St. Jakob und der Sternenweg: Mittelalterliche Wurzeln einer großen Wallfahrt 9783205793601, 9783205796077


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St. Jakob und der Sternenweg: Mittelalterliche Wurzeln einer großen Wallfahrt
 9783205793601, 9783205796077

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Michael Mitterauer

St. Jakob und der Sternenweg Mittelalterliche Wurzeln einer großen Wallfahrt

2014 Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch die Kulturabteilung der Stadt Wien – MA 7 die Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Man walking alone at Camino de Santiago. Foto: Memo Vasquez (© gettyimages)

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Wolfram Aichinger und Nikola Langreiter Einbandgestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79607-7

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 „Jakobus, der Sohn des Zebedäus“ . . . . . . . . . . 13 „Begraben in Jerusalem“ . . . . . . . . . . . . . . . 29 „Wer zum heiligen Jakob geht und nicht zum Erlöser, der besucht den Knecht und versäumt den Herrn“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 „Der Weg beginnt in deinem Haus“ . . . . . . . . . 72 „Die Sternenstraße, die du am Himmel gesehen hast“ . . . . . . . . . . 104 „Im Norden leben die Toten“ . . . . . . . . . . . . . 136 „Alle Toten müssen zum heiligen Jakob von Galicien gehen“ . . . . . . . . . 161 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .196 Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

Dank

Mit Wolfram Aichinger ist dieses Buch in besonderer Weise verbunden. Unsere Gespräche über Themen der Historischen Anthropologie haben vor siebzehn Jahren in Bulgarien begonnen und schließlich nach Galicien geführt. Mittelalterliche Heiligenverehrung war dabei ein besonderer Schwerpunkt. Aus einem Gastvortrag in seiner Vorlesung am Romanistischen Institut der Universität Wien entstand das Konzept zu dieser Publikation. In allen Höhen und Tiefen der Textgestaltung hat er mich hilfreich begleitet. – Aus einer Anfrage zu frühen Nennungen des „Sternenwegs“ entstand der Kontakt zu Robert Plötz. Weit über diesen Anlassfall hinaus hat mich der profunde Kenner der Jakobusforschung aus seinem reichen Wissen mit Informationen, Ergänzungen und Kritik beraten. Es war schön, von unterschiedlichen Ausgangspositionen aus über gemeinsame Interessensgebiete ins Gespräch zu kommen. – Die erste Begegnung mit dem Jakobsweg hat mir Paloma Fernández de la Hoz Mola erschlossen. Ich freue mich, dass wir nach Jahren der fachlichen Zusammenarbeit so viel an Gemeinsamkeit erhalten konnten. – Ángel Quiroga hat mir wichtige Zugänge zu vorchristlichen heiligen Orten in Galicien vermittelt. So konnte ich einen Grundgedanken dieser Studie weiter vertiefen. – In einer Phase der Überlastung hat Magda Oberreiter die Reinschrift des Manuskripts übernommen und so einen erfolgreichen Abschluss ermöglicht. – Das freundschaftliche Gespräch mit Peter Rauch hat die Entstehung dieses Buchs begleitet. Es bedurfte einer solchen Vertrauensbasis, um noch einmal Neues zu beginnen. Allen, die in diesem Sinne angeregt, ermuntert, geholfen und unterstützt haben, sei herzlich gedankt.

Einleitung

Die Bedeutung des spanischen Wallfahrtszentrums Santiago de Compostela hat in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen. 1986 wurden 2.491 Pilger gezählt, aus Anlass des Besuchs von Papst Johannes Paul II. 1989 waren es 5.760. Vor allem in den „heiligen Jahren“, die in Santiago immer dann gefeiert werden, wenn das Jakobs­ fest auf einen Sonntag fällt, wächst die Pilgerzahl besonders an: 1999 auf 154.613, 2004 auf 179.944 und 2010 auf 272.135. Aber auch in Normaljahren wird die 100.000er Grenze regelmäßig überschritten. 2013 wurden sogar rund 215.000 Pilgerurkunden ausgestellt. Dabei beziehen sich diese Zahlen bloß auf die offiziell im Pilgerbüro der Kathedrale Gemeldeten, die die sogenannte „Compostela“, das Zertifikat über die Erfüllung der herkömmlichen Pilgerkriterien, erhalten wollen. Unter ihnen nimmt die Zahl jener zu, die nicht ausschließlich religiös motiviert sind. Verschiedene andere Beweggründe können für sie im Vordergrund stehen – etwa historisch-kulturelle ­Motive, touristisches Erleben, Abenteuer oder Selbsterfahrung. Durch sie wird die Bewältigung des Jakobswegs immer mehr zu einer vielfältigen Aufgabenstellung, die die traditionell religiösen Ziele des Pilgerns weit überschreitet. Auch die Herkunftsländer der Pilger nehmen zu. Zwar stehen nach wie vor die Spanier mit etwa der Hälfte der Pilger im Vordergrund, neben ihnen gewinnen aber Deutsche, Italiener und Franzosen als große­­Herkunftsgruppen an Bedeutung. Der wachsende

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Einleitung

Zuzug aus Europa beschränkt sich keineswegs nur auf mehrheitlich katholische Länder. Immer häufiger werden auch Pilger aus überseeischen Regionen registriert. Der Einzugsbereich der Wallfahrt weitet sich aus. Santiago wird neuerlich zu einem europäischen, darüber hinaus aber auch zu einem internationalen Wallfahrtszentrum. Das Pilgern auf dem Jakobsweg bewegt die Menschen. Obrigkeitliche Maßnahmen tragen dem wachsenden Interesse Rechnung. Solche Maßnahmen geben aber auch ihrerseits neue Impulse. In Spanien wurden seit den 1950er Jahren Anstrengungen unternommen, die historischen Bauten entlang des Jakobswegs zu schützen. 1962 wurde der Hauptweg offiziell zum „historisch-künstlerischen Ensemble“ erklärt. 1984 ernannte der Europarat den Weg zum ersten „Europäischen Kulturweg“, denn er „dokumentiere den Werdegang Europas“. Der Jakobsweg wurde so zum Muster für andere kulturpolitische Maßnahmen dieser Art. 1993 nahm die UNESCO die alte Pilgerstraße in die Liste der Monumente des Weltkultur­ erbes auf. Unter Schutz gestellt wurde der gesamte historische Weg, wie er im „Liber Sancti Jacobi“ aus dem 12. Jahrhundert als „Camino Francés“ beschrieben ist, und zwar in einer Breite von mindestens dreißig K ­ ilometern auf beiden Seiten. Dabei wurden 1800 Einzelbauten in 166 Städten und Dörfern einbezogen. Neben Sakralbauten aller Art – von Kathedralen über Klöster bis zu Kapellen – gehören zu den geschützten Objekten auch Einrichtungen für die Versorgung von Pilgern, Paläste, Privathäuser, Brücken, Schleusen, Wegkreuze aus der Zeit zwischen dem 11. Jahrhundert und der Gegenwart. So führen die Schutzmaßnahmen der jüngsten Vergangen-

Einleitung

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heit bis weit zurück in die Geschichte. Die zunehmende Bedeutung des Jakobswegs in den letzten Jahrzehnten verweist auf eine große Tradition mit neuer Aktualität. Es lässt sich sicher nicht behaupten, dass der Boom, den die Pilgerschaft nach Santiago de Compostela in unserer Zeit erlebt, eine bloße Wiederholung des großen Aufschwungs im Hoch- und Spätmittelalter darstellt. Zu unterschiedlich sind der jeweilige gesellschaftliche Kontext, die Motive der Pilger, das religiöse Weltbild, in das sie eingeordnet sind. Und doch lassen sich Zusammenhänge erkennen. Die aktuelle Bedeutung der Pilgerschaft ist ohne deren historische Wurzeln nicht zu verstehen – sowohl in ihren Kontinuitäten als auch in ihren Kontrasten. Das Phänomen Santiago bedarf auch einer historisch-genetischen Interpretation. Und diesbezüglich stellen sich für die Wissenschaft viele Fragen. Die Ausstrahlungskraft Santiagos im Mittelalter ist ähnlich enigmatisch wie jene in der Gegenwart. Um solche Rätsel des Ursprungs soll es hier gehen. Schon im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurden Zweifel laut, ob denn der Apostel Jakobus der Ältere wirklich in Santiago de Compostela begraben liegt. Warum sollte dieses Apostelgrab erst im 9. Jahrhundert bekannt geworden sein? Und wie konnte sich die Vorstellung durchsetzen, dass es im äußersten Westen des europäischen Kontinents im spanischen Galicien, also „am Ende der Welt“, zu suchen sei? Was führte nach dem Grabfund dazu, dass so zahlreich Pilger nach Santiago kamen – ein Zustrom, der schon bald den zu älteren Wallfahrtsorten der Iberischen Halbinsel übertraf und schließlich jenen der altchristlichen Pilgerzent-

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ren Jerusalem und Rom erreichte? Welche Rolle spielte dabei das Königtum, welche die Kirche? Wie kam es in den unwirtlichen Gebirgsregionen des nördlichen Spanien zu einer derart hoch entwickelten Infrastruktur des Pilgerwesens, die für die Wallfahrt in Europa insgesamt vorbildlich wurde? Was waren die Wurzeln der besonderen Heiligkeit dieser Pilgerstraße – die christlichen wie die vorchristlichen? Spielte ein religiös-kultureller Sonderweg Galiciens im Raum der Iberischen Halbinsel bei der Entstehung des großen Wallfahrtszentrums eine Rolle? Ging es dabei in besonderer Weise um das Verhältnis von Lebenden und Toten und damit auch um spezifische Jenseitsvorstellungen? War es letztlich die Bedeutung des heiligen Jakob in solchen Jenseitsvorstellungen, die den einmaligen Aufstieg des Jakobskults in der europäischen Christenheit des Mittelalters begründete? Solchen und ähnlichen Fragen soll in den folgenden Kapiteln nachgegangen werden. Sie wurden in der umfangreichen Literatur zur Geschichte des Jakobswegs schon vielfach gestellt. Die hier vorgelegten Versuche, sie zu beantworten, greifen nur einen schmalen Ausschnitt aus diesem reichen Schrifttum auf. Die Jakobusforschung ist ein weites Feld. Die vielen Autorinnen und Autoren, deren Forschungsergebnissen die hier angestellten Überlegungen verpflichtet sind, können im Literaturverzeichnis nur in Auswahl genannt werden. Die für die einzelnen Kapitel gewählten Zitattitel deuten an, dass es sich nicht um eine zusammenfassende Überblicksdarstellung handelt, sondern nur um Skizzen zu einigen thematischen Schwerpunkten. Sie folgen einer bestimmten Argumentationslinie, der entlang neue Er-

Einleitung

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klärungszusammenhänge versucht werden. Der Gesamttitel der Studie spricht einen für solche Zusammenhänge wichtigen Grundgedanken an, nämlich die Verbindung zwischen christlichen und vorchristlichen Entstehungsbedingungen. Die hohe Verehrung des heiligen Jakobus im Norden der Iberischen Halbinsel setzte erst im Frühmittelalter ein. Der Sternenglaube in dieser Region reicht weiter zurück. In vielen europäischen Sprachen wurde „Weg des heiligen Jakob“ zur Bezeichnung für die Milchstraße. Die Entsprechung zwischen himmlischem und irdischem Weg lebt in der Symbolik des „Sternenwegs“ für die große Pilgerstraße bis in die Gegenwart weiter. Der persönliche Zugang zur Beschäftigung mit den Ursprüngen der mittelalterlichen Jakobsverehrung und deren Ausdrucksformen in der Entstehung des Jakobswegs führte über viele Stationen. 1967 veröffentlichte ich einen Aufsatz über „Jahrmärkte in Nachfolge antiker Zentralorte“. Die Arbeit an diesem Thema machte mir das Phänomen der Kontinuität von Kultorten vorchristlicher und christlicher Zeit bewusst – und die Bedeutung epochenübergreifender Zusammenhänge insgesamt. Es folgten Studien über die Theorie der zentralen Orte, über heilige Orte im Kontext von Zentralortsystemen, über Dimensionen des Heiligen, über Strukturen der westlichen Kirche im Mittelalter im Allgemeinen. Alle diese strukturgeschichtlichen Themenstellungen machten eine vergleichende Zugangsweise notwendig. Einen solchen komparativen Ansatz sollen auch die Kapitel dieses Buches verstärkt in die Überlegungen zu den Anfängen des Jakobswegs einbringen. Er führt vertiefend in die Sakraltopographie des Iberischen Raums – mit spe-

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zifischen Akzentsetzungen jedoch auch weit über diesen hinaus. Die Geschichte heiliger Orte und heiliger Wege, die zu ihnen führen, macht Heiligkeit in der Geschichte allgemein zum Thema. Ein solcher Zugang ist mehr der Historischen Anthropologie als der Kirchengeschichte verpflichtet. Historisch-anthropologische Beschäftigung mit Wallfahrt bietet primär Analyse und Erklärung aus geschichtlichen Zusammenhängen. Pilgern am Jakobsweg heute bedeutet hingegen in erster Linie Erlebnis und Erfahrung. Das sind sicherlich sehr unterschiedliche Dimensionen. Sie können einander jedoch sinnvoll ergänzen. Beiden gemeinsam ist letztlich das Interesse an der Bedeutung von Religion im Leben der Menschen.

„Jakobus, der Sohn des Zebedäus“

Im Neuen Testament begegnen mehrere Träger des Namens Jakobus. Sie werden in der Bibel selbst, ebenso aber auch in der christlichen Tradition in der Regel durch zusätzliche Bezeichnungen unterschieden. In der Aufzählung der Apostel im Matthäusevangelium finden sich zwei Jakob – der eine als „Sohn des Zebedäus“, der andere als „Sohn des Alphäus“ charakterisiert. Lateinisch werden sie als „Jacobus maior“ und „Jacobus minor“ bezeichnet, also als „Jakobus der Ältere“ und „Jakobus der Jüngere“. Letzterer ist nicht zu verwechseln mit Jakobus „dem Kleinen“, dem Sohn einer Jüngerin Jesu. Das Konzil von Trient hat im 16. Jahrhundert für die katholische Kirche eine Gleichsetzung von Jakobus, dem Sohn des Alphäus mit Jakobus „dem Kleinen“ und dem „Herrenbruder“ Jakob verbindlich gemacht, was zu exegetischen Problemen führt. Neben den beiden Aposteln mit Namen Jakob zählt der gleichnamige „Herrenbruder“ zu den besonders prominenten Persönlichkeiten der christlichen Frühzeit. Er leitete nach dem Bericht der Apostelgeschichte die Gemeinde von Jerusalem und spielte beim Apostelkonzil eine bedeutende Rolle. Ein Großteil der Forschung erscheint bereit, in ihm einen leiblichen Bruder Jesu zu sehen. Die Überlieferung schreibt ihm die Autorenschaft des kanonischen Jakobusbriefes sowie mehrerer apokrypher Schriften, darunter des sogenannten „Protoevangeliums des Jakobus“ zu. Letzteres gilt heute als eher unwahrscheinlich. Es ist also für die

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Frühzeit der Kirche mit weiteren bedeutenden Namensträgern zu rechnen. Dazu gehört auch der Schöpfer der Jakobusliturgie, der ältesten christlichen Gottesdienstordnung, die ihren Ausgang von Jerusalem genommen hat. In der Überlieferung kam es zwischen diesen verschiedenen Namensträgern zu Überschneidungen bzw. Verwechslungen. Die Erwähnungen von Jakobus, dem Sohn des Zebedäus, im Neuen Testament sind allerdings ziemlich eindeutig zuordenbar. Es handelt sich nur um einige wenige, aber durchaus bedeutsame. Stets tritt Jakobus gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Johannes in Erscheinung – so bei der Berufung der ersten Jünger, bei der Auswahl der zwölf Apostel, bei der Bitte seiner Mutter für ihn und seinen Bruder um die Ehrenplätze an Jesu Seite in dessen zukünftigem Reich, bei der Auferweckung der Tochter des Jairus von den Toten, bei der Verklärung Jesu am Berg Tabor und schließlich beim Gebet Jesu im Garten Gethsemane vor der Gefangennahme. Gemeinsam mit Petrus und seinem jüngeren Bruder gehört er zum engsten Kreis der Jünger Jesu. Stets wird er als der ältere Zebedäussohn dem jüngeren vorangestellt. Erst in der Apostelgeschichte erscheint er diesem in der Aufzählung der Apostel an dritter Stelle nachgereiht. Auffallend ist, dass er im Evangelium des Johannes kein einziges Mal namentlich genannt wird. Aber auch Selbstnennungen des Lieblingsjüngers erfolgen in dem ihm zugeschriebenen Evangelium sehr zurückhaltend. Nachbenennungen nach Trägern des Namens Jakob im frühen Christentum lassen in der Regel nicht erkennen, auf welchen Jakob jeweils Bezug genommen wird. In

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der Entwicklung der Namensformen werden allerdings unterschiedliche Grundlinien erkennbar. Man kann sie mit verschiedenen Traditionen der Jakobsverehrung in Verbindung bringen. Das gilt vor allem für den Raum der Iberischen Halbinsel. Hier begegnen zwei Gruppen von Formen des Namens Jakob. Im Osten dominiert der Typus Jaime/Jaume. Er ist mit dem italienischen Giacomo, aber auch mit dem englischen James verwandt. Seine Wurzel liegt im vulgärlateinischen Jacomus, der sich – wahrscheinlich unter griechischem Einfluss – aus Jacobus gebildet hat. Im Westen finden sich so unterschiedliche Namensformen wie Jacobus, Jacopo, Yago, Jago, Santiago, Tjago, Tiago und Diego. Solche Varianten begegnen im Kastilischen und Portugiesischen, im Baskischen und vor allem im Galicischen. Nirgendwo anders im christ­ lichen Großraum der Benennung nach einem biblischen Träger dieses Namens finden sich in der historischen Entwicklung so viele so unterschiedliche und so stark veränderte Namensformen nebeneinander. Zweifellos geht diese Sonderentwicklung auf die besondere Verehrung des heiligen Jakobus des Älteren in Santiago de Compostela in Galicien zurück. Ausdruck dieser besonderen Verehrung ist die Verbindung des Heiligennamens mit dem Prädikat „sanctus“/heilig, die wiederum zur gekürzten Namensform geführt haben dürfte. Der Name Diego kommt – latinisiert zu Didacus – in galicischen Adelsgeschlechtern schon seit dem ausgehenden 9. Jahrhundert vor. Eine Kürzung solcher in der Vollform besonders tabuisierten „nomina sacra“ begegnet in der Geschichte der Namengebung mehrfach. Auch die Entwicklungs­ linie Jago−Santiago−Diego führt letztlich auf eine vulgär­

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lateinische Wurzel zurück. Der Unterschied zwischen der Jacomus-Gruppe und der Jacobus-Gruppe dürfte in einer unterschiedlichen Betonung des Namens auf der ersten bzw. auf der zweiten Silbe in Anschluss an die griechischsprachige Septuaginta bzw. die lateinischsprachige Vulgata zu suchen sein. Von der biblischen Grundform hat sich die Namensentwicklung besonders durch die Kurzform wegbewegt. Der Jakobskult mit dem Zentrum in Santiago de Compostela hat diesbezüglich sicher eine besondere Dynamik bewirkt. Heiligkeit von Namen korrespondiert vielfach mit der Heiligkeit von Bildern. In der byzantinischen Tradition macht erst der Name des Heiligen dessen Bild zur Ikone, die den Heiligen repräsentiert. Namengebung nach biblischen Vorbildgestalten lässt allerdings bei Gleich­namigkeit keine eindeutige Zuordnung zu. Unterschied­liche Bildformen ermöglichen das. So wird auf der Iberischen Halbinsel in Analogie zu Jakobus dem Älteren auch Jakobus der Jüngere als „Santiago“ bezeichnet. In der bildlichen Darstellung hingegen ist er durch das Attri­but der Walkerstange – dem Instrument seines Martyriums – eindeutig von ersterem unterschieden. Die Darstellungsformen von Jakobus dem Älteren haben eine vielfältige Entwicklung durchgemacht – im Westen mit weitaus stärkerer Dynamik als im Osten. Die ältesten zeigen ihn mit Buch oder Schriftrolle – jenen Zeichen, die den Aposteln als Verkündigern des Evangeliums allgemein beigegeben wurden. In der Ostkirche wird ­Jakobus der Ältere auch als Schöpfer der Jakobusliturgie verehrt. Dementsprechend hat er auf der Ikonenwand seinen Platz neben anderen Heiligen, denen liturgische

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Ordnungen zugeschrieben werden, nämlich Basilius von Cäsarea, Johannes Chrysostomos und Gregor von Rom. Weiters begegnet er in der Festtagsikone der Verklärung auf dem Berg Tabor als einer der drei Jünger, die Jesus begleitet haben. In der Westkirche kommt diesem Bildmotiv keine vergleichbare Bedeutung zu. Hier gehört das Schwert, mit dem der Apostel der Überlieferung nach unter der Herrschaft des Herodes Agrippa (41–44) hingerichtet wurde, zu den älteren Attributen des Heiligen. Es lebt in der spezifischen Gestaltung des Jakobus-Kreuzes nach. Im Hoch- und Spätmittelalter ändern sich in der Westkirche die Darstellungsformen grundlegend. Europa­weit tritt das Bild des Apostels als Pilger in den Vordergrund. Als solcher trägt er die Pilgertracht, nämlich einen kurzen Mantel sowie den Pilgerhut, weiters eine umgehängte ­Tasche, die Flasche zum Trinken sowie den Pilgerstab. Sein wichtigstes Attribut ist nun die Muschel, die in verschiedenen Formen in die Bildgestaltung aufgenommen werden kann. In der Bauplastik begegnet sie schon seit dem frühen 12. Jahrhundert. Die große Kammmuschel („Pecten maximus“), um die es sich bei der Ikonographie des heiligen Jakobus handelt, ist zu unterscheiden von der seit Linné irrtümlich als „Pecten jacobaeus“ bezeichneten mediterranen Schwesterart. Sie ist an der Küste Galiciens, aber auch anderwärts an der Atlantikküste weit verbreitet. Sie verweist über Santiago de Compostela hinaus auf ein Pilger­ ziel am Meer. Schon seit der Antike ist mit ihr die religiöse Symbolik des ewigen Lebens verbunden. Als Nachweis der heroischen Leistung der Pilgerschaft „bis ans Ende

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der Welt“ wurde sie Jakobspilgern vielfach ins Grab mitgegeben. Gerade bei Grabungskampagnen aus jüngster Vergangenheit kamen zahlreiche Jakobsmuscheln in Pilgergräbern zutage. Das gilt vor allem für Nordspanien und Südwestfrankreich, aber insgesamt für den Einzugsbereich der Wallfahrt nach Santiago in ihrer ganzen europäischen Dimension. Die ältesten Funde stammen aus dem 11. Jahrhundert. Zunächst handelt es sich um natürliche Muschelschalen, die zum Aufnähen auf die Pilgerkleidung oder für den Gebrauch als Anhänger perforiert wurden, dann um Nachbildungen in verschiedenen Materialien, deren Verwendung auch sonst bei Pilgerzeichen üblich war. Warum nahmen Jakobspilger vom Zielort ihrer Wallfahrt bzw. von den nahe gelegenen Küsten Galiciens Muscheln mit? Warum wurden ihnen diese nach ihrem Tod so häufig ins Grab mitgegeben? Diese Fragen werden in der Fachliteratur unterschiedlich beantwortet. Vielfach findet sich dabei die Charakteristik „Souvenir“. Souvenirs in unserem heutigen Verständnis des Wortes waren den Menschen des Mittelalters weitgehend fremd. Und warum sollten solche „Erinnerungsstücke“ ins Grab mitgegeben worden sein? Zum Unterschied von vorangehenden Kulturen hat die mittelalterliche Kirche das Brauchtum der Grabbeigaben entschieden bekämpft. Warum gab es bei der Pilgermuschel diese Ausnahme? Klaus Herbers und Hartmut Kühne fassen in ihrer Einführung zu „Mittelalterliche Pilgerzeichen“ 2013 zusammen: „… durch ihre eigentliche Funktion, den Träger sichtbar als Pilger auszuweisen, stellen sie eine Innovati-

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on gegenüber den antiken Wallfahrtsandenken dar, von denen sie sich als eigenständige Erscheinung deutlich absetzen. Das Phänomen der so verstandenen Pilgerzeichen lässt sich im ausgehenden 11. Jahrhundert zum ersten Mal belegen, als Besucher des Jakobsgrabes gebohrte Jakobsmuscheln (pecten maximus) als Zeichen ihres Pilgerstandes an ihre Kleidung zu heften begannen … dies ist kein Zufall, denn erst seit dem 11. Jahrhundert begriff man Pilger als eine besondere Gruppe von Reisenden, die dies aus religiösen Gründen taten und daher unter kirchlichen Schutz gestellt waren. Daher mussten sie sich auch sichtbar kennzeichnen. In der Entstehung der Pilgerzeichen manifestierte sich also auch die Entstehung des abendländischen Pilgers als eines eigenständigen Standes und kulturellen Typus sowie der damit verbundenen Infrastruktur“ (S. 9 f ). Pilgerschutz, freier Zugang zu Hospizen, Zollfreiheit und ähnliche Vorrechte – die praktische Funktion von solchen Erkennungszeichen im irdischen Leben liegt auf der Hand. Hatten sie darüber hinaus vielleicht eine Funktion als Erkennungszeichen im Leben danach? Das könnte die Mitgabe ins Grab verständlich machen helfen. In seiner zusammenfassenden Darstellung der Pilgerzeichenforschung meint Andreas Haasis-Berner dazu (S. 69): „Abschließend ist zu erwähnen, dass zahlreiche Pilgerzeichen – insbesondere bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts – als Grabbeigabe dienten. Diese Grabbeigaben waren wohl durch die Hoffnung motiviert, bei der Auferstehung als Pilger erkannt zu werden, um unverzüglich das Paradies erlangen zu können“. Barbara Haab formuliert diesbezüglich in ihrer Arbeit über die Spiritualität der Jakobspilger speziell zur Bedeutung der

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Muschel: „Als Grabbeigabe ehemaliger PilgerInnen wird sie zum ‚Eintrittsbillett‘ in den Himmel, als konkretes Zeichen der Pilgerfahrt und zum Garanten der Auferstehung“ (S. 72). Norbert Ohler schreibt in „Sterben und Tod im Mittelalter“ (S. 141): „Das Pilgerzeichen als Beweis der Reise zu Lebzeiten und als Hilfe für die Reise ins Jenseits: Mit ins Grab gelegt, erinnerte es daran, dass der Verstorbene einst eine mühsame und kostspielige Reise zu Ehren des Heiligen unternommen hatte; dieser sollte sich als Fürsprecher für den sündigen Wallfahrer bei Gott einsetzen“. Man darf wohl solche Überlegungen im Kontext spezifischer Traditionen weiterdenken, die mit dem Jakobsweg verbunden waren und von denen noch mehrfach zu sprechen sein wird: Wer die Pilgerreise nach Santiago nicht zu Lebzeiten absolviert hatte, der müsste das nach seinem Tod nachholen. Die Jakobsmuschel im Pilgergrab als Erkennungszeichen im Jenseits – das ergibt als Erklärung für diese eigenartige Begräbnissitte durchaus Sinn. Sie verweist auf eine sehr frühe Verbindung zwischen Jakobsverehrung und Jenseitsreise, auf die immer wieder zurückzukommen sein wird. Die Muschel als Zeichen der Jakobspilger entwickelte sich zum Symbol der Pilgerschaft schlechthin – eine Bedeutung die bis in die Gegenwart nachwirkt. Die gerippte Muschel könnte auch mit der Sternensymbolik zusammenhängen, die für den Jakobskult so bedeutsam wurde. Die im Spätmittelalter vorherrschende Darstellungsform von St. Jakobus als Pilger erscheint als ein ikonographisch besonders bemerkenswertes Phänomen: Der Heilige nimmt die Gestalt seiner Verehrer an. Darin kommt mehr zum Ausdruck als ein besonderes Patronat

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für die Pilger. Der Heilige geht selbst den Pilgerweg mit. In der östlichen Christenheit fehlt jegliche Entsprechung zu diesem Konzept. Es lässt sich bloß aus spezifischen Kultentwicklungen der Westkirche erklären, die durch die Wallfahrt nach Santiago de Compostela bestimmt sind. Der totale Bruch mit traditionellen Darstellungsformen betrifft nicht nur das dominante Bild des heiligen Jakobus als Pilger, sondern auch das davon gänzlich abweichende als Schlachtenhelfer gegen die Mauren − durch die Bezeichnung „Santiago matamoros“ markant charakterisiert. Als Ursprungslegende dieses Bildtypus gilt die mythische Schlacht von Clavijo 844. Der Heilige soll damals dem asturischen König zum Sieg verholfen haben, indem er – auf einem weißen Pferd reitend – in die Schlacht eingriff. Ähnliche Traditionen von Heiligen als „matamoros“ gibt es auch von San Isidoro, bei dessen Reliquien in León das Königshaus seine Grablege einrichtete, bzw. von San Millán. Der neue Bildtypus des heiligen Jakobus als Schlachtenhelfer ist viel jünger als es die Ursprungslegende behauptet. Er hängt mit Quellen des 12. Jahrhunderts zusammen, die den Apostel wegen seiner angeblichen Hilfe bei der Einnahme der Stadt Coimbra als „miles Christi“, also als Ritter, bezeichnen. Das Bild des Heiligen mit Waffen und Fahne zu Pferd kommt aus dem Osten. St. Georg, St. Demetrius oder St. Mercurius sind Vorläufer des Bildtypus der Ritterheiligen. St. Jakob als heiliger Ritter bleibt – zum Unterschied von St. Jakob als Pilger – in der mittelalterlichen Christenheit auf die Iberische Halbinsel beschränkt, hat von dort allerdings späterhin ins spanische Kolonialreich expandiert.

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Die große Pilgertradition von Santiago de Compostela lässt sich jedenfalls nicht allein und auch nicht primär aus der Reconquista erklären, für die „Santiago matamoros“ steht. In den verschiedenen christlichen Kirchen wird heute Jakobus der Ältere an sehr unterschiedlichen Gedenktagen gefeiert – bei den Katholiken am 25. Juli, ebenso in evangelischen Kirchen und bei den Anglikanern, bei den Orthodoxen am 30. April und am 15. November, bei den Armeniern ebenso am 30. April und zusätzlich am 21. Februar und am 25. Dezember, bei den Kopten am 12. April. Jakobus der Jüngere findet sich im liturgischen Kalender bei den Katholiken zum 3. Mai, bei den Ang­likanern zum 1. Mai, in verschiedenen evangelischen Kirchen zum 1. bzw. 3. Mai. Gesondert gefeiert wird der Herrenbruder Jakobus bei den Orthodoxen und in verschiedenen evangelischen Kirchen am 23. Oktober. Der Anfang-Mai-Termin betrifft den Apostel Jakobus den Jüngeren gemeinsam mit dem Apostel Philippus. Diese Verbindung hat nichts mit Zusammenhängen aus biblischen Berichten zu tun. Sie geht vielmehr auf die Weihe der Zwölf-Apostel-Kirche in Rom am 1. Mai 570 zurück, in die Reliquien dieser beiden Apostel überführt wurden. Die frühesten Nennungen eines Gedenktags für Jakobus den Älteren betreffen einen Termin in den Tagen nach Weihnachten. Ein syrisches Martyrologium memoriert die Apostel Jakobus und Johannes gemeinsam am 27. Dezember noch vor Petrus und Paulus am 28. Dezember, der Jerusalemer Festkalender vertauscht diese Gruppierung, sodass die Zebedäus-Söhne am 28. Dezember nachgereiht erscheinen. In den frühen Nennungen eines

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Gedenktags begegnen die beiden Brüder stets gemeinsam. Diese Bindung löst sich, als man sie mit weit auseinanderliegenden Missionssprengeln assoziiert – Johannes mit Kleinasien, Jakobus hingegen mit Spanien. Dadurch gewinnt Jakobus gegenüber seinem jüngeren Bruder, dem Lieblingsjünger Jesu und Autor eines Evangeliums, an Profil. Im Frühmittelalter entsteht in der Westkirche ein neuer Festtagstermin, der sich von den Überlieferungen der östlichen Kirchen deutlich absetzt – nämlich der 25. Juli. An diese römische Tradition schließt mit der Auffindung der vermeintlichen Jakobsreliquien in Galicien und deren Beisetzung in der neu errichteten Kirche an diesem Ort auch die spanische Jakobsverehrung an. Für die ganze Westkirche wird nun dieser Festtag am 25. Juli bestimmend. Europaweit ist mit ihm die Verehrung des heiligen Apostels verbunden. In Santiago de Compostela kulminiert an diesem Tag der Pilgerzustrom, die Festfeiern erreichen ihren Höhepunkt. Auch das heilige Jahr von Santiago ist an ihm orientiert. Der Jubelablass wird hier nicht wie in Rom alle 50 bzw. 25 Jahre gewährt, sondern immer dann, wenn der 25. Juli auf einen Sonntag fällt. Diese eigenartige Berechnung findet sich auch anderwärts in alten Wallfahrtsorten des nordspanischen und aquitanischen Raums. Ihr liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, dass sich durch die Koinzidenz von Jakobstag und Tag des Herrn die Wirkkraft des Heiligen potenziert. Es handelt sich dabei jedenfalls um eine sehr spezifische Konzeption heiliger Zeiten, die sich im großen galicischen Wallfahrtsort entwickelt hat – vielleicht im Anschluss an ältere Vorbilder der Region. Verbunden mit dem Aposteltag am 25. Juli kommt es hier seit dem

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9. Jahrhundert zu ganz neuen Formen des Jakobskults, die wenig Kontinuität zu dessen orientalischen Anfängen in frühchristlicher Zeit erkennen lassen. Pointiert könnte man formulieren: St. Jakob wurde hier neu erfunden. Die ältere, östliche, vom Heiligen Land ausgehende Tradition des Jakobskults und die weit jüngere, westliche, die im spanischen Galicien entstand, spiegeln sich auch in unterschiedlichen Überlieferungen über die Reliquien des Heiligen. In Jerusalem ist deren Bezugspunkt primär die Jakobskathedrale auf dem Zionsberg. Sie ist das Zentrum des Armenierviertels. Während des Arabisch-Israelischen Krieges von 1948 war das Heiligtum vom täglichen Bombardement der Stadt betroffen. Viele Armenier konnten hinter den Mauern der Kathedrale Schutz finden. Trotz des massiven Beschusses wurde sie nicht beschädigt. Zahlreiche Gläubige beteuerten späterhin, dass sie eine weiß gekleidete Gestalt auf dem Dach der Kathedrale gesehen hätten, die die Geschoße abwehrte. Sie waren überzeugt, niemand anderer hätte ihnen geholfen als der Apostel Jakobus der Ältere selbst. Diese Wundergeschichte des 20. Jahrhunderts hat eine bemerkenswerte Parallele. 1937 kam es im Spanischen Bürgerkrieg zur Entscheidungsschlacht bei Brunete. Die Entscheidung fiel am 25. Juli, dem Jakobstag. Francisco Franco war sich sicher, dass er sie der Hilfe des von ihm als Patron Spaniens verehrten Apostels Jakobus zu verdanken habe. Das Armenierviertel in Jerusalem ist uralt. Durch Vorgängerbauten vermittelt dürfte das auch für die Jakobskathedrale gelten. Der Überlieferung nach steht sie an jener Stelle, an der Jakobus der Ältere enthauptet worden sein

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soll. Sein Haupt wird in einer gesonderten Kapelle verehrt. Die Kathedrale ist Jakobus dem Jüngeren geweiht, der unter dem Hauptaltar bestattet geglaubt wird. Seine Reliquien wurden der Tradition nach vom ursprünglichen Bestattungsort im Kedrontal hierher transferiert. Auch sein Bischofsstuhl wird in der Kathedrale verwahrt. Als Leiter der urchristlichen Gemeinde galt er als erster Bischof von Jerusalem. Seit langer Zeit ist die Kathedrale der Sitz des armenischen Patriarchats. Aber auch an anderen Plätzen in Jerusalem glaubt man, den ursprünglichen Begräbnisort Jakobus’ des Älteren vermuten zu dürfen, vor allem auf dem Ölberg. Hier soll er gemeinsam mit seinem Vater Zebedäus bestattet worden sein. Auf die Reliquientradition in Jerusalem geht auch die auf dem Sinai zurück. Kaiser Justinian I. (527 – 65) soll eine Translation dorthin veranlasst haben. Das berühmte Katharinenkloster auf dem Sinai könnte zuvor dem heiligen Jakob geweiht gewesen sein. Zahlreiche Legenden ranken sich um die angebliche Translation der Reliquien Jakobus’ des Älteren vom Heiligen Land nach Spanien. Nach einer von ihnen übergaben die Jünger des Apostels seinen Leichnam nach der Enthauptung einem Schiff ohne Besatzung, das wenige Tage später in Galicien landete. Dort wäre er längere Zeit unbemerkt geblieben, bis ein Eremit namens Pelagius sein Grab entdeckt und den Bischof Theodemir von Iria Flavia darüber informiert habe. Mit Bischof Theodemir, der 847 verstarb und der sich nahe dem Heiligen in der Kirche über dem Apostelgrab beisetzen ließ, betreten wir historisch gesicherten Boden. Bei archäologischen Ausgrabungen wurde hier 1955 seine Grabplatte gefunden.

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Der um 860 verstorbene Diakon Florus von Lyon berichtet über das Grab des Apostels: „Die heiligen Gebeine des seligen Apostels werden nach Spanien übertragen und dort am äußersten Ende, nämlich in der Nähe des britannischen Meeres, niedergelegt und durch die herausragende Verehrung jener Völker ausgezeichnet.“ Mit dieser Entdeckung seines vermeintlichen Grabes beginnt der fulminante Aufstieg der Jakobsverehrung im Abendland. In Santiago glaubte man, die Gebeine Jakobus’ des Älteren insgesamt zu besitzen. Die Kathedrale verfügte aber auch über eine Teilreliquie Jakobus’ des Jüngeren, nämlich dessen Haupt, das in einem Büstenreliquiar in einer Kapelle der Kathedrale aufbewahrt wurde. Es wurde um 1116 von Königin Urraca von León der Kirche von Santiago geschenkt. Sie hatte es ihrerseits von Bischof Mauritius von Coimbra erworben, der es 1104 von einer Pilgerfahrt nach Jerusalem mitgebracht hatte. Zwischen Jerusalem und Santiago kam es so zu einer Umkehr der jeweils verehrten Jakobusreliquien. Das Haupt Jakobus’ des Jüngeren glaubte man allerdings auch in Ancona zu besitzen. Die sterblichen Überreste Jakobus’ des Älteren beanspruchte neben Santiago seit alters ebenso Toulouse. Mit dem Aufschwung der Verehrung in Santiago nahm im Verlauf des Mittelalters auch der Kult von Teilreliquien des Heiligen zu, so etwa in der Grabeskirche der französischen Könige in St. Denis, in der Abteikirche von Reading in der ostanglischen Grafschaft Berkshire, im Jakobskloster in Lüttich, in der Schottenkirche in Würzburg, in Pistoia in der Toskana, in Bari in Apulien oder in

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Caltagirone auf Sizilien. In vielen Kirchen glaubte man, den „wahren Jakob“ zu besitzen. Die Redensart „Das ist der wahre Jakob“ soll auf den Anspruch der Santiago-Pilger zurückgehen, den eigentlich heilbringenden Wallfahrtsort besucht zu haben. Die Existenz erwiesener oder vermeintlicher Reliquien eines Heiligen ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass deren Aufbewahrungsort auf der Basis einer lokalen Heiligenverehrung eine überregionale Pilgertradition entwickeln kann. Allerdings gibt es zwischen einem solchen Reliquienkult und der Entstehung eines Wallfahrtswesens keinen zwingenden Zusammenhang. Das Jakobus dem Älteren zugeschriebene Grab in Galicien hat zur zeitweise bedeutendsten Fernwallfahrt des Mittelalters geführt. Die Reliquien Jakobus’ des Jüngeren hingegen scheinen keine ähnliche Anziehungskraft auf christliche Pilger ausgeübt zu haben. Die Zwölf-Apostel-Kirche in Rom, die bedeutende Reliquien des Apostels barg, zählte nicht einmal zu den sieben Hauptkirchen der Ewigen Stadt, die Pilger besuchen sollten. Allerdings waren in Rom die Jesusreliquien und die Gräber der Apostelfürsten Petrus und Paulus die wichtigsten Wallfahrtsziele. Weitere Apostelgräber hatten so kaum eine Chance, zu eigenständigen Pilgerzielen zu werden. Ähnlich war die Situation in Jerusalem. Vorrangiges Ziel der Pilger waren hier die Gedenkstätten an das Leben Jesu. Die Stätten des Gedenkens an seine Apostel hatten vergleichsweise untergeordnete Bedeutung. Gelegentlich gibt es Berichte, dass Pilger aus dem Westen die große Jakobskathedrale auf dem Zionsberg aufgesucht haben. Wichtiger Ort der Apostelverehrung war diese jedoch primär für Christen

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des Ostens – allen voran die Armenier. Für sie galt die Wallfahrt nach Jerusalem als eine religiöse Verpflichtung, der einmal im Leben nachgekommen werden sollte. Sicher besuchten sie dabei den religiösen Mittelpunkt der armenischen Gemeinde. Zweifellos aber standen auch für sie die Gedenkstätten an das Wirken Jesu im Vordergrund. Eine spezifische Jakobswallfahrt oder gar ein Jakobsweg hat sich bei den Armeniern nicht entwickelt. Was sich im Vergleich der Reliquienorte von Jakobus „maior“ und „minor“ beobachten lässt, gilt für Apostelgräber im Allgemeinen. Es erscheint keineswegs selbstverständlich, dass sie sich zu Pilgerzentren entwickeln. Zur Zeit als man in Galicien das Grab des Apostels J­ akob des Älteren entdeckt zu haben glaubte und an dieser Stelle eine Kirche errichtete, wurden die Reliquien anderer Apostel nach Süditalien transferiert – so die von St. Bartholomäus nach Benevent, von St. Matthäus nach Salerno und von St. Andreas nach Amalfi. Neue Kirchen entstanden an den Plätzen von deren Aufbewahrung. Zu Zielen großer Fernwallfahrten hat sich aber keine von ihnen entwickelt. So scheint es problematisch, den eindrucksvollen Aufschwung der Pilgerschaft zum heiligen Jakob nach Galicien primär von der Existenz eines vermeintlichen Apostelgrabs her erklären zu wollen. Apostelgräber hatten nicht schlechthin eine solche Anziehungskraft. Es mussten andere Faktoren hinzukommen, um ihnen eine derartige Bedeutung zu verleihen. Nach solchen zusätzlichen Faktoren gilt es zu fragen, um das Phänomen Santiago zu verstehen.

„Begraben in Jerusalem“

Einige Jahrzehnte nach dem Bericht des Florus von Lyon über das Grab Jakobus’ des Älteren in Spanien „in der Nähe des britannischen Meeres“ heißt es in einer liturgischen Quelle aus León über den Apostel: „Begraben in Jerusalem“. Eine neue Überlieferung, die in den Zentren des Frankenreichs schon akzeptiert war, stieß in der Hauptstadt jenes Reiches, auf die sie sich bezieht, zunächst auf Widerstand. Der Klerus war hier dieser Neuerung gegenüber im 10. Jahrhundert noch feindlich eingestellt. In Toledo, der alten Hauptstadt des West­ gotenreiches, wo man den Primat über die ganze spanische Kirche beanspruchte, hielt sich diese oppositionelle Haltung sogar bis ins 12. und 13. Jahrhundert. Was war der Hintergrund solcher rivalisierender Traditionen? Die Skepsis gegenüber der Annahme des Jakobsgrabs in Galicien war begründet – ebenso die Zweifel an einer Missionstätigkeit des Apostels in Spanien, die von der Grablegende vorausgesetzt wird. Die Berichte der Bibel wissen von alldem nichts. In der Apostelgeschichte heißt es bloß, dass König Herodes Agrippa Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert hinrichten ließ. Das ereignete sich in der Zeit von 41 bis 44, also schon wenige Jahre nach dem Tod Jesu. Jakobus war somit der erste Blutzeuge unter den Aposteln. Eine Missionsreise nach Spanien während der relativ kurzen Zeitspanne seines Wirkens erscheint unwahrscheinlich. Nach frühchrist­ lichen Quellen hat er in Judäa und Samaria gepredigt.

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Keines der älteren Zeugnisse über Jakobus weicht von diesen Grunddaten ab. Auch in Spanien weiß vom 4. bis zum 8. Jahrhundert kein christlicher Schriftsteller von einem Grab des Apostels in dieser Region. Das gilt von Prudentius (348 – 404) und Hydatius von Aquae Flaviae­(gest. n. 468) über Martin von Braga (515 – 580) bis zu Isidor von Sevilla (560 – 636) und Julian von Toledo (652 – 690). Ein vermeintlicher Hinweis bei Isidor beruht auf späterer Interpolation. Der große fränkische Geschichtsschreiber Gregor von Tours (538 – 594) berichtet viel über spanische Märtyrer, erwähnt aber Jakobus mit keinem Wort – weder seine Missionstätigkeit noch sein Grab. Die Berichte über die Predigttätigkeit des Apostels in Spanien setzen früher ein als die Grabberichte. Außerhalb Spaniens finden sie sich zunächst beim Abt Aldhelm von Malmesbury (gest. 709) in England, der meint, dass Jakobus der erste gewesen wäre, der die spanischen Völker zum Glauben gebracht hätte. In Spanien selbst weiß davon ein Bibelkommentar aus dem 8. Jahrhundert unter dem Titel „De ortu et obitu patrum“. Der Archetypus dieses Werkes mag von Isidor von Sevilla stammen, die entscheidenden Stellen über Jakobus und Spanien scheinen jedoch von späterer Hand eingefügt worden zu sein. Diesbezüglich besonders wichtig ist dann der Apokalypsenkommentar des Beatus von Liébana aus dem ausgehenden 8. Jahrhundert. Alle drei Zeugnisse stützen sich auf eine Schlüsselquelle für die neue Tradition der Jakobsverehrung in Spanien, nämlich das „Breviarium apostolorum“. Dieses „Breviarium apostolorum“ hat eine kompli­ zier­te Vorgeschichte. Es handelt sich jedenfalls um eine

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Quelle, die außerhalb Spaniens entstanden ist und um die Mitte des 7. Jahrhunderts hierher gelangt sein dürfte. Der lateinischen Fassung gehen griechische Vor­stufen aus dem 5. und 6. Jahrhundert voraus. Im Zuge der Übersetzung kam es zu Veränderungen. Die Quelle behandelt Namen und Herkunft der einzelnen Apostel, deren Geburtstage, Missionsgeschichte, Sterbe- und Bestattungsorte sowie deren Gedenktage. Die Vorstellung voneinander unterschiedener Predigtbereiche der einzelnen Apostel geht auf die „Divisio apostolorum“ zurück: Zwölf Jahre nach der Himmelfahrt Jesu hätten sich die Apostel in Jerusalem versammelt und wären dann in die ihnen jeweils zugeteilten Missionssprengel gezogen. Die katholische Kirche feiert dieses Ereignis am 15. Juli. Von der griechischen Fassung des „Breviarium“ im 5. und 6. Jahrhundert zur lateinischen im 7. Jahrhundert vollzog sich hinsichtlich dieser „sortes“ der einzelnen Apostel – den ihnen nach der Überlieferung durch „Los“ zugewiesenen Gebieten – eine wesentliche Veränderung. Für drei der zwölf Apostel wird ein neues Missionsgebiet genannt: für St. Matthäus Mazedonien statt Äthiopien, für St. Philipp Gallien statt Phrygien, für St. Jakob den Älteren Spanien statt Judäa. Für die Geschichte des Jakobskults ist diese Veränderung von entscheidender Bedeutung. Sie hat eine neue Kult­ tradition in der westlichen Christenheit bewirkt – zunächst bezüglich der Missionierung, dann auch bezüglich des Grabkults. Die so unterschiedlichen Traditionen von ­Jerusalem und Santiago wurden durch sie begründet. Die Neuverteilung der Missionssprengel im „Brevia­ rium­apostolorum“ hat wohl gewichtige Gründe. Schließlich war über die ersten Verkünder des Evange­liums durch

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sie die ganze Kirchenstruktur angesprochen. Offenkundig ist eine Gewichtsverlagerung von der östlichen zur westlichen Christenheit. Sie steht mit Kirchenspaltungen aufgrund christologischer Differenzen im Verlauf des 5. und 6. Jahrhunderts in Zusammenhang. Es ging um die in Christus getrennt oder verbunden gedachten zwei Naturen – die göttliche und die menschliche. Gegenüber der rigiden Zweinaturenlehre, die in der Reichskirche festgelegt wurde, setzten sich in den orientalischen Kirchen verschiedene Varianten des Monophysitismus durch, die an die eine Natur des fleischgewordenen Gotteswortes glaubten. Die entscheidende Trennungslinie entstand durch die Beschlüsse des Konzils von Chalcedon 451. Die orientalischen Landeskirchen machten sich zunehmend von der Reichskirche unabhängig. Als letze vollzog die Armenische Kirche den Bruch. Auf zwei Synoden von 506/7 und 552 bekräftigte sie ihr monophysitisches Glaubensbekenntnis. Mit der zweiten ließ sie ihre neue Ära beginnen. Die Verfolgung der Monophysiten im Byzantinischen Reich unter Kaiser Justinian I. (527 – 565) trug das Ihre zur dauerhaften Entfremdung der Kirchen bei. Die Separierung der Armenischen Kirche erfolgte in Jerusalem schon 451. Die Jakobskirche scheint hier durchgehend im Besitz der Armenier gewesen zu sein. Für die Griechen und Lateiner verlor sie dadurch zunehmend an Bedeutung. Sofern man Jakobus den Älteren hier verehrte, gehörte sein Reliquienkult nun den Armeniern. Er hat für sie im Lauf der Jahrhunderte große Bedeutung gewonnen. Solche Verschiebungen in der Sakraltopographie des Heiligen Landes im Speziellen wie in der orientalischen Christenheit im Allgemeinen dürften

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in der Neuzuordnung des Missionsgebietes Jakobus’ des Älteren im „Breviarium apostolorum“ ihren Niederschlag gefunden haben. Gleichzeitig mit dem Kult des heiligen Jakobus des Älteren verlagerte sich auch jener des heiligen Philippus nach Westen. Diesem Apostel wird im „Breviarium“ Gallien zugeordnet. Auch sein Kult setzt hier erst in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ein. Man wird hinsichtlich der Gründe für die Frühphase der Jakobsverehrung in Spanien die des Philippus in Frankreich vergleichend heranziehen dürfen. Der Verlauf erscheint späterhin freilich unterschiedlich. 1051 benannte König Heinrich I. von Frankreich seinen erstgeborenen Sohn nach dem Apostel, der sein Land als Erster missioniert haben soll. Mehrere Könige dieses Namens folgten. Philipp wurde neben Ludwig zum führenden Königsnamen der Kapetinger. Bis heute ist der Name in Frankreich besonders häufig. Den Schutz des Apostels suchte man hier über das Namenspatronat zu gewinnen. In Spanien hingegen wurde lange Zeit in den Fürstenhäusern nicht nach Jakobus benannt. Dafür hatte man hier ein dem großen Schutzpatron geweihtes Pilgerzentrum. Anders als in Frankreich ist es in Spanien nicht der heilige Name sondern der heilige Ort der Heiligkeit vermittelt. In Frankreich gab es zwar einige Städte, die Teilreliquien des Apostels Philippus verehrten. Zu einem Grabkult mit einer besonderen Attraktion für Pilger ist es dadurch aber nicht gekommen. Das „Breviarium apostolorum“ stellt eine Verbindung zwischen Missionssprengeln der Apostel und deren Bestattungsorten her. Für Jakobus den Älteren findet sich

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hier als Ort seines Grabes „Achaia Marmarica“ verzeichnet. Ein Ort dieses Namens war allerdings in Spanien unbekannt. Der Bericht des „Breviarium“, der sich hier seit dem 7. Jahrhundert verbreitete, dürfte so die Suche nach dem Bestattungsort des Apostels ausgelöst haben. Von einer Entsprechung zwischen Missionssprengel und Grab glaubte man ja ausgehen zu können. Ein Einsiedler namens Pelagius wurde der Legende nach – von einer Lichterscheinung geleitet – am Platz der späteren Verehrung fündig. Durch Ausgrabungen wissen wir heute, dass dieser Platz über einer römischen Nekropole liegt – vielleicht zu der im „Itinerarium Antonini“ genannten Straßenstation Asseconia gehörig. So mag der Grabfund in einem antiken Mausoleum auch den Zeitgenossen als das gesuchte Apostelgrab plausibel erschienen sein. Die Suche nach dem Grab Jakobus’ des Älteren in Spanien auf der Grundlage des „Breviarium apostolorum“ dürfte durch einen ergänzenden Quellenbericht des ausgehenden 8. Jahrhunderts intensiviert worden sein. Im Apokalypsenkommentar des Beatus von Liébana wird die Nachricht von der Predigt des Apostels in Spanien in vollem Einklang mit der älteren Quelle aufgegriffen. Von einer Beerdigung in seinem Missionssprengel ist allerdings auch hier noch nicht die Rede. Dem Beatus zugeschrieben wird weiters der Hymnus „O dei verbum“. Allerdings bestehen auch Zweifel an dieser Zuweisung. Der Hymnus ist dem asturischen König Mauregatus (783 – 88/9) gewidmet. Der Apostel Jakobus wird hier als „caput refulgens aureum Ispanie, tutorque nobis et patronus vernulus“, als „golden strahlendes Oberhaupt Spaniens, unser Schützer und hilfreicher Patron“ angespro-

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chen. Dieser Patronatsgedanke ist neu. Die Aufwertung St. Jakobs vom Missionar zum Schutzherrn könnte dazu geführt haben, dass man sich verstärkt um seine Reliquien bemühte. Ein ihm zugeschriebenes Grab hat man aber damals noch nicht gekannt. Beatus war Mönch im Kloster San MartÍn de Turi­ eno im Liébana-Tal in den kantabrischen Bergen. Dem asturischen Hof stand er vielleicht als Berater der ­Königin-Witwe Audosinda nahe. Politisch trat er vor allem als Wortführer der Gegner des Adoptianismus in Erscheinung, wie er durch den Erzbischof Elipand von Toledo vertreten wurde, gegen den er eine Streitschrift verfasste. Wiederum ging es um christologische Fragen. Im Verhältnis zwischen göttlicher und menschlicher Natur glaubten die Adoptianisten, dass Gott den Menschen Jesus nur an Sohnes statt angenommen habe. Beatus vertrat demgegenüber vehement die orthodoxe Meinung. Die asturische Kirche befand sich diesbezüglich in Übereinstimmung mit Papst und Frankenkönig. Falls Beatus tatsächlich der Autor des Hymnus „O dei verbum“ war, wurde die neue Facette des Jakobskults mit ihm durch eine sehr prominente Persönlichkeit vertreten. Dahingestellt muss freilich bleiben, ob deshalb das Konzept von St. Jakob als Schutzpatron Ausdruck neuer kirchenpolitischer bzw. herrschaftspolitischer Interessen war. Nur wenige Jahrzehnte, nachdem Beatus von Liébana seinen Kommentar zur Apokalypse verfasst hatte bzw. der Hymnus „O dei verbum“ entstanden war, wurde in Galicien ein Grab entdeckt, in dem man die schon lange gesuchten Reliquien des Apostels Jakobus gefunden zu haben glaubte. Der Zeitpunkt der Entdeckung lässt

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sich nur annäherungsweise bestimmen. Es muss nach 818 gewesen sein, denn da war noch der Vorgänger von Theodemir als Bischof von Iria Flavia am Leben, aber vor 842, dem Todesjahr von König Alfons II. von Asturien. Theodemir und Alfons sind neben dem legendären Eremiten Pelagius die historisch gesicherten Schlüsselfiguren dieser Entdeckung. Ersterer ist durch die Inschrift seiner nahe dem Apostelgrab gefundenen Grabplatte belegt, letzterer als Erbauer der ältesten Kirche über dem Grab, die ebenso archäologisch nachgewiesen ist. Unsicher ist eine Urkunde König Alfons’ II., die mit 4. September 834 datiert ist. Sie würde im Falle der Authentizität den Zeitraum weiter einschränken, innerhalb dessen die Grabentdeckung erfolgte. Die Errichtung der Kirche über dem Grab wird hier bereits vorausgesetzt. Ein Dreimeilen-Bezirk um die Kirche soll damals von König Alfons an Bischof Theodemir übertragen worden sein. Den heiligen Jakobus nennt der König in einer Urkunde in Fortführung des Hymnus „O dei verbum“ „patronum et dominum tocius Hyspa­ niae“ – „Patron und Herrn von ganz Spanien“. Auch König Alfons III., der von 866 – 910 in Asturien herrschte, begegnet als Wohltäter der Kirche über dem Apostelgrab. Die von ihm überlieferten Urkunden sind in ihrer Echtheit unbezweifelt. Auch dieser König beruft sich auf das Apostelpatronat. Der Pilgerzustrom zum ­Jakobusgrab muss damals schon beträchtlich gewesen sein. König Alfons III. erbaute mit Bischof Sisenand I. von Iria Flavia eine bedeutend größere Kirche, die 899 geweiht wurde. Als Ort des Grabes wird nun im Anklang an das undeutbare „Achaia Marmarica“ des „Breviarium apostolorum“ „Arcis Marmaricis“ in Galicien genannt.

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„Marmorbögen“ passte besser zum Fund der Gebeine in einem Mausoleum, auf das man bei der Suche auf einem – archäologisch nachweisbaren – Friedhof aus römischer Zeit gestoßen war. Als Ortsbezeichnung setzte sich allerdings in der Folgezeit „locus Sancti Jacobi“ (850 – 80), „villa Sancti Jacobi“ (900 – 1040) bzw. „civitas Sancti ­Jacobi“ (um 1150) durch. Sie führt hinüber zu „Santiago de Compostela“. Die Königsurkunden des 9. Jahrhunderts enthalten erste Hinweise auf die Legenden um das neu gefundene Apostelgrab. Mehr an Einzelheiten aus dieser Überlieferung bietet die sogenannte „Concordia von Antealtares“, die 1077 zwischen dem Bischof von Iria Flavia und dem Kloster Antealtares geschlossen wurde, dessen Mönche mit der Betreuung des Grabes beauftragt waren. Voll entfaltete sich die Legendentradition erst in den Zeugnissen des 12. Jahrhunderts, insbesondere im „Liber Sancti ­Jacobi“ – auch „Codex Calixtinus“ genannt. Grabent­ deckung und Grablegende fallen also zeitlich weit auseinander. Der Kirchenbau in Santiago aus der Zeit König Alfons III. wurde 997 durch al-Mansur, den mächtigen Heerführer und faktischen Regenten des Kalifats von Córdoba, gänzlich zerstört. Das Grab des Apostels selbst blieb allerdings bei diesem Vernichtungsfeldzug unberührt. Es wurde beim Wiederaufbau der zerstörten Kirche in den folgenden Jahren ebenso wenig verändert wie durch den großzügigen Neubau im ausgehenden 12.  Jahrhundert. Die Glanzzeit der Wallfahrt zum Apostelgrab hatte begonnen. Seine Echtheit wurde damals nicht mehr diskutiert.

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Zu einer spannungsreichen Diskussion über die spanische Tradition der Jakobsverehrung kam es erst zu Beginn der Neuzeit – zunächst allerdings nicht über die Authentizität des Grabes sondern über die Predigttätigkeit auf der Iberischen Halbinsel. Es ging bei dieser Kontroverse um eine Neubearbeitung des römischen Breviers. Einige Kardinäle zweifelten an der Glaubwürdigkeit der Quellen über die Missionsarbeit des Apostels in Spanien. Die Angelegenheit war über ihre liturgischen Aspekte hinaus hoch politisch. Der spanische Botschafter intervenierte. Die quellenkritische Argumentation der von Ideen des Humanismus beeinflussten Kardinäle unterlag. Die den Legenden folgende Position der Spanier setzte sich voll durch und wurde wieder zum offiziellen Standpunkt der katholischen Kirche. Unter den Gelehrten ging die Diskussion um die Historizität der Missionstätigkeit des Apostels weiter. Die Überführung der Gebeine nach Spanien und das Grab in Santiago wurden allerdings von katholischen Autoren noch nicht bezweifelt. Einwände dagegen kamen von Seiten der Reformation – drastisch formuliert etwa schon bei Martin Luther: „dann man wißt nit ob sant Jacob oder ein todter hund oder ein todts roß da liegt“. Im Kontext einer quellenkritisch arbeitenden Geschichtswissenschaft der neueren Zeit war eine Debatte über die Authentizität des Grabes nicht mehr aufzuhalten. Die Reliquien des heiligen Jakobus gerieten im Verlauf der Neuzeit in anderer Weise in Diskussion als dessen Missionstätigkeit. Im Krieg zwischen England und Frankreich attackierte 1589 Francis Drake die galicische Hafenstadt La Coruña – nur 40 Meilen vom Heiligtum Santiago entfernt. Man fürchtete, dass die Reliquien den

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Engländern in die Hände fallen könnten. So öffnete der Erzbischof von Santiago mit zwei seiner vertrautesten Diener das Grab, entfernte die Reliquien und versteckte sie an einem Ort, an dem sie der Feind nicht finden konnte. Unglücklicherweise versteckten sie sie so gut, dass sie tatsächlich für Jahrhunderte verloren waren. Erst 1879 kam es im Zusammenhang mit Renovierungsarbeiten zu einer Wiederentdeckung. 1884 reagierte Papst Leo XIII. in seiner Bulle „Deus omnipotens“ auf Streitigkeiten, die über die Reliquien entstanden waren. Er approbierte aus „sicherem Wissen“ deren Authentizität. Weiters ordnete er an, dass niemand die Reliquien teilen, trennen oder überführen dürfe. Sie sollten vielmehr auf ihrem herkömmlichen Platz verbleiben. Über die zweite Grabentdeckung war nun mit päpstlicher Autorität die erste bestätigt. Die Website des Erzbistums Santiago stellt heute noch die Echtheit des Jakobsgrabes auf der Basis der traditionellen Überlieferung fest. Beim heutigen Stand der historischen Wissenschaften erscheint es schwierig, an Legenden festzuhalten, wie sie den Jakobskult in Spanien begründet haben. Das gilt sowohl für Berichte über die Predigttätigkeit des Apostels als auch über die Translation seiner Gebeine durch seine Jünger sowie die Entdeckung seines Grabes im 9. Jahrhundert. Die Entwicklung der Wissenschaft vertieft kritische Fragen an diese Überlieferung, die schon seit Jahrhunderten gestellt werden. Vorwissenschaftlich reicht diese Skepsis noch viel weiter zurück. Der Klerus in León hat sich wohl zu Recht gegen die neuen Formen des Jakobskults gewendet, wie sie seit dem 9. Jahrhundert in Galicien entstanden sind. Die Tradition der mozara-

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bischen Kirche mit ihren altchristlichen Wurzeln stützte diesen Standpunkt. Dass Jakobus von der Gemeinde von Jerusalem am Ort seines Martyriums bestattet wurde, hatte die größere Wahrscheinlichkeit. Heute wird man – wenn es um die Authentizität von Jakobs­reliquien geht – selbstverständlich auch die Überlieferung des Ostens kritisch zu überprüfen haben. Aber zweifellos ist die Entwicklungslinie des Jakobskults im Osten die primäre. Sie besitzt vor der viele Jahrhunderte jüngeren des Westens den Vorrang. Die Anziehungskraft der Jakobsreliquien hat im Laufe der Geschichte eindeutig für den Westen entschieden. Die Kraft von Legenden kann stärker sein als historische Authentizität. Pilger sind von der geglaubten Heiligkeit eines Reliquienortes motiviert, nicht von der wissenschaftlichen Beweisbarkeit der über ihn tradierten Geschichte. Santiago de Compostela ist ein anschauliches Beispiel eines heiligen Orts, der seine Heiligkeit auch bewahrt, wenn die Haltbarkeit seiner vermeintlichen historischen Grundlage brüchig wird.

„Wer zum heiligen Jakob geht und nicht zum Erlöser, der besucht den Knecht und versäumt den Herrn“

In wenigen Jahrzehnten unmittelbar vor 800 bzw. bald danach sind im Gebiet des Königreiches Asturien zwei bedeutende Zentren entstanden: Oviedo und Santiago de Compostela. Beide haben sich zu Wallfahrtszentren entwickelt – allerdings in ganz unterschiedlicher Weise. In Oviedo schließt die Wallfahrt an eine ältere Residenzfunktion an, Santiago hingegen gewinnt den Charakter einer Hauptstadt erst lange nach seinem Aufschwung als Pilgerzentrum. Ein Vergleich der beiden ungleichen­Zentren ermöglicht Rückschlüsse auf allgemeine Rahmen­bedingungen des Wallfahrtswesens und in diesem Kontext auch des Jakobsweges. Vor allem lässt er die Frage besser beurteilen, ob und inwieweit königliche und kirchliche Politik für die zunehmend überregionale Bedeutung von Santiago de Compostela maßgeblich gewesen sein könnten. Im Sinne der sozialgeographischen Zentralorttheorie gehört das Pilgerwesen streng genommen nicht zu den zentralen Funktionen einer Siedlung. Entsprechend diesem Ansatz stehen auch in historischen Zeiten Mittelpunkte der herrschaftlichen, der kirchlichen, der wirtschaftlichen Raumordnung untereinander in Wechselwirkung. So werden in Residenzen häufig Bischofssitze errichtet, der ständige Marktverkehr folgt den Herrschaftsmittelpunkten. Bei Wallfahrtsorten besteht kein

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solcher systemischer Zusammenhang. Sie sind nicht an Zentralität in anderen Lebensbereichen gebunden, auch nicht an ständige Besiedlung, die diese voraussetzt. Es kann sich durchaus auch um besonders bedeutsame Plätze in der Einsamkeit handeln, die zum Anziehungsort für Pilger werden. Wallfahrtsorte verfügen auch nicht wie Städte und Märkte, wie Gerichtsorte und Mittelpunkte kirchlicher Sprengel über klar zuordenbare, gegeneinander abgrenzbare Einzugsbereiche. Pilger kommen von überall. Gerade das Fernpilgerwesen durchbricht seinem­Wesen nach das zentralörtliche Grundprinzip der Entsprechung von Zentren und zugeordneten Gebieten. Trotzdem können Wechselwirkungen entstehen. Ein Vergleich von Oviedo und Santiago de Compostela macht das deutlich. Oviedo war nicht die älteste Hauptstadt des König­ reiches Asturien. Pelayo, der Begründer des Reiches, starb 737 in Cangas de Onís. Hier verblieb durch einige Jahrzehnte die Hauptstadt. König Silo (774 – 83) verlegte die Residenz nach Pravia, sein Nachfolger König Alfons II. (783, 793 – 842) schließlich nach Oviedo, welches bessere Verbindungen zum Rest des Landes besaß. Weder in Cangas de Onís noch in Pravia hielten sich über die Zeit als Hauptstadt hinaus wesentliche zentralörtliche Institutionen. Oviedo war um die Mitte des 8. Jahrhunderts noch eine rein agrarisch geprägte Siedlung. König Fruela I. (757 – 768) und dann vor allem sein Sohn König Alfons II. erweiterten sie zielstrebig mit wesentlichen Einrichtungen einer Hauptstadt. Die St. Salvatorkirche – später Kathedrale der Stadt – wurde noch unter Fruela errichtet. An sie schloss die königliche Grablege an. Auch die

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Palastanlage wurde noch unter ihm begonnen. Alfons ließ sie dann großzügig ausbauen. Zu ihr gehörte die Palastkapelle, die sogenannte „Cámara Santa“, in der die Reichsreliquien aufbewahrt wurden. Zahlreiche andere Kirchenanlagen folgten unter seiner Regierung. Oviedo wurde auch ein wichtiges geistliches Zentrum. Dem entsprach die Errichtung eines Bistums in der neuen Residenzstadt. König Alfons III. (866 – 910) ließ zum Schutz von Palast und Salvatorkirche eine Mauer errichten. Die Blütezeit von Oviedo dauerte allerdings nur kurz. Alfons III. betrieb eine entschiedene Expansionspolitik. Unter seiner Herrschaft verdoppelte Asturien seine territoriale Ausdehnung, vor allem in Richtung der bisher islamisch beherrschten Gebiete des Südens. Der politische Schwerpunkt verlagerte sich vom Gebirge in die Ebene. Oviedo wurde im frühen 10. Jahrhundert von León als Hauptstadt abgelöst, das nun dauerhaft zum namengebenden Zentrum des Reiches wurde und dementsprechend zentrale Einrichtungen übernahm. In gewisser Hinsicht erhielt sich die alte Königsstadt Reste ihrer früheren politischen Bedeutsamkeit. Wichtiger aber wurden deren verbleibende geistliche Funktionen. Die Kathedrale und die mit ihr nun verbundene Palastkapelle entwickelten sich mit ihren reichen Reliquien zu einem bedeutenden Pilgerziel. Zum Unterschied von Asturien war Galicien im Frühmittelalter kein derart zentralisiertes Territorium. Häufig hatte dieses Gebiet den Status einer abhängigen Nebenregion gegenüber einem benachbarten Reich, sodass es nicht zu einer ausgeprägten Hauptstadtbildung kommen konnte. Das Reich der Sueben setzte im 5. und 6. Jahr-

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hundert in seiner Erstreckung die römische Provinz Gallaecia fort. Die Hauptstadt war weiterhin Braga, das antike Braecara Augusta. Aber auch in Astorga, Mérida, Lugo und Porto werden Sitze der Suebenkönige vermutet. Königliche Münzstätten gab es in Braga im Süden und in Lugo im Norden. In Braga und Lugo wurden auch – analog zu den Konzilien im Westgotenreich – vom König einberufene Synoden abgehalten. Nach der Einverleibung des Suebenreiches ins Reich der Westgoten 585 blieb die Sonderstellung Galiciens teilweise erhalten. Die alten politischen Zentren spielten weiterhin eine gewisse Rolle, vor allem als Bischofssitze. Tuy am Ufer des Miño kam hinzu. 701 wird es als Hauptstadt des westgotischen Unterkönigs Witiza genannt, der aber schon bald seinem Vater Egiza in Toledo als König folgte. Von den Invasionen der Araber auf der Iberischen Halbinsel im 8. Jahrhundert wurde auch Galicien erfasst, aber nicht stark durchdrungen. Im 9. Jahrhundert eroberten die Könige von Asturien große Teile des Landes. Auch sie setzten gelegentlich Prinzen der Königsdynastie als Unterkönige ein. Eine stabile Herrschaftsbildung kam aber auf dieser Basis nicht zustande. Die tatsäch­lichen Machthaber der Region waren mächtige Adels­familien und vor allem Bischöfe, die von den Königen mit weltlichen Hoheitsrechten ausgestattet wurden. Vielfach handelte es sich bei ihnen ebenfalls um „warlords“, die einerseits das Land gegen feindliche Invasoren beschützten, andererseits untereinander immer wieder in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt waren. Zu ihnen zählten auch die Bischöfe der Stadt Iria Flavia an der Atlantikküste, in deren Diözese nach 818 das vermeintliche

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Grab des Apostels Jakobus des Älteren entdeckt wurde. Sie erfreuten sich seitens der Könige von Asturien besonderer Vergünstigungen. Alfons II. soll „als erster Pilger“ zum Grab gekommen sein und den Bau einer Kirche veranlasst haben. Seine Residenz hatte er jedoch in Oviedo eingerichtet. Es gibt keinen Hinweis dafür, dass er an dem neu entdeckten heiligen Ort eine Königspfalz geplant hätte. Seine Nachfolger beteiligten sich hier weiterhin am Kirchenbau und übertrugen königliche Hoheitsrechte an den Bischof von Iria Flavia. Dieser war von vornherein an der Beherrschung des bedeutsamen Platzes interessiert. Es war üblich, dass sich ein Bischof in seiner Bischofskirche begraben ließ. Bischof Theodemir wich von dieser Regel ab. Er verfügte vor seinem Tod im Jahr 847, dass er beim Apostel Jakobus bestattet werden sollte – ein Signal für die spätere Verlegung des Bischofssitzes die noch im 9. Jahrhundert erfolgte. Die „villa Sancti ­Jacobi“, das spätere Santiago de Compostela, entwickelte sich zunächst zu einem bischöflichen Zentrum, nicht zu einem königlichen. Ein von Asturien gesondertes Königreich Galicien entstand 910 nach dem Tod von König Alfons III. Es war allerdings nur von kurzer Dauer. Von den drei Söhnen König Alfons’ erhielt García León, Ordoño Galicien und Fruela das alte Kernland Asturien. Ordoño berief eine Versammlung der Magnaten seines Königreiches nach Lugo ein, nicht nach Santiago. Schon 914 übernahm er nach dem Tod seines älteren Bruders auch dessen Teilreich und regierte nun von León aus. Die Frage einer neuen Hauptstadt von Galicien hatte sich also rasch erledigt.

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Das gesamte Herrschaftsgebiet König Alfons’ III. wurde unter seinem jüngsten Sohn Fruela wiedervereinigt. Auf ihn folgte dessen Sohn Alfons. Es kam zu Thronstreitigkeiten mit den Söhnen Ordoños. Sancho, der älteste von ihnen, beanspruchte Galicien, das ursprüngliche Teilreich seines Vaters. 926 wurde er in Santiago zum König gekrönt, konnte sich allerdings nicht durchsetzen. Seine Krönung in Santiago deutet auf einem Vorrang dieses neuen Zentrums – aber als Bischofsstadt, nicht als königliche Residenz. Ebenso durch Thronstreitigkeiten innerhalb der Dynastie bedingt, kam es 958 in Santiago zur Erhebung von Ordoño IV. Eine Adelsfraktion aus Galicien, León und Kastilien unterstützte ihn gegen König Sancho I. von León. Galicien war immer wieder ein Land des Widerstands gegen die Oberherrschaft von León. 982 wurde Bermudo III. durch eine Rebellion des galicischen Adels zum Gegenkönig erhoben und in Santiago gekrönt. Schon 984 übernahm er jedoch in León die Herrschaft. 1065 kam es neuerlich zu einem selbständigen, aber nur kurzlebigen Königreich Galicien. Bei der Teilung nach dem Tod von König Ferdinand I. von León-Kastilien erhielt dessen jüngster Sohn García Galicien. Er war hier unter der Vormundschaft des Bischofs Cresconius von Iria Flavia und Santiago aufgewachsen, der ihn später krönen sollte. In dieser Abhängigkeit des Königssohnes kommt erneut der Vorrang von Santiago zum Ausdruck, ohne dass man von einer Residenzfunktion der Bischofsstadt sprechen könnte. Nach Eroberungen im Süden nahm García den Titel eines Königs von Galicien und Portugal an und betrieb weiterhin eine sehr

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selbständige Politik. 1073 wurde er jedoch von seinem Bruder Alfons VI. besiegt und lebenslänglich eingekerkert. Galicien blieb nun dauerhaft mit León verbunden. Alfons vereinigte das Gesamtreich seines Vaters und traf in dessen Westen eine grundsätzliche Neuordnung. Er vergab Galicien und Portugal als Grafschaften an seine burgundischen Schwiegersöhne Raimund und Heinrich als Lehen. Graf Heinrichs Sohn Alfons erreichte schon 1147 für Portugal Unabhängigkeit und Königswürde. Der Süden des alten Galicien mit Braga war auf Dauer verloren, Galicien blieb in reduziertem Umfang erhalten. Santiago tritt nun als Herrschaftszentrum deutlicher in Erscheinung. Noch kurz vor seinem Tod 1109 hatte Alfons VI. von León die Großen Galiciens eidlich darauf verpflichtet, das Land seinem gleichnamigen Enkel, dem Sohn Graf Raimunds, zu erhalten. 1111 wurde Alfons VII. zum König dieses Teilreichs erhoben – wiederum in Santiago. Der Krönungsbischof war Diego II. Gelmírez, der von König Alfons VI. bedeutende weltliche Rechte in seiner Bischofsstadt erhalten hatte. In den Machtkämpfen nach dem Tod des Königs ging es auch um diese ­Hoheitsrechte in der Bischofsstadt. Alfons VII. konnte sich zunächst in Galicien, dann auch in León und den übrigen Teilreichen der Dynastie durchsetzen. Seine Residenz war nun León. Hier ließ er sich 1135 zum Kaiser von ganz Spanien krönen – nicht vom inzwischen zum Erzbischof aufgestiegenen Bischof von Santiago, sondern vom Bischof seiner Residenzstadt. Wenige Jahre vor seinem Tod setzte er 1154 seinen jüngeren Sohn Ferdinand als König von Galicien ein, der dann 1156 auch León übernahm und hier regierte.

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Als Ferdinand II. 1188 starb, kam es zwischen seinen beiden Söhnen zu Thronstreitigkeiten. Der ältere, Alfons, wurde vom galicischen Adel unterstützt. Er führte den Leichnam seines Vaters nach Santiago de Compostela, wo er sich zum König ausrufen ließ. Die Bedeutung von Santiago auch als herrschaftlicher Mittelpunkt von Galicien stand damals außer Frage. Um die ständigen Probleme der Teilung innerhalb der Dynastie zu beenden, wurde jedoch 1230 die Union der Teilreiche ausgesprochen und damit Santiago als Sitz des Königshofs eines Teilreichs aufgegeben. Seit 1251 nahm ein hoher Beamter der Krone, der Galicien von Santiago aus verwaltete, als persönlicher Vertreter des Königs dessen Aufgaben wahr. Trotz zunehmender Zentrierung innerhalb von Galicien war die Bischofsstadt erst spät und nur für kürzere Zeit zur königlichen Residenz geworden. Auf die Entwicklung des Wallfahrtswesens hatte diese Übergangsphase politischer Zentralität keinen besonderen Einfluss. Die unterschiedliche Bedeutung von Oviedo und Santiago de Compostela als königliche Zentren wird besonders klar erkennbar, wenn man die verschiedenen Grablegen der asturisch-leonesischen Königsdynastie untereinander vergleicht. Königsgräber korrespondieren mit Königskirchen und diese mit Residenzen. Die Orte des Regierens allerdings können wechseln. Die Orte der Toten bewahren Kontinuität. Die Bestattung von asturischen Herrschern in Oviedo beginnt 768 mit König Fruela I. Unter seinem Sohn Alfons II. wurde das Jakobsgrab in Galicien entdeckt. Anders als Bischof Theodemir von Iria Flavia, der mit Alfons zusammen als Begründer des Heiligtums gilt, ließ

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sich dieser nicht hier bestatten. War das Begräbnis beim heiligen Jakob, dessen besondere Hilfe im Jenseits er dadurch entsprechend den Vorstellungen der Zeit hätte erwarten dürfen, für ihn nicht attraktiv genug? Ganz selbstverständlich wurde er in der neuen Residenzstadt Oviedo in der Salvatorkirche beigesetzt. Ahnengräber dürften für die asturischen Könige besonders wichtig gewesen sein. Schon Favila, der zweite König der Dynastie, wählte diesbezüglich einen bemerkenswerten Begräbnis­ort. Gemeinsam mit seiner Gattin hatte er in seiner Hauptstadt Cangas de Onís die Kirche Santa Cruz errichten lassen. Sie stand über einem frühgeschicht­lichen Dolmen. Ausgrabungen haben hier Gräber zu Tage gefördert, in denen ein Häuptlingsgeschlecht bestattet worden sein dürfte. König Favila suchte wohl die Nähe zu vermeintlichen Vorfahren. Im „Panteón de Reyes“ von Oviedo fanden von der Mitte des 8. Jahrhunderts bis ins 10. hinein zahlreiche Primär- und Sekundärbestattungen von Mitgliedern des asturischen Königshauses statt – schließlich auch die von König Alfons III. dem Großen, unter dem die Verlegung der Residenz nach León begonnen hatte, und die seines ältesten Sohns García I., des ersten Königs von León. Die Familiengrablege folgte der neuen Residenz. Alfons’ jüngere Söhne sind bereits hier bestattet, ebenso ihre Nachfolger – in der Kathedrale, in der Kirche San Salvador de Palat del Rey, die nach dem benachbarten Königspalast benannt ist, und schließlich im königlichen Kollegiatstift San Isidoro, der nunmehr wichtigsten Familiengruft der Dynastie. Hierher wurden die Reliquien des heiligen Isidor von Sevilla gebracht. Wie in Oviedo sollten die An-

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gehörigen des Königshauses bei Reliquien eines im Reich hochverehrten Heiligen liegen. An den Apostel Jakobus wurde dabei aber offenbar nicht gedacht. König Alfons V. (994 – 1028) ließ dann auch die Gebeine von Angehörigen transferieren, die ursprünglich andernorts bestattet waren. Das Dynastiebewusstsein der Könige wird in diesem gemeinsamen Bestattungsort deutlich fassbar. Auch Angehörige der Dynastie, die als Könige in Galicien regierten, wurden in San Isidoro beigesetzt. Eine Ausnahme bildete Sancho Ordoñez, ein Sohn König Ordoños II. von León, der 895 – 929 Unterkönig in Galicien war. Er wurde in Galicien beerdigt und zwar im Doppelkloster Castello de Miño, wo seine Witwe Äbtissin war, also nicht in Santiago de Compostela. Santiago de Compostela wurde verhältnismäßig spät zu einer Familiengrablege des Königshauses und blieb es nicht dauerhaft. Die Grablege korrespondiert auch hier mit der Residenz. Als Erster wurde in der „Capilla de las Reliquias“ der Kathedrale 1107 Graf Raimund beigesetzt, der Galicien von seinem Schwiegervater Alfons VI. als Lehensgrafschaft erhalten hatte. Er gehörte in männlicher Linie nicht zur Dynastie. Seine Gattin Urraca hingegen, die mit ihm zusammen in Galicien regiert und auch nach dem Tod ihres Vaters als Königin hier gewirkt hatte, liegt – ihrer Abstammung entsprechend – in San Isidoro zu León bei ihren Vorfahren bestattet. Bemerkenswert erscheint, dass 1126 Pedro Froilaz de Traba in die neue Familiengruft in die Kathedrale von Santiago aufgenommen wurde. Er war einer der Erzieher von Alfons VII., dem Sohn Graf Raimunds und der Königin Urraca, der seine Kindheit und Jugend in Galicien verbracht hatte.

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Dieser wurde 1111 in Santiago vor dem Jakobsaltar zum König erhoben und erhielt 1124 hier die Schwertleite. Als Vormund des minderjährigen Königs hatte Pedro in Galicien eine fürstengleiche Stellung. Dementsprechend wurde er bestattet. Die nächste Bestattung in der Fürstengruft von Santiago betraf erst 1149 Königin Berengaria, die Ehefrau König Alfons VII. Dieser selbst fand in der Kathedrale von Toledo, der Primatialkirche seines leonesisch-kastilischen Großreichs, seine letzte Ruhestätte. Ein für das Verhältnis zwischen Königsgrablege, Resi­ denz und Wallfahrtsheiligtum bezeichnendes Intermezzo spielte sich 1127 ab. Als König verlor Alfons VII. sein ursprüngliches Interesse an einem Ausbau von Santiago zu einem Mittelpunkt der Königsherrschaft in Galicien. Umso mehr war der ehrgeizige Bischof und spätere Erzbischof Diego Gelmírez daran interessiert, der mit allen Mitteln die Aufwertung seines Bischofssitzes anstrebte. Als Taufpate und ebenfalls als Erzieher war er mit dem jungen König zunächst eng verbunden. Aber schon bald kam es zu einer Trübung dieser Beziehung. König Alfons war wegen seines Krieges mit Portugal in Geldnöten. Er erpresste aus dem Schatz der durch die Wallfahrt inzwischen sehr reich gewordenen Jakobskirche die Zahlung von tausend Mark Silber. Diego forderte nun eine Gegenleistung. In einer Sitzung des Kathedralkapitels hielt er im Beisein des Königs eine flammende Rede und forderte den jungen Herrscher auf, für seine Vergehen gegen Gott und den heiligen Jakobus Buße zu tun, indem er nach dem Beispiel seines Vaters die Jakobskirche zu seiner Grablege wähle. Die Intention war klar: Die neue burgundische Königsdynastie sollte aus der Tradition von León

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gelöst und dauerhaft an Santiago gebunden werden. Der König stimmte zu, nachdem ihm zusätzliche Fürbitten und Messen nach seinem Tod zugesichert wurden, und versprach seinerseits umfassende Güterschenkungen als Seelgerät. Die Form, die für die Bindung des Königs an seinen zukünftigen Begräbnisort gewählt wurde, war ungewöhnlich: Alfons wurde vom Kapitel mit allen Rechten und Pflichten in die Kanonikergemeinschaft aufgenommen. Das bedeutete auch die Kommendation seines Körpers und seiner Seele in die Hände des Bischofs und der Kanonikergemeinschaft – und zwar mit der Bestimmung, seinen Körper in die Jakobskirche bringen zu lassen, wo auch immer ihn der Tod ereilen sollte. Zu einer gleichen Entscheidung wurde auch seine Schwester Sancha bzw. die als „Königin“ bezeichnete Teresa von Portugal, eine Halbschwester seiner Mutter Urraca und wie diese Erbtochter König Alfons VI. veranlasst. Die verzweifelten Bemühungen des Diego Gelmírez um eine dauerhafte Bindung der Königsgrablege an seinen Bischofssitz waren jedoch erfolglos. Alle drei der 1127 vereinbarten Begräbnisse kamen nicht zustande. König Alfons VII. ließ zwar hier 1149 seine Frau Berengaria bestatten, entschied für sich selbst aber anders und unterbrach damit die Kontinuität der Königsgrablege. An der Kathedrale von Santiago wurde unter seiner Patronanz weiter gebaut, seine besondere Zuwendung galt jedoch San Isidoro in León. In seiner Gegenwart wurde hier 1149 die unter ihm erweiterte Basilika eingeweiht. Von einer besonderen Förderung von Jakobskult und Jakobswallfahrt kann bei ihm wohl nicht die Rede sein. Die Wallfahrt hatte eine solche Förderung damals auch kaum mehr nötig.

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Nach dem Tod König Alfons VII. kam es zur Teilung des Reiches. Sein jüngerer Sohn Ferdinand II. (1157 – 1188) übernahm die westlichen Territorien. Als erster König von León und Galicien wurde er in Santiago bestattet. Er war seit seiner Kindheit und Jugend wie sein Vater dem galicischen Teilreich verbunden – er auch als ein persönlicher Verehrer des heiligen Jakobus. Unter seiner Herrschaft und Mitwirkung wurde der Ritterorden von Santiago gegründet. Für die königliche Sepultur in der Kathedrale hatte er reiche Schenkungen gemacht. In seinem Testament bestimmte er, wie seine Mutter und sein Großvater in der Kirche des Apostels beigesetzt zu werden – ein Anliegen, das von keinem seiner Vorgänger berichtet wird. Entgegen seinem Wunsch betrieb seine dritte Frau und Witwe ein Begräbnis anderwärts, wahrscheinlich in San Isidoro in León. Sein Sohn Alfons aus erster Ehe verband die Erfüllung des letzten Willens seines Vaters mit der Durchsetzung seiner Thronansprüche gegenüber dem Sohn aus der dritten Ehe. Ferdinand wurde 1188 in Santiago beigesetzt. Kontinuität war nun beabsichtigt. Alfons IX. ließ 1213 seinen frühverstorbenen Sohn Ferdinand in der Kathedrale von Santiago begraben und wurde 1230 selbst hier beigesetzt. Mit ihm endet die – im Vergleich zu Oviedo, aber auch zu León – relativ kurze Zeit der Königsbegräbnisse in Santiago. Ansätze zu einer Korrespondenz mit Residenzfunktionen scheinen auch hier gegeben, aber viel weniger ausgeprägt. Santiago war durchgehend seit dem 9. Jahrhundert der Sitz von Bischöfen und Erzbischöfen, die zunehmend weltliche Macht gewannen. Dementsprechend erscheint die Kathedrale der Stadt primär als bischöfliche, nicht als

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königliche Grablege. Eine Verbindung der Königsgräber zu der sich entwickelnden Jakobsverehrung ist erkennbar, allerdings nicht zu der Entwicklung der Jakobswallfahrt. Mehr noch als Königsgräber machten Reliquien Residenzstädte zu heiligen Orten. Sie beschützten durch ihre Präsenz die lebenden Könige und sie bedeuteten Jenseitshoffnung für die verstorbenen. Auch wenn königliche Grablegen aufgegeben wurden – die Reliquien verblieben in der Regel an ihrem bisherigen Ort. Sie wurden hier weiterhin verehrt und konnten zum Ziel von Wallfahrten werden. Die vormalige herrschaftliche Zentralität lebte so in religiösen Funktionen fort. In Oviedo ist diese Abfolge offenkundig. Durch die Anlage der asturischen ­Residenzstadt in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts und vor allem dann im 9. wurde indirekt schon die spätere Bedeutung als Wallfahrtsort grundgelegt. Aktivitäten des Königs stehen hier am Anfang. In Santiago de Compostela ist die Situation umgekehrt. Die Wallfahrt zum Apostelgrab stellt hier den Ausgangspunkt dar. Herrschaftliche Mittelpunktfunktionen schlossen daran – sofern überhaupt gegeben – erst sekundär an. Der Aufstieg zum überregional bedeutsamen Wallfahrtsort wurde offenbar hier nicht wie in Oviedo primär durch die Politik der Könige bedingt. Oviedo wird treffend als das „große Reliquiar des asturischen Königreiches“ charakterisiert. Aufbewahrungsort der Reliquien war hier vor allem die sogenannte „Cámara Santa“. Sie entstand unter König Alfons II. zunächst als Palastkapelle im Rahmen des neuen Palastensembles, wurde dann aber später in die benachbarte Kathedrale integriert. Wegen des Reichtums dieser Reliquien und

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vor allem wegen deren besonderer Qualität bekam die Kirche die Bezeichnung „Sancta Ovetensis“. Von den Reliquien der „Cámara Santa“ findet heute der sogenannte „Santo Sudario“, das „Schweißtuch von Oviedo“, die größte Beachtung. Es soll sich dabei um jenes Tuch handeln, mit dem man das Antlitz Jesu bedeckte, als man ihn nach der Kreuzabnahme zu Grabe trug. In den letzten Jahrzehnten wurde diese Reliquie mehrfach zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Untersuchungen. Dabei konnten interessante Analogien zum Turiner Grabtuch festgestellt werden. Das lenkte die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit auf diese Reliquie. Dreimal im Jahr wird sie traditionell in der Erlöserkathedrale gezeigt – am Karfreitag, am Fest der Kreuzerhöhung am 14. September und eine Woche danach zum Abschluss der Feiern aus Anlass dieses Festes. Der „Santo Sudario“ wird in der „Cámara Santa“ in der „Arca Santa“ aufbewahrt, die auch andere Jesus-Reliquien enthält, etwa mehrere Kreuzpartikel und Dornen von der Dornenkrone. Seit 1075 ist diese „Arca Santa“ in der ehemaligen Palastkapelle nachweisbar. Sie soll nach der Araberinvasion als Zeichen der sakralen Kontinuität zu Toledo, der alten Hauptstadt des Westgotenreiches, nach Oviedo, der neuen von Asturien, gebracht worden sein. Ein solches Nachfolgedenken ist auch sonst für die Entstehung und Entwicklung der Residenzstadt Oviedo charakteristisch. Die Legende verfolgt den Weg der „Arca Santa“ bis nach Jerusalem zurück. In älterer Zeit galt eine andere Reliquie der „Cámara Santa“ als besonders bedeutsam, nämlich das sogenannte

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Engelskreuz, das durch seine Inschrift auf das Jahr 808 datiert ist. Seinen Namen verdankt es der Überlieferung, dass es von Engeln gemacht worden sei, die es dann – als Pilger gekleidet – an König Alfons II. übergeben hätten, der es der Salvatorkirche stiftete. Das deutet auf eine spätere Interpretation im Zusammenhang mit dem Jakobsweg. Die Inschrift auf dem „Engelskreuz“ enthält den Text: „Unter diesem Zeichen wird der Fromme beschützt. Unter diesem Zeichen wird der Feind besiegt“ – offenbar eine Anspielung auf den für die Geschichte des Christentums so bedeutsamen Sieg des Kaisers Konstantin von 312 an der Milvischen Brücke unter dem Zeichen des Kreuzes mit der Verheißung „In hoc signo vinces“ – „In diesem Zeichen wirst du siegen“. Der asturische König wird so zum neuen Konstantin stilisiert. Genau hundert Jahre nach dem „Cruz de los Ángeles“ wurde der Kathedrale von Oviedo durch König Alfons III. das „Cruz de la Victoria“ geschenkt, das ebenfalls in der „Cámara Santa“ aufbewahrt wird. Seine Bezeichnung als „Siegeskreuz“ geht auf den Glauben zurück, dass sein Holzkern jenes Kreuz gewesen sei, mit dem die christliche Reconquista in der Schlacht bei Covadonga unter König Pelayo ihren ersten Sieg über die Mauren errungen habe. Ein Kreuz aus Eichenholz wurde in der von König Favila in seinem Residenzort Cangas de Onís gestifteten Kirche Santa Cruz aufbewahrt. König Alfons III. ließ es reich mit Gold und Edelsteinen ausschmücken, bevor er es – wohl in Zusammenhang mit der Übersiedlung des Hofs nach León – der Kirche in seiner bisherigen Residenzstadt Oviedo übergab. Wie das Engelskreuz trägt auch das Siegeskreuz die zitierte Siegesinschrift. Bei beiden Kreuzen handelte es

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sich offenkundig um Reichsreliquien mit hoher religiöser Bedeutung. Ein ähnliches Votivkreuz erhielt von König Alfons III. schon 874 die Kirche über dem Jakobsgrab in Galicien. Dessen Inschrift formuliert analog: „Ob honorem sancti Jacobi apostoli offerunt Adefonsus princeps et Scemena regina. Hoc opus perfectum est DCCCC duodecima. Hoc signo vincitur inimicus. Hoc signo tuetur pius” „Zur Ehre des heiligen Apostels Jakobus opfern Fürst Alfons und Königin Jimena. Dieses Werk wurde 912 (nach spanischer Ära) fertiggestellt. Durch dieses Zeichen wird der Feind besiegt, durch dieses Zeichen der Fromme beschützt“. Es handelt sich hier um das älteste explizite Zeugnis der königlichen Zuwendung zum Jakobsheiligtum, das also auf ein Vorbild aus Oviedo zurückgeht. Schweißtuch und Kreuzesreliquien machten Oviedo zu einem Wallfahrtsort zum Erlöser selbst. Auf ihn verweist ja hier ebenso das Patrozinium der St. Salvatorkirche, die zur Kathedrale wurde. Die Könige von Asturien haben aber auch systematisch Reliquien bedeutender Heiliger in ihre Residenz transferiert. Man darf in diesem Zusammenhang sicher von einer gezielten Reliquienpolitik sprechen. Die heilige Eulalia von Mérida war eine Märtyrerin des 4. Jahrhunderts. Sie wurde in westgotischer Zeit besonders verehrt. Schon unter König Silo (774 – 783) sollen ihre Gebeine in dessen Residenz Pravia gebracht worden sein, wo ihr eine Kirche geweiht ist. König Alfons II. überführte sie dann in seine neue Residenz Oviedo. Hier war ihr seit dem 11. Jahrhundert eine Kapelle der Kathedrale gewidmet. Als Patronin der Diözese kam ihr besondere Bedeutung zu.

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Auch die heilige Leocadia war eine Märtyrerin des 4. Jahrhunderts. Sie wurde vor allem in ihrer Geburtsstadt Toledo verehrt. Zwischen 633 und 638 fanden hier in der ihr geweihten Kirche drei Reichssynoden statt. Offenbar als Zeichen der Kontinuität zu Toledo überführte König Alfons II. ihre Reliquien nach Oviedo. Für seine Residenzstadt bedeuteten sie eine besondere Aufwertung. Sie wurden im Untergeschoss der Palastkapelle – der sogenannten „Krypta der heiligen Leocadia“ – aufbewahrt. Zeitgenössische Märtyrer, die in dieser Krypta beigesetzt wurden, waren der heilige Eulogius von Córdoba und die heilige Leocritia. Eulogius war gewählter Bischof von Toledo, Leocritia eine vom Islam zum Christentum konvertierte Jungfrau, die ihrer Bekehrung wegen verfolgt und von Eulogius versteckt wurde. Beide erlitten 859 den Märtyrertod. König Alfons III. machte 883 die Auslieferung ihrer Gebeine zum Gegenstand der Friedensverhandlungen mit Emir Mohammed I. Der Toledaner Priester Dulcidio, der den Friedensvertrag verhandelte, erreichte dieses Ziel und wurde zum Dank dafür zum Bischof von Salamanca bestellt. Die Reliquientranslation war für die asturischen Könige offenbar eine Angelegenheit der Reichspolitik. Das gilt auch für den Fall des heiligen Pelagius. Er war der Neffe des Bischofs von Tuy und wurde zusammen mit seinem Onkel 920 von Kalif Abd-ar-Rahman III. gefangen genommen. Der Bischof kam nach drei Jahren frei, Pelagius blieb weiterhin in Gefangenschaft. Der Kalif soll sexuelle Kontakte von ihm verlangt haben. Angeblich wegen seiner Weigerung erlitt der junge Gefangene den Märtyrertod. Er wurde nun als Heiliger verehrt, der

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sein Leben für Glauben und Keuschheit eingesetzt hatte. 965 kamen seine Reliquien nach León – damals schon königliche Residenz. Zwischen 984 und 999 gelangten sie jedoch in die alte Residenz Oviedo, wo sie in einem Benediktinerinnenkloster beigesetzt wurden. Teilreliquien erhielt Santiago de Compostela – ein Zeichen, dass nun auch diese Kirche in die bisher ganz auf Oviedo zentrierte Reliquienpolitik des Königshauses einbezogen wurde. Man könnte fragen, warum die asturischen Könige nicht auch die Reliquien des heiligen Jakobus in ihre Residenzstadt überführt haben. In der Zeit der Entdeckung des vermeintlichen Jakobsgrabes haben süditalienische Fürsten ohne Scheu selbst die Gebeine von Aposteln in ihre Residenzen transferiert. Die Situation auf der Iberischen Halbinsel war allerdings anders. Die großen Reliquientranslationen setzten hier nach dem Arabereinfall ein. Die Überreste der Heiligen sollten jetzt in Sicherheit gebracht werden. Die Voraussetzungen dafür waren im christlichen Norden weitgehend gegeben. Auch die Christen des Kalifenreiches unterstützten zum Teil solche Aktionen. Das Apostelgrab jedoch wurde im Norden im Herrschaftsgebiet der asturischen Könige selbst gefunden. Eine Überführung wäre wohl auf den entschiedenen Widerstand der Galicier gestoßen. Hätte sich vielleicht sogar der Heilige selbst widersetzt? Vom heiligen Aemilianus wird solches berichtet. Der heilige Aemilianus war ein Schafhirte, der später als Einsiedler in einer Höhle im Distercio-Gebirge im nördlichen Spanien lebte und hier eine Mönchsgruppe um sich versammelte. Seit dem 6. Jahrhundert wurde er hoch verehrt. Viele Wunder soll er bewirkt haben. Das Kloster an seinem Begräbnisort

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zog zahlreiche Pilger an – auch Könige und Grafen, die dort seinen Beistand im Kampf gegen die Mauren erbaten. Wie der heilige Jakobus wurde auch er als „matamoros“ angerufen. 1053 wollte König García III. von Navarra seine Gebeine in das neu gegründete Hauptstadtkloster Santa Maria la Real in Nájera überführen. Die Überreste des Heiligen wurden auf einen Ochsenwagen geladen und mitgenommen. Am nahen Fluss hielten die Ochsen an und weigerten sich weiterzuziehen. Der König fasste das als ein Zeichen auf und ließ den Heiligen an seinem Grabesort ein neues Kloster errichten. Das ereignete sich zwei Jahrhunderte nach den Anfängen von Santiago. Das Weltbild des Reliquienkults aber hatte sich in dieser Zeit wenig verändert. Dazu ein Beispiel aus Portugal von 1173. König Alfons I. ließ die Reliquien des heiligen Vinzenz vom bisherigen Platz ihrer Verehrung in einem viel besuchten Wallfahrtsort an der Atlantikküste nach Lissabon bringen, das er einige Zeit zuvor erobert hatte und das zu einem neuen Mittelpunkt der Königsherrschaft ausgebaut werden sollte. Noch während der Translation kam es zu einem Wunder, durch das der Heilige erkennen ließ, mit dem geplanten Ortswechsel einverstanden zu sein. In Santiago war der Reliquienkult von vornherein ganz auf den heiligen Jakobus den Älteren ausgerichtet, dessen Gebeine man mit seinem Grab zur Gänze zu besitzen glaubte. Mit ihm gemeinsam wurden seine beiden Schüler Athanasius und Theodor verehrt, die man ebenfalls hier begraben meinte. An Reliquien anderer Heiliger scheint man zunächst gar nicht besonders interessiert gewesen zu sein. Eine systematische Reliquienpolitik, wie sie die Könige von Asturien in Oviedo betrieben,

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dürfte jedenfalls längere Zeit hindurch hier nicht stattgefunden haben. Diese Situation änderte sich, als die Bischöfe sich zunehmend um eine Aufwertung ihres Bischofssitzes bemühten. Als wichtigster Akteur erscheint in diesem Zusammenhang Bischof Diego II. Gelmírez (1098/1101 – 1140), der 1120 tatsächlich die Ernennung zum Erzbischof erreichte. Schon 1102 begab sich Bischof Diego zu einem Besuch zu seinem Amtskollegen Bischof Gerald von Braga. Braga war die alte Metropolitankirche von Galicien, Iria Flavia, der ursprüngliche Sitz der Bischöfe von Santiago, ihr unterstellt. Infolge der langzeitigen Zerstörung von Braga hatte diese Abhängigkeit jedoch an Bedeutung verloren. Bischof Gerald versuchte alte Rechte wieder herzustellen. Bischof Diego wollte das mit allen Mitteln verhindern. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion stahl er bei seinem Besuch mit Hilfe zweier Kanoniker die Reliquien der wichtigsten Heiligen von Braga: des heiligen Fructuosus, des heiligen Cucufaz, des heiligen Sylvester und der heiligen Susanna. Im ­Triumphzug brachte er sie nach Santiago. In großartiger Inszenierung führte er sie in die Kathedrale, indem er sie das letzte Stück dorthin barfuß begleitete. Das Volk jubelte. Bischof Gerald schrieb einen Protestbrief an den Papst. Dieser ordnete die Rückführung an. Diego ignorierte die Weisung. Die Reliquien blieben in Santiago. Die „Historia Compostelana“ feiert die Tat als „pium latrocinium“, als „frommen Diebstahl“. In der Kirche von Santiago begeht man die „Translation“ in feierlicher Liturgie am 16. Dezember. Das Wallfahrtswesen von Santiago dürfte durch den „frommen Diebstahl“ kaum einen besonderen Auf-

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schwung erlebt haben. Jedenfalls hört man späterhin nichts von Pilgern zum heiligen Fructuosus oder zum heiligen Cucufaz. Eventuell bedeutete es für Santiago einen Vorteil, dass sich Braga nach dem Verlust seiner wichtigsten Heiligen nicht als Wallfahrtszentrum entwickeln konnte. In Santiago stand das Pilgerwesen ganz unter der Dominanz des Apostels Jakobus des Älteren. Das zeigt sich deutlich, als das Haupt Jakobus’ des Jüngeren in die Kathedrale gelangte – übrigens auch über Braga, aber dieses Mal nicht durch Diebstahl, sondern als Geschenk der Königin Urraca, die es ihrerseits von Erzbischof Mauritius von Braga, dem späteren Gegenpapst Gregor VIII., erworben hatte. Selbst diese Apostelreliquie konnte keinen selbständigen Wallfahrtskult bewirken. In der 1527 geschaffenen „Capilla de las Reliquias“ bildet die „cabeza de Santiago Alfeo“ den Mittelpunkt von 140 anderen Reliquien. Dieser gewaltige Heiltumsschatz, der quantitativ vielleicht sogar den von Oviedo übertraf, war räumlich mit der Grablege der Könige und Königinnen unmittelbar verbunden. Als Ergebnis einer königlichen Förderungspolitik ist er nicht zu deuten. Vielmehr kam er sehr wesentlich auch durch Widmungen von Jakobs­ pilgern zustande. Solche Unterschiede in der Zusammensetzung der überlieferten Reliquien verweisen auf Unterschiede im Wallfahrtswesen der beiden heiligen Orte insgesamt: In Oviedo ging die Initiative von den Königen aus, in Santiago waren breite Bevölkerungsgruppen daran beteiligt – aus der Region und weit darüber hinaus. Die erzwungene Reliquientranslation von Braga nach Santiago stellt einen Extremfall dar. Sie passt aber gut

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zu allgemeinen Gegebenheiten der kirchlichen Raumordnung im Norden der Iberischen Halbinsel zu dieser Zeit. Alte Bischofssitze wurden verlegt, in ihren Rechten beschnitten oder aufgegeben, neue eingerichtet und aufgewertet. Die wichtigsten Triebkräfte in dieser Entwicklung waren einerseits die Reconquista mit der Eroberung zusätzlicher Gebiete und deren Besiedelung, andererseits die vom Papsttum vorangetriebene Kirchenreform. Sowohl die herrschaftliche wie auch die kirchliche Ordnung kam durch solche von außen wie von innen wirkende Kräfte in Bewegung. In Oviedo wie in Santiago war die Bistumsentwicklung dadurch betroffen. Oviedo gehörte nicht zu den Bischofssitzen, die sich auf römische oder westgotische Traditionen berufen konnten. Es handelt sich ganz offenkundig um eine Neugründung aus dem frühen 9. Jahrhundert. Als König Alfons II. seine Residenz hierher verlegte, errichtete er zugleich mit dem königlichen Palast und in Verbindung mit diesem einen bischöflichen. Der Bischof von Oviedo war also zunächst ein Hofbischof. Die asturischen Könige vor Alfons II. kannten keine derartige Verbindung von geistlicher und weltlicher Gewalt. Weder standen ihnen Bischofssitze als potenzielle Residenzen zur Verfügung, noch vermochten sie solche in ihren Herrschaftssitzen zu begründen. Als Bischof der Hauptstadt eines rasch anwachsenden Reiches hatte der von Oviedo im 9. Jahrhundert eine bevorzugte Stellung, er verfügte jedoch über keine Metropolitanrechte. Als Oviedo im frühen 10. Jahrhundert als Residenz von León abgelöst wurde, verlor er rasch an Einfluss. Eine Welle der Neuordnung von kirchlichen Zentren und ihren Einzugsbereichen lös-

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te die Eroberung von Toledo durch König Alfons VI. von León-Kastilien im Jahr 1085 aus. Toledo war Hauptstadt des Westsgotenreiches und damit Sitz des Oberhaupts der Reichskirche gewesen. Nun bemühte sich sein Erzbischof um die Restitution alter Rechte. 1099 privilegierte Papst Urban II. Toledo und unterstellte dem Erzbischof die Bischöfe von León und Oviedo als Suffragane. Das löste erbitterten Widerstand aus, sodass Papst Paschalis II. erneut eingriff. 1104 erhielt León die Exemtion sowie die direkte Unterstellung unter Rom, 1105 auch Oviedo. Hier war die treibende Kraft für die Erhaltung der Eigenständigkeit Bischof Pelagius (1101 – 30) – eine als ehrgeiziger Kirchenpolitiker seinem Zeitgenossen Diego Gelmírez von Santiago durchaus ebenbürtige Persönlichkeit. Von ihm stammen zahlreiche Fälschungen zur höheren Ehre seines Bischofssitzes. Die Erhebung zum Erzbistum erlangte Oviedo erst viel später, nämlich 1954. Auch Santiago war ein neuer Bischofssitz des 9. Jahrhunderts, allerdings auf ganz anderer Grundlage. Das Bistum von Santiago hat sich aus dem von Iria Flavia entwickelt. In Iria Flavia – einer ursprünglich keltischen Siedlung, in der Kaiser Vespasian einen Hafen begründete – bestand schon im 6. Jahrhundert einer der neun Bischofssitze von Galicien. Die Bischofsliste lässt seit dieser Zeit Kontinuität erkennen. Bischof Theodemir, unter dem das vermeintliche Apostelgrab gefunden wurde, ließ sich 847 an diesem neuen heiligen Ort begraben. In der Folgezeit kam es in der Diözese zu einer Schwerpunktsverlagerung. Unter Bischof Athaulf II. (ca. 851 – 61) zerstörten die Wikinger die alte Bischofsstadt. Bischof und Kapitel hatten Zuflucht in den Befestigungsanlagen von

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Santiago gesucht. Der unmittelbare Anlass der Verlegung von Iria Flavia nach Santiago war also nicht religiöser Natur. Der Bischof bat nun König Ordoño II. und Papst Nikolaus II. um ihre Zustimmung zu einer solchen Verlegung. Er erhielt sie unter der Bedingung, dass die Ehre beider Sitze gewahrt werde. Aus dem Jahr 885 stammt dann das älteste gesicherte und explizite Dokument über die Beziehung des Bischofssitzes zum heiligen Jakobus. Es ist in ihm von Bischof Sisenand I. die Rede als ­„Sisnandus Iriae Sancto Jacobo pollens“ – „Sisenand von Iria, mächtig über den heiligen Jakobus“. Seither finden sich verschiedene Formen der Doppelbezeichnung einerseits nach Iria andererseits nach der „apostolischen Kirche des heiligen Jakob“. Erst 1095 entzog Papst Urban II. Iria Flavia den bischöflichen Rang und übertrug ihn ungeteilt an Santiago. Gestützt auf die Innehabung eines apostolischen Sitzes stieg Santiago innerhalb der kirchlichen Ordnungen auf. Die entscheidenden Schritte dazu erfolgten allerdings erst zwei Jahrhunderte später. Als sich Bischof Cresconius (ca. 1036–66) wie schon viele seiner Vorgänger seit Bischof Sisenand I. (879 – 920) als „episcopus Iriensis et Apostolicae Sedis“ – „Bischof von Iria und des apostolischen Sitzes“ bezeichnete, also einen dem Papst vorbehaltenen Titel für sich beanspruchte, wurde er 1049 auf dem Konzil von Reims von Papst Leo IX. exkommuniziert. Die Nachbarbischöfe von Lugo, Dumio, Oviedo und Oporto erkannten jedoch seinen Anspruch an, ebenso König Ferdinand I. von León-Kastilien (1035–65). Bischof Diego Gelmírez (1096/1101–1149) war der erfolgreichste Vertreter der Erhöhung seines Bischofssitzes. Gegenüber

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dem Erzbistum Braga hatte schon sein Vorgänger Dalmatius 1095 die Exemtion seiner Diözese erreicht. 1105 erhielt Diego das Pallium und damit den Anspruch auf erzbischöflichen Rang. 1120 erfolgte die zunächst zeitlich begrenzte Metropolitanwürde in der Nachfolge des Bistumssitzes von Mérida und damit die Erhebung zum Erzbischof. Gleichzeitig wurde ihm die päpstliche Legatengewalt für die galicische und die lusitanische Kirchenprovinz übertragen. Das ging zulasten von Toledo und Braga. 1124 wurde von Diego schließlich die permanente Übertragung der Metropolitanwürde von Mérida auf Santiago erreicht. Auf einer von ihm noch im selben Jahr einberufenen Synodalversammlung fanden sich die Bischöfe von Astorga, Lugo, Mondoñedo, Tuy, Zamora und Salamanca ein. Santiago war nun in der kirchlichen Hierarchie ein Zentrum höherer Ordnung. Die zugehörige Kirchenprovinz erstreckte sich durch die Ausrichtung an Mérida vor allem nach Süden. Der Einzugsbereich des Wallfahrtsorts Santiago korrespondierte hingegen primär mit dem „Camino Francés“, also der durch Nordspanien in Ost-West-Richtung verlaufenden Verkehrsachse. Eine historisch-genetisch bedingte Übereinstimmung der beiden Bereiche ist nicht erkennbar. Der Zuzug der Pilger folgte eigenen Gesetzen. Die rechtliche Raumordnung der Kirche war für ihn ohne Bedeutung. Sicher war es kein Zufall, dass die Rangerhöhung des Bischofs von Santiago in etwa zeitgleich mit dem Aufstieg der Stadt zum herrschaftlichen Zentrum erfolgte. Diego Gelmírez war Notar Graf Raimunds, der von seinem Schwiegervater König Alfons VI. Galicien als Lehensreich erhalten hatte, und als Bischof dann einer der Füh-

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rer der „Raimundisten“, die die Rechte von dessen noch unmündigem Sohn Alfons auf das Herrschaftsgebiet seines Vaters vertraten. Er krönte diesen 1111 in seiner Bischofskathedrale zum König von Galicien. In der Folgezeit gestaltete sich das Verhältnis zwischen König und Bischof zwar wechselhaft, die herrschaftspolitische Zentralität begünstigte aber wohl weiterhin auch die kirchenpolitische. Wichtiger für diesen Aufstieg war aber ein anderer Faktor. Die Wallfahrt zum Jakobsgrab hatte seit seiner Entdeckung im 9. Jahrhundert enorm zugenommen und im 11. Jahrhundert internationale Dimensionen erreicht. Besonders deutlich spiegelt sich diese Entwicklung im Neubau, der Erweiterung und Ausgestaltung der Kathedrale. Auf die König Alfons II. zugeschriebene erste, noch relativ einfache Kirche über dem Grab folgte unter König Alfons III. und Bischof Sisenand I. eine deutlich größere, deren feierliche Einweihung 899 erfolgte. Sie wurde 997 von al-Mansur, dem Feldherren des Kalifen von Córdoba, total zerstört, gleich danach aber von Bischof Pedro de Mezonzo (985 – 1003) neu errichtet. Bischof Diego Peláez, ein Vertreter der gregorianischen Kirchenreform, begann 1077 mit der großartigen romanischen Neuanlage der Kathedrale. Es war also schon der dritte – die Rekonstruktion des frühen 11. Jahrhunderts eingerechnet – sogar der vierte Kirchenbau, den Diego Gelmírez in seiner Gestaltung entscheidend prägte und 1128 einweihte. Wesentlich erscheint, dass der Zustrom an Wallfahrern zwei Jahrhunderte hindurch kaum von Fernpilgern getragen war. Der maßgebliche Faktor für die Bedeutungszunahme des Pilgerzentrums muss also lange Zeit hindurch die regional begrenzte Wallfahrt ge-

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wesen sein. Will man eine solche Entwicklung erklären, muss man nach besonderen Voraussetzungen des Wallfahrtswesens in Galicien fragen. Diese Frage führt notwendig zum religiösen Substrat der Region aus der Zeit vor der Entdeckung des vermeintlichen Apostelgrabs. Bis zur gregorianischen Kirchenreform war die kirchliche Organisation hier noch schwach und damit auch die Durchdringung seitens der Amtskirche. So konnte ein solches Substrat wohl noch lange weiter wirken. Ein schon vorgegebenes Wallfahrtswesen stimulierte in Santiago zunächst die kirchliche, dann aber auch die herrschaftliche Zentralität. Der heilige Ort als Pilgerziel erscheint als die entscheidende Triebkraft der Entwicklung. In Oviedo hingegen hat es keine Wallfahrten gegeben, als die asturischen Könige dort ihre Residenz errichteten. Erst die Heiltumsschätze, die sie dort anhäuften, haben Oviedo zu einem Wallfahrtsort gemacht. Man könnte im Vergleich des Pilgerwesens der beiden Zentren seiner Entstehung nach – sicher sehr vereinfachend – von einer „Wallfahrt von unten“ und einer „Wallfahrt von oben“ sprechen. Sieht man Oviedo und Santiago in ihrer Entstehungszeit in einem über die Iberische Halbinsel hinausgehenden Vergleich, so lassen sich Entsprechungen zu zwei Grundtypen von Pilgerorten erkennen. Oviedo korrespondiert vor allem mit Aachen. König Alfons II. von Asturien stand kirchenpolitisch in engem Kontakt mit Karl dem Großen. Dessen Pfalzbau scheint die Anlage seiner neuen Residenz beeinflusst zu haben. Hier wie dort wurde die Pfalzkapelle zum Aufbewahrungsort eines­­großen Reliquienschatzes. Hier wie dort schloss an

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ihn eine bedeutende Wallfahrt an, als der Herrschersitz aufgegeben wurde. Die „Aachenfahrt“ entwickelte sich im Mittelalter zu einer der wichtigsten Pilgerreisen des deutschen Reiches. Das Wallfahrtswesen war beim Typus Aachen eine der Restfunktionen, die sich von der ursprünglich umfassenderen Bedeutung erhielten. Oviedo entsprach diesem Typus sakraler Residenzorte auch in anderer Hinsicht. Die Kathedrale war dem Erlöser und den zwölf Aposteln geweiht. Das Salvatorpatrozinium findet sich – mit oder ohne Verbindung zu dem der Apostel – in mehreren vorbildhaften Residenzkirchen des Frühmittelalters – in der spätantiken Kaiserresidenz in Mailand, in der Palastkapelle der langobardischen Könige in Pavia, vor allem aber im päpstlichen Residenzkomplex des Laterans. Die Weihe an die zwölf Apostel verweist auf fürstliche Grablegen der Zeit in Anschluss an die der oströmischen Kaiser in der Apostelkirche in Konstantinopel – etwa die des Frankenkönigs Chlodwig in Paris. Viele charakteristische Kennzeichen einer fürstlichen Hauptkirche des Reiches scheinen in Oviedo gegeben. In Santiago de Compostela besteht dazu keine Parallele. Hier entspricht die Entwicklung des Wallfahrtswesens eher einem zweiten Grundtypus, wie ihn das große Michaelsheiligtum auf dem Monte Gargano in Apulien repräsentiert. Pilgerziel ist in der Entstehungszeit zunächst ein heiliger Ort in der Einsamkeit – in diesem Fall eine Kulthöhle, deren Betreten Sündennachlass verspricht. Gerade ein siedlungsferner Platz wird für das Pilgerwesen konstitutiv. Als Residenz hat der Monte Gargano nur kurzfristig in der Frühzeit der Normannenherrschaft gedient.

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Das Verhältnis zwischen den beiden großen Heiligtümern des asturisch-leonesischen Köngreichs war nicht ohne Spannungen. Die Relation zueinander spiegelt sich in der Entwicklung der Wallfahrtsrouten. König Alfons II. soll von Oviedo aus „als erster Pilger“ das Jakobsgrab besucht haben. Diese direkte Verbindung zwischen Oviedo und Santiago wird im System der Jakobswege heute als „Camino Primitivo“ bezeichnet. Die frühen Pilger aus Asturien werden ihm wohl gefolgt sein. Die Schwerpunktsverlagerung in den Süden innerhalb des Reiches wirkte sich auch auf den Pilgerweg aus. Er führte zunehmend über die neue Hauptstadt León. Oviedo litt unter dieser Entwicklung. Die Könige versuchten gegenzusteuern. Ihr Ziel war es, die Reise der Pilger über León mit dem Besuch von Oviedo zu verbinden. So förderten sie den Pilgerweg über Asturien durch reiche Schenkungen an Hospitale und Klöster an dieser Route. Das gilt für Königin Urraca I. (1109 – 1126), die Könige Alfons VII. (1126 – 1157), Ferdinand II. (1157 – 1188) und Alfons IX. (1188 – 1230). Eine besonders wichtige Station an dieser Strecke war das Hospital von Santa Maria de Arbas, das 1116 von einem leonesischen Adeligen gegründet wurde. Die Könige stellten es unter ihren besonderen Schutz. Es gelang, mit solchen Strategien die Wallfahrt nach Oviedo zu intensivieren. In der Gesamtentwicklung konnte diese „Camino El Savador“ bzw. „Camino Real“ genannte Straße jedoch die Hauptstrecke des „Camino“ nicht beeinträchtigen. Die geographischen Voraussetzungen begünstigten die direkte Verbindung von León nach Santiago. Viele Pilger scheuten offenbar den Umweg. Die Attraktion des Jakobsgrabes war stärker als die der Jesusreliquien

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von Oviedo. Ein emotional stark aufgeladener Leitspruch, der seit dem 16. Jahrhundert in verschiedenen Sprachen und in mehreren Varianten überliefert ist, sollte dieser Entwicklung entgegenwirken: „Quien va a Santiago y no al Salvador visita el criado y deja al Señor“ – „Wer zum heiligen Jakob geht und nicht zum Erlöser, der besucht den Knecht und versäumt den Herrn“. Aber die Konkurrenz zwischen den beiden Wallfahrtsorten war damals schon längst entschieden.

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„Man nennt sie palmieri, weil sie über das Meer in ein Land reisen, aus dem sie oft einen Palmzweig mitbringen; man nennt sie peregrini, weil sie in das Haus in Galicien­gehen, wo das Grab des heiligen Jakob weiter von seiner Heimat entfernt liegt als das irgendeines anderen ­Apostels; man nennt sie romei, denn sie gehen nach ­Rom …“. So qualifiziert Dante Alighieri in seiner vor 1293 entstandenen Jugendschrift „Vita Nuova“ die Pilger seiner Zeit. Im Hochmittelalter war Santiago de Compostela in die Gruppe der führenden Fernpilgerziele der westlichen Christenheit aufgestiegen. Ihrer Entstehung nach eine „Wallfahrt von unten“ trat das Pilgern zum „Haus des heiligen Jakob in Galicien“ damals den traditionsreichen Pilgerzielen Jerusalem und Rom gleichwertig an die Seite. Alle drei wurden als „peregrinationes maiores“ verstanden. Das grenzte sie in der Rangordnung der Gnadenstätten von jenen Wallfahrtsorten ab, in denen in geringerem Umfang Nachlass von Sündenstrafen zu erlangen war. Innerhalb dieser Spitzengruppe der drei bedeutendsten Wallfahrtsstätten der Kirche des Mittelalters – Jerusalem, Rom und Santiago – gab es jedoch auch wesent­liche Unterschiede. Aus sakraltopographischer Perspektive etwa lässt sich feststellen, dass es sich jeweils um ganz unterschiedliche Traditionen und Strukturen der Zielorte bzw. Zielgebiete der Pilger handelte. Das wirkte sich auch auf die Wege aus, die dorthin führten. Die Besonderheit

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des Jakobswegs lässt sich auf diesem Hintergrund besser verstehen. Jerusalem und Rom waren uralte Städte – auch mit bedeutenden religiösen ­Traditionen – schon lange bevor sie zu christlichen Wallfahrtsorten wurden. Santiago hingegen trat ohne solche Vorstufen als neuer Wallfahrtsort ganz unmittelbar in die Geschichte ein. Zu vorausgehenden Spuren der Besiedelung in römischer Zeit, wie sie die Archäologie nachgewiesen hat, bestand keinerlei Kontinuität und damit auch kein funktionaler Zusammenhang. Nach den Berichten der Bibel eroberte König David Jerusalem und erhob es zu seiner Hauptstadt. Er ließ die Bundeslade hierher bringen und machte damit die ­Königsstadt auch zur „heiligen Stadt“. Salomon, sein Sohn und Nachfolger als König in Israel, gilt als Erbauer des ersten Tempels. Die Wallfahrt zu diesem Tempel wird in der Folgezeit essentieller Bestandteil der jüdischen Kultformen. Auch aus dem Leben Jesu wird mehrfach von Wallfahrten zum Tempel berichtet. Die Stätten seines Wirkens, seines Leidens, seines Sterbens und seiner Auferstehung in Jerusalem wurden dann seit frühchrist­ licher Zeit zum Ziel der Pilger. Insgesamt schließt hier das christliche Pilgerwesen in vieler Hinsicht ganz unmittelbar an vorchristlich-jüdisches an. Rom war Jahrhunderte hindurch der Mittelpunkt des Imperium Romanum. Der Vorrang des Bischofs von Rom als Papst in der westlichen Christenheit leitet sich aus der vorchristlichen imperialen Tradition ab. Er wird christlich durch die Gräber der Apostelfürsten Petrus und Paulus im Rom legitimiert. Mit Berufung auf diese apostolische Kontinuität entwickelt sich das Zentrum der römischen

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Kirche auch zu einem überregionalen Wallfahrtsort. In Santiago de Compostela findet sich von vergleichbaren Vorstufen am Ort selbst keinerlei Spur. Die christliche Wallfahrt entsteht hier unmittelbar in Anschluss an die Entdeckung des vermeintlichen Apostelgrabs. In vorjakobeischen christlichen Traditionen findet sich kein Anknüpfungspunkt für die einmalige Entfaltung des Wallfahrtsortes. Das schließt jedoch nicht aus, für diese Sonderentwicklung in Galicien nach vorchristlichen Wurzeln zu suchen. In Jerusalem und insgesamt im Heiligen Land markieren seit der Zeit Kaiser Konstantins christliche Kirchen die heiligen Stätten, die die Pilger verehrten. Die Zahl solcher Kirchen ist nicht gering. Die Kirchengruppe um das Heilige Grab umfasste vor allem die Grabeskirche sowie die „Anastasis“-Rotunde zum Gedenken an die Auferstehung. Sie wurden nach ihrer Zerstörung durch die Perser zu einer gemeinsamen baulichen Anlage zusammengefasst. Am Tempelplatz entstand zum Gedenken an die Geißelung und Verurteilung Jesu eine Hagia-Sophia­ -Kirche, beim sogenannten „Haus des Kaiphas“ eine Petruskirche in Erinnerung an die dreimalige Verleugnung Jesu durch den Apostel, beim „Pilatushaus“ die Kirche des Prätoriums, in der die Geißelsäule gezeigt wurde. Sie gelangte später in die Sionskirche, in der auch die Dornenkrone aufbewahrt wurde. Man gedachte hier ferner der Fußwaschung beim letzten Abendmahl, des Pfingstwunders und der Himmelfahrt Mariens. Auf dem Ölberg wurden Kirchen zur Erinnerung an die Todesangst Jesu im Garten Gethsemane und an seine Himmelfahrt errichtet, vor allem aber von Kon-

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stantins Mutter die große Eleona-Kirche, die den Endzeitprophezeiungen galt, die Jesus dort seinen Jüngern verkündet haben soll. Nach der Zerstörung der konstantinischen Kirchenbauten in Jerusalem durch die Perser 614 wurden viele von ihnen wieder aufgebaut und erneut zum Ziel von Pilgerfahrten. Die Wallfahrtsziele der Jerusalempilger betrafen jedoch keineswegs nur die Heilige Stadt selbst. Viele andere heilige Orte, von denen das Alte und das Neue Testament berichtet, wurden ebenfalls aufgesucht. Ein stark alttestamentlich orientiertes Pilgerprogramm zeigt sich etwa im Wallfahrtsbericht einer Autorin namens Egeria, die ihre Reise zu den christlichen Gedenkstätten 381/4 ausführte. Sie nennt viele heilige Orte, die mit Melchisedech, Moses, Hiob und Elias in Verbindung stehen, weniger solche mit Bezug zu christlichen Heiligen. So kennt sie eine Kirche auf dem Gipfel des Moses-Berges, eine auf dem benachbarten Berg Horeb mit der Höhle des Propheten Elias, weiters eine zur Erinnerung an den „Brennenden Dornbusch“. Solche heilige Stätten auf der Halbinsel Sinai – von Jerusalem doch ziemlich entfernt gelegen – werden auch das ganze Mittelalter hindurch als Pilgerziele genannt. Vermehrt wird die Liste der besuchten Heiligtümer in der Folgezeit aber vor allem durch Heiligengräber – auch diese im weiten Umkreis der Heiligen Stadt. In Rom sind die mittelalterlichen Pilgerziele auf die Stadt selbst konzentriert. Als die sieben Hauptkirchen, die zu besuchen sind, gelten seit dem Spätmittelalter San Giovanni in Laterano – ursprünglich als St. Salvator­ kirche dem Erlöser geweiht –, San Pietro in Vaticano, San

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Paolo fuori le mura, Santa Maria Maggiore, Santa Croce in Gerusalemme, San Lorenzo fuori le mura und San Sebastiano fuori le mura. Vier von ihnen waren sogenannte „Patriarchalkirchen“. Sie hießen so, weil sie für die Patriarchen der frühen Reichskirche reserviert waren, wenn sie zu Synoden oder aus anderen Anlässen Rom besuchten. Als solche wurden die Oberhäupter der Kirchen von Alexandrien, Antiochien, Jerusalem und Konstantinopel bezeichnet. Zu ihnen gehörte an erster Stelle der Papst als Patriarch des Abendlandes mit seinem Bischofssitz im Lateran, der ursprünglichen Hauptkirche Roms. Sie alle waren Inhaber von „sedes apostolicae“ im ursprünglichen Sinn der Bezeichnung, die sich auf die reine Überlieferung der Lehre durch die Apostel, nicht auf deren Begräbnisorte bezog. Alle sieben Hauptkirchen Roms verfügten über bedeutende Reliquien – so der Lateran über die „Scala Santa“, die heilige Treppe aus dem Palast des Pontius Pilatus, auf der Jesus verhört und zum Kreuzestod verurteilt worden sein soll, oder das Schweißtuch der Veronika, das diese ihm der Überlieferung nach am Kreuzweg gereicht habe – späterhin analog zu den Schlüsseln des heiligen Petrus auf den Pilgerzeichen der Rompilger abgebildet. Die „heilige Treppe“ führte zur Papstkapelle „Sancta Sanctorum“. „Non est in toto sanctior orbe locus“ hieß es über sie: „Kein Ort ist heiliger als dieser auf dem ganzen Erdkreis“. In San Pietro und San Paolo wurden die Reliquien der beiden Apostelfürsten verehrt, in Santa Maria Maggiore die Krippe von Bethlehem, in Santa Croce Reliquien aus dem Umfeld der Kreuzigung Jesu, in San Lorenzo das Grab eines besonders hoch angesehenen Stadtheiligen. San Sebastiano schließlich war

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bei einem Zugang zu den Katakomben errichtet, dem Begräbnisort zahlloser Märtyrer. Mit dem Besuch der sieben Hauptkirchen war die Erteilung des „indulgentia plena“, des vollkommenen Ablasses verbunden. Vier der Patriarchalkirchen verfügten über eine „heilige Pforte“, die in den „heiligen Jahren“ der besonderen Ablassgewährung geöffnet wurden. Unter den sieben Hauptkirchen Roms nahm mit der Entwicklung des Papsttums die Peterskirche als Grabeskirche des ersten Papstes den Vorrang vor der Lateranskirche ein. An ihr war der Pilgerzustrom zunehmend orientiert. Dementsprechend wurde die Pilgerstraße nach Rom vielfach als „Via Sancti Petri“ – also als St. Petersweg – bezeichnet. Diese Straße führte weiter in den Süden, zu anderen großen Wallfahrtsorten wie San Michele am Monte Gargano oder San Nicola in Bari. Von hier aus ließ sich die Romfahrt auf dem Seeweg mit der Jerusalemfahrt verbinden. In Santiago ist es nicht nur ein einziger Zielort, an dem die Pilgerwege orientiert sind, sondern auch nur eine einzige Kirche, nämlich die Grabeskirche des heiligen Jakobus. Der Zugang zum heiligen Ort ist klar vorgegeben. Auf der Hauptroute des Jakobsweges kommend, erblickt man vom Monte do Gozo, dem „Berg der Freude“, aus etwa vier Kilometer vom Wallfahrtsort entfernt zum ersten Mal die Kathedrale. Die „Puerta del Camino“ führt in die Altstadt. Auf dem Platz vor der Kathedrale betritt man den Stein, der die „Meile Null“ markiert, den letzten Kilometerstein auf dem langen Weg. Man ist nun symbolisch angekommen. Durch das Nordtor in der Azabachería-Fassade, die ehemalige „Puerta Francigena“, gelangt man ins Kircheninnere, in heiligen Jahren durch

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die „Puerta del Perdón“, die „Pforte der Vergebung“. Hier führt der Weg direkt zum Heiligen. Man umarmt seine gnadenbringende Statue, das Ziel der Wallfahrt ist erreicht. Trotzdem kehren viele Pilger noch nicht um. Sie gehen weiter bis zur Atlantikküste. Der Jakobsweg hat für sie noch ein zweites Ziel, nämlich das Kap Finisterre, etwa sechzig Kilometer westlich von Santiago gelegen. Heute passt dieses Ziel gut zu Erfahrungen, die ganz allgemein auf dem Jakobsweg gesucht werden: Die Beanspruchung der physischen Leistungsfähigkeit bis zum Äußersten, das mystische Erleben einer geheimnisvollen Landschaft, die Naturerfahrung in einer Region, in der das Festland in eindrucksvollen Formationen auf das Meer trifft. Aber solche Motivationen lassen sich nicht auf das Mittel­alter zurückprojizieren. Was hat damals Menschen bewegt, diese beschwerliche Reise über Santiago hinaus auf sich zu nehmen? Hatten ihre Motive mit der Jakobsverehrung zu tun? Lassen sie zusätzliche Triebkräfte des Pilgerwesens in dieser Region erkennen, die zu älteren Wurzeln des Phänomens Jakobsweg führen? Einige Beispiele aus Pilgerberichten, wie sie aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit in beträchtlicher Zahl vorhanden sind, mögen Spuren aufzeigen, die diesbezüglich zusätzliche Perspektiven eröffnen. Besondere Bedeutung für den Zusammenhang zwischen Santiago und Finisterre hat der Bericht des ungarischen Ritters Georg Grisaphan, der 1353 als Pilger zum Heiligtum des Apostels Jakobus nach Galicien kam. Im Gefolge Ludwigs von Anjou hatte er sich bei kriegerischen Auseinandersetzungen in Unteritalien schwerer Untaten schuldig gemacht. Eines Nachts plagte ihn des-

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halb sein Gewissen und er beschloss Buße zu tun. Zuerst wandte er sich an den Papsthof in Avignon wo er seine Sünden beichtete, doch war er mit der ihm auferlegten Sühne selbst nicht zufrieden. Auf Anraten seines Beichtvaters trat er die Pilgerreise nach Santiago an. Hier störte ihn allerdings das gesellschaftliche Leben der kosmopolitanen Pilgerstadt. Er wollte in Einsamkeit seine Schuld abbüßen und erkundigte sich nach einem dafür geeigneten Ort. Von Geistlichen in Santiago wurde ihm die Eremitenklause des heiligen Wilhelm nahe der Kirche „Sancta Maria de Finibus Terre“ empfohlen, wo er fünf Monate bei Wasser und Brot als Einsiedler verbrachte. Allerdings wurde er schon bald von Besuchern bedrängt, die ihn selbst als heiligen Mann zu verehren begannen. Er verließ nun Galicien und wandte sich an einen anderen heiligen Ort „in finibus mundi“ nach Irland. Dort bemühte er sich um Zugang zum sogenannten „Purgatorium des heiligen Patricius“. Seine Erlebnisse an diesem Wallfahrtsort wurden in den „Visiones Georgii“ zusammengefasst – einer in ganz Europa viel beachteten und in mehrere Sprachen übersetzten Schrift. Finisterre war also nach der Meinung der Geistlichkeit von Santiago ein für die Ableistung der Buße der Pilger besonders geeigneter Ort – in ähnlicher Weise wie das Apostelheiligtum selbst. Die Ortsbezeichnung nach einem heiligen Wilhelm verwies auf einen früheren ­Einsiedler, der hier gelebt haben sollte. Der lokalen Überlieferung nach handelte es sich um einen Herzog von Aquitanien, aber darüber erfuhr Georg Grisaphan von seinen Informanten nichts. Als ein von Eremiten genutzter Ort lebte so ein älterer heiliger Platz am Kap Finister-

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re­in der christlichen Tradition weiter. Er war selbst nicht in gleicher Weise Wallfahrtsziel wie das Apostelgrab, aber doch im Bewusstsein der Bevölkerung und insbesondere des Klerus von Santiago mit diesem verbunden. Eine Statuette des heiligen Jakobus aus Gagat, die 2008 in der „Ermíta de San Guillermo“ gefunden wurde und die zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert entstanden ist, gibt einen deutlichen Hinweis auf Kultkontinuität an diesem heiligen Ort, den jedenfalls bis ins 17. Jahrhundert hinein immer wieder Pilger aufsuchten. 1901 erbat die Nachbarschaft von Fisterra/Finisterre vom Erzbischof von Santiago, die seit alters dem heiligen Wilhelm geweihte Kapelle wieder aufbauen zu dürfen. Der Nürnberger Patrizier Gabriel Tetzel, der 1465/67 im Gefolge eines böhmischen Adeligen eine „Ritter-, Hof-und Pilgerreise durch die Abendlande“ unternahm, erzählt in Anschluss an den Besuch seiner Reisegruppe in Santiago (Herbers/Plötz 1966, S. 114): „Von Sant Jacob ritt wir auss gen Finstern Stern, als es dann die bauren nennen, es heisst aber Finis terrae. Do sieht man nichts anders esset hinüber dann himel und wasser, und sagen, das das mer do so ungestüm sey, das niemand mug hinüber faren, man wiss auch nit, wass dogesset sey. Als man uns saget, so hetten etlich wollen erfaren was doch gensseit wär, und waren mit galeyen und näffen gefaren; es wär aber niemand herwider kumen.“ Bei Tetzel findet sich in Finisterre keinerlei Hinweis auf einen heiligen Ort. Er sieht nur Himmel und Wasser. Sein Hinweis auf das „ungestüme Meer“ bedeutet allerdings keineswegs nur Naturerfahrung. Er weiß, dass viele zu einem unbekannten Ort auf der Gegenseite hin-

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überfahren wollten. Diese Sehnsucht nach einem jenseits gelegenen Ziel wird nur angedeutet, aber nicht näher ausgeführt. In Tetzels christlichem Weltbild ist das auch nicht möglich. Die Vorstellung, am „Ende der Welt“ über das Meer zu einer „Insel der Seligen“ hinüberfahren zu können, stammt aus der Antike. Konkret ist in Tetzels Bericht die Todeserfahrung: Keiner ist zurückgekommen. Bis heute heißt der Küstenabschnitt jenseits von Finisterre „Costa da Morte“/„Costa de la Muerte“ – „Küste des Todes“. Richtig deutet Tetzel die Etymologie des Ortsnamens. „Finis terrae“ meint das „Ende der Welt“, nicht einen „finsteren Stern“, wie viele der deutschsprachigen Pilger glaubten. Aber auch die vom Autor korrigierte Fehlinterpretation ist interessant. Die Erwähnung eines Sterns erscheint in seinem Bericht der einzige Bezug zur St. Jakobs-Tradition, in der die Sternensymbolik eine so große Rolle spielt, allerdings in einer stark vermittelten Form. Ein Augsburger Patrizier namens Sebastian Ilsung, der 1446 bei seiner Pilgerfahrt zum heiligen Jakob nach Finisterre weiterzieht, bezeichnet diese letzte Wegstrecke als den „besesten Weg“, den man finden kann und erzählt dann weiter (Herbers/Plötz 1996, S. 88 f.): „Da kam ich zu dem Finster Steren, aber zuo latein haisset es affinnis tera, ist zuo teisch ain end des erttrichs … Da ist ein hocher Berg und daz groß wild mer stosset uf all seiten dar an an, da man hein uf gat. Und ist wol ain halbe meil hoch. Da sicht man unser heren fus tritt in den herten fellsenn und ain brunen, den er gemacht hat. Und der fels hat sich genaiget, gelich als ain sessell. Dez gelich unser frau hat ach ein sesell und sant Johans

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und Jacob und sant Peter. Und vir den berg hin us, da ist daz mer als hoch und als ungestem uf zwo tagrais, wen der wind da hin schlecht, der komt neimer mer her wider, und hat da uf waser und land ain endt.“ Ilsungs Bericht geht ebenso wie der von Tetzel von Naturphänomenen aus, die ihn in Finisterre beeindruckten. Für ihn gibt es jedoch in dieser Landschaft einen besonderen Bezugspunkt, nämlich einen ins Meer hinausragenden Berg, also das Kap Finisterre. Eine besondere christliche Bedeutung gibt er diesem Berg durch den angeblichen Fußabdruck Jesu, weiters durch Felsformationen, die man ihm als Sitze Mariens sowie der Apostel Johannes, Jakobus und Petrus erklärt. Der heilige Jakob erscheint dabei in nachgeordneter Position. In den Jakobs­legenden ist eine solche Überlieferung nicht verankert. Der Bericht erweckt den Eindruck einer im Nachhinein entstandenen christlichen Deutung eines schon vorgegebenen heiligen Berges. Von der antiken Kultstätte am Kap Finisterre, die die archäologische Forschung belegt, weiß Ilsung allerdings nichts. Eine Kirche an diesem bedeutsamen Platz wird von ihm nicht erwähnt. Er erzählt gesondert von seinem Bericht über den hohen Berg, dass er sein Wappen – ebenso wie in Santiago in der Kathedrale – in Finisterre in einer Kapelle aufgehängt habe, wahrscheinlich in der Marienkirche des Ortes. Er folgte damit einem von adeligen Pilgern mehrfach überlieferten Brauch. Die Aufhängung des Wappens markiert einen zweiten Zielpunkt seiner Pilgerreise. Aber Ilsung zieht über Finisterre hinaus an der Meeresküste noch weiter, und zwar nach Mugía. Hier sieht er „unser lieben Frauen Schiff“ – für ihn das größte Wunder seiner

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Reise. Es handelt es sich um eine Steinformation, die in diesem Fall als Schiff gedeutet wurde. Einer der riesigen Steine ließ sich ohne besondere Kraftanstrengung bewegen. Der Kult dieser Steine ist sicher vorchristlich wie viele Steinkulte in Galicien. Die christliche Deutung des vorchristlichen Kultplatzes bezieht sich auf die Legende, dass dem heiligen Jakobus hier, als er am Erfolg seiner Missionstätigkeit auf der Iberischen Halbinsel verzweifelte, die heilige Maria in einem steinernen Boot erschienen wäre, um ihn in der Erfüllung seines Auftrags zu stärken. I­ lsung­vermerkt allerdings nur das ihm unerklärliche Phänomen, dass der Stein leicht bewegt werden konnte – wie man ihm erzählte allerdings nur von Menschen, denen ihre Todsünden vergeben worden waren, offenbar beim Besuch des Apostelgrabs in Santiago. So ergibt sich ein Zusammenhang mit der sündentilgenden Wirkung der Wallfahrt – auch diesbezüglich eine sekundäre Deutung des heiligen Ortes. Der Wiener Neustädter Domherr Christoph Gunzinger kam 1654 nach Santiago und besuchte zum Abschluss seiner Pilgerfahrt auch Finisterre. Er schreibt darüber (Herbers/Plötz 1996, S. 275): „Der Teutschmann nennt es Finsterstern. 12 Meilen von Santiago. Diser Orth/ ganz an Oceano orientali gelegen/ ins gemein Cabo de Finisterre genannt/ ist nit groß/ hat gleichwol einen Hafen: Mutmasse, das grosse Schiff ohne Noth nit einlauffen. Das Vfer gibt häuffig Muscheln/ so die Pilgramben angehefft zu tragen pflegen­… Die vornembste Kirch S. Maria in finibus terrae­macht dem Ort sonderbahren Namen/ wegen eines Mirackel würckenden gar holdseligen vnser Frawen Bildts

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im Hochen Altar. Vber dises ist in dem Seyten Altar zur Lincken ein überauß anmütiges Crucifix, mit drey vnterschiedlichen Fürhängen verdeckt/ welche vnder der Meeß zu dem Sanctus, mit Schnüren abseyts gezogen/ vnd also das Bildt Andacht halber entdeckt ward: Etliche sagten/ daß die Nägel sowohl als das Haar daran wachsen: Deme sey zwar wie jhm wolle: der sterbende Hayland ist wol trefflich vorgebildet.“ Mit der Erwähnung der Jakobsmuscheln nennt Gunzinger den vielleicht wichtigsten Punkt in der Beziehung zwischen Santiago und Finisterre. Er sagt nicht, dass Pilger nach Finisterre an die Küste gekommen wären, um sich hier eine Muschel als Zeichen ihrer Pilgerschaft nach Santiago zu suchen. Aber er betont, dass hier solche Muscheln häufig zu finden seien. In Santiago selbst war das natürlich nicht der Fall. So muss – über die Muschel vermittelt – ein früher Zusammenhang zwischen dem Wallfahrtsort und dem Küstengebiet bestanden haben. Vielleicht reicht er in vorjakobeische Zeit zurück. Es gibt die Vermutung, dass die Muschel ursprünglich mit einer weiblichen Gottheit zusammenhängt. Bei archäologischen Forschungen in Castro de Lanzada in der galicischen Provinz Pontevedra wurden in Gräbern aus dem vierten und dritten vorchristlichen Jahrhundert Muscheln von der Atlantikküste als Beigaben gefunden. Der älteste Fund einer Muschel als Grabbeigabe eines Jakobspilgers wurde unter der Kathedrale von Santiago selbst gemacht. Er stammt von einem Friedhof, der hier vor der Errichtung des romanischen Kirchenbaus gelegen war, also spätestens aus dem 11. Jahrhundert. Der berühmte „Liber Sancti Jacobi“ – unsere wichtigste Quelle

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über Jakobsverehrung und Jakobspilger im 12. Jahrhundert – berichtet, dass die Muschel „in beati Jacobi mari“, also in dem Santiago zunächst gelegenen Meer zu finden sei. Auf dem Markt vor dem Nordtor der Kathedrale waren nach dem Bericht dieser Quelle sowohl natürliche als auch in Silber, Blei oder Zinn nachgebildete künstliche Muscheln zu erwerben. Bei der Herstellung und dem Verkauf durch die sogenannten „concheiros“ handelte es sich um ein einträgliches Geschäft. Waren damals – durch den Pilgerzustrom bedingt – bereits Engpässe in der Versorgung vom Meer her aufgetreten, sodass man die begehrten Pilgerzeichen in verschiedenen Materialien nachbilden musste? Die Phase des Übergangs ist schwierig zu fassen. Jedenfalls mussten die Pilger im 12. Jahrhundert sicher nicht mehr die Meeresküste aufsuchen, um die Erreichung ihres Ziels nachzuweisen. Noch im 16. Jahrhundert hat Erasmus von Rotterdam in seinen „Colloquia“ beißende Kritik daran geübt, dass man den Abschluss der Pilgerfahrt durch den Kauf symbolischer Gegenstände beim Devotionalienhändler dokumentiert, obwohl es im nahe gelegenen Meer Muscheln im Überfluss gebe. Das Bewusstsein einer wesentlichen Zusammengehörigkeit der beiden Plätze am Ende des Pilgerwegs war also durchaus noch gegeben. Aus den überlieferten Jakobslegenden lässt sich die überragende Bedeutung der Muschel als Pilgersymbol nicht überzeugend erklären. Die Erzählung im zweiten Buch der Wunder des heiligen Jakobus, die von einem Ritter berichtet, der auf die Fürbitte des Apostels aus dem Meer gerettet wurde und – über und über mit Muscheln bedeckt – das sichere Land erreichte, spielt im Kontext

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der Überlieferungen eine untergeordnete Rolle. Es muss wohl eine andere Erklärung für die die Bedeutung dieses Symbols gesucht werden. Die Jakobspilger waren auf ihrem beschwerlichen Weg im Diesseits durch die Muschel gekennzeichnet und geschützt. Ähnliches wurde wohl auch für ihren Weg ins Jenseits geglaubt. In ganz Europa gab man den Jakobspilgern die Muschel als Zeichen der in Santiago erreichten Vergebung ihrer Sündenlast nach ihrer Rückkehr zuhause ins Grab mit. Es wurde schon bei der Behandlung der Attribute des heiligen Jakobus des Älteren darauf hingewiesen, dass die Jakobsmuschel in Pilgergräbern gleichsam das „Eintrittsbillett in den Himmel“ bedeutet haben dürfte. Wer den Jakobsweg zu Lebzeiten gegangen war, von dem glaubte man, dass ihm nach dem Tod das ewige Leben beschieden sei. Das passt gut zu den Vorstellungen der Jenseitsreise, wie sie schon in vorchristlicher Zeit mit dem „Ende der Welt“ in Finisterre verbunden waren. Nach der Jakobsmuschel nennt der Wiener Neustädter Domherr Christoph Gunzinger bei seinem Besuch in Finisterre die der heiligen Maria geweihte Hauptkirche als besonders bemerkenswert. Sie verfügt über ein wundertätiges Marienbild. Als Wallfahrtsziel wichtiger war jedoch der „Santo Cristo de Finisterre“ im Seitenschiff der Marienkirche – ein besonders verehrtes Kruzifix, dem angeblich Haare und Bart nachwuchsen und das auch als „Santo da Barba Dourada“ bezeichnet wurde. Der Überlieferung nach hatte es der Ratsherr Nikodemus angefertigt, der nach dem Bericht der Bibel beim Begräbnis Jesu zugegen war. Europaweit verehrt wurde seit dem 11. Jahrhundert der „Volto Santo“ von Lucca

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in der Toskana – ein Kruzifix mit einer analogen Entstehungsgeschichte. Ähnliche Kruzifixe besaß man in der galicischen B ­ ischofsstadt Ourense sowie in der kastilischen Hauptstadt Burgos. Das Fest des Santo Cristo wurde in Finisterre in der Karwoche begangen. Mit dem Jakobskult besteht keinerlei Zusammenhang. Weder die Verehrung des Marienbildes noch die des Santo Cristo können die Fortsetzung des Jakobswegs bis nach Finisterre erklären. Diese Fortsetzung verweist auf ganz andere Zusammenhänge. Die Wallfahrt nach Santiago hat nicht wie die beiden anderen „peregrinationes maiores“ nach Jerusalem und nach Rom mehrere Ziele. Sie hat aber mit Finisterre einen zweiten Endpunkt, der der Kirche über dem Jakobsgrab nicht untergeordnet sondern beigeordnet ist. Schon im Mittelalter wird mehrfach zwischen dem „Haus des heiligen Jakob“ und dem „Ende der Welt“ unterschieden. Explizit findet sich eine solche Differenzierung im Titel des mehrfach verlegten und weit verbreiteten Pilgerführers des Bologneser Schriftstellers Domenico Laffi von 1673. Er nennt ihn „Viaggio in Ponente a San Giacomo di Galitia e Finisterrae“, also „Reise in den Westen zum heiligen Jakob von Galicien und nach Finisterre“, und stellt ihm einen anderen unter dem Titel „Viaggio in ­Levante al Santo Sepolcro di Nostro Signore Giesù Christo et altri luoghi di Terra Santa“ gegenüber, also „Reise in den Osten zum heiligen Grab unseres Herrn Jesus Christus und zu den anderen Orten des Heiligen Landes.“ Die Funktion von Finisterre als Zielort der Pilgerfahrt ist eine andere als die von Santiago. Am „Ende der Welt“ wird keine Sündenvergebung geleistet, kein vollkommener Ablass gewährt wie

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in der Grabeskirche des Apostels. Die Bedeutungen von Finisterre als heiliger Ort erscheinen vielfältig. Zum Teil entstehen sie weit später als die von Santiago, zum Teil gehen sie auf weit ältere Wurzeln zurück. Das beigeordnete zweite Pilgerziel am Ende des Jakobswegs macht die Frage unausweichlich, wie die christliche Wallfahrt zum Grab des heiligen Jakob mit vorchristlichen Gegebenheiten zusammenhängt. Ihr wird in einem anderen komparativen Kontext noch ausführlicher nachzugehen sein. Als Zielpunkt der Jakobspilger konnte unter ganz besonderen Umständen auch ein Heiligtum dienen, das auf dem Jakobsweg nicht nach, sondern vor Santiago lag, nämlich Villafranca del Bierzo am Fuß der Sierra de Ancares. In der Jakobskirche von Villafranca wurde erkrankten Pilgern oder solchen, die sich auf dem Wallfahrtsweg verletzt hatten, in heiligen Jahren derselbe vollständige Ablass gewährt, den sie in Santiago selbst zu erwerben gehofft hatten. Die Kirche dieses Orts hatte dement­sprechend eine eigene „Puerta del Perdón“, also eine „Pforte der Vergebung“. Die Gewährung des Ablasses erfolgte hier nach spezifischen Riten. Die Ausnahmeregelung für Villafranca erklärt sich aus der besonderen Beschwerlichkeit der folgenden Etappe des Pilgerweges, der über die galicischen Pässe O Cebreiro, Alto de San Roque und Alto do Poio führte. Von Pilgern mit schwer angeschlagener Gesundheit war sie kaum zu bewältigen. Um ein beigeordnetes Pilgerziel wie in Finisterre handelte es sich in Villafranca del Bierzo nicht – vielmehr um einen Etappenort, der in Notsituationen die Funktion des Zielorts übernehmen konnte, seine besondere Heiligkeit also unmittelbar von diesem ableitete.

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Wegen der kranken oder behinderten Pilgern ausnahmsweise schon vor der Erreichung des Apostelgrabs gewährten Gnaden wurde Villafranca del Bierzo als das „kleine Compostela“ bezeichnet. Eine ähnliche Funktion in Notfällen wird auch von der königlichen Basilika San Isidoro in León berichtet – ebenso vor der so beschwer­ lichen Schlussetappe gelegen. Als Grabeskirche des großen Kirchenlehrers St. Isidor von Sevilla, dessen Reliquien König Ferdinand I. von Kastilien 1063 hierher überführen ließ, war die Basilika selbst Wallfahrtsziel. Schon seit ihrer Neuplanung im 11. Jahrhundert vefügte sie über eine künstlerisch besonders wertvolle Pilger­pforte – die älteste überlieferte „Puerta del Perdón“ entlang des Jakobsweges. Von Jakobspilgern vielfach besucht wurde das Kloster Santo Toribio de Liébana in den kantabrischen Bergen. Es lag abseits des Hauptwegs nach Santiago. Pilgerziel war hier eine besonders große Kreuzreliquie. Sie soll im 8. Jahrhundert zusammen mit den Reliquien des Bischofs Toribius von Astorga nach Liébana gekommen sein. Auch hier gab es eine „Puerta del Perdón“. Wie in Santiago wurde auch hier ein heiliges Jahr gefeiert – jeweils dann, wenn der Gedenktag des heiligen Toribius auf einen Sonntag fiel. Auch hier wurde im heiligen Jahr ein vollkommener Ablass gewährt. Das Ablasswesen scheint in Santo Toribio de Liébana nach dem Vorbild von Santiago entstanden zu sein. Aber als heiliger Ort ist Santo Toribio viel älter – älter wohl als der große Wallfahrtsort in Galicien. Das System des Jakobsweges ließ nicht nur neue heilige Orte entstehen, es bezog auch ­ältere Heiligtümer mit ein, die auf die Heiligkeit des Weges zurückwirkten.

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Dass der Weg zum Grab des Apostels Jakobus als ein besonderer Weg mit eigener Bezeichnung verstanden wurde, ist erst für die Mitte des 11. Jahrhunderts belegt. 1047 stellte ein Adeliger die Gründung eines Hospizes in Arconada in der Provinz Palencia in Aussicht – an der Straße gelegen, die seit alters von den Pilgern benutzt wird, die zum heiligen Petrus oder zum heiligen Jakob gehen oder von dort zurückkehren. Ein Pilgerweg nach Santiago hatte hier also schon vor langer Zeit bestanden. Er wurde durch die Errichtung einer Pilgerherberge ausgebaut. Vor allem aber diente er in gleicher Weise für Pilger nach Rom und nach Santiago. Die zwei großen, späterhin zu „peregrinationes maiores“ gewordenen Wallfahrtswege stehen hier also gleichwertig nebeneinander und erscheinen untereinander verbunden. Santiago ist damit in ein großes Wallfahrtssystem eingebunden, das wohl zu Recht als ein europäisches verstanden werden darf. Dass im Spätmittelalter viele Pilger alle drei großen Wallfahrten – nach Santiago, nach Rom und nach Jerusalem – absolvierten, ist vielfach belegt. Manchmal besuchten sie diese auch in unmittelbarer Abfolge, sodass Verbindungswege zwischen ihnen an Bedeutung gewannen. Voll entwickelt begegnet das an Santiago orientierte System von Pilgerwegen im fünften Buch des als „Liber Sancti Jacobi“ bzw. als „Codex Calixtinus“ bezeichneten Sammelwerks – dem wohl bedeutendsten aus dem Hochmittelalter überlieferten Pilgerführer. Der Autor – vielleicht ein aus Frankreich stammender Mönch namens Aymericus Picardus – erweist sich als guter Kenner der Straßen im Einzugsbereich von Santiago. Bei ihm

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heißt es: „Vier Wege führen nach Santiago, die sich zu einem einzigen in Puente la Reina in Spanien vereinen; einer geht über St-Gilles, Montpellier, Toulouse und den Somport-Pass; ein anderer über Notre-Dame in Le Puy, Ste-Foy in Conques und St-Pierre in Moissac, ein weiterer über Ste-Marie-Madeleine in Vézelay, St-Léonard im Limousin und die Stadt Perigueux, ein letzter über St-Martin in Tours, St-Hilaire in Poitiers, St-Jean d‘Angély, St-Eutrope in Saintes und die Stadt Bor­deaux. Diejenigen Wege, die über Ste-Foy, St-Léonard und St-Martin führen, vereinigen sich in Ostabat, und nach dem Überschreiten des Cisa-Passes treffen sie in Puente la Reina auf den Weg, der den Somport-Pass überquert; von dort gibt es nur einen Weg bis Santiago.“ Wegen der aus Frankreich stammenden Pilger, aber auch wegen der von dort stammenden Neusiedler entlang dieses Hauptverbindungswegs wird er seit etwa 1130 als „Camino Francés“ bezeichnet. Jenseits der Pyrenäen tragen die vier Hauptwege ihre Namen nach den wichtigsten Ausgangspunkten, an denen sich die Pilger sammelten – die „Via Podiensis“ nach Le Puy, die „Via Lemovicensis“ nach ­Limoges, die „Via Tolosana“ nach Toulouse und die „Via Turonensis“ nach Tours. Alle vier gehörten – wie auch die meisten anderen der im Pilgerführer aufgezählten Städte – zu den bedeutendsten Wallfahrtsorten des damaligen Europa. Die Pilger hatten also auf ihrem Weg schon viel an Gnaden von großen Heiligen an deren Kultorten erbitten können. Zahllose kleine Heiligtümer säumten die Wege sowohl in Frankreich als auch in Spanien, manche andere waren durch Abstecher leicht erreichbar. Nicht einmal die große aus dem Frankenreich nach Rom füh-

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rende Pilgerroute – die sogenannte „Via Francigena“ – war mit so vielen zusätzlichen Gnadenorten verbunden. Der Einzugsbereich des Jakobsweges mit allen seinen Verästelungen erfasste seit dem Hochmittelalter die ganze abendländische Christenheit von Skandinavien bis nach Sizilien. Nach Santiago zu pilgern, war ein spezifisches Phänomen der Westkirche – charakteristisch für Lateineuropa als einen sich damals formierenden Kulturraum. Der von Byzanz geprägte Osten des Kontinents und der christliche Orient erscheinen nicht einbezogen. Nur wenige Ausnahmefälle sind diesbezüglich überliefert. Der heilige Jakob der orthodoxen und der orientalischen Christen war nicht in Santiago de Compostela begraben. Über die großen Landrouten, die uns die Pilgerführer und die Pilgerberichte beschreiben, kam der größte Teil der Wallfahrer nach Santiago. Neben dem „Camino Francés“, ist in diesem Zusammenhang auch der „Camino Portugués“ zu erwähnen, der aus dem Galicien im Süden benachbarten und kulturell besonders verbundenen Königreich Portugal zum Wallfahrtsziel führte. Ein sehr beträchtlicher Teil der Pilger benützte jedoch den Seeweg – zumeist über den galicischen Hafen La Coruña nördlich von Santiago. Aber auch über französische und niederländische Hafenorte kamen viele Pilger, die dann weiterhin den Landweg benützten. Engländer, Iren und Skandinavier waren in Santiago stark vertreten. Es mag sein, dass sich die Nachricht von der vermeintlichen Auffindung des Jakobsgrabes im 9. Jahrhundert aufgrund solcher Verbindungen über das Meer im Frankenreich und im Norden Europas verbreitete. Skandinavier hatten in kriegerischer Absicht Galicien schon vor ihrer Chris-

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tianisierung heimgesucht, später kamen sie zahlreich als Pilger. Auf dem Seeweg war Santiago für viele weit schneller zu erreichen als auf dem Landweg – allerdings auch mit weit höheren Kosten verbunden. Der Landweg über die Pyrenäenpässe führte hingegen viele hunderte Kilometer weit zum Teil durch sehr unwegsame Gebirgsregionen. Aber gerade diese Mühen des Landwegs gehörten in besonderer Weise zum Wesen des Jakobsweges. Der von den Pyrenäen bis nach Galicien verlaufende Jakobsweg war keineswegs ein von natürlichen Voraussetzungen her besonders begünstigter Straßenzug. Diese nordspanische Verkehrsachse entwickelte sich vielmehr weithin in Überwindung von Hindernissen der physischen Geographie, die ihr entgegenstanden. Zahlreiche Flüsse waren zu überqueren, viele Pässe zu bewältigen. Sie entstand im Hochmittelalter im Wesentlichen als eine neue Verkehrsverbindung. Streckenweise konnten die Pilger die mehr oder minder gut erhaltenen römischen Straßen benützen. Zum Teil wanderten sie auch auf Wegen, die schon aus vorrömischer Zeit stammten. Wichtige Verbindungsstücke hingegen mussten völlig neu angelegt werden. Dabei handelte es sich nicht nur um Straßenbau im engeren Sinne. Vielmehr war erst eine umfassende Infrastruktur zu schaffen, die diese Verkehrsverbindungen durch oft unwegsames und siedlungsfernes Gelände für Pilger von nah und fern benutzbar machte. Es ist eine Besonderheit des Jakobswegs unter den europäischen Fernstraßen des Mittelalters, dass er über eine hervorragende Infrastruktur verfügte – mehr noch, dass diese Infrastruktur primär aus religiösen Motiven, nicht aus ökonomischen oder militärischen geschaffen wurde.

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Zur Infrastruktur des Jakobsweges gehörten geistliche und weltliche Einrichtungen, wobei die letzteren von den ersteren kaum zu trennen sind. Sie umfassten Straßen und Brücken, Brunnen und Rastplätze, Hospize und Hospitale, Herbergen und Gasthäuser, Kirchen und Kapellen, Klöster und Einsiedeleien, Märkte und Friedhöfe. Besonders wichtig für den Pilgerverkehr waren die Hospize. Pilger auf dem Jakobsweg konnten schon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Abständen von etwa fünfzehn Kilometern mit Übernachtungsmöglichkeiten rechnen. Die Daten der Gründung bzw. der Erstnennung von Hospizen spiegeln die Entwicklung der Infrastruktur entlang des Wallfahrtsweges insgesamt. 1072 wird erstmals das Hospiz von O Cebreiro in den galicischen Bergen erwähnt, 1078 das Hospiz Santa Cristina auf dem Somport-Pass in den Pyrenäen, dem Übergang zum aragonesischen Zweig des Jakobswegs, und um 1132 das Hospiz vom Roncesvalles unterhalb des Ibañeta-Passes, dem Übergang zum navarresischen Zweig. Bei Hospizen der frühen Entwicklungsphase handelte es sich durchwegs um religiöse Einrichtungen. Klöster am Wallfahrtsweg waren prinzipiell mit Hospizen verbunden. Im europäischen Vergleich betrachtet erscheint das Hospizwesen entlang des „Camino“ besonders früh entwickelt – jedenfalls einige Jahrzehnte vor ähnlichen Einrichtungen an den Pilgerstraßen in Südwestfrankreich. Offenbar hat der Ausbau solcher Einrichtungen entlang des spanischen Jakobsweges vorbildhaft gewirkt. An der großen Pilgerstraße wurde nicht nur für die Lebenden gesorgt – auch für die Toten. Viele Wallfahrer verstarben unterwegs. Sie wurden auf Friedhöfen bei

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Kirchen und Hospizen entlang des „Camino“ beigesetzt. Die kunsthistorisch so bedeutsame Kirche Santa Maria de Eunate, die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts am aragonesischen Zweig des Jakobswegs errichtet wurde, lag bei einem solchen Friedhof. Bei Ausgrabungen fand man Grabstätten, bei denen man den Toten die Jakobsmuschel mitgegeben hatte. Ähnliches gilt für den Friedhof bei der Klosterkirche von Santa Maria de Zamar­ tze­bei Huerta Araquil westlich von Pamplona – an der ­ältesten von den Pyrenäen zur Küstenstraße hinführenden Route des Jakobswegs gelegen. Der Jakobsmuschel als solcher schrieb man bereits Heilkräfte zu – erst recht in Verbindung mit dem Körper des verstorbenen Pilgers, der durch seine asketische Leistung sicheren Zugang zum Jenseits erworben hatte. Friedhöfe trugen das Ihre zur Heiligung des Weges bei. Der Jakobsweg war auch ein Weg der Toten. Vor allem bewirkten die vielen Kirchen, Klöster und Kapellen eine besondere Sakralisierung des Weges. Sie standen keineswegs generell im Dienste der Jakobsverehrung. Ihre Patrozinien verweisen auf eine Vielzahl von Heiligen und Kulten. Manche verfügten über Reliquien, die an bestimmten Etappenorten des Jakobswegs zusätzlich Gnaden vermitteln konnten. Seit dem „Liber Sancti Jacobi“ aus dem 12. Jahrhundert nennen die Itinerarien des Pilgerwegs immer wieder Kirchen mit Reliquien, die die Wallfahrer aufsuchen sollten. Man konnte gewissermaßen von Gnadenort zu Gnadenort weiterziehen und dadurch Hoffnungen auf himmlische Fürsprecher gewinnen. Zahlreiche Heiligtümer mit Reliquien waren beim Ausbau des Pilgerweges bereits vorgegeben. Nach dem

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Arabereinfall von 711 hatte man vielfach Reliquien im christlich verbliebenen Norden in Sicherheit gebracht. So gab es hier schon vor dem Ausbau des „Camino“ eine Konzentration von Heiligtümern. Sie konnte den Charakter des Jakobswegs als „via sacra“ verstärken. Ins­ gesamt lässt sich dieser Weg als Ausdruck einer Epoche verstehen, die man aufgrund ihrer spezifischen Religiosität als „Reliquienzeitalter“ charakterisieren kann. Geschaffen wurde die besondere Infrastruktur des Jakobswegs von ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen – von Königen und Adeligen, von geistlichen Gemeinschaften und Einzelpersonen, letztlich aber auch von Pilgern selbst. Sicher dienten die diesbezüglichen Aktivitäten der Könige nicht nur geistlichen Zwecken. Gut ausgebaute Verbindungswege kamen auch ihren militärischen und politischen Interessen zugute. Erst seit etwa 930 waren die nordspanischen Gebiete, in denen der Jakobsweg als Fernpilgerstraße entstand, durchgehend in der Hand christlicher Fürsten. 951 traf die erste Pilgergruppe aus dem Raum nördlich der Pyrenäen, von der wir wissen, unter der Führung des Bischofs von Le Puy in Santiago ein. In der Folgezeit werden auf politischer ­Ebene Tendenzen des Zusammenschlusses von Herrschaftsgebieten erkennbar. Als Erstem gelang es König Sancho  III. von Navarra (1000/4 – 1035), die nordspanischen Reiche unter seiner Herrschaft zu vereinigen. Bei seiner Expansionspolitik in den Westen war ihm ein Ausbau der nordspanischen Verkehrsachse sicher militärisch und politisch nützlich. Für die Expansion gegenüber den muslimischen Gebieten im Süden hatte dieser Ausbau nicht die gleiche Bedeutung. Der Weg nach

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Santiago wurde nie – wie der nach Jerusalem – zur Basis der „bewaffneten Wallfahrt“. Der Barbastro-Kreuzzug von 1064, bei dem die international zusammengesetzten Streitkräfte den Somport-Pass benutzten, stand mit Santiago in keinerlei Zusammenhang. Sancho III. verlegte seine Residenz von Pamplona am Fuß der Pyrenäen westwärts nach Nájera, das später zu einem wichtigen Etappenort am Jakobsweg wurde. Seine Gattin war die namengebende Stifterin der Brücke über den Fluss Arga von Puente la Reina. Hier vereinigten sich der aragonesische und der navarresische Zweig des großen Pilgerwegs vom Somport-Pass bzw. von Roncesvalles kommend zu einer gemeinsamen Routenführung. Man wird wohl annehmen dürfen, dass die Bedürfnisse des Pilgerwesens die Stiftung der Königin maßgeblich beeinflusst haben. Für die Infrastruktur des Jakobswegs wurde sie jedenfalls richtungsweisend. Neben solchen frühen Förderungsmaßnahmen „von oben“ gibt es aus dem 11. Jahrhundert bzw. aus der ersten Hälfte der 12. auch schon interessante Informationen über solche „von unten“. Sie führen in besonderer Weise in das religiöse Milieu von Einsiedlern. Drei von ihnen seien namentlich erwähnt. Der Eremit Domingo GarcÍa war ursprünglich Hirte. Er hatte ein persönliches Berufungserlebnis und wollte in ein Kloster eintreten. In zwei Klöstern seiner Heimatregion La Rioja versagte man ihm jedoch die Mönchsgelübde wegen seiner zu geringen Bildung. So ging er einen anderen Weg der persönlichen Heiligung. Er wurde Eremit in der Einsamkeit der Wälder am Fluss Oja. Ein zweites Berufungserlebnis veranlasste ihn, sich ganz der Betreu-

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ung von Jakobspilgern zu widmen. Er hatte viele verirrte Pilger getroffen. Immer wieder erlebte er deren Bedrohung durch Straßenräuber. Schwer passierbare Wälder und Sümpfe machten jenseits von Nájera die Wallfahrt besonders mühevoll und gefährlich. So erbaute er 1044 eine Steinbrücke über den Oja und rodete entlang des Weges eine Strecke von nicht weniger als 37 Kilometer. Er errichtete ein Hospiz für Pilger in Verbindung mit einer Kirche, in der er 1109 begraben wurde. Um sein Hospiz entstand rasch ein Marktflecken, seine Grabeskirche entwickelte sich zum Wallfahrtsort. Nach dem heiligen Eremiten wurde der Ort Santo Domingo de la Calzada, also heiliger Dominikus von der Landstraße genannt. Die Wallfahrten zum heiligen Jakob und zum heiligen Einsiedler, der ihm sein Leben lang so entsagungsvoll gedient hatte, fielen hier zusammen. Es entstand auf dieser Grundlage ein wichtiger Etappenort des Jakobswegs. Hier soll sich das sogenannte „Hühnerwunder“ abgespielt haben – das größte Wunder, das von St. Jakob aus Spanien überliefert wird. Für die besondere Heiligkeit des Jakobswegs erscheint es bezeichnend, dass die meisten Wunder des Heiligen nicht vom Zielort Santiago selbst berichtet werden, sondern von Örtlichkeiten auf dem Weg dorthin. Juan de Ortega, ein Schüler des heiligen Domingo GarcÍa, war wie dieser ein engagierter Brückenbauer entlang des Jakobswegs. Wie sein Lehrer wurde auch er später als Heiliger verehrt. Nach seiner Priesterweihe trat er – etwa 1110 – eine Wallfahrt nach Jerusalem an und erbaute – in seine Heimat zurückgekehrt – eine Kapelle zu Ehren des heiligen Nikolaus, dem er sich durch die Errettung bei einem Schiffbruch auf seiner Pilgerreise verpflichtet fühl-

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te. Von seinen verschiedenen Brückenbauaktivitäten ist die Erneuerung der Ebro-Brücke von Logroño besonders wichtig. Sein Wirkungsbereich lag vor allem im Gebiet östlich der kastilischen Hauptstadt Burgos. Seine Einsiedelei in den Oca-Bergen wandelte er in eine Pilgerherberge um. Mit seinen Mitarbeitern in diesem Hospiz gründete er 1138 ein Kloster für Kanoniker nach der Augustiner-Regel. So steht dieser so wesentlich um die Infrastruktur des Jakobswegs verdiente Heilige für den Übergang vom Eremitentum als tragender Kraft des Ausbaus zu der der monastischen Gemeinschaften und geistlichen Genossenschaften. Führend waren dabei Benediktiner, Augustiner und Zisterzienser, bezeichnenderweise aber nicht die spanischen Ritterorden. Wie Santo Domingo de la Calzada wurde auch San Juan de Ortega ein nach einem heiligen Brückenbauer benannter Etappenort des Jakobswegs. Ein Eremit Gaucelm erbaute wohl schon im ausgehenden 11. Jahrhundert ein Hospiz an einem besonders exponierten Ort des Jakobswegs, nämlich in Foncebadón am Monte Irago, dem Übergang von León nach Galicien. Auf seine Bitte gewährte König Alfons VI. von León 1103 der Pilgerherberge von Foncebadón sowie der dortigen Kirche San Salvador de Irago Immunität. In der Folgezeit wird eine weitere Kirche in Verbindung mit dem Hospiz genannt, die der heiligen Maria Magdalena geweiht ist. Eine ganze Einsiedlergenossenschaft ließ sich hier nieder, zeitweise einem Abt unterstellt. Auch hier ist aus der Gründung eines Eremiten ein Komplex geistlicher Einrichtungen entstanden. Schon vor der Stiftung des Hospitals durch Gaucelm begegnet Foncebadón als ein wichtiger Ort am Jakobs-

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weg. 946 trafen hier einander Bischöfe aus benachbarten Diözesen, um über Maßnahmen zur Abwehr von Straßenräuberei und von Morden an Jakobspilgern zu beraten. Bereits in einer frühen Phase der Wallfahrt hatte also der Weg nach Santiago nicht nur Pilger, sondern auch Räuber angezogen. Die lange Strecke durch die leonesischen Berge von Astorga nach Ponferrada war für sie ein besonders günstiges Terrain. Nicht die weltliche, die geistliche Obrigkeit fühlte sich dafür verantwortlich, die Pilger auf diesem gefährlichen Wegstück zu schützen. Der Irago-Pass, auch Puerto de Foncebadón genannt, war mit seinen 1440 Höhenmetern nach dem Somport-­ Pass der zweithöchste Übergang, der auf dem Jakobsweg zu überwinden war. Die einsame Gebirgsregion machte sein Passieren auch in anderer Hinsicht gefährlich. Es wird davon berichtet, dass Pilger hier von Wölfen angefallen wurden. Vor allem aber bestanden Gefahren durch die Witterung. Oft gerieten Wallfahrer hier in Schneestürme. Markante Zeichen am Weg sollten sie davor bewahren, sich zu verirren und dadurch ihr Leben zu verlieren. Auf der Passhöhe des Puerto de Foncebadón, etwa zwei Kilometer von der Ortschaft entfernt, steht das berühmte „Cruz de Ferro“/„Cruz de Hierro“, ein Eisenkreuz auf der Basis eines gewaltigen Steinhaufens. Das ursprüngliche Kreuz an dieser Stelle soll von Gaucelm errichtet worden sein. Er christianisierte damit einen älteren vorchristlichen Kultplatz. Solche Steinhaufen als Kultplätze sind entlang des Jakobswegs, aber auch sonst in Galicien vielfach belegt. Ihre Bezeichnung als „milladoiros“ ist von „humilladoiros“ bzw. „humillarse“ abgeleitet und bedeutet einen Ort der Demut und des Niederkniens. Es wird

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auf sie noch zurückzukommen sein. Über ihre verschiedenen Funktionen lassen sich Vermutungen anstellen. Sie dienten bei der Bewältigung des schwierigen Weges wahrscheinlich als Orientierungspunkte. Sie waren aber wohl auch Plätze der Danksagung für gewährten Schutz und der Bitte, ihn weiterhin zu geben – an vorchrist­liche Gottheiten ebenso gerichtet wie später an Gott und seine Heiligen im Christentum. Deshalb finden sie sich an besonders exponierten Stellen des Weges wie etwa am Monte Irago. Vorchristliche und christliche Heiligkeit stehen hier in unmittelbarer Kontinuität. Solche als „milladoiros“ bezeichnete sakral bedeutsame Steinhaufen wurden nicht von geistlichen oder weltlichen Stiftern errichtet. Sie waren vielmehr ein Beitrag der Pilger zur Gestaltung des Wallfahrtsweges. Jeder, der eine bestimmte wichtige Stelle passierte, legte dort einen Stein ab. So entstanden im Lauf der Jahrhunderte beträchtliche Anhäufungen. Für den Monte Irago ist dieser Brauch schon früh belegt. Und er erhielt sich dort bis in die Gegenwart. Sicher hat er im Wandel der Zeit in seiner Bedeutung Prozesse der Veränderung erlebt. Wahrscheinlich aber ist der Gedanke eines symbolischen Opfers ein durchgehendes Motiv. So waren diese Steine ein Beitrag auch der Pilger zur besonderen Heiligkeit des Wegs. Die Steine, die beim „Cruz de Ferro“ auf dem Irago-Pass hingelegt wurden, hatten die Pilger vielfach schon seit längerer Zeit auf dem Weg begleitet. Sie konnten im Verlauf der Wallfahrt aufgelesen worden sein. Es war aber auch Brauch, sie schon von zu Hause her mitzunehmen. Sie symbolisierten die Bürde der Schuld, die man aus seinem bisherigen Leben zu tragen hatte. Mit

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Blick auf die Vergebung, die man am Grab des Apostels zu erfahren hoffte, durfte man sich bereits hier von ihnen entlasten. „El camino comienza en su casa“ antworten Spanier traditionell auf die Frage, wo denn der Jakobsweg beginnt: „Der Weg beginnt in deinem Haus.“ Die Steine beim „Cruz de Ferro“ verweisen zurück auf diesen Ausgangspunkt der Pilgerfahrt. Nicht nur persönliche Schuld, auch persönliche Anliegen werden von zuhause her mitgenommen. Der Jakobsweg führte und führt viele individuelle Lebenswege auf der großen Pilgerstraße zusammen. Die asketische Leistung der Pilger, ihr Besuch von heiligen Orten soll Umkehr, Entlastung, Veränderung des Lebens bewirken. In diesem Verständnis wird vieles nicht erst in Santiago selbst, sondern schon auf den Etappen des Weges dorthin erreicht. „Der Weg ist das Ziel“ gilt wohl für keinen anderen der großen Pilgerwege so sehr wie für den Jakobsweg. „El camino comienza en su casa.“ Auf diesem Weg ist der heilige Jakob für den Pilger ein ständiger Begleiter. Seine Wunder können schon auf dem Weg zu seinem „Haus“ in Galicien erfahren werden, nicht erst in diesem selbst. Das unterscheidet ihn von anderen großen Heiligen, zu deren Reliquien gewallfahrtet wird. St. Jakob hilft schon unterwegs. Dementsprechend nimmt er in der Vorstellungswelt der Pilger und insgesamt in der abendländischen Christenheit selbst die Gestalt des Pilgers an. Auch das ist im Kontext des christlichen Wallfahrts­ wesens eine besondere Erscheinung. „El camino comienza en su casa.“ Vielen Jakobspilgern vergangener Zeiten war es nicht vergönnt, zu diesem

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Ausgangspunkt zurückzukehren. Sie erlagen den Strapazen und Gefahren des extrem weiten und beschwerlichen Weges. Für alle Pilger bedeutete dieser Weg eine Konfrontation mit dem Tod. Das „Haus“ des heiligen Jakob in Galicien zu erreichen, war ein Ziel ihres Lebenswegs. In Finisterre glaubten sie sich „am Ende der Welt“. Das bedeutete auch die Begegnung mit einer „anderen Welt“. Auch zu dieser war der heilige Jakob ihr Begleiter.

„Die Sternenstraße, die du am Himmel gesehen hast“

In vielen europäischen Sprachen korrespondiert die Bezeichnung für den Jakobsweg mit der Bezeichnung für die Milchstraße. Der irdische Pilgerweg wird mit einem am Himmel sichtbaren Phänomen gleich gesetzt. So ist der volkstümliche Name für die Milchstraße in Spanien „El Camino de Santiago“, speziell in Galicien „Camiño de Santiago“, im Asturischen „Camin de Santiagu“, im Baskischen „Santiago-Bide“. In Portugal heißt sie „Estrada de Santiago“. In ländlichen Dialekten Frankreichs finden sich verschiedene Varianten, die sich auf die Straße nach „Saint-Jacques“ beziehen. Am weitesten verbreitet ist hier „chemin-de-St.-Jacques“. Diese Bezeichnung findet sich in einer umfassenden Großregion. Am kompaktesten sind solche Nennungen im Westen und Südwesten in Gebieten, die diesseits der Pyrenäen an den „Camino“ anschließen. Die Bezeichnung „voie-de-St.-Jacques“ begegnet vor allem in Osten und Südosten, wo sich vereinzelt auch die aus dem Lateinischen abgeleitete Benennung „voie lactée“ erhalten hat. Andere mit dem Namen des Heiligen zusammengesetzte Wegbezeichnungen sind etwa „le pas de St.-Jacques“, „la route de St.-Jacques“ oder „la charrière de St.-Jacques“. In England gebrauchte man für die Milchstraße Jahrhunderte lang sowohl die Bezeichnung „Way of Saint James“ als auch „Way to St. James“. Im Walisischen heißt sie analog „Hynt St. JaIm“. Im Deutschen waren „Jakobs Straße“ und „Jakobs Weg“ ge-

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bräuchlich. Im Rätoromanischen findet sich „via Sontg Giachen“.Von den italienischen Varianten erscheint vor allem „la strada de San Giacume de Halicie“ bemerkenswert – so vielfach aus den Abruzzen belegt. In der Toskana – einer alten Kernregion der Jakobsverehrung – reichen Beispiele für eine solche Gleichsetzung weit zurück. Beim Juristen und Lexikographen Uguccione da Pisa (gest. 1210) findet sich die Formulierung „lacteus circulus, qui vulgo dicitur via sancti Jacobi“ – „die Milchstraße, die in der Volkssprache der Weg des heiligen Jakob genannt wird“, ähnlich beim Dominikanerprediger Jordan von Pisa (gest. 1311) „quelle stelle che volgarmente i laici chiamano la via di San Jacopo“ –„jene Sterne, die die Laien volkstümlich Weg des San Jacopo nennen“ sowie bei Dante Alighieri in seinem 1304 entstandenen „Convivio“: „… la Galassia, cioè quello biancho cerchio che lo vulgo chiama la via di Sa‘ Jacopo“ – „die Galaxie, das heisst jener weiße Kreis, den das Volk den Weg des Sa‘ Jacopo nennt“ . Dante war in vieler Hinsicht den „Magnae derivationes“ des Uguccione da Pisa verpflichtet. Alle drei Autoren betonen den volkssprachlichen Ursprung der Bezeichnung „Jakobsweg“ für die Milchstraße. Die mündliche Tradition dieser Bezeichnung geht sicher weiter zurück als die ältesten überlieferten schriftlichen Belege. Umgekehrt gingen vielfach Bezeichnungen, die sich ursprünglich auf die Milchstraße bezogen, auf den Pilger­weg nach Santiago über. Insbesondere handelte es sich dabei um Ableitungen von der lateinischen Form „via lactea“ – so etwa in Frankreich und in Portugal. Auch die Bezeichnung „iter stellarum“ – also „Sternenweg“ –

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gehört in diesen Zusammenhang. Sie hat ihre Bedeutung für den Jakobsweg bis in die Gegenwart bewahrt. Wie ist der synonyme Gebrauch von „Jakobsweg“ und „Milchstraße“ in so vielen europäischen Sprachen zu deuten? Vielfach wird angenommen, die Jakobspilger hätten sich durch diese Konstellation von Gestirnen am Firmament zu ihrem Zielort geführt gedacht – die Milchstraße also als Wegweiser auf der Pilgerstraße. Aber wie wäre eine solche Orientierung an einem Himmelsphänomen bei dem von vielen Ausgangspunkten kommenden und so weit verzweigten System der europäischen Jakobswege zu denken? Auch die Annahme, sich auf der Wallfahrt tagsüber an Erscheinungen des nächtlichen Himmels orientiert zu haben, macht Schwierigkeiten. Eine besonders frühe und besonders wirkkräftige Aussage über mittelalterliche Vorstellungen, wie der „caminus stellarum“ bzw. der „iter stellarum“, also der „Sternenweg“, denn zu verstehen sei, findet sich im so genannten „Pseudo-Turpin“, einer Erzählung über die Feldzüge Karls des Großen in Spanien und Aquitanien aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die in den ­„Liber Sancti Jacobi“ eingefügt wurde. Hier wird über eine Traumvision des Kaisers berichtet: „Da sah er plötzlich am Himmel eine Sternenstraße. Sie begann am friesischen Meer und führte über Deutschland nach Italien, Gallien und Aquitanien, durchquerte in gerader Linie die Gascogne, das Baskenland, Navarra und Spanien bis nach Galicien, wo damals der Leichnam des seligen Jacobus unbekannt ruhte. Nachdem Karl diese Straße in mehreren Nächten nacheinander erblickt hatte, fragte er sich immer wieder, was das bedeuten solle. Als er nun eif-

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rig über all das nachdachte, erschien ihm nachts im Traum eine über die Maßen schöne Heldengestalt und sagte: ‚Was tust du mein Sohn?‘ Er aber sprach ‚Wer bist du Herr?‘ ‚Ich bin‘, sagte jener, ‚der Apostel Jacobus, der Jünger Christi, der Sohn des Zebedäus, Bruder von Johannes dem Evangelisten, den aufgrund seiner unaussprechlichen Gnade der Herr sich herabließ ihn zu erwählen, die neue Lehre am Meer von Galicien den Völkern zu predigen; den König Herodes mit dem Schwert töten ließ und dessen Leib unentdeckt in Galicien ruht, das immer noch in schändlicher Weise von den Sarazenen unterdrückt wird. Darum bin ich höchlichst erstaunt, dass du mein Land noch nicht von den Sarazenen befreit hast, du, der du so viele Städte und Länder erobert hast. Daher lasse ich dich wissen, dass der Herr dich unter allen anderen auserwählt hat, meinen Weg zu bereiten und mein Land aus den Händen der Muselmanen zu befreien, wie er dich auch zum mächtigsten aller Könige gemacht hat. Dafür wird er dir die Krone unvergänglichen Ruhms gewähren. Die Sternenstraße, die du am Himmel gesehen hast, bedeutet, dass du mit Heeresmacht zum Kampf gegen das ungläubige Heidenvolk, zur Befreiung meiner Straße und meiner Erde und zum Besuch meiner Kirche und meines Grabes aus dieser Gegend nach Galicien ziehen sollst. Und nach dir werden alle Völker, von Meer zu Meer wandernd und Vergebung ihrer Sünden erflehend, dorthin ziehen, und sie erzählen das Lob Gottes und seiner Macht und die Wunder, die er tat. Sie werden ziehen von deiner Lebenszeit an bis zum Ende dieser irdischen Welt‘“. (Plötz 2003, S. 45) Dieser in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandene Text ist natürlich nicht als Beitrag zur Lebens-

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geschichte Karls des Großen zu deuten. Die militärische Intervention des Kaisers in Spanien hat ihn nicht nach Santiago geführt. Und der Grabfund von Santiago hat erst nach dem Tod des Kaisers stattgefunden. Die Erzählung ist vielmehr im Kontext ihrer Entstehungszeit zu verstehen – als Instrument des Kampfes um den Primat Santiagos in der spanischen Kirche, als Legitimation der Reconquista als heiliger Krieg. Das ändert aber nichts am Wert ihrer Aussage über den „Sternenweg“. Der „caminus stellarum“ ist ein Zeichen am Himmel, aber zugleich auch ein Zeichen des Himmels. Der Apostel Jakobus formuliert durch ihn eine überirdische Botschaft: Karl soll Wegbereiter der großen Wallfahrt nach Santiago sein, die zur Zeit der Niederschrift des Textes bereits einen ­Höhepunkt erlebte. Jakobus nennt in der Vision den Wallfahrtsweg „iter meum“ – „meinen Weg“. Sternenweg und Jakobsweg stehen hier in einem essentiellen Zusammenhang. So haben das wohl auch die Völker gesehen, die die Bezeichnungen „Jakobsweg“ und „Sternenweg“ bzw. „Milchstraße“ synonym gebrauchten. Der Text des Pseudo-Turpin ist in mindestens 170 Handschriften überliefert. Im Verlauf des Mittelalters wurde er in fast alle europäischen Sprachen übersetzt. Eine Abschrift des „Liber Sancti Jacobi“, die den Pseudo-Turpin enthält, kam noch in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts – wohl in Anschluss an eine Reliquientranslation von Santiago nach Pistoia – in dieses toskanische Zentrum der Jakobsverehrung. Als Wurzel für die bei Uguccione da Pisa erstmals belegte volkssprachliche Gleichsetzung von Milchstraße und „via sancti Jacobi“ kommt die Abschrift in Pistoia aufgrund der relativ

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geringen zeitlichen Distanz wohl kaum in Frage. Diese Gleichsetzung muss schon älter sein. Noch eine zweite – von der Forschung bisher weniger beachtete – Stelle im „Liber Sancti Jacobi“ sieht den heiligen Jakobus in Verbindung mit den Sternen. Für den liturgischen Gebrauch am Translationsfest des Heiligen war die Predigt „Solemnia sacra“ bestimmt. In ihr wird der Apostel Jakobus mit dem Patriarchen Abraham verglichen: „Wie Abraham für den Vater einer Vielzahl von Völkern gehalten wird, so wird der heilige Jakobus als frommer Vater verschiedener Völker und Nationen anerkannt, die nach Galicien zur Verehrung seines Grabes kommen. Und wie die Nachkommen Abrahams über die Erde vermehrt und über die Sterne erhoben werden, so wird das Pilgervolk Sankt Jakobs auf Erden täglich vermehrt und über die Sterne des Himmelspols erhöht – zusammen mit ihm im himmlischen Vaterland“. Auch in dieser Stelle erscheint der irdische Pilgerweg mit dem Weg zum Himmel verbunden. Der „gens peregrina“, die zum Grab des Apostels nach Galicien pilgert, wird als Fortsetzung ihres Wegs die Aufnahme in die „patria coe­ lestis“ zugesichert. Die Erhöhung „super stellas“ erfolgt „una cum eo“. Der heilige Jakob begleitet dorthin. Auch diese Vorstellung hat offenbar ein hohes Alter. In der Tradition des Jakobskults gibt es viele Bezüge zu Sternen bzw. zur Milchstraße als dem Sternenweg. Sie reichen von den Anfängen der Jakobsverehrung in Galicien bis zu den Symbolen des europäischen Kulturwegs in der Gegenwart. Die Entdeckung des vermeintlichen Apostelgrabs in den zwanziger oder dreißiger Jahren des 9. Jahrhunderts

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ging der Legende nach von einer Lichterscheinung aus. Ein Eremit namens Pelagius beobachtete mehrere Nächte hindurch ein Strahlen über einem Hügel, einen Glanz, der von zur Erde schweifenden Sternen auszugehen schien. Er berichtete dem Bischof Theodemir von Iria Flavia über seine Beobachtung. Der Bischof identifizierte nun an der fraglichen Stelle das Grab des heiligen Jakobus. Diese Ursprungslegende begleitete seit früher Zeit die Entwicklung der Wallfahrt nach Santiago de Compostela. Die Wurzel des Ortsnamens Santiago de Compostela ist nicht eindeutig geklärt. Der älteren Ableitung aus „campus stellarum“, also Sternenfeld, steht eine jüngere Deutung gegenüber, die von lateinisch „compostum“, d. i. Friedhof, ausgeht. Letztere entspricht der archäologischen Fundsituation. Erstere wurde – wenn auch vielleicht etymologisch unzutreffend – historisch besonders wirkkräftig. Auf die Bezeichnung des Jakobswegs als Sternenweg hat sie sich wohl zusätzlich ausgewirkt. Über den legendären Ursprung und die etymologische Deutung hinaus geht es aber beim synonymen Gebrauch der Bezeichnungen „Jakobsweg“ und „Sternenweg“ bzw. „Milchstraße“ um mehr – nämlich um wesentliche Übereinstimmungen in der Konzeption dieser Begriffe. Die Sternenstraße, wie sie der heilige Jakobus Karl dem Großen in einer Traumvision zeigt, ist ein Zeichen am Himmel. Unmittelbar anschließend wird sie im PseudoTurpin als ein Weg beschrieben, wie ihn mittelalterliche Pilger durch irdische Regionen und Reiche ihrer Zeit gegangen sind. Sie beginnt am „friesischen Meer“ und endet am Atlantischen Ozean. „Von Meer zu Meer wandernd“ werden alle Völker dorthin ziehen, sagt der

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Apostel voraus. Mit dieser Charakteristik korrespondiert eine andere Stelle des Pseudo-Turpin. Ebenso legendär berichtet sie, dass Karl der Große, nachdem er das Grab des Apostels Jakobus besucht hatte, bis zum Meer weitergezogen sei und an der Küste seine Lanze hineingestoßen habe. Auch diese Stelle könnte für die Pilger vorbildhaft gedeutet werden: Nach der Verehrung des Apostels an seinem Grabesort weiterzugehen bis zur Meeresküste, wo man das „Ende der Welt“ vermeinte. Es erscheint als eine besondere Eigenart des Jakobswegs, dass er nicht nur als ein Pilgerweg von Lebenden, sondern auch von Toten geglaubt wurde. Symptomatisch für diese Konzeption ist das berühmte Lied von der pilgernden Seele am Jakobsweg: „En camino de Santiago iba un alma peregrina una noche tan oscura que ni una estrella lucia; per donde el alma pasaba la tierra se estremecía.“ „Auf dem Weg des heiligen Jakob ging eine pilgernde Seele in einer so dunklen Nacht, in der kein Stern leuchtete; wo die Seele vorbeiging, zitterte die Erde.“

Die Vorstellung, dass die Seelen der Verstorbenen zum heiligen Jakob nach Galicien pilgern müssten, war nicht nur in Spanien, sondern auch in weit entfernt liegenden

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Regionen Europas wie in Unteritalien und in Sizilien verbreitet. Ihr entsprach die traditionelle Überlieferung, dass der heilige Jakob die Seelen der Toten ins Jenseits geleite. Der Weg dorthin wurde als ein Pfad entlang der Milchstraße gedacht. Die Milchstraße war in einer solchen Konzeption die unmittelbare Fortsetzung des Jakobswegs, in gewisser Hinsicht gar nicht von ihm unterscheidbar. Der heilige Jakob begleitete lebende Pilger auf ihrem Weg nach Santiago. Er vollbrachte an ihnen Wunder und schien ihnen in der Gestalt des Pilgers präsent. Er begleitete aber auch die Seelen Verstorbener auf diesem Weg und darüber hinaus. Der Pilgerweg fand als Weg ins Paradies seine Fortsetzung. Diese Vorstellungswelt ist ein Schlüssel zum Verständnis der exzeptionellen Bedeutung der Wallfahrt nach Santiago de Compostela im Mittelalter. Im Bild des Jakobswegs als Sternenweg erscheint der Weg der Lebenden und der der Toten in einmaliger Weise integriert. Für den Glauben an einen Weg der Seelen entlang der Milchstraße gibt es frühe Zeugnisse schon aus der vorchristlichen wie auch aus der christlichen Antike. Er ist sowohl bei einzelnen Autoren fassbar als auch durch Ausdrucksformen des Volksglaubens belegt. Ein wichtiger Vertreter solcher Vorstellungen, der im Mittelalter vielfach rezipiert wurde und auch auf die populare Religiosität einwirkte, war Macrobius – ein hoher römischer Staatsbeamter des frühen 5. Jahrhunderts, der philosophische und grammatische Schriften verfasste. Er lehrte, dass die Seelen durch bestimmte Pforten vom Himmel zur Erde herabsteigen und wieder von der Erde zum Himmel zurückkehren. Die Milchstraße sei der Weg,

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den sie bei ihrer Rückkehr benützen. Bei Prudentius, einem christlichen Dichter im Spanien des 4. Jahrhunderts, findet sich der Gedanke, dass der Weg der Auferstehung von Körper und Seele zu den Sternen führe. Sein Zeitgenosse Priscillian vertrat ein stark von astrologischen Vorstellungen beeinflusstes Konzept des Christentums. Er entstammte einer spanischen Oberschichtfamilie und wurde zum Bischof der Stadt Ávila gewählt. Seine Lehre war zu seinen Lebzeiten wie auch nach seinem Tod heiß umstritten. 385 wurde er in Trier als erster christlicher Häretiker hingerichtet – allerdings wegen seines gnostischen Dualismus und des Verdachts der Magie angeklagt, nicht wegen seines Sternenglaubens. In Gallien und Spanien hatte er zahlreiche Anhänger – vor allem in Galicien, wo er bestattet und als Märtyrer verehrt wurde. Daraus abzuleiten, es wäre sein Grab gewesen, das später in Santiago als Grab des Apostels Jakobus verehrt wurde, bleibt allerdings eine schwer zu argumentierende Spekulation. Unbestreitbar ist aber der Sachverhalt, dass sich in Galicien priscillianistische Vorstellungen und mit ihnen christliche Formen einer Astralreligion gehalten haben. Noch 561 beschäftigte sich das erste Konzil von Braga mit dieser Problematik. Es verurteilte den Sternenglauben sowohl der „pagani“ als auch der Anhänger des Priscillian. Im Volksglauben in Galicien hatte es demnach solche Vorstellungen auch außerhalb der priscillianistischen Gruppierungen gegeben. Priscillians Sternenlehre ist allerdings keineswegs nur aus regionalen Wurzeln zu erklären. Es gibt Querverbindungen vor allem in den Osten des römischen Imperiums. Elemente einer Astralreligion gehen in Galicien sicher schon in vorchristliche Zeit zu-

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rück, wie etwa die auf Grabsteinen überlieferte Symbolik zeigt. Die christliche Orthodoxie hat Sternenglauben stets grundsätzlich bekämpft, ohne ihn in den Volks­ religionen ganz beseitigen zu können. Die Verehrung des heiligen Jakobus gibt diesbezüglich Hinweise. Das Ziel der Wallfahrt zum heiligen Jakobus wird in der Überlieferung vielfach als „Ende der Welt“ verstanden. Die Beispiele dafür beginnen mit der ältesten Erwähnung des Jakobsgrabs im Martyrologium des Florus von Lyon aus dem zweiten Drittel des 9. Jahrhunderts: „dort am äußersten Ende, nämlich in der Nähe des britannischen Meeres … durch die herausragende Verehrung dieser Völker ausgezeichnet“. Für Dante Alighieri in Florenz waren 1293 die eigentlichen „peregrini“ diejenigen, die ihre Heimat verließen, um Sankt Jakobus „am Ende der Welt“ zu besuchen. Und noch der Wallfahrtsführer des Domenico Laffi von 1673 steht in seiner deutschen Übersetzung unter dem Titel „Reise in den Westen zum heiligen Jakob von Galicien und zum Ende der Welt“. Der Jakobsweg hat, wie schon erörtert, über Santiago de Compostela hinaus ein zusätzliches Ziel: „Finis terrae“, das „Ende der Welt“. Für die Lebenden ist hier der Weg zu Ende. Für die Toten gilt das nicht. Ihr Weg führt über das „Ende der Welt“ in Finisterre an der „Costa de la Muerte“, der „Küste des Todes“, hinaus, in die „Andere Welt“. Diese „Andere Welt“ als letztes Ziel kann unterschiedlich konzipiert sein – als „Insel der Seligen“, als christliches Paradies. Dementsprechend unterschiedlich sind die Wege, wie es erreicht werden kann. Eines der Konzepte der Wege ins Jenseits ist die Milchstraße als „Sternenweg“.

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Die Orte, über die die „Andere Welt“ zu erreichen ist, sind den Menschen heilig. Finisterre an der Küste von Galicien ist in dieser Hinsicht ein heiliger Ort. Im christlichen Verständnis gilt dasselbe für Santiago, wo der heilige Apostel an seinem Grabesort vermittelt. Beide gehören in den Kontext des Jakobsweges. Hat hier ein christlicher Zielort an die Funktionen eines vorchristlichen angeschlossen? Ein Vergleich mit anderen Wallfahrtsorten Galiciens, Spaniens, des atlantischen Küstenraumes insgesamt kann diesbezüglich zu einer Klärung beitragen. Der an der Universität von Santiago de Compostela wirkende Philologe und Historiker Fernando Alonso Romero hat auf ein eigenartiges Legendenmotiv aufmerksam gemacht: Die Erzählung von Heiligen, die in einem steinernen Boot über das Meer kommen und so den Lebenden begegnen. Dieses Motiv findet sich einerseits in Irland sowie in den von irischen Mönchen missionierten keltischsprachigen Gebieten Nordwesteuropas. Andererseits tritt es entlang der Atlantikküste auf der Iberischen Halbinsel auf, davon in drei Orten in Galicien, nämlich in San Andrés de Teixido, in Mugía und in Padrón – hier in Verbindung mit der Jakobstradition. Als Parallele erweist sich die Legende des heiligen Vinzenz von ­Saragossa, die mit dem Cabo de São Vicente in Portugal verbunden ist. Jeweils für sich genommen mögen die überlieferten Legenden von Heiligen im steinernen Boot skurril und ohne besonderen historischen Erklärungswert erscheinen. Vergleicht man jedoch die Orte, auf die sie Bezug nehmen, untereinander und mit den Zielorten des Jakobswegs, so werden in der Zusammenschau sakral­ topographische Rahmenbedingungen erkennbar, die für

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den Anfang der Wallfahrt nach Santiago Bedeutung haben dürften. Der heilige Vinzenz von Saragossa war einer der populärsten Heiligen, die man auf der Iberischen Halbinsel verehrte. Nach dem Bericht des Paulinus von Nola (gest. 431) galt er als der bedeutendste Märtyrer dieser Region. Im Frühmittelalter wurden ihm hier mehr Kirchen geweiht als dem heiligen Jakobus. Der Überlieferung nach stammte er aus Huesca. In Saragossa war er Diakon des greisen Bischofs Valerius. Mit diesem zusammen wurde er in der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian verhaftet, gefoltert und in Valencia hingerichtet – deshalb auch als „heiliger Vinzenz von Valencia“ verehrt. Das Begräbnis wurde ihm verweigert, sein Leichnam ins Meer geworfen. Raben begleiteten ihn, als er in einem steinernen Boot bei dem später nach ihm benannten Cabo de São Vicente an der Algarve angetrieben wurde. Hier errichtete man nahe dem Kap über seinen sterblichen Überresten eine Kirche, die schon bald zum Ziel von Wallfahrten wurde. Die Raben beschützten ihn weiterhin in seinem Heiligtum, das deshalb „Kirche der Raben“ genannt wurde. Unsicher bleibt, ob der Legende ein realer Transfer von Reliquien zugrundeliegt, der vielleicht erst nach der arabischen Invasion von 711 erfolgte. Eine starke Verehrung des heiligen Vinzenz im Westen der Iberischen Halbinsel ist schon seit westgotischer Zeit nachgewiesen. Die Christianisierung eines alten heiligen Ortes am Cabo de São Vicente erfolgte jedenfalls im Namen dieses Heiligen. Nicht nur Christen, auch Muslime besuchten ihn. Der arabische Geograph al-Idrisi (ca. 1100–ca.1165) berichtet, dass sich hier in den vergangenen vier Jahrhunderten

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keine Veränderungen ergeben haben. Bei der „Kirche der Raben“ habe weiterhin eine blühende Gemeinde und ein bedeutendes Pilgerzentrum bestanden. Nachrichten aus dem 11. Jahrhundert deuten auf einen weiten Einzugsbereich. Unter den Wundern des heiligen Prosper in Reggio nell‘Emilia in Oberitalien wird berichtet, dass ein kranker Mann aus dem lothringischen Metz sich auf der Suche nach Genesung zunächst an den heiligen Isidor in León gewandt habe, dann an den heiligen „Vincentius de Corvo“, also den heiligen Vinzenz „vom Raben“, die erhoffte Heilung aber erst 1071 in Reggio erfahren habe. Ende des 11. Jahrhunderts erzählt ein Hymnus auf den heiligen Vinzenz aus dem nordfranzösischen Kloster Rebais von seinem Heiligtum, zu dem zwei Raben die Pilger geleiten. Auch die Muslime übernahmen die Bezeichnung „Kirche der Raben“ als „kanísah al-Ghuiráb“. Das Ende der Wallfahrt hängt mit der Reconquista zusammen. Afonso Enríquez, der erste König von Portugal, ließ 1173 die Gebeine des Heiligen nach Lissabon bringen. Dort wird seither der heilige Vinzenz als Patron der Stadt verehrt, in deren Wappen die Raben abgebildet sind. Das Kap wurde weiterhin als „Cabo de São Vicente“ bezeichnet, der benachbarte Küstenabschnitt der Algarve als „Costa Vicentina“. Der aus Schlesien gebürtige Diplomat Niko­laus von Popplau berichtet noch von seiner 1484 erfolgten Reise nach Portugal, dass hier in der Kapelle des heiligen Vinzenz viele Wunder geschehen. Sie wurde also nach der Translation der Reliquien weiterhin von Pilgern aufgesucht. Das eigentliche Kultzentrum des heiligen Vinzenz verlagerte sich nun jedoch nach Lissabon. Mestre Estêvão, ein Domherr der Kathedrale von Lissabon, verfasste wohl noch vor dem

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Tod König Alfons’ I. 1185 das Werk „Translatio et miracula Sancti Vincentii“. Als Ort der von St. Vinzenz gewirkten Wunder steht hier immer wieder die Kathedrale im Vordergrund – nicht wie bei St. Jakob der Weg zur Grabeskirche. Eines der ersten und wichtigsten Wunder dieser Sammlung betrifft den Sachverhalt, dass der Heilige mit dieser Überführung seiner Reliquien einverstanden war. Das Cabo de São Vicente bei Sagres bildet zusammen mit der benachbarten Ponta de Sagres die Südwestspitze des europäischen Festlandes. Seit vorgeschichtlicher Zeit stellt es einen besonders heiligen Ort dar. Menhire in seiner Nachbarschaft deuten auf neolithische Kultplätze. Der griechische Geograph Strabo schreibt im 1. Jahrhundert über Steine, die hier während des Gebets herumgewälzt wurden. Er berichtet, dass es verboten war, den Platz in der Nacht zu betreten, weil man glaubte, dass sich dann hier die Götter versammeln. Er fügt hinzu, dass nach volkstümlicher Überlieferung die Sonne hier bei ihrem Untergang viel größer sei als anderwärts. Die Griechen nannten die Gegend „Ophiussa“, „Land der Schlangen“, seine Bewohner „Oestrimini“, „Bewohner des äußersten Westens“. Die lateinische Bezeichnung war „Promontorium sacrum“, also „heiliges Vorgebirge“. Von ihr wird der Ortsname des benachbarten Sagres abgeleitet. Den Römern galt der Platz als heiliger Ort, als Ende der Welt, an dem die Götter wohnen und die Sonne ins Meer versinkt. Es bestand also am Kap des heiligen Vinzenz eine sehr alte sakrale Tradition aus vorchristlicher Zeit, an die christlicher Kult und christliche Wallfahrt anschlossen. Die Parallelen zu Finisterre als einem Ziel des Jakobswegs liegen auf der Hand: Hier wie dort handelt es sich

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um ein weit ins Meer hinausragendes Vorgebirge − die äußerste Spitze des Festlandes. Hier wie dort stellt der Sonnenuntergang im Westen einen entscheidenden Bezugspunkt dar – in Finisterre durch eine in römischer Zeit oder schon zuvor errichtete „Ara Solis“, einen der Sonne geweihten Altar, besonders akzentuiert. Hier wie dort glaubte man sich am Ende der Welt – und dadurch mit dem Übergang zur „Anderen Welt“ in besonderer Weise verbunden. Hier wie dort entstand in diesem Kontext ein Kultplatz, der auch in christlicher Zeit weiter wirkte. Am Kap des heiligen Vinzenz schließt das Pilgerzentrum des Hochmittelalters vielleicht direkt an ein vorchristliches Wallfahrtswesen an. Sowohl Christen als auch Muslime suchten den heiligen Ort auf. Das lässt auf eine gemeinsame ältere Wurzel schließen. In Finis­terre­ hingegen erscheint eine ähnlich kontinuierliche Weiterentwicklung des Kultzentrums nicht gegeben – wohl durch die Dominanz des vermeintlichen Apostelgrabs in Santiago bedingt. Über die Formen des vorchristlichen und christlichen Wallfahrtswesens am „Promontorium sacrum“ liegen leider nur spärliche Quellenzeugnisse vor. So lassen sich diesbezüglich auch keine Analogieschlüsse für Finisterre bzw. Santiago ziehen. Das gemeinsame Grundmuster „bis ans Ende der Welt“ zu pilgern, lässt aber hier wie dort vergleichbare Motive der Wallfahrt vermuten. Am Kap des heiligen Vinzenz ist sowohl die Wallfahrt als auch das Legendenmotiv vom Heiligen, der in der steinernen Barke erscheint, deutlich älter als am Jakobsweg. Das große Pilgerzentrum ging hier bereits zu Ende, als es in Santiago im 12. Jahrhundert seinen ersten

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Höhe­punkt erreichte. Al-Idrisi betont ausdrücklich seine Jahrhunderte zurückreichende Kontinuität. Hinweise auf die Erzählung von der steinernen Barke finden sich im St. Vinzenz-Kult schon bei Prudentius im 4. Jahrhundert. Im Kontext der Jakobslegenden ist dieses Motiv nicht mit Finisterre, sondern mit Padrón, dem antiken Iria Flavia, verbunden. Der Ortsname Padrón leitet sich von „pedrón“, d. h. „Stein“ bzw. „Fels“ ab. Er bezieht sich auf einen römischen Meilenstein, an dem das Boot mit dem Leichnam des heiligen Jakob gelandet sein soll und der sich bis heute unter dem Altar der Kirche Santiago de Padrón befindet. Iria Flavia/Padrón war der Überlieferung nach jener Ort, an dem die Mission des heiligen Jakob in Spanien begonnen haben soll. Wie auch von anderen Aposteln berichtet wird, glaubte man, dass er in das ihm ursprünglich zugewiesene Missionsgebiet zurückgekehrt sei, um dort begraben zu werden. Der Legende nach benötigte das steinerne Schiff vom Heiligen Land bis nach Galicien nur sieben Tage. Seinen Weg nahm es über die Sonne – eine Vorstellung, die mit dem Sonnenkult von Finisterre korrespondiert. Wie Finisterre wurde auch Padrón gelegentlich von mittelalterlichen Jakobspilgern aufgesucht. Das höhere Alter der St. Vinzenz-Wallfahrt bzw. der St.  Vinzenz-Legende könnte die Überlegung nahelegen, dass sie als Vorbild für ähnliche Gegebenheiten und Vorstellungen im Kontext der St. Jakobs-Tradition gedient hätten. Für die legendären Berichte über die Ankunft des heiligen Jakob in Padrón mag eine solche Vermutung überlegenswert erscheinen. Eine einlinige Ableitung der einen Erzählung aus der anderen scheint jedoch wenig plausibel. Beide sind wohl im umfassenderen Zusammenhang des

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Legendenmotivs eines vom Meer her kommenden Heiligen zu sehen, das entlang der Atlantikküste auf der Iberischen Halbinsel und im keltischsprachigen Nordwesteuropa begegnet. Dass die Wallfahrt nach Santiago nach dem Vorbild des Pilgerzentrums am Kap des heiligen Vinzenz gestaltet worden sei, ist sicher auszuschließen. Eine solche exemplarische Wirkung würde einen Gestaltungswillen „von oben“ voraussetzen – seitens des Königshauses oder der Kirche –, der als maßgeblich bedingender Faktor – wie schon argumentiert – in Santiago nicht gegeben war. Vielmehr scheint es sich bei beiden Wallfahrten um einen analogen Wallfahrtstyp zu handeln: eine Pilgerschaft in den äußersten Westen bis zum „Ende der Welt“. In Galicien war der Pilgerweg wohl ursprünglich an Finisterre orientiert. Die Ausrichtung am vermeintlichen Jakobsgrab wäre dann das Ergebnis eines Überlagerungsprozesses im Kontext einer christlichen Neuinterpretation. Sieht man den Jakobsweg nicht als eine Nachahmung des Pilgerwegs zum heiligen Vinzenz, sondern als ein paralleles Phänomen im Zusammenhang mit einer Mehrzahl solcher Wege zum „Ende der Welt“ auf der Iberischen Halbinsel, so lassen sich seine vorchristlichen Wurzeln mit größerer Plausibilität erklären. Man muss dann nicht von einer einzigen und einzigartigen Pilgerroute ausgehen, wie es etwa die in der Literatur mitunter angenommene Ableitung von einem „camino secreto de Santiago“ als „ruta pagana de los muertes“ postuliert. Vielmehr erscheinen – so betrachtet – die Vorstufen aus heidnischer Zeit in einen allgemeinen Wallfahrtstyp eingeordnet, der sich auch sonst entlang der Atlantischen Küste findet – ganz besonders in Galicien.

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Elemente dieses Wallfahrtstyps, die für einen Vergleich mit dem Jakobsweg besonders geeignet erscheinen, finden sich in Galicien vor allem in der Verbindung mit dem Wallfahrtsort San Andrés de Teixido an der Küste nordöstlich von La Coruña nahe Cedeira gelegen. Obwohl urkundlich erst seit dem Spätmittelalter belegt, handelt es sich hier um eine sehr alte Wallfahrt, deren Wurzeln bis weit in vorchristliche Zeit zurückreichen dürften. Der Wallfahrtsort wird bis in die Gegenwart viel besucht. Das ermöglicht es, Formen des Wallfahrtsbrauchtums und Motivationen der Wallfahrer konkret zu erfassen. San Andrés de Teixido hat hinsichtlich des Zustroms der Pilger nie eine ähnliche Internationalität erreicht wie Santiago de Compostela. Gerade dieser Unterschied eröffnet jedoch den Zugang zu spezifisch galicischen Wurzeln. Die Legenden um den Heiligen, der in der steinernen Barke erscheint, beziehen sich in San Andrés auf den namengebenden Heiligen des Küstendorfs, den Apostel Andreas, Bruder des heiligen Petrus und erstberufenen Jünger Jesu. Verschiedene Varianten sind überliefert. Eine Überlieferung besagt, dass der heilige Andreas nach seinem Märtyrertod in Patras in Griechenland von zwei seiner Jünger in einer Barke aus Stein an die galicische Küste gebracht worden sei. In dieser Erzählung ist die Nachahmung der Jakobslegende ganz offenkundig. Auch eine andere Überlieferung stellt eine Verbindung zwischen St. Andreas und St. Jakob her. Der heilige Andreas soll von Jesus selbst an die unwirtliche Küste des nordwestlichen Spanien gesandt worden sein. Er landete hier in einem steinernen Boot. Als er in Galicien in seiner Einsamkeit wahrnehmen musste, dass der heilige Jakob

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von Pilgern aus aller Welt besucht wird, war er sehr traurig. Da suchte ihn Jesus in der Begleitung von Petrus auf und tröstete ihn: Er solle nicht verzagt sein, denn alle die ihn nicht zu ihren Lebzeiten besuchen, müssten nach ihrem Tod zu ihm kommen. „A San Andrés de Teixido vai de morto quen no fuen de vivo“ –„ Nach San Andrés de Texido gehen als Tote, die als Lebende nicht dort waren“ wurde zum Leitmotiv des nordgalicischen Wallfahrtsorts. Auch zu dieser Vorstellung findet sich am Jakobsweg eine erstaunliche Parallele, auf die noch zurückzukommen sein wird. Die „Barca del Santo“ glaubt man bis heute in einem vom Meer umbrandeten Felsen bei Punta Gaveira nahe San Andrés zu erkennen. Als Votivgabe begegnet die Barke in der Wallfahrtskirche des Ortes. Zu den verschiedenen Formen, in denen das „pan de San Andrés“, also das „Brot des heiligen Andreas“, als Repräsentation der Wallfahrt hergestellt wird, gehört auch „La Barca“. Der Name des Wallfahrtsortes begegnet in drei verschiedenen Varianten. „San Andrés de Teixido” verweist auf „tejo” als Bezeichnung der Eibe – einem in der Region häufig auftretenden Baum, dessen sakrale Funktion im Totenkult auch anderwärts nachgewiesen ist. „San Andrés de Lonxe“ leitet sich von der abseitigen Lage des heiligen Ortes ab. Besonders bemerkenswert erscheint die Ortbezeichnung „San Andrés do Cabo do mundo“. Wie Finisterre und Cabo São Vincente wurde auch San Andrés als „Ende der Welt“ vorgestellt. San Andrés de Teixido liegt nahe dem Cabo Ortegal. Es handelt sich hier um einen besonders exponierten Abschnitt der Steilküste am Atlantischen Ozean. Von Norwegen abgesehen findet sich in diesem Küstenab-

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schnitt das höchste Felsenkliff Europas, das 620 Meter erreicht. Seine Lage wurde seit alters als besonders bemerkenswert empfunden. Schon Tacitus schrieb, dass an diesem Kap Himmel, Meer und Erde enden. In diesem Verständnis ist Cabo Ortegal zu den heiligen Vorgebirgen „am Ende der Welt“ zu stellen – vergleichbar mit Finisterre und Cabo São Vincente. Auch San Andrés setzt den vorchristlichen Jenseitsbezug solcher Küstenpositionen in christlicher Deutung fort. Vergleichbar erscheint weiters das Heiligtum auf dem Monte Facho von Donón in der Pfarre O Hío in der Provinz Pontevedra am Cabo Home. Auch hier ist die charakteristische Lage auf der Steilklippe eines Vorgebirges gegeben – hier mit dem Ausblick auf die schon von den Römern als „Inseln der Götter“ bezeichneten Illas Ciés. Das Heiligtum war nach der Aussage zahlreicher Inschriften auf Weihealtären dem Gott Berobreus geweiht. Sein Kult dürfte in christlicher Zeit durch die Verehrung des heiligen Andreas abgelöst worden sein, dem die romanische Pfarrkirche von Hío geweiht ist. Das als „Andreaskreuz“ bekannte Symbol findet sich schon auf Weihealtären des Monte Facho von Donón. Zur Kirche San Andrés de Hío führten bis ins 20. Jahrhundert Wallfahrten. Ein charakteristisches Element war bei diesen „romerías“ die sogenannte „Prozession der Särge“, die – wie in einigen anderen galicischen Heiligtümern – im Zusammenhang mit Nahtoderfahrungen zu interpretieren ist. Auch in San Andrés de Teixido finden sich Elemente dieses Wallfahrtstypus. Das heutige Wallfahrtsheiligtum von San Andrés de Teixido ist eine relativ kleine Kirche aus später Zeit. Sie geht auf einen älteren Kirchenbau zurück, der seit dem

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12. Jahrhundert dokumentiert ist. Aus dem Besitz der Grafen von Traba gelangte sie 1190 an den Johanniterorden. Dass sie über Reliquien des heiligen Andreas verfügte, ist eine wenig glaubwürdige lokale Überlieferung. Verglichen mit diesen bescheidenen Anfängen aus christlicher Zeit erscheinen die in vorchristliche Zeit zurückreichenden Spuren besonders bemerkenswert. Sie betreffen gemeinsam geglaubte Pilgerfahrten von Lebenden und Toten, gemeinsame Totenfeste, die Vorstellung des Weiterlebens der Seelen von Verstorbenen in Tiergestalt sowie spezifische Steinkulte. Alles das ist aus christlicher Wurzel nicht erklärbar. Wie die Wallfahrt nach Santiago gilt auch die nach San Andrés de Teixido als eine Pilgerschaft der Lebenden und der Toten. Wie das Verhältnis zwischen ihnen vorgestellt werden kann, wird hier deutlicher fassbar. Lebende können für Tote und mit Toten den Wallfahrtsweg gehen, durchaus aber auch Tote allein. Wer ihn nicht zu Lebzeiten gegangen ist, muss das nach dem Tod nachholen, um Strafen im Jenseits zu entgehen. Die Lebenden können den Toten dabei helfen. Für die Pilgerschaft mit verstorbenen Seelen gibt es besondere Rituale. Der Tote wird am Friedhof bei seinem Grab abgeholt – in der Regel von zwei Personen. Es kann sich dabei um Verwandte handeln, um Nachbarn, um Freunde. Für den gemeinsamen Weg gelten bestimmte Auflagen, etwa die Pflicht zu schweigen. Die Bezeichnung für solche Wallfahrten ist „romería en spiritu“. Bis in die Gegenwart wird dieser Brauch geübt. Die Zeitung „La Voz de Galicia“ berichtet im Mai 2009: „Es ist nicht das erste Mal, dass eine alte Frau – unfähig zum Wallfahrtsort zu gehen – zwei

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Bus-Tickets nach San Andrés genommen hat. ‚Für wen ist das zweite Ticket?‘, fragte der Bus-Chauffeur. ‚Für meinen verstorbenen Mann. Ich muss seine Seele nach San Andrés begleiten.‘ Weil Seelen nach dem galicischen Volksglauben blind sind.“ Seelen von Verstorbenen können nach diesen Volksglauben aber auch allein nach San Andrés pilgern. Wenn sie es zu Lebzeiten nicht getan haben, müssen sie es nach dem Tod unter allen Umständen nachholen. Sie tun das dann eventuell in Tiergestalt – etwa als Reptilien oder als Insekten. Dass Seelen von Verstorbenen in der Gestalt von Bienen auf dem Weg nach Santiago dahinziehen, ist als eine analoge Vorstellung vom Jakobsweg überliefert. Auf dem Weg nach San Andrés müssen sich die lebenden Pilger strengstens davor hüten, auf ein solches Tier zu treten oder es in anderer Weise zu töten – geht es doch dabei um das Seelenheil von Verstorbenen. Es handelt sich hier offenbar um eigenartige Vorstellungen der Psychometamorphose, die vorchristlichen Ursprung haben müssen. Tote und Lebende werden auch als gemeinsame Teilnehmer von Wallfahrtsfesten gedacht. Große Wallfahrten nach San Andrés finden zu bestimmten Terminen statt, vor allem im Herbst zu Allerseelen und am St. Andreastag, dem 30. November. An solchen Tagen werden die Pforten zum Jenseits offen gedacht. Die Toten können dann die Lebenden besuchen. Man kann sie zum gemeinsamen Feiern einladen. Beim Essen nach der Festmesse wird ihnen ein Platz reserviert – vor allem den im letzten Jahr Verstorbenen. In erster Linie betrifft das Verwandte oder Freunde. Mit zunehmender Öffnung der Welt über den lokalen Horizont hinaus erweitert sich

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der Kreis der nahestehenden Toten. Auch international bekannte Verstorbene wurden eingeladen – in einem Jahr etwa Präsident Kennedy, in einem anderen Marilyn Monroe – aber nicht beide gemeinsam. Jenseitsvorstellungen über ein Zusammenwirken von Lebenden und Toten repräsentieren auch die sogenannten „milladoiros“ oder „amilladoiros“. Sie finden sich zahlreich in und um San Andrés. Es handelt sich um Haufen von kleinen Steinen, die die Pilger mitgebracht und dort niedergelegt hatten. Sie sind sowohl Zeichen der Befreiung von eigener Schuld als auch der Hilfe für die Seelen Verstorbener im Fegefeuer. Es heißt, dass sie für diese beim Jüngsten Gericht sprechen würden. Letzteres ist offenkundig eine christliche Interpretation. Der Brauch, solche Steinhaufen anzulegen, hat aber nachweislich vorchristliche Wurzeln. „milladoiros“ finden sich, wie schon erwähnt, auch entlang des Jakobsweges, ähnlich unter der Bezeichnung „moledros“ am Cabo São Vincente. Durch sie wird nicht nur der Wallfahrtsort selbst geheiligt, sondern auch der Weg dorthin. Die besondere Heiligkeit der Wege nach San Andrés bringen ebenso die hier sehr zahlreichen Steinkreuze – „cruceiros“ genannt – zum Ausdruck. Ein besonders eindrucksvolles Steinkreuz neben der Wallfahrtskirche markiert das Wallfahrtsziel. Dass der heilige Wallfahrtsweg auch am Himmel abgebildet gedacht wird, zeigt die Bezeichnung „Camiño de Santo André“ für die Milchstraße, die allerdings nur in der Region von Cotobade in der Provinz Pontevedra belegt ist. In diesem Verständnis ist auch der Weg nach San Andrés ein „Sternenweg“. Er führt über das „Cabo do Mundo“, das Ende der Welt, hinaus.

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Vom großen Pilgerzentrum Santiago unterschied sich San Andrés de Teixido in seiner historischen Entwicklung sehr wesentlich. Die maßgeblichen Faktoren der Wallfahrt stammen hier schon aus vorchristlicher Zeit und wurden durch den Prozess der Christianisierung nicht grundsätzlich verändert. Ein vermeintliches Apostelgrab mit seiner zunächst regionalen, aber bald schon internationalen Anziehungskraft war nicht gegeben. So kam es auch nicht zu einem Ausbau des Wallfahrtskirchleins in immer größeren Dimensionen. Da half es auch nichts, späterhin zu behaupten, über Reliquien des heiligen Andreas zu verfügen. Die Legende von der tiefen Traurigkeit des Apostels angesichts des großen Pilgerzentrums des heiligen Jakob spiegelt diese unterschiedliche Ausgangsposition sehr anschaulich. Kein Ortsbischof hätte auf die späte Nachricht von St. Andreas-Reliquien im nordgalicischen Küstendorf seinen Bischofssitz hierher verlegt, wie der von Iria Flavia im 9. Jahrhundert nach Santiago. Insgesamt findet sich in San Andrés de Teixido keinerlei Hinweis auf eine besondere Förderung durch die Amtskirche – weder auf regionaler noch auf universaler Ebene. Kein Bischof von der Durchschlagskraft eines Diego Gelmírez setzte sich für den Wallfahrtsort ein, kein Papst erteilte Ablassprivilegien, die zusätzliche Wallfahrer angelockt hätten. San Andrés blieb eine „Wallfahrt von unten“ in Reinkultur. Das gilt auch bezüglich des Einflusses der Herrscher. Kein König spendete hier ein Votivkreuz, förderte einen Kirchenbau oder hätte gar den heiligen Ort zu seiner letzten Ruhestätte bestimmt. So blieb San Andrés von Prozessen der Überlagerung in christlicher Zeit in vieler Hinsicht unberührt. Sehr al-

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tertümliche Elemente des galicischen Wallfahrtswesens konnten sich dadurch ohne wesentliche Beeinträchtigungen erhalten. Sie erlauben wohl Analogieschlüsse auf die Verhältnisse in Santiago in der Zeit vor dem Aufstieg zur Internationalität seit dem 11. Jahrhundert bzw. Santiago vorausgehend in Finisterre. Entsprechend dem Netzwerk heiliger Pilgerwege, die sich seit alters an San Andrés orientierten, wird man etwa auch für die heiligen Orte am späteren Jakobsweg in Galicien ein System von sakralen Wegen annehmen dürfen. Eine solche Parallele unterstützt die Vermutung, dass sich die Hauptroute des Jakobswegs nicht aus einem einzigen Straßenverlauf entwickelt hat, sondern aus älteren Vorstufen heiliger Wallfahrtswege des vorchristlichen Galicien insgesamt. Ein weiteres sehr altes und bis heute viel besuchtes Wallfahrtsziel in Galicien ist Mugía – ebenso wie Finis­ terre an der Costa da Morte, der Küste des Todes, gelegen. Die Wallfahrt führt hier einerseits zur Kirche „Nosa Señora da Barca“, auch „Santuario da Virxe da Barca“ genannt, andererseits zu einer Konstellation von Steinblöcken an der Küste, den „Piedras de la Punta da Barca“. Der größte von ihnen, die „Piedra de Abalar“ ist ein ­Wackerstein von enormen Dimensionen, dem man divinatorische Wirkung zuschrieb. Die Deutung als Boot der Jungfrau Maria ist wohl eine abgeleitete Interpretation. Ihr entsprechen die Bezeichnungen zweier weiterer Megalithe als „Piedra dos Cadrés“ und „Piedra do Timón“, das Segel und das Ruder der Barke symbolisierend. Die Legende besagt, dass die heilige Maria hier in einem s­teinernen Boot dem heiligen Jakobus erschienen sei, als er am Erfolg seiner Missionstätigkeit in Spanien zweifelte. Sie tröstete

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ihn und er führte seine Arbeit weiter. Es wurde schon erwähnt, dass Pilger die ihre Wallfahrt auf dem Jakobsweg über Santiago hinaus nach Finisterre­­fortsetzten, gelegentlich auch Mugía aufsuchten. Der Wallfahrtsort war also sekundär in das System des Jakobsweges einbezogen, primär jedoch wohl schon ein älterer heiliger Ort der Galicier. Der Kult der später als Marienbarke gedeuteten heiligen Steine geht sicher vor den in der Marienkirche zurück. An Megalithen orientierte Steinkulte haben in der Regel ein sehr hohes Alter. Als christlicher Wallfahrtsort zu „unserer Frau von der Barke“ stellt Mugía ein weiteres prominentes Beispiel für das Motiv der Heiligenerscheinung in der steinernen Barke entlang der Atlantikküste auf der Iberischen Halbinsel dar. Alle diese legendären Erscheinungen markieren heilige Orte am „Ende der Welt“. Sie sind mit der Vorstellung einer Jenseitspforte verbunden, einem Tor zur „Anderen Welt“, durch das überirdische Mächte auf die irdischen Verhältnisse einwirken. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass das Legendenmotiv der Heiligen, die in einer steinernen Barke über das Meer kommen, Entsprechungen in Irland und in anderen keltischsprachigen Gebieten Nordwesteuropas hat. Dort findet sich auch die Vorstellung, dass die Verstorbenen auf einer Barke aus Stein über das Meer zu einer Insel der Seligen bzw. ins Reich der Toten gebracht werden. Im äußersten Westen im Atlantischen Ozean gelegene Inseln spielen insgesamt in der keltischen M ­ ythologie eine große Rolle. Dort liegt das Paradies, das als Jenseits eine andere Welt darstellt, die aber mit dem Diesseits in verschiedenen Formen in Verbindung steht. Vorchristliche Vorstellungen darüber wirken in christlichen nach. Zu Samhain, dem

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großen keltischen Fest, das zu Neumond am Anfang des Monats November gefeiert wird, erscheint die Grenze zwischen der Welt der Toten und der Welt der Lebenden besonders durchlässig. Der Termin behält im christlichen Totenbrauchtum seine Bedeutung. Durch die Schifffahrt auf dem Atlantik – besonders durch den Zinnhandel bedingt – standen die keltischsprachigen Gebiete Westeuropas untereinander in regem Kulturaustausch. Auch das ursprünglich keltisch­ sprachige Galicien gehörte dazu. Dieser Austausch wurde nicht nur durch einzelne Personen getragen – etwa irische Mönche, die über das Meer fuhren und christlich-keltische Vorstellungen verbreiteten. Es kam auch zur Auswanderung größerer Bevölkerungsgruppen aus Nordwesteuropa nach Galicien. Eine solche umfangreiche Einwanderungswelle wurde zuletzt durch den Einfall der Angeln, Sachsen, Jüten und Friesen in die ehemalige römische Provinz Britannien ausgelöst. Geflüchtete Briten bzw. Bretonen ließen sich zunächst in der Bretagne, dann aber auch im nördlichen Galicien nieder. Im 6. und 7. Jahrhundert bildeten sie hier eine eigenständige Diö­zese, die „Britonensis ecclesia“ – nach irischer Tradition von einem Abt als Bischof geleitet. Ihr Mittelpunkt war Santa Maria de Breton in der Provinz Lugo. Über sie könnte es damals in Galicien zu einer Beeinflussung durch keltisch-christliche Jenseitsvorstellungen gekommen sein. Ohne eine spezifisch christliche Interpretation könnte die Vorstellung von einem Paradies auf den Inseln des Westens, das von einem Vorgebirge der Atlantikküste über das Meer zu erreichen sei, aber auch noch viel älter sein. Es lag nahe, das Reich der Toten, die eleusinischen

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Gefilde, das Paradies – in welcher Form auch immer – über das Festland hinaus jenseits des Meeres zu suchen – im äußersten Westen, wo die Sonne unterging – sozusagen jeden Tag von Neuem dort „starb“. Wenn die Sonne untergegangen war, zeigte sich dort am nächtlichen Himmel der „Sternenweg“ – gleichsam als Fortsetzung des Wegs der Seelen im Jenseits. Zur Zeit der Entstehung der St. Jakobslegenden war der Glaube an ein Paradies auf den Inseln des Westens durchaus lebendig. Das zeigt die Erzählung über die Erlebnisse des Trezenzonio auf der „Solstitionis Insula Magna“, der großen Insel der Sonnenwende, die im 12. Jahrhundert aufgezeichnet wurde. Sie berichtet über Begebenheiten des 8. Jahrhunderts im asturischen ­Königreich. Trezenzonio war ein galicischer Mönch, der die Insel des Paradieses sehen wollte. So bestieg er den „Turm des Herkules“ bei La Coruña – einen mächtigen Leuchtturm aus römischer Zeit – zweieinhalb Kilometer außerhalb der Stadt auf einer Halbinsel gelegen, der sich bis heute erhalten hat. Als Trezenzonio von dort aus auf das Meer hinaussah, erblickte er im ersten Licht der Morgendämmerung die „Große Insel“. Er entschloss sich, dorthin zu segeln. Nach seiner geglückten Landung kam er zu einer Basilika, die der heiligen Thekla geweiht war. Das Wetter auf der Insel war vorzüglich und es gab dort eine Fülle von Nahrungsmitteln. Leid, Hunger, Angst und Unglückfälle waren unbekannt. Trezenzonio verblieb sieben Jahre, bis ihm ein Engel die Heimkehr befahl. Weil er zunächst die Rückkehr verweigerte, wurde er mit Krankheit bestraft. Als er schließlich doch nach Galicien zurückkam, waren alle seine mitgenommenen Beweisstücke für die Existenz

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der „Großen Insel“ zugrunde gegangen. Es verblieb ihm bloß die Möglichkeit des mündlichen Berichts, die er gegenüber dem Bischof von Tuy nutzte. Ähnliches wird aus dem mittelalterlichen Spanien vom heiligen Abt Amarus berichtet, dem durch eine göttliche Eingebung eröffnet wurde, wie er über das Meer das Paradies erreichen könnte. Auch ihm gelang es, wieder zurückzukehren. Bei vielen anderen, die sich auf die Suche machten, war das offenbar nicht der Fall. Wie schon erwähnt, berichtete der aus Nürnberg stammende Pilger Gabriel Tetzel im 15. Jahrhundert im Zusammenhang mit Finisterre: „Es wär aber niemand herwieder kumen.“ Zwei religiöse Traditionslinien liefen im Frühmittelalter in Galicien zusammen, die sich in der Jakobsverehrung vereinigten – eine christliche und eine vorchristliche. Die christliche basierte zunächst auf den biblischen Berichten über den Apostel Jakobus den Älteren. Sie nahm die Überlieferung von der „Divisio apostolorum“ auf, durch die die Zuteilung bestimmter Missionssprengel an die einzelnen Apostel festgelegt wurde. Nach den älteren Fassungen des „Breviarium apostolorum“ hatte St. Jakob Judäa übernommen, nach den jüngeren – beginnend mit dem 7. Jahrhundert – hingegen Spanien. Diese Neuzuordnung dürfte mit christologischen Auseinandersetzungen zusammenhängen, die als Folge des Konzils von Chalcedon zur Abspaltung der orientalischen ­Kirchen führten. Der Westen gewann nun innerhalb der römischen Christenheit größeres Gewicht. Die Jakobstradition spaltete sich in einen östlichen und einen westlichen Zweig. Entsprechend der Vorstellung, dass die einzelnen Apostel in ihren jeweiligen Missionsgebieten auch be-

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stattet worden waren, begann man in Spanien nach dem Jakobusgrab zu suchen. Das war vor allem im Königreich Asturien der Fall, während man in der mozarabischen Christenheit noch lange am Begräbnisort Jerusalem festhielt. Im äußersten Nordwesten – in Galicien – wurde man in den zwanziger oder dreißiger Jahren des 9. Jahrhunderts am Platz eines ehemaligen römischen Friedhofs fündig. Der Fundort passte sowohl dem lokalen Bischof als auch dem asturischen König, der allerdings kurz zuvor seine neue Residenzstadt Oviedo auch zu einem sakralen Mittelpunkt auszubauen begonnen hatte. In der Konkurrenz mit diesem konnte sich Santiago, wie der Platz schon bald nach dem vermeintlichen Apostelgrab benannt wurde, eigenständig behaupten. Als Wallfahrtsort blieb er jedoch zwei Jahrhunderte hindurch eher von regionaler Bedeutung – weit entfernt von der Rolle des hoch- und spätmittelalterlichen Pilgerzentrums. Bezüglich der Formen des frühen Wallfahrtskults darf man wohl zunächst annehmen, dass sie mit den damals üblichen des Reliquienkults als Grabkult übereinstimmten. Im Galicien des 9. Jahrhunderts war allerdings ein solcher Grabkult mit starken Traditionen vorchristlicher Kulte konfrontiert, die auch in Besonderheiten des Wallfahrtswesens zum Ausdruck kamen. Sie stammten aus verschiedenen Vorgängerkulturen. Das keltische Substrat war wohl nur eines von mehreren. Steinkulte spielten ebenso eine Rolle wie verschiedene Elemente von Astralreligionen. Die Sakralität von Wegen ist mehrfach belegt. Einen besonderen Typus heiliger Orte aus vorchristlicher Zeit stellten in Galicien bestimmte Plätze an der Atlantikküste dar. Hier ging es nicht um Gräber von Heiligen

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als Zielort eines Wallfahrtsweges. Vielmehr war die Lage am Übergang vom Festland zum offenen Meer für ihre besondere Bedeutsamkeit entscheidend. Die Küste galt als Ende der Welt. Jenseits des Meeres lag das Land der Toten. Markante Punkte an dieser Küste wie etwa steil aufragende Vorgebirge wurden als Jenseitspforten angesehen, über die sich eine Verbindung zu den Verstorbenen herstellen ließ. Die Wege der Lebenden hatten hier ihr Ziel, die Wege der Toten führten weiter. Der Sonnenuntergang im Westen gab die Richtung vor. Eines der wichtigsten dieser Heiligtümer an der Atlantikküste dürfte Finisterre gewesen sein, in dessen lateinischem Orts­ namen die Vorstellung vom Ende der Welt nachlebt. Das im 9. Jahrhundert aufgefundene Jakobsgrab lag auf dem Weg dorthin. Der vorchristliche heilige Ort verlor nun gegenüber dem christlichen an Bedeutung. Die Verbindung zwischen ihnen blieb aber im Kontext des neuen Wallfahrtswegs aufrecht. Die Jakobsmuschel repräsentiert diesen Zusammenhang in anschaulicher Weise. Einige Vorstellungen aus vorchristlichen Traditionen haben im Wallfahrtskult von Santiago weitergewirkt. Die wichtigste ist wohl der Gedanke einer Fortsetzung als Weg der Toten. Durch ihn erhielt der Jakobsweg in der Heilsökonomie des mittelalterlichen Wallfahrtswesens eine einmalige Sonderstellung. Es war nicht nur das vermeintliche Apostelgrab, das diesen Pilgerweg besonders privilegierte. Die christliche Deutung vorchristlicher Jenseitsvorstellungen musste hinzukommen. Durch die Verbindung mit dem „Sternenweg“ erlangte der heilige Jakob im Hoch- und Spätmittelalter seine einzigartige Bedeutung für die europäische Christenheit.

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Geht man davon aus, dass die Wallfahrt nach Santiago de Compostela aus einer Synthese von christlicher Jakobsverehrung mit vorchristlichen Kulttraditionen im Nordwesten der Iberischen Halbinsel entstanden sein muss, so hilft der Vergleich mit anderen Wallfahrtsorten in diesem Raum weiter. San Andrés de Teixido, Mugía, Finisterre oder außerhalb von Galicien Cabo de São Vincente bieten dazu konkrete Anhaltspunkte. Phänomene, die sich hier beobachten lassen, erlauben Rückschlüsse auf die Frühzeit des Jakobswegs. Ein grundsätzliches Problem, das sich dabei stellt, ist jedoch die Frage nach dem jeweiligen Alter der Erscheinungsformen, die komparativ behandelt wurden. Manche von ihnen sind ja erst spät belegt. Zudem bedürfen sie einer Einordnung in allgemeine Rahmenbedingungen religiöser Verhältnisse in Galicien in vorchristliche Zeit. Ohne genaues Wissen um dieses Substrat bleiben Annahmen über langfristige Kontinuitätszusammenhänge spekulativ. Nun verfügen wir gerade für das frühmittelalterliche Galicien über eine einzigartige Quelle, die detaillierte Informationen über heidnische Glaubensvorstellungen und Bräuche in dieser Region sowie deren Bekämpfung durch die christliche Mission bietet. Es handelt sich um den Predigttext „De Correctione Rusticorum“, den Bischof Martin von Braga wahrscheinlich um 574 für seinen Amtskollegen Polemius von Astorga verfasste. Ergänzt wird diese Quelle durch die Beschlüsse des zweiten Kon-

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zils von Braga, das 572 unter der Leitung von Bischof Martin stattfand und die maßgeblich von ihm beeinflusst wurden. Martin von Braga war nicht aus der ehemaligen römischen Provinz Gallaecia gebürtig. Er stammte aus dem weit entfernt gelegenen Pannonien. Die Verhältnisse, die er kritisch beschrieb, waren ihm also nicht von klein auf geläufig. Bei einer Pilgerreise ins Heilige Land wurde er dort Mönch – wie aus seinen später verfassten Schriften ersichtlich ist, in der Tradition der ägyptischen Mönchsväter. Im Heiligen Land traf er mit Pilgern von der Iberischen Halbinsel zusammen, die ihn überredet haben dürften, mit ihnen dorthin zu kommen und Missionsarbeit zu leisten. Pilgerkontakte zwischen Galicien und dem Heiligen Land sind aus dieser frühen Zeit auch sonst bekannt. Um 550 traf Martin in Galicien ein. Er gründete in Dumio bei Braga ein Kloster, wurde dort 556 Bischof, 562 schließlich in Braga selbst. Seine Missionstätigkeit konzentrierte sich auf das Reich der Sueben im Nordwesten der Iberischen Halbinsel, dessen König Chararich (550 – 559) vom arianischen Christentum zum katholischen übertrat. Eine erste Synode, an der er 561 in Braga teilnahm, richtete sich vor allem gegen die Lehre der Priscillianisten, die in Galicien mit großem Erfolg wirkten, eine zweite, die er selbst präsidierte, gegen heidnische Traditionen im Suebenreich. Galicien gehörte damals zu den am schwächsten christianisierten Regionen der Iberischen Halbinsel. Die Christianisierung hatte sich hier – ebenso wie schon zuvor die Romanisierung – primär auf die städtische Bevölkerung konzentriert. Martins Lehrschreiben hingegen zielte auf die Bekehrung der

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Landbevölkerung, unter der sich heidnische Traditionen stark erhalten hatten und – wie noch zu zeigen sein wird – noch sehr lange weiter wirkten. Die Aufzählung der von Martin bekämpften Glaubensvorstellungen und Bräuche lässt einerseits allgemeine Muster erkennen wie die Verurteilung von Astralkulten, in denen Sonne, Mond und Sterne verehrt wurden, von animistischen Praktiken wie Opfer an göttliche Wesen in Flüssen, Quellen oder Wäldern sowie von spezifischen Gottheiten der einzelnen Wochentage. In all dem sieht der Bischof Idolatrie, die mit dem christlichen Glauben an einen Schöpfergott nicht vereinbar ist. Andererseits tritt er gegen sehr konkrete Erscheinungsformen des Paganismus auf, die er oft auch in Einzelheiten beschreibt – etwa das Entzünden von Lichtern bei Felsen, Bäumen oder Wegkreuzungen, bestimmte Formen Tische festlich zu schmücken, Lorbeerzweige an den Häusern aufzuhängen, in diese zuerst mit dem rechten Fuß einzutreten oder Essen ins Herdfeuer zu werfen bzw. Wein hineinzuschütten. Drei Themen aus solchen Zusammenhängen seien besonders aufgegriffen, weil sie im Kontext der Santiago-Wallfahrt von Bedeutung sein dürften: die Wegeheiligung durch Errichten von Steinhaufen, die Gemeinsamkeit von Lebenden und Toten bei sakralen Mahlzeiten und Elemente von Astralkulten, wie sie durch Grabstelen dokumentiert sind. Die Kontinuität über große Zeiträume hin erscheint bei diesen Überlieferungen durch solche frühe Zeugnisse sichergestellt. Die als „milladoiros“ oder „amilladoiros“ bzw. portugiesisch als „moledros“ bezeichneten Steinhaufen mit sakraler Bedeutung sind uns schon entlang der Wallfahrts-

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wege nach Santiago, nach San Andrés de Teixido und zum Cabo de São Vicente begegnet. Sie stellen ein besonderes Kennzeichen des Jakobswegs sowie der Sakrallandschaft von Galicien im Allgemeinen dar. Bei einem Kult, von dem Martin von Braga in seinem Lehrschreiben über die Bekehrung der galicischen Bauern berichtet, handelt es sich offenkundig um einen heidnischen Vorläufer dieses christlichen Brauchs der Anhäufung von Steinen an Wegen. Im Zusammenhang mit der von ihm bekämpften Verehrung von Wochentagsgöttern kommt Martin auf den „daemon Mercurius“ zu sprechen, den er als Urheber allen Diebstahls und aller Täuschung charakterisiert: „Cui homines cupidi quasi deo lucri, in quadriviis transeuntes, iactatis lapidibus acervos petrarum pro sacrificia reddunt.“ Die angehäuften Steine sind hier also Opfergaben. Sie werden an Wegkreuzungen niedergelegt, die Martin an anderer Stelle als Plätze der Verehrung heidnischer Gottheiten erwähnt. Martin bezeichnet Mercurius – wie alle anderen der von ihm aufgezählten Wochentagsgötter – mit seinem lateinischen Namen. Er spricht ihn einseitig und abwertend als Gott des Gewinns an, was mit dessen allgemeiner Funktion als Schutzherr der Wege und damit auch des Handels zusammenhängt. Als solchen identifizierte man ihn mit dem keltischen Gott Lugh. Hinweise auf dessen Verehrung in Galicien liefern Ortsnamen. Im keltischen Pantheon nahm Lugh einen wichtigen Platz ein. Unter anderem galt er als Begleiter der Seelen im Jenseits. Als Wegegott und Seelenbegleiter wurde auch der griechische Gott Hermes verehrt. Auch ihm wurden Steinhaufen am Wegesrand bzw. an Kreuzwegen geweiht.

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Dem griechischen Hermes entsprach der römische Mercurius. Er war der Gott des Handels, des Gewerbes, des Reichtums und des Gewinns. Als Gott des Warenaustauschs scheint er – von „merces“ = Ware abgeleitet – zu seinem Namen gekommen zu sein. Die Gleichsetzung mit Hermes ließ ihn auch dessen Attribute und Funktionen übernehmen. Man bildete ihn mit Hut und Wander­stab ab. Er war zugleich Götterbote und Begleiter der Seelen in die Unterwelt. Als Kinder Merkurs galten die „Lares Viales“ – spezifische Schutzgeister der Wege und derer, die diese benützten. Ihre Verehrung war nach dem Zeugnis von Votivinschriften in Galicien und Asturien besonders verbreitet. So zeichnen sich im Wegekult der Antike einige Übereinstimmungen ab. Einzelne Entwicklungslinien verweisen dabei auf die von Martin von Braga für das 6. Jahrhundert geschilderten Verhältnisse. In sakralen Funktionen und ikonographischen Motiven ergeben sich Parallelen zur mittelalterlichen Jakobsver­ ehrung entlang des „Camino“. In seinem Kampf gegen die „montes de Mercurio“, wie die sakralen Steinhaufen genannt wurden, waren Martin von Braga und seine Mitstreiter gegen überkommene heidnische Praktiken in Galicien nicht sehr erfolgreich. Manche dieser „montes“ haben sich seit der Antike erhalten, manche wurden durch ein aufgesetztes Kreuz christianisiert, manche sind erst in christlicher Zeit neu entstanden. Das gilt wohl besonders für die entlang des Jakobsweges angelegten, die aus ihrer spezifischen Position an der Pilgerstraße zu erklären sind – etwa an jenem Platz unmittelbar vor Santiago, von dem aus erstmals die Kathedrale zu sehen ist. In christlicher Zeit angeleg-

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te „milladoiros“ lassen sich vielfach auch aus Ortsnamen erschließen. Im Verlauf der Christianisierung haben die „montes de Mercurio“ bzw. „milladoiros“ sicher wesentliche Veränderungen in ihrer Bedeutung erfahren. Solche Prozesse vollzogen sich wohl sehr langsam. Auch konnten alte und neue Bedeutungsfelder nebeneinander stehen. Die Entwicklung verlief in unterschiedliche Richtungen. Man konnte sie auch rein säkular als Wegzeichen in unübersichtlichem Gelände oder als Grenzmarken zwischen unterschiedlichen Besitzern deuten. Im Vordergrund standen jedoch weiterhin sakrale Interpretationen. Bei den traditionellen Steinhaufen – mit oder ohne Zeichen des Kreuzes – konnten religiöse Handlungen verrichtet werden. Man dankte für die bewältigte Wegstrecke, bat um Hilfe für den weiteren Weg. Interessant erscheinen vor allem verschiedene Motive für das Hinzufügen neuer Steine. Steine als Opfergaben für göttliche Schutzgeister des Weges kamen in christlichem Verständnis nicht mehr in Frage. Von Pilgern hinzugefügte Steine konnten Symbol für eine bewältigt geglaubte Schuld sein. Wie beim berühmten „Cruz de Ferro“ von Foncebadón am Monte Irago wurden sie von weither mitgenommen, sogar vom jeweiligen Heimatort der Pilger. Sie konnten als Zeichen der Buße gewertet werden – für sich selbst oder für einen Angehörigen, für den man die Bußwallfahrt verrichtete, einen noch lebenden oder einen schon verstorbenen. Die Steine der „milladoiros“ konnten so vor allem auch als eine Leistung für die Armen Seelen im Fegefeuer gedeutet werden. Und man glaubte, dass sie für diese beim Jüngsten Gericht „sprechen“ werden. In einer

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davon abweichenden Vorstellung über das Schicksal nach dem Tod konnten die „milladoiros“ auch als Ruheplatz der Seelen auf dem weiten Weg in die Ewigkeit angesehen werden. Jedenfalls hatten sie für die Lebenden und die Verstorbenen sowie deren Gemeinsamkeit untereinander große Bedeutung. Das gilt auch grundsätzlich für die Kreuzwege, an denen nach der Aussage Martins von Braga schon weit zurück in vorchristlicher Zeit solche ­sakralen Steinhaufen angelegt wurden. Von ihnen hieß es, dass sie bei Tag den Lebenden, bei Nacht aber den Toten gehörten. In besonderer Beziehung zu den Kreuzwegen stand die sogenannte „Santa Compaña“ – eine nächtliche Prozession von Toten, die von einem Lebenden angeführt geglaubt wurde. Solche Vorstellungen finden sich in verschiedenen Regionen der Iberischen Halbinsel, ganz besonders häufig aber in deren Nordwesten. Zu den spezifischen Charakteristika der Sakrallandschaft Galiciens gehören zwei Ausdrucksformen der Volksreligion – die „cruceiros“ und die „petos de ánimas“. Beide stehen – mehr oder minder vermittelt – in der Tradition der „milladoiros“. Beide haben mit der Heiligkeit von Wegen, besonders von Kreuzwegen zu tun. Beide betreffen das Verhältnis von Lebenden und Toten. Die „cruceiros“ sind Kreuze aus Stein, die entlang der Wege errichtet wurden – stets in Verbindung mit heiligen Orten. Man findet sie an Wegkreuzungen, vor Kirchen und Einsiedeleien, am Eingang von Friedhöfen. Sie stehen auf einem Sockel, zumeist auf einer Säule erhöht, und umfassen in der Regel reich ausgestattete Figurengruppen aus biblischen Szenen. Die Zahl solcher Steinkreuze wird für die etwa 4.000 Pfarren der heutigen Regi-

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on Galicien auf über 10.000 geschätzt. In solcher Dichte sind sie nirgendwo sonst anzutreffen – auch nicht in unmittelbar benachbarten Regionen der „Cornisa Cantábrica“ in Nordspanien. Parallelen finden sich in Irland und in der Bretagne, was auf Zusammenhänge mit anderen vom keltischen Christentum geprägten R ­ egionen deuten könnte. Auch dort begegnen sie vielfach an ehemaligen heidnischen Kultplätzen, die durch sie in christliche umgewandelt wurden. In Galicien stammen die ältesten „cruceiros“ erst aus dem 14. Jahrhundert. Sie reichen also nicht bis in die Zeit der Christianisierung zurück. Ihre besonders reiche Ausgestaltung erfolgte oft erst im Barockzeitalter. Als Vorläufer sind wohl einfachere Kreuzformen anzusehen, wie sie auf „milladoiros“ errichtet wurden, ebenso aber auch solche in Anschluss an vorchristliche Menhire. Die kultischen Funktionen der „cruceiros“ konnten sehr unterschiedlich sein. Die Steinkreuze waren Orte des gemeinschaftlichen und des individuellen Gebets genauso wie Ausgangspunkte von Prozessionen und von Begräbniszügen. Von kirchlicher Seite wurde mit ihnen die Gewährung von Ablässen verbunden. Auch Kulthandlungen für die leidenden Seelen im Fegefeuer wurden hier verrichtet. Prinzipiell wird man davon ausgehen dürfen, dass an solchen Plätzen religiöse Aktivitäten erfolgten, die nicht ausdrücklich an die jeweilige Pfarrkirche gebunden ­waren. Mit den „cruceiros“ in der räumlichen Verbreitung, in der örtlichen Lage, in der äußeren Gestaltung und hinsichtlich der religiösen Funktionen in mancher Hinsicht übereinstimmend stellen sich die sogenannten „petos

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de ánimas“ dar – ebenso ein wesentliches Element der galicischen Sakrallandschaft. Auch bei ihnen handelt es sich um steinerne Monumente an Wegen und Wegkreuzungen, in Vorhallen von Kirchen und an ähnlich sakral bedeutsamen Plätzen. Auch sie sind mit einem Kreuz ausgestattet. Auch auf ihnen finden sich elaborierte Skulpturprogramme, allerdings im Flachrelief. Sie beschränken sich zum Unterschied von den „cruceiros“ ausschließlich auf die Darstellung der leidenden Seelen im Fegefeuer. Unterhalb der Reliefplatte ist eine Eintiefung angebracht. Sie dient zur Aufnahme von Opfergaben, die man den „ánimas en pena“ darbringt – und zwar solche materieller Natur wie Brot und andere Nahrungsmittel. Anders als die „cruceiros“ waren die „petos de ánimas“ auf Kulthandlungen zu Gunsten der „Armen Seelen“ beschränkt. Als Kultbauten sind sie deutlich jünger als jene. Sie reichen im Wesentlichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Man bringt ihre Entstehung deshalb mit der Gegenreformation in Zusammenhang, die – anders als die reformatorischen Bekenntnisse – die Existenz des Purgatoriums und das Bedürfnis der dort leidenden Seelen nach Hilfe seitens der Lebenden vertrat. Aber warum sollte sich diese allgemeine Entwicklung in derart auffälligen architektonischen Ausdrucksformen gerade auf Galicien konzentriert haben? Für die im Fegefeuer leidenden Seelen wurden in der Regel Messen gestiftet, Ablässe gewonnen, Gebete verrichtet. Das war in Galicien auch der Fall –und sicher schon seit dem Aufkommen und der Verbreitung des Fegefeuerglaubens im Hoch- und Spätmittelalter. Warum bedurften die im Purgatorium leidenden Seelen darüber hinaus in Galicien auch der

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Hilfe durch Nahrungsmittel? Und warum sind solche Gepflogenheiten erst seit dem 18. Jahrhundert überliefert? Gab es früher andere Orte, um ihnen Nahrung zu geben? An den Gräbern der Toten oder in den Häusern ihrer Herkunftsfamilien? So werfen die Bräuche um die „petos de ánimas“ Fragen auf, die weit zurückreichende Formen des Zusammenwirkens von Lebenden und Toten ins Spiel bringen. Als Charakteristikum des Wallfahrtswesens in Galicien war auf der Basis von Quellenzeugnissen der neueren Zeit die gemeinsame Präsenz von Lebenden und Verstorbenen in den Wallfahrtsorten und auf den Wegen dorthin aufgefallen. Besonderer Ausdruck einer solchen Gemeinsamkeit ist die Vorstellung des Essens zusammen mit den Toten zu bestimmten Festterminen, zu denen ein Überschreiten der Jenseitsgrenzen für möglich gehalten wird, wie das für die Wallfahrt nach San Andrés de Teixido beobachtet werden konnte. Die Speiseopfer der Angehörigen für ihre Toten, die sie bei den „petos de ánimas“ darbringen, sprechen dieses Thema von einer anderen Seite her an. Fragt man nach frühen Zeugnissen für eine zeremonielle Mahlgemeinschaft von Lebenden und Toten, so wird man diesbezüglich wiederum bei Martin von Braga bzw. in seinem Umfeld fündig. Kontinuitätslinien zurück bis in vorchristliche Zeit werden dabei erkennbar. In den „Capitula Martini“ – jenen Auszügen aus den Beschlüssen des zweiten Konzils von Braga von 572, die der präsidierende Bischof angefertigt hat – heißt es im Kanon 69: „Es ist Christen nicht erlaubt, Speisen zu den Gräbern der Toten mitzubringen, auch nicht Gott Opfer zu Ehren der

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Toten darzubringen.“ Die vorchristliche Form des Essens mit den Toten am Grab scheint hier also grundsätzlich untersagt, auch in der anders codierten Form, die die Opfer an die Toten als Opfer an Gott interpretiert. Der vorausgehende Kanon 68 formuliert: „Es ist nicht erlaubt, die Messe über dem Grab des Toten zu feiern. Es ist nicht angebracht, dass unwissende und dreiste Kleriker, die Offizien und die Spendung der Sakramente auf den Platz über den Gräbern übertragen; sie müssen vielmehr die Messen für die Verstorbenen in den Kirchen abhalten oder wo sonst Reliquien von Heiligen aufbewahrt werden.“ In dieser Bestimmung geht es also nicht um das gemeinsame Essen der Angehörigen mit den Verstorbenen am Grab, sondern um die eucharistische Speisegemeinschaft. Auch sie soll nicht an einzelnen Gräbern, sondern grundsätzlich in der Kirche stattfinden – eine Tendenz, die sich im Christentum generell findet. Nur der Grabkult ist in diesem Kanon angesprochen – nicht das gemeinsame Essen mit dem Toten als Hauskult. Zu diesem finden sich in Martins Lehrschreiben „De Correctione Rusticorum“ einige Hinweise. Das Verbot, Brot ins Herdfeuer zu werfen bzw. Wein hineinzugießen, bezieht sich wohl – wie analoge Bestimmungen anderwärts nahelegen – auf verschiedene Formen von Speise- oder Trankopfern für die Ahnen bzw. die Vorbesitzer des Hauses. Auch das Verbot, zur Zeit der Kalenden, also zu Monats- und Jahresbeginn die Tische zu schmücken, gehört in diesen Zusammenhang. Detailreicher, aber stärker verschlüsselt ist Martins Absage an den „dies ­tinearum et murium“ – offenbar einen für das vorchristliche Galicien besonders charakteristischen religiösen Brauch.

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An prominenter Stelle seines Schreibens bedauert der Bischof eine seiner Meinung nach höchst unsinnige Praxis der Galicier, nämlich zu Jahresanfang an den Kalenden des Jänner den im Haus lebenden Mäusen und Motten freien Zugang zu Brot und Tuch zu geben. Er hält das für einen Schadenszauber – allerdings einen völlig unwirksamen. Die Tiere sollten durch das einmalige Gewährenlassen von weiteren Schädigungen das Jahr über abgehalten werden. Solches Denken erscheint ihm un­ realistisch. Darüber hinaus erklärt er es als Unrecht, wenn Christen am „dies tinearum et murium“ Mäuse und Motten anstelle von Gott verehren. Über die Formen der religiösen Verehrung solcher Tiere im Haus äußert er sich nicht näher. In der Literatur über eine mögliche Deutung des von Martin referierten Brauchtums wird gelegentlich die Vermutung geäußert, er habe als ein Außenstehender die innere Logik autochthoner Bräuche der Galicier nicht richtig nachvollziehen können. Vielleicht gilt dies auch für seine Ausführungen über den „dies tinearum et murium“. Mäuse und Schmetterlinge – insbesondere Nachtfalter – galten seit der Antike in vielen Kulturen als „Seelentiere“, in deren Gestalt man Verstorbene zu ihren früheren Wohnstätten zurückgekehrt glaubte. Auch für den nordspanischen Raum sind solche Vorstellungen aus späterer Zeit überliefert. So handelt es sich bei dem von Martin von Braga berichteten Brauch wohl schlicht um eine Form des Ahnenkults in animistischer Einkleidung. Auch die Speiseopfer im Haus deuten in diese Richtung. Ohne die spezifische Bezeichnung des Festtags findet sich eine Parallelstelle bei Cäsarius von Arles (470 – 542), mit dem Martin von Braga hinsichtlich der aus kirchli-

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cher Sicht zu bekämpfenden heidnischen Bräuche viele Übereinstimmungen aufweist. Cäsarius berichtet darüber, dass Bauern in der Nacht zu den Kalenden des Jänner für die Verstorbenen Essen auf den häuslichen Tisch stellen, um das „convivium“, also das gute Zusammenleben von Lebenden und Toten, für das ganze Jahr zu erhalten. Elaboriertes Brauchtum mit dem Ziel, ein gutes Zusammenleben von Lebenden und Toten im Haus zu gewährleisten, findet sich in Nordspanien auch bei den Basken. Hier ist Ahnenkult eindeutig belegt. Er war ursprünglich mit dem Begräbnis der Familienangehörigen im bzw. beim Haus verbunden. Die Kirche bekämpfte solche archaisch-pagane Traditionen heftig. Sie setzte schließlich die Bestattung im Kirchenraum durch, aller­ dings in der spezifischen Kompromissform des sogenannten „jarleku“ – eines jeweils den einzelnen Häusern vorbehaltenen Kirchengrabs. Hier wurden nun auch Ahnenopfer dargebracht. Mit dem Stammhaus war das „jarleku“ durch besonders geheiligte und magisch bedeutsame Wege verbunden, auf denen die Toten dorthin gebracht wurden. Diese dachte man aber auch im Haus selbst mitlebend. In den Neumondnächten, in denen man sie besonders des Lichts bedürftig glaubte, stellte man ihnen sogenannte „argizaiolas“ auf – zumeist sehr kunstvoll gestaltete Leuchter, die ihnen Helligkeit und Wärme des Haushalts vermitteln sollten. Auch Speise­ opfer sind belegt. Die Ausführung der Riten des Ahnenkults war sowohl im Haus als auch beim „jarleku“ eine besondere religiöse Aufgabe, die der jeweiligen Hausfrau, der „etxekoandre“, oblag. Ob man bei Analogien im Totenbrauchtum zwischen Basken und Galiciern einen

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unmittelbaren Einfluss der ersteren annehmen darf oder ein Nachwirken gemeinsamer Vorgängerkulturen bei beiden, sei dahingestellt. Zu Recht formuliert jedenfalls der spanische Sozialanthropologe Carmelo Lisón Tolosana über die Vorstellungswelt der Völker in der „Cordillera Cantábrica“: „Im Norden leben die Toten“. Ahnenkult bedingt besondere Beziehungsformen im Verhältnis von Lebenden und Toten. Er privilegiert die verstorbenen Vorfahren bzw. Familienangehörigen. Gegenüber nicht verwandten Toten bestehen nur geminderte oder überhaupt keine Verpflichtungen. Jedenfalls werden Angehörige der gleichen Abstammungsgruppe – lebend oder tot – als besonders verbunden gedacht. Man kann ihre Zusammengehörigkeit im Gegensatz zu individualistischen Konzepten von Familienbewusstsein mit dem Begriff des „Gruppen-Ego“ charakterisieren. Dementsprechend eng und verbindlich sind auch die Beziehungen zu den verstorbenen Familienmitgliedern. Die Verpflichtungen innerhalb der Abstammungsverbände gelten als wechselseitig. Die Lebenden haben sich darum zu kümmern, dass ihre Toten ausreichend versorgt sind – ihren Bedürfnissen in der Welt der Seelen entsprechend mit Essen, Getränken und Licht. Umgekehrt wird von den Toten erwartet, dass sie sich um das Wohlergehen ihrer Nachkommen kümmern. Das betrifft vor allem den Erntesegen. Vielleicht haben sich die galicischen Bauern von der Feier des „dies tinearum et murium“ solche Gegenleistungen erwartet. Für Martin von Braga aber war es gänzlich unverständlich, dass verstorbene Familienangehörige in einem solchen Verständnis zu bestimmten Zeiten in der Gestalt von „Seelentieren“ verehrt wurden.

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Nur Gott konnte seiner Meinung nach eine gute Ernte gewähren bzw. zur Strafe für sündige Menschen Ernteschäden zulassen. Im Kontext von archaischen Formen des galicischen Wallfahrtswesens sind solche „Seelentiere“ schon verschiedentlich begegnet – Insekten und Reptilien auf dem Weg nach San Andrés de Teixido, Bienen als Seelen von Verstorbenen, die auf dem Jakobsweg pilgern. In der galicischen Provinz Ourense findet sich noch im 20. Jahrhundert der Glaube, dass Bienen die Seelen verstorbener Vorfahren sind, die vom Mond her kommen. In solchen Vorstellungen verbinden sich Elemente von Animismus, Ahnenkult und Astralreligion. Im Zuge von Christianisierungsprozessen ist es vielfach zu scharfen Auseinandersetzungen mit vorchristlichen Formen des Ahnenkults gekommen. Martins Polemik gegen die Verehrung von „Seelentieren“ am „dies tinearum et murium“ gehört wohl in diesen Zusammenhang. Trotz der entschiedenen Gegnerschaft der christlichen Kirchen gegen solche Vorstellungen haben sich diese – vor allem in schwer zugänglichen Rückzugsgebieten wie den nordspanischen Gebirgsregionen – noch durch lange Zeit erhalten. Spuren eines vorchristlichen Ahnenkults könnten in Galicien sowie in benachbarten Regionen in der Feier des so genannten „Magosto“-Festes nachgewirkt haben. Heute wird dieses Fest in vielfältigen Formen begangen – sowohl in der Öffentlichkeit wie auch zu Hause. Die häuslichen Rituale dürften die älteren sein. Sie haben wohl ihre Wurzel in der Vorstellung einer Mahlgemeinschaft der Familie mit ihren verstorbenen Angehörigen. Die Toten werden zu „Magosto“ eingeladen. Die cha-

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rakteristischen Speisen zu diesem Fest sind Gerichte aus Kastanien, was auch in regionalen Bezeichnungen wie „Castanyada“ oder „Gaztainerre“ zum Ausdruck kommt. Die Kastanie erscheint in vieler Hinsicht symbolisch mit dem Totenkult verbunden. Materielle Grundlage dafür ist wohl ihre existenzielle Bedeutung als Nahrungsmittel. In ihrem besonderen Verbreitungsgebiet im Norden der Iberischen Halbinsel, lässt sich eine solche Bedeutung bis ins Paläolithikum zurück nachweisen. Bis ins 18. Jahrhundert war hier die Kastanie als Nahrungsbasis wichtiger als Getreide. In Hungersnöten sicherte sie vielfach das Überleben. In solchen Zusammenhängen ist es wohl zu verstehen, dass sie sich auch als traditionelle Speise der Toten ihre Bedeutung erhalten hat. Das „Magosto“-Fest ist nach seiner Genese einerseits ein typisch agrarisches Fest, andererseits ein charakteristisches Totenfest. Es wird in der Regel Anfang November gefeiert und zwar über mehrere Tage hin. Die Ernte ist da schon eingebracht, auch die der Kastanien. Die Weinlese ist bereits vorbei. So ist die materielle Grundlage zum Feiern gegeben. Der Dank für ein fruchtbares Jahr verbindet sich mit der Bitte um Fruchtbarkeit weiterhin. Der November-Termin rückt aber das „Magosto“-Fest auch in zeitliche Nähe zum Allerseelenfest, an dem der Verstorbenen besonders gedacht wird, ebenso zu dessen Vorgänger aus keltischer Zeit, dem Samhain-Fest. Das war ein Termin, an dem man die Übergänge zur Welt der Toten geöffnet dachte. Die Toten konnten da zu den Lebenden kommen und zusammen mit ihnen feiern. Das Verbreitungsgebiet des „Magosto“-Fests reicht über die heutige Provinz Galicien hinaus. Unter der Be-

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zeichnung „Magusto“ wird es im nördlichen Portugal gefeiert, als „Amaguesta“ in Asturien, als „Magosta“ in Kantabrien, als „Gaztainerre“ im Baskenland, als „ Castanyada“ in Aragonien und Katalonien. Es sind die Gebirgsregionen im Norden der Iberischen Halbinsel, in denen die Kastanie von den ökologischen und klimatischen Voraussetzungen her zu einem existenzerhaltenden Grundnahrungsmittel wurde. Es sind aber auch die Gebiete, in denen sich die ländliche Hausgemeinschaft – zum Teil aus Wurzeln des Ahnenkults erklärbar – in Sprache, Recht und Volksreligion eine spezifische Sonderstellung bewahrt hat. Die enge Verbundenheit zu den Toten des Hauses ist in solchen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu sehen. Die für das Verständnis des Jakobswegs als „via lactea“ bzw. als „caminus stellarum“ so wesentlichen Elemente des Sternenglaubens sind für die Zeit vor der Auffindung des vermeintlichen Jakobsgrabs im 9. Jahrhundert in mehrfacher Hinsicht gesichert. In seinem Lehrschreiben über den heidnischen Aberglauben der galicischen Bauern verurteilt Martin von Braga einleitend ganz allgemein die religiöse Verehrung der Sonne, des Mondes und der Sterne – also prinzipiell alle Formen von Astralreligionen. Konkreter wird diesbezüglich der Kanon 72 des von ihm geleiteten zweiten Konzils von Braga: „Es sei den Christen nicht erlaubt, die heidnischen Traditionen zu beobachten, sich vom Lauf des Mondes oder der Sterne führen zu lassen. Nicht erlaubt ist es den Christen, solche heidnische Traditionen zu feiern oder auch nur zu berücksichtigen, seien es die Elemente, sei es der Lauf des Mondes oder der der Sterne, oder der hohle Betrug

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der Sterne bezüglich des Baus des Hauses oder bei der Aussaat oder beim Pflanzen der Bäume oder bei der Feier der Hochzeit, denn es steht geschrieben: Alles was du tust – in Worten oder in Werken –, tu es Gott dankend im Namen unseres Herrn Jesus Christus.“ Wenige Jahre zuvor hatte sich beim ersten Konzil von Braga die Absage der Konzilsväter an astralreligiöse Vorstellungen noch gegen zwei Gruppen gerichtet – einerseits gegen die Heiden, andererseits gegen die priscillianistischen Christen. Bei der Folgesynode erscheint sie nur mehr gegen heidnischen Aberglauben gewandt – nun aber auf sehr unterschiedliche und sehr grundsätzliche Bereiche des Aberglaubens bezogen. Sternenglaube war in der Spät­ antike und im Frühmittelalter in vielen Gebieten des Imperium Romanum und seiner Nachfolgereiche verbreitet. Das zeigen etwa die einschlägigen Beschlüsse des ersten Konzils von Toledo aus dem Jahr 400. Das zweite Konzil von Braga – für das Suebenreich im Nordwesten der Iberischen Halbinsel einberufen – markiert diesbezüglich einen besonderen Höhepunkt der Auseinandersetzung. Sein Kanon 72 lässt erkennen, dass hier damals der Glaube an den Einfluss der Gestirne alle Lebensbereiche durchdrang. Die überragende Bedeutung von Elementen der Astral­religion lässt sich schon lange vor diesen schriftlichen Zeugnissen belegen – sowohl für Galicien als auch für benachbarte Regionen im Norden der Iberischen Halbinsel – vor allem für das Siedlungsgebiet der Basken. Kreisförmige Stelen mit Sonne, Mond und Sternen als symbolischen Zeichen sind hier weit verbreitet. Sie dokumentieren den Zusammenhang zwischen Astral­religion

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und Totenkult. Die Basken folgten einem Mondkalender. Die Bezeichnung für den Mond ist in ihrer Sprache „hil-argis“, das heißt „Licht der Toten“. Bei Vollmond dachte man die Toten ausreichend mit Licht versorgt. Bei Neumond mussten ihnen die Lebenden helfen. Dazu dienten die sogenannten „argizaiolas“ – spezielle Leuchten, die für sie in den Neumondnächten aufgestellt wurden. Von deren Zusammenhang mit dem Ahnenkult war bereits die Rede. In anderen Regionen des Nordens sind solche Bezüge nicht so deutlich zu fassen, aber auch hier waren Grabstelen mit symbolischen Darstellungen der Gestirne weit verbreitet. Mit der Christianisierung dieser Gebiete verschwinden sie keineswegs. Erst langsam kommen christliche Motive hinzu und ersetzen sie schließlich. Für Galicien ist eine besonders schöne vorchristliche Grabstele aus Iria Flavia, dem späteren Padrón, überliefert. Sie zeigt den zunehmenden Mond über drei Arkaden, die als Repräsentation der Pforten zum Sternenparadies gedeutet werden. Im nahen Santiago wurde der Legende nach durch eine Lichterscheinung am Himmel der Platz des Apostelgrabes gefunden, das dann zum Ziel der christlichen Pilgerschaft wurde. Sternensymbole begleiten bis heute den Jakobsweg. Das vorchristliche Substrat der frühmittelalterlichen Volksreligiosität, wie es im Umfeld Martins von Braga fassbar wird, lässt sich nicht eindeutig bestimmten kulturellen Wurzeln zuordnen. Vielfach wird das „keltische Erbe“ Galiciens besonders betont. Solche Akzentsetzungen stehen häufig in Zusammenhang mit pankeltistischen Strömungen oder mit Ausdrucksformen galicischen Sonderbewusstseins in der Gegenwart. Zweifellos

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haben Einflüsse der keltischsprachigen Kulturen Nordwesteuropas in der Geschichte Galiciens eine große Rolle gespielt – aber sicher nach Epochen in sehr unterschiedlicher Weise. In der Kulturentwicklung Galiciens waren Verbindungen durch die Schifffahrt am Atlantik immer wieder von sehr großer Bedeutung – unter ihnen verdienen jedoch auch solche Beachtung, die sich nicht als „keltisch“ qualifizieren lassen. Und neben den Beziehungen, die über das Meer vermittelt wurden, stehen starke Traditionen autochthoner Kulturen der nordiberischen Gebirgsregionen. Romanisierung und Urbanisierung haben in vielfacher Hinsicht zu Prozessen der Überschichtung geführt. Die hier besprochenen Beispiele der vorchristlichen Volksreligion in Galicien weisen ihrer Genese nach jedenfalls in sehr unterschiedliche Richtungen. Die für die Entstehung des Jakobswegs wesentliche Frage der besonderen Wegeheiligkeit etwa lässt sich keineswegs primär aus „keltischen“ Wurzeln erklären. Sternenreligionen, die das Bild des Jakobswegs als „Sternenweg“ beeinflusst haben dürften, erscheinen seit alters im nordiberischen Raum stark verankert. Zu Jenseitsvorstellungen, die Galicien zum „Land der Toten“ machen, gibt es sicher Entsprechungen im keltisch geprägten Kultur­bereich. Die spezifische enge Verbundenheit der Lebenden und der Toten einer Hausgemeinschaft in der Imagination eines gemeinsamen Mahls verweisen eher auf bodenständige Wurzeln des Ahnenkults. Wenn die Anfänge der Wallfahrt zum heiligen Jakob in Galicien mit spezifischen Formen des aus vorchristlicher Zeit nachwirkenden Totenkults zu tun haben, dann kommt dieser Traditionslinie besondere Bedeutung zu.

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Im Schrifttum Martins von Braga stehen heidnische Bräuche der galicischen Landbevölkerung und sein eigenes christliches Weltbild einander in scharfem Kon­ trast gegenüber. Wenn man die Frage stellt, wie sich die Jakobsverehrung in Galicien seit dem 9. Jahrhundert in ältere Formen der galicischen Volksreligion eingefügt hat, dann sind nicht die dichotomischen Gegensätze, sondern die fließenden Übergänge interessant. Vorchristliches Wallfahrtswesen bzw. dessen umfassender religiöser Kontext hat sich ja, wie deutlich wurde, viele Jahrhunderte hindurch und zum Teil bis in die Gegenwart hin erhalten. Wie war es möglich, dass gerade in Galicien solche Bräuche bzw. ihnen zugrundeliegende Vorstellungswelten so lange nachwirkten? Welche Strukturen des Christentums in dieser Region ließen einen derartig nachhaltigen Einfluss zu? Wie konnten sie in christlicher Einkleidung in so hohem Maß die Besonderheit des Jakobswegs bestimmen? Als maßgeblicher Faktor für die Sonderentwicklung des Pilgerwesens auf dem Jakobsweg wird immer wieder auf den Einfluss der cluniazensischen Klosterreform verwiesen. Für das Zeitalter eines Diego Gelmírez mag das zutreffen. Für die Entstehung und die frühe Entwicklung der Santiago-Wallfahrt kann aber ein solcher Zusammenhang keine Geltung beanspruchen. Nicht die internationalen Netzwerke zönobitischer Klosterverbände kennzeichnen diese Frühphase, sondern deren Gegenpol in der Geschichte des abendländischen Mönchtums, nämlich das Eremitentum. Bis ins 12. Jahrhundert hinein wurden – wie schon besprochen – wichtige Etappen des Pilgerwegs von Eremiten gestaltet. Dass es ein Eremit in

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Galicien war, dem der lange gesuchte Begräbnisplatz des Apostels geoffenbart wurde, ist fromme Legende. Dass Eremiten nicht nur am konkreten Wegebau, sondern auch an dessen religiösem Kontext in der Frühphase der Wallfahrtsentwicklung beteiligt waren, hat hingegen hohe Wahrscheinlichkeit. Das Christentum in Galicien war viele Jahrhunderte hindurch in besonderer Weise vom Eremitentum geprägt – mehr als in anderen Regionen der Iberischen Halbinsel. Seit dem 4. Jahrhundert lassen sich hier anachoretisch lebende Mönche bzw. Gruppen von Einsiedlern nachweisen. Die wenig urbanisierten und damit auch wenig romanisierten Regionen im Norden der Iberischen Halbinsel zogen sie besonders an. Die landschaftlichen und klimatischen Bedingungen kamen ihnen entgegen: abgeschlossene Bergregionen, die aber aufgrund des milden Klimas Überleben in Isolation möglich machten. Frühe Bemühungen um Zusammenschlüsse von eremitisch lebenden Mönchen gingen nach dem Vorbild der ägyptischen Wüstenväter von Martin von Braga und in seiner Nachfolge von Fructuosus von Braga aus, dessen Reliquien schließlich Jahrhunderte später als Identifikationssymbol des galicischen Christentums in die Kathedrale von Santiago gebracht wurden. Seit dem 6. Jahrhundert kam es zu Einflüssen des irischen Eremitentums. Formen des Zusammenlebens von Eremiten und des individuellen Asketentums wurden nebeneinander praktiziert – oft im Lebenslauf eines Mönchs einander ablösend. Das Anachoretentum blieb dabei stets besonders hoch bewertet. Wie stark das Eremitentum das frühmittelalterliche Christentum in Galicien bestimmte, wird besonders an

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der Entwicklung der spezifisch galicischen Sakralarchitektur erkennbar. Im Vergleich zu zönobitischen Formen des Kloster­ wesens erscheint das Eremitentum durch Charakteristika geprägt, die auch ganz allgemein im galicischen Christentum zum Ausdruck kommen. Eremiten sind nicht der Autorität einer Ordensregel und damit eines Kloster­ vorstehers unterworfen, ebenso wenig der der kirchlichen Amtsträger. Dadurch sind sie schwer zu disziplinieren. So ergibt sich bei ihnen eine Tendenz zur Vielfalt in religiöser Praxis und im Glaubensleben – bis hin zur Heterodoxie. Für die Aufnahme und Weiterführung vorchristlicher Elemente erscheint dadurch das eremitisch geprägte Christentum relativ offen. Eremiten sind in ihrem religiösen Leben nicht wie zönobitisch lebende Mönche ortsgebunden. Die Wanderaskese gehört vielfach sogar zu ihren spezifischen Askeseformen. So ergibt sich bei ihnen ein besonderes Naheverhältnis zum Pilgern – auch in der Form der Fernpilgerschaft. Von galicischen Eremiten ist mehrfach überliefert, dass sie ins Heilige Land pilgerten. Rückwirkungen solcher Praxis auf die Wallfahrt in ihrer Heimatregion sind wahrscheinlich. Durch ihre siedlungsferne Lebensform waren Eremiten in besonderer Weise naturverbunden. Die Beziehung zu heiligen Steinen, heiligen Quellen, heiligen Bäumen entsprach ihrer Lebenswelt. Sie konnten so vorchristliche Praktiken der Naturverehrung aufnehmen und weiterführen. Eremiten hielten vor allem zu städtischen Siedlungen Distanz. Dadurch ergaben sich Verbindungen zur ländlichen Bevölkerung. Formen der Naturbewältigung durch religiöse Riten, wie sie für agrarische Lebensweisen charakteris-

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tisch sind, waren ihnen vertraut – und damit wohl auch magische Praktiken, die der Amtskirche eine „correctio rusticorum“ notwendig erscheinen ließ. Der „eremus“ der galicischen Einsiedler, in den sie sich zurückzogen, war nicht – wie bei ihren Vorbildern, den ägyptischen „Wüstenvätern“ – die Wüste im engeren Wortverständnis, sondern die Abgeschiedenheit in den Wäldern ihrer nur schwach besiedelten Bergwelt. Die Tendenz zur Isolation mag hier wie dort in ähnlicher Weise eine Tendenz zu Visionen und Traumbildern begünstigt haben, die sich in den Phantasmata christlicher Legenden widerspiegeln. Isolation korrespondiert aber auch mit Introspektion. Das Christentum der Eremiten tendiert zur Mystik. Wenn den Galiciern bis heute ein Hang zur Mystik nachgesagt wird, so hat diese Einschätzung ihrer Entstehung nach wohl mit den eremitischen Wurzeln ihrer christ­ lichen Kultur zu tun. Religiöse Glaubensvorstellungen und Praktiken aus vorchristlicher Zeit hatten sich in Galicien schon Jahrhunderte hindurch mit dem Christentum synkretistisch verbunden. Sie entstammten sehr unterschiedlichen autochthonen, aber auch von außerhalb beeinflussten Traditionen. Den Eremiten kam in diesem Prozess eine wichtige Vermittlerfunktion zu. Sie wirkte sich einerseits als ein Faktor der Beharrung paganer Elemente aus, trug aber andererseits auch zu einer Überformung durch die Besonderheiten ihrer monastischen Lebensformen bei. Dieses spezifisch galicische Christentum des Frühmittelalters stellt den religiösen Kontext dar, in dem es mit der Auffindung des vermeintlichen Apostelgrabs im 9.  Jahrhundert zu einem Neuansatz kam – einem An-

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satz, der allerdings gerade durch seine Kontinuität zu weit zurückreichenden Traditionslinien eine eigenartige Dynamik entwickeln konnte. In den mit der Jakobsverehrung verbundenen Jenseitsvorstellungen werden solche Zusammenhänge erkennbar.

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Eine prägnante Formulierung, welche Rolle man dem heiligen Jakob im Spanien der frühen Neuzeit in den Jenseitsvorstellungen des Volksglaubens zuschrieb, findet sich im Erfolgsbuch „Galateo Español“ des Lucas Gracián Dantisco von 1582. Der Autor erzählt von einem Wirtshausgespräch. Es geht um die Frage, was mit der Seele geschieht, wenn sie sich im Tod vom Körper trennt. Der Wortführer der Gruppe meint zunächst, dass sie gemäß den Werken des Verstorbenen in den Himmel, in die Hölle oder ins Purgatorium komme. Das entspricht der offiziellen Lehre der Amtskirche. Seit 1274 war das Fegefeuer als dritter Jenseitsort neben Himmel und Hölle als verbindliches Dogma definiert. Nicht durch die Glaubenslehre der römischen Kirche abgedeckt war hingegen, was der Sprecher hinzufügte: „Havéis de saber que el alma en saliendo de las carnes va a Santiago de Galicia derecha“ – „Ihr müsst wissen, dass die Seele, wenn sie den Körper verlässt, direkt zum heiligen Jakob von Galicien geht“. Kernpunkt seiner Aussage ist die obligatorische Seelenreise nach dem Tod auf dem Jakobsweg. Dieser Volksglaube hat sich auf der Iberischen Halbinsel und weit darüber hinaus in verschiedenen Regionen Europas erhalten. Für die Besonderheit des Jakobswegs unter den europäischen Pilgerstraßen ist er sicher von großer Bedeutung. Wenige Jahrzehnte nach dem „Galateo Español“ entstand eine ähnlich aussagekräftige Quelle. Zum Jahr-

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hundertjubiläum des Jesuitenordens erschien 1640 in Coimbra die große epische Dichtung „Paciecidos“ des Padre Bartolomeu Pereira. In zwölf Büchern behandelt sie die Lebensgeschichte des aus Ponte di Lima bei Braga gebürtigen Japan-Missionars P. Francisco Pacheco, der 1628 mit acht seiner Jesuitengefährten in Nagasaki den Märtyrertod erlitten hatte. P. Pacheco war vor seiner Missionstätigkeit zum Grab des heiligen Jakobus in Galicien gepilgert. P. Pereira nimmt diese Episode zum Anlass, um über den Wallfahrtsort zu schreiben. Er zählt die vielfältigen Herkunftsländer der Pilger auf und fährt dann fort: „Namque ferunt vivi qui non haec templa petentes Invisunt, post fata illuc et funeris umbras Venturos, munusque illud praestare beatis Lacte viam stellisque albam quae nocte serena Fulgurat, et longo tramite designat caelum“ (Lib. VII, p. 117) “Denn es heisst, dass diejenigen, die sich nicht zu Lebzeiten bemühen, diese Heiligtümer zu besuchen, nach ihrem irdischen Geschick und ihrem Begräbnis dorthin kommen werden und dass die von Milch und Sternen weiße Straße, die in klarer Nacht am Himmel leuchtet, den Seligen jene Gnade erweist und mit ihrem langen Pfad den Himmel vorausbestimmt.”

P. Pereira spricht von einer Überlieferung: Wer das Heiligtum zu Lebzeiten nicht besucht hat, müsste nach dem Tod dorthin kommen. Den Weg zum Himmel setzt er mit der „via lactea“, also der Milchstraße, gleich. Die obligatorische Pilgerschaft zum heiligen Jakobus wird

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hier mit dem alten Bild der „Sternenstraße“ verbunden. Schon ein Jahrhundert zuvor hatte es in der Sprichwörtersammlung des Fray Luis de Escobar, die 1545 in Saragossa gedruckt wurde, geheißen: „el camino a la muerte es como el de Santiago“ – „der Weg beim Tod ist wie der nach Santiago“. Für das Galicien unmittelbar benachbarte Nord­ portugal berichtet Fernando Alonso Romero auf der Basis von ethnographischen Studien aus der Mitte des 20. Jahrhunderts über ähnliche Vorstellungen. Man glaubte dort, dass sich die Seelen der Toten der Milchstraße entlang leiten ließen, um in den Himmel zu kommen. Zuvor aber müssten sie nach Santiago de Compostela gehen. Dort sei eine enge Öffnung, die sie passieren müssten. Ohne Behinderung schaffen das nur die guten Seelen. Einige meinen, dass sich diese sehr enge Pforte in Santiago dauernd öffnet und wieder schließt, weil so viele Seelen hindurch wollen, die ohne Sünde sind. Verbunden mit diesem Glauben ist die Vorstellung, dass man schon zu Lebzeiten eine Wallfahrt nach Santiago gemacht haben muss, wenn man nicht riskieren will, dass die Seele verloren geht und ewig auf der Erde herumirren muss, ohne ins Paradies zu gelangen. Seelen von Personen, die gut gelebt haben, dürften allerdings auch dann noch mit der Hilfe der Jungfrau Maria rechnen. Aus der Möglichkeit der Antizipation der Jenseitsreise im Diesseits ergibt sich gleichsam eine Zusicherung seitens der Kirche, dass den Pilgern, die zumindest einmal in ihrem Leben das Grab des Apostels Jakobus besucht haben, der Himmel garantiert sei – für den außerordentlichen Erfolg des Wallfahrtsorts sicher ein Schlüsselfaktor.

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Im Begräbnisbrauchtum Nordportugals hielt sich lange die Sitte, dem Toten eine Münze in den Sarg mitzugeben. Sie war für jenen Teufel bestimmt, der eine sehr enge Brücke mit schlüpfrigem Boden auf dem Weg ins Jenseits bewacht. Diese Jenseitsbrücke wurde „Brücke des heiligen Jakobus“ genannt. Ohne Schwierigkeiten konnten sie nur die guten Seelen passieren und dann den Weg zum Himmel fortsetzen. Die Seelen der Sünder hingegen stürzten von der Brücke und wurden zu „almas errantes“, zu herumirrenden Seelen, die endgültig verloren gingen. Das Motiv der Jenseitsbrücke, über die nur die Gerechten ins Paradies eingehen können, ist religionsgeschichtlich weit verbreitet und geht sicherlich in vorchristliche Zeit zurück. Es findet sich in der Form der „as-Sirat-Brücke“ als Prüfungsweg zwischen den Reinen und den Unreinen im Islam – und zwar konkret in Jerusalem zwischen Tempelberg und Ölberg angesiedelt - sowie als „Cinvat-Brücke“, an der das Gericht über die Guten und die Bösen abgehalten wird, im Zoroastrismus. Die christliche Tradition auf der Iberischen Halbinsel versteht diesen Ort der Prüfung als „Brücke des heiligen Jakob“. Für Sizilien und Süditalien haben Luigi M. Lombardi-Satriani und Mariano Meligrana eine Fülle von Belegen für die in der Volksreligion weit verbreitete Vorstellung der Seelenreise nach Santiago sowie die Hilfe des Apostels auf dem Weg ins Jenseits gesammelt. Gemeinsam ist den vielfältigen Zeugnissen der Glaube, dass der heilige Jakob die Seelen der Toten mit sich nimmt und zuerst nach Galicien bringt, dann aber über die Milchstraße weiterführt. Die Milchstraße wird dabei als „Pfad von San Giacomo“ oder als „Treppe von San Giacomo“

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bezeichnet. Wenn man dem Verstorbenen die Füße oder die Knie zusammenbindet, kann die Seele nicht auf die Reise gehen und irrt auf immer und ewig in den Lüften herum. Insgesamt spielen die Vorbereitungen für die Seelenreise durch die Verwandten eine wichtige Rolle. Es gibt sehr konkrete Vorschriften, wie man schon beim Herannahen des Todes zu handeln hat. Eine Tür oder ein Fenster des Sterbehauses muss angelehnt sein, damit die Seele es verlassen kann. Man glaubt, dass sie sich vor dem Antritt der Reise waschen müsse und bereitet aus diesem Grund eine Schüssel mit Wasser vor. Man nimmt an, die Reise beginnt mit dem Läuten der Glocken, denn diese unterrichten erst die Hinterbliebenen vom eingetretenen Tod und geben damit das Zeichen für den Beginn der Jenseitsreise. Wenn das Läuten der Glocken fehlt, könne die Seele die Reise in die ewige Wohnstätte gar nicht antreten. Auch das Ankleiden des Leichnams ist strengen Regeln unterworfen, damit der Abschied vom Haus und vom diesseitigen Leben vollzogen werden kann. Der Tote soll mindestens eine Nacht im Haus bleiben, bevor seine Seele die schwierige Reise entlang des „Pfads des heiligen Jakob“ bzw. über die „Treppe des heiligen Jakob“ antritt. Der Weg entlang der Milchstraße ist mit vielen Schwertern versehen. Auf der Schneide dieser Schwerter muss die Seele – nackt und barfuß – ihre letzte Reise antreten. Der heilige Jakob steht den Sterbenden schon im Todeskampf sowie dann auf dem Weg ins Jenseits bei. Höhepunkt der Jenseitsreise ist die „Brücke des heiligen Jakob“. Die Seele muss diese Brücke überqueren. Sie muss dabei auf einer Schnur so dünn wie ein einzelnes Haar balancieren, die über einen Abgrund gespannt

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ist – gelegentlich „Abgrund des heiligen Jakob“ genannt. Ist sie von den begangenen Sünden schwer, so stürzt sie in diesen Abgrund. Sonst aber gelangt sie in das Reich der ewigen Seligkeit. Den noch Lebenden ist es unmöglich, diese entscheidende Brücke zu passieren. Aber es gibt Mittel, um die Schrecken dieser Reise nach dem Tod schon zu Lebzeiten zu verhindern. Die Reise des Sterbenden bzw. Verstorbenen nach Galicien kann bereits vor dem Tod vorweggenommen werden. Ursprünglich bezog sich diese Möglichkeit wohl unmittelbar auf die Pilgerschaft nach Santiago. Sekundär konnte sie dann aber auch durch eine Wallfahrt zu einer Jakobskirche der eigenen Region ersetzt werden. Die „in vita“ vollzogene Reise zum heiligen Jakob musste in der Nacht vor dem Fest des Apostels am 25. Juli angetreten werden. Für die mittelitalienischen Regionen Molise und Abruzzen liegen aus neuerer Zeit zahlreiche Zeugnisse für den Glauben einer obligatorischen Jenseitsreise über Santiago de Compostela vor – von Annalisa Di Nola gesammelt und in größere Kontinuitätszusammenhänge eingeordnet. „Tutti i morti devono andare da S. Giacomo di Galizia“ heißt es dort – „Alle Toten müssen zum heiligen Jakob von Galizien gehen“. Und weiter: „A san Giacume de Halizie, chi n´n ge va vive ce va morte“ – „Zum heiligen Jakob nach Galicien, wer dorthin nicht als Lebender geht, geht als Toter“. San Giacomo kränkte sich, dass niemand zu seinem Feiertag zu ihm komme. „Aber es ist so weit nach Galicien.“ Um ihn zu trösten, sagte Jesus Christus zu ihm: „Sta buono Giacomo. Chi no visitera vivo, ti visitera morto“ – also wiederum die stereotype Formel von der Santiago-Wallfahrt, die – zu Lebzeiten

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nicht absolviert – nach dem Tod nachzu­holen ist. In eine ähnliche Legende gekleidet sind wir ihr – vielleicht vom Jakobsweg abgeleitet – mit Bezug auf den heiligen Andreas in San Andrés de Teixido begegnet. Und wie in Nordportugal heißt es in Mittelitalien, dass es in Santiago eine kleine Tür gebe, die immer wieder anschlägt, ohne dass sie jemand berührt hat: „Sono i morti che continuamente entrono ed escono“ – „Es sind die Toten, die hier ständig ein- und ausgehen“. Die Jenseitsreise der Seele, die auch für die mittel­ italienischen Bauern zum heiligen Jakob von Galicien und dann von ihm aus weiter führt, gilt hier ebenso als äußerst gefahrvoll. Dem Toten wird Geld mitgegeben, um den „Fluss Jordan“ mit Hilfe eines Fährmanns überwinden zu können, weiters Brot, um den Hund zu besänftigen, der den „ponte di San Giacomo“ bewacht. Bei beiden Bräuchen spielen offenbar auch vorchrist­ liche Motive herein – der Fährmann Charon, der bezahlt werden muss, und der Höllenhund Cerberus, den es zu beruhigen gilt. Der „passo di San Giacomo“ ist wohl in dieser Region ein sehr alter mythischer Komplex mit unterschiedlichen Wurzeln, die zum Teil bis in die Antike zurückreichen. Die Verbindung der Jenseitsreise mit dem Pilgerweg nach Santiago erscheint aber auch hier als der entscheidende Schlüssel zum Verständnis der Zusammenhänge: Zu Lebzeiten absolviert, erspart die Wallfahrt leidvolle Erfahrungen nach dem Tod. Auch in Norditalien leben Traditionen der Volksreligion über die Wallfahrt zum heiligen Jakob weiter, die keine Entsprechung in den Lehren der Amtskirche haben. Zentren sind hier einerseits Piemont, andererseits

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Venetien. Über Venedig vermittelt sind vielleicht Zusammenhänge mit Vorstellungen des Volkglaubens zu erklären, die sich in Kroatien finden. Auch hier wird bis in die jüngste Vergangenheit angenommen, dass die Seele nach dem Tod ihren Aufenthaltsort zunächst beim heiligen Jakob habe. Erst nach dem Begräbnis müsse sie vor das Gericht Gottes. Das „Haus des heiligen Jakob“ begegnet hier ebenfalls als ein zusätzlicher Jenseitsort. Auffallend erscheint, dass die Zeugnisse der Volks­ religion über die Bedeutung des heiligen Jakob für die Jenseitsreise aus ländlichen Gebieten Italiens kaum Zusammenhänge mit jenem Bild erkennen lassen, das der Florentiner Dante Alighieri in seiner „Divina Commedia“ von der Topographie der jenseitigen Welt entwirft. Der Apostel Jakobus der Ältere erscheint zwar im Canto XXV des „Paradiso“ gleich nach Petrus. Er vertritt hier die Tugend der Hoffnung, über die er mit Dante spricht. Bei der Begegnung mit ihm ruft Beatrice aus: „Mira, mira, ecco il barone, per cui là giù si vicita ­Galicia“ – „Schau, schau, hier ist der Herr, dem zuliebe man Galicien aufsucht“. Die Santiago-Wallfahrt wird also als dessen besonderes Charakteristikum hervorgehoben. In seiner „Vita Nuova“ betont Dante auch, dass die eigentlichen Pilger im engeren Sinn des Wortes jene sind, die zum „Haus des Apostels“ gehen oder von dort kommen. Für die Reinigung der Seele im „Purgatorio“ erscheint aber der heilige Jakob für ihn ohne Bedeutung. Der Läuterungsberg hat bei Dante nichts mit dem „Ende der Welt“ in Galicien zu tun. Er liegt vielmehr auf einer Meeresinsel antipodisch zu Jerusalem. Die zur Reinigung bestimmten Seelen versammeln sich ihm zufolge an der Tibermün-

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dung – also nahe von Rom – und werden von einem „nächtlichen Engel“ – nicht von Jakobus – in e­ iner Barke übers Meer gebracht. Zu Dantes Zeit wurde 1300 von Papst Bonifaz VIII. das erste Jubeljahr der ­römischen Kirche mit vollkommenem Ablass ausgerufen. Der Dichter hat den gewaltigen Pilgerzustrom dieses Jahres selbst miterlebt. Vielleicht ist in diesem Kontext seine Darstellung der Jenseitsreise der Seelen zu deuten. In Ausgangspunkt und Vermittlung gibt es offenbar zwischen der „Divina Commedia“ der hohen Literatur und der volkstümlichen Traditionen der italienischen Bauern wesentliche Unterschiede. Die obligatorische Pilgerschaft nach Santiago – lebend oder tot – gehört der oralen Kultur der letzteren an. Mit der offiziellen Lehre der Amtskirche waren manche volksreligiöse Vorstellungen über die Heilswirkung der Santiago-Wallfahrt für den Weg der Seele im Jenseits schwer in Einklang zu bringen. Das erste Buch des „Liber Sancti Jacobi“ enthält den berühmten Predigttext „Veneranda dies“, der den Pilgern jeweils bei der Vigil des Festes der Translation des Apostels am 30. Dezember vorgelesen wurde. In dieser Predigt wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass der Empfang des Bußsakraments die entscheidende Voraussetzung für die Erlangung des ewigen Heils sei. Von der Auffassung, dass die Absolvierung der Wallfahrt von sich aus zur Lossprechung von Sünden führe, distanziert sich der Verfasser. Ein solcher Hinweis war offenbar schon Mitte des 12. Jahrhunderts notwendig, weil in der Volksmeinung davon abweichende Vorstellungen gegeben waren. Die Aussagen aus bäuerlichem Milieu des 20. Jahrhunderts über die Rolle des „heiligen Jakob von Galicien“ für

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die Jenseitsreise der Seelen weisen historisch weit zurück. Unter den mittelalterlichen Quellen über solche Vorstellungen erscheint die sogenannte „Visio Thurkilli“ aus dem frühen 13. Jahrhundert besonders wichtig. Von den zahlreichen Jenseitsvisionen, die damals entstanden, geht sie am ausführlichsten auf die Bedeutung ein, die in diesem Zusammenhang dem Apostel Jakobus dem Älteren zugeschrieben wurde. Sie verbindet in ihrer Darstellung Diesseits und Jenseits. Das Pilgerziel Santiago kommt dadurch als Schwellenort zur „Anderen Welt“ in den Blick. Die Entwicklung zu einem der drei großen Wallfahrtsorte der westlichen Christenheit lässt sich in einem solchen Zusammenhang besser verstehen. Auch wenn die Lehre vom Fegefeuer damals noch nicht dogmatisch fixiert war – die ihr zugrundeliegende Jenseitstopographie wird in dieser Quelle besonders deutlich fassbar. Das hat der große Mediävist Jacques Le Goff in seinem Standardwerk „Die Geburt des Fegefeuers“ überzeugend aufgezeigt. Mit seiner Fokussierung auf die Entstehung des dritten Jenseitsorts sei der Bericht der Quelle zunächst im Überblick zusammengefasst (S. 359 f.): „Dem Bauern Thurchill aus dem Dorf Tidstude im Bistum London erschien eines Tages bei der Feldarbeit eine Gestalt, die sich ihm als der heilige Julian vorstellte und ihm ankündigte, dass er ihn in der folgenden Nacht holen werde, um ihn zu St. Jakobus, den er als seinen Schutzpatron verehrte, zu bringen und ihm mit Gottes Erlaubnis Geheimnisse zu entdecken, die den Menschen verborgen sind. Des Nachts trat er tatsächlich an Thurchills Bett, weckte ihn und ließ seine Seele aus dem Körper austreten, während letzterer ruhend, aber nicht

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leblos im Bett zurückblieb. Sein Begleiter geleitete ihn in eine große, herrliche Basilika, die nur gegen Norden eine sehr hohe Mauer hatte. Julian und Domnius, die Schutzpatrone der Basilika, ließen Thurchill die Kirche besichtigen. Diese Stätte hat Gott den Toten bestimmt, seien sie nun verdammt oder dazu ausersehen, durch die Strafen im Fegefeuer (per purgatorii poenas) gerettet zu werden. Nicht weit von der Mauer sah Thurchill Seelen mit schwarzen und weißen Flecken. Die weißesten waren der Mauer am nächsten, die schwärzesten am weitesten von der Mauer entfernt. Neben der Mauer klaffte der Höllenschlund, und Thurchill spürte seinen fauligen Geruch in der Nase. Dieser Gestank, erklärte der heilige Julian, ist eine Warnung, denn er zahlt nicht regelmäßig seinen Zehnten an die Kirche. Darauf zeigte er ihm im Osten der Basilika ein großes Reinigungsfeuer, durch das die Seelen hindurchmüssen, bevor sie in einem weiteren eisigen Purgatorium, einem kalten See gereinigt werden, den der heilige Nikolaus (der uns bereits als ein Fegefeuerheiliger begegnet ist) bewacht. Schließlich passieren die Seelen schneller oder langsamer eine Brücke von stählernen Pfosten und Nägeln, um zum Paradiesberg (mons gaudii – Berg der Freude) zu gelangen. In der Basilika zeigten Julian und Domnius Thurchill, wie die Seelen sortiert und gewogen werden, was der Erzengel Michael, der heilige Petrus und der heilige Paulus an Gottes statt taten. Der heilige Michael hieß die ganz weißen Seelen durch die Flammen des Reinigungsfeuers und die anderen Stätten der Qual gehen, ohne dass sie dadurch verletzt wurden und führte sie zum Paradiesberg. Der heilige Petrus ließ die mit weißen und schwarzen Flecken

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behafteten Seelen ins Reinigungsfeuer eingehen, auf dass sie durch das Feuer gereinigt würden. Die gänzlich schwarzen Seelen wurden auf eine Waage zwischen dem heiligen Paulus und dem Teufel auf der anderen Seite gewogen; neigte sich die Waagschale zum heiligen Paulus, so geleitete dieser die Seele ins Reinigungsfeuer, auf dass sie dort gereinigt würde, neigte sie sich aber zum Teufel, so trug dieser die Seele in die Hölle. Darauf wurde Thurkill lange in Begleitung des heiligen Domnius vom Teufel durch die Hölle geführt, nur die untere Hölle durfte er nicht schauen. Als er sich dem Atrium am Fuß des Bergs der Freude näherte, bemerkte er, dass der heilige Michael die wartenden Seelen langsamer oder schneller vorwärtsschreiten ließ, je nachdem, wie viele Messen ihre Freunde und die Universalkirche zu ihrer Erlösung lesen ließen. Darauf führte der heilige Michael ihn schnell durch die zahlreichen Häuser des Paradiesberges, und schließlich gelangte er über einen Turm zum irdischen Paradies. Der heilige Julian erschien wieder und befahl ihm zu verkünden, was er gesehen hatte. Von Allerheiligen an erzählte Thurchill nun seine Vision – natürlich in seiner Muttersprache, aber die plötzliche Eloquenz dieses Bauern­tölpels, der keine Bildung hatte und sich zuvor schwerfällig ausdrückte, ist bewundernswert.“ Bemerkenswert an der Vorgeschichte der Seelenreise des englischen Bauern Thurkill erscheint eine schon bestehende Bindung des Visionärs an den heiligen Jakob. St. Julian kündigt ihm bei der ersten Begegnung an: „ad domum tuam divertam, ut te ad dominum tuum sanctum Jacobum deducam, quam devote requisisti“ – „Ich werde zu deinem Haus kommen, damit ich dich zu dei-

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nem Herrn dem heiligen Jakob führe, den du schon demütig verehrt hast“. Ob diese Beziehung mit „Schutzpatron“ richtig wiedergegeben wird, sei dahingestellt. Die Bezeichnung „dominus“ deutet eher auf ein quasi-feudales Abhängigkeitsverhältnis des Bauern zum Heiligen. War eine solche Beziehung bloß durch persönliches Gebet entstanden? Hatte sich Thurkill eine Wallfahrt nach Santiago vorgenommen? Hatte er sich diesbezüglich vielleicht sogar durch ein Gelübde gebunden? Diese Situation liegt bei einem anderen Visionär vor, dessen Geschichte schon um 1130 aufgezeichnet wurde, also bereits viele Jahrzehnte vor der Thurkills spielt. Auch sie hat eine Jenseitsreise zum Thema, bei der der heilige Jakob maßgeblich in Erscheinung tritt – wohl die älteste Quelle dieser Art überhaupt. Der fränkische Ritter Heinrich von Ahorn hatte dem heiligen Jakob eine Pilgerfahrt nach Galicien gelobt, sein Versprechen aber aus nichtigen Gründen nicht eingehalten. Deswegen wurde er strafweise zu einer Jenseitsreise verurteilt, damit er sehe, was ihm bevorstehe, wenn er sein Gelübde nicht einlöse. Am Ende dieser Höllenfahrt gibt sich sein Führer im Jenseits zu erkennen: „Ich bin nämlich der Apostel Christi Jakobus, den du als Helfer zu haben verdient hast, weil du zu meinem Gedenken zu mir zu gehen versprochen hast.“ Von seiner Jenseitsreise zurückgekehrt, tritt Heinrich die gelobte Pilgerfahrt nach Santiago nun tatsächlich an. Bei ihm ist eindeutig das Wallfahrtsgelübde die Grundlage einer besonderen personalen Beziehung. Bei Thurkill lässt sich diese Frage nicht so klar entscheiden. Aus der späteren Geschichte der Pilgerfahrt zum heiligen Jakob nach Galicien wissen wir,

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dass das Wallfahrtsgelübde eine besondere Bindung an diesen Heiligen begründete. Das ist bei Wallfahrten zu Heiligen sonst nicht die Regel. Es gehört zu den Besonderheiten der Santiago-Wallfahrt, dass sie ein dauerhaftes Naheverhältnis zum Heiligen zur Folge hatte, ebenso aber auch der Pilger untereinander. Die Jakobsbruderschaften, die sich in ganz Lateineuropa auf dieser Grundlage bildeten, stellen eine sehr spezifische Sozialform mit weitreichenden sozialgeschichtlichen Auswirkungen dar. Anders als Heinrich von Ahorn wird Thurkill auf seiner Jenseitsreise nicht vom Apostel Jakobus selbst begleitet. Dieser tritt erst am Zielort in der Basilika in Erscheinung. Als Zeichen seiner Würde trägt er die „infula“, die Bischofsmütze. Er begrüßt Thurkill als „peregrinum suum pro quo miserat“ – „als seinen Pilger, nach dem er gesandt hatte“ und vertraut die weitere Führung den Heiligen Julian und Domnius an. Der heilige Julian hatte sich schon vor Beginn der Seelenreise Thurkill vorgestellt: „Ego sum Julianus hospitator, qui missus sum super te“ – „Ich bin Julian, der Gastfreundliche, der ich deinetwegen ausgesandt wurde“. Julian „der Gastfreundliche“ oder auch Julian „der Arme“ zubenannt, ist ein Heiliger der katholischen Kirche, über den wenig bekannt ist. Der Legende nach hatte er unwissentlich seine Eltern getötet und zur Buße eine Wallfahrt nach Rom angetreten. Anschließend soll er in der Provence oder in Mittelitalien eine Pilgerherberge an einem Flussufer betrieben, Kranke gepflegt und Reisende auf seiner Fähre zum anderen Ufer übergesetzt haben. In seiner Gestalt sind also sowohl Elemente des Ödipus-Mythos als auch solche des Charon-Mythos enthal-

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ten. Letztere begegnen bis ins 20. Jahrhundert in Überlieferungen aus ländlichen Regionen in Zusammenhang mit der Jenseitsreise. Eine dem heiligen Julian geweihte Kirche unter dem Titel San Giuliano dei Fiammenghi für Pilger aus Flandern nach Rom ist hier 1096 bezeugt. Allgemein wurde der heilige Julian als Schutzpatron der Reisenden, der Gastwirte, der Pilger und der Spielleute verehrt – wohl nicht zuletzt durch die weit verbreitete Überlieferung der „Visio Thurkilli“ bedingt. Der heilige Domnius – ident wohl mit Dominikus – tritt in diesem Visionsbericht erst am Zielpunkt der Reise in der Basilika in Erscheinung. Er wird als deren „custos“, also ihr Wächter bezeichnet. Wahrscheinlich handelt es sich von den verschiedenen Heiligen dieses Namens um Domingo GarcÍa, später Domingo de la Calzada benannt, jenen Eremiten, von dessen Einsatz beim Ausbau des Jakobsweges bereits die Rede war. Aus der Perspektive des frühen 13. Jahrhunderts gesehen war er damals ein relativ „junger“ Heiliger unter den entlang der Pilgerstraße verehrten. Er starb 1109, seine Grabeskirche wurde bereits 1156 aus Anlass der Errichtung seines Alabastergrabmals erweitert. Fünfzig Jahre später begegnet er nun schon als „custos“ des Apostelheiligtums. Am Vigiltag des Apostelfestes Simon und Judas hatte St. Julian „der Gastfreundliche“ den Bauern Thurkill in Ostanglien angesprochen. Es war der 27. Oktober 1206. Am 31. Oktober begann nach Thurkills Bericht die gemeinsame Seelenreise. Am 1. November war der Visionär wieder in seiner Heimatgemeinde zurück. An den Feiertagen Allerheiligen und Allerseelen berichtete er hier auf Julians Weisung, was er gesehen hatte. Der Termin

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der Seelenreise fällt also mit jener Nacht zusammen, in der nach der Tradition des keltischen Samhain-Fests die Pforte zum Jenseits offenstand. Man glaubte, dass am Vorabend dieses großen vorchristlichen Neujahrsfests die Verstorbenen des vergangenen Jahres nach einem Weg zurück ins Diesseits suchen. Die Lebenden stellten ihnen Lichter auf, damit die Toten den Weg finden könnten. Zu diesem so bedeutsamen Termin am Vorabend von Allerheiligen erlebt Thurkill auf seiner Seelenreise die große Basilika als Versammlungsort der Seelen. St. Julian vertraut ihm an „hanc basilicam esse locum omnium animarum a corpore nuper exeuntium, ut ibi sortiantur mansiones et loca sibi divinitus destinata, tam damnadas quam per purgatorii poenas salvandas“ – „dass diese Basilika der Ort aller Seelen sei, die neulich den Körper verlassen haben, damit ihnen dort die Wohnungen und Aufenthaltsorte zugewiesen werden, die ihnen von Gott bestimmt sind – sowohl den Verdammten, als auch denen, die durch die Strafen des Purgatoriums gerettet werden sollen“. Dieser Ort sei auf die Fürbitte der heiligen Jungfrau Maria vom Erlöser in seiner Barmherzigkeit eingerichtet worden, damit alle in Christus wiedergeborenen Seelen – also alle Getauften –, sobald sie den Körper verlassen, ohne Behinderung durch die Dämonen zusammenkommen, um das Urteil über ihre Taten zu empfangen. Nochmals wird auf die Basilika als Ort der „congregatio animarum“ verwiesen. Deutlich findet sich in diesem Teil des Visionsberichts jenes grundsätzliche Thema angesprochen, das in vielen Regionen Europas bis in die jüngste Vergangenheit überliefert wurde: Alle Toten müssten zunächst zum heiligen Jakob von Galici-

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en gehen, bevor über ihr weiteres Schicksal entschieden wird. Dass zwischen der Versammlung der Seelen beim heiligen Jakob in christlicher Zeit und den vorchristlichen Sammelplätzen „am Ende der Welt“ an heiligen Orten an der Atlantikküste ein Zusammenhang besteht, wird nicht zuletzt durch die Koinzidenz der heiligen Zeit um das Allerheiligen- und Allerseelenfest nahe gelegt. Die in vielen Einzelheiten geschilderten Reinigungsorte der Seelen liegen nach Thurkills Bericht über seine Vision außerhalb der Basilika. Der Weg der Seelen führt aber stets wieder in diese zurück: „Das schöne Tor im Westen stand immer offen.“ Der berühmte „Portico de la Gloria“ der Kathedrale von Santiago war zum Zeitpunkt von Thurkills Seelenreise seit etwa zwei Jahrzehnten fertiggestellt. In den Visionen mischen sich reale und imaginierte Orte: „Mons gaudii“ heißt einerseits der Paradiesberg, andererseits jene Erhebung, von der aus man am Jakobsweg erstmals die Kathedrale erblickt – analog zu ähnlich benannten Örtlichkeiten kurz vor der Erreichung des Pilgerziels in Rom und Jerusalem. Eine wichtige Übereinstimmung mit anderwärts überlieferten Bildern der Jenseitstopographie ergibt sich hinsichtlich des Schlüsselmotivs eines Übergangs über die Brücke der Entscheidung. Als Brücke des heiligen Jakob wird sie ­allerdings in der Thurkill-Vision nicht charakterisiert. Am Läuterungsprozess der Seelen sind nach dem Visionsbericht viele Engel und Heilige beteiligt: der Erzengel Michael in seiner klassischen Funktion als Seelenwäger, der Erzengel Uriel, dessen Verehrung von amtskirchlicher Seite damals schon seit Jahrhunderten verboten war – hier seinem Namen „Feuer Gottes“ entsprechend

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mit der Bewachung aller Seelen im Fegefeuer betraut; der sonst als Himmelspförtner verehrte St. Petrus weist Seelen, die noch mit den Zeichen der Sünden versehen sind, dem Purgatorium zu; der heilige Paulus tritt beim Abwägen der Seelen dem Teufel entgegen; der heilige ­Nikolaus ist für einen speziellen Reinigungsort zuständig. An weiblichen Heiligen begegnen die heilige Katharina, die heilige Margarete und die heilige Ositha – letztere dem Bauern Thurkill durch ein in seiner ostanglischen Heimat gelegenes und ihr geweihtes Priorat persönlich verbunden. Einige dieser Heiligen gewinnen zur Zeit der Vision und ihrer Niederschrift in ganz Europa für die Wahl der Taufnamen besondere Bedeutung. Analysen des damaligen Namenguts erwecken den Eindruck, dass parallel zur „Geburt des Fegefeuers“ die Namengebung nach heiligen Sterbe- bzw. Seelenbegleitern einen starken Aufschwung erlebte. Zu diesen speziellen Schutzheiligen gehörte vor allem auch der heilige Jakob. In Florenz etwa führt in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Jacopo/ Giacomo die Gruppe der beliebtesten Heiligennamen an. Der Florentiner Dante, dessen „Divina Commedia“ in vieler Hinsicht auf die Vision Thurkills zurückgreift, sieht den Apostel zwar nicht als Begleiter ins Jenseits, aber als den „barone“, dem zuliebe man nach Galicien geht. Die Vorstellung, dass alle Verstorbenen zunächst zum heiligen Jakob von Galicien gehen müssten, wie sie in der „Visio Thurkilli“ zu Anfang des 13. Jahrhunderts fassbar wird, ist sicher eine Besonderheit in den religiösen Rahmenbedingungen der Wallfahrt nach Santiago de Compostela. Sie weist auf vorchristliche Wurzeln auf der Iberische Halbinsel zurück. Und sie hat sich weit

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über diese Region hinaus bis in neuere Zeit erhalten. In keinem anderen der großen europäischen Pilgerzentren, die im Mittelalter entstanden sind, gibt es eine Analogie dazu – nicht in Canterbury, nicht in Aachen oder in Bari. Nirgendwo sonst ist es durch sie in vergleichbarer Weise zu einer Umgestaltung der Jenseitstopographie gekommen. Sie stellt eine langzeitig wirkende Konstante in der Verehrung des Wallfahrtsheiligen dar. Wesentlich für den Aufschwung der Santiago-Wallfahrt im Hoch- und Spätmittelalter war sicher ihre Verbindung mit dem sich damals zunehmend verbreitenden Fegefeuerglauben, die in der „Visio Thurkilli“ ja schon ansatzweise erkennbar ist. Wenn man glaubte, sich durch die Strapazen der Pilgerfahrt im Diesseits Leiden der Jenseitsreise ersparen oder erleichtern zu können, dann war das für die Bereitschaft, dieses schwierige Vorhaben zu realisieren, wohl ein maßgeblicher Faktor. Der große Aufschwung der Wallfahrt nach Santiago de Compostela im Hoch- und Spätmittelalter lässt sich aus dieser Motivation plausibel erklären. Für die europaweite Verbreitung dieses Glaubens sind die in Pilgergräbern so häufig zu findenden Jakobsmuscheln als Zeichen, die Wallfahrt geleistet zu haben, ein besonders starkes Indiz. Sie konnten im Jenseits als Nachweis der erbrachten Leistung dienen. Deutlich erkennbar wird die Bedeutung der Santiago-Wallfahrt für das Leben nach dem Tod in testamentarischen Verfügungen, die seit dem 13. Jahrhundert auf diese Pilgerfahrt Bezug nehmen. Zum Teil handelte es sich dabei um nicht erfüllte Gelübde der Erblasser, die von den jeweiligen Erben im Nachhinein wahrgenommen werden sollten, zum Teil aber auch um neu einge-

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gangene Verpflichtungen analog zur Stiftung von Messen oder von Almosen für das Seelenheil, die von den Nachkommen oder von dafür bezahlten Vertretern zu leisten waren. Derart begründete Wallfahrten „post mortem“ nahmen im Hoch- und Spätmittelalter generell stark zu. Unter den Fernpilgerorten, zu denen sie führen sollten, lag Santiago de Compostela weitaus an der Spitze. Es scheint durchaus möglich, dass dieser Wallfahrtstypus in der Vorstellungswelt einer Zuständigkeit St. Jakobs für die Seelenreise nach dem Tod seinen Ursprung hat. Eine für das Pilgerwesen nach Santiago bedeutsame Sonderentwicklung hat sich im 13. Jahrhundert aus dem Kampf des Papsttums gegen die Häretiker in Südfrankreich ergeben. Vielen der zur Konversion gezwungenen Katharern wurde die Wallfahrt nach Santiago als Bußleistung auferlegt. Häresie galt ja als ein todeswürdiges Verbrechen. Und in Santiago konnten auch schwerste Verfehlungen gesühnt werden. Die Bußwallfahrt nach Santiago, die zunächst geistliche Gerichte auferlegten, wurde dann auch von der weltlichen Gerichtsbarkeit übernommen. In den als Quelle zur Alltagsgeschichte des Mittelalters berühmt gewordenen Verhörprotokollen des Inquisitionsgerichts über die Katharer des Pyrenäendorfs Montaillou findet sich übrigens auch ein besonders früher Hinweis auf die Vorstellung, dass alle Seelen der Verstorbenen zum heiligen Jakob von Galicien gehen müssten. Die Angeklagte Raimonde Faure erwähnt, dass ihr Verwandter Arnaud sie diesbezüglich belehrt habe, und dass die Seele einer im Verhör genannten Frau namens Barcelone den Weg in nur fünf Tagen zurückgelegt hätte. Die Protokolle der Untersuchungen, die Ende des 13. und

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Anfang des 14. Jahrhunderts von der Inquisition in Montaillou durchgeführt wurden, sind voll von Vorstellungen über Wege ins Jenseits, die mit der offiziellen Lehre der Amtskirche nicht in Einklang standen. Eine besondere Beziehung des heiligen Jakobus zur Seelenreise der Verstorbenen könnte sich im Hochmittelalter aus der Entwicklung der Sterberituale ergeben haben. Es finden sich – allerdings relativ späte – Hinweise dafür, dass der Apostel Jakobus der Ältere mitunter mit dem Autor des Jakobusbriefes gleichgesetzt wurde. In diesem kanonischen Brief des Neuen Testaments finden sich die entscheidenden Bestimmungen über die Krankensalbung, aus der sich das Sakrament der sogenannten „Letzten Ölung“ entwickelt hat. Dieser Prozess verlief über die „unctio infirmorum“ als Sakrament der Heilung für Leib und Seele über die „unctio extrema“ als die letzte sakramentale Salbungshandlung im Lebenslauf nach Taufe und Firmung zur „unctio in extremis“ als Salbung des Sterbenden. Die Bedeutung St. Jakobs für die Seelenreise geht allerdings dieser Entwicklung zeitlich bereits voraus. Das zeigen etwa die Funde von Jakobsmuscheln in frühen Pilgergräbern. So kann ein von manchen Forschern postuliertes Patronat des Apostels Jakobus des Älteren für das Sterbesakrament nicht der Bedingungs­faktor für den Glauben an seine generelle Zuständigkeit für die Seelen der Verstorbenen gewesen sein. Soweit überhaupt gegeben, dürfte es sich um einen sekundär davon abgeleiteten Zusammenhang handeln. Zum Unterschied von vielen anderen Motiven der Santiago-Wallfahrt erscheinen die Vorstellungen über die Bedeutung des Apostels Jakobus für das Leben nach dem

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Tod sehr stark an mündliche Überlieferungen gebunden. Ihre Trägergruppen waren weitgehend illiterat. So verfügen wir diesbezüglich über eine beschränkte Quellenbasis. Die schriftlichen Zeugnisse über Beweggründe für die große Pilgerfahrt stammen hingegen zumeist aus ganz anderen Bevölkerungsgruppen. Das gilt vor allem für die wachsende Zahl der von weither kommendem Wallfahrer in der Zeit der zunehmenden Internationalisierung. Am Beispiel einiger früher Fernpilger sei exemplarisch versucht, auf deren persönliche Motivationen näher einzugehen und sie in allgemeine Strömungen der Zeit einzuordnen. Dabei können auch spezifische Besonderheiten der Santiago-Wallfahrt im Kontext der generellen Entwicklung des Pilgerwesens der Zeit erkennbar werden. Die ersten Pilger, die von jenseits der Pyrenäen auf dem Jakobsweg zum Heiligtum des Apostels in Galicien kamen und über die individuelle Informationen vorliegen, waren fast durchwegs Angehörige gesellschaftlicher Oberschichten – Bischöfe, Äbte, Grafen und andere Adelige. Besonders bedeutsam erscheint unter ihnen Bischof Godescalc von Le Puy-en-Velay in der Auvergne, der 950 mit großem Gefolge in Santiago de Compostela eintraf. Wir sind über seine Pilgerreise deshalb gut unterrichtet, weil er bei seinem Aufenthalt im Kloster San Martín de Albelda bei Logroño die Abschrift eines Kodex in Auftrag gab, die ihm bei seiner Rückreise im Jänner 951 überreicht wurde. In der Bibliothek der Kathedrale von Le Puy hat sich die Kopie erhalten. Godescalc hatte einen sehr persönlichen Grund nach Santiago zu pilgern. Er war am 25. Juli geboren, an dem

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man in der Westkirche den Festtag Jakobus’ des Älteren feierte, und an diesem Tag auch zum Bischof geweiht worden. Die Sitte, den Tagesheiligen eines persönlich wichtigen Ereignisses besonders zu verehren, hatte sich damals – von Byzanz ausgehend – in ähnlicher Weise auch im Westen weit verbreitet. Sicher waren aber auch kirchenpolitische bzw. wallfahrtspolitische Motive gegeben, sonst wäre Godescalc wohl nicht mit einem so großen Gefolge über die Pyrenäen gekommen. Offenbar sollten Beziehungen zwischen dem älteren Wallfahrtsort Le Puy und dem aufstrebenden jüngeren am Grab des Apostels Jakobus in Galicien angeknüpft werden, die sich späterhin als sehr dauerhaft erwiesen. Einer der im „Liber Sancti Jacobi“ genannten Hauptpilgerwege nach Santiago in Frankreich, die „Via Podiensis“, ist nach ihrem Ausgangspunkt Le Puy benannt. Der Kodex, dessen Abschrift Bischof Godescalc in Auftrag gab, betraf die grundlegende theologische Abhandlung „De perpetua virginitate sanctae Mariae“, also „Über die beständige Jungfrauschaft Mariens“ des Bischofs Ildefons von Toledo. Mariä Verkündigung war das Hochfest von Godescalcs Bischofssitz Le Puy, dem ältesten Marienwallfahrtsort des Westfränkischen Reiches. Die theologische Fundierung des Festgeheimnisses war für ihn sicher von besonderem Interesse. Bald nach seiner Rückkehr beteiligte er sich an der Gründung des Heiligtums Saint Michel d’Aiguilhe auf einem Vulkanfelsen in seiner Bischofsstadt. Auch der Kult des Erzengels Michael wurde hier verankert – mit deutlicher Bezugnahme auf die Michaelspilgerstätte auf dem Monte Gargano in Apulien. Godescalc betrieb Wallfahrtspolitik. Santiago wurde in das internationale

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Netzwerk der großen Pilgerkirchen des Frühmittelalters einbezogen. Der „Liber Sancti Jacobi“ illustriert das anschaulich, wenn er alle die Wallfahrtsheiligen aufzählt, die als Ankläger vor Gott gegen jene auftreten sollten, die Pilger betrügen – und unter ihnen vorrangig „ipsam Dei Genitricem Mariam Podiensem“ nennt. Nicht die Mutter Gottes schlechthin wird in Santiago beschworen, sondern speziell die heilige Maria von Le Puy – in analoger Ortsgebundenheit wie anschließend St. Martin von Tours, St. Johannes Baptista von Saint-Jean-d’Angély, St. Nikolaus von Bari oder St. Bartholomäus von Benevent. Am Jakobsweg in Navarra ist die alte Wallfahrtskirche von Estella der „Nuestra Señora de Puy“ geweiht, die hier als Schutzpatronin der Stadt verehrt wurde. Die spezifische Wallfahrtskultur von Le Puy dürfte sich durch ihre Beziehung zu Santiago auf die des Jakobsheiligtums ausgewirkt haben. In Le Puy findet sich ein sehr altes periodisch gefeiertes Wallfahrtsjubiläum, das dann auch früh in Verbindung mit gewährten Ablässen erscheint. Es wurde immer dann gefeiert, wenn der Karfreitag mit dem Fest Mariä Verkündigung zusammenfiel. Eine solche Bestimmung von Jubiläumsterminen aus der Koinzidenz zweier kirchlicher Festtage begegnet im Spätmittelalter in verschiedenen Wallfahrtsorten Südfrankreichs und Nordspaniens. Von Oviedo und Santo Toribio in Liébana war diesbezüglich schon die Rede. Auch das „Heilige Compostelanische Jahr“, das immer dann verkündet wird, wenn das Jakobsfest auf einen Sonntag fällt, gehört in diesen Zusammenhang, ist allerdings erst für das 15. Jahrhundert gesichert belegt. Es handelt sich hier um einen ganz anderen Typus, periodisch wieder-

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kehrende heilige Jahre abzuhalten, als er 1300 von Papst Bonifaz VIII. für Rom eingerichtet wurde – dort in Anschluss an das biblische Jubeljahr mit Abständen von 50 Jahren. Beide Formen haben zu einem starken Anwachsen der Pilgerzahlen geführt. In Santiago ist dieser Effekt erst in einer Spätphase der Entwicklung zur Massenwallfahrt fassbar. Jubiläen und das mit ihnen verbundene Ablasswesen sind sicher als ein wesentlicher allgemeiner Faktor unter den Rahmenbedingungen der Fernwallfahrt anzusehen. Der Typus heiliger Jahre aus Anlass der Koinzidenz bestimmter Feiertage weist in Santiago auf das ältere Le Puy zurück. In Le Puy sind die Wurzeln dieses Typus relativ klar zu fassen. Für das Jahr 992 prophezeite der Mönch Bernhard von Thüringen den Weltuntergang, weil in diesem Jahr Mariä Verkündigung, also das Fest der Konzeption Jesu Christi, mit seinem Todestag, dem Karfreitag zusammenfiel. Für den Wallfahrtsort Le Puy mit seinem Marienheiligtum war das von besonderer Bedeutung. Der Zustrom an Pilgern übertraf alle bisherigen Erfahrungen. Sie kamen von weither und aus allen Bevölkerungsgruppen. Eine solche Koinzidenz der Termine löste in vielen Gebieten Europas 1064 erneut Endzeiterwartungen aus und führte zu großen Pilgerbewegungen. Tausende Menschen zogen damals nach Jerusalem und auch nach Le Puy kamen zahlreiche Wallfahrer. Hier entstand seither eine gewisse Kontinuität periodisch gefeierter Jubiläumsjahre. Endzeiterwartungen als Anstoß für den Aufbruch zu großen Pilgerzielen stellten im Hochmittelalter ganz allgemein eine wichtige Rahmenbedingung des Wallfahrtswesens dar. In Santiago ist diesbezüglich aber kein

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besonderer Mobilisierungseffekt zu beobachten. Ob man darin ein Abweichen dieses Pilgerzentrums von der allgemeinen Regel sehen darf, sei dahingestellt. Le Puy stellte im 10. und 11. Jahrhundert generell ein Zentrum dar, von dem neue religiöse Impulse ausgingen. Bischof Wido von Le Puy (976 – 96) war ein großer Vorkämpfer der Gottesfriedensbewegung, die die Herrschaftsordnungen der Zeit besonders nachhaltig beeinflussen sollte. Richtungsweisende Friedenskonzilen wurden unter seinem Vorsitz in Le Puy abgehalten. Die Gottesfriedensbewegung schuf neben vielen anderen Maßnahmen auch spezielle Schutzbestimmungen für Pilger. Dieser Zusammenhang wirkte sich insgesamt als eine Begünstigung des Pilgerwesens aus. Wenige Jahre nach Bischof Godescalc von Le Puy kamen zwei andere hohe Geistliche nach Santiago de Compostela – 955 oder 959 Abt Cäsarius von Santa Cecília in Montserrat, der den Anspruch auf die Metropolitanrechte in der Kirchenprovinz Tarragona stellte, und 961 Hugo von Vermandois, der ehemalige Erzbischof von Reims, der um die Wiedereinsetzung in seine alte Würde kämpfte. Ob man die beiden als Pilger im engeren Wortsinn verstehen darf, muss offen bleiben. Sie sind jedenfalls Zeugen dafür, welche Autorität damals dem heiligen Jakobus in der westlichen Christenheit zugesprochen wurde. Abt Cäsarius behauptete in einem Schreiben an Papst Johannes XIII. von 970, dass auf einer Synode, die unter dem Vorsitz von Erzbischof Ermengild von Lugo und dessen Suffragan, Bischof Sisenand II. von Iria, in Santiago stattgefunden habe, seine Metropolitangewalt über

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die 17 Bischöfe der Provinz Tarragona anerkannt worden sei. Er ersuchte den Papst um seine Unterstützung, damit seine von Apostel Jakobus herrührende Würde unangefochten bleibe. Dass Cäsarius das Grab des Apostels Jakobus, auf dessen Autorität er sich berief, auch tatsächlich aufgesucht hat, darf wohl mit Sicherheit angenommen werden. Das primäre Ziel seiner Reise war es jedoch nicht, seine Devotion gegenüber dem Apostel auszu­ drücken, sondern die Bestätigung der Synode zu erhalten. Er konnte seinen kirchenpolitischen Anspruch übrigens letztlich nicht behaupten. Ähnlich kompliziert lag der Fall des Hugo von Vermandois. Sein Vater, Graf Heribert II., ließ ihn im zarten Alter von fünf Jahren im Zuge seiner Bemühungen um den Ausbau seiner Machtposition im Westfränkischen Reich zum Erzbischof von Reims bestellen. Das war gegen alle kirchenrechtlichen Bestimmungen. Die geistlichen Funktionen musste für ihn ein anderer Bischof ausüben, die weltlichen nahm der Vater selbst wahr. In den Kämpfen der westfränkischen Großen wechselten jedoch die Machtverhältnisse rasch. 931 wurde Hugo abgesetzt. Der König erhob an seiner Stelle einen gewissen Artald zum Erzbischof. 940 errangen die Vermandois in Reims wieder die Oberhand. Hugo wurde wieder eingesetzt, konnte sich aber nur bis 946 in seinem Amt halten. Erneut wurde Artald bestellt, Hugo hingegen auf einer Synode in Ingelheim für abgesetzt erklärt und exkommuniziert. Über Jahrzehnte beschäftigte der Reimser Bistumsstreit die Kirchenpolitik. 961 verstarb Artald und Hugo ­bemühte sich neuerlich um seinen früheren Sitz. Eine Synode der Kirchenprovinzen Reims und Sens

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wandte sich an Papst Johannes XII. mit der Frage, ob der seinerzeit exkommunizierte Erzbischof restituiert werden dürfe. Bevor die Entscheidung des Papstes 962 nach der Abhaltung weiterer Synoden getroffen wurde, erscheint Hugo überraschend in Santiago. Wollte er durch eine Bußwallfahrt zum heiligen Jakob die Aufhebung seiner früheren Exkommunikation erreichen oder deren neuerlicher Verhängung vorbeugen? Dem heiligen Jakobus wäre in einer solchen Konzeption höchste Autorität in Fragen der Tilgung von Schuld zugekommen. Wollte er eine Stellungnahme des Bischofs Sisenand von Iria zu seinen Gunsten ins Spiel bringen? 954 hatte König Ordoño III. von León diesen als „Bischof unseres Patrons und des Herren der ganzen Welt“ bezeichnet. Der schon seit Sisenand I. (ca. 879–ca. 920) von den Bischöfen von Iria mehrfach gestellte Anspruch auf Innehabung einer zweiten „apostolica sedes“ analog zu der des Papstes als Bischof von Rom wurde unter diesem Herrscher in besonderer Weise erhoben. Letztlich hat Hugo seine überraschende Reise in den Westen nichts genützt. Sein Anspruch auf den Stuhl des Erzbischofs von Reims wurde neuerlich zurückgewiesen. Im Lauf des 11. Jahrhunderts nimmt die Zahl der fürstlichen und hochadeligen Pilger nach Santiago beträchtlich zu. Rom und Santiago gewinnen für sie damals schon gleiche Bedeutsamkeit. Symptomatisch für diese Situation ist Herzog Wilhelm V. der Große von Aquitanien (995 – 1030). Sein Chronist Ademar von Chabannes berichtet, dass der Herzog die Absicht äußerte, jedes Jahr eine Pilgerfahrt nach Rom mit einer nach Santiago zu verbinden. Frömmigkeitsgeschichtlich ist das Ausdruck einer besonderen Heilserwartung in ku-

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mulierte Wallfahrten. Sicher verfolgte Herzog Wilhelm mit seinen häufigen Pilgerreisen auch politische Ziele. An engen Kontakten zu den Fürsten Nordspaniens hatte er besonderes Interesse. Ansätze eines Übergangs zu einer gemeinsamen Reconquista-Politik im Vorkreuzzugszeitalter zeichnen sich ab. In der Kumulierung von Pilgerfahrten zu großen Zentren der Christenheit zieht nun Santiago auch mit Jerusalem gleich. Erzbischof Siegfried II. von Mainz hatte 1064/5 an der von Endzeiterwartungen geprägten Pilgerfahrt mehrerer deutscher Bischöfe nach Jerusalem teilgenommen, die zu einer Massenbewegung bisher unbekannten Ausmaßes anwuchs, schließlich jedoch in einem Desaster endete. Ein Großteil der Tausenden von Pilgern, die auszogen, kehrten nicht mehr zurück. 1072 plante nun Erzbischof Siegfried eine Pilgerfahrt nach Santiago „orationis causa“, also „des Gebetes wegen“. Er kam allerdings nur bis Cluny. Von dort wurde er von seinen Diözesanen wieder zurückgeholt. Die – wenn auch letztlich nicht realisierte – fromme Absicht lässt ihn wohl zu Recht unter die frühen Santiago-Pilger einreihen. Viele nach ihm haben in ihrem Leben die Wallfahrt zu beiden großen Pilgerzielen verwirklicht. Zwischen der Pilgerschaft nach Jerusalem und nach Santiago stellte sich damit eine Wechselwirkung ein. Santiago erreichte eine gleiche Bedeutsamkeit wie die beiden anderen „peregrinationes maiores“ der westlichen Christenheit. Schwierigkeiten auf dem Weg ins Heilige Land begünstigten den Jakobsweg. Der Verlust von Jerusalem 1187 kam dem Bedeutungszuwachs von Santiago als Pilgerziel ebenso zugute wie dem von Rom.

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„Alle Toten müssen zum heiligen Jakob von Galicien gehen“, heißt es in der volkstümlichen Überlieferung. Wer diesen Weg schon zu Lebzeiten unternahm und nach Erreichung seines Pilgerziels im „Haus des heiligen Jakob“ verstarb, der galt als besonders auserwählt. So sahen es jedenfalls die Zeitgenossen im Hochmittelalter. In der galicischen Dichtung über „Don Gaiferos de Mormaltán“ wird von einem solchen exzeptionellen Ereignis erzählt. Der Titelheld hatte die Pilgerfahrt nach Santiago schon fast bewältigt, als ihm der Tod begegnete. Durch ein Wunder des heiligen Jakob konnte er sein Ziel doch noch erreichen. Er starb in der Kathedrale vor dem Haupt­ altar zu Füßen des Heiligen. Es war Karfreitag, der Todestag Jesu Christi. Der Tod am heiligen Ort zur heiligen Zeit wurde als ein überirdisches Zeichen angesehen. Der Himmel stand diesem auserwählten Pilger offen. Don Gaiferos, der Held dieser altgalicischen Dichtung, lässt sich mit Herzog Wilhelm X. von Aquitanien identifizieren, dem letzten Vertreter des aquitanischen Fürstengeschlechts der Ramnulfiden. Der Name Gaufridus, von dem „Gaiferos“ abgeleitet ist, wird in der Weltchronik Bischof Ottos von Freising als Beiname Herzog Wilhelms X. von Aquitanien erwähnt. Die Wallfahrt nach Santiago besaß im aquitanischen Herrscherhaus bereits Tradition. Wilhelm V., der sich wie erwähnt eine jährliche Rom- und Santiago-Wallfahrt vorgenommen hatte, war der Urgroßvater Herzog Wilhelms X. gewesen. Diesen selbst verband mit Erzbischof Diego Gelmírez bereits eine persönliche Freundschaft, als er 1137 jene Pilgerfahrt antrat, die seine letzte sein sollte. Schon während der Reise fühlte er sich dem Tode nahe. Deshalb bestellte er den

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König von Frankreich zum Vormund seiner beiden Töchter. Die ältere von ihnen war jene berühmte Eleonore von Aquitanien, die späterhin zunächst als Königin von Frankreich, dann von England zu einer der bedeutendsten Fürstinnen des Mittelalters wurde. Ihr Vater, Herzog Wilhelm X., verstarb am 9. April 1137 in Santiago und wurde in der Kathedrale beigesetzt. In der Historiographie wird Herzog Wilhelm X. als „Wilhelm der Heilige“ bezeichnet. Tatsächlich wurde er auch im 17. Jahrhundert heilig gesprochen und bereits seit seinem Tod hoch verehrt. Das verdankte er nicht einem besonders heiligen Lebenswandel. Im Gegenteil: Er hatte viele Kriege geführt und vor allem in seinem letzten in der Normandie große Untaten begangen. So kam er auch, wie ein Zeitgenosse berichtet, „poenitentia motus“, also aus Bußgesinnung nach Santiago. Seinen Ruf als Heiliger verdankte er ausschließlich den Umständen, unter denen er hier am Karfreitag vor dem Hochaltar beim Apostelgrab verstarb. So entstanden rund um seine Gestalt Legenden, die sich aus ihrer Verbindung mit dem Jakobuskult erklären lassen. Das Gedicht „Don Gaiferos“ gehört in diesen Zusammenhang. Den Charakter der Legende hat auch die Überlieferung, dass Herzog Wilhelm X. als Eremit am Monte Facho am Kap Finisterre gelebt habe. Die alte Einsiedelei an diesem seit der Antike als besonders heilig angesehenen Ort wurde mit seinem Namen verbunden. Als sich der ungarische Pilger Georg Grisaphan um die Mitte des 14. Jahrhunderts bei der Geistlichkeit von Santiago nach einem Ort erkundigte, der für seine beabsichtigte Bußleistung besonders geeignet sei, verwies man ihn auf die-

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sen nach Sankt Wilhelm genannten Platz bei der Kirche „Sancta Maria in Finisterre“. Auch Georg hatte für vieles zu büßen. Auch er hatte große Verbrechen in Kriegen begangen. Die vermeintliche Einsiedelei des heiligen Wilhelm erschien für seine Sühneleistung als der passende Ort. Über den heiligen Wilhelm der Legende ergab sich so eine Verbindung zwischen den beiden Zielorten des Jakobswegs aus vorchristlicher und aus christlicher Zeit. Das Motiv der Buße für besonders schwere Verbrechen stellt eine Beziehung zwischen dem Pilger Wilhelm „dem Heiligen“ von Aquitanien aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts und dem Pilger Georg Grisaphan um die Mitte des 14. Jahrhunderts her. Santiago hatte als Wallfahrtsort den Ruf gewonnen, dass hier Sünden vergeben werden konnten, für die es anderswo keine Entlastung gab. So ist es wohl zu verstehen, wenn Georg Grisaphan vom Papsthof in Avignon hierher weiter empfohlen wurde. Insgesamt ist die Bußbewegung der Zeit als Hintergrund für die zunehmende Bedeutung von Santiago als Wallfahrtsort zu sehen. Wenn früher Pilger „orationis causa“ hierher kamen, so trat der Beweggrund „poenitentia motus“ immer mehr in den Vordergrund. Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen kamen aus diesem Motiv – keineswegs nur hochgestellte Persönlichkeiten wie Herzog Wilhelm von Aquitanien. Die Bußwallfahrt – oft in sehr radikalen Ausdrucksformen vollzogen – wurde zu einem Charakteristikum der neuen Frömmigkeitsbewegung der Zeit. Wilhelm von Vercelli pilgerte barfuß und in Ketten nach Santiago, bevor er 1125/6 seine Gemeinschaft von Eremiten und Büßern zu Montevergine bei Avellino in Süditalien gründete, die ihn zum „Apostel des Mezzogiorno“ machte.

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Zu den „Männern der Buße“, wie man die Vertreter dieser Frömmigkeitsbewegung nannte, kamen zunehmend auch „Frauen der Buße“. Eine Leitfigur unter ihnen ist die heilige Bona von Pisa (1156–1207). Sie war vielfach nach Jerusalem, nach Rom, auf den Monte Gargano zu St. Michael und angeblich auch neunmal nach Santiago gepilgert. Bereits von den Strapazen ihres aske­ tischen Lebens gezeichnet, wollte sie noch ein letztes Mal diese große Pilgerfahrt antreten. Die Überlieferung berichtet, dass der heilige Jakob sie „im Flug“ dorthin gebracht hätte. Kurz bevor sie starb, kehrte sie mit einer Handvoll Muscheln zurück – als Beweis, dass sie tatsächlich ihr Ziel erreicht hatte. Dass die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela mit der neuen Frömmigkeitsbewegung des Hochmittel­ alters einen besonderen Aufschwung erlebte, verweist auf allgemeine Rahmenbedingungen des Wallfahrtswesens. Solche Rahmenbedingungen kamen allerdings anderen Pilgerzentren genauso zugute. Die Blüte des Wallfahrts­ wesens in dieser Zeit war ein generelles Phänomen. Das Enigma von Santiago lässt sich – auf einen solchen Kontext reduziert – sicher nicht lösen. Die Wurzeln der Sonder­entwicklung liegen tiefer. Der Weg zum „Haus des heiligen Jakob von Galicien“ erscheint in der Vorstellungswelt der Menschen des Mittelalters nicht auf seine irdische Dimension beschränkt. Er findet als Weg ins Jenseits seine Fortsetzung. Der „Sternenweg“ führt zum Ewigen Leben. Dem Heiligtum St. Jakobs kommt in der Verbindung von Diesseits und Jenseits eine Schlüsselstellung zu: Alle Seelen müssen dorthin. Wer den Weg schon in seinem irdischen Leben

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gegangen ist, dem wird das für seine Läuterung im Leben danach angerechnet. In dieser Sichtweise erscheint der Jakobsweg als ein Pilgerweg ganz besonderer Art. Mit ihm sind Heilserwartungen verbunden, die so nirgendwo anders zu erhoffen sind. Der Konnex zwischen St. Jakob und dem Sternenweg im Jenseitsglauben mittelalterlicher Christen verweist auf ältere Vorstufen. Heilige Plätze an der Atlantikküste – „in finibus terrae“, also am Ende der Welt gelegen – galten schon in vorchristlicher Zeit als Orte des Übergangs zur „Anderen Welt“. In der Verbindung von Finisterre mit Santiago de Compostela als zusätzlichem Ziel des Jakobswegs wirken solche Vorstellungen nach. Insgesamt sind Traditionen aus vorchristlicher Zeit in der Sakralkultur von Galicien, in der die Santiago-Wallfahrt entstanden ist, nachhaltig wirksam. Ohne diese Sakralkultur zu berücksichtigen, kann die Wallfahrt zum Grab des heiligen Jakob nicht befriedigend erklärt werden. Grundsätzlich führt der Versuch einer solchen Erklärung in vielfältige Entwicklungsstränge, die in ihrem Zusammenhang gesehen werden müssen. Eine monokausale bzw. einlinige Interpretation des Phänomens erscheint unbefriedigend. Es ist für Menschen von heute sicher eine sehr fremde Welt, zu der die Beschäftigung mit den Anfängen des Jakobswegs führt – der christlichen wie der vorchristlichen: heilige Orte besonderer Art, heilige Wege, auf denen sie zu erreichen sind, insgesamt eine Kultur der Heiligkeit in starkem Kontrast zur Vorstellungswelt der Gegenwart. Man kann solche Phänomene im Kontext eines Interesses am Weltbild von Menschen im Mittelalter betrachten. Dann eröffnen sie exemplarisch Zugänge zur Bedeutsam-

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keit von Religion in Gesellschaften vergangener Zeiten. Man kann darüber hinaus auch fragen, was sie – gerade aus dem Gegensatz gesehen – für existenzielle Probleme von heute bedeuten. Aussagen darüber überschreiten die Kompetenz des Historikers. Sie müssen in einem größeren Kontext getroffen werden. Grundsätzlich aber gilt: Pilgerweg bedeutet Lebensweg. Über Pilgern nachzudenken heißt über den je eigenen Lebensweg nachzudenken. Letztlich geht es um dessen Sinn und dessen Ziel. Aus historischer Perspektive solche Themen anzusprechen, mag dabei helfen, auf existenzielle Fragen von heute persön­liche Antworten zu finden.

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Der Autor Michael Mitterauer, geb. 1937, ist emeritierter Professor für Sozialgeschichte an der Universität Wien. Zu seinen hauptsächlichen Arbeitsgebieten zählt die Mittelalterforschung. Ein besonderes Anliegen war und ist ihm darüber hinaus die populare Autobiografik: Aus seinem Anfang der 1980er Jahre begonnenen Aufbau einer „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ ist die Buchreihe „Damit es nicht verlorengeht“ (Böhlau Verlag) entstanden, die sich speziell der Geschichtserfahrung ländlicher und städtischer Unterschichten widmet und in der inzwischen 68 Bände erschienen sind. Außerdem hat Michael Mitterauer die Zeitschrift „Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag“ mitbegründet und im Böhlau Verlag langjährig mitherausgegeben. Im Jahre 2003 wurde er emeritiert. Für sein Buch „Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“ wurde ihm 2004 der Deutsche Historikerpreis verliehen. Im Böhlau Verlag sind von Michael Mitterauer als selbständige Publikationen erschienen: • Zusammen mit Josef Ehmer (Hg.): Familie und Arbeits­ organisation in ländlichen Gesellschaften (1986) • Historisch- anthropologische Familienforschung (1990) • Familie und Arbeitsteilung. Historisch vergleichende Studien (1992) • „Gelobt sei der dem Schwachen Kraft verleiht“. Zehn Generationen einer jüdischen Familie im alten und neuen Österreich (1987) • Dimensionen des Heiligen. Annäherungen eines Historikers (2000) • Zusammen mit Peter Cichon (Hg): Europasprachen (2011) • Traditionen der Namengebung. Namenkunde als interdisziplinäres Forschungsgebiet (2011) • Historische Verwandtschaftsforschung (2013)

MICHAEL MITTERAUER

DIMENSIONEN DES HEILIGEN

In einer Zeit zunehmender Säkularisierung und Entkirchlichung, aber auch neuer Bedürfnisse nach Religiosität und Spiritualität, nimmt das Interesse an religiösen Erscheinungen der Vergangenheit zu. Der Band „Dimensionen des Heiligen“ setzt diesbezügliche spezifische Akzente. Es geht um heilige Orte, heilige Zeiten, heilige Handlungen, heilige Gegenstände, heilige Namen etc. Was Menschen jeweils heilig war und ist, wird dabei nicht konfessionell beschränkt gesehen. Vor- und außerchristliche Phänomene fi nden genauso Behandlung wie Nachwirkungen christlicher Heiligkeitsvorstellungen in säkularer Form. „Heiliges“ wird dabei nicht gegenüber „Profanem“ abgegrenzt behandelt, sondern gerade in seiner besonderen Wirkkraft auf Lebenswelten, in die es eingeordnet ist. Der Band verfolgt einen vergleichenden Ansatz sowie eine Betrachtungsweise im epochenübergreifenden Längsschnitt. 2000. 328 S. 9 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-99242-4

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MICHAEL MITTERAUER

TRADITIONEN DER NAMENGEBUNG NAMENKUNDE ALS INTERDISZIPLINÄRES FORSCHUNGSGEBIET 2011. 258 S. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78645-0

MICHAEL MITTERAUER

HISTORISCHE VERWANDTSCHAFTSFORSCHUNG 2013. 248 S. 2 KT. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78876-8

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