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German Pages 910 Year 1990
ERNST RUDOLF HUBER — WOLFGANG HUBER S t a a t u n d K i r c h e i m 19. u n d 20. J a h r h u n d e r t D o k u m e n t e z u r Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts
ERNST RUDOLF HUBER - WOLFGANG
HUBER
Staat u n d K i r c h e i m 19. u n d 20. J a h r h u n d e r t D o k u m e n t e z u r Geschichte des d e u t s c h e n S t a a t s k i r c h e n r e c h t s
Band I I I
Staat u n d K i r c h e von der Beilegung des K u l t u r k a m p f s bis z u m Ende des Ersten Weltkriegs
Zweite, unveränderte Auflage
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
Hergestellt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und anderer wissenschaftlicher Stiftungen
A l l e Rechte vorbehalten ©
1990 D u n c k e r & H u m b l o t G m b H , B e r l i n 4 1
D r u c k : Berliner B u c h d r u c k e r e i U n i o n G m b H , B e r l i n 61 Printed in Germany I S B N 3-428-05268-4
Vorwort Der zweite Band dieser Dokumentation ist vor sieben Jahren erschienen. Drängende andere Verpflichtungen der Herausgeber haben eine frühere Fertigstellung des n u n vorgelegten d r i t t e n Bandes verhindert. Auch bot die Quellen- u n d Forschungslage f ü r den Zeitraum zwischen der Beilegung des K u l t u r k a m p f s u n d der Novemberrevolution besondere Schwierigkeiten. Z w a r gelten diese drei Jahrzehnte gemeinhin als ereignisarm f ü r das staatlichkirchliche Verhältnis. I n Wahrheit sind sie i m katholischen w i e i m evangelischen Bereich von einer Fülle gewichtiger Vorgänge bestimmt, deren W i r kungen weit über das Ende der Monarchie hinausreichen. F ü r die drei letzten Jahrzehnte des deutschen Konstitutionalismus ist kennzeichnend, daß sich i n ihnen der überlieferte Grundsatz der staatlichen K i r chenhoheit m i t der Vertrags- wie verfassungsmäßigen Gewährleistung kirchlicher Selbständigkeit verband. Ob die der Kirche wesensmäßig u n d rechtlich zugehörige „Eigenständigkeit" hinreichend gesichert sei, w a r allerdings i n dieser Epoche lebhaft umstritten. Vielfältige Bemühungen zielten auf weiterreichende Hechtsgarantien insbesondere für die evangelischen Kirchen. Auch soweit diese Ansätze unvollendet blieben, waren sie doch die entscheidenden Vorstufen f ü r die Neuregelung der Beziehungen von Kirchen u n d Staat i n der Weimarer Zeit. Diese Entwicklungstendenz t r i t t i n den drei Hauptteilen, i n die der Band gegliedert ist, i n gleichem Maß hervor: i m T e i l A , der die Sachbereiche des für die beiden großen Konfessionen gemeinsam geltenden Staatskirchenrechts zusammenfaßt, i m T e i l B, der den Beziehungen zwischen dem Staat u n d der katholischen Kirche, u n d i m T e i l C, der den Beziehungen des Staates zu den evangelischen Kirchen gewidmet ist. Aus der Vielfalt der dargebotenen Fragenbereiche seien n u r einige Hauptpunkte hervorgehoben. Die Verselbständigung der Kirchen gegenüber dem Staat setzte sich i n den drei Jahrzehnten vor dem Ende des Konstitutionalismus besonders auffällig i m Bereich der kirchlichen Finanzverfassung durch. Dies geschah vor allem durch die rechtliche Ausgestaltung des i n seinen Anfängen i n die M i t t e des 19. Jahrhunderts zurückreichenden Kirchensteuersystems (Kapit e l II). Das Instrument der Kirchensteuer, das heute vielfach als ein Moment der engen Verflechtung von Kirche u n d Staat erscheint, w a r nach Sinn u n d F u n k t i o n ursprünglich f ü r die Kirchen ein M i t t e l zur Stärkung ihrer A u t o nomie gegenüber dem Staat u n d f ü r diesen ein M i t t e l zur wenigstens t e i l w e i sen Befreiung von der aus unterschiedlichen Gründen gegenüber den Kirchen bestehenden Alimentationspflicht. Es erschloß den Kirchen eine eigenständige Finanzierungsquelle, f ü r deren Ausschöpfung sie sich zwar der staatlichen Verwaltungshilfe bedienten, die sie aber i n erheblichem Umfang von staatlichen Bedarfszuweisungen oder Dotationen unabhängig machte. Angesichts
VI
Vorwort
der fortwirkenden Bedeutung w i e der bewußt gewordenen Problematik des Kirchensteuerwesens erschien es geboten, den historischen Anfängen w i e der Entwicklung dieses zwar spröden, für die Existenz u n d Wirksamkeit der K i r chen aber fundamentalen Rechtsbereichs den nötigen Raum zu gewähren. Schon der Name „ K u l t u r k a m p f " hatte die Bedeutung erkennen lassen, die dem Verhältnis von Kirche und Kultur während des 19. Jahrhunderts zugewachsen war. I n vielen Einzelfragen hatte der K u l t u r k a m p f zu Ergebnissen geführt, die auch nach seinem Ende ernstlichen Zweifeln entzogen waren, so i m Recht des Kirchenaustritts u n d der Zivilehe. Dagegen waren andere Bereiche des Kulturlebens, so das Verhältnis von Kirche u n d Schule u n d das Verhältnis von Kirche u n d Wissenschaft, auch zwischen 1890 u n d 1918 u m stritten (Kapitel I I I ) . Die Auseinandersetzungen u m den schließlich gescheiterten preußischen Schulgesetzentwurf von 1892, u m die Stellung der theologischen Fakultäten u n d u m die Einrichtung konfessionell gebundener L e h r stühle innerhalb der philosophischen Fakultäten blieben zentrale Themen des Staatskirchenrechts, wobei das Postulat der „Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft" besondere Bedeutung erlangte. K e i n gesellschaftlicher Vorgang hat die drei Jahrzehnte der Wende v o m 19. u n d 20. Jahrhundert stärker geprägt als der Prozeß der Industrialisierung. Die durch i h n ausgelöste soziale Frage stellte die Kirchen v o r neue Aufgaben (Kapitel V I u n d X V I ) . Die überlieferten kirchlichen Soziallehren u n d Sozialhilfen w a r e n i n der neuen Lage unzulänglich. Der drohenden Entfremdung zwischen den Kirchen u n d der Industriearbeiterschaft traten die beiden großen Konfessionen i n unterschiedlichen Formen u n d m i t unterschiedlichen M i t t e l n entgegen. Die katholische Kirche bediente sich vornehmlich des seit der M i t t e des 19. Jahrhunderts schnell gewachsenen kirchlichen Vereinswesens. Die kirchliche Arbeit auf diesem Feld erhielt ihre Richtschnur i n der von Papst Leo X I I I . i n der Enzyklika „ R e r u m novarum" von 1891 entwickelten neuen Soziallehre, der die Dokumentation daher besondere Aufmerksamkeit w i d m e t (Dokument Nr. 126). Die evangelischen Kirchen, i n denen die k o n t r o versen Richtungen sich schon seit der Jahrhundertmitte i n der Gestalt „ k i r c h licher Parteien" ausgebildet hatten, boten gerade auch i m Blick auf die soziale Frage den Boden f ü r differente Bestrebungen. Der Versuch, diese i n dem 1890 gegründeten Evangelisch-Sozialen Kongreß zu verbinden, führte nicht zu einem dauerhaften Erfolg. Seit der M i t t e der neunziger Jahre standen sozialkonservative u n d sozialliberale Positionen einander schroff entgegen. Die Gegensätze zwischen den beiden Gruppen hatten ihre Wurzel vor allem darin, daß der Protestantismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts einerseits eng m i t dem Staat, andererseits ebenso eng m i t der sich entwickelnden m o dernen Gesellschaft verbunden war. Daß diese Verflechtung auch innerkirchliche Probleme aufwarf, zeigte sich an dem wiederholten Kurswechsel des Oberkirchenrats der altpreußischen Landeskirche gegenüber der sozialethischen Wirksamkeit der Pfarrerschaft i m letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts (Dokumente Nr. 306, 321). Die H a l t u n g der Landeskirchen zur sozialen Lage blieb auch w e i t e r h i n eine der vorherrschenden innerkirchlichen K o n fliktfragen.
Vorwort
VII
Von nicht geringerem Gewicht waren die Kämpfe, die i n den Jahrzehnten des Ubergangs v o m 19. zum 20. Jahrhundert u m die Lehr- und Bekenntnisbindung der Pfarrer und der theologischen Hochschullehrer geführt w u r d e n (Kapitel X u n d XV). Die Frage nach dem Verhältnis von Lehrfreiheit u n d Bekenntnisbindung und die damit verknüpfte Frage nach dem Verhältnis von Hochschulautonomie u n d kirchlichem Einspruchsrecht bei der Besetzung theologischer Lehrstühle traten exemplarisch i n den Kämpfen u m Harnacks Berufung nach B e r l i n (1888) u n d i n dem von Papst Pius X . ausgelösten A n t i Modernismus-Streit (1910) hervor. Den K o n f l i k t u m Harnacks Berufung auf den Berliner Lehrstuhl entschied W i l h e l m I I . gegen den Einspruch des Oberkirchenrats zugunsten des akademischen Lehrers (Dokumente Nr. 270 - 277). Doch führte Harnacks Stellungnahme zum Apostolischen Glaubensbekenntnis bald zu einem neuen K o n f l i k t von grundsätzlicher Bedeutung (1892). I n diesen Vorfällen bestätigte sich der Grundsatz, daß bei der Berufung u n d L e h r t ä t i g keit theologischer Hochschullehrer den evangelischen Kirchenleitungen n u r ein konsultatives, kein dezisives V o t u m zukam. Von gleicher Bedeutung war, daß die innerkirchlichen Lehrstreitigkeiten i m protestantischen Bereich nach der Jahrhundertwende aus dem überlieferten disziplinarrechtlichen Verfahren gelöst u n d einem besonderen kirchlichen Lehrbeanstandungsverfahren zugewiesen w u r d e n (Kapitel X V I I ) . Die Fragwürdigkeiten, die auch diesem Verfahren innewohnen, traten i m F a l l Jatho hervor, der deshalb i n seinen Materialien ausführlich dargestellt ist (Dokumente Nr. 334 - 341). Wie eng das Lehrbeanstandungsverfahren u n d das Disziplinarverfahren gegen Geistliche zusammentreffen konnten, zeigte sich i n dem nicht weniger aufsehenerregenden F a l l Traub (Dokumente Nr. 342 - 349). Die dogmatischen K o n t r o versen i n der katholischen Kirche fanden angesichts des i m Papsttum zusammengefaßten obersten Lehramts der Kirche i n anderen Formen statt; sie berührten das öffentliche Leben u n d das staatliche Interesse jedoch i n eher noch stärkerem Maß (Kapitel I X ) . M i t der Verurteilung des „Modernismus" u n d der Einführung des „Anti-Modernismus-Eids" (Dokumente Nr. 154, 155) erhielt die Unterwerfung der katholischen Theologen unter den päpstlichen L e h r primat eine Schärfe, die das Fortbestehen katholisch-theologischer F a k u l täten an den staatlichen Universitäten ernstlich zu gefährden drohte. Der Verzicht der K u r i e auf den Anti-Modernismus-Eid der katholischen Theologieprofessoren als solcher führte schließlich zu einem modus vivendi, durch den es gelang, einen neuen „ K u l t u r k a m p f " zwischen der K u r i e u n d dem Staat zu verhüten. Die grundsätzlichen Differenzen u n d die okkasionellen Divergenzen z w i schen Staat u n d Kirche traten m i t dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in den H i n t e r g r u n d (Kapitel X I u n d X V I I I ) . I m K a m p f u m die staatliche E x i stenz gewann die Einstimmung der beiden großen Konfessionskirchen i n das nationale Schicksal den Vorrang v o r dem Bewußtsein der übernationalen E i n heit der katholischen Weltkirche w i e vor der die staatlichen Grenzen überschreitenden Verbundenheit des Gesamtprotestantismus. Doch erwuchs gerade aus dieser Gefährdung der w e l t w e i t e n christlichen Gemeinschaft durch den K r i e g die neue Einsicht i n die Nowendigkeit der ökumenischen Zusammenarbeit. A u f der anderen Seite zwang die innerstaatliche E n t w i c k l u n g der
Vili
Vorwort
Kriegszeit die Kirchen u n d die ihnen zugeordneten Gruppierungen zur u n m i t telbaren Teilnahme an der unter der Parole der „Neuorientierung" geführten Verfassungsdiskussion. I m deutschen Katholizismus weckte sie die Besorgnis, daß die geplanten Reformen, vor allem des W a h l - und des Regierungssystems, die Stellung der Kirche schwächen u n d ihre Rechte i m Staat mindern könnten. Die Kirche gegen solche Einbußen zu sichern, w a r ein bestimmendes M o t i v i n den katholischen Beiträgen zur Verfassungsdebatte der Jahre 1916 bis 1918. So waren die von der Zentrumspartei vorgeschlagenen „Sicherungsartikel" (Dokument Nr. 214) ein entscheidender Beitrag zu den Verfassungsplänen, die auf die institutionelle Garantie der Kirchen als öffentlich-rechtlicher Korporationen, die Garantie der Vermögens- u n d finanzrechtlichen Grundlagen ihrer Existenz u n d die Garantie ihrer Teilhaberechte an der öffentlichen Kulturgestaltungsmacht zielten. Beiden Konfessionskirchen gemeinsam gelang es, wenn auch nicht schon 1918, so doch i n dem Verfassungsw e r k von 1919, diese Gewährleistungen durchzusetzen. Der das Staatskirchenrecht der Weimarer Zeit behandelnde, das Gesamtvorhaben abschließende vierte Band w i r d den Fortgang dieser Entwicklung darstellen. Über die Anlage u n d die Editionstechnik, die auch i n diesem Band angewandt ist, wurde das Erforderliche i n den Vorworten der beiden ersten Bände gesagt. I m Rahmen der chronologischen Gliederung sind die sachlich zusammengehörenden Stücke i n K a p i t e l und Abschnitte geordnet. Die E i n f ü h r u n gen zu den einzelnen Abschnitten mußten zum Teil ausführlicher als i n den beiden ersten Bänden gefaßt werden. Auch die Literaturhinweise sind zum T e i l umfangreicher geworden; doch ist Vollständigkeit i n den Schrifttumsnachweisen nicht beabsichtigt. E i n höheres Maß an Vollständigkeit ist bei den biographischen Notizen erstrebt. Die Angaben über die Besetzung der obersten Kirchenämter sind i m Anhang zusammengefaßt. Den Grundstock auch dieses Bandes bilden Texte, die an weitgestreuten Stellen veröffentlicht sind. Der Wiederabdruck mußte sich aus Raumgründen häufig auf Auszüge beschränken. Fremdsprachige Texte sind i n Ubersetzungen wiedergegeben; sow e i t sie nicht aus der Entstehungszeit zugänglich waren, werden neue, bisher unveröffentlichte Ubersetzungen vorgelegt. I n einer Reihe von Fällen konnten die Herausgeber auch i n diesem Band auf Übersetzungsvorlagen von Rudolf K o h l e r zurückgreifen; der größere Teil der Neuübersetzungen stammt von Wolfgang Huber. F ü r die Überlassung der bisher nicht veröffentlichten Dokumente und die Ü b e r m i t t l u n g biographischer Daten haben die Herausgeber erneut einer großen Z a h l kirchlicher u n d staatlicher Archive zu danken. Besonderen Dank schulden sie den Erzbischöflichen Archiven i n Köln, München, Bamberg u n d Freiburg sowie dem Evangelischen Zentralarchiv i n B e r l i n für vielfältige Unterstützung. Die Universitätsbibliotheken i n Freiburg, Göttingen, Heidelberg u n d M a r b u r g haben die Beschaffung der notwendigen L i t e r a t u r bereitw i l l i g erleichtert. Die Hauptlast der E r m i t t l u n g , Sichtung und Ordnung des dokumentarischen Materials lag bei dem jüngeren der Herausgeber, von dem auch die Entwürfe für die Einführungen zu den Textgruppen und den A n merkungsapparat stammen. A n den Vorarbeiten auch für diesen Band haben
IX
Vorwort
die Göttinger Mitarbeiter des älteren Herausgebers teilgenommen; der ihnen früher ausgesprochene Dank sei i n freundlicher Erinnerung an diese Zusammenarbeit wiederholt. Bei der Fertigstellung des Bandes hat W. Huber v i e l fache Hilfe von Mitarbeitern i n Heidelberg u n d M a r b u r g erfahren. I m Besonderen danken die Herausgeber K a r a Huber-Kaldrack sowie Ralph Möllers u n d Joachim von Soosten für die Unermüdlichkeit, m i t der sie sich an den mühsamen Korrekturarbeiten beteiligt haben. Erneuter Dank gilt schließlich den i n den früheren Bänden genannten Stiftungen, die durch ihre Zuschüsse die Drucklegung des Gesamtwerks ermöglicht haben. Freiburg u n d Marburg, i m Februar 1983 E. R. H.
W. H.
Vermerk zur Zitierweise Die A b k ü r z u n g „Staat u n d Kirche" bezieht sich auf die anderen Bände dieses Quellenwerks. Die A b k ü r z u n g „Verfassungsgeschichte" verweist auf: E. R. Huber, sche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I - V I , Stuttgart 1957 ff. Die A b k ü r z u n g „Dokumente" bezeichnet: E. R. Huber, deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1 - 3 , Stuttgart 1961 ff.
Deut-
Dokumente
zur
Inhaltsübersicht Teil A Allgemeines Staatskirchenrecht
Erstes Kapitel Bemühungen um die Garantie der Religionsfreiheit I. Die religionsrechtlichen
Bestimmungen
des Bürgerlichen
Gesetzbuchs ..
Nr. 1. Bürgerliches Gesetzbuch (18. August 1896) Nr. 2. Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (18. August 1896) Nr. 3. Gesetz, betreffend die Ausführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs i n Elsaß-Lothringen (17. A p r i l 1899) Nr. 4. Hessisches Gesetz, betreffend die Ausführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (17. J u l i 1899) II. Bemühungen
um ein Reichsgesetz über die Religionsfreiheit
Nr. 5. Schutzgebietsgesetz (10. September 1900) Nr. 6. E n t w u r f eines Reichsgesetzes, betreffend die Freiheit der Religionsübung (23. November 1900) Nr. 7. Erklärung des Reichskanzlers Graf von B ü l o w vor dem Reichstag (5. Dezember 1900) Nr. 8. Erklärung des Staatssekretärs des I n n e r n Graf v. Posadowsky-Wehner zum Toleranzantrag (29. Januar 1902) Nr. 9. E n t w u r f eines Reichsgesetzes, betreffend die Freiheit der Religionsübung (5. J u n i 1902) Nr. 10. Denkschrift des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses über den E n t w u r f eines Reichsgesetzes, betreffend die Freiheit der Religionsübung (1905) Nr. 11. A n t r a g der Abgeordneten Stoecker u n d Genossen zum Gesetzentw u r f über die Religionsfreiheit (Mai 1906) Nr. 12. Abänderungsantrag der Abgeordneten Albrecht u n d Genossen zu dem Stoeckerschen A n t r a g (Mai 1906)
1 1 2 3 4 4 6 8 9 10 11 12
14 18 19
XII III.
Inhaltsübersicht Landesrechtliche
Gewährleistungen
der Religionsfreiheit
19
Nr. 13. Gesetz, die Ordnung der kirchlichen Verhältnisse der K a t h o l i k e n i n Braunschweig betreffend (29. Dezember 1902) 20 Nr. 14. Verordnung, die öffentliche Religionsübung i m Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin betreffend (5. Januar 1903) 25 Zweites Kapitel Finanzwesen und Vermögensverwaltung der Kirchen I. Die Auszahlung der gesperrten Kirche in Preußen
Staatsleistungen
an die
katholische
27 27
Nr. 15. Eingabe der Fuldaer Bischofskonferenz an das preußische Staatsministerium (22. August 1889) Nr. 16. Staatsgesetz zur Ausführung des § 9 des Gesetzes, betreffend die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für die römisch-katholischen Bistümer u n d Geistlichen vom 22. A p r i l 1875 („Sperrgeldgesetz") (24. J u n i 1891)
29
II. Die Aufhebung
30
der Stolgebühren
in Preußen
Nr. 17. Kirchengesetz f ü r die evangelische Landeskirche der älteren preußischen Provinzen, betreffend die Aufhebung der Stolgebühren für Taufen, Trauungen u n d kirchliche Aufgebote (28. J u l i 1892) Nr. 18. Staatsgesetz, betreffend die Aufhebung von Stolgebühren für Taufen, Trauungen u n d kirchliche Aufgebote i n der evangelischen Landeskirche der älteren preußischen Provinzen (3. September 1892) Nr. 19. Schreiben des Erzbischofs Krementz, K ö l n an den preußischen K u l tusminister Bosse (19. Oktober 1892) Nr. 20. Schreiben der Minister M i q u e l und Bosse an den Erzbischof K r e mentz, K ö l n (8. Januar 1894) III.
Die Kirchensteuergesetze
im Königreich
Preußen (1903 bis 1906)
Nr. 21. Kirchengesetz, betreffend die B i l d u n g eines landeskirchlichen H i l f s fonds (16. August 1898) Nr. 22. Staatsgesetz, betreffend die B i l d u n g von Gesamtverbänden i n der katholischen Kirche (29. M a i 1903) Nr. 23. Staatsgesetz, betreffend die B i l d u n g kirchlicher Hilfsfonds für neu zu errichtende katholische Pfarrgemeinden (29. M a i 1903) Nr. 24. Kirchengesetz, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den Kirchengemeinden u n d Parochialverbänden der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen der Monarchie (26. M a i 1905) Nr. 25. Staatsgesetz, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern' i n den Kirchengemeinden u n d Parochialverbänden der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen der Monarchie (14. J u l i 1905)
28
31
33 33 35 36
38 39 41
42
48
XIII
Inhaltsübersicht
Nr. 26. Staatsgesetz, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den katholischen Kirchengemeinden u n d Gesamtverbänden (14. J u l i 1905) Nr. 27. Staatsgesetz, betreffend die Erhebung von Abgaben für kirchliche Bedürfnisse der Diözesen der katholischen Kirche i n Preußen (21. März 1906) Nr. 28. Verordnung über das Inkrafttreten, von Kirchengesetzen betreffend die Erhebung von Kirchensteuern (23. März 1906) Nr. 29. Verordnung über das I n k r a f t t r e t e n von Staatsgesetzen betreffend die Erhebung von Kirchensteuern (23. März 1906) Nr. 30. Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen der Monarchie (23. März 1906) Nr. 31. Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber den Kirchengemeinden u n d Gesamtverbänden der katholischen Kirche (23. März 1906) I V . Die preußischen von 1909
Gesetze über die Pfarrerbesoldung
und -Versorgung
Nr. 32. Staatsgesetz, betreffend die Pfarrbesoldung, das Ruhegehaltswesen u n d die Hinterbliebenenfürsorge für die Geistlichen der evangelischen Landeskirchen (26. M a i 1909) Nr. 33. Staatsgesetz, betreffend das Diensteinkommen der katholischen Pfarrer (26. M a i 1909) Nr. 34. Kirchengesetz, betreffend die weitere Verstärkung der Hilfsfonds für landeskirchliche Zwecke (10. J u l i 1909) V. Das Kirchenst euer recht im Königreich
Bayern
50 52 53 53 54 55 56
56 58 60 60
Nr. 35. Staatsgesetz, betreffend die Kirchensteuer f ü r die protestantischen Kirchen des Königreichs Bayern (15. August 1908) Nr. 36. Bayerische Kirchengemeindeordnung (24. September 1912)
65
VI. Das Kirchensteuerrecht
79
im Königreich
Württemberg
Nr. 37. Evangelisches Kirchengemeindegesetz (22. J u l i 1906) Nr. 38. Katholisches Pfarrgemeindegesetz (22. J u l i 1906) VII.
Das Kirchenst euer recht im Großherzogtum
61
80 91 Baden
95
Nr. 39. Gesetz, die Besteuerung für allgemeine kirchliche Bedürfnisse betreffend (18. J u n i 1892) 95 Nr. 40. Ortskirchensteuergesetz (20. November 1906) 99 Nr. 41. Landeskirchensteuergesetz (20. November 1906) 103 Nr. 42. Erzbischöfliche Verordnung, die Organisation der katholischen K i r chensteuervertretung betreffend (27. Dezember 1899/8. J u l i 1908) 103
Inhaltsübersicht VIII.
Das Kirchensteuerrecht
im Großherzogtum
Hessen
106
Nr. 43. Bekanntmachung des hessischen Innenministers (30. Januar 1900)
107
IX. Das Kirchensteuerrecht
107
im Königreich
Sachsen
Nr. 44. Kirchengesetz, den Haushalt der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden betreffend (10. J u l i 1913) 108 Nr. 45. Kirchensteuergesetz (11. J u l i 1913) 110 X. Das Kirchensteuerrecht
im Herzogtum
Braunschweig
113
Nr. 46. Gesetz, betreffend die Befugnis der evangelisch-lutherischen K i r chengemeinden zur Erstreckung der kirchlichen Beitragspflicht auf Nichtmitglieder (27. März 1911) 114 XI. Das Kirchensteuerrecht
im Großherzogtum
Oldenburg
115
Nr. 47. Staatsgesetz, betreffend die Heranziehung der juristischen Personen u n d der Forensen zu den Steuern der evangelischen u n d katholischen Kirche (20. März 1908) 116 Nr. 48. Kirchengesetz, betreffend die kirchliche Besteuerung (10. November 1909) 118 XII.
Die staatliche ringen
Besoldung
der Geistlichen
im Reichsland
Elsaß-Loth-
120
Nr. 49. Gesetz, betreffend die Gehalts- u n d Pensionsverhältnisse der protestantischen Pfarrer u n d die Fürsorge für deren W i t w e n u n d Waisen (6. J u l i 1901) 121 Nr. 50. Gesetz, betreffend die Gehalts- u n d Pensionsverhältnisse der staatlich besoldeten Religionsdiener u n d ihrer Hinterbliebenen (15. November 1909) 122
Drittes Kapitel Staat und Kirche im Schul- und Hochschulwesen I. Das Zentrum
und die Schulfrage
nach dem Kulturkampf
123 123
Nr. 51. Der Windthorstsche Schulantrag (6. Februar 1888)
124
II. Der Zedlitzsche Schulgesetz-Entwurf
125
Nr. 52. E n t w u r f eines Volksschulgesetzes (15. Januar 1892) Nr. 53. Begründung zum E n t w u r f eines Volksschulgesetzes (15. Januar 1892) III.
Das Scheitern
des Zedlitzschen
Schulgesetzes
126 131 135
Nr. 54. Schreiben des Gesandten Graf P h i l i p p zu Eulenburg an Kaiser Wilhelm II. (21. Januar 1892) 137
XV
Inhaltsübersicht Nr. 55. Brief Friedrich ν. Holsteins an den Grafen Eulenburg (24. Januar 1892) Nr. 56. Hede des Reichstagsabgeordneten v. Bennigsen (22. Januar 1892) Nr. 57. Rede des Ministerpräsidenten v. Caprivi über den Schulgesetzentwurf (29. Januar 1892) Nr. 58. Kundgebung des Deutschen Protestantenvereins zum preußischen Volksschulgesetz-Entwurf (1. Februar 1892) Nr. 59. E r k l ä r u n g des Zentralvorstandes des Evangelischen Bundes zum preußischen E n t w u r f eines Volksschulgesetzes (Februar 1892) Nr. 60. Eingabe von Professoren der Universität Halle zum Zedlitzschen Entwurf (9. Februar 1892) Nr. 61. Petition von Professoren der Universität B e r l i n gegen den Zedlitzschen E n t w u r f (15. Februar 1892) Nr. 62. Schreiben des Gesandten Graf P h i l i p p Eulenburg an den Reichskanzler v. Caprivi (24. Februar 1892) Nr. 63. Schreiben des Gesandten Graf Philipp Eulenburg an Kaiser W i l helm I I . (10. März 1892) Nr. 64. Telegramm Friedrich v. Holsteins an den Grafen Eulenburg (18. März 1892) Nr. 65. Rücktrittsgesuch des Reichskanzlers v. C a p r i v i (18. März 1892) IV. Der Religionsunterricht
der Dissidentenkinder
138 139 140 142 143 145 148 149 150 150 151 152
Nr. 66. Erlaß des preußischen Kultusministers v. Zedlitz, betreffend den Religionsunterricht der K i n d e r der sogenannten Dissidenten (16. Januar 1892) 153 Nr. 67. Erlaß des preußischen Kultusministers Bosse, betreifend den Religionsunterricht der höhere Lehranstalten besuchenden Dissidentenkinder (Ö.Januar 1893) 154 V. Die Auseinandersetzungen um den katholischen der Amtszeit des Kultusministers Bosse
Religionsunterricht
in
154
Nr. 68. Eingabe der Fuldaer Bischofskonferenz an den Kultusminister Bosse (23. August 1893) 155 Nr. 69. Schreiben des Kultusministers Bosse an den Erzbischof Krementz in Köln (2. November 1895) 157 Nr. 70. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Rampolla an den Erzbischof Krementz i n K ö l n (15. August 1897) 158 VI. Der Schulkompromiß
in Preußen (1904/06)
159
Nr. 71. Resolution des preußischen Abgeordnetenhauses („Schulkompromiß") (13. M a i 1904) 160 Nr. 72. Gesetz, betreffend die Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen (28. J u l i 1906) 161
Inhaltsübersicht
XVI VII.
Die Schulfrage in Bayern
165
Nr. 73. Bayerisches Schulbedarfsgesetz (28. J u l i 1902) 166 Nr. 74. Denkschrift des bayerischen Lehrervereins über die künftige Gestaltung der Schulleitung i n den Volksschulen Bayerns (19. März 1909) 167 Nr. 75. E r k l ä r u n g der bayerischen Bischofskonferenz zur Schulaufsicht (14. A p r i l 1909) 167 Nr. 76. Schreiben Papst Pius X . an den bayerischen Episkopat (1909) 168 VIII.
Die Schulfrage
in Württemberg
169
Nr. 77. Gesetz, betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen der Gesetze über das Volksschulwesen (17. August 1909) 169 IX. Der Bremer Schulstreit
172
Nr. 78. Denkschrift der Religionskommission der bremischen Lehrerschaft (4. September 1905) 173 X . Die Schulfrage in Elsaß-Lothringen
177
Nr. 79. Gesetz, betreffend das Unterrichtswesen (24. Februar 1908) Nr. 80. Schreiben des Ministeriums für Elsaß-Lothringen an Bischof F r i t zen, Straßburg (1. Januar 1910) Nr. 81. Schreiben des Bischofs Fritzen, Straßburg an das M i n i s t e r i u m f ü r Elsaß-Lothringen (4. Januar 1910) Nr. 82. Briefwechsel zwischen dem Kaiserlichen Statthalter Graf Wedel u n d Bischof Fritzen, Straßburg (9./10. Januar 1910) Nr. 83. Abschließender Briefwechsel zwischen dem Kaiserlichen Statthalter Graf Wedel u n d Bischof Fritzen, Straßburg (12./13. Januar 1910) XI. Die Errichtung
der Katholisch-Theologischen
Fakultät
in Straßburg
177 178 179 181 183
. . 185
Nr. 84. Konzept f ü r die Verhandlungen m i t dem Heiligen S t u h l (März 1899) 186 Nr. 85. Memoire der K u r i e über ihre Verhandlungsziele (August 1899) 187 Nr. 86. Konvention zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich über die Errichtung der Katholisch-Theologischen Fakultät i n Straßburg (5. Dezember / 20. November 1902) 188 XII.
Der Fall Spahn und der Kampf Wissenschaft"
um die „Voraussetzungslosigkeit
der
189
Nr. 87. Telegramm Kaiser Wilhelms I I . an den Statthalter von ElsaßLothringen, den Fürsten Hohenlohe-Langenburg (17. Oktober 1901) 191 Nr. 88. Theodor Mommsen, Universitätsunterricht u n d Konfession (November 1901) 192
Inhaltsübersicht
XVII
Nr. 89. Erwiderung Georg von Hertlings auf die E r k l ä r u n g Theodor Mommsens (17. November 1901) Nr. 90. Replik Theodor Mommsens auf die Erwiderung Georg von H e r t lings (24. November 1901) Nr. 91. Adolf Michaelis, Das Verhalten der Straßburger philosophischen Fakultät i m Falle Spahn (November 1901) Nr. 92. Adresse von Straßburger Professoren an Theodor Mommsen (Ende November 1901) Nr. 93. Erklärung von M a r t i n Spahn zur Straßburger Professorenadresse (Ende November 1901) Nr. 94. Ernst Troeltsch, Voraussetzungslose Wissenschaft (Dezember 1901)
193 194 196 198 198 199
Viertes Kapitel Kirche und Wehrverfassung I. Die Befreiung
der Geistlichen
von der Wehrpflicht
Nr. 95. Reichs-Militärgesetz (2. M a i 1874) Nr. 96. Wehrordnung u n d Heerordnung (28. September 1875) Nr. 97. Gesetz, betreffend Änderung der Wehrpflicht (11. Februar 1888) Nr. 98. Wehrordnung (22. November 1888/22. J u l i 1901) Nr. 99. Gesetz, betreffend die Wehrpflicht der Geistlichen (8. Februar 1890) Nr. 100. Heerordnung (2. J u l i 1909) II. Die preußischen
militärkirchlichen
Dienstordnungen
Nr. 101. Evangelische militärkirchliche Dienstordnung für die preußische Armee (17. Oktober 1902) Nr. 102. Katholische militärkirchliche Dienstordnung (17. Oktober 1902) Nr. 103. Verordnung, betreffend die Zugehörigkeit zu den Militärgemeinden (19. Oktober 1904) Nr. 104. Badisches Kirchengesetz, die evangelisdi-militärkirchlichen V e r hältnisse betreffend (14. Januar 1905) III.
Die sächsischen militärkirchlichen
Dienstordnungen
202 202 204 204 205 205 205 206 206
209 228 230 231 234
Nr. 105. Evangelisch-lutherische militärkirchliche Dienstordnung für die Königlich Sächsische Armee (2. A p r i l 1911) 234 Nr. 106. Katholische militärkirchliche Dienstordnung für die Königlich Sächsische Armee (10. Oktober 1912) 239
XVIII
Inhaltsübersicht
Teil Β Staat und katholische Kirche in der Zeit Wilhelms II. Fünftes Kapitel Die katholische Hierarchie und die katholische Laienbewegung I. Der Staat und die Papstwahl
243 243
Nr. 107. Schreiben des Fürstbischofs K o p p an Reichskanzler Fürst B ü l o w (4. August 1903) 245 Nr. 108. K o n s t i t u t i o n Papst Pius X . gegen die Einmischung des Staates i n die Papstwahl (20. Januar 1904) 246 II. Die Freiheit
der Bischofswahlen
247
Nr. 109. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Rampolla an die preußischen und oberrheinischen Bischöfe u n d Domkapitel über die Bischofswahlen (20. J u l i 1900) 248 III.
Die Stellung
der deutschen Kardinäle
251
Nr. 110. Schreiben Papst Leos X I I I . an Kaiser W i l h e l m I I . über die E r nennung preußischer Kardinäle (4. Dezember 1892) Nr. 111. Schreiben Kaiser Wilhelms I I . an Papst Leo X I I I . über die Ernennung preußischer Kardinäle (20. Dezember 1892) Nr. 112. Schreiben des bayerischen Kultusministers v. Wehner an den bayerischen Minister des Äußern v. Podewils (1. M a i 1903) Nr. 113. Bericht der Bayerischen Gesandtschaft am Päpstlichen Stuhl an den bayerischen Kultusminister v. Wehner (17. J u n i 1903) Nr. 114. Schreiben des preußischen Kultusministers v. Studt an den preußischen Außenminister Graf v. B ü l o w (10. A p r i l 1904) IV. Die Deutsche Zentrumspartei
im Verhältnis
252 253 254 255
zu Kirche und Staat . . . . 256
Nr. 115. Julius Bachem, W i r müssen aus dem T u r m heraus! (1. März 1906) Nr. 116. Grundsätze der „Osterdienstagskonferenz" (13. A p r i l 1909) Nr. 117. Berliner E r k l ä r u n g der leitenden Organe der Zentrumspartei (28. November 1909) V. Der deutsche Katholikentag
252
258 261 262 263
Nr. 118. Resolution des Katholikentags i n Neisse zur römischen Frage (27. August 1899) 264 Nr. 119. Satzung für die Generalversammlung der Katholiken Deutschlands (25. August 1904) 265 Nr. 120. Handschreiben Papst Pius X . an den Erzbischof von K ö l n K a r d i n a l Fischer (30. Oktober 1906) 267
Inhaltsübersicht VI. Der Volksverein
für das katholische
XIX
Deutschland
268
Nr. 121. Statuten des Volks Vereins f ü r das katholische Deutschland (24. Oktober 1890) 269 Nr. 122. A u f r u f des Volksvereins f ü r das katholische Deutschland (22. November 1890) 270 Nr. 123. Satzung des Volksvereins f ü r das katholische Deutschland (21. August 1906) 271 Nr. 124. Beschluß der Fuldaer Bischofskonferenz über den Volks verein für das katholische Deutschland (6. August 1909) 272 Sechstes Kapitel Der deutsche Katholizismus und die soziale Frage I. Papst Leo XIII., gung
die soziale Frage und die katholische
Arbeiterbewe-
273 273
Nr. 125. Hirtenschreiben der Fuldaer Bischofskonferenz zur sozialen Frage (22. August 1890) 274 Nr. 126. Enzyklika Papst Leos X I I I . „Rerum no v a r u m " über die A r b e i t e r frage (15. M a i 1891) 284 I I . Der deutsche Episkopat
und die Arbeiterfrage
307
Nr. 127. Hirtenschreiben der Fuldaer Bischofskonferenz („Fuldaer Pastorale") (22. August 1900) 308 Nr. 128. Erlaß des Erzbischofs Noerber, Freiburg, an den Klerus der Erzdiözese (1. Oktober 1900) 312 Nr. 129. Beschluß der Fuldaer Bischofskonferenz (14. Dezember 1910) 313 III.
Papst Pius X., die soziale Frage und die Arbeiterbewegung
Nr. 130. Note des bayerischen Ministerpräsidenten Graf H e r t l i n g an den Kardinalstaatssekretär M e r r y del V a l (Sommer 1912) Nr. 131. Promemoria zur Note des bayerischen Ministerpräsidenten Graf H e r t l i n g an den Kardinalstaatssekretär M e r r y del V a l (Sommer 1912) Nr. 132. Enzyklika Pius X . an die Bischöfe Deutschlands „Singulari quadam" (24. September 1912) Nr. 133. Schreiben der Fuldaer Bischofskonferenz an die Geistlichen ihrer Diözesen (5. November 1912) Nr. 134. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs M e r r y del V a l an die deutschen Erzbischöfe u n d Bischöfe (8. Januar 1914) Nr. 135. Schreiben des Fürstbischofs von Breslau, K a r d i n a l Kopp, an den Reichsgrafen von Oppersdorf (21. Januar 1914) Nr. 136. Hirtenschreiben der Bischöfe der Niederrheinischen Kirchenprovinz (13. Februar 1914)
314
316 319 324 328 329 330 331
Inhaltsübersicht Siebentes Kapitel Staat und katholische Kirche vom Ausgang des Kulturkampfs bis zum Ende der Amtszeit Papst Leos X I I I . I. Die Stellung
Leos XIII.
zur modernen
Staatsidee
335 335
Nr. 137. Die Enzyklika „ I m m o r t a l e Dei" über die christliche Staatsordnung (1. November 1885) 336 Nr. 138. Die Enzyklika „Sapientiae christianae" über die christlichen B ü r gerpflichten (10. Januar 1890) 343 II. Leo XIII.
und die „Christliche
Demokratie"
348
Nr. 139. Die Enzyklika „Graves de communi" über die christliche Demokratie (18. Januar 1901) 349 III.
Der Kampf
um das Jesuitengesetz
(1890 - 1903)
Nr. 140. A n t r a g Windthorsts i m Reichstag auf Aufhebung des Jesuitengesetzes (3. Dezember 1890) Nr. 141. Bittschrift des Evangelischen Bundes an Kaiser W i l h e l m I I . (1891) Nr. 142. Bekanntmachung, betreffend die Ausführung des Gesetzes über den Orden der Gesellschaft Jesu (18. J u l i 1894) Nr. 143. Eingabe der Fuldaer Bischofskonferenz an den Reichskanzler Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst (21. August 1895) Nr. 144. Interpellation des Abgeordneten Graf Hompesch i m Reichstag (13. J u n i 1896) Nr. 145. A n t w o r t des Reichskanzlers Fürst Hohenlohe auf die Interpellation des Zentrumsabgeordneten Graf Hompesch (17. J u n i 1896) I V . Der Streit um die Canisius-Enzyklika
352
353 354 356 356 358 358 359
Nr. 146. Enzyklika Papst Leos X I I I . „ M i l i t a n t i s Ecclesiae" an die Erzbischöfe und Bischöfe Österreichs, Deutschlands u n d der Schweiz (Canisius-Enzyklika) (1. August 1897) 360 Nr. 147. Rede des Präsidenten des Oberkirchenrats der alt-preußischen Union Barkhausen bei der Hauptversammlung des G u s t a v - A d o l f - V e r eins (29. September 1897) 362 Nr. 148. Beschluß der preußischen Generalsynode zur Canisius-Enzyklika (24. November 1897) 363 Achtes Kapitel Staat und katholische Kirche in der Amtszeit Papst Pius X . I. Die Stellung
des Nuntius
in München
364 364
Nr. 149. Schreiben des preußischen Kultusministers Studt an den Staatssekretär des Auswärtigen A m t s Frh. v. Richthofen (1. August 1904) 364
II. Das kirchliche
Inhaltsübersicht
XXI
Eherecht unter Papst Pius X
366
Nr. 150. Dekret Papst Pius X . „Provida" betreffend die Eheschließungsreform für Deutschland (18. Januar 1906) Nr. 151. Einführung des Dekrets „Provida", hier: durch Erlaß des Bischofs v. Busch, Speyer (Februar/März 1906) Nr. 152. Anweisung des Erzbischofs von Köln, betreffend die Ausführung des Dekrets „Ne temere" v o m 2. August 1907 u n d der K o n s t i t u t i o n „Provida" vom 18. Januar 1906 (24. März 1908) Nr. 153. Unterweisung für das V o l k (24. März 1908) III.
Die Kundgebungen vom Jahr 1907
Pius X. und der Kurie
gegen den
Modernismus
367 369
371 372 374
Nr. 154. Das Dekret „ L a m e n t a b i l i " der Kongregation f ü r die heilige römische und universale Inquisition (Der „neue Syllabus") (3. J u l i 1907) 376 Nr. 155. Enzyklika Papst Pius X . „Pascendi dominici gregis" über die Lehre der Modernisten (8. September 1907) 380 Nr. 156. A l l o k u t i o n Papst Pius X . i m geheimen Konsistorium über den Modernismus (16. Dezember 1907) 406 Neuntes Kapitel Der deutsche Katholizismus und der Anti-Modernismus I. Der deutsche Episkopat
und der Kampf
409
gegen den Modernismus
409
Nr. 157. Schreiben des Erzbischofs K a r d i n a l Fischer, K ö l n , an Papst Pius X . (14. Dezember 1907) 409 Nr. 158. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs M e r r y del V a l an den Kölner Erzbischof K a r d i n a l Fischer (17. Dezember 1907) 410 Nr. 159. Schreiben der deutschen Bischöfe an Papst Pius X . (24. Dezember 1907) 411 I I . Das bayerische Plazet für die Enzyklika
„Pascendi
dominici
gregis"
.. 412
Nr. 160. Erlaß des Kultusministers Wehner an den Erzbischof v. Stein, München-Freising (30. September 1907) 413 Nr. 161. Schreiben des Kultusministers Wehner an den Erzbischof v. Stein, München-Freising (30. September 1907) 413 Nr. 162. Schreiben Papst Pius X . an die bayerischen Bischöfe (8. Dezember 1907) 414 III.
Die Suspension des Münchener
Theologen Joseph Schnitzer
416
Nr. 163. Joseph Schnitzer, Die Enzyklika Pascendi u n d die katholische Theologie (1. Februar 1908) 418
XXII
Inhaltsübersicht
Nr. 164. Schreiben des Apostolischen Nuntius F r ü h w i r t h an den Erzbischof v. Stein, München-Freising (6. Februar 1908) 422 Nr. 165. Rede des Abgeordneten Casselmann i m bayerischen Landtag (10. Februar 1908) 422 Nr. 166. Rede des Kultusministers v. Wehner i m bayerischen Landtag (11. Februar 1908) 424 IV. Der Anti-Modernismus-Eid Nr. 167. Eid der Doctores i n sacra scriptura gemäß dem M o t u proprio „Illibatae custodiendae" Papst Pius X . (29. J u n i 1910) Nr. 168. M o t u proprio „Sacrorum antistitum" Papst Pius X . (1. September 1910) Nr. 169. Schreiben Papst Pius X . an den K a r d i n a l Fischer, Erzbischof von Köln (31. Dezember 1910) V. Die preußische Regierung und der Anti-Modernismus-Eid Nr. 170. Rede des Abgeordneten Friedberg vor dem preußischen Abgeordnetenhaus (14. Januar 1911) Nr. 171. Rede des preußischen Kultusministers von Trott zu Solz vor dem preußischen Abgeordnetenhaus (14. Januar 1911) Nr. 172. Rede des preußischen Kultusministers von Trott zu Solz vor dem preußischen Abgeordnetenhaus (16. Januar 1911) Nr. 173. Schreiben der katholisch-theologischen Fakultät Münster an B i schof Dingelstad, Münster (31. Januar 1911) Nr. 174. Schreiben des Bischofs Dingelstad, Münster, an die katholischtheologische Fakultät Münster (5. Februar 1911) Nr. 175. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs M e r r y del V a l an den Fürstbischof Kopp, Breslau (10. Februar 1911) Nr. 176. E r k l ä r u n g des Kultusministers v. Trott zu Solz vor dem Haushaltsausschuß des preußischen Abgeordnetenhauses (27. Februar 1911) Nr. 177. E r k l ä r u n g des konservativen Fraktionsvorsitzenden v. Heydebrand u n d der Lasa vor dem preußischen Abgeordnetenhaus (7. März 1911) Nr. 178. E r k l ä r u n g des Reichskanzlers u n d preußischen Ministerpräsidenten v. Bethmann Hollweg vor dem preußischen Abgeordnetenhaus (7. März 1911) Nr. 179. E r k l ä r u n g des Kardinals v. Kopp, Fürstbischof von Breslau, vor dem preußischen Herrenhaus (7. A p r i l 1911)
427 428 429 432 433 435 436 437 438 439 440 441 442 443 450
VI. Die Stellung der bayerischen Regierung zum Anti-Modernismus-Eid 456 Nr. 180. Schreiben des bayerischen Kultusministers v. Wehner an den Ministerpräsidenten Graf Podewils (7. Februar 1911) 457 VII.
Die Stellung der württembergischen und der badischen Regierungen zum Anti-Modernismus-Eid 460 Nr. 181. Rede des württembergischen Kultusministers v. Fleischhauer vor der Zweiten K a m m e r (1. Februar 1911) 460
XXIII
Inhaltsübersicht
Nr. 182. Bescheid des badischen Kultusministers B ö h m an die BudgetKommission des Landtags (Januar 1912 ) 462 VIII.
Der Streit um die Borromäus-Enzyklika
465
Nr. 183. Die Enzyklika „Editae saepe" Papst Pius X . (Borromäus-Enzyklika) (26. M a i 1910) Nr. 184. Protestnote des Reichskanzlers u n d preußischen Ministerpräsidenten v. Bethmann Hollweg an den Kardinalstaatssekretär M e r r y del Val (6. J u n i 1910) Nr. 185. Telegramm des Reichskanzlers u n d preußischen Ministerpräsidenten v. Bethmann Hollweg an den Gesandten v. Mühlberg (6. J u n i 1910) Nr. 186. Kundgebung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses, betreffend die Borromäus-Enzyklika des Papstes (10. J u n i 1910) Nr. 187. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs M e r r y del V a l an den preußischen Gesandten v. Mühlberg (13. J u n i 1910)
466
467 468 468 470
Zehntes Kapitel Der Fortgang der Auseinandersetzungen um das Jesuitengesetz I. Die Aufhebung
des §2 des Jesuitengesetzes
(1904)
471 471
Nr. 188. Gesetz, betreffend die Aufhebung des § 2 des Gesetzes über den Orden der Gesellschaft Jesu v o m 4. J u l i 1872 (8. März 1904) 471 Nr. 189. Kundgebung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses zur Frage des Jesuitengesetzes ( A p r i l 1904) 472 II. Bayern und das Jesuitengesetz
(1911 -1912)
Nr. 190. Erlaß der bayerischen Regierung zum Jesuitengesetz (4. August 1911) Nr. 191. Der Jesuitenerlaß der bayerischen Minister v. Soden (Inneres) und v. K n i l l i n g (Kultus) (11. März 1912) Nr. 192. Interpellation der nationalliberalen F r a k t i o n des Reichstags w e gen des bayerischen Jesuitenerlasses (17. A p r i l 1912) Nr. 193. A n t r a g des bayerischen Bevollmächtigten zum Bundesrat Graf Lerchenfeld betreffend den Vollzug des Jesuitengesetzes (18. A p r i l 1912) Nr. 194. E r k l ä r u n g des Reichskanzlers v. Bethmann Hollweg, betreffend den bayerischen Jesuitenerlaß (26. A p r i l 1912) Nr. 195. Eingabe des bayerischen Episkopats an den Bundesrat (16. J u l i 1912) Nr. 196. Beschluß des Bundesrats (28. November 1912) Nr. 197. E r k l ä r u n g des Abgeordneten Spahn i m Namen der Zentrumsfraktion vor dem Reichstag (4. Dezember 1912) Nr. 198. Rede des Reichskanzlers v. Bethmann H o l l w e g i m Reichstag (4. Dezember 1912)
474 476 477 480 480 482 483 486 486 487
Inhaltsübersicht
XXIV III.
Der Reichstag und das Jesuitengesetz
(1912 - 1913)
489
Nr. 199. Rede des Abgeordneten Spahn zur Begründung des Antrags auf Aufhebung des Jesuitengesetzes (19. Februar 1913) 490 Elftes Kapitel Staat und Katholische Kirche in der Zeit des Ersten Weltkriegs
492
I. Papst Pius X. und der Kriegsausbruch
492
Nr. 200. Breve Papst Pius X . „ D u m Europa fere" (2. August 1914)
492
II. Die Wahl Papst Benedikts
493
XV
Nr. 201. M a h n r u f Papst Benedikts X V . an alle K a t h o l i k e n der Welt (8. September 1914) Nr. 202. A l l o k u t i o n Papst Benedikts X V . i m Konsistorium (22. Januar 1915)
495
III.
496
Die Einführung
des Codex Iuris Canonici
494
Nr. 203. Apostolische K o n s t i t u t i o n Papst Benedikts X V . „Providentissima Mater Ecclesia" (27. M a i 1917) 497 Nr. 204. M o t u proprio Papst Benedikts X V . „ C u m iuris canonici Codicem" (15. September 1917) 500 I V . Die Aufhebung
des Jesuitengesetzes
(1917)
502
Nr. 205. Gesetz, betreffend die Aufhebung des Gesetzes über den Orden der Gesellschaft Jesu vom 4. J u l i 1872 (19. A p r i l 1917) 503 Nr. 206. Kundgebung des Zentralvorstands des Evangelischen Bundes (24. A p r i l 1917) 503 V. Die Friedensbemühungen
Papst Benedikts
XV
Nr. 207. Schreiben Papst Benedikts X V . an Kaiser W i l h e l m I I . (13. J u n i 1917) Nr. 208. Bericht des Barons v. Grünau an den Reichskanzler v. Bethmann Hollweg (3. J u l i 1917) Nr. 209. Schreiben Kaiser Wilhelms I I . an Papst Benedikt X V . (15. J u l i 1917) Nr. 210. Friedenskundgebung Papst Benedikts X V . (1. August 1917) Nr. 211. Note des Reichskanzlers Michaelis an den Kardinalstaatssekretär Gasparri (19. September 1917) Nr. 212. Das Ergebnis der parlamentarischen Untersuchung über die Friedensinitiative Benedikts X V . (3. September 1922) VI. Die politischen
Forderungen
504 506 507 509 510 513 516
der deutschen Bischöfe im Jahr 1917 . . . . 517
Nr. 213. Hirtenschreiben des deutschen Episkopats über die kirchenpolitischen Forderungen und Aufgaben der Gegenwart (1. November 1917) 517
Inhaltsübersicht VII. Der deutsche Katholizismus
XXV
und die preußische Wahlrechtsreform
.. 530
Nr. 214. E n t w u r f der Zentrumsfraktion des preußischen Landtags f ü r die „Sicherungsartikel" (Februar 1918) Nr. 215. Schreiben des Fürstbischofs Bertram, Breslau, an den Zentrumspolitiker Porsch (1. März 1918) Nr. 216. Zweites Schreiben des Fürstbischofs Bertram, Breslau, an den Zentrumspolitiker Porsch (1. März 1918) Nr. 217. Pressemitteilung des Kardinals v. Hartmann, K ö l n (Juni 1918) VIII.
Die preußischen
Sicherungsartikel
für Kirche und Schule (1918)
532 534 535 537 538
Nr. 218. Die Sicherungsartikel f ü r Kirche u n d Schule, beschlossen i m preußischen Abgeordnetenhaus i n der vierten Lesung des Entwurfs des „Mantel-Gesetzes" zur preußischen Wahlreform (12. J u n i 1918) 539
Teil C Staat und evangelische Kirche in der Zeit Wilhelms II. Zwölftes Kapitel Organisationen und Programme des deutschen Protestantismus I. Der Evangelische
Bund
540
Nr. 219. A u f r u f des Evangelischen Bundes (Januar 1887) II. Das kirchenpolitische
Programm
Wilhelms
541 II. in Preußen
Nr. 220. Notatum des Präsidenten des Evangelischen Barkhausen (25. Februar 1891) III.
Die kirchlichen
540
Selbständigkeitsbestrebungen
542
Oberkirchenrats, 543 545
Nr. 221. Denkschrift des Evangelischen Oberkirchenrats, betreffend die Bewegung i n der evangelischen Kirche Preußens gegen das landesherrliche Kirchenregiment (25. Februar 1893) 547 Nr. 222. Denkschrift des Evangelischen Oberkirchenrats über die E n t wicklung der altpreußischen Landeskirche (1900) 562 IV. Der Deutsche Evangelische
Kirchenausschuß
564
Nr. 223. Satzung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses (13. J u n i 1903) 565 Nr. 224. Beschluß der preußischen Generalsynode zur Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses (28. Oktober 1903) 568 Nr. 225. Kundgebung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses an das deutsche evangelische V o l k (10. November 1903) 569
Inhaltsübersicht Dreizehntes Kapitel Die Fortbildung der kirchlichen Gesetzgebung I. Die altpreußische
evangelische Landeskirche
572 572
Nr. 226. Staatsgesetz, betreffend die Kirchengemeinde- u n d Synodalordnung sowie die Generalsynodalordnung (28. M a i 1894) 572 II. Die Bildung
des Konsistorialbezirks
Frankfurt
573
Nr. 227. Kirchengemeinde- u n d Synodal-Ordnung f ü r die evangelischen Kirchengemeinschaften des Konsistorialbezirks F r a n k f u r t a. M. (27. September 1899) 574 III.
Das landesherrliche
Kirchenregiment
in Württemberg
Nr. 228. Kirchliches Gesetz, betreffend die Ausübung der landesherrlichen Kirchenregimentsrechte i m Falle der Zugehörigkeit des Königs zu einer anderen als der evangelischen Konfession (28. März 1898) Nr. 229. Staatsgesetz, betreffend das kirchliche Gesetz über Ausübung der landesherrlichen Kirchenregimentsrechte i m Falle der Zugehörigkeit des Königs zu einer anderen als der evangelischen Konfession (28. März 1898) Nr. 230. Königliche Verordnung, betreffend die Evangelische Kirchenregierung (31. Oktober 1918) Nr. 231. Vorläufiges kirchliches Gesetz, betreffend die Ausübung der landesherrlichen Kirchenregimentsrechte i n der evangelischen Landeskirche Württembergs (9. November 1918) IV. Die Kirchengemeindeordnung
für Braunschweig
576
577
580 580
582 583
Nr. 232. Kirchengemeindeordnung für die evangelisch-lutherischen K i r chengemeinden des Herzogtums Braunschweig (11. J u n i 1909) 584 Vierzehntes Kapitel Der Fall Stoecker I. Die erste Stoecker-Krise
(1880)
Nr. 233. Beschwerde des Bankiers v. Bleichröder an Kaiser W i l h e l m I. über Stoeckers A g i t a t i o n (18. J u n i 1880) Nr. 234. Schreiben des Hofpredigers Stoecker an Kaiser W i l h e l m I. (23. September 1880) Nr. 235. Schreiben Bismarcks an den Kultusminister v. Puttkamer (16. Oktober 1880 ) Nr. 236. Erlaß Kaiser Wilhelms I. an den Hofprediger Stoecker (29. Dezember 1880) II. Die zweite Stoecker-Krise
(1883)
592 592
594 594 596 597 598
Nr. 237. Schreiben Kaiser Wilhelms I. an den Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats Hermes (18. November 1883) 599
XXVII
Inhaltsübersicht
Nr. 238. Erlaß Kaiser Wilhelms I. an den Hofprediger Stoecker (29. November 1883) 599 Nr. 239. Schreiben des Hofpredigers Stoecker an den Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats Hermes (30. November 1883) 600 III.
Die dritte Stoecker-Krise
(1885)
600
Nr. 240. Briefwechsel zwischen Stoecker u n d seiner Frau nach dem BäckerProzeß (25. - 27. J u l i 1885) Nr. 241. Schreiben des Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats Hermes an den Hofprediger Stoecker (27. J u l i 1885) Nr. 242. Schreiben des Prinzen W i l h e l m an Kaiser W i l h e l m I. (5. August 1885) Nr. 243. Schreiben des Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats Hermes an den Hofprediger Stoecker (29. Dezember 1885)
602
IV. Prinz Wilhelm
604
und der Evangelisch-kirchliche
Hilfsverein
Nr. 244. Offiziöser Bericht über die Waldersee-Versammlung (2. Dezember 1887) Nr. 245. Rede des Prinzen W i l h e l m bei der Waldersee-Versammlung (28. November 1887) Nr. 246. Schreiben des Prinzen W i l h e l m an Bismarck (21. Dezember 1887) Nr. 247. Schreiben Bismarcks an den Prinzen W i l h e l m (6. Januar 1888) Nr. 248. Schreiben des Prinzen W i l h e l m an Bismarck (14. Januar 1888) Nr. 249. B i t t e u m Hilfe für die Stadtmission i n den großen Städten (30. Januar 1888) V. Die Entfremdung
zwischen Kaiser
Wilhelm
601
602 603
606 608 609 613 616 617
II. und Stoecker (1888) .. 619
Nr. 250. Schreiben des Hofpredigers Stoecker an den Chefredakteur der „Kreuzzeitung" W i l h e l m v. Hammerstein („Scheiterhaufenbrief") (14. August 1888) 620 Nr. 251. Erklärung des Freikonservativen Graf Sholto Douglas über die Beziehungen Kaiser Wilhelms I I . zu Stoecker (4. Oktober 1888) 621 Nr. 252. E r k l ä r u n g des konservativen Abgeordneten Christoph Joseph Cremer gegen den christlichen „Boulangismus" (1888) 623 VI. Stoeckers Verzicht auf politische
Wirksamkeit
(1889)
Nr. 253. Erlaß Kaiser Wilhelms I I . an den Evangelischen Oberkirchenrat (20. März 1889) Nr. 254. Bericht des Evangelischen Oberkirchenrats an Kaiser W i l h e l m I I . (29. März 1889) Nr. 255. Schreiben des Hofpredigers Stoecker an den Geheimen Kabinettsrat v. Lucanus (8. A p r i l 1889) Nr. 256. Erlaß Kaiser Wilhelms I I . an den Evangelischen Oberkirchenrat (15. A p r i l 1889) Nr. 257. Erlaß des Evangelischen Oberkirchenrats an den Hofprediger Stoecker (29. A p r i l 1889)
623 624 626 626 627 628
XXVIII
I n h a l tsübersicht
Nr. 258. M i t t e i l u n g Kaiser Wilhelms I I . an das preußische Staatsministerium (30. A p r i l 1889) 629 VII.
Die Entlassung
Stoeckers
629
Nr. 259. Entlassungsgesuch des Hofpredigers Stoecker an Kaiser W i l helm I I . (4. November 1890) 630 Nr. 260. Schreiben des Chefs des Kaiserlichen Zivilkabinetts v. Lucanus an den Evangelischen Oberkirchenrat (6. November 1890) 631 Nr. 261. A u f r u f zum Bau der Stadtmissionskirche (September 1891) 632 VIII. Stoeckers Trennung von der Deutschkonservativen Gründung der Kirchlich-Sozialen Konferenz
Partei
und die
Nr. 262. Beschluß des Geschäftsführenden Ausschusses (Elfer-Ausschusses) der Deutsch-konservativen Partei (16. Januar 1896) Nr. 263. A n t r a g A d o l f Stoeckers an den Elferausschuß der Deutsch-konservativen Partei (2. Februar 1896) Nr. 264. Telegramm Kaiser Wilhelms I I . an den Geheimrat Hinzpeter (28. Februar 1896) Nr. 265. Gründungsaufruf der Freien Kirchlich-Sozialen Konferenz (21. J u l i 1896) IX. Stoeckers Bemühungen
um die kaiserliche
Rehabilitierung
633
634 635 635 635 637
Nr. 266. Eingabe A d o l f Stoeckers an Kaiser W i l h e l m I I . (23. Dezember 1898) 638 Nr. 267. Aktennotiz des Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats Barkhausen (25. A p r i l 1899) 639 Nr. 268. Bericht des Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats B a r k hausen an Kaiser W i l h e l m I I . (29. M a i 1899) 640
Fünfzehntes Kapitel Der Fall Harnack und der Apostolikumsstreit I. Adolf Harnacks Berufung
nach Berlin
Nr. 269. Kabinettsordre K ö n i g Friedrich Wilhelms IV., betreffend die E r gänzung des Ressort-Reglements für die innere evangelische Kirchenverwaltung (5. Februar 1855) Nr. 270. Schreiben des Evangelischen Oberkirchenrats an den preußischen Kultusminister v. Goßler (29. Februar 1888) Nr. 271. Schreiben des Kultusministers v. Goßler an den Evangelischen Oberkirchenrat (24. März 1888) Nr. 272. Fragen des preußischen Kultusministeriums an die fünf Gutachter i m F a l l Harnack (29. M a i 1888)
645 645
648 649 649 650
XXIX
Inhaltsübersicht
Nr. 273. Schreiben des Kultusministers v. Goßler an Bismarck (17./27. J u n i 1888) Nr. 274. Schreiben des Chefs der Reichskanzlei v. Rottenburg an den K u l tusminister v. Goßler (27. J u n i 1888) Nr. 275. Schreiben des Kultusministers v. Goßler an den Evangelischen Oberkirchenrat (14. J u l i 1888) Nr. 276. Bericht des Evangelischen Oberkirchenrats an den Kultusminister v. Goßler (6. September 1888) Nr. 277. Erlaß Kaiser Wilhelms I I . an den Kultusminister v. Goßler (17. September 1888) Nr. 278. Ehrendoktorurkunde der Theologischen Fakultät Gießen für Otto v. Bismarck (10. November 1888) Nr. 279. Dankschreiben Bismarcks an die Theologische Fakultät der U n i versität Gießen (22. November 1888) Nr. 280. M i t t e i l u n g des Evangelischen Oberkirchenrats an die preußische Generalsynode zur Besetzung der theologischen Professuren (4. November 1891) Nr. 281. Beschluß der preußischen Generalsynode zur Besetzung der theologischen Professuren (31. Oktober 1903) I I . Der Fall Schrempf
Der Streit um Adolf
652 652 653 654 654 655 656 657 658
Nr. 282. Eidesvorhalt für die württembergischen Pfarrer (28. Januar 1827) Nr. 283. M i t t e i l u n g des Pfarrers Schrempf an das Dekanat Blaufelden (5. J u l i 1891) Nr. 284. Zuschrift des Kirchengemeinderats u n d bürgerlichen Gemeinderats von Leuzendorf an das württembergische Landeskonsistorium (10. August 1891) Nr. 285. Erlaß des Landeskonsistoriums an das Dekanatamt Blaufelden (18. August 1891) Nr. 286. Erlaß des Landeskonsistoriums an das Dekanatamt Blaufelden (27. Oktober 1891) Nr. 287. Schreiben von Christoph Schrempf an das Landeskonsistorium (22. November 1891) Nr. 288. Erlaß des Landeskonsistoriums an das gemeinschaftliche Oberamt Gerabronn-Blaufelden (15. Dezember 1891) Nr. 289. Erlaß des Landeskonsistoriums an das gemeinschaftliche Oberamt Gerabronn-Blaufelden (3. J u n i 1892) III.
651
Harnacks Stellungnahme
zum Apostolikum
659 660 660 661 662 664 665 666
. . . . 666
Nr. 290. Erklärung Adolf Harnacks zum apostolischen Glaubensbekenntnis (18. August 1892) * Nr. 291. Stellungnahme der preußischen Evangelisch-Lutherischen K o n ferenz zum Apostolikumsstreit (20. September 1892) Nr. 292. Erklärung der deutschen Adelsgenossenschaft zum Apostolikumsstreit (September 1892) Nr. 293. Eisenacher E r k l ä r u n g von Freunden u n d Mitarbeitern der „Christlichen W e l t " (5. Oktober 1892)
669 673 673 674
Inhaltsübersicht Nr. 294. E r k l ä r u n g des Vorstands der Positiven Union zum Apostolikumsstreit (12. Oktober 1892) Nr. 295. E r k l ä r u n g einer Versammlung der „Kirchlichen Vereinigung" zum Apostolikumsstreit (14. Oktober 1892) Nr. 296. E r k l ä r u n g Kaiser Wilhelms I I . i n Wittenberg („Wittenberger Bekenntnis") (31. Oktober 1892) Nr. 297. Schreiben des Chefs des Kaiserlichen Zivilkabinetts v. Lucanus an den preußischen Kultusminister Bosse (12. November 1892) Nr. 298. Zirkularerlaß des Evangelischen Oberkirchenrats, betreffend den Gebrauch u n d die Wertschätzung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses (25. November 1892) IV. Der Fall Steudel
675 675 675 677
677 679
Nr. 299. Eingabe von 153 Geistlichen an das württembergische Landeskonsistorium (16. Januar 1893) Nr. 300. Erlaß des württembergischen Landeskonsistoriums an die 153 Geistlichen (26. Januar 1893) Nr. 301. E r k l ä r u n g der Pfarrer Finckh, Gmelin und Steudel (8. Dezember 1894) Nr. 302. Eingabe der Gemeinde Maienfels an K ö n i g W i l h e l m I I . von Württemberg (28. A p r i l 1895) Nr. 303. Württembergisches Kirchengesetz, betreffend die Behandlung dienstlicher Verfehlungen u n d die unfreiwillige Pensionierung der evangelischen Geistlichen (18. J u l i 1895) Nr. 304. Disziplinarurteil gegen Friedrich Steudel (11. Februar 1896)
680 680 681 682
683 685
Sechzehntes Kapitel Die evangelische Kirche und die soziale Frage I. Die Sozialpolitik Kaiser behörden im Jahr 1890
Wilhelms
II. und die evangelischen
691 Kirchen-
Nr. 305. Rede Kaiser Wilhelms I I . vor dem Preußischen Staatsrat (14. Februar 1890) Nr. 306. Ansprache des preußischen Evangelischen Oberkirchenrats an die Geistlichen der Landeskirche über M i t a r b e i t an der Lösung der sozialen Frage (17. A p r i l 1890) Nr. 307. Ansprache des sächsischen Landeskonsistoriums an die Gemeinden (8. M a i 1890) Nr. 308. Erlaß des Landeskonsistoriums i n Hannover an die Geistlichen über die Aufgabe der Kirche gegenüber der sozialen Frage (25. August 1890) Nr. 309. Hundschreiben der Generalsuperintendenten des Konsistorialbezirks Kassel an die Geistlichen (26. November 1890)
691 692
694 698 701 703
Inhaltsübersicht I I . Der Evangelisch-Soziale
XXXI
Kongreß
706
Nr. 310. Einladung zum ersten Evangelisch-Sozialen Kongreß (Frühjahr 1890) Nr. 311. Satzung des Evangelisch-Sozialen Kongresses (29. M a i 1891) Nr. 312. Arbeitsprogramm des Evangelisch-Sozialen Kongresses (29. M a i 1891) Nr. 313. Erklärung des Aktionskomitees des Evangelisch-Sozialen K o n gresses (Februar 1895) III.
Die Evangelischen
Arbeitervereine
710 710 711 712 713
Nr. 314. A u f r u f des Geschäftsführenden Ausschusses des Gesamtverbands evangelischer Arbeitervereine Deutschlands (69. August 1890) 714 Nr. 315. Grundlinien f ü r ein evangelisch-soziales Programm u n d Arbeitsprogramm der evangelischen Arbeitervereine (31. M a i 1893) 715 Nr. 316. Programm des Gesamtverbands der Evangelischen Arbeitervereine Deutschlands (24. Oktober 1906) 717 I V . Die preußische Generalsynode
und die soziale Frage 1891
718
Nr. 317. M i t t e i l u n g des Evangelischen Oberkirchenrats an die Generalsynode der evangelischen Landeskirche, betreifend die Aufgaben der evangelischen Kirche auf sozialem Gebiete (5. November 1891) 719 Nr. 318. Beschluß der preußischen Generalsynode (3. Dezember 1891) 721 V. Die Aufgaben der Kirche demokratie (1893/94)
und der staatliche
Kampf
gegen die Sozial-
722
Nr. 319. Erlaß des preußischen Innenministeriums Graf Eulenburg an die preußischen Regierungspräsidenten (29. J u l i 1893) 723 Nr. 320. Schreiben des Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats Barkhausen an den Präsidenten des Landeskonsistoriums i n Münster (23. Februar 1894) 724 V I . Der preußische Oberkirchenrat der Pfarrer (1895)
und die sozialpolitische
Wirksamkeit
725
Nr. 321. Erlaß des Oberkirchenrats der altpreußischen Landeskirche, betreifend die Beteiligung der Pfarrer an der sozialpolitischen Bewegung (16. Dezember 1895) 727 Nr. 322. Resolution des Evangelisch-Sozialen Kongresses (28. M a i 1896) 730 Nr. 323. Beschluß der preußischen Generalsynode zur Beteiligung der Geistlichen an der sozialpolitischen Bewegung (13. Dezember 1897) 731 VII. Die preußische
Generalsynode
und die soziale Frage 1903
732
Nr. 324. Beschluß der preußischen Generalsynode zur sozialen Frage (3. November 1903) 732 Nr. 325. Ansprache der preußischen Generalsynode an die Gemeinden zur sozialen Frage (3. November 1903) 733
Inhaltsübersicht Siebzehntes Kapitel Evangelische Lehrkonflikte am Vorabend des Ersten Weltkriegs I. Das Lehrbeanstandungsrecht ßischen Union
in der Evangelischen
Kirche
der
altpreu-
Nr. 326. Ordinationsermahnung der Evangelischen Landeskirche i n Preußen (13. J u n i 1895) Nr. 327. Begründung des Evangelischen Oberkirchenrats zum E n t w u r f des Lehrbeanstandungsgesetzes (1909) Nr. 328. Rudolph Sohm, Der Lehrgerichtshof (25. November 1909) Nr. 329. Adolf Harnack, Das neue kirchliche Spruchkollegium (Dezember 1909) Nr. 330. Rudolph Sohm, Noch einmal der Lehrgerichtshof (19./21. Dezember 1909) Nr. 331. Kirchengesetz, betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen (16. März 1910) Nr. 332. Erklärung von Rudolph Sohm u n d anderen gegen das Spruchkollegium (21. März 1911) Nr. 333. Stellungnahme Adolf Harnacks für das Spruchkollegium (6. A p r i l 1911) II. Der Fall Jatho Nr. 334. Konfirmationsbekenntnis, verfaßt von Pfarrer Carl Jatho (1899) Nr. 335. Aktenvermerk über die Besprechung zwischen Generalsuperintendent Umbeck u n d Pfarrer Jatho (28. Februar 1910) Nr. 336. Fünf Fragen des Evangelischen Oberkirchenrats an Pfarrer Jatho (7. Januar 1911) Nr. 337. Erwiderung des Pfarrers Jatho an den Evangelischen Oberkirchenrat (26. Januar 1911) Nr. 338. Entscheidung des Spruchkollegiums der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union betr. die Amtsenthebung des Pfarrers Jatho (24. J u n i 1911) Nr. 339. Stellungnahme Harnacks zum F a l l Jatho (27. J u l i 1911) Nr. 340. Ernst Troeltsch, Gewissensfreiheit (Juli 1911) Nr. 341. Erklärung von siebenunddreißig Professoren der Theologie zur Entscheidung des Spruchkollegiums i m F a l l Jatho (3. August 1911) III.
Der Fall Traub
735 735
737 738 742 743 745 746 755 757 759 761 762 763 767 771 776 779 781 782
Nr. 342. Gottfried Traub, Staatschristentum oder Volkskirche. E i n protestantisches Bekenntnis (September 1911) 783 Nr. 343. Disziplinarurteil des Konsistoriums Breslau über die A m t s v e r setzung des Pfarrers Traub (15. März 1912) 784
XXXIII
Inhaltsübersicht
Nr. 344. Beschluß des Evangelischen Oberkirchenrats i n dem Disziplinarverfahren gegen Gottfried Traub (5. J u l i 1912) 790 Nr. 345. Adolf Harnack über die Dienstentlassung Gottfried Traubs (1912) 797 IV. Bemühungen
um die Wiedereinsetzung
des Pfarrers
Traub
Nr. 346. Eingabe des Presbyteriums der Reinoldi-Gemeinde i n D o r t m u n d an den Evangelischen Oberkirchenrat (30. September 1914) Nr. 347. Bescheid des Westfälischen Konsistoriums an das Presbyterium der Reinoldi-Gemeinde i n D o r t m u n d (12. Dezember 1914) Nr. 348. Erlaß des Evangelischen Oberkirchenrats über die Wiederverleihung der Rechte des geistlichen Standes an Gottfried Traub (16. November 1918) Nr. 349. Schreiben Gottfried Traubs an den Evangelischen Oberkirchenrat (20. November 1918) V. Der Fall Heydorn
799
800 801 801 801 802
Nr. 350. Die hundert Thesen des Pfarrers Heydorn (Dezember 1910) Nr. 351. Erlaß des Konsistoriums i n K i e l an den Pfarrer Heydorn (8. März 1911)
803 806
Achtzehntes Kapitel Die evangelische Kirche im Ersten Weltkrieg I. Die evangelische
Kirche
und der Kriegsausbruch
Nr. 352. Allerhöchster Erlaß K ö n i g Wilhelms II., betreffend die A b h a l t u n g eines außerordentlichen allgemeinen Bettages (2. August 1914) Nr. 353. Verfügung des Evangelischen Oberkirchenrats, betreffend die A b haltung eines außerordentlichen allgemeinen Bettages (3. August 1914) Nr. 354. Ansprache des Evangelischen Oberkirchenrats an die Geistlichen und Gemeindekirchenräte (Presbyterien) der Gemeinden der Landeskirche (11. August 1914) Nr. 355. Ansprache des sächsischen Landeskonsistoriums an die evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden des Landes (21. August 1914) Nr. 356. A u f r u f deutscher Kirchenmänner und Professoren an die evangelischen Christen i m Ausland (Ende August 1914) II. Der Kriegsdienst
der evangelischen
Geistlichen
808 808
809 809
810 813 814 817
Nr. 357. Bekanntmachung des württembergischen Landeskonsistoriums, betreffend den Kriegsdienst der evangelischen Geistlichen (3. August 1914) 818 Nr. 358. Erlaß des preußischen Oberkirchenrats, betreffend den Dienst der Geistlichen m i t der Waffe i m Felde (9. August 1914) 819 Nr. 359. Erlaß des preußischen Oberkirchenrats, betreffend den Dienst der Geistlichen m i t der Waffe i m Felde (18. September 1914) 819
Inhaltsübersicht
XXXIV
Nr. 360. Eingabe von 26 Superintendenten der Rheinprovinz an Kaiser Wilhelm II. (September 1914) Nr. 361. A n t w o r t des Chefs des Kaiserlichen Zivilkabinetts v. V a l e n t i n i an die rheinischen Superintendenten (22. September 1914) Nr. 362. E r k l ä r u n g von 172 Berliner Pfarrern zum Kriegsdienst der Geistlichen (November 1914) Nr. 363. E r k l ä r u n g des Kultusministers v. T r o t t zu Solz vor der verstärkten Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses (26. Februar 1915) Nr. 364. M i t t e i l u n g des preußischen Oberkirchenrats an die Generalsynode, betreffend die aus Anlaß des Krieges getroffenen Maßnahmen (4. Oktober 1915) Nr. 365. Vorschläge, betreffend militärische Dienstpflicht der Theologen — Beschluß des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses (20. J u n i 1916)
823
III.
825
Die evangelische
Militärseelsorg e im Krieg
820 820 820 821 822
Nr. 366. Bescheid des preußischen Kriegsministeriums an den Ausschuß f ü r Unterstützung der Evangelischen Militärseelsorge i m Felde (2. November 1914) 826 Nr. 367. M i t t e i l u n g des preußischen Oberkirchenrats an die Generalsynode, betreffend die aus Anlaß des Krieges getroffenen Maßnahmen (4. Oktober 1915) 826 Nr. 368. Verfügung des Evangelischen Feldpropstes der preußischen A r mee (25. Februar 1916) 829 IV. Friedensinitiativen
des Jahres 1914
829
Nr. 369. Der A u f r u f des Erzbischofs Söderblom, Uppsala, zu einer kirchlichen Friedensinitiative (September 1914) 830 V. Der „Burgfrieden"
zwischen den kirchlichen
Parteien
831
Nr. 370. Berliner Kirchenwahlabkommen (18. März 1915)
832
VI. Die Aufgaben
833
der Kirche
im Krieg
Nr. 371. Generalsuperintendent Lahusen, U n d was t u t die Kirche? ( A p r i l 1915) Nr. 372. Propst Kawerau, Wie hat bisher der K r i e g auf unser kirchliches Leben eingewirkt, u n d vor welche Aufgaben stellt er unsere Kirchengemeinden u n d ihre Vertreter? (18. M a i 1915) Nr. 373. Aufgaben der Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen (22. Februar 1916) Nr. 374. Bekanntmachung des badischen Oberkirchenrats, betreffend die M i t w i r k u n g der Kirche bei den staatlichen Kriegsmaßnahmen (22. November 1916)
836
VII.
837
Staat und evangelische Kirche im Kriegs jähr 1917
833
835 836
Nr. 375. Reformationsansprache des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses an die Gemeinden beim bevorstehenden Jahreswechsel (Dezember 1916) 838
Inhaltsübersicht
XXXV
Nr. 376. Glückwunsch des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses an Kaiser W i l h e l m I I . zu seinem Geburtstag (27. Januar 1917) 839 Nr. 377. A n t w o r t Kaiser Wilhelms I I . an den Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß (Ende Januar 1917) 840 Nr. 378. A u f r u f des preußischen Oberkirchenrats zum Allgemeinen Kriegsbettag (28. Februar 1917) 841 VIII. Der deutsche Protestantismus 1917
und die Verfassungsreform
im Jahr
Nr. 379. Rede Otto Baumgartens vor dem Evangelisch-Sozialen Kongreß (11. A p r i l 1917) Nr. 380. A d o l f v. Harnack, Das Gebot der Stunde. Denkschrift an den Reichskanzler v. Bethmann Hollweg (Juni 1917) Nr. 381. E r k l ä r u n g von Berliner Professoren zu den inneren Reformen (Juli 1917) Nr. 382. Denkschrift des Delbrück-Kreises zur Reform des preußischen Wahlrechts (Juli 1917) Nr. 383. W i l h e l m Philipps, Stellungnahme zur Reform des preußischen Wahlrechts (Juli 1917) IX. Der Protestantismus
und das Friedensproblem
im Jahr 1917
842 843 844 847 847 848 849
Nr. 384. E r k l ä r u n g von fünf Berliner Pfarrern (Oktober 1917) Nr. 385. Erklärung von 160 Berliner Pfarrern (31. Oktober 1917) Nr. 386. A u f r u f der christlichen Konferenz i n Uppsala (16. Dezember 1917) Nr. 387. Erklärung von siebzehn hannoverschen Pfarrern (Dezember 1917)
853
X . Die deutschen evangelischen
853
Landeskirchen
und das Kriegsende
850 850 851
Nr. 388. Ansprache des württembergischen Landeskonsistoriums an die Gemeinden (8. Oktober 1918) 854 Nr. 389. Ansprache des bayerischen Oberkonsistoriums an die Gemeinden (14. Oktober 1918) 855 Nr. 390. Kundgebung des Direktoriums der Evangelischen Kirche Augsburger Konfession i n Elsaß-Lothringen (14. Oktober 1918) 856
Inhaltsübersicht
Anhang Die Besetzung der obersten Kirchenämter in Deutschland 1891 - 1918 I. Die päpstliche
Nuntiatur
in München
II. Die deutschen katholischen
Erzbischöfe
857 857
und Bischöfe
858
A. Metropolitanbezirk K ö l n
858
B. Breslau u n d E r m l a n d
859
C. Metropolitanbezirk Posen-Gnesen
860
D. Hildesheim u n d Osnabrück
861
E. Oberrheinische Kirchenprovinz
861
F. Metropolitanbezirk München-Freising
863
G. Metropolitanbezirk Bamberg
864
H. V i k a r i a t Sachsen
865
I. Elsaß-Lothringen
866
III.
Die Leitung
der evangelischen
Kirchenbehörden
867
A. Preußen
867
B. Bayern
869
C. Die Landeskirchen der übrigen deutschen Mittelstaaten
870
Teil A Allgemeines Staatskirchenrecht Erstes Kapitel B e m ü h u n g e n u m die Garantie der Religionsfreiheit I . D i e religionsrechtlichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs Die tiefen Wirkungen, die der deutsche Kulturkampf 1 auf das Verhältnis von Staat und Kirche hatte, zeigten sich vor allem darin, daß wichtige Gesetzesbestimmungen der Kulturkampfzeit auf Dauer in das geltende Recht eingingen. Dies trat besonders deutlich bei der reichseinheitlichen Regelung des Bürgerlichen Rechts hervor. Mit der Einführung der obligatorischen Ziviltrauung hatte das Reichsgesetz vom 6. Februar 1875 2 ein wichtiges Element der Verbindung von Kirche und Staat beseitigt. Als bei der reichseinheitlichen Kodifikation des Bürgerlichen Rechts 3 die ehe- und familienrechtlichen Bestimmungen zur Verhandlung kamen, erklärte die Zentrumsfraktion im Reichstag sich bereit, der obligatorischen Zivilehe zuzustimmen, nachdem die Überschrift des Buchs IV Abschnitt 1 aus „Ehe" in „Bürgerliche Ehe" umbenannt und der alte „Kaiserparagraphdurch welchen der Gesetzgeber 1875 den Bedenken Kaiser Wilhelms I. gegen die Zivilehe Rechnung getragen hatte, in den Text des BGB eingefügt worden war (§ 1588). Das Eherecht des BGB (Nr. 1), das durch den Reichstag 1896 verabschiedet wurde und am 1. Januar 1900 in Kraft trat, dokumentierte unter Zustimmung der Zentrumsfraktion, daß in diesem Bereich, in dem sich staatliche Rechtsgestaltung und kirchliche Verpflichtung in besonderem Maß überschnitten, das überlieferte Staatskirchentum nicht mehr fortbestand. Das Einführungsgesetz zum BGB (Nr. 2) nannte allerdings auch einige staatskirchenrechtliche Materien, die das Reich nicht durch das BGB regelte, sondern der Landesgesetzgebung vorbehielt. Insbesondere galt dies für die Frage der Religionsmündigkeit. Der Versuch, das Recht der religiösen Kinder er Ziehung im Rahmen des Familienrechts des BGB zu regeln, war in den Beratungen gescheitert 4. 1
Dazu Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 395 ff. Ebenda Nr. 297. 3 Dazu Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 272 ff. 4 Vgl. W. Kahl, Die Bedeutung des Toleranzantrags f ü r Staat u n d evangelische Kirche, i n : Deutsch-evangelische Blätter 27,1902, S. 24 ft. (52 f.). 2
1 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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1. Kap.: Bemühungen u m die Garantie der Religionsfreiheit
In der Mehrzahl der deutschen Einzelstaaten galten nach der Einführung des BGB die althergebrachten landesrechtlichen Bestimmungen über die Bekenntniszugehörigkeit der Kinder aus gemischten Ehen, über die religiöse Erziehung der Kinder und über deren Religionsmündigkeit fort, so vor allem in Preußen und in fast allen deutschen Mittelstaaten 5. Von den mittelgroßen Einzelstaaten regelte nur das Großherzogtum Hessen in seinem Ausführungsgesetz zum BGB vom 17. Juli 1899 das Recht der religiösen Kindererziehung neu (Nr. 4). Eine etwas einfachere Normierung des gleichen Sachbereichs enthielt das Ausführungsgesetz zum BGB für das Reichsland ElsaßLothringen (Nr. 3). Weitere entsprechende Neuregelungen des religiösen Erziehungsrechts galten in sechs kleineren Einzelstaaten gemäß den von ihnen erlassenen Ausführungsgesetzen zum BGB von 1899ß.
Nr. 1. Bürgerliches Gesetzbuch v o m 18. August 1896 (Reichsgesetzblatt 1896, S. 195 ff.) — Auszug —
Viertes Buch. Familienrecht Erster Abschnitt. Bürgerliche Ehe Zweiter Titel. Eingehung der Ehe § 1316. Der Eheschließung soll ein Aufgebot vorhergehen. Das Aufgebot verliert seine K r a f t , w e n n die Ehe nicht binnen sechs Monaten nach der V o l l ziehung des Aufgebots geschlossen w i r d . Das Aufgebot darf unterbleiben, w e n n die lebensgefährliche E r k r a n k u n g eines der Verlobten den Aufschub der Eheschließung nicht gestattet. V o n dem Aufgebote k a n n Befreiung bewilligt werden. §1317. Die Ehe w i r d dadurch geschlossen, daß die Verlobten vor einem Standesbeamten persönlich u n d bei gleichzeitiger Anwesenheit erklären, die Ehe m i t einander eingehen zu wollen. Der Standesbeamte muß zur E n t gegennahme der Erklärungen bereit sein. Die Erklärungen können nicht unter einer Bedingung oder einer Zeitbestimmung abgegeben werden. § 1318. Der Standesbeamte soll bei der Eheschließung i n Gegenwart von zwei Zeugen an die Verlobten einzeln u n d nach einander die Frage richten, ob sie die Ehe m i t einander eingehen wollen, und, nachdem die Verlobten 5
Dazu W. Kahl, Die Konfession der K i n d e r aus gemischten Ehen (1905). Nämlich i n Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Reuß ältere und Reuß jüngere Linie, Schwarzburg-Rudolstadt u n d Schwarzburg-Sondershausen (Texte i n : H. Becher, Die Ausführungsgesetze zum Bürgerlichen Gesetzbuche, Bd. I u n d I I , 1901). 6
I. Die religionsrechtlichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs
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die Frage bejaht haben, aussprechen, daß sie k r a f t dieses Gesetzes nunmehr rechtmäßig verbundene Eheleute seien. Als Zeugen sollen Personen, die der bürgerlichen Ehrenrechte f ü r verlustig erklärt sind, während der Zeit, f ü r welche die Aberkennung der Ehrenrechte erfolgt ist, sowie Minderjährige nicht zugezogen werden. Personen, die m i t einem der Verlobten, m i t dem Standesbeamten oder m i t einander verwandt oder verschwägert sind, dürfen als Zeugen zugezogen werden. Der Standesbeamte soll die Eheschließung i n das Heirathsregister tragen.
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Achter Titel. Kirchliche Verpflichtungen § 1588. Die kirchlichen Verpflichtungen i n Ansehung der Ehe werden durch die Vorschriften dieses Abschnitts nicht berührt.
Nr. 2. Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch v o m 18. August 1896 (Reichsgesetzblatt 1896, S. 604 ff.) — Auszug — Art. 84. Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften, nach w e l chen eine Religionsgesellschaft oder eine geistliche Gesellschaft Rechtsfähigkeit n u r i m Wege der Gesetzgebung erlangen kann. Art. 87. Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften, welche die Wirksamkeit von Schenkungen an Mitglieder religiöser Orden oder ordensähnlicher Kongregationen von staatlicher Genehmigung abhängig machen. Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften, nach welchen M i t glieder religiöser Orden oder ordensähnlicher Kongregationen n u r m i t staatlicher Genehmigung von Todeswegen erwerben können. Die Vorschriften des A r t . 86 Satz 2 finden entsprechende Anwendung. Mitglieder solcher religiöser Orden oder ordensähnlicher Kongregationen, bei denen Gelübde auf Lebenszeit oder auf unbestimmte Zeit nicht abgelegt werden, unterliegen nicht den i n den Abs. 1, 2 bezeichneten Vorschriften. Art. 132. Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über die Kirchenbaulast und die Schulbaulast. Art. 133. Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über das Recht zur Benutzung eines Platzes i n einem dem öffentlichen Gottesdienste gewidmeten Gebäude oder auf einer öffentlichen Begräbnißstätte. Art. 134. Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über die religiöse Erziehung der Kinder. i*
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1. Kap.: Bemühungen u m die Garantie der Religionsfreiheit
Nr. 3. Gesetz, betreffend die Ausführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in Elsaß-Lothringen v o m 17. A p r i l 1899 (Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen, 1899, S. 43 ff.) — Auszug — § 119. F ü r das Recht, zu bestimmen, i n welchem religiösen Bekenntniß ein K i n d zu erziehen ist, sind, soweit sich nicht aus den §§ 120 bis 122 ein A n deres ergiebt, die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs über das Recht u n d die Pflicht, für die Person des Kindes zu sorgen, maßgebend. § 120. Steht dem Vater oder der M u t t e r das Recht u n d die Pflicht, für die Person des Kindes zu sorgen, neben einem dem K i n d e bestellten V o r m u n d oder Pfleger zu, so geht bei Meinungsverschiedenheit über die Bestimmung des religiösen Bekenntnisses, i n welchem das K i n d zu erziehen ist, die M e i nung des Vaters oder der M u t t e r vor. §121. Solange der Vater lebt, k a n n die M u t t e r das religiöse Bekenntniß eines gemeinschaftlichen Kindes ohne die E i n w i l l i g u n g des Vaters, auch w e n n er nicht die Sorge für die Person des Kindes hat, nicht ändern, es sei denn, 1. daß i h r die elterliche Gewalt zusteht, oder 2. daß i m Falle der Scheidung der Ehe oder der Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft der Vater allein für schuldig erklärt ist, oder 3. daß der Vater wegen Geisteskrankheit entmündigt u n d nach Feststell u n g des Vormundschaftsgerichts die Aussicht auf Wiederherstellung ausgeschlossen ist.
Nr. 4. Hessisches Gesetz, betreffend die Ausführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs v o m 17. J u l i 1899 (Hessisches Regierungs-Blatt, 1899, S. 133 f t ) — Auszug — Art. 108. Der Vater eines ehelichen Kindes hat, so lange i h m das Erzieliungsrecht (§ 1631 B. G.-B.) zusteht, das Recht, zu bestimmen, i n welchem religiösen Bekenntniß das K i n d erzogen werden soll. Art. 109. Stirbt der Vater oder verliert er das Erziehungsrecht, so ist das K i n d i n dem Bekenntnisse zu erziehen, welches der Vater vor dem Verluste des Erziehungsrechts durch eine von i h m i n Person gegenüber dem V o r mundschaftsgericht abgegebene E r k l ä r u n g oder, wenn das Erziehungsrecht durch den Tod des Vaters erlischt, durch Verfügung von Todeswegen bes t i m m t hat. f e h l t es an einer solchen Bestimmung, so ist das K i n d i n dem Bekenntnisse zu erziehen, welchem der Vater zur Zeit des Erlöschens seines Erzie-
I. Die religionsrechtlichen Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs
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hungsrechts angehört hat; hat jedoch der Vater m i t der Absicht, dadurch über das Bekenntniß des Kindes zu entscheiden, das K i n d i n einem anderen Bekenntniß erzogen, oder hat er, sofern das K i n d noch nicht i n einem bestimmten Bekenntniß erzogen war, sämmtliche übrigen K i n d e r derselben Ehe i n einem anderen Bekenntnisse erzogen, so ist das K i n d i n dem anderen Bekenntnisse zu erziehen. Einer Erziehungshandlung i m Sinne des Abs. 2 Halbsatz 2 steht es gleich, wenn der Vater das K i n d i n eine Religionsgemeinschaft förmlich hat aufnehmen lassen. Art. 110. Ergibt sich aus den Vorschriften des A r t i k e l s 109 nicht, i n w e l chem Bekenntnisse das K i n d zu erziehen ist, so entscheidet derjenige über das Bekenntniß des Kindes, welchem das Erziehungsrecht zusteht. Steht hiernach der M u t t e r die Entscheidung zu, so finden die Vorschriften der A r t i k e l 108, 109 m i t der Maßgabe entsprechende Anwendung, daß an die Stelle des Vaters die M u t t e r t r i t t . Steht das Erziehungsrecht neben der M u t t e r einem für das K i n d bestellten V o r m u n d oder Pfleger zu, so geht bei einer Meinungsverschiedenheit über das Bekenntniß» i n welchem das K i n d erzogen werden soll, die M e i nung der M u t t e r vor. Steht nach Abs. 1 die Entscheidung einem V o r m u n d zu, so bedarf dieselbe der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts. Art. III. Z u r Änderung eines aus dem A r t i k e l 109 sich ergebenden Bekenntnisses ist ein Vormund, auf welchen das Erziehungsrecht übergegangen ist, nicht berechtigt. Ist das Erziehungsrecht auf die M u t t e r übergegangen, so ist diese zu einer Änderung des Bekenntnisses des Kindes n u r berechtigt, wenn sie auf ihren A n t r a g von dem Vormundschaftsgerichte hierzu ermächtigt w i r d . Die E r mächtigung k a n n insbesondere dann, w e n n das K i n d an dem Religionsunterricht eines bestimmten Bekenntnisses noch nicht theilgenommen hat, aus wichtigen Gründen ertheilt werden. Das Vormundschaftsgericht soll vor der Entscheidung Verwandte oder V e r schwägerte des Kindes sowie das K i n d selbst, sofern es das zwölfte Lebensj a h r vollendet hat, hören, wenn es ohne erhebliche Verzögerung und ohne unverhältnißmäßige Kosten geschehen kann. Bei der A u s w a h l der zu hörenden Verwandten soll das Vormundschaftsgericht die väterlichen V e r wandten des Kindes i n aufsteigender L i n i e sowie die großjährigen Geschwister des Kindes u n d des Vaters des Kindes besonders berücksichtigen. Steht das Erziehungsrecht neben der M u t t e r einem f ü r das K i n d bestellten V o r m u n d oder Pfleger zu, so soll auch dieser gehört werden. Der § 1847 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs findet entsprechende Anwendung. Die Entscheidung ist der M u t t e r sowie den Personen, die nach Abs. 3 gehört worden sind, bekannt zu machen. Gegen die Entscheidung des Vormundschaftsgerichts steht der M u t t e r des Kindes sowie den i m Abs. 3 Satz 2 bezeichneten Verwandten des Kindes, so-
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1. Kap.: Bemühungen u m die Garantie der Religionsfreiheit
fern sie gehört worden sind, die sofortige Beschwerde zu. Die §§20 bis 31 des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit finden entsprechende Anwendung. Art. 112. H a t das K i n d das vierzehnte Lebensjahr vollendet, so ist es berechtigt, sein Bekenntniß selbst zu bestimmen. Art. 113. A u f die religiöse Erziehung eines unehelichen Kindes finden die Vorschriften der A r t i k e l 108, 109, 110, des A r t i k e l 111 Abs. 1, des A r t i k e l 112 m i t der Maßgabe entsprechende Anwendung, daß an die Stelle des Vaters die uneheliche M u t t e r t r i t t . Art. 114. So lange bei einem Mündel, insbesondere bei einem Findelkinde, die Verhältnisse, nach welchen sich die religiöse Erziehung des M ü n d e l bestimmt, nicht ermittelt sind, hat der V o r m u n d über diese religiöse Erziehung zu entscheiden. Die Entscheidung bedarf der Genehmigung des V o r m u n d schaftsgerichts. Art. 115. E i n Vertrag, durch welchen die Freiheit des Erziehungsberechtigten, die religiöse Erziehung des Kindes zu bestimmen, beschränkt w i r d , insbesondere ein Vertrag, durch welchen sich der Erziehungsberechtigte verpflichtet, das K i n d i n einem bestimmten Bekenntnisse zu erziehen oder nicht zu erziehen, ist nichtig.
I I . Bemühungen u m ein Reichsgesetz über die Religionsfreiheit Die Bismarcksche Reichsverfassung enthielt keine ausdrückliche verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte. Die Geltung von Grundrechten im Bismarckschen Reich beruhte teils auf materiellem Verfassungsrecht, teils auf ausdrücklicher gesetzlicher Garantie 1. Das Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869 2, das 1871 durch Übernahme ein Bestandteil des Reichsrechts wurde, erkannte die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Hinsicht an. Dennoch bestand nach der Beilegung des Kulturkampfs vor allem auf Seiten der katholischen Kirche und des Zentrums ein lebhaftes Interesse an einer ins Einzelne gehenden Reichsgesetzgebung über die Freiheit der Religionsausübung. Deshalb versuchte die Zentrumsfraktion, eine Erweiterung der Gesetzgebungskompetenz des Reichs in diesem Feld herbeizuführen. Als Anknüpfungspunkt diente ihr, daß das Schutzgebietsgesetz vom 10. September 1900 (Nr. 5) die Religionsfreiheit in den deutschen Kolonialgebieten ausdrücklich gewährleistete. Insbesondere ging es der Zentrumsfraktion darum, aus der Garantie der individuellen Religionsfreiheit die entsprechenden Konsequenzen für die kor1 Vgl. E.R. Huber, Grundrechte i m Bismarckschen Reichssystem (in: Bew a h r u n g u n d Wandlung, 1975, S. 132 ff.). * Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 191,
I I . Bemühungen u m ein Reichsgesetz über die R e l i g i o n s f r e i h e i t 7 porative Kirchenfreiheit zu entwickeln 3. Daneben stand das Interesse, das Recht der Eltern bei der religiösen Kindererziehung reichsgesetzlich zu gewährleisten. Diese beiden Themen bestimmten den Entwurf eines Reichsgesetzes, betreffend die Freiheit der Religionsübung, der von führenden Abgeordneten der Zentrumsfraktion, an ihrer Spitze dem Fraktionsvorsitzenden Ernst Lieber 4, am 23. November 1900 im Reichstag eingebracht wurde (Nr. 6)5. Schon vor Eintritt in die Reichstagsberatungen lehnte der Bundesrat diesen in der Öffentlichkeit alsbald als „Toleranzantrag" bezeichneten Antrag ab, weil er in die Gesetzgebungskompetenz der Länder eingreife (Nr. 7). Um eine eigene Gesetzesinitiative des Reichstags überflüssig zu machen, kündigten die besonders betroffenen Länder eigene Gesetze an (Nr. 8). Dennoch hielt die Reichstagsmehrheit an dem Gesetzgebungsplan fest. Allerdings erfuhr der Gesetzentwurf erhebliche Modifikationen. Seinen zweiten Teil über die „Religionsfreiheit der Religionsgemeinschaften", auf den die Antragsteller zunächst besonderen Wert gelegt hatten, zogen sie zurück, da für ihn keine Aussicht auf die Zustimmung der Reichstagsmehrheit bestand. Doch verfiel auch die vom Reichstag am 5. Juni 1902 beschlossene abgeschwächte Fassung (Nr. 9)e im Bundesrat der Ablehnung; sie trat nicht in Kraft. Ende 1903 brachte die Zentrumsfraktion den „Toleranzantrag" erneut, und zwar wieder in seinem vollen Umfang, im Reichstag ein 7. Diese zweite Vorlage nahm der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß 9 zum Anlaß, um in einer ausführlichen Denkschrift den dem Gesetzentwurf unterstellten kirchenpolitischen Zielen entgegenzutreten (Nr. 10). Das repräsentative Gesamtorgan der evangelischen Landeskirchen bekannte sich in seiner Denkschrift uneingeschränkt zu den überlieferten Grundsätzen der staatlichen Kirchenhoheit und des Landeskirchentums. Der Reichstag konnte den erneuten „ToIcranzantrag" vor seiner Vertagung nicht abschließend behandeln. Deshalb 3 I n diese Richtung wies bereits der A n t r a g des „Katholischen K l u b s " i n der Frankfurter Nationalversammlung (Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 1) ; dazu W. Huber, Religionsfreiheit u n d Kirchenfreiheit (Zeitschrift f ü r Evangelische E t h i k 21,1977, S. 191 - 214). 4 Ernst Lieber (1838 - 1902), Sohn des Publizisten Moritz Lieber (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 15, A n m . 5), Jurist, lebte nach dem Abschluß seiner Studien i n Kamberg (Nassau); 1870- 1901 M d p r A H , 1871 - 1902 MdR. Nach dem Tod Ludwig Windthorsts (Staat u n d Kirche. Bd. I I , S. 537, A n m . 10) w a r er 1891 bis 1902 die führende Gestalt der Zentrumspartei. 5 Vgl. F. Heiner (Hrsg.), Der sog. Toleranzantrag oder Gesetzentwurf über die Freiheit der Religionsübung i m Deutschen Reiche (Archiv f ü r kath. K i r chenrecht, Bd. 82, 2, 1902, S. 1 ff.); vgl. als Stellungnahme aus dem evangelischen Bereich u. a. W. Kahl, Die Bedeutung des Toleranzantrags f ü r Staat u n d evangelische Kirche (Deutsch-evangelische Blätter 27, 1902, S. 24 ff.); aus der späteren katholischen L i t e r a t u r vgl. bes. M. Erzberger, Der Toleranzantrag der Zentrumsfraktion des Reichstags (1906). 6 Verh. d. RT, 1900/1903, Bd. 6, S. 5449 ff.; vgl. auch den Bericht der Reichstagskommission: Verh. d. RT, 1900/1903, Anlagen Bd. 3, S. 2389 ff. (Drucksache Nr. 372). 7 Verh. d. RT1903 - 1905, Bd. 205, Anlagen Nr. 22; erste Beratung i m Februar 1905 (Verh. d. R T 1903 - 1905, Bd. 202, S. 4245 ff., 4349 ff., 4560 ff.). 8 Vgl. unten S. 564 ff.
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1. Kap.: Bemühungen u m die Garantie der Religionsfreiheit
brachten die Antragsteller ihn Ende 1905 ein drittes Mal ein 9. Als Fraktionsvorsitzender der „Wirtschaftlichen Vereinigung" legte nun zusätzlich der ehemalige Hofprediger Adolf Stoecker 10 einen Resolutionsantrag vor, der an die Stelle des vom Zentrum vorgeschlagenen Gesetzes treten und insbesondere eine Kompetenzv er Schiebung zugunsten des Reichs verhindern sollte (Nr. 11). Ihm trat ein Abänderungsantrag der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion entgegen, der gerade eine Kompetenz der Reichsgesetzgebung in Fragen der Religionsfreiheit schaffen und auf diesem Weg weitreichende reichseinheitliche Garantien zugunsten der negativen Religionsfreiheit einführen wollte (Nr. 12). Infolge der parlamentarischen Auseinandersetzungen des Herbstes 1906, die am 13. Dezember 1906 zur Auflösung des Reichstags führten n, kam es nicht mehr zur Abstimmung über die verschiedenen Anträge. In der sich über Jahre hinziehenden parlamentarischen und öffentlichen Auseinandersetzung über den „Toleranzantrag" traten die unterschiedlichen staatskirchenrechtlichen und kirchenpolitischen Prinzipien, die die deutsche Öffentlichkeit zu Beginn des Jahrhunderts bewegten, mit Klarheit und Leidenschaft hervor. Während das Zentrum die Rechtsposition der katholischen Kirche zu verbessern suchte, wollten Sozialdemokraten und Linksliberale die Sonderstellung der „anerkannten Religionsgesellschaften" einschränken oder aufheben. Und während offizielle Vertreter der evangelischen Kirchen sowie konservative und nationalliberale Parlamentarier am überlieferten System des Landeskirchentums, des landesherrlichen Kirchenregiments und der staatlichen Kirchenhoheit festhielten, stellten Vertreter des Zentrums, der Sozialdemokratie und des Linksliberalismus — wenn auch aus unterschiedlichen Gründen — eben dieses System in Frage.
Nr. 5. Schutzgebietsgesetz v o m 10. September 1900 (Reichsgesetzblatt 1900, S. 813) 12 — Auszug — § 14. Den Angehörigen der i m Deutschen Reiche anerkannten Religionsgemeinschaften werden i n den Schutzgebieten Gewissensfreiheit u n d r e l i giöse Duldung gewährleistet. Die freie u n d öffentliche Ausübung dieser K u l t e , das Recht der Erbauung gottesdienstlicher Gebäude u n d die Einricht u n g von Missionen der bezeichneten Religionsgemeinschaften unterliegen keinerlei gesetzlicher Beschränkung noch Hinderung. 9 Verh. d. R T 1905 - 1906, Bd. 205, Anlagen, Nr. 40; erste Beratung i m Januar 1906 (Verh. d. R T 1905 - 1906, Bd. 214, S. 762 ff., Bd. 215, S. 907 ff.); zweite Beratung am 2. M a i 1906 (Verh. d. R T 1905 - 1906, Bd. 217, S. 2835 ff.). 10 Staat und Kirche, Bd. I I , S. 959, A n m . 8; siehe unten S. 592 ff. 11 Vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 293 f. 12 Vgl. Dokumente, Bd. 2, Nr. 246, sowie Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 626 ff.
I I . Bemühungen u m ein Reichsgesetz über die Religionsfreiheit
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Nr. 6. Entwurf eines Reichsgesetzes, betreffend die Freiheit der Religionsübung eingebracht am 23. November 1900 (Verhandlungen des Reichstags 1900/1903, Anlagen, Bd. 189, Nr. 80) I. Religionsfreiheit
der Reichsangehörigen
§ 1. Jedem Reichsangehörigen steht innerhalb des Reichsgebietes volle Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften, sowie der gemeinsamen häuslichen u n d öffentlichen Religionsübung zu. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die A u s übung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen. § 2. I n Ermangelung einer Vereinbarung der E l t e r n sind f ü r die religiöse Erziehung eines Kindes die landesrechtlichen Vorschriften desjenigen B u n desstaates maßgebend, i n dessen Bezirk der M a n n bei der Eingehung der Ehe seinen Wohnsitz hatte. Nach beendetem zwölften Lebensjahre steht dem K i n d e die Entscheidung über sein religiöses Bekenntnis zu. §3. Der A u s t r i t t aus einer Religionsgemeinschaft m i t bürgerlicher W i r k u n g erfolgt durch ausdrückliche E r k l ä r u n g des Austretenden gegenüber der Religionsgemeinschaft. Die E r k l ä r u n g ist an das Amtsgericht des Wohnortes abzugeben; das A m t s gericht hat die zuständige Behörde der Religionsgemeinschaft hiervon i n Kenntnis zu setzen. Die Erklärung k a n n schriftlich i n öffentlich beglaubigter Form abgegeben werden. Uber den Empfang der E r k l ä r u n g ist eine Bescheinigung zu erteilen. § 4. Die Abgabe der Austrittserklärung bewirkt, daß der Ausgetretene zu Leistungen, welche auf der persönlichen Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft beruhen, nicht mehr verpflichtet w i r d . Leistungen, welche nicht auf der persönlichen Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft beruhen, insbesondere Leistungen, welche k r a f t besonderen Rechtstitels auf bestimmten Grundstücken haften oder von allen G r u n d stücken des Bezirks oder doch von allen Grundstücken einer gewissen Klasse i n dem Bezirke ohne Unterschied des Besitzers zu entrichten sind, werden durch die Austrittserklärung nicht berührt. II. Religionsfreiheit
der
Religionsgemeinschaften
§ 5. Religionsgemeinschaften, welche i n einem der Bundesstaaten v o m Staat anerkannt sind (anerkannte Religionsgemeinschaften), steht innerhalb des Reichsgebietes die freie und öffentliche Ausübung ihres K u l t u s zu. Dieselben sind insbesondere befugt, überall i m Deutschen Reiche ohne staatliche oder kommunale Genehmigung Gottesdienste abzuhalten, Kirchengebäude m i t Türmen zu erbauen u n d auf denselben Glocken anzubringen.
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1. Kap.: Bemühungen u m die Garantie der Religionsfreiheit
I h r e Religionsdiener dürfen die Religionshandlungen bei allen Mitgliedern der Religionsgemeinschaft ausüben. § 6. Der Verkehr der anerkannten Religionsgemeinschaften m i t ihren Oberen ist ungehindert. Vorschriften u n d Anordnungen einer anerkannten Religionsgemeinschaft, welche auf die Religionsübung sich beziehen, bedürfen zu ihrer Gültigkeit weder einer M i t t e i l u n g an die Staatsbehörde noch einer Genehmigung von Seiten der Staatsbehörde. § 7. Anerkannte Religionsgemeinschaften können innerhalb des Reichsgebietes Religionsgemeinden oder geistliche Ämter, sofern für solche staatliche M i t t e l nicht i n Anspruch genommen werden, ohne staatliche Genehmigung errichten oder abändern. Landesrechtliche Verbote oder Beschränkungen der Verwendung auswärtiger Religionsdiener zu einer seelsorgerischen Tätigkeit finden keine A n wendung auf die Religionsdiener anerkannter Religionsgemeinschaften. § 8. Die Aufnahme i n eine anerkannte Religionsgemeinschaft, die Zulassung zu deren Religionshandlungen, sowie die Vornahme einer Taufe, einer kirchlichen Trauung oder eines kirchlichen Begräbnisses ist von einer M i t w i r k u n g der Behörden des Staates oder einer anderen Religionsgemeinschaft oder von einer Anzeige bei solchen Behörden unabhängig. §9. Die A b h a l t u n g von Missionen der anerkannten Religionsgemeinschaften unterliegt keinerlei gesetzlicher Beschränkung noch Hinderung. § 10. Religiöse Genossenschaften, Gesellschaften u n d Vereine aller A r t , welche einer anerkannten Religionsgemeinschaft angehören, bedürfen zu ihrer Gründung und Thätigkeit innerhalb des Reichsgebietes keinerlei staatlicher u n d kommunaler Genehmigung.
Nr. 7. Erklärung des Reichskanzlers Graf von Bülow 1 * vor dem Reichstag am 5. Dezember 1900 (Verhandlungen des Reichstags 1900/1903, Bd. 179, S. 301 f.) I m Namen der verbündeten Regierungen habe ich die Ehre, nachfolgende E r k l ä r u n g abzugeben: Obwohl sich die verbündeten Regierungen über gesetzgeberische Anträge, die aus dem Reichstage hervorgehen, erst schlüssig zu machen pflegen, nachdem der Reichstag seinerseits Stellung genommen hat, halten sie es i m v o r 13 Bernhard (Fürst) v. Bülow (1849 -1929), Sohn des Staatssekretärs Bernhard Emst v. Bülow (Verfassungsgeschichte Bd. I I I , S. 837), seit 1874 i m preuß. diplomatischen Dienst, 1877 Geschäftsträger i n Athen, 1879 Botschaftsrat i n Paris, 1884 i n Petersburg, 1888 Gesandter i n Bukarest, 1893 Botschafter i n Rom, 1897 Staatssekretär des Auswärtigen Amts, 1900 - 1909 Reichskanzler und preuß. Ministerpräsident.
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liegenden Falle doch für nothwendig, zu einer so ernsten u n d das Gewissen des deutschen Volkes berührenden Frage sich alsbald auszusprechen. Die verbündeten Regierungen achten die Überzeugungen u n d Gefühle, welche dem Antrage der Herren Abgeordneten Lieber u n d Genossen zu Grunde liegen; sie sehen sich jedoch außer Stande, diesem Antrage zuzustimmen, welcher die verfassungsmäßige Selbstständigkeit der Bundesstaaten auf einem Gebiete beschränken w i l l , das sie der Zuständigkeit ihrer Landesgesetzgebung vorbehalten müssen. Meine Herren, die aus älterer Zeit überkommene Gesetzgebung dieses oder jenes Bundesstaates mag Vorschriften enthalten, die m i t den i m größten Theil des Reichs anerkannten Grundsätzen freier Religionsübung nicht übera l l i m Einklang stehen. Wenn ich für meine Person hoffe, daß derartige l a n desgesetzliche Disparitäten verschwinden werden — ich b i n durchaus für die Gleichberechtigung der Religionsgemeinschaften — so muß ich als Reichskanzler m i r doch vor allem vor Augen halten, daß meine erste Aufgabe dah i n geht, den bundesstaatlichen Charakter des Reichs u n d die Autonomie der Bundesglieder, soweit die Reichsgesetzgebung dieselbe gewährleistet, nicht ohne w i l l i g e Zustimmung der Einzelstaaten beeinträchtigen zu lassen. Darin wurzelt das Vertrauen, auf welches die Reichsgewalt bei den Bundesstaaten zählen muß. Dieses Vertrauen ungemindert und ungeschmälert zu erhalten, ist meine vornehmste Pflicht u n d ich b i n überzeugt, daß das hohe Haus m i r i n dieser Auffassung beistimmen w i r d .
Nr. 8. Erklärung des Staatssekretärs des Innern Graf v. Posadowsky-Wehner 14 zum Toleranzantrag vom 29. Januar 1902 (Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 1900/1903, Bd. 182, S. 3741) Meine Herren, der H e r r Reichskanzler hat bereits i m hohen Hause darauf hingewiesen, daß die Ausübung des jus circa sacra ein Sondergebiet der Einzelstaaten sei, u n d hiernach eine E i n w i r k u n g der Reichsgesetzgebung zu Gunsten der staatsrechtlichen Stellung der katholischen Kirche daselbst ausgeschlossen bleiben muß. Es ist indes nicht zu bestreiten, daß i n einem Bundesstaat, i n welchem jedem Bundesangehörigen das gesetzliche Recht zusteht, i n jedem Einzelstaat seinen gesetzlichen Wohnsitz zu nehmen, u n d i n welchem ferner eine große Anzahl der Beamten des gemeinschaftlichen Staatswesens ihren amtlichen Aufenthalt innerhalb der Einzelstaaten häufig zu wechseln haben, aus politischen und konfessionellen Gründen i m hohen 14 Arthur Graf v. Posadowsky-Wehner (1845 - 1932), Jurist, seit 1873 i m preuß. Verwaltungsdienst. Zunächst Landrat i n Wongrowitz, seit 1877 i n K r ö ben (beides i n Posen). 1885 Direktor der provinzialständischen Verwaltung, 1889 Landeshauptmann der Provinz Posen; 1893 Staatssekretär des Reichsschatzamts, 1897 - 1907 Staatssekretär des Reichsamts des Innern. 1882 - 85 M d p r A H , 1907 - 18 M d p r H H , 1912 - 18 M d R ; 1919 - 20 M. d. Weim. Nat. Vers, (deutschnational), 1928 - 32 M d p r L T (Volksrechtspartei).
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Grade erwünscht ist, eine möglichste Übereinstimmung des einzelstaatlichen Kirchenstaatsrechts herbeizuführen. Aus diesem Grunde hat sich der Herr Reichskanzler zunächst an die Großherzoglich mecklenburgisch-schwerinsche Regierung gewandt m i t der Anfrage, i n w i e w e i t den Wünschen, die hier bei der früheren Beratung des Antrags geltend gemacht worden sind, Rechnung getragen werden könnte, u n d ist von letzterer bereitwilligstes Entgegenkommen gezeigt. Nach M i t t h e i l u n g der Großherzoglich mecklenburgischschwerinschen Regierung ist dieselbe entschlossen, durch Gesetz, jedoch v o r behaltlich der näheren Formulierung, den Angehörigen der römisch-katholischen Kirche die öffentliche Religionsübung, exercitium religionis publicum, zu gewähren und diese i m wesentlichen i n gleicher Weise rechtlich zu ordnen, w i e dies i n Preußen u n d Bayern zur Zeit rechtlich geschehen ist. Der H e r r Reichskanzler ist entschlossen, den begonnenen Versuch, die i n Deutschland zu Ungunsten der katholischen Reichsangehörigen auf dem Gebiete des Staatskirchenrechts noch bestehenden Ungleichheiten zu beseitigen, i m Wege bundesfreundlicher Verhandlungen fortzusetzen. Ich bitte das hohe Haus, den Erfolg dieser Thätigkeit abzuwarten 1 5 .
Nr. 9. Entwurf eines Reichsgesetzes, betreffend die Freiheit der Religionsübung nach den Beschlüssen des Reichstags vom 5. J u n i 1902 (Sten. Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 1900/1903, Bd. 194, Nr. 644, S. 4205 f . ) i e § 1. Jedem Reichsangehörigen steht innerhalb des Reichsgebiets volle Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften, sowie der gemeinsamen häuslichen u n d öffentlichen Religionsübung zu. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen. Unberührt bleiben die allgemeinen polizeilichen Vorschriften der Landesgesetze über das Vereins- und Versammlungswesen. §2. F ü r die Bestimmung des religiösen Bekenntnisses, i n welchem ein K i n d erzogen werden soll, ist die Vereinbarung der Eltern maßgebend, w e l che jederzeit vor oder nach Eingehung der Ehe getroffen werden kann. Die Vereinbarung ist auch nach dem Tode des einen oder beider Elternteile zu befolgen. 15 Bei derselben Sitzung des Reichstags wurde außer der mecklenburgischen auch die braunschweigische Regelung der kirchlichen Verhältnisse der K a t h o l i k e n angekündigt. Z u beiden Gesetzen vgl. unten Nr. 13, Nr. 14. 16 V o m Reichstag m i t 163 Ja-Stimmen- 60 Nein-Stimmen u n d drei Enthaltungen am 5. J u n i 1902 angenommen (Verh. d. Reichstages 1900/1903, Bd. 184, S. 5449 ff.) ; v o m Bundesrat aber nicht verabschiedet und deshalb nicht i n K r a f t getreten.
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§ 2 a. I n Ermangelung einer Vereinbarung der Eltern gelten für die Bestimmung des religiösen Bekenntnisses, soweit nicht nachfolgend ein anderes vorgeschrieben ist, die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über die Sorge für die Person des Kindes. Steht dem Vater oder der M u t t e r das Recht u n d die Pflicht, f ü r die Person des Kindes zu sorgen, neben einem dem K i n d e bestellten V o r m u n d oder Pfleger zu, so geht bei einer Meinungsverschiedenheit über die Bestimmung des religiösen Bekenntnisses, i n welchem das K i n d zu erziehen ist, die M e i nung des Vaters oder der M u t t e r vor. Das religiöse Bekenntnis des Kindes k a n n weder von dem Vormunde noch von dem Pfleger geändert werden. § 2 b. Gegen den W i l l e n der Erziehungsberechtigten darf ein K i n d nicht zur Teilnahme an dem Religionsunterricht oder Gottesdienst einer anderen Religionsgemeinschaft angehalten werden, als den i n § 2 und § 2 a getroffenen Bestimmungen entspricht. § 2 c. Nach beendetem vierzehnten Lebensjahre steht dem K i n d e die E n t scheidung über sein religiöses Bekenntnis zu 1 7 . §3. Der A u s t r i t t aus einer Religionsgemeinschaft m i t bürgerlicher W i r kung erfolgt durch ausdrückliche E r k l ä r u n g des Austretenden gegenüber der Religionsgemeinschaft. Die Erklärung ist dem Amtsgerichte des Wohnorts gegenüber abzugeben; von diesem ist sie der zuständigen Behörde der Religionsgemeinschaft m i t zuteilen. Die Erklärung k a n n schriftlich i n öffentlich beglaubigter Form abgegeben werden. Über den Empfang der E r k l ä r u n g ist eine Bescheinigung zu erteilen. Das Verfahren ist kosten- und stempelfrei. § 4. Die Abgabe der Austrittserklärung bewirkt, daß der Ausgetretene zu Leistungen, welche auf der Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft beruhen, nicht mehr verpflichtet w i r d . Leistungen, welche k r a f t besonderen Rechtstitels auf bestimmten G r u n d stücken haften oder von allen Grundstücken des Bezirks oder doch von allen Grundstücken einer gewissen Klasse i n dem Bezirk ohne Unterschied cies Besitzers zu entrichten sind, werden durch die Austrittserklärung nicht berührt. 17 Die Frage des „Unterscheidungsalters" w a r i n den Beratungen besonders heftig umstritten; hinter dem Vorschlag i m E n t w u r f des Zentrums, das v o l l endete zwölfte Lebensjahr als Unterscheidungsalter anzusehen, vermuteten manche ein Interesse an „Proselytenmacherei". Die Alternativvorschläge reichten bis zum vollendeten 21. Lebensjahr. Schließlich setzte sich die Fassung durch, die dem schon damals i n der überwiegenden Zahl der deutschen Einzelstaaten geltenden Recht entsprach.
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§ 4 a. Niemand kann zu Leistungen an eine Religionsgemeinschaft, zu w e l cher er nicht gehört, herangezogen werden, wenn nicht ein gemeinschaftlicher Genuß oder ein besonderes Rechtsverhältnis besteht 1 8 .
Nr. 10. Denkschrift des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses über den Entwurf eines Reichsgesetzes, betreffend die Freiheit der Religionsübung von 1905 (Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, 1905, S. 65 ff.) — Auszug — I m November 1900 wurde das deutsche V o l k durch den von den M i t g l i e dern der Zentrumspartei eingebrachten E n t w u r f eines Reichsgesetzes, betr. die Freiheit der Religionsübung, überrascht, — überrascht namentlich auch u m deswillen, w e i l man von den Antragstellern die Interessen einer Kirche vertreten zu sehen gewohnt war, welche die Freiheit der Religionsübung, w o u n d w a n n i m m e r sie erhoben ward, m i t allen i h r zu Gebote stehenden M i t teln bekämpft hat F ü r die evangelischen Landeskirchen w ü r d e n aus dem Reichsgesetz i n bezug auf ihre innerkirchlichen Verhältnisse und ihre Beziehungen untereinander folgende Konsequenzen sich ergeben: jede Landeskirche würde i n jeder anderen Landeskirche Kirchen errichten u n d Gottesdienst einrichten können (§ 9 Abs. 2) u n d zwar nach ihren Bekenntnisnormen und ihren agendarischen u n d liturgischen Vorschriften (§10 Abs. 2), ferner i m Bereiche jeder anderen Landeskirche eigene Kirchengemeinden errichten (§11 Abs. 1), diese durch ihre eigenen Geistlichen versehen lassen (§11 Abs. 2), von ihnen M i t glieder der anderen Landeskirchen aufnehmen, Taufen, Trauungen und Begräbnisse vollziehen lassen können (§ 12). Diese Beispiele genügen, u m die Konsequenzen des Entwurfs für die evangelischen Landeskirchen aufzudecken. Die Konsequenzen des Entwurfs w ü r den, falls sie tatsächlich gezogen werden sollten, auf eine Auflösung sämtlicher Landeskirchen hinauslaufen. Die evangelischen Landeskirchen beruhen verfassungsmäßig auf dem Territorialbestand der einzelnen Staaten oder gesonderter Teilgebiete derselben. Beseitigt würde werden das landesherrliche Kirchenregiment. Wenn es jeder Landeskirche freisteht, i n jede andere Landeskirche einzubrechen, so ist damit der Fortbestand des landesherrlichen Kirchenregiments unvereinbar. Das landesherrliche Kirchenregiment i n Preußen kann nicht über Kirchengemeinden i n Bayern, Sachsen, Mecklenburg usw. ausgeübt werden, und umgekehrt. 18 Die § § 5 - 1 0 des „Toleranzantrags" wurden von der Zentrumsfraktion für die laufende Sitzungsperiode des Reichstags zurückgezogen (vgl. oben S. 7).
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Beseitigt würde ferner werden die bestehende konsistoriale Kirchenverfassung. Dieselbe ist überall angegliedert an die territoriale Organisation der Landesstaaten, darüber hinaus versagt sie u n d verfällt der Auflösung. Das Berliner Konsistorium k a n n keine konsistorialen Rechte über Gemeinden i n Hannover, München usw. ausüben. Beseitigt würden nicht minder werden die bestehenden synodalen Kirchenverfassungen aus demselben Grunde: die hannoversche Landessynode, die altpreußische Generalsynode können nicht Gemeinden i n Baden oder W ü r t temberg vertreten. H i e r m i t aber nicht genug. Die evangelischen Landeskirchen sind Bekenntniskirchen. Nach dem Reichsgesetz würde jede lutherische, reformierte, unierte Landeskirche i n jede Landeskirche anderen Bekenntnisses einbrechen können m i t Errichtung von Gemeinden, Anstellung von Geistlichen, V o r nahme von Amtshandlungen nach ihren Bekenntnisnormen usw. Wenn hier und da ein Evangelischer wähnen sollte, durch eine solche A u f lösung aller bestehenden kirchlichen Organisationen einer freien deutschen Nationalkirche den Weg zu ebnen, so ist das ein Hirngespinst; zum mindesten läuft dieser Weg diametral entgegen dem Wege, auf welchem nach der Überzeugung Einsichtiger allein ein engerer Zusammenschluß der Landeskirchen erreicht werden kann: auf den historisch gegebenen landeskirchlichen Grundlagen unter Wahrung der Selbständigkeit und des Bekenntnisses der einzelnen Landeskirchen. M a n kann u n d w i r d einwenden, daß ein dem E n t w u r f entsprechendes Reichsgesetz die evangelischen Landeskirchen zu diesem gegenseitigen K a m p f aller gegen alle j a nicht nötige; es räume n u r Schranken hinweg, überlasse es aber den Landeskirchen, ob und welchen Gebrauch sie von den durch das Reichsgesetz eröffneten Möglichkeiten u n d Freiheiten machen w o l len. Hierauf zunächst die Gegenfrage, w a r u m denn den Landeskirchen Möglichkeiten u n d Freiheiten gewähren, von denen sie nichts wissen wollen; die abzulehnen für sie eine Lebensfrage ist. K o m m t für ein Reichsreligionsgesetz das zustimmende oder ablehnende Interesse, die unbedingte V e r w e r fung von Seiten der evangelischen Landeskirchen, d. h. derjenigen „anerkannten Religionsgemeinschaften", welchen zwei D r i t t e l der Bevölkerung Deutschlands angehört, nicht auch i n Betracht? Hier gilt es, die Tendenz des Entwurfs zu kennzeichnen: das überwiegend evangelische Deutschland kann sich nicht Vorschriften aufzwingen lassen, welche i n ihren schließlichen Wirkungen auf eine Auflösung der evangelischen Landeskirchen hinauslaufen würden. Die evangelischen Landeskirchen Deutschlands müssen sich aber auch auf das entschiedenste dagegen verwahren, daß an Stelle des dem Bedürfnis des evangelischen Deutschlands geschichtlich allein entsprechenden, jedenfalls auf absehbare Zeit allein möglichen Zusammenschlusses der Landeskirchen, unter Wahrung u n d Achtung der gegenseitigen Rechte, der legali-
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sierte K a m p f aller gegen alle als Zündstoff i n das Verhältnis der evangelischen Landeskirchen untereinander hineingeworfen w i r d — eine V e r a n t w o r tung, die Gleichgültigkeit oder Feindschaft gegen die evangelische Kirche leicht, dagegen eine ernsthafte Würdigung ihrer Bedeutung f ü r das deutsche V o l k nicht schwer genug nehmen mag. U n d wenn die evangelischen Landeskirchen selbst unzweifelhaft diesen gegenseitigen Vernichtungskampf entschieden ablehnen sollten, so ist doch die Gefahr nicht zu übersehen, ja sie erscheint nahegerückt, daß sie durch den E n t w u r f m i t elementarer Gewalt i n diese Bahn hingedrängt werden würden: I m Zusammenhang m i t den auf die Auflösung der Landeskirchen abzielenden Vorschriften des Entwurfs steht, wie oben dargelegt, die w e i t gehende Zertrümmerung des staatlichen Kirchenhoheitsrechts. K a n n m a n ernsthaft denken, m i t den verbleibenden, zum Teil, wie oben ebenfalls dargelegt, bereits zum Abbruch stehenden Resten des staatlichen Kirchenhoheitsrechts das bisher bestehende enge Verhältnis des Staates zur evangelischen Kirche aufrecht zu erhalten? Das ist ausgeschlossen. Würden die evangelischen Kirchen k r a f t Reichsgesetzes einmal n u r noch „anerkannte Religionsgemeinschaften" i m Sinne des Entwurfs sein, m i t allen daraus m i t der Beseitigung der Staatskirchenhoheit sich ergebenden Konsequenzen, so läge unabweislich die Notwendigkeit vor, i h r Gesamtverhältnis zum Staate, i n seinen Grundlagen wie i m einzelnen, v ö l l i g umzugestalten. Niemand w i r d voraussagen können, welches die spätere Entwicklung sein werde, wer w i l l aber voraussagen, daß die evangelischen Kirchen als freie Vereine die oben gekennzeichnete, durch Reichsgesetz freigegebene Entwicklung nicht nehmen werden? Das freilich läßt sich m i t Bestimmtheit voraussagen, daß der Z u sammenbruch der bestehenden Rechtsstellung der evangelischen Kirchen i n ihrem Verhältnis zum Staate wie untereinander auf absehbare Zeit zu einer Periode unheilvollster W i r r e n und Kämpfe führen würde, führen müßte. Das vitale Interesse der evangelischen Kirchen verbietet es, ihre gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben i m deutschen Volke i n den Kämpfen zu erblicken, die i h r durch die zerstörenden Wirkungen des Entwurfs aufgenötigt werden würden. Der römisch-katholischen Kirche würden die Vorschriften der §§ 9 Abs. 1 und 10 Abs. 2 freie und öffentliche Ausübung ihres K u l t u s i n der Weise gewähren, daß die „auf die Religionsübung bezüglichen kirchlichen Vorschriften u n d Anordnungen" k r a f t Reichsgesetzes gültig sein würden, innerhalb des gesamten Reichsgebiets als rechtswirksam anzuerkennen wären, ohne daß irgend ein Bundesstaat der Ausführung dieser kirchlichen A n o r d n u n gen eine Schranke zu ziehen befugt wäre I n jahrhundertelangen schweren Kämpfen des deutschen Volkes hat sich das Prinzip der staatlichen Kirchenhoheit i n den deutschen Staaten zur H e r r schaft durchgerungen. Das Wesen dieses Prinzips besteht vornehmlich darin, daß der Staat einerseits die Grenzen für die Ausübung seiner Machtsphäre gegenüber der Kirche unter Berücksichtigung ihrer Gesamtstellung i m Volksleben selbständig bestimmt, anderseits innerhalb dieser Grenzen der Kirche, v o r -
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nehmlich i n ihren innern Angelegenheiten, die für die Ausrichtung ihrer Aufgaben erforderliche Bewegungs- u n d Entwicklungsfreiheit gewährt. Mögen i m einzelnen über diese Abgrenzung die Ansichten noch vielfach auseinandergehen, mag dieselbe auch tatsächlich hier u n d da noch nicht i n befriedigender Weise vollzogen sein, mögen aus früheren Zeiten des Staatskirchentums hier u n d da noch Rechtsbestände anderer A r t auch i n die neuere Zeit hineinragen — m i t dem Prinzipe als solchem w i r d die evangelische Kirche n u r einverstanden sein können. Sie k a n n auf diesem Rechtsgrunde den ihr von dem H e r r n der Kirche gestellten Aufgaben nachleben. Gegen dieses Prinzip w i r d von zwei Seiten Sturm gelaufen. Einerseits w i l l eine demokratische, teils doktrinäre, teils bewußt kirchenfeindliche Auffassung das ganze kirchliche Gemeinschaftsleben unter dem Gesichtspunkt des privaten Vereinsrechts schabionisieren. Die historisch entstandenen Kirchen sollen, ihrer ganzen Geschichte zuwider, unter völliger Verkennung j a Verleugnung einer vielhundertjährigen, unter den schwersten Kämpfen des deutschen Volkes errungenen Entwicklung, auf die Rechtsstellung von Privatvereinen herabgedrückt werden. Anderseits hat die römische Kirche niemals ihren Standpunkt der Überordnung der Kirche über den Staat aufgegeben. Wie oben erwähnt, hat sie die Gesamtfülle ihrer Ansprüche, den Anspruch auf Unterordnung des Staats unter die Kirche, bis aufs Jota bis zum heutigen Tage aufrecht erhalten, erst neuerdings durch die feierlichen Erklärungen i m Syllabus 1 0 , unzweifelhaft eine infallible päpstliche E r k l ä r u n g nach Maßgabe der constitutio Pastor aeternus des Vatikanischen Konzils 2 0 , so ferner noch nach der Encyclica des Papstes Leo X I I I . , der den Protestantismus f ü r eine Pest erklärte, v o m 1. November 1885 de C i v i t a t u m Constitutione Christiana 2 1 . A u f die Ansprüche der Überordung zurückzukommen hat die römische Kirche auch da sich vorbehalten, wo sie, u m die Schärfe des Gegensatzes temporis ratione habita zurücktreten zu lassen, sich hat bequemen müssen, an Stelle der Überordnung nur den Anspruch der Nebenordnung, der Gleichberechtigung m i t dem Staate, geltend zu machen. Auch dieses System verneint die Befugnis des Staates zur selbständigen Abgrenzung seiner Machtsphäre, w i l l i h m vielmehr n u r die Befugnis einräumen, m i t der katholischen Kirche als gleichberechtigtem Faktor über diese Abgrenzung zu paktieren — aber i m m e r nur unter der Voraussetzung, daß den w e i t i n das bürgerliche Rechtsleben hineingreifenden Ansprüchen der Kirche, da sie durch infallible Erklärungen als unveräußerlich dogmatischer kirchlicher Bestand festgestellt sind, nichts vergeben w i r d Fest steht dagegen das weitere nächste Ziel der ultramontanen Partei. I n den §§ 9—14 des Entwurfs ist es urkundlich festgelegt. Es läßt sich kurz dah i n zusammenfassen: 19
Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 183. Ebenda, Nr. 190. 21 Gemeint ist die Enzyklika „ I m m o r t a l e Dei" (Text: Sämtliche Rundschreiben Papst Leos X I I I . , 2. Sammlung 1887, S. 340 ff.). 20
2 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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1. Kap.: Bemühungen u m die Garantie der Religionsfreiheit
Beseitigung des i n vielhundertjähriger Geschichte unter den schwersten Kämpfen des deutschen Volkes errungenen Rechtszustandes der staatlichen Kirchenhoheit, Beseitigung der Rechtsgrundlagen der evangelischen Landeskirchen — und als Ersatz Anerkennung u n d Schutz des Reiches für die Total i t ä t aller Ansprüche der römisch-katholischen Kirche. Der vorstehende Rückblick auf Ziele u n d Wege des Entwurfs f ü h r t noch zu zwei Schlußbemerkungen. Erstens. Der Toleranzantrag stellt den E n t w u r f eines Reichsreligionsgesetzes dar. Die Annahme des Antrages auch n u r i n einem Punkte bedeutet die prinzipielle Anerkennung der Zulässigkeit eines solchen Gesetzes. A n einem Punkte nachgeben, heißt für alle weiteren Forderungen den Weg freimachen. Dies g i l t auch von denjenigen Vorschlägen des Entwurfs, welche, einzeln genommen oder i n Rücksicht auf besondere, verschieden geartete Verhältnisse i n den verschiedenen Teilen Deutschlands, vielleicht weniger bedenklich erscheinen sollten; dies g i l t insbesondere auch von den i m Jahre 1901 angenommenen §§ 1—8 des Entwurfs. Sie sind — auch ohne Rücksicht auf ihren I n h a l t — als Teil eines Religionsgesetzes unannehmbar. Sodann. Das bleibende Verdienst w i r d der Toleranzantrag behalten, daß i n i h m die Gesamtsumme der Ansprüche, welche i m Interesse der römischkatholischen Kirche an das Deutsche Reich gestellt w i r d , aufgerollt w i r d . Weder über den Umfang dieser Ansprüche, noch über den Weg zu ihrer Geltendmachung, noch über ihre R ü c k w i r k u n g auf das Verhältnis der Kirche zum Staate w i r d fortan ein Zweifel bestehen können. Die evangelische Kirche hängt i n ihrem Wesen und i n ihrer Existenz nicht ab von der äußeren Ausgestaltung ihrer Rechtsordnungen. Aber w e n n sie auch die Verheißung des Sieges, das von i h r gepredigte Evangelium die V e r heißung der Ewigkeit hat, so haben diese Verheißungen doch darum noch nicht die einzelnen evangelischen Landeskirchen, nicht das Evangelium i n unserm deutschen Vaterlande. H i e r f ü r gilt es einzustehen, — abzuweisen den Angriff gegen den Bestand der evangelischen Landeskirchen, die i n ihrer Ausgestaltung bei vielfachen Mängeln i m einzelnen einen unschätzbaren Segen für unser Volksleben enthalten — abzuweisen aber auch den Angriff auf das i n hundertjährigen Kämpfen auf dem Boden protestantischer Staatsauffassung durchgerungene Prinzip der staatlichen Kirchenhoheit.
Nr. 11. Antrag der Abgeordneten Stoecker und Genossen zum Gesetzentwurf über die Religionsfreiheit vom M a i 1906 (Verhandlungen des Reichstags 1905—1906, Anlagen, Bd. 222, Nr. 221) Der Reichstag wolle beschließen: Den H e r r n Reichskanzler zu ersuchen, bei den verbündeten Regierungen darauf hinzuwirken, daß die i n einzelnen Bundesstaaten noch bestehenden Beschränkungen der Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung
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zu Religionsgemeinschaften u n d der gemeinsamen Religionsübung baldigst i m Wege der Landesgesetzgebung beseitigt werden.
Nr. 12. Abänderungsantrag der Abgeordneten Albrecht und Genossen zu dem Stoeckerschen Antrag v o m M a i 1906 (Verhandlungen des Reichstags 1905—1906, Anlagen, Bd. 222, Nr. 266) Es w i r d beantragt: 1. i n der vorletzten u n d letzten Zeile die Worte „ i m Wege der Landesgesetzgebung" zu ersetzen durch die Worte: „durch Reichsgesetz". 2. der Resolution folgende Sätze hinzuzufügen : Dabei ist zu berücksichtigen: a) daß aus der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft keine Beeinträchtigung der bürgerlichen u n d staatsbürgerlichen Rechte u n d Pflichten abgeleitet werden darf; b) daß kein K i n d gegen den W i l l e n der Erziehungsberechtigten zur Teilnahme an einem Religionsunterricht oder Gottesdienst angehalten werden darf; c) daß zur B e w i r k u n g des Austritts aus einer Religionsgemeinschaft eine schriftliche oder mündliche E r k l ä r u n g zu genügen hat, die vor dem A m t s gericht des Wohnortes abzugeben und von diesem der Religionsgemeinschaft mitzuteilen ist; d) daß das Austrittsverfahren kosten- u n d stempelfrei zu sein hat.
I I I . Landesrechtliche Gewährleistungen der Religionsfreiheit Der „Toleranzantrag" des Zentrums 1 hatte seinen Grund vor allem darin, daß eine Reihe von Einzelstaaten — so Sachsen, Braunschweig und Mecklenburg — die Religionsübung der Katholiken erheblichen Einschränkungen unterwarf 2. In zwei dieser drei Länder trugen rechtliche Neuregelungen den Beschwernissen Rechnung. Das unter der Regentschaft des Herzogs Albrecht 3 erlassene Braunschweigische Gesetz vom 29. Dezember 1902 (Nr. 13) 1
Oben Nr. 6. Vgl. die detaillierte Darstellung des Zentrumsabgeordneten Franz Seraphim Pichler (1852 - 1927), Dompropst i n Passau, 1893 - 1912 MdR, i n der Reichstagssitzung v o m 5. Dezember 1900, Verh. d. Reichstags, Bd. 179, S. 319 ff.; ferner die Materialien: A r c h i v f. kath. Kirchenrecht, Bd. 82, 2 (1902) S. 235 ff. 3 Albrecht, Prinz von Preußen, „der Jüngere" (1837 - 1906), Sohn des Prinzen Albrecht von Preußen „des Älteren", des vierten Sohnes K ö n i g Friedrich Wilhelms III. Prinz Albrecht d. J. n a h m als General an den Kriegen von 1866 u n d 1870/71 teil; 1873 - 85 K o m m . General des X . Armeekorps i n Hannover; 1885 - 1906 Regent von Braunschweig. 2
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regelte der Sache nach Fragen der Religionsfreiheit, die Katholiken und Protestanten in gleicher Weise betrafen; besonders ausführlich behandelte es die religiöse Kinder er Ziehung, die Religionsmündigkeit und den Konfessionswechsel. Die für Mecklenburg-Schwerin am 5. Januar 1903 erlassene Verordnung (Nr. 14) erkannte der reformierten Kirche und der katholischen Kirche eine Gleichstellung mit der lutherischen Landeskirche in dem Recht auf freie Religionsübung zu*.
Nr. 13. Gesetz, die Ordnung der kirchlichen Verhältnisse der Katholiken in Braunschweig betreffend v o m 29. Dezember 1902 (Braunschweigische Gesetz- und Verordnungssammlung, 1903, S. 3 ff.) I. Von der religiösen Erziehung, der Taufe und dem Schulbesuch der Kinder § 1. Die aus einer gemischten Ehe hervorgehenden K i n d e r sind ohne Unterschied des Geschlechts, es sei der Vater evangelisch u n d die M u t t e r katholisch, oder umgekehrt, i n dem Bekenntnis des Vaters zu erziehen; es sei denn, daß der Vater nach der Geburt des ersten Kindes u n d vor der Taufe desselben — i n den Städten vor dem Stadtmagistrate, i n den Landgemeinden vor der betreffenden Herzoglichen Kreisdirektion — die abweichende Erklärung abgegeben hätte, daß sämtliche K i n d e r aus solcher Ehe i n dem Bekenntnis der M u t t e r erzogen werden sollen. Der Wechsel i n dem Bekenntnis des Vaters bezw. der Mutter, sowie der Tod derselben ist ohne Einfluß auf die religiöse Erziehung der Kinder. Nach dem Tode des Vaters sind die Erziehungsberechtigten verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß kein Wechsel des Bekenntnisses stattfindet. A l l e etwaige, den vorstehenden Vorschriften zuwiderlaufende, vor oder während der Ehe gemachte Verträge, ausgestellte schriftliche Verpflichtungen u n d sonstige Versprechungen, sie seien gegeben w e m sie wollen, sind unverbindlich u n d nichtig. § 2. Die Taufe der K i n d e r aus einer gemischten Ehe, welche nach den Bestimmungen des § 1 katholisch zu erziehen sind, steht, wie die Taufe der 4 Die Regierungen von Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz gingen vor dem Erlaß der Verordnung davon aus, daß hinsichtlich der Religionsfreiheit die Bestimmungen des Westfälischen Friedens unverändert i n Geltung stünden u n d daß deshalb nur die evangelisch-lutherische Landeskirche, die als einzige i m Normal j ä h r 1624 i n Mecklenburg einen Besitzstand hatte, als anerkannte Religionsgesellschaft gelten könne. Zwar w a r Mecklenburg durch seinen B e i t r i t t zum Rheinbund verpflichtet, die Religionsfreiheit der K a t h o l i k e n anzuerkennen. Doch wurde ihnen sowie auch den Angehörigen anderer Konfessionen grundsätzlich n u r häuslicher Gottesdienst (devotio domestica) gestattet. Vgl. die Verordnung v o m 25. Januar 1811, abgeändert durch Verordnung v o m 30. März 1821 (Text: Raabe, Gesetzsammlung f ü r die Meckl.-Schw. Lande, 2. Folge, Bd. I V , S. 95).
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Kinder, welche katholischen Eltern ehelich oder von katholischen M ü t t e r n unehelich geboren werden, dem katholischen Geistlichen zu. Die Taufe der K i n d e r aus einer gemischten Ehe, welche nach § 1 evangelisch zu erziehen sind, sowie die Taufe der Kinder, welche evangelischen Eltern ehelich oder von evangelischen M ü t t e r n unehelich geboren werden, ist von dem evangelischen Geistlichen zu vollziehen. A n Orten, an denen k e i n katholischer Geistlicher seinen Sitz hat, k a n n jedoch die Taufe dort geborener Kinder, die an sich dem katholischen Geistlichen zustehen würde, auf ausdrücklichen A n t r a g der Erziehungsberechtigten — selbstverständlich ohne Folge f ü r die religiöse Erziehung — durch den zuständigen evangelischen Geistlichen v o r genommen werden. Der katholische Geistliche, welcher ein K i n d tauft, dessen Taufe einem evangelischen Geistlichen zusteht, verfällt gleich dem evangelischen i m u m gekehrten Falle (vergi, jedoch die Ausnahme i n Abs. 1 Satz 3) i n eine Strafe von 30 M. Der § 5 des Gesetzes v o m 18. M a i 1864 No. 26 w i r d aufgehoben 5 . § 3. Katholisch zu erziehende K i n d e r genügen ihrer Schulpflicht auch durch den Besuch einer staatlich anerkannten katholischen Schule, u n d sind, wenn sie solche besuchen, von der Entrichtung des Schulgeldes an die Gemeindeschule befreit. Besuchen sie die Gemeindeschule, so bleiben sie doch v o m Religionsunterrichte befreit, wenn sie nicht auf besondern A n t r a g der Erziehungsberechtigten zu demselben zugelassen sind. Nehmen sie am Religionsunterricht nicht theil, so haben die Erziehungsberechtigten anderweit für ihre religiöse E r ziehung Sorge zu tragen. § 4. Die i n den §§ 1 bis 3 getroffenen Bestimmungen finden auf legitimierte K i n d e r m i t der Maßgabe entsprechende Anwendung, daß die nach § 1 zulässige abweichende Erklärung des Vaters i m Falle der Legitimation durch nachfolgende Ehe, wenn diese Ehe eine gemischte ist, rücksichtlich der religiösen Erziehung sowohl des l e g i t i mierten Kindes, als auch der aus der Ehe etwa hervorgehenden K i n d e r binnen 4 Wochen nach der Eheschließung; i m Falle der Legitimation durch Ehelichkeitserklärung bei verschiedenem Bekenntnis des Vaters und des Kindes binnen 4 Wochen nach der Eröffnung der Ehelichkeitserklärung an den Vater abzugeben ist. A u f das Bekenntnis der K i n d e r über 10 Jahren hat deren Legitimation keinen Einfluß. Die Annahme an Kindesstatt hat einen Wechsel des Bekenntnisses des Kindes nicht zur Folge, falls nicht i n dem Annahme vertrage ein anderes be5
Braunschweig. GVS 1864, S. 75.
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1. Kap.: Bemühungen u m die Garantie der Religionsfreiheit
stimmt ist. Hinsichtlich der Taufe und des Schulbesuchs der an Kindesstatt angenommenen K i n d e r finden die §§2 u n d 3 entsprechende Anwendung. § 5. Wenn Eheleute verschiedenen Bekenntnisses oder aus einer gemischten Ehe nachgebliebene W i t w e r oder Witwen, welche K i n d e r unter 14 Jahren besitzen, i m hiesigen Lande ihren Wohnsitz nehmen, so sind für die Erziehung ihrer Kinder, u n d zwar sowohl derer, welche schon vorhanden sind, als auch derer, welche etwa noch aus einer bestehenden Ehe hervorgehen, die Gesetze desjenigen Landes maßgebend, i n dem die Eheleute ihren ersten Wohnsitz hatten. Die Feststellung der i n Anwendung kommenden gesetzlichen Bestimmungen liegt den Behörden, i n Städten dem Stadtmagistrat, i n Landgemeinden der Herzoglichen Kreisdirektion ob. Bei dem Feststellungsverfahren sind die zugezogenen Personen bei Vermeidung einer Geldstrafe bis zum Betrage von 60 Μ verpflichtet, den Behörden jede geforderte A u s k u n f t über ihre Religions- u n d Familienverhältnisse zu geben. Uber das Ergebnis ist den zugezogenen Personen ein schriftlicher Ausweis zu erteilen u n d w e n n schulpflichtige K i n d e r vorhanden sind, die Schule zu benachrichtigen. Haben Eheleute verschiedenen Bekenntnisses zur Zeit ihrer Niederlassung i m hiesigen Lande keine K i n d e r oder n u r K i n d e r über 14 Jahre, so sind die aus der Ehe später hervorgehenden K i n d e r nach den i n den §§ 1 bis 3 gegebenen Regeln m i t der Maßgabe zu behandeln, daß i n dem letzteren Falle die i m § 1 bezeichnete E r k l ä r u n g zwischen der Geburt u n d Taufe des ersten nach der Niederlassung i m hiesigen Lande geborenen Kindes abzugeben ist. § 6. Eine Ausnahme von den i n den §§ 1 bis 5 wegen der religiösen Erziehung, der Taufe u n d des Schulbesuchs getroffenen Bestimmungen unter besonderen Verhältnissen auf Ansuchen des Vaters, der überlebenden ehelichen M u t t e r oder des Vormundes zu gestatten, bleibt Unserer Höchsten Entschließung vorbehalten. II. Von dem Endtermine der Schulpflichtigkeit, der Wahl und dem Wechsel des Bekenntnisses § 7. Die Schulpflichtigkeit der K i n d e r katholischer Eltern, oder unehelicher K i n d e r katholischer M ü t t e r u n d derjenigen Kinder, welche nach den Bestimmungen der §§ 1, 4 oder 5 katholisch zu erziehen sind, dauert bis zu dem Schlüsse des auf die Vollendung ihres 14. Lebensjahres folgenden W i n t e r halbjahrs. Die Entlassung jüngerer katholischer K i n d e r aus der Schule darf nicht anders als nach Unserer vorgängigen Befreiung geschehen, u m welche i n der Regel n u r f ü r solche K i n d e r nachzusuchen statthaft ist, welche zur Zeit der Entlassung aus der Schule das A l t e r von 13 Jahren 6 Monaten erreichen. Unbeschadet dieser Schulpflichtigkeit bleibt den katholischen Geistlichen überlassen, rücksichtlich der Zulassung zur ersten heiligen K o m m u n i o n der Ordnung ihrer Kirche zu folgen.
I I I . Landesrechtliche Gewährleistungen der Religionsfreiheit
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§ 8. Die Befugnis zu dem Übertritte von dem Bekenntnis, i n welchem j e mand erzogen ist, zu einem andern, beginnt m i t dem vollendeten 14. Lebensjahre. Eine Befreiung von diesem A l t e r behufs der Teilnahme an solchen Religionshandlungen, durch welche sich eine Religionsgemeinschaft wesentlich von einer andern unterscheidet, ist für den Fall, daß ein K i n d einem andern Bekenntnis, als w o r i n es zu erziehen ist, anzugehören begehrt, unzulässig und, von welcher kirchlichen Stelle sie etwa auch erteilt sein möchte, nichtig. Der katholische Geistliche, welcher dieser Regel durch Zulassung jüngerer K i n d e r zu solchen Religionshandlungen zuwiderhandelt, verfällt gleich dem evangelischen i m ähnlichen Falle i n eine Geldstrafe von 60 M. § 9. Die katholischen Geistlichen sind erst dann einen zum Wechsel des Bekenntnisses entschlossenen Evangelischen aufzunehmen oder zu den i m § 8 Abs. 2 bezeichneten Religionshandlungen zuzulassen befugt, w e n n die Willenserklärung dessen, der überzutreten die Absicht hat, einem evangelischen Geistlichen seines Wohnorts abgegeben, oder i n glaubhafter Weise angezeigt u n d von i h m eine Bescheinigung darüber beigebracht ist, — gleichwie i m hiesigen Lande wohnende K a t h o l i k e n erst dann zum Ü b e r t r i t t i n eine andere Religionsgemeinschaft zugelassen werden sollen, w e n n sie eine gleiche Bescheinigung von einem i m hiesigen Lande zu kirchlichen A m t s handlungen berechtigten katholischen Geistlichen beigebracht haben. Die Bescheinigung ist kostenfrei auszustellen u n d weder i n dem einen noch i n dem anderen Falle zu versagen. Was sonst zum Ü b e r t r i t t erforderlich ist, w i r d durch die i n den Religionsgemeinschaften geltenden Ordnungen bestimmt. Der katholische Geistliche, welcher einen zum Wechsel des Bekenntnisses entschlossenen Evangelischen aufnimmt, oder zu den i m § 8 Abs. 2 erwähnten Religionshandlungen zuläßt, ohne die bezeichnete Bescheinigung oder Unsere Höchste Befreiung von deren Beibringung erhalten zu haben, verfällt gleich dem evangelischen i m umgekehrten Falle i n eine Geldstrafe von
60 M. III.
Vom Besuch der Kranken
und Gefangenen und vom Begräbnis
§10. Dem katholischen Geistlichen, welcher zu kirchlichen A m t s h a n d l u n gen i m hiesigen Lande zugelassen ist, steht der Besuch der katholischen K r a n k e n u n d die Besorgung der Sakra i n deren Häusern ohne weiteres zu. §11. Der Besuch katholischer Gefangener bleibt von der Gestattung der zuständigen Behörde abhängig. § 12. Wenn unter dienstlicher M i t w i r k u n g eines katholischen Geistlichen ein Begräbnis auf einem evangelischen Friedhofe stattfinden soll, so muß hiervon dem evangelischen Pfarrer zuvor M i t t e i l u n g gemacht u n d i h m nachgewiesen sein, daß der Beerdigung rücksichtlich der i m § 4 des Gesetzes v o m 23. März 1899 No. 27, die Bestrafung der Polizeiübertretungen betreffend 6 , 8
Braunschweig. GVS 1899, S. 219.
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1. Kap.: Bemühungen u m die Garantie der Religionsfreiheit
enthaltenen Bestimmungen Bedenken nicht entgegenstehen. Handelt es sich u m eine stille Beerdigung i m Sinne des nachstehenden Paragraphen, so muß i h m außerdem der Nachweis erbracht sein, daß die ortspolizeiliche Erlaubnis erteilt sei. Darüber, daß dem Vorstehenden genügt sei, hat der evangelische Geistliche eine Bescheinigung auszustellen. Der katholische Geistliche, welcher ohne solche Bescheinigung bei dem Begräbnis m i t w i r k t , verfällt i n eine Geldstrafe von 30 M. §13. Eine stille Beerdigung, welche nachts, d. h. i n der Zeit v o m 1. A p r i l bis 30. September i n den Stunden von 8 U h r abends bis 6 U h r morgens u n d i n der Zeit v o m 1. Oktober bis 31. März i n den Stunden von 6 U h r abends bis 6 U h r morgens stattfindet, dürfen die katholischen Geistlichen bei einer Geldbuße von 30 Μ nicht vornehmen oder gestatten, ohne daß die Erlaubnis der Ortspolizeibehörde dazu erteilt worden ist. IV. Von der Führung
der Kirchenbücher
und der Aufsicht über dieselbe
§ 14. Die bis zum 1. Januar 1876 i n den katholischen Gemeinden zu B r a u n schweig, Wolfenbüttel u n d Helmstedt geführten Kirchenbücher unterliegen fernerweit den bisherigen Bestimmungen. I m übrigen w i r d die Aufsicht über die Kirchenbuchführung, soweit erforderlich, i n den Städten v o m Stadtmagistrat, i n den Landgemeinden von der betreffenden Herzoglichen Kreisdirektion ausgeübt. V. Von der Zulassung der katholischen Geistlichen zu kirchlichen Amtshandlungen §15. Bevor ein katholischer Geistlicher, nach Unserer vorgängigen Bestätigung i m Amte, i m hiesigen Lande sein A m t a n t r i t t u n d seine A m t s tätigkeit beginnt, hat derselbe i n den Städten vor dem Stadtmagistrate, i n den Landgemeinden vor der Herzoglichen Kreisdirektion zu Protokoll anzugeloben, daß er diesem Gesetze getreulich nachkommen wolle. Andere katholische Geistliche sind zur Vollziehung kirchlicher A m t s handlungen i m hiesigen L a n d erst dann berechtigt, w e n n jene ihnen auf Ansuchen v o m Herzoglichen Staats-Ministerium gestattet ist, u n d nachdem sie gleichfalls das i m ersten Absatz vorgeschriebene Gelöbnis vor der betr. Herzoglichen Kreisdirektion zu Protokoll abgegeben haben. Die jetzt i m A m t e befindlichen, bezw. zur Verrichtung kirchlicher A m t s handlungen zugelassenen Geistlichen sind auf i h r früher geleistetes Gelöbnis zu verweisen 7 . 7 Durch das Gesetz v o m 17. J u n i 1908 (Braunschweig. GVS 1908, S. 247) w u r d e hinzugesetzt: „Die zuständige Herzogliche Kreisdirektion — i n der Stadt Braunschweig die Herzogliche Polizeidirektion — ist befugt, i m Einzelfalle auch sonstigen katholischen Geistlichen auf deren Ansuchen die V o r nahme einer bestimmten kirchlichen Amtshandlung ohne weiteres zu gestatten."
I I I . Landesrechtliche Gewährleistungen der Religionsfreiheit
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§16. Katholische Geistliche, welche ohne dazu berechtigt zu sein, k i r c h l i che Amtshandlungen i m hiesigen Lande vollziehen, verfallen der Bestrafung nach Maßgabe der Landesgesetze. VI.
Schlußbestimmung
§17. Das Gesetz vom 10. M a i 1867 No. 32, die Ordnung der kirchlichen Verhältnisse der K a t h o l i k e n i m hiesigen Lande betreffend, sowie die durch Verordnung vom 10. M a i 1867 No. 33 erlassene I n s t r u k t i o n werden aufgehoben 8 .
Nr. 14. Verordnung, die öffentliche Religionsübung im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin betreffend vom 5. Januar 1903 (Regierungsblatt für das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, 1903, S. 5) W i r Friedrich Franz, Großherzog von Mecklenburg 9 verordnen i n Betreff der öffentlichen Religionsübung der Angehörigen der reformierten Kirche und der römisch-katholischen Kirche i n Unseren Landen, was folgt: § 1. Den Angehörigen der reformierten Kirche u n d der römisch-katholischen Kirche w i r d i n Unseren Landen die öffentliche Religionsübung zugestanden. § 2. Den m i t landesherrlicher Genehmigung errichteten reformierten u n d römisch-katholischen Kirchen, Kapellen und anderen, dem öffentlichen Gottesdienste gewidmeten Gebäuden nebst den zugehörigen Grundstücken (Pfarreien, Begräbnisplätzen etc.), sowie den reformierten und den römisch-katholischen Religionsübungen, welche i n den dem Gottesdienste gewidmeten Gebäuden auf den Begräbnisplätzen der reformierten Kirche u n d der römisch-katholischen Kirche oder m i t landesherrlicher Genehmigung an anderen Orten veranstaltet werden, soll der gleiche Rechtsschutz w i e den entsprechenden Einrichtungen der lutherischen Landeskirche gewährt werden. § 3. Unberührt bleiben die Uns nach Landesrecht gegenüber der reformierten Kirche und der römisch-katholischen Kirche und deren Angehörigen zustehenden Hoheitsrechte. Es bleibt daher insbesondere Unsere Genehmigung erforderlich für Bildung und Änderung der Parochien;
die
die Anstellung der Geistlichen und die Vornahme geistlicher Handlungen durch nicht i n Unseren Landen angestellte Geistliche; 8
Braunschweig. GVS 1867, S. 253. Friedrich Franz IV., Großherzog von Mecklenburg-Schwerin (1882 - 1945), Sohn des Großherzogs Friedrich Franz III.; Regierungszeit 1897 - 1918. Bis zu seiner V o l l j ä h r i g k e i t (1901) stand das L a n d unter der Regentschaft des H e r zogs Johann Albrecht von Mecklenburg-Schwerin (Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 431 f., A n m . 46). 9
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1. Kap.: Bemühungen u m die Garantie der Religionsfreiheit
die Errichtung von Kirchen, Kapellen u n d anderen, dem öffentlichen Gottesdienst gewidmeten Gebäuden, sowie die Errichtung von Pfarreien (Pfründen); die Veranstaltung öffentlicher Gottesdienste außerhalb der dem Gottesdienste gewidmeten Gebäude, sowie die A b h a l t u n g von Missionen, Prozessionen u n d Wallfahrten; die Gründung, Zulassung oder Niederlassung von Orden, Kongregationen und anderen Religionsgesellschaften.
Zweites Kapitel Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der K i r c h e n An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erfuhr das kirchliche Finanzsystem in Deutschland eine entscheidende Weiterentwicklung. Das Instrument der Kirchensteuer wurde umfassend ausgestaltet; das Verhältnis dieser relativ neuen Finanzierungsform zu den anderen Bestandteilen des Kirchenvermögens und des kirchlichen Einkommens wurde geklärt. Dies hatte erhebliche Auswirkungen auf die innere Verfassung der Kirchen und auf ihr Verhältnis zum Staat. Diese Entwicklung ist in den folgenden Abschnitten zunächst für Preußen , dann für eine Reihe deutscher Mittelstaaten dokumentiert.
I . D i e A u s z a h l u n g der gesperrten Staatsleistungen an die katholische K i r c h e i n Preußen Die erste gesetzgeberische Maßnahme, die Preußen nach 1890 im Blick auf das kirchliche Finanzwesen traf , hing mit den Nachwirkungen des Kulturkampfs zusammen. Das preußische Gesetz vom 22. April 1875 1 hatte die Staatsleistungen an die katholische Kirche gesperrt. Im Lauf der Jahre hatte sich durch diese Sperre eine Geldsumme von 16 Millionen Mark angesammelt , über die gemäß dem Gesetz von 1875 gesetzlich verfügt werden mußte. Deshalb forderte der preußische Episkopat in einer Eingabe vom 22. August 1889, diese Frage möglichst schnell zu regeln (Nr. 15). Daraufhin legte die preußische Regierung im Jahr 1890 einen Gesetzentwurf vor, nach dem die Staatsverwaltung die sogenannten „Sperrgelder " der katholischen Kirche in Form von Staatszuschüssen auszuzahlen hatte 2. Gegen diese Lösung erhob die Zentrumsfraktion im preußischen Abgeordnetenhaus Einspruch; die Mehrheit des Abgeordnetenhauses lehnte das Gesetz ab 3 . Daraufhin brachte die Regierung 1891 einen neuen Gesetzentwurf ein, nach dem die Sperrgelder insgesamt der katholischen Kirche auszuhändigen waren. Dieses Sperrgeldgesetz trat nach der Annahme durch beide Häuser des Landtags unter dem Datum des 24. Juni 1891 in Kraft (Nr. 16)*. 1
Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 309. Verh. d. preuß. Abgeordnetenhauses 1890, Anlagen Bd. I I I , Nr. 151. 3 Verh. d. preuß. Abgeordnetenhauses, 1890, Bd. 290, S. 1394 ff., S. 1839 ff., S.1969 ff. 4 Vgl. F. Porsch, Die Rückgabe der preußischen sog. Sperrgelder, i n : Archiv f. kath. Kirchenrecht 66 (1891), S. 281 ff.; E. Gatz, A u f dem Weg zur Kirchensteuer. Kirchliche Finanzierungsprobleme i n Preußen an der Wende zum 2
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
Nr. 15. Eingabe der Fuldaer Bischofskonferenz an das preußische Staatsministerium v o m 22. August 1889 (E. Gatz, A k t e n der Fuldaer Bischofskonferenz I I : 1888—1899, 1979, Nr. 524) Hohem Staatsministerium beehren w i r uns, nachstehendes zu einer geneigten Erwägung vorzutragen. I m § 9 des Gesetzes vom 22. A p r i l 1875 ist die Verwendung der aufgrund desselben angesammelten Fonds einer gesetzlichen Regelung vorbehalten. Nachdem eine Reihe anderer kirchlicher Fragen ihre Lösung gefunden hat, haben das katholische V o l k wie der Klerus sich der Hoffnung hingegeben, daß auch diese Frage i n einer die Beteiligten befriedigenden Weise ihre Regelung finden werde. N u n verlautete zwar i n der letzten Legislaturperiode, daß ein diesen Gegenstand betreffender Gesetzentwurf von der Hohen Staatsregierung vorbereitet sei und dem Landtage vorgelegt werden solle. Die Hoffnung der Katholiken, die eine durch dieses Gerücht begründete Bürgschaft zu haben schien, ist jedoch unerfüllt geblieben, u n d hat sich infolgedessen i m Klerus u n d V o l k eine nicht geringe Unruhe u n d Unzufriedenheit gebildet, die i m Interesse der Gerechtigkeit u n d des religiösen Friedens zu beklagen ist. Es ist uns unbekannt, welche Schwierigkeiten die Regelung dieser Angelegenheit verzögert haben; sollten sie jedoch i n der A r t der Verwendung liegen, so gestatten w i r uns, ergebenst darauf hinzuweisen, wie die Hoffnungen u n d Erwartungen i m Klerus wie i m Volke keine andere Richtung haben, als die einfache Rückgabe der angesammelten Fonds an die von dem vorgenannten Gesetze betroffenen Personen u n d Institute. Diese Regelung allein ist imstande, alle Beteiligten zu befriedigen, u n d entspricht u m so mehr der Gerechtigkeit, als dieselben n u r ihrer religiösen Überzeugung, nicht einer staatsfeindlichen Opposition ihre staatlichen Bezüge zum Opfer gebracht haben. E i n Hohes Staatsministerium wolle daher geneigen, baldigst durch eine Gesetzesvorlage, welche den gerechten Erwartungen des katholischen Klerus u n d Volkes entgegenkommt, die Quelle weiterer Erregung und Verbitterung zu schließen 5 .
20. Jahrhundert, i n : Miscellanea Vaticana, Festschrift für H. Hoberg, hrsg. von E. Gatz (1979), S. 251 ff. 5 Vgl. auch die weitere Eingabe der Bischöfe an das Staatsministerium v o m 26. November 1890 (Text: Gatz, a. a. O., Nr. 561).
I. Auszahlung der gesperrten Staatsleistungen an die katholische Kirche
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Nr. 16. Staatsgesetz zur Ausführung des § 9 des Gesetzes, betreffend die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für die römisch-katholischen Bistümer und Geistlichen vom 22. April 1875 („Sperrgeldgesetz") vom 24. J u n i 1891 (Preußische Gesetz-Sammlung, 1891, S. 227) — Auszug — W i r Wilhelm, von Gottes Gnaden K ö n i g von Preußen etc. verordnen, m i t Zustimmung beider Häuser des Landtags der Monarchie, zur Ausführung des § 9 Absatz 1 des Gesetzes, betreffend die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für die römisch-katholischen Bisthümer und Geistlichen, vom 22. A p r i l 1875 (Gesetz-Samml. S. 194)6, was folgt: Art. 1. Von denjenigen Beträgen, welche i n Gemäßheit des Gesetzes vom 22. A p r i l 1875 (Gesetz-Samml. S. 194), betreifend die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln, aufgesammelt sind, kommen . . J zusammen 16 009 333 M a r k 02 Pf. 8 nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen zur Verwendung. Art. 2. Aus den i m A r t i k e l 1 aufgeführten Summen sind m i t Ausschluß von Zinsen i n den einzelnen Diözesen beziehungsweise Diözesanantheilen Beträge zu bewilligen an solche Institute u n d Personen beziehungsweise deren Erben, welche dadurch Einbuße an ihren Einkünften erlitten haben, daß auf G r u n d des Gesetzes vom 22. A p r i l 1875 für sie bestimmte Bezüge zu dem i m A r t i k e l 1 bezeichneten Sammelkonto eingezogen worden sind. Hierbei treten an Stelle der i n Absatz 1 aufgeführten Institute und Personen beziehungsweise deren Erben diejenigen Institute, Korporationen und Fonds auf den A n t r a g ihrer gesetzlichen Vertreter, welche diesen Instituten und Personen nachweislich einen Ersatz für die erlittenen Einbußen gewährt haben. Art. 3. Über die Bewilligungen beschließt innerhalb einer jeden Diözese beziehungsweise eines jeden Diözesanantheils eine aus fünf Mitgliedern bestehende Kommission. Die Mitglieder werden von dem Minister der geistlichen Angelegenheiten i m Einvernehmen m i t dem betreffenden Diözesanobern ernannt. Die Kommission ist bei der Anwesenheit dreier Mitglieder beschlußfähig. Der Vorsitzende w i r d von dem Minister der geistlichen Angelegenheiten bestimmt und öffentlich bekannt gemacht. 6
Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 309. Es folgt eine Aufschlüsselung des Gesamtbetrags auf die einzelnen preußischen Diözesen. 8 Der Gesetzentwurf von 1890 (oben A n m . 2) nennt eine jährliche Summe von 560 480 Μ 58 Pf. 7
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2. Kap.: Finanzwesen u n
Vermögensverwaltung der Kirchen
Art. 4. Die Anträge auf Bewilligungen sind von den i m A r t i k e l 2 bezeichneten Instituten und Personen beziehungsweise deren Erben binnen einer drei Monate vom Tage der Bekanntmachung der Ernennung des Vorsitzenden laufenden Präklusivfrist bei dem Vorsitzenden der Kommission unter Angabe der beanspruchten Beträge anzumelden. Ob und zu welchem Betrage die Anträge innerhalb der Grenzen der i n den einzelnen Diözesen beziehungsweise Diözesanantheilen verfügbaren M i t tel zu berücksichtigen sind, beschließt die Kommission endgültig nach freiem Ermessen unter Ausschluß des Rechtswegs Art. 5. Die nach Erledigung der Anträge u n d nach Abzug der Kosten des Verfahrens i n der einzelnen Diözese übrig bleibende Summe w i r d an das betreffende Bisthum ausgezahlt u n d zu einem Diözesanfonds angelegt
I I . D i e A u f h e b u n g der S t o l g e b ü h r e n i n Preußen Zu den kirchlichen Finanzierungsquellen zählten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Stolgebühren, also die Abgaben, die für die Amtshandlungen der Pfarrer, besonders für Taufen und Trauungen, zu entrichten waren 1. Ihre Erhebung wurde fragwürdig, nachdem durch die Zivilstandsgesetzgebung der Zwang zur Inanspruchnahme kirchlicher Amtshandlungen entfallen war. Vor allem im Bereich der evangelischen Kirchen hatte die Einführung der Zivilehe im Jahre 1875 2 einen drastischen Rückgang der kirchlichen Trauungen zur Folge. Deshalb bestand ein kirchliches Interesse an der Beseitigung der Stolgebühren, da sie für einen Teil der Kirchenmitglieder ein Hindernis dafür darstellten, die Amtshandlungen in Anspruch zu nehmen. Dieses Interesse wurde staatlicherseits geteilt 3. Die beiderseitigen Überlegungen hatten die Folge, daß gleichgerichtete Staats- und Kirchengesetze im Bereich der evangelischen Kirchen in Preußen die Stolgebühren für Taufen und Trauungen aufhoben und durch eine staatliche Entschädigungsrente ablösten. Als Beispiele für diese Gesetzgebung folgen nachstehend die Gesetze für die evangelische Landeskirche der älteren preußischen Provinzen 1 Vgl. H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, Bd. I (3. Aufl. 1955), S. 174; J. Riedle, Das pfarrliche Recht der Stolgebühren (1897). 2 Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 297. 3 I n den regierungsamtlichen Motiven zu dem preußischen Gesetz, betr. die Abschaffung der Stolgebühren, v o m 3. September 1892 heißt es: „Das staatliche Interesse an der Aufhebung der Stolgebühren beruht i n der thunlichen Beseitigung jeden Hindernisses, welches der unbemittelten Bevölkerung die T h e i l nahme an den Wohlthaten der Kirche erschwert. V o r den übrigen gebührenpflichtigen Handlungen zeichnen sich aber Taufe und Trauung dadurch aus, daß ihre Versäumung den Ausschluß v o m kirchlichen Gemeindeleben nothwendig m i t sich bringt. Es liegt also i m Staatsinteresse, den aus der Entgeltlichkeit dieser Handlungen abzuleitenden V o r w a n d f ü r die Verschmähung derselben aus dem Wege räumen zu h e l f e n . . . " (Sten. Berichte des preuß. A H 1892, Beilagen, Nr. 84).
I I . Die Aufhebung der Stolgebühren i n Preußen
31
vom 28. Juli und 3. September 1892 (Nr. 17, Nr. 18). Ihnen standen entsprechende Gesetze für die anderen preußischen Landeskirchen zur Seite*. Die Aufhebung der Stolgebühren betraf zunächst nur die evangelische Kirche. Zwar hatte Ludwig Windthorst am 6. Juni 1890 die Ablösung eines Teils der katholischen Stolgebühren gefordert; der preußische Episkopat lehnte jedoch mit einem Schreiben vom 19. Oktober 1892 diese Ablösung ab (Nr. 19). Daraufhin teilte die preußische Regierung am 8. Januar 1894 mit, daß sie nicht bereit sei, Staatsleistungen an die katholischen Diözesen zu erbringen, die den Ablösungszahlungen an die evangelischen Landeskirchen vergleichbar wären (Nr. 20)5.
Nr. 17. Kirchengesetz für die evangelische Landeskirche der älteren preußischen Provinzen, betreffend die Aufhebung von Stolgebühren für Taufen, Trauungen und kirchliche Aufgebote v o m 28. J u l i 1892 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland 42, 1893, S. 210) — Auszug — W i r Wilhelm, von Gottes Gnaden K ö n i g von Preußen etc. verordnen, unter Zustimmung der Generalsynode, nachdem durch die E r k l ä r u n g Unseres Staatsministeriums festgestellt worden, daß gegen dieses Gesetz von Staatswegen Nichts zu erinnern, für die evangelische Landeskirche der älteren Provinzen, was folgt: § 1. Die Verpflichtung zur Entrichtung von Stolgebühren für Taufen u n d Trauungen i n ortsüblich einfachster Form, sowie f ü r Aufgebote w i r d aufgehoben. § 2. Was i n den einzelnen Gemeinden nach den bestehenden Taxsätzen als ortsüblich einfachste Form der Taufen u n d Trauungen zu gelten hat, wird, sofern sich hierüber Zweifel ergeben, durch Beschluß der vereinigten Gemeindeorgane festgestellt. Dieser Beschluß bedarf nach A n h ö r u n g des Kreissynodal-Vorstandes der Genehmigung des Provinzial-Konsistoriums § 3. Die Stellen der Geistlichen u n d übrigen Kirchenbeamten sind für den ihnen durch die i m § 1 vorgesehene Aufhebung der Gebühren entstehenden 4 F ü r die neueren preußischen Provinzen ergingen gleichzeitig folgende Gesetze: Evang.-luth. Kirche der Provinz Hannover: Kirchengesetz v o m 18. J u n i 1892 (Allg. Kirchenblatt f ü r das evang. Deutschland, 42, 1893, S. 177); Staatsgesetz v o m 20. August 1892 (Preuß. GS 1892, S. 263). Evang.-luth. Kirche der Provinz Schleswig-Holstein: Kirchengesetz v o m 9. J u l i 1892 (Preuß. GS 1892, S. 244); Staatsgesetz v o m 14. August 1892 (ebenda S. 243). 5 Vgl. hierzu A. Schmedding/J. Linnenborn, Die Erhebung von Kirchensteuern i n den katholischen Kirchengemeinden, Gemeinde verbänden u n d Diözesen (2. Aufl. 1929), S. 20.
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2. Kap.: Finanzwesen u n
Vermögensverwaltung der Kirchen
Ausfall der Einnahmen von der Kirchengemeinde durch eine Rente zu entschädigen. Diese Rente ist vierteljährlich i m Voraus zahlbar. § 4. Diejenigen geistlichen Stellen, deren Jahreseinkommen außer freier Wohnung und Stolgebühren mindestens 6 000 M a r k beträgt, sind von der Entschädigung ausgenommen. Auch die geringer dotirten Stellen erhalten die Entschädigung n u r insoweit, als das Einkommen einschließlich der E n t schädigungsrente nicht über die vorstehend angegebene Höhe h i n a u s g e h t . . . . § 6. Solchen Kirchengemeinden, i n welchen i n unmittelbarer Folge des I n krafttretens dieses Gesetzes und i n Ermangelung eines ausreichenden u n d verfügbaren Überschusses der Kirchenkasse eine Umlage ausgeschrieben oder erhöht werden muß, w i r d aus dem i m § 11 bezeichneten landeskirchlichen Fonds als Beihülfe ein Zuschuß gewährt § 9. Nach Verlauf von fünf Jahren nach Inkrafttreten dieses Gesetzes soll eine Revision bezüglich der Entschädigungsrente u n d der Beihülfe unter Berücksichtigung der inzwischen etwa eingetretenen Veränderungen und gemachten Erfahrungen erfolgen. Die näheren Bestimmungen hierüber, sowie über etwaige Wiederholungen dieser Revision bleiben kirchengesetzlicher Regelung vorbehalten §11. Behufs Gewährung der i n den §§ 6 u n d 8 vorgesehenen Zuschüsse w i r d ein landeskirchlicher Fonds gebildet, i n welchen die staatlicherseits für die Zwecke der Stolgebühren-Ablösung zu gewährende Rente fließt. Sofern die Staatsrente zur Deckung der aus diesem Fonds zu gewährenden Zuschüsse nicht hinreicht, ist der Fehlbetrag zunächst dadurch zu decken, daß die nach § 6 Absatz 2 zu gewährende Beihülfe nur denjenigen Gemeinden zu Theil w i r d , welche mehr als 5 Prozent des Einkommensteuer-Solls für die Entschädigungsrente aufzubringen haben würden. Sollte auch diese Herabminderung der Beihülfe den Fehlbetrag nicht beseitigen, so ist derselbe durch Umlage von den Kirchengemeinden der Landeskirche i n Gemäßheit der für die Umlage zum Pensionsfonds geltenden Bestimmungen aufzubringen. Die Höhe dieser Umlage ist durch den Evangelischen Ober-Kirchenr a t h unter M i t w i r k u n g des Generalsynodal-Vorstandes zu bestimmen. Etwaige Ersparnisse an der staatlicherseits zu gewährenden Rente verbleiben dem zu bildenden landeskirchlichen Fonds. Die Verwendung dieser Ersparnisse zur Erleichterung ärmerer Gemeinden bei Aufbringung der von denselben zum Zwecke der Aufhebung von Stolgebühren zu übernehmenden Entschädigungsrente bleibt bis zur kirchengesetzlichen Regelung der Bestimmung des Evangelischen Ober-Kirchenrathes unter M i t w i r k u n g des Generalsynodal-Vorstandes überlassen. §12. Die Festsetzung des Zeitpunktes, m i t welchem dieses Gesetz i n K r a f t t r i t t , bleibt Königlicher Verordnung vorbehalten®. 6
Durch Verordnung v o m 28. J u l i 1892 wurde der Zeitpunkt auf den 1. Oktober 1892 festgesetzt (Allg. Kirchenblatt 1893. S. 213).
I I . Die Aufhebung der Stolgebühren i n Preußen
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Nr. 18. Staatsgesetz, betreffend die Aufhebung von Stolgebühren für Taufen, Trauungen und kirchliche Aufgebote in der evangelischen Landeskirche der älteren preußischen Provinzen v o m 3. September 1892 (Preußische Gesetz-Sammlung 1892, S. 267) — Auszug — W i r Wilhelm, von Gottes Gnaden K ö n i g von Preußen etc. verordnen, m i t Zustimmung der beiden Häuser des Landtags der Monarchie, f ü r den Geltungsbereich des Gesetzes, betreffend die evangelische Kirchenverfassung in den acht älteren Provinzen der Monarchie, v o m 3. J u n i 18767, was folgt: Art. 1. Das anliegende Kirchengesetz f ü r die evangelische Landeskirche der älteren Provinzen, betreffend die Aufhebung von Stolgebühren f ü r Taufen, Trauungen u n d kirchliche Aufgebote, v o m 28. J u l i 18928 w i r d , soweit es eine Belastung der Kirchengemeinden zu Gemeindezwecken (§ 3) u n d soweit es die Ausschreibung einer Umlage f ü r landeskirchliche Zwecke (§11 Absatz 2) anordnet, auf Grund des A r t i k e l s 16 Absatz 3 des Gesetzes v o m 3. J u n i 1876 hierdurch bestätigt. Art. 2. Die nach § 2 Absatz 1 des Kirchengesetzes zu fassenden Beschlüsse der kirchlichen Gemeindeorgane bedürfen zu ihrer Gültigkeit nicht der Genehmigung der staatlichen Aufsichtsbehörde ( A r t i k e l 24 Nr. 4 des Gesetzes vom 3. J u n i 1876). Art. 3. Dem nach § 11 des Kirchengesetzes zu bildenden landeskirchlichen Fonds w i r d v o m 1. Oktober 1892 ab zur Gewährung von Beihülfen an K i r chengemeinden, welche die Entschädigungsrenten für aufgehobene Stolgebühren durch Umlage aufbringen müssen, Seitens des Staats eine dauernde, vierteljährlich i m Voraus zahlbare Rente i m Betrage von j ä h r l i c h 1 250 000 M a r k überwiesen
Nr. 19. Schreiben des Erzbischofs Krementz, Köln an den preußischen Kultusminister Bosse vom 19. Oktober 1892 (E.Gatz,
A k t e n der Fuldaer Bischofskonferenz, I I : 1888—1899, 1979, Nr. 637) — Auszug —
Ew. Exzellenz beehre ich mich i m Namen und Auftrage der Hochwürdigsten Herren Bischöfe Preußens bezüglich der auch für die katholischen Pfarreien i n Aussicht genommenen gesetzlichen Ablösung eines Teiles der Stolgebühren nachstehende Bedenken ganz ergebenst vorzutragen. 7 8
Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 449. Oben Nr. 17.
3 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
3 4 2 .
Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
Der Gebrauch, bei einzelnen kirchlichen Handlungen Gebühren zu entrichten, erklärt sich schon aus den Rücksichten der natürlichen Billigkeit. Z w a r verbieten die kirchlichen Gesetze unter allen Umständen, für die kirchliche Handlung selbst irgendwelchen Entgelt zu fordern oder anzunehmen. Hingegen ist es nicht n u r gestattet, sondern erscheint auch gerechtfertigt, daß derjenige, welcher die Dienste der Kirche i n Anspruch n i m m t , zu den kirchlichen Zwecken, namentlich zum Unterhalt des die betreffende H a n d l u n g vollziehenden Dieners der Kirche beitrage. Zudem wurde diese Beitragspflicht i m A l t e n wie Neuen Testamente wiederholt ausdrücklich sanktioniert. Die Priester u n d L e v i t e n des A l t e n Bundes sollten „nicht A n t e i l u n d Erbbesitz haben gleich dem übrigen Israel, w e i l sie zu essen haben von den Opfern des H e r r n u n d seinen Gaben" (5. Mose 18,1). U n d auch i m Neuen Bunde w i r d derselbe Gesichtspunkt geltend gemacht. „Wisset i h r nicht, daß die, welche i m Heiligtume beschäftigt sind, v o m Heiligtume auch essen u n d daß die, welche am A l t a r e dienen, v o m A l t a r e ihren T e i l empfangen?" (1. K o r 9,13). A u f dieser biblischen Grundlage hat sich das I n s t i t u t der Stolgebühren schon frühzeitig entwickelt Wie n u n einerseits die ersten Anfänge der Stolgebühren bis i n die christliche Urzeit zurückreichen, so fand diese E i n richtung andrerseits Verbreitung durch die ganze christliche Welt u n d muß noch gegenwärtig als eine allgemein bestehende u n d zwar lebenskräftige kirchliche Einrichtung bezeichnet werden. Daher könnte die Aufhebung oder Einschränkung dieser dem Gebiete des allgemeinen Kirchenrechts angehörenden Einrichtung schon i n rechtlicher Hinsicht Bedenken erregen, da die Abänderung des ius commune 9 der Kompetenz der Bischöfe entzogen ist. Zudem dürfte auch katholischerseits ein Bedürfnis, diese durch i h r hohes A l t e r wie durch ihre allgemeine Verbreitung bewährte Einrichtung selbst n u r teilweise zu beseitigen, nicht vorliegen Da die behufs Ablösung der Stolgebühren für die evangelische Kirche bewilligten Summen . . . nicht seitens der evangelischen Konfessionsgenossen, zu deren Gunsten sie bestimmt sind, aufgebracht, sondern aus der Staatskasse, zu der auch die K a t h o l i k e n i n gleicher Weise beitragen, entnommen werden sollen, so ist es eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit, daß diesen eine Entschädigung zuteil werde. . . . , zumal es nicht an Gebieten mangelt, auf denen eine Zuwendung schon an sich höchst gerechtfertigt erscheinen würde Ew. Exzellenz beehre ich mich, i m Namen des Episkopates Preußens die vorstehenden Erwägungen ganz ergebenst zu unterbreiten, und ich darf w o h l zugleich m i t meinen Herren Amtsbrüdern das zuversichtliche Vertrauen hegen, Hochdieselben werden den vorgetragenen Gründen eine geneigte Würdigung angedeihen lassen, w i e auch den K a t h o l i k e n Preußens zum E r satz f ü r die den evangelischen Konfessionsgenossen aus der Staatskasse bew i l l i g t e n Ablösungssummen eine entsprechende Entschädigung auf anderen Gebieten gütigst erwirken. 9 „Jus commune": zum ius particulate.
das allgemeine Recht der Gesamt-Kirche; i m Unterschied
I I . Die Aufhebung der Stolgebühren i n Preußen
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Nr. 20. Schreiben der Minister Miquel und Bosse1· an den Erzbischof Krementz, Köln v o m 8. Januar 1894 (E. Gatz, A k t e n der Fuldaer Bischofskonferenz, I I : 1888—1899, 1979, Nr. 658) Ew. Eminenz haben i n dem geehrten, an den mitunterzeichneten Minister der geistlichen Angelegenheiten gerichteten Schreiben v o m 19. Oktober 1892 den Bedenken Ausdruck gegeben, welchen die für die katholischen Kirchengemeinden beabsichtigte teilweise Ablösung der Stolgebühren bei den H e r ren Diözesanbischöfen begegnet ist. Wenn dabei das Bedürfnis nach einer Aufhebung der Stolgebühren für die katholischen Gemeinden i n Abrede gestellt w i r d , so wurde diese A n schauung ursprünglich auch von der Königlichen Staatsregierung geteilt. Der geringe Umfang, i n welchem der zur Entschädigung der Geistlichen u n d Kirchenbeamten für den Ausfall an Stolgebühren aufgrund des Zivilstandsgesetzes bestimmte Staatsfonds katholischerseits i n Anspruch genommen ist, ließ erkennen, daß i n den katholischen Gemeinden dieses Gesetz auf die Nachsuchung der kirchlichen A k t e keinen ungünstigen Einfluß geübt hat. H i e r m i t entfällt aber ein wesentlicher Anlaß, welcher zur Aufhebung der Stolgebühren i n den evangelischen Gemeinden führte. Unter diesen Umständen hätte die Königliche Staatsregierung ungeachtet ihres grundsätzlichen Bestrebens, eine auf strenger Gerechtigkeit beruhende Parität zu üben, davon Abstand nehmen können, den Herren Bischöfen die gleiche Maßregel für die katholische Kirche vorzuschlagen, w e n n nicht das Haus der Abgeordneten am 6. J u n i 1890 auf A n t r a g des verewigten Abgeordneten Dr. Windthorst die Ausdehnung derselben auf die katholische Kirche angeregt und demnächst wiederholt verlangt hätte. N u r i n der dadurch entstandenen Annahme, daß trotz jener Erfahrung ein Bedürfnis nach Aufhebung der Gebühren für die katholischen Gemeinden tatsächlich obwalte, ist die K ö n i g liche Staatsregierung dazu gelangt, die Beihülfe des Staates zu der Maßregel anzubieten. W i r d diese Voraussetzung durch die berufenen Vertreter der katholischen Kirche selbst verneint, so ist die Königliche Staatsregierung nicht i n der Lage, dieses Anerbieten aufrecht zu erhalten. Ebensowenig v e r mag sie aber alsdann der katholischen Kirche ein Äquivalent für den der evangelischen Kirche zur Stolgebührenaufhebung zugewendeten Staatszuschuß auf anderem Gebiet zu gewähren. Für eine derartige Kompensation läßt sich der Gesichtspunkt der Parität nicht geltend machen. Die Königliche Staatsregierung hat daher wegen der von den Herren Bischöfen zu dieser Frage eingenommenen ablehnenden Stellung davon A b stand nehmen müssen, die f ü r die Stolgebührenablösung i n der katholischen Kirche i n Aussicht genommene Summe i n den Staatshaushaltsetat einzustellen und m i t den Herren Bischöfen über die bereits fertiggestellten V o r schläge und Gesetzentwürfe zur alsbaldigen Durchführung jener Ablösung in Verhandlungen einzutreten. 10 Johannes Miquel, preuß. Finanzminister; Robert Bosse, preuß. K u l t u s minister; siehe Staat und Kirche, Bd. I I , S. 76, A n m . 13 u n d unten S. 136, Anm. 6.
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2. Kap.: Finanzwesen u n
Vermögensverwaltung der Kirchen
I I I . D i e Kirchensteuergesetze i m K ö n i g r e i c h P r e u ß e n (1903—1906) Das moderne System der Kirchensteuer als einer kircheneigenen Finanzierung squelle ist während des 19. Jahrhunderts in einem allmählichen Prozeß entstanden 1. Im Bereich der evangelischen Kirchen gab es dafür vor allem zwei Anknüpfungspunkte. Erstens bestanden Regelungen über die kirchliche Baulast, nach denen die Kirchengemeinden befugt waren, Kosten für kirchliche Bauten auf die ortsansässigen Gemeindeglieder umzulegen. Das Allgemeine Landrecht verlieh ihnen ausdrücklich die staatsgesetzliche Anerkennung 2. Zweitens war es seit dem Reformationsjahrhundert im Grundsatz die Pflicht der Gemeinden, für den Unterhalt der Geistlichen zu sorgen; diese Unterhaltsleistungen wurden schon früh als „Beisteuer" oder „Steuer" bezeichnet 3. Der Übergang zum modernen Kirchensteuersystem vollzog sich gleitend. In Preußen schuf das Allgemeine Landrecht mit der Anerkennung der Kirchengemeinden als öffentlich-rechtlicher Korporationen die Grundlage für ein umfassendes Umlagenrecht; jedoch richtete es noch kein geordnetes Vertretungsorgan der Kirchengemeinden ein, das die Voraussetzung einer selbständigen kirchlichen Vermögensverwaltung war. Erst die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835 führte für die westlichen Landesteile Preußens solche Kirchengemeindevertretungen ein 4. Die Kirchenverfassungsgesetze der Jahre 1873 und 1876 vollzogen diesen Schritt auch für die übrigen älteren Provinzen der Monarchie 5. Die Kirchengemeindeordnung von 1873 (§31) erkannte den Kirchengemeinden das Besteuerungsrecht zu; die Generalsynodalordnung von 1876 regelte das Besteuerungsrecht der größeren kirchlichen Verbände 6. In der Folgezeit entwickelten vielfältige einzelne Entscheidungen und Kodifikationen das Kirchensteuerrecht weiter; unter ihnen hatte die Einführung einer landeskirchlichen Umlage im Jahr 1898 besonderes Gewicht (Nr. 21). Erst in den Jahren 1903 bis 1906 kam es zu einer umfassenden gesetzlichen Regelung, deren wichtigste Bestandteile im Folgenden wiedergegeben sind (Nr. 22 - 31). Die Verzögerung ergab sich daraus, daß die katholische Kirche infolge der Kulturkampfgesetzgebung der Einführung der Kirchensteuer lange hinhaltenden Widerstand entgegensetzte. Erst nachdem sie sich dem System der Kirchensteuer angeschlossen hatte, war eine umfassende Gesetzgebung möglich, die notwendigerweise die bei1
Vgl. vor allem F. Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht (1910), S. 10 ff. A L R T e i l I I , T i t e l 11, § 110 (Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 1). 3 So i n der klevischen u n d märkischen reformierten Kirchenordnung von 1662 § 41 („Beisteuer") und der i h r folgenden klevischen u n d märkischen evangelisch-lutherischen Kirchenordnung von 1687, §79 („Steuer"). Texte: Snethlage, Die älteren Presbyterial-Kirchenordnungen der Länder Jülich, Berg, Kleve u n d M a r k (1837), S. 83 ff., 119 ff. 4 Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 267. 5 Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 444 - 451. 6 Vgl. dazu J. Niedner, Die Ausgaben des preußischen Staats für die evangelischen Landeskirchen der älteren Provinzen (1904), S. 219 ff. 2
I I I . Die Kirchensteuergesetze i m Königreich Preußen (1903 bis 1906)
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den großen Kirchen betreffen mußte. Damit vollzog sich in Preußen relativ spät, was in anderen deutschen Ländern erheblich früher in Gang gekommen war 7. Wie in den anderen Ländern führte auch in Preußen die Entwicklung der Kirchensteuer zur Erweiterung der eigenständigen kirchlichen Finanzierungsquellen und insoweit zu einer Erweiterung der kirchlichen Autonomie. Doch durften die Kirchen die Kirchensteuer nur als subsidiäre Einnahmequelle für unmittelbare kirchliche Bedürfnisse, für die keine anderen Finanzierungsmöglichkeiten bestanden, in Anspruch nehmen. Die evangelischen Kirchen blieben auch weiterhin von staatlichen „Bedürfniszuschüssen" abhängig. Der kirchlichen Forderung, auch für den evangelischen Bereich — dem katholischen Vorbild folgend — diese staatlichen Zuschüsse in „Dotationen" umzuwandeln und sie dadurch in die kirchliche Verwaltung zu überführen 8, gab der preußische Staat unter Berufung auf die besondere Beziehung, die zwischen ihm und den evangelischen Landeskirchen bestehe, nicht statt 9. Die Ausbildung des Kirchensteuersystems förderte auf der einen Seite die kirchliche Eigenständigkeit; sie verstärkte auf der anderen Seite aber auch die staatlichen Mitwirkungsund Aufsichtsmöglichkeiten. In Anknüpfung an die Kulturkampfgesetzgebung schuf das Gesetz vom 29. Mai 1903 (Nr. 22) für die katholische Kirche die Möglichkeit, mehrere Gemeinden zu Gesamtverbänden zusammenzufassen; diese waren dann die Träger der örtlichen Vermögensverwaltung. Gleichzeitig erhielten auf Antrag des preußischen Episkopats die Diözesen ein unmittelbares Steuerrecht; sie konnten eine Umlage für neu zu errichtende Pfarrgemeinden erheben (Nr. 23). Das Gesetz vom 14. Juli 1905 (Nr. 26), das die Regierung vor seiner Verabschiedung dem preußischen Episkopat zur Stellungnahme vorgelegt hatte, regelte das Kirchensteuerrecht der katholischen Kirchengemeinden und Gesamtverbände 7 Z u den frühesten deutschen Kirchensteuergesetzen vgl. Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 46, A n m . 5 ff. 8 So heißt es schon i n einer Denkschrift des Evangelischen Oberkirchenrats f ü r die beratende Generalsynode von 1875: „Es ist längst als das von der Kirche anzustrebende Z i e l e r k a n n t . . . , daß hierüber (sc. über die Staatsfonds) eine Auseinandersetzung herbeigeführt und der evangelischen Kirche eine Staatsdotation . . . e r w i r k t w i r d . Dieses Ziel bleibt kirchlicherseits m i t aller Entschiedenheit zu verfolgen. Daß indessen hierauf gegenwärtig die außerordentliche Generalsynode eingeht, erscheint theils m i t Rücksicht auf i h r beschränktes Mandat, theils deshalb nicht angänglich, w e i l die Auseinandersetzung des Staats u n d der Kirche f ü r das Rechtsgebiet u n d die Ausgestaltung der kirchlichen Verfassung noch i m Fluß i s t . . ( V e r h . d. außerord. Generalsynode, 1875, S. 791 ff., 800). 9 So sagte der preußische Kultusminister v. Goßler i n den Etatberatungen 1888/89: „Es ist Wert darauf gelegt worden, daß der preußische Staat gebunden sei, nicht den Weg der Bedürfniszuschüsse, sondern den Weg der Dotation zu beschreiten, dieser Auffassung ist die heutige Staatsregierung n i c h t . . Bei dem innigen Verwachsensein zwischen der evangelischen Landeskirche u n d dem Staat ist es ganz unmöglich, daß m a n den Staat bloß als eine Zahlungsstelle betrachte, w o m a n etwa eine Rente, w i e sie auf einem Legat beruht, i n Empfang zu nehmen hat . . . Z u einer Dotation w i r d die Staatsregierung nicht die Hand bieten" (Sten. Berichte über die Verh. d. preuß. A H 1888/89, S. 853 ff.).
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
umfassend; das Gesetz vom 21. März 1906 (Nr. 27) erweiterte die Kirchensteuerbefugnisse der Diözesen 10. Die Verordnung über die Wahrnehmung der staatlichen Aufsichtsrechte bildete den Abschluß dieser Kodifikation (Nr. 31). Das Nebeneinander mehrerer evangelischer Landeskirchen auf preußischem Boden machte den Gesetzgebungsvorgang für den evangelischen Bereich erheblich komplizierter. Den Ausgangspunkt dieser in einer Auswahl wieder gegebenen Gesetzgebung bildete das Kirchengesetz über die Ortskirchensteuer für die evangelische Landeskirche der älteren Provinzen vom 26. Mai 1905 (Nr. 24) und das ihm entsprechende Staatsgesetz vom 14. Juli 1905 (Nr. 25). Im Wortlaut oder jedenfalls in der Sache übereinstimmende Gesetze entstanden für die neueren preußischen Provinzen. Sie sind zusammenfassend aufgezählt in den die kirchlichen Steuergesetze und die entsprechenden Staatsgesetze in Kraft setzenden Königlichen Verordnungen (Nr. 28, Nr. 29). Eine weitere Verordnung regelte die Wahrnehmung der staatlichen Aufsichtsrechte gegenüber den evangelischen Landeskirchen (Nr. 30). Diese vom 23. März 1906 datierten Verordnungen ergingen auf der einen Seite in Wahrnehmung des landesherrlichen Summepiskopats, auf der anderen Seite in Ausübung der königlichen Re gierung sgew alt 11.
Nr. 21. Kirchengesetz, betreffend die Bildung eines landeskirchlichen Hilfsfonds v o m 16. August 1898 (Kirchl. Gesetz- u n d Verordnungsblatt, 1898, S. 144) § 1. Z u r B i l d u n g eines Hülfsfonds für landeskirchliche Zwecke w i r d a l l jährlich eine Umlage von Einem Prozent der von den Mitgliedern der evangelischen Landeskirche i n den älteren Landestheilen der Monarchie zu zahlenden Staatseinkommensteuer erhoben. § 2. Dieser Hülfsfonds ist zu verwenden : 1. zur Gewährung einmaliger u n d fortlaufender Beihülfen behufs Dotirung neuer geistlicher Stellen, 2. zur Gewährung einmaliger u n d fortlaufender Beihülfen behufs n o t wendiger Neu-, Erweiterungs- u n d Umbauten von Kirchen oder Pfarrhäusern, 10 Vgl. F. Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht (1910), S. 114 ff.; G. Kühling, Die V e r w a l t u n g des Kirchenvermögens m i t besonderer Berücksichtigung des f ü r die Erzdiözese K ö l n geltenden kirchlichen und staatlichen Rechtes (1908); L. Groner/D. Zorn, Das Besteuerungsrecht der katholischen Kirchengemeinden, Gemeindeverbände u n d Diözesen i n Preußen (1929); A. Schmedding/ J. Linneborn, Die Erhebung von Kirchensteuern i n den katholischen Kirchengemeinden, Gesamtverbänden u n d Diözesen (1929). 11 Vgl. P. Schoent Das evangelische Kirchenrecht i n Preußen, Bd. 2 (1910, Nachdruck 1967), S. 568 ff.
I I I . Die Kirchensteuergesetze i m Königreich Preußen (1903 bis 1906)
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3. zur Deckung von Ausgaben, welche zur Durchführung des Gesetzes v o m 15. August 1898, betreffend die Anstellungsfähigkeit u n d Vorbildung der Geistlichen 1 2 , Seitens der Landeskirche zu bestreiten sind. § 3. Die zu den obigen Zwecken i n einem Rechnungsjahre nicht verausgabten Beträge können zur Gewährung allmählich zu tilgender Darlehne f ü r die i n § 2 zu 1 u n d 2 bezeichneten Einrichtungen an Gemeinden gegeben werden. §4. Beihülfen u n d allmählich zu tilgende Darlehne m i t aufgeschobener oder unter den gängigen Zinsfuß herabgesetzter Zinsverpflichtung dürfen n u r an solche Gemeinden gewährt werden, deren Bedürftigkeit nachgewiesen ist, u n d die bereits durch Umlage zur Bestreitung kirchlicher Bedürfnisse erheblich belastet sind. §5. Die V e r w a l t u n g des Fonds erfolgt durch den Evangelischen OberKirchenrath nach einem von demselben unter Betheiligung des Generalsynodal-Vorstandes festzustellenden Regulativ u n d dem i n gleicher Weise jährlich festzustellenden Etat. §6. Der Evangelische Ober-Kirchenrath w i r d m i t Ausführung des Gesetzes beauftragt 1 3 .
Nr. 22. Staatsgesetz, betreffend die Bildung von Gesamtverbänden in der katholischen Kirche v o m 29. M a i 1903 (Preußische Gesetz-Sammlung, 1903, S. 179) — Auszug — §1. I n Ortschaften, welche mehrere unter einem gemeinsamen Pfarramte nicht verbundene Kirchengemeinden umfassen, können die i m § 6 dieses Gesetzes bezeichneten Rechte u n d Pflichten ganz oder teilweise einem Gesamtverband übertragen werden, welcher aus sämtlichen oder einigen Kirchengemeinden der betreffenden Ortschaft, geeignetenfalls unter Einbeziehung angrenzender Kirchengemeinden, gebildet w i r d . Einem auf G r u n d dieses Gesetzes gebildeten Verbände können weitere Kirchengemeinden derselben Ortschaft oder angrenzende angeschlossen w e r den. § 2. Die B i l d u n g eines Gesamtverbandes u n d die Feststellung der i h m nach § 6 zu übertragenden Rechte u n d Pflichten erfolgt auf Anordnung der bischöflichen Behörde u n d bedarf der Zustimmung der beteiligten Kirchen12
Kirchl. Gesetz- u n d Verordnungsblatt, 1898, S. 137. Der allerhöchste Erlaß v o m 22. A p r i l 1907 (KGVB1. 1907, S. 1) erhöhte den Hilfsfonds m i t W i r k u n g v o m 1. A p r i l 1907 u m jährlich V* % der von den Mitgliedern der evangelischen Landeskirche der älteren preußischen P r o v i n zen zu zahlenden Staatseinkommenssteuer. Z u r weiteren E n t w i c k l u n g unten Nr. 34. 13
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
gemeinden. Die verweigerte Zustimmung von beteiligten Kirchengemeinden k a n n durch Beschluß der bischöflichen Behörde ergänzt werden, falls die Seelenzahl der zustimmenden Gemeinden wenigstens die Hälfte der Gesamtseelenzahl des zu bildenden Gesamtverbandes beträgt. Die gleichen Bestimmungen gelten für den Anschluß an einen bestehenden Verband m i t der Maßgabe, daß derselbe die Zustimmung der Vertretung des Gesamtverbandes u n d der anzuschließenden Gemeinden erfordert u n d die Zustimmung durch Beschluß der bischöflichen Behörde ergänzt werden kann, falls die Seelenzahl des Gesamtverbandes und der etwa zustimmenden Gemeinden wenigstens die Hälfte der Gesamtseelenzahl des weiteren Gesamtverbandes beträgt. §3. (1) Die dem Gesamtverbande übertragenen Befugnisse u n d Verpflichtungen werden von einer besonderen Verbandsvertretung wahrgenommen, welche besteht: a) aus den Vorsitzenden der Kirchenvorstände u n d b) aus den Vorsitzenden der Gemeindevertretungen der beteiligten K i r chengemeinden, c) aus je einem, f ü r jede beteiligte Kirchengemeinde durch den Kirchenvorstand u n d die Gemeindevertretung i n gemeinschaftlicher Sitzung für die Dauer seines Hauptamts zu wählenden Mitgliede des Kirchenvorstandes oder der Gemeindevertretung . . . 1 4 . (5) Den Vorsitz f ü h r t i n B e r l i n der Probst von St. Hedwig, i m übrigen der Dechant (Erzpriester) u n d sofern dieser dem Verbände nicht angehört, der dienstälteste Pfarrer. (6) Die Verbandsvertretung w ä h l t aus ihrer M i t t e einen stellvertretenden Vorsitzenden. § 4. E i n Ausschuß der Verbandsvertretung v e r t r i t t den Gesamtverband i n vermögensrechtlicher Beziehung, i n streitigen wie i n nichtstreitigen Rechtssachen, nach außen u n d verwaltet dessen Vermögen nach Maßgabe der Beschlüsse der Verbandsvertretung . . . §5. Die näheren Bestimmungen über die Einrichtung u n d Geschäftsführung der Verbandsvertretung und ihres Ausschusses werden von der bischöflichen Behörde i n jedem einzelnen Falle festgesetzt. § 6. Dem Gesamtverbande können übertragen werden : 1. die Befugnis, über Einführung, Veränderung u n d Aufhebung meiner Gebühren für die Verbandsgemeinden Beschluß zu fassen;
allge-
2. die Aufgabe, unbeschadet der Rechte und Pflichten der Aufsichtsbehörden u n d der einzelnen Kirchengemeinden, neue Parochialbildungen inner14 Vgl. das preußische Gesetz über die Vermögensverwaltung i n den katholischen Kirchengemeinden v o m 20. J u n i 1875 (Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 313).
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halb der Verbandsgemeinden u n d eine ausreichende Ausstattung der V e r bandsgemeinden m i t äußeren kirchlichen Einrichtungen, insbesondere Seelsorgerstellen, kirchlichen Gebäuden u n d dergleichen zu fördern; 3. die Verpflichtung, den einzelnen Kirchengemeinden diejenigen M i t t e l zu gewähren, welche sie zur E r f ü l l u n g der ihnen obliegenden gesetzlichen Leistungen bedürfen u n d i n Ermangelung zulänglichen Kirchenvermögens und dritter Verpflichteter (Gemeinden, Patrone usw.) sich nicht ohne Umlage verschaffen können; 4. die Befugnis, Hechte, namentlich auch an Grundstücken, zu erwerben, Verbindlichkeiten einzugehen, zu klagen u n d verklagt zu werden und zur Erwerbung von Grundstücken sowie zur Errichtung neuer kirchlicher Gebäude und Einrichtung von Begräbnisplätzen Anleihen aufzunehmen; 5. die Befugnis, die Mittel, welche der Verband zur E r f ü l l u n g seiner A u f gaben bedarf, soweit nicht andere Einnahmen zu Gebote stehen, sich durch Umlage zu beschaffen. I n diesem Falle werden die Umlagen unmittelbar auf die Gemeindemitglieder sämtlicher Kirchengemeinden verteilt und müssen gleichzeitig i n allen Gemeinden des Verbandes nach gleichem Maßstab erhoben werden. Für den Verteilungsmaßstab gilt die Vorschrift i n § 21 Nr. 8 des Gesetzes vom 20. J u n i 1875. § 7. Die Anordnung der bischöflichen Behörde über die B i l d u n g eines Gesamtverbandes und die Feststellung der i h m zu übertragenden Rechte und Pflichten (§§ 2, 6) sowie der Erlaß von Regulativen (§ 5) bedürfen der Genehmigung der Staatsbehörde.
Nr. 23. Staatsgesetz, betreffend die Bildung kirchlicher Hilfsfonds für neu zu errichtende katholische Pfarrgemeinden v o m 29. M a i 1903 (Preußische Gesetz-Sammlung, 1903, S. 182) — Auszug — Art. 1. Behufs Gewährung von Beihilfen an neu zu errichtende leistungsunfähige katholische Pfarrgemeinden, welche zur A u f b r i n g u n g von Z u schüssen zur Erreichung des Mindest-Stelleneinkommens oder von Altersoder Ortszulagen für die neu zu errichtende Pfarrstelle Umlagen ausschreiben müssen, sowie zur Gewährung von Beihilfen zu U m - , Erweiterungs- u n d Neubauten von Kirchen, Pfarr- und Küsterhäusern, k a n n die bischöfliche Behörde einen Diözesanhilfsfonds bilden, f ü r welchen alljährlich eine Umlage bis zu einem Prozent der von den katholischen Gemeindegliedern zu zahlenden Staatseinkommensteuer erhoben werden darf. Aus einem Diözesanhilfsfonds können Beihilfen zu den i m Abs. 1 bezeichneten Zwecken auch an Diözesanhilfsfonds anderer preußischer Diözesen bewilligt werden.
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
Art. 2. Die bischöfliche Behörde verwaltet den Diözesanhilfsfonds, beschließt über die Erhebung der Umlage innerhalb der zulässigen Grenze u n d verteilt die Umlage durch eine M a t r i k e l auf die katholischen Kirchengemeinden der Diözese. Art. 4. Die Aufsicht des Staates über die Verwaltung der Diözesanhilfsfonds w i r d nach Maßgabe des Gesetzes über die Aufsichtsrechte des Staates bei der Vermögensverwaltung i n den katholischen Diözesen v o m 7. J u n i 1876 — Gesetz-Samml. S. 149 — ausgeübt 1 5 ...
Nr. 24. Kirchengesetz, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern in den Kirchengemeinden und Parochialverbänden der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen der Monarchie v o m 26. M a i 1905 (Kirchliches Gesetz- u n d Verordnungsblatt, 1905, S. 31) — Auszug — I. Besteuerungsrecht
der
Kirchengemeinden
§ 1. Die Kirchengemeinden sind berechtigt, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse Steuern zu erheben. V o n dieser Befugnis ist n u r Gebrauch zu machen, soweit die sonstigen verfügbaren Einnahmen zur Befriedigung der Bedürfnisse nicht ausreichen, insbesondere soweit die erforderlichen Geldm i t t e l u n d Leistungen nicht nach bestehendem Recht aus dem Kirchenvermögen entnommen werden können, oder v o m Patron oder von sonst speziell Verpflichteten gewährt werden. Die Steuerbeschlüsse der Kirchengemeinden bedürfen der Genehmigung. II. Steuerpflicht § 2. Kirchensteuerpflichtig sind alle Evangelischen, welche der Kirchengemeinde durch ihren Wohnsitz angehören. § 3. Die Steuerpflicht beginnt m i t dem ersten Tage des auf die Begründung des Wohnsitzes (§ 2) folgenden Monats. Sie erlischt, unbeschadet der V o r schrift des §3 des Staatsgesetzes, betreffend den A u s t r i t t aus der Kirche, v o m 14. M a i 1873 (G.-S. S. 207) 1β a) durch den Tod des Steuerpflichtigen m i t dem Ablaufe des Monats, i n welchem der Tod erfolgt ist, b) durch das Aufgeben des Wohnsitzes (§ 2) m i t dem Ablaufe des Monats, i n welchem der Wohnsitz tatsächlich aufgegeben worden ist, sofern jedoch bis zu diesem Zeitpunkte der Kirchengemeinde hiervon keine Anzeige erstattet worden ist, erst m i t dem Ablaufe des folgenden Monats. 15 16
Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 316. Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 285.
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§ 4. Bei der Heranziehung von Personen m i t mehrfachem Wohnsitze innerhalb oder innerhalb u n d außerhalb der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen verbleibt derjenige T e i l des Gesamteinkommens, welcher aus Grundvermögen, Handels- oder gewerblichen Anlagen einschließlich Bergwerken, aus Handel u n d Gewerbe einschließlich des Bergbaues, sowie aus der Beteiligung an den Unternehmen einer Gesellschaft m i t beschränkter Haftung fließt, der Kirchengemeinde, i n deren Bezirk das Grundvermögen oder der Betrieb belegen ist. Beträgt jedoch dieser T e i l mehr als drei V i e r teile des Gesamteinkommens des Steuerpflichtigen, so ist diejenige Kirchengemeinde, i n welcher das steuerpflichtige Einkommen weniger als ein V i e r teil des Gesamteinkommens beträgt, berechtigt, ein volles V i e r t e i l des Gesamteinkommens für sich zur Besteuerung i n Anspruch zu nehmen. Steht dieser Anspruch mehreren Kirchengemeinden zu, so ist das V i e r t e i l nach der Zahl dieser Gemeinden zu verteilen. I m übrigen dürfen Personen m i t mehrfachem Wohnsitz innerhalb der evangelischen Landeskirchen Preußens i n jeder Kirchengemeinde i m Geltungsbereich dieses Gesetzes n u r m i t dem der Z a h l aller Gemeinden entsprechenden Bruchteil ihres Einkommens herangezogen werden . . . § 5. Der evangelische T e i l einer gemischten Ehe ist von der Hälfte des der kirchlichen Besteuerung zu Grunde liegenden Steuersatzes (§ 9), zu welchem der Ehemann veranlagt ist, zur Kirchensteuer heranzuziehen 17 . Soweit die Ehefrau zu den Staatssteuern selbständig veranlagt w i r d , ist der evangelische Teil nach Maßgabe seiner Veranlagung zur Kirchensteuer heranzuziehen. § 6. Insoweit der Patron oder ein sonst speziell Verpflichteter als solcher nach bestehendem Rechte f ü r einzelne kirchliche Bedürfnisse nach besonderen Grundsätzen beizutragen hat, ist er als Gemeindeglied f ü r diese Bedürfnisse i n demselben Umfange wie bisher von der Kirchensteuer freizulassen. § 7. Die zur Zeit des Inkrafttretens dieses Kirchengesetzes bestehenden gesetzlichen Befreiungen von der Staatseinkommensteuer oder den staatlich veranlagten Steuern haben die entsprechende Befreiung von der Kirchensteuer zur Folge. Von der Kirchensteuer sind ferner befreit die Geistlichen u n d Kirchenbeamten hinsichtlich ihres Diensteinkommens u n d ihres Ruhegehalts, bei dauernder Verbindung des Kirchenamts m i t einem anderen A m t e hinsichtlich ihrer gesamten Dienstbezüge, ferner ihre hinterbliebenen W i t w e n u n d W a i sen hinsichtlich ihrer aus dem P f a r r - W i t w e n - u n d Waisenfonds zahlbaren Pensionen u n d derjenigen dauernden Bezüge, welche ihnen m i t Rücksicht auf das kirchliche A m t des Verstorbenen aus anderen als privatrechtlichen T i t e l n zustehen, sowie hinsichtlich der Bezüge der Sterbe- u n d Gnadenzeit. § 8. A u f speziellen Rechtstiteln beruhende Verpflichtungen zur Leistung von Kirchensteuern oder Befreiungen von solchen bleiben unberührt. 17 D a m i t wurde f ü r diesen F a l l der später so umstrittene „Halbteilungsgrundsatz" festgestellt.
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen III.
Umlegung der Kirchensteuer a) Verteilungsmaßstab
§ 9. Die Kirchensteuern sind f ü r das Rechnungsjahr umzulegen. Als Maßstab der Umlegung dient die Staatseinkommensteuer, erforderlichenfalls einschließlich der staatlich veranlagten fingierten Normalsteuersätze, und, sofern daneben eine Heranziehung der Realsteuern erfolgen soll, die staatlich veranlagte Grund-, Gebäude- u n d Gewerbesteuer. Die Ergänzungssteuer, die Steuer v o m Gewerbebetrieb i m Umherziehen, sowie die Betriebssteuer u n d die Warenhaussteuer sind bei der Umlegung der Kirchensteuern nicht heranzuziehen. §10. Die Heranziehung der Staatseinkommensteuer hat m i t den aus §§ 2 u n d 4 sich ergebenden Maßgaben i m vollen Umfange stattzufinden. Die Heranziehung der staatlich veranlagten Grund-, Gebäude- u n d Gewerbesteuern ist n u r insoweit zulässig, als diese Steuern f ü r Grundbesitz bzw. Betriebe veranlagt sind, welche i n der Kirchengemeinde belegen sind. Die Realsteuern dürfen nicht m i t einem höheren Prozentsatze herangezogen werden als die Staatseinkommensteuer. Wie die vollständige Freilassung der Realsteuern, ist auch eine geringere Heranziehung aller oder einzelner dieser Steuern zulässig. b) Grundsätze über die Erhebung der Kirchensteuer §11. Die Kirchensteuern sind auf alle der Besteuerung unterworfenen Pflichtigen nach festen u n d gleichmäßigen Grundsätzen zu verteilen. Die Erhebung erfolgt i n der Form von Zuschlägen. Die Zuschläge zu den einzelnen, der Veranlagung zugrunde gelegten Staatssteuern müssen gleichmäßige sein. Eine Minderbelastung oder Freilassung der fingierten Normalsteuersätze und der sechs untersten Stufen der Staatseinkommensteuer ist nicht ausgeschlossen. Steuerpflichtige, welche i m Wege der öffentlichen Armenpflege fortlaufende Unterstützung erhalten, sind zur Kirchensteuer nicht heranzuziehen. §12. Handelt es sich u m Einrichtungen oder Aufwendungen, welche i n besonders hervorragendem Maße einem Teile der Kirchengemeinde zu gute kommen, so k a n n die Kirchengemeinde f ü r einen bestimmten Zeitraum eine entsprechende besondere Belastung dieses Teiles beschließen. Bei Abmessung der Sonderbelastung ist namentlich der zur Herstellung u n d Unterhaltung der Einrichtung erforderliche Bedarf nach Abzug eines etwaigen Ertrages i n Betracht zu ziehen.
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§13. I n denjenigen Fällen, i n welchen die staatlich veranlagte Steuer nicht die unveränderte Grundlage der Steuerzuschläge bildet, ist der dem Zuschlage zugrunde zu legende Steuersatz von der kirchlichen Veranlagungsbehörde (§ 16) nach den für die staatliche Veranlagung geltenden Grundsätzen zu ermitteln . . . c) Besondere Vereinbarungen §14. Den Kirchengemeinden sind Vereinbarungen m i t steuerpflichtigen M i t gliedern gestattet, wonach von fabrikmäßigen Betrieben u n d v o n Bergwerken an Stelle der Kirchensteuer i n F o r m von Zuschlägen zur Staatseinkommensteuer u n d zur Gewerbesteuer ein f ü r ein oder mehrere Jahre i m voraus zu bestimmender fester jährlicher Steuerbeitrag zu entrichten ist. §15. Bei Veränderung v o n Pfarrbezirken sowie zum Ausgleich f ü r erhebliche Aufwendungen zugunsten einer Kirchengemeinde k a n n f ü r eine bestimmte Z a h l von Jahren die Freilassung oder verminderte Heranziehung einzelner Steuerpflichtiger beschlossen werden. Die Beschlüsse i n den §§14 und 15 bedürfen der Genehmigung. IV. Verfahren a) Ausschreibung §16. Die Veranlagung erfolgt f ü r jedes Rechnungsjahr durch den GemeindeKirchenrat (Presbyterium — Kirchenkollegium). Das Rechnungsjahr beginnt m i t dem 1. A p r i l u n d schließt m i t dem 31. März. Der Beschlußfassung der kirchlichen Organe bleibt überlassen, an Stelle des Rechnungsjahres eine Periode von zwei oder drei Rechnungsjahren treten zu lassen. §18. Die Erhebung der Kirchensteuern ist durch eine i n ortsüblicher Weise zu bewirkende Veröffentlichung der zu erhebenden Prozentsätze bekannt zu machen. Die Aufsichtsbehörde ist befugt, die Bekanntmachung des Steuersatzes an die Steuerpflichtigen durch besondere verschlossene M i t t e i l u n g anzuordnen. Bei Zugängen i m Laufe des Jahres, sowie i n denjenigen Fällen, i n welchen die staatlich veranlagte Steuer nicht die unveränderte Grundlage der Steuerzuschläge bildet, bedarf es stets besonderer verschlossener Mitteilung. Nach erfolgter Bekanntmachung ist die Steuer i n den ersten acht Tagen eines jeden Kalendervierteljahres zu entrichten. A n Stelle des Vierteljahres k a n n durch Beschluß der kirchlichen Veranlagungsbehörde (§ 16) eine halbjährliche und, falls nicht mehr als 20 °/o der Staatseinkommensteuer zu erheben sind, eine jährliche Hebeperiode eingeführt werden. Auch k a n n festgestellt werden, daß die Hebung gleichzeitig
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
m i t der Einziehung der Staats- u n d Kommunalsteuern an einem oder mehreren Einziehungsterminen erfolge. W i r d i m Laufe des Rechnungsjahres eine außerordentliche Umlage notwendig, so ist über die Termine der Einziehung i n dem Steuerbeschlusse Bestimmung zu treffen. Die Einziehung selbst findet auf Grund einer vorher ergangenen oder spätestens gleichzeitig erfolgenden Zahlungsaufforderung statt, die, w e n n sie schriftlich geschieht, verschlossen sein muß. b) Rechtsmittel §19. Den zur Kirchensteuer Herangezogenen steht gegen die Heranziehung bzw. Veranlagung Einspruch zu . . . §20. Über den Einspruch beschließt der Gemeinde-Kirchenrat (Presbyterium, Kirchenkollegium) vorbehaltlich weiterer durch Staatsgesetz zu bestimmender Rechtsmittel. Durch Erhebung des Einspruchs w i r d die Verpflichtung zur Zahlung nicht aufgehoben. §21. I m Falle der Heranziehung zur Kirchensteuer seitens mehrerer Kirchengemeinden k a n n der Steuerpflichtige an Stelle des Einspruchs gegen die Heranziehung oder Veranlagung i n jeder einzelnen der beteiligten Gemeinden auch einen A n t r a g auf Verteilung des kirchensteuerpflichtigen Einkommens auf die mehreren Kirchengemeinden (§ 4) seitens der zuständigen Staatsbehörde stellen. Der Verteilungsantrag t r i t t alsdann an die Stelle des Einspruchs. c) Kosten
d) Besondere Bestimmungen §24. Den kirchlichen Organen u n d ihren Mitgliedern sowie den bei der Veranlagung beteiligten Beamten ist es untersagt, die zu ihrer Kenntnis gelangten Erwerbs-, Vermögens- oder Einkommensverhältnisse eines Steuerpflichtigen unbefugt zu offenbaren. § 25. W i r d i m Falle des A r t . 27 Abs. 2 des Gesetzes, betreffend die evangelische Kirchenverfassung, v o m 3. J u n i 1876 (G.-S. S. 125) 18 die Erhebung und Einziehung einer Umlage angeordnet, so finden die Vorschriften der A b schnitte I bis V dieses Kirchengesetzes Anwendung. M i t den dem GemeindeKirchenrate zustehenden Befugnissen k a n n ein anderer Gemeinde-Kirchenrat oder ein von Amtswegen zu bestellender Bevollmächtigter, erforderlichenfalls auf Kosten der Kirchengemeinde, beauftragt werden. 18
Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 449.
I I I . Die Kirchensteuergesetze i m Königreich Preußen (1903 bis 1906)
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V. Besondere Bestimmungen für die Berliner Stadtsynode und die Parochialverbände in größeren Orten §26. Die Bestimmungen dieses Kirchengesetzes finden auf die Berliner Stadtsynode u n d auf Parochialverbände i n größeren Orten sinngemäß A n wendung. Die dem Gemeinde-Kirchenrat bzw. den kirchlichen Gemeindeorganen zustehenden Befugnisse werden v o n den Verbands V e r t r e t u n g e n nach Maßgabe der darüber bestehenden besonderen Bestimmungen wahrgenommen. VI. Auf sichtliche Genehmigungen
und
Anordnungen
§ 27. F ü r die Erteilung der nach diesem Gesetz erforderlichen Genehmigungen u n d Anordnungen ist das Konsistorium zuständig. VII.
Übergangs-
und
Schlußbestimmungen
§28. A u f M i l i t ä r - u n d Anstaltsgemeinden findet dieses Gesetz keine A n wendung. §29. Die Kirchengemeinden sind berechtigt, anstelle der Leistung v o n Hand- u n d Spanndiensten die Erhebung eines dem Werte entsprechenden Geldbetrages i m Wege der Kirchensteuer zu beschließen. Der Beschluß bedarf der Genehmigung. § 30. Die Befugnis der Kirchengemeinden, auf G r u n d zu Hecht bestehender älterer, von den Vorschriften dieses Kirchengesetzes abweichender Ordnungen Kirchensteuern umzulegen, bleibt unberührt. Die Kirchengemeinden sind jedoch i n allen Fällen berechtigt, die A u f b r i n g u n g kirchlicher Umlagen nach Maßgabe der Vorschriften dieses Kirchengesetzes zu beschließen. §31. Die Provinz Westfalen u n d die Rheinprovinz bleiben von den V o r schriften dieses Gesetzes zunächst ausgenommen. Die Einführung des Gesetzes erfolgt i n diesen Provinzen, sobald dessen Annahme v o n beiden Provinzialsynoden oder v o n einer derselben beschlossen w i r d , durch kirchliche, v o m Landesherrn zu erlassende Verordnung, welche i n der dem § 6 der GeneI alsynodalordnung entsprechenden F o r m zu verkünden ist 1 8 *. § 32. Der Zeitpunkt, m i t welchem dieses Kirchengesetz i n K r a f t t r i t t , w i r d durch Königliche Verordnung bestimmt 1 9 . §33. Der Evangelische Ober-Kirchenrat w i r d m i t der Ausführung dieses Kirchengesetzes beauftragt 2 0 . 18a Die Annahme erfolgte durch die rheinische Provinzialsynode am 28. September 1905, durch die westfälische Provinzialsynode am 30. September 1905 (Verhandlungen der 27. rheinischen Provinzialsynode, 1905, §59, S. 282; V e r handlungen der 24. westfälischen Provinzialsynode, 1905, Beschluß 149, S. 102). Z u m I n k r a f t t r e t e n siehe A n m . 19. 19 Gemäß der Allerhöchsten Verordnung v o m 21. März 1906 (KGVB1. 1906, S. 1) t r a t das Gesetz am 1. A p r i l 1906 i n K r a f t . 20 Vgl. die Ausführungsanweisung des Ev. Oberkirchenrats v o m 22. März 1906 (KGVB1.1906, S. 5).
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
Nr. 25. Staatsgesetz, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern in den Kirchengemeinden und Parochialverbänden der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen der Monarchie v o m 14. J u l i 1905 (Preußische Gesetz-Sammlung 1905, S. 277) — Auszug — Art. I. Die Beschlüsse der evangelischen Kirchengemeinden, durch welche: a) die Erhebung einer nach dem Maßstabe staatlich veranlagter Steuern festgesetzten Kirchensteuer angeordnet, b) m i t einem Steuerpflichtigen ein fester jährlicher Kirchensteuerbetrag für ein oder mehrere Jahre i m voraus vereinbart, oder einzelnen Steuerpflichtigen eine zeitweilige Befreiung von der Kirchensteuer gewährt, oder an Stelle der H a n d - u n d Spanndienste die Erhebung eines ihrem Werte entsprechenden Geldbetrags i m Wege der Kirchensteuer festgesetzt w i r d , bedürfen, nachdem sie von der kirchlichen Aufsichtsbehörde nach Maßgabe der bestehenden kirchengesetzlichen Vorschriften genehmigt worden sind, der Genehmigung der staatlichen Aufsichtsbehörde. Art. II. §1. Den zur Veranlagung der Kirchensteuern zuständigen kirchlichen Gemeindeorganen sind v o n den zuständigen Staats- u n d Gemeindebehörden diejenigen Unterlagen, deren sie f ü r die Besteuerung bedürfen, auf Erfordern mitzuteilen. § 2. Die Zwangsvollstreckung wegen einer gemäß A r t i k e l I genehmigten Kirchensteuer erfolgt nach den Vorschriften über das Verwaltungszwangsverfahren 2 1 auf Ersuchen der zuständigen kirchlichen Gemeindeorgane durch die staatlichen Vollstreckungsbehörden oder, soweit die Einziehung der Staatssteuern durch kommunale Vollstreckungsbehörden erfolgt, durch diese. Den Vollstreckungsbehörden ist, falls nicht ein geringerer Entgelt vereinbart w i r d , eine Vergütung von zwei Prozent des durch sie zur Einziehung gelangenden Steuerbetrags zu gewähren. Die Vollziehungsbeamten haben außerdem auf die tarifmäßigen Einziehungsgebühren Anspruch. Die V o l l streckungsbehörde hat vor zwangsweiser Einziehung der Steuerbeträge deren Übereinstimmung m i t den Festsetzungen des genehmigten Umlagebeschlusses zu prüfen. Art. IV. § 1. Gegen die Entscheidungen der kirchlichen Gemeindeorgane über Einsprüche gegen die Heranziehung oder Veranlagung zu einer gemäß A r t i k e l I genehmigten Kirchensteuer steht dem Steuerpflichtigen die Beschwerde offen, welche binnen einer m i t dem ersten Tage nach erfolgter Z u stellung der Entscheidung beginnenden Frist von vier Wochen bei dem K o n sistorium einzulegen ist. Das Konsistorium legt die Beschwerde m i t seiner Äußerung der Staatsbehörde vor. 21 Verordnung betr. das Verwaltungszwangsverfahren wegen Beitreibung von Geldbeträgen vom 15. November 1899 (GS 545).
I I I . Die Kirchensteuergesetze i m Königreich Preußen (1903 bis 1906)
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Die Entscheidung der Staatsbehörde erfolgt nach A n h ö r u n g der Kirchengemeinde. . . . § 2. Der an Stelle des Einspruchs zulässige A n t r a g auf Verteilung kirchensteuerpflichtigen Einkommens auf eine Mehrzahl steuerberechtigter Kirchengemeinden ist von dem Steuerpflichtigen binnen einer Frist von vier Wochen, welche m i t dem ersten Tage nach erfolgter Aufforderung zur Zahlung der Steuer seitens der zweiten oder einer weiteren, eine Steuerforderung erhebenden Kichengemeinde beginnt, an das Konsistorium zu richten, i n dessen Bezirk eine der beteiligten Kirchengemeinden gelegen ist. Das Konsistorium legt den A n t r a g m i t seiner Äußerung der Staatsbehörde vor, i n deren Bezirk die K i r chengemeinde gelegen ist, deren Zahlungsaufforderung dem Steuerpflichtigen ausweislich seines Antrags zuerst zugegangen ist. Die hiernach begründete Zuständigkeit des Konsistoriums u n d der Staatsbehörde erstreckt sich auch auf weitere etwa noch hervortretende Veranlagungen. Die Staatsbehörde beschließt nach A n h ö r u n g der beteiligten Kirchengemeinden und Konsistorien. § 4. Gegen die Entscheidungen u n d Beschlüsse der Staatsbehörden nach §§ 1 und 2 steht binnen einer m i t dem ersten Tage nach erfolgter Zustellung beginnenden Frist von zwei Wochen sowohl den Steuerpflichtigen als auch den beteiligten Kirchengemeinden die Klage bei dem Oberverwaltungsgerichte zu §5. Durch die Erhebung der Beschwerde oder durch die Stellung des Verteilungsantrags oder durch die Anstellung der Klage w i r d die Verpflichtung zur Zahlung der Kirchensteuer nicht aufgehoben. §6. Die Staatsbehörde ist befugt, bis zur endgültigen Entscheidung die v o r läufige Aussetzung der Vollstreckung anzuordnen. Art. VI. Die Bestimmungen dieses Gesetzes finden auf die Berliner Stadtsynode und die Parochialverbände i n größeren Orten und ihre Organe sinngemäß Anwendung 2 2 . Art. VII. Durch Königliche Verordnung werden diejenigen Staatsbehörden bestimmt, welche die i n den A r t i k e l n I und I V dieses Gesetzes erwähnten Rechte auszuüben haben 2 3 . . . .
22 Vgl. dazu das Gesetz, betreffend die Berliner Stadtsynode u n d die Parochialverbände i n größeren Orten, v o m 18. M a i 1895 (Preuß. GS 1895, S. 175). 23 Vgl. auch die Anweisung des Ministers der geistl. Angelegenheiten zur Ausführung dieses Gesetzes v o m 24. März 1906 (KGVB1.1906, S. 36).
4 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
Nr. 26. Staatsgesetz, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern in den katholischen Kirchengemeinden und Gesamtverbänden v o m 14. J u l i 1905 (Preußische Gesetz-Sammlung 1905, S. 281) — Auszug — 1. Besteuerungsrecht
der
Kirchengemeinden
§1. Die katholischen Kirchengemeinden sind berechtigt, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse Steuern zu erheben. V o n dieser Befugnis ist n u r Gebrauch zu machen, soweit die sonstigen verfügbaren Einnahmen zur Befriedigung der Bedürfnisse nicht ausreichen, insbesondere soweit die erforderlichen Geldmittel u n d Leistungen nicht nach bestehendem Rechte aus dem Kirchenvermögen entnommen werden können oder v o m Patron oder von sonst speziell Verpflichteten gewährt werden. Die Steuerbeschlüsse der Kirchengemeinden bedürfen der Genehmigung der bischöflichen u n d der staatlichen Aufsichtsbehörde. 2. Steuerpflicht §2. Kirchensteuerpflichtig sind alle Katholiken, gemeinde durch ihren Wohnsitz angehören 24 . . . .
welche
der
Kirchen-
4. Verfahren a) Ausschreibung §16. Die Veranlagung erfolgt f ü r jedes Rechnungsjahr durch den Kirchenvorstand 2 5 . . . . b) Rechtsmittel § 21. Den zur Kirchensteuer Herangezogenen steht gegen die Heranziehung bzw. Veranlagung Einspruch z u 2 6 . . . . § 22. Über den Einspruch beschließt der Kirchenvorstand. §23. Gegen die Entscheidungen der Kirchenvorstände über Einsprüche gegen die Heranziehung oder Veranlagung zu Kirchensteuern steht dem Steuerpflichtigen die Beschwerde offen, welche binnen einer m i t dem ersten 24 Das katholische Kirchensteuergesetz vereinigte der Sache nach die Bestimmungen, die f ü r die evangelische Kirche teils i n dem Kirchengesetz v o m 26. M a i 1905 (oben Nr. 24), teils i n dem Staatsgesetz v o m 14. J u l i 1905 (oben Nr. 25) enthalten waren. I m Folgenden ist auf die Wiedergabe derjenigen Regelungen, die dem Wortlaut oder der Sache nach diesen Gesetzen entsprechen, verzichtet; n u r die über diese Texte hinausgehenden Bestimmungen sind w i e dergegeben. 25 Das Folgende entspricht dem Kirchengesetz v o m 26. M a i 1905, §§ 16 - 18 sowie dem Staatsgesetz v o m 14. J u l i 1905, A r t . I I . 26 Das Folgende entspricht dem Kirchengesetz v o m 26. M a i 1905, § 19.
I I I . Die Kirchensteuergesetze i m Königreich Preußen (1903 bis 1906)
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Tage nach erfolgter Zustellung der Entscheidung beginnenden Frist von vier Wochen bei der bischöflichen Behörde einzulegen ist. Die bischöfliche Behörde legt die Beschwerde m i t ihrer Äußerung der Staatsbehörde vor. Die Entscheidung der Staatsbehörde erfolgt nach Anhörung der Kirchengemeinde. . . . §24. I m Falle der Heranziehung zur Kirchensteuer seitens mehrerer K i r chengemeinden (§ 4) k a n n der Steuerpflichtige an Stelle des Einspruchs gegen die Heranziehung oder Veranlagung i n jeder einzelnen der beteiligten Gemeinden auch einen A n t r a g auf Verteilung des kirchensteuerpflichtigen E i n kommens auf die mehreren Kirchengemeinden seitens der zuständigen Staatsbehörde stellen. Der Verteilungsantrag t r i t t alsdann an die Stelle des Einspruchs. § 25. Der Verteilungsantrag ist von dem Steuerpflichtigen binnen einer Frist von vier Wochen, welche m i t dem ersten Tage nach erfolgter Aufforderung zur Zahlung der Steuer seitens der zweiten oder einer weiteren, eine Steuerforderung erhebenden Kirchengemeinde, beginnt, an die bischöfliche Behörde zu richten, i n deren Bezirk eine der beteiligten Kirchengemeinden gelegen ist. Die bischöfliche Behörde legt den A n t r a g m i t ihrer Äußerung der Staatsbehörde vor, i n deren Bezirk die Kirchengemeinde gelegen ist, deren Zahlungsaufforderung dem Steuerpflichtigen ausweislich seines Antrages zuerst zugegangen ist. Die hiernach begründete Zuständigkeit der bischöflichen Eehörde u n d der Staatsbehörde erstreckt sich auch auf weitere etwa noch hervorgetretene Veranlagungen. Die Staatsbehörde beschließt nach Anhörung der beteiligten Kirchengemeinden und bischöflichen Behörden. § 27. Gegen die Entscheidungen u n d Beschlüsse der Staatsbehörde nach Paragraphen 23 u n d 25 steht binnen einer m i t dem ersten Tage nach erfolgter Zustellung beginnenden Frist von zwei Wochen sowohl dem Steuerpflichtigen als auch den beteiligten Kirchengemeinden die Klage bei dem Oberverwaltungsgerichte zu. . . . § 28. Durch die Erhebung des Einspruchs oder der Beschwerde oder durch die Stellung des Verteilungsantrags oder durch die Anstellung der Klage w i r d die Verpflichtung zur Zahlung der Kirchensteuer nicht aufgehoben. Die Staatsbehörde ist befugt, bis zur endgültigen Entscheidung die v o r läufige Aussetzung der Vollstreckung anzuordnen.
5. Besondere Bestimmungen für die Gesamtverbände in der katholischen Kirche § 34. Die Bestimmungen dieses Gesetzes finden auf die Gesamtverbände i n der katholischen Kirche sinngemäß Anwendung. 4·
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2. Kap.: Finanzwesen u n
Vermögensverwaltung der Kirchen
Die dem Kirchenvorstande bzw. den kirchlichen Gemeindeorganen zustehenden Befugnisse werden von den Verbands Vertretungen nach Maßgabe der darüber bestehenden Bestimmungen wahrgenommen 2 7 . 6. Übergangs-
und
Schlußbestimmungen
§35. A u f M i l i t ä r - u n d Anstaltsgemeinden findet dieses Gesetz keine A n wendung. § 36. Die Kirchengemeinden sind berechtigt, an Stelle der Leistung von Hand- u n d Spanndiensten die Erhebung eines dem Werte entsprechenden Geldbetrages i m Wege der Kirchensteuer zu beschließen. Der Beschluß bedarf der Genehmigung der bischöflichen u n d der staatlichen Aufsichtsbehörde. § 37. Die Befugnis der Kirchengemeinden, auf Grund zu Recht bestehender älterer, von den Vorschriften dieses Gesetzes abweichenden Ordnungen K i r chensteuern umzulegen, bleibt unberührt. Die Kirchengemeinden sind jedoch i n allen Fällen berechtigt, die A u f b r i n g u n g kirchlicher Umlagen nach Maßgabe der Vorschriften dieses Gesetzes zu beschließen. . . .
Nr. 27. Staatsgesetz, betreffend die Erhebung von Abgaben für kirchliche Bedürfnisse der Diözesen der katholischen Kirche in Preußen v o m 21. März 1906 (Preußische Gesetz-Sammlung, 1906, S. 105) Art. 1. Z u r Bestreitung kirchlicher Diözesanbedürfnisse k a n n die bischöfliche Behörde — außer den nach dem Gesetze, betreffend die B i l d u n g kirchlicher Hilfsfonds für neu zu errichtende katholische Pfarrgemeinden v o m 29. M a i 1903 (GS. S. 132)28 gebildeten Diözesanhilfsfonds — einen v/eiteren Diözesanfonds bilden, für welchen alljährlich eine Umlage bis zu 3 v. H. der von den katholischen Gemeindegliedern zu zahlenden Staatseinkommensteuer erhoben werden darf. Art. 2. A u f den nach A r t . 1 zu bildenden Fonds finden die A r t . 1, Abs. 2, A r t . 2, 3, 4 u n d 5 des Gesetzes, betreffend die Bildung kirchlicher Hilfsfonds usw., v o m 29. M a i 1903 (GS. S. 182) entsprechende Anwendung m i t der Maßgabe, daß die Erhebung einer Umlage von mehr als 1 v. H. der Bestätigung des Staatsministeriums bedarf. Art. 3. Dieses Gesetz t r i t t am 1. A p r i l 1906 i n K r a f t 2 9 . 27
Vgl. das Gesetz v o m 29. M a i 1903 (oben Nr. 22). Oben Nr. 23. 29 Dazu die Ausführungsanweisungen des Ministers für die geistlichen A n gelegenheiten v o m 24. März 1906 (Centralblatt für die innere Verwaltung, 1906, S. 121 ff.). 28
I I I . Die Kirchensteuergesetze i m Königreich Preußen (1903 bis 1906)
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Nr. 28. Verordnung über das Inkrafttreten von Kirchengesetzen, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern v o m 23. März 1906 (Preußische Gesetz-Sammlung, 1906, S. 51) W i r Wilhelm, von Gottes Gnaden K ö n i g von Preußen etc. verordnen i n Gemäßheit: 1. des § 31 des Kirchengesetzes, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den Kirchengemeinden u n d Gesamtverbänden der evangelisch-lutherischen Kirche der Provinz Hannover, v o m 10. März 1906 (Gesetz-Samml. S. 23), 2. des § 31 des Kirchengesetzes, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den Kirchengemeinden u n d Parochialverbänden der evangelisch-lutherischen Kirche der Provinz Schleswig-Holstein, v o m 10. März 1906 (Kirchl. Gesetz- und Verordn.-Bl. S. 19), 3. des § 30 des Kirchengesetzes, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den Kirchengemeinden der evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover, v o m 10. März 1906 (Kirchl. Gesetz- u n d Verordn.-Bl. 3. Band S. 263), 4. des § 31 des Kirchengesetzes, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den Kirchengemeinden und Gesamtverbänden der evangelischen Kirchengemeinschaften i m Bezirke des Konsistoriums zu Cassel, v o m 10. März 1906 (Kirchl. Amtsbl. S. 17), 5. des § 30 des Kirchengesetzes, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den evangelischen Kirchengemeinden i m Amtsbezirke des Konsistoriums zu Wiesbaden, v o m 10. März 1906 (Kirchl. Amtsbl. S. 25), 6. des § 30 des Kirchengesetzes, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den evangelischen Kirchengemeinschaften des Konsistorialbezirkes F r a n k furt a. M., v o m 10. März 1906 (Kirchl. Amtsbl. S. 3), daß die genannten sechs Kirchengesetze m i t dem 1. A p r i l 1906 i n K r a f t treten.
Nr. 29. Verordnung über das Inkrafttreten von Staatsgesetzen, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern v o m 23. März 1906 (Preußische Gesetz-Sammlung, 1906, S. 52) W i r Wilhelm, von Gottes Gnaden K ö n i g von Preußen etc. verordnen i n Gemäßheit 1. des A r t i k e l s I X des Gesetzes, betreffend die Erhebung v o n Kirchensteuern i n den Kirchengemeinden u n d Parochialverbänden der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen der Monarchie, v o m 14. J u l i 190530, 2. des A r t i k e l s I X des Gesetzes, betreffend die Erhebung v o n Kirchensteuern i n den Kirchengemeinden u n d Gesamt-(Parochial-)Verbänden der 30
Oben Nr. 25.
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
evangelisch-lutherischen Kirchen der Provinzen Hannover u n d SchleswigHolstein sowie i n den Kirchengemeinden der evangelisch-reformierten Kirche der Provinz Hannover, v o m 22. März 190631, 3. des Artikels I X des Gesetzes, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den Kirchengemeinden der evangelischen Kirchen der Konsistorialbezirke Cassel, Wiesbaden u n d F r a n k f u r t a. M., i n den Gesamtverbänden der evangelischen Kirche des Konsistorialbezirkes Cassel sowie der vereinigten evangelisch-lutherischen u n d evangelisch-reformierten Stadtsynode zu F r a n k f u r t a. M., v o m 22. März 190632, 4. des §40 des Gesetzes, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den katholischen Kirchengemeinden u n d Gesamtverbänden, v o m 14. J u l i 190533, auf den A n t r a g Unseres Staatsministeriums, daß die genannten vier Gesetze m i t dem 1. A p r i l 1906 i n K r a f t treten.
Nr. 30. Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen der Monarchie v o m 23. März 1906 (Preußische Gesetz-Sammlung, 1906, S. 53) W i r Wilhelm, von Gottes Gnaden K ö n i g von Preußen etc. verordnen i n Ausführung des A r t i k e l s V I I des Gesetzes, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den Kirchengemeinden u n d Parochialverbänden der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen der Monarchie, v o m 14. J u l i 1905 (Gesetz Samml. S. 277) 34 auf den A n t r a g Unseres Staatsministeriums, was folgt: Art. I. Die Rechte des Staates werden gegenüber den Gesamtverbänden, welche nach A r t i k e l I I des Kirchengesetzes, betreffend die Berliner Stadtsynode u n d die Parochialverbände i n größeren Orten, v o m 17. M a i 1895 (Kirchl. Gesetz- u n d Verordn.-Bl. S. 37) oder nach Maßgabe des Kirchengesetzes, betreffend die B i l d u n g von Parochialverbänden i m Geltungsbereiche der revidierten Kirchenordnung f ü r Westfalen u n d die Rheinprovinz, v o m 4. J u l i 1904 (Kirchl. Gesetz- u n d Verordn.-Bl. S. 16) gebildet sind, von dem Oberpräsidenten ausgeübt: bei der Genehmigung von Steuerbeschlüssen ( A r t i k e l I des Gesetzes v o m 14. J u l i 1905) i m Falle des § 5 Abs. 2 des Gesetzes, betreffend die Berliner Stadtsynode u n d die Parochialverbände i n größeren Orten, v o m 18. M a i 1895 (Gesetz-Samml. S. 175). 31 32 33 34
GS 1906, S. 41. GS 1906, S. 46. Oben Nr. 26. Oben Nr. 25.
I I I . Die Kirchensteuergesetze i m Königreich Preußen (1903 bis 1906)
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Gegen die Verfügung des Oberpräsidenten findet die Beschwerde an den Minister der geistlichen Angelegenheiten statt. Art. II. Die Rechte des Staates werden von dem Regierungspräsidenten, i n der H a u p t - u n d Residenzstadt B e r l i n sowie gegenüber dem Berliner Stadtsynodalverband u n d gegenüber den Kirchengemeinden dieses Verbandes von dem Polizeipräsidenten zu Berlin, ausgeübt: 1. i n den Fällen des A r t i k e l s I des Gesetzes v o m 14. J u l i 1905, soweit nicht die Ausübung der Rechte i m A r t i k e l V I I Abs. 2 a. a. O. dem Staatsministerium vorbehalten oder i m A r t i k e l I dieser Verordnung dem Oberpräsidenten übertragen ist; 2. i n den Fällen des A r t i k e l s I V §§ 1, 2 u n d 6 des Gesetzes v o m 14. J u l i 1905. Gegen die Verfügung des Regierungspräsidenten (Polizeipräsidenten zu Berlin) geht, sofern nicht die Klage bei dem Oberverwaltungsgerichte nach A r t i k e l I V § 4 a. a. O. stattfindet, die Beschwerde an den Oberpräsidenten, welcher endgültig entscheidet 35 .
Nr. 31. Verordnung über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber den Kirchengemeinden und Gesamtverbänden der katholischen Kirche v o m 23. März 1906 (Preußische Gesetz-Sammlung, 1906, S. 56) W i r Wilhelm, von Gottes Gnaden K ö n i g von Preußen etc. verordnen i n Ausführung des § 68 des Gesetzes, betreffend die Erhebung von Kirchensteuern i n den katholischen Kirchengemeinden u n d Gesamtverbänden, v o m 14. J u l i 1905 (Gesetz-Samml. S. 281) 3e auf den A n t r a g Unseres Staatsministeriums, was folgt: Art. I. Die Rechte des Staates werden gegenüber den Gesamtverbänden von dem Oberpräsidenten ausgeübt: bei der Genehmigung von Steuerbeschlüssen (§ 1 des Gesetzes v o m 14. J u l i 1905), sofern die Umlage, abgesehen von den nach Maßgabe des Gesetzes, betreffend die B i l d u n g kirchlicher Hilfsfonds f ü r neu zu errichtende katholische Pfarrgemeinden, v o m 29. M a i 1903 (Gesetz-Samml. S. 182) 37 f ü r die Zwecke des Diözesanhilfsfonds u n d v o n den f ü r die Zwecke sonstiger, auf G r u n d staatsgesetzlicher Ermächtigung gebildeten Diözesanfonds aufzubrin35 A m selben Tag ergingen sachlich entsprechende Verordnungen über die Ausübung der Rechte des Staates gegenüber den evangelisch-lutherischen K i r chen der Provinzen Hannover u n d Schleswig-Holstein sowie der evangelischreformierten Kirche der Provinz Hannover (GS 1906, S. 54) u n d gegenüber den evangelischen Kirchen der Konsistorialbezirke Kassel, Wiesbaden u n d F r a n k furt a. M. (GS 1906, S. 55). 36 Oben Nr. 26. 3 O b e n Nr. 2 .
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
genden Beträgen, zehn Prozent der Summe der von den Pflichtigen Gemeindegliedern jährlich an den Staat zu entrichtenden Einkommensteuer übersteigt. Gegen die Verfügung des Oberpräsidenten findet die Beschwerde an den Minister der geistlichen Angelegenheiten statt. Art. II. I n den übrigen Fällen des § 1 und i n den Fällen der §§ 15, 19, 23, 25, 28 und 36 des Gesetzes v o m 14. J u l i 1905 werden die Rechte des Staates von dem Regierungspräsidenten, i n der Haupt- und Residenzstadt B e r l i n von dem Polizeipräsidenten, ausgeübt. Gegen die Verfügung des Regierungspräsidenten (Polizeipräsidenten zu Berlin) geht, sofern nicht die Klage bei dem Oberverwaltungsgerichte nach § 27 a. a. O. stattfindet, die Beschwerde an den Oberpräsidenten, welcher endgültig entscheidet.
I V . D i e p r e u ß i s c h e n Gesetze f ü r die P f a r r e r b e s o l d u n g u n d -Versorgung v o n 1909 Nach der umfassenden Kodifikation des Kirchensteuerwesens regelten preußische Staatsgesetze auch die Pfarrerbesoldung und -Versorgung sowohl für die evangelische wie für die katholische Kirche neu. Die Gesetze vom 26. Mai 1909 (Nr. 32, Nr. 33) legten die staatlichen Zuschüsse zur Pfarrerbesoldung und -Versorgung sowie zur Hinterbliebenenversorgung neu fest. Ferner erhöhten sie den Hebesatz der landeskirchlichen Kirchensteuern; diese konnten nun 7V2 °/o zuzüglich eines Betrages von 1 °/o für die Provinzialsynoden, also insgesamt 81/2 °/o der Staatseinkommmensteuer betragen. Das Kirchengesetz vom 10. Juli 1909 (Nr. 34) verstärkte den Hilfsfonds für landeskirchliche Zwecke 1.
Nr. 32. Staatsgesetz, betreffend die Pfarrbesoldung, das Ruhegehaltswesen und die Hinterbliebenenfürsorge für die Geistlichen der evangelischen Landeskirchen v o m 26. M a i 1909 (Preußische Gesetz-Sammlung 1909, S. 113) — Auszug — Art. 1. Die anliegenden Kirchengesetze: a) die Pfarrbesoldungsgesetze f ü r die evangelische Landeskirche der älteren Provinzen, die evangelisch-lutherische Kirche der Provinz Hannover, die evangelisch-lutherische Kirche der Provinz Schleswig-Holstein, die evangelischen Kirchengemeinschaften des Konsistorialbezirkes Cassel, die evangelische 1 Dazu vor allem J. Niedner, Die Ausgaben des preußischen Staats f ü r die evangelische Landeskirche der älteren Provinzen (1904), S. 4ff., 251 ff.; E. Loycke, Pfarrerbesoldungsgesetz, Ruhegehaltsordnung u n d Hinterbliebenenversorgung f ü r die evangelischen Geistlichen i n Preußen (1908).
IV. Die preußischen Gesetze über die Pfarrerbesoldung
57
Kirche des Konsistorialbezirkes Wiesbaden u n d die evangelisch-reformierte Kirche der Provinz Hannover, b) die Ruhegehaltsordnungen für die Geistlichen der genannten Landeskirchen, c) die Kirchengesetze, betreffend die Fürsorge für die W i t w e n u n d Waisen der Geistlichen der genannten Landeskirchen 2 , werden, soweit erforderlich, staatsgesetzlich bestätigt. Art. 2. Die Alterszulagekasse f ü r evangelische Geistliche, die Ruhegehaltskasse für evangelische Geistliche u n d der P f a r r - W i t w e n - und Waisenfonds werden als je ein selbständiger Fonds m i t eigener Rechtspersönlichkeit fortan nach Maßgabe der den anliegenden Kirchengesetzen beigefügten Satzungen vertreten u n d verwaltet. Schriftliche Willenserklärungen, welche für einen der Fonds Rechte oder Verpflichtungen begründen, sind i m Namen des Vorstandes von dessen V o r sitzenden oder seinem Stellvertreter unter Beidrückung des Amtssiegels zu unterzeichnen. Die Kassengeschäfte der drei Fonds werden durch die staatlichen Kassen unentgeltlich besorgt. Art. 3. Jedem der drei Fonds w i r d v o m 1. A p r i l 1908 ab seitens des Staates eine dauernde Rente überwiesen, welche jährlich beträgt: a) für die Alterszulagekasse
8 050 000 M a r k ;
b) für die Ruhegehaltskasse
1 600 000 M a r k ;
c) f ü r den P f a r r - W i t w e n - und Waisenfonds unter Fortfall der bisher staatsseitig an ihn gezahlten Beträge 1 924 739 M a r k . Die Zahlungen erfolgen nach Bedarf bis zum Schlüsse des Rechnungsjahrs. Art. 5. Die für die Alterszulagekasse f ü r evangelische Geistliche, für die Ruhegehaltskasse für evangelische Geistliche u n d für den P f a r r - W i t w e n - u n d Waisenfonds zu erhebenden allgemeinen kirchlichen Umlagen kommen auf den staatsgesetzlich f ü r allgemeine Umlagen i n den Landeskirchen festgesetzten Höchstbetrag nicht zur Anrechnung. Art. 7. Behufs Gewährung von widerruflichen Beihilfen an leistungsunfähige evangelische Kirchengemeinden, welche zur Aufbringung der Grundgehälter, Alterszulagekassenbeiträge u n d Zuschüsse f ü r die bei der Alterszulagekasse versicherten Pfarrstellen Umlagen ausschreiben müssen, w i r d an Stelle des bisher für diesen Zweck gewährten Betrags v o m 1. A p r i l 1908 ab eine Summe von 6 258 903 M a r k jährlich aus Staatsmitteln bereitgestellt. F ü r die Verwendung dieser M i t t e l sind die Vorschriften der anliegenden Pfarrbesoldungsgesetze maßgebend 2
A l l e vom 26. M a i 1909 (GS 1909, S. 117 ff.).
5 8 2 .
Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
Art. 8. Behufs Gewährung von Beihilfen f ü r neu zu errichtende Pfarrstellen 1. an leistungsunfähige evangelische Kirchengemeinden, welche zur A u f bringung der Grundgehälter, Alterszulagekassenbeiträge u n d Zuschüsse U m lagen ausschreiben müssen, 2. an die Landeskirchen zu den i m § 11 der Satzungen der Alterszulagekasse bezeichneten Leistungen w i r d an Stelle der bisherigen staatlichen M i t t e l f ü r neu zu errichtende Pfarrstellen v o m 1. A p r i l 1908 ab ein Betrag von 1 200 000 M a r k jährlich aus Staatsm i t t e l n bereitgestellt. Die B e w i l l i g u n g der Beihilfen i n den Fällen des Abs. 1 Ziffer 1 u n d 2 zur Voraussetzung, daß die Kirchenbehörde auch ihrerseits M i t t e l f ü r gleichen Zwecke zur Verfügung stellt, und i m Falle des Abs. 1 Ziffer 1, daß Kirchengemeinde nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit zu den Lasten Neugründung beiträgt.
hat die die der
Die B e w i l l i g u n g der Beihilfen erfolgt durch den Minister der geistlichen Angelegenheiten u n d den Finanzminister. Die jährlichen Ersparnisse an dem nach Abs. 1 bereitgestellten Betrage werden behufs Verwendung zu gleichen Zwecken i n das nächste Jahr übertragen.
Nr. 33. Staatsgesetz, betreffend das Diensteinkommen der katholischen Pfarrer v o m 26. M a i 1909 (Preußische Gesetz-Sammlung 1909, S. 343) — Auszug — Art.l. Behufs Gewährung von widerruflichen Beihilfen an leistungsunfähige katholische Pfarrgemeinden zur Aufbesserung des Diensteinkommens ihrer Pfarrer w i r d ein Betrag von 5 618 400 M a r k jährlich aus Staatsmitteln bereitgestellt, welcher nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen zu verwenden ist. Art. 2. Jeder f ü r ein dauernd errichtetes Pfarramt bestellte katholische Pfarrer erhält ein Stelleneinkommen von mindestens 1 800 M a r k jährlich neben freier Dienstwohnung oder angemessener Mietsentschädigung. Art. 6. Die Pfarrgemeinde ist verpflichtet, den durch die Erträge des Stellenvermögens oder durch anderweitige kirchliche Einnahmen des Stelleninhabers nicht gedeckten Betrag des Mindest-Stelleneinkommens ( A r t i k e l 2) sowie der Orts- ( A r t i k e l 3 u n d 4) u n d Alterszulagen ( A r t i k e l 5) zu gewähren. A u f besonderen Rechtstiteln oder auf öffentlichem Rechte beruhende Verpflichtungen D r i t t e r gegenüber der Pfarrstelle bleiben bestehen.
I V . Die preußischen Gesetze über die Pfarrerbesoldung Einnahmen aus Nebenämtern (z.B. Militärseelsorge, Anstaltsseelsorge) bleiben außer Betracht.
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Religionsunterricht,
Art. 7. Die Beihilfen werden widerruflich an leistungsunfähige katholische Pfarrgemeinden gewährt, welche zur Aufbringung von Zuschüssen zur E r reichung des Mindest-Stelleneinkommens und von Alters- oder Ortszulagen f ü r die beim Inkrafttreten dieses Gesetzes bestehenden, m i t einem Stelleneinkommen von weniger als 4 000 M a r k jährlich verbundenen Pfarrstellen Umlagen ausschreiben m ü s s e n . . . . Art. 8. Über die Bewilligung, die Versagung, den Widerruf u n d die K ü r z u n g von Beihilfen beschließt die bischöfliche Behörde auf G r u n d eingehender Prüfung der Leistungsfähigkeit. Bei dieser Prüfung sind neben der Steuerk r a f t auch die vorhandene Belastung zu öffentlichen Zwecken u n d die gesamte wirtschaftliche u n d kirchliche Lage der Gemeinde zu berücksichtigen. Die bewilligten Beihilfen werden an die Pfarrer unmittelbar gezahlt u n d auf die von den bedachten Pfarrgemeinden gemäß A r t i k e l 6 zu gewährenden Zuschüsse u n d Zulagen i n Anrechnung gebracht. Art. 9. Behufs Gewährung von Beihilfen an neu zu errichtende leistungsunfähige katholische Pfarrgemeinden, welche zur Aufbringung von Zuschüssen zur Erreichung des Mindest-Stelleneinkommens u n d von Alters- oder Ortszulagen f ü r die neu zu gründende Pfarrstelle Umlagen ausschreiben müssen, w i r d ein Betrag von 400 000 M a r k jährlich aus Staatsmitteln bereitgestellt. Die jährlichen Ersparnisse an diesem Betrage werden behufs Verwendung zu gleichen Zwecken i n das nächste Jahr übertragen. Die B e w i l l i g u n g der Beihilfen hat zur Voraussetzung, daß die bischöfliche Behörde auch ihrerseits M i t t e l f ü r diesen Zweck zur Verfügung stellt u n d die Pfarrgemeinde nach Maßgabe ihrer Leistungsfähigkeit zu den Lasten der Neugründung beiträgt. Die B e w i l l i g u n g erfolgt durch den Minister der geistlichen Angelegenheiten u n d den Finanzminister. . . . Art. 16. I m A r t i k e l 1 des Gesetzes, betreffend die B i l d u n g kirchlicher H i l f s fonds f ü r neu zu errichtende katholische Pfarrgemeinden, v o m 29. M a i 1903 (Gesetzsamml. S. 182)3 w i r d der Satz von einem Prozent auf zwei Prozent der von den katholischen Gemeindegliedern zu zahlenden Staatseinkommensteuer und i m A r t i k e l 1 des Gesetzes, betreffend die Erhebung von Abgaben f ü r kirchliche Bedürfnisse der Diözesen der katholischen Kirche i n Preußen, v o m 21. März 1906 (Gesetzsamml. S. 105)4 w i r d der Satz v o n drei Prozent auf fünf Prozent der von den katholischen Gemeindegliedern zu zahlenden Staatseinkommensteuer erhöht.
3 4
Oben Nr. 23. Oben Nr. 27.
2. Kap.: Finanzwesen u n
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Vermögensverwaltung der Kirchen
Nr. 34. Kirchengesetz, betreffend die weitere Verstärkung der Hilfsfonds für landeskirchliche Zwecke v o m 10. J u l i 1909 (Kirchliches Gesetz- u n d Verordnungsblatt 1909, S. 75) — Auszug — Art. I. Zwecks Leistung der von der Landeskirche gemäß gesetzlicher Verpflichtung zu entrichtenden Beiträge an die Alterszulagekasse, die Ruhegehaltskasse u n d den P f a r r - W i t w e n - u n d Waisenfonds der i m Gebiete der Preußischen Monarchie vorhandenen evangelischen Landeskirchen, soweit dazu nicht sonstige landeskirchliche M i t t e l zur Verfügung stehen, w i r d von den Mitgliedern der evangelischen Landeskirche i n den älteren Teilen der Monarchie zum Hilfsfonds für landeskirchliche Zwecke alljährlich eine U m lage von fünf Prozent der von ihnen zu zahlenden Staatseinkommensteuer erhoben. . . . Art. II. Die nach § 1 des Kirchengesetzes, betreffend Errichtung eines Hilfsfonds für landeskirchliche Zwecke, vom 16. August 18985 alljährlich zu erhebende Umlage von einem Prozent der von den Mitgliedern der evangelischen Landeskirche i n den älteren Landesteilen der Monarchie zu zahlenden Staatsund Einkommensteuer w i r d auf ein u n d ein halbes Prozent erhöht. . . .
V . Das K i r c h e n s t e u e r r e c h t i m K ö n i g r e i c h B a y e r n Die bayerische Verfassung von 1818 sowie das Religionsedikt vom gleichen Jahr 1 verwiesen das Recht der kirchlichen Vermögensverwaltung in die ausschließliche Kompetenz des Staats. Es dauerte nahezu ein Jahrhundert, bis eine entsprechende staatliche Gesetzgebung über ein eigenes kirchliches Umlagenrecht zu Stande kam. Am 15. August 1908 erging das Gesetz über die Kirchensteuer für die protestantischen Kirchen des Königreichs Bayern (Nr. 35). Zu seinen kennzeichnenden Merkmalen gehört die Einrichtung besonderer, von den Generalsynoden unterschiedener und im Vergleich zu ihnen mit einem höheren Anteil „weltlicher Mitglieder" besetzter Steuersynoden. Das Kirchensteuergesetz trat, nach Anhörung der Generalsynoden der beiden protestantischen Kirchen in Bayern rechts und links des Rheins, am 26. März 1910 in Kraft 2. Die Kirchengemeindeordnung, die nach langen Verhandlungen am 24. September 1912 erging (Nr. 36), brachte eine umfassende Regelung der kirchlichen Vermögensverwaltung auf örtlicher Ebene. Sie war für die katholische und die beiden evangelischen Kirchen in gleicher Weise gültig 3. 5
Oben Nr. 21. Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 59 f. 2 Königl. Entschließung v o m 24. März 1910 (GVB1. 1910, S. 149). 3 Z u m Ganzen vgl. F. Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht (1910), S. 144 ff., 182 ff., 356 ff., 393 ff., 474 ff.; K . A. Geiger, Die bayerische Kirchengemeindeordnung v o m 24. September 1912 (1913); H.-M. Körner, Staat u n d Kirche i n Bayern 1886 - 1918 (1977), S. 81 ff. 1
V. Das Kirchensteuerrecht i m Königreich
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Nr. 35. Staatsgesetz, betreffend die Kirchensteuer für die protestantischen Kirchen des Königreichs Bayern v o m 15. August 1908 (Bayerisches Gesetz- u n d Verordnungsblatt 1908, S. 513) — Auszug — Art. 1. Die protestantische Kirche Bayerns r. d. Rh. und die vereinigte protestantische Kirche der Pfalz sind berechtigt, f ü r ihre kirchlichen Bedürfnisse allgemeiner Natur, welche durch Leistungen des Staates oder sonst bereite M i t t e l nicht ausreichend gedeckt sind, Kirchensteuern zu erheben. Art. 2. I. Als kirchliche Bedürfnisse allgemeiner N a t u r (Art. 1) gelten n u r : 1. die Unterstützung von Kirchengemeinden oder kirchlichen Konkurrenzverbänden, welche m i t Kirchenumlagen überbürdet sind; 2. die Errichtung neuer oder U m w a n d l u n g bestehender Seelsorgestellen, sowie die Herstellung kirchlicher Bauten an Orten, an denen ein kirchlicher Notstand besteht; 3. die Aufbesserung unzureichend besoldeter Geistlicher; 4. die Gewährung von Zuschüssen zu den Ruhegehalten der Geistlichen, sowie zu den Bezügen ihrer Hinterbliebenen; 5. die Gewährung von Entschädigungen an Geistliche f ü r Umzugskosten und f ü r Stellvertretungskosten i n Krankheitsfällen nach Maßgabe der hierüber jeweils bestehenden Vorschriften; 6. die Bereitstellung eines Dispositionsfonds f ü r kirchliche Zwecke; 7. der A u f w a n d f ü r die A b h a l t u n g der Steuersynode, für die Erhebung der Kirchensteuer und für die V e r w a l t u n g des Kirchensteuerertrags. I I . Durch Königliche Entschließung k a n n auf A n t r a g der kirchlichen Oberbehörde m i t Zustimmung der Steuersynode (Art. 3 und 4) der Kreis der kirchlichen Bedürfnisse allgemeiner N a t u r (Abs. I) erweitert werden. Art. 3. I. Die Beschlußfassung über die auf Kirchensteuern zu nehmenden Ausgaben und über die Erhebung der Kirchensteuern erfolgt f ü r jede der beiden Kirchen durch eine Steuersynode. I I . Die Steuersynoden werden gebildet: 1. durch die weltlichen Mitglieder der vereinigten Generalsynode f ü r die Konsistorialbezirke des Königreichs diess. d. Rh., bzw. der Generalsynode für den Konsistorialbezirk Speyer; 2. durch geistliche Mitglieder der Generalsynoden i n der Z a h l der Hälfte ihrer weltlichen Mitglieder; 3. i n der protestantischen Kirche Bayerns r. d. Rh. durch ein geistliches und zwei weltliche Mitglieder der reformierten Synode.
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2. Kap.: Finanzwesen u n
Vermögensverwaltung der Kirchen
Die geistlichen Mitglieder der Steuersynoden (Ziff. 2) werden von den geistlichen Mitgliedern der ordentlichen Generalsynoden bei deren jeweiligem Z u sammentritt gewählt. Die reformierten Mitglieder der Steuersynode für die protestantische Kirche Bayerns r. d. Rh. (Ziff. 3) werden von der der jeweiligen Tagung der Steuersynode vorausgehenden reformierten Synode gewählt. I I I . Die Steuersynoden tagen i n der Regel i n unmittelbarem Anschluß an die ordentlichen Generalsynoden. Durch Königliche Entschließung können außerordentliche Tagungen einberufen u n d die ordentlichen u n d außerordentlichen Tagungen jederzeit geschlossen werden. I V . Die Verhandlungen der Steuersynoden leitet ein aus ihrer M i t t e m i t absoluter Stimmenmehrheit gewählter Vorsitzender. Die Vertreter der K i r chenbehörden sind bei den Verhandlungen jederzeit auf i h r Verlangen zu hören u n d befugt, Anträge zu stellen. Die K . Staatsregierung ist berechtigt, einen Vertreter zu den Verhandlungen abzuordnen, der jedoch an den Beratungen selbst keinen A n t e i l zu nehmen hat. Die Verhandlungen der Steuersynoden sind i n der Regel öffentlich. V. Die Beschlüsse der Steuersynoden erfordern zu ihrer Gültigkeit die A n wesenheit der Mehrheit der Mitglieder und die Zustimmung der Mehrheit der Anwesenden. V I . I m übrigen finden die Vorschriften über die Geschäftsordnung Generalsynoden auch auf die Steuersynoden entsprechende Anwendung.
der
V I I . Die Mitglieder der Steuersynoden erhalten Tagegelder u n d erforderlichenfalls Reisekostenentschädigung nach Maßgabe der Vorschriften über die Gewährung von Tagegeldern und Reisekosten an die Mitglieder der Generalsynoden. Art. 4. I. Den Steuersynoden sind f ü r ihre Beschlußfassung von der kirchlichen Oberbehörde bestimmte Anträge (Voranschläge) vorzulegen. I I . Die B e w i l l i g u n g der Ausgaben und der zu ihrer Deckung erforderlichen Kirchensteuern erfolgt auf die der Tagung der ordentlichen Steuersynoden jeweils folgenden vier Kalenderjahre; bei außerordentlichen Steuersynoden auf die Zeit bis zur nächsten ordentlichen Steuersynode. A u f die Dauer berechnete Willigungen früherer Steuersynoden binden auch spätere Synoden. Die Bereitstellung von M i t t e l n f ü r die i n A r t . 2 Abs. I Ziff. 7 genannten Ausgaben darf nicht verweigert werden. I I I . F ü r den Dispositionsfonds für kirchliche Zwecke darf nicht mehr als der zehnte Teil der übrigen Ausgaben bewilligt werden. I V . Ergeben sich i m L a u f einer Finanzperiode gegenüber den gefaßten Ausgabebeschlüssen Einsparungen oder Mehrausgaben oder gegenüber den veranschlagten Steuerbeträgen Mehreinnahmen oder Mindererträgnisse an den Kirchensteuern, so sind diese, soweit sie sich nicht gegenseitig ausgleichen, i n den Voranschlag f ü r die nächste Finanzperiode als Einnahmen bzw. als Ausgaben einzustellen. Die Verwendung von Überschüssen zur B i l dung von Steuerausgleichs-, Betriebs- und Reservefonds ist jedoch zulässig.
V. Das Kirchensteuerrecht i m Königreich
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V. Die Beschlüsse der Steuersynoden bedürfen der Königlichen Genehmigung. I h r Vollzug obliegt der kirchlichen Oberbehörde, soweit sich nicht aus diesem Gesetz ein anderes ergibt. Art. 5. I. Das Erträgnis der Kirchensteuer fließt i n eine allgemeine Kirchenkasse. Diese untersteht der gleichen V e r w a l t u n g u n d Aufsicht w i e i m rechtsrheinischen Bayern die allgemeine Unterstützungsanstalt f ü r die protestantischen Pfarreien des Königreichs Bayern diess. d. Rh., u n d w i e i n der Pfalz die allgemeine protestantische Pfarrwitwenkasse der Pfalz. I I . Die Rechnungen der allgemeinen Kirchenkasse nebst Belegen sind der Steuersynode bei ihrem jeweiligen Zusammentritt zur Prüfung u n d Anerkennung oder Geltendmachung etwaiger Erinnerungen vorzulegen. I I I . Dem K . Staatsministerium des I n n e r n f ü r Kirchen- u n d Schulangelegenheiten sind alljährlich Übersichten der Einnahmen u n d Ausgaben der a l l gemeinen Kirchenkasse, auf Verlangen die Rechnungen selbst vorzulegen. Art. 6. I. Über die Dispositionsfonds kirchliche Oberbehörde.
f ü r kirchliche Zwecke verfügt
die
I I . F ü r die i n A r t . 2 Abs. I Ziff. 1—5 bezeichneten Zwecke dürfen A u f w e n dungen aus dem Dispositionsfonds n u r i n außerordentlichen, unvorhergesehenen u n d dringlichen Fällen gemacht werden. Art. 7. I. Kirchensteuerpflichtig sind alle Angehörigen des protestantischen Bekenntnisses, die i m Gebiet des Königreichs r. d. Rh., bzw. i m Konsistorialbezirk Speyer m i t einer direkten Staatssteuer veranlagt sind. Der Veranlagung steht die vormerkungsweise Veranlagung gleich 4 Art. 8. I. Die Kirchensteuer w i r d i n der Form eines gleichmäßigen prozentualen Zuschlags zu den jeweils zur Erhebung kommenden direkten Staatssteuern erhoben. I I . Sie darf zehn v o m Hundert der von den einzelnen Kirchensteuerpflichtigen geschuldeten direkten Staatssteuern nicht übersteigen. Art. 9. I. Die Veranlagung der Kirchensteuer erfolgt durch die Rentämter. Die sämtlichen Staats-, Gemeinde- u n d Kirchenbehörden, sowie die Steuerpflichtigen sind gehalten, hierbei nach Maßgabe der ergehenden Vollzugsvorschriften mitzuwirken. Insbesondere hat jeder Steuerpflichtige auf Verlangen für sich u n d die von i h m vertretenen Pflichtigen eine Bekenntniserklärung abzugeben. I I . Die auf die Veranlagung der Kirchensteuer erwachsenden Verhandlungen sind gebührenfrei. 4
I m Folgenden werden Sonderfälle geregelt.
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
Art. 10. I. Die Kirchensteuer w i r d m i t den direkten Staatssteuern und nach den gleichen Vorschriften wie diese eingehoben u n d beigetrieben. I I . I m F a l l einer n u r teilweisen Einbringung mehrerer von einem Pflichtigen geschuldeter Gefälle sind die Staatsgefälle und Kreisumlagen vor der Kirchensteuer zu decken. I I I . E i n Nachlaß oder eine Niederschlagung der Staatssteuern hat zugleich den Nachlaß oder die Niederschlagung der Kirchensteuer zur Folge. I V . F ü r die Veranlagung u n d Einhebung der Kirchensteuer werden drei v o m Hundert der vereinnahmten Beträge f ü r die Staatskasse abgezogen. I n der Pfalz w i r d der dritte Teil dieser Vergütung den Steuereinnehmern für die Einhebung und Ablieferung der Kirchensteuer überwiesen. V. Der Staat haftet nicht f ü r die Veranlagung, Einhebung oder Ablieferung der Kirchensteuer. Die Haftung f ü r die m i t der Veranlagung, Einhebung oder Ablieferung der Kirchensteuer betrauten Beamten trifft die Kirche. Art. 11. I. Streitigkeiten über die Berechnung des Kirchensteueranteils (Art. 7 Abs. II) werden nach Maßgabe der Vorschriften der Staatssteuergesetze über das Rechtsmittelverfahren gegen die rentamtliche Einsteuerung erledigt. I I . I m übrigen werden Streitigkeiten über die Verbindlichkeit zur Entricht u n g von Kirchensteuern dem Verwaltungsstreitverfahren nach A r t . 10 Ziff. 13 des Verwaltungsgerichtshof-Gesetzes überwiesen, wobei zur Entscheidung i n erster Instanz die Distriktsverwaltungsbehörde der Gemeinde zuständig ist, i n welcher die Steuerpflicht zu erfüllen wäre. Art. 12. I. Der Hinterziehung macht sich schuldig, 1. w e r der v o m Rentamt an i h n gerichteten besonderen Aufforderung zur Abgabe einer Bekenntniserklärung nicht rechtzeitig nachkommt; 2. w e r i n bezug auf seine Veranlagung oder die Veranlagung eines von i h m vertretenen Pflichtigen i n der Bekenntniserklärung oder bei Beantwortung der von zuständiger Seite an i h n gerichteten Fragen oder bei Begründung u n d Verhandlung eines Rechtsmittels unrichtige oder unvollständige Angaben macht, die zur Verkürzung der zu veranlagenden Kirchensteuer zu führen geeignet sind 5 . Art. 14. Der Zeitpunkt für das Inkrafttreten gegenwärtigen Gesetzes w i r d durch Königliche Entschließung bestimmt. Er k a n n gesondert für jede der beiden Landeskirchen festgesetzt werden 0 . 5
Es folgen Straf- u n d Verfahrensbestimmungen. F ü r beide Landeskirchen m i t sofortiger W i r k u n g i n K r a f t gesetzt durch die Allerhöchste Entschließung v o m 24. März 1910 (Bayer. Gesetzblatt 1910, S. 149). β
V. Das Kirchensteuerrecht i m Königreich
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Nr. 36. Bayerische Kirchengemeindeordnung v o m 24. September 1912 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt, 1912, S. 911)7 — Auszug — Erster Abschnitt.
Kirchengemeinden und im allgemeinen
Art. 1. I. Die Kirchengemeinden i m fähige, zur Befriedigung der örtlichen tragsverbände. Als Kirchengemeinden innerhalb dieser bestehenden M u t t e r samtkirchengemeinden.
Ortskirchenvermögen
Sinne dieses Gesetzes sind rechtsKirchenbedürfnisse organisierte Beigelten die Pfarrgemeinden, die etwa u n d Tochtergemeinden, dann die Ge-
II. Die Kirchengemeinden genießen die Vorrechte der öffentlichen tungen.
Stif-
III. Die katholischen Kirchengemeinden u n d ihre Vertretungskörper sind nicht Einrichtungen der inneren Kirchenverfassung. IV. Die innerkirchlichen Aufgaben der protestantischen Kirchengemeinden sind nicht Gegenstand dieses Gesetzes. V. Die Eigentumsverhältnisse am Ortskirchenvermögen bleiben unberührt. VI. Bei katholischem Ortskirchenvermögen ist möglichst darauf h i n z u w i r ken, daß neu zugehendes Grundstockvermögen Eigentum der Kirchenstiftung, nicht der Kirchengemeinde w i r d . I m Zweifelsfalle w i r d dies vermutet. Art. 2. I. Als Sitz der Kirchengemeinde gilt, wenn nicht ein anderes bestimmt oder hergebracht ist, der Ort der Kirche (Notkirche, Betsaal), vor Bereitstellung einer Kirche der hierfür bei B i l d u n g einer Kirchengemeinde i n Aussicht genommene Ort. Bei Gesamtkirchengemeinden w i r d der Sitz durch Königliche Entschließung bestimmt. I I . I n bezug auf Bildung u n d U m b i l d u n g von Pfarreien u n d Tochtergemeinden sowie ihrer Bezirke sind die hierüber jeweils bestehenden besonderen Vorschriften maßgebend. Art. 3. I. Mehrere benachbarte Kirchengemeinden desselben Bekenntnisses können, unbeschadet ihres gesonderten Fortbestandes, zum Zwecke der ge7
Dazu die Allgemeinen Vollzugsvorschriften zur Kirchengemeindeordnung vom 19. Oktober 1912 (GVB1.1912, S. 1071), ergänzt durch die Bekanntmachung die Feststellung der Bekenntniszugehörigkeit betreffend v o m 8. M a i 1914 (GVB1.1914, S. 117) und die Kirchenwahlordnung v o m 20. Oktober 1912 (GVB1. 1912, S. 997). F ü r die protestantische Kirche der Pfalz wurde die Kirchengemeindeordnung durch die Verordnung v o m 26. Oktober 1913 m i t W i r k u n g vom 1. November 1913 i n K r a f t gesetzt (GVB1. 1913, S. 753); dabei wurde festgelegt, daß die Kirchenverwaltungen zugleich als Presbyterien gemäß der pfälzischen Kirchenverfassung zu fungieren hatten. Die Kirchengemeindeordnung wurde i n einigen technischen Punkten geändert durch das Gesetz v o m 17. A u gust 1918 (GVB1. 1918, S. 431). 5 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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2. Kap.: Finanzwesen u n
Vermögensverwaltung der Kirchen
meinsamen Befriedigung von Ortskirchenbedürfnissen einer Gesamtkirchengemeinde vereinigt sein
(Art. 18) zugleich zu
Art. 4. I. Z u r Kirchengemeinde i m Sinne dieses Gesetzes gehören alle i m Kirchengemeindebezirk wohnenden (Art. 106 Abs. IV) Angehörigen des betreffenden Bekenntnisses. I I . Eine Scheidung der beiden i m rechtsrheinischen Bayern bestehenden protestantischen Bekenntnisse hinsichtlich des Kirchengemeinde Verbandes t r i t t n u r ein, w o ein u n d dasselbe Gebiet sowohl einem evangelisch-lutherischen, als einem reformierten Kirchengemeindebezirk angehört oder soweit nachweislich ein vollständiger Anschluß an eine auswärtige Kirchengemeinde des eigenen Bekenntnisses besteht. I n dem ersteren Falle haben unierte Protestanten die Wahl, zu welcher der beiden Kirchengemeinden sie sich halten wollen. Unterlassen sie die Anschlußerklärung, so sind sie der stärker belasteten Kirchengemeinde auf deren A n t r a g durch die Staatsaufsichtsbehörde zuzuweisen. III. I n der — unierten — protestantischen Kirche der Pfalz erstreckt sich der Kirchengemeinde verb and auf alle i m Kirchengemeindebezirk wohnenden Protestanten. I V . Wohnt ein Bekenntnisgenosse (Abs. I — I I I ) gleichzeitig oder abwechslungsweise i n mehreren Kirchengemeindebezirken, so ist er M i t g l i e d dieser sämtlichen Kirchengemeinden. Art. 5. I. Als Ortskirchenvermögen gilt das ortskirchliche Stiftungsvermögen, dann ein etwaiges Kirchengemeindevermögen. II. Z u m ortskirchlichen Stiftungsvermögen Pfründe- u n d Hofkultusstiftungen:
gehören m i t Ausschluß
der
1. das Kirchenstiftungsvermögen (Fabrikgut), auch soweit es den Geistlichen oder weltlichen Kirchendienern zu Gebrauch oder Nutzung zugewiesen ist, einschließlich der bei der Kirchenstiftung bestehenden Fonds; 2. sonstige örtliche Kultusstiftungen und -fonds; 3. das Vermögen der Bruderschaften u n d ähnlichen Vereinigungen i m Kirchengemeindebezirk, soweit es als örtliches Stiftungsvermögen erscheint oder seither i h m gleichgeachtet worden ist. Unberührt bleibt eine f ü r solches Vermögen ordnungsmäßig bestehende besondere V e r w a l t u n g . . . . Art. 6. I. Die Angelegenheiten des katholischen ortskirchlichen Stiftungsvermögens sind den nach Maßgabe dieses Gesetzes zu bildenden Kirchenverwaltungen anvertraut, w e n n nicht durch besondere Gesetze oder Stiftungsbestimmungen eine andere V e r w a l t u n g angeordnet ist. Eine M i t w i r k u n g der K i r chengemeindeversammlung oder der Kirchengemeindebevollmächtigten findet, vorbehaltlich der A r t . 65 Abs. I I u n d 68 Abs. V I Satz 2, bei Angelegenheiten des katholischen ortskirchlichen Stiftungsvermögens n u r i n den Fällen des A r t . 23 Abs. I I Ziff. 2 u n d 3, des A r t . 36 Abs. I I I Ziff. 1 u n d Abs. I V sowie des A r t . 52 Abs. I I I Satz 3 statt. Die eigenen Angelegenheiten der katholischen Kirchengemeinden werden durch ihre Vertretungskörper besorgt.
V. Das Kirchensteuerrecht i m Königreich Bayern
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I I . Die Angelegenheiten des protestantischen ortskirchlichen Stiftungsvermögens sind der Kirchengemeinde zur V e r w a l t u n g anvertraut u n d werden neben den eigenen Angelegenheiten der Kirchengemeinde durch ihre Vertretungskörper besorgt, w e n n nicht durch besondere Gesetze oder Stiftungsbestimmungen eine andere V e r w a l t u n g angeordnet ist. III. Als Sitz des ortskirchlichen Stiftungsvermögens gilt, soferne nicht ein anderes bestimmt oder hergebracht ist, der Ort der bestehenden oder zu errichtenden Kirche, zu welcher das Vermögen i n Beziehung steht. I V . Bei den bestehenden Stiftungsverbänden gilt als Sitz der hergebrachte Ort. Art. 7. I. Neue ortskirchliche Stiftungen bedürfen der Königlichen Genehmigung, m i t Lasten verknüpfte Stiftungszuflüsse (Zustiftungen) der Genehmigung der Staatsaufsichtsbehörde. Die Befugnisse der kirchlichen Behörden bleiben unberührt. II. Die Stiftungen erlangen durch die Königliche Genehmigung die Hechtsfähigkeit u n d den verfassungsmäßigen Staatsschutz. III. Die Pfarr- u n d Tochterkirchenstiftungen, welche zur Zeit des I n k r a f t tretens der Kirchengemeindeordnung m i t ausgeschiedenen Einnahmen u n d Ausgaben bereits bestehen, werden als rechtsfähige Stiftungen anerkannt. . . . Art. 9. I. Die Kirchenstiftungen sind verbunden, den Grundstock ihres V e r mögens ungeschmälert zu erhalten u n d veräußerte Bestandteile des rentierenden Vermögens durch Erwerbung anderer rentierender Objekte sofort oder mindestens allmählich nach vorher festgestelltem Plane zu ersetzen. Den Kirchengemeinden obliegt die gleiche Verpflichtung hinsichtlich ihres eigenen Vermögens. I I . Anderes Ortskirchenvermögen soll i m Grundstock gleichfalls ungeschmälert erhalten und i m Falle unvermeidlicher Verluste tunlichst durch Rentenadmassierung wieder ergänzt w e r d e n . . . . IV. Bei Fonds, die zum Verbrauche bestimmt sind, hat die Staatsaufsichtsbehörde vorher die Voraussetzungen u n d den U m f a n g der Verbrauchbarkeit festzustellen. V. Jede Verteilung von Ortskirchenvermögen zu Eigentum oder Nutzung sowie jede Verwendung von Erträgnissen oder Überschüssen zum Privatvorteile ist unzulässig. Wohlerworbene Rechte bleiben unberührt. V I . Die Übernahme einer Haftung zu Lasten des ortskirchlichen Stiftungsvermögens oder der Kirchengemeinde für eine beiden fremde Verbindlichkeit ist unzulässig. VII. Die Bewirtschaftung der zum Ortskirchenvermögen gehörenden W a l dungen unterliegt den gesetzlichen Vorschriften. 5*
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2. Kap.: Finanzwesen u n
Vermögensverwaltung der Kirchen
Zweiter Abschnitt. Ortskirchenbedürfnisse zu ihrer Befriedigung
und Mittel
Erster Titel. Allgemeine Vorschriften Art. 12. I. A l s Ortskirchenbedürfnisse gelten außer dem Bedarf e f ü r E r f ü l l u n g der i n besonderen Bestimmungen der Kirchengemeindeordnung oder sonstigen Gesetzen festgestellten Verpflichtungen des ortskirchlichen Stiftungsvermögens u n d der Kirchengemeinde die notwendigen Erfordernisse f ü r die würdige Feier des öffentlichen Gottesdienstes, die Seelsorge und die V e r mögensverwaltung, u n d zwar i m einzelnen : 1. die Herstellung u n d Unterhaltung der Kirchen m i t regelmäßigem pfarrlichem Gottesdienst, dann der erforderlichen Gebäude für die Pfarrgeistlichen und, w o dies bisher üblich war, f ü r die Mesner nebst der Bezahlung der Brandversicherungsbeiträge, ferner die Unterhaltung der bestehenden kirchlichen Friedhöfe u n d der dazu gehörigen Bauwerke sowie die A n b r i n g u n g u n d Unterhaltung der nötigen Blitzableiter auf größeren kirchlichen Gebäuden; 2. die Beschaffung u n d Unterhaltung der inneren Einrichtung f ü r solche Kirchen, einschließlich der Kirchenstühle und Gerätschaften, dann die Bereitstellung des sonstigen sachlichen Bedarfes f ü r Zwecke des Gottesdienstes und der Seelsorge; 3. die Aufbringung des Diensteinkommens der weltlichen Kirchendiener, das angemessen sein soll (Art. 74 Abs. VI), m i t Einschluß der notwendigen Stellvertretungskosten i m Falle des Urlaubs nach A r t . 82 Abs. I I ; 4. die Bezahlung von Pfarrvisitations- u n d Installationskosten nach Maßgabe der hierüber jeweils bestehenden Ministerialvorschriften, vor deren Änderung die kirchliche Oberbehörde einvernommen w i r d ; 5. die Sorge f ü r die nach Ministerialvorschrift zu haltenden Gesetz- u n d Amtsblätter sowie für die Pfarrmatrikeln; 6. die Bestreitung des sonstigen Verwaltungsaufwandes einschließlich des sachlichen Bedarfes f ü r die pfarramtliche Geschäftsführung. II. Ferner gehören zu den Ortskirchenbedürfnissen die Erfordernisse f ü r die Verbindlichkeiten des ortskirchlichen Stiftungsvermögens u n d der Kirchengemeinde auf Grund Herkommens, besonderer Rechtsverhältnisse oder gesetzmäßiger Beschlüsse.... Art. 13. I. F ü r die Befriedigung der Ortskirchenbedürfnisse kommen, v o r behaltlich der Abs. I I I und I V , zunächst i n Betracht die Erträgnisse des Vermögens der beteiligten Kirchenstiftung, die f ü r den betreffenden Zweck verfügbaren M i t t e l sonstiger Bestandteile des Ortskirchenvermögens, die besonderen Einnahmen der Kirchenstiftung namentlich an Sammelergebnissen, Gebühren u n d Strafgeldern, dann die Interkalarfrüchte, soweit sie nach den hierüber jeweils bestehenden Vorschriften der Kirchenstiftung zukommen, sowie freiwillige oder auf rechtlicher Verpflichtung beruhende besondere Leistungen von Kirchengemeindegliedern oder Dritten, einschließlich der
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etwaigen Zuschüsse des Staates, der Gemeinden u n d anderer öffentlicher Kassen. II. Der hienach noch verbleibende, auch nicht von einem D r i t t e n vermöge subsidiärer Verpflichtung bestrittene Bedarf ist — vorbehaltlich der Bestimmungen über Grundstocksangriffe, Anlehensaufnahmen und Kirchengemeindedienste — durch Kirchenumlagen zu decken. . . . Art. 15. I. Die Kirchen Verwaltung ist zur Beschlußfassung darüber berufen, ob und inwieweit primäre Deckungsmittel, abgesehen von strittigen besonderen Leistungen der Kirchengemeindeglieder oder Dritter, zur Verfügung stehen, u n d namentlich ein baupflichtiger Bestandteil des ortskirchlichen Stiftungsvermögens für die Bestreitung der Kosten eines jeweils veranlaßten kirchlichen Baufalls ohne Beeinträchtigung der Deckung des laufenden Bedarfs leistungsfähig ist. I I . I m Streitfalle entscheidet die Staatsaufsichtsbehörde nach Einvernahme der kirchlichen Oberbehörde. . . . Art. 18. I. I n Gesamtkirchengemeinden gelten k r a f t Gesetzes als gemeinsam zu deckende Ortskirchenbedürfnisse: 1. der Verwaltungs- u n d Unterhaltungsaufwand i n Ansehung eines etwaigen gemeinsamen Vermögens, dann sonstige Lasten des letzteren, 2. der A u f w a n d an Ersatzrücklagen zum gemeinsamen Grundstockvermögen sowie f ü r Verzinsung und T i l g u n g gemeinsamer Schulden. I I . Durch Königliche Entschließung können nach Einvernahme der k i r c h lichen Oberbehörde u n d Beschlußfassung der Einzelkirchenverwaltungen, bei bestehenden Gesamtkirchengemeinden auch der Gesamtkirchenverwaltung die sämtlichen innerhalb des Gesamtkirchensprengels sich ergebenden Bedürfnisse, f ü r welche Kirchenumlagen erforderlich sind, als gemeinsam zu deckende Ortskirchenbedürfnisse e r k l ä r t werden. (Allgemeine Umlagengemeinschaft.) III. Diese Maßnahme ist n u r m i t Zustimmung der Mehrzahl der Einzelkirchenverwaltungen und gegebenenfalls der Gesamtkirchenverwaltung zulässig, überdies, wenn nicht alle Einzelkirchenverwaltungen zustimmen, n u r beim Vorhandensein eines unabweisbaren, auf regelmäßigem Wege nicht zu befriedigenden Bedürfnisses....
Zweiter Titel. Kirchenumlagen Art. 20. I. Die Kirchenumlagen sind Zuschläge der Kirchengemeinden (Art. 1, 13 Abs. V) zu den direkten Staatssteuern behufs Befriedigung v o n Ortskirchenbedürfnissen. I I . Allgemein kirchenumlagenpflichtig sind, vorbehaltlich des A r t . 109, Bekenntnisgenossen (Art. 4), die m i t einer direkten Staatssteuer veranlagt sind. Eine auf Baubedürfnisse beschränkte Umlagenpflicht der juristischen Personen
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
u n d nicht rechtsfähigen Vereine besteht nach Maßgabe des A r t . 21. Als veranlagt gilt auch, w e r vormerkungsweise veranlagt ist. Die Kirchenumlagenpflicht bemißt sich (ohne Rücksicht auf die Zuschläge wegen Nichtabgabe der gebotenen Steuererklärungen) nach der veranlagten Steuer (Normalsteuer). F ü r die Umlagenfreiheit trotz bestehender Steuerveranlagung gelten entsprechend die A r t . 3—6 des Umlagengesetzes. I I I . Eine natürliche Person, die nicht Bekenntnisgenosse ist, hat n u r insow e i t beizutragen, als eine Gemeinschaft des Bedürfnisses oder Gebrauches besteht oder ein besonderes Rechtsverhältnis eine Beitragspflicht begründet. Die sonstigen Voraussetzungen der Beitragspflicht sind die gleichen w i e bei Bekenntnisgenossen Art. 21. I. Juristische Personen u n d nicht rechtsfähige Vereine, die nicht nach A r t . 22 Ziff. 2 behandelt werden können, sind n u r bei Bauumlagen beitragspflichtig (Bauumlagenpflicht). . . . III. Aus besonderen Gründen können gänzliche oder teilweise Befreiungen durch die Kirchenverwaltung m i t staatsaufsichtlicher Genehmigung festgesetzt werden. I V . K r a f t Gesetzes sind befreit die juristischen Personen des öffentlichen Rechtes, ferner, soweit sie öffentlichen Zwecken dienen, die sonstigen Körperschaften, Vereine, Stiftungen, Anstalten u n d Kassen. Dies ist insbesondere der Fall, soweit ihrer Verfassung gemäß ihre M i t t e l für Zwecke des Kultus, des Unterrichts, der Erziehung, der Wissenschaft, der Kunst, der öffentlichen Gesundheitspflege (unter Ausschluß von Erwerbs- u n d Sportszwecken) oder der Wohltätigkeit verwendet werden. V. K r a f t Gesetzes sind ferner befreit juristische Personen u n d nicht rechtsfähige Vereine, die i n ausschließlicher Beziehung zu einer Privatkirchengesellschaft stehen oder an denen ausschließlich oder überwiegend Angehörige einer Privatkirchengesellschaft oder bekenntnislose Personen beteiligt sind Art. 22. Vorbehaltlich der A r t . 16, 19 u n d 109 geschieht die Berechnung u n d Verteilung der Kirchenumlagen auf G r u n d der Steuerbeträge, die nach A r t . 20 u n d 21 auf die Kirchengemeinde treffen, u n d zwar nach folgenden näheren Bestimmungen: 1. Die Steuern werden nach Vorschrift der A r t . 25 Abs. I I — V I u n d 27 des Umlagengesetzes angesetzt. 2. Soweit die Steuerveranlagung mehrerer natürlicher Personen einheitlich erfolgt u n d diese nicht sämtlich gegenüber dieser Kirchengemeinde kirchenumlagenpflichtig sind, ist bei den Umlagenpflichtigen n u r ein ihrem A n t e i l entsprechender T e i l der Steueransätze heranzuziehen. . . . 3. Ist von Ehegatten, die nicht dauernd getrennt leben, n u r einer Bekenntnisgenosse (Art. 4), so w i r d bei i h m die Hälfte der Steueransätze herangezogen, die i n Betracht kämen, falls beide Gatten Bekenntnisgenossen wären. Das gleiche gilt entsprechend, w e n n i n einer Hausgemeinschaft Elternteile u n d
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wirtschaftlich unselbständige K i n d e r nicht sämtlich dem nämlichen Bekenntnisse angehören; die Angehörigen des gleichen Bekenntnisses innerhalb der Hausgemeinschaft gelten bei der Berechnung als Einheit. F ü r die Umlagen der Frau haftet der Mann, f ü r die Umlagen der K i n d e r haftet der Gewalthaber als Gesamtschuldner. 4. Die Steuern der Bauumlagenpflichtigen m i t Bekenntnisgepräge werden f ü r die Kirchengemeinde des entsprechenden Bekenntnisses m i t den vollen Ansätzen herangezogen. Als Pflichtige m i t Bekenntnisgepräge gelten auch solche juristische Personen oder nicht rechtsfähige Vereine, an denen nachweisbar ausschließlich Angehörige der gleichen öffentlichen Kirchengesellschaft beteiligt sind. 5. Bauumlagenpflichtige ohne Bekenntnisgepräge können von den Kirchengemeinden des katholischen u n d des protestantischen Religionsteiles herangezogen werden. V o n der Kirchengemeinde des einzelnen Bekenntnisses w i r d n u r ein Bruchteil der Steueransätze herangezogen. Der Bruchteil bemißt sich nach dem A n t e i l des Bekenntnisses (Art. 4) an der Gesamteinwohnerzahl der einschlägigen bürgerlichen Gemeinde (bei abgesonderten Markungen der Distriktsgemeinde) nach der letzten Volkszählung. Der A n t e i l w i r d als H u n dertsatz berechnet. Bruchteile von mehr als einhalb werden auf eins v o m Hundert aufgerundet, andere bleiben außer Ansatz Art. 23. I . Die Erhebung von Kirchenumlagen unterliegt der Staatsaufsicht. Bei deren Ausübung ist insbesondere die Gesetzmäßigkeit der Auferlegung und die Leistungsfähigkeit der Pflichtigen zu prüfen. II. Die Beschlußfassung 1. über Neueinführung von Kirchenumlagen oder Erhöhung des Umlagenhundertsatzes, 2. über Unternehmungen, Einrichtungen oder sonstige außerordentliche, finanziell wichtige Maßnahmen, deren Kosten ganz oder teilweise durch U m lagenmittel bestritten werden sollen, 3. über außerordentliche, finanziell wichtige Rechtsakte, die auf die Leistung von Kirchenumlagen dauernd Einfluß haben können, steht der Kirchengemeindeversammlung oder der Kirchenverwaltung m i t Zustimmung der Kirchengemeindebevollmächtigten zu u n d bedarf der staatsaufsichtlichen Genehmigung. Die kirchliche Oberbehörde w i r d einvernommen. . . . D r i t t e r Titel. Kirchengemeindedienste Art. 26. I. Z u r Befriedigung von Ortskirchenbedürfnissen können Kirchengemeindedienste angeordnet werden, insbesondere Hand- u n d Spanndienste zu Kultusbauten, f ü r welche die Baupflicht nicht einem leistungsfähigen D r i t ten einschließlich des Aufwandes f ü r Hand- u n d Spanndienste obliegt. I I . Wissenschaftliche, k u n s t - oder handwerksmäßige Arbeiten können als Kirchengemeindedienste nicht gefordert w e r d e n . . . .
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen Vierter Titel. Anlehen
Art. 32. Die Aufnahme eines Anlehens zu Lasten des ortskirchlichen Stiftungsvermögens oder der Kirchengemeinde k a n n n u r zur T i l g u n g bestehender Anlehensschulden, dann zur Bestreitung unvermeidlicher oder zum dauernden Vorteile des ortskirchlichen Stiftungsvermögens oder der Kirchengemeinde gereichender Ausgaben stattfinden, w e n n die Deckung dieser Ausgaben aus anderen Hilfsquellen nicht ohne Uberbürdung der Pflichtigen geschehen kann.
Dritter
Abschnitt.
Ortskirchliche
Vertretungskörper
Erster Titel. Kirchenverwaltung Erstes Kapitel. Kirchenverwaltung i m allgemeinen Art. 36. I. Soferne nicht besondere Gründe eine Ausnahme rechtfertigen, soll eine Kirchenverwaltung bestehen: 1. i n den Pfarrgemeinden u n d i n den wie solche zu behandelnden Kirchengemeinden, welche sich an die den Pfarreien gleichgeachteten selbständigen Pfarrkuratien, Kuratbenefizien u n d ständigen Pfarrvikariate anschließen, 2. i n den Gesamtkirchengemeinden, 3. i n den Tochtergemeinden, welche eine eigene Kirche m i t regelmäßigem pfarrlichem Gottesdienst haben oder Umlagen erheben oder erheben wollen. II. Eine eigene Kirchenverwaltung k a n n neu gebildet und i m Falle ihres bisherigen Bestehens beibehalten werden: 1. i n Muttergemeinden, 2. i n den nicht unter Abs. I Ziff. 3 fallenden Tochtergemeinden, 3. wo f ü r einen bestimmten T e i l des Pfarrsprengels eine Nebenkirche oder Kapelle m i t rentierendem Vermögen vorhanden ist oder den Bekenntnisgenossen eines solchen engeren Bezirks besondere Leistungen f ü r kirchliche Zwecke obliegen, ohne daß eine Tochtergemeinde bestünde. III. I n Ermangelung einer eigenen Kirchenverwaltung besorgt die Geschäfte, unbeschadet der Wahrung des gesonderten Vermögensstandes u n d der Führung eigener Rechnung: 1. für eine Muttergemeinde die Pfarrkirchenverwaltung, wobei n u r der V o r stand und die i m Muttergemeindebezirke wohnenden (Art. 106 Abs. IV) K i r chenverwalter m i t w i r k e n sollen, soferne die Z a h l der letzteren mindestens zwei beträgt u n d die Geschäfte nicht durch übereinstimmende Beschlüsse des bezeichneten Vertretungskörpers u n d der Kirchengemeindeversammlung oder der Kirchengemeindebevollmächtigten der Muttergemeinde auch f ü r diesen F a l l der ganzen Pfarrkirchenverwaltung übertragen sind, 2. für eine Tochtergemeinde die Pfarrkirchenverwaltung, 3. i n den Fällen der Ziff. 3 des vorigen Absatzes, dann für das Vermögen sonstiger Nebenkirchen und Kapellen, f ü r welche nicht stiftungsgemäß eine andere V e r w a l t u n g bestellt ist, jene Kirchenverwaltung, die nach der Lage der Nebenkirche oder Kapelle zunächst zuständig erscheint.
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I V . Z u r Aufhebung einer bestehenden Kirchenverwaltung sind übereinstimmende Beschlüsse der Kirchenverwaltung u n d der Kirchengemeindeversammlung oder der Kirchengemeindebevollmächtigten sowie staatsaufsichtliche Genehmigung, bei Nebenkirchenverwaltungen n u r Staatsaufsichtsbeschluß erforderlich. Die kirchliche Oberbehörde w i r d e i n v e r n o m m e n . . . . Art. 37. I. Die Kirchenverwaltung besteht, vorbehaltlich der A r t . 58 Abs. I I , 103 Abs. V, 104 Abs. I I I und 105 Abs. I I I : 1. aus dem Pfarrer oder dem Stellvertreter i m Pfarramte als Vorstand, 2. aus gewählten weltlichen Kirchengemeindegliedern (KirchenVerwaltern), deren Z a h l mindestens zwei, höchstens zwölf beträgt und, w o schon bisher eine V e r w a l t u n g (Kirchenverwaltung, Fabrikrat, Presbyterium) bestand, durch die Z a h l ihrer weltlichen Mitglieder nach dem Sollstande m i t Einrechnung des Gemeindeabgeordneten, bei neuen Verwaltungen durch die Staatsaufsichtsbehörde bestimmt w i r d , während Änderungen der Z a h l durch Ortskirchensatzung erfolgen. II. Die Gesamtkirchenverwaltung besteht: 1. aus zwei bis acht geistlichen Mitgliedern, 2. aus gewählten weltlichen Mitgliedern (Kirchenverwaltern), deren Z a h l dreimal so groß als die der geistlichen ist u n d von der Staatsaufsichtsbehörde auf die Einzelkirchengemeinden nach Verhältnis der Seelenzahl verteilt w i r d , wobei mehrere Kirchengemeinden f ü r eine gerechnet werden können. III. Z u geistlichen Mitgliedern der Gesamtkirchenverwaltung sind die V o r stände der Einzelkirchenverwaltungen oder diejenigen Geistlichen berufen, welche beim Vorhandensein von Einzelkirchenverwaltungen deren Vorstände wären. Würde durch den E i n t r i t t aller die Z a h l acht überschritten, so bestimmen sie i n einer Versammlung nach den Grundsätzen des A r t . 49, w e r von ihnen einzutreten hat. I V . Die Gesamtkirchenverwaltung w ä h l t ihren Vorstand u n d dessen Stellvertreter aus der Z a h l ihrer geistlichen Mitglieder f ü r die Dauer der W a h l periode. V. Die Mitglieder der Kirchenverwaltungen versehen i h r A m t unentgeltlich als Ehrenamt, vorbehaltlich der Entschädigung f ü r Kassen- u n d Rechnungsführung, für bare Auslagen u n d außerordentliche Dienstleistungen. Über die Gewährung solcher Entschädigungen können allgemeine Grundsätze, auch i n bezug auf ortskirchliche Bedienstete, durch Ministerialvorschrift festgestellt werden. Art. 38. I. Hinsichtlich der Vorstandschaft i n der Kirchenverwaltung stehen dem Pfarrer die m i t den vollen pfarrlichen Rechten ausgestatteten Seelsorgegeistlichen gleich. II. I n Tochtergemeinden, f ü r die ein eigener Geistlicher außerhalb des Pfarrortes bestellt ist, k a n n dieser als stellvertretender Vorstand der Tochter-
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2. Kap.: Finanzwesen u n
Vermögensverwaltung der Kirchen
kirchenverwaltung oder der i m Tochtergemeindebezirk bestehenden sonstigen ortskirchlichen Verwaltungen auf A n t r a g des Kirchenverwaltungsvorstandes von der Staatsaufsichtsbehörde bestimmt werden. III. Wenn der Kirchenverwaltungsvorstand aus einem triftigen Grunde an der Führung der Vorstandschaft so lange verhindert ist, daß ein Ersatz notwendig erscheint, dann w e n n er v o m Dienste enthoben ist (Art. 84 Abs. IV) oder seine Vorstandspflichten gröblich vernachlässigt, k a n n von der Kreisregierung nach Einvernahme der kirchlichen Oberbehörde (in besonders d r i n genden Fällen von der Staatsaufsichtsbehörde) ein anderer Geistlicher, bei protestantischen Kirchenverwaltungen i m Notfalle auch ein Kirchenverwalter m i t der Vorstandschaft betraut werden. Das gleiche gilt, w e n n der V o r stand aus einem Privatinteresse persönlich unmittelbar beteiligt ist (Art. 40 Abs. I). IV. Wo i n einer u n d derselben protestantischen Pfarrei mehrere Pfarrer angestellt sind, ist deren erster (in der Pfalz der m i t der höheren Amtswürde, bei gleicher A m t s w ü r d e der m i t höherem Dienstalter) zunächst zum Vorstande der Kirchenverwaltung berufen. Solange er von seinem Rechte keinen Gebrauch macht u n d nicht ohnehin n u r noch ein zweiter Pfarrer vorhanden ist, bestimmen die Pfarrer den Vorstand i n gemeinschaftlichem Zusammentritt nach den Grundsätzen des A r t . 49 aus ihrer Mitte. F ü r den F a l l vorübergehender Verhinderung k a n n sich der Vorstand einen Stellvertreter aus dem Kreise seiner M i t p f a r r e r bestellen. Art. 39. I. Wenn die W a h l der Kirchenverwalter i n der festgesetzten Z a h l trotz Wiederholung nicht zustande k o m m t oder w e n n die Kirchenverwaltung nicht bloß vorübergehend beschlußunfähig w i r d , auch durch Einberufung von Ersatzmännern oder einmalige Ergänzungswahl nicht abzuhelfen war, so k a n n die Staatsaufsichtsbehörde die Z a h l der Kirchenverwalter entsprechend herabsetzen oder nötigenfalls kommissarisch die Kirchenverwaltung — w e n n t u n lich aus Kirchengemeindegliedern — ergänzen oder, abgesehen von dem V o r stande, bestellen Zweites Kapitel. Kirchenverwaltungswahlen Art. 42. I. Die Kirchenverwalter der Pfarr-, M u t t e r - u n d Tochterkirchenverwaltung sollen durch die wahlstimmberechtigten Pfarr-, M u t t e r - oder Tochtergemeindeglieder gewählt werden Art. 43. I. Wahlstimmberechtigt sind (vorbehaltlich der A r t . 19 Abs. I Satz 1 u n d 42 Abs. I I , V, V I ) die männlichen, selbständigen Bekenntnisgenossen, die das fünfundzwanzigste Lebensjahr vollendet haben, die deutsche Reichsangehörigkeit besitzen, i m Kirchengemeindebezirk wohnen (Art. 106 Abs. IV) u n d von denen ein Steuerbetrag auf eine ganz oder teilweise zum Kirchengemeindebezirke gehörige bürgerliche Gemeinde oder abgesonderte M a r k u n g trifft, m i t Ausschluß: 1. der Gemeinschuldner während der Dauer des Konkursverfahrens, 2. jener, die nicht i m Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte sind,
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3. jener, die zu Zuchthausstrafe oder wegen Diebstahls, Unterschlagung, Betrugs, Urkundenfälschung i n gewinnsüchtiger Absicht, Gotteslästerung, Beschimpfung der eigenen Kirche oder ihrer Einrichtungen u n d Gebräuche, V e r brechens oder Vergehens i n bezug auf den Eid oder w i d e r die Sittlichkeit zu Gefängnisstrafe rechtskräftig verurteilt worden sind; w e n n nicht die Strafe seit fünf Jahren verbüßt, v e r j ä h r t oder erlassen ist. II. Durch die Kirchenwahlordnung (Art. 52 Abs. I I I ) k a n n die Befugnis zur Ausübung des Wahlstimmrechts allgemein oder unter bestimmten Voraussetzungen von dem Eintrag i n eine ständige oder jeweils anzulegende Wählerliste und der Eintrag von der eigenen Anmeldung des Wahlstimmberechtigten abhängig gemacht werden. Art. 44. I. Wählbar sind (vorbehaltlich der A r t . 19 Abs. I Satz 1, 42 Abs. I I , I I I , V, V I u n d 84 Abs. IV) nach zurückgelegtem dreißigsten Lebensjahre die wahlstimmberechtigten weltlichen Bekenntnisgenossen, die ständig i m K i r chengemeindebezirke wohnen (Art. 106 Abs. IV) u n d denen nicht die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ä m t e r fehlt oder durch besonderen ordnungsmäßig veröffentlichten Ausspruch des zuständigen kirchlichen Organs die kirchlichen Gemeinschaftsrechte aberkannt sind. II. Innerhalb vierzehn Tagen nach der Bekanntmachung des Wahlergebnisses k a n n von der kirchlichen Oberbehörde die W a h l von Personen beanstandet werden, 1. die durch offenkundigen unsittlichen Lebenswandel Anlaß zu öffentlichem Ärgernis geben, 2. die durch öffentliche Handlungen eine Verachtung des Gottesdienstes u n d der Religionsgebräuche zu erkennen geben oder 3. die wegen eines i n A r t . 43 Abs. I Ziff. 3 angeführten Verbrechens oder Vergehens zu Gefängnisstrafe rechtskräftig verurteilt sind, w e n n seit der Verbüßung, V e r j ä h r u n g oder Erlassung der Strafe mehr als fünf Jahre verflossen sind. . . . Art. 47. I. Die regelmäßigen Kirchenverwaltungswahlen sollen von sechs zu sechs Jahren i m November oder Dezember stattfinden u n d bis 15. Dezember beendet sein. I I . Sie gelten f ü r die sechs auf die gesetzliche Wahlzeit folgenden Kalenderjahre (Wahlperiode). III. Die während der Wahlperiode stattfindenden Wahlen gelten f ü r die noch übrige Dauer der ersteren Drittes Kapitel. Wirkungskreis der Kirchenverwaltung Art. 53. I. Die Kirchenverwaltung v e r t r i t t das ihrer V e r w a l t u n g anvertraute ortskirchliche Stiftungsvermögen u n d die Kirchengemeinde i n allen rechtlichen Beziehungen. I I . Sie besorgt nach Maßgabe der Gesetze die V e r w a l t u n g des Ortskirchenvermögens u n d die Befriedigung der Ortskirchenbedürfnisse.
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2. Kap.: Finanzwesen unci Vermögensverwaltung der Kirchen
I I I . Die Kirchenverwaltung hat dafür zu sorgen, daß das i h r anvertraute Vermögen erhalten u n d bestmöglich verwaltet, unstatthafte Ausgaben vermieden, die dem ortskirchlichen Stiftungsvermögen oder der Kirchengemeinde w i r k l i c h obliegenden Ausgaben richtig geleistet und namentlich die unterstellten Gebäude nebst Zubehör i n gutem Stande erhalten werden. IV. Der Kirchenverwaltung stehen auch Verfügungen u n d Anordnungen über Kirchenstühle zu, soweit sie die letzteren als Bestandteile des Ortskirchenvermögens betreffen oder sonst ein ortskirchliches Vermögensinteresse berühren, unbeschadet bürgerlich- oder öffentlich-rechtlicher Ansprüche sowie der Befugnisse der kirchlichen Organe. Fortdauernd geltende Anordnungen werden m i t den gleichen Einschränkungen als Ortskirchensatzungen erlassen. Viertes K a p i t e l Geschäftsgang der Kirchenverwaltung u n d besondere Ausschüsse Art. 63. I. Die Verteilung u n d Leitung der Geschäfte gebührt dem Kirchenverwaltungsvorstande. I I . Die Sitzungen der Kirchenverwaltung können öffentlich oder geheim sein. I I I . Der Vorsitzende handhabt die Ordnung. I V . Die Kirchenverwaltung kann, falls nicht ohnehin alle Stimmberechtigten versammelt sind, n u r dann gültig beschließen, w e n n nach gehöriger Ladung aller i m Kirchengemeindebezirk anwesenden stimmberechtigten (Art. 40) Mitglieder oder nach Vorausbestimmung der Sitzungstage mehr als die Hälfte der Mitgliederzahl nach dem Sollstande, mindestens aber drei M i t glieder bei der Beratung u n d A b s t i m m u n g m i t w i r k e n . Die besonderen V o r schriften des A r t . 23 Abs. I I I bleiben vorbehalten. V. K e i n anwesender Stimmberechtigter soll sich der A b s t i m m u n g enthalten. V I . E i n A n t r a g ist angenommen, w e n n sich mehr als die Hälfte der anwesenden Stimmberechtigten dafür erklärt. V I I . Bei Stimmengleichheit gibt der geistliche Kirchenverwaltungsvorstand den Ausschlag
Zweiter Titel. Kirchengemeindeversammlung Art. 65 I. I n den gesetzlich bestimmten Fällen erfolgt die Beschlußfassung der Kirchengemeinde durch die Kirchengemeindeversammlung, soferne nicht an deren Stelle Kirchengemeindebevollmächtigte treten. I I . Die Kirchenverwaltung k a n n auch i n anderen Fällen einen Beschluß der Kirchengemeindeversammlung veranlassen. Dieser geht dem Beschlüsse der Kirchenverwaltung vor, w e n n es sich u m eine eigene Angelegenheit der K i r chengemeinde handelt.
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D r i t t e r Titel. Kirchengemeindebevollmächtigte Art. 68 I. Wo m i t Rücksicht auf die Z a h l der Stimmberechtigten, die r ä u m liche Ausdehnung des Kirchengemeindebezirks oder sonstige besondere V e r hältnisse der Zusammentritt einer Kirchengemeindeversammlung Schwierigkeiten begegnet, k a n n zu ihrem Ersätze bei gegebener Veranlassung ein aus gewählten Kirchengemeindebevollmächtigten bestehender Vertretungskörper eingeführt werden. II. Die Entscheidung hierüber erfolgt auf A n t r a g der Kirchenverwaltung oder von A m t s wegen nach Einvernahme der kirchlichen Oberbehörde durch die Staatsaufsichtsbehörde. A u f gleichen Wege k a n n die Aufhebung des V e r tretungskörpers stattfinden, w e n n die Veranlassung, die f ü r die Einführung desselben maßgebend war, weggefallen i s t . . . . Art. 69 I. Die Z a h l der Kirchengemeindebevollmächtigten ist dreimal so groß als die regelmäßige Z a h l der Kirchenverwalter u n d beträgt mindestens zwölf....
Staatsaufsicht
Vierter Abschnitt und Handhabung der Disziplin
Art. 73. I. Die V e r w a l t u n g der Angelegenheiten des ortskirchlichen Stiftungsvermögens u n d der Kirchengemeinden untersteht der Staatsaufsicht. II. Diese w i r d unter der Oberleitung des zuständigen Staatsministeriums durch die Verwaltungsbehörden ausgeübt, u n d zwar i n erster Instanz für ortskirchliches Stiftungsvermögen und Kirchengemeinden m i t dem Sitze i n unmittelbaren Städten durch die vorgesetzte Kreisregierung, sonst durch das vorgesetzte Bezirksamt. I I I . Letztere Behörden sind, soweit nicht ein anderes bestimmt ist, zuständig, wo die Kirchengemeindeordnung schlechthin von der Staatsaufsichtsbehörde oder von staatsaufsichtlicher Genehmigung spricht. IV. Die Verwaltungsbehörden sind auch auf dem Gebiete der Kirchengemeindeordnung befugt, bei Gefahr auf Verzug oder bei drohendem Nachteil für Leben, Gesundheit oder Eigentum i m öffentlichen Interesse vorsorgliche Anordnungen zu treffen. Art. 74. I. Die Handhabung der Staatsaufsicht erstreckt sich darauf, 1. daß die gesetzlichen Schranken der den ortskirchlichen Stiftungen oder den Kirchengemeinden zustehenden Befugnisse nicht zum Nachteile des Staates, der Gemeinden oder anderer öffentlicher Verbände überschritten werden; 2. daß die gesetzlichen Vorschriften beobachtet werden, durch die irgendwie das Ermessen der ortskirchlichen Vertretungskörper innerhalb des Kreises ihrer Befugnisse beschränkt ist; 3. daß die den ortskirchlichen Stiftungen oder den Kirchengemeinden gesetzlich obliegenden öffentlichen Verpflichtungen erfüllt und 4. daß die gesetzmäßigen Vorschriften über die Geschäftsführung beobachtet werden.
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
I I . Die Staatsaufsichtsbehörden haben zu diesem Zwecke das Recht der Kenntnisnahme von der Tätigkeit der ortskirchlichen Vertretungskörper, insbesondere das Recht der A m t s - u n d Kassenvisitation. I I I . Gesetzwidrige Beschlüsse sind, w e n n ihre Zurücknahme nicht binnen einer angemessenen Frist erfolgt, durch die zuständige Behörde, vorbehaltlich des Beschwerderechtes (Art. 80), außer Wirksamkeit zu setzen. IV. Beschlüsse, die ohne Berührung eines öffentlichen Interesses n u r eine Benachteiligung einzelner enthalten, können nicht von A m t s wegen (Art. 81 Abs. I I I ) außer Wirksamkeit gesetzt oder abgeändert werden, auch w e n n die Voraussetzungen der Ziff. 2, 3 oder 4 des ersten Absatzes gegeben sind. V. Unterläßt eine ortskirchliche Stiftung oder eine Kirchengemeinde, die i h r obliegenden Verpflichtungen zu erfüllen, gesetzlich notwendige Ausgaben i n den Voranschlag aufzunehmen oder erforderlichenfalls außerordentlich zu genehmigen oder die zur E r f ü l l u n g gesetzlicher Verpflichtungen nötigen K i r chengemeindedienste anzuordnen, so ist sie unter Angabe des Gesetzes aufzufordern, binnen angemessener Frist die zur E r f ü l l u n g der Verpflichtung erforderlichen Beschlüsse zu fassen. V I . W i r d innerhalb der vorgesetzten Frist die gesetzliche Notwendigkeit, der Umfang oder die A r t der Leistung bestritten, so hat die Behörde hierüber, vorbehaltlich des Beschwerderechtes (Art. 80), Beschluß zu fassen, wobei auf die Frage der Leistungsfähigkeit besondere Rücksicht zu nehmen ist. Die kirchliche Oberbehörde w i r d einvernommen. Die Erhöhung des Diensteinkommens eines weltlichen Kirchendieners (Art. 12 Abs. I Ziff. 3) k a n n durch staatsaufsichtliche Einschreitung nicht erzwungen werden, w e n n die kirchliche Oberbehörde dem ablehnenden Beschlüsse beigetreten ist. VII. W i r d die endgültig festgestellte Verpflichtung innerhalb einer angemessenen Frist nicht erfüllt, so hat die Staatsaufsichtsbehörde an Stelle der ortskirchlichen Vertretungskörper die zum Vollzuge nötigen Verfügungen zu treffen, insbesondere auch die etwa erforderliche Umlage anzuordnen und deren Erhebung auf Kosten der Kirchengemeinde zu veranlassen.... Fünfter
Abschnitt.
Besondere
Schlußbestimmungen
Erster Titel. Reichnisse und Stolgebühren Art. 85. I. Die Verpflichtung zur Leistung besonderer Reichnisse 8 i n Geld oder Naturalien an Geistliche oder weltliche Kirchendiener w i r d , vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Titels, durch die Kirchengemeindeordnung nicht berührt Art. 89. I. Stolgebühren u n d verwandte Abgaben an Geistliche u n d w e l t liche Kirchendiener können von der Kirchengemeinde auf dem gesetzlichen 8
D. h. besonderer Abgaben.
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Wege (Art. 23) gegen eine den Bezugsberechtigten zu gewährende Entschädigungsrente abgelöst werden. Bei Übernahme der Leistungen auf die Kirchenstiftung (Art. 12 Abs. I I , IV) findet A r t . 13 Abs. I V entsprechende A n w e n dung Zweiter Titel. Simultanverhältnisse Art. 90. Bei bestehendem Simultan Verhältnisse zwischen Kirchengemeinden verschiedenen Bekenntnisses finden die Vorschriften der Kirchengemeindeordnung auf die V e r w a l t u n g gemeinsamen Ortskirchenvermögens, auf den Wirkungskreis der Vertretungskörper hinsichtlich der Simultankirche oder des sonstigen Gegenstandes des Simultaneums u n d die Befriedigung der gemeinsamen Ortskirchenbedürfnisse entsprechende Anwendung, soweit sich nicht aus den Verfassungsbestimmungen, aus nachstehenden A r t i k e l n oder aus der N a t u r des Simultan Verhältnisses ein anderes e r g i b t . . . . Vierter Titel. Besondere Bestimmungen für die Pfalz Art. 97. Die Bestimmungen dieses Gesetzes finden auch i n der Pfalz A n wendung, soweit nicht nachstehend ein anderes vorgeschrieben ist 9 . . . . Fünfter Titel. Schlußbestimmungen Art. 104. I. M i t Zustimmung der vereinigten Generalsynode f ü r die protestantische Kirche rechts des Rheins k a n n auf A n t r a g des Protestantischen Oberkonsistoriums durch Landesherrliche Entschließung (§19 des 2. Anhangs zur Verfassungsbeilage) f ü r alle evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden rechts des Rheins oder f ü r einen T e i l bestimmt werden, daß die Kirchenverwaltungen auch als Kirchenvorstände i n den durch die jeweiligen kirchlichen Verordnungen festgestellten Angelegenheiten zuständig sein sollen, die außerhalb des sachlichen Bereichs der Kirchengemeindeordnung liegen 1 0 . . . .
V I . Das K i r c h e n s t e u e r r e c h t i m K ö n i g r e i c h W ü r t t e m b e r g In Württemberg war nach überlieferten Grundsätzen die evangelische kirchliche Gemeinde mit der bürgerlichen Gemeinde identisch; selbständige Vermögensrechte der Kirchengemeinde waren damit ausgeschlossen. Der Übergang zum Grundsatz der Parität und die Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts 1 führten unter anderem zur Trennung der Verwaltung der Kirchengemeinden von der der Zivilgemeinden. Dabei erhielten die neu gebildeten kirchlichen Stiftungsräte jedoch kein eigenes Umlagerecht. In der Regel übernahmen auch in den folgenden Jahrzehnten die bürgerlichen Gemeinden die Fehlbeträge 9 10 1
Dazu oben S. 65, A n m . 7 Satz 2. Dazu die Vollzugsvorschriften v o m 19. Oktober 1912 (oben S. 65, A n m . 7). Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 33 ff., 62 ff.
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im Haushalt der Kirchengemeinden, wenn eine andere Deckung sich nicht beschaffen ließ. Auch die seit 1851 eingeführten kirchlichen Vertretungsorgane 2 erhielten kein Besteuerungsrecht. Dennoch bildeten sich allmählich unterschiedliche Formen eines kirchlichen Umlagerechts aus. Erst im Jahr 1887 schloß der Staat die bestehende Gesetzeslücke. Das Gesetz betreffend die Vertretung der evangelischen Kirchengemeinden und die Verwaltung ihrer Vermögensangelegenheiten vom 14. Juni 1887 3 und das ihm entsprechende Gesetz vom gleichen Tag über die Vertretung der katholischen Pfarr gemeinden und die Verwaltung ihrer Vermögensangelegenheiten 4 erhoben die Kirchen- beziehungsweise Pfarrgemeinden zu Körperschaften des öffentlichen Rechts; auch erkannten sie ihnen das Besteuerungsrecht und eine selbständige Vermögensverwaltung zu 5. Veränderungen in der staatlichen Steuergesetzgebung bildeten den Anlaß für eine Reform des Kirchensteuerrechts, die das Gesetz vom 22. Juli 1906 vollzog e. Die dadurch neugefaßten Gesetze von 1887, das „Evangelische Kirchengemeindegesetz" (Nr. 37) und das „Katholische Kirchengemeindegesetz" (Nr. 38)7 hielten an der Ortskirchensteuer als der einzigen Kirchensteuerart fest 8. Die evangelischen Kirchenbezirke (Diözesen) konnten ihre Kosten auf die Ortsgemeinden umlegen. Für die gemeinsamen Einrichtungen der evangelischen Landeskirche kam auch nach der Gesetzgebung des Jahres 1906 der Staat auf. Ebenso gab es in der katholischen Kirche keine Besteuerung für allgemeine kirchliche Aufgaben. Den Bedarf der höheren kirchlichen Verbände (Dekanate, Diözese) mußte sie, sofern eine anderweitige Deckung nicht möglich war, auf die Ortsgemeinden umlegen 9.
Nr. 37. Evangelisches Kirchengemeindegesetz v o m 22. J u l i 1906 (Württ. Regierungsblatt 1906, S. 255) — Auszug — Die Kirchengemeinde Art.l. Die Kirchengemeinde w i r d von den Genossen des Kirchspiels (der Parochie) gebildet. Derselben kommen als einer öffentlichen Körperschaft die Rechte der juristischen Persönlichkeit zu, insbesondere verwaltet sie ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der gesetzlichen Grenzen. 2
Ebenda, Bd. I I , Nr. 171 ff. Ebenda, Bd. I I , Nr. 470. 4 W ü r t t . Reg. Bl. 1887, S. 272. 5 Die Ausführung der beiden Gesetze wurde geregelt durch die Ministerialverfügungen v o m 21. u n d 26. März 1889 (Württ. Reg. Bl. 1889, S. 45 u n d S. 117). 6 W ü r t t . Reg. Bl. 1906, S. 245. 7 Dazu die Vollzugsverfügungen v o m 15. August 1906 (Württ. Reg. Bl. 1906, S. 519 u n d S. 543). 8 Vgl. Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 1014, A n m . 10. 9 Vgl. F. Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht (1910), S. 122 ff., 316 ff. 3
V I . Das Kirchensteuerrecht i m Königreich Württemberg Art. 2. Die bisherige räumliche Begrenzung des Kirchspiels w i r d den nachfolgenden näheren Bestimmungen beibehalten:
81 unter
1) Wenn i n größeren Orten mehrere Kirchspiele bestehen, so bilden dieselben zugleich für die gemeinsamen Angelegenheiten eine Gesamtkirchengemeinde. 2) Wenn für mehrere Kirchengemeinden ein gemeinschaftlicher Pfarrer angestellt ist, so bleibt gleichwohl jede derselben eine besondere Kirchengemeinde. 3) Filialgemeinden, i n welchen ein eigenes kirchliches Vermögen vorhanden ist, oder regelmäßig wiederkehrender Gottesdienst gehalten w i r d , sind bezüglich der gemeinsamen Angelegenheiten ein T e i l der Muttergemeinde, i m ü b r i gen aber selbständige Kirchengemeinden. 4) Nebenorte, i n welchen k e i n eigenes kirchliches Vermögen vorhanden ist und kein regelmäßig wiederkehrender Gottesdienst gehalten w i r d , sind n u r als Teile der Kirchengemeinde zu betrachten. Art. 3. Durch die Bestimmungen des A r t . 2 werden die bestehenden rechtlichen Verhältnisse i n betreff des kirchlichen Vermögens und der Bestreitung des kirchlichen Aufwands nicht berührt. Unbeschadet derselben k a n n i n den Fällen des A r t . 2 Ziff. 1 - 3 der Kreis der gemeinsamen Angelegenheiten und die Zuständigkeit des Gesamtkirchengemeinderats durch Ortsstatut (Art. 85) näher geregelt werden. Art. 4. Bei der Neubildung und Auflösung von Kirchengemeinden, bei V e r änderungen i n der räumlichen Begrenzung der Kirchspiele, sowie bei Änderungen i m Verhältnisse zwischen M u t t e r - u n d Filialgemeinden u n d Nebenorten hat das Evangelische Konsistorium vor allem das betreffende Oberamt, beziehungsweise, w e n n Teile einer Kirchengemeinde verschiedenen Oberamtsbezirken angehören, jedes der beteiligten Oberämter zu vernehmen, welches seinerseits zunächst den bürgerlichen Kollegien der betreffenden Gemeinden Gelegenheit zur Äußerung von ihrem Standpunkt zu geben hat. W i r d durch eine solche Änderung ein Patronatrecht berührt, so ist auch der Patron zu hören. Eine Entschließung i n der Sache kann das Evangelische Konsistorium n u r m i t vorgängiger Zustimmung des Ministeriums des Kirchen- u n d Schulwesens treffen. . . . Art. 5. Kirchengemeindegenossen sind alle Mitglieder der evangelischen Landeskirche, welche i n einem Kirchspiele Württembergs ihren Wohnsitz i m rechtlichen Sinne des Wortes haben. Hat ein M i t g l i e d der evangelischen Landeskirche seinen Wohnsitz i n mehreren Kirchspielen Württembergs, so ist er Kirchengenosse dieser sämtlichen Kirchspiele. 6 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
Mitglieder der Landeskirche, welche keinen Wohnsitz innerhalb des Landes haben, sind Kirchengenossen desjenigen Kirchspiels, i n welchem sie einen Aufenthalt von längerer Dauer genommen haben. Als Aufenthalt von längerer Dauer gilt derjenige, welcher länger als ein Jahr gewährt oder für welchen der Aufziehende einen längeren Zeitraum als ein Jahr i n Aussicht genommen hat. Art. 6. Die Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde erlischt durch das Aufgeben des Wohnsitzes oder des Aufenthalts (Art. 5) i m Bezirke derselben, durch A u s t r i t t oder Ausschluß aus der Kirche. Der A u s t r i t t muß, u m Wirksamkeit zu haben, bei dem Vorsitzenden des Kirchengemeinderats von dem Austretenden selbst mündlich oder schriftlich angezeigt werden. Die Austrittserklärung t r i t t erst nach vier Wochen i n K r a f t . Hierauf ist dem Austretenden von dem Kirchengemeinderat durch seinen Vorsitzenden eine Bescheinigung darüber auszustellen. Art. 7. Darüber, ob die Voraussetzungen der Kirchengemeindegenossenschaft vorhanden sind, entscheiden die kirchlichen Organe nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Gesetzes u n d der bestehenden u n d zu erlassenden Kirchengesetze (vgl. übrigens A r t . 90 Abs. 2). Die Organe der
Kirchengemeinde
Art. 8. I n jeder Kirchengemeinde besteht, soweit nicht eine der i n A r t . 13, 84 u n d 92 gemachten Ausnahmen Platz greift, ein Kirchengemeinderat. Art. 9. Der Kirchengemeinderat besteht: 1) aus dem Pfarrer des Kirchspiels oder dessen ordentlichem Stellvertreter i m Pfarramt. Mehrere ständig i m Pfarramt einer Kirchengemeinde angestellte Geistliche sind sämtlich Mitglieder des Kirchengemeinderats. Hilfsgeistliche nehmen n u r m i t beratender Stimme teil; 2) aus dem Ortsvorsteher, w e n n derselbe der evangelischen Landeskirche angehört oder dessen ordentlichem Stellvertreter unter der gleichen Voraussetzung (vgl. A r t . 11 Abs. 2); 3) aus dem Kirchenpfleger; 4) aus den v o n den Kirchengemeindegenossen gewählten weltlichen M i t gliedern (Kirchengemeinderäten). Der Kirchenpatron, w e n n derselbe der evangelischen Landeskirche angehört, k a n n persönlich an den Sitzungen des Kirchengemeinderats m i t beratender Stimme teilnehmen. . . . Art. 12. I n den Fällen des A r t . 2 Ziff. 1 - 3 w i r d aus den einzelnen Kirchengemeinderäten f ü r die Beratung u n d Beschlußfassung i n gemeinsamen A n gelegenheiten ein Gesamtkirchengemeinderat gebildet.
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Durch Ortsstatut können die regelmäßigen Amtsverrichtungen des Gesamtkirchengemeinderats einem engeren Rat übertragen werden, dessen Mitglieder von den Kirchengemeinderäten der einzelnen Kirchengemeinden je auf eine Wahlperiode aus ihrer M i t t e durch W a h l berufen werden Art. 13. K o m m t eine W a h l des Kirchengemeinderats überhaupt nicht zustande, oder weigern sich so viele der gewählten Mitglieder, das A m t zu übernehmen oder auszuüben, daß der Kirchengemeinderat nicht mehr beschlußfähig ist, so ist das Evangelische Konsistorium befugt, eine kommissarische V e r w a l t u n g einzusetzen. . . . Art. 14. Wenn so viele Mitglieder des Kirchengemeinderats wegen persönlicher Beteiligung an einer vermögensrechtlichen Angelegenheit der Kirchengemeinde verhindert sind, daß Beschlußfähigkeit nicht mehr vorhanden ist, so k o m m t i n dieser Sache die Vertretung der Kirchengemeinde an Stelle des Kirchengemeinderats dem Evangelischen Konsistorium z u . . . . Art. 18. Ausgeschlossen von der Stimmberechtigung ist, w e r infolge strafrichterlichen Urteils der bürgerlichen Ehrenrechte verlustig ist, oder wer i n den letzten der W a h l vorangegangenen drei Jahren wegen Diebstahls, U n t e r schlagung, Betrugs, Meineids, Urkundenfälschung i n gewinnsüchtiger Absicht, Gotteslästerung, Beschimpfung der evangelischen Kirche oder ihrer Einrichtungen u n d Gebräuche oder wegen eines Verbrechens oder Vergehens gegen die Sittlichkeit rechtskräftig verurteilt worden ist oder eine Freiheitsstrafe auf G r u n d einer Verurteilung wegen der genannten Verbrechen erstanden hat. Das Stimmrecht r u h t : 1) bei demjenigen, gegen welchen wegen eines Verbrechens oder eines V e r gehens das Hauptverfahren eröffnet ist, wenn die Verurteilung die Entziehung der bürgerlichen Ehrenrechte zur Folge haben kann, bis zur Beendigung des Verfahrens; 2) bei demjenigen, gegen welchen ein Konkursverfahren eröffnet ist, w ä h rend der Dauer des letzteren; 3) bei demjenigen, welcher eigenmächtig die Übernahme oder die Fortführung der F u n k t i o n eines Mitglieds des Kirchengemeinderats verweigert oder wegen Verfehlungen i m Wandel oder i n der Amtsführung von dieser F u n k tion gemäß A r t . 83 entlassen worden ist, bis zur Zeit nach der nächsten i n Gemäßheit der A r t . 16 oder 84 Abs. 3 vorzunehmenden Wahl; 4) bei allen, welche, obwohl sie mindestens vier Wochen vorher besonders gemahnt wurden, m i t der Bezahlung kirchlicher Umlagen über ein Jahr lang im Rückstand sind, bis zur Erledigung dieses Rückstandes. Art. 25. F ü r die Kassen- und Rechnungsführung und für die Besorgung der laufenden ökonomischen Geschäfte der Kirchengemeinde w i r d von dem K i r chengemeinderat ein Kirchenpfleger entweder auf eine bestimmte A n z a h l von Jahren, mindestens auf drei Jahre, oder auf Lebensdauer gewählt (vgl. jedoch Art. 94).... 6*
8 4 2 .
Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
Art. 26. Wenn i n einer Kirchengemeinde die Z a h l der Kirchengemeinderäte mindestens acht beträgt, so k a n n von dem Kirchengemeinderat oder, wo ein Gesamtkirchengemeinderat besteht (Art. 12), von diesem oder dem engeren Rate desselben durch W a h l aus seiner M i t t e ein i n seiner Mehrzahl aus w e l t lichen Mitgliedern bestehender Verwaltungsausschuß bestellt werden, welcher die i n A r t . 54, 59, 60, 69 letzter Absatz, 70 bezeichneten Geschäfte unter eigener Verantwortlichkeit zu besorgen h a t . . . . Ausscheidung
des
Kirchengemeindevermögens
Art. 30. Als kirchliche Stiftungen sind anzusehen: 1) diejenigen, welche fundationsmäßig ausschließlich für die Zwecke des Gottesdienstes u n d die Pflege des kirchlichen Lebens bestimmt oder h e r k ö m m lich dafür verwendet worden sind; 2) die der Armenpflege dienenden Stiftungen, welche nicht i n Vollziehung des A r t . 11 des Gesetzes v o m 17. A p r i l 1873 zur Ausführung des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz (Reg.Bl. S. 109) i n die V e r w a l t u n g der Ortsarmenbehörde übergegangen sind, w e n n dieselben nach dem W i l l e n des Stifters durch kirchliche Organe verwaltet oder verwendet werden sollen, oder w e n n deren Erträgnisse wenigstens bisher durch solche Organe verwendet worden sind, oder w e n n sie der neben dem speziell für die kommunale A r m e n pflege vorhandenen Fonds bestehenden Kirchenpflege zugewendet worden sind, beziehungsweise i n i h r verwaltet werden ; 3) Stiftungen f ü r andere milde Zwecke (die Schule usf.), welche nach dem W i l l e n des Stifters durch kirchliche Organe verwaltet oder verwendet werden sollen, oder w e n n deren Erträgnisse wenigstens bisher durch solche Organe verwendet worden sind; 4) Stiftungen zur Versorgung evangelischer Kirchendiener oder der Angehörigen solcher; 5) Stiftungen, welche nach der ausdrücklichen Willenserklärung des Stifters n u r für Evangelische errichtet worden sind. Dahin gehören insbesondere Stiftungen für Konfirmanden, f ü r evangelische Schulkinder, für evangelische W i t w e n u n d Waisen und Stiftungen f ü r das Studium der Theologie, nicht aber Stiftungen f ü r das Studium i n anderen Fakultäten oder für das akademische Studium überhaupt, auch w e n n solche ausschließlich für Angehörige der evangelischen Kirche bestimmt sind; 6) Stiftungen, welche ausdrücklich zur bleibenden Erinnerung an einen rein kirchlichen A k t (z. B. Taufe, Konfirmation, Kommunion) errichtet worden sind; 7) Stiftungen, deren Erträgnisse an den kirchlichen Festen oder i n den kirchlichen Festzeiten oder an einem Sonntag nach der ausdrücklichen Festsetzung des Stifters zu verteilen sind; 8) Stiftungen, deren Erträgnisse i n der Kirche oder Sakristei verteilt werden oder, w e n n sie älter sind, wenigstens bis zum 1. J u l i 1840 i n der Kirche oder Sakristei verteilt worden sind;
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9) Stiftungen, welche evangelische Geistliche f ü r arme Angehörige der Gemeinde, i n welcher sie als Geistliche w i r k t e n , oder welche andere zum ehrenden Andenken an sie, als Geistliche der Gemeinde, errichtet haben; 10) Stiftungen zur Anschaffung religiöser Bücher u n d Schriften für A n gehörige der evangelischen Kirche. Die i n Ziff. 2, 3, 5 7 u n d 8 genannten Stiftungen sind nicht als kirchliche anzusehen, falls sich aus den Umständen ergibt, daß von dem Stifter eine kirchliche Stiftung nicht beabsichtigt war. Sonstige i n Ziff. 1 - 1 0 nicht genannte örtliche Stiftungen gelten als nichtkirchliche, w e n n sich nicht aus den Umständen ergibt, daß der Stifter eine kirchliche Stiftung beabsichtigt hat. Art. 31. Die teils für kirchliche, teils f ü r andere Zwecke bestimmten S t i f t u n gen bleiben i n der bisherigen V e r w a l t u n g des Stiftungsrats, beziehungsweise der Ortsarmenbehörde, welche jedoch verpflichtet sind, aus dem Ertrage des Vermögens derselben alljährlich dem Kirchengemeinderat die f ü r die kirchlichen Zwecke stiftungsgemäß zu verwendenden u n d bei periodisch wiederkehrenden Reichnissen, w e n n der W i l l e des Stifters nicht mehr nachzuweisen ist, die nach dem Durchschnitt dieser Reichnisse seit dem 1. J u l i 1840 bis zum Ende des der Verkündung dieses Gesetzes vorangegangenen Rechnungsjahrs auf das Rechnungsjahr entfallenden M i t t e l zu diesem Behuf e zur Verfügung zu stellen. Dem Stiftungsrat, beziehungsweise der Ortsarmenbehörde, bleibt übrigens unbenommen, m i t der Kirchengemeinde sich durch Überlassung eines bestimmten Anteils an dem betreffenden Stiftungsvermögen ein- f ü r allemal auseinanderzusetzen. Diese Bestimmungen (Abs. 1 u n d 2) finden auch auf solche Kirchenstiftungen, welche der evangelischen Kirche u n d einer andern Konfession gemeinsam gewidmet sind, entsprechende Anwendung. Art. 32. Reine Kirchenpflegen, d. h. solche Vermögensfonds, welche n u r zur Bestreitung des kirchlichen Aufwands einer Kirchengemeinde oder von Teilen einer solchen dienen, gehen von den bisherigen Verwaltungsorganen an die neuen kirchlichen Ortsbehörden über. Aus den Stiftungspflegen, aus welchen bisher kirchlicher A u f w a n d u n d A u f w a n d für die Zwecke der bürgerlichen Gemeinde bestritten worden ist (Heiligen-, Armenkasten-, Kirchen- u n d Schulstiftungspflegen usf.) ist das Ortskirchenvermögen nach Maßgabe der Bestimmungen der A r t . 33 - 41 auszuscheiden. . . . Art. 42. Wenn der bürgerlichen Gemeinde die privatrechtliche Verbindlichkeit zur Bestreitung des Bauaufwands für kirchliche Gebäude oder zur T r a gung eines sonstigen Aufwands f ü r Zwecke der Kirchengemeinde obliegt, so ist die Abfindung solcher Leistungen, soweit sie nicht auf Grund anderweitiger
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2. Kap.: Finanzwesen u n
Vermögensverwaltung der Kirchen
gesetzlicher Bestimmungen verlangt werden kann, der Vereinbarung der beteiligten Korporationen vorbehalten. Art. 43. Die Vereinbarung von Mesner-, Organisten- und sonstigen Kirchendiensten m i t Schulämtern, sowie die aus einer früheren solchen Vereinigung herrührende Verbindung kirchlicher Besoldungsteile m i t Schulgehalten w i r d durch das vorliegende Gesetz nicht g e l ö s t . . . . Art. 44. Die Baulasten an kirchlichen Gebäuden u n d sonstige Leistungen für kirchliche Zwecke, welche bisher der bürgerlichen Gemeinde oder der S t i f tungspflege (Art. 32 Abs. 2) oblagen, gehen nebst den h i e r m i t verbundenen Einnahmen auf die Kirchengemeinde, die Baulasten u n d der sonstige A u f w a n d f ü r die Zwecke der bürgerlichen Gemeinde, insbesondere der A u f w a n d f ü r die Schule u n d Begräbnisplätze, welche bisher von der Stiftungspflege getragen wurden, nebst den m i t diesen Einrichtungen verbundenen Einnahmen, jedoch ausschließlich der kirchlichen Gebühren von Begräbnissen, auf die bürgerliche Gemeinde v o m Tage der Verkündung dieses Gesetzes an ohne Entschädigung über Art. 45. Die Reichung 1 0 von Besoldungsteilen, welche Geistliche aus der Gemeindepflege zu beziehen haben, w i r d durch dieses Gesetz nicht berührt. Art. 46. I n das Eigentum der Kirchengemeinde gehen alle bisher aus M i t t e l n der Stiftungspflege ganz oder teilweise unterhaltenen, den bürgerlichen Gemeinden oder den Stiftungspflegen (Art. 32 Abs. 2) gehörigen, ausschließlich den Zwecken der evangelischen Kirche gewidmeten Gebäude nebst Zubehörden solcher ohne Entschädigung über. Desgleichen geht das der Kirchengemeinde oder der Stiftungspflege zustehende Eigentum an aus den M i t t e l n der Stiftungspflege ganz oder teilweise unterhaltenen, ausschließlich den Zwecken der bürgerlichen Gemeinde gewidmeten Gebäuden nebst Zubehörden, sowie an den i n Unterhaltung der Stiftungspflege oder der bürgerlichen Gemeinde stehenden Begräbnisplätzen, auf die bürgerliche Gemeinde ohne Entschädigung ü b e r . . . . Art. 47. A n der bisher üblichen Benützung der Kirchtürme, Kirchenuhren u n d Kirchenglocken, sowie der i m Eigentum der Kirchengemeinde verbleibenden Begräbnisplätze (Art. 46 Abs. 3) f ü r die Zwecke der bürgerlichen Gemeinde t r i t t eine Änderung nicht ein, wogegen die bürgerliche Gemeinde verpflichtet ist, einen dem Maße dieser Benützung entsprechenden A n t e i l an den Kosten der Instandhaltung der bezeichneten Gegenstände zu übernehmen. Über die Benützung der i n Abs. 1 genannten Gegenstände für die Zwecke der bürgerlichen Gemeinde nach der bisherigen Übung entscheidet i m Streitfall die Kreisregierung u n d auf Beschwerde, welche binnen der Ausschlußfrist von zwei Wochen zu erheben ist, endgültig das M i n i s t e r i u m des Innern 1 1 . . . . 10 11
= Zuweisung. Also unter Ausschluß des Rechtswegs.
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Wirkungskreis des Kirchengemeinderats und der übrigen Organe der Kirchengemeinde und Aufsichtsrecht des Staats Art 50. Dem Kirchengemeinderat steht nach Maßgabe dieses Gesetzes die Vertretung der evangelischen Kirchengemeinde, sowie vorbehaltlich der Staatsaufsicht (Art. 53 Abs. 2) die V e r w a l t u n g des örtlichen Kirchenvermögens unter den nachstehenden näheren Bestimmungen zu. Der kirchlichen Gesetzgebung w i r d anheimgegeben, die Besorgung der dem Pfarrgemeinderat zugewiesenen Angelegenheiten auf den Kirchengemeinderat zu übertragen. F ü r den F a l l der Übertragung dieser Angelegenheiten auf den Kirchengemeinderat ruht das Wahlrecht i n dieses K o l l e g i u m (Art. 17 u n d 19) für denjenigen, welcher sich bei Eingehung einer Ehe der Pflicht kirchlicher Trauung entschlagen oder seine K i n d e r der Taufe oder Konfirmation entzogen hat, i n solange, bis das Versäumte nachgeholt ist. Art. 51. Die Anordnung u n d Vollziehung der die äußere kirchliche Ordnung betreifenden Polizeivorschriften steht, unbeschadet des Rechts der ortskirchlichen Organe, die äußere Ordnung innerhalb der kirchlichen Gebäude zu handhaben, n u r den bürgerlichen Behörden zu. Durch die Befugnis der kirchlichen Behörden, über die Einräumung des Kirchengebäudes f ü r einzelne nicht zum Gottesdienste der Kirchengemeinde dienende Handlungen zu entscheiden, werden die Rechte D r i t t e r u n d die a l l gemeinen polizeilichen Verfügungen und Anordnungen nicht berührt. Die Organe der Kirchengemeinde können über die Kirchenstühle n u r u n beschadet privatrechtlicher, bei dem Zivilrichter verfolgbarer Ansprüche verfügen. A u f die Schule k o m m t den Organen der Kirchengemeinde eine unmittelbare E i n w i r k u n g nicht zu. Art. 52. Die Organisten, Kantoren u n d niederen Kirchendiener stehen unter der Dienstaufsicht des Kirchengemeinderats. Demselben steht über diese Diener eine Disziplinarstrafgewalt bis zu zwölf M a r k Geldstrafe zu. Art. 53. Die Vermögensverwaltung des Kirchengemeinderats umfaßt: 1) die örtlichen kirchlichen Stiftungen (Art. 30), sofern u n d soweit nicht v o m Stifter eine besondere Verwaltungsbehörde bezeichnet ist; 2) die Ablösungs-(Abfindungs-)Kapitalien f ü r kirchliche Baulasten Kultbedürfnisse, die besonderen kirchlichen Fonds (Baufonds usw.) ; . . .
und
3) den A n t e i l der Kirchengemeinde an den gemischten Stiftungen (Art. 31) ; 4) das sonstige Ortskirchenvermögen, welches nach den Bestimmungen dieses Gesetzes (Art. 32 - 49) auszumitteln ist; 5) das Kirchenopfer nach Maßgabe der Anordnungen der kirchlichen Behörden;
88
2. Kap.: Finanzwesen u n Vermögensverwaltung der Kirchen
6) alle etwaigen weiteren Zuwendungen von Vermögen, welche f ü r die Zwecke der Kirchengemeinde oder an das Ortskirchenvermögen werden gemacht werden. Diese Vermögensverwaltung untersteht der Staatsaufsicht, welche, neben der Wahrung der staatlichen u n d bürgerlichen Interessen i m allgemeinen, insbesondere die Erhaltung des Grundstocks u n d die stiftungsgemäße Verwendung der Stiftungen zum Gegenstande hat. . . . Art. 65. Reichen die ordentlichen und außerordentlichen laufenden Einnahmen der Kirchenkasse zu Bestreitung der kirchlichen Bedürfnisse nicht aus, sind ferner keine i m voraus angesammelte Fonds verwendbar, und ist bei außerordentlichen Ausgaben auch ein Grundstocks angriff oder die Aufnahme eines Anlehens nicht zulässig, so hat der Kirchengemeinderat die Beschaffung der erforderlichen M i t t e l i n Erwägung zu ziehen. W i r d durch Beisteuer dritter oder durch freiwillige Beiträge der Kirchengemeindegenossen der Bedarf nicht aufgebracht, so k a n n die Erhebung von Umlagen auf die Kirchengemeindegenossen beschlossen v/erden. Die kirchliche Besteuerung unterliegt der Staatsaufsicht, welche insbesondere die Ordnungsmäßigkeit der Auferlegung, die Leistungsfähigkeit der Pflichtigen und die Angemessenheit des Beitragsfußes zum Gegenstand hat. Art. 66. Die Gesamtsumme der Umlagen auf die Genossen einer Kirchengemeinde darf zehn Prozent der von der Gesamtheit der kirchensteuerpflichtigen Genossen zu entrichtenden direkten Staatssteuern der Regel nach nicht übersteigen. Eine Überschreitung der i n Abs. 1 festgesetzten Grenze ist n u r m i t Genehmigung der Ministerien des I n n e r n und des Kirchen- u n d Schulwesens und unter besonderen Verhältnissen zulässig. Art. 67. Der Maßstab f ü r die Verteilung der Umlagen w i r d von dem K i r chengemeinderat nach den örtlichen Verhältnissen, u n d zwar entweder je für den einzelnen F a l l oder nach Umständen für einen längeren Zeitraum mittels Statuts (vgl. A r t . 85) vorbehaltlich der Genehmigung der Staatsbehörde bestimmt. Insbesondere k a n n der Umlagemaßstab auch nach Klassen festgestellt w e r den, i n welche die Kirchengemeindegenossen nach ihren Vermögens- und Einkommensverhältnissen einzureihen sind. Art. 68. Umlagepflichtig für das ganze Steuerjahr sind sämtliche bei Beginn des Steuerjahres zur Kirchengemeinde gehörigen Kirchengemeindegenossen. Ist jemand Genosse mehrerer Kirchengemeinden (Art. 5 Abs. 2), so haben die beteiligten Kirchengemeinden das Besteuerungsrecht zu gleichen Teilen. Einem i n gemischter Ehe lebenden Ehegatten w i r d die Hälfte der Umlage angesetzt, welche unter A n w e n d u n g des bestehenden Maßstabs auf die beiden Ehegatten entfallen w ü r d e 1 2 . 12 Z u diesem „Halbteilungsgrundsatz" vgl. Staat und Kirche, Bd. I I , S. 1025, A n m . 10.
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Keinem Kirchengemeindegenossen darf mehr als ein Fünftel der i n der K i r chengemeinde zu erhebenden Gesamtumlage zugeschieden werden. Art. 69. (I) Der auf die Erhebung einer Umlage gerichtete Beschluß bedarf der Genehmigung der Staatsbehörde u n d kann, bevor dieselbe erfolgt ist, nicht zum Vollzuge gelangen.... (VI) Nach erfolgter Genehmigung des Umlagebeschlusses durch die staatlichen und die kirchlichen Aufsichtsbehörden verteilt der Kirchengemeinderat oder, wo ein solcher besteht, der Verwaltungsausschuß die Umlagen auf die einzelnen Kirchengemeindegenossen Art. 71. Die kirchliche u n d die bürgerliche Verwaltungsbehörde einer Gemeinde können sich darüber einigen, daß die kirchlichen Umlagen zugleich m i t den Steuern f ü r die bürgerliche Gemeinde von dem Gemeindepfleger erhoben und sodann von diesem i m ganzen an den Kirchenpfleger abgeliefert w e r den. . . . Art. 73. Die Beitreibung kirchlicher Abgaben erfolgt auf A n r u f e n der kirchlichen Behörden nach Maßgabe der Abschnitte I u n d I I des Gesetzes v o m 18. August 1879 über die Zwangsvollstreckung wegen öffentlich-rechtlicher Ansprüche (Reg.Bl. S. 202) Versammlung, Beratung und Beschlußfassung der ortskirchlichen Kollegien Art. 75. Der Kirchengemeinderat, sowie der Verwaltungsausschuß versammelt sich auf Einladung des Vorsitzenden, so oft es die Erledigung der Geschäfte erforderlich macht. Durch Beschluß können regelmäßige Sitzungstage festgesetzt werden Entlassung
von Mitgliedern des Kirchengemeinderats und Auflösung desselben
Art. 83. Die Entlassung eines gewählten Mitglieds des Kirchengemeinderats muß erfolgen: 1) i m Falle des Verlustes der bürgerlichen Ehrenrechte infolge gerichtlichen Urteils, 2) i m Falle der Verurteilung wegen eines der i n A r t . 18 Abs. 1 bezeichneten Verbrechen und Vergehen, 3) i m Falle des Verlustes der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ä m t e r infolge gerichtlichen Urteils 1 3 . Art. 84. Wenn der Kirchengemeinderat beharrlich die E r f ü l l u n g seiner Pflichten vernachlässigt oder verweigert, so k a n n er sowohl durch das Evangelische Konsistorium als auch durch die Kreisregierung, unter gegenseitigem Einvernehmen, aufgelöst werden. 13
Dazu die §§ 31 - 33 StGB.
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2. Kap.: Finanzwesen u n
Vermögensverwaltung der Kirchen
I m Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen genannten Behörden entscheidet auf Vorlage des Evangelischen Konsistoriums das M i n i s t e r i u m des Kirchen- und Schulwesens. M i t der Auflösung ist die sofortige Neuwahl anzuordnen. Wenn binnen Jahresfrist eine zweite Auflösung des Kirchengemeinderats erfolgt, so findet der A r t . 13 entsprechende Anwendung. Allgemeine
und
Schlußbestimmungen
Art. 85. Ortsstatutarische Vorschriften auf der Grundlage des gegenwärtigen Gesetzes (vgl. insbesondere A r t . 3 Abs. 2, A r t . 12, A r t . 26 Abs. 4 u n d A r t . 92 Ziff. 6) können n u r m i t Genehmigung des Evangelischen Konsistoriums erlassen w e r d e n . . . . Ortsstatutarische Vorschriften i n den Fällen des A r t . 67 unterliegen der Genehmigung des Evangelischen Konsistoriums u n d der Kreisregierung. I m Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem Evangelischen K o n sistorium u n d der Kreisregierung entscheidet auf Vorlage der letzteren das M i n i s t e r i u m des Kirchen- u n d Schulwesens endgültig. Art. 86. Die Mitglieder des Kirchengemeinderats, sowie die Beamten der Kirchengemeinde unterliegen wegen Verfehlungen gegen die auf die kirchliche Vermögensverwaltung bezüglichen staatlichen Gesetze, Verordnungen u n d Verwaltungsvorschriften, insbesondere wegen Verletzung der Vorschriften dieses Gesetzes zugleich der Disziplinarstrafbefugnis der Staatsaufsichtsbehörden. Art. 88. Die bürgerlichen Behörden sind verpflichtet, den kirchlichen Behörden bei Feststellung der Grundlagen der kirchlichen Besteuerung, sowie bei Anlegung v o n Personallisten f ü r andere Zwecke die Einsichtnahme der erforderlichen A k t e n zu gestatten. Bezüglich der Geheimhaltung amtlicher Mitteilungen seitens der bürgerlichen an die kirchlichen Behörden liegt den letzteren dieselbe Verpflichtung ob, wie den e r s t e r e n . . . . Art. 91. Das den kirchlichen Bedürfnissen u n d Anstalten gewidmete V e r mögen unterliegt den allgemeinen Landesgesetzen, insbesondere auch jenen über öffentliche Lasten und Abgaben, sowie über den Besitz von Liegenschaften durch die tote Hand. Art. 92. I n solchen Gemeinden, i n welchen die Gemeindegenossen i n ihrer überwiegenden Mehrheit der evangelischen Kirche angehören, u n d der kirchliche A u f w a n d bisher ganz oder zum größeren T e i l aus M i t t e l n der Stiftung gedeckt oder v o n der bürgerlichen Gemeinde bestritten worden ist, k a n n die Vertretung der Kirchengemeinde und die V e r w a l t u n g des Kirchenvermögens dem bisherigen Stiftungsrat durch Übereinkunft zwischen dem Stiftungsrat u n d Gemeinderat unter nachfolgenden näheren Bestimmungen übertragen werden:
V I . Das Kirchensteuerrecht i m Königreich Württemberg
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1) die bürgerliche Gemeinde hat die Deckung des kirchlichen Aufwands, soweit hiezu die M i t t e l des Stiftungsvermögens nicht zureichen, zu übernehmen; 2) durch diese Übernahme darf ein Steuerpflichtiger, welcher nicht Genosse der Kirchengemeinde ist, nicht erheblich belastet werden; 3) das Übereinkommen bedarf der Genehmigung des Evangelischen K o n sistoriums u n d der Kreisregierung, gegen deren Entscheidung keine Beschwerde statthaft i s t . . . .
Nr. 38. Katholisches Pfarrgemeindegesetz v o m 22. J u l i 1906 (Württ. Regierungsblatt 1906, S. 294 ff.) — Auszug — I. Organe Art. 1. Den katholischen Pfarrgemeinden kommen als öffentlichen K ö r p e r schaften die Rechte der juristischen Persönlichkeit zu. Soweit nicht eine der i n A r t . 60 Abs. 1 bis 3 gemachten Ausnahmen Platz greift, besteht für jede einzelne Pfarrgemeinde ein Kirchenstiftungsrat. Dasselbe gilt von denjenigen zu einer Pfarrgemeinde gehörigen Orten, f ü r welche eigener pfarrlicher Gottesdienst oder eigene pfarrliche Seelsorge eingerichtet ist und welche als kirchliche Filialgemeinden von dem Bischof i m Einverständnisse m i t der Staatsregierung anerkannt sind (zu vergi. A r t . 17 Abs. 1 des Gesetzes vom 30. Januar 1862, betreffend die Regelung des V e r hältnisses der Staatsgewalt zur katholischen Kirche, Reg.Bl. S. 59) 14 . Sie sind bezüglich der gemeinsamen Angelegenheiten ein T e i l der Muttergemeinde, i m übrigen aber selbständige kirchliche Gemeinden. Sonstige einzelne, zu einer Pfarrgemeinde vereinigte Orte sind je n u r als Teile der Pfarrgemeinde zu betrachten. I n größeren Orten, welche i n mehrere Pfarrgemeinden zerfallen, können sich die einzelnen Kirchenstiftungsräte f ü r die Beratung u n d Beschlußfassung i n gemeinsamen Angelegenheiten zu einem Gesamtkirchenstiftungsrat v e r einigen. . . . Art. 2. Der Kirchenstiftungsrat besteht: 1) aus dem betreffenden Pfarrer oder dessen Stellvertreter u n d den i n der Parochie etwa vorhandenen Kaplanen beziehungsweise Kaplaneiverwesern, während bloße Hilfspriester (Vikare) als solche n u r m i t beratender Stimme teilnehmen; 2) aus dem Ortsvorsteher, w e n n derselbe der katholischen Kirche angehört, oder dem ordentlichen Stellvertreter desselben unter der gleichen Voraussetzung; 14
Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 78.
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen 3) aus dem Kirchenpfleger;
4) aus einer Anzahl weltlicher, von den Pfarrgemeindegenossen aus ihrer M i t t e gewählter Mitglieder. Der Kirchenpatron, wenn derselbe der katholischen Kirche angehört, k a n n persönlich an den Sitzungen des Kirchenstiftungsrats m i t beratender Stimme teilnehmen.... Art. 13. F ü r die Kassen- u n d Rechnungsführung und f ü r die Besorgung der laufenden ökonomischen Geschäfte der Pfarrgemeinde w i r d von dem Kirchenstiftungsrat ein Kirchenpfleger entweder auf eine bestimmte Anzahl von Jahren, mindestens auf drei Jahre, oder auf Lebensdauer gewählt. . . . Art. 16. Wenn i n einer Pfarrgemeinde die Z a h l der gewählten Mitglieder des Kirchenstiftungsrats mindestens acht beträgt, so kann von dem Kirchenstiftungsrat oder, w o ein Gesamtkirchenstiftungsrat besteht (Art. 1 a), von diesem oder dem engeren Rate desselben durch W a h l aus seiner M i t t e ein i n seiner Mehrzahl aus weltlichen Mitgliedern bestehender Verwaltungsausschuß bestellt werden, welcher die i n A r t . 25, 29, 30, 42, 44 bezeichneten Geschäfte unter eigener Verantwortlichkeit zu besorgen hat II. Wirkungskreis
der ortskirchlichen
Kollegien
Art. 17. A u f den Kirchenstiftungsrat geht über: 1) die Fürsorge f ü r die Erhaltung der äußeren Ordnung innerhalb der kirchlichen Gebäude, vorbehaltlich jedoch der den bürgerlichen Behörden zustehenden Anordnung u n d Vollziehung der dieselbe betreffenden Polizeivorschriften ; 2) die Verfügung über die Kirchenstühle, jedoch unbeschadet privatrechtlicher, vor dem Zivilrichter verfolgbarer Ansprüche; 3) die Vertretung der Interessen der Pfarrgemeinde i n Beziehung auf die Schule, auf welche jedoch eine unmittelbare E i n w i r k u n g i h m nicht zusteht. Art. 18. Die Besetzung der Stellen der Organisten, Kantoren u n d der niederen Kirchendiener, soweit dieselben nicht m i t einem Schulamt verbunden sind, u n d nicht wohlerworbene Rechte D r i t t e r entgegenstehen, sowie die Dienstaufsicht über dieselben k o m m t dem Kirchenstiftungsrat z u . . . . Art. 19. Der Kirchenstiftungsrat hat die Gesamtheit der Pfarrgemeindegenossen i n vermögensrechtlicher Beziehung zu vertreten. Art. 20. Weiter geht die V e r w a l t u n g des Ortskirchenvermögens und der kirchlichen Lokalstiftungen, sofern u n d soweit nicht der Stifter eine besondere Verwaltungsbehörde bezeichnet hat, auf den Kirchenstiftungsrat über, u n beschadet der Aufsichtsbefugnisse der höheren kirchlichen Behörden, jedoch vorbehaltlich der Staatsaufsicht. Die von dem Bischöflichen Ordinariat an die Dekane u n d die Kirchenstiftungsräte bezüglich der V e r w a l t u n g des Ortskirchenvermögens u n d der kirch-
V I . Das Kirchensteuer recht i m Königreich Württemberg
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liehen Lokalstiftungen ergehenden Weisungen dürfen gegen die zur Wahrung der fundationsmäßigen Stiftungszwecke gegebenen Normen nicht verstoßen, u n d haben sich innerhalb der durch die staatlichen Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften gezogenen Grenzen zu bewegen. Allgemeine Verfügungen des Bischöflichen Ordinariats, m i t Einschluß der allgemeinen Bestimmungen über die Festsetzung der von dem Kirchenpfleger u n d den etwaigen Teilrechnern zu leistenden Kautionen, sowie der Dienstinstruktion f ü r diese, sind dem M i n i s t e r i u m des Kirchen- u n d Schulwesens zur vorgängigen Kenntnisnahme u n d etwaigen Erinnerung v o m staatlichen Standpunkte vorzulegen, u n d dürfen vor der E r k l ä r u n g des Ministeriums, daß es eine Erinnerung nicht zu machen finde, nicht erlassen werden. Die Staatsaufsicht hat, neben der Wahrung der staatlichen u n d bürgerlichen Interessen i m allgemeinen, insbesondere die Erhaltung des Grundstocks u n d die stiftungsgemäße Verwendung der Stiftungen zum Gegenstande. Art. 21. Die Vermögensverwaltung des Kirchenstiftungsrats umfaßt: 1) die örtlichen kirchlichen Stiftungen (Art. 22), sofern und soweit nicht v o m Stifter eine besondere Verwaltungsbehörde bezeichnet ist; 2) die Ablösungs-(Abfindungs-)Kapitalien f ü r kirchliche Baulasten Kultbedürfnisse, die besonderen kirchlichen Fonds (Baufonds usw.);
und
3) den A n t e i l der Pfarrgemeinde an den gemischten Stiftungen (Art. 23) ; 4) das sonstige Ortskirchenvermögen, welches nach den Bestimmungen des A r t . 24 dieses Gesetzes auszumitteln ist; 5) das Kirchenopfer nach Maßgabe der Anordnung der kirchlichen Oberbehörde; 6) alle etwaigen weiteren Zuwendungen von Vermögen, welche für die Zwecke der Pfarrgemeinde oder an das Ortskirchenvermögen werden gemacht werden. A u f die V e r w a l t u n g des Vermögens der Kirchenpfründen (Pfarr- und K a planeistellen), Vikariatsfonds und dergleichen, sowie der Abfindungskapitalien für Baulasten an den kirchlichen Pfründgebäulichkeiten, soweit diese K a pitalien i n den Besitz u n d die V e r w a l t u n g der betreffenden Kirchenpfründen übergegangen sind, findet das gegenwärtige Gesetz keine Anwendung. Art. 22. Als kirchliche Stiftungen sind a n z u s e h e n 1 5 : . . . Art. 24. Hinsichtlich der Ausscheidung und Abfindung findet dasjenige, was i n den A r t . 32 bis 49 des Ev. Kirchengemeindegesetzes bestimmt ist, auch für die katholischen Pfarrgemeinden entsprechende Anwendung, m i t der Maßgabe, daß die für die evangelische Landeskirche dem Evangelischen K o n sistorium eingeräumten Befugnisse bezüglich der Ausscheidung des örtlichen Kirchenvermögens von dem Bischöflichen Ordinariat ausgeübt werden. 15 Die A r t . 22 und 23 entsprechen den A r t . 30 und 31 des evangelischen K i r chengemeindegesetzes (oben Nr. 37).
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
Art. 38. Reichen die ordentlichen u n d außerordentlichen laufenden E i n nahmen der Kirchenkasse zu Bestreitung der kirchlichen Bedürfnisse nicht aus, sind ferner keine i m voraus angesammelte Fonds verwendbar, u n d ist bei außerordentlichen Ausgaben auch ein Grundstocksangriff oder die Aufnahme eines Anlehens nicht zulässig, so hat der Kirchenstiftungsrat die Beschaffung der erforderlichen M i t t e l i n Erwägung zu ziehen. W i r d durch Beisteuer D r i t t e r oder durch freiwillige Beiträge der Pfarrgemeindegenossen der Bedarf nicht aufgebracht, so k a n n der Kirchenstiftungsrat die Erhebung von Umlagen auf die Pfarrgemeindegenossen beschließen 16 I I I . Versammlung, Beratung und Beschlußfassung der ortskirchlichen Kollegien Art. 50. Der Kirchenstiftungsrat sowie der Verwaltungsausschuß versammelt sich auf Einladung des Vorsitzenden, so oft es die Erledigung der Geschäfte erforderlich macht. Durch Beschluß können regelmäßige Sitzungstage festgesetzt werden. I V . Entlassung von Mitgliedern des Kirchenstiftungsrats und Auflösung sowie Ersetzung desselben 17 Art. 60. Wenn eine W a h l des Kirchenstiftungsrats nicht zustande kommt, oder w e n n so viele der gewählten Mitglieder das A m t zu übernehmen oder auszuüben sich weigern, daß der Kirchenstiftungsrat nicht mehr beschlußfähig ist (Art. 53 Abs. 1), oder w e n n binnen Jahresfrist eine zweite Auflösung des Kirchenstiftungsrats erfolgt, so k a n n sowohl das Bischöfliche Ordinariat als die Kreisregierung unter gegenseitigem Einvernehmen, i m Anstandsfalle das M i n i s t e r i u m des Kirchen- u n d Schulwesens eine kommissarische V e r w a l t u n g einsetzen. Derselben kommen sämtliche Befugnisse des Kirchenstiftungsrats i n vermögensrechtlichen Angelegenheiten der Pfarrgemeinde zu. Die Amtstätigkeit dieser V e r w a l t u n g dauert bis zu dem Zeitpunkte, wo der Kirchenstiftungsrat durch eine nach A r t . 8 bis 11 dieses Gesetzes erfolgende, spätestens binnen drei Jahren anzuberaumende Neuwahl wieder gebildet sein wird. V. Allgemeine
und
Schlußbestimmungen
18
16 Die genauere Regelung dieses Kirchensteuerrechts i n den A r t . 38 - 49 entspricht, von Differenzen der Reihenfolge u n d der Artikelzählung abgesehen, den A r t . 65 - 74 des Evangelischen Kirchengemeindegesetzes (oben Nr. 37). 17 Die A r t . 58 u n d 59 entsprechen den A r t . 83 u n d 84 des Evangelischen K i r chengemeindegesetzes (oben Nr. 37). 18 Vgl. die allgemeinen u n d Schlußbestimmungen des Evangelischen K i r chengemeindegesetzes.
V I I . Das Kirchensteuerrecht i m Großherzogtum Baden
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V I I . Das K i r c h e n s t e u e r r e c h t i m G r o ß h e r z o g t u m B a d e n In Baden hatte das Gesetz vom 26. Juli 1888 die Ortskirchensteuer eingeführt 1. Ihm trat das auf Anregung der evangelischen Landeskirche erlassene Gesetz vom 18. Juni 1892 zur Seite, das den beiden großen Kirchen sowie den Altkatholiken das Recht einräumte, eine Landeskirchensteuer für allgemeine kirchliche Bedürfnisse zu erheben (Nr. 39). Die Erzdiözese Freiburg übernahm die Landeskirchensteuer nach längerem Zögern erst im Jahr 1899. Denn damit war die Errichtung einer katholischen Kirchensteuervertretung verbunden; dies aber war ein erheblicher Eingriff in die überlieferte Struktur der katholischen Kirchenverfassung. Die badischen Kirchensteuergesetze wurden verschiedentlich novelliert, am umfassendsten im Jahr 1906. Der Staat verkündete die beiden Gesetze daraufhin neu unter dem Namen „Ortskirchensteuergesetz" und „Landeskirchensteuergesetz" (Nr. 40, Nr. 41). Die erzbischöfliche Verordnung vom 8. Juli 1908 ordnete dann auch das Recht der katholischen Kirchensteuervertretungen neu (Nr. 42f.
Nr. 39. Gesetz, die Besteuerung für allgemeine kirchliche Bedürfnisse betreffend v o m 18. J u n i 1892 (Badisches Gesetz- u n d Verordnungsblatt, 1892, S. 279) — Auszug — I. Voraussetzung der Besteuerung für allgemeine kirchliche Bedürfnisse Art. 1. Den i n § 1 des Gesetzes v o m 9. Oktober 1860, die rechtliche Stellung der Kirchen u n d kirchlichen Vereine i m Staate betreffend 3 , bezeichneten Kirchen, sowie denjenigen Religionsgemeinschaften, welchen sonst als Gesamtheit das Recht öffentlicher Korporationen i m Großherzogtum zukommt, ist auf ihren A n t r a g zur Erhebung von Steuern f ü r allgemeine kirchliche Bedürfnisse die Hilfe der Staatsgewalt unter den Voraussetzungen u n d nach Maßgabe der Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzes zu gewähren. Ist dieses Gesetz hiernach für eine einzelne Kirche beziehungsweise K o r p o ration i n Vollzug zu setzen, so w i r d dies unter Bezeichnung des Beginns der Wirksamkeit durch landesherrliche Verordnung des Näheren bestimmt. Die i m Großherzogtum wohnhaften A l t k a t h o l i k e n bilden i m Sinne des gegenwärtigen Gesetzes eine besondere öffentliche Korporation. 1 2 3
Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 473. Dazu F. Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht (1910), S. 163 ff., 417 ff. Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 96.
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen Art. 2. Als allgemeine kirchliche Bedürfnisse sind jedenfalls anzusehen:
1. der A u f w a n d für die obersten kirchlichen Landesbehörden, ferner der nicht auf die Staatskasse entfallende Teil des Aufwandes für die Einrichtungen zur Ausübung der den Kirchen m i t dem Staate gemeinsamen Leitung der Verwaltung des den kirchlichen Bedürfnissen gewidmeten Vermögens sowie der A u f w a n d für die allgemeine technische Leitung u n d Beaufsichtigung des kirchlichen Bauwesens, die Kosten für Bestellung u n d Tagung von Versammlungen, welche zur M i t w i r k u n g bei allgemeinen Angelegenheiten einer Kirche überhaupt oder bei der Ausübung der Besteuerung für allgemeine kirchliche Bedürfnisse berufen sind; 2. die Aufbesserung gering besoldeter Kirchendiener, soweit nicht hierfür sonst gesetzlich Vorsorge getroffen ist; 3. der A u f w a n d an Ruhe- u n d Unterstützungsgehalten der geistlichen und kirchlichen Beamten, sowie an Sterbegehalt, W i t w e n - u n d Waisengeld für deren Hinterbliebene; 4. die Ausstattung neu zu errichtender örtlicher geistlicher Ämter, insoweit nicht hiefür die Besteuerung der betroffenen örtlichen Kirchengemeinden eintritt. Art. 3. Kirchliche Steuern dürfen n u r erhoben werden, w e n n und soweit für die betreffenden Bedürfnisse weder ein sonst aus öffentlichem Recht oder ein privatrechtlich Verpflichteter einzutreten hat, noch die Bestreitung aus den Erträgnissen des eigenen allgemeinen Kirchenvermögens oder allgemeinen kirchlichen Zwecken gewidmeter Stiftungen geschehen kann, noch Z u wendungen ohne Rechtszwang gemacht sind. Ob u n d i n welchem Umfange M i t t e l von Stiftungen (Fonds) als verwendbar beigezogen werden können, richtet sich nach den allgemeinen Bestimmungen über die Rechtsverhältnisse u n d die V e r w a l t u n g der Stiftungen, sowie nach den für jede einzelne Stiftung geltenden besonderen StiftungsVorschriften. Jedoch hat jede allgemeinen kirchlichen Zwecken gewidmete Stiftung den A u f w a n d für ihre V e r w a l t u n g aus ihrem Einkommen selbst zu tragen.... Art. 4. A u f die Bedürfnisse des Militärkirchenwesens u n d auf Personen, welche einem Militärkirchenverbande angehören, findet dieses Gesetz keine Anwendung. Art. 5. Z u r Begründung von vermögensrechtlichen, durch kirchliche Steuern zu deckenden Verpflichtungen für eine gesamte Kirche, beziehungsweise Korporation, sowie zur Erhebung kirchlicher Steuern bedarf es eines auf Vorschlag der betreffenden obersten Kirchenbehörde gefaßten Beschlusses einer kirchlich geordneten u n d staatlich anerkannten, aus W a h l der Kirchengenossen hervorgegangenen Vertretung derselben, sowie der staatlichen Genehmigung dieses Beschlusses. E i n solcher Beschluß hat sowohl den durch Steuer aufzubringenden Betrag als die A r t der Verwendung zu bestimmen.
V I I . Das Kirchensteuerrecht i m Großherzogtum Baden II. Vertretung
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der Kirchengenossen
Art. 6. Die Vertretung der Kirchengenossen ( A r t i k e l 5) k a n n ausschließlich aus weltlichen Mitgliedern zusammengesetzt werden. Besteht dieselbe aus geistlichen u n d weltlichen Mitgliedern, so ist — zur Ausübung der i h r nach dem gegenwärtigen Gesetz zukommenden Befugnisse — hinsichtlich der geistlichen Mitglieder erfordert, daß dieselben aus der W a h l der i m aktiven Kirchendienst stehenden Geistlichen hervorgehen u n d i n ihrer A n z a h l nicht mehr als ein Fünftel der Vertretung bilden. Die Stimmberechtigung zu diesen Wahlen regelt sich nach den Bestimmungen des Artikels 4 des Gesetzes v o m 26. J u l i 1888 über die Besteuerung für örtliche kirchliche Bedürfnisse 4 . Die Gesamtvertretung einer Kirche oder Religionsgemeinschaft soll nicht unter 30 Mitglieder zählen. Zählt eine Religionsgemeinschaft nicht mehr als 50 000 Seelen, so k a n n auf eine Z a h l von 20 Mitgliedern herabgegangen werden. Für jeden Wahlbezirk ist die Z a h l der Vertreter i m Verhältnis zur Seelenzahl desselben festzustellen. Die Wahlordnung und Wahlbezirkseinteilung ist gemeinschaftlich durch die Großherzogliche Regierung u n d die Kirchenbehörde festzustellen. III.
Steuerpflicht
und Steuerfuß
Art. 11. Die Steuer für allgemeine kirchliche Bedürfnisse ist von den dem Bekenntnisse der besteuernden Kirche angehörenden physischen Personen, welche den Wohnsitz (Aufenthalt) i m Großherzogtum haben, aufzubringen Art. 15. Der Betrag der für allgemeine kirchliche Bedürfnisse zu erhebenden Kirchensteuer darf für ein Kalenderjahr einen Pfennig Kapitalrentensteuer, anderthalb Pfennig Grund-, Häuser-, Gefäll- u n d Gewerbesteuer u n d zwanzig Pfennig Einkommensteuer nicht übersteigen. Art. 16. Werden die aufzubringenden Summen nicht auf die Einkommensanschläge allein umgelegt, so hat die A u f b r i n g u n g i n dem Verhältnisse zu geschehen, daß bei gleichem Steuerfuß die Kapitalrentensteuerkapitalien i m einfachen, die Grund- u n d Häuser-, Gefäll- u n d Gewerbesteuerkapitalien i m anderthalbfachen, die Einkommensanschläge i m zwanzigfachen Betrage beigezogen werden. Art. 17. Die Erhebung der Betreffnisse an allgemeiner Kirchensteuer ist, soweit thunlich, durch die örtlichen Kirchengemeinden zu bewirken, letztere werden für hiebei ausfallende Steuerbeträge der Gesammtkirche i m Großherzogtum nicht haftbar. 4
Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 473.
7 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
Die auf die Kirchengenossen einer u n d der nämlichen örtlichen Kirchengemeinde oder eines Teils derselben entfallende Steuer für allgemeine kirchliche Bedürfnisse k a n n ganz oder teilweise auf das Einkommen des dortigen örtlichen Kirchenvermögens, einschließlich der kirchlichen Stiftungen, durch staatlich u n d kirchenobrigkeitlich genehmigten Beschluß der dasselbe v e r waltenden Behörde übernommen werden, w e n n jenes Vermögen unbeschadet der E r f ü l l u n g seiner Zweckbestimmung hierzu die Einkünfte bietet. Sind i n einem Kirchspiel A l t k a t h o l i k e n vorhanden, so sind dieselben, auch w e n n sie zu einer staatlich genehmigten Gemeinschaft nicht vereinigt sind, der Kirchengemeinde des andern katholischen Teils nicht zuzurechnen. Ebenso ist es auch i m umgekehrten Verhältnisse bei Orten m i t staatlich genehmigten altkatholischen Gemeinschaften bezüglich der K a t h o l i k e n des andern Teils zu halten. IV. Verfahren
zur Feststellung
und Erhebung der Steuern
Art. 18. Der A n t r a g auf Erhebung einer Steuer für allgemeine kirchliche Bedürfnisse u n d der Beschluß der Vertretung der Kirchengenossen, welcher die Erhebung beziehungsweise Feststellung einer solchen Steuer verfügt, hat zugleich die Dauer der B e w i l l i g u n g auszusprechen. A u f eine längere Zeit als auf sechs Jahre k a n n die Steuer nicht b e w i l l i g t werden. Art. 19. Der Beschlußfassung Seitens der Vertretung der Kirchengenossen hat die Aufstellung eines Voranschlags voranzugehen, . . . Art. 20. Die Aufstellung des Voranschlags geschieht durch die oberste kirchliche Landesbehörde. . . . Art. 21. Die Erteilung der Staatsgenehmigung zu dem die Steuer festsetzenden Beschluß ( A r t i k e l 5, 12, 16, 18, 19) steht der obersten Staatsbehörde zu. Art. 23. Das auf G r u n d des Voranschlags nach dessen endgiltiger Feststell u n g u n d Genehmigung gefertigte Hauptsteuerregister, welches die für einen Bekenntnisteil i n Betracht kommenden Steueranschläge u n d die Steuerbeträge der Pflichtigen nach Steuerdistrikten getrennt nachweist, w i r d von der obersten kirchlichen Landesbehörde dem K u l t u s m i n i s t e r i u m vorgelegt u n d von diesem nach Benehmen m i t dem Finanzministerium für vollzugsreif erklärt. Die i n Ubereinstimmung m i t dem Hauptsteuerregister i n den Orts-Steuererhebungsregistern der einzelnen Orte bezeichneten, auf die einzelnen Pflichtigen entfallenden Beträge können sodann nach Maßgabe der Bestimmungen über die Beitreibung der Staatssteuer zwangsweise erhoben werden. Das Gesetz v o m 21. J u l i 1839, die V e r j ä h r u n g der öffentlichen Abgaben betreffend (Regierungsblatt Nr. X X I . Seite 175), findet auch auf kirchliche Steuern Anwendung.
V I I . Das Kirchensteuerrecht i m Großherzogtum Baden
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Art. 24. Dem K u l t u s m i n i s t e r i u m sind Rechnungsauszüge, sowie auf V e r langen die Rechnungen selbst vorzulegen, aus welchen die Verwendung der durch kirchliche Steuern erhobenen Summen zu ersehen ist. V. Sonstige
Bestimmungen
Art. 26. V o r Verkündung des Gesetzes gewählte Vertretungen der Kirchengenossen können die i n diesem Gesetze ihnen beigelegten Befugnisse nicht ausüben, ehe sie nach dessen Inkraftreten einer vollständigen N e u w a h l unterzogen worden sind. Ist eine Vertretung nicht unmittelbar von den Kirchengenossen gewählt, so hat die Neuwahl der Wahlmänner voranzugehen. Art. 29. Der Verwaltungsgerichtshof erkennt — soweit Rechte u n d V e r pflichtungen aus dem gegenwärtigen Gesetze i m Streite stehen — i n erster u n d letzter Instanz auf Klagen gegen Entscheidungen der Verwaltungsbehörden über die Schuldigkeit zur Kirchensteuer für allgemeine kirchliche Bedürfnisse u n d den Betrag der Schuldigkeit, sowie über die Rückerstattung des zur Ungebühr Gezahlten. Der Verwaltungsgerichtshof erkennt i n erster u n d letzter Instanz über Klagen gegen Verfügungen der Staatsaufsichtsbehörden, durch welche i n Bezug auf die Besteuerung für allgemeine kirchliche Zwecke Kirchen beziehungsweise Korporationen eine ihnen nicht obliegende Leistung auferlegt oder Beschlüsse derselben oder ihrer Behörden als gesetzwidrig aufgehoben werden. . . .
Nr. 40. Ortskirchensteuergesetz v o m 20. November 1906 (Badisches Gesetz- und Verordnungs-Blatt 1906, S. 778) — Auszug 5 — Art. 2. Zur Bestreitung der für die öffentliche Religionsübung der Gemeinde erforderlichen Ausgaben — der örtlichen kirchlichen Bedürfnisse — können die Kirchengemeinden . . . von ihren Angehörigen Steuern (Umlagen) fordern, für deren Erhebung die Hilfe der Staatsgewalt unter den Voraussetzungen und nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Gesetzes gewährt w i r d . 5 Z u m Vollzug siehe die beiden Verordnungen, die Feststellung, Erhebung und Verrechnung der allgemeinen Kirchensteuer der evangelisch-protestantischen Landeskirche bzw. die allgemeine Kirchensteuer f ü r die katholische Kirche i n Baden betreffend, v o m 1. November 1907 (Bad. GVB1. 1907, S. 477 und 547) sowie die Evang. Ortskirchensteuerverordnung v o m 1. M a i 1908 (Bad. GVB1. 1908, S. 117) und die kirchl. Verwaltungsvorschriften v o m 17. J u l i 1908 (GVB1. für die evang. Kirche i n Baden 1908, S. 127). Z u m Vollzug i n der katholischen Kirche siehe unten Nr. 42. — Die folgende Wiedergabe beschränkt sich auf Änderungen gegenüber dem Gesetz vom 26. J u l i 1888 (Staat u n d Kirche Bd. I I , Nr. 473).
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
Als örtliche kirchliche Bedürfnisse sind jedenfalls anzusehen: 1. Unterhaltung u n d Neubau der Pfarrkirchen u n d Pfarrhäuser; 2. Anschaffung u n d Unterhaltung der nach den Satzungen oder Gebräuchen jeder Kirche für den Pfarrgottesdienst, f ü r kirchliche Feierlichkeiten der Gemeinde u n d für die Ausübung der anderweiten seelsorgerlichen Verrichtungen nötigen Gerätschaften u n d sonstigen Erfordernisse; 3. Belohnung der sogenannten niederen kirchlichen Bediensteten (Küster, Organisten u. dgl.) ; 4. Entschädigung f ü r Stolbezüge, deren Ablösung seitens der zuständigen kirchlichen Organe beschlossen worden ist. F ü r Ausstattung neu zu errichtender geistlicher Ä m t e r ist eine Besteuer u n g durch die Kirchengemeinde n u r m i t Genehmigung der obersten Staatsbehörde statthaft. Art. 12. Die Summen, welche f ü r örtliche kirchliche Bedürfnisse durch kirchliche Steuern aufzubringen sind, werden vorbehaltlich der Bestimmung i n A r t i k e l 13 umgelegt auf die Vermögenssteuerwerte u n d Einkommensteueranschläge 6 , m i t welchen die dem Bekenntnisse der Kirchengemeinde angehörenden Kirchspielseinwohner i n den ganz oder teilweise zum Kirchspiel gehörigen Gemarkungen nach dem Gemeindesteuerkataster veranlagt sind oder — soweit Gemeindeumlagen nicht erhoben werden — zu veranlagen wären. Maßgebend ist das Gemeindesteuerkataster desjenigen Kalenderjahres, für welches die Kirchensteuer erhoben wird. Der Betrag der hiernach für andere Bedürfnisse als kirchliche Bauten zu erhebenden Kirchensteuer darf f ü r ein Kalenderjahr 5 Pfennig auf 100 M a r k Gemeindesteuerwert nicht übersteigen 7 . Eine Überschreitung dieser Grenze ist n u r m i t Genehmigung der obersten Staatsbehörde statthaft. Diese Genehmigung kann zum voraus für soviel Jahre erteilt werden, als die Überschreitung voraussichtlich notwendig ist. Art. 13. Bei der Umlegung der durch Kirchensteuer aufzubringenden K o sten für kirchliche Bauten der i n A r t i k e l 2 Absatz 2 Ziffer 1 bezeichneten A r t können zu den i n A r t i k e l 12 bezeichneten Steuerwerten u n d Steueranschlägen 8 u n d müssen, w e n n die Bausteuer 5 Pfennig auf 100 M a r k Gemeindesteuerwert 9 f ü r ein K a l e n d e r j a h r übersteigt, noch beigezogen werden die Vermögenssteuerwerte und Einkommensteueranschläge 10 , m i t welchen i n den 6 Durch das Gesetz v o m 8. August 1910 (GVB1. 1910, S. 436) geändert i n „Einkommen". 7 Durch das Gesetz v o m 8. August 1910 geändert in: „5 Pfennig auf 100 M a r k Gemeinde-Vermögenssteuerwert und 8 Hundertteile der Einkommensteuersätze (§ 93, Abs. 1 der Gemeinde- und Städteordnung) nicht übersteigen." Dam i t w a r der prozentuale Hebesatz eingeführt. 8 1910 geändert i n : „Einkommen". 9 1910 geändert i n : „Gemeindevermögenssteuerwert und 8 Hundertteile der Einkommensteuersätze". 10 1910 geändert in: „Einkommen".
V I I . Das Kirchensteuerrecht i m Großherzogtum Baden
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ganz oder teilweise zum Kirchspiel gehörigen Gemarkungen nach dem Gemeindesteuerkataster veranlagt sind oder — soweit Gemeindeumlagen nicht erhoben werden — zu veranlagen wären : 1. außerhalb des Kirchspiels wohnende bekenntnisangehörige natürliche Personen, soweit dieselben nicht f ü r eine Kirchengemeinde, deren Kirchspiel auf die betreffende Gemarkung sich erstreckt, bereits nach A r t i k e l 12 k i r chensteuerpflichtig sind; 2. dem Bekenntnis, f ü r welches die Kirchensteuer erhoben w i r d , ausschließlich zum Genuß zustehende nichtkirchliche u n d solche kirchliche Stiftungen, deren Ertrag nicht ohnehin zur Bestreitung der Kosten f ü r die Kirchen- u n d Pfarrhausbaulichkeiten der betreffenden Kirchengemeinde bestimmt ist, sowie andere juristische Personen, Gesellschaften u n d Vereine, deren Mitglieder satzungsgemäß dem nämlichen Bekenntnis angehören müssen, oder die satzungsgemäß ausschließlich Zwecke eines Bekenntnisses verfolgen; 3. soweit nicht unter Ziffer 2 fallend, juristische Personen — einschließlich der hinsichtlich des Genußrechts nicht auf ein bestimmtes Bekenntnis beschränkten Stiftungen —, insbesondere auch Aktiengesellschaften, Gewerkschaften, Genossenschaften, Gesellschaften m i t beschränkter Haftung u n d die Murgschifferschaft. Wie juristische Personen werden die Kommanditgesellschaften auf A k t i e n behandelt 1 1 . Die unter Ziffer 3 des vorhergehenden Absatzes bezeichneten Steuerwerte u n d Steueranschläge 12 sind zu den Kirchenbaukosten der verschiedenen i n A r t i k e l 1 genannten Kirchen, jedoch für jede derselben n u r i n demjenigen ermäßigten Betrage beizuziehen, welcher dem jeweils durch die jüngste Volkszählung festgestellten Verhältnisse der Z a h l der Gemarkungseinwohner desjenigen Bekenntnisses, f ü r welches die Kirchensteuer erhoben w i r d , zur Gesamteinwohnerzahl der Gemarkung entspricht. Erstrecken sich mehrere Kirchspiele eines Bekenntnisses auf eine u n d dieselbe Gemarkung, so sind die i m ersten Absatz unter Ziffer 1, 2 u n d 3 Genannten f ü r alle i n Betracht kommenden Kirchengemeinden bausteuerpflichtig, jedoch für jede n u r i n demjenigen ermäßigten Betrage, welcher dem Verhältnisse der Zahl der dem Kirchspiel zugeteilten zur Gesamtzahl der bekenntnisangehörigen Gemarkungseinwohner entspricht. Art. 14. Durch Kirchengemeindebeschluß m i t Staatsgenehmigung k a n n auf den Beizug der Einkommensteueranschläge unter 250 M a r k 1 3 verzichtet werden. I n gleicher Weise k a n n verzichtet werden auf den Beizug der Vermögenssteuerwerte solcher lediglich nach A r t i k e l 13 Absatz 1 Pflichtigen, welche außerhalb der zum Kirchspiel ganz oder teilweise gehörigen Gemarkungen ihren Wohnsitz (Aufenthalt) beziehungsweise Sitz haben, w e n n die Steuer11 Hier wurde die lange umstrittene Kirchensteuerpflicht juristischer Personen erneut festgestellt (vgl. Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 1025, A n m . 9). 12 1910 geändert i n : „Einkommen". 13 1910 geändert i n : „ E i n k o m m e n unter 1000 M " ,
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
werte eines Pflichtigen i n einer Gemarkung weder einzeln noch i n ihrer Gesamtheit den Betrag von 1 000 M a r k übersteigen. Bei Beurteilung der Anwendbarkeit der Bestimmungen i n den Absätzen 1 u n d 2 bleiben die nach A r t i k e l 13 Absatz 2 u n d 3, A r t i k e l 15 Absatz 1 und A r t i k e l 21 eintretenden Beizugsermäßigungen außer Betracht. Art. 15. Einem i n gemischter Ehe lebenden Ehegatten w i r d die Hälfte des Steuerbetrages angesetzt, welcher auf die beiden Gatten, falls dieselben eines Bekenntnisses wären, entfallen würde 1 4 . F ü r die hiernach anzusetzenden Steuern haften beide Gatten als Gesamtschuldner. Kirchensteuerpflichtige natürliche Personen ( A r t i k e l 12 u n d A r t i k e l 13 Ziffer 1), welche m i t Anderen ein Gewerbe i n Gesellschaft (offene Handelsgesellschaft, einfache Kommanditgesellschaft) betreiben, oder auf welche i n Gemeinschaft m i t Anderen i n den Einzelkatastern der Vermögenssteuer Vermögensteile veranlagt sind, während die Gemeinschaft nicht nach A r t i k e l 13 Absatz 1 Ziffer 2 oder Ziffer 3 steuerpflichtig ist, werden m i t dem ihrer Beteiligung an der Gesellschaft oder Gemeinschaft entsprechenden Teile der Vermögenssteuerwerte derselben herangezogen. Aus den Vermögenssteuerwerten der Stammgüter Stammherren als natürliche Personen steuerpflichtig.
sind die
jeweiligen
Art. 17. Beginn u n d Ende, Erhöhung u n d Minderung der Steuerpflicht richten sich nach den f ü r die Veranlagung zur Gemeindesteuer maßgebenden Bestimmungen, soweit sich nicht aus den Vorschriften dieses Gesetzes etwas anderes ergibt. Insbesondere ergreift bei den Steuerwerten des Liegenschaftsvermögens, welche von einem Steuerpflichtigen auf einen anderen übergehen, die Steuerpflicht den Erwerber m i t dem Beginn des Kalenderjahres, welches auf die rechtzeitige Feststellung des Übergangs (das A b - u n d Zuschreiben) folgt. Der Erwerber haftet jedoch ohne Rücksicht auf sein Bekenntnis samtverbindlich m i t seinem Rechts Vorgänger für die vor dem Übergang der Steuerpflicht erwachsenen Steuerbeträge. F ä l l t nach den Vorschriften dieses Gesetzes eine Änderung i n der Kirchensteuerveranlagung nötig, ohne daß gleichzeitig bei dem Pflichtigen irgend eine Änderung i n der Gemeindesteuerveranlagung stattfindet, so w i r d die Änderung jeweils erst v o m Beginn des Kalenderjahres an wirksam, das auf den E i n t r i t t der die Änderung begründenden Tatsache folgt. Abgang oder Rückvergütung an Kirchensteuer k a n n n u r beansprucht w e r den, w e n n bei der einzelnen Steuergattung ein Betrag von mindestens 50 Pfennig, bei gemischter Ehe von mindestens 25 Pfennig i n Frage steht. Diese Einschränkung findet auf Abgang wegen irriger Bekenntnisfeststellung keine A n w e n d u n g 1 5 . 14
Halbteilungsgrundsatz (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 1025, A n m . 10). A r t . 17 des Gesetzes v o m 26. J u l i 1888 wurde zu A r t . 18 Abs. 1 des neuen Gesetzes, A r t . 18 u n d 19 des Gesetzes von 1888 w u r d e n zu A r t . 19 des neuen Gesetzes. 15
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Nr. 41. Landeskirchensteuergesetz v o m 20. November 1906 (Badisches Gesetz- u n d Verordnungsblatt 1906, S. 768) — Auszug 1 6 — Art. 11. Die Steuer f ü r allgemeine kirchliche Bedürfnisse ist von den dem Bekenntnisse der besteuernden Kirche angehörenden natürlichen Personen, welche den Wohnsitz (Aufenthalt) i m Großherzogtum haben, aufzubringen. Die A r t i k e l 18 bis 20 des Ortskirchensteuergesetzes 17 sowie die Vorschriften, wonach f ü r die einem Steuerpflichtigen angesetzte Staatssteuer ein D r i t ter haftet, sind hier sinngemäß anwendbar. Art. 14. Beginn u n d Ende, Erhöhung u n d Minderung der Steuerpflicht richten sich nach den f ü r die Veranlagung zur Staatssteuer maßgebenden Bestimmungen, soweit nicht aus den Vorschriften dieses Gesetzes etwas anderes sich ergibt 1 8 Art. 15. Die allgemeine Kirchensteuer darf f ü r ein K a l e n d e r j a h r einen Pfennig Vermögenssteuer u n d fünfundzwanzig Pfennig Einkommensteuer 1 9 nicht übersteigen. Art. 16. Werden die aufzubringenden Summen nicht auf die Einkommensteueranschläge allein umgelegt, so muß der Steuerfuß für die Einkommensteueranschläge das Fünfundzwanzigfache des Steuerfußes für die Vermögenssteueranschläge betragen 2 0 .
Nr. 42. Erzbischöfliche Verordnung, die Organisation der katholischen Kirchensteuervertretung betreffend v o m 27. Dezember 1899 i n der Fassung v o m 8. J u l i 1908 (Anzeigeblatt f ü r die Erzdiözese Freiburg, 1908, S. 365) — Auszug — Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben m i t Allerhöchsten Staatsministerial-Entschließungen v o m 11. Dezember 1899 u n d v o m 25. J u n i 1908 den nachstehenden Bestimmungen über die Organisation der Katholischen 10 Die folgende Wiedergabe beschränkt sich auf Änderungen gegenüber dem Gesetz v o m 18. J u n i 1892 (oben Nr. 39). 17 Oben Nr. 40. 18 Die Abs. 2 und 3 des A r t . 14 sind identisch m i t A r t . 17, Abs. 3 u n d 4 des Ortskirchensteuergesetzes (oben Nr. 40). 19 Durch das Gesetz v o m 8. August 1910 (GVB1.1910, S. 436) geändert i n : „ u n d an Einkommensteuer 8,75 v o m Hundert der staatlichen Normalsteuersätze (Art. 21 Abs. 1, 21 a des Einkommensteuergesetzes)". D a m i t w a r auch f ü r die Landeskirchensteuer der prozentuale Hebesatz eingeführt. 20 Durch das Gesetz vom 8. August 1910 erhielt der A r t . 16 folgenden W o r t laut: „Werden die aufzubringenden Summen auf die Einkommen allein u m gelegt, so müssen gegenüber einem Steuerfuß von je ein Pfennig f ü r 100 Μ Vermögenssteueranschlag an Einkommensteuer mindestens je 7 v o m Hundert der staatlichen Normalsteuersätze erhoben werden."
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Kirchensteuervertretung (Wahl- u n d Geschäftsordnung u n d Wahlbezirkseinteilung) die nach dem Gesetze v o m 18. J u n i 1892, die Besteuerung für a l l gemeine kirchliche Bedürfnisse betreffend, erforderliche staatliche Genehmigung zu erteilen u n d damit zugleich die Anerkennung der hiernach geordneten Katholischen Kirchensteuervertretung auszusprechen geruht. Behufs A n w e n d u n g des bezeichneten Gesetzes für die katholische Kirche verordnen W i r hiemit, indem W i r die Hechte des Heiligen Stuhles ausdrücklich wahren und dessen Genehmigung vorbehalten, was folgt: I. Aufgabe, Tagungsort und der steuerbewilligenden
Zusammensetzung Versammlung
§ 1. Die i n A r t . 5 des Gesetzes v o m 18. J u n i 1892, i n der Fassung vom 20. November 1906, die Besteuerung für allgemeine kirchliche Bedürfnisse betreffend, vorgesehene Beschlußfassung erfolgt für die katholische Kirche i m Großherzogtum Baden auf Vorschlag des Erzbischofs durch eine Vertretung der stimmberechtigten Kirchengenossen (Art. 6 Abs. 2 des Ges.), welche zu vier Fünfteln aus Laien, zu einem Fünftel aus Geistlichen besteht. Andere kirchliche Angelegenheiten, welche m i t der dieser Vertretung durch das vorgenannte Gesetz zugewiesenen Aufgabe nicht i n sachlichem Zusammenhange stehen, insbesondere Fragen des Dogmas, der Verfassung, der Disziplin u n d der L i t u r g i e der Kirche sind von der Erörterung i n dieser Versammlung ausgeschlossen. Diese Vertretung f ü h r t den Namen: „Katholische tung".
Kirchensteuer-Vertre-
§ 2. Die Kirchensteuervertretung t r i t t regelmäßig i n Freiburg zusammen, sofern nicht bei der Einberufung (§ 31) ein anderer Ort bestimmt w i r d . § 3. Die Kirchensteuervertretung steht n u r m i t dem Erzbischöflichen Ordinariate i n unmittelbarer Geschäftsberührung; sie k a n n weder Verfügungen treffen noch Bekanntmachungen irgend einer A r t erlassen. § 4. Die Kirchensteuervertretung k a n n die B e w i l l i g u n g der Steuern nicht an Bedingungen knüpfen. § 5. Die Kirchensteuervertretung t r i t t n u r auf ordnungsgemäße Einberufung zusammen. Sie kann nach erfolgter Auflösung oder Vertagung oder nach A b l a u f der Zeit, f ü r welche die Mitglieder gewählt sind, nicht mehr beisammen bleiben u n d beratschlagen. § 6. Die Mitglieder der Kirchensteuervertretung werden auf die Dauer von sechs Jahren gewählt. F ü r jedes geistliche u n d weltliche M i t g l i e d w i r d zugleich ein Ersatzmann gewählt, der eintritt, w e n n das M i t g l i e d die W a h l ablehnt, f r e i w i l l i g oder wegen Verlustes der Wählbarkeit austritt, stirbt, oder w e n n dessen W a h l f ü r u n g i l t i g erklärt worden ist. Bei Wahlbezirken, i n denen nach § 9 Absatz 2
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mehrere weltliche Mitglieder (Vertreter) und Ersatzmänner gewählt sind, richtet sich die Reihenfolge des Eintritts der Ersatzmänner nach der Höhe der Stimmenzahl, die den einzelnen Ersatzmännern bei der W a h l zugefallen ist; bei gleicher Stimmenzahl entscheidet das Los. Die allgemeine Neuwahl zur Kirchensteuervertretung findet erst auf besondere Anordnung des Erzbischöflichen Ordinariates statt. Eine alsbaldige Ersatzwahl für ein einzelnes abgegangenes Mitglied, für welches ein Ersatzmann nicht vorhanden ist, muß dann stattfinden, w e n n anderenfalls das gesetzlich gebotene Verhältnis der Zahl der weltlichen Mitglieder zu jener der geistlichen Mitglieder (Art. 6 des Ges.) gestört wäre. I n diesem Falle k a n n die Kirchensteuervertretung, bevor die Ersatzwahl vorgenommen ist, nicht einberufen werden; dagegen w i r d eine i m Laufe befindliche Tagung nicht unterbrochen. § 7. Die Mitglieder der Kirchensteuervertretung sind verpflichtet, die kirchlichen Interessen i n der gesamten Erzdiözese badischen Anteils zu wahren und nach ihrer eigenen Überzeugung abzustimmen. Sie sind an Aufträge u n d Instruktionen nicht gebunden. . . . II. Bestellung
der Mitglieder der Kirchensteuervertretung (Wahlordnung)
§10. Für die Wahl der geistlichen u n d der weltlichen Delegierten bestimmt das Erzbischöfliche Ordinariat f ü r jeden Wahlbezirk einen Wahlkommissär. Nach vollzogener W a h l w i r d den gewählten geistlichen und weltlichen V e r tretern u n d Ersatzmännern seitens des Erzbischöflichen Ordinariates Nachricht von ihrer W a h l zugefertigt. §11. Z u weltlichen Vertretern u n d Ersatzmännern wählbar sind Laien, welche zum Stiftungsrate wählbar sind ( . . . Verordnung v o m 26. November 1890, die Bestellung der Stiftungsräte betreffend). Die Mitglieder der Stiftungsräte sind verpflichtet, bei der W a h l i h r Augenmerk auf Männer von bewährter kirchlicher Gesinnung, Einsicht u n d Erfahrung zu richten. Jeder Austretende ist wieder wählbar. . . . § 14. Die W a h l geschieht durch geheime Stimmabgabe der gewählten M i t glieder des Stiftungsrates; die gesetzlichen Mitglieder (Ortsgeistlicher u n d katholischer Bürgermeister bzw. dienstältestes katholisches Gemeinderatsmitglied) sind nicht wahlberechtigt III.
Einberufung, Vertagung und Auflösung der Kirchensteuer Vertretung
§30. Die Einberufung (im Einverständnisse m i t der Großherzoglichen Regierung, A r t i k e l 7 des Gesetzes), Vertagung u n d Auflösung der Kirchensteuervertretung erfolgt durch den Erzbischof.
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
Die Einberufung geschieht schriftlich unter eventueller Bezeichnung des Tagungsortes (§ 2) durch V e r m i t t l u n g der Erzbischöflichen Dekanate, welche die erfolgte Zustellung beurkunden. Die Vertagung (der Schluß der Tagung) u n d Auflösung geschieht durch Verlesen der bezüglichen Erzbischöflichen Verfügung i n der Kirchensteuervertretung Seitens eines Erzbischöflichen Beauftragten. § 31. Die Auflösung der Kirchensteuervertretung b e w i r k t , daß alle M i t g l i e der derselben ihre Eigenschaft als solche verlieren. Auch die W a h l der Ersatzmänner verliert m i t Auflösung der Kirchensteuervertretung ihre Wirksamkeit. Bei Auflösung der Steuervertretung müssen sofort Neuwahlen angeordnet werden, falls w e i t e r h i n allgemeine kirchliche Steuern erhoben werden sollen. . . . IV.
Geschäftsordnung
§33. Die Verhandlungen der Kirchensteuervertretung sind i n der Regel öffentlich ( A r t i k e l 7 des Gesetzes). Der Zuhörer-Raum muß von dem Raum, den die Kirchensteuervertretung einnimmt, i n bemerkbarer Weise geschieden sein. . . .
V I I I . Das K i r c h e n s t e u e r r e c h t i m G r o ß h e r z o g t u m Hessen Zu den fünf hessischen Kirchengesetzen von 1875 gehörte auch das Gesetz, das Besteuerungsrecht der Kirchen und Religionsgesellschaften betreffend, vom 23. April 1875 1. Es verlieh den mit Korporationsrechten ausgestatteten Religionsgesellschaften das Besteuerungsrecht; zugleich unterwarf es sie besonderen Aufsichtsregeln. Der Minister des Inneren hatte festzustellen, wann das Gesetz für die verschiedenen Kirchen in Kraft treten solle. Schon zum 1. Januar 1876 setzte er das Gesetz für die evangelische Landeskirche in Kraft 2. Da die katholische Kirche sich zunächst weigerte, an der Durchführung der hessischen Kirchengesetze mitzuwirken, kam auch das Kirchensteuerrecht für sie erst nach der Beilegung des Kulturkampfs zur Anwendung. Nachdem die gesetzlich notwendigen kirchlichen Vertretungsorgane ins Leben getreten waren, kam das Gesetz von 1875 gemäß der Bekanntmachung vom 30. Januar 1900 auch für die katholische Kirche zum Vollzug (Nr. 43)3. 1
Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 353. Bekanntmachung v o m 24. Dezember 1875 (Hess. Reg. Bl. 1875, S. 839). 8 A m 30. März 1901 erging eine Novelle zum Kirchensteuergesetz von 1875; ihre Bestimmungen sind i n den Anmerkungen zu dem Gesetz von 1875 (Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 353) wiedergegeben. — Z u m Ganzen F. Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht (1910), S. 371 ff. 2
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Nr. 43. Bekanntmachung des hessischen Innenministers v o m 30. Januar 1900 (Hess. Regierungsblatt, 1900, S. 123) M i t Bezug auf A r t i k e l 7 des Gesetzes vom 23. A p r i l 1875 über das Besteuerungsrecht der Kirchen- u n d Religionsgemeinschaften 4 w i r d h i e r m i t zur öffentlichen Kenntnis gebracht, daß die A r t i k e l 5 u n d 6 dieses Gesetzes für die katholische Kirche des Großherzogthums v o m 1. A p r i l 1900 an i n A n w e n dung zu kommen haben.
I X . Das K i r c h e n s t e u e r r e c h t i m K ö n i g r e i c h Sachsen In Sachsen kam es früher als in den meisten anderen deutschen Staaten zu einer gesetzlichen Regelung des kirchlichen Umlagewesens 1. Das Parochial lastengesetz vom 8. März 1838 2 bestimmte, in welcher Weise die Kirchenund Schulgemeinden die für die Unterhaltung der Kirchen und Schulen notwendigen Mittel aufzubringen hatten. Die Vertretung der evangelischen Kirchengemeinden bei der Vermögensverwaltung fand ihre Regelung zuerst in dem Gesetz vom 30. März 18443, dann in der sächsischen Kirchenvorstandsund Synodalordnung vom 30. März 1868, die 1906 eine umfassende Novellierung erfuhr 4. Auf dieser Grundlage erging am 10. Juli 1913 das Kirchengesetz, den Haushalt der evangelischlutherischen Kirchengemeinden betreffend (Nr. 44). Ihm trat das staatliche Kirchensteuergesetz vom 11. Juli 1913 zur Seite (Nr. 45), das die Verwaltung des Kirchenvermögens und die Verwendung der Kirchensteuern im einzelnen regelte. Sachsen hielt dabei — ebenso wie alle anderen Länder — am subsidiären Charakter der Kirchensteuer fest. Auch das katholische Kirchensteuerrecht beruhte auf dem Parochiallastengesetz von 1838. Der weiteren Entwicklung diente das Gesetz, einige durch die Reform der direkten Steuern bedingte Abänderungen gesetzlicher Vorschriften betreffend vom 2. August 1878 5. Auf ihm beruhte die Verordnung, die Aufbringung des Bedarfs für die katholischen Kirchen und Schulen der Erblande betreffend, vom 4. April 1879 e. Deren Regelungen wurden teilweise geändert in der Verordnung, die Erhebung der katholischen Kirchenund Schulumlagen in den Erblanden betreffend, vom 22. Dezember 1906 7. Schließlich erhielt auch das katholische Kirchensteuerrecht seine Neuregelung durch das Kirchensteuergesetz vom 11. Juli 1913 (Nr. 45). 4
Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 353. Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 46. 2 GVB1. 1838, S. 266. 3 GVB1. 1844, S. 140. 4 Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 162. 5 GVB1. 1878, S. 211. β GVB1.1879, S. 160. 7 GVB1. 1907, S. 4. — Z u m Ganzen F. Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht (1910), S. 157 ff., 400 ff. 1
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
Nr. 44. Kirchengesetz, den Haushalt der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden betreffend v o m 10. J u l i 1913 (Sächsisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1913, S. 274) — Auszug — Die i n Evangelicis beauftragten Staatsminister 8 haben m i t Zustimmung der evangelisch-lutherischen Landessynode beschlossen u n d verordnen, was -folgt: § 1. Das beim I n k r a f t t r e t e n dieses Gesetzes vorhandene Stamm vermögen der Kirchen, Kirchgemeinden, kirchlichen u n d geistlichen Lehen, kirchlichen Stiftungen u n d Anstalten an Grundstücken, Kapitalien u n d nutzbaren Rechten ist i m Gesamtbestande unvermindert zu erhalten. Ausnahmen hiervon dürfen nur aus dringenden Gründen und vorbehältlich der staatlichen A u f sichtsrechte 9 von dem Evangelisch-lutherischen Landeskonsistorium b e w i l l i g t werden. Außerordentliche Einnahmen durch Vermächtnisse, Schenkungen usw. wachsen, insoweit nicht andere stiftungs- oder schenkungsmäßige Bestimmungen getroffen sind, dem Stammvermögen zu. Die auf ein Kirchenvermögen bereits gewiesenen festbestimmten Ausgaben f ü r Schulzwecke sollen auch fernerhin aus dem Kirchenvermögen bestritten werden, solange die oberste Kirchenbehörde nicht für nötig findet, es zu sicherer Erreichung seines eigentlichen Zweckes davon zu befreien. Letzteres k a n n jedoch, insoweit die Ausgabe seit unvordenklicher Zeit gleichmäßig erfolgt ist, ohne Zustimmung der Beteiligten nicht geschehen. § 2. Z u r Aufnahme von Kirchgemeindeschulden ist vorgängige Genehmigung der Kircheninspektion erforderlich, w e n n die Schuldenvermehrung i n nerhalb Jahresfrist bei einer Seelenzahl unter 1000 mehr als 300 M, bei größerer Seelenzahl mehr als 300 Μ auf je 1000 Seelen beträgt. Dabei ist die durch die j e w e i l i g letzte Volkszählung ermittelte Seelenzahl der K i r c h gemeinde maßgebend. Jede Schuld der Kirchgemeinde ist zu tilgen. Die A r t der Tilgung ist durch einen Tilgungsplan festzustellen, der der Genehmigung der Kircheninspektion, dafern aber ausnahmsweise weniger als jährlich IV4 v o m Hundert der Schuldsumme unter Hinzurechnung der Zinsersparnis getilgt werden soll, der Genehmigung des Evangelisch-lutherischen Landeskonsistoriums bedarf. W i r d die neue Schuld binnen Jahresfrist zurückgezahlt, so ist die Genehmigung der Kircheninspektion nicht erforderlich. 8 Dazu § 41 Abs. 3 der sächs. Staatsverfassung v o m 4. September 1831 (Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 69). 9 Ebenda § 60.
I X . Das Kirchensteuerrecht i m Königreich Sachsen
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§3. Die Kirchgemeinden haben gemäß ihrem Berufe (Kirchenvorstandsu n d Synodalordnung § 1) insbesondere die Aufgabe, unter Beobachtung der allgemeinen kirchlichen Vorschriften 1. die zum Gottesdienste u n d zu sonstiger Kultusübung erforderlichen Räume zu beschaffen, insbesondere die i n der Parochie befindlichen Kirchen u n d sonstigen kirchlichen Anstalten, namentlich auch die kirchlichen Gottesäcker zu unterhalten und, soweit erforderlich, zu erneuern u n d zu erweitern; 2. die erforderlichen Stellen für Geistliche, sowie für Beamte u n d sonstige Bedienstete der Kirchgemeinde zu errichten und zu unterhalten, insbesondere m i t angemessenem Einkommen an Gehalt u n d Wohnung oder Wohnungsentschädigung auszustatten, auch i m Bedarfsfalle Hilfskräfte zu unterhalten; 3. alle sonstigen zur Erhaltung u n d Förderung des kirchlichen Lebens i n der Gemeinde, insbesondere auch den Zwecken christlicher Nächstenliebe dienenden Einrichtungen zu treffen u n d zu unterhalten. Sie können es sich ferner zur Aufgabe machen: 4. auch außerhalb ihres eigenen Bereiches die Zwecke der christlichen Nächstenliebe, die Arbeiten zur Erhaltung u n d Ausbreitung des Evangeliums und sonstige allgemein kirchliche Bestrebungen zu unterstützen. Der A u f w a n d , der durch die E r f ü l l u n g dieser Aufgabe, durch die A m t s führung der Geistlichen, Beamten u n d sonstigen Bediensteten der K i r c h gemeinde, sowie durch die A m t s f ü h r u n g des Kirchenvorstandes erwächst, ist von der Kirchgemeinde durch Kirchensteuern aufzubringen, soweit er nicht von den kirchlichen Stiftungen (Ärarien 1 0 , geistlichen Lehen, besonderen Stiftungsfonds) zu bestreiten ist oder durch die zur Kirchgemeindekasse fließenden Gebühren oder durch sonstige Einnahmen der Kirchgemeinde gedeckt oder v o m Staate oder von anderer Seite getragen w i r d . Z u r Bestreitung der laufenden Ausgaben ist ein angemessener Betrag verfügbar zu halten, der mindestens dem voraussichtlichen Bedarfe eines Monats entspricht. §4. I n vereinigten Kirchspielen, das heißt solchen, welche einen gemeinschaftlichen Geistlichen haben, ist bei Verteilung der Leistungen für alle Kirchenbedürfnisse unter die mehreren Kirchgemeinden den etwa bestehenden Verträgen und rechtskräftigen Entscheidungen nachzugehen. Liegen aber solche Verträge oder Entscheidungen nicht vor u n d k o m m t eine Vereinbarung, welche die Aufsichtsbehörde zu versuchen hat, nicht zustande, so sind folgende Bestimmungen anzuwenden. . . . § 5. A l l j ä h r l i c h ist v o m Kirchenvorstande über die Einnahmen und Ausgaben bei dem Kirchenvermögen, bei den m i t diesem verbundenen Kassen und bei der Kirchgemeindekasse, sowie der Besoldungskasse ein Haushaltplan (Voranschlag) aufzustellen. . . . 10 Ä r a r i u m (sonst Staatsvermögen) meint i n diesem F a l l das allgemeine Kirchenvermögen.
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
§ 6. Unterläßt eine Kirchgemeinde die i h r obliegenden u n d i m kirchlichen Interesse nötigen Leistungen u n d Einrichtungen, insbesondere die Beschaffung der dazu erforderlichen Mittel, so ist die Aufsichtsbehörde ermächtigt, sie dazu anzuhalten, nach Befinden und w e n n die deshalb erlassenen V e r fügungen ohne Erfolg bleiben, das Nötige auf Kosten der Kirchgemeinde auszuführen, auch die erforderlichen M i t t e l als Ausgabe i n den Haushaltplan einzutragen u n d die A u f b r i n g u n g derselben anzuordnen u n d vollziehen zu n lassen .
Nr. 45. Kirchensteuergesetz v o m 11. J u l i 1913 (Sächsisches Gesetz- u n d Verordnungsblatt 1913, S. 223) — Auszug — Einleitende
Bestimmungen
§ 1. Die Kirchgemeinden sind berechtigt, zur Deckung ihres Bedarfes Besitzwechselabgabe, Einkommensteuer, Grundsteuer sowie unter den V o r aussetzungen des § 16 Kopfsteuer zu erheben. Über ihre Einführung und Ordnung ist innerhalb der durch die Reichs- u n d Landesgesetze gezogenen Grenzen zu beschließen. Kirchgemeinden i m Sinne dieses Gesetzes sind die evangelisch-lutherischen Kirchgemeinden des Landes u n d die römisch-katholischen Kirchgemeinden der Oberlausitz sowie von Schirgiswalde. § 2. Die Kirchgemeinden dürfen von der Berechtigung des § 1 nur insoweit Gebrauch machen, als ihre sonstigen Einnahmen, insbesondere aus dem Kirchenvermögen, an Gebühren, Staatsentschädigungen usw., zur Deckung der Ausgaben einschließlich etwaiger Rücklagen nicht ausreichen. Der Steuerbedarf jeder Kirchgemeinde ist alljährlich durch den Haushaltplan (Voranschlag) festzustellen. Dieser bedarf, wenn Kirchensteuern erhoben werden sollen, der Genehmigung durch die Kirchenaufsichtsbehörde (§ 33). Bei Beschlüssen, die die Kirchgemeinde außergewöhnlich belasten und n u r unter Aufnahme einer Anleihe durchzuführen sind, ist die bürgerliche Gemeinde vor Durchführung des Beschlusses zu hören. Die kirchlichen Vorschriften, die den Haushalt der Kirchgemeinden, insbesondere die Heranziehung der Erträge des kirchlichen Vermögens zu den laufenden Ausgaben, die Belastung des Haushaltes m i t Schuldzinsen und Schulden-Tilgung sowie das Recht der Kirchenaufsichtsbehörden zur zwangsweisen Durchführung des Haushaltplanes regeln, bedürfen der staatlichen Genehmigung, soweit sie nicht bloß Ausführungs- oder Ordnungsvorschriften sind. 11 Die staatsgesetzliche Genehmigung w a r enthalten i n dem Gesetz vom 11. J u l i 1913 (GVB1. 1913, S. 278).
I . Das Kirchensteuerrecht i m Königreich
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§3. Andere Befreiungen von Kirchensteuern, als die i n diesem Gesetze oder i n anderen Gesetzen oder Staatsverträgen geordneten, finden nicht statt u n d können weder durch V e r j ä h r u n g entstehen noch auf G r u n d eines anderen Rechtstitels erworben werden. §4. 1. Der K ö n i g u n d die Königin, ingleichen die Königlichen W i t w e n sind f ü r ihre Person u n d abgesehen v o m Grundbesitze von Kirchensteuern befreit. 2. Befreiung von Kirchensteuern steht überdies den staatlichen G r u n d stücken u n d Gebäuden zu, die auf G r u n d von § 17 der Verfassungsur künde dem Könige zur freien Benutzung überlassen sind, sowie den zum K ö n i g lichen Hausfideikommiß gehörigen, aus der Zivilliste erworbenen Gebäuden u n d Grundstücken. § 5. F ü r die Besteuerung der Militärpersonen, der ehemaligen M i l i t ä r p e r sonen u n d der Hinterbliebenen beider bewendet es bei den bestehenden reichs- u n d landesgesetzlichen Vorschriften, soweit nicht i n § 9 1 c etwas anderes bestimmt ist. I. Abschnitt.
Von den einzelnen
Steuerarten
§ 6. Kirchliche Besitzwechselabgabe k a n n bei dem Wechsel des Eigentümers eines Grundstückes u n d bei dem Wechsel des Inhabers einer veräußerlichen Berechtigung, f ü r die ein Grundbuchblatt angelegt ist oder angelegt werden kann, erhoben w e r d e n . . . . § 8. Beitragspflichtig zur kirchlichen Einkommensteuer sind: a) alle dem Bekenntnisse der Kirchgemeinde angehörigen natürlichen Personen, die i m Kirchgemeindebezirke ihren Wohnsitz haben oder ein G r u n d stück besitzen oder ein Gewerbe betreiben; b) die i n § 23 Abs. 3 bis 5 des Gemeindesteuergesetzes genannten j u r i s t i schen Personen, Personenvereine u n d Vermögensmassen sowie der sächsische Staatsfiskus i n dem dort bestimmten U m f a n g e . . . . §12. Der kirchlichen Grundsteuer unterliegen die i n der Parochie belegenen bebauten u n d unbebauten Grundstücke sowie veräußerliche Berechtigungen, für die ein Grundbuchblatt angelegt ist oder angelegt werden kann, m i t Ausnahme der verliehenen Bergbaurechte, der Kohlenbergbaurechte u n d der Abbaurechte. . . . §16. Insoweit i n zusammengesetzten Kirchgemeinden m i t einheitlicher Steuererhebung . . . Kopfsteuer erhoben w i r d , k a n n es hierbei, dafern die Gesamteinkommen unter 400 Μ von der kirchlichen Einkommensteuer freigelassen werden, bis m i t Ende des Jahres 1918 bewenden. Von diesem Zeitp u n k t ab ist die Erhebung von Kopfsteuern i n zusammengesetzten K i r c h gemeinden m i t einheitlicher Steuererhebung nicht mehr zulässig. Insoweit i n den übrigen K i r c h g e m e i n d e n . . . die Deckung des Steuerbedarfes m i t durch Kopfsteuer erfolgt, k a n n es hierbei bewenden, solange auch i n der bürgerlichen Gemeinde eine Kopfsteuer erhoben w i r d . . . .
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen II. Abschnitt.
Von den Steuerberechtigten
§17. Die Beschlußfassung über die Regelung der Kirchensteuern steht den Vertretungen der zur Kirchgemeinde gehörigen bürgerlichen Gemeinden nach Gehör der Kirchgemeindevertretung zu. Die Beschlüsse sind i n die F o r m einer Steuerordnung oder eines Nachtrages dazu zu bringen u n d bedürfen der Genehmigung der Kirchenaufsichtsbehörde. Bezüglich der Besitzwechselabgabe steht die Genehmigung der Kirchensteuerordnung der obersten Kirchenbehörde zu. Die Genehmigung kann auch auf Widerruf oder auf Zeit erteilt werden. W i r d die Genehmigung der Kirchensteuerordnung von der Kirchenaufsichtsbehörde versagt oder nur auf Widerruf oder Zeit erteilt, so entscheidet auf Rekurs die oberste Kirchenbehörde endgültig. . . . §25. Die Vorschriften dieses Gesetzes sind auch auf die Deckung des Bedarfes der Minderheitskirchgemeinden der Oberlausitz, sowie von Schirgiswalde anzuwenden. Beitragspflichtig sind, soweit i n Absatz 2 nicht etwas anderes bestimmt ist, n u r die Mitglieder der Minderheitskirchgemeinden und ihre Grundstücke. Wo die Angehörigen der konfessionellen Minderheit eines Ortes einer Nachbarparochie ihres Bekenntnisses zugewiesen worden sind, sind sie i n dieser beitragspflichtig, solange diese Zuweisung dauert. § 26. Der Bedarf für die katholischen Kirchen der Erblande, soweit solcher nicht aus deren eigenem Vermögen oder aus Zuflüssen u n d Fonds, die für sie bestimmt sind, gedeckt werden kann oder nicht aus der Staatskasse bestritten w i r d , ist von den römisch-katholischen Glaubensgenossen i n den Erblanden aufzubringen. Die A u f b r i n g u n g der Steuerbeträge hat nach dem Maßstabe der Staatseinkommensteuer u n d der Staatsgrundsteuer zu erfolgen. Auch kann die E r hebung von Besitzwechselabgaben vorgeschrieben werden. Die näheren Vorschriften hierüber, insbesondere über Befreiung von der Beitragspflicht u n d über die Erhebung der Kirchensteuer, werden soweit möglich i m Anschlussse an die übrigen Vorschriften dieses Gesetzes vom M i n i s t e r i u m des K u l t u s u n d öffentlichen Unterrichts durch Verordnung getroffen. § 27. Die Erhebung der Kirchensteuern — Aufzeichnung der Steuerpflichtigen (Kataster, Heberegister), Veranlagung, Ausschreibung, Vereinnahmung u n d Einleitung der Zwangsvollstreckung wegen der Steuerrückstände — erfolgt durch die i n § 63 des Gemeindesteuergesetzes bestimmten Organe der bürgerlichen Gemeinde. Die hiermit verbundenen Mühewaltungen sind den bürgerlichen Gemeinden von den Kirchgemeinden m i t fünf v o m Hundert des Isteinganges der Steuer zu vergüten, soweit die bürgerlichen Gemeinden nicht darauf verzichten.
X . Das Kirchensteuerrecht i m
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Gehört eine bürgerliche Gemeinde einer Mehrheits- u n d einer M i n d e r heitskirchgemeinde an, so darf sie auf die Gebühr n u r i n gleichem Maße für beide Kirchgemeinden v e r z i c h t e n . . . . III. Abschnitt.
Von den Steuerpflichtigen
§28. Bezüglich des Beginnes u n d Endes der Steuerpflicht gelten die V o r schriften i n § 65 des Gemeindesteuergesetzes 12 . Bestehen i m Bezirke einer bürgerlichen Gemeinde mehrere Kirchgemeinden desselben Bekenntnisses, so sind juristische Personen, die am Orte ihren Sitz haben, ohne daß ein bestimmter Kirchgemeindebezirk als Sitz bezeichnet werden kann, zur kirchlichen Einkommensteuer i n der Kirchgemeinde heranzuziehen, innerhalb deren sich der Hauptsitz der Gemeindeverwaltung befindet §29. 1. Bezüglich der Rechtsmittel gegen die Heranziehung zu Kirchensteuern, der Zuständigkeit u n d des Verfahrens dabei gelten die Vorschriften der §§ 66 bis 72 und 83 des Gemeindesteuergesetzes. . . . IV. Abschnitt.
Nachzahlungsverfahren, und Strafbestimmungen
Verjährung
§ 32. Die Vorschriften des Gemeindesteuergesetzes über das Nachzahlungsverfahren und die V e r j ä h r u n g i n §§ 73, 74, 75 a u n d 76 sowie die Strafbestimmungen desselben Gesetzes i n §§ 77 bis 82 gelten auch für die Kirchensteuern entsprechend m i t der Maßgabe, daß Geldstrafen, die wegen H i n t e r ziehung solcher Steuern von Gemeindebehörden endgültig festgesetzt worden sind, in die Kasse der Kirchgemeinde fließen. . . .
X . Das K i r c h e n s t e u e r r e c h t i m H e r z o g t u m B r a u n s c h w e i g Das Braunschweigische Staatsgrundgesetz von 18321 hatte den Kirchengemeinden eine eigenständige Vertretung und Verwaltung in Aussicht gestellt. Dieser Ankündigung gemäß richtete das Kirchenvorstandsgesetz vom 30. Januar 1851 Kirchenvorstände ein, deren Rechte freilich beschränkt waren 2. Die braunschweigische Landessynode beantragte 1892 einstimmig, den Kirchengemeinden das Recht zur Erhebung von Kirchensteuern zuzuerkennen. Die dazu erforderliche neue Kirchengemeindeordnung vom 11. Juni 1909 trat nach weiteren langwierigen Verhandlungen am 1. April 1912 in Kraft 3. 12
§ 65 a. a. O. lautet: Die Steuerpflicht beginnt und endet bei direkten Steuern m i t A b l a u f des Monats, i n dem das die Steuerpflicht begründende V e r h ä l t nis eingetreten oder weggefallen ist. 1 Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 71. 2 Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 160. 3 Unten Nr. 232. a H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
Die Kirchengemeindeordnung zusammen mit dem sie begleitenden Staatsgesetz regelte sowohl die Kirchensteuerpflicht als auch die Verwaltung der Kirchensteuer. Die Verpflichtung, für die finanziellen Bedürfnisse der evangelischen Kirchengemeinden zu sorgen, ging damit von den bürgerlichen Gemeinden auf die Kirchengemeinden über. Eine Besonderheit des braunschweigischen Kirchensteuer rechts bildete die gesetzliche Regelung der Erhebung kirchlicher Beiträge von Νichtmitgliedern. Gleichlautende staatliche und kirchliche Gesetze zu dieser Frage ergingen am 27. März 1911 (Nr. 46)\
Nr. 46. Gesetz, betreffend die Befugnis der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden zur Erstreckung der kirchlichen Beitragspflicht auf Nichtmitglieder v o m 27. März 1911 (Allg. Kirchenblatt für das evangelische Deutschland 60, 1911, S. 633)5 V o n Gottes Gnaden, W i r , Johann Albrecht, Herzog zu Mecklenburg usw., Regent des Herzogtums Braunschweig, erlassen m i t Zustimmung der Landesversammlung das nachfolgende Gesetz: Art. I. I n den Fällen, i n denen die Ausschreibung u n d Erhebung der K i r chensteuern nach §78 der Kirchengemeindeordnung v o m 11. J u n i 19096 der Zustimmung der staatlichen Gemeindeaufsichtsbehörde unterliegt, u n d zugleich die zur E r f ü l l u n g der Bedürfnisse und Verpflichtungen der Kirchengemeinde erforderlichen Kirchensteuern eine solche Höhe erreichen, daß durch ihre A u f b r i n g u n g die wirtschaftliche Lage der Mitglieder der Kirchengemeinde i n einer dem öffentlichen Interesse widerstreitenden Weise beeinträchtigt würde, k a n n die Verpflichtung zur Entrichtung von Kirchensteuern gemäß der §§ 70, 75 u n d 77 der Kirchengemeindeordnung erstreckt werden auf 1. die nicht der Kirchengemeinde gemäß § 7 der Kirchengemeindeordnung angehörenden Grundstückseigentümer des Kirchengemeindebezirks, insoweit die Steuern v o m Grundbesitz erhoben werden, wobei jedoch i n den Städten die Reformierten, Katholiken, Dissidenten u n d Juden von Beiträgen frei zu lassen sind; 2. diejenigen Personen evangelisch-lutherischen Bekenntnisses, welche i n dem Kirchengemeindebezirke, ohne i n diesem einen Wohnsitz zu haben, Handels- oder gewerbliche Anlagen einschließlich der Bergwerke haben, 4 Dazu J. Beste, Die rechtliche Stellung unserer Braunschweigischen L a n deskirche nach ihrer geschichtlichen Entwicklung u n d gegenwärtigen Lage (1910). 5 E i n — abgesehen von der Eingangs- u n d Schlußformel — gleichlautendes Kirchengesetz erging am gleichen Tag (Allg. Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland 60, 1911, S. 631). 6 Unten Nr. 232.
X I . Das Kirchensteuerrecht i m Großherzogtum Oldenburg
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Handel oder Gewerbe oder außerhalb einer Gewerkschaft Bergbau betreiben, hinsichtlich des ihnen aus diesen Quellen i n der Gemeinde zufließenden Einkommens; 3. Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien, Gesellschaften m i t beschränkter Haftung, Berggewerkschaften, eingetragene Genossenschaften, deren Geschäftsbetrieb über den Kreis ihrer Mitglieder hinausgeht, u n d juristische Personen (insbesondere auch auswärtige Gemeinden u n d weitere K o m m u n a l verbände), welche i n dem Kirchengemeindebezirke H a n dels» oder gewerbliche Anlagen einschließlich der Bergwerke haben, Handel oder Gewerbe, einschließlich des Bergbaues betreiben, hinsichtlich des ihnen aus diesen Quellen i n der Gemeinde zufließenden Einkommens; 4. den Fiskus, das Kammergut, den Kloster- u n d Studienfonds bezüglich des Einkommens aus dem von ihnen betriebenen Bergbau oder sonstigen gewerblichen Unternehmungen, sowie aus Domänen, Klostergütern u n d Forsten. Art. II. Unter den Voraussetzungen des A r t . I ist es zulässig, den daselbst aufgeführten Grundstückseigentümern u n d Unternehmern zu bestimmten Aufwendungen anstatt der Kirchensteuerpflicht angemessene Zuschüsse aufzuerlegen, falls über deren freiwillige Leistung eine gütliche Vereinbarung nicht zu erzielen ist. Art. III. Der Erlaß von Anordnungen i m Sinne der vorstehenden A r t . I u n d I I erfolgt auf A n t r a g des Kirchengemeinderates durch die staatliche Gemeindeaufsichtsbehörde i n den Städten m i t Zustimmung der vereinigten Versammlung des Stadtmagistrates u n d der Stadtverordneten, i n den ü b r i gen Gemeinden nach Anhörung des Gemeinderates unter Zustimmung des Kreisausschusses. Gegen die Entscheidung ist innerhalb 4 Wochen nach der Zustellung Beschwerde an das Herzogliche Staatsministerium zulässig. Art. IV. Dieses Gesetz t r i t t gleichzeitig m i t dem Kirchengesetze gleichen Inhalts sowie der Kirchengemeindeordnung v o m 11. J u n i 1909, Nr. 46 der Gesetz- u n d Verordnungs-Sammlung von 1910, u n d dem zu diesem erlassenen Staatsgesetze v o m 28. J u l i 1910 Nr. 477 i n K r a f t . Die zur Ausführung dieses Gesetzes weiter erforderlichen werden vom Herzoglichen Staatsministerium getroffen.
Anordnungen
X I . Das K i r c h e n s t e u e r r e c h t i m G r o ß h e r z o g t u m O l d e n b u r g Das revidierte oldenburgische Staatsgrundgesetz von 1852 1 gewährleistete das Recht der Religionsgesellschaften, die Aufbringung der Abgaben ihrer Mitglieder selbst zu ordnen. Die Regelung des Kirchensteuerrechts mußte demgemäß für die drei evangelischen Kirchen des Großherzogtums — die des 7 1
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Unten Nr. 232. Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 18.
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
Herzogtums Oldenburg, die des Fürstentums Lübeck und die des Fürstentums Birkenfeld — getrennt erfolgen. Nur das für die evangelische Kirche im Herzogtum Oldenburg erlassene Kirchengesetz enthielt eine detaillierte Ausgestaltung des kirchlichen Umlagewesens. Bestimmungen über die Kirchensteuerpflicht fanden sich bereits in der oldenburgischen Kirchenverfassung von 1853 2. Das in deren Art. 117 angekündigte kirchliche Umlagengesetz erging am 21. Januar 1865 3. Es beruhte auf dem Grundsatz, daß Kirchensteuern persönliche Lasten seien 4; es hob deshalb alle realen — vor allem an den Grund und Boden geknüpften — Kirchenumlagen auf. Nach verschiedenen Novellierungen des Kirchengesetzes von 1865 und nach der Neuregelung des Rechts der Besteuerung von juristischen Personen und Ausländern durch das Staatsgesetz vom 20. März 1908 (Nr. 44) erhielt das oldenburgische Kirchensteuerrecht eine Neufassung durch das Kirchengesetz betreffend die kirchliche Besteuerung vom 10. November 1909 (Nr. 48)'\
Nr. 47. Staatsgesetz, betreffend die Heranziehung der juristischen Personen und der Forensen zu den Steuern der evangelischen und katholischen Kirche v o m 20. März 1908 (Oldenburgisches Gesetz- u n d Verordnungsblatt, 1908, S. 823) — Auszug — § 1. Die evangelischen u n d katholischen Kirchengemeinden i m Herzogtum Oldenburg werden ermächtigt, soweit die kirchenrechtlichen Bestimmungen es zulassen, außer den Gemeindemitgliedern auch die juristischen Personen und die außerhalb der Gemeinde wohnenden natürlichen Personen nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen zu den Kirchenlasten heranzuziehen. § 2. Z u r kirchlichen Baulast können m i t ihren i n der Gemeinde belegenen Grundstücken die juristischen Personen und alle bekenntnisangehörigen außerhalb der Gemeinde wohnenden natürlichen Personen (Forensen) i n derselben Weise wie die Gemeindemitglieder herangezogen werden. § 3. Z u den auf das Einkommen gelegten kirchlichen Lasten können i n derselben Weise wie die Gemeindemitglieder herangezogen werden die bekenntnisangehörigen außerhalb der Gemeinde i m Herzogtum wohnenden n a t ü r lichen Personen (Forensen) hinsichtlich desjenigen Einkommens, das ihnen 2
Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 159. A l l g . Kirchenblatt f ü r das evang. Deutschland 1865, S. 145. 4 Dazu F. Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht (1910), S. 132 ff., 453 ff. 5 Dazu die staatl. Genehmigung, bekanntgemacht am 20. A p r i l 1910 (GVB1. f ü r die evang.-luth. Kirche i m Herzogtum Oldenburg, Bd. 7, S. 185) sowie die kirchlichen Ausführungsbestimmungen v o m 8. A p r i l 1911 (ebenda S. 179 ff.). 3
X I . Das Kirchensteuerrecht i m Großherzogtum Oldenburg
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aus dem Besitze von Grundeigentum oder gewerblichen Anlagen oder aus dem Betriebe von Pachtungen oder stehenden Gewerben, außer der Reederei, aus dem Gemeindebezirk zufließt. Die Heranziehung findet nicht statt, w e n n das steuerpflichtige Einkommen (Art. 5 - 1 3 des Einkommensteuergesetzes v o m 12. M a i 1906) aus diesen Quellen i n jeder Kirchengemeinde nicht wenigstens die Summe von 150 Μ jährlich erreicht. § 4. Ausgenommen von der Besteuerung sind: 1. die Großherzoglichen Schlösser m i t ihren Nebengebäuden u n d Gärten; 2. die dem Gottesdienste gewidmeten Gebäude u n d die Begräbnisstätten; 3. diejenigen Gebäude u n d Grundstücke, die unmittelbar zu Zwecken des Staats, der Gemeinde, der öffentlichen Genossenschaften, des öffentlichen Verkehrs, des öffentlichen Unterrichts, der Kunst u n d Wissenschaften und der öffentlichen Wohltätigkeit bestimmt sind; 4. die zum Staatsgut gehörigen Forsten und noch nicht i n den Besitz von Privatpersonen oder an das eigentliche Domanium übergegangenen u n k u l t i vierten Flächen (Gemeinheiten, Marken, Moore usw.). Ist ein Gebäude oder Grundstück n u r teilweise zu den unter 3 erwähnten Zwecken bestimmt, so bezieht sich die Befreiung n u r auf diesen Teil. § 5. Z u der kirchlichen Baulast gehören: 1. die Kosten des Grunderwerbs, des Baues u n d der Unterhaltung der geistlichen Gebäude (Kirchen, Glockentürme, Pfarr- u n d Küsterhäuser usw.) u n d deren Zubehör; 2. die auf den geistlichen Gebäuden nebst Zubehör ruhenden Abgaben u n d Lasten der Kirchengemeinde; 3. die Kosten der Abtragung u n d Verzinsung von Anleihen, die zur Bestreitung der vorstehend unter 1 genannten Bedürfnisse aufgenommen sind; 4. ein verhältnismäßiger Teil der Kosten der Rechnungsführung, falls die Gemeindevertretung solches beschließt; 5. die Entschädigung der Kirchenbeamten f ü r fehlende nebst Garten.
Dienstwohnung
§ 6. Grundstücke juristischer Personen, die i m Bezirke sowohl einer evangelischen wie einer katholischen Kirchengemeinde liegen, können zu der Baulast von den beiden Kirchengemeinden je zu dem Bruchteil herangezogen werden, der dem Verhältnisse der Z a h l der evangelischen zu der der katholischen Einwohner der bürgerlichen Gemeinde entspricht, i n der die G r u n d stücke liegen Beträgt i n einer bürgerlichen Gemeinde die Z a h l der Angehörigen der einen Konfession nicht mindestens ein Zehntel der Zahl der Angehörigen
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
beider Konfessionen, so steht der Kirchengemeinde dieser Konfession kein Besteuerungsrecht, der andern aber das volle Besteuerungsrecht zu. . . .
Nr. 48. Kirchengesetz, betreffend die kirchliche Besteuerung v o m 10. November 1909 (Gesetz- und Verordnungsblatt f ü r die evangelisch-lutherische Kirche des Herzogtums Oldenburg, Bd. V I I [1907- 1914], S. 137; A l l g . Kirchenblatt für das evgl. Deutschland 60, 1911, S. 657) — Auszug — I. Besteuerungsrecht
der
Kirchengemeinden
§ 1. Die Kirchengemeinden sind berechtigt, zur Deckung ihres Bedarfs Steuern zu erheben, soweit ihre sonstigen Einkünfte nicht ausreichen. II.
Steuerpflicht
§ 2. Steuerpflichtig sind : 1. A l l e Gemeindegenossen, sowohl Angehörige des Herzogtums als auch Auswärtige, 2. die außerhalb der Gemeinde wohnenden bekenntnisangehörigen n a t ü r lichen Personen (Forensen) auf G r u n d des § 7, 3. juristische Personen auf G r u n d des § 7. § 3. Die Steuerpflicht beginnt m i t dem ersten Tage des Monats, der auf den E i n t r i t t des steuerpflichtig machenden Umstandes folgt. Sie erlischt m i t dem A b l a u f des Monats, i n dem der Befreiungsgrund eintritt. §4. V o n der Besteuerung sind ausgenommen: .. Λ
I I I . Umlegung der Kirchensteuer A.
Verteilungsmaßstab 1. Baulast
§ 5. Zur Baulast gehören:.. Λ §6. Die Baulast w i r d nach der G r u n d - u n d Gebäudesteuer aufgebracht. § 7. Durch Beschluß des Kirchenrats u n d des Kirchenausschusses können die juristischen Personen u n d alle bekenntnisangehörigen außerhalb der Ge6 7
Es folgen wörtlich die Vorschriften von Nr. 47, § 4, Ziff. 1 - 4 . Es folgen wörtlich die Vorschriften von Nr. 47, § 5, Ziff. 1 - 5 .
X I . Das Kirchensteuerrecht i m Großherzogtum Oldenburg
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meinde wohnenden natürlichen Personen (Forensen) m i t ihren i n der Gemeinde belegenen Grundstücken zu der Baulast i n derselben Weise, wie die Gemeindemitglieder, herangezogen w e r d e n . . . A 2. Persönliche
Kirchenlast
§ 9. Persönliche Kirchenlast ist jede nicht zur Baulast gehörige Kirchenlast. § 10. Die persönliche Kirchenlast w i r d von den Gemeindegenossen nach den Sätzen der staatlichen Einkommensteuer aufgebracht. Die Einkommensteuersätze der Steuerpflichtigen m i t einem Einkommen von weniger als 600 Μ können auf Beschluß des Kirchenrates u n d des K i r chenausschusses außer Ansatz bleiben oder ermäßigt werden. Auch sind die bekenntnisangehörigen außerhalb der Gemeinde i m Herzogt u m wohnenden natürlichen Personen (Forensen) hinsichtlich desjenigen Einkommens, das ihnen aus dem Besitze von Grundeigentum oder gewerblichen Anlagen oder aus dem Betriebe von Pachtungen oder stehenden Gewerben, außer der Heederei, aus dem Gemeindebezirk zufließt, i n derselben Weise, w i e die Gemeindemitglieder, zu der persönlichen Kirchenlast heranzuziehen. Die Heranziehung findet nicht statt, w e n n das steuerpflichtige Einkommen aus diesen Quellen i n jeder Kirchengemeinde nicht wenigstens 150 Μ j ä h r l i c h erreicht. A u f die Verpflichtung zur Tragung der i m Absatz 3 erwähnten Lasten finden die staatsgesetzlichen Bestimmungen über die Heranziehung der i n ländischen Aktiengesellschaften, Forensen usw. zu den Gemeinde- und Schullasten entsprechende Anwendung. B. Selbständige
Einnahmen
§11. Bei Feststellung des Voranschlags w i r d bestimmt, i n w i e w e i t die selbständigen Einnahmen der Kirchengemeinden der persönlichen Kirchenlast oder der Baulast zugute kommen s o l l e n . . . . I V . Verfahren § 14. Die Kirchensteuern sind f ü r das vom 1. M a i bis 30. A p r i l laufende Rechnungsjahr auf alle der Besteuerung unterworfenen Pflichtigen gleichmäßig umzulegen. Die Kirchenräte erhalten auf i h r Ersuchen zum Zweck der Herstellung der Umlageregister von den Staatsbehörden Abschriften der amtlichen Steuerlisten gegen Entrichtung von Schreibgebühren. §15. Die auf G r u n d dieser Steuerlisten vom Kirchenrat aufgestellten U m lageregister werden nach öffentlicher Bekanntmachung zur allgemeinen 8
§ 8 entspricht fast wörtlich dem § 6 von Nr. 47.
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
Einsicht auf 14 Tage ausgelegt. Sie werden, soweit Erinnerungen nicht vorgebracht oder etwaige Erinnerungen sofort erledigt sind, durch öffentliche Bekanntmachung f ü r vollstreckbar erklärt u n d dem Kirchenrechnungsführer zur Erhebung überwiesen. §16. Uber die erhobenen u n d nicht sofort erledigten Erinnerungen beschließt der Kirchenrat u n d entscheidet auf erfolgte Beschwerde der Oberkirchenrat. Die angesetzten Beträge sind vorbehaltlich einer künftigen Ausgleichung einstweilen zu zahlen. §17. Nach erfolgter Vollstreckbarkeitserklärung des Umlageregisters sind Erinnerungen gegen die Höhe des Ansatzes nicht mehr zulässig. . . . §23. Den kirchlichen Organen u n d ihren Mitgliedern, sowie den bei der Veranlagung beteiligten Beamten ist es untersagt, die zu ihrer Kenntnis gelangten Erwerbs-, Vermögens- oder Einkommensverhältnisse eines Steuerpflichtigen unbefugt zu offenbaren.
X I I . D i e staatliche B e s o l d u n g der G e i s t l i c h e n i m R e i c h s l a n d Elsaß-Lothringen In Elsaß-Lothringen galt, auch nachdem es 1871 zum Reichsgebiet gekommen war, das französische Staatskirchenrecht fort 1. Nach den Organischen Artikeln für die katholische wie für die protestantischen Kirchen vom 8. April 1802 2 gehörte es zu den Pflichten der Zivilgemeinden, den kirchlichen Finanzbedarf zu decken. Diesen Grundsatz übernahm die deutsche Verwaltung nach 1871 dergestalt, daß die Landeskasse die Gehälter der Geistlichen bezahlte. Nur für die evangelischen Kirchen lutherischen und reformierten Bekenntnisses kam es während einer kurzen Zeitspanne zur Einführung eines besonderen kirchlichen Besteuerungsrechts. Das elsaß-lothringische Pfarrbesoldungsgesetz vom 6. Juli 1901 (Nr. 49) führte für die evangelischen Landeskirchen zur Deckung der über den bisherigen Umfang hinausgehenden Bedürfnisse der Pfarrbesoldung und -Versorgung eine kirchliche Umlage ein, die von der Landeskasse zu verwalten war. Da es sich jedoch als unmöglich erwies, die Grundsätze dieses Gesetzes auf die katholische Kirche zu übertragen, hob das Gesetz vom 15. November 1909 betreffend die Gehaltsund Pensionsverhältnisse der staatlich besoldeten Religionsdiener und ihrer Hinterbliebenen das Gesetz von 1901 wieder auf (Nr. 50). Nach dem Gesetz von 1909 waren die Gehälter und Pensionszahlungen für die katholischen und evangelischen Geistlichen sowie für die Rabbiner der jüdischen Kultusgemeinde wieder vollständig aus der Landeskasse zu decken 3. 1 2 3
Dazu Staat u n d Kirche, Bd. I, S. 11 f. Ebenda S. 12, A n m . 6 f. Dazu F. Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht (1910), S. 190.
X I I . Die staatliche Besoldung der Geistlichen i m Reichsland
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Nr. 49. Gesetz, betreffend die Gehalts- und Pensionsverhältnisse der protestantischen Pfarrer und die Fürsorge für deren Witwen und Waisen v o m 6. J u l i 1901 (Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen, 1901, S. 50) — Auszug — W i r Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, K ö n i g von Preußen etc. verordnen i m Namen des Reichs, f ü r Elsaß-Lothringen, nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths und des Landesausschusses, was folgt: § 1. Die protestantischen Pfarrer erhalten aus der Landeskasse an Stelle der i n den Landeshaushaltsetats angegebenen Gehaltssätze die folgenden erhöhten S ä t z e : . . . § 2. Die für die Landesbeamten geltenden Vorschriften, betreffend die Zahlung des Gnadenquartals, finden auf die Gehälter der protestantischen Pfarrer entsprechende Anwendung. A n w e n das Gnadenquartal zu zahlen ist, bestimmt das Ministerium. §3. Die protestantischen Pfarrer u n d deren W i t t w e n u n d Waisen erhalten Pensionen nach Maßgabe der Vorschriften, die f ü r die Landesbeamten u n d deren W i t t w e n u n d Waisen gelten. . . . § 5. Z u r Deckung des Bedarfs für die Gehaltserhöhungen (§ 1) u n d des Pensionsbedarfs, f ü r den nicht nach § 4 allgemeine Landesmittel verwendbar sind, werden Umlagen eingeführt, die als Zuschlag zu den direkten Steuern nach den für diese geltenden Vorschriften zu erheben, zur Landeskasse zu vereinnahmen und i n einer Nebenrechnung nachzuweisen sind. Uber Anträge, welche für die Umlagen eine Freistellung oder Minderung bezwecken, hat der Bezirksrath zu entscheiden. § 6. Umlagenpflichtig sind die natürlichen Personen, welche i n ElsaßLothringen ihren Wohnsitz oder ihren Aufenthalt haben, einer der beiden protestantischen Landeskirchen angehören und eine direkte Steuer entrichten. Personen dieser A r t , welche ein Gewerbe m i t anderen Personen gemeinschaftlich betreiben, sind m i t den ihrer Betheiligung an der Gesellschaft entsprechenden Steuerantheilen heranzuziehen. Sie sind verpflichtet, über ihre Betheiligung an der Gesellschaft A u s k u n f t zu ertheilen. Nicht umlagenpflichtig sind die zu den Militärkirchengemeinden gehörigen Personen....
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2. Kap.: Finanzwesen u n d Vermögensverwaltung der Kirchen
Nr. 50. Gesetz, betreffend die Gehalts- und Pensionsverhältnisse der staatlich besoldeten Religionsdiener und ihrer Hinterbliebenen v o m 15. November 1909 (Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen, 1909, S. 126) — Auszug — § 1. Die katholischen Generalvikare, Domherren, Pfarrer u n d Hilfspfarrcr erhalten aus der Landeskasse Gehälter nach folgenden Sätzen: . . . § 5. Die protestantischen Pfarrer erhalten aus der Landeskasse Gehälter nach folgenden Sätzen: . . . § 6. Die Oberrabbiner und Rabbiner erhalten aus der Landeskasse Gehälter nach folgenden Sätzen : . . . § 7. Die Gehälter u n d Gehaltszuschüsse werden vierteljährlich i m voraus gezahlt. Der Bezug beginnt m i t dem Tage des Dienstantritts, sofern aber die E r nennung der staatlichen Genehmigung oder Bestätigung bedarf, nicht vor dieser Genehmigung oder Bestätigung. . . . §10. Die i n den §§ 1 bis 6 bezeichneten Religionsdiener erhalten nach Maßgabe der für die Landesbeamten geltenden Vorschriften Pensionen aus der Landeskasse, wenn sie nach einer Dienstzeit von wenigstens zehn Jahren infolge eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen K r ä f t e zu der Erfüllung ihrer Amtspflichten dauernd unfähig sind und deshalb i n den Ruhestand versetzt werden. . . . §11. Die W i t w e n und die ehelichen oder legitimierten K i n d e r der i n den §§ 5, 6 bezeichneten protestantischen u n d israelitischen Religionsdiener erhalten aus der Landeskasse Pensionen nach Maßgabe der Vorschriften, die für die W i t w e n und Waisen der Landesbeamten gelten.
Drittes
Kapitel
Staat u n d K i r c h e i m S c h u l - u n d H o c h s c h u l w e s e n I . Das Z e n t r u m u n d die Schul£rage n a c h d e m K u l t u r k a m p f Zu den Ergebnissen der Revolution von 1848/49 gehörte die Durchsetzung des Prinzips der Staatsschule. Die nähere Ausgestaltung dieses Prinzips überließ in Preußen der Art. 26 der revidierten Verfassung von 1850 1 der staatlichen Gesetzgebung; bis zum Erlaß eines Schulgesetzes sollte es nach Art. 112 bei den „jetzt geltenden Bestimmungen " bleiben. Daraus ergab sich eine Garantie für den status quo der fast im ganzen preußischen Staatsgebiet bestehenden Bekenntnisschulen. In den folgenden Jahrzehnten kam es zu einer Reihe von Schulgesetzentwürfen , von denen jedoch keiner die Verabschiedung erreichte 2. Lediglich das Schulaufsichtsgesetz, das die staatliche Beaufsichtigung des Schulwesens durchsetzen sollte, trat 1872 als eines der ersten preußischen Kulturkampfgesetze in Kraft 3. Nach der Beilegung des Kulturkampfs ergriff die Zentrumsfraktion des preußischen Abgeordnetenhauses in der Schulfrage eine neue Initiative. Der Zentrumsführer Ludwig Windthorst 4 legte 1888 einen Schulantrag vor, der die Regelung des Religionsunterrichts zum Thema hatte, aber darüber hinaus auf die verstärkt konfessionelle Gestaltung des Volksschulwesens insgesamt zielte (Nr. 51). Hätte Windthorsts Antrag sich durchgesetzt, so wäre die Kon fessionalisierung des Volksschullehrerstandes insgesamt die Folge gewesen; der Religionsunterricht hätte sich aus einem staatlichen Unterricht unter kirchlicher Leitung vollständig zu einem kirchlichen Unterricht an der staatlichen Schule gewandelt. Der preußische Landtag lehnte daher den Schulantrag, den Windthorst nach der Neuwahl des Landtags im November 1888 erneut einbrachte, mit großer Mehrheit gegen die Stimmen des Zentrumsund der Polen ab5. Die öffentliche Auseinandersetzung, zu der es über den
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Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 11. E n t w u r f Ladenberg 1850 (Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 35); E n t w u r f Bethm a n n - H o l l w e g 1862 (ebenda Nr. 38); E n t w u r f M ü h l e r 1867 (Text: Centralblatt 1867, S. 713 ff.); E n t w u r f M ü h l e r 1869 (vgl. L. ClausnitzerlH. Rosin, Geschichte des preußischen Unterrichtsgesetzes, 5. Aufl. 1909, Bd. I, S. 248 ff.); nicht i m Landtag eingebrachte Entwürfe F a l k 1874/77 (vgl. E. Foerster, A d a l bert Falk, 1927, S. 342 ff.). 3 Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 247. 4 Ebenda S. 537, A n m . 10. 5 Verh. d. pr. A H 1889, Bd. 1, S. 176 ff. 2
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Windthorstschen Schulantrag kam, zeigte, daß die preußische Schulgesetzgebung für die Reichspolitik im Ganzen eine Frage von erheblichem Gewicht war; ihre zentrale Bedeutung für das Verhältnis zwischen Kirche und Staat hatte sich nicht gemindert 6.
Nr. 51. Der Windthorstsche Schulantrag v o m 6. Februar 1888 (Berichte über die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses, 1888, Anlagen. Bd. 2, Nr. 70, S. 1464 f.)
Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen: Die Königliche Staatsregierung aufzufordern, dem Landtage baldigst den E n t w u r f eines Gesetzes vorzulegen, durch welches den Kirchen u n d ihren Organen i n Betreff des religiösen Unterrichts i n den Volksschulen diejenigen Befugnisse i n vollem Umfange gewährt werden, welche die Verfassungsurkunde i n A r t i k e l 24 denselben durch den Satz: „Den religiösen Unterricht i n der Volksschule leiten die betreffenden Religionsgesellschaften" zugesichert hat, und dabei, dem ursprünglichen Sinne dieser Zusicherung entsprechend, insbesondere auf Feststellung folgender Rechte Bedacht zu nehmen: 1. I n das A m t des Volksschullehrers dürfen n u r Personen berufen werden, gegen welche die kirchliche Behörde i n kirchlich-religiöser Hinsicht keine Einwendung gemacht hat. Werden später solche Einwendungen erhoben, so darf der Lehrer zur Ertheilung des Religionsunterrichts nicht weiter zugelassen werden. 2. Diejenigen Organe zu bestimmen, welche i n den einzelnen Volksschulen den Religionsunterricht zu leiten berechtigt sind, steht ausschließlich den kirchlichen Obern zu. 3. Das zur L e i t u n g des Religionsunterrichts berufene kirchliche Organ ist befugt, nach eigenem Ermessen den schulplanmäßigen Religionsunterricht selbst zu ertheilen oder dem Religionsunterrichte des Lehrers beizuwohnen, i n diesen einzugreifen u n d f ü r dessen Ertheilung den Lehrer m i t Weisungen zu versehen, welche von letzterem zu befolgen sind. 4. Die kirchlichen Behörden bestimmen die f ü r den Religionsunterricht u n d die religiöse Ü b u n g i n den Schulen dienenden L e h r - u n d Unterrichtsbücher, den Umfang u n d I n h a l t des schulplanmäßigen religiösen Unterrichtsstoffes u n d dessen Vertheilung auf die einzelnen Klassen.
6
Vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 876 ff.
I I . Der Zedlitzsche Schulgesetz-Entwurf
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I I . Der Zedlitzsche Schulgesetz-Entwurf Nach mehrfachen vergeblichen Initiativen seiner Vorgänger legte der Kultusminister v. Goßler 1 dem preußischen Kabinett 1888 einen neuen Schulgesetz-Entwurf vor, den dieses jedoch erst nach dem Sturz Bismarcks im Jahr 1890 im Abgeordnetenhaus einbrachte 2. Goßlers Versuch, zwischen Bekenntnis- und Simultanschule sowie zwischen staatlichem und kirchlichem Einfluß einen Kompromiß herzustellen, stieß allerdings auf heftige Kritik. Insbesondere das Zentrum gab sich mit der vorgesehenen mittleren Lösung nicht zufrieden. Der neue Reichskanzler und Ministerpräsident Caprivi 3 war für andere wichtige Gesetzgebungsvorhaben auf die Unterstützung des Zentrums angewiesen. Deshalb entschloß er sich zu Konzessionen in der Schulfrage. Mit einem Wechsel im Amt des preußischen Kultusministers leitete die Regierung den neuen Kurs ein. Der Kultusminister Graf Zedlitz-Trützschler 4· zog, bald nach seiner Berufung, den Goßlerschen Schulgesetzentwurf am 4. Mai 1891 zurück. Einen nach seinen Direktiven ausgearbeiteten neuen Entwurf legte er am 15. Januar 1892 dem Abgeordnetenhaus vor (Nr. 52). Der Entwurf ging vom klaren Vorrang der Konfessionsschule und vom konfessionell-kirchlichen Charakter des Religionsunterrichts aus. Alle Schüler, die einer der Hauptkonfessionen des Landes angehörten, sollten verpflichtet sein, am Religionsunterricht ihrer Konfession teilzunehmen. Dissidentische Schüler sollten gehalten sein, am Religionsunterricht ihrer Schule teilzunehmen, soweit ihnen nicht auf Antrag Befreiung gewährt war. Damit, daß der Entwurf die Freiheit zur Errichtung privater Volksschulen vorsah, eröffnete er die Möglichkeit eines eigenen kirchlichen Volksschulwesens. Die Begründung zu dem Gesetzentwurf (Nr. 53) unterstrich, daß der religiös-sittlichen Erziehung unter den Aufgaben der Volksschule ein besonderer Vorrang zukomme 5. 1
Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 804, A n m . 2. Verh. d. pr. A H 1890/91, Anlagen, Bd. 1, Nr. 8; vgl. L. Clausnitzerl H. Rosin, Geschichte des preußischen Unterrichtsgesetzes, 5. Aufl. 1909, Bd. I, S. 309 ff. 3 Leo (Graf) v. Caprivi (1831 - 99), preuß. Offizier, 1870/71 Generalstabschef des X . Armeekorps, dann Abteilungschef i m Kriegsministerium, 1882 Generalleutnant, 1883 - 88 Chef der A d m i r a l i t ä t , 1880 - 90 K o m m . General des X . Armeekorps i n Hannover, 20. März 1890 - 26. Oktober 1894 Reichskanzler, 20. März 1890 - 23. März 1892 zugleich preuß. Ministerpräsident. 4 Robert Graf v. Zedlitz-Trützschler (1837 -1914), zunächst preuß. Offizier, dann Verwalter seines schlesischen Ritterguts, 1881 Regierungspräsident i n Oppeln, 1886 Oberpräsident i n Posen; 13. März 1891-21. März 1892 preuß. Kultusminister; 1898- 1903 Oberpräsident von Hessen-Nassau; 1903- 1909 Oberpräsident von Schlesien. 5 Vgl. V. Rintelen, Der Volksschulgesetzentwurf des Ministers Graf v o n Zedlitz-Trützschler u n d die Verhandlungen über denselben i m Plenum u n d i n der Volksschulgesetz-Kommission des preußischen Abgeordnetenhauses (1893); K . Richter, Der K a m p f u m den Schulgesetzentwurf des Grafen ZedlitzTrützschler v o m Jahre 1892 (Diss. Halle 1934); E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 889 i L ; Chr. Weber, Quellen u n d Studien zur v a t i k a n i schen P o l i t i k unter Leo X I I I . (1973), S. 440 ff.; F. Meyer, Schule der Untertanen. Lehrer und P o l i t i k i n Preußen 1848 - 1900 (1976), S. 172 ff. 2
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3. Kap. : Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Nr. 52. Entwurf eines Volksschulgesetzes eingebracht am 15. Januar 1892 (Berichte über die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses, 1892, Anlagen, Bd. 2, Drucks. Nr. 9) — Auszug — Erster Abschnitt.
Aufgabe
und Einrichtung
der öffentlichen
Volksschule
§ 1. Aufgabe der Volksschule ist die religiöse, sittliche u n d vaterländische B i l d u n g der Jugend durch Erziehung u n d Unterricht, sowie die Unterweisung derselben i n den f ü r das bürgerliche Leben nöthigen allgemeinen K e n n t nissen und Fertigkeiten. . . . §5. Unterrichtsgegenstände jeder Volksschule sind: Religion, deutsche Sprache (Sprechen, Lesen, Schreiben), Rechnen nebst den Anfängen der Raumlehre, vaterländische Geschichte, Erdkunde, Naturkunde, Zeichnen, Singen, Turnen, u n d f ü r Mädchen: weibliche Handarbeiten. Die Aufnahme anderer Gegenstände i n den Lehrplan der Volksschule bedarf der Genehmigung des Unterrichtsministers.... § 13. Lediglich wegen des Religionsbekenntnisses darf keinem K i n d e die Aufnahme i n die Volksschule seines Wohnorts versagt werden 6 . § 14. Bei der Einrichtung der Volksschulen sind die konfessionellen V e r hältnisse möglichst zu berücksichtigen. Der Regel nach soll ein K i n d den Unterricht durch einen Lehrer seines Bekenntnisses empfangen. Soweit nicht an einem Ort bereits eine anderweite Schulverfassung besteht, sollen neue Volksschulen n u r auf konfessioneller Grundlage eingerichtet werden. Die vorhandenen Volksschulen bleiben, vorbehaltlich anderweiter Anordnung i m einzelnen Falle (§ 6), i n ihrer gegenwärtigen Verfassung bestehen. §15. Wo die Z a h l der Schulkinder einer v o m Staate anerkannten Religionsgesellschaft i n einer Schule anderer Konfession über dreißig steigt, k a n n v o r behaltlich der Bestimmung des § 11 der Regierungspräsident bei Zustimmung der Gemeinde (Gutsbezirks, Schulverbands) die Errichtung einer besonderen Volksschule f ü r dieselben anordnen. Die gleiche Anordnung hat zu erfolgen, w e n n die Zahl über sechzig steigt. Die versagte Zustimmung k a n n bei ländlichen Schulbezirken durch den Kreisausschuß, bei städtischen Schulbezirken durch den Bezirksausschuß ergänzt werden. §16. Der Religionsunterricht w i r d nach der Lehre derjenigen Religionsgesellschaft ertheilt, welcher die Schüler angehören, die i h n empfangen. β
Vgl. A L R T e i l I I T i t e l 11 § 10 (Staat und Kirche, Bd. I, Nr. 1).
I I . Der Zedlitzsche Schulgesetz-Entwurf
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§17. Ohne den Religionsunterricht durch einen Lehrer seines Bekenntnisses soll grundsätzlich k e i n K i n d bleiben, welches einer v o m Staate anerkannten Religionsgesellschaft angehört. Z u r Theilnahme an einem anderen Religionsunterricht dürfen Kinder, welche einer v o m Staate anerkannten Religionsgesellschaft angehören, n u r auf A n t r a g der Eltern oder deren Stellvertreter zugelassen werden. Sind K i n d e r verschiedener vom Staate anerkannter Religionsgesellschaften i n einer Volksschule vereinigt, so ist möglichst für die Angehörigen einer jeden von ihnen ein besonderer Religionsunterricht einzurichten, wenn ihre Zahl fünfzehn übersteigt. Kinder, welche nicht einer v o m Staate anerkannten Religionsgesellschaft angehören, nehmen an dem Religionsunterricht der Schule Theil, sofern sie nicht seitens des Regierungspräsidenten hiervon befreit werden. Diese Befreiung muß erfolgen, w e n n seitens der zuständigen Organe der betreffenden Religionsgesellschaft ein bezüglicher A n t r a g gestellt u n d der Nachweis erbracht w i r d , daß den K i n d e r n i n der ihrem Bekenntnißstande entsprechenden F o r m u n d durch einen nach der Lehre ihres Bekenntnisses vorgebildeten, auch i m Übrigen befähigten Lehrer Religionsunterricht ertheilt w i r d . A n konfessionell eingerichteten Schulen dürfen n u r Lehrer der betreffenden Konfession beschäftigt werden. Diese Vorschrift findet auf den für die K i n d e r einer anderen Konfession anzustellenden Religionslehrer keine A n wendung. Letzterem kann, w e n n die Beschaffung der Lehrkräfte m i t erheblichen Schwierigkeiten u n d Kosten verbunden ist, ausnahmsweise nach A n hörung des Schulvorstandes die Ertheilung anderer, religiösen Fragen fernstehender Lehrstunden übertragen werden. § 18. Den Religionsunterricht i n der Volksschule leiten die betreffenden Religionsgesellschaften. M i t Ertheilung des Religionsunterrichts dürfen n u r solche Lehrer beauftragt werden, welche sich i m Besitz eines, die Befähigung zur Ertheilung des Religionsunterrichts aussprechenden Lehramtszeugnisses befinden. Der von den betreffenden Religionsgesellschaften m i t der L e i t u n g des Religionsunterrichts beauftragte Geistliche oder Religionsdiener hat das Recht, dem Religionsunterricht i n der Schule beizuwohnen, durch Fragen sich von der sachgemäßen Ertheilung desselben und von den Fortschritten der Kinder zu überzeugen, den Lehrer nach Schluß des Unterrichts sachlich zu berichtigen sowie dementsprechend m i t Weisungen zu versehen. Die kirchliche Oberbehörde ist befugt, i m Einvernehmen rungspräsidenten einen Ortsgeistlichen ganz oder theilweise lung des Religionsunterrichts zu beauftragen. Kosten dürfen ten Gemeinden (Gutsbezirken, Schulverbänden) hierdurch
m i t dem Regiem i t der Ertheiden verpflichtenicht entstehen.
Für den evangelischen u n d den katholischen Religionsunterricht gilt, falls von den kirchlichen Oberbehörden eine andere Bezeichnung nicht erfolgt,
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3. Kap.: Staat u n d Kirche i m Schul- und Hochschulwesen
der Pfarrer, und w e n n mehrere Pfarrer vorhanden sind, der erste Pfarrer als gesetzlich beauftragt zur L e i t u n g des Religionsunterrichts für die innerhalb seiner Pfarrei belegenen Volksschulen. Eine Zurückweisung des m i t der L e i t u n g des Religionsunterrichts Beauftragten v o m Besuche der Volksschule ist zulässig, w e n n derselbe die Ordnung der Schule gestört hat. Die Zurückweisung erfolgt durch Beschluß des Regierungspräsidenten nach Benehmen m i t den kirchlichen Oberbehörden beziehungsweise m i t den zuständigen Organen der betreifenden Religionsgesellschaften. I n dem Beschlüsse sind die Thatsachen anzugeben, welche die Maßregel begründen.
Zweiter Abschnitt. Träger der Rechtsverhältnisse der öffentlichen
Volksschule
§27. Träger der Rechtsverhältnisse der öffentlichen Volksschulen sind die bürgerlichen Gemeinden, die selbständigen Gutsbezirke u n d die Schulverbände. . . . §41. Die besonderen Schulstiftungen, m i t Einschluß der unter die V e r w a l tung kirchlicher Organe gestellten zu Schulzwecken bestimmten Stiftungen u n d die sonstigen zu Schulzwecken bestimmten kirchlichen Vermögensstücke bleiben ihren Zwecken erhalten. Dasselbe g i l t von denjenigen Vermögensstücken, welche bei der Vereinigung eines Kirchen- u n d Schulamts schon seither zugleich für Schul- und f ü r kirchliche Zwecke bestimmt gewesen sind. A n der herkömmlichen Betheiligung der kirchlichen Organe bei der V e r w a l t u n g dieses Vermögens w i r d durch dieses Gesetz nichts geändert.
Verwaltung
Dritter Abschnitt. der Volksschulangelegenheiten.
Schulbehörden
§ 54. Die Aufsicht über die V e r w a l t u n g der äußeren Angelegenheiten der Volksschule w i r d vorbehaltlich der besonderen Bestimmungen dieses Gesetzes unter Oberleitung des Unterrichtsministers von den Regierungspräsidenten u n d den Landräthen nach Maßgabe der Gemeindeverfassungsgesetze geübt. . . . § 60. I n jedem Landkreis w i r d für die Schulen auf dem Lande eine Kreisschulbehörde gebildet. Gehören Schulverbände mehreren Kreisen, Regierungsbezirken oder Provinzen an, so w i r d die Zuständigkeit durch den Regierungspräsidenten beziehungsweise Oberpräsidenten oder Unterrichtsminister bestimmt.
I I . Der Zedlitzsche Schulgesetz-Entwurf
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§ 61. Die Kreisschulbehörde besteht aus dem L a n d r a t h u n d dem zuständigen Kreisschulinspektor. I n denjenigen Fällen, i n welchen das Gesetz die Beschlußnahme der verstärkten Kreisschulbehörde überträgt (§§19, 21, 33, 147) treten diesen Beamten die gewählten Mitglieder des Kreisausschusses m i t beschließender Stimme hinzu. . . . §68. F ü r jede einzelne Schule w i r d ein besonderer Schul vorstand eingesetzt. Der Schulvorstand hat die Interessen der Schule wahrzunehmen u n d den Gemeinde- und Schulbehörden helfend u n d berathend zur Seite zu stehen. . . . §70. Der Schul vorstand besteht: 1. aus dem Ortsschulinspektor als Vorsitzenden. Sofern der Ortsschulinspektor nicht zugleich der m i t der L e i t u n g des Religionsunterrichts betraute Geistliche sein sollte, aus 2. dem m i t der Leitung des Religionsunterrichts betrauten u n d zum Besuch desselben befugten Geistlichen oder Religionsdiener; 3. einem der an der Schule definitiv angestellten, von der Kreis-(Stadt-) Schulbehörde dazu ernannten Lehrer; 4. aus sämmtlichen Vorstehern der zur Schule gehörigen Gemeinden (Gutsbezirke) beziehungsweise deren Vertretern ; 5. aus mehreren u n d zwar mindestens drei Mitgliedern, welche von den zur Schule gehörigen Hausvätern gewählt werden. Für die Fälle, i n denen der Ortsschulinspektor verhindert ist, den Vorsitz zu führen, w ä h l t der Schul vorstand einen Stellvertreter. A n Berathungen u n d Beschlüssen über solche Gegenstände, welche das Privatinteresse eines Mitgliedes des Schulvorstandes oder seiner Angehörigen berühren, darf das betreffende Mitglied nicht theilnehmen. . . .
Fünfter Abschnitt Vorbildung, Anstellung, Dienstverhältnis und Diensteinkommen der Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen § 104. Der Staat sorgt f ü r die V o r b i l d u n g der an den Volksschulen anzustellenden Lehrer und Lehrerinnen durch Einrichtung u n d Unterhaltung von Schullehrerseminaren. . . . § 109. Die Direktoren der Seminare werden vom Könige ernannt. Die Anstellung der Lehrer (Lehrerinnen) an den Seminaren erfolgt auf Vorschlag des Provinzialschulkollegiums durch den Unterrichtsminister. Die m i t der Ertheilung des Religionsunterrichts zu beauftragenden Lehrer (Lehrerinnen) sind vorher den kirchlichen Oberbehörden namhaft zu machen 9 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
behufs Äußerung, ob gegen Lehre u n d Wandel derselben Einwendungen zu erheben sind. Letztere sind durch Thatsachen zu begründen. §110. Die kirchlichen Oberbehörden sind befugt, jederzeit von dem Religionsunterricht an den Seminaren durch einen Kommissarius nach vorhergegangener rechtzeitiger Benachrichtigung des zuständigen Provinzialschulkollegiums Kenntniß zu nehmen u n d etwa vorgefundene Mängel dem Provinzialschulkollegium mitzutheilen. . . . §112. Als Lehrer oder Lehrerin an öffentlichen Volksschulen kann n u r angestellt werden, w e r die vorgeschriebene Prüfung bestanden hat. Die kirchlichen Oberbehörden sind befugt, sich durch einen Beauftragten m i t S t i m m recht an der Prüfung zu betheiligen. Erhebt derselbe wegen ungenügender Leistungen eines Examinanden i n der Religion i m Gegensatz zu der M e h r heit der Prüfungskommission Widerspruch gegen die Ertheilung des Befähigungszeugnisses, so ist an den Oberpräsidenten als Vorsitzenden des Provinzialschulkollegiums zu berichten, welcher i m Einvernehmen m i t der kirchlichen Oberbehörde zu entscheiden hat. Ist ein Einvernehmen nicht zu erzielen, so ist dem Lehrer das Lehramtszeugniß m i t Ausschluß der Befähigung für den Religionsunterricht zu ertheilen. . . . § 123. Wo m i t dem Schulamte ein kirchliches A m t vereinigt ist, w i r d an dem wegen Berufung zu dem kirchlichen A m t e bestehenden Rechte nichts geändert. W i r d über die Person des i n dem vereinigten A m t e Anzustellenden ein Einvernehmen erreicht, so w i r d das Einverständniß der zur Berufung zu dem kirchlichen A m t e Berechtigten bei einstweiliger Anstellung i n der Anstellungsverfügung, bei definitiver Anstellung i n der Bestallung zum Ausdruck gebracht. § 124. Der Regierungspräsident kann die Trennung des m i t dem Volksschulamte vereinigten kirchlichen Amtes von dem ersteren anordnen: 1. w e n n das Einvernehmen über die Person des Anzustellenden nicht zu erreichen ist; 2. w e n n die Wahrnehmung des kirchlichen Amtes den Lehrer i n der E r f ü l l u n g seiner schuldienstlichen Obliegenheiten behindert, insbesondere die regelmäßige Ertheilung des Unterrichts i n der Schule beeinträchtigt oder sonst das Schulinteresse schädigt u n d auf anderem Wege die Beseitigung solcher Ubelstände nicht herbeizuführen ist. Die Abtrennung der niederen Küsterdienste k a n n von dem Regierungspräsidenten unter Verpflichtung der Gemeinden (Gutsbezirke, Schulverbände), die zur Versehung dieser Dienste nöthigen M i t t e l den zuständigen kirchlichen Organen zur Verfügung zu stellen, einseitig angeordnet werden; 3. wenn die Gemeinde (Gutsbezirk, Schul verband) die Trennung verlangt; 4. w e n n diejenigen, welchen das Recht zur Besetzung des kirchlichen Amtes zusteht, ihrerseits unter Zustimmung der vorgesetzten Kirchenbehörde die Trennung verlangen.
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I I . Der Zedlitzsche Schulgesetz-Entwurf
Bevor die Trennung angeordnet w i r d , ist i n den Fällen Nr. 1 bis 3 die zuständige Kirchenbehörde zu hören. E r k l ä r t dieselbe sich gegen die Trennung, so kann diese n u r m i t landesherrlicher Genehmigung erfolgen. Desgleichen k a n n die Trennung n u r durch landesherrliche Anordnung ausgesprochen werden, wenn der Regierungspräsident i m Falle der Nr. 4 der Trennung widerspricht. Bevor die Trennung zur Ausführung gebracht w i r d , ist eine Auseinandersetzung über das Vermögen, welches während des Bestehens der Vereinigung für Schulzwecke und für kirchliche Zwecke, oder zugleich u n d gemeinsam für Schul- u n d kirchliche Zwecke gedient hat, zwischen den Betheiligten i m Verwaltungswege herbeizuführen. A u f diese Auseinandersetzung findet die Vorschrift des § 34 m i t der Maßgabe entsprechende Anwendung, daß die Vereinbarung über die Auseinandersetzung zwischen den Betheiligten der Bestätigung durch die kirchliche Aufsichtsbehörde bedarf. Der Lehrer, welcher zur Zeit der Trennung des kirchlichen Amtes von dem Schulamte zum Bezüge des m i t dem vereinigt gewesenen A m t e verbundenen Diensteinkommens berechtigt gewesen ist, hat Anspruch auf die fernere Gewährung eines Diensteinkommens i n gleichem Betrage, sofern nicht seine Anstellung unter dem ausdrücklichen Vorbehalte erfolgt ist, daß u n d bis zu welchem Betrage er für den F a l l einer Trennung des vereinigten Amtes eine Kürzung seines Diensteinkommens sich gefallen lassen müsse.
Nr. 53. Begründung zum Entwurf eines Volksschulgesetzes eingebracht am 15. Januar 1892 (Berichte über die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses, 1892, Anlagen, Bd. 2, Drucks. Nr. 9) — Auszug —
Erster Abschnitt.
Aufgabe und Einrichtung
der öffentlichen
Volksschule
A m 20. M a i 1886 bestanden i m Preußischen Staate 18 271 Schulbezirke (Schulverbände) m i t 34 016 Volksschulen, i n welchen 4 838 247 K i n d e r von 64 750 v o l l beschäftigten Lehrern u n d Lehrerinnen Unterricht empfingen. Dieser Zustand ist das Ergebniß einer fast zweihundertjährigen stetigen Arbeit, i n welcher der Preußische Staat seine eigene K r a f t bewährt und i n welcher, wie auf allen anderen Staatsgebieten, seine Könige vorangegangen sind. Von der Schulordnung, welche Friedrich W i l h e l m I. schon i n seinem ersten Regierungsjähre am 24. Oktober 1713 erlassen hat, bis zu dem heutigen Tage haben die Könige von Preußen m i t Eifer und Sorgfalt darüber gewacht, daß i n ihrem Staate kein K i n d ohne Unterricht bleibe, daß die Schulen, i n welchen die K i n d e r unterrichtet u n d erzogen werden, sich i n guter Ordnung befinden u n d den Lehrern das ihnen zustehende Einkommen gewährt werde. Ebenso haben sie von Anfang an und alle gleichmäßig darli*
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
auf gehalten, daß die heranwachsende Jugend i n der Schule zur Gottesfurcht u n d Vaterlandsliebe erzogen u n d auf G r u n d der hier erworbenen allgemeinen B i l d u n g befähigt werde, ihre Stelle i n der bürgerlichen Gesellschaft auszufüllen.... Aus diesem Gefühle der Verantwortlichkeit erklärt es sich wohl, daß zu allen Zeiten, w i e immer das Verhältniß von Kirche u n d Staat aufgefaßt wurde, u n d welche theologische Richtung auch die Zeit beherrschte, überall die religiös-sittliche Erziehung der Jugend als die erste Aufgabe der Volksschule i n Preußen angesehen worden ist. Es kommen darin zwei Grundsätze zur Geltung, der eine, daß das Gedeihen, j a der Bestand des Staates von der Bewahrung und der Pflege der religiös-sittlichen Gesinnung seiner Bürger abhängt, der andere, daß neben der Kirche die beste u n d sicherste Stätte für die Begründung solcher Gesinnung i n der Schule zu suchen sei. H a n d i n H a n d m i t der religiös-sittlichen Erziehung der Schuljugend ist aber auch stets die Vorbereitung derselben f ü r das praktische Leben gegangen. I m m e r wieder w i r d daran erinnert, daß i n der Unwissenheit u n d der Ungeschicklichkeit der Bevölkerung die Quellen der A r m u t h , der Rohheit, des Bettels u n d dessen ganzer Gefolgschaft liege, daß die K i n d e r i n der Schule erst arbeiten lernen, dann Lust an der A r b e i t gewinnen und den Grund zu späterer Erwerbsfähigkeit legen sollen, daß der Wohlstand der Bevölkerung m i t der Aufbesserung ihrer Schulen gleichen Schritt halte. Auch über den Weg, auf welchem das übereinstimmend bezeichnete Ziel zu erstreben ist, hat i m Allgemeinen eine Gleichheit der Ansichten bestanden. Unterschiede trafen nie den K e r n der Sache u n d sind w o h l vielmehr i n öffentlichen Kundgebungen als i n der stillen A r b e i t der Schule selbst hervorgetreten. V o n dieser Auffassung gehen auch die Vorschriften treffend die Aufgabe und Einrichtung der öffentlichen selben sind bestimmt, die Grundsätze festzustellen, an richtsverwaltung bei der Leitung u n d Beaufsichtigung und die Ziele zu bezeichnen, welche sie zu erstreben hat.
i n den §§ 1 bis 26, beVolksschule, aus. Diewelche sich die U n t e r der Schulen zu binden, ...
Der § 1 weist der Volksschule i m Anschluß an die dargelegten Grundsätze die Aufgabe zu, die religiöse, sittliche und vaterländische B i l d u n g der Jugend durch Erziehung u n d Unterricht, sowie die Unterweisung derselben i n den für das bürgerliche Leben nöthigen allgemeinen Kenntnissen und Fertigkeiten zu fördern. Er stellt sich dabei auf denselben Standpunkt, welchen bereits der Minister v. Altenstein i n einem Immediatberichte vom 31. J u l i 1829 einnahm, den er i n Gemeinschaft m i t dem Finanzminister erstattete, und welcher die Zustimmung K ö n i g Friedrich Wilhelms I I I . gefunden hat. I n demselben heißt es: „Die Volksschulen haben nach meiner Ansicht nur dahin zu wirken, daß das V o l k 1. den christlichen Glauben einfach u n d dem Evangelio gemäß aber m i t Lebendigkeit u n d Innigkeit auffasse und ergreife ; 2. i n diesem Glauben den G r u n d u n d A n t r i e b zu einem sittlichen und durch festen christlichen Glauben glücklichen Leben finde;
I I . Der Zedlitzsche Schulgesetz-Entwurf
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3. innerhalb des i h m von Gott angewiesenen, beschränkten Kreises k l a r und w a h r denke; 4. seine Gedanken i n diesem Kreise kurz und bündig auszusprechen; 5. fremde, seine Sphäre berührende und betreffende Gedanken leicht und richtig aufzufassen vermöge; 6. daß es lesen, schreiben, rechnen und singen lerne; 7. daß es seinen Hegenten u n d sein Vaterland liebe, m i t dessen Einrichtungen, Gesetzen etc. nach Bedürfniß u n d Maßgabe seines Standpunktes bekannt, m i t seinem Zustande zufrieden sei u n d i n seiner Sphäre r u h i g und befriedigt lebe; 8. die unerläßlichen gemeinnützigen Kenntnisse von der Natur, deren Behandlung u n d Benutzung, Gesunderhaltung des Leibes etc. erlange; 9. daß es i n Summa m i t einem kräftigen, gewandten Leibe, gewecktem Geiste u n d richtigem Gefühle, Gott, dem Könige und dem Vaterlande und sich selbst dienen könne und wolle. Nach diesen Grundsätzen ist m i r die Volksbildung freilich etwas Anderes, als ein nothdürf tiger Unterricht i n den bloßen Vehikeln der K u l t u r : Lesen, Schreiben, Rechnen; doch glaube ich, daß die angegebenen Punkte auch das L a n d v o l k keineswegs aus der i h m von Gott u n d Menschen angewiesenen Sphäre hinausheben, sondern i m Gegenteil dieselbe i h m lieb u n d w e r t h zu machen vermögen." . . . Die §§ 14 bis 18 ordnen die konfessionellen Verhältnisse der öffentlichen Schulen i m engen Anschluß an A r t i k e l 24 der Verfassungsurkunde 7 . Zunächst w i r d i m § 14 der Schule der konfessionelle Charakter gewahrt, welcher m i t ihrer Einrichtung als Gemeindeschule durchaus vereinbar ist. Maßgebend für diese Bestimmung ist zunächst die Erfahrung, daß die Bevölkerung einer Vereinigung von K i n d e r n verschiedener Konfessionen i n derselben Schule zumeist widerstrebt. Die Annahme, daß die gemeinsame U n t e r bringung u n d Erziehung der K i n d e r i n der Volksschule den konfessionellen Frieden besonders nähre u n d stärke, hat sich nicht bewahrheitet. Die Schwierigkeit, die richtige F o r m der Andacht zu finden, den rechten T o n i n der Geschichtserzählung zu treffen u n d die Lesestücke f ü r den Unterricht i n der Muttersprache so zu wählen, daß kein Gewissen verletzt werde, ist den L e i tern der Volksschulen i m m e r von Neuem entgegengetreten, u n d es ist m e h r fach da Unfriede entstanden, wo m a n m i t dem redlichsten W i l l e n Frieden erstrebt hatte. Es k o m m t aber noch ein anderes Moment hinzu. Die erziehliche W i r k u n g des Unterrichts hängt zu einem nicht geringen Theile davon ab, daß es dem Lehrer gelingt, i n der richtigen Weise auf das Gemüth seiner Schüler einzuwirken, u n d daß Lehrer, Schule u n d Haus i n der richtigen Wechselwirkung zu einander stehen. Dafür ist es von erheblicher Bedeutung, daß sich die Lehrer, die Schüler u n d die Eltern der K i n d e r auf demselben 7
Vgl. Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 111.
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3. Kap.: Staat u n d Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Glaubensgrunde bewegen. Jedenfalls w i r d das gegenseitige Vertrauen dadurch genährt. Thatsächlich hat sich auch das Preußische Volksschulwesen, obgleich seiner Entwicklung i m Ganzen die freieste Bahn gelassen war, auf konfessioneller Grundlage bewegt. A m 20. M a i 1886 erhielten von 3 062 856 evangelischen Schulkindern 2 918 689 u n d von 1 730 402 katholischen Schulkindern 1 582 464 i n Konfessionsschulen sämmtlichen Unterricht von Lehrern ihres Bekenntnisses. Es entspricht daher ebensowohl der geschichtlichen Entwicklung, als der Vorschrift der Verfassung, w e n n die Bestimmung getroffen ist, daß neue Volksschulen n u r auf konfessioneller Grundlage eingerichtet werden sollen, soweit nicht etwa an einem Ort eine anderweite Schulverfassung besteht, i n welche sich die neu entstehende Schule einzugliedern hat. Letztere A u s nahme, sowie die Erhaltung der wenigen paritätischen Schulen, w i r d ohne Widerspruch m i t der Verfassung als statthaft erachtet werden können. . . . Den Vorschriften über den Religionsunterricht i n den §§ 16 bis 18 ist der Grundsatz an die Spitze gestellt, daß der Religionsunterricht nach der Lehre derjenigen Religionsgesellschaft ertheilt werden soll, welcher die Schüler angehören. Aus dem Grundsatz des § 16 ergiebt sich von selbst, daß der Religionsunterricht den K i n d e r n n u r von Lehrern ihres Bekenntnisses ertheilt werden darf. Die Forderung, daß K i n d e r nicht ohne Religionsunterricht bleiben d ü r fen, ist bereits i m § 5, welcher die Religion an die Spitze der Lehrgegenstände stellt, ausgesprochen. Es k a n n aber nicht übersehen werden, daß die i n Rede stehende Forderung n u r f ü r die etwa 4 600 000 Kinder, welche i n konfessionellen Schulen von Lehrern ihres Bekenntnisses unterrichtet w e r den, ohne Schwierigkeit ausführbar ist. F ü r die etwa 200 000 Kinder, welche i n anderen Schulen untergebracht werden müssen, sind besondere Bestimmungen erforderlich; dies u m so mehr, w e i l trotz der Vorschriften i n den §§ 14 u n d 15 ihre Z a h l i n dem Maße steigen w i r d , als sich die konfessionelle Mischung der Bevölkerung ausbreitet. M i t Rücksicht hierauf ist zunächst vorgeschrieben, daß f ü r die K i n d e r konfessioneller Minderheiten auf Kosten der Gemeinde ein besonderer Religionsunterricht eingerichtet werden muß, w e n n ihre Zahl über 15 beträgt, u n d w e n n sie einer v o m Staate anerkannten Religionsgesellschaft angehören. Bisher schon ist dieses Ziel von der U n t e r richtsverwaltung erstrebt worden. Da es aber i n einzelnen Bezirken an einer gesetzlichen Bestimmung fehlt, welche einen Träger der Unterhaltungspflicht f ü r den erforderlichen Religionsunterricht bezeichnet, so ist die Erreichung desselben erschwert u n d überhaupt n u r durch Staatszuschuß möglich gewesen Wo die Z a h l der K i n d e r einer v o m Staate anerkannten Religionsgesellschaft 15 nicht übersteigt, die K i n d e r also des Religionsunterrichtes ganz entbehren würden, k a n n es vorkommen, daß E l t e r n oder deren Stellvertreter es vorziehen, ihre K i n d e r an dem Religionsunterrichte eines anderen christlichen Bekenntnisses theilnehmen, als sie ohne jeden Religionsunterricht zu lassen. Daher ist i m Absatz 2 die Theilnahme von K i n d e r n an einem anderen
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Religionsunterricht als zulässig bezeichnet, zugleich aber Sorge getragen, daß sie nur auf besonderen A n t r a g der Eltern oder ihrer Stellvertreter stattfinde. Was den Begriif der „ v o m Staate anerkannten" Religionsgesellschaften betrifft, so sind hierunter nach der geschichtlichen Entwicklung zu verstehen einmal die Öffentlich aufgenommenen bevorrechteten Kirchengesellschaften, nämlich die evangelische u n d katholische Kirche, sodann die aufgenommenen konzessionirten Kirchengesellschaften, wie die Herrnhuter, die böhmischen Brüdergemeinden und die Altlutheraner, endlich die früher sogenannten geduldeten Religionsgesellschaften, wie die Mennoniten, Quäker, Baptisten, die unirten Griechen, die Anglikaner u n d die Juden. F ü r die Z u k u n f t werden außer diesen Religionsgesellschaften i m Hinblick auf A r t i k e l 13 der Verfassungsurkunde hierher n u r diejenigen zu rechnen sein, welche durch besonderen A k t des Preußischen Staats Korporationsrechte erhalten. Eine außergewöhnliche Schwierigkeit bietet die religiöse Erziehung von Kindern, welche keiner der staatsseitig anerkannten Religionsgesellschaften angehören. Hier muß man es zunächst den Religionsgesellschaften überlassen, für einen geeigneten Unterricht zu sorgen. W i r d ein solcher Unterricht nicht beschafft oder gehören die betreffenden K i n d e r überhaupt keiner Religionsgesellschaft an, so sollen sie an dem Religionsunterricht der Schule theilnehmen, u m sie wenigstens nicht ganz ohne Unterweisung i n den allgemeinen sittlichen Grundsätzen aufwachsen zu lassen....
I I I . Das Scheitern des Zedlitzschen Schulgesetzes Der Zedlitzsche Schulgesetzentwurf rief einen Sturm der Entrüstung hervor. Anschaulich berichtete dem Kaiser 1 der Münchener Gesandte Graf Eulenburg 2 über die von der süddeutschen Presse ausgehende Kampagne (Nr. 54). Schon nach wenigen Tagen konnte der Geheimrat v. Holstein 5 dem Münchener Gesandten beruhigende Mitteilungen über die Haltung des Kaisers machen (Nr. 55). Die parlamentarische Debatte über den Entwurf begann 1 Wilhelm II. (1859 - 1941), ältester Sohn Kaiser Friedrichs III. u n d der K a i serin V i k t o r i a ; 1874 - 7 7 i m Gymnasium i n Kassel (Reifeprüfung); 1877 - 7 9 Studium der Rechts- u n d Staatswissenschaften i n Bonn; 1879 - 8 8 i m aktiven Militärdienst, zeitweise auch i m Verwaltungsdienst und i m Auswärtigen A m t ; Deutscher Kaiser und K ö n i g von Preußen vom 15. J u n i 1888 bis zum 9. November 1918; seitdem i m E x i l i n Holland. 2 Philipp Graf (Fürst) zu Eulenburg und Hertefeld (1847 - 1921), zunächst Offizier, dann Jurist; seit 1877 i m preuß. diplomatischen Dienst; 1881 Gesandtschaftssekretär i n München, 1888 Gesandter i n Oldenburg (zugleich f ü r B r a u n schweig u n d die beiden Lippe), 1890 i n Stuttgart, 1891 i n München; 1894 - 1902 deutscher Botschafter i n Wien. 3 Friedrich v. Holstein (1837 - 1909), Jurist, seit 1860 i m preuß. diplomat. Dienst; 1870 i m persönlichen Stab Bismarcks; 1871 Botschaftssekretär i n Paris; 1876 - 1906 i m Auswärtigen A m t i n B e r l i n (1880 Geheimrat, 1899 W i r k l . Geh. Rat m i t dem Prädikat „Exzellenz"); seit Bismarcks Sturz der einflußreichste außenpolitische Ratgeber der jeweiligen Reichskanzler u n d Staatssekretäre des Auswärtigen Amts.
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schon vor seiner ersten Lesung im Rahmen der Haushaltsberatungen des preußischen Abgeordnetenhauses am 21./22. Januar 18924. Die über Preußen hinausreichende Bedeutung des Vorgangs zeigte sich darin, daß der Parteiführer der Nationalliberalen, der hannoversche Oberpräsident v. Bennigsen\ am 22. Januar in einer Rede im Reichstag indirekt auf den Schulkonflikt einging (Nr. 56). Er verwies auf die anstehenden Kämpfe um „ideale Güter", worunter er vor allem die Freiheit der Schule von kirchlicher Vorherrschaft verstand; er knüpfte daran die Erwägung, daß der gemeinsame Widerstand der Nationalliberalen und der Freisinnigen den Anstoß zur Bildung einer großen liberalen Partei geben könne. Parallel zu dieser ungewöhnlichen, für das Kabinett Caprivi gefährlichen Aktion verstärkte der preußische Finanzminister Miquel e, der den Gesetzentwurf nur unter Zögern unterzeichnet hatte, seinen Widerstand gegen das Gesetzvorhaben. In den Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses vom 25. bis 30. Januar zeigte sich, daß außer dem Zentrum und den Konservativen keine Partei dem Entwurf ihre Zustimmung zu geben bereit war. Um so entschiedener setzte sich Caprivi für den Entwurf ein; das Schulwesen sollte nach seiner Auffassung dem Kampf gegen Atheismus, Materialismus und Sozialismus dienen, die er als „Mächte des Umsturzes" verstand. Deshalb erklärte er, bei der Auseinandersetzung um das Schulwesen stehe die Entscheidung zwischen Christentum und Atheismus auf dem Spiel (Nr. 57). Damit aber diskriminierte er nicht allein die sozialdemokratische, sondern auch die liberale Opposition. Vehement ergriff auch die Öffentlichkeit gegen die Schulpläne der preußischen Regierung Stellung. Liberale Zeitungen und protestantische Verbände machten gegen sie Front (Nr. 58, Nr. 59). Professoren zahlreicher Universitäten wandten sich in Petitionen an den Landtag (Nr. 60, Nr.61) 7. Namhafte Gelehrte erklärten in eilig publizierten Broschüren ihren Widerspruch 8. Der Gesandte Graf Philipp zu Eulenburg wiederholte, obwohl er der Sache nach den Grundgedanken des Entwurfs nahestand, Ende Februar auch gegenüber dem Reichskanzler und Anfang März gegenüber dem Kaiser seine Bedenken (Nr. 62, Nr. 63)9. 4
Verh. d. pr. A H 1892, Bd. I, S. 35 ff. Rudolf v. Bennigsen: Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 537. 6 Johannes v. Miquel (1828 - 1901), Jurist; 1854 A n w a l t i n Göttingen, 1865 Bürgermeister von Osnabrück, 1870 Leiter der Berliner Diskontogesellschaft; 1876 Oberbürgermeister von Osnabrück, 1880 Oberbürgermeister von F r a n k furt, 1890 - 1901 preuß. Finanzminister. 1857 M i t g l i e d der I I . hann. K a m m e r ; 1867 - 77 M d R ; 1867 - 82 M d p r A H ; seit 1882 M d p r H H . 7 Außer von den Universitäten Halle u n d Berlin, deren Petitionen unten wiedergegeben sind, kamen Eingaben auch von den Universitäten Göttingen, Königsberg, Breslau u n d Bonn. 8 Vgl. u. a. W. Bey schlag, Gegen die neue Volksschulgesetz-Vorlage (1892) ; F. Dahn, Moltke als Erzieher nebst Anhang: Betrachtungen über den E n t w u r f eines Volksschulgesetzes i n Preußen (1892); R. v. Gneist, Die staatsrechtlichen Fragen des Preußischen Volksschulgesetzes (1892); H. v. Treitschke, Der E n t w u r f des Preußischen Volksschulgesetzes (1892). 9 Vgl. J. C. G. Röhl, Deutschland ohne Bismarck. Die Regierungskrise i m Zweiten Kaiserreich 1890- 1900 (1969), S.74ff.; ders. (Hrsg.), P h i l i p p E g e n burgs politische Korrespondenz, Bd. I (1976), S. 21. 5
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I n dieser Lage griff Wilhelm II., der schon am 23. Januar 1892 in einem Gespräch angekündigt hatte, daß er einem nur von den Konservativen und dem Zentrum beschlossenen Schulgesetz die Zustimmung versagen werde, unmittelbar in den Gang der Ereignisse ein. Am 17. März wiederholte er im Kronrat, daß ein verändertes Schulgesetz auf dem Weg der „Kartell-Politik das heißt durch eine konservativ-liberale Koalition, geschaffen werden müsse (Nr. 64). Damit war der Schulgesetzentwurf gescheitert. Der Kultusminister v. Zedlitz-Triitzschler erklärte, obwohl der König ihn zum Bleiben zu bewegen suchte, den Rücktritt. Auch der Ministerpräsident v. Caprivi, der sich voll mit der Vorlage identifiziert hatte, reichte seinen Abschied ein (Nr. 65). Zwar behielt er schließlich die Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Außenministers bei; aus dem Amt des preußischen Ministerpräsidenten dagegen schied er am 23. März 1892 aus. An seine Stelle als preußischer Ministerpräsident trat der entschieden konservative Graf Botho zu Eulenburg 10. Das Amt des Kultusministers aber übernahm am 23. März 1892 der den Konfessionalismus des Zedlitzschen Entwurfs ablehnende bisherige Staatssekretär des Reichsjustizamts Bosse11. Das Gewicht, das der Volksschulfrage zukam, zeigte sich deutlich an dieser tiefgreifenden Ministerkrise 12.
Nr. 54. Schreiben des Gesandten Graf Philipp zu Eulenburg an Kaiser Wilhelm I I . vom 21. Januar 189213 (J. Haller, Aus dem Leben des Fürsten P h i l i p p zu Eulenburg-Hertefeld, 2. Aufl. 1926, S. 68) — Auszug — . . . Ich sehe die Bedeutung der Kammergruppierung 1 4 bei der Vorlage des Schulgesetzes f ü r das Reich aus den Erörterungen der hiesigen 1 5 Blätter u n d aus verschiedenen m i r gewordenen Mitteilungen. Ew. M. sind darüber orientiert, welche Gefahr durch ein Zusammengehen m i t dem Z e n t r u m seitens der 10
Botho Graf zu Eulenburg (1831 - 1912), Jurist, 1859 Landrat i n DeutschKrone, 1864 Hilfsarbeiter i m preuß. Innenministerium; 1865 - 70 M d p r A H , 1867 MdNorddt.RT.; 1869 Regierungspräsident i n Wiesbaden, 1872 Bezirkspräsident i n Metz, 1873 Oberpräsident von Hannover; 1878 - 81 preuß. Innenminister; dann Oberpräsident von Hessen-Nassau; 1892 - 94 preuß. Ministerpräsident und Minister des Innern. 11 Robert Bosse: Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 76, A n m . 13. 12 Vgl. K . Richter, Der K a m p f u m den Schulgesetzentwurf des Grafen Zedlitz-Trützschler vom Jahre 1892 (Diss. Halle 1934), S. 31 ίΐ.; E. R. Huber, V e r fassungsgeschichte, Bd. I V , S. 893 ff. 13 Der Brief ist bei Haller auf den 28. Januar 1892 datiert; die K o r r e k t u r ergibt sich aus dem Brief Eulenburgs an Friedrich v. Holstein v o m 22. Januar 1892 (Text: J. C. G. Röhl [Hrsg.], P h i l i p p Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. I I , 1979, S. 747). 14 D. h. die Bedeutung der Frage, welche Fraktionen i m preußischen Abgeordnetenhaus der Schulgesetzvorlage zuzustimmen bereit waren. 15 D. h. der bayerischen.
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preußischen Regierung dem Reich erwachsen muß, und was speziell die W i r k u n g auf Bayern sein w i r d , dessen liberale Parteien den einzigen H a l t für die Reichseinheit bilden. Die Bedeutung einer Möglichkeit des Zusammengehens der beiden Parteien geht i n ihrer W i r k u n g aus der H a l t u n g der hiesigen Presse deutlich hervor. Es w ü r d e das Durchbringen eines Gesetzes, das so tief i n das Volksleben einschneidet, i n einer den gemäßigten Parteien nicht genehmen Form, sondern unter entscheidendem Beistand des Zentrums als ein Erheben dieser Partei zur Regierungsfarbe i n Preußen (und dadurch i m Reich) aufgefaßt werden, nachdem die Reichsregierung durch manche der Zentrumspartei erwiesenen Nachgiebigkeiten die Aufmerksamkeit bereits sehr rege gemacht hat. Ich weiß nicht, ob dem Grafen Zedlitz diese Gefahren f ü r das Reich gegenwärtig sind — möchte es fast bezweifeln u n d glaube fast, daß es segensreich f ü r Ew. M. sein würde, w e n n Ew. M. m i t i h m die Angelegenheit besprächen. Ich muß i n meiner amtlichen Stellung genau die W i r k u n g mitteilen, die hier erzeugt w i r d . Persönliche Ansichten haben zu schweigen. Der Reichskanzler hat die Sache richtigerweise dem K u l t u s überweisen lassen. Ich glaube auch, daß, w e n n es nach einer Unterhaltung Ew. M. m i t Zedlitz durchsickert, daß Ew. M. i n dieser Frage auf dem gemäßigten Standp u n k t steht, dieses nach allen Richtungen h i n den besten Eindruck machen und zur Beruhigung beitragen werde. . . .
Nr. 55. Brief Friedrich v. Holsteins an den Grafen Eulenburg v o m 24. Januar 1892 (J. C. G. Röhl [Hrsg.], P h i l i p p Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. I I , 1979, S. 748 f.) — Auszug — . . . Gestern f r ü h w a r d dann plötzlich Zedlitz zum Frühstück befohlen. Dort sagte i h m Seine Majestät, E r werde den Abend zu Zedlitz zum Bier kommen, dieser möge i h m Helldorff, Manteuffel, Miquel, Benda, TiedemannBomst, Douglas 1 6 einladen. Ob noch andre, weiß ich nicht. Den Abend w a r d dann fast nichts als Schulgesetz gesprochen. Seine M a j e stät erklärte: „ E r werde ein Schulgesetz, was I h m bloß von Konservativen u n d Zentrum gebracht werde, nie annehmen. Er verlange, daß auch die Freikonservativen u n d die Mehrheit der Nationalliberalen einverstanden seien. Wenn er sich v o m Z e n t r u m abhängig mache, w ü r d e n i n nächster Zeit die Redemptoristen, dann die Jesuiten wiederkommen. Außerdem würde dann i n Süddeutschland jeder Minister, der nicht ultramontan sei, stürzen, u.s.w." . . . 16 D. h. eine Reihe v o n Mitgliedern des Reichstags und des preußischen A b geordnetenhauses. Vgl. zu ihnen Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 832; Bd. I V , S. 28, 30, 66, 70, 209. Besondere Bedeutung hatte natürlich die Teilnahme des Ministers Miquel (vgl. oben S. 136, Anm. 6).
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Nr. 56. Rede des Reichstagsabgeordneten v. Bennigsen v o m 22. Januar 1892 (Verhandlungen des Reichstags, Bd. 119,1892, S. 3822 f.) — Auszug — . . . Meine Herren, wenn n u n i n Folge des Systems der Handelsverträge 1 7 Zeiten kommen, i n denen diese Gegensätze nicht nothwendig so scharf mehr hervorzutreten brauchen, so würde das speziell f ü r die weitere Entwicklung unserer politischen Parteien, insbesondere der liberalen Parteien, vielleicht von sehr erheblichem und, wie ich glaube, keineswegs nachtheiligem Einfluß sein. Es könnten Verhältnisse eintreten i n unserer inneren Entwicklung, die es wünschenswerth, j a vielleicht nothwendig machen werden, daß sich jetzt bekämpfende liberale Gruppen u n d Männer einander wieder näher treten aus Gründen gemeinsamer Kämpfe, welche nicht auf materiellem Boden liegen, sondern auf anderen Gebieten, wo es sich u m ideale Güter, nicht u m materielle Interessen handelt. Es würde die von m i r erwartete E n t w i c k l u n g i n Folge der Handelsverträge u n d die daraus sich ergebende Mäßigung des Interessenkampfes zwischen Schutzzoll u n d Freihandel w o h l dazu führen können, daß eine größere Annäherung zwischen liberalen Männern u n d Parteien wieder eintritt. Es würde das, wie gesagt, nach meiner Meinung, der ich selbst liberal stets gewesen b i n u n d bleiben w i l l , f ü r die weitere Entwicklung i n Deutschland n u r förderlich sein. Das liberale Bürgerthum i n Stadt u n d Land, die liberalen Anschauungen haben einen Anspruch auf größere Geltung, als sie zur Zeit besitzen. — Das ist, wenn Sie es auch anfechten, meiner Meinung nach über allen Zweifel erhaben schon daraus abzunehmen, daß ein genialer konservativer Staatsmann, als er i n der Lage war, die neuen Fundamente zu legen i n Deutschland für Verfassung und Gesetzgebung, als wesentliche Bestandtheile derselben die liberalen Grundsätze, welche übrigens das historisch erwachsene Gemeingut von ganz Westeuropa waren, nicht vermeiden konnte aufzunehmen zunächst i n seine Entschließungen u n d sodann i n Verfassung u n d Gesetze. E i n weiterer Beweis für meine Behauptung liegt darin: als nachher, wie ich v o r h i n angedeutet habe, durch eigene Schuld die liberalen G r u n d sätze und Parteien i n ihrer Bedeutung haben zurücktreten müssen wegen eines überflüssig erbitterten Kampfes der liberalen Parteien untereinander, — ist es da möglich geworden, i m großen u n d ganzen an diesen Grundlagen irgend etwas wesentliches zu ändern? Zeit genug ist dazu gegeben, w o die liberale Vertretung so i n der Minderheit war, daß m a n konservativerseits Wesentliches hätte ändern können, w e n n man überhaupt i m Stande gewesen wäre, etwas anderes u n d besseres an die Stelle zu setzen. Daß das nicht geschehen ist, beweist, daß diese Grundlagen — nicht ausschließlich, aber i m wesentlichen liberale — f ü r Verfassung u n d Gesetze die richtigen waren, als man sie ergiff, u m das Gebäude zu errichten, u n d daß sie auch die richtigen geblieben sind, als man später nicht i m Stande war, gar nicht einmal ernst17 Bennigsen hielt diese Rede i m Rahmen der Beratung des Handels- u n d Zollvertrags zwischen dem Deutschen Reich u n d der Schweiz.
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lieh versuchte, dieses Gebäude, obgleich man es hätte unternehmen können, wieder abzutragen. Wenn derartige Annäherungen, die, glaube ich, i n m a n cher Hinsicht eine Gesundung der erbitterten Parteiverhältnisse i n Deutschland herbeiführen können, u n d die Anbahnung eines besseren Verhältnisses unter liberalen Parteien ermöglicht werden soll, dann ist allerdings, meiner Meinung nach, eine große Resignation erforderlich hinsichtlich der Bekämpfung der Schutzzollsätze f ü r die verschiedenen Gebiete der Produktion, u n d ich schließe davon nicht u n d am wenigsten die Landwirthschaft aus . . .
Nr. 57. Rede des Ministerpräsidenten v. Caprivi über den Schulgesetzentwurf v o m 29. Januar 1892 (Berichte über die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses, 1892, Bd. 1, S. 195) — Auszug — . . . Wenn eine Aufzeichnung, die ich m i r gestern gemacht habe, richtig ist, so schob der Herr Abgeordnete von E y n e r n 1 8 der gegenwärtigen Regierung zu, sie habe eine Kriegserklärung an die nationalliberale Partei oder v i e l leicht an alle Liberalen durch dieses Gesetz erlassen. Das hat mich überrascht. Es kann von einer Kriegserklärung von unserer Seite nach meinem unmaßgeblichen Dafürhalten keine Rede sein. Was sollten w i r von einem Kriege m i t Ihnen f ü r einen V o r t e i l haben? W i r hatten m i t Ihnen i n Frieden gelebt; w i r hatten u n d haben heute noch den aufrichtigen Wunsch, m i t Ihnen i n Frieden zu leben. Die gegenwärtige Regierung t h u t alles mögliche, n u r sucht sie keinen Kampf. Ich b i n w e i t entfernt davon, die Verdienste der nationalliberalen Partei u n d die Verdienste des Mannes, der i h r Führer auf einer andern Stelle ist 1 9 , zu verkennen. Es ist m i r vollkommen klar, daß, wie an einer andern Stelle neulich gesagt wurde, mein genialer Amtsvorgänger dieser Partei bedurft hat, u m Deutschland zu machen. Das erkenne ich v o l l kommen an. M i r ist n u r fraglich, ob die Partei auf dem Standpunkt, den sie jetzt einnimmt, weiter zu beharren g e w i l l t ist, ob sie es können w i r d . Z w e i Dinge machen das Wesen der Partei aus: das Nationale u n d das Liberale. Ich möchte glauben, daß national zu sein jetzt nicht mehr ein charakteristisches Kennzeichen einer Partei ist. National ist, Gott sei Dank, ganz Deutschland. Also auf diese Eigenschaft h i n kann m a n Parteiunterschiede nicht mehr gründen. Wenn die Partei weiter existieren w i l l i n der Weise, w i e sie bisher existiert hat, so muß sie nach meinem Dafürhalten den Liberalismus mehr betonen, als sie es gethan hat, u n d ich lege m i r auf diese Weise die Erscheinungen zurecht, die i n den letzten Tagen hier vor uns getreten sind. 18 Ernst ν . Eynern (1838 - 1906), Fabrikant i n Barmen; 1875 Stadtrat i n B a r men; 1879 Vertreter Barmens i m rheinischen Provinziallandtag; seit 1876 Schriftführer, seit 1886 Geschäftsführer der Nationalliberalen Partei; MdprAH. 19 Gemeint ist Rudolf v. Bennigsen als Führer der Reichstagsfraktion; vgl. dessen Reichstagsrede vom 22. Januar 1892 (oben Nr. 56), auf die Caprivi i m nächsten Satz anspielt.
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Wenn bei dem gegenwärtigen Gesetze Differenzen hervorgetreten sind, so glaube ich allerdings, daß diese Differenzen ihren G r u n d u n d ihre Wurzeln doch tiefer haben, als i m allgemeinen angenommen w i r d . Ich glaube, es handelt sich hier i n letzter Instanz nicht u m evangelisch u n d katholisch, sondern es handelt sich u m Christentum u n d Atheismus. — Erlauben Sie m i r , das weiter auszuführen. Ich bin, wie ich neulich schon gesagt habe, der Meinung, daß eine Religion nicht gelehrt werden kann ohne eine Konfession, u n d daß w i r i n Deutschland nicht andere Konfessionen haben können, als die, welche uns einmal gegeben sind. Jetzt aber macht sich eine Weltanschauung stärker u n d stärker geltend, die i m Gegensatz zu jeder Religion steht. K e i n einziger von Ihnen teilt sie, das weiß ich sehr gut, aber diese Weltanschauung ist da. U n d diese Weltanschauung ist eine atheistische, das k a n n ich nicht i n Abrede stellen. Ich b i n der Meinung, an jedem Menschen ist das wesentlichste sein Verhältnis zu Gott. Das k a n n sich auf verschiedene Weise bewußt u n d unbew u ß t äußern. Daß aber ein solches Verhältnis da ist, ist wünschenswert, u n d daß die Volksschule darauf abzielen muß, den Menschen i n ein Verhältnis zu Gott zu setzen, ist m i r keinen Augenblick zweifelhaft. Ich weiß bis jetzt nicht, w i e das anders gemacht werden soll als durch das Lehren der Religion; denn wenn selbst der beredteste M u n d eines Universitätslehrers eine Morallehre lehren wollte ohne christlichen Grund, so w ü r d e ich m i r wenig Erfolg bei Volksschulkindern versprechen. Ich meine also, es ist u n vermeidlich, wenn man einmal zugiebt, daß w i r einem K a m p f m i t dem A t h e ismus gegenüberstehen, daß w i r dann Religion i n den Schulen lehren müssen. Ich verwahre mich hier vor der Schlußfolgerung, daß ich den Atheismus m i t der Sozialdemokratie unter allen Umständen für unzertrennlich halte, das ist nicht der Fall. Aber der Atheismus greift anderseits über die Kreise der Sozialdemokratie hinaus. Ich halte i h n für eine entschiedene Gefahr unseres Staatslebens. Vielleicht sind Sie nach diesen Auseinandersetzungen nicht mehr so böse über meine Äußerungen. W i r stehen vor der Gefahr, atheistisch oder nicht. M a n hat uns den V o r w u r f gemacht, w i r trieben zu einem K o n f l i k t zwischen Lehrern u n d Geistlichen, zwischen Geistlichen u n d Gemeinden. Meine Herren, das erscheint m i r unrichtig. Gegensätze zwischen den Konfessionen, Gegensätze zwischen einem A t h e ismus u n d einem Theismus, wenn ich das W o r t hier gebrauchen darf, die sind da; die lassen sich nicht verwischen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß sie sich m i t der Zeit immer mehr verschärfen werden. Das, was die Regierung t h u n w i l l , ist nicht, sich auf Verwischen einlassen, w o h l aber auf A b grenzen, und das haben w i r i n diesem E n t w u r f erzielen wollen. . . . Die schwere Not des dreißigjährigen Krieges w a r erforderlich, u m die Deutschen dahin zu bringen, daß sie sich vertrugen. Sollte es denn wieder einer schweren Not der Zeit bedürfen, daß die Deutschen auf religiösem Gebiete sich vertragen lernen? Ich glaube nicht, u n d ich hoffe, w i r alle m i t einander — Sie einbegriffen — vertragen uns, w e n n die großen Gefahren, vor welchen w i r stehen, auch Ihren Augen deutlicher geworden sein w e r den 2 0 . 20
Entgegen den parlamentarischen Gepflogenheiten wurde nach dieser Rede des Reichskanzlers und Ministerpräsidenten gezischt.
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Nr. 58. Kundgebung des Deutschen Protestantenvereins zum preußischen Volksschulgesetz-Entwurf v o m 1. Februar 1892 (Protestantische Kirchenzeitung 39,1892, Sp. 129 f.) — Auszug — Evangelische Glaubensgenossen! Der E n t w u r f des Gesetzes, welches die Einrichtung der Volksschule endgültig regeln soll, beschäftigt gegenwärtig den Landtag. Mehr als jedes andere Gesetz greift dieses an unser, an des ganzen Volkes Herz. Die Z u k u n f t unserer Kinder, unseres Vaterlandes hängt von i h m ab. Sein I n h a l t läuft darauf hinaus, daß der Staat den anerkannten Kirchen eine Mitherrschaft über die Schule einräumt, welche bei der bedeutsamen Stellung des Religionsunterrichtes i n der Volksschule eine Alleinherrschaft werden muß. A u f die Gestaltung u n d Leitung des Religionsunterrichtes, auf die A u s b i l dung u n d Anstellung der Lehrer, auf den I n h a l t der einzuführenden L e h r bücher sollen die Kirchen einen entscheidenden Einfluß haben. Simultanschulen sollen nicht mehr errichtet werden, die Lehrerseminare wie die Schulen sollen streng konfessionell werden. Eltern, welche einer vom Staat nicht anerkannten Religionsgesellschaft angehören, sollen der Regel nach gezwungen sein, ihre K i n d e r am Religionsunterricht der Schule teilnehmen zu lassen. Handelt es sich hier wirklich, wie am Ministertisch gesagt wurde, u m Stärkung der Religion, u m den Gegensatz von Christentum u n d Atheismus? Nein, das was hier Gesetzeskraft erlangen soll, bedeutet i n Wahrheit A b t r e tung von Staatshoheitsrechten an die Geistlichkeit. Wer sind die „anerkannten" Kirchen u n d w e m soll die Ausübung dieser Machtbefugnisse übertragen werden? Der vom unfehlbaren Papste abhängigen katholischen Priesterschaft u n d der i n den kirchlichen Behörden u n d oberen Synoden organisirten evangelischen Orthodoxie, dem Clerus beider Kirchen und seinem politischen Anhang! Entspricht das dem Geist des deutschen Volkes? Ist Preußen durch diese Stützen groß geworden? Das Gesetz würde, darüber sind w i r nicht i m Zweifel, das heranwachsende Geschlecht, soweit es sich fanatisiren läßt, i n zwei Heerlager spalten, die einander nicht mehr verstehen, zur Freude aller Feinde des Reiches! U n d zum andern würde es die W i r k u n g haben, statt schlichter Frömmigkeit und Sittlichkeit jenen bekannten Gegensatz der Bigoterie und Heuchelei auf der einen Seite, des Materialismus auf der anderen, der keine höheren Güter mehr kennt, großzuziehen. Damit aber ist die Z u k u n f t des Vaterlandes auf's Spiel gesetzt. . . .
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Deshalb hoffen u n d wünschen w i r , daß auch bei uns alle, welche dem Volke die Segnungen u n d Errungenschaften der Reformation nicht v e r k ü m mern lassen wollen, ihre Stimmen erheben u n d laut und deutlich gegen das Zustandekommen dieses Gesetzes protestiren.
Nr. 59. Erklärung des Zentralvorstandes des Evangelischen Bundes zum preußischen Entwurf eines Volksschulgesetzes v o m Februar 1892 (Die Christliche Welt, 6,1892, Sp. 197 f.) Der dem preußischen Landtage vorgelegte Volksschulgesetzentwurf steht i n so engem Zusammenhange m i t den Lebensinteressen des evangelischen Volkes u n d der evangelischen Kirche, daß der Evangelische B u n d nicht u m h i n kann, dazu Stellung zu nehmen, zumal die Gefahr nahe liegt, daß i m Streit der Parteien die dem Wesen der Reformation entsprechenden Gesichtspunkte nicht i n ihrer vollen Reinheit u n d K l a r h e i t erfaßt werden. Nicht eine umfassende Beurteilung des ganzen Entwurfs k a n n unsre Aufgabe sein, sondern n u r die Darlegung, wiefern die kirchlichen u n d vaterländischen I n t e r essen durch denselben gefördert oder gefährdet werden. Hierüber das Wort zu ergreifen, durfte der Zentralvorstand sich umsomehr für ermächtigt ansehn, als eine grundsätzliche Erklärung des gesamten B u n des i n Sachen des Volkschulwesens bereits vorliegt, nämlich eine auf der Generalversammlung zu Stuttgart i m September 1890 einstimmig angenommene Resolution, die folgendermaßen lautet: „Die Koblenzer Katholikenversammlung hat die i n Bochum u n d auf f r ü hern Katholikenversammlungen gestellten Forderungen betreffs des Rechts der Kirche, der Familie u n d der Gemeinde auf die Leitung u n d Einrichtung der Volksschule erneuert. I n Erwägung, daß die E r f ü l l u n g dieser Forderungen i m Sinne des U l t r a montanismus einer Auslieferung eines großen Teils der deutschen Schulen an die römische Kirche gleichkommen und darum die größte Gefahr für unser christliches Volksleben enthalten würde, protestirt die Generalversammlung des Evangelischen Bundes gegen diese Forderungen, w i l l aber ebenso entschieden unter Zurückweisung aller auf Herbeiführung einer religionslosen Schule gerichteten Bestrebungen der deutschen Schule ihren christlichen Charakter gewahrt wissen." Indem w i r i n unsrer Darlegung die hier aufgestellten Gesichtspunkte zur Anwendung bringen, dürfen w i r hoffen, m i t ihr, trotz mancher i m einzelnen auseinandergehenden Meinungen, den Grundanschauungen der Mitglieder des Bundes gerecht zu werden. Zunächst erkennen w i r dankbar u n d freudig das Bestreben des Entwurfs an, die religiöse Unterweisung und Erziehung als M i t t e l p u n k t der Volksschule
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
zu erhalten. W i r sind ferner davon durchdrungen, daß i n Preußen die konfessionelle Schule die normale Gestalt der Volksschule sein muß. Denn wie die christliche Religion überhaupt, so ist insonderheit das evangelische Christentum ein Sauerteig, der alle Lebensverhältnisse, auch die gesamte Erkenntnis durchdringen w i l l . Auch die ganze Auffassung der Geschichte ist von i h m bedingt. Desgleichen muß das deutsche unterste Lesebuch i n der Volksschule evangelischen Charakter tragen. Die größte Einbuße aber würde der evangelische Volksschulunterricht erleiden, w e n n dem Lehrer verwehrt wäre, m i t seiner ganzen Persönlichkeit für seine protestantische Überzeugung einzutreten. Je mehr der Unglaube jede göttliche Leitung der Weltgeschichte leugnet, und je kühner die römische Kirche die Geschichte nach ihrem Dogma zu „berichtigen" unternimmt, u m so notwendiger ist es f ü r die evangelische Bevölkerung, nicht n u r i m Glauben, sondern auch i n der gesamten W e l t - und Lebensanschauung der Reformation erzogen und befestigt zu werden. Auch gegen die konfessionellen Schulvorstände haben w i r von unserm Standpunkt aus nichts einzuwenden, erkennen für die Diaspora sie sogar als notwendig an u n d begrüßen überhaupt dankbar den verstärkten Schutz konfessioneller Minderheiten. Aber dieser unverkennbare Segen konfessioneller Schulen darf uns nicht vergessen lassen, daß es immer Fälle gegeben hat u n d geben w i r d , i n denen die Simultanschule oder wenigstens die Anstellung eines Lehrers andrer Konfession an einer sonst konfessionellen Schule als Ausnahme gestattet sein muß. Daher halten w i r die Unbedingtheit, m i t welcher der E n t w u r f diese Einrichtung für die Z u k u n f t ausschließt, nicht für ratsam. So w a r m w i r für den evangelischen Charakter unsrer Schulen i n wesentlicher Ubereinstimmung m i t den Beschlüssen der preußischen Generalsynode und m i t andern Kundgebungen auch aus Kreisen des Evangelischen Bundes eintreten, so ernstlich müssen w i r gegen mehrere Bestimmungen des E n t wurfs uns erklären, die durch das Interesse der evangelischen Kirche nicht geboten erscheinen, w o h l aber der römischen einen Machtzuwachs verleihen, der gleicherweise dem Staate wie der evangelischen Kirche gefährlich werden würde. Hierzu rechnen w i r das Veto des kirchlichen Kommissars gegen die Befähigung eines Lehrers zum Religionsunterricht (§ 112), das Recht des direkten Eingreifens der Kirche i n den Unterricht bis zur Ersetzung des Religionslehrers durch den Geistlichen ohne weitere Sicherung als durch das „Einvernehmen m i t dem Regierungspräsidenten" (§ 18), endlich den Mangel wirksamerer Kautelen bei Gründung von Privatschulen (§ 81). Das Einvernehmen des Staates m i t der Kirche über Stoff und L e h r m i t t e l des Religionsunterrichts ist nötig u n d bestehendes Recht; auch eine M i t a u f sicht der Kirche über denselben ist vorhanden u n d würde k ü n f t i g bei der dem Geistlichen i m Schulvorstand eingeräumten Stellung erst recht gewährleistet sein. Aber i m E n t w u r f handelt es sich u m das Recht der Kirchenbehörde, über die Befähigung eines Lehrers zum Religionsunterricht allein, über die Beseitigung eines Religionslehrers fast allein zu entscheiden. Für
I I I . Das Scheitern des Zedlitzschen Schulgesetzes
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den Staat wäre dies Hecht unerträglich: denn er gäbe dadurch die Einheit i n der Schulleitung preis. F ü r die evangelische Kirche wäre dieses Recht ein zweifelhafter Gewinn: denn w e n n gleich ein Mißbrauch von ihrer Seite schon bei ihrem ganzen Verhältnis zum Staate u n d nach ihren eignen G r u n d sätzen nicht zu besorgen ist, so hätte sie doch beständig m i t einem Mißtrauen der Lehrerwelt gegen sich zu kämpfen, während i h r alles auf das Vertrauen u n d den guten W i l l e n der Lehrer ankommen muß. Endlich i n den Händen der römischen Kirche wäre jenes Recht überaus gefährlich: denn derselben würde es dadurch möglich gemacht, den ganzen Lehrerstand ihres Bekenntnisses ebenso zu beherrschen, wie es m i t der Geistlichkeit schon jetzt der F a l l ist. Von einer solchen Lehrerschaft würde bei der heute i n der römischen Kirche herrschenden Richtung eine derartige Pflege der vaterländischen Gesinnung u n d der Volksbildung, w i e unser V o l k sie bedarf, nicht zu erwarten sein, dagegen die K l u f t zwischen den Angehörigen eines Volkes u n d Landes immer mehr vertieft werden. Die beabsichtigte Freigebung der Privatschule endlich gäbe dem U l t r a montanismus die Waffe i n die Hand, u m den letzten Widerstand des Staates u n w i r k s a m zu machen, u n d würde i n überwiegend protestantischen Gegenden immer neue Herde schaffen, u m von ihnen aus die römische Propaganda zu betreiben. Gewiß ist die Möglichkeit, Privatschulen zu errichten, auch f ü r die evangelische Kirche wertvoll, i n der Diaspora sogar unentbehrlich; aber eine solche Freigebung derselben, die auch Ordensleuten, wenn sie n u r die i m E n t w u r f bezeichneten Bedingungen erfüllen, das ungehinderte Recht zu ihrer Leitung gäbe, wäre n u r ein neues Machtmittel der römischen Kirche i n ihrem Kampfe gegen das gottgegebne Recht des Staates u n d gegen unsre Kirche. Daß auch die Sozialdemokratie die Privatschule für ihre Zwecke ausnützen würde, sei hier n u r angedeutet. Die preußische Staatsregierung hat kein Hehl daraus gemacht, daß sie bei der Gestaltung dieses Entwurfs wesentlich mitbestimmt ist durch den Wunsch, den römischen Ansprüchen entgegen zu kommen. Umsomehr dürfen w i r vertrauen, daß es i h r nicht weniger am Herzen liegen werde, den Befürchtungen des evangelischen Volkes gerecht zu werden. Denn auch diejenigen Kreise, die dem E n t w u r f wegen seiner Betonung der konfessionellen Schule die größte Sympathie entgegentragen, werden sich den Gefahren nicht verschließen können, welche derselbe andrerseits für die gedeihliche E n t wicklung unsers Staates wie unsrer Kirche i n sich birgt.
Nr. 60. Eingabe von Professoren der Universität Halle zum Zedlitzschen Entwurf vom 9. Februar 1892 (Generalanzeiger für Halle u n d den Saalekreis 1892, Nr. 33) — Auszug — . . . W i r schicken unsern Bedenken die E r k l ä r u n g voraus, daß w i r m i t der Vorlage i n der Aufstellung des religiösen, sittlichen u n d vaterländischen Bildungszieles, sowie i n der Voranstellung der religiösen Grundlage einig 10 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- und Hochschulwesen
sind. Ebenso sind w i r damit einverstanden, daß die „möglichste Berücksichtigung der konfessionellen Verhältnisse", wie die Verfassung sie vorschreibt, der gewiesene Weg ist, die so gestellte Aufgabe der Volksschule zu lösen. W i r halten, sei es aus prinzipiellen, sei es aus praktischen Gründen, die konfessionelle Volksschule für das unsern gegenwärtigen Verhältnissen Angemessene und folgen dem Entwürfe gern i n allen Bestimmungen, welche zur Sicherung derselben, als der für Preußen gültigen Regel, w i r k l i c h notwendig sind. Aber w i r können uns dem Eindruck nicht entziehen, daß der E n t w u r f den Gesichtspunkt der Konfessionalität m i t einer Einseitigkeit verfolgt u n d überspannt, welche das vaterländische Interesse, die sittliche Freiheit des Lehrerstandes u n d eine gedeihliche Wirksamkeit des Religionsunterichts selbst beeinträchtigt u n d gefährdet. Gewiß t u t der Staat w o h l daran, zu seinem Volksschulwesen die dienende Hülfe der Kirchen, soweit sie i h m aufrichtig dienen wollen, heranzuziehen: aber alleiniger Herr und Regent muß er i n der Volksschule bleiben, wenn die Einheit des Unterrichts und m i t i h m die Einheit des geistigen Volkslebens gewahrt werden soll. Unsere von diesen Grundsätzen aus sich ergebenden Bedenken sind wesentlich folgende: 1. Bedenklich sind uns zunächst die Bestimmungen des § 17, nach welchen Kinder, die einer anerkannten Religionsgesellschaft nicht angehören, unter Umständen zwangsweise zum Religionsunterricht ihrer Schule angehalten werden können. Gläubigen Dissidenten w i r d , wenn sie den erforderten gesetzlich qualifizierten Religionslehrer nicht nachweisen können, durch solches Verfahren ein Gewissenszwang angetan; die K i n d e r irreligiöser Eltern aber w ü r d e n von einem ihnen aufgenötigten Religionsunterricht schwerlich Segen haben, noch ihren Mitschülern zum Segen gereichen. 2. Weder die Staatsverfassung noch die Interessen der Religion u n d E r ziehung rechtfertigen es, die Simultanschulen i n dem Umfange, i n welchem es i n § 14 des Entwurfes geschieht, auszuschließen. I n den motivierten Ausnahmefällen, i n welchen seither die Simultanschule i n Preußen gebilligt ward, als Nothülfe für zwei zur Schulselbständigkeit nicht zulängliche K o n fessionsgemeinden, ist es vernünftig und recht, sie auch fortan zuzulassen. U n d wo sie, wie i n einigen neuen Landesteilen von früherher gedeihlich besteht u n d von der Anhänglichkeit der Bevölkerung getragen wird, sollte i h r Fortbestand nicht lediglich vom Gutfinden des Ministers abhängig gemacht werden. 3. Der E n t w u r f w i l l nicht nur, daß die Lehrer auf konfessionellen Seminaren vorgebildet, i n der Religion von einem kirchlich approbierten K o m m i s sarius geprüft werden, er bestimmt auch, daß dieser kirchliche Kommissarius, der über die weltlichen Fächer m i t abstimmt, dem Aspiranten i m W i d e r spruch m i t der ganzen übrigen Kommission die Fähigkeit zum Religionsunterricht absprechen dürfe; und zwar so, d^ß dies Urteil, falls der Oberpräsident die Kirchenbehörde nicht zur Aufhebung bewegen kann, ein end-
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gültiges bleibt. Da ein Lehrer ohne Befugnis zum Religionsuntericht an einer einklassigen Schule überhaupt nicht angestellt werden k a n n u n d auch an einer mehrklassigen schwer und n u r i n Nebenfächern ankommen w i r d , so ist damit das Lebensschicksal des Lehrers i n die H a n d der kirchlichen Behörde gegeben. Bei einer solchen Lage des Lehrerstandes könnte von einer moralischen Selbständigkeit k a u m mehr die Rede sein; der Staat aber hätte auf die freie Verfügung über die von i h m herangebildeten Lehrkräfte verzichtet. 4. Die von dem Entwürfe der Kirche zugedachte Mitherrschaft über die Schule reicht aber noch weiter. Der vorjährige Gesetzentwurf begnügte sich i n Ubereinstimmung m i t dem bisherigen Rechte damit, den über den Schulreligionsunterricht Aufsicht führenden Geistlichen zur sachlichen Berichtigung des Lehrers nach beendeter Schule, sowie nötigenfalls zur Beschwerde über denselben bei der Staatsbehörde zu autorisieren. Der jetzige E n t w u r f aber gibt dem Geistlichen — als solchem, also auch dann, w e n n er nicht staatlicher Ortsschulinspektor ist — überdies noch das Recht, dem Lehrer „Weisungen zu erteilen", d. h. i h m bindende Vorschriften zu machen, j a er gibt der Kirchenbehörde die Befugnis, i m Einvernehmen m i t dem Regierungspräsidenten dem Lehrer den Religionsunterricht zu entziehen u n d i h n dem Ortsgeistlichen zu übertragen. Weisungen, welche eine v o m Staat u n abhängige Instanz dem Lehrer zu erteilen befugt ist, heben diejenige A u t o rität des Staates auf, auf welche dieser i n der Schule nicht verzichten darf; und jene der Kirchenbehörde eingeräumte Befugnis w i r d bei der Bedeutung des Religionsunterrichts für die Volksschule einem Absetzungsrechte tatsächlich nahekommen. 5. W i r verzichten darauf, den Befürchtungen Ausdruck zu geben, welche hinsichtlich der beabsichtigten neuen Schulbehörden — von dem konfessionellen Schulvorstande bis hinauf zu dem an die Stelle der Regierungsschulabteilung tretenden Regierungspräsidenten — und insonderheit hinsichtlich der Auflösung der städtischen Schuldeputationen bestehen; ohne Zweifel werden berufene Stimmen aus kommunalen Kreisen sich hierüber an das hohe Abgeordnetenhaus wenden. Die schwerwiegenden Bedenken aber, w e l che die i n dem Entwürfe beabsichtigte Freigebung der Privatschulen erweckt, können w i r nicht unausgesprochen lassen. Gewiß soll der Staat kein U n t e r richtsmonopol beanspruchen, w o h l aber ist er berechtigt und verpflichtet, der zu gewährenden Unterrichtsfreiheit diejenigen Schranken zu setzen, welche die Volkswohlfahrt erheischt; er darf zur Erziehung der Jugend n u r solche zulassen, welche die wesentlichen Ziele der Volksschule, wie § 1 des Entwurfs sie aufstellt, ernstlich verbürgen. E i n bloßer Befähigungsnachweis, wie der E n t w u r f (in § 81) i h n fordert, kann w o h l über die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten, nicht aber über die religiöse, sittliche und vaterländische Qualifikation einen Ausweis geben. Der Gesetzentwurf eröffnet die d r i n gende Gefahr, daß Elemente, welche die geschichtliche Erfahrung als pädagogisch verderblich überführt, sich des Volksunterrichts i n weitem Umfange bemächtigen können. Hier sind mindestens ergänzende und beschränkende Bestimmungen dringend erforderlich. 10*
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Unverkennbar bedeutet ein Gesetzentwurf wie der vorliegende eine Teil u n g der Schulgewalt zwischen Staat u n d Kirche, eine Teilung, die unter allen Umständen schädlich w i r k e n muß, w e i l sie eine der Lebenswurzeln des Staates verletzt. W i r b i t t e n das hohe Haus der Abgeordneten, unser Vaterland vor der hier drohenden Gefahr zu bewahren 2 1 .
Nr. 61. Petition von Professoren der Universität Berlin gegen den Zedlitzschen Entwurf v o m 15. Februar 1892 (L. Clausnitzer
- H. Rosin, Geschichte des preußischen Unterrichtsgesetzes, Bd. 2, 2. Aufl. 1909, S. 3 f.)
A n das Hohe Abgeordnetenhaus (Herrenhaus) richten die unterzeichneten Professoren der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität i n B e r l i n die Bitte, zu der sie sich — i m Hinblick auf den inneren Zusammenhang unseres gesamten Unterrichtswesens u n d die unvermeidliche R ü c k w i r k u n g aller für einen seiner Teile getroffenen Maßregeln auf die andern — nicht bloß als Staatsbürger, sondern noch besonders als Universitätslehrer aufgefordert finden. Hochdasselbe wolle bei der Beratung des i h m vorgelegten Volksschulgesetzes unter Festhaltung der i m § 1 ausgesprochenen Ziele der Volksschule keiner Bestimmung seine Zustimmung erteilen, von der zu befürchten ist, daß durch ihre gesetzliche Sanktionierung die gegenwärtig bestehende Befugnis des Staates zur Leitung des öffentlichen Unterrichts beschränkt, der Einfluß außerstaatlicher Mächte auf die Schule, insbesondere infolge der Befreiung des Privatschulwesens von den jetzt geltenden Schranken, verstärkt, das Schulwesen der städtischen Gemeinden geschädigt, die Stellung der Volksschullehrer beeinträchtigt u n d infolge davon ein Teil dieses verdienten Standes dem Staat entfremdet u n d die Zahl der Unzufriedenen durch denselben vermehrt werden würde. Das Hohe Haus möge vielmehr m i t allem Nachdruck dafür eintreten, daß die altbewährten Grundsätze, auf welchen die Blüte unseres Volksschulwesens beruht, u n d welche auch der Bedeutung der Religion für die Volkserziehung wie dem berechtigten Einfluß der Kirchengemeinschaften auf dieselbe volle Rechnung getragen haben, auch ferner i n K r a f t bleiben, u n d daß unserm Volke durch eine nach den gleichen Gesichtspunkten geleitete u n d auf die gleichen Ziele gerichtete B i l d u n g der Jugend die Gemeinsamkeit seines geistigen Lebens, die Frucht einer Jahrhunderte langen K u l t u r a r b e i t und die sicherste Bürgschaft seines nationalen Zusammenhalts, ungeschmälert erhalten werde 2 2 . 21 Die Eingabe ist von 102 Professoren unterzeichnet; dies waren — bis auf zwei — alle Professoren der Universität Halle. 22 Die Petition ist von 69 Professoren unterzeichnet.
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Nr. 62. Schreiben des Gesandten Graf Philipp Eulenburg an den Reichskanzler v. Caprivi v o m 24. Februar 1892 (J. Haller, Aus dem Leben des Fürsten P h i l i p p zu Eulenburg-Hertefeld, 1924, S. 69) — Auszug — . . . Das Schulgesetz hat die Gemüter i n nicht zu rechtfertigender, k a u m zu erklärender Weise tief erregt. Ich stehe, m i t allen meinen Beziehungen i n der konservativen Partei wurzelnd, auf dem Standpunkt der Vorlage u n d habe jedes Wort, das Ew. Exzellenz i n dieser Sache äußerten, als m i r aus dem Herzen gesprochen empfunden. U m so schmerzlicher ist es m i r gewesen, die aufregende W i r k u n g der Vorlage, die trotz aller gegenteiligen Versicherungen maßgebender Personen u n d Kreise als Konzession an das Z e n t r u m aufgefaßt wurde, i n Süddeutschland konstatieren zu müssen. Die Parole lautete „die Reichsregierung w i r d ultramontan" — u n d es ist v ö l l i g vergebliche Mühe gewesen, i n hiesigen reichstreuen Kreisen zur V e r n u n f t zu reden. Wenn auch H e r r von Crailsheim 2 3 dank Ew. Exzellenz eingehenden M i t t e i lungen beruhigt wurde, sind selbst die der Regierung nahestehenden Kreise noch weit davon entfernt, die Situation geduldig u n d abwartend zu ertragen. Daß der Druck, unter dem die reichstreuen Liberalen stehen, von dem agitatorischen T e i l der Partei ausgenutzt w i r d , steht leider unzweifelhaft fest. Ich hatte die Ehre, Ew. Exzellenz am 23. von einer liberalen Parteiversammlung zu berichten, die „angesichts der reaktionären L u f t , die i n B e r l i n w e h t " , eine Vereinigung aller Liberalen anstrebte 2 4 . . . Sehr schmerzlich ist es auch mir, festzustellen, daß das Mißtrauen, das sich der reichstreuen Elemente jetzt bemächtigt hat, v o n partikularistischer Seite stark ausgebeutet w i r d . . . Bei solchen Erfahrungen wünsche ich nichts sehnlicher als das Zustandekommen des Schulgesetzes durch Kompromiß m i t den Mittelparteien, u m einen K a m p f zu vermeiden, der w o h l nicht das Reich aus den Fugen treiben w i r d , der aber die Reichsinteressen i n Süddeutschland schwer schädigen würde. Nicht unterlassen möchte ich schließlich, Ew. Exzellenz auf die durch die neuesten Phasen der päpstlichen P o l i t i k i n Frankreich hervorgerufene Stärkung der demokratischen katholischen Elemente aufmerksam zu machen, da diese Wendung weder ohne Einfluß auf die hiesigen Ultramontanen noch auf das Zentrum i m Reichstag bleiben kann. Ich darf Ew. Exzellenz nicht verschweigen, daß ich Andeutungen gehört habe, die auf Spaltung des Zentrums bei außergewöhnlichen Militärvorlagen hinzielten 2 5 . 23 Der bayerische Ministerpräsident u n d Außenminister (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 907, A n m . 2). 24 Vgl. dazu die Rede des Reichstagsabgeordneten v. Bennigsen (oben Nr. 56). 25 A m 26. Februar machte Eulenburg diesen Brief auch Kaiser Wilhelm II. zugänglich (vgl. Haller, a. a. O., S. 70).
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3. Kap. : Staat u n d Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Nr. 63. Schreiben des Gesandten Graf Philipp Eulenburg an Kaiser Wilhelm II. v o m 10. März 1892 (J. C. G. Röhl [Hrsg.], P h i l i p p Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. I I , 1979, S. 796 if.) — Auszug — Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät muß ich zu meinem sehr innigen Bedauern Meldung über den momentanen Stand der Lage erstatten, wie sie sich i n Süddeutschland bezüglich des Schulgesetzes herausgebildet hat.... Leider hat sich die Situation verschlechtert u n d nicht verbessert. Der Zusammenschluß der Liberalen hat sich w o h l mehr u n d mehr gefestigt, aber die Reichsfeinde nutzen nach allen Richtungen die allgemeine Verstimmung aus. Was daraus schließlich werden soll, ist m i r n u r zu k l a r : Eine bedenkliche Lockerung des Reichsgedankens u n d der A u t o r i t ä t der Kaiserkrone. Die Situation für Euere Majestät ist eine äußerst schwierige. Die E i n b r i n gung des Schulgesetzes i n der gegebenen F o r m w a r ein politischer Fehler, u n d das Ausgleichen der Situation ist deshalb so schwer, w e i l sich Caprivi zu weit engagiert hat. . . . I n bezug auf das Reich ist Caprivis R ü c k t r i t t unmöglich. Ebenso unmöglich ist aber das durch Zentrum u n d Konservative angenommene Schulgesetz, w e i l es einen K a m p f i m Reich heraufbeschwört, dessen Folgen für die Stellung Euerer Majestät unheilvoll sein können. Was bleibt da zu tun, als das Gesetz i n der Kommission zu begraben, w e n n es nicht durch einen K o m p r o miß zu Stande kommt. Ich höre aus sicherer Quelle, daß K o l l e r 2 8 dieses Experiment machen w i l l , wenn Euere Majestät i h m einen W i n k geben. Dazu wäre allerdings eine Diskretion ohne Grenzen nötig, u m nicht Caprivi zu stürzen. . . .
Nr. 64. Telegramm Friedrich v. Holsteins an den Grafen Eulenburg v o m 18. März 1892 (J. C. G. Röhl [Hrsg.], P h i l i p p Eulenburgs politische Korrespondenz, Bd. I I , 1979, S. 807 f.) — Auszug — I n gestrigem K r o n r a t sprach der Kaiser von neuem den Wunsch aus, daß gemäßigte Elemente m i t w i r k e n beim Schulgesetz, u n d daß wie bisher K a r t e l l - P o l i t i k 2 7 gemacht werde. Die weitere Sitzung verlief ohne Erregung. 20 Georg von Koller auf Kantreck (1823 - 1916), Jurist, 1848 - 68 Landrat i n K a m m i n ; 1866- 1903 M d p r A H (kons.); 1879 - 98 als Nachfolger Bennigsens Präsident des Abgeordnetenhauses; seit 1884 M i t g l i e d des preuß. Staatsrats; 1886 W i r k l . Geh. Rat m i t dem Prädikat Exzellenz; 1903 Ritter des Schwarzen Adler-Ordens. 27 D . h . die P o l i t i k des Zusammengehens von Konservativen, Freikonservativen u n d Nationalliberalen (vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 151 ff.).
I I I . Das Scheitern des Zedlitzschen Schulgesetzes
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Nach der Sitzung k a m aber Zedlitz zum Reichskanzler, erklärte, daß er sich vom Zentrum nicht trennen könne und daher seinen Abschied erbeten habe. Von Caprivi tat darauf das Gleiche, m i t langer, nicht schroffer Motivierung. M i r sagte er, „daß er nicht Zedlitz neben sich ersaufen lassen könne" 2 8 .
Nr. 65. Rücktrittsgesuch des Reichskanzlers v. Caprivi vom 18. März 1892 (H. O. Meisner, Der Reichskanzler Caprivi. Eine biographische Skizze, i n : Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 111, 1955, S. 669 ff. [747 f.]) — Auszug — Euerer Kaiserlichen und Königlichen Majestät melde ich alleruntertänigst, daß m i r der Minister Graf Zedlitz mitgeteilt hat, er habe Allerhöchstdenselben sein Abschiedsgesuch unterbreitet. Auch nach meinem ehrfurchtsvollsten Dafürhalten w i r d das K u l t u s m i n i s t e r i u m behufs Behandlung des Volksschulgesetzes i n der von Euerer Majestät gestern skizzierten Weise 2 9 i n andere Hände übergehen müssen. Wenn ich i n der gestrigen Kronratssitzung annahm, es könnten die entscheidenden Entschlüsse bis nach beendigter erster Lesung des Gesetzes i n der Kommission aufgeschoben werden, so übersah ich, daß Graf Zedlitz nicht w o h l mehr i n der betreffenden K o m m i s sion auftreten kann, ohne i n Widersprüche zu geraten. W i r d aber das alsbaldige Ausscheiden des Grafen Zedlitz unvermeidlich, so ist damit nach meinem ehrfurchtsvollen Dafürhalten auch meine Stellung als Ministerpräsident schon jetzt unhaltbar geworden. Ich b i n für den dem Landtage vorgelegten E n t w u r f m i t der Überzeugung eingetreten, daß er auf starken Widerstand stoßen würde, daß dieser Widerstand aber durch Festigkeit zu überwinden sei. Nocli heute vermeine ich, daß freikonservative und nationalliberale Stimmen für den bis zur äußersten Grenze des dem Zentrum annehmbaren amendirten E n t w u r f zu erlangen gewesen sein würden, wenn die Vertreter der Regierung ihren Standpunkt festhielten. Habe ich mich aber geirrt, u n d ist eine andere Behandlung der Sache nötig geworden, so erscheint auch mein Ausscheiden unumgänglich. Der Monarch k a n n ohne jeden Schaden das Regierungssystem ändern; ein Ministerpräsident dagegen, der während der Behandlung einer fundamentalen Frage seiner öffentlich ausgesprochenen Uberzeugung untreu w i r d , ist wertlos und schädlich. . . .
28 Vgl. zur Sitzung des Kronrats am 17. März 1892 auch die Darstellung bei H. öhlmann, Studien zur Innenpolitik des Reichskanzlers Leo v o n Caprivi (Diss. Freiburg Mschr. 1953), S. 65 ff. 29 Nämlich bei der Sitzung des Kronrats am 17. März 1892 (vgl. oben Nr. 64).
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3. Kap.: Staat u n d Kirche i m Schul- und Hochschulwesen
I V . D e r R e l i g i o n s u n t e r r i c h t der D i s s i d e n t e n k i n d e r Eine gewichtige schulrechtliche Sonderfrage war, ob die Kinder von Eltern, die keiner der großen Konfessionskirchen angehörten, am Religionsunterricht ihrer Schule teilzunehmen hätten. Der preußische Kultusminister BethmannHollweg 1 hatte 1859 entschieden, daß diese Kinder vom Religionsunterricht ihrer Schule freizustellen waren, wenn sie nachweislich den Religionsunterricht ihres Bekenntnisses außerhalb der Schule besuchten. Dabei war vorausgesetzt, daß dieser Unterricht nichts enthielt, was gegen die Staatsgesetze oder die Sittlichkeit verstieß; andernfalls hatte die Staatsregierung einzuschreiten 2. Die Tragweite des Erlasses von 1859 änderte sich erheblich, als das preußische Kirchenaustrittsgesetz vom 14. Mai 1873 3 klarstellte, daß der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft auch ohne den Übertritt in eine andere möglich war. Denn seitdem betraf die in dem Erlaß von 1859 enthaltene Regelung zunehmend nicht nur die Kinder von Angehörigen kleinerer Religionsgemeinschaften, sondern auch die Kinder von konfessionslosen Eltern. Die Freistellung vom konfessionsgebundenen Religionsunterricht der Schule bei Nachweis eines Ersatzunterrichts war damit gepaart mit dem Zwang gegenüber Dissidentenkindern, am staatlichen Religionsunterricht teilzunehmen. Der Erlaß des Kultusministers v. Zedlitz vom 16. Januar 1892 (Nr. 66) hielt an diesem Zwang gegenüber Dissidentenkindern fest. Der Kultusminister Bosse wies in seinem Erlaß vom 6. Januar 1893 (Nr. 67) zwar darauf hin, daß der Erlaß seines Vorgängers von 1892 nicht unmittelbar für die höheren Schulen gelte, da für diese keine allgemeine Schulpflicht bestehe. Gleichwohl machte er für die höheren Schulen die Befreiung vom Religionsunterricht von der unmittelbaren ministeriellen Genehmigung abhängig Κ Gleichzeitig erweiterte Bosse die Zahl der geistlichen Ortsschulinspektoren erheblich. Beide Maßnahmen stellten Konzessionen gegenüber konservativklerikalen Forderungen dar, mit denen Bosse die parlamentarische Zustimmung konfessionsnaher Fraktionen zu gesetzlichen Fortschritten in der allgemeinen Ausstattung der Volksschulen und in der materiellen Stellung der Lehrerschaft gewann 5.
1
Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 83, Anm. 1. Erlaß des preuß. Kultusministers v o m 6. A p r i l 1859 (Centralblatt für die gesammte Unterrichtsverwaltung i n Preußen, 1859, S. 193 ff.); dazu die weiteren Erlasse u n d Materialien zu diesem Thema ebenda S. 129 ff.; 195 ff.; 257 ff.; 381 f.; 497 f. 3 Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 285. 4 Die erwähnten Hegelungen hatten bis zum Ende des Kaiserreichs Bestand; dazu der Erlaß v o m 15. November 1918 (Staat u n d Kirche, Bd. IV). 5 Vgl. L. Clausnitzer/H. Rosin, Geschichte des preußischen Unterrichtsgesetzes (5. Aufl. 1909), Bd. I I , S. 8 ff.; Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 899 ff. 2
I V . Der Religionsunterricht der Dissidentenkinder
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Nr. 66. Erlaß des preußischen Kultusministers v. Zedlitz, betreffend den Religionsunterricht der Kinder der sogenannten Dissidenten v o m 16. Januar 1892 (Centralblatt
f ü r die gesammte Unterrichtsverwaltung S. 435 f.)
in Preußen, 1892,
Euer Excellenz 6 erwidere ich auf den gefälligen Bericht v o m 30. September v. J., betreffend den Religionsunterricht der K i n d e r der sogenannten Dissidenten, i m Einverständnisse m i t dem H e r r n Justizminister u n d i m A n schluß an den Erlaß meines Amtsvorgängers v o m 6. A p r i l 18597, daß ich m i t den rechtlichen Ausführungen unter Nr. I und I I des Berichts überall einverstanden bin. Ich trete somit Euer Excellenz Ansicht bei, daß der Vater eines schulpflichtigen Kindes selbst dann, w e n n er f ü r seine Person einer staatlich anerkannten Religionsgesellschaft nicht angehört, gleichwohl verpflichtet ist, das K i n d an dem Religionsunterrichte i n der öffentlichen Volksschule Theil nehmen zu lassen, sofern er nicht den Nachweis erbringt, daß f ü r den religiösen Unterricht des Kindes anderweit nach behördlichem Ermessen (vgl. die i m Gebiet des Allgemeinen Landrechts hierbei maßgebende Vorschrift i m T h e i l I I T i t e l 11 § 138) i n ausreichender Weise gesorgt ist. E i n Gleiches gilt von solchen Kindern, welche sich nicht i n väterlicher Erziehung befinden, sondern dem Erziehungsrechte der M ü t t e r oder eines Vormundes oder Pflegers unterstehen. Sofern jedoch derjenige Elterntheil, dessen religiöses Bekenntniß nach Maßgabe der hierüber i n den einzelnen Landestheilen geltenden gesetzlichen Vorschriften über die Konfessionalität des dem K i n d e zu ertheilenden Religionsunterrichts entscheidet, zu dem f ü r diese Entscheidung maßgebenden Zeitpunkte einer staatlich anerkannten Religionsgesellschaft angehört hat, darf auch der religiöse Unterricht des Kindes gleichviel ob derselbe i n der öffentlichen Volksschule oder als anderweiter Ersatz-Religionsunterricht stattfindet, n u r i n einer dem Bekenntnißstande der betreffenden Religionsgesellschaft entsprechenden Weise erfolgen. Der Ersatzunterricht ist wie jeder Privatunterricht von der Schulaufsichtsbehörde zu beaufsichtigen. Dieser Ansicht stehen die Bestimmungen des A r t . 12 der preußischen Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850® u m so weniger entgegen, als dieser A r t i k e l nach seinem Schlußsatze die freie Religionsübung n u r insoweit zuläßt, als dadurch der E r f ü l l u n g der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten kein Abbruch geschieht. Z u solchen Pflichten aber gehört, soweit die Erziehung schulpflichtiger K i n d e r i n Frage kommt, nach A r t i k e l 21 A b 8 Adressat des Erlasses ist einer der preußischen Oberpräsidenten; durch die amtliche Publikation erhielt der Erlaß den Charakter einer die gesamte V e r w a l t u n g bindenden Verwaltungsverordnung. 7 Oben S. 152, Anm. 2. 8 Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 1. Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 11.
154
3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
satz 2 i n Verbindung m i t A r t i k e l 24 Absatz 1 und 2 der Verfassungsurkunde, desgleichen nach den i n den einzelnen Landestheilen geltenden Vorschriften des Familienrechts (vgl. § 75 A l l g . Landrecht T h e i l I I T i t e l 2) auch die Sorge dafür, daß das K i n d während des religionsunmündigen Alters nicht ohne Unterricht i n der Religion gelassen w i r d . Eure Excellenz ersuche ich hiernach ganz ergebenst, die dortige K ö n i g liche Regierung 1 0 m i t Weisung zu versehen.
Nr. 67. Erlaß des preußischen Kultusministers Bosse, betreffend den Religionsunterricht der höhere Lehranstalten besuchenden Dissidentenkinder v o m 6. Januar 1893 (Centralblatt
für
die gesammte Unterrichtsverwaltung S. 233 f.)
i n Preußen, 1893,
Dem Königlichen Provinzial-Schulkollegium 1 1 erwidere ich auf den Bericht v o m 27. Januar 1892, betreffend den Religionsunterricht der Dissidentenkinder, daß der Erlaß v o m 16. Januar 189212 nicht ohne Weiteres auf die höheren Schulen Anwendung findet; denn er gründet sich auf die Vorschriften über den gesetzlichen Schulzwang, welche f ü r die höheren Schulen keine Geltung haben. F ü r diese k o m m t vielmehr nur i n Betracht, ob es m i t der Schulordnung verträglich erscheint, daß K i n d e r an dem gesammten übrigen Unterrichte theilnehmen, an dem Religionsunterrichte aber nicht. Bei der Verschiedenheit der hierbei zu beachtenden Verhältnisse w i l l ich m i r bis auf Weiteres die Entscheidung vorbehalten, falls f ü r K i n d e r von den aus der Landeskirche ausgetretenen Personen die Dispensation v o m Religionsunterrichte nachgesucht w i r d .
V . D i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n u m den k a t h o l i s c h e n R e l i g i o n s u n t e r r i c h t i n der A m t s z e i t des K u l t u s m i n i s t e r s Bosse Nach dem Scheitern des Zedlitzschen Schulgesetzentwurfs 1 wurden die preußischen Bischöfe erneut bei der preußischen Regierung wegen des katholischen Religionsunterrichts in den Volksschulen vorstellig. Ihr Protest richtete sich gegen die Fortgeltung des aus der Ära des Kulturkampfs stammenden Erlasses vom 18. Februar 1876 2, der den Religionsunterricht der Staats10
Nämlich das Regierungspräsidium. Provinzial-Schulkollegien waren i n Preußen (bis 1932) die dem K u l t u s minister unmittelbar unterstellten, unter dem Vorsitz der Oberpräsidenten i n den einzelnen Provinzen gebildeten Kollegialbehörden, denen die provinzielle Schulverwaltung oblag. 12 Oben Nr. 66. 1 Oben Nr. 52 ff. 2 Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 315. 11
V. Die Auseinandersetzungen u m den katholischen Religionsunterricht
155
aufsieht unterstellt hatte. Auf die Eingabe der preußischen Bischöfe vom 23. August 1893 (Nr. 68) antwortete der Kultusminister Bosse erst nach wiederholter Mahnung am 2. November 1895 (Nr. 69), daß die Forderungen des Episkopats mit der verfassungsrechtlichen Lage in Preußen nicht vereinbar seien. Über das weitere Vorgehen holten die preußischen Bischöfe darauf die Weisung der Kurie ein. Der Kardinalstaatssekretär Rampolla 3 übermittelte ihnen im Auftrag Papst Leos XIII. am 15. August 1897 die Direktive, die katholische Position, nach welcher der Religionsunterricht der kirchlichen Leitung unterstehe, weiterhin beharrlich zu vertreten, zugleich aber nach einem modus vivendi zu suchen, der den Weg zu schrittweisen Verbesserungen eröffne (Nr. 70). Leo XIII. versuchte demnach auch in der Schulfrage, ungeachtet fortbestehender grundsätzlicher Differenzen den Kurs einer pragmatischen Verständigung, der die Beilegung des Kulturkampfs möglich gemacht hatte, fortzusetzen.
Nr. 68. Eingabe der Fuldaer Bischofskonferenz an den Kultusminister Bosse v o m 23. August 1893 ίE. Gatz, A k t e n der Fuldaer Bischofskonferenz, I I : 1888- 1899, 1979, Nr. 650) — Auszug — I n der Entwicklung der Verhältnisse zwischen Kirche und Staat, wie sie i m Verlauf der letzten Jahrzehnte i n unserem Vaterlande sich vollzogen hat, sind i n bezug auf den Religionsunterricht i n der Volksschule Grundsätze und Maßnahmen seitens der Staatsgewalt i n Wirksamkeit gesetzt, denen gegenüber die Bischöfe bisheran zu den von Anfang an ins Auge gefaßten Äußerungen an die hohe Staatsregierung nicht gekommen sind, teils w e i l die traurige Lage der Verhältnisse solches untunlich erscheinen ließ, teils w e i l eine grundsätzliche, auch den Rechten der K a t h o l i k e n Rechnung t r a gende Regelung der i n Rede stehenden Schulverhältnisse auf dem Wege der Gesetzgebung i n Bälde erwartet wurde. Diese E r w a r t u n g indes ist i m Laufe der letzten Zeit zu unserem lebhaften Bedauern getäuscht worden 4 , und so dürfen w i r nicht mehr zögern, wenigstens betreffs des katholischen Religionsunterrichtes i n den Volksschulen uns auszusprechen. W i r richten diese unsere Vorstellung an Ew. Exzellenz i n der festen Uberzeugung, daß auch ohne gesetzgeberische Maßnahmen auf dem bloßen Verwaltungswege das beseitigt werden kann, was auf eben diesem Wege herbeigeführt worden ist, u n d i n der festen Zuversicht auf den Gerechtigkeitssinn und staatsmännischen Blick Ew. Exzellenz Wenn der Staat den Religionsunterricht als obligatorischen Lehrgegenstand der Elementarschule erklärt, so erfüllt er damit lediglich eine Pflicht gegen die religiöse Überzeugung des Volkes, gewinnt aber damit nicht das Recht, i n das Gebiet des Religionsunterrichtes selbst einseitig einzugreifen. 3 4
Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 885, A n m . 3. Nämlich durch das Scheitern des Zedlitzschen Schulgesetz-Entwurfs.
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- und Hochschulwesen
Ebensowenig kann er einem Lehrer die Befugnis übertragen, Religionsunterricht zu erteilen. . . . I n dem Gesagten haben w i r Rechte und Pflichten der Kirche angedeutet, die m i t ihrem innersten Wesen als Religionsgesellschaft gegeben sind; sie kann dieselben, ohne sich selbst aufzugeben, nicht preisgeben; dieselben können i h r aber am wenigsten da, w o sie als berechtigte Religionsgesellschaft anerkannt ist, ohne Rechtsverletzung abgesprochen oder beeinträchtigt werden. Solches aber ist ganz besonders durch einen Erlaß des früheren K u l t u s ministers, H e r r n Dr. Falk, v o m 18. Februar 1876 geschehen, der bis zur Stunde noch i n Geltung steht 5 . . . . Die an der Spitze jener von dem Herrn Minister Dr. F a l k gegebenen leitenden Gesichtspunkte gemachte Aufstellung, daß der Religionsunterricht i n der Volksschule unter Staatsaufsicht von den staatlich berufenen u n d zugelassenen Organen zu erteilen sei, verstößt geradezu gegen die grundlegende Lehre der katholischen Kirche, daß sie allein in bestimmten Organen die von Christus berufene, berechtigte und befähigte Trägerin seines Lehramtes sei, zunächst, und worauf es hier ankommt, für alle Bekenner des katholischen Glaubens, also auch f ü r die katholischen Kinder. . . . Eine Unterscheidung zwischen katholischem Religionsunterricht außerhalb der Schule und einem solchen i n derselben nach bestimmtem Schulplan kann irgend ein Recht des Staates auf die Erteilung, Beaufsichtigung und Leitung des Religionsunterrichtes i n der Schule nicht begründen. Denn der katholische Religionsunterricht ist ganz und gar Sache der Kirche; u n d der Nebenumstand, daß derselbe i n dem Schulraum und an die schulbesuchende Jugend erteilt w i r d , kann an dem Wesen der Sache nichts ändern. . . . W i r . . . als berufene Vertreter der religiösen Rechte und Interessen der uns anvertrauten Gläubigen wie der katholischen Kirche i n den uns zugewiesenen Bistümern müssen von A m t s - u n d Gewissenswegen offen u n d laut Einspruch erheben gegen alles, was jenen Rechten und Interessen entgegensteht, u n d Ew. Exzellenz ebenso ergebenst als nachdrücklich u m Abänderung jener Ministerialbestimmungen des H e r r n Dr. Falk mindestens dahin ersuchen, 1. daß der religiöse Unterricht i n der Volksschule n u r von solchen Personen erteilt werden dürfe, welche von der Kirche dazu bevollmächtigt w e r den; 2. daß die Einführung der Lehrbücher der Religion und die Feststellung der Stoffverteilungspläne von den kirchlichen Obern ausgehe; 3. daß der religiöse Unterricht i n der Volksschule nach allen Seiten nur von kirchlichen Organen geleitet und beaufsichtigt werde. . . . Z u den Gründen, die zu dieser Eingabe an Ew. Exzellenz uns bestimmen, t r i t t hinzu der H i n b l i c k auf das Interesse des Vaterlandes, f ü r dessen Gedeihen nicht bloß als Bürger, sondern auch als Bischöfe nach allen K r ä f t e n einzutreten, w i r als heilige Pflicht erkennen. Gegenüber dem drohend schwel5
Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 315.
V. Die Auseinandersetzungen u m den katholischen Religionsunterricht
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lenden Strome jener Elemente, die auf den völligen Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen wie staatlichen Ordnung hinarbeiten, k a n n die Gesellschaft und der Staat der mächtigen Hülfe, welche Religion u n d Kirche bieten, nicht entraten — eine Wahrheit, die i m Laufe der letzten Zeit wiederholt durch das treffende W o r t der erhabenen Träger der preußischen Königsund deutschen Kaiserkrone klarsten und kräftigsten Ausdruck gefunden hat. Wenn es darum i m höchsten Interesse der Vertreter der Ordnung u n d der Fürsorger f ü r die wahre Wohlfahrt des gesamten Volkes liegt, der christlichen Kirche dasjenige Maß der Freiheit zu gewähren, ohne welches ein ersprießliches und kräftiges W i r k e n auch zum W o h l der staatlichen Ordnung und der irdischen Wohlfahrt i h r nicht möglich ist: so gilt dies doch i n ganz besonderer Weise von der vollen Freiheit f ü r die fruchtbare Verkündigung der Lehren der Religion an die heranwachsende Jugend und die davon u n zertrennliche religiöse B i l d u n g und Erziehung der K i n d e r zu guten Menschen und treuen Untertanen. Jede unberufene Einmischung der Staatsgew a l t i n diese Sphäre der Kirche, jedes unbegründete Mißtrauen gegen sie und ihre Vertreter, jede ungerechtfertigte L ä h m u n g und Beschränkung ihres ebenso mächtigen w i e unersetzlichen Einflusses auf Sitte und K u l t u r gereicht nach Geschichte u n d Erfahrung zur Schädigung des sozialen Körpers und seines wahren Gedeihens. . . . Unter Umständen und Verhältnissen, die w i r gern m i t Stillschweigen übergehen, sind die von uns bemängelten Normen auf dem Wege der V e r w a l t u n g u n d einer nach unserer innerster Uberzeugung irrigen Gesetzesinterpretation aufgestellt und seitdem selbst unter veränderten Verhältnissen noch festgehalten worden. U m so zuversichtlicher glauben w i r die Abänderung jener Normen von dem guten, gerechten W i l len und der Einsicht Ew. Exzellenz erwarten zu dürfen 6 .
Nr. 69. Schreiben des Kultusministers Bosse an den Erzbischof Krementz in Köln v o m 2. November 1895 (E. Gatz, A k t e n der Fuldaer Bischofskonferenz, I I : 1888 - 1899, 1979, Nr. 696) — Auszug — Eure Eminenz sind i n dem geehrten Schreiben vom 21. August d. J. 7 auf die Anträge zurückgekommen, welche Sie betreffs der Abgrenzung und Feststellung der Rechte des Staates und der Kirche auf dem Gebiet des schulplanmäßigen Religionsunterrichts am 23. August 1893 an mich gestellt haben 8 . . . . Ew. Eminenz werden bei weiterer Erwägung sich der Erkenntnis nicht verschließen, daß eine Lösung der Frage auf dieser, von Ihnen hingestellten Grundlage m i t der Stellung des Religionsunterrichtes als eines obligatorischen Lehrgegenstandes der preußischen Volksschulen schwer oder gar 6 Vgl. auch die Erneuerung dieses Antrags i n der Eingabe der Fuldaer Bischofskonferenz an den Kultusminister Bosse v o m 21. August 1895 (Text: Gatz, a. a. O., Nr. 694). 7 Vgl. oben Anm. 6. « Vgl. oben Nr. 68.
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- und Hochschulwesen
nicht zu vereinigen sein würde und daß deshalb der Versuch einer solchen Lösung die historisch überkomme, für Staat und Kirche heilsame Gestaltung der Jugendbildung zu gefährden, w e n n nicht zu erschüttern droht. Ich versage es mir, dies i m einzelnen näher darzulegen. Ich weise n u r darauf hin, daß die von Eurer Eminenz i n I h r e m ersten Antrage formulierten drei Punkte überhaupt nicht i m Wege der Verwaltung, sondern n u r unter Änderung der Verfassung, auf gesetzgeberischem Wege zu lösen sein würden. Eure Eminenz dürfen sich überzeugt halten, daß ich nach wie vor meine Aufgabe darin finden werde, i n freundlichem Benehmen m i t den kirchlichen Behörden auf dem Boden der tatsächlichen Entwicklung den schulplanmäßigen Religionsunterricht zu fördern und gedeihlich zu gestalten. U m so mehr aber gebe ich mich der Hoffnung hin, daß Eure Eminenz i n gleicher Weise an der bisherigen Übung festhalten und darauf verzichten werden, den Versuch einer prinzipiellen Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche w e i ter zu verfolgen
Nr. 70. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Rampolla an den Erzbischof Krementz in Köln vom 15. August 1897 (Lat. Text: E. Gütz, A k t e n der Fuldaer Bischofskonferenz,
I I : 1888 - 1899,
1979, Nr. 726) — Ubersetzung — Durch mein Schreiben v o m 25. Januar 9 habe ich Eurer Eminenz mitgeteilt, daß der Römische Vater auf Grund der besonderen Apostolischen Sorge, m i t der er die kirchlichen Entwicklungen i n Deutschland verfolgt, den Beschluß gefaßt hat, die Frage der christlichen Unterweisung der Jugend i n den öffentlichen Schulen des Königreichs Preußen einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Nachdem diese sorgfältige Prüfung durchgeführt worden ist, hat mich Seine Heiligkeit beauftragt, Eurer Eminenz folgendes mitzuteilen: Zunächst verdienen die Bischöfe Preußens hohes Lob f ü r den pastoralen Eifer, m i t dem sie die Rechte der Kirche i n dieser Frage zu schützen bem ü h t sind. Wenn sie auf diesem Weg standhaft und geschickt fortfahren, besteht G r u n d zu der gewissen Zuversicht, daß sie endlich die erwünschte und gerechte Lösung i n dieser Auseinandersetzung erreichen werden. Damit dies u m so leichter der Fall ist, verdienen die folgenden Punkte Beachtung: 1. Die Bischöfe u n d auch die katholischen Abgeordneten i m Landtag des Königreichs sollen niemals irgend etwas zugestehen, was das Recht und den Grundsatz berührt, sondern vielmehr darin fortfahren, m i t Entschiedenheit zu verlangen, daß der Ministerialerlaß v o m 18. Februar 187610 aufgehoben 9 lü
Lat. T e x t : Gatz, a. a. O., Nr. 723. Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 315.
VI. Der Schulkompromiß i n Preußen (1904/06)
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und ein neues Gesetz verabschiedet w i r d , das m i t der Lehre der Kirche und m i t der Verfassung des Königreichs i n Ubereinstimmung steht. 2. Sodann soll dafür gesorgt werden, daß die Zeitungen, die jährlich stattfindenden Zusammenkünfte katholischer Männer und v o r allem die Sprecher der Zentrumsfraktion i m Landtag des Königreichs jede Gelegenheit nutzen, u m das Recht des Religionsunterrichts zu verteidigen u n d die A u f hebung des vorgenannten Erlasses zu fordern. 3. Dies aber soll keineswegs verhindern, daß die Bischöfe m i t der Regierung darüber verhandeln, daß f ü r die Zwischenzeit ein Modus v i v e n d i eingeführt w i r d , der — unbeschadet der Rechte der Kirche u n d der Forderungen für spätere Zeit — den gegenwärtigen Stand der Dinge zum Besseren wendet 1 1 . 4. Z u diesem Zweck sollen sich die Bischöfe darum bemühen, alle Kräfte zu vereinen und sich untereinander zu beraten, immer einmütig und auf Grund gemeinsamer Beschlußfassung vorzugehen und den Apostolischen Stuhl frühzeitig über alle Schritte i n Kenntnis zu setzen.
V I . D e r S c h u l k o m p r o m i ß i n P r e u ß e n (1904/06) Am 4. September 1899 übernahm Konrad Studt die Leitung des preußischen Kultusministeriums 1. Er verfolgte eine konservativere Schulpolitik als sein Vorgänger Bosse; zugleich aber setzte er dessen Bemühungen um die Verbesserung der materiellen Verhältnisse des Schulwesens fort. Der Plan einer gesetzlichen Neuregelung der Schulfinanzierung allerdings ließ sich nur verwirklichen, wenn es gelang, zugleich die Fragen der Schulverfassung neu zu regeln. Vor allem die Konservativen folgten der Devise: „Ohne Schulgesetz keine Schuldotation" 2. Gerade diese Verknüpfung ermöglichte allerdings einen Kompromiß zwischen den Konservativen, dem Zentrum und den Nationalliberalen. Am 13. Mai 1904 verabschiedete das preußische Abgeordnetenhaus den sogenannten „Schulkompromiß", eine Resolution, die das preußische Kabinett zur Vorlage eines Volksschulunterhaltungsgesetzes aufforderte (Nr. 71). Damit verband die konservativliberale Koalition das Ziel, in Preußen die Konfessionsschule als Regelschule gesetzlich festzulegen. Der Widerstand, den vor allem die National11 Vgl. dazu die ausführliche Eingabe des preußischen Episkopats an den Kultusminister Bosse v o m 22. August 1899 (Text: E. Gatz, a. a. O. Nr. 759). 1 Konrad (v.) Studt (1838 - 1921), Jurist, 1868 Landrat i n Obornik (Prov. Posen), 1875 Hilfsarbeiter, 1880 Vortr. Rat i m preuß. Innenministerium, 1882 Regierungspräsident i n Königsberg, 1887 Unterstaatssekretär i m Ministerium für Elsaß-Lothringen, 1889 Oberpräsident von Westfalen, 4. September 1899 bis 24. J u n i 1907 preuß. Kultusminister. 2 Die Verknüpfung von Schuldotation und innerer Schulverfassung löste lebhaften Widerspruch aus; vgl. u. a. J. Tews, Schulkompromiß, Konfessionelle Schule, Simultanschule (1904); Fr. Naumann, Der Streit der Konfessionen u m die Schule (1904); O. Muser, Der K a m p f u m die Schule (1904); Th. Ziegler, Die Simultanschule (1905).
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- und Hochschulwesen
liberalen über Jahrzehnte hinweg diesem Grundsatz entgegengesetzt hatten, war damit preisgegeben. Dem Beschluß über das von der Regierung eingebrachte Schulgesetz ging eine Änderung des Art. 26 der preußischen Verfassung voraus 3. Den auf der Parteien-Resolution beruhenden Regierungsentwurf nahm das Herrenhaus am 4. Juli, das Abgeordnetenhaus am 6. Juli 1906 an (Nr. 72). Das Schulunterhaltungsgesetz übertrug die Finanzierung der Volksschulen von den aus den „Hausvätern" bestehenden „Schulsozietäten (< i auf die Gemeinden und verband dies mit der Anerkennung der Konfessionsschule als Regelschule. In dieser weitgehenden „konfessionellen Beschulung der christlichen Kinder" 5 sah vor allem das Zentrum einen epochemachenden Erfolg
Nr. 71. Resolution des preußischen Abgeordnetenhauses („Schulkompromiß") v o m 13. M a i 1904 (Berichte über die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses, 1904/05, Anlagen, Bd. 5, Nr. 256, S. 2910) Das Haus der Abgeordneten wolle beschließen, . . . die Königliche Staatsregierung aufzufordern, I. ohne Verzug, spätestens i n der nächsten Tagung, einen Gesetzentwurf, betreffend die Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen, auf folgender Grundlage vorzulegen: 1. Die Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen liegt den bürgerlichen Gemeinden (Gutsbezirken) oder Verbänden solcher unter ergänzungsweiser Beteiligung des Staates an den Kosten ob; 2. i n Ausführung des A r t . 24 der Verfassung, wonach bei der Einrichtung der öffentlichen Volksschulen die konfessionellen Verhältnisse möglichst zu berücksichtigen sind, werden nachstehende Grundsätze festgelegt: a) i n der Regel sollen die Schüler einer Schule derselben Konfession angehören und von Lehrern ihrer Konfession unterrichtet werden; b) Ausnahmen sind n u r aus besonderen Gründen, insbesondere aus nationalen Rücksichten oder da, w o dies der historischen Entwickelung entspricht, zulässig. Lehrer, welche zur Erteilung des Religionsunterrichts f ü r konfessionelle Minoritäten an Schulen anderer Konfession angestellt sind, dürfen v o l l beschäftigt werden; 3 Gesetz v o m 10. J u l i 1906 (GS 333). Dazu Staat und Kirche, Bd. I I , S. 38, A n m . 18. 4 T e i l I I , T i t e l 12 § 29 des preußischen Allgemeinen Landrechts (vgl. Staat und Kirche, Bd. I, Nr. 1). 5 So der Abgeordnete Porsch auf dem Katholikentag i n Essen i m August 1906 (Schultheß, Europäischer Geschichts-Kalender 1906, S. 154). 6 Vgl. insgesamt L. Clausnitzer/H. Rosin, Geschichte des preußischen Unterrichtsgesetzes (5. Aufl. 1909), Bd. Ι Ϊ , S. 57 ff.; Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 902 if.
V I . Der Schulkompromiß i n Preußen (1904/06)
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c) erreicht die Z a h l der schulpflichtigen K i n d e r einer konfessionellen Minderheit eine angemessene Höhe, so hat diese Minderheit den Anspruch auf Errichtung einer Schule ihrer Konfession; d) es sind zur V e r w a l t u n g der Schulangelegenheiten neben den ordentlichen Gemeindebehörden i n den Städten Schuldeputationen u n d auf dem Lande Schulvorstände einzurichten, bei denen der Kirche, der Gemeinde u n d den Lehrern eine angemessene Vertretung zu gewähren ist; I I . bei Neuregelung der Schulunterhaltungspflicht zugleich für die Beseitigung unbilliger Ungleichheiten i n der Belastung der verschiedenen Schulverbände und i n der Höhe des Diensteinkommens der Volksschullchrer zu sorgen.
Nr. 72. Gesetz, betreffend die Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen v o m 28. J u l i 1906 (Preußische Gesetz-Sammlung 1906, S. 335) — Auszug —
Vierter
Abschnitt.
Konfessionelle Verhältnisse
§ 33. Die öffentlichen Volksschulen sind i n der Hegel so einzurichten, daß der Unterricht evangelischen K i n d e r n durch evangelische Lehrkräfte, katholischen K i n d e r n durch katholische Lehrkräfte erteilt w i r d . Wo i n einem Schulverbande neben drei- oder mehrklassigen Schulen einklassige Schulen oder neben Schulen der i m § 36 bezeichneten A r t solche der i n den §§ 35, 38 u n d 40 Abs. 1 bezeichneten A r t bestehen, sollen Kinder, soweit es m i t der Rücksicht auf die örtlichen Schulverhältnisse vereinbar ist, insbesondere soweit dadurch nicht der Bestand einer bereits vorhandenen Schule gefährdet oder die Errichtung einer neuen Schule erforderlich w i r d , nicht gegen den W i l l e n der Eltern oder deren Stellvertreter der einen oder anderen Schulart zugewiesen werden. §34. Lediglich wegen des Religionsbekenntnisses darf keinem K i n d e die Aufnahme i n die öffentliche Volksschule seines Wohnorts versagt werden. § 35. A n Volksschulen, die m i t einer L e h r k r a f t besetzt sind, ist stets eine evangelische oder eine katholische L e h r k r a f t anzustellen, je nachdem die angestellte L e h r k r a f t oder die zuletzt angestellt gewesene L e h r k r a f t evangelisch oder katholisch war. Statt der evangelischen L e h r k r a f t soll bei Erledigung der Stelle i n der Regel eine katholische angestellt werden, w e n n fünf Jahre nacheinander mindestens zwei D r i t t e l der die Schule besuchenden einheimischen Kinder, ausschließlich der Gastschulkinder, katholisch gewesen sind, u n d während dieser Zeit die Z a h l der evangelischen K i n d e r weniger als zwanzig betragen hat. Unter den entsprechenden Voraussetzungen soll i n der Regel statt einer 11 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
katholischen L e h r k r a f t eine evangelische angestellt werden. Die Veränder u n g bedarf der Zustimmung des Unterrichtsministers. § 36. A n einer Volksschule, an der nach ihrer besonderen Verfassung bisher gleichzeitig evangelische u n d katholische Lehrkräfte anzustellen waren, behält es dabei auch i n Z u k u n f t sein Bewenden; i n einem Schul verband, i n dem lediglich Volksschulen der vorbezeichneten A r t bestehen, können neue Volksschulen n u r auf derselben Grundlage errichtet werden. Eine Änderung k a n n aus besonderen Gründen durch Beschluß des Schulverbandes m i t Genehmigung der Schulaufsichtsbehörde herbeigeführt werden. Bestehen i n einem Schulverbande neben Schulen der i m Abs. 1 bezeichneten A r t solche, an denen n u r evangelische oder n u r katholische L e h r kräfte anzustellen sind, so soll bei Errichtung neuer Schulen darauf geachtet werden, daß das bisherige Verhältnis der Beschulung der K i n d e r i n Schulen der einen oder anderen A r t möglichst beibehalten wird. Die vorstehenden Vorschriften finden keine Anwendung auf die Schulen, bei welchen die Verschiedenheit i n dem Bekenntnisse der Lehrkräfte lediglich dadurch herbeigeführt ist, daß für die Schulkinder des einen Bekenntnisses die Erteilung des Religionsunterrichts ermöglicht werden sollte (§ 37 Abs. 3). Schulen der i m Abs. 1 bezeichneten A r t können aus besonderen Gründen auch von anderen Schul verbänden m i t Genehmigung der Schulaufsichtsbehörde errichtet werden. Der Beschluß des Schulverbandes ist nebst der Genehmigungserklärung der Schulaufsichtsbehörde i n ortsüblicher Weise bekannt zu machen. Binnen vier Wochen v o m Tage der Bekanntmachung ab k a n n von Beteiligten das Vorhandensein besonderer Gründe durch Einspruch beim Kreisausschusse, sofern eine Stadt beteiligt ist, beim Bezirksausschusse bestritten werden. Gegen die Beschlüsse des Kreisausschusses oder des Bezirksausschusses ist die Beschwerde an den Provinzialrat zulässig. Versagt die Schulaufsichtsbehörde die Genehmigung, w e i l sie besondere Gründe nicht als vorliegend erachtet, so steht den Schul verbänden die Beschwerde an den Provinzialrat zu. Gegen den Beschluß des Provinzialrats findet die Klage i m Verwaltungsstreitverfahren bei dem Oberverwaltungsgericht innerhalb vier Wochen statt. F ü r die Stadt B e r l i n t r i t t an die Stelle des Bezirksausschusses (Abs. 4) die Schulaufsichtsbehörde. Gegen die Entscheidung der Schulaufsichtsbehörde findet i n den Fällen der Abs. 4 und 5 innerhalb vier Wochen die Klage i m Verwaltungsstreitverfahren beim Oberverwaltungsgerichte statt. I n den Hohenzollernschen endgültig.
Landen entscheidet
der
Unterrichtsminister
Beträgt i n einer gemäß Abs. 4 errichteten Schule die Z a h l der die Schule besuchenden einheimischen evangelischen oder katholischen K i n d e r m i t Ausschluß der Gastschulkinder während fünf aufeinanderfolgender Jahre
V I . Der Schulkompromiß i n Preußen (1904/06)
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über 60, i n den Städten sowie i n Landgemeinden von mehr als 5000 E i n wohner über 120, so ist, sofern die gesetzlichen Vertreter von mehr als 60 bezw. 120 dieser K i n d e r den A n t r a g bei der Schulaufsichtsbehörde stellen, f ü r diese eine Beschulung i n Schulen m i t lediglich evangelischen oder lediglich katholischen L e h r k r ä f t e n einzurichten, falls i m Schulverbande eine Schule der letzteren A r t nicht bereits besteht, i n welche die K i n d e r eingeschult werden können. Bei den nach Abs. 9 gemäß dem Gesetze v o m 26. M a i 1887 (GS. 175) zu stellenden Anforderungen darf von den Beschlußbehörden die Notwendigkeit der Beschulung i n Schulen m i t lediglich evangelischen oder lediglich katholischen Lehrkräften nicht m i t Rücksicht auf das Bedürfnis der Schule oder auf die Leistungsfähigkeit der Verpflichteten verneint werden. A n einer Schule der i m Abs. 1 u n d Abs. 4 bezeichneten A r t soll die Z u sammensetzung des Lehrkörpers sich tunlichst dem Verhältnisse der die Schule besuchenden K i n d e r anschließen. § 37. Beträgt i n einer öffentlichen Volksschule, die n u r m i t katholischen oder n u r m i t evangelischen Lehrkräften besetzt ist, die Z a h l der einheimischen evangelischen oder katholischen Schulkinder dauernd mindestens zwölf, so ist tunlichst f ü r diese ein besonderer Religionsunterricht einzurichten. Bei den nach Abs. 1 gemäß dem Gesetze v o m 26. M a i 1887 (GS. 175) zu stellenden Anforderungen darf von den Beschlußbehörden die Notwendigkeit des besonderen Religionsunterrichts nicht m i t Rücksicht auf das Bedürfnis der Schule oder m i t Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit der V e r pflichteten verneint werden. Wo eine anderweite Beschaffung dieses Unterrichts m i t erheblichen Schwierigkeiten und Kosten verbunden ist, darf zum Zwecke seiner Erteilung eine evangelische oder katholische L e h r k r a f t angestellt werden, welche auch m i t der Erteilung anderweiten Unterrichts zu betrauen ist. § 38. I m übrigen sind an öffentlichen Volksschulen, welche m i t mehreren Lehrkräften besetzt sind, n u r evangelische oder n u r katholische Lehrkräfte anzustellen. Bei der Anstellung weiterer Lehrkräfte an den bisher n u r m i t einer L e h r k r a f t besetzten Schulen (§ 35) sind evangelische oder katholische Lehrkräfte anzustellen, je nachdem die bisherige einzige L e h r k r a f t evangelisch oder katholisch war. Statt der Besetzung der Schulstellen m i t evangelischen Lehrkräften soll bei mehrklassigen Volksschulen i n der Regel eine Besetzung m i t katholischen Lehrkräften herbeigeführt werden, w e n n fünf Jahre nacheinander mindestens zwei D r i t t e l der die Schule besuchenden, einheimischen Schulkinder, ausschließlich der Gastschulkinder, katholisch gewesen sind, u n d während dieser Zeit die Z a h l der evangelischen K i n d e r weniger als vierzig betragen hat. Unter den entsprechenden Voraussetzungen sollen i n der Regel statt katholischer Lehrkräfte evangelische angestellt werden. Die V e r änderung bedarf der Zustimmung des Unterrichtsministers. 11*
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
§ 39. Beträgt i n einem Schulverbande, welcher lediglich m i t katholischen Lehrkräften besetzte öffentliche Volksschulen enthält, die Z a h l der einheimischen schulpflichtigen evangelischen Kinder, m i t Ausschluß der Gastschulkinder, während fünf aufeinanderfolgender Jahre über 60, i n den Städten sowie i n Landgemeinden von mehr als 5000 Einwohnern über 120, so ist, sofern seitens der gesetzlichen Vertreter von mehr als 60 bzw. 120 schulpflichtigen K i n d e r n der genannten A r t der A n t r a g bei der Schulaufsichtsbehörde gestellt w i r d , f ü r diese eine Beschulung i n Schulen m i t lediglich evangelischen Lehrkräften einzurichten. Bei den nach Maßgabe des Abs. 1 auf G r u n d des Gesetzes v o m 26. M a i 1887 (GS. 175) zu stellenden Anforderungen darf von Beschlußbehörden die Notwendigkeit der Beschulung i n Schulen m i t lediglich evangelischen L e h r kräften m i t Rücksicht auf das Bedürfnis der Schule oder auf die Leistungsfähigkeit der Verpflichteten nicht verneint werden. Die Vorschriften der Abs. 1 u n d 2 finden bezüglich der Beschulung der katholischen K i n d e r sinngemäß Anwendung, w e n n i n einem Schulverbande lediglich m i t evangelischen Lehrkräften besetzte öffentliche Volksschulen vorhanden sind. Eine nach Maßgabe des § 37 Abs. 3 eingerichtete Volksschule ist i m Sinne der vorstehenden Vorschriften den lediglich m i t katholischen oder lediglich m i t evangelischen Lehrkräften besetzten Volksschulen gleichzustellen. Bleibt die Z a h l der K i n d e r einer konfessionellen Minderheit unter der i m Abs. 1 festgesetzten Mindestzahl, so darf f ü r diese eine Beschulung i n Schulen m i t Lehrkräften ihrer Konfession von der Schulaufsichtsbehörde n u r aus besonderen Gründen angeordnet werden. §40. F ü r die Errichtung, Unterhaltung u n d V e r w a l t u n g der f ü r jüdische K i n d e r bestimmten u n d m i t jüdischen Lehrkräften zu besetzenden öffentlichen Volksschulen gelten bis auf weiteres die jetzt bestehenden V o r schriften m i t der Maßgabe, daß der § 67 Nr. 3 des Gesetzes v o m 23. J u l i 1847 über die Verhältnisse der Juden (GS. 263) f ü r den ganzen Umfang der Monarchie zur A n w e n d u n g gelangt. Die zur Unterhaltung solcher Schulen Verpflichteten gelten als Schulverbände i m Sinne dieses Gesetzes. Werden die i n den §§ 35 bis 39 erwähnten öffentlichen Volksschulen von jüdischen K i n d e r n besucht, so finden bei A u f b r i n g u n g der Kosten f ü r die Erteilung von jüdischem Religionsunterricht u n d hinsichtlich der Anstellung von jüdischen Lehrkräften an diesen Schulen zum Zwecke der Erteilung von jüdischem Religionsunterricht sowie hinsichtlich der anderweiten Beschäftigung der h i e r f ü r angestellten jüdischen Lehrkräfte an diesen Schulen bis auf weiteres die jetzt bestehenden Bestimmungen Anwendung. Beträgt in einer öffentlichen Volksschule, die n u r m i t evangelischen oder n u r m i t katholischen oder n u r m i t evangelischen u n d katholischen Lehrkräften besetzt ist, die Z a h l der einheimischen jüdischen Schulkinder dauernd mindestens zwölf u n d w i r d i n einem solchen Falle der Religionsunterricht f ü r diese durch von der Synagogengemeinde bestellte Lehrkräfte erteilt, so findet § 67 Nr. 3 des Gesetzes v o m 23. J u l i 1847 sinngemäß Anwendung.
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Für die Errichtung und Unterhaltung von öffentlichen Volksschulen, an welchen nach ihrer besonderen Verfassung, abgesehen von dem Falle des Abs. 2, christliche u n d jüdische Lehrer zugleich anzustellen sind, bewendet es bei dem bestehenden Rechte. Für die Provinz Hannover bewendet es bei dem Gesetze v o m 7. März 1868 (GS. 223) § 1 Nr. 3, betreffend die Unterstützung des jüdischen Schulwesens der Provinz durch den Provinzialverband. § 41. Die Vorschriften der §§ 33 bis 40 beziehen sich nicht auf die lediglich für den technischen Unterricht (Zeichnen, Turnen, Handarbeit, Handfertigkeit, Hauswirtschaft) angestellten oder anzustellenden Lehrkräfte. § 42. I n dem Gebiete des ehemaligen Herzogtums Nassau bewendet es bei den bisherigen Vorschriften.
V I I . D i e Schulfrage i n B a y e r n In Bayern war es bereits vor Ausbruch des Kulturkampfs zu einem schweren Konflikt zwischen Staat und Kirche in der Schulfrage gekommen. Der 1867 von dem Kultusminister Franz v. Gr esser unternommene Versuch, durch ein neues Volksschulgesetz die geistliche Schulaufsicht zu beseitigen, führte allerdings nicht zum Erfolg 1. Während des Kulturkampfs schuf eine königliche Verordnung von 1873 die Möglichkeit, konfessionsverschiedene Volksschulen zu Simultanschulen zusammenzulegen; der Grundsatz der Bekenntnisschule war damit an einzelnen Stellen durchbrochen, aber nicht beseitigt 2. Nach dem Ende des Kulturkampfs hielt die Regierung Crailsheim 3 an der eingeschlagenen schulpolitischen Linie fest. Das Schulbedarfsgesetz vom 28. Juli 1902 (Nr. 73) hatte allerdings keine unmittelbaren Auswirkungen auf die geistliche Schulaufsicht oder auf das Verhältnis zwischen Konfessionsschulen und Simultanschulen. Angesichts der Spannungen zwischen der Regierung und der klerikalen Mehrheit des Landtags hätten grundlegende Änderungen sich nicht durchsetzen lassen. Diese Spannungen führten 1903 zum Sturz der Regierung Crailsheim. Unter dem neuen Ministerpräsidenten v. Podewils 4 übernahm das Amt des Kultusministers der bisherige Staatsrat v. Wehner 5. In dessen Amtszeit flammte der Streit um die geistliche Schulaufsicht erneut auf. Seit 1894 hatte der Katholische Lehrerverein in Bayern immer wieder die Mitwirkung 1
Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 151 ff. Ebenda S. 718 ff. 3 Ebenda S. 907, A n m . 2. 4 Klemens Frh. (Graf) v. Podewils (1850 - 1922) Jurist; zunächst i m bayer. Verwaltungsdienst, seit 1880 i m diplomatischen Dienst; seit 1881 bei der bayer. Gesandtschaft i n B e r l i n ; 1887 bayer. Gesandter i n Wien; 1902- 1903 K u l t u s minister; 1903 - 1912 Ministerpräsident. 5 Anton (Ritter v.) Wehner (1850 - 1915), Jurist; seit 1879 i m bayer. K u l t u r ministerium (1888 Regierungsrat, 1902 Staatsrat); 1903 - 1912 Kultusminister. 2
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
der Lehrer an der Leitung der Volksschule und an der Schulaufsicht verlangt. Im Jahr 1909 faßte der Bayerische Lehrerverein dieselben Forderungen in einer Denkschrift zusammen (Nr. 74); auch der Katholische Lehrerverein wandte sich in dieser Frage erneut mit Eingaben an den bayerischen Episkopat 6. Auf sie antwortete die bayerische Bischofskonferenz mit einer Stellungnahme vom 14. April 1909 (Nr. 75); sie erklärte, daß sich die Stellung der katholischen Kirche zur Frage der Schulaufsicht seit den Auseinandersetzungen des Jahres 1867 nicht verändert habe. Papst Pius X. 1 sprach der Bischofskonferenz für diese Haltung seine ausdrückliche Anerkennung aus (Nr. 76) 8.
Nr. 73. Bayerisches Schulbedarfsgesetz v o m 28. J u l i 1902 (Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1902, S. 265) — Auszug —
Art. 5. Wenn i n einer Gemeinde oder Ortschaft oder i n mehreren i m U m kreise von dreieinhalb Kilometer gelegenen Gemeinden, Ortschaften, Weilern und Einzelhöfen, für welche lediglich Konfessionsschulen errichtet sind, zusammen nach fünfjährigem Durchschnitte mindestens fünfzig schulpflichtige K i n d e r der i n der Minderheit befindlichen Konfession vorhanden sind, und ihnen nicht eine Schule ihrer Konfession bis zur Entfernung von dreieinhalb Kilometer zur Verfügung steht oder durch eine zweckmäßige Umschulung zugänglich gemacht werden kann, so können die betheiligten Gemeinden zur Bereitstellung der M i t t e l zur Errichtung einer Schule dieser konfessionellen Minderheit angehalten werden. Außerdem können Gemeinden, i n welchen Schüler einer Konfession i n größerer Anzahl die Schulen einer anderen Konfession deßhalb besuchen müssen, w e i l ihnen der Besuch der Schule der eigenen Konfession erheblich erschwert ist, zur Errichtung weiterer Schulen oder Schulklassen f ü r die konfessionelle Minderheit angehalten werden, sofern eine A b h i l f e mittels einer anderen Schuleintheilung unmöglich ist. Art. 6. Die Übertragung des Volksschulunterrichts an Mitglieder geistlicher Gesellschaften oder religiöser Vereine k a n n n u r m i t gemeindlicher Zustimm u n g erfolgen. Diese Z u s t i m m u n g ist i n Gemeinden m i t städtischer Verfasβ I n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden nebeneinander (jeweils m i t entsprechenden Landesvereinen): der überkonfessionelle A l l gemeine Deutsche Lehrerverein (unten S. 177 Anm. 2) und die konfessionellen Lehrervereine, nämlich der Katholische Lehrerverband des Deutschen Reichs u n d der Verband deutscher evangelischer Schul- u n d Lehrervereine. Die beiden genannten bayerischen Vereine gehörten diesen Dachverbänden an. 7 Unten S. 244, A n m . 8. 8 Die wichtigsten Streitschriften zu der Debatte des Jahrs 1909 sind einerseits F. Weigl, Ausbau der Schulaufsicht i n Bayern, nach Grundsätzen einer gerechten Schul-, Kirchen- u n d K u l t u r p o l i t i k (1909); andererseits G. Wohlmuth, Z u m Streit u m die geistliche Schulaufsicht i n Bayern (1909).
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sung diesseits des Rheins durch den Magistrat u n d die Gemeindebevollmächtigten, sonst durch die Gemeindeverwaltung und die Gemeindeversammlung, i n zusammengesetzten Schulsprengeln durch die verstärkte Gemeindeverwaltung (Art. 1 Abs. 3) zu ertheilen unter Zustimmung der Gemeindeversammlungen v o n drei Viertheilen der ganz oder m i t Theilen zum Schulsprengel gehörigen Gemeinden, unter welcher Mehrheit die Gemeindeversammlung der Schulsitzgemeinde sich befinden m u ß . . . .
Nr. 74. Denkschrift des bayerischen Lehrervereins über die künftige Gestaltung der Schulleitung in den Volksschulen Bayerns v o m 19. März 1909 (G. Wohlmuth,
Z u m Streit u m die geistliche Schulaufsicht i n Bayern, 1909, S. 105) — Auszug —
Erstens. Notwendigkeit
einer Fachleitung der Volksschule
Die allgemeine Einführung der fachlichen Schulaufsicht ist eine unaufschiebbar gewordene Maßregel, die durch das Beste der Schule, w i e durch die Gerechtigkeit gegenüber dem Lehrerstande geboten erscheint, die auch i n weiten Kreisen des Volkes als natürlich und zweckmäßig angesehen w i r d und bei der katholischen u n d protestantischen Kirche auf keinen unüberwindlichen Widerstand stößt, w e n n die verfassungsmäßigen Rechte der Kirchengemeinschaften auf Leitung u n d Überwachung des Religionsunterrichts gewahrt bleiben und ihnen die Teilnahme an der Schulpflege ermöglicht w i r d
Nr. 75. Erklärung der bayerischen Bischofskonferenz zur Schulaufsicht v o m 14. A p r i l 1909 (Archiv f ü r katholisches Kirchenrecht 89, 1909, S. 551 ff.) — Auszug — Die grundsätzliche Stellungnahme des Episkopates i n der Schulaufsichtsfrage kann heute keine andere sein als i m Jahre 1867®, wo derselbe i n einer ausführlichen Denkschrift seine Wünsche bezüglich der kirchlichen M i t a u f sicht über die ganze Schule v o r dem Throne Seiner Majestät des Königs niedergelegt hat. Damals haben die Bischöfe besonders betont, daß, was Kirche u n d Schule so i n n i g verbinde, nicht bloß die W i r k u n g u n d Folge eines geschichtlichen, wenn auch tausendjährigen Verhältnisses sei, u n d daß dieses Verhältnis nicht bloß staatlich durch Gesetze u n d Verordnungen anerkannt u n d ver9 Denkschrift des Bayerischen Episkopats v o m November 1867, gerichtet gegen den Gresserschen Schulgesetzentwurf (Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 66).
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
brieft sei, sondern daß es v o r allem m i t der der Kirche von Christus übertragenen Aufgabe wesentlich zusammenhänge. Die Kirche hat lichen Erziehung kommen. Daraus Teilnahme an der
die Aufgabe des christlichen Unterrichtes u n d der christder Jugend unmittelbar von ihrem göttlichen Stifter übererwächst i h r das Recht wie die Pflicht einer wirksamen Aufsicht und Leitung der ganzen Schule.
Die christliche Schule verlangt, w i e schon i h r Name sagt, daß die ganze Schule, der ganze Schulbetrieb, w i e die ganze Schuleinrichtung das christliche Gepräge trage. Die christliche Volksschule erträgt keine Trennung von Unterricht u n d Erziehung, u n d deshalb k a n n sie i n keiner A r t ihres Betriebes des kirchlichen Einflusses u n d zwar des wirksamen kirchlichen E i n flusses entbehren. Es w i r d aber sehr fraglich sein, ob von einem wirksamen kirchlichen Einflüsse da noch die Rede sein kann, wo die sog. „technische L e i t u n g " i h r gänzlich entzogen ist. Wohl sind die Königlichen Distriktsu n d Lokalschulinspektoren i n der Eigenschaft v o n technischen Leitern der Schule Staatsbeamte; aber als Geistliche wahren sie den einheitlichen harmonischen Schulbetrieb i m Geiste der Kirche u n d sind so eine Bürgschaft f ü r den wirksamen kirchlichen Einfluß. Ganz anders w i r d sich dieses Verhältnis gestalten i n Fällen, wo auf Seite der technischen L e i t u n g religiöse Gleichgültigkeit oder gar antikirchliche Gesinnung herrscht; da w i r d von einer wirksamen Aufsicht der Kirche nicht mehr die Rede sein können, vielmehr w i r d der Einfluß n u r mehr auf den Religionsunterricht beschränkt sein, und die Volksschule w i r d als ganze Schule aufhören, eine christliche zu sein. . . . W i r können das Recht der kirchlichen Mitaufsicht auf die ganze Schulbildung i n keiner Weise beschränken lassen. Sollte bei einer etwaigen k ü n f tigen Ausgestaltung der bestehenden Schulaufsichtsverhältnisse eine solche Beschränkung intendiert sein, so müßten W i r gleich Unseren Vorgängern i m Jahre 1867 dagegen einen lauten u n d feierlichen Protest erheben. . . .
Nr. 76. Schreiben Papst Pius X . an den bayerischen Episkopat v o m Jahre 1909 (Archiv f ü r katholisches Kirchenrecht 89,1909, S. 553) — Auszug — . . . I n besonderer Weise sprechen W i r Euch Unsere Anerkennung aus über die A r t und Weise, i n der I h r die Rechte der Kirche i n der Schulfrage hochgehalten habt. Es ist f ü r die gedeihliche Kindererziehung notwendig, daß die Volksschule der Inspektion u n d der Wachsamkeit der Pfarrer unterstellt bleibt. Die Gegner der geistlichen Schulaufsicht w o l l e n diese n u r entfernt wissen, u m desto freier die zarten Gemüter m i t einer Erziehung zu erfüllen, die des Geistes entbehrt. I h r werdet i n Eurem Bestreben, diese Versuche zu unterdrücken, daran zweifeln W i r nicht, von dem Beifall aller Guten begleitet sein, u m so mehr, da I h r i n dieser Sache sogar die zivilen Gesetze auf Eurer Seite habt. . . .
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V i l i . D i e Schulfrage i n W ü r t t e m b e r g In Württemberg war das Volksschulwesen durch das Volksschulgesetz vom 29. September 1836 geordnet i. Dessen Regelungen hatten im Grundsatz über sieben Jahrzehnte hinweg Bestand. Einschneidendere Veränderungen ergaben sich erst durch das Änderungsgesetz vom 17. August 1909 (Nr. 77). Es ordnete insbesondere die Ortsschulaufsicht neu. Während nach dem Volksschulgesetz von 1836 die Ortsschulaufsicht den Orts geistlichen anvertraut war, wurde sie nun dem Ortsschulrat übertragen, innerhalb dessen der Einfluß der Geistlichen, insbesondere in größeren Gemeinden und Städten, deutlich begrenzt war. Darüber hinaus führte das Gesetz hauptamtliche Bezirksschulaufseher ein; dadurch fand die Institution der geistlichen Schulaufsicht, die in den Bezirken bisher den Dekanen oder anderen Geistlichen oblag, ein Ende. Während die Volksschulen auch weiterhin Konfessionsschulen zu sein hatten, sah das Gesetz die Möglichkeit vor, daß Mittelschulen und Hilfsschulen nicht an eine Konfession gebunden waren, sondern den Charakter „christlicher Gemeinschaftsschulen" trugen.
Nr. 77. Gesetz, betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen der Gesetze über das Volksschulwesen v o m 17. August 1909 (Württembergisches Regierungsblatt, 1909, S. 161 ff.) — Auszug — Art. IV. Nach A r t . 8 des Volksschulgesetzes vom 29. September 18362 w i r d eingeschaltet: Art. 8 a. Wenn in Orten, wo sich Einwohner verschiedener Glaubensbekenntnisse befinden, f ü r die Angehörigen des Bekenntnisses der Mehrzahl Mittelschulen oder Hilfsschulen bestehen, steht es den Angehörigen der Minderheitskonfession frei, ihre K i n d e r insolange, als für sie solche Schuleinrichtungen am Ort nicht ebenfalls getroffen sind, i n die Mittelschulen oder Hilfsschulen der Mehrheitskonfession zu schicken. Ferner sind Mittelschulen und Hilfsschulen, welche nicht auf die Angehörigen eines Bekenntnisses beschränkt sind, zulässig Art. XVI. A n die Stelle der A r t . 72 bis 79 des Volksschulgesetzes 29. September 1836 treten folgende Bestimmungen:
vom
Art. 72. Die örtliche Aufsicht über die Volksschulen auf dem Gebiet der Schulpflege steht dem Ortsschulrat zu. Z u m Geschäftskreis des Ortsschulrats gehören insbesondere die folgenden Angelegenheiten : 1 2
W ü r t t . Regierungsblatt 1836, S. 491. W ü r t t . Regierungsblatt 1836, S. 491.
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
1. Sorge für die örtliche Durchführung und Beobachtung der das Volksschulwesen betreffenden Gesetze und Verordnungen, namentlich auch derjenigen über die Schulgesundheitspflege, den Schulbesuch, die Schulzucht und die Schulferien; 2. Wahrung der m i t den Schulstellen verbundenen Rechte, Antragstellung i n betreif der Schulgebäude, der ordnungsmäßigen Ausstattung der Schulräume, überhaupt der sachlichen Erfordernisse der Volksschule, gutachterliche Äußerung über sämtliche Schulbauten : 3. Anregung u n d M i t w i r k u n g bei organisatorischen Maßnahmen für das örtliche Volksschulwesen; 4. gutachtliche Äußerung über den Schulhaushalt; Verwendung der Gelder der Schulkasse; Befreiung unbemittelter K i n d e r v o m Schulgeld; 5. V e r m i t t l u n g bei Streitigkeiten zwischen den Lehrern u n d den Eltern von Schulkindern; 6. Vertretung bei den Prüfungen des Bezirksschulaufsehers und Kenntnisnahme von deren allgemeinem Ergebnis; 7. Beschwerdeführung über dienstliche Verfehlungen der Lehrer bei dem Bezirksschulaufseher. Art. 73. Soweit es keiner Beratung und Entschließung durch den Ortsschulrat bedarf, insbesondere unter der bezeichneten Voraussetzung i n den Fällen des A r t . 72, Abs. 2, Nr. 1, 5, 6, w i r d die örtliche Aufsicht über die Volksschule (Schulpflege i m Namen des Ortsschulrats von dem m i t v o r s i t zenden Ortsgeistlichen [vergi. A r t . 76 Abs. 1 Nr. 1 und A r t . 81 Nr. 1]) ausgeübt. A n die Stelle des Ortsgeistlichen t r i t t , w o dem Ortsschulrat der V o r stand einer sieben- oder mehrklassigen Volksschule angehört, dieser u n d unter mehreren solchen Vorständen der dienstälteste (vergi. A r t . 74 und 76 Abs. 1 Nr. 3 d). Die nach Abs. 1 die örtliche Schulaufsicht ausübenden Personen sind befugt, durch Besuche von dem Stand der Volksschule i m Sinne der Schulpflege (Art. 72) Kenntnis zu nehmen. Art. 75. Ein Ortsschulrat ist für jede aus öffentlichen M i t t e l n unterhaltene oder zu den freiwilligen Konfessionsschulen i m Sinn des A r t . 14 zählende Volksschule und, w o von einer und derselben Schulgemeinde eine Gruppe solcher Volksschulen errichtet ist, für diese zu bestellen. I n Gemeinden, i n denen Volksschulen des evangelischen und des katholischen Bekenntnisses bestehen, w i r d f ü r die Schulen jedes Bekenntnisses ein besonderer Ortsschulrat bestellt. M i t Genehmigung des Oberschulrats können auch für Teile eines Gemeindebezirks, die keine eigene Schulgemeinde bilden, besondere Ortsschulräte bestellt werden. Die Ortsschulräte einer Gemeinde f ü r Schulen verschiedener Bekenntnisse können zur Beratung und Beschlußfassung über gemeinsame Angelegenheiten
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zusammentreten. Die A b s t i m m u n g ist jedoch von jedem Ortsschulrat getrennt vorzunehmen, w e n n dies von mehr als der Hälfte der anwesenden Mitglieder eines Ortsschulrats verlangt w i r d . Art. 76. Mitglieder des Ortsschulrats sind: 1. der Ortsgeistliche des Bekenntnisses, dem die Lehrer der zu beaufsichtigenden Schule angehören, oder, wo mehrere Geistliche dieses Bekenntnisses angestellt sind, derjenige von ihnen, der v o m Oberschulrat berufen w i r d ; 2. der Ortsvorsteher, an dessen Stelle i n großen und mittleren Städten, falls hier ein M i t g l i e d des Gemeinderats m i t der Berichterstattung i n Schulangelegenheiten betraut ist, dieses M i t g l i e d v o m Gemeinderat berufen w e r den kann; 3. Lehrer, und zwar: a) bei einklassigen Schulen der Lehrer; b) bei zweiklassigen Schulen der dienstälteste ständige Lehrer; c) bei drei- bis sechsklassigen Schulen der Schulvorstand und der dienstälteste der übrigen ständigen Lehrer; d) bei sieben- und mehrklassigen Schulen der Schulvorstand oder, wo mehrere Schul vorstände bestellt sind, der dienstälteste derselben, neben dem i n großen und mittleren Städten durch W a h l der i n A r t . 2 Abs. 6 genannten örtlichen Organe noch ein oder zwei weitere Schul vorstände ohne Rücksicht auf das Dienstalter berufen werden können, sodann von den übrigen ständigen Lehrern oder Lehrerinnen diejenige Z a h l gewählter Vertreter (vergi. Art. 77), welche m i t Genehmigung des Oberschulrats von den bezeichneten örtlichen Organen festgesetzt w i r d ; 4. der Schularzt i n Gemeinden, f ü r welche ein besonderer Schularzt b e stellt ist, w e n n mehrere bestellt sind, der v o m Gemeinderat zu bestimmende; 5. eine Anzahl von Vertretern der Schulgemeinde, die derjenigen der ü b r i gen Mitglieder m i t Ausschluß des Ortsvorstehers gleichkommt. Für die i n Abs. 1 Nr. 1 und 2 genannten Mitglieder haben zutreffendenfalls die berufenen Stellvertreter oder Amtsverweser i n den Ortsschulrat einzutreten. Das Gleiche gilt, w e n n dem Ortsschulrat n u r ein einziger Lehrer angehört, f ü r die Vertretung dieses Lehrers. Art. 80. Bei freiwilligen Konfessionsschulen (vergi. A r t . 14) w i r d der Ortsschulrat aus dem geistlichen Vorstand der Ortskirchengemeinde als V o r sitzendem, den Lehrern der Konfessionsschule u n d der entsprechenden Z a h l gewählter Konfessionsgenossen gebildet. Die W a h l der letzteren erfolgt durch die kirchliche Gemeindevertretung.
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- und Hochschulwesen
Art. 81. Die Geschäfte des Ortsschulrats werden geleitet: a) i n Gemeinden m i t ein- bis sechsklassigen Schulen von dem Ortsgeistlichen und dem Ortsvorsteher, b) i n Gemeinden m i t sieben- oder mehrklassigen Schulen von dem Ortsvorsteher und dem Schulvorstand oder, w o mehrere Schulvorstände dem Ortsschulrat angehören, von dem dienstältesten derselben. Art. 83. Z u r Aufsicht über eine größere Z a h l von Schulen werden Bezirksschulaufseher bestellt, deren Bezirk v o m M i n i s t e r i u m des Kirchen- und Schulwesens bestimmt w i r d . Der Bezirksschulaufseher ist ein auf Lebenszeit angestellter Staatsbeamter, der dem Bekenntnis der i h m unterstellten Lehrer anzugehören hat. . . . Art. 84. Die Oberschulbehörde f ü r die evangelischen Volksschulen ist der Evangelische Oberschulrat, der aus einem Vorstand u n d der erforderlichen Anzahl von technischen und administrativen Mitgliedern besteht u n d die Befugnisse eines Landeskollegiums hat. Die Oberschulbehörde f ü r die katholischen Volksschulen ist der Katholische Kirchenrat, der künftig, soweit er als Oberschulbehörde i n Tätigkeit zu treten hat, die Amtsbezeichnung „Katholischer Oberschulrat" führt. Z u r Beratung und Beschlußfassung über gemeinsame Angelegenheiten der Volksschule beruft der Staatsminister des Kirchen- und Schulwesens beide Oberschulbehörden zu gemeinschaftlichen Sitzungen zusammen. Art. 85. Eine M i t t e l - oder Hilfsschule, die nicht auf die Angehörigen eines Bekenntnisses beschränkt ist (vergi. A r t . 8 a Abs. 2), untersteht den A u f sichtsbehörden f ü r die örtliche Volksschule des Mehrheitsbekenntnisses. Art. 86. Bezüglich der Beaufsichtigung der israelitischen Volksschulen werden die nötigen Bestimmungen i m Wege der Verordnung getroffen. Art. 87. Die L e i t u n g des Religionsunterrichts i n den Volksschulen und den Lehrerbildungsanstalten einschließlich der Bestimmung der Katechismen und Religionshandbücher k o m m t unbeschadet des dem Staate zustehenden Oberaufsichtsrechts den Oberkirchenbehörden zu. Insbesondere steht es diesen zu, sich durch Anordnung von Visitationen von dem Stand des Religionsunterrichts i n den Volksschulen Kenntnis zu verschaffen.
I X . Der Bremer Schulstreit Um die Jahrhundertwende entstand an vielen Orten Kritik an der Durchführung des konfessionell gebundenen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen; besonders nachdrücklich wurde die Kritik dort vorgebracht, wo auch die Kinder von Dissidenten zur Teilnahme am Religionsunterricht genötigt waren. Die Frage des Religionsunterrichts entwickelte sich zu dem exemplarischen Thema, an dem die Forderung nach der Trennung zwischen Staat
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und Kirche erörtert wurde 1. Die sozialdemokratische Erklärung der Religion zur Privatsache 2 fand in diese Erörterungen ebenso Eingang wie die monistische Weltanschauung Ernst Haeckels oder die Kritik der christlichen Moral durch Friedrich Nietzsche. Vehementer als an anderen Orten wurde die Forderung nach Beseitigung des Religionsunterrichts in Bremen vorgetragen. Nach längeren vorbereitenden Debatten verabschiedete eine Versammlung bremischer Lehrer und Lehrerinnen am 4. September 1905 mit 273 gegen 43 Stimmen eine Denkschrift, die die Schulbehörde zur Aufhebung des Religionsunterrichts aufforderte (Nr. 78). Die konfessionelle religiöse Unterweisung sollte außerhalb der Schule und in der ausschließlichen Verantwortung der Kirchen stattfinden; innerhalb der Schule aber sollte auf der einen Seite ein „Unterricht in den Sitten", auf der anderen Seite in den obersten Schulklassen ein Unterricht in „allgemeiner Religionsgeschichte" stattfinden. Die Unterrichtskommission des bremischen Senats ließ sich mit einer Antwort auf die Denkschrift von 1905 bis zum Jahr 1909 Zeit. Sie lehnte die Forderung nach einer Abschaffung des Religionsunterrichts insgesamt ab; lediglich den gesonderten Religionsunterricht während des ersten Schuljahrs ließ sie fallen; in ihm sollten die „religiösen und sittlichen Momente" innerhalb des Elementarunterrichts mitbehandelt werden 3.
Nr. 78. Denkschrift der Religionskommission der bremischen Lehrerschaft v o m 4. September 1905 (P. C. Bloth, Der Bremer Schulstreit als Frage an die Theologie, Diss. Münster 1959, S. 121 ff.) — Auszug — Die Lehrer und Lehrerinnen an den bremischen Volksschulen der Stadt und des Landgebietes erlauben sich, einer hohen Behörde nachfolgende Darlegungen zu unterbreiten: Die Schule ist eine Veranstaltung des Staates; Religion aber ist Privatsache. Diese beiden Grundsätze sind i m wesentlichen vom modernen Staat bereits anerkannt. Der Staat n i m m t das Recht der obersten Aufsicht über das gesamte Unterrichtswesen f ü r sich i n Anspruch und zwingt alle seine Angehörigen zum Besuch der öffentlichen oder v o m Staat anerkannten Schulanstalten. Dagegen verlangt er von seinen Angehörigen nicht das Bekenntnis zu einer bestimmten Glaubensrichtung u n d macht ihre bürgerlichen 1 Siehe beispielsweise die unter anderem anläßlich des Bremer Streits entstandene Prorektoratsrede von E. Troeltsch, Die Trennung von Staat u n d Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten (1907). 2 Erfurter Programm der SPD von 1891 (Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, hrsg. von D. Dowe u n d K . Klotzbach, 1973, S. 178 f.). 3 Vgl. P. C. Bloth, Der Bremer Schulstreit als Frage an die Theologie, Diss. Münster 1959.
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Rechtsverhältnisse nicht von einem solchen Bekenntnis abhängig. Protestanten, Katholiken, Juden u n d solche Bürger, welche keiner kirchlichen oder religiösen Gemeinschaft angehören, genießen i n Deutschland dieselben staatsbürgerlichen Rechte. Dieser Zustand ist der Ausdruck des Prinzips der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Insofern der Staat dieses Prinzip anerkennt, gibt er zu, daß er k e i n I n t e r esse daran hat, welcher Glaubensrichtung seine Glieder angehören. D a m i t f ä l l t aber f ü r i h n auch das Recht weg, seinen Angehörigen i n den öffentlichen Schulen durch seine bestellten Organe eine bestimmte Glaubensrichtung zu v e r m i t t e l n u n d den Unterricht i m Sinne einer solchen Glaubensrichtung erteilen zu lassen. Denn k e i n Bürger darf v o m Staate irgend einem Zwange unterworfen werden, den nicht das Staatsinteresse unbedingt erfordert. D a r u m darf auch der Schulzwang nicht so w e i t ausgedehnt werden, daß er die Nötigung zur Teilnahme am Religionsunterricht in sich schließt. Dieser Grundsatz ist bereits von mehreren Ländern i n seinem vollen U m fange durchgeführt worden. I n Holland und Frankreich ist der Religionsunterricht ganz aus der Schule entfernt. I n England, Italien, Belgien, der Schweiz und den Vereinigten Staaten von A m e r i k a ist gesetzlich festgelegt, daß die K i n d e r nicht zwangsweise i n der Religion unterrichtet werden dürfen. I n Württemberg hat das M i n i s t e r i u m f ü r das Kirchen- und Schulwesen am 3. November 1904 angeordnet, daß Kinder, die i n giltiger Weise keiner Religionsgemeinschaft oder einer solchen angehören, f ü r die i n öffentlichen Schulen Religionsunterricht nicht erteilt w i r d , von der Teilnahme am Religionsunterricht zu entheben sind, w e n n und soweit der Erziehungsberechtigte dies beantragt. Die Durchführung der Trennung von Kirche und Staat auch auf dem Gebiete des Schulwesens liegt überhaupt i m Entwicklungsgange der Zeit begründet. Die staatliche Nötigung zur Teilnahme aller K i n d e r am Religionsunterricht w i r d i n der Gegenwart viel schwerer empfunden, als früher. Man gesteht dem Staate w o h l das Recht und die Pflicht zu, f ü r die \vissenschaftliche, technische u n d sittliche B i l d u n g der K i n d e r zu sorgen, nicht aber auch für die dogmatisch-religiöse. U n d ohne einen bestimmten, ins Gebiet des Ubersinnlichen hinübergreifenden (metaphysischen) Vorstellungskreis ist keine Religion denkbar. Von diesen Vorstellungen übersinnlicher Dinge hängt die Weltanschauung der Gläubigen ab, und übrigens liegt es i m Wesen jeder Religionsgemeinschaft, ihre Weltanschauung als die unbedingt wahre und für alle Zeiten unabänderlich giltige zu erklären; auch w i r d sie auf übernatürliche Eingebung (Inspiration) zurückgeführt, und sofern die Eingebung von der die Welt beherrschenden und lenkenden Macht ausgeht, w i r d sie als verbindlich f ü r alle Menschen angesehen, verbindlich bei Strafe des ewigen Verderbens. Diese Anschauungen n u n sind es, denen weite Kreise der Bevölkerung nicht mehr zustimmen. . . . Die kulturelle Entwicklung unserer Zeit, wie sie namentlich durch die Fortschritte der philosophischen und wissenschaftlichen B i l d u n g herbeigeführt ist, hat beim modern denkenden Menschen die Uberzeugung befestigt, daß das erhaltende und lenkende Prinzip der Welt ein
I X . Der Bremer Schulstreit
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einheitliches und i h r selbst innewohnendes (immanentes) ist und nach ewigen Gesetzen (Naturgesetzen) w i r k t ; daß das Gesetz von Ursache u n d W i r kung (Kausalgesetz) w o h l f ü r den Verlauf der Dinge innerhalb des Weltganzen maßgebend ist, nicht aber die Annahme einer zweiten, unserer sinnlichen Wahrnehmung u n d Erfahrung entrückten Welt rechtfertigt, die w i l l kürlich u n d besonders i m Zusammenhang m i t unserem sittlichen Verhalten sozusagen von außen her i n das Getriebe der sinnlich wahrnehmbaren Welt eingreifen soll: kurz, man faßt die Welt i n diesem Sinne monistisch auf. I m übrigen erkennt auch der moderne Mensch an, daß das Wesen der Welt i n seinem innersten K e r n f ü r das menschliche Begriffsvermögen unerkennbar ist. Insbesondere lehnt die Lehrerschaft es bei dieser Gelegenheit ab, als Ganzes f ü r irgend eine besondere Form des philosophischen oder erkenntnistheoretischen sog. Monismus i n Anspruch genommen zu werden. . . . Das Recht u n d die Pflicht des Staates, Unterricht in den Sitten zu erteilen, w i r d durch die Abschaffung des Religionsunterrichts nicht berührt. E i n Sittenunterricht ist vielmehr ohne Zusammenhang m i t dem Dogma sehr w o h l durchführbar; ja, er w i r d auf diese Weise planmäßiger und fruchtbarer gestaltet werden können. Die sittlichen Anschauungen und Grundsätze des bürgerlichen Lebens sind i m wesentlichen von metaphysisch-dogmatischen Überzeugungen unabhängig. Sie v/erden vielmehr durch die natürlichen Lebensbedingungen und die kulturelle Entwicklung eines Volkes bestimmt. Völker und Volksschichten m i t verschiedenen metaphysischen Überzeugungen haben i m wesentlichen dieselben sittlichen Grundsätze (z. B. Protestanten, Katholiken und Juden i n Deutschland); andererseits haben sich die sittlichen Anschauungen unendlich vertieft und verfeinert, ohne daß die Dogmen der Religionsgemeinschaften der Entwicklung gefolgt wären (man denke an die Ketzerverfolgungen des Mittelalters und an die jetzt verfassungsmäßig gewährleistete Glaubens- und Gewissensfreiheit). Insofern religiöse u n d philosophische Vorstellungen einerseits, sittliche Anschauungen anderereits demselben geistigen Nährboden entwachsen, ist allerdings ein gewisser innerer Zusammenhang nicht zu leugnen. Doch macht dieser Umstand f ü r die I n t e r essen des Staats nichts aus. . . . Die sittlichen Grundsätze, die i n den Schulen gelehrt werden müssen, sind jedenfalls so allgemein giltiger A r t , daß sie des Zusammenhangs m i t dogmatischen Vorstellungen entraten können. Ja, eher ist die A n k n ü p f u n g der sittlichen Unterweisung an den Religionsunterricht dieser Unterweisung schädlich. . . . I n der pädagogischen L i t e r a t u r w i r d vielfach die Forderung einer „sittlichreligiösen" Unterweisung aufgestellt. W i r können den Ausdruck „religiös" hier n u r i n dem Sinne anerkennen, daß er sich auf die religiöse Stimmung und Gesinnung i m allgemeinen, nicht auf irgend eine besondere Religion m i t bestimmtem dogmatischen I n h a l t bezieht. . . . Eine religiöse B i l d u n g dieser A r t läßt sich ebenfalls ohne einen dogmatischen Religionsunterricht besser erzielen als m i t ihm. Sie läßt sich j a überhaupt nicht i m eigentlichen Sinne auf unterrichtlichem Wege mitteilen; angebahnt u n d gefördert aber w i r d sie jedenfalls am besten durch ein gründliches Verständnis der Dinge, Verhältnisse und Gedankengänge der eigenen Zeit und die Kenntnis ihrer Bedeutung und ihres geschichtlichen Werdeganges. . . .
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Auch christlich-gläubige Kreise haben bereits vielfach die Entfernung des Religionsunterrichts aus der Schule gefordert, u n d das m i t Recht, auch von ihrem Standpunkte aus. Der Unterricht genügt ihren Ansprüchen nicht u n d k a n n ihnen nicht genügen. Die bremische Lehrerschaft genoß bisher das stillschweigend gewährte Recht, einen sog. objektiven Religionsunterricht zu erteilen. Dieses Recht wurde dahin ausgelegt, daß der Unterricht nichts weiter als Bibelkunde m i t anschließender Worterklärung sowie ethischer oder historischer Belehrung zu bieten hätte; außerdem w u r d e etwas Kirchengeschichte getrieben. . . . Die Kirche w i r d . . . , so w e i t i h r Einfluß reicht, den „objektiven" Religionsunterricht stets bekämpfen. Sie w i r d stets darauf bestehen, daß, w e n n i h r Traditionsstoff als Gegenstand eines besonderen Unterrichts einmal geboten w i r d , dies auch i n dem Sinne geschehe, den sie i h m beigelegt hat. . . . Es ist übrigens nicht die Absicht, den K i n d e r n die dogmatischen Anschauungen der verschiedenen Religionsgemeinschaften ganz vorzuenthalten. Dazu spielen diese Anschauungen eine zu wichtige Rolle i m geistigen Leben weiter Volkskreise. Sie, die Dogmen, w i e auch das Wesentliche des Traditionsstoffes, sollen i n einem besondern neu einzuführenden Unterrichtszweig, der „allgemeinen Religionsgeschichte", ihre Behandlung finden. Die allgemeine Religionsgeschichte w ü r d e nicht vor dem siebenten Schuljahr einsetzen u n d sich übrigens zwar m i t allen wichtigeren Religionssystemen der Welt, namentlich aber und vorwiegend m i t der christlichen Kirche beschäftigen. . . . Aus den angeführten Gründen erlaubt sich die bremische Lehrerschaft, eine hohe Behörde zu bitten, hohe Behörde möge verfügen, daß der Religionsunterricht lichen Schulen abgeschafft werde.
in den öffent-
F ü r den Fall, daß eine hohe Behörde geneigt sein sollte, dieser Bitte der Lehrerschaft zu willfahren, erlaubt sich die bremische Lehrerschaft, einer hohen Behörde folgende weiteren Wünsche und Vorschläge zu geneigter Berücksichtigung zu unterbreiten. 1. Die Erteilung des Religionsunterrichts, soweit die Eltern i h n f ü r ihre K i n d e r wünschen, w i r d den einzelnen Religionsgemeinschaften überlassen; 2. der Sittenunterricht w i r d ohne den bisherigen Anschluß an den Religionsunterricht weiter erteilt; 3. der Sittenunterricht w i r d dabei i m weiteren Sinne einer allgemeinen Welt- und Lebenskunde gefaßt, w i e sie schon jetzt bei der Behandlung von sog. Musterstücken i n der Lesestunde vermittelt w i r d ; 4. der Sittenunterricht w i r d auf der Unter- u n d Mittelstufe i m Anschluß an geistig, sittlich u n d literarisch hervorragende und i m übrigen für die Stufe passende Stoffe der gesamten Weltliteratur erteilt. . . .
X . Die Schulfrage i n Elsaß-Lothringen
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X . D i e Schulfrage i n E l s a ß - L o t h r i n g e n Im Reichsland Eis aß-Lothringen erhielt die Beteiligung der Ortsgeistlichen am Ortsschulvorstand und die Aufsicht der Ortsgeistlichen über den Religionsunterricht ihre Regelung durch das Landesgesetz vom 24. Februar 1908 (Nr. 79). Umstritten blieb die Frage, ob die katholische Kirche ein über diese Aufsichtsfunktionen hinausgehendes Recht zu Ermahnungen oder Anweisungen gegenüber den katholischen Lehrern habe. Den Anlaß zu einer Auseinandersetzung über diese Frage bot ein Brief des Straßburger Bischofs Fritzen 1 an die katholischen Lehrer, in dem er vor dem Eintritt in den Allgemeinen Deutschen Lehrerverein 2 warnte, weil dieser der katholischen Kirche feindliche Bestrebungen verfolge. Der Statthalter in Elsaß-Lothringen Graf Wedel 3 und sein Staatssekretär Zorn v.Bulach 4 sahen hierin einen Eingriff in die staatlichen Kompetenzen (Nr. 80, Nr. 82 a, Nr. 83 a). Bischof Fritzen dagegen nahm für sich das Recht in Anspruch, die katholischen Lehrer als seine Diözesanen in einer Gewissensfrage zu unterweisen (Nr. 81, Nr. 82 b, Nr. 83 b). Staat und Kirche legten den Streit bei, ohne daß die eine oder die andere Seite ihre grundsätzliche Auffassung preisgab.
Nr. 79. Gesetz, betreffend das Unterrichtswesen v o m 24. Februar 1908 (Gesetzblatt für Elsaß-Lothringen 1908, S. 7) W i r Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, K ö n i g von Preußen etc., verordnen i m Namen des Reichs f ü r Elsaß-Lothringen, nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des Landesausschusses, was folgt: §1. Die Elementariehrer werden von dem Bezirkspräsidenten nach A n hörung der Gemeinderäte angestellt. § 2. I n jeder Gemeinde besteht unter dem Vorsitz des Bürgermeisters ein Ortsschulvorstand, der die Aufgabe hat, die Wünsche und Interessen der 1
Adolf Fritzen: Unten S. 866. Der Allgemeine Deutsche Lehrerverein, 1848 gegründet und, nachdem er i n verschiedenen deutschen Staaten verboten war, 1871 wiederbegründet, w a r ein überkonfessioneller Lehrerverband, der u. a. f ü r die Abschaffung der Konfessionsschule u n d des staatlichen Religionsunterrichts eintrat; vgl. C. Pretzel, Geschichte des Deutschen Lehrervereins (1921). Über die K o n fessionellen Lehrervereine siehe oben S. 166, A n m . 6. 3 Karl Graf (Fürst) v. Wedel (1842 - 1919), preuß. Offizier, 1878 - 86 M i l i t ä r attache i n Wien; 1892 - 94 Gesandter i n Stockholm; 1894 Generaladjutant Kaiser Wilhelms II.; 1897 - 99 Militärgouverneur von B e r l i n ; 1899 - 1902 B o t schafter i n Rom; 1902 - 07 Botschafter i n Wien; 1907 - 14 Statthalter i n ElsaßLothringen. Vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 468 ff. 4 Hugo Frh. Zorn v. Bulach (1851 - 1921), Altelsässer; 1870/71 franz. Offizier; 1879 Mitglied des Landesausschusses, 1882 des Staatsrats für Elsaß-Lothringen. 1881 - 1887 u n d 1890-98 MdR (Eis. Protestpartei); 1895- 1908 U n t e r staatssekretär, 1908 - 1914 Staatssekretär des Ministeriums für Elsaß-Lothringen. 2
12 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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3. Kap.: Staat u n d Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Gemeinde bezüglich der Angelegenheiten der Schule u n d deren V e r w a l t u n g zum Ausdruck zu bringen. I n denselben sind durch den Bezirkspräsidenten zu berufen: 1. der Ortsgeistliche. Werden i n einer Gemeinde mehrere anerkannte K u l t e ausgeübt, so ist ein Geistlicher eines jeden K u l t u s als M i t g l i e d des Ortsschulvorstandes zu berufen. Umfaßt eine Gemeinde mehrere Pfarreien eines K u l tus, so ernennt der Bezirkspräsident einen oder mehrere Geistliche dieses K u l t u s zu Mitgliedern des Ortsschulvorstandes; 2. der Lehrer, beziehungsweise die Lehrerin. Bestehen i n einer Gemeinde mehrere Schulen oder w i r k e n an einer Schule mehrere Lehrer oder Lehrerinnen, so ernennt der Bezirkspräsident einen oder mehrere Lehrer oder Lehrerinnen zu Mitgliedern des Ortsschulvorstandes. Der Lehrer oder die Lehrerin hat den Sitzungen des Ortsschulvorstandes nicht beizuwohnen, w e n n über seine, beziehungsweise ihre persönlichen Angelegenheiten verhandelt w i r d ; 3. zwei oder mehrere Einwohner der Gemeinde. Der Gemeinderat schlägt zu diesem Zweck eine Anzahl von Einwohnern der Gemeinde vor. § 3. Wirkungskreis, Amtsdauer und Geschäftsgang der Ortsschulvorstände werden durch Verordnung des Ministeriums geregelt. § 4. Die herkömmliche Aufsicht des Ortsgeistlichen über den i n der Schule zu erteilenden Religionsunterricht seines Bekenntnisses w i r d durch dieses Gesetz nicht berührt. § 5. Die diesem Gesetze entgegenstehenden Bestimmungen, insbesondere der Absatz 2 des Artikels 31, Absatz 1, 2, 3 und 4 des Artikels 44, sowie A r t i k e l 45 des [französischen] Gesetzes v o m 15. März 1850, betreffend das Unterrichtswesen, werden hierdurch aufgehoben. § 6. Dieses Gesetz t r i t t m i t dem Tage der Verkündung i n K r a f t .
Nr. 80. Schreiben des Ministeriums für Elsaß-Lothringen an Bischof Fritzen, Straßburg 5 v o m 1. Januar 1910 (Archiv f ü r katholisches Kirchenrecht 90, 1910, S. 562 f.) Aus den öffentlichen B l ä t t e r n entnehme ich, daß Eure Gnaden an die Ihrer Diözese angehörigen katholischen Lehrer eine M i t t e i l u n g und Aufforderung bezüglich ihrer Stellung zum Allgemeinen Deutschen Lehrerverein gerichtet haben. Da die Nachricht bisher von keiner Seite widerrufen ist, muß ich annehmen, daß sie den Tatsachen entspricht. Die M i t t e i l u n g Eurer Gnaden an die Lehrer k o m m t der Erteilung von Verwaltungsmaßregeln gleich. Den darin liegenden Eingriff i n den Bereich der staatlichen Befugnisse muß ich zurückweisen. Ich bedauere denselben 5
Das Schreiben ist unterzeichnet von dem Staatssekretär Zorn v. Bulach.
X . Die Schulfrage i n Elsaß-Lothringen
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umsomehr, als Eurer Gnaden aus früherer M i t t e i l u n g meines H e r r n A m t s vorgängers (Schreiben v o m 14. Oktober 1907...) die Stellung der Schulverwaltung zur Sache bekannt ist: „Es ist für diese selbstverständliche Pflicht, daß sie das Recht des einzelnen Lehrers achtet, sich außerhalb des Amtes frei, jedoch innerhalb der Schranken der Gesetze, insbesondere des Beamtengesetzes, zu bewegen". Die gleiche Richtlinie muß von jeder anderen Behörde inne gehalten werden. Mitteilungen aber i n bezug auf das Verhalten der Lehrerschaft i n ihrer Gesamtheit oder ihren Hauptgruppen sind n u r auf dem Dienstwege zulässig. So fern es m i r liegen würde, den Seelsorger zu verhindern, m i t den Angehörigen der Gemeinde über religiöse u n d kirchliche Angelegenheiten zu verhandeln, so wenig ich daran gedacht hätte, dem Oberhirten einer Diözese das Recht zu beschränken, durch einen kirchlichen A k t sich an die Gesamtheit seiner Diözesanen zu wenden, ebensosehr muß ich daran festhalten, daß die m i r nachgeordneten Beamten und Lehrer hinsichtlich ihres Verhaltens lediglich von ihren Vorgesetzten Weisung erhalten. Sollte je der F a l l eintreten, daß Eure Gnaden glauben, i n bezug auf Angelegenheiten nichtkirchlicher A r t Wünsche hinsichtlich der Schule oder der Lehrer geltend machen zu sollen, so möchte ich Sie bitten, Sich darüber m i t m i r ins Benehmen setzen zu wollen. Ich b i n jederzeit bereit zur Förderung sachlich berechtigter Interessen mitzuwirken. Da die ganze Angelegenheit i n die Öffentlichkeit gelangt ist, sehe ich mich veranlaßt, auch dieses Schreiben demnächst zu veröffentlichen.
Nr. 81. Schreiben des Bischofs Fritzen, Straßburg, an das Ministerium für Elsaß-Lothringen v o m 4. Januar 1910 (Archiv für katholisches Kirchenrecht, 90, 1910, S. 563 ff.) Eurer Exzellenz beehre ich mich auf das gefällige Schreiben v o m 1. d. Mts. . . . betreffend M i t t e i l u n g an die meiner Diözese angehörigen katholischen Lehrer, ganz ergebenst folgendes zu erwidern. Es w a r zu meiner Kenntnis gelangt, daß eine eifrige A g i t a t i o n eingesetzt hatte, u m die Lehrer des Landes zu bewegen, sich dem Allgemeinen D e u t schen Lehrerverein anzuschließen. Ich hielt es f ü r meine Pflicht, die katholischen Lehrer vor diesem Schritte zu warnen, da zahlreiche Kundgebungen des Allgemeinen Deutschen Lehrervereins auf dem religiösen Gebiete Tendenzen zutage treten ließen, die den Grundsätzen der katholischen Kirche widersprechen. Diese Warnung erfolgte dadurch, daß ich den katholischen Lehrern einen A r t i k e l des von Prälat Nigetiet redigierten „Schulfreundes" einfach „zur Kenntnisnahme" zugehen ließ. Ich habe mich n u r an die katholischen Lehrer gewandt, woraus zur Genüge erhellt, daß ich nur ihre Eigenschaft als Katholiken, nicht aber ihre Eigenschaft als Lehrer ins Auge gefaßt habe. Die Amtstätigkeit der Lehrer wurde weder i m A r t i k e l des „Schulfreundes" noch i n meinem Begleitschrei12*
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
ben berührt. Den einzigen Gegenstand des A r t i k e l s bildete der Anschluß an einen rein privaten Verein, dessen Tendenzen ich v o m religiösen Standpunkt aus verurteilen muß. Wie ich h i e r i n meine Befugnisse überschritten haben sollte, vermag ich nicht einzusehen. Die Frage, u m die es sich hier handelt, ist i n erster L i n i e eine Gewissensfrage f ü r einen T e i l meiner Diözesanen. Dem Bischof, als dem ordentlichen Träger der kirchlichen H i r t e n - u n d Lehrgewalt, obliegt die Pflicht u n d steht das Recht zu, seine Diözesanen auf die Verpflichtungen des christlichen S i t tengesetzes hinzuweisen, die sich aus den Verhältnissen des Lebens f ü r sie ergeben können. Durch den Umstand, daß diese Diözesanangehörigen als Beamte oder Lehrer einer staatlichen Behörde unterstellt sind, k a n n das prinzipielle Verhältnis nicht abgeschwächt werden, i n dem sie i n bezug auf Glaubens- u n d Gewissensfragen zur kirchlichen H i r t e n - u n d Lehrgewalt stehen. D e m Auszug aus dem Schreiben v o m 14. Oktober 1907...: „Es ist für die Schulverwaltung selbstverständige Pflicht, daß sie das Recht des einzelnen Lehrers achtet, sich außerhalb des Amtes frei, jedoch innerhalb der Schranken der Gesetze, insbesondere des Beamtengesetzes, zu bewegen", stimme ich v o l l u n d ganz bei. Wenn aber dann gesagt w i r d , daß „ M i t t e i l u n g e n i n bezug auf das Verhalten der Lehrerschaft i n ihrer Gesamtheit oder i n ihren H a u p t gruppen n u r auf dem Dienstwege zulässig sind" u n d daß „die Beamten u n d Lehrer hinsichtlich ihres Verhaltens lediglich von ihren Vorgesetzten Weisungen erhalten" sollen, so gestatte ich m i r , diese Auffassung dahin richtigzustellen, daß der Dienstweg einzuhalten ist, sofern es sich u m Mitteilungen handelt, die i n der staatlichen Kompetenzsphäre liegen u n d sich auf die durch die staatlichen Gesetze geregelte Amtstätigkeit der Beamten u n d Lehrer beziehen. Außer den staatlichen Gesetzen haben aber die katholischen Beamten u n d Lehrer Glaubens- u n d Gewissenspflichten zu erfüllen, i n bezug auf welche sie nächst Gott ihren kirchlichen Vorgesetzten unterstehen. Wie ich eine diese Gewissenspflichten betreffende M i t t e i l u n g auf dem Dienstwege u n d durch staatliche Vorgesetzte an die Lehrer gelangen lassen könnte, ist m i r nicht ersichtlich, umsoweniger, als der Kaiserliche Oberschulrat 6 selbst erklärt, daß der Anschluß an den Allgemeinen Deutschen Lehrerverein, u m den es sich hier handelt, durch die staatliche Gesetzgebung dem freien E r messen der Lehrer anheimgestellt bleibt. Dementsprechend sehe ich mich veranlaßt, den gegen mich erhobenen V o r w u r f eines „Eingriffes i n den Bereich der staatlichen Befugnisse" zurückzuweisen. I m Schlußsatz des dortseitigen Schreibens v o m 1. d. Mts. w i r d die Veröffentlichung desselben i n Aussicht gestellt. Nachdem diese Veröffentlichung bereits, u n d zwar an demselben Tage, an dem es i n meine Hände gelangte, erfolgt ist, trage ich meinerseits k e i n Bedenken, nunmehr auch meine gegenwärtige A n t w o r t der Öffentlichkeit zu übergeben. 6 Der „Kaiserliche Oberschulrat" w a r die für das Reichsland gebildete, dem M i n i s t e r i u m f ü r Elaß-Lothringen zugeordnete, v o m Staatssekretär geleitete oberste Schulbehörde.
X . Die Schulfrage i n Elsaß-Lothringen
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Nr. 82. Briefwechsel zwischen dem Kaiserlichen Statthalter Graf Wedel und Bischof Fritzen, Straßburg v o m 9./10. Januar 1910 (Archiv für katholisches Kirchenrecht, 90, 1910, S. 565 ff.) — Auszug —
a) Schreiben des Grafen Wedel an Bischof Fritzen v o m 9. Januar 1910 Euere Bischöfliche Gnaden haben dem H e r r n Staatssekretär auf sein, den Anschluß der elsaß-lothringischen Elementarlehrer an den Deutschen L e h rerverein betreffendes Schreiben v o m 1. d. Mts. u n t e r m 4. d. Mts. eine A n t w o r t zugehen lassen. Dieselbe enthält allgemeine Ausführungen über das Verhältnis nicht n u r der katholischen Lehrer, sondern auch der katholischen Beamten überhaupt zu den katholischen Kirchenbehörden. Da ich diese auf alle katholischen Inhaber eines öffentlichen Amtes sich erstreckenden A u s führungen als zutreffend nicht anzuerkennen vermag, sehe ich mich als oberster Chef der Landesverwaltung veranlaßt, meinerseits Euer Gnaden folgendes zu erklären: Nach den Ausführungen des i n Elsaß-Lothringen geltenden Staatskirchenrechts erstrecken sich die amtlichen Befugnisse der geistlichen Behörden ausschließlich auf solche Angelegenheiten, die dem religiösen oder kirchlichen Gebiete angehören. M i t diesen Grundsätzen aber vermag ich die v o n Euer Gnaden an jeden einzelnen katholischen Lehrer gerichtete Mitteilung, die sich als eine i n Ausübung des bischöflichen Amtes erfolgte Kundgebung kennzeichnet, nicht i n Einklang zu bringen. Ich muß gegen die Beanspruchung einer solchen Befugnis umso ernstere Verwahrung einlegen, w e i l ihre Anerkennung die katholischen Beamten des Landes bei der Ausübung ihrer dienstlichen Pflichten u n d staatsbürgerlichen Hechte n u r zu leicht i n Gewissenskonflikte treiben könnte. Der Anschluß der elsaß-lothringischen Lehrer an den Deutschen Lehrerverein ist weder eine religiöse noch eine kirchliche Angelegenheit; es handelt sich dabei vielmehr u m Fragen, die die Berufstätigkeit u n d die Standesinteressen der Lehrerschaft als solcher betreffen. Eine derartige Angelegenheit aber fällt i n das Gebiet der Staatshoheit. Die elsaß-lothringische Regierung hatte keinen Anlaß, den B e i t r i t t der Lehrer des Landes zu dem Deutschen Lehrerverein zu beanstanden, was übrigens auch i n keinem Bundesstaat geschehen ist. Es ist nicht meines Amtes, f ü r den Deutschen Lehrerverein einzutreten; die Behauptung aber, daß er Bestrebungen gegen die katholische Religion verfolge, ist nach m e i ner Kenntnis unzutreffend, w i e sich denn auch unter seinen w e i t über 100 000 Mitgliedern viele tausend katholische Lehrer befinden. I m Übrigen w i r d das Wesen der Schule nicht durch die Beschlüsse eines irgendwie gearteten Lehrervereins bestimmt, sondern es ist der staatlichen Gewalt v o r behalten, die Angelegenheiten des Unterrichts i m Verein m i t den verfassungsmäßig berufenen Faktoren zu regeln,
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Die grundsätzliche Auffassung, auf der die Ausführungen des dortseitigen Schreibens beruhen, müßte, meines Erachtens, zu unhaltbaren Zuständen führen. Es w ü r d e n die kirchlichen Behörden daraus das Recht ableiten k ö n nen, Lehrern u n d Beamten nicht n u r i n außerdienstlichen, sondern auch i n dienstlichen Angelegenheiten, sofern nur ein mittelbares oder vermeintliches kirchliches Interesse geltend gemacht werden könnte, Verhaltungsmaßregeln zu erteilen, was einen direkten Eingriff i n die dem Staate ausschließlich zustehende Disziplin seiner Beamten bedeuten würde. Ich k a n n bei dieser Gelegenheit mein lebhaftes Bedauern darüber nicht unterdrücken, daß Euere Gnaden sich bewogen gefunden haben, als M i t t e l zur E i n w i r k u n g auf die katholischen Lehrer sich eines A r t i k e l s des „Schulfreund" zu bedienen, dessen schroffe Ausfälle gegen die dem Anschluß an den Deutschen Lehrerverein geneigten elsaß-lothringischen Lehrer als eine Verunglimpfung der letzteren u n d als eine Schädigung ihres Ansehens sich darstellen. Wie Euer Gnaden sich versichert halten dürfen, daß die Regierung es stets als ihre Pflicht erachten w i r d , die durch das geltende Staatskirchenrecht gewährleisteten Rechte u n d Befugnisse der kirchlichen Behörden nicht n u r uneingeschränkt anzuerkennen, sondern auch v o l l zu unterstützen, ebenso darf ich erwarten, daß die letzteren es sorgfältig vermeiden werden, die Grenzen zu überschreiten, die jenes Staatskirchenrecht zwischen der K o m petenz der staatlichen u n d kirchlichen Behörden gezogen hat. D e m so erwünschten ungetrübten Frieden zwischen staatlicher u n d kirchlicher Obrigkeit w i r d dadurch sicher am besten gedient sein.
b) Schreiben des Bischofs Fritzen an Graf Wedel v o m 10. Januar 1910 Eurer Exzellenz beehre ich mich auf das gefällige Schreiben v o m 9. d. Mts. . . . ganz ergebenst zu erwidern, daß ich v o n dem I n h a l t desselben geziemend Kenntnis genommen habe. Ich stehe nicht an, bereitwilligst zu erklären, daß ich die Förderung des friedlichen Zusammenwirkens der beiden Gewalten zum Wohle des Vaterlandes als eine der vornehmsten Pflichten meines A m tes erachte u n d daß insbesondere meiner M i t t e i l u n g an die katholischen Lehrer durchaus nicht die Absicht zugrunde lag, auf die staatlichen Befugnisse überzugreifen. Ich gestatte m i r übrigens die Aufmerksamkeit Eurer Exzellenz darauf hinzulenken, daß die i n meinem Schreiben v o m 4. d. Mts. ausgesprochene Auffassung v o n dem Verhältnis aller K a t h o l i k e n zum kirchlichen H i r t e n - u n d Lehramt nicht etwa bloß meine privatpersönliche M e i nung, sondern die offizielle dogmatische Lehre der katholischen Kirche darstellt. Eine Gefahr f ü r die Disziplin der Beamten ihren Vorgesetzten gegenüber k a n n sich daraus umsoweniger ergeben, als die Lehre über die Standespflichten, die einen wesentlichen Bestandteil der katholischen Sittenlehre bildet, insbesondere die Beamten zur gewissenhaften E r f ü l l u n g ihrer dienstlichen Obliegenheiten u n d zur Treue gegen die v o n Gott gesetzte Obrigkeit verpflichtet.
X . Die Schulfrage i n Elsaß-Lothringen
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Daß die Möglichkeit gegensätzlicher Auffassungen auf staatlicher u n d kirchlicher Seite gegeben ist, k a n n nicht i n Abrede gestellt werden. Bei beiderseitigem guten W i l l e n u n d freundlichem Entgegenkommen aber werden die Schwierigkeiten i n den einzelnen Fällen auf eine beide Teile zufriedenstellende Weise gelöst werden können, u n d es w i r d m i r w o h l gestattet sein, daran zu erinnern, daß ich i n den 18 Jahren meiner Amtstätigkeit stets i m Sinne des friedlichen Übereinkommens m i t der Regierung g e w i r k t habe. Ich hebe noch hervor, daß meine M i t t e i l u n g an die katholischen Lehrer i n keiner Weise deren dienstliches Verhalten betraf. I n bezug auf den Allgemeinen Deutschen Lehrerverein gestatte ich m i r zu wiederholen, daß, wenn sich auch i n dessen Statuten keine antireligiöse Bestimmungen vorfinden, derselbe tatsächlich doch Tendenzen aufweist, die d i rekt gegen die christliche Religion gerichtet sind. . . . Angesichts dieser Tatsachen steht w o h l außer Zweifel, daß sich der A l l gemeine Deutsche Lehrerverein nicht n u r m i t Fragen befaßt, die sich auf die Berufstätigkeit u n d die Standesinteressen der Lehrerschaft als solchen beziehen, sondern daß er auf dem religiös-kirchlichen Gebiete Bestrebungen an den Tag legt, die den katholischen Glauben aufs schwerste zu gefährden geeignet sind. Ohne irgendwie die bürgerliche Freiheit der Lehrer u n d deren staatsbürgerliche Rechte antasten zu wollen, hatte ich n u r diese antireligiöse Tendenz des Allgemeinen Deutschen Lehrervereins i m Auge, als ich meine M i t t e i l u n g an die katholischen Lehrer richtete, deren B e i t r i t t zu diesem Verein nach meiner Auffassung die schwerste Schädigung für die Orthodoxie des katholischen Religionsunterrichts und somit allerdings auch unabsehbare Schwierigkeiten sowohl für die Schulverwaltung als auch f ü r die kirchliche Behörde befürchten lassen muß. . . .
Nr. 83. Abschließender Briefwechsel zwischen dem Kaiserlichen Statthalter Graf Wedel und Bischof Fritzen, Straßburg v o m 12./13. Januar 1910 (Archiv f ü r katholisches Kirchenrecht, 90, 1910, S. 569 ff.) — Auszug —
a) Schreiben des Grafen Wedel an Bischof Fritzen v o m 12. Januar 1910 . . . Ich erachte e s . . . nicht als meines Amtes, f ü r den Deutschen Lehrerverein Stellung zu nehmen u n d habe i m Hinblick auf m e i n Schreiben v o m 9. d. Mts. keinen Anlaß, m i t Euerer Gnaden über die Tendenzen dieses, i n allen deutschen Bundesstaaten zugelassenen Vereins i n eine Erörterung einzutreten. Z u bemerken aber möchte ich nicht unterlassen, daß den Ortsgeistlichen i n Elsaß-Lothringen auf G r u n d des Gesetzes über das Unterrichtswesen v o m 24. Februar 1908 u n d der zu diesem Gesetze erlassenen Ausführungsbestim-
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
mungen des Ministeriums v o m 2. März 1908, die herkömmliche Aufsicht über den i n der Schule zu erteilenden Religionsunterricht zusteht u n d daß sie befugt sind, etwaige Wahrnehmungen den Kreisschulinspektoren mitzuteilen. M i t Euerer Gnaden b i n ich durchaus der Ansicht, daß etwaige gegensätzliche Auffassungen auf staatlicher u n d kirchlicher Seite durch beiderseitigen guten W i l l e n u n d freundliches Entgegenkommen i n den einzelnen Fällen auf eine beide Teile zufriedenstellende Weise gelöst werden können u n d w i r d die Regierung dazu stets gern die H a n d bieten. A n ihrem i n meinem obenerwähnten Schreiben entwickelten, auf die Gesetze u n d das Staatskirchenrecht gestützten Standpunkte aber muß die Regierung nicht n u r u n bedingt festhalten, sondern sie w i r d denselben gegebenenfalls auch m i t aller Entschiedenheit vertreten. Ich vermag daher auch nach w i e vor nicht anzuerkennen, daß Euerer Gnaden Kundgebung an die katholischen Lehrer i n einer Angelegenheit, welche deren Berufstätigkeit u n d Standesinteressen betraf, die zwischen staatlicher u n d kirchlicher Gewalt gesetzlich gezogenen Grenzen gewahrt hat
b) Schreiben des Bischofs Fritzen an Graf Wedel v o m 13. Januar 1910 . . . Es soll keineswegs i n Abrede gestellt werden, daß die Regierung auch nach den durch das Gesetz, betreffend das Unterrichtswesen, v o m 24. Februar 1908 durchgeführten Änderungen v o n der Absicht beseelt ist, den religiösen Unterricht i n der Volksschule zu wahren; ich darf jedoch bemerken, daß eine sichere Gewähr f ü r Erteilung eines rechtgläubigen Religionsunterrichtes u n d f ü r die Erziehung zum christlichen Leben, die das katholische V o l k auf G r u n d der bestehenden Gesetzgebung von der Schule zu fordern berechtigt ist, i n erster L i n i e i n der gläubigen Überzeugung der Lehrer liegt. Ich begrüße m i t lebhafter Genugtuung die m i t meiner Ansicht übereinstimmende Äußerung Eurer Exzellenz, daß etwaige gegensätzliche Auffassungen auf staatlicher u n d kirchlicher Seite durch beiderseitigen guten W i l len u n d freundliches Entgegenkommen i n den einzelnen Fällen auf eine beide Teile zufriedenstellende Weise gelöst werden können u n d die Regierung dazu stets gern die H a n d biete. Wenn es dann weiter heißt: „ A n ihrem i m obenerwähnten Schreiben entwickelten, auf die Gesetze u n d das Staatskirchenrecht gestützten Standpunkte aber muß die Regierung nicht n u r unbedingt festhalten, sondern sie w i r d denselben gegebenenfalls auch m i t aller Entschiedenheit vertreten", so dürfte es auch m i r nicht verübelt werden, w e n n ich an dem bereits i n meinen Zuschriften v o m 4. u n d 10. d. Mts. zur Genüge dargelegten Standpunkte festhalten muß. Ich k a n n nicht anerkennen, daß ich durch die Warnung an die katholischen Lehrer, bei der ich n u r die religiöse Seite der Frage i m Auge hatte, die Grenzen der bischöflichen Gewalt überschritten habe. Nach diesem beiderseitigen wiederholten Meinungsaustausch, der bei der Verschiedenheit unserer Gesichtspunkte schwerlich zu einem anderen E r -
X I . Die Errichtung der Katholisch-Theologischen Fakultät i n Straßburg
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gebnis i n der Theorie führen konnte, hege ich trotzdem die Hoffnung, daß i n der Praxis, wie es f ü r die Vergangenheit der F a l l war, so auch i n Z u k u n f t unserm Lande der Segen eines ungetrübten religiösen Friedens v o l l u n d ganz erhalten bleiben w i r d . . . .
X I . D i e E r r i c h t u n g der K a t h o l i s c h - T h e o l o g i s c h e n F a k u l t ä t i n Straßburg Neben dem Schulwesen bildete das Hochschulwesen auch in der Wilhelminischen Ära einen Kernpunkt der Beziehungen zwischen Kirche und Staat. Der Rechtsstellung der theologischen Fakultäten und der Theologieprofessoren kam dabei ein besonderes Gewicht zu. In besonderem Sinn stellten diese Fragen sich für die katholisch-theologischen Fakultäten, da die katholische Kirche für deren Besetzung und Lehrplan nach wie vor ein dezisives Votum in Anspruch nahm. Die einzige katholisch-theologische Fakultät, die der Staat im Rahmen der zahlreichen Universitätsneugründungen des Kaiserreichs 1 neu errichtete, war die der Straßburger Universität 2. Der Plan, diese Fakultät zu schaffen, bestand seit 1872. Doch erst 1898 griff der Leiter der Hochschulabteilung im preußischen Kultusministerium Althoff 3 ihn aktiv auf. Um den Widerstand des Straßburger Bischofs Fritzen und der Metzer Bischöfe Fleck und Benzler 4 sowie großer Teile des elsässisch-lothringischen Klerus gegen den Übergang der Priesterausbildung von den bischöflichen Seminaren in Straßburg und Metz auf die Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg zu überwinden, waren direkte Verhandlungen zwischen dem Reich und der Kurie notwendig. Sie wurden auf deutscher Seite von dem damit beauftragten Münchener Philosophen und Zentrumspolitiker Georg Hertling 5, auf vatikanischer Seite von dem Kardinalstaatssekretär Rampolla 6 geführt. 1
Vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 926 ff. Ebenda, S. 958 ff. 3 Friedrich Althoff (1839 - 1908), Jurist, 1870 A d v o k a t i n Neuwied; 1871 Justitiar u n d Referent f ü r Kirchen- und Schulsachen i m Zivilkommissariat, dann i m Oberpräsidium f ü r Elsaß-Lothringen i n Straßburg; 1872 maßgebend an der Gründung der Reichsuniversität Straßburg beteiligt, an der er neben seiner Verwaltungstätigkeit 1872 ao., 1880 o. Professor für rheinisch-französisches Recht u n d preußisches Zivilrecht wurde; 1882 M i t g l i e d des elsaßlothringischen Staatsrats. Seit Oktober 1882 Referent f ü r Hochschulangelegenheiten i m preuß. K u l t u s m i n i s t e r i u m ; 1897 - 1907 Leiter der A b t e i l u n g f ü r das Universitäts- und höhere Unterrichtswesen. 4 Über die Bischöfe Adolf Fritzen, Ludwig Fleck u n d Willibrord Benzler siehe unten S. 866. 5 Georg Frh. (Graf) v. Hertling (1843 - 1919), 1867 Privatdozent, 1880 ao. Prof. der Philosophie i n Bonn, 1882 o. Prof. i n München; Vertreter der katholischen Staatsphilosophie u n d Soziallehre; 1875 - 9 0 u n d 1896 - 1912 M d R (sozialkonservativer Flügel der Zentrumspartei; 1909 Fraktionsvorsitzender); 1912-17 bayerischer Ministerpräsident; v o m 1. November 1917 bis zum 30. September 1918 Reichskanzler u n d preußischer Ministerpräsident. 6 Siehe Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 885, A n m . 3. 2
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- und Hochschulwesen
Die Verhandlungen dauerten von 1898 bis 19027. Die Reichsleitung hielt in der Instruktion für Hertling an der Stellung der Theologieprofessoren fest, wie sie in den Statuten der theologischen Fakultäten von Bonn und Breslau 8 niedergelegt war (Nr. 84). Die Kurie dagegen forderte unter Berufung auf das in Elsaß-Lothringen fortgeltende französische Konkordat 9 ein Recht des Straßburger Bischofs zur Präsentation der Theologieprofessoren und zu deren Abberufung bei dogmatischen Konflikten (Nr. 85). Erst nachdem die Reichsleitung eingewilligt hatte, daß zur Ausbildung der lothringischen Geistlichen das bischöfliche Seminar erhalten blieb und das bischöfliche Große Seminar in Straßburg für die praktische Ausbildung der elsässischen Theologen beibehalten wurde, kam es am 5. Dezember 1902 zum Abschluß der Konvention über die Errichtung der theologischen Fakultät (Nr. 86 a). Zum Wintersemester 1903/04 nahm die neue Fakultät ihre Tätigkeit auf; an ihre Spitze trat der Kirchenhistoriker und Reformkatholik Albert Ehrhard 10. Die Straßburger Konvention enthielt keine näheren Angaben über die philosophische und historische Ausbildung der katholischen Theologiestudenten. Diese Fragen fanden ihre Klärung in einer vertraulichen Note vom 20. November 1902, die einen integrierenden Bestandteil der Vereinbarung zwischen Staat und Kirche bildete (Nr. 86 b). Erst im Jahr 1912 wurde diese vom Freiherrn v. Hertling unterzeichnete Note öffentlich bekannt 11.
Nr. 84. Konzept für die Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl 12 v o m März 1899 (G. v. Hertling,
Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 2, 1920, S. 224 f.)
1. Die wissenschaftliche Ausbildung der Theologen erfolgt i n Z u k u n f t durch die an der Universität Straßburg zu errichtende katholisch-theologische Fakultät. 7 Vgl. G. v. Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 2 (1920), S. 205 ff.; A.Sachse, Friedrich Althoff und sein Werk (1928), S. 128 ff.; O. Mayer, Die Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg. Ihre Entstehung und Entwicklung (1922), S. 101 ff.; C. Bornhak, Die Begründung der katholischtheologischen Fakultät i n Straßburg (in: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch 12, 1933, S. 249 ff.); E.R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 958 ff.; H.Mussinghoff, Theologische Fakultäten i m Spannungsfeld von Staat und Kirche (1979), S. 104 ff. 8 Staat und Kirche, Bd. I, Nr. 196, 197. 9 Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 2. 10 Albert Ehrhard (1862 - 1940), 1884 kath. Priester, 1888 Professor am Priesterseminar i n Straßburg, 1892 an der Universität i n Würzburg, 1898 i n Wien, 1902 i n Freiburg, 1903 i n Straßburg, 1920 i n Bonn. Seine wichtigsten Schriften sind: Der Katholizismus i m 20. Jahrhundert (1902); Liberaler Katholizismus? (1902); Die Katholische Kirche i m Wandel der Zeiten (1935 - 37). 11 Vgl. G. May, Die Errichtung von zwei m i t K a t h o l i k e n zu besetzenden Professuren i n der philosophischen Fakultät der Universität Straßburg i m Jahre 1902/03 (in: Speculum Juris et Ecclesiarum. Festschrift für W. M. Plöchl, 1967, S. 245 ff.). 12 Diese I n s t r u k t i o n für Hertling enthielt i n der Form einer Punktation die Vorschläge für die abzuschließende Konvention.
X I . Die Errichtung der Katholisch-Theologischen Fakultät i n Straßburg
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2. I n der theologischen Fakultät werden neben den Vertretern der Dogmatik, Kirchengeschichte, M o r a l u n d Exegese auch ein Professor des kanonischen Rechts u n d ein solcher für christliche Philosophie ernannt werden. 3. Die Anstellung der Professoren erfolgt durch die Regierung nach v o r hergegangener Verständigung m i t dem Bischof. 4. W i r d der Nachweis erbracht, daß ein Professor wegen mangelnder Rechtgläubigkeit oder gröblichen Verstoßes gegen die Erfordernisse des priesterlichen Standes zur ferneren Ausübung des Lehramtes als dauernd unfähig anzusehen ist, so w i r d die Regierung darauf Bedacht nehmen, daß ein Ersatz geschaffen w i r d . 5. Die Regierung w i r d i n derartigen Fällen den Professor v o n seiner akademischen Obliegenheit entbinden u n d zugleich darauf h i n w i r k e n , daß seine Beteiligung an den Geschäften der Fakultät aufhört. 6. Sollte die katholisch-theologische Fakultät wegen unvollständiger Besetzung der Lehrstühle außerstande kommen, ihrer Aufgabe gerecht zu w e r den, so ist es dem Bischof unbenommen, die wissenschaftliche Ausbildung der Theologen wieder i m Seminar erfolgen zu lassen.
Nr. 85. Memoire der Kurie über ihre Verhandlungsziele v o m August 1899 (G. ν . Hertling,
Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 2, 1920, S. 251 f.)
1. Daß dem Bischof v o n Straßburg das Recht vorbehalten werde, die N a men der sämtlichen Professoren zu präsentieren, die f ü r die Lehrstühle der theologischen Fakultät zu ernennen wären, und daß dieselben, wenn sie in F u n k t i o n treten, die professio fidei i n der herkömmlichen F o r m abzulegen hätten. 2. Daß es ebenso dem Bischöfe zustehe, die Studienordnung festzustellen, die Lehrbücher zu bestimmen u n d die Lehrtätigkeit der gesamten theologischen Fakultät zu überwachen. 3. Daß, w e n n der Bischof genötigt sein sollte, Professoren von zweifelhafter Gläubigkeit oder nicht tadelloser Moralität die missio canonica für den Unterricht zu entziehen, die Regierung dieselben an der Ausübung der Lehrtätigkeit hindere. 4. Daß außer den Fächern der Dogmatik, der Exegese, der M o r a l u n d der Kirchengeschichte an der Universität neue Lehrstühle für Philosophie, für Geschichte u n d für kanonisches Recht gegründet u n d katholischen Professoren unter den sub 1 - 3 aufgeführten Bedingungen übertragen werden. 5. Daß das gegenwärtige Seminar zu bestehen fortfahre, sowohl u m den Studierenden der Theologie als K o n v i k t zu dienen, als auch f ü r den p r a k tischen Unterricht und die geistliche Ausbildung der Kandidaten des Priesterstandes, 6. Daß der kirchlichen A u t o r i t ä t ausdrücklich das Recht gewahrt bleibe, die Dinge auf ihren früheren Stand zurückzubringen, falls nicht die sämtlichen oben angeführten Bedingungen erfüllt würden.
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Nr. 86. Konvention zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich über die Errichtung der katholisch-theologischen Fakultät in Straßburg a) Die
Konvention
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v o m 5. Dezember 1902 (G. v. Hertling,
Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 2, 1920, S. 303 ff.)
A m 5. Dezember 1902 haben der Staatssekretär des Päpstlichen Stuhles K a r d i n a l Rampolla u n d der Königlich Preußische Gesandte am Päpstlichen Stuhle, Freiherr von Rotenhan 1 4 identische Noten ausgetauscht über den A b schluß einer Konvention, betreffend die Errichtung einer katholisch-theologischen Fakultät an der Kaiser Wilhelms-Universität i n Straßburg. Die Konvention hat folgenden W o r t l a u t : Art. 1. Die wissenschaftliche Ausbildung der angehenden K l e r i k e r der Diözese Straßburg w i r d durch die katholisch-theologische Fakultät erfolgen, welche an der dortigen Kaiser Wilhelms-Universität zu errichten ist. Gleichzeitig w i r d das bischöfliche große Seminar fortbestehen u n d i n Tätigkeit bleiben i n Bezug auf die praktische Erziehung der genannten K l e r i k e r , welche dort die erforderliche Unterweisung auf allen Gebieten erhalten, die sich auf die Ausübung des priesterlichen Amtes beziehen. Art. 2. I n der Fakultät werden namentlich folgende Fächer vertreten sein: 1. Philosophisch-theologische Propädeutik 1 5 ; 2. Dogmatik; 3. Moral; 4. Apologetik; 5. Kirchengeschichte; 6. Exegese des A l t e n Testaments; 7. Exegese des Neuen Testaments; 8. Kanonisches Recht; 9. Pastoraltheologie; 10. Kirchliche Archäologie. Art. 3. Die Ernennung der Professoren erfolgt nach vorherigem Einvernehmen m i t dem Bischof. Die Professoren haben, bevor sie i n F u n k t i o n treten, die professio fidei, den Formeln u n d Regeln der Kirche entsprechend, i n die Hand des Dekans abzulegen. Art. 4. Für das Verhältnis der Fakultät u n d ihrer Mitglieder zu der Kirche und den kirchlichen Autoritäten sind die Bestimmungen maßgebend, welche für die katholisch-theologischen Fakultäten i n Bonn u n d Breslau gelten 1 6 . 13 Französischer Wortlaut (mit etwas abweichender Präambel) i n : Archiv f. kath. Kirchenrecht 83 (1903), S. 116 f.; der oben nach den Erinnerungen von G. v. Hertling wiedergegebene Text stammt aus den A k t e n des Auswärtigen Amts. 11 Wolfram Frh. v. Rotenhan (1845 - 1912), Jurist; seit 1870 i m elsaß-lothringischen Verwaltungsdienst; seit 1876 i m auswärtigen Dienst; 1884 Botschaftsrat i n Paris, 1886 Gesandter i n Buenos Aires; 1890 Unterstaatssekretär i m Ausw. A m t ; 1897 Gesandter i n Bern; 1898 - 1908 preuß. Gesandter beim Heiligen Stuhl. 15 I m französischen Text steht irrtümlicherweise: „ L a propédeutique théologique à la philosophie". 10 Siehe: Staat und Kirche, Bd. I, Nr. 196 f.
X I I . Der Fall Spahn
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Art. 5. W i r d durch die kirchliche Behörde der Nachweis erbracht, daß ein Professor wegen mangelnder Rechtgläubigkeit oder wegen gröblicher V e r stöße gegen die Erfordernisse priesterlichen Wandels zur weiteren Ausübung seines Lehramtes als unfähig anzusehen ist, so w i r d die Regierung für einen alsbaldigen Ersatz sorgen u n d die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, daß seine Beteiligung an den Geschäften der Fakultät aufhört.
b) Note des staatlichen Unterhändlers Graf Hertling an Kardinalstaatssekretär Rampolla v o m 20. November 1902 (Französischer Text: G.May , Die Errichtung von zwei m i t K a t h o l i k e n zu besetzenden Professuren i n der philosophischen Fakultät der Universität Straßburg i m Jahre 1902/03, i n : Speculum Juris et Ecclesiarum. Festschrift f ü r W. M. Plöchl, 1967, S. 269) — Übersetzung i m Auszug — . . . Die Reichsregierung hält es i n gerechter Erwägung der Erfordernisse für die Studenten der Katholisch-Theologischen Fakultät f ü r ihre natürliche Pflicht, daß an der Philosophischen Fakultät der Universität Straßburg ein Professor der Geschichte u n d ein Professor der Philosophie ernannt werden, die der katholischen Religion angehören.
X I I . D e r F a l l Spahn u n d der K a m p f u m d i e „ V o r a u s s e t z u n g s l o s i g k e i t der W i s s e n s c h a f t " Um die stockenden Verhandlungen über die katholisch-theologische Fakultät in Straßburg in Fortgang zu bringen, kamen die beteiligten Regierungsstellen den katholischen Forderungen in einer besonders wichtigen Frage entgegen: Gleichzeitig mit dem Protestanten Meinecke 1 erhielt 1901 der katholische Historiker Martin Spahn2 einen Ruf auf einen neugeschaffenen Lehrstuhl für Geschichte (Nr. 87). Damit hatte die Regierung im Vorgriff auf die in der geheimen Note vom 20. November 19023 formell ausgesprochene Zusage eine erste „katholische Professur" 4 geschaffen, der bald eine zweite folgte: 1
Friedrich Meinecke (1862 - 1954), zunächst i m preuß. Archivdienst; 1896 Privatdozent der Geschichte i n Berlin, 1902 Professor i n Straßburg, 1906 i n Freiburg, 1914 i n Berlin, 1928 emeritiert; 1947 erster Rektor der von i h m m i t begründeten Freien Universität Berlin. 2 Martin Spahn (1875 - 1945), Sohn des führenden Zentrumspolitikers Peter Spahn, 1898 Privatdozent der Geschichte i n Berlin, Anfang 1901 ao. Prof. i n Bonn, Ende 1901 o. Prof. i n Straßburg, 1920 - 45 i n K ö l n ; 1910 - 12 M d R (Ztr.), 1924 - 45 erneut MdR (zunächst DNVP, seit 1933 NSDAP). 3 Oben Nr. 86 b. 4 Der Begriff der „katholischen Professur" meint eine m i t einem K a t h o l i k e n zu besetzende Professur für Philosophie, Geschichte oder Kirchenrecht i n der philosophischen oder juristischen F a k u l t ä t ; die konfessionelle Bindung w i r d m i t den Erfordernissen der Ausbildung katholischer Theologen begründet.
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
auf einen in Straßburg neu errichteten Lehrstuhl 1903 den Bonner Ordinarius Klemens Baumker 5.
für Philosophie
berief sie
Die Berufung Spahns löste in der Straßburger Universität wie darüber hinaus lebhafte Proteste aus6. Am markantesten war der Widerspruch des berühmten Historikers Theodor Mommsen 7, der auf Veranlassung Lujo Bren tanos, des damaligen Rektors der Universität München 8, in die Auseinander Setzung eingriff. In einem Artikel vom 15. November 1901 (Nr. 88) erklärte er, der Lebensnerv der deutschen Universität, nämlich die „Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaftsei durch Spahns Berufung getroffen. In einer Erwiderung suchte der Münchener Philosoph Graf Hertling die konfessionellen Lehrstühle zu rechtfertigen (Nr. 89); Mommsen aber bekräftigte seinen Standpunkt (Nr. 90). Viele weitere Äußerungen schlossen sich an; vor allem der Straßburger Archäologe Adolf Michaelis 9 nutzte den Vorgang zu scharfen Angriffen auf die preußische Hochschulverwaltung (Nr.91) 10. Die Professoren der Straßburger Universität erklärten einstimmig — mit Ausnahme der neu berufenen Meinecke und Spahn — ihre Übereinstimmung mit der Erklärung Mommsens (Nr. 92); in einer eigenen Stellungnahme setzte Spahn sich dagegen zur Wehr, daß die Aufrichtigkeit seiner For scher arbeit in Zweifel geI m F a l l konkordatsrechtlicher Verankerung werden diese „katholischen Professuren" auch „Konkordatsprofessuren" genannt. Von ihnen sind die „ W e l t anschauungsprofessuren" zu unterscheiden, die insbesondere i n der Weimarer Zeit i n philosophischen Fakultäten oder i m Zusammenhang m i t ihnen eingerichtet wurden. Vgl. H. Mussinghoff, Theologische Fakultäten i m Spannungsfeld von Staat und Kirche (1979), S. 109 ff. 5 Klemens Bäumker (1853 - 1924), nach dem Studium der Philosophie, Theologie und Philologie an der Akademie i n Münster 1879 Gymnasiallehrer daselbst; 1883 Professor der Philosophie i n Breslau, 1898 i n Bonn, 1903 i n Straßburg, 1912 i n München (als Nachfolger Hertlings, vgl. oben S. 185, Anm. 5). 6 Vgl. dazu u.a.: Actenstücke über den F a l l Spahn, i n : Kirchliche Actenstücke, Nr. 10 u n d 11, 2 Hefte (1901/02). —Bedenken erhoben sich auch auf katholischer Seite: es wurde bezweifelt, ob m i t der Berufung Spahns den k a tholischen Interessen w i r k l i c h Genüge getan sei; denn Spahn hatte vorübergehend m i t dem Grafen Hoensbroech (1852 - 1923), einem Konvertiten u n d vehementen K r i t i k e r des Ultramontanismus, i n Verbindung gestanden. 7 Theodor Mommsen (1817 - 1903), Jurist, Historiker u n d Philologe, 1848 Professor der Rechtswissenschaften i n Leipzig, 1851 wegen Beteiligung an der freiheitlichen Bewegung entlassen, daraufhin Professor i n Zürich, 1854 i n Breslau; 1858 siedelte er nach B e r l i n über, wo er ab 1861 Professor der Geschichte und 1874 - 95 Sekretär der Akademie der Wissenschaften war. Ber ü h m t w a r er durch seine philologischen Arbeiten ebenso w i e durch seine Geschichtsdarstellungen, vor allem die „Römische Geschichte" (1. Aufl. 1855/56 und 1887), und durch sein politisches Engagement (1873 - 8 2 M. d. preuß. A H ; 1881 - 84 M d R ; zuletzt M. d. Liberalen Vereinigung). 8 Lujo (Ludwig Josef) Brentano (1844 - 1931), Nationalökonom; 1872 ao., 1873 o. Professor i n Breslau, 1882 i n Straßburg, 1888 i n Wien, 1889 i n Leipzig, 1891 i n München. 9 Adolf Michaelis (1835 - 1910), nach Studienaufenthalten i n Italien u n d Griechenland 1861 Privatdozent i n Kiel,, 1862 Professor f ü r Archäologie i n Greifswald, 1865 i n Tübingen, 1874 i n Straßburg. 10 Z u r Verteidigung der Hochschulpolitik Althoffs gegen diese Vorwürfe vgl. beispielsweise W. Foerster, Z u r Anklage gegen die preußischen Universitätszustände, in: Der Lotse, I I , 1901/02, S. 289 ff.
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zogen werde (Nr. 93). Das Grundthema des Konflikts, die Frage nach der „Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft", nahm auch Ernst Troeltsch 11 i n einer Erklärung noch einmal auf (Nr. 94)12. Die Frage, in welchem Verhältnis die freie wissenschaftliche Wahrheitssuche zur Bindung des Wissenschaftlers in seinen persönlichen Überzeugungen stehe, hatte vor allem Theodor Mommsen durch die Wendung, die er den Auseinandersetzungen um den Fall Spahn gegeben hatte, scharf zur Sprache gebracht 13.
Nr. 87. Telegramm Kaiser Wilhelms II. an den Statthalter von Elsaß-Lothringen, den Fürsten Hohenlohe-Langenburg 14 vom 17. Oktober 190115 (Der sogenannte F a l l Spahn, 1. Hälfte [Kirchliche Aktenstücke, 10], 1902, S. 22) Patent für Dr. Spahn von M i r heute vollzogen. Er w i r d gewiß eine v o r treffliche L e h r k r a f t für die Universität werden. Freue Mich, einen der lange gehegten Wünsche Meiner Elsaß-Lothringer haben erfüllen zu können u n d ihnen sowohl als Meinen katholischen Unterthanen überhaupt bewiesen zu haben, daß anerkannt wissenschaftliche Tüchtigkeit auf der Basis von Vaterlandsliebe u n d Treue zum Reich immer zu Nutz und Frommen des Vaterlandes von M i r verwendet w i r d . 11 Ernst Troeltsch (1865 - 1923), nach dem Studium der Theologie und der Philosophie (besonders beeinflußt von Albrecht Ritsehl und Rudolf Hermann Lotze) 1890 Privatdozent i n Göttingen, 1892 ao. Professor für Systematische Theologie i n Bonn, 1894 o. Professor i n Heidelberg (seit 1910 zugleich i n der Philosophischen Fakultät); 1914 Professor der Philosophie in B e r l i n ; 1919-21 i m Nebenamt Unterstaatssekretär für die evangelischen Angelegenheiten i m preuß. Kultusministerium. 12 Besonders bemerkenswert ist i n diesem Zusammenhang auch die Kieler Rektoratsrede Otto Baumgartens (siehe unten S. 708, Anm. 18) vom März 1903 über „Die Voraussetzungslosigkeit der protestantischen Theologie" (Schleswig-Holsteinisches Kirchen- und Schulblatt 1903, Nr. 11 f.). 13 Vgl. G. v. Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 2 (1920), S. 205 ff.; A. Sachse, Friedrich Althoff und sein Werk (1928), S. 136 ff.; L. Brentano, M e i n Leben i m K a m p f u m die soziale Entwicklung Deutschlands (1931), S. 217 ff.; K . Rossmann, Wissenschaft, P o l i t i k und E t h i k (1949); E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. IV, S. 960 ff.; Chr. Weber, Der „ F a l l Spahn", die „Weltgeschichte i n Karakterbildern" und die Görres-Gesellschaft. E i n Beitrag zur Wissenschafts- und Kulturdiskussion i m ausgehenden 19. J a h r hundert, i n : Römische Quartalsschrift 73 (1978), S. 47 ff.; H. Mussinghoff, a. a. O., S. 123 ff. 14 Hermann Fürst zu Hohenlohe-Langenburg (1832 - 1913), Offizier i n w ü r t tembergischem, dann österreichischem, schließlich badischem Dienst (1862 General); seit 1860 M i t g l i e d der w ü r t t . Ersten K a m m e r ; 1871 - 79 M d R ; 1887 1894 Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft; 1894 - 1907 Statthalter i n Elsaß-Lothringen. 15 M i t diesem Telegramm reagierte Wilhelm II. auf den Protest von Professoren der Straßburger Philosophischen Fakultät gegen die Berufung von Spahn. Durch den Vollzug der Ernennung Spahns u n d deren M i t t e i l u n g an den Statthalter schuf Wilhelm II. gegenüber den Protesten einen fait accompli, ohne auf die Gründe des Widerspruchs ausdrücklich einzugehen.
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3. Kap.: Staat u n d Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Nr. 88. Theodor Mommsen, Universitätsunterricht und Konfession v o m November 1901 (Münchener Neueste Nachrichten v. 15. November 1901) Es geht durch die deutschen Universitätskreise das Gefühl der Degradirung. Unser Lebensnerv ist die voraussetzungslose Forschung, diejenige Forschung, die nicht das findet, was sie nach Zweckerwägungen u n d Rücksichtnahmen finden soll und finden möchte, was anderen außerhalb der Wissenschaft liegenden praktischen Zielen dient, sondern was logisch u n d historisch dem gewissenhaften Forscher als das Richtige erscheint, i n ein Wort zusammengefaßt: die Wahrhaftigkeit. — A u f der Wahrhaftigkeit beruht unsere Selbstachtung, unsere Standesehre, unser Einfluß auf die Jugend. A u f i h r r u h t die deutsche Wissenschaft, die das Ihrige beigetragen hat zu der Größe u n d der Macht des deutschen Volkes. Wer daran rührt, der f ü h r t die A x t gegen den mächtigen Baum, i n dessen Schatten u n d Schutz w i r leben, dessen Früchte die Welt erfreuen. E i n solcher Axtschlag ist jede Anstellung eines Universitätslehrers, dessen Forschungsfreiheit Schranken gezogen werden. Abgesehen von den theologischen Fakultäten ist der Konfessionalismus der Todfeind des Universitätswesens. Die Berufung eines Historikers oder eines Philosophen, welcher katholisch sein muß, oder protestantisch sein muß, und welcher dieser seiner Konfession dienstbar sein soll, heißt doch nichts Anderes, als den also Berufenen verpflichten, seiner A r b e i t da Grenzen zu setzen, w o die Ergebnisse einem konfessionellen Dogma unbequem werden könnten, dem protestantischen Historiker verbieten, das gewaltige Geisteswerk des Papstthums i n volles Licht zu setzen, dem katholischen, die tiefen Gedanken und ungeheuere Bedeutung des Ketzerthums u n d des Protestantismus zu würdigen. I n dem kläglichen Armuthszeugniß, das die Konfessionen damit sich selbst ausstellen, wenn sie ihren Anhängern verbieten, Geschichte oder Philosophie bei einem Lehrer anderer Konfession zu hören, u n d gegen etwaige Irrlehren das M i t t e l der Ohrenverstopfung verordnen, liegt zugleich eine der Allgemeinheit drohende Gefahr. I n seinen Anfängen ist der Krebsschaden heilbar; späterh i n ist er es nicht mehr. Möchte jeder junge Mann, den der Universitätsberuf auf diese schwierigen Gebiete lockt, i m m e r u n d vor A l l e m dessen eingedenk bleiben, daß für den echten Erfolg die erste Bedingung der M u t h der Wahrhaftigkeit ist, daß der Fanatiker, der die Wahrheit nicht zu begreifen vermag, nicht an die U n i v e r sität gehört, noch weniger aber Derjenige, der insoweit konfessionell ist, als er dabei zugleich ministeriell bleibt. Gewiß k a n n a u d i er als Gelehrter tüchtige A r b e i t leisten; aber auf die Selbstachtung u n d auf die Achtung seiner Standesgenossen u n d der für den Seelenadel feinfühligen Jugend muß er verzichten. Möglichem Mißverständniß zu begegnen, mag noch hinzugefügt werden, daß hier die Rede ist lediglich von den prinzipiellen Fragen, ob es gerechtfertigt ist, Universitätsprofessuren, außerhalb der theologischen Fakultäten,
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nach konfessionellen Rücksichten u n d m i t konfessionellem Rechtszwang zu vergeben. Wie i n dem einzelnen F a l l der Ernannte sich persönlich zu seiner Konfession stellt, was er als Protestant oder als K a t h o l i k sein w i l l oder sein soll oder sein kann, k o m m t dabei i n keiner Weise i n Betracht. Der Schlag gegen die Universitätsfreiheit bleibt der gleiche, mag er i n der besonderen Anwendung die eine oder die andere Konfession, diese oder jene Richtung treffen. Möchte somit ein Jeder, der bei der Anstellung von Universitätslehrern m i t z u w i r k e n berufen ist, dessen eingedenk bleiben, daß die voraussetzungslose Forschung, das heißt die Ehrlichkeit u n d die Wahrhaftigkeit des Forschers das Palladium des Universitätsunterrichts ist u n d sich hüten vor dem, was nicht verziehen w i r d , vor der Verleitung zu der Sünde w i d e r den heiligen Geist. Die Hoffnung w i r d vielleicht nicht täuschen, daß damit die Gesinnung unserer Kollegen zum Ausdruck gebracht w i r d .
Nr. 89. Erwiderung Georg von Hertlings auf die Erklärung Theodor Mommsens v o m 17. November 1901 (Der sogenannte F a l l Spahn, 2. Hälfte [Kirchliche Aktenstücke, 11], 1902, S. 6 f.) —Auszug 1 8 — . . . I n der Mommsen'schen E r k l ä r u n g nehme ich sogleich u n d abgesehen von allem anderen Anstoß an dem Worte von der voraussetzungslosen Forschung. Wer sich m i t erkenntnis-theoretischen u n d methodologischen Fragen beschäftigt, weiß, daß es eine solche Forschung nicht giebt, sondern unser Forschen u n d Wissen auf zahlreichen Voraussetzungen aufgebaut ist. Die Voraussetzungslosigkeit w i r d zwar wenige Zeilen weiter m i t der Wahrhaftigkeit identifiziert, aber das beseitigt das Schiefe i n der zuerst gewählten A u s drucksweise nicht, u n d zudem schließt die hier von Mommsen i n Anspruch genommene Wahrhaftigkeit i m Zusammenhange m i t den weiteren Ausführungen gegenüber Andersdenkenden den V o r w u r f der Unwahrhaftigkeit ein, gegen welchen ich protestieren muß. Die Erklärung wendet sich dagegen, daß an einer Universität ein Historiker oder ein Philosoph berufen werde, der katholisch sein muß. Bekanntlich schreiben dies die Universitätssatzungen i n Bonn u n d Breslau seit bald hundert Jahren für einen dort anzustellenden Philosophen v o r 1 7 ; für den Historiker ist es i n Bonn durch die sogenannte Raumersche Verordnung vor 16 Hertlings Erklärung hat die Gestalt eines Briefs an Lujo Brentano (oben S. 190, A n m . 8), den damaligen Rektor der Universität München, an der Hertling als Professor der Philosophie lehrte. Diesen Brief übersandte er den „Münchener Neuesten Nachrichten", nachdem diese nicht n u r Mommsens E r klärung, sondern auch eine Zustimmungserklärung von Professoren der M ü n chener Universität veröffentlicht hatten. 17 Vgl. Staat und Kirche, Bd. I, Nr. 196 f. Z u den „Katholischen Professuren" i n Bonn und Breslau vgl. Mussinghoff, a. a. O., S. 109 ff.
13 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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3. Kap.: Staat u n d Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
etwa fünfzig Jahren festgelegt, i n Breslau, wo die gleiche Bestimmung gilt, wahrscheinlich auch. Ich verstehe nicht, w a r u m jetzt i n öffentlichen E r k l ä rungen gegen Maßnahmen u n d Einrichtungen, wie gegen schlimme Neuerungen, grundsätzlich Stellung genommen werden soll, welche seit so langer Zeit an den genannten Universitäten unbeanstandet bestehen u n d i n Geltung sind. Die Mommsensche E r k l ä r u n g legt die Ernennung solcher Professoren dahin aus, daß der also Berufene verpflichtet sei, seiner A r b e i t da Grenzen zu setzen, wo die Ergebnisse einem konfessionellen Dogma unbequem werden könnten. Hiergegen lege ich i n meinem Namen u n d i n dem der m i t m i r auf katholischem Boden stehenden Universitätslehrer entschieden Verwahrung ein. Ich halte mich dazu u m so mehr für berufen, als ich wiederholt öffentlich i n Wort u n d Schrift für die dem katholischen Forscher zustehende Freiheit eingetreten bin. Wo es sich u m die Feststellung von Thatsachen handelt, sind auch für uns ausschließlich die Gesetze der Wissenschaft maßgebend. Niemand denkt daran, zu verlangen, daß irgendwo neben einem protestantischen auch ein katholischer Chemiker etc. angestellt werden solle. Bei Philosophen u n d Historikern aber handelt es sich nicht bloß u m die Feststellung von Thatsachen. Jedermann weiß, daß hier die Persönlichkeit des Forschers und Lehrers m i t i n Frage kommt, zu dieser Persönlichkeit aber gehört ganz wesentlich seine Weltanschauung, seine Stellung zu den religiösen Fragen. Das Verlangen, daß neben protestantischen auch ein katholischer Vertreter dieser Fächer berufen werde, besagt demnach nur, daß an einer Universität auch der katholischen Anschauung i n den Fächern, i n denen der Natur der Sache nach Anlaß und Gelegenheit gegeben ist, Raum verstattet werde. E i n solches Verlangen u n d die Gewährung desselben verstößt daher i n keiner Weise gegen die Würde der deutschen Universitäten und würde gegen die Wahrhaftigkeit n u r dann verstoßen, wenn es Gelehrte gäbe, welche eine solche Berufung annehmen u n d das übertragene A m t ausüben wollten, ohne i n eigener ehrlicher Überzeugung auf dem Boden der katholischen W e l t anschauung zu stehen. . . .
Nr. 90. Replik Theodor Mommsens auf die Erwiderung Georg von Hertlings v o m 24. November 1901 (Der sogenannte F a l l Spahn, 2. Hälfte [Kirchliche Aktenstücke, 11], 1902, S. 8 ff.) — Auszug — . . . Die Voraussetzungslosigkeit aller wissenschaftlichen Forschung ist das ideale Ziel, dem jeder gewissenhafte M a n n zustrebt, das aber keiner erreicht noch erreichen kann. Religiöse, politische, soziale Überzeugungen bringt ein jeder von Haus aus m i t u n d gestaltet sie aus nach dem Maß seiner Arbeitsu n d Lebenserfahrungen; u n d w e n n es auch unsere heilige Pflicht ist, nach dem Verständnis auch der uns entgegenstehenden Anschauungen zu suchen und ihnen nach Möglichkeit gerecht zu werden, — „alles zu verstehen und
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alles zu verzeihen" ist eine Gottähnlichkeit, deren kein Sterblicher sich vermessen w i r d . Es k a n n darum auch dem wahrhaften K a t h o l i k e n daraus kein V o r w u r f gemacht werden, daß seine Weltanschauung und also auch Forschung u n d Lehre i h m durch seinen Glauben beeinflußt w i r d , vorausgesetzt immer, daß er sich selber gegenüber w a h r h a f t i g bleibt und nichts aussagt, was sein V e r stand als falsch erkennt. I n w i e w e i t er durch das Verhältnis zu seiner Kirche gezwungen werden kann, seinen Verstand gefangen zu nehmen, mag hier unerörtert bleiben; es giebt weite wissenschaftliche Gebiete, welche durch dieses Dilemma nicht berührt werden. Wogegen w i r uns wenden, ist keineswegs die Vertretung der katholischen Weltanschauung an den deutschen Universitäten u n d die paritätische Berücksichtigung auch der katholisch gesinnten Gelehrten, w i r wenden uns lediglich gegen die rohe Verkörperung der wissenschaftlichen Parität dadurch, daß man einen Professor anstellt für protestantische und einen anderen für k a tholische Geschichte oder Philosophie oder Sozialwissenschaft. Die Stellung der Konfessionen ist i n dieser Beziehung wesentlich dieselbe wie die der philosophischen, der politischen, der sozialen Parteien. M a n fordert auf diesem Gebiet von den Universitätsverwaltungen eine gewisse Unparteilichkeit. . . . Die Universität ist der große Fechtboden des deutschen Geistes; w i r bekämpfen unsere Gegner außerhalb u n d innerhalb derselben, indeß auf demselben Waffenplatz und m i t gleichen Waffen. Aber ihren Waffenplatz für sich und i h r ungestörtes Eckchen begehren diejenigen K a tholiken, welche derartige katholische Professuren fordern. Würden ihre Interessen m i t etwas mehr Geschick u n d Geist geführt, so w ü r d e n sie die ersten sein, sich derartige Einrichtungen zu verbitten, nicht bloß w e i l sie damit dem K a t h o l i k e n zumuten, ohne Prüfung zu glauben, sondern auch w e i l sie ihre Inferiorität auf all diesen Gebieten damit förmlich u n d offiziell konstatieren. . . . Wenn Herr v. H e r t l i n g auf die Raumerschen (!) Schöpfungen i m preußischen Universitätswesen hinweist als zu Recht bestehend, so ist das Bestehen ja unbestritten, minder aber das Recht. Der Olmützer Vertrag hat auch bestanden, aber nicht zu Recht 1 8 . E i n Schandfleck auf dem preußischen Ehrenschilde k a n n nicht verjähren. Noch mag erwähnt werden, daß die Äußerungen allerdings durch die Straßburger Vorgänge der letzten Zeit veranlaßt worden sind, daß sie aber über den „ F a l l Spahn" keineswegs aburteilen. Ich kenne weder die wissenschaftlichen Leistungen dieses Gelehrten, noch seine Persönlichkeit; ist der M a n n seiner Stellung wert, so ist er sehr zu bedauern. 18 Der i n Garding (Schleswig) geborene Theodor Mommsen, der an der Erhebung i n Schleswig-Holstein i m Jahr 1848 und an den anschließenden Kämpfen beteiligt war, erinnert hier an die Olmützer P u n k t a t i o n v o m 29. November 1850 (die „Schmach von Olmütz"), i n der Preußen u m des Friedens m i t Österreich w i l l e n auf die Erfurter Union verzichtete, sich aus K u r hessen zurückzog und Holstein preisgab (vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. I I , S. 915 ff.).
13*
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Nr. 91. Adolf Michaelis, Das Verhalten der Straßburger philosophischen Fakultät im Falle Spahn v o m November 1901 (Der Lotse, Hamburgische Wochenschrift für deutsche K u l t u r , Jg. II., H. 8, 23. November 1901, S. 225 ff.) — Auszug — . . . 1 9 Der plötzliche Bruch m i t der guten Straßburger Tradition ist nach preußischem Muster, j a allem Anscheine nach unter M i t w i r k u n g der das preußische Universitätswesen leitenden Persönlichkeit 2 0 erfolgt, obschon das preußische K u l t u s m i n i s t e r i u m m i t der reichsländischen Universität offiziell nichts zu schaffen hat. H i e r i n aber liegt ein weiterer G r u n d für die Straßburger Universität, die Neuerung m i t besonderem Mißtrauen aufzunehmen. Es ist außerhalb der akademischen Kreise n u r wenig bekannt, welche grundstürzenden Veränderungen seit neunzehn Jahren i n der V e r w a l t u n g der preußischen Universitäten vorgegangen sind. Das alte Vorschlagsrecht der Fakultäten ist v ö l l i g illusorisch geworden, ihre hergebrachte Selbstbestimmung gänzlich vernichtet; an die Stelle der Fakultäten, als der sachkundigen Berater u n d Antragsteller, sind die zum T e i l der Wissenschaft ganz fernstehenden Juristen am grünen Tisch getreten, die fast unumschränkt das Geschick der preußischen Universitäten u n d damit eines großen Teiles der deutschen Wissenschaft lenken. Mögen auch manche Körperschaften es für zweckmäßig erachten, den Träger dieses neuen Kurses m i t Ehren zu überschütten: an welche deutsche Universität man auch kommt, da hallt es wider von Empörung über dies früher unerhörte Regiment, dessen Schilderung einst das schwärzeste B l a t t i n der Geschichte der preußischen U n i v e r sitäten füllen w i r d . Uberall treten einem Beispiele i n Fülle entgegen, von den dabei beliebten M i t t e l n : Grobheiten, Einschüchterungen, Drohungen, Reverse, die die Freiheit des Berufenen einschränken oder seine Interessen schädigen, Strafprofessuren usw. Von einem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Universitäten u n d der Unterrichtsverwaltung ist k a u m mehr die Rede, bureaukratische Gewalt ist an die Stelle der einst freien und blühenden akademischen Selbstbestimmung getreten. Vestigia terrent. . . . V i e l ernster ist der zweite Punkt, daß nicht ein wissenschaftliches, sondern ein konfessionelles M o t i v die Schöpfung eines neuen Lehrstuhls veranlaßt hat. Denn daß dem so sei, bezeugt, wenn es dessen noch bedürfte, die von dem K u r a t o r der Fakultät gemachte Mitteilung, daß es sich u m eine doppelte Vertretung der neueren Geschichte, für Protestanten u n d für Katholiken, handle. Die philosophische Fakultät i n Straßburg hat bisher niemals nach der Konfession oder Religion ihrer Mitglieder gefragt, ganz i m Einklänge m i t der 19 Der erste Teil der Stellungnahme schildert das i n Straßburg übliche Berufungsverfahren u n d den davon abweichenden Vorgang, der zur Berufung von Meinecke u n d Spahn führte. 20 Nämlich Althoff (vgl. oben S. 185, Anm. 3).
X I I . Der Fall Spahn Regierung. . . . Die Fakultät hier u m Befriedigung der daher überzeugt sein, daß Forderungen der siegreichen
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selbst konnte nicht i m Zweifel sein, daß es sich ultramontanen Begehren handelte, u n d mußte n u r ein entsprechend gefärbter Unterricht die Partei befriedigen könne. . . .
Es giebt keine deutsche Universität, m i t Ausnahme derer, an denen eine katholisch-theologische Fakultät besteht, an welcher der Unterricht i n Geschichte u n d Philosophie konfessionell gespalten wäre. A n jenen Universitäten mag die Rücksicht auf die Ausbildung katholischer Priester eine solche Scheidung nötig machen; wo aber keine solche Rücksicht geboten ist, da gilt, oder galt bisher, i n Deutschland überall die an keine Konfession gebundene wissenschaftliche Forschung als der einzige Gesichtspunkt, der bei der Ausw a h l der Professoren für Geschichte u n d Philosophie entscheidet. Da w i r n u n i n Straßburg, dank dem Widerstande des reichsländischen Klerus u n d des Vatikans, keine katholisch-theologische Fakultät haben 2 1 , so sind die hier errichteten konfessionellen Geschichtsprofessuren ein völliges N o v u m i m gesamten deutschen Universitätswesen u n d schließen die traurige Verurteilung des Geschichtsunterrichts i n sich, für konfessionelle Beschränktheit Schergendienste zu thun, anstatt bloß der Wissenschaft u n d der unbefangenen W a h r heitsforschung zu dienen. Aber dabei bleibt es j a nicht. Die Schüler der k o n fessionellen Geschichtslehrer tragen als Lehrer die gespaltene Lehre weiter i n die Schulen u n d verstärken i n diesen die konfessionelle Spaltung, an deren Uberbrückung zu arbeiten die wissenschaftliche u n d die patriotische Pflicht der Schule sein sollte. Wie lange w i r d es denn noch dauern, bis auch für die Schulen dieselbe Verdoppelung des Geschichtsunterrichts verlangt werden wird? U n d wie w i l l der Staat den Schulen weigern, was er der Hochschule aufgenötigt hat? Schon hört man die Rufer i m Streit diese Forderung v e r künden; k a n n es die Aufgabe des Staates sein, den inneren Riß m i t eigenen Händen zu erweitern? . . . Verlangt denn aber nicht die „ P a r i t ä t " jene doppelte Besetzung? U n d gebietet nicht gerade die „Freiheit der Wissenschaft" eine freie Lehrentfaltung f ü r alle Parteien? Die liberale D o k t r i n u n d der Klerikalismus pflegen diese Fragen m i t j a zu beantworten, die bisherige Universitätspraxis verneint sie, und das m i t vollem Recht. Versteht m a n unter Parität nur das Bestehen zweier theologischer Fakultäten neben einander, so ist dagegen nichts einzuwenden. Sonst aber sind Parität u n d Wissenschaft Begriffe, die gar nichts m i t einander gemein haben. Die Wissenschaft, das voraussetzungslose u n d unbeirrte Forschen nach der Wahrheit, ist ganz unabhängig von der Konfession des Forschers, es k o m m t n u r auf dessen Befähigung u n d W i l l e n zu solchem Forschen an. Diese Befähigung findet sich erfahrungsgemäß sowohl bei Protestanten wie bei Katholiken, w e n n auch bei jenen gemäß dem G r u n d zuge des Protestantismus häufiger; überdies ist anerkanntermaßen die Z a h l wissenschaftlich Strebender überhaupt größer bei den Protestanten als bei den Katholiken. Es k a n n daher nichts Ungereimteres und Ungerechtfertigteres geben als die Forderung, die wissenschaftlichen Lehrstellen müßten zu gleichen Teilen unter beide Konfessionen — von den Israeliten ganz abgesehen — verteilt werden. . . . 21
Der A r t i k e l ist ein Jahr vor der Errichtung der Fakultät geschrieben.
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3. Kap.: Staat und Kirche i m Schul- u n d Hochschulwesen
Nr. 92. Adresse von Straßburger Professoren an Theodor Mommsen v o m Ende November 190122 (Der sogenannte F a l l Spahn, 2. Hälfte [Kirchliche Aktenstücke, 11], 1902, S. 25 f.) Hochverehrter H e r r Kollege! Als Sie vor einigen Wochen für die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung eintraten, haben Sie uns A l l e n so aus der Seele gesprochen, daß jede ausdrückliche Zustimmung zu I h r e m Worte uns überflüssig erschien. Seither hat Ihre mannhafte Kundgebung i n weiten Kreisen der Hochschullehrer begeisterten Dank gefunden, andererseits aber auch Mißverständnis u n d Bekämpfung erfahren. Unter diesen Umständen drängt es auch uns, Ihnen zu sagen, daß w i r Sie w o h l verstanden haben. W i r geben Ihnen die Versicherung, daß i m Ernste der Zeit I h r Wort und das Echo, das es an unsern Hochschulen findet, uns den M u t gestärkt hat und das Gewissen geschärft für jedwede Verfehlung gegen das Ideal der freien, durch Nebenrücksichten nicht gebundenen Forschung. Ihre uns teuere Person gehe uns lange noch rüstig voran auf dem Wege, neben welchem es keinen anderen für die Lehrer unserer Hochschulen giebt 2 3 .
Nr. 93. Erklärung von Martin Spahn zur Straßburger Professorenadresse v o m Ende November 1901 (Der sogenannte F a l l Spahn, 2. Hälfte [Kirchliche Aktenstücke, 11], 1902, S. 26 f.) Den m i r von Ihnen vorgelegten E n t w u r f für ein Schreiben unserer U n i versität an H e r r n Professor Mommsen 2 4 b i n ich zu meinem Bedauern zu unterschreiben nicht i n der Lage. M i t den Worten: „unter diesen Umständen drängt es auch uns, Ihnen zu sagen, daß w i r Sie w o h l verstanden haben", 22 Die Quellensammlung „Der sogenannte F a l l Spahn" enthält außerdem Adressen von Hochschullehrern aus folgenden Universitäten bzw. Technischen Hochschulen, die durchweg der Erklärung Mommsens zustimmen (in der zeitlichen Reihenfolge): München, Heidelberg, Erlangen, Würzburg, K a r l s ruhe, Stuttgart, K i e l , Leipzig, Gießen, Breslau, Marburg, Wien, Graz, Jena, Freiburg, Bonn, Königsberg. Ene Reihe weiterer Adressen blieb unveröffentlicht. W i r beschränken die Wiedergabe auf die Adresse der Professoren der unmittelbar betroffenen Universität. 23 Die E r k l ä r u n g ist von sämtlichen ordentlichen, emeritierten und Honorarprofessoren der Universität Straßburg m i t Ausnahme der beiden neu berufenen Historiker Spahn und Meinecke unterzeichnet. Meinecke hat w o h l aus kollegialer Rücksicht auf Spahn auf die Unterschrift verzichtet. 24 Spahns Schreiben ist an den damaligen Rektor der Universität Straßburg, den evangelischen Theologen Friedrich Spitta (1852 - 1924, Professor für Neues Testament u n d Praktische Theologie i n Straßburg von 1887 - 1919) gerichtet.
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giebt das Schreiben der Veröffentlichung des Altmeisters unserer geschichtlichen Wissenschaft die Deutung, daß sie m i t Rücksicht auf meine Ernennung zum Professor der Geschichte an unserer Universität erfolgt sei. Ob Mommsens Briefe diese Deutung rechtfertigen oder nicht, habe ich nicht zu entscheiden. W o h l aber verpflichtet mich der Versuch dieser Deutung, zu I h r e n Händen ausdrücklich auszusprechen, daß ich i n der „Freiheit der w i s senschaftlichen Forschung", zu der ich durch mein Lehramt an unserer U n i versität verbunden bin, durch mein religiöses Bekenntnis u n d meine auf innerer Überzeugung beruhende Zugehörigkeit zur katholischen Kirche mich i n keiner Weise mehr oder anders beschränkt fühlen kann, wie jeder A n hänger irgend einer anderen Weltanschauung oder auch politischen Auffassung von seiner andersgerichteten Überzeugung i n der Sachlichkeit seiner Forschung berührt w i r d . Ich muß mich daher auf das Entschiedenste gegen die Annahme verwahren, als ob i n meiner Berufung „das Ideal der freien, durch Nebenrücksichten nicht gebundenen Forschung" verletzt sei, es sei denn, daß i n dem m i r unterbreiteten E n t w u r f für eine einzelne, an unserer Universität besonders scharf ausgeprägte Weltanschauung u n d geistige Richtung das Alleinrecht auf den deutschen Universitäten i n Anspruch genommen werden sollte! Andernfalls sollten w i r , die als gläubige K a t h o l i k e n die Ehre der Zugehörigkeit zu einer deutschen Universität als Lebensziel erstreben, zunächst von unseren Kollegen voraussetzen dürfen, daß sie unser W o r t w a h r achten; denn w i r zuerst sind doch zu einem Urteile darüber berufen, ob unser Gewissen es uns erlaubt, einer Gemeinschaft anzugehören, deren Bestand auf der Aufrichtigkeit der Forschung u n d auf der Wahrheit der Lehre beruht u n d deren unversehrte Erhaltung zum Segen des Vaterlandes uns wie ihnen am Herzen liegt 2 5 .
Nr. 94. Ernst Troeltsch, Voraussetzungslose Wissenschaft vom Dezember 1901 (Christliche Welt, 15, 1901, Sp. 1177 ff.; Gesammelte Schriften, Bd. I I , 2. Aufl. 1922, S. 183 ff.) — Auszug — . . . Betrachten w i r den Straßburger F a l l u n d den m i t i h m verbundenen Streit unbefangen, so ist ganz deutlich, daß er ein politisch-kultureller ist. Es ist ein F a l l des uralten, irrationalen Konfliktes von Staat u n d Kirche, genauer von modernem Staat und katholischer Kirche. Die Berufung Spahns ist eine Konzession an die Ansprüche der katholischen Kirche, sei es nun, daß diese Konzession erfolgt ist, w e i l m i t dem Z e n t r u m ein Handel u m bestimmte politische Objekte getrieben wurde, sei es, daß die Reichsregierung den katholischen Untertanen eine solche Rücksicht aus Gründen der Gerechtigkeit u n d B i l l i g k e i t schuldig zu sein glaubte, oder daß sie das Erste m i t 25 I n einer kurzen Erwiderung verwahrte Spitta sich, zugleich i m Namen seiner Kollegen, gegen die „ w i l l k ü r l i c h e Deutung", die Spahn der Straßburger Professorenadresse gegeben habe (Der sogenannte F a l l Spahn, a. a. O., S. 27).
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dem Zweiten vor sich rechtfertigte. Eine solche Konzession ist n u n aber i n Wahrheit eine Konzession an ein Prinzip, das dem modernen deutschen Staat u n d seiner freien Gesittung feindselig ist. Denn die katholische Kirche ist nicht bloß eine religiöse Gemeinschaft, sondern als solche zugleich ein K u l t u r p r i n z i p , das dem kirchlichen Gnadeninstitut als dem höchsten Zweck alle andern menschlichen Zwecke unterordnet u n d einordnet. Dem gegenüber ist der moderne Staat u n d die moderne K u l t u r ein Prinzip der selbständigen Entwicklung der einzelnen Kulturzwecke als autonomer, nach ihrem eigenen Wesen u n d Gesetze zu gestaltender Selbstzwecke, die m i t der Religion sich nach bestem Wissen vertragen mögen, aber nicht kirchlichen Gesichtspunkten untergeordnet werden dürfen. Der selbständigen Entfaltung dieser K u l t u r zwecke dienen vor allem die Universitäten, von denen aus den einzelnen Kulturgebieten die ihnen nötigen Ideen i n immer neuer, selbständiger Durcharbeitung zufließen sollen, u m die geistig leitende Schicht zu erziehen. Unter solchen Umständen ist eine solche Berufung ein Attentat auf das Prinzip des modernen Staates u n d seiner K u l t u r . Eben damit ist auch klar, wie w i r uns zu einem solchen K o n f l i k t zu stellen haben. Bei aller Sympathie für fromme K a t h o l i k e n u n d bei aller Würdigung gelehrter katholischer A r b e i t müssen w i r uns auf die Seite des Staates und der modernen K u l t u r stellen. W i r halten die katholischen Voraussetzungen für falsch und die des modernen Staats für richtig. W i r würden an dem Aste, worauf w i r sitzen, sägen helfen, w e n n w i r derartiges unterstützen oder für gleichgültig erklären wollten. . . . M i t der bloßen Begeisterung für freie u n d voraussetzungslose Wissenschaft kommen w i r . . . nicht aus. . . . V o m reinen Standpunkt der formalen Bedingungen u n d Eigenschaften der Wissenschaft aus können w i r lediglich sagen, daß allerdings die unbedingte Voraussetzungslosigkeit ein unmöglicher regressus i n i n f i n i t u m wäre, daß es aber Sophistik sei, m i t einem derartigen Gedankengang die Bindung an immer unrevidierbare, nicht durch eigene sachliche Notwendigkeit, sondern durch kirchliche A u t o r i t ä t geltende Axiome zu begründen. Die allerdings unumgänglichen Voraussetzungen und A x i o m e der wahren wissenschaftlichen Denkweise müssen revidierbar bleiben u n d können i m m e r n u r durch ihre erklärende und deutende Wirkung, aber nicht durch einen kirchlichen Machtwillen i n Geltung erhalten werden. V o r allem können w i r darauf hinweisen, daß eine von katholischen A x i o m e n aus unternommene Philosophie u n d Historie m i t so viel Einsichten und E r gebnissen zusammenstößt, die von anderen A x i o m e n aus v i e l einleuchtender u n d zwingender gewonnen sind, daß die hartnäckige Ablehnung dieser E i n sichten n u r einer allem wissenschaftlichen Geiste streng entgegengesetzten Verfestigung u n d Unrevidierbarkeit der A x i o m e auf ihrer Seite zugeschrieben werden k a n n . . . . Das aber zeigt uns, wo die Hauptsache u n d der K e r n des Gegensatzes liegt. Er liegt nicht ausschließlich u n d liegt nicht i n letzter L i n i e i n der äußeren Freiheit oder Unfreiheit der Methoden u n d Ergebnisse, sondern i n den beiderseitig leitenden Axiomen. I n der ersteren Hinsicht w i r d der U n t e r schied immer n u r ein gradueller bleiben; hier, bei den Axiomen, ist er ein
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prinzipieller. Der katholische, religiöse u n d sittliche Gedanke selbst m i t seiner moralischen Unfreiheit, m i t seiner prinzipiellen Unmündigkeit u n d seiner Bindung des religiösen Lebens an dingliche, wunderhafte Voraussetzungen göttlicher Kircheninstitute, sakramentaler Wunder u n d inspirierter Schriften, das ist der K e r n der klerikalen Position, und gegen diese A x i o m e muß der K a m p f eröffnet werden durch die Geltendmachung reinerer u n d innerlicherer religiöser und sittlicher Axiome. . . .
Viertes
Kapitel
Kirche u n d Wehrverfassung
I . D i e B e f r e i u n g der G e i s t l i c h e n v o n der W e h r p f l i c h t Eine alte kirchliche Tradition untersagt den Geistlichen den Kriegsdienst Dieses Immunitätsprivileg trat im 19. Jahrhundert in Konflikt mit dem in Preußen und einem Teil der übrigen deutschen Einzelstaaten eingeführten Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht 2. Im Norddeutschen Bund galt nach dem Wehrgesetz von 1867 die allgemeine Wehrpflicht für alle männlichen Staatsangehörigen der bundeszugehörigen Gliedstaaten 3. Im Deutschen Reich erlangte 1870/71 das Wehrgesetz von 1867 und damit der Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht auch Geltung für die neuen Gliedstaaten Bayern , Württemberg, Baden und den südlich des Mains gelegenen Teil von Hessen 4. Das Reichsmilitärgesetz von 1874 sowie die Wehrordnung und die Heerordnung von 1875 (Nr. 95, 96) trugen dem Immunitätsprivileg Rechnung, indem sie in Abweichung vom Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht die Inhaber eines geistlichen Amtes aller mit Korporationsrechten ausgestatteten Religionsgesellschaften, also insbesondere der beiden großen christlichen Kirchen, in Frieden und Krieg vom Dienst mit der Waffe freistellten und ihre militärische Dienstpflicht auf Seelsorge oder Krankenpflege beschränkten. Für Theologie Studenten und für Theologen mit abgeschlossenem Studium, die kein geistliches Amt innehatten, galten diese Befreiungen vom Dienst mit der Waffe ursprünglich nicht. Während die evangelischen Kirchenleitungen wie auch die evangelischen Theologie Studenten einer Ausdehnung der Exemtion vom Wehrdienst über die Inhaber eines geistlichen Amts hinaus
1 Uberblick bei H. Liermann, Wehrpflicht und Kriegsdienst der Pfarrer (RGG 3. Aufl., Bd. V I , Sp. 1558 ff.). 2 Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 242 ff. 3 Norddeutsches Bundesgesetz betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienste („Wehrgesetz") v o m 9. November 1867 (BGBl. 131). 4 Das Wehrgesetz gehörte zu den bei der Reichsgründung 1870/71 als Reichsgesetzen fortgeltenden Norddeutschen Bundesgesetzen; siehe die Aufzählung i n den „Novemberverträgen" m i t Württemberg, Baden u n d Hessen, sowie A r t . 80 des Gesetzes betreffend die Verfassung des Deutschen Bundes v o m 15. November 1870 (BGBl. 64); ferner das Gesetz über die Einführung des Gesetzes des Norddeutschen Bundes betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienste i n Bayern v o m 24. November 1871 (RGBl. 398).
I. Die Befreiung der Geistlichen von der Wehrpflicht
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mehrfach widersprachen, forderte die Zentrumsfraktion des Reichstags eine solche Erweiterung der bisherigen Dispensation. Zunächst dehnte das Gesetz vom 11. Februar 1888 (Nr. 97) die Freistellung vom Wehrdienst auf Theologen beider Konfessionen aus, die auf Grund der Priesterweihe oder der Ordination dem „geistlichen Stand" angehörten, aber noch kein geistliches Amt innehatten (Kaplane, Vikare, Religionslehrer, Hochschullehrer u. a. m.). Sie waren der Ersatzreserve zuzuweisen; damit waren sie von der militärischen Ausbildung oder, wenn sie diese hinter sich hatten, von Reserveübungen befreit. Die Bestimmungen der Wehrordnung erfuhren im November 1888 eine entsprechende Änderung (Nr. 98). Bald darauf dehnte das Gesetz vom 8. Februar 1890 (Nr. 99) die Dienstbefreiung auf katholische Theologiestudenten in Friedenszeiten für die Dauer von sieben Militär jähren (vom Beginn der Dienstpflicht an gerechnet) aus. Schon wenn sie — was in der Regel der Fall war — während der sieben Jahre die der Priesterweihe vorausgehende Subdiakonatsweihe erlangt hatten, war das Gesetz vom 11. Februar 1888 auf sie anzuwenden. In Kriegszeiten entfiel allerdings diese den katholischen Theologiestudenten zugestandene Exemtion vom Dienst mit der Waffe. Die evangelischen Kirchen verzichteten bewußt auf die paritätische Behandlung der Theologiestudenten ihrer Konfession. Wegen des erzieherischen Werts des Wehrdienstes und aus nationalpolitischer Grundhaltung hielten sie vielmehr an der uneingeschränkten Wehrpflicht der evangelischen Theologiestudenten fest. Erst von der Ordination ab galten für evangelische Theologen die Freistellungen des Gesetzes vom 11. Februar 1888. Die evangelischen Kirchenbehörden ließen in aller Regel Theologen nur dann zur Ordination zu, wenn sie ein Jahr gedient hatten oder wenn sie für dienstuntauglich erklärt beziehungsweise der Ersatzreserve oder dem Landsturm zugewiesen worden waren 5. Nähere Bestimmungen über die Zuordnung der Geistlichen zur Militärseelsorge und zur Krankenpflege im Mobilmachungsfall enthielt die geänderte Fassung der Heerordnung vom 2. Juli 1909 (Nr. 100). Sie ging, der Rechtslage entsprechend, davon aus, daß Angehörige des geistlichen Standes nicht zum Dienst mit der Waffe eingezogen werden konnten; sie ließ jedoch ungeklärt, ob sich ordinierte Geistliche im Kriegsfall freiwillig zum Dienst mit der Waffe melden konnten. Die aus dieser Unklarheit während des Ersten Weltkriegs erwachsenen Probleme loerden unten (Nr. 357 bis 365) zu behandeln sein. In der Weimarer Republik entfielen die aus der Kollision des geistlichen Immunitätsprinzips mit dem Grundsatz der staatsbürgerlichen Militärpflichtigkeit entstandenen Fragen infolge der Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht 6. Erst mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht (1935) erhielten sie neue Bedeutung 7. 5 6
Siehe auch H. Mulert, Der Waffendienst der evangelischen Pfarrer (1915). Gesetz über die Abschaffung der Wehrpflicht v o m 21. August 1920 (RGBl.
1608).
7 Wehrgesetz vom 21. M a i 1935 (RGB1.1 375). Z u r gegenwärtigen Rechtslage: § 11 Abs. 1 des Wehrpflichtgesetzes v o m 21. J u l i 1956/28. November 1960 i. d. F. vom 14. Januar 1961 (BGBl. I 29).
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4. Kap.: Kirche u n d Wehrverfassung
Nr. 95. Reichs-Militärgesetz v o m 2. M a i 1874 (Reichsgesetzblatt 1874, S. 45 if.) — Auszug — § 65. Reichs-, Staats- u n d Kommunalbeamte, sowie Angestellte der Eisenbahnen, welche der Reserve oder Landwehr angehören, dürfen für den F a l l einer Mobilmachung oder notwendigen Verstärkung des Heeres hinter den ältesten Jahrgängen der Landwehr zurückgestellt werden, w e n n ihre Stellen selbst vorübergehend nicht offen gelassen werden können u n d eine geeignete Vertretung nicht zu ermöglichen ist. Personen des Beurlaubtenstandes 8 und der Ersatzreserve, welche ein geistliches A m t i n einer m i t Korporationsrechten innerhalb des Bundesgebiets bestehenden Religionsgesellschaft bekleiden, werden zum Dienst m i t der Waffe nicht herangezogen. Außerdem findet auf dieselben die Bestimmung des ersten Absatzes dieses Paragraphen Anwendung.
Nr. 96. Wehrordnung und Heerordnung i n K r a f t gesetzt durch Allerhöchsten Erlaß vom 28. September 1875 — Auszug —
a) Wehrordnung (Κ. v. Helldorff, Dienstvorschriften der Kgl. Preuß. Armee, 4. Aufl. 1879, Bd. I, T e i l 1, S. 29 ff.) Zweiter
Teil:
Kontrollordnung
§13 Nr. 5. Personen des Beurlaubtenstandes, welche ein geistliches A m t i n einer m i t Korporationsrechten innerhalb des Reichsgebietes bestehenden Religionsgesellschaft bekleiden, werden zum Dienst m i t der Waffe nicht herangezogen. Sie werden i m Falle des Bedarfs i m Dienst der Krankenpflege u n d Seelsorge verwandt. Außerdem findet auf sie die Bestimmung Nr. 4 Anwendung (Reichsmilitärgesetz § 65)9. 8 Z u m Beurlaubtenstand gehörten vor allem die Offiziere u n d Mannschaften der Reserve u n d der Landwehr (§ 56 des Reichs-Militärgesetzes). 9 § 13 Nr. 4 bestimmte i n Übereinstimmung m i t § 65 des Reichs-Militärgesetzes, daß Beamte, die der Reserve oder L a n d w e h r angehörten, i m M o b i l machungsfall hinter die letzte Jahresklasse der Landwehr zurückzustellen waren, w e n n ihre Stellen selbst vorübergehend nicht offen gelassen werden konnten und eine geeignete Vertretung nicht zu ermöglichen war. Diese V o r schrift w a r nach der oben wiedergegebenen Bestimmung auf Geistliche entsprechend anzuwenden. '
I. Die Befreiung der Geistlichen von der Wehrpflicht
205
b) Heerordnung (Κ. v. Helldorff, Dienstvorschriften der Kgl. Preuß. Armee, 4. Aufl. 1879, Bd. I, Teil 1, S. 199 ff.) Zweiter Dritter
Abschnitt:
Teil: Landwehr Ordnung
Allgemeine Dienstverhältnisse des Beurlaubtenstandes
der Personen
§ 14 Nr. 9. Geistliche, welche v o m Waffendienst zu befreien sind (Kontrollordnung § 13 Nr. 5), werden auf i h r Ansuchen durch den Infanterie-BrigadeKommandeur zum Sanitätspersonal überführt.
Nr. 97. Gesetz, betreffend Änderung der Wehrpflicht v o m 11. Februar 1888 (Reichsgesetzblatt 1888, S. 11) — Auszug — Art. II § 13 Abs. 6. Der Ersatzreserve überwiesene Personen, welche auf Grund der Ordination oder der Priesterweihe dem geistlichen Stande angehören, sollen zu Übungen nicht herangezogen werden.
Nr. 98. Wehrordnung v o m 22. November 1888 i n der Fassung v o m 22. J u l i 1901 (Reichs-Centralblatt, Beilage zu Nr. 32) — Auszug — §103 Nr. 7. Landsturmpflichtige, welche ein geistliches A m t i n einer m i t Korporationsrechten innerhalb des Reichsgebiets bestehenden Religionsgesellschaft bekleiden, werden nicht zum Dienste m i t der Waffe herangezogen, sondern zur Verwendung i n der Krankenpflege und Seelsorge ausgehoben. § 117 Abs. 4. Der Ersatzreserve überwiesene Personen, welche auf G r u n d der Ordination dem geistlichen Stande angehören, sollen zu Übungen nicht herangezogen werden; auch bleiben Ersatzreservisten, welche die Subdiakonatsweihe erhalten haben, von Übungen befreit.
Nr. 99. Gesetz, betreffend die Wehrpflicht der Geistlichen v o m 8. Februar 1890 (Reichsgesetzblatt 1890, S. 23) Einziger Paragraph. Militärpflichtige römisch-katholischer Konfession, w e l che sich dem Studium der Theologie widmen, werden i n Friedenszeiten während der Dauer des Studiums bis zum 1. A p r i l des siebenten M i l i t ä r jahres zurückgestellt. Haben dieselben bis zu dem vorbezeichneten Zeit-
206
4. Kap.: Kirche u n d Wehrverfassung
punkte die Subdiakonatsweihe empfangen, so werden diese Militärpflichtigen der Ersatzreserve überwiesen u n d bleiben von Übungen frei.
Nr. 100. Heerordnung i n der Fassung vom 2. J u l i 1909 (Amtliche Mitteilungen des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, 1911, Nr. 2) — Auszug — § 36 Nr. 11. Diensttaugliche Geistliche, die gemäß § 118, 5 der Wehrordnung vom Waffendienst zu befreien sind, werden i m Mobilmachungsfall i n der Militärseelsorge oder i n der Krankenpflege verwendet. I n der Militärseelsorge sind zu verwenden: a) Geistliche, die Offiziere des Beurlaubtenstandes sind; ihre Verabschiedung ist zu diesem Zweck Allerhöchsten Ortes nachzusuchen; b) Geistliche, die die Befähigung zum Reserveoffizier besitzen; sie verbleiben i m Beurlaubtenstande ihrer Waffe. Die übrigen Geistlichen werden zum Sanitätspersonal übergeführt und i n der Krankenpflege verwendet. Sie dürfen jedoch auch i n der Militärseelsorge verwendet werden, sofern der Bedarf hierfür aus den unter a und b bezeichneten Personen nicht gedeckt werden kann. Etwaige Anforderungen sind von dem evangelischen Feldpropst der Armee an die Generalkommandos zu richten. Scheiden die unter a u n d b bezeichneten Personen aus dem geistlichen A m t e aus, so ist, sofern sie noch dienstfähig sind, vom Bezirkskommando ihre Verwendung i m Beurlaubtenstande zum Dienst m i t der Waffe herbeizuführen.
I I . D i e preußischen m i l i t ä r k i r c h l i c h e n D i e n s t o r d n u n g e n Die evangelische Militärs e elsorg e war in Preußen durch die Militärkirchenordnung von 18321 geregelt worden; sie behielt während des ganzen 19. Jahrhunderts ihren Bestand. Zur Einrichtung einer selbständigen katholischen Militärseelsorge kam es erst 1845; erst 1868 wurde das Amt des katholischen Feldpropstes geschaffen 1. Nachdem die während des Kulturkampfes aufgehobene katholische Feldpropstei 1888 wiederhergestellt worden war 3, bemühten die staatlichen wie die kirchlichen Stellen sich um die umfassende Neuregelung des Militärkirchenwesens 4. Das Ergebnis der langwierigen Verband1
Staat und Kirche, Bd. I, Nr. 265. Staat und Kirche, Bd. I I , S. 108 ff., Nr. 51. 3 Ebd. S. 550 ff., Nr. 422. 4 Z u den Verhandlungen über die Evangelische militärkirchliche Dienstordnung vgl. H. Rudolph, Das evangelische Militärkirchenwesen i n Preußen (1973), S. 216 ff. 2
I I . Die
ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
207
lungen bildeten die Evangelische militärkirchliche Dienstordnung vom 17. Oktober 1902 (Nr. 101) sowie die Katholische militärkirchliche Dienstordnung vom gleichen Tag (Nr. 102). Die Evangelische militärkirchliche Dienstordnung ( E MD) hob die Militärkirchenordnung von 1832 nicht auf, gab ihr aber in wesentlichem Umfang eine neue Fassung. Die Katholische militärkirchliche Dienstordnung (KMD) wurde in weitgehender Angleichung an das evangelische Gegenstück formuliert. Die Verordnung vom 19. Oktober 1904 (Nr. 103) regelte gesondert die Zugehörigkeit zu den Militärkirchengemeinden. Der preußische Evangelische Oberkirchenrat verfolgte bei den Verhandlungen über die EMD vor allem die Absicht, die Militärseelsorge stärker in die Landeskirche einzugliedern. Doch verfehlte er dieses Ziel. Denn die EMD erhöhte die Selbständigkeit der Militärseelsorge gegenüber den Landeskirchen. Entsprechendes galt auch für das katholische Militärkirchenwesen. Denn die Jurisdiktionsgewalt des katholischen Feldpropstes beruhte auf der direkten Delegation durch den Heiligen Stuhl; sie war also nicht mehr, wie in den Anfangsjahren der katholischen Militärseelsorge, einem Diözesanbischof übertragen, der seinerseits den Feldpropst mit ihrer Wahrnehmung beauftragte 5. Gegenüber den Voraussetzungen, von denen die Militärkirchenordnung von 1832 ausgegangen war, hatten sich schon mit den staatspolitischen Änderungen von 1867/1870 die militärisch-organisatorischen Bedingungen der Militärseelsorge verändert 6. Zum Verband der preußischen Armee innerhalb des Reichsheeres gehörten seit 1867 nicht nur preußische Einheiten, sondern auch die Kontingente aller anderen deutschen Einzelstaaten mit Ausnahme der selbständigen Kontingente von Bayern, Württemberg und Sachsen. Jedoch hatten sowohl die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 wie die Reichsverfassung von 1871 bei der Übernahme der preußischen Militärgesetzgebung für das gesamte Reich die Militärkirchenordnung von 1832 mit Rücksicht auf die Kulturhoheit der Länder ausgenommen 7. Um das preußische Militärkirchenrecht auch für die nichtpreußischen Truppen, die zum preußischen Kontingent gehörten, in Geltung zu setzen, bedurfte es besonderer Vereinbarungen zwischen Preußen und den einzelnen Kontingents Staaten. Derartige Vereinbarungen wurden hinsichtlich der evangelischen Militärseelsorge in der Zeit zwischen der Reichsgründung und der Jahrhundertwende verschiedentlich getroffen 8; nach Erlaß der Evangelischen militärkirchlichen
5 Vgl. das päpstliche Ernennungsdekret für den katholischen Feldpropst Heinrich Vollmar v o m 11. Januar 1904 (lat. T e x t : J. Freisen, Die Jurisdiktion des preußischen katholischen und evangelischen Feldpropstes, i n : Deutsche Zeitschrift f ü r Kirchenrecht 25,1915/16, S. 271 ff. [338 ff.]). 6 Über die Entwicklung der Heeres Verfassung nach 1870 vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 515 ff. 7 A r t . 61 der Bismarckschen Reichsverfassung (Dokumente, Bd. 2, Nr. 218). 8 Genauere Angaben bei Freisen, Die Jurisdiktion, a. a. O., S. 315 f.
208
4. Kap.: Kirche u n d Wehrverfassung
Dienstordnung wurden sie erneuert 9. Als Beispiel für diese in unterschiedlicher Rechtsform erlassenen neuen Festsetzungen ist die erste von ihnen, das badische Kirchengesetz über die Militärseelsorge, wiedergegeben (Nr. 104). Anders als bei der evangelischen Militärseelsorge nahm die Praxis bei der katholischen Militärs e elsorg e stillschweigend die Erstreckung der Jurisdiktionsgewalt des Feldprobstes auf die Staaten, deren Truppen der preußischen Armee eingegliedert waren, an. Obwohl es dafür sowohl kirchen- wie staatsrechtlich an einer formellen Grundlage fehlte, kam es in dieser Frage zu einem stillschweigenden Einvernehmen. Besondere Probleme entstanden mit der Einführung der Militärseelsorge in der deutschen Kriegsmarine. Sie war militärrechtlich eine ausschließliche Reichsangelegenheit; staatskirchenrechtlich war eher an eine Zuständigkeit der Länder zu denken 10. Doch nahm das Reich „kraft Sachzusammenhangs" die Gesamtregelung für sich in Anspruch. Für den evangelischen Bereich erging die Evangelische Marine-Kirchenordnung vom 28. März 1903, die sich im wesentlichen an die EMD von 1902 anschloß; den Auftrag zur Wahrnehmung der Aufgaben eines Marinepropstes erhielt der preußische Feldpropst 11. Kurze Zeit später dehnte die Kurie den Jurisdiktionsbereich des katholischen Feldpropsts auch auf die Μ arine Soldaten aus12. Eine gesonderte katholische Marinekirchenordnung kam nicht zustande; vielmehr wurden die Bestimmungen der KMD auf die Marine analog angewandt. 9 Es handelt sich u m folgende Regelungen: a) Kirchliches Gesetz, die evangelisch-militärkirchlichen Verhältnisse i m Großherzogtum Baden betreffend, v o m 14. Januar 1905 (unten Nr. 104). b) Festsetzungen zur Regelung der evangelischen militärkirchlichen Verhältnisse innerhalb des Großherzogtums Hessen v o m 8. Februar 1906 (Großh. Hess. Reg. Bl. 1906, S. 99 ff.). c) Festsetzungen zur Regelung der evangelischen militärkirchlichen Verhältnisse i m Herzogtum Oldenburg vom 22. Januar 1907 (Gesetz- und Verordnungsblatt f ü r die ev.-luth. Kirche des Herzogtums Oldenburg 1907, S. I f f . ; diese Festsetzungen galten nicht für die Fürstentümer Birkenfeld u n d Lübeck, also nicht für diese E x k l a v e n des Großherzogtums Oldenburg). d) Festsetzungen zur Regelung der evangelischen militärkirchlichen Verhältnisse i m Herzogtum Braunschweig v o m 3. J u l i 1909 (Braunschweig. Gesetz u n d Verordnungs-Sammlung 1909, S. 293 ff.). e) Festsetzungen zur Regelung der evangelischen militärkirchlichen Verhältnisse i m Herzogtum Sachsen-Meiningen v o m 20. Februar 1910 (Sächs.-mein. Reg.-Blatt v o m 19. März 1910; Samml. der Ausschreiben der landesherrlichen Oberbehörden 1910, Nr. 93, S. 625 ff.). Mecklenburg-Schwerin u n d Mecklenburg-Strelitz hielten auch nach Erlaß der E M D an der Selbständigkeit ihres Militärkirchenrechts fest (vgl. Freisen, Die Jurisdiktion, a. a. O., S. 317 ff.). Z u m Ganzen u n d zur Regelung der Militärseelsorge i n den kleineren deutschen Staaten siehe J. Freisen, Das Militärkirchenrecht, S. 310 ff. 10 Vgl. Freisen, Die Jurisdiktion, a. a. O., S. 327 ff.; Rudolph, a. a. O., S. 232 ff. 11 T e x t : Evangelische Marine-Kirchenordnung (EMK), Neudruck, B e r l i n 1908 (Reichs-Marine-Amt). Dort auch die einzelnen Ausführungsverordnungen. 12 Nämlich durch das päpstliche Ernennungsdekret für den Feldpropst Heinrich Vollmar (oben A n m . 5).
I I . Die
ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
209
Für die Truppen in Elsaß-Lothringen galten die militärkirchlichen Bestimmungen der Kontingente, denen sie angehörten (teils die der preußischen, teils die der bayerischen Armee). Für die Schutztruppen in den deutschen Kolonialgebieten kamen die Bestimmungen der militärkirchlichen Dienstordnungen Preußens zur Anwendung, obwohl es dafür an einer formellen Rechtsgrundlage fehlte. Evangelischer Feldpropst der preußischen Armee war seit 1861 P. Thielen 13. Seine Nachfolger waren A. M. Richter u und M. Wolfing 15. Katholischer Feldpropst der preußischen Armee war als Nachfolger des Bischofs Namszanowski 16 von 1888 bis 1903 der Bischof Aßmann17; auf ihn folgten die Bischöfe Vollmar 18 und Joeppen 19.
Nr. 101. Evangelische militärkirchliche Dienstordnung für die preußische Armee vom 17. Oktober 1902 (M. Richter
[Hg.], Evangelische militärkirchliche Dienstordnung, 1903, S. Iff.) — Auszug — A. Die Militär
gemeinden
§ 1. Die zu den Militärgemeinden, insbesondere auch denen der Kadettenhäuser und der sonstigen militärischen Anstalten, gehörigen Personen sind nicht Mitglieder der ordentlichen Orts-Kirchengemeinde u n d tragen zu deren Lasten nicht bei 2 0 . 13 Peter Thielen (1806 - 1887), ev. Theologe, 1831 Garnisonsprediger i n Wesel, 1832 Divisionsprediger i n Düsseldorf, 1845 Militäroberprediger i n Stettin, 1847 i n Koblenz. 1860 wegen der E r k r a n k u n g des Feldpropsts Bollert m i t der Wahrnehmung der Geschäfte beauftragt; v o m 22. J u n i 1861 bis zum 1. Januar 1887 Feldpropst der preuß. Armee, daneben Oberprediger beim Garde- u n d beim I I I . Armeekorps sowie Hofprediger u n d Domherr zu Brandenburg. 14 Adolf Maximilian Richter (1842 - 1908), ev. Theologe, 1868 Divisionsprediger i n Glogau; er nahm am Feldzug 1870/71 teil u n d amtierte bei der Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 am A l t a r . 1873 Divisionspfarrer, 1874 M i l i täroberpfarrer i n Breslau, 1887 - 1905 Feldpropst, seit 1894 zugleich als Oberkonsistorialrat M i t g l i e d des preuß. Oberkirchenrats; seit 1903 W i r k l . Geh. Rat. 15 Max Wölfing (1847 - 1928), ev. Theologe, seit 1872 i m geistlichen A m t ; 1875 Divisionspfarrer i n F r a n k f u r t a. M., 1876 i n Berlin; 1887 Garnisonspfarrer i n Mainz; 1890 Divisionspfarrer i n Posen und Oberpfarrer des V. Armeekorps; 1896 Militäroberpfarrer beim Gardekorps i n Berlin, 1905- 1918 Feldpropst (beurlaubt zum 1. Oktober, aus dem A m t geschieden zum 31. Dezember 1918). 16 Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 109, A n m . 7, ferner S. 550 ff. 17 Ebenda S. 887 Anm. 2. 18 Heinrich Vollmar (1839- 1915), kath. Geistlicher; 1868 M i l i t ä r - K a p l a n ; 1870 Feldgeistlicher, dann M i l i t ä r p f a r r e r i n wechselnden Divisionen; Generalv i k a r des Feldpropstes der preuß. Armee; 1904 - 1914 Feldpropst der preuß. Armee und der Kriegsmarine (Titularbischof von Pergamon). 19 Heinrich Joeppen (1853 - 1927), kath. Geistlicher; 1875 Priesterweihe; 1894 Militärpfarrer i n Wesel, 1908 i n Münster, 1910 Divisionspfarrer i n Dresden; 1914 - 1920 Feldpropst der preuß. Armee u n d der Kriegsmarine (Titularbischof von Cisamus/Kreta). 20 Vgl. A L R Teil I I , T i t e l 11, §§ 278 f. (Staat und Kirche, Bd. I, Nr. 1).
14 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
210
4. Kap.: Kirche u n d Wehrverfassung
§ 2. Die Zugehörigkeit zu den Militärgemeinden regelt sich bis auf weiteres nach den bestehenden Vorschriften 2 1 . § 3. Die Seelsorge i n den Militärgemeinden w i r d von auf Lebenszeit angestellten Militärgeistlichen (Abschnitt B) u n d von auf K ü n d i g u n g angestellten Militärhilfsgeistlichen (Abschnitt F) ausgeübt. I n den Standorten, i n denen k e i n Militärgeistlicher oder Militärhilfsgeistlicher vorhanden ist, w i r d die Militärseelsorge nach den darüber gegebenen besonderen Vorschriften einem Zivilgeistlichen übertragen (Abschnitt G) oder durch einen benachbarten Militärgeistlichen wahrgenommen (§§ 111, 112). I n den i n Abs. 2 gedachten Standorten, i n denen eine Marinegemeinde m i t einem Marinepfarrer besteht, w i r d die Militärgemeinde dieser i n allen Beziehungen angegliedert. I m entsprechenden F a l l k a n n auch eine Marinegemeinde einer Militärgemeinde angegliedert werden. B. Die
Militärgeistlichkeit
1. Im
allgemeinen
§ 4. Zur Militärgeistlichkeit gehören: 1. der Feldpropst der Armee, 2. die Militär-Oberpfarrer, 3. die Divisions- u n d die Garnisonpfarrer, 4. die Kadettenpfarrer u n d die Pfarrer der militärischen Anstalten. 2. Der Feldpropst
der Armee
§ 5. Der Feldpropst der Armee ist: 1. der Vorgesetzte aller anderen Militärgeistlichen, 2. der Vertreter der militärischen Interessen, 3. ausführende Stelle des Kriegsministeriums und des Ministeriums der geistlichen Angelegenheiten i n den militärkirchlichen Angelegenheiten 2 2 . § 6. Die Bestallung des Feldpropstes w i r d von Seiner Majestät dem Kaiser u n d K ö n i g Allerhöchst vollzogen. § 7. K r a f t seines Amtes hat der Feldpropst das Recht und die Pflicht, bei den Zentralbehörden i n allen militärkirchlichen Angelegenheiten zweckdienliche Anregungen zu geben u n d Anträge zu stellen, Mißstände zur Sprache zu bringen u n d von allen zu seiner Kenntniß gelangenden persönlichen und 21 Vgl. die Militärkirchenordnung von 1832, §§ 34 - 37 (Staat und Kirche, Bd. I, Nr. 265). 22 Der Feldpropst hatte gleichzeitig die Stellungen eines Vortragenden Rats i m preußischen K u l t u s m i n i s t e r i u m und eines Mitglieds i m preußischen Evangelischen Oberkirchenrat inne.
I I . Die preußischen militärkirchlichen Dienstordnungen
211
sachlichen Angelegenheiten wichtigerer A r t nach seinem pflichtmäßigen E r messen Anzeige zu erstatten. § 8. Der Feldpropst hat vor dem Erlaß von allgemeinen Verfügungen, deren I n h a l t militärdienstliche Verhältnisse berühren kann, das Einverständniß des Kriegsministeriums einzuholen. § 9. Bei allen feierlichen Handlungen, zu denen er amtlich i m Talar oder i m Dienstrock (§ 60) erscheint, legt der Feldpropst als Zeichen seines A m t s abwechselnd eins der Allerhöchst gestifteten beiden Brustkreuze an. §10. Der Feldpropst bereist alljährlich die Standorte i m Bezirk mehrerer Armeekorps zur Einsicht i n die militärkirchlichen Einrichtungen. Die Bereisung findet i m allgemeinen i n der Weise statt, daß i n einem Zeitraum von sechs Jahren alle Gemeinden einmal besucht werden. Diejenigen Gemeinden, bei denen kein Militärgeistlicher angestellt ist, sind nur zur erstmaligen Kenntniß u n d i n Ausnahmefällen auf besonders zu begründenden A n t r a g i n die Bereisung einzubeziehen. Uber die Ergebnisse Bericht.
seiner Reise erstattet
der
Feldpropst
schriftlich
§11. Dem Feldpropst steht die Weihe der Garnisonkirchen zu, sofern A l l e r höchsten Orts nicht anders befohlen w i r d (vgl. § 12). §12. Der Feldpropst sucht zu einer Dienstreise die Genehmigung des Kriegsministeriums unter Vorlage des Reiseplanes nach. Bei den Reisen zur A b h a l t u n g von außerordentlichen Gottesdiensten u n d bei der alljährlichen Bereisung der Standorte ist er berechtigt, an Stelle eines Dieners einen Militärküster mitzunehmen. §13. Der Feldpropst versammelt alle drei Jahre, soweit ein Bedürfniß vorliegt, die Militär-Oberpfarrer i n B e r l i n zu einer M i l i t ä r - O b e r p f a r r e r Konferenz. Die Verhandlungen sind auf zwei Tage zu beschränken. Der Feldpropst sucht unter Beifügung der Tagesordnung die Genehmigung des Kriegsministeriums nach; dieses benachrichtigt die Generalkommandos. Uber die Verhandlungen erstattet der Feldpropst dem Kriegsministerium schriftlich Bericht. § 14. W i r d dem Feldpropst als solchem von einer i h m vorgesetzten Behörde der A u f t r a g zur Vornahme einer Dienstreise ertheilt, so meldet er dies den anderen i h m vorgesetzten Stellen rechtzeitig vorher 2 3 . N u r i n Ausnahmefällen ist nachträgliche Anzeige oder der A n t r i t t einer Dienstreise ohne vorgängige Genehmigung gestattet. I m letzteren Falle ist gleichzeitig der A n t r i t t der Reise zu melden und sobald als möglich die nachträgliche Genehmigung nachzusuchen. 23 Vorgesetzte Stellen des Feldpropstes waren gleichzeitig das preußische Kriegsministerium, das preußische K u l t u s m i n i s t e r i u m und der Evangelische Oberkirchenrat. 1*
212
4. Kap.: Kirche u n d Wehrverfassung
§15. Der Feldpropst sucht zu einem Urlaub die gemeinschaftliche Genehmigung des Kriegsministers u n d des Ministers der geistlichen Angelegenheiten nach. Gestattet unter besonderen Verhältnissen die Dringlichkeit des Falles die zuvorige Einholung der Urlaubsgenehmigung nicht, so darf der Feldpropst einen Urlaub bis zu 8 Tagen antreten. Er ist jedoch verpflichtet, den vorgesetzten Ministern hiervon sofort Anzeige zu erstatten. 3. Die
Militär-Oberpfarrer
§16. Bei jedem Armeekorps befindet sich ein Militär-Oberpfarrer, der zum Stabe des Generalkommandos gehört. Wegen der Zutheilung einer Gemeinde vgl. § 73. §17. Die Militär-Oberpfarrer führen 1. die Dienstauf sieht über alle Militärgeistlichen innerhalb des Korpsbezirks und stehen zu ihnen wesentlich i n dem Verhältnis eines Superintendenten; sie sind 2. die Vertreter der militärkirchlichen Interessen ihres Amtsbezirks, 3. ausführende Stelle des Generalkommandos u n d des Feldpropstes allen militärkirchlichen Angelegenheiten innerhalb des Korpsbereichs.
in
§18. Die Militär-Oberpfarrer sind bei dem Generalkommando Referenten f ü r alle evangelischen militärkirchlichen Angelegenheiten. §19. Der Amtsbezirk des Militär-Oberpfarrers deckt sich m i t dem Korpsbezirk. Wo die Grenzen des letzteren u n d der Provinz nicht zusammenfallen, t r i t t der Militär-Oberpfarrer i n den Angelegenheiten, die eine Entscheidung des benachbarten Konsistoriums erfordern, dem er nicht angehört, nicht u n m i t telbar m i t diesem, sondern m i t dem betreffenden Militär-Oberpfarrer i n V e r bindung. § 20. Die Vorschriften des § 7 gelten auch für die Militär-Oberpfarrer. A n die Stelle der Zentralbehörden treten das Generalkommando und der Feldpropst. §21. Der Militär-Oberpfarrer bereist alljährlich einen Theil der Standorte des Korpsbezirks zur Einsicht i n die militärkirchlichen Einrichtungen. Die Bereisung findet i m allgemeinen i n der Weise statt, daß i m Laufe von drei Jahren alle Standorte einmal besucht werden. Der Reiseplan ist dem Feldpropst zur Einverständnißerklärung und m i t dieser sodann rechtzeitig dem Generalkommando zur Genehmigung vorzulegen. Die Bestimmung i n § 10 Abs. 3 k o m m t auch für die Reisen der M i l i t ä r Oberpfarrer zur Anwendung.
I I . Die
ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
213
Den Bericht über die Ergebnisse seiner Reise legt der Militär-Oberpfarrer dem Feldpropst durch Vermittelung des Generalkommandos vor. Den Besuch eines Standorts durch den Militär-Oberpfarrer außer der regelmäßigen Reise verfügt oder genehmigt das Generalkommando. Dem Feldpropst ist vorher Anzeige zu erstatten. § 22. Der Militär-Oberpfarrer versammelt alljährlich, soweit ein Bedürfniß vorliegt, die Militärgeistlichen des Korpsbezirks zu einer M i l i t ä r p f a r r e r - K o n ferenz. Die Verhandlungen sind auf einen Tag zu beschränken. Der Militär-Oberpfarrer legt dem Feldpropst die Tagesordnung rechtzeitig vorher zur Einverständnißerklärung vor u n d sucht sodann unter Vorlage dieser u n d der Tagesordnung die Genehmigung des Generalkommandos nach. Die Kadetten- und Anstaltspfarrer des Korpsbezirks holen ihrerseits die Genehmigung zur Betheiligung an der Konferenz bei dem vorgesetzten Befehlshaber (§ 53) ein. Den Bericht über die Verhandlungen legt der Militär-Oberpfarrer Feldpropst durch Vermittelung des Generalkommandos vor.
dem
Gemeinschaftliche Konferenzen der Militärgeistlichen benachbarter Korpsbezirke sollen nicht ausgeschlossen sein, sofern die betheiligten Generalkommandos und der Feldpropst damit einverstanden sind.
4. Die Divisions-
und die Garnisonpfarrer
§23. Die Zahl der Divisions- u n d der Garnisonpfarrer w i r d durch den Reichshaushaltsetat festgesetzt. Ihre Vertheilung auf die einzelnen Divisionen u n d Garnisonen bestimmt das Kriegsministerium. Die Divisionspfarrer sind einer Division, die Garnisonpfarrer einem Gouvernement oder einer Kommandantur zugetheilt 2 4 . I n den Standorten, i n denen kein Garnisonpfarrer vorhanden ist, n i m m t der dienstälteste Militärgeistliche oder der m i t der Militärseelsorge beauftragte Ortsgeistliche die Dienstgeschäfte des Garnisonpfarrers als Beirath des Garnisonältesten i n Angelegenheiten der evangelischen Militärseelsorge wahr. 5. Die Kadettenpfarrer und die Pfarrer militärischen Anstalten
der sonstigen
§24. Der Reichshaushaltsetat bestimmt, bei welchen militärischen Anstalten — Kadettenhäusern, Militär-Erziehungsanstalten, Invalidenhäusern — Anstaltspfarrer angestellt werden. 24 Nämlich einem Festungs-Gouvernement oder einer Standort-Kommandantur.
4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung
214 C. Ernennung,
Einführung 1.
und Versetzung
der Militär
geistlichen
Militär-Oberpfarrer
§25. Die Militär-Oberpfarrer werden vorzugsweise aus hierzu geeigneten, nach ihrem Dienstalter i n Betracht kommenden Militärgeistlichen ergänzt. Bewerbungen von Divisions- oder Garnisonpfarrern u m eine M i l i t ä r - O b e r pfarrstelle sind unzulässig. § 26. Von dem Tode eines Militär-Oberpfarrers macht das Generalkommando alsbald dem Kriegsministerium u n d dem Feldpropst Mittheilung. § 27. Ist eine durch Tod, Ausscheiden oder Versetzung des Inhabers erledigte Militär-Oberpfarrstelle wieder zu besetzen, so berichtet der Feldpropst an den Kriegsminister u n d den Minister der geistlichen Angelegenheiten u n d macht auf Grund vorheriger Verhandlungen m i t den betreffenden Generalkommandos u n d unter Darlegung ihres Ergebnisses seine Vorschläge zur Wiederbesetzung. § 28. Die Bestallungen der Militär-Oberpfarrer werden von Seiner Majestät dem Kaiser u n d K ö n i g Allerhöchst vollzogen. § 29. Das Kriegsministerium theilt i m Einverständniß m i t dem Ministerium der geistlichen Angelegenheiten den Militär-Oberpfarrer einem Generalkommando zu und macht diesem und dem Feldpropst, letzterem unter Z u sendung der Bestallung, von der Ernennung Mittheilung. Der Feldpropst benachrichtigt den Neuernannten. . . . § 31. Die Amtseinführung der Militär-Oberpfarrer erfolgt durch den Feldpropst oder i n dessen Vertretung durch einen benachbarten M i l i t ä r - O b e r pfarrer (vgl. § 12) § 36. Die Versetzung der Militär-Oberpfarrer erfolgt durch den Feldpropst m i t Genehmigung des Kriegsministers und des Ministers der geistlichen A n gelegenheiten. § 37. Vor Stellung des Antrages auf Genehmigung der Versetzung hat der Feldpropst sich des Einverständnisses der i n Betracht kommenden Generalkommandos zu versichern u n d dies i n seinem Bericht zu erwähnen. N u r i n Ausnahmefällen, die besonders zu begründen sind, kann die E i n holung des Einverständnisses unterbleiben. . . . 2. Divisions-
und
Garnisonpfarrer
§ 39. Die Bestallungen der Divisions- u n d der Garnisonpfarrer — m i t Ausnahme des Garnisonpfarrers i n B e r l i n — werden von dem Feldpropst v o l l zogen. Die Bestallung des Garnisonpfarrers i n B e r l i n w i r d durch Seine Majestät den Kaiser und K ö n i g Allerhöchst vollzogen.
I I . Die
ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
215
§ 40. Erachtet der Feldpropst einen Bewerber nach den eingereichten Papieren u n d den von seiner kirchlichen Aufsichtsbehörde einzufordernden Personalakten zum Divisions- oder Garnisonpfarrer für geeignet, so fordert er i h n zu einer Probepredigt i n B e r l i n oder einem angrenzenden Standort auf. Kosten dürfen für die M i l i t ä r v e r w a l t u n g durch A b h a l t u n g der Probepredigt nicht entstehen. §41. Von dem Tode eines Divisions- oder Garnisonpfarrers erstattet die Division, das Gouvernement oder die K o m m a n d a n t u r dem Generalkommando Meldung. Das Generalkommando u n d das Gouvernement B e r l i n machen alsbald dem Kriegsministerium und dem Feldpropst Mittheilung. §42. Ist eine durch Tod, Ausscheiden oder Versetzung des Inhabers erledigte Divisions- oder Garnisonpfarrstelle wieder zu besetzen, so sucht der Feldpropst die Genehmigung des Kriegsministers u n d des Ministers der geistlichen Angelegenheiten zur Ernennung des i n Aussicht genommenen Bewerbers durch einen Bericht nach. Bestehen keine Bedenken, so w i r d die Ernennung genehmigt. Gleichzeitig w i r d der Feldpropst aufgefordert, wegen der Amtseinführung das Erforderliche zu veranlassen, u n d dem zuständigen Generalkommando durch das Kriegsministerium von der Genehmigung Kenntniß gegeben. . . . § 44. Die Amtseinführung der Divisions- und der Garnisonpfarrer geschieht durch den zuständigen Militär-Oberpfarrer. . . . § 45. Die Versetzung der Divisions- u n d der Garnisonpfarrer erfolgt durch den Feldpropst m i t Genehmigung des Kriegsministeriums. . . . 3. Kadettenpfarrer
und Pfarrer
der sonstigen militärischen
Anstalten
§ 46. Die Stellen der Kadettenpfarrer werden aus der Reihe der Divisionsund der Garnisonpfarrer m i t lehrfähigen und erzieherisch beanlagten Geistlichen besetzt. Der Feldpropst stellt bei der Berufung eines Divisions- oder Garnisonpfarrers fest, ob er nach seinen Gaben u n d seinem Lebensgang auch für die besonderen Aufgaben des Kadettenpfarramtes sich eignet und, i m bejahenden Falle, für welche Unterrichtsgegenstände außer der Religion er i n Betracht zu ziehen sein würde. §47. Sobald das Freiwerden einer Kadettenpfarrstelle bevorsteht, t r i t t das Kommando des Kadettenkorps wegen ihrer Wiederbesetzung m i t dem Feldpropst i n Verbindung. Dieser schlägt dem Kommando aus der Zahl der nach § 46 Abs. 2 für geeignet erachteten M i l i t ä r p f a r r e r einen oder gegebenen Falls mehrere unter Beifügung der Personalpapiere, dienstlichen Urtheile und früheren Zeugnisse zur A u s w a h l vor. Dem Kommando des Kadettenkorps bleibt es überlassen, von dem hiernach i n Frage kommenden Geistlichen unter Hinzuziehung des Feldpropstes — am besten i n Groß-Lichterfelde oder Potsdam — als Lehrprobe i n Religion eine
216
4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung
Katechese u n d i m Anschluß hieran eine Lehrprobe i n einem derjenigen Fächer zu fordern, i n denen der Geistliche zu unterrichten sich bereit erklärt hat. §48. Sofern das Kommando des Kadettenkorps m i t dem vorgeschlagenen Geistlichen einverstanden ist, beantragt es dessen Berufung auf dem Dienstwege beim Kriegsministerium. Nach Genehmigung durch das letztere verfügt der Feldpropst die Versetzung zum Kadettenkorps. Die Vorschriften des § 38 Abs. 2, des § 44 Abs. 1 u n d der §§ 34, 35 finden Anwendung. § 49. Die Versetzung eines Kadettenpfarrers i n eine Divisions- oder Garnisonpfarrstelle w i r d i m Einvernehmen m i t dem Feldpropst von dem K o m mando des Kadettenkorps auf dem Dienstwege beim Kriegsministerium beantragt und erfolgt sodann i n entsprechender Weise (§ 48). § 50. Die Stelle des evangelischen Pfarrers am Königlichen M i l i t ä r - K n a b e n Erziehungs-Institut zu A n n a b u r g 2 5 w i r d gleichfalls aus der Reihe der D i v i sions- und der Garnisonpfarrer m i t solchen Geistlichen besetzt, die außer persönlicher L e h r - u n d Erziehungsgabe die für die schulamtliche Thätigkeit des Institutspfarrers erforderliche Kenntniß des Volksschulwesens besitzen. . . . D. Dienstverhältnisse 1. Im
der Militär
geistlichen
allgemeinen
§ 52. Die Militärgeistlichen sind obere Militärbeamte i m Offizierrange und stehen als solche — m i t Ausnahme des Feldpropstes — i n einem doppelten Unterordnungsverhältniß, u n d zwar einerseits zu den ihnen vorgesetzten Militärbefehlshabern, andererseits zu den ihnen vorgesetzten höheren Beamten u n d Behörden. § 53. Vorgesetzte Militärbefehlshaber sind: 1. für die Militär-Oberpfarrer der kommandirende General; 2. für die Divisionspfarrer der Divisionskommandeur u n d der k o m m a n dirende General; 3. für die Garnisonpfarrer der Gouverneur oder Kommandant und der kommandirende General, i n B e r l i n der Gouverneur, i n Potsdam der K o m mandant; 4. f ü r die Kadettenpfarrer der Kommandeur der Anstalt, der K o m m a n deur des Kadettenkorps und der General-Inspekteur des Militär-Erziehungsund Bildungswesens; 25
Annaburg, Krs. Torgau, RegBez. Merseburg, seit 1762 Sitz eines (zunächst kursächsischen, seit 1815 preußischen) Militärknabeninstituts und einer Unteroffiziersvorschule.
I I . Die
ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
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5. für den Pfarrer des Militär-Knaben-Erziehungs-Instituts i n A n n a b u r g der Kommandeur der Anstalt und der Inspekteur der Infanterieschulen; 6. für den Pfarrer am Invalidenhause zu B e r l i n der Gouverneur des I n validenhauses und der kommandirende General des Gardekorps. § 54. Vorgesetzte Beamte oder Behörden der Militärgeistlichen sind: 1. der Feldpropst der Armee, 2. das Kriegsministerium. § 55. Die Militärgeistlichen sind den Vorschriften des Gesetzes, betreffend die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten, v o m 31. März 1873 (R.G.B1. S. 61), nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen unterworfen 2 0 . E. Ausübung 1. Im
der Militärseelsorge allgemeinen
§ 73. Dem i n einem Standort allein stehenden Militärgeistlichen (§ 4 Ziff. 2, 3) liegt die Seelsorge i n der Militärgemeinde des Standortes ob. I n den Standorten, i n denen sich mehrere Militärgeistliche (§ 4 Ziff. 2, 3) befinden, w i r d zur Ausübung der Militärseelsorge jedem von ihnen ein Theil der Militärgemeinde zugewiesen. Die Zuweisung erfolgt durch das Generalkommando, i n B e r l i n — einschließlich der zum Standort B e r l i n gehörigen Schießplätze etc. — durch das Gouvernement, i m Einvernehmen m i t dem Feldpropst. Die Genehmigung des Kriegsministeriums ist n u r erforderlich, durch die Zutheilung der M i l i t ä r v e r w a l t u n g Kosten erwachsen.
sofern
§ 74. Die nach einem Standorte kommandirten Militärpersonen gehören zu dessen Militärgemeinde nur, wenn die mehr als sechsmonatige Dauer des Kommandos von vornherein feststeht. Andernfalls bleiben sie Mitglieder ihrer bisherigen Militärgemeinde. § 75. Die Amtsthätigkeit des Militärgeistlichen beschränkt sich auf die i h m zugetheilte Militärgemeinde. Trauungen, Taufen u n d Begräbnisse außerhalb seiner Gemeinde darf der Militärgeistliche n u r auf G r u n d eines Erlaubnißscheins (Dimissoriale) des zuständigen ( M i l i t ä r - oder Z i v i l - ) Geistlichen (§§ 95, 103, 107) vornehmen. Andererseits ist bei i h m der Erlaubnißschein nachzusuchen, w e n n zu seiner Zuständigkeit gehörige Trauungen, Taufen oder Begräbnisse von einem anderen ( M i l i t ä r - oder Z i v i l - ) Geistlichen vollzogen werden sollen. 26 Es folgen Regelungen über Meldung, Vereidigung, Urlaub, Nebenämter und Nebenbeschäftigungen, Bekleidung, Verheiratung, Übernahme von V o r mundschaften, Teilnahme an politischen Vereinen und Versammlungen, M i l i tärgerichtsbarkeit, Disziplinarbefugnisse, Gebührnisse, Versetzung i n den Ruhestand m i t Pension, Ausscheiden ohne Pension, Ü b e r t r i t t i n ein Z i v i l pfarramt, Dienstweg bei schriftlichen Gesuchen.
218 § 76. Z u m an Beichte der K i n d e r Geistlichen nicht. . . .
4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung Besuch des Gottesdienstes i n anderen Kirchen, zur Theilnahme und heiligem Abendmahl u n d zur Einsegnung (Konfirmation) einschließlich des Vorbereitungsunterrichts bei einem anderen bedarf es einer besonderen Erlaubniß des Militärgeistlichen
§ 79. Von allen zu einer Militärgemeinde gehörigen Personen werden Gebühren für Amtshandlungen (Stolgebühren) von den Militärgeistlichen u n d M i l i t ä r k ü s t e r n nicht erhoben. . . . Opfer bei Trauungen u n d Taufen sowie Entschädigungen für Konfirmandenunterricht u n d Beerdigungen sind, wo sie üblich sind, lediglich freiwillige Gaben. Die Einsammlung u n d die Annahme von Opfern oder Geldspenden f ü r die Geistlichen oder die Kirchenbeamten bei Amtshandlungen irgend welcher A r t , auch bei Beichte oder heiligem Abendmahl, ist sowohl i n der Kirche selbst wie an den K i r c h t h ü r e n i n den Militärgemeinden untersagt. § 80. Der Militärgottesdienst u n d die i n den folgenden Paragraphen aufgeführten kirchlichen Handlungen richten sich nach der Agende für das Heer vom 1. A p r i l 189727. 2.
Militärgottesdienst
§ 81. I n jedem Standort, i n dem ein Militärgeistlicher sich befindet, ist sonntäglich oder doch mindestens so oft Militärgottesdienst abzuhalten, daß i m Laufe eines Monats alle Truppentheile des Standorts daran Theil nehmen können. Die näheren Anordnungen über die regelmäßige Theilnahme der Truppentheile am Militärgottesdienst trifft der Gouverneur etc. A n den Sonntagen, an denen dienstlicher Kirchgang nicht stattfindet, ist unter gewöhnlichen Verhältnissen jedem Soldaten zum freiwilligen Besuch der Kirche Gelegenheit u n d dienstfreie Zeit zu geben. A n den hohen kirchlichen Festen — Weihnachten, Ostern u n d Pfingsten, Neujahrstag, Charfreitag, Himmelfahrtstag, Erntefest, Reformationsfest, Bußu n d Bettag, Todtenfeier —, am Geburtstag Seiner Majestät des Kaisers und Königs und bei außerordentlichen militärischen Feiern findet gleichfalls Militärgottesdienst statt, an dem nach Anordnung des Gouverneurs etc. A b ordnungen sämmtlicher Truppentheile des Standorts T h e i l nehmen. Über das Ausfallen des Militärgottesdienstes unter Ausnahmeverhältnissen befindet der Gouverneur etc. nach A n h ö r u n g des Geistlichen. § 82. Ist eine Garnisonkirche nicht am Ort, so findet der Militärgottesdienst i n einer anderen geeigneten Kirche statt. 27
Die Agende für das Heer (1897) beruhte auf der Agende für die Evangelische Landeskirche (2 Teile, 1895), die eine Revision der Agende von 1829 darstellte (zu i h r : Staat und Kirche, Bd. I, S. 578 f.).
I I . Die
ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
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Sofern ein dauerndes Mitbenutzungsrecht für die Militärgemeinde nicht bereits besteht, ist m i t der Orts-Kirchengemeinde über die Ermiethung oder die dauernde Mitbenutzung ein Vertrag abzuschließen, der der Genehmigung des Kriegsministeriums unterliegt § 83. Der Militärgottesdienst findet i n der Regel Vormittags statt. Die Stunde w i r d ein für alle M a l von dem Gouverneur etc. festgesetzt. I m Falle des § 82 ist eine dem Zivilgottesdienst nicht zu nahe Zeit zu wählen. . . . § 85. Der Hauptgottesdienst an Sonn- und Festtagen darf das Zeitmaß von einer Stunde nicht überschreiten. Bei einer K ä l t e von mehr als 5 Grad folgt i n ungeheizten Kirchen der abgekürzten L i t u r g i e eine Predigt von höchstens 20 M i n u t e n Dauer. § 86. Dem Gemeindegesang beim Militärgottesdienst liegt das M i l i t ä r Gesang- u n d Gebetbuch, das Militärmelodien- u n d das Militärchoralbuch zu Grunde. Das Militär-Gesang- u n d Gebetbuch gehört zur Friedensausrüstung u n d ist von den Truppen i n den eisernen Beständen zu führen. A l l e n Mannschaften w i r d es zum dauernden Gebrauch während der aktiven Dienstzeit unentgeltlich verabreicht. Beim Ausscheiden aus dem aktiven Dienst ist das Gesangbuch zurückzuliefern; doch k a n n es dem Inhaber auf Wunsch gegen Entrichtung von 9 Pf. an die Kasse des Truppentheils belassen werden. . . . §91. Feldgottesdienste für geschlossene Truppentheile werden n u r vor Seiner Majestät oder i n Allerhöchst dessen Namen abgehalten. F ü r die A n ordnungen zu diesem dienstlichen A k t ergehen von F a l l zu F a l l Allerhöchste Entscheidungen. Sonstige Gottesdienste i m Freien sind nur abzuhalten, w e n n ein Bedürfniß hierzu vorliegt, ihre A b h a l t u n g nach den Bekenntnissen getrennt erfolgt und sonst keine Gründe konfessioneller A r t dagegen sprechen. Ihre A n o r d nung steht dem obersten Befehlshaber zu. § 92. Die Anordnung von Nebengottesdiensten — Kindergottesdienst, B i belstunden etc. — bleibt dem Ermessen der Militärgeistlichen oder der V e r abredung unter ihnen überlassen. Kosten dürfen daraus der M i l i t ä r v e r w a l t u n g nicht erwachsen. 3. Heiliges
Abendmahl
§ 93. Die Feier des heiligen Abendmahls m i t vorhergehender Beichte findet i n den Militärgemeinden i m Anschluß an den Sonn- u n d FesttagsGottesdienst, nach den Umständen auch i n besonderen Abendmahlsgottesdiensten viertel- oder halbjährlich, statt. I m letzteren Falle ist die Feier eine Woche vorher bekannt zu machen. Die Kommunikantenlisten sind dem Geistlichen rechtzeitig von den M i l i t ä r behörden u n d Truppentheilen einzureichen u n d von i h m aufzubewahren. . . .
220
4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung 4. Trauungen
§ 95. Der Militärgeistliche u n d der m i t der Militärseelsorge beauftragte Zivilgeistliche ist zuständig zur Vornahme einer Trauung, w e n n der B r ä u t i gam zu der i h m zugetheilten Militärgemeinde gehört (§§ 2, 73). I n allen anderen Fällen darf er die Trauung nur auf G r u n d des Erlaubnißscheins (§§ 75 ff.) des zuständigen ( M i l i t ä r - oder Z i v i l - ) Geistlichen v o r nehmen. § 96. Der Trauung geht die bürgerliche Eheschließung voraus. Als Nachweis dient die Bescheinigung des Standesbeamten über die erfolgte Eheschließung. Die Trauung soll der bürgerlichen Eheschließung möglichst ohne Verzug nachfolgen. §97. Der Trauung geht i n der Hegel ein zweimaliges, auf Ansuchen der Betheiligten ein einmaliges kirchliches Aufgebot voran. Es besteht aus Verkündigung und Fürbitte und erfolgt i m sonntäglichen Hauptgottesdienst nach der Predigt. Das kirchliche Aufgebot ist zu wiederholen, wenn die Trauung nicht innerhalb sechs Monaten nachfolgt. Z u r Vornahme des kirchlichen Aufgebots zuständig ist der für die Trauung zuständige Geistliche (§ 95). Bei Trauungen, die nachweislich keinen Aufschub zulassen, k o m m t das kirchliche Aufgebot auf Wunsch der Betheiligten i n Wegfall. Außerdem k a n n der Militär-Oberpfarrer aus besonderen Gründen (vgl. auch § 78) vom kirchlichen Aufgebot befreien. Hat die Trauung ohne vorheriges kirchliches Aufgebot stattgefunden, so w i r d sie der Gemeinde nachträglich m i t Fürbitte bekannt gemacht. Der Militär-Oberpfarrer ist befugt, auch von dieser Bekanntmachung zu befreien. . . . 5. Taufen § 103. Der Militärgeistliche u n d der m i t der Militärseelsorge beauftragte Zivilgeistliche ist zuständig zur Vornahme einer Taufe, wenn der Vater des Kindes — oder die M u t t e r des unehelichen Kindes — zu der i h m zugetheilten Militärgemeinde gehört (§§ 2, 73). I n allen anderen Fällen darf er die Taufe nur auf Grund des Erlaubnißscheins (§§ 75 ff.) des zuständigen ( M i l i t ä r - oder Z i v i l - ) Geistlichen v o r nehmen. Z u r Taufe eines Kindes aus einer Mischehe ist der Geistliche desjenigen Bekenntnisses zuständig, i n dem das K i n d nach den gesetzlichen Bestimmungen 2 8 erzogen werden soll. . . . 28 I n den älteren preußischen Provinzen galt die Deklaration vom 21. November 1803 (Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 123). Der Rechtszustand i m übrigen Bereich der preußischen M i l i t ä r v e r w a l t u n g w a r sehr vielgestaltig; A r t . 134 des Einführungsgesetzes zum B G B (oben Nr. 1) erhielt diese Verschiedenheiten ausdrücklich aufrecht.
I I . Die
ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
221
§ 104. Nach der jährlichen Rekruteneinstellung stellen die Truppentheile i n geeigneter Weise fest, welche von den eingestellten Mannschaften nicht getauft oder konfirmirt sind und welche von den verheiratheten Rekruten sich nicht haben kirchlich trauen lassen. Die Namen sind dem zuständigen Militärgeistlichen mitzutheilen. Uber den vorläufigen Erfolg ihrer seelsorgerlichen Schritte bei diesen Leuten reichen die Militärgeistlichen jährlich dem Feldpropst eine Nachweisung i n übersichtlicher F o r m ein. Der Feldpropst legt alljährlich dem Kriegsministerium auf G r u n d dieser Übersicht eine Zusammenstellung m i t Begleitbericht vor. 6.
Konfirmandenunterricht
§ 105. Der Konfirmandenunterricht ist mindestens ein Jahr hindurch und zweimal wöchentlich zu ertheilen. Wo örtliche Gründe, insbesondere die Einrichtung des Schulunterrichts, dem i m Wege stehen, w i r d durch den Feldpropst, gegebenen Falls i m E i n vernehmen m i t der zuständigen Kirchen- u n d Schulbehörde, das Geeignete angeordnet. Ebenso steht dem Feldpropst das Recht der Befreiung v o m erforderlichen A l t e r und von der Dauer des Unterrichts i m einzelnen Falle zu. Die Militärgeistlichen sind dafür verantwortlich, daß sämmtliche i m geeigneten A l t e r stehenden Kinder ihrer Gemeinde den Unterricht erhalten. E r forderlichen Falls ist dazu die M i t w i r k u n g der Militärbefehlshaber i n A n spruch zu nehmen. A n dieser Verpflichtung w i r d durch die Vorschrift i n § 76 nichts geändert. Den Abschluß des Unterrichts bildet nach voraufgegangener Prüfung die öffentliche Einsegnung.... 7. Beerdigungen §107. Der Militärgeistliche und der m i t der Militärseelsorge beauftragte Zivilgeistliche ist zuständig zur Vornahme der Beerdigung der zu seiner Gemeinde gehörigen Personen (§§ 2, 73). I n allen anderen Fällen bedarf er des Erlaubnißscheins (§§ 75 ff.) des zuständigen ( M i l i t ä r - oder Z i v i l - ) Geistlichen. Wo Kirchhofsgebühren bestehen, sind sie auch von den Gliedern der M i l i tärgemeinden (§ 2) nach den Begräbnißordnungen (§ 44 Ziff. 3 der GarnisonVerwaltungsordnung) zu entrichten. . . . §110. Die Entscheidung des die Beerdigung anordnenden Militärbefehlshabers darüber, ob ein Selbstmörder m i t militärischen Ehrenbezeugungen zu begraben ist oder nicht, ist dem zuständigen Militärgeistlichen m i t z u theilen.
222
4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung 8. Bereisungen auswärtiger Dienstgänge
Standorte
§111. Diejenigen Standorte, i n denen weder ein Militärgeistlicher noch ein m i t der Militärseelsorge beauftragter Zivilgeistlicher vorhanden ist, werden zur A b h a l t u n g des Gottesdienstes und des heiligen Abendmahls von einem benachbarten Militärgeistlichen oder m i t der Militärseelsorge beauftragten Zivilgeistlichen mehrmals i m Jahre bereist. Die Zahl der Bereisungen w i r d zwischen dem Generalkommando und dem Feldpropst vereinbart u n d bedarf der Genehmigung des Kriegsministeriums. Nicht bereist werden diejenigen Standorte, i n denen n u r einzelne Personen des Soldatenstandes stehen. . . . 9. Vorbereitung
der Rekruten
zur Vereidigung
§115. Der Vereidigung der Rekruten geht eine gottesdienstliche Feier v o r an, bei der die Militärgeistlichen u n d m i t der Militärseelsorge beauftragten Zivilgeistlichen die Rekruten auf die Bedeutung und Heiligkeit des Fahneneides i n feierlicher Weise hinzuweisen haben. Die nachfolgende Vereidigung darf n u r dann i n der Kirche stattfinden, wenn eine Trennung der Mannschaften nach den Bekenntnissen erfolgt. Ohne Trennung der Bekenntnisse ist die Vereidigung an einem geeigneten Platze (Exerzirhaus, Kasernenhof etc.) vorzunehmen. Wo die Verhältnisse es gestatten, k a n n i n letzterem Falle anstatt oder nach der Vorbereitungsfeier i n der Kirche eine feierliche Handlung m i t Ansprachen der Geistlichen beider Bekenntnisse der Vereidigung vorangehen. 10.
Fahnenweihen
§116. F ü r die Weihe der militärischen Fahnen und Standarten ergehen i n jedem einzelnen Falle Allerhöchste Befehle. Eine Weihe der Fahnen von Krieger-, M i l i t ä r - und Begräb:.iißvereinen, von Schützengilden u n d ähnlichen Vereinen m i t militärischem Gepräge darf nicht stattfinden. Die Einsegnung derartiger Vereinsfahnen durch einen Geistlichen ist selbst dann unstatthaft, wenn dieser dabei nicht i m Ornat ist. 11. Seelsorge im Lazareth §117. Regelmäßiger Sonntagsgottesdienst w i r d nur i n denjenigen Lazarethen abgehalten, i n denen besondere Räume zu diesem Zweck bereitgestellt werden können. Der Chefarzt bestimmt die Zeit des Gottesdienstes nach Vereinbarung m i t dem Geistlichen u n d erstattet dem Kommandanten oder Garnisonältesten hiervon Meldung. . . . §118. Die Geistlichen haben die K r a n k e n i m Lazareth auch ohne A u f f o r derung regelmäßig zu besuchen. Die Besuche dürfen jedoch m i t den ärztlichen Krankenbesuchen nicht zusammenfallen....
I I . Die
ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
12. Seelsorge in den militärischen
223
Strafanstalten
§ 120. Diejenigen Militärgeistlichen, denen die Seelsorge i n den m i l i t ä r i schen Strafanstalten (vgl. § 3 Ziff. 1 der Militär-Strafvollstreckungs-Vorschrift) obliegt (§ 73), haben den Militärgefangenen u n d Arrestanten eine besonders sorgfältige seelsorgerische Thätigkeit zu widmen. . . . 13.
Kasernen-Abendstunden
§ 121. Die Militärbefehlshaber haben m i t den Militärgeistlichen und m i t dazu geeigneten m i t der Militärseelsorge beauftragten Zivilgeistlichen dahin i n Verbindung zu treten, daß diese von Zeit zu Zeit i n den Abendstunden zur Pflege christlicher u n d vaterländischer Gesinnung und zur Festigung des Bandes zwischen Seelsorger und Gemeindegliedern Vorträge i n den Kasernen oder sonst geeigneten Räumen abhalten. Die Theilnahme ist den M a n n schaften freizustellen. Wo es angängig ist, haben die Geistlichen auch die Einrichtung von U n t e r offlzier-Familienabenden anzustreben u n d zu fördern, die denselben Zwecken dienen sollen wie die Kasernen-Abendstunden. Kosten dürfen der M i l i t ä r v e r w a l t u n g durch die Kasernen-Abendstunden und Unteroffizier-Familienabende nicht entstehen. 14. Soldatenheime § 122. Die Soldatenheime dienen dem Zweck, i n den Mannschaften Vaterlandsliebe u n d kameradschaftliche Gesinnung zu pflegen u n d zugleich ihnen u n d ihren Familiengliedern Gelegenheit zu einem anregenden, angenehmen und zwanglosen Aufenthalt u n d Verkehr zu geben. I n den Standorten, i n denen Soldatenheime bestehen oder ihre Gründung erwünscht erscheint, sind die Militärgeistlichen zur thatkräftigen M i t w i r k u n g verpflichtet. Kosten dürfen der M i l i t ä r v e r w a l t u n g durch die Einrichtung u n d U n t e r haltung der Soldatenheime nicht erwachsen. 15. Schriftenverbreitung § 123. Die Verbreitung von Schriften i n der Armee findet n u r m i t Genehmigung und unter Verantwortlichkeit der Militärbefehlshaber statt. Religiöse und erbauliche Schriften dürfen außerdem n u r m i t Wissen u n d unter Z u stimmung des zuständigen Militärgeistlichen an die Mannschaften zur V e r k e i l u n g kommen. 16. Geschäftsführung § 124. Jeder Militärgeistliche hat für die ein- u n d ausgehenden dienstlichen Schriftstücke ein Tagebuch (Dienstjournal) zu führen und für den dienstlichen Schriftverkehr übersichtlich geordnete A k t e n anzulegen....
4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung
224 17. Führung
des Kirchenbuchs,
Kirchenbuchs-Auszüge
(Atteste)
§ 125. Für jede Militärgemeinde w i r d ein Militär-Kirchenbuch, bestehend aus Trauungs-, Tauf-, Konfirmanden- und Todten-Verzeichniß (-Register), i n einfacher Ausfertigung geführt F. Die
Militärhilfsgeistlichen
§ 129. Zur Aushilfe i n der Militärseelsorge w i r d i n den Standorten, i n denen die Vermehrung der vorhandenen Divisionspfarrstellen sich nicht oder zur Zeit noch nicht rechtfertigt, eine Entlastung der vorhandenen M i l i t ä r geistlichen aber nothwendig erscheint, die erforderliche u n d v o m Kriegsministerium festzusetzende Anzahl von Militärhilfsgeistlichen angestellt. Dasselbe geschieht i n den Standorten, i n denen das vorhandene Bedürfniß die Anforderung einer Divisionspfarrstelle nicht oder zur Zeit noch nicht rechtfertigt, die Beauftragung eines Zivilgeistlichen m i t der Militärseelsorge aber unthunlich oder undurchführbar erscheint. § 130. Die Militärhilfsgeistlichen werden gegen eine v o m Kriegsminister i u m festzusetzende laufende Entschädigung auf K ü n d i g u n g angestellt. Die Anstellung und K ü n d i g u n g erfolgt durch den Feldpropst m i t Genehmigung des Kriegsministeriums. Der Feldpropst benachrichtigt das Generalkommando von der Anstellung und Kündigung. . . . G. Die mit der Militär se elsorg e beauftragten
Zivilgeistlichen
§ 133. Die Beauftragung eines Zivilgeistlichen m i t der Militärseelsorge i n einem Standort erfolgt auf A n t r a g des Generalkommandos durch die k i r c h l i che Anstellungsbehörde des Geistlichen. Die Beauftragung ist jederzeit w i derruflich. Innerhalb Preußens bedarf es zur Beauftragung der seitens des Konsistoriums nachzusuchenden Genehmigung des Ministers der geistlichen Angelegenheiten. Die Ertheilung der Genehmigung geschieht i m Einverständniß m i t dem Kriegsminister. I n den Bundesstaaten m i t preußischer M i l i t ä r v e r w a l t u n g sind für die Beauftragung von Zivilgeistlichen m i t der Militärseelsorge die etwaigen besonderen Abmachungen — M i l i t ä r - K i r c h e n - K o n v e n t i o n e n 2 9 —, bei deren Nichtvorhandensein die bestehende Übung maßgebend. I m Reichslande 30 erfolgt die Beauftragung durch das Generalkommando. Dem Geistlichen ist es überlassen, sich der Zustimmung seiner kirchlichen Behörde rechtzeitig zu versichern. I m Falle des Abs. 2 benachrichtigt das Kriegsministerium das Generalkommando und den Feldpropst; i m Falle des Abs. 4 benachrichtigt das Gene29 30
Vgl. unten Nr. 104 sowie oben S. 208, Anm. 9. D. h. Elsaß-Lothringen.
I I . Die
ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
225
ralkommando das Kriegsministerium, dieses den Feldpropst von der erfolgten Beauftragung. Die Entbindung einos Zivilgeistlichen von der Militärseelsorge geschieht i n entsprechenden Formen. § 134. Die Ausübung der Militärseelsorge durch die Zivilgeistlichen erfolgt nach den Vorschriften ies Abschnitts E, soweit nicht die für i h r geistliches Hauptamt gegebenen ki: -chlichen Vorschriften entgegenstehen. Die von ihnen zu übernehmenden Verpflichtungen sind i m einzelnen z w i schen dem Generalkon mando und dem Zivilgeistlichen vorher schriftlich zu vereinbaren. §135. M i t der sich ai s §134 Abs. 1 ergebenden Maßgabe sind die Z i v i l geistlichen i n allen die Militärseelsorge angehenden Angelegenheiten den Anordnungen der i n d m §§53, 54 genannten Militärbefehlshaber und Behörden oder Beamten sowie des Militär-Oberpfarrers Folge zu leisten verpflichtet. § 66 Abs. 2 find at entsprechende Anwendung. I n disziplinarer Hinsicht unterstehen die Zivilgeistlichen allein ihrer ordentlichen kirchlichen Aufsichtsbehörde § 136. Für ihre Mühewaltung erhalten die m i t der Militärseelsorge beauftragten Zivilgeistlichen eine angemessene Vergütung, die sich nach der Seelenzahl der Militärgemeinde und den sonstigen besonderen Umständen richtet. . . . H. Die
Militärküster
§ 138. Die Militärküster haben die Aufgabe, dem Militärgeistlichen bei Ausübung der Militärseelsorge Handreichung zu leisten. Den hierauf bezüglichen Aufträgen und Anweisungen haben sie unbedingt nachzukommen. Über die einzelnen Dienstobliegenheiten der Küster erläßt der Feldpropst m i t Genehmigung des Kriegsministeriums eine „ M i l i t ä r k ü s t e r - O r d n u n g " . J. Die Vermögensverwaltung in den Militär gemeinden, ausschließlich deren der Kadettenhäuser und der sonstigen militärischen Anstalten 1. Garnisonkirchen
und
Militär-Begräbnisplätze
§ 147. Die örtliche Verwaltung der Garnisonkirchen und der M i l i t ä r - B e gräbnisplätze liegt den Garnisonverwaltungen nach den Vorschriften des § 44 Ziff. 2 und 3 der Garnison-Verwaltungsordnung ob (vgl. auch §§ 84 und 85 der Garnison-Gebäudeordnung). . . . 2.
Sammlungen
§ 148. Die Veranstaltung von Sammlungen freiwilliger Beiträge (Kollekten) zur Bestreitung kleinerer Bedürfnisse durch Aufstellung von Opferbüchsen (§ 89 Abs. 1) ist gestattet. I n den Standorten, i n denen sich Garnison15 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
226
4. Kap.: Kirche u n d Wehrverfassung
kirchen befinden, fließt der Ertrag der Sammlungen zur Kirchenkasse (§ 153 Abs. 4). I n den übrigen Standorten w i r d der Ertrag durch den dienstältesten Militärgeistlichen oder den m i t der Militärseelsorge beauftragten Ortsgeistlichen vereinnahmt. Das hierüber zu führende Kassenbuch ist alljährlich dem Gouverneur etc. zur Prüfung vorzulegen. Die durch die Opferbüchsen eingesammelten Gelder sind n u r zum Besten der Militärgemeinde, also insbesondere zu wohlthätigen Zwecken oder zur Verschönerung der Kirche und zur Bestreitung außeretatsmäßiger K u l t u s kosten zu v e r w e n d e n . . . . Kirchen- u n d Haussammlungen für allgemeine Zwecke sind i n den M i l i tärgemeinden n u r auf besondere jedesmalige Genehmigung durch das Kriegsministerium gestattet. I h r Ertrag w i r d rechnungsmäßig nicht nachgewiesen. 3.
Garnisonkirchen-Vorstände
§ 149. Das Vermögen der Garnisonkirchen w i r d durch die GarnisonkirchenVorstände verwaltet. Den Kirchenvorständen werden auch die Garnisonkirchen selbst nebst ihrer inneren Einrichtung, den Geräthen u n d allem sonstigen Zubehör zur Benutzung durch die Militärgemeinden von den Garnisonverwaltungen übergeben oder überlassen. Dasselbe gilt hinsichtlich der Militär-Begräbnißplätze, nicht besondere Kirchhofs-Kommissionen bestehen.
soweit für diese
§ 150. Bei jeder Garnisonkirche w i r d ein Kirchenvorstand gebildet Er übernimmt von dem Zeitpunkt ab, an dem i h m die Garnisonkirche übergeben worden ist, für diese u n d alles i h m m i t i h r überwiesene Reichseigenthum neben der Garnisonverwaltung die Mitverantwortlichkeit. Für das seiner V e r w a l t u n g anvertraute Kirchenvermögen trägt der K i r chenvorstand allein die Verantwortlichkeit nach den i n den §§ 152 - 154 gegebenen Bestimmungen. 4. Zusammensetzung
des
Garnisonkirchen-Vorstandes
§ 151. Der Kirchenvorstand besteht aus: a) dem ersten Kirchenvorsteher, zugleich erstem M i t g l i e d der Kassenverwaltung, dessen Stelle der Gouverneur, Kommandant oder Garnisonälteste oder ein von diesen zu bestimmender höherer Offizier des Standorts m i t Ausschluß der Regimentskommandeure e i n n i m m t ; b) dem zweiten Kirchenvorsteher und zweiten Mitgliede der Kassenverwaltung, zu dem ein Militärgeistlicher des Standorts bestimmt w i r d ; c) dem dritten Kirchenvorsteher und Rendanten, dessen Stelle einem v o r aussichtlich dauernd oder doch längere Zeit i n demselben Standort verbleibenden Beamten der M i l i t ä r v e r w a l t u n g übertragen wird.
I I . Die preußischen militärkirchlichen Dienstordnungen
227
Die Kirchenvorsteher müssen dem evangelischen Bekenntniß angehören. Bei solchen Garnisonkirchen, die von den Militärgemeinden beider Bekenntnisse nebeneinander benutzt werden (Simultankirchen), sollen dem Vorstande sowohl ein evangelischer w i e ein katholischer Militärgeistlicher angehören. Eine der Genehmigung des Generalkommandos unterliegende Geschäftsordnung regelt die Betheiligung der Geistlichen an den Geschäften des V o r standes. Die Vorschläge zur B i l d u n g des Kirchenvorstandes unterliegen sowohl bei der ersten Zusammensetzung als beim Wechsel einzelner Mitglieder der Genehmigung des Generalkommandos. Die Geschäfte des Kirchenvorstandes gehören für die Mitglieder zu ihren allgemeinen Dienstpflichten. Eine Vergütung f ü r diese Geschäfte darf m i t Genehmigung des Generalkommandos n u r dem Rendanten am Rechnungsjahresschluß aus den Einkünften der Kirche zugebilligt werden, falls sie nach Bestreitung der Ausgaben der Kirchenkasse hierzu ausreichen. 5. Pflichten
und Verantwortlichkeit
des Kirchenvorstandes
§ 152. I n Bezug auf die gehörige Sicherstellung des Vermögens der Kirche, die pünktliche Einziehung, unverzügliche Niederlegung und sichere Aufbewahrung der Einnahmen i n der Kasse, die rechtzeitige und richtige Leistung der Zahlungen haben sämmtliche Mitglieder des Kirchenvorstandes gleiche Verpflichtungen. Ebenso ist die Mitverantwortlichkeit für die dem Kirchenvorstande übergebene Kirche, den Begräbnißplatz, die Geräthe u n d das sonstige Zubehör eine gemeinsame. Betreffs der Führung der Kassengeschäfte i m allgemeinen sind die Bestimmungen der Kassenordnung für die Truppen zu beachten. § 153. Der erste Kirchen Vorsteher i m besonderen leitet und beaufsichtigt die gesammte Kirchen- u n d Kassenverwaltung. . . . Z u den besonderen Obliegenheiten des zweiten Kirchenvorstehers gehört die Aufsicht über die zur inneren Einrichtung der Kirche dienenden Gegenstände, über sämmtliche Geräthe u n d das sonstige Zubehör. Der Rendant besorgt die Einnahmen und Ausgaben, die Buchführung u n d Rechnungslegung. Die Erträgnisse der Sammlungen (§ 148) vereinnahmt er auf Grund von Einnahmebescheinigungen desjenigen Geistlichen, der die Sammelbüchsen verschlossen hat (§ 89 Abs. 1). Die Mitglieder des Kirchenvorstandes haben hinsichtlich der Kassenverwaltung gemeinsame und gegenseitige Vertretungsverbindlichkeit 3 1 . . . . 31 I m Folgenden werden folgende Fragen geregelt: Anlegung des K a p i t a l vermögens; Baubedürfnisse, Neubeschaffungen u n d Ausbesserungen der Geräte etc.; Bewilligung von Beihilfen zur Bestreitung der Kirchenausgaben; Prüfung der Kirchenkasse etc.; Rechnungslegung; gemeinschaftliche Kirchen; Geräte der einzelnen Militärgeistlichen; Schenkungen u n d letztwillige Zuwendungen; Militär-Totengräber."
15*
228
4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung K.
Schlußbestimmungen
§ 163. Die Vorschriften der Abschnitte A - D und J der militärkirchlichen Dienstordnung finden auf die unter dem Allerhöchsten Patronat Seiner Majestät des Kaisers u n d Königs stehenden Garnisonkirchen, nämlich die Hof- und Garnisonkirche i n Potsdam und die alte Garnisonkirche i n Berlin, n u r insoweit Anwendung, als sie den über die Verfassung dieser Kirchen, die V e r w a l t u n g ihres Vermögens sowie über die Stellung der Garnisonpfarrer gegebenen besonderen Allerhöchsten Bestimmungen nicht zuwiderlaufen. § 164. Die Bestimmungen der militärkirchlichen Dienstordnung finden i n den Bundesstaaten m i t preußischer M i l i t ä r v e r w a l t u n g nur nach Maßgabe der m i t diesen Staaten über die Einrichtung der Militärseelsorge getroffenen besonderen Vereinbarungen (Militär-Kirchen-Konventionen) Anwendung 3 2 .
Nr. 102. Katholische militärkirchliche Dienstordnung v o m 17. Oktober 1902 (Katholische militärkirchliche Dienstordnung, hg. von M. Richter H. Vollmar, 1904, S. 1 ff.)
und
— Auszug — 3 3 § 9. Der Feldpropst bestellt nach Einverständniserklärung des Ministers der geistlichen Angelegenheiten u n d des Kriegsministers einen Militärgeistlichen zu seinem Generalvikar, der i h n i n Verhinderungsfällen vertritt. I m Falle der Erledigung des Amtes des Feldpropstes oder dessen dauernder Verhinderung verwaltet der Generalvikar das A m t bis zur Wiederbesetzung. §11. Dem Feldpropst steht die Konsekration oder Benediktion der Garnisonkirchen zu. Letztere k a n n er einem der i h m unterstellten Geistlichen übertragen. §16. Die Zahl der Militär-Oberpfarrer etat festgesetzt.
w i r d durch den Reichshaushalts-
Das Kriegsministerium bestimmt diejenigen Armeekorps, denen M i l i t ä r Oberpfarrer zuzuteilen sind. Der Geschäftsbereich eines Militär-Oberpfarrers k a n n nach Bestimmung des Kriegsministeriums auf mehrere Armeekorps ausgedehnt werden. . . . 32
Siehe oben S. 208, Anm. 9, unten Nr. 104. Die katholische militärkirchliche Dienstordnung vom 17. Oktober 1902 entspricht i n der Gliederung vollständig und i m Wortlaut zum allergrößten Teil der evangelischen militärkirchlichen Dienstordnung vom gleichen Tag (oben Nr. 101). Deshalb sind nur einige abweichende Bestimmungen der K a tholischen militärkirchlichen Dienstordnung wiedergegeben. 33
I I . Die
ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
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§18. Die Militär-Oberpfarrer sind bei den Generalkommandos Referenten f ü r alle katholischen militärkirchlichen Angelegenheiten . . . § 72. I n jedem Standort, i n dem ein Militärgeistlicher sich befindet, ist sonntäglich und mindestens so oft ein Militärgottesdienst abzuhalten, daß i m Laufe eines Monats alle Truppenteile des Standorts daran teilnehmen können. I n Standorten, i n denen Garnisonkirchen u n d Militärgeistliche vorhanden sind, können die Mannschaften öfter als monatlich einmal zum Gottesdienst geführt werden § 83. Der Zeitpunkt f ü r das Stattfinden der Oster- u n d Herbstbeichte i n den Militärgemeinden ist zwischen den Militärbefehlshabern u n d den Geistlichen zu vereinbaren; die für die Beichte der einzelnen Truppenteile bestimmten Tage sind rechtzeitig bekannt zu machen. Die Anzahl der zur Beichte gehenden Mannschaften ist dem Geistlichen von den Militärbehörden u n d Truppenteilen rechtzeitig mitzuteilen. § 85. Die Feier der heiligen K o m m u n i o n findet i m Anschluß an die Beichte statt; w i r d letztere jedoch am Nachmittag abgehalten, so findet die K o m munionfeier am nächsten Morgen bei dem hierfür anzusetzenden Gottesdienst statt § 95. Der Vorbereitungsunterricht zur ersten heiligen K o m m u n i o n ist bei einer größeren Zahl von Konfirmanden* 4 mindestens ein halbes Jahr h i n durch und, w e n n irgend möglich, zweimal wöchentlich zu erteilen. Wo aus örtlichen kirchlichen Gründen der Vorbereitungsunterricht von einem anderen als dem an sich zuständigen Geistlichen erteilt werden soll, w i r d von dem Feldpropst das Weitere veranlaßt. Die Militärgeistlichen sind dafür verantwortlich, daß sämtliche i n geeignetem A l t e r stehenden K i n d e r ihrer Gemeinde den Vorbereitungsunterricht erhalten.... § 122. Die Beauftragung eines Zivilgeistlichen m i t der Militärseelsorge i n einem Standort erfolgt auf A n t r a g des Generalkommandos durch den Feldpropst m i t Genehmigung des Ministers der geistlichen Angelegenheiten. Die Erteilung der Genehmigung geschieht i m Einverständnis m i t dem Kriegsminister. Die Beauftragung ist jederzeit widerruflich. I n den außerpreußischen Standorten erfolgt die Übertragung durch den Feldpropst m i t Genehmigung des Kriegsministeriums. Die Entbindung eines Zivilgeistlichen von der Militärseelsorge geschieht in entsprechenden Formen. 34 Die Verwendung dieses Ausdrucks erklärt sich aus der Parallele m i t der evangelischen militärkirchlichen Dienstordnung.
230
4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung
Nr. 103. Verordnung, betreffend die Zugehörigkeit zu den Militärgemeinden v o m 19. Oktober 1904 (Gesetzes- u n d Verordnungsblatt für die Vereinigte Evangelisch-protestantische Kirche des Großherzogtums Baden, 1905, S. 8 f.) W i r Wilhelm, v o n Gottes Gnaden K ö n i g von Preußen etc. verordnen h i n sichtlich der Zugehörigkeit zu den Militärgemeinden, was folgt: § 1. Z u den Militärgemeinden gehören: 1. die Personen des Soldatenstandes, die Militärbeamten u n d die Z i v i l beamten der M i l i t ä r v e r w a l t u n g des aktiven Heeres (§§ 4 u n d 5 M i l i t ä r Strafgesetzbuch v o m 20. J u n i 1872 u n d § 38 Reichs-Militärgesetz v o m 2. M a i 1874); 2. die nicht zum Soldatenstande gehörigen Offiziere à la suite u n d Sanitätsoffiziere à la suite, w e n n u n d so lange sie zu vorübergehender Dienstleistung zugelassen sind; 3. die zur Disposition gestellten u n d verabschiedeten Offiziere u n d Sanitätsoffiziere, w e n n u n d so lange sie als solche i m aktiven Heere wieder Verwendung finden; 4. die Mitglieder der Landgendarmerie 3 5 . 5. die nicht unter Ziffer 3 fallenden zur Disposition gestellten Offiziere u n d Sanitätsoffiziere; 6. die i n Invalidenhäusern untergebrachten Offiziere u n d Mannschaften sowie die Zöglinge der Kadettenhäuser u n d sonstigen militärischen A n stalten, bei denen ein Anstaltspfarrer angestellt oder die Seelsorge einem Militärgeistlichen, einem Militärhilfsgeistlichen oder einem Zivilgeistlichen ausdrücklich übertragen ist. Die Militärbeamten, die Zivilbeamten der M i l i t ä r v e r w a l t u n g und die unter Ziffer 5 fallenden Personen sind jedoch n u r dann Glieder der M i l i t ä r g e meinde, wenn sie i n einem Standort oder Standortsverbande wohnen, i n dem ein Militärgeistlicher oder Militärhilfsgeistlicher oder ein Zivilgeistlicher kraft ausdrücklichen Auftrags die Militärseelsorge ausübt. Der dienstliche Wohnsitz ist für die Gemeindezugehörigkeit nicht entscheidend. § 2. Während der Dauer der Zugehörigkeit der i m § 1 genannten Personen gehören auch deren Ehefrauen, sowie deren eheliche u n d den ehelichen gleichstehende K i n d e r (§§ 1591, 1699, 1719, 1736, 1757 Bürgerliches Gesetzbuch), so lange sie sich i n der elterlichen Gewalt des Vaters u n d i m elterlichen Hause befinden, zur Militärgemeinde. § 3. Der für die unter Meinem Patronate stehenden Garnisonkirchen, nämlich die Hof- u n d Garnisonkirche i n Potsdam und die alte Garnisonkirche 35 Diese gehören jedoch z. B. i n Baden nach A r t . 3 Abs. 2 der Festsetzungen (unten Nr. 104) nicht zu den Militärgemeinden.
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ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
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i n Berlin, geltende Hechtszustand bleibt von diesen Bestimmungen unberührt. §4. Diese Verordnung t r i t t am 1. A p r i l 1905 i n K r a f t . Die §§34—37 der Königlich Preußischen Militärkirchenordnung v o m 12. Februar 183238 werden aufgehoben.
Nr. 104. Badisches Kirchengesetz, die evangelisch-militärkirchlichen Verhältnisse betreffend v o m 14. Januar 1905 (Gesetzes- u n d Verordnungsblatt f ü r die Vereinigte Evangelisch-protestantische Kirche des Großherzogtums Baden, 1905, S. 2 ff.) — Auszug — Friedrich,
von Gottes Gnaden Großherzog von Baden, Herzog von Zähringen.
Nachdem W i r den zwischen dem Königlich Preußischen Kriegsminister i u m u n d dem Badischen evangelischen Oberkirchenrat vereinbarten, von der Generalsynode der Badischen evangelischen Landeskirche gebilligten Festsetzungen behufs Neuregelung der militärkirchlichen Verhältnisse innerhalb des Großherzogtums Baden Unsere Genehmigung erteilt haben, verkündigen W i r hiemit die bezeichneten Festsetzungen zur Nachachtung. Die Festsetzungen v o m 21. Dezember 1871 u n d v o m 9. Februar 1892 (Kirchliches Gesetzes- u n d Verordnungsblatt 1872 S. 1 u n d 1892 S. 3) treten dadurch außer K r a f t . Festsetzungen zur Regelung der evangelisch-militärkirchlichen im Großherzogtum Baden.
Verhältnisse
Art.l. Die Mitglieder der i m Großherzogtum Baden bestehenden evangelischen Militärgemeinden gehören zur evangelisch-protestantischen Kirche des Großherzogtums Baden (§ 1 u n d 2 der Kirchenverfassung). Die für diese Kirche bestehenden kirchlichen Gesetze u n d Verordnungen gelten, soweit nicht die folgenden A r t i k e l Abweichungen festsetzen, auch f ü r die Militärgemeinden. . . . Die evangelischen Angehörigen des i n Rastatt stehenden Königlich Preußischen Infanterieregiments nebst den sonst dort stehenden evangelischen Militärpersonen u n d Beamten preußischer Staatsangehörigkeit bilden eine besondere Militärgemeinde für sich. Sie gehören nicht zur evangelischprotestantischen Kirche des Großherzogtums Baden. Die Militärgeistlichen i n Baden, welche m i t Ausnahme des Kadettenhauspfarrers der Landesgeistlichkeit entnommen werden, sind Glieder dieser 36
Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 265.
4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung
232
u n d hinsichtlich ihrer kirchlichen Pflichten dem Evangelischen Oberkirchenrat unterstellt. Der Kadettenhauspfarrer hat durch seine Anstellung an sich noch nicht die Berechtigung auf anderweitige Verwendung i m evangelischen Kirchendienste Badens. Art. 2. Die evangelischen militärkirchlichen Verhältnisse i m Großherzogtum Baden regeln sich nach der Evangelischen militärkirchlichen Dienstordnung vom 17. Oktober 1902 (E.M.D.) 37 und den dazu erlassenen Ausführungsbestimmungen des Königlich Preußischen Kriegsministeriums v o m 18. Oktober 1902, soweit nicht die folgenden A r t i k e l Abweichungen festsetzen. Art. 3. Zu §2 E.M.D. : F ü r die Zugehörigkeit zu den Militärgemeinden sind die i n Preußen geltenden Bestimmungen maßgebend 38 . Die Angehörigen des Großherzoglich hören nicht zu den Militärgemeinden.
Badischen Gendarmeriekorps
ge-
Art. 4. Z u §10 E.M.D.: Dem Feldpropst w i r d bei Bereisung der Standorte i m Großherzogtum Baden zur A u f k l ä r u n g über persönliche u n d örtliche Verhältnisse ein von dem Evangelischen Oberkirchenrat dazu abgeordneter Geistlicher beigegeben. Art. 6. Z u §§25 bis 28 E.M.D.: Die Stelle des Militär-Oberpfarrers, zu dessen Amtsbezirk das Großherzogtum Baden gehört (§ 19 Absatz 1 E.M.D.), w i r d auf A n t r a g des Badischen Evangelischen Oberkirchenrats besetzt. Vor dem Vorschlag versichert sich der Evangelische Oberkirchenrat der Z u s t i m mung des kommandierenden Generals des 14. Armeekorps, dem es überlassen bleibt, vor seiner Entschließung den betreffenden Geistlichen eine Probepredigt vor der i h m zu übertragenden Militärgemeinde halten zu lassen. Eine Beteiligung des preußischen Ministers der geistlichen Angelegenheiten findet nicht statt. I n den §§26, 29, 30, 31, 33, 35 E.M.D. t r i t t an die Stelle des Feldpropstes der Badische Evangelische Oberkirchenrat. . . . Art. 7. Z u §§ 39 bis 45 E.M.D.: Die Divisionspfarrer i m Großherzogtum B a den werden auf A n t r a g des Badischen Evangelischen Oberkirchenrats ernannt. Ihre Bestallungen werden von dem Kriegsminister vollzogen. Vor dem Vorschlage versichert sich der Evangelische Oberkirchenrat der Zustimmung des kommandierenden Generals des 14. Armeekorps, nachdem der Bewerber eine Probepredigt vor der i h m zu übertragenden Militärgemeinde gehalten hat. Eine Beteiligung des preußischen Ministers der geistlichen Angelegenheiten findet nicht statt. I n den §§ 41, 43 Absatz 2 t r i t t an die Stelle des Feldpropstes der Evangelische Oberkirchenrat. . . . 37 38
Oben Nr. 101. Oben Nr. 103.
I I . Die
ischen militärkirchlichen Dienstordnungen
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Die Bewerber u m ein M i l i t ä r p f a r r a m t müssen felddienstfähig sein, die Gabe des freien Vortrags besitzen u n d wenigstens eine der beiden theologischen Prüfungen m i t der Note „ g u t " bestanden haben. F ü r die Versetzung eines Divisionspfarrers gilt die Bestimmung i m A r t i k e l 6 Absatz 4. Eine Versetzung innerhalb des Großherzogtums erfolgt ohne M i t w i r k u n g des Feldpropstes durch das Kriegsministerium i m Einverständnis m i t dem Evangelischen Oberkirchenrat. Art. 9. Z u Abschnitt D, E.M.D.: Der Feldpropst ist nicht Vorgesetzter der Divisionspfarrer iim Großherzogtum Baden, ebensowenig des M i l i t ä r - O b e r pfarrers bezüglich seiner Amtstätigkeit i m Großherzogtum. A n Stelle des Feldpropstes t r i t t i n § 59 Absatz 2 der Militär-Oberpfarrer, i n den §§ 58 I 3 a, 61 Absatz 2, 62 u n d 70 das Kriegsministerium. V o r Nachsuchung der Genehmigung i n den Fällen der §§ 59 u n d 61 E.M.D. ist die E i n verständniserklärung des Evangelischen Oberkirchenrats einzuholen. Z u §§ 65 ff. E.M.D. : Unberührt von den Disziplinarbefugnissen der M i l i t ä r befehlshaber u n d der amtlichen Vorgesetzten der Militärgeistlichen als M i l i tärbeamten bleibt das kirchliche Aufsichtsrecht des Evangelischen Oberkirchenrats über sie als Geistliche der badischen Landeskirche. Bei Handlungen, die zugleich eine Verletzung der Amtspflichten u n d der kirchlichen Pflichten enthalten, w i r d weder die amtliche noch die kirchliche Aufsichtsbehörde vor Anhörung der anderen eine Entscheidung treffen. § 69 Schlußsatz, § 71 zweiter Satz die Worte „ u n d dem Feldpropst", ferner der Schlußsatz i m Absatz 1 sowie der Absatz 2 finden keine Anwendung. . . . A l l e drei Jahre — jeweils i m Jahre der Pfarrsynode — reichen die D i v i sionspfarrer i m Großherzogtum eine wissenschaftliche Arbeit an den M i l i t ä r Oberpfarrer ein, die dieser dem Evangelischen Oberkirchenrat zur Einsicht vorlegt. Art. 10. Z u §§80, 86, Absatz 1, 88, 136 Absatz 3 E.M.D.: Der Militärgottesdienst einschließlich der Feier des heiligen Abendmahls sowie die k i r c h l i chen Amtshandlungen (Taufen, Trauungen, Konfirmationen, Beerdigungen) werden nach der agendarischen Ordnung der evangelisch-protestantischen Landeskirche des Großherzogtums Baden vollzogen. I m Militärgottesdienst gelangt das (preußische) Militär-Gesang- u n d Gebetbuch, aber nicht das M i l i tärmelodien- u n d Militärchoralbuch zur A n w e n d u n g . . . . Art. 11. Z u §105 E.M.D.: Die Erteilung des Konfirmandenunterrichtes geschieht i n den Militärgemeinden nach der badischen Konfirmationsordnung v o m 22. November 1892. Den Mitgliedern der Militärgemeinde bleibt jedoch die Freiheit i n der W a h l des Pfarrers f ü r den Konfirmandenunterricht u n d die Einsegnung ihrer K i n d e r auch da gewahrt, wo die Militärseelsorge durch Zivilgeistliche ausgeübt w i r d . . . .
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4. Kap.: Kirche u n d Wehrverfassung
I I I . D i e sächsischen m i l i t ä r k i r c h l i c h e n D i e n s t o r d n u n g e n Unabhängig vom preußischen Militärkirchenrecht war die Militärseelsorge in den nichtpreußischen Kontingenten des Reichsheers geordnet. Dabei kam es in Bayern und in Württemberg nicht zu zusammenfassenden Regelungen1. Eine abschließende Kodifikation dagegen erfuhr das Militärkirchenrecht in Sachsen, und zwar durch die Evangelisch-lutherische militärkirchliche Dienstordnung vom 2. April 1911 (Nr. 105) und die Katholische militärkirchliche Dienstordnung vom 10. Oktober 1912 (Nr. 106).
Nr. 105. Evangelisch-lutherische militärkirchliche Dienstordnung für die Königlich Sächsische Armee v o m 2. A p r i l 1911 (Allg. Kirchenblatt für das evangelische Deutschland 60, 1911, S. 580) — Auszug — A. Allgemeine
Bestimmungen
§ 1. Die evangelisch-lutherische militärkirchliche Dienstordnung gilt innerhalb des Königreichs Sachsen. F ü r die Königlich Sächsischen Truppenteile, die außersächsischen T r u p penverbänden angehören 2 , bleiben die bisher dort geltenden Vorschriften u n d getroffenen Vereinbarungen maßgebend. A n den gesetzlichen u n d sonstigen landesrechtlichen Vorschriften über die Verhältnisse der landeskirchlichen Gemeinden, ihrer Geistlichen u n d Angestellten w i r d durch die militärkirchliche Dienstordnung nichts geändert. § 2. Der Militärseelsorge sind zugewiesen: 1. die Offiziere, Sanitäts- u n d Veterinäroffiziere, Mannschaften des Friedensstandes (R.M.G. § 38 A);3
Militärbeamten
und
2. a) die zum Dienst einberufenen Personen des Beurlaubtenstandes; b) alle i n Kriegszeiten zum Heeresdienst aufgebotenen oder f r e i w i l l i g eingetretenen sonstigen Personen (R.M.G. § 38 B); 3. die Zivilbeamten der M i l i t ä r v e r w a l t u n g (R.M.G. § 38 C); 1 Dazu J. Freisen, Das Militärkirchenrecht i n Heer u n d Marine des Deutschen Reiches, 1913, S. 152 ff.; J. Bleese, Die Militärseelsorge u n d die Trennung von Staat und Kirche, Diss. H a m b u r g 1969, S. 124 ff. 2 Vgl. dazu die sächsische M i l i t ä r k o n v e n t i o n vom 7. Februar 1867 (Text: Militärgesetze des Deutschen Reichs, Lfg. 2, Nr. 1). 3 Der § 38 des Reichsmilitärgesetzes v o m 2. M a i 1874 lautet: Z u m aktiven Heere gehören: A . Die Militärpersonen des Friedensstandes, u n d zwar: 1. die Offiziere, Ärzte u n d Militärbeamten des Friedensstandes v o m Tage ihrer Anstellung bis zum Zeitpunkt ihrer Entlassung aus dem Dienste; 2. die K a p i t u l a n t e n von Beginn bis zum A b l a u f oder bis zur Aufhebung der abgeschlossenen K a p i t u l a t i o n ;
I I I . Die sächsischen militärkirchlichen Dienstordnungen
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4. die Offiziere à la suite und die Sanitätsoffiziere à la suite, w e n n u n d solange sie zu vorübergehender Dienstleistung zugelassen sind; 5. die zur Disposition gestellten u n d die verabschiedeten Offiziere u n d Sanitätsoffiziere, w e n n u n d solange sie als solche i m aktiven Heere wieder Verwendung finden; 6. die Zöglinge des Kadettenkorps i n Dresden, der Unteroffizierschule u n d der Unteroffiziervorschule i n Marienberg u n d der Soldatenknaben-Erziehungsanstalt i n Kleinstruppen; 7. die Ehefrauen u n d die K i n d e r der unter 1, 3 u n d 5 bezeichneten Personen, die m i t ihnen i n häuslicher Gemeinschaft leben. Die i n den Bezirken der Garnisonkirchen i n Dresden-Albertstadt u n d Festung Königstein wohnenden, i n Abs. 1 nicht aufgeführten Personen sind nach landeskirchlicher Vorschrift i n diese Kirchen eingepfarrt. Die auf den Truppenübungsplätzen Königsbrück u n d Zeithain infolge eines Verwandtschafts-, Dienst- oder Pachtverhältnisses wohnenden Personen sind auf die Militärseelsorge angewiesen. Z u m aktiven Heere gehörende Personen des Soldatenstandes (Offiziere, Sanitäts- und Veterinäroffiziere und Mannschaften) anderer Kontingente des deutschen Heeres, die sich infolge Abkommandierung oder Beurlaubung i n Sachsen aufhalten, haben f ü r die Dauer dieses Aufenthaltes Anspruch auf A n t e i l an der Militärseelsorge. § 3. Die Militärseelsorge w i r d von Militärgeistlichen oder von M i l i t ä r h i l f s geistlichen ausgeübt. I n den Standorten, i n denen kein Militärgeistlicher oder Militärhilfsgeistlicher vorhanden ist, w i r d die Militärseelsorge einem Zivilgeistlichen übertragen (§§ 70 bis 72) oder durch einen benachbarten Militärgeistlichen w a h r genommen (§§ 52 bis 54). Befinden sich i n einem Standorte n u r einzelne der i n § 2 bezeichneten Personen (wie bei alleinstehenden Bezirkskommandos, Meldeämtern, den Re3. die Freiwilligen und die ausgehobenen Rekruten von dem Tage, m i t welchem ihre Verpflegung durch die M i l i t ä r v e r w a l t u n g beginnt, E i n j ä h r i g - F r e i w i l l i g e von dem Zeitpunkt ihrer definitiven Einstellung i n einen Truppenteil an, sämtlich bis zum A b l a u f des Tages ihrer E n t lassung aus dem aktiven Dienste. B. 1. die aus dem Beurlaubtenstande (V. Abschnitt) zum Dienst einberufenen Offiziere, Ärzte, Militärbeamten und Mannschaften von dem Tage, zu welchem sie einberufen sind, bis zum A b l a u f des Tages der Wiederentlassung; 2. alle i n Kriegszeiten zum Heeresdienst aufgebotenen oder f r e i w i l l i g eingetretenen Offiziere, Ärzte, Militärbeamten und Mannschaften, welche zu keiner der vorgenannten Kategorien gehören, von dem Tage, zu welchem sie einberufen sind, bzw. v o m Zeitpunkte des freiwilligen Eintritts an, bis zum A b l a u f des Tages der Entlassung. C. die Zivilbeamten der M i l i t ä r v e r w a l t u n g , v o m Tage ihrer Anstellung bis zum Zeitpunkt ihrer Entlassung aus dem Dienste.
236
4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung
montedepots 4 und der Pulverfabrik Gnaschwitz), so w i r d die Militärseelsorge ohne weiteres von den Ortsgeistlichen ausgeübt. Bei Truppen i m Felde w i r d die Seelsorge durch die als Feldgeistliche bestimmten M i l i t ä r - oder Zivilgeistlichen ausgeübt. § 4. 1. a) Die i n § 2 bezeichneten Personen bilden i n Dresden, Leipzig, Chemnitz, Riesa u n d Festung Königstein selbständige Militärgemeinden m i t eigenen Garnisonpfarrämtern, i n den übrigen Standorten sind sie zu Personal-Militärgemeinden quoad sacra vereinigt; auch die letzteren werden hinsichtlich der Zuständigkeit zur Vornahme von Taufen, Konfirmationen, Kommunionen, Aufgeboten, Trauungen u n d Beerdigungen w i e selbständige Parochien behandelt. Das Pfarramt der Festung Königstein w i r d bis auf weiteres durch einen Militärgeistlichen i n Dresden m i t verwaltet (s. § 28 Ziff. 1). b) Die Errichtung neuer Militärgemeinden w i r d zwischen dem Kriegsministerium u n d dem Landeskonsistorium vereinbart. 2. Die Zuständigkeit der Kirchenvorstände der Zivilgemeinden, der Ephoren (Superintendenten) u n d der Kircheninspektionen erstreckt sich nicht auf die selbständigen Militärgemeinden (s. §§ 9 u n d 19). I n den selbständigen Militärgemeinden werden Garnisonkirchenvorstände n u r i n Standorten m i t Garnisonkirche gebildet; sie sind nur f ü r die Vermögensverwaltung zuständig. I n den Zivilgeistlichen zugewiesenen Militärgemeinden ist die W a h l eines Offiziers zum Kirchenvorstand durch Z u w a h l erwünscht. 3. Bei Truppen i m Felde gelten die Truppenverbände, denen Feldgeistliche beigegeben sind, als die Gemeinden dieser Geistlichen. § 5. Die Benutzung der Kirchen der Zivilgemeinden bestimmt sich für die selbständigen Militärgemeinden (§ 4) i n Standorten ohne Garnisonkirche nach den bestehenden oder noch abzuschließenden Verträgen. Dasselbe gilt auch sonst für die A b h a l t u n g besonderer Militärgottesdienste u n d für die M i l i t ä r kommunionen (§§ 33 u n d 40), sowie für außergewöhnliche kirchliche Feierlichkeiten, z. B. vor den Rekrutenvereidigungen. Änderungen i n den zwischen der M i l i t ä r v e r w a l t u n g u n d den Kirchenvorständen bisher geschlossenen Verträgen sowie neu abzuschließende Verträge bedürfen der Bestätigung durch die zuständige Kircheninspektion; vor der Bestätigung soll der Kirchenpatron gehört werden. Die Mitbenutzung der Friedhöfe der Zivilgemeinden w i r d , wenn die i n Abs. 1 u n d 2 erwähnten Verträge keine Festsetzungen enthalten, durch die Garnisonlazarette vereinbart. §6. Von den Mitgliedern der Garnisongemeinden Dresden u n d Festung Königstein werden Kirchensteuern nicht erhoben. 4 I n Remontedepots befanden sich die für den Ersatz des Pferdebestands der Kavallerie erforderlichen Tiere.
I I I . Die sächsischen militärkirchlichen Dienstordnungen
237
Von den Mitgliedern der übrigen selbständigen Militärgemeinden werden Kirchensteuern nicht erhoben, soweit dies durch besondere Vereinbarungen festgesetzt ist. I m übrigen bewendet es hinsichtlich der Verpflichtung der M i l i t ä r p e r sonen zu anteiliger A u f b r i n g u n g der Kirchensteuern bei den bestehenden gesetzlichen Vorschriften (vergi, das Gesetz v o m 10. Februar 1888, Ges..- u. Verordn.Blatt S. 21 ff.). B. Evangelisch-lutherisches
Landeskonsistorium
§ 7. Das Evangelisch-lutherische Landeskonsistorium ist f ü r Militärseelsorge nach Maßgabe der kirchengesetzlichen Vorschriften zuständig, soweit die militärkirchliche Dienstordnung nicht besondere Bestimmungen enthält. Zur Zuständigkeit des Landeskonsistoriums gehört insbesondere die oberste geistliche Aufsicht über die Militärgeistlichen u n d Militärhilfsgeistlichen; sie ist i n ständigem Auftrage v o m Landeskonsistorium dem geistlichen K o m missar für die Militärseelsorge übertragen; dieser w i r d v o m Landeskonsistor i u m aus seinen Mitgliedern gewählt u n d dem Kriegsministerium für die Angelegenheiten der Militärseelsorge zur Verfügung gestellt (s. §§ 9 ff.). § 8. I n Bestimmungen u n d Entscheidungen des Landeskonsistoriums, abgesehen von solchen rein kirchlichen Inhalts, w i r d das Einverständnis des Kriegsministeriums zum Ausdruck gebracht. §9. 1. Der geistliche Kommissar ist i n militärkirchlichen Angelegenheiten die ausführende Stelle des Kriegsministeriums u n d des Landeskonsistoriums. 2. Das Kriegsministerium w i r d durch den geistlichen Kommissar über den Stand der Militärseelsorge bei allen Königlich Sächsischen Truppen i n fortlaufender Kenntnis erhalten. Der geistliche Kommissar hat daher das Recht u n d die Pflicht, i n allen militärkirchlichen Angelegenheiten zweckdienliche Anregungen zu geben u n d Anträge zu stellen, über alle zu seiner Kenntnis kommenden persönlichen u n d sachlichen Angelegenheiten w i c h t i gerer A r t dem Kriegsministerium Vortrag zu erstatten sowie Mißstände zur Sprache zu bringen; auf Veranlassung des Kriegsministeriums hat er auch die vorbereitenden Verhandlungen m i t den kirchlichen Behörden zu führen. 3. Bei dem Landeskonsistorium v e r t r i t t der geistliche Kommissar alle Fragen der Militärseelsorge sowie die militärkirchlichen Interessen; er n i m m t daher i n allen hierauf bezüglichen Angelegenheiten m i t Sitz u n d Stimme an den Beratungen des Landeskonsistoriums teil. 4. Der geistliche Kommissar ist hinsichtlich der rein geistlichen Angelegenheiten amtlicher Vorgesetzter aller Militärgeistlichen u n d M i l i t ä r h i l f s geistlichen u n d hat als solcher über sie die Oberaufsicht. Ebenso hat er die nächste Aufsicht über alle m i t der Militärseelsorge beauftragten Zivilgeistlichen, die auch gehalten sind, seinen Weisungen nachzukommen, soweit es sich u m ihre militärkirchlichen Obliegenheiten handelt.
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4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung
5. Der geistliche Kommissar übernimmt die Ausfertigung der i n inneren Angelegenheiten der Militärseelsorge an die Militärgeistlichen u n d die m i t der Militärseelsorge beauftragten Zivilgeistlichen zu erlassenden Verfügungen; dem Kriegsministerium ist von ihnen Kenntnis zu geben. Vor Erlaß von Verfügungen, deren I n h a l t militärdienstliche Verhältnisse berühren kann, hat der geistliche Kommissar das Einverständnis des Kriegsministeriums einzuholen. 6. E i n längerer Urlaub des geistlichen Kommissars unterliegt der Genehmigung des Kriegsministeriums u n d des Landeskonsistoriums. Die Vertretung w i r d dem Militäroberpfarrer i n Dresden übertragen, jedoch ohne Sitz u n d Stimme i m Landeskonsistorium. . . . C. Militär geistliche und Militär 1. Allgemeine
hilfsgeistliche
Bestimmungen
§12. 1. Die Militärgeistlichen — Militäroberpfarrer, Divisionspfarrer — sowie die Militärhilfsgeistlichen gehören zu den Geistlichen der evangelischlutherischen Kirche des Königreichs Sachsen u n d unterliegen hinsichtlich ihrer rein geistlichen A m t s f ü h r u n g den f ü r die V e r w a l t u n g eines geistlichen Amtes i n der sächsischen Landeskirche bestehenden Vorschriften. Ausgenommen sind sie v o n der Unterstellung unter die Ephoren (Superintendenten) u n d die Kircheninspektionen. 2. Die Militärgeistlichen u n d die Militärhilfsgeistlichen haben die Eigenschaft als Reichsbeamte 5 ; sie sind obere Militärbeamte i m Offiziersrange (über Dienstverhältnisse s. Anhang 2). §13. Die als Feldgeistliche verwendeten Zivilgeistlichen (§3 Abs. 4) gehören f ü r die Zeit dieser Verwendung zu den Militärgeistlichen. Dasselbe gilt f ü r die Zivilgeistlichen, die m i t den Friedensstellen der i m Felde verwendeten Militärgeistlichen beliehen werden. §14. Voraussetzung zur Übertragung des Amtes als Militärgeistlicher oder Feldgeistlicher bildet die Anstellungsfähigkeit zu einem ständigen geistlichen A m t e i n der evangelisch-lutherischen Kirche des Königreichs Sachsen, ferner die Fähigkeit zum Dienst i m Felde. Dies gilt i n der Regel auch für die Militärhilfsgeistlichen. . . . §16. 1. Die Militäroberpfarrer werden von Seiner Majestät dem Könige ernannt. Sie haben die Eigenschaft der Superintendenten; ihrer Ernennung hat daher die Zustimmung der i n Evangelicis beauftragten Staatsminister 8 vorauszugehen, die auf Ersuchen des Kriegsministeriums durch das Landeskonsistorium herbeigeführt w i r d . Die Bestallungen der Militäroberpfarrer werden von Seiner Majestät dem Könige Allerhöchst vollzogen. I n den Bestallungen ist der Zustimmung der i n Evangelicis beauftragten Staatsminister zu gedenken. 5 6
Dazu auch unten § 16 Abs. 4. Dazu Staat und Kirche, Bd. I, S. 151, 156, 703 ff.
I I I . Die sächsischen militärkirchlichen Dienstordnungen
239
2. Die Ernennung der Divisionspfarrer sowie die Anstellung von M i l i t ä r hilfsgeistlichen verfügt das Kriegsministerium nach Einvernehmen m i t dem Landeskonsistorium. Die Bestallungen der Divisionspfarrer werden v o m Kriegsministerium ausgefertigt; sie sind m i t den Berufungsurkunden (Ziff. 4) verbunden. 3. Die kirchliche Verpflichtung und Einführung erfolgt auf Anordnung u n d i m Auftrage des Landeskonsistoriums u n d zwar bei den M i l i t ä r o b e r pfarrern durch den geistlichen Kommissar, bei den Divisionspfarrern u n d Militärhilfsgeistlichen durch den zuständigen Militäroberpfarrer. Der geistliche Kommissar u n d die Militäroberpfarrer setzen sich vor der Einführung i n unmittelbares Einvernehmen m i t der K o m m a n d a n t u r bzw. dem Garnisonkommando. 4. Die Verpflichtung der Geistlichen als Reichsbeamte nach § 3 des Reichsbeamtengesetzes (Reichsges.Blatt 1907 S. 245 f.) erfolgt nach geschehener kirchlicher Einführung. Berufungsurkunden (Vokationen) werden den Militärgeistlichen bei der kirchlichen Einführung i m Auftrage des Kriegsministeriums ausgehändigt (s. Zusatz 3) 7
Nr. 106. Katholische militärkirchliche Dienstordnung für die Königlich Sächsische Armee v o m 10. Oktober 1912 (Sächsischer Dienstvorschriften-Etat Nr. 12, Dresden 1912) — Auszug — A. Allgemeine §1. Die katholische militärkirchliche Königreichs Sachsen.
Bestimmungen Dienstordnung
gilt
innerhalb
des
Für die Königlich Sächsischen Truppenteile, die außersächsischen Truppenverbänden angehören, bleiben die bisher dort geltenden Vorschriften u n d getroffenen Vereinbarungen maßgebend. § 2. Der Militärseelsorge sind zugewiesen: .. , 8 § 3. Die Ausübung der Militärseelsorge erfolgt durch Militärgeistliche u n d durch Zivilgeistliche. Bei Truppen i m Felde w i r d die Seelsorge durch die als Feldgeistliche bestimmten M i l i t ä r - oder Zivilgeistlichen ausgeübt. 7 I m Folgenden sind die Versetzung u n d die Versetzung i n den Ruhestand geregelt. Es folgen die Bestimmungen über die Aufgaben der M i l i t ä r o b e r pfarrer und der Militärpfarrer, sowie über die Ausübung der Militärseelsorge (dazu die preußische E.M.D., oben Nr. 101). 8 Vgl. oben Nr. 105, §2.
240
4. Kap.: Kirche und Wehrverfassung
§4. 1. Bei jedem Armeekorps besteht ein katholisches das sich i m Standorte des Generalkommandos befindet. Das M i l i t ä r p f a r r a m t Armeekorps verwaltet.
Militärpfarramt,
w i r d von dem katholischen Militärgeistlichen des
2. I n Dresden u n d i n Leipzig besteht je eine, dem Militärgeistlichen des Armeekorps zugewiesene Garnisonpfarrei, der die i m Standort oder i n dessen Umgebung wohnenden, i n § 2 bezeichneten Personen katholischer Konfession angehören. 3. Bei Truppen i m Felde gelten die Truppenverbände, denen Feldgeistliche beigegeben sind, als die Gemeinden dieser Geistlichen. § 5. Z u r A b h a l t u n g von Militärgottesdiensten, M i l i t ä r k o m m u n i o n e n sowie zu außergewöhnlichen kirchlichen Feiern w i r d , w e n n keine Garnisonkirche am Orte ist, eine andere — erforderlichenfalls vom Apostolischen V i k a r i a t zu bestimmende — Kirche benutzt. Steht weder eine Kirche noch ein Betsaal zur Verfügung, so w i r d ein anderer geeigneter Raum durch die M i l i t ä r v e r w a l t u n g beschafft. Die Gewährung von Entschädigungen für die Benutzung v o n Kirchen oder Betsälen zu Militärgottesdiensten usw. ist von besonderen Vereinbarungen zwischen der M i l i t ä r v e r w a l t u n g u n d dem Apostolischen V i k a r i a t abhängig. § 6. Von den Mitgliedern der Garnisonpfarrei Dresden werden Kirchensteuern nicht erhoben; i m übrigen bewendet es hinsichtlich der Verpflichtung der Militärpersonen zu anteiliger A u f b r i n g u n g der Kirchensteuern bei den bestehenden gesetzlichen Vorschriften. B. Apostolisches
Vikariat
§ 7. Das Apostolische V i k a r i a t , als die verfassungsmäßig oberste katholisch-geistliche Behörde i m Königreiche Sachsen, ist f ü r die Militärseelsorge zuständig, soweit die militärkirchliche Dienstordung nicht besondere Bestimmungen enthält. Z u r Zuständigkeit des Vikariats gehört insbesondere die oberste geistliche Aufsicht über die Militärgeistlichen, unbeschadet des gesetzlichen Oberaufsichtsrechts des Ministeriums des K u l t u s u n d öffentlichen Unterrichts. § 8. I n Bestimmungen u n d Entscheidungen des Apostolichen Vikariats, abgesehen von solchen rein kirchlichen Inhalts, w i r d das Einverständnis des Kriegsministeriums zum Ausdruck gebracht. § 9. Das Apostolische V i k a r i a t kann die Militärgeistlichen alle drei Jahre zu einer eintägigen Konferenz i n Dresden, nach vorherigem Einvernehmen m i t dem Kriegsministerium, vereinigen. Dem Kriegsministerium w i r d von dem Apostolischen V i k a r i a t M i t t e i l u n g über die Verhandlungen gemacht werden.
I I I . Die sächsischen militärkirchlichen Dienstordnungen C. Militär
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geistliche
§10. Die Militärgeistlichen verbleiben i m Verbände des katholischen K l e rus des Apostolischen Vikariats i m Königreiche Sachsen bzw. der Diözese des Königlich Sächsischen Markgrafentums Oberlausitz, w e n n sie aus dieser entnommen sind; hierdurch w i r d sowohl ein Wechsel i n der Person wie auch das A u f - oder Einrücken i n Stellen der Zivilseelsorge ermöglicht. 2. Die Militärgeistlichen haben die Eigenschaft als Reichsbeamte; sie sind obere Militärbeamte i m Offiziersrange. §11. Die als Feldgeistliche verwendeten Zivilgeistlichen (§3) gehören f ü r die Zeit dieser Verwendung zu den Militärgeistlichen. §12. Die Vorschriften des Gesetzes v o m 23. August 1876, betreffend die Ausübung des staatlichen Oberaufsichtsrechts über die katholische Kirche i m Königreich Sachsen (G. V. Bl. S. 335), finden auch auf die Militärgeistlichen Anwendung. Besondere Voraussetzung f ü r die Übertragung des Amtes als Militärgeistlicher ist die Fähigkeit zum Dienst i m Felde. §13. 1. Die Ernennung zum M i l i t ä r p f a r r e r sowie die Enthebung v o m A m t e eines solchen erfolgt unter Allerhöchster Genehmigung Seiner Majestät des Königs durch das Kriegsministerium i m Einvernehmen m i t dem Apostolischen Vikariat. 2. Die Bestallungen der M i l i t ä r p f a r r e r ausgefertigt.
werden v o m
Kriegsministerium
3. Die Verpflichtung der Militärgeistlichen als Reichsbeamte nach § 23 des Reichsbeamtengesetzes (R. G. Bl. 1907 S. 245 flg.) erfolgt nach den m i l i t ä r i schen Vorschriften. 4. Versetzungen von Militärgeistlichen nach § 23 des Reichsbeamtengesetzes (R. G. Bl. 1907 S. 245 flg.) 8 a werden vom Kriegsministerium nach Einvernehmen m i t dem V i k a r i a t verfügt. 5. Die Versetzung der Militärgeistlichen i n den Ruhestand nach §§34 flg. des Reichsbeamtengesetzes (R. G. Bl. 1907 S. 245 flg.) sowie ihre Entlassung ohne Pension auf eigenen A n t r a g b e w i r k t das Kriegsministerium i m E i n v e r nehmen m i t dem Vikariat. 8 a § 23 des Reichsbeamtengesetzes lautete: Jeder Reichsbeamte muß die Versetzung i n ein anderes A m t von nicht geringerem Range und etatsmäßigem Diensteinkommen m i t Vergütung der v o r schriftsmäßigen Umzugskosten sich gefallen lassen, w e n n es das dienstliche Bedürfnis erfordert. Als eine Verkürzung i m Einkommen ist es nicht anzusehen, w e n n die Gelegenheit zur V e r w a l t u n g von Nebenämtern entzogen w i r d oder die Ortszulage oder endlich die Beziehung der f ü r Dienstunkosten besonders ausgesetzten Einnahmen m i t diesen Unkosten fortfällt. 16 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
242
4. Kap.: Kirche u n d Wehrverfassung
Der den Militärgeistlichen bereits bewilligte „Tischtitel" 9 bleibt ihnen i n der Weise erhalten, daß bei Beurteilung der Bedürfnisfrage die ihnen aus Reichsm i t t e l n etwa zukommende Pension m i t zu berücksichtigen ist. 6. Vertretungen der Militärgeistlichen bei Beurlaubungen usw. erfolgen durch i m Standorte befindliche Zivilgeistliche. Der Vertreter w i r d dem Generalkommando durch den Militärgeistlichen, nötigenfalls durch das Apostolische V i k a r i a t namhaft gemacht. §14. Die f ü r den Kriegsfall als Feldgeistliche oder i n anderen geistlichen Stellen der Heeresverwaltung zu verwendenden M i l i t ä r - u n d Zivilgeistlichen werden durch Vereinbarung zwischen dem Kriegsministerium u n d dem A p o stolischen V i k a r i a t bestimmt. Die Weisung zum A n t r i t t ihrer Stellen (Kriegsstellen) w i r d den M i l i t ä r geistlichen von den Generalkommandos, den Zivilgeistlichen von dem A p o stolischen V i k a r i a t erteilt. §15. Bei jedem Armeekorps befindet sich ein Militärpfarrer, und zwar am Standort des Generalkommandos. Der M i l i t ä r p f a r r e r hat als Vertreter der militärkirchlichen Interessen den Vortrag beim Generalkommando über alle katholischen m i l i t ä r k i r c h l i chen Angelegenheiten innerhalb des Verwaltungsbezirks des Armeekorps (s. auch § 16 Ziff. 3). §16. 1. Die M i l i t ä r p f a r r e r sind zuständige Pfarrer aller i n § 2 bezeichneten Personen katholischer Konfession innerhalb des Verwaltungsbezirks ihres Armeekorps. A m Wohnort des Militärpfarrers sowie an Standorten ohne Geistliche haben daher alle i n §2 bezeichneten Personen katholischer K o n fession zunächst n u r dem zuständigen M i l i t ä r p f a r r e r von der vorzunehmenden Amtshandlung (Taufe, Trauung, Begräbnis usw.) M i t t e i l u n g zu machen. Es steht ihnen aber frei, unter gleichzeitiger Verständigung des zuständigen Militärpfarrers, einen anderen Geistlichen zur Vornahme der Amtshandlung heranzuziehen. 2. I n anderen Standorten, an denen sich ein Zivilgeistlicher ständig aufhält, hat dieser ex delegatione alle pfarramtlichen Amtshandlungen ohne weiteres vorzunehmen, jedoch m i t der Verpflichtung, sie sowohl i n die eigenen Kirchenbücher einzutragen, als auch dem zuständigen M i l i t ä r p f a r r e r zu gleicher Eintragung baldigst anzuzeigen. 3. Bei Anwesenheit des Militärpfarrers i n einem Standorte seines Sprengeis (s. Ziff. 1) stehen i h m — bei einer größeren Zahl von Beichtenden usw. unter Zuziehung des oder der am Ort befindlichen Zivilgeistlichen — die seelsorgerlichen Handlungen u n d Verrichtungen bei den i n § 2 bezeichneten Personen katholischer Konfession zu 1 0 . . . . 9 10
Siehe Staat u n d Kirche, Bd. I, S. 243, A n m . 18. Es folgen die Bestimmungen über die Ausübung der Militärseelsorge.
Teil Β Staat und katholische Kirche in der Zeit Wilhelms II. Fünftes Kapitel Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung I . D e r Staat u n d d i e P a p s t w a h l Das erste Vatikanische Konzil und der Kulturkampf hatten gezeigt, in welchem Maß das Verhältnis des Staats zur katholischen Kirche von der Entwicklung des Papsttums und vom Träger des höchsten kirchlichen Amts bestimmt war. Deshalb beobachteten die Regierungen der größeren europäischen Staaten während der Amtszeit eines Papstes aufmerksam, welche Kardinäle für eine künftige Papstwahl in Frage kämen. Die Regierungen Österreichs, Spaniens und Frankreichs betrieben solche Erkundungen auch im Hinblick auf das von ihnen in Anspruch genommene Gewohnheitsrecht, mittels des „jus exclusivae" mittelbar in die Wahl einzugreifen 1. Diese „Exklusive" gab ihnen die Möglichkeit, einen ihnen nicht genehmen Kardinal von der Wahl zum Papst auszuschließen. Wenn auch nicht formell-rechtlich war das Kardinalskollegium doch kraft rechtlichen Herkommens durch das indirekte staatliche Eingreifen daran gehindert, den betroffenen Kandidaten zum Papst zu wählen. Die Exklusive wurde zum letzten Mal nach dem Tod Papst Leos XIII. 2 angewandt. Die österreichische Regierung lehnte die in Aussicht stehende 1 Das „jus exclusivae" w a r kirchlicherseits nicht formell anerkannt, sondern n u r geduldet. Es wurde dadurch ausgeübt, daß ein von der Regierung beauftragter, i h r nahestehender K a r d i n a l i m Kardinalskollegium gegen die W a h l eines Kandidaten ein Veto einlegte, w e n n zu erwarten war, daß der abgelehnte Kandidat beim nächsten Wahlgang die notwendige Zweidrittelmehrheit erhalten könnte. Dieses Veto durfte bei einer Papstwahl insgesamt n u r einmal eingelegt werden, was eine diplomatische Verständigung zwischen den Staaten, die das jus exclusivae i n Anspruch nahmen, erforderte; der beauftragte K a r d i n a l mußte entscheiden, ob und w a n n er von seinem A u f t r a g Gebrauch machte. Dazu u. a. L. Wahrmund, Das Ausschließungsrecht (Jus exclusivae) der katholischen Staaten Österreich, Frankreich und Spanien bei den Papstwahlen (1888); A. Eisler, Das Veto der katholischen Staaten bei der Papstwahl seit dem Ende des 16. Jahrhunderts (1906); U. Stutz, Der neueste Stand des deutschen Bischofswahlrechtes (1909), S. 231 if. 2 Staat und Kirche, Bd. I I , S. 764, A n m . 2.
16*
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5. Kap. : Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
Wahl des bisherigen Kardinalstaatssekretärs Rampolla 3 entschieden ab, da dieser ein Gegner des Dreibunds und um die Annäherung des Vatikans an Frankreich und Rußland bemüht war. Sie beauftragte deshalb den Kardinalerzbischof von Krakau Puscyna, das österreichische Veto gegen Rampolla im Bedarfsfall dem Kardinalskollegium vorzutragen 4. Puscyna stimmte sein Vorgehen vor allem mit dem Breslauer Fürstbischof Kopp 5 ab, der in einem Schreiben an den deutschen Reichskanzler Fürst Bülow 6 über den Verlauf der Papstwahl berichtete (Nr. 107). In der Sache hatte der österreichische Einspruch Erfolg 7. Zum Papst wurde der bisherige Patriarch von Venedig Giuseppe Sarto gewählt. Nachdem dieser sein Amt als Papst Pius X. 8 übernommen hatte, trat Rampolla als Kardinalstaatssekretär zurück; sein Nachfolger wurde der achtunddreißig jährig e kuriale Diplomat Merry del Val 9. Bald nach dem Antritt seines Amts suchte Papst Pius X. die Exklusive zu beseitigen. Auf Grund einer Ausarbeitung des Monsignore Pacelli 10 erließ er am 20. Januar 1904 die Konstitution „Commissum Nobis" (Nr. 108). In ihr wurde das jus exclusivae bestritten und den Kardinälen untersagt, bei Papstwahlen entsprechende Aufträge der Regierungen anzunehmen 11. Diese Maßnahme war zwar durch das Vorgehen Österreichs ausgelöst; doch sie zielte zugleich und vor allem auf Frankreich, wo sich die radikale Trennung von Staat und Kirche vorbereitete. Dem Vatikan mußte es als unvertretbar erscheinen, daß die Regierung eines im strikten Sinn religionsneutralen oder sogar religions feindlichen Staates ein jus exclusivae bei der Papstwahl in Anspruch nehmen würde. 3
Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 885, A n m . 3. Vgl. F. Engel-Janosi, Österreich u n d der V a t i k a n 1846 - 1918, Bd. 2 (1960), S. 2 ff. 5 Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 822, A n m . 14. 6 Oben S. 10, A n m . 13. 7 Zweifelhaft ist, ob nicht auch ohne das österreichische Veto die W a h l auf Giuseppe Sarto gefallen wäre. 8 Pius X., vorher Giuseppe Sarto (1835 - 1914), 1858 zum Priester geweiht, 1875 Cancellano i n Treviso und Spiritual am dortigen Seminar, 1884 Bischof von Mantua, 1893 Patriarch von Venedig und K a r d i n a l ; 4. August 1903 - 20. A u gust 1914 Papst. 1951 selig-, 1954 heiliggesprochen. 9 Raffaele Merry del Val (1865 - 1930), geb. i n London als Sohn des spanischen Gesandten, 1888 Priester, z. T. schon vorher m i t diplomatischen Missionen i n London, B e r l i n und Wien betraut; 1892 apostolischer Delegat i n K a nada; 1900 Titularerzbischof von Nicaea und Präsident der Academia dei N o b i l i ; 1903 bei der Wahl Pius X. Sekretär des Konklave, i m gleichen Jahr erst Prostaatssekretär, dann Kardinalstaatssekretär Pius X. Nach der W a h l Benedikts XV. 1914 Sekretär des Hl. Offiziums. Unter Pius XI., besonders seit 1926, an der Vorbereitung der Lateranverträge beteiligt. 10 Eugenio Pacelli : siehe unten S. 858. 11 Diese Vorschriften bestätigte Papst Pius X. durch das Papstwahldekret „Vacante Sede Apostolica" v o m 25. Dezember 1904 (Acta P i i X . Pontificis M a x i m i , I I I , 1908, S. 239 ff.); sie fanden Eingang i n das Papstwahldekret Papst Pius XII. „Vacantis Apostolicae Sedis" v o m 8. Dezember 1945, n. 94 (Codex Juris Canonici, Anhang, Dokument I); vgl. das Motuproprio Johannes XXIII. „ S u m m i Pontificis electio" vom 5. September 1962 (ebenda, Anhang, Dokument V I I ) . 4
I. Der Staat u n d die Papstwahl
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Nr. 107. Schreiben des Fürstbischofs Kopp an Reichskanzler Fürst Bülow vom 4. August 1903 (B. Fürst von Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. 1, 1930, S. 619 if.) — Auszug — . . . Nach längerer Erwägung kamen w i r 1 2 zu dem Entschluß, die K a n d i d a t u r Gottis 1 3 als aussichtslos fallenzulassen u n d Sarto unsere Stimmen zu geben. . . . Außerdem wurde dem K a r d i n a l Puscyna anheimgegeben, m i t seinem Auftrage, die Exklusive gegen Rampolla einzureichen, nunmehr v o r zugehen. Puscyna w a r an diesem Abend noch zweifelhaft. Indes hatte der österreichische Botschafter beim Heiligen S t u h l 1 4 auf meinen Rat bereits vor dem Beginn des Konklaves Oreglia 1 5 mitgeteilt, daß er einen A u f t r a g seines kaiserlichen H e r r n an das Konklave habe und deshalb u m eine Audienz bitte. Da er aber keine Audienz mehr erhalten würde, riet ich i h m zugleich, dem Camerlengo 1 6 schriftlich mitzuteilen, K a r d i n a l Puscyna habe v o m Kaiser Franz Joseph den A u f t r a g erhalten, die Exklusive gegen den K a r d i n a l Rampolla einzulegen. Oreglia hatte jedoch bis dahin dem K a r d i n a l - K o l l e gium hiervon keine M i t t e i l u n g gemacht. A m Morgen des 2. August benachrichtigte mich K a r d i n a l Puscyna, er habe seinen A u f t r a g schriftlich dem K a r dinal Oreglia überreicht, dieser weigere sich aber, dem Heiligen K o l l e g i u m davon Kenntnis zu geben. Als w i r uns nun zum dritten S k r u t i n i u m 1 7 am Morgen des 2. August i n der Sixtinischen Kapelle versammelten, k a m K a r d i nal Puscyna zu m i r und fragte leise: „Was sollen w i r tun, u n d was ich?" Ich antwortete i h m : „Sarto; Sie sofort vorgehen." — Aufsehen erregte dieser Vorgang nicht. Nach Eröffnung der Sitzung erbat sich n u n der K a r d i n a l Puscyna vom Camerlengo sofort das Wort und teilte dem K a r d i n a l - K o l l e gium mit, was er dem Camerlengo zugestellt habe. Dieser konnte n u n nicht 13 Nämlich die beiden deutschen Kardinäle Kopp (Breslau) u n d Fischer (Köln) sowie die fünf österreichischen Kardinäle. 14 Antonio Gotti (Ordensname: Hieronymus Maria de Immaculata Conceptions, 1834 - 1916), 1850 E i n t r i t t i n den Orden der unbeschuhten Karmeliten, Professor für Mathematik u n d Physik an der Marineschule i n Genua; K o n zilstheologe des Ordensgenerals beim I. Vaticanum; 1872 Generalprokurator, 1882 - 92 Ordensgeneral; 1892 Titular-Erzbischof von Petra u n d I n t e r nuntius i n Brasilien; dann nacheinander i n der K u r i e Präfekt der Pönitentiarie (1896), der Konsistorialkongregation, der Ordenskongregation (1899) und der Congregatio de Propaganda Fide (1902 - 16); seit 1895 Kardinal. 14 Nikolaus Graf Szecsen von Temerin (1857 - 1926) w a r 1901 - 1911 österreichischer Botschafter am Vatikan, 1911 - 1914 Botschafter i n Paris. 15 Luigi Oreglia di Santo Stefano (1828 - 1913), 1851 kath. Priester, seit 1863 i m Dienst des päpstlichen Staatssekretariats; 1860 päpstlicher Nuntius i n Brüssel, 1868 i n Lissabon (Titularerzbischof von Damiette); 1873 K a r d i n a l ; 1886 suburbikarischer Bischof von Palestrina; 1896 Kardinalbischof von Ostia und Velletri; Dekan des Kardinalskollegiums; vom Tod Leos XIII. bis zum A m t s a n t r i t t Pius X. Leiter der Geschäfte der Kurie. 16 Die Camera Apostolica unter der Leitung des Camerlengo dient zur V e r w a l t u n g der weltlichen Güter und Rechte des Heiligen Stuhls. I n der Zeit der Sedisvakanz geht die gesamte Jurisdiktion über diese Güter u n d Rechte auf den Camerlengo über. 17 D. h. zum dritten Wahlgang bei der Papstwahl.
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5. Kap. : Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
mehr umhin, von der Exklusive des Kardinals Rampolla durch die Krone Österreich dem Heiligen K o l l e g i u m M i t t e i l u n g zu machen, u n d ließ das Puscynasche Schreiben vorlesen. Ich erhielt den Eindruck, als ob diese M i t t e i l u n g unter den Kardinälen eine w e i t geringere Bewegung hervorrief, als ich befürchtet hatte. Denn es w a r die Gefahr vorhanden, daß n u n noch ein größerer Teil der Kardinäle bei ihrer Abneigung gegen fremde E i n mischungen i n die Papstwahl für Rampolla und seine W a h l Partei nehmen würden. A l l e i n es erhob sich niemand, u m gegen die österreichische E x k l u sive Einspruch zu erheben als Rampolla selbst, der i n leidenschaftlicher E r regung gegen dieses Vorgehen als einen neuen Ictus contra libertatem Ecclesiae protestierte. Eindruck machte er damit nicht; denn er behielt i m dritten S k r u t i n i u m 29 Stimmen, während Sarto 20 erhielt u n d G o t t i auf 9 herabging. . . . I m siebenten S k r u t i n i u m fiel dann die Entscheidung (4. August v o r mittags 10 Uhr). Es erhielten Sarto 50 Stimmen, Rampolla 10, Gotti 2 S t i m men. . . . Bemerken muß ich noch, daß ich dem K a r d i n a l Rampolla seit sieben Jahren w i e d e r h o l t . . . vorausgesagt habe, was i h m von Österreich drohe. Noch am Tage meiner A n k u n f t , am 23. Juli, habe ich i h m sein Schicksal deutlich auseinandergesetzt; er meinte, er suche nichts als vollständige Ruhe. A l lein er erhoffte anscheinend seine Wahl und hielt sie für so sicher, daß er meinen Worten keinen Glauben schenkte. A n der Agitation gegen i h n habe ich nicht teilgenommen.
Nr. 108. Konstitution Papst Pius X . gegen die Einmischung des Staates in die Papstwahl v o m 20. Januar 1904 (Lat. T e x t : Archiv f. kath. Kirchenrecht, 89, 1909, S. 492 ff.) — Ubersetzung i m Auszug — Das Uns durch Gottes Fügung anvertraute A m t , die gesamte Kirche zu leiten, ist Uns eine ernste Mahnung, nach K r ä f t e n dafür zu sorgen, daß nicht auf Grund des Einflusses einer fremden Macht jene Freiheit irgendwelchen Schaden leidet, m i t der Christus die Kirche zum Wohle aller ausstattete und die so viele Boten des Evangeliums, so viele heiligste Bischöfe u n d so viele überragende Vorgänger i n Unserem A m t durch Wort u n d Schrift und auch durch i h r vergossenes B l u t verteidigten. I h r V o r b i l d u n d ihre A u t o r i t ä t w a ren Grund dafür, daß Wir, sobald Wir, ohne dessen w ü r d i g zu sein, diesen S t u h l Petri bestiegen, es für Unsere apostolische Pflicht hielten, vor allem anderen für eine Entfaltung des Lebens der Kirche i n voller Freiheit zu sorgen, ohne jede Einmischung von außen; denn so soll sie gemäß dem W i l l e n ihres göttlichen Stifters wachsen, u n d so erfordert es ihre erhabene Sendung. Wenn es aber i m Leben der Kirche eine Aufgabe gibt, die eine derartige Freiheit ganz besonders verlangt, dann ist es die W a h l des römischen Pontifex. . . . Dieser vollen Freiheit bei der W a h l des höchsten H i r t e n steht vor allem das staatliche Veto entgegen, wie es von den höchsten Lenkern einiger Staaten mehr als einmal i n Anspruch genommen wurde. Hierdurch w i r d der Ver-
I I . Die Freiheit der Bischofs wählen
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such unternommen, einer bestimmten Person den Zugang zum höchsten Pontifikat zu verwehren. Wenn das auch zuweilen vorkam, so wurde es doch niemals vom Apostolischen Stuhl anerkannt. Ja, i n den Feststellungen der römischen Päpste über die A b h a l t u n g des Konklave waren diese u m nichts m i t größerem Nachdruck u n d Eifer bemüht als darum, das Eingreifen i r gendeiner äußeren Macht von der heiligen Versammlung der Kardinäle fernzuhalten, w e n n sie zur W a h l des Pontifex zusammengerufen ist. . . . Da nun aber, wie Uns auch die Erfahrung lehrte, die bisherigen Feststellungen, m i t denen man das staatliche Veto oder die Exklusive verhindern wollte, nicht die entsprechende Berücksichtigung fanden u n d auf G r u n d der veränderten Zeitlage Uns i n der Gegenwart einer derartigen Einmischung des Staates noch viel deutlicher jede Begründung durch Vernunft oder B i l l i g keit zu fehlen scheint, verurteilen W i r entschieden k r a f t des Uns anvertrauten apostolischen Amtes u n d getreu dem V o r b i l d Unserer Vorgänger nach reiflicher Erwägung der Sache, i n vollem Wissen u n d aus eigenem W i l l e n das staatliche Veto oder die sogenannte Exklusive, auch i n der F o r m eines einfachen Wunsches, und ebenso jede Einflußnahme und Einmischung, welcher A r t auch immer sie sein mag. W i r verkünden, daß es niemanden, nicht einm a l den höchsten Regenten der Staaten, erlaubt ist, unter welchem V o r wand auch immer sich i n die bedeutsame Aufgabe der W a h l des römischen Pontifex einzumischen oder einzuschalten. Deshalb verbieten W i r k r a f t des heiligen Gehorsams, unter Androhung des göttlichen Gerichtes u n d der Strafe der Exkommunikation, die dem besonderen U r t e i l des zukünftigen Pontifex unterstellt ist, den erhabensten und ehrwürdigsten Eminenzen den Kardinälen, ihrer Gesamtheit u n d jedem einzelnen, den jetzt lebenden sowie zukünftigen, sowie dem Sekretär des heiligen Kollegiums der Kardinäle u n d allen anderen, die am Konklave teilnehmen, daß sie, unter welchem V o r w a n d auch immer, von irgendeiner staatlichen Macht den A u f t r a g entgegennehmen, ein Veto oder eine E x k l u sive, und sei es auch nur i n F o r m eines einfachen Wunsches, vorzutragen, oder von einem derartigen Veto, wie auch immer sie davon Kenntnis erlangt haben, sei es dem gesamten versammelten K o l l e g i u m der Kardinäle oder einzelnen Purpurträgern, sei es schriftlich oder mündlich, sei es direkt u n d unmittelbar oder unter der H a n d u n d durch andere M i t t e i l u n g zu machen. Dieses Verbot soll nach Unserem W i l l e n f ü r alle erwähnten Formen der E i n mischung u n d alle anderen denkbaren Weisen des Vorgehens gelten, m i t denen weltliche Mächte, welchen Ranges u n d von welcher Bedeutung auch immer sie sein mögen, sich i n die W a h l des Pontifex einmischen wollen. . . .
I I . D i e F r e i h e i t der B i s c h o f s w a h l e n Die Zirkumskriptionsbullen, die nach 1815 in Preußen, in Hannover und im Bereich der Oberrheinischen Kirchenprovinz die katholischen Diözesen neu konstituierten und ihren Umfang festlegten, regelten gleichzeitig die staatlichen Mitwirkungsbefugnisse bei den Bischofswahlen 1. Die Domkapitel 1
Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 91, 92,109,110,121.
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5. Kap.: Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
waren danach verpflichtet festzustellen, daß die Staatsregierung gegen die für die Wahl vorgesehenen Kandidaten nicht den Einwand der Mindergenehmheit erhoben. Diese Regelung bot für das staatliche Eingreifen manche Möglichkeiten, die über ein bloß negatives Votum gegenüber einzelnen Kandidaten hinausgingen. Auch nach der Beilegung des Kulturkampfs überschritt die Einflußnahme der Regierungen nach der Ansicht der Kurie gelegentlich das Maß des Zulässigen. Dies galt nach vatikanischer Meinung zum Beispiel bei der 1899 vorgenommenen Wahl des Nachfolgers des Kölner Erzbischofs Kardinal Krementz 2, die unter dem Einfluß des der Staatsregierung nahestehenden Breslauer Fürstbischofs Kopp 3 auf den bisherigen Osnabrücker Bischof Simar 4 fiel 5. Bald nach dieser Wahl richtete der Kardinalstaatssekretär Rampolla am 20. Juli 1900 ein Schreiben an die preußischen und oberrheinischen Bischöfe und Domkapitel, in dem er sie aufforderte, bei den Bischofswahlen die Rechte der Kirche in vollem Umfang zu beachten und insbesondere zu verhindern, daß die Anwesenheit eines staatlichen Kommissars die Freiheit der Wahl beeinträchtige (Nr. 109). Zugleich aber erkannte das Schreiben des Kardinalstaatssekretärs das Recht des Staats erneut an, durch den Einwand der Minder genehmheit Kandidaten von der Bischofswahl auszuschließen. Das Schreiben, das rechtlich den Charakter einer innerkirchlichen Vollzugsverordnung zum Bischofswahlrecht trug, bestätigte somit im Ganzen diejenigen Regelungen, die Staat und Kirche schon im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts vereinbart hatten e. Die Besetzung der deutschen Erzbischofs- und Bischofsstühle in der Zeit zwischen 1890 und 1918 ergibt sich aus der unten S. 858 ff. zusammengestellten Liste.
Nr. 109. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Rampolla an die preußischen und oberrheinischen Bischöfe und Domkapitel über die Bischofswahlen 7 v o m 20. J u l i 1900 (Lat. T e x t : Archiv f. kath. Kirchenrecht, 81, 1901, S. 525 ff.) — Ubersetzung i m Auszug — Der heilige Stuhl erhielt Kenntnis davon, daß bei Bischofswahlen, die i n den meisten Teilen Deutschlands nach einer besonderen Rechtsordnung den K a p i t e l n zustehen, zuweilen i n einer Weise verfahren wird, die weder m i t der Freiheit der Kirche u n d der Würde des Apostolischen Stuhles noch m i t den Verträgen zwischen demselben und dem Staatsoberhaupt i n Einklang 2
Ebenda, Bd. I I , S. 100, A n m . 11, S. 518, 846. Ebenda, Bd. I I , S. 822, A n m . 15. 4 Hubert Simar: unten S. 858. 5 Vgl. N. Trippen, Das Domkapitel und die Erzbischofswahlen i n K ö l n 1821 1929 (1972), S. 294 ff. 8 U. Stutz, Der neueste Stand des deutschen Bischofswahlrechts (1909) enth ä l t eine detaillierte Interpretation des Schreibens. 7 Die Erstveröffentlichung des Schreibens i m Archiv f ü r katholisches K i r chenrecht nennt ungenau die „deutschen Bischöfe bzw. K a p i t e l " als Adressaten. 3
I I . Die Freiheit der Bischofswahlen
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steht. Da es aber für das Wachstum der Religion, für die Einmütigkeit von weltlichem und geistlichem A m t und für eine fruchtbare Ausübung der bischöflichen Aufgaben von größter Wichtigkeit ist, genauer zu bestimmen, welche Rechte und Pflichten das K a p i t e l i n diesem Zusammenhang hat, befahl unser heiligster Herr, Papst Leo X I I I . , i n seiner apostolischen Sorge und väterlichen Liebe, den Ordinarien der betroffenen Diözesen insgesamt sowie jedem einzelnen Folgendes darzulegen, damit es den K a p i t e l n mitgeteilt und von ihnen allen m i t Sorgfalt beachtet u n d befolgt werde. A u f diese Weise soll jeglicher Zweifel behoben, Mißbräuche, die sich eingeschlichen haben könnten, sollen beseitigt und die Freiheit der Kirche, die Zuverlässigkeit der Verträge u n d die Würde des Apostolischen Stuhles sollen für die weitere Z u k u n f t unangefochten gesichert werden. Vor allem ist zu beachten, daß die apostolischen Konstitutionen De Salute animarum, Impensa Romanorum Pontificum u n d A d Dominici gregis, sowie die Breven Quod de fidelium und Re sacra 8 , welche nach Maßgabe der m i t den Fürsten getroffenen Übereinkünfte von den römischen Pontiflzes steten Angedenkens Pius V I I . u n d Leo X I I . herausgegeben wurden, den Metrop o l i t a n · und Kathedralkapiteln i n Deutschland das Recht u n d die Pflicht zusprechen, i n voller Freiheit und gemäß den Normen der heiligen Kanones Erzbischöfe u n d Bischöfe zu wählen. Aufgabe u n d Pflicht der K a p i t e l ist es also, niemals zuzulassen, daß i h r so bestimmtes freies Wahlrecht, das ihnen vom Apostolischen Stuhl zugesichert u n d von der staatlichen Regierung i n entsprechenden Verträgen anerkannt ist, direkt oder indirekt verletzt oder eingeschränkt w i r d . Ferner läßt die beständige Lehre, von der der Heilige Stuhl, wie er immer offen erklärte, nicht abweichen w i l l noch kann, i m F a l l einer nicht katholischen Macht nur ein Eingreifen zu, das ausschließlich negativen Charakter trägt und die Freiheit der kanonischen W a h l nicht antastet. E i n positives M i t w i r k e n oder ein positiver Einfluß einer solchen Macht dagegen, aber auch das uneingeschränkte Recht auf Ausschluß bei der W a h l der Hirten, die „der heilige Geist dazu bestimmte, die Kirche Gottes zu l e i ten" 9 , würde diese Freiheit verletzen oder einschränken. Das Ausschließungsrecht, das einem nicht-katholischen Fürsten beziehungsweise einer nicht-katholischen Regierung zugestanden w i r d , zielt darauf ab, daß Personen, die diesem Fürsten oder dieser Regierung minder genehm sind 1 0 , nicht gewählt werden. Es ist daher Sache der Kapitel, nur solche Kandidaten auf die Liste zu nehmen, von denen vor dem feierlichen W a h l akt feststeht, daß sie außer durch andere Gaben, die erforderlich sind, u m die Kirche zu lenken, zu schützen u n d i n Frieden zu regieren, durch den 8
Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 91, 92,109,110,121. Vgl. Apostelgeschichte 20, 28 sowie die Enzyklika Leos X I I I . „ D i v i n u m i l l u d munus" vom 9. M a i 1897 (Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum, 34. Aufl. 1967, n. 3328). 10 Der lateinische Text verwendet hier und i m Folgenden den terminus technicus : Personae minus gratae. 0
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5. Kap. : Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
Vorzug der K l u g h e i t und durch ein eifriges Bestreben, die öffentliche Ruhe zu wahren u n d 1 1 die Treue zu halten, sich auszeichnen u n d deshalb dem Landesherrn nicht minder genehm sind. Ferner sollen die zur W a h l Berechtigten daran denken u n d ernsthaft erwägen, wie wichtig u n d bedeutungsvoll ihre Aufgabe ist. Sie sollen sich nichts anderes als das H e i l der Seelen und den Nutzen der Kirche vor Augen stellen, damit sie so alle n u r menschlichen Rücksichten hintansetzen u n d allein dem ihre Stimme geben, den sie für den Geeignetsten u n d W ü r d i g sten halten. Da aber n u r Männer, die dessen w ü r d i g sind und die der Kirche möglichst viel Nutzen bringen, anempfohlen werden sollen, sind die zur W a h l Berechtigten gehalten, n u r solche i n die Reihe der Kandidaten aufzunehmen, die nach ihrem U r t e i l sich tatsächlich durch alle Eigenschaften auszeichnen, welche für die heilige und weise Lenkung der Kirche erforderlich sind. Wenn sie nämlich Männer unter die Kandidaten aufnehmen würden, die sich zwar bislang viele Verdienste erworben haben, aber wegen ihres fortgeschrittenen Alters oder ihres Gesundheitszustandes oder aus irgendeinem anderen G r u n d den Aufgaben des Amtes nicht gewachsen sind, würden sich die Kanoniker der Gefahr aussetzen, Männer zu wählen, von denen sich dann herausstellt, daß sie ungeeignet sind, zum größten Schaden der Kirche 1 2 . Uber die Teilnahme eines Regierungskommissars an den Wahlen enthalten die einschlägigen A k t e n u n d Dokumente des Apostolischen Stuhles keine Bestimmungen und erteilen oder bestätigen folglich der Regierung auch keine Rechte. Sollte eine derartige Beteiligung der vollen Freiheit der W a h len und der Würde der Kirche irgendwie Abbruch tun, können und dürfen die K a p i t e l das nicht zulassen. Insbesondere k a n n der Apostolische Stuhl nicht gestatten, daß die D o m herren bei der M i t t e i l u n g der Wahlergebnisse an den Kommissar i n irgendeiner Form eine B i l l i g u n g oder Bestätigung seitens der staatlichen Gewalt nachzusuchen oder einzuholen sich den Anschein geben. Es ist auch nicht zulässig, daß dem wertenden V o l k sofort die W a h l als endgültig u n d abgeschlossen mitgeteilt w i r d . Vielmehr soll das Ergebnis der W a h l so veröffentlicht werden, daß zugleich die Erklärung abgegeben w i r d , der A k t des K a pitels werde kirchenrechtlich erst w i r k s a m werden, wenn er v o m höchsten Pontifex bestätigt ist. Demzufolge soll auch die feierliche öffentliche D a n k sagung für die erfolgte W a h l solange aufgeschoben werden, bis m a n zuverlässige Nachricht von der apostolischen Bestätigung hat 1 3 . . . .
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Scilicet: dem Landesherrn bzw. dem Staat. I m Jahr 1898 starben zwei Bischöfe, die zwar schon durch den Papst bestätigt, aber noch nicht inthronisiert waren: der Freiburger Erzbischof Komp u n d der Rottenburger Bischof v. Linsenmann (unten S. 861 f.). 13 Dadurch entstanden besonders lange Vakanzen. A u f diese Vorgänge spielt das Schreiben an. 12
I I I . Die Stellung der deutschen Kardinäle
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I I I . D i e S t e l l u n g der deutschen K a r d i n ä l e Während die deutschen Einzelstaaten rechtliche Möglichkeiten zur Einflußnahme auf die Besetzung von Bischofs stuhlen erworben hatten, lag das Recht zur Ernennung von Kardinälen ausschließlich in der Hand des Papstes 1. Allerdings kannte auch dieser Grundsatz Abstufungen — je nachdem, ob es sich um einen in Rom tätigen Kurienkardinal, einen in seiner Diözese bleibenden Nationalkardinal oder einen auf Vorschlag eines regierenden Fürsten berufenen Kronkardinal handelte. Das Recht, Kronkardinäle vorzuschlagen, kam herkömmlicherweise am Ende des 19. Jahrhunderts nur Österreich, Frankreich, Spanien und Portugal zu — also von Portugal abgesehen den Mächten, die auch ein Ausschließungsrecht bei der Papstwahl für sich in Anspruch nahmen2. Nach der Beilegung des Kulturkampfs kam es zu Erwägungen, ob nicht auch für Deutschland dem Kronkardinalat vergleichbare Stellungen geschaffen werden könnten. Teilweise, in verstärktem Maß in den Jahren vor dem und während des Ersten Weltkriegs, waren solche Überlegungen auch von der Überzeugung bestimmt, die Zahl der einer Nation zugestandenen Kardinalssitze sei von Bedeutung für das dieser Nation von der Kurie zuerkannte Ansehen. Der allgemeine kuriale Brauch ist anschaulich dargestellt in einem Bericht der bayerischen Gesandtschaft beim Vatikan von 1903 (Nr. 113). Der gleitende Übergang zwischen Nationalkar dinalat und Kronkardinalat zeigte sich deutlich bei der Ernennung des Breslauer Fürstbischofs Kopp zum Kardinal. Die Anregung ging von der preußischen Regierung aus; der Papst jedoch vermied einen Präzedenzfall, indem er im Januar 1893 gleichzeitig den Kölner Erzbischof Krementz mit der Kardinalswürde bekleidete 3 (Nr. 110, Nr. 111). Während in Preußen seitdem ständig zwei Kardinäle residierten, trug keiner der bayerischen Bischöfe den Kardinalshut; vielmehr gab es während des ganzen 19. Jahrhunderts nur aus Bayern stammende Kurienkardinäle 4. Dies löste im Jahre 1903 in der bayerischen Regierung Bestrebungen aus, die auf die Begründung eines bayerischen Kronkardinalats zielten (Nr. 112,113). Doch erwiesen sie sich als undurchführbar. In der ganzen Entwicklung seit der Säkularisation gab es in Deutschland keinen der staatlichen Nominierung des Fürstbischofs Kopp entsprechenden Parallelfall (Nr. 114). Es dauerte bis zum Jahr 1914, ehe ein in Bayern residierender Bischof die Kardinalswürde erhielt. Dabei folgte der Papst nicht dem Wunsch des bayerischen Ministerpräsidenten Graf Hertling 5, der den damaligen 0 Bischof von Speyer Michael Faulhaber zum Kardinal ernannt wissen wollte. 1 Vgl. zur kirchenrechtlichen Stellung der Kardinäle E. Eichmann/K. Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts, Bd. I (10. Aufl. 1959), S. 361 ff. 2 Vgl. oben S. 243. 3 Vgl. Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 100, 822. 4 Nämlich Karl August Graf von Reisach (vgl. Staat u n d Kirche, Bd. I, S. 473, Anm. 12, S. 476 ff.), Gustav Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst (Staat und Kirche, Bd. I I , S. 536, Anm. 3), der Kirchenhistoriker Joseph Hergenröther sowie der Rektor des Collegium Germanicum Andreas Steinhuber. 5 Vgl. oben S. 185, A n m . 5. 6 Vgl. unten S. 863.
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5. Kap.: Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
Aus Gründen der Anciennität verlieh Pius X. den Kardinalsrang vielmehr am 25. Mai 1914 dem Erzbischof von München-Freising Franz v. Bettinger 7.
Nr. 110. Schreiben Papst Leos X I I I . an Kaiser Wilhelm II. über die Ernennung preußischer Kardinäle v o m 4. Dezember 1892 (Franz. T e x t : H. Philippi, Kronkardinalat oder Nationalkardinalat, i n : Hist. Jb. 80, 1961, S. 185 ff. [S. 214 f. Anm. 5]) — Übersetzung — Majestät, W i r haben die B i t t e nicht vergessen, die Eure Majestät vor einem Jahr an uns gerichtet hat. Eure Majestät wünschte den Fürstbischof von Breslau Mgr. K o p p m i t dem heiligen Purpur bekleidet zu sehen. W i r haben die Genugtuung, Eurer Majestät ankündigen zu können, daß er, i n Übereinstimmung m i t I h r e n Wünschen, i m nächsten Konsistorium, das i m Monat Januar stattfinden w i r d , zur Kardinalswürde erhoben werden w i r d . W i r haben uns vorgenommen, zur selben Zeit der Kirche Deutschlands, wie Eurer Majestät bereits bekannt ist, noch ein anderes Unterpfand Unseres Wohlwollens zu geben, indem w i r den heiligen Purpur auch dem H e r r n Erzbischof von K ö l n 8 übertragen, dessen Tugend und dessen Verdienste der hohen Stellung entsprechen, die er i n der katholischen Hierarchie innehat. W i r zweifeln nicht daran, daß diese A n k ü n d i g u n g Eurer Majestät w i l l kommen ist, die, wie W i r überzeugt sind, die beiden neuen Würdenträger der katholischen Kirche m i t I h r e m Wohlwollen bedenken w i r d . Möge es Eurer Majestät gefallen, die aufrichtigsten und ergebensten W ü n sche entgegenzunehmen, die W i r für I h r Glück und das Wohlergehen Ihrer hohen Familie hegen.
Nr. 111. Schreiben Kaiser Wilhelms II. an Papst Leo X I I I . über die Ernennung preußischer Kardinäle v o m 20. Dezember 1892 (Entwurf, vom Staatssekretär Freiherr v. Marschall gezeichnet, franz. T e x t : H. Philippi, Kronkardinalat oder Nationalkardinalat, i n : Hist. Jb. 80, 1961, S. 185 if. [S. 215, A n m . 5]) — Übersetzung — Erhabenster Pontifex ! Ich hatte die Ehre, den Brief zu erhalten, i n dem Eure Heiligkeit M i r davon M i t t e i l u n g gemacht hat, daß i m nächsten Konsistorium i m L a u f des Monats Januar der Fürstbischof von Breslau u n d der Erzbischof von K ö l n 7 Vgl. unten S. 863. Z u m Ganzen siehe H. Philippi, Kronkardinalat oder Nationalkardinalat, i n : Hist. Jb. 80 (1961), S. 185 ff.; M. Körner, Staat u n d Kirche i n Bayern 1886 - 1918 (1977), S. 136 ff. 8 Philipp Krementz (vgl. Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 100, A n m . 11).
I I I . Die Stellung der deutschen Kardinäle
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zur Kardinalswürde erhoben werden sollen. Ich beeile Mich, Eurer H e i l i g keit f ü r diese M i t t e i l u n g zu danken u n d I h r gegenüber die lebhafte Genugtuung zum Ausdruck zu bringen, die Ich bei der Nachricht empfinde, daß Sie zwei Prälaten, die i n Meinen Staaten ein A m t innehaben, f ü r w ü r d i g befunden hat, m i t dem P u r p u r bekleidet zu werden. Ich b i n überzeugt, daß dieser hohe Gunsterweis i n seinem vollen Gewicht von ganz Deutschland gewürdigt werden w i r d , u n d daß Meine katholischen Untertanen darin ein neues Zeichen für das große Wohlwollen Eurer Heiligkeit sehen werden. Ich nehme die Gelegenheit gern war, u m Eure Heiligkeit erneut Meiner hohen Wertschätzung und Meiner persönlichen Ergebenheit zu versichern.
Nr. 112. Schreiben des bayerischen Kultusministers v. Wehner an den Minister des Äußeren v. Podewils vom 1. M a i 1903 (H. Philippi,
Kronkardinalat oder Nationalkardinalat, i n : Hist. Jb. 80, 1961, S. 185 ff. [S. 209 ff.]) — Auszug —
Euerer Exzellenz beehre ich mich unter Bezugnahme auf die neuliche mündliche Besprechung zur Frage der Ernennung eines bayerischen Bischofs zum K a r d i n a l nachstehende Ausführungen zur geneigten Kenntnisnahme und Würdigung ganz ergebenst zu unterbreiten 9 . . . . Darüber, daß schon einmal seit der Säkularisation bezüglich der Erhebung eines bayerischen Bischofs zum K a r d i n a l m i t Beibehaltung seines Bistums Anregungen gemacht oder Verhandlungen eingeleitet worden wären, ist den Ministerialakten nichts zu entnehmen. . . . Da den Kardinälen nach der kirchlichen Hierarchie der Rang unmittelbar nach dem Papste zukommt, so würde ein zum K a r d i n a l erhobener bayerischer Bischof allen übrigen bayerischen Bischöfen und Erzbischöfen i m Range vorgehen. Die dienstliche Unterordnung der Suffragane unter die Metropoliten und der Instanzenzug bei den kirchlichen Gerichten würde aber von einer derartigen Rangerhöhung w o h l nicht berührt. Allerdings würde es mißlich erscheinen, wenn ein Suffraganbischof zum K a r d i n a l ernannt würde, und dann m i t Rücksicht auf seine persönliche höhere Stellung bei dem Z u sammentreffen m i t seinem Metropoliten diesem trotz dessen sonstiger dienstlicher Überordnung i m Range u n d i m äußeren Auftreten vorzugehen hätte. Dieses Bedenken k o m m t aber dann nicht i n Betracht, wenn es sich u m E r nennung eines Erzbischofs zum K a r d i n a l handelt. . . . Hinsichtlich des Konklave würde die Erhebung eines bayerischen Bischofs zum K a r d i n a l der politischen Bedeutung wenigstens insofern entbehren, als die Einräumung der Ausschließungsbefugnis gegenüber einzelnen W a h l k a n 9 Es folgt eine chronologische Aufzählung der bayerischen Bischöfe, die zwischen 1448 und 1573 die Kardinalswürde erhalten hatten, ferner über die Kardinalsernennungen des 19. Jahrhunderts (siehe oben Anm. 4).
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5. Kap. : Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
didaten (des jus exclusione) an Bayern hierbei nicht m i t i n Frage käme. Auch Preußen besitzt dieses Recht nicht. Neben Österreich, auf welches es v o m alten deutschen Reich übergegangen ist, w i r d es n u r noch Frankreich und Spanien zugestanden 10 . . . .
Nr. 113. Bericht der Bayerischen Gesandtschaft am Päpstlichen Stuhl an den bayerischen Kultusminister v. Wehner v o m 17. J u n i 1903 (H. Philippi,
K r o n k a r d i n a l a t oder Nationalkardinalat, i n : Hist. Jb. 80, 1961, S. 185 ff. [211 f.]) — Auszug —
Entsprechend der m i t hohem Ministerialerlasse Nr. 29 v o m 23. M a i lfd. Js. ertheilten Weisung gestatte ich m i r folgende vertrauliche Berichterstattung. Sollten Euer Excellenz der Angelegenheit einer etwaigen Cardinals-Ernennung für Bayern näher treten wollen, so würden, wie m i r unmaßgeblichst scheint, zwei gesonderte Fragen i n Betracht kommen müssen, nämlich die Erriclitung eines ständigen bayerischen Cardinalates einerseits oder die einfache Erhebung einer bayerischen Persönlichkeit zur Cardinalswürde andererseits. Vor A l l e m müßte festgestellt werden, welche von den zwei erwähnten Maßregeln i m Vatikane e r w i r k t werden soll. M a n unterscheidet drei Klassen von Cardinälen: I. die Cardinali d i Curia, I I . die Cardinali Nazionali, I I I . die Cardinali della Corona. Die „Cardinali d i Curia" werden alle ohne Ausnahme vom Heiligen Vater ex motu proprio ernannt, beziehen aus der päpstlichen Casse ihren Gehalt, müssen i n Rom residieren u n d dürfen nicht einen ausländischen, d. h. einen nicht italienischen — Bischofsstuhl innehaben. Die „Cardinali Nazionali" werden wie die Cardinali d i Curia vom Papste ex m o t u proprio ernannt. Sie müssen Ausländer (Nicht-Italiener) u n d i n ihrem Heimatlande Bischöfe oder hohe kirchliche Würdenträger sein. Sie residieren i n ihrem Heimatlande und beziehen aus der päpstlichen Casse keine Subvention. Die „Cardinali della Corona" werden auf offizielle Anregung ihres Souveräns oder Staatsoberhaupts ernannt, erhalten von ihren Regierungen einen Gehalt, residieren i n ihrem Heimatlande u n d müssen i n demselben entweder einen erzbischöflichen oder bischöflichen Stuhl innehaben oder ein anderes hohes Kirchenamt, wie etwa jenes eines Großalmoseniers 11 , bekleiden. 10
Dazu oben S. 243 f. Der Almosenier ist der Ordensgeistliche, der die zu Almosen bestimmten Fonds zu verwalten hat. Der Großalmosenier von Frankreich w a r seit der Zeit Franz I. (1515 - 1547) einer der ersten Beamten des Reichs, i n der Regel K a r 11
I I I . Die Stellung der deutschen Kardinäle
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Der Päpstliche Stuhl erkennt nachstehenden Staaten, welche zur Zeit der Bewilligung des Privilegiums i m V a t i k a n als „katholische Großmächte" erachtet wurden, das Recht zu, sich i m Cardinals-Collegium durch eine bestimmte Anzahl von Cardinali della Corona vertreten zu lassen, u n d zwar: Österreich durch fünf, Frankreich durch fünf, Spanien durch vier, Portugal durch einen. Der Entscheidung der Curia widersprechend beansprucht Österreich sechs, Frankreich sechs u n d Spanien fünf Kroncardinäle. Die Ernennung eines Kroncardinales geschieht nie ex m o t u proprio des Papstes, sondern immer auf das offizielle Verlangen des betreffenden Staatsoberhauptes. Die Ernennung eines Cardinale Nazionale erfolgt immer ex m o t u proprio des heiligen Vaters. Wegen einer solchen Ernennung m i t einer fremden Regierung i n offizielle Unterhandlung zu treten würde den vatikanischen T r a ditionen widersprechen. Indessen weigert Sich der Heilige Vater nicht immer, einen Seiner Heiligkeit i n vertraulicher Weise bekannt gegebenen Wunsch einer befreundeten Regierung i n wohlwollende Erwägung zu ziehen u n d demselben möglichst Rechnung zu tragen. Wie ich aus dem Erlasse Nr. 29 v o m 23. v. Mts. entnehmen zu dürfen glaube, fassen Euer Excellenz die Creirung eines i n Rom residierenden bayerischen Cardinale d i Curia zur Zeit nicht ins Auge. I n Folge dessen würde es sich n u r entweder u m die Errichtung eines bayerischen Kroncardinalates oder u m die Ernennung eines bayerischen Cardinale Nazionale handeln.
Nr. 114. Schreiben des preußischen Kultusministers v. Studt an den preußischen Außenminister Graf v. Bülow (H. Philippi,
vom 10. A p r i l 1904 Kronkordinalat oder Nationalkardinalat, i n : Hist. Jb. 80, 1961, S. 185 ff. [212 ff.]) — Auszug —
Seit dem Erlaß der Bulle de salute animarum i m Jahre 1821 sind von den preußischen katholischen Bischöfen zwei, Erzbischof Graf von Ledochowski i n Gnesen-Posen, i m Jahre 1875, und Erzbischof Dr. Melchers i n Cöln, i m Jahre 1885 zu Kardinälen d i Curia ernannt worden und haben als solche ihren Wohnsitz i n Rom genommen. Da die Beförderung dieser beiden K i r chenoberen aber m i t den kirchenpolitischen Verhältnissen während des sogenannten Kulturkampfes zusammenhängt, so dürften diese beiden Ausnahmefälle für die von der Königlichen Bayerischen Regierung gewünschte D a r legung ausscheiden. Was die übrigen, seit 1821 zu Kardinälen ernannten preußischen Bischöfe betrifft, so sind diese entweder Erzbischöfe von Cöln (von Geissei 1850; dinal. I n der Französischen Revolution aufgehoben, wurde diese Würde unter Napoleon I. wiederhergestellt, der sie seinem Onkel, dem K a r d i n a l Joseph Fesch (Staat und Kirche, Bd. I, S. 30, A n m . 1) verlieh. Auch unter Napoleon III. wurde die Einrichtung wiederbelebt.
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5. Kap. : Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
Dr. Krementz 1893; Dr. Fischer 1903) oder Fürstbischöfe von Breslau gewesen (Freiherr von Diepenbrock 1850 u n d Dr. Kopp 1893). Die Annahme der K ö n i g lichen Bayerischen Regierung, daß, von dem Ledochowski'schen Ausnahmefall abgesehen, der Papst immer nur den Inhabern bestimmter bischöflicher Stühle i n Preußen (Cöln und Breslau) den Purpur verliehen habe, trifft also, bisher wenigstens, tatsächlich zu. Es ist jedoch zweifelhaft, ob man u m deswillen schon bei den preußischen Kardinälen von einer Verbindung von National- u n d K r o n - K a r d i n a l a t sprechen kann. Denn nicht alle Erzbischöfe von Cöln oder Fürstbischöfe von Breslau sind zu Kardinälen ernannt w o r den. Die Erzbischöfe Freiherr von Spiegel (1825 - 35), Freiherr von Droste zu Vischering (1836 - 37) u n d Dr. Simar (1899 - 1902) sowie die Fürstbischöfe von Schimonski (1824 - 32), Graf Sedlnicky (1836 - 40), Knauer (1843 - 44), Dr. Förster (1853 - 1881) u n d Dr. Herzog (1882 - 1886) haben den P u r p u r nicht getragen. Auch ist die Anregung zur Kardinalsernennung n u r bezüglich des Fürstbischofs Dr. Kopp von der Staatsregierung ausgegangen. . . . Hiernach dürfte von den sämtlichen seit 1821 kreierten preußischen K a r dinälen nur auf den K a r d i n a l Kopp die Bezeichnung eines Kardinals della Corona insofern Anwendung finden können, als seine Ernennung auf staatliche I n i t i a t i v e zurückzuführen ist. A l l e übrigen, m. E. auch Fischer, werden n u r als K a r d i n a l i Nazionali bezeichnet werden können. Besondere Vereinbarungen über die Ernennung von Kardinälen bestehen m i t Rom nicht 1 2
I V . D i e Deutsche Z e n t r u m s p a r t e i i m V e r h ä l t n i s z u K i r c h e u n d Staat Die politische Bedeutung des deutschen Katholizismus war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in hohem Maß vom katholischen Verbandswesen bestimmt 1. Die meist gemeinsam von katholischen Geistlichen und Laien getragenen Organisationen waren durchweg eng an die kirchenpolitische Linie des Episkopats angeschlossen. Die Spannung zwischen der die Vereinigungsfreiheit nutzenden gesellschaftlichen Organisationsform und der dem katholischen Kirchenwesen eigentümlichen hierarchischen Bindung trat besonders bei der politischen Partei des deutschen Katholizismus, der Zentrumspartei, zutage. Seit ihrer Gründung in den Jahren 1870/71 war in der Zentrumspartei selber umstritten, ob sie eine politische oder eine konfessionelle Partei sei. In der Zeit des Kulturkampfs trat die konfessionelle Bindung und die kirchenpolitische Orientierung der Partei am Episkopat und an der Kurie in den Vordergrund; doch zeigte sich bei der Beilegung des Kulturkampfs im Verhalten der Reichstagsfraktion, vor allem im Septennatsstreit, daß diese 12 Es folgen Überlegungen zur Rangstellung der Kardinäle i m staatlichen Bereich u n d zu dem m i t der Kardinalswürde verbundenen finanziellen A u f wand. 1 Dazu Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 5.
I V . Die Deutsche Zentrumspartei i m Verhältnis zu Kirche u n d Staat
257
entschlossen war, sich jedem Versuch der Hierarchie zu bindenden Weisungen zu widersetzen 2. Die Wortführer des Zentrums unterstrichen immer wieder, daß die Partei sich an kirchliche Direktiven nur gebunden fühlen könne, wenn eigentliche Glaub ens fragen auf dem Spiel standen. In allen anderen Fragen nahm die Parteiführung, allerdings unter Widerspruch einer aktiven Minderheit, einen „überkonfessionellen" Charakter für die Partei in Anspruch. Es gelang der Partei jedoch nicht, diese Überkonfessionalität auch durch eine über Sonderfälle hinausgehende Beteiligung von Protestanten an ihrer Wirksamkeit, ihrem Mitgliederbestand und ihrer parlamentarischen Vertretung zum Ausdruck zu bringen. Der Konflikt über den Kurs des Zentrums verschärfte sich nach der Jahrhundertwende. Die „Berliner Richtung" unter der Führung des Abgeordneten Roeren 3 bekämpfte gleichzeitig den nunmehr regierungsfreundlichen wie den überkonfessionellen Kurs der Parteiführung. Dagegen forderte Julius Bachem4 als Wortführer der „Kölner Richtung" die konfessionelle Öffnung und konsequent politische Orientierung der Partei. Er tat dies in dem berühmt gewordenen, im März 1906 veröffentlichten Artikel „Wir müssen aus dem Turm heraus!" (Nr. 115) 5. Der Vorstoß Bachems löste eine heftige Gegenbewegung der „Integralisten" um Roeren aus. In ihr verband sich der Kampf um den konfessionellen Charakter des Zentrums mit dem Widerstand gegen überkonfessionelle christliche Gewerkschaften e. Bestärkt fühlte die „Berliner Richtung" sich auch durch die Verurteilung des „Modernismus", die Papst Pius X. zur gleichen Zeit aussprach 7. Eine Gruppe führender Zentrumspolitiker, die sich am Osterdienstag des Jahres 1909 in Köln zu einer vertraulichen Konferenz traf, forderte die politischen Organisationen des Katholizismus auf, sich enger an den Episkopat und an die Grundsätze der katholischen Weltanschauung anzuschließen (Nr. 116). Die Führung des Zentrums leistete den Forderungen der Integralisten jedoch erfolgreichen Widerstand. Ihr Prinzip, die kirchliche Bindung und die politische Orientierung der Partei im Gleichgewicht zu halten, fand in der Berliner Erklärung vom 28. November 1909 seinen programmatischen Ausdruck (Nr. 117). Die Vorsitzenden der Zentrumsfraktion im Deutschen Reichstag
2
Ebenda Nr. 416 f. Hermann Roeren (1844 - 1920), Jurist; 1890 - 1907 Oberlandesgerichtsrat i n K ö l n ; 1882 - 85 und 1891 - 1912 M d p r A H ; 1893 - 1912 MdR. 4 Julius Bachem (1845 - 1918) Jurist; seit 1869 Rechtsanwalt i n K ö l n u n d Mitarbeiter der „Kölnischen Volkszeitung", deren Redaktion er zusammen m i t Hermann Cardauns (unten S. 314, Anm. 6) bis 1915 führte; 1877 - 91 M d p r A H ; seit 1886 redigierte er das „Staatslexikon der Görres-Gesellschaft". 5 Der T i t e l greift eine auf Ludwig Windthorst zurückgehende Formulierung auf. I n einer Auseinandersetzung m i t Bismarck über die Schutzzollp o l i t i k sagte Windthorst am 28. November 1885 i m Reichstag: „Der T h u r m steht und w i r d stehen!" (Verh. des Reichstags 1885/86, Bd. I, S. 119). Vgl. E. Hüsgen, L u d w i g Windhorst. Sein Leben, sein W i r k e n (2. Aufl. 1911), S. 346. 6 Siehe unten S. 273 if. 7 Siehe unten S. 374 if. 3
17 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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5. Kap.: Die katholische Hierarchie und die katholische Laienbewegung
zwischen 1890 und 1918: Graf v. Ballestrem 8, Graf v. Hompesch 9, Frh. v. Hertling 10, Peter Spahn11 und Adolf Gröber 12 waren sämtlich Gegner der Berliner Richtung 13,
Nr. 115. Julius Bachem, Wir müssen aus dem Turm heraus! vom 1. März 1906 (Historisch-politische Blätter 137, 1906, S. 376 ff.) — Auszug — Eines der beliebtesten politischen Bilder ist das v o m Zentrumsturm. Und zwar bei Freund u n d Feind. Die Anhänger der Zentrumspartei preisen die Festigkeit u n d Unerschütterlichkeit dieses Turmes i n Prosa und Poesie. . . . U n d andererseits spähen die Gegner der Zentrumspartei eifrig aus nach Rissen i m Zentrumsturm, u n d es gibt für sie keine größere Freude, als wenn sie einen solchen Riß entdeckt zu haben glauben. Von Zeit zu Zeit geschieht das m i t einer gewissen Regelmäßigkeit, denn das liberale und konservative P u b l i k u m liest es immer gerne, wenn es sich auch schließlich herausstellt, daß es wieder nichts war. 8
Franz Graf v. Ballestrem: Bd. I I , S. 641, Anm. 7. Alfred Graf v. Honvpesch (1826- 1909); nach dem Studium i n Heidelberg und Berlin K a m m e r h e r r der K ö n i g i n und Kaiserin Augusta; 1863 - 64 M d p r A H ; 1867 - 70 u n d 1874 - 1909 M d R ; 1893 - 1909 Vorsitzender der Reichstagsfraktion des Zentrums. 10 Georg Freiherr v. Hertling (oben S. 185, Anm. 5); 1909 - 12 Vorsitzender der Reichstagsfraktion des Zentrums. 11 Peter Spahn (1846 - 1925), Jurist; 1874 Amtsrichter i n Marienburg (Westpr.), 1888 Landrichter i n Bonn, 1892 Oberlandesgerichtsrat i n Posen, dann i n Köln, anschließend Kammergerichtsrat i n Berlin; 1898 Reichsgerichtsrat i n Leipzig; 1905 Oberlandesgerichtspräsident i n Kiel, dann i n F r a n k f u r t a. M.; 1882 - 88 und 1891 - 1908 M d p r A H , 1884 - 1917 M d R ; 1917-18 preuß. Justizminister; 1919-20 MdWeimNatVers; 1920 - 25 M d R ; 1912-17 Vorsitzender der Reichstagsfraktion des Zentrums. 12 Adolf Gröber (1854- 1919), Jurist; 1880 Staatsanwalt i n Rottweil, dann Landrichter i n Schwäbisch Hall, anschließend Landgerichtsrat i n Heilbronn, 1912 Landgerichtsdirektor daselbst; 1887 - 1918 MdR, 1889 - 1918 M d w ü r t t I I . K , 1919 MdWeimNatVers; 1885 - 1919 Vorsitzender der w ü r t t . Zentrumspartei; 1918 Staatsekretär ohne Geschäftsbereich i m Kabinett Prinz Max von Baden; 1917 - 19 Vorsitzender der Zentrumsfraktion i m Reichstag; als solcher nahm er auch die Funktionen eines Vorsitzenden der Zentrumspartei wahr. 13 Vgl. v.a. L. K. Goetz, Das Centrum — eine konfessionelle Partei. Ein Beitrag zu seiner Geschichte (1906); K . Hoeber, Der Streit u m den Zentrumscharakter (1912); H. Roeren, Zentrum und K ö l n e r Richtung (1913); J. Bachem, Das Zentrum, wie es war, ist u n d bleibt (1913); H. Roeren, Veränderte Lage des Zentrumsstreites. Entgegnungen auf die K r i t i k meiner Schrift „ Z e n t r u m u n d Kölner Richtung" (1914). H. Teigel, W i r müssen aus dem T u r m heraus! Gedanken zur Krise des deutschen Parteiwesens (1925); K . Bachem, V o r geschichte, Geschichte und P o l i t i k der deutschen Zentrumspartei, Bd. V I I (1930, Nachdruck 1968), S. 156 ff.; E. Deuerlein, Verlauf u n d Ergebnis des „Zentrumsstreits" 1906 - 1909, i n : Stimmen der Zeit 156 (1955), S. 103 ff.; Th. Nipperdey, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918 (1961), S. 265 ff.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 49 ff. 0
I V . Die Deutsche Zentrumspartei i m Verhältnis zu Kirche u n d Staat
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Die Zentrumspartei hat zweifellos Recht, m i t Stolz auf das feste Gefüge der Parteiorganisation hinzuweisen, welches die Anwendung des Bildes von dem unüberwindlichen Turme rechtfertigt. Er steht n u n schon über drei Jahrzehnte. . . . Es könnte daher wie eine politische Ketzerei klingen, w e n n ich sage: w i r müssen aus dem Turme heraus! U n d doch sage ich es aus vollster Überzeugung i m Hinblick auf die politische Gesamtlage, w i e sie sich i m Deutschen Reiche gestaltet hat. Die nachstehende Ausführung w i r d erkennen lassen, in welchem Sinne dieser Ausspruch gemeint ist. Der Zentrumsturm . . . wurde i n der schweren Zeit des kirchenpolitischen Konfliktes errichtet. Er sollte der A b w e h r des staatskirchlichen Ansturmes dienen, welcher unter F ü h r u n g des gewaltigsten Staatsmannes des 19. Jahrhunderts gegen die katholische Kirche i n Preußen unternommen wurde. Der Zentrumsturm w a r das stärkste B o l l w e r k i n der Verteidigungsstellung, welche die K a t h o l i k e n gegenüber dem m i t allen M i t t e l n eines mächtigen Staatswesens unternommenen Angriff einzunehmen hatten. Der Angriff erfolgte auf kirchenpolitischem Gebiet; auf diesem Gebiete mußte natürlich auch zunächst die A b w e h r erfolgen. U n d sie w a r i n der Hauptsache erfolgreich. . . . Die katholische Kirche i m Deutschen Reich hat, von einzelnen nicht entscheidend ins Gewicht fallenden Bundesstaaten abgesehen 14 , überall das Maß von Freiheit behauptet, dessen sie notwendig bedarf, denn so ist zur Zeit die kirchenpolitische Lage i m Deutschen Reiche: Mögen nicht alle W ü n sche erfüllt sein, i m großen u n d ganzen k a n n die katholische Kirche i n Deutschland uneingeschränkt ihres Amtes walten. Der Kampf, den das Zentrum i n der ersten Zeit seines Bestehens zu führen hatte, war, wie gesagt ein kirchenpolitischer. Aber das Zentrum hat i h n nicht als kirchenpolitische F r a k t i o n lediglich m i t den M i t t e l n der Kirchenpolitik geführt. . . . Das Zentrum w a r auch schon zu der Zeit, da es ausschließlich aus Katholiken bestand, keine katholische, keine konfessionelle Fraktion. ... Wäre das Zentrum eine konfessionelle F r a k t i o n gewesen, so würde es die große Bedeutung, welche es i n unserem öffentlichen Leben erlangt hat, niemals haben erlangen können. Das erkannten nicht n u r die Gründer des Zentrums, das erkannten ebensogut seine Gegner, an der Spitze Fürst Bismarck selber. . . . Insbesondere i m Deutschen Reichstage, wo das Zentrum i n der Tat ein ausschlaggebender Faktor ist, hat es seine Aufmerksamkeit konstant allen Lagen des öffentlichen Lebens zugewendet; es ist dort insbesondere der T r ä ger der i m Vordergrunde stehenden Finanz- und Sozialpolitik. Alles, was dort i m letzten Jahrzehnt und darüber hinaus zustande gekommen ist, ist unter entscheidender M i t w i r k u n g des Zentrums zustande gekommen. . . . Trotzdem w i r d die Zentrumsfraktion neuerdings von verschiedenen Seiten wieder schärfer angegriffen als zu irgend einem früheren Zeitpunkt, von den schlimmsten Jahren des kirchenpolitischen Konfliktes abgesehen. F ü r die 14
17*
Oben Nr. 13 f.
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5. Kap. : Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
kirchenpolitischen Forderungen, welche sie noch geltend macht, findet sie heute weniger Entgegenkommen, wie noch vor wenigen Jahren, das hat sich anläßlich der jüngsten Beratung des Toleranzantrages gezeigt 15 . Es ist zweifellos an erster Stelle die E i n w i r k u n g des Evangelischen Bundes, welche i n dieser Beziehung die Temperatur verschlechtert h a t 1 8 ; auch Parteien u n d einzelne Abgeordnete, welche an sich eine minder abweisende H a l t u n g einnehmen, unterliegen dem Druck jener K a m p f es Vereinigung. . . . Es gibt auch noch katholische Kreise, i n denen das Zentrum lediglich die „katholische Volkspartei" ist u n d der politische Charakter des Zentrums keineswegs immer, wo es angezeigt erscheint, m i t einer alle Mißdeutung ausschließenden K l a r h e i t und Entschiedenheit betont wird. . . . Dazu kommt, daß katholischerseits an einzelnen Stellen konfessionelle Abgeschlossenheit auch da noch herrscht, wo sie sachlich nicht berechtigt ist. I n dieser Richtung hat offensichtlich am meisten der noch immer nicht aufgegebene Versuch geschadet, die interkonfessionelle berufsgenossenschaftliche Organisation der Arbeiter unter Geltendmachung spezifisch kirchlicher Gesichtspunkte zu vereiteln oder zu erschweren 17 , während längst für andere Berufsstände (Bauern, Handwerker) interkonfessionelle Organisationen zur Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen bestehen und unbeanstandet i n Tätigkeit sind. Auch diese Uberspannung des Konfessionalismus nährt mittelbar das noch i n so weiten akatholischen Kreisen bestehende Vorurteil, daß i m Grunde genommen auch die Zentrumsfraktion ein ausschließlich i m Interesse des Katholizismus geschaffenes Gebilde ist. Diese Vorstellung b e r u h t . . . auf einem Vorurteil, welches i n der ganzen Geschichte der Zentrumsfraktion selbst keine Stütze findet. . . . M a n muß . . . alles aufbieten, u m dieses schädliche, ja gemeingefährliche V o r u r t e i l zu zerstreuen, selbst unter Übung weitgehender Selbstverleugnung. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn ich den Satz an die Spitze dieser Betrachtung gestellt habe: w i r müssen aus dem T u r m heraus. Heraus nicht insofern, als w i r die starke Verteidigungsstellung aufzugeben hätten. Nein, w i r können u n d sollen sie beibehalten. Damit treten w i r niemandem zu nahe. Auch dem konfessionellen Frieden dient nicht, wer sich wehrlos macht. Aber die Abschließung, die Absperrung, welche i n dem Bilde des Turmes liegt, darf nicht über die Grenze hinaus gehen, welche durch die Verhältnisse gezogen ist. W i r sollen nicht i n dem Turme verbarrikadiert bleiben, sondern uns vor demselben aufpflanzen und i n immer weiterem Umkreise m i t den Mitteln, welche die Gegenwart an die Hand gibt, für das Programm der politischen Zentrumspartei eintreten, das sich wahrlich sehen lassen kann. Wenn das Z e n t r u m eine wahre Staatspartei ist, so soll es auch als solche sich fühlen u n d überall als solche geltend machen; keines seiner katholischen Mitglieder braucht deshalb ein Tüttelchen seiner religiösen Überzeugungen preiszugeben. 15 16 17
Vgl. oben Nr. 6 ff. Vgl. unten Nr. 219. Vgl. unten Nr. 127, ff.
IV. Die Deutsche Zentrumspartei i m Verhältnis zu Kirche u n d Staat
261
Je weiter die Kreise sind, i n welchen man die Gesamttätigkeit der Zentrumspartei kennen lernt, u m so mehr w i r d das gegen die Zentrumsfraktion noch bestehende V o r u r t e i l schwinden. Eines der Mittel, vielleicht das w i r k samste, u m diese bessere Erkenntnis i n die nichtkatholischen Provinzen u n d Bezirke zu tragen, kann erst bei den nächsten allgemeinen Wahlen zur A n wendung gebracht werden. Es muß unbedingt m i t vermehrter Umsicht auf die W a h l von solchen Abgeordneten nichtkatholischen Bekenntnisses hingew i r k t werden, welche gute Fühlung m i t dem Zentrum zu nehmen u n d zu unterhalten willens u n d geeignet sind. U n d zwar w i r d es m. E. gute P o l i t i k sein, solche Abgeordnete nicht n u r i n Wahlkreisen m i t überwiegend protestantischer Bevölkerung zu unterstützen, sondern auch i n einer Anzahl von Wahlkreisen, wo das Zentrum allein vielleicht die Mehrheit erlangen kann. Die Engen, die Ängstlichen, diejenigen, welche überall n u r den konfessionellen Gesichtspunkt geltend zu machen gewohnt sind, werden w o h l auch an dieser Anregung sich stoßen, u n d doch dürfte sie ernste Beachtung verdienen. Von solchen Kandidaten darf man kirchenpolitisch nichts anderes verlangen, als daß sie jeder Beschränkung der kirchlichen Freiheit widerstreben, die staatsbürgerliche Gleichberechtigung des katholischen Volksteils rückhaltlos anerkennen; i m Übrigen muß namentlich ihre sozialpolitische Stellung entscheidend sein! Es gibt solche Männer unter den Evangelischen und es w i r d ihrer mehr geben, sobald ihnen Gelegenheit geboten w i r d , i m öffentlichen Leben sich zu betätigen. M a n denke nur an die evangelischen Christlich-Sozialen. . . . Das ist ein P u n k t von geradezu vitaler Bedeutung für unser parlamentarisches Leben u n d für unser öffentliches Leben überhaupt. Das Zentrum darf nicht unter der E i n w i r k u n g der Verschärfung der konfessionellen Gegensätze, an der so viele arbeiten, i n eine splendid isolation geraten, welche die Erfüllung seiner Aufgabe f ü r Reich u n d V o l k aufs äußerste erschweren würde. Dem Bestreben, diese Gefahr zu verringern, sollen die vorstehend entwickelten, bzw. angedeuteten Gedanken dienen 1 8 .
Nr. 116. Grundsätze der „Osterdienstagskonferenz" vom 13. A p r i l 1909 (K. Bachem, Vorgeschichte, Geschichte u n d P o l i t i k der deutschen Zentrumspartei, Bd. V I I , 1930, S. 207) 1. Das Zentrum ist eine politische Partei, die sich zur Aufgabe gestellt hat, die Interessen des gesamten Volkes auf allen Gebieten des öffentlichen L e bens i m Einklang m i t den Grundsätzen der katholischen Weltanschauung zu vertreten. 18 Die öffentlichen Reaktionen auf diesen A u f r u f beantwortete Bachem i m nächsten Heft derselben Zeitschrift: Nochmals: W i r müssen aus dem T u r m heraus! (Hist.-Pol. Blätter 137, 1906, S. 503 ff.).
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5. Kap.: Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
2. Der große Einfluß, den der Volksverein für das katholische Deutschl a n d 1 9 auf das katholische Leben übt, erfordert einen engeren Anschluß an den Episkopat.
Nr. 117. Berliner Erklärung der leitenden Organe der Zentrumspartei v o m 28. November 1909 (K. Bachem, Vorgeschichte, Geschichte u n d P o l i t i k der deutschen Zentrumspartei, Bd. V I I , 1930, S. 236 f.) Die vereinigten Vorstände der beiden Zentrumsfraktionen des Reichstages u n d des preußischen Abgeordnetenhauses sowie der Landesausschuß der preußischen Zentrumspartei sind der Meinung, daß es gegenüber den fortgesetzten Mißdeutungen des Charakters der Zentrumspartei genügen könnte, auf das seit 1871 unverändert bestehende Programm u n d die fast vierzigjährige Tätigkeit des Zentrums zu verweisen. Sie glauben gleichwohl folgendes erklären zu sollen: 2 0 Die Zentrumspartei ist grundsätzlich eine politische nichtkonfessionelle Partei; sie steht auf dem Boden der Verfassung des Deutschen Reiches, w e l che von den Abgeordneten fordert, sich als Vertreter des gesamten deutschen Volkes zu betrachten. D a r u m erstrebt die Zentrumspartei den Schutz u n d die volle Gleichberechtigung aller Staatsbürger, deren Interessen sie i n steter Rücksicht auf die Wohlfahrt des Ganzen u n d auf das Gedeihen aller Klassen zu vertreten sucht. Schon das Programm der Zentrumsfraktion des Reichstags von Ende März 1871 verlangt unter Ziffer 2: „ F ü r die bürgerliche und religiöse Freiheit aller Angehörigen des Reichs ist die verfassungsmäßige Feststellung von Garantien zu erstreben u n d insbesondere das Recht der Religionsgesellschaften gegen Eingriffe der Gesetzgebung zu schützen." M i t diesem grundsätzlichen Charakter steht keineswegs i n Widerspruch, daß die Zentrumspartei i n den langen Jahren des Kulturkampfes die A b wehr der gegen den katholischen Volksteil gerichteten Maßnahmen auf dem Gebiete der Gesetzgebung u n d V e r w a l t u n g als erste u n d dringendste A u f gabe betrachten mußte, u n d daß es auch heute noch eine ihrer vornehmsten Pflichten ist, die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der katholischen M i n derheit zu wahren. Auch i n der E r f ü l l u n g dieser Pflicht hat die Zentrumspartei niemals den Charakter einer politischen Partei verleugnet, welche 19
Siehe unten Nr. 121 ff. Die „Berliner E r k l ä r u n g " w a r von den beiden Fraktionsvorsitzenden Dr. Frh. v. Hertling und Dr. Porsch sowie den Abgeordneten Karl Bachem, Julius Bachem, Konstantin Fehrenbach, Adolf Gröber, Karl v. Savigny, Karl Trimborn u. a. unterzeichnet. Auch Hermann Roeren schloß sich der E r k l ä rung m i t der folgenden Begründung an: „ W e i l die Definition der sog. Osterdienstags-Konferenz zu Mißdeutungen Anlaß gegeben hat, trete ich auf den Boden der i n der heutigen Versammlung vorgeschlagenen E r k l ä r u n g über den Charakter deà Zentrums." 20
V. Der deutsche Katholikentag
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auf den rechtlichen Grundlagen eines konfessionell gemischten Staates zu w i r k e n berufen ist. Abgesehen von dem Programm bietet die Tatsache der Zugehörigkeit fast aller ihrer Wähler und ihrer Abgeordneten zur katholischen Kirche genügend Bürgschaft dafür, daß die Zentrumspartei die berechtigten Interessen der deutschen K a t h o l i k e n auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens nachdrücklich vertreten w i r d . Dadurch verliert aber die Zentrumspartei nicht den Charakter einer rein politischen Partei. Die Zentrumspartei hat die Zugehörigkeit zur Partei niemals von der A n gehörigkeit zum katholischen Glaubensbekenntnis abhängig gemacht, u n d die Zentrumsfraktion des Reichstags hat auch tatsächlich bis heute stets Angehörige eines nichtkatholischen Glaubensbekenntnisses zu ihren M i t gliedern gezählt, welche allen, auch ihren intimsten Verhandlungen beigewohnt haben 2 1 . Dabei ist es als selbstverständlich zu betrachten, daß i n denjenigen Fragen, welche das religiöse Gebiet berühren, sich jeder Abgeordnete nach den Grundsätzen seines Glaubensbekenntnisses richtet. E i n solches Zusammenwirken katholischer u n d nichtkatholischer Männer innerhalb der Zentrumspartei ist ein wertvolles Unterpfand f ü r die Förderung des Friedens unter den christlichen Konfessionen u n d erleichtert es, auch dasjenige w i r k s a m zu schützen, was denselben gemeinsam ist. U n d daß es ein weites Gebiet solcher gemeinsamen Grundsätze und gemeinsamen Interessen gibt, lehrt das öffentliche, insbesondere auch das politische Leben unserer Tage. I n diesem Geiste w i r d die Zentrumspartei, fest auf dem Boden der V e r fassung stehend, auch fernerhin bestrebt sein, unbeirrt durch die das Gemeinwohl schädigende konfessionelle Hetze, ihre Pflicht gegen das deutsche Vaterland zu erfüllen.
V . D e r deutsche K a t h o l i k e n t a g Seit ihrer Begründung im Jahre 1848 1 fanden die „Generalversammlungen der deutschen Katholiken", soweit nicht politische Hindernisse entgegenstanden, jährlich im Herbst statt. Seit 1868/69 leitete sie ein Zentralkomitee, das unter dem Vorsitz des Fürsten Karl v. Löwenstein-Wertheim-Rosenberg 2 21 Die Zahl der nichtkatholischen Zentrumsabgeordneten w a r stets gering; der bekannteste w a r Ernst Ludwig v. Gerlach (1795 - 1877), 1852 - 58 und 1872 bis 1877 M d p r A H , 1877 auch MdR, seit 1872 als protestantisches M i t g l i e d des Zentrums. 1 Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 11 ff. 2 Karl Heinrich Fürst v. Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (1834 - 1921) verwaltete seit 1855 seinen umfangreichen Besitz; M i t g l i e d der I. K a m m e r i n Baden, Bayern, Hessen u n d Württemberg; 1868 Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen K a t h o l i k e n ; 1872 - 98 ständiger Kommissar der K a t h o likentage; 1871/72 M d R (Zentrum); Förderer der katholisch-sozialen Bewegung, der Görres-Gesellschaft u n d des Augustinus-Vereins f ü r die katholische Presse; 1907 E i n t r i t t in den Dominikanerorden; 1908 Priesterweihe.
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5. Kap.: Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
stand. Während des Kulturkampfs löste das Zentralkomitee sich schon 1872 auf. Der FrVst v. Löwenstein übernahm dessen Aufgaben als „ständiger Kommissar": m dieser Eigenschaft leitete er die Katholikentage bis 1898. Vorsitzender des nun wieder neu gebildeten Zentralkomitees wurde Graf Clemens Droste zu Vischering 3; ihm folgte 1920 der Fürst Alois v. Löwenstein 4. Die jährlichen Katholikentage waren Ereignisse von großem politischen Gewicht; im öffentlichen Bewußtsein besaßen sie die Funktion von Parteitagen des Zentrums. Mit ihnen verbunden waren die jährlichen Zusammenkünfte einer Vielzahl katholischer Vereinigungen. Der Kernpunkt der Katholikentage war die Forderung auf freie Entfaltung des deutschen Katholizismus, worin die Teilnehmer die Grundvoraussetzung für die Lösung der religiösen, politischen und sozialen Gegenwartsfragen sahen. In alljährlichen Resolutionen zur „römischen Frage" traten die Katholikentage für die Unabhängigkeit des Kirchenstaats ein 5. Die Resolution von 1899 (Nr. 118) ist dafür beispielhaft. Wie die Satzung von 1904 (Nr. 119) zeigt, gehört die „Generalversammlung der Deutschen Katholiken" in die Reihe der katholischen Laienorganisationen. Für sie alle stellte sich die Frage, in welchem Verhältnis die selbständige Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung durch katholische Laien zur Unterordnung unter die Hierarchie stehe. Wie der deutsche Episkopat drängte auch Papst Pius X. darauf, daß der Verbandskatholizismus an den Gehorsam gegenüber dem päpstlichen Lehramt und den Bischöfen gebunden bleiben müsse. Dem Handschreiben, das der Papst nach dem Katholikentag in Essen 1906 an den Kölner Erzbischof Kardinal Fischer richtete (Nr. 120), kam in dieser Hinsicht eine über das einzelne Ereignis hinausweisende grundsätzliche Bedeutung zu 6.
Nr. 118. Resolution des Katholikentags in Neisse zur römischen Frage v o m 27. August 1899 (Verhandlungen der Generalversammlung der K a t h o l i k e n Deutschlands, Neisse 1899, S. 110) Die 46. Generalversammlung der K a t h o l i k e n Deutschlands erhebt wie a l l jährlich so auch i n diesem Jahre eindringlichsten Einspruch gegen die Lage des Heiligen Stuhles i n Rom seit dem Jahre 1870, welche den durch den A b l a u f so vieler Jahrhunderte geheiligten Rechtsansprüchen der k a t h o l i 3 Clemens Graf Droste zu Vischering (1832 - 1923), Erbtruchseß des Fürstentums Münster, Fideikommißherr; 1898 - 1920 Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 4 Alois Fürst von Low enstein-Wertheim-Rosenberg (1871 - 1952), Sohn des Fürsten K a r l v. Löwenstein (oben A n m . 2); 1907 - 18 M d R (Zentrum); 1920 - 33 Vorsitzender des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 5 Z u r „römischen Frage" siehe Staat u n d Kirche Bd. I I , S. 451 ff. 6 Vgl. J. May, Geschichte der Generalversammlungen der K a t h o l i k e n Deutschlands 1848 - 1902 (2. Aufl. 1904, Nachtrag 1905); J. B. Kißling, Geschichte der deutschen Katholikentage, Bd. 2 (1923); E. Filthaut, Deutsche K a t h o l i k e n tage 1848 - 1958 u n d soziale Frage (1960).
V. Der deutsche Katholikentag
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sehen Kirche i n der schroffsten Weise widerspricht und für die Person des Heiligen Vaters wahrhaft unerträglich ist. Sie erklärt ihre volle u n d rückhaltlose Zustimmung zu den von unserem glorreich regierenden Papste Leo X I I I . i n seinem Rundschreiben v o m 5. August 18987 an die Bischöfe, die Geistlichkeit u n d das V o l k Italiens gerichteten, aber auch für die K a t h o l i k e n des ganzen Erdkreises geltenden Worte: „Die italienischen Katholiken, eben w e i l sie K a t h o l i k e n sind, können nicht das Verlangen aufgeben, daß ihrem höchsten Oberhaupte die notwendige Unabhängigkeit und die wahre und wirkliche Freiheit ganz u n d v o l l wiedergegeben werde, welche die unerläßliche Bedingung der Freiheit u n d Unabhängigkeit der katholischen Kirche ist." Sie erkennt i n der Stellung und der Aufgabe des Papsttums i n der Welt den wichtigsten Faktor zur Sicherung des Friedens u n d hält darum den Heiligen Stuhl i n erster L i n i e f ü r berufen, der Schiedsrichter bei jedem Interessenstreit der Völker u n d Staaten zu sein 8 , wie es derselbe von den Zeiten Attilas an oft erfolgreich gewesen ist 9 .
Nr. 119. Satzung für die Generalversammlung der Katholiken Deutschlands vom 25. August 1904 i n der 1905 revidierten Fassung (Verhandlungen der 53. Generalversammlung der K a t h o l i k e n Deutschlands i n Essen, 1906, S. 3 ίϊ.) — Auszug — § 1. I m Herbst jeden Jahres, womöglich zwischen dem 15. August u n d 15. September, w i r d eine Generalversammlung der K a t h o l i k e n Deutschlands abgehalten. . . . §3. Die Einladung, wie alle übrigen einleitenden Schritte, besorgt ein Lokalkomitee i n Verbindung m i t dem Zentralkomitee. — I n der Einladung sollen tunlichst die wichtigsten Fragen, welche zur Beratung gestellt werden, mitgeteilt werden. § 4. Z u r Teilnahme an den Verhandlungen u n d Abstimmungen der Generalversammlung sind alle erwachsenen, deutschen, katholischen Männer berechtigt, welche sich bei der Anmeldungskommission des Lokalkomitees gemeldet und gegen Entrichtung des von diesem bestimmten Betrages eine Mitgliedkarte erhalten haben. Der Anmeldung bei der Kommission des Lokalkomitees bedarf nicht, wer sich bei dem Zentralkomitee als ständiges M i t g l i e d gemeldet hat. Auch erwachsene katholische Männer des Auslandes können M i t g l i e d k a r ten erlangen, welche zur Teilnahme an den Verhandlungen der Generalversammlung, nicht aber zu Abstimmungen berechtigen. 7
Lat. T e x t : Acta Sanctae Sedis X X X I , 1898 - 99, S. 129 ff. Z u r Rolle des Papstes als Schiedsrichter: Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 848 ff. 9 Der Hunnenkönig Attila (gest. 453) zog 452 m i t seinem Heer bis vor Rom; Papst Leo I., der Große (440 - 461), bewegte i h n zum Abzug. 8
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5. Kap.: Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
Das Lokalkomitee ist berechtigt, die Verabfolgung von Mitgliedkarten zu verweigern. Ist einem Manne, welcher i n seinem öffentlichen W i r k e n und Auftreten eine akatholische Gesinnung an den Tag legt, eine Mitgliedkarte erteilt worden, so k a n n das Lokalkomitee oder der Vorstand der Generalversammlung i h m die Mitgliedkarte entziehen. . . . § 7. Die Versammlungen finden teils gemeinschaftlich, teils gesondert statt, und zwar a) i n gemeinschaftlichen öffentlichen Versammlungen, zu welchen die Redner vorher bezeichnet werden und i n denen jegliche Diskussion ausgeschlossen ist; b) i n Sitzungen der Ausschüsse, i n denen die Anträge zur ersten Beratung kommen ; c) i n gemeinschaftlichen geschlossenen Versammlungen, i n denen die Beratung der an sie überwiesenen Anträge . . . sowie der Anträge der Ausschüsse und die Beschlußfassung über dieselben stattfindet. . . . § 8. Ausschüsse werden gebildet f ü r : 1. Freiheit der Kirche (Papst u n d Römische Frage, Missionen, Vereinswesen) und die Ordnung der Generalversammlung; 2. christliche Gesellschaftsordnung (soziale Fragen); 3. christliche Charitas; 4. christliche B i l d u n g (Erziehung und Unterricht, Wissenschaft u n d Kunst, Presse). Der Generalversammlung bleibt es vorbehalten, diese Aufgaben der Ausschüsse anders zu verteilen und besondere Ausschüsse zu bilden 1 0 . . . . §15. Konfessionelle Polemik ist i n den Verhandlungen der Generalversammlung untersagt § 23. I n der letzten geschlossenen Sitzung w ä h l t die Generalversammlung das Zentralkomitee. Die Annahme der W a h l zum Mitgliede des Zentralkomitees gilt zugleich als Anmeldung zum Mitgliede der nächsten Generalversammlung. § 24. Das Zentralkomitee ist Mandatar der Generalversammlung u n d hat alle ihre Interessen bis Eröffnung der nächsten Generalversammlung zu vertreten u n d wahrzunehmen. Insbesondere fällt demselben als Aufgabe zu: 1. für die Ausführung der Beschlüsse der Generalversammlung nach K r ä f ten zu sorgen; 2. für die nächste Generalversammlung, insofern dies nicht schon auf der Generalversammlung selbst geschehen ist, einen passenden Ort auszuwählen und i n Verbindung m i t dem fortzubildenden Lokalkomitee die Vorbereitungen f ü r diese Generalversammlung zu treffen. . . . 10 I m Folgenden sind die Zusammensetzung des Vorstands und Verfahrensfragen geregelt.
V. Der deutsche Katholikentag
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Nr. 120. Handschreiben Papst Pius X . an den Erzbischof von Köln Kardinal Fischer vom 30. Oktober 1906 (Lateinischer Text und deutsche Ubersetzung: Verhandlungen der 53. Generalversammlung der K a t h o l i k e n Deutschlands i n Essen, 1906, S. 678 f.) Von mehreren Seiten haben W i r erfahren, einen wie glücklichen Verlauf die i m verflossenen August i n Essen abgehaltene Generalversammlung der Katholiken Deutschlands genommen hat, besonders aber entnehmen W i r es den persönlich Uns gemachten ausführlichen Mitteilungen Unseres ehrw. Bruders, des Bischofs von Präneste 11 , der Uns über den Eifer u n d die t a t kräftige Einsicht der deutschen K a t h o l i k e n berichtete. Durch die Kenntnisnahme von den Verhandlungen, die auf der Essener Versammlung gepflogen wurden, ist die gute Meinung von dem ernsten Streben Unserer Söhne i n Deutschland, die bisher schon bei Uns feststand, nur noch fester geworden. Nicht minder befriedigte Uns die wiederholt ausgesprochene Versicherung, daß die K a t h o l i k e n Deutschlands i n ihrer Tätigkeit auf religiösem Gebiete der A u t o r i t ä t des apostolischen Stuhles sich unterordnen. Wie die stete E r fahrung beweist, läßt dieser Gehorsam — mögen auch einige, die den wahren Sachverhalt nicht kennen, heftig dagegen sprechen — einem jeden volle und uneingeschränkte Freiheit i n den Angelegenheiten, welche die Religion nicht berühren, und begründet so in den Gemütern jene Harmonie, die vom E i n zelnen auf die ganze Gesellschaft übergehend, dem gesellschaftlichen Wohl, das j a aus einem doppelten Elemente, dem religiösen u n d bürgerlichen gemeinsam erwächst, sichern Bestand verleiht. Das ist auch die Anschauung Sr. Majestät des Kaisers und Königs, der seine freundliche und w o h l w o l lende Gesinnung denen gegenüber kundgab, die durch die Geburt I h m selbt, durch die Religion aber Uns untergeben, zu Beginn der Versammlung i n Essen an I h n u n d an Uns einen Huldigungsgruß richteten 1 2 . W i r haben also, geliebter Sohn, die Freude, die W i r aus der Essener Versammlung geschöpft haben, D i r ausdrücken wollen, u n d durch Dich dem Klerus und dem Volke Deiner Erzdiözese und allen unsern Söhnen aus Deutschland, die zur Teilnahme an den verschiedenartigen Arbeiten der Generalversammlung zusammengeströmt waren. E i n Zeugnis Unserer freundlichen Gesinnung und Unseres besonderen Wohlwollens sei D i r und ihnen der Apostolische Segen, den W i r als Unterpfand himmlischer Segnungen Euch spenden.
11 Vincenzo Vannutelli (1836- 1930); kath. Geistlicher, seit 1863 i m diplomat. Dienst der K u r i e ; seit 1870 Substitut am Staatssekretariat (unter Antonelli); 1880 Titular-Erzbischof von Sardes; 1880 K a r d i n a l ; Präfekt i n der Propaganda Fide; Präfekt des Konzils; Dekan der Kardinäle; 1915 Titularbischof von Ostia, als Nachfolger seines verstorbenen Bruders, des Kurienkardinals Serafino Vannutelli (1834 - 1915). Es w a r ein Ausnahmefall, daß Brüder gleichzeitig Mitglieder des Kardinalskollegiums waren. 12 Vgl. Verhandlungen der 53. Generalversammlung der K a t h o l i k e n Deutschlands i n Essen (1906), S. 179 f. sowie die A n t w o r t Kaiser Wilhelms II. ebenda S. 225.
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5. Kap.: Die katholische Hierarchie und die katholische Laienbewegung
V I . Der Volksverein für das katholische Deutschland Nach der Beilegung des Kulturkampfs war die Zeit gekommen, den politischen Katholizismus in Deutschland in einer großen Massenvereinigung zu organisieren. Der 1890 gegründete ,,Volksverein für das katholische Deutschland" entwickelte sich unter maßgeblicher Beteiligung des Zentrumsführers Ludwig Windthorst 1 bald zum wichtigsten Organ des deutschen Verbandskatholizismus. Windthorst verhinderte auch, daß die Frontstellung gegen den Protestantismus, vor allem gegen den 1886 gegründeten Evangelischen Bund 2, das bestimmende Merkmal der neuen Vereinigung wurde. Die Statuten von 1890 und der erste Aufruf vom gleichen Jahr erklärten vielmehr den Kampf gegen die Umsturzpläne der Sozialdemokratie und die Verteidigung der christlichen Gesellschaftsordnung zu den Hauptzwecken des Volksvereins (Nr. 121, Nr. 122). Dieser unternahm es in den folgenden Jahren, die Volksbildung, die staatsbürgerliche Erziehung der katholischen Bevölkerung und die Verwirklichung sozialpolitischer Reformen zu fördern. Diese erweiterte Aufgabenstellung kam in der neuen Satzung von 1906 zum Ausdruck (Nr. 123). Die Schlüsselstellung des Volksvereins innerhalb des deutschen Verbandskatholizismus fand in der Entwicklung seiner Mitgliederzahlen ihre Bestätigung. Den höchsten Mitgliederstand — 805 909 Mitglieder — erreichte er unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Am Ende des Kriegs war die Mitgliederzahl zwar auf 679 238 zurückgegangen; doch holte der Volksverein diesen Rückgang bald wieder ein. Mit dem steigenden Einfluß des Volksvereins wuchs freilich auch die Sorge der deutschen Bischöfe, daß er sich dem Einfluß des Episkopats allzu sehr entziehen könne. Dem versuchte die Fuldaer Bischofskonferenz mit dem Beschluß vom 6. August 1909 (Nr. 124) entgegenzuwirken. Die prägende Persönlichkeit des Volksvereins war für viele Jahre der Generalsekretär und Generaldirektor August Pieper, der die Zentralstelle des Vereins in München-Gladbach leitete 3. Unter den Mitarbeitern der Zentralstelle traten vor allem Heinrich Brauns 4 und Carl Sonnenschein 5 hervor. 1
Staat und Kirche, Bd. I I , S. 537, Anm. 10. Siehe unten Nr. 219. 3 August Pieper (1866 - 1942), 1889 kath. Priester u n d K a p l a n i n Bochum, 1892 Generalsekretär, 1903 - 19 Generaldirektor des Volksvereins f ü r das k a tholische Deutschland; 1899 - 1906 Diözesanpräses der katholischen Arbeitervereine der Erzdiözese K ö l n ; 1904- 18 Verbandspräses der katholischen A r beitervereine i n Westdeutschland; 1906- 18 M d p r A H , 1907 - 18 M d R (Zent r u m ) ; beide Mandate legte er nieder, w e i l die Zentrumsfraktion des preußischen Abgeordnetenhauses nach seiner Auffassung die preußische W a h l rechtsreform nicht entschieden genug betrieb; 1919 - 33 federführender Redakteur an der Zentralstelle des Volks Vereins ; 1919 - 28 Schriftführer i m Vorstand des Volks Vereins; 1933 - 42 — nach der Auflösung des Vereins — Tätigkeit i n der Pfarrseelsorge i n München-Gladbach u n d Paderborn. — Das heutige M ö n chengladbach hieß bis 1950 München-Gladbach; deshalb findet hier wie i m Folgenden diese Schreibweise Verwendung. 4 Heinrich Brauns (1868 - 1939), 1889 kath. Priester, danach Tätigkeit i n der Pfarrseelsorge i n Krefeld u n d Essen; 1900 M i t g l i e d der Zentralstelle des 2
V I . Der Volksverein für das katholische Deutschland
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Die wichtigsten Positionen im Vorstand hatten der Fabrikant Franz Brandts e, der Zentrumspolitiker Carl Trimborn 7 und der Theologe Franz Hitze 8 inne 9.
Nr. 121. Statuten des Volksvereins für das katholische Deutschland vom 24. Oktober 1890 (H. Heitzer,
Der Volksverein für das katholische Deutschland i m Kaiserreich 1890 - 1918, 1979, S. 299 f.) — Auszug —
§ 1. Zweck des Vereins ist die Bekämpfung der I r r t h ü m e r und der U m sturz-Bestrebungen auf socialem Gebiete, sowie die Vertheidigung der christlichen Ordnung i n der Gesellschaft. § 2. Dieser Zweck w i r d erstrebt durch die persönliche Thätigkeit der E i n zelmitglieder, durch belehrende Vorträge, durch Verbreitung guter Druckschriften. §3. Stimmberechtigtes Mitglied des Vereins ist jeder großjährige katholische Deutsche, welcher jährlich M. 1,— i n die Vereinskasse zahlt. Volksvereins f ü r das katholische Deutschland; 1903- 20 Direktor der A b t e i lung f ü r Organisation, Werbung, Kursus- und Konferenzarbeit; 1905 Dr. rer. pol.; 1919-20 MdWeimNatVers.; 1920-33 M d R (Zentrum); 1920-28 Reichsarbeitsminister i n 13 Reichskabinetten; 1928-29 Generaldirektor des Volksvereins für das katholische Deutschland; er lebte seit 1929 zurückgezogen i n Lindenberg/ Allgäu. 5 Carl Sonnenschein (1876 - 1929), 1900 kath. Priester, danach K a p l a n i n Köln, Aachen und Elberfeld; 1906 M i t g l i e d der Zentralstelle des Volks ve reins für das katholische Deutschland; 1907 - 18 Leiter des „Sekretariats Soziale Studentenarbeit"; 1919 - 29 Tätigkeit i n der akademischen Berufsberatung und i n der Caritas für Akademiker i n Berlin. 6 Franz Brandts (1834- 1914), Tuchfabrikant i n München-Gladbach, der durch die Einrichtung von Arbeiterunterstützungskassen und Arbeiterausschüssen hervortrat; Gründungsmitglied und Erster Vorsitzender des Verbands A r b e i t e r w o h l 1880 - 1914; Erster Vorsitzender des Volksvereins für das katholische Deutschland von 1890 - 1914. 7 Carl Trimborn (1854 - 1921), Jurist; 1882 Rechtsanwalt i n K ö l n ; 1894 - 1914 Mitglied des Rats der Stadt K ö l n ; 1896- 1918 M d R und M d p r A H (Zentrum); 1914-17 M i t g l i e d der deutschen Z i v i l v e r w a l t u n g i n Belgien; 1918 Staatssekretär i m Reichsamt des Innern; 1919-20 MdWeimNatVers.; 1920- 21 wieder M d R und Vorsitzender der Zentrumsfraktion; 1920- 21 Vorsitzender der Zentrumspartei; 1890- 1914 Zweiter Vorsitzender, 1915-21 Erster Vorsitzender des Volksvereins f ü r das katholische Deutschland. 8 Franz Hitze (1851 - 1921), 1878 kath. Priester, danach Studien i n Rom; 1880 - 1921 Generalsekretär des Verbands Arbeiterwohl; 1893 - 1920 erster Inhaber des Lehrstuhls für christliche Gesellschaftslehre an der Universität Münster; 1882 - 93 u n d 1898 - 1912 M d p r A H ; 1884 - 1918 M d R ; 1919 - 20 M d WeimNatVers.; 1920 - 21 erneut M d R (Zentrum); 1890- 1921 Schriftführer i m Vorstand des Volksvereins für das katholische Deutschland. 9 Vgl. E. Ritter, Die katholisch-soziale Bewegung Deutschlands i m 19. Jahrhundert und der Volksverein (1954); K . H. Briils, Geschichte des Volksvereins, 1. Teil: 1890 - 1914 (1960); H. Heitzer, Der Volksverein für das katholische Deutschland i m Kaiserreich 1890 - 1918 (1979).
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5. Kap.: Die katholische Hierarchie und die katholische Laienbewegung
§4. Die Leitung des Vereins obliegt einem Vorstande von mindestens sieben Mitgliedern, welche von der General-Versammlung auf ein Jahr neu gewählt, bzw. wiedergewählt sind. Den I. u n d I I . Vorsitzenden bestimmt ebenfalls die General-Versammlung, während der Vorstand aus seiner M i t t e den Schriftführer u n d Cassirer wählt. Der Vorstand besitzt das Recht der Cooptation. Die Geschäftsordnung des Vorstandes w i r d von diesem selbst beschlossen und der nächsten General-Versammlung mitgetheilt. . . . § 6. Der Vorstand kann m i t der Wahrnehmung der Vereinsgeschäfte i n den einzelnen Diöcesen oder Landestheilen Deutschlands Geschäftsführer betrauen.
Nr. 122. Aufruf des Volks Vereins für das katholische Deutschland vom 22. November 1890 (H. Heitzer,
Der Volksverein für das katholische Deutschland i m Kaiserreich 1890 - 1918, 1979, S. 305 f.) — Auszug —
Schwere I r r t h ü m e r und bedenkliche Umsturzpläne treten überall i n die Erscheinung; die bestehende Staats- u n d Gesellschaftsordnung ist i n ihrer Grundlage bedroht. Die Socialdemokratie ist es vor allem, welche diese I r r lehren nicht nur verbreitet, sondern auch praktisch in's Leben einführen w i l l . Wohl f ü h l t sie, daß i m katholischen Volke Deutschlands der stärkste Widersacher gegen derartige Bestrebungen vorhanden ist; deshalb hat sie auf dem Parteitage zu Halle dem Katholicismus förmlich den K r i e g e r k l ä r t 1 0 . Es ist darum dringend geboten, dem anrückenden Feinde m i t vereinter und fest organisirter K r a f t furchtlos entgegen zu treten. . . . Sammeln w i r uns zu einem großen, alle Gaue des Vaterlandes umfassenden Bunde! Dieser B u n d soll unsere K r ä f t e organisiren, unsere M i t t e l mehren, unsere Thätigkeit i n Presse, Flugschriften und Versammlungen planmäßig leiten und steigern, auf daß der Gegner auch das letzte Dorf gerüstet finde und überall i m Lande der Irrlehre sofort die Wahrheit m i t Macht entgegentrete. Möge jedes Vereins-Mitglied zunächst i n seinem engern Kreise, dann auch i n öffentlichen Versammlungen m i t Schrift und Wort den 10 Gemeint sind die Äußerungen i n der Programmdiskussion des Parteitags i n Halle über das Verhältnis der Sozialdemokratie zu Religion und Kirche; vgl. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands i n Halle 1890 (1890), S. 174 ff., 183 ff.; vgl. auch die kirchenpolitischen Forderungen i n dem i m Anschluß an den Parteitag i n Halle ausgearbeiteten Erfurter Programm der SPD von 1891, P u n k t 6: „ E r k l ä r u n g der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen M i t t e l n zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen" (D. Dowe/K. Klotzbach, Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, 1973, S. 178 f.). Die Formel „ E r k l ä r u n g der Religion zur Privatsache" findet sich auch schon i m Gothaer Programm von 1875 (ebenda S. 173).
V I . Der Volksverein für das katholische Deutschland
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Zweck des Vereins fördern. Dieser w i l l nicht allein die A b w e h r der falschen Lehren, sondern auch die Förderung u n d Bethätigung der richtigen G r u n d sätze auf socialem Gebiete; namentlich w i l l er, daß Arbeitgeber wie A r b e i t nehmer sich immer mehr der ihnen i n ihren gegenseitigen Beziehungen obliegenden Pflichten bewußt werden, u n d daß die Erkenntniß der Interessengemeinschaft beider Theile sich immer mehr Bahn breche Wenn der deutsche Kaiser i m Verein m i t den deutschen Fürsten die Bahnen einer P o l i t i k verlassen hat, welche m i t äußern polizeilichen M i t t e l n Ideen bekämpfen w o l l t e 1 1 , so geschah dies gewiß auch i n dem festen V e r trauen, daß der christliche Geist i m Volke noch stark genug sei, u m die für Kirche und Staat gleich verderblichen Ideen i n freiem Kampfe zu ü b e r w i n den, K a t h o l i k e n Deutschlands, w i r werden die Letzten sein, die dieses Vertrauen täuschen! D r u m sammle dich, katholisches Volk, erprobt i n Opfersinn und Treue gegen Kirche und Vaterland! Sammle dich zur Vertheidigung der christlichen Gesellschaft! Schütze Thron u n d A l t a r , Haus und Herd! A l l e Stände, hoch u n d niedrig, Geistliche und Laien, Arbeitgeber und Arbeiter, sollen sich i n dem einen Vereine zusammenfinden, u m dem einbrechenden Feinde zu wehren, die Irrenden zu belehren, die Schwankenden zu stützen und den Eifer der Treuen noch mehr zu erwärmen. So w i r d dem Volke der heilige Glaube erhalten, und das ist die wichtigste, die größte sociale That.
Nr. 123. Satzung des Volks Vereins für das katholische Deutschland vom 21. August 1906 (H. Heitzer, Der Volks verein für das katholische Deutschland i m Kaiserreich 1890 - 1918, 1979, S. 301 ff.) — Auszug — § 1. Zweck des Vereins ist die Förderung der christlichen Ordnung i n der Gesellschaft, insbesondere die Belehrung des deutschen Volkes über die aus der neuzeitlichen Entwicklung erwachsenen sozialen Aufgaben und die Schulung zur praktischen Mitarbeit an der geistigen und wirtschaftlichen Hebung aller Berufsstände. Der Verein w i l l zugleich die Angriffe auf die religiösen Grundlagen der Gesellschaft zurückweisen und die I r r t ü m e r und Umsturzbestrebungen auf sozialem Gebiete bekämpfen. § 2. Der Verein sucht diesen Zweck zu erreichen u. a. 1. durch die Gewinnung von Mitgliedern an allen Orten und die Bestellung von Vertrauensmännern, Geschäftsführern, Bezirks- u n d Landesvertretern zum Zwecke eines regen Verkehrs untereinander i m Sinne der Satzung; 2. durch die Veranstaltung von Versammlungen, Konferenzen und Kursen; 11 Gemeint ist das Sozialistengesetz, das bis zum 30. September 1890 i n K r a f t w a r ; der Versuch einer erneuten, fünften Verlängerung scheiterte (vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 164 ff.).
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5. Kap.: Die katholische Hierarchie u n d die katholische Laienbewegung
3. durch die Herausgabe u n d Verbreitung einer Zeitschrift f ü r die M i t glieder; 4. durch die Herausgabe und allgemeine Verbreitung von Aufrufen, Flugblättern und Büchern; 5. durch die Abfassung von Beiträgen für die Tagespresse; 6. durch die Ausbildung von Rednern, Schriftstellern und praktischen Hilfskräften für soziale u n d gemeinnützige A r b e i t ; 7. durch die Förderung von Veranstaltungen u n d Einrichtungen i m Sinne der Vereinszwecke u n d die Beteiligung an denselben; 8. durch die Sammlung von wissenschaftlichem und praktischem Material zu vorgenannten Zwecken und die Erteilung von einschlägigen Auskünften. § 4. Jeder unbescholtene großjährige katholische Deutsche, der sich zu den Zwecken des Vereins bekennt, k a n n M i t g l i e d werden. Die Mitgliedschaft w i r d m i t dem Empfang der Mitgliedskarte erworben. Der A u s t r i t t aus dem Verein erfolgt durch Abmeldung. . . . § 6. Organe des Vereins sind: 1. der Gesamtvorstand, 2. der engere Vorstand, 3. die Generalversammlung.
...
Nr. 124. Beschluß der Fuldaer Bischofskonferenz über den Volksverein für das katholische Deutschland vom 6. August 1909 (L. Bergsträßer,
Der politische Katholizismus. Dokumente seiner Entwicklung, Bd. I I , 1923, S. 362)
Der katholische Volksverein wurde besprochen und nachstehende Resol u t i o n beschlossen: a. Der deutsche Episkopat hat zu der Leitung des katholischen Volksvereins das Vertrauen, daß sich die Tätigkeit desselben genau den i n den Statuten enthaltenen Grundsätzen anschließen wird. b. Der deutsche Episkopat muß wünschen, daß die Zentralverwaltung des katholischen Volksvereins auch bezüglich des Vereinsvermögens i n dauernder Fühlung m i t ihrem Ordinarius 1 2 stehe. c. Der deutsche Episkopat vertraut darauf, daß die Diözesanvertreter des katholischen Volksvereins von allen wichtigen Vorgängen u n d Veranstaltungen die zuständigen Ordinarien verständigen. 12
D. h. dem f ü r München-Gladbach zuständigen Erzbischof von Köln.
Sechstes
Kapitel
Der deutsche Katholizismus und die soziale Frage I. Papst Leo X I I I . , die soziale Frage und die katholische Arbeiterbewegung In den während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Organisationen der sozialistischen Arbeiterbewegung verband sich in aller Regel die antikapitalistische mit einer antikirchlichen, insbesondere auch antikatholischen Frontstellung. Um zu vermeiden, daß die katholischen Arbeiter sich den sozialistischen Organisationen anschlossen, erschien den Führern des deutschen Katholizismus die Gründung eigener katholischer Arbeitervereine als notwendig. Die Initiative ging von dem Verband „Arbeiterwohl " aus, der 1880 unter maßgeblicher Beteiligung von Franz Brandts 1 und Franz Hitze 2 ins Leben trat. Mächtigen Auftrieb erhielt die katholische Arbeiterbewegung durch den Brief Papst Leos XIII. vom 20. April 1890, den die Fuldaer Bischofskonferenz in ihrem Hirtenbrief vom 22. August 1890 den deutschen Katholiken bekanntgab (Nr. 125), vor allem aber durch die für die päpstliche Soziallehre grundlegende Enzyklika Leos XIII. „Rerum novarum" vom 15. Mai 1891 (Nr. 126). Die Enzyklika empfahl ausdrücklich die Gründung von Vereinen „zur Hebung und Förderung der leiblichen und geistigen Lage der Arbeiter " (Ziffer 42). Die katholischen Arbeitervereine waren zugleich in erheblichem Umfang Mittel der Arbeiterseelsorge ; ihre Präsides waren Geistliche. Die Frage der sozialpolitischen Vertretung der katholischen Arbeiter war freilich durch die Bildung der katholischen Arbeitervereine allein nicht gelöst. Die Arbeitervereine des West- und Süddeutschen Verbandes traten für die Mitgliedschaft der katholischen Arbeiter in den überkonfessionellen christlichen Gewerkschaften ein, die seit 1894 als dritte Richtung der Gewerkschaftsbewegung neben den sozialistischen Freien Gewerkschaften und den liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen entstanden und sich 1900 in dem „Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften Deutschlands" zusammenschlossen 3; ihr Generalsekretär war seit 1902 Adam Stegerwald 4. 1
Oben S. 269, Anm. 6. Oben S. 269, A n m . 8. 3 Siehe zur Entwicklung der Gewerkschaften seit 1890 Verfassungsgeschichte Bd. I V , S. 1223 ff.; zur weiteren L i t e r a t u r unten S. 316, A n m . 10. 4 Adam Stegerwald (1874 - 1945), Schreiner, 1899 Gründer des Zentralverbands christlicher Holzarbeiter. 1902 - 19 Generalsekretär, 1919 - 29 Vorsitzender des „Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften Deutschlands" und zugleich des „Deutschen Gewerkschaftsbundes". I m Ersten Weltkrieg 2
ie H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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6. Kap.: Der deutsche Katholizismus und die soziale Frage
Der „Verband der katholischen Arbeitervereine (Sitz Berlin)" dagegen, in dem die ostdeutschen Arbeitervereine zusammengeschlossen waren, forderte, innerhalb der Arbeitervereine soziale Fachabteilungen einzurichten, die für die katholischen Arbeiter gewerkschaftliche Funktionen wahrnehmen sollten. Wortführer dieser Bestrebungen war vor allem Franz v. Savigny 5. Der Streit zwischen diesen beiden Auffassungen in der Gewerkschafts frag e dauerte länger als ein Jahrzehnt.
Nr. 125. Hirtenschreiben der Fuldaer Bischofskonferenz zur sozialen Frage v o m 22. August 1890 (E. Gatz, A k t e n der Fuldaer Bischofskonferenz, Bd. I I : 1888 - 1899, 1979, S. 100 ff.) — Auszug — . . . I n den letzten Zeiten ist eine Frage immer mehr i n den Vordergrund getreten, welche w o h l öfter schon i m Laufe der Geschichte die Geister bewegt hat, die aber gegenwärtig i n der ernstesten Gestalt sich uns zeigt: Es ist die soziale Frage. Schon seit Jahren hat unser Hl. Vater Papst Leo X I I I . , den Gott als Lehrer und Wächter für die Christenheit auf den Felsen Petri gestellt, dieser wichtigen Angelegenheit seine Aufmerksamkeit zugewendet und Fürsten und V ö l ker auf die Notwendigkeit hingewiesen, dieselbe i m Geiste des Christentums zu regeln u n d dadurch den drohenden Gefahren zu begegnen. Wie groß mußte daher seine Freude sein, als unser erhabener Kaiser i n weiser E r kenntnis der Verhältnisse dem edeln Zuge seines Herzens folgend diese A u f gabe erfaßte und zu Anfang dieses Jahres die Regierungen Europas zu gemeinsamer Besprechung und einheitlichem Vorgehen einlud 0 . Dank dieser kaiserlichen Tat w i r d das Jahr 1890 für alle Zeiten denkw ü r d i g bleiben und, so hoffen w i r , für die Z u k u n f t segensreiche Früchte tragen. A l l e ernsten und edelgesinnten Menschen müssen es nunmehr als ihre Pflicht erkennen, m i t Hintansetzung aller Meinungsverschiedenheit zu diesem großen Werke, von dem der Friede der Welt und der Bestand der menschlichen Gesellschaft und ihrer kostbarsten Güter abhängt, m i t Rat und Tat mitzuwirken. 1916 Vorstandsmitglied des Kriegsernährungsamtes; 1917 M d p r A H ; 1919/20 MdWeimNatVers.; 1919-21 MdprLVers.; 1920 - 33 MdR (Zentrum); 1919-21 preuß. Minister f ü r Volkswohlfahrt, A p r i l - November 1921 zugleich preuß. Ministerpräsident; 1929 - 30 Reichsverkehrsminister; 1930 - 32 Reichsarbeitsminister. 5 Franz v. Savigny (1859 - 1917), kgl. preuß Kammergerichts-Assessor, ein Neffe Karl Friedrich v. Savignys, des Mitbegründers der Zentrumspartei, und Vetter des Zentrumsabgeordneten Karl v. Savigny (oben S. 262). 6 Vgl. den Erlaß Kaiser Wilhelms II. an den Reichskanzler Fürst Bismarck v o m 4. Februar 1890 (Text: Dokumente, Bd. 2, Nr. 276).
I. Papst Leo X I I I . , die soziale Frage u n d die katholische Arbeiterbewegung
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Der Hl. Vater hat n u n durch das an den Erzbischof von K ö l n gerichtete Schreiben vom 20. A p r i l d. J. 7 die deutschen Bischöfe ermuntert, gemäß ihres Amtes an der Lösung der sozialen Frage mitzuarbeiten. Diesem Wunsche unsers gemeinsamen Vaters i n Christo entsprechend, wollen w i r zunächst sein Schreiben selbst dem Hauptinhalte nach euch, Geliebte i m Herrn, vor Augen führen. „Ehrwürdiger Bruder", so beginnt dasselbe, „ D u weißt wohl, daß jene große Frage, welche man die soziale nennt, von solch entscheidungsvoller Wichtigkeit geworden ist, daß sie die ernsteste Sorge der europäischen Regierungen i n Anspruch genommen hat. Es ist D i r auch bekannt, daß W i r selbst seit langem schon m i t dieser Frage Uns beschäftigt und Uns bemüht haben klarzustellen, welches die innersten Ursachen dieses Übels und die geeignetsten H e i l m i t t e l gegen dasselbe seien. Dem entsprechend haben W i r auch kürzlich i n Unserm Schreiben an Seine Majestät den deutschen Kaiser und K ö n i g von Preußen, welcher bezüglich der i n dieser Sache jüngst i n Berl i n abgehaltenen europäischen Konferenz überaus freundlich an Uns geschrieben, Unser eifriges Bestreben k l a r ausgesprochen, den hilfsbedürftigen Arbeitern Hilfe zu bringen und ihnen, so viel w i r vermögen, alle Liebe zu erweisen. Es k a n n ja Deiner Einsicht nicht verborgen sein, daß, welch große M i t t e l auch der weltlichen Macht zu Gebote stehen, u m die Lage der A r b e i ter zu verbessern, dennoch i n diesem heilsamen Werke der Kirche eine noch größere Aufgabe zufällt. N u r die göttliche K r a f t der Religion durchdringt i n nerlich Herz und Geist der Menschen und leitet und neiget sie dahin, daß sie f r e i w i l l i g den rechten und guten Weg einschlagen. Ist j a die Kirche k r a f t angeborenen Rechtes die treue H ü t e r i n der von Gott geoffenbarten W a h r heit und hat von Christus dem Herrn, welcher die Weisheit des Vaters ist, A u f t r a g und Vollmacht: ist sie ja auch die E r b i n der Liebe Desjenigen, w e l cher, „da Er reich war, u m unseretwillen arm geworden ist" (2. K o r 8, 9), damit der Reiche wie der A r m e i n gleicher Weise Sein B i l d an sich trage u n d der Würde Seiner Gotteskindschaft teilhaftig werde, und welcher die A r m e n so sehr geliebt, daß Er ihnen Beweise einer ganz vorzüglichen Liebe gegeben hat. Von i h m ist ausgegangen die heilige Lehre des Evangeliums, dieses kostbarste Geschenk, welches dem Menschengeschlechte verliehen ist. Denn i n dem Evangelium sind aufgezeichnet die unwandelbaren Rechte und Pflichten aller und jeglicher Menschen, und das Evangelium allein kann durch die edle Verbindung der Gerechtigkeit und Liebe bewirken, daß bei aller U n gleichheit der Verhältnisse, welche die Natur der Menschen und Dinge von selbst hervorbringt, dennoch jede Härte ausgeschlossen werde. D a r u m würde jenes Volk den sichersten Weg einschlagen und alles zu einem guten Ziele führen, welches i n seinem ganzen öffentlichen und privaten Leben nach der Richtschnur dieser wahren Lehre sich richtete. Dies erkennen u n d denken m i t Uns die Bischöfe des Deutschen Reiches, deren Hirteneifer aus so vielen und trefflichen Werken erhellt, welche sie vollendet oder begonnen haben, u m das Los des arbeitenden und notleidenden Volkes zu erleichtern. Je reichlichere Kräfte aber und je wirksamere Mittel, wie die Natur der Dinge und 7
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Lat. Text: E. Gatz, a. a. O., Nr. 530.
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die Zeit sie fordern, der Kirche anvertraut sind, u m so mehr sind w i r verpflichtet, m i t vereinten K r ä f t e n u n d i n gemeinsamer Tätigkeit alles zu ersinnen u n d alles zu tun, was i m m e r geeignet ist, die bestehenden Übel zu erleichtern. V o r allem müssen w i r m i t geduldiger u n d tatkräftiger Sorgfalt darnach trachten, die Sitten zu verbessern und die Völker daran zu gewöhnen, daß sie i h r häusliches u n d öffentliches Leben mehr und mehr m i t der Lehre und dem Vorbilde Christi i n Einklang bringen. Weiter aber müssen w i r erstreben, daß, wenn zwischen den verschiedenen Klassen oder Ständen wegen irgend etwas verschiedene Meinungen und Interessen bestehen, man doch niemals von den heiligen Gesetzen der Gerechtigkeit und der Liebe abweiche, sondern etwaige Streitigkeiten durch die väterliche V e r m i t t lung und A u t o r i t ä t der Oberhirten beseitige. Endlich ist Sorge zu tragen, daß den A r m e n die Beschwerden des gegenwärtigen Lebens erträglicher, den Reichen aber ihre Reichtümer ein M i t t e l werden, nicht zur Befriedigung der Begierlichkeit oder zur VerÜbung von Unrecht, sondern zur Spendung von Wohltaten, wodurch sie sich weit kostbarere Schätze i m H i m m e l erwerben." I m Anschluß an diese apostolischen Worte spendet der Hl. Vater großes Lob den mannigfaltigen, durch die christliche Liebe vor längerer oder k ü r zerer Zeit i n Deutschland ins Leben gerufenen Vereinen und Anstalten, welche das Beste der Handwerker und Arbeiter, ihr sittliches und materielles Wohl, namentlich die sittlich-religiöse Erziehung der männlichen und weiblichen Jugend, sowie deren Ausbildung für das richtige Leben zum Zwecke haben, und spricht die Hoffnung aus, daß dadurch, wie das zeitliche Glück, so gute Sitten und echte Religiosität mächtig werden gefördert werden. Endlich schließt der Hl. Vater m i t den Worten: „Es würde Uns zur höchsten Freude gereichen, wenn die deutschen Bischöfe m i t der ihnen eigenen Standhaftigkeit unter M i t h ü l f e des Klerus und der Gläubigen die angegebenen, bereits unternommenen u n d gegründeten, überaus zeitgemäßen Werke und Einrichtungen weiter verbreiten und durch ähnliche Gründungen ergänzen würden, namentlich i n solchen Orten und Gegenden, i n welchen vorzüglich die Industrie u n d das Gewerbe blühen und deshalb eine zahlreiche Arbeiterbevölkerung sich findet. Wenn dieser Unser Wunsch i n Erfüllung geht, dann k a n n man den deutschen Bischöfen wahrhaft Glück wünschen, daß sie, so v i e l an ihnen gelegen, dem öffentlichen Frieden gedient und die Sache der wahren Humanität und Gesittung gefördert haben." Z u r Erfüllung dieses Wunsches und dieser Hoffnung m i t der Gnade Gottes nach K r ä f t e n beizutragen, erkennen w i r als eine der wichtigsten Aufgaben unseres Hirtenamtes. Je weniger w i r nun aber bei deren Lösung Euere Beihülfe und M i t w i r k u n g entbehren können, ehrwürdige Brüder, geliebte Diözesanen, für desto geeigneter halten w i r es, Euch die von dem Hl. Vater ausgesprochenen Gedanken etwas näher darzulegen; denn so einfach dieselben auch lauten, so enthalten sie doch alles, was i n der so schwierigen und k l i p penreichen sozialen Frage unser Denken und Handeln auf den Wegen w a h rer christlicher Weisheit und Liebe zu leiten und zu erhalten geeignet ist.
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I. Schwer und entscheidungsvoll nennt der Papst m i t Recht die soziale Frage. Sie ist i n ihrer tatsächlichen Entwicklung so gewaltig und drohend geworden, daß man i n weiten Kreisen an einer friedlichen Lösung verzweifelt u n d einer nahen Katastrophe entgegensieht. Dieser hoffnungslose Standpunkt kann und darf nicht der unserige s e i n . . . . Die soziale Frage ist zunächst eine Frage der Volkswirtschaft u n d des öffentlichen Rechts. A n ihrer Lösung sind beteiligt die Staatsgesetzgebung, die Politik, die Staatsverwaltung, somit auch auf allen diesen Gebieten die weltliche Wissenschaft. Hier ist es nun ein großer Trost, daß die katholischen Mitglieder unserer gesetzgebenden Körperschaften stets m i t so viel Einsicht und Liebe auf Verbesserung der sozialen Verhältnisse wie des Bauern- u n d Handwerkerstandes, so der Arbeiter der Großindustrie h i n g e w i r k t haben und gewiß i n Zukunft, m i t allen, die nach gleichem Ziele streben, i n E i n tracht zusammenwirken werden. Erfreulich ist es auch, daß auf diesem Gebiete katholische Männer, darunter auch treffliche Priester, theoretisch und praktisch, durch Schrift und Tat so Tüchtiges geleistet haben. Möge i h r Eifer nicht ermatten, u n d mögen wahrhaft dazu Befähigte und Berufene i n immer größerer Zahl ihnen nacheifern ! Die natürlichen Kräfte zur Heilung der sozialen Frage müssen aber von den übernatürlichen, deren H ü t e r i n die Kirche ist, unterstützt werden. Staat und Kirche müssen i n der Anwendung der ihnen innewohnenden H i l f s m i t t e l einträchtig zusammen wirken. Das gilt von allen menschlichen Dingen, aber ganz vorzugsweise von der sozialen Frage. Die Not und Gefahr unserer Zeit w i r d diese oft verkannte Wahrheit i n immer weitern Kreisen zur A n e r kennung bringen. Möge daher vor allem durch Gerechtigkeit und Wohlwollen dieses so notwendige Zusammenwirken zwischen Staat und Kirche erstarken u n d alles, was die Eintracht stört, ferngehalten werden! Möge auch die einseitige A u f fassung ein für allemal ausgeschlossen bleiben, es solle die Kirche allein ohne den Staat oder es solle der Staat allein ohne die Kirche die soziale Frage zu lösen suchen; und noch weniger möge die Ansicht jemals Geltung gewinnen, es gehe diese Frage weder den Staat noch die Kirche an, sondern hier sei alles der Privattätigkeit, dem freien Spiele der Kräfte oder gar dem „Kampfe ums Dasein" zu überlassen. . . . Wohl haben die sozialen Übel wie früherer Zeiten, so auch unserer Zeit i h ren Grund nicht zum geringen Teile i n äußern Verhältnissen, i n den Mängeln und Fehlern menschlicher Einrichtungen, und daher ist zu ihrer U b e r w i n dung auch die Verbesserung jener äußern Verhältnisse und Einrichtungen notwendig und nützlich. Aber immer liegt der Hauptgrund aller sozialen Übel nicht i n äußern Umständen, sondern i n der innern Beschaffenheit der Menschen, i n dem Mangel richtiger Grundsätze u n d der rechten Gesinnung, i n dem Mangel an Tugenden, i n herrschenden Lastern, während ungünstige äußere Verhältnisse durch christliche Gesinnung u n d Tugend erträglicher gemacht und einigermaßen gebessert werden können.
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M a n steuere jener entfesselten Habgier und Genußsucht, welche die V ö l ker entnervt; man erfülle die Herzen der Arbeitgeber m i t Gerechtigkeit, B i l l i g k e i t und Wohlwollen; man flöße den Arbeitern Arbeitsamkeit, Geduld, Genügsamkeit, Sparsamkeit, Bescheidenheit ein; man bewahre sie vor Unsittlichkeit u n d Unmäßigkeit; man schütze die Jugend vor Entartung, man schaffe ein sittenreines u n d zufriedenes Familienleben, — u n d die soziale Frage, wie gefahrdrohend u n d schwierig sie sein mag, w i r d ihre Schärfe verlieren; ja, es w i r d auch zugleich die wesentliche Grundbedingung zur V e r besserung der äußern Verhältnisse und Einrichtungen gegeben sein; die ersehnte Besserung derselben w i r d durch den freien u n d guten W i l l e n beider Teile u n d ohne gewaltsame Umwälzungen eintreten. Die M u t t e r praktischer Weisheit und echter Tugend ist die Religion, und die Pflegerin derselben die Kirche. Sie ist die von Gott gesetzte H ü t e r i n der geoffenbarten Wahrheit, welche, k r a f t - u n d lebensvoll, allein uns wahrhaft von den übermächtigen Übeln frei machen kann, an denen die Menschheit schwer erkrankt ist: denn der letzte u n d tiefste Grund dieser Übel liegt i n der Erschütterung des festen und freudigen Glaubens u n d i m A b f a l l von dem lebendigen Christentum. Wohl gibt es glaubenslose Gelehrte, welche die Religion durch die Philosophie und Naturwissenschaft u n d die Kirche durch eine auf die ungläubige Philosophie gegründete Erziehung ersetzen wollen; und jene, welche von einem völligen Umstürze alles Bestehenden und einer ganz neuen Gesellschaftsordnung der Z u k u n f t träumen, haben sich diesem Wahne angeschlossen u n d suchen i h n durch alle M i t t e l der Verführung i m Volke zu verbreiten. A l l e i n man täusche sich nicht. Wenn es, wie jener Unglaube lehrt, keinen persönlichen Gott gibt und keine unsterbliche Seele, folglich keine überirdische Bestimmung des Menschen, wenn es keine menschliche Willensfreiheit und keine m i t Freiheit u n d Liebe die Welt regierende Vorsehung gibt, wenn i n der N a t u r w e l t wie i n der Menschheit nichts weiter als das blinde Spiel der Naturgesetze, die Wahlverwandtschaft und der K a m p f ums Dasein herrscht 8 : dann kann weder von Gerechtigkeit noch von Liebe i m vernünftigen und christlichen Sinne die Rede sein; dann kann n u r das Recht des Stärkeren gelten, u n d alle, die auf diesem Standpunkte des gottentfremdeten Unglaubens noch von Gerechtigkeit und Liebe sprechen, reden Worte ohne Sinn, täuschen sich u n d andere. Wahrhaftig, dieser dem Christentum feindlich gegenüberstehende U n glaube, welcher alle Wahrheiten leugnet oder bezweifelt, auf denen nach den Gesetzen der Vernunft u n d des Glaubens der Wert des menschlichen Lebens, der Bestand der Familie und der ganzen Gesellschaft beruht, kann die Gesellschaft nicht retten, sondern n u r zerstören. Eine Erziehung aber, welche diesem Unglauben hörig Christentum und Kirche verschmäht, ist unter allen sozialen Übeln das größte, w e i l sie das Herz der Jugend ver8 I n Schlagworten w i r d hier an herrschende naturwissenschaftliche Denkweisen erinnert; „Wahlverwandtschaften", von Goethe 1809 auf menschliche Beziehungen übertragen, ist hier i n dem ursprünglichen, auf den Schweden Torbern Bergman (1775) und dessen Übersetzung durch Chr. Ehr. Weigel zurückgehenden Sinn als attractio electiva chemischer Elemente verstanden.
I. Papst Leo X I I I . , die soziale Frage u n d die katholische Arbeiterbewegung giftet und das heranwachsende Geschlecht jeglicher Verführung überliefert.
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schutzlos
II. Doch kehren w i r zu den Gründen zurück, m i t welchen der Hl. Vater die große Aufgabe der Kirche bei Lösung der sozialen Frage erweist. . . . Der übernatürliche Christenglaube hat i n seinem Bereiche die furchtbarste soziale Frage zu einer Zeit gelöst, i n welcher das Christentum m i t t e n i n einer es verfolgenden heidnischen Welt und unter dem Drucke des heidnischen Rechtes auf die äußere U m w a n d l u n g der Dinge noch keinen Einfluß üben konnte. Er gab den Ärmsten, dem Sklaven, der Sklavin das Bewußtsein ihrer natürlichen Menschenwürde und ihrer übernatürlichen Christenwürde, daß sie nämlich K i n d e r Gottes und Ebenbilder Christi seien; u n d dieses Bewußtsein machte sie stark, lieber den Martertod zu erdulden, als den Glauben zu verleugnen oder die Tugend zu verletzen. Dieser Glaube gab dem Arbeiter die Hochschätzung seines Standes, der i h m nun nicht mehr als ein von grausamen Göttern, vom unerbittlichen Schicksal oder durch die ungerechte Gewalt der Mächtigen und Reichen auferlegter Fluch, sondern als der Stand des Sohnes Gottes erschien, der auf Erden nicht Genuß, sondern harte Arbeit, nicht Reichtum, sondern Armut, nicht das Herrschen, sondern das Dienen, ja den Gehorsam bis zum Tode am Kreuze sich erwählt hat. Dieser Glaube wandelte aber auch die Herzen der Reichen u n d der Herren u m und bestimmte sie, i n den A r m e n u n d den ihrer Herrschaft Unterworfenen Ebenbilder ihres H e r r n und Erlösers, ihre Brüder i n Christo zu e r b l i k ken und sie demgemäß zu achten, zu lieben und zu behandeln. So k a m es, daß i m Zeitalter der römischen Kaiser, d. h. i n der Zeit der höchsten T y r a n nei und Sittenverderbtheit, christliche Herren u n d Diener i n christlicher Liebe miteinander verbunden waren u n d daß viele Sklaven von ihren H e r ren Freiheit und Versorgung empfingen. A l l e i n das Christentum hat nicht n u r A r m e u n d Reiche, Herren und Knechte vor Gott und i n Christus gleichgestellt und i n Liebe verbunden; es hat die A r m e n i n einer besonderen Weise bevorzugt. W o h l hat der göttliche H e i land sich von den Reichen nicht abgewendet, aber er hat m i t einer vorzüglichen Liebe sich den A r m e n zugewendet. Er selbst wollte arm sein, von einer armen M u t t e r geboren werden, von seiner Hände Arbeit, ja von Almosen leben; die A r m e n preist er selig, ihnen vor allen verkündet er das H i m m e l reich; sie zumal speiset, heilet, tröstet er; aus ihnen w ä h l t er seine Apostel und die ersten Genossen seines Reiches. So hat er allezeit die Gesinnungen seines Herzens zu erkennen gegeben, auf daß die A r m e n i n i h m Trost und Freude haben, die Reichen aber Christus, den H e r r n der Herrlichkeit, der durch seine A r m u t sie an himmlischen und ewigen Gütern w a h r h a f t reich gemacht hat, i n seiner Liebe zu den A r m e n und Niedrigen nachahmen. Allerdings ist, was w i r ausdrücklich hervorheben, m i t dem Geiste des Glaubens, der i n den A r m e n Zufriedenheit, i n den Reichen M i l d e und E r -
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barmung w i r k t , die jetzt die Welt bewegende soziale Frage nicht ohne w e i teres gelöst. . . . Da die Ursachen dieser Übelstände auf menschlichen, politischen und rechtlichen Gebieten liegen, so können auch menschliche M i t t e l zu ihrer Heilung nicht entbehrt werden; m i t Vorsicht, Besonnenheit u n d ausdauernder Geduld sollen sie angewendet werden. A l l e i n immer ist es doch vor allem der Geist des Glaubens gewesen, der selbst i n den ungünstigsten Zeit- und Gesellschaftsverhältnissen als eine segensreiche Macht, als den eigentlichen Retter der Menschheit sich erwiesen hat; das zeigt nicht minder die Weltgeschichte. Diese Macht ist auch für unsere Zeit der Grundstein unserer Hoffnung. Wo immer noch Reiche und Arme, Herren u n d Diener, Gelehrte u n d Handarbeiter an denselben Heiland glauben u n d miteinander an demselben Tische seiner Liebe erscheinen, da w i r d i n den Herzen der Menschen jene kalte Entfremdung und jener Neid und Haß nimmermehr die Oberhand gewinnen, welche so recht eigentlich die soziale Gefahr der Gegenwart bilden u n d deren Hebung und Heilung so sehr erschweren. Wo der göttliche Glaube fehlt, w i r d auch das V e r ständnis menschlicher Verhältnisse getrübt; wo die göttliche Liebe mangelt, w i r d n u r zu leicht die Selbstsucht über menschliche Gerechtigkeit u n d menschliches Wohlwollen den Sieg davontragen und werden äußere M i t t e l zur Besserung der sozialen Lage weder Bestand noch Fruchtbarkeit haben. III. Das Evangelium ist aber auch das höchste und beste Gesetz, wie für jeden einzelnen Menschen, wes Standes er sei, so für die menschliche Gesellschaft, welches immer ihre Verfassung, die Stufe ihrer geschichtlichen Entwicklung, i h r Kulturzustand sei: denn das Wort Gottes enthält die Rechte sowie die den Rechten entsprechenden Pflichten aller und jeder. W i r brauchen dabei nicht hinzuweisen auf die übernatürlichen Glaubensgeheimnisse, welche den Hauptinhalt der göttlichen Offenbarung bilden; es genügt, jene natürlichen religiös-sittlichen Wahrheiten ins Auge zu fassen, auf welchen die Gesetze des natürlichen Rechtes u n d der natürlichen Liebe beruhen. Diese Wahrheiten vermag zwar schon die bloße Vernunft zu erkennen und anzuerkennen; doch sind sie tatsächlich, nach Ausweis der W e l t geschichte, n u r i m Lichte der göttlichen Offenbarung ganz und rein bewahrt worden, während sie ohne Offenbarung mehr u n d mehr i m alten Heidentum verdunkelt wurden und ebenso i n noch größerem Umfange i m heutigen Unglauben verloren gehen. Das Evangelium belehrt uns, daß die gesellschaftliche Ungleichheit, welche w i r i n allen Perioden der Geschichte der Menschheit wahrnehmen, ihren nächsten Grund i n der N a t u r des Menschen und seiner Lebensverhältnisse, ihre höchste Ursache aber i n Gottes Zulassung und Fügung hat. Durch die N a t u r und die Lebensverhältnisse des Menschen ist das Privateigentum und dessen Vererbung i n der Familie sowie die Verschiedenheit u n d Ungleichheit der Stände, der Berufsarten, der Vermögensverhältnisse entstanden. Alles dieses ist jedoch i n der geschichtlichen Entwickelung der Menschen und der
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Völker nicht lediglich nach notwendigen Naturgesetzen, sondern auch durch den freien menschlichen W i l l e n geworden, und dieser Wille ist nicht immer ein guter, sondern häufig auch ein sündhafter gewesen. Aber über alle V e r hältnisse und alles menschliche Wollen herrscht, wie Glaube und Vernunft lehren, die allwaltende, gerechte und gütige Vorsehung Gottes, — und deshalb soll jeder Mensch seinen Stand und seine Verhältnisse, mögen sie auch drückend für i h n sein, nicht lediglich als ein Werk des Zufalls oder menschlicher W i l l k ü r , sondern als eine Fügung und Zulassung der göttlichen V o r sehung betrachten, die ihn, wenn er nur guten Willens ist, auf diesem Wege zu seinem ewigen Heile f ü h r t und i h m auch auf Erden ein tugendhaftes und zufriedenes Leben ermöglicht. Gewiß ist es dem einzelnen wie den Genossen desselben Standes und derselben Lebensverhältnisse weder durch den christlichen Glauben noch durch das natürliche Sittengesetz verwehrt, nach einer Verbesserung ihrer Lage zu streben; jedoch darf dies nur durch rechtmäßige, vom christlichen und natürlichen Sittengesetze gebilligte Mittel, aber nie u n d nimmermehr durch Trug oder Gewalt geschehen. Dieses ist von Anbeginn und zu allen Zeiten unverbrüchlicher Grundsatz des Christentums und der christlichen Kirche gewesen. Es gilt hier bezüglich des Eigentums, des weltlichen Rechtsgebietes und der rechtmäßig bestehenden sozialen Verhältnisse dasselbe, was bezüglich der bestehenden politischen Ordnung und der weltlichen Obrigkeit nach den klaren Aussprüchen Jesu Christi und seiner Apostel Geltung hat. Wie C h r i stus und seine Apostel durch Wort und Beispiel gelehrt haben, die bestehenden weltlichen Obrigkeiten als auf Gottes Ordnung und Vorsehung beruhend zu achten u n d zu ehren, so haben sie auch Achtung der bestehenden Eigentums- und Rechtsverhältnisse als Gewissenspflicht vorgeschrieben. . . . Allein, wenn das Christentum gewaltsamen Umsturz sowie arglistige U n tergrabung der bestehenden Ordnung als eine schwere Sünde gegen Gott und ein Verbrechen gegen die gesamte menschliche Gesellschaft unbedingt verbietet, so anerkennt und verkündet es auf der andern Seite die Pflicht, daß sowohl die von Gott gesetzte Obrigkeit als alle, die i n höherer Stellung sich befinden, die Menschenwürde und die Menschenrechte ihrer Untergebenen und Mitmenschen achten 9 und m i t redlichem Ernste und aller Sorgfalt darnach streben, durch jene Vereinigungen von Gerechtigkeit und Liebe, welche das Christentum lehrt und i n jeder Weise fördert, die sozialen Übel nach Möglichkeit zu heben und zu erleichtern. . . . Welche M i t t e l und Wege i n dieser Beziehung der Obrigkeit und den Untertanen zu Gebote stehen, das i m einzelnen zu erörtern, sind w i r hier nicht in der Lage. Darüber aber sind alle, welche ein i n christlicher Auffassung gründendes Verständnis von der Sache haben, einverstanden, daß, wenn die geheimen und öffentlichen Umtriebe des Unglaubens und Umsturzes zur Förderung des Abfalls vom Christentum und von der christlichen Staatsordnung nicht gehemmt werden, die Hauptquelle der gesellschaftlichen Übel unserer Zeit zu fließen fortfährt. Umsonst ist alles Bemühen, die Verbreitung der9 Die Wechselbezogenheit von Menschenwürde und Menschenrechten ist, wie der Text zeigt, ein alter Satz der christlichen Sozialethik.
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selben einzudämmen, wenn die christliche Religion, welche verfassungsmäßig dem öffentlichen Unterrichte auf den i h m gewidmeten Anstalten zugrunde liegen soll, zum Ärgernis des gläubigen Volkes bald versteckt, bald offen i n Wort, Schrift und Darstellungen angegriffen, verdächtigt und verunstaltet w i r d . . . und das aufwachsende Geschlecht m i t den h a l t - und trostlosen Gebilden des Naturalismus und Materialismus vergiftet wird. Die Majestät des Königs Himmels und der Erde w i r d nie öffentlich mißachtet, ohne daß die Gewalt der irdischen Obrigkeit, welche n u r ein Ausfluß der göttlichen Machtvollkommenheit ist, darunter leidet und m i t i h r der Bestand der bürgerlichen Gesellschaft Schaden nimmt. . . . N u r wahre christliche Gottesfurcht w i r d die Völker von ihren Übeln heilen und darum w i r d jeder tiefer Blickende darin m i t uns übereinstimmen, daß der gebührende u n d ungeschmälerte religiöse Einfluß der Kirche auf die Schule und auf die Erziehung der Jugend zu den wesentlichsten Bedingungen einer wahren und gründlichen Besserung unserer Lage gehört und daß ebenso nach aller Erfahrung die freie und unbehinderte Entfaltung des Ordenslebens und seiner Wirksamkeit zu den bewährtesten M i t t e l n gerechnet w i r d , die Schäden der Zeit zu heilen. . . . Inzwischen wollen w i r nicht unterlassen, nach der eindringlichen Mahnung des Hl. Vaters an uns B i schöfe, an Klerus u n d Volk, die der Kirche zu Gebote stehenden M i t t e l m i t großem Eifer und voller Hingebung i n Anwendung zu bringen. IV. U n d welches sind diese Mittel? Der Hl. Vater hebt vorzüglich folgende hervor: Verbesserung der Sitten und Hebung des religiösen Lebens, Versöhnlichkeit u n d Eintracht, Förderung der Zufriedenheit bei den Armen, der Wohltätigkeit bei den Heichen, endlich Pflege und Entwicklung des christlichen Vereinslebens und wohltätiger Anstalten 1 0 . . . . Wie wichtig für den christlichen Glauben und die christliche Sitte das Vereinsleben ist, beweist die Geschichte. Schon i n den ersten Jahrhunderten, zur Zeit der ältesten Christenverfolgungen, hat das religiöse und kirchliche Leben i n genossenschaftlichen Formen sich bestätigt. Wie segensreich i n der christlich-germanischen Zeit das religiöse und volkstümliche Leben i n schönem Bunde miteinander i n Vereinen und Genossenschaften blühte, ist allbekannt. Auch das christliche Vereinsleben unserer Tage ist i m Geiste unseres Volkes und i m Geiste des Christentums tief begründet. Dasselbe fördern und gegen etwaige Gefahren schützen, ist daher eine heilige Pflicht insbesondere auch der Seelsorge, welche an gar vielen Orten dieses Hülfsmittels nicht entbehren kann. Wohlverdient ist das Lob, welches der Hl. Vater i n dieser Beziehung unserm Klerus und Volke spenden konnte; w i r stimmen m i t freudiger Anerkennung i n dasselbe ein, zugleich von dem festen Vertrauen beseelt, daß beide diesen R u h m sich bewahren werden, indem sie die bereits bestehenden u n d bewährten Vereine erhalten, wo notwendig neu beleben und sie auch nach solchen Orten, wo sie noch nicht vorhanden, aber ein Bedürfnis sind, verbreiten. Das muß unsere nächste Aufgabe sein. 10 Diese Punkte werden i m Folgenden näher erläutert; die Wiedergabe beschränkt sich auf diè Erwägungen zum christlichen Vereinsleben.
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Aber auch neue Vereine, zumal an Orten, wo eine zahlreiche und durch die Strömungen der Zeit religiös und sittlich gefährdete Arbeiterbevölkerung sich findet, sind notwendig und an nicht wenigen Orten bereits entstanden oder i m Entstehen begriffen. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Bedürfnisse, Verhältnisse, der Volkscharakter an verschiedenen Orten verschieden sind. Eine gewisse Freiheit der Gestaltung und Bewegung ist daher hier notwendig, weshalb w i r uns darauf beschränken, n u r wenige allgemeine Grundsätze anzudeuten. Sollen solche Vereine gedeihen, sollen sie vor Abwegen bewahrt, sollen sie fruchtbar werden, so müssen sie wahrhaft christlich und wahrhaft praktisch sein. Sie müssen vor allem wahrhaft christlich sein. Gewiß können u n d sollen sie nicht überall wie die auch i n bürgerlicher und sozialer Beziehung nicht hoch genug zu schätzenden alten Bruderschaften und Sodalitäten 1 1 ausschließlich und vorzugsweise der Pflege des religiösen Lebens oder besonderer kirchlicher Andachten gewidmet sein. A l l e i n sie müssen alle die Religion, aufrichtiges und lebendiges Christentum zur Grundlage u n d das religiöse Sittengesetz zur Regel haben. Wo dieses fehlt, w i r d jeder Verein nicht nur unfruchtbar sein und zerfallen, sondern auch leicht ausarten und das Übel ärger machen. Daher ist es besser, m i t einer kleinen Z a h l wahrhaft religiöser Mitglieder zu beginnen und allmählich zu wachsen, als u m eines äußeren Aufschwunges w i l l e n durch irgendwelche Nachgiebigkeit gegen den W e l t geist den K e i m des Verderbens i n den Verein zu legen. Daher ist ferner unter allen Umständen darnach zu streben, daß die Mitglieder eines jeden Vereines ihre religiösen Pflichten erfüllen, und ist die Feier des einen oder anderen kirchlichen Festes, sowie die Übung eines bestimmten Vereinsgebets zu empfehlen. Ferner sollen kurze und gehaltvolle Vorträge stattfinden; das Glück eines wahrhaft christlichen Lebens, die Empfehlung der notwendigen Standestugenden, der Geist und das V o r b i l d unseres göttlichen Heilandes werden stets deren Hauptgegenstand bilden müssen. Von Zeit zu Zeit abgehaltene Vorbereitungen auf den Empfang der hl. Sakramente werden das w i r k samste M i t t e l zur Erneuerung des Geistes und des Eifers sein. Unter solcher Pflege, dessen sind w i r gewiß, w i r d die K r a f t des Christentums und der religiöse Geist unseres Volkes die Übel der Zeit überwinden. Ebenso wesentlich müssen die Vereine praktisch sein, indem sie bestimmte Ziele verfolgen u n d ihren Mitgliedern wahre, ihrem Stande entsprechende Vorteile für das Leben bieten. Dadurch haben die Gesellen- u n d Lehrlingsvereine m i t einfachen M i t t e l n so Großes geleistet und eine unzerstörbare Lebenskraft sich bewahrt. Dasselbe g i l t nicht weniger von vielen der später entstandenen Arbeiter- und Arbeiterinnenvereine. Schon der Umstand, daß sie den Mitgliedern, zumal der Jugend, einen vor den Gefahren des Straßen11 Sodalitäten („Genossenschaften") heißen die Untergliederungen der sogenannten „ D r i t t e n Orden" (Tertiarier und Tertiarierinnen), das heißt der religiösen Gemeinschaften, die unter Leitung eines männlichen Ordens (eines „ersten Ordens") teils ohne Gelübde, teils m i t einfachen oder m i t feierlichen Gelübden leben.
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und des Wirtshauslebens schützenden angenehmen Aufenthaltsort und i n freien Zeiten entsprechende Unterhaltung bieten, ist eine große Wohltat. Aber mehr noch als durch derartige Annehmlichkeiten werden die Mitglieder angezogen und festgehalten werden, wenn sie durch Erfahrung sich überzeugen, daß sie in dem Vereine wahrhaft Nützliches lernen und ihnen die Wege für ihr Lebensglück bereitet werden. Dazu führt nicht weniger auch Gewöhnung an Opferwilligkeit für die Vereinsaufgaben; wofür man selbst Opfer bringt, das schätzt man, dem bleibt man treu. Nicht unerwähnt dürfen w i r auch lassen, welch große Gefahr die heutige durch zahllose Feste gesteigerte Vergnügungssucht bereitet. Unsere Vereine sollen dieses Übel nicht fördern, vielmehr in zweckmäßiger Weise zu heilen suchen. Daß das christliche Vereinsleben nur gedeihen kann, wenn die Seelsorger demselben rechte Liebe zuwenden, darin sind alle einverstanden. Aber daß die Geistlichen allein die Last tragen, ist weder möglich, noch wünschenswert. Die Besorgung und Förderung der Vereinsangelegenheiten w i r d hauptsächlich die Sache erwählter tüchtiger Vereinsvorstände aus dem Laienstande sein. Ihnen werden auch alle Vereinsmitglieder, namentlich diejenigen aus dem Lehrerstande, helfend und schützend zur Seite stehen. Der Geistliche soll wo möglich mehr der treue und opferwillige Freund und Berater als der unmittelbare Verwalter der einzelnen Vereinsangelegenheiten sein. Die wahre Hirtenliebe, die den Diener des Gottessohnes erfüllen muß, w i r d auch hier ihn leiten, i h m die rechten Wege zeigen und i h m das erforderliche Ansehen geben. . . .
Nr. 126. Enzyklika Papst Leos X I I I . „Rerum no varum" über die Arbeiterfrage 12 vom 15. M a i 1891 (Lateinischer Text und autorisierte deutsche Ubersetzung: Rundschreiben, erlassen von unserem Heiligsten Vater Leo X I I I . , 3. Sammlung, o. J., S. 155 ff.) — Auszug — 1. Der Geist der Neuerung, welcher seit langem durch die Völker geht, mußte, nachdem er auf dem politischen Gebiete seine verderblichen W i r kungen entfaltet hatte, folgerichtig auch das staatswirthschaftliche Gebiet 12 Die Enzyklika „Rerum novarum" wurde ursprünglich ohne Bezifferung der einzelnen Abschnitte veröffentlicht. B e i m Erlaß der Enzyklika „Quadragesimo anno" von 1931 (Staat u n d Kirche, Bd. IV) wurde zugleich „Rerum novarum" m i t bezifferten Absätzen amtlich neu publiziert; die Ziffern sind dem folgenden Abdruck der autorisierten deutschen Übersetzung von 18S1 beigefügt. — Diese autorisierte Übersetzung weicht an einigen wichtigen Stellen vom lateinischen Originaltext ab. Die notwendigen Berichtigungen sind nach Ο. ν . Nell-Breuning, Texte zur katholischen Soziallehre, Bd. 1 (4. Aufl. 1977), S. 31 ff. anmerkungsweise angegeben. — Nach der Veröffentlichung von „Quadragesimo anno" erschien eine Reihe neuer deutscher Übersetzungen von „Rerum n o v a r u m " ; die wichtigste stammt von G. Gundlach, Die sozialen Rundschreiben Leos X I I I . und Pius X I . (3. Aufl. 1960).
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ergreifen. — Viele Umstände begünstigten diese Entwicklung: die Industrie hat durch die Vervollkommnung der technischen H i l f s m i t t e l und eine neue Productionsweise mächtigen Aufschwung genommen; das gegenseitige V e r hältniß der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das K a p i t a l ist i n den Händen einer geringen Zahl angehäuft, w ä h rend die große Menge verarmt; und dabei wächst i n den Arbeitern das Selbstbewußtsein und das Gefühl der Stärke, sie organisiren sich i n immer engerer Vereinigung. Das alles hat den socialen Konflict wachgerufen, vor welchem w i r stehen. Wie viel i n diesem Kampfe auf dem Spiele steht, das zeigt die bange E r w a r t u n g der Gemüther gegenüber der Zukunft. Uberall beschäftigt man sich m i t dieser Frage, i n den Kreisen von Gelehrten, auf fachmännischen Congressen, i n Volksversammlungen, i n den gesetzgebenden Körpern und i m Rathe der Fürsten. Die Arbeiterfrage ist geradezu i n den Vordergrund der ganzen Zeitbewegung getreten. — I m Hinblick auf die Sache der Kirche und die gemeinsame Wohlfahrt haben W i r schon früher, E h r würdige Brüder, das Wort ergriffen, u m i n den Rundschreiben Uber die p o l i t i sche Autorität, Uber die Freiheit, Uber den christlichen Staat und über andere, verwandte Gegenstände die betreffenden I r r t h ü m e r der Gegenwart zu kennzeichnen und zurückzuweisen. W i r erachten es aus gleichem Grunde für zweckmäßig, das nämliche i m vorliegenden Schreiben hinsichtlich der Arbeiterfrage zu thun. — Z w a r ist dieser Gegenstand von Uns auch i n anderen Schreiben ber ü h r t worden; aber nunmehr gedenken W i r über denselben nach seinem ganzen Umfange Unserem Apostolischen A m t e gemäß Uns auszusprechen. W i r wollen die Grundsätze darlegen, welche für eine richtige und billige Entscheidung der Streitfrage maßgebend sein müssen. Die Streitfrage ist ohne Zweifel schwierig und voller Gefahren; schwierig, w e i l Recht und Pflicht i m gegenseitigen Verhältniß von Reichen und Besitzlosen, von K a p i t a l u n d Arbeit abzumessen i n der That keine geringe Aufgabe ist; und voller Gefahren, w e i l eine wühlerische Partei nur allzu geschickt das U r t h e i l des Volkes irreführt, u m Aufregung und Empörungsgeist unter den unzufriedenen Massen zu verbreiten. 2. Indessen, es liegt nun einmal zu Tage, und es w i r d von allen Seiten anerkannt, daß geholfen werden muß, und zwar, daß baldige ernste Hilfe noththut, w e i l infolge der Mißstände Unzählige ein wahrhaft gedrücktes und unwürdiges Dasein führen. I n der Umwälzung des vorigen Jahrhunderts wurden die alten Genossenschaften der arbeitenden Klassen zerstört, keine neuen Einrichtungen traten zum Ersatz ein, das Staatswesen entkleidete sich zudem mehr und mehr der christlichen Sitte und Anschauung, und so geschah es, daß Handwerk und Arbeit allmählich der Herzlosigkeit reicher Besitzer und der ungezügelten Habgier der Concurrenz isolirt und schutzlos überantwortet wurden. — Die Geldkünste des modernen Wuchers kamen hinzu, u m das Übel zu vergrößern, und wenn auch die Kirche zum öftern dem Wucher das U r t h e i l gesprochen, fährt dennoch ein unersättlicher K a p i talismus fort, denselben unter einer andern Maske auszuüben. Production und Handel sind fast zum Monopol von Wenigen geworden, und so konnten wenige übermäßig Reiche dem arbeitenden Stande nahezu ein sklavisches Joch auflegen.
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3. Zur Hebung dieses Übels verbreiten die Socialisten, indem sie die Besitzlosen gegen die Reichen aufstacheln, die Behauptung, jeder private Besitz müsse aufhören, u m einer Gemeinschaft der Güter Platz zu machen, welche mittelst der Vertreter der städtischen Gemeinwesen und durch die Regierungen selbst einzuführen wäre. Sie wähnen, durch eine solche Übertragung alles Besitzes von den I n d i v i d u e n an die Gesammtheit alle Mißstände heben zu können, es müßte n u r einmal das Vermögen und dessen Vortheile gleichmäßig unter den Staatsangehörigen vertheilt sein. Indessen dieses Programm ist weit entfernt, etwas zur Lösung der Frage beizutragen; es schädigt vielmehr die arbeitenden Klassen selbst; es ist ferner sehr ungerecht, indem es die rechtmäßigen Besitzer vergewaltigt; es ist endlich der staatlichen Ordnung zuwider, ja bedroht die Staaten m i t völliger Auflösung. 4. Vor allem liegt nämlich k l a r auf der Hand, daß die Absicht, welche den Arbeiter bei der Übernahme seiner Mühe leitet, keine andere als die ist, daß er durch den L o h n zu irgend einem persönlichen Eigenthume gelange. Indem er Kräfte und Fleiß einem andern leiht, w i l l er für seinen eigenen Bedarf das Nöthige erringen; u n d er e r w i r b t sich ein wahres und eigentliches Recht nicht bloß auf die Zahlung, sondern auch auf freie Verwendung derselben. Gesetzt, er habe durch Einschränkung Ersparnisse gemacht und sie der Sicherung halber zum A n k a u f eines Grundstückes verwendet, so ist das Grundstück eben der i h m gehörige Arbeitslohn, nur i n anderer Form; es bleibt i n seiner Gewalt u n d Verfügung, nicht minder als der erworbene Lohn. Aber gerade hierin besteht offenbar das Eigenthumsrecht an beweglichem wie unbeweglichem Besitze. Wenn also die Socialisten dahin streben, allen Sonderbesitz i n Gemeingut umzuwandeln, so ist klar, wie sie dadurch die Lage der arbeitenden Klassen nur ungünstiger machen. Sie entziehen denselben ja m i t dem Eigenthumsrechte die Vollmacht, ihren erworbenen Lohn nach Gutdünken anzulegen, sie rauben ihnen eben dadurch Aussicht und Fähigkeit, i h r kleines Vermögen zu vergrößern und sich durch Fleiß zu einer bessern Stellung emporzuringen. 5. Aber, was schwerer wiegt, das von den Socialisten empfohlene H e i l m i t t e l der Gesellschaft ist offenbar der Gerechtigkeit zuwider, denn das Recht zum Besitze privaten Eigenthums hat der Mensch von der Natur erhalten. — Es t r i t t wie i n anderen Dingen so auch hierin ein wesentlicher Unterschied zwischen Mensch und Thier hervor. . . . Was den Menschen adelt und i h n zu der i h m eigenen Würde erhebt, das ist der vernünftige Geist; dieser verleiht i h m seinen Charakter als Menscia und trennt ihn seiner ganzen Wesenheit nach vom Thiere. Eben w e i l er aber m i t Vernunft ausgestattet ist, sind i h m irdische Güter nicht zum bloßen Gebrauche anheimgegeben, wie dem Thiere, sondern er hat persönliches Besitzrecht, Besitzrecht nicht bloß auf Dinge, die beim Gebrauche verzehrt werden, sondern auch auf solche, welche nach dem Gebrauche bestehen bleiben. 6. Eine tiefere Betrachtung der Natur des Menschen lehrt dieses ganz klar. — Da der Mensch m i t seinem Denken unzählige Gegenstände umfaßt, aus den gegenwärtigen die zukünftigen erschließt und Herr seiner Handlungen ist, so bestimmt er unter dem ewigen Gesetze und unter der allweisen
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Vorsehung Gottes sich selbst nach freiem Ermessen; es liegt darum i n seiner Macht, unter den Dingen die W a h l zu treffen, die er zu seinem eigenen Wohle nicht allein für die Gegenwart, sondern auch für die Z u k u n f t als die ersprießlichste erachtet. Hieraus folgt, daß es Rechte auf persönlichen Bodenbesitz geben muß; es müssen Rechte erworben werden können nicht bloß auf Eigenthum an Erzeugnissen des Bodens, sondern auch auf Eigenthum am Boden selbst. Was dem Menschen nämlich sichere Aussicht auf künftigen F o r t bestand seines Unterhaltes verleiht, das ist n u r der Boden m i t seiner Productionskraft. I m m e r unterliegt der Mensch Bedürfnissen, sie wechseln n u r ihre Gestalt; sind die heutigen befriedigt, so stellen morgen andere ihre Anforderungen. Die Natur muß dem Menschen demgemäß eine bleibende, unversiegliche Quelle zur Befriedigung dieser Bedürfnisse angewiesen haben, und eine solche Quelle ist nur der Boden m i t den Gaben, die er unaufhörlich spendet. Es ist auch kein Grund vorhanden, die allgemeine Staatsfürsorge i n A n spruch zu nehmen. Denn der Mensch ist älter als der Staat, und er besaß das Recht auf Erhaltung seines körperlichen Daseins, ehe es einen Staat gegeben. . . . Daß aber Gott der Herr die Erde dem ganzen Menschengeschlecht zur Nutznießung übergeben hat, dies steht nicht dem Sonderbesitze entgegen. Denn Gott hat die Erde nicht i n dem Sinne der Gesammtheit überlassen, als sollten alle ohne Unterschied Herren über dieselbe sein, sondern insofern als er selbst keinem Menschen einen besonderen Theil derselben zum Besitze angewiesen, vielmehr dem Fleiße der Menschen und den von den Völkern zu treffenden Einrichtungen die Abgrenzung u n d Vertheilung des Privatbesitzes 1 3 anheimgegeben hat. — Übrigens wie immer unter die Einzelnen vertheilt, hört der Erdboden nicht auf, der Gesammtheit zu dienen, denn es gibt keinen Menschen, der nicht von seinem Erträgniß lebte. Wer ohne Besitz ist, der hat dafür die Arbeit, und man k a n n sagen, alle Nahrungsquellen gehen zuletzt zurück entweder auf die Bearbeitung des Bodens oder auf Arbeit i n irgend einem andern Erwerbszweige, dessen Lohn nur von der Frucht der Erde k o m m t und m i t der Frucht der Erde vertauscht wird. Es ergibt sich hieraus wieder, daß privater Besitz vollkommen eine Forderung der Natur ist. Die Erde spendet zwar in großer Fülle alles, was zur Erhaltung und Förderung des irdischen Daseins nöthig ist; aber sie kann es nicht aus sich spenden, d. h. nicht ohne Bearbeitung und Pflege durch den Menschen. Indem der Mensch an die Urbarmachung des Bodens körperlichen Fleiß und geistige Sorge setzt, macht er sich eben dadurch den c u l t i virten Theil zu eigen; es w i r d demselben sozusagen der Stempel des Bearbeiters aufgedrückt. Es entspricht also durchaus der Gerechtigkeit, daß dieser Theil des Bodens sein eigen sei, und sein Recht darauf unverletzlich bleibe. 8. Die Beweiskraft des Gesagten ist so einleuchtend, daß es nur V e r w u n derung erwecken kann, die entgegengesetzten Theorien vortragen zu hören, is w ö r t l i c h : „Ordnung der Eigentumsverhältnisse".
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Theorien, die übrigens nicht neu sind, sondern die schon das A l t e r t h u m abgewiesen u n d widerlegt hat. . . . M i t Recht hat darum die Menschheit immer i m Naturgesetze die Grundlage für den Sonderbesitz u n d f ü r die Theilung der irdischen Güter gefunden; sie hat sich weise leiten lassen von der Forderung des natürlichen Gesetzes und blieb unbekümmert u m vereinzelte E i n reden. Durch ihre praktische Anerkennung hat sie die Jahrhunderte entlang das Eigenthumsrecht sozusagen geheiligt als einen Ausfluß der Weltordnung u n d als eine Grundbedingung eines friedlichen Zusammenlebens. — Die staatlichen Gesetze aber, die ihre Verbindlichkeit, sofern sie gerecht sind, vom Naturgesetze herleiten, haben überall das i n Rede stehende Recht geschützt und m i t Strafbestimmungen umgeben. Auch die göttlichen Gesetze verkünden das Besitzrecht, und zwar m i t solchem Nachdrucke, daß sie sogar das Verlangen nach fremdem Gute strenge verbieten : „ D u sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Haus, Acker, Magd, Ochs, Esel und alles was sein ist" 1 4 . 9. Betrachten w i r nunmehr den Menschen als geselliges Wesen, und zwar zunächst i n seiner Beziehung zur Familie, so stellt sich jenes Recht auf Privatbesitz noch deutlicher dar. Wenn i h m dieses, sofern er Einzelwesen ist, zukommt, so k o m m t es i h m noch mehr zu i n Rücksicht auf das häusliche Zusammenleben. — I n Bezug auf die Wahl des Lebensstandes ist es der Freiheit eines jeden anheimgegeben, entweder den Rath Jesu Christi zum enthaltsamen Leben zu befolgen, oder i n die Ehe zu treten. K e i n menschliches Gesetz kann dem Menschen das natürliche und ursprüngliche Recht auf die Ehe entziehen; keines kann den Hauptzweck dieser durch Gottes heilige A u torität seit der Erschaffung eingeführten Einrichtung irgendwie einschränken. „Wachset und mehret euch" 1 5 . M i t diesen Worten w a r die Familie gegründet. Die Familie, die häusliche Gesellschaft, ist eine wahre Gesellschaft m i t allen Rechten derselben, so k l e i n i m m e r h i n diese Gesellschaft sich darstellt; sie ist älter als jegliches andere Gerneinwesen, und deshalb besitzt sie unabhängig v o m Staate i h r innewohnende Befugnisse und Pflichten. Wenn n u n jedem Menschen als Einzelwesen die Natur das Recht, Eigenthum zu erwerben u n d zu besitzen, verliehen hat, so muß sich dieses Recht auch i m M e n schen, insofern er Haupt einer Familie ist, finden; j a dasselbe besitzt i m Familienhaupte noch mehr Energie, w e i l der Mensch sich i m häuslichen Kreise gleichsam ausdehnt. 10. E i n dringendes Gesetz der Natur verlangt, daß der Familienvater den K i n dern den Lebensunterhalt u n d alles Nöthige verschaffe, und die Natur leitet i h n an, auch für die Z u k u n f t die K i n d e r zu versorgen, sie möglichst sicherzustellen gegen irdische Wechselfälle, sie i n Stand zu setzen, sich selbst vor Elend zu schützen; er ist es ja, der i n den K i n d e r n fortlebt und sich gleichsam i n ihnen wiederholt. Wie soll er aber jenen Pflichten gegen die K i n d e r nachkommen können, wenn er ihnen nicht einen Besitz, welcher fruchtet, als Erbe hinterlassen darf? . . . 14 15
5. Mose 5, 21. 1. Mose 1,28.
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11. E i n großer und gefährlicher I r r t h u m liegt also i n dem Ansinnen an den Staat, als müsse er i n das Innere der Familie, des Hauses eindringen. — Allerdings, wenn sich eine Familie i n äußerster N o t h u n d i n so verzweifelter Lage befindet, daß sie sich i n keiner Weise helfen kann, so ist es der Ordnung entsprechend, daß staatliche Hilfeleistung eintrete; die Familien sind eben Theile des Staates. Ebenso hat die öffentliche Gewalt einzugreifen, wenn innerhalb der häuslichen Mauern erhebliche Verletzungen des gegenseitigen Rechtes geschehen: Übergriffe i n Schranken weisen u n d die Ordnung herstellen, heißt dann offenbar nicht Befugnisse der Familie u n d der I n d i v i d u e n an sich reißen; der Staat befestigt i n diesem Falle die Befugnisse der Einzelnen, er zerstört sie nicht. A l l e i n an diesem Punkte muß er H a l t machen, über obige Grenzen darf er nicht hinaus, sonst handelt er dem natürlichen Rechte entgegen. . . . Das socialistische System also, welches die elterliche Fürsorge beiseite setzt, u m eine allgemeine Staatsfürsorge einzuführen, versündigt sich an der natürlichen Gerechtigkeit u n d zerreißt gewaltsam die Bande der Familie. 12. Aber sieht man selbst von der Ungerechtigkeit ab, so ist es ebensowenig zu läugnen, daß dieses System i n allen Schichten der Gesellschaft Verw i r r u n g herbeiführen würde. Eine unerträgliche Beengung aller, eine sklavische Abhängigkeit v o m Staate würde die Folge des Versuches seiner Anwendung sein. Es würde gegenseitiger Mißgunst, Zwietracht u n d Verfolgung T h ü r u n d Thor geöffnet. M i t dem Wegfalle des Spornes zu Strebsamkeit und Fleiß w ü r d e n auch die Quellen des Wohlstandes versiegen. Aus der eingebildeten Gleichheit aller würde nichts anderes, als der nämliche klägliche Zustand der E n t w ü r d i g u n g für alle. — Aus alledem ergibt sich klar die V e r werflichkeit der socialistischen Grundlehre, wonach der Staat allen P r i v a t besitz einzuziehen und zu öffentlichem Gute zu machen hätte. Eine solche Theorie gereicht den arbeitenden Klassen, zu deren Nutzen sie doch erfunden sein w i l l , lediglich zu schwerem Schaden, sie widerstreitet den n a t ü r lichen Rechten eines jeden Menschen, sie verzerrt den Beruf des Staates und macht eine ruhige, friedliche Entwicklung des Gesellschaftslebens u n möglich. Bei allen Versuchen zur A b h i l f e gegenüber den gegenwärtigen socialen Nothständen ist also durchaus als Grundsatz festzuhalten, daß das Privateigenthum unantastbar und heilig sei 16 . W i r gehen nunmehr zu der Darlegung über, w o r i n die überall begehrte Abhilfe i n der mißlichen Lage des arbeitenden Standes zu suchen sei. 13. M i t voller Zuversicht treten W i r an diese Aufgabe heran u n d i m Bewußtsein, daß Uns das W o r t gebührt. Denn ohne Zuhilfenahme von Religion und Kirche ist kein Ausgang aus dem Wirrsale zu finden; aber da die H u t der Religion und die Leitung der kirchlichen K r ä f t e und M i t t e l vor allem i n Unsere Hände gelegt sind, so könnte das Stillschweigen eine Verletzung Unserer Pflicht scheinen. Allerdings ist i n dieser wichtigen Frage auch die Thätigkeit u n d Anstrengung anderer Factoren unentbehrlich; W i r meinen die Fürsten und Regierungen, die besitzende Klasse und die Arbeitsherren, lf i „ u n d heilig" ist eine Zufügung des Ubersetzers, die sich i m lateinischen Text nicht findet.
19 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , ü. B d .
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endlich die Arbeiter selbst, u m deren Loos es sich handelt. Aber W i r sagen m i t allem Nachdrucke: Läßt m a n die Kirche nicht zur Geltung kommen, so werden alle menschlichen Bemühungen vergeblich sein; denn die Kirche ist es, welche aus dem Evangelium einen Schatz von Lehren verkündet, unter deren kräftigem Einfluß der Streit sich beilegt oder wenigstens seine Schärfe verlieren u n d mildere Formen annehmen muß; sie ist es, die den Geistern nicht bloß Belehrung bringt, sondern auch m i t Macht auf eine den christlichen Vorschriften entsprechende Regelung der Sitten bei jedem E i n zelnen h i n w i r k t ; die Kirche ist ohne Unterlaß damit beschäftigt, die sociale Lage der niederen Schichten durch nützliche Einrichtungen zu heben; sie ist endlich v o m Verlangen beseelt, daß die K r ä f t e und Bestrebungen aller Stände sich zur Förderung der wahren Interessen der Arbeiter zusammenthun, und hält ein Vorgehen der staatlichen A u t o r i t ä t auf dem Wege der Gesetzgebung, innerhalb der nöthigen Schranken, für unerläßlich, damit der Zweck erreicht werde. 14. V o r allem ist also von der einmal gegebenen unveränderlichen Ordnung der Dinge auszugehen, wonach i n der bürgerlichen Gesellschaft eine Gleichmachung von hoch u n d niedrig, von arm u n d reich schlechthin nicht möglich ist. Es mögen die Socialisten solche Träume zu verwirklichen suchen, aber m a n kämpft umsonst gegen die Naturordnung an. Es werden immerdar der Menschheit die größten und tiefgreifendsten Ungleichheiten aufgedrückt sein. Ungleich sind Anlagen, Fleiß, Gesundheit und Kräfte, u n d hiervon ist unzertrennlich die Ungleichheit i n der Lebensstellung, i m Besitze. Dieser Zustand ist aber ein sehr zweckmäßiger sowohl für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Das gesellschaftliche Dasein erfordert nämlich eine Verschiedenheit von K r ä f t e n und eine gewisse Mannigfaltigkeit von Leistungen; und zu diesen verschiedenen Leistungen werden die Menschen hauptsächlich durch jene Ungleichheit i n der Lebensstellung angetrieben. — Die körperliche A r b e i t anlangend, würde der Mensch i m Stande der Unschuld freilich nicht unthätig gewesen sein. Die Arbeit, nach welcher er damals wie nach einem Genüsse f r e i w i l l i g verlangt hätte, sie wurde i h m nach dem Sündenfalle als eine n o t wendige Buße auferlegt, deren Last er spüren muß. „Verflucht sei die Erde i n deinem Werke; m i t A r b e i t sollst du von i h r essen alle Tage deines Lebens" 1 7 . . . . 15. E i n Grundfehler i n der Behandlung der socialen Frage ist sodann auch der, daß man das gegenseitige Verhältniß zwischen der besitzenden u n d der unvermögenden, arbeitenden Klasse so darstellt, als ob zwischen ihnen von N a t u r ein unversöhnlicher Gegensatz Platz griffe, der sie zum Kampfe aufrufe. Ganz das Gegentheil ist wahr. Die N a t u r hat vielmehr alles zur Eintracht, zu gegenseitiger Harmonie hingeordnet; und so wie i m menschlichen Leibe bei aller Verschiedenheit der Glieder i m wechselseitigen Verhältnis Einklang und Gleichmaß vorhanden ist, so hat auch die N a t u r gewollt, daß i m Körper der Gesellschaft jene beiden Klassen i n einträchtiger Beziehung zu einander stehen und ein gewisses Gleichgewicht hervorrufen. Die eine hat die andere durchaus nothwendig. Das K a p i t a l ist auf die A r b e i t angewiesen, 17
1. Mose 3, 17.
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und die A r b e i t auf das Kapital. Eintracht ist überall die unerläßliche Vorbedingung von Schönheit u n d Ordnung; ein fortgesetzter K a m p f dagegen erzeugt Verwilderung u n d Verwirrung. Z u r Beseitigung des Kampfes aber und selbst zur Ausrottung seiner Ursachen besitzt das Christenthum w u n d e r bare und vielgestaltige Kräfte. 16. Die Kirche, als Vertreterin u n d Wahrerin der Religion, hat zunächst i n den religiösen Wahrheiten u n d Gesetzen ein mächtiges Mittel, die Reichen und die A r m e n zu versöhnen u n d einander nahe zu bringen; ihre L e h ren und Gebote führen beide Klassen zu ihren Pflichten gegeneinander u n d namentlich zur Befolgung der Vorschriften der Gerechtigkeit. V o n diesen Pflichten schärft sie folgende den arbeitenden Ständen ein: vollständig u n d treu die Arbeitsleistung zu verrichten, zu welcher sie sich frei u n d m i t gerechtem Vertrage verbunden haben; den Arbeitsherren weder an der Habe noch an der Person Schaden zuzufügen; i n der Wahrung ihrer Rechte sich der Gewaltthätigkeit zu enthalten und i n keinem Falle Auflehnung zu stiften; nicht Verbindung zu unterhalten m i t schlechten Menschen, die ihnen trügerische Hoffnungen vorspiegeln und n u r bittere Enttäuschung u n d R u i n zurücklassen. — Die Pflichten, die sie hinwieder den Besitzenden u n d A r b e i t gebern einschärft, sind die nachstehenden: die Arbeiter dürfen nicht wie Sklaven angesehen u n d behandelt werden; ihre persönliche Würde, welche geadelt ist durch ihre Würde als Christen, werde stets heilig gehalten; Handwerk und A r b e i t erniedrigen sie nicht, vielmehr muß, wer vernünftig u n d christlich denkt, es ihnen als Ehre anrechnen, daß sie selbständig i h r Leben unter Mühe u n d Anstrengung erhalten; unehrenvoll dagegen u n d u n w ü r d i g ist es, Menschen bloß zu eigenem Gewinne ausbeuten und sie n u r so hoch taxiren, als ihre Arbeitskräfte reichen. Die Kirche r u f t den Arbeitsherren weiter zu: Habet auch die gebührende Rücksicht auf das geistige W o h l u n d die religiösen Bedürfnisse der Arbeiter; i h r seid verpflichtet, ihnen Zeit zu lassen für ihre gottesdienstlichen Übungen; i h r d ü r f t sie nicht der V e r f ü h rung und sittlichen Gefahren bei ihrer Verwendung aussetzen; den Sinn für Häuslichkeit u n d Sparsamkeit dürft i h r i n ihnen nicht ersticken lassen; es ist ungerecht, sie m i t mehr Arbeit zu beschweren, als ihre K r ä f t e tragen können, oder Leistungen von ihnen zu fordern, die ihrem A l t e r oder Geschlecht nicht entsprechen. 17. Vor allem aber ermahnt die Kirche die Arbeitsherren, den Grundsatz: Jedem das Seine, stets vor Augen zu behalten. Dieser Grundsatz sollte auch unparteiisch auf die Höhe des Lohnes Anwendung finden, ohne daß die verschiedenen mitzuberücksichtigenden Momente übersehen werden. I m allgemeinen ist i n Bezug auf den L o h n w o h l zu beachten, daß es w i d e r göttliches und menschliches Gesetz geht, Nothleidende zu drücken u n d auszubeuten u m des eigenen Vortheils willen. Dem Arbeiter den i h m gebührenden V e r dienst vorenthalten, ist eine Sünde, die zum H i m m e l schreit. „Siehe", sagt der Heilige Geist, „der L o h n der A r b e i t e r , . . . den i h r unterschlagen, schreit zu Gott, und ihre Stimmen dringen zum H e r r n Sabaoth" 1 8 . Die Besitzenden dürfen endlich unter keinen Umständen die Arbeiter i n ihren Ersparnissen 18
19*
Jakobus 5, 4.
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schädigen, sei es durch Gewalt oder durch T r u g oder durch Wucherkünste; u n d das u m so weniger, als i h r Stand minder gegen Unrecht u n d Übervortheilung geschützt ist, und i h r Eigenthum, w e i l gering, eben deshalb größere Achtung verdient. Wer w i r d i n Abrede stellen, daß die Befolgung dieser Vorschriften allein i m Stande sein würde, den bestehenden Zwiespalt sammt seinen Ursachen zu beseitigen? 18. Aber die Kirche, welche i n den Fußstapfen ihres göttlichen Lehrers u n d Führers Jesus Christus wandelt, hat noch höhere Ziele; sie trachtet m i t Vorschriften von noch größerer sittlicher Vollkommenheit den einen Theil dem andern möglichst anzunähern u n d ein freundliches Verhältniß z w i schen beiden herzustellen. — N u r wenn w i r das künftige unsterbliche Leben zum Maßstabe nehmen, können w i r über das gegenwärtige Leben unbefangen u n d gerecht urtheilen. . . . Es ergeht also die Mahnung der Kirche an die m i t Glücksgütern Gesegneten, daß Reichthum nicht von Mühsal frei mache, u n d daß er für das ewige Leben nichts nütze, j a demselben eher schädlich sei 19 . Die auffälligen Drohungen Jesu Christi an die Reichen müßten diese m i t Furcht erfüllen 2 0 , denn dem ewigen Richter w i r d einst strengste Rechenschaft über den Gebrauch der Güter dieses Lebens abgelegt werden müssen. 19. Eine wichtige u n d tiefgreifende Lehre verkündet die Kirche sodann über den Gebrauch des Reichthums, eine Lehre, welche von der heidnischen Weltweisheit n u r dunkel geahnt wurde, die aber von der Kirche i n voller K l a r h e i t hingestellt und, was mehr ist, i n lebendige praktische Übung umgesetzt w i r d . Sie betrifft die Pflicht der Wohlthätigkeit, das Almosen. Diese Lehre hat die Unterscheidung zwischen gerechtem Besitze und gerechtem Gebrauch des Besitzes zur Voraussetzung. . . . Wer irgend m i t Gütern von Gott dem H e r r n reichlicher bedacht wurde, seien es leibliche und äußere, seien es geistige Güter, der hat den Uberfluß zu dem Zwecke erhalten, daß er i h n zwar zu seinem eigenen wahren Besten, aber auch zum Besten der Mitmenschen, wie ein Ausspender der Gaben der Vorsehung benütze. . . . 20. Die Besitzlosen aber belehrt die Kirche, daß A r m u t h i n den Augen der ewigen Wahrheit nicht die geringste Schande ist, u n d daß Händearbeit zum Erwerb des Unterhaltes durchaus keine Unehre b e r e i t e t . . . . 21. Aber wenn die M o r a l des Christenthums ganz zur Geltung kommt, w i r d man auch nicht bei versöhnlicher Stimmung stehen bleiben; es w i r d wahre brüderliche Liebe beide Theile verbinden. Sie werden dann i n dem Bewußtsein leben, daß ein gemeinsamer Vater i m H i m m e l alle Menschen geschaffen und alle für das gleiche Ziel bestimmt hat, für den ewigen L o h n der Guten, welcher Gott selbst ist, der allein die Menschen und die Engel m i t vollkommener Seligkeit beglücken kann. Sie erfassen dann, was es heißt, Jesus Christus hat alle gleicherweise durch sein Leiden erlöst, alle zur näm19 20
Matthäus 19, 23 f. Lukas 6, 24 f.
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lichen Würde von K i n d e r n Gottes erhoben; ein wahrhaftes geistiges B r u d e r band besteht zwischen ihnen u n d m i t Christus dem Herrn, „dem Erstgeborenen unter vielen B r ü d e r n " 2 1 ; und was es ferner heißt, die Güter der N a t u r und die Geschenke der Gnade insgesammt gehören gemeinschaftlich der großen Menschenfamilie an, u n d n u r w e r sich selbst u n w ü r d i g macht, w i r d vom Erbe des himmlischen Glückes ausgeschlossen. „ W e n n aber Söhne, dann auch Erben, und zwar Erben Gottes u n d Miterben Christi" 2 2 . Das sind nach christlicher Auffassung die Grundzüge der Menschenrechte u n d der Menschenpflichten. Würde nicht aller Streit i n kurzer Frist erledigt sein, w e n n diese Wahrheiten i n der bürgerlichen Gesellschaft zu voller A n erkennung gelangten? 22. Indessen die Kirche läßt es sich nicht dabei genügen, bloß den Weg zur Heilung zu zeigen, sie wendet auch die H e i l m i t t e l selbst an. I h r ganzes A r beiten geht dahin, die Menschheit nach Maßgabe ihrer Lehre u n d ihres Geistes umzubilden u n d zu erziehen. . . . Es w a r der Einfluß u n d das Walten der Kirche, wodurch die bürgerliche Gesellschaft von G r u n d aus erneuert wurde; die höheren socialen Kräfte, die i h r eigen sind, haben die Menschheit auf die Bahn des wahren Fortschrittes erhoben, j a v o m Untergange wieder zum Leben erweckt; sie haben durch die christliche Erziehung der Völker eine E n t w i c k l u n g herbeigeführt, welche alle früheren Culturformen weit übertrifft u n d i n alle Z u k u n f t nicht durch eine andere übertroffen w e r den w i r d . Diese Wohlthaten haben die hochheilige Person Jesu Christi zu ihrer Urquelle u n d zu i h r e m Endzwecke; w i e die W e l t dem Gottmenschen alles verdankt, so bezieht sich alles Gute auf i h n als Z i e l p u n k t der Dinge zurück. . . . Es ergibt sich hieraus m i t Nothwendigkeit, daß, w e n n man ein H e i l m i t t e l f ü r die menschliche Gesellschaft sucht, dasselbe n u r i n der christlichen W i e derherstellung des öffentlichen u n d privaten Lebens beruht. Denn es ist ein bekanntes A x i o m , daß jedwede Gesellschaft, u m innere Erneuerung zu gewinnen, zu i h r e m Ursprung zurückkehren muß. Die Vollkommenheit jeder Vereinigung besteht j a eben darin, zu erstreben u n d zu erzielen, was beim Ursprünge als Zweck gesetzt w u r d e ; durch das Streben nach diesem Ziele muß das entsprechende Leben i n den gesellschaftlichen Körper kommen. A b weichen v o m Ziele ist gleichbedeutend m i t Verfall; Rückkehr zu demselben bedeutet Heilung. Dies g i l t v o m ganzen Körper des Staates, u n d es g i l t ebenso von der bei weitem zahlreichsten Klasse von Staatsbürgern, dem A r b e i t e r stande. 23. Die Fürsorge der Kirche geht indessen nicht so i n der Pflege des geistigen Lebens auf, daß sie darüber der Anliegen des irdischen Lebens v e r gäße. — Sie ist vielmehr, insbesondere dem Arbeiterstande gegenüber, v o m eifrigen Streben erfüllt, die N o t h des Lebens auch nach seiner materiellen Seite zu lindern. Schon durch ihre A n l e i t u n g zur Sittlichkeit u n d Tugend befördert sie zugleich das materielle W o h l ; denn ein geregeltes christliches Leben hat stets seinen A n t h e i l an der Herbeiführung irdischer W o h l f a h r t : 21 22
Römer 8, 29. Römer, 8,17.
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es macht Gott, welcher U r q u e l l u n d Spender aller Wohlfahrt ist, dem M e n schen geneigt, u n d es drängt zwei Feinde zurück, welche allzuhäufig m i t t e n i m Uberflusse die Ursache b i t t e r n Elendes sind, die ungezügelte Habgier u n d die Genußsucht 2 3 ; es w ü r z t ein bescheidenes irdisches Loos m i t dem Glücke der Zufriedenheit, findet i n der Sparsamkeit einen Ersatz für die abgehenden Glücksgüter u n d bewahrt vor Leichtsinn u n d Laster, wodurch auch der ansehnlichste Wohlstand oft so schnell zu Grunde gerichtet w i r d . 24. Aber die Kirche entfaltet außerdem auch geeignete praktische Maßnahmen zur M i l d e r u n g des materiellen Nothstandes der A r m e n u n d der Arbeiter; sie hegt die verschiedensten Anstalten zur Hebung ihres Daseins. Ja, daß ihre Thätigkeit i n dieser Hinsicht jederzeit eine höchst wohlthätige gewesen, w i r d auch von ihren Feinden m i t lautem Lobe anerkannt. . . . A l l e r dings v e r n i m m t m a n i n der Gegenwart Stimmen, welche, wie die Heiden es schon gethan, Anklagen gegen die Kirche selbst i n dieser Liebesthätigkeit suchen. M a n tadelt geradezu das kirchliche W o h l t h u n als ungeeignet u n d unzweckmäßig u n d sucht statt dessen ein rein staatliches System einzuführen. Aber wo sind die staatlichen, die menschlichen Einrichtungen, die sich an die Stelle der christlichen Liebe u n d des Opfergeistes, die ihren Schwung von der Kirche empfangen, zu setzen vermöchten? Nein, die Kirche allein besitzt das Geheimniß dieses himmlischen Schwunges. Q u i l l t die Liebe und K r a f t nicht aus dem heiligsten Herzen des Erlösers, so ist sie nichtig. U m aber des innern Lebens des Erlösers theilhaft zu v/erden, muß m a n ein lebendiges Glied seiner Kirche sein. 25. Indessen ist nicht zu bezweifeln, daß zur Lösung der socialen Frage zugleich alle menschlichen M i t t e l i n Bewegung gesetzt werden müssen. Alle, die es irgend berührt, müssen je nach ihrer Stellung mitarbeiten. U n d es gibt das W i r k e n der göttlichen Vorsehung, welche die Welt regiert, gewissermaßen ein V o r b i l d ; denn hängt der Ausgang von vielen Ursachen zugleich ab, so sehen w i r , wie eben diese Ursachen sich zur Erzielung der W i r k u n g zu einander gesellen. Es handelt sich also zunächst darum, welcher A n t h e i l bei der Lösung der Frage der Staatsgewalt zufalle. — Unter Staatsgewalt verstehen W i r hier nicht die zufällige Regierungsform der einzelnen Länder, sondern die Staatsgewalt der Idee nach, wie sie durch die N a t u r u n d Vernunft gefordert wird, u n d wie sie sich nach den Grundsätzen der Offenbarung, die W i r i n der Enzyklika über die christliche Staatsverfassung entwickelt haben 2 4 , darstellt. 26. Die Beihilfe also, welche vom Staate zu erwarten wäre, besteht zunächst u n d i m allgemeinen i n gesetzlichen Verordnungen u n d Einrichtungen, die eine gedeihliche E n t w i c k l u n g des Wohlstandes befördern. Hier liegt die Aufgabe einer einsichtigen Regierung, die wahre Pflicht jeder weisen Staatsleitung. Was aber i m Staate vor allem den Wohlstand verbürgt, das ist Ord23 Die Wurzel aller Übel ist die Habsucht (1. Timotheus 6, 10; A n m e r k u n g i m Dokument). 24 Siehe unten Nr. 137.
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nung, Zucht u n d Sitte, ein wohlgeordnetes Familienleben, Achtung vor Religion u n d Recht, mäßige Auflagen u n d gleiche Vertheilung der Lasten, Betriebsamkeit i n Gewerbe, Industrie u n d Handel, günstiger Stand des Ackerbaues u n d ähnliches. Je umsichtiger alle diese Hebel benützt u n d gehandhabt werden, desto gesicherter ist die Wohlfahrt der Glieder des Staates. — Hier eröffnet sich also eine weite Bahn, auf welcher der Staat für den Nutzen aller Klassen der Bevölkerung u n d insbesondere f ü r die Lage der Arbeiter thätig sein soll; und geht er auf dieser Bahn voran, so ist durchaus kein V o r w u r f möglich, als ob er einen Ubergriff beginge; denn nichts geht den Staat seinem Wesen nach näher an, als die Pflicht, das Gemeinwohl zu befördern, u n d je wirksamer und durchgreifender er es durch allgemeine Maßnahmen thut, desto weniger brauchen anderweitige M i t t e l zur Besserung der A r b e i terverhältnisse aufgesucht zu werden. 27. Es ist überdies die wichtige Wahrheit vor Augen zu behalten, daß der Staat für alle da ist, i n gleicher Weise für die Niedern w i e für die Hohen. Die Arbeiter sind v o m naturrechtlichen Standpunkt nicht minder Bürger, wie die Besitzenden, d. h. sie sind wahre Theile des Staates, die am Leben der aus der Gesammtheit der Familien gebildeten Staatsgemeinschaft t h e i l nehmen, u n d sie bilden zudem, was sehr ins Gewicht fällt, i n jeder Stadt bei weitem die größere Zahl der Einwohner. Wenn es also unzulässig ist, n u r für einen Theil der Staatsangehörigen zu sorgen, den andern aber zu vernachlässigen, so muß der Staat durch öffentliche Maßregeln sich i n gebührender Weise des Schutzes der Arbeiter annehmen. Wenn dies nicht geschieht, so verletzt er die Forderung der Gerechtigkeit, welche jedem das Seine zu geben befiehlt. . . . Wenn auch alle Staatsangehörigen ohne Unterschied an den Leistungen für das W o h l des Staates sich zu betheiligen haben, indem ja alle die Vortheile der Staatsgemeinschaft genießen, so können sich doch nicht alle i m gleichen Grade betheiligen. Wie i m m e r die Regierungsform wechseln mag, stets w e r den unter den Bürgern jene Standesunterschiede da sein, ohne die überhaupt keine Gesellschaft denkbar ist. Stets w i r d sich zum Beispiel ein Theil m i t den Aufgaben des Staates selbst, m i t der Gesetzgebung, der Rechtsprechung, der V e r w a l t u n g und den militärischen Angelegenheiten beschäftigen müssen; von selbst werden diese einen höheren Rang unter den Staatsangehörigen einnehmen, w e i l sie unmittelbar u n d i n hervorragender Weise an dem Gemeinwohl arbeiten. Tragen die übrigen Bürger, z. B. die Gewerbetreibenden, nicht i n diesem Maße zum öffentlichen Nutzen bei, so leisten jedoch auch sie offenbar der öffentlichen Wohlfahrt Dienste, w e n n auch nur mittelbare. A l lerdings besteht das Gemeinwohl vor allem i n der Pflege von Rechtschaffenheit und Tugend, u n d es gehört zum Begriffe socialer Wohlfahrt, daß sie die Menschen besser mache. Aber auch die Beschaffung der irdischen Mittel, „deren Vorhandensein und Gebrauch zur Ausübung der Tugend unerläßlich ist" 2 5 , fällt ebenso i n den Bereich des Staates. Z u r Herstellung dieser M i t t e l ist nun die Thätigkeit der niederen arbeitenden Klassen ebenso w i r k s a m wie unentbehrlich. Ja, es ist eigentlich die A r b e i t auf dem Felde, i n der 25
Thomas v. Aquin, De regimine principum I, 15.
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Werkstatt, der Fabrik, welche i m Staate Wohlhabenheit herbeiführt 2 6 . Es ist also n u r eine Forderung strengster Billigkeit, daß der Staat sich der Arbeiter i n der Richtung annehme, ihnen einen entsprechenden A n t h e i l am Gewinne der A r b e i t zuzusichern; die A r b e i t muß ihnen für Wohnung, K l e i d u n g u n d Nahrung so v i e l abwerfen, daß i h r Dasein k e i n gedrücktes ist. Wenn der Staat somit, w i e es seine Pflicht ist, zur Hebung der Lage des arbeitenden Standes alles Thunliche ins Werk setzt, so fügt er dadurch niemand Nacht h e i l zu; er nützt aber sehr der Gesammtheit, die ein offenbares Interesse daran hat, daß ein Stand, welcher dem Staate so nothwendige Dienste leistet, nicht i m Elend seine Existenz friste. 28. Der Bürger u n d die Familie sollen allerdings nicht i m Staate aufgehen, wie gesagt wurde, u n d die Freiheit der Bewegung, soweit sie nicht dem öffentlichen Wohle oder dem Rechte anderer zuwider ist, muß ihnen gewahrt bleiben. Indessen wirksame Schutzmaßregeln der Regierung sollten der Gesammtheit u n d den einzelnen Ständen gewidmet sein: der Gesammtheit, w e i l nach der Ordnung der N a t u r deren W o h l nicht bloß das oberste Gesetz, sondern auch G r u n d u n d Endzweck der höchsten Gewalt überhaupt ist; den einzelnen Ständen, w e i l die Regierung der Gesammtheit nicht u m der Regierenden willen, sondern für die Regierten geführt w i r d , w i e das V e r n u n f t u n d Glaube lehren. U n d da jede A u t o r i t ä t von Gott kommt, als ein Ausfluß der höchsten A u t o r i t ä t , so ist auch die Regierung zu handhaben nach dem Vorbilde der göttlichen Regierung, die da m i t gleicher väterlicher Liebe sow o h l die Gesammtheit der Geschöpfe als die einzelnen Dinge leitet. Droht also der staatlichen Gesammtheit oder einzelnen Ständen ein Nachtheil, dem anders nicht abzuhelfen ist, so ist es Sache des Staates, einzugreifen. 29. Es liegt sicherlich ebenso i m öffentlichen wie i m privaten Interesse, daß i m Staate Friede u n d Ordnung herrsche, daß das ganze Familienleben den göttlichen Geboten u n d dem Naturgesetz entspreche, daß die Religion geachtet u n d geübt werde, daß i m privaten w i e i m öffentlichen Leben Reinheit der Sitte herrsche, daß Recht u n d Gerechtigkeit gewahrt u n d nicht u n gestraft verletzt werde, daß die Jugend k r ä f t i g heranwachse zum Nutzen und, w o nöthig, zur Vertheidigung des Gemeinwesens. Wenn also sich öffentliche W i r r e n ankündigen infolge widersetzlicher H a l t u n g der Arbeiter oder infolge von Arbeitseinstellungen, w e n n die natürlichen Familienbande i n den Arbeiterkreisen zerrüttet werden, w e n n bei den A r b e i t e r n die Religion gefährdet ist, indem ihnen nicht genügende Zeit u n d Gelegenheit zu ihren gottesdienstlichen Pflichten gelassen w i r d , w e n n ihrer Sittlichkeit Gefahr droht durch die A r t u n d Weise von gemeinschaftlicher Verwendung beider Geschlechter bei der A r b e i t oder durch andere Lockungen zur Sünde, wenn die Arbeitgeber sie ungerechterweise belasten oder sie zur Annahme von Bedingungen nöthigen, welche der persönlichen Würde u n d den Menschenrechten zuwiderlaufen, w e n n ihre Gesundheit durch übermäßige Anstren26 Nell-Breuning übersetzt korrekter: „Ja, auf diesem Gebiet ist ihre K r a f t u n d Wirksamkeit so groß, daß es eine unumstößliche Wahrheit ist, nicht anderswoher als aus der A r b e i t der Werktätigen entstehe Wohlhabenheit i m Staate." Es handelt sich u m die vielerörterte Aussage der Enzyklika zur Arbeitswertlehre; vgl. Quadragesimo anno Ziff. 53 (Staat und Kirche, Bd. IV).
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gung oder ihrem A l t e r u n d Geschlechte nicht entsprechende Anforderungen untergraben w i r d — i n allen diesen Fällen muß die A u t o r i t ä t und Gewalt des Staates sich geltend machen, jedoch ohne die rechten Schranken zu überschreiten. N u r soweit es zur Hebung des Übels und zur Entfernung der Gefahr nöthig ist, nicht aber weiter, dürfen die staatlichen Maßnahmen i n die Verhältnisse der Bürger eingreifen. Wenn aber überhaupt alle Rechte der Staatsangehörigen sorgfältig beachtet werden müssen u n d die öffentliche Gewalt darüber zu wachen hat, daß jedem das Seine bleibe, und daß alle Verletzung der Gerechtigkeit abgew e h r t werde oder Strafe finde, so muß doch der Staat beim Rechtsschutze zu Gunsten der Privaten eine besondere Fürsorge f ü r die niedere, unvermögliche Masse sich angelegen sein lassen. Die Wohlhabenden sind nämlich nicht i n dem Maße auf den öffentlichen Schutz angewiesen, sie haben die Hilfe eher zur Hand; dagegen hängen die Besitzlosen, ohne eigenen Boden unter den Füßen, fast ganz von der Protection des Staates ab. Die Arbeiter also, die j a zumeist die Besitzlosen bilden, müssen vom Staat i n besondere Obhut genommen werden. 30. Doch es sind hier noch einzelne Momente besonders zu betonen. — Das erste ist, daß die öffentliche A u t o r i t ä t durch entschiedene Maßregeln das Recht u n d die Sicherheit des privaten Besitzes gewährleisten muß. Die Bewegung der Massen, i n welchen die Gier nach fremder Habe erwacht, muß m i t K r a f t gezügelt werden. E i n Streben nach Verbesserung der eigenen Lage ohne ungerechte Schädigung anderer tadelt niemand; aber auf Aneignung fremden Besitzes ausgehen u n d das unter dem thörichten Vorgeben, es müsse eine Gleichmachung i n der Gesellschaft erfolgen, das ist ein Angriff auf die Gerechtigkeit u n d auf das Gemeinwohl zugleich. Ohne Zweifel zieht es der allergrößte T h e i l der Arbeiter vor, durch die ehrliche A r b e i t und ohne Beeinträchtigung des Nächsten sich zu einer bessern Stellung zu erschwingen. Aber zahlreich sind auch die Unruhestifter, die Verbreiter falscher Ideen, denen jedes M i t t e l recht ist, u m einen Umsturz vorzubereiten und das V o l k zur Gewaltthätigkeit zu verleiten. Es muß also die Gewalt dazwischen treten, dem Hetzen Einhalt gebieten, die friedliche A r b e i t vor der Verführung und Aufreizung schützen, den rechtmäßigen Besitz gegen den Raub sicherstellen. 31. Nicht selten greifen die Arbeiter zu gemeinsamer Arbeitseinstellung, u m gegen die Lohnherren einen Zwang auszuüben, w e n n ihnen die Anforderungen zu schwer, die Arbeitsdauer zu lang, der Lohnsatz zu gering scheint. Dieses Vorgehen, das i n der Gegenwart immer häufiger w i r d u n d immer weitern Umfang annimmt, fordert die öffentliche Gewalt auf, Gegenwehr zu ergreifen; denn die Ausstände gereichen nicht bloß den Arbeitgebern mitsammt den Arbeitern insgemein zum Schaden, sie benachtheiligen auch empfindlich Handel u n d Industrie, überhaupt den ganzen öffentlichen W o h l stand. Außerdem geben sie erfahrungsgemäß Anlaß zu Gewaltthätigkeiten und Unruhen und stören so den Frieden i m Staate. Dem gegenüber ist diejenige A r t der A b w e h r am meisten zu empfehlen, welche durch entsprechende Anordnungen u n d Gesetze dem Übel zuvorzukommen trachtet und sein Entstehen hindert durch Beseitigung jener Ursachen, die den Conflict
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zwischen den Anforderungen der Brodherren u n d der Arbeiter herbeizuführen pflegen. 32. Der Staat ist dagegen den Arbeitern i n mehrfacher praktischer Richt u n g seinen Schutz schuldig, u n d zwar zunächst i n Hinsicht ihrer geistigen Güter. Ist auch das irdische Leben f ü r w a h r ein Gut, das aller Sorge w e r t h ist, so besteht doch i n i h m nicht das höchste uns gesetzte Ziel. Es hat n u r als Weg, als M i t t e l zur Erreichung des Lebens der Seele zu gelten. Dieses Leben der Seele ist Erkenntniß der Wahrheit u n d Liebe zum Guten. 33. Was sodann den Schutz der irdischen Güter des Arbeiterstandes angeht, so ist vor allem jener unwürdigen Lage ein Ende zu machen, i n welche derselbe durch den Eigennutz u n d die Hartherzigkeit von Brodherren versetzt ist, welche die Arbeiter maßlos ausbeuten u n d sie nicht w i e Menschen, sondern als Sachen behandeln. Die Gerechtigkeit u n d die Menschlichkeit erheben Einsprache gegen Arbeitsforderungen von solcher Höhe, daß der Körper u n terliegt u n d der Geist sich abstumpft. Wie i m Menschen alles seine Grenzen hat, so auch die Leistungsfähigkeit bei der Arbeit, u n d über die Schranken des Vermögens k a n n man nicht hinausgehen. Die Arbeitskraft steigert sich freilich bei Übung u n d Anspannung, aber n u r dann verspricht sie die w i r k lich zukömmliche Leistung, w e n n zur rechten Zeit f ü r Unterbrechung u n d Ruhe gesorgt ist. I n Bezug auf die tägliche Arbeitszeit muß also der G r u n d satz gelten, daß sie nicht länger sein darf, als es den K r ä f t e n der Arbeiter entspricht. Wie lange die Ruhe aber dauern müsse, das richtet sich nach der A r t der Arbeit, nach Zeit u n d Ort, nach den körperlichen Kräften. Bergu n d Grubenarbeiten erfordern offenbar größere Anstrengung als andere und sind mehr gesundheitsschädlich; für sie muß also eine kürzere Durchschnittszeitdauer angesetzt werden. Ebenso sind gewisse Arbeiten i n der einen Jahreszeit leicht zu leisten, zu einer andern Jahreszeit aber gar nicht oder n u r m i t großen Schwierigkeiten ausführbar. — Endlich was ein erwachsener k r ä f tiger M a n n leistet, dazu ist eine F r a u oder ein K i n d nicht i m Stande. Die Kinderarbeit insbesondere erheischt die menschenfreundlichste Fürsorge. Es wäre nicht zuzulassen, daß K i n d e r i n die Werkstatt oder Fabrik eintreten, ehe Leib u n d Geist zur gehörigen Reife gediehen sind. Die Entfaltung der K r ä f t e w i r d i n den jungen Wesen durch vorzeitige Anspannung erstickt, und ist einmal die Blüte des kindlichen Alters gebrochen, so ist es u m die ganze E n t w i c k l u n g i n traurigster Weise geschehen. Ebenso ist durchaus zu beachten, daß manche Arbeiten weniger zukömmlich sind für das weibliche Geschlecht, welches überhaupt f ü r die häuslichen Verrichtungen eigentlich berufen ist. Diese letztere Gattung von A r b e i t gereicht dem Weibe zu einer Schutzwehr seiner Würde, erleichtert die gute Erziehung der K i n d e r und befördert das häusliche Glück. I m allgemeinen aber ist daran festzuhalten, daß den A r b e i t e r n so viel Ruhe zu sichern sei, als zur Herstellung ihrer bei der A r b e i t aufgewendeten K r ä f t e nöthig ist; denn die Unterbrechung der Arbeit hat eben den Ersatz der K r ä f t e zum Zwecke. Bei jeder Verbindlichkeit, die zwischen Brodherren u n d Arbeitern eingegangen w i r d , ist ausdrücklich oder stillschweigend die Bedingung vorhanden, daß die oben genannte doppelte A r t von Ruhe dem Arbeiter gesichert sei. Eine Vereinbarung ohne
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diese Bedingung wäre sittlich nicht zulässig, w e i l die Preisgabe von Pflichten gegen Gott u n d gegen sich selbst von niemand gefordert u n d von niemand zugestanden werden kann. 34. W i r berühren i m Anschlüsse hieran eine Frage von sehr großer Wichtigkeit, bei welcher v i e l auf richtiges Verständniß ankommt, damit nicht nach der einen oder nach der andern Seite h i n gefehlt werde. Da der L o h n satz v o m Arbeiter angenommen w i r d , so könnte es scheinen, als sei der Arbeitgeber nach erfolgter Auszahlung des Lohnes aller weiteren V e r b i n d lichkeiten enthoben. M a n könnte meinen, ein Unrecht läge n u r dann vor, wenn entweder der Lohnherr einen T h e i l der Zahlung zurückbehalte, oder der Arbeiter nicht die vollständige Leistung verrichte, u n d einzig i n diesen Fällen sei f ü r die Staatsgewalt ein gerechter G r u n d zum Einschreiten v o r handen, damit nämlich jedem das Seine zu t h e i l werde. — Indes diese Schlußfolgerung k a n n nicht vollständigen Beifall finden; der Gedankengang weist eine Lücke auf, indem ein wesentliches hierher gehöriges Moment übergangen w i r d . . . . Wenn also auch i m m e r h i n die Vereinbarung zwischen Arbeiter u n d Arbeitgeber, insbesondere hinsichtlich des Lohnes, beiderseitig frei geschieht, so bleibt doch i m m e r h i n eine Forderung der natürlichen Gerechtigkeit bestehen, die nänüich, daß der L o h n nicht etwa so niedrig sei, daß er einem genügsamen, rechtschaffenen Arbeiter den Lebensunterhalt nicht abwirft. Diese schwerwiegende Forderung ist unabhängig von dem freien W i l l e n der Vereinbarenden. Gesetzt, der Arbeiter beugt sich aus reiner Noth oder u m einem schlimmem Zustande zu entgehen, den allzu harten Bedingungen, die i h m n u n einmal v o m Arbeitsherrn oder Unternehmer auferlegt werden, so heißt das Gewalt leiden, u n d die Gerechtigkeit erhebt gegen einen solchen Zwang Einspruch. — D a m i t aber i n solchen Fragen, w i e diejenige der täglichen Arbeitszeit f ü r die verschiedenen Arbeitsarten, und diejenige der Schutzmaßregeln gegen Gesundheitsgefahr u n d Unfälle zumal i n Fabriken, die öffentliche Gewalt sich nicht i n ungehöriger Weise einmische, so erscheint es i n Anbetracht der Verschiedenheit der zeitlichen u n d örtlichen Umstände durchaus rathsam, jene Fragen vor die Ausschüsse zu bringen, von denen W i r unten näher handeln werden, oder einen andern Weg zur Vertretung der Interessen der Arbeiter einzuschlagen, je nach Erforderniß unter M i t w i r k u n g und Leitung der Behörden. 35. Gewinnt der Arbeiter einen genügenden Lohn, u m sich m i t Frau und K i n d anständig zu erhalten, ist er zugleich weise auf Sparsamkeit bedacht, so w i r d er es, dem natürlichen Drange folgend, auch dahin bringen, daß er einen Sparpfennig zurücklegen u n d zu einem kleinen Vermögen gelangen kann. Nicht bloß muß der private Besitz, w i l l m a n zu irgend einer w i r k samen Lösung der socialen Frage gelangen, als ein unantastbares Recht gelten, sondern der Staat muß auch dieses Recht i n der Gesetzgebung begünstigen u n d sollte i n seinen Maßregeln dahin zielen, daß möglichst viele aus den Staatsangehörigen irgend ein bescheidenes Eigenthum zu erwerben trachten. E i n solcher Zustand w ü r d e von beträchtlichen Vortheilen begleitet sein. Dahin gehört zuerst eine der B i l l i g k e i t mehr entsprechende Vertheilung der irdischen Güter. Es ist eine Folge der Umgestaltung der bürgerlichen V e r -
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hältnisse, daß die Bevölkerung der Städte sich i n zwei Klassen geschieden sieht, die eine ungeheure K l u f t von einander trennt. A u f der einen Seite die Übermacht des Kapitals, welches Industrie u n d M a r k t v ö l l i g beherrscht, und w e i l es Träger aller Unternehmungen, Nerv aller öffentlichen Thätigkeit ist, nicht bloß seinen Besitzer pecuniär immer mehr bereichert, sondern auch denselben i n staatlichen Dingen zu einer einflußreichen Betheiligung beruft. A u f der andern Seite jene Menge, die der Güter dieses Lebens entbehren muß und die m i t Erbitterung erfüllt und zu Unruhen geneigt ist. Wenn n u n diesen niederen Klassen Aussicht gegeben würde, bei Fleiß u n d Anstrengung zu einem kleinen Grundbesitze zu gelangen, so müßte allmählich eine A n näherung zwischen den zwei Lagern von Staatsbürgern stattfinden; es w ü r den die Gegensätze von äußerster A r m u t h u n d angehäuftem Reichthum mehr und mehr verschwinden. — Es würde dabei zugleich der Ackerbau ohne Zweifel gewinnen. Denn bei dem Bewußtsein, auf eigener Scholle zu arbeiten, arbeitet man ohne Zweifel m i t größerer Betriebsamkeit u n d Hingabe; man schätzt den Boden i n demselben Maße, als m a n i h m Mühe opfert; man gewinnt i h n lieb, w e n n m a n i n i h m die versprechende Quelle eines kleinen Wohlstandes für sich u n d die Familie erblickt. Es liegt also auf der Hand, wie viel der Landbau, wie v i e l der Gesammtwohlstand des Volkes gewinnen würden. Als d r i t t e r V o r t h e i l ist zu nennen die Stärkung des Heimatsgefühles, der Liebe zum Boden, welcher die Stätte des elterlichen Hauses, der Ort der Geburt u n d Erziehung gewesen. Sicher w ü r d e n viele A u s w a n derer, die jetzt i n der Ferne eine andere Heimat suchen, die bleibende Ansässigkeit zu Hause vorziehen, wenn die Heimat ihnen eine erträgliche materielle Existenz darböte. Obige Vortheile werden jedoch offenbar dann nicht gewonnen, w e n n der Staat seinen Angehörigen so hohe Steuern auflegt, daß dadurch das Privateigenthum aufgezehrt w i r d . Das Recht auf P r i vatbesitz, das von der Natur kommt, k a n n der Staat nicht aufheben; er k a n n nur den Gebrauch des Eigenthums regeln u n d dasselbe m i t den öffentlichen Interessen i n Einklang bringen 2 7 . Es ist also gegen Recht u n d Billigkeit, wenn der Staat v o m Vermögen der Unterthanen einen übergroßen A n t h e i l als Steuer sich aneignet. 36. Endlich können u n d müssen aber auch die Lohnherren u n d die A r b e i ter selbst zu einer gedeihlichen Lösung der Frage durch Maßnahmen u n d Einrichtungen m i t w i r k e n , die den Nothstand möglichst heben u n d die eine Klasse der andern näher bringen helfen. Hierher gehören Vereine zu gegenseitiger Unterstützung, private Veranstaltungen zur Hilfeleistung f ü r den Arbeiter u n d seine Familie bei plötzlichem Unglück, i n K r a n k h e i t s - u n d Todesfällen, Einrichtungen zum Rechtsschutz f ü r Kinder, jugendliche Personen oder auch Erwachsene. Den ersten Platz aber nehmen i n dieser Hinsicht die Arbeitervereine ein, unter deren Zweck einigermaßen alles andere Genannte fällt. I n der Vergangenheit haben die Corporationen von Handwerkern u n d Arbeitern lange Zeit eine gedeihliche Wirksamkeit entfaltet. Sie brachten nicht bloß i h r e n Mitgliedern erhebliche Vortheile, sondern trugen auch v i e l bei zur Entwicklung von Handwerk und Industrie, wie die Geschichte des27
Statt „Gebrauch" ist präziser „Handhabung".
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sen Zeuge ist. I n einer Zeit wie die unserige m i t ihren geänderten Lebensgewohnheiten können natürlich nicht die alten Innungen i n ihrer ehemaligen Gestalt wieder ins Leben gerufen werden; die neuen Sitten, der F o r t schritt i n Wissenschaft u n d Bildung, die gesteigerten Lebensbedürfnisse, alles stellt andere Anforderungen. Aber es ist nothwendig, das Corporationswesen unter Beibehaltung des alten Geistes, der es belebte, den Bedürfnissen der Gegenwart anzupassen. Sehr erfreulich ist es, daß i n unserer Zeit mehr u n d mehr Vereinigungen jener A r t entstehen, sei es, daß sie aus A r beitern allein oder aus Arbeitern und Arbeitgebern sich bilden, u n d man kann n u r wünschen, daß sie an Z a h l u n d an innerer K r a f t zunehmen. Obgleich W i r schon wiederholt von den Arbeitervereinen gesprochen haben, wollen W i r doch an dieser Stelle eingehender ihre Zeitgemäßheit und Berechtigung darlegen, indem W i r damit das Nöthige über ihre Einrichtung und die von ihnen festzuhaltenden Ziele verbinden. 37. Es ist die Beschränktheit der eigenen Kräfte, die den Menschen stets von selbst dazu antreibt, sich m i t anderen zu gegenseitiger Hilfe u n d Unterstützung zu verbinden. „Es ist besser, daß zwei zusammen seien, als daß einer allein stehe; sie haben den V o r t h e i l ihrer Gemeinschaft. F ä l l t der eine, so w i r d er vom andern gehalten. Wehe dem Vereinzelten! Wenn er fällt, so hat er niemand, der i h n aufrichtet" 2 8 . So das Wort der Heiligen Schrift. U n d wiederum: „Der Bruder, der v o m Bruder unterstützt wird, ist gleich einer festen Stadt" 2 9 . Wie dieser natürliche Zug zur Gemeinschaft also den Menschen zum staatlichen Zusammenleben führt, so treibt er i h n auch zu den verschiedensten Vereinigungen m i t anderen Menschen. Wenngleich es keine vollkommenen Gesellschaften sind, die durch solche Vereinigungen entstehen, so sind es doch wahre Gesellschaften. Zwischen ihnen und der staatlichen Gesellschaft besteht ein mannigfaltiger Unterschied. Der Zweck des Staates umfaßt alle Einwohner, denn er geht auf die allgemeine öffentliche Wohlfahrt, deren Vortheile alle zu genießen das Recht haben; u n d der Staat w i r d eben darum als das „Gemeinwesen" bezeichnet, w e i l i n demselben, u m m i t dem hl. Thomas zu sprechen, „die Menschen sich vereinigen, u m eine Gemeinschaft zu bilden" 3 0 . Jene Gesellschaften hingegen, die sich i m Schöße des Staates bilden, heißen private, w e i l i h r nächster Zweck der private N u t zen, nämlich der Nutzen ihrer Mitglieder ist. „Eine private Gesellschaft", sagt der hl. Thomas, „ist jene, welche ein privates Ziel verfolgt; eine solche ist z. B. vorhanden, wenn zwei oder drei sich zur Durchführung eines H a n delsgeschäfts verbinden" 3 1 . 38. Wenngleich n u n diese privaten Gesellschaften innerhalb der staatlichen Gesellschaft bestehen und gewissermaßen einen Theil von i h r bilden, so besitzt der Staat nicht schlechthin die Vollmacht, i h r Dasein zu verbieten. Sie ruhen auf der Grundlage des Naturrechtes; das Naturrecht aber kann der Staat nicht ändern, sein Beruf ist es vielmehr, dasselbe zur Anerken28 29 30 31
Prediger Sal. 4, 9 f. Sprüche Sal. 18,10. Thomas v. Aquin, Contra impugnantes Dei cultum et religionem, c. 2. Ebenda.
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nung zu bringen. Verbietet ein Staat dennoch die B i l d u n g solcher Genossenschaften, so handelt er gegen sein eigenes Princip, da er j a selbst, ganz ebenso wie die privaten Gesellschaften unter den Staatsangehörigen, einzig aus dem natürlichen Triebe des Menschen zu gegenseitiger Vereinigung entspringt. — Allerdings ist i n manchen einzelnen Fällen die staatliche Gewalt vollauf berechtigt, gegen Vereine vorzugehen; so w e n n sie sich zu Zielen bekennen, die offenkundig gegen Hecht u n d Sittlichkeit oder sonstwie gegen die öffentliche Wohlfahrt gerichtet sind. Steht dem Staate die Befugniß zu, die B i l d u n g solcher Vereine zu hindern u n d bestehende aufzulösen, so liegt es i h m andererseits sehr strenge ob, jeden Eingriff i n die Rechte der U n t e r thanen zu unterlassen. Der V o r w a n d des nöthigen Schutzes für die öffentlichen Interessen darf i h n auf keine Weise zu Schritten verleiten, die irgend eine Ungerechtigkeit einschließen. Denn staatliche Gesetze u n d Anordnungen besitzen innern Anspruch auf Gehorsam nur, insofern sie der Vernunft u n d eben deshalb dem ewigen Gesetze Gottes entsprechen 32 . 39. W i r haben hier die mannigfachen Genossenschaften, Vereine und geistlichen Orden i m Auge, welche i n früherer Zeit auf dem Boden der Kirche entsprossen sind, Gründungen der Kirche und der frommen Gesinnung ihrer Kinder. Wie viel Segen sie gebracht haben, davon ist die Vergangenheit bis auf unsere Tage Zeuge. Der sittliche Charakter ihres Zweckes sagt schon der bloßen Vernunft, daß sie ein natürliches u n d unbestreitbares Recht des Bestandes haben. Insoweit sie aber religiöser N a t u r sind, hat ausschließlich die Kirche über sie zu verfügen. Die Regierungen besitzen keinerlei Rechte über sie u n d sind auch nicht bevollmächtigt, ihre äußere V e r w a l t u n g an sich zu ziehen; sie sind ihnen i m Gegentheil den T r i b u t der Achtung und des Schutzes schuldig; sie haben die Pflicht, für dieselben einzutreten, u m gegebenen Falls Unrecht von ihnen abzuwehren. Leider haben W i r indessen, namentlich i n letzterer Zeit, ganz andere Dinge geschehen sehen. A n vielen Orten ist die staatliche Obrigkeit gegen jene Corporationen m i t ungerechten u n d verletzenden Maßregeln vorgegangen; sie hat die Freiheit derselben durch gehässige Gesetzesbestimmungen eingeschränkt, hat ihnen Stellung und Rechte einer juristischen Person entzogen, hat sie schnöde ihres Vermögens beraubt. A u f das Vermögen besaß aber nicht bloß die Kirche unveräußerliche Rechte, sondern auch die Stifter u n d Wohlthäter, welche ihre Beiträge für jene frommen Zwecke bestimmt hatten, und endlich diejenigen, für deren Bestes die Stiftungen geschaffen waren. Deshalb können W i r uns nicht enthalten, gegen jene ungerechten u n d verderblichen Beraubungen Beschwerde zu erheben. Hierbei ist insbesondere dies ein betrübender U m stand, daß den friedlichen und allseitig nützlichen Vereinigungen katholischer Männer der K r i e g erklärt w i r d zu gleicher Zeit, wo verkündet wird, daß V e r einsfreiheit ein allgemeines gesetzliches Gut sei, und wo der Gebrauch dieser 32 „Das menschliche Gesetz hat den Charakter eines wahren Gesetzes, insoweit als es der Vernunft entspricht; unter dieser Rücksicht leitet es sich offenbar v o m ewigen Gesetze ab. Insoferne es aber von der Ordnung der Vernunft abirrt, heißt es ein. ungerechtes Gesetz u n d hat nicht den Charakter eines Gesetzes, sondern eher den einer Vergewaltigung" (Thomas v. Aquin, Summ. Theol. I. I I . qu. 93, a. 3 ad 2; A n m e r k u n g i m Dokument).
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Freiheit religionsfeindlichen und staatsgefährlichen Verbindungen i m weitesten Umfange gestattet w i r d . 40. Die verschiedensten Genossenschaften und Vereinigungen treten i n u n serer Zeit, zumal i n den Arbeiterkreisen, i n v i e l größerer Zahl auf als früher. Woher manche ihren Ursprung nehmen, w o h i n sie zielen, auf welchem Wege sie sich verbreiten, das ist hier nicht zu untersuchen. Aber W i r müssen auf die allgemeine, durch Thatsachen gestützte Meinung hinweisen, daß sehr viele dieser Vereine einer einheitlichen geheimen L e i t u n g gehorchen und Einrichtungen haben, die dem Wohle der Religion u n d des Staates nicht entsprechen; daß sie darauf ausgehen, ein gewisses Arbeitsmonopol i n ihre Hand zu bringen, und die charakterfesten Arbeiter, die den B e i t r i t t zurückweisen, i n Verlegenheit u n d Elend zu bringen. — Damit sehen sich christlich gesinnte Arbeiter vor die W a h l gestellt, entweder Mitglieder von Bünden zu werden, die ihrer Religion Gefahr bringen, oder aber ihrerseits Vereine zu gründen, u m m i t gemeinsamen K r ä f t e n gegen jenes schmähliche System der Unterdrückung anzukämpfen. Jeder, der nicht die höchsten Güter der Menschheit aufs Spiel gesetzt sehen w i l l , muß das letztere als höchst zeitgemäß und wünschenswerth betrachten. 41. I n klarer Erkenntniß der Forderungen der Zeit beschäftigt sich eine Reihe katholischer Männer m i t dem Studium der socialen Frage, und sie verdienen das höchste Lob für die Hingebung, m i t welcher sie die M i t t e l aufsuchen u n d erproben, durch welche die niederen Stände nach und nach i n eine bessere Lage versetzt werden können. W i r sehen sie des herrschenden Übelstandes und der materiellen Stellung der Familien und der Einzelnen sich annehmen. Sie arbeiten dahin, daß i n der gegenseitigen Verbindlichkeit zwischen Lohnherrn und Arbeiter B i l l i g k e i t u n d Gerechtigkeit zur Geltung komme. Sie suchen i n anerkennenswerther Weise bei beiden Theilen das Gefühl der Pflicht u n d den Gehorsam gegen die Vorschriften des heiligen Evangeliums zu kräftigen; diese göttlichen Vorschriften sind es ja, welche der Genußsucht und der Unmäßigkeit m i t Macht Grenzen ziehen und bei aller Ungleichheit der gesellschaftlichen Stände eine friedliche Wechselbeziehung zwischen denselben aufrecht halten. Treffliche Männer vereinigen sich zu Versammlungen, u m das Vorgehen zu Gunsten der Arbeiter zu berathen und die sich ergebenden schwierigen Fragen des w i r t s c h a f t l i c h e n L e bens einer Lösung näher zu bringen. Anderwärts ist das löbliche Bestreben wach geworden, Handwerker und Arbeiter i n Vereinen zu organisiren und sie m i t Rath und That zu dem Zwecke zu unterstützen, daß ihnen eine dauernde und anständige A r b e i t gesichert sei. Die Bischöfe aber eifern diese ganze Thätigkeit an und bieten i h r einen Rückhalt m i t ihrer Autorität. I m Namen der Bischöfe betheiligen sich tüchtige Mitglieder des Welt- und Ordensclerus an der Leitung der Vereine nach ihrer religiösen Seite. Es fehlt auch nicht an reichen Katholiken, die sich m i t Großmuth zu Gönnern und Genossen des arbeitenden Standes machen, u n d die für die Errichtung u n d Ausbreitung von Vereinen ansehnliche Geldmittel auswerfen; sie garantiren damit dem Arbeiter, welcher theilnimmt, einen regelmäßigen und ausreichenden Unterhalt, ja versetzen ihn in die Möglichkeit, für das A l t e r sich ein kleines
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K a p i t a l zurückzulegen, das i h n der Sorgen enthebt. Es braucht nicht gesagt zu werden, welchen Nutzen bisher schon diese vielfache u n d eifrige Thätigkeit geschaffen hat. W i r nähren i m Hinblick darauf die besten Hoffnungen für die Zukunft, wenn anders diese Vereine sich an Z a h l vermehren, und wenn sie weise organisirt werden. Der Staat sollte ihnen seine schützende Hand leihen, aber i n ihre inneren Angelegenheiten nicht eingreifen; fremdartige Eingriffe gereichen sehr leicht einem Leben, das von innen, vom eigenen Princip ausgehen muß, zur Zerstörung. 42. Umsicht u n d Weisheit sind unerläßlich zur Erhaltung der nothwendigen innern Einheit u n d Harmonie. Wenn also das Vereinsrecht ein Recht der Staatsbürger ist, wie es thatsächlich der Fall, so müssen auch jene Vereine unbehindert ihre Statuten u n d Einrichtungen dem Zwecke entsprechend gestalten dürfen. Es ist unmöglich, die Einrichtungen der gedachten Vereine i n einer f ü r alle geltenden F o r m vorzuzeichnen; dazu hängen sie zu sehr vom Volkscharakter, von den Erfahrungen, von der Ausdehnung des Handels, von der A r t u n d Einträglichkeit der verschiedenen Arbeiten, endlich von m a n chen anderen Umständen ab, die i n Erwägung zu ziehen sind. Vor allem kommt es darauf an, bei Gründung u n d Leitung dieser Vereine ihren Zweck i i n Auge zu behalten u n d demselben die Statuten und alle Thätigkeit dienstbar zu machen; Zweck aber ist die Hebung u n d Förderung der leiblichen und geistigen Lage der Arbeiter. Das religiöse Element muß dem Vereine zu einer Grundlage seiner Einrichtungen werden. Die Religiosität der Mitglieder soll das wichtigste Ziel sein, u n d darum muß der christliche Glaube die ganze Organisation durchdringen. Andernfalls würde der Verein i n Bälde sein u r sprüngliches Gepräge einbüßen; er würde auf gleiche L i n i e m i t jenen Bünden kommen, welche die Religion aus ihren Kreisen ausschließen. Was nützt es aber dem Arbeiter, für seine irdische Wohlfahrt noch so v i e l V o r t h e i l vom Verein zu gewinnen, wenn aus Mangel an geistiger Nahrung seine Seele i n Gefahr kommt? „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden leidet?" 3 3 Christus der Herr hat ein unterscheidendes M e r k m a l zwischen Heiden und Christen i n den Worten aufgestellt: „Diesem allem gehen die Heiden nach. . . . Suchet zuerst das Reich Gottes u n d seine Gerechtigkeit, u n d dieses alles w i r d euch hinzugegeben werden" 3 4 . I n d e m alle jene Vereine das Reich Gottes zum letzten Zielpunkt nehmen, sollen sie darauf bedacht sein, den religiösen Unterricht der Arbeiter zu befördern. Die Unwissenheit i n Glaubenssachen, die wachsende Unkenntniß der Pflichten gegen Gott u n d den Nächsten soll durch geeignete Unterweisungen bekämpft werden. M a n sorge für gründliche A u f klärung über die I r r t h ü m e r der Zeit und über die Trugschlüsse der Glaubensfeinde, f ü r Belehrung und Warnung gegen die Lockmittel der Verführung. M a n erwecke bei den Mitgliedern Hochschätzung der Frömmigkeit und des Gottesdienstes; insbesondere halte man sie zur religiösen Feier der Sonn- u n d Festtage an. M a n lehre den Arbeiter die Kirche Gottes als allgemeine M u t t e r verehren und lieben, ihre Gebote befolgen und die göttlichen 33 34
Matthäus 16, 26. Matthäus 6, 32 f.
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Gnadenmittel ihrer Sacramente, welche die Seele reinigen u n d zur H e i l i g keit führen, öfters empfangen. 43. H a t der Verein i n dieser Weise die Religion zum Fundament genommen, so ist damit schon die Richtung gegeben f ü r die Festsetzung des gegenseitigen Verhältnisses der Vereinsgenossen, u n d die Folge ist ein einträchtiges Zusammenleben u n d das Gedeihen der Sache. Dem Zwecke entsprechend sind die Ä m t e r i n einer Weise zu vertheilen, daß nicht ein zu großer Abstand der Personen die Eintracht gefährde. Auch soll m a n streben, alle Klagen w e gen Beeinträchtigung von Mitgliedern abzuschneiden durch klare u n d einsichtige Vorzeichnung des Geschäftskreises. Die gemeinsame Kasse werde gewissenhaft verwaltet. Die dem Einzelnen zu gewährende H i l f e bestimme man nach dem wahren Bedürfnisse. A l s wichtiges Z i e l gelte stets der E i n klang zwischen Arbeitern u n d Lohnherren i n Bezug auf Rechte u n d Pflichten. Z u r Erledigung gegenseitiger Beschwerden zwischen beiden Parteien sollten Ausschüsse aus unbescholtenen u n d erfahrenen Männern gebildet werden m i t entscheidender Geltung ihres Schiedsspruches; es wäre sehr wünschenswert, daß diese Schiedsgerichte Vertreter der Arbeitgeber wie der Arbeiter i n ihrem Schöße hätten, u n d daß k r a f t der Statuten die Mitglieder der Arbeitervereine gehalten wären, sich an dieselben zu wenden. E i n H a u p t bemühen hat ferner dahin zu gehen, daß es den Mitgliedern nie an A r b e i t fehle, und daß eine gemeinsame Kasse vorhanden sei, aus welcher den E i n zelnen die Unterstützungen zufließen bei Arbeitsstockungen, i n Krankheit, i m A l t e r und bei Unglücksfällen. — Wofern derlei Bestimmungen befolgt werden, w i r d gewiß manches zur Hebung der Mißstände, wenigstens der drückendsten, erreicht sein, u n d ohne Zweifel werden die katholischen A r beitervereine einen kräftigen Hebel zur Förderung der öffentlichen W o h l fahrt abgeben können. . . . 44. I n der Gegenwart ist die Arbeiterfrage Gegenstand vielfachen Streites. Daß dieser Streit eine friedliche u n d gesetzmäßige Lösung finde, liegt i m höchsten Interesse des Staates. Die Frage w i r d aber durch die christlich gesinnten Arbeiter einer richtigen Lösung näher geführt werden, w e n n diese i n gut organisirten Vereinen u n d unter weiser F ü h r u n g denselben Weg einschlagen, welchen die Christen i m A l t e r t h u m e der übermächtigen heidnischen Welt gegenüber zu ihrem eigenen H e i l u n d dem der Gesellschaft eingehalten haben. Denn so stark auch die Macht des Vorurtheils u n d der Leidenschaft ist, so w i r d dennoch überall, wo nicht ein verderbter W i l l e das Gefühl für Recht u n d Wahrheit abgestumpft hat, die öffentliche Gunst sich Männern zuwenden, welche Fleiß, Mäßigkeit u n d Zucht auf ihre Fahne geschrieben haben; man w i r d für Arbeiter Partei ergreifen, welchen B i l l i g k e i t und Recht über den Gewinn und ernste Pflichttreue über alle anderen Rücksichten geht. Die Verbreitung dieser Arbeitervereine würde auch denjenigen Arbeitern zu gute kommen und ihre Rückkehr zu besserer Gesinnung erleichtern, welche Glaube oder Sittlichkeit darangegeben haben. Auch sie erkennen oft genug, daß falsche Hoffnung und trügerischer Schein sie täuschte; sie fühlen es, wie hart sie von geldgierigen Herren behandelt, u n d daß sie nur nach der Höhe des Gewinnes, den sie ihnen bringen, gewerthet werden. 20 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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Es ist ihnen nicht verborgen, daß i n den Vereinen, denen sie sich angeschlossen haben, an Stelle gegenseitiger Achtung und Liebe innere Zwietracht herrscht, die j a immer i m Gefolge der gewissenlosen u n d glaubenslosen A r m u t h auftritt. Wie gar viele dieser Unglücklichen, die körperlich gebrochen u n d geistig entmuthigt sind, möchten solch erniedrigender Knechtschaft entrinnen; sie wagen es aber nicht, sei es, daß sie die Scham oder die Furcht vor A r m u t h zurückhält. Diesen allen n u n könnten die katholischen Arbeitervereine große Hilfe bringen, w e n n sie nämlich die Schwankenden zur E r leichterung ihrer schwierigen Lage i n ihre Gemeinschaft einladen u n d den Zurückkehrenden Schutz und brüderliche Theilnahme erweisen würden. 45. I m vorstehenden haben W i r euch gezeigt, Ehrwürdige Brüder, wer zur M i t w i r k u n g bei der Lösung der wichtigen socialen Frage berufen ist und wie die M i t w i r k u n g sich zu gestalten hat. — Möge jeder Berufene Hand anlegen u n d ohne Verzug, damit die Heilung des bereits gewaltig angewachsenen Übels nicht durch Säumniß noch schwieriger werde. Die Staatsregierungen mögen durch Gesetze u n d Verordnungen vorgehen, die Arbeiter, u m deren Loos es sich handelt, mögen auf gesetzliche Weise ihre Interessen vertreten; u n d da die Religion, wie W i r zu Anfang gesagt haben, allein zu einer vollkommenen innern A b h i l f e der Mißstände befähigt ist, so möge sich die Überzeugung i m m e r mehr verbreiten, daß es vor allem auf die Wiederbelebung christlicher Gesinnung u n d Sitte ankommt, ohne welche alle noch so weisen u n d vielversprechenden Maßnahmen wahres H e i l zu schaffen unvermögend bleiben. — Was aber die Kirche angeht, so w i r d diese keinen A u genblick ihre allseitige Hilfe vermissen lassen. Ihre Thätigkeit w i r d u m so wirksamer sein, je größere Freiheit der Bewegung i h r gelassen wird. Mögen alle Glieder der Geistlichkeit ihre volle K r a f t und allen Eifer der großen Aufgabe widmen, unter Eurer Führung und nach Eurem Beispiele, E h r w ü r dige Brüder, unermüdlich die Grundsätze des heiligen Evangeliums allen Ständen vorhalten u n d einschärfen, m i t allen ihnen zu Gebote stehenden M i t t e l n an der Wohlfahrt des Volkes arbeiten, vor allem aber die Liebe, aller Tugenden H e r r i n und Königin, i n sich bewahren und i n den anderen, Hohen wie Niederen, anfachen. Das H e i l ist j a insbesondere von der vollen Bethätigung der Liebe zu erwarten, jener christlichen Liebe nämlich, die der kurz gefaßte Inbegriff der evangelischen Gebote, die, immer bereit, sich selbst für des Nächsten H e i l zu opfern, das heilkräftigste Gegengift gegen den Hochm u t h u n d Egoismus der Welt ist, u n d deren göttliches B i l d u n d Walten der Apostel Paulus m i t den Worten gezeichnet hat: „Die Liebe ist geduldig, sie sucht nicht das Ihrige; sie duldet alles, sie trägt alles" 3 5 . Als Unterpfand des göttlichen Segens und Erweis Unseres Wohlwollens spenden W i r Euch, Ehrwürdige Brüder, Eurem Clerus und Volke i n Liebe den göttlichen Segen i m Herrn.
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1. K o r i n t h e r 13,.4 - 7.
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I I . Der deutsche Episkopat und die Arbeiterfrage Dem der selbständigen katholischen Arbeiterbewegung mit Kritik begegnenden Breslauer Fürstbischof Kopp gelang es u m die Jahrhundertwende, ein Hirtenschreiben der Fuldaer Bischofskonferenz, das „Fuldaer Pastorale" vom 22. August 1900, zu erwirken, das sich für die Bildung von })Fachabteilungen" innerhalb der Arbeitervereine aussprach (Nr. 127). Daß das „Fuldaer Pastorale" als Ablehnung der Christlichen Gewerkschaften verstanden wurde, zeigte sich beispielhaft an dem Erlaß des Freiburger Erzbischofs Noerber 1 vom 1. Oktober 1900 (Nr. 128). Mit Berufung auf dieses Hirtenschreiben bekämpften die katholischen Arbeitervereine (Sitz Berlin) über Jahre hinweg die gewerkschaftsfreundlich eingestellten Arbeiterorganisationen; der „Sitz Berlin" fand dabei einflußreiche Unterstützung bei den römischen Integralisten unter der Führung des Monsignore Benigni 2. Neben der Frage der konfessionellen Bindung war ein Kernpunkt dieses Streits die Frage, ob die Kirche den Streik als legitimes Kampfmittel der Arbeiter anerkennen dürfe. Von entscheidender Bedeutung war für diese Frage, daß Leo XIII. in der Enzyklika „Rerum novarum" (oben Nr. 126, n. 31) den Streik als Kampfmittel der Arbeiter entschieden verworfen hatte. Allmählich wandelte sich im deutschen Episkopat die Einstellung zu den Christlichen Gewerkschaften. Nur Fürstbischof Kopp und die Bischöfe Korum (Trier) und Bertram (Hildesheim) hielten an ihrer schroffen Ablehnung fest. Kopp bezeichnete die Christlichen Gewerkschaften in einem Brief vom 10. Mai 1910 sogar als eine „Verseuchung des Westens"*. Doch er fand für seine starrsinnige Auffassung im deutschen Episkopat keine Majorität mehr. Im Dezember 1910 setzte der Kölner Kardinal Fischer einen — freilich zunächst geheimgehaltenen — Beschluß der Fuldaer Bischofskonferenz durch, der die Mitgliedschaft in Christlichen Gewerkschaften gestattete, sofern diese das christliche Sittengesetz nicht verletzten und sich nicht in das religiöse Gebiet einmischten (Nr. 129).
1
Siehe Bd. I I , S. 922, A n m . 6. Umberto Benigni (1862 - 1934), kath. Priester u n d Kirchenhistoriker; Begründer der Zeitschrift „Rassegna sociale", der mehrbändigen „Storia sociale della Chiesa" (1907-33) sowie der „Correspondance de Rome"; 1906- 11 U n terstaatssekretär für die außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten; 1911 - 12 Apostolischer Protonotar. 3 Kopps B r i e f an Amalie v. Schalscha-Ehrenfeld, die L e i t e r i n des K a t h o lischen Frauenbundes u n d des Verbandes erwerbstätiger Frauen u n d M ä d chen, w u r d e i n Auszügen zuerst veröffentlicht i m „Berliner Tageblatt" v o m 8. Oktober 1910 (Nr. 512), S. 1; der volle Wortlaut findet sich bei Chr. Weber, K a r d i n a l Kopp's Brief von der Verseuchung des Westens (Archiv f ü r Schlesische Kirchengeschichte 26, 1968, S. 327 ff.). 2
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6. Kap.: Der deutsche Katholizismus und die soziale Frage
Nr. 127. Hirtenschreiben der Fuldaer Bischofskonferenz („Fuldaer Pastorale") v o m 22. August 1900 (Kirchlicher Anzeiger f ü r die Erzdiözese K ö l n 40, 1900, S. 95 ff.) — Auszug — Ehrwürdige M i t b r ü d e r ! I m Anschlüsse an das Schreiben des Papstes Leo X I I I . an den Erzbischof von K ö l n v o m 20. A p r i l 18904 haben w i r i n unserm gemeinsamen H i r t e n schreiben v o m 23. August 18905 Euch, ehrwürdige Mitbrüder, u n d unsere gesamten Diözesanen ermahnt, alle K r ä f t e aufzubieten, u m die sozialen Bewegungen unserer Zeit i n Bahnen zu leiten, welche zur dauernden Sicher u n g der Wohlfahrt der arbeitenden Klassen, zum Frieden i n der bürgerlichen Gesellschaft u n d zur gedeihlichen Förderung der irdischen w i e ewigen Interessen aller führen. Unsere Mahnungen erhielten i m folgenden Jahre eine hocherfreuliche u n d machtvolle Hilfe i n der Encyklica des hl. Vaters v o m 15. M a i 1891, welche m i t den Worten beginnt „ R e r u m novarum" 6 . D a r i n zeichnet der hl. Vater i n meisterhaften Zügen die sozialen Bewegungen der neuen Zeit i n ihren Ursachen, Erscheinungen u n d Zielen. Er bietet zugleich der christlichen Welt aus dem unerschöpflichen Schatze der Lehre der K i r che, dessen höchster Hüter er ist, die H e i l m i t t e l zur Gesundung der menschlichen Gesellschaft u n d ermahnt uns alle, den arbeitenden Klassen unsere hingebende Sorge zu w i d m e n u n d Organisationen zu schaffen, die geeignet sind, das geistige u n d materielle W o h l jener zu fördern. M i t freudiger Genugthuung dürfen w i r uns rühmen, daß unsere M a h n u n gen wie die Stimme des hl. Vaters nicht ungehört u n d nicht wirkungslos geblieben sind. Denn an vielen Orten unserer Diözesen w u r d e n D a n k der thatkräftigen I n i t i a t i v e unseres ehrwürdigen Klerus neben den schon bestehenden zahlreiche neue A r b e i t e r - u n d Arbeiterinnen-Vereine gegründet; es entstanden Veranstaltungen u n d Einrichtungen, welche die geistige u n d materielle Wohlfahrt der Vereinsmitglieder w i r k s a m fördern; i m Westen w i e i m Osten schlossen sich die Arbeitervereine zu Verbänden zusammen, u m ihre Aufgaben besser u n d sicherer lösen zu können 7 . Daneben arbeiten die Lehrlings-, Gesellen- u n d Meister-Vereine trotz der Schwierigkeiten, welche die neue sociale E n t w i c k l u n g denselben geschaffen hat, unverdrossen gemäß ihren altehrwürdigen Traditionen weiter fort. Auch auf dem Gebiete der christlichen Charitas sind mancherlei rühmliche Fortschritte zu verzeichnen. . . . 4
Oben S. 275, A n m . 7. Gemeint ist das Hirtenschreiben v o m 22. August 1890 (oben Nr. 125). 6 Oben Nr. 126. 7 Anspielung auf die getrennte Organisation der west- u n d süddeutschen Vereine auf der einen, der ostdeutschen Vereine („Sitz Berlin") auf der anderen Seite, die insbesondere i n der Frage des Anschlusses katholischer A r beiter an die Christlichen Gewerkschaften gegensätzliche Positionen vertraten. 5
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W i r können uns aber nicht verhehlen, daß sich auch Erscheinungen bemerklich machen, die uns Besorgniß einflößen müssen. Es w i l l uns scheinen, als ob hie u n d da der erste Eifer erkaltet sei u n d das Interesse nachgelassen habe, welches diese A r b e i t erfordert. Nicht immer u n d nicht überall begreift man die großen Aufgaben der Arbeitervereine i n ihrem vollen Umfange; nicht überall bemüht m a n sich, alle M i t t e l anzuwenden, u m denselben gerecht zu werden; manchen erscheint der den Vereinen vorgezeichnete Weg zu lang u n d die Gangart zu langsam; m a n sucht darum i n ungeduldigem Drängen nach anderen Wegen, u m das vorgesteckte Ziel zu erreichen, ohne zu bedenken, daß dadurch die Vereine i n ihrer Grundlage erschüttert werden. Demgegenüber halten w i r es f ü r geboten, Euch, ehrwürdige Mitbrüder, neuerdings an die Grundsätze zu erinnern, welche f ü r die L e i t u n g der A r b e i tervereine maßgebend sein müssen, u n d Euch auf die M i t t e l hinzuweisen, welche zu einer glücklichen Lösung der Aufgaben dieser Vereine anzuwenden sind. Die katholischen Arbeitervereine müssen auf religiöser Grundlage ruhen. W i r können n u r wiederholen, was w i r Euch darüber vor Jahren gesagt haben. 8 ... Ernstlicher u n d eindringlicher k a n n die unbedingte Notwendigkeit, die Arbeitervereine auf religiöser Grundlage aufzubauen, nicht betont werden. V o n der treuen W a h r u n g der hier verkündeten Grundsätze hängt das segensreiche W i r k e n u n d ersprießliche Gedeihen dieser Vereine ab. Die Religion soll den ganzen Menschen durchdringen; es genügt nicht, daß er sich ihrer gelegentlich erinnert u n d ihren Vorschriften u n d Grundsätzen h i n u n d wieder huldigt; nein, sie muß sein ganzes Wesen, sein Denken und Fühlen, sein Streben u n d Meiden, sein T u n u n d Lassen beeinflussen; sie soll sein Führer sein u n d der Engel, der i h n mahnt, w e n n Fehltritte drohen, u n d ermuntert, w e n n er ermattet i n seinem Arbeiten, Ringen u n d Leiden. Die Vereinsmitglieder müssen darum belehrt u n d gewöhnt werden, alle ihre Arbeiten, Bestrebungen u n d Interessen v o m religiösen Standpunkte aus zu betrachten. . . . Werden darum die Grundsätze unserer hl. Religion den M i t gliedern der Vereine tief eingeprägt, w i r d deren Vernunftmäßigkeit, K r a f t u n d Wirksamkeit f ü r Zeit u n d E w i g k e i t überzeugend dargelegt, so gewinnen jene dadurch eine sichere L e i t u n g f ü r ihren Lebensweg u n d einen mächtigen Schutz gegen die Verführungen, die ihnen überall entgegentreten. Beansprucht demnach m i t Recht die Religion als die Grundlage der W o h l fahrt der einzelnen Menschen eine eifrige Pflege i n den Vereinen, so darf sie auch nicht außer acht gelassen werden bei den Bestrebungen, welche die Förderung der materiellen Standesinteressen, die Besserung der L o h n - u n d Arbeitsverhältnisse u. dergl. bezwecken. Unter Religion verstehen w i r dabei aber nicht eine unbestimmte Anzahl v o n religiösen Wahrheiten, welche etwa aus den irdischen Dingen u n d aus der wunderbaren Ökonomie der Schöpfung, oder sittliche Grundsätze, welche aus dem Naturrechte hergeleitet werden können, sondern unsere heilige Religion, d. h. den Glauben, welchen 8 I m Folgenden sind die Grundsätze des Hirtenschreibens von 1890 u n d der Enzyklika „ R e r u m novarum" i n Erinnerung gerufen (siehe oben Nr. 125, Nr. 126).
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der Sohn Gottes gelehrt hat u n d die katholische Kirche verkündet. Denn f ü r katholische Arbeiter u n d f ü r katholische Arbeitervereine giebt es keine andere Norm, als jene, welche die Lehre unserer heiligen Kirche bietet u n d diese Lehre muß auch der Leitstern bei der Lösung wirtschaftlicher Fragen sein. Danach aber ist es schlechterdings unmöglich, menschliche Handlungen u n d menschliche Bestrebungen als losgelöst v o n jeder Rücksicht auf die Grundsätze des katholischen Glaubens u n d der katholischen Sittenlehre zu betrachten. Jede menschliche Handlung u n d jedes menschliche Streben untersteht dem Sittengesetze. Die Handlungen u n d Bestrebungen sind gut oder böse, je nachdem sie m i t dem Sittengesetze übereinstimmen oder i n Widerspruch stehen. Entstehen aber Zweifel über ihren sittlichen W e r t h oder Unwerth, so k o m m t das entscheidende U r t e i l der Kirche zu u n d denjenigen, welche Jesus Christus i n derselben zu H ü t e r n des Glaubens u n d der Sitten gesetzt hat. Nach diesen unanfechtbaren Grundsätzen ist es irrig, zu behaupten, daß wirthschaftliche Bestrebungen, z. B. die Besserung der L o h n - u n d Arbeitsverhältnisse, m i t der Religion nichts zu t h u n haben u n d folglich ohne Rücksicht auf die Lehren Jesu Christi u n d seiner Kirche betätigt werden können. Denn das bedeutet nicht mehr u n d nicht weniger als den Ausschluß religiöser Rücksichten aus den großen, die menschliche Gesellschaft so tief bewegenden socialen K ä m p f e n der Gegenwart u n d eine verhängnißvolle Konnivenz gegenüber dem Hauptdogma des materialistischen Socialismus, die Religion des Diesseits. Freilich w i l l m a n n u r das positive kirchliche Bekenntniß außer acht lassen, dagegen den Glauben an Gott u n d die Anerkennung einer n a t ü r lichen sittlichen u n d rechtlichen Ordnung als N o r m f ü r die w i r t s c h a f t l i c h e n Bestrebungen anerkennen. A l l e i n diese N o r m entbehrt der Zuverlässigkeit u n d Bestimmtheit u n d v o r allem der A u t o r i t ä t . Denn über den I n h a l t u n d über die Verbindlichkeit jener Ordnung herrschen Zweifel u n d widersprechende Anschauungen, u n d es fehlt die Instanz, welche i n dem Streite der Meinungen m i t unanfechtbarer A u t o r i t ä t entscheiden könnte. Daher gebricht es den Einzelnen w i e den Korporationen an einer sicheren moralischen 'Richtschnur, die da u m so nothwendiger ist, wo erfahrungsmäßig die menschlichen Leidenschaften am schwierigsten zu beruhigen sind. Diese Bemerkungen mögen genügen, u m Euch, ehrwürdige Mitbrüder, auf einen I r r t h u m aufmerksam zu machen, der, eingegeben von dem ungeduldigen Verlangen, die Wünsche der arbeitenden Klassen rascher zum Ziele zu führen, unter dem Scheine einer kraftlosen, natürlichen Religion die Grundsätze des katholischen Glaubens aus den wirthschaftlichen Bestrebungen der Arbeiter verbannen w i l l . W i r brauchen nicht weiter nachzuweisen, welche Gefahren darin f ü r die gegenwärtige Bewegung i m Arbeiterstande u n d f ü r die kirchliche Treue der Arbeiter selbst liegen. Die Lohnbewegungen berühren die Interessen aller auf das Tiefste; es kommen dabei die Pflichten des Arbeiters gegen sich selbst, gegen die Familie, gegen die M i t arbeiter, gegen die Arbeitgeber, gegen die Gesellschaft, gegen den Staat i n Frage; es entwickeln sich dabei Kämpfe, welche die Leidenschaften aufstacheln u n d die Erbitterung zwischen einzelnen Gesellschaftsklassen v e r Jiängnißvoll steigern: soll — so fragen w i r Euch — soll i n der Vorbereitung,
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Ausführung und Beendigung so großer, für die Einzelnen, w i e f ü r die Gesellschaft so tief einschneidender Bewegungen allein der Erlöser der Welt, der göttliche Lehrer der Menschheit, zum Schweigen verurtheilt sein? soll allein sein weltumgestaltendes W o r t die Seinigen vor gefährlichen Irrwegen nicht warnen dürfen? soll allein die Stimme des v o m katholischen Glauben erleuchteten Gewissens sich nicht vernehmen lassen, u n d sollen katholische Männer bei so folgenschweren Entscheidungen zu dem Rathe ihrer treuen Mutter, der katholischen Kirche, nicht ihre Zuflucht nehmen dürfen? U r t h e i l t selbst, ehrwürdige Mitbrüder, ob das dem Arbeiterstande f r o m men kann, u n d ob es den Grundsätzen entspricht, welche der hl. Vater f ü r die Ausgestaltung u n d die Wirksamkeit der Arbeitervereine sowie f ü r die Behandlung socialer Verhältnisse u n d Kämpfe gegeben hat. W i r b i t t e n u n d beschwören Euch: Haltet an diesen Grundsätzen unverbrüchlich fest u n d lasset i n der Leitung der Vereine u n d der Bestrebungen der arbeitenden Klasse nichts zu, was dieselben schwächen u n d verflüchtigen könnte. . . . I n der Entwickelung der katholischen Arbeitervereine hat sich, w i e übera l l i n der arbeitenden Klasse, das Bedürfnis zur B i l d u n g v o n Fachabtheilungen geltend gemacht. I n ihnen schließen sich die Arbeiter desselben B e r u fes zusammen, u m ihre besonderen Interessen zu schützen u n d zu verfolgen. Sie w o l l e n durch geeignete Veranstaltungen die Fachbildung fördern u n d die ihnen gemeinsamen fachberuflichen Angelegenheiten berathen. Sie stellen daher innerhalb des Vereines eine gewerkschaftliche Genossenschaft dar, unter deren besonderen Bestrebungen indeß die gemeinsamen Vereinsinteressen nicht leiden müssen u n d die deshalb ihre Zugehörigkeit zu dem V e r eine durchaus nicht aufzugeben brauchen. W i r billigen diesen Z u g der heutigen Arbeiterbewegung vollkommen u n d halten diese Bestrebungen f ü r ganz gerechtfertigt u n d den Interessen des Arbeiterstandes entsprechend. Mögen diese Genossenschaften überall sich bilden, wo die Verhältnisse es als zweckmäßig erscheinen lassen, u n d mögen sie von Euch, ehrwürdige Mitbrüder, eifrig unterstützt werden. K a n n es doch n u r wünschenswerth sein, w e n n diese Fachabtheilungen innerhalb der V e r eine sich k r ä f t i g entwickeln, u m ein starkes Gegengewicht gegen jene gewerkschaftlichen Vereine zu bilden, die unter antichristlicher L e i t u n g stehen, u n d u m die Arbeiterbewegung durch das Gewicht gesunder Prinzipien v o r einem Hinabgleiten auf verhängnißvolle Bahnen zu bewahren. W i r b i t t e n daher die Leiter der Arbeitervereine, auf diese wichtige Angelegenheit ihre besondere Aufmerksamkeit zu richten u n d tüchtige Vereinsmitglieder f ü r die Leitung dieser Fachabtheilungen auszuwählen. Freilich erwachsen dadurch den Vereinsleitern neue M ü h e n u n d eine neue Verantwortlichkeit; aber sie werden die Vereine dadurch v o r großen Gefahren schützen u n d ihre sociale Bedeutung u n d Wirksamkeit wesentlich heben u n d kräftigen. Diese Fachabtheilungen i n den Arbeitervereinen werden i n ihrer allgemeinen Verbreit u n g zugleich den Beweis liefern, daß es keiner religiös-neutralen Neuschöpfungen 9 bedarf, u m die materiellen Interessen der christlichen Arbeiter9
Gemeint sind die „Christlichen Gewerkschaften".
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schaft zu vertheidigen u n d zu fördern, sondern daß die katholischen A r b e i tervereine befähigt u n d stark genug sind, neben der geistigen Wohlfahrt auch die materiellen Standesinteressen ihrer Mitglieder zu vertreten. Die Arbeitervereine sollen auch bestrebt sein, durch zweckmäßige W o h l fahrtseinrichtungen ihren Mitgliedern materielle V o r t h eile zuzuwenden, w i e zu unserer Freude auch geschieht. Es sind Sparkassen eingerichtet, aus w e l chen Zuschüsse zu den Krankengeldern, Beihilfen i n Todesfällen u n d U n t e r stützungen i n außerordentlichen Nothfällen gewährt werden. Diese Einrichtungen sind sorgfältig zu pflegen u n d weiter fortzubilden. Insbesondere empfehlen w i r auch die Gründung v o n Hospizen für Arbeiterinnen, u m diese vor den zahlreichen Gefahren zu schützen, die sie bedrohen. . . .
Nr. 128. Erlaß des Erzbischofs Noerber, Freiburg, an den Klerus der Erzdiözese v o m 1. Oktober 1900 (Anzeigeblatt f ü r die Erzdiözese Freiburg, 1900, Nr. 20, S. 137 f.) Das nachstehende Hundschreiben der letzten Fuldaer Bischofskonferenz übergebe ich anmit dem Hochwürdigen Klerus der Erzdiözese zur sorgfältigen Erwägung u n d gewissenhaften Beobachtung. Veranlaßt ist es durch die i n neuester Zeit hervorgetretene Gewerkschaftsbewegung. Dieselbe hat zwar anfangs durch das von i h r prätendierte nächste Ziel, u n d w e i l sie als „christlich" sich bezeichnete, auch bei katholischen u n d geistlichen Arbeiterfreunden Eindruck gemacht u n d Hoffnungen erweckt. A l l e i n schon jetzt hat es sich gezeigt, daß das W o r t „christlich" hier n u r ein leerer Schall u n d Aushängeschild ist u n d daß die Bewegung m i t unausbleiblicher Konsequenz n u r der Sozialdemokratie zu gute kommen kann, f ü r die sie jene Kreise organisiert u n d vorbereitet, die einstweilen noch auf dem Boden der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung bleiben wollen. Die Verhandlungen ihres Delegiertentages i n Frankfurt, die ja jede (positive) religiöse Grundlage ausschlossen u n d als zu erstrebendes Ziel die Vereinigung m i t den sozialdemokratischen A r b e i t e r n proklamierten, sowie der Beifall, den die sozialdemokratische Presse diesen Verhandlungen u n d Bestrebungen spendete, lassen hierüber keinen Zweifel übrig. Daß es indessen so kommen mußte u n d muß, ist i n der N a t u r der Sache begründet, da der einzig richtige Standpunkt aufgegeben wurde. F ü r den Christen gibt es n u r einen richtigen u n d Erfolg versprechenden Standpunkt i n Beurtheilung u n d Behandlung der sozialen Aufgabe der Gegenwart u n d Z u k u n f t , nämlich den christlichen. F ü r den K a t h o l i k e n ist derselbe auch m i t Apostolischer A u t o r i t ä t u n d unter dem der Kirche verheißenen Beistand des Heiligen Geistes dargelegt i n der herrlichen E n c y k l i k a unseres Heiligen Vaters „Rerum novarum" v o m 17. M a i 189110. Dieses offizielle Programm der 10
Oben Nr. 126.
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Kirche immer wieder lesen, es gründlich studieren, das ist die unerläßliche Vorbedingung f ü r ein segensvolles Eingreifen des Klerus i n die A r b e i t e r frage. A u f diesen Standpunkt stellet Euch fest u n d unentwegt, geliebte M i t brüder. Sammelt alle katholischen Arbeiter, soweit es Euch möglich ist, i n katholischen Arbeitervereinen u n d leitet dieselben nach den Anweisungen des Heiligen Vaters. I n diesen Arbeitervereinen können u n d sollen nach Bedürfniß Sektionen oder Fachabteilungen f ü r die einzelnen Gewerkschaften gebildet werden. Wo es sich u m Maßregeln f ü r die Verbesserung ihrer Lage, u m Verhandlungen m i t den Arbeitgebern u. dgl. handelt, da mögen diese durch ihre Vorstände F ü h l u n g suchen m i t anderen Vereinigungen, deren Interessen mitberührt werden, u n d ein gemeinsames Vorgehen anbahnen. Wenn die katholischen Arbeiter, die j a i n allen wesentlichen Fragen eins sind, sich enge zusammenschließen, dann bilden sie (bei ihrer Einigkeit u n d bei der Zersplitterung anderer Parteien) i n diesem Interessenkreise eine Macht, die nicht bei Seite geschoben u n d deren Stimme auf die Dauer nicht überhört v/erden kann. Geliebte M i t b r ü d e r ! M i t Freude u n d D a n k gegen Gott k a n n ich es aussprechen, daß auch i n der Erzdiöcese Freiburg durch den Hochwürdigen Klerus v i e l gethan w u r d e f ü r die religiöse u n d sittliche, soziale u n d ökonomische Hebung der arbeitenden Klassen, — aber es muß noch v i e l mehr geschehen. Indem ich Euch meine dankende Anerkennung ausspreche, v e r binde ich damit die B i t t e : lasset Euch v o m Klerus keiner anderen Diözese übertreffen i n der pastoreilen Fürsorge f ü r die Arbeiterwelt. W o h l w i r d Euer deßfallsiges Streben Euch zu Euern zahlreichen anderen Berufsarbeiten u n d Sorgen viele w e i t e r n M ü h e n u n d Arbeiten bringen, dabei nicht überall gewürdigt, vielleicht getadelt u n d verdächtigt werden. Aber tröstet Euch m i t dem Bewußtsein: I h r baut auf dem Felsengrund des göttlichen Wortes u n d darum m i t der sicheren Verheißung des endlichen Gelingens; I h r arbeitet f ü r Gottes Ehre u n d der Seelen Heil, f ü r das wahre W o h l u n d den festen Bestand der staatlichen Ordnung; f ü r das Glück u n d gesicherte Gedeihen der ganzen menschlichen Gesellschaft — u n d der L o h n des H e r r n w i r d nicht ausbleiben.
Nr. 129. Beschluß der Fuldaer Bischofskonferenz v o m 14. Dezember 1910 (zunächst geheimgehalten, veröffentlicht i n Rheinisch-Westfälische Zeitung v o m 14. A p r i l 1912, Nr. 448) 1. A n gewerkschaftliche Organisationen, die f ü r K a t h o l i k e n sich eignen sollen, ist die Forderung zu stellen, daß die katholischen Mitglieder i n allen das religiöse u n d sittliche Gebiet berührenden Angelegenheiten des privaten, Öffentlichen u n d wirtschaftlichen Lebens nicht zu einer Stellungnahme oder Handlungsweise veranlaßt werden, die m i t den religiösen u n d sittlichen Pflichten des katholischen Christen nach dem Urteile des kirchlichen H i r t e n amts unvereinbar ist.
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2. Es muß gefordert werden, daß die gewerkschaftlichen Organisationen ihre Tätigkeit auf die praktische Behandlung von Fragen gewerkschaftlichen Gebiets beschränken. 3. Es w i r d als notwendig erkannt, daß die katholischen Mitglieder solcher Gewerkschaften, die neben Arbeitervereinen bestehen, zugleich Mitglieder der kirchlich organisierten u n d geleiteten katholischen Arbeitervereine sind. 4. Von den katholischen Mitgliedern gewerkschaftlicher Organisationen w i r d erwartet, daß sie etwaigen Versuchen, den Einfluß der katholischen Kirche auf das gesamte religiös-sittliche Gebiet i m Leben der K a t h o l i k e n zu schwächen, m i t ruhiger Entschiedenheit und offener Kundgebung kirchlich treuer Gesinnung entgegentreten. 5. Das U r t e i l darüber, ob Gestaltung oder Wirksamkeit einer gewerkschaftlichen Organisation den kirchlichen Grundsätzen entspreche, bleibt dem kirchlichen Hirtenamt überlassen. Daher haben die katholischen Arbeitervereine (Sitz Berlin) sowohl wie die christlichen Gewerkschaften sich nicht gegenseitig zu verketzern und i n Kontroversfragen eine jede verletzende und verbitternde Behandlung zu vermeiden.
I I I . Papst Pius X., die soziale Frage und die Arbeiterbewegung Der 1903 zum Haupt der katholischen Kirche erhobene Papst Pius X 1 war entschlossen, die kirchliche Soziallehre im Sinn seines Vorgängers fortzuentwickeln. Die „Integralisten" hofften zwar, ihn für ihre Vorstellungen gewinnen zu können, vermochten jedoch nicht, ihn ganz auf ihre Seite zu ziehen. Für die „Kölner Richtung" traten gegenüber dem Papst vor allem der aus Deutschland stammende Bischof Bernhard Döbbing 2 sowie der bayerische Ministerpräsident Graf v. Hertling 3 ein. Döbbing überreichte Papst Pius X. am 17. Juni 1912 ein Memorandum zur deutschen Gewerkschaftsfrage 4. Am 11. Juli 1912 wandte Hertling sich in einer Note an den Kardinalstaatssekretär Merry del Val; er fügte dieser ein Promemoria bei, als dessen Verfasser Julius Bachem5 und Hermann Cardauns 6 gelten. Die beiden hier zum ersten 1
Siehe oben S. 244, Anm. 8. Bernhard Döbbing (1855- 1916), 1874 E i n t r i t t in den Franziskanerorden; seit 1875 i n den U S A ; 1879 Priester; 1881 an dem franziskanischen Kolleg S. Bonaventura i n Quaracchi bei Florenz; 1883 Leiter des Kollegs der irischen Franziskaner S. Isidoro i n Rom; 1898 — nach Annahme der italienischen Staatsangehörigkeit — von Papst Leo XIII. zum Bischof von Nepi und Sutri ernannt; seitdem mehrfach m i t vatikanischen Sonderaufträgen versehen. 3 Oben S. 185, Anm. 5. 4 T e x t des Memorandums sowie eine genauere Darstellung der Rolle Döbbings i m Gewerkschaftsstreit bei: L. Hardick, Bischof Bernhard Döbbing, i n Westfälische Zeitschrift 109 (1959), S. 143 ff. (169 ff.). 5 Julius Bachem: oben S. 257, Anm. 4. 6 Hermann Cardauns (1847 - 1925), Historiker und Publizist; 1869 Mitarbeiter der Historischen Kommission der Bayer. A k . d. Wiss.; 1872 Privatdozent in 2
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Mal veröffentlichten Texte begründeten die Notwendigkeit Christlicher Gewerkschaften vor allem aus der gebotenen katholischen Frontstellung gegen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung (Nr. 130, Nr. 131). Diese Interventionen blieben nicht erfolglos. Nachdem Papst Pius X. Stellungnahmen aller deutschen Bischöfe eingeholt hatte, erklärte er in der Enzyklika „Singulari quadam i( vom 24. September 1912, die Bischöfe dürften unter streng festgelegten Voraussetzungen die Mitgliedschaft katholischer Arbeiter in überkonfessionellen Christlichen Gewerkschaften dulden (Nr. 132). Die Fuldaer Bischofskonferenz schloß sich durch das Begleitschreiben vom 5. November 1912 der päpstlichen Entscheidung an (Nr. 133). Die Enzyklika „Singulari quadam" beendete freilich die Auseinandersetzungen innerhalb des deutschen Katholizismus wie auch innerhalb des Episkopats über die Gewerkschafts fr age noch nicht. Während der Erzbischof von Köln v. Hartmann und der Bischof von Paderborn Schulte 7 die Enzyklika in einem den Christlichen Gewerkschaften gegenüber wohlwollenden Sinn auslegten, setzte Kardinal Kopp seinen Kampf gegen die interkonfessionellen Gewerkschaften hartnäckig fort. Besonderes Aufsehen erregte es, als er eine Anfrage des Grafen Oppersdorf? 8, eines führenden deutschen Integralisten, benutzte, um sich in aller Form von seinen Bischofskollegen zu distanzieren (Nr. 135). In dieser Konfliktlage versuchte der Kardinalstaatssekretär Merry del Val, durch ein geheimes Schreiben an die deutschen Bischöfe vom 8. Januar 1914 erneut eine einheitliche Haltung des deutschen Episkopats herbeizuführen (Nr. 134). Die Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz — d. h. der Erzdiözese Köln und der Diözesen Trier, Paderborn und Münster — denen sich die Bischöfe von Osnabrück und Hildesheim anschlossen , bemühten sich daraufhin, durch ein Hirtenschreiben vom 13. Februar 1914 der neu entbrannten Polemik ein Ende zu machen (Nr. 136). Nach dem Tod des Kardinals Kopp am 4. März 1914 fand der Streit um die christlichen Gewerkschaften keine Fortsetzung mehr. Der Ausbruch des Weltkriegs und das Ende des Ponti flkats Pius X., der am 20. August 1914 starb, entzog den alten Auseinandersetzungen vollends den Boden. Der neue Papst Benedikt XV. 9 ließ bald nach seiner Wahl erkennen, daß er gewillt Bonn; 1876- 1907 Hauptschriftleiter der „ K ö l n . Volkszeitung"; 1876 M i t begründer u n d Generalsekretär der „Görres-Gesellschaft"; 1902 Präsident des Dt. Katholikentags i n Mannheim. 7 Über beide siehe unten S. 858 f. 8 Hans Georg Graf v. OppersdorfJ (1866 - 1935), Reichsgraf u n d erbliches M i t g l i e d des preuß. Herrenhauses; 1900 Präsident des Schlesischen Bauernvereins; 1907- 18 M d R (zunächst Zentrum, dann fraktionslos); 1912-14 Herausgeber der integralistischen Wochenschrift „ K l a r h e i t und Wahrheit". 9 Benedikt XV., vorher Giacomo della Chiesa (1854 - 1922), nach dem Stud i u m der Philosophie, der Rechte und der Theologie 1878 Priester; 1882 M i t glied der Kongregation für die außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten; i m selben Jahr als Mitarbeiter Rampollas (vgl. Staat und Kirche, Bd. I I , S. 885) Sekretär an der N u n t i a t u r i n M a d r i d ; nach Ernennung Rampollas zum K a r dinalstaatssekretär 1887 Minutant, 1901 Unterstaatssekretär an der K u r i e ; 1907 Erzbischof von Bologna (am 25. 5.1914 K a r d i n a l ) ; vom 3. September 1914 bis zum 22. Januar 1922 Papst.
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war, den Einfluß der Integralisten an der Kurie zurückzudrängen 10. Zu ausdrücklicher, über die Enzyklika „Singulari quadam" hinausgehender Billigung der christlichen Gewerkschaften kam es jedoch erst in der Enzyklika „Quadragesimo anno" 11.
Nr. 130. Note des bayerischen Ministerpräsidenten Graf Hertling an den Kardinalstaatssekretär Merry del Val v o m Sommer 1912 (Deutscher E n t w u r f : Bayer. Hauptstaatsarchiv München, M A r b 383; ital. Übersetzung: Bayer. Hauptstaatsarchiv, Bayer. Gesandtschaft Päpstl. Stuhl 903) 12 Bekanntlich besitzt unter allen Kulturstaaten Deutschland die größte, bestorganisierte, über die größten Geldmittel verfügende sozialdemokratische Partei. Bei den letzten Reichstagswahlen hat sie vier M i l l i o n e n Wähler aufgebracht. Wenn darunter sich gewiß eine große Z a h l von solchen befand, die zwar f ü r den sozialdemokratischen Kandidaten stimmten, trotzdem aber keine wirklichen, zielbewußten Anhänger der Partei waren, so bleibt doch nach Abzug dieser letzteren die Z a h l der Sozialdemokraten erschreckend groß, zumal w e n n m a n bedenkt, daß zu den allein wahlberechtigten M ä n nern noch die Frauen u n d Jugendlichen hinzukommen. M a n w i r d eher noch hinter der W i r k l i c h k e i t zurückbleiben, w e n n m a n die Gesamtzahl der A n hänger auf zehn bis zwölf M i l l i o n e n veranschlagt. D a r i n liegt, w i e jedermann sehen w i r d , eine ungeheuere Gefahr f ü r die Ruhe u n d den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft, nicht minder aber auch für die Kirche. Z w a r enthält das offizielle Programm der Partei den Satz: Religion ist Privatsache 1 3 , tatsächlich aber bildet die skrupellose Bekämpfung v o n Religion u n d Kirche eines der hauptsächlichsten M i t t e l der sozialdemokratischen Agitation. Begreiflich genug! Es muß der Glaube an einen gerechten, weisen u n d gütigen Gott u n d an eine Vergeltung i m Jenseits, die Unterwerfung unter die M o r a l des Evangeliums, die Anerkennung der kirchlichen A u t o r i t ä t 10 Z u der Gesamtfrage: E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 1225 ff.; H. Gerigk, Christliche Gewerkschaft u n d katholische Fachabteilung? (1904); K . Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und P o l i t i k der deutschen Zentrumspartei, Bd. V I I (1930), S. 191 ff., 209 ff.; K . Köhler, Die neutrale Einheitsgewerkschaft als Ziel der ehemaligen christlichen Gewerkschaften, i n : Gewerkschaftliche Monatshefte 7 (1956), S. 749 ff.; E. Deuerlein, Der Gewerkschaftsstreit, i n : Tübinger Theologische Quartalschrift 139 (1959), S. 40 ff.; Ο. v. Nell-Breuning, Der deutsche Gewerkschaftsstreit u m die Jahrhundertwende, i n : P. v. Oertzen (Hrsg.), Festschrift f ü r Otto Brenner (1967), S. 19 ff.; J. Horstmann, Katholizismus und moderne Welt. Katholikentage, Wirtschaft, Wissenschaft 1848- 1914 (1976), S. 54 ff.; R. Brack, Deutscher Episkopat und Gewerkschaftsstreit 1900 - 1914 (1976); M. Schneider, Die Christlichen Gewerkschaften 1894 - 1933 (1982). 11 Dazu Näheres : Staat und Kirche, Bd. IV. 12 Die italienische Übersetzung, die dem Kardinalstaatssekretär übermittelt wurde, unterscheidet sich von dem hier wiedergegebenen deutschen E n t w u r f durch zusätzliche Einleitungs- und Schlußformeln. 13 Vgl. oben S. 270> Anm. 10.
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aus den Herzen der Arbeiter beseitigt werden, u m den Wunsch ihre w i r t schaftliche Lage zu verbessern u n d das Verlangen nach irdischen Gütern zu einem w i l d e n Hasse der Reichen u n d einer leidenschaftlichen Feindschaft gegen die bestehende Ordnung zu steigern. Die Frage, ob u n d was gegen die den Staat bedrohende Gefahr geschehen könnte, beschäftigt zur Zeit mehr oder weniger die Regierungen i n Deutschland. Daß m i t G e w a l t m i t t e l n nichts zu erreichen ist, liegt auf der Hand. M a n würde n u r M ä r t y r e r schaffen u n d die erschreckend große Z a h l der Anhänger noch weiter steigern. A b e r auch auf dem gesetzlichen Wege ist nichts auszurichten. Bei der i n allen deutschen Staaten gewährleisteten Vereins-, V e r sammlungs- u n d Pressefreiheit besitzen w i r k e i n wirksames Mittel, die sozialdemokratische A g i t a t i o n einzuschränken. Auch an den Erlaß v o n A u s nahmegesetzen gegen die Sozialdemokratie k a n n m a n zurzeit nicht denken, denn ganz abgesehen v o n der Frage, ob dieselben ihren Zweck erreichen würden, ist keine Aussicht vorhanden, die Z u s t i m m u n g der Parlamente dafür zu erlangen. Hilfe k a n n n u r aus den Arbeiterkreisen selbst kommen. Es gilt die Arbeiter, die noch nicht dem sozialdemokratischen Banner verfallen sind, zu sammeln, ihre Z a h l durch Belehrung u n d systematisch durchgeführte Propaganda zu vermehren. N u r w e n n man sie überzeugen kann, daß die Ziele der Sozialdemokratie unerreichbar sind, i h r kommunistischer Z u k u n f t s staat eine Utopie ist, ihre haßerfüllte A g i t a t i o n den Arbeitern jede Lebensfreude rauben u n d die Unzufriedenheit m i t ihrem Lose steigern muß, daß umgekehrt die staatliche Ordnung die Voraussetzung ihrer Erwerbstätigkeit und ihres Familienlebens bildet, daß staatliche Fürsorge sie gegen die Gefahren des Berufes schützt, oder doch die Folgen derselben lindert, nur dann würde es gelingen, die Irregeleiteten zurückzuführen. Z u gleicher Zeit müssen sie i n eigenen, v o n der Sozialdemokratie unabhängigen Assoziationen die nämlichen materiellen Vorteile gewinnen, Unterstützung v o n kranken, arbeitsunfähigen oder arbeitslosen Mitgliedern, ihrer W i t w e n u n d Waisen usw., welche die sozialdemokratischen Vereinigungen gewähren. Die christlichen Gewerkschaften haben diese Aufgaben übernommen. Freilich stehen sie erst am Anfange. A n Z a h l der Mitglieder u n d Betrag des Vermögens verhalten sie sich zu den sozialdemokratischen w i e 1:10. Trotzdem bedeuten sie schon jetzt einen Faktor, m i t dem die Sozialdemokratie rechnen muß. Als vor einigen Wochen i m Ruhrgebiet ein Streik der Bergarbeiter auszubrechen drohte, der ohne jede Berechtigung von sozialdemokratischer Seite inszeniert werden sollte, versagten die christlichen Gewerkschaften die M i t w i r k u n g , der Streik konnte nicht durchgeführt werden u n d die Niederlage, welche dadurch dem sozialdemokratischen Verbände beigebracht wurde, w a r von den günstigsten, über den Einzelfall hinausreichenden Folgen. A u f diese Vorkommnisse wies insbesondere m i r gegenüber der Staatssekretär Dr. Delbrück 1 4 h i n u n d erklärte ausdrücklich, daß m a n es n u r den 14 I n dem f ü r den Übersetzer bestimmten Exemplar des deutschen E n t wurfs, das der Wiedergabe zugrunde liegt, sind die Namen weggelassen; sie sind hier nach dem italienischen Text ergänzt. — Clemens (v.) Delbrück
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christlichen Gewerkschaften zu verdanken habe, w e n n der verhängnisvolle Ausbruch eines Streiks i m Kohlengebiete vermieden worden sei. V o n einer immer weiteren Ausbreitung dieser Gewerkschaften erhofft auch er eine allmähliche Zurückdämmung der Sozialdemokratie, u n d eben d a r u m w a r er ängstlich besorgt, daß nicht n u r diese Ausbreitung verhindert, sondern der gegenwärtige Bestand erschüttert werden könnte. Umgekehrt hat die A n nahme, daß jene Gewerkschaften v o n der kirchlichen A u t o r i t ä t m i ß b i l l i g t u n d dadurch ihrer Auflösung entgegengeführt würden, den lauten Jubel der sozialdemokratischen Presse ausgelöst. Die Stellungnahme des Staatssekretärs ist umso beachtenswerter, als die überwiegende Mehrheit der Mitglieder jener Gewerkschaften K a t h o l i k e n sind. Herr Dr. Delbrück bemerkte, daß die protestantischen Arbeiter niemals dazu kommen würden, sich zu einer konfessionell abgeschlossenen Vereinigung zusammenzufinden, obwohl wegen ihrer v i e l größeren A n z a h l ein w e i t größerer Erfolg i n den Verhandlungen m i t den Unternehmern i n Aussicht stünde, als eine katholische Vereinigung je erzielen könnte. Meiner V e r m u tung nach ist der G r u n d hiefür darin zu suchen, daß die Mehrheit der aus protestantischen Gegenden stammenden A r b e i t e r der Religion entfremdet u n d vielfach schon jetzt der Sozialdemokratie verfallen ist. Die B i l d u n g a n t i sozialdemokratischer Verbände könnte daher nur von katholischer Seite ausgehen. A n den katholischen Arbeitern, welche die Mehrheit unter den christlichen Gewerkschaften bilden, finden daher die nichtsozialdemokratischen Protestanten den ihnen unentbehrlichen Rückhalt. Auch das wurde von H e r r n Delbrück ausdrücklich anerkannt. Aber, da der katholische Volksteil i n Deutschland bekanntlich n u r eine Minderheit bildet, so ist ein dauernder Erfolg gegenüber der Revolution 1 5 n u r dann zu erhoffen, w e n n Protestanten i n erheblich größerer Z a h l sich anschließen würden. Der Name der christlichen Gewerkschaften hat somit eine doppelte Bedeutung. Er bezeichnet zunächst den Gegensatz gegen die antichristliche religionsfeindliche Sozialdemokratie. Sodann besagt er, daß i n diesen Gewerkschaften K a t h o l i k e n u n d Protestanten verbunden sind. Davon, daß etwa eine Abschwächung der dogmatischen Gegensätze angedeutet werden sollte, k a n n keine Rede sein. Ich w a r trotzdem schon früher der Meinung, daß es vielleicht besser sei, den Namen, der zu Mißverständnissen führen kann, u n d gegen den insbesondere führende Mitglieder der sogenannten Berliner Richtung ihre lebhafte Polemik zu kehren pflegten, m i t einem anderen zu vertauschen. Aber, w i e der H e r r Kardinalstaatssekretär richtig bemerkte, der Augenblick ist dazu nicht geeignet. Wollte m a n jetzt die Bezeichnung „christlich" beseitigen, so würde dies unter den Protestanten große (1856- 1921), Jurist, stand seit 1879 i m preuß. Verwaltungsdienst; 1885 L a n d rat i n Tuchel (Westpr.), 1896 Oberbürgermeister von Danzig, 1902 Oberpräsident von Westpreußen, 1905 preuß. Handelsminister; 1909 - 16 Staatssekretär des Reichsamts des I n n e r n (zugleich Stellvertreter des Reichskanzlers; seit 1914 auch Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums); O k t o b e r - N o vember 1918 letzter Chef des Zivilkabinetts Kaiser Wilhelms IL; 1919/20 MdWeimNatVers (deutschnational). 15 I m Originaltext steht versehentlich „Resolution".
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Verstimmung hervorrufen. Dazu kommt, daß sie sich nicht „nationale" Gewerkschaften nennen könnten, w e i l es schon jetzt Verbände dieses Namens gibt, die an einzelnen Orten durch die Unternehmer hervorgerufen wurden, bei den A r b e i t e r n aber, vielleicht m i t Unrecht, auf großes Mißtrauen stoßen. V o n der E r k l ä r u n g Seiner Eminenz, daß die kirchliche A u t o r i t ä t eine Organisation auf streng konfessioneller Basis da nicht verlange, w o es sich u m die Förderung gemeinsamer Erwerbsinteressen handle, habe ich m i t Befriedigung Kenntnis genommen. Tatsächlich sind j a auch die seit vielen Jahren i n Deutschland bestehenden interkonfessionellen Bauernvereine, darunter der v o m Grafen v o n Oppersdorf!: 16 geleitete schlesische Bauernverein, niemals beunruhigt worden.
Nr. 131. Promemoria zur Note des bayerischen Ministerpräsidenten Graf Hertling an den Kardinalstaatssekretär Merry del Val v o m J u l i 1912 (Deutscher E n t w u r f : Bayer. Hauptstaatsarchiv, M A r b 383; italienische Ubersetzung: Bayer. Hauptstaatsarchiv, Bayer. Gesandtschaft Päpstl. S t u h l 903) 17 Vielfach ist i n den Meinungsäußerungen der letzten Zeit von der „ K ö l n e r Richtung" die Rede gewesen. Diese Bezeichnung ist lediglich v o n Gegnern erfunden worden, u n d hat keinen bestimmten Inhalt. Was als „ K ö l n e r Richtung" bezeichnet w i r d , umfaßt nach Anschauung der Berliner Richtung alles, was nicht zu ihnen gehört. Die Anschauungen der sogenannten „ K ö l n e r Richtung" i n Bezug auf das Verhalten der Deutschen K a t h o l i k e n i n w i r t schaftlichen u n d politischen Fragen werden von mindestens neunzehntel des gesamten katholischen Deutschlands geteilt, zu i h r bekennen sich fast alle gebildeten Laien, neunzehntel des Episkopats 1 8 und des Klerus, sämtliche große Organisationen, welche die deutschen K a t h o l i k e n geschaffen haben: Zentrum, Volksverein, Gesellenvereine, Arbeitervereine usw. m i t alleiniger Ausnahme der Berliner Fachabteilungen und einiger sehr wohlmeinender, aber die tatsächlichen Verhältnisse zu wenig berücksichtigender Laien u n d Geistlichen. Daß für Bayern speziell die Zahl der Dissentierenden „Berliner" m i t einzehntel noch v i e l zu hoch gegriffen ist, haben die dortigen höchsten kirchlichen Stellen bestätigt 1 9 . 16 M i t Absicht w i r d auf den Schlesischen Bauernverein aufmerksam gemacht, dessen Vorsitzender Graf Oppersdorf? ein führender Integralist w a r ; siehe oben S. 315, Anm. 8. 17 Verfasser des Promemoria sind wahrscheinlich Julius Bachem und Hermann Cardauns (oben S. 257, Anm. 4; S. 314, A n m . 6); vgl. E.Deuerlein, Der Gewerkschaftsstreit, i n : Theol. Quartalsschrift 139 (1959), S. 40 ff. (60 f.). 18 Handschriftliche Randbemerkung: „(der ganze Episkopat m i t Ausnahme von Breslau, Trier, Hildesheim)". 19 Handschriftlich korrigiert aus: „haben die dortigen höchsten kirchlichen Würdenträger S. E. der apostolische Nuntius sowie S. E. der Herr Erzbischof von München ohne weiteres bestätigt". Die italienische Übersetzung folgt dem korrigierten Text.
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Bekanntlich haben Vorkommnisse der letzten Tage die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit neuerdings auf die Differenz innerhalb der katholischen Arbeiterorganisationen gelenkt. Es ist notwendig, den Hergang kurz zu skizzieren. Pfingsten 1912 hielten die Verbände der katholischen Arbeitervereine West-, Süd- u n d Ostdeutschlands i n F r a n k f u r t ihren ersten gemeinschaftlichen Kongreß. 2156 Vereine m i t r u n d 315 000 Mitgliedern waren vertreten. Diese Vereine sind ausgesprochene konfessionell katholische Vereine; ihre 2156 Präsides sind katholische Priester, die sämtlich durch Dekret der bischöflichen Behörden zu ihrer Stell u n g berufen u n d beauftragt wurden. Diese Vereine „pflegen — w i e eben i n F r a n k f u r t der Referent Dr. Retzbach programmatisch feststellte — den gemeinsamen Empfang der heiligen Sakramente, rufen bei passender Gelegenheit die Arbeiterschaft zu öffentlichen Kundgebungen f ü r i h r religiöses k a tholisches Bekenntnis auf, beteiligen sich korporativ an religiösen katholischen Veranstaltungen. A l s wichtigstes M i t t e l betrachten sie die A r b e i t e r exerzitien". Z u den Exerzitien des heiligen Ignatius senden diese Vereine vielfach unter A u f b r i n g u n g der Kosten jährlich zahlreich besonders führende Mitglieder, damit sie f ü r i h r ganzes privates u n d öffentliches Leben immer mehr v o n katholischen Grundsätzen durchdrungen werden. Diese Vereine haben die A r b e i t e r - E n z y k l i k a Leo X I I I . r e r u m novarum i n eigenen Volksausgaben hergestellt, i n vielen Tausenden v o n Exemplaren verbreitet 2 * deren Leitsätze stets zur Richtschnur f ü r ihre ganze Tätigkeit genommen. N u n erhielten diese Vereine auf ein i n den kindlichsten Worten gefaßtes Ergebenheitstelegramm 2 1 als A n t w o r t m i t dem üblichen offiziellen D a n k ein scharfes M o n i t u m , nicht allein i m Privatleben, sondern auch i n der öffentlichen Tätigkeit den Weisungen des heiligen Stuhles t r e u zu folgen u n d alles zu meiden, was m i t den Vorschriften der Kirche nicht i m Einklang stehe. Dieses M o n i t u m erhielt noch eine besondere Pointe durch die gleichzeitig bekannt gewordene A n t w o r t auf eine Huldigungsadresse der „Berliner Richtung", welcher die lebhaftesten Glückwünsche ausgesprochen wurden. Diese Telegramme haben tiefgehende Beunruhigung u n d große Aufregung i m ganzen Deutschen Reiche hervorgerufen. Viele Mitglieder der katholischen Arbeitervereine w u r d e n durch das ihnen ausgesprochene Mißtrauen sehr verstimmt, eine ganze Reihe von Präsides erklärten, sie hätten f ü r ihre opferwillige A r b e i t etwas anderes verdient u n d w ü r d e n ihre Stelle niederlegen, das ganze katholische Deutschland* 2 n a h m den innigsten Anteil. Einen großen Eindruck machten die Telegramme auch auf die Gegner der K a t h o liken. Die sozialdemokratischen Blätter jubelten „der Zusammenbruch der christlichen Gewerkschaften ist zur Tatsache geworden. Die freien Gewerkschaften werden daraus neue K r a f t schöpfen". (Niederrh. Arbeiterzeitung Nr. 122). Jetzt müssen die christlichen Arbeiter erkennen, daß sie „ohne die Preisgabe aller ihrer menschlich-irdischen Interessen nicht den Weg gehen 20 Vgl. die Beil. O. Walterbach, Enzyklika Leo X I I I . über die Arbeiterfrage, München (Anm. i m Dokument). 21 Sc. an den Papst. 22 Handschriftliche Randbemerkung: „der bei weitem größte Teil des".
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können, den ihnen der Papst weist" (Rheinische Zeitung). Der evangelische B u n d (Tägliche Rundschau) t r i u m p h i e r t e u n d sah bereits i n dem „päpstlichen Machtgebot die schwerste Krisis" f ü r das katholische Deutschland heraufsteigen. Andere demokratische Blätter verlangen aus Anlaß der Depeschen nachdrücklich „Trennung von Kirche u n d Staat" u n d damit n a t ü r lich 2 3 auch Abberufung des preußischen u n d bayerischen Gesandten aus Rom usw. (Welt am Montag). Das einzige 24 , was die „ B e r l i n e r Richtung" den i n F r a n k f u r t vertretenen Arbeitervereinen v o r w i r f t 2 5 , ist deren Stellung zu den christlichen Gewerkschaften. Diese katholischen Arbeitervereine u n d die christlichen Gewerkschaften haben natürlich ein A b k o m m e n getroffen, dahingehend, daß jedes M i t g l i e d der konfessionellen Arbeitervereine auch der seinem Gewerke entsprechenden christlichen Gewerkschaft, jedes M i t g l i e d der christlichen Gewerkschaften dem seiner Konfession entsprechenden konfessionellen A r b e i terverein beitreten soll. F ü r das r e i n Wirtschaftliche sorgt die christliche Gewerkschaft, f ü r alles andere, Geselligkeit, Weiterbildung, religiöse Betätigung der konfessionelle Arbeiterverein. Die christlichen Gewerkschaften sind nämlich f ü r Deutschland eine nationale Notwendigkeit; die K a t h o l i k e n i m Deutschen Reiche b i l d e n eine auf Unterstützung durch andere christliche Elemente angewiesene Minorität. Ferner hat k e i n L a n d i n der Welt eine so zielbewußte, so machtvolle u n d so agitatorisch sich betätigende Sozialdemokratie w i e Deutschland. Das Ziel der Sozialdemokratie ist wiederholt öffentlich i m Reichstage v o n dem Führer Bebel scharf formuliert worden: Republik, Kommunismus, Atheismus (Reichstagsakten 17. M a i 1872 u n d 31. März 1881), also Sturz von Thron, Eigentum u n d A l t a r . Die Macht der Sozialdemokratie geht unter anderm daraus hervor, daß sie f ü r ihre Ziele 4 Millionen Männer an die Wahlurne f ü h r t (in München 1912 r u n d 70 000 bei 500 000 K a t h o l i k e n überhaupt). I n ihren Gewerkschaften verfügt sie über 3 Millionen Arbeiter mit einem Vermögen von 70 M i l l i o n e n Mark. Diese „freien" (sozialdemokratischen) Gewerkschaften üben schon jetzt einen solchen Terrorismus aus, daß es ihnen gelingt, christliche Arbeiter sogar von staatlichen u n d kirchlichen Bauten usw. auszuschließen. Diese Gewerkschaften haben durch großartig organisierte Konsumvereine, Arbeitsnachweise, Wohnungsvereine, durch E r oberung der neutralen Krankenkassen eine solche Macht erlangt, daß sie bereits einen Staat i m Staat bilden. Dieser machtvollen Organisation muß i m Interesse der Kirche u n d des Staates eine möglichst gleichmächtige Arbeiterorganisation entgegengestellt 23
Handschriftlicher Zusatz. Handschriftliche Randbemerkung: „ E i n Hauptpunkt, welchen . . . k a u m das ,Einzige', cf. »Wahrheit u n d Klarheit', wo u. a. eine intensivere directe Führung durch den Clerus verlangt erscheint. Gerade aber solche Insinuationen festigen unsere Position, da die directe F ü h r u n g durch den Clerus i n temporalibus bei genauem Lesen der E. N o v a r u m rerum keineswegs gefordert erscheint, (und da) die daraus sich ergebenden absurda et pericula bewiesen werden können." 25 I m Originaltext steht versehentlich „vorwerfen". 24
H u b e r , S t a a t u n d K i i C h e , 3. Bd.
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werden. Das sind die christlichen Gewerkschaften, welche freilich einstweilen n u r erst ein zehntel der Mitgliederzahl u n d des Vermögens der sozialdemokratischen Gewerkschaften aufweisen. 300 000 Mitglieder m i t ca. 7 Millionen M a r k Vermögen. Der Zweck der christlichen Gewerkschaften wurde durch eine Erklärung des Generalsekretärs v o m 2. März 1912 dahin erläutert: „Die christlichen Gewerkschaften sind gegründet worden zu dem Zwecke, u m den gläubigen katholischen und evangelischen A r b e i t e r n 2 6 eine Organisation zur Verfolgung ihrer gewerkschaftlichen Interessen zu bieten, i n der den einzelnen M i t g l i e dern keinerlei Anschauungen oder Handlungen i m privaten oder öffentlichen Leben, insbesondere auch i n Angelegenheiten des wirtschaftlichen Gebietes zugemutet werden, die unvereinbar sind m i t den Glaubens- u n d Sittenlehren der Kirche". I n der E r k l ä r u n g des Vorstandes des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften v o m 3. M a i 1912 w i r d die Notwendigkeit folgerichtig aus der Lage i n Deutschland deduziert: „Die große Mehrzahl der deutschen Bevölkerung ist industriell. I n fast keinem Lande der Welt ist die industrielle Entwickelung i n den letzten Jahren i n so schnellem Tempo vorangeschritten, w i e i n Deutschland. I n wenigen Ländern ist die K a r t e l l i e r u n g der industriellen Unternehmungen so allgemein, i n keinem Lande gibt es so mächtige u n d festorganisierte Arbeitgeberverbände wie i n Deutschland. Dabei hat Deutschland die stärkste Sozialdemokratie von allen Ländern der Welt. I n einem solchen Lande ist eine leistungsfähige nicht sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung eine unabweisbare Notwendigkeit, wenn der nach Millionen zählende Arbeiterstand einen angemessenen A n t e i l an den Erfolgen der produktiven Arbeit erhalten und die gläubig christlich national denkende Arbeiterschaft nicht der Sozialdemokratie überantwortet werden soll. N u n ist aber die deutsche Bevölkerung konfessionell äußerst gemischt; selbst einzelne Industriereviere m i t einheitlicher Konfession der Arbeiter gibt es nicht. I n den Arbeitgeberverbänden jeder Industrie und i n jedem Teile Deutschlands w i r k e n protestantische 27 , katholische u n d andersgläubige Arbeitgeber einheitlich zusammen. M i t diesen nichts weniger als konfessionellen Arbeitgeberverbänden müssen die Gewerkschaften ihre Arbeitstarifverträge abschließen. Bei solcher Sachlage ist ein einheitliches gewerkschaftliches Zusammenarbeiten aller christlich-nationalen Arbeiter unvermeidlich". 26 Handschriftliche K o r r e k t u r : „conservativ-protestantischen Arbeitern" und dazu als handschriftliche Handbemerkung: „Bitte sehr beachten: der Ausdruck, ,evangelisch' i n dieser Bedeutung dürfte i n Relationen nach Rom ängstlichst i n jeder Zusammensetzung vermieden werden. Er würde große Mißverständnisse und K o m p l i k a t i o n e n verursachen. — Auch ,gläubige Protestanten' schlechthin widerspricht der daselbst aus wichtigen Gründen üblichen theologisch-doctrinären Ausdrucksweise u n d w i r d leicht übelgenommen. Es empfiehlt sich daher „conservativ-protestantisch". — Entsprechend verfährt die italienische Übersetzung, obwohl es sich u m ein Zitat handelt. 27 Handschriftlich korrigiert aus: „evangelische".
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Die Richtigkeit dieser Ausführung gibt die tägliche Erfahrung. I n einer konfessionell gemischten Stadt z. B. erlangen sozialdemokratische Arbeiter v o m Arbeitgeber unter Androhung, die Arbeit niederzulegen, die sofortige Entfernung der christlichen Arbeiter. Der Arbeitgeber sucht nach Ersatz. Findet er nicht eine hinreichend starke christliche Gewerkschaft, die sofort christliche Arbeiter verschaffen kann, ist er, w e n n auch gegen seinen W i l l e n gezwungen, die christlichen Arbeiter zu entlassen, u m seinen kontraktlichen Verpflichtungen nachzukommen. So ist denn geschehen, daß beim Bau einer katholischen Kirche sämtliche christliche Arbeiter entfernt werden mußten. Einen Beweis nach der anderen Seite h i n i m großen erbrachte der Riesenstreik der Bergleute i m Ruhrgebiet (1912). Dort proklamierten die sozialdemokratisch organisierten Gewerkschaften (über 100 000) den Streik; die christlichen Gewerkschaften (gegen 100 000) dagegen verwarfen den Streik als nichtberechtigt. Dadurch brach der Streik innerhalb einer Woche zusammen u n d Hunderte v o n M i l l i o n e n w u r d e n den Arbeitgebern u n d A r b e i tern u n d somit dem Nationalvermögen gerettet. Bei der absoluten Notwendigkeit dieser antisozialdemokratischen Organisationen w ü r d e ein kirchliches Verbot zwar große Gewissensängste u n d tiefe Verbitterung unter den katholischen Mitgliedern bewirken. E i n T e i l w ü r d e zweifellos zur Sozialdemokratie abfallen. Eine Auflösung könnte nicht erfolgen, aber alle verbleibenden Organisationen w ü r d e n i n ihrer Wirksamkeit auf das stärkste beeinträchtigt. Die E r k l ä r u n g des Vorstandes v o m 3. M a i 1912 weist auf diese Unmöglichkeit hin, wegen der Größe der finanziellen Verbindlichkeiten der Organisationen. „ I h r e Mitglieder haben für mehr als 30 M i l l i o n e n M a r k Beiträge geleistet. Sie haben ihren 360 000 Mitgliedern gegenüber tägliche Verpflichtungen. Sie sind an r u n d 1000 Tarifverträgen beteiligt. Das sind Verantwortungen, die die christlichen Gewerkschaften organisch u n d unzerreißbar verankern m i t dem gesamten volkswirtschaftlichen u n d staatlichen Leben der Nation. Sie stehen u n d fallen m i t der nationalen Zukunftsentwicklung unseres Vaterlandes." Die Notwendigkeit der christlichen Gewerkschaften ergibt sich endlich aus dem Fiasko, das die katholischen Fachabteilungen gemacht haben. I m m e r mehr Arbeiter auch i m Osten u n d i n Sachsen sagen sich von ihnen los. Die Berliner Fachabteilungen zählen n u r mehr 10 000 Mitglieder u n d die E i n nahmen fielen v o n 244 000 M a r k (1909) auf 154 000 Μ (1911). Dabei genügen ihre Kassen durchaus nicht den von Rom für geistliche Kassenführer ergangenen Bestimmungen. Die Sterbekassen setzen fast jährlich ihre Beiträge, die nicht einmal klagbar sind, herab; sie haben ihre Kassen nicht, wie es Pflicht wäre, dem durch Reichsgesetz i m Jahre 1891 geschaffenen Aufsichtsamt für Privatversicherungen unterstellt usw. Was die den A r b e i t e r n zur Verbesserung ihrer Lage zur Verfügung stehenden M i t t e l betrifft so betont die E r k l ä r u n g des Gesamtvorstandes der christlichen Gewerkschaften v o m 3. J u n i 1912 m i t Recht: „Die christlichen Gewerkschaften sind keine Gegner des Privateigentums an Produktionsmitteln, der K a m p f ist ihnen n u r letztes
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M i t t e l zum Zweck 2 8 ; sie sind sich der volkswirtschaftlichen, nationalen u n d sittlichen Vorbedingungen solcher Kämpfe vollauf bewußt. Nicht w e i l der Berliner Verband den Frieden i n der Gesellschaft w i l l , w i r d die Fachabteilungsidee v o n den christlichen Gewerkschaften abgelehnt, sondern n u r deshalb, w e i l sein System jegliche wahre gewerkschaftliche Selbsthilfe als M i t t e l z u m Aufstieg der Arbeiterklasse ablehnt." Die Aufstellungen der Berliner Fachabteilungen haben verschuldet, daß v o n der sozialdemokratischen Presse immer u n d immer wieder gegen den heiligen Stuhl der V o r w u r f erhoben w i r d 2 9 , als wolle er die Arbeiter an einem tatkräftigen u n d nachhaltigen E i n treten f ü r die Verbesserung ihrer materiellen Lage behindern, während er die Stärkeren, die Arbeitgeber i n ihren Verbänden, K a r t e l l e n u n d Trusten i n keiner Weise beunruhige 3 0 . Ohne es zu wollen, haben die katholischen Fachabteilungen eine Unsumme v o n Erbitterung u n d Haß gegen den Heiligen S t u h l unter der deutschen sozialdemokratischen A r b e i t e r w e l t entfacht. Neuerdings w i r d i m Anschluß an die jüngsten Vorfälle i n der sozialdemokratischen Presse i n egoistischer Weise der Heilige S t u h l der einseitigen Förderung kapitalistischer Interessen beschuldigt. Aus dem Gesagten dürfte zur Genüge hervorgehen, daß große christliche Arbeiterorganisationen, konfessionell getrennte Arbeitervereine und christliche Gewerkschaften f ü r Deutschland vom kirchlichen wie staatlichen Standpunkte aus eine Notwendigkeit sind 3 1 .
Nr. 132. Enzyklika Pius X . an die Bischöfe Deutschlands „Singulari quadam" v o m 24. September 1912 (Lat. T e x t : A c t a Apostolicae Sedis 4, 1912, S. 657 ff.; authentische deutsche Ubersetzung: Kirchl. Anzeiger f ü r die Erzdiözese K ö l n 62, 1912, S. 137 ff.) — Auszug — . . . Bewogen v o n besonders liebevoller u n d wohlwollender Gesinnung gegen die K a t h o l i k e n Deutschlands, die i n größter Treue u n d Folgsamkeit diesem Apostolischen S t u h l ergeben, hochherzig u n d tapfer f ü r die Kirche zu kämpfen gewohnt sind, fühlen W i r Uns angetrieben, Ehrwürdige Brüder, alle K r a f t u n d Sorgfalt auf die Erörterung jener Streitfrage zu verwenden, die unter ihnen hinsichtlich der Arbeiter-Vereinigungen besteht, eine Streitfrage, über die schon öfter i n den letztverflossenen Jahren sowohl mehrere v o n Euch, w i e auch urteilsfähige u n d angesehene Männer beider Richtungen 28
Handschriftliche Randbemerkung: „Dieses A x i o m , daß Streik nicht normales M i t t e l ist, sondern n u r i n extremis, dürfte noch schärfer u n d durch verschiedene Beweise gestützt hervorgehoben werden, w e i l diesbez. i n Rom andere Anschauungen bestehen resp. gehört werden." 29 Handschriftliche Randbemerkung: „freilich unbewiesen". 30 Handschriftliche Ergänzung am Rand: „ T i e f beklagen dem Hl. Stuhl tiefst ergebene, aufrichtige K a t h o l i k e n Deutschlands." 31 Es folgen i n dem Exemplar des Bayer. Hauptstaatsarchivs noch handschriftlich „Unmaßgebliche Anmerkungen".
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Uns unterrichtet hatten. U n d u m so eifriger haben W i r Uns die Sache angelegen sein lassen, w e i l W i r i m Bewußtsein Unseres Apostolischen Amtes als Unsere heilige Aufgabe es erkennen, dahin zu streben u n d zu w i r k e n , daß diese Unsere geliebten Söhne die katholische Lehre unverfälscht u n d unversehrt bewahren u n d i n keiner Weise zulassen, daß i h r Glaube i n Gefahr gerate. Denn w e n n sie nicht zeitig zur Wachsamkeit angeregt würden, so w ü r d e n sie offenbar i n Gefahr schweben, allmählich u n d w i e unversehens m i t einer verschwommenen u n d unbestimmten A r t v o n christlicher Religion sich zu begnügen, die m a n interkonfessionell zu nennen pflegt, u n d die auf eine inhaltsleere Empfehlung eines allgemeinen Christentums hinausläuft, während doch offenbar nichts so sehr dem L e h r w o r t Jesu Christi w i d e r spricht als sie. Dazu k o m m t , daß W i r , entsprechend Unserem sehnlichsten Wunsche, unter den K a t h o l i k e n die Eintracht zu fördern u n d zu festigen, alle Anlässe zu Zwistigkeiten beseitigen wollen, die die K r ä f t e der G u t gesinnten zersplittern, u n d dadurch n u r den Feinden der Religion v o n N u t zen sein können; j a W i r w o l l e n u n d wünschen überdies, daß die Unserigen m i t den nichtkatholischen M i t b ü r g e r n jenen Frieden pflegen, ohne den weder die Ordnung der menschlichen Gesellschaft noch die Wohlfahrt des Staates bestehen könnte. Wenngleich aber, w i e gesagt, der Stand dieser Frage uns bekannt war, so hielten W i r es doch f ü r gut, bevor W i r ein U r t e i l über sie aussprachen, die Ansicht eines jeden von Euch, Ehrwürdige Brüder, einzuholen; u n d auf Unsere Fragen habt I h r einzeln m i t jener Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt geantwortet, die der ernsten Bedeutung der Sache entsprach. Demgemäß erklären W i r es zunächst als die Pflicht aller Katholiken, als eine i m Privatleben ebenso w i e i m gemeinsamen u n d öffentlichen Leben heilig u n d unverletzt zu befolgende Pflicht, m i t Entschiedenheit festzuhalten u n d ohne Scheu zu bekennen die v o m Lehramte der katholischen Kirche dargelegten Grundsätze der christlichen Wahrheit, namentlich jene, welche unser Vorgänger m i t höchster Weisheit i n der E n z y k l i k a „ R e r u m novarum" auseinandergesetzt h a t 3 2 u n d denen, w i e W i r wissen, ganz besonders die Bischöfe Preußens, die i m Jahre 1900 i n Fulda versammelt waren, bei ihren Beratungen gefolgt sind 3 3 u n d deren Grundgedanken I h r selbst i n Euren Antwortschreiben über diese Frage zusammengefaßt h a b t . 3 4 . . . Was n u n Vereinigungen von A r b e i t e r n anlangt, so sind, wenngleich ihre Aufgabe darin besteht, ihren Mitgliedern irdische Vorteile zu verschaffen, doch am meisten zu b i l l i g e n u n d unter allen f ü r den wahren u n d dauernden Nutzen der Mitglieder als bestgeeignete jene Vereinigungen anzusehen, die hauptsächlich auf der Grundlage der katholischen Religion aufgebaut sind u n d der Kirche als F ü h r e r i n offen folgen; was W i r selbst mehrmals bei gelegentlichen Anfragen aus verschiedenen Ländern erklärt haben. Hieraus folgt, daß derartige sogenannte konfessionell-katholische Vereinigungen sicherlich i n katholischen Gegenden, u n d außerdem i n allen anderen Gegen32
Oben Nr. 126. Oben Nr. 127. 34 Es folgt eine Zusammenstellung wichtiger Gesichtspunkte aus diesen früheren Dokumenten. 33
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den, w o anzunehmen ist, daß durch sie den verschiedenen Bedürfnissen der Mitglieder genügend Hilfe gebracht werden kann, gegründet u n d auf jede Weise unterstützt werden müssen. Handelt es sich aber u m Vereinigungen, die das Gebiet der Religion u n d der Sittlichkeit direkt oder indirekt berühren, dann wäre es i n keiner Weise zu billigen, i n den eben erwähnten Gebieten gemischte Vereinigungen fördern u n d verbreiten zu wollen, d. h. solche, die sich aus K a t h o l i k e n u n d Nichtkatholiken zusammensetzen. Denn, abgesehen v o n anderem, befinden sich bei derartigen Vereinigungen die Unserigen oder können sich doch sicherlich befinden i n großen Gefahren für die Reinheit ihres Glaubens u n d den gebührenden Gehorsam gegen die Gebote u n d Vorschriften der katholischen Kirche; Gefahren, auf welche auch Ihr, Ehrwürdige Brüder, i n mehreren Eurer A n t w o r t e n über diese Fragen offen, w i e W i r gelesen, hingewiesen habet. W i r spenden also allen u n d jeden i n Deutschland bestehenden rein katholischen Arbeiter-Vereinigungen m i t Freuden alles Lob u n d wünschen allen ihren Bestrebungen zum W o h l der Arbeiterbevölkerung glücklichen Erfolg u n d erhoffen f ü r sie ein i m m e r erfreulicheres Wachstum. Indes, w e n n W i r dies sagen, leugnen W i r nicht, daß es den K a t h o l i k e n zusteht, zur Erstrebung besserer Lebensverhältnisse f ü r den Arbeiter, billigerer Bedingungen für L o h n u n d A r b e i t oder zum Zweck anderer berechtigter Vorteile gemeinschaftlich m i t Nichtkatholiken, unter A n w e n d u n g v o n Vorsicht, f ü r ihre gemeinsamen Interessen zu arbeiten. U m dieses Zweckes w i l l e n sehen W i r es lieber, w e n n die katholischen u n d nichtkatholischen Vereinigungen sich m i t einander verbinden mittels jener zeitgemäßen neuen Einrichtung, die m a n Kartell nennt. I n dieser Hinsicht nun, Ehrwürdige Brüder, erbitten nicht wenige von Euch, es möchte Euch durch Uns erlaubt werden, die sogenannten christlichen Gewerkschaften, w i e sie heutzutage i n Euren Diözesen bestehen, zu dulden, w e i l sie einerseits eine bedeutend größere Z a h l von A r b e i t e r n i n sich schließen als die rein katholischen Vereinigungen, u n d w e i l anderseits es große Nachteile nach sich ziehen würde, falls dies nicht gestattet würde. Diesem Ersuchen glauben W i r m i t Rücksicht auf die besondere Lage der katholischen Sache i n Deutschland entgegenkommen zu sollen, u n d W i r erklären, es könne geduldet u n d den K a t h o l i k e n gestattet werden, auch jenen gemischten Vereinigungen, w i e sie i n Euren Diözesen bestehen, sich anzuschließen, solange nicht wegen neu eintretender Umstände diese D u l d u n g aufhört, zweckmäßig oder zulässig zu sein. Dabei müssen jedoch geeignete Vorsichtsmaßregeln zur Fernhaltung der Gefahren angewendet werden, welche, w i e gesagt, derartigen Vereinigungen anhaften. Die hauptsächlichsten dieser Vorsichtsmaßregeln sind folgende: A n erster Stelle ist dafür zu sorgen, daß katholische Arbeiter, die Mitglieder solcher Gewerkschaften sind, zugleich jenen katholischen Vereinigungen angehören, welche unter der Bezeichnung Arbeitervereine bekannt sind. Falls sie aus diesem Grunde irgendein Opfer, zumal an Geld bringen müssen, so sind W i r überzeugt, daß sie bei ihrer Sorge u m die Reinerhaltung ihres Glaubens dies bereitwilligst t u n werden. Denn wie sich erfreulicherweise gezeigt hat, vermögen diese katholischen Arbeitervereine unter M i t w i r k u n g des Klerus, durch dessen Führung
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und wachsame Leitung, sehr viel, u m die Unverfälschtheit des Glaubens u n d die Reinheit der Sitten bei ihren Mitgliedern zu schützen u n d den religiösen Geist durch häufige Übung der Frömmigkeit zu nähren. Deshalb werden die Leiter solcher Vereine m i t klarer Einsicht i n die Zeitbedürfnisse ohne Z w e i fel bereit sein, namentlich bezüglich der Pflichten der Gerechtigkeit u n d Liebe, die Arbeiter i n jenen Geboten u n d Vorschriften zu unterweisen, deren genaue Kenntnis ihnen notwendig oder nützlich ist, u m an den Gewerkschaften i n rechter Weise u n d nach den Grundsätzen der katholischen Lehre sich beteiligen zu können. Ferner ist es notwendig, daß die Gewerkschaften, damit sie so sind, daß die K a t h o l i k e n ihnen beitreten können, v o n allem sich fernhalten, was grundsätzlich oder tatsächlich m i t den Lehren u n d Geboten der Kirche w i e der zuständigen kirchlichen Obrigkeit nicht i n Einklang steht; ebenso ist alles i n Schriften oder Reden oder Handlungen zu meiden, was aus diesem Gesichtspunkt tadelnswert ist. D a r u m mögen die Bischöfe es als ihre heilige Pflicht ansehen, sorgfältig das Verhalten dieser Vereinigungen zu beobachten u n d darüber zu wachen, daß den K a t h o l i k e n aus der Anteilnahme an ihnen kein Schaden erwächst. Die katholischen Mitglieder selbst aber sollen niemals zulassen, daß die Gewerkschaften, auch als solche, i n der Sorge f ü r die weltlichen Angelegenheiten ihrer Mitglieder sich zu Lehren bekennen oder Handlungen unternehmen, die irgendwie den v o m obersten kirchlichen L e h r amte verkündeten Vorschriften, zumal den obenerwähnten, widersprechen. Deshalb sollen, so oft Fragen auftauchen über Dinge, die die Sitten berühren, d . h . Fragen über Gerechtigkeit oder Liebe, die Bischöfe m i t größter Aufmerksamkeit wachen, damit die Gläubigen die katholischen Sittenlehren nicht außer acht lassen u n d auch keinen Finger breit v o n ihnen abweichen. W i r sind überzeugt, Ehrwürdige Brüder, daß I h r f ü r die gewissenhafte und genaue Befolgung dieser Unserer Anordnungen Sorge tragen u n d über eine Angelegenheit v o n so großer Bedeutung sorgfältig u n d fortlaufend Uns berichten werdet. W e i l W i r n u n aber diese Angelegenheit an Uns gezogen haben u n d das U r t e i l über sie, nach A n h ö r u n g der Bischöfe, Uns zustehen muß, so ergeht hiermit an alle gutgesinnten K a t h o l i k e n Unsere Weisung, v o n n u n an sich jedes Streites unter sich über diese Sache zu enthalten, u n d W i r hegen das Vertrauen, daß sie durch brüderliche Liebe u n d vollkommenen Gehorsam gegen Uns u n d gegen ihre Oberhirten vollständig u n d freudig das ausführen, was W i r befehlen. Sollte unter ihnen noch irgendeine Schwierigkeit entstehen, so ist zu deren Lösung der gewiesene Weg folgender: sie sollen sich an ihre Bischöfe u m Rat wenden, u n d diese werden die Sache an den A p o stolischen S t u h l berichten, v o n welchem sie entschieden w i r d . Noch eins erübrigt, was aus dem bisher Gesagten leicht zu entnehmen ist. Wie es einerseits niemand verstattet wäre, eines verdächtigen Glaubens diejenigen zu bezichtigen, u n d unter solchem Vorgeben diejenigen anzufeinden, die standhaft die Lehren u n d Rechte der Kirche verteidigen, jedoch aus gutem Grunde den gemischten Gewerkschaften dort beigetreten sind oder beitreten wollen, wo i n Anbetracht der Ortsverhältnisse die kirchliche
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Obrigkeit es f ü r gut befunden hat, solche Gewerkschaften unter gewissen Vorsichtsmaßregeln zuzulassen, so wäre es anderseits als höchst verwerflich zu tadeln, die r e i n katholischen Vereinigungen feindselig zu befehden — diese A r t v o n Vereinigungen muß i m Gegenteil auf jede Weise unterstützt u n d gefördert werden — u n d zu verlangen, daß die sogenannten interkonfessionellen Vereinigungen eingeführt werden, u n d sie gleichsam aufzudrängen, sei es auch unter dem Vorgeben, daß alle katholischen Vereinigungen i n den einzelnen Diözesen nach einer u n d derselben F o r m einzurichten seien. . . .
Nr. 133. Schreiben der Fuldaer Bischofskonferenz an die Geistlichen ihrer Diözesen v o m 5. November 1912 (Kirchl. Anzeiger f ü r die Erzdiözese K ö l n 62, 1912, S. 140 f.) Die i n den letzten Jahren unter den katholischen A r b e i t e r n Deutschlands entstandenen Meinungsverschiedenheiten über die für K a t h o l i k e n zulässigen A r t e n gewerkschaftlicher Organisationen haben dem H l . Vater Anlaß gegeben, nach A n h ö r u n g der Bischöfe Deutschlands u n d i n Übereinstimmung m i t den Vorschlägen derselben, ein Apostolisches Rundschreiben an den deutschen Episkopat zu richten, welches w i r zugleich m i t deutscher Übersetzung nunmehr zur Kenntnis der hochwürdigen Geistlichkeit unserer Diözesen bringen. W i r sind dem Hl. Vater i n n i g dankbar dafür, daß er durch seine höchste A u t o r i t ä t die Stimme der Bischöfe unterstützt hat u n d daß nunmehr b i n dende, klare Richtlinien f ü r die H a l t u n g der katholischen Arbeiter v o n höch^ ster Stelle aus ergangen sind. Die hochwürdigen Geistlichen unserer Diözesen, insbesondere die i m k a tholischen Vereinswesen w i r k e n d e n Geistlichen, w o l l e n bei geeigneter Gelegenheit die Gläubigen über den I n h a l t der Enzyklika v o m 24. September d. J. belehren, i n umsichtiger Weise für die Ausführung der Mahnungen des H l . Vaters Sorge tragen u n d gegenüber den Angriffen, die die kirchliche A u t o r i t ä t i n letzter Zeit so oft erfahren hat, auf die Grundzüge der Enzyk l i k a das Augenmerk der Gläubigen richten. Wie jedes W o r t der E n z y k l i k a beweist, ist der Hl. Vater zu seinem E i n schreiten einzig u n d allein durch die Pflicht seines L e h r - u n d Hirtenamtes veranlaßt. Z i e l der E n z y k l i k a ist, den katholischen Glauben u n d die k a t h o lische Sittenlehre i n Theorie u n d Praxis rein u n d unversehrt i n den Herzen aller Kreise des katholischen Volkes zu erhalten. Ziel der Mahnungen des Hl. Vaters ist es, v o n den K a t h o l i k e n jene Gefahren fernzuhalten, die i n unserer tiefbewegten Zeit f ü r Glaubens- u n d Sittenlehre durch das Zusammengehen von K a t h o l i k e n u n d Nichtkatholiken infolge der Verschiedenheit der Ansichten entstehen oder entstehen können. Diesen Gefahren entgegenzutreten, ist Pflicht des v o n Christus i n der Kirche eingesetzten L e h r - u n d Hirtenamtes. D a r u m hat die E n z y k l i k a m i t großer K l a r h e i t für die A u t o r i t ä t
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der Kirche die Entscheidung derjenigen Fragen i n Anspruch genommen, welche u n d insoweit sie Glaubens- u n d Sittenlehre, Seelenheil u n d kirchliche Treue berühren. Die Befolgung der Weisungen der Enzyklika w i r d es ermöglichen, daß die katholischen Arbeiter stets der fundamentalen Pflicht des katholischen C h r i sten t r e u bleiben, alle irdischen Handlungen hinzulenken auf das ewige Z i e l u n d lieber alles zu opfern, als ihren heiligen Glauben u n d i h r Seelenheil i n Gefahr zu bringen. Die Weisungen des Hl. Vaters dienen zugleich jenem i n der Enzyklika so nachdrücklich betonten Ziele, zwischen katholischen u n d nichtkatholischen A r b e i t e r n den bürgerlichen Frieden u n d jene Eintracht zu erhalten, ohne die die irdische Wohlfahrt nicht bestehen kann. Die v o m H l . S t u h l an die K a t h o l i k e n ergangene Mahnung zur zur Unterlassung gegenseitiger Beschuldigungen, zur Einhaltung nungsmäßigen Weges zur Lösung der etwa noch i n vorbezeichneter auftauchenden Differenzen entspricht dem heißen Verlangen des katholischen Volkes.
Einigkeit, des ordRichtung gesamten
W i r vertrauen daher zu der kirchlichen Treue u n d Friedensliebe aller guten Katholiken, daß sie die E n z y k l i k a als neuen Erweis der Weisheit u n d Hirtenliebe des Hl. Vaters m i t innigem D a n k aufnehmen u n d alle Weisungen der Enzyklika freudig u n d gewissenhaft befolgen werden.
Nr. 134. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Merry del Val an die deutschen Erzbischöfe und Bischöfe v o m 8. Januar 1914 (Lat. Text u n d deutsche Übersetzung: E. Deuerlein [Hg.], Briefwechsel Hertling-Lerchenfeld 1912 - 1917, Bd. 1,1973, S. 274 f., A n m . 1) Nachdem dem Hl. Stuhl i n bezug auf die Enzyklika „Singulari quadam" einige Zweifel vorgelegt wurden, bemühe ich mich, auf Befehl des Papstes Euer Gnaden (wie auch den übrigen Erzbischöfen u n d Bischöfen Deutschlands) folgendes kundzutun: 1. Es entspricht weder dem W o r t l a u t noch dem Sinn der genannten Enzyklika, daß die gemischten (sogenannten christlichen) Gewerkschaften vor r e i n katholischen Vereinigungen öffentlich empfohlen werden. 2. Es entspricht nicht dem Sinn u n d W i l l e n des Hl. Vaters, w e n n die Schwierigkeiten, die unter den K a t h o l i k e n wegen der Deutung u n d A u s f ü h rung der angeführten Enzyklika, v o r allem was die Grundsatzfragen betrifft, entstanden sind, von den Ortsbischöfen ohne Befragung des H l . Stuhles entschieden werden. 3. Arbeitervereinigungen, w i e sie der H l . Vater mehrfach, v o r allem aber i n der obengenannten Enzyklika, als sehr anerkennenswert u n d förderungsw ü r d i g erklärt hat, sind einzig u n d allein rein katholische Verbände.
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6. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d die soziale Frage
Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß sich die Bischöfe Deutschlands i n ihren jeweiligen Diözesen bei der Ergebenheit, die sie dem Apostolischen Stuhl entgegenbringen, alle Mühe geben werden, daß die diesbezüglichen Vorschriften Sr. Heiligkeit ehrfürchtig u n d ungeschmälert beachtet werden.
Nr. 135. Schreiben des Fürstbischofs von Breslau, Kardinal Kopp, an den Reichsgrafen von Oppersdorf? v o m 21. Januar 1914 (Klarheit u n d Wahrheit 3, 1914, Nr. 4) — Auszug — . . . I n dieser Lage 3 5 beschlossen die F ü h r e r 3 6 , alle Leiter der christlichen Gewerkschaften zu einer Generalversammlung nach Essen zu berufen. V o r her aber wandten sie sich an ihren langjährigen Freund, den hochwürdigsten Herrn Bischof von Paderborn Dr. Schulte 3 7 , und legten i h m ihre Lage dar. Der Bischof von Paderborn, eingedenk der einhelligen S t i m m u n g des Episkopats, der E n z y k l i k a eine möglichst friedliche u n d vertrauensvolle Aufnahme bei den Beteiligten zu sichern, unternahm es daher, die von den Gegnern am schärfsten hervorgehobenen u n d mißdeuteten Bestimmungen der Enzyklika zu erläutern. Daß er sich dabei von der äußersten M i l d e leiten ließ, w i d e r sprach nicht den Absichten des Episkopats u n d erforderte die Lage der Dinge. Diese Erläuterung sandte der hochwürdigste H e r r am 20. November 1912 dem Unterzeichneten als dem derzeitigen Vorsitzenden der Bischofskonferenz zur Prüfung u n d Zustimmung. M i t einigen Änderungen konnte ich seine Arbeit als nicht gegen die Enzyklika gerichtet anerkennen und, da die christlichen Gewerkschaftsführer auf meine Zustimmung alles Gewicht legten, erteilte ich sie. Bei der Kürze der Zeit konnte diese Angelegenheit dem Gesamtepiskopat nicht mehr vorgelegt werden; tatsächlich ist dessen Einverständnis auch nicht eingeholt worden. N u r wurde i h m nachträglich von der Sache Kenntnis gegeben, was er m i t Stillschweigen aufnahm. Die i n Essen zur Verlesung gebrachte Erläuterung der E n z y k l i k a 3 8 ist also kein Beschluß des Episkopats, sondern eine Ausarbeitung des H e r r n Bischofs von Paderborn, der ich den dringenden Umständen nachgebend zustimmte. I n Essen hätte man es danach i n der Hand gehabt, den gewerkschaftlichen Standpunkt m i t weiser Zurückhaltung u n d kluger Schonung des kirchlichen Empfindens zur Geltung zu bringen, bei der überaus milden Erläuterung des H e r r n Bischofs von Paderborn, u n d so die Hoffnungen des Episkopates zu 35 Gemeint ist die 1912 auch nach der Enzyklika „Singulari quadam" fortbestehende Kontroverse über die Christlichen Gewerkschaften und die katholischen Fachabteilungen. 36 sc. der Christlichen Gewerkschaften. 37 Karl Joseph Schulte: unten S. 859. 38 Vgl. zu dieser auf dem Gewerkschaftskongreß i n Essen am 26. November 1911 vorgetragenen „Essener Interpretation" R. Brack, Deutscher Episkopat und Gewerkschaftsstreit (1976), S. 302 ff.
I I I . Papst Pius X., die soziale Frage und die Arbeiterbewegung
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rechtfertigen. Statt dessen erging m a n sich i n schroffen u n d herausfordernden Redewendungen, die die wohlwollenden Rücksichten des Episkopates v ö l l i g mißachteten u n d die angewandte M i l d e als nutzlos erwiesen, weshalb letztere auch an einer anderen kirchlichen Stelle nicht gebilligt wurde. Aus diesen Vorgängen i n Essen erkannte ich selbst, daß es Selbsttäuschung war, eine friedliche u n d versöhnliche W i r k u n g der E n z y k l i k a zu erhoffen, u n d schrieb daher an den hochwürdigsten H e r r n Bischof von Paderborn, daß ich diese Vorgänge tief bedauerte u n d daher meine Zustimmung zu seinen Erläuterungen damit zurücknähme . . . Endlich aber muß besonders hervorgehoben werden, daß es nicht Sache der Bischöfe ist, päpstliche Erlasse zu erläutern u n d auszulegen, sondern daß dieses Recht allein dem Hl. Stuhle zusteht. . . .
Nr. 136. Hirtenschreiben der Bischöfe der Niederrheinischen Kirchenprovinz v o m 13. Februar 1914 (Kirchlicher Anzeiger der Erzdiözese Köln, 1914, Nr. 5 — Sonder-Nummer —, S. 41 f.) Die unterzeichneten Oberhirten der Niederrheinischen Kirchenprovinz u n d der i h r angeschlossenen Diözesen halten es angesichts der zurzeit i n weiten Kreisen des katholischen Volkes, namentlich i n den großen Industriezentren ihrer Sprengel, hinsichtlich der gewerkschaftlichen Organisationen entstandenen Beunruhigung f ü r zweckmäßig, die nachstehenden Grundsätze für die Haltung der Mitglieder der katholischen Arbeitervereine u n d der katholischen Arbeiter überhaupt i n Erinnerung zu bringen. I. Bei Beurteilung wirtschaftlicher Fragen u n d Verfolgung von Standesinteressen ist es Grundsatz der katholischen Kirche, daß die soziale Frage i n erster L i n i e eine sittliche u n d religiöse Frage w a r u n d ist u n d bleibt. Auch bei denjenigen Angelegenheiten, die als „ r e i n wirtschaftliche" bezeichnet zu werden pflegen, werden oft sittliche Pflichten m i t berührt, u n d werden sittlich-religiöse Interessen häufig sehr i n Mitleidenschaft gezogen. Das gilt, u m einzelne Beispiele anzuführen, von den Pflichten der Gerechtigkeit und Liebe, die f ü r Arbeitgeber u n d Arbeitnehmer gleich streng v e r b i n d lich sind, v o m sittlichen Charakter der A r b e i t selbst, sowie der Arbeitsverträge u n d der aus ihnen erwachsenden Pflichten, von sittlich gebotenen Rücksichten auf die Familie u n d das öffentliche Wohl, v o m Einfluß des Sittengesetzes auf Fragen der Erlaubtheit v o n Arbeitsausständen, A r b e i t e r aussperrungen u n d von den bei denselben angewandten M i t t e l n u. dgl. m. W e i l n u n Christus der Herr die gesamte sittliche u n d religiöse Erziehung des Menschengeschlechtes den Aposteln u n d ihren Nachfolgern übertragen hat, niemanden ausnehmend, u n d keine sittliche oder religiöse Frage ausschließend, so ist die kirchliche Autorität, der Heilige Vater und die m i t i h m v e r einigten Bischöfe, zuständig und verpflichtet zur oberhirtlichen V e r k ü n d i -
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6. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d die soziale Frage
gung des gesamten Sittengesetzes, also auch der sittlichen Normen i n Fragen vorgenannter A r t , u n d m i t h i n zur Aufsicht über die H a l t u n g der K a t h o l i k e n i n dieser Hinsicht u n d zur A b w e h r von Gefahren, die der sittlichen Auffassung u n d H a l t u n g erwachsen können. Doppelt dringend ist diese Pflicht des kirchlichen Hirtenamtes i n einer Zeit, die so überaus große Gefahren f ü r die sittliche, religiöse, bürgerliche u n d staatliche Ordnung heraufgeführt hat. F ü r die Einsetzung eines solchen L e h r - u n d Hirtenamtes gebührt dem göttlichen Stifter unserer h. Religion der tiefste Dank. Z u m göttlich bestellten Hirtenamte der Kirche, insbesondere zum obersten H i r t e n auf St. P e t r i Stuhle, blicken daher alle, die des Namens eines treuen K a t h o l i k e n w ü r d i g sind, m i t kindlicher, dankbarer u n d gehorsamer Ehrfurcht empor. Das gilt für alle Katholiken, welchem Stande immer sie angehören, u n d welche Stellung immer sie i m öffentlichen Leben einnehmen mögen. I I . Aus dieser Stellung des kirchlichen Hirtenamtes folgt dessen treue, autoritative Wachsamkeit über den Anschluß katholischer Christen an V e r einigungen zur W a h r u n g von Interessen, die religiöser u n d sittlicher N a t u r sind oder die u n d insoweit sie das religiöse u n d sittliche Gebiet berühren. Die aus solcher Wachsamkeit entspringenden Kundgebungen des kirchlichen Hirtenamtes nehmen alle treuen K a t h o l i k e n m i t demselben Gehorsam auf, den sie dem Hirtenamte selbst schulden, mögen diese Kundgebungen loben oder warnen, erlauben oder verbieten, ermuntern oder mahnen. Die K a t h o l i k e n wissen, daß jeder Kundgebung die sorgsamste Erwägung aller einschlägigen Verhältnisse vorausgeht, u n d daß es Pflicht w i e des Hirtenamtes so jedes Mitgliedes der Kirche ist, stets die ewigen Interessen höher zu schätzen als die irdischen, stets aber auch das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Stände u n d Klassen desselben Vaterlandes nach K r ä f t e n zu fördern. I I I . M i t den aus der göttlichen Ordnung der Kirche sich ergebenden Gesinnungen der Ehrfurcht, der Liebe u n d des Gehorsams haben w i r u n d alle treuen K a t h o l i k e n m i t uns insbesondere die päpstliche Enzyklika Singulari vom 24. September 1912 aufgenommen, die nach sorgfältigster Prüfung der Angelegenheit u n d nach Einholung der gutachtlichen Äußerungen aller einzelnen deutschen Bischöfe erlassen worden ist. I V . Daß die katholische Kirche nach den i n dieser Enzyklika dargelegten Grundsätzen i n erster L i n i e ihre Empfehlung u n d Förderung den rein katholischen Vereinen zuwenden muß, ergibt sich aus der dargelegten Aufgabe des kirchlichen Hirtenamtes. Bieten doch diese Vereine sowohl durch ihre Zusammensetzung u n d Satzungen w i e durch ihren engeren Anschluß an die kirchliche A u t o r i t ä t am ehesten die Gewähr dafür, daß i n den oben bezeichneten Fragen die katholischen Grundsätze v o l l zur Geltung kommen. Demgemäß wenden auch die Oberhirten der Diözesen Deutschlands ausnahmslos ihre Liebe u n d Unterstützung den katholischen Standesvereinen, insbesondere den katholischen Arbeitervereinen, zu. Ihnen die Jugend u n d
I I I . Papst Pius X., die soziale Frage u n d die A r b e i t e r b e w e g u n g 3 3 3 die Erwachsenen zuzuführen, ist eine unserer ernstesten Sorgen u n d liebsten Pflichten. Wo diese katholischen Vereine Jugendlicher u n d Erwachsener blühen, da sehen w i r getrost i n die Zukunft. Wo sie nicht i n Blüte stehen, bangt uns u m die Z u k u n f t des katholischen Volkes. Kirche u n d Staat haben i n ihnen treue Helfer i m Schutze der gottgewollten Ordnung des privaten u n d öffentlichen Lebens. Unsere ernste Sorge ist es, ausnahmslos alle Stände u n d Lebensalter fernzuhalten v o n solchen Vereinigungen, die den katholischen Glauben oder irgendeine der sittlichen Lehren unserer heiligen Kirche direkt oder indirekt bekämpfen. Das gilt v o r allem v o n solchen gewerkschaftlichen Organisationen, die auf den Grundsätzen des Unglaubens aufgebaut sind u n d den U m sturz anstreben. V. Wo katholische Arbeitervereine, die zugleich den gewerkschaftlichen Interessen der arbeitenden Klassen dienen, m i t einem zum Schutz der w i r t schaftlichen Interessen genügenden Erfolge eingeführt sind oder friedlich eingeführt werden können, da wäre es i n keiner Weise zu billigen, daß katholische Arbeiter sich interkonfessionellen Gewerkschaften anschlössen. Wo dies nicht der F a l l ist, hat der Heilige S t u h l i n wohlwollender Berücksichtigung der örtlichen u n d der allgemeinen Verhältnisse die D u l d u n g u n d Erlaubtheit der Mitgliedschaft v o n K a t h o l i k e n zu den i n Deutschland bestehenden christlichen Gewerkschaften unter jenen besonderen Vorsichtsmaßregeln ausgesprochen, die der oben dargelegten Stellung u n d Pflicht des Hirtenamtes entsprechen u n d die daher jedem K a t h o l i k e n als durch die Umstände geboten erscheinen müssen. Diese Vorsichtsmaßregeln sind v o r allem folgende: A n erster Stelle ist dafür zu sorgen, daß die katholischen Arbeiter, welche Mitglieder solcher Gewerkschaften sind, zugleich den katholischen Arbeitervereinen angehören. Ferner müssen die Gewerkschaften, damit die K a t h o l i k e n ihnen beitreten können, v o n allem sich fernhalten, was grundsätzlich oder tatsächlich m i t den Lehren u n d Geboten der Kirche, w i e den Vorschriften der zuständigen kirchlichen Obrigkeit nicht i n E i n k l a n g steht. Auch dürfen katholische M i t glieder, die den Gewerkschaften angehören, niemals zulassen, daß dieselben i n der Sorge f ü r die weltlichen Angelegenheiten ihrer Mitglieder durch W o r t oder Tat sich irgendwie m i t den v o m obersten kirchlichen Lehramt v e r k ü n deten Vorschriften i n Widerspruch setzen. Von allen K a t h o l i k e n erwarten w i r , daß sie dem Heiligen Vater dankbar sind f ü r die autoritative Feststellung dieser Vorsichtsmaßregeln, u n d daß sie sich jedweder Äußerung enthalten, die m i t dem Gehorsam eines treuen K a t h o l i k e n unvereinbar wäre. I n derselben Ehrfurcht u n d Dankbarkeit anerkennt auch der Episkopat, daß dieselbe höchste A u t o r i t ä t , die solche N o r men aufgestellt hat, zur authentischen Auslegung derselben allein zuständig ist. V I . F ü r die K a t h o l i k e n k a n n es nicht zweifelhaft sein, daß eine Organisation, deren Grundsätze sich i n Widerspruch setzen w ü r d e n m i t dem Sittengesetze der katholischen Kirche, nicht f ü r katholische Christen geeignet sein
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6. Kap.: Der deutsche Katholizismus und die soziale Frage
oder bleiben würde. Die Entscheidung darüber, ob ein solcher Widerspruch eingetreten ist, hat der Heilige S t u h l sich vorbehalten, an den die Bischöfe zu berichten haben. Diese Frage soll daher nicht Gegenstand der Polemik seitens katholischer Kreise werden. Sonst ist es u m den Frieden geschehen, dessen Erhaltung f ü r die segensreiche Entwickelung u n d Betätigung der Kirche i n Deutschland unerläßlich notwendig ist. W i r richten daher entsprechend der ausdrücklichen Weisung des Heiligen Vaters u n d i n vollster Übereinstimmung m i t den Kundgebungen der Fuldaer Bischofskonferenzen an alle katholischen Kreise die ernste u n d dringende Mahnung, solche Polemik zu unterlassen. So wenig w i r katholischen Vereinen u n d B l ä t t e r n das Recht bestreiten, ihre berechtigten Interessen i n sachlicher, maßvoller Sprache zu vertreten, ebenso bestimmt bestreiten w i r ihre Zuständigkeit zur Beurteilung der v o r gedachten tiefgreifenden Frage, u n d ebenso scharf verurteilen w i r alle u n d jede Maßlosigkeit i n K r i t i k u n d Angriffen. A n die bei Fragen der oben bezeichneten A r t beteiligten K a t h o l i k e n unserer Diözesen, insbesondere an die katholischen Mitglieder der christlichen Gewerkschaften, ferner an die Vorstände u n d Mitglieder der katholischen Arbeitervereine richten w i r die oberhirtliche Mahnung, f ü r Beobachtung der oben dargelegten Grundsätze aus allen K r ä f t e n t ä t i g zu sein, namentlich eifrig dahin zu w i r k e n , daß die v o m Heiligen Vater f ü r die Zulässigkeit der christlichen Gewerkschaften angeordneten Vorsichtsmaßregeln gewissenhaft beobachtet werden. Die treu kirchliche Gesinnung, welche die katholischen Arbeiter unserer Diözesen so oft i n der rührendsten u n d opferwilligsten Weise an den Tag gelegt haben, u n d v o n der w i r gern dem Heiligen Vater Zeugnis ablegen werden, flößt uns das volle Vertrauen ein, daß sie unseren oberhirtlichen Mahnungen williges Gehör schenken werden. Sie können überzeugt sein, daß w i r ebenso w i e der Heilige Vater f ü r ihre vielfachen Nöte und Bedrängnisse das vollste Verständnis und die innigste Teilnahme haben. Haltet euch an euren Bischof, dessen Übereinstimmung m i t den Weisungen des Heiligen Stuhles nicht der Beurteilung v o n Vereinen oder öffentlichen Blättern, sondern einzig dem Urteile dessen untersteht, dem Bischöfe u n d Diözesanen als gemeinsamem obersten H i r t e n folgen, u n d der unablässig betont: Wer treu zum Bischof hält, hält auch treu zu mir. Betont immer u n d immer wieder, daß w i r i n unseren gefahrvollen Zeiten w a h r h a f t i g Wichtigeres zu t u n haben, als Uneinigkeit i n katholischen K r e i sen zu fördern.
Siebentes
Kapitel
Staat und katholische Kirche vom Ausgang des Kulturkampfs bis zum Ende der Amtszeit Papst Leos X I I I . I. Die Stellung Leos X I I I . zur modernen Staatsidee Der Pontifikat Leos XIII. 1 war von dem Axiom bestimmt , daß die katholische Kirche eine dank ihrer göttlichen Stiftung von jedweder staatlichen Obrigkeit unabhängige religiöse , geistige und sittliche Autorität sei, deren Kraft auch in der neuzeitlichen Welt unantastbar und unerschüttert fortdauere. Der Papst fand in der neuscholastischen Sozialphilosophie die Grundlage seines Programms. Das konsequente Eintreten für dieses Prinzip verband er mit dem Versuch, einen modus vivendi zwischen Staat und Kirche zu finden. Dem diente die Beilegung des Kulturkampfs in Deutschland ebenso wie die Politik des „ralliement ( < in Frankreich, das die Kluft zwischen Monarchisten und Republikanern überbrücken und die drohende Trennung zwischen Staat und Kirche verhindern sollte. Die in diesem Rahmen entwickelte Staatslehre trug der Papst in einer Reihe von Lehrschreiben vor, die mit der Enzyklika „Diuturnum illud" vom 21. Juli 1881 begann2. In der Enzyklika „Immortale Dei" von 1885 wurde sie weiter entfaltet (Nr. 137). Ihr Grundgedanke war, daß Kirche und Staat als zwei voneinander unabhängige, jeweils von Gott eingesetzte Gewalten nebeneinander stünden, zur Erfüllung ihrer jeweils spezifischen Aufgaben aber zusammenwirken müßten. Die unterschiedlichen Staatsformen galten dem Papst als für Katholiken gleichermaßen annehmbar — unter der Voraussetzung, daß der Staat sich dem göttlichen Sittengesetz füge. Er verband dieses Zugeständnis an moderne demokratische Strömungen mit scharfer Kritik am Menschenrechtsgedanken des 18. und 19. Jahrhunderts, den er als Ausdruck eines ungezügelten individualistischen Freiheitsstrebens ansah; in der Enzyklika gegen den Liberalismus „Libertas praestantissimum" vom 20. Juni 1888 führte er diese Kritik weiter aus*. Die Enzyklika über die christlichen Bürgerpflichten „Sapientiae christianae ( i vom 10. Januar 1890 setzte diese Überlegungen fort (Nr. 138). Sie ergänzte die These von der Selbständigkeit der 1
Staat und Kirche, Bd. I I , S. 764, A n m . 2. Text: Sämtliche Rundschreiben, erlassen von Unserem Heiligsten Vater Leo X I I I . , 2. Sammlung: 1881 - 1885 (2. Aufl. 1901), S. 202 ff. Vgl. auch die Zusammenstellung der wichtigsten Texte bei H. Schnatz y Päpstliche Verlautbarungen zu Staat und Gesellschaft (1973). 3 Sämtliche Rundschreiben, 3. Sammlung: 1886 - 1891 (2. Aufl. 1901), S. 6 ff.; Schnatz, a. a. O. S. 141 ff. 2
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7. Kap.: Staat und katholische Kirche v o m Ausgang des K u l t u r k a m p f s
staatlichen Gewalt innerhalb ihrer Grenzen durch die Forderung, daß überzeugte Katholiken an der Spitze der Regierungen stehen sollten. Den Katholiken schärfte sie ein, daß der Gehorsam gegenüber der Kirche den Vorrang vor allen anderen Pflichten besitze 4.
Nr. 137. Die Enzyklika „Immortale Dei" über die christliche Staatsordnung v o m 1. November 1885 (Lateinischer T e x t u n d autorisierte deutsche Übersetzung: Sämtliche Rundschreiben, erlassen v o n Unserem Heiligsten Vater Leo XIII., 2. Sammlung: 1881 - 1885, 2. A u f l . 1901, S. 340 ff.) — Auszug — Ehrwürdige Brüder! Gruß u n d Apostolischen Segen. Wenngleich die heilige Kirche, dieses unsterbliche Werk des barmherzigen Gottes, an sich u n d ihrer N a t u r nach das H e i l der Seelen u n d die einstige Glückseligkeit i m H i m m e l zur Aufgabe hat, so gehen doch von i h r so große u n d so reiche Segnungen aus auch über das, was der Vergänglichkeit angehört, daß, wäre sie zunächst u n d vorzugsweise f ü r die Wohlfahrt dieses i r d i schen Lebens gegründet worden, diese zahlreicher u n d größer nicht sein könnten. . . . D a r u m halten W i r es f ü r äußerst wichtig u n d sehr Unserem Apostolischen A m t e ziemend, die neuen Meinungen i n bezug auf das staatliche Leben an der Lehre des Christentums zu messen; auf diese Weise, so vertrauen Wir, werden alle Ursachen zu I r r t u m u n d Zweifel i m Lichte der Wahrheit verschwinden, u n d w i r d ein jeder leicht jene Grundgesetze des Lebens zu erkennen imstande sein, denen er zu folgen u n d zu gehorchen hat. Es ist nicht schwer, das B i l d eines Staates zu entwerfen, der von der christlichen Weisheit geleitet w i r d . — Von N a t u r aus ist es dem Menschen angeboren, i n der bürgerlichen Gesellschaft zu leben; denn, da i h m i n der Vereinzelung die zum Leben notwendige Pflege u n d Fürsorge fehlt, ebenso auch die B i l d u n g des Geistes u n d Gemütes nicht möglich ist, deswegen hat die göttliche Vorsehung es so geordnet, daß er i n eine menschliche Gemeinschaft, die häusliche sowohl w i e die bürgerliche, hineingeboren wurde; denn n u r diese k a n n i h m vollen Lebensbedarf bieten. Da aber keine Gesellschaft bestehen kann, w e n n nicht einer an der Spitze von allen steht, der durch kräftigen und gleichmäßigen Impuls einen jeden zu dem gemeinsamen Ziele hinwendet, so ergibt sich f ü r die bürgerliche Gesellschaft die Notwendigkeit einer Autorität, welche sie regiert; w i e die Gesellschaft selbst, hat 4 Vgl. J. B. Schuster, Die Soziallehre nach Leo X I I I . und Pius X I . (1935); J. C. Murray, The Church and Totalitarian Democracy, i n : Theological Studies 13 (1952), S. 525 ff.; ders., Leo X I I I : Separation of Church and State (ebenda 14, 1953, S. 159 ff.); ders., Leo X I I I : T w o Concepts of Government (ebenda 14, 1953, S. 551 ff.). H. Schmieden, Recht u n d Staat i n den Verlautbarungen der katholischen Kirche (2. Aufl. 1961); J. Höffner, Christliche Gesellschaftslehre (3. A u f ! 1964); A. Gnägi t Katholische Kirche u n d Demokratie (1970); O. Köhler, Das Verhältnis zum Staat u n d die Parteien, i n : H. Jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VI/2 (1973), S. 242 ff.
I. Die Stellung Leos X I I I . zur modernen Staatsidee
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auch sie i n der N a t u r u n d somit i n Gott selbst ihren Ursprung. — Hieraus ergibt sich als zweite Folgerung, daß die politische Gewalt an u n d f ü r sich Gott zu ihrem Urheber hat. Denn Gott allein ist so recht u n d i n höchstem Sinne H e r r der Dinge, dem darum alles, was da ist, untergeben ist u n d dienen muß, so daß, w e r i m m e r ein Herrscherrecht besitzt, dieses von keinem anderen empfangen hat als von ihm, dem Herrscher über alle, Gott. „Es gibt keine Gewalt außer von Gott" 5 . — Die Herrschergewalt ist aber an sich m i t keiner Staatsform notwendig v e r k n ü p f t ; sie k a n n die eine oder andere Form annehmen, w e n n diese das gemeinsame W o h l u n d Gedeihen w i r k s a m fördert. Mag aber die Staatsverfassung sein welche sie wolle, i m m e r haben jene, welchen die Gewalt innewohnt, v o r allem auf Gott hinzublicken, den höchsten Hegenten der Welt, u n d i h n als V o r b i l d u n d Richtschnur i n der Leitung des Staates i m Auge zu behalten. . . . H e i l i g sei daher den Fürsten Gottes Name; und dies sollen sie als eine ihrer wichtigsten Pflichten erachten, der Religion h u l d v o l l sich zu erweisen, i h r wohlwollende Schirmherren zu sein, i m Namen u n d k r a f t des Gesetzes sie zu verteidigen u n d i n keiner Weise eine Bestimmung oder Entscheidung zu treffen, welche auf irgendeine A r t sie versehren könnte. Doch das sind sie auch den Bürgern schuldig, deren Regierung ihnen anvertraut worden ist. W i r Menschen alle sind j a geboren u n d empfänglich f ü r ein höchstes u n d letztes Gut, das jenseits liegt, über diesem Leben so kurz und v o l l Fährlichkeiten, i m H i m m e l ; u n d all unser Denken soll unverrückt dorthin gerichtet sein. N u r i n i h m findet der Mensch sein vollkommenes und allseitiges Glück; deswegen ist es die angelegenste Sorge eines jeden, dieses Ziel zu erreichen. D a r u m soll die bürgerliche Gesellschaft, die j a keine andere Aufgabe hat, als das allgemeine Beste zu fördern, derart das staatliche W o h l wahrnehmen, daß die Bürger i n diesem i h r e m innersten Verlangen nach dem Besitze des höchsten u n d unvergänglichen Gutes nicht n u r nicht geschädigt, sondern auf alle mögliche Weise gefördert werden. Letzteres geschieht aber vorzüglich dadurch, daß die Regierung die Heiligkeit u n d U n v e r letzlichkeit der Religion sich ganz besonders angelegen sein läßt; denn sie k n ü p f t das B a n d zwischen dem Menschen u n d Gott. . . . . . . Wenngleich n u n die kirchliche Gesellschaft ebenso aus Menschen besteht wie die politische, so ist sie doch wegen des Zieles, das i h r gesetzt ist, und wegen der Mittel, durch welche sie dieses zu erreichen sucht, eine übernatürliche und geistliche und eben darum von der bürgerlichen Gesellschaft durchaus verschieden. Da sie aber durch Gottes gnädigen Ratschluß i n sich und durch sich alles besitzt, was zu ihrem Bestand u n d ihrer Wirksamkeit erfordert w i r d , so ist sie nach ihrem Wesen und Recht — u n d dies ist von höchster Wichtigkeit — eine vollkommene Gesellschaft. Wie das Ziel, das die Kirche anstrebt, weitaus das erhabenste ist, so ist auch die i h r innewohnende Gewalt hervorragend über jede andere; sie ist weder geringer als die bürgerliche Gewalt noch dieser i n irgendwelcher Weise untergeben. . . . So hat denn Gott die Sorge f ü r das Menschengeschlecht zwei Gewalten zugeteilt: der geistlichen u n d der weltlichen. Die eine hat er über die göttlichen Dinge gesetzt, die andere über die menschlichen. Jede ist i n ihrer A r t 5
Römer 13,1. H i i b e r , S t a a t und K i r c h e , J. Bd.
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7. Kap.: Staat u n d katholische Kirche vom Ausgang des K u l t u r k a m p f s
die höchste; jede hat ihre gewissen Grenzen, welche ihre N a t u r und i h r nächster u n d unmittelbarer Gegenstand gezogen haben, so daß eine jede wie von einem Kreise umschlossen ist, i n dem sie sich selbständig bewegt. Da n u n aber dieselben Menschen beiden Gewalten untergeben sind, so k a n n es v o r kommen, daß eine u n d dieselbe Angelegenheit, jedoch i n verschiedener Weise, dem beiderseitigen Recht und Gericht unterstellt ist. Beide Ordnungen sind von Gott ausgegangen; seine höchst weise Vorsehung mußte darum auch das Verfahren beider gebührend ordnen. „Die, welche bestehen, sind von Gott geordnet" 8 . Wäre dem nicht so, so würde häufig Anlaß zu Irrsal und Streit gegeben sein u n d der einzelne nicht selten i n seinem I n n e r n beunruhigt, unschlüssig und v o l l Angst, was n u n zu tun, w e n n gerade Entgegengesetztes von den beiden Gewalten befohlen wird, denen er doch i n seinem Gewissen zum Gehorsam sich verpflichtet weiß. Doch w e r könnte von Gottes Weisheit u n d Güte solches denken? H a t er j a schon i n dem Reiche der Körperwelt, obwohl dieses einer w e i t niederem Ordnung angehört, die natürlichen U r sachen u n d Kräfte so p l a n v o l l zu einer wunderbaren Harmonie geeint, daß keine die andere hemmt, alle aber zusammen i n geeignetster Weise dem Zwecke des Weltganzen dienen. — D a r u m muß zwischen beiden Gewalten eine geordnete Einigung stattfinden, für die man nicht m i t Unrecht das Verhältnis der Seele zum Leibe als B i l d gebraucht hat. Wie groß und welcher A r t diese zu sein hat, läßt sich n u r daraus ermessen, daß w i r , w i e bereits gesagt wurde, das Wesen beider ins Auge fassen u n d die beiderseitigen Angelegenheiten i m Hinblick auf ihre höhere Bedeutung u n d ihre Würde einander gegenüber abwägen; denn die eine hat zunächst und vorzugsweise die Sorge f ü r das irdische W o h l zur Aufgabe, die andere dagegen w i l l die himmlischen und ewigen Güter gewinnen. — Was i m m e r daher i m Leben der Menschheit heilig ist, was i m m e r auf das H e i l der Seelen und den göttlichen Dienst Bezug hat, sei es n u n dieses an sich und seiner Natur nach, oder wegen seiner Beziehung zu demselben, alles das ist der kirchlichen Gewalt und ihrem Ausspruche unterstellt; alles andere dagegen, was das bürgerliche und politische Gebiet angeht, ist m i t vollem Recht der staatlichen Gewalt Untertan; denn Jesus Christus hat geboten: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, Gott, was Gottes ist" 7 . — Zuweilen treten aber Zeitumstände ein, da noch auf eine andere Weise eine Einigung stattfindet zur Herstellung des Friedens und der Freiheit, wenn nämlich die Staatsgewalt und der römische Papst i n einer speziellen Frage ein Übereinkommen treffen. I n solchen Zeiten offenbart die Kirche i n ganz besonderer Weise ihre mütterliche Liebe, indem sie so viel Nachgiebigkeit und Entgegenkommen zeigt, als nur immer möglich ist. . . . Es gab eine Zeit, da bildete die Lehre des Evangeliums die leitenden Gesichtspunkte i n der Staatsregierung; Gesetze, Institutionen, Volkssitten, alle Ordnungen und Beziehungen des Staatslebens hatten ihren hohen und segensreichen Einfluß erfahren; da w a r der Religion Jesu Christi i n der Öffentlichkeit jene Auszeichnung gesichert, w i e sie ihr gebührt, da blühte sie überall unter dem wohlwollenden Schutze der rechtmäßigen Obrigkeiten und Regenten, da waren Staat und Kirche i n glücklicher Eintracht und durch 6 7
Römer 13,1. Matthäus 22, 21 ; Lukas 20, 25.
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gegenseitige Freundesdienste verbunden. Diese Staatsordnung t r u g über alles Erwarten reiche Früchte, die noch nicht vergessen sind, w o f ü r unzählige Geschichtswerke Zeugnis geben, welche die A r g l i s t der Feinde i n keiner Weise weder fälschen noch verdunkeln kann. — Daß das christliche Europa die barbarischen Völker gesittigt, sie aus dem Zustande der Wildheit zu menschenwürdigem Leben, v o m Aberglauben hinweg zur Wahrheit geführt hat, daß es die anstürmenden Mohammedaner siegreich zurückgeschlagen, daß es an der Spitze der Zivilisation steht u n d allen anderen V ö l k e r n Führerin u n d Lehrerin stets w a r i n allem, was das menschliche Leben verschönern u n d veredeln mag; daß von i h m nach allen Richtungen h i n echte Freiheit ausging, daß es so viele Institute schuf zur Linderung des menschlichen Elendes, das alles verdankt es ohne Widerrede der Religion, die i h m zu solchen Unternehmungen den Impuls gegeben u n d i n ihrer Durchführung hilfreich zur Seite stand. . . . Als jedoch i m 16. Jahrhundert jene unheilvolle und beklagenswerte Neuerungssucht erregt war, da entstand zuerst eine V e r w i r r u n g i n bezug auf die religiöse Frage; bald jedoch i m notwendigen Fortschritt w u r d e n auch die Philosophie u n d von hier aus alle Ordnungen der bürgerlichen Gesellschaft i n Mitleidenschaft gezogen. Hier ist der Ausgangspunkt der neueren, zügellosen Freiheitslehren, welche man unter den heftigsten Stürmen i m vorigen Jahrhundert ersonnen u n d proklamiert hat als Grundlehren u n d Hauptsätze des neuen Rechtes, das, vorher unbekannt, nicht bloß v o m christlichen, sondern auch v o m Naturrecht i n mehr als einer Beziehung abweicht. — Oberste Voraussetzung aller dieser Lehren ist der Satz, alle Menschen, w i e sie ihrer Natur und A r t nach gleich sind, seien auch gleich i m staatlichen Leben; ein jeder sei darum derart unabhängig, daß er i n keiner Weise einer fremden A u t o r i t ä t sich verpflichtet erkenne; daß es darum i h m freistehe, über alles alles zu denken, was er mag, zu handeln, wie es i h m beliebt. Niemand habe Gewalt, anderen zu befehlen. A u f Grund solcher Prinzipien erkennt die Gesellschaft i n der Regierung n u r den Ausdruck des Volkswillens, das selbstherrlich, allein sein Gebieter ist und darum seine Organe w ä h l t , denen es die Regierung überträgt, nicht als ein ihnen zukommendes Recht, sondern als seinen Bevollmächtigten, welche i n seinem Namen ihren A u f t r a g üben. Da ist denn von Gottes Herrschaft keine Rede mehr, wie w e n n er nicht existierte oder keine Sorge trüge f ü r die menschliche Gesellschaft oder wie w e n n die Menschen, der einzelne sowohl als die Gesellschaft, Gott gegenüber zu nichts verpflichtet wären oder als ob m a n sich eine Regierung denken könnte, die ihren Ursprung, ihre Gewalt u n d A u t o r i t ä t anderswo als i n Gott hätte. Es liegt am Tage, daß eine also geartete bürgerliche Gesellschaft nichts anderes ist als eine Massenherrschaft; und w e i l man sagt, alle Gewalt u n d alles Recht ruhe i m Volke, so folgt, daß eine solche Gesellschaft i n keiner Weise sich Gott gegenüber verpflichtet erachtet, eben darum auch keine Religion öffentlich bekennt, auch nichts weniger als bestrebt ist, nach der allein wahren Religion zu forschen und die eine wahre den andern falschen vorzuziehen und i h r ihren Schutz angedeihen zu lassen; sie w i r d vielmehr alle f ü r gleichberechtigt erklären, so lange das Staatswesen nicht durch dieselben geschädigt w i r d . Dementsprechend mag dann ein jeder von der Religion halten,
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7. Kap.: Staat u n d katholische Kirche v o m Ausgang des K u l t u r k a m p f s
was er w i l l , eine nach Gutdünken annehmen oder auch gar keine, wenn eben keine i h m zusagt. Was sich hieraus m i t Notwendigkeit ergeben muß, ist k l a r : das Gewissen ist von jedem objektiven Gesetze entbunden, dem Belieben eines jeden ist es anheimgegeben, ob er Gott verehren w i l l oder nicht; eine grenzenlose D e n k w i l l k ü r und Zügellosigkeit t r i t t ein i n der Veröffentlichung der Meinungen. Wo aber der Staat auf solcher Grundlage sich aufbaut, wie sie vielfach i n unseren Tagen Anerkennung findet, da leuchtet einem jeden ein, w i e ungerecht m a n gegen die Kirche vorgeht. — Wo nämlich solche Theorien i m Staatsleben Geltung gewinnen, da werden i n demselben die Katholischen nicht n u r den fremden Religionsgenossenschaften gleich-, sondern selbst nachgestellt; die kirchlichen Gesetze finden keine Berücksichtigung; die Kirche, welche nach Christi A u f t r a g u n d Befehl alle V ö l k e r lehren soll, w i r d von dem öffentlichen Volksunterricht gänzlich ausgeschlossen. — I n Sachen gemischter N a t u r erkennen die politischen Behörden nach eigenem Ermessen, u n d die heiligsten hierauf bezüglichen Satzungen der Kirche werden m i t Geringschätzung u n d Verachtung behandelt. Die bürgerliche Gewalt weist die Ehe ihrer Kompetenz zu u n d entscheidet selbst über das eheliche Band, über die Einheit u n d Unauflösbarkeit der Ehe; die Geistlichen werden aus i h r e m Besitztum vertrieben unter dem Vorgeben, die Kirche könne nicht Güter besitzen. Kurz, man verfährt so der Kirche gegenüber, als wäre sie keine rechtmäßige u n d ihrer N a t u r nach vollkommene Gesellschaft, sondern nicht mehr als jede andere Genossenschaft i m Staate; was sie daher an Rechten und gesetzlichen Befugnissen hat, das, sagt man, besitze sie n u r durch die Gunst u n d Gnade der Landesherren. — Wenn aber die Kirche i m Staatsleben i h r Recht, das i h r die bürgerlichen Gesetze selbst gewährleistet haben, behauptet, und ein öffentlicher Vertrag zwischen den beiden Gewalten zustande gekommen ist, da erhebt man zuerst die Forderung, es müßten die Interessen der Kirche von jenen des Staates getrennt werden; dies geschieht i n der Absicht, damit m a n ungestraft sein gegebenes Wort brechen u n d i n den Besitz einer schrankenlosen Herrschaft sich setzen kann. — Da n u n solches die Kirche nicht gleichgültig hinnehmen darf — k a n n sie j a doch ihre heiligsten und wichtigsten Pflichten nicht darangeben — und vor allem darauf dringt, daß der m i t i h r geschlossene Vertrag gewissenhaft u n d v o l l ständig auch gehalten werde, so entstehen häufig zwischen der geistlichen u n d weltlichen Gewalt Streitigkeiten, deren Ausgang i n der Regel der ist, daß die Kirche der Staatsgewalt gegenüber unterliegt, da dieser größere weltliche M i t t e l zu Gebote stehen. Bei dieser Anschauung v o m Wesen und der Bedeutung des Staates, w i e sie jetzt von sehr vielen geteilt w i r d , gewöhnt m a n sich mehr und mehr an den Gedanken, es müsse der Kirche entweder vollständig jede Existenzberechtigung verweigert oder sie wenigstens ganz i n die Fesseln der Staatsgewalt gebracht werden. Die Vorgänge i m öffentlichen Leben sind großenteils von diesem Gedanken durchdrungen. Die Gesetzgebung, die Verwaltung, der Jugendunterricht, die Beraubung u n d Aufhebung der religiösen Orden, die Vernichtung der weltlichen Herrschaft der römischen Päpste — alles das hat keinen andern Zweck, als die christlichen Institutionen zu lähmen, die Frei-
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heit der katholischen Kirche zu beengen und ihre übrigen Rechte zu schmälern. Daß aber eine solche Anschauung von der Staatsregierung nichts weniger als auf Wahrheit beruht, legt schon die natürliche Vernunft überzeugend dar. — Denn schon die N a t u r bezeugt, daß, w o i m m e r auf Erden eine Gew a l t ist, sie von Gott als ihrem tiefsten u n d heiligsten Quellbrunnen ausfließt. W o h l ist die Lehre von der Gewalt, die, w i e m a n sagt, ohne jedwede Beziehung auf Gott i m Volke von N a t u r aus ruhe, vortrefflich geeignet, der Menge zu schmeicheln u n d so manche Begierden zu entflammen; aber sie ist jeden vernünftigen Grundes bar u n d nicht imstande, die öffentliche Ruhe und Sicherheit auf die Dauer zu erhalten. Ja gerade durch derartige Theorien ist es so w e i t gekommen, daß gar manche i n dem Grundsatze, es könne ein Aufstand vollkommen berechtigt sein, eine besondere politische Weisheit erkennen. M a n geht eben von dem Gedanken aus, der Regent sei n u r ein Mandatar des Volkswillens; hieraus ergibt sich m i t Notwendigkeit, daß alles auch gleich wandelbar ist w i e dieser u n d die Regierung sich i m m e r vor Z u sammenrottungen zu fürchten hat. Wenn man aber der Meinung ist, es sei kein Unterschied zwischen den verschiedenen und sich widersprechenden Religionsformen, so geht dies schließlich darauf hinaus, daß man für keine sich entscheiden, keine üben w i l l . Eine solche Ansicht mag daher dem Namen nach v o n der Gottesleugnung sich unterscheiden, i n der Sache ist kein Unterschied. Denn w e n n einer von Gottes Dasein überzeugt ist, der muß doch notwendig einsehen, w i l l er nicht ganz unvernünftig sein u n d sich selbst widersprechen, daß die gottesdienstlichen Einrichtungen, so verschieden u n d i n den wichtigsten Punkten sich entgegengesetzt, unmöglich gleich wahr, gleich gut, gleich Gott wohlgefällig sein können. So ist diese unbedingte Denk- u n d Preßfreiheit, die weder Maß noch Schranken kennt, keineswegs an u n d f ü r sich ein Gut, dessen sich die menschliche Gesellschaft m i t Recht erfreuen mag, sondern Anlaß u n d Ursache von vielem Bösen. — Die Freiheit ist ein sittliches Gut, uns Menschen gegeben zu unserer Vervollkommnung; darum soll sie sich n u r i m Wahren u n d Guten betätigen; die N a t u r des Wahren u n d Guten aber läßt sich nicht ändern nach des Menschen W i l l k ü r , sondern w ä h r t immer, stets sich selbst gleich u n d unveränderlich w i e das Wesen der Dinge selbst. Wenn unsere Erkenntnis falschen Meinungen zustimmt, w e n n unser W i l l e das Böse w ä h l t u n d i h m sich hingibt, dann gelangen beide keineswegs zu ihrer Vervollkommnung; sie verlieren vielmehr die ihnen angeborene Würde u n d sinken ins Verderben. Darum ist es nicht recht, Lehren, welche die Wahrheit u n d Sittlichkeit bekämpfen, zu veröffentlichen u n d zu verbreiten; v i e l weniger aber noch, ihnen die Wohltat u n d den Schutz der Gesetze angedeihen zu lassen. N u r ein Leben i n Gerechtigkeit f ü h r t uns dorthin, w o h i n w i r alle verlangen, zum H i m m e l ; es handelt darum die bürgerliche Gesellschaft selbst gegen das Naturgesetz, w e n n sie derart allen Meinungen u n d allem unsittlichen Treiben die Zügel schießen läßt, daß Lüge u n d Laster ungestraft die Geister v e r w i r ren und die Herzen verderben dürfen. — Das aber ist eine große u n d unselige
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7. Kap.: Staat und katholische Kirche v o m Ausgang des Kulturkampfs
Verirrung, w e n n man die Kirche, die Gott selbst gegründet hat, verhindern w i l l , ihren Einfluß auf das Leben geltend zu machen, besonders auf den Unterricht der Jugend u n d auf die häusliche Gesellschaft. E i n Volk, dem man die Religion genommen, w i r d n i m m e r sittlich erstarken, u n d mehr bereits, als uns lieb ist, haben w i r es erfahren, was jene sogenannte rein weltliche Staatslehre zu bedeuten hat u n d w o h i n es i m sittlichen Leben auf diesem Wege kommt. Wahrhaft Lehrerin der Tugend u n d H o r t der Sitte ist die Kirche Christi; sie ist es, welche rein u n d unverfälscht die Grundsätze bewahrt, auf denen das sittliche Leben r u h t ; sie ist es, welche die mächtigsten Motive dem W i l l e n v o r h ä l t und nicht bloß die böse Tat verbietet, sondern uns antreibt, alle vernunftwidrigen Leidenschaften zu regeln, selbst w e n n es nicht zur Tatsünde kommt. — Auch ist es ein höchst ungerechtes u n d unbedachtes Beginnen, die Kirche i n der Ausübung ihres Amtes der politischen Gewalt unterwerfen zu wollen. Dies hieße die Ordnung geradezu verkehren, indem man das Ubernatürliche dem Natürlichen unterordnet; der wohltätige Einfluß, den die Kirche, werden i h r keine Hindernisse i n den Weg gelegt, auf die Gesellschaft übt, hört dann entweder ganz oder doch zum großen Teile auf; u n d es entstehen Anlässe zu Streitigkeiten und Irrungen, die, w i e die Erfahrung lehrt, weder dem Staate noch der Kirche zum Heile gereichen 8 . . . . Diese Bestimmungen der Päpste n u n setzen es außer Zweifel, daß der Ursprung der politischen Gewalt von Gott stammt und nicht aus der Menge; daß schon die Vernunft es verbietet, Aufstände anzuzetteln; daß es f ü r den P r i v a t m a n n w i e f ü r den Staat ein Frevel ist, die religiösen Pflichten gar nicht zu schätzen oder m i t Dingen v ö l l i g ungleicher A r t auf eine Stufe zu setzen; daß eine ungemäßigte Denk- u n d Preßfreiheit durchaus nicht den Bürgern von Rechts wegen zukommt und auf das Wohlwollen u n d den Schutz des Staates keinen Anspruch machen kann. — Ebenso ist es außer Zweifel, daß die Kirche eine i n ihrer A r t vollkommene und rechtmäßige Gesellschaft ist, gerade so w i e der Staat; es sollen darum die Regierungen die Kirche nicht zwingen, ihnen sich zu unterwerfen u n d zu dienen, ihre Freiheit auf dem i h r zukommenden Gebiete nicht beengen noch irgendwie sie schädigen i n bezug auf jene Rechte, die Jesus Christus i h r gegeben hat. — I n Dingen gemischten Rechtes aber liegt es i n der N a t u r der Sache u n d entspricht zugleich dem W i l l e n Gottes, daß Staat und Kirche sich nicht voneinander scheiden u n d noch weniger sich gegenseitig bekämpfen, sondern i n voller Eintracht i m Hinblick auf das Verhältnis beider Gewalten zusammengehen. H i e r m i t haben W i r kundgegeben, was die katholische Kirche i n bezug auf die Gründung u n d Regierung der bürgerlichen Gesellschaft vorschreibt. — A l l e diese ihre Bestimmungen aber sprechen sich keineswegs gegen irgendwelche der verschiedenen Staatsformen aus; denn i n keiner liegt ein der katholischen Kirche feindseliges Element, vielmehr sind sie bei weiser und gerechter Durchführung höchst dienlich zur gedeihlichen Entwicklung des Staatswesens. — Auch das ist an sich durchaus nicht zu tadeln, daß das Volk 8
I m Folgenden zitiert Leo XIII.
seine Vorgänger Gregor XVI. und Pius IX.
I. Die Stellung Leos X I I I . zur modernen Staatsidee
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mehr oder weniger A n t e i l empfängt am öffentlichen Leben; ja, zu gewissen Zeiten und i n Folge gewisser gesetzlicher Bestimmungen k a n n solches nicht nur dem Staate zum Vorteile gereichen, sondern selbst f ü r die Bürger eine Pflicht werden. — D a r u m ist durchaus kein Anlaß gegeben, die Kirche anzuklagen, als beweise sie zu wenig M i l d e u n d Nachgiebigkeit oder als sei sie der wahren und rechtmäßigen Freiheit feindlich. . . . Doch alles das, w e n n es gleich eine tiefe Lebensweisheit enthält, gefällt nicht dem Geiste unserer Zeit, u n d die Staaten, w e i t entfernt, dem christlichen Ideale sich zu nähern, wenden sich, w i e es scheint, mehr u n d mehr von i h m ab. — Nichtsdestoweniger, i m Bewußtsein Unserer so hohen u n d erhabenen Pflicht u n d Unseres Apostolischen Amtes für alle Völker, das Uns gegeben ist, verkünden W i r freimütig, wie es Uns zukommt, die Wahrheit; nicht als nähmen W i r keine Rücksicht auf unsere Zeitverhältnisse oder als wüßten W i r den wahren u n d nutzbringenden Fortschritt nicht zu würdigen, sondern darum, w e i l W i r f ü r die Staaten ein festeres Fundament wünschten u n d den Regierungen größere Sicherheit; alles das aber unter Wahrung der echten Völkerfreiheit. Denn die beste M u t t e r u n d Schirmerin der Freiheit unter den Menschen ist die Wahrheit: „Die Wahrheit w i r d euch frei machen" 9 . . . .
Nr. 138. Die Enzyklika
christianae" über die christlichen Bürgerpflichten
„Sapientiae
v o m 10. Januar 1890 (Lateinischer Text und autorisierte deutsche Übersetzung: Sämtliche Rundschreiben, erlassen von unseren Heiligsten Vater Leo XIII., 3. Sammlung: 1886 - 1891, 2. Aufl. 1901, S. 99 ff.) — Auszug — Ehrwürdige Brüder! Gruß und Apostolischen Segen. Die Rückkehr zu den weisen Lehren des Christentums und eine völlige Umgestaltung der Lebensweise, Sitten und öffentlichen Einrichtungen nach seinen Vorschriften werden täglich dringender. Sind doch durch die A b w e n dung v o n ihnen die Ü b e l der Zeit zu einer Last erwachsen, die k e i n V e r ständiger ohne Bangen trägt und die uns für die Z u k u n f t m i t Furcht erfüllt. — Z w a r ist der Fortschritt auf dem materiellen u n d sinnenfälligen Gebiet nicht gering anzuschlagen; aber kein natürlicher Besitz an Geld, Macht u n d Hilfsquellen, wie sehr er auch die Sinne des Menschen bestricken, die A n nehmlichkeiten des Lebens vermehren u n d seine Genüsse vervielfältigen mag, ist imstande, den Geist, der f ü r höhere u n d herrlichere Güter geboren ist, zu sättigen. A u f Gott muß das Auge sich richten, er muß das Z i e l unserer Bestrebungen sein; das ist das Grundgesetz des menschlichen Lebens: sind w i r j a doch nach Gottes Bilde u n d Ähnlichkeit geschaffen u n d fühlen uns von einem natürlichen Verlangen mächtig nach dem Besitze des Schöpfers hingezogen. Z u Gott aber gelangt m a n nicht durch Veränderung u n d Bewegung des Körpers, sondern durch Erkenntnis und Liebe, welche Sache der 9
Johannes 8, 32.
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7. Kap. : Staat und katholische Kirche vom Ausgang des Kulturkampfs
Seele sind. Gott ist j a die oberste u n d höchste Wahrheit, an der der Geist allein sich erquickt; er ist die vollkommene Heiligkeit und das höchste der Güter, welches n u r der Wille unter F ü h r u n g der Tugend erstreben u n d erreichen kann. Dies gilt von den einzelnen Menschen; es gilt aber auch von der menschlichen Gesellschaft, v o n der Familie w i e v o m Staate. Denn die Gesellschaft hat von N a t u r aus nicht den Zweck, des Menschen Endziel zu sein, vielmehr soll sie i h m n u r geeignete H i l f s m i t t e l bieten, zur Vollkommenheit zu gelangen. Wenn darum ein Staatswesen n u r auf irdisches Wohlsein u n d Beschaffung eines behaglichen u n d ungestörten Lebensgenusses abzielte, dagegen bei Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten Gott außer acht lassen u n d u m die Sittengesetze sich nicht k ü m m e r n wollte, so würde es i n der schlimmsten Weise seinen Zweck u n d seine natürliche Bestimmung verfehlen; eine solche Gesellschaft wäre kein menschenwürdiges Gemeinwesen mehr, sondern Täuschung u n d trügerischer S c h e i n . . . . . . . Es läßt sich k a u m i n Worten ausdrücken, welch heftiger K a m p f die Kirche von vielen Seiten bedrängt. W e i l es der wissenschaftlichen Forschung geglückt ist, manche bisher verborgene Naturgeheimnisse zu enthüllen und f ü r die Bedürfnisse des Lebens nützlich zu verwerten, hat sich der menschliche Stolz so ungebührlich überhoben, daß er für das tägliche Leben der Hoheit und Herrschaft Gottes entbehren zu können glaubt. — I n diesem I r r t u m befangen, überträgt man die Gott entrissene Herrschaft auf die Menschheit; die natürliche Vernunft, heißt es, sei Quelle u n d N o r m aller Wahrheit, alle religiösen Pflichten seien aus i h r abzuleiten und auf sie zurückzuführen; es gebe keine göttliche Offenbarung, keine Pflicht des Gehorsams gegen das christliche Sittengesetz u n d die Kirche; letztere habe keine Befugnis, Gesetze zu geben, keinerlei Rechte; j a sie dürfe auf die Einrichtungen des Staates nicht einmal den mindesten Einfluß besitzen. Dabei streben die Anhänger dieser Gesinnungen m i t aller Macht danach, die öffentlichen Angelegenheiten an sich zu bringen und am Staatsruder zu sitzen, u m desto leichter ihre Lehren i n die Gesetzgebungen zu bringen und die Sitten der V ö l k e r danach umzugestalten. So w i r d der katholische Name da u n d dort teils offen bekämpft, teils heimlich verfolgt, u n d während man den verderblichsten I r r t ü m e r n die größte Zügellosigkeit gestattet, w i r d das öffentliche Bekenntnis der christlichen Wahrheit oft genug i n K e t t e n und Bande gelegt. Bei dieser traurigen Lage der Dinge muß jeder Christ vor allem darauf Bedacht nehmen u n d dafür Sorge tragen, daß er den Glauben i n seiner Tiefe erfasse u n d i n treuer H u t i n seiner Seele bewahre, daß er v o r Gefahren sich schütze u n d besonders gegen die zahlreichen Trugschlüsse stets gerüstet sei. Überaus nützlich zur Bewahrung dieser Tugend u n d durch die Zeitumstände i n hohem Grade geboten ist Unseres Erachtens ein sorgfältiges Studium der christlichen Wahrheit, soweit eines jeden Talent u n d Fassungskraft zureicht, nicht minder auch möglichst vollständige Kenntnisse auf denjenigen Gebieten des natürlichen Wissens, welche m i t der Religion i m Zusammenhang stehen. . . .
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Die Kirche ist keine v o m Z u f a l l geschlossene Vereinigung von Christen, sondern eine durch Gottes erhabene Fügung gestiftete Gesellschaft, m i t dem nächsten u n d unmittelbaren Zweck, den Seelen Frieden u n d Heiligung zu bringen. D a r u m besitzt sie allein, dank der göttlichen Freigebigkeit, die hierzu notwendigen M i t t e l , darum hat sie bestimmte Gesetze u n d Ä m t e r u n d geht i n der Leitung der christlichen Völker einen i h r e m Wesen entsprechenden eigentümlichen Weg. — Die F ü h r u n g dieses Regierungsamtes ist aber überaus schwierig u n d v o n mancher K l i p p e bedroht. Sind doch die Völker, welche die Kirche regiert, über die weite Erde h i n zerstreut, verschieden nach Herkunft u n d Gesittung, ebenso verpflichtet, den Gesetzen des Staates zu gehorchen, i n dem sie leben, w i e der kirchlichen Gewalt. So umschließen zwei Pflichtkreise dieselben Personen, von denen, w i e W i r erklärten, keiner den andern aufhebt, aber auch keiner m i t dem andern vermengt werden darf. Der eine erstrebt das Glück des Staates, der andere das allgemeine W o h l der Kirche, beide wollen der V e r v o l l k o m m n u n g der Menschheit dienen. Aus dieser Abgrenzung von Recht u n d Pflicht folgt klar, daß die Lenker der Staaten i n der Ordnung i h r e r Angelegenheiten frei sind u n d das nicht bloß m i t Zustimmung, sondern selbst m i t Unterstützung der Kirche; denn da diese vorzugsweise die Pflege der Frömmigkeit einschärft, welche Gerechtigkeit gegen Gott ist, so mahnt sie gerade dadurch auch zur Gerechtigkeit gegen die Fürsten. Doch hat die geistliche Gewalt außerdem noch einen w e i t erhabeneren Zweck, den nämlich, die Seelen der Menschen unter ihrem Schutze hinzuleiten zum „Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit" 1 0 , u n d darin besteht ihre Hauptaufgabe. D a r u m k a n n niemand, ohne den Glauben zu verletzen, die Wahrheit i n Zweifel ziehen, daß diese Leitung der Seelen der Kirche allein übertragen sei u n d die politische Gewalt dazu keinerlei Befugnis habe, denn nicht dem Kaiser, sondern dem Apostel Petrus hat Jesus Christus die Schlüssel des Himmelreiches anvertraut. — M i t dieser Lehre über das Verhältnis von Staat u n d Kirche stehen andere nicht minder wichtige i m Zusammenhange, von welchen W i r darum hier nicht schweigen wollen. E i n gar gewaltiger Unterschied trennt die Kirche von jedem politischen Staatswesen. Wenn auch i n ihren Einrichtungen einem Reiche vergleichbar, so ist sie doch nach Ursprung, Zweck u n d Wesen grundverschieden v o n jedem irdischen Reiche. — Daraus folgt f ü r die Kirche das Recht, m i t eigenen, ihrem Wesen entsprechenden Einrichtungen u n d Gesetzen zu leben u n d zu oestehen. Da sie überdies eine vollkommene Gesellschaft ist u n d jede menschliche Gesellschaft w e i t überragt, so widerstrebt es i h r i n hohem Grade, an Parteibestrebungen teilzunehmen oder ihre Rechtsstellung u n d ihren Beruf den Strömungen einer veränderlichen Politik unterzuordnen. Gleichmäßig bestrebt, das eigene Recht zu wahren wie das Recht anderer heilig zu achten, hält es die Kirche nicht f ü r einen Gegenstand ihrer Entscheidung, welche Staatsform vorzuziehen sei oder welcher Einrichtungen christliche Völker i n bürgerlicher Hinsicht bedürften; die verschiedenen Staatsformen sind i h r sämtlich genehm, solange sie die Religion u n d das Sittengesetz nicht ver10
Matthäus 6, 33.
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7. Kap.: Staat und katholische Kirche vom Ausgang des Kulturkampfs
letzen. — Diesem Beispiele müssen auch die einzelnen Christen i m Denken und Handeln folgen. Zweifellos ist es ihnen auf dem politischen Gebiete erlaubt, unbeschadet der Wahrheit u n d Gerechtigkeit ihre Kräfte einzusetzen u n d dafür zu kämpfen, daß jene Anschauungen durchdringen, welche nach ihrer Meinung dem Gemeinwohl nützlicher sind. Dagegen hieße es die Religion maßlos mißbrauchen, wollte man die Kirche i n eine Parteistellung ziehen oder ihre Unterstützung zur U b e r w i n d u n g der Gegner i n Anspruch nehmen. Vielmehr muß die Religion allen heilig und unverletzlich sein; j a man muß auch i n staatlichen Angelegenheiten, die v o m Sittengesetz u n d von der Religion nicht getrennt werden können, beständig u n d vorzugsweise das i m Auge behalten, was den Interessen des Christentums förderlich ist. Erscheinen diese durch die Anstrengungen der Gegner gefährdet, so muß man von jedem Z w i s t abstehen und eines Sinnes u n d Herzens f ü r den Schutz u n d die Verteidigung der Religion eintreten, denn sie ist aller höchstes Gut, und nach i h r muß alles andere sich richten. — W i r halten für notwendig, dies noch etwas genauer auseinanderzusetzen. Gewiß hat die Kirche, wie der Staat, ihren eigenen Machtbereich; darum sind beide i n Ordnung ihrer Angelegenheiten von einander unabhängig, freilich innerhalb der durch den beiderseitigen Zweck bestimmten Grenzen. H i e r aus folgt aber keineswegs, daß beide von einander getrennt, noch weniger, daß sie i m Widerspruch miteinander sein sollen. — Unsere natürliche Bestimmung besteht w a h r l i c h nicht i n der Existenz allein, sondern i m sittlichen Leben. Darum erwartet der Mensch von der öffentlichen Ruhe u n d Ordnung, dem unmittelbaren Zweck der staatlichen Verbindung, Gewähr f ü r sein Wohlergehen und noch mehr die Leistung des genügenden Schutzes, u m sich sittlich zu vervollkommnen, ein Ziel, das ausschließlich i n der Erkenntnis und Übung der Tugend besteht. Zugleich verlangt er aber auch pflichtgemäß nach den H i l f s m i t t e l n der Kirche, m i t deren Unterstützung er i n vollkommener Weise die Verpflichtung einer vollkommenen Frömmigkeit vollzieht. Diese bestehen i n der Erkenntnis u n d Ausübung der wahren Religion, der Fürstin unter den Tugenden, w e i l sie, alle auf Gott beziehend, aller Vollendung und Krone ist. — Daher muß man bei Feststellung von Gesetzen u n d Einrichtungen auch auf die sittliche und religiöse Bestimmung des Menschen achten und seine diesbezügliche Vervollkommnung anstreben, und zwar m i t Fug und Recht: es darf weder Gebot noch Verbot erlassen werden, ohne Rücksicht darauf, was der bürgerlichen Gesellschaft, was der Kirche als Aufgabe obliegt. Aus diesem Grunde k a n n es auch der Kirche nicht gleichgültig sein, was f ü r Gesetze i n den einzelnen Staaten gelten, nicht insofern sie Staatsgesetze sind, sondern w e i l sie zuweilen die gesetzlichen Grenzen überschreiten und i n das Rechtsgebiet der Kirche übergreifen. Da ist es dann ihre heilige, von Gott überkommene Pflicht, Widerstand zu leisten, w e n n eine staatliche Anordnung die Religion schädigt, u n d alle Anstrengungen zu machen, auf daß der Geist des Evangeliums die Gesetze u n d Einrichtungen der Völker durchdringe. U n d da das Schicksal des Staates meistens von der Gesinnung derjenigen abhängig ist, die an der Spitze des Volkes stehen, darum k a n n die Kirche auch ihren Schutz und ihre Gunst den Männern nicht gewähren, die sie als ihre Verfolger kennt, die den Rechten der Kirche offen
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die Achtung verweigern und ihre Anstrengungen darauf richten, Kirche u n d Staat, die naturgemäß zusammengehören, auseinanderzureißen. Dagegen begünstigt sie pflichtgemäß diejenigen, welche i n richtiger Schätzung der b ü r gerlichen u n d kirchlichen Gewalt dahin arbeiten wollen, daß beide zum allgemeinen W o h l zusammenwirken. — I n diesen Grundsätzen ist die Richtschnur enthalten, welche jeder K a t h o l i k bei seiner Tätigkeit i m öffentlichen Leben befolgen soll. Wo i m m e r nämlich die Kirche eine Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten gestattet, muß man Männer von anerkannter Rechtschaffenheit unterstützen, die sich voraussichtlich u m die Sache des Christentums verdient machen, und es läßt sich kein G r u n d denken, weswegen man solchen, welche gegen die Religion feindlich gesinnt sind, den Vorzug geben dürfte. . . . Von N a t u r aus ist es der Eltern eigenes Recht, ihre K i n d e r zu erziehen, u n d zugleich ihre Pflicht, dafür zu sorgen, daß Erziehung und Unterricht der K i n d e r m i t dem Ziele übereinstimme, u m dessen w i l l e n sie von Gottes Güte Nachkommenschaft erhalten haben. D a r u m müssen die Eltern Eifer und Anstrengungen aufbieten, alle Mißstände auf diesem Gebiete zu beseitigen, und durchaus auf dem Rechte bestehen, die Kinder, wie es ihre Pflicht ist, christlich erziehen und besonders von jenen gefährlichen Schulen fernhalten zu dürfen, wo ihnen das G i f t der Gottlosigkeit gereicht werden könnte. Wenn es sich u m rechtschaffene Ausbildung der Jugend handelt, ist keine Mühe u n d Anstrengung zu groß. I n dieser Hinsicht sind zahlreiche K a t h o liken w i r k l i c h der allgemeinen Bewunderung würdig, welche unter verschiedenen Völkern m i t großen Kosten und noch größerer Standhaftigkeit eigene Schulen für den Unterricht der Jugend gegründet haben. So heilsame Beispiele soll man nachahmen, wo immer die Zeitverhältnisse dies angezeigt erscheinen lassen, dabei aber als Hauptgrundsatz festhalten, daß von der häuslichen Erziehung der K i n d e r durchaus das meiste abhängt. Wo die Jugend i m elterlichen Hause eine gute Lebensordnung und eine Schule der christlichen Tugenden findet, da steht auch das W o h l des Staates i n sicherer Hut. . . . W i r haben, wie Uns scheint, alles berührt, was die K a t h o l i k e n unserer Zeit vorzugsweise beobachten, u n d ebenso auch, was sie meiden sollen. — Es erübrigt noch, und das ist Euere Aufgabe, Ehrwürdige Brüder, dafür Sorge zu tragen, daß Unsere Stimme überall hindringe und alle überzeuge, wieviel an der tatsächlichen Ausführung dessen gelegen ist, was W i r i n diesem Sendschreiben erörtert haben. Die E r f ü l l u n g dieser Pflichten k a n n nicht lästig und schwer fallen, denn das Joch Jesu Christi ist süß u n d seine Bürde leicht. — Sollten sich jedoch Schwierigkeiten zeigen, so werdet I h r Euere A u t o r i t ä t und Euer Beispiel einsetzen, damit jedermann seine Anstrengungen vermehre und trotz der Schwierigkeiten ungebrochenen Mutes bleibe. E r kläret, woran W i r selbst schon öfters erinnert haben, daß die höchsten u n d notwendigsten Güter gefährdet sind, f ü r deren Erhaltung man alle Mühen auf sich nehmen müsse, und daß diesen Mühen der höchste L o h n zuteil w e r den w i r d , den ein christlich geführtes Leben zu bringen vermag. Andernfalls heißt f ü r Christus nicht kämpfen wollen soviel als i h n bekämpfen, und er
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7. Kap.: Staat und katholische Kirche vom Ausgang des K u l t u r k a m p f s
selbst bezeugt 11 , er werde alle diejenigen vor seinem Vater i m H i m m e l verleugnen, die sich weigern, i h n v o r den Menschen auf Erden zu bekennen. — Was Uns und Euch alle angeht, so w o l l e n W i r wahrlich, solange Uns das Leben bleibt, Unsere Autorität, Unsern Rat, Unsere Anstrengung i m Kampfe niemals und i n keiner Weise vermissen lassen. Gewiß w i r d dann die besondere Hilfe Gottes der Herde w i e den H i r t e n zur Seite stehen, bis der Sieg erkämpft ist. . . .
I I . Leo X I I I . und die „Christliche Demokratie" In verschiedenen Ländern bildeten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts katholische Gruppierungen, die ihre politischen Ziele unter dem aus der Zeit der bürgerlichen Revolution von 1830 bis 1848 stammenden Namen der „démocratie chrétienne" verfochten. Vor allem in Frankreich und Italien kamen diese Gruppen zu beachtlichem Einfluß. Allerdings war die Bedeutung des Begriffs der „Christlichen Demokratie" schillernd: Er konnte sowohl die religiös begründete Bejahung des politischen Prinzips der Demokratie als auch ein Programm christlicher Sozialreform oder Sozialpolitik zum Inhalt haben. Nach den Enzykliken Leos XIII. zur Staatslehre konnte es scheinen, daß der Papst dem Gedanken der „Christlichen Demokratie" nahestehe. Er selber verwandte diesen Begriff zwar in der Enzyklika „Graves de communi " vom 18. Januar 1901 (Nr. 139), lehnte hier aber die politische Deutung dieses Ausdrucks ab. Insbesondere widersprach er der Meinung, es gebe eine spezifische Nähe von christlichem Glauben und demokratischer Staatsordnung. Die Enzyklika bediente sich des Wortes „Christliche Demokratie" als einer Antithese zur „Sozialdemokratie". Den Sinn des christlichdemokratischen Programms schränkte sie im wesentlichen auf den Bereich christlicher Sozialarbeit ein 1. Diese Auslegung bestärkte den deutschen politischen Katholizismus in seinem Kurs. So kommentierte der führende Zentrumspolitiker E. M. Lieber 2 auf dem Katholikentag in Osnabrück 1901 die päpstliche Enzyklika mit dem Satz: „In diesem Sinne sind wir alle Demokraten
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Lukas 9, 26. Vgl. H. Maier, Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie, 1789 - 1901 (2. Aufl. 1965), S. 259 ff.; O. Köhler, Das Verhältnis zum Staat und die Parteien, i n : H. Jedin, Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VI/2 (1973), S. 242 ff.; J.-M. Mayeur, Des partis catholiques ä la démocratie chrétienne X I X e - X X e siècles (1980). 2 Siehe oben, S. 7, A n m . 4. 3 J. B. Kißling, Geschichte der deutschen Katholikentage, Bd. I I (1923), S.307. 1
Ì I . Leo X I I I . und die „Christliche Demokratie"
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Nr. 139. Die Enzyklika „Graves de communi" über die christliche Demokratie v o m 18. Januar 1901 (Lateinischer T e x t u n d autorisierte deutsche Übersetzung: Sämtliche Rundschreiben, erlassen v o n Unserem Heiligsten Vater Leo XIII., 5. Sammlung, 1901, S. 233 ff.) — Auszug — So begannen also die K a t h o l i k e n unter der L e i t u n g der Kirche sich zum Schutze des oft nicht weniger von Nachstellungen u n d Gefahren als von Not und Mühsalen bedrängten Volkes zum gemeinsamen Vorgehen zu verbinden und durch Errichtung v o n Anstalten Fürsorge zu treffen. Diese Maßnahmen für die Wohlfahrt des Volkes pflegten anfangs keine eigene u n d unterscheidende Bezeichnung zu tragen. Der Name „Christlicher Sozialismus", welchen manche aufbrachten, u n d die von i h m abgeleiteten Benennungen sind passend wieder aufgegeben worden. Darauf fand mehrfach die Bezeichnung „Christliche Bewegung f ü r Volkswohlfahrt" m i t Recht Anklang. I n manchen Gegenden hießen die Vertreter dieser Bestrebung „Christlich-Soziale"; andernorts nennt man diese selbst „Christliche Demokratie" und ihre Anhänger „christliche Demokraten" i m Gegensatz zur Sozialdemokratie, f ü r welche die Sozialisten eintreten. — V o n diesen beiden letztgenannten Bezeichnungsweisen hat n u n aber, w e n n auch nicht so sehr die erstere „christlich-sozial", so doch gewiß die letztere „christliche Demokratie" bei w o h l gesinnten Leuten mehrfach Anstoß erregt, da sie ihnen einen zweideutigen und gefährlichen Beigeschmack zu haben scheint. Aus mehr als einem Grunde befürchten sie, daß unter dieser Benennung nämlich das Bestreben nach der Volksherrschaft i m Staate Deckung u n d Förderung finden möchte oder i h r der Vorzug vor den andern politischen Formen gegeben werden könnte; daß ferner die christliche Religion bezüglich der Wirksamkeit ihrer K r a f t unter Hintansetzung der andern Stände des Staates auf die Förderung des niedern Volkes eingeschränkt scheinen möchte, j a daß schließlich unter der Maske dieser Bezeichnung sich etwa der Plan verbergen wollte, jeglicher rechtmäßigen Gewalt, der bürgerlichen w i e der kirchlichen, A b t r a g zu tun. — Da die öffentliche Besprechung dieser Angelegenheit schon zu weite Verbreitung gefunden hat und zuweilen leidenschaftlich geführt w i r d , drängt Uns das Bewußtsein Unserer Pflicht, mäßigend auf die Erörterung der strittigen Frage einzuwirken, indem W i r bestimmen, was die K a t h o l i k e n davon zu halten haben; außerdem beabsichtigen W i r einige Anweisungen zu geben, welche ihre Bewegung zu größerer Ausbreitung führen und zu viel größerem Heile für den Staat wenden soll. Was die Sozialdemokratie w i l l , u n d was die christliche Demokratie w o l l e n muß, darüber k a n n durchaus k e i n Zweifel obwalten. Die erstere von beiden w i r d , mag man das mehr oder weniger unbesonnen bekennen, von vielen i n der Verkehrtheit soweit getrieben, daß über dem Menschlichen nichts Höheres anerkannt w i r d , die materiellen Güter des leiblichen Lebens als Ziel gelten und i h r Erwerb und Genuß als das Glück des Menschen betrachtet w i r d .
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7. Kap.: Staat und katholische Kirche vom Ausgang des Kulturkampfs
Daher möchten sie die Regierungsgewalt i m Staate bei der Masse wissen, auf daß unter Aufhebung aller Standesunterschiede u n d bei Gleichheit aller Bürger auch die Gleichheit der Güter unter ihnen zur Einführung gelange; deshalb soll das Eigentumsrecht abgeschafft werden, und was ein jeder an Gütern besitzt m i t Einschluß selbst der H i l f s m i t t e l des Lebens, soll i n Gemeingut übergehen. Die christliche Demokratie hingegen muß, schon w e i l sie christlich heißt, auf die v o m göttlichen Glauben gegebenen Grundsätze als auf i h r Fundament sich stützen und auf dieser Grundlage f ü r den V o r t e i l der untersten Schichten so wirken, daß sie die f ü r die ewigen Güter geschaffenen Seelen i n entsprechender Weise vervollkommnet. D a r u m darf i h r nichts heiliger sein als die Gerechtigkeit; das Erwerbs- und Besitzrecht muß sie f ü r unantastbar erklären; sie achte den Unterschied der Stände, die wahrhaft f ü r ein wohlbestelltes Staatswesen natürlich sind; für das gesellschaftliche Leben der Menschen endlich soll sie jene F o r m und Beschaffenheit erstreben, welche Gott als Schöpfer eingeführt hat. So ist es klar, daß die Sozialdemokratie und die christliche Demokratie nichts miteinander gemein haben; denn sie sind voneinander ebensosehr verschieden als die sozialistische Lehre v o m Bekenntnis des christlichen Gesetzes. Vollends soll es ferne liegen, dem Namen „christliche Sozialdemokratie" einen politischen Sinn anheften zu wollen. Das Wort „Demokratie" bedeutet allerdings etymologisch u n d i m philosophischen Sprachgebrauch die Volksherrschaft; i m vorliegenden Falle ist es jedoch so zu verstehen, daß jede politische Vorstellung ausgeschlossen ist und es nichts anderes bezeichnet als eben die mildtätige christliche Bewegung f ü r die Volkswohlfahrt. Denn die Vorschriften des Naturgesetzes und des Evangeliums müssen von jeder Form der staatlichen Verfassung unabhängig sein, w e i l ihre Gerechtsame über die Wechselfälle des menschlichen Lebens erhaben ist; aber sie müssen auch m i t jeder Staatsform vereinbar sein, soweit diese nicht der Sittlichkeit und Gerechtigkeit widerstreitet. Sie sind und bleiben dem Getriebe und den wechselnden Erfolgen der Parteien durchaus fremd, so daß schließlich die Bürger unter jeder Staatsverfassung sich an dieselben Gebote halten können u n d müssen, die ihnen Gott über alles und den Nächsten wie sich selbst zu lieben befehlen. Das w a r fortwährend der Grundsatz der Kirche. Nach i h m haben die römischen Päpste m i t allen Staaten ohne Unterschied der Regierungsformen immer Verhandlungen gepflogen. Demgemäß k a n n auch der K a t h o l i k bei seinen Bemühungen f ü r das Wohl des Besitzlosen es keinesfalls weder theoretisch noch praktisch darauf absehen, eine Staatsform auf Kosten der andern vorzuziehen und zur Einführung zu bringen. I n der gleichen Weise muß die christliche Demokratie dem andern Stein des Anstoßes ausweichen, nämlich dem Vorwurf, sie wende dem Wohle der niedern Stände ihre Sorgfalt dermaßen zu, daß die höhern Stände von i h r vernachlässigt zu werden scheinen; sind doch die Leistungen dieser letztern f ü r die Erhaltung u n d V e r v o l l k o m m n u n g des Staatswesens von nicht geringer Bedeutung. Diesem Fehler beugt, w i e schon gesagt, das christliche Gesetz der Liebe vor. Es umfaßt alle Menschen aller Stände überhaupt als die Glieder einer u n d derselben Familie, die Söhne desselben gütigen Vaters, von demselben Erlöser erkauft u n d zu derselben ewigen Erbschaft berufen. Man
I I . Leo X I I I . und die „Christliche Demokratie"
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gedenke n u r der Lehre und Mahnung des Apostels: „ E i n Leib und ein Geist so wie i h r auch berufen seid zu einer Hoffnung eures Berufes. E i n Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott u n d Vater aller, der da ist über alle u n d durch alles und i n uns allen" 4 . Wegen der natürlichen Verbindung der Masse m i t den übrigen Ständen, welche durch die christliche Brüderlichkeit noch enger gestaltet w i r d , übt demgemäß alle Sorgfalt, welche auf die Hebung des Volkes verwendet w i r d , sicher auch auf jene einen Einfluß aus. Das k a n n u m so weniger ausbleiben, als es zur Erreichung eines guten Erfolges durchaus geziemend und nötig ist, jene zur Teilnahme an dem Werke heranzuziehen, wovon W i r unten sprechen werden. Ebenso möge ja niemand dem Namen „christliche Sozialdemokratie" die Absicht unterschieben wollen, das Joch jeden Gehorsams abzuwerfen und die gesetzmäßigen Vorsteher auf die Seite zu schieben. Wie das Naturgesetz, so schreibt das christliche Gesetz Ehrfurcht vor den Vorstehern des Staates nach ihrem Range und Gehorsam gegen ihre gerechten Befehle vor. U n d soll die E r f ü l l u n g dieser Pflicht eines Menschen u n d Christen w ü r d i g sein, so muß sie von Herzen und aus Pflichtgefühl erfolgen, nämlich des Gewissens wegen, gemäß der Mahnung des Apostels, wo er spricht: „Jedermann unterwerfe sich der obrigkeitlichen Gewalt" 5 . Ein greller Widerspruch zum Bekenntnis christlichen Lebens wäre es aber, w e n n jemand den untertänigen Gehorsam gegen jene verweigern wollte, welche i n der Kirche als Träger der Gewalt den Vorrang genießen, v o r allem gegen die Bischöfe, welche der Heilige Geist, unbeschadet der Machtvollkommenheit des römischen Papstes über die Gesamtkirche, „eingesetzt hat, die Kirche Gottes zu regieren, welche er m i t seinem Blute erkauft h a t " 6 . Wer anders denkt oder handelt, liefert den klaren Beweis, daß er das strenge Gebot desselben Apostels vergessen hat: „Gehorchet euren Vorstehern u n d seid ihnen untertänig; denn sie wachen für eure Seelen als solche, die Rechenschaft geben werden" 7 . Diese Worte sollten alle Gläubigen bei ihrer großen Wichtigkeit sich tief i n die Seele graben u n d sich bemühen, i n ihrer ganzen Lebenstätigkeit sich nach ihnen zu richten; die Diener des Heiligtums sollten sie gleichfalls auf das sorgfältigste erwägen und nicht n u r m i t Ermahnungen, sondern vorzugsweise durch i h r Beispiel unablässig den andern einzuprägen suchen. W i r haben h i e r m i t i n der Hauptsache die Dinge wieder zur Sprache gebracht, welche W i r früher schon gelegentlich eigens beleuchtet haben, und hoffen, es werde n u n jegliche Meinungsverschiedenheit über den Namen „christliche Demokratie" u n d jede Besorgnis vor einer i n der so benannten Sache liegenden Gefahr schwinden. U n d W i r hoffen dies gewiß m i t Recht. Denn es sind nun die Gedanken über den Einfluß und die Bedeutung der christlichen Demokratie von Seiten jener, welche einer gewissen Übertreibung oder irrigen Auffassung ergeben waren, abgewiesen, und es w i r d n u n sicherlich niemand mehr eine Bestrebung tadeln wollen, deren einziges Ziel i m 4 5 β 7
Epheser 4, 4 - 6. Römer 13,1. Apostelgeschichte 20, 28. Hebräer 13,17.
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7. Kap.: Staat und katholische Kirche vom Ausgang des K u l t u r k a m p f s
Anschluß an das natürliche und göttliche Gesetz darin besteht, jenen, welche m i t ihrer Hände A r b e i t den Lebensunterhalt verdienen, eine erträglichere Lage zu verschaffen und sie allmählich i n den Stand zu setzen, f ü r sich selbst zu sorgen; ihnen die Möglichkeit zu bieten, i m häuslichen u n d öffentlichen Leben die Pflichten des sittlichen Tugendstrebens u n d der religiösen Übungen ungehindert zu erfüllen; i n ihnen das Bewußtsein zu hegen, daß sie nicht Tiere, sondern Menschen, nicht Heiden, sondern Christen sind, u n d so das Streben nach jenem einen u n d notwendigen, dem höchsten Gute, f ü r welches w i r geboren sind, zu erleichtern u n d kräftiger anzuregen. Das ist n u n aber w i r k l i c h das Ziel, das das Werk jener, welche das V o l k i m christlichen Geiste zeitgemäß gehoben u n d von dem Verderben des Sozialismus bewahrt wissen w o l l e n . . . .
I I I . Der Kampf um das Jesuitengesetz (1890—1903) Die preußischen Friedensgesetze von 1886 und 1887, mit denen der Kulturkämpf im Reich und in Preußen beigelegt wurde 1, führten nicht zur WiederZulassung der Jesuiten und der ihnen verwandten Orden in Deutschland. Vielmehr galt das Reichsgesetz betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu vom 4. Juli 1872 2 unverändert fort: Deshalb brachte Ludwig Windthorst 3 am 3. Dezember 1890 einen Antrag auf Aufhebung dieses Gesetzes im Reichstag ein (Nr. 140). Der Antrag löste eine lebhafte Petitionsbewegung aus. Innerhalb kurzer Zeit wurden jeweils über eine Million Unterschriften für und gegen die Beseitigung des Jesuitengesetzes gesammelt. Im Widerstand gegen die erneute Zulassung des Ordens war der Evangelische Bund führend (Nr. 141). Der Antrag Windthorst kam im Reichstag zunächst nicht zur Verhandlung. Nach Windthorsts Tod brachten zunächst der Graf Ballestrem 4, dann der Graf Hompesch 5 den Antrag in wiederholten Anläufen neu im Reichstag ein. Am 16. April 1894 nahm dieser den Gesetzentwurf mit 168 gegen 145 Stimmen bei zwei Enthaltungen an6. Der Bundesrat lehnte den Entwurf jedoch ab. Seine Bekanntmachung vom 18. Juli 1894 beschränkte sich auf die sich als Vollzugsmaßnahme gebende Anordnung, daß das Jesuitengesetz auf die Redemptoristen und die Priester vom Heiligen Geist künftig nicht mehr anzuwenden sei (Nr. 142)7. Der Reichstag wiederholte seinen Gesetzesbeschluß am 20. Januar 1895 mit großer Mehrheit 8. Die Fuldaer Bischofskonferenz unterstrich die Forde1
Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 414, Nr. 420. Ebenda Nr. 260. 3 Ebenda S. 537, A n m . 10. 4 Ebenda S. 641, A n m . 7. 5 Oben S. 258, A n m . 9. 6 Verh. des Reichstags 1893/94, Bd. 135, S. 2148 ff. 7 Z u r Vorgeschichte dieses Beschlusses, der auf einen bayerischen A n t r a g aus dem Jahr 1891 zurückging, vgl. H.-M. Körner, Staat und Kirche i n Bayern 1886- 1918 (1977), S. 146 f. « Verh. des Reichstags 1894 95, Bd. 140, S. 999 f. 2
I I I . Der Kampf u m das Jesuitengesetz (1890 - 1903)
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rung , das Jesuitengesetz aufzuheben, durch eine nachdrückliche Eingabe an den Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten Fürst HohenloheSchillings für st 9 (Nr. 143). Doch kam es nicht zu einem entsprechenden Beschluß des Bundesrats. Daraufhin brachte der Vorsitzende der Zentrumsfraktion Graf Hompesch am 13. Juni 1896 eine Interpellation im Reichstag ein, die eine schnelle Entscheidung des Bundesrats forderte (Nr. 144). Der Reichskanzler erwiderte jedoch, eine veränderte Stellungnahme des Bundesrats sei nicht wahrscheinlich (Nr. 145). Auch in den folgenden Jahren wurde der Antrag auf Aufhebung des Jesuitengesetzes immer wieder erneuert; am 1. Februar 1899 wurde er zum letzten Mal mit großer Mehrheit angenommen10. Danach änderte das Zentrum seine parlamentarische Taktik und stellte die Jesuitenfrage in den weiteren Zusammenhang der Religions- und Kirchenfreiheit: im November 1900 brachte es zum ersten Mal den Toleranzantrag im Reichstag ein 11. Im Zusammenhang mit diesen Verhandlungen kündigte der Reichskanzler Fürst Bülow 12 am 3. Februar 1903 an, daß der §2 des Jesuitengesetzes — der die Ausweisung und Aufenthaltsbeschränkung für die Ordensmitglieder betraf — aufgehoben werden solle. Doch es dauerte noch bis zum März 1904, bis diese Ankündigung zur Ausführung kam 13.
Nr. 140. Antrag Windthorsts im Reichstag auf Aufhebung des Jesuitengesetzes v o m 3. Dezember 1890 (Sten. Berichte über die Verhandlungen des Reichstags 1890 - 91, Anlagen, Bd. 122, S. 991) Der Reichstag wolle beschließen, dem nachstehenden Gesetzentwurfe die verfassungsmäßige Zustimmung zu erteilen: Gesetz betr. die Aufhebung des Gesetzes über den Orden der Gesellschaft Jesu vom 4. J u l i 1872. § 1. Das Gesetz betr. den Orden der Gesellschaft Jesu v o m 4. J u l i 1872 w i r d aufgehoben. 9 Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst (1819 -1901), seit 1840 auch Prinz zu Ratibor und Corvey, seit 1846 erbliches M i t g l i e d der bayerischen Ersten K a m m e r ; 1866 - 70 bayer. Ministerpräsident; 1868 - 70 M . d. Zollparlaments; 1871 - 7 7 M d R (freikonservativ); 1874-85 Botschafter i n Paris; 18851894 Statthalter i n Elsaß-Lothringen; 1894- 1900 Reichskanzler u n d preuß. Ministerpräsident. 10 Verh. des Reichstags, Bd. 165, S. 569 ff. — Durch das Schutzgebietsgesetz v o m 25. J u l i 1900 (oben Nr. 5) wurde das Jesuitengesetz f ü r die deutschen Kolonien außer W i r k u n g gesetzt. 11 Siehe oben Nr. 6. 12 Oben S. 10, Anm. 13. 13 Unten Nr. 188. Vgl. zum Ganzen B. Duhr, Das Jesuitengesetz, sein A b b a u und seine Aufhebung (Ergänzungshefte zu den Stimmen der Zeit, 1. Reihe: Kulturfragen, H. 7, 1919).
23 H u b e r , Staat u n d K i r c h e , j . Bd.
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7. Kap.: Staat und katholische Kirche vom Ausgang des K u l t u r k a m p f s
§ 2. Die zur Ausführung u n d zur Sicherstellung des Vollzugs der i n § 1 des genannten Gesetzes erlassenen Anordnungen verlieren ihre Gültigkeit. §3. Das gegenwärtige Gesetz t r i t t m i t dem Tage seiner Verkündigung i n Kraft.
Nr. 141. Bittschrift des Evangelischen Bundes an Kaiser Wilhelm II. von 1891 (B. Duhr, Das Jesuitengesetz, sein A b b a u und seine Aufhebung, Ergänzungshefte zu den Stimmen der Zeit, Erste Reihe: Kulturfragen, Heft 7, 1919, S. 31 ff.) Allerdurchlauchtigster Kaiser u n d K ö n i g ! etc. Der Beschluß der Reichstagsmehrheit (bzw. die i m Reichstage bevorstehende Erledigung des Windthorstschen Antrages) betr. die Aufhebung des Jesuitengesetzes drängt uns dazu, v o n dem schönsten Untertanenrechte Gebrauch zu machen u n d uns — nicht f ü r unser Privatinteresse — sondern für unsere teuere evangelische Kirche und unser geliebtes deutsches Vaterland u m Schutz an Ew. Majestät zu wenden; denn beide, unsere Kirche und unser Vaterland, sehen w i r i n diesem unheilvollen Beschlüsse bedroht. Daß der vornehmste Zweck des Jesuitenordens von jeher die Bekämpfung des Protestantismus gewesen ist, kann nicht geleugnet werden. Nicht zwei Dutzend Jesuiten, wie ultramontane Zeitungen sagen, sondern Hunderte stehen bereit, i n unser Vaterland einzudringen, wenn die gesetzliche Schranke fällt. Handelte es sich u m einen ehrlichen K a m p f m i t geistigen Waffen, dann hätten w i r dieselben i n keiner Weise zu fürchten. A l l e i n welcher A r t sind nach den Lehren der Geschichte die Mittel, m i t denen die Gesellschaft Jesu ihre Zwecke zu verfolgen weiß? Es sind die M i t t e l eines zu Intrigen und Propaganda eigens organisierten Geheimbundes, zu deren A b w e h r unsere Kirche i n ihrer gegenwärtigen Verfassung wenig geschickt ist. Die Jesuiten werden alsbald und an allen Orten den Angriffskrieg organisieren; sie werden uns Evangelische i n eine Stellung steter Notwehr drängen, wrelche Lust u n d K r a f t zu andern friedlichen Arbeiten, deren uns so viele obliegen, verzehren würde. Dieser Angriffskrieg würde aber auch i m evangelischen Volke eine Verbitterung und Gereiztheit erzeugen, die w i r i m christlichen wie vaterländischen Interesse beklagen müßten. Bei dem Charakter der Angreifenden würde uns kein Schutz der Gesetze diese Gefährdung u n d diese A b w e h r ersparen können. N u r die Fernhaltung eines Ordens, von dem selbst ein Papst geurteilt hat, daß sein Dasein m i t dem Frieden der Kirche unvereinbar sei 14 , kann verhüten, 14 Hinweis auf Papst Clemens XIV., der den Orden durch das Breve Dominus ac Redemptor vom 21. J u l i 1773 verboten hatte.
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daß Deutschland nicht die Stätte eines allerwärts lodernden und alle V e r hältnisse vergiftenden konfessionellen Unfriedens werde. Aber noch v i e l mehr als unsere Kirche wäre unser Vaterland, unser junges Deutsches Reich durch die Rückkehr der Jesuiten gefährdet. Die Schädigung, welche unsere Kirche zu erleiden hätte, w ü r d e sich i h r hoffentlich ersetzen durch eine Schärfung des evangelischen Bewußtseins, welches die Gleichgültigen aufrütteln würde. A b e r was sollte aus dem katholischen Volke und aus der vaterländischen Gemeinschaft des katholischen u n d evangelischen Volkes werden? I m katholischen Volke w ü r d e n die Jesuiten jeden Einfluß der noch duldsamen u n d vaterländisch gesinnten Priester vernichten. Wie w ü r d e n sie die Massen erfüllen m i t i h r e m fanatischen Aberglauben, ihrer mehr als bedenklichen Sittenlehre u n d i h r e r Theorie von einer päpstlichen Weltherrschaft, welche den modernen Staat aufheben würde. Die geistige K l u f t zwischen K a t h o l i k e n u n d Protestanten, an welcher jetzt schon eifrig gearbeitet w i r d , w ü r d e sie so lange erweitern u n d vertiefen, bis jedes Gefühl der Zusammengehörigkeit, jedes wechselseitige Sichachten und E i n andervertragen darin versänke. A u f unser junges Deutsches Reich aber, auf solche Weise innerlich zerteilt und zerrissen, w ü r d e das Wort des H e r r n zutreffen: Jedes Reich, das i n sich selbst uneins usw. 1 5 . Ew. Majestät! Es w a r der einfachste Selbsterhaltungstrieb, der v o r siebzehn Jahren das Deutsche Reich i n den Jesuiten seinen Todfeind ausschließen ließ. U n d es ist seitdem nichts vorgegangen, was die Gründe, aus denen jenes Gesetz hervorging, irgendwie weniger gewichtig erscheinen lassen könnte. Wenn man es angreift als ein Ausnahmegesetz, so ist zu antworten, daß ein Ausnahmefall vorliegt. Eine Gesellschaft, deren Lehre den Staat einer fremden, ausländischen Macht unterordnet, deren Lehre v o m E i d die i n demselben gegebene Grundlage unseres öffentlichen Rechts zerstört, welche systematisch den Frieden der Konfessionen stört, ist ein Ausnahmefall, der auch ein Ausnahmegesetz erheischt. Übrigens k a n n dahingestellt werden, inwieweit die Bestimmung des § 128 R.-St.-G.-B. der Aufhebung des Jesuitengesetzes gegenübersteht 10 . Es erscheint uns zweifellos, daß die Gesellschaft Jesu, nicht nach dem Scheine, sondern nach ihrem wirklichen Wesen beurteilt, eine Verbindung ist, i n welcher gegen unbekannte Obere unbedingter Gehorsam versprochen w i r d , deren Mitglieder m i t h i n m i t Gefängnis zu bestrafen sind. Das Vorgeben aber, daß der Orden uns helfen werde, die soziale Frage zu lösen, ist ein ganz leeres. Der Jesuitenorden hat noch überall, w o er zu Macht 15 „ E i n jegliches Reich, so es m i t sich selbst uneins w i r d , das w i r d wüst; und eine jegliche Stadt oder Haus, so es m i t sich selbst uneins w i r d , kann's nicht bestehen" (Matthäus 12, 25). 16 § 128 Abs. 1 StGB stellt die Teilnahme an Verbindungen, deren Dasein, Verfassung oder Zweck vor der Staatsregierung geheim gehalten werden soll oder i n welcher gegen unbekannte Obere Gehorsam oder gegen bekannte Obere unbedingter Gehorsam versprochen w i r d , unter Strafandrohung.
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u n d Einfluß kam, V e r f a l l u n d Z e r r ü t t u n g angerichtet; daß er irgendwo dauernd Segen gestiftet hätte, davon weiß die Geschichte nichts. Gerade die Länder, i n denen er seine Wirksamkeit am ungehemmtesten entfaltet, sind die sozial zerrüttetsten diesseits und jenseits des Weltmeeres. Allerdurchlauchtigster Kaiser u n d K ö n i g ! Es geht u m dieser Sache w i l l e n eine tiefe u n d starke Bewegung durch unser deutsch-evangelisches Volk. Dasselbe würde es nicht verstehen, wenn der höchste Schirmherr des Vaterlandes wie des evangelischen Bekenntnisses nicht dazwischenträte, w o ein die Volksstimme i n dieser Sache nicht vertretendes Parlament dem Erbfeinde beide Tore auftun w i l l . Das evangelische Deutschland w i r d Ew. Kaiserlichen und Königlichen Majestät zujubeln, w e n n es aus Allerhöchstem Munde das schützende Wort hört; aber auch Tausende vaterlandstreuer Katholiken, die nicht wagen, m i t uns ihre Stimme zu erheben, werden Ew. Majestät i m stillen danken dafür, daß sie m i t einer Gesellschaft verschont bleiben, der die besten Männer der römisch-katholischen Kirche ein unwiderlegliches U r t e i l gesprochen haben.
Nr. 142. Bekanntmachung, betreffend die Ausführung des Gesetzes über den Orden der Gesellschaft Jesu v o m 18. J u l i 1894 (Reichs-Gesetzblatt, 1894, S. 503) A u f Grund der Bestimmung i m § 3 des Gesetzes, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu, v o m 4. J u l i 1872 (Reichs-Gesetzbl. S. 253) u n d i m Hinblick auf die Bekanntmachung, betreffend die Ausführung dieses Gesetzes, vom 20. M a i 1873 (Reichs-Gesetzbl. S. 109) hat der Bundesrath beschlossen, auszusprechen, daß das Gesetz, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu, v o m 4. J u l i 1872 (Reichs-Gesetzbl. S. 253) auf die Kongregation der Redemptoristen (Congregatio Sacerdotum sub titulo Sanctissimi Redemptoris), sowie die Kongregation der Priester v o m heiligen Geiste (Congregatio Saneti Spiritus sub tutela immaculati cordis Beatae Virginis Mariae), fortan keine A n w e n d u n g zu finden habe.
Nr. 143. Eingabe der Fuldaer Bischofskonferenz an den Reichskanzler Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst v o m 21. August 1895 (E. Gatz, A k t e n der Fuldaer Bischofskonferenz, Bd. I I : 1888 - 1899, 1979, S. 367 ff.) Euer Durchlaucht beehren sich die Unterzeichneten nachstehendes sehr ergebenst vorzutragen: Unter den Maßregeln, welche die K a t h o l i k e n Preußens u n d Deutschlands empfindlich verletzen, steht obenan das Gesetz v. 4. .Tuli 1872, durch welches
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den Mitgliedern der Gesellschaft Jesu und verwandter Ordensgenossenschaften i m Deutschen Reich zu leben und w i r k e n v e r w e h r t wurde. Die beklagenswerten Mißverständnisse, welche zum Erlaß dieses Gesetzes führten, sind längst i n den Kreisen aller einsichtsvollen u n d gerechten Männer verurteilt worden, und der deutsche Reichstag hat m i t großer M a j o r i t ä t zweimal dessen Aufhebung beschlossen. Leider haben diese Beschlüsse die Zustimmung des Bundesrates nicht gefunden. Bis zur Stunde sind darum eine große Z a h l von Männern u n d Frauen, ausgezeichnet durch Tugend u n d Bildung, v o n ihrer Heimat ferne gehalten, ohne daß ihnen irgendwelche Schuld nachgewiesen werden konnte. Es erblickt hierin das katholische Deutschland eine unparitätische Behandlung, welche mehr u n d mehr zu erbittern geeignet ist. M i t Recht beschweren sich die deutschen K a t h o l i k e n auch über die materiellen und moralischen Nachteile, welche an diese Ausnahmegesetzgebung sich knüpfen. A l l e Jünglinge, welche den Beruf empfinden, einer dieser Ordensgesellschaften anzugehören, und alle Jungfrauen, welche ihre Erziehung u n d B i l d u n g i n den bewährtesten Anstalten derselben suchen, müssen über die Grenze Deutschlands sich wenden. Tatsächlich gehen alljährlich viele H u n derte solcher nach Holland, Belgien u n d Österreich, u m i n den Anstalten der von dem Gesetz betroffenen, dahin geflüchteten deutschen Ordensgesellschaften B i l d u n g u n d Erziehung zu finden. Wenn auch die Mehrzahl dieser Zöglinge, insbesondere die weiblichen, nach Deutschland zurückkehrt, so gehen doch auch viele ihrer Heimat auf immer verloren. Dieser Verlust ist ganz besonders empfindlich f ü r uns, die w i r f ü r die Seelsorge unserer Diözesen der Mitarbeiter bedürfen. Unsere Weltpriester u n d die wenigen Ordenspriester, welche uns belassen sind, reichen nicht aus zur Befriedigung der stets wachsenden religiösen Bedürfnisse i n Stadt und Land. Je gefahrdrohender der Unglaube und die Unsittlichkeit zutage t r i t t , u m so mehr vermissen w i r die hochgebildeten u n d eifrigen Männer und Frauen, welche durch i h r Leben und W i r k e n zur Tugend u n d Frömmigkeit anregen. Wenn Deutschland gegen die Gefahren des Umsturzes gesichert werden soll, so kann dieses n u r durch Entfaltung aller sittlichen und religiösen K r ä f t e geschehen. Hierbei darf aber die Wirksamkeit auch derjenigen Orden nicht fehlen, welche i m christlichen Glauben wurzelnd, von der Kirche gebilligt, sich zu allen Zeiten i n Bekämpfung irreligiöser und unmoralischer Tendenzen besonders erprobt haben. Indem w i r Ew. Durchlaucht auf dieses hochwichtige Anliegen aufmerksam machen, bitten w i r angelegentlichst, dasselbe S. M . dem K ö n i g vortragen u n d hochgeneigtest dahin w i r k e n zu wollen, daß die preußischen Mitglieder des Bundestages angewiesen werden, f ü r Aufhebung eines Gesetzes zu stimmen, welches m i t dem Rechtssinn des deutschen Volkes u n d dem Interesse des konfessionellen Friedens i n unversöhnlichem Widerspruch steht.
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7. Kap.: Staat und katholische Kirche v o m Ausgang des Kulturkampfs
Nr. 144. Interpellation des Abgeordneten Graf Hompesch im Reichstag v o m 13. J u n i 1896 (Verhandlungen des Reichstags 1896, Anlagen Bd. 153, S. 2196) A m 20. Februar 1895 beschloß der Reichstag m i t großer Mehrheit den Entw u r f eines Gesetzes betr. die Aufhebung des Gesetzes über den Orden der Gesellschaft Jesu v o m 4. J u l i 1872. A m 7. Dezember 1895 teilte der Stellvertreter des Reichskanzlers, Herr Staatssekretär Dr. v. Bötticher, dem neu zusammengetretenen Reichstage amtlich m i t , ein Beschluß des Bundesrates über den obigen Reichstagsbeschluß sei bisher nicht erfolgt (Drucksachen Nr. 37). Die Unterzeichneten richten an den H e r r n Reichskanzler die Frage : 1. Ist ein Beschluß des Bundesrates i n dieser Angelegenheit auch heute noch nicht erfolgt? U n d w e n n nicht, 2. aus welchen Gründen hat der Bundesrat die Fassung einer Entschließung über den genannten Beschluß des Reichstages bis jetzt verzögert? 3. Gedenkt der H e r r Reichskanzler eine solche Entschließung nunmehr nach A b l a u f von 16 Monaten u n d jedenfalls noch vor Beendigung des gegenwärtigen Abschnittes der Reichstagsarbeiten herbeizuführen?
Nr. 145. Antwort des Reichskanzlers Fürst Hohenlohe auf die Interpellation des Zentrumsabgeordneten Graf Hompesch v o m 17. J u n i 1896 (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, Bd. 146, S. 2657) A u f die Anfrage des Interpellanten habe ich folgendes zu erwidern. Eine Beschlußfassung des Bundesraths zu dem v o m Reichstag am 20. Februar vorigen Jahres i n dritter Berathung angenommenen Gesetzentwurf, betreffend die Aufhebung des Gesetzes über den Orden der Gesellschaft Jesu v o m 4. J u l i 1872, ist bis heute noch nicht erfolgt. Der Bundesrath hat davon absehen zu können geglaubt, baldigst von neuem zu der Frage der Aufhebung dieses Gesetzes Stellung zu nehmen, w e i l er vor verhältnismäßig kurzer Zeit, nämlich am 9. J u l i 1894, die Frage einer eingehenden Berathung unterzogen hatte u n d zu der auch dem Reichstag mitgetheilten nahezu einmüthigen Überzeugung gelangt war, daß er der Aufhebung des Gesetzes nicht zustimmen könne. Seit jener Zeit sind keine Umstände eingetreten, welche gegenw ä r t i g eine veränderte Stellungnahme wahrscheinlich erscheinen lassen. Zugleich aber ist die Verzögerung dadurch hervorgerufen worden, daß es i n der Absicht liegt, i n eine weitere Prüfung darüber einzutreten, ob außer den durch den Bundesrathsbeschluß v o m 9. J u l i 1894 von der Anwendung des Gesetzes ausgeschlossenen Kongregationen der Redemptoristen und der
IV. Der Streit u m die Canisius-Enzyklika
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Priester vom heiligen Geist noch die eine oder die andere Genossenschaft, welche bisher den Wirkungen desselben unterstellt gewesen ist, v o n diesen Wirkungen ebenfalls ausgenommen werden kann. Die Prüfung ist noch nicht beendet. Es empfiehlt sich, den Abschluß der Erörterungen abzuwarten, u m wenigstens so w e i t den auf die Wiederzulassung geistlicher Orden gerichteten Wünschen entgegenkommen zu können, als dies nach der Auffassung der verbündeten Regierungen irgend thunlich erscheint. Inzwischen b i n ich bereit, auf eine beschleunigte Beschlußfassung des Bundesraths hinzuwirken.
IV. Der Streit um die Canisius-Enzyklika Mit der Beilegung des Kulturkampfs waren die Spannungen zwischen den Konfessionen nicht beseitigt. Im letzten Jahrzehnt seines Pontifikats bemühte Papst Leo XIII. sich nicht nur, durch die entschiedene Förderung des Neuthomismus innerkatholischen Lehrabweichungen entgegenzutreten; vielmehr verschärfte er auch die Kritik am Protestantismus, den er als Abfall vom wahren christlichen („katholischen") Glauben bezeichnete und für den Verfall von Glauben und Sitten in der Neuzeit verantwortlich erklärte. Einen Anlaß, derartige Überlegungen zusammenfassend auszusprechen, bot der dreihundertste Todestag des Petrus Canisius, des ersten deutschen Jesuiten und führenden Theologen der Gegenreformation 1. Die Canisius-Enzyklika Leos XIII. vom 1. August 1897 (Nr. 146) rief in den deutschen evangelischen Kirchen lebhaften Protest hervor 2. Der Präsident des Oberkirchenrats der altpreußischen Union Barkhausen 3 nahm die Hauptversammlung des Gustav-Adolf -Ver eins* zum 1 Petrus Canisius (1521 - 1597); nach dem Studium der Jurisprudenz u n d der Theologie 1543 M i t g l i e d der Societas Jesu; 1546 Priesterweihe; 1547 i n Rom; 1548 Lehrer und Erzieher am Jesuitenkolleg i n Messina; 1549 Professor, Rektor und Vizekanzler der Universität Ingolstadt; 1552 Professor an der U n i v e r sität Wien und Berater des Römischen Königs (seit 1558: Kaisers) Ferdinand I.; 1554/55 zugleich Apostolischer Administrator des Bistums Wien; 1556 P r o v i n zialoberer des Jesuitenordens für Süddeutschland; 1559 Domprediger i n Augsburg; von 1580 bis zu seinem Tod i n Freiburg/Schweiz. Besonders w i r k s a m wurde er durch seine Kolleggründungen, durch seine Katechismen (besonders den Catechismus minor, den bis i n das 19. Jahrhundert gebräuchlichen „ K a nisi") und durch seine vielfältige kirchenpolitische Tätigkeit. — Vgl. zuletzt J. Bruhn (Hrsg.), Petrus Kanisius (1980); H. Wolter SJ, Canisius, i n : Theologische Realenzyklopädie 7 (1981), S. 611 ff. 2 Zur Einordnung der Enzyklika i n die letzte Amtszeit Leos XIII. vgl. K. Buchheim, Die letzten Jahre Leos X I I I . (Hochland 55, 1962/63, S. 51 ff.); G. Maron, Die römisch-katholische Kirche von 1870 bis 1970 (1972), S. 207 f. 3 Staat und Kirche, Bd. I I , S. 523, A n m . 11. 4 Die „Gustav-Adolf-Stiftung" zur Unterstützung evangelischer Diasporagemeinden innerhalb u n d außerhalb Deutschlands wurde 1832, anläßlich der Zweihundertjahrfeier zum Gedenken an den Tod Gustav Adolfs, des „Retters der evangelischen Kirche u n d der deutschen Freiheit", i n Leipzig gegründet; 1842 erfolgte die organisatorische Erweiterung zum „Evangelischen Verein der Gustav-Adolf-Stiftung (Gustav-Adolf-Verein)"; seit 1935 trägt er den Namen „ G u s t a v - A d o l f - W e r k " . Vgl. P. Schellenberg, Diasporawerke, i n : Theologische Realenzyklopädie 8 (1981), S. 719 ff. (mit weiterer Lit.).
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7. Kap.: Staat und katholische Kirche vom Ausgang des Kulturkampfs
Anlaß, sich mit Schärfe gegen den päpstlichen Angriff zu verwahren (Nr. 147). Auch die altpreußische Generalsynode, die im November 1897 zusammentrat, widersprach dem Papst in einer entschiedenen Erklärung (Nr. 148).
Nr. 146. Enzyklika Papst Leos X I I I . „Militantis Ecclesiae" an die Erzbischöfe und Bischöfe Österreichs, Deutschlands und der Schweiz (Canisius-Enzyklika) v o m 1. August 1897 (Lateinischer Text u n d deutsche Übersetzung: Rundschreiben erlassen von Unserem Heiligsten Vater Leo X I I I . , 5. Sammlung, 1901, S. 119 ff.) — Auszug — . . . N u n verleiht Uns auch i n diesem Jahre die Güte der göttlichen V o r sehung die Gunst, i n Freuden die dreihundertjährige Wiederkehr des Tages zu feiern, an welchem der selige Petrus Canisius zur ewigen Herrlichkeit eingegangen ist, jener heilige Glaubensheld, welcher so segensreich f ü r die christliche Gesellschaft g e w i r k t hat, daß W i r seine Vorkehrungen n u r m i t größtem Nachdruck den Gutgesinnten als anregendes Beispiel vor Augen stellen können. H a t doch die Gegenwart i n vielen Beziehungen gewisse Ähnlichkeit m i t jenem Zeitalter, i n welchem Canisius lebte, als die Sucht nach Neuerungen u n d die u m sich greifende W i l l k ü r gegenüber der Glaubenslehre einen A b f a l l v o m Glauben und ein Verderbniß der Sitten i n ungeheurem Maße hervorriefen. Als zweiter Apostel Deutschlands, als ein anderer Bonifatius, suchte er v o l l Besorgnis diesen zweifachen Herd des Verderbens v o n allen, besonders aber von der Jugend fernzuhalten, nicht n u r durch zeltgemäße Predigten oder scharfsinnige Disputationen, sondern vorzüglich durch die Gründung von Schulen u n d die Herausgabe trefflicher Bücher. Viele thatkräftige Männer Eures Volkes sind seinem Beispiele gefolgt, haben gegenüber einem keineswegs ungebildeten Feinde zu denselben Waffen gegriffen u n d nicht mehr nachgelassen, zum Schutz u n d Preis der Religion gerade die edelsten Gebiete der Wissenschaft zu fördern u n d m i t Feuereifer den ehrbaren Künsten jede Pflege angedeihen zu lassen. . . . Welche bedeutsame Aufgabe dieser vortreffliche M a n n der Treue gegen den katholischen Glauben i n Hinsicht auf die Interessen des Staates und der Kirche auf seine Schultern genommen, das erkennen diejenigen leicht, welche betrachten, was f ü r einen Anblick Deutschland beim Beginn der lutherischen Auflehnung bot. Die Sitten verschlechterten sich und geriethen täglich mehr i n Verfall, u n d so standen dem I r r t h u m die Thore offen. Der I r r t h u m selbst brachte das Verderbniß der Sitten zur letzten Reife. A l l m ä h l i c h fielen infolge davon i m m e r mehr v o m katholischen Glauben ab; bald durchdrang das schlimme Gift fast alle Provinzen; Leute aus allen Ständen u n d Berufskreisen erlagen der Ansteckung, u n d schon setzte sich i n vielen Herzen der Glaube fest, daß i n jenem Reiche die Sache der Religion aufs äußerste gefährdet u n d k a u m noch ein M i t t e l ü b r i g sei, die K r a n k h e i t zu heilen. U n d es wäre w i r k l i c h u m die größten Güter geschehen gewesen, w e n n nicht Gottes Hilfe raschen Beistand geleistet hätte. Z w a r waren i n Deutschland
I V . Der Streit u m die Canisius-Enzyklika
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noch Männer, die am angestammten Glauben festhielten, hervorragend durch i h r Wissen wie durch ihren Eifer f ü r die Religion. Noch waren da die Fürsten aus dem Hause Bayern u n d dem Hause Österreich, vor allem der Römische K ö n i g Ferdinand, der erste dieses Namens, die unerschütterlich daran festhielten, die katholische Sache zu schützen u n d zu vertheidigen. A b e r Gott gewährte i n diesen Gefahren f ü r Deutschland noch einen neuen und weitaus den wirksamsten Schutz, die Gesellschaft des Vaters Loyola, die zu rechter Zeit i n jenen Stürmen erstand u n d der von den Deutschen zuerst Petrus Canisius b e i t r a t . . . . W i r ermahnen Euch, Ehrwürdige Brüder, vor allem darüber sorgfältig zu wachen, daß die Schulen auf dem Boden des unverfälschten Glaubens erhalten bleiben, oder w o es nöthig ist, auf i h n zurückgeführt werden, mögen es von den Vorfahren errichtete oder neu gegründete sein, u n d zwar nicht n u r die Elementarschulen, sondern auch die sogen. M i t t e l - u n d Hochschulen. Die K a t h o l i k e n Eures Landes mögen i m übrigen zuvörderst danach streben u n d darauf h i n w i r k e n , daß i n der Erziehung der K i n d e r die Rechte der Eltern wie der Kirche geachtet u n d geschützt werden. I n dieser Angelegenheit ist vorzüglich darauf zu sehen, daß erstens die K a t h o l i k e n besonders f ü r die Knaben nicht gemischte Schulen haben, sondern allenthalben eigene, u n d daß zu Lehrern die besten und erprobtesten K r ä f t e ausgesucht werden. Denn diejenige Erziehung, i n welcher die Religion entstellt oder gar nicht zur Geltung kommt, ist v o l l von Gefahren. I n den sogen, gemischten Schulen sehen w i r aber oft eines von beiden eintreten. U n d es soll sich niemand einreden, daß die Pflege der Frömmigkeit ohne Schaden v o m Unterrichte getrennt werden könne. Denn w e n n man auf keinem Gebiete des menschlichen Lebens, weder i n öffentlichen noch i n privaten Angelegenheiten, der Religion entrathen kann, so darf von ihrer Bethätigung noch v i e l weniger ein Lebensalter ausgeschlossen werden, dem die ruhige Überlegung mangelt, dessen Lebensmuth v o l l Feuer u n d das so vielen verderblichen Versuchungen ausgesetzt ist. Wer demgemäß den Unterricht so ordnet, daß er von der V e r b i n dung m i t der Religion ganz losgelöst ist, der w i r d auch die Saatkörner des Schönen u n d Ehrbaren vernichten, dem Vaterlande keinen Schutz, w o h l aber über das menschliche Geschlecht Verheerung u n d Verderben bringen. Denn was w i r d die Jugend noch i n den Banden der Pflicht festhalten, was die v o m guten Pfad der Tugend Abgeirrten u n d auf die abschüssigen Bahnen des Lasters Gerathenen zurückrufen können, w e n n man ihnen Gott genommen hat? . . . Wenn n u n aber die Kirche i m m e r an dem Plane festhielt, daß alle Gebiete des Studiums besonders auf die religiöse Unterweisung der Jünglinge Bezug nehmen sollen, so ist es nothwendig, daß diesem Felde des Unterrichtes nicht nur seine Stelle, u n d zwar eben eine hervorragende Stelle, zugewiesen werde, sondern daß dieses so wichtigen Lehramtes niemand walte, der f ü r dasselbe nicht geeignet u n d durch das U r t h e i l u n d die Sendung der Kirche f ü r berufen erklärt ist. . . .
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7. Kap.: Staat und katholische Kirche vom Ausgang des Kulturkampfs
Nr. 147. Rede des Präsidenten des Oberkirchenrats der altpreußischen Union Barkhausen auf der Hauptversammlung des Gustav-Adolf-Vereins am 29. September 1897 (Die Christliche Welt 11, 1897, Sp. 951) — Auszug — . . . K r a f t v o l l zusammenstehend i n dieser Gemeinschaft des Gebets u n d der bauenden A r b e i t lassen w i r es uns nicht anfechten, w e n n trotz des drängenden Ernstes der Zeit die Augen auch unsrer evangelischen Glaubensgenossen noch nicht allenthalben f ü r die Notwendigkeit u n d den Segen ihrer Arbeit erschlossen sind u n d die gute Sache der Gustav-Adolf-Vereine noch immer nicht alle Hindernisse überwunden hat, die als ein Rest trüber Zeiten dem gemeinsamen Handeln der evangelischen Kirchen lähmend gegenüberstehen. Noch weniger k a n n es uns anfechten, w e n n transalpinisch irrende Unfehlbarkeit, wie w i r es noch vor kurzem erleben mußten, ex cathedra schwere Schmähungen gegen unsre teure evangelische Kirche u n d insbesondre gegen den Helden der Reformation schleudert, dessen Werk m i t nichten ein Gift, sondern das scharfe Salz gewesen ist, das w e i t über die Grenzen der evangelischen Kirche hinaus seine heilsame W i r k u n g geäußert hat. . . . Bewahren w i r all diesen Angriffen gegenüber den vertrauenden M u t evangelischer Glaubensgewißheit, halten w i r m i t Mannhaftigkeit fest die Fahne, die L u t h e r und seine Mitreformatoren i m Glaubenskampfe uns vorangetragen. Die Fahne, sie ist m i t nichten eine Fahne des Aufruhrs, sie ist das Banner der Gerechtigkeit, die allein durch die i m Glauben ergriffne göttliche Gnade g e w i r k t w i r d , deren Botschaft, wie sie vor Jahrhunderten die Welt von den Banden schweren I r r t u m s befreit hat, auch jetzt noch allein den geängsteten Gewissen der durch Sünde bedrückten Menschheit die Gewißheit der Sündenvergebung und die Hoffnung ewiger Seligkeit schafft. U n d je hochmütiger und streitsüchtiger die Rückkehr unter die Menschenknechtschaft der Gewissen, an der schon mehr als ein edles V o l k zu Grunde ging, auch i n diesen Tagen wieder als das H e i l m i t t e l f ü r alle Schäden des Völkerlebens angepriesen worden ist, u m so gewisser sei die ruhige Festigkeit unsers Bekenntnisses, daß i m Evangelium und n u r i m Evangelium der Jungbrunnen quillt, der unserm deutschen Volke seine Gesundheit, sein Heil und seine Z u k u n f t verbürgt. . . .
IV. Der Streit u m die Canisius-Enzyklika
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Nr. 148. Beschluß der preußischen Generalsynode zur Canisius-Enzyklika v o m 24. November 1897 (Verhandlungen der vierten ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens 1897, 1898, S. 11 f.) Die Generalsynode der Preußischen Evangelischen Landeskirche protestiert gegen die v o m Papste i n seiner Canisius-Encyklika dem Andenken Luthers und dem gesamten Werke der Reformation zugefügten Schmähungen, indem sie dem Papste entgegenhält: 1. Was der Papst als unheilvolles G i f t bezeichnet, ist i n Wahrheit das seligmachende Evangelium von der freien Gnade Gottes i n Christo Jesu, dem endlich Raum zu geben, der Papst i m m e r von neuem gemahnt werden muß. 2. Luther, den der Papst als A u f r ü h r e r verdächtigt, hat i n W i r k l i c h k e i t n u r schlicht u n d recht Gott die Ehre gegeben, indem er der auf Menschensatzungen gegründeten päpstlichen A u t o r i t ä t m i t der A u t o r i t ä t des göttlichen Wortes Trotz bot. 3. Die weltliche Obrigkeit ist als selbständige Ordnung Gottes erst wieder erkannt, seit die angemaßte Oberherrlichkeit des Papstes über das staatliche Regiment bei den Evangelischen keinen Glauben mehr fand. Die Geschichte bezeugt, daß das unheimliche Feuer der Revolution i n den katholischen Ländern mehr Nahrung gefunden und größere Verheerungen angerichtet hat, als unter den Völkern evangelischen Bekenntnisses. 4. Gegenüber dem behaupteten Zusammenhang von Reformation und Sittenlosigkeit rufen w i r Gott zum Zeugen an. Die Reformation hat durch ihre lautere Predigt des Wortes Gottes die Gewissen geweckt und ist für den Einzelnen wie für Familie und V o l k je und je die Quelle christlicher B i l d u n g und Gesittung gewesen. Der menschgewordene Gottessohn aber, unser einiger Mittler, bleibt unsere feste Burg. Das Feld w i r d er behalten.
Achtes
Kapitel
Staat und katholische Kirche i n der Amtszeit Papst Pius X. I. Die Stellung des Nuntius in München Der am 4. August 1903 zum Nachfolger Leos XIII. gewählte Papst Pius X. 1 verband den Willen zu innerkirchlicher Reform mit der Absicht, nach Kräften zur Wiederherstellung einer „christlichen Gesellschaft " beizutragen. Zu den Plänen dieses „konservativen Reformpapstes" 2 zählte unter anderem der Versuch, das Nuntiaturwesen straffer zu organisieren, um den Einfluß der Kurie in den staatlich-kirchlichen Beziehungen zu verstärken. In Deutschland bestand lediglich in München eine — im Jahr 1784 errichtete — päpstliche Nuntiatur 3. Der Amtsbereich des Münchener Nuntius beschränkte sich auf die bayerischen Diözesen. Alle anderen deutschen Diözesen waren formell keiner bestimmten Nuntiatur zugeordnet. Dem 1904 unternommenen Versuch des Kardinalstaatssekretärs Merry del Val \ an diesem Zustand etwas zu ändern, begegnete die preußische Regierung mit Widerstand. Sie war insbesondere nicht bereit, die Zuständigkeit der Nuntiatur in München oder gar derjenigen in Den Haag für die preußischen Bistümer anzuerkennen (Nr. 149)5.
Nr. 149. Schreiben des preußischen Kultusministers Studt an den Staatssekretär des Auswärtigen Amts Frh. v. Richthofen e v o m 1. August 1904 (H. Philippi , Kronkardinalat oder Nationalkardinalat, i n : Hist. Jb. 80, 1961, S. 185 ff. [217]) — Auszug — Auch die diesseitigen A k t e n ergeben über den Amtsbereich (provincia) und über die Jurisdiktionsbefugnisse des Nuntius zu München leider nichts näheres. Über seine Wirksamkeit ist außerdem bei den von Euerer Exzellenz erwähn1
Dazu oben Nr. 107 f.; Pius X.: oben S. 244, Anm. 8. R. Aubert, Pius X., ein konservativer Reformpapst, in: H. Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VI/2 (1973), S. 391 ft. 3 Vgl. V. Zittel, Die Vertretung des Hl. Stuhles i n München 1875- 1934, i n : Der Mönch i m Wappen. Aus der Geschichte und Gegenwart des katholischen München (1960), S. 419 ff. 4 Raffaele Merry del Val: oben S. 244, Anm. 9. 5 Z u r Besetzung der N u n t i a t u r in München siehe die Liste i m Anhang, unten S. 857 f. 2
I. Die Stellung des Nuntius i n München
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ten Fällen hier n u r noch bekannt, daß er vielfach m i t der Führung des Informativprozesses über die erwählten Bischöfe i n Preußen 7 betraut w i r d . Es geschieht dies nach I n h a l t des dortseitigen Schreibens v o m 6. Dezember 1899 . . . wesentlich aus dem Grunde, u m dem Nuntius die nicht unerheblichen Taxen f ü r dieses Verfahren zuzuwenden, bildet aber keineswegs eine ausnahmslose Regel. Vielmehr sind i m vergangenen Jahrhundert die I n f o r mativprozesse wiederholt i n Rom selbst (in curia) abgehalten worden. . . . Wenn staatlicherseits gegen die Betrauung des Nuntius i n München m i t dieser Prozeßführung bisher noch niemals Widerspruch erhoben worden ist, so liegt darin eine anerkennenswerte Zurückhaltung der Staatsregierung i n innerkirchlichen Angelegenheiten. A n sich könnte sowohl i m Geltungsbereiche der Bulle De salute animarum, wie i n dem der B u l l e n Impensa Romanorum Pontificum u n d A d D o m i n i gregis custodiam 8 von der Staatsregierung verlangt werden, daß der Informativprozeß von einem Landesbischofe beziehungsweise i m Geltungsgebiete der letzt genannten beiden Bullen von einem höher gestellten Geistlichen des betreffenden Gebietes 9 geführt werde. Einen Anspruch, m i t der Leitung dieser Prozesse betraut zu werden, hat der Nuntius i n München jedenfalls auch nach kirchlicher A u f fassung nicht. Daß dem Nuntius überhaupt bestimmte Jurisdiktionsrechte bezüglich der preußischen Diözesen übertragen sein sollten, möchte ich bezweifeln. Von einzelnen Bischöfen, z. B. dem i n Paderborn, ist m i r bekannt, daß sie i n allen Angelegenheiten direkt, nicht über München, nach Rom berichten. Ich vermag mich daher n u r Euerer Exzellenz Auffassung anzuschließen, daß von einem, preußische Gebietsteile umfassenden Amtsbezirk des Nuntius i n München nicht w o h l gesprochen werden kann. A n diesem Zustande etwas zu ändern, sei es durch offizielle Anerkennung der Zugehörigkeit der preußischen Diözesen zum Dienstbereich der Münchener N u n t i a t u r oder gar durch Zustimmung zur Unterstellung preußischer Diözesen unter die N u n t i a t u r i m Haag möchte ich dringend widerraten. Wie Euere Exzellenz m i t Recht betonen, ist die gegenwärtige Rechtslage, welche die Inanspruchnahme des Münchener Nuntius i n geeigneten Fällen zwar nicht ausschließt, eine A n r u f u n g dieser Instanz aber ebensowenig erfordert, f ü r die Staatsregierung zweifellos die bequemere. Ich kann daher n u r empfehlen, auf die Anregung des Kardinalstaatssekretärs 1 0 tunlichst nicht näher einzugehen u n d jede Anerkennung einer jurisdiktionellen Gewalt irgendeines Nuntius f ü r das preußische Staatsgebiet grundsätzlich zu vermeiden. 6 Oswald Frh. v, Richthofen (1847 - 1906), preuß. Jurist; seit 1875 i m ausw. Dienst des Reichs (1881 Vortr. Rat); 1896 Direktor der Kolonialabteilung; 1898 Unterstaatssekretär, 1900 - 1906 Staatssekretär des Auswärtigen Amts. 7 Über den „Informativprozeß" bei der Bischofswahl siehe Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 8 (S. 25) A n m . 15. 8 Ebenda, Nr. 91, Nr. 109, Nr. 121. 9 Gemeint sind die Erzbischöfe. 10 Oben S. 364, Anm. 4.
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8. Kap.: Staat und katholische Kirche i n der Amtszeit Papst Pius X .
I I . Das kirchliche Eherecht unter Papst Pius X. Schon die Mischehenstreitigkeiten des 19. Jahrhunderts 1 hatten gezeigt, wie schwierig es für die katholische Kirche war, das tridentinische Eherecht durchgängig zur Anwendung zu bringen. Die Sonderregelungen, die das Dekret Pius VIII. vom 25. März 1830 festgelegt hatte 2, waren auf den Kölner Metropolitanbezirk beschränkt. Pius X. beseitigte diese Rechtsungleichheit durch das Dekret „Provida" vom 18. Januar 1906 (Nr. 150). Es verurteilte die Mischehen aufs neue und verpflichtete die Katholiken zur kanonisch vorgeschriebenen Form der kirchlichen Eheschließung; zugleich aber erkannte es auch die unerlaubt erweise ohne geistliche Assistenz geschlossenen Ehen als gültig an3. Damit wollte der Papst verhindern, wie die deutschen Bischöfe bei der Publikation des Dekrets hervorhoben (Nr. 151), daß Eheleute, um die Scheidung zu erreichen, das Fehlen der kanonischen Form der Eheschließung gegenüber der Kirche als kirchenrechtlichen Grund für die Auflösung der Ehe geltend machten. Das Dekret „Provida" stellte die Geltung des tridentinischen Eherechts für ganz Deutschland fest; es hob damit den Unterschied zwischen „tridentinischen" und „nicht-tridentinischen" Gebieten auf 4. Diesen Grundsatz bestätigte das Dekret „Ne temere" vom 2. August 1907 5, das die Neufassung des kanonischen Eherechts mit allgemeiner Gültigkeit in Kraft setzte. Seine Bestimmungen fanden Aufnahme in den Codex Iuris Canonici von 1917 (can. 1094 - 1103)6. Zur Ausführung des Dekrets „Ne temere" und der Konstitution „Provida" erließen die deutschen Bischöfe besondere Anweisungen, denen sie eine „Unterweisung für das Volk" beifügten (Nr. 152, Nr. 153). Mit der Einführung des Codex Iuris Canonici verlor die Konstitution „Provida" ihre Geltung 7. Dadurch waren auch der äußeren Form nach alle Sonderregelungen des kirchlichen Eherechts für den deutschen Bereich beseitigt. Gleichwohl warf das Problem der Mischehen in Deutschland angesichts seiner konfessionellen Verhältnisse auch weiterhin besondere Fragen auf.
1
Staat und Kirche, Bd. I, S. 309 ff. Ebenda Nr. 128. 3 Über das i n den „Tridentinischen Beschlüssen" von 1564 festgelegte E r fordernis der „Assistenz" der Geistlichen bei der Eheschließung siehe Verfassungsgeschichte, Bd. I I , S. 189 ff. 4 Über diesen Unterschied der Gebiete, i n denen das Dekret „Tametsi" des T r i d e n t i n u m verkündet oder nicht verkündet war, siehe Staat und Kirche, Bd. I, S. 320, A n m . 13. 5 Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese K ö l n 47 (1907), S. 155 ff. 0 Dazu Staat u n d Kirche, Bd. I, S. 316; F. X. Hecht, Die kirchliche Eheschließungsform i n Deutschland seit dem Jahre 1906 (Theologie und Glaube 22, 1930, S. 739 ff.), 7 Die Aufhebung der Konstitution Provida wurde allerdings zunächst nicht öffentlich verkündet; sie wurde von Kardinalstaatssekretär Gasparri am 30. März 1918 als vollzogen festgestellt (Archiv f. kath. Kirchenrecht, 99, 1919, S. 61). 2
I I . Das kirchliche Eherecht unter Papst Pius X .
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Nr. 150. Dekret Papst Pius X., betreffend die Eheschließungsreform für Deutschland v o m 18. Januar 1906 (Lateinischer T e x t : Archiv f. kath. Kirchenrecht, 85,1906, S. 343 ff.) — Ubersetzung — Pius, Bischof und Diener der Diener Gottes, Z u r bleibenden Erinnerung. I n weiser Voraussicht u n d Sorge hat die Kirche zu aller Zeit durch Gesetze geregelt, was der Festigkeit und Heiligkeit christlicher Ehen förderlich ist. Dabei sind vor allem die Beschlüsse von Bedeutung, durch die das heilige Konzil von Trient das Übel der klandestinen Ehen 8 aus der Welt schaffen u n d unter dem christlichen V o l k ausrotten wollte. Jeder muß zugeben, daß dieses tridentinische Dekret sich segensreich f ü r das gesamte christliche V o l k ausgewirkt hat und auch heute noch auswirkt. Dennoch k o m m t es, was n u r menschlich ist, mancherorts und vor allem i m deutschen Reich wegen der beklagenswerten tiefgehenden religiösen Spaltung u n d des täglich enger werdenden Zusammenlebens von K a t h o l i k e n u n d Häretikern vor, daß i n der Durchführung besagten Gesetzes sich gewisse ernst zu nehmende Mißbräuche eingeschlichen haben. W e i l nämlich nach dem W i l l e n des Konzils das Dekret Tametsi i n den einzelnen Pfarreien erst dann verbindlich ist, w e n n es dort rechtmäßig veröffentlicht worden ist, und w e i l n u n vielerorts Zweifel bestehen, ob eben diese Veröffentlichung erfolgt ist, u n d ebenso oft ungewiß ist, ob das v o m K o n z i l erlassene Gesetz auch Nichtkatholiken verpflichtet, die an dem einen oder anderen Ort ihren Wohnsitz haben, herrscht i n sehr vielen Gegenden des deutschen Reiches sehr große und lästige Verschiedenheit und Ungleichheit i m Recht 0 . Das erregte Ärgernis und w a r f sehr viele schwierige Fragen auf, die oft i n der Rechtsprechung V e r w i r r u n g hervorriefen und i m gläubigen Volk die Achtung vor dem Gesetz ins Wanken geraten ließen. Ebenso w a r es den Nichtkatholiken Anlaß zu ständigen Klagen und Anschuldigungen. Der Apostolische Stuhl hat es nicht versäumt, für einige deutsche Diözesen wohlwollende Verfügungen zu erlassen und Erklärungen abzugeben, die indessen die Verschiedenheit i m Recht i n keiner Weise behoben haben 1 0 . Das w a r f ü r mehrere Bischöfe Deutschlands ein Anlaß, sich immer wieder an den Apostolischen S t u h l zu wenden u n d gemeinsam u m Hilfe i n dieser Lage zu bitten. Dem t r u g Unser verehrter Vorgänger Leo X I I I . gütigst Rechnung, indem er anordnete, daß auch die übrigen Kirchenfürsten aus 8 „Klandestine Ehen": die ohne Assistenz des Geistlichen und der vorgeschriebenen Zeugen, i n diesem Sinn „heimlich" eingegangenen Ehen. Als „klandestin" galten auch Ehen, die zwar „öffentlich", aber vor einem nichtkatholischen Geistlichen oder einem weltlichen Beamten abgeschlossen waren. θ Dazu Staat und Kirche, Bd. I, S. 320, Anm. 13. lü Dazu das Breve Pius VIII. an den Erzbischof von K ö l n und die Bischöfe von Trier, Paderborn und Münster vom 25. März 1830 (Staat und Kirche, Bd. I, Nr. 128).
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Deutschland ihre Meinung dazu äußern sollten. Nachdem diese Meinungsäußerungen eingetroffen waren u n d die gesamte Frage i n der Kongregation f ü r die römische u n d universale Inquisition reiflich erörtert worden war, hielten W i r es f ü r Unsere Pflicht, i n der gegenwärtigen Lage für eine w i r k same und umfassende Erleichterung zu sorgen. So w o l l e n W i r aus dem sicheren Wissen u n d der Fülle Unserer Macht f ü r die Heiligkeit u n d Festigkeit der Ehe, f ü r die Einheit u n d Dauerhaftigkeit der Ordnung, f ü r die Sicherheit des Rechts u n d ein einfacheres Wiederaufnahmeverfahren f ü r die Bußwilligen, sowie f ü r den Frieden überhaupt und die öffentliche Ruhe Sorge tragen. Daher erklären, verfügen und bestimmen W i r folgendes: I. I m gesamten heutigen deutschen Reich hat das Dekret Tametsi aus den Beschlüssen des Trienter Konzils, auch w e n n es an mehreren Orten bisher weder durch ausdrückliche Veröffentlichung noch durch rechtmäßige Beobachtung definitiv bekannt gemacht oder eingeführt ist, dennoch v o m Osterfest (d. h. v o m 15. A p r i l ) dieses Jahres 1906 an f ü r alle Katholiken, auch f ü r diejenigen, welche bis jetzt noch nicht verpflichtet waren, sich an die v o m T r i d e n t i n u m vorgeschriebene Form zu halten, verpflichtenden Charakter i n dem Sinne, daß sie n u r v o r dem Pfarrer u n d zwei oder drei Zeugen eine gültige Ehe schließen können. I I . Mischehen, welche von K a t h o l i k e n m i t Häretikern oder Schismatikern geschlossen werden, sind und bleiben streng verboten, falls nicht ein schwerwiegender gerechter Grund i m Sinne des kanonischen Rechts geltend gemacht werden kann, von beiden Seiten vollständig u n d i n der rechten F o r m die v o m Gesetz verlangten Sicherheiten garantiert werden und dem katholischen T e i l Dispens v o m Hindernis der Religionsverschiedenheit nach dem geltenden Recht gewährt wurde. Diese Ehen müssen, wenn dispensiert wurde, auf jeden F a l l vor der Kirche, also vor dem Pfarrer und zwei oder drei Zeugen geschlossen werden. Eines schweren Vergehens macht sich schuldig, w e r vor einem nichtkatholischen Geistlichen oder n u r vor einem staatlichen Beamten oder sonst irgendwie klandestin heiratet. Wenn ferner K a t h o l i k e n bei der Schließung von Mischehen die M i t w i r k u n g eines nicht katholischen Geistlichen verlangen oder zulassen, machen sie sich ebenso eines Vergehens schuldig und ziehen sich die entsprechenden kanonischen Strafen zu. Dennoch sollen i n gewissen Teilen und Gebieten des deutschen Reiches auch dort, w o nach den Entscheidungen der römischen Kongregationen m i t Sicherheit bisher gemäß dem Dekret Tametsi Mischehen ungültig waren, solche Ehen, die ohne Beachtung der v o m T r i d e n t i n u m vorgeschriebenen F o r m geschlossen wurden oder (was Gott verhüten möge) noch geschlossen werden, gültig sein, w i e W i r ausdrücklich erklären, bestimmen u n d entscheiden, sofern nicht ein anderes kanonisches Hindernis entgegensteht und auch nicht die Nichtigkeit auf Grund des Hindernisses der Klandestinität vor dem Osterfest dieses Jahres rechtswirksam festgestellt wurde, sondern vielmehr das gegenseitige Versprechen der Ehegatten bis zu besagtem T e r m i n aufrecht erhalten blieb. I I I . Damit es aber für die kirchlichen Richter eine sichere N o r m gibt, erklären, bestimmen und entscheiden W i r ebendasselbe unter eben den gleichen
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Bedingungen und m i t den gleichen Einschränkungen auch f ü r Ehen unter Nichtkatholiken, sei es Häretikern oder Schismatikern, die i n besagten Gebieten nicht nach der tridentinischen Form geschlossen w u r d e n oder i n Z u k u n f t noch geschlossen werden. Wenn einer von den beiden nichtkatholischen Ehepartnern oder beide zum katholischen Glauben bekehrt werden oder wenn aus anderem Grund i m kirchlichen Rechtsbereich eine Meinungsverschiedenheit über die Gültigkeit der Ehe zweier Nichtkatholiken i m Z u sammenhang m i t der Frage nach der Gültigkeit der Ehe, die ein K a t h o l i k eingegangen ist oder eingehen w i l l , entsteht, so sollen diese Ehen unter entsprechenden Voraussetzungen ebenso als v o l l gültig angesehen werden. IV. Damit dieses Unser Dekret auch öffentlich bekannt werde, schreiben W i r den Ordinarien des deutschen Reiches vor, daß es durch die Diözesanzeitungen und andere wohlgeeignete M i t t e l vor dem Osterfest dieses Jahres dem Klerus und dem gläubigen V o l k bekannt gemacht werde.
Nr. 151. Einführung des Dekrets „Provida", hier: durch Erlaß des Bischofs v. Busch, Speyer 11 v o m Februar/März 1906 (Archiv f. kath. Kirchenrecht 86, 1906, S. 345 ff.) Den Gläubigen unseres Bistums ist am nächsten Passionssonntage der vorstehende päpstliche Erlaß in allen Pfarreien i n der nachstehenden Form zu verkündigen ohne jeden weiteren Zusatz: Wie euch Allen, Geliebte i m Herrn, schon aus dem Unterrichte über das heilige Sakrament der Ehe bekannt ist, w i l l die katholische Kirche, daß die christliche Ehe i n der Form geschlossen werden solle, daß die Brautleute vor ihrem eigenen Pfarrer und zwei Zeugen erklären, daß sie einander zur Ehe nehmen, worauf der Priester ihren Ehebund segnet. Diese Form der Eheschließung hat die Kirchenversammlung von Trient i m Jahre 1563 i n ihrer 24. Sitzung aus den wichtigsten Gründen ausdrücklich als allgemeines Kirchengebot festgesetzt m i t der Bestimmung, daß fortan alle Ehen, welche nicht i n dieser F o r m eingegangen sind, u n g ü l t i g sein sollten, d. h. nicht als christliche Ehen betrachtet werden könnten. Da jedoch i n jener Zeit, als das K o n z i l von Trient dieses Kirchengebot erließ, i n Deutschland leider die unselige Glaubensspaltung ausgebrochen war, so fügte die genannte Kirchenversammlung diesem Ehegesetze noch die ausdrückliche Beschränkung bei, daß es n u r an jenen Orten Geltung haben solle, an denen es in feierlicher Weise verkündigt werde. Die vorgeschriebene Verkündigung konnte aber n u r i n jenen Gebieten unseres deutschen Vaterlandes geschehen, in welchen die Bewohner der katholischen Religion treu geblieben waren. Deshalb hatte das erwähnte 11
Konrad v. Busch: unten S. 865.
•J1 H u b e r , Staat u n d K i r c h e , 3. Bd.
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Kirchengebot auch n u r i n diesen Gebieten verpflichtende K r a f t . N u n haben sich aber i n den folgenden Zeiten, namentlich aber i n der neueren Zeit i n folge der Entwickelung der Industrie und der i m Deutschen Reiche gew ä h r t e n Freizügigkeit viele K a t h o l i k e n i n jenen Gebieten niedergelassen, deren Bewohner sich früher v o n der katholischen Kirche getrennt hatten. Es entstanden so i n diesen Gegenden viele katholische Gemeinden. Dazu kam, daß leider auch viele K a t h o l i k e n Ehen m i t Nichtkatholiken eingingen. Diese Vorgänge hatten zur Folge, daß die kirchliche Obrigkeit oft über die G ü l t i g keit solcher Ehen entscheiden mußte, wobei die Frage besondere Schwierigkeiten verursachte, ob i n den Orten, i n welchen die fraglichen Ehen geschlossen worden waren, die mehrgenannte Vorschrift des Konzils von Trient verkündigt worden u n d deshalb f ü r die betreffenden Brautleute verpflichtend gewesen sei. Es entstanden oft unlösbare Zweifel und infolge davon auch Gewissensunruhe bei den Gläubigen. Die deutschen Bischöfe haben daher wiederholt bei dem hl. Stuhl die Bitte gestellt, es möchte die Ehegesetzgebung des hl. Konzils von Trient den veränderten Zeitverhältnissen angepaßt werden. Der Hl. Vater, Papst Pius X., hat nunmehr nach sorgfältiger Erwägung aller vorgebrachten Gründe diesen B i t t e n der deutschen Bischöfe entsprochen und k r a f t seiner apostolischen Vollgewalt unter dem 18. Januar 1906 nachstehende Bestimmungen getroffen, welche v o m kommenden ersten hl. Osterfeiertage an f ü r das ganze Deutsche Reich i n Geltung treten, nämlich: 1. F ü r ungemischte katholische Ehen, also f ü r jene, bei denen die beiden Eheleute der katholischen Kirche angehören, t r i t t n u n überall i m Bereiche des Deutschen Reiches die Ehevorschrift des Konzils von Trient i n K r a f t , d. h. diese Ehen müssen an allen Orten vor dem eigenen Pfarrer und m i n destens zwei Zeugen abgeschlossen werden, sonst sind sie als kirchlich ungült i g zu betrachten, was auch zur Folge hätte, daß derlei Brautleute weder die hl. Sakramente der Buße und des Altars empfangen, noch des kirchlichen Begräbnisses teilhaftig werden könnten. 2. Auch jene Katholiken, die eine Mischehe eingehen wollen, was n u r bei genauer Einhaltung der vorgeschriebenen Bedingungen gestattet ist, sind streng i m Gewissen verpflichtet, die kirchliche Trauung vor ihrem Pfarrer und zwei Zeugen nachzusuchen. Falls sie aber diese kirchliche Trauung unterlassen, so handeln sie zwar unerlaubt u n d begehen eine schwere Sünde, dagegen ist ihre anderweitig abgeschlossene Ehe gültig, so daß eine kirchliche Scheidung des Ehebundes unmöglich ist. Indem der Hl. Vater aus den erwähnten Gründen die eben verkündeten Abänderungen des tridentinischen Kirchengebotes vornahm, wollte er keineswegs die kirchliche Zucht lockern, oder gar die Eingehung der Mischehen erleichtern, nein, er wollte vielmehr durch seinen Erlaß den deutschen K a t h o l i k e n einen erneuten Beweis jener väterlichen H u l d geben, welche der Statthalter Christi für sie hegt. Möge denn diese neueste päpstliche Kundgebung der hohenpriesterlichen Fürsorge unsere Liebe zur hl. Kirche vermehren und unsere Zugehörigkeit zu derselben aufs neue befestigen.
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Nr. 152. Anweisung des Erzbischofs von Köln, betreffend die Ausführung des Dekrets „Ne temere" vom 2. August 1907 und der Konstitution „Provida" vom 18. Januar 1906 vom 24. März 1908 (Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln, 48, 1908, S. 58) — Auszug — A. Das Dekret „Ne temere" Allgemeine
Bemerkungen
2. Die Geltung des Dekrets beginnt Mitternacht (12 Uhr) des Ostersonntags 1908 — 19. A p r i l 1908 —, nicht schon m i t der ersten Vesper. 3. Das Decretum „Ne temere" ist verpflichtend für die ganze katholische Kirche, die Constitutio „Provida" nur für das jetzige Deutsche Reich. 4. Das Dekret „Ne temere" geht die K a t h o l i k e n (ritus lat.) i n der ganzen Welt an, nur diese, nicht die Irrgläubigen, Ungläubigen und Schismatiker. Ausnahmen läßt es nur zu bei Mischehen, d. h. Ehen von K a t h o l i k e n u n d Nichtkatholiken, i n Ländern, für die der H l . Stuhl solche Ausnahmen bestimmt hat, z. B. i n Deutschland, wo die Constitutio „Provida" (vom 18. Januar 1906) gilt. . . . Besondere
Bestimmungen
I. Eheverlöbnisse U m für gültig erachtet zu werden u n d kanonische Rechtsfolgen 12 zu haben, muß ein Eheversprechen schriftlich abgeschlossen werden. Die Urkunde, zu welcher ein Formular verwendet werden darf, muß von den Brautleuten selbst und entweder vom Pfarrer oder vom Ordinarius oder von wenigstens zwei Zeugen unterschrieben sein. . . . Die Eingehung eines kanonischen Eheverlöbnisses oder die Zuziehung des Pfarrers oder Ordinarius zu demselben ist keine notwendige Vorbedingung für die Eingehung der Ehe Für die Auflösung eines kanonischen Verlöbnisses ist eine kanonische Form nicht vorgeschrieben. Ist aber ein Verlöbnis i n kanonischer Form abgeschlossen, so gilt dasselbe als zu Recht bestehend, bis der Beweis für die Auflösung erbracht ist. . . . II.
Eheschließung
1. Die Form der Eheschließung Zur kanonischen Gültigkeit einer Ehe ist erforderlich, daß sie vor einem Pfarrer oder vor dem Ordinarius oder vor einem seitens einer dieser beiden hierzu ermächtigten Priester und vor mindestens zwei Zeugen geschlossen 12 Die bürgerlichen Rechtsfolgen des Verlöbnisses (vgl. BGB, §§ 1297 ff.) treten somit nach wie vor auch bei seinem formlosen Abschluß ein (Anm. i m Dokument).
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werde; es sind dabei die i m nachstehenden angegebenen Regeln zu befolgen u n d die unter 5 u n d 6 bezeichneten Ausnahmen zu beachten. . . . 5. Ehe in Todesgefahr Ist es i m Falle einer Todesgefahr unmöglich, den Pfarrer oder Ordinarius oder einen rechtmäßig delegierten Priester rechtzeitig herbeizurufen, so kann die Ehe zur Beruhigung des Gewissens u n d gegebenenfalls zur Legitimierung der Nachkommenschaft vor jedem (also auch einem exkommunizierten oder suspendierten) Priester u n d zwei Zeugen gültig geschlossen werden. 6. Notehe ohne Priester Wenn es i n einer Gegend schon oder den Ordinarius oder einen assistenz zu haben, so kann eine werden, indem die Brautleute vor einander zur Ehe nehmen. . . .
seit Monatsfrist unmöglich ist, den Pfarrer rechtmäßig delegierten Priester zur EheEhe gültig und erlaubterweise geschlossen zwei Zeugen förmlich erklären, daß sie sich
B. Die Constitutio „Provida" 1. A l l e K a t h o l i k e n ohne Unterscheidung von tridentinischen oder nichttridentinischen Orten 1 3 sind an die durch das Dekret „Ne temere" getroffenen, das T r i d e n t i n u m abändernden Bestimmungen gebunden. 2. Gemischte Ehen sind jetzt und k ü n f t i g i m ganzen Deutschen Reiche gültig, auch ohne Beobachtung der Form des Dekrets, sofern nicht der akatholische Teil früher der katholischen Kirche angehörte und sich später von i h r getrennt hat. 3. Nichtkatholiken von Geburt aus, mögen sie getauft oder nicht getauft sein, sind, wenn sie unter sich eine Ehe eingehen, an die für K a t h o l i k e n vorgeschriebene Form der Eheverlöbnisse und Eheschließungen nicht gebunden.
Nr. 153. Unterweisung für das Volk vom 24. März 1908 (Kirchlicher Anzeiger für die Erzdiözese Köln, 48, 1908, S. 61) — Auszug — Der Hl. Vater Papst Pius X . hat i n neuester Zeit zwei wichtige Ehegesetze erlassen, von welchen das eine verpflichtend ist für die ganze katholische Kirche, das andere nur für das jetzige Deutsche Reich. Das erstere, beginnend m i t den Worten „Ne temere", ist datiert vom 2. August 1907 und w i r d i n K r a f t treten am Ostersonntag dieses Jahres, das andere „Provida", vom 18. Januar 1906, hat bereits am Osterfeste 1906 verpflichtende K r a f t erlangt. Die wesentlichen Bestimmungen dieser beiden päpstlichen Erlasse sind folgende : 13
Siehe oben S. 366, Anm. 4.
II. Das kirchliche Eherecht unter Papst Pius X .
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I. Eheverlöbnisse 1. Von Ostern d. J. an muß ein Eheversprechen, u m als gültig angesehen zu werden und kirchenrechtliche Wirkungen zu haben, schriftlich abgeschlossen werden. Die Urkunde, zu welcher Formulare verwendet werden dürfen, muß von den Brautleuten und entweder vom Pfarrer oder vom Bischof oder von wenigstens zwei Zeugen unterschrieben sein. . . . 2. Sehr wünschenswert ist es, daß die Verlöbnisse vor dem Pfarrer abgeschlossen und beurkundet werden. W i r d jedoch ein Verlöbnis ohne Zuziehung des Pfarrers i n der angegebenen Form gültig abgeschlossen, so soll regelmäßig dem Pfarrer von dem Abschluß des Eheversprechens zur Eintragung i n das Verlöbnisbuch Anzeige erstattet u n d die Urkunde darüber oder eine getreue Abschrift zur Hinterlegung i m Pfarrarchiv eingehändigt werden. . . . 4. F ü r die Auflösung eines gültig eingegangenen Verlöbnisses ist eine bestimmte Form, z. B. schriftliche Erklärung, nicht vorgeschrieben. Jedoch g i l t das i n der vorgeschriebenen Form abgeschlossene Verlöbnis solange als zu Recht bestehend, bis der Beweis für eine rechtlich gültige Auflösung erbracht ist. Die bürgerlichen Rechtsfolgen des Verlöbnisses, namentlich auch die über die Pflicht der Schadloshaltung bei unbegründeter einseitiger Auflösung desselben, treten ein, auch wenn es nicht i n der angebenen Form abgeschlossen ist. II.
Eheschließung
1. Die K a t h o l i k e n aller Länder, selbst wenn sie von der katholischen Kirche sich getrennt haben, können von Ostern d. J. an unter sich eine gültige Ehe nur schließen, wenn sie vor dem Pfarrer oder Bischöfe des Ortes oder vor einem durch einen dieser beiden hierzu bevollmächtigten Priester und vor mindestens zwei Zeugen erklären, daß sie sich zur Ehe nehmen. 2. Zur erlaubten Eheschließung ist erforderlich, daß der Bräutigam oder die Braut i m Pfarrbezirke des trauenden Pfarrers ihren Wohnsitz haben oder sich daselbst wenigstens seit einem Monat aufhalten. Wollen die Brautleute i n einer anderen Pfarrei heiraten, so bedarf der trauende Priester der E r laubnis des zur erlaubten Eheschließung zuständigen Pfarrers. Für die T r a u ung der Wohnsitzlosen hat der Pfarrer, außer i m Notfalle, die Genehmigung des Bischofs oder seines Vertreters einzuholen. 3. I n der Regel soll die Eheschließung vor dem Pfarrer der Braut (bei Mischehen vor dem Pfarrer des katholischen Teiles) stattfinden, w e n n nicht ein rechtmäßiger Grund entschuldigt. 4. Ist es i m Falle einer Todesgefahr unmöglich, den Pfarrer oder Bischof oder einen von ihnen beauftragten Priester rechtzeitig herbeizurufen, so kann die Ehe zur Beruhigung des Gewissens und zur Legitimierung der Nachkommenschaft vor jedem Priester und zwei Zeugen gültig geschlossen w e r den.
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5. Gemischte Ehen zwischen K a t h o l i k e n und Protestanten sind und bleiben strenge verboten, sofern nicht ein gerechter und wichtiger kanonischer Grund hinzukommt und von beiden Parteien die erforderlichen Bürgschaften vollständig und i n aller Form gegeben sind und der katholische Teil Dispens von dem Ehehindernis der Konfessionsverschiedenheit erlangt hat. Nach erhaltener Dispens sollen solche Ehen i n kirchlicher Weise vor dem Pfarrer und zwei Zeugen abgeschlossen werden. Jene katholischen Brautleute sündigen schwer, welche vor einem nichtkatholischen Religionsdiener oder nur auf dem Standesamte oder i n irgend einer anderen nichtkirchlichen Weise eine eheliche Verbindung eingehen. Ersuchen K a t h o l i k e n bei dem Abschluß derartiger gemischter Ehen u m die M i t w i r k u n g eines nichtkatholischen Religionsdieners, oder lassen sie eine solche zu, so machen sie sich eines weiteren Vergehens schuldig und verfallen den kirchlichen Strafen. 6. Gleichwohl sind die gemischten Ehen fortan i m ganzen Deutschen Reiche gültig, wenn sie auch nicht i n der kirchlich vorgeschriebenen Form geschlossen werden, ausgenommen den Fall, wo der nichtkatholische Teil früher der katholischen Kirche angehörte und sich später von ihr getrennt hat. 7. Personen die von Geburt aus nicht katholisch sind, mögen sie getauft oder nicht getauft sein, sind, wenn sie unter sich eine Ehe eingehen, an die für die Katholiken vorgeschriebene Form der Eheverlöbnisse und Eheschließungen nicht gebunden.
I I I . Die Kundgebungen Pius X. und der Kurie gegen den Modernismus vom Jahr 1907 Seit etwa 1890 traten in verschiedenen Ländern Versuche zur Erneuerung der katholischen Theologie hervor, die später den zusammenfassenden Namen „Modernismus" erhielten. Sie entstanden aus unterschiedlichen Quellen: aus dem Vordringen der historischen Kritik, aus Anregungen der evangelischen und anglikanischen Theologie, aus neuen Ansätzen der Religionsphilosophie, aus einem intensiveren Fragen nach persönlicher Religiosität statt nach institutionell abgesicherten Dogmen. Wortführer dieser nicht eindeutig abgrenzbaren Bewegung waren neben anderen Alfred Loisy in Frankreich 1, George Tyrrell in England 2, Ernesto Buonaiuti in Italien 3, Hermann Schell 4 und Franz Xaver Kraus 5 in Deutschland. 1 Alfred Loisy (1857 - 1940), 1879 Priester, seit 1889 Professor für Bibelwissenschaft am I n s t i t u t catholique i n Paris; 1893 wegen seiner B i b e l k r i t i k amtsenthoben; 1903 Indizierung von fünf seiner Werke, daraufhin Widerruf; 1908 große E x k o m m u n i k a t i o n ; 1909 - 26 Professor für Religionsgeschichte am Collège de France, 1924 - 27 an der Ecole des Hautes Etudes. 2 George Tyrrell (1861 - 1907), 1879 Konversion von der anglikanischen zur katholischen Kirche, 1881 E i n t r i t t i n die Societas Jesu, 1891 Priester; 1894 - 96 Professor für Philosophie am Kolleg der Jesuiten in Stonyhurst, dann i m Predigtdienst u n d religiöser Schriftsteller; 1906 Ausscheiden aus dem Jesuitenorden; wegen seines Protests gegen die Enzyklika „Pascendi" 1907 kleine Exkommunikation.
I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
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Der Kampf der Kurie gegen den Modernismus begann schon unter Leo XIII. In der Enzyklika „Providentissimus Deus" vom 18. November 18936 lehnte er die „fortschrittliche" Bibelexegese ab; Alfred Loisy war das erste und prominenteste Opfer dieser Enzyklika. 1898 setzte die zuständige Kardinalskongregation („Congregatio Indicis librorum prohibitorum") die wichtigsten Schriften Hermann Schells auf den Index. Seit dem Wechsel im Pontifikat verschärfte Pius X. das Vorgehen gegen die modernistischen Richtungen. In seiner Konsistorialansprache vom 17. April 1907 rief er nachdrücklich zur Beseitigung des Modernismus auf, den er nun als ein geschlossenes Lehrsystem begriff und als „die Zusammenfassung und das Gift aller Häresien" bezeichnete 7. Daraufhin erschien am 3. Juli 1907 das von der Kongregation für die heilige römische und universale Inquisition ausgefertigte Dekret Lamentabili " (Nr. 154). Dieser „neue Syllabus" 9 verurteilte 65 als häretisch betrachtete Einzelsätze, die zum größeren Teil dem Werk Loisys entnommen waren. Die bald daraitf verfaßte und am 8. September 1907 publizierte Enzyklika Pius X. „Pascendi dominici gregis" dagegen begann mit einer systematischen Zusammenstellung der Lehrauffassung, die als „Modernismus" gelten sollte (Nr. 155) 9\ sie kündigte Disziplinarmaßnahmen gegen die Modernisten an; schließlich verordnete sie, die scholastische Philosophie zur Grundlage der theologischen Studien zu machen10. 3 Ernesto Buonaiuti (1881 - 1946), 1903 Priester; 1905 Herausgeber der „ R i vista storico-critica delle scienze teologiche"; 1915 - 32 Professor f ü r Kirchengeschichte an der Universität Rom; 1921 kleine E x k o m m u n i k a t i o n , danach Unterwerfung, 1924 erneut kleine und 1926 große Exkommunikation. Seit 1926 i m Zusammenhang der Verhandlungen über die Lateranverträge an seinen Vorlesungen gehindert; der A r t . 5 des italienischen Konkordats, nach welchem ein exkommunizierter Priester i n I t a l i e n keine Stelle i m Staatsdienst innehaben kann, geht auf den „ F a l l Buonaiuti" zurück. Er wurde 1932 entlassen, nachdem er den Eid auf den faschistischen Staat verweigert hatte. 4 Hermann Schell (1850 - 1906), kath. Priester; nach dem Studium der Philosophie u n d der Theologie i n Freiburg, Würzburg u n d Tübingen 1884 - 1906 Professor f ü r Apologetik, christliche Kunstgeschichte u n d vergleichende Religionswissenschaft i n Würzburg; 1898 Indizierung von fünf Schriften; Schell unterwarf sich, setzte aber sein publizistisches W i r k e n fort; nach seinem Tod entstand ein lebhafter K o n f l i k t u m eine Sammlung von Freunden des V e r storbenen für sein Grabmal; Papst Pius X. ergriff i n diesem K o n f l i k t nochmals gegen Schell Partei. 5 Franz Xaver Kraus (1840 - 1901), 1864 kath. Priester, danach weitere Studien i n Freiburg und Bonn; 1872 Professor für christliche Kunstgeschichte i n Straßburg; 1878 Professor für Kirchengeschichte i n Freiburg; bei der Beilegung des K u l t u r k a m p f s Kandidat für den Bischofssitz seiner Heimatstadt T r i e r ; 1895 - 99 Verfasser der kirchenpolitischen Spectator-Brief e i n der „ A l l g e meinen Zeitung", zu deren Einstellung er von kirchlicher Seite genötigt wurde. 6 T e x t : Rundschreiben erlassen von Unserem Heiligsten Vater Leo X I I I , Bd. 4 (o. J.), S. 92 ff. 7 Acta Sanctae Sedis 40 (1907), S. 266 ff. (268). 8 Vgl. Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 183. 9 Als Verfasser dieses Teils der Enzyklika gilt Joseph Lemius (1860 - 1923), Mitglied des Ordens der Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria, 1884 Priester u n d Repetitor i m K o l l e g seines Ordens i n Rom; 1894 Generalprokurator des Ordens; 1888 Konsultor der Studienkongregation der Kurie, 1913 auch der Indexkongregation.
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Sowohl mit ihrer abstrakten Definition des Modernismus als auch mit ihrer Ankündigung disziplinarischen Einschreitens rief die Enzyklika alsbald lebhaften Widerspruch hervor. Auf das von den italienischen Modernisten verfaßte „Programma dei Modernisti" 11 erwiderte Papst Pius X. mit dem Motu proprio vom 18. November 1907, in dem er den Syllabus und die Enzyklika „Pascendi" kraft seiner apostolischen Autorität feierlich erneuerte und die Widersetzlichen mit der Strafe der Exkommunikation bedrohte 12. Diese Strafandrohung wiederholte er in der Allokution vom 16. Dezember 1907, in der die Maßnahmen gegen den Modernismus zusammengefaßt waren (Nr. 156) 1S.
Nr. 154. Das Dekret „Lamentabili" der Kongregation für die heilige römische und universale Inquisition (Der „neue Syllabus") vom 3. J u l i 1907 (Lateinischer Text und deutsche Ubersetzung: A. Michelitsch, Der biblisch-dogmatische „Syllabus" Pius X. samt der Enzyklika gegen den Modernismus und dem M o t u proprio vom 18. November 1907, 2. Aufl. 1908, S. 126 ff.) — Auszug — E i n beklagenswertes Verhängnis ist es fürwahr, daß unsere jedes Zügels überdrüssige Zeit i n ihrem Streben nach den Höhen der Erkenntnis nicht selten dem Neuen derart nachjagt, daß sie m i t Preisgabe sozusagen des Geisteserbes der Menschheit i n die schwersten I r r t ü m e r verfällt. Solche I r r t ü m e r müssen aber umso verderblicher sein, wenn es sich u m die heiligen Wissenschaften handelt, u m die Auslegung der Heiligen Schrift und u m die H a u p t 10 Als Verfasser der Schlußteile der Enzyklika gilt José Calasanz Vives y Tuto (1854 - 1913), 1869 Kapuziner, ab 1884 i m Dienst verschiedener kurialer Kongregationen; 1899 K a r d i n a l ; 1908 Präfekt der Religiosen-Kongregation; einflußreicher theologischer Berater Pius X., deshalb „Vives fa tutto " genannt. 11 I I programma dei modernisti — Riposta all'enciclica di Pio X (1907). Hauptautor der Schrift w a r Buonaiuti (oben S. 375, Anm. 3). 12 T e x t : A. Michelitsch, Der biblisch-dogmatische „Syllabus" Pius X . samt der Enzyklika gegen den Modernismus und dem Motu proprio vom 18. November 1907 (2. Aufl. 1908). 13 Z u m Ganzen aus der zeitgenössischen L i t e r a t u r vor allem: A. Michelitsch, a.a . O.; A. Gisler, Der Modernismus (4. Aufl. 1913); K . Holl, Der Modernismus (1908), i n : Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I I I (1928), S. 437 ff.; J. Kübel, Geschichte des katholischen Modernismus (1909); A. v. Harnack, Die päpstliche Enzyklika von 1907, nebst zwei Nachworten, in: Aus Wissenschaft u n d Leben I (1911), S. 332 ff.; J. Schnitzer, Der katholische Modernismus (1912); J.Beßmer SJ, Philosophie und Theologie des Modernismus (1912); A. Houtin, Histoire du modernisme catholique (1913); zur neueren Forschung zusammenfassend: O. Schröder, Aufbruch und Mißverständnis. Z u r Geschichte der reformkatholischen Bewegung (1969); R. Aubert, Die modernistische Krise, i n : H. Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. VI/2 (1973), S. 435 ff.; E. Weinzierl (Hg.), Der Modernismus. Beiträge zu seiner Erforschung (1974); M. Bradbury/J. McFarlane (Hg.), Modernism 1890- 1930 (1976); Β. Greco, Ketzer oder Prophet? Evangelium und Kirche bei dem Modernisten Ernesto Buonaiuti (1881 - 1946) (1979).
I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
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geheimnisse des Glaubens. Da ist es überaus betrübend, daß es auch unter den Katholiken gar nicht wenige Schriftsteller gibt, welche die von den Vätern und von der Kirche selbst gezogenen Grenzlinien überschreiten und unter dem Scheine eines tieferen Verständnisses sowie unter dem Vorwande historischer Betrachtungsweise einen solchen Fortschritt der Dogmen suchen, der in Wirklichkeit deren Zerstörung ist. Damit nun derartige I r r t ü m e r , wie sie tagtäglich unter den Gläubigen ausgestreut werden, nicht i n ihren Seelen Wurzeln schlagen und die Reinheit des Glaubens zerstören, hat seine Heiligkeit unser Heiliger Vater Papst Pius X. bestimmt, daß durch die Behörde der heiligen römischen und allgemeinen Inquisition die hauptsächlichsten derselben gebrandmarkt und verworfen würden. Demzufolge haben die General-Inquisitoren i n Sachen des Glaubens und der Sitten, Ihre Eminenzen die hochwürdigsten Herren Kardinäle, nach sehr sorgfältiger Untersuchung und nach Anhörung der hochwürdigsten Herren Konsultoren i h r U r t e i l dahin abgegeben, daß die folgenden Sätze zu verwerfen und zu verurteilen seien, wie sie in vorliegendem Erlaß verworfen und verurteilt werden.
Irrtümer
über das Verhältnis der theologischen zum kirchlichen Lehramt
Wissenschaften
1. Das kirchliche Gesetz, welches vorschreibt, Bücher über die Heilige Schrift einer vorausgehenden Zensur zu unterbreiten, erstreckt sich nicht auf die Vertreter der B i b e l k r i t i k und der wissenschaftlichen Exegese der Bücher des A l t e n und Neuen Testamentes. . . . 2. Die Auslegung, welche die Kirche der Heiligen Schrift gibt, ist zwar nicht zu verachten, unterliegt jedoch der genaueren Beurteilung und Berichtigung von Seite der Exegeten. . . . 7. Die Kirche kann, wenn sie I r r t ü m e r v e r w i r f t , von den Gläubigen nicht eine innere Zustimmung zu diesem ihren U r t e i l verlangen. 8. Von aller Schuld frei sind jene zu erachten, welche über die Verurteilung der heiligen Kongregation des Index oder der anderen heiligen r ö m i schen Kongregationen sich hinwegsetzen.
Irrtümer
über die Inspiration
und die Evangelien
9. A l l z u große Einfalt oder Unwissenheit verraten jene, welche glauben, daß w i r k l i c h Gott der Urheber der Heiligen Schrift sei. 10. Die Inspiration der Bücher des A l t e n Testamentes bestand darin, daß israelitische Verfasser religiöse Lehren i n einer besonderen, den Heiden wenig oder gar nicht bekannten Auffassung überliefert haben.
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11. Die göttliche Inspiration erstreckt sich nicht so über die ganze Heilige Schrift, daß sie alle ihre einzelnen Teile vor jedem I r r t u m bewahrt. . . . 14. Bei mehreren Erzählungen gaben die Evangelisten nicht so sehr die Wahrheit wieder, als vielmehr das, was sie, trotzdem es falsch war, als nützlich für die Leser hielten. 15. Die Evangelien sind bis zur endgültigen Feststellung des Kanons beständig durch Zusätze und Korrekturen vermehrt worden; deshalb ist i n ihnen von der Lehre Christi bloß eine schwache und unsichere Spur verblieben. . . . 18. Johannes legt sich zwar den Charakter eines Zeugen für Christus bei; i n Wahrheit ist er aber nicht mehr als ein hervorragender Zeuge des christlichen Lebens Christi i n der Kirche am Ausgange des ersten Jahrhunderts. 19. Die nichtkatholischen Exegeten haben den wahren Sinn der Heiligen Schrift treuer wiedergegeben als die katholischen Exegeten. Irrtümer
über die Offenbarung
und die Dogmen im
allgemeinen
20. Die Offenbarung konnte nichts anderes sein, als das vom Menschen erworbene Bewußtsein über seine Beziehungen zu Gott. 21. Die Offenbarung, die den Gegenstand des katholischen Glaubens bildet, war m i t den Aposteln nicht abgeschlossen. 22. Die von der Kirche als geoffenbart angesehenen Dogmen sind nicht vom H i m m e l gefallene Wahrheiten, sondern eine Auslegung religiöser Erlebnisse, die der menschliche Geist durch mühsame Anstrengung sich errungen hat. 23. Zwischen den i n der Heiligen Schrift erzählten Tatsachen und den auf ihnen beruhenden Dogmen der Kirche kann ein Gegensatz bestehen und besteht tatsächlich ein solcher; darum kann der K r i t i k e r solche Tatsachen als falsch verwerfen, welche die Kirche als v ö l l i g sicher ansieht. . . . Irrtümer
über die Gottheit
Christi,
seine Person und sein Werk
27. Die Gottheit Christi läßt sich aus den Evangelien nicht beweisen; sondern sie ist ein Dogma, welches das christliche Bewußtsein aus der Messiasidee abgeleitet hat. 28. Jesus hat bei Ausübung seines Amtes nicht i n der Absicht gesprochen, u m von sich zu lehren, daß er der Messias sei, noch bezweckten seine Wunder diesen Nachweis. 29. M a n kann zugeben, daß der Christus der Geschichte weit unter dem Christus des Glaubens stehe. . . . 36. Die Auferstehung Christi ist nicht eigentlich ein Ereignis geschichtlicher Ordnung, sondern ein weder bewiesenes noch beweisbares Ereignis rein übernatürlicher Ordnung, welches das christliche Bewußtsein allmählich aus anderen abgeleitet hat.
I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
379
37. Der Glaube an die Auferstehung Christi galt anfangs nicht so sehr der Tatsache der Auferstehung, als vielmehr dem unsterblichen Leben Christi bei Gott. 38. Die Lehre vom Versöhnungstode Christi ist nicht evangelisch, sondern nur paulinisch. Irrtümer
über die Sakramente
im allgemeinen
und besondern
39. Die Meinungen über den Ursprung der Sakramente, von denen die tridentinischen Väter durchdrungen waren und welche auf ihre dogmatischen Kanones zweifellos eingewirkt haben, sind weit verschieden von denen, welche heute bei den Erforschern der christlichen Geschichte m i t Recht Platz gegriffen haben. 40. Die Sakramente haben ihren Ursprung daher, daß die Apostel und ihre Nachfolger eine Idee und Absicht Christi, als es die Umstände und Ereignisse nahelegten und anregten, ausgelegt haben. . . . Irrtümer
über die Verfassung
der Kirche
52. Es lag nicht in der Absicht Christi, die Kirche als eine Gesellschaft zu begründen, die auf Erden durch eine lange Reihe von Jahrhunderten bestehen sollte; vielmehr stand nach Christi Auffassung das Himmelreich zugleich m i t dem Weltende unmittelbar bevor. 53. Die organische Verfassung der Kirche ist nicht unveränderlich, sondern die christliche Gesellschaft ist ebenso wie die menschliche Gesellschaft einer steten Entwicklung unterworfen. 54. Die Dogmen, Sakramente und Hierarchie sind sowohl dem Begriffe als der Wirklichkeit nach nur Erläuterungen und Entwicklungen des christlichen Geistes, welche deren spärlichen i m Evangelium verborgenen K e i m durch äußeren Zuwachs vermehrt und vervollkommnet haben. 55. Simon Petrus hatte niemals auch nur eine A h n u n g davon, daß i h m von Christus der Primat in der Kirche übertragen worden sei. 56. Die römische Kirche ist nicht durch Anordnung der göttlichen V o r sehung, sondern durch rein politische Verhältnisse zum Haupte aller Kirchen geworden. Irrtümer
über Fortschritt,
Wahrheit
und christliche
Wahrheit
57. Die Kirche stellt sich dem Fortschritt der natürlichen und theologischen Wissenschaft feindlich entgegen. 58. Die Wahrheit ist nicht mehr unveränderlich als der Mensch selbst, da sie ja m i t ihm, in i h m und durch ihn sich entwickelt. 59. Christus hat keinen festbegrenzten Lehrinhalt gelehrt, der zu allen Zeiten und für alle Menschen anwendbar wäre, sondern vielmehr eine reli-
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. Kap.: Staat und katholische Kirche n de
t a p s
giöse Bewegung eingeleitet, die den verschiedenen Zeiten und Orten sich anpaßte oder angepaßt werden sollte. 60. Die christliche Lehre w a r i n ihren Anfängen jüdisch, wurde aber durch allmähliche Entwicklungen erst paulinisch, dann johanneisch, zuletzt hellenisch und universell. . . . 63. Die Kirche erweist sich unfähig, die E t h i k des Evangeliums w i r k s a m zu schützen, w e i l sie hartnäckig Lehren als unveränderlich festhält, die sich m i t den modernen Fortschritten nicht vertragen. 64. Der wissenschaftliche Fortschritt verlangt, daß die Begriffe der christlichen Lehre von Gott, Schöpfung, Offenbarung, der Person des fleischgewordenen Wortes und der Erlösung reformiert werden. 65. Der heutige Katholizismus verträgt sich nicht m i t der wahren Wissenschaft, wenn er nicht umgestaltet w i r d i n ein undogmatisches Christentum, d. h. i n einen weitgehenden u n d freisinnigen Protestantismus. A m . . . 4. J u l i 1907 hat S. Hl. Papst Pius X., nach genauer Berichterstattung über alles dieses an ihn, den Erlaß der Kardinäle gutgeheißen, bestätigt und befohlen, daß . . . jeder der oben angeführten Sätze von allen als verworfen und verboten zu betrachten seien.
Nr. 155. Enzyklika Papst Pius X. „Pascendi dominici gregis" über die Lehre der Modernisten v o m 8. September 1907 (Lateinischer Text u n d deutsche Ubersetzung: A. Michelitsch, Der biblischdogmatische „Syllabus" Pius X . samt der E n z y k l i k a gegen den Modernismus u n d dem M o t u proprio v o m 18. November 1907, 2. Aufl. 1908, S. 200 ff., 256 ff.) 14 — Auszug — Einleitung § 1. Aufgabe des Papstes Der Aufgabe, die Uns von oben erteilt worden ist, die Herde des H e r r n zu weiden, hat Christus als erste Pflicht zugewiesen, daß sie das anvertraute Glaubensgut sorgfältigst bewache gegenüber profanen Neuerungen i n der Sprache w i e gegenüber den Widersprüchen falscher Wissenschaft. Gewiß hat es keine Zeit gegeben, i n welcher eine solche Wachsamkeit f ü r das christliche V o l k nicht notwendig gewesen wäre. . . . Aber man muß es bekennen: i n der letzten Zeit ist die Z a h l der Feinde des Kreuzes und Jesu Christi ganz seltsam gewachsen, die m i t ganz neuen u n d hinterlistigen Kunstgriffen sich anstrengen, die Lebenskraft der Kirche zu vernichten u n d sogar, w e n n sie es 14 Der Übersichtlichkeit halber sind i m folgenden Abdruck die i m lateinischen Original nicht enthaltenen Zwischenüberschriften von Michelitsch übernommen.
I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
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vermöchten, das Reich Jesu Christi von G r u n d aus zu zerstören. W i r können nicht mehr länger schweigen, w e n n W i r nicht der heiligsten Unserer Pflichten untreu erscheinen wollen, u n d w e n n W i r nicht wollen, daß die Güte, die W i r bisher i n der Hoffnung auf Besserung w a l t e n ließen, als Pflichtvergessenheit ausgelegt werden könnte. § 2. Der Feind im eigenen Hause Was Uns v o r allem die Pflicht auferlegt, unverzüglich zu sprechen, ist die Tatsache, daß m a n die Helfershelfer des I r r t u m s heutzutage nicht mehr nur unter den erklärten Feinden zu suchen hat. Sie verbergen sich — und das ist ein G r u n d ernstester Besorgnis u n d Furcht — selbst i m Schoß u n d i m Herzen der Kirche, sind also u m so furchtbarere Feinde, je weniger offen ihre Feindschaft ist. W i r meinen die große Anzahl katholischer Laien, und was noch mehr zu bedauern ist, katholischer Priester, die unter dem Vorgeben der Liebe zur Kirche, ohne solide philosophische u n d theologische Vorbildung, dafür aber bis ins M a r k von dem Gift eines I r r t u m s durchtränkt, das sie bei den Gegnern des katholischen Glaubens geschöpft haben, sich höchst unbescheiden zu Kirchenreformern aufwerfen, sich i m kecken A n s t u r m an alles wagen, auch an das Heiligste, an Christi Werk, die nicht einmal vor der Person des göttlichen Erlösers h a l t machen u n d i h n sakrilegisch zu einem ganz gewöhnlichen Menschen herabsetzen. Diese Leute mögen staunen, daß W i r sie unter die Feinde der Kirche rechnen. Niemand w i r d aber m i t irgend einem Rechte darüber staunen, der ihre Absichten, über die n u r Gott zu urteilen hat, beiseite läßt, u n d lediglich ihre Lehren u n d demnach ihre A r t zu sprechen u n d zu handeln, prüfen w i l l . Feinde der Kirche sind sie gewiß, u n d w e n n m a n sagt, diese habe keine schlimmeren, so entfernt man sich nicht von der Wahrheit. Nicht von außen, w i e schon gesagt, nein, von innen heraus arbeiten sie auf deren Sturz hin. Die Gefahr ist heute fast i m Schöße der Kirche u n d i n ihren A d e r n selbst. Die Streiche, die sie führen, sind u m so sicherer, als sie gut wissen, w o h i n sie treffen müssen. Nicht auf Zweige u n d Schößlinge haben sie es abgesehen, sondern auf die Wurzel selbst, das heißt auf den Glauben u n d seine tiefsten Fasern. Ist einmal diese Wurzel unsterblichen Lebens abgeschnitten, so geben sie sich Mühe, das Gift durch den ganzen B a u m zu verbreiten. K e i n T e i l des katholischen Glaubens, der v o n ihrer H a n d unberührt bliebe, keiner, f ü r dessen Schädigung sie nicht alles täten! U n d während sie auf tausend Wegen ihre verderbliche Absicht verfolgen, sind sie von unerreichter Schlauheit u n d H i n t e r l i s t : sie spielen bald den Rationalisten, bald den K a t h o l i k e n u n d t u n das m i t einer so raffinierten Geschicklichkeit, daß sie leicht die weniger vorsichtigen Geister täuschen. I n der K ü h n h e i t bis zum äußersten gehend, schrecken sie vor keinerlei Folgerung zurück u n d bringen sie m i t unerschütterlicher Zuversicht vor. D a m i t verbinden sie — u n d das ist ganz besonders geeignet, über sie zu täuschen — ein sehr tätiges Leben, eine ungewöhnliche Beharrlichkeit u n d größten Eifer bei allen Studien u n d meist auch das Streben nach dem Ruhme eines sittenstrengen Wandels. Schließlich — und das läßt fast an der Heilung verzweifeln — haben ihre Lehren ihre
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Seele so verkehrt, daß sie Verächter aller A u t o r i t ä t geworden sind und keinerlei Zügel mehr dulden. I m Vertrauen auf eine trügerische Gewissensverfassung versuchen sie der Wahrheitsliebe das zuzuschreiben, was i n Wirklichkeit einzig ihrem Stolze u n d ihrer Halsstarrigkeit zuzuschreiben ist. § 3. Die hinterlistige
Taktik
der Modernisten
Allerdings hatten W i r gehofft, sie w ü r d e n sich eines Tages eines Besseren besinnen, und zu diesem Zwecke hatten W i r Uns ihnen gegenüber gleich w i e Söhnen erst der Milde, dann der Strenge und endlich, nur sehr ungern, öffentlichen Tadels bedient. I h r kennt die Fruchtlosigkeit Unserer Bemühungen. Einen Augenblick senkten sie das Haupt, u m es dann u m so hochmütiger wieder zu erheben. U n d w e n n es sich n u r u m sie handelte, dann könnten w i r über die Sache vielleicht schweigen; aber es ist die katholische Religion u n d ihre Sicherheit, die auf dem Spiele steht. Fort also m i t dem Schweigen, das nunmehr ein Verbrechen sein würde. Es ist Zeit, diesen Leuten da die Maske abzureißen u n d sie der Gesamtkirche so zu zeigen, w i e sie sind. Da es eine T a k t i k der Modernisten ist — so nennt man sie allgemein und m i t Recht — i n ihrer i n Wahrheit sehr hinterlistigen T a k t i k ihre Lehren niemals methodisch u n d i n ihrer Gesamtheit auseinanderzusetzen, sondern sie gewissermaßen zu zerstückeln u n d dahin u n d dorthin zu zerstreuen, was dazu führt, dieselben als unbestimmt anzusehen, während doch ihre Ideen i m Gegenteil vollständig fest umgrenzt u n d ständig sind, so ist es von Bedeutung, an dieser Stelle vor allem eben diese Lehren von Einem Gesichtspunkte aus zu zeigen u n d das logische Band aufzudecken, das sie untereinander verbindet. W i r behalten Uns vor, i n der Folge die Ursache der I r r tümer anzugeben u n d die zur Beseitigung des Übels geeignetsten M i t t e l vorzuschreiben. U m m i t aller K l a r h e i t i n einer tatsächlich sehr verwickelten Sache v o r zugehen, muß man an allererster Stelle feststellen, daß die Modernisten in sich sozusagen mehrere Persönlichkeiten vereinigen und verquicken: den Philosophen, den Gläubigen, den Theologen, den Historiker, den K r i t i k e r , den Apologeten, den Reformator — Persönlichkeiten, die voneinander zu trennen sehr wichtig ist, wenn man ihr System gründlich kennen u n d sich von den Prinzipien wie den Folgerungen ihrer Lehre Rechenschaft geben will. Erster Teil Analyse der modernistischen Hypothesen I. Die modernistische §4. 1. Der
Philosophie
Agnostizismus
U m m i t der Philosophie zu beginnen, so machen die Modernisten zur Basis ihrer religiösen Philosophie die allgemein Agnostizismus genannte Lehre. Die menschliche Vernunft, streng auf den Kreis der sichtbaren Erscheinungen beschränkt, . . . hat weder die Möglichkeit noch das Recht, deren Grenzen zu
I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
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überschreiten. Sie ist also nicht fähig, sich bis zu Gott zu erheben, nicht einm a l mittels der Geschöpfe seine Existenz zu erkennen — so lautet diese Lehre. . . . Wie kommen n u n die Modernisten von dem Agnostizismus, der eigentlich nichts anderes ist als Unwissenheit, zum wissenschaftlichen u n d historischen Atheismus, der i n völliger Verneinung aufgeht? Durch welche Künstelei der Vernunft gelangen sie bei ihrer völligen Unkenntnis darüber, ob Gott i n die Geschichte der Menschheit eingegriffen hat, zur E r k l ä r u n g dieser selben Geschichte absolut ohne Gott, von dem sie sagen, daß er daran keinerlei wirklichen A n t e i l gehabt habe? Das verstehe, w e r kann. I m m e r h i n ist eins f ü r sie selbstverständlich u n d feststehend: nämlich, daß die Wissenschaft atheistisch sein muß u n d ebenso die Geschichte. I m Gebiete der einen w i e der andern haben nur die greifbaren Erscheinungen Platz, Gott und das Göttliche sind daraus verbannt Welche Folgerungen sich aus dieser abgeschmackten Lehre hinsichtlich der heiligen Person des Erlösers, der Geheimnisse seines Lebens und Todes, seiner Auferstehung und glorreichen H i m melfahrt ergeben, das werden w i r gleich sehen. . . . § 5. 2. Die vitale Immanenz;
der Gefühlsglaube
Der Agnostizismus ist nur die negative Seite i n der Lehre der Modernisten. Die positive Seite w i r d von dem gebildet, was man die vitale Immanenz nennt. . .. Ob natürlich oder übernatürlich, verlangt die Religion wie jede andere Tatsache eine Erklärung. Ist n u n einmal die natürliche Theologie abgelehnt, jeder Weg zur Offenbarung . . . verschlossen, . . . so ist es klar, daß man diese E r k l ä r u n g nicht außerhalb des Menschen suchen darf. Also findet sie sich i m Menschen selbst, und da die Religion eine F o r m des Lebens ist, eben i m Leben des Menschen. Das ist die religiöse Immanenz. N u n hat jedes vitale Phänomen . . . zum ersten A n t r i e b . . . ein Bedürfnis, zur ersten Äußerung jene Gefühl genannte Bewegung des Herzens. Folglich beruht . . . der Glaube, dieses Prinzip und diese Grundlage jeder Religion, auf einem gewissen inneren Gefühl, das seinerseits durch das Bedürfnis nach Göttlichem erzeugt worden ist. Da dieses Bedürfnis sich nur unter gewissen bestimmten und günstigen Bedingungen zeigt, so gehört es an und für sich nicht zum Bereiche des Bewußten. Es ist anfangs unterhalb des Bewußtseins verborgen, und zwar nach einem der modernen Philosophie entlehnten Worte i n dem „ U n t e r bewußten", i n welchem seine Wurzel verborgen und versteckt liegt. . . . Dieses Gefühl ist für die Modernisten der Glaube u n d der so verstandene Glaube der Beginn der Religion. § 6. 3. Das religiöse Gefühl und die Offenbarung; Transfiguration und Defiguration . . . U n d sie fügen hinzu: Da Gott Ursache und Gegenstand des Glaubens 1st, so stammt jene Offenbarung über Gott gleichzeitig von Gott; m i t anderen Worten: Gott ist darin gleichzeitig Offenbarer u n d Offenbarter. Daher jene
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3. Kap.: Staat und katholische Kirche i n der Amtszeit Papst Pius X .
abgeschmackte Lehre der Modernisten, daß jede Religion gleichzeitig n a t ü r lich u n d übernatürlich ist, je nach dem Standpunkt. Daher die Verwechslung von Bewußtsein u n d Offenbarung, daher endlich das Gesetz, welches das religiöse Bewußtsein zum universellen Gesetz erhebt, das vollständig gleichberechtigt ist m i t der Offenbarung und dem jedermann sich zu unterwerfen hat, selbst die höchste A u t o r i t ä t i n ihrer dreifachen Äußerung nach Lehre, K u l t u s und Disziplin. . . . Sehen w i r nun, was geschieht : Das Unerkennbare i n seiner Verbindung m i t einer Erscheinung reizt den Glauben, der sich dann auf die Erscheinung selbst w i r f t u n d sie gewissermaßen m i t seinem eigenen Leben durchdringt. Daraus ergeben sich zwei Folgerungen. A n erster Stelle k o m m t es zu einer A r t Transfiguration der Erscheinung, welche der Glaube über sich selbst u n d ihre wahre Realität erhebt, gleichsam u m sie der göttlichen Form, die er i h r geben w i l l , besser anzupassen. A n zweiter Stelle vollzieht sich eine A r t von Defiguration der Erscheinung, w e n n m a n dieses Wort anwenden darf, die darin besteht, daß der Glaube, nachdem er sie den Bedingungen von Raum u n d Zeit entzogen hat, dazu übergeht, ihr Dinge zuzuteilen, die der Realität nach i h r nicht zukommen. Das geschieht vor allem dann, w e n n es sich u m eine Erscheinung der Vergangenheit handelt, u n d u m so leichter, je weiter diese Vergangenheit zurückliegt. Aus dieser doppelten Operation leiten die Modernisten zwei Gesetze ab, die, zu einem d r i t t e n gesellt, welches bereits vom Agnostizismus aufgestellt wurde, die Grundlage ihrer historischen K r i t i k bilden. . . . I n der Person Christi, sagen sie, stoßen Wissenschaft u n d Geschichte auf nichts anderes als auf einen Menschen. Aus seiner Geschichte also muß man auf G r u n d des ersten, auf dem Agnostizismus begründeten Gesetzes alles beseitigen, was sich als göttlich charakterisiert. Die geschichtliche Person Christi ist durch den Glauben transfiguriert worden, also muß man aus seiner Geschichte nach dem zweiten Gesetz alles das entfernen, was i h n über die historischen Bedingungen hinaushebt. Schließlich ist dieselbe Person Christi durch den Glauben defiguriert worden, also muß man kraft des d r i t ten Gesetzes außerdem aus seiner Geschichte die Worte, die Handlungen, m i t einem Wort alles ausmerzen, was nicht seinem Charakter, seiner Stellung, seiner Erziehung, dem Orte u n d der Zeit, i n der er lebte, entspricht. Diese A r t Schlüsse zu ziehen, . . . das ist modernistische K r i t i k . Das religiöse Gefühl, das auf diese Weise mittels vitaler Immanenz aus den Tiefen des Unterbewußtseins hervorsprudelt, ist der K e i m jeglicher Religion, wie es der G r u n d alles dessen ist, was i n irgend einer Religion w a r oder jemals sein kann. Dunkel, beinahe ungestaltet i m Ursprung, hat dieses Gefühl sich fortschreitend entwickelt unter dem geheimen Einfluß des P r i n zips, das i h m das Sein gab u n d i m gleichen Schritt m i t dem menschlichen Leben, von dem es, w i e gesagt wurde, eine F o r m bildet. So entstanden alle Religionen, die übernatürlichen Religionen eingeschlossen. A l l e sind sie nichts als Ausflüsse dieses Gefühls. M a n erwarte nicht, daß zu Gunsten der katholischen Religion eine Ausnahme gemacht werde, sie w i r d m i t allen anderen auf gleichen Fuß gestellt. Ihre Wiege w a r das Bewußtsein Jesu
I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
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Christi, eines Mannes v o n auserlesenem Wesen, w i e es keines gegeben hat u n d keines mehr geben w i r d . Dort ist sie geboren, aus keinem andern P r i n zip heraus als aus der vitalen Immanenz. M a n staunt über eine solche K ü h n h e i t der Behauptung, über eine solche Gotteslästerung. Es sind aber keineswegs die Ungläubigen allein, die solche Verwegenheiten vorbringen, es sind Katholiken, j a es sind Priester, v o n denen manche dies offen vorbringen; u n d dabei rühmen sie sich noch, m i t solchen Sinnlosigkeiten die Kirche zu erneuern. Es handelt sich hier nicht mehr u m den alten I r r t u m , welcher die menschliche N a t u r m i t einer A r t Anspruch auf übernatürliche Stellung begabte. Wie weit ist m a n schon darüber hinausgekommen! I n dem Menschen, der Jesus Christus ist, . . . ist unsere heilige Religion nichts anderes als die eigenste spontane Frucht der Natur. . . . § 7. 4. Verstand und Glaube Nach den Modernisten hat der V e r s t a n d . . . seinen A n t e i l an dem A k t des Glaubens. . . . Das G e f ü h l . . . — eben w e i l es Gefühl und nicht Erkenntnis ist — läßt Gott i m Menschen erstehen; aber noch i n so unbestimmter Weise, daß Gott sich i n Wahrheit darin gar nicht oder k a u m v o n dem Menschen selbst unterscheidet. Es muß also ein Licht dieses Gefühl bestrahlen, Gott darin schärfer zum Ausdruck bringen, u n d zwar i n einem gewissen Gegensatz zum Subjekt. Das ist die Aufgabe des Verstandes, der Fähigkeit zu denken u n d zu analysieren, deren der Mensch sich bedient, u m zunächst i n v e r standesmäßige Vorstellungen, dann auch i n wörtlichen Ausdruck die Erscheinungen des Lebens, deren Schauplatz er selbst ist, zu übertragen. Daher das bei den Modernisten landläufige W o r t : Der Mensch muß seinen Glauben denken. Der Verstand k o m m t also dem Gefühl zu Hilfe . . . Bei dieser A r b e i t hat n u n der Verstand einen zweifachen Weg einzuschlagen. Zunächst macht er durch einen natürlichen u n d spontanen A k t aus der Sache eine einfache u n d gewöhnliche Behauptung. Dann, m i t Hilfe von Reflexion u n d Studium, durch Gedankenarbeit, wie sie sagen, interpretiert er die ursprüngliche Formel m i t Hilfe von abgeleiteten, vertieften u n d schärfer gefaßten Formeln. Diese bilden dann, v o m Lehramt der Kirche sanktioniert, das Dogma. § 8. 5. Die Entstehung
und Natur der Dogmen
Das Dogma, sein Ursprung, sein Wesen, das ist ein H a u p t p u n k t i n der Lehre der Modernisten. Das Dogma hat nach ihnen seinen Ursprung i n p r i m i t i v e n u n d einfachen Formeln, die i n gewisser Beziehung dem Glauben wesentlich sind; denn die Offenbarung erfordert, u m w a h r zu sein, eine klare Erscheinung Gottes i n dem Bewußtsein. Das Dogma selbst, so scheint ihre Ansicht zu lauten, ist eigentlich i n den sekundären Formeln enthalten. U m sein Wesen richtig zu verstehen, muß m a n vor allem darauf sehen, welche Beziehungen bestehen zwischen den religiösen Formeln u n d dem religiösen Gefühl. Das ist nicht schwer aufzudecken, w e n n m a n seinen Blick auf den Zweck eben dieser Formeln richtet, der darin besteht, dem Gläubigen das 25 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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. Kap.: Staat u n d katholische Kirche n de
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M i t t e l zu verleihen, sich v o n seinem Glauben Rechenschaft zu geben. Sie bilden also zwischen dem Glaubenden u n d seinem Glauben ein Mittelstück: m i t Bezug auf den Glauben sind sie unzulängliche Zeichen seines Gegenstandes, Symbole; i m H i n b l i c k auf den Glaubenden sind sie reine W e r k zeuge. Daraus k a n n m a n schließen, daß sie nicht die absolute Wahrheit enthalten. A l s Symbole sind sie B i l d e r der Wahrheit, die sich dem religiösen Gefühl i n dessen Beziehungen zum Menschen anzupassen haben. A l s W e r k zeuge sind sie H i l f s m i t t e l der Wahrheit, die sich wieder dem Menschen i n seinen Beziehungen z u m religiösen Gefühl anzupassen haben; u n d da das Absolute, welches das Objekt dieses Gefühles ist, sich immerfort i n unendlichem Wechsel u n t e r verschiedenen Erscheinungen darbieten kann, da andererseits der Glaubende sich abwechselnd i n den verschiedensten Lagen befinden kann, folgt, daß die dogmatischen Formeln dem gleichen Geschick unterworfen, also veränderlich sind. So ist der Weg zur wesentlichen V e r änderung der Dogmen geöffnet. — Das ist eine ungeheuere Anhäufung v o n Sophismen, i n der jede Religion i h r Todesurteil findet. E v o l u t i o n u n d Wechsel sind f ü r das Dogma nicht n u r Möglichkeit, sondern Notwendigkeit. Das behaupten die Modernisten m i t Bestimmtheit. . . . B e i solch unsicherem, unbeständigem Charakter der dogmatischen F o r m e l n versteht m a n es sehr gut, w a r u m die Modernisten sie so gering achten, w e n n sie sie nicht geradezu offen verachten. Das religiöse Gefühl, das r e l i giöse Leben dagegen haben sie beständig auf den Lippen, das preisen sie stets. D a r u m tadeln sie auch die Kirche aufs heftigste, als w e n n sie auf f a l schem Wege sich befände, als w e n n sie v o n der materiellen Bedeutung der Formeln deren religiösen u n d moralischen Sinn nicht zu unterscheiden wisse, als w e n n sie sich hartnäckig u n d unnütz auf eitle u n d leere Formeln festlege u n d unterdessen die Religion zu Grunde gehen l a s s e . . . . IL Der modernistische
Glaube
§ 9. 1. Wesen der Religion und Tradition Das ist der modernistische Philosoph. W e n n w i r n u n zum Gläubigen übergehend, wissen wollen, w o r i n er sich bei diesen selben Modernisten v o m Philosophen unterscheidet, so ist zunächst festzustellen: Der Philosoph läßt w o h l die göttliche Realität als Gegenstand des Glaubens zu, aber diese Realität existiert f ü r i h n nirgendwo anders als i m Gemüte des Gläubigen, das heißt als Gegenstand seines Gefühles u n d seiner Bejahung, geht also überhaupt nicht über die Erscheinungswelt hinaus. Ob weiter das Göttliche i n sich selbst außerhalb des Gefühles u n d derartiger Behauptungen existiere, übergeht der Philosoph u n d läßt es unbeachtet. Dagegen gilt es dem modernistischen Gläubigen als sicher u n d ausgemacht, daß die göttliche W i r k l i c h keit tatsächlich i n sich, nicht vollständig abhängig vom Gläubigen, existiere. Fragt m a n nun, w o r a u f diese Gewißheit sich schließlich gründet, so antw o r t e n die Modernisten: auf die individuelle Erfahrung. D a m i t trennen sie sich v o n den Rationalisten, jedoch nur, u m der Lehre der Protestanten u n d der Pseudomystiker zu verfallen. . . .
I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
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E i n anderer Punkt, i n dem sich die Modernisten i n offensten Widerspruch m i t dem katholischen Glauben setzen, ist, daß sie das Prinzip der religiösen Erfahrung auf die T r a d i t i o n übertragen. Die T r a d i t i o n w i r d dadurch, so w i e die Kirche sie versteht, vollständig zu Grunde gerichtet. Was ist überhaupt die T r a d i t i o n f ü r die Modernisten? Die anderen gemachte M i t t e i l u n g irgend einer ursprünglichen Erfahrung durch das M i t t e l der Predigt u n d auf dem Wege der intellektuellen Formeln. Diesen letzteren schreiben sie über die repräsentative K r a f t , w i e sie es nennen, hinaus noch eine suggestive K r a f t zu, die, sei es auf den Glaubenden selbst e i n w i r k t , u m i n i h m das vielleicht eingeschläferte religiöse Gefühl aufzuwecken oder u m i h m die Wiederholung der bereits gemachten Erfahrungen zu erleichtern, sei es auf die Nichtglaubenden e i n w i r k t , u m i n ihnen das religiöse Gefühl erstmals anzuregen u n d sie zu den f ü r ihre Person gewünschten Erfahrungen zu leiten. A u f diese Weise verbreitet sich die religiöse Erfahrung durch die V ö l k e r u n d nicht n u r unter den Zeitgenossen durch die eigentliche Predigt, sondern auch von Geschlecht zu Geschlecht durch die Schrift oder durch mündliche V e r mittlung. N u n hat diese M i t t e i l u n g v o n Erfahrungen ein sehr wechselndes Schicksal. B a l d faßt sie Wurzeln u n d wächst, bald w e l k t sie u n d verdorrt. Das ist übrigens f ü r die Modernisten, f ü r die Leben u n d Wahrheit eins sind, der Prüfstein f ü r die Wahrheit der Religionen: Lebt eine Religion, ist sie w a h r ; wäre sie nicht wahr, so würde sie nicht leben. Hieraus schließt m a n dann: A l l e existierenden Religionen sind also wahr. §10. 2. Glaube und Wissenschaft W i r haben jetzt mehr als nötig Material, u m uns eine genaue Vorstellung der Beziehungen zu machen, die sie zwischen Glauben u n d Wissenschaft... aufstellen. Zunächst sind ihre Objekte untereinander vollkommen fremd, eines gegen das andere abgeschlossen. Objekt des Glaubens ist nämlich n u r das allein, was die Wissenschaft f ü r sich als unerkennbar erklärt Die Wissenschaft k ü m m e r t sich n u r u m die Erscheinungen; der Glaube hat m i t ihnen nichts zu tun. Der Glaube geht ganz auf das Göttliche, über welches die Wissenschaft ganz u n d gar nichts weiß. Daraus schließt man, daß z w i schen Wissenschaft u n d Glauben ein Streit unmöglich sei: denn w e n n jeder T e i l i n seinem eigenen Hause bleibe, könne niemals einer auf den andern stoßen, beide sich also auch niemals widersprechen. Wendet m a n hingegen ein, daß es gewiß Dinge i n der sichtbaren N a t u r gebe, die ebenso auch zum Gebiet des Glaubens gehören, w i e zum Beispiel das menschliche Leben Jesu Christi, so leugnen sie es. Gewiß, sagen sie, ist es wahr, daß die Dinge da ihrer N a t u r nach zur Welt der Erscheinungen gehören; aber insoweit sie v o m Leben des Glaubens durchdrungen sind u n d soweit sie i n der vorher bezeichneten A r t durch den Glauben transfiguriert u n d defiguriert sind, sind sie unter diesem besonderen Gesichtspunkt der sensiblen Welt entzogen u n d i n die Kategorie des Göttlichen übertragen. Die weitere Frage, ob Jesus w i r k l i c h Wunder getan u n d wahrhaftige Prophezeiungen ausgesprochen, ob er auferstanden u n d i n den H i m m e l aufgefahren sei, w i r d die agnostische Wissenschaft m i t „Nein", der Glaube m i t „Ja" beantworten. Daraus w i r d aber durchaus k e i n K a m p f zwischen beiden entstehen. Die Verneinung 25*
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k o m m t von dem Philosophen, der zu Philosophen spricht u n d Jesus Christus n u r nach der geschichtlichen Realität ins Auge faßt. Die Bejahung k o m m t v o n dem Glaubenden, der sich an Glaubende wendet u n d der das Leben Jesu Christi aufs neue durch den Glauben u n d i n dem Glauben erlebt ansieht. . . . Was die Lehren der Modernisten noch heller beleuchten w i r d , das ist i h r denselben vollständig angepaßtes Verhalten. Hört m a n sie, liest m a n sie, könnte man versucht sein zu glauben, sie verfielen i n Widerspruch m i t sich selbst, so schwankend u n d unbestimmt sind sie. Aber dem ist nicht so. Alles ist abgewogen, alles ist bei ihnen gewollt, aber i m Lichte des Prinzips, daß Glaube u n d Wissenschaft einander fremd sind. Eine Seite i n ihren Werken könnte v o n einem K a t h o l i k e n unterschrieben werden, wendet m a n um, meint man einen Rationalisten zu lesen. Schreiben sie Geschichte: keinerlei E r w ä h nung der Göttlichkeit Christi, bei der Predigt aber i n den Kirchen verkünden sie sie laut. Als Historiker schätzen sie Väter u n d Konzile gering, als K a t e cheten führen sie sie ehrend an. Paßt m a n genau auf, so findet man bei ihnen zwei scharf voneinander unterschiedene Exegesen: die theologische u n d pastorale Exegese — die wissenschaftliche und historische Exegese. K r a f t des Prinzips, daß die Wissenschaft i n keiner Weise etwas m i t dem Glauben zu t u n habe, geben sie, w e n n sie über Philosophie, Geschichte oder K r i t i k abhandeln, auf tausenderlei Weise, ohne dabei v o r den Spuren Luthers zurückzuschrecken 15 , ihrer Geringschätzung gegenüber den katholischen L e h ren, den Lehren der heiligen Väter, der ökumenischen Konzile, des kirchlichen Lehramtes Ausdruck. Werden sie deswegen getadelt, erheben sie ein Geschrei u n d beklagen sich bitter, daß man ihre Freiheit verletzte. Endlich davon ausgehend, daß der Glaube der Wissenschaft untergeordnet sei, tadeln sie die Kirche offen u n d bei jeder Gelegenheit, w e i l sie sich darauf versteife, die Glaubenssätze den Meinungen der Philosophen nicht zu unterwerfen u n d nicht anzupassen. Ihrerseits bemühen sie sich, nachdem sie m i t der alten Theologie aufgeräumt haben, eine andere einzuführen, welche den H i r n gespinsten dieser selben Philosophen gegenüber sich gefällig erweist. III.
Die modernistische
§11. 1. Immanenz-Permanenz
Theologie und
Symbolismus
Nunmehr t r i t t uns der theologische Modernismus entgegen. Der Gegenstand ist verwickelt, aber i n kurzem abgetan. Es k o m m t i h m darauf an, Wissenschaft u n d Glauben zu versöhnen; selbstverständlich soll nach i h m der Glaube sich der Wissenschaft unterordnen. Die Methode des theologi15 Satz 29 der von Leo X. i n der Bulle „Exsurge Domine" vom 16. M a i 1520 verurteilten Sätze Luthers: „Uns steht der Weg offen, die A u t o r i t ä t der K o n zilien umzustoßen, ihren Ergebnissen frei zu widersprechen, ihre Beschlüsse zu verurteilen u n d freimütig zu bekennen, was uns als w a h r erscheint, mag es von was i m m e r einem K o n z i l gebilligt oder m i ß b i l l i g t sein" (Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion Symbolorum, Definitionum et Declarationum, 34. Aufl. 1967, 1479; vgl. die Resolutiones Lutherianae super propositionibus suis Lipsiae disputatis, 1519, i n : Weimarer Ausgabe 1, S. 323, Z. 4 - 6).
I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
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sehen Modernismus besteht darin, die gleichen Grundsätze, wie die moderne Philosophie zu befolgen u n d sie dem Gläubigen mundgerecht zu machen; das aber sind die Prinzipien der Immanenz u n d des Symbolismus. Das Vorgehen ist einfach so. Der Philosoph sagt: Das Prinzip des Glaubens ist uns i m m a nent; der Gläubige fügt hinzu: Dieses Prinzip ist Gott; n u n schließt der Theologe: Also ist Gott dem Menschen immanent — die theologische I m m a nenz. Ebenso sagt der Philosoph: Was als Gegenstand des Glaubens vorgestellt w i r d , sind reine Symbole; der Gläubige fährt fort: Der Gegenstand des Glaubens ist Gott an sich; der Theologe schließt nun: Die Wesenheit Gottes, wie sie uns i m Glauben vorgestellt w i r d , ist rein symbolisch — der theologische Symbolismus. § 12. 2. Entstehung
der Dogmen und Sakramente
W i r haben bisher besonders von dem Ursprung u n d der N a t u r des Glaubens gehandelt. I n dem System der Modernen hat der Glaube mehrere Ausläufer, deren hauptsächlichste sind: die Kirche, das Dogma, der religiöse Kultus, endlich die Heilige Schrift. W i r w o l l e n untersuchen, was die Modernisten darunter verstehen. . . . Die Sakramente sind f ü r die Modernen reine Zeichen oder Symbole. . . . M a n vergleicht sie m i t gewissen Worten, von denen m a n zu sagen pflegt, daß sie i n Schwung gekommen, w e i l sie die K r a f t haben, gewaltige u n d durchdringende Ideen auszustrahlen, die Eindruck u n d Bewegung v e r u r sachen. Wie diese Worte sich verhalten zu diesen Ideen, ebenso die Sakramente zum religiösen Empfinden. Nichts mehr. Ebenso könnte m a n u n d m i t mehr K l a r h e i t sagen, daß die Sakramente n u r eingesetzt seien, u m den Glauben zu stärken, ein Satz, den das K o n z i l von Trient verworfen hat: „ W e n n jemand sagt, die Sakramente seien n u r eingesetzt, u m den Glauben zu stärken, der sei ausgeschlossen" 16 . § 13. 3. Entstehung
der Heiligen Schrift
Sodann die Heilige Schrift. Uber den Ursprung u n d die N a t u r der heiligen Bücher haben w i r bereits einiges angedeutet (§ 11). Wenn man sie genau definieren w i l l , muß m a n sagen, sie seien die Sammlung von Erfahrungen, die i n einer gegebenen Religion gemacht sind, nicht der allgemeinen u n d volkstümlichen Erfahrungen, sondern der außergewöhnlichen u n d besonderen. Das gilt von dem A l t e n und dem Neuen Testamente ebenso w i e v o n anderen Büchern. Sie fügen eine von i h r e m Standpunkte recht vorsichtige Bemerkung hinzu, daß nämlich die Erfahrung sich zwar stets auf die Gegenw a r t richte, aber dennoch ihren Stoff auch i n der Vergangenheit oder i n der Z u k u n f t schöpfen könne, so daß der Gläubige unter der F o r m der Gegenwart die vergangenen Dinge erlebt, die er i n seiner Erinnerung aufleben läßt, u n d 16
Decretum de sacramentis can. 5 (Denzing er-Schönmet zer, a. a. O., 1605).
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Kap.: Staat u n d katholische Kirche n de
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die zukünftigen, die er durch sein Voraussehen vorwegnimmt. U n d so gebe es denn unter den heiligen Büchern historische und apokalyptische. Gott spricht i n diesen heiligen Büchern durch den M u n d des Gläubigen, allerdings i m Geiste der modernen Theologie vermittels der Immanenz u n d der vitalen Permanenz. Fragt m a n sie nun, was von der Inspiration zu halten sei, so sagen sie, die Inspiration unterscheide sich i n nichts, höchstens durch die Intensität, v o n dem Bedürfnisse, das jeder Gläubige hat, seinen Glauben durch W o r t oder Schrift mitzuteilen. . . . Diese Inspiration, so sagen sie w e i ter, schließt alles i n der Heiligen Schrift i n sich. . . . M a n fängt m i t der E r k l ä r u n g an, entsprechend den Prinzipien des Agnostizismus, daß die Bibel Menschenwerk sei, v o n Menschen für Menschen geschrieben, u m dann theologisch zu sagen, sie sei göttlich infolge der Immanenz. Wodurch könnte da die Inspiration überhaupt eine Einschränkung erfahren? A l l g e m e i n ist eine solche Inspiration i m modernen Sinne allerdings; i n katholischem Sinne ist es überhaupt keine mehr. § 14. 4. Ursprung
und Wesen der Kirche
Bei der Kirche werden uns die Phantasiegebilde der Modernen noch mehr Stoff geben. Die Kirche ist geboren aus einem zweifachen Bedürfnisse: aus dem einen, das jeder Gläubige empfindet, zumal w e n n er einige selbständige Erfahrung hat, seinen Glauben mitzuteilen, u n d dann, w e n n dieser Glaube allgemein oder, w i e man sagt, k o l l e k t i v geworden ist, aus dem andern Bedürfnisse, sich gesellschaftlich zu organisieren, u m den gemeinsamen Schatz zu wahren, zu mehren, zu verbreiten. Was ist also die Kirche? Die Frucht des Kollektivbewußtsein, anders ausgedrückt: der Einzelbewußtseine i n ihrer Vereinigung, der Bewußtseine, die k r a f t der vitalen Permanenz von einem ersten Gläubigen sich herleiten, f ü r die K a t h o l i k e n nämlich von Jesus C h r i stus. — N u n hat jegliche Gesellschaft eine leitende A u t o r i t ä t notwendig, die ihre Glieder zu dem gemeinsamen Ziele h i n f ü h r t , die zugleich durch kluge konservative H a l t u n g die wesentlichen Merkmale bewahrt, das heißt i n einer religiösen Gesellschaft: das Dogma u n d den Kultus. Daher denn i n der k a tholischen Kirche die dreifache Gewalt, die Disziplinargewalt, die L e h r gewalt, die Priestergewalt. Aus dem Ursprünge dieser A u t o r i t ä t leitet sich ihre N a t u r her, aus ihrer N a t u r dann ihre Rechte u n d Pflichten. I n früheren Zeiten w a r es ein allgemeiner I r r t u m , daß die A u t o r i t ä t v o n außen der Kirche erteilt worden sei, nämlich u n m i t t e l b a r v o n Gott; damals konnte man m i t Fug u n d Recht die Kirche autokratisch nennen. A b e r davon ist man heute ganz abgekommen. Ebenso w i e die Kirche eine vitale Emanation des Kollektivbewußtseins ist, ebenso ist die A u t o r i t ä t ihrerseits ein vitales Prod u k t der Kirche. Das religiöse Bewußtsein ist also der Ursprung der A u t o r i tät gerade w i e der Kirche selbst; u n d d a r u m hängt sie v o n i h m ab. Vergißt oder mißkennt die A u t o r i t ä t diese Abhängigkeit, dann w i r d sie zur Tyrannei. W i r stehen i n einer Zeit, wo das Gefühl der Freiheit i n voller Entwicklung ist; i n der staatlichen Ordnung hat dieses Bewußtsein die konstitutionelle Regierung geschaffen. N u n gibt es aber nicht zweierlei Bewußtsein i m M e n schen, ebensowenig w i e zweierlei Leben. W e n n n u n die kirchliche A u t o r i t ä t
I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
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nicht i m Bewußtsein der Menschen einen inneren K o n f l i k t heraufbeschwören u n d schüren w i l l , dann muß sie sich den demokratischen Formen fügen. U n d t u t sie das nicht, dann ist sie zu Ende. Denn es wäre widersinnig, zu denken, das Gefühl der Freiheit, das einmal da ist, könne zurückweichen. Wollte m a n es eindämmen m i t Gewalt u n d Zwang, die Explosion müßte furchtbar sein; sie würde alles hinwegfegen, Kirche u n d Religion. Solcher A r t sind hier die Lehren der Modernen, u n d daher r ü h r t denn ihre große Sorge, einen M i t t e l weg zu finden zwischen Kirchenautorität u n d Volksautorität. §15. 5. Das Verhältnis
von Kirche und Welt
Doch die Kirche soll sich nicht bloß freundschaftlich m i t den I h r i g e n auseinandersetzen; sie hat nicht bloß Beziehungen nach innen, sie hat auch solche nach außen. Denn nicht sie allein umfaßt die W e l t ; neben i h r gibt es andere Gemeinschaften, m i t denen sie notwendig zusammenwirken u n d sich berühren muß. Wie sind n u n diesen gegenüber ihre Rechte u n d ihre Pflichten? M a n muß sie bestimmen, u n d selbstverständlich nach keinem andern Prinzip als nach ihrer eigenen N a t u r Die Regeln, die sie anwenden, sind die nämlichen wie f ü r Wissenschaft u n d Glauben, n u r daß es sich dort u m die Objekte, hier u m die Ziele handelt. Ebenso nämlich, w i e Glaube u n d Wissenschaft einander fremd sind, i n Anbetracht ihrer verschiedenen Objekte, so sind es auch Kirche u n d Staat i n Anbetracht ihrer verschiedenen Ziele, des geistlichen für die Kirche, des zeitlichen f ü r den Staat. Einstens hat m a n das Zeitliche dem Ewigen u n t e r ordnen können; man konnte von gemischten Fragen sprechen, bei denen die Kirche als K ö n i g i n u n d Herrscherin erschien. Es k a m daher, daß m a n damals die Kirche als direkt v o n Gott eingesetzt ansah, insofern er nämlich der Urheber der übernatürlichen Ordnung ist. Heute jedoch verbinden sich Philosophie u n d Geschichte, u m diese Lehre zu widerlegen. Also Trennung v o n Kirche u n d Staat, v o n K a t h o l i k e n u n d Bürgern! Jeder K a t h o l i k , denn er ist j a zugleich Bürger, hat das Recht u n d die Pflicht, das öffentliche W o h l auf die A r t zu fördern, die er f ü r die beste hält, ohne sich zu k ü m m e r n u m die A u t o r i t ä t der Kirche, ohne ihren Wünschen, ihren Ratschlägen, ihren Geboten Rechnung zu tragen, selbst m i t Nichtachtung ihrer Verweise. Einem Bürger eine Richtlinie zu zeigen oder vorzuschreiben unter irgend einem Vorwande, ist ein Mißbrauch der kirchlichen Gewalt, der m i t aller Macht zurückzuweisen i s t . . . . Es genügt der modernen Richtung noch nicht die Trennung von Staat u n d Kirche. Ebenso w i e der Glaube sich der Wissenschaft unterordnen soll, was seine wechselvollen Elemente betrifft, so muß i n den zeitlichen Dingen die Kirche sich dem Staate fügen. Das sagen sie vielleicht nicht so offen; sie werden es sagen müssen, w e n n sie i n diesem Punkte konsequent sind. Gesetzt nämlich, daß i n den zeitlichen Dingen der Staat Herr ist, so muß, w e n n ein Christ sich einmal nicht m i t den inneren A k t e n der Religion begnügt u n d äußere hinzufügen w i l l , w i e es die V e r w a l t u n g oder der Empfang der Sakramente wäre, dieses notwendig u n d konsequenterweise unter die Macht des Staates fallen. U n d was gilt dann v o n der kirchlichen Autorität, bei der doch
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8. Kap.: Staat u n d katholische Kirche i n der Amtszeit Papst Pius X .
sozusagen jeder A k t sich äußerlich zeigt? Sie müßte sich dem Staate v o l l ständig unterwerfen. Das ist dann der evidente Schluß, der manche liberale Protestanten dazu brachte, jeden äußeren K u l t , ja jede äußere religiöse Gemeinschaft zu verwerfen u n d die Schaffung einer rein individuellen Religion zu versuchen. Wenn die Modernen auch noch nicht so w e i t gehen, das, was sie einstweilen verlangen, ist, die Kirche solle, ohne sich viel b i t t e n zu lassen, den modernen Richtungen folgen u n d schließlich sich den staatlichen Formen anpassen. Das sind ihre Ansichten über die Disziplinargewalt. §16. 6. Wesen und Anwendung
der kirchlichen
Lehrgewalt
Was n u n die L e h r - u n d dogmatische A u t o r i t ä t angeht, so sind darüber ihre Ideen v i e l mehr fortgeschritten u n d verderblich. . . . Keine religiöse Gemeinschaft, sagen sie, besitzt wirkliche Einheit, w e n n nicht das religiöse B e w u ß t sein ihrer Glieder eins ist u n d eins auch die Glaubensformel, die sie bekennen. . . . Aus der Vereinigung u n d sozusagen Verschmelzung dieser beiden Elemente, der Erkenntnis, die die Formel w ä h l t , u n d der Autorität, die sie vorstellt, ergibt sich f ü r die Modernen der Begriff des kirchlichen Lehramtes. W e i l dieses Lehramt seinen Ursprung i n dem Einzelbewußtsein hat u n d w e i l es zu dessen größtem Nutzen einen öffentlichen Dienst versieht, darum muß es sich ganz offenbar unterordnen, indem es sich den Formeln der Gesamtheit fügt. Dem Bewußtsein der einzelnen verbieten, offen u n d laut ihre Bedürfnisse zu verkünden, die den Dogmenfortschritt fördernde K r i t i k hemmen, das ist dann nicht mehr die A n w e n d u n g einer aus Nützlichkeitsgründen übertragenen Gewalt, es ist ein Mißbrauch der Autorität. — Auch beim Gebrauch der Gewalt selbst muß Maß u n d M i l d e walten. E i n W e r k v e r u r t e i len oder verbieten ohne Vorwissen des Verfassers u n d ohne Erklärungen seinerseits, ohne Diskussion, das grenzt wahrhaft an Tyrannei. K u r z : auch hier muß sich ein M i t t e l w e g finden lassen, durch den zugleich die Rechte der A u t o r i t ä t u n d der Freiheit gewahrt werden I m allgemeinen aber geben sie der Kirche folgende Vorschrift: Da der Zweck der kirchlichen Gewalt ein rein geistiger ist, so muß der ganze äußere Pomp, welcher sie i n den Augen der Zuschauer großartiger erscheinen läßt, beseitigt werden. Dabei vergessen sie, daß die Religion, w e n n sie auch H e r zenssache ist, doch nicht Herzenssache allein ist, u n d daß die Ehre, die m a n der A u t o r i t ä t erweist, zurückgeht auf Jesus Christus, der diese eingesetzt hat. [§§ 17 - 19....] IV. Die modernistische
Geschichtschreibung
§ 20. Philosophische Voraussetzungen der modernistischen Geschichtswissenschaft Manche unter den Modernisten, die sich geschichtlichen Studien widmen, scheinen sich sehr davor zu fürchten, daß man sie f ü r Philosophen halte. Sie möchten vielmehr als i n der Philosophie ganz unbewandert gelten. Das ist
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I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
höchste Schlauheit. Sie fürchten, daß m a n sie i m Verdachte habe, i n die Geschichte bestimmte, vorher gebildete Vorstellungen philosophischer H e r k u n f t hineinzutragen, daß m a n sie nicht, w i e es heute heißt, f ü r o b j e k t i v genug halte. Dennoch ist nichts leichter, als zu zeigen, daß ihre Geschichte, ihre K r i t i k ein reines W e r k der Philosophie sind, daß ihre historisch-kritischen Schlüsse geradewegs ihren philosophischen Grundsätzen entstammen. Ihre drei großen Gesetze sind i n den bereits betrachteten philosophischen Prinzipien enthalten, i m Agnostizismus, i n der Transfiguration der Dinge durch den Glauben, endlich i n dem, was w i r glaubten Defiguration nennen zu sollen. . . . So sprechen sie absolut a p r i o r i u n d auf G r u n d gewisser p h i l o sophischer Prinzipien, die m a n sich stellt, nicht zu kennen, die aber doch die Grundlage ihres Systems sind, dem Christus der tatsächlichen Geschichte die Göttlichkeit ab, w i e seinen Handlungen jeden göttlichen Charakter. Was i h n als Menschen angeht, so hat er n u r getan oder gesagt, was sie i h m gestatten zu sagen oder zu tun, indem sie sich selbst i n die Zeit versetzen, i n der er gelebt hat. V. Die modernistische §21. 1. Historische
Voraussetzungen
Kritik
der modernistischen
Kritik
Wie n u n die Geschichte v o n der Philosophie ihre Schlußfolgerungen gleich fertig erhält, so die K r i t i k von der Geschichte. . . . Was nach der erwähnten (§ 20) dreifachen Verstümmelung übrig bleibt, weist er [der K r i t i k e r ] der „realen" Geschichte zu: das übrige verweist er auf die „Glaubens"- oder „innere" Geschichte. . . . Daraus ergibt sich, daß v o n den beiden Christus, die w i r erwähnt haben, der eine real ist, der andere, derjenige des Glaubens, niemals i n der Realität existiert hat. Der eine hat zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Orte gelebt, der andere hat nie anderswo gelebt als i n den frommen Erfindungen des Glaubens; so z.B. der Christus, den uns das Evangelium des heiligen Johannes vorstellt. Dieses Evangelium ist von A n f a n g bis zu Ende n u r eine reine Meditation . . . Der Historiker . . . stürzt sich auf Dokumente, die er zusammenbringen kann, die i n der Heiligen Schrift enthalten oder anderswoher genommen sind, u n d stellt eine A r t Verzeichnis der aufeinander folgenden Bedürfnisse auf, die sich i n Bezug auf Dogma, K u l t u s u n d anderes i n der Kirche geltend gemacht haben. Nach Aufstellung desselben überläßt er es dem K r i t i k e r . Dieser n i m m t es m i t der einen H a n d entgegen, greift m i t der andern nach dem Bündel Dokumente, die der Geschichte des Glaubens zugewiesen sind, reiht diese nach der Folge der Zeiten aneinander i n gemessenen Zeitabschnitten, die genau dem Verzeichnis entsprechen, u n d läßt sich dabei v o n dem Grundsatze leiten, daß die Erzählung n u r der Tatsache sich anschließen kann, w i e die Tatsache dem Bedürfnis. . . . Es ist ein Gesetz, daß das D a t u m der Dokumente auf keine andere Weise bestimmt werden kann, als an H a n d des Datums der Bedürfnisse, die sich nach u n d nach der Kirche aufgedrängt haben. N u n k o m m t eine weitere Operation, denn m a n muß zwischen dem U r sprung einer Tatsache u n d ihrer E n t w i c k l u n g unterscheiden. Was an einem
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8. Kap.: Staat u n d katholische Kirche i n der Amtszeit Papst Pius X .
Tage geboren w i r d , gewinnt erst m i t der Zeit größeren Umfang. Der K r i t i k e r greift also wieder auf die Dokumente zurück, die v o n i h m nach der Folge der Zeiten aufgereiht worden sind u n d macht daraus zwei Teile, von denen der eine sich auf den Ursprung, der andere auf die E n t w i c k l u n g bezieht, und muß sie abermals nach Zeitabschnitten ordnen. Das Prinzip, das i h n bei dieser Arbeit leitet, w i r d i h m wiederum v o m Philosophen geliefert, denn nach dem Philosophen beherrscht u n d regiert ein Prinzip die Geschichte, u n d zwar die Evolution. Der Historiker hat also aufs neue die Dokumente zu durchforschen, sorgfältig die verschiedenen K o n j u n k t u r e n zu erkunden, die die Kirche durchgemacht hat i m Laufe ihres Lebens, ihre konservative K r a f t , die inneren u n d äußeren Notwendigkeiten, die sie zum Fortschritt treiben, die Hindernisse, die i h r den Weg zu versperren drohten, kurz, alles zu w ü r digen, was A u s k u n f t geben k a n n über die A r t , i n der sich i n i h r das Gesetz der Evolution betätigt h a t . . . . § 22. 2. Echtheit der heiligen Bücher und Textkritik Aus dieser Verzettelung u n d Verteilung der geschichtlichen Dokumente auf lange Zeiträume folgt natürlich, daß die heiligen Bücher denjenigen A u t o r e n nicht zugewiesen werden können, nach denen sie benannt sind. Daher tragen die Modernisten insgemein k e i n Bedenken, zu behaupten, daß eben diese Bücher, zuvörderst der Pentateuch u n d die drei ersten Evangelien, aus einer ursprünglich kleinen Erzählung nach u n d nach durch Ergänzungen u n d Einschiebsel zwecks theologischer u n d allegorischer Interpretation oder auch durch bloße Verbindungen der an sich getrennten Stücke entstanden seien. . . . U m das zu beweisen, nehmen sie die sogenannte T e x t k r i t i k zu Hilfe u n d w o l l e n m i t aller Gewalt dartun, daß hier eine Tatsache, dort ein W o r t nicht an der richtigen Stelle stehe, u n d bringen andere Gründe dieser A r t vor. M a n könnte geradezu sagen, sie hätten sich f ü r Erzählungen u n d Gespräche gewissermaßen feste Typen geschaffen, u m danach zu beurteilen, was an seinem Platze steht u n d was nicht. . . . Doch w e r sie von ihren eigenen Arbeiten über die heiligen Schriften sprechen hört, durch die sie so v i e l Zusammenhangloses i n den letzteren nachgewiesen haben wollen, der könnte glauben, daß v o r ihnen noch k e i n Mensch die Heilige Schrift i n der Hand gehabt habe u n d daß nicht eine beinahe unbegrenzte Menge von Gelehrten sie nach jeder Richtung h i n durchforscht habe, Männer, die wahrlich an Genie, Gelehrsamkeit u n d Heiligkeit des Lebens jene weitaus übertreffen. Diese hochgelehrten Männer dachten nicht daran, an der Heiligen Schrift irgend etwas auszusetzen, nein, je tiefer sie i n dieselbe eindrangen, u m so mehr dankten sie Gott, daß er sich gewürdigt habe, so zu den Menschen zu sprechen. A b e r leider hatten unsere Gelehrten beim S t u d i u m der Heiligen Schrift j a nicht dieselben H i l f s m i t t e l wie die Modernisten! Sie haben auch nicht als L e h r e r i n u n d F ü h r e r i n eine Philosophie gehabt, die m i t der Leugnung Gottes anfängt, u n d sie haben sich schließlich nicht selbst als N o r m der Wahrheit aufgestellt! W i r glauben nunmehr die historische Methode der Modernisten h i n r e i chend k l a r gemacht zu haben. Der Philosoph geht voran; dann folgt der
I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
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Historiker; danach k o m m t der Reihe nach die innere u n d die T e x t k r i t i k . U n d w e i l es der ersten Ursache eigentümlich ist, daß sie ihre W i r k u n g auf alle folgenden überträgt, so ist es klar, daß eine derartige K r i t i k . . . agnostisch, immanent, evolutionistisch ist. Wer sich daher zu i h r bekennt u n d sich ihrer bedient, der bekennt sich auch zu den d a r i n liegenden I r r t ü m e r n u n d setzt sich m i t der katholischen Lehre i n Widerspruch. . . .
VI. Die modernistische
Apologetik
§23. 1. Die moderne historistisch-psychologistische
Methode der
Apologetik
Der Apologet ist bei den Modernisten i n zweifacher Hinsicht von dem Philosophen abhängig. Zunächst indirekt, insofern er zum Gegenstand seiner Wissenschaft die Geschichte n i m m t , welche, w i e w i r oben gesehen haben, nach den Anschauungen des Philosophen geschrieben ist; sodann direkt, insofern er v o n i h m seine Prinzipien u n d Gesetze entlehnt. Daher stammt jene bei den Modernisten geläufige Forderung, die neue Apologetik müsse die religiösen Streitfragen m i t Hilfe „geschichtlicher" u n d „psychologischer" Untersuchungen schlichten. U n d so beginnen die modernen Apologeten i h r W e r k damit, daß sie den Rationalisten sagen, sie verteidigten die Religion nicht auf G r u n d der Heiligen Schrift u n d der Geschichte, w i e sie insgemein i n der Kirche angenommen ist, w e i l diese nach einer veralteten Methode geschrieben sei; sondern auf G r u n d der „realen" Geschichte, die nach den modernen Prinzipien u n d der modernen Methode abgefaßt sei. U n d das ist nicht gewissermaßen eine widerlegende Beweisführung (argumentatio ad hominem), sondern sie halten i n der Tat diese Geschichtsauffassung f ü r die einzig richtige. Daß m a n ihren Versicherungen Glauben schenken werde, darüber sind sie unbesorgt; sie sind j a bei den Rationalisten bereits bekannt u n d angesehen, w e i l beide doch schon Schulter an Schulter unter demselben Banner gekämpft haben. Das Lob, das sie sich dabei verdient haben, w ü r d e zwar ein w a h r e r K a t h o l i k zurückweisen; sie selbst aber sind stolz darauf u n d stellen es dem Tadel der Kirche gegenüber.... Das Ziel, das sie sich stecken, ist folgendes: Sie w o l l e n den Nichtgläubigen dahin führen, daß er die katholische Religion i n sich erfährt, worauf nach den Grundsätzen der Modernisten das einzige Fundament des Glaubens beruht. Hiezu f ü h r t ein doppelter Weg: der eine ist der objektive, der andere der subjektive. Der erste geht aus dem Agnostizismus hervor; es soll gezeigt werden, daß i n der Religion, zumal der katholischen, eine zweckvoll w i r kende K r a f t stecke, die den ehrlichen Psychologen u n d Historiker überzeuge, es müsse i n der Geschichte der Religion etwas Unbekanntes verborgen sein. Es ist also notwendig, darzutun, daß die katholische Religion v o n heute überhaupt dieselbe sei, die Christus gestiftet hat, das heißt, die fortschreitende Entwicklung des Keimes, den Christus auf die Welt gebracht hat. . . . Doch sie beachten bei dieser Schlußfolgerung nicht, daß die Definition dieses Keimes ein Apriorismus der agnostischen u n d evolutionistischen Philosophen ist, u n d daß diese Formel wertlos ist, w e i l n u r für ihre eigenen Bedürfnisse geschaffen.
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8. Kap.: Staat und katholische Kirche i n der Amtszeit Papst Pius X .
§ 24. 2. „Irrtümer
und Widersprüche"
in der Heiligen Schrift und im Dogma
Während sich n u n die neuen Apologeten bemühen, durch solche Beweisführungen die Wahrheit der katholischen Religion zu beweisen, geben sie aus freien Stücken zu, daß darin mancherlei enthalten sei, woran sich der Geist stoße. Ja, m i t einer gewissen heimlichen Freude behaupten sie ganz offen, auch i m Dogma gebe es I r r t ü m e r u n d Widersprüche. Sie fügen hinzu, das sei nicht bloß zu entschuldigen, sondern — was befremden muß — es sei recht u n d gesetzmäßig. So gibt es nach ihrer Meinung i n der Heiligen Schrift i n wissenschaftlicher u n d geschichtlicher Beziehung sehr viele I r r t ü m e r . Aber sie sagen, es handle sich darin ja nicht u m Wissenschaft u n d Geschichte, sondern bloß u m Religion u n d Sitten. Wissenschaften u n d Geschichte seien nichts als eine Hülle, i n die man die religiösen u n d moralischen Erfahrungen einkleide, u m sie leichter unter dem Volke verbreiten zu können. Das gemeine V o l k würde die Wissenschaft u n d Geschichte i n strengem Sinne nicht verstanden u n d darum keinen Nutzen, sondern Schaden davon gehabt haben. Übrigens, sagen sie weiter, die heiligen Schriften sind ihrem Wesen nach religiös u n d nehmen darum naturnotwendigerweise am Leben teil. Aber das Leben hat seine eigene Wahrheit u n d Logik, die sich von der rationellen Wahrheit u n d Logik w o h l unterscheidet und überhaupt von einer andern Ordnung ist; diese Wahrheit sucht Ausgleich u n d Anpassung bald zu dem M i l i e u (wie sie sagen), w o r i n sich das Leben abspielt, bald zu dem Zwecke, w o h i n es zielt. Zuletzt gehen sie so weit, daß sie ohne weiteres behaupten, alles, was sich i m Leben offenbart, sei w a h r u n d gesetzmäßig. — W i r , Ehrwürdige Brüder, für die es nur eine einzige Wahrheit gibt u n d die w i r glauben, daß die Heilige Schrift verfaßt ist „unter Eingebung des Heiligen Geistes und Gott zum Urheber h a t " 1 7 , w i r behaupten, daß das nichts anderes ist, als Gott selbst eine Nutzlüge oder Notlüge zuzuschreiben. . . . M a n k a n n sich denken, was sie nach solchem von den Glaubenssätzen der Kirche sagen werden. Die Dogmen . . . w i m m e l n von offenbaren Widersprüchen. Aber abgesehen davon, daß die vitale Logik sie annimmt, widerstreben sie der symbolischen Wahrheit nicht. Handelt es sich doch u m das Unendliche u n d bietet doch das Unendliche der Betrachtung unendlich viele Seiten. Sie legen überhaupt ein solches Gewicht darauf, ihre Widersprüche aufrechtzuerhalten u n d zu verteidigen, daß sie nicht vor der E r k l ä r u n g zurückschrecken, man könne das Unendliche nicht höher verehren, als wenn man es zum Gegenstand widersprechender Behauptungen mache. Wenn man aber den Widerspruch legitimiert hat, gibt es da überhaupt noch etwas, was sich nicht legitimieren ließe? § 25. 3. Die immanentistische
(subjektive)
Methode der
Apologetik
Nicht n u r durch objektive Überlegung vermag der Nichtglaubende eine Disposition zum Glauben zu gewinnen, sondern auch durch subjektive A r g u mente. I n dieser Hinsicht greifen die Modernisten auf die Lehre von der 17 I. Vatikanisches Konzil, Constitutio de fide catholica, can. 4 (DenzingerSchönmetzer, a. a. O., 3006).
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Immanenz zurück u n d bemühen sich, einem solchen Menschen begreiflich zu machen, daß gerade i n den Tiefen seiner N a t u r u n d seines Lebens sich Wunsch u n d Forderung nach einer Religion verbergen, nicht einer beliebigen Religion, sondern jener besonderen Religion, die der Katholizismus ist, welche, w i e sie sagen, durch die volle Entfaltung des Lebens unbedingt postuliert w i r d . A n dieser Stelle können w i r nicht umhin, noch einmal u n d sehr lebhaft es zu beklagen, daß sich K a t h o l i k e n finden, die, trotzdem sie die Immanenz als Lehre zurückweisen, dieselbe dennoch i m apologetischen Verfahren anwenden. Sie t u n das m i t so w e n i g Zurückhaltung, daß sie, w i e es scheint, i n der menschlichen N a t u r gegenüber der übernatürlichen Ordnung nicht n u r Zugänglichkeit u n d Anpassungsvermögen, was j a allzeit die katholischen Apologeten hervorgehoben haben, sondern eine wahrhafte u n d strenge Forderung annehmen. Allerdings gehören diejenigen Modernisten, die so v o m Bedürfnis nach der katholischen Religion reden, zu den gemäßigten. Was die anderen angeht, die m a n Integralisten nennen kann, so w o l l e n sie dem Nichtglaubenden als i m Grunde seines Wesens verborgen den gleichen K e i m nachweisen, den Jesus Christus i n seinem Bewußtsein trug, den er der Welt mitgeteilt hat 1 8 . Das ist kurz skizziert die apologetische Methode der Modernisten, die, w i e w i r zugeben, sich i n vollkommener Übereinstimmung befindet m i t ihren von I r r t ü m e r n erfüllten Lehrsätzen u n d Methoden, die nicht zur Erbauung, sondern zur Zerstörung dienen, nicht zur Gewinnung von Katholiken, sondern zur Verführung der K a t h o l i k e n zur Häresie, j a zum gänzlichen Umsturz aller Religion überhaupt. V i i . Die modernistische § 26. Die Reformsucht
Reform
auf allen
Gebieten
Etwas Weniges bleibt noch über den Modernisten als Reformator zu sagen. M a n hat sich bereits aus dem, was w i r bisher auseinandergesetzt, eine V o r stellung von der reformatorischen Sucht machen können, welche die Modernisten beseelt. Es gibt nichts, rein nichts i m Katholizismus, das diese Sucht nicht angreift. Sie verlangt die Reform der Philosophie, v o r allem i n den Seminaren; die scholastische Philosophie soll an die Geschichte der Philosophie verwiesen werden, unter die erledigten Systeme. M a n soll die jungen Leute die moderne Philosophie, die einzig wahre, lehren, die einzige, die f ü r unsere Zeiten passe. Dann die Reform der Theologie: die sogenannte n a t ü r liche Theologie soll zur Unterlage die moderne Philosophie haben. Die positive Theologie soll sich hauptsächlich auf die Dogmengeschichte stützen. Was die Geschichte angeht, so soll sie nach modernistischer Methode u n d Grundsätzen geschrieben u n d vorgetragen werden. Die Dogmen u n d die Darstellung ihrer Evolution sollen m i t der Geschichte u n d der Wissenschaft 18 Es ist bemerkenswert, daß der V o r w u r f des „Integralismus" (sonst eine Bezeichnung f ü r die Gegner des Modernismus, vgl. oben S. 257, 307) hier gegen die „Modernisten" erhoben w i r d .
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8. Kap.: Staat und katholische Kirche i n der Amtszeit Papst Pius X .
i n Einklang gebracht werden. I n die Katechismen soll man i m Abschnitte über die Dogmen von letzteren n u r diejenigen einfügen, die reformiert sind u n d f ü r das Verständnis des Volkes passen. Hinsichtlich des K u l t u s soll man die Z a h l der äußerlichen Andachtsformen vermindern oder zum wenigsten deren Anwachsen aufhalten. Allerdings sind andere, die dem Symbolismus mehr zugetan sind, h i e r i n gnädiger. Die Regierung der Kirche soll i n allen ihren Zweigen, insbesondere den disziplinarischen u n d dogmatischen, reformiert werden. I h r Geist, i h r äußeres Vorgehen soll m i t dem der Demokratie zuneigenden öffentlichen Bewußtsein i n E i n k l a n g gebracht werden. Also soll i n der Regierung der Kirche dem niederen Klerus und selbst den Laien ein A n t e i l am Kirchenregiment angewiesen werden, die allzu straff zentralisierte Gewalt soll dezentralisiert werden. Weiter verlangt m a n Reform der römischen Kongregationen, vor allem derjenigen des heiligen Offiziums u n d des Index. Die Kirchengewalt soll i h r Verhalten auf sozialem und politischem Gebiete ändern. Einerseits soll sie keine politischen Anordnungen erlassen, andererseits aber sich der P o l i t i k anpassen, u m sie m i t ihrem Geiste zu durchdringen. I n der M o r a l eignen sie sich das Prinzip der Amerikanisten an, wonach die aktiven Tugenden sowohl i n der ihnen erwiesenen Achtung als i n der Praxis den passiven vorangehen müssen 19 . Der Klerus soll die ererbte Gelassenheit u n d Genügsamkeit wieder annehmen, u n d sich i m Denken u n d Handeln modernen Benehmens befleißigen. Schließlich gibt es noch einige, die gierig auf die Aussprüche ihrer protestantischen Lehrer lauschen u n d die Aufhebung des Priesterzölibats wünschen. Was bleibt dann noch i n der Kirche übrig, von dem die Modernisten nicht verlangen, daß es von ihnen selbst oder wenigstens nach ihren Weisungen reformiert werde? Zweiter Teil Kritik des Modernismus § 27. 1. Der Modernismus als „Sammelbecken aller Häresien"; Widerlegung der Gefühlstheorie, des Symbolismus, der göttlichen Immanenz, des agnostizistischen Glaubensbegriffes M a n könnte n u n vielleicht glauben, w i r hätten uns zu lange bei der Auseinandersetzung der Lehren der Modernisten aufgehalten. Das w a r indessen nötig, teils u m ihren gewohnten V o r w ü r f e n entgegenzutreten, daß w i r ihre 19 Die als „Amerikanismus" bezeichnete älteste Richtung des Reformkatholizismus geht auf Isaak Thomas Hecker (1819 - 1888) zurück, einen vom Methodismus zur katholischen Kirche konvertierten Redemptoristen u n d M i s sionspriester. Er forderte, daß die katholische Propaganda i n den USA sich auf das Freiheitsbewußtsein u n d die A k t i v i t ä t der Laien einstellen müsse. Deshalb sollten die „ a k t i v e n Tugenden" den Vorrang vor der „innerlichen" Frömmigkeit haben; schwer begreifliche Dogmen der katholischen Glaubenslehre sollten i n den H i n t e r g r u n d gerückt werden. Als diesen Ideen verpflichtete Ordensgemeinschaft gründete Hecker 1858 i n New Y o r k die Paulisten. Papst Leo XIII. verurteilte den Amerikanismus i n seinem Schreiben „Testern benevolentiae" an K a r d i n a l Jacob Gibbons (Baltimore) v o m 22. Januar 1899.
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wahren Ideen nicht kennten, teils u m zu beweisen, daß i h r System nicht aus verstreuten, unzusammenhängenden Theorien besteht, sondern ein festgefügtes Ganzes ausmacht, dessen einzelne Teile so fest miteinander verbunden sind, daß m a n nicht einem zustimmen kann, ohne sie alle anzuerkennen. Aus diesem Grunde haben w i r auch unserer Auseinandersetzung i n gewissem Sinne eine didaktische F o r m geben müssen, ohne uns an gewisse, bei ihnen gebräuchliche barbarische Worte zu stoßen. Wenn w i r n u n auf das Gesamtsystem einen Rückblick werfen, w e r k a n n da sich darüber wundern, daß w i r es als das Sammelbecken aller Häresien bezeichnen? Hätte sich jemand die Mühe gegeben, alle I r r t ü m e r 2 0 zu sammeln, die jemals gegen den Glauben begangen worden sind, u n d deren Substanz u n d Saft i n einem einzigen zu konzentrieren, wahrlich, er hätte es nicht besser machen können. A b e r das ist noch nicht genug der Charakteristik. Sie ruinieren nicht n u r die katholische Religion, sondern, wie w i r schon angedeutet, jede Religion. Die Rationalisten spenden ihnen Beifall, und sie haben dafür ihre guten Gründe. Die Aufrichtigsten und Freimütigsten begrüßen i n ihnen ihre kräftigsten Hilfstruppen. . . . Das w i r d w o h l mehr als genug sein, u m zu zeigen, auf w i e vielen Wegen der Modernismus zur Vernichtung aller Religion führt. Den ersten Schritt tat der Protestantismus, der zweite w i r d v o m Modernismus getan, der nächste Schritt w i r d zum Atheismus führen. § 28. 2. Moralische und intellektuelle
Ursachen des Modernismus
U m noch besser i n den Modernismus einzudringen und f ü r eine so tiefe Wunde m i t größerer Sicherheit das passende H e i l m i t t e l zu finden, müssen w i r nach den Ursachen suchen, die i h n geschaffen u n d die i h n nähren. Der nächste u n d unmittelbare G r u n d liegt i n einer falschen Geistesrichtung. Darüber besteht kein Zweifel. Die entfernter liegenden Ursachen k a n n m a n auf zwei zurückführen: Neugierde u n d Hochmut. Die Neugierde für sich allein, die nicht weise gezügelt w i r d , genügt, u m alle möglichen I r r t ü m e r hervorzubringen. . . . Was aber einen noch unvergleichlich höheren Einfluß auf die Seele hat, u m sie zu blenden u n d auf falsche Wege zu führen, das ist der Hochmut. Der Hochmut f ü h l t sich i n der Lehre der Modernisten ganz zu Hause; alles bietet i h m Stoff, u n d er macht sich darin nach allen Seiten breit. Hochmut ist jenes Vertrauen auf sich selbst, das sie veranlaßt, sich selber als Universalregel aufzustellen, Hochmut jene eitle Ruhmsucht, die sie i n ihren eigenen Augen als die einzigen Bewahrer der Weisheit hinstellt. . . . Hochmut ist die Widerspenstigkeit, welche den Ausgleich zwischen A u t o r i t ä t u n d Freiheit verlangt, Hochmut jener Anspruch darauf, die anderen zu reformieren, wobei man sich selbst vergißt, dieser vollständige Mangel an Achtung vor der A u t o r i t ä t , selbst der höchsten. Es gibt i n der T a t keinen Weg, der gerader u n d schneller zum Modernismus führte, denn der Hochmut. Nehme einen katholischen 20
I n der Übersetzung steht unzutreffend: „alle ihre I r r t ü m e r " .
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Laien, nehme einen Priester, der eine Lebens aus den Augen verloren hat, die leugnen müssen, w e n n w i r Jesus Christus m u t nicht aus seinem Herzen verbannt — f ü r alle I r r t ü m e r des Modernismus.
Grundforderung des christlichen nämlich, daß w i r uns selbst verfolgen wollen, u n d der den Hochdieser Laie, dieser Priester ist reif
D a r u m ist euere erste Pflicht, diesen hochmütigen Menschen das Geschäft zu verderben u n d sie an die niedrigsten und verborgensten Stellen zu versetzen. Sie sollen u m so mehr erniedrigt werden, je höher sie zu steigen suchten, und ihre Erniedrigung soll ihnen gerade die Möglichkeit nehmen zu schaden. Sondiert auch persönlich oder durch die Leiter euerer Seminare sorgfältig die jungen K l e r i k e r ; diejenigen, bei denen i h r den Geist des Hochmutes festgestellt habt, sollt i h r m i t aller Energie v o m Priestertum fernhalten 2 1 . . . . K o m m e n w i r von den moralischen Ursachen zu den intellektuellen, so stoßen w i r als erste u n d hauptsächlichste auf die Unwissenheit. Ja, diese Modernisten, die sich als Lehrer der Kirche aufwerfen u n d die moderne Philosophie bis zu den Wolken erheben, daneben die Scholastik so von oben herab ansehen, haben sich jenen, durch i h r täuschendes Äußeres verlockt, n u r deshalb angeschlossen, w e i l sie, m i t der Scholastik unbekannt, des notwendigen Werkzeuges entbehrten, u m Begriffsverwirrungen aufzuklären u n d Sophismen zu erschüttern. I h r von I r r t ü m e r n starrendes System ist aus einer Verbindung falscher Philosophie m i t dem Glauben entstanden. § 29. 3. Die Kunstgriffe
der Modernisten
U n d wenn sie doch weniger Eifer und Tätigkeit i n der Ausbreitung dieser letzteren zeigten! Aber sie haben dabei einen solchen Eifer, zeigen eine solche Hartnäckigkeit i n der Arbeit, daß man nicht ohne Trauer zusehen kann, wie sie zur Vernichtung der Kirche so schöne K r ä f t e i n W i r k s a m k e i t setzen, die, gut angewendet, i h r so nützlich sein würden. Sie haben zweierlei Mittel, u m die Geister i n die I r r e zu führen. Sie bemühen sich, die sich ihnen entgegenstellenden Hindernisse zu beseitigen. Dann suchen sie sorgfältig alles auf, was ihren Zwecken dienen k a n n u n d setzen dies k r ä f t i g und geduldig i n Wirksamkeit. Dreierlei steht ihnen, wie sie w o h l merken, i m Wege: die scholastische Philosophie, die A u t o r i t ä t der Kirchenväter u n d der Tradition, das Lehramt der Kirche. Gegen diese drei kämpfen sie aufs leidenschaftlichste. Aus U n wissenheit oder Furcht — richtiger beiden zusammen —, jedenfalls ist es eine Tatsache, daß m i t der Neuerungssucht stets der Haß gegen die scholastische Methode Hand i n Hand geht. . . . Sie geben sich Mühe, den Charakter der Tradition perfid zu fälschen, ihre A u t o r i t ä t zu untergraben u n d i h r jeden Wert zu nehmen. . . . Natürlich dehnen die Modernisten das Urteil, welches sie über die Tradition .fällen, 21 Über das M i t t e l zu diesem Zweck, den „Anti-Modernismuseid": unten Nr. 168.
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auch auf die heiligen Väter aus. M i t unerhörter K ü h n h e i t erklären sie dieselben Personen jeder Verehrung f ü r würdig, nennen sie aber i n Sachen der Geschichte u n d K r i t i k unglaublich unwissend, was eben n u r durch die Zeit, i n der sie lebten, entschuldigt werden könne. Schließlich bemühen sie sich, sogar das Lehramt der Kirche herabzusetzen und dessen A u t o r i t ä t zu schwächen, sei es indem sie sakrilegischerweise seinen Ursprung, sein Wesen u n d seine Rechte entstellen, sei es, daß sie i n aller Freiheit die Verleumdungen der Gegner gegen dasselbe aufwärmen. . . . Was stellen die Modernisten nicht alles an, u m sich neue Anhänger zu erwerben? Sie bemächtigen sich der Lehrstühle i n den Seminaren, an den Universitäten u n d gestalten sie zu Lehrstühlen der Verderbnis um. U n t e r einer Maske vielleicht streuen sie ihre Lehre von der Höhe der geheiligten Kanzel aus; offener verkünden sie dieselbe auf den Kongressen, schleppen sie i n die Vereine ein u n d beloben sie. U n t e r eigenem Namen, unter falschem Namen veröffentlichen sie Bücher, Zeitungen u n d Broschüren. E i n u n d derselbe gebraucht zuweilen mehrere Pseudonyme, u m den nichtsahnenden Leser durch die scheinbare Menge der Verfasser besser täuschen zu können. Kurz, alles machen sie sich dienstbar, Tat, Rede, Schrift, u n d m a n möchte sagen, sie wären von einer A r t fanatischer Begeisterung ergriffen. U n d die Frucht alles dessen? Unser Herz k r a m p f t sich zusammen, w e n n w i r die vielen jungen Leute sehen, die die Hoffnung der Kirche darstellten, und die i h r so gute Dienste versprachen, nun aber gänzlich abgeirrt sind. Noch ein anderes Schauspiel betrübt uns, nämlich, daß so viele andere K a t h o liken, die freilich nicht so w e i t gehen, dennoch, als w e n n sie eine vergiftete L u f t geatmet hätten, die Gewohnheit angenommen haben, m i t mehr Freiheit zu denken, zu reden, zu schreiben, als K a t h o l i k e n zusteht. Solcher gibt es unter den Laien u n d i n den Reihen des Klerus. Auch fehlen sie nicht da, wo man sie am wenigsten erwarten sollte, i n den klösterlichen Anstalten. . . . Dritter Teil Abwehr des Modernismus Unser Vorgänger Leo X I I I . , hochseligen Andenkens, hat sich bemüht, so schweren I r r t ü m e r n u n d ihrer offenen und geheimen Verbreitung nach K r ä f t e n Einhalt zu gebieten, besonders i n den biblischen Fragen, und zwar sowohl durch Worte wie durch Handlungen. A l l e i n das sind keine Waffen, W i r wiederholen es, vor denen die Modernisten leicht i n Furcht geraten. M i t der scheinheiligen Miene innerer Unterwerfung und Respektes deuten sie die WTorte des Papstes i n ihrem Sinne um, beziehen sie die Handlungen auf alles andere, als auf sich selbst. So hat das Ü b e l sich von Tag zu Tag verschlimmert. Darum, ehrwürdige Brüder, sind W i r zu dem Entschlüsse gekommen, unverzüglich schärfere Maßregeln zu ergreifen. W i r b i t t e n u n d beschwören euch, ehrwürdige Brüder, nicht zu dulden, daß man i n einer so wichtigen Sache das Geringste auszusetzen finde an euerer Wachsamkeit, euerem Eifer, euerer Festigkeit. Das, was W i r von euch fordern u n d erwar26 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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ten, das fordern u n d erwarten W i r auch v o n allen anderen Seelsorgern, von allen Erziehern u n d Lehrern der geistlichen Jugend, u n d ganz besonders von den Oberen der religiösen Genossenschaften. § 30. 1 a. Die scholastisch-thomistische Philosophie der theologischen Wissenschaften
als Grundlage
1. Was zunächst die Studien betrifft, so w o l l e n u n d verordnen W i r , daß die scholastische Philosophie zur Grundlage der theologischen Studien genommen werde. . . . A u f dieser philosophischen Grundlage soll sich i n solider Weise das theologische Lehrgebäude erheben. — Ehrwürdige Brüder, fördert, soviel i h r könnt, das Studium der Theologie, derart, daß die Geistlichen bei i h r e m A b gang v o m Seminare eine tiefe Achtung u n d eine heiße Liebe zur Theologie hegen u n d das S t u d i u m derselben i h r ganzes Leben hindurch freudig pflegen §31. Ib. Die Pflege der
Naturwissenschaften
Was die weltlichen Studien betrifft, so w i r d es genügen, an die weisheitsvollen Worte Unseres Vorgängers zu erinnern: „Betreibet m i t Eifer das S t u d i u m der Naturwissenschaften; die genialen Entdeckungen, die k ü h n e n u n d nützlichen Anwendungen, die m a n i n unseren Tagen auf diesem Gebiete gemacht hat u n d die m i t v o l l e m Recht den Beifall der Zeitgenossen finden, werden auch f ü r die Nachwelt ein Gegenstand der Bewunderung u n d des Lobes sein." A b e r die theologischen Studien dürfen darunter nicht leiden. . . . § 32. 2. Disziplinarmaßregeln
gegen widerspenstige
Modernisten
2. M a n w i r d sich diese Vorschriften, sowohl Unsere eigenen w i e die Unseres Vorgängers jedesmal vergegenwärtigen müssen, w e n n es sich u m die W a h l der Rektoren u n d Professoren f ü r die Seminare u n d die katholischen U n i v e r sitäten handeln w i r d . Wer auf die eine oder andere A r t sich v o m Modernismus angesteckt zeigt, soll ohne weiteres von dem A m t e eines Rektors oder eines Professors ausgeschlossen sein; w e n n sie ein solches A m t schon inne haben, sollen sie daraus entfernt werden; ebenso w e r den Modernismus heimlich oder offen begünstigt, sei es, daß er die Modernisten herausstreicht oder ihre sträfliche H a l t u n g entschuldigt, sei es, daß er die Scholastik, die heiligen Väter, das kirchliche L e h r a m t tadelt; sei es, daß er der zuständigen kirchlichen A u t o r i t ä t , gleichgültig, w e r gerade i h r Träger ist, den Gehorsam verweigert; ebenso w e r i n Geschichte, Archäologie, Bibelwissenschaft den Modernismus v e r t r i t t ; ebenso endlich, w e r die theologischen Wissenschaften vernachlässigt oder ihnen die weltlichen vorzuziehen scheint. . . . M i t der gleichen Wachsamkeit u n d Strenge muß man bei der Prüfung u n d A u s w a h l der Kandidaten f ü r die heiligen Weihen vorgehen. Weit, w e i t entfernt v o m Priestertum sei der Geist der Neuerung! Gott haßt die Stolzen und die Widerspenstigen! — Das Doktorat i n der Theologie u n d i m kanonischen Recht soll i n Z u k u n f t n u r solchen verliehen werden, welche die regelrechten Kurse der scholastischen Philosophie durchlaufen haben. W i r d es trotzdem
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verliehen, so soll es keine Geltung haben. — Die Vorschriften, welche von der Heiligen Kongregation der Bischöfe u n d Ordensleute i n einem Dekret v o m Jahre 1896 betreffs des Besuches von Universitäten f ü r den W e l t - u n d Ordensklerus i n Italien erlassen worden sind 2 2 , dehnen w i r für die Z u k u n f t auf alle Nationen aus 2 3 . — Den Theologiestudierenden und den Priestern, welche an einer katholischen Universität oder an einem solchen I n s t i t u t eingeschrieben sind, ist es f ü r die Fächer, die dort vertreten sind, verboten, diese Kurse an den staatlichen Universitäten zu besuchen. Wenn dies da u n d dort erlaubt gewesen ist, untersagen W i r es f ü r die Z u k u n f t . § 33. 3. Bücherzensur 3. Eine weitere Aufgabe der Bischöfe i n Bezug auf die Schriften, die v o m Modernismus angesteckt sind u n d i h n verbreiten, ist es, ihre Veröffentlichung zu verhindern und, w e n n sie veröffentlicht sind, ihre Lektüre zu verbieten. — A l l e Bücher, Zeitungen, Broschüren dieser A r t sollen weder den Schülern i n den Seminaren noch den Hörern an den Universitäten i n die Hände gegeben werden. Denn solche Schriften sind nicht weniger verderblich als die Schriften gegen die guten Sitten, j a sie sind es noch mehr, denn sie vergiften die Quellen des christlichen Lebens. — Das gleiche gilt von den Schriften gewisser katholischer Autoren, die zwar i m übrigen keine böse Absicht haben, die aber, ohne tiefere theologische Kenntnis, w o h l aber durchdrungen von der modernen Philosophie, sich bemühen, diese m i t dem Glauben zu versöhnen und sie, w i e sie sagen, f ü r den Glauben nutzbringend zu machen. W e i l m a n diese Schriften i m H i n b l i c k auf den Namen u n d guten Ruf der Verfasser unbedenklich liest, vermehren sie die Gefahr, daß die Leser, ohne es zu merken, zum Modernismus hinübergleiten. I m allgemeinen, ehrwürdige Brüder, u n d das ist der Hauptpunkt, t u t alles, u m verderbliche Schriften von euren Diözesen fernzuhalten, u n d schreitet, wenn's not tut, auch zur feierlichen Verurteilung. . . . § 34. 4. Einsetzung offizieller
Zensoren
4. Es genügt nicht, die Lektüre u n d den Verkauf schlechter Bücher zu hindern, m a n muß auch deren Veröffentlichung verhindern. Die Bischöfe müssen also die größte Strenge anwenden, w e n n sie die Erlaubnis zur V e r öffentlichung geben. A b e r da die Z a h l der Werke, die gemäß der K o n s t i t u t i o n Officiorum 2 4 ohne Erlaubnis des Ordinariats nicht erscheinen dürfen, groß ist, u n d da andererseits der Bischof sie nicht alle persönlich i m voraus durchsehen kann, so hat m a n i n einigen Diözesen offizielle Zensoren i n ausreichender Z a h l eingesetzt, u m die Durchsicht der Bücher vorzunehmen. W i r loben ganz ausdrücklich diese Zensoreneinrichtungen, u n d W i r fordern nicht allein 22
T e x t : Acta Sanctae Sedis 29 (1896), S. 359 ff. Dieser Satz spielte eine wichtige Rolle bei der Frage des bayerischen Plazet f ü r die Enzyklika (s. unten S. 423). 24 Die K o n s t i t u t i o n „ O f f i c i o r u m ac m u n e r u m " v o m 25. Januar 1897 regelte das Verfahren des bischöflichen Imprimatur. 23
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dazu auf, sie auf alle Diözesen auszubreiten, sondern w i r machen das zur allgemeinen Vorschrift. Es soll also i n allen bischöflichen K u r i e n offizielle Zensoren geben, die m i t der Prüfung der zur Veröffentlichung bestimmten Werke betraut sind; es sollen sowohl aus dem Welt- w i e aus dem Ordensklerus Männer ausgewählt werden, die durch i h r A l t e r , i h r Wissen, ihre Klugheit empfohlen sind, u n d die i n der B i l l i g u n g oder Verwerfung einer Lehre die rechte M i t t e einhalten. . . . Der Zensor soll sein U r t e i l schriftlich abgeben. Lautet das U r t e i l zustimmend, so soll der Bischof die Druckerlaubnis erteilen durch das W o r t I m p r i m a t u r (Druckerlaubnis), aber es soll i h m die Formel N i h i l obstat (kein Hindernis) vorausgehen u n d darunter die Unterschrift des Zensors gesetzt sein. Geradeso wie i n den anderen K u r i e n sollen i n der römischen offizielle Zensoren eingesetzt werden. . . . N u r i n ganz seltenen Ausnahmsfällen k a n n aus Gründen, deren B i l l i g u n g der K l u g heit des Bischofs überlassen bleibt, die Nennung des Zensors unterbleiben. Der Name des Zensors w i r d v o r den Verfassern geheim gehalten u n d w i r d ihnen erst nach günstigem Bescheid bekanntgegeben, damit er nicht während der Vornahme der Durchsicht belästigt werde, noch auch später, falls er die Druckerlaubnis verweigert h a t 2 5 F ü r jede Zeitung u n d Zeitschrift, welche von K a t h o l i k e n geschrieben w i r d , soll nach Möglichkeit ein Zensor bestimmt werden, der zu geeigneter Zeit die einzelnen N u m m e r n oder Hefte gelegentlich durchgehen soll, u n d w e n n er darin auf irgend einen gefährlichen Ausspruch stößt, soll er unverzüglich den Widerruf desselben fordern. Dasselbe Recht hat der Bischof, selbst w e n n das U r t e i l des Zensors günstig lauten sollte. § 35. 5. Beschränkung
der Priesterkongresse
5. Die Kongresse u n d öffentlichen Versammlungen haben W i r schon oben erwähnt als ein f ü r die Modernisten günstiges Feld, auf dem sie ihre Ideen ausstreuen und verbreiten. — I n Z u k u n f t sollen die Bischöfe Priesterkongresse nicht mehr oder n u r i n ganz seltenen Fällen erlauben. Wenn sie dazu schreiten, solche zu erlauben, sollen sie es i m m e r n u r unter folgenden Bedingungen t u n : 1. daß man bei denselben keine Frage behandelt, die v o r das F o r u m der Bischöfe oder des Apostolischen Stuhles gehört; 2. daß m a n bei denselben keinen A n t r a g u n d keine Forderung stellt, die eine Anmaßung der kirchlichen Gewalt bedeutet; 3. daß man dabei k e i n W o r t verlauten läßt, das nach Modernismus schmeckt, oder nach Presbyterianismus oder Laicismus. . . . § 36. 6. Aufsichtsrat
gegen den
Modernismus
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6. Allein, wozu w ü r d e es dienen, ehrwürdige Brüder, daß W i r Befehle erteilten u n d Vorschriften erließen, w e n n sie nicht p ü n k t l i c h und gewissenhaft ausgeführt würden? D a m i t Unsere Absichten u n d Wünsche erfüllt 25 Zensur, Druckerlaubnis und Bücherverbot w u r d e n zusammenfassend geregelt i n den c. 1385 - 1405 des Codex Iuris Canonici von 1917. 26 I m allgemeinen w i r d für die Übersetzung von „consilium vigilantiae" der Ausdruck „Überwachungsrat" verwendet; i m Codex Juris Canonici w i r d diese Einrichtung nicht erwähnt.
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werden, schien es Uns gut, auf alle Diözesen auszudehnen, was die Bischöfe Umbriens schon seit langer Zeit i n den ihrigen sehr weise eingerichtet haben. . . . W i r bestimmen also, daß i n jeder Diözese ein solcher Rat, den W i r Aufsichtsrat nennen wollen, unverzüglich eingerichtet werde. Die M ä n ner, die berufen sein werden, daran teilzunehmen, sind etwa nach der oben besprochenen A r t der Zensoren auszuwählen. A l l e zwei Monate sollen sie sich an einem bestimmten Tage unter dem Vorsitze des Bischofs versammeln. Uber ihre Beratungen u n d Beschlüsse haben sie Stillschweigen zu beobachten. Die Obliegenheiten ihres Amtes sind folgende: A l l e n Anzeichen u n d Spuren des Modernismus i n den Büchern w i e i n dem Unterricht sollen sie genau nachgehen; sie sollen, u m den Klerus und die Jugend zu behüten, kluge, aber schnelle u n d wirksame Maßregeln ergreifen. Ihre Aufmerksamkeit sollen sie ganz besonders auf Neuerungssucht i m Ausdruck richten. . . . I n gleicher Weise sollen sie die Bücher überwachen, w o r i n von frommen lokalen Überlieferungen u n d Reliquien die Rede ist. Sie sollen nicht gestatten, daß diese Fragen i n den Zeitungen besprochen werden, oder i n Zeitschriften, die der Pflege der Frömmigkeit dienen, weder i m Tone der Spöttelei, wobei die Verachtung hervorklingt, noch i n der A r t von feststehenden Sentenzen, besonders w e n n es sich w i e gewöhnlich u m eine These handelt, die die Grenzen der Wahrscheinlichkeit nicht überschreitet u n d die sich bloß auf vorgefaßte Meinungen stützt. . . . W i r empfehlen schließlich dem A u f sichtsrat, beharrlich u n d sorgfältig die Augen offen zu halten gegenüber den sozialen Einrichtungen und allen Schriften, die von sozialen Fragen handeln, und zu sehen, ob sich nicht der Modernismus darin einschleicht, u n d ob alles m i t den Vorschriften der Päpste gut übereinstimmt. § 37. 7. Periodischer
Bericht der Bischöfe an den Heiligen
Stuhl
7. U n d damit diese Vorschriften nicht i n Vergessenheit geraten, wollen und verordnen Wir, daß die Bischöfe der einzelnen Diözesen ein Jahr nach der Veröffentlichung der gegenwärtigen Vorschriften u n d später alle drei Jahre dem Heiligen Stuhle einen getreuen und eidlich erhärteten Bericht über die Ausführung aller Bestimmungen, die i n dem gegenwärtigen Schreiben enthalten sind, einsenden, desgleichen über die Lehren, welche i m Klerus herrschen, besonders aber i n den Seminaren u n d den anderen katholischen Instituten, diejenigen eingeschlossen, die der A u t o r i t ä t des Bischofs nicht unterstehen 2 7 . Den gleichen Befehl geben W i r den Generaloberen der geistlichen Orden, soweit ihre Zöglinge i n Betracht kommen. Schluß § 38. Die Kirche und der wissenschaftliche Fortschritt; katholische Akademie der Wissenschaften Das, ehrwürdige Brüder, haben W i r geglaubt, euch sagen zu sollen zum Heile aller Gläubigen. Die Gegner der Kirche werden es zweifellos mißbrauchen, u m wieder zu der alten Verleumdung greifen zu können, daß sie 27
D. h. für Deutschland vor allem: den katholischen Fakultäten.
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8. Kap.: Staat u n d katholische Kirche i n der Amtszeit Papst Pius X .
uns als Feinde der Wissenschaft u n d des Fortschrittes der Menschheit h i n stellen. U m dieser Anklage — die übrigens die Geschichte der christlichen Religion auf G r u n d ihrer unvergänglichen Zeugnisse als nichtig erweist — eine neue A n t w o r t entgegenzustellen, so haben W i r Uns entschlossen, m i t allen unseren M i t t e l n ein besonderes I n s t i t u t zu gründen, welches die berühmtesten Vertreter der Wissenschaft unter den K a t h o l i k e n vereinigen u n d den Zweck verfolgen soll, i m Lichte u n d unter F ü h r u n g der katholischen Wahrheit jeden Fortschritt zu pflegen, den es auf dem Gebiete der Wissenschaft u n d B i l d u n g gibt. Wolle Gott, daß W i r diesen Plan m i t Unterstützung a l l derer verwirklichen können, welche eine aufrichtige Liebe zur Kirche Jesu Christi haben 2 8
Nr. 156. Allokution Papst Pius' X . im geheimen Konsistorium über den Modernismus v o m 16. Dezember 1907 (Lateinischer T e x t : A r c h i v f ü r katholisches Kirchenrecht, 88, 1908, S. 326 f.) — Übersetzung — Ehrwürdige M i t b r ü d e r ! Als Christus der H e r r von seiner Kirche schied, die er m i t seinem B l u t e erkauft hatte, u n d aus dieser Welt zum Vater heimkehrte, hat er uns mehr als einmal u n d i n offenen Worten vorausgesagt, daß W i r nie ohne Nachstellungen unserer Feinde sein w ü r d e n u n d man uns hier auf Erden i m m e r anfechten werde. So sollte, was dem Bräutigam widerfahren war, auch das Schicksal seiner Braut sein. Wie zu i h m gesagt worden w a r „Herrsche i n m i t ten Deiner Feinde" 2 9 , sollte auch die Kirche, von Feinden umgeben u n d ständig m i t t e n i m Kampf, herrschen von Meer zu Meer, bis sie ins L a n d der Verheißung gelangt sei u n d glücklich i n ewiger Ruhe herrsche. Diese Verheißung des göttlichen Erlösers hat sich offensichtlich zu jeder Zeit, vor allem aber i n unserer v o l l erfüllt. Mancherorts sehen w i r die Kirche offenen Angriffen u n d Kämpfen, andererorts der Verschlagenheit u n d h i n t e r listigen Anfeindungen ausgesetzt. Überall ist sie von Feinden umgeben. A l l e ihre Rechte werden angegriffen u n d m i t Füßen getreten. I h r e Gesetze werden sogar von denen mißachtet, deren Aufgabe es wäre, ihre A u t o r i t ä t zu schützen. Durch gottlosen u n d unverschämten W i r r w a r r i n den Zeitungen w i r d zugleich die Heiligkeit des Glaubens und der strahlende Glanz guter Sitten befleckt, zum größten Schaden der Seelen u n d ebenso zum Nachteil u n d zur V e r w i r r u n g der staatlichen Gemeinschaft. Das habt i h r selbst, wie oft zu andern Zeiten so eben erst sogar i n Unserem eigenen V o l k sozusagen m i t Euren eigenen Augen feststellen können. 28
Gemeint ist die Päpstliche Akademie der Wissenschaften (Pontificia cademia delle Szienze), i n der heutigen F o r m 1936 von Papst Pius XI. schaffen. 29 Psalm 110, 2.
Acge-
I I I . Die Kundgebungen gegen den Modernismus
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Z u diesen Übeln k o m m t n u n noch ein anderes überaus schwerwiegendes hinzu, nämlich das Unruhe stiftende u n d sich überall verbreitende V e r l a n gen nach Neuerungen 3 0 , das sich jeder Zucht u n d Ordnungsmacht widersetzt. Es greift die Lehren der Kirche u n d sogar die von Gott geoffenbarte W a h r heit selbst an u n d bemüht sich, unsere heiligste Religion i n ihren G r u n d lagen zu erschüttern. D a h i n werden nämlich (wäre ihre Z a h l doch geringer!) jene gebracht, welche die verwegenen Auffassungen dessen, was sie gewöhnlich Wissenschaft, K r i t i k , Fortschritt u n d H u m a n i t ä t nennen, i n fast blindem Eifer aufgreifen. Sie richten nämlich ihren ruchlosen methodischen Zweifel auch gegen die Grundlagen des Glaubens, unter der Mißachtung der Lehrautorität des römischen Papstes u n d der Bischöfe; u n d nicht zuletzt die unter ihnen, welche aus den Reihen des Klerus stammen, wenden sich v o m Studium der katholischen Theologie ab u n d schöpfen aus vergifteten Quellen die Lehren der Philosophie, Soziologie u n d Literatur. Unverhohlen rufen sie ferner nach einem weltlichen Gewissen, das dem katholischen entgegengesetzt ist. Zugleich maßen sie sich das Recht u n d die Pflicht an, die Gewissen der K a t h o l i k e n zu berichtigen u n d zu reformieren. Es wäre durchaus zu bedauern, w e n n solche Menschen den Schoß der Kirche verlassen u n d zu den offenen Feinden der Kirche überlaufen würden. V i e l bedauerlicher ist es jedoch, daß sie i n ihrer B l i n d h e i t soweit gegangen sind, sich w e i t e r h i n f ü r Söhne der Kirche zu halten u n d sich dessen zu r ü h men, obgleich sie, w e n n auch vielleicht nicht durch Worte, so doch durch ihre Taten dem Versprechen des Glaubens, das sie i n der Taufe ausgesprochen haben, abgeschworen haben. So besuchen sie i n einem trügerischen Seelenfrieden w e i t e r h i n die christlichen Gottesdienste, werden gestärkt durch den heiligsten Leib Christi u n d treten sogar, was das Schlimmste ist, zum A l t a r Gottes, u m das heilige Meßopfer zu feiern. Zugleich aber zeigt das, was sie sagen, was sie t u n u n d was sie i n äußerster Hartnäckigkeit lehren, daß sie vom Glauben abgefallen sind. Während sie sich f ü r Lenker des Schiffes h a l ten, haben sie bereits schmählich Schiffbruch erlitten. Nach dem Beispiel Unserer Vorgänger, die i n höchster Wachsamkeit u n d unerschütterlicher Standhaftigkeit die gesunde Lehre beschützt haben, u n d i n der Sorge, daß sie ungeschmälert weiter w i r k s a m sei, haben auch W i r eingedenk der Vorschrift des Apostels „Bewahre das gute E r b e " 3 1 jüngst das Dekret „ L a m e n t a b i l i " u n d bald darauf die E n z y k l i k a „Pascendi dominici gregis" veröffentlicht 3 2 . Die Bischöfe ermahnten W i r eindringlichst, daß sie — abgesehen von allem, was w i r ihnen sonst zur Vorschrift gemacht haben — insbesondere m i t größter Sorgfalt auf die heiligen Seminare achten u n d dafür Sorge tragen, daß die Unterweisung der Heranwachsenden, die i n der Hoffnung erzogen werden, dereinst dem heiligen Stand des Klerus anzugehören, keinen Schaden nehme. Das wurde, w i e W i r i n dankbarer Freude feststellen 30 „ n o v a r u m r e r u m " ; vgl. den programmatischen Anfang der ,Rerum n o v a r u m " (oben Nr. 126). 31 1. Timotheus 6, 20. 32 Oben Nr. 154, Nr. 155.
Enzyklika
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8. Kap.: Staat u n d katholische Kirche i n der Amtszeit Papst Pius X .
dürfen, von den meisten b e r e i t w i l l i g aufgenommen u n d es w i r d m i t Eifer durchgeführt. I h r w i ß t sehr wohl, ehrwürdige Mitbrüder, wie dieses väterliche Bemühen, die dem I r r t u m verfallenen Seelen zu retten, von eben diesen V e r w i r r t e n erwidert wurde. Teils beteuerten sie i n heuchlerischer Lüge, von dem Gesagten nicht betroffen zu sein, u n d versuchten, sich m i t verschlagenen A r g u menten den Anschuldigungen zu entziehen. Teils widersetzten sie sich i n unverschämtem Hochmut ganz offen, zum Bedauern aller Guten. So waren W i r also, nachdem W i r vergeblich die M i t t e l angewandt hatten, die uns die Liebe empfahl, zu unserem größten Schmerz gezwungen, kanonische Strafen zu verhängen. W i r lassen dennoch nicht darin nach, Gott, den Vater des Lichtes und des Erbarmens, inständig darum zu bitten, daß er die I r r e n den auf den Weg der Gerechtigkeit zurückrufen möge. Daß auch I h r das Gleiche tut, ehrwürdige Mitbrüder, ist Unser inständiger Wunsch. W i r hegen nicht den geringsten Zweifel, daß I h r zusammen m i t Uns Euch m i t allen K r ä f t e n bemühen werdet, u m diese Seuche des I r r t u m s so umfassend wie möglich zurückzudrängen.
Neuntes
Kapitel
Der deutsche Katholizismus und der Anti-Modernismus I. Der deutsche Episkopat und der Kampf gegen den Modernismus Nach der Veröffentlichung der Enzyklika „Pascendi" trat die Fuldaer Bischofskonferenz zu einer außerordentlichen Beratung in Köln zusammen. Die Verurteilung des Modernismus fand bei dieser Konferenz vom 10. Dezember 1907 einhellige Zustimmung. Bedenken erhoben sich jedoch gegen das vorgesehene Zensurverfahren und gegen die Einrichtung besonderer „Überwachungsräte " in den einzelnen Diözesen. In ihrem Schreiben vom 10. Dezember 1907 baten die in der Fuldaer Konferenz zusammengeschlossenen Bischöfe den Papst, ihnen in diesen Fragen Ausnahmeregelungen zuzugestehen. Der Kölner Erzbischof Kardinal Fischer 1 sandte dieses Schreiben mit einem Begleitbrief vom 14. Dezember 1907 nach Rom (Nr. 157). Bereits am 17. Dezember antwortete der Kardinalstaatssekretär Merry del Val zustimmend (Nr. 158). Er verband dies jedoch mit dem Verlangen, von den Bischöfen ein von jeder Bedingung freies Unterwerfungsschreiben zu der Enzyklika „Pascendi " zu erhalten. Kardinal Fischer entsprach diesem Wunsch, indem er den Brief des Episkopats vom 10. Dezember entsprechend umschrieb ; er versah ihn mit dem Datum des 24. Dezember 1907 (Nr. 158) 2.
Nr. 157. Schreiben des Erzbischofs Kardinal Fischer, Köln, an Papst Pius X. 3 v o m 14. Dezember 1907 (Lateinischer Text u n d deutsche Ubersetzung des Auszugs : N. Trippen, Theologie u n d L e h r a m t i m Konflikt. Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus i m Jahre 1907 u n d ihre A u s w i r k u n g e n i n Deutschland, 1977, S. 100 f.) — Auszug — . . . Was die Bischöfe i n diesem Brief über das Verschweigen des Zensorennamens bei der bischöflichen Bücherapprobation u n d über den statt des „Überwachungsrates" zu beauftragenden „Generalvikariatsrat", der überall 1
Anton Fischer, unten S. 858. Vgl. N. Trippen , Theologie u n d L e h r a m t i m K o n f l i k t . Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus i m Jahre 1907 u n d ihre A u s w i r k u n g e n i n Deutschland (1977), S. 89 ff. 3 Begleitschreiben des K ö l n e r Kardinals Fischer zu dem Schreiben der i n K ö l n versammelten Erzbischöfe u n d Bischöfe an Papst Pius X . v o m 10. De2
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
bei uns besteht, erbeten haben, wage ich u m so mehr i n aller Bescheidenheit Euerer Heiligkeit zu empfehlen. Denn Verdächtigungen, Feindseligkeiten, ja, Haß gegen die Kirche werden bei den Nichtkatholiken Deutschlands daraus i n den künftigen Zeiten i n gewissem Maß e r w a c h s e n ; . . . u n d offen werden sie i n den Zeitungen, i n volkstümlichen Reden, i n den Parlamenten Preußens u n d des Reiches alles gern vermelden, was nach ihrer Meinung nach „ I n q u i s i t i o n " — w i e sie es nennen — zu riechen scheint. Bedauerlicherweise fehlt es auch nicht an Katholiken, die durch die erwähnten Meinungen getäuscht i n nahezu dem gleichen Sinne denken. . . .
Nr. 158. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Merry del Val an den Kölner Erzbischof Kardinal Fischer v o m 17. Dezember 1907 (Lateinischer Text u n d deutsche Übersetzung des Auszugs : N. Trippen, Theologie und L e h r a m t i m Konflikt. Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus i m Jahre 1907 u n d ihre A u s w i r k u n g e n i n Deutschland, 1977, S. 101 f.) — Auszug — . . . Da die örtlichen u n d zeitlichen Umstände es Euch ratsam erscheinen lassen, daß der Name des Zensors für ein Buch nicht bekannt werde, möchte Seine Heiligkeit nicht ablehnen, sich Eurem U r t e i l anzuschließen; jedoch hält sie es für nötig, daran zu erinnern, daß I h r von dieser Erlaubnis lediglich faktisch 4 Gebrauch machen d ü r f t ; dagegen soll es nicht erlaubt sein, jemandem mitzuteilen, daß entgegen den Anordnungen der Enzyklika zu Euren Gunsten eine Ausnahme gemacht wurde. Was den neu zu gründenden Überwachungsrat betrifft, b i l l i g t der Papst Euren Vorschlag, nämlich die Aufgaben dieses neuen Rates jenem alten Ratsgremium 5 zu übertragen, das i n jeder von Euren Diözesen besteht. Jedoch w i l l Seine Heiligkeit, daß v o r gesorgt werde, daß bei der amtlichen Bekanntmachung darüber öffentlich erklärt werde, was gemäß der E n z y k l i k a „Pascendi" durch den Ü b e r w a chungsrat geschehen solle, werde dem früheren Ratsgremium zugewiesen. Schließlich, da es Sitte ist u n d zudem ein sehr gutes Beispiel darbietet, die bedeutsameren Briefe, die zur Unterwerfung unter päpstliche Dokumente geschrieben werden, i n den öffentlichen Zeitschriften herauszugeben, bitte ich Dich u n d Deine bischöflichen Kollegen, daß I h r , da Euer oben genannter Brief wegen der darin behandelten besonderen Dokumente nicht veröffentlicht werden kann, einen neuen Brief schickt, der n u r die Anhänglichkeit ausdrückt, der dann zum Nutzen aller u n d zur Ehre dieses Episkopates 6 veröffentlicht werden k a n n . . . . zember 1907. Das Schreiben konnte N. Trippen nirgendwo auffinden (Trippen, a. a. O., S. 98); sein I n h a l t ergibt sich aber aus dem oben wiedergegebenen Begleitschreiben Fischers sowie dem folgenden Dokument. 4 per modum facti. 5 dem Generalvikariatsrat 6 Gemeint ist der deutsche Episkopat.
I. Der deutsche Episkopat u n d der K a m p f gegen den Modernismus
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Nr. 159. Schreiben der deutschen Bischöfe 7 an Papst Pius X . v o m 24. Dezember 1907 (Lateinischer T e x t : Osservatore Romano Nr. 1 v o m 1. Januar 1908; deutsche Übersetzung: W. Köhler, Die Enzyklika gegen den Modernismus vom 8. September 1907, i n : Die Christliche Welt, 22, 1908, Sp. 169 ff. [192 f.]) Heiligster Vater! Deine Heiligkeit w i r d sich nicht wundern, sondern es i n Anbetracht der Umstände sehr angezeigt erachten, daß w i r Bischöfe des Königreichs Preussen, i m Verein m i t den Oberhirten von Mainz, Straßburg, Metz, Rottenburg u n d Sachsen, erst wenige Monate nach der Fuldaer Konferenz noch einmal zusammengetreten sind. Als Versammlungsort haben w i r diesmal die Kölner Metropole gewählt, die wegen ihrer günstigen Lage von den Meisten leichter zu erreichen ist. Weshalb w i r aber m i t t e n i m W i n t e r u n d so eilig zu einer Konferenz aufgebrochen sind, dafür ist selbstverständlich Grund u n d U r sache nirgends sonst zu suchen, als i n Deinem sehr wichtigen Rundschreiben, das D u neulich über die I r r t ü m e r der Modernisten erlassen hast 8 . Es w a r f ü r w a h r ein schwieriges Werk, aber für die Zeitbedürfnisse sehr nützlich, ja sogar notwendig, die vielfachen u n d vielgestaltigen I r r t ü m e r der Modernisten, die teils offen wuchern, teils i m Verborgenen schleichen, m i t dem Licht der natürlichen Wissenschaft sowohl w i e der übernatürlichen aufzudecken u n d k l a r zu unterscheiden, ihre Ursachen u n d Wurzeln zu erforschen u n d genau zu untersuchen, ihre unheilvollen u n d verderblichen W i r k u n g e n zu kennzeichnen, u n d endlich die H e i l m i t t e l zur Rettung der Völker zu finden u n d anzugeben. Deshalb sei Gott Lob u n d Preis u n d gebührt D i r u n v e r gänglicher D a n k ; seitdem D u nämlich m i t ebensoviel A u t o r i t ä t w i e Freimut gesprochen hast, erleuchtete die christliche Wahrheit die Welt wie ein strahlendes Licht des Heils, sehr w i r k s a m zur Verscheuchung der Finsternis oder der I r r t ü m e r . U m ein so großes Übel zu hemmen, hast D u durch die gewaltige Wucht Deiner Worte alle Bischöfe der Welt zur M i t h i l f e aufgerufen. U n d jetzt siehst D u uns vor Dir, wie w i r aufrichtig bereit sind, Deine Befehle u n d Mahnungen auszuführen u n d m i t allen unseren K r ä f t e n und m i t allem Eifer und aller Anspannung unseres Geistes m i t D i r mitzuarbeiten, damit das U n k r a u t der I r r t ü m e r , welches der Feind i n den Acker des H e r r n gesät hat, m i t der Wurzel ausgerissen u n d vernichtet werde. Als Helferin möge uns die heilige und unbefleckte Jungfrau Maria beistehen und sich m i t ihrer mächtigen Fürsprache bei ihrem göttlichen Sohne für uns verwenden. Inzwischen b i t t e n w i r , zu Füßen Deiner Heiligkeit hingeworfen, Dich 7 Nämlich aller deutschen Bischöfe m i t Ausnahme der bayerischen Bischöfe sowie des offenbar verhinderten Freiburger Erzbischofs Thomas Noerber. Die bayerischen Bischöfe antworteten m i t einem eigenen Schreiben auf die E n zyklika (Text i n : Augsburgische Postzeitung 1908, Nr. 15). — Der Brief ist, wie oben S. 409 erwähnt, eine vom K ö l n e r K a r d i n a l Fischer umgeschriebene Fassung des Schreibens der Bischofskonferenz v o m 10. Dezember; er ist n u n auf einen Tag datiert, an dem die Bischöfe gar nicht zusammen waren. Vgl. N. Trippen, Theologie und Lehramt i m K o n f l i k t (1977), S. 102 f. 8 Oben Nr. 155.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
inständigst, uns u n d den unsrer Sorge anvertrauten Herden den apostolischen Segen erteilen zu wollen.
I I . Das bayerische Plazet für die Enzyklika „Pascendi dominici gregis" Bei der Beilegung des Kulturkampfs hatte Bayern das staatliche Plazet für kirchliche Erlasse zwar in einschränkendem Sinn ausgelegt, aber nicht vollständig aufgehoben 1. Vielmehr standen im Grundsatz die Bestimmungen des Religionsedikts von 1818 über das staatliche Plazet nach wie vor in Kraft 2. Daß diese Frage immer wieder Konfliktstoff enthielt, zeigte sich aus Anlaß der päpstlichen Enzyklika gegen den Modernismus. Bald nach deren Erlaß forderte der bayerische Kultusminister v. Wehner 3 den Münchener Erzbischof v. Stein 4 zur Vorlage der Enzyklika bei der Staatsregierung auf. Der Erzbischof leistete dieser Aufforderung Folge; allerdings erklärte er später, daß er damit einen Antrag auf Plazetierung nicht im Sinn gehabt habe. Die bayerische Regierung erteilte der Enzyklika am 30. September 1907 gleichwohl das Plazet, und zwar unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, daß durch deren Vollzug in die staatliche Rechtssphäre nicht eingegriffen werde (Nr. 160, Nr. 161). Dieser Vorgang löste eine lebhafte Kontroverse zwischen der Regierung und dem Erzbischof einerseits, diesem und der römischen Kurie andererseits aus. Versuche des bayerischen Gesandten beim Heiligen Stuhl v. Gutenberg 5 und des neuernannten päpstlichen Nuntius in München Frühwirth 6, eine Verständigung herbeizuführen, blieben ohne Ergebnis. Vielmehr unterstrich Papst Pius X. in einem Schreiben an die Bischöfe Bayerns vom 8. Dezember 1907, daß päpstliche Dekrete in ihrer Geltung und Wirksamkeit von einem staatlichen Plazet unabhängig seien (Nr. 162). Der Versuch des Papstes, den Prinzregenten Luitpold zum Verzicht auf das Plazet zu veranlassen, war jedoch erfolglos 7.
1
Siehe Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 906 ff. Ebenda Bd. I, Nr. 60 (§ 58) ; vgl. auch die Königliche Verordnung über das Placetum regium v o m 27. J u n i 1824 (ebenda Nr. 86). 3 Anton (Ritter v.) Wehner: oben S. 165, A n m . 5. 4 Franz Joseph v. Stein: unten S. 863. 5 Georg Freiherr von und zu Guttenberg (1858 - 1935), seit 1885 i m bayer. diplomatischen Dienst; 1906 - 1909 bayer. Gesandter beim Hl. Stuhl. 6 S. unten S. 857 f. 7 Vgl. H.-M. Körner, Staat u n d Kirche i n Bayern 1886 - 1918 (1977), S. 64 ff.; N. Trippen, Theologie u n d L e h r a m t i m Konflikt. Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus i m Jahre 1907 und ihre A u s w i r k u n g e n i n Deutschland (1977), S. 219 if. 2
I I . Das bayerische Plazet für die E n z y k l i k a „Pascendi dominici gregis"
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Nr. 160. Erlaß des Kultusministers Wehner an den Erzbischof v. Stein, München-Freising v o m 30. September 1907 (Archiv des Erzbischöfl. Hauses, München, K a r t . 41, Fase. Veröffentlichung der Enzyklika Pascendi dominici gregis. Placetum regium; Bayer. Geh. Staatsarchiv, Gesandtschaft Päpstl. S t u h l 882) — Unveröffentlicht — Euerer Exzellenz beehre ich mich m i t Allerhöchster Ermächtigung zu eröffnen, daß das i n Abdruck vorgelegte, m i t den Worten „Pascendi dominici gregis" beginnende Rundschreiben Seiner Heiligkeit des Papstes Pius X . v o m 8. September I. Js. 8 zur Allerhöchsten Einsicht Seiner Königlichen Hoheit des Prinzregenten gedient hat, u n d daß gegen die Veröffentlichung u n d den Vollzug des Rundschreibens seitens der kirchlichen Behörden unter dem Vorbehalte eine Erinnerung nicht zu erheben ist, daß bei dem Vollzug i n die staatliche Rechtssphäre, insbesondere i n die staatlichen Hoheitsrechte u n d i n die staatliche Gesetzgebung nicht eingegriffen w i r d . I m übrigen w i r d auf § 58 der I I . Verfassungsbeilage 9 Bezug genommen. Dem Hochwürdigsten H e r r n Erzbischofe von Bamberg u n d den H o c h w ü r digsten H e r r n Bischöfen ist Abdruck dieses Schreibens mitgeteilt worden.
Nr. 161. Schreiben des Kultusministers Wehner an den Erzbischof v. Stein, München-Freising v o m 30. September 1907 (Archiv des Erzbischöfl. Hauses, München, K a r t . 41, Fase. Veröffentlichung der E n z y k l i k a Pascendi dominici gregis. Placetum regium) — Unveröffentlicht — Wie Euere Exzellenz aus dem zugehenden Ministerialerlasse v o m H e u t i gen entnehmen werden, hat das Rundschreiben Seiner Heiligkeit des Papstes Pius X . v o m 8. September 1. Js. über die Lehren der Modernisten das L a n desherrliche Plazet unter dem Vorbehalte erhalten, daß bei dem Vollzuge i n die staatliche Rechtssphäre, insbesondere i n die staatlichen Hoheitsrechte u n d i n die staatliche Gesetzgebung nicht eingegriffen w i r d . Diesem Vorbehalt liegt nicht etwa die Besorgnis zu Grunde, daß die kirchlichen Behörden bei dem Vollzuge des Rundschreibens sich nicht innerhalb des kirchlichen W i r kungskreises halten u n d i n das staatliche Gebiet eingreifen werden. Der V o r behalt w i l l vielmehr n u r einen de iure selbstverständlichen, zur Fernehaltung unzutreffender u n d zuweitgehender Folgerungen aber vielleicht doch nicht ganz überflüssigen Gedanken zum Ausdruck bringen, nämlich, daß durch die Plazetierung die Grenzen des staatlichen u n d kirchlichen Wirkungskreises 8 9
Oben Nr. 155. Nämlich des Religionsedikts von 1818 (oben A n m . 2).
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
nicht verrückt werden. Die Adresse, an die der Vorbehalt sich vornehmlich richtet, ist jene der Öffentlichkeit u n d zwar für den i m m e r h i n möglichen Fall, daß i n der Öffentlichkeit, z. B. i m Landtage, i m Zusammenhange m i t dem Rundschreiben die Plazetfrage erörtert würde. I n diesem Falle w i r d es gewiß zur Zurückweisung irrtümlicher Anfechtungen dienen, w e n n durch jenen Vorbehalt deutlich gemacht werden kann, daß bei der Plazetierung die Grenzen der staatlichen u n d kirchlichen Sphäre w o h l i m Auge behalten worden sind, daß einerseits der Staat die Kirche auf dem Gebiete der Glaubenslehre u n d des kirchlichen Lehramtes i n keiner Weise behindern w i l l , daß aber anderseits auch die Plazetierung des Rundschreibens eine Beeinträchtigung der staatlichen Rechtssphäre nicht zur Folge hat. Euerer Exzellenz glaubte ich diese Darlegungen nicht vorenthalten zu sollen, u m etwaigen Bedenken über die Bedeutung des fraglichen Vorbehalts vorzubeugen. Dem Hochwürdigen H e r r n Erzbischofe von Bamberg 1 0 habe ich i n der gleichen Absicht Abdruck dieses Schreibens mitgeteilt.
Nr. 162. Schreiben Papst Pius X . an die bayerischen Bischöfe v o m 8. Dezember 1907 (Lat. T e x t : Archiv des Erzbischöfl. Hauses, München, K a r t . 41, Fase. Veröffentlichung der Enzyklika Pascendi dominici gregis. Placetum regium) — Unveröffentlicht, Übersetzung — Nicht einmal n u r sandte Leo X I I I . , Unser Vorgänger glorreichen Angedenkens, an die Bischöfe Bayerns Briefe, die von der größten Liebe u n d der äußersten Sorge u m dieses V o l k bestimmt waren, u n d ermahnte sie nachdrücklich, sie sollten m i t heftigerem Eifer ihre Anstrengungen darauf richten, ihrer Kirche günstigere Bedingungen als bisher zu schaffen und der Religion i n Bayern ein glücklicheres und fruchtbareres Leben zu ermöglichen 11 . V o r allem dazu regte der unsterbliche Papst die sehr einsichtigen Bischöfe an, daß sie m i t der starken Hilfe der bayerischen Katholiken, deren Wille, den Glauben der Väter zu bewahren, bekannt ist, u n d m i t allen M i t teln, die durch das Gesetz gestattet sind, sich darum bemühten, eine gegen alles Unrecht gesicherte Freiheit zu erreichen, deren die Kirche bedarf, u m i h r göttliches Werk durchzuführen, welches auch für die bürgerliche K u l t u r selbst von großem Nutzen ist; ebenso sollten sie sich unermüdliche Mühe geben, daß diejenigen Gesetze, die ihren Einfluß behinderten, aufgehoben oder i n anderer geeigneter Weise beseitigt würden. Unter diesen Gesetzen nannte Leo X I I I . das Edikt, durch welches die Vorschriften des Apostolischen Stuhls — u n d zwar sowohl die über die Glaubenslehre als auch die 10 11
Friedrich v. Abert: unten S. 864. Vgl. Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 425, 428.
I I . Das bayerische Plazet für die Enzyklika „Pascendi dominici gregis"
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über die heilige Disziplin — der Prüfung durch die Staatsregierung u n t e r worfen w u r d e n 1 2 . O b w o h l den Forderungen der Bischöfe, die vor etwa zwanzig Jahren der Staatsregierung vorgetragen w u r d e n u n d die darauf gerichtet waren, daß der Kirche i n jeder Beziehung ihre Freiheit gewährt u n d daß ihre heiligen Rechte anerkannt w ü r d e n 1 3 , nicht i n ausreichendem Maß Genüge getan wurde, gestattete dennoch die vor nicht kurzer Zeit hinsichtlich des königlichen Plazet anerkannte Übung des Königs 1 4 die Annahme, daß dieser Befehl 1 5 , der dem Geist unserer Zeit nicht weniger entgegengesetzt ist als den wichtigsten Prinzipien des öffentlichen Rechts der Kirche u n d auch den abgeschlossenen Verträgen 1 8 , gegenstandslos geworden sei. Daß das Gegenteil der F a l l ist — was aufs äußerste bedauert werden muß —, beweisen einige Vorgänge der jüngsten Vergangenheit. Wir, die W i r bereits i n nicht geringerem Maß als Unser Vorgänger v o n Sorge u n d Liebe für das katholische Bayern erfüllt sind, glaubten, daß es Unserer Apostolischen Aufgabe vollkommen gemäß sei, Euch, verehrte Brüder, die Worte ins Gedächtnis zurückzurufen, deren sich i n bezug auf diese Frage Papst Leo X I I I . bediente, als er am 29. A p r i l 1889 an den Erzbischof von München und Freising schrieb: „Es ist außer Zweifel, daß die Beschlüsse des Apostolischen Stuhls oder einer ökumenischen Synode auf G r u n d ihrer Eigenart und ihres Verpflichtungscharakters f ü r alle verbindlich sind, die den christlichen N a men führen wollen. Ihre Gültigkeit darf auch nicht i m geringsten eingeschränkt werden, selbst dann nicht, w e n n das m i t der B i l l i g u n g eines Königs beschlossen sein sollte" 1 7 . Es ist uns eine feste Überzeugung und Gewißheit, daß I h r i n Übereinstimmung m i t diesen Grundsätzen auf G r u n d Eures offenkundigen bischöflichen Eifers u n d der Verbundenheit m i t dem Apostolischen Römischen Stuhl, für die I h r bekannt seid, nicht n u r m i t äußerster frommer Sorge alles zu vermeiden bemüht sein werdet, was i n dem Sinn gedeutet werden könnte, als ob dadurch die Prüfung durch das königliche Plazet anerkannt w ü r de, sondern daß I h r auch keine Gelegenheit vorbeigehen lassen werdet, u m m i t K l u g h e i t u n d Festigkeit zugleich die unantastbare Freiheit der Kirche einzufordern u n d denen, die den Staat leiten oder i h m Untertan sind, einzuprägen, daß diese Freiheit — weit entfernt davon, der Macht des Staates gefährlich oder schädlich zu sein — der Unversehrtheit und Wohlfahrt der Nationen überaus nützlich ist. Z u der Gewißheit, daß Eure Mühe zu einem glücklichen Ende führen u n d sich i n heilsamer Weise als fruchtbar erweisen 12 Gemeint sind das Religionsedikt von 1818 und die Verordnung von 1824 (oben S. 412, Anm. 2). 13 Vorstellung der bayerischen Bischöfe an den Prinzregenten L u i t p o l d über die Lage der katholischen Kirche i n Bayern v o m 14. J u n i 1888 (Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 426). 14 E r k l ä r u n g des Außenministers Frh. v. Crailsheim v o m 10. Februar 1890 (ebenda Nr. 431). 15 Gemeint ist erneut das Religionsedikt von 1818 und die Verordnung von 1824, nämlich die darin geforderte Vorlage kirchlicher Erlasse bei der Regierung zur Einholung des Plazet. 16 Nämlich dem bayerischen Konkordat v o m 5. J u n i 1817 (Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 73); zum Streit u m die Vereinbarkeit zwischen Konkordat und Religionsedikt ebenda Nr. 75 ff. 17 Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 428.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
w i r d , verpflichtet Uns die erwiesene Ergebenheit u n d der gute W i l l e des erhabenen Fürsten, der das Königreich regiert 1 8 , gegenüber dem Apostolischen Stuhl. W i r gedenken dieses Fürsten m i t besonderer Liebe, w e i l w i r keinen Zweifel daran hegen, daß er Eure Bemühungen zur Verteidigung der Kirche unterstützen w i r d , die i m m e r erwiesen hat, daß sie sich u m die F ü r sten u n d Völker überaus verdient macht. Z u m Zeichen der himmlischen Gnade u n d zum Erweis Unserer Liebe erteilen w i r Euch u n d Euren Herden i m H e r r n den Apostolischen Segen.
I I I . Die Suspension des Münchener Theologen Joseph Schnitzer Bald nachdem die Enzyklika „Pascendi dominici gregis" in Bayern mit staatlichem Plazet veröffentlicht worden war, kamen ihre Disziplinar ma βregeln gegen den Kirchenhistoriker der Münchener theologischen Fakultät Joseph Schnitzer 1 zur Anwendung. Schnitzer, der über Jahre hinweg eine historisch-kritische Auffassung des Neuen Testaments und der Kirchengeschichte entwickelt und gelehrt hatte, empfand den Widerspruch des neuen Syllabus und der Enzyklika „Pascendi" zu seinen theologischen Auffassungen als besonders schneidend 2. Zugleich hielt er das Vorgehen Roms für unangemessen; er sah in ihm den Ausdruck eines neu aufgelebten Inquisitionswesens. Deshalb beteiligte er sich an einer Artikelserie über die ModernistenEnzyklika, zu der der Herausgeber der Internationalen Wochenschrift, Paul Hinneberg 3, Ende 1907 eine Reihe von Autoren aufforderte 4. Schnitzers Beitrag zu dieser Reihe, der an Schärfe die Beiträge der anderen katholischen Autoren weit übertraf, erschien am 1. Februar 1908 (Nr. 163). Am selben Tag brachten die „Süddeutschen Monatshefte" einen weiteren Artikel Schnit18 Nämlich der Prinzregent Luitpold (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 891, A n m . 1). 1 Joseph Schnitzer (1859 - 1939), 1884 kath. Priester; 1893 ao. Prof. für K i r chengeschichte am Lyzeum Dillingen; 1902 o. Prof. an d. Theol. Fakultät der Universität München; zum 1. Okt. 1913 als Hon. Prof. f. Religionsgeschichte an die Phil. F a k u l t ä t versetzt. 2 I n sein Tagebuch notierte er Ende 1907: „Sie [sc. das Dekret L a m e n t a b i l i u n d die E n z y k l i k a Pascendi] verdammen alles, was ich bisher gedacht und gelehrt u n d schriftlich wie mündlich vertreten habe; sie anzunehmen, wäre ein moralischer Selbstmord!" (N. Trippen, Theologie und L e h r a m t i m Konflikt, 1977, S. 283). 3 Paul Hinneberg (1862 - 1934), Historiker und Publizist; seit 1885 M i t a r b e i ter L. v. Rankes; seit 1892 Herausgeber der „Deutschen Literaturzeitung"; nach 1900 Begründer u n d Herausgeber der auf 40 Bände geplanten Enzyklopädie „Die K u l t u r der Gegenwart, ihre E n t w i c k l u n g und ihre Ziele"; 1907 Herausgeber der von Friedrich Althoff (oben S. 185, A n m . 3) begründeten „ I n ternationalen Wochenschrift" ; i n den zwanziger Jahren Herausgeber der Reihe „Das Wissenschaftliche W e l t b i l d " . 4 Als Autoren w a r e n v o n evangelischer Seite Friedrich Paulsen, Ernst Troeltsch, Albert Hauck, Wilhelm Herrmann, Rudolf Eucken, Walther Köhler u n d Adolf Harnack, von katholischer Seite Albert Ehrhard, Joseph Schnitzer, Joseph Mausbach u n d Christian Meurer zur M i t a r b e i t eingeladen.
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zers über den legendären Charakter der Heiligenviten, der für den weiteren Fortgang gleichfalls eine wesentliche Bedeutung gewinnen sollte 5. Bereits am 6. Februar 1908 eröffnete der Münchener Erzbischof v. Stein im Auftrag des Apostolischen Nuntius Frühwirth dem Kirchenhistoriker die Suspension, also seine Enthebung von allen priesterlichen Funktionen, und zugleich das Interdikt, d. h. seinen Ausschluß von den Sakramenten (Nr. 164). Am gleichen Tag untersagte der Erzbischof allen Priesteramtskandidaten, die Vorlesungen Schnitzers weiterhin zu besuchen. Die schweren Kirchenstrafen, mit denen Schnitzer belegt war, wirkten sich damit unmittelbar auf seine staatliche Stellung als Theologieprofessor aus. Schon wenige Tage später bot die Landtagsdebatte über den Kultusetat die Gelegenheit, die grundsätzliche Bedeutung des Falls Schnitzer parlamentarisch zu behandeln. Der Sprecher der Liberalen Casselmann 6 wertete ihn als Beleg dafür, daß es ein Fehler war, für die Enzyklika „Pascendi" das staatliche Plazet zu erteilen; er sah durch sie die Stellung der katholischtheologischen Fakultäten in Frage gestellt (Nr. 165). Der Kultusminister v. Wehner dagegen betonte in seiner Erwiderung das Recht der katholischen Kirche, darüber zu befinden, ob ein Theologieprofessor die katholische Glaubens- und Sittenlehre korrekt vortrage (Nr. 166). Angesichts des bischöflichen Interdikts ließ Schnitzer sich von seinen UniV er sit ätsp fliehten beurlauben 7. Auch in den folgenden Jahren nahm er seine Lehrtätigkeit an der theologischen Fakultät nicht wieder auf. Erst nach langen und heftigen Auseinandersetzungen gelang es im Jahre 1913, ihn zum Honorarprofessor für Religionsgeschichte in der philosophischen Fakultät zu ernennen 8.
5 J. Schnitzer, Legenden-Studien, i n : Süddeutsche Monatshefte 5, I (1908), S. 209 ff. Es handelte sich u m eine Rezension der Schrift von Heinrich Günter, Legendenstudien (1906). 6 Leopold (Ritter v.) Casselmann (1858 - 1930), Rechtsanwalt i n Bayreuth; 1891 - 93 M d R ; 1896 - 1918 M. d. bayer. K a m m e r der Abgeordneten; 1905 - 1909 Vorsitzender des Zentralausschusses der Vereinigten Liberalen und Demokraten Bayerns; 1900 - 1918 Oberbürgermeister von Bayreuth. 7 Von seinen Studenten nahm er am 7. Februar 1908 m i t folgenden Worten Abschied: „Schon gleich i n der ersten Stunde dieses Semesters habe ich erklärt, ich werde meine Vorlesungen so geben wie i m m e r oder nicht mehr. Dieser Augenblick ist n u n gekommen. Es trifft sich gut, daß ich m i t dem Vater Unser aufhöre; es ist das Gebet der Hoffnung u n d der Zuversicht; u n d m i t Hoffnung und m i t Zuversicht, nicht gebrochen oder gebeugt, sehen auch w i r i n die Zukunft. Wenn es auch Kämpfe u n d Stürme gibt, sie sind unausbleiblich. Es ist der Zusammenstoß des A l t e n m i t dem Neuen. Es ist n u r zu begreiflich, daß das A l t e sich wehrt, w e n n das Neue eindringen w i l l . Aber das Neue bricht doch immer durch; die Z u k u n f t gehört den Jungen." (O. Schröder, A u f bruch und Mißverständnis. Z u r Geschichte der reformkatholischen Bewegung, 1969, S. 424.) 8 Vgl. N. Trippen, a. a. O., S. 267 ff.
27 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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Nr. 163. Joseph Schnitzer, Die Enzyklika Pascendi und die katholische Theologie v o m 1. Februar 1908 (Internationale Wochenschrift f ü r Wissenschaft, K u n s t u n d Technik 2, 1908, Sp. 129 ff.) — Auszug — . . . I n den weitesten Kreisen, nicht bloß i n protestantischen, sondern auch i n katholischen, wunderte m a n sich arg über Geist u n d Ton der Enzyklika, die i m „Modernismus" nicht etwa n u r die eine oder andere katholische Schulrichtung verdammt, sondern über bedeutsame Ideale unserer Zeit w i e Glaubensfreiheit, Lehrfreiheit, Preßfreiheit, die ganze nichtscholastische P h i l o sophie, die historische K r i t i k u n d Methode den Stab bricht 9 . Denn, darüber gebe m a n sich doch j a keiner Täuschung hin, einen katholischen Modernismus, wie die E n z y k l i k a i h n künstlich zurechtstutzt, gibt es nirgends. Die philosophische, apologetische, theologische, historische, kritische Arbeitsweise, die die E n z y k l i k a m i t Acht u n d B a n n belegt, ist nichts spezifisch K a tholisches, es ist die Arbeitsweise der modernen wissenschaftlichen Welt, auf die auch die katholischen Gelehrten nicht verzichten können, w e n n sie wissenschaftlich ernst genommen werden wollen. Die Verdammung des M o dernismus konnte n u r da überraschen, w o m a n das kuriale Rom nicht kannte, nicht kennen wollte. . . . U n d doch ist n u r das Rom der E n z y k l i k a das wahre Rom. . . . Die lehrende Kirche ist darnach Rom, n u r Rom. W o h l bildet auch der Episkopat einen Bestandteil der lehrenden Kirche, aber n u r i n Unterordnung unter den römischen Stuhl, n u r i n der Theorie, auf dem Papier, nicht i n der p r a k tischen Wirklichkeit. Die Bischöfe haben nach dieser Auffassung nicht mehr die Befugnis, sich als selbständige Kirchenfürsten zu fühlen. Theoretisch die Nachfolger der Apostel, sind sie i n W i r k l i c h k e i t heute n u r noch V e r waltungsorgane der Kurie. Dürfen darnach die Bischöfe n u r mehr lehren, wie Rom w i l l , so hängt alle kirchliche Lehre schließlich einzig von Rom ab. Rom aber ist der eifrigste A n w a l t des Thomismus. Rom schützt u n d stützt den Thomismus, w e i l der Thomismus Rom stützt. . . . Demnach f ü h r t der römische Absolutismus wie zum Scholastizismus, so zum Traditionalismus. A l l e theologische Wissenschaft, aller theologische Unterricht k a n n so n u r ein Tradieren sein, ein Nachsprechen, ein Wiederholen. Je sklavischer tradiert w i r d , u m so besser u n d kirchlicher. . . . M i t diesem i h m wesentlich u n d notwendig anhaftenden Traditionalismus setzt sich n u n aber der römische Scholastizismus i n den entschiedensten Gegensatz zum Studienbetrieb, der den Stolz unserer deutschen Universitäten 9 Schnitzer greift i n manchen Passagen auf Argumente i n der Schrift von Heinrich Schrörs, Kirche u n d Wissenschaft. Zustände an einer katholischtheologischen F a k u l t ä t (1907) zurück.
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ausmacht. Der Traditionalismus, w i e er das ganze M i t t e l a l t e r auf allen Schulen gehandhabt wurde u n d i n den philosophisch-theologischen Lehranstalten der romanischen Länder w i e i n den nach romanischen u n d römischem M u ster eingerichteten einheimischen Schulen noch heutzutage getreulich gehandhabt w i r d , ist für die deutschen Universitäten längst ein überwundener Standpunkt. Längst setzen sie ihre Ehre darein, nicht bloß L e h r - , sondern auch Forschungsstätten zu sein, ihre Zöglinge nicht bloß m i t dem f ü r ihren späteren Beruf unerläßlichen Wissen auszustatten, sondern auch i n die w i s senschaftliche Arbeitsmethode einzuführen. So gehen unsere Universitäten geradezu darauf aus, das überlieferte Wissen m i t neuem Stoff zu bereichern u n d zu erweitern, während die Kirche vor neuen Erkenntnissen nicht angelegentlich genug warnen kann. Die Universität w i l l forschen u n d forschen lehren. Die Kirche w i l l n u r überliefern, wiederholen. Die Summa des hl. Thomas ist das erhabene Werk, das nicht mehr zu erreichen, geschweige zu übertreffen ist ; u n d alle neuen Bücher, Abhandlungen u n d Untersuchungen über theologische Fragen können doch nur, so gelehrt sie auch sein mögen, das, was Thomas längst v i e l besser gesagt, m i t vielleicht etwas anderer Begründung, m i t Berücksichtigung neuerer A u t o r e n oder kirchlicher Entscheidungen, aber i m Grunde doch nur m i t anderen Worten nochmal sagen. Alles, was i n solchen Büchern gut ist, ist nicht neu, u n d was neu ist, nicht gut. N u n können sich die katholisch-theologischen Fakultäten Deutschlands, dem Organismus unserer Universitäten eingegliedert, dem wissenschaftlichen Arbeitsbetriebe ihrer Schwesterfakultäten nicht entziehen. A u c h sie w o l len u n d sollen daher nicht bloß Traditions-, sondern Forschungsstätten sein, berufen, diejenigen Theologen, die das methodische Rüstzeug übrigens v i e l fach schon aus den Laienfakultäten mitbringen, m i t der wissenschaftlichen Arbeitsweise vertraut zu machen u n d zu selbständiger Forschung anzuleiten. Das geschieht bekanntlich i n den wissenschaftlichen Seminarien; u n d w i e philologische u n d historische, so erstanden denn überall an den theologischen Fakultäten kirchengeschichtliche, exegetische u n d kanonistische Seminarien, die, v o m Staate m i t reichen literarischen H i l f s m i t t e l n ausgestattet, nicht w e nig zu dem Aufschwünge beitrugen, der sich i n verschiedenen Bereichen der katholischen theologischen Forschung unverkennbar bemerklich macht. Nichts illustriert n u n aber die instinktive Abneigung, die i n streng kirchlichen K r e i sen w i d e r das moderne Universitätswesen herrscht, besser, als die systematische Feindseligkeit, m i t der sie gerade diese Universitäts-Seminarien verfolgen. Wo immer den Seminarien ein Abbruch getan, Studierenden die Teilnahme erschwert werden kann, da w i r d die Gelegenheit m i t Vergnügen benutzt, u n d die fadenscheinigsten Ausreden, w i e die Hausordnung des K o n viktes (!!), aszetische Übungen (!!), Breviergebet (!) usw. sind h o c h w i l l k o m men, w e n n es gilt, dem verhaßten Seminarbesuch ein Bein zu stellen. U n d nicht bloß u m ihres unkirchlichen, modernen Forschungsbetriebes w i l len sind die theologischen Fakultäten bei den kirchlichen Würdenträgern strengerer Observanz unbeliebt: schon die Gegenstände, die sie betreiben, müssen ihren Verdacht erwecken, da sie über das v o m Scholastizismus behandelte theologische Wissensgebiet w e i t hinausgreifen und sich somit arger Neuerungen schuldig machen. . . . 27*
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So begreiflich daher auch v o m streng kirchlichen Standpunkt aus das entschiedene Eintreten der Enzyklika für Traditionalismus u n d Scholastizismus ist, so unmöglich ist es der theologischen Wissenschaft, sich darauf festzulegen. Ganz unmöglich kann sie zum Traditionalismus u n d Scholastizismus zurückkehren, ganz unmöglich k a n n sie die Forschungsgebiete, die sie i n A n griff genommen, namentlich ihre kirchen- u n d dogmengeschichtlichen Studien, preisgeben, w e n n sie nicht zugleich auf jeden Anspruch verzichten w i l l , als wirkliche Wissenschaft angesehen u n d geachtet zu werden: u n d n u r als Wissenschaft k a n n die katholische Theologie dem Organismus der Universität eingegliedert sein u n d bleiben. Darüber k a n n nicht der leiseste Zweifel obwalten: entweder besteht der Heilige Stuhl auf genauer Durchführung der Enzyklika, dann gibt er die theologische Wissenschaft und die theologischen Fakultäten preis; oder Wissenschaft und Fakultäten behaupten sich, dann müssen sie über die Enzyklika wenigstens stillschweigend zur Tagesordnung übergehen. M a n bedenke doch n u r : überall werden die Glieder der theologischen Fakultäten zu allen akademischen Ehren u n d Ä m t e r n berufen; und n u n sollten Männer, die i n ihrem akademischen Lehren u n d W i r k e n \ on außerakademischen u n d außerwissenschaftlichen Körperschaften, wie es die von der Enzyklika vorgeschriebenen Inquisitionstribunale sind, überwacht u n d kontrolliert werden, zu den höchsten akademischen Würden, zu Senatoren u n d Rektoren gewählt und m i t der Wahrung der idealsten akademischen Interessen und Güter betraut werden? . . . Ohne Zweifel würde man dem hl. Stuhle unrecht tun, w e n n man annehmen wollte, er habe es m i t der Enzyklika auf eine planmäßige Vernicht »r, j oder doch Schmälerung der Fakultäten abgesehen. A u f romanischen Schulen herangebildet u n d m i t dem Studienwesen fremder Völker u n d besonders der für Rom ewig als „quantità négligeable" geltenden deutschen Länder nicht vertraut, hatten die Verfasser der Enzyklika w o h l zunächst n u r romanische Verhältnisse i m Auge, wie sie auch bei den Söhnen romanischer oder nach romanischer A r t geleiteter Schulen am ehesten noch einigem Verständnis begegnen werden. Gleichwohl ist nicht zu bestreiten, daß die K u r i e die den staatlichen Universitäten einverleibten theologischen Fakultäten n u r ungern und mißtrauisch sieht u n d Anstalten offen bevorzugt, die sie v o l l kommen beherrschen kann. . . . Daher die Freude am Niedergang der F a k u l täten, die durch die elendesten Lehrkräfte jahrzehntelang i n der h i m m e l schreiendsten Weise k o m p r o m i t t i e r t werden dürfen, ohne daß die kirchlichen Behörden auch n u r einen Finger rühren, dieselben Behörden, die sofort auf dem Plane sind, w e n n es einen neuen Gedanken m i t K n ü t t e l n zu erschlagen gilt. Z w a r w i r d man die Aufhebung der Fakultäten j a nicht gerade offen betreiben, da man doch den Schimmer der Wissenschaftlichkeit, der von den Universitäten auf die theologischen Fakultäten fällt, nicht gänzlich missen w i l l . Aber man w i r d ihren Nieder- und Untergang auch nicht ernstlich aufhalten, da dieser Glanz m i t der Selbständigkeit, die die Theologie an den Hochschulen zu beanspruchen Miene macht, allzu teuer erkauft scheint. U m die Heranbildung des theologischen Nachwuchses ist der Kirche nicht bange. Sie findet j a heute schon nur zum geringeren Teile an den Universitäten, zum weitaus größeren i n bischöflichen Seminarien des Inlandes oder i m
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Auslande statt. Auch die Beschaffung des für die Seminarerziehung nötigen Professoren-Materials bereitet der Kirche keinerlei Sorgen. Denn da sie Forscher weder begehrt noch braucht und es n u r u m so lieber hat, je mehr sich der theologische Lehrer, alles individuellen Wesens bar, zum passiven Organ scholastischer Lehrüberlieferung eignet, so fällt i h r die A u s w a h l nicht schwer. Z u m Tradieren ist jeder Pfarrer, ist der jüngste K a p l a n gut genug, und schließlich k a n n man i h n ja, u m das Dekorum zu wahren, i n Rom m i t dem unerläßlichen akademischen Aufputz versehen lassen. Ob sich aber der Staat eine solche mehr und minder exotische, aller F ü h l u n g m i t dem nationalen Empfinden bare Ausbildung der katholischen Theologen, die doch eine so tiefgreifende Wirksamkeit i m Volksleben zu entfalten berufen sind, w o h l auch gefallen ließe? W a r u m denn nicht? Was ließe der Staat sich nicht alles gefallen! Er erträgt sie ja tatsächlich längst und hat gegen die Erziehung der angehenden deutschen Geistlichen i n ausländischen Anstalten, bei den Jesuiten i n Rom und i n Innsbruck, nicht bloß nicht das geringste einzuwenden, sondern bemüht sich geflissentlich, die aus solchen Anstalten hervorgegangenen Priester m i t den höchsten staatlichen u n d kirchlichen Ehrenstellen, m i t den wichtigsten und einflußreichsten Ä m t e r n zu bekleiden. . . . Wahrlich, wo man die kirchliche Lehre nur mehr m i t brutaler Gewalt retten zu können vermeint, wo man die Rechtgläubigkeit m i t der Angst vor dem Hungertuch u n d die Unterwerfung m i t der Furcht vor der Amtsentsetzung erzwingen muß, da muß es m i t dem zuversichtlichen Glauben an die innere, sieghafte Macht der christlichen Lehre recht t r a u r i g bestellt sein! Das, was die Enzyklika „Modernismus" nennt, ist doch nicht erst seit heute und gestern; es sind auch keinerlei Ereignisse aus jüngster Zeit bekannt, die zur Ergreifung so außerordentlicher Maßregeln genötigt hätten. Leo X I I I . u n d sein Berater Rampolla haben sich, wenn sie auch w i d e r Loisy u n d Schell eingreifen zu müssen vermeinten, w o h l gehütet, einen förmlichen Kreuzzug wider die gesamte Geistesrichtung der Neuzeit zu predigen. W a r u m mußte er denn jetzt eröffnet werden? Welch neuer Geist hielt i n Rom seinen Einzug? Es ist nicht Pius X., der i h n mitbrachte. Er, der milde, gütige, i n der Sorge für das Seelenheil seiner Gläubigen ergraute u n d sich verzehrende Priestergreis brachte kein tieferes Interesse für Agnostizismus und Immanentismus aus der Lagunenstadt m i t nach Rom. Die Autodafés haben i n Spanien ihre Heimat. Auch das neuauflebende Inquisitionswesen, das sich von dem m i t t e l alterlichen nur i n der durch den verfluchten Zeitgeist bedingten W a h l der M i t t e l unterscheidet, ist spanischer I m p o r t a r t i k e l 1 0 . Uns ist er zu spanisch. W i r sind und bleiben gut deutsch. W i r sehen i n dem Episkopat mehr als bloße Verwaltungsorgane Roms. W i r hegen das feste Vertrauen, daß unsere Bischöfe, i n deren Hände die neue Enzyklika die Geschicke des deutschen Katholizismus legt, i n der überwiegenden Mehrzahl ebenso empfinden wie w i r und als deutsche Priester ihren Stolz darin sehen werden, ebensosehr wie Hüter der reinen Lehre auch Schirmherren der Fakultäten und der wissenschaftlichen Forschung zu sein. 10
Vgl. oben S. 376, Anm. 10.
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Nr. 164. Schreiben des Apostolischen Nuntius Frühwirth an den Erzbischof v. Stein, München-Freising v o m 6. Februar 1908 (Italienischer T e x t : N. Trippen, Theologie u n d L e h r a m t i m Konflikt. Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus i m Jahre 1907 u n d ihre A u s w i r k u n g e n i n Deutschland, 1977, S. 298 f., A n m . 114) — Übersetzung — Der unterzeichnete Apostolische Nuntius als Inhaber eines höheren kirchlichen Amtes beeilt sich, Seiner Hochwürdigsten Eminenz dem H e r r n Erzbischof von München Folgendes mitzuteilen: Seine Heiligkeit w i l l , daß der vorgenannte H e r r Erzbischof den Professor Dr. Schnitzer zu sich ruft, u m i h m zu eröffnen, daß Seine Heiligkeit schmerzlich bewegt u n d empfindlich getroffen ist von der Dreistigkeit der A r t i k e l , die von diesem kürzlich v e r öffentlicht w u r d e n ; Seine Heiligkeit w i l l ferner, daß der H e r r Erzbischof nicht n u r den Professor Schnitzer unverzüglich a divinis suspendiert, sondern i h m auch den Gebrauch der Sakramente untersagt — Strafen, die von der nachdrücklichen u n d formellen Aufforderung zum vollen u n d öffentlichen W i d e r r u f begleitet sein müssen, damit so A b h i l f e f ü r das Ärgernis geschaffen w i r d .
Nr. 165. Rede des Abgeordneten Casselmann im bayerischen Landtag am 10. Februar 1908 (Verhandlungen der K a m m e r der Abgeordneten des bay er. Landtags 1908, Bd. I I I , S. 139 ff.) — Auszug — . . . H e r r Kollege Dr. G ü n t h e r 1 1 hat, ohne das K i n d m i t dem Namen zu nennen, angespielt auf die E n z y k l i k a v o m 8. September vorigen Jahres 1 2 . Meine Herren! Ich bemerke von vornherein, daß diese Enzyklika, soweit sie innere Angelegenheiten der katholischen Kirche betrifft, soweit sie sich m i t Glaubenssätzen befaßt, außerhalb der Diskussion hier i n diesem Hause für mich steht. Wer es m i t seiner religiösen Empfindung vereinbaren k a n n sich diesem T e i l der Enzyklika zu beugen, der möge es tun, eine K r i t i k meinerseits braucht er dabei nicht zu fürchten. Anders, meine Herren, aber ist es m i t dem T e i l der Enzyklika, der seine W i r k u n g e n auf unser ganzes öffentliches Leben u n d vor allem auf unser staatliches Gebiet äußert. 11 Siegmund Günther (1848- 1923), Mathematiker u n d Geograph; 1870 Promotion, 1872 H a b i l i t a t i o n i n Erlangen; 1876 Gymnasiallehrer i n Ansbach; 1886 o. Professor der Geographie an der T H München, deren Rektor er dreim a l w a r (1920 emeritiert); 1878-84 M d R (freisinnig); 1894- 99 u n d 1907 - 18 M d b a y e r L T (liberale Vereinigung); Gründer u n d 1907 - 09 Vors. des Nationalvereins f ü r das liberale Deutschland; M i t g l i e d der bayer. Akademie der Wissenschaften u n d der Leopoldina (der Kaiserlich Deutschen Akademie der Naturforscher, Halle). 12 Oben Nr. 155.
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Meine Herren! Wenn Sie den letzten Teil dieser E n z y k l i k a ansehen, w e n n Sie die Anweisungen lesen, die hier an die Bischöfe ergehen, w e n n Sie lesen von der Aufstellung von Zensoren, die bei jedem bischöflichen S t u h l anzustellen sind, w e n n Sie lesen von einer Überwachungskommission i n jeder Diözese, bestehend aus zuverlässigen K l e r i k e r n , die jedes Anzeichen, jede Spur von Modernismus sowohl i n Büchern als i n Lehrvorträgen aufzuspüren haben, Sie weiter lesen, daß alle drei Jahre die Bischöfe einen eidlich erhärteten Bericht an den Heiligen S t u h l über die Lehren erstatten müssen, die, wie es heißt, i m Klerus u n d besonders i n den Seminarien u n d anderen katholischen Anstalten, auch denen, die nicht der V e r w a l t u n g des Ordinarius unterstehen, i n Geltung sind, so f ü h r t das zu der nicht abzuweisenden Besorgnis, daß, w e n n dieser T e i l der E n z y k l i k a i n Vollzug gesetzt w i r d — w i e Paulsen sehr richtig schreibt 1 3 — das der Anfang v o m Ende sein w i r d , des Endes, meine Herren, unserer katholisch-theologischen Fakultäten. Denn das ist eine Afterwissenschaft, die dabei herauskommt, aber keine Wissenschaft. Meine Herren! Malen Sie sich einmal aus, w i e der Vollzug dieser D i n g e . . . sich ergeben w i r d . E i n Heer von Denunzianten, von Spionen, von Heuchlern u n d Pharisäern w i r d großgezogen, w e n n diese Dinge i n Vollzug gesetzt werden, u n d gerade bei uns i n Bayern, Gott seis geklagt, ist die Gefahr größer als anderswo; denn es muß gesagt sein: nirgend mehr versagt i n Deutschland sowohl der niedere Klerus wie ein großer T e i l des P u b l i k u m s so sehr wie i n Bayern. . . . Wenn die Sache jetzt i n Vollzug gesetzt w i r d , dann können w i r bei uns schöne Dinge erleben. H e r r Kollege Dr. Günther hat bereits v o r h i n auf den F a l l „Schnitzer" hingewiesen. Es w i r d jetzt i n der Zeitung die Sache so dargestellt, als w e n n H e r r Professor Dr. Schnitzer nicht wegen seines A r t i k e l s gegen die Enzyklika, sondern wegen einer Reihe von anderen Dingen unter die Zensur des Heiligen Stuhls gefallen sei. Wenn Sie die gestrige „Augsburger Postzeitung" lesen, so finden Sie i n einem A r t i k e l allerdings schreckliche Dinge, die dieser Gelehrte seinen Hörern vorgetragen haben soll. Woher weiß denn die „Augsburger Postzeitung" das? . . . Höchstwahrscheinlich sind diese Mitteilungen von Studierenden. Meine Herren! I m ganzen akademischen Betriebe gibt es meiner Auffassung nach nichts Erbärmlicheres als den Denunzianten, der i n der Gestalt des Studierenden gegen seinen Professor a u f t r i t t ! Wenn Sie w i e hier, meine Herren, das i n Vollzug setzen, was die E n z y k l i k a enthält, w e n n die Überwachungskommission geradezu darauf hingewiesen w i r d zu spüren nach dem, was nach M o dernismus riecht, auch i n den katholischen Fakultäten unserer Hochschulen, dann können Sie eine richtige Sorte von Denunzianten unter unseren Studierenden heranziehen. Dagegen sträubt s i c h . . . der Anstand, der jedem Menschen innewohnt, dagegen sträubt sich aber auch das Gefühl desjenigen, der darüber mitzubestimmen hat w i e w i r alle i n diesem Saale, w e n n es sich u m staatliche Angestellte handelt, u n d unsere katholischen theologischen Professoren sind Staatsbeamte, sind Angestellte an der Universität, sie werden 13
Friedrich
Paulsen: unten S. 436, A n m . 7,
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von uns besoldet u n d die ganze katholische Fakultät w i r d von uns unterhalten. Da sollten w i r nicht das Recht haben — ganz abgesehen von der idealen Seite der Sache — uns dieser Herren anzunehmen, wenn, wie es hier i n Aussicht gestellt worden ist, versucht werden sollte gegen sie vorzugehen? Der Staat hat das Plazet zu dieser Enzyklika hergegeben u n d es ist n u n ganz selbstverständlich für uns zu fragen, welche Rechtsfolgen haben sich durch diese Piazeterteilung für die bayerische Krone ergeben? Das ist u m so wichtiger, als die ganze Enzyklika i n ihrem ersten Teile eine bestimmte Definition des Begriffes „Modernismus" überhaupt garnicht gibt. . . . Ich w i l l m i t der Hoffnung schließen, daß der Vollzug dieser Enzyklika nicht n u r beim Staate wachsame H ü t e r der Verfassung finden möge, sondern daß der Vollzug dieser Enzyklika auch bei unserem beyerischen Episkopat die rechte Würdigung finden möge. Ich k a n n m i r nicht denken, daß ein hervorragendes M i t g l i e d des Episkopats 1 4 , das selbst eine leuchtende Zierde einer katholisch-theologischen Fakultät war, ein Freund Schells w a r u n d den A u f r u f unterschrieb, dem katholischen Gelehrten ein D e n k m a l zu setzen 15 , daß ein solcher M a n n sich zum B ü t t e l hergeben mag. Diese Hoffnung, glaube ich, darf ich auch i m Namen derjenigen K a t h o l i k e n aussprechen, die sich noch einen Funken von Freiheit und ein Gefühl für Manneswürde bewahrt haben. Meine Herren! W i r aber hier auf dieser Seite des Hauses — und, ich hoffe, m i t uns alle diejenigen, die, ob sie sonst auch anderer Meinung sind, doch m i t uns einig sind i n den Fragen, die den geistigen Fortschritt betreffen —, w i r werden strenge darüber wachen, daß die Rechte u n d Interessen des Staates gegen jede unberechtigte Bevormundung bewahrt bleiben und daß insbesondere die Stätten, wo die freie Wissenschaft gelehrt werden soll, geschützt werden gegen alle, ich w i l l einmal sagen, undeutschen Einflüsse, die auf eine Knechtung derselben hinzielen.
Nr. 166. Rede des Kultusministers v. Wehner im bayerischen Landtag am 11. Februar 1908 (Verhandlungen der K a m m e r der Abgeordneten des bayer. Landtags, 1908, Bd. I I I , S. 160 ff.) — Auszug — . . . Das Placetum regium ist i n der bayerischen Verfassung zweifellos begründet. Nicht bloß i n der I I . Verfassungsbeilage 16 , sondern auch i n der V e r fassungsurkunde selbst und zwar i n Tit. I V § 9 1 7 w i r d es normiert. Keine Regierung, wie i m m e r sie auch gebildet sein mag, w i r d die Bestimmungen über das Placetum regium ignorieren können. Die Verfassung verlangt nur, 14 15 16 17
Gemeint ist der Erzbischof von Bamberg, Friedrich Über Hermann Schell siehe oben S. 375, A n m . 4. Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 60. Ebenda Nr. 59.
v. Abert (unten S. 864).
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daß Gesetze, Verordnungen und sonstige Anordnungen der Kirchengewalt nicht ohne vorgängige Einsichtnahme u n d das Plazet des Königs verkündet u n d vollzogen werden dürfen. Hinsichtlich der Verkündung kirchlicher E r lasse ist allerdings die verfassungsmäßige Bestimmung durch die inzwischen völlig geänderten Verhältnisse überholt worden. Die gesteigerte Öffentlichkeit namentlich infolge der E n t w i c k l u n g der Presse hat es m i t sich gebracht, daß kirchliche Anordnungen längst i n der ganzen Welt bekannt sind, ehe eine amtliche Veröffentlichung der betreffenden Erlasse i n Bayern erfolgt und ehe deshalb die A n w e n d u n g des Plazets überhaupt n u r i n Frage k o m men kann. Die verfassungsmäßigen Bestimmungen haben so i n dieser Hinsicht tatsächlich ihre praktische Bedeutung verloren. Dagegen k o m m t der weiteren Bestimmung hinsichtlich des Vollzuges kirchlicher Anordnungen auch heute noch eine Bedeutung zu. I n dieser Beziehung gibt das Placetum regium dem Staate das Recht zu prüfen, w o f ü r er der Kirche den weltlichen A r m leihen soll. Die Staatsregierung sieht das Placetum an als das Korrelat der Schutzpflicht, welche dem Staate der Kirche gegenüber obliegt. Die Schutzpflicht würde dann zessieren, w e n n ein dem Placetum regium unterliegender Erlaß vor der Veröffentlichung seitens der Bischöfe des Landes das Plazet nicht gefunden hat. Die Folge wäre, daß die weltliche Gewalt zum Vollzuge eines solchen nichtplazetierten Erlasses nicht m i t w i r k e n darf. Die Erteilung des Plazets beseitigt das verfassungsmäßige Hindernis für den Vollzug. . . . Die zweite Frage, die zu beantworten, ist, ob das verfassungsmäßig begründete Plazet gegenüber der jüngsten Enzyklika „Pascendi dominici gregis" Anwendung zu finden hatte. Ich muß sagen, daß, wenn irgend ein päpstlicher Erlaß das Plazet erfordert, so ist es dieses Rundschreiben u n d zwar gerade wegen der i m praktischen disziplinären Teile getroffenen Maßnahmen und Anordnungen der kirchlichen V e r w a l t u n g und Disziplin. . . . Die Staatsregierung hatte demnach die Frage zu prüfen, ob die E n z y k l i k a v o l l ständig innerhalb des eigentlichen Wirkungskreises der geistlichen Gewalt sich bewegt, wie er i n der Verfassung festgestellt ist. Diese Frage w a r zu bejahen u n d damit erschien auch eine Beeinträchtigung staatlicher I n t e r essen durch die Enzyklika nicht gegeben. Die E n z y k l i k a ist i n ihrem ersten, mehr theoretischen Teile ein Ausfluß des obersten kirchlichen Lehramtes, i n ihrem zweiten, praktischen Teile trifft sie Maßnahmen der kirchlichen Verwaltung, der kirchlichen Disziplin u n d sie ist i n dem zweiten Teile ein Ausfluß der kirchlichen Gesetzgebungs- u n d Jurisdiktionsgewalt. . . . Hätte die Staatsregierung das Placetum verweigert, so wäre damit die Kirche, die geistliche Gewalt i n i h r e m eigentlichen Wirkungskreise gehemmt worden oder hätte wenigstens gehemmt werden können u n d die Regierung hätte dann nicht i m Sinne der Verfassung gehandelt. . . . Die Erteilung des Plazets beseitigt das verfassungsmäßige Hindernis f ü r den Vollzug kirchlicher Erlasse u n d begründet f ü r die kirchlichen Stellen den Anspruch auf den staatlichen Schutz, auf die staatliche M i t w i r k u n g nach Maßgabe u n d i m Rahmen der Verfassung, insbesondere des § 51 der I I . Verfassungsbeilage 18 . Ob die allgemeinen Voraussetzungen f ü r die staat18
Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 60.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
liehe M i t w i r k u n g i m einzelnen Falle gegeben sind, das hat die Regierung i n jedem einzelnen Falle zu prüfen. . . . H e r r Abgeordneter Dr. G ü n t h e r 1 9 . . . hat für die Hochschulen i m Interesse ihrer gedeihlichen Wirksamkeit absolute Freiheit beansprucht. A u f diesem Wege kann ich dem Abgeordneten Dr. Günther doch nicht ganz folgen. Nach meiner Meinung k a n n es i n einem geordneten Staatswesen eine absolute Freiheit für niemand geben, auch nicht f ü r die Lehrer der Hochschulen. Auch diese sind gebunden, auch diese müssen i n manchen Fragen ihren W i l len dem W i l l e n der Gesamtheit unterordnen, dem W i l l e n der Gesamtheit, w i e er sich i n der geltenden Staatsordnung ausspricht.... Herr Abgeordneter Dr. Günther hat auch für die Professoren der theologischen Fakultäten, speziell der katholischen Theologie volle Freiheit der F o r schung u n d der Lehre verlangt. Nach seiner Meinung dürfe keine Instanz da sein, die dem Lehrer i n den A r m fällt, w e n n er zu Resultaten kommen sollte, die diese Instanz nicht billigen zu können glaubt. Auch Herr Dr. Casselmann hat es als eine selbstverständliche Forderung bezeichnet, daß die katholisch-theologischen Fakultäten Stätten freier Forschung, freier Lehre seien. Dieser Auffassung gegenüber muß ich vor allem betonen, daß die katholischen Theologieprofessoren nicht bloß Diener des Staates, sondern als Priester zugleich auch Diener der Kirche sind, u n d daß sie als Priester der A u t o r i t ä t des Bischofes i n besonderem Maße unterstehen. Auch die Studierenden der Theologie sind als Weihekandidaten dem Bischof i n gewisser Beziehung untergeordnet. Welche Stellung, welche Aufgabe k o m m t n u n unseren katholisch-theologischen Fakultäten zu? Die A n t w o r t auf diese Frage ergibt sich aus folgenden Sätzen: „Die katholisch-theologischen Fakultäten sind der N a t u r der Sache nach konfessionelle Lehrkörper, das heißt, es können an ihnen n u r K a t h o l i k e n als Lehrer angestellt und als Privatdozenten zugelassen w e r den. Das versteht sich, w e n n schon die meisten Fakultätsstatuten dies nicht ausdrücklich vorschreiben, der N a t u r der Sache nach von selbst, da nach der hier maßgebenden katholischen Auffassung n u r rechtgläubige K a t h o l i ken die katholische Theologie lehren können u n d dürfen." Meine Herren! Das sage nicht ich, sondern das lehrt einer der hervorragendsten Kirchenrechtslehrer, welche Deutschland hervorgebracht hat, das lehrt der protestantische Kirchenrechtslehrer Hinschius 2 0 . Die katholische Kirche hat eine unwandelbar feste Glaubens- u n d Sittennorm, welche f ü r die K a t h o l i k e n so verpflichtend ist, daß jede Abweichung von der dogmatisch festgestellten Lehre i n einem wesentlichen P u n k t die Lossagung von der Kirche i n sich schließt. A n die dogmatisch feststehende Grundlage ist der Professor der katholischen Theologie gebunden. I n n e r halb dieser Schranken aber ist der wissenschaftlichen Behandlung freier !» Siehe oben S. 422, A n m . 11. 20 P. Hinschius, Kirchenrecht, Bd. I V (1888), S. 671.
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Spielraum gestattet. Der Lehrer ist frei hinsichtlich des wissenschaftlichsystematischen Lehrgebäudes, welches er auf der dogmatischen Grundlage errichten w i l l . A n die feststehende Glaubens- u n d Sittennorm der Kirche ist also auch der katholische Theologieprofessor gebunden. Das U r t e i l darüber aber, ob ein Lehrer der katholischen Theologie die richtige Lehre der Kirche vorträgt, k a n n nicht dem Staate sondern n u r der Kirche zustehen. Das ergibt sich aus der N a t u r der Sache, aus der N a t u r des Verhältnisses zwischen Staat u n d Kirche. . . . Wenn n u n auch die Tätigkeit der Theologieprofessoren an den staatlichen Hochschulen i n erster L i n i e kirchlichen Zwecken dient, so darf doch auch anderseits nicht übersehen werden, daß ihnen i h r A m t v o m Staate übertragen ist; deswegen, w e i l es ein staatliches A m t ist, das sie bekleiden, sind auch die Theologieprofessoren i n ihrer Staatsdienereigenschaft als Hochschullehrer der staatlichen Disziplin unterstellt, u n d es können Disziplinarverfügungen gegen sie i n ihrer Eigenschaft als Hochschullehrer — anders ist es i n ihrer Eigenschaft als Priester — nur vom Staat erlassen werden. ... Der H e r r Abgeordnete Dr. Casselmann... hat gefragt, wie sich die Regierung speziell dem F a l l „Schnitzer" gegenüber stelle, was sie da zu t u n gedenke. . . . Ich habe i n dieser Hinsicht zu erklären, daß der H e r r Nuntius nicht bei m i r gewesen ist, und daß er die H i l f e des Staates nicht i n Anspruch genommen hat. Wie sich die Sache weiter entwickeln w i r d , k a n n ich i m voraus nicht wissen; von der A r t der E n t w i c k l u n g aber hängt die Stellungnahme der Regierung ab. . . . Die Angelegenheit w i r d , w e n n überhaupt ein staatliches Eingreifen notwendig werden sollte, streng nach Maßgabe der Verfassung und der Gesetze ihre Erledigung finden. . . . Dem Staate kann es i n der Tat nicht gleichgültig sein, wo die künftigen Lehrer u n d Seelsorger des Volkes ausgebildet werden. Der Staat hat ein großes Interesse daran, daß die künftigen Lehrer u n d Seelsorger des Volkes i n und m i t dem Volke aufwachsen, das V o l k i n seinem innersten Wesen kennen lernen. Daraus folgt von selbst, daß der Staat i n seinem eigenen Interesse handelt, w e n n er auch für die Ausbildung der Geistlichen i m Lande sorgt und er da theologische Lehranstalten errichtet. A n diesem Standpunkt den w i r bisher als den richtigen erkannt haben, wollen w i r auch fernerhin festhalten.
I V . Der Anti-Modernismus-Eid Wie in Deutschland gegen Joseph Schnitzer verhängte die römische Kirche in anderen Ländern schwere Kirchenstrafen gegen modernistische Theologen, die sich gegen die Enzyklika „Pascendi" gewandt hatten 1. Dennoch befürchtete die Kurie, daß die Maßnahmen der Enzyklika den Modernismus zwar in den Untergrund drängen, aber ihn nicht wirksam überwinden könnten. Des1 So vor allem gegen die Verfasser des „Programma dei Modernisti" (1907, deutsch unter dem T i t e l : Programm der italienischen Modernisten, 1908), gegen Alfred Loisy, der auf die Enzyklika m i t seinen „Simples reflexions" (1908) antwortete, und gegen George Tyrell, der die Enzyklika i n der „Times" vom 1. - 3. Oktober 1907 kommentierte (über die Genannten: oben S. 374, A n m . 1, 2).
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
halb entschloß sie sich zu Maßnahmen, die geeignet erschienen, die einzelnen Geistlichen zur Abkehr vom Modernismus zu bewegen. Zunächst verpflichtete das Motu proprio „Illibatae custodiendae" vom 29. Juni 1910 die Lehrer der biblischen Exegese, durch einen Eid allen modernistischen Positionen in der Auslegung der Bibel abzusagen (Nr. 167). Das sich anschließende Motu proprio „Sacrorum antistitum" vom 1. September 1910 führte sodann das „juramentum anti-modernisticum" ein, das jeder Priester alljährlich gegenüber seinem Bischof abzulegen beziehungsweise neu zu bekräftigen hatte (Nr. 168). Erneut begegnete die lückenlose Durchführung der päpstlichen Maßnahmen jedoch erheblichen Schwierigkeiten. In besonderem Maß galt dies für Deutschland. Auf Bitten der deutschen Bischöfe stellte Papst Pius X. die Professoren der katholischen Theologie an staatlichen Universitäten von der Eidesleistung frei (Nr. 169). Er trug damit den Schwierigkeiten Rechnung, die sonst aus der Spannung zwischen staatlichem Amt und kirchlicher Bindung der Theologieprofessoren entstanden lüären. Die Zahl der offenen Eidesverweigerer war nur gering; in Deutschland traten sie vor allem im Bistum Rottenburg auf, wo die Tradition des Bischofs Karl Josef v. Hefele 2 noch lebendig war. Weithin hatte gerade der Anti- Μodernismus-Eid die Wirkung, die er verhindern sollte: modernistische Fragestellungen aus der offenen Diskussion in den Untergrund zu drängen und so den offenen Modernismus in einen latenten zu verwandeln 3. Die Pflicht zur jährlichen Leistung des Eides schwächte die Kurie allmählich in eine Pflicht zur einmaligen Eidesleistung ab. Auch diese Pflicht kam nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Jahr 1967 in Wegfall 4.
Nr. 167. Eid der Doctores in sacra scriptura gemäß dem Motu proprio „Illibatae custodiendae" Papst Pius X . v o m 29. J u n i 1910 (Lateinischer T e x t : C.Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums u n d des Römischen Katholizismus, 5. Aufl. 1934, S. 515) — Übersetzung — Ich, N.N. unterwerfe mich i n aller gebührenden Ehrerbietung und erweise meine aufrichtige Anhänglichkeit allen Entscheidungen, Erklärungen u n d Vorschriften des Apostolischen Stuhles oder der Päpste zu Rom über die heiligen Schriften u n d die rechte A r t und Weise ihrer Auslegung, vor allem aber der Enzyklika Leos X I I I . „Providentissimus Deus" v o m 18. November 18935, u n d dem M o t u proprio Pius X . „Praestantia scripturae sacrae" vom 2
Vgl. Staat und Kirche, Bd. I I , S. 436, A n m . 8. J. Schnitzer, Der katholische Modernismus (1912), S. 20 f. 4 Dazu einerseits F. Heiner, Die Maßregeln Pius X . gegen den Modernismus (1910); J. Mausbach, Der Eid w i d e r den Modernismus u n d die theologische Wissenschaft (1911); M. Erzberger, Der Modernisteneid (1911); andererseits H. Mulert, Antimodernisteneid, freie Forschung u n d theologische Fakultäten (1911). 5 A c t a Sanctae Sedis 26 (1893/94), S. 278 ff. 3
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18. November 19076 u n d dessen apostolischem Schreiben „Vineae electae" v o m 7. M a i 19097, i n dem gesagt w i r d , daß „alle i n ihrem Gewissen v e r pflichtet sind, sich den Weisungen des päpstlichen Rates i n Fragen der Bibel, welche die Lehre betreffen, auch soweit sie erst später veröffentlicht w e r den, ebenso wie den Entscheidungen der heiligen Kongregationen zu unterwerfen, die vom Papst bestätigt worden sind, u n d daß jeder, der i n W o r t u n d Schrift diese Weisungen u n d Entscheidungen bekämpft, sich damit u n ausweichlich den V o r w u r f der Gehorsamsverweigerung u n d der unbesonnenen Eigenmächtigkeit zuzieht u n d so schwere Schuld auf sich lädt". Daher gelobe ich, daß ich „die Grundsätze u n d Entscheidungen, die der Apostolische Stuhl u n d die päpstliche Bibelkommission veröffentlicht haben oder noch veröffentlichen werden" als „höchste N o r m u n d Regel f ü r meine Studien" treu, uneingeschränkt u n d aufrichtig beobachten u n d unverletzt bewahren werde. Niemals werde ich mich bei meiner Lehrtätigkeit oder i n W o r t u n d Schrift dagegen äußern. Das gelobe u n d schwöre ich; dazu möge m i r Gott u n d das heilige Evangelium Gottes helfen.
Nr. 168. Motu proprio „Sacrorum antistitum" Papst Pius X . v o m 1. September 1910 (Lateinischer T e x t : Acta Apostolicae Sedis 2, 1910, S. 665 ff.) — Ubersetzung i m Auszug — W i r glauben, daß keinem der heiligen Bischöfe verborgen geblieben ist, daß die verwerflichen Modernisten, nachdem m a n ihnen i n der E n z y k l i k a „Pascendi dominici gregis" ihre Maske heruntergerissen hat, ihren Plan, den Frieden i n der Kirche zu stören, nicht aufgegeben haben. Sie haben nämlich neue Bundesgenossen angeworben u n d heimlich m i t ihnen Vereinbarungen getroffen; m i t ihnen zusammen w o l l e n sie i n die A d e r n des christlichen V o l kes die Bazillen ihrer Lehren injizieren durch die Herausgabe von Büchern und Zeitschriften, die sie ohne Namensnennung oder unter einem Pseudonym veröffentlichen. Wenn man diese unüberbietbare Verwegenheit, durch die Uns soviel Schmerz bereitet w i r d , nach wiederholtem S t u d i u m Unseres erwähnten Schreibens genauer betrachtet, erkennt man sofort, daß diese M e n schen ganz den dort beschriebenen gleichen, u n d daß diese Gegner umso mehr zu fürchten sind, als sie i n den eigenen Reihen unter Mißbrauch ihres Amtes diese vergiftete Speise Unvorsichtigen, die zur Annahme bereit sind, vorsetzen u n d so die Lehre, i n der die Summe aller I r r t ü m e r enthalten ist, ausbreiten. W i r fügen einige besondere Bemerkungen hinzu, die die A l u m n e n des Priesterstandes i n den Seminaren u n d die Schüler i n kirchlichen Heimen betreffen. — W e i l dem Leben des Menschen so enge Grenzen gesteckt sind, daß er aus dem reichen Brunnen der Erkenntnis eben gerade ein wenig m i t seinen 6 7
Acta Sanctae Sedis 40 (1907), S. 724 f. A c t a Apostolicae Sedis 1 (1909), S. 447 ff.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
Lippen berühren kann, muß auch der Lerneifer gezügelt u n d das W o r t des Paulus beherzigt werden. „Sinnt nicht hoch hinaus über das, worauf zu sinnen not ist! Sinnt vielmehr darauf, besonnen zu sein!" 8 Den K l e r i k e r n sind bereits genug schwere Studien auferlegt; sie betreffen die heiligen Schriften, die Glaubenslehren, die Moral, die sogenannte Aszetik, die die Frömmigkeit u n d die Pflichten eines religiösen Lebens zum Gegenstand hat, dann die Kirchengeschichte, das kanonische Recht u n d die Beredsamkeit. Daher sollen die jungen Leute nicht an die Beschäftigung m i t anderen Fragen ihre Zeit verschwenden u n d sich so von ihrem hauptsächlichen Studium ablenken lassen. W i r verbieten daher entschieden, daß sie Zeitungen oder Zeitschriften lesen, u n d seien es auch die besten. W i r machen es den Lehrern zur Gewissenspflicht, i n religiösem Ernst darauf zu achten, daß das nicht vorkommt. D a m i t aber jeder Verdacht eines w e n n auch n u r heimlich sich einschleichenden Modernismus aus der Welt geräumt ist, wollen W i r nicht nur, daß alles streng beachtet w i r d , was . . . vorgeschrieben ist, W i r verordnen v i e l mehr auch, daß die einzelnen Professoren vor A n t r i t t der Vorlesungen zum Beginn des Jahres ihrem Bischof den Text vorlegen, den sie ihren Vorlesungen zu Grunde legen, sei es daß sie die Fragen nennen, die sie zu behandeln gedenken, sei es daß sie die Thesen mitteilen, zu denen sie sich äußern w o l len. Dann soll i m Verlauf des Jahres die Geisteshaltung eines jeden L e h r beauftragten überprüft werden. Falls diese offensichtlich von der gesunden Lehre abweicht, ist das ein Grund, den Lehrer auf der Stelle abzuberufen. Schließlich soll jeder Lehrer außer dem Bekenntnis des Glaubens 9 seinem Bischof einen Eid nach der unten angeführten Formel leisten u n d m i t seinem Namen unterzeichnen Die Eidesformel
10
I c h . . . nehme an u n d halte fest für w a h r alles und jedes, was von dem unfehlbaren Lehramte der Kirche definiert, behauptet u n d erklärt worden ist, insbesondere jene Lehrpunkte, die den I r r t ü m e r n unserer Zeit direkt entgegengesetzt sind. U n d zwar bekenne ich erstens, daß Gott, der U r g r u n d und das Endziel aller Dinge, m i t dem natürlichen Lichte der Vernunft durch „das was gemacht i s t " 1 1 , d. h. durch die sichtbaren Werke der Schöpfung wie die Ursache durch ihre Wirkungen, sicher erkannt, j a auch bewiesen werden kann. Zweitens: die äußeren Erkenntnisgründe der Offenbarung d. h. die göttlichen Taten, vor allem Wunder u n d Weissagungen, erkenne ich als vollkommen sichere Zeichen des göttlichen Ursprungs der christlichen Religion an u n d glaube, daß sie dem Denken aller Zeiten u n d Menschen, 8
Römer 12, 3. D. h. der Professio fìdei Tridentina (vgl. Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion, 34. Aufl. 1965, Nr. 1862 ff.). 10 Der Anti-Modernismus-Eid ist i m Folgenden nach der Übersetzung von J. Mausbach, Der E i d w i d e r den Modernismus und die theologische Wissenschaft (1911), S. 76 ff. wiedergegeben; vgl. auch die Übersetzung bei F. Heiner, Die Maßregeln Pius X . gegen den Modernismus (1910), S. 95 ff. 11 Vgl. Römer 1, 20. 9
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auch der heutigen, höchst angemessen sind. Drittens: M i t festem Glauben nehme ich auch an, daß die Kirche, die H ü t e r i n u n d L e h r e r i n des geoffenbarten Wortes, durch den wirklichen, geschichtlichen Christus, während er unter uns lebte, i n nächster u n d unmittelbarster Weise gestiftet u n d auf Petrus als das Haupt der apostolischen Hierarchie u n d seine Nachfolger bis zum Ende der Zeiten aufgebaut worden ist. Viertens: daß die Lehre des Glaubens von den Aposteln durch die rechtgläubigen Väter stets i n demselben Sinne u n d Gedanken bis auf uns überliefert worden ist, nehme ich aufrichtig an; daher weise ich entschieden zurück den häretischen Wahn einer Entwicklung der Dogmen, derzufolge letztere von der einen Bedeutung zur anderen, u n d zwar zu einer dem früheren kirchlichen Lehrbegriff entgegengesetzten übergehen; ebenso verurteile ich jeglichen I r r t u m , der an die Stelle des göttlichen Glaubensschatzes, wie i h n die Braut Christi zur treuen H u t empfangen hat, eine philosophische Erfindung oder eine Schöpfung des menschlichen Bewußtseins setzt, das sich durch die Bemühung der Menschen nach u n d nach herausgebildet habe u n d sich noch w e i t e r h i n i n unbestimmtem Fortschreiten vervollkommne. Fünftens: m i t aller Bestimmtheit halte ich fest, u n d bekenne aufrichtig, daß der Glaube nicht ein blindes religiöses Gefühl ist, das aus den verborgenen Tiefen des Unterbewußtseins unter dem Drucke des Herzens u n d einer Neigung des sittlich bestimmten Willens hervorbricht, sondern eine wahre Zustimmung der Vernunft zu der von außen, „durch H ö r e n " 1 2 empfangenen Wahrheit, wodurch w i r das, was der persönliche Gott, unser Schöpfer u n d Herr, gesagt, bezeugt u n d offenbart hat, wegen der A u t o r i t ä t des allwahrhaftigen Gottes für w a h r halten. M i t gebührender Ehrfurcht unterwerfe ich mich u n d schließe mich von ganzem Herzen an allen Verurteilungen, Erklärungen und Vorschriften, die i n der Enzyklika „Pascendi" 1 3 u n d i n dem Dekrete „ L a m e n t a b i l i " 1 4 enthalten sind, zumal hinsichtlich der sog. Dogmengeschichte. Ich verurteile den I r r t u m , daß der von der Kirche vorgestellte Glaube m i t der Geschichte i n Widerspruch stehen u n d die katholischen Dogmen w i e sie heute verstanden w e r den, m i t den wahren Ursprüngen der christlichen Religion nicht vereinbart werden können. — Ebenso verurteile und verwerfe ich die Ansicht, der christliche Gelehrte stelle gleichsam eine doppelte Persönlichkeit dar, die des Gläubigen u n d die des Historikers, u n d zwar so, daß es dem Historiker gestattet sei, das festzuhalten, was der Uberzeugung des Gläubigen w i d e r spricht, oder Vordersätze aufzustellen, aus denen die Falschheit oder Unsicherheit der Dogmen als Konsequenz folgt, mögen letztere auch nicht direkt geleugnet werden. — Ich verwerfe auch diejenige A r t der Beurteilung u n d Auslegung der hl. Schrift, die unter Geringschätzung der kirchlichen Überlieferung, der Maßstäbe des Glaubens und der Normen des Apostolischen Stuhles den Truggebilden der Rationalisten folgt u n d ebenso ungebunden wie verwegen die T e x t k r i t i k als einzige u n d höchste Regel anerkennt. — Weiter lehne ich die Aufstellung ab, der Lehrer oder Schriftsteller i n der 12 13 14
Vgl. Römer 10,17. Oben Nr. 155. Oben Nr. 154.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
historischen Theologie müsse zuerst seine vorgefaßte Meinung von dem übernatürlichen Ursprünge der katholischen T r a d i t i o n oder von dem gottverheißenen Beistande zur steten Bewahrung jeder geoffenbarten Wahrheit ablegen; er müsse alsdann die Schriften der einzelnen Kirchenväter auslegen rein nach den Grundsätzen der Wissenschaft, unter Ausschluß jeder heiligen A u t o r i t ä t u n d m i t derselben Freiheit des Urteils, m i t der m a n jedwedes weltliche Schriftdenkmal zu untersuchen pflegt. — Überhaupt erkläre ich mich weit entfernt von jenem Irrtume, demzufolge die Modernisten i n der kirchlichen T r a d i t i o n gar kein innewohnendes Göttliches erkennen oder, was noch schlimmer ist, letzteres n u r i m pantheistischen Sinne zulassen; so zwar, daß nichts ü b r i g bleibt als eine nackte und einfache Tatsache, die nicht über das gewöhnliche geschichtliche Geschehen emporragt, die Tatsache nämlich, daß Menschen durch eigene Bemühung, Einsicht u n d Geisteskraft die von Christus u n d seinen Aposteln begonnene Glaubensgemeinschaft i n den folgenden Zeitaltern fortgesetzt hätten. Vielmehr halte ich fest u n d werde bis zum letzten Atemzuge festhalten den Glauben der Kirchenväter über das „sichere Charisma der Wahrheit", das beständig vorhanden war, ist u n d sein w i r d i n der „apostolischen Nachfolge des Bischofsamts"; nicht so, daß m a n beibehalte, was nach der eigenen B i l d u n g jedes Zeitalters einem besser u n d passender erscheint, sondern so, daß „niemals i n anderer Weise geglaubt, niemals i n anderer Weise" verstanden werde die absolute u n d unwandelbare, von den Aposteln von Anfang an gepredigte Wahrheit. Ich verpflichte mich, dieses alles treu, vollständig u n d aufrichtig zu beobachten und unverletzt zu bewahren auch i m Lehren, Heden und Schreiben nirgends davon abzuweichen. So gelobe u n d schwöre ich, so w a h r m i r Gott h e l f e . . . .
Nr. 169. Schreiben Papst Pius X . an den Kardinal Fischer, Erzbischof von Köln v o m 31. Dezember 1910 (Deutsche Ubersetzung: H. Mulert, Anti-Modernisteneid, freie Forschung u n d theologische Fakultäten, 1911, S. 52 ff.) — Auszug — . . . Was die verabscheuenswerten I r r l e h r e n der Modernisten betrifft, so haben w i r i m Gespräch m i t D i r eine milde Auslegung der Vorschriften zugelassen u n d ausgesprochen, daß zu der von uns vorgeschriebenen Eidesformel durch jenes M o t u proprio nicht diejenigen Geistlichen angehalten werden, die an staatlichen Hochschulen Theologie lehren. Hingegen lag und liegt es durchaus nicht i n unserer Absicht, diejenigen von der allgemeinen Eidesverpflichtung auszunehmen, die als staatliche Lehrer zugleich ein Priesteramt als Prediger oder Beichtiger versehen, eine geistliche Pfründe i n nehaben oder irgendwelches K u r i a l - oder geistliche Richteramt bekleiden. Auch jene aber, die als staatliche Lehrer sich des Eides enthalten dürfen,
V. Die preußische Regierung u n d der A n t i - M o d e r n i s m u s - E i d
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werden vielleicht, falls sie vorziehen, von dieser Ermächtigung Gebrauch zu machen, noch keinen Verdacht gegen die Reinheit ihrer Lehrmeinungen erwecken, aber sicherlich eine klägliche Unterordnung unter die Meinungen der Menschen bekunden, indem sie feige der A u t o r i t ä t derjenigen sich beugen, die nicht aus aufrichtiger Uberzeugung, sondern aus Haß gegen das katholische Bekenntnis m i t lautem Schalle verkünden, durch solchen Glaubenseid werde die Würde der menschlichen V e r n u n f t vergewaltigt u n d der Fortschritt der Wissenschaft gehemmt. Daher empfiehlt sich nicht, die E r lassung von diesem Eide aus anderer als der angegebenen Ursache zu gewähren. Übrigens hegen w i r die Überzeugung, daß gerade diejenigen, denen w i r den E i d erlassen, behufs Bekundung ihres männlichen Charakters i h n vor allen anderen leisten u n d nötigenfalls dafür Schimpf erdulden werden; denn sie w ü r d e n sich gewiß als des christlichen Lehramts u n w ü r d i g v o r kommen, wenn sie sich schämten, zu den Dienern unseres H e r r n Christi zu g e h ö r e n . . . .
V. Die preußische Regierung und der Anti-Modernismus-Eid Der den katholischen Geistlichen durch das Motu proprio vom 1. September 1910 vorgeschriebene Eid gegen den Modernismus löste alsbald eine lebhafte Bewegung in der Öffentlichkeit aus. In Preußen bot die Debatte über den Kultusetat im Abgeordnetenhaus im Januar 1911 die Gelegenheit, den Streit parlamentarisch zu erörtern. Der nationalliberale Abgeordnete Friedberg 1 wies auf den für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche entscheidenden Punkt hin, als er nach der Verpflichtung der katholischen Theologieprofessoren und der katholischen Geistlichen, die als Gymnasiallehrer Religion oder auch „weltliche" Fächer unterrichteten, zur Eidesleistung fragte (Nr. 170). Der Kultusminister Trott zu Solz 2 antwortete, daß die Theologieprofessoren und die Gymnasiallehrer nach seiner Kenntnis den Eid nicht abzulegen hätten (Nr. 171, Nr. 172). Der erst nach der Landtagsdebatte bekanntgewordene Brief Papst Pius X. an Kardinal Fischer vom 31. Dezember 1910 (oben Nr. 169) bestätigte die Ant1 Robert Friedberg (1851 - 1920), Nationalökonom, 1885 Professor i n Halle, 1904 an der T H Charlottenburg; 1886 - 1918 M d p r A H ; 1893 - 98 M d R ; 1913 - 18 Vors. der nationalliberalen F r a k t i o n i m preuß. Abgeordnetenhaus; 1917 - 1 8 Vors. der nationalliberalen Partei; gleichzeitig Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums; 1919/20 als M i t g l i e d der DDP M d p r L T (Fraktionsvorsitzender). 2 August v. Trott zu Solz (1855 - 1938), Jurist, seit 1884 i m preuß. V e r w a l tungsdienst; 1886 L a n d r a t i n Hoechst, 1892 i n Marburg, 1894 V o r t r . Rat i m preuß. Innenministerium; 1898 Regierungspräsident i n Koblenz, 1899 i n Kassel; 1905 Oberpräsident der Provinz Brandenburg; 1893 - 98 M d p r A H (Kons.); 1909 - 17 preuß. Kultusminister.
28 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
wort des Ministers nur teilweise; denn er setzte für Theologieprofessoren an die Stelle des rechtlichen den moralischen Zwang zur Eidesleistung. Gleichwohl lehnte die katholisch-theologische Fakultät der Universität Münster, einer Initiative des Moraltheologen Mausbach 3 folgend, in einer Erklärung vom 31. Januar 1911 die Eidesleistung ab (Nr. 173); die katholisch-theologischen Fakultäten in Bonn und Braunsberg schlossen sich der münsterischen Deklaration an. Der Bischof von Münster Dingelstad 4 antwortete auf diese Erklärung ausweichend (Nr. 174). Das Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Merry del Val an den Fürstbischof von Breslau, Kardinal Kopp, vom 10. Februar 1911 (Nr. 175) stellte klar, daß die Theologieprofessoren auch keinem moralischen Druck zur Eidesleistung unterworfen sein sollten. Nach der Auffassung des Kultusministers v. Trott zu Solz änderte dies freilich nichts daran, daß die Stellung der theologischen Fakultäten durch den Anti-ModernismusEid beeinträchtigt war (Nr. 176). Die zweite Lesung des Kultusetats im Abgeordnetenhaus bildete den Anlaß zu einer erneuten Debatte, in der vor allem die konservative Fraktion ihre Position deutlich formulierte (Nr. 177). Der Reichskanzler und preußische Ministerpräsident v. Bethmann Hollweg 5 benutzte den Anlaß zu einer grundsätzlichen Erklärung über die Stellung der preußischen Regierung zur katholischen Kirche (Nr. 178). Die Position des preußischen Episkopats erläuterte wenige Wochen später Kardinal Kopp vor dem preußischen Herrenhaus (Nr. 179). Die Ausführungen des Ministerpräsidenten wie die des Kardinals waren von dem Bestreben bestimmt, Spannungen zwischen dem Staat und der katholischen Kirche zu vermeiden und den nach dem Kulturkampf erreichten „modus vivendi" nicht aufs Spiel zu setzen 6.
3 Joseph Mausbach (1861 - 1931), 1884 kath. Priester; 1888 Dr. theol.; 1889 Religionslehrer am Gymnasium München-Gladbach; 1892 Professor für Apologetik u n d Moraltheologie i n Münster; 1919/20 MdNatVers. (Ztr.); 1920 M i t g l i e d der Reichsschulkonferenz. 4 Hermann Dingelstad: Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 848. 5 Theobald v. Bethmann Hollweg (1856 - 1921), Enkel des Kultusministers Moritz August v. Bethmann Hollweg (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 83, A n m . 1), Jurist; seit 1884 i m preuß. Verwaltungsdienst; 1886 Landrat des Kreises Oberb a r n i m ; F e b r u a r - M a i 1890 M d R (freikons.); 1896 Oberpräsidialrat i n Potsdam, J u l i 1899 Regierungspräsident i n Bromberg, Oktober 1899 Oberpräsident von Brandenburg; 1905 preuß. Innenminister, 1907 Staatssekretär des Reichsamts des Innern, Stellvertreter des Reichskanzlers u n d Vizepräsident des preuß. Staatsministeriums; 1909- 17 Reichskanzler und preuß. Ministerpräsident. 6 Vgl. J. Mausbach, Der E i d w i d e r den Modernismus u n d die theologische Wissenschaft (1911); E. Hegel, Geschichte der katholisch-theologischen F a k u l tät Münster 1773 - 1964, T. 1 (1966), S. 412 ff.
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Nr. 170. Rede des Abgeordneten Friedberg vor dem preußischen Abgeordnetenhaus am 14. Januar 1911 (Verhandlungen des preuß. Abgeordnetenhauses, Sitzungsperiode 1911/12, Bd. 1, Sp. 95 ff.) — Auszug — . . . Nun, meine Herren, komme ich zu einem letzten Punkt, den ich n u r m i t einem gewissen Widerstreben berühre, ich meine die Frage des Modernisteneides f ü r unsere Unterrichtsverwaltung. . . . Diese Frage berührt das geistige u n d kulturelle Leben unserer Nation ganz außerordentlich. . . . Es handelt sich hierbei für mich w i r k l i c h nicht u m einen K u l t u r k a m p f . Sie können der festen Überzeugung sein, daß ich Ihnen den Gefallen nicht t u n werde, hier einen K u l t u r k a m p f zu inszenieren; ich würde das für den schwersten Fehler halten. . . . Ich k a n n mich aber der Frage natürlich insoweit nicht entschlagen, als dadurch direkt staatliche Interessen berührt w e r den. Da entsteht n u n die Frage: wie ist es m i t unseren Theologieprofessoren? Sind auch die diesem Modernisteneid unterworfen? Sie alle kennen die eigenartige Stellung, die der Universitätslehrer bei uns e i n n i m m t : er soll zugleich Lehrer u n d Gelehrter sein, u n d die Freiheit der Lehre ist i h m garantiert. W i r d also, so frage ich den H e r r n Kultusminister, durch den Modernisteneid, der eventuell von unseren Theologieprofessoren gefordert werden könnte, die Lehrfreiheit dieser Professoren beeinträchtigt? Die Frage hat natürlich eine doppelte Bedeutung. Sie hat eine Bedeutung für die jetzigen Universitätslehrer; w e n n die v o m Modernisteneid befreit werden, so ist die Frage für sie erledigt. Aber sie ist auch eine noch wichtigere Frage für die zukünftigen Universitätslehrer; denn sie gehen aus den Geistlichen hervor, u n d die haben den Modernisteneid dann zugleich m i t dem Priestereid geleistet, u n d es ist fraglich, wie sie sich aus dieser Zwangslage, i n die sie der Modernisteneid gegenüber den Anforderungen freier Forschung bringt, hindurchwinden wollen. Ich möchte dann noch die weitere Frage an den H e r r n Kultusminister richten, ob sich der Modernisteneid etwa auch auf die weltlichen Religionslehrer erstreckt. Das wäre schon eine sehr viel schwierigere Frage; denn hier würden direkt staatliche Beamte, staatliche Lehrer i n ihrer Lehrtätigkeit beeinflußt auf einem Gebiete, das der kirchlichen E i n w i r k u n g doch nur i n ganz bestimmten Grenzen überhaupt unterworfen ist. U n d eine dritte Frage bezieht sich auf folgendes. I n der Verfügung, die den Modernisteneid verlangt, i n dem sogenannten m o t u proprio, ist auch von den Professoren i m allgemeinen die Rede, und da w i r d gesagt, daß die Professoren gehalten sein sollen, dem Bischof ihre Kollegienhefte u n d die Thesen, über die sie lesen wollen, vorher vorzulegen. Es ist die Frage, ob sich das auf die Universitätsprofessoren bezieht. Das wäre eine ganz unerhörte 28*
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Forderung, w e n n etwa die Universitätsprofessoren gezwungen werden sollten, einer nichtstaatlichen Behörde Rechenschaft über das zu geben, was sie lehren wollen. Ich glaube also, w i r müssen zunächst die Beantwortung dieser Frage dem H e r r n K u l t u s m i n i s t e r überlassen u n d unsere weitere Stellungnahme von der A n t w o r t abhängig machen, die er uns erteilen w i r d . . . .
Nr. 171. Rede des preußischen Kultusministers v. Trott zu Solz vor dem preußischen Abgeordnetenhaus am 14. Januar 1911 (Verhandlungen des preuß. Abgeordnetenhauses, Sitzungsperiode 1911/12, Bd. 1, Sp. 111 f.) — Auszug — . . . Wie m i r v o n autoritativer kirchlicher Seite mitgeteilt worden ist, haben die katholischen Theologieprofessoren an unseren staatlichen Universitäten den durch das M o t u proprio v o m 1. September des vorigen Jahres vorgeschriebenen E i d nicht zu leisten, u n d es w i r d auch i m übrigen durch jene Bestimmungen an den Beziehungen der theologischen Fakultäten zu den Bischöfen nichts geändert; es bleibt vielmehr bei den Bestimmungen, welche hierüber i n den Fakultätsstatuten gegeben sind. Die Bestimmungen dieser Statuten weisen j a schon seither den katholisch-theologischen Fakultäten eine v o n den übrigen Fakultäten einigermaßen abweichende Stellung zu. Das hat namentlich darin seinen Grund, daß die katholisch-theologischen F a k u l täten die Stätten sind, i n denen die angehenden Geistlichen, die jungen K l e r i k e r , f ü r ihren zukünftigen Beruf ausgebildet werden. Gerade darin liegt auch der Wert der katholischen Fakultäten für den Staat; denn i h m k a n n es n u r erwünscht sein, w e n n die zukünftigen katholischen Geistlichen nicht allein i n geistlichen Anstalten ausgebildet werden, sondern w e n n sie auch unsere Universitäten beziehen, dort m i t anderen Dingen und m i t anderen Menschen i n Berührung kommen. Ebenso ist es i m Staatsinteresse liegend, w e n n auch die Lehrer der jungen Geistlichen an unseren Universitäten i n dem Professorenkollegium stehen, m i t den Vertretern anderer Disziplinen i n Verbindung u n d Gedankenaustausch treten. Das sind die Gründe gewesen, welche bisher trotz vielfachen Widerspruchs dazu geführt haben, an den katholisch-theologischen Fakultäten festzuhalten. Das sind auch die E r w ä gungen gewesen, welche Männer wie Paulsen 7 u n d Harnack 8 veranlaßt haben, 7 Friedrich Paulsen (1846 - 1908), zunächst evang. Theologe, dann Philosoph; 1875 Privatdozent, 1878 ao. Professor, 1894 o. Professor i n Berlin. — Trott zu Solz bezieht sich auf Paulsens Beitrag zu der Diskussion über die E n z y k l i k a „Pascendi" i n : Internationale Wochenschrift 1, 1907, Nr. 36 (dazu auch oben S. 416). 8 Adolf ( ν .) Harnack (1851 - 1930), evang. Theologe; 1874 Privatdozent, 1876 ao. Professor der Kirchengeschichte i n Leipzig; 1879 o. Professor i n Gießen, 1886 i n Marburg, 1888 nach erheblichen Auseinandersetzungen zwischen M i n i sterium u n d Oberkirchenrat und nach persönlichem Eingreifen Bismarcks i n B e r l i n (siehe unten Nr. 269 ff.); 1890 M i t g l i e d der preuß. Akademie der Wissenschaften; 1903 - 1911 Vorsitzender des Evangelisch-Sozialen Kongresses; 1905 1921 Generaldirektor der preuß. Staatsbibliothek; 1911 Begründer u n d erster
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sich f ü r die Beibehaltung der katholisch-theologischen Fakultäten auszusprechen. Wenn diese Fakultäten aber den von m i r gekennzeichneten Zweck erfüllen sollen, können sie es n u r dann, wenn sie i n Einklang stehen m i t den Glaubenslehren der katholischen Kirche, da sie i m andern F a l l ihre Aufgaben tatsächlich nicht erfüllen könnten. Denn sie w ü r d e n nicht mehr i n die Lage kommen, die angehenden Geistlichen auszubilden, indem diese nicht mehr auf die Universitäten gesandt würden. . . .
Nr. 172. Rede des preußischen Kultusministers v. Trott zu Solz vor dem preußischen Abgeordnetenhaus am 16. Januar 1911 (Verhandlungen des preuß. Abgeordnetenhauses, Sitzungsperiode 1911/12, Bd. 1, Sp. 158 ff.) — Auszug — . . . Wenn w i r den Zweck der Fakultäten auch ferner erreichen wollen, so werden w i r w i e bisher die Professoren aus dem Kreise der katholischen Geistlichen entnehmen müssen, also i n Z u k u n f t aus dem Kreise, der den Modernisteneid geschworen hat. Wenn das aber auch notwendig ist, so w i r d doch f ü r die Beibehaltung der Fakultäten n u r das Interesse des Staates maßgebend sein. Es w i r d sich auch ferner u m die Frage handeln, ob der Nutzen, den die katholisch-theologischen Fakultäten dem Staate verschaffen, größer ist, als die Bedenken, die entgegenstehen. Es w i r d sich darum handeln, ob die Erwägungen, die bisher zur Beibehaltung der Fakultäten geführt haben, auch ferner noch unter der veränderten Lage zutreffend sind. Dabei, meine Herren, ist maßgebend das Interesse des Staates, der die Fakultäten unterhält u n d der Kosten nicht aufwenden w i r d , w e n n er damit nicht seinen Interessen dient. Ich glaube n u n allerdings, daß zur Zeit ein Anlaß nicht vorliegt, etwa m i t der Aufhebung der Fakultäten vorzugehen. M a n w i r d die weitere E n t w i c k lung der Dinge abzuwarten haben, und diejenigen, welche schon jetzt soweit gehen wollen, welche schon jetzt für die Aufhebung dieser Fakultäten sprechen, erwägen w o h l nicht, daß sie m i t dieser Stellung gerade die Geschäfte derjenigen Kreise i n der katholischen Kirche führen würden, die schon jetzt es nicht gerne sehen, daß die jungen K l e r i k e r auch unsere Universitäten besuchen, u n d die es vorziehen würden, daß sie fern von der anderen Welt, abgeschlossen lediglich i n geistlichen Anstalten zu i h r e m zukünftigen Berufe vorbereitet würden. Das aber, meine Herren, wünschen w i r nicht u n d deshalb glauben w i r an den katholischen Fakultäten jedenfalls vorläufig festhalten zu sollen. . . . Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. — Z u Harnacks Stellung zu den katholisch-theologischen Fakultäten vgl. einerseits seine Beiträge zur Diskussion u m die Enzyklika „Pascendi" (abgedruckt in: A. Harnack, Aus Wissenschaft und Leben, Bd. I, 1911, S. 251 ff.), andererseits: Religiöser Glaube und freie Forschung (ebenda S. 267 ff.).
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Es ist durchaus erwünscht, daß dieses Grenzgebiet v o m Staat u n d von der Kirche m i t Zurückhaltung u n d Vorsicht betreten w i r d , w e n n m a n wünscht, daß das friedliche Nebeneinanderwirken dieser beiden Mächte nach Möglichkeit nicht gestört werde. Als gerade aus dieser Erwägung herausgehend habe ich angesehen die Maßnahme, daß die katholischen Theologieprofessoren den E i d nicht zu schwören haben, u n d ich habe als i m E i n k l a n g m i t dieser E r wägung stehend auch angesehen die weiter m i r aus kirchlichen Kreisen gewordene Mitteilung, daß der Modernisteneid auch nicht gefordert werden w ü r d e von den dem geistlichen Stande angehörenden Staatsbeamten. . . .
Nr. 173. Schreiben der katholisch-theologischen Fakultät Münster an Bischof Dingelstad, Münster 9 v o m 31. Januar 1911 (Kölnische Volkszeitung v o m 1. Februar 1911; E. Hegel, Geschichte der katholisch-theologischen F a k u l t ä t Münster 1773 - 1964, T. 2, 1971, S. 405 f.) Hochwürdigster H e r r Bischof! Das soeben i n den A c t a Apostolicae Sedis veröffentlichte Schreiben Sr. Heiligkeit des Papstes an Se. Eminenz, den H e r r n K a r d i n a l Fischer v o m 31. Dezember vorigen Jahres enthält eine Darlegung über das Verhalten der theologischen Fakultäten i n Deutschland gegenüber dem durch das M o t u proprio „Sacrorum a n t i s t i t u m " geforderten eidlichen Bekenntnisse der Geistlichen. I m Anschluß daran f ü h l t sich die Theologische F a k u l t ä t der Westfälischen Wilhelms-Universität gedrängt, Ew. Bischöflichen Gnaden ehrerbietigst folgende E r k l ä r u n g zu geben: Es w a r durch M i t t e i l u n g verschiedener Bischöfe u n d durch eine Note i m „Osservatore Romano" bekannt geworden, u n d das oben erwähnte päpstliche Schreiben bestätigt es, daß f ü r die Professoren der Theologie an den staatlichen Universitäten eine Verpflichtung zu jenem Eide nicht bestehe. Die F a k u l t ä t hat daraus den Schluß gezogen, daß wichtige Gründe des öffentlichen Wohles, die m i t der Lage der Kirche i n Deutschland, insbesondere m i t der staatsrechtlichen Stellung u n d den Aufgaben der theologischen F a k u l täten zusammenhängen, den Heiligen Vater zu einer solchen Ausnahme bes t i m m t haben. So glauben die n u r i m Lehramte tätigen Mitglieder der F a k u l t ä t sowohl i m Sinne Sr. Heiligkeit, des Papstes, w i e der staatlichen und kirchlichen Behörden i n Preußen zu handeln, w e n n sie von der Eidesleistung absahen. Andere, die neben i h r e m A m t e gelegentlich seelsorglich t ä t i g sind, haben m i t Rücksicht auf die erwähnten Gründe u n d die wünschenswerte Einheitlichkeit des Vorgehens i m Einverständnis m i t Ew. Bischöflichen Gnaden eine abwartende Stellung eingenommen. A l l e n Mitgliedern unserer Fakultät hat es f e m gelegen, einer solchen Befreiung sich zu rühmen, oder den Schein zu erwecken, als erblickten sie 9
Hermann
Dingelstad:
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i n der Ablegung des Eides eine Preisgabe echter Geistesfreiheit u n d w a h r haftigen Forschersinnes oder eine Änderung der bisherigen Grundlagen des Glaubens u n d Forschens. Unsere Lehrtätigkeit u n d offen geäußerte wissenschaftliche Uberzeugung ist stets i m Einklang gewesen m i t den gegen die modernistische Auflösung des katholischen Glaubens gerichteten G r u n d sätzen der E n z y k l i k a „Pascendi", w i e sie die Eidesformel kurz zusammenfaßt. Die Fakultät darf die Versicherung aussprechen, daß sie es an dem M u t e der Uberzeugung i n Sachen der Religion u n d ihres Bekenntnisses auch i n schwierigen, durch geistige Kämpfe erregten Zeiten niemals fehlen lassen w i r d . Andererseits ist sie sich der Pflichten u n d Rücksichten, die m i t der Einordnung i n das Ganze einer staatlichen Hochschule gegeben sind, v o l l kommen bewußt. Die E r f ü l l u n g dieser doppelten Verpflichtung w i r d i h r erleichtert durch die weitgehende Selbständigkeit, deren sich die einzelnen Fakultäten i m Organismus der Universität erfreuen, nicht minder durch das Bewußtsein, daß die Stellung u n d Tätigkeit der katholisch-theologischen Fakultäten i n Deutschland nicht n u r dem Ansehen der katholischen B i l d u n g und Wissenschaft zugute k o m m t , sondern auch von weittragender Bedeutung ist für unser gesamtes religiöses u n d kirchliches Leben sowie f ü r die soziale und staatliche Wohlfahrt.
Nr. 174. Schreiben des Bischofs Dingelstad, Münster an die katholischtheologische Fakultät Münster v o m 5. Februar 1911 (E. Hegel, Geschichte der katholisch-theologischen Fakultät Münster 1773 - 1964, T. 2, 1971, S. 407 f.) Die E r k l ä r u n g der hiesigen theologischen F a k u l t ä t v o m 31. v . M . habe ich erhalten. Es hat mich m i t Befriedigung erfüllt, daß die hochwürdigen M i t glieder der F a k u l t ä t es offen aussprechen, daß sie i n der Ablegung des durch das Päpstliche Motuproprio v o m 1. September v. J. geforderten Eides „eine Preisgabe echter Geistesfreiheit u n d w a h r h a f t e n Forschersinnes oder eine Änderung der bisherigen Grundlagen des Glaubens u n d Forschens nicht erblicken". Gerade deshalb können sie aber auch den gedachten E i d leisten, ohne die Pflichten u n d Rücksichten zu verletzen, die der F a k u l t ä t als Gliede einer staatlichen Hochschule obliegen, zumal der Heilige V a t e r von den Lehrern an staatlichen Hochschulen den E i d nicht fordert, sondern die E i d leistung ihrer freien Entschließung überläßt. Gern erkenne ich an, daß die L e h r t ä t i g k e i t der Herren Unterzeichner der E r k l ä r u n g u n d ihre offen geäußerte wissenschaftliche Uberzeugung stets i m Einklang gewesen ist m i t den gegen die modernistische Auflösung des katholischen Glaubens — w i e es i n der E r k l ä r u n g m i t v o l l e m Recht heißt — gerichteten Grundsätzen der E n z y k l i k a „Pascendi", w i e sie die Eidesformel kurz zusammenfaßt.
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Ich b i n auch fest davon überzeugt, daß die Fakultät, wie sie versichert, es i n Z u k u n f t niemals an dem M u t e der Überzeugung i n Sachen der Religion u n d ihres Bekenntnisses fehlen lassen w i r d . Dabei k a n n ich aber doch v o l l k o m m e n verstehen, daß der Heilige Vater den Wunsch hegt, es möchten alle Lehrer der Theologie ohne Ausnahme den E i d leisten, da es sich bei demselben u m eine Garantie f ü r die Reinheit der Lehre handelt, welche zu hüten seine erste u n d oberste Aufgabe ist, — eine Aufgabe, die ausschließlich zur kirchlichen Kompetenz gehört.
Nr. 175. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Merry del Val an den Fürstbischof Kopp, Breslau 10 v o m 10. Februar 1911 (Lateinischer T e x t : Acta Apostolicae Sedis 3, 1911, S. 87; Archiv f ü r katholisches Kirchenrecht 91, 1911, S. 489 f.) — Übersetzung — Das Schreiben Deiner Eminenz v o m 6. dieses Monats hat der Heilige Vater gelesen u n d m i t der angemessenen Sorgfalt bedacht. D u berichtetest darin, die theologische Fakultät an der staatlichen Universität i n Breslau habe einmütig bekannt, daß „der Eid gegen die Modernisten nichts enthält, was die alte von i h r immer beachtete Glaubensregel verändern oder über diese hinausgehen könnte, daß er auch weder eine Verpflichtung auferlege noch die Treue gegenüber der staatlichen A u t o r i t ä t entgegenstehe noch schließlich den Fortschritt der Studien hindere"; D u berichtetest ferner, die theologische Fakultät habe Dich darum gebeten, dieses Zeugnis ihrer Ergebenheit dem höchsten Pontifex zu übermitteln. Solche Gesinnungen hat seine Heiligkeit m i t väterlichem Wohlwollen aufgenommen. O b w o h l es nicht anders sein kann, als daß sie sich sehr darüber freuen würde, w e n n der Eid von allen zum Priester geweihten Männern i n allen V ö l k e r n geleistet würde, h ä l t sie doch diejenigen Priester an der Universität von Breslau nicht für tadelnswert, die, da sie ausschließlich das A m t des akademischen Lehrers wahrnehmen, sich des Eides enthalten. Sie machen damit von einer gütigen Auslegung des Gesetzes, die der Heilige Vater selbst erlassen hat, u n d damit gewissermaßen von seinem eigenen Recht Gebrauch. Sie haben nicht den Eindruck erweckt, als machten sie sich diese Erlaubnis gern zunutze; sie erweisen sich also nicht als Menschen, die den Urteilen anderer i n erbärmlicher Weise dienstbar sind. Nachdem sie vielmehr i n einem umfassenden Bekenntnis ihre zutreffende Auffassung über diese Frage dargelegt haben, hätte, nach dem Zeugnis Deiner Eminenz, keiner von ihnen, w e n n der Oberste H i r t e der Kirche ihnen nicht die Eidesleistung erlassen hätte, gezögert, den päpstlichen Befehlen mannhaften Sinns zu gehorchen. Dieses außerordentliche Zeichen der Treue u n d der Verbundenheit m i t dem Apostolischen Stuhl hat seine Heiligkeit angenehm berührt; u n d der Heilige Vater ist davon überzeugt, daß es an der Treue jener Professoren, die hierin sichtbar geworden ist, zu keiner Zeit fehlen w i r d . 10
Georg Kopp: Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 822, A n m . 14.
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Nr. 176. Erklärung des Kultusministers v. Trott zu Solz vor dem Haushaltsausschuß des preußischen Abgeordnetenhauses am 27. Februar 1911 (Schultheß, Europäischer Geschichtskalender 1911, Bd. I, S. 60) Bei der Beratung des Kultusetats e r k l ä r t der Minister, daß das Schreiben des Papstes an den K a r d i n a l Fischer 1 1 i n Deutschland die Aufnahme gefunden habe, daß man daraus schloß, die früheren Ausnahmen f ü r den E i d seien zurückgenommen oder es sei doch ein moralischer Druck ausgeübt worden, so daß die Ausnahmen tatsächlich aufgehoben seien. Die Regierung habe durch den Gesandten beim päpstlichen Stuhle 1 2 feststellen lassen, welches der eigentliche Sinn der Bestimmungen des Papstes über den Modernisteneid bezüglich der Professoren sei, u n d der päpstliche Staatssekretär M e r r y del V a l habe erklärt, daß das Schreiben an K a r d i n a l K o p p sich i n gleicher L i n i e bewegen solle wie die v o n i h m dem preußischen Gesandten gegebene m ü n d liche A n t w o r t . Danach stehe fest, daß sämtliche Professoren an den F a k u l täten, welche geistliche Funktionen nicht ausüben, den Eid nicht zu leisten brauchen. Es werde allerdings i m Laufe der Zeit keine Professoren an den Fakultäten mehr geben, welche den Eid nicht geleistet haben, da j a die E r gänzung dieser Professoren durch Geistliche stattfinden müsse, daher diejenigen, welche zurzeit den E i d nicht zu leisten brauchen, allmählich durch solche w ü r d e n ersetzt werden, welche den E i d geleistet haben. Es entstehe daher die Frage, ob die Bindung, die jetzt schon bestehe, eine freie wissenschaftliche Forschung an den katholischen Fakultäten noch gewährleiste. Die Frage sei verschieden beantwortet worden. Katholische Professoren hätten sie verneint; ein evangelischer Theologe u n d ein evangelischer Professor der Philologie kritischer Methode habe sie bejaht 1 3 . Es müsse dabei i n Betracht gezogen werden, daß f ü r den Staat die katholischen Fakultäten weniger als eine Forschungsstätte i n Betracht kommen, denn als eine Stätte der A u s b i l dung der späteren katholischen Geistlichen f ü r ihren Beruf. Es sei nicht zu bestreiten, daß durch die Forderung des Eides die katholischen Fakultäten i n ihrer Stellung an den Universitäten beeinträchtigt u n d i h r wissenschaftliches Ansehen i n Frage gestellt werde. Gleichwohl sei die Auflösung der Fakultäten jetzt noch nicht zwingend, u n d ihre Aufrechterhaltung liege jetzt noch i m Interesse des Staates. M a n müsse f ü r die Z u k u n f t eine abwartende H a l t u n g einnehmen. Über die Z a h l der Professoren, welche den E i d geleistet haben, sei i h m nichts bekannt.
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Oben Nr. 169. Otto v. Mühlberg: unten S. 466, A n m . 3. Harnack u n d Paulsen : vgl. oben Nr. 171.
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Nr. 177. Erklärung des konservativen Fraktionsvorsitzenden v. Heydebrand und der Lasa 14 vor dem preußischen Abgeordnetenhaus am 7. M a i 1911 (Verhandlungen des Abgeordnetenhauses, Sitzungsperiode 1911/12, Bd. 3, Sp. 3435 ff.) — Auszug — . . . Eine andere Frage muß ich behandeln, den Modernisteneid u n d was damit zusammenhängt. Meine politischen Freunde sind der Meinung, daß diese Forderung an u n d für sich eine Sache ist, die der religiösen Seite angehört. Es k a n n dahingestellt bleiben, ob durch diese Forderung ein materielles Plus eingeführt wurde zugunsten der Kirche u n d ob sie etwas wesentlich Neues enthält. I n i h r e m Ausgangspunkt geht uns also die Frage nichts an. A b e r darüber k a n n k e i n Zweifel sein, daß die W i r k u n g dieser innerkonfessionellen Regelung auch auf Gebiete sich erstreckt, die der staatlichen A u f sicht, M i t w i r k u n g u n d den staatlichen Interessen nahestehen u n d sie berühren. W i r können also daran nicht vorübergehen. W i r erkennen an, daß durch die Einschränkung dieser Forderung i n der letzten Zeit gegenüber den Professoren der Universität eine M i l d e r u n g erfolgt ist, aber trotzdem ist m i t Bezug auf Universitäten, also auch f ü r die Geistlichen, die als Lehrer t ä t i g sind, noch ein Rest übrig, der eine E i n w i r k u n g der konfessionellen Ordnung auf die staatlichen Interessen als wahrscheinlich u n d möglich erscheinen läßt. Der Minister n a h m eine abwartende H a l t u n g ein u n d wollte zuerst prüfen, u m eventuell später die Geschädigten zu schützen. D a r i n hat dei Minister unsere Unterstützung. W i r können es aber nicht f ü r richtig halten, w e n n Forderungen aufgestellt werden, die verlangen, daß der Minister ohne weiteres Personen, die diesen Eid geleistet haben, gänzlich v o n der Universität fernhalten solle u n d v o m Unterricht i m Deutschen u n d i n der Religion ausschalte. Das schießt über das Z i e l hinaus. Die staatlichen katholischen Fakultäten würden dadurch über kurz oder lang dem Aussterben geweiht. Es besteht ein großes Interesse daran, daß die Ausbildung der katholischen Geistlichen nicht ohne F ü h l u n g m i t dem staatlichen Leben geschieht. Was die Stellung der Lehrer angeht, so unterliegt i h r Unterricht der Staatskontrolle. M a n k a n n w o h l abwarten u n d erst dann Entschließungen fassen. W i r haben auch jüdische Lehrer, die Deutsch u n d Geschichte unterrichten. Daran hat man doch auch keinen Anstoß genommen. Wenn man i n das Herz jedes Lehrers hineinsehen wollte, so würde man doch w o h l finden, daß er w e i t absteht von manchem, was w i r f ü r unbedingt notwendig zum Unterrichten halten. W i r w ü r d e n dazu gelangen, daß w i r die Gesinnung aller Lehrei untersuchen müßten. Das wäre eine Gesinnungsschnüffelei, die ich bisher bei der l i n k e n Seite nicht vermutet habe. W i r w o l l e n das nicht. Der Standpunkt der Staatsverwaltung, abzuwarten, ist richtig. W i r unterstützen ihn. Namens aller meiner Freunde habe ich zu sagen, daß uns die Schritte der K u r i e m i t 14 Ernst v. Heydebrand und der Lasa (1851 - 1924), preuß. Jurist (Reg.Ass.); 1882 Landrat i n Kosel, 1887 - 95 i n Militsch; Bewirtschafter seiner schles. Güter; 1888 - 1918 M . d. preuß. A H ; 1903 - 18 zugleich M d R (kons.); 1905 - 18 Fraktionsvorsitzender i m A H ; 1912 - 18 zugleich Parteivorsitzender.
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tiefem Mißbehagen erfüllt haben. W i r sind abhold jedem K u l t u r k a m p f . W i r verurteilen ein Eingreifen des Staates. W i r w o l l e n Frieden m i t den katholischen Mitbürgern, m i t denen w i r auf gleichem christlichen Boden stehen. Soll aber der Friede gesichert bleiben, dann muß eine volle Kenntnis der preußischen und deutschen Verhältnisse und eine Rücksichtnahme ihrer Interessen unerläßlich sein. W i r haben es bedauert, daß das, was uns m i t der Borromäus-Enzyklika 1 5 geboten worden ist, eine schwere Beeinträchtigung des konfessionellen Friedens war. Eine größere Zurückhaltung wäre infolgedessen geboten gewesen. Diese M a h n u n g v o m vorigen Jahre w a r anscheinend aber nicht von dem Erfolg begleitet, den w i r erwarteten.
Nr. 178. Erklärung des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten v. Bethmann Hollweg vor dem preußischen Abgeordnetenhaus am 7. März 1911 (Verhandlungen des preuß. Abgeordnetenhauses, Sitzungsperiode 1911/12, Bd. 3, Sp. 3459 if.) — Auszug — Meine Herren, ich w i l l an die Ausführungen anknüpfen, die der Herr Vorredner 1 6 am Schluß seiner Rede über die Dekrete gemacht hat, welche die K u r i e i n letzter Zeit erlassen hat. M a n mag zu kirchlichen oder staatlichen Fragen so oder so stehen, man mag Protestant oder K a t h o l i k , man mag Freund des Staatskirchentums oder von Konkordaten oder der Trennung von Staat u n d Kirche sein, niemand w i r d leugnen können, daß durch diese Dekrete eine tiefe Bewegung i n Deutschland entstanden ist. Sie hat ihren stärksten Anstoß erhalten durch die Bestimmungen über den A n t i modernisteneid. Diese Bestimmungen berühren das Verhältnis des einzelnen K a t h o l i k e n zu seiner Kirche u n d entziehen sich so ihrem I n h a l t nach einer Diskussion, welche das Verhältnis des Staates zur Kirche zum Gegenstand hat. Erachtet es die katholische Kirche i n ihrem kirchlichen u n d religiösen Interesse f ü r notwendig, ihre Diener unter diesen Eid zu stellen, so ist das lediglich ihre eigene Angelegenheit; weder der Staat noch die evangelische Kirche haben i h r hineinzureden. Diese grundsätzliche Auffassung besagt aber nicht, daß der Staat über die Folgen hinwegsehen könnte u n d müßte, welche sich daraus für das friedliche Nebeneinanderleben der Konfessionen ergeben. Dieses friedliche Nebeneinanderleben ist i n jedem K u l t u r l a n d e ein u n m i t t e l bares Staatsinteresse. Wenn ich zunächst auf unsere katholischen Landsleute sehe, so hat sich ein Widerstand gegen die Anordnungen der K u r i e n u r i n ganz vereinzelten Fällen ergeben. I m ganzen sind Episkopat, niederer Klerus u n d Laien einm ü t i g i n der Anerkennung der vollkommenen Zuständigkeit der Kurie, derartige kirchliche Anordnungen zu erlassen. Das ändert aber nichts daran, daß Bedenken darüber entstehen können, ob es notwendig u n d zweckmäßig 15 16
Unten Nr. 183. Der konservative Abgeordnete v. Heydebrand
und der Lasa.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
war, diese Dekrete f ü r Deutschland zu erlassen, u n d daß Wünsche auf eine größere Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse der christlichen Konfessionen i n Deutschland sich erheben. A u f katholischer Seite muß man damit rechnen, daß die Bindung, welche i m Antimodernisteneid liegt, evangelischem Empfinden besonders fremd ist. Allerdings hat diese Bindung, w i e von katholischer Seite betont w i r d , auch schon v o r Einführung des Modernisteneides bestanden, u n d ich w i l l es meinerseits v ö l l i g dahingestellt sein lassen, ob dieser E i d irgendetwas Neues enthält. Die Tatsache aber, daß i n i h m grundlegende Konfessionsunterschiede gewissermaßen auf eine Formel, u n d zwar auf die sakrosankte Eidesformel, gebracht worden sind, w a r n u r zu geeignet, konfessionelle u n d Glaubensgegensätze neu zu beleben. Ihre praktische W i r k u n g ü b t die Bewegung, die dadurch entstanden ist, auf die Stellung der katholischen Fakultäten bei den Universitäten u n d auf den weltlichen Unterricht aus, den vereidete Geistliche an unsern höheren Schulen erteilen. Ganz zutreffend mußte der H e r r K u l t u s m i n i s t e r i n der Kommission von der M i n d e r u n g sprechen, die nach dem Urteile mancher Kreise die katholischen Fakultäten durch den Antimodernisteneid erfahren haben, von einer Minderung, die sogar den Bestand der Fakultäten einmal gefährden könnte. U n d auch die Wertung, welche dem Unterricht an den Gymnasien zu t e i l w i r d , k a n n nicht unabhängig bleiben von den Auffassungen, m i t denen die evangelische Bevölkerung dem Antimodernisteneid gegenübertritt. I n allen diesen Beziehungen ist die Bewegung, welche bei uns entstanden ist, ist die allgemeine Atmosphäre, die sich daraus gebildet hat, von u n m i t telbarer Bedeutung f ü r Staatseinrichtungen u n d f ü r Staatsinteressen. Ich betone dies m i t voller Bestimmtheit, u m es m i t demselben Nachdruck auszusprechen, daß ich, abgesehen von diesen praktischen Zusammenhängen, konfessionelle Empfindungen u n d Verstimmungen niemals zur Grundlage politischer Entschließungen machen werde. Ich b i n i n der Presse u n d i n Gesprächen w o h l der Ansicht begegnet, der Gewissenszwang des Modernisteneides sei so stark, daß auch der Staat dagegen protestieren müsse. M a n hat sogar gemeint, er sei m i t G r u n d rechten der preußischen Verfassungsurkunde unvereinbar. Das trifft n a t ü r lich nicht zu. Wer katholischer Geistlicher werden w i l l , der hat sich den Bedingungen seiner Kirche zu unterwerfen. Ob er Geistlicher werden w i l l , ist seine Sache; niemand zwingt i h n dazu. W i r d er es aber, so begibt er sich eines Teiles seiner Freiheit, u n d k e i n A r t i k e l unserer Verfassungsurkunde untersagt es, derartige Freiheitsbeschränkungen auszubedingen oder zu übernehmen, sie seien denn i m Gesetze ausdrücklich verboten. Das ist aber bei den Beschränkungen des Antimodernisteneides nicht der Fall. Der Staat würde also gar keinen gesetzlichen T i t e l haben, gegen den Eid zu protestieren. Rein u m deswillen aber gegen i h n Verwahrung einzulegen, w e i l er protestantischen Überzeugungen zuwiderläuft, wäre eine konfessionelle Gefühlspolitik, die niemals Aufgabe des Staates sein kann. So gewiß ich einem großen Teile der evangelischen Bevölkerung aus dem Herzen sprechen würde, wenn ich derartigen konfessionellen Empfindungen Ausdruck gäbe, ebenso unzweifel-
V. Die preußische Regierung u n d der A n t i - M o d e r n i s m u s - E i d
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haft w ü r d e ich katholische Überzeugungen auf das tiefste verletzen u n d Gegenstände vor das F o r u m der Volksvertretung ziehen, für die i h r die Kompetenz fehlt. Ich beschränke mich streng auf die Wirkungen, welche i n der vorliegenden Sache i n bezug auf die Beziehungen des Staates zur Kirche hervorgerufen worden sind. Neben den Bestimmungen über den Antimodernisteneid kommen noch die Bestimmungen über die K o m m u n i o n der K i n d e r u n d über die A m o t i o n 1 7 der Geistlichen i n Betracht 1 8 . Den Streit darüber, ob alle diese Dekrete rein innerkirchliche Angelegenheiten betreifen oder nicht, halte ich für v ö l l i g belanglos. Wesentlich ist lediglich, ob bei ihrer Ausführung das staatlich-kirchliche Grenzgebiet berührt w i r d , ob Konfliktsmöglichkeiten geschaffen werden, und ob sich diese verwirklichen. . . . Die K u r i e hat es nicht f ü r zweckmäßig angesehen, sich v o r dem Erlaß dieser Dekrete m i t uns darüber auszusprechen, wie etwaigen Konflikten v o r gebeugt werden könnte. Fordern konnten w i r das nicht. A b e r es hätte dem Frieden gedient. Es hätte von vornherein Erregungen u n d Verstimmungen die Spitze abgebrochen, die die Atmosphäre verschlechtern — auch über das Gebiet der konfessionellen Gefühle hinaus, von denen ich soeben gesprochen habe. Gleichwohl konnte der Herr Kultusminister bei der ersten Lesung des Etats der Ansicht Ausdruck geben, daß die Freilassung der Universitätsdozenten u n d der Gymnasiallehrer von dem Antimodernisteneid ein A n zeichen f ü r den Wunsch der K u r i e zu sein scheine, die Schwierigkeiten zu vermeiden, die sich gerade aus der Vereidigung 1 9 dieser Personen ergeben 20 . Der unmittelbar darauf veröffentlichte Brief des Papstes an den K a r d i n a l Fischer 2 1 mußte den Eindruck erwecken, daß w i r uns i n dieser Annahme getäuscht haben. M a n hat sogar gemeint, dieser Brief sei eine direkte A n t w o r t auf die Rede des H e r r n Kultusministers gewesen. M a n hat i n i h r eine gewollte Brüskierung der Regierung erblicken wollen. Das ist nicht richtig. Der am 31. Dezember geschriebene Brief konnte keine A n t w o r t auf Äußerungen sein, die am 14. Januar hier gemacht sind. U n d auch die Veröffentlichung des Briefes ist nach den Erklärungen, die ich von der K u r i e erhalten habe, m i t diesen Äußerungen des H e r r n Kultusministers nicht i n Verbindung zu bringen. Das ändert aber nichts daran, daß dieser Brief leider geeignet war, die bestehende Erregung zu steigern, u n d daß er einen T e i l der Annahmen, von denen der H e r r Kultusminister ausgegangen war, als i r r i g erwiesen hat. M i t Recht hat man gefragt, welche Stellung die Regierung gegenüber dieser H a l t u n g der K u r i e eingenommen hat. 17
die Amtsenthebung. Das Dekret über die Zulassung der K i n d e r zur Erstkommunion vom 8. August 1910 (Acta Apostolicae Sedis 2, 1910, S. 577 if.) und das Dekret über die Amtsenthebung der Geistlichen v o m 20. August 1910 (ebenda S. 636 ff.). 19 I m gedruckten Protokoll steht i r r t ü m l i c h : Verteidigung. 20 Oben Nr. 171. 21 Oben Nr. 169. 18
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
Meine Herren, ich habe durch unsern Gesandten beim V a t i k a n den K a r d i nalstaatssekretär auf die Bewegung, welche durch den Antimodernisteneid hervorgerufen worden ist, aufmerksam machen lassen; ich habe i h m die einzelnen Punkte bezeichnen lassen, w o Konflikte m i t dem Staat eintreten könnten; ich habe auch der K u r i e keinen Zweifel darüber lassen können, daß i h r die Verantwortung f ü r Konflikte, die entstehen sollten, allein zufällt, u n d daß, nachdem sie diese Dekrete ohne Fühlung, ohne jegliche F ü h l u n g m i t dem Staat erlassen hat, i h r auch allein die Aufgabe obliegt, nach M i t t e l n u n d Wegen zu suchen, w i e die Folgen der Erregung nach Möglichkeit abgeschwächt werden können, u n d w i e bei der weiteren Ausführung der Dekrete Kollisionen m i t dem Staat zu vermeiden sind. Die K u r i e hat m i r darauf geantwortet, daß sie w e i t davon entfernt sei. irgendwelche Konflikte m i t dem Staate zu suchen, solche aber auch nicht voraussehe. Der Kardinalstaatssekretär hat gleichzeitig diejenigen Personen bezeichnet, welche zu dem Eide nicht herangezogen werden sollen. Ich fürchte, daß die gewissermaßen optimistische Auffassung der Kurie, als ob alle Folgen der erzeugten Erregung wieder ganz ausgelöscht werden könnten, zu w e i t geht. Sollte es sich bewahrheiten, daß bei der weiteren Ausführung der Dekrete keine Zusammenstöße erfolgen, so würde ich der erste sein, der sich darüber freut. W i r werden aber i n dieser Beziehung die weitere Entwicklung abzuwarten haben. . . . N u n ist gefordert worden, der Staat, die Regierung müsse die Maßnahmen der K u r i e m i t scharfen Gegenmaßregeln beantworten. Als solche sind genannt worden: Aufhebung der Fakultäten, Aufhebung des weltlichen U n t e r richts durch die Gymnasiallehrer, Aufhebung auch unserer Gesandschaft beim Vatikan. Wenn ich die S t i m m u n g i n Preußen u n d i n Deutschland richtig beurteile, so hat bei uns niemand Sehnsucht nach einem K u l t u r k a m p f . Beide Konfessionen sind bestrebt gewesen, friedlich m i t einander auszukommen, u n d w o konfessionelle Gegensätze einmal schärfer hervorgetreten sind, da hat, wie ich glaube, auf keiner Seite die Absicht vorgelegen, einen K a m p f heraufzubeschwören. Dieser S t i m m u n g i m Volke hat die Regierung durchweg Rechnung getragen, u n d ich habe keine Gelegenheit gehabt, zu beobachten, daß der preußische Episkopat sich von anderen Absichten leiten ließe: i m Gegenteil, hochangesehene u n d einflußreiche Bischöfe erblicken ihre Lebensaufgabe darin, gerade auf dem so schlüpfrigen Boden des kirchlich-staatlichen Grenzgebietes jeden Zusammenstoß zu vermeiden 2 2 . Solche Vorsicht ist notwendig. Denn es k a n n sich immer n u r u m einen modus v i v e n d i 2 3 handeln. Aber w i r hatten 22 Gemeint ist m i t dieser Bemerkung insbesondere der Fürstbischof Kopp, Breslau (siehe Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 822, A n m . 14; zu seiner Ernennung zum K a r d i n a l oben S. 251 ; zu seiner Rolle i n den Auseinandersetzungen u m den A n t i - M o d e r n i s m u s - E i d oben Nr. 175, unten Nr. 179). 23 Bethmann Hollweg nahm hier Bismarcks Formel für die Beilegung des K u l t u r k a m p f s auf; vgl. z. B. das V o t u m Bismarcks f ü r den Kultusminister Falk v o m 16. M a i 1878 (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 771) sowie O. v. Bismarck, Erinnerung u n d Gedanke (Werke, Bd. 8 a, 1975), S. 394 f.
V. Die preußische Regierung u n d der A n t i - M o d e r n i s m u s - E i d
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einen solchen Modus gefunden, u n d er war, w e n n Sie sich v o n i h m ein Gesamtbild machen, w e n n Sie vereinzelten Vorkommnissen keine verallgemeinernde Bedeutung beilegen, ein friedlicher. Niemand i n Deutschland — ich glaube, ich k a n n das getrost aussprechen — hat irgendwie das V e r langen danach, daß dieser Zustand gestört werde. W i r wünschen nicht, daß uns v o n außen Steine i n den Garten geworfen werden. Ich k a n n aber nicht finden, daß alle Maßregeln der K u r i e aus letzter Zeit diejenige Kenntnis u n d diejenige Rücksicht auf die preußischen u n d die deutschen Verhältnisse zur Grundlage gehabt hätten, welche unentbehrlich ist, u m den befriedigenden Zustand, unter dem w i r leben, unversehrt zu erhalten. N u r so, meine Herren, k a n n ich eine E r k l ä r u n g f ü r manche V o r gänge der letzten Zeit finden. Der Papst hat uns wiederholt versichert, daß i h m die Aufrechterhaltung eines friedlichen Verhältnisses m i t dem Staate w a r m am Herzen liege, u n d ich b i n fest davon durchdrungen, daß dies der überzeugte Wunsch u n d W i l l e des Papstes ist. A b e r dieser W i l l e w i r d durchkreuzt, w e n n Enuntiationen wie z. B. die der Borromäus-Enzyklika 2 4 erfolgen oder w e n n Dekrete w i e die jetzigen erlassen werden, die i n den Verhältnissen anderer Staaten ihre Begründung finden mögen, die aber i n Deutschland schwere Bedenken hervorrufen. A u f das W i r k e n welcher K r ä f t e dieser Widerspruch zurückzuführen ist, habe ich nicht zu untersuchen; ich k a n n n u r den Widerspruch feststellen. A b e r ich muß auch m i t diesem Widerspruch rechnen. Müßte ich davon überzeugt sein, daß die v o n der höchsten katholischen Stelle gewollte Kirchenpolitik darauf hinausliefe, Staatsrechte u n d staatliche Interessen zu übergehen, dann wäre die Stellung des Staates ganz einfach, dann hieße es : K a m p f gegen Kampf. Diese Voraussetzung t r i f f t aber nicht zu. U n d da auch i n Deutschland niemand nach einem K u l t u r k a m p f lüstern ist, so k o m m t es v o r allem darauf an, daß der Staat, daß die Regierung ihre Position sine ira w ä h l t . Von diesem Standpunkt aus ist meine Beurteilung der genannten staatlichen Maßregeln folgende. Uber den Nutzen, den die katholischen Fakultäten haben, sind die A n sichten geteilt. A u f der einen Seite w i r d die M e i n u n g vertreten — u n d sie stützt sich auf sehr gewichtige Stimmen —, daß es n u r von V o r t e i l sein kann, wenn die heranwachsende katholische Geistlichkeit ihre V o r b i l d u n g auf Instituten empfängt, denen L u f t u n d Licht ebenso zuströmt w i e den anderen Fakultäten. M a n hat nicht i m m e r diese Ansicht vertreten. Bismarck hat beispielsweise i m Jahre 1887 Zweifel an i h r geäußert auf G r u n d der Beobachtung, die er gemacht hatte, daß w ä h r e n d des K u l t u r k a m p f e s die schärfsten u n d bittersten Gegner des Staates diejenigen Geistlichen gewesen seien, welche ihre V o r b i l d u n g auf Universitäten u n d nicht auf Seminaren empfangen hatten. 24
Unten Nr. 183.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
Aber, meine Herren, diese Beobachtung ist f ü r unsere heutigen Verhältnisse nicht mehr maßgebend, u n d ich b i n der Ansicht, daß m a n den Wert der katholischen Fakultäten i n keiner Weise unterschätzen soll. Ich gehe aber noch weiter, meine Herren, ich meine, w e n n es sich jetzt darum handelt, ob man die katholischen Fakultäten bestehen lassen oder aufheben soll, so muß man die Frage anders stellen, m a n muß fragen: welches Interesse w ü r d e der Staat daran haben, Institutionen, welche bestehen und welche uns keinesfalls irgendeinen Schaden zufügen, aufzuheben? Eine solche Notwendigkeit k a n n ich i n keiner Weise erkennen. Die katholischen Studenten werden ebensogut wie bisher so auch nach der Einführung des Antimodernisteneides ihre Vorbildung auf den katholischen Fakultäten finden können. Der Staat w i r d niemals f ü r sich i n irgendeiner F o r m die Befugnis beanspruchen, zu bestimmen, ob u n d m i t welcher B i n d u n g den katholischen Studenten Glaubenssätze vorgetragen werden sollen. Das ist nicht Sache des Staates. E r halten sich die katholischen Fakultäten — u n d das ist mein Wunsch — bei den Lehrern und bei den Schülern u n d i m Gesamtorganismus der Universitäten diejenige Wertung, welche die natürliche Vorbedingung für ihre Existenz ist, dann werden sie weiter m i t Nutzen f ü r die katholische Bevölkerung u n d m i t Nutzen f ü r den Staat fortbestehen. Sollten sie — was ich nicht wünsche — diese Wertung verlieren, dann werden sie von selber absterben. Aber irgendein Interesse des Staates, n u n m i t einem Schlage, u n d ohne die weitere Entwicklung abzuwarten, diese Fakultäten zu beseitigen u n d damit unsere katholische Bevölkerung i n ihren Wünschen u n d Bedürfnissen, die ebenso zu berücksichtigen sind wie die irgendeines anderen, zu schädigen, dazu sehe ich keine Veranlassung. Etwas anders verhält es sich bei dem weltlichen Unterricht an den G y m nasien2"'. I n Baden soll er abgeschafft werden, und man verlangt, daß w i r i n Preußen diesem Vorgehen folgen sollen. Meine Herren, ich habe Verständnis f ü r die Auffassung, welche i n manchen Kreisen herrscht, daß es bedenklich sei, an Gymnasien den Unterricht i m Deutschen und i n der Geschichte Personen zu übertragen, die i n ihrer Lehrtätigkeit durch den Antimodernisteneid jedenfalls enger gebunden sind als die Lehrer, welche diesen E i d nicht geleistet haben. Aber, meine Herren, es handelt sich doch darum: soll n u n dieser Unterricht m i t einem Schlage beseitigt werden? W i r könnten auch das n u r tun, w e n n eine zwingende Notwendigkeit dazu vorläge, u n d die ist nicht gegeben; denn ich halte es nicht f ü r ausgeschlossen, daß Lehrer, die bisher zur vollen Zufriedenheit der Schulbehörde den Unterricht i n profanen Fächern erteilt haben, dies auch nach Leistung des Antimodernisteneides t u n können. Selbstverständlich müssen dann auch i n Z u k u n f t die allgemeinen und die speziellen Bedürfnisse der Schule erfüllt werden. D a r u m muß die Schulverwaltung über die E r f ü l l u n g dieser Bedingungen wachen, wie dies der Herr K u l t u s minister bereits i n der Kommission ausgeführt hat.
25 Gemeint ist die Erteilung „weltlichen" Unterrichts (z. B. Deutsch oder Geschichte) an Gymnasien durch Geistliche, die Staatsbeamte waren.
V. Die preußische Regierung und der A n t i - M o d e r n i s m u s - E i d
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Unzweifelhaft bildet gerade diese Frage eine neue u n d beklagenswerte Reibungsfläche zwischen Staat u n d Kirche, zwischen den gegenseitigen Konfessionsanschauungen, u n d so sehr es der Staat bedauern muß, daß diese Reibungsfläche — ohne sein Verschulden — entstanden ist, ein so lebhaftes Interesse hat er, diese Reibungsfläche, soweit es an i h m liegt, zu beseitigen. D a r u m w i r d sich der Staat — auch darin b i n ich m i t dem H e r r n K u l t u s minister v ö l l i g einer Meinung — i n Z u k u n f t gezwungen sehen, i n der Regel darauf Verzicht zu leisten, Geistlichen, welche den E i d geleistet haben, an Gymnasien Unterricht z.B. i m Deutschen, i n der Geschichte neu zu übertragen. Ich drücke mich absichtlich exempliflkatorisch aus; denn niemand w i r d irgendein Bedenken darin finden, derartigen Personen auch weiter den Unterricht i n der Mathematik, i m Griechischen u n d Lateinischen, vielleicht auch i n griechischer, römischer u n d assyrischer Geschichte zu übertragen. I n ähnlicher Weise w i r d der Staat auch bei der Übertragung anderer Staatsämter i n Z u k u n f t eine gewisse Zurückhaltung üben müssen. Meine Herren, ich greife damit i n keiner Weise i n die theologische Bedeutung des Antimodernisteneides irgendwie ein. Der Staat wünscht es lediglich zu vermeiden, daß den Gegensätzen, die n u n einmal hervorgerufen sind, neue Nahrung zugeführt werde. Meine Herren, die Gesandtschaft beim V a t i k a n hat das Abgeordnetenhaus wiederholt beschäftigt. Ich brauche Ihnen nicht die einzelnen Phasen ihrer Geschichte ins Gedächtnis zurückzurufen; ich w i l l n u r das Eine hervorheben: Bismarck, der sie aufgehoben hatte, hielt es f ü r zweckmäßig u n d nützlich, sie wieder einzusetzen 20 . Diese Tatsache sollte auch für ihre Gegner nicht ohne Bedeutung bleiben. Gegen die Gesandtschaft w i r d hauptsächlich m i t dem Grunde gekämpft, daß es i h r nicht gelungen sei und nicht gelinge, die K u r i e von Maßregeln abzuhalten, die uns unangenehm sind, oder Maßnahmen herbeizuführen, die unsere Wünsche befriedigen. Meine Herren, wenn nach diesem Prinzip gehandelt werden sollte, dann müßten w i r leider noch manche andere Mission aufheben. A b e r dieses Prinzip ist auch i m vorliegenden Falle sachlich nicht absolut richtig. Die Gesandtschaft hat uns wiederholt gute Dienste geleistet. Zugeben muß ich allerdings, wie ich das bereits ausgeführt habe, daß i n letzter Zeit die K u r i e aus dem Bestehen der Gesandtschaft für die Information über deutsche Verhältnisse nicht denjenigen Nutzen gezogen hat, den i h r diese gern gewährt haben würde. Völlige Reziprozität ist aber gerade bei dieser Mission eine unentbehrliche Voraussetzung für i h r gedeihliches Wirken. Sollte sie auf die Dauer i n Wegfall kommen, so würde ich allerdings befürchten müssen, daß dadurch die Gegner der Gesandtschaft eine nicht zu unterschätzende Unterstützung erfahren würden. I m gegenwärtigen Augenblicke diese Konsequenz zu ziehen, würde nicht i m Staatsinteresse liegen u n d w ü r d e auch i n ganz unnötiger Weise die Wünsche des überwiegenden Teiles unserer katholischen Bevölkerung nach der Aufrechterhaltung dieser Gesandtschaft unbefriedigt lassen. Meine Herren, ich b i n bestrebt gewesen, die Lage, i n die w i r versetzt w o r den sind, unbefangen zu schildern. So lebhaft es die Regierung beklagt, daß ->(J Vgl. Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 253 ff., Nr. 389 f. :>y H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. E d .
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
sie bei manchen Maßnahmen der K u r i e nicht diejenige Berücksichtigung unserer Verhältnisse zu finden vermag, welche notwendig ist, u m die von uns allen aufrichtig gewünschte Erhaltung friedlicher Verhältnisse zwischen Staat u n d Kirche zu garantieren, ebenso ist es ihre Pflicht, ihrerseits alles zu vermeiden, was i h r den V o r w u r f des ab irato eintragen könnte. N u r m i t k ü h l e m Kopfe können w i r ohne eigene Verschuldung über die gegenwärtigen Zustände hinwegkommen, die ich bei den persönlichen, dem Frieden zustrebenden Dispositionen des Papstes als vorübergehende ansehen möchte. Jede Seite i m Buche der deutschen Geschichte zeugt davon, welche Verantw o r t u n g derjenige auf sich lädt, der, anstatt das friedliche Nebeneinanderleben der Konfessionen zu fördern, den G r u n d zum Streite legt. Die Güter, die den Einsatz bilden, sind zu hoch, meine Herren, als daß w i r i n dem A u f w a l l e n von Leidenschaften oder nach der Eingebung von Tagesmeinungen darum spielen könnten. Wenn von irgendeinem Kampfe, so gilt von dem K u l t u r k a m p f e : plectuntur A c h i v i 2 7 . Die Vorstellung, daß die Regierung von irgendeiner ernsten Auseinandersetzung m i t Rom aus Rücksicht auf die politische Stellung des Zentrums zurückwiche, ist kleinlich. Dieser V o r w u r f mag i n Deutschland populär sein, u n d i h m ist noch k a u m irgendein preußischer Staatsmann entgangen, auch nicht unser größter Staatsmann, auch Bismarck nicht. U n d doch hat gerade dieser Bismarck nach dem K u l t u r k a m p f seinen Frieden m i t Rom geschlossen, i n einer Zeit, wo er m i t dem Z e n t r u m i n bitterer Fehde lag. Meine Herren, alle Parteien werden dem Vaterlande keinen größeren Dienst leisten können, als w e n n auch aus dieser Debatte k l a r hervorgeht, daß es uns allen u m Aufrechterhaltung des Friedens zu t u n ist, u n d daß w i r alle den Wunsch hegen: der preußische Staat möge diesen Frieden wahren, solange es ohne eine M i n d e r u n g seiner wesentlichen Interessen u n d seiner Würde geschehen kann.
Nr. 179. Erklärung des Kardinals v. Kopp, Fürstbischof von Breslau, vor dem preußischen Herrenhaus am 7. A p r i l 1911 (Verhandlungen des preuß. Herrenhauses, 1911, S. 141 ff.) — Auszug — . . . Meine Herren, ich habe den Eindruck, als wenn man den A n t i m o d e r nisteneid sowohl i n formeller als i n inhaltlicher Beziehung doch w e i t überschätzt. Ich muß dem H e r r n Grafen Y o r c k 2 8 darin zunächst widersprechen, als ob durch diesen E i d etwas Neues eingeführt würde. Formell ist er dasselbe, was die kirchlichen Verpflichtungen schon jetzt besagen. Die kirchlichen Verpflichtungen finden sich i n den Statuten der Universitäten der k a t h o l i schen Fakultäten 2 9 . Etwas anderes enthält der Antimodernisteneid auch 27 „ Q u i c q u i d delirant reges plectuntur A c h i v i " : was auch immer die H e r r scher an Fehlern begehen, das Volk muß es büßen (Horaz, Episteln I 2. v. 14). 28 U n t e n S. 453, A n m . 39. 29 Vgl. Staat u n d Kirche, Bd. I, Nr. 196 f.
V. Die preußische Regierung u n d der A n t i - M o d e r n i s m u s - E i d 4 5 1 nicht. Jeder, der zum L e h r a m t der Kirche zugelassen w i r d , ist verpflichtet, der ersten kirchlichen Stelle die formelle E r k l ä r u n g abzugeben, daß er nach den Grundsätzen u n d Lehren der Kirche unterrichten w i l l . Die bisherige Form dieser Verpflichtung w a r die sogenannte professio Tridentina 3 0 , die sich auf die Tridentinischen Glaubenssätze stützt, u n d später durch die v a t i kanischen Entscheidungen vervollständigt w u r d e 3 1 . Der Papst hat es für notwendig gehalten, diese F o r m der Verpflichtung m i t einer besonderen Weihe zu umgeben. Was i h n dabei geleitet hat, hat er selbst wiederholt kundgegeben. Er begründet die Notwendigkeit dieser feierlichen F o r m der Verpflichtung m i t den Vorgängen i n der katholischen Kirche selbst. Seinen A r g w o h n hat es erregt, daß sich i n der Kirche Strömungen, Bewegungen geltend machen, welche unter scheinbarer Z u s t i m m u n g u n d m i t zweideutigen Redeweisen ihren Widerspruch gegen die kirchliche Glaubenswahrheit zu verschleiern suchen. Deshalb hat er geglaubt, eine feierliche B i n d u n g u n d Verpflichtung einführen zu müssen. N u n haben I h r e katholischen M i t b ü r g e r geglaubt, daß dies eine rein kirchliche Angelegenheit sei, und sie sind verwundert, daß der Antimodernisteneid zu so v i e l Beunruhigung Anlaß gegeben hat. Meine H e r ren, daß er nicht etwas Neues ist, das ist nicht allein eine Behauptung, die ich ausspreche, sondern die ich etwas näher beweisen muß, w e i l einige Kreise, aber n u r ganz wenige, selbst innerhalb der katholischen Kirche eine andere Anschauung von dem Eide haben. Meine Herren, Sie kennen j a die Stimmen, die sich dagegen geltend gemacht haben. Ich stelle aber den Stimmen dieser Kreise das Zeugnis u n d den Ausspruch der kompetentesten Personen gegenüber, nämlich der Professoren der Universitätsfakultäten sowohl als der b i schöflichen Lehranstalten. Diese, sowohl diejenigen, welche den E i d geleistet haben, als diejenigen, die sich nach der Ausnahmestellung, die ihnen der Heilige Stuhl gewährt hat, davon zurückgehalten haben, erklären offen u n d klar, daß der E i d keine neue B i n d u n g enthalte u n d daß er ihnen keine neue Verpflichtung auferlege, daß sie i m Gegenteil nicht gehindert seien, ihren Lehraufgaben u n d ihren wissenschaftlichen Forschungsarbeiten auch weiter nachzukommen. Nun, meine Herrn, ich glaube doch, daß es nicht angängig ist, diesen ernsten Männern, welchen von der Staatsregierung selbst ihre Stellungen übertragen sind, oder die m i t ihrer Zustimmung ihre Stellung innehaben, zu unterstellen, daß sie diese ausdrückliche E r k l ä r u n g i m Widerstreit m i t ihrer Überzeugung u n d nicht i n voller Aufrichtigkeit abgegeben hätten. Das ginge doch viel zu weit. Ich glaube auch, daß ihre Kollegen i m Hochschulamte diese Meinung nicht aussprechen können. Ich komme noch zu etwas Weiterem. Wo fände m a n eine Regierung oder eine leitende Stelle, welche ein Gesetz erläßt, aber aus Rücksicht auf gewisse umgebende Verhältnisse eine ganze Kategorie von der E r f ü l l u n g des Gesetzes ausnimmt! Das aber haben w i r i n diesem Falle vor uns. Der Papst hat dieses Gesetz allerdings für die ganze katholische Christenheit erlassen, er hat den Lehrverpflichteten diese feierliche Versicherung auferlegt u n d 30 31
2
Denzinger-Schönmetzer, Enchiridion (34. Aufl. 1967), Nr. 1862 ff. Vgl. Staat und Kirche, Bd. I I , S. 420 f. u n d Nr. 190.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus und der Anti-Modernismus
kann von dem I n h a l t derselben gewiß niemanden ausnehmen, auch nicht die Professoren der theologischen Fakultät. Der Papst hat aber a u f 3 2 die Stellung, die diese einnehmen — und ich w i l l hinzusetzen, auf gewisse Vorurteile — Rücksicht genommen und ausdrücklich erklärt, daß sie keinerlei Dispens mehr bedürfen; w e n n sie den E i d nicht ablegten, so machten sie n u r von dem Rechte Gebrauch, das ihnen der Heilige S t u h l gegeben hat. Das sind Erklärungen, die der Papst zu wiederholten Malen — auch m i r gegenüber 3 3 — abgegeben hat. Ich meine, daß auch der päpstliche Gesandte ähnliche Erklärungen vom heiligen Stuhle erhielt. Darauf haben die Professoren der katholischen F a k u l t ä t sich der Eidesleistung enthalten 3 4 . Nicht w e i l der Eid etwas enthält, was sie nicht leisten könnten, sondern aus Rücksicht auf den Organismus, i n den sie eingegliedert sind. Diejenigen aber, die zugleich ein kirchliches A m t bekleiden, haben sich der Eidesleistung nicht entziehen können, und da muß ich noch auf einen besonderen Umstand aufmerksam machen. Bei der Neuordnung der katholischen Kirchenverhältnisse i m Königreiche Preußen ist i n der Circumskriptionsbulle von 1821 die Bestimmung getroffen, daß sowohl i m Domkapitel zu Breslau wie i m D o m kapitel zu Münster je einer der Professoren der katholischen Fakultät M i t glied des Domkapitels sein müsse 35 . Das ist nicht n u r aus Sparsamkeit geschehen, sondern auch aus der Rücksicht, die Fakultäten i n Beziehung zu leitenden Stellen der Kirche zu bringen. N u n haben diese Herren, welche ein Benefizium, welche eine kirchliche Präbende 3 6 besitzen, sich der Eidesleistung nicht entziehen können. Wollen Sie diese n u n dafür strafen, daß Sie sie etwa als Unwürdige, daß Sie sie auch n u r als weniger w ü r d i g ansehen, das Lehramt auszuüben, w e i l sie dem Staate einige Besoldungen ersparen? Ich glaube, daß Sie das nicht wollen, und auch die Regierung w i l l es nicht. M a n hat bei dieser Gelegenheit davon gesprochen, daß die Würde der Universitäten durch die Eidesleistung geschädigt werde. Das konnte man aber doch nur sagen, wenn i n dem Eide eine Verletzung der Staatstreue oder der Aufgaben der Universitäten gefunden werden könnte. Darauf lassen Sie mich m i t einigen Worten eingehen. Der Papst hat wiederholt erklärt, daß der Eid ein lediglich innerkirchliches Gebiet berührt. U n d so ist es i n der Tat. Der Papst hat die Pflicht und das Recht, den katholischen Glaubensschatz 37 vor jeder Verminderung zu bewahren, u n d er hat die Pflicht, die Glaubenssätze genau zu erklären und zu erläutern. Das ist eine Pflicht, der er sich nicht entziehen kann. Er hat diese Rechte und diese Pflicht hier ausgeübt und wer katholisch sein w i l l — Laie oder Geistlicher — kann sich demgegenüber seiner Gehorsamspflicht nicht 32
I m Original i r r t ü m l i c h : auch. Vgl. oben Nr. 175. 34 Vgl. oben Nr. 173. 35 Staat und Kirche, Bd. I, Nr. 91 (Art. X I X , S. 207 f.). 30 D. h. eine Pfründe (das deutsche W o r t ist aus praebenda entstanden), also ein Kirchenamt, das m i t einer Vermögensausstattung verbunden ist. Benefizium und Präbende sind hier gleichbedeutend. 37 das depositam fidei. 33
V. Die preußische Regierung u n d der Anti-Modernismus-Eid
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entziehen, auch nicht die Lehrer an den katholischen Fakultäten. Auch diese müssen auf die Weisungen u n d Erklärungen des Heiligen Stuhls achten. Von dieser Verpflichtung k a n n sie niemand, auch nicht der Heilige Vater, entbinden; w o h l aber hat er sie von der eidlichen F o r m der Anerkennung entbunden. Nun, meine ich, wäre das eine Angelegenheit, die weder die nichtkatholischen bürgerlichen Kreise berührt, noch auch die Arbeiten der übrigen Disziplinen an den Universitäten irgendwie beeinträchtigt. Deshalb hat auch die jetzige Staatsregierung sich i n diese Angelegenheit nicht weiter eingemischt, soviel ich weiß, u n d sich von Zuständigkeiten, die dem Papste obliegen, fern gehalten. Die jetzige Staatsregierung hat sich nicht i n kirchliche Angelegenheiten eingemischt u n d ist w e i t davon entfernt, kirchliche Richtungen, die nicht korrekt sind, i n ihren Schutz zu nehmen. Sie hat deshalb auch nicht die Leistung des Antimodernisteneides verboten, was sie freilich nicht konnte, w e i l nicht nachgewiesen werden kann, daß dieser Eid die staatliche Treue verletze. N u n kann man j a i n einem Punkte vielleicht einen Wunsch haben, der hätte erfüllt werden können. Der Antimodernisteneid ist eine etwas feierlichere Form der Verpflichtung, welche heut schon besteht. Diese Verpflichtung, die Ablegung des tridentinischen Glaubensbekenntnisses, ist i n die Fakultätsstatuten überall aufgenommen, sie ist also eine vereinbarte Form der Einführung der Professoren i n i h r Lehramt. Vielleicht — und das w i r d wahrscheinlich auch die Staatsregierung gewünscht haben — wäre es angemessen gewesen, der Staatsregierung diese Änderung der vereinbarten Formulierung mitzuteilen; das gebe ich ohne weiteres zu. Aber ich muß doch zur Entschuldigung der Sachlage sagen: der Papst hat nicht gedacht, daß er etwas Neues einführe. Der Papst hat das innerkirchliche Gebiet allein i m Auge gehabt und geglaubt, jede Reibungsfläche m i t der Staatsregierung dadurch fern zu halten, daß er eben die Universitätsprofessoren von der L e i stung des Eides von vornherein ausnehmen ließ. Das möchte ich doch zur Erläuterung der Sachlage noch hinzufügen. Was nun, meine Herren, die Würde der Universitäten angeht, so, glaube ich, liegt doch manches Mißverständnis vor. Von einer unbedingten, unbeschränkten Voraussetzungslosigkeit u n d unbeschränkten Freiheit der wissenschaftlichen Forschung zu sprechen, ist man heutzutage doch schon abgekommen 3 8 . Diese Freiheit existiert nirgends und hat nirgends existiert, was ich m i r zu beweisen kurz erlauben werde. . . . I m Anschluß an die eben besprochene Sache hat Herr Graf Y o r c k 3 9 von dem Bestehen der katholischen theologischen Fakultäten gesprochen und auf das dringendste gewünscht, daß an ihnen nicht gerührt werden solle. Diesem Wunsche und diesem U r t e i l über ihre Notwendigkeit schließe ich mich aus vollem Herzen an. Ihre katholischen Mitbürger sehen i n den katho38
Zur Diskussion dieser Frage aus Anlaß des Falls Spahn: oben Nr. 87 ff. Heinrich Graf Yorck zu Wartenburg (1861 - 1923), Urenkel des Generalfeldmarschalls; Sohn von Paul Yorck v. Wartenburg (1835 - 97); F i d e i - K o m mißherr auf Klein-Oels; erbl. M. d. preuß. Herrenhauses; preuß. Landrat; Dr. phil. h. c. der Universität Breslau. 39
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
lischen theologischen Fakultäten das Wahrzeichen der paritätischen Behandlung durch die Hohe Staatsregierung. Sie w o l l e n aber noch mehr: sie w o l l e n auch zugleich, w i e H e r r Graf Yorck sagte, durch sie m i t den Pflegstätten der allgemeinen B i l d u n g i n Verbindung bleiben; sie wollen von der Lehrfülle dieser allgemeinen Bildungsstätten auch für die katholische Religionswissenschaft Gebrauch gemacht wissen; sie haben das feste Vertrauen zu den Lehrpersonen, welche der Staat an diese Anstalten beruft, daß sie ihren kirchlichen Grundsätzen t r e u bleiben. Dies ist die Stellung, welche I h r e katholischen M i t b ü r g e r allgemein inne haben. W i r Bischöfe sind ganz derselben Ansicht; auch w i r schließen uns unbedingt dem U r t e i l über die Notwendigkeit der katholisch-theologischen Fakultäten an u n d b i t t e n d r i n gend, nicht an ihnen zu rühren. A b e r ich muß noch etwas mehr hinzusetzen: auch die höchste kirchliche Stelle ist ganz derselben Ansicht. Bei den vielen Beunruhigungen, welche dieser W i n t e r uns gebracht hat, wurde auch die Frage aufgeworfen, ob m a n nicht kirchlicherseits die katholischen theologischen Falkutäten f ü r überflüssig hielte u n d nicht lieber die Ausbildung der Geistlichen i n die Seminare allein verlegen wolle. Das hat m i r die Veranlassung gegeben, an die höchste leitende Stelle die Frage zu richten, ob man w i r k l i c h so etwas plane, u n d ich habe die A n t w o r t bekommen, daran habe m a n bisher nicht gedacht u n d denke auch nicht daran. Also ich glaube, daß damit w o h l die Sache erschöpft i s t . . . . N u n muß ich noch einmal zurückkommen auf das M o t u proprio v o m 1. September 191040, welches Maßregeln gegen die Modernisten 4 1 betrifft. Was die Professoren der theologischen F a k u l t ä t angeht, so haben w i r uns j a darüber hoffentlich verständigt. Ich w i l l aber einer Besorgnis des H e r r n Grafen Yorck entgegentreten. E r glaubt, daß schon die Encyclica pascendi 4 2 die Professoren sehr binde. Meine Herren, die Encyclica pascendi hat nur einige Ausführungsbestimmungen, welche die Professoren betreffen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch einige Bemerkungen machen über Ausdrücke, die der H e r r Graf angeführt hat. Er beruft sich darauf, daß die Encyclica pascendi sich nicht allein m i t dogmatischen, sondern auch m i t philosophischen u n d historischen Verhältnissen befasse. V i e l k a n n ich darauf nicht erwidern, denn dann w ü r d e n w i r eine Sitzung abhalten müssen, die ein paar Tage dauerte. A b e r etwas möchte ich doch darauf entgegnen. Die Ausdrücke, welche der Papst gebraucht, oder die Vorwürfe, die er dem Agnostizismus, dem Immanentismus u n d dem sogenannten Phänomismus macht, sind w o h l berechtigt. Meine Herren, Sie brauchen sich bloß diese Systeme etwas k l a r zu machen. Der Agnostizismus ist rein antichristlich u n d widerspricht der Lehre des Heiligen Paulus, die I h n e n bekannt genug ist, von der Erkennbarkeit des Daseins Gottes aus der geschaffenen W e l t 4 3 . Der Phänomismus f ü h r t zu einer reinen S u b j e k t i v i t ä t i n allen Dingen, und der Immanentismus ist nichts weiter als ein verschleierter Pantheismus oder 40 41 42 43
Oben Nr. 168. I m gedruckten Protokoll steht i r r t ü m l i c h : „Antimodernisten". Oben Nr. 155. Siehe Römer 1,18 ff.
V. Die preußische Regierung u n d der A n t i - M o d e r n i s m u s - E i d
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vielmehr Materialismus. Es sind das aber keine Übereinstimmungen m i t dem Dogma. Sie verlangen j a das Dogma vollständig, also gehört ihre A b wehr i n den Schutzbereich der Glaubenswahrheiten der Kirche. So verhält es sich m i t den philosophischen Systemen. Es sind gewisse philosophische Systeme, die der Papst i n seiner Enzyklika bekämpfen w i l l . Was den Grundsatz angeht, den er bekämpft, daß es zwischen historischer Wahrheit u n d der Glaubenswahrheit einen Widerstreit geben könne, so ist dieser bekanntlich von vielen Seiten, j a von den meisten Seiten bekämpft und bestritten worden. Also insofern bietet die Enzyclica pascendi doch keine Schwierigkeiten. W i r haben damals, als sie herausgegeben wurde, den Heiligen Vater sofort darauf aufmerksam gemacht, daß bei uns i n Deutschland diese Erscheinungen doch nicht derart an den Tag treten, u n d w i r haben gebeten, von gewissen Maßnahmen Abstand nehmen zu dürfen. Das ist auch gewährt w o r den 4 4 . Es ist somit alles beim alten geblieben. Auch i n anderer Beziehung ist alles unverändert. Das neue M o t u proprio zieht auch neben der Eidesleistung noch ganz bestimmte Maßnahmen heran. Es f ü h r t die Maßnahmen ein, daß die Lektüre den dem geistlichen Stande zustrebenden jungen H e r ren möglichst beschränkt w i r d ; es f ü h r t die Vorlegung der Hefte ein, es f ü h r t auch eine, w i e es scheint, schärfere Überwachung der Lehrtätigkeit der Professoren ein. Nun, meine Herren, bei uns ist die Sache i n den Statuten der F a k u l t ä t geordnet, die von der Hohen Staatsregierung m i t Genehmigung der k i r c h l i chen Obrigkeit festgestellt sind 4 5 . D a r i n ist schon das eine m i t der Bestimmung geordnet, daß die Vorlesungsverzeichnisse den Bischöfen vorgelegt w e r den müssen. Das geschieht jetzt u n d auch nachher. A u f weiteres w i r d keine Rücksicht genommen werden. I n den Fakultätsstatuten steht ferner, daß der Bischof das Recht hat, zur Wahrnehmung seines Aufsichtsrechtes die V o r lesungen besuchen zu dürfen. Auch das w i r d vor wie nach geschehen, oder vielmehr nicht geschehen. Die Bischöfe haben zu ihren Theologieprofessoren das volle Vertrauen, daß sie einer Überwachung nicht bedürfen. Noch nie b i n ich i n einer Vorlesung gewesen. Also diese Befürchtungen treffen auch nicht zu. Was n u n die Beschränkung der literarischen oder publizistischen L e k t ü r e angeht, so bleibt auch dies, wie es ist. W i r haben früher auch nicht schrankenlos — ich glaube, n u r auf Breslau hinweisen zu dürfen — i n die Lesezimmer die publizistischen Erzeugnisse hineingegeben; eine gewisse K o n t r o l l e hat i m m e r bestanden. Aber mehr, als bislang geschehen ist, geschieht auch k ü n f t i g nicht. Seien Sie also ganz unbesorgt! Soviel über die Universitäten. Meine Herren, aus diesen Tatsachen, meine ich, werden Sie den Schluß ziehen können, daß doch von seiten der obersten leitenden kirchlichen Stelle 44
Vgl. den Briefwechsel v o m Dezember 1907 (oben Nr. 157 ff.). Vgl. die Statuten der katholisch-theologischen F a k u l t ä t der Universität Breslau v o m 13. September 1840 (Staat u n d Kirche, Bd. I , Nr. 197). 43
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
alles geschehen ist, u m Friedensliebe zu zeigen und auch die Reibungsflächen m i t der bürgerlichen Obrigkeit möglichst zu verhindern u n d zu vermeiden. Ich glaube, daß Sie sicher darauf rechnen können, daß bei der Ausführung dieser Gesetze alle Vorsicht gewahrt bleibt u n d daß etwaige Meinungsverschiedenheiten sich leicht ausgleichen lassen werden. Ich b i n sogar der Überzeugung, wenn sie hier nicht ausgeglichen werden könnten, würde m a n u n schwer an der obersten kirchlichen Stelle die Ausgleichung e r w i r k e n können. Meine Herren, jetzt komme ich auf den Schlußsatz des H e r r n Grafen Yorck. Er hat an die katholischen Staatsangehörigen inbezug auf die uns vorliegende Frage einen w a r m e n A p p e l l erlassen. Ich möchte den A p p e l l beantworten, und zwar glaube ich dazu berechtigt zu sein, nicht allein i n meinem Namen, nicht allein i m Namen der Bischöfe, sondern auch i m Namen der katholischen Mitbürger. Ich bitte aber u m Entschuldigung, wenn ich meine A n t w o r t , u m sie genau zu fixieren, verlese: Die katholischen Staatsbürger halten dafür, daß durch die neuesten Maßnahmen des Heiligen Stuhles, die Dekrete v o m 8. und 20. A u g u s t 4 6 wie das M o t u proprio vom 1. September vorigen Jahres 4 7 , i n ihrer Stellung zu der Staatsregierung w i e i n den Beziehungen zu den nichtkatholischen M i t b ü r gern nichts geändert sei. Sie werden nach wie vor bestrebt sein, an den hohen Aufgaben ihrer Nation, an der Förderung des Vaterlandes und der Pflege der vaterländischen Interessen m i t ihren nichtkatholischen M i t b ü r g e r n w e t t eifernd mitzuarbeiten. Sie glauben aber auch die Hoffnung hegen zu dürfen, daß sich die Stellung ihrer andersgläubigen Mitbürger wie der hohen Staatsregierung ihnen gegenüber nicht ändern werde. Was aber den Episkopat angeht — dazu b i n ich ausdrücklich autorisiert —, so w i r d derselbe i n treuem Festhalten an seinen kirchlichen Grundsätzen u n d Aufgaben stets bestrebt sein, die Ausführung kirchlicher Anordnungen m i t den aus den Aufgaben des Staates sich ergebenden Interessen, Einrichtungen u n d Gesetzen i n E i n klang zu bringen u n d zu erhalten.
VI. Die Stellung der bayerischen Regierung zum Anti-Modernismus-Eid Die Verschärfung, die der Kampf gegen den Modernismus durch den AntiModernismus-Eid erhielt, löste auch in Bayern erhebliche Beunruhigung aus. Vor allem der Kultusminister v. Wehner 1 sah durch diese Entwicklung den Bestand der katholisch-theologischen Fakultäten gefährdet. Diesen Besorgnissen gab er in einem Schreiben an den Ministerpräsidenten Graf Podewils* vom 7. Februar 1911 Ausdruck (Nr. 180p. 46
Siehe oben S. 445, Anm. 18. Oben Nr. 168. 1 Oben S. 165, A n m . 5. 2 Oben S. 165, A n m . 4. 3 Z u r Lage i n Bayern: Chr. Meurer, Der Modernisteneid und das bayerische Plazet (1911). 47
V I . Die Stellung der bayerischen Regierung zum A n t i - M o d e r n i s m u s - E i d
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Nr. 180. Schreiben des bayerischen Kultusministers v. Wehner an den Ministerpräsidenten Graf Podewils v o m 7. Februar 1911 (G. Franz-Willing,
Die bayerische Vatikangesandtschaft 1803 - 1934, 1965, S. 101 if.) — Auszug —
. . . I m Lager derjenigen, die der katholischen Kirche ablehnend oder feindlich gegenüberstehen, fehlte es schon bisher nicht an Stimmen, die von Zeit zu Zeit die Existenzberechtigung der katholischen theologischen F a k u l täten an den deutschen Universitäten bestritten u n d ihre Entfernung aus dem Universitätsverbande forderten. Die Angriffe auf den Bestand der katholischen theologischen Fakultäten gewannen neue Nahrung, als nach dem Erscheinen des M o t u proprio Seiner Heiligkeit des Papstes „Sacrorum a n t i s t i t u m " die Befürchtung l a u t wurde, daß sich die Verpflichtung zur Leistung des i n diesem Erlasse vorgesehenen Eides auch auf die Theologieprofessoren an den deutschen Universitäten erstrecke. Es w a r damit zu rechnen, daß auch solche deutsche Hochschulkreise, die bisher aus guten menschlichen Gründen der Erhaltung der theologischen Fakultäten noch das W o r t geredet hatten, i m Falle der Heranziehung der Professoren dieser Fakultäten zur Eidesleistung ihre Anschauungen ändern und daß die Gegner der theologischen Fakultäten eine erhebliche Stärkung erfahren würden. Die Stellung der Theologieprofessoren an den deutschen Universitäten ist eine eigenartige, m i t italienischen Verhältnissen nicht vergleichbare. Die deutschen Theologieprofessoren sind nicht bloß Priester, sondern auch Staatsbeamte u n d zugleich vollberechtigte Mitglieder der Universitätskorporation. Als solche nehmen sie an den akademischen Ehrenämtern u n d damit an der Leitung der Hochschule teil. Die A n w e n d u n g des Eideszwanges auf sie hätte nicht bloß i h r Verhältnis zu den anderen Fakultäten beeinträchtigt, sondern leicht auch zu Schwierigkeiten i n den Beziehungen zwischen Staat u n d Kirche führen können. M i t Rücksicht hierauf w a r es f ü r die Aufrechterhaltung des Friedens zwischen Staat u n d Kirche von wesentlichem Belang u n d befreite die Freunde der katholischen Fakultäten von schweren Besorgnissen, als die i n staatlichen und kirchlichen Kreisen Deutschlands von Anfang an bestehende Auffassung, daß nach dem W o r t l a u t u n d dem ganzen Zusammenhange des Päpstlichen Erlasses die Forderung der Eidesleistung auf die Professoren der deutschen universitates civiles überhaupt nicht zu beziehen sei, auch die B i l l i g u n g der höchsten kirchlichen A u t o r i t ä t fand. Diese weise Maßnahme bedeutete eine glückliche vorläufige Lösung einer Existenzfrage für die theologischen Fakultäten. Welcher W e r t der hiemit anscheinend erreichten Beseitigung einer den theologischen Fakultäten drohenden Gefahr v o m staatlichen Standpunkt aus i n Bayern beigemessen wurde, dürfte daraus hervorgehen, daß Seine Königliche Hoheit der Prinzregent dem Apostolischen N u n tius i n w a r m e n Worten f ü r seine M i t w i r k u n g bei der befriedigenden Erledigung der Angelegenheit persönlich dankten.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus und der Anti-Modernismus
Die Hoffnung, daß der Vollzug des M o t u proprio „Sacrorum a n t i s t i t u m " besondere Schwierigkeiten f ü r die theologischen Fakultäten nicht m i t sich bringen werde, ist leider geschwunden, seitdem der I n h a l t des von Seiner Heiligkeit dem Papste unterm 31. Dezember 1910 an den K a r d i n a l Fischer i n K ö l n gerichteten Schreibens bekannt geworden ist 4 . . . . Der bayerischen Regierung liegt es v ö l l i g ferne, die Kirchengewalt i n ihrer pflichtmäßigen Obsorge für die Erhaltung der Reinheit der Glaubenslehre irgendwie zu behindern, und sie auf diesem ihrem eigensten Gebiete zu beschränken. Wie sehr i n Bayern der katholischen Kirche die freie Bewegung i n ihrem Bereiche gewahrt w i r d , dürfte neuerdings eine Bestätigung dadurch erfahren haben, daß gegen den kirchlichen Vollzug der Enzyklika „Pascendi dominici gregis" wie auch des jüngsten Dekrets über die amotio administrat i v a 5 vom christlichen Standpunkt unter den unerläßlichen gesetzlichen V o r behalten Erinnerungen nicht erhoben worden sind, obgleich die Regierung wegen dieses Entgegenkommens scharfe Angriffe erfahren und noch zu gewärtigen hat. Von einer Behinderung der Kirchengewalt auf ihrem Gebiete k a n n hier nicht gesprochen werden, denn die staatlichen Theologieprofessoren sind ja von der Eidesleistung durch die höchste kirchliche A u t o r i t ä t selbst freigelassen worden. Die Beteiligten durften hienach w o h l annehmen, daß sie beim Gebrauch der erteilten Ermächtigung, die ihnen die Unterlassung der Eidesleistung gestattete, kirchlicherseits nicht beanstandet würden. Nach der neuesten Päpstlichen Kundgebung müssen sie nunmehr befürchten, daß ihnen die von kirchlicher Seite zugestandene Unterlassung des Eides von der gleichen Seite als klägliche Menschenfurcht, als feige u n d unmännliche Handlungsweise ausgelegt werde, die sie als unwürdige Träger des christlichen Lehramtes erscheinen lasse. Je nach der Stellungnahme der Theologieprofessoren zu der Frage der Eidesleistung werden k ü n f t i g innerhalb der theologischen Fakultäten zwei scharf geschiedene Gruppen hervortreten: die eine, die den vollen Beifall der K u r i e für sich hat, die andere, die durch den päpstlichen Silvesterbrief gekennzeichnet ist 6 ; die erstere Gruppe besteht aus jenen Professoren, die den ihnen nicht auferlegten Eid f r e i w i l l i g leisten u n d hierdurch ihre Stellung innerhalb der Hochschule untergraben, die andere Gruppe setzt sich aus solchen Professoren zusammen, die von der Ermächtigung, den E i d nicht zu leisten, Gebrauch machen und deshalb von der Kirche als nicht ganz einwandfrei angesehen werden. A u f solche Weise werden die theologischen Fakultäten, die doch vor allem zu einem einmütigen Zusammenwirken zur Lösung ihrer wichtigen Aufgabe berufen sind, i n zwei feindliche, m i t Mißtrauen sich gegenüberstehende Lager geschieden. Die Feinde der Kirche werden diese Tatsache auf das gehässigste zu wuchtigen Angriffen auf die theologischen Fakultäten ausnützen. 4 5 0
Oben Nr. 169. Siehe oben S. 445, A n m . 18. Den Brief an K a r d i n a l Fischer v o m 31. Dezember 1910 (oben Nr. 169).
V I . Die Stellung der bayerischen Regierung zum A n t i - M o d e r n i s m u s - E i d
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Es wäre eine Verkennung deutscher Verhältnisse, wenn etwa die Nichtleistung des Eides durch Theologieprofessoren als gleichbedeutend m i t Mangel an glaubenstreuer kirchlicher Gesinnung angesehen würde. Nicht Menschenfurcht u n d K l e i n m u t , sondern Liebe zu den theologischen Fakultäten und die quälende Sorge u m i h r weiteres Schicksal dürfte für das Verhalten dieser Professoren bestimmend sein. Daß auch Männer, die w o h l von jedem V e r dachte des Modernismus frei sind, i m Interesse der theologischen Fakultäten sich der Bedenken gegen die Eidesleistung nicht erwehren können, geht aus der einmütigen E r k l ä r u n g der theologischen Fakultät der Universität M ü n ster 7 hervor. Durch die nunmehr geschaffene Sachlage w i r d nicht bloß der innere Friede der theologischen Fakultäten, sondern auch ihre Stellung i m Universitätsverband und i h r Ansehen nach außen i n den gebildeten, namentlich auch katholischen Kreisen Deutschlands ernstlich gefährdet. Die bayerische Regierung legt aus Überzeugung auf den Fortbestand der theologischen Fakultäten großes Gewicht u n d sieht i n ihnen treffliche Pflanzschulen zur Heranziehung eines der Kirche treu ergebenen u n d zugleich wissenschaftlich hochstehenden, zur Mitarbeit auf den praktischen Gebieten der heutigen Zeit w o h l vorbereiteten Priesterstandes. Eine erfolgreiche Zurückweisung der Gegner der theologischen Fakultäten ist jetzt aber ungemein erschwert. I m Interesse des deutschen Klerus wäre es lebhaft zu begrüßen, wenn jene nicht Recht behielten, die i n der Wendung der Verhältnisse infolge des letzten päpstlichen Schreibens den Anfang vom Ende der deutschen theologischen Fakultäten erblicken. Das hohe Ansehen, das der katholische Klerus i n Deutschland allenthalben u n d zwar auch bei Andersgläubigen genießt, beruht zum mindesten darauf, daß ein großer Teil des Klerus m i t den Angehörigen der übrigen höheren Berufe denselben Bildungsweg zurücklegt und namentlich gleich diesen Universitätsstudien aufweisen kann. Wenn die Ausbildung der katholischen Geistlichen an den deutschen Universitäten keine Stätte mehr fände, dürfte ein erheblicher Rückgang i n der allgemeinen W e r t schätzung, deren sich der katholische Priesterstand i n deutschen Landen bisher erfreut, m i t Sicherheit vorauszusehen sein. Es steht demnach hier eine überaus wichtige u n d für die theologischen Fakultäten wie den katholischen Klerus folgenschwere Frage zur Erörterung. Dem geneigten Ermessen des k. Staatsministeriums des K . Hauses und des Äußern darf es anheimgegeben werden, ob es sich nicht empfehlen möchte, von dem wesentlichen Inhalte dieser Darlegungen dem Kardinalstaatssekretär durch den K . Gesandten beim Päpstlichen Stuhle 8 baldmöglichst M i t t e i lung machen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit könnte vielleicht noch auf einen weiteren Gesichtsp u n k t hingewiesen werden. Auch i n streng katholischen Kreisen Bayerns und Deutschlands werden die i n der letzten Zeit sich häufenden päpstlichen 7
Oben Nr. 173. Otto Frh. v. Ritter zu Groenesteyn Gesandter beim Vatikan. 8
(1864 - 1940), bayer. Diplomat; 1909 - 34
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
Erlasse als eine schwere Beunruhigung der öffentlichen Meinung empfunden, die eben jetzt angesichts der kommenden Neuwahlen zum Deutschen Reichstage 9 der antimonarchischen, gegen T h r o n und A l t a r arbeitenden Partei wirksame K a m p f m i t t e l zur politischen Verhetzung der Massen an die Hand gibt. Der K u r i e w i r d es k a u m gleichgültig sein können, w e n n ihre ja gewiß aus anderen Beweggründen erflossenen Maßnahmen von der deutschen Sozialdemokratie als eine schätzenswerte Förderung ihrer destruktiven Ziele begrüßt und zur A u f w ü h l u n g weiter Volkskreise ausgebeutet werden.
V I I . Die Stellung der württembergischen und der badischen Regierung zum Anti-Modernismus-Eid Ähnliche Überlegungen wie der bayerische Kultusminister v. Wehner 1 brachte auch der württembergische Kultusminister v. Fleischhauer 2 zum Ausdruck, als er am 1. Februar 1911 vor dem württembergischen Landtag zum Anti-Modernismus-Eid Stellung nahm (Nr. 181). Vor allem hob er hervor, daß die vatikanische Politik die Regierung zu einer schärferen Abgrenzung zwischen Kirche und Staat, insbesondere auch auf dem Gebiet der finanziellen Beziehungen, veranlassen werde. Wie die bayerische und die württembergische wies auch die badische Staatsregierung in einer Erklärung vom Januar 1912 auf die Gefahren hin, die sich aus dem Anti-Modernismus-Eid für die Entwicklung der katholisch-theologischen Fakultäten ergeben könnten (Nr. 182).
Nr. 181. Rede des württembergischen Kultusministers v. Fleischhauer vor der Zweiten Kammer am 1. Februar 1911 (Verhandlungen der Württembergischen Zweiten Kammer, 1911, S. 205 ff.) — Auszug — . . . Sie wissen, meine Herrn, daß gewisse Vorgänge i n der katholischen Kirche i n den letzten Monaten das öffentliche Interesse i n besonderem Maße i n Anspruch genommen u n d eine lebhafte Bewegung hervorgerufen haben. . . . I m M i t t e l p u n k t der öffentlichen Erörterung stand u n d steht jetzt noch die Verfügung über den sogenannten Antimodernisteneid. Es kann nicht meine Aufgabe sein, i n die sachliche W ü r d i g u n g dieser Verfügung, der V o r gänge, die dazu geführt haben, u n d ihrer Bedeutung für die katholische Kirche i m allgemeinen einzutreten; ich habe die Verfügung nur vom staatlichen Standpunkt aus zu würdigen. Das motu proprio bildet gewissermaßen 9 Z u den Reichtagswahlen von 1912 vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 323 ff. 1 Oben Nr. 180. 2 Karl V. Fleischhauer (1852 - 1921), zunächst i m w ü r t t . Justizdienst, seit 1877 i m staatl. Verwaltungsdienst; 1881 Regierungsrat, 1882 Rat i m M i n i s t e r i u m des Innern, 1895 Ministerialdirektor; 1900 Staatsrat; 1906 - 1912 u n d erneut März bis November 1918 Staatsminister des Kirchen- und Schulwesens.
V I I . Die Stellung der württembergischen und der badischen Regierung
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eine Fortsetzung und, w e n n ich so sagen darf, eine Vollzugsverfügung zu der i m Jahre 1907 ergangenen Encyclica pascendi u n d beschäftigt sich, ebenso wie diese, m i t gewissen wissenschaftlichen Streitfragen teils theologischer, teils philosophischer Natur. Aus diesem Grunde hat das motu proprio i n den Kreisen der Universitäten das lebhafteste Interesse erregt. Auch für die Regierung handelt es sich i n erster L i n i e u m die Frage, welche R ü c k w i r k u n g die päpstliche Verfügung auf die wissenschaftliche A r b e i t an den Universitäten ausüben w i r d . Da nach dem Erscheinen der Encyclica pascendi der Bischof von Rottenburg der Regierung gegenüber die E r k l ä r u n g abgegeben hatte, daß die Vorschriften der Encyclica über die katholischen Universitäten, insbesondere auch auf unsere Landesuniversität Tübingen, keine A n wendung finden 3, so gab ich nach dem Erscheinen des motu proprio der A n schauung Ausdruck, daß dieser neuesten päpstlichen Verfügung gegenüber das gleiche zutreffen werde. Die Richtigkeit dieser Annahme ist m i r von dem Bischof von Rottenburg bestätigt u n d es ist damit festgestellt worden, daß der vorgeschriebene Eid von den Lehrern an der Universität nicht gefordert werde. Wenn damit n u n auch die Erhaltung der Lehrfreiheit i m bisherigen Umfange zunächst sichergestellt ist, so ist doch nicht zu verkennen, daß für die Z u k u n f t Lehrstühle n u r noch Persönlichkeiten zur Verfügung stehen werden, die den Eid bei der Priesterweihe oder bei A n t r i t t eines kirchlichen Seelsorgeamtes abgelegt haben. Wenn auch die Lehrfreiheit bei der katholisch-theologischen Fakultät bisher schon gewissen Beschränkungen unterlag, u n d m i t Rücksicht auf den Zweck der Ausbildung von Dienern der Kirche i m m e r unterliegen w i r d . . . , so w i r d doch die Beschränkung der freien Forschung durch die Gebundenheit, die der geforderte E i d den Priestern auferlegt, für die Z u k u n f t eine Verstärkung erfahren, welche die Frage aufwerfen läßt, i n w i e w e i t sie m i t den Grundlagen, auf denen unsere Universitäten beruhen, noch vereinbar ist. Der Staat würde sich gewiß nicht leicht dazu entschließen, auf die Ausbildung des geistlichen Nachwuchses auf den staatlichen Universitäten zu verzichten und diese i n rein kirchliche Anstalten zu verweisen, aber auch die Kirche hat ein naheliegendes I n t e r esse daran, daß ihre Diener die F ü h l u n g m i t dem geistigen Leben der Gegenwart nicht verlieren, und sollte hieraus die Mahnung entnehmen, auf diesem schwierigen Gebiete die durch die Verhältnisse gebotene Rücksicht zu üben. Von dieser Zurückhaltung ist nun freilich die neueste geistliche Verfügung, das Schreiben des Papstes an den Erzbischof von K ö l n v o m 31. Dezember v. J. 4 einigermaßen abgewichen. Dieses Schreiben ist geeignet, die an sich schon gespannte Lage i n bedauerlicher Weise zu verschärfen. W i r w o l l e n auch dieser Kundgebung gegenüber Ruhe und K a l t b l ü t i g k e i t bewahren, aber w i r w r erden uns dadurch nicht abhalten lassen, die Rechte des Staates und seiner Beamten nachdrücklich zu wahren. Was die Forderung des Antimodernisteneides von den Inhabern geistlicher Ä m t e r betrifft, so hat die angestellte eingehende Prüfung zu dem Ergebnis 3 4
Paul Wilhelm v. Keppler: Oben Nr. 169.
unten S. 862.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
geführt, daß die Regierung nach dem bestehenden Rechtszustand nicht i n der Lage war, dem Vorgehen der kirchlichen Behörden entgegenzutreten. Sollte i m weiteren Verlauf dieser A k t i o n von kirchlicher Seite die M i t w i r kung des weltlichen A r m s zum Vollzug der kirchlichen Verfügungen angerufen werden, so behält sich die Regierung die volle Freiheit der Prüfung und Entscheidung nach A r t . 7 des Gesetzes vom 30. Januar 1862 vor 3 . I m übrigen habe ich nur noch hervorzuheben, daß der i m Amtsblatte der Diözese Rottenburg veröffentlichte bischöfliche Erlaß v o m 16. Dezember v. J. als zur Eidesleistung verpflichtet n u r die Seelsorge-Geistlichen bezeichnet, daß also die katholischen Priester, die sich i n staatlichen, nicht m i t Seelsorge verknüpften Ä m t e r n befinden, davon nicht betroffen werden Z u m Schluß, meine Herrn, k a n n ich an einer Erwägung nicht stillschweigend vorübergehen, welche das neuerliche kirchliche Vorgehen besonders nahelegt. A l l e Vorkommnisse auf kirchlichem Gebiete ziehen das Interesse des Staates u m so mehr i n Mitleidenschaft, je enger die Verbindung zwischen Staat und Kirche, namentlich auch i n finanzieller Beziehung, ist. Die neuere Entwicklung der katholischen Kirche ist geeignet, die zwischen den beiden großen Lebensgebieten bestehenden Gegensätze zu verschärfen und drängt von selbst auf eine klare Auseinandersetzung hin. Wie Sie wissen, meine Herrn, sind die Vorarbeiten zu einer derartigen finanziellen Auseinandersetzung schon seit einigen Jahren eingeleitet 0 . . . . W i r wollen keinen K a m p f m i t der katholischen Kirche, w i r wünschen den Frieden. W i r werden auch fernerhin der Kirche geben, was i h r gebührt; aber es sollte eine vermögensrechtliche Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche möglich sein, w e l che die Reibungsflächen zwischen den beiden großen Lebensgebieten auf das tunlichst geringe Maß verringert und den Staat nicht fernerhin für das, was die Kirche auf ihrem Gebiet für erforderlich erachtet, bis zu einem gewissen Grad mitverantwortlich macht.
Nr. 182. Bescheid des badischen Kultusministers Böhm7 an die Budget-Kommission des Landtags vom Januar 1912 (Frankfurter Zeitung vom 24. Januar 1912, Nr. 2) Das m o t u proprio ,Sacrorum antistitum', durch das von allen katholischen Geistlichen die Ablegung des sogenannten Antimodernisteneides gefordert worden ist, hat der Regierung viel größere Schwierigkeiten bereitet als das neueste motu proprio 8 . Während das letztere unzweifelhaft i n die staats5
Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 78. Oben Nr. 37 f. 7 Franz Böhm (1861 - 1915), 1911 - 1915 badischer K u l t u s - und Unterrichtsminister. 8 Das M o t u proprio „Quantavis diligentia" v o m 9. Oktober 1911 über das Privilegium fori der katholischen Geistlichen (De trahentibus clericos ad t r i bunalia iudicum laicorum: Acta Apostolicae Sedis 3, 1911, S. 555 f.). 6
V I I . Die Stellung der württembergischen und der badischen Regierung
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bürgerlichen Rechte der katholischen Staatsbürger eingreift u n d deshalb staatlicherseits m i t Entschiedenheit zurückgewiesen werden muß, anerkennt die badische Regierung, daß das Verlangen einer weitergehenden eidlichen Verpflichtung der katholischen Geistlichen insoweit eine innerkirchliche A n gelegenheit ist, als die Geistlichen n u r i m kirchlichen Dienste stehen. Bei katholischen Geistlichen aber, die als Staatsbeamte angestellt u n d beeidigt sind u n d deshalb der Beamtendisziplin unterstehen, greift das m o t u proprio Sacrorum antistitum nach der Ansicht der Regierung i n ihre staatsrechtliche Beamtenstellung ein, w e i l es neue disziplinäre Bestimmungen enthält. Die Rechte, die dem H e r r n Erzbischof 9 hinsichtlich der Anstellung der Mitglieder der theologischen F a k u l t ä t Freiburg und hinsichtlich des E i n schreitens gegen etwaige kirchliche Verirrungen derselben zustehen, sind durch die Staatsministerialentschließungen vom 3. J u l i 1835 u n d v o m 1. März 1853 geregelt 1 0 . Danach k a n n der Erzbischof von den Theologieprofessoren vor A n t r i t t ihres Lehramtes nur die Ablegung des kirchlichen Glaubensbekenntnisses verlangen. I n der Tat hat der H e r r Erzbischof auch davon abgesehen, die Leistung des Antimodernisteneides von den Mitgliedern der theologischen Fakultät zu fordern. Die Hoffnung, daß die ganze Frage für die Universität Freiburg ohne Schwierigkeiten und Weiterungen bleiben werde, wurde aber bedauerlicherweise durch den Tod des Vertreters der Pastoraltheologie vereitelt 1 1 . Wie be9
Thomas Noerber: Staat und Kirche, Bd. I I , S. 922. Die Staatsministerialentschließung v o m 1. März 1853 (Universitäts-Archiv Freiburg, Reg.Akten V 1/40) hat folgenden W o r t l a u t : Seine Königliche Hoheit der Regent haben über die E i n w i r k u n g des Landesbischofs auf die katholisch-theologische Facultät an der Universität Freiburg, insbesondere die Anstellung der Professoren u n d Dozenten an derselben m i t Bezug auf die bereits u n t e r m 4. A p r i l 1835 ergangene höchste Entschließung folgende Anordnungen zu erlassen geruht: §1. V o r der Anstellung eines Professors der Theologie an der katholischtheologischen Facultät ist jeweils der Erzbischof m i t seinen etwaigen Erinnerungen gegen den oder die vorgeschlagenen Candidaten zu vernehmen und es soll die Anstellung erst dann erfolgen, w e n n etwelche gemachte erhebliche Bedenken des Erzbischofs gegen Wandel und Lehre des Vorgeschlagenen beseitigt sind. §2. Der Ernannte hat vor dem A n t r i t t e seines Lehramtes auf Verlangen des Erzbischofs vor diesem das kirchliche Glaubensbekenntniß abzulegen. § 3. Dem Erzbischof steht das Recht zu, der Regierung die amtliche Anzeige von kirchlichen Verirrungen der angestellten Professoren der Theologie zu machen. Die anzuordnende Untersuchung w i r d durch einen landesherrlichen und erzbischöflichen Commissär gemeinschaftlich geführt, die hierauf zu fassende Entschließung von Seiten der Staats- u n d Kirchenbehörde vereinbart, sofort aber von der ersteren verkündet u n d vollzogen. § 4. Die gleichen Bestimmungen, w i e bei Professoren, sind auch auf P r i v a t dozenten an der katholisch-theologischen Facultät i n Anwendung zu bringen. § 5. Die Vorlesecataloge i n Ansehung der katholisch-theologischen Facultät sind dem Erzbischof jeweils mitzutheilen, u m der Staatsbehörde (Ministerium des Innern) etwaige kirchliche Bedenken namentlich auch rücksichtlich des Gebrauchs von Vorlesebüchern vorzutragen. 10
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
kannt, hat die theologische F a k u l t ä t als Nachfolger für diesen Professor n u r solche Gelehrte vorgeschlagen, die den Antimodernisteneid geleistet hatten ; dagegen hat der Senat Einwendungen erhoben. Es ist dem M i n i s t e r i u m gelungen, diese Meinungsverschiedenheit zwischen F a k u l t ä t u n d Senat f ü r dieses M a l auszugleichen. Die theologische F a k u l t ä t hat auf Anregung des Ministeriums für die Pastoralprofessur den außerordentlichen Professor der Patrologie 1 2 und als dessen Nachfolger einen Privatdozenten der theologischen F a k u l t ä t 1 3 vorgeschlagen. Der H e r r Erzbischof hat gegen die Vorgeschlagenen, die beide den Antimodernisteneid nicht geleistet hatten, keine Einwendungen erhoben. So ist es durch gegenseitiges Entgegenkommen der beteiligten Instanzen gelungen, die erledigte ordentliche Professur u n d das erledigte E x t r a o r d i nariat m i t Gelehrten zu besetzen, die den Antimodernisteneid nicht geleistet hatten. Dadurch ist der drohende Streit innerhalb der Universität Freiburg vermieden worden. Das M i n i s t e r i u m w a r sich aber bewußt, daß bei künftigen Berufungen auf erledigte Professuren i n der theologischen F a k u l t ä t eine Ablehnung solcher Kandidaten, die den Antimodernisteneid geleistet haben, gleichbedeutend m i t der allmählichen Aufhebung der theologischen Fakultät sei; denn i n w e nigen Jahren w i r d es überhaupt keine katholischen Priester mehr geben, die diesen Eid nicht abgelegt haben. Da aber das Unterrichtsministerium großen Wert darauf legt, die katholische theologische Fakultät, solange dies möglich ist, bei der Universität Freiburg zu erhalten, glaubte es, schon bei diesem Anlasse der F a k u l t ä t u n d dem Senat gegenüber k l a r und deutlich aussprechen zu sollen, daß es k ü n f t i g h i n bei Berufung katholischer Theologieprofessoren dem Umstände, ob die vorgeschlagenen Kandidaten den A n t i modernisteneid abgelegt haben, keine prinzipielle Bedeutung mehr beimessen werde. Dem Erzbischöflichen Ordinariate ist eine dahingehende Zusage seitens des Ministeriums nicht erteilt worden, wie denn überhaupt das M i n i s t e r i u m es von Anfang an vermieden hat, wegen des motu proprio „Sacrorum antistit u m " m i t dem Erzbischöflichen Ordinariate mündlich oder schriftlich i n Verhandlungen zu treten, w e i l es der Ansicht w a r und ist, daß es Sache des Erzbischöflichen Ordinariats sei, sich an die Regierung zu wenden, wenn es an neue kirchliche Verordnungen Wünsche knüpfen wolle. 11 Inhaber des Lehrstuhls für Pastoraltheologie i n Freiburg w a r bis 1911 Kornelius Krieg (1838 - 1911), 1866 kath. Priester; 1870 Professor, 1872 Direktor am Erzbischöfl. Gymnasium i n Altbreisach; 1884 ao., 1888 o. Professor für theol. Enzyklopädie, Pastoraltheologie und Pädagogik i n Freiburg. 12 Karl Künstle (1859 - 1932), kath. Priester; 1884 - 86 V i k a r i n Meersburg, 1886-88 i n Rastatt; 1888- 90 archäologische Studien i n Rom; 1895 P r i v a t dozent, 1896 Professor der Patrologie, 1912 der Pastoraltheologie i n Freiburg. 13 Joseph Michael Heer (1867 - 1939), kath. Priester; 1894 V i k a r i n Appenweier, 1895 i n M a n n h e i m ; 1898 Pfarrer i n Malschenberg, 1903 i n Ebersteinburg; 1907 Privatdozent f ü r neutestamentliche Exegese u n d Patrologie in Freiburg; 1911 Vertreter des Lehrstuhls für Pastoraltheologie, 1912 ao. Professor der Patrologie, 1916 ο. Professor f ü r Neues Testament i n Freiburg; 1929 emeritiert; 1934 Heirat; er starb 1939 an seinem Wohnort München.
V i l i . Der Streit u m die Borromäus-Enzyklika
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Was n u n die Frage anlangt, ob das Fortbestehen der katholischen theologischen Fakultät auch dann noch für die Regierung von großem Wert ist, wenn die Mitglieder dieser Fakultät durch den Antimodernisteneid i n ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit gebunden sind, so glaubt die Regierung, sie bejahen zu sollen. Die Folge der Aufhebung der katholischen theologischen Fakultät wäre die Errichtung eines Erzbischöflichen Seminars, hinsichtlich dessen Leitung u n d Besetzung die Regierung keines der Rechte besitzen würde, die i h r jetzt der theologischen Fakultät gegenüber zustehen. Auch unter diesem Gesichtspunkte wäre der Tausch ein schlechter. Vor allem aber w i l l die Regierung, solange sie kirchlicherseits nicht dazu gezwungen w i r d , keinen Schritt tun, der i n seinen Folgen zur Trennung z w i schen Staat und Kirche führen könnte.
V I I I . Der Streit um die Borromäus-Enzyklika Nicht nur in zeitlichem, sondern auch in sachlichem Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Modernismus stand die Enzyklika „Editae saepe", die Papst Pius X. zur Dreihundertjahrfeier der Heiligsprechung des Gegenreformators Karl Borromäus 1 am 26. Mai 1910 erließ (Nr. 183)2. Die Enzyklika verglich den Kampf gegen den Modernismus mit dem Kampf der wahren Reformatoren wie Karl Borromäus gegen den Protestantismus; dabei charakterisierte die Enzyklika die Reformation mit scharfen Worten als Akt hochmütiger Rebellion. Auch Frankreich, wo 1904/05 die Trennung zwischen Staat und Kirche vollzogen war, wurde als ein Land kritisiert, in dem „die Macht der Finsternis ihren Hauptsitz aufgeschlagen zu haben scheint". Gegen die Borromäus-Enzyklika erhob sich in Deutschland ein Proteststurm. Schon am 9. Juni 1910 kam sie im preußischen Abgeordnetenhaus zur Verhandlung. Vor allem der Evangelische Bund organisierte eine Vielzahl von Protestversammlungen. Der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß wies in einer Kundgebung vom 10. Juni 1910 die päpstlichen Angriffe zurück (Nr. 186). Schon vorher hatte der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg durch den preußischen Gesandten beim Vatikan v. Mühlberg 3 bei der Kurie Einspruch 1 Karl Borromäus (1538 - 1584), Neffe von Papst Pius IV. (1499 - 1565), der i h n gleich nach seiner W a h l zum Papst (1559) i n wichtige Ä m t e r berief; er wurde 1560 Erzbischof von Mailand, Protektor der katholischen Kantone der Schweiz und Kardinalstaatssekretär; 1563 zum Priester geweiht; seit 1565 i n seiner Erzdiözese tätig; entscheidend an der Wiedereröffnung des T r i d e n t i n i schen Konzils, an der Formulierung des Römischen Katechismus u n d anderer Konzilstexte sowie an der Durchführung der Konzilsbeschlüsse beteiligt; er leitete die Gegenreformation i n der Schweiz; 1610 heiliggesprochen. 2 Als Verfasser der Enzyklika gilt der K a r d i n a l Vives y Tuto (oben S. 376, Anm. 10), dem auch die Autorschaft am Schlußteil der Enzyklika „Pascendi dominici gregis" von 1907 zugeschrieben w i r d . Vgl. den Bericht des Gesandten v. Mühlberg an Reichskanzler v. Bethmann Hollweg v o m 23.6.1910; T e x t : G. Knopp, Die Borromäus-Enzyklika von 1910 und i h r Widerhall i n Preußen, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 86 (1975), S. 41 ff. (68 ff.). Z u anderen Vermutungen über die Autorschaft: ebenda S. 73 ff.
JU Hufcer, Staat u n d K i r c h e , 3. Bd.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus und der Anti-Modernismus
gegen die Angriffe auf einen großen Teil des deutschen Volks einlegen lassen (Nr. 184, Nr. 185). Daraufhin ordnete Papst Pius X. an, die Enzyklika in Deutschland nicht amtlich zu verkünden. In einem Schreiben vom 13. Juni 1910 versicherte der Kardinalstaatssekretär Merry del Val, daß dem Papst eine Verletzung der protestantischen Bevölkerung Deutschlands ferngelegen habe (Nr. 187)*.
Nr. 183. Die Enzyklika „Editae saepe" Papst Pius X. (Borromäus-Enzyklika) v o m 26. M a i 1910 (Lat. T e x t : Acta Apostolicae Sedis 2, 1910, S. 357 ff.; A r c h i v für katholisches Kirchenrecht 90, 1910, S. 706 ff.; deutsche Ubersetzung u.a. i n : Die Enzyklika Pius X . Editae saepe (Borromäus-Enzyklika) v o m 26. 5.1910 (1910) sowie i m Auszug bei A. Harnack, Die Borromäus-Enzyklika, i n : Aus Wissenschaft und Leben, Bd. 1,1911, S. 279 ff.) — Ubersetzung i m Auszug — . . . Diese wunderbare E i n w i r k u n g des vorhersehenden Gottes beim Werk der Erneuerung, das von der Kirche fortgeführt w i r d , zeigt sich i n strahlendem Licht vor allem i n jenem Zeitalter, das zum Trost aller Guten den K a r l Borromäus hervorgebracht hat. Unter der Herrschaft leidenschaftlicher Begierden, als fast jegliche Erkenntnis der Wahrheit verstört u n d verschüttet war, gab es einen ununterbrochenen K a m p f m i t den I r r t ü m e r n , u n d die menschliche Gesellschaft, auf alles Schlechte sich werfend, schien sich selbst einen schlimmen Untergang zu bereiten. Dabei erstanden hochmütige u n d aufrührerische Menschen, „Feinde des Kreuzes Christi, die nach Irdischem trachten, deren Gott der Bauch ist" 5 . Diese, da sie nicht die Sitten zu bessern, sondern die Hauptstücke des Glaubens zu leugnen bedacht waren, warfen alles durcheinander, bahnten für sich u n d andere einen breiteren Weg zügelloser W i l l k ü r oder suchten doch offenbar, indem sie sich der A u t o r i t ä t und Leitung der Kirche entzogen, den Wünschen aller verderbten Fürsten und Völker entgegenkommend, die Lehre, Verfassung u n d Disziplin der Kirche, wie wenn sie ein auferlegtes Joch wäre, zu vernichten. 3 Otto v. Mühlberg (1847 - 1934), Jurist; seit 1872 i m auswärtigen Dienst, seit 1880 i m Auswärtigen A m t ; 1884 Vortr. Rat; 1895 W i r k l . Geh. Legationsrat; 1898 i n der politischen A b t e i l u n g zuständig f ü r Orientangelegenheiten; 1900 Unterstaatssekretär; 1908 - 1919 preuß. Gesandter beim V a t i k a n (seit dem italienischen Kriegseintritt 1915 Amtssitz i n Lugano). 4 Dazu: Die Enzyklika Pius X . Editae saepe (Borromäus-Enzyklika) vom 26.5. 1910 (1910); H. Winter, Das Zentrum u n d die Borromäus-Enzyklika (1911); A. Harnack, Die Borromäus-Enzyklika, i n : Aus Wissenschaft und Leben, Bd. I (1911), S. 277 ff.; J. Schneider (Hg.), Kirchliches Jahrbuch für die evangelischen Landeskirchen i n Deutschland 38 (1911), S. 117 ff.; H. A. Krose (Hg.), K i r c h liches Handbuch f ü r das katholische Deutschland 3 (1910/11), S. 107 ff.; K . Bachem, Vorgeschichte, Geschichte u n d P o l i t i k der deutschen Zentrumspartei, Bd. V I I (1930), S. 329 ff.; G. Knopp, a. a. O. 5 Philipper 3,18 f.
V i l i . Der Streit u m die Borromäus-Enzyklika
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Die Weise der Bösen nachahmend, denen die Drohung g i l t : „Wehe euch, die i h r das Böse gut und das Gute böse nennt" 6 , nannten sie den rebellischen A u f r u h r und jene Vernichtung des Glaubens u n d der Sitten „Erneuerung" 7 und sich selbst „Wiederhersteller der alten Disziplin". I n Wahrheit aber t r a ten sie als Verderber auf, w e i l sie, nachdem sich die K r ä f t e Europas durch Kämpfe und K r i e g erschöpft hatten, den mannigfaltigen A b f a l l und die Spaltungen des gegenwärtigen Zeitalters gezeitigt haben. I n diesem A b f a l l sind die früher getrennten drei A r t e n des Kampfes, aus welchem die Kirche stets unbesiegt und unversehrt hervorgegangen ist, gleichsam zu einem Angriff wieder erneuert und verbunden, nämlich die blutigen Kämpfe der christlichen Frühzeit, sodann die innerkirchliche Pest der I r r t ü m e r , endlich — unter dem Scheine, die heilige Freiheit zu verteidigen — jene Seuche der Laster u n d jene Verstörung der Disziplin, zu welcher vielleicht nicht einmal das Mittelalter herabgesunken ist.
Nr. 184. Protestnote des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten v. Bethmann Hollweg an den Kardinalstaatssekretär Merry del Val vom 6. J u n i 1910 (Deutscher T e x t : G. Knopp, Die Borromäus-Enzyklika von 1910 und i h r Widerhall i n Preußen, i n : Zeitschrift für Kirchengeschichte 86, 1975, S. 51 f.) I n der Nummer 9 der Acta Apostolicae Sedis ist eine v o m 26. M a i d. J. datierte Enzyklika „Editae saepe Dei ore sententiae" veröffentlicht, welche i n ihrem neunten Absätze Urteile über die Reformatoren u n d die bei der Reformation beteiligten Fürsten u n d Völker enthält. Diese Urteile beschränken sich nicht auf den dogmatischen u n d kirchenregimentlichen Gegensatz der Konfessionen, sondern erstrecken sich zugleich auf das moralische Gebiet. Es hat nicht ausbleiben können, daß diese Urteile eine tiefgehende Erregung i n allen evangelischen Kreisen Preußens hervorgerufen haben, welche sich i n ihren religiösen, sittlichen und staatlichen Empfindungen, die m i t der Geschichte der Reformation untrennbar verbunden sind, schwer verletzt fühlen. Die Königlich Preußische Staatsregierung sieht sich daher veranlaßt, gegen diese, auch an das 8 preußische Episkopat gerichteten Kundgebungen Verwahrung einzulegen. Sie weist zugleich darauf hin, daß die Verantwortung für die Störungen des konfessionellen Friedens, welche eine Folge des Rundschreibens sind, allein diejenige Stelle trifft, von der es ausgegangen ist. Die Preußische Regierung, die i m Interesse guter Beziehungen zwischen Staat und Kirche eine diplomatische Vertretung beim apostolischen Stuhle unterhält, glaubt dies durch ihren Vertreter m i t u m so größerer Berechtigung aussprechen zu können, als sie ihrerseits, treu ihren verfassungsmäßigen Aufgaben, bestrebt ist, die Wahrung und Festigung des Friedens z w i G
Jesaja5, 20. Harnack fügt i n seiner Übersetzung hinter „Erneuerung" i n K l a m m e r n „Reformation" hinzu; der lateinische Text freilich lautet: „instaurationem". 8 Sic! 7
3Ü*
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus und der Anti-Modernismus
sehen der katholischen und evangelischen Bevölkerung des Staates m i t allem Ernst und m i t allen M i t t e l n zu fördern.
Nr. 185. Telegramm des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten v. Bethmann Hollweg an den Gesandten v. Mühlberg vom 6. J u n i 1910 (G. Knopp, Die Borromäus-Enzyklika von 1910 und i h r W i d e r h a l l i n Preußen, i n : Zeitschrift für Kirchengeschichte 86, 1975, S. 53) — Auszug — . . . Euere Exzellenz wollen dem Kardinalstaatssekretär die bestimmte E r w a r t u n g aussprechen, daß die päpstliche K u r i e M i t t e l u n d Wege finden w i r d , die geeignet sind, die aus der Veröffentlichung der Enzyklika sich ergebenden Schäden nach Möglichkeit zu beseitigen. Es k a n n der K u r i e überlassen bleiben, welcher M i t t e l sie sich hierzu bedienen w i l l . Euere Exzellenz wollen aber dem Kardinalstaatssekretär andeuten, daß, wenn der Kurie, wie nach der heutigen E r k l ä r u n g des Osservatore Romano anzunehmen, jede Absicht der K r ä n k u n g ferngelegen hat, eine entsprechende, den Sinn der betreffenden Stellen klarstellende authentische Interpretation dazu beitragen könnte, die Erregung einigermaßen zu beschwichtigen, w e n n sie i n einer autoritativen, der Öffentlichkeit zugänglichen F o r m zum Ausdruck kommen würde. Daß die Verkündung der betreffenden Stellen der Enzyklika i n den deutschen Diözesen weder von der Kanzel noch i n den bischöflichen Verordnungsblättern erfolgen werde, setzen w i r dabei als selbstverständlich voraus, da eine solche Maßnahme eine erhebliche Steigerung der bestehenden Erregung zur Folge haben würde. . . .
Nr. 186. Kundgebung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses, betreffend die Borromäus-Enzyklika des Papstes v o m 10. J u n i 1910 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland, 1912, S. 436 f.) Durch die öffentlichen Blätter sind schwere Verunglimpfungen und Herabwürdigungen bekannt geworden, die Papst Pius X . i n der zum 300jährigen Gedenktage der Heiligsprechung des Kardinals Carlo Borromeo erlassenen Enzyklika gegen die Reformatoren, das Werk der Reformation und die an ihr beteiligten Fürsten u n d Völker auszusprechen Anlaß genommen hat. Der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß hält es nicht nur für sein unveräußerliches Recht, sondern betrachtet es auch als seine unabweisbare Pflicht, namens der i n i h m zusammengeschlossenen deutschen evangelischen Landeskirchen diesen durch nichts begründeten Angriff gegen die evangelische Kirche m i t voller Entschiedenheit zurückzuweisen. Z w a r sind ähnliche Verstöße nicht neu. Sie sind i n gelehrten wie populären Schriften vielfach zutage getreten, ohne daß eine andere A b w e h r erforderlich schien, als die K o r r e k t u r , die die geschichtliche Wahrheit von selbst herbeiführt.
V I I I . Der Streit u m die Borromäus-Enzyklika
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Anders verhält es sich aber, wenn, wie es unlängst i n der Canisius-Enzyk l i k a vom 1. August 1897 geschehen ist 9 u n d n u n hier i n noch schärferer und verletzenderer Weise wiederholt w i r d , das Haupt der römisch-katholischen Kirche selbst das Wort n i m m t . M i t der vollen Wucht höchster kirchlicher A u torität werden hier Behauptungen ausgesprochen, die durch auffallenden u n d weitgehenden Mangel geschichtlicher Einsicht Unkundige irre führen müssen. U n d nicht n u r dies, sondern durch die herabwürdigende Beurteilung der reformatorischen Großtaten, auf denen unsere evangelische Kirche r u h t u n d die unser evangelisches V o l k unter seinen heiligsten Erinnerungen bewahrt, werden Kirche u n d V o l k auf das tiefste verletzt und das friedliche Einvernehmen der Konfessionen w i r d schwer gestört. Indem w i r als einen durch die Reformation errungenen Besitz die Freiheit des Gewissens fordern, achten w i r jede religiöse Uberzeugung, die andern heilig ist, u n d verwerfen jede Kampfesart, die diese Achtung vermissen läßt. W i r trachten u m unseres deutschen Volkes wie u m des Evangeliums w i l l e n danach, daß der unvermeidliche Gegensatz der Konfessionen sich umwandele i n einen heiligen Wettstreit des Ringens u m die ewige Wahrheit zur Entfaltung und Erweisung der i n i h r beschlossenen K r ä f t e der Liebe. D a r i n erblickt die evangelische Kirche den allein gewiesenen Weg zu dem für unser Vaterland unentbehrlichen Frieden der Konfessionen. Eben darum aber können w i r nicht anders, als m i t heiligem Ernste der Wahrheit i m Namen der i n dem Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß zusammengeschlossenen Landeskirchen Deutschlands aussprechen: W i r weisen zurück die unbegründeten Schmähungen unserer Reformatoren, deren hohe und geweihte Gestalten unser evangelisches V o l k als Bahnbrecher u n d Väter seines Glaubens zu verehren u n d hochzuhalten niemals aufhören w i r d . W i r weisen zurück die Verunglimpfung ihres Werks, durch welches das evangelische V o l k sich bewußt ist den einigen Hohenpriester Christus u n d den Weg zum Heil, die Freiheit von aller Menschensatzung u n d das allen zugängliche Wort Gottes gefunden zu haben. W i r weisen endlich zurück die sittliche Herabwürdigung der Fürsten u n d Völker, die Träger der reformatorischen Bewegung geworden sind u n d deren Nachkommen bis heute den vollen Beweis geliefert haben, welche geistlichen, sittlichen, kulturellen K r ä f t e durch jene Bewegung entbunden u n d bei ihnen w i r k s a m geworden sind. Noch vor wenigen Tagen haben w i r als Vertreter der deutschen evangelischen Kirchen i n erhebendem Gottesdienste i n der Kapelle der V/artburg uns zu dem Evangelium der Reformation bekannt. M i t diesem Bekenntnis zum Werke der Reformation u n d ihren Trägern wiederholen w i r i n E i n m ü t i g k e i t m i t der gesamten evangelischen Kirche aufs neue das Bekenntnis zu dem biblischen Evangelium, das sie uns als ein u n vergängliches Gut gerettet haben, u n d zu dem Heilande, von dem L u t h e r singt: Das Feld muß er behalten! 9
Oben Nr. 146.
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9. Kap.: Der deutsche Katholizismus u n d der Anti-Modernismus
Nr. 187. Schreiben des Kardinalstaatssekretärs Merry del Val an den preußischen Gesandten v. Mühlberg v o m 13. J u n i 1910 (Französischer T e x t : A r c h i v f ü r katholisches Kirchenrecht 90, 1910, S. 704 f.) 1 0 — Übersetzung i m Auszug — Der unterzeichnete Kardinalstaatssekretär hat die Ehre, Seiner Exzellenz dem preußischen Gesandten den Empfang Seiner geehrten Note v o m 8. dieses Monats anzuzeigen 11 , die auf die Erregung Bezug n i m m t , die sich innerhalb der preußischen Bevölkerung infolge der P u b l i k a t i o n der E n z y k l i k a „Editae saepe" gezeigt hat. Der Heilige S t u h l hält daran fest, daß der U r sprung dieser Erregung d a r i n gefunden werden muß, daß das durch die E n z y k l i k a angestrebte Z i e l nicht vollständig verstanden w u r d e u n d daß deshalb einige Sätze i n einem den Absichten des Heiligen Vaters vollständig fremden Sinn gedeutet wurden. Deshalb legt der dies schreibende K a r d i n a l großen Wert darauf zu erklären, daß Seine Heiligkeit m i t w a h r h a f t e m K u m mer die Nachricht v o n dieser Erregung vernommen hat, während doch der Heilige Vater — gemäß der Erklärung, die bereits i n öffentlicher u n d offizieller F o r m abgegeben w u r d e 1 2 — niemals auch n u r i m mindesten daran gedacht hat, die nicht-katholische Bevölkerung Deutschlands u n d seine F ü r sten zu verletzen. I m übrigen hat der Heilige Vater niemals eine Gelegenheit vorübergehen lassen, Seine aufrichtige Wertschätzung u n d Sein W o h l w o l l e n f ü r die deutsche Nation u n d ihre Fürsten zum Ausdruck zu bringen; auch bei einer i n der jüngsten Vergangenheit sich bietenden Gelegenheit w a r er glücklich, diese Empfindungen, die i h m v o n Herzen kommen, erneut zum Ausdruck bringen zu können 1 3 . Der K a r d i n a l benutzt diese Gelegenheit, u m gegenüber Seiner Exzellenz die Gefühle seiner besonderen Wertschätzung zu erneuern 1 4 . 10 Dazu auch Knopp, a. a. O., S. 62, der eine auszugsweise Ubersetzung der (unveröffentlichten) italienischen Fassung bietet; Differenzen zwischen italienischem u n d französischem T e x t ergeben sich nicht. 11 A m 8. J u n i w u r d e die Protestnote v o m 6. J u n i (oben Nr. 184) vom Gesandten v. Mühlberg bei der K u r i e überreicht. 12 T e x t der offiziellen E r k l ä r u n g i m Osservatore Romano v o m 8. J u n i 1910: K . Bachem, Vorgeschichte, Geschichte u n d P o l i t i k der deutschen Zentrumspartei, Bd. V I I (1930), S. 336. 13 Gemeint ist die E r k l ä r u n g Papst Pius X. bei einer Audienz für Berliner Pilger am 6. J u n i 1910; (vgl. Knopp, a. a. O., S. 55). Den Anlaß zu der E r k l ä r u n g des Papstes bot die Einweihung der Kirche „ M a r i ä Heimgang" i n Jerusalem am 10. A p r i l 1910; der B a u dieser Kirche u n d des zu i h r gehörenden Benediktinerklosters ging auf eine I n i t i a t i v e Wilhelms II. zurück. Z u r gleichen Zeit w u r d e auch die A u g u s t e - V i k t o r i a - S t i f t u n g auf dem ö l b e r g eingeweiht. 14 Diese A n t w o r t wurde i m Auszug i n einer offiziösen M i t t e i l u n g der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung v o m 15. J u n i 1910 veröffentlicht (Text: Bachem, a. a. O., S. 341).
Zehntes
Kapitel
Der Fortgang der Auseinandersetzungen u m das Jesuitengesetz I· Die Aufhebung des § 2 des Jesuitengesetzes (1904) Seit der Beilegung des Kulturkampfs hatte der deutsche Katholizismus die Aufhebung des Jesuitengesetzes 1 immer wieder , jedoch vergeblich gefordert. Die auf die Aufhebung gerichteten Reichstagsbeschlüsse waren am Bundesrat gescheitert 2. Anfang 1903 hatte endlich der Reichskanzler Fürst Bülow im Reichstag angekündigt , daß auch der Bundesrat der Aufhebung des §2 des Gesetzes zustimmen werde 3. Erst Anfang 1904 wurde diese Ankündigung eingelöst. Um die Unterstützung des Zentrums für seine Reichsfinanzpolitik zu erlangen , führte der Reichskanzler Bülow einen Kompromiß herbei, indem er eine Mehrheit im Bundesrat zwar nicht für die Aufhebung des ganzen Jesuitengesetzes , aber loenigstens für die Aufhebung des § 2 gewann. Bei der Abstimmung im Bundesrat am 8. März 1904 sorgte Baden für diese Mehrheit, indem es sich bei der Abstimmung der Stimme enthielt 4. Am 11. März 1904 wurde das vom 8. März datierte Gesetz verkündet, das die diskriminierenden Bestimmungen über die Ausweisung ausländischer und die Aufenthaltsbeschränkung inländischer Jesuiten beseitigte (Nr. 188). Das Niederlassungsverbot gegen den Orden der Societas Jesu dagegen blieb weiter bestehen 5. Doch schon dagegen, daß das Gesetz von 1904 den Jesuiten Bewegungsfreiheit im Reichsgebiet gewährte, erhob der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß schwere Bedenken (Nr. 189)".
Nr. 188. Gesetz, betreifend die Aufhebung des § 2 des Gesetzes über den Orden der Gesellschaft Jesu vom 4. Juli 1872 v o m 8. März 1904 (Reichs-Gesetzblatt 1904, S. 139) § 1. Der § 2 des Gesetzes, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu, v o m 4. J u l i 1872 (Reichs-Gesetzbl. S. 253) w i r d aufgehoben. 1
Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 260. Oben S. 352 f. 3 Oben S. 353. 4 F ü r den A n t r a g auf Aufhebung des §2 w u r d e n 29 Stimmen, dagegen 25 Stimmen abgegeben; 4 Stimmen (Baden) lauteten auf Enthaltung. 5 Über die Aufhebung des ganzen Jesuitengesetzes (1917) siehe unten Nr. 205. 6 B. Duhr, Das Jesuitengesetz, sein A b b a u u n d seine Aufhebung (Erg.-Hefte zu den Stimmen der Zeit, Reihe I, H. 7, 1919), S. 60 ff, 2
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er Auseinandersetzungen u m das Jesuitengesetz
§2. Das gegenwärtige Gesetz t r i t t m i t dem Tage seiner Verkündigung in Kraft.
Nr. 189. Kundgebung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses zur Frage des Jesuitengesetzes v o m A p r i l 1904 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland, 1904, S. 249 f.) — Auszug — . . . Die i m Jahre 1872 erfolgte Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Jesuiten ist, w i e der Ausschluß des Ordens v o m Gebiete des Deutschen Reiches, als ein A k t der Notwehr des Staates gegen die unheilvolle Tätigkeit derselben betrachtet worden. A u c h jetzt noch werden die Gründe, welche seinerzeit zum Erlaß des Jesuitengesetzes geführt haben, auf evangelischer Seite als unverändert i n ungeschwächter K r a f t weiter bestehend angesehen. Daraus erklärt es sich, daß die Ansicht, die konfessionellen Verhältnisse i n Deutschland ließen jene Schranke nicht länger als notwendig erscheinen, u n d die Aufhebung der Schranke durch B e i t r i t t des Bundesrats zu dem Beschlüsse des Reichstags v o m 1. Februar 18997 i n den evangelischen Gemeinden eine w e i t - u n d tiefgehende Beunruhigung hervorgerufen haben. Die Besorgnis, daß hier f ü r den Frieden i n deutschen Landen u n d f ü r berechtigte Interessen der evangelischen Kirche eine ernste Gefahr vorliege, gründet sich auf die aus der Geschichte bekannten Ziele u n d Einrichtungen der Gesellschaft Jesu u n d die rücksichtslose Verfolgung ihrer Zwecke. I h r e Angehörigen w ü r d e n nunmehr ungehindert, w e n n auch ohne Niederlassungen, so doch einzeln u n d i n Gemeinschaft, mannigfach auch auf bisher schon betretenen Wegen, Gelegenheit finden, auf dem Gebiete der Jugenderziehung, der Familienseelsorge u n d Beichte, sowie durch E i n w i r k u n g auf nach Stand, A m t und Besitz hervorragende Personen eine den Frieden u n d die Freiheit i m deutschen Volke gefährdende Tätigkeit auszuüben. V o n gleicher Sorge, w i e sie i m Herbste des vorigen Jahres auch v o n anderer berufener Seite zum öffentlichen Ausdruck gelangt ist, w a r der i n Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen des evangelischen Deutschlands kundgegebene Beschluß des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses v o m 18. Februar d. J. 8 getragen. Da er Beachtung nicht mehr gefunden hat, wenden w i r uns angesichts des auch für uns v ö l l i g überraschenden neuesten Vorgangs m i t einem mahnenden u n d stärkenden Worte an die evangelischen Gemeinden. Nicht die Aufhebung des § 2 ist i n W i r k l i c h k e i t der alleinige Gegenstand u n d G r u n d der tiefgehenden Erregung i m evangelischen Volke, w e n n auch m i t jenem Paragraphen f ü r die evangelische Kirche ein vorsorglich auf7
Oben S. 353. Dieser Beschluß ist i m „Allgemeinen Kirchenblatt für das evangelische Deutschland" nicht veröffentlicht. 8
I. Die Aufhebung des § 2 des Jesuitengesetzes (1904)
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gerichtetes Schutzmittel u n d eine Waffe der A b w e h r zur W a h r u n g ihrer Interessen weggefallen ist. I h r eigentlicher G r u n d liegt zugleich i n der B e fürchtung, daß die Beseitigung des § 2 n u r ein weiteres Glied i n der tatsächlichen E n t w i c k l u n g der kirchenpolitischen Verhältnisse i m Deutschen Reiche bilde; eine Reihe v o n Einräumungen zugunsten der römischen Kirche seit längerer Zeit bedeute eine Gefahr f ü r die evangelische Kirche u n d vermöge dem öffentlichen Frieden sowie dem ungetrübten Nebeneinanderleben der Konfessionen nicht zu dienen. I m Zusammenhang m i t der anmaßenden, auch die Ehre Luthers u n d der Reformation nicht schonenden H a l t u n g des Ultramontanismus empfinden w i r die Entscheidung des Bundesrats als eine ernste Mahnung, daß den maßlosen, stets wachsenden ultramontanen Ansprüchen u n d dem Protestantismus feindlichen Bestrebungen, welche die auf Alleinherrschaft der römischen Kirche gerichteten Ziele auf jede Weise durchzusetzen suchen, die gebührende Zurückweisung zuteil werde. Bereits ist als A n t w o r t auf die Aufhebung des § 2 des Gesetzes über den Orden der Gesellschaft Jesu i m preußischen Landtage v o n katholischer Seite die E r k l ä r u n g abgegeben worden, daß m a n nicht ruhen werde, bis das ganze Gesetz beseitigt sei. Gerne halten w i r jedoch an der v o n hoher Stelle wiederholt gegebenen Versicherung fest, daß die Zulassung v o n Niederlassungen des Ordens der Gesellschaft Jesu v o n den verbündeten Regierungen ausnahmslos als „nicht angängig u n d nicht möglich" angesehen werde. I n gleicher Weise vertrauen w i r auch, daß der i m Reichstage abermals eingebrachte I n i t i a t i v a n t r a g des Zentrums i n betreff der Freiheit der Religionsübung v o m 23. November 1900 (der sogenannte Toleranzantrag) 9 ein Entgegenkommen v o n Seiten des Bundesrats nicht finden werde, nachdem namens desselben schon bei der erstmaligen Lesung die Unannehmbarkeit des Antrags erklärt worden ist. W i r stehen hier v o r dem Versuch eines ernste Gefahr drohenden Eingriffs i n das Landeskirchenrecht, durch welchen nicht n u r die Ordnung der konfessionellen Erziehung der K i n d e r v o n dem Recht u n d der Aufsicht der Einzelstaaten losgelöst, sondern insbesondere auch das Hoheitsrecht des Staats gegenüber den anerkannten Religionsgemeinschaften beeinträchtigt werden soll. Welche H a l t u n g darf angesichts solcher schweren Sorgen v o n evangelischen Gemeinden erwartet werden?
unsern
Ernst ist die Zeit, i n welche die evangelische Kirche gegenwärtig gestellt ist. Mancherlei Enttäuschungen u n d Gefahren, mancherlei Prüfungen u n d Leiden muß sie aus Gottes H a n d hinnehmen u n d i m A u f b l i c k zu I h m dafür Sorge tragen, daß auch sie i h r dienen zur B e w ä h r u n g ihrer Glaubenskraft u n d zu ihrer eignen Läuterung. A u c h i n schwerer Zeit w e r d e n die evangelischen Christen nicht nachlassen, i h r V a t e r l a n d zu lieben, die Obrigkeit zu ehren, den Gesetzen zu gehorchen. Sie werden die Selbstprüfung nicht unterlassen, i n w i e w e i t auch sie an i h r e m Teile zu dem Stande der Dinge, 9 Oben Nr. 6. Vgl. auch die Stellungnahme des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses zum „Toleranzantrag" oben Nr. 10.
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er Auseinandersetzungen u m das Jesuitengesetz
den w i r beklagen, dadurch beigetragen haben, daß sie es an der Wertschätzung der idealen Güter des Volkes, vor allem an w a r m e r Betätigung des evangelischen Glaubens u n d der evangelischen Treue haben mangeln lassen. Wieviele religiöse Gleichgültigkeit u n d Zwietracht, wie mancher beklagenswerte A b f a l l schwächt unsre K r a f t . D a r u m nicht i n nutzlosen Klagen u n d Anklagen, — i n der Stärkung des Glaubens, der M e h r u n g des kirchlichen E h r gefühls, i n der treuen Pflichterfüllung auch i m bürgerlichen u n d staatlichen Leben haben w i r die Widerstandskraft gegen mächtige Gegner zu suchen. Die Kirche der Reformation, i n der die Freiheit des Gewissens u n d die B i l d u n g u n d Gesittung der neueren Jahrhunderte ihre starken Wurzeln haben, braucht den v o n i h r nicht gesuchten K a m p f nicht zu fürchten. Zweierlei aber t u t ihr not gegenüber dem mächtigen Rom u n d den Roms Interessen auch i m Staate unter festem Zusammenschluß vertretenden Bestrebungen des Ultramontanismus. Trotz der Verschiedenheiten u n d Gegensätze, welche unsre, die evangelische Freiheit m i t der evangelischen Wahrheit verbindende Kirche durchziehen, ist es heilige Pflicht, i m A u f b l i c k auf den H e r r n Jesum Christum, das einige Haupt der gesamten Christenheit, einträchtig zusammenzustehen u n d auch unsrerseits geschlossen u n d wachsam einzutreten f ü r das kostbare Erbgut der Reformation i n Haus u n d Gemeinde w i e i m öffentlichen Leben. Gleichzeitig ist aber unerläßliche Aufgabe, ein aus Gottes W o r t genährtes, durch Betätigung des Glaubens u n d A r b e i t der Liebe erstarktes, i n Treue u n d Einigkeit festes Gemeindeleben zu bauen u n d zu bewahren. So richten w i r denn unter den Sorgen der Gegenwart m i t den Worten des Apostels Paulus die dringende M a h n u n g u n d B i t t e an unsre Gemeinden: Seid fleißig, zu halten die Einigkeit i m Geist durch das Band des Friedens! Seid stark i n dem H e r r n u n d i n der Macht seiner Stärke 1 0 !
I L Bayern und das Jesuitengesetz (1911—1912) Das Jesuitengesetz vom 4. Juli 1872 hatte der Beschluß des Bundesrats vom 28. Juni/5. Juli 1872 durch die Feststellung ergänzt, daß mit dem Verbot des Ordens im Reichsgebiet auch die Ordenstätigkeit seiner Mitglieder untersagt sei 1. Nach der Aufhebung des §2 des Jesuitengesetzes entzündete sich an der Frage, wie der Begriff der „Ordenstätigkeit" zu bestimmen sei, ein Konflikt. Seinen Ausgang bildeten Exerzitien, die in der Karwoche 1911 unter Beteiligung von zwei Jesuiten im oberbayerischen Bad Aibling stattfanden. Angesichts der dadurch ausgelösten öffentlichen Diskussion stellte der bayerische Kultusminister v. Wehner in einem internen Erlaß an die oberbayerische Regierung vom 4. August 1911 (Nr. 190) fest, daß nur das 10 1
Epheser 4, 3; 6,10. Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 260, 261.
I I . Bayern u n d das Jesuitengesetz (1911 - 1912)
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Lesen stiller Messen und das Abhalten wissenschaftlicher und religiöser Vorträge außerhalb kirchlicher Räume nicht unter den Begriff der verbotenen Ordenstätigkeit falle. Als der Erlaß Ende 1911 durch eine Indiskretion bekannt wurde, erhob sich im bayerischen Episkopat und in der katholischen Bevölkerung ein lebhafter Protest. Die Regierung Podewils entschloß sich daraufhin zu einer Revision ihrer Auffassung; sie teilte diese Absicht den Regierungen von Preußen, Hessen, Baden und Württemberg mit. Die preußische Regierung erwiderte jedoch, daß nach ihrer Auffassung dem Abweichen von der strengen Auslegung der verbotenen Ordenstätigkeit erhebliche Bedenken entgegenstünden 2. Gleichwohl setzte das nach dem Sturz des Ministeriums Podewils ins Amt gekommene Kabinett Hertling 3 den eingeschlagenen Kurs fort. Ein von den Ministern v. Knilling 4 und v. Soden 5 unterzeichneter Erlaß vom 11. März 1912 (Nr. 191) legte fest, daß auch von den eigentlichen Aufgaben des Ordens unabhängige priesterliche Handlungen sowie Aushilfstätigkeiten in der Seelsorge nicht als verbotene „Ordenstätigkeit" zu betrachten seien. Der Erlaß rief heftige publizistische und parlamentarische Reaktionen hervor. Die Liberalen im bayerischen Landtag stellten den Ministerpräsidenten durch eine Interpellation zur Rede 6. Eine Interpellation der nationalliberalen Fraktion des Reichstags (Nr. 192) bezeichnete die eigenmächtige Neuinterpretation des Bundesratsbeschlusses von 1872 als eine Gefährdung der Reichseinheit. Die bayerische Regierung stellte nunmehr am 19. April 1912 beim Bundesrat den Antrag auf authentische Interpretation des Begriffs der verbotenen Ordenstätigkeit (Nr. 193). Der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg beschränkte sich in der Antwort, die er am 26. April 1912 auf die nationalliberale Interpellation gab, deshalb darauf, die notwendige Einheitlichkeit in der Anwendung reichsrechtlicher Normen zu betonen; im übrigen verwies er auf die bevorstehende Entscheidung des Bundesrats (Nr. 194). Auf diese Entscheidung suchten die Fuldaer Bischofskonferenz sowie gesondert auch der preußische und der bayerische Episkopat durch Eingaben Einfluß zu nehmen. Die Eingabe des bayerischen Episkopats vom 16. Juli 1912 (Nr. 195) forderte den Bundesrat auf, sich der Auslegung anzuschließen, die die bayerische Regierung dem Begriff der Ordenstätigkeit gegeben hatte, darüber hinaus aber auch das Verbot der Mitwirkung von Jesuiten an Mis2 Note des preußischen Ministers der geistlichen Angelegenheiten an das Auswärtige A m t v o m 12. Februar 1912 (Text: E. Deuerlein [Hg.], Briefwechsel Hertling—Lerchenfeld 1912 - 1917, Bd. 1, 1973, S. 152 ff., A n m . 2). 3 Siehe oben S. 185, A n m . 5. 4 Eugen (Ritter v.) Knilling (1865 - 1927), Jurist, seit 1899 i m bayer. V e r w a l tungsdienst, seit 1902 i m K u l t u s m i n i s t e r i u m ; 1908 Referent f ü r Kirchen- und Universitätsangelegenheiten; 1912 - 18 Kultusminister; 1922 - 24 Ministerpräsident; 1924 - 27 Präsident der Staatsschuldenverwaltung. 5 Max Frh. (Graf) v. Soden-Frauenhofen (1844- 1922), Jurist, Gutsbesitzer; 1874-84 M d R (Zentrum); 1875-92 M . d. bayer. Abgeordnetenkammer; seit 1895 M. d. K a m m e r der Reichsräte; 1893 - 1912 Präsident des bayer. u n d 1. V i zepräsident des deutschen Landwirtschaftsrats; 1912 - 16 bayer. Innenminister. β Debatte v o m 1. M a i 1912 (Verhandlungen der bayer. K a m m e r der A b geordneten 1912, Bd. I I , S. 1 ff.).
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sionen aufzuheben. Der Beschluß des Bundesrats vom 28. November 1912 hielt jedoch an der bisherigen restriktiven Auffassung fest; er erklärte damit implizit den Erlaß der bayerischen Regierung vom 11. März 1912 für ungültig (Nr. 196). Die bayerische Regierung verpflichtete daraufhin die nachgeordneten Regierungsstellen, gemäß dem Bundesratsbeschluß vom November 1912 zu verfahren 7; den Erlaß vom 11. März 1912 zog sie zurück. Weite Teile der katholischen Öffentlichkeit sahen in der Entscheidung des Bundesrats eine Wiederbelebung des Kulturkampfs. Eine Erklärung, die der Abgeordnete Spahn8 am 4. Dezember 1912 namens der Zentrumsfraktion im Reichstag abgab (Nr. 197), machte deutlich, daß der Kampf um die vollständige Aufhebung des Jesuitengesetzes weitergehen werde. Demgegenüber erklärte der Reichskanzler v. Bethmann Hollweg am selben Tag, daß mit der Entscheidung des Bundesrats keine Verschärfung der einzelstaatlichen Praxis gegenüber den Jesuiten eintreten werde (Nr. 198)9.
Nr. 190. Erlaß der bayerischen Regierung zum Jesuitengesetz v o m 4. August 1911 (Stenogr. Bericht über die Verhandlungen der Bayerischen K a m m e r der Abgeordneten von 1912, Bd. I I , Sitzung v o m 1. M a i 1912, S. 27) I n der Zeit v o m Palmsonntag bis Ostermontag laufenden Jahres sind i n Bad A i b l i n g von dem dortigen katholischen Pfarramt Volksexerzitien veranstaltet worden, an deren A b h a l t u n g sich zwei dem Orden der Gesellschaft Jesu angehörige Patres beteiligten. Nach dem Bericht des Präsidiums der K . Regierung von Oberbayern v o m 12. M a i laufenden Jahres bestand die Tätigkeit der genannten Ordenspriester i n der A b h a l t u n g von Vorträgen religiösen Inhalts i n der Kirche u n d i m Beichthören. Durch § 1 des Reichsgesetzes v o m 4. J u l i 1872 ist der Orden der Gesellschaft Jesu v o m Gebiete des Deutschen Reichs ausgeschlossen u n d nach Ziff. 1 der zum Vollzuge dieses Reichsgesetzes erlassenen Bundesratsbekanntmachung v o m 5. J u l i 1872 ist den Angehörigen der Gesellschaft Jesu die Ausübung einer Ordenstätigkeit, insbesondere i n Kirche u n d Schule, sowie die A b h a l t u n g von Missionen i m Deutschen Reich untersagt. Dieses — f ü r das Gebiet des Königreiches Bayern i n der Ministerialentschließung v o m 6. September 1872 Nr. 11 926 wiederholte — Verbot hat durch das Reichsgesetz v o m 7
Schultheß, Europäischer Geschichtskalender 1912, S. 280. Oben S. 258, A n m . 11. 9 Vgl. Deutsche Stimmen zum Jesuitenerlaß v o m 11. März 1912 aus den Münchner Neuesten Nachrichten (1912); Wahrheit u n d Gerechtigkeit. Deutsche A n t w o r t e n zur Jesuitenfrage 1912 aus dem Neuen Münchener Tageblatt (1912); B. Duhr, Die Jesuitenfrage i m Jahre 1912, i n : Magazin f ü r volkstümliche A p o logetik 11 (1912), S. 287 ff.; ders., Das Jesuitengesetz, sein A b b a u u n d seine A u f hebung (1919), S. 82 ff.; Zentrumsfraktion des Deutschen Reichstags (Hg.), Jesuitengesetz u n d Bundesrat (1913); K . Bachem, Vorgeschichte, Geschichte u n d P o l i t i k der deutschen Zentrumspartei, Bd. 9 (1932), S. 345 ff.; M . Stadelhofer, Der A b b a u der Kulturkampfgesetzgebung i m Großherzogtum Baden 1878 1918 (1969), S. 324 ff.; H.-M. Körner, Staat und Kirche i n Bayern 1886 - 1918 (1977), S. 150 ff. 8
I I . Bayern und das Jesuitengesetz (1911 - 1912)
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8. März 1904 eine Änderung nicht erfahren, da hiedurch n u r der die Aufenthaltsbeschränkungen der Angehörigen der Gesellschaft Jesu betreffende §2 des Jesuitengesetzes aufgehoben wurde. Hinsichtlich der Frage, welche Grenzen der Tätigkeit der Mitglieder der Gesellschaft Jesu durch Ziffer 1 der Bundesratsbekanntmachung v o m 5. J u l i 1872 gezogen sind, wurde bisher i n Bayern i n Ubereinstimmung m i t der Praxis der übrigen größeren Bundesstaaten stets davon ausgegangen, daß lediglich das Lesen einer stillen Messe u n d die A b h a l t u n g von wissenschaftlichen oder religiösen Vorträgen außerhalb kirchlicher Räume als erlaubt anzusehen sind, daß dagegen — von Notfällen abgesehen — jede seelsorgerliche Tätigkeit, namentlich auch die A b h a l t u n g von Exerzitien u n d die Übernahme religiöser Vorträge i n Kirchen i n das Gebiet der verbotenen Ordenstätigkeit fallen. Hienach w i r d i n der M i t w i r k u n g der beiden Patres an den Volksexerzitien i n Bad A i b l i n g ein Verstoß gegen die bestehenden Vorschriften zu erblicken sein. Hiezu k o m m t noch, daß die Veranstaltung der Exerzitien ohne v o r gängige Anzeigeerstattung oder Erlaubniserwirkung w o h l schon an sich eine Zuwiderhandlung gegen die auf G r u n d Allerhöchster Ermächtigung erlassene Ministerialentschließung v o m 20. J u n i 1851, die A b h a l t u n g außerordentlicher kirchlicher Feierlichkeiten betreifend, i n sich schloß. Hievon w i r d der K . Regierung, K a m m e r des Innern, zu künftiger Beachtung m i t dem Beifügen Kenntnis gegeben, daß i m vorwürfigen Falle schon i m Hinblick auf die seit der A b h a l t u n g der Exerzitien i n Bad A i b l i n g verflossene Zeit von Weiterungen abgesehen werden kann.
Nr. 191. Der Jesuitenerlaß der bayerischen Minister v. Soden (Inneres) und v. Knilling (Kultus) vom 11. März 1912 (Deutsche Stimmen zum Jesuitenerlaß der bayerischen Regierung vom 11. März 1912 aus den „Münchner Neuesten Nachrichten", 1912, S. 3 f.) , ü Mehrere i n der letzten Zeit eingereichte Vorstellungen haben Anlaß gegeben, die Frage einer eingehenden Nachprüfung zu unterziehen, ob die bisherige Praxis beim Vollzuge des Reichsgesetzes v o m 4. J u l i 1872, den Orden der Gesellschaft Jesu betreffend, u n d der zugehörigen Ausführungsbestimmungen, wonach n u r das Lesen einer stillen Messe u n d die A b h a l t u n g von wissenschaftlichen oder religiösen Vorträgen außerhalb kirchlicher Räume als erlaubt angesehen wurde, die einzig mögliche Auslegung der einschlägigen Vorschriften wiedergebe oder ob etwa auch eine andere den Kreis der verbotenen Ordenstätigkeit enger ziehende Interpretation dieser Vorschriften zulässig und angezeigt erscheine. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist folgendes : 10 Weiterer S. 258 ff.
Abdruck
in: Magazin
für
volkstümliche
Apologetik,
1912,
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10. Kap.: Der Fortgang
er Auseinandersetzungen u m das Jesuitengesetz
Durch § 1 des Reichsgesetzes v o m 4. J u l i 1872 sind der Orden der Gesellschaft Jesu und die i h m verwandten Orden und ordensähnlichen Kongregationen v o m Gebiete des Deutschen Reiches ausgeschlossen. Die Errichtung von Niederlassungen ist untersagt. A u f G r u n d der durch § 3 dieses Gesetzes dem Bundesrat erteilten Ermächtigung, die zur Ausführung u n d zur Sicherstellung des Vollzugs des Gesetzes erforderlichen Anordnungen zu erlassen, wurde durch die auf einem Beschlüsse des Bundesrates beruhende Reichskanzlerbekanntmachung v o m 5. J u l i 1872 unter Ziffer 1 verfügt, daß den A n gehörigen des Jesuitenordens die Ausübung einer Ordenstätigkeit, insbesondere i n Kirche u n d Schule, sowie die A b h a l t u n g von Missionen nicht zu gestatten ist. Das Wort „Ordenstätigkeit" stellt nicht einen ohne weiteres feststehenden bestimmt umgrenzten Begriff dar. Indem der Bundesrat bei der Erlassung der Vollzugsvorschriften diesen weiterer und engerer Auslegung fähigen Begriff wählte, überließ er es der Gesetzeshandhabung, dem Kreise der den Jesuiten verbotenen Wirksamkeit die näheren Grenzen zu ziehen. Bei der sohin den Einzelstaaten . . . eingeräumten Bewegungsfreiheit f ü r den Gesetzesvollzug w i r d den jeweiligen Zeitverhältnissen ein angemessener Einfluß auf die strengere oder mildere Handhabung des Gesetzes nicht zu versagen sein. Die Wandlung, die sich i n den Verhältnissen seit Erlaß des Reichsgesetzes v o m 4. J u l i 1872 vollzogen hat, k o m m t besonders i n der Aufhebung des § 2 des Jesuitengesetzes durch das Reichsgesetz v o m 8. März 1904 zum Ausdrucke, wodurch das schärfste u n d wirksamste M i t t e l zum Vollzuge des § 1 des Gesetzes und seiner Vollzugs Vorschriften beseitigt wurde. Es erscheint deshalb n u r als eine Folgerung aus dieser Stellungnahme der gesetzgebenden Faktoren des Reiches zur Jesuitenfrage, w e n n auch bei Handhabung des § 1 des Jesuitengesetzes u n d der zugehörigen Ziffer 1 der Reichskanzlerbekanntmachung v o m 5. J u l i 1872 k ü n f t i g nicht weiter gegangen w i r d , als es zum Vollzuge der reichsrechtlichen Anordnungen unbedingt geboten ist. Ohne daß dem Reichsgesetz oder seinen Vollzugsbestimmungen irgendwelche Gewalt angetan w i r d , k a n n dem Begriff „Ordenstätigkeit" i m Sinne der Ziffer 1 der Reichskanzlerbekanntmachung v o m 5. J u l i 1872 eine die bisherige Übung einschränkende Auslegung gegeben werden. Die genauere Umgrenzung des Begriffes „Ordenstätigkeit" w i r d i n der Weise zu erfolgen haben, daß Handlungen, die als rein priesterliche, von dem eigentlichen Aufgabenkomplexe des Ordens losgelöste Funktionen sich darstellen u n d bei denen die Ordensangehörigen zum Zwecke vorübergehender Aushilfe i n der Seelsorge einer von der Ordensleitung unabhängigen Aufsichtsgewalt unterstehen, als außerhalb des Gebietes der Ordenstätigkeit liegend angesehen werden. Missionen müssen i m Hinblick auf das ausdrückliche Verbot der Reichskanzlerbekanntmachung v o m 5. J u l i 1872 auch fernerhin der den Jesuiten untersagten Tätigkeit zugerechnet werden. Wesentlich verschieden von den Missionen sind die sog. Konferenzen, die hauptsächlich Vorträge apologetischen oder sozialen Inhaltes zum Gegenstande haben. Solche, i n profanen Räumen schon bisher unbedenklich zugelassenen Konferenzvorträge werden in den vom Verbote betroffenen Wirkungskreis auch dann nicht einzuziehen
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Bayern und das Jesuitengesetz (1911 - 1912)
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sein, w e n n sie i n kirchlichen Räumen abgehalten werden und wenn m i t ihnen Gelegenheit zum Empfange der Sakramente verbunden w i r d . Demgemäß w i r d h i e r m i t verfügt, daß fortan beim Vollzuge des Reichsgesetzes v o m 4. J u l i 1872 u n d der zugehörigen Ausführungsbestimmungen zu der Ordenstätigkeit, die den Angehörigen des Ordens der Gesellschaft Jesu u n d den m i t diesem Orden als verwandt erklärten religiösen Genossenschaften verboten ist, weder die sogenannten Konferenzvorträge noch solche priesterliche Handlungen zu zählen sind, die zum Zwecke vorübergehender Aushilfe i n der Seelsorge i n Abhängigkeit v o m zuständigen Pfarramte vorgenommen werden. Sofern sich i m einzelnen F a l l über die Grenzen der zulässigen und verbotenen Ordenstätigkeit Zweifel ergeben sollten, z. B. darüber, ob eine Veranstaltung als Konferenzvortrag oder als Mission anzusehen ist, werden solche Zweifel durch entsprechendes gegenseitiges Benehmen zwischen den staatlichen und kirchlichen Stellen behoben werden können. Hiernach sind die Distriktspolizeibehörden als die durch Ziffer 4 der Ministerial-Entschließung vom 6. September 1872 m i t dem unmittelbaren Vollzuge des Jesuitengesetzes betrauten Behörden unter vertraulicher M i t t e i l u n g der vorstehenden Entschließung und unter Umgangnahme von einer Ausschreibung m i t Weisung zu versehen u n d zugleich zu beauftragen, i n zweifelhaften Fällen stets an die Kreisstelle 1 1 zu berichten, die sich jeweils, soweit veranlaßt, m i t der kirchlichen Oberbehörde 12 benehmen w i r d . Der vom Kultusminister ses enthält noch folgenden
an die Ordinariate Passus:
verschickte
Abdruck
des Erlas-
Anruhend folgt zur Kenntnisnahme Abdruck einer an die sämtlichen K . Regierungen, K a m m e r n des Innern, erlassenen Ministerial-Entschließung v o m Heutigen, die den künftigen Vollzug des Jesuitengesetzes v o m 4. J u l i 1872 und seine Ausführungsbestimmungen zum Gegenstande hat. Aus dieser Entschließung wolle ersehen werden, daß die kirchlicherseits geäußerten Wünsche nach einem milderen Vollzuge der einschlägigen Vorschriften einer eingehenden Prüfung unterstellt und, soweit es i m Rahmen der zwingenden reichsrechtlichen Bestimmungen als zulässig erachtet werden konnte, berücksichtigt wurden. Das K . Staatsministerium des Innern f ü r Kirchen- und Schulangelegenheiten glaubt sich der E r w a r t u n g hingeben zu dürfen, daß das durch die Entschließung bewiesene Entgegenkommen seitens der kirchlichen Behörden durch entsprechende Beachtung der bestehenden Vorschriften, wie sie nach den jetzigen Weisungen von den äußeren Behörden zu vollziehen sind, erwidert w i r d . Namentlich möchte hervorgehoben werden, daß i m Hinblick auf das entgegenstehende ausdrückliche Verbot der Reichskanzlerbekanntmachung vom 5. J u l i 1872 Jesuitenmissionen auch k ü n f t i g nicht als statthaft angesehen werden können. Das K . Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten würde es m i t Dank begrüßen, 11 Die an der Spitze der acht bayerischen Regierungsbezirke Kreisregierungen. 12 Die bischöflichen und erzbischöflichen Ordinariate.
stehenden
480 10. Kap.: Der Fortgang der Auseinandersetzungen u m das Jesuitengesetz wenn seitens der kirchlichen Oberbehörden die Pfarrämter i m Sinne der anruhenden Ministerialentschließung vertraulich verständigt u n d zugleich angewiesen würden, auch ihrerseits mitzuwirken, daß i n Z u k u n f t Anstände auf dem vorwürfigen Gebiete vermieden werden.
Nr. 192. Interpellation der nationalliberalen Fraktion des Reichstags wegen des bayerischen Jesuitenerlasses v o m 17. A p r i l 1912 (Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 299, Drucksachen, Nr. 366) 1. Erkennt der Herr Reichskanzler i n dem Erlaß des Königlich bayerischen Staatsministeriums des I n n e r n an die Königlichen Regierungen betreffend Vollzug des Jesuitengesetzes eine Verletzung des Reichsgesetzes v o m 4. J u l i 1872 u n d der Bekanntmachung des Reichskanzlers v o m 5. J u l i 1872? 2. Welche Schritte gedenkt der Herr Reichskanzler gegenüber diesem Vorgehen der Königlich bayerischen Staatsregierung zu tun, u m das kaiserliche Recht zur Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze zu wahren? 1 3
Nr. 193. Antrag des bayerischen Bevollmächtigten an den Bundesrat 14 betreffend den Vollzug des Jesuitengesetzes v o m 18. A p r i l 1912 (Verhandlungen des Bundesrats, Drucksachen, 1912, Nr. 50) Der Bundesrat wolle die zur Ausführung des Reichsgesetzes v o m 4. J u l i 1872, den Orden der Gesellschaft Jesu betreffend, erlassene Reichskanzlerbekanntmachung v o m 5. J u l i 1872 dadurch ergänzen, daß er dem Begriffe der verbotenen Ordenstätigkeit (Ziffer 1 der Bekanntmachung) eine authentische Interpretation gibt. Begründung Die Königlich Bayerischen Staatsministerien des Innern beider A b t e i l u n gen 1 5 haben unterm 11. März d. J. an die Kreisregierungen Weisung dahin ergehen lassen, daß k ü n f t i g beim Vollzuge des Reichsgesetzes v o m 4. J u l i 1872 und seiner Ausführungsbestimmungen zu der Ordenstätigkeit, die den Angehörigen des Ordens der Gesellschaft Jesu und der m i t diesem Orden als 13 Gefragt war damit nach Maßnahmen der Reichsaufsicht gem. A r t . 17 Satz 1 der Bismarckschen Reichs Verfassung (Dokumente, Bd. 2, Nr. 218). 14 Der Antragsteller Hugo Graf v. Lerchenfeld-Köf ering (1843 - 1925), ein Sohn des bayer. Gesandten i n B e r l i n Maximilian Joseph Graf v. Lerchenfeld, w a r seit 1867 i m bayer. ausw. Dienst; 1871 - 75 Geschäftsträger i n St. Petersburg; 1875-80 Gesandtschaftssekretär i n Wien; 1880- 1918 bayer. Gesandter i n B e r l i n und Bevollmächtigter zum Bundesrat. 13 Nämlich das Innenministerium und das Kultusministerium.
I I . Bayern und das Jesuitengesetz (1911 - 1912)
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verwandt erklärten religiösen Genossenschaften verboten ist, weder die sogenannten Konferenzvorträge, noch solche priesterliche Handlungen zu zählen sind, die zum Zwecke der Aushilfe i n der Seelsorge i n Abhängigkeit v o m zuständigen Pfarramt vorgenommen werden. Die Rechts auf fassung, v o n der die Königlichen Staatsministerien des Innern beider Abteilungen hierbei ausgegangen sind, ist folgende: I n Ziffer 1 der Reichskanzlerbekanntmachung v o m 5. J u l i 1872 ist bestimmt, daß den Angehörigen der Gesellschaft Jesu die Ausübung einer Ordenstätigkeit, insbesondere i n Kirche u n d Schule, sowie die A b h a l t u n g von Missionen nicht zu gestatten ist. Der Bundesrat hat weder bei der Erlassung dieser Vorschrift den Begriff der Ordenstätigkeit näher erläutert, noch auch später eine authentische Interpretation hierzu gegeben. Das W o r t „Ordenstätigkeit" stellt nicht einen eindeutigen, feststehenden Begriff dar. Der Begriffsinhalt läßt sich nicht ohne weiteres k l a r u n d zweifelsfrei erkennen, er muß i m Wege der Auslegung unter Zuhilfenahme von Interpretationsbehelfen gewonnen werden. Hierbei ergibt sich, daß der Begriff „Ordenstätigkeit" einer weiteren u n d einer engeren Auslegung fähig ist, je nachdem man entweder alle seelsorgerlichen Funktionen einbezieht oder jene priesterlichen Handlungen ausschließt, bei denen der Ordensangehörige einer anderen Aufsichtsgewalt als jener der Ordensleitung unmittelbar untergeordnet ist. Indem der Bundesrat den verschiedener Deutung fähigen Begriff „Ordenstätigkeit" i n die Vollzugsvorschriften aufgenommen hat, wies er den m i t dem Gesetzesvollzuge betrauten Einzelstaaten die Aufgabe zu, dem Kreise der den Jesuiten verbotenen Wirksamkeit die Grenzen zu ziehen. I m Rahmen dieser dem einzelstaatlichen Gesetzesvollzuge zukommenden Bewegungsfreiheit glaubte die Bayerische Regierung dem Umstand Rechnung tragen zu sollen, daß seit Erlaß des Jesuitengesetzes i n dem allgemeinen U r t e i l über den Jesuitenorden ein gewisser Umschwung eingetreten ist. Die Richtigkeit dieser Annahme erhellt v o r allem aus der Aufhebung des § 2 des Jesuitengesetzes durch das Reichsgesetz v o m 8. März 1904, durch welches das schärfste u n d wirksamste M i t t e l f ü r die zwangsweise Durchführung des § 1 des Jesuitengesetzes beseitigt wurde. Nach der Anschauung der Bayerischen Regierung handelte es sich lediglich u m eine naheliegende Folgerung aus der veränderten Stellungnahme der gesetzgebenden Faktoren des Reichs zur Jesuitenfrage, w e n n sie auch bei der Auslegung des Begriffs „Ordenstätigkeit" eine mildere Auffassung als bisher Platz greifen ließ. E i n Verstoß gegen zwingende reichsrechtliche Bestimmungen w i r d i n dem Erlasse v o m 11. März d. J., dem die oben angedeutete engere Auslegung des Begriffs „Ordenstätigk e i t " zu Grunde liegt, nicht erblickt werden können. Denn w e n n seinerzeit die Absicht des Bundesrats darauf gerichtet gewesen wäre, m i t dem Verbote der Ordenstätigkeit den Ausschluß jeder seelsorgerlichen Wirksamkeit der Jesuiten zur dauernden u n d die Einzelstaaten bindenden N o r m zu erheben, so hätte er diese Absicht w o h l i n bestimmten, jedem Zweifel entrückten Worten zum Ausdruck bringen müssen. 31 H a b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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10. Kap.: Der Fortgang
er Auseinandersetzungen u m das Jesuitengesetz
Die Entschließung der Königlichen Staatsministerien des I n n e r n beider Abteilungen v o m 11. März d. J. ist i n der Öffentlichkeit lebhaftem Widerspruche begegnet. M a n hat sich hierbei nicht darauf beschränkt, die bayerische Rechtsauffassung sachlich zu bekämpfen, sondern m a n hat der Bayerischen Regierung vielfach auch Mangel an L o y a l i t ä t u n d bewußte Umgehung reichsrechtlicher Vorschriften zum V o r w u r f gemacht. U m solchen durchaus unzutreffenden Beschuldigungen jeden Boden zu entziehen, erachtet es die Bayerische Regierung f ü r angezeigt, selbst die I n i t i a t i v e zur K l ä r u n g der Rechtslage zu ergreifen; sie stellt deshalb an den Bundesrat den Antrag, dem Begriffe der verbotenen Ordenstätigkeit eine authentische Interpretation u n d damit den Einzelstaaten f ü r den Vollzug des Jesuitengesetzes bestimmtere Richtlinien zu geben, als sie die Reichskanzlerbekanntmachung v o m 5. J u l i 1872 bietet.
Nr. 194. Erklärung des Reichskanzlers v. Bethmann Hollweg, betreffend den bayerischen Jesuitenerlaß v o m 26. A p r i l 1912 (Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 284, 1912, S. 1439 f.) Meine Herren, das Reichsgesetz v o m 4. J u l i 1872 schließt durch § 1 den Orden der Gesellschaft Jesu u n d die i h m verwandten Orden und ordensähnlichen Kongregationen v o n dem Gebiete des Deutschen Reichs aus u n d untersagt die Errichtung v o n Niederlassungen derselben. A u f G r u n d des § 3 des Gesetzes, der bestimmt, daß die zur Ausführung u n d Sicherstellung des Vollzugs des Gesetzes erforderlichen Anordnungen v o m Bundesrat erlassen werden, hat der Bundesrat, w i e bekannt, ausweislich der Bekanntmachung des Reichskanzlers v o m 5. J u l i 1872 beschlossen: „daß, da der Orden der Gesellschaft Jesu v o m Deutschen Reich ausgeschlossen ist, den Angehörigen dieses Ordens die Ausübung einer Ordenstätigkeit, insbesondere i n Kirche u n d Schule, sowie die A b h a l t u n g von Missionen nicht zu gestatten ist". I m Bundesratsprotokoll über diesen Beschluß ist folgender Satz eingefügt worden : „Der erfolgte Beschluß w u r d e m i t dem selbstverständlichen Vorbehalte gefaßt, daß ergänzende u n d abändernde Anordnungen getroffen werden, w e n n i m Laufe der Zeit auf G r u n d der bei Ausführung des Gesetzes gemachten Erfahrungen sich die Notwendigkeit des Erlasses weiterer Bestimmungen herausstellen sollte." Eine bestimmte Definition des Begriffes „Ordenstätigkeit" w a r hiernach v o m Bundesrat nicht gegeben worden. Trotzdem ist die Auslegung dieses Begriffs bis i n die neueste Zeit i n sämtlichen Bundesstaaten i m wesentlichen eine gleiche gewesen. Danach hat m a n jede A r t der seelsorgerischen T ä t i g keit, jede A r t v o n priesterlichen Funktionen als A k t e der Ordenstätigkeit betrachtet u n d n u r das Lesen sogenannter Primizmessen als zulässig angesehen, soweit sie den Charakter einer Familienfeier tragen. Weiter hat man auch das Lesen stiller Messen sowie das Spenden der Sterbesakramente ge-
I I . Bayern und das Jesuitengesetz (1911 - 1912)
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stattet, soweit nicht landesgesetzliche Vorschriften entgegenstanden. Auch sogenannte Konferenzvorträge religiösen u n d sozialen Inhalts sind unter gewissen Voraussetzungen tatsächlich zugelassen oder geduldet worden, sofern sie i n profanen Räumen stattfanden. Z u einer hiervon abweichenden Auslegung des Begriffes „Ordenstätigkeit" ist bekanntlich neuerdings die königlich bayerische Regierung gekommen, welche unter dem 11. März d. J. angeordnet hat, daß zu der verbotenen Ordenstätigkeit i n Z u k u n f t nicht gerechnet werden sollen die sogenannten Konferenzvorträge, auch w e n n sie i n kirchlichen Räumen stattfinden u n d m i t ihnen die Gelegenheit z u m Empfang der Sakramente verbunden ist, sowie solche priesterlichen Handlungen, die zum Zwecke vorübergehender Aushilfe i n der Seelsorge i n Abhängigkeit v o m zuständigen Pfarramte vorgenommen werden. Meine Herren, eine so verschiedene Auslegung u n d A n w e n d u n g eines Reichsgesetzes ist selbstverständlich nicht angängig. Ich habe infolgedessen, als m i r diese Anordnungen der Königlichen Bayerischen Regierung zunächst durch die Presse bekannt wurden, sogleich an die K g l . Bayerische Regierung das amtliche Ersuchen gerichtet, m i r den W o r t l a u t der i n der Presse als geh e i m bezeichneten Anordnungen mitzuteilen. Die K g l . Bayerische Regierung ist diesem Ersuchen nachgekommen u n d hat mich u n m i t t e l b a r darauf wissen lassen, daß sie beabsichtige, beim Bundesrat einen A n t r a g auf Definition der verbotenen Ordenstätigkeit zu stellen. Die K g l . Bayerische Regierung hat diesen Entschluß danach sofort ausgeführt; dem Bundesrat liegt ein bayerischer A n t r a g vor, den Begriff der verbotenen Ordenstätigkeit authentisch zu interpretieren. Dafür, daß bis zum Ergehen dieses Bundesratsbeschlusses auch i n Bayern die Anwendung, die Handhabung des Gesetzes auf G r u n d der bisher i m ganzen Deutschen Reiche bestehenden Ü b u n g weiter erfolgt, hat die Kgl. Bayerische Regierung Vorsorge getroffen. Hieraus, meine Herren, ergibt sich eine absolut einfache u n d klare Sachlage. Bis zum Ergehen des Bundesratsbeschlusses w i r d der § 1 des Jesuitengesetzes i m ganzen Deutschen Reiche auf G r u n d der bestehenden Ü b u n g gleichmäßig angewendet werden; u n d f ü r die Zeit danach w i r d der v o m Bundesrat zu fassende Beschluß die einheitliche Grundlage bilden. Bei dieser Sachlage glaube ich, Diskussionen über die dem Begriff der Ordenstätigkeit oder der verbotenen Ordenstätigkeit zukommende Definition meinerseits den bevorstehenden Bundesratsberatungen vorbehalten zu sollen.
Nr. 195. Eingabe des bayerischen Episkopats an den Bundesrat v o m 16. J u l i 1912 (Archiv f ü r katholisches Kirchenrecht 93, 1913, S. 161 f.) Seit mehreren Monaten liegt dem Bundesrat der A n t r a g der K g l . bayerischen Staatsregierung v o r 1 6 , den Begriff der gemäß der Bekanntmachung des Reichskanzlers v o m 5. J u l i 1872 den Angehörigen der Gesellschaft Jesu verbotenen Ordenstätigkeit authentisch zu interpretieren. Die verbündeten 16
31·
Oben Nr. 193.
484 10. Kap. : Der Fortgang der Auseinandersetzungen u m das Jesuitengesetz Regierungen stehen somit vor dem Erlaß einer Entscheidung, die sehr bedeutsam i n das innere Leben der katholischen Kirche eingreift u n d deren A u s f a l l die nach Lage der Verhältnisse zunächst beteiligten K a t h o l i k e n Bayerns m i t Sorge u n d Spannung entgegensehen. Die unterzeichneten Erzbischöfe u n d Bischöfe des Königreichs Bayern w ü r d e n ihre oberhirtliche Pflicht versäumen, w o l l t e n sie es unterlassen, i n solch ernster Lage ihre Stimmen f ü r die Forderungen des Rechts u n d der Gerechtigkeit zu erheben. Sie fühlen sich gedrängt, der schweren Besorgnis Ausdruck zu geben, m i t der sie u n d ihre Diözesanen eine Regelung des Vollzuges des Jesuitengesetzes erfüllen müßte, die auf Anschauungen zurückgreifen würde, w i e sie zur Zeit der Entstehung des Gesetzes maßgebend waren. Das Reichsgesetz v o m 4. J u l i 1372, den Orden der Gesellschaft Jesu betreffend, ist das einzige i m Deutschen Reich zur Zeit noch bestehende Ausnahmegesetz. Es ist von den deutschen K a t h o l i k e n von jeher als Ungerechtigkeit u n d unverdiente Bedrückung empfunden worden. Daß die Klagen der deutschen K a t h o l i k e n sachlich u n d wohlbegründet sind, zeigt der Hinweis auf die wiederholten Beschlüsse des Reichstags, i n denen eine aus sehr verschiedenartigen Parteien zusammengesetzte Mehrheit sich f ü r die Aufhebung des Jesuitengesetzes ausgesprochen hatte 1 7 . Z u m tiefen Bedauern der K a t h o l i k e n haben die verbündeten Regierungen sich bisher nicht entschließen können, diesen durch wiederholte Mehrheitsbeschlüsse der Vertretung des deutschen Volkes unterstützten Klagen abzuhelfen. Es besteht w o h l kein Zweifel, daß der Deutsche Reichstag bei erneuter Antragstellung auch neuerdings sich m i t großer Mehrheit f ü r die Aufhebung dieses Ausnahmegesetzes beschlußmäßig aussprechen w i r d . Sollten nichtsdestoweniger die verbündeten Regierungen dieses Gesetz aufrecht erhalten u n d den Jesuiten jede Ordensheimat auf deutschem Boden versagen wollen, so bietet der A p p e l l Bayerns an den Bundesrat geeigneten Anlaß, nach einigen Richtungen wenigstens die Schranken zu beseitigen, i n die der Bestand des Jesuitengesetzes die freie E n t w i c k l u n g unseres k a t h o l i schen innerkirchlichen Lebens einengt. Die verbündeten Regierungen sind nunmehr i n der Lage, auf dem Wege der v o n ihnen zu erlassenden authentischen Interpretation des Begriffes der Ordenstätigkeit f ü r den künftigen Vollzug alles auszuscheiden, was katholischerseits als kleinlich, gehässig und ungerecht empfunden werden müßte. Wie sehr verbitternd eine auf den Geist der K u l t u r k a m p f z e i t zurückgreifende Regelung des Vollzugs des Jesuitengesetzes auf das katholische Empfinden w i r k e n müßte, ergibt der Hinblick auf die uneingeschränkte Freiheit, deren sich die Verfechter des U n glaubens und des Umsturzes, deren sich die geschworenen Feinde von A l t a r , T h r o n u n d Eigentum bei Verbreitung ihrer Ideen i n Deutschland erfreuen. Es müßte auf katholische Kreise tiefkränkend u n d verletzend w i r k e n , w e n n sie sehen müßten, daß die ausgezeichneten u n d bewährten Hilfskräfte, die der katholischen Kirche f ü r den K a m p f der Weltanschauungen i n den Reihen des Jesuitenordens zur Verfügung stehen, durch die Rechtsordnung des Reiches von priesterlicher Betätigung ausgeschlossen sein sollen, während jeder Feind des Christentums u n d der Monarchie unter der gleichen Rechtsordnung die Gefühle des Hasses gegen die göttliche und menschliche W e l t 17
Vgl. oben Nr. 140 ff.
I I . Bayern u n d das Jesuitengesetz (1911 - 1912)
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Ordnung i n die Massen tragen kann. W o h l vertraut m i t dem, was an W ü n schen u n d Befürchtungen die Herzen unseres Klerus u n d unserer Diözesanen bewegt, richten w i r daher an den Hohen Bundesrat die ehrerbietige u n d eindringliche Bitte, bei der zu erlassenden authentischen Interpretation des Begriffes der Ordenstätigkeit u n d der damit bedingten Regelung des Vollzugs des Jesuitengesetzes auch dem katholischen Empfinden Rechnung zu tragen und alles auszuscheiden, was, an den Geist der Entstehungszeit des Gesetzes gemahnend, i n den deutschen K a t h o l i k e n das Gefühl ungerechter Bedrückung u n d Einengung ihrer religiösen Bestätigung erwecken müßte. W i r gestatten uns hiebei zu bemerken, daß die v o n der Königlich Bayerischen Staatsregierung i n ihrem Erlasse v o m 11. März 191218 gegebene I n t e r pretation des Begriffes „Ordenstätigkeit" der Hauptsache nach der kirchlichen Auffassung nahe kommt, daß insbesondere als Ordenstätigkeit n u r jene Handlungen gelten können, die der Orden als solcher durch seine M i t glieder k r a f t eigenen Rechtes u n d unter Ausschaltung jeder direkten A n ordnungsbefugnis des Sprengelpfarrers u n d des Diözesanbischofes vornehmen läßt, daß aber nach Aufhebung des Paragraphen 2 des Jesuitengesetzes eine Ausdehnung des Begriffes „Ordenstätigkeit" auf allgemein priesterliche Funktionen, die aushilfsweise nach Anordnung des Ortspfarrers u n d unter völliger Abhängigkeit von demselben vorgenommen werden, keine I n t e r pretation wäre, sondern als eine neue Maßnahme aufgefaßt werden müßte, die auch über den Sinn u n d den Wortlaut des noch zu Recht bestehenden Gesetzesteiles hinausginge. Da nach der bayerischen Interpretation n u r das als erlaubt zu gelten hätte, was tatsächlich seit vielen Jahren vielerorts u n beanstandet v o r den Augen der Behörden geschah, so müßte eine verschärfende Änderung der fraglichen Interpretation sich zugleich gegen diese viel jährige mildere Praxis wenden u n d darum i n ihrer Ausführung von dem katholischen Volke als eine neue K u l t u r k a m p f a k t i o n angesehen werden u n d somit neue aufregende Kämpfe zur Folge haben. Als Bischöfe der katholischen Kirche halten w i r uns aber aufs strengste verpflichtet, die ebenso ehrerbietige als eindringliche Bitte an den Hohen Bundesrat zu richten, die i n der ersten Bundesratsbekanntmachung eigens verbotene A b h a l t u n g von Missionen seitens der Mitglieder der Gesellschaft Jesu k ü n f t i g h i n gestatten zu wollen. Missionen sind nichts anderes, als zusammenhängende Unterweisungen über die ewigen Wahrheiten des Heiles u n d über die religiösen Pflichten der Gläubigen nach den Vorschriften des katholischen Glaubensu n d Sittengesetzes nebst A n l e i t u n g z u m w ü r d i g e n Empfang der heiligen Sakramente u n d zu w a h r e r Besserung des Lebens. Die A b h a l t u n g von Missionen ist eine rein seelsorgliche Tätigkeit und k a n n nicht als Ordenstätigkeit bezeichnet werden. Die Jesuiten hängen bei dieser Tätigkeit nicht von i h r e m Ordensobern, sondern einzig von dem Ortspfarrer bzw. dem Diözesanbischof ab, von letzterem empfangen sie Sendung zur Verkündigung des göttlichen Wortes u n d Vollmacht zur Absolvierung der Poenitenten i m Beichtstuhl. Der Einfluß der Missionen schärft das Gewissen der Gläubigen und k o m m t damit, w i e allgemein bekannt ist, auch der sozialen Ordnung zu18
Oben Nr. 191.
486 10. Kap.: Der Fortgang
er Auseinandersetzungen u m das Jesuitengesetz
gute, w e i l durch die Missionen die Sittlichkeit gehoben u n d gefördert und das Pflichtbewußtsein gegen jede von Gott gesetzte A u t o r i t ä t neu geweckt, gestärkt u n d befestigt w i r d .
Nr. 196. Beschluß des Bundesrats v o m 28. November 1912 (Reichsgesetzblatt, 1912, S. 533) Da Zweifel über die Bedeutung des Begriffes der verbotenen Ordenstätigkeit i m Sinne der Bekanntmachung des Reichskanzlers v o m 5. J u l i 1872 entstanden sind, u n d die K g l . Bayrische Regierung eine authentische Auslegung dieses Begriffes beantragte, hat der Bundesrat beschlossen: „Verbotene Ordenstätigkeit ist jede priesterliche oder sonstige religiöse Tätigkeit gegenüber andern, sowie die Erteilung von Unterricht. Unter die verbotene religiöse Tätigkeit fallen nicht, sofern nicht landesherrliche Bestimmungen entgegenstehen, das Lesen stiller Messen, die i m Rahmen eines Familienfestes sich haltende Primizfeier u n d das Spenden der Sterbsakramente. Nicht untersagt sind wissenschaftliche Vorträge, die das religiöse Gebiet nicht berühren. Die schriftstellerische Tätigkeit w i r d durch das Verbot nicht betroffen."
Nr. 197. Erklärung des Abgeordneten Spahn im Namen der Zentrumsfraktion vor dem Reichstag am 4. Dezember 1912 (Verhandlungen des Reichstags, Bd. 286,1912, S. 2559) — Auszug — . . . Das Gesetz v o m 4. J u l i 1872 betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu enthält einen Angriff gegen die katholische Kirche u n d die staatsbürgerlichen Rechte der K a t h o l i k e n i m Deutschen Reiche. Das klösterliche Leben u n d die Wirksamkeit der Orden liegen i m Wesen der katholischen Kirche. Der Orden der Gesellschaft Jesu, die Kongregationen der Lazaristen u n d SacréCoeur-Schwestern sind von der katholischen Kirche anerkannt. Deshalb ist das Verbot der religiösen Tätigkeit f ü r die Angehörigen dieser Orden eine Beschränkung des Lebens der katholischen Kirche u n d eine Beeinträchtigung der freien Religionsübung der Katholiken, die i m Reiche v o l l - und gleichberechtigt sind. Die gegen die Jesuiten früher u n d jetzt erhobenen V o r w ü r f e der I m m o r a l i tät, der Deutsch- u n d Kulturfeindlichkeit sowie der Störung des religiösen Friedens sind unwahr. Der zur Beurteilung der Jesuiten zuständige deutsche Episkopat hat ihnen w i e 1871 so auch jetzt bezeugt, daß sie sich durch die Unantastbarkeit ihres Lebenswandels u n d ihrer Wissenschaft sowie nicht minder durch ihre eifrige u n d gesegnete Wirksamkeit i n der Hilfsseelsorge auszeichneten.
I I . Bayern und das Jesuitengesetz (1911 - 1912)
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Die Bekanntmachung des Bundesrates v o m 28. November 1912 verletzt durch das Verbot der priesterlichen Tätigkeit der Ordenspersonen die Gewissensfreiheit aller Katholiken, welche die Spendung der Sakramente ihrer Kirche nach ihrer W a h l von denjenigen Priestern empfangen dürfen, denen sie i h r Vertrauen schenken. Der Bundesrat hat die i n den Ausnahmegesetzen gegen den Orden der Gesellschaft Jesu liegenden Eingriffe i n die bürgerliche u n d kirchliche Freiheit verschärft. Unter diesen Umständen können w i r zu Reichskanzler u n d Bundesrat das Vertrauen nicht haben, daß die Bedürfnisse der K a t h o l i k e n i m Deutschen Reiche bei ihnen eine gerechte Behandlung finden; w i r werden unser Verhalten dementsprechend einrichten.
Nr. 198. Rede des Reichskanzlers v. Bethmann Hollweg im Reichstag a m 4. Dezember 1912 (Verhandlungen des Reichstags, Bd. 286,1912, S. 2560 f.) — Auszug — Der H e r r Abgeordnete Dr. Spahn hat v o n der tiefen Erregung gesprochen, i n die das katholische V o l k durch den letzten Bundesratsbeschluß versetzt worden sei. Gewiß greifen Streitigkeiten, die das religiöse Gebiet berühren, uns Deutsche viel tiefer an das Leben als andere Nationen. Seit J a h r h u n derten sind solche Streitigkeiten ein verhängnisvolles u n d vielfach blutiges K a p i t e l der deutschen Geschichte gewesen. Das vergißt ein V o l k von so tiefer religiöser Stimmung, w i e das deutsche, nicht. D a r u m gehen die Wogen der Erregung heute wieder hoch — aber auf beiden Seiten; denn den zahlreichen Stimmen aus katholischen Kreisen, welche die Zurückberufung der Jesuiten verlangen, stehen zum mindesten ebenso zahlreiche Äußerungen v o n evangelischer Seite gegenüber, welche der ernsten Besorgnis vor der Z u r ü c k berufung des Ordens Ausdruck geben. Ich halte es f ü r notwendig, daß w i r bei einer Beurteilung dessen, was geschehen ist, uns v o n der Erregung der Gemüter möglichst f r e i halten. . . . Der bayerische Ministerialerlaß . . . w a r es, der mich u n d danach den B u n desrat genötigt hat, uns neuerdings m i t der Ausführung des Jesuitengesetzes zu befassen. Ich muß dies gegenüber den erregten K l a g e n i n katholischen Kreisen ausdrücklich v o r dem Lande feststellen. B e i uns hat die I n i t i a t i v e nicht gelegen. A b e r indem ich dies feststelle, w i l l ich mich i n keiner Weise m i t den V o r w ü r f e n identifizieren, die i n der Öffentlichkeit gegen die bayerische Regierung u n d v o r allem gegen den bayerischen H e r r n Ministerpräsidenten erhoben worden sind, als hätten sie sich gegen das Reich auflehnen wollen. Die A r t u n d Weise, w i e B a y e r n die Angelegenheit v o r das F o r u m des Bundesrats gebracht hat, sollte die bayerische Regierung jedes V o r w u r f s einer Beugung des Reichsrechts entheben, auch i n den Augen derjenigen, die nicht w i e ich i n jahrelanger Geschäftstätigkeit erfahren haben, m i t welcher peinlichen Sorgfalt u n d m i t welcher über alle kleinlichen Sonderinteressen erhabenen Bundestreue Bayern zum Reiche steht.
488 10. Kap. : Der Fortgang der Auseinandersetzungen u m das Jesuitengesetz Was hat denn n u n der Bundesrat auf den A n t r a g Bayerns beschlossen? Doch nicht das Jesuitengesetz! Das besteht seit 40 Jahren. Ich w ü r d e die Erregung der katholischen Kreise verstehen, ich w ü r d e selbst gewisse über alles Maß hinausgehende Äußerungen, die w i r i n diesen Tagen i n der katholischen Presse gelesen haben, beinahe begreifen, w e n n w i r jetzt neuerdings den Orden der Gesellschaft Jesu v o m Deutschen Reiche ausgeschlossen h ä t ten. Das ist aber nicht der Fall. Der Bundesratsbeschluß v o m 28. November kodifiziert lediglich die Praxis, nach der ein bestehendes Reichsgesetz ausgeführt worden ist. . . . Die bestehende Praxis oder die bestehende Handhabung des Gesetzes zu ändern, ist nicht Zweck u n d Absicht des jetzigen Bundesratsbeschlusses. F ü r den Bundesrat u n d den Reichskanzler lag keinerlei Anlaß vor, einen Gegenstand materiell neu zu ordnen, m i t dem er ohne das Vorgehen Bayerns, ohne seinen A n t r a g an den Bundesrat keine Veranlassung gehabt hätte sich überhaupt zu beschäftigen. Das ist der Hergang gewesen, u n d diesen Hergang sollte man sich bei einer K r i t i k des Bundesratsbeschlusses auf allen Seiten gegenwärtig halten. Das ist zu meinem Bedauern i n der E r k l ä r u n g nicht geschehen, die der Herr Abgeordnete Dr. Spahn am Schlüsse seiner Rede verlesen h a t 1 9 . W e n n Sie meine Herren v o m Zentrum, aus der Behandlung der Jesuitenfrage durch den Bundesrat, die, w i e ich wiederhole, eine Neuerung nicht gebracht hat, den Schluß ziehen — so lautet I h r e E r k l ä r u n g —, daß die Bedürfnisse der katholischen Bevölkerung überhaupt keine gerechte Behandlung mehr finden würden, w e n n Sie i n dieser Beziehung, w i e Sie es tun, dem Bundesrat u n d m i r das Vertrauen kündigen, u n d w e n n Sie I h r Verhalten als politische Partei entsprechend einrichten wollen, — ja, meine Herren, was heißt das anders, als daß Sie die Jesuitenfrage zum Eckstein Ihres politischen Programms machen wollen? Meine Herren, daß Sie als Glieder I h r e r Kirche die Beseitigung des Jesuitengesetzes herbeisehnen — w e r wollte I h n e n das verdenken? Aber neben den 24 M i l l i o n e n Katholischen leben 40 M i l l i o n e n Evangelische i n Deutschland; beide Söhne eines Volkes u n d i n allen Schickungen des nationalen Lebens auf Gedeih u n d Verderb zusammengeschmiedet. Eine geschichtliche Tatsache ist es, daß sich das evangelische Volksempfinden v o n jeher gegen die Tätigkeit der Jesuiten heftig gekehrt hat. Diese Tatsache können Sie weder durch Gründe noch durch D i a l e k t i k wegleugnen. Sie können i n dieser Tatsache auch nicht ein Phantom oder eine Idiosynkrasie der Evangelischen erblicken. Die streitbare Tätigkeit, die die Jesuiten i n der Vergangenheit auf allen Gebieten, i n Kirche, i n P o l i t i k , i n Schule entfaltet haben, i h r i n t e r nationaler Charakter, i h r Widerstreben gegen die E n t w i c k l u n g des modernen Staatsgedankens haben den Orden wiederholt nicht n u r m i t den Protestanten, sondern auch i n r e i n katholischen L ä n d e r n m i t den Staatsregierungen, ja m i t der Kirche selbst i n Widerspruch gesetzt. Ich brauche I h n e n nicht die Geschichte zu rekapitulieren. Können Sie sich da wundern, w e n n i n evan19
Oben Nr. 197.
I I I . Der Reichstag u n d das Jesuitengesetz (1912 - 1913)
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gelischen Kreisen bei der Frage der Zulassung oder der Nichtzulassung der Jesuiten vielleicht unbewußt, aber doch immer wieder die Erinnerung an die Zeiten nachzittert, i n denen fanatischer Glaubenshaß unser Vaterland zerriß? Möge uns das Geschick v o r der Wiederkehr v o n Zuständen bewahren, i n denen u m des Glaubens w i l l e n die Glieder des Volkes einander entfremdet wurden! Deshalb — u n d damit lassen Sie mich schließen —, muß ich meine w a r nende Stimme erheben, w e n n jetzt dem katholischen Volke der Bundesratsbeschluß als die Wiedereröffnung des K u l t u r k a m p f e s dargestellt w i r d . Die das tun, laden eine schwere u n d verhängnisvolle V e r a n t w o r t u n g auf sich, eine Verantwortung, die sie weder m i t dem I n h a l t des Bundesratsbeschlusses noch m i t dem Hergang, der zu seiner Fassung geführt hat, vertreten können.
I I I . Der Reichstag und das Jesuitengesetz (1912—1913) Nach den Neuwahlen zum Reichstag vom Januar 1912 brachte die Zentrumsfraktion im Reichstag schon am 14. Februar 1912 einen erneuten Antrag auf die vollständige Aufhebung des Jesuitengesetzes ein 1. Alle drei Lesungen dieses Gesetzentwurfs fanden erst am 19. Februar 1913 statt 2. Der Zentrumsabgeordnete Spahn begründete den Antrag seiner Fraktion (Nr. 199). Das Zentrum und die Sozialdemokraten, ebenso auch die elsaß-lothringischen und polnischen Abgeordneten sprachen sich für, die Nationalliberalen und die Konservativen gegen die Aufhebung des Jesuitengesetzes aus; die Auffassungen in der Fortschrittlichen Volkspartei waren geteilt. Umstritten war insbesondere, ob im Jesuitengesetz ein prinzipiell unzulässiges Ausnahmegesetz zu sehen sei; umstritten war ferner, ob für den Fall der Aufhebung des Jesuitengesetzes die alten landesrechtlichen Bestimmungen, die das Reichsgesetz von 1872 außer Geltung gesetzt hatte, wieder in Kraft träten. Der Reichstag stimmte dem Gesetzentwurf des Zentrums mit deutlicher Mehrheit zu 3. Der Bundesrat aber verzögerte die Behandlung des ihm vorliegenden Reichstagsbeschlusses mehr als vier Jahre lang, so daß das Aufhebungsgesetz nicht in Kraft treten konnte
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Verh. d. Reichstags, Bd. 298, Drucksache Nr. 86. Ebenda, Bd. 288, 1913, S. 3907 ff.; vgl. B. Duhr, Das Jesuitengesetz, sein Abbau u n d seine Aufhebung (1919), S. 101 ff. 3 Der W o r t l a u t des Reichstagsbeschlusses v o m 19. Februar 1913 w a r identisch m i t dem A n t r a g Windthorst v o m 3. Dezember 1890 (oben Nr. 140) w i e m i t dem Gesetz zur Aufhebung des Jesuitengesetzes v o m 19. A p r i l 1917 (unten Nr. 205). 4 Über die Z u s t i m m u n g des Bundesrats zur Aufhebung des Jesuitengesetzes 1917 siehe unten S. 502. 2
490 10. Kap.: Der Fortgang cler Auseinandersetzungen u m das Jesuitengesetz
Nr. 199. Rede des Abgeordneten Spahn zur Begründung des Antrags auf Aufhebung des Jesuitengesetzes v o m 19. Februar 1913 (Verhandlungen des Deutschen Reichstags, Bd. 288, 1913, S. 3907 ff.) — Auszug — Meine Herren, v i e r m a l hat seit dem Jahre 1882 der Reichstag die A u f hebung des Gesetzes, betreffend den Orden der Gesellschaft Jesu beschlossen. W i r sind, da die Aufhebung nicht erfolgt ist, genötigt gewesen, am 14. Februar 1912 . . . erneut den A n t r a g auf Aufhebung des Gesetzes zu stellen, u m den Reichtag zu veranlassen, einen erneuten Beschluß i n dieser Frage zu fassen. . . . Die Zentrumsfraktion hat — das w i r d i h r zuerkannt werden müssen — i n dieser Frage, die f ü r die K a t h o l i k e n v o n großer Bedeutung u n d die uns allen eine Rechts- u n d Herzensfrage ist, weitgehende Rücksicht auf die Lage des Hauses u n d auf die innerpolitischen Verhältnisse genommen. Hunderte v o n Versammlungen haben i n Resolutionen erkennen lassen, auf welche Geduldsprobe sich die K a t h o l i k e n i m Reiche durch die Aufrechterhaltung dieses Gesetzes gestellt sehen. A b e r das Gesetz hat meines Erachtens große Bedeut u n g nicht n u r f ü r die Katholiken, sondern f ü r die gesamte deutsche Bevölkerung, u n d zwar aus dem Grunde, w e i l die Frage des Fortbestandes dieses Gesetzes ein Prüfstein dafür ist, i n w i e w e i t die Freiheit des einzelnen i m Reich gewahrt u n d geschützt w i r d , u n d i n w i e w e i t das Reich f ü r sich selbst Anspruch erheben darf, ein Rechtsstaat zu sein M i t dem Abbruch des K u l t u r k a m p f s wurde anerkannt, daß alle die Maßregeln, die gegen die katholische Kirche ergriffen worden waren, einschließlich des Jesuitengesetzes, auf falscher Voraussetzung beruht hatten, daß sie i n ihren W i r k u n g e n falsch beurteilt worden waren, daß ein staatliches I n t e r esse f ü r die Aufrechterhaltung derartiger Maßregeln nicht vorhanden war. Ich gebe zu, daß innerkirchliche W i r r e n vorgelegen hatten, aber diese innerkirchlichen W i r r e n hatten f ü r den Staat keine Bedeutung. Der Gesichtspunkt, der bei diesen Gesetzen i n den Vordergrund geschoben worden war, daß man dafür sorgen müsse, daß die Unabhängigkeit des einzelnen gegen geistliche Gewalt gesichert sei, daß f ü r die Parität der verschiedenen Religionsgenossen i n Deutschland vorgesorgt werden müsse, t r a f auf das V e r halten der K a t h o l i k e n nicht zu. W e n n m a n den Zusammenhang der Entsteh u n g dieses Gesetzes m i t dem Vatikanischen K o n z i l festhält, w e n n m a n die Ausführungen unserer eigenen Bischöfe, welche die berufenen Beurteiler dessen sind, was katholische Lehre ist u n d was sie i m Interesse der Pflege der Religion bei den K a t h o l i k e n an K r ä f t e n u n d Anstalten bedürfen, w e n n man sieht, w i e unsere Bischöfe das Jesuitengesetz als einen Eingriff i n die Lehren der katholischen Kirche, i n die Rechte der Bischöfe, i n die Glaubensfreiheit des Einzelnen bezeichnet haben, dann k a n n m a n sich nicht auf den Boden stellen, daß dieses Gesetz k e i n Kampfgesetz gegen die katholische Kirche sei. Ist es aber das, dann, meine ich, läge es unbedingt i m Interesse
I I I . Der Reichstag und das Jesuitengesetz (1912 - 1913)
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des religiösen Friedens, daß, wie andere Kulturkampfgesetze, so auch dieses Gesetz beseitigt werde. Machen Sie sich darüber keine Illusionen: Katholiken, die an sich den Jesuiten gleichgültig gegenübergestanden haben, sind durch die A r t , w i e das Jesuitengesetz gehandhabt worden ist u n d w i r d , den Jesuiten freundlicher gesinnt geworden; sie empfinden diese Behandlung der Jesuiten — nicht bloß dann, w e n n verwandtschaftliche Rücksichten vorliegen, sondern ganz allgemein als K a t h o l i k e n — als eine persönlich verletzende Beleidigung. . . . Soweit eine Paritätsverletzung i n Frage steht, ist es keine v o n K a t h o l i k e n gegen Andersgläubige, sondern eine Paritätsverletzung des Staates gegenüber den Katholiken. Jeder Andersgläubige k a n n seine religiösen Bedürfnisse befriedigen, w i e u n d w o er w i l l . Den K a t h o l i k e n soll untersagt sein, daß sie sie bei den Jesuiten befriedigen. Den K a t h o l i k e n soll untersagt sein, daß sie ihren eigenen religiösen Beruf durch E i n t r i t t i n den Orden der Jesuiten erfüllen, falls sie den Wunsch haben, dabei i n Deutschland zu b l e i ben. A l l e Nichtkatholiken sind, wie i n der A u s w a h l ihres geistigen Beraters, so auch i n der W a h l ihres Berufs frei. Das sind Imparitäten, die nicht von uns ausgehen, sondern umgekehrt uns gegenüber ausgeübt werden. Verletzt werden können die religiösen Überzeugungen der K a t h o l i k e n durch jedermann; sich i n ihnen durch Jesuiten bestärken zu lassen, ist ihnen v e r wehrt. . . .
Elftes
Kapitel
Staat und katholische Kirche i n der Zeit des Ersten Weltkriegs I. Papst Pius X. und der Kriegsausbruch Am 28. Juni 1914 wurde das österreichische Thronfolgerpaar von serbischen Nationalisten in Sarajewo ermordet . Dieser Vorgang verschärfte die in Europa bestehenden Spannungen und führte zu internationalen Verwicklungen, die in den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mündeten. Unmittelbar nach Kriegsausbruch wandte sich Papst Pius X. am 2. August 1914 an alle Katholiken ; er gab dem Wunsch nach einer baldigen Beendigung des Kriegs Ausdruck (Nr. 200) 1.
Nr. 200. Breve Papst Pius X . „Dum Europa fere" v o m 2. August 1914 (Lateinischer T e x t : A c t a Apostolicae Sedis 6, 1914, S. 73; lat. T e x t u n d deutsche Ubersetzung: A. Struker [Hg.], Die Kundgebungen Papst Benedikts X V . zum Weltfrieden, 1917, S. 113 f.) Wo fast ganz Europa i n den Strudel eines überaus unseligen Krieges h i n eintreibt, dessen Gefahren, Niederlagen u n d Endausgang niemand auch n u r flüchtig überdenken kann, ohne v o n Schmerz u n d Entsetzen gepackt zu werden, k a n n es nicht anders sein, als daß auch W i r aufs schmerzlichste getroffen u n d von bitterstem Herzenskummer gedrückt werden, da W i r für Glück u n d Leben so vieler Menschen, so vieler Völker zittern. I n solch furchtbarer allgemeiner W i r r n i s u n d Gefahr empfinden W i r i n tiefster Seele die Forderung Unserer väterlichen Liebe u n d Unseres Apostolischen Amtes, die Herzen aller Christgläubigen m i t aller Eindringlichkeit dahin emporzulenken, „ v o n wo die H i l f e k o m m t " 2 , zu Christus meinen W i r , dem „Fürsten des Friedens" 3 u n d dem mächtigsten „ M i t t l e r zwischen Gott u n d Menschen" 4 . Z u seinem T h r o n der Gnade u n d E r b a r m u n g mögen — so geht Unsere M a h nung — alle K a t h o l i k e n auf der ganzen W e l t herantreten, allen voran der Klerus, dem es zudem obliegt, nach A n o r d n u n g der Bischöfe i n jeder Pfarrei öffentliche Gebete abzuhalten, damit der barmherzige Gott, gleichsam über1 Vgl. Verfassungsgeschichte, B d . V , S. 10 ff.; H. Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte Bd. VI/2, S. 373. 2 Psalm 121,1 f. 3 Jesaja9, 2.6. 4 1. Timotheus 2, 5.
. Die
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w ä l t i g t durch das fromme Flehen, die unheilvolle Kriegsfackel recht bald auslösche u n d i n Gnaden den Staatshäuptern „Gedanken des Friedens u n d nicht des Unglücks zu denken" 5 gebe.
I I . Die Wahl Papst Benedikts XV. Wenige Wochen nach dem Ausbruch des Weltkriegs, am 20. August 1914, starb Pius X. Zu seinem Nachfolger wählte das Kardinalskollegium — ohne einer Einflußnahme von außen ausgesetzt zu sein 1 — den bisherigen Erzbischof von Bologna Giacomo della Chiesa 2. Papst Benedikt XV., der über eine lange kuriale Erfahrung verfügte, nahm seine neuen Aufgaben schnell und zielstrebig in die Hand. Zu seinem Staatssekretär ernannte er den Kardinal Domenico Ferrata 3, der schon am 10. Oktober 1914 verstarb; ihm folgte der Kardinal Pietro Gasparri 4. Benedikt XV. war durch den Krieg vor große politische Herausforderungen gestellt. Zwei Drittel aller Katholiken waren unmittelbar vom Krieg betroffen, 124 Millionen auf der Seite der Entente, 64 Millionen auf der Seite der Mittelmächte. Nicht allein, aber vornehmlich deshalb fühlte der Papst sich verpflichtet, von Anfang an auf einen baldigen Friedensschluß zu drängen. Noch vor seiner Antrittsenzyklika, die er am 1. November 1914 erließ 5, wandte er sich am 8. September 1914 mit einem Mahnruf an alle Katholiken des Erdkreises (Nr. 201). Die direkten politischen Aktionen des Papstes konzentrierten sich in der ersten Zeit des Krieges auf den Versuch, den Kriegseintritt Italiens zu verhindern 6. Im übrigen bemühte Benedikt XV. sich, die politische Neutralität des Heiligen Stuhls zu wahren. Kennzeichnend für diese Haltung ist die Allokution vom 22. Januar 1915 (Nr. 202) 1. 5
Jeremia 29,11. Z u r A n w e n d u n g des ius exclusivae bei der W a h l Pius X. vgl. oben Nr. 107 f. 2 Benedikt XV.: oben S. 315, A n m . 9. 3 Domenico Ferrata (1847 - 1914), 1876 Professor des Kirchenrechts an S. Apollinare i n Rom, 1877 am Kolleg der Propaganda; 1879 A u d i t o r an der N u n t i a t u r i n Paris; 1883 Unterstaatssekretär der Kongregation f ü r die außerordentlichen kirchlichen Angelegenheiten; 1891 Nuntius i n Paris; seit 1896 Präfekt verschiedener päpstlicher Kongregationen; 1913 Präfekt des Heiligen Offiziums; September - Oktober 1914 Kardinalstaatssekretär. 4 Pietro Gasparri (1852- 1934); 1880 Professor f ü r Kirchenrecht am I n s t i t u t catholique i n Paris; 1898 Apostolischer Delegat f ü r Peru, B o l i v i e n u n d Ecuador; 1901 bis 1907 Sekretär der Kongregation f ü r die außerordentlichen k i r c h lichen Angelegenheiten; 1904 m i t der L e i t u n g der Vorarbeiten f ü r den Codex Juris Canonici beauftragt (1907 K a r d i n a l ) ; 1914 - 1930 Kardinalstaatssekretär. 5 T e x t : A c t a Apostolicae Sedis 6 (1914), S. 565 ff.; deutsche Übersetzung: ebenda S. 630 ff.; Abdruck u. a. bei: A. Struker, Die Kundgebungen Papst Benedikts X V . zum Weltfrieden (1917), S. 6 ff. 0 Z u m Kriegseintritt Italiens auf der Seite der A l l i i e r t e n k a m es, entgegen den Bemühungen des Papstes, am 23. M a i 1915. 7 Vgl. K. Repgen, Die Außenpolitik der Päpste i m Zeitalter der Weltkriege, in: II. Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchen geschieh te, Bd. V I I (1979), S. 36 ff. 1
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11. Kap.: Staat und katholische Kirche i n der Zeit des 1. Weltkriegs
Nr. 201. Mahnruf Papst Benedikts X V . an alle Katholiken der Welt v o m 8. September 1914 (Acta Apostolicae Sedis 6, 1914, S. 501 f.; lat. T e x t u n d deutsche Übersetzung: A. Struker [Hg.], Die Kundgebungen Papst Benedikts X V . z u m Weltfrieden, 1917, S. 3 ff.) Alsogleich nach Unserer Erhebung auf den Stuhl des hl. Petrus haben W i r i m Vollbewußtsein Unserer Unzulänglichkeit f ü r ein solch hohes A m t i n tiefster Ehrfurcht die Unerforschlichkeit des Ratschlusses der göttlichen Vorsehung angebetet, die Unsere geringe Person zu einer so erhabenen Stell u n g emporgehoben hat. W e n n W i r , ohne den Erweis entsprechender V e r dienste geführt zu haben, dennoch m i t M u t u n d Vertrauen die V e r w a l t u n g des päpstlichen Amtes übernommen haben, so haben W i r sie eben i m V e r trauen auf Gottes Güte übernommen, i n der festen Überzeugung, daß derselbe, der uns m i t der Würde solche Bürde auf die Schultern gelegt hat, Uns auch zur rechten Zeit K r a f t u n d H i l f e leihen w i r d . — A l s W i r dann v o n dieser Apostolischen Warte aus Unsern Blick über die ganze Unserer Sorge anvertraute Herde des H e r r n schweifen ließen, erfüllte Uns sogleich m i t Entsetzen u n d unaussprechlicher B i t t e r k e i t das furchtbare Schauspiel dieses ganzen Krieges. Sahen W i r doch einen so großen T e i l Europas, m i t Feuer u n d Schwert verwüstet, rot werden von Christenblut. W i r haben j a v o m Guten Hirten, Jesus Christus, dessen Stelle W i r einnehmen i n der L e i t u n g der Kirche, gerade das übernommen, daß W i r alle seine L ä m m e r u n d Schafe, so viele ihrer sind, i n herzlicher Vaterliebe umfassen. Da W i r nun, nach dem Beispiele des H e r r n selber, bereit sein müssen u n d sind, f ü r i h r H e i l auch das Leben zu opfern, sind W i r fest u n d überlegt entschlossen, nach Maßgabe a l l Unseres Vermögens nichts zu versäumen, was das Ende dieser schrecklichen Unglückszeit beschleunigen könnte. F ü r heute aber — noch bevor W i r Uns nach althergebrachter Sitte der römischen Päpste zu Eingang des P o n t i fikats an die Bischöfe m i t einem Rundschreiben wenden — drängt es Uns, das letzte Wort des sterbenden Pius X., Unseres hochehrwürdigen u n d ewig unvergeßlichen Vorgängers, zu wiederholen, jenes Wort, das zu Beginn dieses Kriegsgetümmels oberhirtliche Sorge u n d Liebe zum Menschengeschlechte seiner Brust entpreßte 8 . Während darum W i r selbst, Augen u n d Hände zum H i m m e l erhoben, b i t t e n d vor Gott stehen wollen, b i t t e n u n d beschwören W i r , w i e Unser Vorgänger es so eindringlich getan hat, alle K i n d e r der Kirche, besonders den Klerus, m i t allem Eifer fortzufahren, i n demütigem stillen Gebet u n d i n häufigen öffentlichen Andachten Gott den Lenker u n d H e r r n aller Dinge anzuflehen, daß er eingedenk seiner Barmherzigkeit diese Geißel des Zornes, m i t der er die Sünden der Völker straft, niederlege. Möge — das ist Unser Gebet — unser aller B i t t e n gnädig beistehen die allerseligste Jungfrau u n d Gottesmutter, deren glückverheißende Geburt, die w i r heute i n der Erinnerung feiern, dem seufzenden Menschengeschlechte w i e eine Morgenröte des Friedens leuchtete, da sie jenen gebären sollte, i n dem der ewige Vater „alles versöhnen w o l l t e — indem er Frieden stiftete
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Oben Nr. 200.
. Die
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durch sein B l u t am Kreuze — alles, was auf Erden u n d was i m H i m m e l ist" 9 . Diejenigen aber, die die Geschicke der Völker leiten, bitten u n d beschwör e n W i r , schon die Gedanken darauf zu richten, a l l ihre Streitfragen dem Heile der menschlichen Gesellschaft nachzustellen; zu bedenken, daß dieses sterbliche Leben schon i n sich übergenug an Elend u n d Trauer hat, als daß es noch elender u n d trauriger gestaltet werden sollte; sie mögen es genug sein lassen an dem, was an Ruinen schon geschaffen, was an Menschenblut schon geflossen ist; sie mögen also bald dem Friedensgedanken u n d der A u s söhnung näher treten. Herrlichen L o h n v o n Gott werden sie dann f ü r sich selbst u n d i h r eigenes V o l k erlangen, hohe Verdienste werden sie sich u m die bürgerliche Gemeinschaft der Menschheit erwerben; Uns selbst aber, die W i r gleich i m A n f a n g Unseres Apostolischen Berufes nicht geringe Schwierigkeiten aus dieser großen V e r w i r r u n g aller Verhältnisse Uns erwachsen fühlen, werden sie — des mögen sie versichert sein — nichts Lieberes u n d Erwünschteres t u n können.
Nr. 202. Allokution Papst Benedikts X V . im Konsistorium a m 22. Januar 1915 (Lateinischer T e x t : Acta Apostolicae Sedis 7, 1915, S. 33 ff.; lat. Text u n d deutsche Übersetzung: A. Struker [Hg.], Die Kundgebungen Papst Benedikts X V . zum Weltfrieden, 1917, S. 38 ff.) — Auszug — . . . Monat reiht sich an Monat, ohne daß irgendeine Hoffnung aufleuchtete auf ein baldiges Ende dieses unglücksreichen Kampfes, oder vielmehr dieses Gemetzels. Wenn W i r nicht, w i e W i r möchten, das Ende solch eines Unglücks beschleunigen können, so möchte es Uns doch vergönnt sein, die aus i h m geborenen Leiden zu lindern. W i r haben j a nach dieser Richtung, soviel i n Unserer Macht stand, Uns bemüht; so werden W i r auch, nach Forderung der Lage, i n Z u k u n f t von Unsern Bemühungen nicht ablassen 10 . Schon heute darüber hinaus etwas zu unternehmen, verbietet Uns die gewissenhafte Auffassung Unseres Amtes. Z w a r ist es eine der wichtigsten Aufgaben des Papstes, der ja von Gott als höchster Ausleger u n d Richter des ewigen Gesetzes bestellt ist, zu erklären, daß von niemand u n d niemals aus irgendwelchem Grunde die Gerechtigkeit verletzt werden darf; das erklären W i r auch offen u n d frei u n d verurteilen m i t Schärfe alle Rechtsverletzungen, wo immer sie begangen worden sind. Die päpstliche A u t o r i t ä t aber i n die Streitigkeiten der Kriegführenden selbst hineinziehen zu lassen, wäre freilich weder passend noch zweckmäßig. AVer verständig die Lage Oben S. 707 f. 4 Konservative Korrespondenz Nr. 100 v o m 24.10.1895.
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16. Kap. : Die evangelische Kirche und die soziale Frage
Auch die Auseinandersetzungen um die Umsturzvorlage 5 zogen die evangelischen Landeskirchen in die politischen Kämpfe hinein, zumal mehrere Gruppen von Pfarrern öffentlich gegen die Vorlage der Regierung protestierten. Auch nach dem Scheitern der Umsturzvorlage blieb die Unruhe vor allem unter den jüngeren Theologen bestehen. Zu den Ursachen dieser Unruhe gehörte auch, daß seit 1890 die Zahl der jungen Theologen ständig wuchs, die nach dem Abschluß ihres Studiums zunächst keine Anstellung im kirchlichen Dienst finden konnten. Zur Steuerung dieser Gefahren nahm der preußische Oberkirchenrat zum einen die Reform der Theologenausbildung in Angriff, indem er ein Kirchengesetz anregte, nach dem die jungen Theologen nach dem Abschluß ihres Studiums zunächst ein Lehrvikariat zu absolvieren hatten 6. Zum andern beschloß er, durch einen Erlaß, für den er der Zustimmung des Monarchen gewiß war, die Geistlichen zur Zurückhaltung bei ihren sozialpolitischen Bemühungen anzuhalten und ihnen insbesondere vom Auftreten in sozialpolitischen Versammlungen, zu dem der Erlaß von 1890 sie ausdrücklich aufgefordert hatte, abzuraten. Nach einer vorbereitenden Konferenz mit den Konsistorialpräsidenten und Generalsuperintendenten am 4. und 5. Dezember wurde der Erlaß, der weitgehend von dem Vizepräsidenten des Oberkirchenrats v. d. Goltz formuliert war, am 16. Dezember 1895 veröffentlicht (Nr. 321). Der Dezember-Erlaß erregte vor allem deshalb heftigen Widerspruch, weil er in seinem Inhalt in so deutlichem Widerspruch zu dem Erlaß des Oberkirchenrats von 1890 stand. Für einige Pfarrer, vor allem aus den Reihen der jüngeren Christlich-Sozialen, hatte er alsbald die praktische Folge, daß die zuständige kirchliche Behörde sie wegen der sozialpolitischen „Parteinahme für die Forderungen einer einzelnen Bevölkerungsklasse" aus ihren bisherigen Ämtern entfernte 7. Widerspruch gegen den Erlaß wurde sowohl im Centraiverein für innere Mission als auch in den evangelischen Arbeitervereinen laut. Der EvangelischSoziale Kongreß, den der Erlaß in besonderem Maß betraf, beharrte in seiner Resolution vom 28. Mai 1896 darauf, daß die Geistlichen an der Behebung der sozialen Notstände der Zeit aktiv mitwirken müßten (Nr. 322). Adolf Stoecker benutzte das Forum der preußischen Generalsynode, um seinen Widerspruch gegen den Dezember-Erlaß vorzubringen. Der „staatskirchlichen" Konzeption des Oberkirchenrats, nach der die Geistlichen sich politisch jedenfalls dann zurückzuhalten hatten, wenn ihre Position in Span5
Vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 268 ff. Eingeführt durch das Gesetz v o m 15. August 1898 (unten S. 728, A n m . 9). 7 Sowohl Friedrich Naumann als auch Paul Göhre kamen kirchlichen Maßnahmen zuvor, indem sie f r e i w i l l i g aus ihren Ä m t e r n ausschieden (vgl. oben S. 707 f., Anm. 11, Anm. 13). I m schlesischen Kirchenbezirk wurde der Pfarrer Wittenberg von seinem A m t als Vereinsgeistlicher der Inneren Mission abgelöst. I n der Provinz Sachsen wurde der Pfarrer Werner zur Übernahme einer neuen Tätigkeit gedrängt, da i n seiner mangelnden Auslastung i n einer ländlichen Gemeinde eine besondere Versuchung zu zusätzlicher sozialpolitischer A g i t a t i o n liege; ferner wurde der Pfarrer Kötzschke zunächst versetzt, dann wegen seiner Weigerung, die i h m zugewiesene Pfarrstelle zu übernehmen, amtsenthoben. Vgl. zu diesen „Fällen" K . E. Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment und soziale Frage (1973), S. 237 ff. 6
V I . Die sozialpolitische Wirksamkeit der Pfarrer
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nung oder Widerspruch zum Gang der staatlichen Politik stand, stellte er eine „volkskirchliche" Konzeption entgegen, nach der die Wiedergewinnung der kirchenfremden Massen für die Kirche auch agitatorische Mittel erlaube und jedenfalls eine klare sozialpolitische Stellungnahme der Geistlichen erfordere. Jedoch setzte Stoecker sich mit dieser Auffassung in der Generalsynode nicht durch. In ihrem mit großer Mehrheit gefaßten Beschluß vom 13. Dezember 1897 stimmte sie vielmehr dem Erlaß des Oberkirchenrats uneingeschränkt zu (Nr. 323)8.
Nr. 321. Erlaß des Oberkirchenrats der altpreußischen Landeskirche betreffend die Beteiligung der Pfarrer an der sozialpolitischen Bewegung v o m 16. Dezember 1895 (Kirchliches Gesetz- u n d Verordnungsblatt 1895, S. 192 ff.) Durch die m i t den Herren Konsistorialpräsidenten und Generalsuperintendenten gepflogenen Beratungen über die Beteiligung der Geistlichen unserer Landeskirche an sozialpolitischen Agitationen haben w i r zu unserer Befriedigung die Uberzeugung gewonnen, daß i n der H a l t u n g der weitaus überwiegenden Mehrzahl unserer Geistlichen diejenige Besonnenheit nicht zu vermissen ist, deren Bewahrung die Würde des geistlichen Standes erheischt u n d die f ü r eine gedeihliche Ausübung des Pfarramts und den Frieden der Gemeinde erforderlich ist. Einstimmig ist dabei jedoch zugleich von den Herren Konsistorialpräsidenten und Generalsuperintendenten bezeugt worden, daß auch die Kreise der Geistlichen nicht unberührt geblieben sind von der das öffentliche Interesse beherrschenden sozialpolitischen Reformbewegung auf wirtschaftlichem Gebiet, u n d daß die an einzelnen Stellen vorgekommenen Ausschreitungen einen gewissermaßen symptomatischen Charakter haben. Ebenso einstimmig ist der Befürchtung Ausdruck gegeben, daß i n geistlichen Kreisen die Neigung sich mehre, sich auch über die i n der Zwecksphäre der Kirche liegenden Aufgaben, insbesondere über die i h r befohlene Beteiligung an Werken der christlichen Liebestätigkeit hinaus an sozialen Bestrebungen zu beteiligen, insbesondere auch ihre Tätigkeit unter Hintansetzung ihrer pfarramtlichen Wirksamkeit der Erörterung volkswirtschaftlicher u n d sozialpolitischer Probleme zuzuwenden. Zugleich ist anerkannt, daß durch solche Tätigkeit die Vertrauensstellung der Geistlichen i n ihren Gemeinden gefährdet werden könne; auch ist mehrseitig hervorgehoben, daß durch die hier u n d da überhandnehmende Neigung namentlich jüngerer Geistlicher zu Reisen, u m sich an Versammlungen, Kongressen, Kursen pp. zu beteiligen, nicht allein die Zeit zu gewissenhafter Ausrichtung der seelsorgerlichen u n d sonstigen 8 Z u r Vorgeschichte, zum I n h a l t u n d zu den Nachwirkungen des Erlasses v o m 16. Dezember 1895 vgl. die umfassende Darstellung bei K. E. Pollmann, a. a. O., S. 157 - 273. Die Diskussion über den Erlaß auf der Generalsynode von 1897 ist dokumentiert bei G. Brakelmann, Kirche, soziale Frage u n d Sozialismus, Bd. 1 (1977), S. 193 ff.
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16. Kap.: Die evangelische Kirche u n d die soziale Frage
Amtspflichten geschmälert, sondern auch die innerliche Sammlung gehindert werde. Daraus ergibt sich f ü r die kirchenregimentlichen Organe auf allen Stufen die Pflicht, m i t den ihnen zu Gebote stehenden M i t t e l n den hervortretenden bedenklichen Erscheinungen nachdrücklich entgegenzuwirken. Es ist uns v o n besonderer Wichtigkeit, uns m i t den sämtlichen an den Beratungen beteiligt gewesenen Herren i n dem Urteile zu begegnen, daß die Hauptursache der bedauerlichen Wahrnehmungen zu suchen ist i n der jahrelang fortgeführten, schon bei Studierenden u n d Kandidaten einsetzenden Agitation, welche, begünstigt durch die weite Kreise beherrschende übertriebene Wertschätzung der irdischen Güter, bei manchen Geistlichen dazu geführt hat, i h r Interesse rein wirtschaftlichen, dem pfarramtlichen Berufe fernliegenden Gegenständen zuzuwenden u n d sich i n einem der treuen Berufserfüllung zum Schaden gereichenden Maße am politischen und sozialen Parteileben zu beteiligen. U m den schädlichen Einflüssen derartiger Agitationen entgegenzuwirken, w i r d es vornehmlich v o n Bedeutung sein, daß den Kandidaten w ä h r e n d der auf die Studienzeit folgenden Vorbereitungszeit ausreichende Gelegenheit geboten w i r d , sich an der H a n d erfahrener Leiter und Berater m i t den A u f gaben des geistlichen Amtes i n praktischer A r b e i t vertraut zu machen und sich v o n dem Geiste der Selbstzucht und dienenden Liebe durchdringen zu lassen, welcher sie befähigt, den Gemeinden, zu deren Dienste sie demnächst berufen werden, treue Seelsorger und Führer zu sein. Wie schon bei den stattgehabten gemeinsamen Beratungen mitgeteilt worden, ist die Neuordnung der Vorbereitung f ü r das Pfarramt bereits Gegenstand eingehender Beratungen m i t dem Generalsynodalvorstande gewesen. W i r hoffen, darüber der nächsten Generalsynode eine Vorlage machen zu können 9 . B e i den Schwierigkeiten, welche infolge der mehr u n d mehr sich k o m p l i zierenden Gestaltung der öffentlichen, insonderheit der sozialen Verhältnisse an vielen Orten für die pfarramtliche Tätigkeit sich ergeben, darf es aber auch den i m A m t e befindlichen Geistlichen nicht an sicherer Beratung fehlen. Diese Aufgabe f ä l l t i n erster L i n i e den Herren Generalsuperintendenten u n d Superintendenten zu. M i t den Herren Teilnehmern an der Konferenz erscheint es auch uns unerläßlich, daß die Herren Generalsuperintendenten die Ephoren ihres Bezirks 1 0 von Zeit zu Zeit u m sich versammeln, u m i m gemeinsamen Austausch der Erfahrungen die Richtlinien festzustellen, welche f ü r die H a l t u n g der Geistlichen gegenüber der sozialen Bewegung maßgebend sein müssen. 9 Nämlich durch den E n t w u r f eines Gesetzes betr. Anstellungsfähigkeit u n d V o r b i l d u n g der Geistlichen (Verhandlungen der vierten ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens 1897, 1898, S. 1119 ff.); dazu das auf G r u n d dieser Vorlage beschlossene Gesetz v o m 15. August 1898 (Kirchl. Gesetz- u n d Verordnungsblatt 1898, S. 137). 10 D. h. die Superintendenten.
V I . Die sozialpolitische Wirksamkeit der Pfarrer
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W i r können der i n der Konferenz einmütig ausgesprochenen Ansicht durchaus beipflichten, daß i n einer derartigen i m allgemeinen kirchlichen Interesse längst als notwendig erkannten Einrichtung auch das geeignete M i t t e l zu finden sein w i r d , u m den aus der allgemeinen Lage der öffentlichen Verhältnisse f ü r die Kirche drohenden Gefahren vorzubeugen. Wenn endlich i n der Konferenz dem Wunsche Ausdruck gegeben ist, es möge eine erneute Kundgebung unsererseits erfolgen, welche den Geistlichen i n ihrer A m t s w i r k s a m k e i t als Richtlinie bezüglich ihrer Stellung zu der unruhigen Bewegung des öffentlichen Lebens dienen könne, so entnehmen w i r daraus den Anlaß, auf unseren Erlaß an die Geistlichen und Gemeindekirchenräte vom 20. Februar 187911 und auf unser Rundschreiben an die Geistlichen vom 17. A p r i l 189012 zurückzuverweisen. W i r halten an den dort entwickelten Gesichtspunkten i m allgemeinen fest. N u r insofern bedürfen nach den inmittels gewonnenen Erfahrungen die i m Jahre 1890 erteilten Weisungen einer Einschränkung, als w i r damals die Hoffnung hegen durften, daß eine unmittelbare Beteiligung der Geistlichen an sozialpolitischen Versammlungen, verbunden m i t Rede u n d Gegenrede, dazu beitragen werde, Vorurteile zu zerstreuen und einer friedlichen Fortentwicklung Raum zu schaffen. Die E r fahrung hat gezeigt, daß dieser Erfolg n u r i n seltenen Fällen erreicht ist. Die Geistlichen sind häufig nicht imstande gewesen, einer sich tumultuarisch geltend machenden A g i t a t i o n H e r r zu werden u n d gegenüber der Parteileidenschaft ihre Person, sowie die Würde des geistlichen Amtes vor kompromittierenden Angriffen zu bewahren. Sie haben auch der Versuchung unbesonnener Parteinahme f ü r die Forderungen einer einzelnen Bevölkerungsklasse nicht i m m e r widerstehen können. Den hervorgetretenen irrigen Anschauungen gegenüber k a n n nicht nachdrücklich genug betont werden, daß alle Versuche, die evangelische Kirche zum maßgebend m i t w i r k e n d e n Faktor i n den politischen und sozialen Tagesstreitigkeiten zu machen, die Kirche selbst von dem i h r von dem H e r r n der Kirche gestellten Ziele: Schaffung der Seelen Seligkeit, ablenken müssen. Die E i n w i r k u n g der Kirche auf diese äußerlichen Gebiete k a n n u n d darf niemals eine unmittelbare, sondern n u r eine mittelbare, innerlich befruchtende sein. Aufgabe der Kirche und der einzelnen Diener derselben ist es, durch eindringliche Verkündigung des göttlichen Wortes, durch treue V e r w a l t u n g ihrer Gnadenschätze, durch hingebende Seelsorge an den anvertrauten Seelen, alle Angehörigen der Kirche ohne Unterschied des Standes so m i t dem Geiste christlicher Liebe und Zucht zu erfüllen, daß die Normen des christlichen Sittengesetzes i n Fleisch u n d B l u t des Volkes übergehen und damit die christlichen Tugenden erzeugt werden, welche die Grundlagen unseres Gemeinwesens bilden: Gottesfurcht, Königstreue, Nächstenliebe! Dahin allein muß die A r b e i t der Kirche gerichtet sein. Gott hat sie nicht zur Schiedsrichterin i n weltlichen Sachen gesetzt. 11 12
Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 457. Oben Nr. 306.
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16. Kap.: Die evangelische Kirche u n d die soziale Frage
Jeder Versuch des Geistlichen, maßgebend u n d insbesondere außerhalb seines Amtsbereichs auf die dem kirchlichen Gebiete fremden öffentlichen Angelegenheiten einzuwirken, noch mehr jede Parteinahme f ü r die Forderungen des einen oder anderen Standes, der einen oder anderen Gesellschaftsklasse muß das Ansehen des Geistlichen bei den anderen Gemeindegliedern schädigen, während er zur E r f ü l l u n g seines Berufes das Vertrauen aller Gemeindeglieder bedarf. Gelingt es dem Geistlichen, durch treue, den Einzelnen nachgehende Seelsorge, durch liebevolle B e w a h r u n g der Jugend, sonderlich der konfirmierten Jugend, durch Ausgestaltung einer alle Hilfsbedürftigen umfassenden Gemeindepflege, unter Umständen auch durch Pflege einer die verschiedenen Kreise der Gemeinde verbindenden edlen Geselligkeit bei den begüterten Klassen den Gewissen einzuprägen, daß Reichtum, B i l d u n g u n d Ansehen n u r anvertraute Güter sind, welche sie zum Besten ihrer Mitmenschen zu verw a l t e n haben, die unter dem Druck des Lebens stehenden Klassen aber zu überzeugen, daß W o h l f a h r t u n d Zufriedenheit auf gläubiger Einfügung i n Gottes Weltordnung u n d Weltregierung, auf tüchtiger ehrlicher A r b e i t u n d Sparsamkeit, sowie auf gewissenhafter Fürsorge f ü r das heranwachsende Geschlecht beruhen, daß dagegen Neid u n d Gelüste nach des Nächsten Gut dem göttlichen Gebot zuwider sind, so tragen dieselben v i e l zur Hebung der sozialen Notstände u n d zur Wiederherstellung des Vertrauens zwischen Reichen u n d A r m e n bei. Aus dem Umstände, daß die vorstehend entwickelte Auffassung über die Aufgabe der Kirche gegenüber den sozialen Zeitströmungen v o n allen T e i l nehmern der Konferenz geteilt w i r d , entnehmen w i r die Hoffnung, daß sie nicht allein bei allen übrigen kirchenregimentlichen Organen Zustimmung, sondern auch i n kirchlichen Kreisen, bei Geistlichen w i e bei Laien, W i d e r h a l l finden w i r d . Hiernach glauben w i r uns auch der E r w a r t u n g hingeben zu dürfen, daß Ausschreitungen, durch welche das kirchliche Leben u n d der Frieden der Gemeinden gestört werden können, fortan nicht zu beklagen sein werden u n d den kirchlichen Behörden die Notwendigkeit erspart bleibt, von den M i t t e l n der Disziplin Gebrauch zu machen. Gott der H e r r aber, dessen gnädiger F ü h r u n g w i r auch i n der gegenwärtigen ernsten Zeit unsere teure evangelische Kirche befehlen, wolle alle i m Kirchenregiment u n d i n der Gemeinde zu seinem Dienst Berufenen erleuchten, daß sie i n der K r a f t seines Geistes ausrichten, was i h m gefällig ist.
Nr. 322. Resolution des Evangelisch-Sozialen Kongresses v o m 28. M a i 1896 (Bericht über die Verhandlungen des Siebenten Evangelisch-sozialen Kongresses, 1896, S. 70) 1. Der Evangelisch-soziale Kongreß weiß sich m i t beiden Referenten 1 3 darin einig u n d tief davon durchdrungen, daß die evangelische Kirche eine, das Volksgewissen bestimmende, geistig führende Stellung i n deutschen L a n -
VI. Die sozialpolitische W i r k s a m k e i t der Pfarrer
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den n u r behaupten u n d einen sozial versöhnenden Einfluß n u r ausüben kann, w e n n ihre Diener u n d Zugehörigen die treibenden K r ä f t e der Zeit verstehen, den Gründen gesellschaftlicher u n d sittlicher Schäden nachgehen u n d an deren Überwindung nach dem Maße der ihnen daraus erwachsenden Aufgaben m i t w i r k e n . I n diesem Sinne gelobt der Kongreß einmütig, das i n großer Zeit weise begonnene Werk sozialer Reform gewissenhaft zu unterstützen, u n d hingebend zu fördern zu des Vaterlandes H e i l u n d christlichen Standes Besserung. 2. Der Evangelisch-soziale Kongreß richtet an die evangelischen Kirchenbehörden die ehrfurchtsvolle u n d herzliche Bitte, den evangelischen Geistlichen die aus diesen Grundsätzen sich ergebenden Rechte u n d Freiheiten u m des Gewissens w i l l e n zu gewähren u n d zu schützen.
Nr. 323. Beschluß der preußischen Generalsynode zur Beteiligung der Geistlichen an der sozialpolitischen Bewegung v o m 13. Dezember 1897 (Verhandlungen der vierten ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens 1897,1898, S. 649 f.) Synode schließt sich der M a h n u n g des Evangelischen Oberkirchenrats an 1 1 , daß gegenüber den die Gegenwart erfüllenden sozialen u n d wirtschaftlichen Bestrebungen jede i n diese eingreifende Thätigkeit der Diener u n d Organe der Kirche ihre unverrückbare Schranke u n d Richtschnur i n dem Berufe findet, der Seelen Seligkeit zu schaffen u n d demgemäß die Bethätigung des lebendigen Glaubens an das Evangelium i n der Gemeinde zu fördern, die i n diesem Glauben Wankenden zu stärken, die v o n i h m Abgefallenen wieder zu gewinnen. Sie verkennt nicht die staatsbürgerliche Befugnis der Geistlichen, sich an den wirtschaftlichen u n d sozialpolitischen Bestrebungen i m öffentlichen L e ben zu beteiligen, betont aber m i t Nachdruck die Pflicht derselben, dabei stets u n d an erster Stelle die Rücksicht auf i h r A m t u n d das zu dessen Führung erforderliche Vertrauen der Gemeinde maßgebend sein zu lassen, u n d erklärt es insbesondere f ü r geboten, daß sich die Geistlichen v o n einer m i t der Würde u n d den Pflichten ihres Amtes nicht zu vereinbarenden agitatorischen T h ä t i g keit, wie sie der Erlaß v o m 16. Dezember 1895 i m Auge hat, fern halten 1 5 . 13 Die Referenten Prof. Hermann v. Soden (Berlin) u n d Stadtpfarrer Heinrich Planck (Esslingen) hatten das Thema behandelt: „Die soziale W i r k s a m keit der i m A m t stehenden Geistlichen, i h r Recht u n d ihre Grenzen" (a. a. O., S. 15 ff.). 14 Vgl. den Erlaß v o m 16. Dezember 1895 (oben Nr. 321). 15 Der Synodale Martin Nathusius (oben S. 706, A n m . 4) stellte einen Zusatzantrag folgenden Inhalts: „Sie verkennt ebenso w e n i g die vielfachen durch den seelsorgerischen Beruf gegebenen Anlässe zu sozialer W i r k s a m k e i t u n d hofft, daß die unter großer Treue i n dieser Beziehung bisher geleistete A r b e i t vieler Geistlichen auch ferner zu reichem Segen f ü r das Volksleben geübt werden w i r d . " Diesen Zusatzantrag lehnte die Synode ab.
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16. Kap. : Die evangelische Kirche u n d die soziale Frage
V I I . Die preußische Generalsynode und die soziale Frage 1903 Der Erlaß des preußischen Oberkirchenrats vom 16. Dezember 1895 hatte aufs Ganze gesehen den gewünschten Erfolg. Die in der Landeskirche aufgebrochenen Spannungen gingen zurück; auch die Angriffe, denen die sozialpolitisch engagierten Geistlichen aus großindustriellen und großagrarischen Kreisen ausgesetzt waren, nahmen ab. Der Einfluß Adolf Stoeckers ließ nach; Friedrich Naumann verließ das kirchliche Wirkungsfeld; der 1896 gegründete „National-soziale Verein" verfolgte die Naumannschen Ziele auf parteipolitischer Ebene weiter. Diese Entwicklungen veranlaßten den Oberkirchenrat und die Generalsynode, die einschränkenden Bestimmungen des DezemberErlasses im Jahre 1903 zu lockern 1. Der Beschluß der Generalsynode vom 3. November 1903 (Nr. 324) bekannte sich zu der Notwendigkeit, die Seelsorge in den industriellen Ballungsgebieten durch die zusätzliche Einstellung von Ηilfsgeistlichen und Gemeindehelfern zu verstärken; zu diesem Zweck wurde die der Landeskirche zufließende Kirchensteuer erhöht 2. Während der Erlaß von 1895 die Teilnahme der Geistlichen an Kursen und Kongressen zu sozialpolitischen Fragen ausdrücklich kritisiert hatte, entschloß die Landeskirche sich, derartige Kurse nun selber zu planen und durchzuführen 3. Die Ansprache der Generalsynode an die Gemeinden hob die volksmissionarischen Absichten hervor, von denen die neuen Maßnahmen bestimmt waren (Nr. 325).
Nr. 324. Beschluß der preußischen Generalsynode zur sozialen Frage v o m 3. November 1903 (Verhandlungen der fünften ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens 1903, 1904, S. 855 f.) — Auszug — I m Hinblick auf den weit verbreiteten A b f a l l von Christentum und Kirche, wie er i n dem gewaltigen Anwachsen der dem Christentum feindlichen Volkskreise i n die Erscheinung t r i t t , erkennt es die Generalsynode als eine gebieterische Pflicht der Kirche, den daraus erwachsenden schweren Gefahren m i t allen i h r zu Gebote stehenden M i t t e l n entgegenzutreten. Insbesondere hält sie für diesen Zweck erforderlich: 1. die Verstärkung der seelsorgerischen K r ä f t e i n den Großstädten u n d i n den Industriebezirken; 1 Κ . E. Pollmann, Landesherrliches Kirchenregiment u n d soziale Frage (1973), S. 286 ff.; G. Brakelmann, Kirche, soziale Frage und Sozialismus (1977), S. 216 ff. 2 Gesetz betreffend die Verstärkung des Hilfsfonds f ü r landeskirchliche Zwecke v o m 24. A p r i l 1904 (Kirchl. GVB1. 1904, S. 15). 3 Solche „Landeskirchlichen Instruktionskurse zur Einführung i n die K e n n t nis und das Verständnis der sozialen Aufgaben u n d des Anteils der Kirche an ihrer Lösung" fanden i n der Folgezeit 1906, 1909 u n d 1911 statt.
V I I . Die preußische Generalsynode und die soziale Frage 1903
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2. die Förderung der Stadtmissionen, sowie Bestellung anderweiter Helfer f ü r die Geistlichen an den besonders bedrohten P u n k t e n zur Unterstützung der seelsorgerischen Tätigkeit; 3. die Organisation v o n volkstümlichen Wandervorträgen i n evangelischkirchlichem Sinne durch besonders hierzu befähigte u n d vorgebildete Männer geistlichen und weltlichen Standes; 4. die Förderung von Einrichtungen, welche die Geistlichen u n d diejenigen, die sich auf das geistliche A m t vorbereiten, i n die Kenntnis u n d das V e r ständnis der sozialen Aufgaben u n d des Anteils der Kirche an ihrer Lösung einführen; 5. eine erweiterte Tätigkeit auf dem Gebiete des evangelischen Preßwesens, der Kolportageliteratur und der Volksbibliotheken; 6. die Förderung der auf evangelisch-christlicher Grundlage ruhenden sozialen Vereine behufs der A b w e h r grundstürzender Bestrebungen u n d zum Aufbau christlichen u n d monarchischen Volkstums. Unter Festhaltung derjenigen Grundsätze, welche i n bezug auf die sozialpolitische Tätigkeit der Geistlichen i n dem Erlasse des Evangelischen Oberkirchenrats v o m 16. Dezember 1895 niedergelegt 4 u n d von der vierten ordentlichen Generalsnode gebilligt 5 worden sind, richtet die Generalsynode an den Evangelischen Oberkirchenrat das Ersuchen, seinen Einfluß dahin geltend zu machen, daß die vorstehend bezeichneten Maßnahmen soweit als irgend möglich zur Durchführung gelangen, indem sie zugleich der zuversichtlichen E r w a r t u n g Ausdruck gibt, daß alle auf den i n Frage kommenden Gebieten tätigen Vereine u n d anderweitigen Organisationen an der Lösung der großen Aufgabe m i t aller K r a f t m i t w i r k e n werden 0 . . . .
Nr. 325. Ansprache der preußischen Generalsynode an die Gemeinden zur sozialen Frage v o m 3. November 1903 (Verhandlungen der fünften ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens 1903, 1904, S. 909 if.) W i r danken Gott dem Herrn, daß er unserer evangelischen Landeskirche, deren Wohl zu beraten unsere Aufgabe ist, seine Gnade erhalten u n d allen, die an i h n glauben, die Güter seines Reiches, Glaubenskraft i m K a m p f m i t der Sünde, Liebeskraft i m Verkehr m i t den Mitmenschen u n d Frieden des Herzens i n Not u n d Tod dargereicht hat. Es bekümmert uns aber tief, daß so viele unter uns an diesen Glaubensgütern der Kirche irre geworden sind, sie nicht mehr zu bedürfen glauben u n d sich deshalb v o m Gottesdienst, v o m kirchlichen Leben fern halten. W i r können es ganz verstehen, w e n n i n u n 4
Oben Nr. 321. Oben Nr. 323. 6 Z u r Beschlußfassung über diesen T e x t vgl. Verhandlungen der fünften ordentlichen Generalsynode, a. a. O. S. 908 f., 911. 5
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16. Kap.: Die evangelische Kirche u n d die soziale Frage
serer Zeit alle i n allen Ständen danach streben, ihre irdische Lage zu verbessern, ihre Gaben und K r ä f t e zu entwickeln, ihre Rechte und Freiheiten zu vergrößern, w e n n sie sich zusammenschließen, u m vereint zu erreichen, was der einzelne allein nicht zu erreichen vermag. A b e r w i r zittern u m die Z u k u n f t unseres Volkes, w e n n es sich verführen läßt, über den irdischen Glücksgütern jene Glaubensgüter, über dieser Welt u n d Zeit die Welt der Ewigkeit zu vergessen und i m Gehorsam gegen die irdischen Ordnungen Gottes, i n der Treue gegen den K ö n i g u n d das Vaterland wankend zu w e r den. Teure Mitchristen, wenn die Sünde, die i n allerlei Begierde u n d Leidenschaft i n uns lebt, nicht i m Glauben an Gottes Gnade bekämpft u n d überwunden w i r d , dann überwindet sie uns u n d f ü h r t uns ins Verderben. Wenn unsere K i n d e r nicht mehr i n diesem Glauben u n d zu diesem K a m p f erzogen werden, dann haben w i r es zu verantworten, daß auch sie keinen Abscheu von der Sünde, keinen Heiland, keinen Vater i m H i m m e l haben. Wenn unsere Herzen der Liebe Gottes sich nicht mehr getrösten, dann schwindet die Liebe, Treue, Frieden i n unseren Häusern, unseren Familien. D a n n ist i n K r a n k heit und Not kein Trost und i n der Sterbestunde keine Hoffnung. Liebe Mitchristen! W i r wenden uns an euch alle m i t der herzlichen Bitte: haltet fest an dem Glauben der Väter, an der Kirche, f ü r die sie i h r Gut u n d B l u t opferten, an Gottes Wort u n d Sakrament, das Tausenden u n d Abertausenden Kraft, Frieden, Hoffnung gebracht hat. W i r wenden uns i n der Not der Zeit insbesondere an euch Arbeiter und mahnen euch: laßt euch i m Ringen nach Erhebung eures Standes nicht verführen, den Gehorsam gegen Gottes Wort, den Glauben an Gottes Verheißungen preiszugeben und damit am Umsturz der ewigen Grundlagen alles Glücks i n Zeit u n d Ewigkeit mitarbeiten! W i r wenden uns an euch A r b e i t geber und bitten euch: vergeßt über den Rechten, die euch Gott gegeben, die heiligen Pflichten gegen eure Mitmenschen, insbesondere gegen eure Arbeiter nicht u n d bedenkt, daß i h r einst Gott f ü r den Gebrauch euerer Rechte, für die Erfüllung euerer Pflichten Verantwortung schuldet. W i r wenden uns an euch alle, liebe evangelische Mitchristen, u n d rufen euch zu: haltet fest an dem, was der Inbegriff aller Ordnung Gottes auf Erden ist: du sollst Gott deinen H e r r n lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt! und du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst 7 !
7
Matthäus 22, 37 - 39.
Siebzehntes Kapitel
Evangelische Lehrkonflikle am Vorabend des Ersten Weltkriegs I. Das Lehrbeanetandungsrecht in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union Das Recht der altpreußischen Kirche kannte — wie auch das der übrigen deutschen evangelischen Landeskirchen — zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch kein eigenständiges LehrbeanstandungsverfahrenKirchliche Lehrkonflikte wurden im Rahmen des kirchlichen Disziplinarrechts behandelt, das durch das Disziplinargesetz vom 16. Juli 1886 geregelt war 2. Daß die disziplinarrechtliche Ahndung von Lehrverstößen ein in der Sache unangemessenes Verfahren war, wurde offensichtlich, als sich um die Jahrhundertwende die Auseinandersetzungen um die rechte Lehre und Verkündigung in den evangelischen Kirchen mehrten. Auf den Apostolikums streit* folgte der Streit um den Monismus, als dessen Wortführer neben dem Naturwissenschaftler Haekkel 4 der Bremer Pastor Kalthoff 5 auftrat; im Rahmen der theologischen Bibelkritik schloß sich die Kontroverse um die geschichtliche Existenz Jesu an, in der vor allem der Philosoph Dreioshervortrat. In dieser Lage griff die 1 Dazu E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 854; A. Stein, Probleme evangelischer Lehrbeanstandung (1967), S. 43 ff.; D. Keller, V e r a n t w o r tung der Kirche f ü r rechte Verkündigung. E i n Vergleich dreier Lehrzuchtordnungen (1972), S. 5 ff.; W. Huber, Die Schwierigkeit evangelischer L e h r beanstandung (Evangelische Theologie, 40, 1980, S. 517 ff.). 2 Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 458. 3 Oben S. 658 ff. 4 Ernst Haeckel (1834 - 1919), Zoologe u n d Naturphilosoph; 1852 - 56 Studium i n Würzburg u n d B e r l i n ; dann Forschungsreisen zu Studien über das Plankton; 1862- 1908 Professor der Zoologie i n Jena. Neben seinen grundlegenden Arbeiten über die Parallelität von Ontogenese u n d Phylogenese sowie über die Deszendenztheorie traten Bekenntnisbücher, von denen die Schrift „Die Welträtsel" (1899) am bekanntesten wurde. V o r allem dies Buch gab den A n stoß zur E n t w i c k l u n g des Monismus als Weltanschauung, die i m „Monistenbund" (1906 i n Jena gegründet) ihren organisatorischen Rahmen erhielt. 5 Albert Kalthoff (1850 - 1906), ev. Theologe, 1874 Dr. phil. i n Halle; Hilfsgeistlicher i n B e r l i n ; 1875 Pfarrer i n Nickern; 1878 wegen seines Eintretens für die liberalen Auffassungen von Theodor Hoßbach (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 958) seines A m t s enthoben; 1879 Gründer des Protestantischen Reformvereins; 1884 Pfarrer i n Rheinfelden (Schweiz); 1888- 1906 Prediger an der Martinikirche i n Bremen ; i n dieser Zeit versuchte er, gegen den herrschenden kirchlichen Dogmatismus eine „Sozialtheologie" zu entwickeln; 1906 erster Vorsitzender des Monistenbundes. β Arthur Drews (1865 - 1935), 1896 Privatdozent, 1898 ao. Professor der Philosophie an der Technischen Hochschule Karlsruhe; er knüpfte an Eduard
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17. Kap.: Evangelische Lehrkonflikte
Leitung der preußischen Landeskirche auf den Plan zurück, ein besonderes Verfahren zur Behandlung von Lehrkonflikten einzuführen. Den Vorschlag, ein besonderes Spruchkollegium für Lehr zuchtverfahren einzurichten, hatte als erster der konservative Staatsphilosoph Friedrich Julius Stahl 7 vor der altpreußischen Generalsynode von 1846 vorgetragen 8. Das preußische Irrlehre gesetz, wie es nun in Kraft trat, ging im Wesentlichen auf Vorarbeiten des liberalen Kirchenrechtslehrers Kahl 0 zurück. Nach Vorverhandlungen in den preußischen Provinzialsynoden und in der Eisenacher Kirchenkonferenz verabschiedete die altpreußische Generalsynode das Gesetz am 11. November 1909 einstimmig 10; am 16. März 1910 setzte König Wilhelm II. es als Inhaber des landesherrlichen Kirchenregiments in Kraft (Nr. 327, Nr. 331). Das preußische Lehrbeanstandungsgesetz sah im Fall eines Widerspruchs zwischen der Lehre eines Pfarrers und seiner Or dinationsverpflichtung (Nr. 326) ein Lehrzuchtverfahren vor, das von jedem Anschein eines dienststrafrechtlichen Verfahrens frei sein sollte. Doch blieb die Frage, ob ein Rechtsverfahren zur kirchenregimentlichen Beurteilung der Lehre nicht gegen protestantische Grundprinzipien verstoße. Der lebhafte Protest, der sich gegen das Gesetz erhob, ging nicht nur vom radikalen theologischen Liberalismus aus. Besonderes Aufsehen erregte der Widerspruch, den der Kirchenrechtslehrer Sohm11 unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes gegen die Einrichtung des Spruchkollegiums erhob (Nr. 328, Nr. 330). Dagegen hielt Harnack, der Wortführer der liberalen Theologie 12, es für angemessen, daß die Landeskirche die relative Einheitlichkeit der in ihr vertretenen Lehre durch ein geeignetes Verfahren zu sichern suche; in der Trennung des Lehrbeanstandungsverfahrens vom Disziplinarverfahren sah Harnack einen Fortschritt von kirchengeschichtlichem Rang (Nr. 329). Der Gegensatz zwischen Sohm und Harnack flammte erneut auf, als im Jahr 1911 das LehrbeanstanV. Hartmanns „Philosophie des Unbewußten" an u n d vertrat pantheistische Auffassungen; die geschichtliche Existenz Jesu bestritt er v o r allem i n seinem bekannt gewordenen Buch „Die Christusmythe" (2 Bände, 1909 u n d 1911). 7 Staat u n d Kirche, Bd. I, S. 613, A n m . 5. 8 Ebenda, S. 612 ff. — T e x t des Vorschlags von Stahl: Verh. der GeneralSynode (1846), S. 221, S. 578. 9 Wilhelm Kahl (1849- 1932), Jurist; 1876 Privatdozent i n München; 1879 zuerst ao., dann o. Professor des Kirchenrechts i n Rostock; 1883 nebenamtlicher Konsistorialrat i n Rostock; i m selben Jahr Professor i n Erlangen, 1888 i n Bonn, seit 1895 i n Berlin, w o er außer dem Kirchenrecht auch Staats- u n d Straf recht v e r t r a t ; kirchenpolitisch w a r er einer der Führer der „ M i t t e l partei" („Evangelische Vereinigung"); 1919/20 MdWeimNatVers.; 1920-23 und 1924 - 32 M d R (DVP). 10 Dazu: Verhandlungen der sechsten ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens über das Kirchengesetz, betreffend das V e r fahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen (1910). 11 Rudolph Sohm (1841 - 1917), Jurist; 1866 Privatdozent i n Göttingen; 1870 ao. Professor i n Göttingen u n d o. Professor i n Freiburg, 1872 i n Straßburg, seit 1887 i n Leipzig; er vertrat das Kirchenrecht sowie die römische u n d deutsche Rechtsgeschichte. I n seinem Kirchenrecht (2 Bände, 1892 u n d 1923) vertrat er unter anderem die These, das Wesen des Rechts u n d das Wesen der Kirche stünden zueinander i m Widerspruch. 12 Oben S. 436, A n m . 8.
I. Das Lehrbeanstandungsrecht der altpreußischen Landeskirche
737
dungsgesetz in dem Verfahren gegen Carl Jatho 13 angewandt wurde. Sohm trat mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit, die im Namen evangelischer Freiheit gegen den Lehrzwang in der Kirche Protest erhob; ihm schloß sich eine Reihe namhafter Universitätslehrer aus nicht-theologischen Fakultäten an (Nr. 332). Harnacks an den praktischen Notwendigkeiten der Kirchenpolitik orientierter Widerspruch gipfelte in dem Satz: „Die Freiheit schützen, aber die Existenz gefährden, das ist keine gute Politik" (Nr. 333). Das preußische Lehrzuchtverfahren, so umstritten es von Anfang an war, wurde zum Vorbild für die weitere Rechtsentwicklung im deutschen Protestantismus. Sowohl die Lehrordnung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands von 1956 14 als auch die Lehrbeanstandung sor dnung der Evangelischen Kirche der Union von 196315 gehen in ihren wichtigsten Elementen auf das preußische Irrlehregesetz von 1910 zurück.
Nr. 326. Ordinationsermahnung der Evangelischen Landeskirche in Preußen i n der Fassung vom 13. J u n i 1895 (Agende f ü r die Evangelische Landeskirche i n Preußen, Bd. I I , 1895, S. 89 ff.; G. Löber, Die i m evangelischen Deutschland geltenden Ordinationsverpflichtungen, geschichtlich geordnet, 1905, S. 65 ff.) — Auszug — I. I h r werdet berufen, die Gemeinde Jesu Christi, die Er durch Sein eigenes B l u t erworben hat, m i t dem reinen Worte Gottes zu weiden, die heiligen Sakramente nach der Einsetzung Jesu Christi zu spenden, das H e i l der euch anvertrauten Seelen durch treue Vermahnung m i t anhaltendem Gebet zu suchen, die Jugend m i t allem Fleiß in der heilsamen Lehre zu unterweisen, die Schwachen zu stärken, den Verirrten nachzugehen u n d keine Seele verloren zu geben, die Betrübten zu trösten, die K r a n k e n zu besuchen und die Sterbenden zu einem christlichen Ende zu bereiten. I I . Dabei sollt i h r ernstlich beachten, daß es dem evangelischen Prediger nicht zusteht, eine andere Lehre zu verkündigen und auszubreiten als die, w e l che gegründet ist i n Gottes lauterem u n d klarem Worte, verfaßt i n der heiligen Schrift A l t e n und Neuen Testaments, unserer alleinigen Glaubensnorm, und bezeugt i n den drei christlichen Hauptsymbolen, dem Apostolischen, Nicänischen und Athanasianischen, und in den Bekenntnisschriften unserer K i r c h e — I I I . Euer A m t habt i h r dem Worte Gottes gemäß nach den Vorschriften der Kirchenordnung und der i n der Kirche bestehenden Ordnung des Gottesdienstes auszurichten, und wie i h r selbst als Christen verpflichtet seid, aller 13
Siehe unten Nr. 334 ff. Lehrordnung der V E L K D vom 16. J u n i 1956 (Amtsblatt der V E L K D , 1956, S. 54; A m t s b l a t t der EKD, 1956, S. 376). 15 Kirchengesetz der E K U vom 5. März 1963 (Amtsblatt der E K D , 1963, S. 476, Berichtigung S. 620). 14
47 Huber, Staat und Kirche, 2. Bd.
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17. Kap.: Evangelische Lehrkonflikte
menschlichen Ordnung Untertan zu sein, für alle Menschen, für den K ö n i g u n d die Obrigkeit zu beten, so habt i h r auch die euch anvertraute Gemeinde zum Wandel i n Zucht und Frieden, zur brüderlichen und allgemeinen Liebe, zum Gebet für alle Menschen anzuleiten. I V . Endlich sollt i h r unablässig darnach trachten, i m m e r tiefer i n das Verständnis des Wortes einzudringen, durch einen geistlichen, Gott wohlgefälligen Wandel der Gemeinde i n allem Guten vorzuleuchten, euch u n d euer Haus i n allen Stücken unanstößig zu bewahren u n d euch nicht m i t Dingen zu befassen, die nicht eures Amtes sind. I n Summa, w i r ermahnen euch vor Gott, die Kräfte eurer Seele u n d eures Leibes diesem heiligen A m t e aufzuopfern u n d euer ganzes Leben also einzurichten, wie i h r euch getrauen dürft, es dermaleinst vor dem Richterstuhl Jesu Christi zu verantworten. Seid i h r n u n entschlossen, dies alles zu geloben, u n d w i l l i g t i h r ein, über euch zu nehmen das teure Predigtamt, so antwortet: Ja.
Nr. 327. Begründung des Evangelischen Oberkirchenrats zum Entwurf des Lehrbeanstandungsgesetzes v o n 1909 (Verhandlungen der Sechsten ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens über das Kirchengesetz, betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen, 1910, S. 30 ff.) — Auszug — Das i n der altpreußischen Landeskirche gegenwärtig geltende Recht behandelt — i n Übereinstimmung m i t dem allgemeinen Rechtszustande der übrigen deutschen Landeskirchen — Irrungen eines Geistlichen i n der Lehre unter dem Gesichtspunkte einer disziplinarisch zu ahnenden Verletzung der Dienstpflicht. . . . Gegen diesen Rechtszustand hat sich seit längerer Zeit i n der wissenschaftlichen Literatur, der kirchlichen und politischen Presse, in kirchlichen Vereinigungen und den Standesvereinen der Geistlichen lebhafter Widerspruch erhoben. . . . Die ganze Materie ist — in Verbindung m i t der Frage einer Revision des kirchlichen Disziplinarrechts — auf der letzten Tagung der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz in Eisenach 1908 zum Gegenstande eingehender Verhandlungen gemacht worden. Die von der K o n ferenz f ü r die Behandlung der Irrlehre aufgestellten Richtlinien gehen i m wesentlichen dahin: 1. Die Fällung des Urteils über Irrlehre soll durch einen Gerichtshof erfolgen, der außer kirchenregimentlichen Mitgliedern, Inhabern von Ephoralämtern, berufsmäßigen Richtern u n d Vertretern der Synode auch noch Theologieprofessoren u n d i m A m t e stehende Geistliche umfaßt u n d zwar so, daß die Z a h l der geistlichen Mitglieder mindestens die Hälfte der an der Urteilsfällung beteiligten Mitglieder bildet. 2. Die Einrichtung einer zweiten Instanz ist bei entsprechender Besetzung des Gerichtshofs erster Instanz nicht unbedingt nötig.
I. Das Lehrbeanstandungsrecht der altpreußischen Landeskirche
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3. Der bisherige strafähnliche Charakter des Verfahrens ist zu beseitigen. Dem förmlichen Verfahren hat ein seelsorgerliches Vorverfahren voraufzugehen, auch w i r d sich eine vorherige A n h ö r u n g der Vertretung der beteiligten Gemeinde empfehlen. 4. Eine Entscheidung zu Ungunsten des Geistlichen darf n u r m i t Z w e i drittelmehrheit der dabei m i t w i r k e n d e n Mitglieder gefällt werden. 5. Das U r t e i l hat i m Falle der Feststellung der Irrlehre außer dieser Feststellung auch die daraus sich ergebenden Rechtsfolgen auszusprechen und ferner darüber zu entscheiden, ob und f ü r welche Zeit u n d i n welchem Betrage dem Geistlichen ein Wartegeld zuzubilligen ist.. .. Der immer weitere Kreise ergreifenden Bewegung zu Gunsten einer Neugestaltung des Verfahrens wegen Irrlehre hatte der Evangelische O b e r - K i r chenrat schon seit längerem seine Aufmerksamkeit zugewendet. Nachdem die für ein gesetzgeberisches Vorgehen i n Betracht kommenden Fragen durch die fortgesetzte öffentliche Erörterung, insbesondere auch durch die erwähnten Verhandlungen der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz i n Eisenach genügend geklärt schienen, erachtete der Evangelische Ober-Kirchenrat es an der Zeit, einer Neuregelung der Materie für die altpreußische Landeskirche näherzutreten u n d die Ausarbeitung einer entsprechenden Vorlage an die 6. ordentliche Generalsynode i n Angriff zu nehmen. Eine wertvolle Bekräftigung dieser seiner Absicht erhielt er dadurch, daß i h n der Generalsynodal-Vorstand unter dem 10. Dezember 1908 ersuchte, „der 6. ordentlichen Generalsnode von 1909 einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen — unter Aufhebung der entgegenstehenden Bestimmungen des geltenden Rechts — ein neues selbständiges Verfahren f ü r die Fälle sow o h l des Einspruchs gegen die Lehre eines neuanzustellenden, als der Beanstandung der Lehre eines bereits i m A m t e befindlichen Geistlichen eingeführt wird." Aus den wiederholten gemeinsamen Beratungen des Evangelischen OberKirchenrats und des Generalsynodal-Vorstandes ist der vorliegende E n t w u r f eines Kirchengesetzes, betreffend die Beanstandung der Lehre von Geistlichen, hervorgegangen.... Es handelt sich in dem Entwurf, wie ausdrücklich hervorgehoben werden möge, nicht u m eine materielle Regelung der Lehrfreiheit, sondern lediglich darum, für den der Landeskirche unentbehrlichen u n d i h r schon jetzt rechtlich zustehenden Schutz gegen Irrungen i n der Lehre das Verfahren u n d die Zuständigkeit i n einer dem gegenwärtigen Rechtsbewußtsein entsprechenden Weise umzugestalten.... Dem ausgeprägt landeskirchlichen Charakter der Lehrfragen gemäß, welche sowohl hinsichtlich ihres Ursprungs wie hinsichtlich ihrer Rückwirkungen aufs engste m i t der Gesamtlage der Kirche zusammenhängen, ist das V e r fahren auf der Einheit der Instanz aufzubauen. Lehrfragen erfordern eine einheitliche Entscheidung für die Landeskirche. A u f keinem anderen Gebiete k a n n das Hervortreten eines Auseinandergehens verschiedener Instanzen 47*
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für die Landeskirche so bedenkliche, ja geradezu verhängnisvolle Folgen haben, wie auf dem Gebiete der Lehre. Demgemäß — übrigens auch i n Übereinstimmung m i t den allgemeinen Grundsätzen der Behördenorganisation — w i r d das Kirchenregiment dem f ü r die ganze Landeskirche eingesetzten Spruchkollegium gegenüber durch die oberste kirchenregimentliche Behörde vertreten. Ebenso ist auf der Seite des Spruchkollegiums an der Einheit der Instanz festgehalten. Auch für den Rechtsschutz des von dem Feststellungsverfahren betroffenen Geistlichen ist die Bildung zweier Instanzen angesichts der Zusammensetzung des Spruchkollegiums kein Bedürfnis: der Tatbestand w i r d regelmäßig ein so einfacher sein, daß er eine Prüfung durch zwei Spruchinstanzen nicht erfordert, u n d die Lehrfrage selber soll eben nach dem G r u n d gedanken der ganzen Neugestaltung aus dem Gemeinbewußtsein der Kirche heraus entschieden werden, welches sich begrifflich nur i n einem Vertretungsorgan zur Darstellung bringen läßt. Das Anwendungsgebiet des Feststellungsverfahrens bildet die Lehre eines Geistlichen i n allen ihren möglichen Erscheinungsformen. Als solche kommen erstlich die amtlichen Betätigungen des Geistlichen i n Predigt, A m t s handlungen, Seelsorge, Konfirmandenunterricht und dergl. i n Betracht. Was die außeramtlichen Äußerungen eines Geistlichen über Fragen des Bekenntnisses anlangt, so ist die Auffassung, als ob für solche Äußerungen unbegrenzte Freiheit beansprucht werden könnte, vom Standpunkte der verfaßten Kirche entschieden abzulehnen. Das Vertrauen, dessen der Geistliche bei der Gemeinde bedarf, verlangt, daß er sich auch bei außeramtlicher Erörterung religiöser Fragen i n den Schranken halte, welche das verantwortliche, den ganzen Menschen fordernde A m t eines Zeugen des Evangeliums i h m zieht, und daß er dabei namentlich i n Einklang bleibe m i t den christlichen Grundwahrheiten. Die sittliche Einheit der Persönlichkeit ginge verloren, und die Gemeinde könnte es ohne Ärgernis nicht tragen, wenn ein Geistlicher i n außeramtlichen Vorträgen oder i n Schriften das Gegenteil von dem vertreten wollte, was er bei Ausrichtung seines Amtes als Gottes Wort verkündet und bekennt. . . . Wenn i n dem Feststellungsverfahren die Lehre unter dem Gesichtspunkte der darin bekundeten Stellung des Geistlichen zum Bekenntnis der Kirche betrachtet wird, so bedeutet dies keine Verletzung des Formalprinzips der Reformation, nach welchem die heilige Schrift als die alleinige Glaubensnorm der evangelischen Kirche gilt. Denn da die heilige Schrift i n der Christenheit verschiedenem Verständnisse unterliegt, und diese Verschiedenartigkeit geschichtlich zur Bildung verschiedener organisierter Kirchengemeinschaften geführt hat, so muß in der evangelischen Kirche bei Beurteilung des Lehrinhalts von dem dieser Kirche eigentümlichen Schriftverständnis, d. i. eben vom Bekenntnisse der evangelischen Kirche, ausgegangen werden. I n diesem Sinne, i n welchem auch i n den Verfassungsgesetzen der Landeskirche von dem Bekenntnisse gesprochen w i r d (§5 Generalsynodal-Ordnung l f i ; §68, 6 Kirchengemeinde- und Synodalordnung 1 7 und § 36,1 Generalsynodal-Ord10 17
Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 448. Ebenda Nr. 445.
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nung; — Einleitung und §§ 50 a und 78 Kirchenordnung für Westfalen und Rheinprovinz 1 8 ), stellt sich das Bekenntnis nicht über oder neben, sondern unter die heilige Schrift. Ein materiales Prinzip f ü r die Entscheidung der Frage, unter welchen Voraussetzungen die i n der Lehre bekundete Stellung eines Geistlichen zum kirchlichen Bekenntnisse seine weitere Wirksamkeit i n der Landeskirche ausgeschlossen erscheinen läßt, enthält der E n t w u r f nicht. Diese Frage ist auf dem Boden der evangelischen Kirche überhaupt nicht durch eine Gesetzesbestimmung nach rechtlichen K r i t e r i e n zu beantworten; sondern hier gilt das Wort, daß Geistliches geistlich gerichtet werden muß. Das Bekenntnis ist kein Gesetz; die Glaubenssätze, i n denen die Kirche die göttliche Offenbarung für das menschliche Verständnis erfaßt hat, sind nicht wie Rechtssätze, die lediglich der Ordnung irdischer Lebensverhältnisse dienen und denen durch äußeren Gehorsam genügt w i r d . Neben der Forderung, daß der Geistliche die i n der heiligen Schrift enthaltene, i m Bekenntnisse bezeugte objektive Glaubenswahrheit, den Gemeindeglauben, verkünde, steht i n der evangelischen Kirche die andere, gleichberechtigte Forderung, daß seine Verkündung ein lebendiges Zeugnis persönlicher Aneignung dieser Glaubenswahrheit auf dem Grunde eigener christlicher Erkenntnis u n d E r fahrung sein soll. So verlangt das evangelische Lehramt neben der Gebundenheit zugleich Freiheit. Hinsichtlich des Verhältnisses beider Elemente folgt aus der Aufgabe der Lehre i n der evangelischen Kirche, daß der Geistliche jedenfalls willens u n d befähigt bleiben muß, m i t seiner Lehre dem A u f bau der Gemeinde auf dem Grunde des Bekenntnisses zu dienen. Wo dies durch die Stellung des Geistlichen zum Bekenntnisse ausgeschlossen wird, da ist seine v/eitere geistliche Wirksamkeit innerhalb der Landeskirche nicht angängig. Eben diese Frage, ob m i t der vom Geistlichen i n seiner Lehre bekundeten Stellung zum kirchlichen Bekenntnisse seine weitere Wirksamkeit innerhalb der Landeskirche vereinbar sei, bildet den Gegenstand des von dem Spruchkollegium zu fällenden Spruches. Die Aufgabe erschöpft sich also keineswegs i n der Feststellung etwaiger Abweichungen v o m Bekenntnisse. Das Spruchkollegium soll vielmehr seinen Spruch „unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen nach seiner freien Überzeugung" (§11 des Entwurfs) 1 9 abgeben. Nicht eingeengt durch rechtliche Formeln, ist es berufen, die gesamten, den F a l l charakterisierenden objektiven und subjektiven Momente der Entscheidung zu Grunde zu legen. So w i r d i n ersterer Hinsicht i n Betracht kommen können, ob die Abweichungen v o m Bekenntnisse Punkte von mehr zentraler oder mehr peripherischer A r t betreffen, ferner i n welcher Form, bei welchem Anlaß und unter welchen sonstigen Umständen die A b weichungen hervortraten. I n subjektiver Beziehung aber werden vor allem die Motivierung der Lehrabweichungen i n der Gesinnung des Geistlichen, dessen gesamte christliche Persönlichkeit u n d seine gesamte geistliche W i r k samkeit zu würdigen s e i n . . . . 18 19
Staat und Kirche, Bd. I, Nr. 267. Vgl. damit die endgültige Fassung des § 11 (unten Nr. 331).
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Nr. 328. Rudolph Sohm, Der Lehrgerichtshof v o m 25. November 1909 („Der Tag" vom 25. November 1909; abgedruckt i n : Protestantenblatt 1909, Sp. 1252 if.) — Auszug — Es ist nach meiner Ansicht Pflicht, gegen den f ü r die altpreußische Landeskirche geplanten Lehrgerichtshof den entschiedensten Widerspruch zu erheben. Gewiß, die Absicht ist löblich: der Lehrzwang soll gemindert werden. Aber der Erfolg ist unerträglich: die Milderung w i r d vielmehr als Steigerung sich erweisen. . . . I n demselben Maß, i n welchem der Lehrzwang formell gemildert w i r d , steigert sich selbstverständlich die Möglichkeit seiner Handhabung. . . . Es leidet keinen Zweifel, daß das neue Verfahren die Zahl der Lehrprozesse vermehren, d. h. die Handhabung des Lehrzwanges steigern w i r d 2 0 . . . . A u f die schwierige Frage, w o r i n denn eigentlich „das Bekenntnis" der altpreußischen evangelischen Landeskirche bestehe, soll hier nicht eingegangen werden. Das ist für die Hauptfrage unnötig. Gewiß ist eine rechtlich verfaßte Kirche ohne rechtlich festgelegte Kirchenlehre (Bekenntnis) undenkbar. U m dieser Kirchenlehre w i l l e n besteht diese rechtliche Körperschaft. Die rechtliche Geltung des Bekenntnisses ist ein unentbehrlicher Bestandteil der rechtlichen Organisation. A b e r was bedeutet die rechtliche Geltung des Bekenntnisses? Da ist die Tatsache unzweifelhaft, daß das Bekenntnis i n der protestantischen Kirche keinerlei selbständigen religiösen Wert besitzt. Es ist nicht norma normans, sondern lediglich norma normata 2 1 . Es unterliegt der K r i t i k an der Hand des Evangeliums. Es ist von religiösem Wert, n u r wenn u n d soweit es den I n h a l t des Evangeliums wiedergibt. W i r haben keine unfehlbare Kirche. Die Lehre des Evangeliums ist religiös von dem gesamten I n h a l t der Bekenntnisschriften als solchem frei. Daraus folgt m i t Notwendigkeit, daß das Bekenntnis i n der protestantischen Kirche auch keinerlei selbständige rechtliche Verpflichtungskraft besitzt. Der Sinn auch der rechtlichen evangelisch-kirchlichen Organisation ist, daß diese Körperschaft der Verkündigung des Evangeliums dienen soll, nicht aber der Verkündigung des Bekenntnisses als solchen. Der Rechtszweck des protestantischen (und gar des unierten!) Kirchenkörpers ist nicht, die lutherische oder die reformierte, sondern die christliche Kirche darzustellen, dem Christentum zu dienen, nicht dem L u t h e r t u m oder dem Calvinismus. . . . Ob der Geistliche wider das Bekenntnis predigt, diese Tatsache ist i n der protestantischen Kirche als solche religiös und rechtlich gleichgültig. Wenn 20
Z u dieser Fehleinschätzung: unten S. 759. Grundlegend f ü r diese Bestimmung des Verhältnisses von Heiliger Schrift u n d kirchlichen Bekenntnisaussagen ist die Konkordienformel von 1577, die allein der Heiligen Schrift die „ A u t o r i t ä t des Richters" zuerkennt (Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 4. Aufl. 1959, S. 769). 21
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er n u r das Evangelium predigt! Aber wer soll die große Frage entscheiden: ob die Predigt wider das Evangelium geht? Darauf hat der Protestantismus keine A n t w o r t . Er k a n n sie gar nicht haben. Das ist die Schwäche seiner kirchlichen Organisation, die zugleich seine Stärke ausmacht. Das neue Kirchengesetz aber w i l l eine A n t w o r t geben: der kirchliche L e h r gerichtshof entscheidet darüber, was i m Bekenntnis Evangelium ist. . . . Die „Feststellung" bekenntniswidriger, u n d zwar vom A m t ausschließender Lehre ist notwendig eine Feststellung der Abweichung v o m Evangelium, d. h. eine Feststellung des Inhalts des Evangeliums. . . . Der kirchliche Gerichtshof hat von Rechts wegen die höchste Lehrgewalt, hat Macht über das Evangelium! A l l e spitzen Unterscheidungen nutzen nichts, u m diesen Tatbestand zu v e r hüllen. . . . Wahrlich, wenn es möglich wäre, w i r sind auf dem besten Wege zum Katholizismus! . . . Das protestantische Kirchenregiment soll und k a n n keine Macht über die Kirchenlehre haben. Die Lehre des Geistlichen geht nicht die Kirchenbehörde an, sondern n u r seine Gemeinde. Diese k a n n den Schutz des Bekenntnisses anrufen, sofern der Geistliche i h r nicht die Lehre bringt, welche sie zu erwarten berechtigt war. D a r i n erschöpft sich heute tatsächlich die rechtliche Geltung des Bekenntnisses. F ü r diese Gemeinde k a n n die Ungeeignetheit des Geistlichen rechtlich „festgestellt" werden, nicht für die Kirche. . . . Der christliche Glaube ist eine hohe, heilige, mächtige Sache. Es sind K r ä f t e des ewigen Lebens i n ihm, u n d die Pforten der Hölle werden i h n nicht überwältigen 2 2 . I m m e r wieder w i l l der natürliche Mensch dem christlichen Glauben m i t gelindem Zwange, m i t dem Schwert des Rechts zu Hilfe kommen. So auch heute. Aber Christus spricht: Stecke das Schwert i n die Scheide 23 ! M i t äußerem Zwang k a n n dem Evangelium nicht geholfen werden. I m Gegenteil! Was nützt es, w e n n der Geistliche aus Furcht v o r dem Lehrgerichtshof die rechte Lehre predigt? ! Das Übel ist nur noch schlimmer als zuvor. . . .
Nr. 329. Adolf Harnack, Das neue kirchliche Spruchkollegium v o m Dezember 1909 (Preußische Jahrbücher 1909, H. 3; abgedruckt i n : A. Harnack, A u s Wissenschaft u n d Leben, Bd. I I , 1911, S. 95 ff.) — Auszug — . . . Die preußische Generalsynode hat i m November dieses Jahres einmütig ein Kirchengesetz angenommen, welches bei Beanstandung der Lehre v o n Geistlichen von jeder disziplinaren Behandlung absieht u n d sich auf ein Feststellungsverfahren beschränkt. Der Tag w i r d i n der Kirchengeschichte unvergessen bleiben, wie sich auch die A n w e n d u n g des Gesetzes gestalten mag; denn er bezeichnet einen eminenten Fortschritt. Es ist meines Erachtens noch niemals i n der Kirchengeschichte vorgekommen, daß eine größere 22 28
Matthäus 16, 18. Matthäus 26, 52.
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Kirchengemeinschaft „ I r r l e h r e " anders als disziplinar behandelt, d. h. als ein Vergehen beurteilt. N u n hat die preußische Landeskirche m i t diesem V e r fahren gebrochen. . . . Gemeinde oder Landeskirche — das allein steht nach den Sohmschen Ausführungen zur Frage, u n d hier bedarf es n u r eines Blicks auf die tatsächlichen Verhältnisse, u m zu erkennen, daß der Standpunkt Sohms nicht h a l t bar ist. Er ist nicht haltbar, vor allem, w e i l tatsächlich Gemeinde und Gemeinde heutzutage etwas ganz Verschiedenes ist; ein bedeutender Teil sind große, völlig zufällige Gebilde, unselbständige Größen, Evangelisationsgemeinden ohne religiöse Erfahrung u n d ohne kirchliche Überlieferung, zusammengewehte Sandhaufen, die gar nicht wären, w e n n die Landeskirche sie nicht geschaffen hätte. Sie i n dem Sinne Sohms zu betrachten u n d ohne geistige u n d brüderliche Unterstützung (in Form einer festen Verbindung) zu lassen, wäre eine F i k t i o n und eine verhängnisvolle Unterlassung zugleich. Ferner, es müßte einfach zur Sprengung der Landeskirche führen, w e n n die Gemeinde selbst, ohne Appellation, auf Entfernung ihres Geistlichen v o m A m t e zu erkennen das Recht hätte. Bedarf das einer näheren Ausführung? Ist sie aber gehalten, eine andere Instanz anzurufen, so ist die verpönte Landeskirche wieder da, und es w i r d ungefähr so, wie das neue Gesetz es w i l l . Endlich, soll denn der Geistliche gegenüber der Gemeinde gar keine Rechte haben, „ w e n n er i h r nicht die Lehre bringt, welche sie zu erwarten berechtigt war"? Wie nun, wenn er i h r eine gut evangelische Lehre bringt, sie aber gerade diese nicht hören w i l l ? Sohm sagt uns nichts darüber, was dann zu geschehen hat. Ist nicht die Landeskirche, d. h. die organische Vereinigung der Gemeinden, i n dieser wie i n anderen wichtigen Beziehungen etwas Wertvolles? Ich k a n n es verstehen, daß dieser Eindruck gegenüber manchem harten Druck, den sie ausübt, vielen evangelischen Christen schwindet; aber es ist auffallend, daß ein Kirchenrechtslehrer i h n nicht festhält. Wenn dieser, wie Sohm, ein Feststellungsverfahren unter Umständen für notwendig hält, so müßte er sich doch freuen, daß dieses Verfahren nicht der Zufälligkeit der Zusammensetzung einer Gemeinde, sondern einem sorgfältig ausgewählten K o l l e gium anvertraut w i r d . Aber, wendet Sohm ein, geht man über den Rahmen der Gemeinde hinaus, so meldet sich das Kirchenregiment an, das Kirchenregiment m i t seinem „Kirchenrecht", überhaupt m i t seinem „Recht", das es i n der Kirche Christi nicht geben darf! A b e r ist das etwas anderes als ein Streit u m Namen? Ist das, wozu die Gemeinde nach Sohm befugt sein soll, nicht auch „Kirchenregiment" u n d „Kirchenrecht"? Sohms K r i t i k am neuen Gesetze ist widerspruchsvoll u n d hebt sich selbst auf. Aber es läßt sich doch sehr Ernstes aus i h r lernen. Erstlich — ausdrücklich sei es noch einmal gesagt — er legt m i t Recht den Finger darauf, daß die Gemeinde zu wenig berücksichtigt ist. Hätte m a n i h r (d. h. dem Gemeindekirchenrat) einerseits u n d dem Superintendenten andrerseits allein die Einspruchskompetenz zugesprochen, so wäre den Interessen der Gemeinde und der Landeskirche Genüge geschehen. Sodann aber gibt es zu denken, daß ein M a n n von der Gesinnung Sohms das Gesetz ablehnt. Nicht seine Gründe
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fallen schwer ins Gewicht, sondern seine S t i m m u n g als freier evangelischer Christ u n d seine Befürchtungen. Er befürchtet Lehrprozesse i n wachsender Zahl, Beschränkung der evangelischen Freiheit, Lehrzwang u n d die Aufrichtung eines katholischen Lehrtribunals. Ich teile diese Befürchtungen nicht, d. h. ich sehe nicht, daß das neue Gesetz an dem bisherigen Zustande der Dinge — u n d man darf doch n u r diesen, nicht aber einen idealen voraussetzen — i n ungünstigem Sinne etwas ändert. Ich b i n vielmehr der Meinung, daß das Gesetz einen Fortschritt bedeutet. Dennoch aber empfinde ich es m i t Sohm als ein schweres Kreuz f ü r die evangelische Landeskirche, daß sie sich m i t Lehrfeststellungen i n Bezug auf ihre Geistlichen überhaupt befassen muß. Indem das Gesetz dieses Kreuz uns zu Gemüte führt, erweckt es i n uns Niedergeschlagenheit u n d Trauer. Es w i r d Sache des Spruchkollegiums sein, seine Aufgabe i n wahrhaft evangelischem Geiste zu erfüllen, durch die Begründung u n d Form des Urteils diesen Geist zum Ausdruck zu bringen u n d dadurch zu zeigen, daß das Gesetz ein Fortschritt ist.
Nr. 330. Rudolph Sohm, Noch einmal der Lehrgerichtshof v o m 19./21. Dezember 1909 („Der Tag" vom 19. und 21. Dezember 1909; abgedruckt i n : Protestantenblatt 1909, Sp. 1351 ff.) — Auszug — . . . Die rechtlich verfaßte Gemeinde . . . hat das Recht, bekenntniswidrige Lehre abzulehnen. Sie hat nicht schlechtweg ein Lehr-Ablehnungsrecht, . . . sondern nur, wenn sie das überlieferte Bekenntnis für sich hat: n u r i n solchem Falle ist der Einspruch der Gemeinde gegen die Lehre ihres Geistlichen rechtlich beachtlich. Die Entscheidung steht bei der Kirchenbehörde. Sie hat zu prüfen nicht bloß, ob die Lehre bekenntniswidrig, sondern ferner, ob die Abweichung v o m Bekenntnis erheblich, noch mehr, ob die Umstände derart sind, daß das geistliche Zusammenleben des Pfarrers m i t seiner Gemeinde durch den Lehrgegensatz w i r k l i c h ausgeschlossen ist. N u r w e n n u n d soweit das geschichtlich überlieferte Bekenntnis tatsächlich eine Lebensmacht i n der Gemeinde ist, k a n n es gegen den bekenntniswidrig lehrenden Geistlichen von der Gemeinde geltend gemacht werden. . . . Die Landeskirche ist keine Gemeinde, d. h. keine Gemeinschaft der W o r t verwaltung. Das unterscheidet die protestantische Kirchenverfassung von der katholischen. Die protestantische Landeskirche ist n u r eine Gemeinschaft des landesherrlichen Regiments. Das landesherrliche Kirchenregiment hat keinen A u f t r a g f ü r das Wort, sondern n u r den A u f t r a g zur äußeren Erhaltung des geistlichen Amts. Die protestantischen Kirchenregimentsbehörden sind (jedenfalls heute) keine geistlichen Behörden. Sie stehen darum auch nicht i n geistlicher Gemeinschaft (Gemeinschaft der Wortverkündigung) m i t dem Pfarrer. E i n Einspruchsrecht des Kirchenregiments nach A r t des Einspruchsrechts der Gemeinde wegen Ungeeignetheit zu geistlichem Zusammenleben gibt es deshalb nicht, denn der Geistliche hat m i t dem Kirchenregiment als solchem n u r eine rechtlich geartete Gemeinschaft. . . .
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Wer ist hinter dem Lehrgerichtshof u n d dem preußischen Kirchenrecht? Der K ö n i g v o n Preußen. Wenn das Fundament der Landeskirche, w e n n das Evangelium v o m K ö n i g von Preußen beschützt werden müßte, so wäre es kein Fundament u n d kein Evangelium, so wäre es des Schutzes gar nicht wert. W o h l k a n n das Evangelium den K ö n i g von Preußen, aber niemals k a n n der K ö n i g von Preußen das Evangelium beschützen. Das Evangelium, das Wort Gottes, verschmäht die Hilfe der eisernen Faust. Geradeso ist es nach unserem geltenden Recht. U n d dies Recht k a n n nicht geändert werden. Der Lehrgerichtshof w i r d niemals lebendigen Rechtes sein. Recht k a n n nicht beliebig gemacht werden. Hilfe durch den Lehrgerichtshof gibt es nicht. Das Wort Gottes aber bleibt trotzdem i n Ewigkeit. Der Christenglaube lebt der Zuversicht. Das Evangelium von der Offenbarung Gottes i n Christo, v o l l Gnade u n d Wahrheit, w i r d den Sieg behalten, u n d w e n n die Welt v o l l Teufel wär'24 !
Nr. 331. Kirchengesetz, betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen v o m 16. März 1910 (Kirchliches Gesetz- u n d Verordnungsblatt, 1910, S. 7) I.
Feststellungsverfahren
§1. Wegen Irrlehre eines Geistlichen findet fortan ein disziplinares E i n schreiten nicht statt. Dagegen ist nach Abschnitt I dieses Kirchengesetzes zu verfahren, wenn auf G r u n d von Tatsachen die Annahme gerechtfertigt erscheint, daß ein Geistlicher i n seiner amtlichen oder außeramtlichen L e h r tätigkeit m i t dem Bekenntnis der Kirche dergestalt i n Widerspruch getreten ist, daß seine fernere Wirksamkeit innerhalb der Landeskirche m i t der für die Lehrverkündigung allein maßgebenden Bedeutung des i n der heiligen Schrift verfaßten u n d i n den Bekenntnissen bezeugten Wortes Gottes unvereinbar ist. § 2. I n dem i n § 1 bezeichneten Falle hat das Konsistorium zunächst i m Wege persönlicher Besprechung, insbesondere durch Vermittelung des Generalsuperintendenten, die Beseitigung der Bedenken zu versuchen. Findet die Angelegenheit auf diesem Wege nach Auffassung des Konsistoriums nicht ihre Erledigung, so hat es dem Evangelischen Ober-Kirchenrat zu berichten. § 3. Der Evangelische Ober-Kirchenrat stellt die i h m erforderlich scheinenden Ermittelungen an. Zeugenvernehmungen können nach Befinden eidlich erfolgen. Erachtet der Evangelische Ober-Kirchenrat die Sachlage danach angetan, die Entscheidung des Spruchkollegiums f ü r kirchliche Lehrangelegenheiten (§ 29 dieses Kirchengesetzes) herbeizuführen, so hat er die Verhandlungen an dieses abzugeben. 24
M. Luther, Ein feste Burg ist unser Gott, Vers 3 (EKG 201, 3).
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§ 4. Gleichzeitig m i t der Vorlage an das Spruchkollegium oder demnächst i m Laufe des Feststellungsverfahrens — i n dringlichen Fällen schon vorher — kann der Evangelische Ober-Kirchenrat den i n einem Kirchenamte stehenden Geistlichen von den Amtsverrichtungen entbinden, wenn diese Maßnahme i m Interesse des Friedens der Gemeinde notwendig erscheint. Eine K ü r z u n g des Diensteinkommens w i r d hierdurch nicht b e w i r k t . Doch sind die Diensträume u n d i n Ermangelung solcher ein zur Erledigung von A m t s geschäften geeigneter T e i l der Dienstwohnung, ferner die als Dienstaufwandsentschädigung anzusehenden Beträge oder Sachleistungen nach näherer Bestimmung des Konsistoriums f ü r die Vertretung des Geistlichen zur Verfügung zu stellen; i m übrigen können die Vertretungskosten aus dem Hilfsfonds für landeskirchliche Zwecke gedeckt werden. § 5. Nach Eingang der Vorlage des Evangelischen Ober-Kirchenrats (§ 3 Abs. 2) beauftragt der Vorsitzende des Spruchkollegiums m i t der Vorbereit u n g der mündlichen Verhandlung (§§ 7 ff.) ein M i t g l i e d des Spruchkollegiums, welchem ein oder mehrere Mitglieder als Beisitzer zugeordnet werden können. Dem Geistlichen ist diese Verfügung und eine schriftliche Darstellung des wesentlichen tatsächlichen Inhalts der v o m Evangelischen Ober-Kirchenrat vorgelegten Verhandlungen spätestens m i t der gemäß § 6 Abs. 1 ergehenden Vorladung zuzustellen. § 6. I n dem die mündliche Verhandlung vorbereitenden Verfahren w i r d der Geistliche vorgeladen, und, w e n n er erscheint, gehört. Es steht i h m frei, binnen 4 Wochen seit A b l a u f des für die A n h ö r u n g festgesetzten Tages an Stelle oder zur Ergänzung einer mündlichen Äußerung eine schriftliche E r klärung einzureichen. Die Frist k a n n m i t Genehmigung des Vorsitzenden des Spruchkollegiums verlängert werden. Etwaige weitere zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung dienende Ermittelungen, insbesondere uneidliche oder eidliche Vernehmungen von Zeugen, erfolgen, soweit nicht Weisungen von Seiten des Spruchkollegiums vorliegen, nach dem Ermessen des m i t der Vorbereitung beauftragten M i t gliedes. Von Zeugenvernehmungen ist dem Geistlichen Kenntnis zu geben. Der Geistliche ist berechtigt, an dem T e r m i n teilzunehmen und an die Zeugen Fragen zu stellen. Uber die gemäß Abs. 1 u n d 2 stattfindenden Vernehmungen ist unter Z u ziehung eines vereideten Protokollführers ein Protokoll aufzunehmen. Bei den Vernehmungen ist jedem Mitgliede des Spruchkollegiums die A n wesenheit als Zuhörer gestattet. § 7. Erachtet das m i t der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung beauftragte M i t g l i e d des Spruchkollegiums den A u f t r a g für erledigt, so legt es die A k t e n dem Vorsitzenden vor. Dieser beraumt zur mündlichen Verhandlung vor dem Spruchkollegium einen Termin an, zu welchem der Geistliche geladen wird.
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17. Kap.: Evangelische Lehrkonflikte
Falls außerdem die Ladung von Zeugen oder Sachverständigen oder die Herbeischaffung anderer Beweismittel zur mündlichen Verhandlung angeordnet w i r d , ist gleichzeitig m i t einer solchen A n o r d n u n g der Geistliche hiervon zu benachrichtigen. § 8. Der Geistliche k a n n zur mündlichen Verhandlung einen oder zwei Beistände zuziehen. Beistände können i n einem A m t e der Landeskirche stehende Geistliche u n d Lehrer der evangelischen Theologie oder evangelische Lehrer des Kirchenrechts an einer deutschen Universität sein. Dem Geistlichen u n d den Beiständen ist nach Anberaumung des Termins zur mündlichen Verhandlung die Einsicht der A k t e n zu gestatten. Über die Akteneinsicht vor diesem Zeitpunkte entscheidet der Vorsitzende des Spruchkollegiums. § 9. Die mündliche Verhandlung nicht erschienen ist.
findet
statt, auch w e n n der Geistliche
E i n Geistlicher, der seinen Wohnsitz außerhalb des Deutschen Reiches hat, k a n n sich i n der mündlichen Verhandlung durch eine oder zwei der i n § 8 bezeichneten Personen vertreten lassen. §10. I n der mündlichen Verhandlung geben zunächst ein v o m Vorsitzenden aus den Mitgliedern des Spruchkollegiums ernannter Berichterstatter, sowie die etwa i n gleicher Weise bestellten Mitberichterstatter eine Darstell u n g der Sache, w i e sie aus den bisherigen Verhandlungen hervorgeht. Hierauf erfolgt die Vernehmung des Geistlichen, sowie der etwa geladenen Zeugen u n d Sachverständigen. Über die Vereidigung der Zeugen u n d Sachverständigen beschließt das Spruchkollegium. Z u m Schlüsse werden der Geistliche u n d sein Beistand oder der Vertreter des Geistlichen m i t ihren Ausführungen u n d Anträgen gehört. Dem Geistlichen gebührt das letzte Wort. §11. Ist die Angelegenheit zur Schlußentscheidung reif, so hat das Spruchkollegium nach seiner freien, aus dem ganzen Inbegriff der Verhandlungen und Beweise geschöpften Überzeugung i n einem Spruche festzustellen oder f ü r nicht festgestellt zu erklären, daß eine weitere Wirksamkeit des Geistlichen innerhalb der Landeskirche m i t der Stellung, die er i n seiner Lehre zum Bekenntnisse der Kirche einnimmt, unvereinbar ist. Der Spruch ist am Schlüsse der mündlichen Verhandlung oder i n einem besonderen, dem Geistlichen bezw. seinem Vertreter mitzuteilenden Termine zu verkünden. Eine Ausfertigung des m i t Gründen zu versehenden Spruchs erhält der Evangelische Ober-Kirchenrat zur Zustellung an den Geistlichen u n d sonstigen weiteren Veranlassung. §12. Uber die mündliche Verhandlung ist unter Zuziehung eines v o m V o r sitzenden zu ernennenden vereideten Protokollführers ein Protokoll aufzunehmen, welches die Namen der Beteiligten enthalten u n d den Gang u n d die
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Ergebnisse der Verhandlung i m wesentlichen wiedergeben muß. Es ist vom Vorsitzenden und dem Protokollführer zu unterschreiben. §13. Z u r mündlichen Verhandlung k a n n Personen, die an i h r nicht beteiligt sind, der Z u t r i t t v o m Vorsitzenden gestattet werden. Z w e i beauftragten Mitgliedern des Gemeinde-Kirchenrats (Presbyteriums) der betreffenden Gemeinde u n d bei Patronatsgemeinden auch einem Vertreter des Patronats muß der Z u t r i t t gestattet werden. Bei der Beratung u n d A b s t i m m u n g des Spruchkollegiums dürfen außer den zur Entscheidung berufenen M i t g l i e d e r n nur die etwa zur Hilfeleistung bei der schriftlichen Abfassung der Entscheidung herangezogenen Personen zugegen sein. §14. Der eine Feststellung i m Sinne des §11 treffende Spruch b e w i r k t k r a f t dieses Gesetzes die Erledigung des von dem Geistlichen bekleideten Kirchenamtes u n d den Wegfall der Rechte des geistlichen Standes. Das bisherige Diensteinkommen oder Ruhegehalt verbleibt dem Geistlichen bis zum A b l a u f des Monats, i n welchem i h m die Ausfertigung des Spruches zugestellt ist. Über die Regelung der nach diesem Zeitpunkt i h m zu gewährenden Bezüge, sowie über die Ansprüche seiner Hinterbliebenen auf W i t w e n - u n d Waisengeld ist i n den §§15 u n d 16 Bestimmung getroffen. §15. Scheidet der Geistliche infolge des Feststellungsspruchs (§14) aus einem Amte, i n welchem er k r a f t Gesetzes oder auf G r u n d besonderer V e r einbarung dem Pensionsfonds der evangelischen Landeskirche oder der Ruhegehaltskasse für evangelische Geistliche zur Zeit des Spruches angehörte, so w i r d i h m von dem i m § 14 Abs. 2 bezeichneten Zeitpunkte ab aus dem Pensionsfonds der evangelischen Landeskirche ein Jahrgeld i n dem Betrage gewährt, w i e er i h m i m Falle einer zu diesem Zeitpunkte stattfindenden Versetzung i n den Ruhestand als gesetzliches Ruhegehalt zustehen würde. Die Festsetzung des Betrages erfolgt durch den Evangelischen OberKirchenrat. Befindet sich der von einer Feststellung gemäß § 14 betroffene Geistliche i m Ruhestande, so w i r d i h m der Betrag des von i h m bezogenen gesetzlichen Ruhegehalts von dem i n § 14 Abs. 2 bezeichneten Zeitpunkte ab als Jahrgeld aus dem Pensionsfonds der evangelischen Landeskirche fortgewährt. Bezieht der nach den vorstehenden Abs. 1 u n d 2 jahrgeldsberechtigte ehemalige Geistliche infolge Anstellung i n einem anderen Öffentlichen A m t e ein Diensteinkommen, so r u h t das Recht auf das Jahrgeld i m Falle des Abs. 1, soweit der Betrag des neuen Diensteinkommens m i t dem Jahrgeld zusammen das zur Zeit des Feststellungsspruchs bezogene Diensteinkommen übersteigt, u n d i m Falle des Abs. 2, soweit der Betrag des gesetzlichen Ruhegehalts durch das neue Diensteinkommen gedeckt w i r d . Das Jahrgeld k a n n durch einen Beschluß des Evangelischen Ober-Kirchenrats bis auf weiteres oder dauernd angemessen gekürzt oder zurückgezogen werden, sofern der ehemalige Geistliche außer dem i m vorigen Absatz bezeichneten Fall einen anderweiten festen Erwerb findet.
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17. Kap.: Evangelische Lehrkonflikte
Das Jahrgeld ist dem ehemaligen Geistlichen zu entziehen, wenn Tatsachen eintreten, die gegen ihn, falls er noch Geistlicher wäre, die Dienstentlassung oder Entziehung der Rechte des geistlichen Standes durch Disziplinarentscheidung begründen oder kraft Gesetzes zur Folge haben würden. Die E n t ziehung erfolgt durch Beschluß des Evangelischen Ober-Kirchenrats, i m ersten der beiden Fälle unter M i t w i r k u n g des Generalsynodal-Vorstandes. Beim Ableben des ehemaligen Geistlichen w i r d das i n diesem Zeitpunkte von i h m bezogene Jahrgeld unter entsprechender A n w e n d u n g des § 25 der Satzungen, betreffend die Ruhegehaltskasse für evangelische Geistliche (KGVB1. 1909 S. 44), den dort bezeichneten Hinterbliebenen noch f ü r die auf den Sterbemonat folgenden 3 Monate gewährt. §16. Die W i t w e u n d die Waisen eines ehemaligen Geistlichen, welcher zur Zeit seines Ablebens auf G r u n d des § 15 dieses Kirchengesetzes ein Jahrgeld i m vollen gesetzlichen Betrage bezieht, erhalten aus dem Pensionsfonds der evangelischen Landeskirche unter entsprechender A n w e n d u n g des Kirchengesetzes vom 26. M a i 1909, betreffend die Fürsorge für die W i t w e n u n d W a i sen der Geistlichen (KGVB1. S. 53), W i t w e n - u n d Waisengeld, w e n n der V e r storbene zur Zeit des Feststellungsspruchs dem P f a r r - W i t w e n - u n d Waisenfonds angehört und binnen 3 Monaten nach Zustellung des Feststellungsspruchs die Leistung eines Beitrags von jährlich 2 °/'o des gesetzlichen Ruhegehaltsbetrages zum Pensionsfonds der evangelischen Landeskirche übernommen hatte. Die E r f ü l l u n g dieser Verpflichtung bildet die rechtliche Voraussetzung für die Gewährung des W i t w e n - u n d Waisengeldes. Die übernommene Verpflichtung fällt fort, a) w e n n das Jahrgeld dauernd gekürzt oder entzogen w i r d (§ 15 Abs. 4 und 5), b) w e n n der ehemalige Geistliche weder verheiratet ist, noch eheliche K i n der unter 18 Jahren besitzt, von dem Zeitpunkte ab, wo diese Voraussetzungen zusammentreffen. I m Falle des Verzichts auf W i t w e n - und Waisengeld k a n n der Verpflichtete von der übernommenen Beitragsleistung durch den Evangelischen OberKirchenrat entbunden werden. I n w i e w e i t bei einer etwaigen Erhöhung der i n §§ 18 und 19 der Satzungen, betr. den P f a r r - W i t w e n - und Waisenfonds (KGVB1.1909 S. 54) bezeichneten W i t w e n - und Waisengeldbeträge auch die auf G r u n d vorstehender Bestimmungen zu gewährenden W i t w e n - u n d Waisenbezüge zu erhöhen sind, bleibt der Beschlußfassung des Evangelischen Ober-Kirchenrats unter M i t w i r k u n g des Generalsynodal-Vorstandes vorbehalten. §17. Die Vorschriften der §§15 u n d 16 finden sinngemäß Anwendung, w e n n der Geistliche zur Vermeidung oder Erledigung eines Feststellungsverfahrens auf die Rechte des geistlichen Standes verzichtet u n d die Kirchenbehörde den Verzicht angenommen hat.
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Das bisherige D i e n s t e i n k o m m e n oder Ruhegehalt v e r b l e i b t dem Geistlichen bis z u m A b l a u f e des Monats, i n dem der Verzicht w i r k s a m geworden ist. §18. D i e Wiederbeilegung der infolge einer Feststellung nach § 14 v e r l o r e n gegangenen oder gemäß § 17 aufgegebenen Rechte des geistlichen Standes b l e i b t dem Evangelischen O b e r - K i r c h e n r a t vorbehalten. §19. Sofern ein Geistlicher das B e k e n n t n i s oder die O r d n u n g e n der K i r c h e h e r a b w ü r d i g t , b l e i b e n die Vorschriften über die Dienstvergehen der K i r c h e n beamten a n w e n d b a r 2 5 . Falls ein solches V e r h a l t e n i n der Lehre zugleich eine m i t der w e i t e r e n W i r k s a m k e i t des Geistlichen i n n e r h a l b der Landeskirche unvereinbare S t e l l u n g z u m Bekenntnisse der K i r c h e bekundet, so u n t e r b l e i b t das Feststellungsverfahren, w e n n i m D i s z i p l i n a r w e g e Dienstentlassung verhängt w i r d . I n a l l e n anderen F ä l l e n w i r d das Feststellungsverfahren selbständig nach Abschluß des Disziplinarverfahrens durchgeführt. § 20. W i r d w ä h r e n d des Feststellungsverfahrens gegen den Geistlichen ein förmliches D i s z i p l i n a r v e r f a h r e n eingeleitet, so ist das erstere auf A n t r a g des Evangelischen O b e r - K i r c h e n r a t s v o n dem S p r u c h k o l l e g i u m bis zur rechtsk r ä f t i g e n E r l e d i g u n g des Disziplinarverfahrens auszusetzen. Das S p r u c h k o l l e g i u m k a n n das Feststellungsverfahren aussetzen, w e n n die E i n l e i t u n g eines f ö r m l i c h e n Disziplinarverfahrens gegen den Geistlichen zu e r w a r t e n ist. II. Verfahren
bei Einsprüchen
gegen die Lehre eines Geistlichen
anzustellenden
§21. Erachtet das K o n s i s t o r i u m einen Einspruch, welcher i n rechtlich zulässiger Weise gegen die Lehre eines i n einem P f a r r a m t anzustellenden Geistlichen erhoben w o r d e n ist, i n seiner tatsächlichen Unterlage oder i n Bezug auf die gegen die L e h r v e r k ü n d i g u n g erhobenen Anstände f ü r zweifellos unbegründet, so hat es den Einspruch durch Vorbescheid zurückzuweisen. Gegen den Vorbescheid steht b i n n e n 14 Tagen, v o m Empfang desselben ab gerechnet, die Beschwerde an den Evangelischen O b e r - K i r c h e n r a t offen. Der Evangelische O b e r - K i r c h e n r a t hat die Beschwerde, w e n n er sie f ü r tatsächlich unbegründet erachtet, zurückzuweisen, i m andern Falle den Einspruch an das S p r u c h k o l l e g i u m f ü r kirchliche Lehrangelegenheiten abzugeben. W i r d der Einspruch nicht nach Absatz 1 erledigt, so hat das K o n s i s t o r i u m den Einspruch m i t den darüber gepflogenen V e r h a n d l u n g e n v o r b e h a l t l i c h der B e s t i m m u n g e n der §§ 22 u n d 23 dem Evangelischen O b e r - K i r c h e n r a t zur H e r b e i f ü h r u n g der Entscheidung des Spruchkollegiums vorzulegen. Der V o r lage ist eine v o m K o n s i s t o r i u m nach A n h ö r u n g des Gemeinde-Kirchenrats (Presbyteriums) der beteiligten Kirchengemeinde u n d des anzustellenden Geistlichen, sowie nach gutachtlicher Ä u ß e r u n g des Kreissynodal-Vorstandes zu fertigende Sachdarstellung beizufügen. !3
D. h. das Disziplinargesetz von 1886 (Staat u n d Kirche, B. I I , Nr. 458).
17. Kap.: Evangelische L e r k o n f l i k t e
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§ 22. Liegen neben einem rechtlich zulässigen Einsprüche gegen die Lehre noch Einsprüche gegen die Gesetzlichkeit der P f a r r w a h l oder rechtlich zulässige Einwendungen einer Zweidrittelmehrheit der Gemeindeglieder vor, so ist über die letztbezeichneten Einsprüche u n d Einwendungen v o n den zuständigen Instanzen rechtskräftig zu entscheiden, bevor das Konsistorium die Einsprüche gegen die Lehre gemäß § 21 dem Evangelischen O b e r - K i r chenrat einreicht. § 23. Liegen neben einem rechtlich zulässigen, nach § 21 Abs. 2 zu behandelnden Einsprüche gegen die Lehre des Anzustellenden noch rechtlich zulässige Einsprüche gegen dessen Gaben oder Wandel vor, so hat das K o n sistorium — gegebenenfalls nach A n w e n d u n g des § 22 — diese Einsprüche gegen Lehre, Gaben u n d Wandel m i t den darüber gepflogenen Verhandlungen u n d einer entsprechend § 21 Abs. 2 zu fertigenden Sachdarstellung dem Evangelischen Ober-Kirchenrat zur Herbeiführung der Entscheidung des Spruchkollegiums einzureichen. § 24. Der Evangelische Ober-Kirchenrat legt die gemäß §§ 21 - 23 an i h n gelangten Einsprüche nebst dem daselbst bezeichneten, gegebenenfalls noch von i h m ergänzten M a t e r i a l dem Spruchkollegium zur Entscheidung vor. Das Spruchkollegium k a n n eine i h m erforderlich scheinende weitere A u f k l ä r u n g des Sachverhalts durch V e r m i t t e l u n g des Evangelischen Ober-Kirchenrats veranlassen. Es k a n n über die sämtlichen i h m vorgelegten Einsprüche entscheiden oder, unter Trennung der Einsprüche, sich auf die Entscheidung wegen der Lehre beschränken u n d die übrigen Einsprüche an die sonst für diese zuständigen Instanzen zur Entscheidung verweisen. I m Falle der Trennung der Einsprüche k a n n das Spruchkollegium seine Entscheidung hinsichtlich der Lehre bis zur rechtskräftigen Erledigung der übrigen Einsprüche aussetzen oder anordnen, daß die Entscheidung über die letzteren bis zur Erledigung des Einspruchs wegen der Lehre ausgesetzt werde. § 25. Das Spruchkollegium beschließt über die Einsprüche auf den Vortrag eines v o m Vorsitzenden ernannten Berichterstatters u n d der etwa i n gleicher Weise bestellten Mitberichterstatter. Ausfertigung des m i t Gründen zu versehenden Beschlusses erhält der Evangelische Ober-Kirchenrat zur Zustellung an die Beteiligten u n d sonstigen weiteren Veranlassung. III.
Verfahren bei Versagung der Berufung in ein geistliches wegen Mangels an Übereinstimmung des Geistlichen mit dem Bekenntnisse der Kirche
Amt
§26. Erachtet das Konsistorium die Berufung eines sonst Anstellungsfähigen i n ein geistliches A m t der Landeskirche wegen Mangels an Übereins t i m m u n g m i t dem Bekenntnisse der Kirche f ü r unzulässig, so hat es die
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Angelegenheit v o r weiterer Erörterung dem Evangelischen Ober-Kirchenrat vorzulegen. §27. Der Evangelische Ober-Kirchenrat beschließt nach Anstellung der i h m etwa erforderlich scheinenden Ermittelungen, ob das Konsistorium zur Abstandnahme v o n dem erhobenen Bedenken anzuweisen oder die Sache an das Spruchkollegium f ü r kirchliche Lehrangelegenheiten zur Entscheidung abzugeben ist. Der beteiligte Geistliche muß, vor Abgabe an das Spruchkollegium, gehört werden. § 28. Das Verfahren beim Spruchkollegium richtet sich nach § 24 Abs. 1 Satz 2 und § 25. IV. Das Spruchkollegium
für kirchliche
Lehrangelegenheiten
§29. Das Spruchkollegium f ü r kirchliche Lehrangelegenheiten w i r d am Sitze des Evangelischen Ober-Kirchenrats errichtet. Es setzt sich aus 13 M i t gliedern zusammen: 1. dem Präsidenten des Evangelischen Ober-Kirchenrats u n d bei dessen Behinderung seinem Stellvertreter i m Präsidium als Vorsitzendem; 2. u n d 3. dem geistlichen Vizepräsidenten u n d dem weltlichen Stellvertreter des Präsidenten des Evangelischen Ober-Kirchenrats, bei deren Behinderung oder beim E i n t r i t t eines von ihnen als Vorsitzenden des Spruchkollegiums (gemäß Nr. 1) aus den zu ihrer Vertretung berufenen Mitgliedern des Evangelischen Ober-Kirchenrats; 4. dem dienstältesten geistlichen Mitgliede des Evangelischen O b e r - K i r chenrats, f ü r das bei Behinderung oder Eintreten an Stelle des zu 2 aufgeführten Mitgliedes des Spruchkollegiums ein anderes geistliches M i t g l i e d des Evangelischen Ober-Kirchenrats nach der durch das Dienstalter gegebenen Reihenfolge einzuberufen ist; 5. u n d 6. zwei vom Könige auf Vorschlag des Evangelischen Ober-Kirchenrats ernannten ordentlichen Professoren der evangelischen Theologie an Universitäten i m Gebiete der Landeskirche, für deren jeden auf gleiche Weise ein Stellvertreter ernannt w i r d . Bei dem dem Evangelischen OberKirchenrat zustehenden Vorschlage findet die M i t w i r k u n g des Generalsynodal-Vorstandes statt; 7. bis 9. drei von der Generalsynode gewählten Mitgliedern; 10. dem zuständigen (§ 31) Generalsuperintendenten, f ü r den i m Falle der Behinderung ein für dieselbe Provinz etwa noch bestellter Generalsuperintendent u n d bei dessen Behinderung oder i n Ermangelung eines solchen ein dem Konsistorium der Provinz i m Hauptamte angehöriger geistlicher Rat nach der durch das Dienstalter gegebenen Reihenfolge einzutreten hat; 11. bis 13. drei von der zuständigen (§31) Provinzialsynode gewählten M i t gliedern. § 30. Die Ernennung u n d W a h l der nicht k r a f t ihres Amtes dem Spruchkollegium angehörenden Mitglieder u n d Stellvertreter erfolgt auf 6 Jahre. 48 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , j . Bd.
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17. Kap.: Evangelische L e r k o n f l i k t e
Die i n § 29 zu 7 bis 9 bezeichneten Mitglieder u n d f ü r jedes von ihnen ein oder mehrere Stellvertreter werden v o n der Generalsynode am Schlüsse jeder ordentlichen Versammlung aus ihrer M i t t e auf die Dauer der folgenden Synodalperiode gewählt. Ebenso w ä h l t jede einer ordentlichen V e r sammlung der Generalsynode u n m i t t e l b a r vorangehende ordentliche P r o v i n zialsynode am Schluß ihrer Versammlung aus ihrer M i t t e drei Mitglieder u n d f ü r jedes von ihnen einen oder mehrere Stellvertreter auf die Dauer der nächsten Generalsynodalperiode. Die Z a h l der f ü r jedes M i t g l i e d gewählten Stellvertreter muß innerhalb derselben Synode die gleiche sein. Mindestens je eines der von der Generalsynode u n d v o n jeder Provinzialsynode zu w ä h lenden Mitglieder muß ein i m Pfarramte einer Kirchengemeinde der Landeskirche stehender Geistlicher sein u n d Stellvertreter von gleicher Eigenschaft erhalten. Der Verlust der Synodalmitgliedschaft bei einem gewählten Mitgliede oder Stellvertreter hat dessen Ausscheiden aus dem Spruchkollegium zur Folge. Diese Bestimmung findet auf den F a l l der Nichtwiederwahl eines v o n der Provinzialsynode gewählten Mitgliedes i n die letztere keine Anwendung. I m übrigen bleiben die v o n den Synoden Gewählten bis zur Vollziehung der N e u w a h l i m Amte. Sind ein v o n einer Synode gewähltes M i t g l i e d u n d dessen Stellvertreter ausgeschieden, so w ä h l t der General- bezw. der Provinzialsynodal-Vorstand aus den M i t g l i e d e r n der General- bezw. der Provinzialsynode auf die Zeit bis zur Vollziehung der N e u w a h l durch die Synode einen Ersatzmann, bei dessen etwaigem vorzeitigen Ausscheiden durch das gleiche Verfahren f ü r weiteren Ersatz zu sorgen ist. §31. Z u r M i t w i r k u n g i n dem Spruchkollegium gemäß §29 Ziffer 10 bis 13 zuständig sind i n den Fällen des Abschnitts I dieses Kirchengesetzes derjenige Generalsuperintendent und die E r w ä h l t e n derjenigen Provinzialsynode, deren Bezirke der Geistliche durch sein Kirchenamt oder, falls er ein solches nicht bekleidet, durch seinen Wohnsitz zur Zeit des Einganges der i n § 3 Abs. 2 bezeichneten Vorlage des Evangelischen Ober-Kirchenrat beim Spruchkollegium angehört. I n den Fällen des Abschnitts I I u n d I I I dieses Kirchengesetzes richtet sich die Zuständigkeit danach, welchem Bezirke das f ü r die Anstellung des Geistlichen i n Betracht kommende geistliche A m t angehört. Soweit sich die Zuständigkeit hiernach nicht bestimmen läßt, hat der Evangelische Ober-Kirchenrat den zuständigen Generalsuperintendenten u n d die zuständige Provinzialsynode zu bezeichnen. §32. Z u r Beschlußfähigkeit des Spruchkollegiums ist die Anwesenheit sämtlicher Mitglieder erforderlich. Bei unerwartet eingetretener Verhinder u n g eines Mitgliedes k a n n sich das Spruchkollegium durch Zuziehung eines erreichbaren Mitgliedes der gleichen Kategorie (§ 29 : Ziffer 5 und 6 ; Ziffer 7 bis 9; Ziffer 11 bis 13) ergänzen. Eine Feststellung i m Sinne des § 11 dieses Kirchengesetzes k a n n n u r m i t einer Mehrheit v o n mindestens zwei D r i t t e l n der Mitglieder getroffen w e r -
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den. Die sonstigen Entscheidungen erfolgen nach der absoluten Mehrheit der Stimmen. I m übrigen werden der Geschäftsgang beim Spruchkollegium u n d die Befugnisse des Vorsitzenden durch eine Geschäftsordnung geregelt, die v o m Spruchkollegium zu entwerfen ist u n d der Bestätigung durch den K ö n i g bedarf 2 8 . §33. Den i n §29 unter Nr. 5 bis 9 u n d 11 bis 13 aufgeführten M i t g l i e d e r n des Spruchkollegiums werden bei Reisen, die sie zur Teilnahme an den Sitzungen des Kollegiums oder sonst i m Auftrage des letzteren oder des V o r sitzenden zu machen haben, Tagegelder u n d Reisekosten i n der den M i t g l i e dern der Generalsynode zustehenden Höhe aus dem Hilfsfonds f ü r landeskirchliche Zwecke gewährt. V. Übergangs-
und
Schlußbestimmungen
§ 34. F ü r die Zeit bis zum Zusammentritt der ordentlichen Provinzialsynoden i m Jahre 1911 hat jeder Provinzialsynodal-Vorstand aus seiner P r o v i n zialsynode drei Mitglieder u n d f ü r jedes v o n ihnen einen oder mehrere Stellvertreter i n das Spruchkollegium zu wählen. Die i m Jahre 1911 zusammentretenden Provinzialsynoden w ä h l e n f ü r die Zeit bis zum Beginn der nächsten Generalsynodalperiode (1915) i n gleicher A n z a h l Mitglieder und Stellvertreter. Die Vorschriften i n § 30 Abs. 2 bis 5 finden bei beiden Wahlen sinngemäße Anwendung. Die i m Jahre 1914 zusammentretenden ordentlichen Provinzialsynoden w ä h l e n erstmalig Mitglieder u n d Stellvertreter auf die Dauer von 6 Jahren (§ 30). §35. A l l e diesem Kirchengesetze entgegenstehenden Bestimmungen w e r den aufgehoben.
Nr. 332. Erklärung von Rudolph Sohm und anderen gegen das Spruchkollegium 27 V o m 21. März 1911 (Die Christliche Welt, 25, 1911, Sp. 286) Gegen das Spruchkollegium! Der F a l l Jatho ist da 2 8 . Es droht die A n w e n d u n g des Spruchverfahrens. Noch k a n n vielleicht die Gefahr vermieden werden. D a r u m erheben w i r unsere Stimme. 26 Dazu die Geschäftsordnung des Spruchkollegiums f ü r kirchliche L e h r angelegenheiten v o m 31. M a i 1911 (Allg. Kirchenblatt f ü r das ev. Deutschland, 60, 1911, S. 571). 27 Die E r k l ä r u n g ist federführend unterzeichnet von den Professoren Rudolph Sohm, Leipzig, Max Lenz, B e r l i n u n d Paul Natorp, Marburg. Bis zur Veröffentlichung i n der „Christlichen W e l t " hatten sich i h r folgende U n t e r zeichner angeschlossen: Wilhelm Dilthey , B e r l i n ; Arthur Bonus, S. Domenico d i Fiesole; Heinrich Richert, Freiburg i. Br.; Friedrich Meinecke, Freiburg i. Br.; Gerhart von Schulze-Gävernitz, Freiburg i. Br.; Konrad Varrentrapp,
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17. Kap.: Evangelische L e r k o n f l i k t e
W i r sind Laien. Über die Theologie des Pfarrers Jatho geben w i r k e i n U r t e i l ab. Was uns als deutsche Protestanten angeht, ist die Frage, ob das neue Lehrzuchtgesetz A n w e n d u n g finden soll oder nicht. W i r halten diese L e h r zucht i n der protestantischen Kirche der Gegenwart f ü r unmöglich u n d jeden Versuch ihrer A n w e n d u n g f ü r eine Erschütterung der kirchlichen Organisat i o n des Protestantismus. Die altprotestantische Zeit hat die Lehrzucht des Kirchenregiments gehabt. A b e r das 19. Jahrhundert hat die Grundlagen dieser Lehrzucht zerstört. Jede kirchenregimentliche Entscheidung einer Lehrfrage — w e n n auch n u r f ü r das Gebiet einer bestimmten Landeskirche — erscheint uns heute als unerträglich. Das protestantische Rechtsbewußtsein der Gegenwart ist dagegen. Es hat dem Kirchenregiment die Macht u n d zugleich die Pflicht der L e h r zucht weggenommen. Das preußische Kirchenregiment selbst hat das empfunden u n d die Lehrentscheidung auf ein Spruchkollegium abgewälzt. A b e r n u r u m so greller t r i t t der Widersinn hervor; ein Gerichtshof soll die Lehre des Evangeliums regeln! Vermag Jemand zu glauben, daß die Verkündigung des Evangeliums durch Richterspruch u n d Zwangsvollstreckung gefördert werden kann? Pfarrer Jatho hat feste Wurzeln i n seiner Gemeinde. Vermag jemand zu glauben, daß seine Gemeinde durch seine Absetzung erbaut u n d nicht vielmehr zerrüttet werden wird? Die Erregung w i r d über die Gemeinde hinaus auf die preußische Landeskirche, ja auf den deutschen Protestantismus wirken, denn an der Entwicklung der preußischen Landeskirche sind w i r alle interessiert. Die Frucht der Erregung aber w i r d eine Schädigung der Landeskirche, eine Herabminderung ihres Einflusses auf das Volksleben sein . Die geistige Macht der protestantischen Kirche ist bedroht, w e n n das geistliche A m t durch richterliche „Sprüche" gebunden, w e n n gegen „modernistische" Geistliche m i t zwangsweiser Trennung von ihrer Gemeinde v o r gegangen w i r d . Das Spruchverfahren ist auf dem Boden der protestantischen Kirche v o n heute ein Widerspruch i n sich selbst. U m des deutschen Protestantismus w i l l e n protestieren w i r darum gegen jede zwangsweise Lehrentscheidung durch Kirchenregiment und Spruchkollegium 2 9 . M a r b u r g ; Otto Hintze, B e r l i n ; Heinrich Pflüger, Bonn; Eugen Wolff, K i e l ; Karl Lamprecht, Leipzig; Heinrich Schneegans, Bonn; Arnold E. Berger, D a r m stadt; Eduard Wechßler, M a r b u r g ; Ludwig Aschoff, Freiburg; Waldemar Engelmann, M a r b u r g ; Gustav Jenner, Marburg; Heinrich Wölfflin, Berlin; Friedrich von Bezold, Bonn; Gustav Steinmann, Bonn; Eberhard Rimbach, Bonn; David Peipers, Göttingen; Theodor Niemeyer, K i e l ; Rechtsanwalt Schneiders, Bonn; Alfred Zimmermann, B e r l i n ; Theodor Birt, Marburg; Wilhelm Victor, Marburg; Ernst Kornemann, Tübingen; August Fischer, Leipzig; Johannes Geffcken, Rostock; Albert Brackmann, M a r b u r g ; Max Wentscher, Bonn; Robert Rieder-Pascher, Bonn; Georg Kaufmann, Breslau; Edmund Husserl, Göttingen; Walther Schücking, Marburg; Wilhelm Kroll, Münster; Wilhelm Windelband, Heidelberg, Carl Lehmann-Haupt, B e r l i n ; Walter Goetz, Tübingen; Franz Keibel, Freiburg; Stadtverordnetenvorsteher Michelet, Berlin; Erler, B e r l i n ; Heinrich Zimmern, Leipzig; Eduard Schwartz, Freiburg i. Br. 28 Siehe unten Nr: 334 ff. 29 Dazu auch Sohms Stellungnahmen von 1909 (oben Nr. 328, Nr. 330).
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Nr. 333. Stellungnahme Adolf Harnacks für das Spruchkollegium V o m 6. A p r i l 1911 (Die Christliche Welt, 25, 1911, Sp. 324 ff.) Für das Spruchkollegium Wenn i m deutschen Protestantismus die Parole der Freiheit ausgegeben w i r d , haben die einen schweren Stand, die auf die Notwendigkeit bestehender Ordnungen verweisen. 1. I n der jetzt umlaufenden „ E r k l ä r u n g gegen das Spruchkollegium" (Sohm u n d Gen.) heißt es: „ E i n Gerichtshof soll die Lehre des Evangeliums regeln". Das ist ein I r r t u m : E i n Spruchkollegium soll entscheiden, ob der Pfarrer N. N. m i t seiner Verkündigung noch i n den Rahmen der Preußischen Evangelischen Landeskirche gehört, w i e ja auch seine Anstellung auf G r u n d erfüllter landeskirchlicher Bedingungen (in bezug auf den Charakter seiner Verkündigung) erfolgt war. 2. Die Existenz der Landeskirche ist unbestreitbar, u n d unbestritten ist, daß sie noch nicht grundsätzlich eine preußische Nationalkirche ist, die alles umfaßt, was nicht katholisch oder jüdisch ist, — auch nicht ein Haufe independentistischer Gemeinden verschiedensten Charakters 3 0 . 3. Solange sie das nicht ist, vielmehr ein Bekenntnis hat, muß sie imstande sein, dieses zu schützen, sonst ist sie eine hilflose Gemeinschaft. 4. Das Bekenntnis ist k e i n präsentes schriftliches Rechtsdokument, sondern ein an der Heiligen Schrift, den Bekenntnissen der Reformation u n d der christlichen Erkenntnis der Folgezeit gebildetes, landeskirchliches lebendiges Zeugnis — also ein Zeugnis evangelischer Gesinnung. 5. Dieses Zeugnis gegebenenfalls zu erheben u n d als Maßstab zu benutzen — zu messen ist das W e r k eines Mannes i n seiner Totalität, nicht seine Theologie —, ist eine Aufgabe, die gewiß n u r sehr u n v o l l k o m m e n gelöst werden kann, die aber gelöst werden muß, da die Landeskirche sonst entweder dem katholischen dogmatischen Rechtsformalismus verfallen oder sich selbst aufgeben muß. Quartum non datur! 30 Einen Vorschlag i n dieser Richtung machte i m Jahr 1911 Erich Foerster (1865 - 1945; ref. Pfarrer i n F r a n k f u r t a. M., 1915-33 HonProf. für Kirchengeschichte daselbst, 1915 - 25 KonsRat). Er zog aus den Lehrkonflikten die Konsequenz, daß die preußische Landeskirche i n „eine bloße wirtschaftliche u n d Verwaltungseinheit" verwandelt werden solle, innerhalb deren dann „Platz f ü r engere u n d kraftvolle Verbindungen der w i r k l i c h Gleichgesinnten, für Bildungen, die m i t größerem Rechte den Namen Kirche führen können", sei. Er verband diese innerkirchliche Überlegung m i t einem Vorschlag f ü r das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, der die „Entstaatlichung" der Religionsgesellschaften u n d zugleich die „Entkirchlichung" des Staates zum Ziel hatte (E. Foerster, E n t w u r f eines Gesetzes betreffend die Religionsfreiheit i m Preußischen Staate, 1911, S. 6 u n d 41). Z u m kirchenpolitischen Zusammenhang von Foersters E n t w u r f siehe J. Rathje, Die Welt des freien Protestantismus (1952) S. 194 ff. Der Vorschlag Foersters wurde von Ernst Troeltsch aufgegriffen (siehe unten Nr. 340).
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6. D e m Kirchenregiment allein die Feststellung des Zeugnisses bzw. M a ß stabs zu überlassen, ist unevangelisch; also muß ein kirchlicher Ausschuß gewählt werden, der die landeskirchliche ökumenizität, so weit u n d so gut das möglich ist, zum Ausdruck bringt, u n d der ferner dem provinzialkirchlichen Interesse des einzelnen Falls gerecht w i r d sowie der Gemeinde, u m die es sich handelt. 7. Das Spruchkollegium ist ein solcher Ausschuß. Es ist i n seiner K o n s t r u k t i o n verbesserungsfähig, vor allem w e i l es auf die Gemeinde zu w e n i g Rücksicht n i m m t — Klagen, die nicht aus der Gemeindevertretung kommen, sollten aufs äußerste erschwert u n d i n p r a x i so gut w i e ausgeschlossen sein — aber es ist p r i n z i p i e l l richtig gedacht. 8. Eine Bewegung, die sich gegen die Zusammensetzung des Spruchkollegiums richtet oder gegen gewisse Modalitäten des Verfahrens, ist verständlich u n d berechtigt; der Protest gegen den Grundgedanken des Spruchkollegiums aber geht v o n einer falschen Voraussetzung aus u n d ist schädlich. Er verweigert dem Charakter der Landeskirche, deren Spruch er andererseits v i e l zu hoch einschätzt, jeden Schutz. — I n dem Wunsche nach einer freien u n d weiten Landeskirche stimme ich m i t den Unterzeichnern der E r k l ä r u n g aus vollem Herzen überein; aber w e i l eine v ö l l i g ungeschützte oder zerfallende wertlos ist, d a r u m ist der Protest gegen das Spruchkollegium ein Fehler. Die Freiheit schützen, aber die Existenz gefährden, das ist keine gute Politik. Gegenüber diesen Erwägungen gibt es, soviel ich sehe, n u r zwei E i n w e n dungen: 1. Der evangelische Charakter der Landeskirche sei so stark, daß er einzelne fremde Elemente r u h i g ertragen u n d jede Exklusive entbehren könne. 2. Die Landeskirche umfasse i n bezug auf den Glaubensausdruck so verschiedenartige Standpunkte, daß ein einheitlicher Spruch unmöglich sei, also stets die Unterdrückung einer M i n o r i t ä t stattfinden müsse. A u f die erste Einwendung ist zu erwidern, daß sie i n der Regel w i r k l i c h zu Recht besteht u n d daher n u r i n besonderen Fällen eine Exklusive n o t wendig sein w i r d , daß sich aber solche besondere Fälle außerhalb Preußens schon ereignet haben 3 1 . Was aber die zweite Einwendung betrifft, so darf m a n nicht m i t Prophezeiungen vorgreifen. N a t ü r l i c h vermag k e i n Spruch es allen recht zu machen, u n d an jeden werden sich bittere K r i t i k e n heften. A b e r darauf allein k o m m t es an, ob der Spruch dem prinzipiellen u n d einheitlichen evangelischen Charakter der Landeskirche, ihrer Gebundenheit i m Evangelium u n d ihrer Freiheit, entspricht. Daß es einen solchen gibt, dürfen die am wenigsten leugnen, die i h n f ü r so stark halten, daß er jeden Schutzes nach ihrer M e i n u n g entraten kann. Wenn aber umgekehrt unsere Landeskirche katholisch oder enthusiastisch oder eine Allerweltskirche werden soll, so k a n n freilich k e i n Spruchkollegium diese E n t w i c k l u n g verbieten, w o h l aber vermag es sie aufzuhalten, u n d w e i l es das vermag, ist es berechtigt u n d notwendig. 31
Harnack
dachte vor allem an die Lage i n Bremen; siehe oben S. 735.
I I . Der Fall Jatho
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Ausdrücklich aber verwahre ich mich dagegen, durch diese Bemerkungen Stellung zum Falle Jatho genommen zu haben. Ob er überhaupt vor das Spruchkollegium gehört, u n d w i e er zu entscheiden ist, davon sehe ich v o l l ständig ab. W e i l er aber A n l a ß gegeben hat, das Spruchkollegium als solches zu bekämpfen, habe ich es f ü r meine Pflicht gehalten, das Spruchkollegium als landeskirchliche Einrichtung zu verteidigen 3 2 .
I I . Der Fall Jatho Der einzige Theologe, gegen den das preußische Irrlehregesetz zur Anwendung kam 1, war der Kölner Pfarrer Jatho, der durch seine eindringlichen Predigten und seine seelsorgerliche Zuwendung eine große Gemeinde um sich gesammelt hatte 2. Zugleich aber weckte seine undogmatisch-mystische Auffassung des christlichen Glaubens Widerspruch. Seit 1905 wurden immer wieder Beschwerden gegen ihn laut, die sich jedoch beschwichtigen ließen 3. Anstoß erregte unter anderem Jathos Stellung zum Apostolischen Glaubensbekenntnis (Nr. 334, Nr. 335). Nach der Einführung des Lehrzuchtverfahrens erneuerten gemeinde fremde Gegner Jathos die alten Beschwerden. Im Januar 1911 beschloß der preußische Oberkirchenrat unter dem Vorsitz des Präsidenten Voigts 4, ein Irrlehreverfahren einzuleiten. Zu diesem Zweck stellte der Oberkirchenrat als Einleitungsbehörde fünf Fragen an Jatho (Nr. 336), die dieser freimütig beantwortete (Nr. 337). Jatho bekannte sich zu seinen pantheistischen beziehungsweise panentheistischen Auffassungen und zum Gedanken der „Selbsterlösung" des Menschen. Der Differenz zum über32 Harnack hatte seine Stellung zu dem Irrlehregesetz schon i n dem Aufsatz: Das neue kirchliche Spruchkollegium, nebst einem Nachwort erläutert; das Nachwort befaßte sich kritisch m i t der Position Sohms (oben Nr. 329). Beides ist zusammen m i t der oben wiedergegebenen Stellungnahme abgedruckt i n : A. Harnack, Aus Wissenschaft u n d Leben, Bd. I I (1911), S. 95 ff. Dort fügte Harnack der obigen Stellungnahme folgende A n m e r k u n g an: „Der Ausgang des Falls Jatho, der leider vor das Spruchkollegium gebracht worden ist, hat mich i n meiner prinzipiellen Überzeugung von der Notwendigkeit der neuen I n s t i t u t i o n nicht erschüttert, w o h l aber hat es meine dargelegten Bedenken i n bezug auf die K o n s t r u k t i o n des Spruchkollegiums u n d die Ausscheidung der Gemeinde bedeutend verstärkt u n d neue Bedenken hinzugefügt" (a. a. O., S. 126, A n m . 1). 1 Dazu Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S. 872 ff.; W. Huber, Die Schwierigkeit evangelischer Lehrbeanstandung (Evangelische Theologie, 40, 1980, S. 517 ff.). 2 Carl Jatho (1851 - 1913), ev. Theologe; nach dem S t u d i u m i n M a r b u r g u n d Leipzig 1876 Pfarrer i n Bukarest, 1884 i n Boppard, 1891 i n K ö l n . Nach der Amtsenthebung (1911) freier Prediger u n d Redner; er starb infolge eines Unfalls auf einer Vortragsreise i n Halle. Wichtigste Veröffentlichungen: Predigten (1902); Persönliche Religion. Predigten, Neue Folge (1905); Fröhlicher Glaube (1913); Der ewig kommende Gott (1913); Briefe (1914). 3 Vgl. die Zusammenstellung von Dokumenten i n : F. Wiegand, Kirchliche Bewegungen der Gegenwart. Eine Sammlung v o n Aktenstücken, Jg. 1, 1907 (1908), S. 1 ff. 4 U n t e n S. 867.
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lieferten Gottesverständnis und zur paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre war er sich bewußt. Die Antwort veranlaßte den Oberkirchenrat, am 27. März 1911 das Lehrzuchtverfahren zu eröffnen. Das Spruchkollegium stand unter dem Vorsitz von Voigts. Zu den zwölf Beisitzern gehörten vom Oberkirchenrat der Vizepräsident v. Dryander 5 und e der Oberkonsistorialrat Moeller , die Theologieprofessoren Haussleiter 7 und 8 9 Loofs sowie der Jurist Kahl ; Berichterstatter war der Oberkonsistorialrat Koch 10. Nach der Einvernahme Jathos am 21. April 1911 und seiner nach entsprechender Aufforderung erneut abgegebenen schriftlichen Erläuterung seines Christusverständnisses und seiner Konfirmationspraxis 11 fand die Hauptverhandlung am 23. und 24. Juni 1911 statt. Jathos Verteidigung führten der Kieler Theologe Otto Baumgarten 12 und der Dortmunder Pfarrer Gottfried Traub 13. Das Spruchkollegium kam zu dem Ergebnis, daß eine weitere Wirksamkeit Jathos als Pfarrer mit der Stellung, die er in seiner Lehre zum Bekenntnis der Kirche einnehme, unvereinbar sei (Nr. 338). Der öffentliche Widerspruch, auf den das preußische Irrlehregesetz schon bei seiner Verabschiedung gestoßen war, verstärkte sich bei seiner Anwendung im Fall Jatho. Das Verfahren war von einer großen Zahl öffentlicher Kundgebungen und Stellungnahmen begleitet u. Sie begannen am 29. Januar 1911 mit einer Kundgebung im Kölner Gürzenich und einer wegen Überfüllung des Saals erforderlichen Parallelveranstaltung im Reichshallentheater. In den literarischen Äußerungen zur Entscheidung des Spruchkollegiums hielten sich Zustimmung und Protest etwa die Waage. Besondere Aufmerksamkeit fand die Stellungnahme Harnacks, der das Irrlehregesetz gutge5
Unten S. 867. Unten S. 868. 7 Johann Haussleiter (1851 - 1928), ev. Theologe; 1875 Gymnasiallehrer i n Nördlingen, 1886 i n Erlangen; 1891 Professor f ü r Kirchengeschichte i n Dorpat, 1893 - 1921 f ü r Neues Testament i n Greifswald. 8 Friedrich Loofs (1858 - 1928), seit 1887 Prof. für Kirchengeschichte i n Halle (vgl. oben S. 674, A n m . 23). 9 Oben S. 736, A n m . 9. 10 Moritz Koch (1843- 1916), ev. Theologe; nach der Ordination 1868 zunächst i m Schul-, dann i m Pfarrdienst; 1885 Superintendent des Kreises Danziger Höhe, 1886 Konsistorialrat i n Danzig; 1893 Oberkonsistorialrat i m preußischen Oberkirchenrat. 11 Text der Stellungnahme Jathos v o m 16. M a i 1911 i m Auszug: G.v. Rohden, Der K ö l n e r Kirchenstreit (1911), S. 33 f. 12 Siehe oben S. 708, A n m . 18. 13 Gottfried Traub (1869 - 1959), ev. Theologe; 1900 Pfarrer i n Schwäbisch Hall, 1901 i n D o r t m u n d ; 1912 i m Disziplinarverfahren abgesetzt (unten Nr. 342 ff.); 1913 Direktor des Deutschen Protestantenbundes; 1913-18 M d p r A H . Zunächst M i t g l i e d des Nationalsozialen Vereins, dann der F o r t schrittlichen Volkspartei, von der er 1917 zur Vaterlandspartei übertrat; nach der Novemberrevolution M i t g l i e d der D N V P ; 1919 - 20 MdWeimNatVers.; 1920 Teilnahme am Kapp-Putsch. Seit 1921 Redakteur der „Münchener-Augsburger Abendzeitung"; Herausgeber der „Eisernen Blätter". 14 Siehe die A u s w a h l von Äußerungen i n : Aktenstücke zum F a l l Jatho, Η . 1 ff. (1911 - 12); J. Dietrich, Der F a l l Jatho. Aktenstücke u n d Beurteilungen (1911); G. v. Rohden, Der Kölner Kirchenstreit (1911). 6
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I I . Der Fall Jatho
heißen hatte (oben Nr. 329, Nr. 333) und der als stellvertretendes Mitglied dem Spruchkollegium angehörte. Obwohl er die Theologie Jathos für „unerträglich" erklärte, bedauerte er doch den gefällten Spruch, weil er meinte, daß die Lehre eines Pfarrers, dessen Tätigkeit von seiner Gemeinde dankbar aufgenommen werde, zu tolerieren sei (Nr. 339)15. In diesem Ergebnis stimmten Kahl, der Schöpfer des Irrlehregesetzes, und Loofs mit ihm überein; beide hatten als Mitglieder des Spruchkollegiums gegen die Amtsenthebung Jathos gestimmt. Die Frage, ob es angemessen und ob es möglich sei, in der evangelischen Kirche die Einheit der Lehre durch rechtliche Mittel herzustellen, war mit dem Spruch vom 24. Juni 1911 erneut aufgeworfen. An diese ursprünglich von Sohm gestellte Frage (oben Nr. 328) knüpfte in den Auseinandersetzungen um den Fall Jatho vor allem Ernst Troeltsch 16 an (Nr. 340). Unter Verdeutlichung der Konsequenzen, die sich aus dem Fall Jatho für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche ergeben könnten, verlangte er, daß die Gewissensfreiheit nicht nur gegenüber der Kirche, sondern auch innerhalb der evangelischen Landeskirchen zu gewährleisten sei; jede Gemeinde müsse befugt sein, einen Pfarrer der von ihr bevorzugten theologischen Richtung zu wählen. Damit sollte sich nach Troeltschs Vorstellung die „Entstaatlichung" der Kirche verbinden, in der er die Alternative zum Modell der „Trennung" zwischen Kirche und Staat sah. Auf die Auswirkungen, die sich aus dem „Fall Jatho" für die Stellung der theologischen Fakultäten ergeben könnten, machte eine Gruppe von 37 Theologieprofessoren, unter ihnen auch Troeltsch, aufmerksam, die Anfang August 1911 mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit trat (Nr. 341).
Nr. 334. Konfirmationsbekenntnis, verfaßt von Pfarrer Carl Jatho von 189917 (Die Christliche Welt 25, 1911, Sp. 262) Mein Bekenntnis
und Gelübde am Tage meiner
Konfirmation
Ich glaube an den lebendigen Gott, den allmächtigen Schöpfer der Welt, der sie erhält m i t seiner K r a f t , der sie ordnet nach seiner Weisheit, der sie e r f ü l l t m i t seinem Leben; ich glaube an den Gott, der Geist ist u n d der i m Geist und i n der Wahrheit angebetet sein w i l l ; an den Gott, der die Liebe ist, der seine Liebe von Anbeginn geoffenbart u n d der auch mich zu sich gezogen hat aus lauter Güte. Diesem Gott w i l l ich m e i n Leben lang kindlich vertrauen, denn er ist mein Vater, und ich weiß, daß denen, die i h n lieben, alle Dinge zum Besten dienen. Sein W o r t soll meines Fußes Leuchte bleiben, sein W i l l e mein oberstes Gesetz. V o r i h m w i l l ich m e i n Herz aufdecken, alle meine Sünden i h m bekennen und i n aufrichtiger Heue seiner Gnade mich 15 Siehe M. Rade, Jatho u n d Harnack. I h r Briefwechsel (1911); Agnes v. Zahn-Harnack, A d o l f von Harnack (1936), S. 396 ff.; J. Rathje, Die Welt des freien Protestantismus (1952), S. 179 ff. 16 Ernst Troeltsch: oben S. 191, A n m . 11. 17 Jatho erläuterte das Bekenntnis i n seiner ergänzenden Stellungnahme f ü r das Spruchkollegium v o m 16. M a i 1911 (Text i m Auszug: G. v. Rohden, Der K ö l n e r Kirchenstreit, 1911, S. 33 f.). Aus dieser Stellungnahme ergibt sich die Datierung des Textes.
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getrösten, denn er ist treu und w i l l nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre von seinem Wesen und lebe. Ich glaube an den Herrn Jesum Christum, den Sohn Gottes, den Abglanz seiner Herrlichkeit u n d das Ebenbild seines Wesens, der m i r von Gott gemacht ist zur Weisheit u n d zur Gerechtigkeit, zur Heiligung u n d zur E r lösung. Er ist der Weg, die Wahrheit u n d das Leben, ohne i h n k a n n ich nicht zum Vater kommen; er ist der Weinstock u n d w i r die Reben, und i n der Lebensgemeinschaft m i t i h m bringen w i r Frucht; er ist der gute H i r t e u n d w i r die Schafe seiner Weide; er ist unser Meister und w i r seine Jünger; er ist unser Haupt, w i r sind die Glieder seines Leibes. I h m w i l l ich mein Leben lang nachfolgen, sein Joch auf mich nehmen u n d von i h m lernen, denn er ist sanftmütig und von Herzen demütig; i h n w i l l ich lieben, wie er die Menschen geliebt hat, i h m treu bleiben, w i e er getreu geblieben ist bis i n den Tod. M i t i h m w i l l ich geduldig leiden, m i t i h m Welt und Sünde überwinden, m i t i h m auferstehen zu einem neuen Leben u n d i n seinem Reiche danach trachten, daß ich durch i h n v o l l k o m m e n werde, wie mein Vater i m H i m m e l vollkommen ist. Ich glaube an den heiligen Geist, den Geist Gottes u n d unseres H e r r n Jesu Christi, der i n der Menschheit w i r k s a m ist u n d i n i h r die K i n d e r Gottes zur christlichen Gemeinde sammelt, ich glaube an den Geist der Wahrheit, der i n alle Wahrheit leitet, an den Geist der K r a f t , der Liebe u n d der Zucht, der das Menschenherz zu einem Tempel Gottes macht, u n d der bei m i r bleibt ewiglich. Damit dieser Geist i n m i r lebendig werde, w i l l ich dem Worte Gottes freudig mein Herz öffnen, die Predigt des Evangeliums fleißig hören u n d auch selbst lesen u n d forschen i n der Schrift. Unserer evangelischen Kirche, i n die ich heute als mündiges Glied eintrete, w i l l ich beständig treu bleiben, daß der Herr meine Seele erlöse von allem Übel und m i r i n Gnaden aushelfe zu seinem ewigen himmlischen Reiche. Amen.
Nr. 335. Aktenvermerk über die Besprechung zwischen Generalsuperintendent Umbeck und Pfarrer Jatho am 28. Februar 1910 (C. Jatho, Briefe, 1914, S. 269) Das Koblenzer Konsistorium teilt dem Pastor Jatho i n K ö l n durch den M u n d des Generalsuperintendenten Umbeck mit, daß er sich i n Z u k u n f t jeder Eigenmächtigkeit i n den liturgischen Formen zu enthalten habe, v i e l mehr müsse von i h m erwartet werden, daß er sich stricte an die Agende halte u n d insbesondere bei der Konfirmation das bezügliche Formular der Agende einschließlich des Apostolikums gebrauche. Pastor Jatho erklärt demgegenüber: Er sei bereit, sich i m allgemeinen und i m Geist des Evangeliums an die Agende zu halten, es sei i h m aber nicht möglich, seine Konfirmanden auf das Apostolikum zu verpflichten.
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Nr. 336. Fünf Fragen des Evangelischen Oberkirchenrats an Pfarrer Jatho v o m 7. Januar 1911 (G. v. Rohden, Der K ö l n e r Kirchenstreit, 1911, S. 1 ff.) W i r sehen uns veranlaßt, Ew. Hochehrwürden folgendes zu eröffnen. Bereits i m Jahre 1905 sind, wie Ihnen bekannt, ernste Beschwerden über die von Ihnen verkündigte Lehre aus der Gemeinde K ö l n erhoben worden. Sie haben indessen durch die i m Laufe des J u n i u n d August desselben Jahres stattgehabten mündlichen Unterredungen m i t dem H e r r n Generalsuperintendenten der Rheinprovinz und durch die i n deren Verlauf Ihrerseits abgegebenen, auch v o r dem Presbyterium i n K ö l n wiederholten entgegenkommenden Erklärungen einen vorläufigen Abschluß gefunden. A u f erneute Kundgebungen und Eingaben, die besonders durch Ihre gedruckten Predigten 1 8 veranlaßt waren, ist Ihnen sodann durch die Verfügung des Königlichen Konsistoriums i n Koblenz v o m 8. J u n i 1906, i m Vertrauen auf den Ernst I h r e r Gesinnung, der i n einer nochmaligen Unterredung m i t H e r r n Generalsuperintendenten D. Umbeck v o m 25. Januar v. J. seinen Ausdruck gefunden hatte, sowie i n dem Wunsche, die Ihnen v o m H e r r n verliehenen Gaben dem Dienst seiner Kirche erhalten zu sehen, zugleich auch i n unserem Namen wiederholt eine Erinnerung an die dem landeskirchlichen Geistlichen i n der Verkündigung der Lehre gezogenen Grenzen u n d die Mahnung ausgesprochen worden, sie nicht zu überschreiten. A b e r bereits gegen Ende desselben Jahres nötigten neuere Beschwerden, vor allem die durch I h r e n i n K ö l n über die Bedeutung des Abendmahls gehaltenen Vortrag entstandene, weitgehende Bewegung, das Königliche Konsistorium, Sie auf die nunmehr unausbleiblichen Folgen I h r e r H a l t u n g hinzuweisen und Ihnen f ü r den Fall, daß Sie nicht andere Wege einschlügen, die Disziplinaruntersuchung m i t dem Ziele der Amtsentsetzung i n Aussicht zu stellen 1 9 . A l l e diese Maßnahmen und E i n w i r k u n g e n sind, abgesehen von der Z u sage, keine Predigten mehr drucken zu lassen, soweit erkennbar, Ihrerseits ohne Beachtung geblieben. Vielmehr sind auch i n den Jahren 1908 und 1909 dauernd neue, insbesondere durch die von Ihnen i n auswärtigen Gemeinden gehaltenen V o r träge hervorgerufene Klagen und Beschwerden erhoben worden. Sie werden aber nicht verkennen, daß Klagen aus anderen Gemeinden ebenso schwer ins Gewicht fallen, wie die aus I h r e r eigenen Gemeinde. Dies u m so mehr, als durch I h r Auftreten i n anderen Gemeinden Erregungen i n diese hineinge18 C. Jatho, Predigten (1902); ders., Persönliche Religion. Predigten, Neue Folge (1905). 19 Die Dokumente zu diesen Abschnitten des „Falls Jatho" finden sich i n : Aktenstücke zum F a l l Jatho (Beilage zum Evangelischen Gemeindeblatt f ü r Rheinland u n d Westfalen 1907, Nr. 47); F. Wiegand, Kirchliche Bewegungen der Gegenwart. Eine Sammlung von Aktenstücken, Jg. 1, 1907 (1908), S. I f f . ; C. Jatho, Briefe (1914), S. 260 ff.
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tragen sind, u n d Sie damit selbst deren Gliedern das Recht zu Beschwerden i n die H a n d gegeben haben. Schließlich haben Sie Ostern 1910, u n d zwar trotz der ausdrücklichen A b m a h n u n g der dortigen kirchlichen Instanzen, i n Barmen einen Ostervort r a g gehalten, gegen den ein Protest des Presbyteriums bei uns eingegangen ist 2 0 . I m Verfolg dieser Beschwerde ist uns weiter die Reihe v o n A r t i k e l n v o r gelegt worden, die Sie i n den v o m Vereine für evangelische Freiheit herausgegebenen „Evangelische Gemeinde-Nachrichten aus K ö l n " , Jahrgang 1910, veröffentlicht, u n d die Sie auch bereits durch ein an den Synodal-Assessor Pfarrer Schmidt gerichtetes Schreiben v o m 31. August v. J. als aus I h r e r Feder stammend, anerkannt haben 2 1 . Aus diesen uns i n zusammenhängender Reihenfolge bis Ende August 1910 vorliegenden A r t i k e l n müssen w i r entnehmen, daß Sie sich nicht n u r von einzelnen christlichen Lehren, sondern von allem, was Christentum heißt, i n einem Maße entfernen, w i e es uns wenigstens bis dahin nicht entgegengetreten w a r u n d auch nach I h r e n dem Generalsuperintendenten Umbeck abgegebenen Erklärungen aus den Jahren 1905 und 1906 nicht angenommen werden konnte. Z w a r fehlten auch i n I h r e n gedruckten Predigten nicht die Stellen, die auf eine gleiche Grundanschauung, w i e die der A r t i k e l hinweisen. Ausdrücklich bestätigt werden die Ausführungen der letzteren durch ein uns vorliegendes Stenogramm des erwähnten Barmer Vortrages sowie durch die, w i e w i r zunächst annehmen müssen, zuverlässige Skizze einer von Ihnen i m J u l i 1910 i n K ö l n über den T e x t : „ D u bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt" 2 2 gehaltenen Predigt. Die A r t i k e l können also nicht als vereinzelte Übereilungen angesehen werden. Sie sind einer bestimmten und festen G r u n d anschauung entsprungen, sorgfältig gearbeitet, als Andachten f ü r die Gemeinde gedacht u n d an diese gerichtet. Sie fordern daher die gleiche Behandlung w i e die von der Kanzel geübte Verkündigung der Lehre. A u f Grund dieser I h r e r Kundgebungen n u n muß sich uns die Annahme aufdrängen, daß es I h n e n nicht, wie w i r I h r e r früheren Zusage gemäß hoffen zu dürfen glaubten, möglich gewesen ist, Ihre Lehrweise m i t der i n der Landeskirche maßgebenden, durch Schrift u n d Bekenntnis bestimmten, i n E i n k l a n g zu setzen oder doch wenigstens i h r anzunähern. Es scheint vielmehr, wie auch aus scharfen polemischen Äußerungen erhellt, daß innerlich der Gegensatz gegen die Kirche u n d ihre Lehre sich I h n e n verschärft hat. Unter diesen Umständen durften w i r uns nicht länger der Frage entziehen, ob bei diesem I h r e m Verhalten I h r ferneres Bleiben i m A m t e der Landeskirche noch angängig sei. 20 Vgl. C. Jatho, Briefe (1914), S. 269 ff. — Der Protest stammte nicht v o m Presbyterium, sondern v o m Kreissynodalvorstand i n Barmen; die irrige Angabe w u r d e v o m Oberkirchenrat später korrigiert (vgl. seinen Beschluß i m Disziplinarverfahren gegen G. Traub v o m 5. J u l i 1912, i n : A l l g . Kirchenblatt f ü r das evg. Deutschland, 1912, S. 759; i m Auszug unten Nr. 344). 21 Z u m größten T e i l abgedruckt i n : C. Jatho, Fröhlicher Glaube (1910). 22 Psalm 2, 7.
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Da indessen nach dem inzwischen i n K r a f t getretenen Kirchengesetze v o m 16. März 1910 (K. G. u. V. Bl. S. 7 ff.) 23 ein disziplinares Einschreiten gegen einen Geistlichen wegen I r r l e h r e nicht mehr stattfindet, so haben w i r pflichtgemäß i n die Erwägung eintreten müssen, ob die Angelegenheit dem durch das genannte Gesetz geschaffenen Spruchkollegium zu überweisen sei, das seinerseits die Entscheidung darüber zu treffen hat, ob Sie „ m i t dem Bekennntnis der Kirche dergestalt i n Widerspruch getreten sind, daß Ihre fernere W i r k s a m k e i t innerhalb der Landeskirche m i t der f ü r die Lehrverkündigung allein maßgebenden Bedeutung des i n der Heiligen Schrift verfaßten u n d i n den Bekenntnissen bezeugten Wortes Gottes unvereinbar ist" (§ 1 a. a. O.). I n dem uns gemäß § 2 Abs. 2 des Gesetzes erstatteten Berichte hat das Königliche Konsistorium i n Koblenz uns seine Auffassung dahin vorgetragen, daß der Versuch einer Beseitigung der Bedenken i m Wege wiederholter persönlicher Besprechung, insbesondere durch V e r m i t t e l u n g des Generalsuperintendenten, aussichtslos erscheine. W i r können uns dieser Auffassung f ü r die schon v o r dem I n k r a f t t r e t e n des Gesetzes anhängig gewordene A n gelegenheit i m H i n b l i c k auf die i m Laufe des Verfahrens wiederholt — auch durch V e r m i t t l u n g des Generalsuperintendenten — m i t I h n e n stattgehabten Besprechungen u m so mehr anschließen, als eben die Resultatlosigkeit dieser Besprechungen die gegenwärtige Lage herbeigeführt hat. Sie w o l l e n uns daher behufs der uns obliegenden K l a r s t e l l u n g der i n Betracht kommenden Punkte (§3 des Gesetzes) folgende Fragen k l a r beantworten. 1. Sie reden i n den oben erwähnten A r t i k e l n von einem Gott, der das „ewige Werden" ist u n d als die „unendliche E n t w i c k l u n g des Weltalls" begriffen werden muß (S. 14). Er ist „das Bewegliche", das „erst i n deinem Ich sich personifiziert hat", das „Allsein", bei dem „zwischen Gott u n d der Welt keine K l u f t besteht" — es gibt da keine Unterschiede des Wesens, sondern n u r Mannigfaltigkeit u n d Eigenart der K r a f t u n d der F o r m ; u n d auch diese Form ist ewigem Wechsel unterworfen, ist n u r eine Welle i m unendlichen Strom, gedrängt und drängend, gehoben u n d i m Sinken hebend" (S. 157. 158). Erkennen Sie diese u n d ähnliche überall bei Ihnen wiederkehrende Äußerungen, i n denen Sie ganz unabweislich unter Gott den unendlichen, sich immer erneuernden, n u r i n seiner steten Veränderlichkeit unveränderlichen Prozeß des Werdens verstehen, aus dem alles entsteht, u n d i n dem alles wieder untergeht, als die Lehre von Gott an, die Sie bei I h r e r V e r k ü n d i gung an die Gemeinde zugrunde legen? 2. Es entspricht der Konsequenz dieses Gottesbegriffs, wenn der Gedanke der Religion Ihnen aufgeht i n dem „ K u l t u s der Idee, der Loslösung aus den Banden der Sinnlichkeit" (S. 339), k r a f t deren „die Seele entbrennt i n glühender Sehnsucht über sich selbst hinaus" (S. 2). Sie behaupten eine „Gleichberechtigung aller Religionen", die ihnen aus dem Gedanken der 23
Oben Nr. 331.
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göttlichen Allgegenwart folgt (S. 350), während das Geschichtliche n u r „das Gleichnis des Übergeschichtlichen", „das A b b i l d eines göttlichen Lebensstromes ist, der ursprünglich durch die Geschlechter der Menschen dahinfließt" (S. 97). Bekennen Sie sich zur Verkündigung dieser Lehre gegenüber dem A n spruch des Christentums, die Religion zu sein, die auf der i n die Geschichte hineingetretenen und i n Christo vollendeten Offenbarung Gottes beruht? 3. Sie lehren, wiederum folgerecht dem unter P u n k t 1 skizzierten Gedanken entsprechend, daß w i r „nicht als arme Sünder, sondern als Gotteskinder v o l l göttlicher Schönheit der Lebensfülle geboren worden" (S. 14), „heilig die Gottheit, darum heilig die Welt, heilig das Leben, heilig die N a t u r u n d vor allem heilig der Mensch" (S. 242). Ist dies die von Ihnen verkündigte Lehre v o m Menschen, m i t der Sie dem sittlichen Ernst des christlichen Gewissens u n d der i n i h m begründeten Erkenntnis von Sünde und Schuld Ihrerseits zu entsprechen meinen? 4. Jesus Christus ist die „fließende Größe, die tausendmal sich i m Laufe der Zeiten gewandelt hat" (S. 301), belastet m i t „Gegenwartsinteressen", von denen er selbst „erst erlöst werden muß" (S. 98), an seiner Sache verzweifelnd gestorben, und erst durch seinen F a l l von dem „befreit, was etwa noch von Regungen niederer A r t i n i h m lebte" (S. 122). Die i h m zukommende Verehrung geht daher nicht über „Heldenverehrung" hinaus (S. 121), über die „Anerkennung, daß der Durchschnittsmensch nicht den M u t besitzt, sein Leben f ü r seine Uberzeugung i n die Schanze zu schlagen" (S. 122). Jesus ist der Anreger von Ideen, die „sich nicht i n seiner Person erschöpfen" (S. 97), u n d hat daher n u r eine geschichtliche zufällige Bedeutung. Das Prädikat der Notwendigkeit k o m m t lediglich dem i n jedem Zeitalter neu zu erzeugenden und i n diesem Sinne „lebendigen" „Christus", zu (S. 314). „Das Leben allein k a n n dich erlösen, das Leben ist dein Heiland u n d dein Versöhner, dein H e r r u n d dein Befreier, dein Richter und dein Fürsprecher, m i t einem Wort: dein Christus" (S. 302). Erkennen Sie i n diesen Ausführungen die Richtschnur I h r e r Lehre Predigt und Unterricht?
in
5. Sie lehren, wiederum i n Konsequenz Ihres Gottesbegriffs, daß w i r „aus Gott erzeugt, von i h m auch wieder verschlungen" werden, u m seine „Zeugungskraft zu vermehren und zu vertiefen" (S. 158). Bekennen Sie sich zur Verkündigung dieser Lehre, die ein ewiges Leben i n Gestalt einer persönlichen Fortdauer ausschließt? 6. Wenn Sie m i t allen diesen, wesentlich i n der I h r e m Gottesbegriff zugrunde liegenden Anschauung beruhenden Ausführungen nicht n u r m i t einzelnen Lehrmeinungen, sondern m i t den grundliegenden Gedanken des christlichen Glaubens, das heißt also m i t der christlichen Religion selbst, sich i m Widerspruch befinden, so müssen w i r die bestimmte E r k l ä r u n g von Ihnen fordern, ob sie an I h r e r Lehre festzuhalten gesonnen sind. Ihrer A n t w o r t sehen w i r binnen 14 Tagen entgegen.
I I . Der Fall Jatho
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Nr. 337. Erwiderung des Pfarrers Jatho an den Evangelischen Oberkirchenrat v o m 26. Januar 1911 (G. v. Rohden, Der K ö l n e r Kirchenstreit, 1911, S. 15 ff.) — Auszug — Dem Hochwürdigen Evangelischen Oberkirchenrat erlaube ich m i r auf den Erlaß v o m 7. Januar 1911 . . . das Nachstehende ergebenst zu erwidern. ad 1. Das wäre f ü r w a h r ein schlechter Prediger, der Gott anders v e r k ü n digte, als er i h n erlebt. Der Gottesglaube und die Gottesgemeinschaft sind nach meiner Erfahrung das beweglichste Element des religiösen Lebens. A u f keinem anderen Gebiete sind die Berührungen so vielseitig und vieldeutig, die Verbindungsfäden so verborgen, die Möglichkeiten verstandesmäßigen Erkennens u n d Darstellens so gering. Nirgends fließt aber auch der Strom des Lebens so mächtig, nirgends werde ich so v o n seiner K r a f t überwältigt als eben i m Verkehr m i t Gott. Was ich von i h m aussage, ist daher keine i n sich abgeschlossene Gotteslehre, sondern ein Versuch, das innerlich Geschaute und Empfundene meinen Hörern und Lesern so anschaulich zu machen, w i e es m i r selbst v o r dem inneren Auge steht. Dabei bediene ich mich meistens der Sprache einer religiösen Symbolik, zuweilen aber drängt es mich auch, alles Sinnbildliche abzustreifen u n d das Wesen der Gottheit sachlich zu beschreiben, soweit das an sich möglich ist. Dahin gehören Bezeichnungen w i e „ewiges Werden", „unendliche Entwicklung des Alls", „ A l l s e i n " und ähnliche. Sie dienen m i r dazu, die Vorstellung eines außerweltlichen Gottes zurückzuweisen. Ich glaube an die Immanenz Gottes i n der Welt, w e i l ich an eine unendliche und ewige Welt glaube. Gott hat die Welt aus sich entwickelt, gestaltet, nicht von außen her ins Dasein gerufen. Ich k a n n m i r keinen zeitlich bestimmten Schöpfungsakt denken, sondern Gottes Walten ist ewige Schöpfung. U n d was der Katechismus „ E r h a l t u n g der W e l t " nennt, erkläre ich m i r als Gesetz der Notwendigkeit des Lebens. Das Leben i m weitesten Sinn des Wortes, das Alleben u n d Einzelleben, als organisches u n d u n organisches, als geistiges u n d körperliches, sittliches und religiöses, ist m i r „die Fülle der Gottheit". Leibhaftig w i r d diese Fülle i m Menschen, d. h. sie findet i m Menschen ein Organ, welches imstande ist, die Gottheit zu objektivieren, sie als Gegensatz zu begreifen oder zu fühlen und diesen Gegensatz wieder aufzuheben. I m Menschen k o m m t es daher zu bewußten, d. h. persönlichen, sittlichen und religiösen Beziehungen zur Gottheit, welche dann von Gott bewußt aufgenommen werden u n d sich darstellen als Liebe u n d Gegenliebe, als Glaube und Offenbarung, als Hoffnung u n d Erfüllung. I m Menschen verdammt Gott und spricht frei, erniedrigt und erhöht er, tötet und macht lebendig, f ü h r t i n die Hölle u n d wieder heraus, und zwar alles i n beständiger und bewußter Wechselwirkung von i h m auf mich, von m i r auf ihn. Dies Verhältnis finde ich als ein väterlich-kindliches, so daß ich sagen kann: mein Vater und ich sind eins.
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17. Kap.: Evangelische L e r k o n f l i k t e
Gottinnigkeit ist m i r wichtiger als Gotteserkenntnis, Bezeugung seiner K r a f t w e r t v o l l e r als ein i n Worte faßbares Bekenntnis zu irgendeiner V o r stellungsform seines Wesens. Meine Predigt, mein Unterricht, meine Seelsorge zielen einzig auf Erweckung göttlicher K r a f t . Ob ich zu diesem Ziele m i t H i l f e der i n den Bekenntnissen der Kirche niedergelegten Gottesvorstellungen gelange oder durch die praktische Verwertung irgendeiner anderen, nicht kirchlich approbierten, Gottesidee ist m i r an sich gleichgültig. E i n I n t e r esse habe ich an dieser Frage n u r insofern, als ich bei meiner Wirksamkeit unter allen Umständen i m E i n k l a n g bleiben muß m i t meinem inneren E r leben u n d meiner persönlichen religiösen Erfahrung. Denn „das persönliche höhere Leben u n d die E t h i k sind das einzige Gebiet, auf welchem w i r Gott zu begegnen vermögen" — w i e Harnack zutreffend i n seinem auf dem v o r jährigen Berliner Weltkongreß f ü r freies Christentum usw. gehaltenen V o r trag bemerkt 2 4 . . . . Das Vertrauen, welches m i r meine Gemeinde entgegenbringt, beruht zum guten T e i l auf meinem Vertrauen zu ihr, daß ich i h r alles sagen darf, was m i r das Herz bewegt. Wankte dies mein Vertrauen, ertappte ich mich bei meiner W i r k s a m k e i t auf einem Gehorsam gegen Instanzen, welche außerhalb der lebendigen Wechselbeziehungen zwischen meiner Gemeinde u n d meiner Person bestehen, so wäre m i r alle K r a f t zu pastoraler Tätigkeit unterbunden. Wenn ich also den von m i r jederzeit geachteten und i n i h r e m W o h l w o l l e n dankbar anerkannten Ermahnungen des Hochwürdigen Oberkirchenrats u n d des Königlichen Konsistoriums der Rheinprovinz nicht so gefolgt bin, wie m a n es erwartete, so beruht das weder auf Eigenmächtigkeit noch auf m u t w i l l i g e m Widerstreben, sondern auf einer inneren Unmöglichkeit. Ich k a n n es nicht. ad 2. Meine Auffassung der Religion als K u l t u s der Idee, als Pflege bewußter Beziehungen des Einzellebens zum Alleben, als Loslösung aus den Banden der Sinnlichkeit, als einer Sehnsucht der Seele über sich selbst hinaus, widerspricht nicht dem „Anspruch des Christentums, die Religion zu sein, die auf der i n die Geschichte hineingetretenen Offenbarung Gottes i n Christo beruht". Jede geschichtliche Religion ist m i r eine i n die Geschichte eingetretene Offenbarung Gottes. W a r u m nicht auch das Christentum? Was ich aber bestreite, ist die Anschauung, daß die christliche Religion die i n Christo vollendete Offenbarung Gottes sei. Ich b i n der Meinung, daß diese Offenbarung i n Christus ihren Anfang genommen hat u n d bis heute noch nicht vollendet ist. . . . Es ist also hier alles i m Fluß, u n d daher ist auch ein endgültiges W e r t u r t e i l verfrüht. Ich halte das Christentum für diejenige Religion, welche bis jetzt i m großen u n d ganzen die übrigen historischen Religionen an r e l i giöser, sittlicher u n d k u l t u r e l l e r Lebenskraft übertroffen hat. Das schließt aber nicht ein, daß es die allein wahre oder allein berechtigte Religion sei. Mögen alle Religionen der Erde i n friedlichem Wetteifer an dem Fortschritt 24 A. Harnack, Das doppelte Evangelium i m Neuen Testament, i n : ders., Aus Wissenschaft und Leben, Bd. 2 (1911), S. 211 ff. (223).
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der Menschheit zu i m m e r erneuter humaner Regeneration arbeiten, dann w i r d das Christentum die reichste u n d vielseitigste Gelegenheit zur E n t faltung seiner eigenartigen K r ä f t e finden. ad 3. Ich leugne weder des Menschen Sünde noch seine Schuld, aber ich glaube nicht, daß der Mensch i n Sünden geboren w i r d , u n d daß er von N a t u r untüchtig sei zum Guten. . . . I m Gleichnis v o m verlorenen Sohn w i r d die Selbsterlösung i m entscheidenden Willensakt der Buße offenkundig gelehrt. K e i n Bürge, kein Fürsprecher t r i t t f ü r den Verlorenen ein. Der Vater braucht nicht erst versöhnt zu werden, am allerwenigsten durch das Opfer eines Dritten. Es ist alles bereit, was die kühnste Phantasie an göttlicher Liebeskraft u n d Mitfreude auszudenken vermag. Wer w i l l diesen klaren Jesusgedanken gegenüber einem evangelischen Prediger das Recht bestreiten auf den Glauben, daß w i r nicht als arme Sünder, sondern als Gotteskinder v o l l göttlicher Lebensfülle geboren werden? Wenn der Sohn i m Gleichnis dem eigenen Vater heilig ist, dann dürfte uns der Mensch nicht heilig sein? U n d m i t dem Menschen nicht das Leben, das er zum höchsten Seelenadel zu steigern imstande ist? U n d m i t dem Leben nicht die Welt, die Natur, das allumfassende Sein? . . . ad 4. Daß die geschichtliche Person Jesu m i t Gegenwartsinteressen belastet ist, k a n n niemandem zweifelhaft sein, der sie aus der synoptischen Überlieferung kennt. Ich nenne n u r die Messiasidee u n d die Parusieerwartung, zwei Faktoren, welche auf Jesu sittliche u n d religiöse Anschauung stark, oft direkt bestimmend, eingewirkt haben, während sie uns n u r noch ein geschichtliches Interesse abgewinnen. Die Parusie ist i n der Gestalt, wie Jesus und seine nächste Nachwelt erwarteten, nicht eingetreten, w i r d auch so niemals eintreten, und damit ist auch die auf jüdischem Boden erwachsene und m i t den populären Endvorstellungen verflochtene Messiasidee religiös wertlos geworden. W i r müßten auch hier regenerieren oder ignorieren. D r u m ist's eine dankenswerte Aufgabe, daß die kritische Theologie „Erlösung dem Erlöser" zu bereiten versucht, indem sie sich bemüht, die bleibenden Werte von den bloß zeitgeschichtlichen zu sondern. Wenn ich behaupte, daß Jesus an seiner Sache verzweifelnd gestorben sei, so habe ich i n diesem Stück den Markus u n d den Matthäus zu Zeugen 2 5 . Wenn spätere Uberlieferungen anders lauten, so w i r d dadurch mein gutes Recht nicht aufgehoben, mich an die älteste zu halten. Zudem erscheint m i r gerade diese T r a g i k i n Jesu Leben u n d Kämpfen so groß und gewinnend, daß ich mich zu dem i m Unterliegen Siegenden w e i t stärker hingezogen fühle, als zu einer Jesusgestalt, wie sie etwa das Johannesevangelium schildert. Waren i n Jesu gar keine Regungen niederer A r t , also kein Bangen, kein I r r e n mehr möglich, dann sind auch keine Siege seines Geistes über das Fleisch zu verzeichnen. Harnack hat doch w o h l recht, wenn er „jede Aussage über Jesus, die sich nicht i n dem Rahmen hält, daß er ein Mensch war, für 25
Vgl. Matthäus 27, 46; Markus 15, 34.
49 Huber. Staat und Kirche, 3. Bd.
770
17. Kap.: Evangelische L e r k o n f l i k t e
unannehmbar" erklärt, w e i l sie m i t dem geschichtlichen Lebensbilde Jesu streite 2 6 . N u n weiß ich aber sehr wohl, daß dies geschichtliche Lebensbild, so gut oder schlecht es sich noch eruieren läßt, keine andere Bedeutung f ü r uns Heutigen haben kann, als eine pädagogische. W i r können dadurch zur Heldenverehrung anreizen u n d starke ethische Triebe wecken. Das ist i m m e r h i n wertvoll, u n d besonders f ü r den Unterricht der Jugend v o n höchster Bedeutung. Soll aber die Person Jesu eine religiöse W i r k u n g ausüben, so muß sie aus dem Rahmen der Geschichtlichkeit herausgehoben, sie muß vergeistigt werden. Aus der Person muß die Idee des Christus herauswachsen. . . . ad 5. Uber die persönliche Fortdauer des einzelnen nach dem Tode habe ich m i r , w i e w o h l jeder nachdenkliche Mensch, vielfach u n d ernstlich Gedanken gemacht. Ich b i n aber nie zu einer Gewißheit gekommen. Auch die B i b e l gibt sie m i r nicht. . . . D a r u m halte ich es i n Predigt u n d Grabrede derart, daß ich von einem Jenseits überhaupt nicht spreche, also auch nicht gegen den Jenseitsglauben polemisiere. Ich lasse einem jeden seine Gedanken über diese Dinge u n d freue mich, w e n n sie i h n zufriedenstellen. U n d w e n n mich einer fragt, was ich m i r f ü r meine Abschiedsstunde wünsche, so antworte ich i h m : Nichts Besonderes, lieber Freund, u n d nichts K o m p l i z i e r tes; erwarten w i r r u h i g den L a u f der Dinge u n d rüsten w i r uns auf alles, aber ohne Furcht. Sollten w i r nicht wieder erwachen, so ist es gut; gibt es aber außer der erfahrungsgemäßen noch eine andere F o r m persönlichen Daseins, so ist es auch gut — dann w i r d sie irgendwie eine vollkommnere sein. U n t e r allen Umständen w o l l e n w i r aber sorgen, daß w i r uns i n denen überleben, welchen w i r von unserem gegenwärtigen Leben etwas mitteilen durften, sei es körperlich u n d geistig, u n d daß die Erinnerung an uns eine dankbare, Lebenswerte schaffende u n d Frieden stiftende sei. Dann kehren w i r i m realsten Sinne des Wortes zu Gott zurück, u m seine Zeugungskraft zu vermehren oder zu vertiefen. ad 6. Sie fordern v o n m i r eine bestimmte Erklärung, ob ich an meiner Lehre festzuhalten gesonnen b i n 2 7 . Dürfen Sie, hochverehrte Herren, es w i r k lich wünschen, daß ich darauf m i t einem Nein antworte? K ö n n t e n Sie mieli noch achten, w e n n ich es täte? Wäre I h n e n f ü r die protestantische Kirche, die Sie zu hüten u n d zu pflegen berufen sind, m i t Männern gedient, welche widerrufen? N i m m e r m e h r ! U n d so k a n n u n d w i l l auch ich nicht widerrufen, solange ich nicht aus der B i b e l oder sonst m i t hellen u n d klaren Gründen der V e r n u n f t eines Besseren belehrt w e r d e 2 8 ; denn es ist weder sicher noch 26 Harnack, a. a. O., S. 223. — Z u der Kontroverse, ob Jatho sich auf Harnacks Jesusverständnis berufen könne, vgl. den Briefwechsel zwischen beiden: M. Rade (Hrsg.), Jatho u n d Harnack. I h r Briefwechsel (1911); C. Jatho, Briefe (1914), S. 310 if. 27 Der folgende Abschnitt w a r Jatho so wichtig, daß er i h n i n seine Samml u n g kirchlicher Besinnungen aufnahm: Der ewig kommende Gott (1913), S. 26 f. 28 Jatho übernahm hier die Formel, m i t der Luther 1521 auf dem Reichstag i n Worms die Aufforderung zum Widerruf beantwortete (nisi convictus fuero testimoniis scripturarum aut ratione evidente; siehe M. Luther, Werke, W e i marer Ausgabe, Bd. 7, S. 831 ff.).
I I . Der F a l l Jatho
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geraten, etwas w i d e r das Gewissen zu tun. Ich w i l l meine Überzeugungen, die ich m i r i n vierzigjähriger ernster Lebensarbeit erworben habe, weiter vertreten u n d weiter verkündigen, u n d zwar w i e bisher ohne alle Furcht m i t großer Freudigkeit des Herzens. Denn diese Überzeugungen sind mein Gott u n d meine Welt, meine Schuld u n d meine Erlösung, meine Schwachheit u n d meine K r a f t . Ich b i n gewiß, daß ich mich, auf ihnen beharrend, weder m i t den grundlegenden Gedanken des christlichen Glaubens noch m i t der christlichen Religion selbst i m Widerspruch befinde. W o h l i m Widerspruch m i t einzelnen Stücken der Kirchenlehre. A b e r das ist j a gerade die zu lösende Frage, ob diese von m i r abgelehnten Stücke w i r k l i c h die grundlegenden Gedanken der christlichen Religion sind. Ich behaupte: nein. Sie, hochverehrte Herren, werden wahrscheinlich sagen: ja. Wer v o n uns beiden recht hat, k a n n nicht entschieden werden, w e i l es dazu i n einer protestantischen Kirche keine maßgebende Instanz gibt. Die christliche Religion ist eine geschichtliche Größe u n d darum entwicklungsbedürftig u n d entwicklungsfähig. Wer i h r Prediger bleiben w i l l , muß also beides i n sich selbst erleben u n d i m m e r wieder erleben! Entwicklungsbedürftigkeit u n d E n t w i c k lungsfähigkeit. W i r Jesusfreunde u n d Jesusjünger müssen auch darin unserem Meister gleichen, daß w i r keine Ruhestätte des inneren Lebens kennen, als höchstens ein stilles Plätzchen, w o w i r vorübergehend zu kurzer Rast das H a u p t hinlegen. I m übrigen sind w i r verpflichtet, da w i r die H a n d an den Pflug gelegt haben, nicht rückwärts zu schauen; sonst w ä r e n w i r nicht geschickt zum Reiche Gottes 2 9 . . . .
Nr. 338. Entscheidung des Spruchkollegiums der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union betr. die Amtsenthebung des Pfarrers Jatho v o m 24. J u n i 1911 (G. v. Rohden, Der K ö l n e r Kirchenstreit, 1911, S. 43 ff.) I n dem Feststellungsverfahren, betreffend den Pfarrer K a r l Jatho i n K ö l n , hat das Spruchkollegium f ü r kirchliche Lehrangelegenheiten i n der Sitzung am 24. J u n i 1911, an welcher teilgenommen haben: 1. D. Voigts, Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats, Wirklicher Geheimer Rat, als Vorsitzender, 2. D. Dryander, Vizepräsident des Evangelischen Oberkirchenrats, Oberhofprediger, 3. D. Moeller, Wirklicher Oberkonsistorialrat, 4. D. Koch, Wirklicher Oberkonsistorialrat, sämtlich i n Berlin, 5. D. Dr. Haußleiter, Geheimer K o n sistorialrat, ordentlicher Professor der Theologie i n Greifswald, 6. D. Dr. Loofs, Geheimer Konsistorialrat, ordentlicher Professor der Theologie i n Halle an der Saale, 7. D. Graf v. Hohenthal, Schloßhauptmann, Königlicher K a m m e r herr, M a j o r a.D. auf Dölkau, 8. D. Wetzel, Superintendent i n Neumark (Pommern), 9. D. Dr. Kahl, Geheimer Justizrat, ordentlicher Professor der Rechte i n Wilmersdorf bei Berlin, 10. lie. Mettgenberg, Geheimer Konsistorialrat i n Koblenz, 11. Stursberg, Superintendent i n Bonn, 12. D. Hafner, Pfarrer i n Elberfeld, 13. D. Conze, Geheimer Kommerzienrat i n Langenberg (Rheinland), folgenden Spruch verkündet: 29
49*
Lukas 9, 62.
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Das Spruchkollegium f ü r kirchliche Lehrangelegenheiten stellt nach seiner freien aus dem ganzen Inbegriff der Verhandlungen u n d Beweise geschöpften Überzeugung k r a f t §11 des Kirchengesetzes betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen v o m 16. März 191030 fest, daß eine weitere Wirksamkeit des Pfarrers Jatho i n K ö l n innerhalb der evangelischen Landeskirche der älteren Provinzen Preußens m i t der Stellung, die er i n seiner Lehre zum Bekenntnis der Kirche einnimmt, unvereinbar ist. So beschlossen i n der Sitzung v o m 24. J u n i 1911. Gründe Mittels Schreibens v o m 27. März 1911 hat der Evangelische Oberkirchenrat dem Spruchkollegium f ü r kirchliche Lehrangelegenheiten mitgeteilt, w i e er die Sachlage als danach angetan erachte, daß über die Lehrverkündigung des Pfarrers Jatho i n K ö l n eine Entscheidung des Spruchkollegiums herbeigeführt werde. A u f G r u n d der dabei überwiesenen V e r handlungen, insbesondere auf G r u n d zahlreicher i n den Evangelischen Gemeindenachrichten aus K ö l n von Pfarrer Jatho veröffentlichter Andachten, sowie auf G r u n d der Vernehmung des Pfarrer Jatho am 21. A p r i l 1911 und der mündlichen Verhandlungen v o m 23. und 24. J u n i 1911, unter besonderer Berücksichtigung der dabei von Pfarrer Jatho selbst abgegebenen E r k l ä r u n gen hat das Spruchkollegium die Überzeugung gewinnen müssen, daß eine weitere Wirksamkeit des Pfarrers Jatho innerhalb der Landeskirche m i t der Stellung, die er i n seiner Lehre zum Bekenntnis der Kirche einnimmt, unvereinbar ist. I m einzelnen gründet sich dieses Ergebnis auf folgende Feststellungen: 1. I n bezug auf das Grundverhältnis von Gott u n d Welt lehrt Pfarrer Jatho: „Gott ist die uranfängliche K r a f t , von der w i r nicht wissen, ob sie ursprünglich b l i n d w a r u n d erst i n ihrer Verfeinerung zur Geisteskraft i m Menschen sehend geworden ist, oder ob sie als ewige Vernunft und ordnende Weisheit die erste Bewegung i m A l l hervorrief." I m ersteren Sinne lehrt Pfarrer Jatho: erst i n der Liebe, die Menschen üben, „ k o m m t seine (Gottes) Liebe zum Bewußtsein ihrer selbst, w i r d aus einer unbewußten N a t u r k r a f t zu einer sich selbst bestimmenden Geisteskraft", „Gott ist das ewige Werden", „die Notwendigkeit des Lebens", „die W i r k l i c h k e i t des Lebens", „des Menschen anderes Ich", „Sämann und Samen i n einem, ewige K r a f t i m ewigen Stoff, Gott f ü r unseren Glauben und Welt f ü r unsere Erfahrung"; „das Leben i m weitesten Sinne des Wortes, das Alleben und Einzelleben, als organisches u n d unorganisches, als geistiges u n d körperliches, sittliches u n d religiöses ist die Fülle der Gottheit", u n d „leibhaftig w i r d diese Fülle i m Menschen", „Gott ist n u r i n dir, du Menschenkind, n u r i n dir lebt Gott als Gott, als heilige, segnende, erlösende Liebe." Wenn Pfarrer Jatho, i n der mündlichen Verhandlung der oben erwähnten zweiten Alternative den Vorzug gegeben hat, „falls n u r die göttliche V e r n u n f t nicht nach Maßgabe der menschlichen vorgestellt werde", u n d wenn Oben Nr. 331.
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er betont, daß die Frömmigkeit dem Gott, den der Mensch „ i n sich erweckt", betend sich gegenüberstellen könne — so werden doch auch diese Gedanken i n seiner Lehrverkündung durch Ausführungen i m Sinne der ersten A l t e r native durchaus i n den Hintergrund gedrängt. Solche Lehrverkündungen des Pfarrers Jatho stehen m i t der christlichen Gotteserkenntnis i m Widerspruch. Das Vertrauen zu Gott, dem Vater i m Himmel, der ursprünglichste Ausdruck christlicher Frömmigkeit, verliert i m Zusammenhang dieser religiösen Weltanschauung den festen Grund und unentbehrlichen Halt. 2. Pfarrer Jatho lehrt weiter i n bezug auf die Offenbarung: „Die erschöpfende und allumfassende Offenbarung erfolgt i m Dasein, i m Weltganzen", „die höchste und letzte, die vollendete i m Menschen" — und i n bezug auf den Anspruch des Christentums, die Religion zu sein, welche auf der in die Geschichte hineingetretenen u n d i n Christo vollendeten Offenbarung Gottes beruht: „ A u f diesem Gebiete ist — so heißt es i n bezug auf die A n sichten über Gott u n d Mensch, über das Gute u n d Böse — jede Meinung berechtigt, die ehrlich gewonnen und k l a r durchdacht ist"; „Gottes Allgegenw a r t bedeutet die Gleichberechtigung aller Religionen"; „was ich bestreite, ist die Anschauung, daß die christliche Religion die i n Christo vollendete Offenbarung Gottes sei, ich b i n der Meinung, daß die Offenbarung i n Christo ihren Anfang genommen hat u n d bis heute noch nicht vollendet ist, i d i halte das Christentum f ü r diejenige Religion, welche bis jetzt i m großen und ganzen die übrigen historischen Religionen an religiöser, sittlicher und kultureller Lebenskraft übertroffen hat, das schließt aber nicht ein, daß es die allein wahre oder allein berechtigte Religion sei." I m Unterschiede v o m christlichen Glauben, der seines festen Grundes sich bewußt ist, schiebt hier ein uneingeschränkter Subjektivismus die geschichtliche Offenbarung beiseite; „auch das Christentum muß nach Pfarrer Jatho durch Offenbarungen der Gegenwart weitergeführt werden, und zwar vertieft u n d erweitert sich dabei nicht n u r die Kenntnis von Gott und W e l t " — „Gott und Welt selbst wachsen m i t dem Menschengeist". — 3. Schuld und Sünde w i l l Pfarrer Jatho zwar nicht leugnen, aber er lehrt doch: „Der Schaden an der Seele ist schlimm, w e i l der Mensch dadurch seine Seele zur Kraftlosigkeit verdammt, nicht w e i l man dafür eine Strafe befürchten müßte nach dem Tode in einer anderen Welt, auch nicht, w e i l ein fremder Gesetzgeber da wäre, der da sagte: ,Du darfst deine Seele nicht verletzen', ,wer büßt, verneint sein altes Leben, nicht w e i l es i h m leid ist, es gelebt zu haben, sondern w e i l i h n nach stärkerem Leben dürstet'." I n bezug auf die von i h m m i t der Heiligen Schrift als die höchste Tugend gepriesene Liebe vermag Pfarrer Jatho, das Leben hochpreisend, ohne jede Einschränkung auszusprechen: „Der Augenblick, dem der Mensch seine Entstehung verdankt, ist die heiligste Feier des Lebens"; „ i m Augenblick, wo ein Mensch entsteht, feiert die Liebe ihren höchsten T r i u m p h " . Eine i n der Geschichte geschehene Erlösung, der Gedanke, daß die Menschen ihrer Sünde wegen einen Bürgen der Liebe Gottes, einen Fürsprecher bedürfen, w i r d ausdrücklich zurückgewiesen; dagegen w i r d „Selbsterlösung" gelehrt, „Selbstbefreiung von allem Argen, Selbsterlösung zu allem Guten —
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17. Kap.: Evangelische L e r k o n f l i k t e
u n d beides i n eigener K r a f t " . Eine solche L e h r v e r k ü n d u n g vermag die Heiligkeit Gottes u n d den Abstand des sündigen Menschen v o n dem heiligen Gotte niemandem zum Bewußtsein zu bringen. Sie läßt daher f ü r ein V e r ständnis des Christentums als Erlösungsreligion nicht n u r keinen Raum, vielmehr werden hier dem Evangelium v o n der Erlösung unüberbrückbare Hindernisse i n den Weg gelegt. 4. Der geschichtliche Jesus ist nach Pfarrer Jathos L e h r v e r k ü n d u n g „ein frommer Mensch gewesen", „eine Größe der Vergangenheit", die „ i h r Augenblicksdasein verlor". Das Lebensbild dieser geschichtlichen Person, „so gut oder schlecht es sich noch eruieren läßt, k a n n keine andere Bedeutung f ü r uns Heutige haben, als eine pädagogische; w i r können dadurch zur Heldenverehrung anreizen u n d starke ethische Triebe wecken"; „die Verehrung des Gekreuzigten ist Heldenverehrung", — „Soll aber die Person Jesu eine religiöse W i r k u n g ausüben, so muß sie aus dem Rahmen der Geschichtlichkeit herausgehoben, sie muß vergeistigt werden, aus der Person muß die Idee des Christus herauswachsen." Der „lebendige Christus ist die Christusidee", „das stets wiedergeborene Lebensideal", „das über sich selbst hinausgewachsene Ideal des Menschen, das Leben, das Spiegelbild unserer heiligsten u n d seligsten Erfahrungen". „Das Leben allein k a n n dich erlösen, das Leben ist dein Heiland u n d dein Versöhner, dein H e r r u n d dein Befreier, dein Richter u n d dein Fürsprecher, m i t einem W o r t : dein Christus." Der „lebendige" ist „der Christus", w e i l er eine „fließende Größe" ist: „Jedes Zeitalter muß seinen Erlöser neu erzeugen u n d gebären: erzeugen aus seiner Sehnsucht nach Licht u n d Heil, gebären aus seiner Fähigkeit, das eigene Bedürfnis zu verstehen." Der „lebendige Christus" ist w a h r l i c h ein rechter Gegenstand christlicher Lehrverkündung. A b e r auch w e n n m a n i n Betracht zieht, daß Pfarrer Jatho einen wesentlichen I n h a l t dieses f ü r seine Lehrverkündung besonders wichtigen Begriff des „lebendigen Christus" den Worten des geschichtlichen Jesus entnimmt, so ist doch seine Predigt „nicht gebunden an die geschichtliche Person Jesu": zwischen dem geschichtlichen Jesus u n d dem lebendigen Christus, der L e h r v e r k ü n d u n g des Pfarrers Jatho, besteht keine andere V e r b i n d u n g als die, welche die Tatsache dieser A n k n ü p f u n g an Jesu Worte darstellt. — Der „lebendige Christus" des Pfarrers Jatho ist nicht der Christus der Heiligen Schrift, nicht der auferstandene H e r r u n d Heiland der christlichen Kirche. — 5. Über die persönliche Fortdauer des einzelnen nach dem Tode ist Pfarrer Jatho „nie zu einer Gewißheit gekommen"; er lehrt, die Menschen seien „aus Gott erzeugt, w ü r d e n v o n i h m auch wieder verschlungen" u n d „kehren i m realsten Sinne des Wortes zu Gott zurück, u m seine Zeugungskraft zu vermehren u n d zu vertiefen". W e n n Pfarrer Jatho zwar erklärt, daß er bei seiner Stellung zu der E w i g keitsfrage „ i n Predigt u n d Grabrede v o m Jenseits nicht gesprochen, also auch nicht gegen das Jenseits polemisiert habe", so muß doch betont werden, daß er i n i m m e r stärkerem Maße als den Weg zum Freiwerden von allen Zweifeln über die Frage des ewigen Lebens „die Beschränkung auf dasjenige,
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was jeder selbst erleben u n d erfahren kann", empfiehlt, u n d dies auf E r fahrungen deutet, die m i t einem jenseitigen ewigen Leben nichts zu t u n haben. Hiernach ist Pfarrer Jatho außerstande, a m Grabe den Trost der Christenhoffnung eines ewigen Lebens erzeugen zu können. Seine Religion ist ausschließlich Diesseitsreligion. M i t dem vorstehend mitgeteilten Grundgedanken seiner Lehrverkündung i n bezug auf das Verhältnis v o n Gott u n d Welt u n d entsprechend i n bezug auf die Offenbarung, auf sein Verständnis v o n Sünde u n d Erlösung, i n bezug auf die Person Christi u n d auf die christliche Hoffnung ewigen Lebens, befindet sich Pfarrer Jatho m i t dem, was dem christlichen Glauben aller Zeiten biblische Wahrheit gewesen ist u n d noch heute i h n trägt, i n unlöslichem Widerspruch. B e i der Würdigung dieses Widerspruchs k a m i n Betracht, daß Pfarrer Jatho seit 1905 wegen seiner L e h r v e r k ü n d u n g wiederholt zu den ernstesten seelsorgerlichen Vorhaltungen seitens des Generalsuperintendenten u n d zu den dringendsten Mahnungen seitens der Kirchenbehörde Anlaß gegeben hat, so daß i h m i m Jahre 1907 sogar die Einleitung eines Disziplinarverfahrens m i t dem Ziele der Amtsentsetzung wegen Irrlehre hatte i n Aussicht gestellt werden müssen. Diese Vorhaltungen u n d Mahnungen sind aber nicht n u r ohne Erfolg geblieben, sondern haben Pfarrer Jatho nicht abgehalten, seine Abweichungen v o n den christlichen Grundanschauungen i m m e r u n v e r h ü l l t e r u n d schärfer zutage treten zu lassen. U n d zwar hat er dies getan nicht n u r i n seiner eigenen Gemeinde, sondern auch darüber hinaus durch verschiedene i n die breite Öffentlichkeit gebrachte Druckschriften, sowie durch Vorträge auch i n anderen Gemeinden. Noch i n der Verhandlung v o r dem Spruchkollegium hat Pfarrer Jatho m i t aller Bestimmtheit erklärt, daß er bei seiner Lehrverkündung überall n u r an sein „inneres Erleben" u n d allenfalls an das U r t e i l seiner Gemeinde, nicht aber an die Heilige Schrift u n d an die Ordnungen der Landeskirche sich gebunden erachte. V o n der Mehrheit des Presbyteriums der Kirchengemeinde K ö l n ist dem Pfarrer Jatho die wärmste Anerkennung seines vorbildlichen Wandels u n d seiner warmherzigen, opferwilligen Persönlichkeit bezeugt, auch seine hervorragende geistliche W i r k s a m k e i t i n der Gemeinde, auf der Kanzel, i m Konfirmandenunterricht, i n der Seelsorge u n d i n seinen religiösen Vorträgen, ebenso sein bedeutender religiöser Einfluß auf viele der Kirche u n d dem religiösen Leben Entfremdete hervorgehoben worden. I n gleichem Sinne lagen überaus zahlreiche Bezeugungen von Versammlungen u n d Vereinen, sowie von Einzelpersonen aus den verschiedensten Schichten der Bevölkerung, auch w e i t über K ö l n hinaus, vor. A l l e diese Bekundungen sind v o l l gew ü r d i g t worden — sie vermochten aber weder i m einzelnen noch i n i h r e r Gesamtheit zu dem Ergebnis zu führen, daß u m i h r e t w i l l e n die i n der L e h r verkündung festgestellte Verneinung der grundlegenden christlichen Glaubenswahrheiten, die bewußte Auflösung des geschichtlichen Christentums, noch fernerhin getragen werden durfte. Auch konnte nicht zugunsten des Pfarrers Jatho i n Betracht kommen, daß ein v o n i h m selbstverfaßtes K o n firmationsbekenntnis, welches er der Unterweisung i m Konfirmandenunter-
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rieht zugrunde legt 2 8 , durchaus i n biblischen Ausdrücken sich hält. Denn w e n n die Anziehungskraft seiner Lehrverkündung auch auf solche, die am alten Glauben festhalten, zum T e i l m i t darauf beruht, daß er seine nicht biblischen Anschauungen noch i m m e r vielfach m i t den Ausdrücken der Bibel u n d der kirchlichen Überlieferung — „ i n der Sprache der religiösen S y m b o l i k " — v o r trägt, so daß seine A b k e h r von den christlichen Grundanschauungen i n ihrem vollen Umfange noch immer vielen nicht zum Bewußtsein k o m m t : so gilt dies insbesondere, w i e von seiner Verkündung des lebendigen Christus, so auch von diesem Konfirmationsbekenntnis. Seine Auslegung u n d Verwertung dieses Bekenntnisses stellt eine Umdeutung der biblischen Ausdrücke u n d Begriffe bis zu ihrer völligen Verflüchtigung dar. Nach alledem mußte die Entscheidung des Spruchkollegiums, wie geschehen, getroffen werden 2 9 .
Nr. 339. Stellungnahme Harnacks zum Fall Jatho v o m 27. J u l i 1911 ( A. Tacke, Adolf Harnack über den Fall Jatho, in: Evangelisch-Kirchlicher Anzeiger f ü r B e r l i n u n d Umgebung, Jg. 62, 1911, Beilage Nr. 32, S. 405 f.) — Auszug — . . . Was zunächst das Spruchkollegium angeht, so befindet sich . . . unsere preußische Landeskirche i n den letzten Menschenaltern unleugbar i n einer Entwicklung zu größerer Freiheit. W i r sind vorwärts gekommen seit den 50er, 60er Jahren, u n d es ist k e i n G r u n d f ü r die Befürchtung eines unheilvollen Rückschlages da, am wenigsten nach diesem Vorfalle; weder die Maßnahmen noch die Personen geben dazu Anlaß. Denn man m u ß . . . doch bedenken, es handelt sich bei dem Spruchkollegium nicht u m die Kirche Christi, sondern u m die preußische Landeskirche, — ein Stück Welt, wie andere Einrichtungen auch. Sie hat gewiß ihre Ideale; aber als Landeskirche ist sie etwas Weltliches. Genau dasselbe gilt f ü r die Einzelgemeinde; die Form ist auch da keine geistliche. . . . Die Landeskirche steht n u n einmal als w e l t liche Einrichtung unter Rechtsformen, die sie nicht entbehren kann; sie mögen i n Ausbildung begriffen sein, aber zunächst sind sie da. Was aber diese Form, das Spruchkollegium, bedeutet, das muß m a n messen an dem früheren Zustande, dem Disziplinar-Verfahren bei Irrlehre so gut, wie bei schweren sittlichen oder amtlichen Verfehlungen, das m i t seinen ehrkränkenden Folgen aus dem alten katholischen Kirchenrechte stammt. N u n hat die preußische Landeskirche eingesehen u n d e i n s t i m m i g . . . erklärt, das sei nicht der richtige Weg, so zarte innere Vorgänge zu behandeln, wie sie bei L e h r abweichung mitspielen. A b e r wie soll es die Landeskirche anfangen, i h r u n bestreitbares Recht zu verwirklichen, Lehrer zu entfernen, deren W i r k s a m keit sie nicht f ü r ersprießlich hält? . . . Es bleibt ein Ausweg, u n d weiter gibt 28
Oben Nr. 334. Die Entscheidung wurde v o m Spruchkollegium m i t 11 gegen 2 Stimmen angenommen. Gegen Jathos Amtsenthebung stimmten Wilhelm Kahl, der geistige Vater des Lehrbeanstandungsgesetzes (oben S. 736, A n m . 9) u n d Friedrich Loofs (oben S. 760, A n m . 8). 29
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es keine Form! — w i r stellen i n jedem einzelnen Falle fest, ob die i n Frage kommende Person sich noch i n den Grenzen der Grundzüge des Landeskirchlich-Christlichen hält. Eine allgemeine A b s t i m m u n g darüber ist nicht angängig, also betrauen w i r eine besondere Kommission m i t dem Mandat. . . . Hat n u n Sohm recht, die Landeskirche habe überhaupt keine Gewalt über die Lehre, sondern n u r die Gemeinde? A u f keinen F a l l ; die Gemeinde bietet ebenso geringe Garantien w i e die Gesamtkirche, j a vielleicht geringere. Weder sachlich noch geschichtlich ist zu belegen, daß die Gemeinde mehr Recht hat als die Kirche. . . . Unsere Kirche ist zu eng verflochten m i t dem Staat, als daß nicht dem abgesetzten Geistlichen Nachteile, teils gesetzliche, teils Imponderabilien erwachsen sollten; w i r haben keine dissenters neben der Landeskirche — denn die kleinen Sekten kommen nicht i n Betracht — ; sie ist bei uns w i r k l i c h una tota sola. Dadurch w i r d vorläufig das U r t e i l härter, als m a n es beabsichtigt, denn es bleibt keine rein kirchliche Angelegenheit; aber diese sehr böse Geschichte w i r d . . . allmählich besser werden; keinesfalls ist darum das ganze Verfahren zu verwerfen. Verbesserungsfähig ist es freilich sehr. 1. Die Klageerhebung darf n u r von der Gemeinde selbst ausgehen, höchstens soll das Recht dem Superintendenten zustehen; denn es ist denkbar, daß eine Gemeinde von ihrem Geistlichen m i t i n sein wüstes katholisierendes, oder enthusiastisches, oder monistisches Treiben hineingezogen w i r d u n d ein Außenstehender eingreifen muß. 2. Der Oberkirchenrat erhebt erst die Klage durch die Überweisung an das K o l l e g i u m u n d sitzt dann m i t v i e r Personen selbst i n diesem Kollegium. Er w i r d sie natürlich n u r erheben, w e n n er überzeugt ist, der M a n n w i r d „abgesägt" — also vier Leute sitzen schon da, die f ü r Verurteilung stimmen. Bleiben neun übrig, davon braucht der O K R f ü n f f ü r sich, d. h. die Hälfte, während nach dem Gesetze Z w e i d r i t t e l - M a j o r i t ä t erforderlich ist. Das muß abgestellt werden. 3. Wie der französische V e r w a l t u n g s g e r i c h t s h o f 3 0 . . . muß das Spruchkolleg i u m das Recht haben, die Frage, ob ein Geistlicher noch länger w i r k e n könne, weder m i t Ja noch m i t Nein zu beantworten, sondern einfach erkennen zu können: Hier liegt abusus, Mißbrauch vor, i n der Erwartung, dieser Spruch werde moralische K r a f t auf den Betreffenden u n d seine Gemeinde haben. Das Spruchverfahren aber ist f ü r 1911 — denn wie es 1941 aussehen w i r d , wer w i l l das sagen? — der einzig gangbare Weg f ü r Geistliche, Gemeinde, Kirche. . . . Der F a l l Jatho aber hätte aus zwei Gründen nicht v o r das Spruchkollegium gebracht werden sollen: M a n soll nämlich eine neue Einrichtung nicht gleich m i t einem Falle belasten, der schon lange besteht, aber bisher nicht angetastet worden ist. . . . Sodann aber ist e s . . . ganz falsch, w e n n man sagt, der Fall sei besonders geeignet, Ouverture zu bilden, w e i l er so kraß liege; — weit entfernt! Dem ist nicht so. Aber n u n ist die Sache v o r den 30 Der Conseil d'Etal, seit 1806 f ü r die Entscheidung von Verwaltungsstreitfällen zuständig.
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Lehrgerichtshof gebracht — was nun? Z w e i Erkenntnisse... können w i r i n unserer evangelischen Landeskirche nicht aufgeben. 1. Der Gott, den w i r verkünden, ist nicht einfach das Naturgesetz, dessen W i r k u n g e n m a n wägen und messen kann, auch nicht bloß der Geist der Entwicklung — der christliche Gottesbegriff geht darüber hinaus. 2. Unsere Verkündigung hat an die Person Jesu Christi anzuknüpfen, hat zu zeigen, daß diese Person i n der christlichen Gemeinschaft eine unverschiebbare Stellung hat. Deshalb sind Sätze wie: Jesus hat nicht gelebt, oder: Ob er gelebt hat oder nicht, ist f ü r uns gleichgültig, unerträglich f ü r eine christliche, evangelische, preußische L a n deskirche, w i e sie geschichtlich geworden ist; daß sie . . . auch sonst unerträglich sind, k a n n ganz außer Betracht bleiben. F ü r diese beiden Grundtatsachen einzutreten, e r s c h e i n t . . . ebenso wichtig, w i e das Eintreten f ü r die Freiheit. . . . Jatho hat die Grenzen dieser Sätze überschritten. Aber damit ist die Sache nicht erschöpft. Religion u n d Religionsübung ist eine überaus zarte Sache. Tausendmal ist es i n der Geschichte so gewesen, daß religiöse Wirkungen von Anlässen ausgingen, denen k e i n Mensch das angesehen hätte . . . , tausendm a l hat sich eine helle Flamme an einem elenden Talglicht entzündet. Es ist hier nicht w a h r : causa aequat effectum. U n d so steht fest, daß Jatho, soweit Menschen sehen können, religiöse Früchte i n seiner Gemeinde gezeitigt hat. Ja, er hat nicht bloß die einzelnen angefaßt, sondern sie auch f ü r die Gemeinschaft zu interessieren gewußt — eine Tatsache v o n außerordentlicher Bedeutung. Dazu k o m m t : seine Theologie mag sein w i e sie w i l l , er mußte sich bei seiner Verkündigung an die Bibel halten, stand i n dem großen, unermeßlichen Strome der Überlieferung eines evangelischen Geistlichen. . . . Er w a r wie ein Sämann, der zwei Kästen voller Samen hat: i n dem einen den seiner Theologie, i n dem andern den der Bibel, u n d i n den Kasten mußte er auch ständig greifen. U n d bei i h m hat das nach allen Zeugnissen nicht etwa eine gebrochene W i r k u n g i m Gefolge gehabt. . . . Der Spruch hätte lauten müssen: Deine Theologie ist unerträglich — aber dein Same ist aufgegangen; also müssen w i r dich ertragen — w i r werden dich ertragen. Sie sagen . . . , das ist eine komplizierte A n t w o r t , Obersatz u n d Untersatz stimmen ja nicht zueinander — a b e r . . . der F a l l liegt eben so kompliziert, er liegt w i r k l i c h auf des Messers Schneide. . . . U m einen Fall, wo m a n eintreten mußte f ü r geknechtetes Recht, u m einen F a l l flagranten Unrechtes handelt es sich nicht. Ich bedaure es, aber ich verstehe es, daß zahlreiche ernste C h r i sten gesagt haben: der M a n n k a n n nicht bleiben. Sie a b e r . . . lassen Sie sich nicht fortreißen zu extremen Urteilen, zu K l e i n m u t f ü r die eigene Laufbahn. Natürlich, die Zeitungen sagen das so: den Geistlichen w i r d einfach der M u n d verboten; jedoch so steht es nicht. Daß m a n aber sagt: Die Geistlichen reden anders, als sie glauben, das, meine Herren, werden Sie nie wegbekommen, u n d wenn sie sechs Jathos freisprechen. Das ist die ritterliche Last, die w i r tragen. Daß w i r beim festen Gewissen, bei der festen Überzeugung, frei zu handeln, als Unfreie, als Heuchler verschrien werden, das kriegen Sie nie los — das ist unsere Standeslast u n d Standesehre, das zu tragen!
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Nr. 340. Ernst Troeltsch, Gewissensfreiheit v o m J u l i 1911 (Die Christliche Welt 25, 1911, S. 677 ff.; E.Troeltsch , Gesammelte Schriften, Bd. I I , 1913, S. 134 if.) — Auszug — . . . Es trifft sich eigen, daß gerade der Mann, der m i t unerhörtem Erfolge auf die moderne Lebenswelt praktisch u n d seelsorgerlich eingegangen ist, zum ersten Opfer des neuen Spruchgerichtes wurde, das i n Wahrheit einer H u m a nisierung u n d Modernisierung des Ketzerprozesses hatte dienen sollen. Die K l u f t , die jeder i n der modernen Welt innerlich Lebende längst kannte, ist damit blitzartig erhellt. Die Verhältnisse, wie sie w i r k l i c h sind u n d i n der theologischen u n d kirchenrechtlichen F i k t i o n stets v e r h ü l l t wurden, sind sonnenklar aufgedeckt. Der M y s t i k e r ist der am wenigsten kirchlich u n d dogmatisch Drapierte, darum ist er das erste Opfer; seine segensreiche W i r k samkeit, alle Liebe seiner Gemeinde k a n n i h n nicht retten. Obwohl sein praktisches W i r k e n sicherlich i m eigentlichsten Geiste Jesu ist, es ist nicht nach dem Sinne der Kirche, die nicht der Geist Christi, sondern eine i m Laufe der Zeit m i t bestimmten Dogmen ausgestattete, m i t allen Autoritäten u n d Institutionen, allen politischen u n d sozialen Machtverhältnissen verwurzelte A n stalt ist u n d die von der ganzen inneren Bewegtheit u n d Unfertigkeit des u m einen religiösen Lebensgehalt ringenden modernen Menschen durch eine Welt geschieden ist. . . . Es ist ein ausgesucht klassischer Fall, den m a n nicht besser hätte konstruieren können, w e n n man das F i k t i v e u n d Vorgebliche, das Scheinbare u n d Gewaltsame an unseren protestantischen Kirchenverhältnissen enthüllen wollte. . . . I n Wahrheit birgt das Spruchgericht selbst u n d seine m i t dieser ersten F u n k t i o n eingeschlagene Entwickelungsrichtung noch viel weiter gehende, das ganze Dasein des protestantischen Kirchentums u n d die protestantische Christenheit betreffende Probleme i n sich. Die echten Christen unter den Richtern werden sich gerade i n diesem schmerzlichen Falle besonders schwer zur Absetzung entschlossen haben. Aber sie glaubten e i n Prinzip vertreten zu sollen, gegen das alle Rührung u n d alles menschliche Gute nicht aufkommen könne, das Prinzip einer wenigstens i n den Hauptpunkten zu wahrenden staatskirchlichen „ K o n f o r m i t ä t " . M a n k a n n k e i n besseres Wort dafür wählen als dieses Stichwort der Elisabethanischen u n d Stuartschen Kirchenidee 31 . . . . Was gegen die königlich großbritannische K o n f o r m i t ä t sich erhob u n d sie schließlich zertrümmerte, das w a r die independente Forderung der Gewissensfreiheit. Diese Forderung ist auch heute der Gegensatz gegen die K o n formität der königlich preußischen Religion. A b e r es ist ein neuer u n d wichtiger Zug i n diesem Gegensatze. Die Gewissensfreiheit, wie w i r sie heute haben, ist eine Gewissensfreiheit außer u n d neben der Kirche und eine Frei31 Vgl. E. Troeltsch , Die Soziallehren der christlichen Kirchen u n d Gruppen (1912, 2. Aufl. 1922), S. 541 ff.
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heit zur B i l d u n g neuer Kultgemeinschaften. M a n k a n n austreten, wenn man nicht mehr m i t t u n w i l l , u n d m a n k a n n Sekten oder Dissidentengemeinden organisieren. Freilich w i r d das Erstere v o n der amtlichen Welt oft erschwert u n d das Letztere nach Möglichkeit schikaniert; der Schulzwang zum Religionsunterricht 3 2 ist gleichfalls ein Zeichen, w i e diese Gewissensfreiheit nicht eben gern gesehen w i r d u n d w i e die privilegierten Kirchen eine recht ungenierte Unterstützung des Staates finden. Aber i m m e r h i n besteht doch tatsächlich eine solche Gewissensfreiheit, die durch die Freiheit der Presse und der Wissenschaft unterstützt w i r d . Aber genügt das dem eigentlichen Bedürfnis nach Gewissensfreiheit? E i n Volk, das i n großen Massen christlich gesinnt ist, seine alten kirchlichen Gemeinschaften liebt u n d an das Zusammenfallen der allgemeinen Ordnung m i t der kirchlichen Gemeinschaft von Alters her gewöhnt ist, das nicht austreten w i l l i n das Nichts der Konfessionslosigkeit u n d sich nicht abdrängen lassen mag i n abgesplitterte Freigemeinden, hat wenig v o n solcher Gewissensfreiheit. Es w i l l Gewissensfreiheit nicht neben oder außer, sondern i n seiner alten Kirche. Sie ist Werk und Stiftung unserer Vorfahren, w i r haben selbst f ü r sie gearbeitet und gesteuert; w i r w o l l e n nicht austreten, sondern i n i h r die religiöse Unterweisung und Erbauung haben, die w i r f ü r uns u n d unsere K i n d e r nicht entbehren mögen. W i r w o l l e n sie hier freilich so, w i e w i r sie verstehen u n d lieben können, m i t Geistlichen unserer Wahl u n d i m Sinne des Eingehens auf unser religiöses Empfinden Die Vertreter der „ T r e n n u n g von Staat u n d K i r c h e " 3 3 sehen die Wahrung der Gewissensfreiheit i n der Möglichkeit des Austrittes u n d i n der Freigebung der v o n jeder staatlichen Hilfe entblößten Kultorganisationen. . . . So w i r d der F a l l Jatho der täglich wachsenden Trennungs-Parole mächtige neue Kräfte u n d Argumente zuführen. Sie w i r d eines der Stichworte werden bei der irgendwann einmal sicher kommenden Neuverteilung der innenpolitischen Machtverhältnisse. A l l e i n diese Lösung schafft gerade das durch den F a l l Jatho beleuchtete schwere Problem nicht aus der Welt und ist den w i r k lichen Bedürfnissen sehr wenig angemessen. . . . Helfen k a n n n u r Gewissensfreiheit i n der Kirche, eine Umgestaltung der umfassenden Volkskirche i m Sinne der Independenz der Gemeinden, die sich ihre Pfarrer nach ihren Bedürfnissen wählen u n d suchen können. Das w a r auch i n Wahrheit das Prog r a m m der Cromwellschen Independenten: nicht Zerschmetterung der Kirche, sondern Herabsetzung der Kirche zu einem undogmatischen Organismus der Kirchenpflege u n d -Verwaltung, innerhalb dessen die Einzelgemeinde sich den Pfarrer ihres Herzens suchen konnte, w e n n sie ein zum Suchen drängendes Herz überhaupt hatte. . . . Die praktische Lösung vollends würde abhängig sein von der Gestaltung der politischen Machtverhältnisse, die kein Mensch voraussagen kann. . . . M i t der bloßen Zwangspensionierung schüchtert man einige Geistliche ein 32 Uber den „Schulzwang" zur Teilnahme von Dissidentenkindern am Religionsunterricht siehe oben Nr. 66 f. 33 Vgl. E. Troeltsch, Die Trennung von Staat u n d Kirche, der staatliche Religionsunterricht u n d die theologischen Fakultäten (1906).
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und scheucht die Söhne der Bildungsschicht v o m S t u d i u m der Theologie weg. Durch den Druck auf die theologischen Fakultäten verhindert m a n die Beförderung fortschrittlicher Theologen u n d mindert bei guten Köpfen die Lust zur Habilitation. . . . So peinlich eine solche Absetzung u n d Behandlung für Pfarrer u n d Gemeinde auch ist, so tief es beide i n ihrer Existenz trifft, es ist, w i e die Quälerei der theologischen Fakultäten, schließlich mehr ein Schmerz f ü r die Beteiligten als ein Schlag gegen die Idee. . . . M a n muß schon zu andern Lösungen des Problems greifen. Eine neue Lage verlangt ein neues System, nicht klägliche Abschwächungen des alten. U n d hier ist das einzig Mögliche: Beschränkung der K o n f o r m i t ä t auf das Technische der V e r w a l t u n g u n d Freigebung der Gemeinden zur W a h l von Pfarrern, die, indem sie selbst Christen u n d Protestanten zu sein erklären, an die christliche Ideenwelt nach i h r e m freien Gewissen sich binden mögen u n d m i t ihren Gemeinden sich zurechtfinden mögen. So k o m m t Rechts u n d L i n k s zu seinem Recht und kann es Frieden, Vertrauen und Freude geben. . . . Es k a n n i m m e r noch schwierige u n d schmerzliche Fälle geben; aber einen F a l l Jatho gibt es dann nicht mehr, wo Pfarrer u n d Gemeinde verurteilt werden, w e i l sie Christen sein w o l l t e n u n d sind, ohne ein v o m Spruchgericht anerkennbares Recht dazu zu haben.
Nr. 341. Erklärung von siebenunddreißig Professoren der Theologie zur Entscheidung des Spruchkollegiums im Fall Jatho v o m 3. August 1911 (Die Christliche Welt, 25, 1911, Sp. 742) Die Entscheidung des Spruchkollegiums i m F a l l Jatho hat gleich bei der ersten Handlung dieses Gerichts alle die großen Gefahren beleuchtet, die m i t dieser I n s t i t u t i o n verbunden sind. Statt auf die christliche Persönlichkeit, auf die praktische Leistung u n d Tüchtigkeit ist alles Gewicht allein auf die Lehre gelegt worden. Daraus erwächst f ü r den deutschen Protestantismus die Gefahr, daß überall die Neigung verstärkt w i r d , nicht auf das Leben i m Geist Jesu Christi, sondern auf eine i n ihren Maßstäben nicht k l a r bestimmte Rechtgläubigkeit den Nachdruck zu legen. W i r akademischen Lehrer fühlen uns verpflichtet, noch auf eine besondere Gefahr warnend hinzuweisen. Unserer studierenden, noch i n der Entwicklung begriffenen theologischen Jugend muß ein solches Verfahren die Unbefangenheit des wissenschaftlichen Studiums nehmen u n d die Freudigkeit zum k ü n f tigen praktischen A m t trüben. Uns aber w i r d die akademische Aufgabe erschwert, die auf Pflege ernster christlicher Gesinnung i n voller Ehrlichkeit und Wahrheit gerichtet sein muß, w e n n sie einen innern Wert u n d ein Daseinsrecht an den Universitäten behaupten soll. Entstünde auch n u r v o n ferne der Anschein, daß unsere Fakultäten Seminare f ü r kirchlich gebundenen Unterricht seien, so hätten sie ihre Stellung i m Organismus der deutschen Universitäten v e r w i r k t u n d müßten aufgehoben werden. I n d e m w i r so auf die unabsehbaren Folgen der Erschütterung des auf ständige Fühlungnahme zwischen Glauben u n d Wissenschaft angewiesenen Protestantismus hindeu-
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ten, sprechen w i r unterzeichneten akademischen Lehrer die Hoffnung aus, daß das Spruchkollegium i n den Formen seiner bisherigen Wirksamkeit w e i t e r h i n nicht mehr i n Tätigkeit treten w i r d 3 4 .
I I I . Der Fall Traub Noch ehe sich die öffentliche Erregung über den „Fall Jatho" gelegt hatte, fand dieser im „Fall Traub" eine Fortsetzung 1. Der Dortmunder Pfarrer Gottfried Traub 2, der im Lehrzuchtverfahren gegen Jatho als dessen Verteidiger aufgetreten war, übte nach dem Ende des Verfahrens an dessen Ablauf und Ergebnis scharfe Kritik. Die Feststellung, daß sogar ein Disziplinarverfahren noch mehr Gerechtigkeit verbürgt hätte als das Lehrzuchtverfahren, verband er mit der Forderung, von der „Landeskirche" zur „Volkskirche überzugehen, allen Zwang in Lehre und Liturgie aufzuheben und zugleich die Trennung zwischen Kirche und Staat zu vollziehen (Nr. 342). Darauf leitete das Konsistorium der Provinz Westfalen am 10. Oktober 1911 ein Disziplinarverfahren gegen Traub ein, das auf den Vorwurf gestützt war, der Angeschuldigte habe in seinen Äußerungen zum Fall Jatho die landeskirchlichen Institutionen verächtlich gemacht und dadurch seine Pflichten als Geistlicher verletzt; damit verband sich die Beanstandung anderer öffentlicher Bekundungen 3. Da Traub die Unbefangenheit des Konsistoriums in Münster anzweifelte, verwies der Oberkirchenrat die Sache an das Konsistorium in Breslau, das die Anschuldigungen um den Vorwurf erweiterte, Traub habe 1910 in einer Auseinandersetzung um das Pfarrerwahlrecht der Gemeinden das westfälische Konsistorium beleidigt 4. Am 15. März 1912 fällte das Breslauer Konsistorium das Urteil, Traub habe sich durch die öffent34 Unterzeichnet von den Professoren: Gustav Anrieh, Straßburg; Wilhelm Baldensperger, Gießen; Johannes Bauer, Heidelberg; Otto Baumgarten, K i e l ; Wilhelm Bousset, Göttingen; Karl Budde, Marburg; Samuel Eck, Gießen; Albert Eichhorn, K i e l ; Johannes Ficker, Straßburg; Eduard Gräfe, Bonn; Caspar René Gregory, Leipzig; Hugo Greßmann, B e r l i n ; Hermann Gunkel, Gießen; Hermann Guthe, Leipzig; Wilhelm Heitmüller, M a r b u r g ; Wilhelm Herrmann, Marburg; Adolf Jülicher, M a r b u r g ; Gustav Krüger, Gießen; Friedrich Küchler, Straßburg; Paul Lobstein, Straßburg; Johannes Meinhold, Bonn; Karl Müller, Tübingen; Wilhelm Nowack, Straßburg; Martin Rade, Marburg; Georg Runze, B e r l i n ; Otto Scheel, Tübingen; Carl Schmidt, B e r l i n ; Karl Seil, Bonn; Eduard Simons, B e r l i n ; Julius Smend, Straßburg; Hermann von Soden, Berlin; Friedrich Spitta, Straßburg; Ernst Troeltsch, Heidelberg; Paul Volz, Tübingen; Heinrich Weinel, Jena; Johannes Weiß, Heidelberg; Georg Wobbermin, Breslau. 1 Dazu B. Dörries, Das System Voigts. Die Berufsstellung der Pfarrer u n d der F a l l Traub (1912); G. Traub, Erinnerungen (1949); G. Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen (2. A u f l . 1964), S. 208 f.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I V , S.874f.; W. Huber, Kirche u n d Öffentlichkeit (1973), S. 192 ff. 2 Oben S. 760, A n m . 13. 3 T e x t : G. Traub, Meine Verteidigung gegen den Evangelischen Oberkirchenrat (1912), S. 1. 4 T e x t : ebenda, S. 9.
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liehen Angriffe auf die landeskirchlichen Behörden eines Dienstvergehens schuldig gemacht (Nr. 343). Doch räumte es Traub wegen seiner Beteiligung am Jatho-Verfahren mildernde Umstände ein; deshalb erkannte es nur auf Versetzung in ein anderes Amt. Auf die Berufung hin, die Traub wie der Vertreter der Anklage einlegten, verschärfte der Oberkirchenrat als Berufungsinstanz das Urteil und erkannte am 5. Juli 1912 auf Dienstentlassung ohne Pension und Titel (Nr. 344). Die Entscheidung löste heftige Proteste aus. Harnack nannte die Verurteilung des Verteidigers im Fall Jatho einen Rechtsbruch; er verband damit eine Analyse der fragwürdigen Lage, in der die Kirche sich gegenüber dem modernen Wahrheitsbewußtsein und Wirklichkeitsverständnis befinde (Nr. 345).
Nr. 342. Gottfried Traub, Staatschristentum oder Volkskirche. Ein protestantisches Bekenntnis v o m September 1911 (G. Traub, Staatschristentum oder Volkskirche, 1911, S. 46 ff.) — Auszug — . . . W i r haben heute keine Landeskirche mehr, sondern eine Volkskirche. Das w i l l soviel heißen als: diese M i l l i o n e n von Menschen haben eine ganze Reihe der verschiedensten Glaubensanschauungen u n d sittlichen Auffassungen, wie das i m gegenwärtigen Zeitalter geistiger Kulturbewegung gar nicht anders sein kann. . . . Der Protestantismus ist . . . eingestellt auf Pflege der Gesinnung u n d nicht auf Pflege korrekter Lehrhaftigkeit. Auch die beste Lehre trägt i n sich selbst keine Gewähr f ü r charaktervolle Gesinnung. Deshalb muß der Protestantismus, obgleich, j a gerade w e i l er die A r b e i t des Denkens vielseitiger u n d höher einschätzt als der Katholizismus, auf jede U n i f o r m i t ä t i n der Lehre verzichten. So wird die Landeskirche zum Feind der Volkskirche. Das H e i l beruht nicht i n der Hingabe an eine objektive Gnadeneinrichtung von W o r t u n d Sakrament, genannt Kirche, sondern i n der subjektiven Darstellung u n d Ausgestaltung aller Kräfte, welche die lange Geschichte des Protestantismus i n bauendem und kämpfendem Sinn erzogen hat. . . . Der Feind w i r k l i c h protestantischen Geistes ist jede Sektenbildung; das M e r k m a l der Sektenbildung ist die Ausschließlichkeit, m i t der sie u m äußerer Merkmale w i l l e n die anderen abstößt. Der Protestantismus ist eine Macht innerlichen Glaubens u n d unerschöpflichen Hoffens. Eben darum verzichtet er auf die Möglichkeit, eine äußere Grenze zu bestimmen u n d schiebt die Verantwortlichkeit von außen nach innen i n den W i l l e n u n d das Gewissen des einzelnen. Gerade darum verzichtet er auf jedes Recht, einen auszuschließen, der protestantisch sein w i l l . U m n u n jedem die Gemeinschaft zu ermöglichen, w i r d diese Gemeinschaft auf das beschränkt, was bei solcher Auffassung allein bleibt: Gegenseitige H i l f e u n d V e r w a l t u n g der äußeren Dinge. Das allein ist Pflicht u n d Sinn einer evangelischen Kirchenbildung. . . . Was w i r m i t allen M i t t e l n anstreben, ist die U m b i l d u n g unserer Landeskirche i n eine wirkliche Volkskirche. . . . Dem Prinzip der äußeren Ausschließlichkeit m i t
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Z w a n g und Macht setzt man gegenüber das Prinzip der Gewissenhaftigkeit des einzelnen u n d der werbenden Liebe u m das V o l k i m ganzen, also den Grundsatz der Einschließlichkeit. Als Stationen auf diesem Weg bezeichnen w i r folgende : Die Einzelgemeinde hat i n Lehrkonflikten allein zu entscheiden. . . . Weiter verlangen w i r , daß alle gesellschaftlichen Vorteile staatlicher A r t von der Kirchenzugehörigkeit entfernt werden. Die Trennung von Kirche u n d Staat w i r d zur Notwendigkeit. . . . Religionsgeschichte i m besten u n d tiefsten Sinn des Wortes muß der Staatsschule verbleiben, die konfessionelle Erziehung k a n n den Kirchen überlassen werden. . . . Die Heranbildung der Theologen w i r d . . . an freie Veranstaltungen übergehen. N u r muß Sorge getragen werden, daß der Staat seinerseits n u r den Geistlichen k ü n f t i g einen Lehrauftrag f ü r Schulen erteilen kann, welche eine Reifeprüfung v o r der religionswissenschaftlichen Fakultät abgelegt haben. . . . Endlich t r i t t als selbstverständliche Folge dieser Änderungen völlige liturgische Freiheit des Geistlichen und der Gemeinde i m Gottesdienst ein. .. . Die Kirche ist heute der Schauplatz trauriger Kämpfe. Die Orthodoxie meint, es i h r e m Glauben schuldig zu sein, daß sie i h n m i t Zwangsgewalt durchsetze. Wenn der Liberalismus sich dagegen wehrt, w a h r t er das protestantische Grundrecht. Wir müssen aber über diesen Machtkampf hinaus zu einem höheren Standpunkt kommen. Die protestantische Kirche muß es wagen, Glaubenssachen grundsätzlich der rein geistigen Auseinandersetzung zu überlassen. Es k a n n i n der recht verstandenen evangelischen Kirche gar keinen Machtkampf u m Glaubens Vorstellungen geben. Die evangelische Kirche schiebt i n ihren B r e n n p u n k t n u r die hilfsbereite Gesinnung u n d die Erziehung hiezu. Den Glauben pflegt sie w e i t besser, als die geheimkatholische Bekenntniskirche, welche den geistigen K a m p f u m den Glauben ausschließen muß. Die Kirche muß zum großen Zweckverband i n Verwaltung, Unterstützung u n d Anregung umgestaltet werden. Sie verzichte grundsätzlich auf Herrschaft! Dadurch gibt sie das leuchtende Beispiel f ü r w i r k l i c h e Hilfe u n d wirkliches Gottvertrauen. Die heutige Kirche vertraut auf sich, nämlich ihre Rechtgläubigkeit, die Kirche der Zukunft hört allein auf Gottes Wege
Nr. 343. Disziplinarurteil des Konsistoriums Breslau über die Amtsversetzung des Pfarrers Traub v o m 15. März 1912 (G. Traub, Meine Verteidigung gegen den Evangelischen Oberkirchenrat, 1912, S. 12 ff.) — Auszug — I n dem Disziplinarverfahren gegen den Pfarrer lie. theol. Gottfried Traub i n Dortmund, . . . hat das Königliche Konsistorium der Provinz Schlesien i n der Hauptverhandlung v o m 12. bis 15. März 1912 . . . f ü r Recht erkannt: Der Angeschuldigte . . . ist nach seinem Verhalten außer dem A m t e des Dienstvergehens gemäß § 2 des Kirchengesetzes, betreffend die Dienstver-
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gehen der Kirchenbeamten, v o m 16. J u l i 18865 schuldig u n d w i r d m i t der Entfernung aus dem Kirchenamte, bestehend i n der Versetzung, bestraft. Die baren Auslagen des Verfahrens sind von dem Angeschuldigten zu erstatten. Gründe Bereits i m Jahre 1908 erhielt der Angeschuldigte wegen des Inhalts einer am Osterfesttage 1907 i n der Reinoldikirche zu D o r t m u n d gehaltenen Predigt und des dadurch hervorgerufenen Ärgernisses v o n dem Evangelischen Oberkirchenrat eine Mißbilligung, welche m i t einer ernsten Mahnung verbunden wurde (Erlaß v o m 18. Dezember 1908). I m Jahre 1910 wurde dem Angeschuldigten von dem Königlichen K o n sistorium der Provinz Westfalen durch Verfügung v o m 10. M a i 1910 wegen seiner Teilnahme an der Beerdigung eines Sohnes des Postverwalters Reinberger i n Dorstfeld ein ernstlicher Verweis erteilt. A m 30. August 1910 sprach das Konsistorium zu Münster i h m f ü r die Trauung eines Brautpaares aus Derne an einem Sonnabend ohne Dimissoriale unter Hinweis auf die erste Verfügung m i t Verweis seine M i ß b i l l i g u n g aus und knüpfte daran die dringende Mahnung, sich den bestehenden Ordnungen zu fügen, widrigenfalls zu schärferen Maßnahmen gegriffen werden müßte. Durch Verfügung v o m 8. September 1910 wurde der Angeschuldigte, w e i l er bei der Konfirmationshandlung sich nicht nach der i n der preußischen Agende vorgeschriebenen F o r m gerichtet hatte, ernstlich auf die Innehaltung der bestehenden Bestimmungen hingewiesen. U n t e r Bezugnahme auf diese Verfügung wurde der Angeschuldigte dann am 22. Dezember 1910 m i t Rücksicht auf die von i h m zugegebene Äußerung beim Berliner Religionsgespräch über die NichtVerpflichtung auf das Apostolikum bei der Konfirmation noch einmal darauf aufmerksam gemacht, daß er sich bei der Konfirmationshandlung an die Vorschrift der landeskirchlichen Agende zu halten habe. Das förmliche Disziplinarverfahren ist gegen den Angeschuldigten am 10. Oktober 1911 von dem Kgl. Konsistorium i n Münster eröffnet worden, w e i l er hinreichend verdächtig erschien, i n A r t i k e l n der von i h m herausgegebenen kirchlichen Zeitschrift: „Christliche Freiheit, Evangelisches Gemeindeblatt f ü r Rheinland u n d Westfalen", i n seinen Vorträgen, i n seiner Broschüre: „Staatschristentum oder Volkskirche" die 26. Westfälische Provinzial-Synode, das Spruchkollegium für kirchliche Lehrangelegenheiten, die Evangelische Landeskirche Preußens, ihre Behörden und Einrichtungen, sowie den Pfarrerstand herabgewürdigt zu haben. Gemäß § 21 Absatz 2 des kirchlichen Disziplinargesetzes v o m 16. J u l i 1886 ist dann zufolge Erlasses des Evangelischen Oberkirchenrates v o m 28. Oktober 1911 . . . auf A n t r a g des Angeschuldigten an die Stelle des Konsistoriums zu Münster das K g l . Konsistorium der Provinz Schlesien zu Breslau getreten. Letzteres hat das Disziplinarverfahren 3
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durch Beschluß v o m 6. November 1911 auf die öffentlichen Beleidigungen des K g l . Konsistoriums i n Münster u n d des Konsistorialrats Dr. Richter anläßlich der Verhandlungen über die Errichtung einer zweiten Pfarrstelle i n der evangelischen Kirchengemeinde Hilchenbach, Diözese Siegen, ausgedehnt 8 . . . . Sämtliche Verfehlungen des Angeschuldigten liegen auf außeramtlichem Gebiete u n d sind i n seiner publizistischen u n d literarischen Tätigkeit zu suchen. Es kommen hier i n Betracht: I. Die Tätigkeit des Angeschuldigten an der kirchlichen Zeitschrift: „ Christliche Freiheit, Evangelisches Gemeindeblatt f ü r Rheinland und Westfalen", welche v o n i h m seit etwa 1905 geübt w i r d . Der Angeschuldigte ist Herausgeber dieser wöchentlich erscheinenden Zeitschrift. I h r I n h a l t stammt zum großen T e i l aus seiner Feder, zum T e i l werden i h m fertige A r t i k e l von d r i t t e n Personen zugeschickt. . . . I I . Des weiteren kommen i n Betracht öffentliche Vorträge des Angeschuldigten, gehalten am 27. J u n i 1911 i n Köln, a m 28. J u n i 1911 i n D o r t m u n d u n d am 3. J u l i 1911 i n Berlin. Über diese Vorträge liegt ein — übrigens v o m A n geschuldigten selbst vorgelegter — stenographischer Bericht n u r über den v o m 3. J u l i 1911 v o r ; über die anderen beiden sind n u r kurze Zeitungsberichte vorhanden, deren Zuverlässigkeit i m einzelnen von dem Angeschuldigten bestritten w i r d u n d auch von dem Gerichtshof nicht anerkannt werden kann, da erfahrungsgemäß bei solchen Referaten die persönliche Auffassung des Berichterstatters häufig ein v ö l l i g unrichtiges B i l d entstehen läßt. Da es außerdem bei der Länge der inzwischen verflossenen Zeit von vornherein aussichtslos erschien, etwa durch Vernehmung von Ohrenzeugen den W o r t laut der Reden einwandsfrei tatsächlich festzustellen, konnten n u r solche Äußerungen i n Betracht gezogen werden, welche der Angeschuldigte getan zu haben selbst ausdrücklich zugegeben hat. I I I . Die nach der Entscheidung des Spruchkollegiums für kirchliche L e h r angelegenheiten i m Falle „Jatho" i m Verlage von Eugen Diederichs, Jena, erschienene, von dem Angeschuldigten verfaßte, Broschüre „Staatschristen7 t u m oder Volkskirche" Der Angeschuldigte macht f ü r sich geltend, daß es i h m überall n u r u m die Aufdeckung kirchlicher Schäden u n d u m Herbeiführung besserer Zustände i n der Kirche zu t u n gewesen sei; dies habe w i r k u n g s v o l l n u r durch scharfe K r i t i k geschehen können; die Absicht der Herabwürdigung und Verletzung habe i h m stets ferngelegen. Der Gerichtshof hat diesen Erklärungen Glauben geschenkt, aber damit den Angeschuldigten doch nicht als entlastet erachten können. Keineswegs soll i h m das Recht der freien Meinungsäußerung, die Befugnis, an der Landeskirche, ihren Behörden und Einrichtungen auch öffentlich K r i t i k zu üben, abgesprochen werden. Wenn er, insbesondere i n 8 Traub hatte dem Konsistorium vorgeworfen, die Errichtung einer neuen Pfarrstelle zu benutzen, u m gegen das Pfarrerwahlrecht der Gemeinde einen „unterminierenden K a m p f " zu führen. 7 Es folgt eine ins Einzelne gehende Erörterung der Anklagepunkte.
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seiner Eigenschaft als Geistlicher, dieses Recht i n Anspruch n i m m t u n d i n analoger A n w e n d u n g auf sich auf die Ausführungen des Erkenntnisses des Oberverwaltungsgerichts v o m 24. September 19098 hinweist, so sollen i h m alle die Rechte, welche das Oberverwaltungsgericht h i e r einem mittelbaren Staatsbeamten i n seiner publizistischen Tätigkeit einräumt, ohne weiteres zugebilligt werden; denn dasselbe, was f ü r einen Staatsbeamten i n seinem Verhältnisse zum Staate gilt, w i r d auch f ü r einen Kirchenbeamten i n seinem Verhältnis zur Landeskirche gelten können. A b e r auch einem Kirchenbeamten sind Schranken gesetzt. Diese w u r z e l n i n der Treupflicht, welche er seiner Landeskirche, deren Behörden u n d Einrichtungen gegenüber schuldet. Gewiß k a n n ein Geistlicher auf Zustände der Landeskirche, die i h m besserungsbedürftig erscheinen, hinweisen u n d sie auch einer scharfen K r i t i k unterziehen, u m die Aufmerksamkeit möglichst weiter Kreise auf diese seiner Ansicht nach vorhandenen Schäden hinzulenken u n d auf diese Weise eine Besserung anzubahnen. A b e r bei der Ausübung solcher Zensortätigkeit bedarf es der Selbstzucht. Die K r i t i k darf niemals strenge Sachlichkeit v e r missen lassen. So w i e sie das tut, verletzt der kirchliche Beamte seine Treupflicht. E i n solcher Treubruch liegt stets dann vor, w e n n die A u s führungen durch die A r t des Ausdrucks ein verletzendes, herabwürdigendes Gepräge erhalten, w e n n sie die tatsächlichen Verhältnisse i n tendenziöser Weise entstellen, so daß der Leser oder Hörer irregeführt w i r d , u n d w e n n den Behörden unter Anzweifelung ihrer O b j e k t i v i t ä t Parteilichkeit u n d Rechtsbruch vorgeworfen oder gar bei Maßnahmen, welche dem K r i t i k e r je nach seinem Standpunkte mißliebig sind, ohne weiteres als Absicht untergeschoben u n d solche Behauptungen m i t irrigen Rechtsausführungen gestützt werden, welche bei einigermaßen sorgfältiger I n f o r m a t i o n über die Rechtslage — u n d zu solcher Information muß sich ein öffentlich auftretender K r i t i k e r gewissenhafterweise f ü r verpflichtet halten — als verfehlt hätten erkannt werden müssen. Wenn ein Kirchenbeamter sich derartige Übergriffe zuschulden kommen läßt, so zeigt er sich der Achtung, des Ansehens u n d des Vertrauens, welche sein Beruf erfordert, nicht w ü r d i g u n d begeht ein Dienstvergehen. I n einer Reihe v o n A r t i k e l n der „Christlichen Freiheit" — und, w i e gleich hier hinzugefügt werden soll, ebenso i n den öffentlichen Vorträgen des Angeschuldigten sowie i n der Druckschrift „Staatschristentum oder Volkskirche" — sind die dem Kirchenbeamten gezogenen Schranken i n der einen oder der anderen der bezeichneten Richtungen überschritten w o r den. . . I n besonderer Schärfe t r i t t die Außerachtlassung jeder dem Angeschuldigten durch sein amtliches Verhältnis zur Landeskirche gebotenen Rücksicht i n den A r t i k e l n über das Spruchkollegium u n d das Verfahren gegen Jatho hervor 1 0 . . . . 8 Das U r t e i l (Entsch. d. OVG, Bd. 55, S. 469 ff.) erging i n einem Verfahren gegen einen Bürgermeister wegen verschiedener bei seiner publizistischen Tätigkeit begangener Verfehlungen. 9 Es folgen Beispiele f ü r diese Feststellung. 10 Die A r t i k e l werden i m Folgenden einzeln genannt.
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Überall ist v ö l l i g außer acht gelassen, daß die A r t u n d Weise der Besprechung i n der Öffentlichkeit das Ansehen und die A u t o r i t ä t , deren die Kirche sowie ihre Behörden u n d Organe zur E r f ü l l u n g ihrer Aufgaben nicht entraten können, durchaus zu untergraben u n d zu zerstören geeignet ist. Hervorzuheben sind insbesondere die hämische B e k r i t t e l u n g der Entschließung des Evangelischen Oberkirchenrats, Jatho vor das Spruchkollegium zu stellen (Nr. 15), die Beurteilung der Ablehnung von Zeugenladungen durch den Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats als „empörend" (Nr. 24) u n d „ungesetzlich" (Nr. 25), die schnöden Bemerkungen über das Kreuz i m Siegel des Spruchkollegiums (Nr. 25) und auf dem Tisch i m Sitzungssaale des Evangelischen Oberkirchenrats (Nr. 27), die Bezeichnung der Feststellung des Spruchkollegiums als „religiöses Verbrechen" (Nr. 27), als ein die Schamröte ins Gesicht treibender Spruch (Nr. 28), wegen dessen man sich der evangelischen Kirche schämt (Nr. 29), die Bemerkung über „die geschäftliche Sauberkeit" des Verfahrens (Nr. 30), die Behauptung, daß eine „Düpierung" oder „Täuschung" der verschiedensten Personen u n d Personenkreise beim Zustandekommen des Gesetzes, betreffend die Beanstandung der Lehre von Geistlichen, v o m 16. März 1910 stattgefunden habe (Beilage zu Nr. 30, Nr. 31, Nr. 42). A u f denselben Ton gestimmt und ebenfalls geeignet, die oben geschilderten Wirkungen hervorzubringen, sind auch mehrere Äußerungen i n den drei öffentlichen Vorträgen des Angeschuldigten. . . . Den letzten T e i l der hier i n Betracht kommenden publizistischen und literarischen Tätigkeit des Angeschuldigten bildet die Broschüre „Staatschristentum oder Volkskirche". Diese Broschüre, die nach der Entscheidung gegen Jatho geschrieben ist, trägt unzweideutig den Charakter einer religiösen Streitschrift, wie sie v o m Angeschuldigten auch selbst bezeichnet w i r d , i n welcher der Pfarrer Traub zum T e i l seine reformatorischen Pläne entwickelt. . . . E r begnügt sich hier, wo er von der Einrichtung des Spruchkollegiums u n d von dem Verfahren gegen Jatho schreibt, nicht damit, seinen religiösen Empfindungen scharfen Ausdruck zu geben, sondern er geht zu durchaus unzulässigen Angriffen auf die Einrichtung selbst, die Instanzen, welche sie geschaffen haben, u n d diejenigen, welche an dem Verfahren gegen Jatho beteiligt gewesen sind, über. Z u m T e i l kehren hier dieselben Behauptungen u n d Ausdrücke wieder w i e i n seinen A r t i k e l n i n der „Christlichen Freiheit": Ungesetzlichkeit des Verfahrens, Täuschung bei Erlaß des Gesetzes, Heuchelei. . . . Hiernach mußte der Gerichtshof zu der Feststellung gelangen, daß der Angeschuldigte, indem er i n seiner publizistischen u n d literarischen Tätigkeit die i h m als Kirchenbeamten gezogenen Schranken durchbrach, sich i n seinem Verhalten außer dem A m t e der Achtung, des Ansehens u n d des Vertrauens, welche sein Beruf erfordert, nicht w ü r d i g gezeigt und somit ein Dienstvergehen gemäß § 2 des Kirchengesetzes v o m 26. August 1886 begangen hat. Bei der Abmessung der Strafe, welche den Angeschuldigten treffen mußte, waren zunächst einige für i h n günstige Umstände zu berücksichtigen. Insbe-
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sondere auf Grund des Eindruckes, welchen seine Persönlichkeit i n der Hauptverhandlung machte, wurde seiner Versicherung Glauben geschenkt, daß es i h m überall n u r u m die Sache zu t u n gewesen sei, daß er nichts anderes erstrebt als bessere Zustände i n seinem Sinne herbeizuführen, und daß es niemals i n seiner Absicht gelegen habe, die Landeskirche, ihre Einrichtungen u n d Behörden oder einzelne Personen herabzuwürdigen u n d zu verletzen. Diese Versicherung wurde unterstützt durch die glaubhaften A n gaben des Angeschuldigten, daß er an der Kirche nicht stets n u r K r i t i k geübt, sondern wiederholt f ü r sie öffentlich gegenüber Sozialdemokraten u n d Monisten eingetreten sei, u n d daß er, wie ein von i h m vorgelegter B r i e f des Verlegers Eugen Diederichs i n Jena 1 1 v o m 12. Dezember 1911 ergibt, nach Eröffnung des Disziplinarverfahrens den Neudruck seiner Schrift „Staatschristentum oder Volkskirche" inhibiert hat. Somit mußte anerkannt werden, daß dem schuldhaften Verhalten des Angeschuldigten nicht unedle Motive zugrunde gelegen haben. Es ist auch berücksichtigt worden, daß [fast] alle Verfehlungen . . . sich auf den Zeitraum eines Jahres (1911) zusammendrängen, während der Angeschuldigte Herausgeber der „Christlichen Freiheit" schon seit 1905 ist. Es ist ferner i n Betracht gezogen, daß der größte T e i l der unzulässigen K r i t i k auf das Verfahren gegen Jatho entfällt, i n dem der Angeschuldigte einer der beiden Verteidiger gewesen ist, u n d daß er vor der Entscheidung vielleicht geglaubt hat, Jatho durch sein Auftreten zu nützen, während manches nach der Entscheidung auf den gewaltigen Eindruck, den diese auf den Angeschuldigten offenbar gemacht hat, zurückzuführen ist. Endlich darf auch seine Wirksamkeit i m Amte, als Geistlicher der Reinoldi-Gemeinde i n Dortmund, nicht unberücksichtigt bleiben. Es ist i h m bezeugt worden, daß er i n seinem A m t e m i t Treue, großer Aufopferung, regem Eifer und unter Hingabe seiner ganzen Persönlichkeit seine Pflichten erfüllt, sich hierin auch nicht durch seine publizistische und literarische Tätigkeit abhalten läßt, vielmehr — m i t großer Arbeitskraft ausgerüstet — beides zu vereinen weiß, daß er außerordentlich tätig u n d r ü h r i g auf dem Gebiete der Seelsorge ist, unermüdlich den einzelnen Mitgliedern seiner Gemeinde nachgeht u n d sie zu gewinnen sucht, auch sich m i t besonderer Liebe und Aufopferung der A r m e n u n d K r a n k e n annimmt, endlich auch unbestreitbar große Verdienste u m den äußeren Ausbau der Reinoldi-Gemeinde hat. Alles dies ist nicht n u r von seinen Amtsbrüdern zeugeneidlich bekundet worden, es w i r d auch durch manche Zuschriften bestätigt, welche dem Gerichtshof von Gemeindemitgliedern zugegangen sind u n d welche erkennen lassen, daß es i h m i n der Gemeinde an Liebe u n d Anhänglichkeit nicht fehlt. Diesem Urteile entsprechen i m wesentlichen auch die Tatsachen, welche der amtlichen Äußerung des zuständigen Superintendenten zu entnehmen sind. F ü r die Stellung des Angeschuldigten i n der Gemeinde sprechen ferner die bei den A k t e n befindlichen Kundgebungen des Presbyteriums der Reinoldi-Gemeinde v o m 3. November 1911 u n d der größeren Gemeindevertretung v o m 19. November 1911. Andrerseits sind die Verfehlungen des A n 11 Eugen Diederichs (1867 - 1930), Buchhändler, dann Verleger; den 1896 i n Leipzig u n d Florenz gegründeten, seit 1904 i n Jena weitergeführten Verlag entwickelte er zu einem wichtigen Träger der geistigen Auseinandersetzung seiner Zeit; seit 1907 Herausgeber der Zeitschrift „Die Tat".
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geschuldigten so schwer, daß sie m i t einer Ordnungsstrafe, insbesondere dem von dem Vertreter der Anklage beantragten Verweise u m so weniger genügend gesühnt angesehen werden konnten, als dem Angeschuldigten bereits mehrfache Mißbilligungen u n d Ordnungsstrafen wegen Verletzung der kirchlichen Ordnung zuteil geworden sind. Hiernach blieb n u r die E n t fernung aus dem Kirchenamte übrig, die i n ihrer mildesten Form, der V e r setzung — trotz mancher gegen diese Strafart gerade i m vorliegenden Falle bestehender Bedenken — als angemessen erschien.
Nr. 344. Beschluß des Evangelischen Oberkirchenrats in dem Disziplinarverfahren gegen Gottfried Traub v o m 5. J u l i 1912 (Allg. Kirchenblatt f ü r das evg. Deutschland, 1912, S. 737 ff.; G. Traub, Meine Verteidigung gegen den Evangelischen Oberkirchenrat, 1912, S. 46 ff.) — Auszug — I n dem förmlichen Disziplinarverfahren w i d e r den Pfarrer Lie. theol. Gottfried Traub an der Reinoldi-Kirchengemeinde i n D o r t m u n d hat der Evangelische Ober-Kirchenrat i n seiner Sitzung v o m 5. J u l i 1912, an welcher teilgenommen haben: der Präsident, Wirkliche Geheime Rat D. Voigts, der Vizepräsident, Oberhofprediger D. Dryander, die W i r k l i c h e n Geheimen Oberkonsistorialräte D. Moeller u n d D. Koch, der Evangelische Feldpropst der Armee D. Wölfing, der Wirkliche Geheime Oberkonsistorialrat Hagemann, die Geheimen Oberkonsistorialräte Lie. theol. Wevers, Professor D. Dr. Kaftan, Dr. Kapler u n d die Geheimen Konsistorialräte Propst Professor D. Dr. Kawerau und Dr. Duske, beschlossen: Die Berufung des Angeschuldigten gegen die Entscheidung des Königlichen Konsistoriums i n Breslau v o m 15. März 1912 w i r d zurückgewiesen. A u f die Berufung des Vertreters der Anklage w i r d die genannte Entscheidung aufgehoben u n d gegen den Angeschuldigten wegen Dienstvergehens gegen § 2 des Kirchengesetzes v o m 16. J u l i 188612 unter Auferlegung der baren Auslagen des Verfahrens auf Dienstentlassung erkannt. Entscheidungsgründe Die dem Angeschuldigten zur Last gelegte Verletzung seiner Amtspflichten betrifft sein außeramtliches Verhalten, seine publizistische u n d literarische Tätigkeit, u n d zwar w i r d die Verletzung nicht darin gefunden, daß, sondern w i e er sich auf diesem Gebiet betätigt hat, insbesondere i n der A r t , w i e er an der Landeskirche, ihren Behörden u n d Einrichtungen K r i t i k geübt hat. Der Angeschuldigte n i m m t gerade als beamteter Geistlicher das Recht der K r i t i k i n weitestem Umfange i n Anspruch u n d w i l l es geradezu als einen 12
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T e i l seiner Amtspflicht betrachtet wissen. Die Vorinstanz hat dem Angeschuldigten i n analoger A n w e n d u n g der Grundsätze, die i n der i n B a n d 55 S. 469 f. der Entscheidungen des Königlichen Oberverwaltungsgerichts abgedruckten Entscheidung dieses Gerichtshofes des näheren entwickelt sind 1 3 , das Recht einer — sogar scharfen — sachlichen K r i t i k m i t Recht zugesprochen, anderseits aber auch zutreffend dargelegt, i n w i e w e i t der Ausübung dieses Rechts durch die Amtspflichten eine Schranke gesetzt ist. E i n Geistlicher u n d Kirchenbeamter, der sich publizistisch, insbesondere kirchenpolitisch betätigt, hat, u m nicht sein u n d seines Amtes Ansehen und Vertrauen zu gefährden, aufs peinlichste darauf zu achten, daß seine Auslassungen nicht die Grenze der sachlichen K r i t i k überschreiten, u n d zwar i n verstärktem Maße dann, w e n n er die Landeskirche, deren Organismus sein A m t eingegliedert ist, ihre Einrichtungen u n d Behörden einer K r i t i k unterzieht u n d sich dabei an die breite Öffentlichkeit wendet. Er überschreitet die zulässige Grenze nicht nur, w e n n bei der K r i t i k die Sach- oder Rechtslage entstellt w i r d , w e n n ungerechtfertigte Unterstellungen, Verdächtigungen oder Vorwürfe unterlaufen, oder w e n n die F o r m verletzend oder herabwürdigend ist. Vielmehr muß er — das entspricht auch den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts — sorgfältig prüfen, welche W i r k u n g e n die Publikationen i n der Öffentlichkeit, der er sie übergibt, haben werden. K a n n u n d muß er bei pflichtmäßiger Prüfung erkennen, daß die Leser oder Hörer nach dem Durchschnitt ihrer B i l d u n g u n d Urteilsfähigkeit durch seine Auseinandersetzung zur Verachtung landeskirchlicher Einrichtungen oder Behörden gef ü h r t werden, daß auf diese Weise das Ansehen der Landeskirche u n d ihrer Organe gefährdet oder gar untergraben u n d das Vertrauen zu ihren E i n richtungen erschüttert w i r d , so darf er die Veröffentlichung nicht unternehmen und macht sich eines Bruchs der Disziplin schuldig, w e n n er es trotzdem tut. Denn diese Pflicht zur rücksichtsvollen Achtung gegen die Kirche ist ein wichtiger Bestandteil der kirchlichen Beamtendisziplin u n d eine unentbehrliche Grundlage f ü r die gedeihliche Gestaltung u n d E n t w i c k l u n g des gesamten landeskirchlichen Organismus. Es ist also nicht ausschlaggebend, ob der Kirchenbeamte bei seiner publizistischen Tätigkeit n u r sachliche K r i t i k hat üben wollen, d. h. ob i h m die Absicht einer Herabwürdigung ferngelegen hat. Das Dienstvergehen liegt schon dann vor, w e n n infolge pflichtwidriger U n t e r lassung der Selbstzucht durch die Publikationen die Achtung vor der Landeskirche u n d ihren Organen i n der Öffentlichkeit erschüttert w i r d . Der Kirchenbeamte hat sich dann der Achtung, des Ansehens u n d des Vertrauens, welche sein A m t erfordert (§ 2 Kirchengesetz v o m 16. J u l i 1886), nicht w ü r d i g gezeigt. Darüber, ob u n d w a n n diese U n w ü r d i g k e i t eingetreten ist, hat nicht die Öffentlichkeit, sondern die v o m Gesetz m i t der Disziplinargewalt ausgestattete Kirchenbehörde zu entscheiden. . . . u 13
Siehe oben S. 787, A n m . 8. I n den folgenden Abschnitten I I I Α - E werden zunächst die Einwände Traubs gegen das Verfahren v o r dem Konsistorium i n Breslau zurückgewiesen. Anschließend werden die T r a u b vorgeworfenen Disziplinarvergehen noch einmal erörtert, u n d zwar: A . Angriffe gegen das Konsistorium zu Münster und den Konsistorialrat Dr. Richter i m F a l l Hilchenbach; B, A n 14
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17. Kap.: Evangelische Lehrkonflikte
Das Schwergewicht der Verfehlungen des Angeschuldigten liegt i n seinen F. Angriffen für kirchliche Pfarrer Jatho, deskirche, ihre
gegen das Lehrbeanstandungsgesetz und das Spruchkollegium Lehrangelegenheiten aus Anlaß des Verfahrens gegen den sowie in der Art seiner allgemeinen Polemik gegen die LanBehörden und Einrichtungen.
Die gesetzgeberischen Faktoren der Landeskirche haben i n dem Kirchengesetz v o m 16. März 191015 das bisherige, unter das Gesetz v o m 16. J u l i 1886, betreffend die Dienstvergehen der Kirchenbeamten pp., fallende Verfahren bei Beanstandung der Lehre eines Geistlichen i n dem Sinne neu geregelt, dieses Verfahren des disziplinaren Charakters zu entkleiden u n d die E n t scheidung einem neuen Organ — dem Spruchkollegium f ü r kirchliche L e h r angelegenheiten — an Stelle der bisher dafür zuständigen kirchlichen Behörden zu übertragen. Dabei ist von allen berufenen Stellen die von dem „Verein der Freunde evangelischer Freiheit f ü r Rheinland u n d Westfalen" vertretene u n d ausgesprochene Ansicht, als gäbe es i n der Landeskirche keine Schranken der Lehrfreiheit, ausdrücklich abgelehnt, vielmehr allseitig an der i n den kirchlichen Verfassungsgesetzen begründeten u n d festgelegten Auffassung festgehalten worden, daß die Landeskirche eines Rechtsschutzes i n Ansehung der Lehre bedürfe u n d es i n der Hand haben müsse, Diener der Kirche, die sich m i t der Lehre der Kirche i n unlösbaren Widerspruch setzen, von ihrem Dienst zurückzuweisen. Aus Anlaß der Anwendung des Kirchengesetzes i m Falle Jatho unterzog der Angeschuldigte das Lehrbeanstandungsgesetz u n d die Einrichtung des Spruchkollegiums f ü r kirchliche Lehrangelegenheiten i n seinen Publikationen vielfach einer K r i t i k . . . . Diese K r i t i k w ü r d e trotz ihrer Schärfe an sich keinen Anlaß bieten, den Angeschuldigten disziplinarisch zur Verantwortung zu ziehen. E r läßt es aber nicht bei einer sachlichen K r i t i k bewenden, sondern sucht seinem Standpunkte m i t allen M i t t e l n durch seine publizistische Tätigkeit praktische Gelt u n g zu verschaffen u n d übt bei diesem „ K a m p f " — er gebraucht mehrfach diesen Ausdruck — beispielsweise i n folgender Weise K r i t i k an der Landeskirche, ihren Behörden und deren verfassungsmäßiger Wirksamkeit: „Die Ohnmacht, grundsätzlich eigene Wege zu gehen, drückt dem evangelischen Kirchenwesen den Stempel auf. . . . Die Gesamtkirche maßt sich das Recht an, auf Grund v o n Lehrmeinungen und Lehraussagen i n die Einzelgemeinden einzugreifen u n d die gesamte Kirche nach diesen Lehrgesichtspunkten zu regieren." (Beri. Tageblatt v o m 24. 2.1911.) . . . griffe gegen die westfälische Provinzialsynode und gegen den Evangelischen Oberkirchenrat bzw. seinen Kommissar; C. Angriffe gegen die Königlichen Konsistorien i n Koblenz u n d B e r l i n ; D. Angriffe gegen das Königliche K o n sistorium zu Münster u n d die landeskirchliche Ordnung; E. Ehrenkränkung eines Amtsbruders. 15 Oben Nr. 331.
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Nach Nr. 28 der „Christlichen Freiheit" ist dem Angeschuldigten die Bemerkung eines Kollegen „aus der Seele geschrieben", daß die „maßgebenden Instanzen m i t der Einsetzung des Spruchkollegiums den Geist des Evangeliums verleugnet haben". I n Nr. 15 der Zeitschrift schreibt er: „Jatho k o m m t vor das Spruchkollegium. Der Evangelische Ober-Kirchenrat setzt sich über die besten Stimmen des deutschen Protestantismus hinweg. . . . Neben 20 000 Protestanten, die sich f ü r Jatho erklärt haben, erheben an den Universitäten die Männer aus allen Lagern ihre Stimmen gegen das I r r l e h r e gesetz. . . . Es h i l f t nichts! Diese Intelligenzen werden eines besseren belehrt: Es lebe das Spruchkollegium! Es sterbe der Protestantismus!" Daß es sich bei solchen Angriffen auf Seiten der Angeschuldigten u m einen i n der W a h l der Angriffsmittel skrupellosen agitatorischen K a m p f gegen das Spruchkollegium handelt, u n d daß der Angeschuldigte, der i n dem Feststellungsverfahren gegen Jatho als dessen Beistand fungiert hatte, diese seine Stellung i n dem agitatorischen Kampfe, w i e aus dem Nachstehenden sich ergibt, mißbraucht hat, w i r d i n der Vorinstanz nicht genügend gewürdigt. . . . Wenn der Angeschuldigte, nachdem er i n dem Feststellungsverfahren gegen den ehemaligen Pfarrer Jatho als dessen Beistand fungiert hatte, m i t den hierbei v o n i h m gemachten Erfahrungen u n d Wahrnehmungen an die breite Öffentlichkeit heraustreten wollte, so w a r es v o r allem seine Pflicht, i n seinen Kundgebungen v o r der Öffentlichkeit wenigstens streng der W a h r heit gemäß zu berichten. Denn gerade der Angeschuldigte, der als „Beistand" die A k t e n eingesehen hatte u n d bei dem ganzen Verlauf des mündlichen Verfahrens i n besonderem Maße beteiligt war, t r a t damit vor die Öffentlichkeit als ein Gewährsmann, dem m a n eine besonders genaue Kenntnis des Sachverhalts zuschreiben, dessen Angaben man besonderen Glauben beimessen konnte und mußte. Vollends konnte u n d mußte m a n von i h m als landeskirchlichem Geistlichen eine durchaus wahrheitsgemäße Berichterstattung erwarten, zumal der Angeschuldigte selbst i m m e r wieder erklärt, seine Angaben u n d Angriffe i m Namen der Wahrhaftigkeit zu machen. M i t dieser Pflicht der Wahrhaftigkeit sind vor allem die Darlegungen des Angeschuldigten über den objektiven Tatbestand des Verfahrens gegen Jatho, insbesondere über das Beweismaterial, auf G r u n d dessen der Spruch gegen Jatho ergangen ist, schlechthin unvereinbar; vielmehr hat er eine entstellte Wiedergabe des Sachverhalts i n die Öffentlichkeit gebracht. . . . Lag dem Angeschuldigten als Beistand Jathos u n d als Pfarrer der Landeskirche bei einer Berichterstattung an 'die Öffentlichkeit i n besonderem Maße die Verantwortung f ü r volle Wahrhaftigkeit ob, so hat er gerade an seinem T e i l sich ganz unverkennbar der I r r e f ü h r u n g der öffentlichen M e i n u n g schuldig gemacht, indem er i h r einen durchaus entstellten Tatbestand darbot. Die vielfache höchst bedauerliche I r r e f ü h r u n g der öffentlichen M e i n u n g i m Falle Jatho ist wesentlich m i t auf den Angeschuldigten zurückzuführen. Er trägt dafür die Verantwortung. —
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A u f der Grundlage der entstellten Wiedergabe des Sachverhalts seitens des Angeschuldigten bauen sich seine Angriffe gegen das Verfahren selbst auf. Sie überschreiten jedes erlaubte Maß. . . . Die Schmähungen richten sich insonderheit auch gegen den k r a f t Gesetzes zum Vorsitzenden des Spruchkollegiums berufenen Präsidenten des Evangelischen Ober-Kirchenrats. I h m v o r allem gilt der i m m e r wieder erhobene — i n der Berufungsrechtfertigung jetzt als unbegründet anerkannte — V o r w u r f der Ungesetzlichkeit bei der Ablehnung der Zeugen. I h m namentlich w i r d der V o r w u r f gemacht, daß er Jatho w i e einen Buben i n der Schule ausgefragt habe. — Nachdem der Angeschuldigte auf G r u n d einer entstellten Darlegung des Verfahrens dieses selbst m i t den maßlosesten Bezeichnungen charakterisiert hat, ist es nicht zu verwundern, daß er f ü r die W i r k u n g e n des Verfahrens ebenfalls n u r die schärfsten Worte w ä h l t u n d den leidenschaftlichen K a m p f auf Beseitigung des Lehrbeanstandungsgesetzes und des Spruchkollegiums proklamiert. Die Wirkungen des Verfahrens faßt der Angeschuldigte zusammen als Herrschaft der Heuchelei. . . . Der Angeschuldigte hat sich nicht gescheut, alle diese Entstellungen, Verdächtigungen und Schmähungen i n skrupelloser A g i t a t i o n i n die breite Öffentlichkeit hinauszutragen. I n den öffentlichen Versammlungen hat er die kirchlichen Einrichtungen u n d die Ehre der Kirchenbehörden der „Heiterk e i t " u n d „stürmischen Heiterkeit" preisgegeben. I n seinem Organ „Christliche Freiheit" enthielt fast jede N u m m e r derartige Angriffe. U n d m i t besonderer Genugtuung registriert der Angeschuldigte das Echo, welches seine A g i t a t i o n nach seinen Angaben auch bei einzelnen seiner Amtsbrüder gefunden haben soll. . . . Wie diese i n der Streitschrift zum Ausdruck gebrachte, grundsätzliche Stellungnahme des Angeschuldigten i n bezug auf sein etwaiges künftiges Verhalten zur Landeskirche u n d ihren Einrichtungen zu bewerten sein w i r d , w i r d bei der Frage der Strafabmessung zu würdigen sein. F ü r die W ü r d i gung seines gegenwärtigen, bereits getätigten Verhaltens ist festzustellen, daß der Angeschuldigte grundsätzlich sein Z i e l der Beseitigung des Spruchkollegiums erreichen w i l l durch die Aussaat von Mißtrauen gegen die Kirche. . . . Die gegen den Angeschuldigten festgestellten Verfehlungen erscheinen auch nach den von i h m selbst zu seiner Hechtfertigung abgegebenen E r klärungen nicht i n einem milderen Lichte. Generell n i m m t der Angeschuldigte f ü r sich das Recht der K r i t i k i n A n spruch m i t dem Bemerken, daß die religiöse K r i t i k stets die schärfste gewesen sei, — seit den Zeiten der Propheten u n d Jesu bis auf Schleiermacher und Kierkegaard.
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Die auch n u r vergleichsweise Heranziehung der religiösen K r i t i k des Heilandes ist schlechthin abzulehnen. So w e n i g i m übrigen dem Angeschuldigten das Recht der K r i t i k , insbesondere auch der religiösen K r i t i k , u n d zwar einer solchen i m weitesten Maße, verschränkt werden soll, so wenig hat religiöse K r i t i k m i t den von i h m geübten systematischen Entstellungen und Verunglimpfungen zu tun. . . . F ü r die Würdigung des Verhaltens des Angeschuldigten sind seine Ausführungen i n der Streitschrift „Staatschristentum oder Volkskirche" von besonderer Bedeutung, i n denen er v o r der breitesten Öffentlichkeit systematisch u n d programmatisch seinen Standpunkt entwickelt u n d seine Ziele klarlegt. Wenn er dabei behauptet, er habe lediglich i m Interesse einer Besserung der Landeskirche an gewissen Einrichtungen eine scharfe religiöse K r i t i k üben wollen, er habe aber nicht beabsichtigt, irgend einer Person des Kirchenregiments zu nahe zu treten oder kirchliche Einrichtungen verächtlich zu machen, so mag es gelten, daß der Verfasser vorhandene Mängel und Mißstände zur Sprache b r i n g t u n d Ziele aufstellt, die sie beseitigen sollen. A b e r dies geschieht, auch abgesehen von den dabei untergelaufenen vielfachen Kränkungen u n d Verunglimpfungen landeskirchlicher Einrichtungen u n d Behörden, auch i n der Sache selbst i n so maßlos übertriebener, einseitiger Weise, daß als letzter Eindruck nicht sowohl der A n t r i e b zu tatkräftiger A b h i l f e als vielmehr der des Mißtrauens, j a der Verachtung gegen die verrotteten Zustände der Kirche zurückbleibt. . . . I V . Bei der Abmessung der Strafe hat das Konsistorium zu Breslau eine Reihe von Umständen zugunsten des Angeschuldigten berücksichtigt. Der Hinweis des Konsistoriums, daß die Verfehlungen des Angeschuldigten . . . sich auf den Verlauf eines Jahres (1911) beschränken u n d m i t seiner Tätigkeit i m Falle Jatho zusammenhängen, ist oben bereits i n einem von der Vorinstanz abweichenden Sinne gewürdigt worden. Weiter aber hat das Konsistorium den Angaben des Angeschuldigten geglaubt, daß es i h m bei seiner publizistischen Tätigkeit überall n u r u m die Sache, u m die Herbeiführung besserer Zustände i n der Landeskirche zu t u n gewesen sei, daß es niemals i n seiner Absicht gelegen habe, die Landeskirche, ihre Einrichtungen oder Behörden oder einzelne Personen herabzuwürdigen oder zu verletzen. Indem ferner die wiederholte Verteidigung der Kirche gegenüber Sozialdemokraten und Monisten u n d die Inhibierung des Neudrucks der Broschüre „Staatschristentum oder Volkskirche" berücksichtigt wurde, hat das Konsistorium angenommen, daß dem schuldhaften Verhalten des Angeklagten nicht unedle Motive zugrunde gelegen hätten. Endlich ist als besonders bedeutungsvoll erachtet, daß dem Angeschuldigten i n seiner amtlichen Wirksamkeit Anerkennung und Lob zuteil geworden sei und es i h m an Liebe und Achtung i n der Gemeinde nicht fehle. A l l e diese Momente haben indessen die Vorinstanz i m m e r h i n n u r dazu geführt, daß gegen den Angeschuldigten i n der nach dem Gesetze mildesten Form der Strafversetzung die Entfernung aus dem Kirchenamte ausgesprochen, die Verhängung einer bloßen Ordnungsstrafe aber angesichts der Schwere der Verfehlungen als ungenügende Sühne angesehen worden ist.
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I n der Berufungsrechtfertigung w i r d hiergegen geltend gemacht, die Begründung der Entscheidung enthalte insofern einen Widerspruch, als der Angeschuldigte, w e n n er aus nicht unedlen Motiven gehandelt habe, sich der Achtung u n d des Vertrauens nicht u n w ü r d i g gezeigt, nicht einen sittlichen Mangel bekundet haben könne; das Anerkenntnis nicht unedler Motive hätte folgerichtig zur Freisprechung führen müssen. K a n n dies als zutreffend nicht anerkannt werden, w e i l das Handeln aus nicht unedlen M o t i v e n f ü r den Kirchenbeamten nicht einen Freibrief dafür bilden darf, die Rücksicht auf die i h m aus dem A m t e erwachsenden Pflichten außer acht zu lassen, so erscheint doch ein weiteres Eingehen hierauf nicht erforderlich, w e i l der Vorinstanz i n diesem Punkte nicht beigetreten werden kann. Wenn sie davon ausgeht, daß die literarische und publizistische Tätigkeit des Angeschuldigten lediglich unter dem Gesichtspunkte außeramtlichen Verhaltens zur beurteilen sei, u n d daß es i h m dabei überall n u r u m die Sache, u m die Besserung der kirchlichen Zustände i n seinem Sinne zu t u n gewesen sei, so w i r d diese Beurteilung dem Umstände nicht gerecht, daß der Angeschuldigte durch seine Angriffe gegen die Landeskirche, ihre Behörden u n d Einrichtungen gerade die besonderen Pflichten, welche sein Beruf als landeskirchlicher Geistlicher i h m auferlegt, schwer verletzt hat. Das A m t eines Geistlichen der Landeskirche b r i n g t den Inhaber i n ein Verhältnis nicht n u r zu seiner Gemeinde, sondern ebenso zu dem Gesamtorganismus der verfaßten Landeskirche. . . . Es k a n n . . . der Vorinstanz durchaus nicht darin beigetreten werden, daß es dem Angeschuldigten überall n u r u m die Sache, u m die Herbeiführung besserer Zustände i n der Kirche zu t u n gewesen sei. Sein Z i e l ist, w i e oben gezeigt, die Bekämpfung u n d Zerstörung der Landeskirche, soweit sie seinen Anschauungen nicht entspricht, u n d zwar auch m i t M i t t e l n der Verdächtigung u n d Verächtlichmachung. D a m i t hat er als Geistlicher u n d Diener der Landeskirche gegen die Pflichten seines Amtes aufs schwerste verstoßen. Wenn der Angeschuldigte weiter subjektiv die Absicht, die Landeskirche und ihre Einrichtungen herabzusetzen u n d zu verletzen, i n Abrede stellt, u n d das Konsistorium auch h i e r i n i h m den Glauben nicht versagt, so ist diese Bewertung der „nicht unedlen" Motive m i t den festgestellten Tatsachen nicht vereinbar. Der Angeschuldigte k a n n auf eine Berücksichtigung seiner Motive jedenfalls n u r insoweit Anspruch erheben, als sie aus seinem Verhalten erkennbar sind u n d m i t diesem übereinstimmen. B e i den oben erörterten Einzelvorgängen mußte dagegen i m m e r wieder festgestellt werden, m i t welchen sittlich anfechtbaren K a m p f m i t t e l n der Angeschuldigte seine Angriffe gef ü h r t hat — v o n der Irreleitung der öffentlichen Meinung durch unrichtige Wiedergabe des Sachverhalts bis zu den i n der F o r m schärfsten Ehrenkränkungen. Z u der offensichtlich hervorgetretenen Neigung des Angeschuldigten, trotz eigener großer Empfindlichkeit es m i t der Ehre anderer, insbesondere der landeskirchlichen Behörden leicht zu nehmen, t r i t t die ausgesprochene Absicht, das Vertrauensverhältnis zwischen der Landeskirche u n d ihren Behörden u n d den Gemeinden, auf dem allein eine gesegnete E n t w i c k l u n g der
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Landeskirche u n d der Gemeinden denkbar ist, durch Aussaat starken M i ß trauens zu zerstören. U n d w e n n trotz solchen Verhaltens der Angeschuldigte f ü r das Zugrundeliegen nicht unedler Motive Glauben beansprucht, so ist daran zu erinnern, w i e oben bei einer Reihe verletzendster V o r w ü r f e seine Angabe, i h m habe die Absicht einer K r ä n k u n g ferngelegen, m i t den erwiesenen Tatsachen als unvereinbar erachtet werden mußte. Wenn endlich hierbei erwogen w i r d , daß der Angeschuldigte trotz der i h m gemachten Vorhaltungen n u r i n einem einzigen Falle u n d auch hier n u r bedingt zu einem Worte des Bedauerns über seine Verfehlungen sich verstanden hat, so erfordert die gerechte Sühne dieser Verfehlungen die schärfste disziplinare Strafe, die Dienstentlassung. . . . Bei diesem Sachverhalt mußten auch die dem Angeschuldigten günstigen Feststellungen der Vorinstanz über seine T ä t i g k e i t u n d Stellung i m Pfarramte u n d i n seiner Gemeinde zurücktreten. Es mag daher dahingestellt bleiben, ob diese Feststellung auf o b j e k t i v unanfechtbarer Grundlage beruht. . . . Sowohl nach den wiederholten Proklamationen des unentwegten Kampfes gegen die Landeskirche, w i e auch i m H i n b l i c k auf den w ä h r e n d der U n t e r suchung zutage getretenen Mangel an Einsicht i n die Verwerflichkeit seiner Kampfesmittel u n d bei der mehrfach hervorgetretenen U n w a h r h a f t i g k e i t seiner Polemik muß dem Angeschuldigten das Vertrauen versagt werden, daß er h i n f o r t seine grundsätzliche Stellung zur verfaßten Landeskirche ändern bzw. i n einwandfreier Weise seinen Standpunkt zur Geltung bringen werde. Wer systematisch u n d i n der A r t , wie er, der verfaßten Landeskirche die Existenzberechtigung überhaupt abspricht, sie i n ihren Behörden u n d E i n richtungen bekämpft und verächtlich macht, entzieht sich selbst die Möglichkeit einer ferneren Wirksamkeit als Geistlicher u n d Diener dieser Kirche, und es k a n n der Landeskirche nicht zugemutet werden, einen solchen M a n n i m geistlichen Stande zu belassen u n d i h m damit die Möglichkeit des Wiedereintritts i n ein landeskirchliches Pfarramt zu gewähren. . . .
Nr. 345. Adolf Harnack über die Dienstentlassung Gottfried Traubs von 1912 (A. Harnack, Die Dienstentlassung des Pfarrers Lie. G. Traub, 1912, S. 9 ff.) — Auszug — Traub ist, wie Sohm 1 6 , von Gewissens wegen ein Gegner des Spruchkollegiums; Traub w a r u n d ist der Verteidiger Jathos, kein unberufener, sondern der berufene, u n d Traub erlebte Jathos Verurteilung — welche furchtbaren Wogen mußten da über seine Seele gehen! Reden mußte er u n d schrei10
Oben Nr. 323, Nr. 330, Nr. 332.
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ben mußte er vor und nach der A k t i o n , u n d Hede stehen u n d seinen und Jathos Standpunkt zum Ausdruck bringen, über die Verhandlungen berichten usw. Wie es eine fortgesetzte H a n d l u n g war, so w a r es eine, über Monate sich erstreckende, betäubende Erregung, i n der er sich befand. U n d da get r a u t m a n sich, das Einzelne zu analysieren, u m festzustellen, daß i h m m i l dernde Umstände nicht zuzubilligen sind, daß er aus unedlen M o t i v e n gehandelt hat u n d „sittlicher Verfehlungen" schuldig ist! Ich versteh's nicht; denn es ist m i r keinen Augenblick zweifelhaft, daß i h m vor jedem bürgerlichen Gerichtshof mildernde Umstände zugestanden worden wären, daß ein solcher Gerichtshof keine unedlen Motive angenommen u n d sich auch geweigert hätte, auf solch ein M a t e r i a l hin, das i m einzelnen Dutzende von Möglichkeiten i n der E r k l ä r u n g zuläßt, den sittlichen Charakter des Angeklagten zu vernichten, zumal, da er doch i m Spruchkollegium der berufene Verteidiger Jathos war. Der Oberkirchenrat hat k e i n Bedenken getragen, den schwärzesten Schein nicht n u r der Parteilichkeit, sondern des Rechtsbruchs auf sich zu laden — man straft den Verteidiger f ü r seine Verteidigung! — u n d gewiß w a r er sich dieser kommenden Anklage bewußt. Wie sicher und gut muß das Gewissen des Oberkirchenrats sein, w e n n er es ruhig darauf ankommen ließ; aber w i r anderen fragen, w a r dieser Heroismus nötig, j a ist er überhaupt statthaft? . . . Geradezu unerträglich aber w i r d diese K l i m a x , wenn man erwägt, daß die höchste Instanz i n dieser Angelegenheit der Beleidigte, der Ankläger u n d der Richter zugleich ist. Ist unter solchen Verhältnissen die Unparteilichkeit gewährleistet? Wenn es sich u m Verweise handelt, mag's gehen; die A d m i nistration muß das Recht haben, kleinere u n d auch erheblichere Verstöße kurzer Hand selbst zu strafen; aber wo es u m K o p f u n d Kragen geht, darf nicht die beleidigte u n d anklagende Behörde selbst die Richterin sein. . . . Es ist ein schweres Verhängnis für unsere Landeskirche, daß es soweit gekommen ist, daß gute u n d treue evangelische Christen nicht mehr wissen, ob sie ihren Söhnen zuraten dürfen, das theologische S t u d i u m zu ergreifen, und daß junge ernsthafte Theologen kopfscheu werden u n d oft genug erklären, Pfarrer w o l l t e n sie nicht werden, höchstens die Fakultas für den Religionsunterricht w o l l t e n sie erwerben. . . . Ich w i l l i h n (sc. den Schaden) i n aller Schärfe aussprechen: m a n hat kein Zutrauen mehr dazu, daß man w a h r haftig bleiben kann, w e n n man Theologe w i r d , w e i l man i n den Ordnungen und i n der Leitung der religiösen u n d kirchlichen Dinge keinen Schutz für die Wahrhaftigkeit zu erkennen vermag, sondern ihre Gefährdung. . . . Es hat i n der Kirche, schon etwa v o m 4. u n d 5. Jahrhundert her, nie volle Wahrhaftigkeit geherrscht, zuoberst keine volle Wahrhaftigkeit i m objektiven Sinn u n d sehr häufig u n d durch alle Jahrhunderte hindurch auch keine solche i m subjektiven. Z u allen Zeiten hat m a n als Glaubensausdruck mehr u n d Gesteigerteres gesagt, als man verantworten konnte; immer drückte m a n sich i n den dogmatischen Formeln exzentrischer aus, als man w i r k l i c h glaubte und i m Leben durchzuführen entschlossen war, u n d i m m e r ging man i n der Befestigung durch liturgische Formeln weiter, als m a n durfte. . . . M a n mag m i t Recht an unserem Zeitalter v i e l tadeln, . . . — w i r wären doch v o l l U n -
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dank gegen den Gang der Geschichte, also gegen Gott, wenn w i r nicht bekennen würden, daß das, was sich i m letzten Menschenalter ausgebildet hat, eben der strenge Wirklichkeits- u n d Wahrheitssinn i n der Erkenntnis, ein unveräußerliches, herrliches Gut ist. . . . U n d diesem neuen Zustande der Dinge . . . steht die Kirche gegenüber m i t ihrem alten Dogma, ihrer alten Geschichtsbetrachtung und ihrer alten Praxis. . . . Der Zusammenprall einer neuen Zuständlichkeit des Geistes, einer neuen, oder besser einer nunmehr w i r k l i c h durchgeführten A r t , das Wirkliche zu erkennen, m i t der Kirche i n ihrer alten Rüstung — das ist die kirchliche Krisis der Gegenwart! . . . Ich glaube i n dem ersten Teile nachgewiesen zu haben, daß die Strafe eine ganz unverhältnismäßige ist, u n d i n dem zweiten gezeigt zu haben, wo letztlich der Sitz des Übels zu suchen ist, aus dem die i n maßlosen Angriffen explodierenden Nöte stammen. Es ist der Zwang, der noch i n den Ordnungen der Kirche geübt w i r d ; es ist die Empfindung u n d Erfahrung, daß der W i r k lichkeits- u n d Wahrheitssinn sich hier nicht frei entfalten kann, ein Zustand, der i n dem liturgischen Zwang des Apostolikums am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Vor hier aus ist Traubs Verhalten zu erklären. . . . Hier ist es m i r nach ernster Prüfung nicht zweifelhaft, daß die Unfreiheit, die i n unserer Landeskirche trotz aller Fortschritte noch besteht, der letzte G r u n d der Katastrophe ist, die einen edlen M a n n der Landeskirche genommen hat. . . . Die Unfreiheit hat Traub als Wahrheitswidrigkeit empfunden u n d von hier aus hat er sich zu einem Kampfe fortreißen lassen, der nicht ungerügt bleiben durfte. A b e r w e n n die Unfreiheit fortbesteht, w i e viele Katastrophen werden w i r noch erleben? . . . W i r leben nicht i n einer Epoche des Rückschritts, w o h l aber i n einer Epoche, die durch den überaus langsamen Fortschritt und manchen schweren Mißgriff die Geduld auf eine harte Probe stellt.
I V . Bemühungen um die Wiedereinsetzung des Pfarrers Traub Zum Nachfolger Traubs wählte die Gemeindevertretung der ReinoldiGemeinde in Dortmund am 11. Juni 1913 einstimmig den Riisselsheimer Pfarrer Emil Fuchs 1. Dieser fand jedoch nicht die Bestätigung des Konsistoriums in Münster, weil er sich gemeinsam mit anderen hessischen Pfarrern gegen das Urteil des Spruchkollegiums im „Fall Jatho" ausgesprochen hatte. Der preußische Oberkirchenrat bestätigte diese Entscheidung. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs glaubte die Reinoldi-Gemeinde die Zeit gekommen, um beim preußischen Oberkirchenrat die Wiedereinsetzung Traubs in die Rechte des geistlichen Standes zu erbitten (Nr. 346). Am 12. Dezember 1914 antwortete der Oberkirchenrat durch das Westfälische Konsistorium, 1 Emil Fuchs (1875 - 1971), ev. Theologe, 1899 V i k a r i m hessischen Kirchendienst, 1904 Repetent i n Gießen; 1905 Pfarrer i n Rüsselsheim, 1918 i n Eisenach; 1931 Professor an der Pädagogischen Akademie i n K i e l ; 1933 - 1949 außer Dienst; 1949 Professor f ü r Systematische Theologie u n d Religionssoziologie i n Leipzig; einer der führenden Vertreter des religiösen Sozialismus.
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17. Kap.: Evangelische Lehrkonflikte
die Gründe, die zu Traubs Dienstentlassung geführt hätten, bestünden fort; zu einem Akt der Versöhnlichkeit sah die Behörde keinen Anlaß (Nr. 347). Erst am 15. November 1918 wurden Traub, der während des Kriegs als Mitglied der Vaterlandspartei und Verfechter einer annexionistischen Kriegszielpolitik hervorgetreten war, die Rechte des geistlichen Standes auf Grund einer noch von Kaiser Wilhelm II. ausgesprochenen Anregung wieder zuerkannt (Nr. 348, Nr. 349). Wenige Tage später erhielt Traub die Berufung in den Rat der Vertrauensmänner der preußischen Landeskirche 2.
Nr. 346. Eingabe des Presbyteriums der Reinoldi-Gemeinde in Dortmund an den Evangelischen Oberkirchenrat v o m 30. September 1914 (Protestantenblatt 1915, Sp. 27 f.) Unter Berufung auf den Wunsch unseres Kaiserlichen u n d Königlichen Herrn, daß es i n dieser ernsten u n d heiligen Zeit des Krieges keine Parteien mehr geben möge 3 , glaubt das Presbyterium von St. Reinoldi den Zeitp u n k t f ü r gekommen, die oberste Kirchenbehörde u m einen A k t kirchenregimentlicher Versöhnlichkeit zu bitten. Der von unseren Nachbarn uns aufgezwungene gewaltige K r i e g hat bisher einen glänzenden Verlauf genommen. Der äußere Feind ist überall zurückgeschlagen, u n d die deutschen Fahnen sind siegreich i n des Feindes L a n d getragen. Auch i m I n n e r n ist aller politischer, sozialer u n d konfessioneller Hader begraben. W i r kennen allerorten n u r Deutsche. Wo gefehlt war, hat die königliche Gnade Platz gegriffen. Erkannte Strafen sind erlassen oder herabgemildert. Eine große Zeit hat so ein großes V o l k gefunden. Zuversichtlich hoffen w i r nun, daß auch die oberste Kirchenbehörde i n dieser heiligen Zeit dem leidigen F a l l unseres früheren Pfarrers Dr. Traub ein versöhnliches Ende bereiten w i r d . Nach § 49 des Kirchengesetzes vom 16. J u l i 18864 liegt es i n der Hand der obersten Behörde, die Rechte des geistlichen Standes einem dienstentlassenen Pfarrer wieder beizulegen. Deshalb bitten w i r dringend darum, H e r r n Dr. Traub gegenüber von dieser allein dem Evangelischen Oberkirchenrath vorbehaltenen Befugnis Gebrauch zu machen. Dr. Traub hat auch nach seiner Dienstentlassung stets treu zur Landeskirche gehalten und sich besonders u m die Verhinderung der hier i n D o r t m u n d wie auch i n Westfalen und Rheinland einzusetzen drohenden Kirchenaustrittsbewegung ein unbestreitbares Verdienst e r w o r ben. Unserer Kirche, der Dortmunder, wie auch der Provinzialkirche hat er dadurch einen großen Schaden abgewandt. Wo er nur vermochte, hat er ferner jede Gelegenheit ergriffen, u m i n kirchlichem Sinn seine reichen K r ä f t e zu verwenden. Besonders jetzt i n der schweren Zeit des Krieges ist er zahl2 Vgl. die M i t t e i l u n g i n : Christliche Freiheit 34 (1918), Sp. 756. Z u m Rat der Vertrauensmänner siehe Staat u n d Kirche Bd. I V . Z u m Ganzen vgl. E. R. Huber, Verfassungsgeschichte Bd. I V , S. 874 f.; W. Huber, Kirche u n d Öffentlichkeit (1973), S. 192 ff. 3 Vgl. zur innerkirchlichen Bedeutung des „Burgfriedens" unten Nr. 370. 4 Staat und Kirche, Bd. I I , Nr. 458.
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losen bedrückten Herzen ein starker Tröster u n d Helfer gewesen. W i r bitten deshalb u m einen A k t der Versöhnlichkeit, der die Mehrzahl unserere Gemeindeglieder m i t dankbarer Genugtuung erfüllen würde. A u f Wunsch sind w i r bereit, eine Abordnung zu entsenden, welche i n mündlicher Verhandlung weitere A u f k l ä r u n g geben könnte.
Nr. 347. Bescheid des Westfälischen Konsistoriums an das Presbyterium der Reinoldi-Gemeinde in Dortmund v o m 12. Dezember 1914 (Protestantenblatt 1915, Sp. 28) Der evangelische Oberkirchenrat i n B e r l i n beauftragt uns, das Presbyter i u m auf die Eingabe v o m 30. September d. J., betreffend Wiederverleihung der Rechte des geistlichen Standes an Dr. Traub, dahin zu bescheiden, daß der Anregung bei aller Würdigung der d a r i n bezeugten Anhänglichkeit an den früheren Pfarrer der Gemeinde schon u m deswillen keine Folge gegeben werden könne, w e i l die Ausführungen des Presbyteriums zur Begründung seines Gesuches diejenigen Gründe, welche i m Disziplinarverfahren die Dienstentlassung des Pfarrers Traub und den damit verbundenen Verlust der Rechte des geistlichen Standes seinerzeit unerläßlich gemacht haben, überhaupt nicht berührt, geschweige denn erschüttert hätten, noch auch sonst diese Gründe h i n f ä l l i g erscheinen ließen. Die von dem Presbyterium wiederholt hervorgehobene B i t t e u m einen A k t der Versöhnlichkeit komme nicht i n Frage, da die Entscheidung über eine Wiederbeilegung der Rechte des geistlichen Standes unter andern Gesichtspunkten als dem der Versöhnlichkeit zu erfolgen habe.
Nr. 348. Erlaß des Evangelischen Oberkirchenrats über die Wiederverleihung der Rechte des geistlichen Standes an Gottfried Traub v o m 16. November 1918 (Christliche Freiheit, 34,1918, Sp. 748) W i r teilen Euer Hochwürden hierdurch gerne m i t , daß der evangelische Oberkirchenrat am 15. November dieses Jahres beschlossen hat, Ihnen die Rechte des geistlichen Standes wieder beizulegen. Voigts
Nr. 349. Schreiben Gottfried Traubs an den Evangelischen Oberkirchenrat vom 20. November 1918 (Christliche Freiheit, 34, 1918, Sp. 755) Hochwürdiger Evangelischer Oberkirchenrat! I m Besitz Ihres Schreibens vom 16. November gebe ich meiner dankbaren Freude Ausdruck, daß hiermit ein F a l l erledigt ist, welcher manchen Protestanten die frische Lust zur Mitarbeit an der evangelischen Kirche gehemmt hat. Die Treue zur evangelischen Volkskirche habe ich m i r stets 51 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. Bd.
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17. Kap.: Evangelische Lelirkonflikte
gewahrt. Schwere Tage für den deutschen Protestantismus brechen herein. D a r u m freut es mich doppelt, daß es m i r auch äußerlich erleichtert worden ist, diese Treue zu beweisen. Nach meiner Uberzeugung hängt die Wirksamkeit unseres deutschen Protestantismus, der ohne L u t h e r undenkbar ist, an dem Bestand einer evangelischen Kirche, welche alle K r ä f t e sammelt, die i h r m i t ihren verschiedenen Gaben ernstlich dienen wollen. Diese evangelische Kirche ist bitter nötig beim Wiederaufbau unseres schwer darniederliegenden deutschen V a t e r landes. Ganz ergebenst
D. Traub
V. Der Fall Heydorn Nicht nur die altpreußische Landeskirche, sondern auch andere evangelische Kirchen hatten sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mit Lehrkonflikten auseinanderzusetzen. Im Dezember 1910 veröffentlichte Martin Heydorn 1, Pfarrer in Burg auf Fehmarn, hundert Thesen, die den Gedanken eines persönlichen Gottes und die Gottessohnschaft Jesu verwarfen und die tragenden Begriffe der überlieferten Lehre umzudeuten suchten (Nr. 350). Ein Lehr zuchtverfahren bestand in der schleswig-holsteinischen Landeskirche nicht; aber auch von einem Disziplinarverfahren sah das Landeskonsistorium ab. Es beschränkte sich vielmehr in seinem Erlaß vom 8. März 1911 (Nr. 351) darauf, die Unvereinbarkeit der „hundert Thesen" mit der lutherischen Lehre festzustellen und den Pfarrer Hey dorn zur ernsthaften Überprüfung seiner Auffassungen und zur sorgfältigen Predigtvorbereitung zu ermahnen. Der Generalsuperintendent für Schleswig, Theodor Kaftan 2, begründete die Entscheidung der Kirchenbehörde. Hey dorn wandte sich daraufhin mit einer Beschwerde an den preußischen Kultusminister v. Trott zu Solz. Dieser stimmte dem Erlaß des Konsistoriums im Ganzen zu; doch erklärte er, daß die Kritik an der Predigtvorbereitung des Betroffenen in einem veröffentlichten Erlaß besser unterblieben wäre 3. 1 Martin Hey dorn (geboren 1873), zunächst Offizier, dann ev. Theologe; 1905 Hilfsgeistlicher i n K i e l , 1908 Pfarrer i n Breslau, 1910 i n B u r g auf Fehmarn; 1912 Pastor i n Hamburg, w o er sowohl durch seine Mitgliedschaft i m Monistenbund u n d seine Beteiligung an monistischem Ethikunterricht als auch durch sein Eintreten f ü r die Sozialdemokratie Anstoß erregte. Seit 1920 lehnte er den Vollzug der Taufe ab u n d w u r d e daraufhin 1921 seines Amtes enthoben; 1922 folgte die Entziehung der Rechte des geistlichen Standes. 2 Theodor Kaftan (1847 - 1932), Theologe; Bruder des Berliner Dogmatikers u n d Vizepräsidenten des preußischen Oberkirchenrats Julius Kaftan ; 1873 Pastor der dänischen Gemeinde i n Apenrade; 1880 Regierungs- und Schulrat i n Schleswig; 1884 Propst i n Tondern; 1886 - 1917 Generalsuperintendent für Schleswig (zunächst i n Schleswig, seit 1891 m i t Dienstsitz am Ort des Landeskonsistoriums i n K i e l ) ; seit 1917 i m Ruhestand i n Baden-Baden (zunächst als Pfarrer der altlutherischen Gemeinde). 3 Th. Kaftan, Wo stehen w i r ? (2. A u f l . 1911); M. Heydorn, W o h i n gehen w i r ? (1911); E. Petersen, Der F a l l Heydorn (Die Christliche Welt, 25, 1911, Sp. 776 ft.).
803
V. Der F a l l Heydorn
Nr. 350. Die hundert Thesen des Pfarrers Heydorn v o m Dezember 1910 (Th. Kaftan , Wo stehen w i r ? Eine kirchliche Zeitbetrachtung verfaßt i n V e r anlassung des Falles Heydorn bzw. des Falles Jatho, 2. Aufl. 1911, S. 2 ff.) — Auszug — A. Grundlagen
der religiösen
Erkenntnis
a. Die falschen Grundlagen 1. Die Bibel — denn sie ist Menschenwerk u n d enthält Wahres u n d I r r t ü m liches durcheinander. 2. Die sog. Offenbarungen, mittels deren Gott persönlich oder i n d i r e k t E n t hüllungen über sein Wesen, seine Pläne oder über die Z u k u n f t gemacht haben soll, — derartige Offenbarungen haben sich sämtlich als Menschenmeinung erwiesen. 3. Der überlieferte Glaube — denn unsere Vorfahren u n d ihre Gewährsleute (ob Papst, ob Luther, ob Jesus) können sich geirrt haben; das Prinzip der Entwickelung darf hinsichtlich des Glaubens nicht einfach ausgeschaltet werden. . . . b. Die richtigen Grundlagen 7. E i n unverbildeter einfacher Verstand u n d ein aufgeschlossenes, empfängliches Herz. 8. Die Geschichte, speziell die Religionsgeschichte, u n d die N a t u r . . . m i t anderen 9. Worten : das Sein u n d Geschehen, soweit es überblickbar ist. B. Unser Glaube I. Gott a. Falsch ist, 12. daß Gott i m Sinne des natürlichen Erkennens erkennbar ist, 13. daß Gott jemals gesehen ist oder gesprochen hat, 14. daß Gott als ein Personenwesen nach Analogie des Menschen vorgestellt w i r d , . . . b. Richtig ist, 19. daß der Gottesglaube bewußt oder unbewußt i n jedem Menschen steckt, II. Jesus a. Falsch ist, 23. daß übernatürliche Weissagungen seit alters auf Jesus hingewiesen haben,
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17. Kap.: Evangelische L e r k o n f l i k t e
24. daß Jesus eine Figur der Sage ist, 25. daß Jesus auf übernatürliche Weise geboren ist, 26. daß Jesus Gott ist, 27. daß Jesus Gottes Sohn i n einem übernatürlichen Sinne i s t , . . . 30. daß er von dem Tode auferstanden ist, . . . 37. daß der K u l t u s seiner Person für das Christsein notwendig ist. b. Richtig ist, 38. daß der Israelit Jesus w i r k l i c h gelebt hat und zwar i n Judäa zur Zeit der Kaiser Augustus u n d Tiberius, . . . 43. daß die i n Jesus Fleisch gewordene Auffassung des Menschentums bis heute keine Aussicht hat, überboten werden zu können, 44. daß das Menschentum nach i h m besteht i n der unzerreißlichen engsten Verbindung jeder Menschenseele m i t G o t t , . . . 51. daß diese Auffassung, als das wahre Christentum, soweit man zu b l i k ken vermag, einzig u n d alleine Frieden u n d Wohlfahrt i n der Menschheit zu verbreiten vermag, . . . 54. daß aber die Person Jesu selbst nicht konstitutiv f ü r das persönliche Christsein oder besser Christbleiben des einzelnen ist. III.
Der Mensch
a. Falsch ist, 55. was die Bibel über die Entstehung der Menschen u n d über die ersten Vorgänge unter den Menschen berichtet, . . . b. Richtig ist, 63. daß über die Entstehung der Menschen noch nichts Gewisses ausgesagt werden kann, . . . IV.
Sakramente
a. Falsch ist, 73. die Definition, wonach ein Sakrament eine heilige, von Christus selbst eingesetzte Handlung ist, i n welcher unter irdischen Zeichen himmlische (übernatürliche) Gnadengüter zuteil werden, . . . b. Richtig ist, 76. daß m a n entweder gar keine oder unzählige Sakramente anerkennen muß — letzteres dann, w e n n man jeden Vorgang, durch den eine Annäherung an Gott oder Vertiefung i n Gott hervorgerufen w i r d , als Sakrament empfindet.
V. Der F a l l Heydorn C. Konsequenzen
für verschiedene
805 Einrichtungen
I. Der Kultus a. Falsch ist, 77. daß K u l t h a n d l u n g e n (Gottesdienst, Abendmahl, Taufe, Konfirmation, Trauung, kirchliche Beerdigung) unbedingt zur Christenheit g e h ö r e n , . . . b. Richtig ist, 79. daß die Glieder einer Familie oder einer Gemeinde i n der Regel das zeitweilige gemeinsame Denken an Gott (zumal bei besonderen Anlässen) als eine Erhebung u n d Anregung empfinden, die der einzelne nicht immer so erleben kann, . . . II. Das Priestertum a. Falsch ist, 81. daß die V e r w a l t u n g der Gotteserkenntnis u n d Gottesverehrung einem bestimmten Stande übergeben ist oder w i r d , daß also M i t t l e r zwischen Gott und Mensch nötig s i n d , . . . b. Richtig ist, 85. daß es zur Einführung zumal der K i n d e r und jüngeren Leute i n das Verständnis u n d Wollen des wahren Menschentums sowie zur Erhaltung darin geeigneter Persönlichkeiten bedarf, . . .
III.
Die Kirche
a. Falsch ist, 88. daß es verschiedene Kirchen gibt u n d daß innerhalb eines Volkes u n d einer Kirche noch kirchliche Absonderungen stattfinden, 89. daß eine Kirche bureaukratisch organisiert ist, 90. das Streben nach kirchlicher u n d religiöser Uniformität, 91. daß Unterschiede zwischen anerkannten u n d nicht anerkannten Religionsgesellschaften gemacht werden, 92. daß die einen v o m Staate unterstützt, die andern von i h m befehdet werden, 93. daß hineinregiert w i r d i n das, was des Menschen innerste Angelegenheit ist. b. Richtig ist, 94. daß die Religion eine Menschheitssache ist u n d daß die Menschheitsverbände (Volk, Stamm, Ortschaft, Familie) die natürlichen Gemeinschaften für die Pflege des Religiösen bilden,
806
17. Kap.: Evangelische L e r k o n f l i k t e
95. daß diese grundlegende Pflege die wichtigste Aufgabe f ü r die genannten Gemeinschaften ist, 96. daß den lokalen Bedürfnissen u n d Besonderheiten der weiteste Spielr a u m gelassen w i r d . I V . Die Schule a. Falsch ist, 97. daß die Konfessionen irgend etwas m i t der Schule zu t u n haben. b. Richtig ist, 98. daß der Schulunterricht wie überhaupt jede H a n d l u n g religiös durcht r ä n k t sein muß, 99. daß diese Durchtränkung sich weniger durch Worte u n d besondere Religionsstunden, als durch die Persönlichkeit des Lehrers kundgibt u n d m i t teilt. . . .
Nr. 351. Erlaß des Konsistoriums in Kiel an den Pfarrer Heydorn v o m 8. März 1911 (Th. Kaftan , Wo stehen wir? Eine kirchliche Zeitbetrachtung verfaßt i n V e r anlassung des Falles Heydorn bzw. des Falles Jatho, 2. Aufl. 1911, S. 13 ff.) — Auszug — Die hundert Thesen, welche Sie i n Nr. 52 des Jahrgangs 1910 der von Ihnen herausgegebenen Wochenschrift „Leben i m L i c h t " veröffentlicht haben, haben nicht n u r i n I h r e r Gemeinde, sondern auch i n weiteren Kreisen unserer Landeskirche Aufsehen und berechtigten Anstoß erregt. I m H i n b l i c k auf die zurzeit i n der evangelischen Christenheit bestehenden W i r r e n u n d K ä m p f e erscheint es geboten, i n einer Landeskirche die pflichtmäßige Lehrzucht i n freilassender A r t zu üben. Diese A r t aber hat zur V o r aussetzung, daß seitens der Geistlichen, die unter dem Einfluß der Zeitmächte m e h r oder weniger v o m Z e n t r u m des Evangeliums abirren, i n ihrem V e r halten auf ihre Stellung i n der Landeskirche alle m i t der Wahrhaftigkeit vereinbare Rücksicht genommen u n d alles, was der Kirche heilig ist, von ihnen m i t entsprechender Pietät behandelt w i r d . Diese Rücksichtnahme u n d diese Pietät lassen Ihre Thesen i n hohem Maße vermissen. . . . W i r dürfen u n d w o l l e n I h n e n nicht verhehlen, daß I h r e Thesen, so w i e sie lauten, trotz einzelner Anklänge an das Evangelium sich i n i h r e r Verneinung fast aller Faktoren christlicher Religiosität von dem l u t h e risch verstandenen Evangelium so w e i t entfernen, daß eine Verkündigung, die lediglich das i m W o r t l a u t I h r e r Thesen Dargebotene wiedergibt u n d ausführt, m i t den Pflichten u n d Aufgaben eines evangelisch-lutherischen Geistlichen unvereinbar i s t . . . .
. Der F a l l
r
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Insonderheit aber nehmen w i r davon A k t , daß Sie i n I h r e r E r k l ä r u n g v o m 26. Januar u n u m w u n d e n aussprechen, Sie w ü r d e n „bei einer Neuabfassung der Thesen die F o r m i n der Richtung erheblich ändern, daß die christliche Position, die Sie vertreten, voller u n d besser zur Geltung käme, die K r i t i k dagegen an ihrer Schroffheit verlöre", u n d daß Sie i n der schon erwähnten Anlage Ihres Schreibens v o m 2. d. Mts. die von I h n e n vertretene christliche Position dahin charakterisiert haben: „diese birgt i n sich a) den Glauben an Gott als den Vater u n d H e r r n ; b) den Glauben an Christus als die höchste Offenbarung Gottes; c) den Glauben an den heiligen Geist als an den, der die Menschheit zum Leben i n diesem Offenbarungslicht führen w i r d " . . . . A u f G r u n d I h r e r von uns i n Bezug genommenen Erklärungen sehen w i r i n Erwägung, daß I h n e n allseitig ernster Lebenswandel, religiöse Wärme u n d Treue i n der Einzelseelsorge bezeugt w i r d u n d daß Sie nach der Aussage der Kirchenältesten w i e anderer hervorragender Gemeindeglieder i n I h r e r amtlichen Verkündigung I h r e Negation haben zurücktreten lassen, w i e endlich i m Hinblick auf I h r e große A m t s j u g e n d trotz I h r e r Thesen zurzeit von weiteren Schritten ab. Der allseitigen Anerkennung der Treue, m i t der Sie den einzelnen i n I h r e r Weise zu dienen bemüht sind, steht die Klage urteilsfähiger Glieder I h r e r Gemeinde gegenüber, daß Sie i n I h r e n Predigten wenig bieten, so daß die Zuhörer nicht i n der Lage sind, aus I h r e n Predigten etwas mitzunehmen. W i r haben Grund, das auch auf mangelhafte Vorbereitung zurückzuführen. W i r ermahnen Sie deshalb, k ü n f t i g auf I h r e Predigten größeren Fleiß zu verwenden, auch dieselben schriftlich zu konzipieren, u n d behalten uns vor, gegebenenfalls Konzepte I h r e r Predigten einzufordern. W i r haben bereits zu der Zeit, als Sie Hilfsprediger i n K i e l waren, Veranlassung gehabt, Sie i n einem v o m 22. November 1906 datierten Schreiben zu ermahnen, Sich i n I h r e m Verhalten i n öffentlichen Versammlungen größter Vorsicht zu befleißigen. U m so mehr sprechen w i r I h n e n jetzt die bestimmte E r w a r t u n g aus, daß Sie i n Z u k u n f t aller agitatorischen Propaganda f ü r I h r e dem Evangelium wie dem Bekenntnis widersprechenden, keineswegs ausgereiften Gedanken sich enthalten u n d sich neben treuer A m t s e r f ü l l u n g auf Ihre eigene Weiterbildung konzentrieren werden. W i r nehmen an, daß Sie selbst Sich weder f ü r befähigt noch für berufen halten zum Reformator unserer Kirche oder unserer Theologie. Gott helfe Ihnen, I h r e r Gemeinde als Ganzem w i e den einzelnen Gliedern derselben immer besser u n d gesegneter die Dienste zu leisten, die von einem evangelisch-lutherischen Geistlichen erwartet werden dürfen.
Achtzehntes Kapitel
Die evangelische Kirche i m Ersten Weltkrieg I. Die evangelische Kirche und der Kriegsausbruch Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs sah den Staat und die evangelische Kirche in enger Verbundenheit. An den „Ideen von 1914" hatte der deutsche Protestantismus vollen Anteil; ja sie waren in erheblichem Umfang durch ihn geprägt 1. In den Predigten der Kriegszeit kam diese Verbindung nationaler und religiöser Motive häufig zum Ausdruck. Schon der Tag der Mobilmachung, der 1. August 1914, war von Gottesdiensten begleitet, die, vor allem in Berlin, zahlreich besucht waren. Am 2. August 1914 rief Kaiser Wilhelm II. in einem von Gustav Kawerau 2 verfaßten Erlaß alle preußischen Gemeinden zu einem allgemeinen Bettag am 5. August auf (Nr. 352). Die erläuternde Verfügung des preußischen Oberkirchenrats vom 3. August enthielt erste Hinweise auf die Aufgaben, die den Kirchengemeinden in der beginnenden Kriegszeit gestellt waren (Nr. 353). Ausführlicher legte der Erlaß des Oberkirchenrats vom 11. August 1914 diese Aufgaben dar (Nr. 354). Für viele gleichzeitige Kundgebungen der anderen Landeskirchen ist die Ansprache des sächsischen Landeskonsistoriums an die Gemeinden vom 21. August 1914 ein repräsentatives Beispiel (Nr. 355). Vom ersten Monat des Kriegs an empfanden viele Christen es als belastend, daß sich in diesem Krieg Nationen bekämpften, die sich gleichermaßen als christlich verstanden. Nicht zuletzt aus diesem inneren Widerspruch entbrannte bald zwischen Repräsentanten der Kirchen der kriegführenden Staaten die leidenschaftliche Auseinandersetzung über die Frage der Kriegsschuld. Unter den zahlreichen Erklärungen, die deutsche Theologen und Kirchenvertreter während der ersten Kriegswochen abgaben, war die wichtigste der Aufruf deutscher Kirchenmänner und Professoren an die evangelischen Christen im Ausland von Ende August 1914 (Nr. 356). Den Gedanken einer deutschen Schuld oder Mitschuld am Kriegsausbruch wies dieser Aufruf entschieden ab*. 1
W. Huber , Kirche u n d Öffentlichkeit (1973), S. 135 ff. Gustav Kawerau: oben S. 646, A n m . 11. 3 Vgl. M. Schian, Die deutsche evangelische Kirche i m W e l t k r i e g (2 Bände 1921, 1925); H. Lübbe, Politische Philosophie i n Deutschland (1963); W. Pressel, Die Kriegspredigt 1914 - 1918 i n der evangelischen Kirche Deutschlands (1968); K . Schwabe, Wissenschaft u n d Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer u n d die politischen Grundfragen des Ersten Weltkriegs (1969); K . Hammer, Deutsche Kriegstheologie 1870- 1918 (1971); W. Huber, Kirche u n d Öffentlichkeit (1973), S. 148 ff.; G. Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie i m Ersten W e l t k r i e g (1974). 2
I. Die evangelische Kirche u n d der Kriegsausbruch
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Nr. 352. Allerhöchster Erlaß König Wilhelms II., betreffend die Abhaltung eines außerordentlichen allgemeinen Bettages4 v o m 2. August 1914 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das Evangelische Deutschland, 63, 1914, S. 386) Ich b i n gezwungen, zur A b w e h r eines durch nichts gerechtfertigten Angriffs das Schwert zu ziehen u n d m i t aller Deutschland zu Gebote stehenden Macht den K a m p f u m den Bestand des Reiches u n d unsere nationale Ehre zu f ü h ren. Ich habe Mich während Meiner Regierung ernstlich bemüht, das deutsche V o l k v o r K r i e g zu bewahren u n d i h m den Frieden zu erhalten. Auch jetzt ist es M i r Gewissenssache gewesen, w e n n möglich den Ausbruch des Krieges zu verhüten; aber Meine Bemühungen sind vergeblich gewesen. Reinen Gewissens über den Ursprung des Krieges, b i n Ich der Gerechtigkeit unserer Sache vor Gott gewiß. Schwere Opfer an Gut u n d B l u t w i r d die dem deutschen Volke durch feindliche Herausforderung aufgedrungene Verteidigung des Vaterlandes fordern. Aber Ich weiß, daß M e i n V o l k auch i n diesem K a m p f m i t der gleichen Treue, Einmütigkeit, Opferwilligkeit u n d Entschlossenheit zu M i r steht, w i e es i n früheren schweren Tagen zu Meinem i n Gott ruhenden Großvater gestanden hat. Wie ich von Jugend auf gelernt habe, auf Gott den H e r r n Meine Zuversicht zu setzen, so empfinde Ich i n diesen Tagen das Bedürfnis, v o r i h m Mich zu beugen u n d Seine Barmherzigkeit anzurufen. Ich fordere M e i n V o l k auf, m i t M i r i n gemeinsamer Andacht sich zu vereinigen u n d m i t M i r am 5. August einen außerordentlichen allgemeinen Bettag zu begehen. A n allen gottesdienstlichen Stätten i m Lande versammle sich an diesem Tage M e i n V o l k i n ernster Feier zur A n r u f u n g Gottes, daß E r m i t uns sei u n d unsre Waffen segne. Nach dem Gottesdienst möge dann, w i e die dringende Not der Zeit es erfordert, ein Jeder zu seiner A r b e i t zurückkehren. Ich erwarte, daß alle zuständigen Stellen das zur Ausführung dieses E r lasses Erforderliche unverzüglich anordnen werden.
Nr. 353. Verfügung des Evangelischen Oberkirchenrats, betreifend die Abhaltung eines außerordentlichen allgemeinen Bettages v o m 3. August 1914 (Allgemeines Kirchenblatt für das Evangelische Deutschland, 63, 1914, S. 387 f.) — Auszug — Unter Bezugnahme auf die gestrige telegraphische Anordnung lassen w i r den Königlichen u n d Fürstlichen Konsistorien hierneben ein Exemplar der Sonderausgabe des Staatsanzeigers von heute, enthaltend den Allerhöchsten Erlaß Seiner Majestät des Kaisers u n d Königs v o m gestrigen Tage, betreffend 4 Der Erlaß ist Wilhelm R(ex) unterzeichnet, v o m K u l t u s m i n i s t e r v. Trott zu Solz gegengezeichnet; er ging, w i e daraus u n d auch aus seinem I n h a l t ersichtlich, v o m K ö n i g als dem Inhaber des landesherrlichen Kirchenregiments aus.
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten Weltkrieg
A b h a l t u n g eines außerordentlichen allgemeinen Bettags am Mittwoch, den 5. d. Mts., zugehen. Bei dem Gottesdienst ist i n den Kirchen der Allerhöchste Erlaß von den Kanzeln zu verlesen. Die W a h l des Textes zu der Predigt am allgemeinen Bettage ist den Herren Geistlichen anheimzugeben. Durch den begonnenen K r i e g werden zahlreiche Familien, deren Ernährer und Versorger dem Rufe zu den Waffen folgen, i n schwere Bedrängnis geraten. Allerorten regt sich aber auch schon der wohltätige opferwillige Sinn unseres Volkes, u m solcher Not zu steuern, u n d es k a n n keinen geeigneteren Anlaß geben, f ü r diesen Zweck freudig die H a n d aufzutun, als den außerordentlichen Bettag. Bei dem Gottesdienst ist daher an diesem Tage i n den evangelischen Kirchen unseres Aufsichtskreises eine K o l l e k t e f ü r die zurückgebliebenen bedürftigen Familien der ins Feld gerückten Truppen abzuhalten. Der Ertrag derselben w i r d zunächst einem i n der einzelnen Gemeinde etwa für diesen Zweck bestehenden Ortsverein und, sofern ein solcher nicht vorhanden ist, nach W a h l des Pfarrers u n d des Gemeinde-Kirchenrats (Presbyteriums) einem der die gleiche Aufgabe verfolgenden Zentralvereine zuzustellen s e i n . . . . W i r sprechen letzteren 5 die Zuversicht aus, daß sie i n der mannigfachen Not, welche der K r i e g über die Gemeinden bringen w i r d , m i t verdoppelter Treue u n d Hingabe ihnen m i t dem Wort u n d Sakrament u n d m i t seelsorgerlicher u n d brüderlicher Beratung dienen werden. Auch können w i r den Wunsch nicht zurückhalten, daß überall, w o es tunlich ist, regelmäßige kirchliche Versammlungen zum gemeinsamen Gebet und zur Tröstung durch Gottes Wort gehalten werden, u n d daß unsere evangelischen Gemeinden ihre so oft bewährte Bereitwilligkeit, zu geben u n d zu helfen, wo m i t Gaben der Liebe tröstend g e w i r k t werden kann, auch diesmal reichlich erweisen mögen. Der treue Gott stärke und segne alle Geistlichen, Gemeinden u n d Gemeindeorgane u n d lasse aus der ernsten Prüfung, welche der K r i e g uns bringt, ein reiches Maß von Segen und Leben erwachsen.
Nr. 354. Ansprache des Evangelischen Oberkirchenrats an die Geistlichen und Gemeindekirchenräte (Presbyterien) der Gemeinden der Landeskirche v o m 11. August 1914 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland, 63, 1914, S. 417 ff.) Bereits i n unserem Erlaß v o m 3. August d. J. haben w i r die Geistlichen u n d Gemeinde-Kirchenräte (Presbyterien) unserer Landeskirche auf die großen Aufgaben hingewiesen, die der Bedienung der Gemeinden m i t W o r t u n d Sakrament, m i t seelsorgerischer u n d brüderlicher Beratung aus dem Ernste dieser gewaltigen u n d schicksalsschweren Zeit erwachsen. 5
Sc. den Gemeindekirchenräten bzw. Presbyterien.
I. Die evangelische Kirche unci der Kriegsausbruch
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Heute sehen w i r i m Blick auf die immer deutlicher zutage tretenden Bedürfnisse unseres evangelischen Volkes sowie i n lebhafter Anteilnahme an allen Bestrebungen zur M i l d e r u n g der auch über unsere Gemeinden hereinbrechenden Notstände uns veranlaßt, noch i m besonderen auf folgende Punkte hinzuweisen. M i t hoher Freude sehen alle, die unser V o l k lieb haben, w i e unter der Not des m i t ungeheurem Frevelmut uns aufgezwungenen Krieges das r e l i giöse Bedürfnis i n unseren Gemeinden erwacht. Gotteshäuser u n d Gottesdienste f ü l l e n sich. Scheinbar erstorbene Glaubensfunken leuchten wieder auf. A n vielen Orten sind die Heerespflichtigen unter Fürbitte der Gemeinde zur Armee gezogen. M a n f ü h l t : Gott spricht i n der Not der Schlachten zu unserem Volke. U n d Gott sei Preis: unser V o l k findet seinen Gott wieder u n d spricht zu i h m als seinem festen Hort u n d seiner starken Zuflucht. M a n k a n n sagen: ein Feld weiß u n d reif zu einer Geistesernte liegt vor uns! So k o m m t denn alles darauf an, daß unsere Kirche die großen Zeichen der Zeit verstehe u n d sich fähig zeige, diese Ernte einzubringen. Sie steht dabei i m Dienst ihres himmlischen Hauptes; m i t seinem Reiche hat sie es zu tun. A b e r indem sie das letztere baut, t u t sie dem Vaterlande einen vielleicht nicht äußerlich greifbaren, aber dennoch bedeutsamsten u n d gesegnetsten Dienst. Sie h i l f t , daß aus der Not einer großen Zeit unser geliebtes deutsches Vaterland als ein innerlich erneutes u n d geeintes hervorgehe. W i r erwarten daher von unseren Geistlichen, daß sie i n K r a f t des Glaubens und erfüllt von heißer Liebe zu unserem Volke durch das die E r lebnisse der Zeit deutende Wort der Predigt, durch je nach Ort u n d V e r hältnissen abzuhaltende Kriegsbetstunden oder sonstige freie Vereinigungen, auch durch andere Veranstaltungen, w i e etwa f ü r stille Andacht geöffnete Gotteshäuser, keine irgendwie sich darbietende Gelegenheit verabsäumen werden, u m die Gemeinde auf den Ernst dieser Tage hinzuweisen u n d beides, Buße u n d Beugung, Siegesjubel u n d D a n k weihen u n d heiligen zu helfen durch Gottes W o r t u n d Gebet. Nicht weniger erwarten w i r von allen Trägern der Gemeindeämter, daß sie diese große Gelegenheit zu treuer seelsorgerischer Beratung u n d E i n w i r k u n g auf ihre Gemeinden sorgfältig benutzen, m i t Hausbesuch u n d Darbiet u n g des Sakraments den Einzelnen persönlich nahetreten, u n d vor allem i n den F a m i l i e n der zum Heer Eingezogenen sich als die berufenen Berater, Tröster, Helfer u n d Freunde bewähren. Es erübrigt, an einzelnes zu erinnern, das überall verschieden sich gestaltet. Es mögen Korrespondenzen geführt, Erkundigungen ermittelt, Lesestoff dargereicht, i n allem n u r der t a t kräftige Beweis geführt werden, daß die evangelische Kirche sich als die berufene Pflegerin i n der Not betrachtet. W i r können es w o h l verstehen, w e n n die patriotische Erregung dieser Tage auch unseren Geistlichen den Wunsch lebendig macht, i n der Front unsrer Heere zu dienen oder doch den Verwundeten i n den Lazaretten geistlichen Trost u n d Hilfe zu bringen. Aber w i r weisen darauf hin, daß gerade unter den vorliegenden Umständen dem Gemeindegeistlichen doppelte, ja
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten Weltkrieg
dreifache A r b e i t zuwächst u n d täglich dem prüfenden Auge neue Felder der Betätigung sich erschließen. Auch dieser stille, selbstlose Dienst i n der Gemeinde ist ein Dienst am Vaterlande, der seinen Segen i n sich trägt. Möge er i n Treue geschehen! Neben dieser u n m i t t e l b a r geistlichen Tätigkeit aber f ä l l t der Kirche auch ein gutes T e i l der A r b e i t f ü r die V e r m i t t l u n g der materiellen H i l f e f ü r die Zurückgebliebenen zu. Der Versorger fehlt; der Verdienst der F r a u ist ger i n g ; die Arbeitslosigkeit w i r d sich mehren; die K i n d e r hindern die Mütter, auswärts Beschäftigung anzunehmen; die K r a n k h e i t k l o p f t an die Pforte. Ü b e r a l l hat als erste die unmittelbarste, i m kleinsten Dorfe bestehende Organisation, die Gemeinde, einzugreifen. Sie steht dabei nicht allein. Organisationen aller A r t bieten sich i h r dar, auch solche, denen es nicht an reichen, f ü r diesen Zweck zur Verfügung stehenden M i t t e l n fehlt. Es ist eine dringende u n d ernste Notwendigkeit, daß die Gemeinde, sei es durch ihre geordneten Organe, sei es durch besondere zu diesem Zweck bestimmte Kommissionen m i t diesen Vereinen — Vereine v o m Koten Kreuz, Vaterländischer Frauenverein, Frauenhilfe, städtische oder Kreisvereine verschiedenster A r t — i n v o l l e m Einvernehmen handle, die i n i h r selbst bestehenden Vereine ihnen zur M i t a r b e i t zur V e r fügung stelle u n d deren H i l f e f ü r die i h r bekannten Notstände erbitte. Übera l l ist jedes Konkurrenzmachen fernzuhalten, jede Reibung zu vermeiden. Es k o m m t i n allem allein darauf an, daß der Not gewehrt, den Notleidenden geholfen, der Druck des Krieges gemildert werde. Insbesondere der Kirche ziemt dieser Ernst des selbstlosen Dienens, w i e sie andererseits ebenso energisch es als i h r Recht fordern muß, i n der Reihe der Helfenden nicht übergangen zu werden, sondern m i t einzutreten. Insbesondere weisen w i r i h r dabei auch die Aufgabe zu, durch M o b i l machung der i n i h r vorhandenen weiblichen K r ä f t e an Stelle der ins Feld berufenen ausgebildeten Pflegerinnen Ersatz-Schwestern f ü r den häuslichen Dienst zu stellen, die auch, w e n n ihnen die technische A u s b i l d u n g fehlt, doch i m Besuche der Familien u n d der A r b e i t an Kleinkinderschulen, i n der Übernahme äußerer Dienste i n Küche u n d Verpflegung Wertvollstes leisten können. Möge so i m engsten Anschluß an u n d i m Einvernehmen m i t den bestehenden Vereinen die Kirchengemeinde f ü r ihre Kreise eine Frauenhilfe i n weitestem Umfange organisieren! Es lag uns a m Herzen, auch nach dieser äußeren Seite h i n nach Maßgabe unserer M i t t e l helfend m i t einzutreten u n d dadurch unsere Kirchengemeinden zur Nachfolge aufzufordern. I m Einverständnis m i t dem GeneralsynodalVorstand haben w i r daher dem Roten Kreuz f ü r die Pflege der Verwundeten 10 000 Μ u n d der evangelischen Frauenhilfe zur Fürsorge f ü r die Z u r ü c k gebliebenen i n der Gemeinde 10 000 Μ i m Namen der Landeskirche bewilligt. A n Stelle der großen u n d schweren inneren Kämpfe, denen w i r ausgesetzt waren, hat der plötzliche Ausbruch dieses furchtbaren Weltkrieges die evangelische Kirche i n anderem Sinne an einen großen und entscheidenden Wendepunkt gestellt.. Sie soll i n dem Ernst dieser Tage den praktischen
I. Die evangelische Kirche u n d e r Kriegsausbruch
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Beweis liefern, daß der Glaube, den sie verkündet, auch unentbehrliche u n d unerschöpfliche Quellen der Liebe birgt. Aufs neue, w i e i n der Väter Tagen, w i r d m i t unserem Volke auch unserer Kirche der hohe, heilige, u n ermeßliche Beruf vorgehalten, den staunenswerten nationalen Aufschwung durch christlichen Sinn u n d Geist zu weihen. W e n n die Z e r k l ü f t u n g der Stände, w e n n der A b f a l l v o n den ererbten Glaubensgütern uns schwere Sorge bereiten, hier ist eine v o n Gott selbst der Kirche gebotene Gelegenheit, Brücken zu schlagen, v o n Herz zu Herz, v o n Stand zu Stand, eine Gemeinschaft der Liebe darzustellen, i n der das erwachende Glaubensbedürfnis seinen Ausdruck u n d seine Befriedigung findet. Möge die evangelische Kirche sich dieser Aufgabe gewachsen zeigen u n d alle ihre Geistlichen u n d Gemeindeorgane mithelfen, daß sie erreicht werde. Das w a l t e Gott!
Nr. 355. Ansprache des sächsischen Landeskonsistoriums an die evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden des Landes v o m 21. August 1914 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland, 63, 1914, S. 443 f.) Der H e r r geht sichtbar durch die deutschen Lande; das deutsche V o l k wacht auf, hört seines Gottes Stimme u n d sammelt sich als Betgemeinde i n dichtgefüllten Gotteshäusern; o, daß es recht bedenken wollte, was zu seinem Frieden dient! Laßt uns anhalten am Gebet, daß Gott i n Gnaden unsrer gerechten Sache den Sieg verleihe; laßt uns bei Siegesnachrichten nicht hoffärtig werden, sondern i n aller freudigen Dankbarkeit demütig bleiben, u n d bei schweren Prüfungen nicht verzagen, sondern geduldig auf die Hilfe des H e r r n hoffen. Aber laßt uns auch nicht vergessen, Gott innig darum anzuflehen, daß i n der Not dieser Zeit allem gottlosen Wesen unter uns der K r i e g erklärt u n d Gottes Reich gebauet werde, damit unser deutsches V o l k von neuem seinen Beruf erfülle, H ü t e r u n d Pfleger des Evangeliums Jesu Christi zu sein. Den Geistlichen gebe Gott Gnade, daß sie durch i n Gottes W o r t gegründete, glaubensstärkende Predigten, durch regelmäßige Kriegsbetstunden, durch reichliche Spendung des heiligen Sakraments u n d durch treue Seelsorge, insonderheit auch i n den F a m i l i e n unserer Krieger oder sonstigen Versammlungen u n d Veranstaltungen, w o m a n nach Gottes W o r t verlangt, ihre heilige Pflicht erfüllen u n d ihre christliche Vaterlandsliebe erweisen. W i r dürfen auch von den jüngeren Trägern des Amtes, i n denen der Wunsch lebt, i m Kriegsdienste f ü r das Vaterland ihren M a n n zu stehen, denen aber die E r f ü l l u n g solches Wunsches versagt bleiben muß wegen des hochwichtigen Dienstes an ihren Gemeinden, Selbstverleugnung u n d u m so größere Amtstreue erwarten, auch w e n n das Kirchenregiment sie m i t anderen kirchlichen Aufträgen versehen sollte. Die Kirchenvorstände werden überall f ü r das tägliche Offenhalten der Kirchen Sorge tragen, auch i m Verein m i t der Ortsobrigkeit u m materielle
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten W e l t k r i e g
Hilfe f ü r die Zurückgebliebenen bemüht sein; u n d w o ein Lazarett zur Pflege der Verwundeten sich öffnet, werden die Kirchgemeinden der U m gegend es an M i t h i l f e durch selbstloses Dienen aller A r t nicht fehlen lassen. Besondere Vereinsinteressen treten zurück; ohne kleinliches Scheelsehen sollen w i r einmütig zusammenstehen; es gilt für alle dieselbe eine heilige Sache, dem Vaterland u n d dem Herrn, der uns die köstliche Gabe unseres deutschen Vaterlandes zum Schutz befohlen hat, i n Treue zu dienen. Insbesondere rufen w i r auch die Frauen u n d Jungfrauen i n unsern Gemeinden zu heiligem Dienste auf, sei es zum Ersatz f ü r Diakonissen u n d ausgebildete Krankenpfleger, sei es durch Übernahme andrer Dienste an K r a n k e n u n d Kindern, auch durch Näharbeit zum Besten der Unsern da draußen u n d ihrer F a m i l i e n daheim; i n den Lazaretten durch Darreichung von Lesestoff, durch Unterstützung des brieflichen Verkehrs u n d durch V e r m i t t l u n g wünschenswerter Erkundigungen. V o n allen deutschen Frauen u n d Jungfrauen aber dürfen w i r erwarten, daß sie den gewaltigen Ernst der Zeit verstehen, d a r u m den T a n d u n d F l i t t e r abtun, zu dem die v o m Ausland stammende Unsitte sie verführt hat, u n d n u r m i t deutscher Ehrbarkeit u n d Sitte sich schmücken. W i r b i t t e n alle, Männer u n d Frauen, dazu mitzuhelfen, daß das dem Ernst unsrer Tage vollends widersprechende unkeusche Wesen auch von den Straßen unsrer Städte verschwinde u n d erst recht alles unsittliche Geschäft m i t energischen M i t t e l n ausgetrieben werde, auf daß unser V o l k den alten R u h m deutscher Zucht u n d Sitte wieder erwerbe. Jede Kirchengemeinde liefere an ihrem Teile den Beweis, daß sie des H e r r n Ruf versteht: „Mache dich auf, werde licht" 6 , daß sie abtue, was dem H e r r n i n ihrer M i t t e mißfällt, u n d alle ihre Glieder zu heiligem Dienst aufrufe, wie er Gott wohlgefällt. D a n n dürfen w i r dessen i n gläubiger Hoffnung gewiß sein, daß Gott den Demütigen Gnade geben u n d unserm V o l k u n d Vaterland durch alle Kriegsnöte hindurch zu dem erwünschten Frieden helfen w i r d . Das walte Gott!
Nr. 356. Aufruf deutscher Kirchenmänner und Professoren 7 an die evangelischen Christen im Ausland v o n Ende August 1914 (Kirchliches Jahrbuch 42, 1915, S. 209 ff.) — Auszug — I n dem unvergleichlichen weltgeschichtlichen Zeitabschnitt, i n dem Christenheit die Brücke zu der gesamten nichtchristlichen Menschheit schlagen u n d ein maßgebender Einfluß auf sie anvertraut w a r , stehen christlichen Völker Europas i m Begriff, i n brudermörderischem Kriege gegenseitig zu zerfleischen. 0
der gedie sich
Jesaja 60,1. Der A u f r u f ist unterzeichnet von Missionsdirektor Lie. Carl Axenfeld, B e r l i n ; Prof. Dr. med. Theodor Axenfeld, Freiburg; Oberverwaltungsgerichtsrat D. Max Berner, Berlin; Oberkonsistorialpräsident D. Hermann v. Bezzel, 7
I. Die evangelische Kirche u n d e r Kriegsausbruch
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Ein planmäßiges Lügengewebe, das den internationalen Telegraphenverkehr beherrscht, sucht i m Auslande unser V o l k u n d seine Regierung m i t der Schuld an dem Ausbruch dieses Krieges zu belasten u n d hat es gewagt, uns u n d unserem Kaiser das innere Recht zur A n r u f u n g des Beistandes Gottes zu bestreiten. Daher ist es uns, die w i r auch unter den Christen des A u s landes als Männer bekannt sind, die an der Ausbreitung des Evangeliums unter fremden V ö l k e r n u n d an der K n ü p f u n g k u l t u r e l l e r Bande u n d freundschaftlicher Beziehungen zwischen Deutschland u n d anderen christlichen Nationen gearbeitet haben, ein Bedürfnis, vor aller Öffentlichkeit unser Zeugnis über diesen K r i e g abzulegen. . . . Während unsere Regierung sich bemühte, die gerechte Sühne f ü r einen ruchlosen Königsmord 8 zu lokalisieren u n d den Ausbruch des Krieges z w i schen zwei benachbarten Großmächten zu verhüten, bedrohte eine von ihnen, während sie die V e r m i t t l u n g unseres Kaisers anrief, wortbrüchig unsere Grenze u n d zwang uns, unser L a n d gegen Verwüstung durch asiatische Barbarei zu schützen. Da traten zu unseren Gegnern auch die, die dem Blute, der Geschichte u n d dem Glauben nach unsere Brüder sind, u n d denen w i r uns i n der gemeinsamen Weltaufgabe w i e k a u m einem anderen V o l k der Erde nahe verbunden fühlten. Einer Welt i n Waffen gegenüber erkennen w i r klar, daß w i r unsere Existenz, unsere Eigenart, unsere K u l t u r u n d unsere Ehre zu verteidigen haben. Keine Rücksicht hält unsere Feinde zurück, w o ihnen nach ihrer Meinung die Aussicht w i n k t , durch Teilnahme an unserer Vernichtung einen wirtschaftlichen V o r t e i l oder einen Machtzuwachs, ein Stück unseres Mutterlandes, unseres Kolonialbesitzes oder unseres Handels an sich zu reißen. W i r stehen diesem Toben der Völker i m Vertrauen auf den heiligen, gerechten Gott furchtlos gegenüber. Gerade w e i l dieser K r i e g unserem Volke freventlich aufgezwungen ist, trifft er uns als ein einiges Volk, i n dem die Unterschiede der Stämme u n d Stände, der Parteien u n d der Konfessionen verschwunden sind. I n heiliger Begeisterung, K a m p f u n d Tod nicht scheuend, sind w i r alle i m A u f b l i c k zu Gott einmütig u n d freudig bereit, auch unser Letztes f ü r unser L a n d u n d unsere Freiheit einzusetzen. . . . Unsere christlichen Freunde i m Ausland wissen, w i e freudig die deutschen Christen die Glaubens- u n d Arbeitsgemeinschaft, die die Edinburger W e l t München; Pastor Friedrich v. Bodelschwingh, Bethel bei Bielefeld; Prof. D. Adolf Deißmann, B e r l i n ; Oberhofprediger D. Ernst Dry ander, B e r l i n ; Prof. Dr. Rudolf Euchen, Jena; Prof. D. Adolf v. Harnach, Berlin; Prof. D. Gottlieb Haußleiter, Halle; Missionsdirektor P. O. Hennig, H e r r n h u t ; Prof. D. Wilhelm Herrmann, M a r b u r g ; Generalsuperintendent D. Theodor Kaftan, K i e l ; Generalsuperintendent D. Friedrich Lahusen, B e r l i n ; Pastor Paul Le Seur, Berlin; Prof. D. Friedrich Loofs, Halle; Prof. D. Carl Meinhof, Hamburg; Prof. D. Carl Mirbt, Göttingen; Eduard de Neuf ville, F r a n k f u r t a. M.; Missionsdirektor D. Carl Paul, Leipzig; Handelsbankdirektor D. Wilhelm Frh. v. Pechmann, München; Prof. D. Julius Richter, B e r l i n ; Max Schinhel, Hamburg; Direktor der Deutsch-Ev. Missions-Hilfe August Wilhelm Schreiber, B e r l i n ; Direktor D. Friedrich Albert Spiecher, B e r l i n ; Missionsdirektor Johann Spiecher, Barmen; Missionsinspektor D. Johannes Warnech, Bethel bei Bielefeld; Prof. D. Georg Wobbermin, Breslau; Prof. D. Wilhelm Wundt, Leipzig. 8 Die Mordtat an dem österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand (28. Juni 1914).
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missionskonferenz 9 der protestantischen Christenheit als heiliges Erbe hinterließ, begrüßt haben; sie wissen auch, w i e w i r nach besten K r ä f t e n daran mitgearbeitet haben, daß über den christlichen Nationen m i t ihren konkurrierenden politischen u n d wirtschaftlichen Interessen eine i n der E r kenntnis ihres gegenwärtigen Gottesauftrages einige u n d freudige Christenheit erstehe. Es w a r uns auch Gewissenssache, auf jede Weise politische Mißverständnisse u n d Verstimmungen aus dem Wege zu räumen u n d freundschaftliche Beziehungen zwischen den Nationen herbeiführen zu helfen. W i r tragen jetzt den Spott der Leute, daß w i r dem christlichen Glauben die K r a f t zugetraut haben, die Bosheit derer zu überwinden, die den K r i e g suchten, u n d begegnen dem V o r w u r f , daß unsere Friedensbestrebungen unserm V o l k n u r die wahre Gesinnung seiner Feinde v e r h ü l l t haben. Doch reut es uns nicht, den Frieden so gesucht zu haben. Unser V o l k könnte nicht m i t so reinem Gewissen i n diesen K a m p f ziehen, w e n n nicht führende M ä n ner seines kirchlichen, wissenschaftlichen u n d wirtschaftlichen Lebens sich so v i e l f ä l t i g d a r u m bemüht hätten, diesen Brudermord unmöglich zu machen. Nicht u m unseres Volkes w i l l e n , dessen Schwert b l a n k u n d scharf ist, — u m der einzigartigen Weltaufgabe der christlichen Völker i n der Entscheidungsstunde der Weltmission w i l l e n , wenden w i r uns an die evangelischen C h r i sten i m neutralen u n d i m feindlichen Auslande. W i r hofften zu Gott, daß aus der Verantwortung der Stunde f ü r die christlichen Völker ein Strom neuen Lebens entspringen werde. Schon spürten w i r i n unserer deutschen Kirche starke W i r k u n g e n dieses Segens, u n d die Gemeinschaft m i t den Christen der anderen Länder i m Gehorsam gegen den universalen A u f t r a g Jesu w a r uns heilige Freude. Wenn diese Gemeinschaft jetzt heillos zerbrochen ist, — w e n n die Völker, i n denen Mission u n d Bruderliebe eine Macht zu werden begannen, i n m ö r derischem Kriege durch Haß u n d Verbitterung verrohen, — w e n n i n den germanischen Protestantismus ein schier unheilbarer Riß gebracht ist, — w e n n das christliche Europa ein edles Stüde seiner Weltstellung einbüßt, — w e n n die heiligen Quellen, aus denen seine Völker schöpfen u n d der nichtchristlichen Menschheit darreichen sollten, verunreinigt u n d verschüttet werden, — So fällt die Schuld hieran, dies erklären w i r hier vor unseren christlichen B r ü d e r n des Auslandes m i t ruhiger Gewißheit, nicht auf unser Volk. W o h l wissen w i r , daß Gott durch dies blutige Gericht auch unser V o l k zur Buße ruft, u n d w i r freuen uns, daß es seine heilige Stimme hört u n d sich zu i h m kehrt. D a r i n aber wissen w i r uns m i t allen Christen unseres Volkes einig, daß w i r die V e r a n t w o r t u n g f ü r das furchtbare Verbrechen dieses Krieges und alle seine Folgen für die E n t w i c k l u n g des Reiches Gottes auf Erden von unserem V o l k u n d seiner Regierung abweisen dürfen u n d müssen. Aus tiefster Überzeugung müssen w i r sie denen zuschieben, die das Netz der Kriegs9 Die erste Weltmissionskonferenz fand i n Edinburgh v o m 14. bis 23. J u l i 1910 statt; zusammenfassend R. Rouse - St. Neill, Geschichte der ökumenischen Bewegung 1517 - 1948, Τ. 1 (2. Aufl. 1963), S. 486 ff.; K . - H . Dejung, Die ökumenische Bewegung i m Entwicklungskonflikt 1910 - 1968 (1973), S. 11 ff.
I I . Der Kriegsdienst der evangelischen Geistlichen
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Verschwörung gegen Deutschland seit lange i m Verborgenen arglistig gesponnen u n d jetzt über uns geworfen haben, u m uns zu ersticken. W i r wenden uns an das Gewissen unserer christlichen Brüder i m A u s lande u n d schieben ihnen die Frage zu, was Gott jetzt von ihnen erwartet, u n d was geschehen k a n n u n d muß, damit nicht durch Verblendung u n d Ruchlosigkeit i n der großen Gottesstunde der Weltmission die Christenheit ihrer K r a f t und Legitimation zum Botendienst an der nichtchristlichen Menschheit beraubt werde. Der heilige Gott f ü h r t seine Sache auch durch den S t u r m der Kriegsgreuel u n d läßt sich v o n menschlicher Bosheit sein Ziel nicht verrücken. So treten w i r vor i h n m i t dem Gebet: „Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein W i l l e geschehe!"
I I . Der Kriegedienst der evangelischen Geistlichen Die Frage der Wehrpflicht der beamteten Geistlichen war im Deutschen Reich für die evangelische und die katholische Kirche gleichmäßig, die der Theologiestudenten und der nichtbeamteten Theologen dagegen war unterschiedlich geregelt Κ Allgemein galt, daß katholische Theologiestudenten vom Dienst mit der Waffe freigestellt, evangelische Theologiestudenten dagegen der vollen Wehrpflicht unterworfen waren. Beamtete Geistliche beider Konfessionen unterlagen der Pflicht zum Waffendienst nicht 2. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs konnten evangelische Theologiestudenten wie auch ordinierte evangelische Theologen, die kein geistliches Amt innehatten, zum Wehrdienst eingezogen werden oder sich freiwillig melden. Ungeklärt war dagegen, ob und unter welchen Bedingungen sich Inhaber eines geistlichen Amts in der evangelischen Kirche, die nicht zum Wehrdienst eingezogen werden durften, freiwillig zum Dienst mit der Waffe melden konnten. Während das württembergische Landeskonsistorium in seinem Erlaß vom 3. August 1914 den Geistlichen gegenüber eine allgemeine Ermächtigung aussprach, sich zum Kriegsdienst zu melden (Nr. 357), verweigerte der Oberkirchenrat der altpreußischen Landeskirche durch den Erlaß vom 9. August 1914 den beamteten Geistlichen die entsprechende Genehmigung (Nr. 358). Diese Entscheidung ließ sich jedoch nicht durchhalten. Schon am 18. September 1914 machte der preußische Oberkirchenrat durch einen neuen Erlaß den Geistlichen die freiwillige Meldung zum Dienst mit der Waffe möglich (Nr. 359). Dagegen hielt die Antwort, die Kaiser Wilhelm II. ohne Kenntnis dieses Erlasses am 22. September 1914 auf eine Eingabe rheinischer Superintendenten geben ließ, daran fest, daß den Geistlichen die Erlaubnis zum Dienst mit der Waffe nicht erteilt werden könne (Nr. 360, Nr. 361). Gegen die auch durch den Erlaß des Oberkirchenrats vom September 1914 nicht beseitigte Sonderstel1
Dazu oben Nr. 95 ff.
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H. Mulert,
Der Waffendienst der evangelischen Theologen (1915).
52 Huber, Staat und Kirche, 3. Bd.
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten W e l t k r i e g
lung der evangelischen Geistlichen verwahrten sich 172 Berliner Pfarrer in einer Erklärung, die sie im November 1914 veröffentlichten (Nr. 362); sie forderten die Zulassung der Geistlichen zum Waffendienst unter entsprechender Änderung des Gesetzes von 1890 (oben Nr. 99). Der preußische Kultusminister v. Trott zu Solz stellte in einer Erklärung vor der verstärkten Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses am 26. Februar 1915 klar, daß auch staatlicherseits keine Bedenken dagegen bestünden, Geistliche, die den Wunsch zum Dienst mit der Waffe hatten und für abkömmlich erklärt wurden, zum Kriegsdienst heranzuziehen (Nr. 363). Der preußische Oberkirchenrat beurlaubte in der Folgezeit, wie seine Mitteilung vom 4. Oktober 1915 (Nr. 364) zeigte, in wachsendem Umfang Geistliche auf Grund ihrer freiwilligen Meldung zum Dienst mit der Waffe. Während es in Preußen zu dieser Regelung erst nach lebhaften Auseinandersetzungen kam, wurde den Geistlichen in anderen Landeskirchen, dem württembergischen Beispiel folgend (Nr. 357), von Kriegsbeginn an die Möglichkeit eröffnet, sich freiwillig zum Waffendienst zu melden 3. Die Erfahrungen der ersten Kriegszeit veranlaßten den Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß, noch während des Kriegs Grundsätze für eine Neuregelung aufzustellen, die dann nach Kriegsende in neue gesetzliche Bestimmungen umgesetzt werden sollten. Der Kirchenausschuß verabschiedete seine Vorschläge am 20. Juni 1916; die Eisenacher Kirchenkonferenz machte sie sich am 8. Juni 1917 im Grundsatz zu eigen (Nr. 365).
Nr. 357. Bekanntmachung des württembergischen Landeskonsistoriums, betreffend den Kriegsdienst der evangelischen Geistlichen v o m 3. August 1914 (Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, 63,1914, S. 401) 1. Diejenigen evangelischen Geistlichen, welche als E i n j ä h r i g - F r e i w i l l i g e gedient haben u n d dem Beurlaubtenstand angehören, werden unbeschadet des Fortbestandes ihres kirchlichen Dienstverhältnisses hiemit allgemein 4 ermächtigt, sich zum Dienst m i t der Waffe zu melden. 2. Diejenigen Geistlichen u n d neuexaminierten Predigtamtskandidaten, welche z u m Dienst m i t der Waffe nicht ausgebildet sind, dagegen eine freiw i l l i g e militärische Übung i n der Krankenpflege mitgemacht haben oder 3
I n Württemberg wurde eine i m Verhältnis zu anderen Landeskirchen sehr hohe Z a h l von Geistlichen zum Militärdienst eingezogen. Das Anschreiben des württembergischen Landeskonsistoriums an die i m Felde stehenden Pfarrer v o m 12. November 1914 (Text: Kirchliches Jahrbuch 42, 1915, S. 194 ff.) gibt folgende Zahlen: 151 Geistliche, davon 40 ständige, und 20 neuexaminierte Predigtamtskandidaten; davon 92 i m Dienst m i t der Waffe, die anderen i m Sanitätsdienst oder i n der Militärseelsorge. Dazu die Übersicht in: K i r c h liches Jahrbuch 42 (1915), S. 263. 4 Ausgenommen von dieser allgemeinen Ermächtigung waren die für unabkömmlich erklärten Geistlichen.
I I . Der Kriegsdienst der evangelischen Geistlichen
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einer Vereinigung für freiwillige Krankenpflege i m Kriege angehören, k ö n nen sich f ü r den Sanitätsdienst zur Verfügung stellen. I n beiden Fällen ist die erfolgte Einberufung durch das Dekanatamt dem Konsistorium anzuzeigen.
Nr. 358. Erlaß des preußischen Oberkirchenrats, betreffend den Dienst der Geistlichen mit der Waffe im Felde v o m 9. August 1914 (Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, 63, 1914, S. 489) — Auszug — § 36, 11 der Heeresordnung bestimmt: . . A Diesen seinerzeit m i t den kirchlichen Behörden vereinbarten B e s t i m m u n gen gegenüber müssen w i r Bedenken tragen, solchen Theologen, die ein landeskirchliches geistliches A m t bekleiden, sie mögen noch dienstpflichtig oder nicht mehr dienstpflichtig oder überhaupt nicht dienstpflichtig gewesen sein, die Genehmigung zum f r e i w i l l i g e n E i n t r i t t m i t der Waffe zu erteilen. So hoch w i r das patriotische Verlangen unserer Geistlichen einschätzen, dem Vaterland m i t Hingabe der eigenen Person zu dienen, so müssen w i r doch i m Interesse des geistlichen Amtes u n d i n Rücksicht auf die sehr v e r schiedenartigen Anschauungen, die i n unseren landeskirchlichen Gemeinden bezüglich dieser Fragen herrschen, auch i m Kriegszustand unseres V a t e r landes an der Stellungnahme festhalten, die w i r i n Friedenszeiten wiederholt dahin kundgetan haben, daß es dem Geistlichen nicht zu verstatten sei, heute den Talar u n d morgen den Waffenrock zu tragen.
Nr. 359. Erlaß des preußischen Oberkirchenrats, betreffend den Dienst der Geistlichen mit der Waffe im Felde v o m 18. September 1914 (Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, 63, 1914, S. 501 f.) W i r haben bereits i n den letzten Tagen i n einzelnen Fällen Geistlichen, die i n ihren Pfarrämtern für abkömmlich erklärt waren, auf Ersuchen der zuständigen Militärinstanz, welche die Betreffenden i m Dienste m i t der Waffe dringend benötigte, ausnahmsweise hierzu die Genehmigung erteilt. Da bei der gegenwärtigen Lage unseres Vaterlandes derartige Gesuche voraussichtlich sich wiederholen werden, u n d da die einzigartigen Verhältnisse dieses Krieges, insbesondere auch die Notwendigkeit der Ergänzung des Offizierstandes, i n Abweichung von den bestehenden Grundsätzen besondere Maßnahmen erheischen, w o l l e n w i r hierdurch das Königliche Konsistorium m i t Weisung dahin versehen, daß den Gesuchen von Geistlichen i n bezug auf den Dienst m i t der Waffe — u n d zwar auch i m Felde — stattgegeben 5
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Es folgt der Wortlaut aus der Heerordnung v o m 2. J u l i 1909 (oben Nr. 100).
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten Weltkrieg
werden kann, w e n n diese Verwendung nach den persönlichen Verhältnissen des Geistlichen sowie nach denjenigen seiner Gemeinde angängig erscheint und das Gesuch von der zuständigen Militärinstanz befürwortet w i r d .
Nr. 360. Eingabe von 26 Superintendenten der Rheinprovinz an Kaiser Wilhelm II. v o m September 1914 (Kirchliches Jahrbuch, 42, 1915, S. 260) Euere Kaiserliche und Königliche Majestät bitten untertänigst 26 Superintendenten der Rheinprovinz u n d der von Hohenzollern zugleich i m Namen vieler Amtsbrüder, den evangelischen Geistlichen des Beurlaubtenstandes, die von ihren Presbyterien für abkömmlich erklärt werden u n d i n der M i litärseelsorge oder der Krankenpflege keine Verwendung finden, gestatten zu wollen, dem Vaterland i n gegenwärtiger außergewöhnlich ernster Kriegszeit auch m i t der Waffe dienen zu dürfen.
Nr. 361. Antwort des Chefs des Kaiserlichen Zivilkabinetts v. Valentini 6 an die rheinischen Superintendenten v o m 22. September 1914 (Kirchliches Jahrbuch, 42, 1915, S. 260) Seine Majestät der Kaiser u n d K ö n i g lassen für die patriotische Kundgebung der Superintendenten der Rheinprovinz und von Hohenzollern danken. Angesicht der großen Arbeit i n der Militärseelsorge und der bedeutungsvollen Aufgaben auf dem Gebiete der Seelsorge für die Verwundeten u n d die Familien der i m Felde gefallenen und noch kämpfenden Helden vermögen Seine Majestät jedoch die erbetene Erlaubnis zum Waffendienst der Geistlichen nicht zu erteilen.
Nr. 362. Erklärung von 172 Berliner Pfarrern zum Kriegsdienst der Geistlichen vom November 1914 (Chronik der Christlichen Welt, 23, 1914, S. 590) Die unterzeichneten Geistlichen Groß-Berlins sehen i n der Bestimmung des Reichsmilitärgesetzes 7 , daß ordinierte Geistliche des Beurlaubtenstandes u n d der Ersatzreserve zum Dienste m i t der Waffe nicht herangezogen w e r β Rudolf v. Valentini (1855- 1925), preuß. Jurist; 1888 Landrat i n Hameln; 1899 Vortr. Rat i m Z i v i l k a b i n e t t des Kaisers; 1906 Regierungspräsident i n F r a n k f u r t a. d.O.; August 1908 - Januar 1918 Chef des Kaiserlichen Z i v i l kabinetts. Oben Nr. 9 .
I I . Der Kriegsdienst der evangelischen Geistlichen
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den, ein nicht zu rechtfertigendes Ausnahmegesetz u n d eine Zurücksetzung ihres Standes i n der sonst allen Ständen zustehenden Ehre, m i t den Waffen das Vaterland zu verteidigen. Sie leiden bei der bisher geübten strengen Durchführung des Gesetzes unter der Halbheit, zwar vor der Ordination m i t der Waffe dienen zu dürfen, dafür aber nach der Ordination, sowohl i n Friedens-, als auch besonders i n Kriegszeiten, von dem Vorrechte ausgeschlossen zu sein. Z w a r erkennen sie als die vornehmste Pflicht an, i n Kriegszeiten durch die Predigt und Seelsorge i m Felde wie daheim die geistigen Vorbedingungen des Sieges zu schaffen, verlangen aber über diesen Beruf hinaus als Staatsbürger auch m i t der Tat für die i n ihrer evangelischen V e r k ü n d i gung aufgestellten höchsten sittlichen Forderungen eintreten zu dürfen. Der Erlaß des evangelischen Oberkirchenrats vom 18. September 8 beseitigt die Unklarheit über die Auslegung und Anwendung des Gesetzes nicht. Darum sind w i r entschlossen, beim Reichstage u m Aufhebung des Gesetzes einzukommen u n d eine gesetzliche Neuregelung der militärischen Stellung der evangelischen Pfarrer i m oben angedeuteten Sinne zu beantragen 9 .
Nr. 363. Erklärung des Kultusministers v. Trott zu Solz vor der verstärkten Budgetkommisson des preußischen Abgeordnetenhauses vom 26. Februar 1915 (Bericht über die Verhandlungen der verstärkten Budgetkommission, 1915, S. 9; H. Mulert, Der Waffendienst der evangelischen Pfarrer, 1915, S. 30 f.) 1 0 — Auszug — Der Kultusminister von Trott zu Solz führte aus, er habe darüber m i t dem Kriegsminister konferiert. Nach § 118 der Wehrordnung 1 1 könne ein Geistlicher zum Dienst m i t der Waffe nicht herangezogen werden; diese Bestimmung sei so aufgefaßt worden, daß nach i h r der Geistliche nicht gezwungen werden könne, unter der Waffe zu dienen, daß aber nichts i m Wege stehe, daß, wenn er selbst den Wunsch habe, auch m i t der Waffe zu dienen, und er von seinem A m t e abkömmlich sei, diesem Wunsche entsprochen werde. So sei diese Angelegenheit geregelt und, wie er glaube, zur Zufriedenheit geregelt worden. . . . Es werde i n das Gewissen des Geistlichen gestellt; fühle der Geistliche die innere Verpflichtung, m i t der Waffe i n der Hand ins Feld zu ziehen, und ist er i n seiner Gemeinde abkömmlich, dann solle man i h n nicht hindern, sondern es i h m erlauben. . . . Z u r gewissenhaften Überlegung, die ein Pfarrer vor solcher Entscheidung anstelle, gehöre natürlich auch die Rücksicht darauf, ob die vorgesetzten Behörden i h n für abkömmlich halten. 8
Oben Nr. 359. Die Versammlung des Berliner Evangelischen Pfarrvereins stimmte dieser E r k l ä r u n g am 24. November 1914 zu; siehe H. Mulert, Der Waffendienst der evangelischen Pfarrer (1915), S. 33. 10 D e r gedruckte Bericht gibt die Darlegungen i n indirekter Rede wieder. 11 Oben Nr. 98. 9
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Nr. 364. Mitteilung des preußischen Oberkirchenrats an die Generalsynode, betreffend die aus Anlaß des Krieges getroffenen Maßnahmen 12 v o m 4. Oktober 1915 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland, 65, 1916, S. 3 ff.) — Auszug — . . . Wie die Gemeinden der Landeskirche, so sind auch ihre Pfarrer u n d der theologische Nachwuchs an Kandidaten i n den Bannkreis des Krieges tief hineingezogen worden. Auch hier läßt sich vielfach das Beste nicht zum Ausdruck bringen. Es sei z. B. n u r darauf hingewiesen, i n welchem großen Umfange das evangelische Pfarrhaus dem Vaterlande die K r ä f t e gewährt hat, die als Führer unsere tapferen Truppen zu glorreichen Siegen geführt haben oder sonst an hervorragenden Stellen wertvolle Dienste leisten konnten. I m m e r aber w i r d es ein Ruhmesblatt des evangelischen Pfarrerstandes bleiben, wie er sich zur Betätigung i m Dienst des Vaterlandes herangedrängt hat. Nach dem Stande v o m 1. September 1915 befanden bzw. befinden sich aus unserer Landeskirche 519 Pfarrer u n d 307 Hilfsprediger, Kandidaten und V i k a r e i m Heeresdienst. Davon haben als Feld-, Garnison- u n d Lazerettprediger Verwendung gefunden 375, i m Sanitätsdienst 109, i m Dienst m i t der Waffe 342. 81 Geistliche u n d Kandidaten fanden den Heldentod f ü r das Vaterland. W i r ehren i h r Andenken; auch ihnen g i l t : „Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er sein Leben lässet f ü r seine Freunde" (Joh. 15, 13)! Der i n einigen Fällen von Professoren der Theologie ausgesprochenen Bitte u m Ordination m i t Rücksicht auf ihre bevorstehende Verwendung als Feldgeistliche hat der Evangelische Oberkirchenrat gern entsprochen. Die oben angegebenen Zahlen über die Geistlichen, welche m i t der Waffe dienen, führen auf die Frage des Militärdienstes der Theologen. Bei Ausbruch u n d Verlauf des Krieges trat eine A n z a h l unserer Geistlichen, welche militärisch ausgebildet waren, m i t dem dringenden Wunsch hervor, i n dieser großen, ernsten Zeit dem Vaterlande m i t der Waffe zu dienen, Der Evangelische Oberkirchenrat stellte sich zunächst auf den Boden der gesetzlichen Bestimmungen der Wehrordnung (§ 118, 5) bzw. der Heerordnung (§ 36, I I ) 1 3 , wonach dienstpflichtige Geistliche, die ein landeskirchliches geistliches A m t bekleiden, i m Mobilmachungsfall zum Dienst m i t der Waffe nicht herangezogen werden, vielmehr entweder i n der Militärseelsorge (wenn sie Reserveroffiziere oder Offizieranwärter sind) oder i m Sanitätsdienst zu verwenden sind. Indessen bei den dauernd gesteigerten Anforderungen des län12
E i n anderer Abschnitt aus dieser M i t t e i l u n g ist unten Nr. 367 wiedergegeben. 13 Z u diesen Bestimmungen: oben Nr. 98, Nr. 100.
I I . Der Kriegsdienst der evangelischen Geistlichen
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ger sich hinziehenden Krieges hat der Evangelische Oberkirchenrat seine u r sprüngliche Stellungnahme erweitern zu sollen geglaubt u n d für die i n Frage kommenden Geistlichen zunächst den Garnisondienst m i t der Waffe und dann den Dienst m i t der Waffe überhaupt, also auch i m Felde, zugelassen, jedoch unter der Voraussetzung, daß der betreffende Geistliche sich freiw i l l i g zu solchem Dienst meldet u n d zum Dienst als Feldgeistlicher oder i n der Krankenpflege nicht herangezogen ist, i n seinem heimatlichen Pfarramt vom Konsistorium für abkömmlich erklärt w i r d u n d endlich, daß die zuständige militärische Stelle ihrerseits die Verwendung des Geistlichen als Frontsoldaten befürwortet u n d dadurch zu erkennen gibt, daß sie auch i h r e r seits auf seinen Waffendienst Wert legt. Sonach handele es sich — unbeschadet der bestehenden u n d noch i n Geltung befindlichen Bestimmungen der Wehr- u n d Heerordnung — i m m e r n u r u m bestimmte Fälle, i n denen das Ausscheiden des Pfarrers aus seiner Gemeinde noch angängig, anderseits sein Waffendienst, namentlich auch i m Interesse einer erheblichen Erleichterung des Offizierersatzes, militärischerseits erwünscht erscheint. . . .
Nr. 365. Vorschläge, betreffend militärische Dienstpflicht der Theologen — Beschluß des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses vom 20. J u n i 1916 (Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, 66, 1917, S. 501 f.) Der Waffendienst der i n der Vorbereitung zum geistlichen A m t e befindlichen evangelischen Theologen ist grundsätzlich als eine Ehrenpflicht gegenüber dem Vaterlande anzusehen. Die vor dem Kriege bestehenden Bedenken gegen den Waffendienst der ordinierten u n d insbesondere der i m geistlichen A m t e stehenden Theologen sind als durch den K r i e g überwunden anzusehen. Doch darf erwartet werden, daß bei der Entscheidung darüber, ob i m E i n zelfall ein Anspruch auf Nichtheranziehung begründet ist, den kirchlichen Interessen gebührend Rechnung getragen w i r d . Insbesondere muß die K i r chenbehörde i n der Lage sein, die unabweislichen Forderungen der heimatlichen Gemeindepflege durch eine Unabkömmlichkeitserklärung zur Geltung zu bringen. Hieraus ergibt sich: 1. Bezüglich der Dienstpflicht der nichtordinierten Theologen hat es bei dem Bisherigen sein Bewenden. I I . 1. Die ordinierten i m geistlichen A m t e stehenden Theologen sind i m Frieden für die von der Militärbehörde verlangten Übungen freizugeben; für freiwillige Übungen soll den i m geistlichen A m t e tätigen Theologen i n der Regel U r l a u b nicht erteilt werden. 2. Die ordinierten i m geistlichen A m t e stehenden Theologen sind i m Kriege vorzugsweise zur Seelsorge einzuberufen. Uber die Einberufung entscheidet die zuständige militärische Stelle nach Benehmen m i t der zuständigen K i r chenbehörde.
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3. Da die Gemeinden i m Kriege auf den Dienst ihrer Geistlichen verstärkte Ansprüche haben, ist nach wie vor m i t besonderem Ernst an der Unabkömmlichkeitserklärung festzuhalten. A b k ö m m l i c h ist der Geistliche nur dann, wenn sich die Gemeinde anderweitig, wenn auch nicht reichlich, so doch ausreichend versorgen läßt. Der § 125 Ziff. 2 a der Wehrordnung 1 4 bedarf insofern einer Neufassung, als auch nichteinzelstehende Geistliche müssen für unabkömmlich erklärt w e r den können. 4. Den Landeskirchen w i r d empfohlen, für die Kriegszeit unabkömmliche Geistliche, die f ü r den Dienst i m Felde, namentlich für die Kriegsseelsorge sonderlich geeignet sind, durch für diesen weniger geeignete abkömmliche Geistliche zu ersetzen. I I I . Die Seelsorge i m Kriege bedarf einer schon i m Frieden vorzubereitenden Neuordnung. Bei dieser ist zu erstreben A 1. daß i m Operationsgebiet a) jede kämpfende Truppe i n der Größe einer Infanteriebrigade, b) jede Sanitätskompanie, c) die Kolonnen u n d Trains jedes Armeekorps je einen evangelischen Geistlichen (tunlichst aus dem Bereich des Armeekorps) erhalten; 2. daß i m Etappengebiet a) bei jeder Etappeninspektion ein evangelischer Geistlicher als zum Stabe gehörig, b) bei jeder mobilen Etappenkommandantur so viele evangelische Geistliche zuständig sind, als große Lazarette bzw. Komplexe kleiner Lazarette innerhalb ihres Bereichs bestehen; 3. daß i m I n l a n d a) für jede größere Garnison ein evangelischer Garnisongeistlicher und b) für jedes größere Lazarett, das von den Garnisongeistlichen nicht m i t bedient werden kann, ein besonderer Geistlicher angestellt w i r d ; B. daß i m Interesse der Ordnung wie der Stärkung der Seelsorge a) jedem Armeeoberkommando ein evangelischer Geistlicher i m Range eines Militär-Oberpfarrers beigegeben u n d b) für jedes Armeekorps und jede selbständige Division etc. ein dem Stabe der betreffenden Formation zugehöriger Geistlicher als Referent für die geistlichen Angelegenheiten bestimmt wird. 14
Oben Nr. 98.
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C. A l l e n Militärgeistlichen ist eine ihrer Aufgabe entsprechende Stellung, eine geeignete Dienstkleidung, Erstattung ihrer Ausrüstungskosten und ein den tatsächlichen Bedürfnissen entsprechendes Gehalt zu gewähren. Der Weiterbezug des Kircheneinkommens bedarf gleichmäßiger gesetzlicher Regelung 1 5 .
I I I . Die evangelische Militärseelsorge im Krieg Die Seelsorge an den im Feld stehenden Soldaten richtete sich nach der Evangelischen Militärkirchlichen Dienstordnung von 19021. Im Ersten Weltkrieg wurde die Zahl der Militär geistlichen in der Zusammenarbeit zwischen militärischen und kirchlichen Behörden erhöht; viele kritische Stimmen meinten allerdings, dies sei nicht schnell genug und nicht in ausreichendem Maß geschehen. Zur materiellen und literarischen Förderung der Kriegsseelsorge entstand unter der Leitung des München-Gladbacher Pfarrers Ludwig Weber 2 schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn der „Ausschuß für Unterstützung der Evangelischen Militärseelsorg e im Felde". Er wandte sich am 4. Oktober 1914 mit der Bitte um Förderung der kirchlichen Versorgung der Soldaten an Kaiser Wilhelm II. Das preußische Kriegsministerium beantwortete die Eingabe durch den Erlaß vom 2. November 1914 (Nr. 366). Die in ihm geschilderten Maßnahmen führten dazu, daß die Truppenteile wie auch die Lazarette während des Kriegs in weitem Umfang mit Militär geistlichen versorgt waren (Nr. 367). Aus den Erfahrungen der ersten Kriegszeit zog der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß im Juni 1916 Folgerungen für die Organisation der Militär seelsorg e im Kriegsfall (oben Nr. 365). An der Pflege der „Ideen von 1914" nahm auch die Militärseelsorge Anteil 3. Je länger der Krieg dauerte, desto stärker sahen viele Militärpfarrer eine wichtige Aufgabe darin, den „Durchhaltewillen" der Soldaten zu stärken. Dabei gewannen in vielen Predigten nationalpolitische Töne ein starkes Gewicht. Entsprechende Berichte veranlaßten den Evangelischen Feldpropst der preußischen Armee Wölfing 4 am 25. Februar 1916 zu einer Verfügung, die den Militärpfarrern die Pflicht vorhielt, die Verkündigung des unverkürzten Evangeliums gegenüber der Pflege vaterländischer Gedanken nicht zurücktreten zu lassen (Nr. 368). 15 Die Eisenacher Kirchenkonferenz übernahm diese Vorschläge am 8. J u n i 1917 m i t folgendem Beschluß: „Die Kirchenkonferenz stimmt i m allgemeinen den Vorschlägen des Kirchenausschusses zu u n d spricht die E r w a r t u n g aus, daß seitens des Kirchenausschusses i n der weiteren Bearbeitung der Angelegenheit die i n der Verhandlung geäußerten Ansichten i n angemessene E r wägung werden gezogen werden" (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland 66, 1917, S. 475). 1 Oben Nr. 101. 2 Oben S. 706, A n m . 3. I n der ersten Kriegszeit verzog Weber nach Bonn. 3 Vgl. M. Schian, Die deutsche evangelische Kirche i m Weltkriege, Bd. 1 : Die A r b e i t der evangelischen Kirche i m Felde (1921). 4 Oben S. 209, A n m . 15.
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten Weltkrieg
Nr. 366. Bescheid des preußischen Kriegsministeriums an den Ausschuß für Unterstützung der Evangelischen Militärseelsorge im Felde vom 2. November 1914 (Kirchliches Jahrbuch, 42, 1915, S. 263 f.) — Auszug — . . . M i t Euer Hochehrwürden 5 ist das Kriegsministerium darin einig, daß namentlich i n Kriegszeiten der geistlichen Versorgung der Truppen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden ist. Es sind deshalb bereits etwa 80 evangelische Geistliche, die sich i n dankenswerter Weise f r e i w i l l i g zur Verfügung gestellt haben, über den planmäßigen Bedarf hinaus zum Feldheere ausgesendet worden. Ferner ist jetzt eine abermalige Vermehrung der Seelsorgekräfte bei dem Feldheer i n Aussicht genommen. Hierzu wurde jedoch erforderlich, zunächst die militärischen Dienststellen i m Felde zu hören, da diese i n erster Reihe i n der Lage sind, ein sachgemäßes U r t e i l über den Bedarf abzugeben. Von den Auskünften w i r d es abhängen, i n welchem Umfange noch weitere freiwillige Geistliche den Truppen zuzuteilen sein werden. Bei der Vermehrung der Geistlichen ist namentlich auch an die seelsorgerliche Bedienung der Verbandplätze und Feldlazarette gedacht. Was die Etappenlazarette anlangt, so sind die Etappen-Inspekteure ersucht worden, von ihrer Befugnis, für jede mobile Etappen-Kommandantur einen Lazarettpfarrer anzufordern, den weitesten Gebrauch zu machen u n d einen darüber hinaus noch erforderlichen Bedarf anzumelden. Ferner können die i m Krankenpflegedienst u n d Waffendienst befindlichen Geistlichen durch Ausübung seelsorgerlicher Verrichtungen neben ihrem eigentlichen Dienst zur Verstärkung der Seelsorge beitragen. Euer Hochehrwürden wollen hieraus entnehmen, daß das Kriegsminister i u m auf eine ausgiebige geistliche Versorgung der Truppen bedacht ist.
Nr. 367. Mitteilung des preußischen Oberkirchenrats an die Generalsynode, betreffend die aus Anlaß des Krieges getroffenen Maßnahmen 6 vom 4. Oktober 1915 (Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, 65, 1916, S. 3 ff.) — Auszug — Die Tagung der siebenten ordentlichen Generalsynode steht i m Zeichen des unserem Vaterlande von seinen Feinden i n frevler Weise aufgezwungenen Krieges. Eine Welt von Feinden hat sich w i d e r uns erhoben. I n dem furchtbarsten Weltkrieg, den die Geschichte je gesehen, steht Sein oder Nichtsein, die Ehre und Z u k u n f t des deutschen Vaterlandes i n Frage. Seit 3
Gerichtet ist der Bescheid an Pfarrer Ludwig Weber (oben Anm. 2). E i n anderer Abschnitt aus dieser M i t t e i l u n g ist oben Nr. 364 wiedergegeben. 6
I I I . Die evangelische Militärseelsorge i m Krieg
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den glorreichen Tagen der Befreiungskriege hat kein K r i e g das deutsche V o l k so bis i n seine innersten Tiefen hinein ergriffen. Handelt es sich aber u m die höchsten Güter unseres Volkes, so mußte der Krieg, je länger je mehr, seine Wirkungen auch auf das sittlich-religiöse Leben des Ganzen und des Einzelnen ausüben, und somit auch auf das kirchliche Leben. Unser V o l k zeigte vor Ausbruch des Krieges das B i l d einer weitgehenden Zersplitterung, j a Zerklüftung, und nicht selten eine betrübende Abwendung von den heiligen Gütern des Christentums und der Kirche. Die schärfsten religiösen Gegensätze machten i n der Kirche des Evangeliums sich geltend und wurden, neben der Zwietracht i m Innern, i n der A b k e h r weiter Volkskreise, ja einer drohenden Austrittsbewegung sichtbar. Der große K r i e g hat eine ganz andere Lage geschaffen. Vergessen w a r der Parteihader. Das tief i m deutschen Wesen begründete religiöse Gefühl brach m i t Macht hervor. Tausende wandten sich Gott wieder zu. I n der Schule unsäglichen Leides, das dieser K r i e g i n fast jedes deutsche Haus hineintrug, hatte das neu erwachende religiöse Leben seine Probe zu bestehen. Aber Gott der Herr hat unser V o l k nicht nur i n die Tiefe des Leides, sondern auch auf die Höhe größter Siege u n d Erfolge geführt. Der Segen eines gerechten Krieges ist uns geschenkt worden. M i t dem starken Bewußtsein unseres sittlichen Rechts verband sich unserem Volke die überall erwachende Zuversicht, daß der lebendige Gott, der i n der Geschichte des Volkes waltet, diesem Rechte auch zum Siege verhelfen werde. Wenn w i r rückwärts schauen auf die hinter uns liegenden 14 Kriegsmonate, so drängt sich der Gedanke auf die Lippen: „Die Güte des H e r r n ist's, daß w i r nicht gar aus sind; seine B a r m herzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß" (Klagel. Jerem. 3, 22 - 23). Eine solche mächtige, i n gleicher Weise vaterländische und religiöse Bewegung konnte und k a n n nicht ohne tiefgreifende R ü c k w i r k u n g bleiben auf unsere Landeskirche, auf unsere evangelische Volkskirche. Diese ist vor Gott und der Geschichte unseres Volkes dafür verantwortlich, daß der Strom des neuerwachenden religiösen Lebens nicht versandet; sie bietet das Gefäß, die religiösen Kräfte zu sammeln und festzuhalten. Es liegt dabei i m Wesen der Volkskirche, daß diese Verantwortung nicht etwa n u r auf der K i r chenleitung, sondern auf allen ihren Mitgliedern und Organen, vornehmlich auf ihren Gemeinden ruht. . . . Unser Volksheer ist das deutsche Volk i n Waffen. Die unlöslich engen Zusammenhänge zwischen Front und Heimat legen der Heimatkirche die Pflicht auf, an ihrem Teil an der sittlich-religiösen Versorgung unserer Truppen mitzuwirken, hierzu ihre bereiten Dienste anzubieten. U m dem zu Anfang des Krieges hervorgetretenen Mangel an seelsorgerlichen K r ä f t e n i m Felde abzuhelfen, trat der Evangelische Oberkirchenrat m i t dem Generalsynodalvorstand in Verhandlung wegen Bereitstellung l a n deskirchlicher M i t t e l zur Verstärkung der Seelsorge i m Felde. Die Verhandlungen ergaben die einmütige Zustimmung des Generalsynodalvorstands, aus landeskirchlichen M i t t e l n zunächst für die letzten fünf Monate des Etats-
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten W e l t k r i e g
jahres 1914 monatlich je 15 000 Μ der M i l i t ä r v e r w a l t u n g zur Verfügung zu stellen. Da indessen hierfür zunächst noch andere M i t t e l vorhanden waren, sind erst nach A u f brauch derselben vom 1. M a i 1915 ab bis 1. A u g u s t . . . landeskirchliche M i t t e l . . . i m Gesamtbetrage von 43 825 Μ an den Feldpropst der Armee zur Auszahlung gelangt. M i t Hilfe dieser M i t t e l w a r es möglich, den aus dem Bereich unserer Landeskirche stammenden außeretatsmäßigen Feldgeistlichen zu der ihnen von der M i l i t ä r v e r w a l t u n g gezahlten Remuneration von monatlich 150 Μ einen Betrag i n gleicher Höhe auch f ü r die Monate Mai, Juni, J u l i zu gewähren. V o m 1. August d. Js. ab hat die M i l i t ä r v e r w a l t u n g die Remuneration von 300 Μ monatlich ganz auf ihre Fonds übernommen. . . . Aus der A r t der Kriegsführung ergab sich die Unmöglichkeit, ungeachtet des weitestgehenden Ausbaues der militärkirchlichen Organisation, den religiösen Bedürfnissen der Truppen sogleich überall gerecht zu werden. U m auch hier zu helfen, hat der Evangelische Oberkirchenrat bei dem Kriegsministerium m i t Erfolg angeregt, die m i t der Waffe dienenden Geistlichen und Kandidaten neben ihrem militärischen Dienst zu seelsorgerlichen V e r richtungen heranzuziehen und auf diese Weise eine Verstärkung der Seelsorge zu bewirken. Dank dem bereiten Entgegenkommen des K r i e g s m i n i steriums ist zu hoffen, daß dem anfangs so schmerzlich empfundenen Mangel nunmehr abgeholfen und die Seelsorge i m Felde zur Zeit genügend ausgebaut ist. Dasselbe darf von der Seelsorge i n den Heimatlazaretten gelten. Sie ist auf Veranlassung des Evangelischen Oberkirchenrats von den Konsistorien nach Benehmen m i t den Oberpräsidenten als den Provinzialdelegierten des Roten Kreuzes i n der Weise geregelt worden, daß die Ortsgeistlichen m i t der Seelsorge beauftragt sind, sofern nicht an größeren Lazaretten eigene Lazarettgeistliche von der M i l i t ä r v e r w a l t u n g bestellt sind. U m eine i m I n t e r esse der Gemeindearbeit gerade i n dieser Zeit unerwünschte zu starke Belastung der Ortsgeistlichen zu vermeiden u n d doch zugleich eine ausreichende Seelsorge i n den Lazaretten zu sichern, hat der Evangelische Oberkirchenrat dem Kriegsministerium anheimgegeben, den i m Sanitätsdienst beschäftigten Geistlichen und Kandidaten Gelegenheit zu seelsorgerlicher Betätigung zu gewähren. I m Verfolg dessen sind die Sanitätsämter u n d die Garnisonärzte der Festungen vom Kriegsministerium m i t entsprechender Weisung versehen worden. . . . Über die Betätigung der Einzelgemeinde hinaus den dauernden inneren sittlich-religiösen Zusammenhang zwischen Volksheer und Volksgemeinde zu pflegen, erschien als eine Pflicht von solcher Bedeutung, daß i h r die F ü r sorge der Kirche als solcher i n besonderem Maße gewidmet werden mußte. Hatte i n dieser Hinsicht sofort eine umfassende Tätigkeit freier Vereine eingesetzt, so nahmen der Zentralausschuß für Innere Mission und der unter Leitung von Pfarrer em. D. Weber i n Bonn stehende Ausschuß zur U n t e r stützung der evangelischen Militärseelsorge i m Felde, u n d zwar vorwiegend jener f ü r die Truppen i m Osten, dieser für die Truppen i m Westen, die V e r breitung guten Lesestoffes i n die Hand. Ihnen folgten weitere Vereinigungen für besondere Berufs- und Altersklassen unserer Truppen, so für die Stu-
IV. Friedensinitiativen des Jahres 1914
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dentenschaft, die Jugendvereinigungen usw. I n erheblichem Umfange w a r endlich diese Aufgabe, u n d zwar speziell die Verbreitung religiösen Lesestoffs, durch den Feldpropst der Armee i n A n g r i f f genommen worden. Konnte die Verbreitung selbst durch freie Vereine besser als durch die organisierte Kirche erfolgen, so erschien es als Aufgabe der letzteren, das Werk durch Darbietung von M i t t e l n t a t k r ä f t i g zu unterstützen. . . .
Nr. 368. Verfügung des Evangelischen Feldpropstes der preußischen Armee v o m 25. Februar 1916 (M. Schiari, Die deutsche evangelische Kirche i m Weltkriege, Bd. 1, 1921, S. 219) Es ist bei m i r darüber Klage geführt worden, daß namentlich jüngere i n der Heeresseelsorge stehende Geistliche i n ihren Predigten u n d Ansprachen die Verkündigung des Evangeliums gegenüber vaterländischen Gedanken zurücktreten lassen. Obwohl ich aus den Berichten der Geistlichen m i t Befriedigung ersehe, daß die Notwendigkeit religiöser Vertiefung der Amtsreden desto mehr empfunden w i r d , je länger der K r i e g dauert, so nehme ich doch Veranlassung, daran zu erinnern, daß auch gerade i m Kriege die Darbietung des unverkürzten Evangeliums die Hauptaufgabe der Seelsorge ist u n d daß die Verkündigung der Heilsbotschaft zwar den Verhältnissen des Krieges Rechnung tragen soll, aber unter keinen Umständen i n ihrem Inhalte verflüchtigt oder durch die Anpreisung vaterländischer Gesinnung u n d soldatischer Tugenden verdrängt werden darf.
I V . Friedensinitiativen des Jahres 1914 Unter den verschiedenen Versuchen, Christen aus den gegeneinander im Krieg stehenden Staaten zu einer gemeinsamen Friedenserklärung zu bewegen, kam demjenigen des Erzbischofs von Uppsala Nathan Söderblom 1 besonderes Gewicht zu (Nr. 369). Söderblom forderte die geistlichen Vertreter der evangelischen Landeskirchen und Freikirchen in Deutschland, Österreich, Skandinavien, Holland, Belgien, Frankreich, England, der Schweiz und den Vereinigten Staaten sowie die Metropoliten der russisch-orthodoxen Kirche zu einer gemeinsamen Erklärung über den Krieg und die Hoffnung auf einen baldigen Friedensschluß auf 2. Aus Deutschland antwortete darauf neben 1 Nathan Söderblom (1866 - 1931), schwedischer Theologe u n d Religionshistoriker; 1894 Pfarrer der schwedischen Gemeinde i n Paris, 1901 Professor f ü r Religionsgeschichte i n Uppsala, 1912 zugleich i n Leipzig; 1914 - 31 Erzbischof von Uppsala; i n dieser Eigenschaft einer der wichtigsten Anreger u n d Wortführer der beginnenden ökumenischen Bewegung; die 1. Weltkonferenz für Praktisches Christentum i n Stockholm 1925 w a r das bedeutendste Ereignis i m Rahmen seiner ökumenischen Wirksamkeit. 2 Vgl. Chronik der Christlichen Welt 23, 1914, S. 532.
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten Weltkrieg
anderen der geistliche Vizepräsident des sächsischen Landeskonsistoriums Franz Dibelius 3. Eine gemeinsame Erklärung lehnte er ebenso wie das Drängen auf einen schnellen Friedensschluß ab4.
Nr. 369. Der Aufruf des Erzbischofs Söderblom, Uppsala, zu einer kirchlichen Friedensinitiative v o m September 1914 ( Ν. Karlström,
Kristna Samförständssträvanden under Världskriget 1914- 1918, 1947, S. 578 ff.)
a) Entwurf Söderbloms für eine gemeinsame Erklärung von Kirchenführern aus kriegführenden und neutralen Ländern v o m September 1914 FÜR F R I E D E N U N D C H R I S T L I C H E
GEMEINSCHAFT
Unsagbaren Schmerz hat der Weltkrieg i m Gefolge. Die Kirche, der Leib Christi, blutet aus tausend Wunden. Die Menschen seufzen i n ihrer Not: „Wie lange, Herr, ach wie lange?" Die Geschichte w i r d an das Licht bringen, welches die letzten, wahren Gründe des Krieges gewesen sind, die sich i m L a u f der Zeiten angehäuft haben, und was den unmittelbaren Anstoß zum Friedensbruch gegeben hat. Gott allein kennt u n d richtet die verborgenen Anschläge u n d Gedanken der Herzen. W i r Diener der Kirche wenden uns an alle, welche i n dieser Sache Macht und Einfluß besitzen, m i t der nachdrücklichen Mahnung, den Gedanken des Friedens ernstlich ins Auge zu fassen, so daß des Blutvergießens bald ein Ende wird. Insonderheit wollen w i r unsere Mitchristen aus den verschiedenen Völkern daran erinnern, daß der K r i e g die Bande nicht zerreißen kann, m i t denen Christus uns unter einander verbindet. Jedes V o l k und L a n d hat, das ist sicher, seinen besonderen Beruf i m göttlichen Weltenplan. Wie schwer auch die Opfer sind, die von i h m gefordert werden, es muß seine Pflicht erfüllen, wie die Geschicke sie i h m zuweisen und soweit blöde Menschenaugen sie zu erkennen vermögen. Aber was unser Auge nicht immer k l a r sieht, das weiß unser Glaube: daß der Wettkampf der Völker am Ende der Herrschaft Gottes dienen muß und daß alle Christgläubigen eins sind. Lasset uns daher den H e r r n anrufen, daß er Haß und Feindschaft tilge und uns i n Gnaden Frieden schaffe. Sein Wille geschehe! 3
Siehe unten S. 872. Vgl. R. Rouse - St. Neill, Geschichte der ökumenischen Bewegung 1517 bis 1948, T. 2 (2. Aufl. 1973), S. 148 ff. 4
V. Der „Burgfrieden" zwischen den kirchlichen Parteien
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b) Antwort von Oberhof prediger Dibelius, Dresden, an den Erzbischof Söderblom, Uppsala v o m 2. Oktober 1914 Hochwürdiger Herr Erzbischof, ich freue mich, daß Sie unser deutsches Volk, wie Sie m i r schreiben, als eine „herrliche Nation" kennen und schätzen gelernt haben, und ich wünschte, daß Sie die wunderbare nationale u n d religiöse Bewegung i n diesen Kriegszeiten noch unter uns u n d m i t unserem Volke erlebt hätten 5 . Sie würden dann die ganz zweifellose Uberzeugung des gesamten deutschen Volkes erkannt haben, daß unser herrlicher Kaiser alles Menschenmögliche getan hat, u m den Frieden zu erhalten, und daß die Verantwortung für alles Unheil dieses Krieges ganz ausschließlich unsern Feinden zufällt. Es wäre sonach gegen unser Gewissen, uns an einer sonst noch so gut gemeinten Erklärung zu beteiligen, die irgendwelchem Zweifel an jener Überzeugung Raum gibt und ein U r t e i l über den Friedensbruch erst künftiger Geschichtsschreibung überlassen w i l l . Ebenso müssen w i r jetzt m i t t e n i m Kriege i n voller Ubereinstimmung m i t unserm ganzen V o l k wünschen und von Gott erbitten, daß uns die K r a f t erhalten bleibe, den K r i e g so lange fortzuführen, bis m i t den furchtbaren Opfern ein ehrenvoller, dauernder Friede erreicht w i r d . Ihre Aufforderung, an baldigen Friedensschluß zu mahnen, können w i r darum n u r als nicht zeitgemäß ablehnen. W i r beugen uns vor Gott unter allen Schrecken dieser Zeit i n der freudigen Gewißheit, daß Seine Friedensgedanken auch durch diesen K r i e g verherrlicht werden; und ich reiche Ihnen, dankbar für I h r Vertrauen u n d Ihre w o h l tuende Gesinnung, über L a n d und Meere hinweg m i t christlichem Friedensgruß die Bruderhand.
V . D e r „Burgfrieden" zwischen den kirchlichen Parteien Die Politik des Reichskanzlers Bethmann Hollweg war von Kriegsbeginn an von der Überzeugung geprägt, daß Deutschland dem Krieg nur gewachsen sei, wenn es gelinge, alle inneren Konflikte zur Seite zu schieben und Einigkeit zwischen den Klassen und Parteien zu erreichen. Dieser Wille der Reichsleitung kam schon in dem berühmten Wort Kaiser Wilhelms II. bei der Eröffnung des Reichstags am 4. August 1914 zum Ausdruck, er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur Deutsche 1. Dieser Appell zur Geschlossenheit gewann auch bei den kirchlichen Parteien, die sich gerade in den letzten Jahren vor Kriegsausbruch heftig befehdet hatten, einen starken Wider5 Söderblom hatte, bevor er Erzbischof von Uppsala wurde, von 1912 bis 1914 als Professor f ü r Religionsgeschichte an der Universität Leipzig gelehrt. 1 Verh. d. RT, Bd. 306, S. 1 f. (auch in: Dokumente, Bd. 2, Nr. 313). Näheres zu der Urheberschaft an dem Kaiserwort: Verfassungsgeschichte, Bd. V, S. 35, mit Anm. 57).
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten W e l t k r i e g
hall. Gemäß dem in der erweiterten Fassung zitierten Wort: „Ich kenne keine Parteien, keine Standes- und Religionsunterschiede, ich kenne nur noch Deutsche" 2 ergaben sich vor allem in Preußen Anzeichen für die Bereitschaft, die Auseinandersetzungen zwischen Positiven, Liberalen und kirchlicher Mittelpartei während der Kriegszeit ruhen zu lassen. Einen formellen Ausdruck fand dieser innerkirchliche Burgfrieden in dem Abkommen vom 18. März 1915, mit dem die kirchlichen Parteien in Berlin vereinbarten, von Wahlagitation abzusehen, und sich ihren jeweiligen Besitzstand bis 1918 gewährleisteten (Nr. 370)*.
Nr. 370. Berliner Kirchenwahlabkommen v o m 18. März 1915 (Kirchliches Jahrbuch, 42, 1915, S. 249 f.) I m Herbst dieses Jahres stehen die gesetzlich vorgeschriebenen Erneuerungswahlen für die kirchlichen Körperschaften der meisten Gemeinden i m Berliner Stadtsynodalbezirk bevor. I n einer Zeit, i n der alle Glieder unseres Volkes einmütig n u r das eine Ziel vor Augen haben, den äußeren Feind zu besiegen und dem Vaterlande einen dauernden Frieden zu gewinnen, erscheint es geboten, von inneren Kämpfen Abstand zu nehmen u n d die Waffen ruhen zu lassen, vor allem i n der Kirche. Die Vertreter der positiven und der liberalen Partei 4 haben sich zu folgendem A b k o m m e n zusammengefunden: 1. Gewährleistung des Besitzstandes am 1. A p r i l 1915 für die Hauptwahlen 1915 u n d 1916. Treten vorher Wechsel i n den Körperschaften ein, so gelten dieselben Grundsätze. 2. Gewährleistung dieses Besitzstandes auch bei den Ersatzwahlen bis zu den nächsten H a u p t - K i r c h e n wählen 1918. 3. Keine A g i t a t i o n zur Eintragung i n die kirchliche Wählerliste. 4. Keine Wählerversammlungen der Parteien. 5. Keine Partei-Flugblätter. 6. Keine Preßfehde. 7. K e i n Herbeiholen der Wähler am Wahltage. 8. Die Vertreter der positiven u n d der liberalen Partei bzw. ihre Ersatzmänner gelten während der Dauer dieses Abkommens bei entstehenden Streitigkeiten als Schiedsgericht. W i r richten an alle Kirchenwähler die herzliche Aufforderung, durch Befolgung dieses Abkommens den Kirchenwahlen einen friedlichen Verlauf zum H e i l unseres Vaterlandes und unserer Kirche zu sichern. 2 M. Schian, Die deutsche evangelische Kirche i m Weltkriege, Bd. 2 (1925), S. 28. 3 Vgl. W. Huber, Kirche und Öffentlichkeit (1973), S. 158 ff.; Verfassungsgeschichte, Bd. V, S. 116 ff. 4 Als d r i t t e Gruppe t r a t die Evangelische Vereinigung („Mittelpartei") dem Abkommen bald darauf bei.
V I . Die Aufgaben der Kirche i m K r i e g
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V L Die Aufgaben der K i r c h e i m K r i e g Nachdem vor 1914 die Kirchenaustrittsbewegung in manchen Gegenden einen beachtlichen Umfang angenommen hatte, weckte der Krieg eine neue starke Anteilnahme an der kirchlichen Verkündigung und an kirchlichen Veranstaltungen. Eine Vielfalt neuer Aufgaben kam auf die Kirchen nicht nur in der Seelsorge an Soldaten und Verwundeten oder im Sanitätsdienst, sondern auch in den Sorgemaßnahmen der Heimat gemeinden zu. Schon bald entzündete sich eine lebhafte Debatte über die Frage, ob die evangelischen Kirchen diesen vermehrten und veränderten Aufgaben gewachsen seien. Im April und Mai 1915 nahmen zwei führende Mitglieder des preußischen Oberkirchenrats, der Generalsuperintendent für Berlin Lahusen1 und der Propst 2 an St. Petri Kawerau in diesen Erörterungen Stellung (Nr. 371, Nr. 372). Auch die Verbände des freien Protestantismus standen vor einer veränderten Lage. Je länger der Krieg dauerte, desto dringlicher war es, den Wettstreit zwischen den verschiedenen überregionalen Vereinigungen der Mission, der Diakonie und der Sozialarbeit zurückzustellen und zur verstärkten Zusammenarbeit zu gelangen. Die diesem Zweck dienende „Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen" kam nach langwierigen Verhandlungen am 22. Februar 1916 zustande (Nr. 373). Die Konferenz war freilich von Anfang an nicht unumstritten und vermochte während des Kriegs nur eine eng begrenzte Wirksamkeit zu entfalten; eine größere Bedeutung erlangte sie nach der Novemberrevolution 3. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr traten die Not und die Sorgen hervor, die er verursachte. Gerade auch diese Notstände mehrten die Erwartung der verantwortlichen Staatsstellen, daß die Kirche dazu beitragen möge, die Bereitschaft und den Willen zum Durchhalten im Feldheer wie in der Heimat aufrechtzuerhalten (Nr. 374).
Nr. 371. Generalsuperintendent Lahusen, Und was tut die Kirche? v o m A p r i l 1915 (Die Christliche Welt, 29, 1915, Nr. 14) — Auszug — . . . W i r wissen, Gott sei Dank, was unsere Gottesdienste, unsere Kriegsbetstunden, unsere Abschiedsfeiern f ü r die Krieger, unsere Gedenkfeiern für die Gefallenen, unsere Abendmahlsfeiern der deutschen Christengemeinde sind. Da ist die Kirche i m Bau des vaterländischen Lebens die Hauskapelle, da sind i n der Tat Quellorte wahren Lebens, und das Leben dringt i n die Herzen der suchenden Menschen stärkend, mahnend, tröstend, u n d es 1
U n t e n S. 868. ObenS. 646, A n m . 11. 3 Vgl. M. Schian, Die deutsche evangelische Kirche i m Weltkriege, Bd. 2 (1925), S. 46 ff. 2
52 H u b e r , S t a a t und K i r c h e , 3. Bd.
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten W e l t k r i e g
dringt hinaus ins Feld, hinein i n die Kämpfe. Die Gottesdienste der Gemeinde beleben den M u t , die Ausdauer, die Freudigkeit zum Kampf, die Treue gegen das Vaterland i m ganzen Leben. Daß sie es mangelhaft tun, daß es K i r chen genug geben mag, i n denen das Leben i n Formen erstorben ist, das ist leider unzweifelhaft. A b e r der S t u r m des Krieges weht durch unsere Kirche u n d w i r d zum belebenden Hauch. Jetzt i m Kriege ist die L i t u r g i e f ü r w a h r nicht mehr eine tote Form. Die Zeit drängt gewaltig, den Gottesdienst ganz lebensvoll, ganz einheitlich zu gestalten v o m ersten W o r t bis zum letzten, i m frei gewählten B i b e l w o r t , auch i m freien Gebet. Nicht als ob w i r die Gemeinde der W i l l k ü r der Pastoren preisgeben wollten, aber das Leben aus der Lage des Vaterlandes heraus, das Leben, w i e es an einem bestimmten Sonntag die Gemeinde erfüllt, muß den Charakter des Gottesdienstes gestalten. U n d w e n n die Gemeinde so i m K u l t u s feiert, so versagt sie i m Volksleben nicht. Das Leben des Glaubens beweist sich i n der Liebe. Das geschieht i n der Kirche i m m e r i n Friedenszeiten. Was wäre unser deutsches V o l k ohne die unübersehbare Fülle v o n Anstalten u n d Werken der sorgenden u n d helfenden, erhaltenden u n d rettenden Liebe? Diese Liebe versagt i m Kriege nicht. Die Kirche ist es ja, die Tausende von Diakonissinnen u n d Diakonen i n die Lazarette entsendet, die ungezählte Frauen u n d Jungfrauen m i t ernster Hingebung i n unserem Volke arbeiten läßt — ich erinnere n u r an die F r a u enhilfe des Evangelisch-Kirchlichen Hilfsvereins 4 — u n d die m i t den nationalen u n d humanen Bestrebungen Hand i n H a n d treulich w i r k t . . . . W i r haben i n unserer Kirche noch viel zu v i e l von der Pastorenkirche u n d v i e l zu wenig v o n der wahren Gemeindekirche. Aber der K r i e g hat uns ein gut Stück weiter gebracht. Niemals hat w o h l die evangelische Gemeinde so ihre Mitglieder berührt u n d umfaßt wie i n diesem Kriege. Unzählige deutsche Soldaten haben i n Feindesland die Gemeinde gefunden, die ihnen i n der Heimat so nahe u n d doch so fremd war. Aus vielen Gemeinden w i r d den i m Felde stehenden Gliedern jede Woche ein Gruß gesandt. M i t mütterlicher Liebe sorgt die Gemeinde f ü r das äußere u n d innere W o h l der Krieger. A u f dem Lande packt vielfach der Pastor alle Pakete seiner Gemeindeglieder. Das Pfarrhaus ist ein M i t t e l p u n k t des Trostes, des Rates, der Hilfe geworden, so herrlich, w i e es uns früher noch nicht geschenkt war. Das Leben der Kirchengemeinden i n der Sorge f ü r die Arbeitslosen, die Einsamen, die T r a u ernden, die K i n d e r ist aufs reichste u n d mannigfaltigste ausgestaltet. Die Gaben f ü r die vaterländischen Aufgaben fließen, als ob der M a m m o n seine Königsherrschaft verloren hätte. Die Menschen verschiedenen Standes finden sich an Gemeinde- u n d Familienabenden, durch die Besuche i n den Häusern, i m Leben der Gemeinde, wie w i r uns i m Vaterlande gefunden haben. U n d n u n erinnere ich noch an die L i t e r a t u r der Kirche, die i n den Kriegsmonaten erstanden ist. Gewiß werden viele Blätter bald verwelken, aber sie haben dann doch eine kleine Aufgabe erfüllt, u n d eine L i t e r a t u r von Hunderttausenden, von M i l l i o n e n von Schriften, Predigten, Liedern — das ist doch eine Macht i n Heer u n d Volk. 4
Oben Nr. 249.
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A l s der K r i e g ausbrach, hat sich gezeigt, daß die i m verborgenen wirkende u n d so vielfach verachtete Kirche i h r W e r k nicht umsonst getan hatte. I n diesem Kriege haben w i r erfahren, was unsere Landeskirche f ü r unser V o l k bedeutet. Wenn unsere Soldaten, die nicht n u r aus den Briefen der I h r i g e n K u n d e v o m Leben u n d Lieben der Heimat erhalten haben, sondern m i t denen auch ein fleißiger Briefwechsel i n der Gemeinde gepflegt w i r d , einst heimkehren, dann w i r d sich gewiß zeigen, daß die A r b e i t i m Kriege nicht vergeblich war. U n d die Gemeinde, i n die sie zurückkehren, w i r d eine andere sein als die, die sie verlassen haben, wie sie selbst andere Männer geworden sind.
Nr. 372. Propst Kawerau, Wie hat bisher der Krieg auf unser kirchliches Leben eingewirkt, und vor welche Aufgaben stellt er unsere Kirchengemeinden und ihre Vertreter? 5 v o m 18. M a i 1915 (Kirchliches Jahrbuch, 42, 1915, S. 244 f.) 1. Das bei Ausbruch des Krieges i n überraschender Weise hervorgetretene religiöse Bedürfnis ist zwar bei vielen ohne Bestand gewesen; gleichwohl ist ein erhöhtes Verlangen nach Gottes W o r t u n d eine Zuwendung zu der Kirche u n d ihren Gottesdiensten i n zahlreichen Fällen wahrnehmbar. 2. Daraus erwächst f ü r die Kirche die dringende Aufgabe, das sich regende geistliche Leben zu pflegen u n d zu befestigen. 3. Der Predigt fällt die verantwortungsschwere Aufgabe zu, i m Verständnis für die Bedürfnisse der Seelen vertiefend die Suchenden weiterzuführen. Es bedarf einer Predigt, die auf die Fragen, Sorgen, Nöte u n d Ängste der Hörer eingeht, aber dabei nie bei einer religiös gefärbten patriotischen Seele stehen bleibt, sondern zu Christo führt, als i n dem allein das unruhige M e n schenherz Vertrauen zu Gott, H a l t u n d Trost gewinnt. 4. Der Seelsorge ist ein weites Feld der Betätigung aufgetan; es gilt, die Gelegenheiten, die sich i h r bieten, i n Treue wahrzunehmen. Unter diesen seien die Fälle hervorgehoben, w o der K r i e g Todesopfer gefordert hat, aber auch w o m a n u m Verwundete, Vermißte, i n Gefangenschaft Geratene i n Sorge schwebt, oder wo der K r i e g die wirtschaftliche Existenz bedroht. 5. Wichtig ist, daß die einzelne Kirchengemeinde m i t ihren ins Feld gezogenen Gliedern Verbindung sucht und, wo sie gefunden ist, sie aufrecht zu erhalten sich bemüht. Das w i r d nach dem Ende des Krieges Frucht bringen i n bezug auf die i n der Großstadt so daniederliegende Wertschätzung des kirchlichen Verbandes. 6. Besonders dringend ist die Aufgabe, sich der Ehefrauen der Krieger anzunehmen, sie zum Verständnis der Gedanken u n d Absichten Gottes i n die5
Leitsätze eines Referats, das Gustav Kawerau, M i t g l i e d des preußischen Oberkirchenrats u n d Propst an St. P e t r i (oben S. 646», A n m . 11), a m 18. M a i 1915 auf der Kreissynode B e r l i n - K ö l l n Stadt hielt.
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ser Kriegszeit anzuleiten, sowie ihre Gewissen zu schärfen über die Pflichten, die ihnen jetzt gegen M a n n u n d K i n d e r u n d Vaterland obliegen. 7. I n unsern kirchlichen Vereinen bieten sich die mannigfachen Gelegenheiten, zeitgemäße Fragen zu behandeln u n d ein tieferes Verständnis der Zeit i m Lichte des göttlichen Wortes zu vermitteln. 8. Gott hat uns Gelegenheiten w i e nie zuvor gegeben, u m unserm Volke den Segen und die geistlichen K r ä f t e unserer kirchlichen Gemeinschaft nahezubringen; unser ist die V e r a n t w o r t u n g dafür, daß w i r die Zeit auskaufen.
Nr. 373. Aufgaben der Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen v o m 22. Februar 1916 (Kirchliches Jahrbuch, 43, 1916, S. 160) Die Konferenz Deutscher Evangelischer Arbeitsorganisationen 6 verfolgt das Ziel, die größeren, m i t ihrer A r b e i t über den Umkreis einzelner Landeskirchen hinausreichenden Vereinigungen, die deutsches evangelisches Leben i n unserem Volke auf dem Wege praktischer Betätigung zu wecken, zu fördern u n d zu vertiefen bestrebt sind, derartig miteinander i n F ü h l u n g zu bringen, daß sie über i h r gedeihliches Zusammenarbeiten an der V e r w i r k lichung dieser Aufgabe i n regelmäßig wiederkehrenden Verhandlungen V e r ständigung suchen.
Nr. 374. Bekanntmachung des badischen Oberkirchenrats, betreffend die Mitwirkung der Kirche bei den staatlichen Kriegsmaßnahmen v o m 22. November 1916 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland, 65, 1916, S. 520 f.) Je länger der K r i e g dauert, u m so mehr t r i t t an den Tag, wie i n der H e i mat die höchsten geistigen u n d sittlichen K r ä f t e aufgeboten werden müssen. Es bedarf aller Opferwilligkeit u n d Nächstenliebe, aller Selbstlosigkeit u n d alles Gemeinsinns, aller Besonnenheit u n d Gerechtigkeit, alles häuslichen β Der Konferenz schlossen sich folgende Vereinigungen an: Z e n t r a l - A u s schuß f ü r die Innere Mission, Deutsche Evangelische Missions-Hilfe, Deutscher Evangelischer Volksbund, Deutscher Verband f ü r evangelische Gemeinschaftspflege, Evangelischer B u n d zur W a h r u n g der deutsch-protestantischen Interessen, Evangelisch-kirchlicher Hilfsverein, Evangelisch-sozialer Kongreß, Evangelischer Verein der Gustav-Adolf-Stiftung, Freie kirchlich-soziale Konferenz, Konferenz f ü r evangelische Gemeindearbeit, Verband der deutschen evangelischen Pfarrervereine, Allgemeiner Evangelisch-protestantischer Missionsverein, B u n d deutscher Jugendvereine, Deutsch-Evangelischer Frauenbund, Deutsch-Evangelischei· Verein zur Förderung der Sittlichkeit, Deutscher Evangelischer Missions-Ausschuß, Evangelischer Preßverband für Deutschland, Evangelischer Verband zur Pflege der weiblichen Jugend Deutschlands, Generalkonferenz der Diakonissenmutterhäuser, Gesamtverband der evangelischen Arbeitervereine Deutschlands, Konferenz der V o r steher der Brüderhäuser u n d Diakonenanstalten, Nationalvereinigung der Evangelischen Jünglingsbündnisse Deutschlands.
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Sinnes und Fleißes, damit die Heimat unseres tapferen Heeres w ü r d i g sei und bei ihm, das uns beschützt, das Vertrauen zu der heimischen Bevölkerung erhalte u n d stärke. Auch die Schwierigkeiten des wirtschaftlichen L e bens, die ihre letzten u n d stärksten Ursachen eben i m Kriegszustand haben, können n u r bestanden werden, w e n n das deutsche V o l k sich m i t aller geistigen K l a r h e i t und Einsicht u n d der rechten sittlichen K r a f t erfüllt. Von seiten des Staates werden neuerdings m i t besonderem Nachdruck alle Kräfte und Gaben angerufen, durch welche die S t i m m u n g u n d Gesinnung und vor allem der Siegeswille des deutschen Volkes gestärkt werden können. So hat das M i n i s t e r i u m des K u l t u s u n d Unterrichts jetzt wieder darauf hingewiesen, welch ein großes Feld schöner u n d vaterländischer Betätigung der Schule u n d den Lehrern hier aufgetan sei; ebenso w i l l das Ministerium des I n n e r n die Kreisausschüsse u n d die sich bildenden Hausfrauenvereinigungen i n dieser Richtung w i r k s a m machen. Die Staatsregierung hat dabei uns gegenüber wiederholt geäußert, wie großen Wert sie auf die M i t w i r k u n g der Geistlichen lege, u n d w i e hoch sie diese einschätze. W i r können darüber n u r Freude u n d Genugtuung empfinden. Seit unserer Bekanntmachung v o m 5. August 1914 „Den Pfarrdienst während der Kriegszeit betr." haben w i r wiederholt und, w i e w i r m i t herzlicher Befriedigung feststellen, erfolgreich darauf hingewiesen, wie nicht zuletzt der Kirche u n d ihren Dienern i n der Pflege u n d Stärkung eines heldenhaften Sinnes bei den i n der Heimat befindlichen Männern und Frauen eine heilige u n d gesegnete Aufgabe gesetzt sei. W i r folgen d a r u m n u r unserer innersten u n d durch die bisherigen Beobachtungen begründeten Uberzeugung, w e n n w i r hier das V e r trauen zum Ausdruck bringen, die Geistlichen unserer Landeskirche werden i m Dienste des Vaterlandes nicht müde noch verzagt werden, sondern f o r t fahren, wie zu trösten u n d aufzurichten, so auch zu bitten, zu ermahnen, zu raten und zu helfen, soviel i n ihrer K r a f t liegt. W i r entsprechen ferner gern einem mehrfach an uns gerichteten Ansuchen und weisen auf die angedeuteten Bestrebungen des Staates und seiner Organe h i n als einer freudig zu ergreifenden Gelegenheit für die Geistlichen, gemäß ihrer Kenntnis der M e n schen und der Verhältnisse an der Wohlfahrt des deutschen Volkes m i t z u wirken.
V I I . Staat und evangelische Kirche im Kriegsjahr 1917 In das Jahr 1917 fiel für den deutschen Protestantismus das Jahrhundertgedenken der Reformation 1. Die Ansprache, die der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß aus diesem Anlaß zum Neujahrstag 1917 erließ (Nr. 375), zeigte, wie schwer die Dauer und Härte des Kriegs auch auf der Kirche lastete. Nachdem der Friedensschritt der Mittelmächte vom 12. Dezember 19162 ohne Ergebnis geblieben war, war ein Ende des Kriegs nicht abzusehen. Der 1 2
G. Brakelmann, Der deutsche Protestantismus i m Epochenjahr 1917 (1974). Verfassungsgeschichte, Bd. V, S. 248 ff.
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Deutsche Evangelische Kirchenausschuß verband in seinem Glückwunsch zum Geburtstag Kaiser Wilhelms II. am 27. Januar 1917 den Dank für den Friedensversuch mit der Versicherung, daß die evangelischen Christen Deutschlands in unverbrüchlicher Treue zu Kaiser und Reich stünden (Nr. 376, Nr. 377). Der Erlaß, mit dem der preußische Oberkirchenrat zu einem Allgemeinen Kriegsbettag am 11. März 1917, dem Sonntag Exaudi, aufrief (Nr. 378), zeigte, daß die Kirchen eine ihrer vordringlichsten Aufgaben darin sahen, den Willen des evangelischen Teils der Nation zum Durchhalten in der kritischen Lage, in die der Krieg geführt hatte, zu stärken.
Nr. 375. Reformationsansprache des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses an die Gemeinden beim bevorstehenden Jahreswechsel v o m Dezember 1916 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland, 66, 1917, S. 1 f.) A m 31. Oktober 1917 gedenkt die evangelische Christenheit der Geburtsstunde der Reformation — des Tages, an welchem vor 400 Jahren D. M a r t i n L u t h e r seine Thesen an die T ü r e n der Schloßkirche i n Wittenberg anschlug u n d damit die Kirche des Evangeliums erneuerte 3 . Noch wissen w i r nicht, ob das beginnende Jahr uns den Frieden bringt, der eine umfassendere Feier gestattet. Auch i m siegreichen Vaterlande, w e n n es nach Beendigung des schweren Völkerringes eines ehrenvollen Friedens sich erfreut, w i r d f ü r eine laute Feststimmung noch wenig Raum sein. Dennoch dürfen w i r uns durch den Ernst u n d das L e i d der Zeit nicht die Freude an dem Segen v e r k ü m m e r n lassen, der uns i n der Reformation durch Gott geschenkt worden ist. I m k ü h n e n Glauben an die freie Gnade Gottes i n Christo Jesu hat L u t h e r das Evangelium wieder auf den Leuchter gestellt u n d das gesamte Leben in sein Licht gerückt. Erschlossen w a r d uns von neuem der alte Heilsweg unseres Gottes, der den Christen nicht aus eigenem Verdienst, sondern durch den Glauben allein der Seligkeit gewiß macht. Wieder aufgerichtet w a r d das Recht des i n Gottes W o r t gebundenen Gewissens gegenüber allen Satzungen der Menschen. Der weltliche Stand w a r d wieder i n sein Recht eingesetzt, die Ehe und das Familienleben geheiligt, die A r b e i t des Berufs geweiht, der Wissenschaft freie B a h n gegeben i n der Gewißheit, daß wahre Wissenschaft immer zu Gott führt, der Staat als gottgewollte Ordnung v o l l anerkannt. I n den schweren Stürmen von vier Jahrhunderten haben unsere Väter i n dem Glauben der Reformation immer wieder Trost u n d weltüberwindende K r a f t gefunden. 3 Dazu auch die Reformationsansprache des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses an die Gemeinden v o m September 1917, m i t der die i n Wittenberg u n d Eisenach geplanten zentralen Veranstaltungen zum Reformationsjubiläum abgesagt w u r d e n (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland 66, 1917, S. 381 ff.).
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Große Männer, die Gott unserem Volke geschenkt hat, waren K i n d e r der Reformation, aber auch i n der schlichten Treue u n d der entsagungsvollen Pflichterfüllung des einfachen Mannes offenbart sich i h r Segen. Dies alles stellt uns vor Augen die Reckengestalt M a r t i n Luthers, der seinem Volke das evangelische Lebensbild vorlebte, der uns die Bibel, das Gesangbuch, den Katechismus u n d i n ihnen eine einheitliche deutsche Sprache gab, u n d der als die Verkörperung deutschen Wesens unserm evangelischen Volke unter seinen Helden der größte geblieben ist. W i r feiern das Gedächtnis der Reformation nicht u m Menschen zu verherrlichen, sondern u m den H e r r n zu preisen, der sie seiner Kirche geschenkt hat. Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben: „Jesus Christus gestern u n d heute u n d derselbe auch i n E w i g k e i t ! " 4
Nr. 376. Glückwunsch des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses an Kaiser Wilhelm I I . zu seinem Geburtstag am 27. Januar 1917 (Chronik der Christlichen Welt, 1917, S. 83 f.) Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster Kaiser u n d K ö n i g ! Allergnädigster Kaiser, K ö n i g u n d H e r r ! M i t Euerer Kaiserlichen u n d Königlichen Majestät begeht zum d r i t t e n Male i n furchtbarer Kriegszeit das deutsche V o l k die Feier Allerhöchst Ihres Geburtstages. Noch inniger wie an den gleichen Festtagen der vergangenen Jahre w e r den an dem heutigen Tage i n Tausenden von Gottesdiensten w i e i m stillen K ä m m e r l e i n stille Gebete i n Dank u n d Fürbitte f ü r Eure Majestät zu Gottes Thron emporsteigen — aus tausenden von Herzen . ohne Unterschied des Glaubens u n d des Bekenntnisses. Aber w e n n die evangelischen Kirchen Deutschlands es als gnadenvolle Fügung Gottes preisen, i n Euerer Majestät, dem Schirm u n d H o r t des V a t e r landes, zugleich den evangelischen Christen verehren zu dürfen, der i m m e r wieder vor der Welt zu dem evangelischen Glauben an die alleinseligmachende Gnade unseres Gottes i n Christo sich bekannt hat, so darf w o h l an diesem ernsten Tage der i n tiefster Ehrfurcht unterzeichnete Deutsche E v a n gelische Kirchenausschuß Euerer Majestät sich nahen, u m ehrerbietigst das unwandelbare Gelübde unerschütterlicher Treue i m Namen des evangelischen Deutschlands Euerer Majestät darzubringen. Unsagbar groß ist die Verantwortung, die auf Euerer Majestät ruht, sie w i r d täglich schwerer i n der i m m e r mehr anschwellenden Not des Krieges. Aber auch i n der schwersten Not früherer Tage hat das deutsche V o l k zu 4
Hebräer 13, 7 f.
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seinen erhabenen Herrschern i n für alle Zeiten vorbildlicher K r a f t gestanden, i n der Treue zu dem irdischen H e r r n die Treue zu dem himmlischen H e r r n bewährend. So auch jetzt zu Euerer Majestät zu stehen, ist nicht n u r das Gelübde, das die evangelischen Kirchen Deutschlands Euerer Majestät i n feierlicher Stunde aussprechen, sondern auch das heiße Bemühen ihrer Gemeinden i n dem dem Vaterlande aufgedrungenen Kampfe. Einzig w i r d es i n der Weltgeschichte dastehen, daß n u r auf der Höhe des Sieges Euere Majestät hochherzig die H a n d zu einem ehrenvollen Frieden darboten 5 . Die Friedenshand ist von den Feinden m i t schnödem H o h n zurückgewiesen worden. Das tief ergreif ende W o r t Euerer Majestät an das deutsche V o l k 6 hat i n jedem deutschen Herzen begeisterten W i d e r h a l l gefunden und, i n dem Bewußtsein eines reinen Gewissens, den W i l l e n freudiger Opferbereitschaft bis zum Äußersten n u r noch unerschütterlicher festigen k ö n nen. Der heilige u n d gerechte Gott w i r d zwischen unsern Feinden u n d uns richten. Eure Majestät aber mögen des Wortes des Heilandes gedenken: Selig sind die Friedfertigen 7 ! A n diesem großen, w a h r h a f t christlichen V o r b i l d w i r d unser deutsches V o l k i m m e r wieder sich aufrichten. Die Evangelische Kirche ist i n das Erinnerungsjahr der Reformation eingetreten. Gegen eine Welt von Feinden erscholl des größten deutschen M a n nes Siegeslied: „ E i n feste B u r g ist unser Gott!" Treues Festhalten an den Gütern der Reformation verbürgt auch treues Festhalten an Kaiser u n d Reich u n d die K r a f t zum siegreichen Durchhalten auch i m furchtbarsten Weltkrieg der Weltgeschichte. Gott der H e r r segne unsern geliebten Kaiser! Er bekenne sich zu Euerer Majestät, wie Euere Majestät zu I h m Sich bekannt haben. Die Gebete, die am heutigen Tage i m ganzen Vaterlande aus treuen evangelischen Herzen f ü r unsern heißgeliebten Kaiser an Gottes Herz dringen, werden nicht v e r geblich sein.
Nr. 377. Antwort Kaiser Wilhelms II. an den Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß von Ende Januar 1917 (Chronik der Christlichen Welt, 1917, S. 84) Dem Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß danke Ich von Herzen für die M i r i m Namen des evangelischen Deutschland zum Geburtstage dargebrachten Segenswünsche. Der Ernst u n d die Not der Zeit haben das deutsche V o l k m i t seinen Fürsten eng vereint i n dem jedes menschlich fühlende 5
Gemeint ist das Friedensangebot der Mittelmächte v o m 12. Dezember 1916 (Verfassungsgeschichte, Bd. V, S. 248 ff.). 6 Gemeint ist die Kundgebung Wilhelms I I . aus dem Großen Hauptquartier „ A n das deutsche V o l k " über das Scheitern des deutschen Friedensangebots v o m 12. Januar 1917 (Text: Schultheß, Europäischer Geschichtskalender 1917, T e i l 1, S. 24 f.). 7 Matthäus 5, 9.
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Herz bewegenden Wunsche u n d Gebete, daß unserer gerechten Sache der Sieg verliehen u n d dem ruchlos heraufbeschworenen Völkerkriege ein Ende gesetzt werde. Die aufrichtig ausgestreckte deutsche Friedenshand ist von den Feinden schnöde zurückgewiesen. Das Ziel muß n u n m i t verstärkter Waffengewalt erkämpft werden. Gottes Gnade erhöre unsere Gebete u n d lasse nach schweren Kriegs jähren wieder die Friedenssonne über einem glücklichen V o l k u n d Vaterlande leuchten.
Nr. 378. Aufruf des preußischen Oberkirchenrats zum Allgemeinen Kriegsbettag v o m 28. Februar 1917 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland, 66, 1917, S. 137 f.) Der Ernst der gegenwärtigen Lage unseres Vaterlandes, i n der es für uns n u r die eine Losung g i b t : m i t Gottes H i l f e weiter kämpfen u n d durchhalten bis zum endgültigen Siege! fordert v o n jedem unter uns erneute Hingebung an die gemeinsame Sache, tatbereite Opferwilligkeit u n d möglichste E i n schränkung i n der persönlichen Lebenshaltung. I m Blick auf den großen Kreuzträger, dessen w i r i n dieser Passionszeit sonderlich gedenken, rufen w i r unsere Gemeinden auf, unter den Leiden des Krieges u n d unter den Entbehrungen, die er auflegt, nicht müde zu werden, sondern standhaft zu bleiben, bis es Gott dem Allmächtigen gefallen w i r d , unserem Vaterland u n d der Welt die Segnungen des Friedens wieder zurückzugeben. Die gläubige Betrachtung der Passion Jesu Christi unseres H e r r n gibt K r a f t , i n der ernsten Kreuzesschule dieser Zeit stille zu werden u n d auf die H i l f e Gottes f ü r unsere gerechte Sache zu warten. „ D u r c h Stillesein u n d Hoifen w ü r d e t i h r stark sein" (Jesaias 30 V. 15). V o r allem aber ist es bei der bevorstehenden Entscheidung Aufgabe u n d heilige Pflicht der christlichen Gemeinde, i n Bitte, Gebet u n d F ü r b i t t e sich u m so treuer zusammenzuschließen, f ü r unsere kämpfenden Brüder vor dem Thron der Gnade einzustehen u n d die H i l f e Gottes f ü r unser V o l k u n d V a t e r land herabzuflehen. „Des Gerechten Gebet vermag viel, w e n n es ernstlich ist" (Jacobus 5 V. 16). — W i r sind der Überzeugung, daß gerade i m gegenwärtigen Z e i t p u n k t u n d i m Hinblick auf die nahende Entscheidung des furchtbaren Ringens i n unseren Gemeinden das Bedürfnis lebt, heilige Hände des Gebets zu Gott zu erheben, u m dadurch unter der Last des Krieges selbst innerlich stark zu b l e i ben u n d unsere Heere m i t der starken Schutzwehr einer betenden H e i m a t gemeinde zu umgeben. W i r ordnen deshalb an, daß der Sonntag Exaudi, der 11. März, i n allen unseren Gemeinden als Kriegsbettag gehalten w i r d , bei dem i n Predigt, Gebet u n d F ü r b i t t e des Ernstes der Stunde u n d der Aufgaben, die sie an Heer u n d Heimat stellt, gedacht w i r d .
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V I I I . Der deutsche Protestantismus und die Verfassungsreform im Jahr 1917 Je länger der Krieg dauerte, desto nachdrücklicher erhob sich die Forderung nach wirksamen Verfassungsreformen im Reich und vor allem in Preußen 1. In seiner Osterbotschaft vom 7. April 1917 2 gab Wilhelm II. dem Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten v. Bethmann Hollweg den Auftrag, die Reform des preußischen Wahlrechts durch eine Gesetzvorlage an die beiden Häuser des Landtags einzuleiten; die Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts und die Einführung der unmittelbaren und geheimen Wahl nannte der Aufruf als den Hauptinhalt der geplanten Verfassungsrevision. Die erste evangelische Organisation, die sich zu der kaiserlichen Botschaft zustimmend äußerte, war der Evangelisch-Soziale Kongreß (Nr. 379). Das Gesetzgebungsverfahren zum Vollzug der angekündigten Reformen kam allerdings nur zögernd in Gang. In dieser Lage wandte Adolf v. Harnack sich mit einer Denkschrift an den Reichskanzler, die ein schnelles und wirksames Handeln forderte (Nr. 380). Einen wichtigen Schritt in dieser Richtung bedeutete der Reformerlaß Wilhelms II. vom 11. Juli 1917 3, der das preußische Staatsministerium anwies, in dem im Landtag einzubringenden WahlgesetzEntwurf das gleiche Wahlrecht vorzusehen. Dieser Auftrag blieb auch bestehen, als Bethmann Hollweg am 13. Juli 1917 zurücktrat und Georg Michaelis 4 die Ämter des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten übernahm. Nach dem Reformerlaß vom 11. Juli 1917 entbrannte der Streit um die Verfassungsreform, der die politischen Parteien trennte, auch innerhalb des Protestantismus mit voller Schärfe 5. Protestantisch-liberale Gruppen, für die der Kreis um Adolf v. Harnack und Hans Delbrück 6 repräsentativ war, drängten auf eine schnelle und umfassende Parlamentarisierung der deutschen Verfassungsverhältnisse, in der sie den einzigen Weg zur Erhaltung der Monarchie sahen (Nr. 382). Protestantisch-konservative Gruppen, als deren Sprecher häufig Reinhold Seeberg auftrat 7, sahen in einer Veränderung der deutschen Verfassungsverhältnisse während des Krieges eine Gefahr für die politische Geschlossenheit und Widerstandskraft des Reichs, so in der 1
Siehe auch oben S. 517 ff., 530 ff. Dokumente, Bd. 2, Nr. 331. 3 Dokumente, Bd. 2, Nr. 333. 4 Georg Michaelis: oben S. 504, A n m . 3. 5 G. Mehnert, Evangelische Kirche u n d P o l i t i k 1917 - 1919 (1959), S. 70 ff.; G. Brakelmann, Der deutsche Protestantismus i m Epochen j ä h r 1917 (1974), S. 23 ff.; E. R. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. V, S. 154 ff. 6 Hans Delbrück (1848 - 1929), Historiker; 1874 - 79 Erzieher des Prinzen Waldemar von Preußen; 1881 Privatdozent, 1885 a. o. Professor, 1896 als Nachfolger Treitschkes o. Professor f ü r Geschichte i n B e r l i n ; seit 1883 redigierte er m i t Treitschke, von 1890 bis 1919 allein die »Preußischen Jahrbücher"; 1882-85 M d p r A H , 1884- 90 M d R (freikonservativ); erst seit den Weltkriegsjahren Wortführer parlamentarisch-demokratischer Reformen. 7 Reinhold Seeberg: oben S. 668, Anm. 15. 2
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auch von Karl Holl 8 unterzeichneten Denkschrift Berliner Professoren vom Juli 1917 (Nr. 381)9. Manche Sprecher der konservativen Gegenströmung waren davon überzeugt, daß die Demokratisierung des Wahlrechts in Preußen am Ende zum Sturz der Monarchie in Deutschland führen werde (Nr. 383). Die Reformbedürftigkeit des bisherigen Klassenwahlrechts erkannte die protestantisch-konservative Gruppe, nicht anders als die katholisch-konservative, durchaus an. Ihr gemeinsamer Widerstand richtete sich jedoch gegen die vollständige Egalisierung des Stimmrechts 10.
Nr. 379. Rede Otto Baumgartens vor dem Evangelisch-Sozialen Kongreß am 11. A p r i l 1917 (Verhandlungen des 26. Evangelisch-Sozialen Kongresses, 1917, S. 1 ff.) — Auszug — . . . Während w i r n u n aber besorgten Sinnes dieser Tagung entgegensahen, i m m e r noch befürchtend, daß unvorhergesehene Ereignisse u n d neue Schwierigkeiten sich i h r entgegenstellen möchten, hat der Ostermorgen uns die Morgenröte einer neuen Zeit gezeigt. Der Erlaß unseres Kaisers an unsern Kanzler ist wie die von Gott erflehte E r f ü l l u n g unseres Sehnens nach einem entscheidenden Wort. . . . Verehrte Anwesende, der Evangelisch-Soziale Kongreß, der einst 1890 begründet w a r d wesentlich, u m den Februarerlassen unseres jungen H e r r n 1 1 i n den Herzen des evangelischen Volkes einen tragfähigen Boden zu bereiten und die Gewissen zu schärfen f ü r die sozialen Pflichten zum Schutz der schwächeren Glieder, dieser Kongreß, der seitdem unentwegt die Fahne der Kaiserlichen Sozialpolitik hochgehalten, das Vertrauen zu unserem arbeitenden Volk, das Verständnis für seine politischen u n d sozialen Reformbegehren, die Verpflichtung der führenden Kreise zur Dienstbarkeit gegen die aufstrebenden gepredigt hat, dieser Kongreß stellt sich i n Treue gegen seine ganze n u n siebenundzwanzig jährige Geschichte m i t beiden Füßen auf dies neue hochherzige Programm seines Kaisers u n d gelobt i n dieser Stunde, auch seinerseits Heroldsdienste zu leisten f ü r diese neue Zeit eines sozialdeutschen Königtums, eines unerschütterlichen Vertrauens zu Wollen und Vermögen unseres Volkes. W i r danken tiefbewegten Herzens unserm Kaiser und unserm Kanzler, daß sie auf der Höhe unserer Bedrängnisse die Worte fanden, die uns wie das Morgengrauen einer neuen Zeit unseres Vaterlandes klingen, 8 Karl Holl (1866- 1926), ev. Theologe; 1891 Repetent am Tübinger Stift, 1894 Hilfsarbeiter an der preußischen Akademie der Wissenschaften (für die Edition der „Griechischen Christlichen Schriftsteller"), 1901 a. o. Professor f ü r Kirchengeschichte i n Tübingen, 1906 neben Harnack o. Professor f ü r dieses Fach i n B e r l i n ; 1915 M i t g l i e d der preußischen Akademie der Wissenschaften. 9 Z u Seebergs Stellungnahmen zum 1. Weltkrieg vgl. G. Brakelmann, Protestantische Kriegstheologie i m 1. Weltkrieg (1974); zu Holls Stellungnahmen vgl. W. Huber, Kirche u n d Öffentlichkeit (1973), S. 160 ff. 10 Uber die H a l t u n g des preußischen Katholizismus, insbesondere des Episkopats, zur Wahlrechtsfrage siehe oben Nr. 214 ff. 11 Nämlich den Februar-Erlassen Kaiser Wilhelms I I . von 1890 (vgl. oben Nr. 305).
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diese Worte fanden, w e i l sie i m tiefsten Gewissen gebunden sind an das Evangelium unseres Herrn. So haben w i r n u n das Programm, das durchzuführen, wozu die Herzen w i l l i g zu machen w a h r l i c h der Leiden u n d Nöte w e r t ist, die w i r durchlebt haben. . . . Umsonst k a n n das Opfern nicht mehr sein, nachdem dies doppelte gewonnen ist: ein heiliger Entschluß, dem Volke zu geben, was i h m gebührt, u n d ein herrliches Vertrauen zu seiner inneren Tüchtigkeit. . . . Mag der K r i e g äußerlich enden, wie w i r n u n nicht wissen, wie Gott w i l l u n d weiß, innerlich f ü h r t er unser Volk, sturmerprobt, i n u n geahnter technischer, wirtschaftlicher, moralischer K r a f t erwiesen, n u r höher hinauf zu neuen Aufgaben u n d neuem Vertrauen. Wenn Gott der H e r r uns dazu neue Demut, neuen Verlaß nicht auf eigene K r a f t , sondern auf seine unverdiente Gnade schenkt, dann können w i r auch f ü r die Z u k u n f t unseres Volkes unbesorgt sein. Denn es g i l t auch i m Leben der Völker das Gesetz von der Erhaltung der K r a f t . So lassen Sie uns denn v o l l Zuversicht zu Gottes Walten u n d zu der K r a f t unseres Volkes an unsere A r b e i t gehen, deren einziges Z i e l es sein soll, der neuen Zeit unseres Volkes die alten K r ä f t e evangelischen Glaubens u n d sozialen Vertrauens zu erhalten. Daß w i r i n diesem Streben m i t unserem K a i ser u n d K ö n i g einig gehen, daß seiner F ü h r u n g folgen nichts anderes heißt als treu sein dem Evangelium u n d der sozialen Verpflichtung gegen das Volk, das sprechen w i r aus, w e n n w i r uns n u n erheben u n d unser Treuegelöbnis zu Kaiser u n d Reich erneuern: Seine Majestät, unseres Volkes Kaiser W i l h e l m I I . hoch! (Die Versammelten stimmen dreimal i n das Hoch ein.) Ich darf der Versammlung, ihrer begeisterten Zustimmung gewiß, das folgende Telegramm an Seine Majestät den Kaiser vorschlagen: „Eurer Majestät sendet der heute zu einer Kriegstagung i n B e r l i n versammelte Evangelisch-Soziale Kongreß, der einst 1890 begründet w a r d i m Geist von Eurer Majestät Februarerlassen, den Ausdruck der tiefsten E h r furcht zugleich m i t dem aufrichtigsten D a n k f ü r Eurer Majestät Osterbotschaft an unser Volk. Der neuen Zeit eines sozialen Königtums, v o l l V e r trauen zu der bewährten Treue unseres Volkes, w i l l i m alten Geiste des Evangeliums auch unser Kongreß dienen. Gott wolle Eurer Majestät hochherziges u n d kraftvolles Wollen m i t reichem Erfolg krönen und aus den schweren Opfern dieses Krieges einen wahren Volksfrieden erstehen lassen."
Nr. 380. Adolf v. Harnack, Das Gebot der Stunde. Denkschrift an den Reichskanzler v. Bethmann Hollweg v o m J u n i 1917 (A.v. Harnack, Erforschtes u n d Erlebtes, 1923, S. 298 ff.) — Auszug — . . . Ich habe bis vor wenigen Wochen der P o l i t i k innerlich zugestimmt, die m i t dem Ziele, w i e es Ew. Exzellenz vorschwebt, die T a k t i k verbindet, schweren Rissen i m I n n e r n durch Zusammenhalten der Parteien u n d durch V e r -
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schieben wichtiger Entscheidungen vorzubeugen 1 2 . Aber die Zeichen der Zeit u n d die S t i m m u n g i n weitesten Kreisen des Volks — ungesucht ist sie m i r von zahlreichen u n d maßgebenden Seiten entgegengetreten — haben m i r die Uberzeugung aufgedrängt, daß die Zeit des Lavirens beendigt w e r den muß, soll unser Vaterland nicht der schwersten Krisis entgegengehen. Aus dem bedrängten Gewissen u n d der tiefsten Sorge heraus schreibe ich diese Zeilen, u n d diese Sorge möge die Rückhaltlosigkeit meiner Darlegungen entschuldigen : W i r sind überall auf den toten P u n k t gekommen u n d müssen, koste es, was es wolle, über i h n hinauskommen. A u f dem toten P u n k t stehen w i r seit langem an den Hauptfronten, auf dem toten P u n k t i n bezug auf unsre Friedensangebote, auf dem toten P u n k t vor allem auch i m Innern. Eine dumpfe, unfreudige Stimmung greift u m sich, nicht n u r i n dieser oder jener Schicht der Bevölkerung, sondern überall u n d auch bei den Besten. Das beobachte ich täglich. Geht es so fort, so droht das K a p i t a l zur Neige zu gehen — das moralische —, m i t dem allein m a n K r i e g zu führen u n d einen erträglichen Frieden zu schließen vermag. U n d w o diese dumpfe S t i m m u n g noch nicht die Oberhand gewonnen hat, da wiegt m a n sich i n geradezu schrecklichen I l l u s i o nen über die Kriegs- u n d die allgemeine Lage, als stünden w i r noch i m A u gust 1914 u n d eine besiegte Welt läge demnächst zu unsern Füßen. Das Erwachen aus dieser S t i m m u n g k a n n noch gefährlicher werden als die resignierte oder der Verzweiflung nahe Dumpfheit. Wie ist zu helfen? Wie kommen w i r über den toten Punkt, u n d welchen toten P u n k t können w i r d i r e k t i n A n g r i f f nehmen? N u r den i m I n n e r n ; aber dieser muß auch m i t allen K r ä f t e n beseitigt werden. Das, was bisher geschehen ist, hat sich als ganz ungenügend erwiesen. . . . Die Versprechungen, die gegeben, u n d die Hoffnungen, die erregt wurden, waren an sich schon u n v o l l kommen — es fehlte ihnen die rückhaltlose Vollständigkeit —, aber sie l i t t e n auch noch darunter, daß nichts greifbares, w o r a n m a n sich halten konnte, geschah. So erlosch die aufflackernde Flamme des Dankes u n d des V e r t r a u ens sehr rasch und die Begeisterung w i c h der herben Enttäuschung. Noch ist die letzte Stunde: es muß jetzt m i t dem Gedanken des sozialen Kaiser- u n d Königtums voller u n d praktischer Ernst gemacht werden. I n i h m steckt das Maß von Demokratie, welches w i r bedürfen, u n d i n i h m steckt zugleich die A b w e h r einer solchen Demokratie, die der Eigenart u n d dem Geist unsres Staats u n d Volks nicht entspricht. Die Wahlrechtsfrage muß i m Sinne des allgemeinen, gleichen u n d direkten Wahlrechts von Seiten der Regierung schon jetzt gelöst werden, so daß i h r auf diesem Boden nichts mehr zu t u n übrig bleibt. Mögen dann die Parteien zusehen — der Ausgang ist m i r nicht zweifelhaft! A b e r die Wahlrechtsfrage ist keineswegs die einzige. I n jedem M i n i s t e r i u m müssen Vorlagen gemacht werden, welche dem Vertrauen zu 12 I n seiner ausführlichen Denkschrift f ü r Reichskanzler v. Bethmann Hollweg v o m Sommer 1916 (Friedensaufgaben u n d Friedensarbeit, i n : Erforschtes u n d Erlebtes, 1923, S. 279 ff.; auch i n : G. Brakelmann, Der deutsche Protestantismus i m Epochenjahr 1917, 1974, S. 42 ff.) hatte Harnack die drängenden Reformaufgaben noch als nach dem Friedensschluß zu erfüllende Aufgaben bezeichnet.
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dem Volke entsprechen, wie es durch seine H a l t u n g i m Kriege gerechtfertigt ist. . . . Nach einem solchen dreijährigen K r i e g k a n n auch der weiseste u n d umsichtigste Staatsmann das V o l k n u r zusammenhalten, w e n n er durch deutliche Förderung seiner Pflichten u n d Hechte eine neue Stufe seiner E n t w i c k lung schafft. Sonst muß nicht n u r er die Zügel aus der H a n d verlieren, sondern das V o l k selbst verfällt dem K l e i n m u t u n d innerer Auflösung. Die „Revolution" haben w i r — Gott sei D a n k ! — nicht zu fürchten; nichtig u n d f r i v o l sind die Drohungen m i t i h r ; aber es gibt etwas, was so schlimm ist w i e die Revolution, das ist die dumpfe Resignation u n d der innere V e r f a l l ! Sie höhlen das M a r k der Knochen aus u n d ersticken Seele u n d Geist eines Volkes. Aber noch eine außerordentliche, j a ganz unübersehbare Folge k a n n u n d w i r d die offenkundige Tatsache der inneren Reformen haben. Sie entwindet unsern Feinden ihre kräftigste ideelle Waffe. Gewiß nicht u m der Feinde w i l l e n betreten w i r k r ä f t i g die Bahnen des sozialen Königtums u n d freiheitlicher Fortschritte; aber auch auf sie w i r d solches Betreten den stärksten Eindruck machen. W i r sind j a w i r k l i c h neben großen Vorzügen politischer A r t ihnen gegenüber auf einigen L i n i e n rückständig, u n d sie sehen u n d empfinden n u r diese Rückständigkeit. . . . W i r d es unsern Feinden deutlich, daß w i r entschlossen u n d aufrichtig die Bahn innern politischen Fortschritts betreten, so w i r d das zahlreichen Parteien unter ihnen zum wirksamen Anstoß des Nachdenkens darüber werden, ob sie den K r i e g noch fortsetzen sollen. . . . Es ist m i r ganz gewiß, daß der K r i e g bis zum schrecklichen Ausbluten einer Partei dauern w i r d , w e n n w i r nicht innere Reformen freiheitlicher A r t jetzt bringen. Ohne sie erhalten w i r keinen Frieden; m i t ihnen und durch sie rückt er nahe. D a r u m sind die inneren Reformen wichtiger als der ganze U-Boot-Krieg. . . . Wenn unsere inneren Reformen als grundlegende u n d fortwirkende in K r a f t gesetzt s i n d . . , dann müssen w i r i n einem Manifeste aufs neue erklären, daß w i r zur Beendigung dieses Krieges, den w i r als Verteidigungskrieg geführt haben, zu jedem Opfer bereit sind, das unser status quo ante erträgt, u n d ferner daß uns als christlicher Nation die Menschheit so nah angeht wie unser Vaterland, w e i l w i r m i t unserm Vaterland einen Beruf f ü r diese haben. W i r dürfen das nicht so erklären, als stellten w i r uns an die Spitze der Menschheit, sondern w i r müssen dasselbe Recht und dieselbe Pflicht, für das ganze zu sorgen, den Feinden ins Gewissen schieben u n d damit einen A p p e l l an alle die richten, die, sei es als Christen, sei es als Humanisten, wissen, daß der Menschheit Bestand u n d Würde i n ihre H a n d gegeben ist. Erst wenn w i r das getan haben, können w i r ein gutes Gewissen haben, und h i l f t auch dieses M i t t e l nichts, dann komme, was da m a g ! . . . Z u den Opfern aber, u m keine Zweideutigkeit zuzulassen, rechne ich Belgien, Polen, ja selbst Verhandlungen über elsaß-lothringische Grenzregulierungen. . . . Nehmen Sie, ich bitte Sie, hochverehrter H e r r Reichskanzler, diese Darlegung freundlich auf. Ich mußte sie schreiben.
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Nr. 381. Erklärung von Berliner Professoren zu den inneren Reformen 13 v o m J u l i 1917 (Die Reformation, 1917, S. 334 f.) Wir, Lehrer an der Universität u n d an der Technischen Hochschule, fühlen uns gedrungen, öffentlich unsere Überzeugung zu bekennen, daß i n den Ordnungen von Staat u n d Reich nicht alles nach dem Kriege so bleiben darf w i e bisher, daß insbesondere das ganze V o l k i m Felde u n d zu Hause eine Reife gezeigt hat, die seine Berufung zu erhöhter tätiger Teilnahme an der Sorge u m die öffentlichen Angelegenheiten rechtfertigt. W i r sind jedoch gleichzeitig überzeugt, daß die i n der langen Prüfung des Weltkrieges bewährten Grundlagen unseres staatlichen Daseins nicht abstrakten Theorien u n d überlebten Schlagworten zuliebe verrückt werden dürfen, w e n n nicht die Änderungen zum U n h e i l ausschlagen sollen. I n diesem Sinne sind w i r gewillt, m i t allen Parteien, die f ü r das Vaterland eintreten, an der Gestaltung unseres Zukunftrechtes zu arbeiten. — A l l e i n w i r w ü r d e n es für ein Unglück halten, wenn i m Gegensatz zur Kaiserlichen Osterbotschaft, der w i r v o l l vertrauen, die endgültigen Beschlüsse schon während des Kriegszustandes gefaßt u n d ins Werk gesetzt würden. Das Ziel, für dessen Erreichung es zuvörderst die gesamte einheitliche Volkskraft einzusetzen gilt, ist der Sieg über den äußeren Feind. Der unausbleibliche innere Zwist, den jeder V e r such einer vorzeitigen grundsätzlichen U m b i l d u n g unseres öffentlichen Rechtszustandes entfachen muß, würde unsere Siegesaussichten schwächen. Vor allem wäre es schwerster Undank u n d uneinbringlicher Verlust für die Geltendmachung der wahren Volksüberzeugung, wenn über Deutschlands und Preußens Z u k u n f t ohne die Stimme derer entschieden werden sollte, deren Heldentaten es allein möglich machen, daß zu Hause über die Z u k u n f t geredet u n d beraten werden kann. U n d eine nationale Schande wäre es, wenn auch n u r der Schein aufkäme, daß das Ausland und seine Stimmung darauf Einfluß haben könnte, wie die Deutschen und die Preußen ihren Staat ordnen.
Nr. 382. Denkschrift des Delbrück-Kreises zur Reform des preußischen Wahlrechts 14 vom J u l i 1917 (H. Delbrück, K r i e g und Politik, 1918, S. 252) Der große Kampf, i n dem das deutsche V o l k steht, ist noch nicht beendet. Die Unterzeichneten haben bisher meist der Auffassung gehuldigt, daß die Verheißungen der Kaiserlichen Osterbotschaft, zur Vermeidung gar zu harter innerer Kämpfe, i n Vereinbarung m i t den konservativen Elementen des öifentlichen Lebens durchzuführen seien. Aber der Widerstand, der von die13 Diese E r k l ä r u n g ist unter anderen v o n den Theologen Reinhold Seeberg u n d Karl Holl (oben S. 668, A n m . 15; S. 843, A n m . 8) unterzeichnet. 14 Unterzeichnet ist diese Erklärung von: Prof. Hans Delbrück, Oberbürgermeister Alexander Dominicus (Berlin-Schöneberg), Prof. Emil Fischer, Prof. Adolf v. Harnack, Prof. Friedrich Meinecke, Prof. Walter Nernst, Dr. Paul Rohrbach, Dr. Friedrich Thimme, Prof. Ernst Troeltsch.
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ser Seite geleistet w i r d , ist so stark, daß Zweifel entstehen mußten, ob überhaupt die Osterbotschaft nach Abschluß des Friedens i h r e m Geiste nach v o l l zur V e r w i r k l i c h u n g gelangen werde. E i n solcher Zweifel ist heute unerträglich. U m das deutsche V o l k i n dem Vertrauen zu erhalten, auf das es ein Recht hat, ist es notwendig, ohne V e r zug die H a n d ans W e r k zu legen. W i r stehen daher nicht an, die Forderung des Tages öffentlich zu erheben: daß die Regierung dem Landtage u n v e r w e i l t eine Wahlreform vorlege, die nicht n u r das allgemeine, direkte u n d geheime, sondern auch das gleiche Stimmrecht bringt, u n d daß die Regier u n g auch sonst dem Vertrauen w i r k s a m e n u n d sichtbaren Ausdruck gibt, welches das deutsche V o l k verdient.
Nr. 383. Wilhelm Philipps, Stellungnahme zur Reform des preußischen Wahlrechts 15 v o m J u l i 1917 (Die Reformation, 1917, S. 334) — Auszug — . . . W i r sind i n großer Sorge, daß damit ein Schritt auf einer schiefen Ebene getan ist, der verhängnisvoll werden kann. Die erste Folge dürfte die Demokratisierung des Landtages sein, die zweite die Einführung des Parlamentarismus, die dritte voraussichtlich — w e n n auch nicht sofort u n d auf einmal — die Beseitigung der letzten Reste unserer monarchischen Verfassung. Denn es ist unmöglich, auf die Dauer an der Monarchie festzuhalten, w e n n sie sow o h l i m Reich w i e i n Preußen demokratischen Volksvertretungen gegenübersteht. H i e r h i l f t k e i n Disputieren. Tatsachen lassen sich m i t Worten nicht wegreden. Die L o g i k aber der Tatsachen w i r k t unerbittlich. Auch f ü r die evangelische Kirche dürfte damit eine ernste Stunde gekommen sein. W a h r lich jetzt wäre es an der Zeit, bei Sr. Majestät vorstellig zu werden, u m des Evangeliums w i l l e n n u n auch der evangelischen Kirche die Freiheit zu geben, deren sie bedarf, w e n n sie ihre Mission am deutschen Volke erfüllen soll. Denn es erscheint uns undenkbar, die evangelische Kirche i n der Abhängigkeit von einem demokratischen Landtage zu belassen, der es ohne Frage ablehnen w i r d u n d aus inneren Gründen auch ablehnen muß, das religiöse Leben i m Volke zu fördern u n d zu pflegen. Die Trennung von Staat und Kirche u n d damit auch von Kirche u n d Schule scheint uns eine unerbittliche Folge des Königlichen Erlasses 16 zu sein. Der T r a u m v o m christlichen Staat ist ausgeträumt. Wenn's gut geht, bekommen w i r einen religiös neutralen 15 Wilhelm Philipps (1859 - 1933), ev. Theologe; 1886 Inspektor der B e r liner Stadtmission, 1892 Leiter des Johannesstifts i n Berlin, 1911 Superintendent i n Berlin, 1917 L e i t e r der Berliner Stadtmission; an führender Stelle i m Deutsch-evangelischen Volksbund, i n der Positiven U n i o n u n d i n der Christlich-Sozialen Partei; Herausgeber der v o n Adolf fitoecker gegründeten Wochenzeitung „Reformation". 16 Gemeint ist der Erlaß Wilhelms I I . v o m 11. J u l i 1917, i n dem das gleiche Wahlrecht f ü r Preußen angekündigt w u r d e (Dokumente, Bd. 2, Nr. 332).
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Staat. Aber w i r d er dem Christentum gegenüber auch neutral bleiben? W i r sehen ernst i n die Z u k u n f t . Gott zeige unserem neuen Reichskanzler 1 7 die Wege, die er gehen und unser V o l k führen soll zu seines Namens Ehre u n d unseres Volkes H e i l !
I X . Der Protestantismus und das Friedensproblem im Jahr 1917 Nach den Auseinandersetzungen um die Kriegszielfrage seit der Julikrise des Jahres 1917 ließ der „Burgfrieden" sich nicht mehr aufrechterhalten. Die gegensätzlichen Vorstellungen, die sich in den Parolen vom „Siegfrieden" und vom „Verständigungsfrieden" Ausdruck verschafften, führten nun zur Bildung neuer politischer Gruppierungen, nämlich der Vaterlandspartei und des Volksbunds für Freiheit und Vaterland 1. Der politische Gegensatz, der hier aufbrach, wirkte tief in die evangelischen Kirchen und ihre Pfarrerschaft hinein. Dies zeigte sich beispielhaft in der Kontroverse, die ein Friedensmanifest von fünf Berliner Pfarrern im Oktober 1917 auslöste (Nr. 384). Die Pfarrererklärung gipfelte im Aufruf zum Kampf um den Frieden; in diesem Sinn trat sie für die schnelle Versöhnung und Verständigung Deutschlands mit seinen Kriegsgegnern ein. Ihr wurde von vielen Seiten entgegengehalten, daß Friedenskundgebungen dieser Art nur dazu beitrügen, den „Siegeswillen der Feinde zu stärken und den Krieg zu verlängernEine Versöhnung mit den Gegnern werde erst nach dem Sieg möglich sein (Nr. 385). Vor allem der schwedische Erzbischof Nathan Söderblom 2 setzte unermüdlich seine Anstrengungen fort, einer Verständigung zwischen den Christen und den Kirchen in den kriegführenden Ländern den Weg zu bahnen. Höhepunkt dieser Bemühungen war die Konferenz in Uppsala vom 14. -16. Dezember 1917, an der Vertreter der protestantischen Kirchen aus den neutralen Ländern Dänemark, Norwegen, Holland, Schweiz und Schweden teilnahmen (Nr. 386). Söderblom fand damit in den kriegsbeteiligten Ländern beider Seiten, auch in Deutschland, nur schwer Gehör. Eine Erklärung hannoverscher Pfarrer vom Dezember 1917 bildet ein Beispiel für positive Antworten auf diese ökumenisch gedachte, allerdings nur von Angehörigen neutraler Mächte getragene Friedensaktion (Nr. 387) 3.
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Georg Michaelis: oben S. 504, A n m . 3. Vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. V, S. 330 ff. 2 Oben S. 829, A n m . 1. 3 Vgl. G. Mehnert, Evangelische Kirche u n d Politik 1917 -1919 (1959), S. 48 ff.; G. Brakelmann, Der deutsche Protestantismus i m Epochenjahr 1917 (1974), S. 144 ff., 276 ff.; Kirchliches Jahrbuch 45 (1918), S. 352 ff.; R. Rouse - St. Neill, Geschichte der ökumenischen Bewegung, T. 2 (2. Aufl. 1973), S. 151 ff. 1
54 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
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Nr. 384. Erklärung von fünf Berliner Pfarrern 4 v o m Oktober 1917 (Die Christliche Welt, 1917, Sp. 756) I m Gedächtnismonat der Reformation fühlen w i r unterzeichneten Berliner Pfarrer, i m Einverständnis m i t vielen evangelischen Männern u n d Frauen uns zu folgender E r k l ä r u n g verpflichtet, die zugleich A n t w o r t auf mehrfache Kundgebungen aus neutralen Ländern sein soll. W i r deutschen Protestanten reichen i m Bewußtsein der gemeinsamen christlichen Güter u n d Ziele allen Glaubensgenossen, auch denen i n den feindlichen Staaten, von Herzen die Bruderhand. W i r erkennen die tiefsten Ursachen dieses Krieges i n den widerchristlichen Mächten, die das Völkerleben beherrschen, i n Mißtrauen, Gewaltvergötterung u n d Begehrlichkeit, u n d erblicken i n einem Frieden der V e r ständigung u n d Versöhnung den erstrebenswerten Frieden. W i r sehen den Hinderungsgrund einer ehrlichen Völkerannäherung vor allem i n der unheilvollen Herrschaft von Lüge und Phrase, durch die die Wahrheit verschwiegen oder entstellt u n d Wahn verbreitet w i r d , u n d rufen alle, die den Frieden wünschen, i n allen Ländern zum entschlossenen K a m p f gegen dies Hindernis auf. W i r fühlen angesichts dieses fürchterlichen Krieges die Gewissenspflicht, i m Namen des Christentums fortan m i t aller Entschiedenheit dahin zu streben, daß der K r i e g als M i t t e l der Auseinandersetzung unter den V ö l k e r n aus der Welt verschwindet.
Nr. 385. Erklärung von 160 Berliner Pfarrern 5 v o m 31. Oktober 1917 (Deutsches Pfarrerblatt, 1917, S. 138) I m Gedächtnsmonat der Reformation haben fünf Berliner Pfarrer eine öffentliche E r k l ä r u n g ihrer Bereitschaft zu einem „Frieden der Verständigung u n d Versöhnung" m i t der B i t t e u m Zustimmungserklärung an die Berliner Amtsbrüder versandt. Sind etwa auch von Protestanten der feindlichen L ä n der ähnliche Erklärungen der Friedensbereitschaft veröffentlicht worden? Die Kundgebungen, die bisher v o n Waldensern, Engländern u n d Franzosen (P. 4 Die E r k l ä r u n g ist unterzeichnet von den Pfarrern Lie. Dr. Karl Auer, Walter Nithack-Stahn, O. Pleß, Lie. Dr. Friedrich Rittelmeyer u n d Lie. R. Wielandt. Hauptverfasser w a r Friedrich Rittelmeyer (1872 - 1938), ev. Theologe; 1902 Pfarrer i n Nürnberg, 1916 - 22 i n B e r l i n ; als Mitbegründer der „Christengemeinschaft" 1922 - 38 m i t Wohnsitz i n Stuttgart deren erster Leiter. Rittelmeyers Weg führte v o n der liberalen Theologie zur A n t h r o posophie Rudolf Steiners. 5 Die E r k l ä r u n g geht auf die I n i t i a t i v e v o n Wilhelm Philipps (oben S. 848, A n m . 15) zurück; als Erstunterzeichner sind außer i h m die Pastoren Max Braun, von der Heydte u n d Mann genannt.
I X . Der Protestantismus u n d das Friedensproblem i m Jahr 1917
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Charles Wagner i n Paris! 6 ) zu uns gekommen sind, sind i n einem Tone so maßloser Beschimpfung gehalten, daß w i r , w i e die Dinge zurzeit noch liegen, als deutsche Männer, die ihres Vaterlandes Ehre hochhalten, nicht imstande sind, als A n t w o r t darauf u m Versöhnung zu b i t t e n u n d dem schamlosen V e r leumder „ v o n Herzen die Bruderhand zu reichen". Die E r k l ä r u n g h ä l t einen Frieden der Verständigung u n d Versöhnung für erstrebenswert. Es w i r d demnach von den Berliner Geistlichen die Z u stimmung zu der Reichstagsentschließung v o m 19. J u l i 7 erwartet. I n welch hohem Maße diese Entschließung dazu beigetragen hat, den Siegeswillen unserer Feinde zu stärken u n d dadurch den K r i e g zu verlängern, ist jedem Zeitungsleser bekannt. Die politischen Parteien nutzten die Kriegsnot des deutschen Volkes aus, u m ihre parteipolitischen Ziele zu erreichen. Jetzt w i r d uns evangelischen Geistlichen zugemutet, i m innerpolitischen Kampfe diesen Parteien zu Hilfe zu kommen. Dagegen muß m i t aller Entschiedenheit W i derspruch erhoben werden. Es gibt jetzt n u r zweierlei f ü r das deutsche V o l k : Sieg oder Untergang! Wenn w i r erst den Sieg errungen haben, w i r d es an der Zeit sein, den Engländern u n d Franzosen unsere Bereitschaft zur Versöhnung kundzutun, w i e schwer es uns auch fallen mag, a l l das Furchtbare zu vergessen, was sie uns i n Haß u n d Lüge angetan haben. W i r könnten dann auch i n erneute E r w ä gungen eintreten, auf welche Weise die Sünde der Selbstsucht u n d des Hasses aus der Welt geschafft u n d ein ewiger Friede angebahnt werden kann. Einstweilen haben w i r noch ein Recht zum heiligen Zorn. Dieses Recht haben uns die Feinde v o r Gott u n d den Menschen i n v o l l e m Maße gegeben. W i r w o l l e n es w a h r e n u n d m i t den Versöhnungsangeboten warten, bis w i r durch K a m p f u n d Not den Feind besiegt u n d uns u n d unseren K i n d e r n die Freiheit und den Frieden gesichert haben.
Nr. 386. Aufruf der christlichen Konferenz in Uppsala v o m 16. Dezember 1917 (Die Eiche, 1919, S. 181 ff.) Wenn unser christliches Glaubensbekenntnis v o n einer heiligen allgemeinen Kirche redet, so erinnert es uns an die tiefere Einheit, die alle C h r i sten trotz nationaler u n d konfessioneller Verschiedenheit i n Christus u n d dem Werke seines Geistes besitzen. Ohne U n d a n k oder Untreue gegen die besonderen Gaben christlicher Erfahrung oder Anschauung, welche jede Gemeinschaft v o n dem Gott der Geschichte erhalten hat, muß diese Einheit, die am tiefsten i n Christi Kreuz zu finden ist, besser als bisher i m Leben und i n der Verkündigung v e r w i r k l i c h t werden. 6 Charles Wagner (1852 - 1918), ev. Theologe aus Lothringen, dem liberalen Flügel der franz. Reformierten angehörend; seit 1882 weitreichende W i r k samkeit i n Paris. 7 Dokumente, Bd. 2, Nr. 336.
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten W e l t k r i e g
Die große Aufgabe der christlichen Gemeinde, das Salz der Erde u n d das Licht der Welt zu sein 8 , k a n n u n d muß die evangelische Kirche n u r auf geistliche Weise durch ihre Verkündigung u n d i h r Leben lösen. Die Kirche soll das wache Gewissen des Volkes u n d der Völker sein. Zusammen m i t den Christen i n allen kriegführenden Ländern fühlen w i r tief den Gegensatz zwischen dem K r i e g u n d dem Geiste Christi u n d w o l l e n auf G r u n d dessen einige Hauptpunkte inbezug auf das Verhalten der Christen i m Gemeinschaftsleben hervorheben. 1. Die Kirche, die leider nicht selten mehr das Scheidende als das V e r einigende betont hat, muß das Ideal der christlichen Bruderschaft zur Geltung bringen, das Gewissen gegenüber der Selbstsucht wecken u n d schärfen u n d m i t ganzer K r a f t an der A r b e i t teilnehmen, Kriegsursachen zu beseitigen, mögen diese sozialer, ökonomischer oder politischer N a t u r sein. 2. Die Christen müssen ihre M i t v e r a n t w o r t u n g an der allgemeinen M e i nung fühlen u n d i m öffentlichen, nationalen u n d internationalen Leben der Wahrheit u n d der Liebe dienen u n d sich bemühen, die Voraussetzungen f ü r das Recht anderer, zu denken, zu reden u n d zu handeln, zu verstehen. 3. Die Kirche soll die Völker zu einem immer höheren Grade der Selbstbestimmung erziehen. 4. Die Kirche muß f ü r Einvernehmen zwischen den V ö l k e r n u n d f ü r die Entscheidung v o n internationalen Zwistigkeiten durch V e r m i t t l u n g und Schiedsgericht arbeiten. Nach der Anschauung des Christentums sind das Bewußtsein v o n Recht u n d Unrecht u n d die daraus hervorgewachsenen Gesetze u n d Staatsordnungen Gottes Gaben an den Menschen. Das Evangelium setzt f ü r seine W i r k samkeit wenigstens eine elementare Staatsordnung voraus. Jede sich v o r findende Rechtsform ist unvollkommen u n d bedarf der V e r v o l l k o m m n u n g nach dem Maße der E n t w i c k l u n g des sittlichen Bewußtseins. Die Kirche hat auf G r u n d dessen i m Namen Christi die Heiligkeit des Rechts hochzuhalten u n d seine weitere E n t w i c k l u n g zu fördern. Sie muß das zunächst m i t aller K r a f t innerhalb des eigenen Landes tun, aber es ist auch eine unabweisliche Pflicht, nach Vermögen die A r b e i t an dem internationalen Ausbau des Rechtes zu unterstützen. Sie muß daher jede Verherrlichung von Gewalt und Macht auf Kosten des Rechtes bekämpfen und betonen, daß auch die Handlungen der Völker u n d Staaten ethischen Grundsätzen unterworfen sind, ebenso w i e die des einzelnen Menschen, und daß i h r Zusammenleben auf den Grundsätzen der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der Liebe gegründet sein muß. Was die Kirche h i e r i n gefehlt hat, muß sie demütig anerkennen u n d m i t aller K r a f t gut machen. Der Wert der Rechtsformen sowohl innerhalb eines Volkes w i e zwischen den V ö l k e r n ist insofern begrenzt, als sie stets, u m w i r k s a m zu sein, v o n innerer heiliger Uberzeugung getragen sein müssen. Eine solche Sinnesart christlicher Bruderliebe, Selbstzucht u n d gegenseitiger Gerechtigkeit hervorzubringen und zu pflegen, ist die vornehmste Pflicht der Kirche auf diesem Gebiete. 8
Matthäus 5, 13 f.
X . Die deutschen evangelischen Landeskirchen und das Kriegsende
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Nr. 387. Erklärung von siebzehn hannoverschen Pfarrern v o m Dezember 1917 (Deutsch-Evangelisch, 1918, S. 85) Die Unterzeichneten erfüllen eine Vaterlandspflicht, indem sie öffentlich erklären: 1. W i r geben dem bedrohten Vaterlande, was i h m gehört: Liebe von ganzem Herzen u n d unerschütterliche Treue, bis ein ehrenvoller, unsere Z u k u n f t sichernder Friede errungen ist. 2. A b e r über dem Vaterlande steht, alle Länder umspannend, das Reich Gottes, dessen Evangelium heißt: Gerechtigkeit, Friede u n d Liebe. 3. Es hieße dem Evangelium schlecht dienen, w e n n w i r der durch diesen Völkerkrieg aufgeregten Leidenschaften nicht Herr blieben u n d einem Chauvinismus verfielen, der uns, die Boten des Friedens, zu „Kriegstheologen" stempelte. 4. W o h l ist ein vaterländischer Zorn berechtigt, aber er verdunkelt nicht unser Urteil, daß diesem Kriege auch ein allgemeiner Mangel an Gerechtigkeitssinn, ein Übermaß an Mammonssinn und Kulturseligkeit, kurz die Sünde, zugrundeliegt. 5. Demgegenüber unerschrocken f ü r Gerechtigkeit, Liebe und übermaterielle Güter, kurz f ü r die Gottesherrschaft einzutreten, ist die elementarste Pflicht unseres Dienens. W i r dienen damit zugleich unserem Vaterlande, das n u r unter der Gottesherrschaft gedeihen kann. 6. Dankbar begrüßen w i r es, wenn jetzt i n Upsala 9 und anderswo i n neutralen wie i n feindlichen Ländern dieselben christlich-sittlichen Forderungen laut werden. W i r vertrauen, daß dieser „neue", i n W i r k l i c h k e i t uralte Geist Gottes sich durch alle noch so starken Hindernisse Bahn brechen u n d den V ö l k e r n als hehrstes, w e n n auch langsam reifendes Kriegsziel eine Z u k u n f t i n Gerechtigkeit und Glück bringen w i r d .
X. Die deutschen evangelischen Landeskirchen und das Kriegsende In den letzten Kriegswochen riefen die deutschen evangelischen Landeskirchen noch einmal zu einem Kriegsbettag am 20. Oktober 1918 auf. Die Ansprachen der Kirchenbehörden an die Gemeinden aus dieser Zeit zeigten die Schwierigkeit, dem Krieg, in den das Volk, als er hereinbrach, mit „heiliger Begeisterung" eingetreten war\ auch in der Niederlage einen religiösen Sinn beizumessen. Behutsam versuchten sie, die Gemeinden auf die tiefgreifenden Entscheidungen vorzubereiten, die im staatlichen wie im kirchlichen Bereich 9
Oben Nr. 386. So die E r k l ä r u n g deutscher Kirchenmänner und Hochschullehrer Ende August 1914 (oben Nr. 356). 1
von
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten W e l t k r i e g
bevorstanden (Nr. 388, Nr.389) 2. Für die evangelisch-lutherische Kirche in Elsaß-Lothringen, die zu einem erheblichen Teil aus Gliedern bestand, die während der Zugehörigkeit von Eis aß-Lothringen zum Deutschen Reich zugezogen waren, barg die drohende Annexion des Reichslandes durch Frankreich in besonderem Maß eine existentielle Gefährdung, die in der Kundgebung vom 14. Oktober 1918 aber nur verhalten anklang (Nr. 390).
Nr. 388. Ansprache des württembergischen Landeskonsistoriums an die Gemeinden v o m 8. Oktober 1918 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland, 67, 1918, S. 444) Es ist eine ernste, bitterernste Zeit. Bang u n d schwül lastet es auf den Gemütern: was w i r d die Z u k u n f t uns bringen? Es geht u m Ehre, Bestand u n d Wohlfahrt unseres Volkes, w o h l auf lange hin. So ist uns zumute, wie es i m Psalm heißt: „Deine F l u t e n rauschen daher, daß hier eine Tiefe u n d da eine Tiefe brausen; alle deine Wasserwogen u n d Wellen gehen über mich" 3 . Doch, daß dieser K r i e g f ü r uns ein Entscheidungskampf auf Leben u n d Tod sei, das haben w i r v o n seinem ersten A n f a n g an empfunden. Was hat damals i n den denkwürdigen Augusttagen des Jahres 1914, über alles Z i t t e r n u n d Zagen uns hinausgehoben? Ist's nicht das gewesen: w i r haben zum e w i gen Gott unsere Zuflucht genommen? Werden w i r jetzt, da vier Kriegs jähre h i n t e r uns liegen, es m i t denen halten, die sagen: es ist umsonst, auf Gott zu schauen? Das wäre unheilvolle Verblendung. Eben jetzt, i n schwerster Schicksalsstunde, sei das unser Erstes, daß w i r wieder zu Gott kommen u n d i h m bekennen: „ D u hast Großes an uns getan 4 . A b e r wir haben vielfach deine Wohltaten w i e einen Raub dahingenommen; w i r haben deine Güte übel vergolten m i t M u r r e n u n d Klagen, auch v i e l bösem Werk u n d Wesen, das deine Augen bei hoch u n d nieder unter uns sehen mußten." — Wer weiß, liebe Mitchristen, ob uns Gott nicht i n solche Bedrängnis geführt hat, damit w i r i n uns gehen u n d zu i h m uns wenden. W i r wollen, statt ihn anzuklagen, vielmehr uns selbst anklagen. W i r w o l l e n als Christen, die ihres Volkes Last u n d Schuld mittragen, zu Gott flehen, daß er uns vergebe, w e n n w i r die Zeit unserer Heimsuchung nicht genug erkannt haben, u n d daß er seine H a n d uns nicht entziehe. M i t solchem Trost der Vergebung i m Herzen wissen w i r : Gott ist unsere Zuversicht u n d Stärke, eine H i l f e i n den großen Nöten, die uns betroffen haben 5 . Was unser deutsches V o l k u n d Heer i n diesen schweren Jahren an Glaubensmut, Tapferkeit u n d Ausdauer bewiesen hat, das sei uns unverloren. I n heißer Dankbarkeit gedenken w i r derer, die i m Riesenkampf gestritten, gelitten, i h r Leben gegeben haben. Eben darum sind w i r nicht von 2 3 4 5
Z u m weiteren vgl. Staat u n d Kirche, Bd. I V . Psalm 42, 8. Psalm 126, 3. Psalm 46, 2.
X . Die deutschen evangelischen Landeskirchen und das Kriegsende
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denen, die da weichen u n d verdammt werden, sondern von denen, die da glauben u n d die Seele erretten®. M i t stillem u n d starkem Vertrauen schließen w i r uns als Christi Gemeinde w i e als deutsches V o l k zusammen, bereit, m i t einander zu tragen, was Gott auflegt, u n d zu wagen, was er fordert. W i r befehlen i h m getrost unser ganzes V o l k an Haupt u n d Gliedern. Er erleuchte seine Führer m i t weisem Rat u n d k r a f t v o l l e r Tat. E r wappne unser Heer m i t unzerbrechlicher K r a f t . Jedem einzelnen unter uns wecke er Herz u n d Gewissen, zu tun, was die Pflicht der Stunde gebietet. E r schaffe uns den Frieden nach seinem Rat. W i r sind stille zu Gott u n d vertrauen: Ich werde nicht sterben, sondern leben u n d des H e r r n Werke verkündigen 7 .
Nr. 389. Ansprache des bayerischen Oberkonsistoriums an die Gemeinden v o m 14. Oktober 1918 (Allgemeines Kirchenblatt f ü r das evangelische Deutschland, 67, 1918, S. 440 f.) I n Tage ernstester Entscheidungen vielleicht auf lange hinaus bestimmen Bedürfnis, uns m i t einem mahnenden u n d uns m i t ihnen i n der Fürbitte f ü r menzuschließen.
ist unser Vaterland eingetreten u n d sich sein Geschicke. D a ist es uns ein Worte an die Gemeinden zu wenden unser schwer ringendes V o l k zusam-
Unerhörte Opfer hat unser V o l k gebracht, gewaltige Leistungen hat es i m Felde u n d i n der Heimat hinter sich, bis zum Äußersten ist seine K r a f t L e i bes und der Seele angespannt worden. U n d doch dürfen w i r gerade i n diesem Augenblicke nicht sittlich erlahmen u n d versagen. W i r können u n d w o l len es nicht leugnen, daß weite Kreise i n unserem Volke auch i n v i e r Jahren des furchtbarsten Krieges den Ernst der Zeit nicht verstanden haben. Der irdische Sinn, der n u r auf das Nächste sieht u n d auf der einen Seite i n H a b gier und Genußsucht, auf der andern i n Neid u n d Unzufriedenheit sich äußert, beherrscht die Gedanken und hat das Verständnis f ü r die edelsten Güter unseres Volkes, geschweige denn f ü r die ewigen verwischt u n d v e r dunkelt. Ja vielfach ist es so gekommen, daß je knapper uns das Leben wurde, desto schrankenloser die Gier nach Genuß erwuchs u n d das rücksichtslose Streben, sie auf jede n u r mögliche Weise zu befriedigen; darüber sind Treue u n d Glauben, Redlichkeit u n d Rechtschaffenheit w e i t h i n zu Schaden gekommen. Daneben hat sich unter den endlosen Opfern u n d Entbehrungen vieler eine Verdrossenheit u n d M ü d i g k e i t bemächtigt, die nach nichts verlangt als nach Ruhe. W i r b i t t e n u n d ermahnen alle, denen das wahre W o h l unseres Volkes a m Herzen liegt, zusammenzustehen i n der Pflege u n d Erhaltung der besten, innerlichsten u n d heiligsten Güter unseres Volkes. I m Evangelium v o n der Gnade Gottes i n Christo Jesu haben w i r die u n verschüttete u n d unversiegbare Quelle des Trostes, des Mutes u n d der K r a f t . Die Rückkehr zu i h m h a t 6 7
Hebräer 10, 39. Psalm 118,17.
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18. Kap.: Die evangelische Kirche i m Ersten W e l t k r i e g
in vergangenen Tagen unser V o l k aus innerer u n d äußerer Not herausgeführt. So gehe auch jetzt ein Geist demütiger Beugung unter Gottes gewaltige H a n d durch unser ganzes L a n d u n d werde zu einem Geiste bewußter innerer Einkehr u n d U m k e h r ! I n anhaltendem u n d andringendem Gebete w o l l e n w i r die Hilfe Gottes suchen, der aus mancher großen Not uns wunderbar gerettet hat. U n d dann w o l l e n w i r hingehen u n d i m Aufhorchen auf Gottes W o r t u n d Gebot s t i l l u n d treu unsere Pflicht tun, Fürsten u n d Völker, Heer u n d Heimat, auf dem Acker u n d i n der Werkstätte, i n Haus, Schule u n d Kirche. Gott gebe uns allen den Geist der Weisheit u n d Besonnenheit, der Ehrfurcht und Würde u n d behüte uns, daß w i r das Erbe der Väter nicht leichthin wegwerfen wie ein wertloses Gut u n d daß w i r beschworene Treue halten! Aus dieser Zeit der Prüfung lasse er ein geläutertes V o l k hervorgehen, das seines Segens u n d der Väter w e r t ist! Noch ist seine Hilfe nahe denen, die i h n suchen. D a r u m suchen w i r , Herr, dein A n t l i t z . Amen.
Nr. 390. Kundgebung des Direktoriums der Evangelischen Kirche Augsburger Konfession in Elsaß-Lothringen v o m 14. Oktober 1918 (Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, 67, 1918, S. 458) Gemeinden der Kirche Augsburgischen Bekenntnisses! Unser Vaterland, unsere Heimat steht v o r schicksalsschweren Entscheidungen. Mehr als je erheben w i r unsere Augen zu den Bergen, v o n denen uns Hilfe k o m m t 8 , strecken w i r flehend die Hände aus zu dem allmächtigen Gott i m Himmel, der die Geschicke der Welt regiert u n d die Herzen der Menschen lenkt w i e Wasserbäche. W i r beugen uns tief v o r I h m i n den Staub und bekennen unsere Sünde u n d Unwürdigkeit, aus tiefer Not heraus erb i t t e n w i r M u t u n d K r a f t f ü r die kommenden Tage. Schütze, Herr, unser Vaterland, bewahre unsere Heimat, erhalte uns die Güter, zu deren V e r w a l t e r D u uns berufen hast. „Schließ' zu die Jammerpforten u n d laß an allen Orten auf so v i e l Blutvergießen die Friedensströme fließen" 9. N i m m i n Deine besondere Obhut unsere Kirche. Erhalte i h r allzeit als beste Wehr u n d Waffe das Evangelium Jesu Christi, unseres lebendigen Heilands. Laß aus harter Prüfung i h r Läuterung u n d Segen erwachsen, daß durch sie auch i n dieser ernsten Zeit Dein ewiges Reich gefördert werde. Herr, erhöre uns, u m Deiner Liebe u n d Deiner Barmherzigkeit w i l l e n !
8 9
Psalm 121,1. P. Gerhardt, N u n laßt uns gehn u n d treten, v. 10 (EKG 42,10).
Anhang Die Besetzung der obersten Kirchenämter in Deutschland 1 8 9 1 — 1 9 1 8 I. Die päpstliche Nuntiatur in München Im 19. Jahrhundert bestanden diplomatische Vertretungen des Päpstlichen Stuhls auf deutschem Boden nur in Österreich und Bayern. Die Bemühungen der Kurie, neben den Nuntiaturen in Wien und München auch eine Nuntiatur in Berlin zu errichten, blieben ohne Erfolg, da der preußische Staat, obwohl er eine Gesandtschaft beim Vatikan unterhielt, zur Zulassung eines ständigen Vertreters des Papstes in der preußischen Hauptstadt nicht bereit war. Das Deutsche Reich ließ seine Interessen in Rom durch den preußischen Gesandten wahrnehmen; die Vertretung der Interessen der Kurie gegenüber der R,eichsregierung lag, soweit erforderlich, in der Hand von Sonderbeauftragten, zuletzt vor allem in der des Münchener Nuntius. Erst in der Weimarer Zeit wurde die Nuntiatur in Berlin als Vertretung des Päpstlichen Stuhls bei der Reichsregierung errichtet ; die preußische Vertretung in Rom wurde in eine Reichsgesandtschaft umgewandelt i. Die päpstliche Nuntiatur in München und die bayerische Gesandtschaft beim Vatikan wurden durch diese Änderungen nicht berührt. Päpstliche Nuntien in München seit 1891 waren: Antonio Agliardi (1832 - 1915), Titularerzbischof v o n Caesarea, Nuntius i n München v o n 1889 bis 1893, danach Nuntius i n W i e n (vgl. Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 885, A n m . 4). Andrea Aiuti (1849 - 1905), Titularerzbischof v o n Damatia, Nuntius i n M ü n chen v o n 1893 bis 1896, danach Nuntius i n Lissabon. Benedetto Lorenzelli (1853 -1915), Titularerzbischof von Sardes, Nuntius i n München v o n 1896 bis 1899, danach Nuntius i n Paris. Cesare Sambucetti (1838 - 1911), Titularerzbischof v o n K o r i n t h , i n München v o n 1900 bis 1901, danach an der K u r i e tätig.
Nuntius
Giuseppe Macchi (1845 - 1906), Titularerzbischof von Thessaloniche, N u n tius i n München v o n 1902 bis 1904, danach N u n t i u s i n Lissabon. Carlo Caputo (1843-1908), Titularerzbischof v o n Nikomedia, Nuntius i n München v o n 1904 bis 1907. Andreas Frühwirth (1845 -1933), Österreicher, M i t g l i e d des D o m i n i k a n e r ordens, 1867 Priester, 1870 L e k t o r i n Rom, dann Dozent u n d Seelsorger i n 1
Dazu Staat u n d Kirche, Bd. I V .
Anhang
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Graz u n d Wien; 1880-84 u n d 1891 Provinzial der österreichisch-ungarischen Ordensprovinz; 1891 - 1904 Ordensgeneral; seit 1904 i m Dienst der K u r i e ; 1907 - 16 Nuntius i n München; 1916 Kuriengeneral, M i t g l i e d verschiedener Kongregationen; 1925 Großpönitentiar; 1927 - 33 Kanzler der römischen Kirche. Giuseppe Aversa (1862 - 1917), Titular-Erzbischof v o n Sardes, 1909 Nuntius i n Venezuela, 1911 i n Brasilien; v o m 17. Januar 1917 bis zu seinem T o d am 13. A p r i l 1917 Nuntius i n München. Eugenio Pacelli (1876 - 1958), 1899 Priester, seit 1901 i n der K u r i e tätig; 1904 engster Mitarbeiter des Kardinals Gasparri bei der Vorbereitung des Codex Juris Canonici; 1909 - 14 Professor f ü r kirchliche Diplomatie an der Päpstl. Accademia dei N o b i l i Ecclesiastici; 1911 Untersekretär, 1912 Prosekretär, 1914 Sekretär der Kongregation f ü r die außerordentlichen kirchlichen A n g e legenheiten; 1917 Titular-Erzbischof von Sardes, 1917-29 Nuntius i n M ü n chen, seit dem 14. J u n i 1920 zugleich Nuntius i n B e r l i n ; 1929 K a r d i n a l i m Dienst der K u r i e ; 1930-39 Kardinalstaatssekretär; 1939- 1958 Papst (Pius XII.).
I I . Die deutschen katholischen Erzbischöfe und Bischöfe Nach der Beilegung des Kulturkampfs waren alle deutschen Erzbistümer und Bistümer wieder besetzt i. In den folgenden Jahrzehnten kam es nicht mehr zu längeren Vakanzen; vielmehr gelang es im allgemeinen schnell, eine Verständigung über die Bischofswahlen herbeizuführen.
A. Metropolitanbezirk Köln 1. Erzbistum
Köln 2
Philipp Krementz (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 100, A n m . 11, S. 846) w a r v o n 1885 bis 1899 Erzbischof v o n K ö l n . Hubertus Theophil Simar (1835 - 1902), 1858 Lie. theol. i n Münster, 1859 Priester, 1860 Privatdozent f ü r Exegese des Neuen Testaments, 1864 ao. Professor f ü r Moraltheologie, 1880 o. Professor f ü r Dogmatik, jeweils i n Bonn; 1891 Bischof von Osnabrück, 1899 - 1902 Erzbischof von Köln. Anton Fischer (1840 - 1912), 1863 Priester, 1889 Weihbischof v o n Köln, 1903 bis 1912 Erzbischof von K ö l n (1903 Kardinal). Felix v. Hartmann (1851 -1919), Dr. des kanonischen Hechts, seit 1884 K a p l a n i n Havixbeck u n d Emmerich; 1889 Bischöflicher Geheimsekretär u n d Domkaplan i n Münster; 1894 Geistl. Rat, 1903 Domkapitular daselbst; 1905 1 Vgl. Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 820 ff., 846 ff. — Das f ü r 1982 angekündigte L e x i k o n von E. Gatz (Hrsg.), Biographisches L e x i k o n des deutschen Episkopats von der Säkularisierung bis zum Jahre 1945 lag bei der Erarbeitung dieser Ubersicht noch nicht vor. 2 Vgl. N. Trippen, Das Domkapitel u n d die Erzbischofswahlen i n K ö l n 1821 - 1929 (1972).
I I . Die deutschen katholischen Erzbischöfe und Bischöfe
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Generalvikar, 1910 Domdechant, 1911 Bischof von Münster; 1912-1919 Erzbischof von K ö l n (1914 Kardinal), nach dem Tod des Breslauer Fürstbischofs Kopp Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz. 2. Bistum
Trier
Felix Korum (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 821) w a r v o n 1881 bis 1921 Bischof v o n Trier. 3. Bistum
Münster
Hermann Dingelstad (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 848) w a r von 1889 bis 1911 Bischof von Münster. Felix v. Hartmann w a r 1911 -1912 Bischof v o n Münster u n d w u r d e dann Erzbischof v o n K ö l n (siehe dort). Johannes Poggenburg (1862- 1933), 1889 K a p l a n i n Bocholt, 1898 Rektor i n Duisburg-Meiderich, 1902 Diözesanpräses der Jugendvereine, 1906 Präses des Collegium Ludgerianum i n Münster, 1911 Generalvikar u n d Domkapitular, 1913 - 1933 Bischof v o n Münster (1930 Titular-Erzbischof von Nicopsis). 4. Bistum
Paderborn
Franz Kaspar Drobe (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 822) w a r v o n 1882 bis 1891 Bischof von Paderborn. Hubert Simar w a r v o n 1891 bis 1900 Bischof von Paderborn u n d wurde dann Erzbischof von K ö l n (siehe dort). Wilhelm Schneider (1847 - 1909), 1872 Priester, 1887 Professor für M o r a l theologie u n d Leiter des Theologenkonvikts i n Paderborn; 1892 D o m k a p i tular, 1893 Dompropst, 1900 - 1909 Bischof von Paderborn und Apostolischer V i k a r von A n h a l t . Karl Josef Schulte (1871 - 1941), 1895 Priester, 1903 Lie. theol., 1905 Professor f ü r Apologetik u n d Kirchenrecht an der Bischöflichen Akademie i n Paderborn; 1910 - 1920 Bischof v o n Paderborn, 1920 - 1941 Erzbischof von K ö l n (1921 Kardinal).
B. Breslau und Ermland 6. Fürstbistum
Breslau
Georg Kopp (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 822, 847) w a r von 1887 bis 1914 Fürstbischof von Breslau. Adolf Johannes Bertram (1859 - 1945), 1881 Priester, 1894 Domherr, 1905 Generalvikar u n d 1906 Bischof v o n Hildesheim; 1914 Fürstbischof von Breslau (1916 Kardinal), seit 1930 Fürst-Erzbischof; von 1919 bis zu seinem Tod Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz. 7. Bistum
Ermland
Andreas Thiel (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 847) w a r von 1885 bis 1908 Bischof von Ermland.
Anhang
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Augustinus Bludau (1862 -1930), 1887 Priester, 1891 Dr. theol.; 1894 Subregens des Priesterseminars u n d Präfekt des Gymnasialkonvikts i n Braunsberg; 1895 ao., 1897 o. Professor i n Münster; 1909 - 1930 Bischof v o n E r m land, seit 1922 zugleich Apostolischer V e r w a l t e r des westlichen Teils der i m übrigen an Polen gefallenen Diözese K u l m . C. Metropolitanbezirk Posen - Gnesen 8. Erzbistum
Posen - Gnesen
Florian Oksza-Stablewski (1841 - 1906), 1866 Priester u n d Dr. theol., K a t e chet am Gymnasium i n Schrimm, 1873 nach disziplinarischer Bestrafung durch die Regierung Propst i n Wreschen, seit 1876 M d p r A H (Polnische F r a k tion); nach dem Tod Julius Dinders (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 846 f.) u n d nach Auseinandersetzungen zwischen der K u r i e u n d der preußischen Regier u n g über die kirchliche Forderung, daß der Erzbischof v o n Posen - Gnesen polnischer A b s t a m m u n g sein solle, v o n 1891 bis 1906 Erzbischof von Posen Gnesen 3 . Eduard Likowski (1836 - 1915), 1861 Priester und Lie. theol. i n Münster, Katechet am Mariengymnasium i n Posen, 1865 Professor f ü r Kirchengeschichte u n d Kirchenrecht, 1867 Rektor des Priesterseminars i n Posen; beim I. Vaticanum Konzilstheologe des Erzbischofs Ledochowski (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 91, A n m . 3); nach der Schließung des Posener Priesterseminars 1873 Inhaber verschiedener Ä m t e r ; 1874 einige Monate inhaftiert; 1886 Generalvikar u n d D o m k a p i t u l a r i n Posen; 1887 Weihbischof; 1890/91 u n d erneut w ä h r e n d der langen Vakanz nach dem Tod Stablewskis von 1906 bis 1914 K a p i t u l a r v i k a r ; 1914 - 1915 Erzbischof von Posen - Gnesen 4 . Edmund Dalbor (1869 - 1926), Dr. des kanonischen Rechts, 1893 Priester, i n der Seelsorge u n d der Diözesanverwaltung tätig; 1899 Professor des Kirchenrechts i n Gnesen, 1901 D o m k a p i t u l a r i n Posen, 1909 Generalvikar daselbst; 1915 - 26 Erzbischof v o n Posen - Gnesen (1919 Kardinal). 9. Bistum
Kulm
Leo Redner (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 847) w a r von 1886 bis 1898 Bischof von K u l m . Augustinus Rosentreter (1844 - 1926), 1869 Lie. theol. i n Münster, 1870 Priester; 1871 Professor der biblischen Exegese i n Pelplin; 1879 K a p l a n an S . M a r i a d e l l ' A n i m a i n Rom; nach dem K u l t u r k a m p f D i r e k t o r des L e h r e r seminars i n Berent; 1887 Regens des Priesterseminars i n Pelplin u n d D o m k a p i t u l a r ; 1899 - 1926 Bischof v o n K u l m . 3 Vgl. zu diesen Auseinandersetzungen E. Gatz, A k t e n zur preußischen Kirchenpolitik i n den Bistümern Gnesen-Posen, K u l m u n d E r m l a n d 1885 1914 (1977), S. I L ff., S. 102 ff. 4 Die Vakanz entstand, w e i l die preußische Regierung die Ernennung eines Erzbischofs deutscher H e r k u n f t wünschte, was bei der K u r i e auf Ablehnung stieß; u n m i t t e l b a r nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs stimmte die preußische Regierung der Ernennung Likowskis zu (vgl. Gatz, a. a. O., S. L X X ff.).
I I . Die deutschen katholischen Erzbischöfe u n d Bischöfe
861
D. Hildesheim und Osnabrück 10. Bistum
Hildesheim
Wilhelm Sommerwerck, gen. Jacobi (1821 - 1905), nach dem Studium der Theologie, der Philosophie, der klassischen Philologie u n d der Geschichte 1846 Priester; danach Lehrer am Josephinum i n Hildesheim; 1854 zugleich Domprediger daselbst; i m März 1863 Domkapitular, i m Oktober 1863 Generalvikar, 1870 K a p i t u l a r v i k a r , 1871 - 1905 Bischof von Hildesheim; 1900 M i t glied des preuß. Herrenhauses. Adolf Bertram w a r v o n 1906 bis 1914 Bischof v o n Hildesheim u n d w u r d e dann Fürstbischof von Breslau (siehe dort). Joseph Ernst (1863 - 1928), 1886 Priester, K a p l a n i n Celle; 1889 zur F o r t setzung seiner Studien i n Rom; 1891 Professor a m Priesterseminar i n Hildesheim; 1901 zugleich Domprediger daselbst; 1906 Regens; 1915 - 1928 Bischof von Hildesheim. 11. Bistum
Osnabrück
Bernhard Höting (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 822) w a r v o n 1882 bis 1898 Bischof von Osnabrück. Hubert Voß (1841 - 1914), 1866 Priester, K a p l a n i n Wesel; 1871 D o m v i k a r u n d Domprediger i n Münster; 1885 Pfarrer i n Rheine; 1891 Regens des Priesterseminars Münster, 1892 D o m k a p i t u l a r ; 1899 - 1914 Bischof v o n Osnabrück, seit 1890 zugleich Apostolischer V i k a r v o n Norddeutschland. Wilhelm Berning (1877 - 1955), 1900 Priester; seit 1901 Oberlehrer i n Meppen, 1914 - 1955 Bischof von Osnabrück, 1914 - 1930 zugleich Apostolischer V i k a r der Norddeutschen Mission u n d Apostolischer Präfekt von Schleswig-Holstein; i n der Fuldaer Bischofskonferenz zuständig für Fragen des Reichsschulgesetzes (1920 - 1930), des R u n d f u n k - , F i l m - u n d Pressewesens sowie die Lage katholischer Auswanderer; 1933 preuß. Staatsrat; 1933-45 Vertreter der Fuldaer Bischofskonferenz bei der Reichsregierung; nach 1945 besonders bemüht u m die Seelsorge an Heimatvertriebenen (1949 Titular-Erzbischof). E. Oberrheinische Kirchenprovinz 12. Erzbistum
Freiburg
Johann Christian Roos (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 847) w a r von 1886 bis 1896 Erzbischof v o n Freiburg. Georg Ignaz Komp (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 921 f.) w u r d e 1898 z u m Erzbischof v o n Freiburg gewählt, verstarb jedoch vor seiner Inthronisation. Thomas Noerber (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 922) w a r von 1898 bis 1920 Erzbischof von Freiburg. 13. Bistum
Rottenburg
Karl Josef v. Hefele (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 436, A n m . 8) w a r v o n 1869 bis 1893 Bischof von Rottenburg.
Anhang
862
Wilhelm (ν.) Reiser (1838 - 1898), 1859 Priester; zunächst i n der Seelsorge; 1861 Repetent am Wilhelmsstift i n Tübingen; 1867 Präfekt des Knabenseminars Martinihaus i n Rottenburg; 1869 Direktor des Wilhelmsstifts u n d Stadtpfarrer i n Tübingen; 1875 ebenda Garnisonspfarrer; 1879 Dekan u n d M i t g l i e d des Domkapitels i n Rottenburg; 1880 - 86 Vertreter des Domkapitels i m w ü r t t . Abgeordnetenhaus; seit 1886 Koadjutor, Generalvikar u n d W e i h bischof, 1893 - 1898 Bischof v o n Rottenburg. Franz Xaver Linsenmann (1835 - 1898), 1859 Priester, 1867 Professor der M o r a l - u n d Pastoraltheologie i n Tübingen, 1898 z u m Bischof v o n Rottenburg gewählt, aber v o r seiner Inthronisation verstorben; bedeutender M o r a l theologe. Paul Wilhelm v. Keppler (1852 - 1926), 1875 Priester, 1883 Professor f ü r Exegese des Neuen Testaments i n Tübingen, 1889 Professor f ü r M o r a l - u n d Pastoraltheologie ebenda, 1894 Professor i n Freiburg; 1898 - 1926 Bischof v o n Rottenburg; Förderer der katholischen Predigtlehre (Begründer der „ K e p p ler-Schule") u n d einflußreicher theologischer Schriftsteller. 14. Bistum
Mainz
Paul Leopold Haffner (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 923) w a r von 1886 bis 1899 Bischof v o n Mainz. Heinrich Brück (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 923) w a r v o n 1900 bis 1903 Bischof v o n Mainz. Georg Heinrich Kirstein (1858 - 1921), Bruder des Theologen u n d P h i l o sophen Anton Kirstein; 1888 Priester, 1891 Pfarrer i n Gau-Algesheim, 1902 Domkapitular, 1903 Regens des Priesterseminars, 1904 - 1921 Bischof von Mainz. 15. Bistum
Limburg
Karl Klein (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 847) w a r von 1886 bis 1898 Bischof von Limburg. Dominikus Willi (1844- 1913; Taufname: M a r t i n K a r l ) ; Zisterzienser; 1867 Priester; zunächst i n der Zisterzienserabtei Mehrerau (bei Bregenz); 1889 A b t von Marienstatt/Westerwald; 1898 - 1913 Bischof von Limburg. Augustin Kilian (1856 - 1930), 1881 Priester, 1883 - 84 an S. Maria dell'Anima i n Rom, 1899 Domkapitular, 1913 - 1930 Bischof von L i m b u r g . Er berief 1920 die erste Diözesansynode ein; während seiner Amtszeit wurde 1926 die P h i l o sophisch-Theologische Hochschule St. Georgen i n F r a n k f u r t gegründet. 16. Bistum
Fulda
Joseph Weyland (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 848) w a r von 1887 bis 1894 Bischof von Fulda. Georg Ignaz Komp (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 921 f.) w a r von 1894 bis 1898 Bischof v o n Fulda. Adalbert Endert (1850 -1907), 1873 Priester, danach K a p l a n u n d Pfarrer i n Fulda, 1885 i n Horas; 1893 Dompfarrer u n d Stadtdechant i n Fulda; 1898 bis 1906 Bischof von Fulda.
I I . Die deutschen katholischen Erzbischöfe und Bischöfe
863
Joseph Damian Schmitt (1858 - 1939), 1882 Priester, Promotion zum D o k t o r der Theologie u n d der Philosophie i n Rom; nach Tätigkeit i n der Pfarrseelsorge 1889 Professor f ü r L i t u r g i e u n d Neues Testament a m Priesterseminar i n Fulda; 1894 Subregens, 1895 Regens des Priesterseminars; 1899 D o m k a p i t u l a r ; 1907 - 39 Bischof v o n Fulda, seit 1936 unterstützt durch den K o a d j u t o r Johann Baptist Dietz. F. Metropolitanbezirk München-Freising 17. Erzbistum
München-Freising
3
Anton v. Thoma (1829 - 1897), 1853 Priester; nach verschiedenen Tätigkeiten i n der Seelsorge 1883 D o m k a p i t u l a r i n München; 1889 Bischof v o n Passau; als Nachfolger von Antonius v. Steichele (Staat und Kirche, Bd. I I , S. 889) von 1890 bis 1897 Erzbischof von München-Freising. Franz Josef v. Stein (1832 - 1909), 1855 Priester, 1859 Dr. theol., 1871 Professor der M o r a l - u n d Pastoraltheologie an der Universität Würzburg; 1878 Bischof von Würzburg, 1897 - 1909 Erzbischof v o n München-Freising. Franz v. Bettinger (1850 - 1917), 1873 Priester, 1895 Domkapitular, dann Domdekan i n Speyer, 1909 -1917 Erzbischof v o n München-Freising (1914 Kardinal) ; i m Ersten Weltkrieg Feldpropst der bayerischen Armee. Michael v. Faulhaber (1869 - 1952), 1892 Priester, 1896 - 98 K a p l a n an S. M a r i a dell'Anima i n Rom; 1899 Privatdozent i n Würzburg, 1903 Professor f ü r Exegese des A l t e n Testaments an der neu gegründeten katholisch-theologischen Fakultät i n Straßburg; 1911 Bischof v o n Speyer, 1917 - 1952 Erzbischof von München-Freising (1921 Kardinal). A l s Nachfolger des Kardinals Bettinger i m Ersten Weltkrieg Feldpropst der bayerischen Armee. 18. Bistum
Augsburg
Pankratius Dinkel (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 152, A n m . 3) w a r von 1858 bis 1894 Bischof von Augsburg. Petrus ( ν .) Hötzl (1836 - 1902), 1856 M i t g l i e d des Franziskanerordens; L e k tor der Philosophie u n d Theologie i m Franziskanerkloster St. A n n a i n M ü n chen; 1891 Provinzial seines Ordens; 1895 - 1902 Bischof v o n Augsburg; M i t glied des bayer. Reichsrats. Maximilian (Ritter v.) Lingg (1842 - 1930), Dr. der Theologie u n d der Rechte; nach der Priesterweihe (1865) i n der Seelsorge tätig, dann Erzieher der Prinzen Alfons u n d Ludwig Ferdinand von Bayern sowie Deutschlehrer des späteren Königs Alfons XII. von Spanien; 1874 Professor der Kirchengeschichte u n d des Kirchenrechts i n Bamberg; 1881 Domkapitular, 1893 D o m propst i n Bamberg; 1902 - 1930 Bischof von Augsburg. 19. Bistum
Regensburg
Ignaz v. Senestrey (1818 - 1906), 1842 Priester, 1853 D o m k a p i t u l a r i n Eichstätt, 1858 - 1906 Bischof von Regensburg. Einer der entschiedendsten Befür5
Vgl. M. Körner, Staat und Kirche in Bayern 1886 - 1918 (1977), S. 97 ff.
Anhang
864
w o r t e r des Unfehlbarkeitsdogmas beim I. Vatikanischen K o n z i l (vgl. auch Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 435). Franz Anton v. Henle (1851 - 1927), 1873 Priester, 1887 Privatdozent f ü r Exegese des Neuen Testaments i n München, 1890 D o m k a p i t u l a r u n d 1895 Generalvikar i n Augsburg, 1901 Bischof v o n Passau, 1906 -1927 Bischof von Regensburg. 20. Bistum
Passau
Michael v. Rampf (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 911, A n m . 2) w a r von 1889 bis 1901 Bischof v o n Passau. Franz Anton v. Henle w a r von 1901 bis 1906 Bischof von Passau u n d w u r d e dann Bischof v o n Regensburg (siehe dort). Sigismund Felix Frh. v. Ow-Felldorf (1855 -1936), zunächst Jurist, bis 1881 i m bayerischen Justizdienst; nach dem Theologiestudium 1884 Priester; 1887 Kanonikus an der A l t e n Kapelle, 1889 - 1894 Militärprediger, 1897 Diözesanpräses der Arbeitervereine, 1902 Weihbischof i n Regensburg (Bischof von Arethusa i. p. i.); 1906 - 1936 Bischof von Passau. G. Metropolitanbezirk Bamberg 21. Erzbistum
Bamberg
Friedrich Joseph v. Schreiber (1819 - 1890), 1843 Priester; 1844 Hofmeister beim Fürsten v. Oettingen-Wallerstein, 1852 Pfarrer i n Ried, 1859 i n Penzing, 1870 i n Engelbrechtsmünster; 1875 bis 1890 Erzbischof von Bamberg. Joseph (v.) Schork (1829 - 1905), 1859 Priester; Stadtkaplan von Aschaffen"burg; Domprediger i n Würzburg; 1871 Domkapitular, 1889 Dompropst u n d 1890 - 1905 Erzbischof von Bamberg. Friedrich Philipp v. Abert (1852 - 1912), 1875 Priesterweihe; 1885 Professor der Dogmatik i n Regensburg, seit 1890 i n Würzburg; 1905 - 1912 Erzbischof von Bamberg. Johannes Jacobus v. Hauck (1861 - 1943), 1884 Priester u n d K a p l a n i n Obertheres, 1885 i n Mellrichstadt; 1886 Präfekt am Königlichen Studienseminar i n Aschaffenburg; 1893 Gymnasialprofessor i n Bamberg; 1898 Pfarrer i n Nürnberg; 1912 - 1943 Erzbischof von Bamberg. 22. Bistum
Eichstätt
Franz Leopold Frh. v. Leonrod (1827 - 1905), 1851 Priester, 1854 Kooperator i n Reichenhall; 1856 Domprediger i n Eichstätt; 1859 Pfarrer i n St. Zeno bei Reichenhall; 1867 - 1905 Bischof v o n Eichstätt. B e i m I. V a t i k a n u m zählte er zu den B e f ü r w o r t e r n des Unfehlbarkeitsdogmas. Leo Ritter v. Mergel (1847 - 1932; Taufname: Johannes); M i t g l i e d des Benedektinerordens; 1873 Priester; Dr. des kanonischen Rechts; Präfekt des bischöflichen Seminars i n Eichstätt; Religionslehrer i n Ingolstadt, 1879 i n Metten; 1882 E i n t r i t t i n das Benediktinerstift i n Metten; 1898 dessen A b t . 1905 - 1932 Bischof von Eichstätt.
I I . Die deutschen katholischen Erzbischöfe und Bischöfe 23. Bistum
865
Würzburg
Franz Josef v. Stein w a r von 1878 bis 1897 Bischof v o n Würzburg u n d wurde anschließend Erzbischof v o n München-Freising (siehe dort). Ferdinand (v.) Schlör (1839 - 1924), 1862 Priester, K a p l a n i n Wermerichshausen; 1865 K a p l a n i n Aschaffenburg; i m selben Jahr ebendort Präfekt am Studienseminar; 1875 dessen D i r e k t o r ; 1880 Direktor am adeligen Julianeum i n Würzburg; 1891 Domkapitular, 1898 - 1924 Bischof von Würzburg. 24. Bistum
Speyer
Joseph Georg v. Ehrler (1833 - 1905), 1856 Priester, 1867 - 78 Domprediger i n München, 1878 - 1905 Bischof von Speyer. Konrad v. Busch (1847 - 1910), 1871 Priester, 1873 Repetent am Seminar in Speyer; 1879 Pfarrer i n Annweiler, 1882 i n Landau; 1889 D o m k a p i t u l a r und Stadtpfarrer i n Speyer; 1895 Domdekan; 1905 - 1910 Bischof von Speyer. Michael Faulhaber w a r von 1911 bis 1917 Bischof von Speyer und wurde dann Erzbischof von München-Freising (siehe dort). Ludwig Sebastian (1862 - 1943), 1887 Priester; K a p l a n i n Forchheim u n d Ansbach; 1892 Pfarrer i n Hohenmirsberg, 1900 i n Ansbach; 1914 D o m k a p i tular i n Bamberg; 1917 - 1943 Bischof von Speyer. H. Vikariat Sachsen® 25. Apostolisches Lausitz
Vikariat
für
Sachsen und Apostolische
Präfektur
für
die
Franz Benert (1811 - 1890), 1834 Priester; zunächst K a p l a n i n Neustädtel und Raspenau (Böhmen); 1841 Zeremoniar bei Bischof Ignaz Bernhard Mauermann i n Dresden; 1842 Pfarradministrator i n Meißen, 1846 Pfarrer i n Zwickau, 1854 Hofkaplan u n d Erzieher der Töchter des Königs Johann von Sachsen; 1859 Superior der Dresdner Hofkirche; 1870 Präses des kath.-geistlichen Konsistoriums; 1876 - 1890 Apostolischer V i k a r für Sachsen und Apostolischer A d m i n i s t r a t o r f ü r die Lausitz (Titularbischof von Azotus). Ludwig Wahl (1831 - 1905), 1856 Priester; 1859 Hofkaplan i n Dresden; 1883 Vikariatsrat i n Dresden; 1886 Kanonikus des Domkapitels St. Petri i n Bautzen; 1890 - 1900 Apostolischer V i k a r für Sachsen und Apostolischer A d m i n i strator für die Lausitz (Titularbischof von Cucurus) ; er resignierte krankheitshalber 1900. Georg Wuschanski (1839 - 1905), 1866 Priester; nach Seelsorgetätigkeiten i n Palbitz (Kreis Kamenz) u n d Bautzen 1891 Kanonikus i n Bautzen; 1900 - 05 nach der E r k r a n k u n g von Bischof W a h l m i t der V e r w a l t u n g der Aposto® Das Apostolische V i k a r i a t Sachsen m i t Sitz i n Dresden wurde 1743 errichtet; seit 1816 waren die Apostolischen Vikare auch Titularbischof e ; seit 1845 waren sie zugleich Dekane des Kollegiatstifts in Bautzen u n d damit Apostolische Präfekten für die Lausitz. — Zur Lage der katholischen Kirche in Sachsen vgl. auch oben S. 19. 55 H u b e r , S t a a t u n d K i r c h e , 3. B d .
Anhang
866
lischen A d m i n i s t r a t o r für die Lausitz beauftragt, 1903 - 05 auch m i t der V e r w a l t u n g des Apostolischen Vikariats (1904 Titularbischof von Samos). Aloys Schaefer (1853 -1914), 1878 Priester; danach i n der Pfarrseelsorge i n Plauen, Vogtland, Dresden u n d Meißen; 1881 Professor f ü r Exegese i n D i l lingen, danach i n Münster, 1895 i n Breslau u n d 1903 i n Straßburg; 1906 - 1914 Apostolischer V i k a r f ü r Sachsen sowie A d m i n i s t r a t o r f ü r die Lausitz ( T i t u larbischof von A b ila). Franz Löbmann (1856 - 1920), 1881 Priester; nach Tätigkeiten i n der Seelsorge u n d i m höheren Schuldienst 1905 Kanonikus i n Bautzen; 1914 -1920 Apostolischer V i k a r f ü r Sachsen und Apostolischer A d m i n i s t r a t o r f ü r die Lausitz (1915 Titularbischof von Priene); nach dem Ende des 1. Weltkriegs setzte er sich maßgeblich für die Wiedererrichtung des Bistums Meißen ein, die erst nach seinem Tod v e r w i r k l i c h t wurde.
I. Elsaß-Lothringen 26. Bistum
Straßburg
Peter Paul Stumpf (1822 - 1890), 1847 Priester, 1849 Münsterpfarrer i n Straßburg; 1853 M i t g l i e d der Kongregation der Väter v o m Hl. Geist (Aust r i t t 1864); 1859 D i r e k t o r des Seminaire Frangais i n Rom; 1876 Generalvikar, 1881 K o a d j u t o r v o n Straßburg u n d Titularbischof; 1887 - 1890 Bischof v o n Straßburg. Adolf Fritzen (1838 - 1919), aus Kleve stammend, 1862 Priester, 1865 Professor am bischöflichen Seminar i n Gaesdonk (Niederlande), 1874 Erzieher der Söhne des späteren Königs Georg von Sachsen, 1887 D i r e k t o r der b i schöflichen Lehranstalt i n M o n t i g n y bei Metz; 1891 bis 1919 Bischof von Straßburg. Nach dem Friedensschluß 1919 w u r d e seine schon i m Dezember 1918 ausgesprochene Demission v o m Papst angenommen; er w u r d e zum Titular-Erzbischof von Mocissus ernannt. 27. Bistum
Metz
Franz Ludwig Fleck (1824 - 1899), Priester; i m Pfarrdienst tätig; 1879 Generalvikar, 1881 K o a d j u t o r v o n Metz; 1886 - 99 Bischof v o n Metz. Willibrord Benzler (1853 - 1921; Taufnahme: K a r l ) ; M i t g l i e d des Benediktinerordens, 1874 E i n t r i t t i n das Kloster Beuron, 1877 Priester, 1880 - 83 Lektor f ü r D o g m a t i k am Kloster Emmaus (Prag); Prior der Klöster Seckau (1883), Beuron (1887) u n d Maria Laach (1892); 1893 A b t von M a r i a Laach; 1901 - 1919 Bischof von Metz. A m 12. Januar 1919 verzichtete er auf den Bischofsstuhl; er lebte seitdem i n M a r i a Laach, Beuron u n d Baden-Baden-Lichtental.
867
I I I . Die Leitung der evangelischen Kirchenbehörden
I I I . Die Leitung der evangelischen Kirchenbehörden Bis 1918 lag die oberste Leitung der evangelischen Landeskirchen in der Hand der Landesherren. Die Kirchenverwaltung wurde von Oberkirchenräten oder Oberkonsistorien wahrgenommen. Deren Präsidenten, die teils Juristen, teils Theologen waren, werden im folgenden aufgeführt. Für Preußen und Sachsen werden neben den Präsidenten auch die Vizepräsidenten des Oberkirchenrats bzw. Landeskonsistoriums genannt. Die Zusammenstellung beschränkt und der deutschen Mittelstaaten.
sich auf
die Landeskirchen
Preußens
A. Preußen 1. Altpreußische
Landeskirche
1
Friedrich Wilhelm Barkhausen (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 523, A n m . 12) w a r v o n 1891 bis 1903 als Nachfolger v o n Ottomar Hermes (ebenda S. 931) Präsident des Evangelischen Ober-Kirchenrats. Benno Bruno Brückner (1824 - 1905), Theologe; 1850 Pfarrer i n Hohburg (Sachsen), 1853 ao., 1855 o. Professor f ü r Neues Testament u n d Universitätsprediger i n Leipzig, 1860 Domherr des Hochstifts Meißen u n d Konsistorialrat, 1869 Propst an St. Nikolai, M i t g l i e d des Oberkirchenrats u n d Honorarprofessor i n B e r l i n ; 1872 - 92 zugleich Generalsuperintendent f ü r die Stadt Berlin, 1873-79 auch f ü r die M a r k Brandenburg; 1874-77 Leiter der v o n i h m gegründeten Berliner Stadtmission; 1877 - 92 Vizepräsident des Oberkirchenrats; seit 1884 M i t g l i e d des preußischen Staatsrats. Hermann Frh. von der Goltz (1835 - 1906), Theologe; 1861 Gesandtschaftsprediger i n Rom, 1865 Professor der Theologie i n Basel, 1873 i n Bonn; 1876 Universitätsprofessor u n d Propst an St. P e t r i i n B e r l i n sowie M i t g l i e d des Oberkirchenrats; 1892 - 1906 dessen Vizepräsident. Bodo Voigts (1844- 1920), Jurist; zunächst i m preußischen Justizdienst, seit 1881 i m Verwaltungsdienst; 1881 Kreishauptmann, 1885 L a n d r a t i n Freiburg an der Elbe (Kreis Kehdingen, Regierungsbezirk Stade); 1889 Verwaltungsgerichtsdirektor i n M i n d e n ; 1891 Oberverwaltungsgerichtsrat i n B e r l i n ; 1894 Präsident des lutherischen Landeskonsistoriums i n Hannover. 1903 - 1919 P r ä sident des Oberkirchenrats i n B e r l i n ; zugleich Vorsitzender des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses; 1916 M d p r H H . Ernst v. Dryander (1843 - 1922), Theologe; 1870 Domhilfsprediger i n B e r l i n ; 1872 Diakonus i n Torgau, 1874 Pfarrer i n Bonn; 1882 Superintendent u n d Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche i n Berlin, 1887 zugleich Konsistorialrat ; 1892 - 1902 Generalsuperintendent der K u r m a r k ; 1898 Oberhofprediger; 1903 M i t g l i e d des Oberkirchenrats; 1906-1918 dessen Vizepräsident. Seit 1903 MdprHH. 1 Vgl. die Liste der Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrats 1850 bis 91 : Staat u n d Kirche, Bd. I I , Nr. 443.
868
Anhang
Reinhard Möller (1855 - 1927), Jurist; Sohn des Theologen u n d Magdeburger Generalsuperintendenten Johann Friedrich Möller; 1888 Hilfsarbeiter i m preuß. K u l t u s m i n i s t e r i u m ; 1891 Oberkonsistorialrat u n d M i t g l i e d des preußischen Oberkirchenrats; 1904 weltlicher Stellvertreter des Präsidenten; 1919 - 1924 Präsident des Oberkirchenrats, seit 1922 zugleich Präsident des Kirchenausschusses u n d damit Leiter des Deutschen Evangelischen Kirchenbunds. Friedrich Lahusen (1851 - 1927), Theologe; 1877 Domhilfsprediger i n Berlin, 1878 Pfarrer i n Mettmann, 1883 i n Hamm, später i n Bremen; 1899 Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche i n B e r l i n ; 1910 M i t g l i e d des Oberkirchenrats; 1912 Generalsuperintendent von Berlin; 1918 - 21 Vizepräsident des Oberkirchenrats. 2. Evangelisch-lutherische
Landeskirche
der Provinz
Schleswig-Holstein
Friedrich Mommsen (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 362, 993) w a r von 1868 bis 1891 Präsident des Landeskonsistoriums. Heinrich Franz Chalybäus (1840 - 1911), Jurist; Sohn des Kieler P h i l o sophen Heinrich Moritz Chalybäus; zuerst i n der schleswig-holsteinischen Justiz u n d V e r w a l t u n g tätig; 1875 Justitiar des Konsistoriums i n K i e l ; 1882 M i t g l i e d des Landeskonsistoriums i n Hannover; 1889 Vortragender Rat i m preußischen K u l t u s m i n i s t e r i u m ; 1891 - 1903 Präsident des Landeskonsistoriums i n Kiel, zugleich K u r a t o r der Kieler Universität; 1903 - 1911 Präsident des lutherischen Landeskonsistoriums i n Hannover. Otto Müller (1858 - 1945), Jurist, zunächst i m Verwaltungsdienst; 1890 M i t glied des Landeskonsistoriums i n Kiel, 1895 des Landeskonsistoriums i n Hannover; 1901 Verwaltungsdirektor der Charité i n B e r l i n ; 1904 - 25 Präsident des Landeskonsistoriums i n K i e l . 3. Evangelisch-lutherische
Landeskirche
der Provinz
Hannover
Otto Mejer (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 988) w a r von 1885 bis 1893 Präsident des hannoverschen Landeskonsistoriums. Bodo Voigts w a r von 1894 bis 1903 Präsident des Landeskonsistoriums i n Hannover u n d w u r d e dann Präsident des Preußischen Oberkirchenrats (siehe dort). Heinrich Franz Chalybäus w a r von 1903 bis 1911 Präsident des hannoverschen Landeskonsistoriums; zuvor w a r er Präsident des Landeskonsistoriums von Schleswig-Holstein (siehe dort). Wilhelm Heinichen (1856 - 1911), Jurist, zunächst i m preußischen Justizdienst; 1884 Amtsrichter i n Neuhaus a. d. Oste, 1886 i n Soltau; 1889 Landrat i n Soltau; 1901 Landrat i n Göttingen; 1903 Direktor des Konsistoriums f ü r den Bezirk Hannover; 1910 - 11 Präsident des lutherischen Landeskonsistoriums i n Hannover. Hermann Steinmetz (1866 - 1920), Jurist; 1887 Referendar beim Amtsgericht I b u r g ; 1893 Justitiar der Regierung i n Hannover; 1896 Dezernent f ü r die Weserstrombauverwaltung i m Oberpräsidium Hannover; 1901 2. Schatzrat
I I I . Die Leitung der evangelischen Kirchenbehörden
869
der Provinzialverwaltung; 1902 Hilfsarbeiter, 1903 Vortragender Rat, 1906 Geh. Oberregierungsrat i m preuß. K u l t u s m i n i s t e r i u m ; 1912 - 20 Präsident des Landeskonsistoriums i n Hannover. 4. Konsistorialbezirk
Kassel
Ernst (von) Weyrauch (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 998 f.) w a r von 1881 bis 1891 Konsistorialpräsident i n Kassel. Friedrich von Trott zu Solz (1835 - 1894), Schwager von Ernst v. Weyrauch, Jurist; 1862 Referendar am Obergericht i n Kassel, 1866 bei der Oberfinanzkammer i n Kassel, 1869 bei der Regierung i n Kassel; er zog sich dann aus dem Staatsdienst zurück; 1887 Landrat des Kreises Fulda; 1891 - 1894 K o n sistorialpräsident i n Kassel. Karl v. Altenbockum (1842 - 1910), Jurist; 1887 Landrat des Kreises Rotenburg/Fulda; 1894 - 1908 Konsistorialpräsident i n Kassel. Curt Frh. Schenk zu Schweinsberg (1858 - 1929), Jurist; 1896 Landrat des Kreises K i r c h h a i n ; 1905 Regierungsrat i n Kassel; 1908 - 1924 Konsistorialpräsident i n Kassel, seit 1922 zugleich Vorsitzender des Gesamtkirchenausschusses. 5. Konsistorialb
ezirk
Wiesbaden
und Konsistorialb
ezirk Frankfurt
am Main
Otto de la Croix (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 995) w a r von 1883 bis 1892 Präsident des Konsistoriums i n Wiesbaden. Hermann Opitz (1828 - 1901), Jurist, zunächst i m preußischen Justizdienst; 1873 Konsistorialrat, 1877 Oberkonsistorialrat i n Magdeburg; 1881 Oberregierungsrat i n Stettin, 1886 i n Kassel, 1892 i n Wiesbaden; zugleich 1892 - 9 5 i m Nebenamt Präsident des Konsistoriums i n Wiesbaden. Wilhelm Stockmann (1848 - 1924), Jurist, zunächst i m preußischen Justizdienst; 1878 Kreisrichter, 1879 Amtsrichter i n Itzehoe; 1882 Konsistorialassessor, 1886 Konsistorialrat i n K i e l ; 1890 Konsistorialrat, 1892 Oberkonsistorialrat i n Hannover; 1895 Oberregierungsrat i n Wiesbaden; 1896-98 i m Nebenamt Präsident des Konsistoriums i n Wiesbaden; 1898 Präsident des westfälischen Konsistoriums i n Münster; 1905 - 13 Regierungspräsident i n Gumbinnen; 1898 - 1905 M d R und M d p r A H (DRP). Walter Ernst (1857 - 1928), Jurist, zunächst i m preußischen Justizdienst; 1884 Amtsrichter i n Oppeln; 1887 Hilfsarbeiter, 1889 Regierungsrat bei der Ansiedlungskommission f ü r Posen-Westpreußen i n Posen; 1893 Regierungsrat beim Oberpräsidium i n Königsberg; 1897 Verwaltungsgerichtsdirektor; 1899 - 1919 i m Hauptamt Präsident des Konsistoriums i n Wiesbaden, zugleich Präsident des neu errichteten Konsistoriums i n Frankfurt. B. Bayern 6. Evangelisch-lutherische
Landeskirche
in Bayern rechts des Rheins
Adolf ν . Stählin (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 1004) w a r von 1883 bis 1897 Präsident des Oberkonsistoriums i n München.
Anhang
870
Alexander (ν.) Schneider (1845 - 1909), Jurist; 1876 zunächst Stadtgerichtsassessor i n Weißenburg, dann Hilfsarbeiter i m Kabinett des Königs (1878 2. Staatsanwalt, 1879 Landgerichtsrat, 1883 Regierungsrat); 1883 Sekretär des Königs; 1886 Ministerialrat i m Finanzministerium u n d Generalsekretär; 1897 - 1909 Präsident des Oberkonsistoriums i n München, zugleich Reichsrat der Krone Bayerns. Hermann v. Bezzel (1861 - 1917), Theologe; Inspektor des Alumneums i n Regensburg, 1891 Rektor der v o n Wilhelm Löhe begründeten Diakonissenanstalt i n Neuendettelsau; 1909 - 17 Präsident des Oberkonsistoriums i n München, zugleich Stellv. Präsident des Deutschen Evangelischen K i r c h e n ausschusses u n d Vorsitzender der Eisenacher Kirchenkonferenz. Friedrich Veit (1861 - 1948), Theologe; 1884 Reiseprediger f ü r das westliche Oberbayern, 1887 Pfarrer i n Schwarzenbach/Saale, 1892 Pfarrer i n München; 1905 Dekan daselbst; 1915 Oberkonsistorialrat; 1917 Präsident des Oberkonsistoriums; 1921 - 33 Kirchenpräsident; seit 1922 zugleich Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchenbundesrats, seit 1927 M i t g l i e d des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses u n d Vorsitzender der Kirchenkonferenz. 7. Vereinigte
protestantisch-evangelisch-christliche
Kirche in der Pfalz
Theodor Michael v. Wand (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 1002), w a r v o n 1872 bis 1886 als Konsistorialrat, von 1886 bis 1896 als Konsistorialdirektor Leiter des Konsistoriums i n Speyer. Ludwig v. Wagner (1846 - 1931), Jurist; 1877 Bezirksamtmann i n Speyer, 1887 Konsistorialrat, 1896 - 1915 Konsistorialdirektor i n Speyer. Karl Heinrich Fleischmann (1867 - 1954), Jurist; 1893 Bezirksamtsassessor i n Lohr, 1901 i n Kaiserslautern; i m selben Jahr Präsidialsekretär i n Speyer; 1902 Regierungsassessor i n Augsburg, 1904 am Bezirksamt i n Günzenhausen, 1910 Regierungsrat i n Ansbach, 1913 i n München; 1915 Konsistorialdirektor, 1921 - 1930 Kirchenpräsident i n Speyer (Ehrenbürger der Stadt München). C. Die übrigen deutschen Mittelstaaten 8. Evangelische
Landeskirche
in Württemberg
Wilhelm Frh. v. Gemmingen (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 1012) w a r von 1885 - 1905 Präsident des Landeskonsistoriums i n Stuttgart. Viktor v. Sandberger (1835- 1912), Theologe; 1857 V i k a r i n Honhardt; 1858 Religionslehrer i n Stuttgart; 1860 Repetent i n Tübingen; 1864 Stadtpfarrer i n Herrenberg, 1872 i n Tübingen (1875 Garnisonpfarrer, 1885 Dekan); 1890 Prälat i n Heilbronn; 1894 Prälat f ü r Reutlingen u n d M i t g l i e d des w ü r t t e m bergischen Landeskonsistoriums; 1905 - 10 dessen Präsident. Hermann v. Habermas (1856 - 1938), Jurist; 1886 Amtsrichter i n Bad Cannstadt, dann Landrichter i n Heilbronn; seit 1893 i m w ü r t t . K u l t m i n i s t e r i u m (1896 Ministerialrat, 1903 Regierungsdirektor, 1906 Ministerialdirektor); 1910 bis 1912 Präsident des Württembergischen Landeskonsistoriums; 1912-18 w ü r t t . Kultusminister.
I I I . Die Leitung der evangelischen Kirchenbehörden
871
Hermann Zeller (1849 - 1937), Jurist; zunächst i m w ü r t t . Verwaltungsdienst, seit 1877 i m w ü r t t . Finanzministerium; 1894 Stellv. Bevollmächtigter zum B u n desrat; 1895 Direktor des Statistischen Landesamts i n Stuttgart; 1904 Präsident des Steuerkollegiums ebenda; 1913 Präsident des Landeskonsistoriums; 1918 bis 1924 Präsident der Kirchenregierung; 1924 Ehrenmitglied des Evang. Oberkirchenrats. Evangelische
Landeskirche
in Baden
Ludwig von Stoesser (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 743, A n m . 5, S. 1021) w a r von 1881 bis 1895 Präsident des Evangelischen Oberkirchenrats i n Karlsruhe. Friedrich Willandt (1832 - 1912), Jurist; seit 1854 i m badischen Justiz- u n d Verwaltungsdienst; 1859 i m bad. Innenministerium; 1864 Assessor beim V e r waltungsgerichtshof; 1866 Oberamtmann i n Durlach; 1869 Verwaltungsgerichtsrat i n Karlsruhe; 1877 Ministerialrat i m Innenministerium, 1883 zugleich M i t g l i e d des Kompetenzgerichtshofs; 1889 Präsident des Verwaltungsgerichtshofs u n d des Kompetenzgerichtshofs; 1895- 1903 Präsident des B a d i schen Evangelischen Oberkirchenrats. Albert Helbing (1837 - 1914), Theologe; 1860 V i k a r i n Karlsruhe; 1867 D i a konus, 1869 Hofdiakonus, 1874 Hofprediger, 1889 Oberhofprediger, 1894 zugleich Dekan i n Karlsruhe; 1900 Prälat u n d M i t g l i e d des Evang. Oberkirchenrats; 1903 - 1914 Präsident des Badischen Evangelischen Oberkirchenrats. Eduard Uibel (1846- 1925), Jurist; 1874 Amtsrichter i n Pforzheim; 1879 Staatsanwalt i n Pforzheim, 1881 i n Mannheim; 1882 i n Karlsruhe; 1890 Erster Staatsanwalt i n Konstanz; 1899 Landgerichtsdirektor i n Freiburg; 1901 L a n d gerichtspräsident i n Mosbach, 1904 i n Freiburg; 1915 - 1920 Präsident des Badischen Evangelischen Oberkirchenrats. 10. Evangelische Landeskirche
in
Hessen-Darmstadt
2
Theodor Goldmann (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 1026), w a r von 1877 bis 1899 Präsident des Oberkonsistoriums i n Darmstadt. Adolf Buchner (1829 - 1911), Jurist; 1860 Rechtsanwalt i n Darmstadt; 1879 Vorsitzender der hessischen A n w a l t s k a m m e r , 1886 M i t g l i e d des hessischen Oberkonsistoriums, 1899 - 1907 dessen Präsident. Ludwig Nebel (1857 - 1928), J u r i s t ; zunächst i m hessischen Verwaltungsdienst, seit 1886 K r e i s a m t m a n n i n Friedberg u n d Gießen; 1893 M i t g l i e d des hessischen Oberkonsistoriums, 1907 - 1922 dessen Präsident. 11. Evangelisch-lutherische
Landeskirche
in Sachsen
Dietrich Otto v. Berlepsch (Staat u n d Kirche, Bd. I I , S. 1032) w a r von 1883 bis 1892 Präsident des Landeskonsistoriums i n Dresden. Alfred v. Zahn (1839 - 1910), Jurist; 1868 Kanzleidirektor, A m t s h a u p t m a n n u n d Leiter des Schönburgischen Gesamtkonsistoriums i n Glauchau; Mitglied 2 Vgl. auch O. Horre, Die Präsidenten des Oberkonsistoriums kirchenamts) i n Darmstadt (1932).
(Landes-
Anhang der Landessynode und der I I . Ständekammer; 1874 A m t s h a u p t m a n n i n Z i t tau; 1884 Oberkonsistorialrat i m Landeskonsistorium, Dresden; 1892 - 1910 dessen Präsident. Franz Böhme (1856 - 1932), Jurist; 1884 Hilfsrichter i n Bautzen; 1885 B ü r germeister i n Meerane, 1890 i n Freiberg; 1891 M i t g l i e d der I. Ständekammer; 1895 Geh. Regierungsrat i m sächs. K u l t u s m i n i s t e r i u m als Bearbeiter der K i r chensachen; 1910 - 1927 Präsident des Landeskonsistoriums; g i l t als Vater der sächsischen Kirchengemeindeordnung u n d Kirchenverfassung von 1921/22 w i e auch als Schöpfer der Verfassung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses von 1922; Stellv. Vorsitzender des Deutschen Evangelischen K i r chenausschusses. Ernst Julius Meier (1828- 1897), Theologe; zunächst Hauslehrer; 1854 Pfarrer i n Flemmingen (Sachsen-Altenburg); 1864 Oberpfarrer u n d Superintendent i n Lößnitz, 1867 Stadtprediger an der Frauenkirche i n Dresden u n d Superintendent von Dresden-Land; 1873 Konsistorialrat, 1886 Oberkonsistorialrat i m sächsischen Landeskonsistorium; 1890 - 1897 Oberhofprediger u n d Vizepräsident des Landeskonsistoriums. Oskar Ackermann (1836- 1913), Theologe; zunächst Hauslehrer, 1861 K a t e chet an der Heilanstalt Sonnenstein (Pirna); 1862 Religionslehrer i n Zwickau; 1866 Professor an der Landes- u n d Fürstenschule St. A f r a i n Meißen; 1873 Pfarrer an St. Afra, 1883 Pfarrer an der Frauenkirche u n d Superintendent des Kirchenkreises Meißen; 1888 Oberkonsistorialrat i m sächsischen Landeskonsistorium i n Dresden; 1898- 1910 Oberhofprediger u n d Vizepräsident des Landeskonsistoriums; seit 1902 zugleich Vorsitzender der Eisenacher Kirchenkonferenz. Franz Wilhelm Dibelius (1847 - 1924), Theologe; 1871 Inspektor des D o m kandidatenstifts i n Berlin, 1874 Pfarrer an der Annenkirche i n Dresden, 1884 Pfarrer an der Kreuzkirche u n d Stadtsuperintendent; 1910- 1922 Oberhofprediger u n d Vizepräsident des Landeskonsistoriums. 12. Evangelisch-lutherische
Landeskirche
in
Braunschweig
Carl v. Schmidt-Phiseldeck (1835 - 1895), Jurist; 1861 i m Dienst des L a n deshauptarchivs Wolfenbüttel; 1875 Konsistorialrat; 1885- 95 Präsident des Braunschweigischen Landeskonsistoriums; 1879- 90 i m Nebenamt Vorstand des Landeshauptarchivs; 1879 - 93 M i t g l i e d der Landesversammlung. Gustav Spies (1833 - 1910), Jurist; zunächst i m braunschweigischen V e r w a l tungsdienst, zuletzt Kreisrat i n Wolfenbüttel; 1877 Konsistorialrat, 1893 Oberkonsistorialrat, 1886 - 1906 Präsident des Braunschweigischen Landeskonsistoriums. Friedrich Sievers (1855 - 1952), J u r i s t ; zunächst i m Braunschweigischen V e r waltungsdienst; 1883 Ministerialsekretär; 1896 Kreisdirektor i n Holzminden; 1906-23 Präsident des Braunschweigischen Landeskonsistoriums; 1921-23 zugleich Vorsitzender der vorläufigen Kirchenregierung.
I I I . Die Leitung der evangelischen Kirchenbehörden 13. Evangelisch-lutherische
Landeskirche
in
Oldenburg
873
3
Martin Bernhard Schomann (1831 - 1904), Jurist; seit 1856 i m oldenburgischen Justizdienst, seit 1871 a m Obergericht i n Oldenburg; 1879 Oberlandesgerichtsrat, 1898 Präsident des Oberlandesgerichts; 1879 Vorstand des Oberkirchenrats, 1883 Direktor, 1893 - 1904 Präsident des Oberkirchenrats (1901 Exzellenz, 1903 Kapitulargroßkomtur). Eugen v. Finckh (1860 - 1930), Jurist; zunächst Richter, dann Vortr. Rat i m oldenburgischen Justizministerium; 1904 -1920 zugleich Präsident des Oberkirchenrats; 1923- 1930 oldenburgischer Ministerpräsident, zugleich Justizund Kultusminister (der D V P nahestehend). 14. Evangelische Kirche Augsburger
Konfession
in Eis
aß-Lothringen
Christian Friedrich Petri (1826 - 1907), Jurist; Notar i n Sulz u. W.; 1872 bis 1881 Mitglied, 1885 - 1903 Präsident des Direktoriums der Evangelischen K i r che Augsburger Konfession. Petri w a r Nachfolger von Johann Ludwig Eduard Kratz (1800 - 1884), der das Präsidentenamt von 1871 - 1884 inne hatte. Friedrich Curtius (1851 - 1933), J u r i s t ; seit 1878 i n der elsässischen V e r w a l tung, seit 1879 i n der Kreisdirektion Metz; 1884 Kreisdirektor i n T h a n n ; 1898 i n Colmar; Kreisdirektor von Straßburg; 1903 - 1914 Präsident des D i r e k t o riums der Evangelischen Kirche Augsburger Konfession. Hans Frh. von der Goltz (1864 - 1941), Jurist; 1890 Regierungsassessor, 1892 Beigeordneter der Stadt Straßburg; 1901 - 14 Kreisdirektor i n Diedenhofen, Zabern u n d Straßburg; 1914 Präsident des Oberschulrats von E l s a ß - L o t h r i n gen; 1915 - 1918 Präsident des Direktoriums der Evangelischen Kirche Augsburger Konfession; 1919 Präsident des Konsistoriums i n Danzig; 1920 - 1933 Oberkonsistorialpräsident der Rheinprovinz i n Koblenz (D.theol.).
3 Das A m t des Präsidenten des oldenburgischen Oberkirchenrats w a r bis 1920 ein Nebenamt.