Sprachliche Akkommodation und soziale Integration: Sächsische Übersiedler und Übersiedlerinnen im rhein-/moselfränkischen und alemannischen Sprachraum [Reprint 2013 ed.] 9783110935073, 9783484231436

The volume examines the mutually reinforcing effects of linguistic self-adjustment and integration into a new social env

146 81 25MB

German Pages 415 [420] Year 1998

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Table of contents :
Vorwort
Abkürzungen
Einleitung
1 Theoretisch-methodische Vorüberlegungen und Stand der Forschung
1.1 Dynamik der Entdiglossierung in Deutschland
1.2 Akkommodationsforschung
1.3 Datengewinnung in der vorliegenden Untersuchung
2 Übersiedlung und Integration
2.1 Zeitpunkt und Art der Übersiedlung
2.2 Motive für die Übersiedlung
2.3 Motive für die Wahl des Wohnortes
2.4 Typische Erfahrungen am neuen Wohnort
2.5 Vergleiche zwischen Ost- und Westdeutschland
2.6 Zusammenfassung
3 Phonetisch-phonologische Akkommodation
3.1 Das obersächsische Dialektgebiet
3.2 Akkommodation an den Standard
3.3 Vergleich der Akkommodation der sprachlichen Variablen
3.4 Regionale Varietäten der Aufnahmeregionen
3.5 Akkommodation an die regionalen Varietäten der Aufnahmeregionen
3.6 Zusammenfassung
4 Akkommodation nach Aufnahmeregion, Geschlecht und Alter
4.1 Aufnahmeregion
4.2 Geschlecht
4.3 Alter
4.4 Zusammenfassung
5 Soziale Netzwerke
5.1 Das Konzept der sozialen Netzwerke in den Sozialwissenschaften
5.2 Anwendungen in der Soziolinguistik
5.3 Soziale Netzwerkanalyse bei sächsischen Übersiedlerinnen und Übersiedlern
5.4 Netzwerktypen bei Zugezogenen aus Sachsen
5.5 Zusammenfassung
6 Einstellungen
6.1 Einstellungsforschung in der Sozialpsychologie
6.2 Einstellungsforschung in der Linguistik
6.3 Methoden zur Erfassung von Einstellungen in der vorliegenden Untersuchung
6.4 Definition und Anwendung des Einstellungen-Konzeptes
7 Soziale Integration und sprachliche Akkommodation
7.1 Integrationstyp A
7.2 Integrationstyp B
7.3 Integrationstyp C
7.4 Integrationstyp D
7.5 Integrationstyp AB
7.6 Integrationstyp BC
7.7 Diskussion
7.8 Gewährspersonen mit nicht-linearen Entwicklungsverläufen
7.9 Zusammenfassung
8 Gesamtzusammenfassung
Literatur
Anhang
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Sprachliche Akkommodation und soziale Integration: Sächsische Übersiedler und Übersiedlerinnen im rhein-/moselfränkischen und alemannischen Sprachraum [Reprint 2013 ed.]
 9783110935073, 9783484231436

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PHONAI Texte und Untersuchungen zum gesprochenen Deutsch

Herausgegeben von Walter Haas und Peter Wagener

Band 43

Birgit Barden / Beate Großkopf

Sprachliche Akkommodation und soziale Integration Sächsische Ubersiedler und Ubersiedlerinnen im rhein-/moselfränkischen und alemannischen Sprachraum

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Barden, Birgit: Sprachliche Akkommodation und soziale Integration : sächsische Übersiedler und Übersiedlerinnen im rhein-/moselfränkischen und alemannischen Sprachraum / Birgit Barden/Beate Großkopf. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Phonai ; Bd. 43)

ISBN 3-484-23143-2

ISSN 0939-5024

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: AZ Druck- und Datentechnik GmbH Einband: Industriebuchbinderei Hugo Nädele, Nehren

Inhalt Vorwort Abkürzungen

YTTT XV

Einleitung

1

1

Theoretisch-methodische Vorüberlegungen und Stand der Forschung

5

1.1 1.2 1.3

Dynamik der Entdiglossierung in Deutschland Akkommodationsforschung Datengewinnung in der vorliegenden Untersuchung

5 9 15

2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.5 2.5.1 2.5.2 2.6

Übersiedlung und Integration Zeitpunkt und Art der Übersiedlung Motive für die Übersiedlung Allgemeine Lebensqualität Politische Gründe Familiäre Gründe Arbeitsmarktlage Motive für die Wahl des Wohnortes Private Gründe Landschaftliche Gründe Berufliche Gründe Zufall Typische Erfahrungen am neuen Wohnort Erfahrungen in der Arbeitswelt Erfahrungen bei der Wohnungssuche Erfahrungen mit den Ortsansässigen Vergleiche zwischen Ost- und Westdeutschland Vergleich der Lebensqualität in Ost- und Westdeutschland Vergleich der Mentalität der Ost- und Westdeutschen Zusammenfassung

18 18 20 21 23 24 25 26 26 27 27 28 29 29 33 34 37 37 38 42

3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.1.1

Phonetisch-phonologische Akkommodation Das obersächsische Dialektgebiet Zur Sprachgeschichte des Untersuchungsgebietes Sprachliche Merkmale des Obersächsischen Akkommodation an den Standard Velare Realisierung von langem und kurzem a(:) Auswertung der Daten Allgemeine Tendenzen

43 43 43 46 47 48 49 49

VI 3.2.1.1.2 3.2.2 3.2.2.1 3.2.2.1.1 3.2.2.1.2 3.2.3 3.2.3.1 3.2.3.1.1 3.2.3.1.2 3.2.3.1.2.1 3.2.3.1.2.2 3.2.4 3.2.4.1 3.2.4.1.1 3.2.4.1.1.1 3.2.4.1.1.2 3.2.4.1.2 3.2.4.1.2.1 3.2.4.1.2.2 3.2.5 3.2.5.1 3.2.5.1.1 3.2.5.1.2 3.2.6 3.2.6.1 3.2.6.1.1 3.2.6.1.1.1 3.2.6.1.1.2 3.2.6.1.2 3.2.6.1.2.1 3.2.7 3.2.7.1 3.2.7.1.1 3.2.7.1.2 3.2.8 3.2.8.1 3.2.8.1.1 3.2.8.1.2 3 .2.8.1.3 3.2.9 3.2.9.1 3.2.9.1.1

Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Offene Realisierung von e: Auswertung der Daten Allgemeine Tendenzen Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Nicht-labiale Realisierung von langem und kurzem ö(:) und ü(:) Auswertung der Daten Nicht-labiale Realisierung von ö(:) Nicht-labiale Realisierung von ü(:) Allgemeine Tendenzen Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Zentrale Realisierung von o: und u: im Hauptakzent Auswertung der Daten Zentrale Realisierung von o: Allgemeine Tendenzen Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Zentrale Realisierung von u: Allgemeine Tendenzen Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Nicht-labiale Realisierung des Angiitis im Diphthong oi Auswertung der Daten Allgemeine Tendenzen Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Zentrale und monophthongische Realisierung der Diphthonge ai und au Auswertung der Daten Der Diphthong ai Allgemeine Tendenzen Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Der Diphthong au im Wort auch Allgemeine Tendenzen Koronale Realisierung von ch Auswertung der Daten Allgemeine Tendenzen Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Spirans-Realisierung des intervokalischeng Auswertung der Daten Allgemeine Tendenzen Allgemeiner Vergleich zwischen palatalem und velarem Spirant Untersuchungen der phonologischen und lexikalischen Kontexte Lenis-Realisierung von ρ und t Auswertung der Daten Allgemeine Tendenzen

51 56 57 58 59 63 64 64 64 64 67 69 70 70 70 71 75 75 77 80 80 81 82 84 85 85 86 88 91 91 93 94 95 97 102 103 103 104 105 108 109 110

νπ 3 .2.9.1.2 3.3 3.4 3.4.1 3.4.1.1 3.4.1.2 3.4.2 3.4.2.1 3.4.2.2 3. S 3.5.1 3.5.2 3.6

Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Vergleich der Akkommodation der sprachlichen Variablen Regionale Varietäten der Aufnahmeregionen Konstanz Zur Sprachgeschichte Sprachliche Merkmale Saarbrücken Zur Sprachgeschichte Sprachliche Merkmale Akkommodation an die regionalen Varietäten der Aufnahmeregionen Zum Alemannischen Zum Rhein-/Moselfränkischen Zusammenfassung

111 114 118 118 118 118 120 120 121 122 122 124 125

4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.2.1 4.1.2.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4

Akkommodation nach Aufnahmeregion, Geschlecht und Alter Aufnahmeregion Ergebnisse Interpretation Variablenspezifische Interpretation Weitere Interpretationsansätze Geschlecht Ergebnisse Interpretation Alter Ergebnisse Interpretation Zusammenfassung

127 128 128 135 135 137 138 138 143 146 146 152 153

5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.4.1 5.1.4.1.1 5.1.4.1.2 5.1.4.1.3 5.1.4.1.4 5.1.4.2 5.1.4.2.1 5.1.4.2.2

Soziale Netzwerke Das Konzept der sozialen Netzwerke in den Sozialwissenschafien Formale Soziologie und Beziehungslehre Soziometrie Sozialanthropologie Morphologische und interaktionale Merkmale von sozialen Netzwerken Morphologische Strukturmerkmale Die Verankerung Die Erreichbarkeit Die Dichte Clusterbildungen Interaktionskriterien Die Dauer, Häufigkeit und Intensität einer Interaktion Der Inhalt der Interaktion

155 155 157 158 161 163 164 164 166 167 168 168 168 169

Vili 5.1.4.2.3 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.2.1 5.3.2.2 5.3.2.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6 5.4.7 5.4.8 5.5

Die Multiplexität Anwendungen in der Soziolinguistik Soziale Netzwerkanalyse bei sächsischen Übersiedlerinnen und Übersiedlern.... Datenerhebung Analysekriterien Dichte Kontakte zu Landsleuten am neuen Wohnort Zufriedenheit Netzwerktypen bei Zugezogenen aus Sachsen Netzwerktyp 1 Netzwerktyp 2 Netzwerktyp 3 Netzwerktyp 4 Netzwerktyp 5 Netzwerktyp 6 Netzwerktyp 7 Netzwerktyp 8 Zusammenfassung

6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.3.1 6.1.3.2 6.1.3.3 6.1.3 .4 6.1.3.5 6.1.3.6 6.2 6.2.1 6.2.2

Einstellungen 216 Einstellungsforschung in der Sozialpsychologie 216 Entwicklung der Einstellungsforschung 216 Struktur von Einstellungen 217 Methoden zur Erforschung von Einstellungen 219 Der Grad der „Subjektivität" der Messung 219 Die Art der Reiz-Darbietung 220 Der Grad der Strukturiertheit der Reaktion 221 Der Grad der Direktheit der Reaktion auf das Einstellungsobjekt 222 Der Grad der Getarntheit der Einstellungsmessung 222 Die Dimensionalität der Skalierung 223 Einstellungsforschung in der Linguistik 223 Der subjektive Reaktionstest 223 Die „Matched-Guise-Technik" in Verbindung mit dem Semantischen Differential 224 Das Semantische Differential bei schriftlicher Datenerhebung 226 Die mündliche Einzelbefragung 228 Das informelle Einzelinterview 230 Methoden zur Erfassung von Einstellungen in der vorliegenden Untersuchung.. 234 Untersuchungsgegenstand 234 Untersuchungsmethode 235 Interviewsituation 237 Engere linguistische Kriterien bei der Materialauswertung 238

6.2.3 6.2.4 6.2.5 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4

169 171 178 179 183 184 186 186 187 188 191 197 197 197 202 206 210 214

IX 6.3.5 6.3.5.1 6.3.5.2 6.3.5.3 6.3.6 6.3.6.1 6.3.6.2 6.4 6.4.1 6.4.1.1 6.4.1.2 6.4.1.3 6.4.2 6.4.2.1 6.4.2.1.1 6.4.2.1.2 6.4.2.1.3 6.4.2.2 6.4.2.2.1 6.4.2.2.2 6.4.2.2.3 6.4.2.3 6.4.2.3.1 6.4.2.3.2 6.4.2.3.3 6.4.3

Erfassung von Einstellungen gegenüber sprachlichen Varietäten 240 Individuelle Erfahrungen mit den sprachlichen Varietäten 240 Das Prestige des Obersächsischen als Hetero-Stereotyp 241 Das „Covert Prestige" des Obersächsischen 243 Erfassung von Einstellungen gegenüber dem sozialen und kulturellen Umfeld... 245 Der Begriff der Ortsbezogenheit 245 Der Begriff der sozialen Haltung 250 Definition und Anwendung des Einstellungen-Konzeptes 252 Ortsbezogenheit 252 Ortsbezogenheit zur Aufnahmeregion 252 Keine feste Ortsbezogenheit 253 Ortsbezogenheit zum sächsischen Heimatort bzw. dem Ort, in dem in Sachsen die meiste Zeit verlebt wurde 253 Soziale Haltung 254 Die „Frohnatur" 255 Typ Ia: Die „Frohnatur" mit Ortsbezogenheit zur Aufnahmeregion 256 Typ Ib: Die „Frohnatur" ohne feste Ortsbezogenheit 259 Typ Ic: Die „Frohnatur" mit Ortsbezogenheit zum sächsischen Heimatort 261 Der „Gelassene" 261 Typ IIa: Der „Gelassene" mit Ortsbezogenheit zur Aufnahmeregion 262 Typ Hb: Der „Gelassene" ohne feste Ortsbezogenheit 266 Typ Ile: Der „Gelassene" mit Ortsbezogenheit zum sächsischen Heimatort 267 Der „Kämpfer" 270 Typ lila: Der „Kämpfer" mit Ortsbezogenheit zur Aufnahmeregion 271 Typ Illb: Der „Kämpfer" ohne feste Ortsbezogenheit 275 Typ IHc: Der „Kämpfer" mit Ortsbezogenheit zum sächsischen Heimatort 278 Zusammenfassung 281

7 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.2.1 7.1.2.2 7.1.2.2.1 7.1.2.2.2 7.1.3 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.2.1 7.2.2.2

Soziale Integration und sprachliche Akkommodation Integrationstyp A Soziale Integration Sprachliche Akkommodation Akkommodation an die Standardsprache Annahme von dialektalen Merkmalen der Aufnahmeregion Konstanz Saarbrücken Zusammenfassung Integrationstyp Β Soziale Integration Sprachliche Akkommodation Akkommodation an die Standardsprache Annahme von dialektalen Merkmalen der Aufnahmeregion

282 288 288 288 288 291 291 292 293 293 293 294 294 296

χ 7.2.3 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.2.1 7.3.2.2 7.3.3 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.2.1 7.4.2.2 7.4.2.2.1 7.4.2.2.2 7.4.3 7.5 7.5.1 7.5.2 7.5.2.1 7.5.2.2 7.5.2.2.1 7.5.2.2.2 7.5.3 7.6 7.6.1 7.6.2 7.6.2.1 7.6.2.2 7.6.2.2.1 7.6.2.2.2 7.6.3 7.7 7.7.1 7.7.2 7.7.3 7.7.4 7.8 7.8.1 7.8.1.1 7.8.1.2 7.8.1.2.1 7.8.1.2.2

Zusammenfassung Integrationstyp C Soziale Integration Sprachliche Akkommodation Akkommodation an die Standardsprache Annahme von dialektalen Merkmalen der Aufhahmeregion Zusammenfassung Integrationstyp D Soziale Integration Sprachliche Akkommodation Akkommodation an die Standardsprache Annahme von dialektalen Merkmalen der Aufhahmeregion Konstanz Saarbrücken Zusammenfassung Integrationstyp AB Soziale Integration Sprachliche Akkommodation Akkommodation an die Standardsprache Annahme von dialektalen Merkmalen der Aufhahmeregion Konstanz Saarbrücken Zusammenfassung Integrationstyp BC Soziale Integration Sprachliche Akkommodation Akkommodation an die Standardsprache Annahme von dialektalen Merkmalen der Aufhahmeregion Konstanz Saarbrücken Zusammenfassung Diskussion Integrationstypen A und D Integrationstypen C, D und A Integrationstyp Β Interpretation der sprachlichen Variablen Gewährspersonen mit nicht-linearen Entwicklungsverläufen Gewährsperson Frau Β Soziale Integration Sprachliche Akkommodation Akkommodation an die Standardsprache Annahme von dialektalen Merkmalen der Aufhahmeregion

296 297 297 297 297 300 300 300 300 301 301 303 303 304 305 306 306 306 306 310 310 310 310 311 311 312 312 315 315 315 315 316 316 317 317 318 320 321 321 324 324 326

XI 7.8.1.3 7.8.2 7.8.2.1 7.8.2.2 7.8.2.2.1 7.8.2.2.2 7.8.2.3 7.8.3 7.8.3.1 7.8.3.2 7.8.3.2.1 7.8.3.2.2 7.8.3.3 7.9

Zusammenfassung Gewährsperson Herr V Soziale Integration Sprachliche Akkommodation Akkommodation an die Standardsprache Annahme von dialektalen Merkmalen der Aufhahmeregion Zusammenfassung Gewährsperson Frau C Soziale Integration Sprachliche Akkommodation Akkommodation an die Standardsprache Annahme von dialektalen Merkmalen der Aufhahmeregion Zusammenfassung Zusammenfassung

327 327 328 332 332 334 335 335 335 337 337 340 341 342

8

Gesamtzusammenfassung

344

Literatur Anhang

351 359

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist aus dem von 1990 bis 1993 durch die Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Projekt „Sprachwandel und soziale Integration bei Übersiedlern aus Sachsen" entstanden. Den notwendigen Kürzungen für die Drucklegung fielen insbesondere statistische Berechnungen zu Kapitel 4 zum Opfer, die aber bei Bedarf bei den Autorinnen angefordert werden können. Unser Dank gilt allen Gewährspersonen, die durch ihre bereitwillige Offenheit unsere Untersuchung erst ermöglichten und uns viele Einblicke in eine für uns fremde Lebenswelt lieferten. Auch danken wir Dr. Manfred Pützer, der alle Aufnahmen in Saarbrücken durchführte, sowie Christine Kutnar, die einen Teil der Interviews in Konstanz übernahm. Ganz besonderer Dank gilt Prof. Dr. Peter Auer, der die wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten der politischen „Wendezeit" erkannte, das Projekt ins Leben rief und uns stets mit wertvollen Hinweisen und Verbesserungsvorschlägen zur Seite stand. Ebenso wollen wir Prof. Dr. Jürgen Meier herzlich danken, der zur Drucklegung ebenfalls wesentliche Anregungen beitrug. Auch gilt ein herzliches Dankeschön unseren Korrekturlesern Jakob Barden und Eilerd Großkopf, die sich geduldig durch die vielen Seiten arbeiteten.

Birgit Barden und Beate Großkopf

Hamburg/Mannheim, April 1997

Abkürzungen KN SB I - Vili Kl - K26 SI - S28 S1, VI absol./rel. Differenz koron. os. Real. Sub.

Konstanz Saarbrücken laufende Nummern der Interviews Gewährspersonen in Konstanz Gewährspersonen in Saarbrücken Gewährspersonsigle plus Angabe der Interviewnummer absolute/relative Differenz koronal obersächsisch Realisierung(en) Substandardformen

Einleitung

Der Fall der Mauer im November 1989 war nicht nur das erste deutlich sichtbare Anzeichen für eine bevorstehende Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, er löste auch eine dritte große Zuwanderungsbewegung in die ehemalige Bundesrepublik Deutschland aus. Nach den Flüchtlings- und Vertriebenenbewegungen der späten 40er und frühen 50er Jahre und dem sogenannten Gastarbeiterzustrom der 60er Jahre siedelten sich erneut zahlreiche Migranten, in diesem Falle Aus- und Übersiedler, in der Bundesrepublik an. Die sogenannten „Übersiedler" und „Übersiedlerinnen" sind überwiegend in der DDR aufgewachsen und von der dortigen Kultur geprägt, die sich nach 40 Jahren der Trennung durchaus von der bundesrepublikanischen unterschied. Ihre bisherige „Weltsicht" konnten sie nicht ohne Brüche auf die neue Umgebung übertragen, da ihre gewohnten Interpretations- und Verhaltenskategorien die neue kulturelle Umgebung nicht ohne Probleme erfassen. Gelernte Muster („thinking as usual" (Schütz, 1944)), Situationen zu bewältigen und zu interpretieren, erscheinen hier als inadäquat. So kann man die Übersiedler aus der ehemaligen DDR durchaus als Fremde im Sinne von Schütz (1944) bezeichnen. Alltägliches soziales Handeln und Erleben muß von Übersiedlern hinterfragt werden, wo es von Einheimischen selbstverständlich und meist unbewußt erfahren wird. Das Fehlen eines mit den Westdeutschen gemeinsamen jüngeren kulturhistorischen Hintergrundes führte dazu, daß die Aufriahmekultur von den Übersiedlern als inkohärentes und widersprüchliches System wahrgenommen wurde. Die Übersiedler mußten für jede einzelne Situation entsprechende Regeln zur effizienten Bewältigung erkennen, um Sicherheit und Bestätigung durch ihre Handlungen zu erfahren. Dabei galt es zu unterscheiden, welches Verhalten rein individuenspezifisch geprägt und welches durch kulturelle Regeln bestimmt ist, da die Akzeptanz kultureller Regeln einen Rahmen liefert, anhand dessen eine erfolgreiche Integration in die neue Lebensumwelt stattfinden kann (siehe Schütz, 1944: 499-507). Die sprachliche Verschiedenheit zwischen den Zugezogenen und der Aufnahmegesellschaft ist im Fall der Übersiedler und Übersiedlerinnen aus der ehemaligen DDR vergleichsweise gering: Es muß keine Sprache neu erlernt werden, um verbale Verständigung zu erzielen. Dennoch können dialektale Unterschiede als Oberflächenindikator sozialer und kultureller Fremdheit Anlaß zu Problemen bei der Aufnahme in die neue soziale Umgebung, sogar zu Ablehnung und Stigmatisierung sein; umgekehrt stellen dialektale Eigenheiten aber auch eine wichtige Ressource für die Sicherung der eigenen Identität der Zugezogenen dar. Da Zugezogene aus der ehemaligen DDR, nachdem die anfängliche Euphorie über die Wiedervereinigung abgeklungen ist, vielfach als direkte Konkurrenz auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt wahrgenommen werden, stellt sich das Problem sprachlicher Verschiedenheit im Alltag besonders für jene Zugezogenen, deren Herkunftsdialekt von der Bevölkerung der alten Bundesrepublik eindeutig mit der DDR in Verbindung gebracht wird: für Thüringer und, deutlicher noch, für Sachsen. Das Obersächsische ist seit längerer Zeit - unabhängig von der jetzt erfolgten Migra-

2 tionsbewegung - als besonders unbeliebter deutscher Dialekt bekannt,1 weshalb Sprecher und Sprecherinnen dieser Varietät unter einem nicht unerheblichen Druck stehen, deutliche dialektale Merkmale abzulegen und möglicherweise regionale Eigenheiten anzunehmen. Die Auswirkungen eines solchen Anpassungsdruckes stellen für die soziolinguistische Forschung ein interessantes Aufgabengebiet dar, das in dieser Longitudinalstudie auf breiterer Datengrundlage bearbeitet wird. Die vorliegende Arbeit untersucht die Interaktion zwischen sprachlicher Akkommodation bzw. Nicht-Akkommodation und sozialer Integration, indem der tatsächliche Verlauf der sprachlichen Veränderungen bei einer Gruppe von Übersiedlern und Übersiedlerinnen phonetisch-phonologisch beschrieben wird und zugleich erforscht wird, wie die Art der Integration in die Aufnahmegesellschaft sich auf eine sprachliche Anpassung auswirkt.2 Zur Erfassung der sozialen Integration werden die Konzepte der sozialen Netzwerke und der Einstellungen zum kulturellen Umfeld angewendet. Konzeption der Untersuchung Begonnen wurde mit der Datenerhebung im Oktober 1990, also ein Jahr nach der MaueröfFnung. Im Schneeballsystem wurde Kontakt zu sächsischen Übersiedlerinnen und Übersiedlern in Konstanz und näherer Umgebung, ab Februar 1991 auch im Kreis Saarbrücken, aufgenommen. Ein Vergleich zwischen zwei unterschiedlichen Regionen bietet sich an, weil der allgemeine Verlauf der Integration der Zugezogenen von Region zu Region verschieden ausfallen kann. Saarbrücken ist ein industrielles Ballungsgebiet mit hoher Arbeitslosigkeit, wirtschaftlichen Schwierigkeiten und großer sozialer sowie regionaler Mobilität, bei Konstanz hingegen handelt es sich um eine wenig industrialisierte, mittelgroße Stadt mit geringer Arbeitslosigkeit, die gewachsene und wenig veränderte Strukturen aufweist und deren Einwohner sozial nur wenig mobil und außerdem fester an den Ort gebunden sind. Diese differenten sozialen Voraussetzungen sowie damit verbundene Mentalitätsunterschiede in den jeweiligen Regionen können sich unterschiedlich auf die soziale und, damit verbunden, auch auf die sprachliche Integration in die Aufnahmegesellschaft auswirken. Zudem können die deutlichen Unterschiede zwischen Saarbrücker und Konstanzer Stadtdialekt interessante Rückschlüsse auf die Rolle des lokalen Dialekts der Aufhahmeregion bei der Interpretation der sprachlichen Anpassung ermöglichen. Insgesamt wurden 26 Gewährspersonen in Konstanz und 28 in Saarbrücken interviewt.3 Alle Gewährspersonen kommen aus der Region des jetzigen Bundeslandes Sachsen, d. h., sie

Siehe Bausinger (1972: 21) und eine Umfrage der Zeitschrift „Wiener" (1991). Siehe auch Kapitel 6, in dem auf das Prestige des Obersächsischen ausfuhrlich eingegangen wird. In der vorliegenden Untersuchung wird der Terminus „Sprachwandel" bei einer Akkommodation an den Standard ausschließlich phonetisch-phonologisch verstanden, während bei einer Akkommodation an den Dialekt der Aufhahmeregion auch morphologische, syntaktische und lexikalische Phänomene Berücksichtigung finden. In beiden Aufnahmeregionen stand je eine Person nur im ersten Untersuchungsjahr fur Interviewaufhahmen zur Verfugung. Aus diesem Grund ist in den weiterfuhrenden Analysen (ab Kapitel 3) nur noch von 52 Personen die Rede.

3

sollten dort aufgewachsen sein und die letzten Jahre vor ihrer Übersiedlung dort gewohnt haben. Zudem sollten sie zu Beginn unserer Interviewphase nicht länger als 15 Monate in Westdeutschland gelebt haben. Außau der Arbeit Zunächst wird im ersten Kapitel ein Überblick über richtungsweisende Studien zu Akkommodationsprozessen gegeben, um diese Untersuchung in den allgemeinen Forschungsrahmen einzubinden.4 Zudem werden die in der vorliegenden Untersuchung angewendeten Methoden zur Datengewinnung vorgestellt. Die sozialen Faktoren der Übersiedlung und des Integrationsverlaufes der einzelnen Informanten und Informantinnen bilden den Bestandteil des zweiten Kapitels. Hier werden die Umstände der Übersiedlung, die Motive dafür sowie die Erfahrungen am neuen Wohnort nachgezeichnet. Im Anschluß daran werden einige typische Integrationsverläufe geschildert. Im dritten Kapitel erfolgt eine Beschreibung der Dialekte, die in der Studie eine Rolle spielen: das Obersächsische, das Alemannische und das Rhein-/Moselfränkische. Zunächst wird die sprachliche Akkommodation an den Standard variablenspezifisch dargestellt und interpretiert. Darüber hinaus werden die phonologischen Kontexte, in denen die zu untersuchenden sprachlichen Variablen besonders häufig obersächsisch realisiert werden, vorgestellt. Dies dient zur Analyse der Frage, ob eine dialektale Realisierung auf phonologischen Kontextregeln oder auf Lexikalisierung beruht. Da die Entwicklung zum Standard je nach Variable unterschiedlich stark ist, wird eine Hierarchie der Merkmale entsprechend der Reihenfolge, in der sie von den Gewährspersonen abgelegt werden, aufgestellt. Ebenso werden die von den Gewährspersonen angenommenen dialektalen Merkmale der beiden Aufiiahmeregionen in ihrer hierarchischen Ordnung vorgestellt. Nachdem im dritten Kapitel eine ausschließlich linguistische Analyse der sprachlichen Variablen vorgenommen wird, erfolgt im vierten Kapitel eine Verknüpfung mit den außersprachlichen Variablen Alter, Geschlecht und Wohnort. Die Parameter Alter und Geschlecht werden als Basiskomponenten gesellschaftlicher Gliederungen interpretiert,5 der Parameter Wohnort dient der Überprüfung des Einflusses der Aufhahmeregion, da unterschiedliche Sprachvarietäten und unterschiedliche Mentalitäten Sprachwandel beschleunigen oder beeinträchtigen können. Eine Interpretation dieser Variablen leistet aber keine Erklärungsansätze dafür, warum beispielsweise eine junge Sächsin ihre Sprachvarietät nur wenig verändert, obwohl sie einen Ortswechsel nach Konstanz vorgenommen hat, während eine andere junge Sächsin ihre obersächsischen Formen bereits nach kurzer Wohndauer in Konstanz ablegt. Da Sprachwandel bzw. sprachliche Anpassung ein über längere Zeit andauernder Prozeß ist, der vom Individuum in Interaktion mit seiner Lebenswelt mehr oder weniger bewußt vollzogen wird, muß ein Modell diesen Wandel nachvollziehen und erklären können.

Entsprechende Sprachwandelstudien liegen im deutschsprachigen Raum bislang nicht vor. Studien, die die außersprachlichen Parameter Alter und Geschlecht im deutschsprachigen Raum berücksichtigen, sind u. a. Ammon (1973), Hofmann (1963), Stellmacher (1977).

4 Deshalb liegt der Schwerpunkt der soziolinguistischen Analyse zum einen auf dem Konzept des sozialen Netzwerks, das die für Zugezogene relevanten und somit identitätsbildenden Sozialkontakte berücksichtigt. Zum anderen werden die Einstellungen der Gewährspersonen gegenüber dem neuen kulturellen und sozialen Umfeld interpretiert. Das Konzept der sozialen Netzwerke wurde in den Sozialwissenschaften entwickelt, Einstellungen bislang vorrangig im Bereich der Sozialpsychologie erforscht. Die Anwendung dieser beiden Konzepte auf linguistische Untersuchungen erfolgt in der Soziolinguistik seit etwa 30 Jahren. In den Kapiteln fünf und sechs wird zunächst ein Überblick über den jeweiligen Forschungsstand gegeben, um im folgenden eine jeweilige Arbeitsmethode für unsere Studie zu entwickeln. Dabei stehen die beiden angewandten Konzepte in enger Relation zueinander: eine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber der neuen kulturellen Umgebung wird für die Kontaktaufhahme zum sozialen Umfeld eher förderlich sein; analog dazu vermittelt auch das Eingebundensein in ein soziales Netzwerk die Formierung positiver Einstellungen. Im siebten Kapitel schließlich erfolgt eine Verknüpfung der zuvor entwickelten Netzwerkund Einstellungskonzepte durch die Bildung von sechs Integrationstypen, die sich durch eine spezifische Kombination von sozialem Netzwerk und Einstellungen voneinander unterscheiden. Diese Differenzen in den sozialen Variablen spiegeln sich auch in der sprachlichen Entwicklung wider: Akkommodation an den Standard sowie an den jeweiligen Dialekt der Aufnahmeregion ist als linguistische Entsprechung zu einem bestimmten Integrationsverlauf zu interpretieren. Im Kapitel sieben wird dies dargestellt und analysiert, welche sprachliche Entwicklung analog zu welchem sozialen Integrationsverlauf stattfindet.

1 Theoretisch-methodische Vorüberlegungen und Stand der Forschung

Dieses Kapitel gibt zunächst einen theoretischen Überblick über das Verhältnis zwischen Standard und Dialekten im deutschsprachigen Raum; anschließend werden einige Studien zur Akkommodationsforschung aus dem englischsprachigen Raum vorgestellt, um die vorliegende Studie in einen theoretisch-methodischen Rahmen zu setzen.

1.1 Dynamik der Entdiglossierung1 in Deutschland Die Verbreitung der Standardvarietät im mündlichen Sprachgebrauch beginnt in Deutschland im wesentlichen im 19. Jahrhundert.2 Dieser Vorgang wird zum einen durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht gegen Ende des 18. Jahrhunderts begünstigt, zum anderen aber auch insbesondere durch die im 19. Jahrhundert einsetzende und sich ausbreitende Industrialisierung und, in einem weiteren Schub, durch die Urbanisierung nach dem 2. Weltkrieg, die gesteigerte geographische und soziale Mobilität sowie das Aufkommen neuer Medien. Diese Faktoren führten zur Ausweitung und Öffnung der Kommunikationsgemeinschaften, zur Zugehörigkeit von Individuen und Gruppen zu verschiedenen, räumlich und sozial divergierenden Gemeinschaften.3 Zunächst breitet sich die Standardsprache lediglich in einige Domänen aus (die als „formelle Situationen" beschrieben werden können), während sich im privaten Bereich der Dialekt noch bis in die heutige Zeit in ländlichen Gegenden halten kann. Auch vollzieht sich der Abbau der Dialekte in den Städten zügiger als auf dem Land. Personen, bei denen heute noch ausgeprägter Dialekt zu hören ist, zeichnen sich im allgemeinen dadurch aus, daß sie relativ alt sind, auf dem Land wohnen, geographisch immobil sind und sich in einem informellen Gespräch befinden. Durch die oben genannten Faktoren (Schulpflicht, Industrialisierung, Urbanisierung und deren Folgen) wird jedoch ein Prozeß der Lockerung von Sprachgrenzen in Gang gesetzt, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Das bedeutet, daß keine eindeutige sprachliche Situation vorliegt, sondern daß, so Coseriu, eine Dreiteilung der „Architektur der Sprache" besteht, die Sprachgebrauch nach folgenden Typen differenziert:4 Diatopische Unterschiede (raumgebunden), diastratische Unterschiede (sozialschichtgebunden) und diaphasische Unterschiede

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Der Begriff „Entdiglossierung" stammt von Bellmann (1983: 117). Siehe Besch (1983: 1404Í). Siehe Bellmann (1983: 111). Coseriu (1966: 175-252) trennt die Ebene der „Architektur der Sprache" von der Ebene der funktionellen Sprache, welche homogen, aber nicht identisch ist mit tatsächlich gesprochener Sprache. Hier setzt Coseriu einen wichtigen Gegenpol zur strukturalistischen Sprachwissenschaft, die Sprache ausschließlich als homogen und statisch betrachtet.

6 (generationsgebunden).5 Die Ausweitung der Standardsprache fuhrt jedoch dazu, daß nicht mehr jeder Sprecher und jede Sprecherin über eine (Grund)varietät verfugt, sondern über (mindestens) zwei Formen derselben Sprache, im Falle der deutschsprachigen Länder des Deutschen.6 Für eine solche sprachliche Situation prägte Charles Ferguson den Begriff „Diglossie". Er bezeichnet mit dem Terminus „Diglossie" die funktionale Verteilung einer „High"-Varietät und einer „Low"-Varietät.7 Die „High"-Varietät findet in formellen, öffentlichen Situationen, die „Low"-Varietät in informellen, privaten Situationen Verwendung. Seit dem frühen 19. Jahrhundert kann von einer Diglossie zwischen Dialekt und Standard in Deutschland gesprochen werden, da die sich ausbreitende Standardsprache zu einer Repertoire-Erweiterung bei der Landbevölkerung fuhrt. Aus dieser Diglossie heraus entsteht die Möglichkeit des situationsgesteuerten Code-switching zwischen Standardsprache (in der Öffentlichkeit) und Dialekt (im privaten Bereich). Dabei prägt allerdings die dialektale Basis in der Regel die Standardvarietät mit. Die Vielzahl von Dialekten des Deutschen, die sich vom Bairischen und Alemannischen im Süden bis zu den verschiedenen niederdeutschen Dialekten im Norden erstrecken, üben einen beachtlichen Einfluß auf die regionale „Norm" des Standards aus. Diese sogenannte „Plurizentrizität" bewirkt, daß ein „Standardsprecher" in Bayern über eine andere Varietät verfugt als ein „Standardsprecher" in Schleswig-Holstein.8 Jedoch tritt mit der Ausbreitung der Standardsprache auch ein Phänomen hervor, das eine weitere Varietät in die Sprachlandschaft einfuhrt: Die Standard-Dialekt-Interferenz, die Zwischenformen zwischen beiden Varietäten mit sich bringt. Besch (1979) stellt fest, daß die Wirkung von Interferenzen mit dem sprachlichen Abstand der einzelnen deutschen Sprachregionen zum Zentrum der Schreibsprache (ostmitteldeutsche-ostoberdeutsche Basis)9 in engem Zusammenhang steht.10 Je weiter die Sprachregionen geographisch vom ostmitteldeutschen Sprachraum entfernt liegen, desto größer ist auch der sprachliche Abstand. Folglich entsteht im Niederdeutschen ein deutliches Diglossie-Verhältnis zwischen Hochdeutsch (in Kirche, Verwaltung und Schule) und Niederdeutsch, der immer weiter überlagerten Volkssprache. In dem Ostmitteldeutschen angrenzenden Gebieten hingegen wird die neue Standardsprache mit der angestammten Varietät vermischt, wodurch eine neue Sprachform entsteht. In beiden Fällen kommt es früher oder später zum Dialektabbau: Sei es durch ständige Erweiterung der Domänen des Standards (wie es in den Regionen mit ursprünglich niederdeutschen Mundarten der Fall ist), sei es durch Sprachveränderungen derart, daß die ursprünglichen dialektalen Varianten abgebaut werden zugunsten von „Mischvarianten".

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Siehe auch Goossens (1977), der den drei Diffenzierungen Coserius die diasituative Differenzierung hinzufügt, die sich auf situationsspezifischen Sprachgebrauch bezieht. Als „deutschsprachige Länder" werden Deutschland, Österreich, Liechtenstein und die deutschsprachige Schweiz bezeichnet. Aber auch auf die Länder, in denen Deutsch auf regionaler Ebene Amtssprache ist (das sind Luxemburg, Italien und Belgien), trifft diese Feststellung zu. Siehe zu diesen Ausführungen Ammon (1991). Siehe Ferguson (1959). Siehe Ammon (1991: 21). Zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache siehe Kapitel 3.1. Siehe Besch (1979: 331-332).

7 Diese „Mischvarianten" fuhren zu einer neuen sprachlichen Varietät, die vielfach als „Umgangssprache" bezeichnet wird. Der Begriff „Umgangssprache", den Bichel (1973) ausführlich thematisiert, ist jedoch umstritten. Auer (1990)11 kritisiert an den Versuchen, mit diesem Begriff den Bereich zwischen Grunddialektlautung und Orthoepie zu erfassen, den „terminologischen Wirrwarr" (Auer, 1990: 10), der schon deshalb entstehen muß, da von vornherein zwei grundverschiedene Auffassungen über Umgangssprache konkurrieren: Zum einen eine „niederdeutsche" Auffassung, die als Umgangssprache nur den „oberen" Bereich, nahe an der Standardlautung, bezeichnet, zum anderen die „oberdeutsche" Auffassung, die damit den gesamten Standard-Dialekt-Variationsraum bezeichnet. Mit dem vielmals „Umgangssprache" genannten „mittleren Bereich" und den damit verbundenen Definitionsproblemen setzt sich auch Bellmann (1983) auseinander. Er bezeichnet das Phänomen „Dialektabbau" als Folge des Tatbestandes, daß „historisch eng verwandte, strukturell ähnliche Varietäten durch Schübe sprachextern ausgelöster Interferenz einander noch ähnlicher werden" (Bellmann, 1983: 111). Die Zwischenvarietät, die entsteht, ist jedoch nicht als eigenständige Varietät zu bezeichnen, sondern als Resultat einer Annäherung von Dialekt und Standard: „Die Basisdialekte bauen ihre kontrastierenden Regeln und Inventaibestandteile ab, indem sie sie umbauen, und gelangen über Regionaldialekte in einen mittleren Bereich nahe der Standardsprechsprache, jedenfalls mit ihrem sprachgeschichtlich jüngeren Variantenbestand. Die Standardsprechsprache auf der anderen Seite senkt ihre Gebrauchsnonn und strebt damit demselben Zwischenbereich zu." (Bellmann, 1983: 117)

De facto wird heute einerseits der Dialekt in den meisten Situationen gemieden, andererseits der Standard nicht ganz erreicht. Bellmann führt für den „sprechsprachlichen" Gesamtbereich unterhalb des Standards den Begriff „Substandard", fur den „mittleren" Bereich zwischen Standard und Basisdialekt den Begriff „Neuer Substandard" ein. Da sich nach Bellmann die Varietäten Dialekt und Standard aufeinander zu entwickeln, wird der Bereich des „Neuen Substandards" für die Alltags-Kommunikation immer wichtiger. Diglossie wird schließlich, so Bellmann, dadurch aufgehoben, daß der „Neue Substandard", dessen Pole die Varietäten „Standard" und „Dialekt" bilden, ein breites Spektrum von Kommunikationsformen und nahezu alle Domänen abdeckt. Das bedeutet allerdings, daß sowohl die Standardsprache als einzige national anerkannte Varietät als auch die Grunddialekte im Laufe der Zeit an Bedeutung einbüßen und somit verlorengehen. Auer (1996) versteht die Entdiglossierung als Kombination aus zwei verschiedenen Prozessen: zum einen besteht die Möglichkeit, daß anstelle einer einzigen deutschen Standardvarietät mehrere solcher Varietäten füngieren. Dies ist die Folge der Tatsache, daß sich manche Dialektgebiete immer weniger an derselben Standardvarietät wie der Deutschlands orientieren (was in der Schweiz, teils auch in Österreich der Fall ist). Die Spannbreite der Grunddialekte bleibt dabei jedoch erhalten. Zum anderen gibt es auch den entgegengesetzten Weg, daß die Grunddialekte zugunsten einer allgemeinen regionalen Verkehrs-

Bei Auer (1990: 9ff.) wird auf weitere Literatur zum Begriff „Umgangssprache" verwiesen.

8 spräche verschwinden, wie dies in städtischen Ballungsräumen (etwa im Ruhrgebiet) bereits geschehen ist.12 Nach diesen Vorüberlegungen sind zwei Fragen zu stellen: 1) Wie gestaltet sich der Kontakt zwischen Dialekt und Standard tatsächlich? Diese Frage betrifft die vertikale Ebene, die untersucht, ob sprachliche Akkommodation an die Standardsprache vollzogen wird. Klassische soziolinguistische Arbeiten in der Labov-Tradition beschäftigen sich mit der Untersuchung des vertikalen Ausgleichs. 2) Wie gestaltet sich der Kontakt zwischen zwei fremden Dialekten? Diese Frage bezieht sich auf die horizontale Ebene, also auf die sprachliche Akkommodation an einen anderen Dialekt. Klassische sozio-dialektologische Fragestellungen beschäftigen sich mit möglicher geographischer Beeinflussung benachbarter Dialektgebiete über relativ lange Zeiträume hinweg, also mit Untersuchungen zur Frage 2. Hier sind ζ. B. die Untersuchungen von Debus zur Ausstrahlung von Stadtdialekten zu nennen (Debus 1962), aber insbesondere auch die Studien von Hofmann (1964), Wolfensberger (1967) und Besch (1983), die das Sprachverhalten von Pendlern analysieren, also sprachliche Variation aufgrund des Sprachkontaktes zwischen dem dörflichen Dialekt und der Varietät der nahegelegenen größeren Stadt.13 Es handelt sich hier um Untersuchungen, die sich mit den sprachlichen Folgen der gestiegenen geographischen Mobilität befassen. Auch die vorliegende Studie beschäftigt sich mit den Folgen der geographischen Mobilität; jedoch beschreiben wir einen kurzfristigen Akkommodationsprozeß von Dialektsprechern und Dialektsprecherinnen, die sich in einer neuen sprachlichen Umgebung befinden. Es wird also nicht ein durch geographische Nachbarschaft gekennzeichnetes Verhältnis zweier Dialekte untersucht, sondern zwei Dialekte, die räumlich weit entfernt liegen. Sprachliche Veränderungen können nun, wie oben angedeutet, auf zweierlei Ebenen geschehen: Zum einen ist eine Entwicklung in Richtung auf den Standard zu erwarten, wobei mit Standard jedoch nicht eine Siebssche Norm gemeint sein kann. Merkmale wie beispielsweise die Aspiration oder die Auslautverhärtung sind nicht zu erwarten, da sie in der Standardsprache mancher Gegenden kaum Verwendung finden. Man kann allerdings durchaus von einem Kern der standarddeutschen Phonologie ausgehen, der allgemeindeutsch präsent ist, wobei im wesentlichen die Repräsentation der deutschen Orthographie von Bedeutung ist. Ein solcher Kern ist in der vorliegenden Studie gemeint, wenn von „Standard" gesprochen wird. Zum anderen ist eine Entwicklung in Richtung auf den Dialekt der Aufnahmeregion zu erwarten. Hier hat die vorliegende Untersuchung den Vorteil, daß die sächsischen Gewährspersonen zum Teil mit einer alemannischen, zum Teil mit einer rhein-/moselfränkischen Varietät in Kontakt kommen. Nicht nur die Annahme dialektaler Formen der jeweiligen Aufnahmeregion ist also zu beschreiben, sondern es ist auch mit einer geringeren Akkommodation an den Standard bei solchen phonologischen Merkmalen zu rechnen, die bei der obersächsischen Varietät und der Varietät einer der Aufnahmeregionen übereinstimmen. Die vorliegende Untersuchung wird sich sowohl der Akkommodation an den Standard als auch der Akkommodation an den Dialekt der jeweiligen Aufnahmeregion widmen. Siehe Auer (1996), der mehrere mögliche Modelle der Entdiglossierung diskutiert. Auf die Untersuchungen von Wolfensberger, Hofmann und Besch wird im Kapitel 6 genauer eingegangen.

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1.2 Akkommodationsforschung Dialektanpassung innerhalb der beiden oben genannten Dimensionen, also Akkommodation in Richtung auf den Standard einerseits und in Richtung auf den Dialekt der Aufnahmeregion andererseits während eines klar umrissenen Zeitraums, ist in der deutschen Dialektologie und Soziolinguistik bislang nicht untersucht worden. Entsprechende Untersuchungen liegen jedoch im englischen Sprachraum vor; sie sollen im folgenden skizziert werden. Im englischsprachigen Raum entwickelten sich in Auseinandersetzung mit den soziolinguistischen Untersuchungen von Labov und dessen „linguistic variable" als einer strukturellen Einheit Studien über sprachliche Anpassungsprozesse. Hierbei wird generell zwischen Studien über „short-term dialect accommodation" und Studien über „long-term dialect accommodation" differenziert.14 Bei ersteren Untersuchungen ist die kurzfristige Anpassung („accommodation") an einen Gesprächspartner innerhalb einer kommunikativen Einheit von Interesse,15 bei letzteren Untersuchungen werden Phänomene der längerfristigen sprachlichen Anpassung beobachtet.16 Davon zu differenzieren sind Studien - wie sie insbesondere von Labov durchgeführt werden - über mittel- oder langfristigen Sprachwandel, der sich meist über Generationen hinweg etabliert.17 Labov betrachtet sprachliche Anpassung unter anderem als Annäherung an die prestigereichere Varietät. Hierbei spiegelt die Differenzierung zwischen linguistischen Stereotypen, Markern und Indikatoren die unterschiedliche Kontrollierbarkeit der sprachlichen Merkmale einer sozialen Schicht und ihr soziales Prestige wider.18 Sprachwandel läßt sich nach Labov am einfachsten dokumentieren, wenn man Material von zwei aufeinander folgenden Sprechergenerationen zur Verfugung hat. Seine eigenen Daten aus Martha's Vineyard und New York ergänzt Labov durch ältere Daten aus Sprachatlanten. So können regelmäßige Prozesse des Lautwandels durch die Beobachtung über zwei Generationen herausgearbeitet werden. Lautwandel ist, so Labov, eher eine komplexe Reaktion auf viele Aspekte menschlichen Verhaltens als eine autonome Entwicklung. Für ihn ist nicht die Datenvermehrung wesentlich, sondern die Genauigkeit bei der Analyse einer Population und der Auswahl der Informanten. In seiner 1966 durchgeführten New York-Studie untersucht Labov beispielsweise, ob ein formaler Kontext der sozialen Interaktion eher die Verwendung der prestigereichen Varietät begünstigt als ein weniger formaler sozialer Kontext. Mit den Methoden der korrelativen Soziolinguistik19 erkennt Labov Regelmäßigkeiten, die er auf Unterschiede im Grad der Formalität der Sprechsituation zurückfuhrt.20 Hier setzt die Kritik von Giles, der ebenfalls korrelativ arbeitet, an Labovs Methoden an. Nach Giles (1973) liegt eine Variation in der Aussprache eher an den Personen, die an der 14 15 16 17 18 19

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Siehe Trudgill (1986). Siehe hierzu insbesondere die Akkommodationstheorie von Giles (1973). Trudgill (1986), Chambers (1992), Shockey (1984), Payne (1989). Siehe beispielsweise Labov ( 1966a). Siehe zur Unterscheidung zwischen Stereotypen, Indikatoren und Markern Labov (1972b). Die korrelative Soziolinguistik erhebt zunächst sprachliche und soziale Daten separat, um sie in einem nächsten Schritt aufeinander zu beziehen. Siehe hierzu insbesondere Labov (1966b und 1975).

10 Kommunikation teilnehmen, als am Kontext. Labov habe seinen eigenen Einfluß als Interviewer auf das sprachliche Verhalten seiner Informanten nicht berücksichtigt. Giles betrachtet hingegen die kurzzeitige situative Anpassung (Konvergenz und Divergenz) innerhalb eines Gespräches. In seinem sozialpsychologisch orientierten Modell berücksichtigt er kontextuelle und interpersonelle Aspekte, wobei persönlichkeitsgebundene Aspekte wie Über- bzw. Unterlegenheit als Erklärungsansätze herangezogen werden. Nach Giles (1973) verfugen Personen über ein Repertoire, das meistens von einer eher standardnahen Varietät bis zu relativ ausgeprägten dialektalen Formen reicht („accent repertoire"), aus dem sie, je nach situationellen Bedingungen, das entsprechende Gesprächsrepertoire auswählen können („accent mobility"). Weiterhin unterscheidet Giles dahingehend, ob sich der Sprecher vom Empfanger sprachlich distanziert („accent divergence") oder sich ihm angleicht („accent convergence"). Konvergenz kann entweder zur prestigereicheren Varietät hin stattfinden („upward accent convergence") oder zur prestigeloseren („downward accent convergence"). Durch diese unterschiedlichen Konvergenzarten kann soziale Distanz bzw. Nähe geschaffen werden, wobei signalisiert wird, daß man eine gemeinsame bzw. unterschiedliche Herkunft und eine gemeinsame bzw. differierende Kommunikationsbasis hat. Dabei wird davon ausgegangen, daß bei einer „AufwärtsKonvergenz" der Empfänger nicht nur höheres Sprachprestige hat, sondern auch höheres soziales Prestige. Entsprechend umgekehrt verhält es sich bei einer „Abwärts-Konvergenz". Die Akkommodationstheorie versucht zwar zu erklären, warum und in welchem Ausmaß Personen ihre Sprache modifizieren, wenn Sprecher unterschiedlicher Varietäten mit unterschiedlichem sozialen Status aufeinandertreffen, sie kann jedoch die Richtung der Akkommodation, also die Frage, wer sich wem anpaßt (also ob eine Konvergenz zur prestigereicheren oder prestigeloseren Varietät oder eine Divergenz stattfinden wird), nur schwer vorhersehen. Die Daten werden sowohl bei Labov als auch bei Giles durch strukturierte Interviews erhoben, die bei Giles (1973) eher experimentellen Charakter haben. Labov verwendet zusätzlich das Lesen von Wortlisten und Texten sowie das Erzählen von emotional gefärbten Situationen zur Erfassung unterschiedlicher Sprachstile. Akkommodation kann aber nicht nur zwischen sozial unterschiedlichen Varietäten, also zwischen Soziolekten, stattfinden, sondern auch zwischen regional unterschiedlichen Varietäten. Zudem findet Akkommodation sowohl über längere Zeitspannen als auch innerhalb kurzer Kommunikationssequenzen statt. Während bei der Betrachtung der sprachlichen Anpassung innerhalb einer Interaktionseinheit vorwiegend Untersuchungen bei Sprechern derselben Sprechgemeinschaft durchgeführt werden, die aus unterschiedlichen Schichten stammen,21 beziehen sich Studien über „long-term accommodation" auf Sprecher, die aus ihrer gewohnten sprachlichen Umgebung in eine neue Sprechgemeinschaft gezogen sind. Während es bei ersteren Untersuchungen um soziale Differenzen geht, sind bei letzteren vorwiegend regionale Verschiedenheiten von Bedeutung. Im englischsprachigen Raum sind Studien zur „long-term accommodation" bisher meist mit unterschiedlichen Standardvarietäten (beispielsweise amerikanisches Englisch vs. englisches Englisch oder kanadisches Englisch) durchgeführt worden. Hierbei wird untersucht, inwieweit sich Sprecher aus dem jeweiligen anderen Sprachraum am

Dies trifft auch auf Labovs Verfahren zu.

11 neuen Wohnort sprachlich anpassen.22 Payne (1980) hingegen untersucht die Akkommodation von Sprechern verschiedener Dialekte des amerikanischen Englischs innerhalb der USA. Sie beobachtet die sprachliche Anpassung von Kindern, die aus unterschiedlichen Regionen nach Philadelphia gezogen sind. Wie diese Studien zeigen, kann bei einer Betrachtung der Akkommodation über einen längeren Zeitraum deutlicher als über einen kürzeren Zeitraum festgestellt werden, wer sich wem anpaßt: Es wird der Kontakt zwischen Sprechern unterschiedlicher regionaler Varietäten betrachtet, wobei die regional mobilen Personen meist eine Minderheitengruppe am neuen Wohnort bilden und sich der nicht mobilen Mehrheitsgruppe über einen längeren Zeitraum hinweg anpassen. Hierdurch können das Ausmaß der Akkommodation, die Frage, warum einige sprachliche Merkmale stärker oder schwächer abgelegt werden als andere und die Beeinflussung der Akkommodation durch situative und soziale Ereignisse analysiert werden. Sprachliche Akkommodation über eine Sprechgemeinschaft hinaus beinhaltet zudem im Unterschied zu Akkommodationsprozessen innerhalb einer Sprechgemeinschaft nicht nur die Frequenzwechsel einer bestimmten Variablen, die der Sprecher schon beherrscht, sondern er muß möglicherweise ganz neue Aussprachemerkmale annehmen, die vorher in seiner Sprechgemeinschaft nicht auftraten. Hier tritt häufig die Frage auf, ob von einer zugrundeliegenden Sprache, beispielsweise Englisch, ausgegangen werden kann, oder ob andere zugrundeliegende sprachliche Definitionen bestimmt werden müssen (Le Page/Tabouret-Keller 1985). Mehrere Studien beschäftigten sich in den letzten Jahren mit diesen Fragestellungen, wobei das Interesse besonders auf der Erkennung von Regelmäßigkeiten bei Akkommodationsprozessen liegt, d. h., ob Variablen fakultativ abgelegt bzw. angenommen werden oder ob sich generelle Tendenzen und Regeln erkennen lassen. Hierbei wird versucht, durch eine phonetisch-phonologische Analyse der untersuchten sprachlichen Merkmale Regelmäßigkeiten von Sprachwandelprozessen bzw. Akkommodationsprozessen herauszuarbeiten, wobei insbesondere die Salienz (Auffälligkeit) von Merkmalen und die zugrundeliegende Komplexität von phonetisch-phonologischen Regeln von Bedeutung ist.23 Payne (1980) untersucht die Sprache von Kindern in Philadelphia, die mit ihren Eltern aus anderen Gegenden der USA dorthin gezogen sind, wobei sie der Frage nachgeht, inwieweit Kinder in einem bestimmten Alter das phonologische System eines neuen Dialektes erwerben können. Hierbei interessiert sie insbesondere, welche Regeln zugezogene Kinder erwerben und welche sozialen Faktoren einen Erwerb begünstigen oder erschweren. Das Untersuchungsgebiet wird von Payne aus vier Gründen ausgewählt: 1) Es gibt einen dominanten Dialekt und viele Familien aus anderen Dialektgegenden. 2) Die Kinder hatten in dieser Gegend die Gelegenheit, neue dialektale Formen zu erwerben. 3) Es besteht eine Situation, in der die Sprache der Eltern maximal den Spracherwerb der Kinder beeinflussen kann. 4) Die nicht-lokalen Dialekte genießen ein neutrales oder hohes Prestige.

22 23

Siehe Shockey (1984) oder Trudgill (1986). Siehe hierzu auch Schirmunski und die Diskussion in Kapitel 3. Siehe auch Auer/Barden/Großkopf (1996).

12 Es zeigen sich folgende Ergebnisse: Sprachliche Variablen, die dem eigenen Dialekt ähnlich sind, werden schneller angenommen als solche Merkmale, die sich von dem eigenen Dialekt deulich unterscheiden. Dies geschieht zum einen, weil die Artikulationsdifferenzen nicht so groß sind und zum anderen, weil diese Merkmale von den Zugezogenen nicht stigmatisiert werden (Payne, 1980: 151). Zudem zeigt sich, daß das Alter der Kinder, in dem sie in die neue Umgebung gezogen sind, entscheidenden Einfluß auf den Erwerb des neuen Dialektes hat. Sogar achtjährige Kinder sind nicht mehr fähig, bestimmte komplexe sprachliche Merkmale zu erwerben. Zudem werden einfache phonetische Regeln schneller und leichter erworben als komplexe. Shockey (1984) analysiert die sprachliche Anpassung von Amerikanern in Großbritannien, wobei sie von der These ausgeht, daß die britischen Merkmale nicht in zufälliger Beliebigkeit angenommen bzw. die amerikanischen abgelegt werden, sondern daß bestimmte Regelmäßigkeiten zu erkennen sind. Sie nimmt offene Interviews von halbstündiger Dauer mit vier Amerikanern, die mindestens acht Jahre in Großbritannien lebten, in entspannter Atmosphäre auf; zudem analysiert sie ihre eigene Sprache24 zu zwei Zeitpunkten. Ihre Analyse des „flap" von t und d, neben weiteren Merkmalen als typisch amerikanisches Merkmal kategorisiert, verdeutlicht: die obligatorische Regel für amerikanische Sprecher wird zur fakultativen, variablen Regel, da t in bestimmten Kontexten weniger stark als „Aap" realisiert wird (in betonter Stellung und in langsamen Phrasen). Weiterhin wird der „Aap" von t und d nicht in gleichem Maße abgelegt, woraus Shockey ableitet, daß die Veränderung von t über d zur britischen Artikulation geht, die dialektale Realisierung von d also weniger stark reduziert wird als die von t. Die Veränderungen interpretiert sie als Akkommodationsprozesse, die bei den Gewährspersonen aufgrund eines Wunsches nach mehr Verständlichkeit ausgelöst werden. Da die amerikanische Artikulation von t und d in Großbritannien häufig zu Mißverständnissen führe, hätten die Sprecher den Wunsch, diese Mißverständnisse abzubauen. Hier ist es also ein bewußtes, auffälliges Merkmal, das die Sprecher ablegen. Eine Synopse sprachlicher Veränderungen aufgrund von Sprachkontakten liefert Trudgill (1986), indem er Studien über Akkommodationsprozesse von Dialektsprechern, Dialektkontakte und Dialektvermischungen vorstellt und diskutiert. Zunächst grenzt er „short-term accommodation"- von „long-term accommodation"-Studien ab, um dann Merkmale, Regelmäßigkeiten und Prozesse der „long-term accommodation" herauszuarbeiten. Hierbei steht zunächst die Quantifizierung der linguistischen Daten im Vordergrund. Trudgills Hauptziel ist, vorherzusagen, was passiert, wenn Dialekte mit unterschiedlichen linguistischen und demographischen Charakteristika in Kontakt kommen und aufgrund welcher Regelmäßigkeiten bestimmte dialektale Merkmale abgelegt bzw. angenommen werden. Hierbei spielt die Auffälligkeit der linguistischen Variablen eine große Rolle. Diese Auffälligkeit entsteht aufgrund phonemischer Kontraste und phonetischer Unterschiede. Eine genauere linguistische (phonetischphonologische) Analyse ergibt, daß die Diffusion von linguistischen Formen von Dialekten komplexe Auswirkungen hat, beispielsweise die Entstehung interdialektaler Realisierungen wie Zwischenformen oder Hyperkorrektionen.

Sie selber lebt als Amerikanenn in Großbritannien.

13 Chambers (1992) bezieht sein Material zur Analyse von Dialekterwerb („dialect acquisition") aus der Untersuchung der Sprechweise von sechs kanadischen Kindern, die mit ihren Eltern nach Südengland zogen, sowie aus schon vorhandenen Studien. Aufgrund seiner Resultate unterscheidet er zwischen Akkommodation an einen Dialekt (im Sinne der sozialpsychologischen Sichtweise von Giles) und Dialekterwerb: Chambers geht davon aus, daß seine Gewährspersonen keine Veranlassung hatten, sich an seine Aussprache zu akkommodieren, sondern daß Dialekterwerb vorliegt. Die Merkmale des britischen Englische, die in seinen Daten auftreten, sind Merkmale, die von den Gewährspersonen nicht mehr kontrolliert oder unterdrückt werden können (Chambers, 1992: 676). Im folgenden postuliert er acht generelle Prinzipien, nach denen Zugezogene sich ihrer sprachlichen Umgebung anpassen. Diese Prinzipien beziehen sich auf die lexikalische und phonetisch-phonologische Ebene: 1) Lexikalische Einheiten werden früher erworben als Aussprache und phonologische Variation, 2) lexikalischer Erwerb findet in den Anfängen des Erwerbs sehr schnell statt und wird dann immer langsamer, 3) einfache phonologische Regeln werden schneller erworben als komplexe, 4) der Erwerb von komplexen Regeln und neuen Phonemen teilt die Gewährspersonen in schnelle und langsame Erwerber, 5) kategorische und variable Regeln werden anfänglich variabel gehandhabt, 6) phonologische Innovationen werden als Aussprachevarianten gehandhabt, 7) alte Regeln werden schneller abgelegt als neue erworben, 8) vom Herkunftsdialekt orthographisch distinktive Merkmale werden schneller erworben als orthographisch ähnliche. Die vorgestellten Studien zur „long-term accommodation" verwenden zur Datenerhebung meist offene Interviews, die zu mehreren Zeitpunkten wiederholt werden. In diesen Interviews sollte eine möglichst ungezwungene Atmosphäre bestehen. Dazu werden die Informanten und Informantinnen häufig mit Gleichaltrigen (beispielweise bei Payne (1980)) interviewt. Das linguistische Datenmaterial wird quantifiziert, wobei insbesondere die Komplexität der phonologischen/phonetischen Regeln von Interesse ist. Soziale Daten werden, wie auch bei Labov, mit den sprachlichen Daten korreliert. Eine weitere wichtige Studie zum Sprachwandel fuhren Le Page und Tabouret-Keller (1985) durch, die im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Studien qualitativ, interpretativ arbeiten. Le Page/Tabouret-Keller kritisieren an Giles' „accommodation theory", daß sprachliche Anpassung auf kurzfristige, interaktive Verhaltensereignisse und die gegenseitige Wahrnehmung der Personen innerhalb dieser Phase zurückgeführt wird. Le Page/Tabouret-Keller sind hingegen der Ansicht, daß nicht die Wahrnehmung des Einzelnen in der Interaktion wesentlich ist, sondern vielmehr die Frage, ob und wie Personen Gruppen in direktem oder indirektem Kontakt wahrnehmen und wie diese Wahrnehmung mit sprachlichen Attributen verbunden ist. Im Gegensatz zu Trudgill (1974)25 und Labov, die ihre zu untersuchende Population

Siehe aber Trudgill (1983a: 141ÉF ); dort analysiert Trudgill Akkommodationsprozesse in Pop-Songs nach Le Pages Aspekten.

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vor der linguistischen Analyse nach sozioökonomischen Aspekten (Schicht, Klasse) in Gruppen einteilen, lehnen Le Page/Tabouret-Keller dies aus zwei Gründen ab: 1) Als Außenseiter fühlen sie sich nicht kompetent, die sozialen Komponenten der Kultur zu erkennen, die die gesellschaftliche Hierarchie prägen. 2) Es soll nicht im voraus festgelegt werden, welche soziale Information die sprachlichen Daten vermitteln. Stattdessen sollten die Informanten so in Gruppen zusammengefaßt werden, daß ihr sprachliches Verhalten übereinstimmt. Erst dann soll überprüft werden, ob gemeinsame außerlinguistische Aspekte in derselben linguistischen Gruppe zu erkennen sind. Le Pages/Tabouret-Kellers Anliegen besteht darin herauszufinden, wie Normen und Stereotypen über das Verhalten einer Gruppe entstehen (ob prestigereich oder stigmatisiert) und welchen Bezug sie zu der aktuellen Sprechweise der Personen haben. Hierbei sehen Le Page/ Tabouret-Keller sprachliches Verhalten als eine Serie von identitätsbildenden Verhaltensweisen („acts of identity"), durch die Personen ihre persönliche Identität und ihre Suche nach sozialen Rollen zeigen. Das Individuum schafft sich Muster für sprachliches Verhalten, so daß es einer Gruppe oder Gruppen, mit denen es sich identifizieren möchte, ähnlich ist. Sprache wird also als ein Definitionscharakteristikum ethnischer Gruppen verwendet. Le Pages Modell erklärt unter anderem Sprachwandel durch folgende allgemeine Hypothese: „...that we create our 'rules' so as to resemble as closely as possible those of the group or groups with from time to time we wish to identify. Our performance however is constrained by considerations which fall under one or another of four riders to this general hypothesis, that is (i) the extent to which we are able to identify our model groups (ii) the extent to which we have sufficient access to them and sufficient analytical ability to work out the rules of their behaviour (iii)the strength of various (possibly conflicting) motivations towards one or another model and towards retaining our own sense of our unique identity (iv) our ability to modify our behaviour (probably lessening as we get older)." (Le Page, 1978: 15)

Diese Aspekte sind fur die Beschreibung von sprachlicher Anpassung bei Übersiedlern und Übersiedlerinnen aus Sachsen wesentlich, wobei insbesondere die Analyse der sozialen Kontakte (die Häufigkeit des Kontaktes mit Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft, die die Identifikation der in ihr geltenden sprachlichen Regeln erst ermöglicht) und die Einstellungen zum kulturellen Umfeld (die Motivation, das eigene Sprachverhalten zu verändern, als Ausdruck identitätsbildender Prozesse) von Relevanz sind. Vergleicht man die bisher vorgestellten Studien miteinander, zeigen sich folgende Unterschiede: Labovs Vorgehensweise zeichnet sich insbesondere dadurch aus, daß ein großes Materialkorpus quantitativ ausgewertet wird, das Datenmaterial also statistisch überprüfbar ist. Dies bezieht sich sowohl auf die sprachlichen als auch auf die sozialen Daten, wobei sprachliche und soziale Daten zunächst getrennt erhoben und dann miteinander korreliert werden. Da Labov vorwiegend makrotheoretisch arbeitet, werden grobe Strukturen wie Schicht, Alter oder Geschlecht analysiert. Auch bei Trudgill, Chambers, Payne und Shockey steht die Quantifizierung der Daten im Vordergrund. Auch wird überwiegend korrelativ gearbeitet. Bei Le Page/ Tabouret-Keller findet hingegen die interpretative Herangehensweise Verwendung. Die interpretativen/interaktionalen Studien, deren Charakter insbesondere von John Gumperz geprägt

15 wurden, lösen sich von einer vorab vorgenommenen Einteilung nach sozioökonomischen Aspekten. Stattdessen wird anhand der Daten rekonstruiert, welche sprachlichen und sozialen Faktoren für die Interaktion wesentlich sind. Das Individuum wird in Interaktion mit anderen beobachtet, wobei Sprache und soziale Strukturen nicht voneinander trennbar sind. Arbeitet also Labov mit großen sprachlichen Datenmengen, die jedoch bei der soziolinguistischen Auswertung vereinfacht werden müssen, um überschaubar zu bleiben, so elizitieren Le Pagd Tabouret-Keller ihre Aussagen aus einem kleineren linguistischen Materialkorpus, das anhand einer detaillierten soziolinguistischen Analyse interpretiert wird. Die vorliegende Untersuchung verknüpft beide Herangehensweisen. Einerseits sind die Datenmengen für eine quantitative Auswertung groß genug, um statistisch überprüfbar zu sein. In Kapitel 4 wird deshalb eine überwiegend korrelative Verfahrensweise bezüglich der außersprachlichen Parameter 'Aufnahmeregion', 'Geschlecht' und 'Alter' gewählt. Andererseits wird in Kapitel 7 interpretativ gearbeitet, indem die zuvor entwickelten Konzepte der sozialen Netzwerke und der Einstellungen mit der sprachlichen Entwicklung jeder einzelnen Gewährsperson in Zusammenhang gebracht werden.

1.3 Datengewinnung in der vorliegenden Untersuchung Unsere Studie ist aus methodischen und theoretischen Aspekten zwischen den Studien von Labov und Giles anzusiedeln. Die hier untersuchte Dialektakkommodation an eine neue sprachliche Umgebung innerhalb von zwei Jahren geht über die situationsspezifische Betrachtung von Giles hinaus, andererseits bleibt sie aber unterhalb der Schwelle eines Wandels des sprachlichen Systems der Sprechgemeinschaft insgesamt, wie sie bei Labov analysiert wird. So ist diese Studie theoretisch und methodisch den Untersuchungen über „long-term accommodation" zuzuordnen. Im Vergleich zu den erwähnten Studien ist der makrosoziolinguistische Kontext der Studie über sprachliche Akkommodation der Übersiedler und Übersiedlerinnen aus Sachsen ein anderer: bei dem Verhältnis Obersächsisch - Standarddeutsch - Alemannisch/Rhein-/Moselfränkisch stehen sich Standardvarietät und Dialekte gegenüber, wodurch ein eindeutiges Prestigegefälle vorliegt, während in den englischen Untersuchungen meist verschiedene Standardvarietäten wie amerikanisches, kanadisches und britisches Englisch gegenübergestellt werden, die generell auf derselben Prestigeebene liegen. Payne (1980), die den Erwerb des Dialektes der Stadt Philadelphia durch zugezogene Kinder untersucht, spricht jedoch auch das unterschiedliche Prestigeniveau der einzelnen Dialekte der zugezogenen Kinder an und führt darauf teilweise den leichteren Erwerb bestimmter phonetischer Variablen zurück. In unserer Untersuchung wird Sprachwandel nur in einer sozialen Situation, dem informellen, offenen Interview, analysiert.26 Nur die in dieser Situation auftretenden sprachlichen Merkmale sind von Interesse. Es soll nicht bestimmt werden, über welche obersächsische DiaHier ist unsere Herangehensweise mit den Studien von Shockey (1984) und Payne (1980) vergleichbar. Siehe auch Großkopf/Barden/Auer (1996).

16 lektkompetenz die Übersiedler und Übersiedlerinnen zu Beginn der Untersuchung möglicherweise, etwa im Gespräch mit anderen Dialektsprechern, verfugen, d. h.: es sollen nicht, wie in der Dialektologie, möglichst starke obersächsische Formen erfaßt werden. Ebenso ist auch nicht die größtmögliche Akkommodation an den Dialekt der Aufnahmeregion von Interesse, die im Gespräch mit dialektal sprechenden Einheimischen zu erforschen wäre. Die gleichbleibende Interviewsituation mit Gesprächspartnern, die grundsätzlich eine standardnahe Varietät sprechen, hält die „äußeren Faktoren" gering. Ein tatsächlich festgestellter Wandel im Sprachgebrauch der Gewährspersonen (etwa von stärker obersächsischen Formen zu eher standarddeutschen Formen) ist also nicht durch eine veränderte Situation oder einen veränderten sprachlichen Stimulus zu erklären. Vielmehr liegt der Grund für den in den Interviews zu verzeichnenden sprachlichen Wandel außerhalb der Interviews, im sozialen Umfeld der Informanten und Informantinnen. Die Faktoren, die zu Veränderungen im sprachlichen Verhalten fuhren, werden in Anlehnung an das Modell von Le Page und Tabouret-Keller in identitätsbildenden Prozessen gesehen. Zur Erfassung dieser Prozesse werden Konzepte für soziale Netzwerke und Einstellungen zum sozialen Umfeld entwickelt und angewendet. Für die vorliegende Untersuchung wurden insgesamt 54 Gewährspersonen, von denen 26 im Raum Konstanz und 28 im Raum Saarbrücken leben, interviewt.27 Die Altersspanne liegt zu Beginn der Untersuchung zwischen 12 und 52 Jahren, wobei nur vier Personen über 45 Jahre alt sind. Die Datenerhebung erfolgt in Form von schwach strukturierten Interviews, die das Materialkorpus sowohl für die linguistische als auch für die inhaltliche Auswertung liefern. Insgesamt finden mit jeder Person acht Interviews, jeweils in etwa dreimonatigem Abstand, statt, so daß ein zeitlicher Rahmen von zwei Jahren abgedeckt wird. Grundlage für die linguistische Interpretation bilden zunächst das 1., 5. und 8. Interview, die jeweils in Einjahresabständen erhoben werden.28 Bei der inhaltlichen Auswertung wird jedes Interview berücksichtigt und anhand eines Leitfadens ausgewertet. Dieser Leitfaden beinhaltet unter anderem Diskussionspunkte zur Übersiedlung, zu Erfahrungen am alten und neuen Wohnort sowie zu Zukunftsplänen. Auch Äußerungen zu politischen Themen und Vergleichen zwischen der Herkunfts- und der Aufnahmeregion wird Raum gegeben. Auf dieser Basis können Veränderungen oder Verfestigungen der Lebensumstände der Gewährspersonen erhoben werden. Das bedeutet, daß die Einstellungen der Informanten und Informantinnen zum kulturellen Umfeld aus jedem Interview herausgefiltert werden. Um einen vertiefenden Einblick in die sozialen Netzwerke der Gewährspersonen zu bekommen, wird dieser Themenkomplex zusätzlich in zwei Interviews gezielt behandelt. Da das Projekt die Veränderungen des Sprachgebrauchs der Sachsen und Sächsinnen im Gespräch mit Nicht-Dialektsprechern analysiert, sind die Gespräche von vier Personen geführt worden, die während der Interviews eine dem Standarddeutschen nahe Varietät sprechen. Mögliche Akkommodation an die Varietät der jeweiligen Aufnahmeregion ist also nicht als In beiden Aufnahmeregionen steht je eine Person nur im ersten Untersuchungsjahr für Interviewaufzeichnungen zur Verfügung. Im Kapitel 7 werden bei Personen mit nicht-linearen Entwicklungsverläufen weitere Interviews zur linguistischen Auswertung hinzugezogen (siehe Kapitel 7.8).

17 Konvergenz an die Sprache der Interviewerin bzw. des Interviewers zu interpretieren. Um mögliche Abweichungen des Sprachverhaltens der Gewährspersonen zu erfassen, werden zwei unterschiedliche Verfahren angewendet: Zum einen wird die Kommunikation mit Sprechern und Sprecherinnen der eigenen Varietät analysiert, indem im sechsten Gespräch eine den Interviewten fremde, aber obersächsisch sprechende Person hinzukommt.29 Zum anderen lesen zum Abschluß eines jeden zweiten Interviews die Gewährspersonen einen standarddeutschen Text, anhand dessen eine Stiluntersuchung durchgeführt wird (Kapitel 3.3). Auf das genaue Vorgehen bei der Datengewinnung zu bestimmten Themenschwerpunkten wird in den jeweiligen Kapiteln eingegangen (Kapitel 3, 4, 5 und 6).

Dieser Umstand bleibt jedoch ohne nennenswerte Folgen für die sprachliche Varietät der Informanten und Informantinnen.

2 Übersiedlung und Integration1

Da die Übersiedlung und die Integration bei den Gewährspersonen in unterschiedlicher Weise verlaufen ist, soll zunächst ein Überblick über die Motive fur die Übersiedlung und über die Erfahrungen am neuen Wohnort gegeben werden.

2.1 Zeitpunkt und Art der Übersiedlung Der Zeitpunkt, die Motive und die Art und Weise der Übersiedlung sowie die Gründe für die Auswahl des neuen Wohnortes (Konstanz/Saarbrücken) variieren von Person zu Person. Dennoch lassen sich allgemeine Tendenzen und Gemeinsamkeiten der Motive für eine Übersiedlung feststellen, beispielsweise für die Gruppe, die mit Ausreiseantrag, und für die Gruppe, die ohne Ausreiseantrag, also meist nach der Maueröffiiung, ausgereist ist. Von den zu Anfang befragten 54 Personen sind 24 vor der Maueröffiiung in den Westen gezogen, 30 nach diesem Zeitpunkt (9.11.1989). Von den Personen, die vor der Maueröffiiung übersiedelten, haben 16 einen Ausreiseantrag gestellt. Davon wurden 13 Anträge genehmigt, so daß diese Informanten und Informantinnen vor dem 9.11.1989 ausreisen konnten. Bei drei Personen wurde der Ausreiseantrag nicht genehmigt beziehungsweise die Genehmigung nicht abgewartet. Sie flohen vor dem 9.11.1989 über Ungarn/Österreich mit Hilfe eines Touristenvisums nach Westdeutschland. Weitere acht Informanten und Informantinnen nutzten die allgemeine Fluchtbewegung, die Anfang Oktober 1989 eingesetzt hatte, um über Ungarn/Österreich nach Westdeutschland zu gelangen, ohne daß sie vorher einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Von den 30 Personen, die offiziell nach der Maueröffiiung übersiedelten, hatten insgesamt drei vorher die Ausreise beantragt. Die Zeitspanne, in der unsere Informanten und Informantinnen in den Westen gezogen sind, liegt zwischen August 1989 und Dezember 1990. In der Ausreisegenehmigung bzw. in der einsetzenden Fluchtbewegung sahen viele Menschen die Möglichkeit, ihren langgehegten Wunsch, die DDR verlassen zu können, endlich zu realisieren. K22: „Der Gedanke, der war bei mir eigentlich schon da, seit ich 14 war. [...] Bin nie gern in die Schule gegangen, weil alles so dogmatisch war. Und da hat sich eigentlich schon immer der Gedanke entwickelt und eigentlich auch gefestigt im Laufe der Zeit, du willst hier raus, du kannst in diesem Land nicht leben."

Viele der in diesem Kapitel diskutierten sozialen Faktoren werden auch bei Baumgartl (1992) behandelt, worauf hier insbesondere deshalb verwiesen wird, weil Baumgartl ihre Daten zur Bestimmung des Integrationsverlaufs von Übersiedlern und Übersiedlerinnen zwischen März 1991 und Juni 1991 ebenfalls im Landkreis Konstanz erhoben hat. Es hat jedoch keine Gewährsperson an beiden Projekten teilgenommen.

19 Etliche Informanten und Informantinnen versuchten, über Jahre eine Ausreisegenehmigung zu erhalten, was meist Schikanen zur Folge hatte. K21: „Wir haben ja offiziell einen Ausreiseantrag gestellt. Wir waren in dem Jahr ja bestimmt zehn Mal vorgeladen zur Aussprache, 'warum wollen Sie eigentlich gehen?', und wir sollten doch dableiben, und sie brauchten doch jeden und alles drum und dran." Vor der MaueröfTnung siedelten um: - Flucht: - Einen Ausreiseantrag haben gestellt: - davon reisten offiziell aus: - davon erhielten keine Genehmigung bzw. warteten nicht ab: Nach der MaueröfTnung siedelten um: - Einen Ausreiseantrag haben gestellt und reisten offiziell nach der Maueröflhung aus: - Ohne einen Ausreiseantrag gestellt zu haben, siedelten um:

44% 14% 30% 24% 6%

= = = =

24 Personen 8 Personen 16 Personen 13 Personen 3 Personen

56% 6%

= =

30 Personen 3 Personen

50%

=

27 Personen

Tab. 2.1 : Zeitpunkt sowie Art und Weise der Übersiedlung (N=54) Trotzdem war der Schritt, die Heimat zu verlassen, für die meisten der Gewährspersonen nicht einfach. Person K8 beispielsweise, die sich vier Jahre lang aus politischen Gründen um eine Ausreisegenehmigung bemüht hatte, konnte schließlich im Juni 1989 offiziell übersiedeln. Zu der Zeit ahnte sie nicht, daß wenige Monate später die Grenzen fur alle offen sein würden. Sie reiste mit dem Wissen aus, ihr bisheriges Leben vollkommen aufzugeben. Dazu kam, daß sie nicht wußte, ob sie ihren Partner, dem die Ausreise verweigert worden war, jemals Wiedersehen würde. K8: „Da bist du sowieso ein bissei aufgeregt. Ich meine, das ist in dem Moment ein Schritt, wo du alles hinter dir läßt und irgendwo hingehst, wo du nicht weißt, was auf dich zukommt. Du hast das vier Jahre lang gewollt, in dem Moment stehst du da und sagst 'mein Gott, willst du das wirklich?'. Du guckst dir die Straßen nochmal an, das Haus an, du weißt nie, ob du das überhaupt wiedersiehst. Es hat ja damals niemand gewußt, was auf ihn zukommt. Ich wußte nicht, ob er hinterherkommen kann. [...] Und was erwartet dich, wenn du 'rüberkommst? Da bist du sowieso innerlich geladen, und ich, ich weiß auch, ein ganz komischer Moment ist das." Andere Informanten und Informantinnen hatten keine Chance gesehen, mit Hilfe eines Ausreiseantrages die DDR verlassen zu können, oder hatten vergeblich auf die Genehmigung gewartet. Sie sahen in der Flucht über Ungarn eine Möglichkeit, nach Westdeutschland zu gelangen.

20 K22: „Über Ausreiseantrag hast du als junger Mensch keine Chance gehabt. Du wurdest da praktisch nur nervlich fertig gemacht, bist bewacht worden, aber du bist nicht 'rausgekommen." Im Gegensatz dazu war bei anderen Personen der Ausreisewunsch erst kurzfristig entstanden. Sie sahen in der Maueröffiiung vielmehr eine Chance und eine Perspektive, das berufliche und private Leben zu verbessern. S27: „Waren wir im Prinzip doch mehr aus persönlichen Gründen, also, wir haben das Politische nicht so sehr vorausgeschoben wie eben andere Leute jetzt. Wir sind von denen nie verfolgt worden. [...] Im Prinzip, kann man sagen, wir sind doch aus, also, wir haben unsere Chance gesehen und haben sie eben genutzt." Auf diesen Personenkreis wirkte die allgemeine Fluchtbewegung ganz besonders. Viele wurden durch Freunde oder Verwandte von der Ausreisewelle angesteckt. K21: „Und dann, fand ich, wurde das so eine riesengroße Ausreisewelle, da hat jeder jeden angesteckt, die ganzen Freunde, Bekannten sind los, und da stand man irgendwann mal alleine da, und alle waren sie weg." Kl6: „Und es war halt so, daß sehr viele Kumpels, die sind ja alle weg aus Dresden, und [...] da war ich eben fast der letzte in Dresden, der da war."

2.2 Motive für die Übersiedlung Die Bereitschaft für eine Ausreise bzw. Flucht sowie die Motive, die alte Heimat zu verlassen und im Westen ein neues Leben aufzubauen, waren bei den Informanten und Informantinnen sehr unterschiedlich. Unsere Informanten und Informantinnen nennen folgende Motive für ihre Übersiedlung (Tab. 2.2). Motive* allg. Lebensqualität: familiäre Gründe: politische Gründe: Arbeitsmarktlage:

56% 43% 35% 28%

30 Personen 23 Personen 19 Personen 15 Personen

Tab. 2.2: Motive für eine Übersiedlung; * = Mehrfachnennungen waren möglich Während einige Personen aus politischen Gründen ihre Heimat in dem Wissen verließen, wahrscheinlich nie wieder zurückkommen zu können, zogen andere Personen im Laufe des Jahres 1990 um, da sie beispielsweise mit der Arbeitsmarktlage in der DDR nicht mehr zufrieden wa-

21 ren oder einem Partner oder einer Partnerin nachzogen, der oder die schon früher übergesiedelt war. Die wenigsten Gewährspersonen siedelten aus wirtschaftlichen Gründen um, sondern eher, um ihre allgemeine Lebensqualität zu verbessern.2

2.2.1 Allgemeine Lebensqualität Bei der Mehrheit, insgesamt bei 30 Personen (vgl. N=54), waren die Hoffhungen auf eine Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität vorrangige Gründe, einen Neuanfang im Westen zu wagen. Besonders häufig werden genannt: der Wunsch nach Reisefreiheit sowie mehr Handlungsfreiheiten, eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Lebensstil in der DDR, starke Umweltverschmutzung in der DDR und der Wunsch nach eigenständigerer Suche und Auswahl von Arbeit und Wohnung. Natürlich hängen diese Motive sehr eng mit der Unzufriedenheit mit dem politischen System der DDR zusammen, da dieses bei vielen Gewährspersonen eine berufliche und private Perspektivlosigkeit verursachte. Diese allgemeine Unzufriedenheit und der damit einhergehende Wunsch nach Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität wird hier von den explizit genannten politischen Gründen (siehe Kapitel 2.2b) unterschieden. Häufig werden fehlende Zukunftsperspektiven in der DDR bemängelt. S4: „Im Prinzip hatte man keine Zukunft. Man trottete jeden Tag auf Arbeit und machte da was Sinnvolles oder weniger Sinnvolles, und das war's im Prinzip. Und Freizeit, da hatten wir doch keine Möglichkeiten." S21: „Man hatte das Gefühl, eingesperrt zu sein, und dann haben sie noch die Grenzen zur CSSR zugemacht. Das wurde dann mit der Zeit immer schlimmer. Alles wurde teurer, und das hat die Unzufriedenheit von allen gefordert. So konnte das doch nicht weitergehen. Das war ja wie im Faschismus." Person K22 stand beispielsweise dem DDR-System von Jugend an kritisch gegenüber. Als ihr der erhoffte Studienplatz nicht erteilt wurde, schwand die letzte für sie denkbare Zukunftsperspektive innerhalb der DDR. K22: „Nachdem ich dann gewußt habe, das Studium, das ist auch nichts mehr, das ist auch kein Halt mehr für mich, da blieb eigentlich nur noch die Arbeit, und die war auch beschissen. Büroarbeit, ich meine, ich war damals zwanzig, und ich hätte sagen können, 'mein Leben ist vorbei, dich erwartet hier nichts mehr in der DDR, was soil's'. Ich hätte heiraten können, Kinder kriegen können, arbeiten gehen können, das wäre alles gewesen. Irgendwie eine Perspektive, eine richtig gute Perspektive hat sich mir nicht mehr gezeigt."

Siehe Hilmer/Köhler (1989), die in ihrer Studie ebenfalls zu dem Resultat kommen, daß keineswegs wirtschaftliche Not zur Ausreise aus der DDR geführt hat, sondern fehlende Perspektiven wie Meinungs- und Reisefreiheit.

22 Die Wohnungsnot bzw. die Wohnungszuteilung durch den Staat wurde von den meisten als sehr restriktiv empfunden. S27: „Wir haben ja schon fünf Jahre zusammengelebt. Immer mal bei ihren Eltern, bei meinen Eltern, Wohnung war sowieso keine in Aussicht, und da wir sowieso mal woanders hinziehen wollten, da war uns das egal, ob wir innerhalb der DDR umziehen oder dann direkt hierher." Kl 8: „Ich wollte selbständig sein, unabhängig von meinen Eltern, eine eigene Wohnung, aber Wohnungen hast du ja nicht gekriegt in der DDR, nur wenn du geheiratet hast." Die starke Umweltverschmutzung wird besonders von Gewährspersonen mit Kindern bemängelt, da deren Kinder häufig aufgrund der starken Luftverunreinigungen erkrankten. Kl9: „Nach Dresden ziehe ich nicht mehr. Ja, von der Stadt her ist es schön, aber umweltmäßig, das merkt man schon, wenn man reinkommt nach Dresden. Überhaupt DDR, ist nicht bloß Dresden, all die Zweitakt-Autos, was die hinten rausstinken. Und besonders für die Kinder war das schlimm." Die Unzufriedenheit war meist nicht nur auf einen Lebensbereich beschränkt, sondern betraf nahezu alle Ebenen, wobei manche Bereiche (ζ. B. politische, berufliche oder ökologische Belastung) bei einigen Personen mehr Gewicht hatten als bei anderen und dadurch auch unterschiedlich stark den Ausreisewillen prägten bzw. früher oder später zu einer Ausreise führten. Person S26 umfaßt in wenigen Sätzen sämtliche Lebensbereiche und verdeutlicht somit die Komplexität und Vielschichtigkeit der Ausreisemotive. S26: „Im Prinzip waren wir mit dem ganzen Umfeld nicht mehr zufrieden. Es betraf die Umwelt und so und dann auch den Arbeitsplatz, da war man doch nicht mehr zufriedengestellt, das Material fehlte und so, da macht es keinen richtigen Spaß mehr. Und gerade in Leipzig das Umfeld, sind viele Häuser verfallen und so, und große Umweltbelastung ist da durch die Betriebe rundum, die Luft und so verdreckt, und war eben nicht schön mehr dort. Tja, und dann natürlich auch das Politische, waren wir nicht so zufrieden, die ganze Entwicklung, ist ja klar, und gerade als junge Leute hat man ja Pläne, was man mal machen wollte, und das ging alles nicht." Auch nach der Maueröflnung bestand bei vielen der Wunsch, nach Westdeutschland zu ziehen, da gerade in den ersten Monaten nicht zu überblicken war, wie sich die wirtschaftliche Lage in der DDR entwickeln würde. Zunächst löste sich für die meisten ihr gewohntes Umfeld auf, und sie sahen im Westen bessere Lebensverhältnisse für sich.

23 Kl 8: „Ich habe gesagt, ich kann nicht mehr, ich hab' keine Lust mehr, auf deutsch gesagt, mich kotzt das alles an hier. Da gab's irgendwie kein Weiterkommen bei uns, auch nach der Maueröffnung. Es gab einfach keine Perspektive." S6: „Eigentlich hatte ich gedacht, nach der Wende hat's nicht mehr viel Sinn überzusiedeln, vorher wäre ich schon gerne übergesiedelt, bloß, das war so kompliziert, den Ausreiseantrag zu stellen, und das war eine enorme nervliche Belastung, und für eine Mutter mit Kind war mir das einfach zu stressig. Und als die Wende kam, habe ich gedacht, es ist nicht mehr nötig, weil die Reisefreiheit, die fehlte, war ja jetzt da. Nachdem ich dann hier war [in Saarbrücken, d. Verf.] und sich das Geschehen in Leipzig nach der Wende von Tag zu Tag derart extrem änderte, war eigentlich abzusehen, daß es mir in Leipzig als alleinstehende Mutter bald schlechter geht, als wenn ich übersiedele."

2.2.2 Politische Gründe Insgesamt 19 Personen nennen explizit politische Gründe als Auslöser fur ihre Übersiedlung. Darunter fallen beispielsweise Schikanen oder Schwierigkeiten im Berufs- und Privatleben aufgrund einer deutlich antikommunistischen bzw. regimekritischen Einstellung oder Nichtmitgliedschaft in der SED. Auch die Angst vor ständiger Überwachung und das daraus resultierende Mißtrauen gegenüber den Mitbürgern weckte bei vielen Gewährspersonen das Bedürfiiis auszureisen. K21: „Ich habe ja viele Jahre überlegt, ob ich den Schritt gehen soll oder nicht, aber es hat sich dann alles so zugespitzt, gerade mit der ganzen Politik, man konnte ja nirgendwo mehr hingehen, ohne daß man von der Staatssicherheit belauscht wurde oder sonstwas. Man konnte kein offenes Wort irgendwo mehr reden, man hatte immer Angst, ganz einfach Angst, sich irgendwo zu bewegen oder mit irgendjemandem mal Kontakt aufzunehmen. Da wußte man schon nicht, das könnte vielleicht schon wieder einer von der Staatssicherheit sein, der dich irgendwo anzinkt." Person S19, die als leitende Erzieherin tätig war, sollte beispielsweise „politische Berichte" über ihre Schüler und Schülerinnen verfassen, wogegen sie sich jedoch wehrte. S19: „Also, in der Schule immer die gleiche Politik, kann man sagen, daß das eine Holzhammerpolitik gewesen ist. Die kriegte man in den Kopf gehämmert, ob man wollte oder nicht. Man mußte sich damit befassen, und seitdem man sich, sagen wir mal ab dreizehn, vierzehn Jahren, so sich alleine darüber Gedanken macht, ist das immer ein doppeltes Spiel, anders zu reden als man denkt. Und irgendwo staut sich da im Laufe der Jahre was an, und bei mir, wie gesagt, neunundachtzig konnte ich dann nicht mehr und habe eben gesagt, 'wenn Sie politische Berichte wollen, dann gehe ich'"

24 Person K22 vermutet, daß ihr aufgrund ihrer Nichtmitgliedschaft in der SED kein Studienplatz zugeteilt worden ist. K22: „Ich habe mich für das Studium für Psychologie beworben und bin damals abgelehnt worden, weil eben erstens zu wenig Leute da angenommen wurden für Psychologie und zweitens weil ich eben nicht so die gerade politische Entwicklung hatte, wie es halt erwünscht war, war halt nicht Mitglied der SED zum Beispiel." Über Schikanen am Arbeitsplatz aufgrund einer Nicht-Mitgliedschaft in der SED berichtet auch Person S19. S19: „Wir haben doch gemerkt, daß der Staat absteigt. Es ging doch bergab, es hat sich nichts verbessert. Wir in den leitenden Stellen wurden angehalten, eine positive Stimmung zu verbreiten, und sollten in die Partei eintreten. Ich hab den Parteieintritt abgelehnt, und seitdem hatte ich Schwierigkeiten im Beruf. Ich habe eine Kollegin bekommen, die mir überall Fehler anhängte und mich immer nur schikanierte." Wären die Einschränkungen und Überwachungen durch den Staat nicht gewesen, hätten viele Informanten und Informatinnen den Schritt der Übersiedlung nicht für notwendig gehalten. So formuliert Person Kl3, der vergeblich versuchte, seinen Vater in Westdeutschland zu besuchen: „Ich hab' so viele Enttäuschungen erlebt in der DDR. Da waren die vergeblichen Bemühungen, meinen Vater zu besuchen, die waren für mich der ausschlaggebende Punkt. Was da alles noch mit der Staatssicherheit und Verletzung des Postgeheimnisses und Telefonüberwachung und was da noch alles dazu kam, das war auch schlimm, aber wenn man mich hätte fahren lassen zu meinem Vater, wäre ich sicher heute nicht hier. Das ging dann weiter mit Auslandsreisen, selbst ins sozialistische Ausland hat man mich einmal fahren lassen und dann wieder nicht. Also die Willkür so, und das war dann irgendwann mal genug."

2.2.3 Familiäre Gründe Aus familiären Gründen kamen insgesamt 23 Personen in den Westen. Teilweise waren entweder die Partner bzw. Partnerinnen oder andere Mitglieder der Familie (Eltern, Geschwister, Kinder) schon vor 1989 in den Westen gezogen. Durch die Wiedervereinigung konnten nun die Familien wieder zusammenziehen, indem die Familienmitglieder zu ihren Verwandten in den Westen zogen. Andererseits ist häufig ein Partner oder eine Partnerin kurz vor oder nach der „Wende" zunächst allein in den Westen gegangen, um dort eine Arbeitsstelle und eine Wohnung zu suchen. Die Partnerin bzw. der Partner und/oder weitere Familienmitglieder zogen dann nach.

25 S10: „Ich habe letztes Jahr einen Freund kennengelernt, und der ist im Oktober noch übergesiedelt, und ich bin dann im Februar hinterher. [...] Ich wäre auch nie übergesiedelt, wenn das nicht gewesen wäre." Für die Personen, die ihrem Partner bzw. ihrer Partnerin nachgezogen sind, ergaben sich erschwerte Bedingungen bei der Arbeitssuche, da sie sich ihren neuen Wohnort nicht aufgrund einer fur sie positiven Arbeitsmöglichkeit auswählen konnten.

2.2.4 Arbeitsmarktlage Die Angst vor dem Verlust der Arbeit in der ehemaligen DDR, die Hoffnung auf einen sicheren Arbeitsplatz sowie den Wunsch nach besseren Arbeitsbedingungen geben insgesamt 15 Personen als Ausreisegrund an. Die Informanten und Informantinnen berichten von Restriktionen am Arbeitsplatz, die sie nicht weiter tolerieren wollten. S4: „Man war eben halt eingesperrt. Auf Arbeit hatte man eben halt nichts zu sagen als kleine Angestellte, und auch wenn man sah, daß alles drunter und drüber ging. [...] Es gab beruflich kein Weiterkommen, keine Aufstiegschancen, auch der Verdienst wurde nicht besser." Mit der Wiedervereinigung verloren viele Gewährspersonen ihren bisherigen Arbeitsplatz, oder es drohte ihnen die Arbeitslosigkeit. Für viele war es nicht mehr abschätzbar, wie lange sie ihrer Arbeit noch nachgehen konnten; sie zogen es vor, eine Stelle im Westen Deutschlands zu suchen, von der sie sich mehr Sicherheit erhofften. K2: „Was uns bewogen hat, ist so die Lage auf dem Arbeitsmarkt, da wir praktisch nie wußten, ob wir in vier Wochen noch Arbeit hatten. Und das ist auch jetzt noch so, und es ist jetzt eher noch schlechter geworden." Weiterhin bilden die Studierenden eine Gruppe für sich, da die meisten von ihnen erst nach der Maueröffhung im Laufe des Jahres 1990 nach Westdeutschland gezogen sind und sich gezielt einen der beiden Aufnahmeorte als Studienplatz auswählten. Person S17 kam beispielsweise erst im Oktober 1990 nur zum Zwecke des Studiums nach Saarbrücken. S17: „Ich bin im Oktober 1990 hierher gekommen, nur zum Studieren."

26

2.3 Motive für die Wahl des Wohnortes Die Gründe, warum sich eine Person einen ganz bestimmten Ort in Westdeutschland als neuen Wohnort wählt, sind ähnlich komplex wie die Gründe, überhaupt überzusiedeln. Häufig werden mehrere Gründe gleichzeitig genannt, z. B. berufliche und private oder private und landschaftliche. Natürlich sind auch die Gründe für eine Übersiedlung und die Gründe für die Wahl des neuen Wohnortes häufig eng miteinander verknüpft. So sind beispielsweise alle 23 Personen, die angeben, aus familiären Gründen übergesiedelt zu sein, an den Wohnort gezogen, wo ihr Partner, ihre Partnerin oder weitere Familienmitglieder schon wohnten. Motive für Konstanz bzw. Saarbrücken* Private Gründe: Landschaftliche Gründe: Berufliche Gründe: Zufall:

76% 22% 19% 13%

=

=

41 Personen 12 Personen 10 Personen 7 Personen

Tab. 2.3: Gründe für die Wahl von KN/SB; * = Mehrfachnennungen waren möglich

2.3.1 Private Gründe Das ausschlaggebende Motiv, sich einen bestimmten Ort als neuen Wohnort zu wählen, war, daß in dieser Stadt schon der Partner/die Partnerin, Verwandte oder Bekannte wohnten. Neben Personen, die gezielt ihrem Partner/ihrer Partnerin nachgezogen sind, waren es hauptsächlich Verwandte und Freunde, die als erste Anlaufstelle im Westen dienten. Häufig wird geäußert, daß man dahin gegangen sei, wo man schon jemanden kannte, der einem helfen konnte, sich in der neuen Lebensumwelt zu orientieren sowie eine Wohnung und Arbeit zu finden. S15: „Ich habe auch schon Freunde gehabt vorher, und das hat mir hier eigentlich auch den Einstieg erleichtert. Ich habe dann die ersten Wochen bei ihnen gewohnt, und die haben mir einige Tips gegeben und so, wie man hier zurechtkommt, und das ist auch ganz wichtig." Kl 6: „Wo die Grenze auf war, bin ich weg und bin ganz gezielt hierher gekommen, weil ich meinen Onkel hier habe und meine Tante, die auch aus Sachsen kommen, und da war es im Prinzip der Anlaufpunkt, wo ich hierher gekommen bin." Ohne diesen „Anlaufpunkt" wären einige Informanten und Informantinnen nicht in den Westen gegangen. S6: „Also, Saarbrücken habe ich dann angegeben, weil die Schwestern hier waren, sonst wäre ich vielleicht irgendwohin gekommen. Und da muß ich sagen, da hätte ich's vielleicht gar nicht gemacht, wenn ich nicht einen Anlaufpunkt gehabt hätte. Also so, wenn ich jetzt

27 überhaupt niemanden gehabt hätte, hätte ich das wahrscheinlich nach der Wende gar nicht mehr gemacht." Für die Person S6, wie auch für einige andere, war zudem die Verwandtschaft der ausschlaggebende Grund dafür, sich aus mehreren in Frage kommenden Orten letztendlich für Konstanz oder Saarbrücken zu entscheiden. S6: „Also meine beiden Schwestern sind schon vorher nach Saarbrücken gegangen, und dann bin ich auch dahin, obwohl ich auch gerne in den Norden gezogen wäre."

2.3.2 Landschaftliche Gründe Landschaftliche Gründe werden bis auf eine Ausnahme nur in Konstanz genannt, was sicherlich mit dem hohen Freizeitwert und der Bekanntheit als Urlaubsregion zusammenhängt. Bei den wenigsten war es jedoch das vorrangige Motiv, an den Bodensee zu kommen. Vielmehr spielten berufliche und private Gründe eine größere Rolle bei der Wahl des neuen Wohnortes. So wird die Schönheit der Landschaft häufig als weiteres, zusätzlich angenehmes Kriterium genannt, nach Konstanz zu ziehen, aber es waren immer andere Motive (Beruf oder Familie), die den tatsächlichen Ausschlag gaben. So sei der lang ersehnte Wunsch, einmal den Bodensee zu sehen, endlich in Erfüllung gegangen. K2: „Und ich wollte immer schon an den Bodensee, und jetzt hatten wir endlich die Möglichkeit. Wenn ich 'raus schau und sehe im Hintergrund die Berge, geht's mir schon gut." Kl7: „Ist schon ein Traum, das kann doch nicht wahr sein, wo bin ich denn hier? Ist ja super gelegen am See, und die Lage, bist du im Nu in der Schweiz und in Österreich."

2.3.3 Berufliche Gründe Zehn Personen geben berufliche Gründe für die Wahl des neuen Wohnortes an. Zum einen sind dies Studierende, die sich ihren Studienort gezielt ausgesucht haben, zum anderen Personen, die, bevor sie an den neuen Wohnort zogen, dort eine Arbeitsstelle gefunden hatten bzw. sich an dem neuen Wohnort erheblich bessere Arbeitsmöglichkeiten erhofften. Von den 54 Informanten und Informantinnen haben insgesamt 22 Personen eine Arbeit in ihrem bisherigen Beruf gefunden. Da die Ausbildungssysteme in der BRD und der DDR teilweise sehr unterschiedlich waren, ist dies eine bemerkenswert hohe Anzahl (die· Schülerinnen und Studierenden sind in den 22 Personen nicht enthalten). In einem anderen, finanziell und ausbildungsmäßig schlechter gestellten Beruf arbeiten insgesamt 9 Personen, die alle weiblich

28 sind. Dies hängt unter anderem damit zusammen, daß Frauen häufiger ihrem Partner in den Westen gefolgt sind als umgekehrt und sich damit ihre Wahl des neuen Wohnortes auf den Wohnort des Mannes beschränkte. Somit hatten sie keine Möglichkeit, einen Wohnort zu wählen, an dem ihre Arbeitsbedingungen besser gewesen wären. Beispielsweise ist Person S22 Straßenbahnfahrerin; da sie ihrem Mann nach Saarbrücken folgte und nicht einen Wohnort mit Straßenbahn wählen konnte, hat sie an ihrem neuen Wohnort keine Arbeitsmöglichkeit in ihrem erlernten Beruf. Zum anderen haben Frauen in der DDR in Berufen gearbeitet, die in Westdeutschland als typische Männerberufe gelten (ζ. B. arbeitete Person Kl 1 als Kranführerin). In einem anderen, aber gleichwertigen Beruf arbeiten drei Personen, wiederum nur Frauen. An einer Umschulung bzw. Fortbildung nehmen drei Personen (nur Männer) teil; drei Frauen sind nicht mehr berufstätig, eine aus gesundheitlichen Gründen, zwei weitere aus familiären Gründen. Sechs Mädchen sind noch Schülerinnen, insgesamt acht Personen studieren, davon fünf Frauen und drei Männer.

Im bisherigen Beruf arbeiten: In einem anderen (niedriger gestellten) Beruf arbeiten: In einem anderen (gleichwertigen) Beruf arbeiten: An einer Umschulung oder Weiterbildung nehmen teil: Berufstätig sind nicht mehr (jetzt Hausfrau/Mutter): Berufsunfähig wegen Krankheit: Schülerinnen/Schüler: Studierende:

weiblich 9 9 3 0 2 1 6 5

männlich 13 0 0 3 0 O3 0 3

insgesamt 22 9 3 3 2 1 6 8

Tab. 2.4: Berufliche Situation am neuen Wohnort

2.3.4 Zufall Nur wenige Personen (insgesamt sieben) hat es zufällig an ihren neuen Wohnort verschlagen. Diese Personen haben an ihrem neuen Wohnort keine Freunde, Verwandte oder Bekannte, sondern sind beispielsweise durch die Zuteilung in Aufnahmelagern nach Konstanz oder Saarbrücken gekommen, weil dort noch Plätze frei waren. K18: „Haben die uns gefragt, wo wir eigentlich hinwollen. Haben wir gesagt, 'wir wollen nach München'. Haben die gesagt, 'München ist überfüllt, und da kommt keiner mehr rein'. Jedenfalls haben wir dann gesagt, 'gehen wir halt nach Baden-Württemberg', und da haben wir uns Konstanz rausgesucht auf der Karte, sah ganz nett aus so." Andere Personen siedelten mit Freunden um, die sich vorher Konstanz oder Saarbrücken als neuen Wohnort ausgewählt hatten, und schlossen sich diesen an. Eine weitere Person wurde im Laufe der zwei Jahre aufgrund einer schweren Krankheit berufsunfähig.

29 K26: „Aber warum wir gerade hier 'runter sind? Ich wäre vielleicht woanders hingefahren, nach Bayern oder so, aber irgendeine von uns, wir waren damals drei Mädchen, und eine von den dreien hatte die Idee, daß wir ausgerechnet hier 'runter fahren, bin ich eben mitgefahren."

2.4 Typische Erfahrungen am neuen Wohnort 2.4.1 Erfahrungen in der Arbeitswelt Für die Integration wichtige und von nahezu allen Gewährspersonen thematisierte Erfahrungen werden in den Bereichen Arbeitssuche, Arbeitsklima, Verhältnis zum Chef und schließlich Selbstbestätigung durch die neue Arbeit gemacht. Ein Arbeitsplatz ist für Übersiedler und Übersiedlerinnen nicht nur aus den naheliegenden Gründen wie Verdienstmöglichkeit und Aufbau einer neuen Existenz notwendig, sondern er gibt ihnen darüber hinaus gewissermaßen „offiziell" die Berechtigung, im Westen Deutschlands zu bleiben, da sie gebraucht werden. Als vielverbreitete Ansicht der Westdeutschen wird von mehreren unserer Gewährspersonen formuliert, daß die Übersiedler und Übersiedlerinnen von den Steuergeldern der Bewohner aus den alten Bundesländern leben wollen. Kl: „Man wird so hingestellt, als ob man alles geschenkt wolle." K2: „Und vor kurzem hab' ich mir anhören müssen, das hat mir sehr weh getan, da hat irgendeine Kollegin gesagt: 'Ja, was wollen Sie denn?' Ja, so ungefähr wie, sie hätten auch vierzig Jahre lang gearbeitet und könnten sich auch jetzt erst was leisten, und wir sind hierher gekommen und wollen gleich alles." Andererseits formulieren die Übersiedler und Übersiedlerinnen häufig den Eindruck, daß sie sich vorrangig als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen fühlen. K9: „Von diesem Handwerker, der hier die Jalousien repariert hat, hab' ich mir auch schon sagen lassen müssen, daß die Übersiedler alle Arbeitsplätze wegnehmen." Dies ist freilich eine Vorstellung, die direkt nach der Maueröffiiung auch in den Medien vielfach dargestellt wurde mit der Auswirkung, daß unsere Gewährspersonen für solche Ansichten besonders sensibilisiert sind. Viele unserer Informanten und Informantinnen sind nicht selbst mit Personen in Kontakt gekommen, die sie als Konkurrenten um die Arbeitsplätze bezeichneten, sondern wissen aus den Medien um diese Einschätzung und thematisieren daher ihren eigenen Werdegang auf dem Arbeitsmarkt.

30 Bei den meisten der von uns befragten Sachsen und Sächsinnen verlief die Arbeitssuche auf Anhieb erfolgreich bzw. die Übersiedlung erfolgte erst, nachdem der Arbeitsplatz sicher war (siehe Kapitel 2.3c). So konnte ζ. B. Person K l l zwar nicht weiterhin ihren bisherigen Beruf als Kranführerin ausüben, aber sie erhielt sofort eine vergleichbare Tätigkeit, bei der sie vor allem das besonders gute Arbeitsklima überrascht hat. K l l : „Ich hab' doch nie gedacht, daß die Leute hier so dermaßen hilfsbereit sind. Wenn mir früher einer gesagt hätte, daß hier sogar Kollegen untereinander sich helfen, dann hätte ich gesagt, 'du bist doch wohl nicht gescheit'!" Ihr Arbeitsplatz ist für Person Kl 1 Ausgangsbasis für viele ihrer Freizeitaktivitäten, und zwei ihrer Kolleginnen werden im Laufe der zwei Untersuchungsjahre ihre besten Freundinnen. Bei der Arbeit fühlt sie sich von allen anerkannt, sie erhält Selbstbestätigung sowohl durch ihr fachliches Können als auch durch die Erfahrung, innerhalb kürzester Zeit nicht nur von allen Arbeitskollegen und -kolleginnen, sondern auch vom Chef sozial anerkannt zu werden. Deutlich negativ hingegen verläuft die Integration auf dem Arbeitsmarkt bei Person S22, einer Straßenbahnfahrerin. Sie ist ihrem Mann nach Saarbrücken gefolgt, wo es keine Straßenbahn gibt. Bei ihrer Arbeitssuche fühlt sie sich vom Arbeitsamt keineswegs unterstützt (Kl 1 : „Arbeitsamt, die haben gesagt, ich soll in 'ne Stadt gehen, wo Straßenbahnen fahren, soll mir selber 'was suchen "). Schließlich absolviert sie ein Praktikum im Krankenhaus in der Hoffnung, dort eine Ausbildung beginnen zu können, doch von den Praktiken im Krankenhaus ist sie entsetzt, und sie fühlt sich ausgenutzt. S22: „Ich mußte jedes Wochenende 'ran, dann durchgängig, dann hatten die mir Minusstunden aufgeschrieben. [Einwurf ihres Mannes: „Wo's doch unbezahlt war, das ist die Frechheit! Das war ein unbezahltes Praktikum!"] Unbezahlt war das, ich hab' kein Geld gekriegt vom Krankenhaus, und ich bin nur arbeiten gegangen." Darüber hinaus fühlt sie sich von Anfang an von ihren Kolleginnen nicht akzeptiert. S22: „Ich bin dahingekommen und hab' durch Zufall gehört: 'oh, jetzt kriegen wir eine aus der DDR, die können alle nicht schaffen, die schaffen nix'." Dieses Vorurteil setzt Person S22 unter solchen Arbeitsdruck, daß sie sich kaum eine Pause gönnt und schon bald den Eindruck hat, ausgenutzt zu werden („Ich hab' oft dagesessen und hab' geweint "). Ihren Dienst im Krankenhaus quittiert Person S22, als sie schwanger wird, was ihr die Möglichkeit nimmt, soziale Kontakte über das berufliche Umfeld zu knüpfen. Daß sie gegen das Vorurteil, Personen aus der ehemaligen DDR würden nicht hart genug arbeiten, ankämpfen mußten, berichten auch mehrere andere Befragte:

31 Kl8: „Ja, am Anfang war's schon schwierig. Die ersten drei Monate, weil auch viele dabei waren, die Vorurteile gegen DDR'ler haben. Und viele sind der Meinung, DDR-Bürger schaffen nichts. Und das mußte ich abbauen und mußte denen zeigen, daß es nicht so ist." Unsere Gewährspersonen berichten außerdem mitunter, daß ihnen der Austausch über private Themen während der Arbeitszeit bzw. in den Pausen fehlt und daß sie mit der allgemein förmlicheren und distanzierteren Atmosphäre in den Betrieben Schwierigkeiten haben. In Sachsen wie in den neuen Bundesländern allgemein sei man „kumpelhafter" miteinander umgegangen. K21 : „Gerade wie bei mir auf Arbeit, ich würde mir nie dort getrauen, mal irgendwie 'nen Witz zu erzählen oder mal eine so'n bißchen anschubsen und sagen hier: 'ach komm'. Die sind alle so, ich kann's nicht erklären, wie. Auch immer dieses Förmliche, also, ich red' ja meine ganzen Kolleginnen und Kollegen mit 'Sie' an, obwohl die eine, die ist drei Jahre jünger wie ich. Also, ich hätte überhaupt nichts dagegen, wenn ich jetzt sagen würde, 'komm, du kannst zu mir S. sagen'. [...] Ja, da geht's ganz steif zu. [...] So untereinander mit den Kolleginnen, mit denen man so zusammen arbeitet, so ein bißchen diese herzhafte, warme Atmosphäre, die fehlt ganz einfach." K2: „Es ist so, daß die Kollegen ζ. B. alle noch per 'Sie' sind, nach vielen Jahren. Das gibt's nicht mehr bei uns [in Sachsen, d. Verf.], daß man nach 'ner Weile, wenn man sich irgendwie sympathisch fand, bot man entweder den Jüngeren das 'Du' an, oder die Älteren boten es einem an. Da war der Kontakt irgendwie anders. [...] Die Kollegen hier kennen sich ja gar nicht mehr. Die können sich hier nie privat kennenlernen." Bei der Stellensuche tritt mitunter das Problem auf, daß berufliche Ausbildungsabschlüsse, die in der DDR erworben wurden, in Westdeutschland nicht anerkannt werden bzw. eventuell zwar eine offizielle Anerkennung erfolgt, aber die Stellensuche faktisch erfolglos bleibt, weil in der Ausbildung Elemente fehlten, die in Westdeutschland notwendig sind (so ζ. B. in EDVBerufen). S4: „Naja, so grob werden die Unterschiede [im Berufsbild, d. Verf.] nicht sein, aber daß jeder Arbeitgeber sagt, Sie können ja das System nicht, Sie beherrschen das ja nicht. [...] Nur dann war eben in meiner Ausbildung, die war vielleicht nicht ganz so wie hier, EDVKauffrau heißt das hier. Ich kann zum Beispiel nicht programmieren." Die Stellensuche im EDV-Bereich blieb für diese Informantin erfolglos; sie nahm schließlich eine Tätigkeit als Buchhalterin in einem Steuerbüro auf, die sie aber nicht befriedigt. Personen, die eine Ausbildung in einem erzieherischen und/oder pflegerischen Beruf absolviert haben, stoßen auf ein weiteres Hindernis: sie haben meist keine Konfessionszugehörigkeit, die aber in vielen Einrichtungen Voraussetzung für eine Einstellung ist.

32 SlO: „Also, ich hab' viele Bewerbungen fortgeschickt und bin auch jedesmal zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen worden. Und die Ausbildung ist ziemlich gut, ich hab' das Gefühl, sie wird als sehr gut anerkannt. Aber sobald man gehört hat, daß ich keine Konfession hab', waren halt fast alles konfessions-, also Einrichtungen, wo Konfession erforderlich war, das ist ja im Saarland ganz extrem, find' ich. [...] Da wird sofort danach gefragt. Und das ist egal, was man für Fähigkeiten und Fertigkeiten hat. Ich hab' zum Beispiel Erfahrung mit körperbehinderten Kindern, zweieinhalb Jahre hab' ich in Dresden dort gearbeitet. Und ich hatte mich nur bei Einrichtungen mit Konfessionen beworben, ich kannte nichts anderes, es ist ja das meiste hier so, ich würde sagen 90 Prozent. [...] Die Träger, die fragen sofort danach, und da ist überhaupt keine Chance, da 'reinzukommen. Und ich war auch nicht bereit, eine Konfession anzunehmen, ich bin nicht getauft worden, also, das wär' dann auch gegen meine Prinzipien gewesen, ich hab' doch überhaupt keine Verbindung zur Kirche." Andererseits stand es für diese Informantin auch außer Betracht, das Saarland aufgrund dieser Erfahrungen wieder zu verlassen, da sie ihrem Freund nach Saarbrücken gefolgt war. Während Person S10 nach längerem Suchen schließlich doch eine Einrichtung gefunden hat, in der keine Konfession erforderlich war und wo sie schließlich eine Stelle bekam, hatte Person S19 in ihrem ebenfalls erzieherischen Beruf keine Chance. Auch sie folgte ihrem Freund ins Saarland, ist jedoch nicht nur konfessionslos, sondern auch geschieden. Beides habe die Anstellung in einem pädagogischen Tätigkeitsfeld verhindert, so daß sie schließlich eine Arbeitsstelle in einer Reinigungsfirma annahm. Insgesamt werden von zwölf Gewährspersonen positive Erfahrungen hinsichtlich Arbeitssuche, Arbeitsklima und Selbstbestätigung durch die Arbeit geschildert, denen 17 Informanten und Informantinnen gegenüberstehen, die diesbezüglich negative Erfahrungen machten. Sechs der zwölf positiven Äußerungen beziehen sich explizit auf das Arbeitsklima, wobei in der Regel hinzugefügt wird, daß die Übersiedlerinnen und Übersiedler allgemein nicht von einer guten Arbeitsatmosphäre in den alten Bundesländern ausgegangen sind, sondern daß sie kollegiales Verhalten eher den Menschen in der ehemaligen DDR zuschreiben. Von einigen unserer Gewährspersonen wird die Tatsache positiv hervorgehoben, daß im kapitalistischen System stärker leistungsorientiert gearbeitet werde, da der einzelne den finanziellen Erfolg seiner Tätigkeit sehen und das verdiente Geld auch für sich sinnbringend verwerten könne: S18: „Gerade bei unserem Jungen ist es ja so, wenn er hier arbeitet, er weiß genau, er macht auch Überstunden, da weiß er eben genau, er bekommt was fürs Geld, was in der DDR eben nicht der Fall war. Und er hat sich in der Zeit, die wir hier sind, wirklich schon sehr viel geschaffen, das hätte er in ein paar Jahren nicht in der DDR zusammenbekommen. Also, es ist wirklich, also, wenn man was leistet, kann man sich eben auch was dafür kaufen." S24: „Hier sieht man, was man geschafft hat."

33 Im Gegensatz dazu wird mitunter die Produktionsfähigkeit in der DDR belächelt (K7: „Das war keine Arbeit mehr, das war nur noch so ein Dahinschlumpern"). Es wird aber von anderen Befragten auch positiv hervorgehoben, daß in der DDR ein sicherer Arbeitsplatz eine Selbstverständlichkeit war, wohingegen in den alten Bundesländern der Arbeitsplatzmangel zu einem extremen Leistungsdruck für die Arbeitnehmer führe: Kl: „Das hätte ich ja nun wirklich nicht gedacht, daß hier jeder so um seinen Arbeitsplatz bangt. [...] Die kommen ja alle halbtot zum Dienst. Daß da einer mal wegen 'ner Grippe drei, vier Tage zu Hause bleibt... Ich hatte so 'ne schlimme Grippe, die hab' ich dann am Wochenende auskuriert, da wäre ich zu Hause [in der ehemaligen DDR, d. Verf.] mal drei, vier Tage liegengeblieben, also, hätte mich da krankschreiben lassen, und dann war' das gut gewesen. Das ist hier 'ne ganz andere Mentalität."

2.4.2 Erfahrungen bei der Wohnungssuche Seltener als die Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche wird die Wohnungssuche als problematisch thematisiert. Möglicherweise liegt das daran, daß viele Übersiedler und Übersiedlerinnen in sogenannten Auffanglagern und/oder Übergangswohnheimen auf engstem Raum gelebt haben und somit nicht besonders anspruchsvoll waren, was ihre erste neue Wohnung anging. Jedoch werden oftmals auch die ersten Wohnungen als „wahre Glücksgriffe" bezeichnet. Einige unserer Gewährspersonen hatten auch längere Zeit bei Verwandten oder Bekannten gewohnt, bis sie eine geeignete Wohnung fanden. Es ist im uns vorliegenden Material nie explizit erwähnt worden, daß jemand eine Wohnung nicht beziehen konnte, weil er oder sie aus der ehemaligen DDR gekommen ist. Die Informantin, die mit Abstand die längste Zeit im Übergangswohnheim verbracht hat, lebte dort bzw. in wechselnden Pensionszimmern zweieinhalb Jahre, bevor sie eine eigene Wohnung in einem Vorort von Konstanz beziehen konnte. Diese ist allerdings so teuer, daß die Informantin nach Ablauf ihres regulären 8-Stunden-Tages noch täglich zwei Stunden in einer Klinik putzt. Dies ist jedoch tatsächlich eine Ausnahme; ansonsten berichten besonders jene Gewährspersonen, die zum sogenannten „ersten Übersiedlerstrom" gehörten, über positive Erfahrungen bei der Wohnungssuche.4 So wohnte ζ. B. Gewährsperson Kl 6 zunächst bei seinen Verwandten, mußte sich aber schon bald eine eigene Wohnung suchen, da die Verwandten selbst den Bodenseeraum verlassen wollten. Die Wohnungssuche gestaltete sich als vollkommen unproblematisch. K16: „Hab' ich erst mit Maklern 'rumtelefoniert, aber die haben mir überhaupt keine Hoffnungen gemacht. Naja, und schließlich hab' ich 'ne Annonce in die Zeitung gesetzt, obwohl da schon so viele drin stehen. Also im 'Konstanzer Anzeiger', und daraufhin hatten Jedoch werden auch von jenen Übersiedlern und Übersiedlerinnen, die erst im Dezember nach Konstanz oder Saarbrücken gekommen sind, keine besonders negativen Erfahrungen bei der Wohnungssuche berichtet, obwohl gerade in Konstanz große Wohnungsnot herrscht.

34 sich dann drei Leute gemeldet, und die Wohnungen war ich dann mir angucken, und das war alles nix. Bis dann schließlich sich eine Frau noch gemeldet hatte am Samstag. Also Mittwoch war die Annonce in der Zeitung drin, und am Samstag hatte sie sich gemeldet, und ja, das ist direkt in A. [wo er auch arbeitet, d. Verf.] eine Zweizimmerwohnung. Und noch preislich billig." Über ähnlich positive Erfahrungen bei der Wohnungssuche berichten mehrere Gewährspersonen, auch jene, die als Paar oder mit der ganzen Familie übergesiedelt sind. Man investierte kurzfristig viel Zeit in die Suche, die in vielen Fällen dann auch schnell erfolgreich war:5 K7: „Wir waren in M. im Übersiedlerheim untergebracht, in so 'ner Gaststätte, da hatten wir ein Zimmer zusammen. Und ich hab' die drei Wochen, die ich noch mir Arbeit gesucht hab' und eben noch dort wohnte, hab' ich genutzt, um Wohnung zu suchen, und das hat auch gleich geklappt." Die überteuerten westlichen Mietpreise werden häufig thematisiert, immer wieder werden die Preise für Wohnungen gleicher Größe in Dresden, Leipzig und Chemnitz mit jenen in Saarbrücken und Konstanz verglichen. „Mietpreise" sind das Thema, bei dem in allen Interviews am häufigsten die finanzielle Umstellung diskutiert wird, weil die preislichen Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern in keinem anderen Fall als so eklatant empfunden werden.

2.4.3

Erfahrungen mit den Ortsansässigen

Die Analyse der Berichte über Erfahrungen mit den Ortsansässigen ist schon aus folgendem Grunde interessant: sowohl über positive als auch über negative Erfahrungen wird ausführlich erzählt, die negativen Begegnungen bleiben jedoch in vielen Fällen in ihren Schilderungen vage. Es wird häufig ein allgemeines Bild über das (negative) Ansehen der Übersiedlerinnen und Übersiedler in den alten Bundesländern wiedergegeben, aber dieses Vorurteil wird selten mit konkreten Erfahrungen gefüllt. Eher ergeben sich Äußerungen im Stil von „Ich hab' schon oft gehört, daß die Ossis' an allem schuld sind" (K9), „unter der Jugend gibt's das auch, die sagen 'Zonis, geht wieder 'rüber, und die Mauer wieder hoch', und vor allen Dingen die älteren, 'kommt her, baut euer Land selber auf, wir müssen 'nen Haufen Steuern zahlen'" (K5) oder „es gibt viele Leute, die sich das schon anmerken lassen, daß sie DDR-Hasser sind" ( K l 8). Konkrete negative Erfahrungen mit Einheimischen werden häufig am Arbeitsplatz gemacht, wo es bei den meisten unserer Gewährspersonen einen oder zwei Kollegen gibt, die sich negativ über die Wiedervereinigung und die damit verbundenen Steuererhöhungen äußern und

5

Es ist nicht genau festzustellen, wie lange die Informanten und Införmantinnen durchschnittlich 'provisorisch' wohnten, da viele sofort das Übergangslager verließen, dann aber weiterhin zu zweit oder mit mehreren Personen auf engstem Raum (beispielsweise bei Verwandten oder Bekannten) wohnten.

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diese politische Entwicklung konkret mit den in ihrem Betrieb tätigen Übersiedlern und Übersiedlerinnen in Verbindung bringen. K21: „Ich muß dazu sagen, daß ich aber dort ganz schöne Anfangsschwierigkeiten hatte mit den Kolleginnen, die haben's mir eigentlich zum Teil sehr schwer gemacht, zumindest zwei Kolleginnen [...], da bin ich schon manchmal abends heim und hab' geheult. Die haben irgendwie immer wieder versucht, eben Gespräche angefangen, 'ja, die DDR, das kostet uns noch 'nen Haufen Geld, wären die alle doch bloß dort geblieben, wo sie herkommen' und eben so bös diskutiert in meinem Beisein, wo ich mich halt immer angesprochen gefühlt hab'." Die folgende Gewährsperson liefert eine konkrete Situationsbeschreibung, bei der einige Sachsen und Sächsinnen die Bräuche beim Fastnachtsfest nicht kannten und sich deshalb nicht angemessen verhielten, woraufhin es zu einer Auseinandersetzung mit Einheimischen kam. Eine Sächsin wurde dabei aufgrund ihrer deutlich obersächsischen Varietät als Ostdeutsche erkannt und beleidigt: K7: „Wir waren mit welchen aus Chemnitz [beim Fastnachtsumzug, d. Verf.], und der Mann hatte sich wahrscheinlich zu weit nach vorne gedrängelt an die zwei jungen Mädchen 'ran. Aber aus Versehen, hatte die irgendwie angestoßen von hinten. Und da taten sich die zwei jungen Mädchen 'rumdrehen und haben gesagt, sie bitten darum, daß er mal 'nen halben Schritt zurückgeht, sie brauchen Platz. Und das haben wir erst auch nicht verstanden, aber dann hab' ich's gewußt, warum die Platz brauchten [Erläuterung eines Begrüßungsrufes für die einziehenden Narrenzünfte, bei dem die gesamte Menschenmenge einen halben Schritt nach hinten ausfällt, d. Verf.]. Und die Frau, die aus Chemnitz, die war ein bißchen eingestiegen, weil die nun sagte, 'wenn Sie so viel Platz brauchen, dann müssen sie sich woanders hinstellen, wo sie alleine sind'. Und da hörte ich bloß, wie die Blonde sich 'rumdrehte und sie ihr sagte, 'naja, hätten sie mal die Mauer gelassen, dann wären solche wie ihr nicht hier' " Aus Angst vor Streit mit Einheimischen läßt sich eine weitere Gewährsperson sogar in ihrem Freizeitverhalten beeinflussen: K17: „Gestern war da ein Krankenwagen [vor einer Diskothek], da haben sie 'nen DDRler zusammengehauen, haben sie am Dialekt gleich gemerkt, ich meine, ist auch nicht so ganz beliebt, der Dialekt. Ich war noch gar nicht drüben [in der Diskothek, d. Verf.]. Ich geh' auch nicht rüber, ist mir zu blöd. Weil, mir haben sie schon gesagt, wenn ich 'rübergehe, und die hören das am Dialekt, gibt's ein paar auf die Nase, weil, es sind viele verärgert drüben. Weil, es sagen sich ja alle, dadurch hat die ganze Aussiedlersache angefangen, durch uns Ostler."

36 Insgesamt kann in vielen Fällen von „Berührungsängsten" gesprochen werden, die unter anderem dadurch geschürt werden, daß in den Medien über negative Erfahrungen von Übersiedlern und Übersiedlerinnen berichtet wird. Fast alle Gewährspersonen haben sich bereits Gedanken über ihre Rolle als ehemalige DDR-Bürger gemacht, und nicht selten wird die besondere Position gerade durch die obersächsische Sprachvarietät nach außen getragen. Positive Erfahrungen mit der einheimischen Bevölkerung werden in der Regel präziser thematisiert. Die Personen, mit denen es freundliche Begegnungen und nette Situationen gibt, können konkret genannt werden. Besonders Gewährspersonen, die noch vor dem Fall der Mauer nach Westdeutschland ausgereist sind, stießen in der Regel auf freundliche Aufnahme. Sehr positive Erfahrungen machte zum Beispiel ein junger Mann, der Anfang November 1989 über die CSSR nach Saarbrücken ausgereist ist: S23: „Ich hab' einen sehr guten Anfang hier gehabt, habe viel Unterstützung gehabt. Mich haben ältere Leute aufgenommen, in E. draußen, zwei Rentner, alle beide über siebzig. Und die haben in der Jugendherberge einen Zettel angehangen, sie nehmen Einzelpersonen auf zur Starthilfe. Die Leute haben mir im Haus ein Zimmer gegeben, dadurch kam ich ruckzuck aus der Jugendherberge 'raus. Die haben mir dann ein Auto gegeben, die Leute, da könnt' ich meine Wege erledigen. Ich habe nach zwei Tagen, ohne selber 'was dafür zu tun, hier im Saarland Angebote von Baufirmen gekriegt, da wußt' ich noch nicht mal, woher die wußten, daß ich Maurer von Beruf bin. [. . .] Von der Firma her hab' ich Unterstützung gehabt, die haben am Anfang gesagt, borg dir nirgendwo Geld, nimm nichts auf, wenn du was brauchst, wir wissen deine Lage. Du bist hierher gekommen, du hast nichts, komm in die Firma, du kriegst von uns was. Auch der Baustellenleiter, mein Polier, muß· ich auch sehr betonen, der hat mir sehr geholfen am Anfang. Sonst wär' ich Weihnachten hier allein gewesen, da hat der gesagt, komm einen Weihnachtsfeiertag zu uns und so. Und auch alle behördlichen Stellen - wunderbar." Stärker als negative werden positive Erfahrungen mit einzelnen Personen oder Personenkreisen verbunden. Hierzu gehören Erzählungen aus dem Privatleben, nette Erlebnisse mit Ortsansässigen und Unternehmungen mit Personen aus dem sich u. U. von Interview zu Interview verdichtenden Freundeskreis. Auch gerade aufgrund ihrer obersächsischen Varietät werden mehrere Gewährspersonen angesprochen. Imitationen sind nicht selten, und freundlich gemeinte „Neckereien" gehören zu den positiven Erfahrungen, die die Sachsen und Sächsinnen in den Interviews beschreiben. Kl2: „Ich wurde am Anfang von den Arbeitskollegen immer geneckt, weil ich so gesagt habe 'den Berg raufloofen', aber das war immer nett gemeint. Und heute, das ist witzig, da sagen die dann auch immer, 'den Berg raufloofen'. Und die finden das auch lustig."

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2.5 Vergleiche zwischen Ost- und Westdeutschland 2.5.1 Vergleich der Lebensqualität in Ost- und Westdeutschland Was städtebauliche, landschaftliche und kulturelle Vorteile in Ost- oder in Westdeutschland angeht, setzen die meisten Befragten deutliche Prioritäten. So betonen fast alle Gewährspersonen sowohl in Saarbrücken als auch in Konstanz, daß die landschaftliche Umgebung ihres neuen Wohnortes der Landschaft Sachsens vorzuziehen sei. Lediglich einige leidenschaftliche Kletterinnen verweisen mehrfach auf die Sächsische Schweiz als die schönste (Kletter-) Gegend, nicht nur in Deutschland. K23 : „Ich war zehn Jahre lang jedes Wochenende in der Sächsischen Schweiz, und deshalb find' ich die natürlich schön. Und das ist wirklich so, wo ich auch bin, stell' ich den Vergleich an. Wo ich auch Klettern gehe, ob das in Südfrankreich ist oder in England oder sonstwo, stell' ich den Vergleich an, ob ich da zufrieden bin, ob ich da genauso empfunden habe, wie wenn ich's zu Hause gemacht hätte, wenn ich dort aufm Gipfel sitze, wie das eben dann so ist. Und da hat jedes Gebiet irgendwo da drunter abgeschnitten, muß ich echt so sagen. Und andersrum hab' ich aber von vielen Kletterern, die schon vor der MaueröfFnung von hier zu uns gekommen sind, die haben wirklich alle, an alle kann ich mich da erinnern, die gesagt haben, 'also, das bei euch hier, die Sächsische Schweiz, das ist schon was Besonderes'." Die Landschaft im Raum Leipzig, aber auch um Dresden und Chemnitz, wird hingegen nicht thematisiert, ohne daß über die Umweltprobleme in der ehemaligen DDR gesprochen wird. Vielen Informanten und Informantinnen fallt die Luftverschmutzung in den neuen Bundesländern erst auf, seit sie in Westdeutschland wohnen. Hautprobleme, häufige Kopfschmerzen oder Migräne werden vielfach mit der hohen Luftverschmutzung in Sachsen in Verbindung gebracht, wobei ein Umzug nach Konstanz oder Saarbrücken eine Linderung dieser gesundheitlichen Probleme mit sich gebracht habe. K7: „Ich hatte sowieso in Dresden drüben tüchtig gelitten, weil da die Luft so schlecht ist. Ich hab' regelmäßig im Monat drei-, viermal Migräne gehabt. Seitdem ich hier bin, toitoitoi, ich kann's zählen, dreimal in einem Jahr. Und das ist auch für mich ein Grund, daß ich nicht zurückgehen würde. Da könnten sie mir sonstwas bieten da drüben." K18: „Schon allein die schlechte Luft. Also, ich hab' hier eigentlich kaum Pickel. So schlechte Haut hab' ich hier eigentlich nicht. Aber ich war jetzt Weihnachten bei meinen Eltern, und ich war zehn Tage dort, und ich sah wieder aus wie ein Streuselkuchen. Ich bin wiedergekommen und hatte total schlechte Haut. Wir haben in der Nähe bei uns so ein Chemiewerk, und da ist bei uns sehr, sehr schlechte Luft. Und da haben viele gelitten, leiden viele an den Bronchien, sind viele erkältet das ganze Jahr über. Und das merkst du, die Luft hier ist total anders, viel sauberer. Also, ich möchte nicht wieder zurück."

38 Im Gegensatz dazu wird die landschaftliche Attraktivität sowohl im Saarland als auch im Bodenseeraum von ausnahmslos allen Gewährspersonen besonders hervorgehoben. K26: „Ja, ist wirklich 'ne schöne Gegend, muß ich sagen. Ich hatte den Bodensee noch nie gesehen, aber ist wirklich schön." S17: „Ja, und von der Landschaft her gefällt's mir wirklich hier ganz doli. Das ist schön, daß eigentlich immer überall was Grünes ist." Wie in Kapitel 2.3 ausgeführt, sind auch mehrere Gewährspersonen gerade aufgrund landschaftlicher Motive ins Saarland bzw. in den Bodenseeraum gezogen. Was Städtebau und Kultur angeht, sind bei den Meinungen der Informanten verschiedene Tendenzen festzustellen. Die alte Bausubstanz der sächsischen Städte wird positiv hervorgehoben, es wird jedoch zweierlei bedauert: zum einen, daß während des SED-Regimes zu viele alte Bauten vernachlässigt worden seien, zum anderen die seit der politischen Wende zu beobachtende Tendenz, daß Reklameschilder und grelle Neonlichter die Stadtbilder bestimmen. Gerade die Dresdener heben die Schönheit ihrer Stadt immer wieder hervor und bedauern die aufkeimende Konsumorientiertheit (K7: „Das ist keine Stadt mehr, das ist ein Jahrmarkt "). Der kulturelle Stadt-Land-Gegensatz wird besonders von den Gewährspersonen thematisiert, die nicht in die Städte Konstanz oder Saarbrücken gezogen sind, sondern sich in der weiteren Umgebung niedergelassen haben. Insbesondere kulturbeflissene Dresdener, deren kulturellen Ansprüchen eine Stadt wie Konstanz nicht genügen kann, sehnen sich nach der Theater- und Konzertvielfalt der Stadt zurück. K10: „Was mir halt fehlt, ist die große Stadt. Das fehlt mir schon. [...] Konstanz ist das einzige, aber das ist halt auch etwas provinziell. Was Theater oder sonstwie Kultur angeht, kann es einfach mit Dresden nicht mithalten."

2.5.2 Vergleich der Mentalität der Ost- und Westdeutschen Die Gewährspersonen äußern vielfach den Eindruck, den sie persönlich von der Mentalität der westdeutschen Bevölkerung im Vergleich zur eigenen Mentalität erfahren haben. Eher selten werden dabei bestimmte Eigenschaften nur den Konstanzern oder nur den Saarbrückern zugeschrieben. Die nachstehende Auflistung betrifft zunächst alle Negativeigenschaften, die von den Sachsen in Konstanz den Westdeutschen zugeordnet werden: einzelkämpferisch (9x), materialistisch denkend (7x), arrogant (4x), unnahbar (4x), stur (4x), konsumorientiert (3x), zurückhaltend (3x), distanziert (2x), egoistisch (2x), ungesellig, voreingenommen, besserwisserisch, leistungsorientiert, unehrlich, unpolitisch, spießig, wenig hilfsbereit, nicht menschlich, erfolgsstrebend, humorlos, unspontan, unsolidarisch, sie kritisieren nur hintenherum (2x) und

39 verwöhnen ihre Kinder. Konkret auf die Konstanzer Bevölkerung entfielen dabei die Adjektive ungesellig, distanziert, arrogant, stur, spießig, unnahbar und zurückhaltend Positive Eigenschaften, die die Gewährspersonen in Konstanz der Bevölkerung im Konstanzer Raum zuschreiben, sind: nett, salopp, locker, mitteilsam, ruhig, fachlich kompetent, nicht gleich so kumpelhaft, risikofreudig, herzlich (wenn auch distanzierter als Sachsen), aufgeschlossen, sie haben mehr Mut dem Leben gegenüber und leben intensiver (je eine Nennung). Ein positives Bild der Westdeutschen wird sowohl von den Gewährspersonen in Konstanz als auch von jenen in Saarbrücken wesentlich seltener als ein negatives gezeichnet, was darauf hindeutet, daß die Identifikation mit einer „ostdeutschen Mentalität" in vielen Fällen (noch) deutlich vorhanden ist. Die Informanten und Informantinnen, die in den Raum Saarbrücken gezogen sind, charakterisieren Westdeutsche mit folgenden Eigenschaften: egoistisch (4x), konsumorientiert (3x), gefühlskalt (3x), unehrlich (2x), verschlossen (2x), unverbindlich (2x), arrogant, verlogen, geizig, nur oberflächlich herzlich, politisch desinteressiert, unsolidarisch, spießig, sie haben ein starkes Konkurrenzdenken (4x), verziehen ihre Kinder (3x), haben keine Individualität (2x), sie nutzen andere Menschen aus, lieben ihre Kinder nicht, haben keine Zeit füreinander, leben in den Tag hinein, haben keine eigene Meinung, sie denken in Standesdünkeln, haben eine Wegwerfmentalität und einen Darstellungstrieb und sie arbeiten nur unter Druck. Positiv wird von den befragten Sachsen und Sächsinnen im Saarland vermerkt, daß die Saarländer folgende Eigenschaften haben: gemütlich (2x), solidarisch (2x), nett, lustig, kontaktfreudig, patriotisch, aufgeschlossen, freundlich, tolerant (da sie im grenznahen Bereich leben), sie feiem und faulenzen gern, sagen offen ihre Meinung und sind Besitz gegenüber gleichgültig. Mehrfach wird festgestellt, daß die Mentalität der Saarländer denen der Sachsen ähnlich sei: S27: „Das Saarland hat für uns den Vorteil gehabt, es liegt so ungefähr auf dem gleichen Breitengrad. Wenn man nach Norddeutschland oder nach Bayern gezogen wäre, dann wäre das gleich ganz anders geworden. Von der Mentalität gleichen sich die Saarländer und die Sachsen eigentlich." S25: „Also, ich muß sagen, die Mentalität [der Saarländer, d. Verf.] entspricht ungefähr der der Sachsen. Die sind eigentlich ziemlich freundlich, aufgeschlossen [...], also, ich würde sagen, wir kommen bis jetzt eigentlich mit jedem gut aus." Ein solcher Vergleich wird mit Konstanzern nicht gezogen. Die Konstanzer werden von fast allen in Konstanz befragten Sachsen und Sächsinnen mit Negativattributen versehen. Wird nach einem Vergleich der Mentalitäten gefragt, dann wird in jedem Fall der sächsischen Mentalität der Vorzug gegeben, wobei die Konstanzer unattraktiver als die Saarbrücker beschrieben werden. Positive „typisch westdeutsche" Eigenschaften werden überhaupt nicht genannt.

40 Von sich selbst und von Ostdeutschen allgemein zeichnen die befragten Sachsen und Sächsinnen ein von den Eigenschaften, die die Westdeutschen beschreiben, deutlich differierendes Bild, das sich nur in den wenigen folgenden Negativattributen äußert: naiv (2x), mutlos (2x), wenig selbstbewußt, zurückhaltend, gehemmt, leichtsinnig, neidisch, unselbständig, mißtrauisch, nicht kooperativ, sie lassen sich hängen, verlieren ihren alten Zusammenhalt und folgen einem Herdentrieb. Die positiven Eigenschaften, die unsere Gewährspersonen sich selbst als Sachsen und Sächsinnen und als Bürger und Bürgerinnen der ehemaligen DDR zuschreiben, haben viel mit kommunikativen Elementen und zu tun: kontaktfreudig (lOx), aufgeschlossen (8x), offen (7x), gesellig (7x), herzlich (7x), redselig (5x), ehrlich (5x), gemütlich (4x), kumpelhaft (3x), hilfsbereit (3x), freundlich (3x), tolerant (3x), humorvoll (3x), lustig (2x), dem Geld gegenüber gleichgültig (2x), neidlos, sie halten zusammen (15x) und kennen kein Konkurrenzdenken. Unsere Gewährspersonen zeichnen von sich selbst (sei es als ehemalige DDR-Bürger und -Bürgerinnen oder als Sachsen und Sächsinnen) ein deutlich positiveres, jedoch weniger facettenreiches Bild als von der einheimischen westdeutschen Bevölkerung. Es scheint also so zu sein, daß man sich einer „typisch sächsischen Mentalität" bewußt ist, sich mit ihr größtenteils identifiziert und sie auch nach außen formuliert. Dabei ist auch festzustellen, daß die kommunikativen Eigenschaften, also Aufgeschlossenheit, Kontaktfreudigkeit, Geselligkeit etc. der Mentalität der Sachsen zugeordnet werden, wohingegen Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Gleichgültigkeit materiellen Werten gegenüber und besonders das solidarische Verhalten untereinander allgemein ehemaligen DDR-Bürgern zugesprochen werden.6 Häufig gibt es hierfür auch Erläuterungen, die mit den Verhältnissen in den beiden unterschiedlichen politischen Systemen zusammenhängen. Daß zum Beispiel aus der Sicht unserer Informanten und Informantinnen die ehemaligen DDR-Bürger und -Bürgerinnen im Vergleich zu Westdeutschen wenig selbstbewußt, gehemmt und mißtrauisch sind, wird mit der Unterdrückung im totalitären Staat erklärt. Insbesondere die Hilfsbereitschaft der Bürger und Bürgerinnen in der ehemaligen DDR und der starke Zusammenhalt hängen nach Meinung der Befragten mit dem politischen System zusammen. Daß es in der DDR an Dingen fehlte, die in Westdeutschland zum täglichen Leben gehören, ließ eine Art „Notgemeinschaft" entstehen. K19: „Da drüben war man auch drauf angewiesen, wenn's was nicht gab. Sie [seine Frau, d. Verf.] hat im Fleischerladen gearbeitet als Fleischverkäuferin, ich war Bierfahrer, zum Beispiel. So, jetzt brauchte ich ein Auto-Ersatzteil, da hat der Autoschlosser gesagt, 'ich brauch' einen Schinken', was es zum Beispiel nicht gab, oder einen guten Kasten Bier, also wurde ausgetauscht untereinander. Und so wusch eine Hand die andere." K25: „Die unterschiedliche Vergangenheit hat sich auf jeden Fall auf den Lebensstil ausgewirkt und auch auf den Charakter der Leute. Ich finde es zum Beispiel furchtbar, daß hier alles nach dem Pfennig abgerechnet wird, daß Notsituationen oft ausgenutzt werden: Siehe verschiedene Zeitschriften-Artikel, unter anderem im „Spiegel", in denen von Ostdeutschen ebenfalls über größere Solidarität in der ehemaligen DDR berichtet wird (ζ. B. „Der Spiegel", Jgg. 45, Nr. 46 (25.11.1991), „Der Spiegel", Jgg. 49, Nr. 27 (3.7.1995), „Der Spiegel", Jgg. 49, Nr. 36 (4.9.1995)).

41 da kann ich Kapital d'raus schlagen, da nehm ich eben den entsprechenden Preis für meine hehre Leistung. [...] In der DDR, das war ein, sagen wir, eine Notgemeinschaft oder sowas. Es gab nichts, jeder mußte jedem helfen. Ja, der eine war eben Tischler, hat dir ein paar Stück Holz besorgt, der andere war Automechaniker und hat dir ein Ersatzteil besorgt. Jeder konnte handwerklich sich selbst behelfen, weil es halt keine Handwerker gab, und einer hat dem anderen ausgeholfen, [. . .] fand ich eigentlich sehr gut." Den meisten Informantinnen und Informanten ist der in den obigen Zitaten erläuterte Zusammenhang zwischen Mangel an Gebrauchsgütern und Solidarität in der Bevölkerung der ehemaligen DDR bewußt. Dennoch fehlt vielen Gewährspersonen in Westdeutschland der Zusammenhalt im alltäglichen Leben. Alte, jahrelang gewachsene Freundschaften in Sachsen werden mit neuen Bekanntschaften in Westdeutschland verglichen und möglicherweise zum Teil auch aus der Distanz heraus glorifiziert. S10: „Ich hab' immer noch die Hoffnung, daß das Miteinander-Umgehen, daß ich halt die falschen Leute hier kennengelernt hab', aber ich hab' eigentlich keine Hoffnung mehr, daß das noch besser wird. [. . .] Daß es also so wie in der DDR ist oder wird hier, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich denk' mir, das war mal so, und das wird immer schlimmer. [. . .] Ich denk', daß die Menschen das verlernen. Und ich hab' mich da oft, ich hab' jetzt 'nen Freund, ich hab' mich oft mit dem unterhalten, und der sagt, das ist nunmal hier so, er hat auch ganz wenige, die er seine Freunde nennen würde, auf die er sich auch immer verlassen kann. [. . .] Das war bei uns total anders, und er war jetzt auch mal in Dresden, und er war echt erstaunt und auch erfreut, daß es sowas noch gibt. Ja, es war auf jeden Fall anders." K24: „Man wundert sich schon, man hat irgendwie mit Leuten sein ganzes Leben lang zusammengelebt oder eine ganze Zeit, man hat das eben so kennengelernt, daß es eben so eine Solidarität zwischen den Menschen gab. Man wundert sich dann halt schon, daß es hier nicht so ist, und man sucht dann zielstrebig nach Leuten, wo man dann dasselbe findet. Und man findet's meistens in Leuten, die auch von drüben gekommen sind." Personen, die die Art und Intensität der Freundschaften in Ost- und Westdeutschland nicht miteinander vergleichen, sind die Ausnahme. Und besonders diese Personen haben offensichtlich keine Schwierigkeiten damit, mit Westdeutschen auf Anhieb zufriedenstellende Kontakte zu knüpfen und schnell auch festere Freundschaften zu schließen.

42

2.6 Zusammenfassung Wie die Analyse der verschiedenen Motive für die Übersiedlung bzw. die Wahl des Wohnortes zeigt, wird von unseren Gewährspersonen die Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität am häufigsten als ausschlaggebender Faktor für ihren Umzug nach Westdeutschland genannt. Den Ausschlag für die Wahl des neuen Wohnortes gaben hingegen oft familiäre Gründe, d. h., viele Informanten zogen bereits in Konstanz oder Saarbrücken wohnenden Verwandten oder Freunden nach. In Konstanz bzw. Saarbrücken gestaltete sich in der Regel weder die Arbeits- noch die Wohnungssuche als Problem, wobei sich Frauen häufiger als Männer mit einem schlechter gestellten Arbeitsplatz zufriedengeben mußten. War die Suche nach dem Arbeitsplatz selbst nicht mit größeren Schwierigkeiten verbunden, so tauchten doch Probleme am Arbeitsplatz in der Kommunikation mit den Kollegen auf. Dies führen die Gewährspersonen neben formalen Kriterien (ζ. B. unterschiedliche Ausbildungen) vor allem auf Mentalitätsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen zurück, auf die sie auch im privaten Bereich immer wieder stoßen. Unsere Gewährspersonen beschreiben sich selbst u. a. als kontaktfreudig, gemütlich und humorvoll, die Westdeutschen hingegen werden beispielsweise als unnahbar, einzelkämpferisch und leistungsorientiert charakterisiert. Im Gegensatz zu den in Konstanz lebenden Sachsen sehen jedoch die im Saarland wohnenden Gewährspersonen mitunter Ähnlichkeiten zwischen ihrer eigenen und der saarländischen Mentalität. So bezeichnen einige Sachsen in Saarbrücken sowohl sich selbst als auch die Einheimischen als aufgeschlossen, tolerant und lustig.

3 Phonetisch-phonologische Akkommodation 3.1 Das obersächsische Dialektgebiet 3.1.1 Zur Sprachgeschichte des Untersuchungsgebietes Der obersächsische Dialektraum erstreckt sich in weitester Auslegung von Plauen im Süden bis Wittenberg im Norden, er umschließt noch Halle an seiner westlichen Grenze und geht bis zur polnischen Grenze im Osten. Aus diesem dialektal sehr uneinheitlichen Gebiet, das vor allem durch starke Nord/Süd-StafFelungen gekennzeichnet ist, läßt sich das Obersächsische im engeren Sinn ausgrenzen: die Dialektgebiete des Meißnischen (um Dresden/Meißen) und des Südwest/Südost-Osterländischen (um Leipzig), also unter Ausschluß des Erzgebirgischen und Vogtländischen im Süden, des Nordosterländischen und Elbe-Elster-Gebiets im Norden sowie des Lausitzischen im Osten. Das Zentrum dieses im engeren Sinne obersächsischen Dialektgebiets liegt auf der Achse Leipzig/Dresden.1 Die meißnisch-sächsische Dialektregion nimmt eine intermediäre Position zwischen niederdeutschen und oberdeutschen Dialekten ein. Dies hat natürlich zum einen mit der geographischen Lage im mitteldeutschen Sprachgebiet zu tun, zum anderen aber auch mit der deutschen Besiedlung des obersächsischen Raums im 12. und 13. Jahrhundert, welche zu einer Durchmischung der ober-, mittel- und niederdeutschen Dialekte bzw. zum Sprachausgleich führte. Unmittelbar auf die Besiedlung folgten die Bewegungen des Sprachausgleichs, der sich innerhalb der kleinen und mittleren Siedlungseinheiten vollzog. Diese Siedlungseinheiten wuchsen vor allem dann zu geschlossenen Mundartgebieten zusammen, wenn sie sich über die Zeit der Siedlung hinaus als politische Räume erhielten. Das trifft vor allem für das Vogtland und die Oberlausitz zu.2 Den größten Einfluß auf die Aus- und Angleichung der verschiedenen Dialekte übte die wettinische Landesherrschaft aus, welche seit Heinrich dem Erlauchten (1221-1288) über ein relativ großes zusammenhängendes Herrschaftsgebiet verfugte, das vom Thüringer Wald bis an die Lausitz, vom Erzgebirge bis nördlich von Leipzig reichte. Dieses meißnische Territorium bildete durch seine großflächige staatliche Stabilisierung die stärkste Kraft für den Ausgleich der verschiedenen Sprachbestandteile auf obersächsischem Boden und führte zur Erstarkung und Ausbreitung einer meißnischen Ausgleichssprache.3 Schon im Mittelalter hat es kommunikative Bindungen zwischen dem hochdeutschen und niederdeutschen Gebiet gegeben, die offenbar am stärksten zwischen dem ehemals niederdeutschen Gebiet von Halle/Saale - Merseburg - Wittenberg und dem südlich angrenzenden Raum gewesen sind. Aufgrund dieser Bindungen gingen die genannten Städte schon im 15. Jahrhundert zum Ostmitteldeutschen über. Die Ausweitung des Handels trug zu dieser Entwicklung

2 3

Siehe zu diesen Ausführungen: Becker/Bergmann (1969) und Bergmann (1990). Siehe Becker/Bergmann (1969: 44). Siehe Becker/Bergmann (1969: 36).

44 bei: Kaufleute aus dem süddeutschen Raum (Nürnberg, Augsburg, insbesondere die Fugger) drangen über den ostmitteldeutschen Sprachraum bis zu den hansischen Handelsstädten vor. Schließlich ist auch der literarische Austausch zwischen Nord- und Süddeutschland in diesen Jahren entstanden; dieser Faktor trug ebenfalls dazu bei, daß die Anzahl der Drucke niederdeutscher Schriften deutlich zurückging, da sich die Schriftsprache nach ostmitteldeutschem Charakter ausbildete und nach Norddeutschland wie nach Süddeutschland verbreitete. So strahlte die meißnische Kernlandschaft um Leipzig-Meißen-Dresden-Freiberg nach Norden und Süden aus, womit sie im Norden die niederdeutschen und im Süden die mainischoberdeutschen Eigentümlichkeiten zurückdrängte. Verfolgt man die Richtung der fächerförmigen Ausbreitung der Ausgleichssprache, so wird deutlich, daß der Raum Leipzig-MeißenDresden-Freiberg das Kerngebiet der obersächsischen Ausgleichssprache ist, während vor allem die äußeren Randgebiete im Süden und Norden aus dem Rahmen fallen. Die niederdeutschen Einflüsse reichen im Norden bis vor Leipzig, die oberdeutsche Einflüsse im Süden bis nach Chemnitz. Innerhalb des Kerngebietes lag der politische und kulturelle Schwerpunkt der meißnischen Markgrafen, gefördert durch deren ältesten und festesten Besitz in den Jahrhunderten nach der Besiedlung. Dieser Raum deckt sich gleichzeitig mit dem Bereich des mitteldeutschen Siedlungszuges, was für die sprachliche Betrachtung von Bedeutung ist, denn mit der fortschreitenden Besiedlung gewannen die mitteldeutschen Spracheigenheiten und somit die obersächsische Ausgleichssprache in diesem Bereich an Übergewicht. In den ersten Jahrhunderten der Neuzeit (1500-1789) entstand, ausgehend von den sächsischen Städten, unter Einfluß der Schriftsprache die obersächsische Umgangssprache.4 Nach Becker/Bergmann (1969) hat hier ein Zeitalter der Umgangssprache ein solches der Mundart abgelöst. Die Sprachvereinheitlichung in der obersächsischen Ausgleichssprache ist noch ein Ausgleich verschiedener Mundarten; die Entwicklung der obersächsischen Umgangssprache setzt jedoch erst mit dem Entstehen der Schriftsprache ein, entwickelt sich also aus dem Verhältnis von Schriftsprache und Mundart. Die folgende Verschmelzung von Schriftsprache und Mundart hat, so Becker/Bergmann, das hervorgebracht, was als obersächsische Umgangssprache bezeichnet wird. Das Obersächsische hat zwar typische lautliche Kennzeichen behalten, aber es steht der deutschen Schriftsprache deutlich näher als andere Mundarten, zumal sich das Obersächsische und die deutsche Schriftsprache in den Längen und Kürzen der Vokale nur in geringen Abweichungen unterscheiden. Für die Entwicklung der meißnischen Schriftsprache waren die Schriften Martin Luthers, dessen Sprache sich einerseits auf die schriftliche Kanzlei- und Geschäftssprache, andererseits auf die mündliche Verkehrssprache des wettinischen Staates gründete, von Bedeutung. Luther wählte diese Varietät, da seine Übersetzungen ein möglichst weites Verbreitungsfeld finden sollten.

Der Terminus „Umgangssprache" wird, obgleich er nicht unproblematisch ist (siehe dazu Kapitel 1), in diesem Kapitel durchgehend verwendet, da sich diese Ausführungen in weiten Teilen an die „Sächsische Mundartenkunde" von Becker/Bergmann (1969) anlehnen. Die beiden Autoren widmen ein Kapitel der Entwicklung der von ihnen als „Umgangssprache" bezeichneten Sprachform.

45 „Ich habe keine gewisse, sonderliche, eigene Sprache im Deutschen, sondern brauche der gemeinen deutschen Sprache, dass mich beide, Ober- und Niederländer, verstehen mögen. Ich rede nach der sächsischen Canzeley, welcher nachfolgen alle Fürsten und Könige in Deutschland; alle Reichsstädte, Fürsten-Höfe schreiben nach der sächsischen und unseres Fürsten Canzeley, darum ists auch die gemeinste deutsche Sprache." (Luther, 1912: 524)

Luther verschaffte dem Meißnischen Deutsch weithin Ansehen, da er die erste Bibelübersetzung erbrachte, die auch breiteren Kreisen verständlich war. Der Sprachausgleich zugunsten des Meißnischen Deutsch ist jedoch zu Luthers Zeiten bereits zu einem großen Teil vollzogen und wird durch die politische, kulturelle und wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung im 16. und 17. Jahrhundert noch verstärkt. Es wäre also inkorrekt, Luther als alleinigen Vorreiter einer Ausbildung der deutschen Standardsprache nach meißnischer Norm darzustellen: Das gesamte kulturelle Leben Deutschlands hat bis in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts die überwiegende Autorität dieser Norm bestimmt. Die im wesentlichen nach ostmitteldeutschem Vorbild ausgebildete Literatursprache ist während des 17. und 18. Jahrhunderts von führenden Dichtern und Grammatikern nicht nur im mitteldeutschen Gebiet (Opitz, Gottsched, Lessing), sondern vor allem auch im Norden (Schottelius, Klopstock) verwendet und gefördert worden. Wie oben erwähnt, gehen Becker/Bergmann davon aus, daß erst mit dem Entstehen der Schriftsprache die Entwicklung der obersächsischen Umgangssprache eingesetzt hat: eine Mundart existiert ohne Schrift, während eine Umgangssprache zu ihrem Vorhandensein die Schriftsprache voraussetzt. „Die obersächsische Umgangssprache [...] entsteht dadurch, daß die neuhochdeutsche Schriftsprache in obersächsischer Mundart ausgesprochen wird. Das heißt: Die obersächsische Umgangssprache beruht auf der Schriftsprache, spricht diese aber mit einem obersächsischen Lautsystem aus, das sie als eine Summe von Aussprachenormen übernimmt." (Becker/Bergmann, 1969: 142)

Die Umgangssprache übernimmt also aus der Mundart Aussprachenonnen, die sie generell anwendet, während diese Aussprachenormen in der Mundart nur auf bestimmte Lautkombinationen beschränkt sind. Beispielsweise wird in den Mundarten im Wortinlaut g nicht als Verschluß- sondern als Reibelaut gesprochen, wobei g aber auch manchmal wegfällt oder vokalisiert wird (Wagen = [vom], [vom]); die Umgangssprache jedoch wendet die Regel, daß inlautendes g als Reibelaut gesprochen wird, auf sämtliche inlautenden g-Laute der Schriftsprache an (Wagen = [νο:χ3η]). Seit dem 17. Jahrhundert ist die obersächsische Umgangssprache in den Städten Sachsens verbreitet, wobei sie schon damals schichtenspezifisch gegliedert war: die gehobenen Schichten standen und stehen der Schriftsprache näher, die unteren hingegen der Mundart. Die erstaunlichste Wirkung der obersächsischen Umgangssprache liegt darin, daß sie die alten obersächsischen Mundarten, die ganz anders klingen als die abgeleitete Umgangssprache, im allgemeinen Bewußtsein von Nicht-Sachsen völlig verdrängt hat. Dieser Wandel hat sicher mit dem allgemeinen Prestigeverlust des Sächsischen seit Anfang des 18. Jahrhunderts zu tun (siehe Kap. 6).

46 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß folgende sprachgestaltende Bewegungen vom obersächsischen Altsiedelland um Dresden und Leipzig im letzten Jahrtausend ausgegangen sind: 1) der mitteldeutsche Siedlerzug, 2) der Sprachausgleich im obersächsischen Mundartgebiet und in der meißnischen Ausgleichssprache, 3) die obersächsische Umgangssprache neuerer Zeit. 4) Ausgangsgebiet und Ausbreitung der Veränderungen sind dieselben: vom altbesiedelten Niederland Nordsachsens und dem Elbtalkessel gehen die Veränderungen nach Norden und nach Süden. Heute ist die obersächsische Mundart durch kleinräumige Dialektgebiete gekennzeichnet, die sich in ländlichen Bereichen halten konnten.

3.1.2 Sprachliche Merkmale des Obersächsischen Das für unsere Forschung interessante Gebiet, also das neue Bundesland Sachsen, ist durch eine relativ einheitliche sogenannte Umgangssprache gekennzeichnet, die sich von der Standardlautung nur durch eine recht geringe Anzahl von phonologisch-phonetischen Merkmalen unterscheidet. Die Gesamtheit dieser Merkmale jedoch gibt dem Obersächsischen eine typische und problemlos zu erkennende Lautung. In Voruntersuchungen, vor allem von Horst Becker und Gunter Bergmann (1969), werden die folgenden als die wichtigsten herausgestellt.5 Konsonantismus: 1) Koronale Realisierung von standarddeutschem [ç] nach Vordervokalen und vokalisiertem r im Inlaut und im Auslaut. Bsp.: sich = [zij]; teilweise auch Hyperkorrektion Tisch = [tiç]. 2) Spirans-Realisierung des stimmhaften Plosivs g im Inlaut nach Langvokal.6 Bsp. : Frage = [fifo:x9], 3) Lenis-Realisierung anlautender standarddeutscher stimmloser Fortis-Plosive zu Lenes mit wechselnder Stimmhaftigkeit. Bsp.: Tag= [da:/],peinlich = [bainhfl. 4) Spirans-Realisierung des stimmhaften Plosivs b im In- und Auslaut. Bsp .Leben = [le:van]. 5) Reduktion des auslautenden r zu einem uvularen bis pharyngalen Approximanten, der das vorausgehende Tief-Schwa mit einem sehr „dunklen" („gutturalen") Timbre versieht. Vokalismus: 1) Offene Realisierung des langen e:. Bsp.: eben = [as:ban]. 2) Verdumpfung von standarddeutschem langen und kurzen a(:) bis zum [o(:>]. Bsp.: Tag = [do:x].

Die phonetische Umschrift bezieht sich im folgenden u. U. nur auf das jeweils diskutierte lautliche Phänomen, nicht auf die Realisierung ganzer Wörter. Auch im Auslaut wird das g als Spirans realisiert, jedoch ist diese Spirans-Realisierung keine spezifisch obersächsische Eigenheit, da sie den Umgangssprachen im gesamten niederdeutschen Gebiet zu eigen ist.

47 3) Velare Realisierung der standarddeutschen Labiopalatalvokale. Bsp.: drüben = [dri:ban], mögen = [πιεχρη]. 4) Zentralisierung fast des gesamten Vokalsystems im Hauptakzent (mit Ausnahme des e:), am auffälligsten und typischsten bei o: und u:. Bsp.: gut = [ga:t], wohnen = [vAinan], 5) Assimilation, in bestimmten lexikalischen Umgebungen (bei mhd. Diphthongen) auch vollständig monophthongische Realisierung des standarddeutschen ai durch Anhebung des Anglitts. Bsp.: zwei = [tsvei:], kein = [kern], 6) Assimilation bzw. vollständig monophthongische Realisierung des standarddeutschen Diphthongs au durch Anheben des Anglitts bis zum [o:]. 7) Ungerundete Realisierung des diphthongischen Anglitts in standarddeutsch oi zu [ai], Bsp.: Leute - [laite], 8) Vollständige oder fast vollständige Tilgung des interkonsonantischen Standard-Schwa; Reduktion unbetonter Vokale zu Schwa in einem weit über die Standardsprache hinausgehenden Maß und daraus folgend starke Neigung zur Klitisierung. Bsp., sächsisch = [zaeâfl. Die meisten dieser Merkmale bilden die Grundlage für die phonetisch-phonologische Untersuchung des Obersächsischen in der vorliegenden Arbeit. Unberücksichtigt bleiben jedoch Punkt 5 im Konsonantismus und Punkt 8 im Vokalismus, da die Merkmale bei einer auditiven Analyse nicht zufriedenstellend zu erfassen sind, sowie Punkt 4 im Konsonantismus, der bei keiner Gewährsperson festzustellen war.

3.2 Akkommodation an den Standard Im folgenden Kapitel wird die Entwicklung der einzelnen sprachlichen Variablen zum Standard vorgestellt und interpretiert.7 Zum Zwecke der Datenauswertung wurden aus dem 1., 5. und 8. Interview je zehn Minuten herausgeschnitten, wobei darauf geachtet wurde, daß die Gewährsperson in diesem Gesprächsausschnitt möglichst ohne Unterbrechungen von Seiten der Interviewerin bzw. des Interviewers spricht. Die in Kapitel 3.1 vorgestellten obersächsischen Variablen wurden phonetisch transkribiert. Die zunächst detailliertere phonetische Transkription wurde bei der weiteren Bearbeitung der Daten in drei Kategorien8 zusammengefaßt: Standardformen, schwach dialektale und stark dialektale Formen. Im folgenden werden sowohl starke als auch schwache Ausprägungen der obersächsischen Realisierungen als „alle Substandardformen" zusammengefaßt. Zur genaueren Differenzierung werden die stark dialektalen Realisierungen, die in allen Sub-

Es wird hierbei immer von stark dialektalen Formen, Substandardformen und obersächsischem Dialekt gesprochen. Gemeint sind hiermit, wie es korTekterweise heißen müßte, die starken bzw. schwachen regionalen Formen und die obersächsische Ausgleichssprache. Es wird explizit darauf hingewiesen, daß es sich bei einer solchen Dreiteilung um eine gewisse Idealisierung bzw. Reduktion eines sprachlichen Kontinuums vom Standard zum Dialekt handelt, die zu Zwecken der Bearbeitung notwendig ist.

48 standardformen enthalten sind, zusätzlich getrennt analysiert.9 Im folgenden Kapitel 3.2 werden jeweils die Veränderungen der einzelnen Variablen über alle Gewährspersonen zusammen berechnet. Zunächst werden die Vokale a, a:, e:, ö, ö:, ü, ü:, o:, u: vorgestellt,10 dann die Diphthonge oi, ai, au und schließlich die Konsonanten ch, g, p, t. Für jede Variable werden deren allgemeine Entwicklung vom 1. zum 8. Interview vorgestellt, wobei die Daten des 1., 5. und 8. Interviews separat betrachtet werden. Die absolute Häufigkeit, Mittelwerte (x), maximale (max.) und minimale (min.) Werte, Standardabweichung (s) und Signifikanzen des Vergleichs zwischen den Mittelwerten der Substandardformen der drei Eckinterviews jeder Variablen werden aufgeführt, darüber hinaus wird der Veränderungsverlauf über den gesamten Untersuchungszeitraum dargestellt. Weiterhin wird untersucht, ob bestimmte phonologische und/oder lexikalische Kontexte einen Einfluß auf die Häufigkeit der dialektalen Realisierungen der Variablen haben. Bei dieser Analyse werden die Werte der drei untersuchten Eckinterviews zusammengefaßt, um die Validität der Datenbasis zu erhöhen. Aus Gründen der Lesbarkeit werden Reduzierungen der Frequenz obersächsischer Realisierungen im Text nicht mit einem Minuszeichen versehen. Die Richtung der Veränderung dialektaler Formen (zum Standard, zum Obersächsischen oder zum Dialekt der Aufhahmeregion) wird explizit genannt. In allen Tabellen werden jedoch Verringerungen obersächsischer Formen mit einem Minuszeichen markiert.

3.2.1 Velare Realisierung von langem und kurzem a(:) Langes a: Das lange a: klingt im Obersächsischen nach Becker/Bergmann (1969) „nicht ganz rein" und kann bis zum [o:] verdumpft werden, beispielsweise [do:bük] für Tabak. Bei Fleischer (1961:158) liest man, daß ein „helles, unverdumpftes" a: der Umgangssprache vollkommen fremd ist. Dies ist darauf zurückzuführen, daß die obersächsische Umgangssprache den mundartlichen Lautwandel des mhd. a(\) zu leicht verdumpftem [D(:)] oder [O(:)] beibehält und auf alle kurzen und langen a der Schriftsprache überträgt.11 So findet man heute im Obersächsischen alle Grade der velaren Realisierung und möglichen Weiterentwicklungen von mhd. a(:).

Siehe hierzu auch die Diskussion in Kapitel 1 über die Begriffe „Standardsprache", „Umgangssprache" usw. Im Vokalismus werden die Kurzvokale e, o und u nicht berücksichtigt. Vgl. dazu die Punkte 1) und 4) unter dem Punkt Vokalismus bei der Beschreibung der obersächsischen Dialektmerkmale. Siehe Becker/Bergmann (1969: 142).

49 Kurzes a Das kurze α wird ebenso wie das lange a: als dumpfes [a] realisiert, jedoch in viel geringerem Maße. Mhd. α wird bei erhaltener Kürze heute vor Guttural sowie Ì, η + Konsonant nicht zu [D] verdumpft, während es bei Dehnung auch vor Guttural verdumpft wird.12

3.2.1.1 Auswertung der Daten Sowohl bei den kurzen als auch bei den langen α werden drei Artikulationsstufen berücksichtigt; sie reichen von der Standardartikulation über eine mittelstarke dialektale Realisierung bis zu einer stark dialektal realisierten Form: [a(:)] = hinterer, langer bzw. vorderer, kurzer α-Laut (Standardartikulation), [D(:)] = langer, leicht verdumpfter bzw. kurzer, leicht verdumpfter α-Laut (schwach dialektale Artikulation), [o(:)j = langer, offener bzw. kurzer, offener o-Laut (stark dialektale Artikulation).

3.2.1.1.1a Allgemeine Tendenzen Kurzes Variable a absolute Häufigkeit χ - Substandardformen in % χ - starke Substandardformen in % Max. Substandardformen in % Max. starke Substandardformen in % Min. Substandardformen in % Min. starke Substandardformen in % s - Substandardformen s - starke Substandardformen Signifikanzen des Mittelwertvergleichs Substandardformen starke Substandardformen

1. Interview 10655 3.64 0.17 30.21 3.25 0.00 0.00 6.43 0.53 1. mit 5. Int. .0028 .4962

5. Interview 11352 1.73 0.03 18.85 0.82 0.00 0.00 3.75 0.15 5. mit 8. Int. .2120 .6774

8. Interview 11469 1.09 0.01 15.39 0.50 0.00 0.00 2.84 0.07 1. mit 8. Int. .0000 .3117

Tab. 3 .1: Statistische Werte der Variablen kurz α 13 Das kurze α weist sowohl bei allen Substandardformen als auch bei den stark dialektalen Formen die niedrigsten Werte aller sprachlichen Variablen auf.14 Die im 1. Interview vorhandenen

12 13

14

Siehe Fleischer (1961: 197-198). Die Signifikanzen des Gesamtzeitraumes (1. Interview mit 5. und 8. Interview) stimmen mit den Signifikanzen des 1. mit dem 8. Interview überein. Siehe Abbildungen 1 und 2 sowie Tabellen 1 und 2 im Anhang.

50 dialektalen Realisierungen werden bis zum 8. Interview sowohl bei den starken (von 0.17% auf 0.01%) als auch bei allen Substandardformen (von 3.64% auf 1.09%) nahezu ganz abgelegt, wobei die Veränderung vom 1. zum 5. Interview jeweils stärker ausgeprägt ist. So unterscheiden sich die Werte für alle Substandardformen vom 1. und 5. Interview sowie vom 1. zum 8. Interview signifikant, vom 5. zum 8. jedoch nicht. Die stark dialektalen Formen weisen keine Signifikanzen auf. loo 90 80

70 60 50 •·• alle Sub.

40

starke Sub.

30 20 10 00.

1 Jahre

Abb. 3.1: Veränderungsverlauf der dialektal realisierten α-Formen über zwei Jahre Langes a: Variable a: absolute Häufigkeit χ - Substandardformen in % χ - starke Substandardformen in % Max. Substandardformen in % Max. starke Substandardformen in % Min. Substandardformen in % Min. starke Substandardformen in % s - Substandardformen s - starke Substandardformen Signifikanzen des Mittelwertvergleichs Substandardformen starke Substandardformen

1. Interview 4238 52.56 15.67

5. Interview 4552 43.37 8.71

52.56 15.67

43.37 8.71

34.76 5.47

0.00 0.00

0.00 0.00

0.00 0.00

35.84 22.58

35.80 16.93

31.53 11.53

1. mit 5. Int. .0000 .0007

5. mit 8. Int. .0001 .0961

8. Interview 5082 34.76 5.47

1. mit 8. Int. .0000 .0001

Tab. 3.2: Statistische Werte der Variablen lang a:15 Die dumpfe Realisierung des langen a: erweist sich als ein ausgeprägtes obersächsisches Dialektmerkmal, denn der Ausgangswert von a: liegt im 1. Interview sowohl bei allen Substan-

Die Signifikanzen des Gesamtzeitraumes (1. Interview mit 5. und 8. Interview) stimmen mit den Signifikanzen des 1. mit dem 8. Interview ttberein.

51

dardformen als auch bei den stark dialektalen Realisierungen in der oberen Hälfte der Tabelle aller sprachlichen Variablen.16 Die Auftretenshäufigkeit aller Substandardformen und der stark dialektalen Realisierungen ist jedoch sehr unterschiedlich: 52.6% Substandardformen stehen 15.7% stark dialektale Formen gegenüber. Man sieht in Abbildung 3.2, daß a: zwar über 50% dialektal realisiert wird, der Anteil der stark dialektalen Formen dabei aber nur etwas mehr als ein Viertel beträgt. Die Veränderungen zum Standard sind bei allen Substandardformen vom 1. zum 5. Interview und vom 5. zum 8. Interview nahezu gleich stark ausgeprägt. 100 90 80 70

60 50 40 30

··• alle Sub. starke Sub.

20 10

0

Abb. 3.2: Veränderungsverlauf der dialektal realisierten α:-Formen über zwei Jahre Die Variable nimmt bei den Differenzen der Mittelwerte vom 1. zum 5. Interview den zweiten Platz ein; sie verändert sich nach der Variable p,t am stärksten. Während die Substandardformen für den Wert vom 5. zum 8. Interview weiterhin auf dem zweiten Platz bleiben, rutschen die stark dialektalen Realisierungen auf den vierten Platz, d. h., sie verändern sich vom 5. zum 8. Interview in einem geringeren Umfang als vom 1. zum 5. Interview (um 6.96% vom 1. zum 5. und um 3.24% vom 5. zum 8. Interview, jeweils absolute Veränderung zum Standard). So unterscheiden sich die Werte aller Substandardformen zu allen Zeitpunkten hoch signifikant. Die Werte der stark dialektalen Formen unterscheiden sich vom 1. zum 5. Interview und vom 1. zum 8. Interview hoch signifikant, jedoch nicht vom 5. zum 8. Interview.

3.2.1.1.2 Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Der mhd. Lautstand und seine Auswirkungen auf die velare Realisierung von a(:) im Obersächsischen Die obige Auswertung der empirischen Daten zeigt, daß das kurze α im Obersächsischen wesentlich schwächer verdumpft wird als das lange a:. Daraus kann die Hypothese abgeleitet Siehe Abbildungen 1 und 2 sowie Tabellen 1 und 2 im Anhang.

52 werden, daß sich der mhd. Lautstand mit seiner Länge bzw. Kürze auf die velare Realisierung der neuhochdeutschen Formen auswirken kann. Der mhd. Lautstand kann dahingehend Einfluß nehmen, daß nhd. langes a: mit mhd. kurzem Lautstand (z. B. aber, laden) weniger verdumpft wird als nhd. langes a: mit mhd. langem Lautstand (z. B. fragen, Jahr). Ebenso müßte demnach nhd. kurzes a mit mhd. langem Lautstand (z. B. Monat) stärker velar realisiert werden als mit mhd. kurzem Lautstand (z. B. acht, Arbeit). Die Tabelle 3 .3 zeigt die Werte für nhd. langes a: insgesamt, fur nhd. a: mit jeweils mhd. langem bzw. kurzem Lautstand, nhd. kurzes a insgesamt und für nhd. α mit mhd. langem bzw. kurzem Lautstand:

Nhd. a: insgesamt Mhd. lang/nhd. lang Mhd. kurz/nhd. lang Nhd. a insgesamt Mhd. lang/nhd. kurz Mhd. kurz/nhd. kurz

Standard 52.17% 49.82% 53.57% 97.98% 87.06% 97.66%

alle Substandard 47.83% 50.18% 46.43% 2.02% 12.94% 2.34%

starke Substandard 10.97% 13.95% 9.24% 0.06% 0.23% —

Tab. 3 .3: Nhd. langes a: insgesamt und nhd. a: mit jeweils mhd. langem bzw. kurzem Lautstand sowie nhd. kurzes a insgesamt und nhd. a mit mhd. langem bzw. kurzem Lautstand Während sich der mhd. Lautstand auf die dumpfe Realisierung des langen a: nur in sehr geringem Maße auswirkt (2.35% mehr velare Realisierungen bei mhd. a: > nhd. a:, 1.40% weniger velare Realisierungen bei mhd. a > nhd. a: im Vergleich zu den Realisierungen von nhd. a: insgesamt), zeigen sich in den Prozentzahlen für mhd. a: > nhd. a 10.92% mehr dialektal realisierte Formen als bei den Realisierungen von nhd. a insgesamt. Mhd. a > nhd. α hingegen entspricht nahezu dem Wert der Substandardformen von nhd. a insgesamt (2.02% gegenüber 2.34%). Die oben aufgestellte Hypothese, daß nhd. kurzes α mit mhd. langem Lautstand stärker dumpf realisiert werden müßte als mit mhd. kurzem Lautstand, hat sich also bestätigt. Bei nhd. a: ist der Einfluß des mhd. Lautstandes hingegen nur sehr gering. Relevanz der phonologischen

und phonetischen

nhd.

Quantitäten

Bei einigen Wörtern mit phonologischer Kürze neigen die Informanten und Informantinnen auffallig häufig zu einer Quantitätsveränderung (Dehnung); bei phonologischer Länge hingegen tritt nur in ganz seltenen Fällen phonetische Kürze auf. Um nun zu überprüfen, ob nur die phonologische oder die phonetische Länge für eine velare Realisierung relevant ist, oder ob beide bedeutsam sind, wird nhd. a nochmals nach phonologischer und phonetischer Quantität getrennt betrachtet. Hierbei wird deutlich, daß zum einen a nur vor r gedehnt wird, beispielsweise in Arbeit, Arm, Mark, und daß zum anderen Wörter mit mhd. langem a: (nhd. a) von der Quantitätsveränderung nicht betroffen sind, da a vor r in diesen Fällen nicht auftritt. So werden nun Wörter mit mhd. kurzem a, die nhd. ebenfalls kurz sind, vor r untersucht. Von insgesamt 1384 aufgetretenen Realisierungen von Wörtern mit -ar- sind 1264 Fälle phonetisch lang, ins-

53 besondere fallen die Wörter Arbeit, Park und Mark auf. Von diesen 1264 Fällen werden 59.34% dialektal realisiert, von den 120 phonetisch kurzen α hingegen nur 3.33%. Die Tabelle 3.4 zeigt die Ergebnisse im Zusammenhang mit den Werten für nhd. α und a: insgesamt: Nhd. kurzes a mit phonetischer Länge wird zum einen deutlich häufiger dialektal realisiert als nhd. kurzes a insgesamt und nhd. a mit phonetischer Kürze und zum anderen um 12% mehr als nhd. langes a: insgesamt.

Nhd. a: insgesamt Nhd. α insgesamt Mhd. a/nhd. a phonet. lang Mhd. a/nhd. a phonet. kurz

Standard 52.17% 97.98% 40.66% 96.67%

alle Substandard 47.83% 2.02% 59.34% 3.33%

starke Substandard 10.97% 0.06% 17.00% —

Tab. 3 .4: Nhd. a und die phonetischen Längen und Kürzen Die phonetische Länge ist also entscheidend fur eine velare Realisierung von a und nicht die phonologische.

Überprüfung des Einflusses von offener und geschlossener Silbe Weiterhin wird geprüft, inwieweit sich die Stellung von a(:) in offener oder geschlossener Silbe auf eine dumpfe Realisierung auswirkt. Da sich in unseren statistischen Ergebnissen zeigt, daß Wörter mit mhd. langem α-Stand und nhd. langem a: wesentlich stärker dialektal realisiert werden als Wörter mit mhd. kurzem α-Stand und nhd. kurzem α, gehen wir davon aus, daß die alte und die neue Länge entscheidend für eine velare Realisierung des a(:) sind. Somit muß zunächst geprüft werden, ob ein Unterschied im Grad der velaren Realisierung bei der Artikulation von a(:) in geschlossener und in offener Silbe festzustellen ist.

Nhd. a Die Tabelle 3 .5 zeigt die prozentuale Verteilung der Substandard- bzw. Standardformen von a in geschlossener und in offener Silbe im Gegensatz zu den insgesamt artikulierten kurzen α-Formen (über 1., 5. und 8. Interview und über alle Personen).

Nhd. α insgesamt Nhd. α in geschl. Silbe Nhd. α in offener Silbe

Standard 97.98% 97.96% 90.85%

alle Substandard 2.02% 2.04% 9.15%

starke Substandard 0.06% — —

Tab. 3.5: Nhd. α in offener und in geschlossener Silbe Während nhd. α in geschlossener Silbe (ζ. B. Amt, ganz) und nhd. α insgesamt nahezu dieselben Prozentzahlen aufweisen, wird nhd. α in offener Silbe (ζ. B. Sache, lachen ) um ca. 7% mehr dialektal realisiert. Stark dialektale Formen treten jedoch nicht auf. Die Position von α innerhalb der Silbe hat demnach einen Einfluß auf die velare Realisierung.

54 Nhd. a: Auch fur nhd. a : wurde der Einfluß von offener und geschlossener Silbe auf die velare Realisierung untersucht. Tabelle 3.6 zeigt das Verhältnis von nhd. a: in offener und geschlossener Silbe im Kontrast zu allen realisierten nhd. α:-Formen:

Nhd. a: insgesamt Nhd. a: in geschl. Silbe Nhd. a: in offener Silbe

Standard 52.17% 53.94% 54.13%

alle Substandard 47.83% 46.06% 45.86%

starke Substandard 10.97% 10.22% 8.35%

Tab. 3.6: Nhd. a: in offener und in geschlossener Silbe Im Gegensatz zu nhd. a zeigen sich hier nur sehr geringfügige Differenzen. Während die Ergebnisse von a: in geschlossener Silbe (ζ. B. Kram) und insgesamt realisierten α:-Formen nahezu identisch sind, wird a: in offener Silbe (ζ. B. baden, sagen) um 2% weniger dialektal realisiert. Überprüfung der velaren Realisierung von a(:) vor τ in offener und geschlossener

Silbe

Als nächster Schritt ist zu überprüfen, welchen Einfluß ein nachfolgendes r auf a(:) in offener und in geschlossener Silbe hat. Wie oben erwähnt, wird nhd. a vor r in offener und geschlossener Silbe gedehnt. Da unsere Ergebnisse eindeutige Unterschiede in der velaren Realisierung von a in offener und geschlossener Silbe zeigen, stellt sich nun die Frage, ob diese Unterschiede bei a vor r in offener und geschlossener Silbe aufrechterhalten bzw. verstärkt werden oder ob die durch r hervorgerufene Dehnung die Differenzen aufhebt. Nhd. a Tabelle 3 .7 zeigt die Ergebnisse der Differenzierung zwischen α vor r in geschlossener und a in offener Silbe, gefolgt von r, im Kontrast zu den Ergebnissen aller realisierter α-Formen:

Nhd. a insgesamt Nhd. a in geschl. Silbe Nhd. a in offener Silbe vor beliebigem Laut Nhd. ar in geschl. Silbe Nhd. a in offener Silbe, gefolgt von r

Standard 97.98% 97.96% 90.85% 94.09% 75.67%

alle Substandard 2.02% 2.04% 9.15% 5.91% 24.32%

starke Substandard 0.06%

0.42%

Tab. 3.7: Nhd. a in offener und geschlossener Silbe, vor r in geschlossener Silbe und in offener Silbe, gefolgt von r Hier läßt sich ein sehr deutlicher Unterschied in der Häufigkeit der dialektalen Realisierung zwischen a in offener Silbe, gefolgt von r, und ar in geschlossener Silbe konstatieren. Während

a in offener Silbe vor r (ζ. Β. Karate) um 22.3% häufiger als alle a insgesamt dumpf realisiert wird, steigt die velare Realisierung von a in geschlossener Silbe, gefolgt von r (ζ. B. stark), lediglich um 3 .89% an. 100% J 90% -80%

--

70% 60% ·

• starke Substandard

50% -40% 30% •

Ξ alle Substandard

20%

• Standard

--

10% 0% Nhd. a insges.

Nhd. ar in geschl. Silbe

Nhd. a in offener Silbe, gefolgt von r

Abb. 3.3 : Nhd. a insgesamt, vor r in geschlossener Silbe und in offener Silbe, gefolgt von r Jedoch treten bei a in offener Silbe, gefolgt von r, keine stark dialektal realisierten Formen auf. Nachfolgendes r wirkt sich auf α in offener Silbe eindeutig zugunsten einer velaren Realisierung aus, was mit der dehnenden Wirkung von r auf α zu begründen ist. Im Vergleich mit a in offener Silbe insgesamt wirkt sich nachfolgendes r zusätzlich verstärkend zugunsten einer velaren Realisierung aus. Bei a in geschlossener Silbe hat nachfolgendes r nur geringfügigen Einfluß. Nhd. a: Die Tabelle 3 .8 zeigt a: vor r in geschlossener Silbe sowie a: in offener Silbe, gefolgt von r, in Kontrast zu allen insgesamt realisierten a:.

Nhd. a: insgesamt Nhd. a:r in geschl. Silbe Nhd. a: in offener Silbe, gefolgt von r

Standard 52.17% 42.18% 49.10%

alle Substandard 47.83% 57.82% 50.90%

starke Substandard 10.97% 17.39% 9.68%

Tab. 3.8: Nhd. a:r in geschlossener Silbe und a: in offener Silbe, gefolgt von r Die Stellung von a: innerhalb der Silbe hat keinen Einfluß auf die dumpfe Realisierung; vor r wird langes a: jedoch stärker velar realisiert, wobei a: vor r in geschlossener Silbe (ζ. B. Jahr)

56 um 10% und in offener Silbe (z. B. sparen) um 3% häufiger velar realisiert wird. Das Merkmal offene oder geschlossene Silbe scheint also dann eine Bedeutung zu bekommen, wenn a: vor r steht. Dies ist umso erstaunlicher, da selbst heterosilbisches r zu einer leichten Zunahme einer velaren Realisierung fuhrt. 100% 90% 80% 70%

• starke Substandard

60%

Halle Substandard

50%

• Standard

40% 30% 20% 10% 0% Nhd. a: insges.

Nhd. a:r in geschl. Silbe

Nhd. a: in offener Silbe, gefolgt von r

Abb. 3.4: Nhd. a: insgesamt, vor r in geschlossener und in offener Silbe, gefolgt von r In offener bzw. geschlossener Silbe vor r verhalten sich langes und kurzes a(:) konträr. Während langes a: vor r in geschlossener Silbe stärker dumpf realisiert wird, geschieht dies bei kurzem a in offener Silbe. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich der mhd. Lautstand nur auf die dumpfe Realisierung von a auswirkt: nhd. a mit mhd. langem Lautstand wird häufiger obersächsisch realisiert als mit mhd. kurzem Lautstand. Auch wird das nhd. phonologisch kurze a mit phonetischer Länge häufiger dumpf realisiert als mit phonetischer Kürze. Die Stellung von a(:) in offener bzw. geschlossener Silbe zeigt wiederum nur bei a unterschiedliche Werte: in offener Silbe wird a häufiger dumpf realisiert als in geschlossener. Vor r zeigen sich bei a und a: unterschiedliche Ergebnisse in offener und geschlossener Silbe: a: wird in geschlossener Silbe stärker dumpf realisiert, während dies bei a in offener Silbe der Fall ist.

3.2.2 Offene Realisierung von e: In der obersächsischen Umgangssprache wird das lange e: bis zum [as:] geöffnet, beispielsweise in leben bis zu [laean]. Nach Albrecht (1881) unterscheidet sich die Aussprache des e: in Dresden jedoch deutlich von der in Leipzig und den weiteren obersächsischen Gebieten. In Dresden werde das e: weiter geöffnet als in Leipzig (Albrecht, 1881: 4).

57 Allerdings gelte das offene [ae:] heute in der gehobenen Umgangssprache als anstößig und werde durch [e:] ersetzt.17 Bei der Auswertung der Daten wird unter anderem untersucht, ob und wie sich der mhd. Lautstand auf die offene Realisierung von nhd. e: in der obersächsischen Umgangssprache auswirkt. In betonter Silbe werden im Mittelhochdeutschen fünf e-Laute differenziert: - die Kürzen: geschlossenes e, offenes ë und überoffenes ä, - die Längen, geschlossenes ê und offenes ce. Das nhd. lange e: mit standardsprachlicher geschlossener Aussprache resultiert aus der LängeErhaltung von mhd. ê und ce sowie der Dehnung von mhd. e, œ und e in offener Silbe.18 Sollte sich ein Einfluß der mhd. Lautstände zeigen, werden diese in einem nächsten Schritt wiederum nach e: in offener und geschlossener Silbe differenziert. Es wird angenommen, daß durch die Dehnung von e: in offener Silbe die offene Realisierung zu [as] gefördert wird. Weiterhin wird nach dem Herkunftsort der Informanten und Informantinnen differenziert, da, wie oben erwähnt, die offene Realisierung von e: in Dresden und Leipzig unterschiedlich stark ausgeprägt sein könnte. Besonders häufig und auffällig tritt die offene Realisierung von e: in dem Wort eben auf, weshalb es gesondert ausgewertet werden soll. Das Adjektiv eben klingt [aem] oder [aem], ebenso das Adverb eben = soeben.

3.2.2.1 Auswertung der Daten Zur Erfassung der dialektalen Realisierungen werden drei Artikulationsstufen berücksichtigt, die von einer Standardartikulation über eine mittelstarke offene Realisierung des e: bis zu einer stark geöffiieten Form reichen: [e:] = langer, geschlossener (gespannter) e-Laut (Standardartikulation), [e:] = langer, leicht geöflheter e-Laut (schwach dialektale Artikulation), [e:] = langer, offener (ungespannter) e-Laut (stark dialektale Artikulation). Ein langes e: vor r wird bei der Datenerhebung nicht berücksichtigt, da es in dieser Stellung meist [ae:] gesprochen wird.19

17 18

19

Siehe Fleischer (1961: 202). Dehnung erfolgte auch bei e als Analogieausgleich zu den Flexionsformen mit offener Silbe (her „Heer", mer „Meer"), bei ä auch in geschlossener Silbe vor r + Dental (ärze „Erz", pfart „Pferd"), e wird nicht in offener Silbe vor t, m, -el, -er (weter „Wetter", breter „ B r e t t e r " ) gedehnt, aber vor r + Dental bei ä in geschlossener Silbe (erde, werden, swert) und als Analogieausgleich (ber „Bär", wec „Weg") (siehe Paul, 1989: 90ff ). Siehe Albrecht (1881: 4).

58 3.2.2.1.1 Allgemeine Tendenzen Variable e: absolute Häufigkeit χ - Substandardformen in % χ - starke Substandardformen in % Max. Substandardformen in % Max. starke Substandardformen in % Min. Substandardformen in % Min. starke Substandardformen in % s - Substandardformen s - starke Substandardformen Signifikanzen des Mittelwertvergleichs Substandardformen starke Substandardformen

1. Interview 2858 28.21 5.08

5. Interview 3689 22.72 3.84

79.69 53.49 0.00 0.00 24.62 10.68

79.10 43.62 0.00 0.00 23.54 8.47

1. mit 5. Int. .0000 .0769

5. mit 8. Int. .0084 .6774

8. Interview 4538 19.81 3.49 76.92 41.76 0.00 0.00 22.33 8.21 1. mit 8. Int. .0005 .2673

Tab. 3.9: Statistische Werte der Variablen e:20

100

90

80 70 60

SO 40

•·•

alle Sub.

30

°·

starke Sub.

20 10

O 4Jahre

Abb. 3.5: Veränderungsverlauf der dialektal realisierten e .-Formen über zwei Jahre Der dialektale Ausgangswert des langen e: liegt beim ersten Erhebungszeitpunkt bei 2 8 . 2 1 % und befindet sich damit im unteren Mittelfeld aller Variablen. 21 Die stark dialektalen Realisierungen treten mit 5.08% relativ selten auf; bis zum 8. Interview fallen sie auf 3.49%, wobei vom 1. zum 5. Interview (1.24%) ein größerer Sprung gemacht wird als vom 5. zum 8. Interview (0.35%). Die Werte für die stark dialektalen Formen sind jedoch nicht signifikant, weder für die einzelnen Zeitpunkte noch für die mittleren DifFerenzwerte zwischen dem 1. und 5. sowie dem 5. und 8. Interview.

Die Signifikanzen des Gesamtzeitraumes (1. Interview mit 5. und 8. Interview) stimmen mit den Signifikanzen des 1. mit dem 8. Interview überein. Siehe Abbildungen 1 und 2 sowie Tabellen 1 und 2 im Anhang.

59

Auch die Substandardformen werden vom 1. zum 5. Interview (5.49%) stärker reduziert als vom 5. zum 8. Interview (2.91%), wobei die Veränderung im Gegensatz zu den stark dialektalen Formen für alle Zeitpunkte ein hohes Signifikanzniveau (< 0.01) aufweist. In Relation zu seinem Ausgangsniveau verändert sich der Wert fur die Substandardformen der Variablen e:, verglichen mit anderen Variablen (ζ. B. o: und u:), stärker zum Standard hin, was durch die Signifikanz der Veränderungswerte zum Ausdruck kommt.22 Das geringe dialektale Ausgangsniveau könnte damit begründet werden, daß, wie Fleischer (1961) anmerkt, die offene Realisierung des langen e: in städtischen Gebieten relativ verpönt ist und daher nur noch bei starken Dialektsprechern anzutreffen ist.

3.2.2.1.2 Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Da, wie oben erwähnt, das nhd. lange e: auf unterschiedliche mhd. Formen zurückzuführen ist, die sich durch die Merkmale Länge-Kürze und offen-geschlossen unterscheiden, soll hier zunächst überprüft werden, ob der mhd. Lautstand einen Einfluß auf die offene Realisierung des e: bei den sächsischen Informanten und Informantinnen hat.

Überprüfung des mhd. Lautstandes und seiner Auswirkungen auf eine offene Realisierung des e: im Obersächsischen Bei der Untersuchung des Einflusses des mhd. Lautstandes auf die offene Realisierung von nhd. e: werden Wörter mit dem mhd. ê-Stand, geschlossen und lang (ζ. B. ekel, gehen), dem mhd. £E-Stand, offen und lang (ζ. B. bequem, drehen), sowie den mhd. Kürzen e, geschlossen und kurz (ζ. B. elend, heben), und ë, offen und kurz (ζ. B. leben, lesen), getrennt analysiert. Der mhd. Lautstand ä wird hier nicht mehr analysiert, da die Belegdichte zu gering ist. Bestätigt sich die Hypothese, daß ein mhd. offener Lautstand eine Öffnung des nhd. langen e: in der obersächsischen Umgangssprache begünstigt, dann müßten Wörter mit den mhd. offenen ë- und œ-Lautstanden einen höheren dialektalen Wert aufweisen als solche mit den mhd. geschlossenen e- und e-Lautständen.

Nhd. e: Mhd. e Mhd. ë Mhd. ê Mhd. ce

Standard 75.67% 81.30%

alle Substandard 24.33% 18.70%

starke Substandard 4.14% 2.06%

60.13% 84.03% 56.85%

39.87% 15.97% 43.15%

8.20% 1.39% 10.96%

Tab. 3.10: Nhd. e: und die verschiedenen mhd. Lautstände

22

Neben den Werten für alle Substandardformen der Variablen ch, p,t, a: und den Werten für die stark dialektalen Formen der Variablen p,t und a: erweist sich der Wert für alle Substandardformen der Variablen e: als signifikant.

60 Es stellt sich heraus, daß Wörter mit geschlossenem mhd. Lautstand, also mhd. e und ë, in der obersächsischen Umgangssprache seltener zu offenem [ae:] neigen als Wörter mit mhd. offenem Lautstand, also ë oder œ. Im Vergleich zu allen realisierten nhd. e.-Formen treten bei dem mhd. geschlossenen, langen ê-Lautstand sogar 8.36% weniger dialektale Formen insgesamt und 2.75% weniger stark dialektale Realisierungen auf. Der mhd. offene é'-Lautstand weist hingegen 9% mehr Substandardformen und 2% mehr stark dialektale Formen auf; beim mhd. offenen œ-Lautstand handelt es sich sogar um 19% mehr Substandardformen bzw. 6% mehr stark dialektale Formen. Es gibt hier also einen deutlichen Unterschied der dialektalen Werte, je nachdem, um welchen mhd. Lautstand es sich handelt. So wird in der folgenden Analyse weiterhin zwischen den einzelnen mhd. Lautständen differenziert. Überprüfung des Einflusses von offener und geschlossener Silbe, nach mhd. Lautstand differenziert Als nächstes soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die Position von nhd. e: in offener oder geschlossener Silbe die offene Realisierung in der obersächsischen Umgangssprache beeinflußt. Da die vorhergehende Analyse des mhd. Lautstandes dessen Einfluß auf die offene Realisierung bzw. Nicht-Öffnung des e: im Obersächsischen gezeigt hat, wird zunächst wieder eine Einteilung in die mhd. Lautstände vorgenommen. Die mhd. offenen Lautstände œ und ë sowie die mhd. geschlossenen Lautstände e und è werden wieder separat analysiert. Die so nach den mhd. Lautständen differenzierten nhd. Wortgruppen werden dann nach nhd. offener und geschlossener Silbe unterteilt. Da e: in offener Silbe einer zusätzlichen Dehnung unterzogen wird, ist davon auszugehen, daß in dieser Position seltener eine Öffnung zu erwarten ist als in geschlossener Silbe, da mit der Länge auch eine geschlossenere Vokalqualität einhergeht. Die folgende Tabelle 3.11 zeigt nhd. e: in geschlossener und offener Silbe sowie die in mhd. Lautstände unterteilten Wortgruppen in nhd. geschlossener und offener Silbe.

Nhd. e: in geschl. Silbe Nhd. e: in offener Silbe Mhd. ë in geschl. Silbe Mhd. ë in offener Silbe Mhd. e in geschl. Silbe Mhd. e in offener Silbe Mhd. ê in geschl. Silbe Mhd. ê in offener Silbe Mhd. œ in geschl. Silbe Mhd. œ in offener Silbe

Standard

alle Substandard

79.47% 74.65% 76.28% 58.47% 75.00% 81.37% 86.28% 83.52% 68.75% 55.39%

20.53% 25.36% 23.72% 41.53% 25.00% 18.62% 13.72% 16.48% 31.25% 44.62%

starke Substandard 3.50% 5.23% 4.34% 8.60% —

2.08% 1.44% 1.38% 6.25% 11.53%

Tab. 3.11: Differenzierung der mhd. Lautstände in nhd. geschlossener und in offener Silbe im Vergleich zu allen realisierten nhd. e: in geschlossener und in offener Silbe

61 Die Differenzierung zwischen offener und geschlossener Silbe zeigt für die nhd. Realisierung von e: insgesamt nur einen geringen Unterschied in der Verwendung von dialektalen Formen (20.53% Substandardformen in geschlossener Silbe gegenüber 25.36% in offener Silbe). Hier wird deutlich, daß sich die Unterscheidung der Position von e in offener und geschlossener Silbe auf die offene Realisierung von std. e: in der obersächsischen Umgangssprache nur in Wörtern mit mhd. offenen e-Ständen auswirkt. Wörter mit mhd. geschlossenem Lautstand ê weisen sowohl in geschlossener (z. B. See, geht) als auch in offener Silbe (z. B. gehen, Seele) einen geringeren dialektalen Wert auf als alle nhd. e: insgesamt; Wörter mit mhd. geschlossenem Lautstand e zeigen sowohl bei nhd. geschlossener Silbe (z. B. regt, jeglich) als auch bei nhd. offener Silbe (z. B. gegen, heben) nahezu identische dialektale Werte mit den dialektalen Formen von nhd. e:. Wörter mit mhd. offenen e-Ständen (ë und ce) hingegen weichen zum einen vom nhd. e.-Wert deutlich nach oben ab. Zum anderen zeigen sie deutlich unterschiedliche Werte in offener Silbe im Gegensatz zur geschlossenen Silbe. Mhd. è weicht in geschlossener Silbe nur um 3% nach oben von dem dialektalen Wert von nhd. e: ab, in offener Silbe jedoch um 16%; mhd. œ weist in geschlossener Silbe 11% mehr und in offener Silbe 21% mehr dialektale Formen auf als nhd. e: insgesamt. Unterscheidungen bezüglich des Wohnortes in Sachsen Da bei Albrecht (1881) Unterschiede in der Realisierung des std. e: in Leipzig, Dresden und Chemnitz angesprochen werden, insbesondere beim Wort eben, wird hier die offene Realisierung des std. e: nach ehemaligen Wohnorten der Informanten und Informantinnen getrennt betrachtet.

1

100% 90% 80% 70%

• starke Substandard

60%

• alle Substandard 50%

• Standard

40% 30% 20% 10% 0% Nhd. e: insges.

Leipzig

Dresden

Chemnitz

Abb. 3.6: Dialektale Realisierungen von e: nach Herkunftsorten differenziert

62 Standard 75.67% 71.67% 69.02% 76.72%

Nhd. e: insgesamt Leipzig Dresden Chemnitz

alle Substandard 24.33% 28.33% 30.98% 23.28%

starke Substandard 4.14% 5.57% 5.10% 3.84%

Tab. 3.12: Dialektale Realisierungen von e: nach Herkunftsort differenziert Die Werte der dialektalen Formen weichen bei den stark dialektalen Realisierungen bei allen drei Städten nur geringfügig (ca. 1%) von dem Wert für nhd. e: insgesamt ab. Bei allen Substandardformen zeigen sich jedoch Unterschiede: die Informanten und Informantinnen aus Dresden (6% über dem Wert für nhd. e: insgesamt) realisieren häufiger dialektale Formen als die Personen aus Leipzig (4% über dem Wert für nhd. e: insgesamt) und diese wiederum häufiger als jene aus Chemnitz (1% unter dem Wert für nhd. e: insgesamt). Die von Albrecht (1881) geäußerte Vermutung scheint sich also zu bestätigen, da die Dresdener stärker zur Öffnung von nhd. e: neigen. Bei genauerer Betrachtung könnte man vermuten, daß eine Korrelation zwischen Wohnort und Alter besteht: aus Dresden müßten demnach mehr ältere Informantinnen und Informanten stammen als aus Leipzig und Chemnitz, da mit zunehmendem Alter von einem stärkeren Dialektgebrauch ausgegangen werden kann.23 Diese Annahme bestätigt sich jedoch nicht; die Altersverteilung ist bei allen drei Städten gleich. Da sich unterschiedliche Werte für die dialektalen Realisierungen in Dresden, Leipzig und Chemnitz zeigten, wird eine Analyse für das Wort eben vorgenommen, welches sehr stark einer Öffnung des e: zu unterliegen scheint. 100% 90% 80%

--

70% 60%

• starke Substandard

50%

S a l l e Substandard

S

• Standard

40% 30% -20% 10% 0% Nhd. e: insges.

Nhd. eben insges.

Leipzig

Dresden

Chemnitz

Abb. 3.7: Dialektale Realisierungen von eben in Dresden, Leipzig und Chemnitz

Siehe Mattheier (1980: 39f.) zum Verhältnis von Alter und Dialektgebrauch.

63

Nhd. e: insgesamt Nhd. eben insgesamt Leipzig Dresden Chemnitz

Standard 75.67% 44.31% 46.42% 40.37% 46.91%

alle Substandard 24.33% 55.69% 53.58% 59.63% 53.09%

starke Substandard 4.14% 7.04% 4.49% 11.37% 4.94%

Tab. 3 .13: Dialektale Realisierungen von eben nach Herkunftsort Auch hier verwenden die Informanten und Informantinnen aus Dresden (59.63%) die dialektalen Formen häufiger als jene aus Chemnitz (53.09%) und Leipzig (53.58%). Während die beiden letzteren Gruppen um 2% unter dem dialektalen Wert von eben insgesamt liegen, weisen die Personen aus Dresden 4% mehr dialektale Formen auf. Vergleicht man die Werte fur das Wort eben (55.69% Substandardformen, 7.04% stark dialektale Formen) mit den dialektalen Werten für nhd. e: insgesamt (24.33% Substandardformen, 4.14% stark dialektale Formen), so ist zu erkennen, daß e: in eben deutlich häufiger und stärker dialektal realisiert wird als im gesamten Durchschnitt. Dies spricht fur eine Lexikalisierung. Bei der Variablen e: zeigt sich ein deutlicher Einfluß des mhd. Lautstandes auf die dialektale Realisierung: zum einen werden Wörter mit geschlossenem mhd. Lautstand, also e und é, seltener dialektal realisiert als Wörter mit offenem mhd. Lautstand, also ë und œ. Zum anderen ist die Position des nhd. e: in offener bzw. geschlossener Silbe dann von Bedeutung, wenn ein offener mhd. Lautstand zugrunde liegt: In diesem Fall liegen deutlich mehr obersächsische Realisierungen vor. Bei mhd. geschlossenem Lautstand hat die Position in offener bzw. geschlossener Silbe keinen Einfluß auf die dialektale Realisierung.

3.2.3 Nicht-labiale Realisierung von langem und kurzem ö(:) und ü(:) Im Vokalsystem der obersächsischen Umgangssprache können die Labiopalatalvokale ö(:) und ü(:) vollständig entrundet werden, d. h. sie werden ohne rundende Lippenvorstülpung gesprochen, so daß [e(:)J zu [e(:)] und [y(:)] zu [i(:)] wird. Diese Tendenz trifft sowohl auf die Längen als auch auf die Kürzen zu, beispielsweise in lügen und Küche, Möbel und möchten. Die nicht-labiale Realisierung von langem und kurzem ö(:) und ü(:) in der obersächsischen Umgangssprache wurde aus den obersächsischen Mundarten übernommen und spiegelt sich schon in der Dichtung des 17. und 18. Jahrhunderts wider, wo ü(:) auf i(:) und ö(:) auf e(:J gereimt wurde. So findet man in Gedichten von Geliert, Kästner und Reuter Reime auf „lieget" und „betrüget", „schön" und „stehn", „Prügel" und „Spiegel", „Kühe" und „schrie", „Götzen" und „Geschwätzen".24

24

Siehe Becker/Bergmann (1969: 150/151).

64 3.2.3.1 Auswertung der Daten 3.2.3.1.1 Nicht-labiale Realisierung von ö(:) Die Auswertung der Variablen ö(:) kann hier nur in Ansätzen erfolgen, da das Datenkorpus für diese Variable zu gering ist, um eine statistische Bearbeitung durchzuführen. Eine vollkommen entrundete Realisierung von [0(:)] zu [e(:)] tritt nur in sehr wenigen Fällen bei sehr stark dialektal sprechenden Gewährspersonen in den Wörtern blöd und schön auf. Eine tendenziell entrundete Realisierung zu [ö(:)] oder [ce(:)] ist jedoch auch bei leichten Dialektsprechern und -Sprecherinnen zu finden. Zum letzten Erhebungszeitpunkt treten keine vollständig entrundeten Realisierungen mehr auf; auch die tendenziell nicht-labial realisierten Formen zu [ö(:)] und [ce(0] nehmen ab, so daß vom 1. zum 8. Interview eine Reduzierung der obersächsischen Formen erfolgt.

3.2.3.1.2 Nicht-labiale Realisierung von ü(:) Zur Erfassung der dialektalen Realisierungen von ü(:) werden die folgenden drei Artikulationsstufen berücksichtigt, die die tendenziell entrundete Realisierung von [y(:)] zu [i(:)] erfassen: [y(0]

=

lang-geschlossener bzw. kurz-offener ¿¿-Laut (Standardartikulation),

[γ(:)] = leicht entrundeter, lang-geschlossener bzw. kurz-offener «-Laut (leicht dialektale Artikulation), [j(:)] = leicht gerundeter, lang-geschlossener bzw. kurz-offener z-Laut (mittelstarke dialektale Artikulation). Bei der statistischen Auswertung der Daten wird zwischen allen realisierten dialektalen Formen, [y(:)] und [i(0], und stark dialektalen Formen, [i(:)], unterschieden. Die vollkommen ungerundete Realisierung [i(:)] tritt in nur sehr wenigen Fällen auf; diese wurden zu den stark dialektalen Realisierungen gezählt.

3.2.3.1.2.1 Allgemeine Tendenzen Langes ü: Variable ü: absolute Häufigkeit χ - Substandardformen in % χ - starke Substandardformen in %

1. Interview 586 45.09 4.88

5. Interview 616 39.23 2.13

8. Interview 779 32.00 1.87

65

Variable ü: Max. Substandardformen in % Max. starke Substandardformen in % Min. Substandardformen in % Min. starke Substandardformen in % s - Substandardformen s - starke Substandardformen Signifikanzen des Mittelwertvergleichs Substandardformen starke Substandardformen

1. Interview 100.00 66.67 0.00 0.00 34.91 13.80 1. mit 5. Int. .0016 .4098

5. Interview 100.00 27.27 0.00 0.00 34.42 6.26 5. mit 8. Int. .0036 .6774

8. Interview 100.00 50.00 0.00 0.00 30.60 7.72 1. mit 8. Int. .0000 .2120

Tab. 3.14: Statistische Werte der Variablen ü:2i Die Abbildung 3 .8 zeigt den Veränderungsverlauf der Variablen ii: über den Zeitraum von zwei Jahren fur alle Informanten und Informantinnen; es werden die Substandardformen (obere Kurve) und die stark dialektalen Formen (untere Kurve) aufgeführt. 100

90 80 70 60 SO '·•

40

alle Sub. starke Sub.

30 20 10

1 Jahre

Abb. 3 .8: Veränderungsverlauf der dialektal realisierten tr-Formen Während das lange ü: mit einem dialektalen Ausgangsniveau von 45.1% zum 1. Erhebungszeitpunkt im oberen Mittelfeld aller Variablen anzutreffen ist, liegt es bei den stark dialektalen Realisierungen mit 4.9% Ausgangsniveau im unteren Mittelfeld.26 Der Veränderungsverlauf vom 1. zum 8. Interview ist bei den Substandardformen stetig abfallend: sowohl vom 1. zum 5. als auch vom 5. zum 8. Interview nimmt der Wert der Substandardformen um ca. 6% ab. Der Unterschied zwischen den drei Zeitpunkten (1., 5. und 8. Interview) ist für alle dialektalen Realisierungen und alle Zeitpunkte hoch signifikant (< O.Ol). Die stark dialektalen Formen verändern sich vom 1. zum 5. Interview (um 2.8%) stärker zum Standard als vom 5. zum 8. Interview (um 0.3%). Somit treten im 8. Interview kaum noch stark dialektale Realisierungen

Die Signifikanzen des Gesamtzeitraumes (1. Interview mit 5. und 8. Interview) stimmen mit den Signifikanzen des 1. mit dem 8. Interview überein. Siehe Abbildungen 1 und 2 sowie Tabellen 1 und 2 im Anhang.

66 auf (nur 1.87%). Die Veränderungswerte für die stark dialektalen Formen sind nicht signifikant. Kurzes ü Variable a absolute Häufigkeit χ - Substandardformen in % χ - starke Substandardformen in % Max. Substandardformen in % Max. starke Substandardformen in % Min. Substandardformen in % Min. starke Substandardformen in % s - Substandardformen s - starke Substandardformen Signifikanzen des Mittelwertvergleichs Substandardformen starke Substandardformen

1. Interview 1221 39.89 2.27

5. Interview 1396 31.83 0.94

100.00 28.57 0.00 0.00 31.92 5.55

100.00 26.53 0.00 0.00 32.56 4.08

1. mit 5. Int. .0000 .4142

5. mit 8. Int. .0009 .4881

8. Interview 1845 23.27 0.13 84.62 4.88 0.00 0.00 24.94 0.72 1. mit 8. Int. .0000 .1655

,..27 Tab. 3.15: Statistische Werte der Variablen ü Ähnlich wie das lange ü: verhält sich das kurze ü. Die Graphik 3 .9 zeigt den Veränderungsverlauf der Variablen ü über den Zeitraum von zwei Jahren für alle Informanten und Informantinnen; es werden die Substandardformen (obere Kurve) und die stark dialektalen Formen (untere Kurve) aufgeführt. 100 90 80

70 60

50 40' 30

starke Sub.

20 10

0

Abb. 3.9: Veränderungsverlauf der dialektal realisierten ¿/-Formen

Die Signifikanzen des Gesamtzeitraumes (1. Interview mit 5. und 8. Interview) stimmen mit den Signifikanzen des 1. mit dem 8. Interview überein.

67 Der Signifikanztest fur die drei Zeitpunkte zeigt bei den Substandardformen, daß die Werte hoch signifikant sind (< 0.01), bei den stark dialektalen Realisierungen zeigt sich jedoch keine Signifikanz. Mit einem dialektalen Ausgangsniveau der Substandardformen von 39.9% liegt das kurze ü im Mittelfeld aller Variablen. Sowohl vom 1. zum 5. als auch vom 5. zum 8. Interview verändert sich diese Variable um ca. 8% zum Standard. Stark dialektale Formen treten beim kurzen ü nur in sehr geringem Umfang auf; mit 2.3% Ausgangsniveau der stark dialektalen Realisierungen liegt das kurze it an drittletzter Position aller Variablen (vor oi und kurzem ä). Bis zum 8. Interview werden fast alle stark dialektalen Formen abgebaut (nur noch 0.1%), wobei vom 1. zum 5. Interview (um 1.3%) eine etwas stärkere Veränderung als vom 5. zum 8. Interview (um 0.8%) vollzogen wird.28

3.2.3.1.2.2 Untersuchung der phonologischen und lexikalischen Kontexte Zur Überprüfung des phonologischen Kontextes werden das lange und das kurze ü(:) vor und nach unterschiedlichen Konsonanten (beispielsweise Velar, Bilabial) und in Einsilbern in geschlossener Silbe separat ausgezählt. Treten einige der untersuchten Parameter nicht auf, dann war die Belegdichte zu gering. Langes ü: 100% J 90% -· 80%

-

70% -• 60%

-•

50% -40% 30% -20%

--

10%

--

0 %

--

(1: insges.

ü:_Bilabial

Bilabialjl:

mhd. ei) unterschieden:

Becker/Bergmann weisen darauf hin, daß bei korrekter Schreibung der ¿-Anlaut vor / und η mit d- wiederzugeben wäre, Kleid also als [dlad] umschrieben werden müßte (Becker/Bergmann, 1969: 52). Allerdings bezeichnen Becker/Bergmann schon 1969 die Entsprechung fra fur Frau als fast ausgestorben. Siehe Becker/Bergmann (1969: 53).

86 [ai] = Kombination des Flachzungenvokals [a] mit dem Vorderzungenvokal [ι], [ει] = Kombination des Vorderzungenvokals [ε] mit dem Vorderzungenvokal [1], [e:] = vollständig monophthongische Realisierung als Vorderzungenvokal [e:].

3.2.6.1.1.1 Allgemeine Tendenzen Variable ai absolute Häufigkeit χ - Substandardformen in % χ - starke Substandardformen in %

1. Interview 2796 26.48 15.04

5. Interview 3252 23.27 16.09

8. Interview 3956 21.52 15.43

Max. Substandardformen in % Max. starke Substandardformen in % Min. Substandardformen in % Min. starke Substandardformen in % s - Substandardformen s - starke Substandardformen Signifikanzen des Mittelwertvergleichs Substandardformen starke Substandardformen

69.84 52.94 0.00 0.00 21.64 15.92 1. mit 5. Int. .1696 .6803

67.11 55.26 0.00 0.00 22.41 18.81 5. mit 8. Int. .2076 .8886

69.77 55.93 0.00 0.00 21.98 18.48 1. mit 8. Int. .0184 .6774

Tab. 3.34: Statistische Werte der Variablen ai52

100

90 · 80 •

70 60

·•· alle Sub. ° · starke Sub.

50 40 30; 20