auszeichnenden Schulmänner, zur Anschaffung u n d Unterhaltung der vielfachen zu einem gründlichen U n t e r r i c h t e nothwendigen Hülfsmittel, überhaupt zu allem demjenigen, wodurch der öffentliche Unterricht in den Stadt- und Landschulen des Großherzogthums zu einem steten Fortschreiten u n d zu mehrerer Vollkommenheit gebracht, auch darin erhalten werden kann«, 273 Bezzenberger, Denkschrift, S. 2. 274 Gründungsreskript, HLO, Bd. 8, S. 166. Vgl. auch Ledderhose, Kirchenrecht, S. 414-416; Büff, Kirchenrecht, S. 983f.; Meidenbauer, S. 49f.; Kimpel, Volksschulwesen, Bd. 1, S. 19. 275 Vgl. Richter, S. 495f. 276 Zahlen errechnet nach den Berichten des Oberschulrats an das Innenministerium vom 14.11. und 7.12.1821, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 1, Bd. 2. 277 Vgl. zu Schaumburg Ledderhose, Kirchenrecht, S. 415, Anm. a; sowie die Akte StAM 17h, Nr. 293; zu Hanau Beschluß des Geheimen Rats vom 2.4.1816, StAM 315d, Nr. 349. 278 Verordnung vom 28.10.1817, SG, Bd. 2, 1817, Nr. XVI, S. 91f.; vgl. auch die Akte StAM 100, Nr. 2310.
190
dienen. Tatsächlich verwandte man sie jedoch seit 1819 in erster Linie zur Aufbesserung der Minimalgehälter auf 100 bis 300 Gulden. 279 Im Anschluß an die Verwaltungsreform von 1821 vereinheitlichte das Innenministerium die Organisation der verschiedenen Schulkassen. Unter der Bezeichnung »Landschulkasse« bestand ab 1822 in jeder Provinz ein solches Institut unter der Aufsicht der jeweiligen Regierung.280 Die Kassen führten ihre Aufgaben auch nach der Einführung der Minimalbesoldung 1833 fort. Sie finanzierten Pensionen, unterstützten Lehrervereine sowie -bibliotheken und stellten Geld bei besonderen Unglücksfällen (»Erlittenheiten«) zur Verfügung. Z u m Beispiel erhielten die Fuldaer Lehrer während der Hungerkrise von 1846 eine einmalige Teuerungszulage.281 Daneben zahlten die Landschulkassen auch weiterhin Gehaltszuschüsse in der Form von Prämien bzw. Gratifikationen. Die Staatsbehörden vergaben diese Gelder wie die Minimalbesoldungen nach den Prinzipien der »Würdigkeit und Bedürftigkeit«, was viele scharf kritisierten. Die Oberschulkommission stellte 1849 fest, daß sich das Prämienwesen nicht bewährt habe, »indem dadurch nur der Neid, das Mißtrauen und die Unzufriedenheit Nahrung erhalten hat, ein Antrieb zu größerem Berufseifer aber wohl nur in seltenen Fällen daraus erwachsen ist«.282 Nach den Erfahrungen des Fuldaer Regierungsdirektors Volmar fehlte es nicht an Fällen, »daß von den Schullehrern Unglücksfalle übertrieben oder auch simulirt werden, um zu einer oder einer größeren Unterstützung zu gelangen«.283 Die Pfarrer, deren Urteil für die Zuteilung entscheidend war, benutzten die Zulagen als Druckmittel, um das Wohlverhalten des Lehrers zu erzwingen, meinte der Landtagsabgeordnete Henkel. Sie ließen die Lehrer »gewissermaßen jedes Jahr danach springen, wie den Hund nach einem Stück Brod«.284 Die Schulverwaltung scheint die finanziellen Mittel der Landschulkassen tatsächlich stärker als die Minimalgehälter zur Disziplinierung eingesetzt zu haben.285 Das Märzministerium unter Eberhard plante deshalb nicht nur die organisatorische Umgestaltung der vier Landschulkassen analog der veränderten Verwaltungsorganisation in neun Bezirkskassen,286 sondern auch eine N e u 279 § 5 der Verordnung vom 28.10.1817, SG, Bd. 2, 1817, Nr. XVI, S. 92; vgl. den Beschluß der Regierung Fulda vom 23.7.1819, StAM 100, Nr. 2310. 280 Ausschreiben des Innenministeriums vom 12.8.1822, SG, Bd. 3, 1822, Nr. VIII, S. 33. 281 Vgl. den Beschluß des Innenminsteriums vom 28.10.1846, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 1, Bd. 7. 282 Bericht der Oberschulkommission an das Innenministerium vom 3.12.1849, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 59. 283 Bericht des Fuldaer Regierungsdirektors Volmar an das Innenministerium vom 9.1.1849, ebd. 284 Redebeitrag in der Landtagssitzung vom 7.7.1863, KhLtV 1863, Nr. 63, Sp. 46. 285 Landtagskommissar Koch in der Landtagssitzung vom 4.9.1834, KhLtV 1834, Nr. 65, Sp. 37. 286 Vgl. das Gutachten der Oberschulkommission vom 7.1.1850 und den Entwurf eines entsprechenden Ministerialausschreibens vom 17.7.1850, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 59. Eine
191
bestimmung ihrer Aufgaben. Nach Ansicht des Innenministeriums machten die 1849 beschlossenen Gehaltszulagen die bisherigen Zahlungen aus den Landschulkassen überflüssig. 287 Ähnlich hatte sich die Ständeversammlung schon Anfang der dreißiger Jahre geäußert, welche die Gelder nicht mehr für Gratifikationen, sondern für feste Zulagen vornehmlich für ältere, langgediente Lehrer verwendet sehen wollte.288 Bevor Eberhard jedoch die Neuregelung ausführen konnte, machte sie die politische Wende in Kassel überflüssig. Das Ministerium unter Hassenpflug ordnete die Verwendung und Verteilung der Gelder in der bisherigen Weise an.289 Dabei blieb es bis zur Erhöhung des Diensteinkommens auf 150 Taler. In dieser Situation entschloß sich das Innenministerium 1860, sämtliche Belohnungen und Unterstützungen aus den Landschulkassen aufzuheben und die freiwerdenden Mittel für die Erhöhung der Minimalgehälter zu verwenden. 290 Das den Lehrern verhaßte Disziplinierungsinstrument wurde damit abgeschafft und an seine Stelle trat eine feste Gehaltszulage. Für die neuartige Verwendung der Gelder der Landschulkassen spielten zwei Gründe eine Rolle. Z u m einen sah das Innenministerium der »Neuen Ära« keine Veranlassung mehr, die Volksschullehrerschaft auf diese Weise zu gängeln. Z u m anderen benötigte es für die Gehaltserhöhungen finanzielle Mittel. Die Einführung eines Minimalgehaltes für die kurhessischen Elementarschullehrer im Jahr 1833 warf gleichzeitig die Frage nach dessen Finanzierung auf Nach den Vorstellungen von Staatsregierung und Landtag sollten Staatsund Gemeindekassen die Differenzbeträge zwischen dem jeweiligen Einkommen der Stelle und der Minimalbesoldung zahlen. August Vilmar ging 1832 davon aus, daß die Gemeinden die Hälfte der notwendigen Kosten tragen würden.291 Das diente als gewichtiges Argument in der Landtagsdebatte, um die Gegner eines Mindestgehalts davon zu überzeugen, daß auf die Staatskasse überschaubare Kosten zukämen. Diese Einschätzung erwies sich jedoch als falsch. Wie aus den Mitteilungen der Provinzialregierungen über die Vermögensverhältnisse der einzelnen Gemeinden hervorging, zeigten sich die Kommunen nur in äußerst geringem Umfang dazu bereit bzw. in der Lage, zu den Besoldungserhöhungen beizutragen. Die Marburger Regierung beispielsweise benötigte rund 4.040 Taler für die Volksschullehrer ihres Bezirks; davon konn-
Auflösung der Landschulkassen, wie sie Kimpel, Volksschulwesen, Bd. 1, S. 171, behauptet, wurde weder beabsichtigt noch durchgeführt. 287 Beschluß des Innenministeriums vom 23.1.1850, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 59. 288 Vgl. Landtagssitzung vom 3.1.1832, KhLtV 1832, S. 1178; Bericht des Abgeordneten Bähr vom 17.8.1833, KhLtV 1833, Anlage 108, S. 3f. 289 Beschluß des Innenministeriums vom 8.6.1850, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 59. 290 Beschluß des Innenministeriums vom 6.7.1860, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 78. 291 Vgl. den Bericht Vilmars vom 4.11.1831, KhLtV 1831, Beilage XXXIII, S. 10f.; und seinen Redebeitrag in der Landtagssitzung vom 3.1.1832, KhLtV 1832, S. 1173.
192
ten die Gemeinden nur 46 Taler, das heißt gut ein Prozent, übernehmen. 292 Das Innenministerium beschloß daraufhin, die Gehaltszulagen durch einen »einstweiligen Zuschuß« ganz aus der Staatskasse zu finanzieren.293 Eine endgültige Regelung der Kostenverteilung sollte im Rahmen eines Volksschulgesetzes erfolgen. Die Gesetzentwürfe von 1834,1837 und 1866 schrieben entsprechend die Pflicht der Gemeinden fest, die Kosten für die Besoldungen der Lehrer aufzubringen. 294 1834 wurde zudem die Gehaltserhöhung der Elementarlehrer ausdrücklich als Aufgabe der Kommunen genannt. Gleichzeitig sagte der Entwurf unvermögenden Gemeinden einen Zuschuß aus der Landschul- bzw. Staatskasse zu. Der Landtag akzeptierte diese Regelung einmütig, da sie seinem Verständnis von der Elementarschule als Gemeindeanstalt entsprach. 295 Da j e doch keine gesetzliche Regelung zustande kam, blieb dem Staat nichts anderes übrig, als die Besoldungszulagen ganz aus der eigenen Tasche zu bezahlen. Das galt auch für die Prämien und Unterstützungen aus der Landschulkasse. Die als vorübergehend geplante Maßnahme wurde damit zum Dauerzustand. Nach Ansicht des Oberappellationsgerichts verfügten die Staatsbehörden nämlich über keinerlei Möglichkeit, die Kommunen ohne gesetzliche Grundlage zu zusätzlichen Zahlungen anzuhalten. Die höchsten Richter entschieden 1838 in einem Musterprozeß der Gemeinde Haselstein gegen die Fuldaer Provinzialregierung, daß die Kommunen keine Besoldungszulagen über ihre traditionellen Beiträge zur Lehrerbesoldung hinaus finanzieren mußten. 296 Diese Entscheidung bezog sich allerdings nur auf die Erhöhung des Gehalts einer schon bestehenden Stelle. Gegen die Einrichtung einer neuen Schulstelle auf ihre Kosten konnten sich die Kommunen dagegen nach der Rechtsprechung des Gerichts nicht wehren, weil diese Entscheidung in die Leitungskompetenz der Staatsbehörden fiel.297 Da der Zwangsweg ausgeschlossen war, richteten Staatsregierung und Landtag zahlreiche Appelle an die Gemeinden, u m sie zu einer Besserstellung ihrer Lehrer anzuhalten. Die Staatsbehörden verwiesen auf die hohen Beiträge, die der Staat von sich aus quasi als Vorleistung zum Nutzen der Gemeinden erbracht hatte. So stellte das Innenministerium anläßlich der 1863 beschlossenen 292 Bericht der Regierung Marburg an das Innenministerium vom 10.6.1833; vgl. auch die Berichte der Regierung Hanau vom 22.4.1833 und der Regierung Fulda vom 27.11.1832, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 1, Bd. 3. 293 Beschluß des Innenministeriums vom 6.9.1833, ebd. 294 Vgl. § 32 des Gesetzentwurfs von 1834, § 2 des Gesetzentwurfs von 1837 und § 38 des Gesetzentwurfs von 1866. 295 Vgl. z.B. den Bericht des Abgeordneten Hoffmann für den Kultusausschuß des Landtages vom 12.6.1837, KhLtV 1837, Beilage 258, Sp. 1-16, hier Sp. 6. 296 Urteil des Oberappellationsgerichts im Prozeß der Provinz Fulda gegen die Gemeinde Haselstein vom 10.3.1838, StAM 261, Nr. 1258. 297 Urteil des Oberappellationsgerichts im Prozeß der Provinz Fulda gegen die Gemeinden Großenlüder, Afïhausen und Eichenau vom 10.8.1844, StAM 17h, Nr. 13, Bd. 1.
193
Gehaltserhöhung fest: »Die Mittel der Abhülfe können aber nicht in immer weiterem U m f a n g e aus der zu Gunsten der zunächst verpflichteten Gemeinden schon jetzt - zumal verglichen mit den entsprechenden Leistungen anderer Staaten - unverhältnißmäßig belasteten Staatskasse e n t n o m m e n werden«. 298 Alle Versuche dieser Art blieben aber erfolglos. Allgemein läßt sich der Konflikt als Teil der Auseinandersetzung zwischen Staat u n d Gemeinden im Elementarschulwesen betrachten, in welcher der Staat versuchte, auf die K o m m u n e n möglichst viele Kosten abzuwälzen, ohne ihnen nennenswerte Rechte zuzugestehen. Die Gemeinden dagegen bemühten sich, diese Ansprüche abzuwehren. Die G r ü n d e f ü r ihre geringe Bereitschaft, finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, beurteilten die Zeitgenossen unterschiedlich. Die Staatsregierung und viele konservative Abgeordnete bewerteten das Verhalten der K o m m u n e n als Desinteresse am Schulwesen. Die Liberalen argumentierten in umgekehrter Richtung u n d sahen gerade in den geringen Rechten der Gemeinden die Ursache für ihr mangelndes Engagement. Das werde sich erst ändern, w e n n man den K o m m u n e n m e h r Mitsprache einräume. Die im deutschen Vergleich ungewöhnliche Konstellation, in der das Oberappellationsgericht d e m Staat das Recht absprach, die Gemeinden zu Besoldungserhöhungen zu zwingen, führte dazu, daß der kurhessische Staat mehr zu den E i n k o m m e n der Volksschullehrer beisteuerte als andere Länder. Die staatlichen Ausgaben zur Unterstützung des Lehrerstandes stiegen zwischen 1837 und 1866 u m das Dreifache von 44.780 Taler auf 136.580 Taler.299 Sie bildeten mit einem Anteil von 73 bis 83 % den bei weitem größten Posten der Staatsausgaben f ü r das Elementarschulwesen. Nach einer Ubersicht aus d e m Jahr 1871 trug der Staat rund 30 % der Lehrerbesoldungen in den ehemals kurhessischen Landgemeinden, während diese n u r knapp 13 % der Kosten übernahmen. Die mit dem E i n k o m m e n der Stellen verbundenen Abgaben und G e b ü h r e n einschließlich des Schulgelds machten danach 57 % aus. In den Städten bildeten sie ebenfalls den größten Posten (49 %); das Verhältnis von Staat und Gemeinden stellte sich aber genau umgekehrt wie in den Landgemeinden dar: Die K o m m u n e n finanzierten r u n d 41 %, der Staat n u r 10 % der Lehrereinkommen. 3 0 0
d) Volksbildung als Beruf Das Selbstverständnis der Volksschullehrerschaft Kurhessens wie anderer deutscher Staaten gründete sich vor allem auf die Berufstätigkeit. Während die traditionellen Schulmeister ihre soziale Stellung über die Hauptbeschäftigung 298 Beschluß des Innenministeriums vom 29.9.1863, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 83. 299 Zur genauen Aufschlüsselung siehe oben Tab. 4. 300 Metz, S. 150.
194
abgeleitet hatten, definierten sich die seminargebildeten Volksschullehrer vornehmlich über den Lehrberuf. Letztere konnten sich als »homines novi« auf keine Tradition oder ein festes Rollenbild stützen. Sie bildeten eine neue Gruppe, die ihren Platz in der Gesellschaft erst finden mußte. 301 Der Ubergang von der »alten« zur »neuen« Lehrergeneration fiel in Kurhessen in die dreißiger Jahre, wobei sich erste Ansätze dieses Prozesses in den zwanziger Jahren zeigten.302 In ihrer Selbsteinschätzung übernahmen die Pädagogen das vom Staat und von der gebildeten Öffentlichkeit gezeichnete Bild. Sie verstanden ihre Tätigkeit als zentrale Aufgabe für Staat und Gesellschaft, deren Wichtigkeit kaum zu hoch bewertet werden konnte. Ihre materielle und soziale Situation stand aber nicht im Einklang, sondern im Gegensatz zu dieser Einschätzung. In einem Gedicht über »Kurhessens Lehrerstand« von 1848 kommt dieses Spannungsverhältnis beispielhaft zum Ausdruck: »Kennt ihr den Stand im Vaterland, Der wenig gilt, doch Allen nützt? Den manche Thoren ganz verkannt, und den man kärglich unterstützt? Ja dieser Stand ist wohlbekannt, Es ist der wackre Lehrerstand. [...] Kennt ihr den Stand, der Geister weckt, Den Mensch fürs Leben brauchbar macht, Mit Undank wird so oft bedeckt, Von manchem Narren wird verlacht? Wir kennen diesen Ehrenstand, Er strebt nach Einsicht und Verstand«.303 Seit den dreißiger Jahren wandten sich die kurhessischen Volksschullehrer in unzähligen Einzel- und Sammelpetitionen an Staatsbehörden und Landtag, um eine Verbesserung ihrer materiellen Lage zu erreichen. In den Gesuchen wie in Zeitungen und Zeitschriften schilderten sie ihre Lebensumstände in den schwärzesten Farben.304 U m ihre Forderungen zu begründen, führten die Elementarpädagogen zum einen ihre Armut an und machten sich zum anderen geschickt die von Staatsbehörden und Landtag genannten Argumente für eine 301 Vgl. Nipperdey, Mass Education, S. 168f.; Breyvogel, S. 300, spricht von einer Gruppe zwischen der »alten Tradition der Stände und den sich neu bildenden Klassen«. 302 Rosenbaum datiert die ersten Ansätze eines Selbstverständnisses der Elementarlehrer in Deutschland auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, vgl. S. 209-213. 303 Verfasser: G. Theis, Kurhessische Schulblätter 15 (1848), S. 119f. 304 Z. B. das Gesuch des Schullehrers Prenntzell aus Mecklar an die Regierung Fulda vom 27.2.1852, StAM 100, Nr. 2367.
195
Verbesserung der Lehrerbesoldung zu eigen. So stellten die Elementarlehrer des Kreises Hünfeld in einem Gesuch an das Innenministerium 1839 fest: »Die Anforderungen an uns sind seit einigen Jahren gesteigert und die Lehrgegenstände und Stunden vermehrt worden. [...] Allein wir haben bis jetzt nicht nur keine Vergütung dafür erhalten, sondern es sind die früheren Renumerationen fast bis auf Nichts verschmolzen«.305 Außerdem hoben sie die Wichtigkeit ihrer Arbeit für den Staat hervor und betonten, daß sie nicht im eigenen Interesse, sondern allein zum Nutzen der Schule handelten. Die Anerkennung durch Eltern, Gemeinden und Öffentlichkeit sollte sich nach Ansicht der Lehrer auch in größerem Ansehen und Sozialprestige ausdrücken. 306 Sie empfanden die Auseinandersetzungen mit den Kommunen über ihre Besoldung als unverständlichen Undank. Deshalb wünschten sie sich eine möglichst große Unabhängigkeit von den Gemeinden. Zudem fühlten sie sich als Diener des Staates, die in einer bestimmten Gemeinde ihre Aufgabe erfüllten, ohne sichjedoch als Teil derselben zu betrachten. Als Ziel strebten sie den Beamtenstatus an, der sie ganz aus dem lokalen Gefüge herausgelöst hätte. Damit wäre neben den anderen Absicherungen auch eine feste, vollständig aus der Staatskasse bezahlte Besoldung verbunden gewesen. Nicht nur aufgrund ihrer Aufgabe, sondern auch der verbesserten Ausbildung empfanden sich die Volksschullehrer nicht mehr zur Dorfgemeinschaft gehörig. Die immerhin dreijährige Seminarbildung machte sie neben dem Pfarrer zum »Gebildeten« in den Landgemeinden. Die Angehörigen des Bildungsbürgertums erkannten die Volksschullehrer jedoch nicht als ihresgleichen an, da diese über keine akademische Ausbildung verfügten und aus niedrigeren sozialen Schichten stammten. Die Ablehnung hatte zur Folge, daß die Elementarlehrer zwischen allen Stühlen saßen.307 Die veränderte Selbsteinschätzung der Volksschullehrer rief vor allem in den (Land) Gemeinden zahlreiche Konflikte hervor. Klagen der Dorfbewohner über den »Dünkel« und »Hochmut« der Lehrer wurden genauso zum Topos wie umgekehrt die Beschwerden der Lehrer über den Undank und die Ungebildetheit der Landbevölkerung. 308 Zudem hielten einzelne Behörden sowie viele Kommunen und Privatpersonen spätestens nach der Einführung der Minimalbesoldung 1833 weitere Erhöhungen der Lehrergehälter für nicht gerechtfertigt. Der Marburger Bezirksdirektor berichtete im Dezember 1849: »In den Gemeinden herrscht die Meinung vor, daß die Schullehrer hinreichend bezahlt werden. Ohne gesetzlichen Zwang ist nichts von denselben zu erwar305 Petition der Elementarlehrer des Kreises Hünfeld an das Innenministerium vom 22.11.1839, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 1, Bd. 6. 306 Vgl. das Schreiben des Zentralausschusses der Schulsynoden an das Innenministerium vom 2.8.1848, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 56. 307 Vgl. Friederich, Volksschule, S. 102f.; Meyer, Selbstverständnis, S. 154-156; allgemein Heinemann, Lehrerverein, S. 41f. 308 Vgl. z. B. den Artikel von Böhm in der Allgemeinen Schulzeitung.
196
ten«.309 In diesen Zusammenhang lassen sich die Widerstände der Gemeinden gegen die Änderungen der Besoldungshöhe und -form einordnen. Sie hatten neben der finanziellen auch eine soziale Komponente. Der Hersfelder Bezirksdirektor trat 1851 auf Anfrage des Innenministeriums dafür ein, daß die Pädagogen weiterhin ihr Schulgeld einsammeln sollten, »da ja den Lehrern noch viele [!] Zeit zu andern Beschäftigungen außer der Lehrzeit übrig bleibt, und es dem Dünkel, welchen sie gewöhnlich besitzen, nicht schadet, wenn sie ihren Lohn fordern. Früher war der Dorfschulmeister ein gar demüthiges Wesen, welches es durchaus nicht unter seiner Würde hielt die Stuben selbst zu kehren, das Feuer anzumachen, sich den Schullohn selbst zu sammeln; Jetzt sind die Herren Lehrer gewaltig vornehm geworden, und glauben als erste Person im Orte ihrem Ansehen bedeutenden Abbruch zu thun, wenn sie sich mit solchen Geschäften, wie sie zuvor erwähnt sind, abgeben«.310
Außerdem gerieten die Lehrer in Konflikt mit den Pfarrern in ihrer Funktion als Schulaufsichtsbeamte. Da die Geistlichen über keinerlei pädagogische Ausbildungverfügten, sprachen ihnen die Volksschullehrer jegliche Kompetenz im Schulwesen ab und wollten sich ihnen nicht unterordnen. Die Geistlichen hingegen werteten das Verhalten der Lehrer als hochmütig und selbstgefällig, weil diese die Autorität der Pfarrer nicht rückhaltlos anerkannten. Zusätzlich erschwerte der Streit um die Kirchendienste das Verhältnis beider Gruppen. Die Elementarlehrer betrachteten den Staat als Verbündeten, mit dem sie das gemeinsame Ziel einer besseren »Volksbildung« einte und der sie gegen die Ansprüche von Kommunen und Kirchen schützen sollte. Sie richteten an ihn Wünsche und Forderungen, beispielsweise bei der Besoldung, die sie als logische Konsequenz aus der ihnen zugesprochenen zentralen Staatsaufgabe betrachteten.311 An diesem Punkt kam es zu Konflikten zwischen Bürokratie und Elementarlehrerschaft. Die staatlichen Behörden unterstützten die Lehrer zwar bis zu einem gewissen Grade, vertraten jedoch gleichzeitig die Ansicht, daß es ihre Sache sei zu entscheiden, was und wieviel die Lehrer benötigten. Das Existenzminimum der Pädagogen sollte gesichert, sie sollten aber nicht dem Leben der einfachen Bevölkerung zu sehr entfremdet werden. Deshalb mahnten die Staatsbehörden bei den Elementarlehrern Bescheidenheit und Zufriedenheit als besondere Tugenden an.312 So antwortete das Innenministerium auf das Gesuch einiger Volksschullehrer aus dem Kreis Fulda:
309 Bericht des Marburger Bezirksdirektors an das Innenministerium vom 13.12.1849, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 58, Bd. 2. 310 Bericht des Verwaltungsamtes Hersfeld an das Innenministerium vom 3.4.1851, StAM 100, Nr. 16358. 311 Vgl. zu Bayern Neukum, S. 221. 312 Vgl. dazu auch Blessing, Indoktrination, S. 51 lf.
197
»Aber der Volksschullehrer soll für das Volk und mit dem Volke leben [...], und darum ist es thöricht von ihm gehandelt, wenn er unzufrieden auf höher Gestellte sieht [...]. Wenn der Volksschullehrer seinem Berufe mit Liebe und klarem Bewußtsein folgt, so wird er sich selbst bescheiden, daß nicht eine kostbare, sondern reinliche Kleidung ihm nötig ist: er wird einsehen, daß er bei mäßigen Wünschen seine Bedürfnisse befriedigen kann, ohne Not zu leiden«.313 Die Lehrer fühlten sich von den Behörden betrogen, da den allgemeinen Erklärungen über die Bedeutung der Volksschule und ihrer Lehrer in ihren Augen keine ausreichenden Taten in Form von größerer materieller Anerkennung folgten. Parallel zur Herausbildung ihres Selbstverständnisses entwickelte die neue Volksschullehrergeneration auch ein ausgeprägtes Standesbewußtsein. Das Zusammengehörigkeitsgefühl förderte zum einen die Uberzeugung, an einer gemeinsamen Aufgabe zu arbeiten, sich dabei in derselben Situation zu befinden und folglich dieselben Ziele zu verfolgen. Z u m anderen trugen die gemeinschaftliche Ausbildung im Seminar, in der die angehenden Lehrer drei Jahre lang miteinander lebten, und die regelmäßigen Treffen bei den Konferenzen zur Verbundenheit bei. Das Standesbewußtsein drückte sich unter anderem darin aus, daß sich die Volksschullehrer schon früh zu Vereinen zusammenfanden, die mehrere Funktionen erfüllen konnten. 314 Dazu gehörte die eigene Fort- und Weiterbildung in den Lesegesellschaften sowie die Selbsthilfe in den Witwenkassen. Alle Zusammenschlüsse dienten ferner der Kommunikation und dem Austausch untereinander, was besonders für die gesellschaftlich relativ isoliert lebenden Landlehrer von Bedeutung war.315 Schließlich konnte man die Treffen auch für politische Zwecke nutzen. So schlossen sich beispielsweise die Elementarlehrer bei Petitionen häufig zusammen, u m ihren Forderungen mehr Nachdruck zu verleihen. Gesuche und Eingaben an die Regierungen und Parlamente hatten in allen deutschen Staaten für die Volksschullehrer einen hohen Stellenwert als Instrumente zur öffentlichen Wahrn e h m u n g der eigenen Interessen. 316 Das kurhessische Lehrervereinswesen des 19. Jahrhunderts wies alle diese Elemente auf. Seine Entwicklung beeinflußte allerdings maßgeblich auch der Staat. Im ersten Drittel des Jahrhunderts verfolgten die aus der Eigeninitiative der Lehrer oder Pfarrer entstandenen lokalen Vereine vornehmlich die Ziele der Fortbildung und Selbsthilfe. Im Gefolge der Revolution von 1830 wandten sich die Elementarlehrer dann vermehrt bildungspolitischen Fragen zu. In er313 Schreiben vom 11.12.1839, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 1, Bd. 6. 314 Zum Volksschullehrervereinswesen allgemein Bölling, Lehrerorganisationen; Rissmann·, zu Bayern Neukum, S. 224-230. 315 Vgl. Zieger, S. 156f. 316 Vgl. etwa zu Sachsen ebd., S. 202-212; zu Preußen Kuhlemann, S. 325f.; zu Bayern Neukum, S. 228-230; zu Baden Wunder, Dorfschulmeister, S. 80-86, 101-112.
198
ster Linie ging es um standespolitische Forderungen zur Verbesserung der eigenen materiellen und sozialen Lage. Z u einer ausgeprägten »Politisierung der Vereinsbildung«, wie sie in vielen anderen deutschen Staaten zu dieser Zeit erfolgte,317 kam es in Kurhessen jedoch nicht. Bevor sich das Lehrervereinswesen weiter entfalten konnte, schob das Innenministerium den freien Zusammenschlüssen der Volksschullehrer durch die Errichtung der amtlichen Konferenzen einen Riegel vor.318 Dort hatten Diskussionen politischer Fragen, zu denen auch die Situation des eigenen Standes unter der strengen staatlichen Kontrolle gehörte, keinen Platz. Einen neuen Impuls brachte das Jahr 1848. In Kurhessen sicherte Innenminister Eberhard den Lehrern »die freie Gestaltung und Ausbildung solcher Vereine, welche die Förderung der inneren Kräfte des Schulstandes "zum Zweck haben«, zu und hob die amtlichen Konferenzen auf 3 , 9 N u r wenige Tage später beschlossen rund 200 auf einer von Heinrich Gräfe organisierten Versammlung in Kassel anwesende Volksschullehrer die Gründung einer landesweiten Lehrervereinigung. 320 Sie trat an die Stelle der bisherigen lokalen und nicht miteinander verbundenen Konferenzen. Der kurhessische Verein setzte sich aus 21 sogenannten »Kreisschulsynoden« zusammen, zu denen die Lehrer eines Kreises gehörten. Jede Synode wählte aus ihren Reihen einen Vorstand, der mindestens zweimal im Jahr die Mitglieder zu einer Versammlung einlud. Auf Landesebene nahm der sogenannte »leitende Central-Ausschuß« die Interessen des Vereins wahr. Der Zentralausschuß sollte »der Mittelpunkt und das Organ des Lehrerstandes des Landes« sein und die Interessen der Volksschullehrer gegenüber den Schulbehörden und der Presse vertreten. Ferner war er für die Organisation der »Landesschulsynoden« verantwortlich, auf der sich jährlich Delegierte aller Kreisschulsynoden treffen sollten. Sie fanden 1848 in Kassel, 1849 in Fulda und 1850 in Marburg statt. Als Zweck der Schulsynoden formulierte die provisorische Synodalordnung von 1848, »alle Lehrer des Landes in eine geordnete Verbindung unter einander zu setzen, dadurch Veranlassung zu geben, sich gegenseitig über Schulfragen zu verständigen, eine öffentliche Meinung über Schulverhältnisse im Lehrerstande zu begründen und deren wirksamen Ausdruck möglich zu machen, durch dieses Alles aber ein Zusammenwirken Aller für den einen großen Zweck, Hebung des Schulwesens und des Lehrerstandes, hervorzurufen«. 321 Ferner 317 Vgl. allgemein Tenorth, Lehrerberuf, S. 260f.; zu Sachsen Zieger, S. 196-201; zu Baden Wunder, Dorfschulmeister, S. 86-92. 318 Vgl. oben Kap. II.3.a. 319 Beschluß des Innenministeriums vom 12.4.1848, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, N r . 56 (Hervorhebung im Original); vgl. allgemein Pretzel, S. 31-41. 320 Vgl. zum folgenden Kitnpel, Volksschulwesen, Bd. 2, S. 20-47; zur Lehrerversammlung in Kassel den Bericht des Lehrers Leimbach in den Kurhessischen Schulblättern 1848, S. 149-152, 159-166. 321 Entwurf einer provisorischen O r d n u n g £ur die Schulsynoden, Beilage zum Volks-SchulBlatt.
199
strebten die Schulsynoden eine Beteiligung an der Schulverwaltung an, beispielsweise in Form einer Gutachtertätigkeit für einzelne Fragen oder Gesetzentwürfe. Eine solche Ausdehnung der Kompetenzen ging dem Innenministerium aber zu weit, und es lehnte alle Vorschläge in dieser Richtung ab.322 Die Organisation der kurhessischen Volksschullehrerschaft erfolgte im deutschen Vergleich schnell und wirkungsvoll. Etwa 1.200 der 1.380 Lehrer, also rund 87 %, gehörten dem Verein an. Zeitgenossen wie Adolph Diesterweg lobten das kurhessische Modell als eines der besten in ganz Deutschland. 323 Eine wichtige Rolle in diesem Prozeß kam dem Kasseler Realschulrektor Heinrich Gräfe als Führungspersönlichkeit zu. Neben ihm ist sein Kollege an der Realschule, Carl Friedrich Wilhelm Clemen, zu nennen, der eine leitende Funktion im Zentralausschuß übernahm, seitdem Gräfe für das Innenministerium arbeitete und sich deshalb aus der direkten Vereinsarbeit zurückgezogen hatte. Die Volksschullehrer des Kurstaates engagierten sich auch auf nationaler Ebene. Der kurhessische Lehrerverein trat dem 1848 gegründeten Allgemeinen Deutschen Lehrerverein noch im selben Jahr bei und entsandte Abgeordnete zu den jährlichen Treffen. An der zweiten Versammlung in Nürnberg nahmen Clemen und Janson als Vertreter der kurhessischen Volksschullehrerschaft teil.324 Beim Allgemeinen Deutschen Lehrerverein handelte es sich um eine Organisation, die als Dachverband die einzelnen Landesvereine auf nationaler Ebene zusammenschließen wollte, um so die liberalen Forderungen besser vertreten zu können. 325 Ferner befand sich ein kurhessischer Vertreter auf dem sogenannten »Volksschulkongreß« vom 16. bis 21. Oktober 1848 in Frankfurt am Main, der im Sinne der Lehrerschaft auf die Verfassungsberatungen in der Paulskirche Einfluß nehmen sollte.326 Die rege Tätigkeit der Volksschullehrer in den Revolutionsjahren, die sich auch in den anderen deutschen Staaten zeigte, überrascht nicht.327 Die Diskrepanz zwischen ihrem Selbstverständnis sowie der tatsächlichen materiellen und sozialen Lage, die »relative Deprivation«, bildete eine geradezu ideale Voraussetzung für die revolutionäre Disposition dieser Gruppe. 328 O b und inwieweit die Pädagogen diesen Zustand in revolutionäres Handeln umsetzten, 322 Vgl. ζ. B. das Schreiben des leitenden Zentralausschusses an das Innenministerium vom 1.7.1848 und den Beschluß des Innenministeriums vom 31.7.1848, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 56. 323 Vgl. Rissmann, S. 51. 324 Vgl. Kurhessisches Volks-Schul-Blatt 1849, S. 62, 133f. 325 Z u m Allgemeinen Deutschen Lehrerverein Bungardt, S. 45f.; Rissmann, bes. S. 43-56; Pretzel, bes. S. 42-84. 326 Z u m Volksschulkongreß Pretzel, S. 36f.; Rissmann, S. 37f.; Fischer, Volksschullehrerstand, Bd. 2, S. 255-259; Wunder, Dorfschulmeister, S. 118-120. 327 Vgl. allgemein zur Rolle der Volkschullehrer in der Revolution Tenorth, Lehrerberuf, S. 262-264; Flitner, Politische Erziehung, S. 150-164. 328 Vgl. Nipperdey, Mass Education, S. 169f.
200
ist dagegen umstritten. Die neuere Forschung vertritt die Ansicht, daß die Volksschullehrer nicht zu den Trägern der Revolution gehörten, sondern die Situation hauptsächlich für die eigene Interessenpolitik nutzten. 329 Diese Einschätzung trifft auch auf Kurhessen zu. Die Elementarlehrer begrüßten zwar die Revolution als »Erlösung aus den Drangsalen einer vergangenen finstern Zeit«,330 beteiligten sich jedoch nicht aktiv. Die Schulsynoden verwandten den größten Teil ihrer Zeit und Energie darauf, Forderungen zu formulieren und sie öffentlich sowie bei Staatsregierung und Landtag zur Kenntnis zu bringen. In erster Linie ging es um die Bedürfnisse des eigenen Standes; politische oder bildungspolitische Bereiche blieben nebensächlich. Heinrich Gräfe, gleichzeitig Vorkämpfer für den Lehrerstand und aktiver Politiker, stellte in dieser Kombination eine Ausnahme dar. Gegen eine rege allgemeinpolitische Tätigkeit der kurhessischen Volksschullehrer spricht auch, daß nur wenige in der Reaktionszeit mit Disziplinarmaßnahmen oder Entlassungen bestraft wurden.331 Die Schulsynoden vertraten in ihren Versammlungen und Petitionen die Anliegen der liberalen Lehrerschaft, die sich unter dem Begriff der »Emanzipation« der Volksschule zusammenfassen lassen.332 Damit hatten sie - wie die hohen Mitgliederzahlen zeigen - die Mehrheit der kurhessischen Pädagogen hinter sich. Gegen diese Position erhob sich aber auch Widerspruch. Die Kirchlich-Konservativen konnten sich mit den Zielen der Schulsynoden nicht identifizieren. Das Hauptanliegen dieser Gruppierung war der enge Zusammenhang von Volksschule und Religion bzw. (protestantischer) Kirche, für den sie in zahlreichen Eingaben an das Innenministerium und den Kurfürsten warb. Die Revolution lehnte sie als Auflehnung gegen die gottgegebene Obrigkeit strikt ab. Die Homberger Seminarlehrer Bang und Schilbe formulierten in ihrer Eingabe an den Kurfürsten: »Denn ihren Beruf erfüllen die Lehrer nur dann wahrhaft, wenn sie nicht nur selbst einen stillen ruhigen und gesetzlichen Lebenswandel führen, sondern auch durch alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel dahin wirken, daß Liebe zur Ordnung und Gesetzlichkeit in den Gemüthern gepflegt und Ehrfurcht vor Gott und der von ihm gesetzten Obrigkeit herrschend werde«.
Einigkeit mit der liberalen Lehrerschaft bestand lediglich in der Forderung nach der Verbesserung der materiellen Lage.333 Die unterschiedlichen Stand329 Vgl. ζ. B. Bölling, Sozialgeschichte, S. 83f.; Wehler, D e u t s c h e Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 490, urteilt, daß »das A u s m a ß der Lehrertätigkeit meist grandios überschätzt w o r d e n ist«. 330 Lehrerstimmen, S. 10. 331 Vgl. dazu oben Kap. II.3.b. 332 Vgl. dazu Kimpel, Volksschulwesen, Bd. 2, S. 2 4 - 3 7 . 333 Adresse an d e n Kurfürsten, abgedruckt im Kurhessischen Volks-Schul-Blatt 1849, S. 122124, hier S. 123 ( H e r v o r h e b u n g e n im Original); vgl. das Vorwort, D e r christliche Schulbote aus Hessen, 1863, S. 2.
201
punkte traten schon auf der ersten Lehrerversammlung in Kassel im April 1848 zutage und stellten sich bald als unvereinbar heraus.334 Die Kirchlich-Konservativen gründeten deshalb im Oktober 1848 den »Hessischen Lehrertreubund« als Reaktion auf und Gegenmodell zu den Schulsynoden. Er ging in den »Verein christlicher Schullehrer« über. Ihm gehörten rund hundert Mitglieder aus der Pfarrer- und Lehrerschaft an, im Vergleich zu den Schulsynoden eine verschwindend geringe Zahl.335 Charakteristisch war die enge Verbindung zur lutherischen Orthodoxie, vor allem zu den Kreisen um August Vilmars Bruder Wilhelm, der 1850 den »Kurhessischen Treubund für Fürst und Vaterland« als »antirevolutionäre, antidemokratische und promonarchistische« Vereinigung ins Leben rief.336 Dem »Treubund« gehörte ebenfalls eine große Zahl von Lehrern an. Die Gründung zweier Vereine mit unterschiedlichen Zielrichtungen macht die tiefe Spaltung der kurhessischen Volksschullehrerschaft in zwei weltanschaulich-bildungspolitische Gruppierungen deutlich. Zwar waren die verschiedenen Standpunkte schon im Vormärz aufgetreten, die revolutionären Ereignisse von 1848 führten aber endgültig zum Bruch. Die allgemeine Polarisierung der kurhessischen Öffentlichkeit im Gefolge des Verfassungskampfes beförderte diese Entwicklung. Die Auseinandersetzungen blieben nicht innerhalb der Lehrerschaft, sondern wurden in die Öffentlichkeit getragen. Beide Vereine versuchten nämlich, ihre Vorstellungen an der Staatsspitze durchzusetzen. Während die Schulsynoden auf die Unterstützung des liberalen Ministeriums setzten, hofften die »Kirchlichen« auf den Beistand des Kurfürsten. Parallel dazu führten beide Gruppierungen öffentliche Kampagnen in Zeitungen und Zeitschriften durch und warben um Zustimmung. In den Revolutionsjahren konzentrierte sich der Konflikt auf die Person Heinrich Gräfes.337 Die Kirchlich-Konservativen forderten seine Entlassung zunächst als Referent im Innenministerium und später als Mitglied der Oberschulkommission. Die Homberger Seminarlehrer Pfarrer Bang und Adam Schilbe machten ihm in einer Eingabe an den Kurfürsten seine Führungsrolle innerhalb der kurhessischen Lehrerschaft zum Vorwurf und bezeichneten ihn als Republikaner, der die Monarchie abschaffen wolle. Seine »verblendete Feindschaft gegen Fürsten und Obrigkeit« sei eine Bedrohung für »alle Ordnung der menschlichen Gesellschaft«.338 Die liberale Lehrerschaft sprach dem Kasseler Bürgerschulrektor dagegen ihr Vertrauen aus und betonte, daß gerade Gräfes Initiative zur Gründung der Schulsynoden »der in gefährlichen Bahnen auszu334 Vgl. Lehrerstimmen, S. 12-14. 335 Vgl. Kimpel, Volksschulwesen, Bd. 2, S. 43-46. 336 Vgl. Sälter, S. 140f.; zum »Treubund« Engelbrecht, S. 64-72; Nathusius, S. 264-266. 337 Zu Einzelheiten vgl. Gembries, Studien, S. 247-252. 338 Eingabe der Seminarlehrer Bang und Schilbe an den Kurfürsten vom 21.7.1849, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 57; vgl. auch die Broschüre von Schilbe und Bang, Schulfreunde.
202
schreiten drohenden Bewegung unter den Lehrern einen gesetzlichen und ruhigen Lauf zugewiesen hat«.339 Die Spaltung der Volksschullehrerschaft in eine liberal orientierte Mehrheit sowie eine kirchlich und konservativ ausgerichtete Minderheit stellte keine kurhessische Eigenheit dar. Auch in anderen Staaten wie in Sachsen oder Württemberg formierte sich die schulpolitische Opposition gegen die Lehrerforderungen der Revolution in eigenen Lehrervcreinen. 340 Z u Beginn der sechziger Jahre unternahmen sie den Versuch eines nationalen Zusammenschlusses im »Christlich-konservativen Lehrerbund in Deutschland«.341 Diesem im schlesischen Neusalz gegründeten Verein trat auch der kurhessische »Verein christlicher Schullehrer« bei und stellte mit rund 100 der circa 800 Mitglieder einen bedeutenden Anteil.342 Obwohl die Kirchlich-Konservativen auch in Kurhessen nur eine Minderheit darstellten, scheint ihr öffentlicher Einfluß vergleichsweise größer gewesen zu sein als in anderen Staaten. Die Ursachen dafür liegen wohl zum einen darin, daß sie einige Seminarlehrer zu ihren Mitgliedern zählen konnten; zum anderen standen sie in Ubereinstimmung mit der politischen Reaktion unter Vilmar und Hassenpflug im Innenministerium. Das Verbot des liberalen Lehrervereinswesens gehörte in Kurhessen wie in anderen deutschen Staaten zu den Maßnahmen der Reaktion.343 Die überregionale Zusammenarbeit der Volksschullehrer war ebenfalls nicht mehr erwünscht. So wurde die dritte Versammlung des Allgemeinen Deutschen Lehrervereins, die 1850 in Kassel tagen sollte, verboten. 344 Nachdem 1853 27 kurhessische Lehrer und Geistliche nach ihrer Teilnahme an der allgemeinen deutschen Lehrerversammlung in Salzungen einen Verweis wegen »Hintanstellung ihrer Berufspflichten«, erhalten hatten, verbot das Innenministerium 1854 schon im voraus die Reise zu ähnlichen Versammlungen. Diesen Beschluß hob es erst 1862 wieder auf 345 Die freie Vereinsbildung der kurhessischen Volksschullehrer erhielt Ende der fünfziger Jahre einen neuen Impuls. Er ging ähnlich wie in Preußen von 339 So die anonyme Verteidigungsschrift »Lehrerstimmen«, S. 17; vgl. auch die Eingabe der in Kassel versammelten Landesschulsynode an das Innenministerium vom 13.10.1848, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 56. 340 Vgl. zu Sachsen Zieger, S. 232-238; zu Württemberg Friederich, Volksschule, S. 107-109; allgemein Pretzel, S. 40f.; Rissmann, S. 41, 143-146. 341 Vgl. den Art. in Der christliche Schulbote, 1864, S. 184-187; die Statuten vom 5.10.1864, ebd., S. 424; allgemein Pretzel, S. 144-147. Die konservativen Gruppierungen der Volksschullehrerschaft in Deutschland sind von der Forschung bisher kaum beachtet worden. 342 Vgl. den Artikel »Das Neusalz-Ziegenhainer Concordat« in der Kurhessischen Schulzeitung 1864, Sp. 216f., 222f., 232-234, dem eine Liste derjenigen kurhessischen Lehrer und Pfarrer angehängt ist, die die »15 Thesen« des Lehrerbundes unterschrieben haben. 343 Vgl. Fischer, Volksschullehrerstand, S. 283f. 344 Vgl. Rissmann, S. 63. 345 Vgl. die Beschlüsse des Innenministeriums vom 27.7.1853, 25.4.1854 und 8.7.1862, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 69.
203
den neu ins Leben tretenden Selbsthilfeorganisationen aus.346 In Kurhessen gehörte der Eschweger Lehrer Christian Liebermann zu den maßgeblichen Triebkräften. Neben der Brandversicherungsanstalt übernahm der »Verein zur Unterstützung der Witwen und Waisen der kurhessischen Volksschullehrer« unter dem Vorsitz von Heinrich Bezzenberger bis zur Gründung eines allgemeinen Lehrervereins für den dann schon preußischen Regierungsbezirk Kassel im Jahr 1869 die Rolle einer berufsständischen Organisation der Volksschullehrer.347 Die jährlichen Versammlungen nahmen einen zunehmend politischen Charakter an, wobei die Bekämpfung der Schulordnungen von 1853 im Zentrum der Bemühungen stand. Die Aktivitäten riefen den Widerstand der Kirchlich-Konservativen hervor, die das Prinzip der Schulordnungen vehement verteidigten. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Gruppierungen erreichten zu Beginn der sechziger Jahre einen Höhepunkt und dauerten bis zum Ende des Kurstaates an. Als Sprachrohr dienten beiden Gruppierungen spezielle Zeitschriften. Das Lehrervereinswesen und die Lehrerpresse waren somit eng verbunden. 348 Die Entstehung einer Lehrerpresse in Kurhessen ist auf die zweite Jahrhunderthälfte zu datieren. Die bis dahin erschienenen Zeitschriften hatten nicht lange bestanden. Als erste Schulzeitschrift erschien das von Konsistorialrat Wilhelm Münscher herausgegebene »Magazin für das Kirchen- und Schulwesen besonders in Hessen und den angränzenden Gebieten« 1803 in vier Heften. 1835/36 gab der Seminarlehrer Theobald Fenner das »Wochenblatt für das kurhessische Volksschulwesen« heraus. 1845 traten die »Kurhessischen Schulblätter« unter der Redaktion des Homberger Seminarlehrers Bang ins Leben. Sie existierten bis 1848. Das »Kasseische Schulblatt« Heinrich Gräfes kam über einen Jahrgang nicht hinaus. Diesen frühen Versuchen war neben der kurzen Lebensdauer gemeinsam, daß es sich nicht um Richtungsblätter handelte. Sie verstanden sich vielmehr als »Vereinigungspunkt für die vereinzelten Kräfte, einen Sprech-, Hör- und Uebungssaal«, wie es Fenner in seinem Vorwort formulierte.349 Mit der Revolution von 1848 erfolgte eine dauerhafte Politisierung der kurhessischen Lehrerpresse, welche die Spaltung der Volksschullehrerschaft widerspiegelte. Die ursprünglich dezidiert als neutrales Organ gegründete Zeitschrift der Homberger Schulsynode, die »Lehrer-Stimmen aus Hessen«, entwickelte sich unter der Leitung der Lehrer Schilbe und Iber schon bald zum Sprachrohr der Kirchlich-Konservativen. 350 Sie bestand von 1848 bis 1850. Ihre Stelle nahm von 1852 bis 1854 der »Kirchliche Schulfreund«, das Blatt des »Ver346 Vgl. allgemein Bungardt, S. 69f. 347 Vgl. Rissmann, S. 65f.; Pretzel, S. 61f.; Kimpel, Volksschulwesen, Bd. 2, S. 55-67; zur Vereinsgründung von 1869 Kimpel, Volksschullehrerverein, S. 37-42. 348 Vgl. zu Sachsen Zieger, S. 124-138, 185-196; zu Baden Wunder, Dorfschulmeister, S. 92f. 349 Vorwort, Wochenblatt für das kurhessische Volksschulwesen, 1835, S. lf., hier S. 2. 350 Vgl. Kimpel, Volksschulwesen, Bd. 2, S. 38f.
204
eins christlicher Schullehrer«, ein. Daraufhin dauerte es bis zum Jahr 1863, bis sich die Kirchlichen mit einer eigenen Zeitschrift wieder zu Wort meldeten. »Der christliche Schulbote aus Hessen«, den der Marburger Lehrer Leimbach herausgab und der bis 1872 erschien, focht maßgeblich den Verteidigungskampffür die 1853er Schulordnungen. Seine Entstehung ist in erster Linie als Reaktion auf die Agitation der liberalen Volksschullehrerpresse gegen die Ordnungen und für deren Revision zu verstehen. Die erste Zeitschrift der Liberalen war das »Kurhessische Volks-Schul-Blatt«, das als Vereinszeitschrift der Schulsynoden diente. Die Redaktion übernahm Heinrich Gräfe und zeitweilig sein Kollege an der Kasseler Realschule, Janson. Nachdem das Blatt 1851 sein Erscheinen einstellen mußte, dauerte es bis zum Ende der fünfziger Jahre, ehe Christian Liebermann einen neuen Anlauf wagte. Er schuf 1857 die »Schulnachrichten für Kurhessen« als Organ der neu entstehenden Selbsthilfeorganisationen der Volksschullehrerschaft. Die Zeitschrift beabsichtigte, »für die äußern materiellen Interessen unseres Standes [...] durch vereintes Zusammenwirken tätig zu sein«.351 Die »Schulnachrichten« löste 1862 die »Kurhessische Schulzeitung« ab, die als »Vereinsblatt für Kurhessens Volksschullehrer« eine dezidiert politische Haltung einnehmen sollte. Die Schulnachrichten hatten eher die »Tendenz eines bloßen Nachrichtenblattes« 352 gehabt; die »Schulzeitung« machte sich dagegen die Forderungen der liberalen Volksschullehrer zu eigen und wandte sich vor allem gegen die Schulordnungen von 1853. Sie fand mit rund 870 Abonnements in den Jahren 1863 bis 1865 unter den Lehrern weite Verbreitung.353 Uber die schulpolitischen Unterschiede hinweg gab es jedoch auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den genannten Zeitschriften. Sie wurden - mit Ausnahme von Münschers Magazin - sämtlich von Volksschullehrern für Volksschullehrer gemacht und verstanden sich als Ort der Kommunikation und des Austauschs innerhalb des eigenen Standes. Im wesentlichen waren alle Zeitschriften gleich aufgebaut. Neben Artikeln über aktuelle Schulfragen druckten sie historische Abhandlungen, Konferenzberichte, Rezensionen über neue Schulbücher und Schulnachrichten. Letztere umfaßten Verordnungen, Nachrufe und die Mitteilung freier Stellen.354 Eine Sonderstellung im kurhessischen Lehrerzeitungsspektrum nahm die von Heinrich Heppe 1863 bis 1864 redigierte »Kurhessische Kirchen- und Schulzeitung« ein. Sie verstand sich in erster Linie als überkonfessionelles, unpolitisches Kirchenblatt und behandelte aus dieser Perspektive auch Schulfragen. Im Gegensatz zu den anderen Blättern richtete sie den Blick auf das gesamte Unterrichtswesen und nicht nur auf die Elementaranstalten. 355 Zudem 351 352 353 354 355
Vorwort zu den Schulnachrichten 1857, S. 2. Kimpel, Volksschulwesen, Bd. 2, S. 61. Quartalsbestellungen der Kurhessischen Schulzeitung, ebd., 1866, S. 45. Vgl. ζ. B. das Vorwort zur ersten Ausgabe des christlichen Schulboten 1863, S. 3f. Vgl. das Vorwort zur Kurhessischen Kirchen- u n d Schulzeitung 1863, S. 1 - 3 .
205
wandte sie sich explizit nur an die Protestanten im Kurstaat. Die anderen Lehrerzeitschriften machten diese Einschränkung nicht, doch ist davon auszugehen, daß die Katholiken nur geringen Anteil an ihnen nahmen. Das ist bei den kirchlich Gesinnten nicht weiter verwunderlich, da sie in enger Verbindung zur lutherischen Orthodoxie standen. »Schulnachrichten« und »Schulzeitung« verstanden sich dagegen als überkonfessionelle Standesorgane zur Vertretung der Interessen aller Volksschullehrer. Trotzdem tauchten immer wieder Klagen darüber auf daß sich die fuldischen Lehrer kaum beteiligten.356 Die Ursachen lagen unter anderem darin, daß der regionale Schwerpunkt der liberalen Lehrerschaft und ihrer Vereine in Niederhessen lag. Ganz allgemein läßt sich für Deutschland feststellen, daß vornehmlich Protestanten die liberale Volksschullehrerbewegung in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts trugen. Die katholischen Elementarpädagogen fühlten sich eher mit der katholischen Bewegung der Pius-Vereine verbunden. 357 Aus einigen Territorien, zum Beispiel Württemberg, ist zudem bekannt, daß sich die katholischen Lehrer seit den fünfziger Jahren entweder ganz aus dem Lehrervereinsleben zurückzogen oder eigene Zusammenschlüsse bildeten.358 Die Gründung einer eigenen katholischen Lehrerzeitschrift und eines eigenen Vereins erfolgte im Gebiet des Kurfürstentums 1870 bzw. 1872 als Reaktion auf die Entstehung des Lehrervereins für den Regierungsbezirk Kassel.359
356 357 358 359
206
Vgl. Schulnachrichten 1858, S. 58-60, 222-224; 1859, S. 57-59. Die Entwicklung von 1815-1871 schildert Tymister, S. 15-51. Vgl. zu Württemberg Friederich, Volksschule, S. 104f. Vgl. zu Entstehung und Entwicklung des Vereins Tymister, S. 114-124.
III. Das Gymnasialwesen
\. Vereinheitlichung und Verstaatlichung: Die Reform der Gelehrtenschulen Als die deutschen Staaten im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts begannen, sich dem Schulwesen zuzuwenden, richteten sie ihre Aufmerksamkeit vielerorts auf die Anstalten, die eine »höhere« Bildung bezweckten. Dieser Zweig des Unterrichtswesens zeichnete sich um 1800 durch eine große Vielfalt und U n einheitlichkeit aus. Unter den Begriffen der Lateinschulen, Lyzeen, Pädagogien und Gymnasien verbargen sich Lehranstalten von unterschiedlicher Größe und Einrichtung. 1 Die Mehrzahl der städtischen Lateinschulen besaß in den protestantischen Gebieten, so auch in Hessen-Kassel, meist noch die während der Reformationszeit geschaffene Grundform mit drei aufsteigenden Klassen und jeweils einem Lehrer (Elementarlehrer, Kantor, Rektor). Neben diesen kleineren Anstalten hatten sich sogenannte »Gelehrtenschulen« herausgebildet, die über einen erweiterten Lehrplan verfügten und überregionales Ansehen genossen. In Hessen-Kassel sind das Kasseler Lyceum Fridericianum, das Pädagogium in Marburg, die ehemaligen Klosterschulen in Hersfeld und Schlüchtern sowie die reformierte Hohe Landesschule und das lutherische Gymnasium in Hanau zu dieser Kategorie zu zählen. In der Residenzstadt des Fürstbistums Fulda befand sich ebenfalls ein Gymnasium. Den Zustand des höheren Schulwesens empfanden die Gebildeten in ganz Deutschland seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zunehmend als unzureichend. 2 Ihre Kritik richtete sich unter anderem auf die Organisation des Schulwesens. An die Stelle der großen Vielzahl der Schultypen sollte ein Schulsystem treten, das auch den Anstalten der höheren Bildung eine feste Funktion gab. Den Gelehrtenschulen wies man die Aufgabe zu, ihre Schüler auf die Universität vorzubereiten. Die Ausbildung derjenigen, die unmittelbar von der Schule in eine Berufstätigkeit übergingen, sollten andere Anstalten, nämlich Bürger- oder Realschulen, übernehmen. Diese Neuorientierung führte auch zur Ablehnung der in vielen Staaten des 18. Jahrhunderts eingerichteten Akademien, die eine Zwischenstellung
1 Z u m Folgenden und zum Zustand des höheren Schulwesens um 1800 allgemeinJeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 44-68; Paulsen, Bd. 2, S. 148-167Jeismann, Knabenschulwesen, S. 153f.; Kraul, Gymnasium, S. 13-17. 2 Vgl. ausführlich Jeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 35-44, 68-76.
207
zwischen gelehrter Schule und Universität innehatten. Sie paßten nicht mehr in das neue System, das zwischen einzelnen Schulformen, aber auch zwischen Schule und Hochschule streng differenzierte. In Hessen-Kassel gehörten das Collegium Carolinum in der Residenz sowie die Hohe Landesschule in Hanau zu diesem Typus.3 Mit ihren Appellen, Vorschlägen und Forderungen wandte sich die gebildete Öffentlichkeit an den Staat, von dem sie sich die Umsetzung ihrer Anliegen erhoffte. Im Hintergrund stand die Vorstellung, daß der Staat an der zweckmäßigen (Aus)Bildung seiner Bürger, im Fall der höheren Schulen der künftigen Elite in Staat und Gesellschaft, interessiert sei. Tatsächlich bestand in diesem Punkt Ubereinstimmung, so daß im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts staatliche Maßnahmen im Bereich des höheren Schulwesens einsetzten. Sie erfolgten jedoch nicht wie von den Gebildeten gewünscht im Rahmen eines Gesamtkonzepts, vielmehr dominierten Einzelregelungen, konkret die Umgestaltung einzelner Schulen. Die staatliche Tätigkeit konzentrierte sich auf die großen Gelehrtenschulen, die somit zu Zentren der Reform werden konnten. 4 In Hessen-Kassel, wo die Schulordnungen von 1618 und 1656 immer noch die Grundlage des höheren Schulwesens bildeten, wandte sich vor allem Landgraf Friedrich II. dem höheren Schulwesen zu. 5 1779 reorganisierte er die Kasseler Stadtschule, die künftig unter dem Namen »Lyceum Fridericianum« als Gelehrtenschule der Residenz dienen sollte. In Hersfeld ging der Impuls zur Umgestaltung von der Lehrerschaft, namentlich vom Rektor Georg Erich Schirmer, aus.6 Den Unterricht in den kleineren Lateinschulen sollte die »Vorschrift einer besseren Lehrart in den Lateinischen Schulen der Haupt- und Landstädte Hessens«7 von 1775 in philanthropischer Zielsetzung verbessern. Friedrichs Nachfolger Wilhelm IX. konzentrierte wie das Fürstbistum Fulda seine Aufmerksamkeit auf das niedere Schulwesen und g r i f f - abgesehen von der endgültigen Schließung des Collegium Carolinum in Kassel - bis 1806 nicht in den Bereich der höheren Schulen ein. Die Reformzeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab vor allem Preußen und den Rheinbundstaaten Gelegenheit zu einer Neuordnung des höheren Schulwesens. Die Pläne zur Umgestaltung standen in allen diesen Staaten im Rahmen eines Konzeptes für das gesamte Unterrichtswesen, das jeder Schulform eine feste Funktion innerhalb des Systems zuwies. 8 Inhaltlich wiesen die Reformpläne der einzelnen Staaten erhebliche Unterschiede in bezug auf Funk3 Z u m Kasseler Carolinum Meidenbauer, S. 56-59; Hartwig·, Beck·, Schelenz·, zur Hohen Landesschule Osterhammel, Akademie, bes. S. 25-34. 4 Vgl. zu PreußenJeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 44—68. 5 Z u r Schulpolitik Friedrichs vgl. Meidenbauer, S. 51-56; Berge; Wegner. 6 Vgl. dazu Vilmar, Hersfelder Gymnasium, S. 213f. 7 Vorschrift vom 7.2.1775, H L O , Bd. 6, S. 799-807. 8 Vgl. Speitkamp, Staat, S. 562-564.
208
tion, Struktur und Bildungskonzept auf. Diese Vielfalt charakterisierte bis weit ins 19. Jahrhundert das höhere Schulwesen in Deutschland und unterschied es deutlich von den Elementarschulen. Diese wiesen über die Grenzen der einzelnen Territorien hinweg eine größere Einheitlichkeit auf. Das Königreich Westphalen und das Großherzogtum Frankfurt differenzierten bei den Anstalten, die eine über die Elementarkenntnisse hinausgehende Bildung vermittelten, zwischen solchen, die auf das »bürgerliche Leben« vorbereiteten (Realschulen), und solchen, welche die Grundlage f ü r den Besuch einer Universität schufen (Gymnasien). Ihre Anzahl wurde nach dem angenommenen Bedürfnis und nach verwaltungsmäßigen Gesichtspunkten begrenzt. So sah das Schulpatent Dalbergs von 1812 vor, in jeder Departementshauptstadt sowie in Wetzlar ein Gymnasium einzurichten. »Die Städte, in welchen sich eine große Anzahl von Einwohnern mit d e m Handel oder d e m Fabrikwesen beschäftigt«, sollten Realschulen erhalten, »in welchen die zur glücklichen Betreibung der höheren bürgerlichen Gewerbe nötigen Kenntnisse gelehrt werden«. 9 Die U m s e t z u n g der Pläne erfolgte jedoch in beiden Staaten n u r in Ansätzen. In Westphalen reorganisierte der spätere Marburger Universitätsprofessor David T h e o d o r August Suabedissen das Kasseler Lyceum Fridericianum als Musteranstalt f ü r das Königreich. Sie erhielt einen realen und einen gymnasialen Zweig mit gemeinsamen Elementarklassen. 10 Z u r Reform der H o h e n Landesschule in H a nau holte der Frankfurter Großherzog Dalberg Johannes Schulze, später maßgeblich an der Ausgestaltung der preußischen Gymnasien beteiligt, an den Main. 11 Er verwandelte in seiner vierjährigen Tätigkeit die Anstalt zwischen Schule und Hochschule in eine reine Vorbereitungsanstalt zur Universität. Das Ende der beiden napoleonischen Modellstaaten bedeutete f ü r das wiederhergestellte Kurfürstentum Hessen zunächst auch das Ende der Schulreform e n und im Gelehrtenschulwesen die Rückkehr zu den Verhältnissen von 1806. Damit begann eine erste Phase kurhessischer Schulpolitik, die sich von 1813 bis 1830 erstreckte. D e r Kurfürst machte die Reform des Kasseler Lyceums 1814 rückgängig. Lediglich in Hanau blieb das Gymnasium in der von Johannes Schulze geschaffenen Form unverändert bestehen. Außerdem wurde die einheitliche Verwaltung der Gymnasien aufgehoben, so daß die Anstalten wie ehedem verschiedenen Oberbehörden unterstanden. Die sogenannte »Direktion« des Lyceum Fridericianum, eine Kommission aus Geistlichen, Staatsbeamten u n d dem Bürgermeister der Residenz, stand direkt unter d e m Geheim e n Rat. Das Marburger Pädagogium war eng mit der Universität verbunden,
9 § 8 des Schulpatents v o m 1.2.1812, vgl. zu den Gymnasien § 11, abgedruckt bei Scherg, S. lOOf. Für Westphalen nennt Thimme, Bd. 2, S. 257, ähnliche Pläne. 10 Ausführlich zur Reorganisation Weber, Gelehrtenschule, S. 354—383; Knoke, S. 218-235. 11 Z u seiner Tätigkeit in Hanau: Osterhammet, Akademie, S. 36-47; Varrentrapp, S. 119-177; Ankel, S. 81-114; Gaede\ Scherg, S. 407-418.
209
und entsprechend setzte sich das »Collegium Scholarchum« aus Amtsträgern der Hochschule zusammen. In Fulda blieben Gymnasium und Lyceum der Schul- und Studiendirektion untergeordnet, die Hanauer Anstalt beaufsichtigte die dortige Schulkommission. Das Hersfelder Gymnasium stand zunächst unter der gemeinschaftlichen Verwaltung des Oberschulrats und des Kasseler Konsistoriums, dem der Geheime Ratjedoch nach Streitigkeiten zwischen den Behörden 1817 die Kompetenzen über die Schule entzog. In Schlüchtern schließlich führte das (reformierte) Konsistorium in Hanau die Aufsicht über die Gelehrtenschule. Für das höhere Schulwesen Kurhessens brachte die Reformzeit also keine grundlegenden Veränderungen, da Landesherr und Regierung nicht an die Bildungspolitik Westphalens oder Frankfurts anknüpften. Mit dieser Bilanz stand das Kurfürstentum nicht allein, denn nicht alle Staaten konnten wie Bayern oder Preußen die Reformkonzepte tatsächlich umsetzen. In Baden beispielsweise scheiterte die Umgestaltung der Gelehrtenschulen am Widerstand der Kirchenbehörden. Erst zu Beginn der dreißiger Jahre konnte dort der Stillstand in dieser Frage überwunden werden. 12 Die staatliche Schulpolitik Kurhessens unternahm zwischen 1813 und 1830 keine grundsätzlichen Schritte, um die Uneinheitlichkeit der kurhessischen Gelehrtenschulen zu beseitigen. Für diesen Zeitraum sind vielmehr Einzelregelungen charakteristisch, die verschiedene Mißstände in den einzelnen Schulen mildern sollten. Sie betrafen im einzelnen staatliche Zuschußzahlungen für Hersfeld und Hanau; in Kassel wurde 1823 die Verbindung von Gelehrten- und Bürgerschule endgültig aufgehoben und somit an die westphälische Schulpolitik angeknüpft. 13 Die Maßnahmen gingen von verschiedenen Behörden, teilweise von den Anstalten selbst aus und fielen zeitlich vor allem in die frühen zwanziger Jahre, was mittelbar mit der Verwaltungsumbildung von 1821 zusammenhing. Anders als für das Volksschulwesen stellte die Neuordnung der kurhessischen Administration für die höheren Lehranstalten jedoch keinen bedeutenden Einschnitt dar. Das Organisationsedikt schuf nämlich keine einheitliche Verwaltung der höheren Schulen, richtete mit dem Innenministerium aber zumindest eine Behörde ein, welche die Oberaufsicht über sämtliche Gelehrtenschulen führte. Das Ministerium wies die zuständigen Unterbehörden 1823 entsprechend an, halbjährlich über deren Zustand zu berichten. 14 Die Anstalten in Hersfeld und Fulda, Hanau und Schlüchtern standen nun unter den jeweiligen Provinzialregierungen, in Marburg, Rinteln und Kassel blieben die jeweiligen Leitungskommissionen bestehen. Vorschläge zur Umgestaltung des gesamten kurhessischen Schulwesens kamen aus den Reihen der Marburger Universität. Vizekanzler Georg Friedrich
12 Z u den badischen Reformplänen Ruf, S. 5-8. 13 Vgl. Weber, Gelehrtenschule, S. 393f. 14 Beschluß des Innenministeriums vom 18.12.1823, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, N r . 1, S. 2.
210
Carl Robert verfaßte als Mitglied des Landtags von 1815/16 ein Gutachten über den Zustand des Unterrichtswesens im Kurstaat einschließlich eines Konzepts zu dessen Reform. 15 Robert sprach sich grundsätzlich für ein dreigliedriges Schulsystem aus, in dem die Gymnasien »die unmittelbare Vorbereitung zur wissenschaftlichen, zur gelehrten Bildung gewähren sollen«. Er schlug vor, sämtliche Lehranstalten der Universität als »natürliche[m] Aufseher und Wächter« unterzuordnen. Vor allem die von den künftigen Studenten besuchten Gelehrtenschulen, die für die Hochschule in gewisserWeise eine Dienstleistung erbrachten, sollten unter ihrer Oberaufsicht stehen. Dieser inmitten von Rufen nach Staatsleitung und -aufsieht im Schulwesen ungewöhnliche Vorschlag beruhte auf eigenen Erfahrungen Roberts und spiegelte das Eigeninteresse der Universität wider. Die Hochschule machte sich im Dezember 1815 das Programm des Vizekanzlers zu eigen und richtete eine entsprechende Eingabe an den Kurfürsten, hatte aber keinen Erfolg. 16 Dabei spielten verschiedene Gründe eine Rolle. Z u m einen beabsichtigten Landesherr und Staatsregierung zu diesem Zeitpunkt keine umfassende Bestandsaufnahme und Neuordnung des Schulwesens oder auch nur der Gelehrtenschulen. Z u m anderen erinnerte das Konzept Roberts in einigen Punkten, beispielsweise in dem Wunsch nach einer Art »Generaldirektor des öffentlichen Unterrichts«, zu sehr an westphälische bzw. französische Vorbilder. Die geforderte Kompetenzausdehnung der Universität im Schulwesen wäre außerdem nur auf Kosten des Staates zu erreichen gewesen und lag deshalb nicht in seinem Interesse. In einer anderen für die Marburger Universität wichtigen Frage kam es 1820 zu einer Regelung. Die Einführung einer Maturitäts- oder Abiturientenprüfung ordnete den Übergang vom Gymnasium zur Hochschule neu. 17 Diese auch in den anderen deutschen Staaten ergriffene Maßnahme erwies sich als bedeutender Einschnitt für die Entwicklung des gelehrten Schulwesens insgesamt und stellte in Kurhessen die wichtigste gymnasialpolitische Initiative der beiden Jahrzehnte zwischen Restauration und Verfassungsgebung dar. Sie führte zu einer Differenzierung innerhalb der höheren Schulen: Ein Teil entwickelte sich zu Gymnasien weiter, während sich die anderen in Bürger- und Realschulen umwandelten. Der Staat spielte dabei eine wichtige Rolle, indem er Zahl und Auswahl der »berechtigten« Schulen steuerte. Die Auseinanderentwicklung hatte indes schon früher eingesetzt. Viele der Lateinschulen in den kleineren kurhessischen Städten nahmen nämlich 1820 die Aufgabe der Uni-
15 Das Gutachten ist abgedruckt bei Speitkamp, Geistesausbildung, S. 212-224. Die folgenden Zitate ebd., S. 216f. 16 Vgl. den Antrag der Universität vom 30.12.1815 und den Beschluß vom 26.3.1816, StAM 5, Nr. 7839, Bl. 2-7; zum Schicksal des Antrages im Landtag Speitkamp, Geistesausbildung, S. 210f. 17 Verordnung vom 11.4.1820, SG, Bd. 3, 1820, Nr. V, S. 49f. Z u ihrer Entstehung und weiteren Entwicklung vgl. unten Kap. III.2.C.
211
versitätsvorbereitung gar nicht mehr oder nur in geringem Umfang wahr.18 Spätestens im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts unterschieden sich die ehemaligen Lateinschulen in Aufbau und Lehrplan nicht mehr von den Volksschulen. Lediglich ein formaler Aspekt wies auf ihren Ursprung hin: Ihnen stand nämlich ein akademisch gebildeter Lehrer (»Rektor«) vor. 1861 zählten in Kurhessen insgesamt 38 Volksschulen zur Kategorie der sogenannten »Rektorschulen«.19 Die Gruppe der Lehranstalten, die über das Recht zur Abhaltung von Abiturprüfungen verfügten, bestand im wesentlichen aus den Gelehrtenschulen, die sich schon um 1800 aus der Masse der Lateinschulen herausgehoben hatten. Zwar zählte die landesherrliche Verordnung von 1820 sie nicht namentlich auf, sondern sprach nur von »Unseren Gymnasien, Lyceen und Pädagogien«.20 Die Formulierung bezeichnete aber einen festen Kreis von Schulen, über dessen Zusammensetzung in der Schulverwaltung Einigkeit bestand. So tauchte die Wendung mehrfach mit expliziter Nennung der einzelnen Anstalten auf 2 1 Das Kasseler Lyceum, das Hanauer Gymnasium sowie die Schulen in Fulda und Marburg fielen immer darunter. Die Hersfelder Anstalt, die unter der westphälischen Regierung von der Schließung bedroht war, gehörte nach der Reorganisation durch den Oberschulrat im Jahr 1817 weiterhin dazu.22 Anders sah es mit dem Schlüchterner Gymnasium aus, das ein Ausschreiben der Fuldaer Regierung 1818 noch gleichwertig neben den anderen gelehrten Schulen nannte. Schon 1823 tauchte es in einer vergleichbaren Aufzählung aber nicht mehr auf 2 3 Seit den frühen zwanziger Jahren war die Auflösung der alten Klosterschule im Gespräch. Das Staatsministerium vollzog sie schließlich 1829.24 Die Provinz Hanau verfügte über ein gut ausgebautes Gymnasium in der Hauptstadt, und außerdem war die Anstalt in Schlüchtern in einem schlechten Zustand. Die Stadt wehrte sich vergeblich gegen die Schließung, die mit einem Ansehensverlust und wirtschaftlichen Einbußen einherging. Die Staatsbehörden entschädigten sie in gewisser Hinsicht durch die Schaffung 18 Vgl. ζ. B. den Bericht des Kirchhainer Kreisrates über die Schulen in Kirchhain, Rauschenberg, Neustadt, Amöneburg und Schweinsberg an die Regierung Marburg vom 5.5.1825, StAM 19e, Nr. 120; und die Angaben zu einzelnen Schulen bei Wolff, Unterrichtswesen, S. 251-389. 19 Vgl. ζ. B. die Bestimmungen des Innenministeriums über die Prüfungen der Rektoren an Stadtschulen vom 18.5.1850, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Bd. 1. Z u r Zahl der Rektorschulen StAM 30, Rep. II, Kl. 24, Nr. 1. Nähere Ausführungen zu Ausbildung, Prüfung, Stellung und Besoldung der Rektoren können im Rahmen dieser Arbeit nicht erfolgen. 20 § 1 der Verordnung vom 11.4.1820, SG, Bd. 3,1820, Nr. V, S. 49. 21 Vgl. das Ausschreiben der Regierung Fulda vom 17.7.1818, SG, Bd. 2,1818, Nr. XV, S. 87; den Beschluß des Innenministeriums vom 18.12.1823, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 1, Bl. 2; Beschluß des Innenministeriums vom 16.9.1830, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 22, Bd. 1. 22 Vgl. Hafner, Geschichte, S. 49-53. 23 Vgl. das Ausschreiben der Regierung Fulda vom 17.7.1818, SG, Bd. 2,1818, Nr. XV, S. 87; den Beschluß des Innenministeriums vom 18.12.1823, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 1, Bl. 2. 24 Beschluß des Staatsministeriums vom 7.10.1829, StAM 16, Rep. VI, Kl. 36, N r . 6. Vgl. auch Rullmann, S. 92f.
212
eines Progymnasiums und die Verlegung des Volksschullehrerseminars in die Klostergebäude. 25 Z u den traditionellen Gelehrtenschulen Kurhessens kam nach dem Ende der französischen Zeit eine N e u s c h ö p f u n g hinzu. Wilhelm I. beschloß 1815, die unter westphälischer Herrschaft 1809 geschlossene Universität in Rinteln nicht wieder zu eröffnen und statt dessen dort ein Gymnasium einzurichten. 26 Die neue Anstalt, die in das ehemalige Universitätsgebäude einzog und sich teilweise aus deren Fonds finanzierte, nahm ihre Tätigkeit 1817 auf. Die Leitung übernahm der »Schulrat«, eine Kommission aus einem Mitglied des Rintelner Konsistoriums, d e m Bürgermeister der Stadt und jeweils einem reformierten und einem lutherischen Pfarrer. Sie unterstand gemeinschaftlich dem Konsistorium u n d d e m Oberschulrat in Kassel.27 Revolution und Konstitutionalisierung gaben im Kurfürstentum Hessen wichtige Anstöße zur Reform des Gelehrtenschulwesens u n d bildeten den Ausgangspunkt einer zweiten Phase kurhessischer Schulpolitik zwischen 1830 und 1848. Wie bei den Elementarschulen ging auch hier die Initiative von der Ständeversammlung aus. Der v o m Abgeordneten Georg Heinrich Scheuch 1831 gestellte Antrag, eine S u m m e von 6.000 bis 8.000 Talern zur Verbesserung der Lyzeen und Gymnasien zu bewilligen, bildete den Auftakt zu einer grundsätzlichen Diskussion über diesen Zweig des Unterrichtswesens. Die Mitglieder des Landtages betonten durchweg seine Bedeutung für den Staat. Der D e putierte Scheuch verwies auf die veränderte politische O r d n u n g , da »eben unser konstitutionelles Leben u n d Wirken sich durch vollständige wissenschaftliche Ausbildung befestige und begründe«. 28 August Vilmar hob die Aufgabe der Gymnasien als Lehranstalten der späteren Staatsdiener und Geistlichen hervor. 29 Schließlich wies die Ständeversammlung noch auf den Z u s a m m e n h a n g zwischen Gelehrtenschule u n d Universität hin. Sylvester Jordan vertrat die Meinung, daß der Erfolg des Hochschulstudiums z u m größten Teil von der Vorbildung der Studenten abhänge: »Die Universitäten möchten so gut eingerichtet seyn, wie sie wollten; sie könnten nie das Ziel erreichen, welches ihnen vorgesteckt sey, w e n n sie n u r von unreifen Schülern bezogen würden, unreif nicht blos an Alter, sondern auch an moralischer Kraft u n d
25 Zur Diskussion über die Reform bzw. Aufhebung des Schlüchterner Gymnasiums: StAM 16, Rep. VI, Kl. 36, Nr. 6. 26 Vgl. Schormann, S. 296-302; zum Folgenden auch Rieß, S. 5-14. Vor allem der Schaumburger Landtag setzte sich 1815/16 für die Wiederherstellung der Universität ein. Vgl. Fortsetzung, S. 9 - 1 3 . 27 Vgl. die Bekanntmachung des Konsistoriums Rinteln vom 2.11.1816, SG, Bd. 1, 1816, Nr. XVI, S. 109; und den gedruckten »Plan zu einem in Rinteln zu errichtenden Gymnasium«. 28 Antrag des Abgeordneten Georg Heinrich Scheuch als Anlage CLIX der KhLtV von 1831, KhLtV 1831, Nr. 47, S. 560; Diskussion ebd., S. 552-554. 29 Vilmar 1831 in der Ständeversammlung, KhLtV 1831, Nr. 47, S. 552.
213
geistiger Ausbildung«. 30 Den aktuellen Zustand des höheren Schulwesens in Kurhessen beurteilten die Mitglieder des Landtages übereinstimmend als unzureichend, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Vilmar und Scheuch zählten als Hauptmängel die ungenügende Ausbildung der Gymnasiallehrer, deren unzulängliche Besoldung und rechtliche Stellung, die innere Einrichtung der Anstalten und die unzweckmäßige Leitung der Schulen auf! Der spätere Hersfelder Gymnasialdirektor Wilhelm Münscher verknüpfte in seinen 1833 veröffentlichten »Ansichten über die Bestimmung und die Einrichtung der Gymnasien« eine Analyse der kurhessischen Situation mit einem Katalog von Vorschlägen, wie die Mißstände zu beseitigen seien. Als geeignete Methode erschien ihm eine schrittweise Verbesserung, die auf die Entwicklung der einzelnen Anstalten Rücksicht nehmen sollte. Eine Gesamtreform »von oben« nach einem staatlich festgelegten Plan lehnte er dagegen ab.31 Bei dieser Argumentation hatte Münscher zwei konkrete Beispiele vor Augen: Preußen baute über einen Zeitraum von rund dreißig Jahren, von der Reformzeit bis zur Mitte der dreißiger Jahre, sein Gymnasialwesen kontinuierlich durch ein System einzelner Maßnahmen und Verordnungen auf. Bayern dagegen verfolgte im selben Zeitraum einen »schulpolitischen Zickzackkurs«, der in kurz aufeinanderfolgenden, widersprüchlichen staatlichen Schulplänen seinen Niederschlag fand. 32 Münscher setzte die unterschiedlichen Inhalte der schulpolitischen Entwicklung in den beiden Staaten mit der Form ihrer Durchführung gleich und gelangte, weil er das preußische gegenüber dem bayerischen System bevorzugte, zur Ablehnung einer staatlichen Gesamtreform des Gymnasialwesens. Diese Position teilten aber in Kurhessen weder Ständeversammlung noch Staatsregierung. Sie befürworteten nämlich übereinstimmend eine umfassende Neuregelung des Gelehrtenschulwesens und sahen gerade in ihrer Durchführung und Leitung durch den Staat eine sichere Erfolgsgarantie. So forderte der Landtag die Staatsregierung 1831 auf, »eine allgemeine Gymnasial-Ordnung entwerfen zu lassen und hiermit eine Revision der einzelnen Gymnasien zu verbinden«. 33 Die Staatsregierung griff den Vorschlag des Landtages auf, und Innenminister Eggena gab der Oberen Unterrichtskommission am 28. Januar 1832 einen entsprechenden Auftrag. 34 In dem Gremium befanden sich mit August Vilmar, der seit 1827 am Hersfelder Gymnasium lehrte, und dem Direktor der Rintelner Anstalt, Kaspar Wiß, zwei Fachleute für das Gelehrten30 Redebeitrag Jordans 1831 im Landtag, ebd., S. 553. 31 Vgl. Münscher, Ansichten, S. 262f. 32 Z u nennen sind hier insbesondere der Lehrplan von 1804, das Normativ von 1808, der Lehrplan von 1829 und die Schulordnung von 1830. Vgl. dazu Hofmann, S. 49-89; Romberg, S. 2 3 5 - 2 4 4 . 33 Abstimmung vom 25.11.1831, KhLtV 1831, N r . 73, S. 984. 34 Beschluß des Innenministeriums vom 28.1.1832, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, N r . 2, Bl. 22.
214
schulwesen. Die Kommission erledigte ihre Aufgabe schnell und legte dem Innenministerium am 23. September 1832 den Entwurf einer »GymnasialOrdnung« für Kurhessen vor.35 Die aus 151 Paragraphen bestehende Vorlage regelte detailliert sämtliche Bereiche des Gelehrtenschulwesens. Darin glich sie der zeitgleich erarbeiteten Ordnung für die kurhessischen Volksschulen. N e ben den formalen Parallelen läßt sich auch eine inhaltliche Verbindung zwischen den Reformvorhaben herstellen. Beide ergänzten sich zu einem Ganzen, nämlich der Schaffung eines einheitlichen Schulsystems im Kurstaat, das niederem und höherem Schulwesen jeweils eine spezielle Funktion zudachte. § 1 des Gymnasialordnungsentwurfs schrieb als Bestimmung der Gymnasien die Vorbereitung auf das Universitätsstudium fest.36 An die Stelle der polyfunktionalen Gelehrtenschule alten Typs trat die Universitätsvorbereitung als einziger Zweck des Gymnasiums. Die Aufgabe der Ausbildung des gewerbetreibenden Bürgertums wies man den neu zu errichtenden Realschulen sowie der »Höheren Gewerbeschule« in Kassel zu.37 Vor der Ausführung der Vorschläge galt es noch die Frage zu klären, ob die Gymnasialreform durch ein Gesetz oder durch Verordnungen erfolgen sollte. Die Obere Unterrichtskommission rechnete offensichtlich mit einer gesetzlichen Regelung, da sie der Gymnasialordnung einen Gesetzentwurf beifügte, der die wichtigsten Bestimmungen in 74 Paragraphen zusammenfaßte. 38 Das Innenministerium arbeitete den Entwurf innerhalb der nächsten drei Jahre mehrfach um, ließ den Inhalt aber im wesentlichen unverändert. Schon die erste Redaktion machte aus dem »Gesetz über die Gelehrtenschulen« eine »Verordnung«. Offensichtlich wollte das Ministerium den Landtag nicht an der Gymnasialreform beteiligen. Das war - anders als bei den Elementarschulen auch nicht notwendig, weil die angestrebten Maßnahmen sämtlich auf dem Verwaltungswege erfolgen konnten. Hassenpflug brauchte die Zustimmung der Ständeversammlung nicht. Zudem galten die Gymnasien im Gegensatz zu den Volksschulen im engeren Sinne als Staatsanstalten, deren Einrichtung und Leitung direkt in den Aufgabenbereich der Bürokratie fiel. Sie gehörten also zu den inneren Angelegenheiten des Staates, deren Regelung ihm allein ohne Mitwirkung anderer Gruppen zustand. 39 Die Gestaltung des kurhessischen Gymnasialwesens allein durch die staatliche Verwaltung erschien in dieser Per-
35 Gymnasialordnung einschließlich des Begleitschreibens der Oberen Unterrichtskommission, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 6, Bd. 1, Bl. 1-68. 36 Ebd., Bl. 6. 37 Eine moderne Darstellung des kurhessischen Realschulwesens und der Höheren Gewerbeschule fehlt, vgl. zu den Realschulen Knabe, Übersicht; zur Höheren Gewerbeschule Eckhardt; Hehl, Gewerbschule. 38 »Entwurf eines Gesetzes über die Gelehrtenschulen«, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 6, Bd. 1, Bl. 70-99. 39 Vgl. allgemeinJesch, S. 141-169, bes. S. 147f.
215
spektive folgerichtig und rief auch beim Landtag keinen Widerspruch hervor. Er forderte kein Gelehrtenschulgesetz und bewertete das Vorgehen der Staatsregierung nicht als Verwaltungswillkür. Kurhessen befand sich in dieser Frage in Ubereinstimmung mit den anderen deutschen Staaten, zum Beispiel Bayern, Baden, Sachsen oder Hessen-Darmstadt, die ihr höheres Schulwesen im 19. Jahrhundert ebenfalls durch Verordnungen und nicht durch Gesetze regelten.40 Die Verordnung über die kurhessischen Gymnasien trat jedoch nicht in Kraft. O b die Pläne am Landesherrn scheiterten, ob die Auseinandersetzungen mit der Stadt Kassel dazu beitrugen oder ob ganz andere Faktoren eine Rolle spielten, läßt sich den Akten nicht entnehmen. Wilhelm Münscher vertrat die Ansicht, es handele sich um einen bewußten Schritt der Staatsregierung, um nicht »durch eine Alles festsetzende Schulordnung den Gymnasien-Geist tötende Fesseln anzulegen, vielmehr wurde in der Behandlung des Unterrichts und der Disciplin dem freien Ermessen Spielraum gewährt«.41 Anlich riet der Fuldaer Gymnasialdirektor Nikolaus Bach davon ab, »in einem Staate, wo das gelehrte Schulwesen eben erst in seiner Entwicklung begriffen ist und noch manche Stadien durchlaufen muß, ehe es sich eines stabilen Zustands wird erfreuen können«, eine Gymnasialordnung in Kraft zu setzen.42 Er verwies dabei - ähnlich wie Münscher - auf Preußen als Vorbild und nannte Bayern als nicht nachzuahmendes Beispiel. Bei dieser Situation blieb es bis zum Ende des Kurstaates. Das Innenministerium teilte dem amerikanischen Konsulat 1865 mit, daß allgemeine »Gesetze und Verordnungen zur Regelung des kurhessischen Gymnasialwesens nicht erlassen worden sind«.43 Obwohl die Gymnasialordnung offiziell nicht in Kraft trat, bildete sie doch die Grundlage für die Neugestaltung des kurhessischen Gymnasialwesens. Nach ihren Prinzipien nahm das Innenministerium bis zum Ende der dreißiger Jahre die Neuorganisation durch eine Reihe von Einzelregelungen vor. Eine Abordnung der Oberen Unterrichtskommission besuchte jede Anstalt, und die Staatsbehörde gestaltete diese nach deren Vorschlägen um und paßte sie den neuen Vorgaben an.44 Innenministerium und Landtag wandten ihre Aufmerksamkeit dann vermehrt den Realschulen zu. Insgesamt bietet die Gymnasialpolitik in Kurhessen zwischen 1830 und 1848 das Bild einer geradlinigen, bruchlosen Entwicklung. Die wesentlichen Maßnahmen erfolgten in der Amtszeit Hassenpflugs. Von besonderer Bedeutung war August Vilmar, der sich zunächst im Landtag und dann als Referent im Innenministerium sowie als Mitglied der Oberen Unterrichtskommission an der Ausarbeitung der Gymna40 Vgl. Romberg, S. 235-253. 41 Münscher, Kirchliches Leben, S. 292. 42 Bericht des Fuldaer Gymnasialdirektors Bach an das Innenministerium vom 4.10.1835, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 24, Bd. 1. 43 Beschluß des Innenministeriums vom 8.11.1865, StAM 16, Rep. VI, Kl. 32, Nr. 72 (Hervorhebung im Original). 44 Vgl. Gegenbaur, Jahrhundert, S. 58.
216
sialreform beteiligte. Auch nach Abschluß dieser Tätigkeiten im Jahr 1832 blieb er eine zentrale Figur im kurhessischen Gelehrtenschulwesen. Als Direktor des Marburger Gymnasiums führte er 1833/34 dessen Umgestaltung durch und leitete es bis 1850. In den ersten Jahren übernahm die Schule die Funktion einer »Musteranstalt« für das Kurfürstentum, indem sie die Lehrer des neu zusammengestellten Kollegiums »ausbildete« und auf die anderen Gymnasien verteilte. Das Innenministerium zog Vilmar ferner, vor allem unter Hassenpflug, immer wieder als Gutachter heran. 45 Allgemeine Beratungs- und Aufsichtsfunktionen übernahm nach 1836 auch die Schulkommission für Gymnasialangelegenheiten. Während sich der Schulreferent im Ministerium hauptsächlich um das Volksschulwesen kümmerte, dienten bei den Gymnasien die Direktoren als Ansprechpartner der Staatsbehörde. So konnten sie Einfluß auf die Verwaltung ihrer Anstalten und die Ausgestaltung des Gelehrtenschulwesens nehmen, auch ohne über eigene Entscheidungskompetenzen zu verfügen. Hierin zeigt sich ein Unterschied zum Elementarschulwesen, dessen Behandlung bei den Behörden in der Hand von Verwaltungsbeamten oder Geistlichen, nicht aber der Lehrer selbst lag. Der Landtag trat im weiteren Verlauf der dreißiger Jahre nicht mehr als eigenständiger Faktor hervor. An der Ausführung der Umstrukturierungen war er nicht beteiligt; er begrüßte die Maßnahmen der Staatsregierung aber allgemein als Verbesserung. Die Bewilligung der dafür notwendigen finanziellen Mittel erfolgte ohne prinzipielle Auseinandersetzungen. Insgesamt arbeiteten Ständeversammlung und Staatsregierung in diesem Bereich ohne Konflikte zusammen. Eine Ausnahme bildete lediglich die Frage der Gymnasiallehrerbesoldung. 46 Die Einzelregelungen des Innenministeriums zur Umgestaltung der Gelehrtenschulen lassen sich unter den Stichworten Verstaatlichung und Vereinheitlichung zusammenfassen. Der Begriff der »Verstaatlichung« bezeichnete mehr als das Oberaufsichtsrecht. Der Staat beanspruchte vielmehr die direkte Leitung und Verwaltung der einzelnen Anstalten ohne Mittelinstanzen und ohne die Mitsprache anderer Gruppen. Da die Gymnasien als Ausbildungsstätten der späteren (höheren) Beamten dienten, hatte er ein unmittelbares Interesse daran, ihre Arbeit zu kontrollieren. Deshalb und weil die gelehrten Schulen allgemein die Vorbildung der politischen und gesellschaftlichen Führungsschicht übernahmen, galten sie als Staatsanstalten im engeren Sinne. Während die Elementarschulen die Ausbildung der jeweiligen örtlichen Schuljugend für Tätigkeiten in der Gemeinde zur Aufgabe hatten, also kommunalen Zwecken dienten, sollten die Gymnasien Männer für die Erfüllung überregionaler, gesamtstaatlicher Bestimmungen erziehen. 47 45 Vgl. dazu Münscher, Gymnasium Marburg, S. 53-59; Untkel, S. 68f.; Hölk, S. 13f.; Hopf, Vilmar, Bd. 1, S. 292, 300-310. 46 Vgl. zu Einzelheiten unten Kap. III.3.C. 47 Jordan 1831 im Landtag, KhLtV 1831, Nr. 73, S. 981.
217
Massiven kommunalen Widerstand gegen die Verstaatlichungspläne des Innenministeriums leistete die Stadt Kassel, die ihre Mitwirkungsrechte am Lyceum Fridericianum nicht aufgeben wollte. Sie gehörte der 1779 eingerichteten Direktion des Lyceum Friedricianum in der Person des Bürgermeisters an,48 und ihr stand zudem das Recht der Lehrerpräsentation zu. Das Innenministerium dagegen beanspruchte diese Kompetenzen für sich. Die Auseinandersetzungen zwischen Stadt und Staat drehten sich im Kern um die Frage, ob das Lyceum als Lokal- oder Staatsanstalt zu betrachten sei. Während der Kasseler Magistrat an der älteren Sichtweise einer primär städtischen Anstalt festhielt, betonte das Innenministerium, daß sich das Lyceum, »wenn auch nicht durch förmliche Erweiterung seiner Bestimmung, doch durch Aufnahme auswärtiger Schüler ohne geographische Begränzung zu einer viel allgemeineren Anstalt herausgebildet«49 habe und somit schon jetzt die Aufgabe einer Staatsanstalt erfülle. Die langwierigen Streitigkeiten mündeten schließlich in einen Prozeß vor dem Kasseler Oberappellationsgericht. In ihrem Urteil von 1839 bestätigten die Richter dem Landesherrn und damit dem Staat das uneingeschränkte Recht, »die äußere und innere Einrichtung der Schulen festzusetzen, namentlich auch die Lehrgegenstände und den Grad der in den einzelnen Schulen zu bewirkenden Ausbildung zu bestimmen«. 50 Das Oberappellationsgericht stärkte also die Position des Staates gegenüber den Kommunen und bereitete der Stadt eine Niederlage gegenüber der Staatsregierung. In dem 1840 zwischen beiden Parteien ausgehandelten Vertrag verzichtete die Stadt dementsprechend »aufjede Mitwirkung bei der Verwaltung dieser Anstalt und auf das Recht der Präsentation der Lehrer des Lyzeums«. § 1 bestimmte, daß die Kasseler Gelehrtenschule »lediglich Staats-Anstalt« sei.51 Der Prozeß der Verstaatlichung der höheren Schulen verlief nur in Kassel so konfliktreich; in den anderen kurhessischen Gymnasialstandorten leisteten die Städte keinen Widerstand. Das lag zum einen daran, daß sie - mit Ausnahme von Rinteln, wo der Bürgermeister zum Aufsichtsgremium gehörte — schon vor den dreißiger Jahren nicht mehr an der Leitung der Schulen mitwirkten. Z u m anderen verfügten Anstalten wie die Hohe Landesschule in Hanau oder Lyceum und Gymnasium in Fulda schon über eine lange Tradition als Landesanstalten, so daß sie im Bewußtsein der Städte nicht als »eigene« Schulen galten. Die Auseinandersetzungen um das Lyceum Fridericianum hatten über die Residenz hinaus allgemeine Bedeutung für das Verhältnis von Staat, Kommunen 48 Vgl. zum Folgenden und ausführlich zum Verlauf und zu den Hintergründen des sogenannten »Kasseler Gymnasialstreits« Kesper-Biermann, Gelehrtenschule. 49 Beschluß des Innenministeriums vom 3.5.1831, StAM 16, Rep. VI, KI. 21, Nr. 1, Bd. 2. 50 Urteil des Oberappellationsgerichts im Prozeß der Stadt Kassel gegen den Staatsanwalt der Provinz Niederhessen vom 6.7.1839, StAM 16, Rep. VI, Kl. 21, N r . 1, Bd. 4. 51 §§ 1 u. 2 der sogenannten »Vergleichsurkunde« zwischen der Stadt Kassel und der Regierung der Provinz Niederhessen vom 11.1.1840, StAM 16, Rep. VI, Kl. 21, Nr. 86.
218
und Gymnasien in Kurhessen. 52 Der Ausgang des Konflikts zeigt, daß es dem kurhessischen Staat gelang, seinen alleinigen Anspruch auf die Gelehrtenschulen vollständig durchzusetzen. Die Kommunen verfügten künftig über keinerlei Mitwirkungsmöglichkeiten mehr. Leitung, Verwaltung und Lehreranstellung fielen allein in den Kompetenzbereich des Innenministeriums. Im Gegenzug befreite der Staat die Städte von sämtlichen Verpflichtungen, das heißt die Staatskasse übernahm die gesamten Kosten für das Gymnasialwesen. Die Gymnasiallehrer wurden zu Staatsdienern erklärt, ihre rechtliche Stellung und die Besoldung in Anlehnung an diese geregelt sowie Ausbildungsgang und Prüfungen normiert. 53 Eine vergleichbar konsequente Verstaatlichungspolitik hinsichtlich der Gelehrtenschulen verfolgten nur wenige deutsche Staaten. In Preußen konnten sich die Städte vielfältige Mitwirkungsmöglichkeiten im Bereich der äußeren Schuleinrichtung bewahren; in Bayern verfügten sie teilweise über das Präsentationsrecht für die Lehrer, ebenso im benachbarten HessenDarmstadt. In Sachsen scheiterte ein in den dreißiger Jahren in den Landtag eingebrachter Gesetzentwurf zur Beseitigung der kommunalen Rechte im Gelehrtenschulwesen am Widerstand der Ersten Kammer, die ihn als zu zentralistisch und als zu großen Eingriff in die traditionellen Patronatsrechte ablehnte.54 Der zweite Bereich der kurhessischen Gymnasialreform der dreißiger Jahre betraf die Vereinheitlichung der bislang in Aufbau, Größe und Unterrichtsinhalten unterschiedlichen Gelehrtenschulen. Sie erhielten nun den einheitlichen Titel eines »Kurfürstlichen Gymnasiums« und sollten als Landesanstalten vergleichbare Standards erzielen. Das Innenministerium glich die inneren Strukturen der einzelnen Schulen einander an, erstellte einen allgemeingültigen Lehrplan und präzisierte die Bestimmungen der landesweit einheitlichen Abiturprüfungen. Preußen hatte dabei für das Kurfürstentum Vorbild- und Modellwirkung. In der öffentlichen Diskussion, beispielsweise im Landtag, wurde wiederholt auf Preußen verwiesen und der Zustand der kurhessischen Gelehrtenschulen mit dem der preußischen verglichen.55 Die Obere Unterrichtskommission stellte fest, daß die »angenommenen Grundzüge der inneren Einrichtung der Gelehrtenschulen [...] durchaus dieselben sind, welche in Preußen seit nunmehr 20 Jahren zur Anwendung gebracht« würden. 56 Der Blick auf Preußen blieb auch im weiteren Verlauf bestimmend, da Kassel die dortigen Entwicklungen und Veränderungen im Gelehrtenschulwesen stets 52 Beschluß des Innenministeriums vom 17.6.1839, StAM 16, Rep. VI, Kl. 21, Nr. 1, Bd. 4. 53 Vgl. dazu im einzelnen unten Kap. III.3. 54 Die städtischen Befugnisse im höheren Schulwesen hat Romberg, S. 384—429, zusammengestellt. Vgl. auch Schmidt, Staatsreform, S. 166; Meyer, Jahrhundert, S. 22f. 55 Vgl. ζ. B. den Bericht Vilmars vom 4.11.1831, KhLtV 1831, Beilage XXVIII, S. 1. 56 Bericht der Oberen Unterrichtskommission an das Innenministerium vom 23.9.1832, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 6, Bd. 1, Bl. 1-4, hier Bl. 3.
219
aufmerksam verfolgte und im Hinblick auf die eigene Situation überprüfte. Wie sehr das kurhessische Gymnasialwesen dem preußischen glich, zeigte sich nach 1866, als diese Lehranstalten problemlos in das preußische System integriert werden konnten. Die »Nachahmung des preußischen Schulwesens bis ins kleinste Detail«57 fand in Rurhessen allgemein Zustimmung und wurde nur von wenigen wie dem Marburger Theologieprofessor Heinrich Thiersch, Sohn des bekannten bayerischen Schulreformers, abgelehnt. Dessen Kritik zielte auf das preußische Bildungskonzept an sich und richtete sich nicht dagegen, daß der Kurstaat seine Gymnasialverfassung quasi »importiert« hatte und keine eigenen Wege ging.58 Die Gymnasien Preußens genossen in Deutschland und Europa hohes Ansehen und galten als nachahmenswertes Vorbild. So war die Orientierung am preußischen Modell keine kurhessische Besonderheit, sondern für die mittel- und norddeutschen Staaten eher die Regel.59 Alternativen zur Einrichtung des höheren Schulwesens gab es aber in Deutschland durchaus. Württemberg und Sachsen hielten lange an ihrem erfolgreichen, traditionellen Gelehrtenschulwesen fest; Bayern entwickelte eine eigenständige Variante des Gymnasialwesens auf neuhumanistischer Grundlage. 60 Keinem dieser Modelle gelang es jedoch, eine ähnliche Breitenwirkung zu entfalten wie dem »preußischen Gymnasium«, das nach 1871 auch von der politischen Führungsrolle Preußens in Deutschland profitierte. Innerhalb Deutschlands fand ein reger Austausch über die Einrichtung des höheren Schulwesens statt, der sich auf mehreren Ebenen abspielte. So informierten sich die Staatsregierungen gegenseitig, und Schulmänner unternahmen in amtlichem Auftrag oder aus privatem Interesse »pädagogische Reisen« in andere Länder.61 Die Gymnasiallehrer der verschiedenen Staaten tauschten sich über Fachzeitschriften aus, die - im Gegensatz zur Mehrzahl der entsprechenden Publikationen im Elementarschulwesen - überregionale Foren bildeten. Dort meldeten sich auch kurhessische Gymnasiallehrer zu Wort.62 Für den Kontakt der einzelnen Lehranstalten untereinander spielte der sogenannte »Programmtausch« eine wichtige Rolle. Es handelte sich dabei um den Austausch der jährlichen Schulprogramme, den die Behörden der Einzelstaaten organisierten.63 Auf Initiative des Fuldaer Gymnasialdirektors Bach nahm 57 So Heinrich Thiersch in seinen Erinnerungen, vgl. Wigand, S. 59; vgl. auch Bezzenberger, Kurhessen, S. 506. 58 Vgl. zum sogenannten »kurhessischen Gymnasialstreit« unten Kap. III.2.b. 59 Vgl. zu Schaumburg-Lippe Dühlmeier, S. 208f.; allgemein Kramer, Gymnasium, S. 171. 60 Vgl. allgemein Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 497f.; zu Kurhessen Osterhammel, Menschenbildung, S. 371 ; Bezzenberger, Kurhessen, S. 506; z u m Urteil des Auslands über das preußische GymnasiumJeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 4 1 3 ^ 5 9 . 61 Z u den pädagogischen Reisen allgemein Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 413-415. 62 Vgl. dazu unten Kap. III.3.d. 63 Z u m Programmtausch innerhalb Deutschlands vgl. Ullrich, S. 166-172; Wiese, Bd. 2, S. 7 0 4 f .
220
Kurhessen 1836 den Tauschverkehr mit Preußen auf, ein Jahr später kam Sachsen hinzu, 1839 Hannover und Sachsen-Weimar-Eisenach. Bis z u m Ende des Kurfürstentums dehnte sich der Kreis auf Baden, Württemberg, H e s s e n Darmstadt, Nassau und Waldeck aus. Damit standen die kurhessischen Gelehrtenschulen in Verbindung mit über 200 Lehranstalten in ganz Deutschland. 6 4 Die dritte Phase kurhessischer Schulpolitik umfaßte die Jahre 1848 bis 1866. Die durch die Revolution von 1848/49 ausgelösten schulpolitischen Diskussionen konzentrierten sich zwar überall in Deutschland, auch in der Frankfurter Paulskirche, auf das Volksschulwesen, ließen aber die Gymnasien nicht unberücksichtigt. 65 In Kurhessen bot der politische U m s c h w u n g Gelegenheit zu einer Revision der in den dreißiger Jahren geschaffenen Gymnasialorganisation. Die Initiative ging von den Gymnasiallehrern aus, deren Engagement jedoch im Vergleich weit hinter den Aktivitäten der Volksschullehrer zurückblieb. Schon im April 1848 wandte sich der Kasseler Gymnasialdirektor Karl Friedrich Weber an das Innenministerium und regte an, die Wünsche u n d Ansichten aller »Sachverständigen« im Gelehrtenschulwesen, das heißt der Anstaltslehrer und -direktoren, einzuholen u n d auf dieser Grundlage gegen bestehende Mängel vorzugehen. 6 6 Das Märzministerium unter Eberhard griff diesen Vorschlag sofort auf und wies die sechs Direktoren an, »mit ihren Lehrerkollegien über den Zustand der Gymnasien, die etwa nöthigen Reformen sowohl in Beziehung auf den Gymnasialorganismus überhaupt, als in Bezieh u n g auf die besonderen Einrichtungen, den Lehrstoff, die Lehrmethode in Berathung zu treten und über die ausgesprochenen Ansichten und Wünsche näher zu berichten«. 67 N e b e n diesen vom Ministerium eingeforderten G u t achten gingen weitere Petitionen einzelner Lehrer oder Kollegien bei der Staatsbehörde ein. Anders als die Volksschullehrer suchten die Gymnasialpädagogen die Ständeversammlung nicht in gleichem Maße als Verbündeten. Sie wandten sich aufgrund der engen Verbindung von Gymnasium und Staat in erster Linie an die Verwaltungsbehörden. Besonders bemerkenswert ist, daß sich auch die Gymnasialschüler mit eigenen Forderungen zu Wort meldeten. 68 Der Anstoß dafür kam nach Ansicht des Hersfelder Direktors Münscher aus d e m politisch besonders bewegten Hanau. 6 9 Das liberale Ministerium n a h m die Position der Schüler ernst und empfand ihr Verhalten nicht - wie einige der
64 Vgl. dazu Weber, Bach, S. 21, und die Akten StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 24, Bd. 1-4. 65 Vgl. allgemeinJeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 547-554. 66 Antrag des Gymnasialdirektors Weber an das Innenministerium vom 18.4.1848, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 39, Bd. 1, Bl. lf. 67 Beschluß des Innenministeriums vom 26.4.1848, ebd., Bl. 3. 68 Vgl. ζ. B. die Schilderung in den Erinnerungen von Adolf Stölzl über seine Schulzeit am Lyceum Fridericianum, Festschrift Friedrichsgymnasium, S. 71; zu Hersfeld Hafiter, S. 73f. 69 Bericht des Hersfelder Direktors Münscher an das Innenminsterium vom 14.5.1848, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 39, Bd. 1, Bl. 6f.
221
Direktoren - als anmaßend. Entsprechend forderte Eberhard die Anstaltsleiter auf, im Lehrerkollegium über die Vorschläge der Schülerschaft zu diskutieren und sie eventuell in die Berichte für das Innenministerium aufzunehmen. 70 Die Gutachten aus sämtlichen Schulen trafen bis zum Oktober 1848 beim Innenministerium ein.71 In seinem Begleitschreiben machte Weber deutlich, daß die Forderungen der Lehrer prinzipiellen Charakter hätten, der mit der Struktur des Gelehrtenschulwesens zusammenhänge und nicht mit der aktuellen politischen Situation.72 Auch für Preußen wurde festgestellt, daß die 1848/ 49 vorgebrachten Fragen dort schon länger Gegenstand der Diskussion waren.73 Die Kritik der einzelnen Lehrerkollegien betraf im wesentlichen drei Punkte: Erstens ging es um die Schulverwaltung, und zwar besonders um die Schulkommission für Gymnasialangelegenheiten, die übereinstimmend in ihrer bestehenden Form abgelehnt wurde. Die Gymnasiallehrer wünschten eine Beteiligung an dem Gremium, das sich bisher nur aus Direktoren zusammengesetzt hatte. Außerdem sprachen sie sich für eine einheitliche Leitung der Gelehrtenschulen durch eine Zentralbehörde bzw. einen speziellen Referenten im Innenministerium aus. Zweitens forderten die Pädagogen ein größeres Mitspracherecht an den inneren Angelegenheiten der einzelnen Schulen. Die große Machtfülle des Direktors war einzuschränken und die Kompetenz des Lehrerkollegiums auszudehnen. 74 Drittens schließlich tauchten standespolitische Forderungen in den Katalogen auf, die sich hauptsächlich auf die Besoldung und die Stellensituation bezogen. Insgesamt blieben die Vorschläge der Gymnasiallehrer also sehr moderat. Sie beabsichtigten nur Modifikationen des bestehenden Systems und stellten es nicht grundsätzlich in Frage. U m die einzelnen Anstalten miteinander in Beziehung zu setzen, schickte das Innenministerium sämtliche Berichte reihum an die Direktoren. Im Anschluß an diesen Umlauf plante es eine Konferenz aus Gymnasialdirektoren und -lehrern zur Beratung der Reformvorschläge. Ihre Vorbereitung und Durchführung lag in den Händen der Oberschulkommission, die auch den Teilnehmerkreis vorschlug.75 Neben den Mitgliedern des Gremiums sollten drei Direktoren und mindestens je ein vom Lehrerkollegium gewählter Vertreter eines jeden Gymnasiums mitwirken. Z u m sogenannten Plenum der Oberschulkommission vom 11. bis 14. April 1849 kamen die Direktoren Vilmar, 70 Vgl. den Beschluß des Innenministeriums vom 30.5.1848 und 8.6.1848, ebd., Bl. 10 u. 4. 71 Die Berichte aus Marburg (1.6.1848), Hersfeld (5.6.1848), Hanau (3.7.1848), Rinteln (16.7.1848), Fulda (6.9.1848) und Kassel (4.10.1848) finden sich sämtlich ebd. 72 Schreiben des Kasseler Gymnasialdirektors Weber an das Innenministerium vom 4.10.1848, ebd., Bl. 119-154, hier Bl. 120. 73 Vgl.Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 574. 74 Vgl. dazu auch unten Kap. III.3.b. 75 Beschluß des Innenministeriums vom 10.11.1848; Bericht der Oberschulkommission an das Innenministerium vom 13.3.1849 und der Beschluß des Innenministeriums vom 23.3.1849, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 39, Bd. 1, Bl. 160, 218-220, 221.
222
Weber und Drenke als derzeitige Mitglieder der Schulkommission für Gymnasialangelegenheiten sowie als gewählte Vertreter die Lehrer Johann Karl Flügel (Kassel), Heinrich Hasselbach (Marburg), Friedrich Münscher (Hanau) und Karl Schwartz (Fulda). Die Kollegien in Hersfeld und Rinteln entsandten ihre Direktoren Wilhelm Münscher und Heinrich August Schiek. Zusätzlich ernannte das Ministerium noch den Rintelner Gymnasialpädagogen Rudolf Hermann Arndt Kohlrausch und den Kasseler Ernst Wilhelm Grebe. Die Oberschulkommission teilte die Ergebnisse der Beratungen dem Innenministerium in mehreren Berichten zu verschiedenen Themenbereichen mit.76 Hinsichtlich der Frage, ob in den unteren Klassen der Gymnasien eine allgemeine Berufsvorbildung erfolgen solle, entschied sich die Mehrheit des Plenums für eine Trennung beider Bildungswege, »weil durch die Vereinigung und die dadurch nöthige Accomodation beide Bildungsweisen beeinträchtigt und die Schüler beiderseits zur Erlernung solcher Lehrgegenstände genöthigt werden, welche für ihren eigentlichen Zweck unwesentlich oder fremd sind«.77 Der Lehrplan des Gymnasiums blieb von Anfang an allein auf die Universitätsvorbereitung ausgerichtet. Die Änderungsvorschläge des Plenums zu Lehrplan und Maturitätsprüfung übernahm das Innenministerium praktisch unverändert im Ministerialbeschluß vom 29. Oktober 1849.78 Die Behörde folgte auch den Forderungen nach einer größeren Beteiligung der Lehrer an den inneren Angelegenheiten der einzelnen Schulen und legte sie in den Dienstanweisungen für die Direktoren und Gymnasiallehrer sowie dem Regulativ über die Lehrerkonferenzen vom 22. November 1849 nieder.79 Die Bilanz der Ereignisse von 1848 für die höheren Schulen im Kurstaat fällt damit anders aus als im Volksschulwesen. Während die Zeit des Märzministeriums für eine umfassende Umgestaltung der Elementarschulen zu kurz war, reichte sie zur Diskussion und Umsetzung der Maßnahmen im Gelehrtenschulwesen aus. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Neuorganisation der Volksschulen mit weitaus größeren Problemen verknüpft war. Außerdem erforderte die dort geplante gesetzliche Regelung mehr Zeit als Verwaltungsmaßnahmen. Schließlich orientierten sich die Forderungen der Gymnasiallehrer am bestehenden Zustand und hatten keine grundsätzlichen Veränderungen zur Folge. Das ist auch der Grund, warum das Ministerium ihre Vorschläge ausnahmslos umsetzte. Als übereinstimmendes Merkmal staatlicher Schulpolitik in Kurhessen unter dem liberalen Ministerium Eberhard 76 Vgl. die Berichte vom 19.4.1849, ebd., Bl. 254-261 ; vom 15.8.1849, ebd., Bl. 279-292; vom 15.10.1849, ebd., Bl. 294-303. 77 Bericht der Oberschulkommission an das Innenministerium vom 15.8.1849, ebd., Bl. 279292, hier Bl. 279f. 78 Der Beschluß ist abgedruckt im Programm Gymnasium Kassel 1850, S. 52-54. 79 Dienstanweisungen und Regulativ, StAM 16, Rep. VI, Kl. 20, Nr. 39, Bd. 1, Bl. 322-324; Beschluß des Innenministeriums vom 22.11.1849 ebd., Bl. 325f.
223
läßt sich die Beteiligung der Lehrerschaft feststellen, deren Ansichten und Bedürfnisse nun Berücksichtigung finden sollten. Im Vergleich mit den anderen deutschen Staaten fiel die kurhessische Gymnasialpolitik während der Revolutionszeit nicht aus dem Rahmen. Uberall versammelten sich die Lehrer aus eigener Initiative oder auf staatliche Anregung hin, um ihre Wünsche und Vorstellungen zu formulieren. 80 Daß es in Kurhessen nicht zu Gymnasiallehrertreffen in eigener Regie kam, lag wohl am schnellen Vorgehen des Innenministeriums, das die Aktivitäten der Lehrer sofort in staatliche Bahnen, das heißt: in Konferenzen an den einzelnen Schulen, lenkte. Die Märzregierungen der deutschen Staaten wählten gleichartige Vorgehensweisen, indem sie Kommissionen zur Diskussion von Gymnasialreformen einsetzten. Preußen beispielsweise holte wie Kurhessen zunächst Stellungnahmen der Lehrer ein und ließ sie dann auf einer Konferenz diskutieren. 81 Inwieweit die verschiedenen Territorien sich gegenseitig beeinflußten, ist schwer nachzuvollziehen. Der Vorschlag des Kasseler Gymnasialdirektors, der den kurhessischen Reformprozeß anstieß, scheint nicht von Preußen angeregt worden zu sein, da dort der entsprechende Erlaß erst im Juni 1848 erging.82 Insgesamt wies die staatliche Politik in Berlin weniger liberale Züge auf als in Kassel. So gab das preußische Ministerium den Schulen konkrete Beratungspunkte vor und gestand die Wahl der Konferenzteilnehmer durch die Lehrerkollegien erst nach Protesten aus der Lehrerschaft zu. Trotz der behutsamen Maßnahmen der Revolutionszeit traf die Reaktion die kurhessischen Gymnasien hart. Sie trug die Handschrift August Vilmars, den Hassenpflug von seinem Marburger Direktorenposten erneut als Kirchen- und Schulreferenten in das Innenministerium holte. Wie zu Beginn der dreißiger Jahre prägte er auch in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre die Gymnasialpolitik des Kurstaates. Hassenpflug ließ ihm weitgehend freie Hand, seine Vorstellungen durchzusetzen, da beide in ihren Grundüberzeugungen übereinstimmten und der Innenminister seinem Schulreferenten fachlich und politisch vertraute. Wie im Volksschulwesen war die möglichst enge Verbindung von Schule und Christentum bzw. (evangelischer) Kirche die Maxime von Vilmars Politik. Nach seiner Ansicht wie der vieler Philologen in Deutschland hatten die vorangegangenen Jahrzehnte eine Entfremdung des Gymnasiums vom Christentum gefördert, die man nun rückgängig machen müsse. Für diese Gruppe »kirchlicher« oder, wie sie sich selbst bezeichneten, »konservativer« Gymnasialpädagogen führte das gestiegene Ansehen von Wissenschaft und Bildung dazu, daß die Menschen die nötige Demut und Ehrfurcht Gott gegenüber
80 Vgl. die Übersicht bei Schiller, Reform, S. 916-927. 81 Vgl. dazu und z u m Folgenden ausführlichJeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 568-593. 82 Ebd., S. 574, A n m . 65.
224
vermissen ließen.83 U m dieser Gefahr entgegenzuwirken, sollten die Gymnasien in Kurhessen wieder zu den »vornehmsten Pflanzstätten christlich-kirchlicher Gesinnung und Lebensordnung« 84 werden. Vilmar wollte das durch die enge Verbindung von Christentum und klassischen Studien erreichen. Seiner Ansicht nach war eine christliche Erziehung der Schüler wie die christliche Lebensführung der Lehrer nur im Rahmen der Kirche möglich. Vilmar verstand sein Vorgehen als Rückkehr zur ursprünglichen Bestimmung der Gymnasien, die Schüler »zu aufrichtiger Frömmigkeit und zu wissenschaftlicher Gediegenheit zu erziehen«.85 Er schlug also seiner Meinung nach keine neue Richtung ein, sondern gab dem, was in den letzten Jahrzehnten in Vergessenheit geraten war, wieder seinen angestammten Platz. So ist der Verweis auf die Schulordnungen von 1618 und 1656 als »Grundlage des Gelehrtenschulwesens« zu verstehen. 86 Er setzte sein Programm durch ein Bündel von Vorschriften um, die das Innenministerium nach dem Grundsatzbeschluß des Gesamtstaatsministeriums im Februar 1852 am 10. April desselben Jahres erließ.87 Den Beruf des Gymnasiallehrers konnte danach nur ausüben, wer einer im Kurfürstentum anerkannten christlichen Kirche angehörte und sich verpflichtete, »in seinem Amte nichts gegen die evangelische Kirche zu unternehmen, bezw. die seinem Unterrichte anvertrauten Schüler für die Ordnung der Kirche zu erziehen«.88 Den evangelischen Religionsunterricht sollten nur noch ordinierte Geistliche unter der Aufsicht der geistlichen Behörden erteilen. Hinsichtlich der katholischen Lehrer und des katholischen Religionsunterrichts erfolgten keine entsprechenden Verfügungen. Vilmar sah sich als Mitglied der evangelischen Kirche nur dazu in der Lage, deren Stellung zum Gymnasium zu regeln, und überließ es der katholischen Kirche, ähnlich vorzugehen.89
83 Vilmar in seiner Rede »Die göttliche und dämonische Seite der Wißenschaft« (1849), Schulreden, S. 255-268, hier S. 267f. 84 Beschluß des Gesamtstaatsminsteriums vom 26.2.1852, Programm Gymnasium Kassel 1853, S. 41 f., hier S. 41. 85 Dienstanweisung für die Lehrer der kurhessischen Gymnasien vom 10.4.1852, Programm Gymnasium Kassel 1853, S. 42. 86 Allerhöchste Entschließung vom 26.2.1852, ebd., S. 41. 87 Allerhöchste Entschließung vom 26.2.1852; Dienstanweisung für die Lehrer der kurhessischen Gymnasien vom 10.4.1852; Beschluß über den evangelischen Religionsunterricht und die evangelische Religionsübung an den Gymnasien vom 10.4.1852; Beschluß, die von den geistlichen Behörden der evangelischen Kirche über den evangelischen Religionsunterricht auf den Gymnasien zu führende Aufsicht betreffend, vom 10.4.1852; Beschluß, das Verhältnis der evangelischen Religionslehrer an den Gymnasien zum geistlichen Amte betreffend, vom 10.4.1852; Programm Gymnasium Kassel 1853, S. 41-45; oder Wiese, Schulwesen, Bd. 2, S. 438-440, A n m . 2. 88 Allerhöchste Entschließung vom 26.2.1852, Programm Gymnasium Kassel 1853, S. 41. 89 Vgl. seine Rede »Von der Pflege des kirchlichen Bewußtseins in den Gelehrtenschulen« (1840), Schulreden, S. 58-69, bes. S. 65f.
225
Die Kritik von »kirchlicher« Seite am Bildungskonzept der Gymnasien kam in Deutschland nicht erst in den fünfziger Jahren auf, sondern reichte bis in das vorrevolutionäre Jahrzehnt zurück. Auch Vilmar entwickelte sein Konzept schon seit den dreißiger und vierziger Jahren. Die Ereignisse von 1848/49 machten dessen Umsetzung in den Augen vieler Staatsregierungen notwendig und erforderlich. Die politische Absicht der Gesinnungsbildung und Disziplinierung von Schülern und Lehrern im Sinne der wiederhergestellten Ordnung spielte dabei sicherlich eine Rolle. Unterordnung unter die geistliche und weltliche Obrigkeit galt als ein Mittel der Revolutionsprävention und der von Vilmar angestrebten »Regeneration des Volksgeistes von innen heraus«.90 Die Programmatik der kurhessischen Restaurationspolitik im Gymnasialwesen tauchte auch im übrigen Deutschland auf In Preußen vertrat der Referent im Kultusministerium für das Gymnasialwesen, Ludwig Wiese, die »kirchliche« Position. Insgesamt blieben die Auswirkungen der Reaktion in Preußen hinter denen in Kurhessen zurück, da vergleichbare Beschlüsse wie die des Kasseler Innenministeriums von 1852 in Berlin nicht getroffen wurden. 91 Anstelle einer wie in Preußen seit den dreißiger Jahren ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen realistischer und gymnasialer Bildung fand in Kurhessen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre eine heftige öffentliche Debatte über den Lehrplan des Gymnasiums statt. Der von den Zeitgenossen so bezeichnete »Kurhessische Gymnasialstreit« drehte sich in erster Linie um die Frage, welchen Raum die alten Sprachen sowie die Fächer Deutsch und Mathematik in der Gelehrtenschule einnehmen sollten. Er fand über die Grenzen des Kurstaats hinaus Beachtung. 92 Das Innenministerium nahm eine Eingabe Heinrich Thierschs 1857 zum Anlaß, die Gymnasialverfassung des Kurstaates einer allgemeinen Revision zu unterziehen. Die Behörde veranlaßte daraufhin aber nur geringfügige Modifikationen, da ihr eine »Veranlassung, in den dermalen bestehenden Grundbestimmungen und organischen Einrichtungen der Gymnasien durchgreifende Aenderungen vorzunehmen«, nicht notwendig oder wünschenswert erschien. 93 Die allgemeine politische Liberalisierung im Kurstaat zu Beginn der sechziger Jahre blieb im Gymnasialwesen weitgehend folgenlos. Anders als im Volksschulwesen, wo die Revision der 1853er Schulordnungen sichtbares Zeugnis für einen veränderten schulpolitischen Kurs ablegte, fehlte ein vergleichbarer Schritt für die Gelehrtenschulen. Im Gegenteil blieben die Vilmarschen Regelungen von 1852 in Kraft. So übten beispielsweise die geistlichen Behörden 90 Hopf, Vilmar, Bd. 2, S. 195. 91 Zur preußischen Gymnasialpolitik der ReaktionszeitJeismanti, Gymnasium, Bd. 2, S. 5 9 6 612; vgl. auch den Artikel von Heiland in Schmids Encyklopädie von 1862. 92 Zu Einzelheiten vgl. unten Kap. III.2.b. 93 Beschluß des Innenministeriums vom 31.3.1859, Annalen der Justiz und Verwaltung in Kurhessen 1859, S. 40-43.
226
bis 1866 die Aufsicht über den Religionsunterricht in den Gymnasien aus, und die (evangelischen) Lehrer wurden weiterhin bei ihrem Amtsantritt darauf verpflichtet, ihre Schüler für die Bekenntnisse und Ordnungen der Kirche zu erziehen.94 Es ist allerdings davon auszugehen, daß die Anwendung dieser Vorschriften nicht mehr so stark unter dem Aspekt der Disziplinierung und Gesinnungskontrolle der Lehrerschaft stand. Während das Innenministerium und die Gymnasiallehrer sich nicht explizit mit der reaktionären Gymnasialpolitik auseinandersetzten, diskutierte der Landtag 1864 darüber.95 Die liberalen Abgeordneten kritisierten vor allem das von Vilmar verfolgte Prinzip des »christlichen Gymnasiums« in verschiedener Hinsicht. Denhard wies darauf hin, daß die kurhessischen Gelehrtenschulen »Staatsanstalten seien und nicht Anstalten einer einzelnen Kirche«.96 Heinrich Henkel stellte zu den Lehrinhalten fest, »daß die Gymnasiallehrer auf irgend ein bestimmtes Glaubensbekenntniß vereidigt werden sollen und zwar wird das verlangt auch bei Lehrern, welche mit der Religion nicht zu thun haben, z . B . die Lehrer der Mathematik und der Sprachen. Diese sollen z. B. beschwören, daß sie auch an den Teufel glauben. N u n frage ich, was hat der Glaube mit d e m mathematischen oder Sprachunterricht zu thun? [...] denn der G y m n a siallehrer an und für sich ist weder katholisch noch reformirt noch lutherisch. Es wird auch keine katholische, keine reformirte, keine lutherische Grammatik gelehrt und eben das gilt v o n allen andern Fächern außer der Religion«. 97
Die Debatte machte insgesamt deutlich, daß die Abgeordneten mit dem Gymnasialwesen nicht näher vertraut waren, sondern mit dem argumentierten, was sie vom Hörensagen kannten. Allgemein wurde über die Gelehrtenschulen in einer weniger breiten Öffentlichkeit als über die Volksschulen diskutiert. Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild von den Ergebnissen und Konsequenzen der kurhessischen Gymnasialpolitik. Die Kernzeit der Reformen lag wie im Volksschulwesen in den dreißiger Jahren. Kurhessen folgte Preußen und Bayern mit einem deutlichen Abstand von etwa zwanzig Jahren. Zu dieser Verzögerung hat zum einen die Tatsache beigetragen, daß der Kurstaat generell nicht zu den Vorreitern der Schulentwicklung in Deutschland zählte. Z u m anderen wurden die in der französischen Zeit begonnenen Reformvorhaben 1813 gestoppt bzw. rückgängig gemacht und erst in den dreißiger Jahren wieder aufgegriffen. Dann erfolgte die Reorganisation der Gelehrtenschulen jedoch nach preußischem Muster schnell und umfassend im Sinne einer konser94 Vgl. die Mitteilung des Landtagskommissars an die Ständeversammlung vom 11.4.1865, KhLtV 1865, Nr. 93, Sp. 3; Hopf, Vilmar, Bd. 2, S. 195. 95 Vgl. die Sitzung vom 17.11.1864, KhLtV 1864, Nr. 45, Sp. 25-32; vom 19.11.1864, ebd., Nr. 46, Sp. 11-16; und die Mitteilung des Landtagskommissars in der Sitzung vom 11.4.1865, KhLtV 1865, Nr. 93, Sp. 3. 96 Landtagssitzung vom 17.11.1864, KhLtV 1864, Nr. 45, Sp. 28. 97 Ebd., Sp. 29.
227
vativen Modernisierung unter Innenminister Hassenpflug und August Vilmar. Während sich die Gymnasialreform in Preußen über mehrere Jahrzehnte hinzog, konzentrierte sie sich in Kurhessen auf wenige Jahre, wobei dem Kurfürstentum die Erfahrungen der anderen Staaten zugute kamen. Mitte der dreißiger Jahre war das Gymnasialwesen dann in beiden Staaten weitgehend konstituiert. Dieser Zeitpunkt kann allgemein in Deutschland als Abschluß einer Phase der Neugestaltung des höheren Schulwesens gelten, welche die Basis für die weitere Entwicklung bildete.98 So blieben die badischen Reformen von 1834/36 bis 1869 grundlegend; in Bayern beendeten die Bestimmungen von 1829/30 den schulpolitischen »Zickzackkurs«; und in Hessen-Darmstadt erschien 1834 mit dem »Studienplan« für die Gymnasien ein staatlicher Lehrplan. Die folgenden Jahre wiesen keine umfassenden Neuerungen auf, vielmehr charakterisierten sie die »Prüfung des Bestehenden« 99 einschließlich kleinerer Modifikationen. In Kurhessen blieb die Neuordnung des Gelehrtenschulwesens über alle politischen Kurswechsel hinweg praktisch unverändert bis zum Ende des Kurstaates bestehen. Eine Ursache für diese beachtenswerte Kontinuität ist wohl in der Tatsache zu sehen, daß die Gymnasialverfassung auf einem breiten Konsens zwischen Schulbehörden, Gymnasiallehrern und Landtag beruhte. Die Ausarbeitung und Durchführung der Reform sowie die Leitung der Gelehrtenschulen lagen allerdings allein in den Händen des Innenministeriums als in allen Fragen maßgeblicher und einziger Instanz. Entsprechend dem seit den dreißiger Jahren bestehenden staatlichen Monopol hinsichtlich der Gymnasien gestalteten sich Einfluß und Mitwirkung anderer Gruppen gering. Der Landtag gab zwar den Anstoß zur Reform und machte erste Vorschläge, trat danach aber kaum noch als schulpolitischer Akteur in Erscheinung. Die Gymnasiallehrer nutzten die Ständeversammlung nicht in dem Maße wie die Volksschullehrer als Interessenvertretung oder Forum. Die Kommunen schenkten den Gelehrtenschulen nur geringe Beachtung und verloren durch die Gymnasialreform jeglichen Einfluß auf die Anstalten. Noch weniger als die Städte traten die Kirchen im kurhessischen Gelehrtenschulwesen in Erscheinung. So gingen die Maßnahmen der fünfziger Jahre zur Stärkung der Verbindung von Schule und Kirche nicht von den Religionsgemeinschaften, sondern von den Schulbehörden aus. Offensichtlich schätzten Staat wie Kirchen den Charakter der höheren Schulen weniger religiös und mehr wissenschaftlich ein. Der Rechtsprechung kam auch im Gymnasialwesen eine Schlüsselfunktion zu. Im Prozeß um das Kasseler Lyceum Fridericianum mußte das Oberappellationsgericht die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Staat und Kommune im höheren Schulwesen entscheiden.
98 Vgl. zu dieser Periodisierung Kramer, S. 171f. 99 Ebd., S. 172.
228
2. Schulen und Schüler
a) Das Gymnasium
als Staatsanstalt
Die kurhessischen Gymnasien wiesen eine Reihe v o n Strukturmerkmalen auf I m Z u g e der R e f o r m des h ö h e r e n Schulwesens zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. J a h r h u n d e r t s gestaltete der kurhessische Staat sechs Gelehrtenschulen zu »kurfürstlichen Gymnasien« u m . Es handelte sich u m die Anstalten in Kassel u n d Marburg, H a n a u u n d Fulda, Hersfeld u n d Rinteln. Bei der Wahl der O r t e spielten m e h r e r e Ü b e r l e g u n g e n eine Rolle. Z u m einen bestanden dort schon r e n o m m i e r t e Lehranstalten, die sich von der Masse der Lateinschulen abgeh o b e n hatten. Z u m anderen erreichte man eine relativ gleichmäßige regionale Verteilung. D i e vier Provinzialhauptstädte w a r e n a u ß e r d e m Verwaltungsstandorte, an d e n e n viele Staatsdiener mit e i n e m Interesse an der weiterf ü h r e n d e n Ausbildung ihrer Söhne lebten. Auch f ü r Preußen stellte die Forschung fest, daß sich die bedeutenden Gelehrtenschulen u m 1800 bevorzugt in Städten »mit überlokaler Verwaltungsfunktion« 1 befanden. Setzt m a n die Zahl der Gymnasien in Beziehung zur Bevölkerung, kamen in Kurhessen 1834 auf ein G y m n a s i u m 116.721 Einwohner. In Preußen waren es 1837 124.762.1864 verschlechterte sich das Verhältnis in beiden Territorien auf 1:124.177 (Kurhessen) bzw. 1:132.794 (Preußen). Beide Staaten verfügten damit über ein wesentlich dichteres Gymnasialnetz als beispielsweise Sachsen, w o 1869 eine Gelehrtenschule pro 230.000 E i n w o h n e r bestand. 2 Die Zahl der kurhessischen Gymnasien blieb über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg weitgehend konstant. Lediglich die Schlüchterner Anstalt w u r d e 1829 geschlossen. 3 Darin unterschied sich der Kurstaat von vielen anderen deutschen Territorien, die in den ersten zwei Dritteln des 19. J a h r h u n d e r t s eine Z u n a h m e zu verzeichnen hatten. In Bayern beispielsweise stieg die Zahl der Gymnasien von 21 u m das Jahr 1819 über 23 (1831) bis auf 28 im Schuljahr 1851/52; in Preußen existierten 1818 91 Gymnasien; 1837 waren es 113 u n d zu Beginn des Jahres 1864 schließlich 145 Anstalten. 4 Ähnlich konstant wie in Kurhessen blieb die Zahl der Gymnasien in Baden, w o zwischen 1843 u n d 1890 1 SoJeismann, Gymnasium, Bd. 1, S. 49.
2 Vgl. Dietsch, Sachsen, S. 479. 3 Soweit nicht anders bezeichnet, beziehen sich die folgenden Berechnungen auf die Zeit nach der Schließung der Anstalt, so daß die Zahl von sechs Gymnasien zugrunde gelegt wurde. 4 Vgl. zu Bayern Liedtke, Handbuch, S. 88f.; zu Preußen Engel, Beiträge, S. 102f.; Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 130, und die Tabelle S. 684f.
229
nur eine Anstalt hinzukam. Dort hatte die Reform von 1834/36 schon ein dichtes Netz an Gymnasien geschaffen und Neugründungen überflüssig gemacht. Diese Erklärung trifft auch auf die Situation des Kurstaates zu. Daneben ist jedoch der Aspekt der restriktiven staatlichen Steuerung des Zugangs zu höherer Bildung zu berücksichtigen, der beispielsweise in Hannover dazu führte, daß die Zahl von 17 Gymnasien zwischen 1830 und 1865 konstant blieb. Eine Ausweitung des Bildungsangebots lag nicht im Interesse der Staatsbürokratie, die den Zugang nach dem von ihr festgestellten Bedarf an Beamten regulierte. 5 Eine ähnliche Intention könnte man auch für Kurhessen vermuten, wenn man die Schülerzahlen betrachtet. In Kurhessen blieb die Zahl der Gymnasialzöglinge seit den Reformen der dreißiger Jahre praktisch unverändert. Besuchten 1835 921 Knaben die Gelehrtenschulen, waren es 1861 990. 6 Die Zunahme von rund 7 % lag nur geringfügig über dem Wachstum der Gesamtbevölkerung von 6 %. So veränderte sich auch das Verhältnis der Gymnasialschüler zur Einwohnerzahl kaum. 1835 betrug es 1:760,1861 1:746. Anders ausgedrückt: Der Anteil der Gymnasiasten an der Gesamtbevölkerung lag konstant bei 0,13 %. Dieses Profil wich deutlich von den Strukturen im Schulwesen anderer deutscher Staaten ab. Zunächst fällt auf, daß es in Kurhessen prozentual weniger Gymnasiasten gab als beispielsweise in Preußen, wo ihr Anteil 1837 bei 1:603 bzw. 0,17 % lag, oder in Bayern (1834:0,16%). Diese Unterschiede nahmen im Verlauf der Entwicklung zu, weil viele Territorien vor allem seit der Jahrhundertmitte eine stete Expansion des Gymnasialwesens verzeichneten. In Bayern stieg der Anteil der Gymnasiasten an der Gesamtbevölkerung bis zur Jahrhundertmitte auf 0,19 bis 0,20 %; in Preußen nahm er über 0,19 % 1852 auf 0,23 % im Jahr 1861 zu.7 Demnach kamen in Preußen zu Beginn der sechziger Jahre nur noch 427 Einwohner auf einen Zögling der Gelehrtenschulen. Die Gesamtzahl der Gymnasialschüler verdoppelte sich dort nahezu mit einem Plus von 46 % zwischen 1837 und 1861. In Baden stieg die Schülerfrequenz der Gelehrtenschulen ebenfalls stärker als in Kurhessen, wenn auch nicht in dem Maße wie in Preußen. Zwischen 1845 und 1864 nahm dort die Zahl der Zöglinge von 2.667 auf 3.054 zu; das entsprach einem prozentualen Anstieg von 14,5 %.8 Im Kurstaat erfolgte also im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts keine Ausdehnung der Gymnasialbildung. Statt dessen blieb die sehr hohe Exklusivität des Gelehrtenschulbesuchs bestehen. Der Anteil der Gymnasiasten an allen schulpflichtigen Kindern betrug rund 0,8 %; 1861 standen einem Gelehrtenschüler 128 Volksschüler gegenüber. In Preußen betrug das Verhältnis im sel5 Vgl. zu Baden Koppenhöfer, S. 37; zu Hannover Titee, Lehramtsüberfüllung, S. 19-21. 6 Die Angaben bei Brauns/Theobald, S. 129-154; Bezzenberger Kurhessen, S. 500. 7 Vgl. zu Bayern Hofmann, S. 110-115; für Preußen wurden die Zahlen errechnet nach Enget, Beiträge; vgl. auchJeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 131. 8 Vgl. die Tabelle bei Koppenhöfer, S. 274.
230
ben Jahr hingegen 1:64.9 Die Erklärungen für diesen Tatbestand sind in mehreren Bereichen zu suchen. Das höhere Bevölkerungswachstum der anderen Territorien allein reicht nicht aus, da die Zunahme der Gymnasiasten in Preußen und Bayern weit über der Einwohnerzahl lag. Auch der staatliche und gesellschaftliche Bedarf an Männern mit gymnasialer Ausbildung dürfte sich in den einzelnen Staaten kaum unterschieden haben. Doch könnte der »Bildungswille« oder »Bildungsdrang« der preußischen Bevölkerung größer gewesen sein.10 Denkbar wäre aber auch eine striktere staatliche Gymnasialpolitik in Kurhessen, die den Zustrom zu den Gelehrtenschulen beschränkte. Dabei spielte eine Rolle, daß die kurstaatlichen Gymnasien in geringerem Umfang zur Ableistung der Schulpflicht dienten als die preußischen." Die einzelne Lehranstalt war in Kurhessen kleiner als in Preußen. Die durchschnittliche Schülerzahl im Kurfürstentum betrug 1835 154 und stieg bis 1861 auf 165. Die preußischen Gymnasien besuchten dagegen 1837 im Schnitt 207 Knaben, 1861 waren es 301.12 In beiden Staaten gab es eine breite Spannweite zwischen den einzelnen Schulen, die sich im Kurstaat folgendermaßen darstellte: Am meisten frequentiert wurde die Anstalt in Kassel mit circa 270 Schülern pro Jahr, danach folgten die Schulen in Fulda und Marburg, die durchschnittlich 190 bzw. 170 Knaben besuchten. Das Rintelner Gymnasium unterrichtete rund 110 Zöglinge, das Hersfelder etwa 120. Das Schlußlicht bildete die Gelehrtenschule in Hanau mit durchschnittlich neunzig Schülern. 13 Anders als die Elementarschulen waren die kurhessischen Gymnasien keine Konfessionsschulen, sondern standen den Angehörigen aller Glaubensrichtungen, auch Juden, offen. Allerdings hatte aufgrund der konfessionellen Zusammensetzung der Schülerschaft und des Lehrpersonals »Fulda, wo auch der Director immer katholisch ist, mehr katholischen, die andern mehr evangelischen Charakter«.14 Die Zöglinge des Kasseler Gymnasiums beispielsweise gehörten zwischen 1835 und 1860 zu 94,4 % einer protestantischen und zu 3,16 % der katholischen Kirche an. 2,39 % bekannten sich zum jüdischen Glauben. 15 Das Simultanitätsprinzip im höheren Schulwesen verfolgten die deutschen Staaten in unterschiedlicher Intensität. Preußen beispielsweise hielt am konfessionellen Gymnasium fest und gestattete nur in Ausnahmefällen Simultananstalten. 1864 verfügten nur zwei der 145 Gelehrtenschulen über diesen Status, 105 9 Vgl. Bezzenberger, Kurhessen, S. 500. 10 Vgl. zu PreußenJeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 136, 143. 11 Vgl. dazu unten Kap. III.2.d. 12 Vgl. zu Preußen Engel, Beiträge, S. 106f.; Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 131. 13 Alle Angaben sind als Durchschnittswerte über den Zeitraum von ca. 1830-1866 zu verstehen und beruhen auf den Schulprogrammen. Für die fünfziger Jahre vgl. die Angaben bei Bezzenberger, Kurhessen, S. 500. 14 Ebd., S. 499. 15 Vgl. Groß, Statistische Rückblicke, S. 74f. Daß die Summe der Anteile nicht 100 % ergibt, liegt an der Tatsache, daß noch ein Schüler anglikanischen Glaubens hinzugerechnet werden muß.
231
galten als evangelisch u n d 38 als katholisch. 16 Die geforderte konfessionelle Einheitlichkeit bezog sich j e d o c h ausschließlich auf die Lehrerschaft, den Schülern einschließlich der J u d e n stand auch der Besuch eines Gymnasiums anderer Glaubensrichtung offen. Traditionell fiel die Zuständigkeit für die Gebäude der städtischen Lateinschulen in den Bereich der K o m m u n e n . So schenkte Landgraf Friedrich II. 1779 das auf seine Kosten angekaufte u n d neueingerichtete Schulhaus f ü r das Lyceum Fridericianum der Stadt Kassel.17 Bei vielen Gelehrtenschulen, die oft überregionale Funktionen erfüllten u n d teilweise auf landesherrlichen Stiftungen beruhten, hatte der Staat dagegen schon f r ü h entweder gemeinsam mit der Komm u n e oder allein die Sorge f ü r die Unterrichtsgebäude ü b e r n o m m e n . N a c h der Gymnasialreform der dreißiger Jahre übertrug das Innenministerium den Direktoren diese Aufgabe. Anregungen u n d Vorschläge zu baulichen Veränderungen der Gymnasien gingen in der Regel von ihnen aus.18 Das I n n e n m i nisterium behandelte j e d e n Fall einzeln. Allgemeine Vorschriften über Größe und Gestaltung der Gelehrtenschulgebäude, wie sie die Provinzialregierungen f ü r die Elementarschulen erließen, gab es nicht. Bei einer Gesamtzahl von nur sechs Lehranstalten schienen generelle Regelungen nicht erforderlich. Während es im Elementarbereich darauf ankam, eine möglichst flächendeckende Mindestversorgung zu erreichen, stellte die kurhessische Bürokratie an die Gymnasien weitergehende Anforderungen. Entsprechend dem höheren Bildungsauftrag der Gelehrtenschulen m u ß t e n die Arbeitsbedingungen dort besser sein. Die Einrichtung der Gymnasialgebäude in Kurhessen zeigen beispielhaft Ansicht und Grundriß des Kasseler Lyceum Fridericianum (vgl. Abb. 8).19 Die Gymnasien verfügten über repräsentative Gebäude, die im Stadtbild auffielen und die Bedeutung der Anstalt schon nach außen demonstrierten. 2 0 N e u b a u t e n erfolgten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Kurhessen nicht; im zweiten Drittel konnten lediglich die Anstalten in Kassel und Marburg 1842 bzw. 1886 in neu errichtete Gebäude einziehen. 21 Die Ursache für diese Kontinuität lag z u m einen in der Tatsache, daß die Schülerzahl bis z u m Jahr 1866 kaum anstieg. Z u m anderen versuchten die Staatsbehörden aus Sparsamkeitsgründen, kostspielige Baumaßnahmen zu verhindern. Die innere Einrichtung eines Gymnasialgebäudes läßt sich ebenfalls d e m Grundriß des Lyceumsgebäudes entneh-
16 Vgl.Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 399-412; auch zum Folgenden Wiese, Bd. 2, S. 19-31, 498-500. 17 Vgl. dazu Weber, Gelehrtenschule, S. 323-325. 18 Vgl. Münscher, Gymnasium Marburg, S. 60, sowie die Akte StAM 19f, Nr. 281. 19 Der Plan wurde übernommen aus dem Anhang bei Weber, Gelehrtenschule. 20 Vgl. zu Preußen Jeismann, Gymnasium, Bd. 2, S. 131f.; Wiese, Bd. 2, S. 715. 21 Vgl. zu Kassel Festschrift Friedrichsgymnasium, S. 28-30; zu Marburg Wiese, Bd. 2, S. 448.
232
Abb. 8: Ansicht und Grundrisse des Lyceum Fridericianum 1779-1839
Ansicht und Grundriss* des fnjeeum Frideviciammi 1779 i 830.
'I • 3 JJ . >=3_ fi η D Π; Π1 η a ODD D g D D D αDD— D I i ρb Dj! ι iDÖ|Üj : iOQ-Q ΞΞΓΞ3
-ÎT-7..-..J1-
. -.Iii
·
-
—
(irundr ss des zwciiru S( (ick Η' rk ·>.
F T ; π• α ] fri T ι i C i - t J -
—»
• 1
M L
j
J
.Examen - Saal jp/ilrr zum Tli*ti
• S
•
Ê
L MÊÊÊL
(imudristi dfs ersten Stuck Werkes.
1πI [11ΓJ · 1 Π m J ¡V L t a r j J ir·
*
Sn
'litan..
l'r
Isernml»!
| Xeriiii 11