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German Pages 663 [664] Year 2016
Utz Maas Sprachforschung in der Zeit des Nationalsozialismus
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid, Andreas Gardt, Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger
Band 124
Utz Maas
Sprachforschung in der Zeit des Nationalsozialismus Verfolgung, Vertreibung, Politisierung und die inhaltliche Neuausrichtung der Sprachwissenschaft
ISBN 978-3-11-041972-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-041873-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-041883-5 ISSN 1861-5651 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die Übergabe der Macht 1933 an die Nationalsozialisten markiert einen Bruch in der deutschen Geschichte, auch in der Wissenschaft. Unmittelbarer Ausdruck davon ist die Verfolgung und Vertreibung von Sprachforschern im Machtbereich des nationalsozialistischen Regimes.1 Der politische Eingriff in die Gemeinschaft der damals wissenschaftlich einschlägig Aktiven wird hier nachgezeichnet. Ausgangspunkt für dieses Buch sind die innerfachlichen Reaktionen auf die Dokumentation, die 2010 erschienen ist (Tübingen: Stauffenburg Verlag): für die überwiegende Mehrheit der jüngeren Fachvertreter dokumentiert diese nicht eine Phase des eigenen Faches Sprachwissenschaft (Linguistik).2 Das zeigt, daß sich hinter dem Bruch durch die Verfolgung und Vertreibung ein anderer und fachlich weiter gehender Bruch vollzogen hat, der einem Selbstverständnis als Fortschreibung der älteren Tradition von Sprachforschung entgegensteht. Um diesen grundlegenden und offensichtlich nicht durch einen externen (politischen) Eingriff bedingten Bruch im Fach sichtbar zu machen, wird hier der analytische Horizont über die Verfolgung und Vertreibung von Sprachforschern hinaus erweitert. Der in der inzwischen in der elektronischen Version erweiterte Katalog (www.esf.uni-osnabrueck.de) dokumentiert 339 Sprachforscher, darunter 301 Verfolgte;3 er wird in Kap. 2–5 komprimiert und systematisch aufbereitet. In Kapitel 2 wird zunächst eine fachgeschichtlich orientierte Folie zum Verständnis der wissenschaftlichen Profile entwickelt. In den beiden folgenden Kapiteln werden die Bedingungen der Verfolgung (Kap. 3) und der Auswanderung (Kap.
�� 1 Der Terminus Sprachforscher ist im Text selbstverständlich im traditionellen Sinne als sexus-unterspezifiziert zu verstehen: wo es der Kontext verlangt, werden spezifische Termini wie Sprachforscherinnen genutzt. 2 Entsprechend war die Rezeption dieses Buchs im engeren Fach relativ dürftig: dessen Rezensionen stammen zumeist aus Nachbardisziplinen, z.T. mit einem ausgesprochen literaturwissenschaftlichen Hintergrund, oder dem Fach Geschichte. Es war auch nicht ohne Schwierigkeiten, meinen Vortrag bei der DGfS, mit dem ich den Katalog auf deren Jahrestagung 2009 vorgestellt habe, in deren Hausjournal, der Zeitschrift für Sprachwissenschaft, zu veröffentlichen, s. Maas (2012). 3 Gegenüber der Buchpublikation (2010) ist der elektronische Katalog durch eine ganze Reihe von Einträgen erweitert, für die aber keine systematischen Recherchen mehr unternommen wurden. Die entsprechenden Namen sind in der elektronischen Version mit einem * markiert. Diese Markierung wird hier nicht reproduziert, um keine Verwirrung gegenüber der gleichen Markierung in der Liste im Anhang zu stiften, wo sie das Schicksal von Verfolgten anzeigt.
VI � Vorwort
4) dargestellt. Die kontrastierenden Verhältnisse der Sprachforschung im ‚Reich‘ sind Gegenstand von Kap. 6, im Anschluß an einen systematischer intendierten Aufriß der Fachgeschichte als Hintergrund für diese Darstellung (Kap. 5). In Kap. 7 wird auf dieser Grundlage eine Einschätzung der Konsequenzen der Verfolgung und Vertreibung deutschsprachiger Sprachforscher versucht. Die Kapitel, die den Katalog auswerten, schreiben den zweiten Band der Buchveröffentlichung (2010) in entsprechend erweiterter und ergänzter Form fort (so in Teilen von Kap. 2–4 und 7). Der Versuch zu einer umfassenden Argumentation in diesem Buch stützt sich auf etwa 500 Forscherprofile, s. die biographischen Kurzhinweise im Anhang. Eine Bestandsaufnahme der im ‚Reich‘ in dieser Zeit weiter praktizierten Sprachforschung erlaubt eine Überprüfung des Topos von der „anderen“ Wissenschaft im Exil in Abgrenzung zur vorgeblich korrumpierten Wissenschaft der „gebliebenen“ Sprachforscher (Kap. 6). Als argumentativer Hintergrund wird in Kap. 5 das Fenster weiter geöffnet, indem diese Konstellationen mit der Dynamik der Sprachforschung seit dem 19. Jhd., also mit der Professionalisierung der Sprachwissenschaft verknüpft werden, wobei Besonderheiten der Weiterentwicklungen in der deutschen (bzw. deutschsprachigen) Forschungslandschaft im Horizont der international faßbaren Entwicklungen in den Blick genommen werden (Kap. 7). Ziel ist es, auf diese Weise nicht nur den Verfolgten und Vertriebenen als Wissenschaftlern (Sprachforschern) gerecht zu werden, sondern so vor allem auch die unterschwelligen Weichenstellungen in dem sichtbar zu machen, was sich als „Wissenschaft als Prozeß“ (D. Hull) darstellt. Die Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens sind nicht nur in dem Untersuchungsfeld begründet, das von einem einzelnen nicht zu überblicken ist. Die sachlichen Fragen werden hier von anderen, moralischen überlagert, die wohl alle, die wie der Verfasser noch in der Zeit des Nationalsozialismus geboren sind, in den Auseinandersetzungen mit ihren Eltern auszutragen versucht haben. Für uns ist die für eine solche Untersuchung geforderte distanzierte Analysehaltung zwangsläufig schwierig. Das erklärt die in der Diskussion verbreiteten Stereotypen: von der „enthaupteten“ Wissenschaft im ‚Reich‘ (folgeträchtig so Pross 1966) auf der einen Seite und dem „aus dem Exil weiterwirkenden Gewissen der deutschen Wissenschaft“ (Hausmann 2011) auf der anderen. Solche diskursiven Topoi machen moralisch Sinn; aber bei ihnen kommt nicht in den Blick, was die einzelnen Wissenschaftler, ob nun im ‚Reich’ oder im Exil, fachlich gemacht haben. Darauf zielt diese Darstellung, die dabei den gesellschaftlichen Kontext der wissenschaftlichen Praxis im Blick zu behalten versucht. Die zugrundeliegende Dokumentation hat eine lange Vorgeschichte, die in der Buchversion (2010) nachzulesen ist. Vor- bzw. Teilfassungen sind seit 1996
Vorwort � VII
in mehreren Anläufen publiziert worden. Der Katalog dieser Dokumentation (2010) wird hier als Referenz genutzt: die Namen der dort zu findenden Einträge sind im Text in Kapitälchen gesetzt.4 Da die elektronische Version (seit 2014 im Netz zugänglich) die Ressourcen zur Navigation in der Datei beinhaltet, kann sie bei der Lektüre mitbenutzt werden; die dort unter verschiedenen Aspekten zusammengestellten Namenslisten sind als Register ein probates Arbeitsmittel. In dieser Textversion werden Namenslisten nur exemplarisch angeführt. Um den Text besser lesbar zu machen, werden biographische Kurzhinweise zu allen argumentativ herausgestellten Personen im Anhang gelistet – die annähernd 500 Kurzbiographien dort hätten einen Anmerkungsapparat überlastet. Die Arbeit an einer Dokumentation der von 1933–1945 verfolgten bzw. ausgewanderten Sprachforscher in Deutschland hat sich erst im Nachhinein als Einschränkung eines umfassender geplanten fachgeschichtlichen Vorhabens ergeben, das zu einer Prosopographie der deutschsprachigen Sprachforschung von 1900 bis 1950 führen sollte. Nur einige Vorarbeiten dazu sind veröffentlicht (z.B. Maas 1988c); diese Darstellung baut darauf auf. Mit ihrem Zuschnitt auf eine nicht unter disziplinären Aspekten zusammengesetzte Personengruppe scheint sie außerhalb der systematisch angelegten fachgeschichtlichen Forschung zu liegen, wie auch die angesprochenen Reaktionen auf die Publikation zeigen. Da sie aber ein „Sample“ von annähernd 350 Forscherprofilen versammelt, erlaubt sie einen nicht zufälligen (wenn auch in der Repräsentativität ungeklärten) Blick auf die Fachgeschichte. Dieser steht einer einfachen Rückprojektion des eingefahrenen disziplinären Selbstverständnisses entgegen. Daher operiert die Dokumentation denn auch mit der relativ offenen Gegenstandsbestimmung der Sprachforschung, mit der in den einzelnen Forscherprofilen des Katalogs unterschiedliche Verständnisse von Sprachwissenschaft zugänglich werden. Daher bietet es sich an, diese Dokumentation zum Ausgangspunkt für eine fachgeschichtliche Betrachtung der neueren Entwicklungen der Sprachforschung zu nehmen, die es erlauben soll, die konzeptuellen
�� 4 Namen in Kapitälchen verweisen auf die biographischen Einträge im Katalog. Die Zusammenstellungen von Namen zu umfangreichen Listen haben im Text eine orientierende Funktion. Sie finden sich auch in der elektronischen Version, wo sie im html-Format mit dem Katalog verknüpft sind: in der elektronischen Version führt das Anklicken solcher Namen direkt zu den biographischen Einträgen. Um den Text zu entlasten, werden detaillierte Angaben zu den im Katalog referierten Personen (auch bibliographische Hinweise) weitgehend eingespart. Die Auswertung des gedruckten Katalogs in Bd. II der Buchversion (2010) ist durch diese Darstellung überholt: das gilt insbesondere auch für die Abschnitte dort, die diesem Text als Grundlage der Überarbeitung gedient haben (Kap. 2–4 und 7).
VIII � Vorwort
Prämissen von deren Professionalisierung als Sprachwissenschaft in den Blick zu nehmen. Die vorgelegte Dokumentation stellt nicht nur Schicksale von Personen dar. Sie zeigt vielmehr, daß die so greifbare Personengeschichte einen fachgeschichtlichen Bruch überlagert, der über den politischen Eingriff in die Wissenschaft im damaligen Deutschland hinausgeht. Die Darstellung der oft dramatisch verlaufenen Schicksale der verfolgten und vertriebenen Sprachforscher muß ergänzt werden durch einen Blick auf den grundlegenden Wechsel der dominierenden Ausrichtung der Sprachforschung in der Mitte des 20. Jhd., der keine deutsche Besonderheit ist: der Bruch mit der bis dahin dominierenden kulturanalytischen Ausrichtung der Sprachforschung.5 Das wird hier mit einer systematisch angelegten fachgeschichtlichen Kontextualisierung der Dokumentation versucht. Um die Darstellung im Text zu entlasten, zugleich aber die Argumentation nachvollziehbar zu machen, gibt es einen umfangreichen Anhang mit biographischen Kurzhinweisen zu den erwähnten Personen, die zumindest die Synchronisierung der angesprochenen Arbeiten erlauben soll (auch die im Katalog aufgenommenen Beiträge sind hier vollständig gelistet, markiert durch Kapitälchen). Diese Untersuchung der Verfolgung und Vertreibung von deutschsprachigen Sprachforschern war Gegenstand eines Forschungsprojekts, das seit 1980 in mehreren Schüben bis zur Buchpublikation (2010) durchgeführt wurde, zeitweise unterstützt von Förderungsinstitutionen, insbesondere der DFG und der Fritz Thyssen-Stiftung. Ihnen und allen, die mich bei diesem über viele Jahre gestreckten Unternehmen unterstützt haben, bin ich zu großem Dank verpflichtet.6 Das gilt nicht zuletzt auch für die nötigen Ermutigungen, ein Unternehmen weiter (zuende …) zu führen, das im Grunde viel zu groß ist, um wissenschaftlich seriös von einem einzelnen bearbeitet werden zu können. Nicht allen Kritikpunkten und Hinweisen konnte ich angemessen nachgehen. Für hilfreiche Kritik an vorausgehenden Textfassungen danke ich Wolfgang Asholt, Peter Auer, Manfred Bierwisch, Ad Folen, Frank-Rutger Hausmann, Martin Hummel, Bernhard Hurch, Clemens Knobloch, Luca Melchior, Stefan Schneider. Den Herausgebern der Reihe SLG danke ich für die Aufnahme des Bandes und Hin�� 5 Der Terminus der Kulturanalyse ist hier im zeitgenössischen Sinne zu verstehen – nicht im Sinne der derzeit modischen Propagierung von Kulturwissenschaft, s. dazu 1.2. 6 Detaillierter ist der Dank in der Publikation (2010 / 2014) ausgesprochen, insbesondere gegenüber denjenigen, die über die Jahre an diesem Unternehmen mitgearbeitet haben, von denen hier nur noch Susanne Dlubatz (†) als langjährige Projektmitarbeiterin in Osnabrück und bei der Überarbeitung in Graz Angelika Wagner, Petra Hödl und Bettina Hobel genannt seien.
Vorwort � IX
weise zum Manuskript. Ein besonderer Dank gilt Daniel Gietz im Verlag, der das Erscheinen des Buches entscheidend unterstützt hat – und mir nicht zuletzt auch bei der orthographischen Form freie Hand gelassen hat, ohne Bindung an die Vorgaben der jüngsten Rechtschreibreform, die komplexen Texten und Lesern, die sich diese erschließen wollen, wenig angemessen sind. Graz, im Herbst 2015 Utz Maas
Inhalt 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Vorüberlegungen � 1 Zur Anlage des Buches � 1 Wissenschaftssystematische Vorüberlegungen � 7 Die Konstituierung der sprachwissenschaftlichen Disziplin � 11 Die professionelle Sprachforschung � 20 Die Ungleichzeitigkeit fachgeschichtlicher Entwicklungen � 26
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 2.4.4 2.4.5 2.4.6
Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher � 33 Die Dokumentation im Katalog � 33 Profile der Sprachforschung im Katalog � 34 Die Dynamik im Feld der Sprachforschung � 50 Die Ausdifferenzierung der philologischen Fächer � 52 Die traditionelle philologische Einheit � 52 Vergleichende Sprachwissenschaft � 53 Kleinere philologische Fächer � 55 Nicht-philologische (kleinere) Fächer � 56 Die Professionalisierung in den Philologien � 57 Sprachforschung außerhalb der Universitäten (der traditionellen Fächer) � 58 Die disziplinären Zuordnungen im Katalog � 60 Die institutionelle Zuordnung � 60 Die disziplinäre Zuordnung � 66 Die sprachlichen Arbeitsfelder � 71 Die Nachbarfächer � 80 Nicht-professionelle Sprachforschung � 87 Zur Professionalisierung der Sprachwissenschaft � 88 Linguistenkongresse � 88 Die Linguistic Society of America � 89 Die Abbildung des Katalogs auf das Fachverständnis in der DGfS � 92
2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4 2.5.5 2.6 2.6.1 2.6.2 2.6.3
3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3
Hintergründe der Verfolgung � 96 Einleitende Bemerkungen � 96 Zur Kategorie Verfolgung � 96 Die Verfolgung in der Dokumentation � 98 Die Einschränkung auf den Machtbereich des Nationalsozialismus � 103
XII � Inhalt 3.1.4 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.3 3.3.1 3.3.2 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.6 3.7 4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.5.6 4.5.7 4.5.8
Die Einschränkung auf deutschsprachig � 103 Rassistische Verfolgung � 106 Vorbemerkung � 106 Rassistische Verfolgung I: die Maßnahmen � 108 Rassistische Verfolgung II: die konzeptuellen Probleme (Rasse, jüdisch) � 114 Jiddisch � 131 Reaktionsformen auf den Antisemitismus und die Verfolgung � 135 Die rassistische Verfolgung im Katalog � 143 Sonstige in der Person begründete Verfolgungen � 147 Benachteiligung von Frauen � 147 Verfolgung wegen Homosexualität � 151 Politische Verfolgung � 152 Politischer Widerstand � 152 Politisch begründete Entlassungen � 162 Verfolgung impliziert nicht Gegnerschaft � 162 Verfolgung im Sinne einer Konfliktkonstellation � 165 Zur Abgrenzung eines (weiteren) Konfliktbereichs der Verfolgung � 165 Formen der Disziplinierung bei Konfliktkonstellationen � 169 Weitere Fälle von Disziplinierung bzw. von Konfliktkonstellationen � 171 Statistisches: Verfolgung durch Entlassung � 176 Keine Verfolgung und unklare Fälle � 178 Emigration und Exil von Sprachforschern � 180 Zur Abgrenzung von Exil und Emigration � 180 Die Abgrenzung zur „regulären“ Emigration � 184 Organisationsfragen: Hilfsorganisationen � 191 Chronologie der Emigration � 193 Besondere Bedingungen der Immigrationsländer � 196 China � 198 Frankreich � 199 Großbritannien � 200 Irland � 201 Italien � 202 Palästina � 202 Schweiz � 207 Tschechoslowakei (ČSR) � 208
Inhalt � XIII
4.5.9 4.5.10 4.6 4.7 4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4
Türkei � 209 USA � 214 Remigration nach 1945 � 223 Statistik der Auswanderung � 226 Der chronologische Verlauf � 226 Zum akademischen Profil der Exilierten � 227 Die Immigrationsländer � 229 Remigration nach Deutschland bzw. in die Nachfolgestaaten � 236
5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11
Zur fachgeschichtlichen Einordnung � 238 Zielsetzung � 238 Die Ausgangskonstellation für die Sprachforschung � 240 Die Etablierung der Sprachwissenschaft im 19. Jhd. � 259 Das neue sprachwissenschaftliche „Paradigma“ � 278 Die Ausdifferenzierung der Literaturwissenschaft � 304 Der Sprachausbau als Fluchtlinie der Sprachforschung � 315 Die theoretische Modellierung � 340 Entgleisungen: der völkische und der rassistische Diskurs � 359 Die Neuausrichtung der Spachforschung � 374 Die sozialen Horizonte des Wissenschaftsbetriebs � 392 Die fachgeschichtliche Zäsur � 398
6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.7.1 6.7.2 6.7.3 6.7.4 6.8 6.8.1 6.8.2
Die Politisierung des Faches im ‚Reich‘ � 401 Vorbemerkung � 401 Zur chronologischen Differenzierung � 405 Zu den politischen Strukturen � 411 Universitäten und außeruniversitäre Institutionen � 418 Die sog. „Enthauptung“ der deutschen Wissenschaft � 425 Das Mitläufer-Syndrom � 428 Die Politisierung des wissenschaftlichen Diskurses � 433 Politische Frontstellungen im Wissenschaftsbetrieb � 433 Der völkische Diskurs � 445 Der rassistische Diskurs � 455 Der politische Diskurs � 468 Die sprachwissenschaftliche Forschung im ‚Reich‘ � 473 Die Randbedingungen der Forschung � 473 Zu den deskriptiv ausgerichteten Forschungen (entsprechend Profil III) � 474
XIV � Inhalt 6.8.3 6.8.4 6.8.5 6.9 6.10
Zu den historisch-vergleichenden Forschungen (entsprechend Profil II) � 482 Zur theoretischen Modellierung (entsprechend den Profilen VI und I) � 488 Zur angewandten empirischen Sprachforschung (Profil IV) � 497 Das Nachspiel: die Restauration nach 1945 � 505 Fazit zu Kapitel 6 � 510
7 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9 7.10 7.11 7.12
Die Konsequenzen � 516 Das sprachwissenschaftliche Spannungsfeld � 516 Zur disziplinären Verortung: die Normalwissenschaft � 521 Das ganzheitliche Verständnis von Sprachforschung � 525 Sprache als System: Die theoretische Modellierung � 528 Schriftkultur: die Fortschreibung der Philologie � 530 Die „Neuerer“ � 532 Die Dynamik der Professionalisierung � 538 Einzelschicksale vs. serielle Strukturen � 541 Modernität und wissenschaftliche Innovation � 544 Exil und deutsche Wissenschaft � 546 „Jüdische“ Wissenschaft? � 549 Verfolgte Wissenschaftler – gute Wissenschaft? � 552
8
Abschließende Bemerkungen und Ausblick � 554
Erwähnte Literatur � 577 Register und biographische Kurzhinweise zu den im Text erwähnten Wissenschaftlern � 601
1 Vorüberlegungen 1.1 Zur Anlage des Buches Dieses Buch macht den Versuch, zwei Horizonte auf einander abzubilden: die durch den politischen Eingriff in die wissenschaftliche Welt bestimmten Brüche in den Forscherbiographien und den Bruch in der fachlichen Ausrichtung, durch den das heute dominierende Fachverständnis inkongruent zu dem früheren geworden ist. Dem entspricht der Terminus von Sprachforschern in der Dokumentation, mit dem ein relativ offenes Konzept aufgerufen wird, das in diesem Sinne allerdings auch zeitgenössisch üblich war, um ein wissenschaftliches Feld zu bezeichnen, das nicht durch die damaligen philologischen Grenzziehungen beschränkt war: in diesem Sinne benutzte z.B. der „Junggrammatiker“ Delbrück (1901) den Terminus schon im Buchtitel, um dort disziplinübergreifend grundlegende Fragen zu diskutieren. Dem entspricht auch im Englischen der zeitgenössische Terminus der scholars of language oder students of language im Gründungsaufruf 1924 der Linguistic Society of America (s. den Abdruck in Language 1/1925: 6–7). Mit diesem Konzept läßt sich wie im Katalog ein wissenschaftliches Feld betrachten, das nicht durch disziplinäre Schranken eingeschränkt ist: so bezeichnete z.B. auch HUSSERL (1900/1901. Bd. 2/1: 338) seine grundlegenden grammatiktheoretischen Analysen als Sprachforschung. Den Gegenpol bildet eine disziplinär verfaßte Sprachwissenschaft, deren Herausbildung als Professionalisierung des Faches infrage steht, mit einer immer neu kalibrierten Abgrenzung, mit der jeweils die Ausgrenzung der nicht zünftigen Sprachforscher betreiben wurde. Mit einer solchen relativ offenen Herangehensweise sollen vor allem anachronistische Rückprojektionen vermieden werden. Die Fachgeschichte kann nicht durch das definiert werden, was heute im akademischen Betrieb als Sprachwissenschaft etabliert ist. Das wäre nicht nur ein Anachronismus, da in dem hier zu untersuchenden Zeitraum eine professionell ausdifferenzierte Sprachwissenschaft nur einen sehr marginalen Status hatte, es würde auch nicht der Tatsache Rechnung tragen, daß einerseits ein großer Teil der im Katalog dokumentierten Personen nur aus externen Zwängen zur Beschäftigung mit sprachlichen Fragen kam (einige von ihnen aber daraus dann tatsächlich ihren Beruf machten), und daß andererseits ein nicht unerheblicher Teil derer, die für
2 � Vorüberlegungen die neuere sprachwissenschaftliche (d.h. professionelle) Entwicklung eine entscheidende Rolle gespielt haben, disziplinär anders verortet waren. Der relativ unbestimmtere Terminus der Sprachforschung (bzw. im Katalog der Sprachforscher) ist relativ zeitlos im Gegensatz zum eingeschränkteren Begriff von Sprachwissenschaft(lern), der eine historische Variable bezeichnet, die auch in dem hier betrachteten Zeitraum unterschiedlich gefüllt worden ist – und Gegenstand fachinterner Auseinandersetzungen war und ist.1 Sprachforschung bezeichnet eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache im Gegensatz zu einer mehr impressionistischen Beschäftigung mit ihr, die durchaus mit aufschlußreichen Einsichten aufwarten kann. Hier tut sich ein Übergangsfeld zur außerwissenschaftlichen Sprachreflexion auf, die vor allem auch literarisch betrieben wurde und wird – seit der Jahrhundertwende als Sprachkritik auch im Feuilleton gepflegt. Autoren in einem breiten Spektrum, in dem sich Karl Valentin, Kurt Tucholsky u.a. finden, haben einen reflektierten Umgang mit der sprachlichen Form vorgeführt, bei Karl Kraus2 sogar systematisch entfaltet; er wird denn auch nicht zufällig von einer ganzen Reihe hier im Katalog als derjenige genannt, der für ihre Motivation, ein sprachliches Fach zu studieren, maßgeblich war. Bei literarischen Autoren mit diesem Zuschnitt finden sich durchaus formale Überlegungen zur Wortbildung, zu Flexionsmustern, zu dialektaler Variation u. dgl., die disziplinäre Entsprechungen haben, ohne deswegen als Sprachwissenschaft angesprochen zu werden.3 Der sprachliche Gegenstand allein ist insofern kein Abgrenzungskriterium, weil sonst nicht nur die Literaturwissenschaft, sondern auch die Rechtswissenschaft, die Theologie und andere Disziplinen dazu zurechnen wären – im noch systematischer verstandenen Sinn letztlich sogar die Naturwissenschaften, insofern auch sie auf der theoretischen Ebene sprachlich verfaßt sind. Bei der Zusammenstellung der Dokumentation habe ich als Kriterium für die Berücksichtigung genommen, daß von den Betreffenden zumindest eine (i.d.R. monographische) Arbeit vorliegt, oder doch begonnen wurde, die der sprachlichen Form gewidmet ist. Eine Reihe von Grenzfällen sind aufgenommen, die die Abgrenzungsprobleme deutlich machen (s. dazu 2.6.; dort besonders bei Profil IX; zum angesprochenen Abgrenzungsproblem auf einer „metasprachlichen“ Ebene vgl. den Mathematiker FREUDENTHAL). �� 1 So wird der Terminus inzwischen auch wieder in anderen (neueren) Beiträgen zu einer systematisch angelegten fachgeschichtlichen Forschung genutzt; z.B. benutzt ihn Ehlers (2010), weil bei sich bei seiner Auswertung der DFG-Unterlagen von 1920–1970 das Verständnis von Sprachwissenschaft als abhängige Variable erweist. 2 Nicht zu verwechseln mit dem Romanisten K. KRAUS im Katalog. 3 So z.B. bei Lichnowsky (1949).
Zur Anlage des Buches � 3
Aber das ist ohnehin nur ein Problembereich, der sich mit einer solchen Dokumentation verbindet. Ihre Entstehung war letztlich auch nicht durch fachliche, sondern zeitgeschichtliche Fragen motiviert: durch die Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit. Das zieht eine problematische nationale Grenze in die Untersuchung ein: die im biographischen Katalog der Dokumentation berücksichtigten Personen gehören zum Fach, aber nicht zu einem „deutschen“ Fach; ein Großteil von ihnen (insbesondere die Ausgewanderten) partizipierten oft auch in herausgehobener Position an der Fachentwicklung außerhalb Deutschlands. Das macht die Eingrenzung auf „deutschsprachige Sprachforscher“ im Titel der Dokumentation problematisch. Auf solche Probleme versucht dieses Buch in einem entsprechend systematisch definierten Horizont zu antworten. Damit werden allerdings enorme Ansprüche aufgespannt – bei denen es sich von selbst versteht, daß die vorliegende Darstellung diesen keinesfalls gerecht werden kann. Aber so können, zusammen mit einem Überblick über die Verfolgung und Vertreibung von deutschsprachigen Sprachforschern in der Zeit des Nationalsozialismus, die fachgeschichtlich grundlegende Frage nach den Brüchen in der Sprachforschung des 20. Jhd. zumindest verdeutlicht werden, die in den gängigen fachgeschichtlichen Darstellungen in der Regel ausgeblendet wird.4 Die umfangreiche Dokumentation von 301 in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgten Sprachforschern erlaubt es, das aus der Anfangszeit von dessen Aufarbeitung stammende Bild von der damit erfolgten „Enthauptung der deutschen Wissenschaft“ zurechtzurücken. Das setzt voraus, daß einerseits der politische Kontext der Verfolgung relativ systematisch aufbereitet wird (vor allem auch die bei der Verfolgung dominierenden rassistischen Aspekte), andererseits aber auch die wissenschaftlichen Positionen der Verfolgten nicht isoliert werden, sondern die Wissenschaft im ‚Reich‘ zumindest in den Grundzügen mit im Bild bleibt. Aus Problemen der Quellen und der problematischen Abgrenzungen unter den verschiedenen Aspekten war es bei der Erstellung der Dokumentation ohnehin notwendig, eine sehr viel größere Personengruppe als
�� 4 Verweise auf die einschlägige Forschungsliteratur sind hier angesichts von deren explorierenden Umfang exemplarisch zu verstehen. Die Grundlinien der Argumentation sind schon in den früheren Veröffentlichungen (1988c sowie in dem ersten Band der Teilveröffentlichung des Katalogs 1996) zu finden. Damals nahm diese Forschung überhaupt erst Konturen an: die Hinweise auf die herangezogenen ältere Literatur sind hier stehen geblieben. Der Abgleich mit der jüngeren Literatur ist sicherlich lückenhaft; der Umfang der Forschung allein zum institutionell definierten Feld der deutschen Universitäten wird aus Arbeiten deutlich, die dafür einen systematischen Abgleich anstreben wie z.B. Lux (2014).
4 � Vorüberlegungen die Verfolgten im engeren Sinne zu dokumentieren (der veröffentlichte Katalog enthält 339 biographische Artikel).5 Der Katalog dokumentiert das Werk von Personen – aber Wissenschaft (um die es mit der Titelfrage geht) läßt sich nicht ad hominem begreifen, und auch nicht durch die Akkumulation von homines … Sie ist in dem aufzusuchen, was sich in den Aktivitäten der Wissenschaftler ereignet. Dabei reichen die biographisch in den Blick genommenen fachlichen Positionen teilweise bis in die Gründerjahre der modernen Sprachwissenschaft am Ende des 19. Jhd. zurück. Dadurch brechen sich die bis heute virulenten Grundsatzdebatten in diesen Biographien. Anders als bei den dominierend „ideengeschichtlichen“ Darstellungen lassen sich so die verschiedenen Positionen als Optionen in der Entwicklung zurückverfolgen, statt in der üblichen fachgeschichtlichen Schematisierung in der Art dessen, was in der englischen Geschichtsschreibung „Whighistory“ genannt wird, die Fachgeschichte im Sinne der Sieger umzuschreiben und nur noch Vorläufer und überholte Positionen zu kennen, oft noch verquickt mit einer moralischen Argumentation, die in diesem Fall bei den Vorläufern auf die Verfolgung verweist und bei den Verlierern auf die politische Korruption. �� 5 Grundlage für diese Darstellung sind Vorarbeiten für eine prosopographische Aufarbeitung der deutschsprachigen Sprachforschung in der Zeit von 1900 bis 1950, die ich in den 1980er Jahren unternommen hatte, mangels der dafür erforderlichen Ausstattung aber nicht zuende führen konnte (s. dazu Maas 1988c). Für eine solche Prosopographie hatte ich eine Gruppe von etwa 3500 Personen angesetzt: hochgerechnet aus einer durchschnittlichen jährlichen Zahl von 70 sprachwissenschaftlich orientierten Promotionen (identifizierbar in den Jahresverzeichnissen der Dissertationen, bei denen etwa 10% mit dem ausgewiesenen Titel falsche Fährten legen, also wegfallen), ergänzt um diejenigen, die ohne einen solchen akademischen Abschluß Sprachforschung betrieben. Nach der vorläufigen Auswertung von Vorlesungsverzeichnissen, dem Verzeichnis von Drucken u.dgl. war davon auszugegehen, daß von diesen etwa 1000 im weiteren Sinne professionell sprachwissenschaftlich tätig waren (mit einem Lehrauftrag an den Universitäten o.ä.: zu kontrollieren anhand der Vorlesungsverzeichnisse); während die meisten nach der Dissertation nicht mehr wissenschaftlich aktiv waren (als Lehrer tätig waren o. dgl.), was im Gesamtverzeichnis der deutschen Buchpublikationen kontrolliert werden sollte. Der Aufbau einer entsprechenden Datenbank, die insbesondere auch die Vernetzungen zwischen diesen Personen hätte transparent machen sollen, erschien mir damals möglich, fand aber nicht die erforderliche Drittmittelunterstützung, sodaß ich von diesem Vorhaben nur noch die Arbeit an der vorliegenden Dokumentation weiter verfolgt habe. Auf die damals schon ausgearbeiteten Manuskripte, gestützt auf verschiedene Stichproben, greift die folgende Darstellung zurück. Bei den Quellenangaben steht öfters Document Center (Berlin), bei dem ich seinerzeit recherchiert habe; dessen Bestand ist inzwischen in das Bundesarchiv übergegangen (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde). Ich habe diesen Verweis stehen gelassen, da das Document Center, das unter US-amerikanischer Verwaltung stand, einen uneingeschränkteren Zugang zu Personalakten bot als das jetzige Bundesarchiv, in dem einige Akten gesperrt sind.
Zur Anlage des Buches � 5
Die Überlagerung des Fachdiskurses durch unterschiedliche und vor allem inkommensurable Argumentationsstränge, die in den aktuellen Diskussionen im Fach die Frage nach dessen Einheit aufwirft, läßt sich so gewissermaßen in einer biographisch gespreizten Entzerrung sichtbar machen. Mit der institutionellen Ausdifferenzierung der philologischen Fakultät in der zweiten Hälfte des 19. Jhd. waren verschiedene Optionen auf dem Tisch, die in dem Katalog der Dokumentation auch ihre entschiedenen Vertreter haben: – eine rein an der formalen Modellierung der Reflexion auf Sprache ausgerichtete Position, die durch die Entfaltung formaler Darstellungsformen der sog. Mathematisierung der Mathematik im Verlauf des 20. Jhd. ein eigenes Profil gewonnen hat, – die wissenschaftstheoretische Abklärung des Gegenstands der Sprachwissenschaft, in Auseinandersetzung mit der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jhd. abzeichnenden Dominanz der Naturwissenschaften nicht zuletzt bei Fragen der Forschungsförderung, – die methodische Kontrolle der empirischen Datenerhebung, ausgerichtet darauf, die sprachliche Vielfalt zur Geltung zu bringen. Mit der Verfeinerung von Feldforschungsinstrumenten (gemeinsam mit allen seit damals sich formierenden Sozialwissenschaften) auf der einen Seite, der experimentellen Operationalisierung der Konzepte auf der anderen (gemeinsam mit der seit dem Ende des 19. Jhd. in dieser Hinsicht dominierenden Psychologie), – die Suche nach der Bewahrung des genuinen Gegenstands der philologischen Tradition, mit dem Versuch, einen entsprechend geklärten Kulturbegriff als Orientierungspunkt zu nehmen (und so Sprachwissenschaft als „Kulturwissenschaft“ zu verstehen), – schließlich aber auch die Reflexion auf die institutionellen Anforderungen durch die für die Einrichtung entsprechender universitärer Stellen maßgeblichen Aufgaben in der Lehrerausbildung (zunächst im höheren Lehramt, also noch relativ „philologienah“, dann aber in allen Lehrämtern – bis hin zur Berufschullehrerausbildung in der 2. Hälfte des 20. Jhd.): vieles von dem, was sich zumindest institutionell etablieren konnte, verdankte das seiner institutionellen Brauchbarkeit (der Umsetzung in die neuen mit Prüfungsordnungen versehenen Studiengänge, die Vorgaben für seriell anzufertigende Examensarbeiten u.dgl.). Aus den Biographien im Katalog läßt sich ein dynamisches Bild der Grundlagendiskussion extrapolieren, das nicht auf das paßt, was die Handbuchdarstellungen zur Fachgeschichte im 20. Jhd. vermitteln. Das ist nicht nur eine akademische Frage der Korrektur an zu schematischen Darstellungen. Mit dem heute
6 � Vorüberlegungen im Fach vertretenen relativ formalen Selbstverständnis hat sich eine dieser Optionen durchgesetzt. Die ganz offensichtlich schwindende Akzeptanz des gegenwärtigen Faches Sprachwissenschaft (Linguistik), dessen Vertreter sich zunehmend unter das Dach von Überwissenschaften flüchten, die wissenschaftspolitischen Rückenwind haben (Kognitionswissenschaft, Psychologie, Neurologie …), wirft die Frage auf, ob das nicht ein Pyrrhus-Sieg einer der schon früh sich bietenden Optionen war. Daher gibt es gute Gründe, die Auseinandersetzungen aus der ersten Hälfte des 20. Jhd. nochmal in den Blick zu nehmen, insbesondere das bei einer ganzen Reihe der so dokumentierten älteren Fachvertretern greifbare Bemühen, den Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit nicht auf das methodisch Machbare zu reduzieren. Symptomatisch dafür ist es, daß der Begriff, der als gemeinsamer Nenner des Gegenstandsverständnis der älteren Forschung angesehen werden kann: der Sprachausbau, im heute dominierenden Fachverständnis obsolet erscheint.6 Damit greift das Buch aber auch über eine rein fachgeschichtliche Fragestellung hinaus: indem auf diese Weise das Fachverständnis der Sprachwissenschaft als historische Markierung in einem Spannungsfeld zur umfassenden Sprachforschung transparent wird, werden auch die Implikationen aller Bemühungen durchsichtig, aus diesem Spannungsfeld auszubrechen: – sei es durch die Beschränkung des fachlich Zulässigen auf das, was unter „angesagten“ methodischen Standards machbar ist: als Einschränkung der zünftigen Sprachwissenschaft, – sei es durch die Preisgabe der methodischen Kontrolle und damit die Gleichsetzung des Faches mit der Sprachforschung im weiten Sinne. Die erstgenannte Option erweist sich zweifellos als Motor im Fortschreiten der „Wissenschaft als Prozeß“ (D. Hull), mit der Konsequenz der Aufsplitterung der Faches in eine immer größere Schar von methodisch ausdifferenzierten „Bindestrich-Disziplinen“; die zweite Option drängt sich überall da auf, wo außerdis-
�� 6 Nur in der sprachsoziologischen Diskussion ist der Terminus weiter üblich, allerdings in einem technisch eingeschränkten Sinn für Aspekte der „durchdachten Sprachentwicklung“ (Kloss), also für Fragen der Sprachplanung und Sprachpflege und damit gebunden an schriftsprachliche Strukturelemente. Einflußreich (gerade auch in der US-amerikanischen Literatur) waren dafür vor allem die Arbeiten von Kloss (z.B. Kloss 1952), der damit seine sprachstatistischen Arbeiten von vor dem Krieg fortschrieb. Diese Einschränkung wurde gleich von URIEL WEINREICH kritisiert, der dem ein breites funktionales Konzept gegenüberstellte, das die ältere Tradition fortführt und damit auch dem entspricht, mit dem ich in Kap. 5 operiere (s. U. WEINREICH 1953: 69; allerdings ohne den Terminus zu verwenden).
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ziplinäre Anforderungen im Vordergrund stehen wie z.B. in der Lehrerausbildung. Die Aufarbeitung der älteren Fachgeschichte dient insofern nicht nur dazu, das Lebenswerk von Verfolgten zur Geltung zu bringen. Die Fokussierung auf dieses darf auch nicht übersehen lassen, daß die entsprechenden Fragestellungen auch die Forschung bei vielen von denen bestimmten, die bei den politischen Entwicklungen im ‚Reich‘ mitspielten. Die Rekonstruktion dieser Konstellationen erweist sich als Rekonstruktion von Konstitutionsfragen des Faches in einem sehr aktuellen Horizont. Damit ergibt sich auch der Aufbau dieses Buchs: – die Aufbereitung der Verfolgung und Vertreibung von deutschsprachigen Sprachforschern in der Zeit des Nationalsozialismus, – die Aufbereitung der politischen Kontexte und Hintergründe für die Verfolgung und Vertreibung, – die fachgeschichtliche Folie der so dokumentierten Forschungsbeiträge, – ein kontrastiver Blick auf die im ‚Reich‘ praktizierte Sprachforschung, – eine Einschätzung der spezifischen wissenschaftlichen Entwicklungen.
1.2 Wissenschaftssystematische Vorüberlegungen Fachgeschichte hat in der Disziplin einen ausgesprochen marginalen Status. Sieht man von der Suche nach Vorläufern ab, mit denen Fachvertreter gerne die eigene Aktivität dekorativ schmücken, spielen fachgeschichtliche Fragen nur in nicht institutionalisierten Forschungsfeldern eine größere Rolle, bei denen die Archäologie der frühen Arbeiten Teil des Gerangels um Anerkennung ist (in philologisch nicht abgedeckten Forschungsfeldern wie der Kreolistik, in arealen Forschungsbereichen wie zu den australischen Aborigines, den amerikanischen Indianersprachen u. dgl., in denen die frühen Arbeiten immer noch eine relevante Datenbasis bieten). Dagegen hat das Fach für diejenigen, die in seinem Kernfeld arbeiten, scheinbar keine Geschichte: das Fach Linguistik gibt es für die meisten jüngeren Vertreter offensichtlich erst seit Ende der 1950er Jahre, in Deutschland seit den 1970er Jahren.7 Das macht den Bruch in der Fachentwicklung sinnfällig, um den es mit diesem Buch geht. �� 7 In vielen jüngeren Arbeiten wird der Terminus der Linguistik gerne emblematisch zur Abgrenzung von der älteren Sprachforschung genutzt bzw. so verstanden; zu Beginn der 1970er Jahre wurde er so geradezu zu einem Kampfbegriff der disziplinären Revierabgrenzung (s. Ehlers 2010 für den Niederschlag dieser Abgrenzungen in der Forschungsförderung der DFG). Formal macht das einen gewissen Sinn, weil dieser Ausdruck im Deutschen nicht lexikalisch
8 � Vorüberlegungen Die leider übliche Art, Fachgeschichte auf Analekten zu reduzieren: auf eine chronologisch geordnete Sammlung von Ideen, dient nur dazu, das einigermaßen beliebige Spiel der Suche nach Vorläufern zu fördern, zugleich mit der Fixierung auf „große“ Personen. Eine systematische Klärung dessen, was Fachgeschichte soll, muß auf wissenschaftstheoretische Grundbegriffe zurückgreifen. Deren Diskussion verlief allerdings lange Zeit auf einer sehr abstrakten Ebene, ohne Möglichkeit der Koppelung an fachspezifische Fragen. Dominant waren Ausformulierungen wie vor allem die von Popper (1935), der Wissenschaft durch die Falsifizierbarkeit ihrer Aussagen definierte. Damit wird aber der Blick auf das, was die Fachentwicklung ausmacht, verstellt: eine solche Modellierung unterstellt einen festen konzeptuellen Rahmen, in dem sowohl die Aussagen wie auch das, was als Falsifizierung gilt, definiert sind; was einen solchen Rahmen definiert, wird ausgeblendet – und insbesondere auch, was die Modifikation eines solchen Rahmens ermöglicht. Daran setzt die jüngere wissenschaftstheoretische Diskussion mit explizit wissenschaftsgeschichtlichen und insbesondere auch wissenschaftssoziologischen Perspektivierungen an. Wichtige Anstöße gab vor allem von Kuhn (1962), der den inzwischen trivialisierten (und alles andere als klaren) Begriff des (wissenschaftlichen) Paradigmas ins Spiel gebracht hat. Entsprechend sind die neueren Arbeiten in diesem Feld in der Regel auch empirisch reicher unterfüttert – allerdings überwiegend in naturwissenschaftlichen Feldern. Die damit systematisch betriebene Fachgeschichte sucht nach Strukturen „hinter dem Rücken“ der Akteure, die in sozialen Netzwerken und ihren institutionellen Bedingungen greifbar werden. Hier war die Untersuchung von Fleck (1935) wegweisend, die naturwissenschaftliche Forschungsbedingungen im Blick hatte, gebunden an große Laboratorien mit arbeitsteiliger Organisation, definiert durch die instrumentelle Ausstattung. Inzwischen gibt es eine ausdifferenzierte wissenschaftstheoretische Diskussion, die sich in den Polen „strukturfunktionalistischer“ Modellierungen „kommunizierender“ wissenschaftlicher (Teil-)Systeme auf dem einen Extrem und narrativ reicher Rekonstruktion von Wissenschaft als Prozeß (s. z.B. Hull 1988) auf dem anderen bewegen. Für die sprachwissenschaftliche Fachgeschichte ist deutlich geworden, daß die an den auf die Naturwissenschaften ausgerichteten Modellierungen nicht auf die Sprachwissenschaft passen – obwohl für diese in jüngerer Zeit immer
�� verankert bzw. vernetzt ist und sich so für eine technische Definition anbietet. Historisch liegt darin allerdings ein Anachronismus, weil der Terminus der Linguistik (bzw. der Linguistiker o.ä.) auch schon im 18. Jhd. benutzt wurde, im Kielwasser der damals modischen lateinisch basierten Nomenklatur für die Wissenschaften.
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auch „Paradigmen“ ausgerufen wurden, aber nur, um dann die Frage aufzuwerfen, ob die Sprachwissenschaft überhaupt als eine Disziplin konstituiert ist, in der Paradigmen und Paradigmenwechsel im Kuhnschen Sinne definiert sind.8 Mit einer allerdings sehr selektiven Sichtweise waren soziale Aspekte des Wissenschaftsbetriebs auch in den älteren fachgeschichtlichen Darstellungen im Blick, die z.B. mit Schulen als sozialen Verbänden operierten. Die derzeit modische Fokussierung von Wissenschaft als Prozeß läuft die Gefahr, das, worum es in der Wissenschaft geht bei der Rekonstruktion der Geschäftigkeit aus dem Blick zu verlieren. Wenn Wissenschaft mit den sozialen Wirkungen der Arbeiten von Wissenschaftlern (ggf. ihren Institutionen) gleichgesetzt wird, fehlen Kriterien, um die Besonderheiten eines durchaus effizienten wissenschaftlichen Betriebs (gemessen an der organisierten Ausbildung des Nachwuchs, einer großen Anzahl von Publikationen u.dgl.) wie bei „systemkonformen“ Aktivitäten im Kielwasser des nationalsozialistischen Regimes (s. Kap. 6) oder etwa auch der „marxistisch-leninistischen Sprachwissenschaft“ in der DDR als wissenschaftlichen Leerlauf zu analysieren, wie ich es hier erst einmal nur unterstellen möchte. Damit operiere ich mit einem Begriff von Wissenschaft als einer idealen Größe, an der die Wissenschaftler nur partizipieren – mit mehr oder weniger Erfolg und bestimmt von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie dem nachgehen können. Eine solche Herangehensweise (die selbstverständlich eine Analyse der sozialen bzw. institutionellen Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit impliziert) hat eine besondere Brisanz bei dem engeren Gegenstand dieses Buchs, bei dem der Zugang moralisch belastet ist: durch die Verfolgung und Vertreibung vieler Akteure, andererseits dadurch, daß viele bei dem faschistischen System mitgespielt haben und daher den Tätern zuzuordnen sind. Wissenschaftsgeschichtliches Arbeiten in diesem Feld operiert hier zwangsläufig mit einer großen moralischen Hypothek. Hier kann es nur helfen, zumindest analytisch Differenzierungen vorzunehmen: Täter wie Opfer partizipierten in spezifischer, biographisch artikulierter Weise an Wissenschaft. Das definiert zumindest eine analytische Dimension, die in ein solches Unternehmen eingezogen werden muß. Diese Frage wird nach Abschluß der faktenorientierten Darstellung in Kap. 8 aufgenommen. Auch wenn die Darstellung hier im engeren Sinne keinen wissenschaftstheoretischen Anspruch hat, ist es nötig, die im Folgenden benutzte Begrifflichkeit
�� 8 Zu den wenigen Arbeiten, die systematisch die institutionelle Infrastruktur des Fachs in Rechnung stellen, gehört vor allem Amsterdamska (1987).
10 � Vorüberlegungen argumentativ transparent zu machen.9 Dabei werden drei argumentative Horizonte unterschieden, in denen die wissenschaftliche Praxis ausgerichtet wird: – eine intellektuelle Matrix, in der fachunspezifisch die Kriterien für das verankert sind, was wissenschaftliche Praxis definiert, – ein wissenschaftliches Paradigma (mehr oder weniger i.S. von Kuhn), das für eine wissenschaftliche Disziplin ein Forschungsprogramm definiert, – diskursive Netzwerke, in denen Gruppen von Fachvertretern eingebunden sind. Diese Unterscheidung (für die im Folgenden auch diese Termini genutzt werden) sollte durch den weiteren Gang der Argumentation deutlich werden (explizit wird sie in Kap. 5 aufgenommen). Die intellektuelle Matrix sichert vor allem auch die Akzeptanz wissenschaftlicher Programmatiken außerhalb der Disziplinen (einen wichtigen Aspekt davon hat Fleck 1935 mit der analytischen Figur der Denkstile in die Diskussion eingeführt). In der älteren Sprachforschung war sie durch das humanistische Gymnasium bestimmt, das die Akteure in der Regel bis zu Beginn des 20. Jhds. absolviert hatten. Dazu gehörte nicht zuletzt eine Grundausbildung in den klassischen Sprachen Griechisch und Latein, die auch die Begrifflichkeit wortgeschichtlich transparent machte – ohne diese Folie produziert der in vielen fachgeschichtlichen Darstellungen übliche Umgang mit Zitaten aus älteren Arbeiten oft nur Anachronismen. Da gilt insbesondere für die Schlüsselbegriffe der älteren Sprachforschung, die selbstverständlich die Arbeiten der Verfolgten wie der weiter im ‚Reich‘ Aktiven bestimmten: der Kulturbegriff und das Verständnis der Forschung als historisch, s. dazu Kap. 5.2. Das fachgeschichtlich übliche Hantieren mit Paradigmen (auch schon bevor Kuhn diesen Terminus lanziert hat) steht der Extrapolation einer solchen Matrix entgegen. Gegenüber der von mir entwickelten Argumentation, z.B. der älteren Ausrichtung der Forschung auf Fragen des Sprachausbaus, werden oft explizite (programmatische) Belege eingefordert. Das verkennt den Status einer intellektuellen Matrix, die, weil sie die selbstverständliche Prämisse der Argumentation bildet, nicht explizit formuliert zu werden braucht – anders als Positionen, die sich als innovativ gegen ein solches Selbstverständnis im Fach wenden, die sich denn auch gerne mit der Ausrufung eines neuen „Paradigmas“ schmücken. Obwohl die Halbwertzeit solcher „Paradigmen“ meist ausgesprochen kurz ist,
�� 9 Hier hat sich inzwischen ein eigener (teil-) disziplinärer Arbeitsbereich mit eigenen Kongressen, Zeitschriften u.dgl. etabliert, s. z.B. Schmitter (2003) für den Versuch einer Systematisierung.
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haben sie den Vorteil der bequemen Zitierbarkeit. Im weiteren Verlauf der Argumentation, insbes. in Kap. 5, wird diese Frage bei der Belastbarkeit der angeführten „Belege“ eine Rolle spielen.
1.3 Die Konstituierung der sprachwissenschaftlichen Disziplin 1.3.1. Generell ist die institutionell verfaßte Wissenschaft ein gesellschaftliches System, das mit außerwissenschaftlichen Systemen kommuniziert (i.S. von kommunizierenden Röhren). Das führt zu einer doppelten Dynamik: – vom gesellschaftlichen Diskurs in die Disziplin: argumentative Figuren des gesellschaftlichen Diskurses werden im Fach aufgenommen und unter den jeweils akzeptierten disziplinären Standards „modelliert“, – von der Disziplin in die Gesellschaft: disziplinäre Wissensbestände werden als gesellschaftlich relevant präsentiert und zur Geltung gebracht. Orthogonal zu diesen konzeptuell artikulierten Verhältnissen sind die institutionellen Vorgaben für die wissenschaftliche Praxis: vereinfacht gesprochen die Bedingungen, unter denen mit der disziplinär definierten Tätigkeit der Lebensunterhalt verdient werden kann – als vordergründiges Kriterium von Professionalität. Eine herausragende Rolle haben für „geisteswissenschaftliche“ Disziplinen wie die Sprachwissenschaft die Universitäten; weit dahinter rangieren außeruniversitäre Forschungsinstitute; nur marginal gibt es auch die Mitarbeit in primär anders definierten Arbeitseinrichtungen in der „freien“ Wirtschaft.10 Davon zu unterscheiden sind die sozialen Formen der wissenschaftlichen Praxis, in denen sich die Artikulation der Wissensbestände (auch die Frage der disziplinären Akzeptanz) einspielt, organisiert in sozialen Verbänden („Netzwerken“), wie man traditionell schon von „Schulen“ sprach, mit einer fachspezifischen Öffentlichkeit (Zeitschriften, Tagungen u.dgl.), aber auch informell etwa in der auch schon vor der elektronischen Kommunikation extensiv prakti-
�� 10 Hier sind für die Sprachforschung die institutionellen Strukturen sehr anders als z.B. für die Naturwissenschaften, bei denen große Labore gerade auch in der Privatwirtschaft charakteristisch sind und die Forschung arbeitsteilig in Großforschungsverbänden durchgeführt wird. Das macht es auch problematisch, mit wissenschaftstheoretischen Konzepten zu operieren, die auf die naturwissenschaftliche Forschung kalibriert sind. Zu den Problemen gehört auch die Ausrichtung der jüngeren wissenschaftstheoretischen Diskussion auf die englischsprachigen Publikationen, die oft die unzulässige Übersetzungsgleichung von engl. science (in der Regel auf Naturwissenschaften festgelegt) und dt. Wissenschaft nach sich zieht.
12 � Vorüberlegungen zierten „kollegialen“ Korrespondenz.11 In der wissenschaftstheoretischen Diskussion ist dieser Aspekt der Wissenschaftsentwicklung lange verdrängt gewesen; auch fachgeschichtliche Darstellungen haben sich weitgehend darauf beschränkt, konzeptuelle Formationen in eine gewisse chronologische Abfolge einzusortieren. Seit 50 Jahren macht sich in der Diskussion eine Gegenbewegung geltend, die explizit „Wissenschaft als Prozeß“ modelliert (Hull 1988). Die fachgeschichtlich grundlegende Frage ist, wie die Beschäftigung mit Sprache im Sinne eines vortheoretischen Gegenstandsverständnisses auf Sprachforschung im Sinne einer wissenschaftlichen Beschäftigung eingegrenzt werden kann. Dabei müssen zwei Reflexionsmatrizen unterschieden werden: – die konzeptuelle, bei der es um die Frage geht, was unter Sprache zu verstehen ist, – die methodische, bei der die Vorgaben für die analytische Arbeit zu Sprachfragen geklärt werden. Die methodische Matrix ist an Darstellungsformen gekoppelt, mit denen sich eine wissenschaftliche Argumentation von anderen Darstellungen abgegrenzt. Darin spiegelt sich eine Koppelung der beiden Matrizen: die konzeptuelle Klärung des Forschungsgegenstands wird in der Darstellungsform anschaulich von Alltagsvorstellungen („common sense“-Konzepten) unterschieden. In der jüngeren Wissenschaftsentwicklung haben sich so formale Darstellungsformen etabliert, mit denen der spezifische Gegenstand der Forschung modelliert wird (s. Kap. 5.2. zu diesen Entwicklungen in der Sprachwissenschaft). Zwischen beiden Matrizen besteht zwangsläufig ein Spannungsverhältnis: wird die konzeptuelle Matrix isoliert, landet man bei einem diffusen Feld von Sprachreflexionen, wie es in den fachgeschichtlichen Darstellungen gerne mit dem Ansetzen bei den Vorsokratikern in den Blick genommen wird. Umgekehrt riskiert jede Fixierung auf eine methodische Matrix anachronistische Verzerrungen. Da methodisch kontrolliert immer nur ein Ausschnitt von dem zu bearbeiten ist, was konzeptuell als Gegenstandsfeld definiert ist, ist die daraus resultierende Spannung gewissermaßen konstitutiv für das, was in der wissenschaftstheoretischen Diskussion oft in einem weiten Sinne als „Forschungsprogramm“ zu Lösung gesellschaftlicher Aufgaben angesprochen wird. Wissenschaftliche Disziplinen wie die Sprachwissenschaft sind immer in bestimmten historischen Konstellationen definiert, also in einem Spannungsfeld
�� 11 Eine Modellstudie, ausgehend von der umfangreichen Korrespondenz Hugo Schuchardts, wird jetzt in dem von Bernhard Hurch in Graz geleiteten Forschungsprojekt „Netzwerk des Wissens“ unternommen.
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von vordisziplinär definiertem Gegenstandsbereich (und ggf. auch von darauf ausgerichteter Sprachforschung) auf der einen Seite und immer wieder neu (und ggf. anders) kalibrierter disziplinär lizenzierter (sprach-) wissenschaftlicher Praxis. Die disziplinäre Weiterentwicklung führt mit der zunehmenden Arbeitsteilung und ggf. auch der Abhängigkeit von instrumenteller Unterstützung zu immer kleineren Fenstern, in denen der Gegenstand Sprache methodisch kontrolliert angegangen wird. Daraus resultiert eine spezifische Dynamik: die professionelle Bindung an die methodischen Standards kann zur Folge haben, auch auf der konzeptuellen Ebene nur noch das als Sprache zu definieren, was unter diesen Prämissen modellierbar ist. Darauf reagieren dann wieder Versuche, eine solche Beschränkung des fachlichen Horizonts aufzubrechen. Nicht nur in der Sprachforschung wird der Kampf zwischen den Polen einer Verakademisierung des Fachs auf der einen Seite und dem Verlust methodischer Standards auf der anderen periodisch wiederkehrend geführt. In dieser Hinsicht läßt sich eine Art mittlerer Linie definieren, die eine zünftige Praxis verfolgt, ausgerichtet an den etablierten Standards – aber eben auch beschränkt auf einen kumulativen Erkenntnisgewinn. In diesem Sinne spricht man seit Kuhn (1962) von einem Paradigma, das der Praxis einer wissenschaftlichen Gemeinschaft unterliegt. Diese Verhältnisse können durch institutionelle Randbedingungen überlagert werden, wenn nicht nur „reine Wissenschaft“ verfolgt wird, sondern das Fach für spezifische Aufgaben genutzt wird, die nicht unter den fachlichen Prämissen definiert sind. Das ist bei der Sprachwissenschaft (bzw. der vorausgehenden philologischen Sprachforschung) durch ihre Nutzung in der Lehrerausbildung (in den sprachlichen Fächern) der Fall, vor allem seit deren Regulierung mit staatlichen Vorgaben wie in Deutschland seit der preußischen Bildungsreform zu Beginn des 19. Jhds. Dabei bricht sich die angesprochene Spannung im Fach selbst an den arbeitsökonomischen Zwängen des Ausbildungssystems: die Notwendigkeit einer kurrikularen Planung von Kursen, Prüfungen, Vorgaben für Abschlußarbeiten u.dgl. stellt auf serielle Praktiken ab, die fast zwangsläufig an der mittleren zünftigen Linie im Fach ausgerichtet sind. Dem entspricht ggf. die Verdoppelung der Ausbildungsgänge um einen professionellen Strang (mit dem Lehrerexamen als Abschluß) auf der einen Seite und der Promotion in Verfolg von genuin wissenschaftlichen Fragen auf der anderen. In dem Maße allerdings, wie die Promotion ihrerseits zu einer Art professioneller Marke wird (wie es bei der Medizin seit langem auch formal geregelt ist), läßt sich diese Spannung nicht direkt auf die Studienvorgaben abbilden: wie zu zeigen ist, war gerade auch die Expansion der Universitäten mit einem hohen Ausstoß an sprachwissenschaftlichen Promotionen den seriellen Möglichkeiten
14 � Vorüberlegungen der neuen Sprachwissenschaft am Ende des 19. Jhd. geschuldet (das wird in Kap. 5 mit dem Stichwort der Junggrammatiker aufgenommen) – wo in diesem Feld auch solche seriellen Arbeiten mit „innovativen“, „theoretisch“ ambitionierten Fragestellungen befrachtet werden und wurden, resultiert daraus oft nur eine Art wissenschaftlicher Makulatur, die nur unter fachgeschichtlichen Gesichtspunkten einen gewissen dokumentarischen Wert hat (und nur Verdruß beim Lesen bereitet …). So zeigt sich, daß die oben benannten beiden Reflexionsmatrizen eine gewisse Selbständigkeit haben – jedenfalls können sie sich in der fachlichen Praxis verselbständigen. Zur Einübung in ein Fach gehört auch das Einüben des fachlich akzeptierten Diskurses, mit dem die Ausgrenzung derer markiert wird, die sich ggf. mit dem gleichen Gegenstand außerhalb der Zunft befassen. Dieser Diskurs ist immer auch ein Einfallstor für fachexterne (von methodischer Kontrolle abgelösten) Faktoren – vor allem auch für die Politisierung eines Faches, wie in Kap. 6 noch genauer zu betrachten ist. Die Fachgeschichte bildet ein Spannungsfeld ab – das gilt es als Hintergrund für die weiteren Überlegungen im Kopf zu behalten. Für die Modellierung des Prozesses der Disziplinformierung kann an Kuhn (1962) angeschlossen werden, der mit seinem Paradigma-Konzept zwei Momente isolierte: – die Bündelung wissenschaftlicher Energie und die Freisetzung eines Prozesses wissenschaftlichen Fortschritts durch die Ausrichtung auf ein Paradigma, – die mit diesem Prozeß angestoßene Tunnelfahrt durch die Ausrichtung an einem solchen Paradigma, die der Forschung Scheuklappen aufsetzt und Begründungsfragen abschneidet. Im Kuhnschen Sinne ist eine wissenschaftliche Disziplin eine Matrix, in der sich die Forschung organisiert. Die Matrix wird definiert durch Paradigmen, die deren Prämissen festschreiben und damit eine kumulative Forschungspraxis als Lösung spezieller Probleme freisetzen, die durch die jeweiligen Paradigmen definiert sind. Mit Matrix wird eine Menge von Vorgaben für die wissenschaftliche Praxis gefaßt, die für die Akteure selbstverständlich sind; demgegenüber ist Paradigma ein spezifischeres (eingeschränkteres) Konzept, bei dem solche Vorgaben auch explizit im Raum stehen und damit strittig werden können.12 Paradigmen erhalten ihre Ausprägung in einem disziplinären Rahmen. Dabei ist
�� 12 Die Terminologie ist hier keineswegs einheitlich. In diesem Sinne verwende ich die Termini im Folgenden.
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eine Disziplin in diesem Sinne koextensiv mit einer „zünftigen“ Gemeinschaft von Forschern, die sich einem solchen Paradigma verpflichtet fühlen – und die mit ihrer Ausbildung in dieses hineinsozialisiert wurden. Aus dieser Perspektive reduziert sich die wissenschaftliche Entwicklung auf die Reproduktion der Disziplin gerade auch dann, wenn Krisen auftreten, bei denen ein Paradigma durch ein anderes ersetzt wird. Eine so verfaßte Disziplin setzt ausgesprochen effizient Forschungspotentiale frei, weil die Forscher in ihr von Begründungsfragen freigestellt sind, die eine „vor-paradigmatische“ Forschung belasten. Ohne ein solches Paradigma müssen wissenschaftliche Arbeiten ihre Prämissen immer wieder artikulieren – was Energien für eine strikt fokalisierte Forschung blockiert. Auf der anderen Seite ist eine „vor-paradigmatische“ Arbeitsweise aber durchlässig für den außerwissenschaftlichen Diskurs. Eine solche Durchlässigkeit charakterisiert insofern eine wissenschaftliche Praxis außerhalb von paradigmatisch ausgerichteten Disziplinen. Wo sich eine solche Disziplin konstituiert hat, riskieren Forscher, die sich nach wie vor in solchen Begründungszusammenhängen bewegen, sich damit außerhalb der Zunft zu stellen. 1.3.2. Professionalisierung hat zwei Dimensionen: – eine intensionale im Sinne von Kuhns wissenschaftlichem Paradigma, das nicht nur eine spezifische Weise definiert, mit einem Gegenstand umzugehen, und so einen Zusammenhalt zwischen denen stiftet, die sich als Disziplin verstehen, sondern auch eine Form ist, in der diese Vorgehensweise an die nachfolgende Generation weitergegeben wird, – eine extensionale, die in institutionellen Strukturen faßbar wird, die an spezifische Mitgliedschaften gebunden sind, denen auch entspricht, daß über diese Mitgliedschaft der Zugang zu spezifischen Bereichen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung definiert ist (sodaß ein zünftiges Monopol besteht).13 Quer zur disziplinären Ausdifferenzierung ist die Professionalisierung in der Distanz zum Untersuchungsgegenstand begründet, die durch kontrollierte Verfahren ermöglicht wird (wie sie ihrerseits diese überhaupt erst ermöglicht). Professionelle Wissenschaft steht insofern auf dem Gegenpol zur Liebe zum �� 13 Ein Modellfall für eine solche Professionalisierung liefert im zeitgenössischen Kontext des Katalogs die Psychologie, die vor allem unter dem Druck der Weltkriegsvorbereitung und dann schließlich des Weltkriegs selbst in Deutschland als Disziplin etabliert wurde: mit einem Diplomstudiengang und einem für dessen Absolventen reservierten professionellen Tätigkeitsbereich (s. dazu Geuter 1984).
16 � Vorüberlegungen Gegenstand (mit den inzwischen abgegriffenen Termini: dem Dilettantismus [lat. dīlīgō „lieb haben“] und dem Amateur [lat. amō „lieben“]). Die philologische Tradition ist in dieser Hinsicht ambivalent – eindeutig werden die Verhältnisse, wenn man sich klar macht, daß ein Mediziner „seine“ Viren nicht liebt, über die er forscht, ein Ingenieur nicht die Kläranlage, die er baut. Die methodische Begründung der Sprachwissenschaft hatte (und hat) so auch die Liebhaber gegen sich: ein ERMAN mußte sich mit der zeitgenössischen Ägyptenschwärmerei auseinandersetzen, ein BOAS mit der Schwärmerei für die „Wilden“. Wo die Forschungspraxis nicht am Schreibtisch stattfand (stattfindet), kann diese Distanz geradezu mit Widerwillen gekoppelt sein, der im Feld zu überwinden ist, s. z.B. ERMANs Kommentare über die „Orientalen“, die er auf einer Ägyptenreise erlebt hat, oder BOAS’ Klage über seine versoffenen und verfilzten Gewährspersonen, mit denen er sich herumschlagen mußte. (Professionalisierte) Wissenschaft ist nicht durch Liebe, sondern durch eine Methode definiert, die es erlaubt, ein gestecktes Ziel zu erreichen (was auch immer die Motive gewesen sein mögen, die den einzelnen Forscher einmal auf eine bestimmte Option festgelegt haben). Die Professionalisierung hat soziale Implikationen, die ggf. auch institutionelle Folgen haben: – mit ihr sind die Kriterien der Zugehörigkeit zur Profession definiert, so wie es bei den traditionellen Berufsorganisationen die Zünfte regelten, – damit sind aber auch die Ausschlußprozeduren für nicht-zünftige Praktiken definiert: wer nicht unter den Vorgaben der Zunft agiert, ist ein Bönhase.14 Die Vorgaben für zünftige Praktiken sind historisch betrachtet variabel: sie müssen immer neu auf das Mögliche und Übliche kalibriert werden. Legt man dieses Bild an einen Befund wie den des Katalogs an, ist klar, daß die Grenzen nicht im Sinne des heutigen (zünftigen) Sprachwissenschaftsverständnisses gezogen werden können. Deutlich ist in seinem Sinne nur die Ausgrenzung derer, die eine „direkte Sprachanalyse“ betrieben – die sich aber auch selbst nicht als Sprachwissenschaftler begriffen (s. die Profile VIII und IX in 2.5.6). Für die anderen Felder der Sprachforschung, die in 2.5. beschrieben sind, sind die Verhältnisse weniger klar.
�� 14 Bönhase ist der in den mittelalterlichen Städten übliche Terminus für einen nicht-zünftigen Arbeiter: der keine offene, kontrollierbare Werkstatt hat, sondern unter dem Dachboden (niederdt. böne, vgl. hd. Bühne) oder sonst im Versteck „schwarz“ arbeitet. Ich benutze ihn im Folgenden für diese Art der professionellen Grenzziehung.
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1.3.3. Legt man an die wissenschaftliche Praxis der im Katalog aufgeführten Sprachforscher die oben skizzierten Kriterien der Professionalisierung an, so erfüllen sie diese in sehr unterschiedlicher Ausprägung, und zwar unabhängig davon, ob sie ihre Forschung und ggf. auch Lehre im Rahmen eines philologischen Faches betrieben, oder ob sie Vertreter einer Nachbarwissenschaft waren. In der Sprachwissenschaft hat es keine mit der Psychologie vergleichbare Entwicklung gegeben – sieht man einmal von den Besonderheiten des planwirtschaftlichen Wissenschaftsbetriebes ab, der in der DDR zur Einrichtung eines Diplomstudienganges als Zugangsform für die vorgesehenen sprachwissenschaftlichen Stellen führte (nach 1989 ist davon nichts übrig geblieben). Allenfalls auf die sehr kleine Gruppe der vergleichenden Indogermanisten ließen sich diese Kriterien noch anwenden, aber auch für sie galt, daß mit einem entsprechenden Abschluß kein Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit sichergestellt war: eine Berufung auf eine Professur war auch hier daran gebunden, daß ein Fachvertreter Aufgaben in einem philologischen Feld übernahm, in der Regel in der klassischen Philologie. Die Kehrseite davon ist aber auch, daß die Sprachforschung nicht einfach in den akademischen institutionalisierten „sprachlichen“ Disziplinen aufgesucht werden kann; gerade für das neue Selbstverständnis der „professionellen“ Fachvertreter (also die intensionale Dimension) ist der eponymische Rückbezug auf nichtphilologische Vorläufer charakteristisch. In der Frühzeit des hier fraglichen Zeitraums kamen noch die extrem selektiven Randbedingungen der vor dem Ersten Weltkrieg quantitativ wenig ausgebauten Universitäten hinzu: auch ausgesprochen wissenschaftlich orientierte Fachvertreter hatten damals nur geringe Chancen auf eine Stelle an den Hochschulen und wurden bzw. blieben Lehrer – mit der Folge, daß auch von solchen „Schulmännern“ wissenschaftlich hochkarätige Forschungsbeiträge geleistet wurden, vor 1900 oft auch in den damals jährlich publizierten „Schulprogrammen“ veröffentlicht.15 Die nicht abgeschlossene Professionalisierung der Sprachwissenschaft zeigt sich so als Moment in dem langen Prozeß der Ausdifferenzierung eines gesellschaftlichen Ortes der Sprachforschung – in der Spannung zwischen dem Typus des Intellektuellen des achtzehnten Jahrhunderts, für den die Reflexion auf Sprache selbstverständlich war (ebenso wie eine mehrsprachige Bildung: neben den klassischen Schulsprachen zunehmend auch praktisch beherrschte moderne [Schrift-]Sprachen), und auf der anderen Seite den spezialisierten Techni-
�� 15 Ein prominentes Beispiel für diese Konstellation ist Philipp Wegener, s. C. Knobloch in der ausführlichen, auch biographischen Einleitung der Neuausgabe von Wegener (1880), dort S. 11*–51*.
18 � Vorüberlegungen kern, für die Sprache das ist, was sie mit ihren operationalen oder auch formalalgebraischen Vorgaben modellieren können. Ausdifferenzierung impliziert hier, daß Sprachliches nicht nur als Epiphänomen von im Vordergrund stehenden anderen Erscheinungen betrachtet wird: die Betrachtung sprachlicher Phänomene ist schließlich bei der Beschäftigung mit Literatur, mit Sozialgeschichte, mit Kunst, mit Religion etc. unvermeidlich. Um Sprachforschung handelt es sich nur dann, wenn Sprache in ihrem Eigensinn, als widerständige Erscheinung gegenüber der analytischen Beschäftigung mit ihr gesehen wird. Das definiert die Abgrenzung zur Literaturwissenschaft, zur Psychologie, Politologie, Archäologie, Philosophie etc., also zu Disziplinen, die es weitgehend auch mit sprachlich verfaßten Gegenständen zu tun haben. Es ist bemerkenswert, daß gerade Vertreter dieser Disziplinen in dieser Hinsicht oft klarer gesehen haben als Sprachwissenschaftler, die bis heute für reduktionistische Denkweisen anfällig sind (besonders so in dem seit Ende des 19. Jhds. endemischen Psychologismus, der in der derzeitigen kognitivistischen Linguistik ein aktuelles Avatar gefunden hat). Insofern gehören eben BOAS, K. BÜHLER, HUSSERL und andere außerhalb der philologischen Fächer zur Sprachforschung und sogar im engeren Sinne zur Sprachwissenschaft. Bei der fachgeschichtlichen Betrachtung sind diskursive Formationen, in denen konzeptuelle Vorgaben der wissenschaftlichen Praxis ihre Konturen gewinnen, von den institutionellen Bedingungen zu unterscheiden, die die professionellen Aktivitäten bestimmen. Die wissenschaftliche Praxis (richtiger: die Praxis der Wissenschaftler) geschieht im gesellschaftlichen Raum und ist daher auch noch von anderen Faktoren bestimmt als von den innerdisziplinär thematischen. Wissenschaft bietet auch eine Sonderwelt, u.U. sogar eine Gegenwelt zu dem, was im öffentlichen sozialen Raum ausgetragen wird. Der politische soziale Raum ist diskursiv verfaßt: Sprache (sprachliche Artikuliertheit) gehört konstitutiv dazu. Die mit der disziplinären Verselbständigung der neueren Sprachwissenschaft verbundene Formalisierung bzw. methodische Operationalisierung bietet auch eine Distanzierung von dem gesellschaftlichen Diskurs. In dieser Hinsicht ist die Entwicklung in den Philologien von einer gegenläufigen Dynamik bestimmt. Traditionell war die Philologie Kurator für die überlieferten Texte, deren Bewahrung einer solchen Treuhänderschaft bedarf: ob nun im religiösen Kontext oder bei der „klassischen“ Literatur, in beiden Fällen war ein Zugang ohne professionelle philologische Ausbildung nicht gesichert.16
�� 16 Diese argumentative Figur ist konstitutiv für die großen fachgeschichtlichen Erzählungen, die die wissenschaftliche Neubegründung der Philologien seit dem Ende des neunzehnten
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Die Verselbständigung der Literaturwissenschaft, die in den Philologien erst im Laufe der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zum Zuge kam, war mit dem Fokus auf den Deutungssystemen von der Orientierung auf die Gegenwart bestimmt, die den literaturwissenschaftlichen Diskurs offen für den politischen macht. Nicht zuletzt unter dem Druck der Reorganisation der großen (lehrerausbildenden) Fächer vollzog (vollzieht) die Sprachwissenschaft diese Gegenwartsorientierung mit – baut(e) aber mit einer verfremdenden methodischen Schwelle wieder Barrieren gegenüber dem gesellschaftlichen Diskurs auf. Diese Spannung charakterisiert die innerphilologischen Auseinandersetzungen in gewisser Weise bis heute. In der Literaturwissenschaft hat sie die heutige Abschottung gegenüber der disziplinären Sprachwissenschaft zur Folge.17 In der Sprachwissenschaft hat das zu dem immer wieder aufbrechenden Bemühen geführt, auch diese durchlässig für die politischen Fragen der Gegenwart zu machen – bis hin zum nach 1933 geforderten „Einsatz der Sprachwissenschaft“, mit dem nicht zuletzt Karriereambitionen ausagiert wurden, s. Kap. 6. Die diskursive Durchlässigkeit betraf vor allem auch den rassistischen (antisemitischen) Diskurs, der in Deutschland eng an den völkischen Diskurs ge�� Jahrhunderts begleiteten. ERMAN macht es in seiner großen fachgeschichtlichen Erzählung der Ägyptologie deutlich, mit dem von ihm aufgezeichneten Verfall der altägyptischen Überlieferung in der späteren Zeit, in der die hieroglyphische Codierung phantasievoll mißverstanden und paraphrasiert wurde, weil ein philologisches Bemühen um die sprachliche Form nicht definiert war (s. bei ERMAN und auch bei H.RANKE). In der Judaistik wurde in gleicher Weise der kanonische Text der Bibel nicht mehr als „Urtext“ verstanden, sondern als sekundäres Produkt der philologischen Arbeit in der späteren Zeit (der Masoreten), s. etwa KAHLE, SPANIER u.a., ebenso für die Sonderspielarten der jüdischen Überlieferung etwa im Christentum, bei dem erst die alexandrinische Philologie die kanonischen Texte geschaffen hat, s. etwa bei G. ZUNTZ. 17 Diese Bemerkungen gehen über den Rahmen dieses Katalogs hinaus, s. aber auch w.u. 1.4. Für den Ausbruch aus dem philologischen Käfig der Romanistik steht z.B. Ernst-Robert Curtius, der in den 1920er Jahren mit seiner ausdrücklich auch politisch offenen Auseinandersetzung mit der französischen Gegenwartsliteratur das Fach provozierte (etwa Curtius 1925), der sich dann aber von der damit verbundenen Öffnung für den politischen Diskurs bzw. die Politisierung des wissenschaftlichen Diskurses distanzierte (s. Curtius 1932) und mehr oder weniger explizit gegenwartsabgewandt arbeitete: seit 1932 an seinem Magnum Opus „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“, das er erst nach dem Krieg fertigstellte und publizierte (Curtius 1948). In ihm wird der Gegenstand literaturwissenschaftlich-philologischer Forschung explizit als zeitlos definiert: die in der Literatur immer wieder neu artikulierten Topoi kommen gewissermaßen erst zu sich, wenn sie nicht in der Unmittelbarkeit der damit artikulierten Texte (und ihrer Deutung!) gefaßt werden. Auch Curtius wurde in den Londoner Listen 1937 aufgeführt. Die Diskussion um Curtius ist inzwischen zu einem eigenen Forschungsfeld geworden, das hier nicht verhandelt zu werden braucht; für die ältere Diskussion s. z.B. H. H. Christmann 1987, sowie passim in den Arbeiten von Hausmann. Zur Neuorientierung der deutschen Vorkriegsromanistik auf Frankreich, vgl. im Katalog auch FRIEDMANN, KLEMPERER, SPITZER.
20 � Vorüberlegungen koppelt war. Die Attraktivität eines rein formalen Zugangs zur Sprache, der als Gegenstand das definiert, was unter methodischen Prämissen modellierbar ist, ist eben auch eine Distanzierung von dem fundamentalistischen (Sprach)Diskurs, die zumindest unterschwellig die zunehmend formalere Modellierung der Sprachwissenschaft als strenge „Gesetzeswissenschaft“ am Ende des 19. Jhds. bestimmte. Viele von denen, die diese methodische Herausforderung auch als Distanzierung von dem rassistischen politischen Diskurs aufnahmen, gehörten später auch zu denen, die von diesem stigmatisiert wurden. Ein ERMAN kann selbstbewußt für sich erklären, daß mit seiner methodisch-kontrollierten Arbeit die Ägyptologie überhaupt erst anfing, eine Wissenschaft zu werden – wie er für sich selbst später auch selbstbewußt feststellte, daß er kein Arier sei (s. bei ihm). In unterschiedlichen diskursiven Formationen verlaufen die Grenzen homolog: der lebensweltlich-“tat“orientierten Philosophie stellte HUSSERL eine methodenstrenge Phänomenologie entgegen, mit der er auch die Grundlagen der Grammatiktheorie definierte – und ihm folgten diejenigen, die eine methodisch kontrollierte Arbeit an Texten angingen (s. z.B. HAMBURGER). Außerhalb des philologischen Horizonts macht sich diese Bindung der Suche nach methodischer Kontrolle an die Abgrenzung von dem fundamentalistischen (rassistischen) Diskurs umso deutlicher geltend bei Altvorderen wie BOAS, der die Kulturtheorie (und damit auch die Sprachtheorie) ausdrücklich als kritische Antwort auf rassistisches Denken entwickelte und eine naturwissenschaftliche Herangehensweise, gebunden an die kontrollierte Beobachtung (angefangen bei der phonetischen Transkription), geradezu als hygienisches Postulat den Sozialwissenschaften im weiteren Sinne (mit Einschluß der Sprachwissenschaft) implantierte.
1.4 Die professionelle Sprachforschung Die Sprachforschung kann in Hinblick auf die unterschiedliche Feineinstellung gegenüber der in den Blick genommenen Sprache differenziert werden: – in einer Mikro-Einstellung ist die sprachliche Form bei grammatischen und phonologischen Analysen im Blick; – bei einer mittleren (Meso-)Einstellung ist die sprachliche Form im holistischen Sinne im Blick, also das, was traditionell Stilanalyse genannt wird; – bei einer Makro-Einstellung ist die (soziale) Bedeutung der sprachlichen Handlungen bzw. der sprachlichen Verhältnisse im Blick.
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Die Makro-Einstellung entspricht dem nicht-professionellen Herangehen an Sprache, für das Sprache ein Medium ist, das nicht sichtbar wird. Das, worum es dabei geht, ist das sprachlich Fixierte, ob nun so in der Sozialwissenschaft, in der Geschichte, der Archäologie oder auch in der Literaturwissenschaft (aber nicht so in der traditionellen Philologie!). Dem steht die Mikro-Ebene gegenüber, die die „harte“ Sprachwissenschaft definiert, sei es in einer synchronen Einstellung als deskriptive Sprachwissenschaft, oder aber in einer diachronen Einstellung als historisch-“erklärende“ Sprachwissenschaft. Die Meso-Ebene ist der kritische Bereich, der von der „harten Sprachwissenschaft“ ausgegrenzt wird, der aber als Stil, Diskurs u. dgl. immer wieder in den Blick kommt. Das ist die Folie für die Dynamik der Fachentwicklung, bei der sich die Mikro-Einstellung gewissermaßen mit der Verselbständigung der Sprachwissenschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts etabliert hat, während die MesoEinstellung das philologische Selbstverständnis der älteren Philologie ausmachte. Die weitere Dynamik ist durch die Verlagerung nicht zuletzt auch der Meso-Ebene auf die Makro-Ebene bestimmt, vgl. mit Beispielen aus dem Katalog: – so bei der dominanten literaturwissenschaftlichen Ausrichtung, die durchlässig für im weiteren Sinne gesellschaftliche Fragen war, s. VOßLER u.a.; – oder auch mit einer volkskundlichen Ausrichtung, z.T. auch explizit antielitär ausgerichtet, s. z.B. F. RANKE, vgl. auch W. STEINITZ; – oder auch im Hinblick auf die politische Inszenierung der Sprachpraxis, so durchaus auch bei den Altertumswissenschaften, s. etwa OPPENHEIM, besonders aber so in gegenwartsbezogenen Analysen, vor allen Dingen von Vertretern anderer als den philologischen Disziplinen betrieben: so bei den Propagandaanalysen (KRIS, SPEIER, PACHTER, MARCUSE u.a.); – auch von der Alltagspraxis aus im Blick: KLEMPERER. Der kritische Punkt dabei war es immer, die Klammer zur Mikroanalyse zu bewahren und die methodische Kontrolle für die weiteren Einstellungen in den Griff zu bekommen. Das markiert die kontrovers geführten Auseinandersetzungen um die (vor allem literarisch ausgerichtete) Stilanalyse, vgl. etwa die Kontroverse von SPITZER gegenüber Riffaterre (s. den Katalogeintrag zu SPITZER). In dieser Hinsicht hat sich die fachwissenschaftliche Diskussion seit etwa 20 Jahren neu strukturiert, vor allen Dingen aufgrund der Ressourcen der Auswertung großer Korpora, die z.B. die Registervariation als Variable zu operationalisieren sucht. Einen neuen Anschub bekam diese Forschung aber erst in jüngster Zeit dadurch, daß auch Großkorpora von gesprochener Sprache verfügbar sind und in dieser Hinsicht auswertbar werden.
22 � Vorüberlegungen Die moderne Sprachwissenschaft ist von diesem Ausgangspunkt am Ende des 19. Jhds. aus durch das Bemühen um die methodische Kontrolle der Analysen bestimmt – vor allem in den verschiedenen Spielarten des Strukturalismus. Das kann, muß aber nicht mit der weitergehenden Frage nach dem, was Sprache ist, also deren theoretischer Modellierung, verbunden sein. Wo diese Fragestellung dominiert, kann die Forschung sich von dem kulturellen Gegenstandsverständnis vollkommen ablösen, wie es bei einigen Fachvertretern der Fall ist, die insofern auch nicht mehr in einer philologischen Traditionslinie stehen – sondern eher im Schnittfeld von Nachbardisziplinen (Logik, Philosophie, Psychologie etc.). Gewissermaßen quer zu dieser systematischen Entwicklungslinie der Sprachforschung stehen die institutionellen Randbedingungen, unter denen sie praktiziert wurde (wird). Im Rahmen der universitären Institutionen, in den großen Fächern vor allem in der Lehrerausbildung, gehören dazu Dienstleistungen, die durch praktische Aufgaben, weniger durch systematische Fragestellungen definiert sind: die verschiedenen Spielarten angewandter Sprachwissenschaft im Übergang zur Didaktik, Spezialisierungen in der Übersetzungswissenschaft, Fachsprachenforschung u. dgl. Das Modell der disziplinär definierten Seminare ist inzwischen nicht mehr kongruent mit den institutionellen Bedingungen – wofür die sog. „Bindestrich“-Sprachwissenschaften stehen, z.B. Soziolinguistik in Verbindung mit Soziologie, Politologie, Ethnologie (z.B. in Abteilungen, die durch Area-Studies definiert sind),18 aber in jüngerer Zeit auch z.B. die enge Bindung an ingenieurswissenschaftliche Forschungsfelder wie in der Computerlinguistik, der maschinellen Übersetzung u. dgl., die hier im Katalog prominente Vertreter haben (s. in 2.5. auch bei Profil VI). Um in dem so skizzierten Feld der Sprachforschung Anhaltspunkte für den phasenverschoben verlaufenden Prozeß der Professionalisierung in den verschiedenen Feldern der Sprachforschung zu haben, ist es sinnvoll, die historische Dynamik durch ein analytisches Raster zu ergänzen, das die Verschiebungen in diesem Feld profiliert und damit die nötigen Differenzierungen im Katalog ermöglicht.19 Dabei können drei Dimensionen der Sprachforschung unterschieden werden:
�� 18 Systematisch so in den US-amerikanischen Universitäten (s. etwa GUMPERZ), aber mit der anvisierten Reform des Wissenschaftsapparates im Nationalsozialismus auch dort schon, worauf hier verschiedentlich zurückzukommen ist, s.u. zur Orientalistik. 19 Die folgenden Schematisierungen, insbesondere auch die synoptischen Darstellungen in den Abschnitten 2.5–2.6 haben in erster Linie eine heuristische Funktion: sie machen eine Auswertung des Katalogs durch eine Kodierung möglich, auch wenn diese nur als analytische
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A. Sprachforschung als sprachliche „Meisterschaft“, B. Methodisch kontrollierte Sprachanalyse, C. Theoretische Modellierung der Sprache. A. Sprachliche „Meisterschaft“ zielt auf den reflektierten Umgang mit Sprache, der die alltäglich erworbenen sprachlichen Fähigkeiten virtuos vervollkommnet. Den Extrempol bildet hier die künstlerische Sprachpraxis, die auf den Umgang mit der sprachlichen Form oder aber die Interpretation sprachlicher Akte/Produkte bezogen ist.20 Eine professionelle Verselbständigung hat dieser Umgang mit Sprache im kulturellen Betrieb erfahren: traditionell so in der hermeneutisch/homiletischen Praxis bzw. Ausbildung etwa der Theologie; schließlich aber auch in einem abgesonderten Bildungsbereich an der älteren Universität, in dem auch Tanzen und Fechten betrieben wurde. Ausgerichtet an den Bedürfnissen des gebildeten Bürgertums wurde daran angelagert auch ein Literaturbetrieb etabliert, der dem gebildeten Publikum keine großen sprachlichen Zugangshürden abverlangte: der Horizont war (ist) dabei die eigene (National-) Sprache – gesehen als Teil der gesellschaftlichen Umwelt (Lebenswelt). B. Der handwerklich-technische Umgang mit Sprache, der gewissermaßen notwendig mit der Beschäftigung mit sprachlichen Dokumenten verbunden ist, die nicht spontan zugänglich sind. Im Gegensatz zu A ist die Sprachreflexion hier exozentrisch (der sprachliche Gegenstand ist „exotisch“ im Gegensatz zu einer endozentrischen Sprachpraxis bei A). In allen gesellschaftlichen Systemen mit einer Schriftreligion ist der Umgang mit der religiösen Überlieferung der Ort, an dem diese Art der Beschäftigung mit Sprache professionelle Formen annahm (annimmt). In diesem Sinne gehörte zur traditionellen Universität die sprachwissenschaftliche Ausbildung als hilfswissenschaftlicher Bestandteil der philologischen Praxis, die dort die großen Fächer Theologie, Rechtswissenschaft und Medizin begründete. Schon in der mittelalterlichen Universität wurde dabei der sprachliche Horizont erweitert, in der Theologie über das Hebräische hinaus früh schon die systematische Beschäftigung mit dem Arabischen
�� Annäherung zu verstehen ist, wie die Einzelkommentare deutlich machen. Weitergehende theoretische Ansprüche sind damit nicht verbunden. 20 In dieser Dimension stellen sich die Abgrenzungsfragen gegenüber literarischer Repräsentation der sprachlichen Praxis. Die moderne Literatur führt seit der naturalistischen Mode des späten 19. Jahrhunderts virtuos vor, wie Sprache praktiziert wird: mit dem analytischen Reichtum der Darstellungen bei Musil, Thomas Bernhard oder bei der als roman parlant etikettierten neueren französischen Literatur (L. F. Céline u.a.) können gesprächsanalytische Arbeiten aus der Sprachwissenschaft nicht konkurrieren. Die (professionelle) Abgrenzung erfolgt in den anderen Dimensionen.
24 � Vorüberlegungen (bzw. dem Islam), mit der kolonialen Expansion dann mit weiteren solchen kulturellen Überlieferungen, insbesondere in Indien (Sanskrit) und in China. Sprache erschien dabei selbstverständlich im Horizont gesellschaftlicher Verhältnisse, war also auch immer in ihrer regionalen und historischen Besonderheit im Blick. Nicht zuletzt im Kielwasser der Romantik erfolgte eine Aufwertung der nationalen „Antiken“ in Europa, wobei das philologische Modell (mit der Sprachanalyse als seinem harten Kern) analog übertragen wurde, da die entsprechenden Texte nicht spontan von der gegenwärtigen gesprochenen Sprache aus zugänglich waren. Kern dieser professionellen Beschäftigung blieb die Bewahrung der Texte, die dabei „kritisch“ in ihrer maßgeblichen Form erst gegenüber der Überlieferung herzustellen waren, und für die ein entsprechender Umgang mit ihnen einzuüben war. Diese professionelle Matrix konnte schließlich auch auf weitere kulturelle Formationen übertragen werden, in denen keine solchen schriftlichen Überlieferungen vorzufinden waren. Mit dem aufgeklärten Bemühen um fremde Kulturen, das durchaus auch als Herrschaftstechnik im modernen Kolonialsystem nutzbar war, kamen fremde Sprachen in den Horizont, die außerhalb solcher schriftkultureller Überlieferungen standen und für die es ganz analog einen Textkanon zu erstellen galt; dabei hatten die Sprachforscher gewissermaßen eine Stellvertreterrolle für die Autoren, die im traditionellen Verständnis der Philologie eponymisch hinter den Texten angesetzt wurden. C. Die formale Modellierung der Sprache bzw. der Sprachpraxis. In gewisser Weise ist diese in der philosophischen Tradition verankert, läßt sich in den sprachtheoretischen Reflexionen aber problemlos auf antike Autoren beziehen. Erst Ende des 19. Jhds. entstand eine wissenschaftstheoretische Konstellation, die das Programm einer theoretischen Modellierung als System von Sätzen vorgab, aus denen weitere Sätze ableitbar sind, und aus dem mit Hilfe von empirischen Annahmen auch Hypothesen für kritische Beobachtungen zu entwickeln sind, die das Geschäft der modernen empirischen Sprachwissenschaft begründen. Dabei ist die theoretische Reflexion von der formalen (symbolischen) Darstellung zu unterscheiden, die sich ohnehin erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts als „Mathematisierung der Mathematik“ etablierte (s. Mehrtens 1990). Die theoretische Reflexion reagierte am Ende des 19. Jahrhunderts auf die Herausforderung eines breiten Feldes von Ansätzen, die sich um eine empirische (experimentell fundierte) Reduktion kognitiver Leistungen bemühten (in Deutschland in der Psychologie vor allem durch Wundt, in den USA später mit behavioristischen Ansätzen u.a.). Seitdem macht sich im Fach immer wieder das Bemühen geltend, die Sprachanalyse durch methodisch kontrollierte Verfahren zu „objektivieren“, zu denen insbesondere die Extrapolation statistischer Reihen aus den Beobachtungen gehört. Werden diese nicht nur zur Kontrolle
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genutzt (zur Absicherung gegen nur anekdotische Beobachtungen), sondern als Erklärung genommen, ergibt sich ein Grundproblem, das die disziplinären Grundlagendiskussionen bis heute bestimmt. Auf der Folie der kantischen Philosophie, die damals in der humanistischen Gymnasialbildung eine gewisse Selbstverständlichkeit hatte, war dieses Problem zeitgenössisch noch hinreichend transparent: eine solche Reduktion schreibt den kognitiven Prozessen (und ihre Strukturen) letztlich den gleichen Status zu wie den damit bearbeiteten Dingen der „Außenwelt“. Dem stand die Reflexion auf strukturelle Voraussetzungen der (menschlichen) Praxis entgegen: als transzendental. Als eine solche Voraussetzung wurde die Sprache begriffen: deren Explikation muß demnach mit verstehbaren Größen operieren und kann nicht auf prozedurale Verfahren reduziert werden.21 Auf dem einen Pol dieses theoretisch ausgerichteten Feldes standen insbesondere die Diskussionen um den psycho-physischen Parallelismus, mit statistisch fundierten systematischen Forschungsprogrammen wie vor allem Fechners Psychophysik, die auch für viele der älteren Generation im Katalog leitend war (BOAS, TRUBETZKOY u.a.); auf dem Gegenpol formierten sich Ansätze zu einer verstehenden Geistes- und Sozialwissenschaft, ggf. mit explizit hermeneutischem Selbstverständnis wie z.B. bei Dilthey. Damit war ein breites Feld sprachtheoretischer Reflexion aufgespannt, deren prominente Vertreter in diesem Katalog zu finden sind (CASSIRER, HUSSERL), die auch Bezugsgrößen für die reflektierteren „handwerklichen“ Sprachwissenschaftler waren. Einen besonders produktiven Ausdruck fand dieser Reflexionsansatz in der damaligen kognitiven („Denk-“)Psychologie, insbes. der Gestaltpsychologie, die die NichtReduzierbarkeit kognitiver Strukturen auf Prozesse, in denen sie erlernt werden, nachwies; s. 5.9. für die zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen Diskussionen um den Status sprachwissenschaftlicher Gegenstände, um die Grundkonzepte der Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft, um den Status der Strukturen in ihrer (sozialen) Geltung u. dgl. Parallel dazu verliefen die Entwicklungen in der formalen Logik, die von dem Bemühen um symbolische Repräsentationsformen bestimmt waren (vor allem seit Frege), angeschoben durch die Grundlagendiskussion um eine „strukturelle Mathematik“, ausgehend von den Grundlegungen zu einer ma�� 21 Statistisch ermittelte Korrelationen lassen sich verifizieren (sie haben ggf. auch prognostisch eine Trefferquote), aber sie lassen sich nicht verstehen. In einem schmalen Forschungsfenster, das aber für die methodische Neuorientierung des Faches eine exemplarische Rolle hatte, wurden diese Fragen bei der Neubegründung der Phonologie virulent, wo z.B. Zwirner mit seiner Phonometrie eine solche Reduktion versuchte (und dafür von TRUBETZKOY kritisiert wurde), s. 6.7.4.
26 � Vorüberlegungen thematischen Axiomatik durch Hilbert in Göttingen (s. bei HUSSERL). Zur Grundlagenfrage nach einer möglichen Verankerung mathematischer Denkfiguren in der Erfahrung (bzw. in der Alltagssprache), s. hier bei FREUDENTHAL. Insofern ist die formale Seite, die zum heutigen Selbstverständnis der theoretischen Sprachwissenschaft gehört, von ihrer Interpretation in sprachlichen Erscheinungen (oder auch in der Sprache) zu unterscheiden: sie erscheint in reiner Form in algebraischen Systemen, die eben unabhängig von der Sprachforschung entstanden sind. Seit der Wende vom 19. zum 20. Jhd. entstehen formale Theorien, die beanspruchen, auch für Sprache Erklärungskraft zu haben, die oft sogar mit ausdrücklich sprachkritischen Ansprüchen eine Lösung von den „Fallstricken“ der Umgangssprache suchen – und auf diese Art und Weise diese selbst zum formalen Untersuchungsgegenstand machen (s. CARNAP, REICHENBACH).
1.5 Die Ungleichzeitigkeit fachgeschichtlicher Entwicklungen Wie mit diesen Überlegungen angedeutet lassen sich zwar dominante Momente der fachlichen Entwicklung isolieren, aber diese sind nicht im Sinne annalistischer Kompilationen der Fachgeschichte auf einer linearen Zeitachse abzutragen. Was sich vielmehr bei einer umfassenderen Sicht auf das Fach wie in diesem Katalog zeigt, sind Ungleichzeitigkeiten von fachlichen Positionen, die das Werk der einzelnen Forscher und auch die fachlichen Diskussionen bestimmen. Vor dem Hintergrund der heute an den großen Instituten der früheren Philosophischen Fakultät dominierenden Auseinandersetzungen ist das Verhältnis von Sprach- zu Literaturwissenschaft dominant. Das kann zu einem anachronistischen Blick führen, wie sich z.B. in Rezensionen zu den (Teil-) Publikationen der Dokumentation gezeigt hat, in denen die vorgebliche Aufnahme von Literaturwissenschaftlern moniert wurde – das umfassende Konzept der Sprachforschung ist für Sprach- wie Literaturwissenschaftler neueren Zuschnitts nicht mehr akzeptabel. Die damit vollzogene Abgrenzung sowohl der Sprachwissenschaft wie der Literaturwissenschaft gegenüber der Sprachforschung älteren Zuschnitts hat fast ein Jhd. gebraucht, um sich durchzusetzen. Noch im Jahr 1900 beschwor Hermann Paul in den grundlegenden Kapiteln des von ihm hg. „Grundriß der germanischen Philologie“ die alte Einheit des Faches gegen die drohende Aufspaltung, der er emphatischen den gemeinsamen Gegenstand: die überlieferten Texte und die daraus abzuleitende Methodologie, entgegenstellte. Darin drückt sich das traditionelle Verständnis von Sprachforschung aus, das darauf zielte, sprachliche Quellen kulturanalytisch lesbar zu machen – was
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als Notwendigkeit da offensichtlich ist, wo diese für den nicht-zünftigen Blick nicht lesbar sind. Dabei stand die Literatur im heutigen Sinne (die „schöne Literatur“) keineswegs im Zentrum; diese blieb wie explizit bei der Reform des Bildungswesens im frühen 19. Jhd. eine Sache der Salons, nicht der Wissenschaft, weil der Zugang zu ihr nicht mehr als die Allgemeinbildung verlangte. Die arbeitsteilige Ausdifferenzierung der großen Philologien hatte denn auch andere Sparten: in der traditionellen Germanistik, wie sie von Jacob Grimm repräsentiert wurde, waren es vor allem die Rechtsquellen (Grimm war als Jurist ausgebildet) und dann das, was ihm von zeitgenössischen Spöttern als „Andacht zum Unbedeutenden“ vorgehalten wurde: die Aufbereitung dessen, was später als „Volksunde“ institutionalisiert wurde.22 In den kleineren Fächern ist im übrigen das ältere Fachverständnis mangels einer institutionell-disziplinären Arbeitsteilung oft auch heute noch unmittelbar greifbar, wie es sich auch in den „landeskundlichen“ Reformbemühungen des 20. Jhd. immer wieder geltend gemacht hat (s. Kap. 6). Die fachgeschichtliche ältere Konstellation der Sprachforschung und der Bruch mit ihr in der jüngeren Sprachwissenschaft werden in Kap. 5 genauer betrachtet (dort in 5.4. zu Hermann Paul). Als Referenzpunkt für eine fachgeschichtliche Rekonstruktion kann die bis lange ins 20. Jhd. kanonisch bleibende „Enzyklopädie“ der philologischen Fächer von Augst Boeckh (1877) dienen, der in Hinblick auf den sprachlichen Gegenstand nur eine pragmatische Arbeitsteilung kennt, mit der ästhetisch/ künstlerisch gestalteten Sprache als Wasserscheide. Literatur war durch die Abgrenzung von „trivialen“ Gestaltungsformen definiert, die denn auch nicht als Gegenstand der sich formierenden Literaturwissenschaft verstanden wurden (noch am Ende des 19. Jhd. wurde die „Unterhaltungsliteratur“ nicht in der „Literaturgeschichte“ behandelt). Soweit die personal sehr eng bestückten universitären Institute überhaupt eine Schwerpunktsetzung erlaubten, spielte sich ein Verständnis von Sprachwissenschaft als das ein, was Literaturwissenschaftler außer im selbstverständlich abverlangten Pflichtbereich der Sprachforschung nicht behandelten (der sprachanalytische Pflichtbereich bildete noch lange die Klammer). Praktisch war das vor allem eine Frage der Zugangsprobleme zum spezifischen Gegenstand: Sprachwissenschaft war immer da aufgerufen, wo die behandelten Texte (bzw. sprachliche Dokumente) nicht vom sprachlichen Alltagswissen her zugänglich sind. Entlang dieser Grenzen verliefen die disziplininternen Diskussionen im 19. Jhd., wobei die beiden Aspekte unterschiedlich dominant waren: das sprachliche Zugangsproblem wurde erst mit
�� 22 Der heute gängige Euphemismus „europäische Ethnologie“ verdeckt diese Zusammenhänge – und oft auch die damit verbundenen Anforderungen.
28 � Vorüberlegungen den neueren Philologien thematisch, vor allem bei der Germanistik, während die Auseinandersetzungen in der klassischen Philologie sich um die Zulassung von nicht „hochkulturellen“ Gegenständen (etwa den Inschriften, vor allem von Alltagsgraffitti) drehte. Die Verselbständigung einer Literaturwissenschaft erfolgte erst sehr viel später, gewissermaßen auch parallel zu der der Sprachwissenschaft, s. 5.4. Die im philologischen Fachverständnis begründete selbstverständliche Setzung eines sprachwissenschaftlich kontrollierten Umgehens mit den Texten, wie es Boeckh kanonisiert hatte, noch bis weit ins frühe 20. Jhd. bestimmend. Entsprechend war der Nachweis einer sprachwissenschaftlichen Qualifikation (im damaligen Sinne, versteht sich!) bei der Vergabe einer „philologischen“ Venia dominant, erst recht bei der Besetzung einer Professur. Entsprechend war auch die Ausbildung wie die evtl. akademische Karriere der im Katalog registrierten Personen auf ein wissenschaftliches Profil ausgerichtet, das nicht zur heutigen akademischen Landschaft paßt. Diese ist das Resultat einer Umstrukturierung, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jhd. abzeichnet. Wie es heute an der Fachausstattung der sprachlichen Fächer an den Universitäten abzulesen ist, wurde die Literaturwissenschaft in den „Philologien“ dominant: in der letzten Zeit heißen diese auch wieder so, was zu einem verbreiteten Gleichsetzung von Philologie und Literaturwissenschaft geführt hat. Das schuf eine institutionelle Konfliktkonstellation, in der die proklamierte Autonomie der Sprachwissenschaft zunehmend als Abgrenzung von der Literaturwissenschaft artikuliert wurde – vor dem Hintergrund, daß noch bis weit ins 20.Jhd. hinein die philologischen Eckprofessuren in Personalunion für beide Gebiete gewidmet waren. Die materialen Voraussetzungen für eine andere Fachstruktur waren erst mit dem massiven Ausbau der großen lehrerausbildenden Fächer in der „Bildungsreform“ in den späten 1960er Jahren gegeben, der dort auch tatsächlich kurzfristig zu einer Ausbalanzierung der entsprechenden Personalausstattung geführt hat – die inzwischen längt wieder rückgebaut worden ist. Diese institutionell bedingten Zwänge standen und stehen in einer Spannung zu den programmatischen Bemühungen, die Disziplinen mit allein wissenschaftlichen Kriterien zu definieren. Schon im ausgehenden 19. Jhd. reklamierten Fachvertreter wie Schuchardt ein eigenes Fach Sprachwissenschaft in Abgrenzung zur Philologie. Eine l’art pour l’art-Sprachwissenschaft konnte aber nur unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen als im zeitgenössischen Deutschland institutionell realisiert werden: die jüngeren Emigranten im Katalog lernten sie in den USA kennen, wo sie um die Mitte des 20. Jhd. von den damals dort vorübergehend dominierenden harten Distributionalisten praktiziert wurde. Ansonsten war die Position einer autonomen Sprachwissenschaft
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eine Frage des disziplinären Erklärungsanspruchs, der ihre Autonomie zwar in methodischen Aspekten setzte, nicht aber das Fach institutionalisierte bzw. isolierte. Allerdings gab es bemerkenswerte Anläufe in dieser Richtung im Rahmen der versuchten Modernisierung auch des Wissenschaftsbetriebs im Nationalsozialismus, s. Kap. 6. Diese Konstellation bedingt nicht zuletzt auch die Schwierigkeit der Kriterien für die Auswahl der Personen in einem Katalog der Sprachforschung. Die systematische, theoretisch begründete Reflexion auf deren Grundlagen war nicht an die institutionell verankerten Fachvertreter gebunden. Am konsequentesten ist sie in Deutschland zu Beginn des 20. Jhd. HUSSERL angegangen, der ein ganzes Stück weit die Denknotwendigkeiten bei jeder Art von Reflexion auf Sprache herausarbeitete, statt sprachtheoretische Grundannahmen aus anderem als Sprache herzuleiten. Damit lieferte er den Unterbau für eine genuine Sprachtheorie, die so im frühen 20. Jhd. nicht nur in Deutschland auch bereit aufgenommen und weitergeführt wurde – in der Auseinandersetzung mit parallelen Ansätzen einer strukturalistischen Sprachwissenschaft vor allem von BÜHLER (s. 5.7., aber auch in Kap. 6 zur Weiterführung dieser Ansätze unter den Bedingungen des Nationalsozialismus).23 Die mit dem Katalog in den Blick genommenen wissenschaftlichen Profile sind entsprechend in unterschiedlichen Horizonten definiert, in einer groben Näherung zu sortieren nach: – der Traditionslinie der traditionellen Philologie, – im Horizont des „völkischen“ Projekts, das Sprache als Ausdruck einer sozialen (historisch bestimmten) Konstellation faßt (zu unterscheiden von den politischen Ausrichtungen dieses Projekts, s. Kap. 6), – als theoretisch ambitionierter Versuch, mit Sprache spezifisch Menschliches (ein zentrales Moment der conditio humana) zu explizieren, – als von solchen Ansprüchen bewußt ferngehaltenen (agnostischen) Bemühungen, Sprachwissenschaft als deskriptives Handwerk zu etablieren. Dabei erhielten die einzelnen Profile ihre besondere Kontur durch ihre Einbindung in professionelle Arbeitsfelder in einer großen Bandbreite: neben der traditionellen Einbindung in den Bildungsapparat ggf. mit der Ausrichtung auf �� 23 BÜHLERs Stigmatisierung einer theoretischen Begriffsverwirrung (bei ihm als Absolventen eines humanistischen Gymnasiums metabasis eis allo genos genannt) behält ihre Aktualität vor dem Hintergrund der derzeit bemühten kognitivistischen Fundierung einer sprachtheoretischen Modellierung, die sich in radikalster Form im generativistischen Programm einer Biolinguistik zeigt. Diese Zusammengänge liegen außerhalb des Horizonts dieses Buchs; sie kommen aber abschließend in Kap. 8 nochmal in den Blick.
30 � Vorüberlegungen eine medizinische oder psychologische Praxis, dabei u.U. fokussiert auf pathologische Erscheinungen, oder auch in Hinblick auf ingenieurswissenschaftlich o.ä. definierte Aufgabenbereiche der „Sprachverarbeitung“, aber auch Tätigkeiten im kulturbewahrenden Feld: im Kontext archäologischer Arbeit, der Tätigkeit in Museen und anderes mehr. Aus diesem fachlichen Konglomerat der älteren Sprachforschung resultieren nicht zuletzt die Zuordnungsprobleme im Katalog bei den in den Blick genommenen Personen, die trotz der Probleme der Repräsentativität stellvertretend für die Fachentwicklung genommen werden können. Bei einer Reihe der biographischen Einträge im Katalog werden diese Fragen ausführlicher diskutiert – und damit auch die heute inneruniversitär dominierende Abgrenzung von Sprach- gegenüber Literaturwissenschaft. Die damit verbundenen Probleme spiegeln sich in den Schriftenverzeichnissen der älteren Fachvertreter – und auch noch der jüngeren, die in dieser älteren Tradition stehen, bei denen die „Kleinen Schriften“ denn auch oft den Titel „Studien zur Sprach- und Literaturwissenschaft“ o.ä. tragen.24 Dagegen steht eine zunehmend dominant gewordene Ausrichtung der jüngeren Literaturwissenschaft, die sich von einer methodischen Bindung an die Analyse der Texte löst. Im Sinne der Orientierung auf die Sprachforschung im umfassenden Sinn werden Fachvertreter, die ihren literarischen Gegenstand in seiner sprachlichen Form modellieren und als Produkt virtuoser Sprachpraxis erweisen wollen, dabei ihre Analysen mehr oder weniger sprachwissenschaftlich fundieren, in den Katalog aufgenommen, s. z.B. HAMBURGER, PERLOFF; vgl. auch Grenzfälle z.B. KLEMPERER, STORFER. Wie fließend die Grenzen waren, zeigt SPITZER, der heute zumeist als Literaturwissenschaftler registriert wird, der aber die Analyse der Literatur als Bestandteil seines ausdrücklich sprachwissenschaftlich verstandenen wissenschaftlichen Projektes betrieb und der insofern als allgemeiner Sprachwissenschaftler einzuordnen ist. Bei ihm kontrastiert allerdings die fehlende formale Ausprägung seiner Arbeiten mit dem heutigen Fachverständnis, wodurch sein Werk noch ein traditionelles Profil hat. Ein Gegenstück dazu ist in der Romanistik KRAUSS, der sich jedenfalls den Ansprüchen einer methodisch kontrollierten Sprachanalyse stellte (auch bei ihm ist daher der Beitrag in dieser Hinsicht detaillierter ausgearbeitet). Bei den Zuordnungsproblemen zu der heutigen disziplinären Aufteilung sind aber immer auch biographische Entwicklungen im Blick zu behalten: der Typus des Wissenschaftlers, der von den frühen Studienjahren bis an das Ende
�� 24 Nur ein Beispiel für viele aus dem Katalog: F.H.MAUTNER, Wort und Wesen. Kleinere Schriften zur Literatur und Sprache. Frankfurt: Insel 1974.
Die Ungleichzeitigkeit fachgeschichtlicher Entwicklungen � 31
seiner wissenschaftlichen Arbeit konsequent in einem abgegrenzten Bereich tätig ist, findet sich nur marginal (ein Beispiel ist der Latinist SKUTSCH, dessen Werk sich von der Dissertation an um den altlateinischen Autor Ennius drehte). Bei einer ganzen Reihe der aufgeführten Personen ist das breite Spektrum der Arbeit den Verschiebungen durch die Lebensumstände geschuldet (besonders durch das Arrangement mit der Vertreibung). Nicht selten ist der Fall, daß eine sprachwissenschaftliche Promotion als Einstieg in die Wissenschaft gefordert war (als Vorgabe des Betreuers), die die Betreffenden danach mit einer literarischen Ausrichtung fortführten, vgl. solche für die Entwicklung von der Sprachforschung zur Sprachwissenschaft marginale Fälle im Katalog wie z.B. BRÄU, GUTKIND, HECHT, LICHTENSTADTER, SIEMSEN. Aber auch die umgekehrten Fälle sind nicht selten, wo jemand wie RITTER über kultur- und literaturgeschichtliche Themen arbeitete und sich zunächst nur im philologischen Sinne mit Fragen der Sprachanalyse befaßte, aber später rein sprachwissenschaftliche Arbeiten betrieb (bei ihm zum Aramäischen, dem Ṭuṛōyo),25 vgl. auch NEUBERGER-DONATH, PULGRAM. Schließlich gibt es eine Reihe von biographischen Verläufen, bei denen eine systematische Sprachforschung eher den materialen Zwängen der Vertreibung geschuldet war (der Notwendigkeit, mit Sprachunterricht den Lebensunterhalt zu sichern), die dann unter späteren, günstigeren Bedingungen wieder aufgegeben wurde. Eine solche äußeren Zwängen geschuldete Ausrichtung auf die Sprachforschung konnte auch unter ganz anderen Bedingungen entstehen: die Arabistin H. KLEIN konnte der Vernichtung wenigstens für eine kurze Zeit entgehen, weil sie 1941 im ‚Reich‘ bei einem als kriegswichtig eingestuften Wörterbuchunternehmen beschäftigt wurde. Eine Sprachforschung der Umstände halber konnte aber auch zu einer Verlagerung des fachlichen Schwerpunktes hin zur Sprachwissenschaft führen, s. MARCHAND oder auch ANSTOCK. Die Aufnahme der Publikationen zu dieser Dokumentation hat gezeigt, daß die disziplinär uneindeutigen Konstellationen offensichtlich auch für heutige Literaturwissenschaftler ein Problem sind (was allerdings auch daran liegt, daß sie sich weitaus mehr als Sprachwissenschaftler mit Fachgeschichte befassen). Der Fall von FRIEDMANN kann in dieser Hinsicht das Problem einer anachronistischen Sichtweise deutlich machen. Ausweislich der romanistischen Sekundärliteratur wird er von den heutigen literaturwissenschaftlichen Fachvertretern ohne weiteres als einer der Ihren behandelt. Aber heute wäre wohl kaum jemand von ihnen bereit (oder in der Lage) dazu, eine deskriptive phonologische Skizze anzufertigen, wie FRIEDMANN es in seinem Béarneser Exil tat. Dieses Bei�� 25 Einer aramäischen Varietät in der Region des Tur Abdin (Ost-Türkei), s. bei RITTER.
32 � Vorüberlegungen spiel ist umso aussagekräftiger, als bei FRIEDMANN nicht ein externer Zwang der Grund war (wie es z.B. der Fremdsprachenunterricht zum Lebensunterhalt bei vielen Emigranten war, die dergleichen auch wieder ließen, sobald es die Umstände erlaubten): für FRIEDMANN war das eine Möglichkeit, seine Ausbildung und sein fachliches Selbstverständnis umzusetzen – das markiert die Zäsur zu heute. Selbst ein Exponent der neuen „Geisteswissenschaften“ wie JAEGER publizierte auch formale sprachwissenschaftliche Studien. In der disziplinär undifferenzierten älteren Tradition steht das, was von einer ganzen Reihe der in diesem Katalog vertretenen Sprachforscher als „direkte Sprachanalyse“ praktiziert wird, vor allem auch provoziert durch die politischen Verhältnisse; sei es defensiv wie bei KLEMPERER, sei es auch mit einem ausdrücklich antifaschistischen politischen Elan wie bei MARCUSE, KRIS u.a. In diesem Sinne ist eben, wie oben schon angesprochen, ein Großteil der älteren Literaturwissenschaft als Sprachforschung zu bezeichnen – allerdings nicht als Sprachwissenschaft. Das gilt auch dann, wenn bei ihnen nicht-literarische Texte Gegenstand der Analyse werden. Darin liegt keine Wertung, erst recht nicht, wenn man einen außerdisziplinären Horizont aufspann. So hatten (und haben) z.B. KLEMPERERs sprachanalytische Arbeiten, angefangen bei seinem „LTI“, dann seine inzwischen veröffentlichten Tagebücher eine enorme Relevanz für den Bildungssektor, wo sie in der DDR auch einen quasi institutionellen Status hatten, inzwischen auch gesamtdeutsch. Sie sind sprachwissenschaftlich längst nicht eingeholt – sie gehören zur Sprachforschung, aber sie sind keine praktizierte Sprachwissenschaft.
2 Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher 2.1 Die Dokumentation im Katalog Die Schwierigkeiten der Recherchen zur Personengruppe der verfolgten bzw. vertriebenen Sprachforscher werden durch die folgenden Ausführungen deutlich. Sie haben dazu geführt, daß der Katalog über die Fälle von Verfolgung/Vertreibung im engeren Sinne hinausgeht. Die Einträge im Katalog können in drei Grobkategorien eingeteilt werden:
A. Die Fälle einer sehr weitgehenden Verfolgung, ggf. Vertreibung: Hierher werden alle Schicksale von Verfolgten gerechnet, die umgebracht wurden, sowie solche, die entlassen wurden und auswandern mußten. Dazu werden auch die Fälle gerechnet, bei denen der Ehepartner verfolgt war, mit dem gemeinsam die Auswanderung erfolgte. Weiter werden die Fälle hierher gerechnet, bei denen die Auswanderung bzw. das Exil gewissermaßen in Antizipation der zu erwartenden Verfolgung praktiziert wurde. Dadurch werden die Abgrenzungen z.T. fließend. Das gilt auch für die ebenfalls hierher gerechnete Gruppe derer, die 1933ff. im Ausland waren und nicht zurückkehren konnten, ohne sich einer Verfolgung auszusetzen. Dabei sind die Voraussetzungen für eine rassistische Verfolgung zwar eindeutig, in den Unterlagen aber nicht immer eindeutig zu fassen. Problematischer ist die Einordnung nach politischer Gegnerschaft, die nur im Falle offener politischer Aktivitäten hier als solche gerechnet wird. In diesem Sinne dokumentiert der Katalog 267 Biographien von Verfolgten, die in der Liste im Anhang mit Sternchen identifiziert sind.
B. Die Fälle einer Verfolgung, die ein Überleben im ‚Reich‘ zuließ: Hier findet sich ein breites Spektrum von mehr oder weniger weitgehender Verfolgung/ Disziplinierung, unterhalb der Schwelle einer förmlichen Entlassung, oft aber mit Konstellationen, die in anderen vergleichbaren Fällen gravierendere Konsequenzen gehabt hätten. Die Bedingungen, bei denen, die sich der weiteren Verfolgung durch die Flucht/ Emigration entzogen (bzw. in den frühen Jahren noch entziehen konnten) – oder aber auch bei denen, bei denen die Verfolgung einen tödlichen Ausgang nahm, sind oft nicht von denen zu unterscheiden, die unter günstigeren Bedingungen im ‚Reich‘ überleben konnten, ggf. auch bei der Wehrmacht eingezogen wurden und u.U. sogar ihre Arbeit
34 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher fortsetzen konnten. Dazu finden sich 35 Fälle im Katalog, die in der Liste im Anhang ebenfalls mit Sternchen identifiziert sind. Bei dieser Teilgruppe handelt es sich um: ANTHES, ARNTZ, BACK, BOSCH, ERKES, FALKENSTEIN, FÖRSTER, GRUMACH, HAFFNER, HETZER, HIRSCH, KAISER, KRAHE, KÜNSSBERG, LENTZ, H. LÜDERS, MERIGGI, NEUMANN,W. POLLAK, H. RANKE, RAUHUT, ROHLFS, SCHMIDT-ROHR, SCHMITT, SCHÜCKING, STAMMLER, TIKTIN, TRUBETZKOY, VATER, VOSSLER, WALTER, F. WILHELM, WÖLFEL, WOITSCH
C. Die Fälle, bei denen eine Verfolgung nicht offensichtlich ist: Aus unterschiedlichen Gründen, die in der Entwicklung des Katalogs begründet sind, sind weitere 39 Fälle im Katalog dokumentiert. Dabei reicht das Spektrum von Fällen, in denen keinerlei Anhaltspunkt für Verfolgung besteht, die aber dokumentiert werden, weil sie in den einschlägigen Quellen (vor allem z.B. den Londoner Listen der „displaced scholars“) auftauchen, über solche, bei denen Entlassungen und andere Formen der Disziplinierung vorliegen, die aber nicht in den politischen Verhältnissen begründet waren (rechtskräftige Verurteilungen wie z.B. bei RITTER oder WAGNER), bis zu anderen, die ohne Verfolgungshintergrund mit den Exilierten die Auswanderungssituation teilten. In einigen Fällen war der Grund, daß sie für eine Tätigkeit im Ausland delegiert wurden (und dann u.U. sogar als Parteigänger des Regimes agierten).1 Da die Hinweise in der einschlägigen Sekundärliteratur die Konstellationen nicht immer deutlich machen (insbesondere nicht in der Anfangszeit der Exilforschung, als ich den Katalogs angelegt habe), sind sie hier mitdokumentiert.
2.2 Profile der Sprachforschung im Katalog Ausgehend von den Dimensionen A – C in dem in 1.4 aufgespannten Feld der Sprachforschung kann die Arbeit der einzelnen Wissenschaftler positioniert werden. Über die individuellen Profile des Katalogs hinaus lassen sich dabei serielle Profile extrapolieren, mit denen die oben schon angedeutete historische Dynamik gefaßt werden kann, die in diesen Katalog eingeschrieben ist. Dabei
�� 1 Die Aufnahme solcher Fälle, etwa des offen rassistisch und auch sonst als Parteigänger des Regimes auftretenden BRINKMANN, ist öfters als Kritik am Katalog vorgebracht worden. Sie ist aber nicht nur in dessen Genese begründet, sondern sie liefert auch so etwas wie Kontrastbiographien zu dessen Kern, weshalb diese auch in der Neuausgabe beibehalten sind.
Profile der Sprachforschung im Katalog � 35
werden im Folgenden neun Profile der Sprachforschung definiert, die auf das bezogen werden können, was dem heutigen professionellen Selbstverständnis der Sprachwissenschaftler entspricht: im folgenden Profil I. Die weiteren Profile lassen sich von heute her durch ihre wachsende Distanz zum Profil I begreifen, so daß die Sprachforschung sich als Feld konzentrischer Kreise darstellen läßt, in denen die einzelnen Vertreter positioniert werden können.2 Aus Gründen, die der Genese des Katalogs geschuldet sind, wird im Sinne von dessen Zerlegung auch noch eine Restklasse als Profil X definiert, die Personen versammelt, die nicht der Sprachforschung zugerechnet werden; auf sie wird exemplarisch bei der Argumentation ebenfalls verwiesen.
�� 2 Dieses Schema hat eine heuristische Funktion für die Auswertung des Katalogs. Es versteht sich von selbst, daß es als systematische Analyse nur auf der Grundlage einer ganz anderen Datenbasis zu rechtfertigen wäre. Allerdings spricht einiges dafür, die alles in allem doch recht große Personengruppe des Katalogs für einigermaßen repräsentativ zu halten. Dafür sprechen auch die (allerdings auch wieder nur vorläufigen) Befunde aus den Vorarbeiten zu einer vollständigen Prosopographie der Sprachforschung in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jhds., die ich in den 1980er Jahren unternommen, dann aber abgebrochen habe (s. das Vorwort), s. dazu Maas (1988c). Dazu gehörten jahrgangsweise Stichproben zu den vorgelegten Dissertationen, die Auswertung von Vorlesungsverzeichnissen einzelner Universitäten u. dgl. Daß das aus dem Katalog extrapolierbare fachsystematische Bild eine gewisse Repräsentativität hat, zeigt der Blick auf die fachlichen Verhältnisse im „Reich“ nach 1933: Besonderheiten gibt es dort nur bei der Gruppe derer, die sich dem Regime mit einer politisierten Sprachwissenschaft anzubiedern versuchten – aus fachsystematischer Sicht sind sie in der Regel nur eine unerhebliche Zeiterscheinung (zu unterscheiden von Parteigängern, deren wissenschaftliche Leistung davon zu trennen ist), s. Kap. 6. Biographien, die unter dem Aspekt der Verfolgung als Irrläufer im Katalog anzusprechen sind, sind in dieser Hinsicht als Kontrastfälle von Bedeutung.
36 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher
Abb. 1: Die Profile der Sprachforschung im Katalog
Geht man aber nicht von einer solchen normativen Orientierung des Feldes aus, die Profil I als orientierendes Zentrum setzt, sondern von der Häufigkeit der Belegung der einzelnen Felder (Profile), so ergibt sich ein ganz anderes Bild, das ein solches Schema als Anachronismus erweist, der den Blick auf die historische Dynamik der Fachentwicklung eher versperrt (vorausgesetzt die Personenauswahl dieses Katalogs wird als repräsentativ für die Fachentwicklung genommen). Die drei Dimensionen A, B und C in Kap. 1.4. spannen einen Raum auf, in dem unterschiedliche Formen der Sprachforschung verortet werden können. Diese lassen sich als verschiedene Ebenen in einem solchen Raum darstellen und durch ihre Verankerung in den drei Dimensionen beschreiben. Für eine schematisierende Darstellung können auf jeder dieser Dimensionen vier Stufen
Profile der Sprachforschung im Katalog � 37
angenommen werden, die in einem Balkendiagramm symbolisiert werden können (bei der Nullstufe sind die Felder leer):
Abb. 2: Schematisierung der Stufen der Forschungsanteile
Die verschiedenen Typen der Sprachforschung lassen sich in einer Schematisierung präsentieren, bei der die Ausprägungen in drei Dimensionen A – C in getrennten Balken dargestellt werden. Viele, wenn nicht die meisten der im Katalog vertretenen Sprachforscher sind allerdings nicht ohne weiteres einer solchen Systematisierung subsumierbar. Um aber die hier dokumentierten Wissenschaftlerbiographien in dem sich polarisierenden Feld der Fachentwicklung positionieren zu können, wird jeder Person im Katalog ein Profil zugeordnet, und zwar dasjenige, das am nächsten bei der neueren Sprachwissenschaft ist (Profil I), also mit der Dominanz der Dimensionen B und gegebenenfalls C. Auf diese Weise kann im Sinne eines Registers jedem Profil eine Namensliste zugeordnet werden. Der realistischere Versuch, die Verhältnisse durch Mehrfachzuweisungen zu repräsentieren, würde im Sinne einer solchen Synopse unübersichtlich. In dieser Hinsicht werden die Verhältnisse in den einzelnen biographischen Artikeln deutlich. Um dennoch die in die Biographien eingeschriebene Dynamik der Fachentwicklung nachzuzeichnen, gebe ich bei den Profilen einige exemplarische Hinweise zu Mehrfachbelegungen: bei der Gewichtung der Profile steht ggf. die Zahl in [ ] für die disjunkte Belegung, entsprechend den Listen unter den Profilen. Dabei werden die Namen von Personen im Katalog, bei denen eine Verfolgung nicht ersichtlich ist, gesondert ausgewiesen; die Zahlenangaben zeigen zuerst die jeweilige Anzahl der Verfolgten, dann in Klammern die jeweilige Gesamtzahl im Katalog. Ich denke, daß für die heutigen Fachvertreter der Sprachwissenschaft, unabhängig davon, ob sie sich mehr der formalistischen Seite oder der empirischen Seite zurechnen, bei C in jedem Fall mindestens ein mittlerer Wert (i.d.R. ein wohl doch darüber liegender Wert) als notwendig angesehen wird. Auch Vertreter der formalistischen Richtung, etwa der Generativen Grammatik, bemühen sich um verdeckte Strukturen der Syntax, was ein Eindringen in die Verhältnisse der empirischen Sprachpraxis verlangt, sodaß hier auch bei A ein mittlerer Wert anzusetzen ist. Der Unterschied zwischen den beiden Optionen der derzeitigen Sprachwissenschaft läßt sich am ehesten bei B ausdrücken, wo diejenigen, die empirische Feldforschung betreiben, aber auch diejenigen, die
38 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher deskriptiv im Bereich der Corpuslinguistik oder etwa von phonetischphonologischen Untersuchungen tätig sind, bei B einen maximalen Wert haben.
Profil I: jüngere (strukturale) Sprachwissenschaft, insgesamt 46 (49)
Abb. 3: Profil I
ARNDT, AUSTERLITZ, H. BIRNBAUM, BLAU, BLOCH, FORCHHEIMER, GALTON, GARVIN, GOETZE, GUMPERZ, HAAS, HERCUS, H. HOENIGSWALD, H. KAHANE, R. KAHANE, LESLAU, E. LEWY, MALKIEL, MARCHAND, MERIGGI, NEHRING, NEUBERGER-DONATH, OETTINGER, POLITZER, W. POLLAK, POLOTSKY, PULGRAM, RABIN, RICHTER, H. B. ROSÉN, H. ROSÉN, SAMUELSDORFF, SANDMANN, SAPIR, SCHAECHTER, E. SEIDEL, SEIDEL-SLOTTY, F. SLOTTY, SELIGSON, H. STEINITZ, W. STEINITZ, TIETZE, TRUBETZKOY, VATER, U. WEINREICH, K. E. ZIMMER. Zusätzlich im Katalog ohne Verfolgungshintergrund: BAADER, KURATH, PENZL. Die Klassifizierung als struktural ist hier im Sinne der Zerlegung des Katalogs zu sehen – nicht im Sinne einer Wertung. Insofern sind dem Profil I auch „schräge“ Fälle wie BAADER subsumiert, bei denen die Beteiligung an der jüngeren Methodendiskussion gegenüber der akademischen „Normalwissenschaft“ den Ausschlag gibt, ähnlich NEHRING. Daher sind bei I auch Fachvertreter eingeordnet, die unter dem Aspekt deskriptiv systematisch ins Werk gesetzter Analysen im Vergleich mit anderen, die hier unter II gruppiert sind, eher blaß erscheinen. Als Sprachwissenschaftler im engeren Sinne können alle diejenigen gruppiert werden, bei denen die Forschung dominant auf die Systematisierung von sprachlichen Befunden ausgerichtet ist, also im weiteren Sinne „deskriptiv“ verfährt. Dominant ist dabei die methodische Dimension (B), bezogen auf eine ausgedehnte Kenntnis im sprachlichen Gegenstandsfeld (A). Bei einer großen Gruppe spielt die theoretische Modellierung (C) anders als bei Profil I keine sonderliche Rolle, wodurch Profile definiert werden können, die von der (struk-
Profile der Sprachforschung im Katalog � 39
turellen) Sprachwissenschaft verschieden sind; sie werden hier als empirische (deskriptive) Sprachforschung zusammengefaßt:
Profil der empirischen (deskriptiven) Sprachforschung (Profile II-IV)
Abb. 4: Profile II-IV
Diesem Profil entspricht im Sinne der wissenschaftstheoretischen Diskussion des frühen 20. Jahrhunderts eine „naive“ Wissenschaft, also eine gelebte wissenschaftliche Praxis, in der die etablierten Verfahren der Disziplin erfolgreich praktiziert werden. Das unterscheidet diesen Typ von I, bei dem die Diskussion sich auf eine Metaebene verlagert und das Verstehen der praktizierten Verfahren in den Vordergrund gerät. Diese Verlagerung im wissenschaftlichen Diskurs wird in der Fachgeschichtsschreibung gerne an Saussure festgemacht. Sie charakterisiert bemerkenswerterweise aber dessen eigene Praxis nicht, sondern nur das, was in seinem postum publizierten Einführungskurs als Reflexionshorizont definiert ist.3 Die praktizierte Sprachwissenschaft war zeitgenössisch selbstverständlich synchron – aber so wie Molières Bourgeois Prosa sprach: ohne es zu wissen. Daß Belegdaten aus verschiedenen Epochen nicht ohne weiteres zusammenzufassen sind, war der Ausgangspunkt für jede philologisch bearbeitete Beschreibung; ERMAN hatte so um 1880 die wissenschaftliche Ägyptologie in Gang gesetzt. Für diese Altvorderen hatten die Schemata, die Saussure in seiner Einführungsvorlesung an die Tafel gemalt hatte, tatsächlich die Trivialität, die Schuchardt dessen pietätvollen Schülern als Papierverschwendung vorwarf.4
�� 3 Saussures publizierten Arbeiten sind in dieser Hinsicht zum großen Teil dem Typ II zuzurechnen, s. den Sammelband seiner Schriften (1922). In Hinblick auf die seit einiger Zeit extensiv betriebene Saussure-Philologie (s. 5.11. zu den erst in jüngster Zeit aufgefundenen und publizierten nachgelassenen Aufzeichnungen [Saussure 2002]) ist festzuhalten, daß fachgeschichtlich der gedruckte „Cours“ einen quasi institutionellen Status hatte (und hat) – der unabhängig von dem ist, was daran „authentischer Saussure“ ist und was Zutat seiner Schüler. 4 Schuchardt (1917) in seiner Rezension des „Cours“; im gleichen Sinne bemerkte auch Bloomfield zur 1922 erschienen 2. Auflage „Most of what the author says has long been ‚in the air‘ and
40 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher Die damalige Standardaufgabe auch für sprachwissenschaftliche Staatsexamensarbeiten: die Sprachform eines Autors bzw. eines Manuskripts zu bestimmen, setzte eine solche diachron begründete Schneidung in synchrone Schnitte voraus. Gerade auch die nicht spektakulären Vertreter in diesem Katalog haben sich mit solchen Arbeiten qualifiziert. Die empirische Sprachforschung kann allerdings sehr unterschiedliche Ausprägungen haben, für die drei verschiedene Profile (II-IV) angesetzt werden, die sich in der hier herausgestellten Typisierung nicht unterscheiden: dominierend ist in diesen das Bemühen um methodische Kontrolle, so daß hierher auch Forscher gehören, die von ihrem Selbstverständnis her keineswegs primär Sprachforscher waren – aber aus diesem Bemühen heraus gewissermaßen Sprachwissenschaftler wurden, ohne es zu wollen: s. etwa BOAS, ERMAN für instruktive Beispiele, die eine strukturelle Verfahrensweise begründeten (und praktizierten), bevor es den Strukturalismus als Programm gab (an dessen institutioneller Verankerung BOAS dann aber maßgeblich beteiligt war). Die Abgrenzung zu I erfolgt durch den Fokus bei methodologisch/theoretisch-modellierenden Fragen, der vor allem so deklarierte „strukturalistische“ Arbeiten (und erst recht solche post-strukturalistischer, generativistischer Provenienz) charakterisiert. Bei denjenigen, die strikt deskriptiv in ihren Untersuchungen verfuhren (wie z.B. E. E. FRAENKEL), wäre die Zuordnung bei einer anderen Gewichtung anders. Die relativ ausführlich dargestellten individuellen fachlichen Profile machen deutlich, wie problematisch solche Etikettierungen sind, die nur als heuristische Grobstrukturierungen Sinn machen: auch jemand wie ROHLFS, der sich ausdrücklich gegen „strukturalistische Neuerungen“ verwahrte, grenzte sich andererseits von junggrammatischer „Faktenhuberei“ ab und subsumierte seine Arbeit unter die programmatische Extrapolation der inneren Form einer Sprache. Die innere Form bildete aber eine direkte Schleuse für die strukturelle Reformulierung der Sprachwissenschaft, s. z.B. hier bei E. LEWY. Die produktivsten Forscher entziehen sich ohnehin meist einer engen Klassifikation. So ist z.B. MENGES auch im Sinne der von ihm selbst emphatisch eingenommenen Position bei II eingeordnet; aber nicht nur, daß er aufgrund seiner extensiven Feldforschungen auch unter III hätte Platz finden können, seine methodisch kontrollierte analytische Argumentation läßt sich auch (gegen den von ihm selbst propagierten Anschein) unter I einordnen (s. ausführlich dazu bei ihm), vgl. auch SPANIER für eine rigide methodische Praxis – jenseits aller
�� has been here and there fragmentarily expressed; the systematisation is his own” (Bloomfield 1924: 318).
Profile der Sprachforschung im Katalog � 41
programmatischer Ausrichtungen. Schließlich konnte sich auch jemand wie GOETZE direkt strukturalistische Verfahren zu eigen machen, ohne deswegen aufzuhören, Altorientalist mit einem primär kulturwissenschaftlichen Gegenstand zu sein; POEBEL konnte mit rigiden (strukturellen) Argumenten GÜTERBOCK kritisieren; insofern könnte er auch zu I gestellt werden.
Profil II: empirische: historisch-vergleichende Sprachforschung, insgesamt 123 (143) ADOLF, ARNTZ, BACH, BACK, BARTHOLMES, BEN-HAJJIM, BERGEL, BIN-NUN, S. BIRNBAUM, BORINSKI, BRÄU, BRAUN, BRAVMANN, BRUNNER, CASKEL, COHN, DEBRUNNER, DOTAN, ELLIOT, ERKES, ERMAN, FALKENSTEIN, FEIST, FIESEL, FÖRSTER, E. D. FRAENKEL, E. E. FRAENKEL, FREUND, T. FUCHS, GLOGAUER, GOLDBERG, M. D. GOLDMAN, GOSHENGOTTSTEIN, GRUMACH, GÜTERBOCK, GUTMANN, HATZFELD, HENNING, HERTZ, HIRSCH, HITTMAIR, IMELMANN, JACOBSOHN, JELLINEK, JOKL, JORDAN, KAHLE, KAISER, KLEIN, KRAHE, F. R. KRAUS, K. KRAUS, P. E. KRAUS, LEHMANN-PIETRKOWSKI, LANDSBERGER, LASCH, LAUFER, LEIBOWITZ, LENTZ, LERCH, LEVY, LEWENT, J. LEWY, LIEBENTHAL, H. LÜDERS, MAAS, MATOUŠ, MENGES, MISH, MITTWOCH, MÜLLER-LISOWSKI, NAUMANN, NEISSER, NEUMANN, PICK, PLESSNER, POEBEL, POKORNY, H. W. POLLAK, E. RAMBERGFIGULLA, F. RANKE, H. RANKE, RECHNITZ, REICHARDT, REUNING, RICE, ROHLFS, ROSENTHAL, G. SACHS, (FEILER)-SACHS, SCHINDLER, SCHIROKAUER, SCHMITT, SCHNEIDER, SCHNITZLER, SCHÜCKING, SCHWARZ, SIEMSEN, SIMON, SKUTSCH, SPANIER, A. SPERBER, H. SPERBER, SPITZER, SPONER, STAMMLER, O. STEIN, STEINDORFF, TEDESCO, TIKTIN, TILLEHANKAMER, TUR-SINAI, WAGNER, WALTER, WEIL, M. WEINREICH, WEISSBACH, F. WILHELM, WOITSCH, WOLF, WOLFF, G. ZUNTZ, L. ZUNTZ. Zusätzlich 20 Personen im Katalog ohne Verfolgungshintergrund: BUCKVANIOĞLU,. H. COLLITZ, K. COLLITZ, DIEHL, FLEISCHHAUER, GROTH, HALOUN, HAVERS, HIBLER-LEBMANNSPORT, HÜBENER, KUTTNER, LENZ, LESSING, VON LINDHEIM, E. LÜDERS, MEZGER, PROKOSCH, SPRINGER, STEUERWALD, ZACH, Die Abgrenzung zu V ist fließend. Der größte Anteil dieser Sprachforscher ist in der damals etablierten akademischen Tradition in den Philologien mit der Bearbeitung von bereits dokumentierten Materialien befaßt: in der Regel schriftlicher Natur, vor allem auch historische Quellen, die systematisch aufbereitet werden. Auf der methodischen Seite dominiert in diesem Zeitraum noch das „junggrammatische“ Vorgehen im weiteren Sinne, also die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft. Ein Übergangsfeld zu I zeigt sich besonders bei denjenigen, die explizit synchron-deskriptiv ihren Gegenstand bearbeiten, nicht selten auch mit Rückgriff auf die instrumentelle Phonetik. Hier wird oft sogar eine explizite Abgren-
42 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher zung gegen „synoptische“ historische Verfahren artikuliert, die direkt Erklärungen in einem entsprechend heterogenen Corpus suchen, s. ERMAN, E. E. FRAENKEL, H.W. POLLAK. Die Abgrenzung zu I liegt hier in der Dimension C: bei diesen Sprachforschern dominiert der zünftige Umgang mit den sprachlichen Quellen: es fehlt die für die jüngere „strukturalistische“ wie „poststrukturalistische“ Diskussion so charakteristische theoretische und methodologische Reflexion, die nicht selten dazu führt, daß empirische Sachverhalte nur noch als Beispiel für systematische Argumentationen dienen. E. RICHTER ist ein solcher Grenzfall, der in Hinblick auf die in vielen (nicht allen!) ihrer Arbeiten greifbare methodologische Reflexion zu I gerechnet werden könnte: als ein Fall von „Protostrukturalismus“, auch wenn ihre Arbeitsweise und der Umgang mit dem Belegmaterial sie eher als Vertreterin der traditionellen junggrammatischen Schule ausweist (also Typ II), vgl. auch SIMON. Sprachforscher, die in methodischer Hinsicht ihre Wissenschaft i.S. von II betrieben, konnten in anderer Hinsicht ausgesprochen modern sein, aber dann eher in methodisch wenig kontrollierten Feldern, auf denen sie in der Fluchtlinie von IX operierten, z.B. SCHIROKAUER.
Profil III: deskriptive (ethnographische) empirische Sprachforschung, insgesamt 7 [3] (10) BOAS, STEINER sowie aus Profil I noch HERCUS, LESLAU, aus Profil II noch RICE, ROHLFS, WAGNER. Zusätzlich 3 Personen im Katalog ohne Verfolgungshintergrund: BRAUNERPLAZIKOWSKY, GABAIN, JUNKER. Bei Profil III ist die empirische Ausrichtung eindeutig deskriptiv – mit einer Übergangszone zu Profil I. Dem entsprechen vor allem Forschungspraktiken, die in mehr oder weniger teilnehmender Beobachtung die Daten erst erheben und ethnographisch dokumentieren, wobei dann die methodische Kontrolle ein Maximum hat. Trotzdem ist auch hier das Übergangsfeld zu den Vertretern der älteren empirischen Tradition (II) fließend, vor allem bei denen, die ihre Wissenschaft emphatisch „mit dem Stock in der Hand“ betrieben, s. etwa RICE, ROHLFS, WAGNER.
Profil IV: angewandte empirische Sprachforschung, insgesamt 12 (15) ARONSTEIN, A. BIELER, EISLER, FILLENBAUM, HOMBERGER, JACKSON, LENNEBERG, PIASEK, RECHTSCHAFFEN, REIFLER, WALZ, WEINER.
Profile der Sprachforschung im Katalog � 43
Zusätzlich 3 Personen im Katalog ohne Verfolgungshintergrund:5 DOEGEN, HORN, PETERS. Im formalen Sinne des empirisch definierten Arbeitens haben ein strukturell analoges Profil die Arbeiten mit einem ausgesprochen angewandten Zuschnitt, die sich etwa im (fremd-) sprachlichen Feld finden, bei denen eher psychologische als sprachwissenschaftliche Methodenfragen im Vordergrund stehen. Wie auch bei III liegt die Abgrenzung zu II vor allem im nicht (primär) historisch verstandenen Gegenstandskonzept – auch wenn die älteren Fachvertreter ihre Ausbildung selbstverständlich im Horizont von II absolviert hatten und in diesem Feld z.T. auch nach der Promotion noch aktiv waren (ARONSTEIN könnte auch bei Profil II eingeordnet werden). Auch die Wahl des sprachlichen Gegenstandes entspricht hier dem Versuch des Ausbruchs aus dem (historischen) philologischen Horizont, deutlich bei der Wahl einer modernen gesprochenen Sprache, insbes. des Englischen.6 Damit verbunden waren aber auch ganz andere Professionalisierungsbereiche, angefangen bei dem neuen Schultyp der Realgymnasien, der außerschulischen Dolmetscherausbildung, und schließlich in fachlicher Hinsicht die Beschäftigung mit Fachsprachen, s. hier RICHTER, JORDAN, GUTTMANN (-MARLE), vgl. auch HATZFELD, HIBLER-LEBMANNSPORT, HOMBERGER, , mit fließenden Übergängen zu dem weiten Feld der Sprachpflege, s. auch bei BACK, BEN-HAJJIM, LESLAU, RECHTSCHAFFEN, LENZ, H. R. KAHANE, HIRSCH, BRUNNER. Dem trägt die Sortierung hier nicht Rechnung. Die ältere Diskussion vor dem Zweiten Weltkrieg war dabei von dem Bestreben bestimmt, aus der „synchronen“ Gegenwartsanalyse einen Gegenstand zu extrapolieren, der einen kulturellen Rang hatte. Das spannte das problematische Feld der kulturkundlichen Argumentation auf, an dem auch einige der hier Aufgeführten partizipierten wie insbes. ARONSTEIN, s. weiter hier bei den Neuerern (s. 5.9.). Von den jüngeren Fachvertretern werden hierher auch die Psycholinguisten gerechnet, soweit sie ihre Forschung in einem solchen Anwendungsbereich definieren, sowie generell sprachdidaktische Arbeiten. Im Sinne der �� 5 Bei HORN war es mir leider nicht möglich, die nötigen biographischen Informationen einzuholen. Insofern erfolgt die Einordnung nur per default. 6 In institutioneller Hinsicht bildet hier die Etablierung der „neusprachlichen Philologien“ den Horizont, die mit der durchgesetzten Umstrukturierung der Universitäten (der Einrichtung von Seminaren) im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ihren sichtbarsten Ausdruck fand. Dem entsprachen auch Verbandsaktivitäten, allen voran in der schon 1857 (von F. Ch. L. Herrig) gegründeten Berliner Gesellschaft für das Studium der Neueren Sprachen mit ihrem Organ, dem „Archiv für das Studium der Neueren Sprachen“ (seit 1846), s. bei ARONSTEIN, TIKTIN.
44 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher Zerlegung des Katalogs werden unter Profil IV auch jüngere Fachvertreter subsumiert, die an strukturalen (bzw. an generativistischen) Ansätzen ausgerichtet sind und insofern auch unter Profil I gefaßt werden könnten (z.B. FILLENBAUM). Hierher könnten auch die mehr ingenieurswissenschaftlichen (computerlinguistischen) Ansätze gerechnet, soweit sie nicht aufgrund eines ausgesprochen theoretischen Zuschnitts zu VI genommen werden, s. OETTINGER (hier bei I) oder REIFLER (hier bei VIII).
Profil V: Sprachforschung bei Philologen/Literaturwissenschaftlern, außer II, insgesamt 53 (60)
Abb. 5: Profil V
AUERBACH, BACON, BÄUML, L. BIELER, BONHEIM, BRANDT, FALK, E. D. M. FRAENKEL, H. F. FRAENKEL, FRIEDMANN, VON FRITZ, FUKS, B. GEIGER, GOLDSCHMIDT, GUTKIND, HAFFNER, HAMBURGER, HECHT, HEIMANN, HERZOG, G. (SCHÖPFLICH-) HOENIGSWALD, JAEGER, W. KRAUSS, LATTE, LEHMACHER, LEO, LICHTENSTADTER, MAUTNER, NORDEN, OELLACHER, OLSCHKI, OPPENHEIM, PERLOFF, PFLÜGER, REICHENBERGER, RITTER, ROHDE, ROSENBERG, RUBEN, SCHAEFFER, SCHEFTELOWITZ, SCHELUDKO, SCHERMAN, E. SCHLESINGER, G. SCHLESINGER, R. A. STEIN, STEVENS, STOESSL, STRAUSS, THIEBERGER, VOSSLER, WEINBERG, H. ZIMMER. Zusätzlich 7 Personen im Katalog ohne Verfolgungshintergrund: BRINKMANN, W. FUCHS, HEYD, KRAUSE, MENZEL, VON DEN STEINEN, STRAUBINGER, Dieses Profil ist durch eine ausgeprägte methodische Kontrolle (B) charakterisiert, mit mehr oder weniger großem interpretatorischen Bemühen um die Texte (A), aber ohne jede formale Modellierung (C). Das ist das Profil aller philologisch arbeitenden Sprachforscher, die ihre Beschäftigung mit der sprachlichen Form als instrumentelle Seite der Arbeit an interpretativen Fragen sahen, wie es eben für die traditionellen Philologien (nicht nur, aber insbesondere die Klassische Philologie) definierend war. Im gesamten Werk dieser Personen ist die Sprachforschung insofern eher ein Begleitaspekt, so daß Profil V vor allem do-
Profile der Sprachforschung im Katalog � 45
minant literaturwissenschaftlich Tätige charakterisiert, bei denen der methodische Aspekt der Sprachforschung nachgeordnet ist. Die ausgeprägten Sprachforscher in dieser Tradition haben bei A einen geringeren Wert, so etwa Lexikologen wie LATTE; jüngere Fachvertreter partizipieren an den methodischen Diskussionen und haben hier dann bei B einen mittleren Wert. Wenn zumindest einige der Arbeiten ein ausgesprochen sprachwissenschaftliches Profil haben wie z.B. bei RICE, werden diese Personen unter II subsumiert. So zeigt sich hier wieder ein breites Übergangsfeld. Einige, vor allem auch ältere Philologen mit diesem Profil, konnten durchaus auch rein sprachwissenschaftliche Arbeiten vorlegen, auch wenn diese in ihrem gesamten Werk einen eher marginalen Status hatten (wie z.B. bei JAEGER). Wo solche Arbeiten dominieren (etwa bei SPITZER), wird Profil II angesetzt. Bei Profil V stellt sich das Abgrenzungsproblem gegenüber der Literaturwissenschaft in den sich ausdifferenzierenden Philologien. Ältere Literaturwissenschaft war notwendig Philologie, hatte also bei der Dimension A in der Regel auch einen fremdsprachlichen Gegenstand, s.o. Hier kam es an den Universitäten erst spät mit der Einrichtung der Seminare zu einem Umbruch, die mit der Vorgabe von engeren Zuständigkeitsbereichen bei den Fachvertretern verbunden waren. In den großen Fächern hatte diese Umorganisation die Konsequenz, daß auch die Ausbildung bzw. die Profilierung der künftigen Kandidaten für die entsprechenden Stellen enger geführt wurde. Aber bis zum Ende des Untersuchungszeitraums war es auch in einem großen Fach wie der Germanistik, erst recht in fremdsprachlichen Fächern wie der Romanistik und Anglistik, nicht möglich, eine Professur zu erhalten (in der Regel auch nicht zu habilitieren), wenn nicht ein Ausweis in Sprach- und Literaturwissenschaft gegeben war. Die Auflösung dieser Klammer ging vor allem auf die Vertreter der (neueren) Literaturwissenschaft zurück, die sich der Bindung an die Sprachwissenschaft entziehen wollten – was ihnen letztlich erst Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts mit der Bildungsreform gelungen ist, die die Rolle der alten Abteilungen in diesen Fächern zurückbaute, s. 5.5. In der ersten Hälfte des 20. Jhds. hing es von den Konstellationen an den jeweiligen Fakultäten ab, wieweit dort Literaturwissenschaftlern Konzessionen gemacht wurden: meist reichte der Nachweis einer Edition, gegebenenfalls auch die Herausgabe eines Übungsbuchs mit Texten und Erläuterungen, u.U. sogar auch nur ein sprachlich ausgerichteter Habilitationsvortrag für einen solchen Nachweis, s. hier KLEMPERER, RAUHUT, die daher auch nicht unter V, sondern unter IX eingeordnet werden. Aus dieser Verschiebung resultiert heute insbesondere in der „muttersprachlichen“ Germanistik ein Typus, der nicht mehr mit der Sprachwissenschaft kompatibel ist und dessen Vertreter sich auch explizit von dieser abgrenzen.
46 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher Profil VI: theoretische Sprachforschung (formale Modellierung/ Sprachphilosophie), insgesamt 9 [8]
Abb. 6: Profil VI
BAR-HILLEL, K. BÜHLER, CARNAP, CASSIRER, R. HOENIGSWALD, HUSSERL, MODRZE, REICHENBACH; HIERHER AUCH SAMUELSDORFF (I). Theorieorientierte Arbeiten haben in der Regel nur einen sehr indirekten Bezug zur sprachlichen Vielfalt; wo es sich um rein formale Arbeiten handelt, lassen sich entsprechend bei A und B eher die Werte 0 ansetzen. Ein Beispiel ist HUSSERL, in dessen Werk keine empirisch interessanten Aussagen der Sprachforschung zu finden sind, dessen Überlegungen aber die Grundlage für die neuere Grammatiktheorie bilden und dessen sprachtheoretische Reflexionen in seinem Spätwerk noch nicht eingeholt sind. In gewisser Weise gilt das auch für jemanden wie CARNAP, nicht allerdings für jemanden wie REICHENBACH oder BARHILLEL, die sich ausdrücklich auch um empirisch interessante Probleme in der Sprache bemühten, so daß bei ihnen in jeden Fall auch bei A ein mittlerer Wert angesetzt werden muß (im Schema grau bei A, da nur optional in Profil VI). Unter das Profil VI werden Fälle subsumiert, die ansonsten sehr verschieden in ihrem Verhältnis zur neueren Sprachwissenschaft (Profil I) sind. Dieser könnten sie auch zugerechnet werden, wenn sie sich direkt an den Grundlagendiskussionen beteiligten, wie BÜHLER oder BAR-HILLEL; ähnlich ist es bei CARNAP, mehr noch bei REICHENBACH, die auf einer metatheoretischen Ebene konstitutiv für die jüngere (formale) Entwicklung gewesen sind. Andere sind dagegen ohne direkte Verbindung zu ihr, vor allem ohne ein vergleichbares methodologisches Fundament etwa CASSIRER. Theoretische Modellierung impliziert eine Idealisierung des Gegenstandes, s. 5.7. Insofern ist Typ VI zwangsläufig der Gegenpol in diesem Feld zu II/III; deutlich auf den Punkt gebracht ist das bei HUSSERL und auch mit den heute üblichen formalen Darstellungsmitteln bei REICHENBACH. Nur in diesem Sinne gehört auch CARNAP hierher. Von hier aus konnte allerdings sekundär eine eigene „angewandte“ Empirie freigesetzt werden. Das gilt insbesondere für diejenigen, die sich um eine computerlinguistische Implementierung solcher Modellie-
Profile der Sprachforschung im Katalog � 47
rungen bemühten: BAR-HILLEL oder SAMUELSDORFF (der daher auch zu Profil I gerechnet wird). Ein solcher Anwendungsbezug liegt auch psychologischen Modellierungen zugrunde wie bei BÜHLER. Hier ergeben sich z.T. fließende Übergänge zu psycholinguistischen Arbeiten bei IV. Die eher „spekulativ“ verfahrenden Arbeiten mit einem unmittelbaren (disziplinär wenig kontrollierten) Bezug zur empirischen Anschauung (CASSIRER, R. HOENIGSWALD) haben dagegen ein Gegenstück in VIII. Insofern gibt es auch Abgrenzungsprobleme zu Profil VIII.
Profil VII: Sprachforschung in nicht-philologischen Disziplinen, außer VI, insgesamt 35 (36)
Abb. 7: Profil VII
ALBU-JAHODA, ANHEGGER, ANSTOCK, ANTHES, ARGELANDER, BABINGER, BOSCH, C. BÜHLER, DEUTSCH, FREUDENTHAL, FRÖSCHELS, GELB, TH. GEIGER, E. GOLDMANN, GOLDSTEIN, GUTTMANN, HERZFELD, HETZER, KOPPERS, KRIS, KÜNSSBERG, LAZARSFELD, PACHTER, ROSTHORN, SELZ, H. SPEIER, SPITZ, C. STERN, W. STERN, STORFER, WEIGL, WERNER, H. WILHELM, WITTEK, WÖLFEL. Zusätzlich noch im Katalog ohne Verfolgungshintergrund: BOSSERT. Auch hier ist die Frage der Grenzziehung durch die Orientierung am Profil I bestimmt. Außersprachwissenschaftliche Sprachforschung ist vor allem durch einen holistischen Sprachbegriff bestimmt, der Sprachliches mit Außersprachlichem (Psychischem, Sozialem etc.) korreliert (oben in 1.4. als Makro-Einstellung charakterisiert). Konstitutiv für die Sprachwissenschaft, explizit so bei jüngeren struktural definierten Arbeiten (Profil I) wie bei älteren, die dergleichen meist nur praktizierten, nicht aber explizit reflektierten (Profil II-IV), ist das methodische Bemühen um die Kontrolle des Vorgehens, das zu einem Auffächern des Sprachlichen in verschiedene Gegenstandsbereiche zwingt. Das unterscheidet z.B. sozialwissenschaftliche Sprachforschungen, auch da, wo sie explizit sprachliche „Daten“ codieren und quantifizieren, von „soziolinguistischen“: insofern sind Vertreter wie DEUTSCH, ALBU-JAHODA, LAZARSFELD
48 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher u.a. unter VII subsumiert, aber GUMPERZ unter I. Zu einer ähnlichen Problematik bei dem unter anderen Prämissen isolierten theoretischen Profil VI s. dort. Bemerkenswert sind hier die fließenden Trennlinien gerade bei denjenigen, die für die neuere Sprachwissenschaft richtunggebend waren wie BOAS. In systematischer Hinsicht bemühte er sich um eine Kulturtheorie, die er als Physiker aus geisteswissenschaftlichen Gefilden herunterholen und „bodennäher“ entwickeln wollte, andererseits aber von biologistischen Prämissen freimachen wollte. Die Auseinandersetzung mit Sprachstrukturen erhielt für ihn einen besonderen Stellenwert, weil er hier einerseits Veränderungen in Zeitfenstern analysieren konnte, die mit der langen Dauer biologisch-genetischer Veränderungen inkompatibel waren, andererseits Übereinstimmungen zwischen Sprachgemeinschaften feststellen konnte, die ethnisch (genetisch) verschieden waren. Damit sprengte er die Konzeption der zeitgenössischen historischvergleichend orientierten Sprachwissenschaft – wie er auch in methodischer Hinsicht die Grundlagen für ein deskriptives Vorgehen klärte. Insofern gehörte er gewissermaßen zu VII, könnte aber auch unter VI (ohne allerdings eine formale Modellierung angestrebt zu haben) oder auch zu I gerechnet werden, während ich ihn hier unter III gruppiert habe. Aufgenommen in den Katalog sind schließlich Vertreter einer „direkten“ Sprachforschung, die ohne Brechung durch die methodischen Vorgaben disziplinärer Forschung operiert und weitgehend die Begrifflichkeit der schulischen Sprachreflexion (des Grammatikunterrichts) fortschreibt:
Profil der „direkten“ Sprachforschung (Profile VIII und IX)
Abb. 8: Profil VIII-IX
Dabei können zwei Profile unterschieden werden: Profil VIII: spekulative direkte Sprachforschung, insgesamt 9 [7] Hier sind sprachtheoretisch ambitionierte Entwürfe versammelt, die einen sehr unterschiedlichen Zuschnitt haben können, wie bei BENJAMIN, BLISS, MARCUSE, KORSCH, HOMEYER, SCHMIDT, SCHMIDT-ROHR; hierher auch H. FRAENKEL (V), der
Profile der Sprachforschung im Katalog � 49
auch grammatiktheoretische Überlegungen angestellt hat, sowie REIFLER (IV). Auf die vor allem mit HUSSERL ins Werk gesetzte systematische sprachtheoretischen Reflexion bezogen (s. bei diesem) bleiben diese Ansätze in einer „natürlichen“ Einstellung zur Sprache und spielen das Sprachspiel nur weiter: insofern hat hier vor allem die Dimension C keine Ausprägung. Derartiges findet sich aber auch bei Fachvertretern, die ansonsten von ihrem Werk her ein anderes Profil zeigen, vgl. auch FIESEL (II).
Profil IX: empirische direkte Sprachforschung, insgesamt 12 [11] (13) Darunter sind diejenigen gruppiert, deren Überlegungen an konkrete sprachliche Beobachtungen anschließen – mehr oder weniger ungebrochen in Fortschreibung von schulisch (schulgrammatisch) Gelerntem, oft auch in explizit didaktischer Anwendung: BORNEMANN, CUNZ, ENGEL, FLUSSER, FREUD, GAEDE, HALPERT, HESSE, KLEMPERER, LOOSE, RAUHUT, STOESSL Zusätzlich noch im Katalog ohne Verfolgungshintergrund: FAHRNER. Ein solcher direkter Durchgriff charakterisiert auch zumindest die frühen Arbeiten von REIFLER (VIII), der ohne eine systematische sprachwissenschaftliche Ausbildung zur Sprachanalyse gekommen ist, obwohl er später dann mit seinen Arbeiten zur maschinellen Übersetzung einen anderen Zuschnitt hat und deswegen hier auch bei IV eingeordnet ist. Sein frühes Profil IX wird deutlich bei dem Niederschlag, den seine entsprechenden Überlegungen bei BLISS (VIII) gefunden haben. Hierher gerechnet werden auch Literaturwissenschaftler, die aufgenommen wurden, weil sie sich mit sprachdidaktischen Fragen befaßt haben, z.B. auch an Sprachlehrwerken mitgearbeitet haben, ohne aber eigene (an der Fachentwicklung kontrollierte) Forschungen in diesem Feld durchgeführt zu haben (anders als bei Profil IV); auch sie griffen dabei mehr oder weniger auf das Schulwissen zurück (GAEDE, HALPERT, HESSE). Liegen bei dieser Gruppe die Abgrenzungsprobleme darin, daß hier Menschen mit Sprachforschung befaßt waren, die in dieser im professionellen Sinne nicht zuhause waren, so gibt es auch den umgekehrten Fall. RECHNITZ war ein „professioneller“ (und ambitionierter) Philologe/ Sprachforscher, der später als Missionar ohne disziplinären Bezugsrahmen sprachliche Fragen als Autodidakt anging, die sich in seiner beruflichen Arbeit mit australischen Aboriginees stellten – und sie auch schriftlich dokumentierte. Profil IX markiert den kritischen Fall für die Abgrenzung von Sprachforschung zur Sprachwissenschaft, wofür schon in 1.1. das Übergangsfeld zur literarischen Sprachreflexion angesprochen wurde. Als Übergangsfeld zeigt es sich nicht zuletzt da, wo eine ganze Reihe von Fachvertretern im Katalog Karl Kraus
50 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher als denjenigen nennen, der für ihre Motivation, ein sprachliches Fach zu studieren, maßgeblich war, s. z.B. in Profil V z.B. BÄUML, PERLOFF.
Profil X: keine Sprachforschung, insgesamt 7 (8) Aus unterschiedlichen Gründen sind eine Reihe von Personen in den Katalog aufgenommen worden, die auch in diesem ausdifferenzierten Sinne nicht zur Sprachforschung gerechnet werden (zu den Gründen s. die einzelnen Artikel). Probleme stellen sich hier vor allem bei Literaturwissenschaftlern, die mit ihrem Gegenstand unvermeidlich auch Sprachfragen im Blick haben, vor allem dann, wenn die behandelten Autoren solche selbst thematisiert haben wie z.B. bei den deutschen „Klassikern“. Wenn aber ein Autor wie Schiller so nur paraphrasiert wird wie bei JOLLES, fällt das nicht unter Sprachforschung, vgl. damit jemand wie HAMBURGER (hier bei Profil V), die diesen Fragen in ihrem Werk theoretisch nachgegangen ist.7 Im Sinne der Systematik eines Registers werden die entsprechenden Personen unter ein eigenes Profil X subsumiert: BENTON, KRONIK, LEHNER, H. LEWY, MUCHOW, WITTFOGEL, VOEGELIN. Zusätzlich noch im Katalog ohne Verfolgungshintergrund: JOLLES,
2.3 Die Dynamik im Feld der Sprachforschung Geht man von der oben in 2.2. postulierten polarisierten Feldstruktur der Sprachforschung aus, mit dem heute „aktuellen“ Profil I als Zentrum und den weiteren praktizierten Forschungstypen in wachsender Distanz dazu, können die Forschungstypen im Katalog darauf abgebildet werden. Es zeigt sich, daß die registrierten Häufigkeiten (Belegungen der Profile im Katalog) mit dieser Feldstruktur nicht kongruent sind. Bei allen Vorbehalten gegenüber der fraglichen Repräsentativität der Population im Katalog spiegelt sich darin eine Verschiebung in der Sprachforschung, entsprechend der Herausbildung und institutionellen Festigung einer professionellen Sprachwissenschaft – eine Kontrolle dieser Befunde an einem größeren Datenbestand (möglichst an einer Prosopographie der Sprachforschung in diesem Zeitraum) bleibt ein Desiderat.
�� 7 Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht nicht zuletzt Schillers Korrespondenz mit Humboldt, die aber – soweit ich sehe – hier nicht bearbeitet wird.
Die Dynamik im Feld der Sprachforschung � 51
Mit den numerischen Angaben der Häufigkeiten ergibt sich das folgende Bild für die Verhältnisse im Katalog, angeordnet nach wachsender Größe, in Klammern die ggf. kleinere Anzahl der Verfolgten; in Hinblick auf die oft problematische Zuordnung bei der oben zugrunde gelegten Schneidung sind hier einige Profile gebündelt:
Abb. 9: Anteile der Profile im Katalog
Die Größenverhältnisse sind von der Ausweitung der Einträge im Katalog über die Fälle von Verfolgung hinaus also nicht betroffen. Die neue Orientierung im disziplinären „Weltbild“ mit Profil I im Zentrum, die oben bei der Gliederung der Profile zugrunde gelegt wurde, spiegelt sich nicht überraschend in diesem Katalog als Verlagerung des Zentrums: zeitgenös-
52 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher sisch bildete Profil II das Zentrum, mit einer engen Peripherie in Profil V. Allerdings müßte hier weiter nach den im Katalog konfundierten verschiedenen Generationen differenziert werden: etwa im Hinblick auf den Zeitpunkt der Promotion vor 1920, vor 1940, nach 1940, wodurch Profil I noch weiter in die Peripherie rücken würde. Derartige feinkörnigere Auswertungen sind anhand des Katalogs möglich. Die systematisch interessante Frage ist allerdings, ob die so deutliche Verschiebung in der Ausrichtung der Sprachforschung auf ein fachliches Selbstverständnis im Sinne von Profil I auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten als Gewinn zu sehen ist. Auf die damit gestellte Frage, was denn Sprachwissenschaft ist, komme ich am Ende (Kap. 8) zurück.
2.4 Die Ausdifferenzierung der philologischen Fächer 2.4.1 Die traditionelle philologische Einheit Die professionelle Ausdifferenzierung der philologischen Fächer wurde oben schon als Problem der disziplinären Zuordnung angesprochen. Für die fachliche Einheit (und das Selbstverständnis der älteren Fachvertreter) blieb noch lange in den Untersuchungszeitraum hinein das Fachverständnis bestimmend, das Boeckh in der Mitte des 19. Jhds. kanonisiert hatte (Boeckh 1877); die Arbeit an der sprachlichen Form: von der lautlichen Form, z.B. in der Metrik, über die Grammatik bis hin zur Stilanalyse, war der notwendige Sockel für jede interpretierende Arbeit. Philologie war in diesem Sinne auf die Herstellung und Bewahrung der überlieferten Texte ausgerichtet: nicht nur literarischer Texte, sondern mehr noch theologischer, juristischer, historischer usw. Das war ohne ein sprachwissenschaftliches Studium unmöglich, und in diesem Sinne ist ein solches Fachverständnis für die meisten Vertreter philologischer Fächer (oder deren Nachfolger) auch bis heute bestimmend – mit Ausnahme der neueren Literaturwissenschaft, für die der Zugang zu ihren Texten keine eigenen Anforderungen stellt. Bei den „exotischen“ Fächern ist es ohnehin selbstverständlich, daß ein gründliches sprachwissenschaftliches Studium auch die Voraussetzung für diejenigen ist, die z.B. einen historischen Forschungsschwerpunkt haben. Ein anderes Fachverständnis konnte erst da zur Geltung kommen, wo es im Kern des Faches nicht um die Überlieferung von Texten ging. Die heutige Gliederung der großen sprachlichen Massenfächer mit der Dominanz der Literaturwissenschaft ist geradezu spiegelverkehrt zur Struktur der philologischen Fächer bis ins frühe 20. Jhd.: dort war die interpretierende Beschäftigung mit Texten gewissermaßen nur ein Nebenaspekt (wenn auch oft als Krönung der philologischen Arbeit verstanden); sie qualifizierte insbesondere
Die Ausdifferenzierung der philologischen Fächer � 53
nicht für die Position eines Hochschullehrers (und reichte auch nicht für eine Habilitation); in Kap. 5 gehe ich auf diese Umpolung der Fachstruktur systematischer ein, die gewissermaßen die Kehrseite davon ist, daß im dominierenden heutigen Selbstverständnis der Sprachwissenschaft die kulturanalytische Bestimmung des Gegenstands preisgegeben ist, mit der die traditionelle Philologie beerbt werden konnte. Dieser Prozeß wird im Katalog direkt sichtbar, der mit einem relativ breit gestreuten Feld unterschiedlicher Fachvertreter zeigt, wie sich die Neuorientierung des Faches phasenverschoben in den einzelnen Disziplinen durchgesetzt hat: durchweg ist das erst nach dem Weltkrieg erfolgt.8 Entsprechend ist in vielen Fällen im Katalog die Einordnung als Sprach- oder Literaturwissenschaftler nicht möglich: die Grenze zwischen Sprachforschung und Literaturwissenschaft war hier durchlässig (soweit man überhaupt von einer solchen sprechen will).
2.4.2 Vergleichende Sprachwissenschaft Die vergleichenden Sprachwissenschaftler (i.d.R. Indogermanisten)9, sind de jure für die damalige Zeit die alleinigen professionalisierten Sprachwissenschaftler – wobei sie als Bedingung für eine reguläre Professur meist eben doch einen philologischen Aufgabenbereich mitzubetreuen hatten: zumeist entweder i.S. der �� 8 Instruktiv für die disziplinäre Ausdifferenzierung ist die Teilnahme an den Internationalen Linguistenkongressen seit 1928, die gewissermaßen emblematisch für die Professionalisierung des Fachs fungieren. Für den Anfang September 1939 in Brüssel geplanten 5. Kongreß wurde unter der „Führung“ des Berliner Baltisten Georg Gerullis eine deutsche Delegation von 21 Teilnehmern gebildet, der überwiegend traditionelle Fachvertreter der Philologien angehörten, u.a. in der Indogermanistik der Gräzist Schwyzer, in der Germanistik der Volkskundler Schwieters, in der Romanistik Reichenkron, in der Japanologie W. Gundert – neben den eindeutigen Fällen der Afrikanisten, Phonetiker u.a. (für eine Kopie des entsprechenden Erlasses des REM vom 30.6.1939 danke ich Herrn Kollegen Worm, Hamburg). Zur Vorgeschichte dieses durch den Kriegsausbruch nicht zustande gekommenen Kongresses, s. Weisgerber (2009) – mit Unterlagen aus dem Nachlaß seines Vaters Weisgerber; s. auch in Abschnitt 2.6.1. 9 Zur Terminologie: der Terminus indogermanisch (abgekürzt idg.) ist nur im deutschen Sprachraum üblich, international spricht man (in der jeweiligen Sprachform) von indoeuropäisch (abgekürzt ie.). Außer da, wo es um institutionelle Benennungen geht, folge ich dem internationalen Sprachgebrauch. An dem verwendeten Terminus liegt ansonsten nichts: beide Termini sind problematisch, wenn sie die geographische Verteilung Ost – West spiegeln sollen: indogermanisch stimmt weder bei dem östlichen Pol (Tocharisch ist weiter östlich als Indien überliefert), noch bei dem westlichen, der von keltischen Sprachen eingenommen wurde. Bei indoeuropäisch kommt hinzu, daß Europa nicht der Raum von ausschließlich ie. Sprachen ist...
54 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher angesprochenen Arbeitsteilung in der klassischen Philologie (s. z.B. DEBRUNNER, E. E. FRAENKEL, HAVERS, wohl auch JACOBSOHN, vgl. auch WALTER) oder Sanskrit/Indologie, s. 5.3. Vergleichende Sprachwissenschaftler mit einem Arbeitsschwerpunkt, der nicht als philologisches Fach institutionalisiert war, konnten es in der Regel nicht zu einer ordentlichen Professur bringen; sie hatten z.T. schon Schwierigkeiten bei der Habilitation bzw. der Erlangung einer a.o. Professur, s. die Iranisten TEDESCO, HENNING; vgl. auch E. LEWY. Für bestimmte Bereiche gab es nur ein einziges Ordinariat im deutschsprachigen Raum wie z.B. für die Keltistik in Bonn, s. HERTZ (vgl. die marginale Position von POKORNY); s. außerdem noch MEZGER und NEHRING mit einem vergleichenden germanischen Schwerpunkt. Ohne universitäre Anstellung waren FEIST, L. ZUNTZ. Z.T. waren solche Randgebiete in Verbindung mit einer Bibliothekarstätigkeit möglich, s. H. COLLITZ, JOKL (Albanologie). Die Neuausrichtung des Faches auf methodologische Fragen erfolgte im letzten Viertel des 19. Jhd., verbunden mit dem, was als „Junggrammatik“ in den Handbüchern firmiert, s. 5.4. Vor diesem Hintergrund ist die sehr unterschiedliche Offenheit der Fachvertreter für die methodisch neueren Debatten, insbes. die strukturalistischen Ansätze zu sehen, die von vielen individuellen Faktoren abhing. Hier führte die Emigration zur Konfrontation mit ganz anderen Formen der fachlichen Arbeit – die aber auch wieder (gebunden auch an einen Generationsunterschied!) gegensätzlich verarbeitet werden konnten (s. etwa die konträre Reaktion auf die US-Linguistik, die in dieser Zeit gerade auch in der indoeuropäischen vergleichenden Sprachwissenschaft mit der Akzentverschiebung von den klassischen Schulsprachen und Sanskrit zum Hethitischen und Tocharischen ein wachsendes Gewicht erhielt,10 bei H. HOENIGSWALD und NEHRING). Wichtig war schließlich die institutionelle Öffnung der Indogermanistik für die typologische Sprachbetrachtung und damit die systematische Berücksichtigung nicht-verwandter Sprachen, wie sie früh am Berliner Seminar unter der Leitung von W. Schulze betrieben wurde (s. Rockel 1969; hier auch E. LEWY).
�� 10 Eine Schlüsselrolle hatte hier Edgar H. Sturtevant (1875–1952), der zu den Gründern der Linguistic Society of America gehörte und mit seinen Arbeiten zum Anatolischen bzw. der Laryngaltheorie die US-amerikanische Indogermanistik prägte.
Die Ausdifferenzierung der philologischen Fächer � 55
2.4.3 Kleinere philologische Fächer In den kleineren Fächern, z.B. der Orientalistik, müssen alle Fachvertreter auch Einführungen in die jeweiligen Sprachen bzw. in die Textlektüre geben. Soweit sie historische Quellen bearbeiteten, insbesondere Editionen vornahmen, mußten (müssen) sie sich auch systematisch mit der sprachlichen Form bzw. der Sprachentwicklung ihrer Quellen befassen. Ähnlich ist es in der Klassischen Philologie, die nicht zuletzt über ihre dominante Rolle für das humanistische Gymnasium in den meisten Biographien hier ein prägendes Modell abgab. Hier war die sprachliche Arbeit am Text die Basis (so programmatisch artikuliert und institutionell auch festgeschrieben von Boeckh bis Wilamowitz-Moellendorff), wogegen sich bereits am Ende des 19. Jhds. eine diffuse geisteswissenschaftliche Front artikulierte, mit Nietzsche als Galionsfigur. Bei diesem Diskurs waren in der Regel auch antisemitische Obertöne deutlich, s. hier etwa JAEGER.11 In diesem Sinne könnten in einem weiten Verständnis wohl alle Vertreter dieser Fächer als „Sprachforscher“ aufgeführt werden, was den Rahmen eines solchen Katalogs sprengen würde. Insofern ist die Auswahl hier relativ restriktiv; sie führt insbesondere diejenigen auf, die sprachliche Fragen in einer monographischen Darstellung fokussiert haben oder doch zumindest als Nebenprodukt ihrer Hochschullehrertätigkeit Übungstexte mit einem sprachlichen Einführungscharakter herausgegeben haben wie z.B. WITTEK. Bei der phasenverschobenen Institutionalisierung der Neuphilologien ist die Slawistik die jüngste, die, soweit ich sehe, in dem hier fraglichen Zeitabschnitt außer in Berlin und Wien allenfalls auf der Ebene eines ergänzenden Lektorenangebotes vertreten war, ansonsten, wenn überhaupt, dann von den vergleichenden Sprachwissenschaftlern mit vertreten wurde (s. Harder u.a. 1982–1987, s. auch 5.3.). Außer TRUBETZKOY, der das Fach in Wien auch in seiner ganzen philologischen Breite vertreten mußte, sind die Slawisten im Katalog entsprechend auch jüngere Fachvertreter, die mit Ausnahme von MENGES und SEIDEL ihre wissenschaftliche Ausbildung zum Zeitpunkt der Emigration noch nicht abgeschlossen (bzw. noch nicht angefangen!) hatten, s. ARNDT, H. BIRNBAUM, GALTON. Eine besondere Rolle spielte die Finno-Ugristik, die als „Nachbardisziplin“ für die indoeuropäische Prärekonstruktion immer schon berücksichtigt worden
�� 11 Diese Zusammenhänge hat schon Ringer 1969 prägnant herausgearbeitet. Zur Klassischen Philologie s. Wegeler (1996). In diesen Kontext gehört auch das Feld der Neuerer, s.u. 7.5. Die zeitgenössische Spannung, auch mit ihrem politischen Subtext, wird z.B. bei der Rezension von B. Snell zu JAEGERs „Paideia“ deutlich artikuliert, s. bei diesem.
56 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher war (auch in der germanischen Sprachwissenschaft in Hinblick auf die archaische Form der frühen Lehnwörter im Finnischen). Da die Sprachen hier zum größten Teil nicht verschriftet waren (oder es doch erst relativ jung sind wie das Finnische und Estnische) waren die Fachvertreter auch hier zwangsläufig auf ethnographisch-deskriptive Techniken der Sprachwissenschaft angewiesen, s. JACOBSOHN, E. LEWY, STEINITZ. Es ist sicher kein Zufall, daß die zuletzt Genannten im Katalog zu den ausgesprochenen Modernisten zählen.
2.4.4 Nicht-philologische (kleinere) Fächer In den nichtphilologischen kleineren Fächern waren die Fachvertreter zwangsläufig auf sprachwissenschaftliche Verfahrensweisen verwiesen, wenn sie ihre Gegenstände (i.d.R. gesprochene Sprache, zumeist auch in der Feldforschung überhaupt erst zu erschließen!) für die Forschung aufbereiteten. Ihre Institutionalisierung verdanken diese Disziplinen (Afrikanistik, Ozeanistik etc.) vor allem den politischen Prioritätensetzungen des Kolonialismus, der in Deutschland nach der Reichsgründung ein „Nachholprogramm“ auch für die Wissenschaft mit sich brachte, wozu in Berlin 1887 das Seminar für Afrikanische und Orientalische Sprachen gehörte, in Hamburg das Kolonialinstitut eingerichtet wurde, das 1919 zu einer (entsprechend pragmatisch-modern ausgerichteten!) Universität umgestaltet wurde. Vertreter dieser Fächer sind im Katalog BRAUNERPLAZIKOWSKY, MITTWOCH. Hier hinzuzurechnen sind auch genuine Sprachwissenschaftler, die quer zu etablierten Fachgrenzen arbei(te)ten, wie MENGES, vgl. auch in der Turkologie GABAIN, TIETZE. Schließlich gilt für Vertreter „exotischer“ Fachgebiete, daß sie, wie oben schon bei den entlegeneren indoeuropäischen Schwerpunkten angemerkt, oft keine Hochschullehrerstelle hatten, sondern nur als Bibliothekare, Angestellte an Völkerkundemuseen u. dgl. abgesichert waren, s. LESSING in der Sinologie, in der Semitistik PICK, WEIL, WÖLFEL; vgl. auch ERKES. Bei archäologisch Tätigen verlangt die Arbeit an Inschriften, Stempeln, Münzen u. dgl. auch sprachliche Analysen, allerdings mit unterschiedlicher Fokussierung, die von einem rein technischen Behelf bis zu einem gewissen Eigengewicht bei der Edition der Funde reicht, so daß sie hier entsprechend (jedenfalls in einer Auswahl) berücksichtigt sind, s. z.B. RICE für einen Grenzfall (der aber auch durch seine Dissertation als Sprachforscher ausgewiesen war), vgl. noch ANTHES, BOSSERT, HERZFELD; spiegelverkehrt zu Sprachforschern, die an archäologischer Arbeit beteiligt waren, Archäologie im Nebenfach studiert hatten o.ä., s. GOETZE, WEISSBACH, WITTEK.
Die Ausdifferenzierung der philologischen Fächer � 57
Wo dergleichen nur marginal im Werk eine Rolle spielt, sind die Betreffenden nicht in den Katalog aufgenommen. Bei vielen der hier Aufgenommenen ist der Gegenstand ihrer Forschung, dem die Liebe des Wissenschaftlers gilt, erst in der Auseinandersetzung mit der sprachlichen Form greifbar (verstanden oft wohl nur als so etwas wie die Verpackung), wie es für die klassische Philologie bis hin zu exotischen Fächern wie der Tibetologie gilt, s. etwa LAUFER, ROHDE, R. A. STEIN. Bei solchen Fachvertretern sind eigenständige sprachwissenschaftliche Analysen (im Sinne der Dimension B, erst recht C) nachgeordnet. In der Konfrontation mit der zeitgenössischen akademischen Sprachwissenschaft (junggrammatischer Prägung) konnte das sogar bis zu einer expliziten Abgrenzung gehen, die aber im Sinne des hier in Frage stehenden Konzepts der Sprachforschung nicht irreführen darf: das kontrastiert bei den hier dokumentierten Vertretern dieser Richtung nicht nur mit der handwerklichen Seite ihrer Forschung, sondern vor allem auch mit ihrer Lehre, s. z.B. bei H. ZIMMER. Hier gibt es eine große Bandbreite, in der gerade auch solche Abgrenzungen eine dominante Rolle spielen konnten, so auch in den großen „philologischen“ Fächern, für die diese Konstellation bei SPITZER ausführlich dokumentiert wird.
2.4.5 Die Professionalisierung in den Philologien In den neueren Philologien zeichnet sich eine Umorientierung schon zu Beginn des 20. Jhds. ab, zuerst vielleicht mit der Neuausrichtung der neusprachlichen Fächer auf die „Realien“ statt auf die „alte Abteilung“ und mit ihr die literarische Überlieferung, s. hier auch die Vertreter der neuen Fachsprachforschung: s. JORDAN, RICHTER; für den Umfang dieser Neuorientierung vgl. auch BRUNNER. Die Verselbständigung der Literaturwissenschaft wurde oben schon angesprochen (s. in 2.4.5. zu Profil V). Ihr gegenüber verlangte die philologische Tradition bis zur Mitte des 20. Jhds. zumindest für die Hochschullehrerlaufbahn den Nachweis, auch auf sprachlichem Gebiet ausgewiesen zu sein – was je nach institutioneller Konstellation mehr oder weniger großzügig ausgelegt werden konnte. So sind hier viele Fälle dokumentiert, die diese Neugestaltung der disziplinären Ausrichtung in den großen Nationalphilologien zeigen, bei denen die alten fachlichen bzw. institutionellen Strukturen als karrierehinderlicher Faktor erscheinen. Spiegelverkehrt dazu war die Situation der ausgewiesenen Sprachwissenschaftler in den philologischen Fächern, die umgekehrt für eine Professur auch einen literaturwissenschaftlichen (das bedeutete damals in der Regel literaturgeschichtlichen) Ausweis brauchten. Eine Reihe solcher Fälle sind hier dokumentiert, s. E. LEWY, ROHLFS, vgl. auch SPITZER, TEDESCO. Immerhin war es auch
58 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher für ausgesprochen literaturwissenschaftlich ausgerichtete Fachvertreter in diesem Zeitraum nicht ungewöhnlich, daß sie sich der sprachtheoretischen Grundlagen zu vergewissern versuchten, wobei das traditionelle Feld der Stilanalyse (wie in der Kanonisierung der Philologie bei Boeckh) ein Übergangsfeld bildete, s. 7.6. zu den „Neuerern“. In diesem weiten Feld von Sprachforschung finden sich dann allerdings auch ausgesprochen theoretisch ausgerichtete WissenschaftlerInnen wie z.B. HAMBURGER (mit ihrer systematischen Orientierung an HUSSERL), s. auch IMELMANN, SCHUECKING. Die Auswahl ist im Katalog vor allen Dingen quantitativ erzwungen. Aufgenommen sind Fachvertreter, die sich um eine formale Modellierung bemühten und in der Regel auch sprachvergleichend operierten (etwa auch in der Analyse der Quellen sprachübergreifend den besonderen einzelsprachlichen Strukturen Rechnung trugen), statt diese Faktoren „hermeneutisch“ zu überspringen. Angesichts der großen Zahl der hier potentiell zu berücksichtigenden Kandidaten ist diese Auswahl sicherlich einigermaßen willkürlich. Erst im Windschatten der literaturwissenschaftlichen Emanzipation von der alten Philologie konnte sich auch eine neue empirische Sprachwissenschaft institutionell etablieren, die nicht mehr auf die traditionellen Texte ausgerichtet war. In den großen Fächern hatte hier die Mundartforschung eine prominente Rolle, die in der Nachfolge des romantischen Diskurses in Deutschland als nationale Aufgabe gesehen wurde, die die ethnische Identität der Nation unter Beweis stellen sollte. Sehr viel schwieriger war es mit der Etablierung der Forschung zur Umgangssprache, die keine solche Überhöhung erlaubte. Diese Konfliktlinie spiegelt sich in allen Fächern und ist auch hier in diesem Katalog dokumentiert, s. bei den Sinologen LESSING, WOITSCH; für die großen Philologien s. auch SPITZER; anders bei der Arabistik und Semitistik, wo die „Umgangssprache“ eine Art Gegenschwerpunkt zur philologischen Islamwissenschaften bildete, s. BLAU, BLOCH, KAHLE, LESLAU (Südarabisch/ Äthiopisch), MITTWOCH (Südarabisch), RABIN, RICE, WEISSBACH. Bei den nach Palästina ausgewanderten Hebraisten stellte sich das Problem des Ivrit (s.u. Kap. 4.5.6.).
2.4.6 Sprachforschung außerhalb der Universitäten (der traditionellen Fächer) Die analytische Beschäftigung mit sprachlichen Fragen darf nicht mit ihrer institutionellen Form im akademischen Betrieb gleichgesetzt werden, wie sich besonders auch bei den „Kleinen Fächern“ zeigt. Außerhalb der institutionellen Vorgaben durch Lehr- und Prüfungspläne ist die fachliche Zuordnung dort noch schwieriger. Wer sich z.B. mit chinesischer Kultur, Literatur, Geschichte und ähnlichem befaßte, mußte entsprechend große Sprachkenntnisse haben, die
Die Ausdifferenzierung der philologischen Fächer � 59
aber deswegen nicht im Vordergrund zu stehen brauchten. Hier finden sich auch unter denen, die als Sprachforscher publizierten, viele, die akademisch nicht etabliert waren, z.T. dergleichen geradezu verabscheuten, wie z.B. ZACH. Oft waren sie als Autodidakten in dieses Feld gekommen. Sie lebten zumeist auch eine Zeit in den entsprechenden Ländern (während akademische Fachvertreter oft ohne derartigen Erfahrung auskamen, s. etwa H. ZIMMER). Beruflich gehören sie in ein breites Feld von Dolmetschern (im kommerziellen oder auch im diplomatischen Dienst), Journalisten, Korrespondenten, aber auch Drucker u. dgl.; vgl. in der Orientalistik auch Grenzfälle im Katalog zu anderen „Anwendungsbereichen“ wie BABINGER. 12 Eine wichtige Sparte sind hier die Missionare, bei denen oft wohl auch eine ähnliche persönliche Interessenkonstellation vorgelegen haben mag, die aber religiös kanalisiert wurde.13 Dabei waren die Übergänge zur wissenschaftlichen Aufarbeitung fließend, was gegebenenfalls auch in den verschiedenen Missionsgesellschaften zentral betrieben wurde, so etwa in der (katholischen) Steyler Missionsgesellschaft (SVD), s. hier KOPPERS, W. SCHMIDT.14 Umgekehrt hatte ein rein akademisches Studium in diesen Fachgebieten so gut wie keine Berufsperspektiven: das erklärt die relativ große Zahl von Priestern und Rabbinern unter den Orientalisten, die sich auf das Fach ohne Sorge um ein „Brotstudium“ einlassen konnten. Aber auch innerhalb der Universität entstanden im Zuge der weiteren Ausdifferenzierung Fachrichtungen, die quer zu den philologischen, d.h. historisch kulturell definierten Zuschreibungen operierten. Das gilt insbesondere für die allgemeine Sprachwissenschaft, die zwar seit Beginn des 19. Jhds., also seit der Humboldtschen Universitätsreform, eine Schlüsselrolle für die Neuformierung der akademischen Fächer innehatte, die aber erst in jüngster Zeit eine institutionelle Verselbständigung erfuhr (also nicht in dem hier fraglichen Zeitraum). Die entsprechend ausgerichteten Fachvertreter konnten nur zu einer Professur gelangen, wenn sie damit einen mehr oder weniger „philologisch“ definierten Aufgabenbereich übernahmen. Insofern wird die Bezeichnung hier nur für Fachvertreter verwendet, die über ihre fachspezifische Zuordnung hinaus keine Beschränkung in ihrer Forschung in diesem Sinne aufweisen, wie z.B. E. LEWY, der als Finno-Ugrist auch allgemeiner Sprachwissenschaftler war. �� 12 Die literarisch orientierte Szene in China hat z.B. Walravens (2000) aufgearbeitet. 13 Zur sinologischen Missionarsszene s. Franke 1968, Köster 1974; auch Wallravens in Elvert / Nielsen-Sikora (2008) mit einem auf Vollständigkeit zielenden Katalog zeitgenössisch sinologisch aktiver Personen. 14 Für das protestantische Gegenstück steht vor allem die Afrikamission, etwa C. Meinhof (1857–1944) und D. Westermann (1875–1956), bemerkenswerterweise aber niemand in diesem Katalog.
60 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher Spiegelverkehrt zu diesen Ausdifferenzierungen, die sich schon zum Ende des 19. Jhds. abzeichnen, sind die fachlichen Spezialisierungen, die vor allem an den US-amerikanischen Universitäten erfolgten, die anders als die deutschen ausgebaut waren. Zeitlich erfolgte das synchron mit der hier fraglichen Emigration, so daß eine Reihe der hier Aufgeführten daran partizipierten. Entsprechende Zuschreibungen erfolgen hier dann, wenn das fachliche Profil und gegebenenfalls auch die Stellenbeschreibung der Betroffenen in diesem Sinn eindeutig definiert ist, insbesondere Psycholinguistik: EISLER, FILLENBAUM, LENNEBERG und Soziolinguistik: GUMPERZ. Soziolinguistische Fragestellungen sind selbstverständlich nicht neu (sie gehörten immer schon zum dialektologischen Forschungsprogramm, vor allem seitdem in den 30er Jahren systematischer auch Stadtsprachenforschung betrieben wurde, s. auch Abschnitt 6.6.), neu ist nur ihre disziplinäre Verselbständigung, der eine entsprechend spezialisierte Forschung in den Nachbardisziplinen vor allem der Sozialpsychologie vorausgegangen ist, s. ARGELANDER, HETZER. Derartige Arbeitsfelder sind in der Regel mit einer sprachspezifischen Ausrichtung verbunden: an fremdsprachlichen Instituten, in areal definierten Forschungsgruppen u. dgl., s. bei den Genannten. Schließlich verwende ich noch als Sammelbezeichnung Sprachpädagogen für Arbeitsfelder, die von der Sprachvermittlung über die Fachdidaktik, Übersetzungswissenschaft bis hin zu außeruniversitären Einrichtungen reichen, hier überwiegend an fremdsprachlichen Abteilungen, d.h. also bezogen auf Deutsch als Fremdsprache in einem nicht deutschsprachigen Land, s. HORN, T. FUCHS, WEINER.
2.5 Die disziplinären Zuordnungen im Katalog 2.5.1 Die institutionelle Zuordnung Die meisten der hier dokumentierten Sprachforscher hatten ihren professionellen Ort in dem institutionell ausdifferenzierten Betrieb der damaligen Universitäten an einer philologischen Abteilung. Sie lassen sich durch die entsprechenden Fachbezeichnungen einordnen. Die institutionelle Zuordnung ergibt sich an der Universität in der Regel durch einen entsprechenden Lehrauftrag, ggf. auch durch ein Forschungsfeld bei einer wissenschaftlichen Einrichtung (Akademie oder dgl.). Hier sind also die institutionellen Vorgaben (Definition der Lehrstühle, Venia u. dgl.) maßgeblich, ggf. auch der Lehrauftrag für einen Lektor oder das Lehramt an der Schule, wenn solche Biographien hier aufgeführt sind. Daraus läßt sich nicht zwingend (vor allem nicht restriktiv) das sprachli-
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che Forschungsgebiet ableiten, das daher getrennt verzeichnet wird (s. 2.5.3). Auf der anderen Seite stehen die erworbenen Qualifikationen durch die Promotion, ggf. auch die Habilitation. Beide Zuordnungen werden im Folgenden registriert, ggf. mit mehrfachen Einträgen, wenn die Zuordnungen wechselten. Die Hintergründe dafür ergeben sich jeweils aus den biographischen Artikeln.15 In den großen Fächern ist die Facheinteilung inzwischen sehr viel feinkörniger geworden, als sie es noch zu Beginn des 20. Jhds. war. Entsprechend sind die Zuordnungen auch hier enger. Die fachlich umfassendere Beschreibung ist nur dann verwendet, wenn ein entsprechend breites Forschungsgebiet deutlich ist (z.B. Romanistik im Gegensatz etwa zur Hispanistik, wenn das Arbeitsgebiet nicht auf das Spanische beschränkt war, ähnlich Semitistik im Gegensatz zu Arabistik usw.). Im Sinne der sprachwissenschaftlichen Fluchtlinie ist eine weite Zuordnung in der Regel selbstverständlich bei einem vergleichenden Zuschnitt (Romanistik etc.), bei den großen Fächern dann aber im Sinne der Arbeitsteilung zunehmend weniger in den neueren Abteilungen. Bei der Germanistik firmiert daher noch eine Untergruppe als Altgermanisten, deren Gegenstand von den „Neugermanisten“ im engeren Sinne nicht mehr mit behandelt wird. Im Feld der Philologien gibt es Biographien, bei denen der Zwang zum Broterwerb in der Emigration die Sprache in den Vordergrund rückte, z.B. über die Möglichkeit, Sprachkurse zu geben, s. BACH, GAEDE, HAMBURGER, HESSE, HOMEYER, LOOSE, OLSCHKI, R. A. STEIN. Spiegelverkehrt zu diesem institutionellen Arbeitsbereich in den großen Philologien sind die Verhältnisse bei den kleinen Fächern. Bei vielen der hier dokumentierten Fälle ist eine solche praktische Beschäftigung mit Sprache marginal geblieben; sie widmeten sich, sobald es möglich war, wieder ihrem literaturwissenschaftlichen Gegenstand. Das mußte aber nicht so sein, wie die Fälle zeigen, in denen aus einer solchen sprachpraktischen Beschäftigung mit anderen Sprachen eine systematischere Reflexion abgeleitet wurde und im Werk eine zunehmend größere Rolle spielte, s. HAMBURGER, HESSE, HOMEYER u.a. Eine inhomogene Kategorie sind die Altorientalisten, ein Terminus, den ich hier für diejenigen benutze, deren Arbeitsfeld durch die Keilschriftüberlieferung (oder auch andere im gleichen historischen Kontext praktizierte Schriftsysteme: Hieroglyphen u.ä.) bestimmt ist, das nicht eigentlich sprachlich definiert ist (Assyriologen, Sumerologen, Hethitologen).16 Orien�� 15 Nicht-philologische Sprachforscher sind hier nicht aufgeführt. 16 Bei diesen hier aufgeführten Fachvertretern ist eine Zuordnung im Sinne der traditionellen Philologien in der Regel nicht möglich: „Keilschriftforscher“ befaßten sich zumeist mit genetisch nicht verwandten Sprachzeugen des Assyrischen (semitisch), Sumerischen und auch Hethitischen (indoeuropäisch) und oft noch weiteren Sprachen, s. die Einzelbeiträge.
62 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher talisten bleibt als Terminus nur für diejenigen, die keine engere disziplinäre Zuordnung haben. Da, wo das Arbeitsfeld der Betreffenden entsprechend breit ist, finden sich auch Mehrfachnennungen. Insofern wird hier die Altorientalistik in umfassendem Sinne verstanden, wie sie zeitgenössisch vor allem historisch definiert ist (im Sinne der „Alten Geschichte“, in der im übrigen auch eine Reihe der Fachvertreter habilitierten); sie umfaßt den gesamten Mittelmeerraum (insbesondere auch die vor-indoeuropäischen Kulturen), deren Denkmäler in nichtalphabetischer Schrift Entzifferungsprobleme darstellten, etwa in Kreta, s. BOSSERT, GRUMACH, MERIGGI, also z.B. mit den fachlich entsprechend dann auch umstrittenen Problemen des voralphabetischen Griechischen (Linear B). Einen Sonderfall stellt hier das Etruskische dar, das ggf. meist in Personalunion von Latinisten betrieben wurde. Die disziplinären Ausgliederungsprobleme bei der Altorientalistik können exemplarisch für die fachgeschichtlichen Schwierigkeiten stehen, in dem fraglichen Zeitraum eine eigenständige Sprachforschung zu definieren. Konstitutiv war hier die Ausgrenzung eines historisch greifbaren Raumes: der Vordere Orient war traditionell das Revier der Theologie und Judaistik (bezogen auf das Alte Testament, und insofern mit dem Hebräischen als Kernbereich). Hier gab es in der Mitte des 19. Jhds. einen dramatischen Umbruch mit der Keilschriftentzifferung, die das Akkadische (damals meist Assyrisch genannt) und das Sumerische als Kern hatte, meist als Babylonisch diskutiert. Dieser „mesopotamische“ Raum war nicht zuletzt im Sinne der Bibel vom ägyptischen Raum getrennt, für den die Ägyptologie relativ früh einen Sonderstatus hatte – mit dem Sonderproblem, daß dessen Spätformen (Koptisch) wiederum auch eine christliche Kultur repräsentierten. Für diesen Raum gab es eine Überlagerung mit der Semitistik, die bei den Fachvertretern einen Schwerpunkt im Arabischen und schon seit dem Mittelalter eine Ausrichtung auf die Islamwissenschaft hatte, die sich auch institutionell früh verfestigt hatte. Auch hier gab es wieder ein Sonderproblem mit dem Äthiopischen, das eine christliche Kultur repräsentierte. Quer zu dieser Ausrichtung stand die Erforschung des Hethitischen, die seit der Entzifferung zu Beginn des 20. Jhds. vor allem auch in Deutschland einen erheblichen Aufschwung nahm und die quer zu diesen sprachlichen Zusammenhängen wiederum eine Schlüsselstellung in der Indogermanistik einnahm. Dieses altorientalistische Feld strukturierte sich disziplinär am Ende des 19. Jhds. neu, dabei in Analogie zu der junggrammatischen Reorganisation der Philologien in den indoeuropäischen Sprachen (der Indogermanistik, aber auch den Einzelphilologien wie Germanistik und Romanistik), in dem hier die ausgesprochenen Sprachforscher eine strikte disziplinäre Ausrichtung durchsetzten:
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in der Ägyptologie etwa ERMAN,17 für das Sumerische POEBEL, für das Akkadische (und auch Sumerische) LANDSBERGER u.a. Dadurch kam es zu fachinternen Frontstellungen gegen die Theologen und auch Historiker (bei denen z.T. die Habilitationen durchgeführt wurden). In politischer Hinsicht stand dieser sich seit dem Ende des 19. Jhds. formierende disziplinäre Rahmen gegen die pragmatisch finalisierte Beschäftigung mit den Sprachen und gesellschaftlichen Verhältnissen in diesem Raum, der in Berlin etwa an dem Seminar für orientalische Sprachen (eingerichtet 1887) einen festen Ort hatte (vergleichbar dem Kolonialinstitut in Hamburg, gegründet 1904), s. 5.3. Hier bildete sich das heraus, was dann später als „Auslandswissenschaft“ auch im Nationalsozialismus eine institutionelle Verortung fand – in einer z.T. in heftigen Polemiken ausgetragenen Spannung zwischen den universitären Repräsentanten einer akademischen (und d.h. philologischen) Wissenschaft auf der einen und Vertretern einer berufsorientierten Ausbildung auf der anderen Seite, die eine Parallele im Streit um die Orientierung am humanistischen Gymnasium gegenüber dem Realgymnasium in der Lehrerausbildung hatte, s. Kap. 6.18 Ausdruck für dieses Spannungsfeld war insbesondere die Kristallisierung einer „Islamkunde“ als Dach für die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem politisch-geographischen Raum, der sprachlich heterogene Gruppierungen einschloß (über die semitischen Sprachen hinaus Türkisch, Persisch u.a.). Ende der 1920er Jahre zeichnete sich diese Restrukturierung ab, z.B. in dem Berliner Seminar.19 Nach 1933 wurde hier die politische Umstrukturierung durchgesetzt: als Studien des Vorderen Orients, bzw. in der tradierten Terminologie: des „Morgenlandes“. Innerfachlich führte das zu Kontroversen, vor allem durch eine offiziöse Denkschrift („Stand und [...] künftige Aufgaben der Morgenlandforschung im neuen Deutschland“), die 1933 Walther Hinz (damals im Preußi-
�� 17 Der mit seiner sprachwissenschaftlichen Orientierung der vorausgehenden Ägyptologie geradezu einen wissenschaftlichen Rang absprach. 18 Diese Konflikte eskalierten unter den ökonomisch restriktiven Bedingungen der Inflation in den 1920er Jahren, als die eine Seite die Einstellung der „brotlosen“ philologischen Fächer forderte, die andere die Auflösung der zur Universität parallelen Ausbildungsstätten, s. Kreiser 1989: 31–32 für das Berliner Seminar. Dieses wurde 1935 dann zunächst auch in eine neue „Auslandshochschule“ integriert, 1940 dann (als Umsetzung der politischen Universität) in eine „Auslandswissenschaftliche Fakultät“ der Berliner Universität integriert, s. Kap. 6. Nach dem Krieg wurde diese Struktur fortgeschrieben – mit dem 1959 neu gegründeten Institut für orientalische Sprachen in Bonn: integriert in die dortige Universität, aber eben auch angesiedelt am Regierungssitz. 19 S. Renger 1979.
64 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher schen Erziehungsministerium) und BABINGER vorlegten;20 die Fachvertreter, allen voran KAHLE und LANDSBERGER, reagierten entsprechend heftig darauf, bestrebt das Profil des Faches zu wahren.21 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Umstrukturierung auf das amerikanische Vorbild der „Area Studies“ ausgerichtet. Ähnlich komplex ist die Situation bei den Hebraisten/Judaisten: durch die disziplinäre bzw. institutionelle Verortung handelt es sich hier um ein ausgesprochen heterogenes Feld, das von der Sprachforschung im engeren Sinne (einer Sparte der Semitistik) bis hin zur Judaistik reicht, bei der Fragen der sprachlichen Form der Theologie untergeordnet sind. Auch bei den Sinologen sind die Zuordnungen im Sinne der Sprachforschung problematisch – und insofern auch die hier vorgenommene Auswahl, s. dazu Franke (1968). Insofern wäre auch die ganze Gruppe der Sinologen genauer zu überprüfen, die seinerzeit in China lebten und forschten, was ich hier nicht unternommen habe.22
Exkurs: Das Assyrian Dictionary-Projekt der Universität Chicago Das akkadische Großwörterbuch der Universität Chicago bildete das Arbeitszentrum für eine ganze Reihe der in diesem Katalog aufgeführten Altorientalisten, sodaß es an dieser Stelle systematischer dargestellt werden soll. Die im Titel benutzte Bezeichnung assyrisch ist als Bezeichnung der Sprache in der akademischen Forschung seit ihrem Aufschwung im 19. Jhd. eher unüblich
�� 20 Hinz war zwar Historiker, der zu den Alpersischen Reichen und zur zoroastrischen Religion gearbetet hat, aber er war auch „im Feld“ zuhause und hatte u.a. einen erfolgreichen (neu-) persischen Sprachführer verfaßt, der auch nach dem Krieg noch wieder aufgelegt worden ist. Das qualifizierte ihn während des Weltkriegs für Geheimdienstaktivitäten in der Türkei. 21 Der Text war nicht zu ermitteln. Über den Inhalt informiert die Replik dazu, s. E. Bräunlich, A. Fischer, B. LANDSBERGER, „Stellungnahme zu der Ausarbeitung des Professors Dr. Franz Babinger und Dr. Walther Hinz, betr. die Morgenlandforschung im neuen Deutschland, Stand und künftige Aufgaben“, o.J. (zitiert nach Hanisch 1995, dort Fn. 9 in 2.4.2). Parallel liefen die Initiativen für die Institutionalisierung der „Afrika-Wissenschaft(en)“, bei denen sich ebenfalls Vertreter einer pragmatisch-angewandten Wissenschaft (in Fortführung der Ausbildung von Kolonialbeamten) und diejenigen gegenüberstanden, die eine akademische Aufwertung mit eher traditionellen philologischen Vorzeichen anstrebten wie der umtriebige Arabist Kampfmeyer, s. dazu Stoecker (2008). 22 Einige weitere Namen seien genannt: Gustav Ecke (1886–1971); Pater Matthias Eder; Wolfgang Franke; Walter Heissig; Alfred Hoffmann; Max Loehr; Rudolf Loewenthal; Ilse Martin; Hermes Peeters. Zur marginalen Rolle der Sprachwissenschaft in der Sinologie bis heute s. noch Kaden, in: Martin/Hammer 1999: 332–343.
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geworden: der Terminus ist heute nur noch als historische Bezeichnung der politischen Verhältnisse im alten Mesopotamien üblich, während für die Sprache die in den Quellen auftretende Selbstbezeichnung Akkadisch verwendet wird.23 Assyrisch bleibt noch als Bezeichnung einer spezifischen Varietät des Akkadischen (neben Babylonisch). Ein Problem der älteren Bezeichnung, die auch zur früheren Etablierung eines Faches Assyriologie geführt hatte, war, daß sie entsprechend der Überlieferung auch das nicht-semitische Sumerische mit umfaßte. Die heftigen und vor allem auch rassistisch ausgetragenen Auseinandersetzungen darum, ob dieses eine eigene Sprache sei (und insofern auch Indiz für ein nicht-semitisches Volk) bestimmte die Altorientalistik bis zur Jahrhundertwende (s. hier bei WEISSBACH). Wissenschaftlich ausschlaggebend war schließlich der Nachweis eines eigenen (agglutinierenden) Sprachbaus, der die Annahme von einer künstlichen Verkleidung des Akkadischen in der Schrift, die bis dahin üblich war, als unhaltbar erwies. Aufgrund der komplexen Überlieferung der babylonischen Texte in beiden Sprachen, in einigen Fällen auch zweisprachig, waren „Assyriologen“ durchweg mit beiden Sprachen befaßt. Am Ende des 19. Jhds. war die Trennung der beiden Sprachen etabliert und es begann für beide Sprachen eine systematische Bestandsaufnahme, am weitesten gediehen für das Akkadische.24 Ein erster systematischer Versuch dazu ging auf Friedrich Delitzsch (1850– 1922) in Leipzig zurück, anderswo arbeiteten später seine Schüler daran. Wichtig wurde das Unternehmen an der Universität Chicago, wo der Leiter des dortigen Orientalischen Instituts, der Ägyptologe J. H. Breasted, es in Verbindung mit dem dortigen Orientmuseum unternahm, einen Thesaurus des Akkadischen aufzubauen, für den ihm als Vorbild der Berliner Thesaurus für das Ägyptische von ERMAN vorschwebte, bei dem er selbst sein Handwerk gelernt hatte. Das Unternehmen lief 1921 an und war von vornherein mit einer internationalen Arbeitsteilung geplant, bei der externe Mitarbeiter bzw. Arbeitsgruppen für spezielle Arbeitsaufgaben verpflichtet wurden. In die Leitungsgruppe des Unternehmens kam 1930 POEBEL durch seine Professur für Sumerisch an der Uni-
�� 23 S. die Erläuterungen zu den semitischen Sprachen in Abschnitt 2.4.3. Die Verwendung des Ausdrucks wird verkompliziert durch den Terminus Syrisch für die erst später überlieferte nordwestsemitische Varietät, die mit dem Hebräischen eine Sprachgruppe bildet. Im heutigen Syrien (und in einigen angrenzenden Staaten: Türkei, Iran, Irak, Israel) werden noch jüngere Formen gesprochen, die man als Aramäisch bezeichnet, während Syrisch heute meist das inzwischen dort gesprochene Arabische bezeichnet. Bei einigen der aramäischen Gemeinschaften wird allerdings heute der Terminus Assyrisch mit politischer Absicht auch für ihre gegenwärtige Sprache reklamiert. 24 Zum fachgeschichtlichen Kontext und zum folgenden s. etwa Renger 1999.
66 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher versität Chicago. Seit 1931 hatte er persönlich die wissenschaftliche Leitung; nach dem Tod des früheren Leiters Chiera hatte er auch offiziell von 1933 bis 1946 die Leitung des Gesamtunternehmens. Zu den in den 1930er Jahren verpflichteten externen Mitarbeitern gehörten schon LANDSBERGER und J. LEWY. Die Arbeit an dem Unternehmen wurde durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen, nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Leitung zunächst bei I. Gelb, der die von POEBEL geplante Anlage der Artikel nach dem Modell der semitistischen Wörterbücher mit der Lemmatisierung nach den Wurzeln auf ein Wortformen-Lexikon umstellte, in der Abfolge des lateinischen Alphabets. Einige der orientalistischen Immigranten wurden in der Arbeitsgruppe verpflichtet, vor allem LANDSBERGER und OPPENHEIM, mit einer Teilzeitstelle auch GÜTERBOCK. Zur Reorganisation des Unternehmens gehörte auch die Abtrennung bzw. arbeitsteilige Organisation von Parallelunternehmungen, insbesondere von LANDSBERGERs Sumerischem Wörterbuch. In den 50er Jahren wurde versucht, das Unternehmen mit dem parallel nach dem Zweiten Weltkrieg wieder angelaufenen Unternehmen eines deutschen akkadischen Großwörterbuchs zu vernetzen, das Wolfram von Soden in Fortführung des am Ende des 19. Jhds. begonnenen Lexikons von B. Meißner vorbereitete.25 Bei dem letztlich nur teilweise geglückten Versuch der Zusammenarbeit hatte FALKENSTEIN eine Schlüsselrolle, der inzwischen in Chicago als externer Mitarbeiter verpflichtet worden war. Die Publikation wurde 1954 vorbereitet, wobei die Leitung OPPENHEIM hatte, der im Herausgeberkomitee gemeinsam mit Gelb, Jacobsen und LANDSBERGER firmierte. Die Bände erschienen seit 1956, in der Reihenfolge entsprechend der Komplexität des jeweils zu Bewerkstelligenden; insofern erschien der Band H zuerst, der Band A, der die größten lexikographischen Probleme aufwies, erschien erst 1964.26
2.5.2 Die disziplinäre Zuordnung Da die institutionelle Struktur der Fächer alles andere als einheitlich war, wird im Folgenden eine sprachbezogene Gliederung benutzt; disziplinäre Besonderheiten (Zuordnungsprobleme) sind vermerkt. Im übrigen werden die Probleme im einzelnen auch in den jeweiligen biographischen Artikeln diskutiert. Die �� 25 B. Meißner war 1947 verstorben. W. von Soden (1908–1996) gab das „Akkadische Handwörterbuch“ dann von 1959–1981 in drei Bänden (mit einem weiteren Supplementband) heraus (Wiesbaden: Harrassowitz). 26 In der Einleitung zu Bd. A hat I. Gelb die Geschichte des Unternehmens dargestellt (S. VIIXXIII), worauf sich diese Ausführungen stützen.
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Ausgliederung der Arbeitsfelder erfolgt in den Fächern sehr unterschiedlich: wo ggf. ein spezialisierter Aufgabenbereich im Sinne einer Einzelsprache/engeren Sprachfamilie oder eines diachronen Schnittes vorlag, sind diese Gebiete mit ihren Vertretern gesondert ausgewiesen. Die Auflistung erfolgt gewissermaßen in konzentrischen Kreisen: von einem Nahbereich, der traditionell bei der klassischen Philologie lag, bis hin zu den exotischen Rändern, traditionell als „Orientalistik“ zusammengefaßt, wie sie auch heute noch auf Orientalistentagen versammelt wird. Aufgeführt sind nur Fächer mit Vertretern im Katalog. Die Zuordnung zu einem übergeordneten Stichwort impliziert die Vertretung des Faches in seiner ganzen Breite, in der Regel also mit einem vergleichenden Zuschnitt, z.B. bei Deutsch auch die Alte Abteilung. Die Zuschreibung eines Gebietes Sprachwissenschaft findet sich nur bei einer entsprechenden Denomination, so vor allem bei neueren Stellen für „Linguistics“ (ohne weitere Spezifizierung) in den USA. Dahinter kann sich auch statt allgemeiner Sprachwissenschaft eine sprachdidaktische Aufgabenstellung verbergen, in der Regel in Verbindung mit einem der fremdsprachlichen Fächer (hier müssen ggf. die biographischen Artikel Aufschluß geben). Orientierend sind hier die zeitgenössischen Einteilungen. So gilt z.B. Romanistik als Bezeichnung der Disziplin, auch wenn ausweislich der Dissertation nur Fragen des Französischen bearbeitet wurden. Jiddisten werden entsprechend hier unter Germanisten subsumiert, bei denen das Fach zeitgenössisch angesiedelt bzw. aufgebaut wurde, gefördert gerade auch von konservativen (deutschnationalen) Fachvertretern wie Borchling mit, der das Fach an der neuen Universität Hamburg mit einem Lehrauftrag für S. BIRNBAUM 1922 institutionalisierte (auch wenn dessen von ihm unterstützte Habilitation dort nicht zustande kam). 27 Gerade auch eine Reihe der später aus rassistischen Gründen vertriebenen Jiddisten promovierten hier: SCHNITZLER bei Lessiak bzw. Gierach in Prag; MAX WEINREICH 1923 bei Wrede in Marburg; FISCHER/BIN NUN 1936/37 bei Panzer in Heidelberg. Das blieb in gewisser Weise auch unter nationalsozialistischen Verhältnissen so, wo auch politisch Engagierte wie z.B. Ernst Schwarz (und bei ihm Beranek) zum „Judendeutschen“ forschten, s. dazu 5.2. Die institutionelle Zuordnung konnte im Verlauf der Karrieren wechseln: die Promotion als fachliche Qualifikationsarbeit mußte den späteren Arbeitsgebieten nicht entsprechen. Diese hingen nicht zuletzt von Job-Opportunitäten ab
�� 27 Das mag für die gegenwärtige Jiddistik irritierend sein, korreliert aber mit der Verschiebung des Koordinatensystems nach 1945 bei aller Forschung, die auf Jüdisches Bezug nimmt (s. dazu auch Kap. 3.2.4.). Die (historisierende) Beschäftigung mit diesem Gegenstand stand damals eben auf einem anderen Blatt als die gesellschaftspolitischen Fragen der Gegenwart.
68 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher (z.B. von einer Lektorenstelle im Ausland). Ggf. sind hier mehrere solcher Zuordnungen unabhängig registriert. Wechselnde Arbeitsfelder mußten nicht zwangsläufig auch mit entsprechenden institutionellen Zuordnungen verbunden sein: jemand, der durch die Promotion als klassischer Philologe ausgewiesen war wie RECHNITZ, konnte sich später auch mit australischen Sprachen befassen. Daher findet sich im Anschluß eine zweite Sortierung des Kataloges nach solchen sprachlichen Arbeitsfeldern (s. Abschnitt 2.6.3); s. dort auch zu den nicht-philologisch zugeordneten Sprachforschern. I. Indoeuropäische Sprachen/Philologien 1. Indogermanistik ARNTZ, H. COLLITZ, DEBRUNNER, FIESEL, E. E. S. FRAENKEL, GÖTZE, HAVERS, JACOBSOHN, JOKL, KURATH, E. LEWY, MERIGGI, NEHRING, POKORNY, TEDESCO, WALTER, L. ZUNTZ 2. Klassische Philologie E. D. M. FRAENKEL, H. F. S. FRAENKEL, G. HOENIGSWALD, HOMEYER, JACOBSOHN, JAEGER, LATTE, NORDEN, OELLACHER, RECHNITZ, REICHENBERGER, ROHDE, E. SCHLESINGER, G. SCHLESINGER, SELIGSON, SKUTSCH, F. SLOTTY, SPANIER, STOESSL, G. ZUNTZ 2. 1. Latinistik BRANDT, BRINKMANN, DIEHL, MODRZE, H. ROSÉN 2. 2. Gräzistik VON FRITZ, GRUMACH, GUTMANN, MAAS, NEUBERGER 3. Neuere Philologien 3. 1. Germanistik (Germanische Sprachwissenschaft) ADOLF, BAADER, BRAUN, BRINKMANN, H. COLLITZ, K. H. COLLITZ, FEIST, JELLINEK, KURATH, LASCH, MEZGER, NEUMANN, PENZL, H. W. POLLAK, PROKOSCH, F. G. J. RANKE, REICHARDT, SCHMITT, H. SPERBER 3. 1. 1. Germanistik (Deutsch) ANHEGGER, ANSTOCK, BACON, BÄUML, BARTHOLMES, CUNZ, EISLER, FAHRNER, FREUND, T. FUCHS, GAEDE, HAAS, HALPERT, HAMBURGER, HESSE, JOLLES, KAISER , LEHNER, LEIBOWITZ, LOOSE, E. LÜDERS, MAUTNER, NAUMANN, RECHTSCHAFFEN, REICHENBERGER, SCHIROKAUER, SCHMIDT-ROHR, SCHNEIDER, SCHWARZ, SIEMSEN, SPRINGER, STAMMLER, STRAUBINGER, THIEBERGER, TILLE-HANKAMER, WEINER, F. WILHELM, WOLF 3. 1. 2. Germanistik (Jiddistik) BIN-NUN, S. BIRNBAUM, FALK, FUKS, SCHAECHTER, SCHNITZLER, M. WEINREICH
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3. 2. Anglistik ARONSTEIN, BONHEIM, BORINSKI, BRUNNER, BUCK-VANIOĞLU, DOEGEN, ELLIOT, FÖRSTER, FREUND, GLOGAUER, HECHT, HIBLER-LEBMANNSPORT, HITTMAIR, HORN?, HÜBENER, IMELMANN, LINDHEIM, MARCHAND, PERLOFF, PETERS, REUNING, SCHÜCKING, STEUERWALD, STEVENS, WALZ 3. 3. Romanistik AUERBACH, BENTON, BERGEL, BUCK-VANIOĞLU, COHN, FRIEDMANN, GAEDE, GROTH, GUTKIND, HATZFELD, HEYD, HIRSCH, JORDAN, H. KAHANE, R. KAHANE, KLEMPERER, K. KRAUS, KRAUSS, LENZ, LEO, LERCH, LEWENT, MALKIEL, NAUMANN, OLSCHKI, POLITZER, PULGRAM, RAUHUT, RICHTER, ROHLFS, G. E. SACHS, L. (FEILER-)SACHS, SANDMANN, W. SIMON, SPITZER, SPONER, THIEBERGER, TIKTIN, VOSSLER, WAGNER 3. 3. 1. Romanistik/Französistik BACH, A. BIELER, KUTTNER 3. 3. 2. Romanistik/Hispanistik KRONIK, REICHENBERGER 4. Indologie HEIMANN, HERCUS, LIEBENTHAL, H. LÜDERS, RUBEN, SCHAEFFER, SCHEFTELOWITZ, SCHERMAN, O. STEIN, H. R. ZIMMER 5. Iranistik B. GEIGER, HENNING, WOLFF 6. Slavistik ARNDT, H. BIRNBAUM, GALTON , MENGES, REICHARDT, TRUBETZKOY 7. Keltologie HERTZ, POKORNY 8. Albanologie JOKL 9. Hethitologie GÜTERBOCK II. Nicht-indoeuropäische Sprachen/Philologien 1. Semitistik BLOCH, BRÄU, B. GEIGER, GÖTZE, M. D. GOLDMAN, KAHLE, F. R. KRAUS, P. E. KRAUS, LANDSBERGER, MITTWOCH, LESLAU, LEVY, J. LEWY, MATOUŠ, OPPENHEIM, PICK, POEBEL, ROSENTHAL, A. SPERBER, TUR-SINAI, WEISSBACH
70 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher 1. 1. Hebraistik BEN-HAJJIM, DOTAN, GOLDBERG, GOSHEN-GOTTSTEIN, WEINBERG 1. 2. Arabistik BLAU, BRAUNER-PLAZIKOWSKY, BRAVMANN, CASKEL, KLEIN, LICHTENSTADTER, PLESSNER, RABIN, RICE, WEIL 1. 3. Alt-Semitistik (Keilschriftforschung – „Altorientalistik“) BOSSERT, FALKENSTEIN, GÖTZE,GÜTERBOCK 2. Ägyptologie ANTHES, ERMAN, PFLÜGER, POLOTSKY, H. H. J. RANKE, STEINDORFF 2. 1. jüngere Ägyptologie (Koptisch) STEINDORFF 3. Altaistik MENGES 3. 1. Turkologie BABINGER, GABAIN, MENZEL, TIETZE 4. Finno-Ugristik E. LEWY, W. STEINITZ 5. Sinologie (sinitische Sprachen) 5. 1. Sinologie i.e.S. (Chinesisch) ERKES, W. FUCHS, GABAIN, HALOUN, KRAUSE, LAUFER, LESSING, LIEBENTHAL, MISH, PIASEK, REIFLER, ROSTHORN, SCHINDLER, R. A. STEIN, H. WILHELM 5. 2. Tibetologie LAUFER 6. Australische Sprachen HERCUS III. (Allgemeine) Sprachwissenschaft (ohne sprachliche Domäne in der Venia ) GARVIN, GUMPERZ, HAAS, H. M. HOENIGSWALD, HOMBERGER, E. LEWY, MERIGGI, POLOTSKY, H. B. ROSÉN, SAMUELSDORFF, SAPIR, E. SEIDEL, SEIDEL-SLOTTY, U. WEINREICH, K. E. ZIMMER
Die disziplinären Zuordnungen im Katalog � 71
2.5.3 Die sprachlichen Arbeitsfelder Es ist eine Folge der heutigen disziplinären Spezialisierungen und Abschottungen, daß Sprachforscher in der Regel nur noch in den ihnen zugewiesenen sprachlichen Feldern arbeiten. Für die hier dokumentierte ältere Generation gilt das zumeist nicht – nicht nur, weil zeitgenössisch die universitären Arbeitsfelder anders geschnitten waren (z.B. bei Vertretern mit der Zuständigkeit für die „Neueren Philologien“), sondern weil es viel selbstverständlicher war, das methodische Instrumentarium an verschiedenen Gegenständen auszuprobieren: in Gelegenheitsarbeiten, die sich besonderen Lebensumständen verdankten (wie bei Gräzisten MAAS zum Englischen, bei den Romanisten FRIEDMANN zu einer okzitanischen Mundart u.a.), aber auch in einem sprachwissenschaftlichen Fachverständnis, das dem heutiger (allgemeiner) Sprachwissenschaftler entspricht, wo z.B. SPITZER selbstverständlich nicht nur zum Deutschen (mit auch heute noch in Handbüchern aufgenommene Arbeiten zum Mittelhochdeutschen) arbeitete, sondern z.B. auch zum Ungarischen – unbeschadet, daß er immer eine romanistische Stelle beanspruchte und innehatte. In dieser Hinsicht hat das Feld der Sprachforschung eine Zäsur erfahren, die in der Reaktion einiger Leser auf diese Aufstellung in der vorausgehenden Auflage deutlich wird: sie vermuteten in ihr eine Verdopplung der disziplinären Aufstellung in 2.5.2. – was für die gegenwärtigen Verhältnisse auch zu erwarten wäre. Daß das bei den hier fokussierten Generationen zumindest oft nicht der Fall ist, markiert den Bruch in der Entwicklung. Im Folgenden gebe ich eine Aufstellung der Sprachen/Sprachfamilien, in denen die im Katalog Aufgeführten gearbeitet haben, ggf. mit dialektaler/diachroner Feingliederung. Das grobe Orientierungsraster geht hier von einem Nahbereich (in diesem Fall Deutsch) zum Exotischen. Die dabei häufigen Mehrfachbelegungen charakterisieren das spezifische Profil der älteren Sprachforschung. Dabei ergeben sich z.T. andere Schneidungen der sprachlichen Arbeitsfelder als bei den disziplinär definierten Gegenstandsdefinitionen wie z.B. beim Griechischen, wo das Neugriechische (bzw. dialektale Formen davon) von Sprachforschern bearbeitet wurde, die nicht in der klassischen Philologie verankert waren, s. H. KAHANE und R. KAHANE (-TOOLE) oder ROHLFS. Die Art der Sprachforschung wird im Folgenden nicht unterschieden: philologisch-literaturwissenschaftliche Arbeiten mit Texten einer bestimmten Sprache werden ebenso hierher gerechnet wie deskriptive Arbeiten (Grammatiken, phonologische Analysen u. dgl.) oder historische, rekonstruierende. Aufgenommen sind hier auch Sprachforscher, die ohne spezifische Ausbildung bzw. Stelle auf sprachlichen Feldern gearbeitet haben (also Soziologen, Historiker u.a.). Die Angabe eines sprachlichen Arbeitsfeldes entspricht einer systemati-
72 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher schen (deskriptiven, s.o.) Beschäftigung – der kursorische Verweis auf Einzelerscheinungen in verschiedenen Sprachen (etwa auch Belegformen bei etymologischen Studien) wird hier nicht ausgewiesen. Im Einzelnen geben auch hier die biographischen Artikel Aufschluß über den Umfang der so angeführten Arbeitsgebiete (ggf. engeres Arbeitsgebiet in Klammern). I. Indoeuropäische Sprachen 1. Germanische Sprachen 1. 1 Deutsch BRINKMANN, DEBRUNNER, EISLER, FAHRNER, FEIST, FIESEL, FREUND, T. FUCHS, GALTON, HESSE, HOMBERGER, HOMEYER, JACKSON, JELLINEK, KÜNSSBERG, KURATH, LASCH, LEIBOWITZ, E. M. LÜDERS, NEUMANN, PENZL, POLLAK, F. G. J. RANKE, RECHTSCHAFFEN, REICHARDT, REICHENBERGER, SAMUELSDORFF, SCHIROKAUER, E. SEIDEL, SIEMSEN, H. SPERBER, SPITZER, SPRINGER, STAMMLER, W. STEINITZ, TIKTIN, TILLE-HANKAMER, WEINER, F. WILHELM, WOLF 1. 1. 1 gegenw. Deutsch ADOLF, ANHEGGER, ANSTOCK, ARGELANDER, BAADER, BARTHOLMES, BENJAMIN, BORNEMANN, BRINKMANN, DOEGEN, GAEDE, GRUMACH, GUMPERZ, GUTTMANN, HAAS (Fachsprache), HALPERT, HAMBURGER, KAISER, JOLLES, KLEMPERER, KRIS, LEHNER, LERCH, E. LEWY, LOOSE, MARCHAND, MAUTNER, NAUMANN, PA(E)CHTER, PERLOFF, PETERS, POLITZER, PROKOSCH, RICHTER, SCHNEIDER, SCHWARZ, SEIDEL-SLOTTY, SPEIER, STORFER, STRAUBINGER, THIEBERGER, WERNER 1. 1. 2 Älteres Deutsch ADOLF, ANHEGGER, ARNDT, BACON, BÄUML 1. 1. 3 Niederdeutsch ADOLF, BAADER, BRAUN (Friesisch), H. COLLITZ, JACOBSOHN, KAISER, LASCH, STAMMLER 1. 1. 4 Jiddisch BIN-NUN, S. BIRNBAUM, FALK, FUKS, GARVIN, SAPIR, SCHAECHTER, SCHNITZLER, WEINBERG, M. WEINREICH, U. WEINREICH, WOLF 1. 2 Englisch BORINSKI, BRUNNER, EISLER, ELLIOT, FILLENBAUM, FÖRSTER, GARVIN, GLOGAUER, HATZFELD, HECHT, HIBLER-L., HITTMAIR, HOMEYER, HÜBENER, LENNEBERG, LINDHEIM, MAAS, MARCHAND, PENZL, POKORNY, POLITZER, REUNING, SAMUELSDORFF, SCHÜCKING, H. SPERBER, SPITZER, STEUERWALD, STEVENS, WALZ, K. E. ZIMMER
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1. 2. 1 gegenwärtiges Englisch ARONSTEIN, BONHEIM, BUCK-VANIOĞLU, DOEGEN, GUMPERZ, HAAS, HORN, PERLOFF, PETERS, ROSENBERG 1. 3 Niederländisch SCHMITT 1. 4 Skandinavische Sprachen BARTHOLMES (Schwedisch), GUMPERZ (Norwegisch), HAMBURGER (Schwedisch), POLLAK (Schwedisch), H. SPERBER 1. 5 Altgermanische Sprachen (Gotisch, Runengermanisch etc.) ADOLF, ARNTZ, FEIST, JELLINEK, MEZGER, NEHRING, NORDEN, PENZL, POLLAK, PROKOSCH, F. G. J. RANKE, REICHARDT, G. SACHS 2. Romanische Sprachen GROTH, H. KAHANE, R. KAHANE, MALKIEL, OLSCHKI, POLITZER, RICHTER, ROHLFS, G. SACHS, SANDMANN, W. SIMON, SPITZER, VOSSLER, WAGNER 2. 1 Französisch BACH, COHN, FRIEDMANN, GUTKIND, HATZFELD, HEYD, JORDAN, KLEMPERER, K. KRAUS, KRAUSS, KUTTNER, LEHMANN-PIETRKOWSKI, LEHNER, LEO, LERCH, LEWENT, MARCHAND, PULGRAM, RAUHUT 2. 1. 1 älteres Französisch ADOLF, AUERBACH, BERGEL, GAEDE, HERCUS 2. 1. 2 gegenw. Französisch A. BIELER, BUCK-VANIOĞLU, DOEGEN, NAUMANN, PERLOFF, THIEBERGER 2. 2 nicht-franz. Dialekte in Frankreich (Okzitanisch, Katalanisch), Rätoromanisch etc. FRIEDMANN, HIRSCH, LERCH, LEWENT, U. WEINREICH (Rätoromanisch) 2. 3 Italienisch FRIEDMANN, GUTKIND, HATZFELD, JORDAN, LEO, MERIGGI, RAUHUT, REICHENBERGER 2. 4 Spanisch BENTON, HATZFELD, KRAUSS, KRONIK, LENZ, REICHENBERGER, (FEILER-)SACHS, SPONER 2. 5 Sardisch WAGNER 2. 6 Rumänisch HATZFELD, E. SEIDEL, SEIDEL-SLOTTY, TIKTIN
74 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher 2. 7 Portugiesisch LENNEBERG 3. Italische Sprachen GÖTZE, E. GOLDMANN, JACOBSOHN 3. 1 Latein BRANDT, BRINKMANN (Mittellatein), DIEHL, E. D. M. FRAENKEL, GROTH, HAVERS, G. HOENIGSWALD, H. HOENIGSWALD, HOMBERGER, HOMEYER, JACKSON, LATTE, NORDEN, OELLACHER, RECHNITZ, REICHENBERGER, ROHDE, H. B. ROSÉN, H. ROSÉN, SELIGSON, SKUTSCH, F. SLOTTY, SPANIER, STOESSL 3. 1. 1 späteres Latein BRINKMANN (Mittellatein) 4. Griechisch GALTON, HAVERS, G. HOENIGSWALD, H. HOENIGSWALD, LATTE, MAAS, H. B. ROSÉN, SPANIER, WALTER, G. ZUNTZ 4. 1 Altgriechisch DEBRUNNER, E. D. M. FRAENKEL, E. E. S. FRAENKEL, H. F. S. FRAENKEL, VON FRITZ, GRUMACH, GUTMAN, JACOBSOHN, JAEGER, NEHRING, NEUBERGER, NORDEN, OELLACHER, POLOTSKY, E. SCHLESINGER, G. SCHLESINGER, F. SLOTTY, STOESSL 4. 2 Neugriechisch FAHRNER, H. KAHANE, R. KAHANE(-TOOLE), ROHLFS 5. Slavische und baltische Sprachen ARNDT (Russisch), BABINGER (Balkansprachen), H. BIRNBAUM, E. E. S. FRAENKEL (Baltisch), GALTON, GARVIN, HOMEYER (Russisch), JACKSON (Russisch), JACOBSOHN, JOKL, E. LEWY (balt. Spr.), MENGES, PERLOFF (Russisch), REICHARDT, SPITZER (Russisch), W. STEINITZ (Russisch), TEDESCO, TRUBETZKOY, WAGNER (Balkansprachen), U. WEINREICH 6. Indisch28 �� 28 Zu den indo-arischen Sprachen: Sanskrit bezeichnet die älteste Form aus dem 1. Jtsd. v.d.Z. (vor allem in den Veden, also religiösen Texten, überliefert); kodifiziert wurde es in der Mitte des 1. Jtsd. (Paṇini), als es bereits keine gesprochene Alltagssprache mehr war. Als Literatursprache wurde (und wird) es weiterhin praktiziert, vor allem bei den Hindus, deren literarischer Kanon in Sanskrit verfaßt ist (insbes. das Mahābhārata). Ab dem 4. Jhd. v.d.Z. ist schon eine andere sprachliche Form im Gebrauch, das Prākrit, in dem vor allem die buddhistischen Texte verfaßt sind. Von den verschiedenen Prākrit-Varianten ist vor allem das Pāli wichtig, das auch als Literatursprache weiterhin verwendet wird. Seit dem 11. Jhd. sind sprachlich z.T. sehr
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6. 1 Altindisch (Sanskrit) B. GEIGER, HEIMANN, HERCUS, LIEBENTHAL, H. LÜDERS, NEISSER, RUBEN, SCHAEFFER, SCHEFTELOWITZ, SCHERMAN, O. STEIN, TEDESCO, WOLFF, H. R. ZIMMER 6. 2 Jüngeres Indisch (Hindi etc.) GUMPERZ, H. HOENIGSWALD 6. 3 Zigeunersprachen E. LEWY, S. WOLF 7. Iranische Sprachen und Kontaktsprachen B. GEIGER, HENNING, HERZFELD (Altiranisch), PENZL (Pashto), POLOTSKY, SCHEFTELOWITZ, TEDESCO 7. 1 Persisch MITTWOCH, RITTER, WEISSBACH (Altpersisch) 7. 2 Kurdisch RITTER 7. 3 Ossetisch MENGES, TRUBETZKOY 8. Alt-anatolische Sprachen 8. 1 Hethitisch29 BOSSERT (u.a. altanatolisch, mediterrane und vorderasiatische Sprachen), GÖTZE, FALKENSTEIN, GÜTERBOCK, J. LEWY, MATOUŠ, MERIGGI, MEZGER, L. ZUNTZ 9. Weitere i.e. Sprachen 9. 1 Keltisch FÖRSTER, HERTZ, POKORNY, REICHARDT, H. ROSÉN 9. 2 Tocharisch HENNING, POKORNY, SAPIR
�� weitgehend umgebaute Varietäten umgangssprachlich im Gebrauch, die unter Neuindisch gefaßt werden (darunter auch die Vorläufer der Zigeunersprachen). 29 Das Hethitische als anatolischer Zweig der i.e. Sprachen ist neben der in formaler Hinsicht nur sehr schwer deutbaren hieroglyphischen Überlieferung keilschriftlich dokumentiert, also in der Schriftform der damals vor allen Dingen international üblichen Kanzleipraxis des Assyrischen (sprachlich: Akkadisch). Modellsprache war insofern diese spätere Form des Akkadischen (also einer semitischen Sprache), die ihrerseits die Schriftstruktur und graphischen Konventionen des Sumerischen fortführte.
76 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher 9. 3 Albanisch JOKL 9. 4 Armenisch B. GEIGER, MENGES, MITTWOCH, SPANIER, TIETZE 10. Kreolsprachen LENZ II. Nicht-indoeuropäische Sprachen 1. Semitische Sprachen30 BLOCH, BRÄU, BRAVMANN (Altsem.), B. GEIGER, RABIN
�� 30 Da die Beschäftigung mit semitischen Sprachen im Katalog einen großen Raum einnimmt, soll eine terminologische Übersicht zur Orientierung dienen, weil für Nicht-Spezialisten das Changieren zwischen Sprachbezeichnungen und Völker- und Reichsnamen verwirrend sein kann. Die Probleme verschärfen sich hier angesichts einer 5000jährigen Überlieferung, während derer die Bezeichnungen öfters wechselten, insbesondere in Hinblick auf den historisch zentralen Raum Syrien (vgl. mit der Bestimmtheitsmarkierung as-Syrisch). In sprachwissenschaftlichen Darstellungen wird in der Regel mit drei geographisch zugeordneten Gruppen operiert: Nord-Ost-Semitisch Akkadisch
Nord-West-Semitisch Aramäisch
Hebräisch (außer-
Süd-West-Semitisch Arabisch
Äthiopisch
dem Punisch...) Akkadisch ist die Sprache des älteren assyrischen (babylonischen) Reiches, seit dem -3. Jtsd. überliefert. Als Schriftsprache wurde es neben dem (nicht-semitischen) Sumerisch praktiziert. Aramäisch ist die Sprache des späteren babylonischen Reiches im -1. Jtsd. (auch im persischen Großreich als Verkehrssprache üblich). In der zweiten Hälfte des -1. Jtsd. wurde es auch in Judäa gesprochen (als „Sprache Jesu“, s.u.). Unter der Bezeichnung Syrisch blieb das Aramäische in der Ostkirche liturgische Sprache (und wurde bis ins [europäische] Mittelalter auch noch gesprochen). In Dialektinseln wird es heute noch praktiziert („Neuaramäisch“): Westaramäisch in Dörfern der Region Damaskus, Ostaramäisch im Grenzgebiet Türkei/Iran (Tur ʕabdin). Heute ist die Bezeichnung Syrisch für das in Syrien gesprochene Arabisch üblich. Hebräisch war im -1. Jtsd. die Sprache von Judäa: in der Zeit des „ersten Tempels“, also der Könige David und Salomon. Als sog. „Bibel-Hebräisch“ ist es in den älteren Büchern des Alten Testaments überliefert. Nach der Eroberung Judäas und der darauffolgenden Deportation der Juden nach Babylon („babylonische Gefangenschaft“) änderte sich die Sprache, nicht zuletzt unter aramäischem Einfluß. Die jüngere Form des Hebräischen ist schon in den weiteren Büchern des Alten Testaments greifbar, vor allem aber in der mündlichen Rechtstradition, die später (nach der christlichen Zeitwende) mit dem Talmud als Mischnah aufgezeichnet wurde (daher auch die Bezeichnung „mischnaisches Hebräisch“; Mischnah wörtlich „Abschrift“, zur √ʃnh „wiederholen“). Als Schriftsprache wurde das Hebräische von den Juden weiter praktiziert (ohnehin blieb es ihre liturgische Sprache), vergleichbar dem Latein im christlichen West-
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1. 1 Hebräisch BLOCH , DOTAN, GOLDBERG, M. D. GOLDMAN, GOLDSCHMIDT, GOSHEN-GOTTSTEIN, KAHLE, LAUFER, LEIBOWITZ, LEVY, H. B. ROSÉN, ROSENTHAL, SAMUELSDORFF, SPANIER, A. SPERBER, TUR-SINAI, WEINBERG 1. 1. 1 Ivrit BACON, BLAU, BLOCH, GOSHEN-GOTTSTEIN, RABIN, H. B. ROSÉN, H. ROSÉN 1. 2 Arabisch B. GEIGER, GOSHEN-GOTTSTEIN, HENNING, KLEIN, P. E. KRAUS, LESLAU, LEVY, MITTWOCH, RABIN, RITTER, ROSENTHAL, WAGNER, WEISSBACH 1. 2. 1 Altarabisch/Klass. Arabisch BLAU, BLOCH, BRAVMANN, CASKEL, M. D. GOLDMAN, KAHLE, LICHTENSTADTER, RICE, WEIL 1. 2. 2 Neuarabische Umgangssprachen BLAU, BLOCH, KAHLE, WEISSBACH 1. 2. 3 Äthiopisch (Südarabisch etc.) BRAUNER-PLAZIKOWSKY, M. D. GOLDMAN, GOLDSCHMIDT, LESLAU, MITTWOCH, RICE 1. 3 Aramäisch (Altsyrisch etc.) HENNING, POLOTSKY (Neuaramäisch), RICE, RITTER, ROSENTHAL 1. 4 Altsemitische Sprachen (Akkadisch etc.) ERMAN, F. R. KRAUS, P. E. KRAUS, LESLAU, MITTWOCH, OPPENHEIM, POEBEL, H. H. J. RANKE, TUR-SINAI, WEISSBACH 2. Weitere afro-asiatische Sprachen 2. 1 Ägyptisch ANTHES, ERMAN, PFLÜGER, POLOTSKY (Koptisch), H. H. J. RANKE, STEINDORFF (Koptisch) 2. 2 Kuschitisch, Omotisch, Berberisch etc. BRAUNER-PLAZIKOWSKY, LESLAU, WÖLFEL
�� europa. In gewissen Grenzen wurde es dabei auch „modernisiert“ (aber zu unterscheiden von den nicht-semitischen Umgangssprachen, die ggf. in hebräischer Schrift verschriftet wurden wie z.B. Jiddisch). Am Ende des 19. Jhd. kommt es mit dem Projekt einer jüdischen Rückkehr nach Palästina (mit der zionistischen Bewegung) zu Anläufen, das Hebräische wieder zu einer auch mündlich praktizierten Sprache zu machen, wozu es im heutigen Israel auch geworden ist (im Text entsprechend der modernen Lautierung von Hebrä(isch) als Ivrit bezeichnet.
78 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher 3. Schwarzafrikanische Sprachen MERIGGI (Khoisan), SAMUELSDORFF (Suaheli) 4. Sinitische Sprache 4. 1 Chinesisch ERKES, W. FUCHS, GABAIN, HALOUN, KRAUSE, LAUFER, LESSING, LIEBENTHAL, MISH, OLSCHKI, PIASEK, REIFLER, ROSTHORN, SCHAEFFER, SCHINDLER, SIMON, R. A. STEIN, VON DEN STEINEN, H. WILHELM, WITTFOGEL, WOITSCH, V. ZACH 4. 2 Tibetisch LESSING, LAUFER, SCHERMAN (Tibetoburmanesisch), SIMON, R. A. STEIN, SAPIR 5. Altaische Sprachen31 GALTON, LAUFER, MENGES, SIMON 5. 1 Türkisch ANHEGGER, BABINGER, GABAIN, GÜTERBOCK, KAHLE, MARCHAND, MENZEL, MITTWOCH, REUNING, RITTER, SPITZER, STEUERWALD, TIETZE, WAGNER, WEIL, WEISSBACH, WITTEK, K. E. ZIMMER 5. 2 Mandžu32 W. FUCHS, LAUFER, LESSING, MISH, SIMON, V. ZACH 5. 3 Mongolisch und andere sibirische Sprachen LAUFER (u.a. Ainu), LESSING, MENGES 5. 4 Japanisch JORDAN, F. E. A.KRAUSE, H. B. ROSÉN 6. Finno-ugrische Sprachen JACOBSOHN, E. LEWY, PETERS (Estnisch), W. STEINITZ, WERNER �� 31 Ich behalte diese problematische Klassifizierung bei, da sie zeitgenössisch vertreten wurde (insbes. von MENGES). 32 Das Mandžu ist eine altaische Sprache und insofern mit dem Chinesischen nicht verwandt, während sie große typologische Ähnlichkeiten mit dem Japanischen aufweist, mit dem sie von einigen Sprachforschern genetisch auch zusammengebracht wird. Heute wird das Mandžu in der Mandjurei nicht mehr gesprochen, wohl aber noch von kleineren Völkern in Sibirien, ebenso wie das mit ihm eng verwandte Tungusische (in einigen Darstellungen firmiert das Mandžu auch als tungusische Sprache). Das auch Mandiu geschriebene Volk (in anderen Quellen auch Juschen genannt) spielte eine prominente Rolle in der chinesischen Geschichte. Eine Mandžu-Dynastie herrschte dort vom 17. Jhd. bis 1911. Insofern ist die Beschäftigung mit dem Mandžu für historisch oder philologisch ausgerichtete Sinologen immer schon obligatorisch gewesen, s. Franke 1968.
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6. 1 Ungarisch BABINGER, SPITZER 7. Amerindische Sprachen BOAS, GARVIN, KOPPERS, LENZ, RUBEN 8. Australische, austroasiatische und pazifische Sprachen HERCUS, RECHNITZ, RUBEN (Munda), W. SCHMIDT 9. Alte mediterrane/vorderasiatische Sprachen (außer I.8 und II.1.4) GRUMACH, BOSSERT 9. 1 Etruskisch33 FIESEL, E. GOLDMANN, H. HOENIGSWALD, PULGRAM, H. B. ROSÉN, F. SLOTTY 9. 2 Sumerisch FALKENSTEIN, GÜTERBOCK, F. R. KRAUS, LANDSBERGER, MATOUŠ, OPPENHEIM, POEBEL, WEISSBACH 10. (Weitere) Isolate 10. 1 Baskisch E. LEWY, ROHLFS 10. 2 Kaukasische Sprachen34 B. GEIGER, MENGES
�� 33 Etruskisch ist in einer großen Zahl von Inschriften in Mittel- und Norditalien vom 7.-1. Jhd. v.d.Z. überliefert, die zwar lesbar sind (in einer Form des Alphabets, aus dem später das lateinische entwickelt wurde), die aber nicht übersetzt werden können, soweit es sich um mehr als kurze epigraphische Formeln und Eigennamen handelt (aus denen sie überwiegend bestehen). Einigermaßen gesichert ist nur, daß es sich um keine ie. Sprache handelt (obwohl auch das immer wieder ins Feld geführt wird, s. hier E. GOLDMANN). Die Beschäftigung mit dem Etruskischen findet sich daher bei sprachgeschichtlich orientierten Latinisten (sie hat einen entsprechenden institutionellen Status in Italien) sowie bei Indogermanisten, die systematischer an Fragen der Prä-Rekonstruktion arbeiten, so etwa auch (ausgesprochen kritisch) PULGRAM. Für einen einführenden Überblick Pfiffig (1972). 34 Da der Kontakt mit den kaukasischen Sprachen für die Analyse der strukturellen Besonderheiten des Armenischen und auch des Ossetischen (einer iranischen Sprache) eine zentrale Rolle spielt, bei denen z.B. die phonologischen Systeme vom „kaukasischen“ Typ, und nicht dem der ie. Sprachen sonst sind, gehören sie auch zum Forschungsgegenstand von Indogermanisten, die hier einen Arbeitsschwerpunkt haben.
80 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher 2.5.4 Die Nachbarfächer Wie schon bei der Entwicklung der Profile der Sprachforschung in 2.4.2. diskutiert ist, läßt sich diese nicht nur nicht auf den institutionellen Rahmen der Universität abbilden, sondern innerhalb von dieser auch nicht auf die philologischen Fächer. Vielmehr ist ein nicht unerheblicher Teil der hier Dokumentierten in Nachbarfächern angesiedelt, die damals (wie im übrigen auch heute) mit der Sprachforschung ein großes Schnittfeld zur Sprachwissenschaft aufweisen. Eine zeitgenössische Klammer bildete ein holistisches Sprachverständnis, das nicht auf die philologische Tradition beschränkt ist, bei der es im fraglichen Zeitraum noch nicht zur disziplinären Ausdifferenzierung von Sprach- und Literaturwissenschaft gekommen war. Es findet sich gerade auch in Nachbarwissenschaften, die explizit auf Sprache Bezug nehmen, im Verhältnis von Sprache und Gesellschaft in Soziologie, Politologie und auch in der Rechtswissenschaft, Sprache und soziale Verhältnisse im weiteren Sinne in der Ethnologie, schließlich Sprache und Psyche in der Psychologie bis hin zur Psychoanalyse. Angesichts der schwierigen Grenzziehung sind hier nur exemplarische Beispiele aufgeführt.
Psychologie Die Abgrenzungsprobleme sind oben schon angesprochen. Gerade die experimentell basierte neue Psychologie seit dem Ende des 19. Jhd. war durch die praktischen Vorgaben zu einem erheblichen Anteil auch Sprachforschung: bei den Experimenten bzw. Tests wurden den Probanden sprachliche Daten vorgelegt, auf die sie reagieren mußten – und aus diesen Reaktionen sollten psychische (kognitive) Strukturen extrapoliert werden. Hinzu kamen technische Anwendungsbereiche mit sprachlichen Daten, angefangen bei den neuen Übertragungstechniken (Telefon, Grammophon), die als Anwendungsfeld der Wahrnehmungspsychologie gesehen wurden (so etwa am Berliner Institut von Stumpf). Schließlich gab es Anwendungsfelder als Grundlagenforschung für die medizinischen Berufe (vor allem mit der Aphasieforschung, die durch die massenhaften Kopfverletzungen im Ersten Weltkrieg einen enormen Aufschwung nahm, s. hier bei GELB, GOLDSTEIN u.a.) und schließlich der Pädagogik. Der Ausbau einer „differenziellen Psychologie“ mit der Entwicklung von Testverfahren, bei denen sprachliche Vorgaben eine Schlüsselrolle hatten, ist ein direkter Ausdruck dafür (s. etwa bei W. STERN). Tatsächlich sind in diesem psychologischen Feld die konzeptuellen Grundlagen der Sprachforschung am weitesten geklärt worden – allerdings in der
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Regel von Fachvertretern, die in ihrer Forschung sprachliche Fragen nicht ausdrücklich zum Gegenstand machten, wie es für die meisten Vertreter der Gestaltpsychologie gilt, s. 7.2–3.35 Aber auch da, wo das der Fall ist, wurden (und werden!) die strukturellen Besonderheiten des Gegenstands Sprache (der nur in der Ausdifferenzierung in Einzelsprachen zugänglich ist) ausgeblendet, und relativ naiv von Sprache i.S. der experimentell präsentierten Reize auf kognitive Strukturen geschlossen. Eine systematische Kritik an diesem „Psychologismus“ leistete HUSSERL, der seine Forschungen zunächst auch in diesem Umfeld betrieb. Er stellte insbesondere heraus, daß mit Zeichenstrukturen ein Systemzwang verbunden ist, durch den sie nur in ihrem spezifischen Zeichenfeld in wechselseitiger Abhängigkeit definiert sind. Die forschungspraktische Konsequenz daraus hat vor allem K. BÜHLER gezogen, der aus diesem Grund auch zur Sprachwissenschaft zu rechnen ist, bei ihm gerade auch in Hinblick auf die Dimension C in 1.4. Er ist eine Schlüsselfigur bei der Herausbildung der theoretischen Fundierung der neueren Sprachwissenschaft (s. Profil I), und aus ihr nicht wegzudenken. Weitere Psychologen sind hierher zu rechnen, die z.T. mehr theoretisch, z.T. aufgrund ihrer praktischen klinischen Forschungen einschlägig sind, auch wenn sie in den Handbüchern nicht immer so erscheinen. Hier kann diese Dokumentation helfen, das vorherrschende Bild zurechtzurücken, s. LENNEBERG, SELZ, WERNER u.a. Vor allem die Kindersprachforschung und weitere sprachbezogen angewandte Felder gehören hierher: s. ARGELANDER, HETZER, W. und C. STERN u.a. Dabei konnten hier, außerhalb der damals etablierten akademischen Disziplin, Sprachforschungen systematisch betrieben werden, die heute zum Kern des Faches zählen, etwa HETZERs Arbeiten zu „schichtenspezifischem“ Sprachverhalten. Einen weiteren Überscheidungsbereich bildet die Psychoanalyse, s.u. bei der Medizin.
Philosophie Die Sprachreflexion ist für die neuere Philosophie konstitutiv. Wichtige Vertreter sind hier im Katalog: CASSIRER, R. HOENIGSWALD, HUSSERL. Bemerkenswert ist dabei, wie wenig direkte Berührungspunkte es zur disziplinären Sprachwissenschaft gab. Obwohl CASSIRER mit einem enzyklopädischen Anspruch die Vielfalt an damals vorliegenden Sprachbeschreibungen in den Blick nahm, steht sein Omnikomparatismus geradezu auf dem Gegenpol zum fachlichen Ziel, die jeweiligen Sprachsysteme herauszuarbeiten, und damit zur methodisch kontrol�� 35 Für einen detaillieren Überblick s. Ash (1995).
82 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher lierten Sprachtypologie. HUSSERL war zwar in den zeitgenössischen theoretisch orientierten sprachwissenschaftlichen Diskussionen präsent, seine grundlegende grammatiktheoretische Wirkung auf das Fach kam aber erst später und dann indirekt über seine kategorialgrammatische Formalisierung bei den polnischen Logikern zustande. Ohnehin ist der fachgeschichtlich spannendste Punkt die Sprachphilosophie in ihrer formaleren Ausprägung. Ohne CARNAP ist die neuere sprachtheoretische Entwicklung sicherlich nicht denkbar – obwohl dieser sich selbst ausdrücklich nicht mit Sprache in dem Sinne beschäftigt hat, wie sie Gegenstand der Sprachwissenschaft ist. Daß er zu diesem Feld dazuzurechnen ist, versteht sich aber wohl von selbst, wird verdeutlicht auch durch seinen Schüler BAR-HILLEL. Dieses Feld ist ausgesprochen vielfältig und vor allen Dingen wohl auch eines, das durch Emigranten (und nicht durch im ‚Reich‘ Verbliebene) bestimmt ist, s. noch REICHENBACH. Von hier aus haben sich Fragen der technischen Umsetzung gestellt, etwa der maschinellen Übersetzung bzw. der Computerlinguistik, die für die jüngere Entwicklung der Sprachwissenschaft zentral sind, s. BAR-HILLEL, REIFLER und auch SAMUELSDORFF. Dabei ist deutlich, daß diese Entwicklungen ihren Ausgangspunkt gerade auch bei Arbeiten genommen haben, die üblicherweise in diesem Kontext nicht mehr zitiert werden, wie z.B. HUSSERL. Dieser ist daher hier auch mit aufgenommen, vgl. auch mit anderer philosophischen Ausrichtung R. HOENIGSWALD. Schließlich gehören hierher auch Arbeiten, die diese philosophische Neuorientierung in der Auseinandersetzung mit literarischen Gegenständen weiterentwickeln, auch wenn sie in der sprachwissenschaftlichen Fachgeschichtsschreibung zumeist nicht zur Kenntnis genommen werden (wie HAMBURGER – auch sie im Anschluß an HUSSERL).
Mathematik bildet hier ein Grenzgebiet, s. bei FREUDENTHAL. Als angewandte Mathematik sind aber neuere disziplinäre Entwicklungen wie die Computerlinguistik (im weiteren Sinne: die Kognitionswissenschaft ...) zu sehen: OETTINGER.
Phonetik Die Entwicklung der Phonetik verlief im frühen 19. Jhd. außerhalb des Horizonts der Philologien, zunächst vor allem innerhalb der Medizin (Hals-Nasen-OhrenMedizin), und kam erst im Rahmen der Etablierung der historischvergleichenden Sprachwissenschaft im letzten Drittel des 19. Jhds. in die Position einer Grundlagenwissenschaft, mit der sich die Sprachwissenschaft von der philologischen Ausrichtung auf (schriftliche) Texte emanzipierte, s. auch bei
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FRÖSCHELS für die Koppelung von phonetischer und medizinischer Forschung. Die weitere Entwicklung war sehr stark durch technische Interessen an der neuen Wissenschaft bestimmt, s. auch PETERS. Die Faszination durch die Phonetik, vor allen Dingen die apparative Phonetik, ging zusammen mit dem Erschließen von Arbeitsfeldern für diejenigen, die ohnehin am Rande der etablierten Disziplin standen: die neu studierenden Frauen, die man gerade auch in der phonetischen Forschung der Frühzeit findet, s. RICHTER (und auch in ihrer Nachfolge ihr Schüler PULGRAM).36
Medizin/Psychiatrie (Psychoanalyse) Angesichts der Bedeutung, die die Sprachpathologie für die jüngeren Entwicklungen gerade auch der theoretischen Sprachwissenschaft hat, gehören sprachorientierte Mediziner hierher, s. etwa GUTTMANN; das gilt insbesondere für die Aphasieforscher: FRÖSCHELS, GELB, GOLDSTEIN, PICK, WEIGL. Ähnliches gilt für Psychiater bzw. Pädiater, oft in Verbindung mit der Psychoanalyse: SPITZ, KRIS, auch STORFER; zu den disziplinär fließenden Grenzen vgl. auch ALBU-JAHODA. In umgekehrter Richtung zeigt sich auch die Durchlässigkeit dieses ganzheitlich zu verstehenden Feldes von Sprachforschung, wenn psychoanalytische Anregungen von Vertretern in diesem Katalog ausdrücklich aufgenommen wurden: SCHIROKAUER, H. SPERBER, SPITZER. Die Interaktion der Felder Sprachforschung und Psychoanalyse ist sehr komplex. Wissenschaftsgeschichtlich ist sie aufschlußreich, weil sich hier ein Fach neben (und in gewisser Weise auch gegen) die akademischen Disziplinstrukturen etablieren konnte. Sprache ist in der Psychoanalyse zentral: als dem primären professionelles Medium der „redenden Kur“, wie FREUD sie selbst bezeichnete – aber die systematische theoretische Reflexion blieb lange unterentwickelt: die Begrifflichkeit beschränkte sich weitgehend auf das Bildungswissen, das die Akteure aus der Schule mitbrachten. Erst lange nach FREUD ist im psychoanalytischen Diskurs Sprache als systematischer Gegenstand in den Blick gekommen.37 Faktisch liegt FREUDs Wirkung auf die Sprachwissenschaft �� 36 Auch international gehörten hier Frauen zu den Pionier(inn)en, z.B. Louise Kaiser (1891– 1973), die als Dozentin für Phonetik an der Universität Amsterdam dort 1932 einen großen internationalen Kongreß zur Phonetik organisierte, auf dem sich deren zünftige Organisationsform etablierte (einschließlich der Beteiligung von Phonologen). 37 Eine zentrale Rolle spielt hier der französische Analytiker Jacques Lacan (1901–1981), vor allem durch die (posthum publizierten) Mitschriften seiner Seminare. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive hat Émile Benveniste die methodisch nicht kontrollierte Verdoppelung der therapieinternen Symbolisierungen um eine Projektion auf Sprachliches als soziale Struktur
84 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher allerdings auch nicht bei den (wenigen) direkten Einflüssen. Mit der Trivialisierung psychoanalytisch motivierter Denkweisen im jüngeren Kulturbetrieb wird paradoxerweise im Fach der naturalisierenden Verdrängung kultureller Leistungen Vorschub geleistet, wogegen die „Neuerer“ nach dem Ersten Weltkrieg, z.T. gerade auch in Berufung auf ihn, angegangen waren; als Gegenstand der sprachwissenschaftlichen Modellierung werden die „gesetzmäßig“ konzeptualisierten Prozesse im frühkindlichen Spracherwerb in den Blick genommen, ebenso wie die nicht weniger als „naturhaft“ konzeptualisierten Abläufe unzensierter interaktiver (mündlicher) Kommunikation; privilegierter Gegenstand sind die Kommunikationsverhältnisse bei denen, die heute allerdings nicht mehr die „Wilden“ (oder „primitive Völker“) heißen. Dieser kollektive disziplinäre Verdrängungsprozeß ist psychoanalytisch nur als Regression zu beschreiben. Im Katalog sind zentrale Figuren der Psychoanalyse repräsentiert, die dort explizit Sprache thematisiert haben wie z.B. SPITZ. Andere sind hier aufgenommen, weil sie jenseits der psychoanalytischen Reflexion Sprachfragen systematischer bearbeitet haben wie KRIS oder STORFER; umgekehrt ist für einige der Sprachwissenschaftler im Katalog der Bezug auf die Psychoanalyse zentral (zumindest in einem Teil ihres Werks), s. bei H. SPERBER oder SPITZER.
Rechtswissenschaft: E. GOLDMANN, KORSCH, vgl. auch LATTE. In gewisser Weise sind auch diejenigen hierher zu rechnen, die (zumeist auf elterlichen Druck hin) zunächst eine juristische Ausbildung (als Ausrichtung auf einen Brotberuf) aufnahmen, bevor sie sich dann wissenschaftlich im sprachanalytischen Sinne umorientierten: TH. GEIGER, JACKSON, JOKL, MENZEL, SELZ.
Erziehungswissenschaft In der Erziehungswissenschaft/Pädagogik ist die Sprachreflexion im ganzheitlichen Sinne selbstverständlich, in der Regel allerdings abgeschottet von der Analyse der sprachlichen Form und damit der Sprachwissenschaft im engeren Sinne. Überschneidungen gibt es hier allerdings da, wo pädagogisch-didak-
�� schon deutlich herausgearbeitet: anders als beim Umgang mit den vorsprachlichen Prozessen, die FREUD im Blick hatte, steht Sprache eben nicht beliebig zur Disposition, sondern muß vom Individuum gelernt werden, s. Benveniste (1956), u.a. in Reaktion auf die Arbeiten von Lacan.
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tische Fragestellungen des Sprachunterrichts im Vordergrund stehen, wie vor allen Dingen im Bereich des Schrifterwerbs, s. hier BOSCH, SIEMSEN.
Sozialwissenschaft Die disziplinäre Herausbildung der Sozialwissenschaften verläuft parallel zur Professionalisierung der Sprachwissenschaft. Die Zusammenhänge ergeben sich einerseits im Gegenstandsbereich (den sprachlichen Verhältnissen als sozialem Phänomen), vor allen Dingen aber auch in methodischer Hinsicht, wo die Daten der Sozialwissenschaften in der Regel sprachlich erhoben werden (über Befragungen u. dgl.). So sind denn auch in diesem Katalog eine Reihe von führenden Sozialwissenschaftlern vertreten: s. ALBU-JAHODA, DEUTSCH, TH. GEIGER, LAZARSFELD, MARCUSE, SPEIER. Bemerkenswert ist bei diesen, wie in den einzelnen Artikeln zu ihnen detaillierter ausgeführt wird, daß sie ihre fachliche Entwicklung zumeist ohne expliziten Bezug zur Sprachwissenschaft entwickelten. Sie sind hier aufgenommen, weil sie mit ihren Arbeiten Bezugsgrößen für die neuere soziolinguistische bzw. sprachsoziologische Forschung sind. Marginal ist dagegen eine „ganzheitliche“, theoriebezogene Sprachreflexion in den Sozialwissenschaften, für die hier nur ein Beispiel angeführt wird: KORSCH, der durch seine Querverbindungen in der Emigrationsszene aufschlußreich ist. Hier ist es nicht möglich, klare Abgrenzungen vorzunehmen: schließlich ist Sprache konstitutiv für soziale Verhältnisse und insofern aus der Sozialforschung nie völlig auszuklammern. Eine ganze Reihe von Grenzfällen ist in den Katalog aufgenommen, um diese Probleme sichtbar zu machen. Zentraler Bezugspunkt ist HUSSERL und die an ihm orientierten Sozialwissenschaftler wie Alfred Schütz oder VOEGELIN, die nicht zur Sprachforschung gerechnet werden, weil sie keinen Bezug zur sprachwissenschaftlichen Diskussion aufweisen.
Historiker/Archäologen Für deren Forschung ist sprachwissenschaftliches Arbeiten unverzichtbar (bei der Arbeit mit Quellen; Epigraphie ist ein zentrales Feld der Archäologie). Insofern öffnet sich hier ein weites Feld, bei dem die Zuordnung nicht eindeutig ist und nur eine Auswahl geboten wird (das gilt vor allem für die Altorientalistik, s.o. in 2.6.3): ANTHES, BOAS, BOSSERT, FALKENSTEIN, GOETZE, GÜTERBOCK, HERZFELD, JUNKER, WEIßBACH, WITTEK , vergl. auch RICE, RUBEN. Im weiteren Sinne wären diejenigen hinzuzunehmen, die Archäologie als Studienfach hatte, s. die Einträge im Katalog.
86 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher In einigen dieser Fälle wird allerdings auf eine recht kavaliersmäßige Art mit Sprachfragen umgegangen, was die Grenzziehung zur Sprachwissenschaft umso deutlicher macht (s. etwa RUBEN). Andererseits spiegelt sich hier auch oft eine Schwerpunktverlagerung im Werk, wie bei RICE, der mit einer sprachwissenschaftlichen Arbeit (begründet in ethnographischen Forschungen) seine Karriere begonnen hatte, später aber als Kunsthistoriker anzusehen ist, der seine sprachwissenschaftliche Qualifikation allerdings auch dann in der akribischen Analyse sprachlicher Elemente des von ihm untersuchten Materials unter Beweis stellte.
Ethnologie Diese entwickelte sich zunächst ebenfalls außerhalb der Universität, einerseits in Verbindung mit den Museen, dann zunehmend organisiert auch im Rahmen der Kolonialinstitute (in Hamburg und Berlin). Die zunächst außerhalb von Deutschland in ihrem Rahmen entwickelte Methodendiskussion war die Grundlage für die moderne deskriptive Sprachwissenschaft. Sie ist bestimmt von hier aufgenommenen Emigranten, vor allen Dingen von BOAS, dann auch von dessen Schüler SAPIR. Die Artikel zu diesen beiden sind in dieser Hinsicht ausführlicher verfaßt, da sie hier einen paradigmatischen Status haben; vgl. auch RICE, RUBEN. Der Exotismus, der mit der „Völkerkunde“ verbunden war, bot auch eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung für diejenigen, die sich eher marginal zu den etablierten Fächern verhielten, also wiederum auch für Frauen, s. BRAUNERPLAZIKOWSKY (vgl. auch HERCUS). Wie schwierig die disziplinäre Grenzziehung ist, macht vor allem BOAS deutlich, der aus den modernen Entwicklungen der deskriptiven strukturellen Sprachwissenschaft nicht wegzudenken ist und der auch organisatorisch bei ihrer Formierung eine Schlüsselrolle hatte. Er hatte diese Funktion aber gerade, weil er nicht aus der akademischen Sprachwissenschaft (den philologischen Fächern) kam und daher als sprachwissenschaftlicher Autodidakt den methodischen Rigorismus eines Naturwissenschaftlers einbringen konnte. Insofern verstand er sich auch später explizit nicht als Sprachwissenschaftler, sondern als Anthropologe/Ethnologe, während er das Etikett Sprachwissenschaft für seinen Schüler SAPIR reservierte, der aus den philologischen Disziplinen kam. Es ist bemerkenswert, daß diese fachexternen Impulse die Weiterentwicklung entscheidend bestimmt haben, während die disziplininternen Neuerungen, vor allen Dingen die hier von mir als Neuerer angesprochenen „idealistischen Sprachwissenschaftler“: VOßLER, SPITZER u.a. letztlich keine professionellen Spuren hinterlassen haben: die Mehrheit der heutigen Fachvertreter wird sie
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(sofern sie sie überhaupt noch zur Kenntnis nehmen) in ihrer Ausrichtung als inkongruent zu dem sehen, was heute als Sprachwissenschaft gilt.
Nicht sprachliche Berufsfelder Komplementär stellen sich die Verhältnisse in Berufsfeldern dar, die nicht primär sprachlich definiert sind, für die Sprachforscher aber spezifische Qualifikationen mitbrachten wie insbesondere als Bibliothekare, darunter Galionsfiguren der Fachgeschichte wie z.B. Karl Verner. Zumindest in Abschnitten ihrer Laufbahn waren als Bibliothekare tätig: AUERBACH, BIELER, H. COLLITZ, JOKL, LENTZ, LEO, LESSING, LEVY, LICHTENSTADTER, LÜDERS, MISH, OELLACHER, OPPENHEIM, PICK, POKORNY, RECHNITZ, SCHAEFFER, SCHINDLER, SCHNEIDER, SIMON, SPANIER; R.A. STEIN,WEIßBACH, WEIL. Nicht wenige von diesen konnten später eine „reguläre“ akademische Karriere beschreiten.
2.5.5 Nicht-professionelle Sprachforschung Am Rand des so Katalogisierten steht eine Reihe von recht aktiven „Sprachforschern“ ohne solche disziplinäre Zuordnung, die sich mit dem Gegenstand Sprache in einer Weise befaßten, der dem methodisch Akzeptierten innerhalb der Profession nicht kongruent war und ist. Diese mit einzubeziehen ist im Sinne eines Unternehmens, das die Professionalisierung des Faches im Blick hat, ein notwendiges Korrektiv. Die Übergänge von amateurhaften Spekulationen zu ausgearbeiteten Ansätzen, die u.U. sogar praktisch von Bedeutung sein können, sind hier fließend. Einiges davon wird auch in hier aufgeführten Biographien sichtbar, wo sie faute de mieux als Kommunikationsforscher rubriziert sind: s. BLISS, BORNEMANN u.a. Einen gewissen Gegenpol zu diesen „Kommunikationsforschern“ bilden diejenigen, die sich von einer anderen Disziplin aus mit Sprachfragen systematischer beschäftigten. Auch wenn das dann eine eher amateurhafte Aktivität war, sind sie jedoch zu berücksichtigen, wenn sie sich an den für die Profession konstitutiven Aktivitäten beteiligten, z.B. an den internationalen Linguistenkongressen teilnahmen (wie. z.B. E. GOLDMANN); vgl. auch nicht-professionelle Sprachforscher mit einem methodisch durchaus traditionellen Selbstverständnis wie STORFER. Andererseits ist gerade dieses Feld relativ diffus und über das entsprechende Schrifttum nicht systematisch erschlossen. Hier würde ein prosopographisch umfassenderes Unternehmen u.U. noch weiter fündig wer-
88 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher den, wobei allerdings mit dem Grad der Marginalität in der Regel auch der Aufwand an Recherchen steigt, die solche Fälle erst erschließen.
2.6 Zur Professionalisierung der Sprachwissenschaft 2.6.1 Linguistenkongresse Wie wenig eindeutig die professionelle Grenzziehung der Sprachwissenschaft zeitgenössisch war, zeigen die Teilnehmer an den internationalen Linguistenkongressen, die der Intention der Organisatoren nach emblematisch das neue professionelle Selbstverständnis des Faches repräsentierten. Bei den Linguistenkongressen haben bis 1939 insgesamt 113 Fachvertreter teilgenommen (bzw. sich für den nicht stattgefundenen Kongreß 1939 angemeldet),38 darunter gerade auch in der Germanistik viele, die von ihrem Werk her heute als Literaturwissenschaftler wahrgenommen werden, allerdings mit einem mediävistischen Schwerpunkt: die Teilnahme entspricht also überwiegend den Profilen II bzw. V in Abschnitt 2.5.39 Diese Konstellation spiegelt sich auch im Katalog, aus dem bis einschließlich des 6. Kongresses 1948 die folgenden Fachvertreter teilgenommen haben: I: Den Haag 1928 ARNTZ BAADER BRAVMANN DOEGEN FEIST FIESEL E. FRAENKEL E. GOLDMANN HAAS
II: Genf 1931
III: Rom 1933
IV: Kopenhagen 1936 ×
×
V: Brüssel 1939 × ×
VI: Paris 1948
× × × × ×
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�� 38 Der Kongreß 1939 fand wegen des Kriegsausbruchs nicht statt. Verzeichnet sind hier diejenigen, die sich dazu mit einem Beitrag angemeldet hatten, zu dem eine Kurzfassung noch in den Kongreßbroschüren veröffentlicht worden ist (Vme Congrès International des Linguistes, Bruxelles 29.8.-2.9.1939, Reprint: Nendeln/Liechtenstein: Kraus 1975). Zu den damit verbundenen Problemen s. Fn. 12 in 2.4.6 und bei LERCH. 39 Zu den aktivsten Teilnehmern des 1. Kongresses 1928 gehörte ausweislich der Akten der Völkerkundler Hestermann, dessen Werk dem Profil III entspricht.
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HAFFNER HAVERS HITTMAIR H. HOENIGSWALD JORDAN KOPPERS LERCH LESLAU E. LEWY MENZEL MERIGGI MEZGER NEHRING PENZL POKORNY PULGRAM RICHTER ROHLFS SANDMANN E. SEIDEL SPITZER TRUBETZKOY M. WEINREICH
I: Den Haag 1928 ×
II: Genf 1931 ×
III: Rom 1933
IV: V: Kopenhagen Brüssel 1936 1939
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VI: Paris 1948 × ×
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Hier finden sich also gerade auch Nicht-Fachvertreter wie E. GOLDMANN und solche mit einem philologischen Profil wie HAFFNER und MENZEL.
2.6.2 Die Linguistic Society of America Der für die fachliche Entwicklung wichtigste Verband ist die Linguistic Society of America (LSA), die in ihrer Mitgliedschaft international zusammengesetzt ist. Diese wurde 1924–1925 gegründet, u.a. von einer ganzen Reihe der hier Aufgeführten (BOAS, H. COLLITZ, PROKOSCH, SAPIR). In der hier fraglichen Zeit war aber diese Mitgliedschaft keineswegs von der Philologie im weiteren Sinne eindeutig abgegrenzt. Insofern bestand hier auch eine relativ große Durchlässigkeit für die Emigranten, die in die USA einwanderten: z.B. waren 59 der 64 bei der Gründung der LSA registrierten Mitglieder Immigranten.
90 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher Von den im Katalog dokumentierten Personen waren 127 Mitglieder der LSA, hier auch nochmal mit einer groben fachlichen Zuordnung und dem Zeitraum der Mitgliedschaft: 40 Name/Geburtsjahr – Fachliche Zuordnung ADOLF, Helene/*1895 – Germanistin ARNDT, Walter/*1916 – Slawist AUSTERLITZ*, Robert/*1923 – Finno-Ugrist BACON, Isaac/*1914 – Germanist BAR-HILLEL, Yehoshua/*1915 – Logiker BIRNBAUM, Henrik/*1925 – Slawist BLISS, Charles K./*1897 – Kommunikationswiss. BLOCH, Ariel H./*1933 – Semitist BOAS, Franz/1858 – Ethnologe/Amerikanist BRUNNER, Karl/*1887 – Anglist BÜHLER, Karl L./*1879 – Psychologe COLLITZ, Hermann/*1855 – Indogermanist COLLITZ, Klara/*1863 – Germanistin DEBRUNNER, Alfred/*1884 – Indogermanist FIESEL, Eva/*1891 – Etruskologin FLEISCHHAUER*, Wolfgang/*1910 – Germanist FORCHHEIMER, Paul/*1913 – Allg. SW FRAENKEL, Eduard David Mortier/*1880 – Klass. Ph. GAEDE, William Richard/*1891 – Germanist GALTON, Herbert/*1917 – Slawist GARVIN, Paul/*1919 – Allg. SW GEIGER, Bernhard/*1881 – Indologe GOETZE, Albrecht/*1897 – Semitist/Hethitologe GUMPERZ, John Joseph/*1922 – Soziolinguist HAAS, William/*1912 – Allg. SW HATZFELD, Helmut/*1892 – Romanist HENNING, Walter Bruno/*1908 – Iranist HOENIGSWALD, Henry M./*1915 – Indogermanist HOMBERGER, Conrad Paul/*1900 – Sprachpädagoge KAHANE, Henry/*1902 – Romanist KAHANE, Renée /*1907 – Romanistin KURATH, Hans/*1891 – Germanist LENNEBERG, Eric H./*1921 – Psycholinguist
Zeitraum der Mitgliedschaft 1940 ... 1967 1953 ... 1971 1948 ... 1971 (ab 1962 LM) 1955 ... 1971 1952 ... 1971 1962 ... 1971 1936 ... 1940 1967 ... 1971 1924 ... 1943 1951 ... 1958 1941 ... 1948 1924 ... 1936 (†1935) 1927 ... 1944 (†1944) 1928 (HM) 1934 ... 1937 (†1937) 1956 ... 1971 1940 ... 1971 1935 (HM) (†1970) 1939 ... 1943 1951 ... 1971 1945 ... 1971 1939 ... 1963 (†1964) 1934 ... 1969 1953 ... 1971 (ab 1958 LM) 1962 ... 1971 1944 ... 1951 1946 ... 1950 1939 ... 1971 (ab 1953 LM) 1946 ... 1971 1(940 ... 1971 1940 ... 1971 1926 ... 1971 1949 ... 1971
�� 40 Ausgewertet sind die jährlichen Mitgliederlisten der LSA (Bulletin) von der Gründung 1971. In der rechten Spalte steht die erste Jahreszahl für das Beitrittsjahr, die zweite für das letzte in diesem Zeitraum. Punkte (...) zwischen den Jahresangaben repräsentieren eine kontinuierliche Mitgliedschaft in diesem Zeitraum. LM steht für die gewählte Mitgliedschaft auf Lebenszeit (life member), HM für die Ehrenmitgliedschaft (honorary member). Wenn das Ende der Mitgliedschaft sich durch den Tod erklärt, wird das Todesjahr vermerkt (†).
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Name/Geburtsjahr – Fachliche Zuordnung LESLAU, Wolf/*1906 – Semitist MALKIEL, Yakov/*1914 – Romanist MARCHAND, Hans/*1907 – Anglist MAUTNER, Franz H./*1902 – Germanist MENGES, Karl H./*1908 – Altaist/Slawist MEZGER , Fritz/*1893 – Germanist NEHRING, Alfons/*1890 – Indogermanist OETTINGER, Anthony/*1929 – Math. Linguist PENZL, Herbert/*1910 – Germanist POLITZER, Robert L./*1924 – Romanist POLOTSKY, Hans J./*1905 – Semitist PROKOSCH, Eduard/*1876 – Germanist PULGRAM, Ernst/*1915 – Romanist REICHARDT, Konstantin/*1904 – Germanist REIFLER, Erwin/*1903 – Sinologe REUNING, Karl/*1889 – Germanist ROSÉN, Haiim Baruch/*1922 – Gräzist/Hebraist SACHS, Leonie/*1908 – Romanistin SAPIR, Eduard/*1884 – Allg. SW SCHERMAN, Lucian/*1864 – Indologe SELIGSO(H)N, Gerda/*1909 – Klass. Philologin SPERBER, Hans/*1895 – Germanist SPITZER, Leo/*1887 – Romanist SPRINGER, Otto/*1905 – Germanist TEDESCO, Paul M./*1898 – Iranist TRUBETZKOY, Nikolay S./*1890 – Slawist/Allg. SW VATER*, Heinz/*1932 – Germanist WEINREICH, Max/*1894 – Jiddist WEINREICH, Uriel/*1926 – Jiddist/Allg. SW WERNER, Heinz/*1890 – Sprachpsychologe ZIMMER, Karl E./*1927 – Turkologe/Allg. SW
Zeitraum der Mitgliedschaft 1943 ... 1971 1940 ... 1971 (ab 1952 LM) 1955 ... 1968 1943 ... 1946 1938 ... 1950 1929 ... 1971 1937 ... 1967 (†1968) 1956 ... 1971 1938 ... 1971 1948 ... 1971 1957 ... 1962 1924 ... 1938 (†1938) 1947 ... 1971 1945 ... 1959 1949 ... 1964 (†1965) 1928 ... 1970 1956 ... 1971 1953 1924 ... 1939 (†1939) 1941 ... 1946 (†1946) 1959 ... 1970 1935 ... 1958 1937 ... 1957 1936 ... 1971 1938 ... 1971 1937/38 (HM) (†1938) 1969 ... 1971 1947 ... 1968 (†1969) 1951 ... 1966 (†1967) 1951 ... 1959 1958 ... 1971
Bei fast allen korrespondiert die Mitgliedschaft mit der Einwanderung in die USA. Einen Sonderstatus hatten Ehrenmitgliedschaften, die in erster Linie das Selbstverständnis der LSA anzeigen: DEBRUNNER, E. D. M. FRAENKEL, TRUBETZKOY. Außer diesen sind Nicht-Immigranten Ausnahmen: der Anglist BRUNNER, der in England lebende allgemeiner Sprachwissenschaftler HAAS und der Iranist HENNING, bei dem die Mitgliedschaft aber mit seinen häufigen Gastprofessuren in den USA nach dem Krieg korrespondiert. Den Status der immigrierten Sprachforscher und ihre Integration in die USLinguistik zeigt die relative große Zahl derer, die zu Präsidenten der LSA gewählt wurden – nicht unbedingt Vertreter eines „harten“ Strukturalismus. Darunter sind ältere „reguläre Immigranten“ wie der Gründungspräsidenten HER-
92 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher MANN COLLITZ (1925), dem weitere folgten: FRANZ BOAS (1928), EDWARD SAPIR (1933), HANS KURATH (1942). Aber auch jüngere Immigranten (Verfolgte) wurden zu Präsidenten der LSA gewählt: ALBRECHT GOETZE (1947), HENRY M. HOENIGSWALD (1958), YAKOV MALKIEL (1965), HENRY KAHANE (1984), ROBERT AUSTERLITZ (1990).
2.6.3 Die Abbildung des Katalogs auf das Fachverständnis in der DGfS Daß die Verschiebungen in der Fachstruktur der Sprachforschung keine Rückprojektion des heutigen Fachverständnisses auf die hier fragliche Zeit zuläßt, zeigen ex negativo heutige Reaktionen auf entsprechende Listen von verfolgten und/oder vertriebenen Sprachforschern. Dazu habe ich im Jahr 2007 eine Umfrage bei Mitgliedern der DGfS durchgeführt, die Namensliste des Katalogs (beim damaligen Bearbeitungsstand mit 210 Namen) mit einer fachlichen Zuordnung und dem Geburtsjahr vorgelegt wurde, mit der Bitte anzumerken, ob ihnen die Namen bekannt seien und gegebenenfalls sie auch von den Betreffenden etwas gelesen hätten.41 Das Ergebnis macht deutlich, daß die Wissenschaftsentwicklung nicht mit einer Rückprojektion des heutigen Fachverständnisses zu fassen ist. Gerade bei den bekanntesten Namen (mit einem Bekanntheitsrang von über 50%) handelt es sich im zeitgenössischen Sinne nicht um disziplinäre Vertreter: K. BÜHLER, LENNEBERG und W. STERN waren Mediziner bzw. Psychologen, CASSIRER, HUSSERL, MARCUSE waren Philosophen, wozu auch, mit einem formaleren/logischen Zuschnitt, BAR-HILLEL, CARNAP und REICHENBACH zu zählen sind, BOAS war Ethnologe. Andere sind eher der Literaturwissenschaft zuzuordnen, wie BENJAMIN, HAMBURGER, KLEMPERER, VOßLER, die vermutlich auch ihre Bekanntheit bei den DGfSMitgliedern nicht ihrer sprachwissenschaftlichen Arbeit zu verdanken haben. Dieser Befund macht deutlich, daß die heutige Sprachwissenschaft nicht als
�� 41 Die Umfrage wurde vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft unterstützt und am 20.9.2007 an alle Mitglieder elektronisch versandt (am 1.11.2007: 1038 Mitglieder). Aus technischen Gründen (aufgrund eines Verfahrens, das eine anonyme Auswertung sicherstellte) war die Beantwortung der Fragen sehr umständlich, da es nötig war, auch bei jeder Namensnennung eine eventuelle Fehlanzeige zu vermerken, so daß insgesamt 600 Schritte zur Beantwortung erforderlich waren. Umso bemerkenswerter war es, daß sich immerhin 152 Mitglieder dieser Prozedur unterzogen haben. Die vorgelegte Liste war kleiner als der hier abgedruckte Katalog, der zwischenzeitlich noch erweitert worden ist. Über die Ergebnisse der Umfrage wurde in den Mitteilungen der DGfS Nr. 66, Dezember 2007 berichtet. Eine detaillierte Auswertung findet sich auch in der Dokumentation 2010 / 2014 (dort in Abschnitt 1.8.4.3.) – sie wird hier nicht abgedruckt.
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Weiterentwicklung der vor 50 Jahren betriebenen Sprachwissenschaft zu verstehen ist, sondern als eine Neukonstitution, die erhebliche Anstöße aus disziplinär anders gestrickten Konstellationen erhalten hat, sowohl in Hinblick auf empirisch methodische Bedingungen, wie in Hinblick auf die Konzeptualisierung des Gegenstandes bzw. die theoretische Modellierung. 42 Andererseits ist deutlich, daß der größte Teil derer, die in diesem Katalog aufgeführt sind und die im zeitgenössischen Sinne fraglos die Sprachforschung und dabei auch die Sprachwissenschaft repräsentieren, den meisten jüngeren Fachvertretern nicht mehr bekannt sind. Sie praktizierten ihre Wissenschaft im Sinne des Profils II und sind daher nur denjenigen noch ein Begriff, die ggf. selbst in dem gleichen Feld forschen. Hier schlägt die Zusammensetzung der DGfS durch, in der Fachvertreter aus der Semitistik oder Sinologie relativ wenig vertreten sind, die umgekehrt in diesem Katalog einen großen Anteil stellen. So sind prominente, gerade auch sprachwissenschaftliche Vertreter kleinerer Fächer so gut wie unbekannt: in der Semitistik/Arabistik BLAU (3%), CASKEL (-), LESLAU (6%); in der Ägyptologie ERMAN (3%), POLOTSKY (2%); in der Altorientalistik GÜTERBOCK (als Hethitologe auch in der Indogermanistik eine zentrale Größe: 1%); in der Sinologie/Tibetologie LAUFER (-); bei den australischen Sprachen, die für die Typologie zunehmend zentral sind, HERCUS (1%), während Vertreter der Germanistik, auch wenn sie dort eine relativ marginale Rolle spielen, immerhin nicht unbekannt sind: BRAUN (12%), GAEDE (12%). Darin spiegelt sich ein grundsätzlicheres Problem, das ansatzweise auch durch die Kontrollfrage nach der Bekanntschaft mit Werken der Genannten in den Blick genommen wurde. Gerade bei den Bekanntesten ist eine Diskrepanz sehr deutlich (die erste Zahl gibt den Anteil an namentlichen Nennungen an, die zweite die Lesekenntnisse): der Name SAPIR ist selbstverständlich aus keiner Einführungsveranstaltung wegzudenken und hat so auch eine 100%ige Namensnennung (SAPIR (152/139), TRUBETZKOY (142/126), BOAS (139/112), U. WEINREICH (133/114), ähnlich bei E. LEWY (36/17), der zumindest in Typologieveranstaltungen eine gewisse Prominenz hat; etwas gelesen wurde von SAPIR allerdings nur bei 92% der Nennungen; ähnlich bei TRUBETZKOY (namentlich 94%, gelesen 83%). Vergleichbar bei den weniger Prominenten, z.B. E. LEWY 24% namentliche Nennungen, gegenüber 11% gelesenen Schriften. Die weniger Bekannten sind in der Regel dadurch bekannt, daß im fachlichen Kontext das eine
�� 42 Das wird auch durch jüngere fachgeschichtlich orientierte Veröffentlichungen bestätigt wie z.B. Auer (1998, 2.A. 2013), der dort unter den behandelten „22 Klassikern" der Gesprächsanalyse nur vier Sprachwissenschaftler im engeren Sinne darstellt (Benveniste, Gumperz, Hymes, Jakobson).
94 � Verfolgte deutschsprachige Sprachforscher oder andere von ihnen noch zitiert wird – hier decken sich meist die (niedrigen) Zahlen für die namentliche Bekanntheit mit den Lesekenntnissen. Das gilt dann aber in der Regel auch nur in spezialisierten sprachlichen Gegenstandsfeldern, nicht in Hinblick auf die programmatische Fachstruktur. Geht man also von dem Vorverständnis aus, wie es die heutigen Fachverbände hier am Beispiel der DGfS bestimmt, ist dieses nicht eine lineare Fortentwicklung aus den Verhältnissen von vor 100 bzw. 50 Jahren, bei denen sich, wie es in Handbüchern oft dargestellt wird, die Sprachwissenschaft durch eine institutionelle Ausdifferenzierung herausgebildet haben sollte. Vielmehr liegt das, was das heutige Fachverständnis ausmacht, quer zu der Art, wie das ältere Fachverständnis als ein bestimmter methodischer Zugang zu einem Gegenstandsbereich definiert war, der dem Fach nicht spezifisch eigen war. Die professionelle Ausrichtung der in diesem Katalog Versammelten ist schließlich von den institutionellen Rahmenbedingungen der jeweiligen Fächer bestimmt, die es bei den kleineren Fächern in der Regel unmöglich machten, eine homogene Habilitationskommission (oder gegebenenfalls auch schon Promotionskommission) zusammenzustellen, sodaß die Kandidaten notwendig auch eine darüber hinausgehende Thematik brauchten, um ihre Arbeit den Fachvertretern im weiteren Sinne plausibel zu machen. Diese Verschiebung im disziplinären Horizont spiegelt sich auch in den zeitgenössischen Repräsentationsformen. Daraus resultiert eine fachgeschichtliche Amnesie, von der nicht nur die philologischen Fachvertreter betroffen sind, die in spezialisierten philologischen Teilgebieten fern von der systematischen sprachwissenschaftlichen Reflexion ihrer Arbeit nachgingen, sondern sie trifft gerade auch die „Neuerer“, die zu Beginn des 20. Jhds. programmatisch versuchten, eine systematische Sprachwissenschaft gegen die Philologie auf die Beine zu stellen. Das betrifft nicht nur den harten Kern um VOßLER (s. 7.6.), wobei VOßLER (50%/30%) ebenso wie SPITZER (55%/47%) noch relativ prominent sind, vgl. aber LERCH (24%/20%), HATZFELD (15%/9%), sondern einen großen Kreis derer, die in den verschiedenen Fächern versuchten, eine systematische Sprachanalyse kulturell durchlässig zu praktizieren (mit dem gemeinsamen Nenner der Suche nach der „inneren Form“): gerade auch programmatisch einflußreiche Vertreter in kleineren Fächern wie LANDSBERGER sind völlig unbekannt. Die Konsequenzen für die Fachgeschichtsforschung sind zu überlegen. Offensichtlich ist der nachhaltige Erfolg nicht an die vertretenen Ideen und programmatischen Konzepte gebunden, sondern an ihre Umsetzung in institutionell kompatible Forschungsprogramme, die im Sinne der Modellierung von
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Abschnitt 2.3. einen Ausbau in den Dimensionen B und C verlangt. Fachgeschichte ist eben nicht auf Ideengeschichte zu reduzieren.43
�� 43 Zu den unerquicklichsten Aufgaben einer Bestandsaufnahme wie der für den Katalog gehört es, die theoretisch ambitionierten „Entwürfe“ früherer Generationen zu lesen – materialgesättigte empirische Arbeiten mögen noch so abgelegen sein, sie bieten immerhin interessantes vorgezeigtes Material, wo man bei den theoretisch ambitionierten, aber inzwischen überholten Arbeiten oft nur noch begrifflichen Leerlauf wahrnimmt. Die Nutzanwendung für die gegenwärtige Praxis muß hier nicht formuliert werden.
3 Hintergründe der Verfolgung 3.1 Einleitende Bemerkungen 3.1.1 Zur Kategorie Verfolgung Der dramatischste Teil der Dokumentation (2010/ 2014), der auch seine Anlage motiviert hat, gilt der Verfolgung. Der Terminus der Verfolgung bezeichnet das gesamte Feld der politischen Eingriffe in die wissenschaftliche Entwicklung, quer zu den juristisch-administrativ unterschiedlich gehandhabten Formen, unter denen dieses geschah. Insofern werden hierzu nicht nur die förmlichen Entlassungen gerechnet, sondern auch alle Fälle, in denen die Betroffenen in formaler Hinsicht „freiwillig“ ihre Vertreibung aus dem Amt exekutiert haben, also politisch oder rassistisch genötigt ihr Ausscheiden aus dem Dienst selbst getätigt haben. Der überwiegende Anteil lag bei der rassistischen Verfolgung, die in neueren Untersuchungen auf etwa 80% aller Fälle von Vertreibung hochgerechnet wird.1 Der extreme Fall ist die Verfolgung bis zur Vernichtung im Konzentrationslager oder zur Hinrichtung. Durch die Auswanderung suchten die Verfolgten dem zu entkommen: wo das gelang, handelt es sich also trotz der damit zumeist verbundenen Härten um einen relativ gesehen glücklicheren Verlauf. Unterhalb dieser dramatischen Schwelle liegt ein breites Feld von sehr unterschiedlichen Formen der Repression auf der einen Seite und Formen damit umzugehen auf der anderen. Zur Verfolgung gehören die repressiven Maßnahmen im Alltag, vor allem aber in der Berufsausübung, die besonders den Wissenschaftsbetrieb betrafen: von der Entlassung über politische Eingriffe in die akademischen Strukturen bis zur Aberkennung der dort erworbenen Titel. Diese Maßnahmen wurden z.T. auch öffentlich inszeniert wie bei der Bücherverbrennung, z.T. auch nur administrativ gehandhabt wie beim Entzug des Doktortitels, seit 1935 gekoppelt an den Entzug der Staatsbürgerschaft, der im November 1941 generell bei allen sich im Ausland aufhaltenden „Nicht-Ariern“ verfügt
�� 1 Für die jüngere einschlägige Forschung, s. insbesondere Grüttner/Kinas 2007. Diese statistische Zusammenstellung kann als Vergleichsbasis für den in diesem Katalog dokumentierten fachlichen Teilbereich dienen.
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wurde.2 Die Verhältnisse bei Sprachforschern zeigen in einem fachlich eingegrenzten Bereich das, was die repressive nationalsozialistische Politik seit 1933 ins Werk setzte, aber auch einige Besonderheiten, die im Folgenden zur Sprache kommen. In der einschlägigen Forschung wird die Vertreibung im Lehrkörper der damaligen Universitäten auf etwa 20% hochgerechnet.3 Gegenüber diesen letztlich beamtenrechtlich definierten Befunden ist der Zugang in dieser Dokumentation breiter, der zumindest ansatzweise auch in diesem Sinne institutionell nicht definierte Personen erfaßt. Ein Problem solcher Gesamtstatistiken ist es, daß sie die lokal sehr unterschiedlich bestimmten Verhältnisse auf allen Ebenen der Eingriffe nicht spiegeln. Verdeckt wird so auch die Wirksamkeit des Antisemitismus vor 1933, weshalb eine Beschränkung des Horizonts auf die administrativ exekutierten Maßnahmen in der Zeit des Nationalsozialismus den Blick unzulässig einengt. Die Entlassungsquoten sind bei den verschiedenen Universitäten sehr unterschiedlich, was vor allem die Tatsache spiegelt, daß bei einigen von diesen schon vor 1933 aus rassistischen Gründen Menschen mit einem zugeschriebenen nichtarischen Familienhintergrund eine Einstellung verweigert wurde – sodaß sie dort auch nach 1933 nicht entlassen werden mußten.4 Für die Analyse der Verhältnisse nach 1933 ist von dem Spannungsfeld des „Doppelstaats“ auszugehen, das schon Ernst Fraenkel (1941) herausgearbeitet hat: mit einem Maßnahmenstaat, der an die Vorgaben des Normenstaats nicht gebunden war. Allerdings stellte der Normenstaat den behördlichen �� 2 Dieser Komplex ist erst in der jüngsten Zeit bearbeitet worden, s. Harrecker 2007 für eine Fallstudie (Universität München) und einen Überblick über die Forschung. 3 S. Grüttner/Kinas 2007, die sich auf eine Auswertung der Personalakten von 15 der damals 23 reichsdeutschen Universitäten stützen, bei denen 901 Personen aus dem Lehrkörper entfernt wurden. 4 Die Bandbreite ist hier erheblich. Im einzelnen schwanken die Angaben in der einschlägigen Literatur, die Größenordnungen sind aber fest. Nach Grüttner/Kinas (2007) lag die Entlassungsquote im reichsdeutschen Gebiet in Berlin und Frankfurt bei über 30%, an den meisten Universitäten aber unter 10% (z.B. in Tübingen 4%). Noch extremer stellen sich die Verhältnisse in Österreich dar, wo z.B. aus den gleichen Gründen in Wien nach 1938 45% des Lehrkörpers entlassen wurde (Ash u.a. [2010: 29] sprechen von einem Drittel, in der medizinischen Fakultät aber von mehr als 50%). Bei solchen Zahlen muß die Struktur der verschiedenen Universitäten berücksichtigt werden: die traditionellen Universitäten waren zunehmend in zur Provinz abgestuften Kleinstädten angesiedelt (Beispiel Tübingen), in denen der Antisemitismus eine andere Struktur als in den expansiven Großstädten (allen voran Berlin und Wien) hatte; erst recht gilt das für die Neugründungen nach dem Ersten Weltkrieg (Frankfurt, Hamburg, Köln), bei denen oft auch Stiftungskapital von jüdischen Familien eine zentrale Rolle spielte, s. dazu Hammerstein 1995.
98 � Hintergründe der Verfolgung Ablauf (mit dem weitgehend beibehaltenen Beamtenapparat) sicher. Darüber hinaus benötigte der Maßnahmenstaat den Normenstaat noch im Sinne einer Legitimitätsbeschaffung, zu der auch gehörte, daß dieser als eine Art Grenzwert für die intellektuellen Anstrengungen fungierte, das Mitspielen beim Maßnahmenstaat bis hin zur imperialistischen Aggression des Weltkriegs (bzw. seiner Vorbereitung) und der Judenvernichtung zu rationalisieren. Das Mitspielen der Sprachwissenschaft im ‚Reich‘ wird in Kap. 6 in den Blick genommen.5 Nach den Recherchen von Grüttner/Kinas (2007) fanden nur 60% der verfolgten Wissenschaftler einen Ausweg in der Emigration. Der Verbleib der restlichen ist z.T. unklar: viele von ihnen wurden umgebracht oder nahmen sich das Leben. Eine zusammenfassende Auswertung der inzwischen lokalgeschichtlich und für einzelne Fächer schon aufgearbeiteten Unterlagen liegt noch nicht vor. Für den Bereich der Sprachforschung gibt diese Dokumentation einen gewissen Einblick, mit dem die Verhältnisse zumindest exemplarisch in den Blick kommen.
3.1.2 Die Verfolgung in der Dokumentation 3.1.2.1 Überblick Die Zusammenstellung des Katalogs war durch die Vorgaben der einschlägigen Forschung bestimmt, die hier genutzt wurden. Dazu gehören insbesondere auch die schon zeitgenössischen Kataloge von Opfern des Nationalsozialismus.6 Auch wenn sich bei den Recherchen keine Anhaltspunkte für eine Verfolgung ergeben haben, sind doch alle dort aufgeführten einschlägigen Fälle hier dokumentiert, da der Katalog ein Arbeitsmittel für die weitere Forschung sein will und mit diesen Verzeichnissen Fährten gelegt wurden, die hier auf diese Weise zumindest ein Stück weit verfolgt werden. Insofern sind aber die mit diesem Katalog dokumentierten 339 Biographien in unterschiedlicher Weise im Sinne des Titels „Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher“ einschlägig: – in einem Konzentrationslager (oder auf dem Transport dahin) umgebracht wurden 13 Personen: ARONSTEIN, COHN, FALK, GUTMANN, JOKL, LEHMANNPIETRKOWSKI, KLEIN, LASCH, RICHTER, SELZ, SPANIER, O. STEIN, F. WOLFF; �� 5 Extreme Formen nahmen diese Rationalisierungen in der Rechtswissenschaft an, in der die faschistische Außerkraftsetzung der Nomen der bürgerlichen Gesellschaft rechtsdogmatisch als Verfassung eines ”Führerstaats” rationalisiert wurde. Verglichen damit hatte das Mitspielen der Sprachwissenschaft im Reich eher die Rolle von Kunst am faschistischen Bau. 6 List of displaced scholars (1936), Nachträge (1937 u.ö.).
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WEINBERG und RAMBERG-FIGULLA überlebten das Konzentrationslager; als politische Gegner hingerichtet wurden zwei Personen: SCHAEFFER, SPONER; als politische Gegner überlebten im Zuchthaus: KRAUSS, PIASEK; in vierzehn Fällen setzten die Betroffenen ihrem Leben selbst ein Ende. Das geschah unter dem Druck der Verfolgung bei BENJAMIN, FRIEDMANN, GUTTMANN (-MARLE), JACOBSOHN, JORDAN, LEVY, MUCHOW und NEISSER; hierher zu rechnen sind noch P. E. KRAUS und L. ZUNTZ, für die auch die geglückte Auswanderung nur noch diesen Ausweg offenließ. Der Freitod von LAUFER und FREUD fällt zwar in die Exilzeit, ist aber anders zu werten; das gilt erst recht für BORNEMANN und E. D. M. FRAENKEL, die diesen Schritt sehr viel später und unter anderen Bedingungen vollzogen.
In einer großen Bandbreite sind weitere Biographien dokumentiert, die sich mit der Repression arrangierten: – in einer Reihe von Fällen war die Emigration kein Ausweg vor der rassistischen Verfolgung, sondern überlebten die Betroffenen im ‚Reich‘, geschützt durch ihre Ehe mit einer nicht rassistisch verfolgten Ehegattin:7 s. bei CASKEL, E.E.S. FRAENKEL, GRUMACH, HECHT, HERTZ, HIRSCH, HITTMAIR, KLEMPERER, ENGEL (1938 gestorben), u.U. aber auch ohne einen solchen Schutz wie bei LATTE. Bei solchen Biographien wird deutlich, wie sehr das wissenschaftliche Weiterarbeiten noch unter den reduziertesten Bedingungen zum Rettungsanker werden konnte – u.U. auch mit der Ausbildung von extrem rigiden Haltungen, wie etwa bei LATTE (KLEMPERER hat diesen Zusammenhang in seinen Tagebüchern ausführlich thematisiert); – schließlich starben einige der rassistisch Verfolgten, bevor die Repression im Weltkrieg eskalierte: BRANDT, ERMAN, FREUND, GELB, HITTMAIR, HUSSERL, JELLINEK, KÜNßBERG, H. LÜDERS, TIKTIN, vgl. auch MODRZE (und der ungeklärte Fall von WOITSCH); – mit unterschiedlichen Formen der Repression mußten viele im ‚Reich‘ überleben, von denen hier auch nicht alle Fälle dokumentiert sind; die Gründe dafür reichten von Sippenhaft mit rassistisch Verfolgten („Rassenschande“), religiös/weltanschaulicher Gegnerschaft bis zu politischer Disziplinierung, s. bei ANTHES, ARNTZ, BOSCH, BRÄU, BRUNNER, ERKES, FÖRSTER, HETZER,
�� 7 Insgesamt wird in der neueren Forschung davon ausgegangen, daß etwa 15.000 rassistisch verfolgte Menschen die Schoah im Deutschen Reich überlebten. S. Meyer u.a. (1996–1997 = Barkai, Bd. 4, 1997), auch für die Widersprüche in der Praxis im Spannungsfeld von Norm- und Maßnahmenstaat sowie die chaotischen Verhältnisse gegen Kriegsende.
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KRAUSS, LENTZ, LERCH, MERIGGI, NEUMANN, OELLACHER, H. RANKE, RAUHUT, ROHLFS, ROSTHORN, SCHMITT, SCHÜCKING, STAMMLER, TRUBETZKOY, VOSSLER, WALTER, WEISSBACH, F. WILHELM. Eine Teilgruppe bilden hier diejenigen, die die Repression als Kinder in ihren Familien erfuhren oder noch in der Ausbildung waren, s. bei BACK und VATER, in gewisser Weise auch W. POLLAK; dazu sind auch diejenigen zu zählen, die in den von den Deutschen besetzten Gebieten, oft nur im Versteck, überleben konnten: FREUDENTHAL, FUKS, NEUBERGER-DONATH, SCHAECHTER, THIEBERGER, vgl. auch R. STEIN; in Reaktion auf die Verfolgung wanderten von den im Katalog Dokumentierten 227 Personen aus, deren Emigrationskarrieren in Kap. 4 aufgeschlüsselt werden; aufgenommen sind auch diejenigen, die als Kinder mit ihren Eltern im Exil waren oder auch nach dort verschickt wurden, s. bei BÄUML, GUMPERZ, K. ZIMMER, BIELER, BLOCH, BONHEIM, FILLENBAUM, GOSHEN-GOTTSTEIN, LENNEBERG, OETTINGER, H. ROSÉN, SAMUELSDORFF, SAPIR, U.WEINREICH, POLITZER.
Der Fall von KÜNßBERG, bei dem die rassistische Verfolgung suspendiert wurde, ist aus systematischen Gründen dokumentiert: gewissermaßen als Beleg für die Rolle des Maßnahmenstaats, der sich über die selbst gegebenen Normen auch hinwegsetzen konnte. Hinzu kommen hier dokumentierte Fälle von „regulärer“ Auswanderung im gleichen Zeitraum bzw. in der Folge einer früheren Auswanderung, s. H. COLLITZ, K. COLLITZ, FLEISCHHAUER, JOLLES, KURATH, LENZ, LESSING, MEZGER, PENZL, PROKOSCH, SPRINGER, W. FUCHS, VON ZACH. Weitere Fälle sind aus systematischen Gründen dokumentiert:8 – so einige, die im Verlauf ihrer Karriere gewissermaßen die Fronten gewechselt haben, s. SCHMIDT-ROHR, STAMMLER, oder ohnehin auf der anderen Seite standen, aber im schwierigen Übergangsfeld von Emigration und Exil situiert sind, s. BOSSERT, BRINKMANN, GABAIN; zur Tätigkeit in einem Exilland s. auch JUNKER; zu den Formen des Arrangements mit den Verhältnissen s. z.B. KAISER, – schließlich sind die Biographien von DIEHL, HAVERS (s. aber dort), HIBLERLEBMANNSPORT, KUTTNER; VON LINDHEIM, MENZEL dokumentiert, bei denen entgegen den Hinweisen in den ausgewerteten Quellen keine Verfolgung ersichtlich ist;
�� 8 Die im Katalog dokumentierten 38 Biographien von Personen, die nicht als verfolgte Sprachforscher anzusehen sind, liefern Kontrastfälle, die argumentativ genutzt werden, um die Komplexität des Feldes deutlich zu machen.
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weitere acht Biographien sind aufgrund entsprechender Hinweise in den Quellen dokumentiert, obwohl die Betroffenen nicht als Sprachforscher anzusehen sind (BENTON, JOLLES, KRONIK, LEHNER, H. LEWY, MUCHOW, WITTFOGEL, VOEGELIN s. Profil X in Abschnitt 2.5.); zu den Abgrenzungsproblemen s. auch bei CH. BÜHLER.
Die unterschiedlichen Formen der Repression werden durch die einzelnen biographischen Artikel deutlich. Dazu gehört auch die Bandbreite der unterschiedlichen Sichtbarkeit, mit der sie exekutiert wurde, die von demonstrativ vorgezeigten Maßnahmen wie z.B. der Bücherverbrennung (s. hier bei BOAS, FREUD, SCHIROKAUER) bis zu rein administrativen Maßnahmen wie insbesondere dem Entzug der Staatsbürgerschaft reichen, der hier nicht systematisch dokumentiert ist ( s. bei BOAS, KAHLE, SCHIROKAUER). Mit diesem Katalog sind 302 Biographien Verfolgter (im weiteren Sinne, s. 2.1.), davon 293 Sprachforscher, dokumentiert, auf die sich die folgenden statistischen Auswertungen beziehen.
3.1.2.2 Abgrenzungsprobleme Fachgeschichtlich betrachtet handelt es sich bei der Verfolgung und Auswanderung um externe Eingriffe in die wissenschaftliche Praxis, die im Katalog in den Einzelbiographien zu verfolgen sind, in die sie eingeschrieben sind. Bei der Auswertung des Katalogs in diesem und dem folgenden Kapitel sollen diese Eingriffe in ihrem Kontext betrachtet werden. Die Einschränkung der in den Blick genommenen Personengruppe auf deutschsprachig läßt sich nicht ohne weiteres auf den politischen Raum umlegen, in dem die Verfolgung geschah. Dieser ist durch den Machtbereich des „großdeutschen“ ‚Reichs‘ bis 1945 definiert, umfaßt also auch Österreich und die annektierten Gebiete in Osteuropa (wie die ČSR als „Protektorat Böhmen und Mähren“, die 1939 annektiere Provinz Posen [der „Warthegau“] ebenso wie Danzig), nicht aber die Schweiz. Auch im geschlossenen deutschsprachigen Raum konnten die Verhältnisse komplex sein wie in Schlesien oder im Sudetenland, wo aufgrund der politischen Neuordnung nach 1918 eine nicht-deutsche Nationalsprache Geltung hatte (wie in der ČSR). Umgekehrt hatten die politischen Neuordnungen in Osteuropa im 19. Jhd. dem Deutschen in den Gebieten, die dem k.u.k. Österreich zugeschlagen worden waren, einen anderen Status als vorher gegeben, was vor allem für die jüdischen Bevölkerungsteile von Bedeutung war (bei denen neben Jiddisch als Familiensprache Deutsch die Bildungssprache war). Die komplexen Verhältnisse zeigen sich in vielen Biographien im Katalog. Außer Betracht bleiben in jedem Fall nicht-deutschsprachige Personen in den besetzten Gebieten (erst recht in den nicht-deutschsprachigen Gebieten).
102 � Hintergründe der Verfolgung Das mit dem Katalog gesetzte Zeitfenster |1933–1945| ist problematisch, wenn nach Erklärungen für die Verfolgung gesucht werden soll. Eindeutig sind hier nur die in den Blick kommenden Maßnahmen des faschistischen Regimes: von den durch Gesetz geregelten Entlassungen etwa in den Universitäten bis zur Ermordung in Konzentrationslagern. Aber die dahinterstehenden Ausgrenzungsmechanismen sind nicht auf diesen Zeitraum einzugrenzen. Vielmehr gehört eine solche Einschränkung zu dem Entkulpabilisierungsdiskurs, der nach 1945 der deutschen (und österreichischen) Gesellschaft das Weiterleben ermöglichte, indem er die traumatischen Dinge gewissermaßen zu Anekdoten stempelte, möglichst festgemacht an den faschistischen Führungsfiguren, mit denen dann gewissermaßen auch das „Unheil“ ausgeräumt worden war. Was so nicht in den Blick kommt, sind die Mechanismen der Diskriminierung, die wie der Rassismus nicht in dieser Zeitspanne entstanden sind, sondern vorher schon wirksam waren – und auch nach 1945 weiterwirk(t)en. Insofern ist bei allen in diesem Zeitfenster sichtbaren Verfolgungen deren Verankerung in ungleichzeitigen Ausgrenzungen zu berücksichtigen, auf die die Menschen eben auch in diesem Zeitraum reagierten, z.B. die Mechanismen der Reproduktion patriarchaler Strukturen (nicht nur) im akademischen Apparat, mit denen Frauen diskriminiert wurden – was alles andere als faschistisch war. Eine angemessene Darstellung übersteigt das hier Machbare; sie muß aber den argumentativen Horizont bilden, weil sonst die argumentative Schieflage reproduziert wird, die viele einschlägige Darstellungen bestimmt. Spiegelverkehrt dazu ist den Problemen der gesellschaftlichen Geschäftsführung Rechnung zu tragen. Aus diesen resultierten für die Betroffenen Konflikte, die im Sinne der chronologischen Einordnung zwar in der Zeit des Nationalsozialismus erfahren wurden, die aber wie z.B. die Folgen eingeschränkter Ressourcen für die Stellenbesetzungen in ihren Konsequenzen nicht auf diesen zurückgeführt werden können (auch wenn die Entscheidungsverläufe etwa bei der Stellenbesetzung ggf. politische Vorzeichen hatten, was ggf. im einzelnen nachzuweisen ist; im Katalog sind in dieser Hinsicht nur einzelne Fälle dokumentiert, s. etwa KRAHE für ein signifikantes Beispiel). Im Folgenden werden bei der Verfolgung unterschieden: – Fälle, bei denen sie mit Eigenschaften begründet wurden, die der Person zugeschrieben wurden, – mit rassistischen Argumenten (3.2.), – mit dem Geschlecht oder der sexuellen Orientierung (3.3). – Fälle eines politisch artikulierten Konflikts (3.4.), – weitere Konfliktkonstellationen (3.5.).
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Insofern sich im nationalsozialistischen Staat allerdings eine normative Imago der Person Geltung verschuf, zu der nicht nur ein entsprechend projiziertes Bild vom deutschen bzw. arischen Menschen gehörte, sondern auch spezifische Geschlechtsbilder: bei Frauen nicht anders als bei Männern (bei denen es mit Homosexualität unverträglich sein sollte), können aber auch die personenbezogenen Verfolgungen, wenn sie damit begründet wurden, im weiteren Sinne als politisch (nationalsozialistisch) verstanden werden.
3.1.3 Die Einschränkung auf den Machtbereich des Nationalsozialismus Um die Arbeit an der Dokumentation handhabbar zu halten, war eine Reihe von nicht unproblematischen Grenzziehungen nötig. Eine solche verbindet sich mit dem zugrundegelegten politischen Machtbereich des Nationalsozialismus. Dieser bezieht selbstverständlich Österreich ein,9 nicht aber die Schweiz, die vielmehr ein Immigrationsland war, vor allem als Migrationsstation (meist allerdings nur als kurze Durchgangsetappe), s. hier ANHEGGER, ANSTOCK, BENJAMIN, A. BIELER, L. BIELER, BORINSKI, CASSIRER, CUNZ, FORCHHEIMER, HECHT, H. HOENIGSWALD, R. HOENIGSWALD, HORN, KOPPERS, NORDEN, PFLÜGER, POKORNY, PULGRAM, F. G. J. RANKE, W. SCHMIDT, SIEMSEN, STOESSL, S. A. WOLF, vgl. zur regulären Einwanderung in die Schweiz (im Horizont der akademischen Mobilität) auch DEBRUNNER, HAVERS, F. RANKE, und nach 1945 STAMMLER, vgl. zur Schweiz auch vorher schon als Durchgangsland BAADER.
3.1.4 Die Einschränkung auf deutschsprachig Die Einschränkung deutschsprachig hat primär eine arbeitsökonomische Funktion: sie soll eine Ausweitung des Katalogs verhindern, die nicht mehr zu bewältigen gewesen wäre. Der Terminus verlangt allerdings eine Klärung. Deutsch wird hier im weiten Sinne einer Sprachkultur und Traditionsgemeinschaft verstanden, die nicht mit politischen Grenzen kongruent ist. Ein besonderer Fall ist hier Böhmen/Tschechien, wo im 19.Jhd. eine nationale Umorientierung erfolgte, die Deutsch zu einer Minderheitensprache machte. Besondere Verhältnisse
�� 9 Das bringt einige terminologische Probleme mit sich, z.B. bei der Bezeichnung des Hochschulzugangs, der nach dem (reichs-)deutschen Sprachgebrauch hier einheitlich als Abitur bezeichnet wird, während der österreichische Terminus der „Matura“ nur zitierend genutzt wird.
104 � Hintergründe der Verfolgung fanden sich in Prag und seiner Deutschen Universität. Nicht nur wegen der geographischen Nähe bestand hier eine enge Beziehung zu Österreich bzw. Wien, mit der Folge einer großen Mobilität, ggf. auch der Migration: FREUD, JOKL, POKORNY, STEINER, O. STEIN, F. SLOTTY, NAUMANN, MATOUŠ, HAAS, HIRSCH, HUSSERL, FAHRNER, DEUTSCH, FLUSSER, PROKOSCH, SCHNITZLER, s. auch GARVIN. In Osteuropa war für Sprecher des Jiddischen (bzw. mit Jiddisch als Familiensprache) in der Regel Deutsch die Bildungssprache, die schon für die Sozialisation den Horizont bildete. In diesem Sinne sind in den Katalog diejenigen aufgenommen, die sich in ihrer wissenschaftlichen Praxis in diesem Horizont bewegten, wie ihre spätere Publikationen zeigen, s. bei BLAU, LESLAU, MODRZE, SCHAECHTER, STORFER, M. WEINREICH, s. außerdem für die (angenommene) jiddische Familiensprache FUKS, GOLDBERG, SAPIR, U. WEINREICH. In dieser Hinsicht ist allerdings ein Bruch beim Wechsel der Generationen anzunehmen: war für die ältere Generation mit jiddischer Familiensprache, die in Osteuropa aufwuchs, Deutsch selbstverständlich Bildungssprache (auch in so komplexen mehrsprachigen Verhältnissen wie etwa bei BLAU; instruktiv in dieser Hinsicht FUKS), so ist es bei der jüngeren Generation, die im englischsprachigen Raum aufwuchs, u.U. anders.10 Trotzdem sind auch hier die Bezüge zumeist noch faßbar. Da, wo bei einem vergleichbaren Hintergrund aber keine Indikatoren dafür vorliegen, daß sich die Betroffenen dem deutschen Kulturraum zuordneten, sind sie nicht aufgenommen (wie z.B. bei David Diringer, der, soweit ich das überprüfen konnte, nie auf deutsch publizierte; seine Familie kam aus der Ukraine).11 Die Abgrenzung ist problematisch, vor allem wenn Deutsch nicht die Publikationssprache ist. So habe ich SAPIR und U. WEINREICH aufgenommen, nicht aber z.B. den Semitisten Haim Blanc (1926–1984), bei dem die jiddische Familiensprache zwar auch Gegenstand seiner ersten Abschlußarbeit in den USA war (bei Roman Jakobson), der aber in keinem deutschsprachigen Umfeld
�� 10 Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht auch die infrastrukturelle Artikulation der Diaspora, die sich deutsch artikulierte, so etwa mit der Zeitschrift „Aufbau“ (erschienen in New York seit 1934), die über die Verhältnisse in der weltweiten Diaspora informiert. Hinweise auf diese Verhältnisse finden sich in den einzelnen Artikeln, systematisch stellen sie aber noch ein Forschungsdesiderat dar. 11 Seine schriftgeschichtlichen Arbeiten, vor allem seine umfassenden Dokumentation (1937), sind nach wie vor grundlegend. Systematisch arbeitete er den spezifischen Bereich in der Entwicklung von Symbolsystemen durch deren Fundierung in der Sprache heraus; ihren Abschluß findet diese Entwicklung für ihn mit der „Erfindung“ der Alphabetschrift, die für ihn an die strukturellen Besonderheiten der semitischen Sprachen gebunden ist und sich insofern auch historisch nur einmal (als semitische Konsonantenschrift) ereignet hat. Insofern ist er eine zentrale Figur der Sprachforschung
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aufgewachsen ist bzw. gelebt hat und der auch nie auf Deutsch publiziert hat12 (vgl. damit die anders gelagerten Verhältnisse z.B. bei BLAU oder LESLAU). Letztlich waren für die Abgrenzung praktische Zwänge ausschlaggebend: das Unternehmen drohte sonst auszuufern, und gerade in solchen Fällen wären aufwendige Recherchen nötig gewesen. Nicht aufgenommen sind Wissenschaftler, die nur einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland hatten, gegebenenfalls verbunden mit einer befristeten Lektorentätigkeit oder dgl. Dieses Kriterium habe ich formal gehandhabt, um den Katalog nicht zu überfrachten; in einigen Fällen mag allerdings die politische Entwicklung in Deutschland nach 1933 den Entschluß zur Rückkehr bestimmt haben. Das müßten gegebenenfalls detailliertere Analysen zu dieser erweiterten Gruppe zeigen. Erst recht gehören nicht hierher die während des Kriegs nach Deutschland Deportierten, wie z.B. der norwegische Nordist Didrik Arup Seip und der französische Sinologe Henry Maspéro, die auch in diesem Sinne nicht als deutschsprachig anzusehen sind – unabhängig von der Frage ihrer Deutschkenntnisse. Das gilt auch dann, wenn das Studium weitgehend in Deutschland absolviert wurde wie bei dem niederländischen Sprachphilosophen H. J. Pos, der 1940 in das KZ Buchenwald deportiert wurde. In diesem Feld sind die Abgrenzungen allerdings oft problematisch: so ist Roman Jakobson nicht aufgenommen, obwohl er 1929 an der Deutschen Universität Prag mit einer deutschsprachigen Dissertation promoviert hat (Jakobson 1930/1933, s. dazu Fn. 81 in 5.6) und auch darüberhinaus damals auf Deutsch publizierte (s. 5.5.4.). Spiegelverkehrt dazu sind aber alle hierher gerechnet worden, die im ‚Reich‘ regulär eingewandert waren und hier ihre wissenschaftliche Karriere bestritten: sie waren schließlich von den gleichen Sanktionen betroffen wie ihre Leidensgenossen mit deutscher Staatsangehörigkeit wie z.B. MERIGGI, vgl. auch die komplexen Fälle von TIKTIN oder TRUBETZKOY (der die österreichische Staatsbürgerschaft hatte).13 Wie problematisch diese Zuordnungen sind, wird deutlich, wenn man die Biographien der nicht in Deutschland bzw. Österreich Geborenen daraufhin betrachtet. Selbst wenn man Schlesien, Danzig und Ostpreußen zeitgenössisch zu Deutschland rechnet, wird man es beim Elsaß oder Posen nicht mehr ohne weiteres tun können; ähnlich ist es bei Österreich mit den alten k.u.k. Gebieten (Tschechien, Galizien, Rumänien u.a.). Ein besonderes
�� 12 Zu ihm s. Somekh in der Gedenkschrift für ihn (Wexler u.a. 1989: 1–3). 13 Hier tut sich ein komplexes Feld von Migrationsbewegungen auf, das durch die (relative) wissenschaftliche Freizügigkeit bestimmt war, die auch unter nationalsozialistischen Bedingungen weiter bestand, s. die Hinweise auf den komplexen Fall Isačenko bei TRUBETZKOY.
106 � Hintergründe der Verfolgung Problem stellt sich schließlich bei den Deutschschweizern, die ggf. hier mitgerechnet werden (z.B. DEBRUNNER). Für die Zuordnung kann in den kritischen Fällen nur die (Bildungs-)Sprache ausschlaggebend sein, vgl. ARGELANDER-ROSE, ARNDT, AUSTERLITZ, BACON, BEN-HAJJIM, BIN-NUN, BLAU, BLISS, BRAUNERPLAZIKOWSKY, BRUNNER, BUCK-VANIOĞLU, DEBRUNNER, DEUTSCH, EISLER, ERKES, FAHRNER, FALK, FLUSSER, FREUD, VON FRITZ, T. FUCHS, FUKS, B. GEIGER, GELB, M. D. GOLDMAN, E. GOLDMANN, GOLDSCHMIDT, GRUMACH, HAAS, HALOUN, HERZOG, HIRSCH, R. HOENIGSWALD, HUSSERL, JOKL, JORDAN, R. KAHANE, P. E. KRAUS, F. E. A. KRAUSE, VON KÜNSSBERG, LEHMANN-PIETRKOWSKI, LANDSBERGER, LEIBOWITZ, LESLAU, E. M. LÜDERS, MALKIEL, MATOUŠ, MERIGGI, MISCH, MITTWOCH, NAUMANN, OLSCHKI, PETERS, PICK, PLESSNER, POKORNY, POLOTSKY, PROKOSCH, RAMBERG-FIGULLA, REICHARDT, SCHAECHTER, SCHERMAN, E. SCHLESINGER, SCHNITZLER, A. SPERBER, O. STEIN, R. A. STEIN, STEINER, STEUERWALD, STORFER, TILLE-HANKAMER, TRUBETZKOY, TUR-SINAI, M. WEINREICH, U. WEINREICH, H. WILHELM. Indirekt spiegelt sich allerdings der Machtbereich des Nationalsozialismus im Exil, vor allem in den USA, in den vielfältigen Verbindungen zwischen „deutschen“ Emigranten und denjenigen aus den besetzten Ländern, s. dazu die Hinweise in Kap. 4 zu den Immigrationsländern.
3.2 Rassistische Verfolgung 3.2.1 Vorbemerkung Der von den Auswirkungen her dramatischste Bereich der Verfolgung ist in der rassistischen Politik des Regimes verankert, in deren Fußstapfen auch eine darauf zielende Untersuchung zu laufen gezwungen ist. Das beginnt schon bei der Terminologie. Die Verfolgungsmaßnahmen hatten eine Art konzeptueller Einkleidung bzw. Legitimierung, die im rassistischen Diskurs verankert war, die aber auch Spiegelungsbeziehungen zu den Konzeptionen und Selbstverständnissen der Betroffenen aufweist. Auf diese Weise ist insbesondere das Wort jüdisch mit widersprüchlichen Bedeutungszuweisungen befrachtet, die es unmöglich machen, es ohne weitere Präzisierungen in einer analytisch intendierten Darstellung wie dieser zu verwenden. Dabei macht der Blick von heute aus (nach der Schoah) es schwer, die zeitgenössischen Konstellationen und Wahrnehmungen zu würdigen, die in die dokumentierten biographischen Verläufe eingeschrieben sind. Zu diesem Feld gibt es inzwischen auch eine reiche und nicht mehr zu überblickende Forschungsliteratur. Im Folgenden sollen nur einige Zusammenhänge skizziert werden, die die Dokumentation lesbarer ma-
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chen können. Einen darüber hinausgehenden Anspruch hat diese Darstellung nicht – sie erfolgt im Bewußtsein, an vielen Stellen auch problematisch zu sein. Grundlegend für die Analyse der Verfolgung ist die oben schon eingeführte Unterscheidung, die Ernst Fränkel (1941) in einer der ersten Analysen des faschistischen Systems getroffen hat: zwischen dem Normenstaat, der sich in den gesetzlichen Vorgaben und ihren administrativen Umsetzungen artikulierte, und dem Maßnahmenstaat, der auch jenseits des gesetzlich Geregelten agierte, nicht nur, aber insbesondere in Parteiformationen, und dabei auch lokal sehr unterschiedlich auftreten konnte. Davon ist wiederum die Kollusion der Menschen jenseits des obrigkeitlich Geregelten zu unterscheiden, die den Alltag der Verfolgten bestimmte – und vor allem auch ihre Wahrnehmung der Bedrohung und ihre Entscheidungen, darauf ggf. mit der Ausreise zu reagieren.14 Um eine Folie für die Analyse nicht nur der Verfolgungsmaßnahmen sondern auch des Umgangs mit ihnen zu haben, der in den dokumentierten Biographien sichtbar wird, soll im Folgenden versucht werden, das Syndrom des Rassismus auf der einen Seite und des Jüdischen als seinem positiven Gegenstück auf der anderen Seite zumindest so weit aufzuhellen, daß die Prämissen der Argumentation in der Dokumentation transparent werden. In diesem Sinne werden verschiedene Ebenen der Darstellung unterschieden: – die Maßnahmen im rechtsförmig ausgestalteten Raum mit seiner entsprechenden Begrifflichkeit, ausgehend von den staatsbürgerlichen Grundrechten, operabel durch positive Kennmerkmale wie die Konfession u. dgl. (3.2.2.), – der öffentliche Diskurs, in dem jüdisch als Kampfbegriff fungierte, mit dem Menschen ausgegrenzt wurden, in einer Spannung zu dem Begriff, mit dem eine Bevölkerungsgruppe ihre kulturelle Identität faßt, verankert in Alltagspraktiken: dem Habitus (3.2.3.), – ein spezieller Faktor ist in diesem Feld die sprachliche Besonderung, darunter vor allem das Jiddische, das auch die für die Zuordnung zum Katalog der
�� 14 Diesen Dingen kann hier nicht nachgegangen werden, s. etwa Barkai, Bd. 4/1997 für eine Zusammenstellung. Dort wird deutlich, daß die politischen Maßnahmen zum erheblichen Teil auch durch eine Unkenntnis der realen Verhältnisse bestimmt waren, etwa des (von der Parteiführung weit überschätzen) Umfangs der „Mischling“-Population – und die entsprechende Furcht des Regimes, mit repressiven Maßnahmen auf Widerstände in der Bevölkerung zu stoßen. Wie unbegründet diese Furcht war, mußte sich für die Führung erst zeigen – wobei die registrierten Reaktionen gerade auch auf die Umsetzung der Vernichtungspolitik in den KriegsJahren zeigten, daß viele Menschen bei den sichtbaren Zwangsmaßnahmen (Arbeitseinsätzen u. dgl.) erstaunt waren, daß immer noch so viele Juden in Deutschland lebten...
108 � Hintergründe der Verfolgung Betroffenen in Anschlag gebracht ist, weil es hier im zeitgenössischen Sinn als Varietät des Deutschen verstanden wird (3.2.4.). In diesem Horizont sind die im Katalog sichtbaren unterschiedlichen Reaktionsweisen der Betroffenen auf die Verfolgung bzw. den Antisemitismus zu verstehen (3.2.5.). Vor diesem Hintergrund erfolgt die Einordnung der größten Gruppe in diesem Katalog als rassistisch Verfolgte – und nicht mit der problematischen Bezeichnung als Juden (3.2.6.). Dabei ging die rassistische Verfolgung auch über die als jüdisch stigmatisierten Menschen hinaus und traf insbesondere auch die als Zigeuner Stigmatisierten,15 was allerdings keine Auswirkungen im Wissenschaftsbetrieb (bzw. im Feld der Sprachforschung) hatte.16
3.2.2 Rassistische Verfolgung I: die Maßnahmen Bezugsgröße für diese Dokumentation sind die Verfolgungsmaßnahmen des Regimes, die von ihm rassistisch begründet wurden – daher der hier durchgehend von mir verwendete Terminus der rassistischen Verfolgung. Im Hinblick auf die zeitliche Spanne der in diesem Katalog vertretenen Biographien hatte die rassistische Verfolgung verschiedene Implikationen: – für diejenigen, die sich im Zeitraum von 1933 bis 1945 im Machtbereich des faschistischen Regimes befanden und ggf. die rassistische Repression erfuhren;
�� 15 Im zeitgenössischen Sinne behalte ich die Bezeichnung Zigeuner (entsprechend auch die stigmatisierende Kennzeichnung durch eine Z-Schleife an der Kleidung) für die heute politisch korrekt Sinti und Roma Genannten bei. Die Forschungen sind in diesem Feld dadurch belastet, daß die Zigeunerverfolgung von vielen Historikern nicht unter die rassistische Verfolgung subsumiert wird, entsprechend der obrigkeitsstaatlichen Tradition, in ihnen ein ordnungspolitisches Problem zu sehen, mit der Stigmatisierung als „Asoziale“. Im „Blutschutzgesetz“ von 1935 wurden sie allerdings ausdrücklich als „fremdrassig“ stigmatisiert, und nach 1942 wurde auch bei diesen Menschen die systematische Vernichtung ins Werk gesetzt. Zum Ausmaß der Morde gibt es nur Schätzungen, bei denen mit Größenordnungen von 500.000 Opfern operiert wird. Zu diesem ganzen Komplex, s. Zimmermann (2007). In 6.7.3. komme ich auf darauf zurück. 16 Die Ausgrenzung dieser Menschen schloß sie vom Bildungssystem aus – während sie für die Wissenschaft gerade im Nationalsozialismus als „degenerierte Arier“ (die Herkunft aus Indien wurde generell angenommen) ein prominenter Forschungsgegenstand waren. Das ist im übrigen auch ein Beleg dafür, daß im politischen Diskurs sprachliche und rassische Fragen als inkongruent angesehen wurden, s. dazu die Hinweise in Abschnitt 6.7.2.
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für diejenigen, die sich dieser Repression gleich zu Anfang 1933 durch die Auswanderung entzogen, also die Verfolgung nur als Bedrohung erfahren hatten;17 schließlich aber auch für diejenigen, die sich in diesem Zeitraum nicht im Machtbereich befanden, vorher schon emigriert waren, die aber in diesen Zeitraum nicht in das rassistische ‚Reich‘ zurückkommen konnten (für den Fall, daß sie es gewollt hätten).
Im Sinne der angestrebten Zerlegung des Kataloges sind alle diese Konstellationen, so unterschiedlich sie biographisch auch ausgetragen wurden, hier unter „rassistisch verfolgt“ gruppiert. Auf die Unterschiede gehen die folgenden Bemerkungen ein, vor allen Dingen aber die einzelnen biographischen Artikel.18 Die rassistische Politik wurde im Verlauf der zwölf Jahre des „Dritten Reichs“ zunehmend restriktiver: – zunächst operierte sie mit dem weiten und zugleich diffusen Begriff der „nicht arischen Abstammung“ wie gleich 1933 nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten im § 3 des neuen Beamtengesetzes vom 7.4.1933. Dieses griff noch auf Ausgrenzungskriterien zurück, die im gesellschaftlichen Raum definiert waren, wie es für das konfessionelle Bekenntnis gilt: der dort benutzte ausgrenzende Begriff der „nicht arischen Abstammung“ wurde in den Durchführungsbestimmungen dadurch definiert, daß „ein Elternteil oder ein Großelternteil der jüdischen Religion angehört hat“ (Verordnung vom 11.4.1933). Entsprechend waren auch die Ausnahmeregelungen darauf abgestellt, daß sich auch in dieser Politik ein gesellschaftliches Projekt darstellte: wer das „nationale“ Projekt aktiv mitgetragen hatte, sollte von der Ausgrenzung ausgenommen werden, wie es insbesondere für alle die galt, „die im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft haben oder deren Vater oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind“ (Gesetz vom 7.4.1933, §3 (2)).
�� 17 Hier sind noch weitere Unterscheidungen möglich, etwa wenn Familienangehörige im „Reich“ verblieben und der Repression ausgesetzt waren: daß jemand in einem solchen Fall als Verfolgter zu bezeichnen ist, auch wenn er die Repression nicht selbst erfahren hat, sollte sich von selbst verstehen. 18 Die Artikel sind in dieser Hinsicht nicht einheitlich – geschuldet den sich verschiebenden Schwerpunktsetzungen im Verlauf der Arbeit an der Dokumentation. Entsprechend der Zielsetzung des Unternehmens steht die Identifizierung derjenigen im Vordergrund, die rassistischer Verfolgung ausgesetzt waren. Bei vielen Artikeln wird dieser Tatbestand auch nicht weiter differenziert; nur bei einigen sind die familiären Verhältnisse eingehender dargestellt. Hier gibt die angegebene Sekundärliteratur in der Regel weitere Auskünfte.
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Erst mit den Nürnberger Gesetzen vom 15.9.1935 zeigte der Rassismus seine Fratze, indem im „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ Konzepte in Anschlag gebracht wurden, die jenseits der sozialen Praxis definiert waren – und mit der Maßgabe, daß „die Reinheit des deutschen Blutes die Voraussetzung für den Fortbestand des Deutschen Volkes ist“, die unbegrenzte Ermächtigung für den Eingriff in die gesellschaftlichen Verhältnisse geschaffen war. Dazu gehörte insbesondere das zugleich erlassene „Reichsbürgergesetz“, das die so Ausgegrenzten faktisch rechtlos setzte. Dadurch zogen diese Gesetze Grenzen ein, die operational handhabbar erschienen: einerseits mit der positiven Bindung der Reichsbürgerschaft an „deutsches und artverwandtes Blut“, andererseits an die Staffelung der rassistischen Verfolgung nach Anteilen „nicht-deutschen“ Blutes, die eine perverse Arithmetik von Mischlingsverhältnissen zu Folge hatte, mit der Ausgrenzung von „Volljuden“ als ihrem Kern. Zugleich wurden die 1933 noch eingeräumten Ausnahmeregelungen außer Kraft gesetzt. Die Radikalisierung der rassistischen Politik verlief im Kielwasser dieser Vorgaben lokal z.T. sehr unterschiedlich. Abgeschlossen wurde diese immer noch relativ unbestimmte Phase 1938 mit den Novemberpogromen. Eine Konsequenz dieser Politik war es, die Ausgrenzung sichtbar zu machen: durch eine Verordnung vom 17.8.1938 mußten die so Ausgegrenzten erkennbare (jüdische) Vornamen tragen, ggf. durch den Zusatz Israel bei männlichen Personen oder Sara bei weiblichen; seit dem 5.10.1938 waren ggf. die Reisepässe mit dem stigmatisierenden Stempel ‚J‘ (für: Jude) zu versehen; und schließlich war es durch die Polizeiverordnung vom 1.9.1941 allen „Juden, die das sechste Lebensjahr vollendet haben, [...] verboten, sich in der Öffentlichkeit ohne Judenstern zu zeigen.“ Damit sollten die kulturellen Ausdrucksformen des Emanzipationsprozesses in der Gesellschaft überschrieben werden – mit einer perversen anschaulichen Vereinheitlichung auf der Ebene derer, die als „Ostjuden“ Inbegriff des Fremden waren.
Im Beamtengesetz von 1933 waren alle „Nicht-Arier“ betroffen, einschließlich der „nicht-arisch Versippten“. Das restriktivere „Reichsbürgergesetz“ von 1935 zielte vor allem auf den Ausschluß der „Volljuden“, auf den kalibriert eine rassistische Arithmetik gebaut wurde: als „Volljude“ galt jemand mit mindestens drei „nicht arischen“ Großelternteilen; weiter gab es „Mischlinge“: ersten Grades („Halbjude“) bei zwei „nicht-arischen“ Großelternteilen, zweiten Grades („Vierteljude“) bei einem „nicht-arischen“ Großelternteil. In dem Feld dieser perversen Arithmetik artikulierten sich unterschiedliche Flügel der Nazis, bei denen Hitler selbst sogar relativ „liberal“ war, der auch die „Vierteljuden“ zum deutschen Volk rechnete, ihnen allerdings nur einen untergeordneten gesell-
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schaftlichen Status zuschrieb. 19 Nicht biologisch verstandene Aspekte kamen verschärfend hinzu; so wurden auch „Vierteljuden“ rassistisch ausgegrenzt, wenn sie sich zum Judentum bekannten oder mit einem Juden/einer Jüdin im Sinne des Gesetzes verheiratet waren („Geltungsjuden“ – der Terminus war informell üblich, aber rechtlich nicht definiert). Grundlegend für die Nürnberger Rassegesetze war das Konzept des Bluts. Das in diesem Sinne außer bei „Volljuden“ bei „Mischlingen“ vorhandene „arische Blut“ war demnach zu schützen: „eugenische“ Maßnahmen, die die Heiratsverbindung mit nicht-arischem Blut unterbanden, sollten diesem in Verlauf der weiteren Generationen wieder zum Durchbruch verhelfen. Insofern waren „Mischlinge“ von der Verfolgung (Deportation und Vernichtung, auch der Stigmatisierung durch den Judenstern) ausgenommen. Insbesondere unterlagen sie der Wehrpflicht; allerdings konnten sie in der Wehrmacht keine Leitungsfunktionen haben (insbesondere nicht Offiziere sein). Im Katalog sind nicht alle Fälle von rassistischer Verfolgung im Sinne der Arithmetik der Rassegesetze aufgeschlüsselt, s. hier aber bei BACK, BORINSKI, F. R. KRAUS, LENTZ, MARCHAND, NEUMANN, W. POLLAK, REICHENBACH. Von den Beamtengesetzen waren auch die „Mischlinge“ betroffen (sie konnten aber als Angestellte tätig sein). Gegen diese „Privilegierungen“ ging der extremere Flügel in der Partei an, der sich während des Weltkriegs in den besetzten Gebieten auch durchsetzte. Nach 1942 waren auch die „Mischlinge“ im ‚Reich‘ zunehmend von der Repression betroffen. Unabhängig vom Blut war die Repression gegenüber den „Geltungsjuden“, die „arisches Blut“ hatten: darunter wurden alle subsumiert, die sich ohne „jüdisches Blut“ zum Judentum bekannten, als was insbesondere die (aufrechterhaltene) Heirat mit einem Juden/einer Jüdin gerechnet wurde (so in den Rassegesetzen 1935 §5(2) definiert). Auch „Mischlinge“, die sich zum Judentum bekannten (die mosaische Religion praktizierten) wurden als „Geltungsjuden“ behandelt. „Geltungsjuden“ waren den „Volljuden“ in jeder Hinsicht gleichgestellt und anders als „Mischlinge“ sonst prinzipiell auch von der Repression betroffen, allerdings in einem Spannungsfeld, das durch den familienrechtlich definierten Schutz der Ehe bestimmt war. Eine Ehe schützte bis gegen Kriegsende zumindest vor der Deportation und der Ermordung. Allerdings wurden ab 1940 auch solche Ehepaare in Judenhäusern interniert und der jüdische Ehepartner zur Zwangsarbeit verpflichtet. Vor allem die „Mischehen“ bilden eines der widersprüchlichsten Felder der rassistischen Repression. Einerseits fielen sie unter den Tatbestand der „Ras-
�� 19 Um ihre „deutschblütigen“ Anteile zur Geltung zu bringen, war ihnen die Heirat mit Juden verboten...
112 � Hintergründe der Verfolgung senschande“, der in seinen rechtlichen Konsequenzen in den Nürnberger Gesetzen aber nur für außereheliche Beziehungen Anwendung fand (s. hier etwa bei LERCH), von dem radikalen Flügel in der Partei aber ohne solche Einschränkung gesehen wurde. Dabei wurde eine sexistische Differenzierung vorgenommen: gravierend war der Tatbestand vor allem bei Männern, während Frauen hier eher eine passive Rolle zugestanden wurde: im „Blutschutzgesetz“ von 1935 ist ausdrücklich nur die Bestrafung des „Mann[es], der [...] zuwiderhandelt“ vorgesehen. In diesem Sinne griff wohl auch Hitler persönlich in die entsprechenden Rechtsvorgaben ein. Auf ihn geht der 1938 geschaffene Tatbestand der „privilegierten Mischehe“ zurück, der solche „arisch versippten“ Ehepaare von der Verfolgung ausnahm, die ihre Kinder christlich erzogen. Auf diese uneinheitliche rassistische Stigmatisierung bezogen sich die weiteren gesetzlichen und administrativen Regelungen. Den rassistischen Eingriffen in die Hochschule diente insbesondere die neue Habilitationsordnung von 1934, mit der Unterscheidung von Lehrbefähigung, die in der Autonomie der Hochschulen blieb, gegenüber der Lehrbefugnis, die der politischen Aufsicht unterlag. Diese Habilitationsordnung wurde 1939 in einer revidierten Fassung verschärft. Die rassistische Verfolgung war ein Spannungsfeld von normativ (gesetzlich) geregelten Vorgaben und politischen Maßnahmen, die regional bzw. lokal unterschiedlich restriktiv gehandhabt wurden. Die Radikalisierung der rassistischen Politik zielte darauf, Menschen mit „nicht deutschem Blut“ das Leben in Deutschland unerträglich zu machen und so insbesondere auch bei den älteren rassistisch Verfolgten die Ausreise zu erzwingen, vor allem so mit den Novemberpogromen 1938 (s. R. HOENIGSWALD, SELZ). Damit wurde auch die Möglichkeit, lokal flexibel mit den repressiven Regelungen umzugehen, außer Kraft gesetzt, etwa bei unterbesetzten Fächern u. dgl., s. z.B. CASKEL. Hierher gehört auch die schon angesprochene Schwierigkeit, mit dem Verwaltungsterminus der Entlassung als Kriterium umzugehen. Die Personalakten zeigen, daß den von der Verfolgung Betroffenen oft das Recht eingeräumt wurde, einen Antrag auf Entlassung aus dem aktiven Dienst zu stellen, für den sie Gesundheitsgründe anführen konnten. Das hatte die Konsequenz, daß die Versetzung in den Ruhestand mit der Weiterzahlung von Bezügen verbunden war – was in solchen Fällen ein wohlwollendes Mitspielen der zuständigen Dienststellen voraussetzte. Immerhin wurden den Entlassenen Bezüge, in der Regel allerdings erheblich reduziert, weitergezahlt (seit dem 1.10.1933 allerdings nur bei einem Beschäftigungsverhältnis von über zehn Jahren). Grundsätzlich wurde die Weiterzahlung
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solcher Bezüge auch noch 1940 durch einen Erlaß geregelt.20 Zu den relativ flexiblen, von lokalen Konstellationen abhängigen Verläufen der Verfolgung, s. z.B. bei E. LEWY, der 1933 noch nicht entlassen wurde. Wie bei ihm ist in vielen dieser Biographien deutlich, daß für diese Menschen der Zeitraum von 1933– 1935 offensichtlich politisch undurchsichtig war, so daß sogar politisch bewußte Aktive in dieser Zeit über eine Rückkehr aus dem Exil nachdachten (s. hier bei STEINITZ). Die österreichischen Verhältnisse wurden nach dem „Anschluß“ (13.3.1938) rasch mit den reichsdeutschen synchronisiert. Unmittelbar nach dem 13.3.1938 führte die Gestapo dort Hausdurchsuchungen und Verhaftungen durch, am 15.3.1938 erging ein Erlaß über eine notwendige Eidesleistung auf Adolf Hitler (die in der Regel am 23.3.1938 abgeleistet wurde), von der „Nicht-Arier“ im Sinne der Nürnberger Gesetze ausgeschlossen waren. Die beamtenrechtlichen Bestimmungen von 1933 wurden sofort in Kraft gesetzt (förmlich am 31.5.1938); damit wurde auch allen davon Betroffenen (einschließlich der Emeritierten und Lehrbeauftragten) die Lehrbefugnis entzogen. Restriktive Maßnahmen wurden auch sofort gegenüber den Studierenden eingeleitet, die formal nur noch im Sinne eines rassistischen Numerus Clausus (max. 2% „nicht-arische“ Studierende) zu den Lehrveranstaltungen zugelassen waren; die Zulassung zu Prüfungen, soweit sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht begonnen waren, war nicht mehr erlaubt. Die restriktive Reorganisation der Verhältnisse wurde am 1.8.1940 abgeschlossen, als alle österreichischen Universitäten formal unmittelbar dem REM unterstellt wurden, nachdem schon im März 1938 überall das Führungspersonal politisch konform ausgewechselt worden war.21 Mit dem Weltkrieg eskalierte dann die Politik der rassistischen Verfolgung, die bis dahin auf ein „judenfreies“ Deutschland zielte, zu einer Politik der Vernichtung des Judentums. Die rassistische Verfolgung konnte vorher weitgehend in Formen verlaufen, die sich der Zustimmung des größten Teils der Bevölkerung sicher sein konnte: abgestellt auf das Verdrängen der jüngeren Generation jüdisch Stigmatisierter, die sich im biologischen Sinne noch reproduzieren konnten, erschien sie als ein Ausschalten der unliebsamen Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt; für die ältere Generation, die sich einerseits nicht mehr biologisch reproduzierte, andererseits auf dem Arbeitsmarkt keine Konkurrenz mehr bildete, setzte das Regime auf eine „biologische“ Lösung. Der Weltkrieg änderte dieses Koordinatensystem; vor allen Dingen über die außer Kontrolle geratenen
�� 20 Zu diesen formalen Aspekten des „Normstaates“ s. Hilberg 1961. 21 Einzelheiten, mit einer Reproduktion einer Reihe der Dokumente im Anhang von Kowall (1983).
114 � Hintergründe der Verfolgung Verhältnisse in den besetzten Ostgebieten setzte eine Vernichtungspolitik ein, die im ‚Reich‘ ihre Parallelen in der Ghettoisierung hatte, angefangen bei der stigmatisierenden Kennzeichnung durch den Judenstern bis hin zur Einquartierung in Judenhäuser, s. CASKEL, HERTZ, HIRSCH, KLEMPERER, RICHTER. 1942 wurde dann eine verwaltungsmäßig organisierte Vernichtungspolitik in Kraft gesetzt („Wannsee-Konferenz“), mit der auch die Möglichkeiten entfielen, individuelle Ausnahmen zu tolerieren (s. POKORNY), und auch der relative Schutz durch internationale Papiere wurde prekär (s. MALKIEL, der einen Nansen-Paß hatte). 1944/1945 wurde dann auch der prekäre Schutz für gemischte Ehen hinfällig (ein entsprechender Erlaß erging am 18.2.1945). In einigen Fällen kam es zu Deportationen, andere schafften es, im Chaos der letzten Monate des offenen Bombenkrieges ihr Überleben zu bewerkstelligen, manchmal auch mit der Unterstützung von Amtsinhabern, s. HERTZ, HIRSCH, KLEMPERER, LATTE.
3.2.3 Rassistische Verfolgung II: die konzeptuellen Probleme (Rasse, jüdisch) 3.2.3.1 Die Zuschreibung jüdisch Aus den eingangs angesprochenen Gründen benutze ich analytisch keine Konzepte der Rassebegrifflichkeit, weder die der Nürnberger Gesetze, noch die des ethnischen Selbstverständnisses des orthodoxen Judentums. Da die entsprechenden Ausdrücke (Rasse und dadurch definiert: jüdisch) aber Bestandteil der Verfolgung sind, sollen die damit verbundenen Probleme hier systematischer skizziert werden. Der ethnisch definierte Begriff des Jüdischen gehört zu den irritierenden Momenten des Umgangs mit der rassistischen Stigmatisierung der Nürnberger Gesetze (1935), weil er von den jüdischen Gemeinschaften selbst verwendet wurde, für die nur die mütterliche Linie „jüdisches Blut“ weitergibt (mit einer Bestimmung, die aus Zeiten vor zuverlässigen Vaterschaftstests stammte...); allerdings forderten die jüdischen Gemeinschaften auch noch ein Bekenntnis zum Judentum, das sich u.a. in Beiträgen für die jüdische Gemeinde ausdrückte. Insofern konnte die rassistische Stigmatisierung als Jude, sogar als „Volljude“ im Sinne der Nürnberger Gesetze, jemanden treffen, der im innerjüdischen Kontext nicht als jüdisch definiert war und sich insbesondere auch selbst nicht als solcher verstand – im Gegensatz wiederum zu sog. „Gesinnungsjuden“, die sich unabhängig von den sonstigen Bindungen und gegebenenfalls Zuschreibungen als Juden verstanden oder als solche definiert wurden, insbesondere auch „Arier“ die mit einem/einer Nicht-Arier/in verheiratet waren. Die Nürnberger Gesetze unterschieden besondere Konstellationen:
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„jüdisch versippt“ waren „Arier“, die mit einer Nicht-Arierin verheiratet waren: K. BÜHLER, FÖRSTER, GÜTERBOCK, HENNING, JAEGER, KÜNSSBERG, MERIGGI, NAUMANN, RAMBERG-FIGULLA, F. RANKE, H. RANKE, ROHDE, H. WILHELM, H. ZIMMER; vgl. auch NAUMANN; wenn die rassistische Stigmatisierung nur den Mann traf, lag eine „privilegierte Mischehe“ vor: CASKEL, ENGEL, HECHT, E. LEWY, KLEMPERER, SPITZER – einer „arischen“ Frau wurde die aufrechterhaltene Ehe mit einem „jüdischen“ Mann im Sinne der ihr zugedachten geschlechtsspezifischen Rolle gewissermaßen zugute gehalten; „Rassenschande „ war bei nicht-ehelichen Verhältnissen der Fall wie bei LERCH, der wegen seines „nicht arischen Konkubinats“ entlassen wurde; die umgekehrte Konstellation (der nicht-arische Mann) war bei ARGELANDERROSE gegeben.
Entsprechend groß sind die Schwierigkeiten, derartige Stigmatisierungen in einem solchen Katalog zu verwenden (in der Forschung ist in diesem Sinne manchmal von „nicht jüdischen Juden“ die Rede), vor allem weil nicht in jedem Einzelfall die erforderlichen biographischen Recherchen durchzuführen waren.22 Der lückenhaften Dokumentation in dieser Hinsicht steht allerdings auch die Unklarheit gegenüber, was eine so als Desiderat erscheinende Ahnenforschung für ein Unternehmen wie dieses hier bringen soll. Die Verquickung von ethnischen mit konfessionellen Zuordnungen führt historisch in ein Niemandsland, in dem jemand wie POKORNY sich einen arischen Rechtstitel zu beschaffen suchte, indem er seine jüdischen Vorfahren als zum Judentum konvertierte „Arier“ deklarierte. Den realhistorischen Hintergrund dafür bilden die z.T. symbiotisch engen Beziehungen hussitischer und jüdischer Gemeinschaften im Böhmen der Frühen Neuzeit, die dazu führten, daß einige Hussiten ihrer Verfolgung und der Zwangskatholizisierung im habsburgischen Reich durch die Annahme der mosaischen Religion entkamen. Das ist tatsächlich der familienbiographische Hintergrund für eine ganze Reihe von österreichischen Intellektuellenfamilien (darunter wohl auch die von JELLINEK),23 der allerdings für das, worum es bei dieser Untersuchung geht: die Stigmatisierung und ihre Konse�� 22 Ein einigermaßen aussagekräftiger Indikator sind ggf. die an die jeweiligen (lokalen) jüdischen Gemeinden gezahlten Beiträge – aber darüber geben die ausgewerteten biographischen Quellen in der Regel keine Auskunft. 23 S. dazu R. Kestenberg-Gladstein, The Hussites, in: The Jewish virtual Library 2012 (http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/judaica/ejud_0002_0009_0_09349.html) – mit Literaturverweisen.
116 � Hintergründe der Verfolgung quenzen, unerheblich ist. Insofern gehören Fragen des Judentums aber zum Gegenstand (und müssen daher auch in einem gewissen Umfang als Hintergrund für die biographischen Zusammenhänge dargestellt werden). Das ist von dem begrifflichen Apparat der Analyse zu unterscheiden. Bei der Charakterisierung der biographischen Verläufe benutze ich den politisch angemessenen Terminus der rassistischen Verfolgung, der formal durch die „Nürnberger Gesetze“ (1935) fixiert wurde. Ich verwende diesen Terminus auch bei denen, die als „jüdisch versippt“ bzw. wegen „Rassenschande „ (bei nichtehelichen Verhältnissen) verfolgt wurden, s. ARGELANDER-ROSE, K. BÜHLER, FÖRSTER, HENNING, JAEGER, KÜNSSBERG, LERCH, MERIGGI, F. RANKE, H. RANKE, H. WILHELM, H. ZIMMER, vgl. auch NAUMANN. Dokumentiert werden soll die Verfolgung (und ihre Auswirkung auf die Wissenschaftsentwicklung), bei der rassistische Konzepte (insbes. die „jüdische Rasse“) zwar eine Schlüsselrolle hatten, aber auch in abgewandelter Form nicht in die Analyse hineingenommen werden dürfen (in 7.11. komme ich auf dieses Problem zurück). Die mit den Verfolgungsmaßnahmen genutzte Begrifflichkeit projiziert unterschiedliche konzeptionelle Felder, von denen jüdisch das komplexeste und schwierigste ist, weil es nach der Schoah nicht mehr von deren spezifischen Konnotationen zu lösen ist. Zeitgenössisch gab es hier eine Durchlässigkeit zum wissenschaftsinternen Diskurs, die auch in der Politisierung der philologischen Diskurse greifbar ist. Im Katalog verwende ich den Terminus jüdisch nur da, wo die Betroffenen ihn für sich selbst reklamiert haben, was im Regelfall im Sinne eines religiösen Bekenntnisses geschah (in den Lebensläufen der Dissertationen meist als „mosaische Konfession“ umschrieben),24 und wo dieses auch dokumentiert ist, wie z.B. bei einer Ausbildung zum Rabbiner (abgeschlossen oder doch geplant, ggf. auch abgebrochen), s. BEN-HAJJIM, BIN-NUN, BLAU, FUKS, HERZOG, MITTWOCH, PICK, SCHEFTELOWITZ, SPANIER, A. SPERBER, WEINBERG, ggf. auch mit einem Studium an einer jüdischen Lehranstalt mit oder ohne Abschluß mit einer Ordination, s. z.B. PLESSNER, BRAVMANN, TUR-SINAI (TORCYNER), WEIL. Aber auch dann ist die Zuordnung nicht unproblematisch, weil selbst bei einer so begonnenen Biographie später eine religiöse Distanzierung nicht ausgeschlossen ist (s. z.B. FUKS). In solchen Fällen sind die Verhältnisse einigermaßen eindeutig, sowohl bei denen, die ihr Judentum politisch artikulierten und zionistisch organisiert waren, also sich um eine Palästinaemigration bemühten, wie auch bei denen, die im ‚Reich‘ in den verbliebenen jüdischen Organisationsformen weiter aktiv waren und in
�� 24 Da unter den Inflationsbedingungen in den 1920er Jahren von der Pflicht zum Druck der Dissertation mit einer Vita abgesehen wurde, sind diese allerdings nicht immer zugänglich.
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vielen Fällen dann Opfer der Vernichtungspolitik nach 1942 wurden. Für einen dramatischen Fall, der die daraus resultierenden Spannungen deutlich macht, s. WEINBERG. Wo das Judentum auch ohne religiöse Bindung von den Betroffenen für sich reklamiert wurde (wird), wird der Terminus ebenfalls verwendet: ein prominentes solches Beispiel ist FREUD, der aktives Mitglied der jüdischen Loge Bnai Brith (hebr. „Söhne des Bundes“) war.25
3.2.3.2 Der historische Hintergrund Als Folie für die folgende Darstellung soll eine grobe Skizze der historischen Zusammenhänge dienen. Sie argumentiert entsprechend dieser Dokumentation aus der Perspektive der gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland. Andere Perspektiven sind nicht nur möglich, sondern werden auch vertreten. In der zionistischen Perspektive ist der Aufbau des Staates Israel von der Schoah abgekoppelt; dadurch erscheint dort auch die im Folgenden als Achse herausgestellte Haskalah nur als Entwicklungsetappe des Judentums in der Diaspora auf dem Weg zum Zionismus, so explizit z.B. RABIN.26 Entsprechend ist auch nicht zu erwarten, daß diese Skizze unstrittig ist. Die fundamentalistische Sicht, die das Judentum als etwas Unhistorisch-Identisches versteht, projiziert ein duales Bild – sie läßt sich nicht widerlegen. Sie ist gerade auch in der Exilforschung verbreitet, wo z.B. I. L. Horowitz (1988) von einem fundamentalen Gegensatz von Judentum und totalitären Gesellschaftsformen ausgeht, der (kritische) sozialwissenschaftliche Reflexionen freisetzte – und dagegen gerichtete kritische Positionen als Ausdruck des „jüdischen Selbsthasses“ bestimmt. So läßt sich zweifellos alles das beschreiben, was hier als Reaktionsbildung auf die gesellschaftliche Ausgrenzung verstanden wird. Eine systematische Auseinandersetzung mit diesen Fragen liegt jenseits des Anspruchs dieser Darstellung. Hier geht es nur um einige Hinweise zu dem Spannungsfeld von Antisemitismus und jüdischer Selbstbehauptung, die zum Verständnis der fachlichen Verschiebungen und des im Katalog Dokumentierten notwendig sind. Für ein solches Verständnis ist es unerläßlich, das Zeitfenster erheblich zu erweitern, um die ungleichzeitigen Verläufe in diesem Spannungsfeld in den Blick zu nehmen, das für die Herausbildung der genuin bürgerlichen politischen Verhältnisse konstitutiv ist. Dieses Spannungsfeld wird auf der einen
�� 25 Diese war 1843 in New York gegründet worden. Ihre lokalen Logen waren mehr oder weniger orthodox ausgerichtet oder auch explizit säkular. Die deutschsprachigen Logen benutzen z.T. auch eine weniger exotische „phonographische“ Schreibung als Bne Briss. 26 In einem Beitrag 1952 (zur FS P. Goodman), s. bei ihm.
118 � Hintergründe der Verfolgung Seite durch die integrativen Mechanismen der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt, die ethnische, religiöse und auch intimsprachliche Faktoren zur Privatsache der Staatsbürger macht, die durch die Verfassung geschützt ist, die das politische (staatliche) Handeln nicht bestimmen dürfen; auf der anderen Seite die dazu inkongruente rassistische Ausgrenzung der jüdisch stigmatisierten Bevölkerungsteile. Ein Verständnis dieser modernen, rassistischen Form des Antisemitismus wird dadurch behindert, daß es Formen des Antisemitismus in den christlichen Gesellschaften auch vorher gab, die von dem modernen rassistischen Antisemitismus aber unterschieden werden müssen.27 In der christlichen Tradition waren die Juden religiöse Gegner – aber Menschen, die sogar in der Genealogie zurück bis zu Adam und Eva eine gewisse Priorität beanspruchen konnten (so wie auch das Hebräische unhinterfragt als „Ursprache“ angesehen wurde). Die kirchlichen Verteufelungen gaben vor allem die Lizenz zu Plünderungen, als was die frühen Pogrome in erster Linie angesehen werden müssen.28 Diese religiös artikulierte Frontstellung setzte allerdings auch das jüdische Selbstverständnis als einer inkongruenten Sondergruppe frei, das sich dazu auch der religiös verankerten Vorstellung von einem auserwählten Volk bedienen konnte. Der rassistische Antisemitismus ist demgegenüber in einem völlig anderen Koordinatensystem definiert: bei ihm steht der Status des Menschseins infrage. Das moderne Rassenkonzept hat sich von der Vorstellung einer naturhaften Einheit der Menschheit gelöst, zu der auch im christlichen Antisemitismus selbstverständlich die Juden gerechnet wurden. Es zieht vielmehr mit den verschiedenen Rassen unterschiedliche Form des Menschseins ins Denken ein: der Rassismus ist eine Form, Menschen als Nicht-Menschen zu behandeln – und damit die moralischen Schranken im Umgang mit Menschen aufzuheben (im Grenzfall: die Tötungshemmung). Eine Rekonstruktion dieser Denkformen führt nicht zu religiösen Quellen, sondern zu ihnen als konstitutiver Figur des Kolonialismus im Umgang mit den unterworfenen Völkern – als moderne Variante der Sklavengesellschaft. Daran schließt der moderne rassistische Antisemitismus an.
�� 27 Poliakov (1956–1977) hat in seiner monumentalen Aufarbeitung den Boden für die nötigen Differenzierungen geschaffen. 28 Die frühen theologischen Polemiken gegen das Judentum reagierten auf dessen offensichtliche Attraktivität vor allem für Bevölkerungsschichten, die einen Bildungsanspruch hatten – und die offensichtlich keineswegs seltenen Konvertierungen, die eben auch die große Zahl europäischer Juden erklärt, die ja nicht alle auf Zuwanderung aus Palästina zurückgeführt werden können (Poliakov hat darauf verwiesen und gibt dazu Belege).
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Die Anwendung dieser Denkfiguren auf die eigene Gesellschaft (nicht exotische wie im Kolonialismus) ist historisch relativ jung: sie ist gebunden an die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft, in der die Menschen nicht mehr nur in traditionellen sozialen Bindungen zusammenlebten, die in einem geographischen Raum lokalisiert waren, der sie mit einer Obrigkeit konfrontierte, die die Grenzen dieses Raumes repressiv kontrollierte; demgegenüber waren sie in der neuen bürgerlichen Gesellschaft, die sich im 18. Jhd. vor allem mit der französischen Revolution eine artikulierte Form gab, in einen sozialen Verband gebunden, der staatlich verfaßt war und alle Mitglieder („Bürger“ des Staates) prinzipiell zu einander in Beziehung setzte – mit dem demokratischen Projekt der gleichen Rechte und Pflichten als Fluchtlinie. Das setzte eine andere rassistische Imago der modernen bürgerlichen Gesellschaft frei, die im 19. Jhd. politisch virulent wurde (vor allem so in Deutschland): die Reinhaltung der eigenen „Rasse“, die als Subjekt der neuen, nationalen Gesellschaft postuliert wurde. Dem entsprachen dann auch „rassenkundliche“ Phantasien, mit denen der eigenen „Rasse“ auch eine eigene Genealogie unterschoben wurde – mit der Aufkündung der biblischen Vorstellung von der Monogenese der Menschheit und allem, was daran hängt (wie die Monogenese der modernen Sprachenvielfalt). Die rassistische Ausgrenzung der Juden ist gewissermaßen nur die Kehrseite dieser Imago. Das ist bei dem rassistischen Sprachdiskurs des deutschen Faschismus unmittelbar greifbar, der die Ausgrenzung der Juden als politische Tat verstand, gegen die naturhaften Gegebenheiten ethnischer (die vorfindliche Bevölkerung im deutschen ‚Reich‘) und sprachlicher Art (die Sprecher der deutschen Sprache). Das ist Gegenstand von Kap. 6. Das damit angesprochene gesellschaftliche Spannungsfeld wird mit den gesellschaftlichen Umbrüchen in der Frühen Neuzeit virulent. Einen intellektuellen Niederschlag findet es überall in Europa im 18. Jhd. in der Aufklärung, die auch im europäischen Judentum eine Zäsur markiert:29 auch dort wurde jetzt die religiöse Option (also die mosaische Religion) von der Frage der gesellschaftlichen Partizipation getrennt. Diese Entwicklung zeichnete sich schon im
�� 29 Der hebräische Terminus ist die Haskalah, zur Wurzel √skl „verstehen“, Masdar sakal (saxal) „Verstand“. Diese holzschnittartige Skizze ist vor allem auch der großen Untersuchung von Selma Stern (1890–1981) verpflichtet, die die „deutsch-jüdische Symbiose“ bei dem Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung herausgearbeitet hat. Sie arbeitete als Historikerin an der Akademie für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, wo 1925 der erste Band ihres Werks Der preußische Staat und die Juden erschien; der zweite Band wurde 1938 nicht mehr ausgeliefert und vernichtet. Erst nach ihrer Rückkehr 1961 aus dem Exil in den USA zu ihrer Schwester nach Basel unternahm sie die Fertigstellung: der dritte Band erschien 1971, ein Registerband 1975. Zu ihr und ihrem Werk, s. Hoffmann (1993).
120 � Hintergründe der Verfolgung 17. Jhd. ab, als auch in den jüdischen Gemeinschaften die Frage virulent war, wieweit ein Judentum ohne eine eigene gesellschaftliche Form (einen Staat) möglich ist. Für Intellektuelle wie Spinoza (1632–1677) war schon damals der Antisemitismus der entscheidende Faktor, der die Besonderheit des Judentums im Widerspruch zu dieser Entwicklung definierte.30 Damit war aber auch der Ansatzpunkt gefunden, rassi(sti)sche Konzeptualisierungen auf den gesellschaftlichen Ort zu beziehen, an dem sie produziert werden – statt sie essenzialistisch zu naturalisieren: das Judentum gehört zu der Gesellschaft, die es ausgrenzt; seine Besonderheiten werden mit dieser produziert und sind kein Erbe einer vorgeschichtlichen Vergangenheit – das ist die analytische Position, die dann bei den politisch „linken“ Intellektuellen des 19. Jhd. systematisch entwickelt wurde (allen voran bei Karl Marx in seinen Schriften zur „Judenfrage“). Für die „aufgeklärten“ politischen Regime war die „Judenemanzipation“ konstitutiv. Hier machte Österreich-Ungarn den Anfang, wo in der Metropole Wien der Bevölkerungsanteil mit einem jüdischen Hintergrund so groß war, daß er sich nicht mehr ausgrenzen ließ. Dem trugen 1781 die „Toleranzpatente“ von Josef II. Rechnung, die zugleich aber auch die formale Grundlage für eine polizeiliche Kontrolle gegenüber der massiven Einwanderung aus Osteuropa (politisch Teil des habsburgischen Reiches) schufen.31 Eine explizite politische Umsetzung erfolgte mit der Französischen Revolution (der Erklärung der Menschenrechte), und seitdem sukzessive in den Verfassungsreformen der meisten europäischen Staaten, die damit der „Judenemanzipation“ eine rechtliche Form gaben. In Deutschland geschah das zunächst im Geltungsbereich des Code Napoléon, dann im 19. Jhd. sukzessive verallgemeinert; in Preußen erging 1812 ein Erlaß, der Juden den Zugang zu allen Ämtern sichern sollte. Das sollte gewissermaßen die letzte Etappe in dem langen Säkularisierungsprozeß der Gesellschaft sein, der allerdings faktisch bis heute nicht abgeschlossen ist, wie nicht zuletzt die aktuellen Debatten um eine christliche „Leitkultur“ zeigen. Mit diesem Formierungsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft änderte sich das Koordinatensystem für das Judentum: die Partizipation an den bürgerlichen Emanzipationsprozessen erfolgte in einem nationalen Rahmen, der in letzter Konsequenz mit einem ethnisch verstandenen Sonderstatus unverträglich war, wie es mit der Französischen Revolution auch explizit kodifiziert wurde. Die �� 30 Diese Diskussionen bieten einen Ansatzpunkt für eine begriffliche Klärung, die einen Weg zwischen rassistischer Essenzialisierung auf der einen Seite und zionistischer Affirmation auf der anderen sucht. Es ist hier nicht der Ort, diese Fragen systematisch zu verfolgen; zu der Argumentation bei Spinoza s. z.B. Milner (2013). 31 Für diese Zusammenhänge und generell das Folgende s. M. Meyer u.a. 1996–1997.
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daraus resultierenden Spannungen bestimmten die weiten Entwicklungen – bis zur Schoah, die die bürgerliche Entwicklung abbrach (in der von mir eingenommenen Perspektive: unterbrach). Im 19. Jhd. formierten sich in allen größeren Staaten nationale jüdische Organisationen: in Deutschland eben solche der deutschen Juden. Die daneben aufgebauten Organisationsformen des „Weltjudentums“ verstanden sich in der Regel komplementär dazu, wie besonders die oben schon erwähnte Loge Bnai Brith (s. Fn. 31 in 3.2.3). In diesem Prozeß war für ein zionistisches Programm kein Platz, das sich aus diesem Prozeß gewissermaßen hinausbewegte – und in Deutschland erst mit dem eskalierenden Antisemitismus Fuß fassen konnte, wobei es sich politisch mit der antisemitischen Ausgrenzungspolitik der Nationalsozialisten traf, die 1939 im rechtlichen Raum den Terminus der deutschen Juden für unzulässig erklärten und durch den der Juden in Deutschland ersetzten.32 Zur Vorgeschichte dieses Prozesses gehören auch die Verschiebungen im jüdischen Koordinatensystem: die im 5. Jhd.v.d.Z. kanonisierte mosaische Religion (festgemacht an der Führerfigur Ez(d)ra) verstand sich zunächst expansiv, machte Proselyten, zu denen vor allem auch die späteren christlichen und noch später muslimischen Gemeinden gehörten, die sich von der Orthodoxie abspalteten.33 Der Bruch mit dieser Tradition kam erst am Ende des frühen Mittelalters, mit dem expansiven Islam, schließlich von christlicher Seite im Kielwasser der Kreuzzüge. Die Folge war eine Rückbesinnung auf das Judentum, vor allem auch als elitäres Selbstverständnis mit einer ethnischen Fundierung (die Proselytentum ausschloß). Die damit freigesetzte Orthodoxie bildete gewissermaßen den Gegenpol zur diskriminierenden Ausgrenzung, vor allem in den christlichen Gesellschaften (die muslimischen waren in dieser Hinsicht bis in die jüngste Zeit sehr viel toleranter).34 Das 18. Jhd. markiert in Deutschland das �� 32 Mit der „Zehnte[n] Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 4.7.1939, die die Zwangsmitgliedschaft in der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ etablierte. Für einen kompakten Überblick über die hier nur skizzierten Zusammenhänge s. Goldschmidt (1957). 33 Dieser historische Hintergrund wird bei der Diskussion um ein ethnisch zu verstehendes Judentum meist vergessen. Wenn in geschichtlichen Darstellungen davon ausgegangen wird, daß etwa 10% der Bevölkerung des römischen Reiches Juden waren (also zwischen 1 und 4 Millionen Menschen, je nach angesetzter Gesamtbevölkerung), dann handelte es sich um die jüdischen Gemeinden überall im Reich, die sich vor allem aus Proselyten rekrutierten und nicht (nur) von Palästina-Immigranten gebildet wurden. Ein spätes Beispiel für die Fortsetzung dieses osmotischen Prozesses, bei dem das Judentum konfessionell und nicht ethnisch definiert war, ist die Judaisierung von Teilen der Hussiten im 15. Jhd. (s.o. 3.2.3.1). 34 Da judaistische Fragen in den einzelnen Artikeln des Katalogs einen z.T. großen Raum einnehmen, seien hier kurz einige judaistische Schlüsselbegriffe erläutert. Der Bibeltext (in der christlichen Überlieferung: das Alte Testament) mit der Torah (den fünf Büchern Moses) und
122 � Hintergründe der Verfolgung Ende jüdischer Sonderkultur – vor allem auch des (West-) Jiddischen (anders in Osteuropa, wo das [Ost-]Jiddische nicht zuletzt auch die überlegene städtische Kultur gegenüber der ländlich-bäuerlichen Umgebung repräsentierte, s.u.). Ein jüdisches Milieu sollte von jetzt ab in seiner Besonderheit keinen anderen Status haben als ein katholisches (mit seinen verschiedenen regionalen Ausprägungen: im Rheinland anders als in Bayern) oder protestantisches (wieder mit sehr verschiedenen Ausprägungen: hanseatisch-urban im Norden, pietistisch im Südwesten etc.). Die Ablösung von einem ethnisch verstandenen Begriff des Judentums hat verschiedene Aspekte, bei denen die Entwicklung phasenverschoben laufen kann. Der kritische Punkt ist sicherlich das Heiratsverhalten: auch in „assimilierten“ Familien hatten die Söhne oft noch lange mit Widerständen zu kämpfen, wenn sie eine nicht-jüdische Frau heiraten wollten. Darin lag ein Bruch mit der ethnisch verstandenen Reproduktion des Judentums, die in den Familien noch selbstverständlich sein konnte – im Gegensatz zu der für eine bürgerliche Gesellschaft selbstverständlichen freien Partnerwahl. Entsprechende Konflikte, wenn der Sohn eine Goja(h)35 mit nachhause brachte, sind in einigen der von mir geführten Interviews zur Sprache gekommen, drastisch so von GARVIN; öfters sind sie in autobiographischen Aufzeichnungen (z.B. bei KLEMPERER) und im Personalschriftum dokumentiert (z.B. bei JACOBSOHN). Da ich diesen Faktor nicht systematisch recherchiert habe, kann ich nur mit der (allerdings sehr plausiblen) Annahme operieren, daß das ein durchgängiges Moment in dieser Generation war.36 Immerhin genossen die daraus resultierenden Konstellationen denn auch gegenüber der rassistischen Repression einen relativen Schutz, s.o. 3.2.2.
�� den anderen kanonischen Texten; der Talmud: der Kanon der ethischen bzw. rechtlichen Vorschriften (zur √tlmd „lernen, lehren“), dessen schriftliche Kodifizierung die Mišnah ist, mit dem mündlichen Gegenstück in der Toseftah (Kommentare zur Mišnah). Ein Teil des Talmud wird in der jüngeren Überlieferung als die Gemarah bezeichnet. Die philologische Arbeit an der Überlieferung ist die Masorah, die sich um die Wiederherstellung bzw. Konservierung der authentischen Texte bemüht. Im judaistischen Verständnis ist die Herstellung des maßgeblichen Bibeltextes nicht von seiner rituellen Funktion zu trennen, was eine der entscheidenden Grenzlinien zu der nicht judaistischen (z.B. christlichen) Herangehensweise ausmacht. Für die jüngere Hebraistik ist die Auseinandersetzung mit dem Neuhebräischen (Ivrit) zentral. Als Hinweis zur Graphie: ich transliteriere hebräische Ausdrücke ggf. mit der Notation der femininen Wortendung -ah. Häufig zu finden ist auch die verkürzte Schreibweise mit einem einfachen -a (also Tora neben Torah u. dgl.). 35 Feminine Form zu hebr. go „nicht-jüdischer Fremde“. 36 Auch ohne aufwendige Archivrecherchen sind Indikatoren in den zugänglichen Repertorien zu finden, wenn diese wie z.B. Röder/Strauss 1983 (BHE) die konfessionelle Zugehörigkei-
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Insofern sind die Verhältnisse im 19. Jhd. nicht einheitlich und verlaufen die Entwicklungen z.T. auch phasenverschoben. In der Tradition der Haskalah stehen die Bemühungen um die Anerkennung der jüdischen Religion als gleichberechtigter Option neben der christlichen, also verstanden als religiöse Artikulation des Lebens von Deutschen in Deutschland. Dazu gehörten vor allem auch die Bestrebungen zur Etablierung einer judaistischen Theologie, die sich im 1818 in Berlin gegründeten Verein für Cultur und Wissenschaft des Judentums ein Instrument schufen, seit 1851 auch mit der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. Ein zentraler Schritt dahin war die Institutionalisierung der Rabbinerausbildung unter Staatsaufsicht, also vergleichbar der Theologieausbildung an den Universitäten. Die wichtigste dieser Einrichtungen war das Breslauer Seminar, 1854 gegründet (ausgestattet mit jüdischem Stiftungskapital);37 1870 folgte die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (von 1883–1922 und von 1934–1939 unter der offiziellen Bezeichnung „Lehranstalt“), die auch das NS-Regime erhielt, vor allem auch in Hinblick auf ihre Funktionalisierung für die Organisation der jüdischen Auswanderung (das Breslauer Seminar wurde bei den Pogromen 1938 zerstört, das Berliner 1939 aufgelöst).38 Die Widersprüche sind in den Familienbiographien eingeschrieben, angefangen bei den Namen. Mit der Rechtsreform, zuerst und am nachhaltigsten zu Beginn des 19. Jhd. da, wo der Code Napoléon Geltung hatte, bestand die Pflicht zur amtlichen Registrierung mit einem Familiennamen und damit auch die Möglichkeit, den Familiennamen zu ändern, der oft die Spuren antisemitischer Diskriminierung trug (die am Code Napoléon orientierte Reform des Zivilrechts schuf später auch anderswo diese Möglichkeit). In vielen Fällen wurde die Option genutzt und ein „deutscher“ Name gewählt, s. NORDEN (statt früher Calmer), in anderen Fällen wurde aber auch ein ausdrücklich jüdischer Name gewählt (BOAS statt früher Feibes), vgl. auch die Judaisierung bei ARONSTEIN (früher Arndt) u.a. Insofern sind die widersprüchlichen Verhältnisse in den jüdischen Gemeinschaften ein Faktor, der nicht in den großen Linien der gesellschaftlichen Entwicklung aufgeht. Zu den Widersprüchen gehörte die Reaktion des orthodoxen Judentums, das sich dieser Entwicklung verweigerte. Ein Verständnis dieser Widersprüche �� ten auch bei den Ehepartnern angeben. Da diese Frage in der ersten Phase der Arbeit am Katalog nicht im Vordergrund stand, ist das hier nicht systematisch dokumentiert. 37 Vgl. Kisch 1963. 38 Eine Schlüsselrolle bei der „Abwicklung“ der jüdischen Einrichtungen hatte Leo Baeck (1873–1956) als Präsident der „Reichsvertretung des deutschen Judentums“, s. dazu Liebeschütz 1966.
124 � Hintergründe der Verfolgung muß die gegensätzlichen Verhältnisse in Westeuropa (und in seiner Verlängerung in der „Neuen Welt“) und in Osteuropa berücksichtigen: im Westen war eine Entwicklung angelaufen, bei der die jüdischen Gemeinden grundsätzlich den christlichen förmlich gleichgestellt wurden. Das implizierte auch eine formelle Mitgliedschaft, die der religiösen Kontrolle entzogen war. Die Folge waren durch das ganze 19. Jhd. hindurch endemische Konflikten in den Gemeinden, in denen die Orthodoxen auf eigenständigen Einrichtungen bestanden, in denen sie diese Kontrolle behielten (u.a. 1873 auch mit der Einrichtung eines parallelen orthodoxen Rabbinerseminars in Berlin). Wo sie nicht die Mehrheit der Gemeinden hatten, bemühten sie sich um den Austritt aus den Reformgemeinden.39 Zu diesen Spannungen gehörte aber auch die wachsende Präsenz von „Ostjuden“ (mit überwiegend orthodoxer Ausrichtung) in den Gemeinden, aber vor allem auch in den Seminaren, wo sie die Träger der zionistischen Ausrichtung waren, die bei den „deutschen Juden“ bis zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1932/1933 keine nennenswerte Basis hatte.40 Um 1900 war wohl der größte Teil der Bevölkerung, der einen jüdischen Familienhintergrund hatte, nicht mehr jüdisch in einem ethnischen (oder auch nur religiösen) Sinne. Das spiegelt sich in der Art, wie die jüdische Sichtbarkeit ausgehandelt wurde – nicht zuletzt ein Raum von innerfamilialen Konflikten, in denen eine neue „nationale“ Selbstdarstellung gegen die Familientradition durchgesetzt werden mußte. Zu Beginn des 19. Jhds. spiegelt sich das in den damals oft neu gewählten, zumeist ausdrücklich „deutschen“ Familiennamen (s.o.). Nachdem die Familiennamen fest waren, bestanden noch Spielräume bei der Vornamensgebung für die Kinder, bei der oft als Kompromißlinie mehrere Namen in beiden Traditionslinien vergeben wurden, die den Namensträgern später die Möglichkeit einer Option bei den gewählten Rufnamen gab (s. z.B. FREUD mit dem jüdischen Vornamen Schlomo und dem „germanischen“ Sigmund). Für diese Menschen hatte die jüdische Familiengeschichte vor allem eine eponymische Funktion. Die meisten von ihnen waren getauft, in vielen Familien schon in der zweiten oder dritten Generation. Austritte aus den jüdischen Gemeinden (an die eine Art Kirchensteuer zu entrichten war) waren �� 39 Zu den Unterschieden in den verschiedenen Ländern gehörte insbes. das sog. „Austrittsgesetz“, das Bismarck im Kulturkampf durchgesetzt hatte, um die katholische Kirche durch die Möglichkeit des Austritts aus katholischen Gemeinden zu schwächen. In Preußen konnten die orthodoxen Juden dieses Gesetz nutzen, um auf dieser rechtlichen Grundlage auch aus den Reformgemeinden auszutreten. In katholischen Ländern (z.B. in Bayern) war Vergleichbares nicht möglich. 40 Anschaulich zu den entsprechenden Spannungen innerhalb der Studierenden, s. die Erinnerungen von Herlitz 1966 an seine Berliner Studienzeit.
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zwar nicht selten, aber hier konnte (nicht anders als bei den christlichen Kirchen) der soziale Faktor der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft gegenüber dem Religiösen dominieren (Konfessionslosigkeit war in der deutschen Gesellschaft noch lange ein Stigma). Signifikanter noch ist die zunehmende politische Partizipation: Menschen mit einem jüdischen Familienhintergrund verorteten sich in dem politischen Spektrum der deutschen Gesellschaft (bei Akademikern entsprechend der statistischen Normalverteilung überwiegend im nationalkonservativen Lager). Diese Entwicklung kulminierte gewissermaßen im Ersten Weltkrieg im „Erlebnis des August 1914“. Kaiser Wilhelm II. deklarierte: „Ich kenne nur noch Deutsche“ – und massenhaft meldeten sich junge Menschen aus jüdischen Familien an die Front (die jungen Frauen taten ihren vaterländischen Dienst in Kriegslazaretten). Die Tapferkeit an der Front demonstrierte die Zugehörigkeit – die auch honoriert wurde: durch die Presse gingen Bilder, in denen der Kaiser Soldaten mit erkennbar jüdischem Hintergrund auszeichnete.41 Im Katalog findet sich eine ganze Reihe Vertreter dieser Generation. Diese Grundhaltung wurde auch noch gegenüber der einsetzenden rassistischen Verfolgung nach 1933 fortgeführt: als das „Wehrgesetz“ 1935 die „Nürnberger Gesetze“ umsetzte und „Volljuden“ vom Wehrdienst ausschloß, protestierte nicht nur der „Reichsverband jüdischer Frontsoldaten“, sondern auch die „Reichsvertretung der deutschen Juden“ gegen diese Diskriminierung (Barkai 1997, Bd. 4: 265). Gegenüber der offensichtlichen Kontinuität des Antisemitismus, die inzwischen in zahlreichen Darstellungen aufgearbeitet ist, muß der Bruch durch dessen rassistische (biologische) Neuorientierung gesehen werden, die in die Schoah führte. Da der Antisemitismus nichts spezifisch Deutsches ist, müssen hier besondere gesellschaftliche Faktoren in Rechnung gestellt werden. Mit Preußen als Vorreiter formierte sich die deutsche Gesellschaft gerade auf der Folie einer verweigerten politischen Nation vor 1871 auf einer nationalen Basis, die gewissermaßen als säkularisierte Religion funktionierte, artikuliert im aufgeklärten Protestantismus, dem alles, was nicht national ausgerichtet war, suspekt war. Eintrittskarte war insofern die (protestantische) Taufe – andere Konfessionen waren als nicht-national suspekt: das Judentum nicht anders als die „ultramontanen“ Katholiken.42
�� 41 Ein eindrucksvolles Dokument sind die Feldpostbriefe ehemaliger Zöglinge des jüdischen Waisenhauses an S. FEIST, s. bei diesem. 42 Katholiken waren um 1900 an den deutschen Universitäten vergleichsweise noch weniger unter den Professoren vertreten als Juden – wogegen sich auch eine entsprechende Lobby formierte, die Görres-Gesellschaft (1876 gegründet), s. dazu Hammerstein 1995.
126 � Hintergründe der Verfolgung Der Antisemitismus aus dem Bauch heraus war eine Sache des Pöbels – und war an den Universitäten nicht zu Hause. Insofern war auch die Artikulation der „Abwehr“ des Antisemitismus hier ebenfalls nicht zu Hause: vom Verein zur Abwehr des Antisemitismus (s.u.) bis hin zu den Reaktionen auf die antisemitische Agitation von Treitschke bis Stöcker, s. dazu Hammerstein (1995). Allerdings kippte die emanzipatorische Entwicklung des 19. Jahrhunderts an seinem Ende schon um. Die förmliche rechtliche Gleichstellung, die zunächst phasenverschoben in den verschiedenen Ländern verlaufen war, wurde 1871 vom Reich noch vollzogen. Die Konsequenzen ließen sich auch bei den Hochschulen ablesen: 1859 wurde in Göttingen ein erster Professor mit jüdischem Hintergrund ernannt (der Mathematiker Stern); eine restriktive Berufungspraxis gegenüber Juden und vor allem auch Katholiken gab es weiterhin allerdings bei den als staatstragend angesehenen Disziplinen: Jura und Staatswissenschaft (ebenso wie in der Theologie), bei denen, anders als in der philosophischen Fakultät, ggf. auch die Taufe für eine Ernennung nicht ausreichte. Immerhin konnte der Verband der deutschen Juden (1904 als nationale Dachorganisation gegründet) in einer 1911 vorgelegten Dokumentation für 1890 2,8% aller Ordinarien mit jüdischer Herkunft feststellen;43 aber seitdem war die Entwicklung dann wieder rückläufig: für 1910 registrierte diese Bestandsaufnahme noch 2,5%, eine entsprechende Auswertung für 1917 ergab noch 1,2%. Der Kontext dafür ist die zunehmend auch in der Öffentlichkeit stärker werdende rassistische Agitation, die sich schließlich in Reaktion auf den „verlorenen“ Ersten Weltkrieg (bzw. auf das „Diktat von Versailles“) verstärkte, in Verbindung mit der Umstrukturierung der Universitäten zu „Massenuniversitäten“, die das professorale Selbstverständnis bedrohte. Mit der darauf reagierenden Nostalgie des Kaiserreiches, die große Teile des konservativ-nationalen akademischen Personals bestimmte, verstärkte sich eine militaristische Ausrichtung, die die wilhelminische Formierung der Gesellschaft artikuliert hatte: was dem entgegenstand, wurde zu einem inkriminierten Komplex von PazifismusInternationalismus-Jüdischen amalgamiert, in einer diskursiven Gemengelage, die den Nährboden für den neuen Antisemitismus bildete. An den Universitäten artikulierte dieser sich aber dennoch zunächst nur marginal, vor allem bei den neurekrutierten Schichten der Studierenden in den Massenuniversitäten: offen antisemitische Agitationen fanden sich in den 20er Jahren vor allem bei studentischen Organisationen, angefangen beim Nationalsozialistischen Studentenbund, der damit auf dem Jahrestag des Dachverbandes der „Deutschen Studen-
�� 43 Zu dieser Bestandsaufnahme s. Kampe 1987.
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tenschaft“ 1932 in Graz eine Mehrheitsposition erhielt und dadurch die Verhältnisse an allen Universitäten bestimmen konnte.44 Vor diesem Hintergrund ist der neue Antisemitismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein ungeheuerlicher Rückfall in die Barbarei voraufgeklärter Verhältnisse, der gerade auch für Menschen mit einem jüdischen Familienhintergrund unfaßbar war. Von Auschwitz aus erschließen sich die Widersprüche im Verhalten der Menschen auf dem Weg in die Schoah nicht. Der antisemitische Diskurs vor 1900, der gerade auch in das akademische Milieu eingeschrieben war, artikulierte ein nationales Selbstverständnis, das die „guten“, also deutschen Juden, mit einschloß – allerdings nicht die fremden, und das hieß vor allem nicht die Ostjuden.45 Dieses Selbstverständnis findet sich auch bei vielen von denen, wenn nicht den meisten, die später von der rassistischen Verfolgung betroffen waren. Der Bruch lag in der asozialen, biologischen Rassedefinition, die die nationalsozialistische Verfolgung definiert – und die für die direkt Betroffenen ein Schock war.46 In diesem Horizont erklären sich auch die Widersprüche bei den Nationalsozialisten selbst, allen voran bei Hitler, der sich als Frontsoldat des Ersten Weltkrieges verstand und daher auch auf der Sonderregelung für diejenigen bestand, die mit ihm an der Front gekämpft hatten (die Sonderregelung wurde 1935 aufgehoben, nach dem Tod Hindenburgs). Andererseits formierte sich die antisemitische Reaktion gegen die faktisch beschleunigte Integration im Weltkrieg: Ludendorff47 und Konsorten fühlten sich bedroht, als Menschen mit jüdischem Hintergrund auch ins Offizierscorps aufstiegen. Die so umrissenen gesellschaftlichen Konstellationen spiegeln sich in diskursiven Formationen, die nicht zuletzt die wissenschaftliche Praxis artikulie-
�� 44 Die Deutsche Studentenschaft war als Zusammenschluß der nach dem Ersten Weltkrieg eingerichteten Allgemeinen Studentenausschüsse von vornherein großdeutsch, umfaßte also nicht nur die Ausschüsse der Hochschulen in Reich, sondern auch diejenigen in Österreich sowie der deutschsprachigen Hochschulen in der Tschechoslowakei und in Danzig. 45 Deutlich so artikuliert bei H. Treitschke, der immer als Vorläufer zitiert wird. Diese Differenzierung spiegelt sich nicht zuletzt auch in Hitlers „Mein Kampf“, der dort die Entdeckung des Juden auf seine Erfahrungen in der Großstadt Wien bezieht: dort drängte sich ihm in den Straßen die Frage auf: „Ist dies auch ein Deutscher?“ – während er für seine frühen Erfahrungen „jüdisch“ nur mit konfessionellen Unterschieden verband (dort im Kapitel 2. Wiener Lehrund Leidensjahre; der Abschnitt ist überschrieben mit „Wandlung zum Antisemiten“, Ausgabe 1938: 59). 46 Einzelne Reaktionen vor allem aus Briefen sind im Katalog dokumentiert, s. etwa bei KLEMPERER oder STEINDORFF. 47 Erich Ludendorff (1865–1937), im ersten Weltkrieg als General in der Heeresleitung, in der Weimarer Republik führende Figur der Rechten.
128 � Hintergründe der Verfolgung ren – und damit viele der hier versammelten Biographien. Die Haskalah war der Anfang einer Wissenschaft des Judentums, die sich als Teil der universalen Wissenschaft begriff und nur in ihrem Gegenstand partikulär war; in der konkreten Ausprägung partizipierte sie an dem kritischen Wissenschaftsverständnis, das vor allem methodisch kontrollierte philologische Arbeit erforderte.48 Eingebettet war diese Bewegung in die jüdischen Reformgemeinden, die eine moderne Rabbinerausbildung forderten, der am Ende des 19. Jahrhunderts die neuen jüdischen Lehranstalten/Hochschulen (vor allem in Breslau und Berlin) nachkamen. Die traditionellen religiösen Lehranstalten (die Jeschiwot, Singular Jeschiwah) verschwanden im 19. Jahrhundert weitgehend.49 Die Verhältnisse änderten sich mit dem massenhaften Zuzug der osteuropäischen Juden, die außerhalb dieser Entwicklung standen und mit ihrer traditionellen Frömmigkeit ein Modell für eine orthodoxe Renaissance lieferten, für die die Frankfurter Lehranstalt von Franz Rosenzweig (seit 1920) exemplarisch steht. An der Zuwanderung der Ostjuden entzündete sich dann im II. Reich (nach 1871) die massive antisemitische Agitation eines Stöcker, wissenschaftspublizistisch verbrämt bei Treitschke.50 Der nationalistische Diskurs hatte hier noch keine biologische Prämisse: er erkennt (wie exemplarisch bei Treitschke) „große Deutsche“ an, die ihren jüdischen Familienhintergrund gewissermaßen zur Privatsache gemacht hatten. Allerdings wurde damit faktisch dem biologischen Antisemitismus der Rassenkunde, der im Nationalsozialismus in die Schoah führte, der Weg gebahnt – der davon aber zu unterscheiden ist. Damit ist das Spannungsfeld für die am Ende des 19. Jahrhunderts aufbrechenden Konflikte beschrieben, zu denen auch die republikanischen Reaktionen auf den öffentlich immer sichtbarer werdenden Antisemitismus gehörten: 1891 wurde ein Verein zur Abwehr des Antisemitismus gegründet, der sich bis zu seiner Auflösung durch die Nationalsozialisten 1933 bemühte, den Antisemitismus als verfassungs- und kulturwidrig darzustellen (s. VOßLER für einen seiner Aktivisten). Nichts kennzeichnet die widersprüchlichen Verhältnisse deutlicher als die kritische Reaktion der orthodoxen jüdischen Gemeinschaft auf diese (ausdrücklich nicht-jüdische) Bewegung. 1893 wurde der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ gegründet, der sich um eine öffentliche Selbstdefinition bemühte: er argumentierte gewissermaßen auf der Ebene der
�� 48 Zum folgenden Meyer (1996–1997) und Carlebach (1992). 49 Eine Renaissance erlebten sie erst in Reaktion auf die Schoah nach 1945 in Israel und besonders auch in den USA. 50 S. dazu Böhlich 1965. Zur Stöckerschen Agitation, s. hier bei BOAS.
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im damaligen Diskurs bemühten Stämme des deutschen Volkes, deren Besonderheit es zu wahren galt (also auch die jüdische gegen die nivellierende „Assimilation“). Das entsprach der (nicht nur damals) üblichen Ethno-Stereotypen, die sich durchgängig im persönlichen Schrifttum der damaligen Zeit finden: wenn die Rede von Kollegen ist, werden diese ggf. als typisch jüdisch „charakterisiert“, nicht anders als wenn von einem „gemütlichen Bayer“ oder Rheinländer gesprochen wird (durchgängig so z.B. bei dem ausgesprochenen AntiAntisemiten Brockelmann, der Zeit seines Lebens eng mit von ihm so charakterisierten Kollegen und Studierenden zusammengearbeitet hat, s. seine Erinnerungen Brockelmann 1947). Bei einer expliziten politischen Diskussion war die Berufung auf die deutsche Staatsbürgerschaft, also die Partizipation am gesellschaftlichen Prozeß, die ausschlaggebende Prämisse. Ihr entsprach die Rede von jüdischen Deutschen – emphatisch so in den Positionsnahmen des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (der 1918 gegründet worden war).51 Schließlich gab es auch einen rechten Rand in diesem organisatorischen Feld, darunter den 1921 gegründeten Verband nationaldeutscher Juden, auf dem die Dachorganisationen explizit angegriffen wurden, weil sie die Position jüdischer Deutscher statt deutscher Juden einnahmen. Das Konzept der deutschen Juden bestimmte allerdings die Position der zionistischen Bewegung, die sich gewissermaßen durch den Antisemitismus definierte und daher auch dessen neu aufbrechende Formen politisch richtig einschätzen konnte. Sie sah ohnehin im Reformjudentum einen Verrat, dem sie eine Rückkehr aus dem Exil (die CAlijah)52 zugleich mit der orthodoxen Rückbesinnung auf das Judentum entgegenstellte (bei Vertretern wie Gershom Scholem auch mit einer expliziten Kritik an der „Wissenschaft des Judentums“). Eine Schlüsselrolle hatte hier Herzl,53 der in Frankreich die antisemitische Agitation �� 51 Das gilt erst recht für den „Reichsverband Christlich-Deutscher Staatsbürger nicht-arischer oder nicht-rein-arischer Abstammung“, bei dem NEHRING aktiv war. Dieser Verband versuchte mit von heute her gesehen befremdlichen Formen der Anbiederung die Anwendung des Arierparagraphen auf seine Mitglieder zu verhindern. In einer Verbandserklärung von 1934 heißt es: „Wir bleiben unserer Idee bis zum letzten treu: deutschbewußte und heimattreue Christen“. Unterlagen aus dem Gestapo-Archiv zu diesem Verband im Institut für Zeitgeschichte, München (Signatur: Fa. 168/3). 52 In einer Umfunktionierung des Terminus, mit dem sonst in der Synagoge das Vortreten aus der Gemeinde bezeichnet wird, um einen Abschnitt aus der Torah vorzulesen. 53 Mit seinen Veröffentlichungen, darunter vor allem „Der Judenstaat“ (1896) und seinen organisatorischen Aktivitäten, vor allem auch den „Weltkongressen“ der zionistischen Bewegung, gab Herzl entscheidende Anstöße für eine politisch bewußte Neuformierung des Judentums. Für seine politische Position ist es charakteristisch, daß er versuchte, den deutschen Kaiser für die zionistische Politik zu gewinnen.
130 � Hintergründe der Verfolgung im Kielwasser der Dreyfus-Affäre54 erlebt hatte und daraufhin die auch von ihm bis dahin vertretene Hoffnung auf eine Emanzipation im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft für illusorisch ansah. Seine Schlußfolgerung war, im Antisemitismus eine gewissermaßen zeitlose Konstante in der Gesellschaft der NichtJuden zu sehen – die im Judentum als Konstante, die historisch nicht zur Disposition steht, ein Gegenstück hat; daraus leitete er ein ethnisches Verständnis des Judentums ab, das eine eigene politische Organisation erfordert, weil es in die anderen Gesellschaften nicht integrierbar ist.55 Die erforderliche notwendig extraterritoriale „judenstaatliche“ Lösung würde dann auch die bürgerlichen Staaten von diesem Konflikt entlasten. Die Rückkehr in das „gelobte Land“ sollte diese Lösung sein, wo es ja auch schon Siedlungen gab – wobei Herzl davon ausging, daß eine solche politische Lösung eine Entwicklungschance auch für die dort lebenden (arabischen) Palästinenser und daher auch in deren Sinne sei.56 Dieses Programm wurde vor allem in Osteuropa/Rußland zu einem politischen Faktor, hatte aber auch in Westeuropa Konsequenzen. In Deutschland entsprach ihm die Zionistische Vereinigung für Deutschland (gegründet 1896), die allerdings in Hinblick auf die Mitgliedschaft bis 1932/1933 marginal war und erst in Reaktion auf die Machtübergabe an die Nationalsozialisten einen sprunghaften Zuwachs erfuhr. Die politischen Randbedingungen verschoben nach 1933 zwangsläufig auch die diskursiven Konstellationen. Der Begriff der jüdischen Deutschen war im offiziellen Diskurs nicht mehr zulässig, weil die jüdische Besonderheit die Ausgrenzungspolitik legitimieren sollte, so explizit seit dem Reichsbürgergesetz vom 25.9.1935, das statuierte, daß Juden nicht mehr Reichsbürger (also Deutsche im emphatischen Sinne) waren, sondern nur noch Staatsangehörige. Daran schlossen dann die weiteren Ausgrenzungsmaßnahmen an: durch die Paßverordnung vom 5.10.1938 sollten Juden nicht mehr durch den Paß als Deutsche ausgewiesen sein, indem der J-Stempel im Paß ihre Andersartigkeit markierte. Die Stigmatisierung durch den Judenstern (durch die Kennzeichnungsverordnung vom 1.9.1941) sollte sicherstellen, daß Juden im öffentlichen Raum immer als solche (also nicht als „reguläre“ Deutsche) identifizierbar sind. �� 54 1894 war der (jüdische) Offizier Dreyfus zu Unrecht wegen Landesverrats verurteilt worden. Bemühungen, den Prozeß neu aufzurollen, lösten jahrelang anhaltende heftige antisemitische Kampagnen aus. 55 “Die Volkspersönlichkeit der Juden kann, will und muss [...] nicht untergehen. Sie kann nicht, weil äussere Feinde sie zusammenhalten.“ („Der Judenstaat“, 1896: 14); „Die Judenfrage [...] ist eine nationale Frage. [...] Wir sind ein Volk.“ (ebd., S. 11). S.o. zur Tradition dieser argumentativen Figur mit dem Verweis auf Spinoza (Herzl scheint sie nicht gekannt zu haben). 56 Deutlich vor allem auch in seinem utopischen Roman „AltNeuland“ (1902).
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Diesen Vorgaben mußten sich auch die jüdischen Organisationen unterwerfen, die sich bemühten das Überleben im Faschismus organisatorisch zu ermöglichen und die dabei mit der rassistischen Repression umgehen mußten, einschließlich der stigmatisierenden Sprachregelung. Das galt vor allem für die Weiterführung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der dabei eine Schlüsselrolle übernahm, der sich nach 1936 in diesem Sinne Jüdischer Central Verein nennen mußte. Auf dieser argumentativen Linie bewegten sich selbstverständlich die jüdischen Organisationen, die sich nach 1933 den Nationalsozialisten anzubiedern versuchten wie der Deutsche(r) Vortrupp. Gefolgschaft deutscher Juden (1933 gegründet, 1936 verboten, wie auch der o.g. „Verband nationaldeutscher Juden“). Jede Wortwahl ist hier durch die Geschichte belastet. Für die Argumentation in diesem Band, der eine Facette des Bruchs mit der gesellschaftlichen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland dokumentiert, behalte ich den Begriff der jüdischen Deutschen bei, die von der Repression betroffen waren – was auch dem Selbstverständnis ihrer Mehrheit entsprochen haben wird.
3.2.4 Jiddisch Zeitgenössisch wurde Jiddisch als sprachliche Varietät des Deutschen verstanden, und entsprechend sind Menschen mit jiddischer Familiensprache auch in diesem Katalog aufgenommen. Diese Entscheidung verlangt allerdings eine Begründung, weil heute (nach der Schoah) auch die sprachlichen Klassifikationen oft anders vorgenommen werden. Daher, aber auch, weil das Jiddische in vielen biographischen Artikeln (nicht nur bei den Jiddisten) eine große Rolle spielt, sollen dazu hier einige begrifflich-terminologische Anmerkungen gemacht werden. Eine grundsätzliche Schwierigkeit ist nicht nur hier, daß mit Sprachbezeichnungen von sehr Unterschiedlichem die Rede sein kann (in Alltagsdiskursen nicht anders als in der Sprachwissenschaft), in einer groben Vereinfachung: – die sprachlichen Formen, die die gewohnten Alltagspraktiken konnotieren, mit denen der Sprecher aufgewachsen ist – was häufig mit dem emphatischen Terminus der Muttersprache bezeichnet wird, – die ausgebauten Sprachen, mit deren Formen Neues artikuliert werden kann, die mit entsprechenden kognitiven Leistungen verbunden sind und die die Kommunikation mit Fremden erlauben.
132 � Hintergründe der Verfolgung Wird der erste Aspekt fokussiert, stellen sich die Fragen von sozialer Identität, die mit solchen Formen emblematisch verknüpft sind. Der zweite Aspekt ruft die Fragen des Sprachausbaus auf, also auch das Verhältnis zur Bildungssprache und damit ggf. Probleme der Mehrsprachigkeit. Nur wenn man den ersten Aspekt in den Vordergrund stellt, kann man von Jiddisch als einer jüdischen Sprache reden – als sprachliche Varietät, die nur von Juden praktiziert wird (wenn auch nicht von allen). Verkompliziert wird diese Differenzierung durch die Literatur: Literatur im modernen Sinne wird artikuliert in sprachlichen Formen, die im Alltag verankert sind, die diese Sprache aber ausbauen – wie es für die moderne jiddische Literatur gilt.57 Von solchen Fragen der Nutzung einer Sprache (bzw. des Umgangs ihrer Sprecher mit ihr) kann man aber abstrahieren und ihre Formen im Feld anderer Sprachen betrachten (im genetischen oder auch typologischen Vergleich), wie es beim Jiddischen früher (also zeitgenössisch) auch überwiegend der Fall war. Die folgenden Hinweise sollen diese Probleme auf einer historischen Folie soweit deutlich machen, daß die Argumentation in diesem Band nachvollziehbar wird. Jiddisch ist eine graphisch verfremdete Form von jüdisch, lautlich entsprechend der oberdeutschen Form [ˈʝi.dɪʃ] ohne gerundeten Palatalvokal. Die Schreibung mit hat sich im englischsprachigen Kontext etabliert (dort Yiddish), um eine Aussprache [ˈjaj.dɪʃ] zu verhindern. Jiddisch (Jüdisch) entspricht dem früher üblichen Judendeutsch. Dieser Terminus wird von Vertretern einer selbstbewußten jiddischen Bewegung, die sich zu Beginn des 20. Jhds. in Osteuropa formierte (z.T., aber nicht notwendig in Verbindung mit der zionistischen Bewegung), abgelehnt, weil er das Deutsche als Oberbegriff setzt. Das sind auch die Prämissen der heute in der Forschung überwiegenden Position.58 Als besondere Sprachform resultierte das Jiddische aus der segregierten Lebensform jüdischer Gemeinschaften (insbes. der Ausgrenzung in Ghettos), die intern durch die mosaische Religion zusammengehalten wurden, der eine hebräische Schriftsprache korrespondiert, in der die Kinder sehr früh unterrichtet wurden. Die gesprochene Sprache in diesen Gemeinschaften war durchlässig für die der Umgebung: also deutsch (ähnlich in anderen Ländern: spanisch, arabisch, polnisch, litauisch etc.); die Schriftsprache aber war Hebräisch (wie im Mittelalter in Europa bei der christlichen Mehrheitsbevölkerung Latein). Wo �� 57 Mit Autoren wie Scholem Alejchem (Schalom Yakov Rabinowitsch), dessen enorm verbreitete Werke als genuiner Ausdruck der Lebensverhältnisse unter den Bedingungen der massenhaften Auswanderung aus Osteuropa gelesen wurden. 58 Explizit so formuliert in der Heidelberger Dissertation (1936) von BIN-NUN (Jechiel Fischer, die in der neueren Literatur durchgehend als argumentativer Bezugspol dient, für diese s. z.B. Wexler (1990).
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eine sprechsprachnahe Verschriftung erfolgte (Briefe, persönliche Aufzeichnungen etc.), geschah das in hebräischer Schrift – auch da, wo die Sprache sich von der (christlichen oder auch muslimischen) Umgebung nicht unterschied. Insofern ist die Abgrenzung zwischen der (verschrifteten) jeweiligen Umgangssprache, die von religiösen und sonstigen kulturellen Besonderheiten geprägt ist, und einer jüdischen Sondersprache fließend (nicht anders als im Deutschen z.B. auch die „katholische“ rheinische Umgangssprache gegenüber einem protestantisch-hansischen Norddeutsch) – innerjüdisch wurden solche Formen nicht-hebräischer Sprachpraxis auch als Weibersprache angesprochen (die weitergehende schriftkulturelle Bildung war auch hier ein männliches Privileg). Im Jiddischen wird der Unterschied als mame loschen „Muttersprache“ (loschen < hebr. laʃun „Sprache“) vs. loschen koidesch (< hebr. qudeʃ „heilig“) artikuliert. Im deutschen Sprachraum lösten sich jiddische („westjiddische“) Gemeinschaften bis ins 18. Jhd. weitgehend auf; nur einige (ländliche) Enklaven bestanden weiter (und Fortsetzungen als Sondersprachen der Viehhändler u. dgl.) – neben einer „unmarkierten“ (regionalen) deutschen Praxis. Die Zäsur wird durch Vertreter der Haskalah wie insbesondere Moses Mendelssohn (1729–1786) auch explizit artikuliert, für den das Jiddische (im damaligen Deutschland) nur noch Ausdruck kultureller Zurückgebliebenheit war,59 dem er durch Bildungsanstrengungen gegenzusteuern bemüht war, z.B. indem er eine hochdeutsche Bibelübersetzung in hebräischer Schrift erstellte und drucken ließ, weil seine Religionsgenossen die lateinische Schrift nicht beherrschten; daneben versuchte er sich aber auch in einer neuhebräischen Renaissance, indem er z.B. um 1750 eine hebräische Wochenschrift (Qohelet Mußar) produzierte: zwischen Hebräisch als religiös ausgerichteter Bildungssprache und (Hoch-) Deutsch als Verkehrssprache war für Intellektuelle wie ihn kein Platz mehr für Jiddisch. Das war aber nur die jüdische Seite in dem neuen sprachlichen Koordinatensystem der bürgerlichen Gesellschaft, in dem im 18. Jhd. die nationalen Verkehrssprachen auch als Bildungssprachen ausgebaut wurden (bzw. waren), die in Westeuropa jetzt dem Lateinischen dieses Monopol nahmen. In diesen Prozeß wurden jetzt auch die jüdischen Bevölkerungsteile einbezogen, für die bis dahin das Lateinische nicht nur eine Bildungshürde war �� 59 Er spricht in diesem Zusammenhang öfters von ihm als Ausdruck der „Unsittlichkeit des gemeinen Mannes“. Für Selma Stern verkörperte Mendelssohn die emanzipatorische Entwicklung des Judentums in der bürgerlichen Gesellschaft, bei der er zugleich einen sprachlichen Scheitelpunkt repräsentierte: in ihrer Sicht war seine Muttersprache Deutsch, aber die Vatersprache Hebräisch (Stern 1925–1975, Bd. II/1: 401), s. bei SPITZER für diese begriffliche Differenzierung. Zu Mendelssohn im Kontext der sprachlichen Verhältnissen im 18. Jhd., s. auch Maas (2012).
134 � Hintergründe der Verfolgung (wie für die anderen Menschen auch), sondern durch die entsprechende Rolle des Hebräischen in ihrem kulturellen Bezugssystem überflüssig war. Seitdem war Deutsch auch die Bildungssprache der jüdischen Intellektuellen in Deutschland. Anders war es in Osteuropa, wo die jüdischen Gemeinschaften gegenüber der slawisch- bzw. baltischsprachigen Umgebung einen eigenen Status bewahrten, so daß sich das (Ost-) Jiddische dort auch als Umgangssprache neben Polnisch, Litauisch, Russisch u. dgl. hielt; es löste sich auch von seinem Status als „ungebildeter“ sprachlicher Nebenform (s.o. zur Weibersprache) und war z.B. in Rußland an der Wende vom 19./20. Jhd. auch die Schriftsprache der mächtigen Gewerkschaftsbewegung „Bund“, dem Gegenspieler der Bolschewiki. Dabei blieb der schriftsprachliche Ausbau des (Ost-)Jiddischen immer auf das Deutsche orientiert – sinnfällig schon an der orthographischen Kodifizierung im Verlauf des 19. Jhds, die deutsche orthographische Marotten nachvollzog (von kritischen Reformern als daitschmerisch apostrophiert). Für Sprecher/Schreiber des (Ost-)Jiddischen war dieses zweifellos immer eine Nebensprache des Deutschen – und so verfahre ich hier auch bei den Zuordnungen in den einzelnen so erfaßten Biographien. Mit der zionistischen Bewegung polarisierte sich auch das Feld des Jiddischen. Die Mehrheit der Palästina-Einwanderer war zunächst entweder ohnehin nur deutschsprachig (wenn sie aus Deutschland einwanderten) oder jiddischsprachig (mit Deutsch als Bildungshintergrund). Die Umorientierung auf Hebräisch (Ivrit) wurde vom harten Kern der Zionisten betrieben, der damit auf heftigen kulturellen Widerstand stieß (nicht nur bei Jiddischsprechern, die kein Hebräisch konnten, auch bei der religiösen Orthodoxie, die darin eine Profanisierung der heiligen Sprache sah). Ohnehin wurde das religiös-nationale Projekt der Zionisten nur von einer Minderheit derer getragen, die in Reaktion auf die antisemitischen Repressionen am Ende des 19. Jhds. (massenhaft so seit den Pogromen in Rußland/Polen ab 1881) auswandern wollten/mußten: als Sprache der Diaspora (hebr. galut zur Wurzel √glh, hier „vertreiben, ins Exil führen“) etablierte sich das Jiddische, neben Ivrit als Sprache der Juden in Palästina (eretz Israel). Die Schoah hat einen solchen historischen Rückblick problematisch gemacht – für viele der Überlebenden ist die vorher selbstverständliche Koppelung von Jiddisch und Deutsch nicht mehr möglich.60 So blühen gerade auch in
�� 60 Die damit verbundenen Probleme sollen mit diesen Bemerkungen nicht verdeckt werden. Einen Text wie J.Katzenelson, Dos lid funm ojsgehargetn jidschn folk („Das Lied von dem massakrierten jüdischen Volk“), niedergeschrieben in Reaktion auf die Kämpfe im Warschauer
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der sprachwissenschaftlichen Diskussion um das Jiddische Versuche, es vom Deutschen abzukoppeln (ggf. den slawischen Anteil hervorzuheben u. dgl.). Die vorausgehende Skizze soll den zeitgenössischen Horizont zeigen, in dem die im Katalog versammelten Biographien artikuliert sind (und auch die traumatisierten Bearbeitungen/Reaktionen, die in einigen Fällen deutlich werden).
3.2.5 Reaktionsformen auf den Antisemitismus und die Verfolgung Die rassistische Verfolgung im Faschismus drehte die oben skizzierte gesellschaftliche Entwicklung zurück. Dieser Rückfall in eine gesellschaftliche Barbarei erfolgte allerdings nicht in der brutalen Direktheit, die aus der heutigen Perspektive gegeben ist – aus der eben auch das widersprüchliche Verhalten vieler Betroffener nicht verständlich ist. Für diejenigen, die mit einem bürgerlichen Selbstverständnis aufgewachsen waren, mußte, auch wenn sie einen jüdischen Familienhintergrund hatten, das, was sich 1933 abspielte, als Spuk erscheinen, der mit der gesellschaftlichen Entwicklung so inkongruent war, daß sein Verschwinden zu erwarten war. Ihr Selbstverständnis wurzelte in den politischen Diskursen der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere denen der Weimarer Republik. Gerade auch Intellektuelle mit einem jüdischen Familienhintergrund engagierten sich in den zwanziger Jahren entschieden im Sinne des republikanischen Projektes, politisch vor allem auf der Linken,61 während an-
�� Ghetto, die Katzenelson mitgelebt hatte, wird man nicht einfach der deutschen Literatur subsumieren können – auf Deutsch gibt es eine Nachdichtung von H.Adler „Das Lied vom letzten Juden“ (beide Texte erschienen Zürich 1951, Neudruck Berlin: Hentrich 1992). Die Hinweise in diesem Abschnitt gelten nicht dieser Sprache der Schoah, sondern dem, was als Bildungshorizont für die in diesem Katalog aufscheinenden Biographien anzusetzen ist. Sie betreffen daher auch nicht die Diskussion um die Frage einer „jüdischen Dichtung in deutscher Sprache“ nach der Schoah, s. Röll / Bayerdörfer (1986). Bei einer grundsätzlichen Betrachtung liegt der Schnitt allerdings auch schon früher: die 100.000 Menschen, die nach den Zeitungsmeldungen am 15.5.1916 in New York hinter dem Sarg von Solomon Rabinovich (alias Sholem Alejchem) hergegangen sind, waren keine Deutsche, sondern Amerikaeinwanderer (oder schon ihre Nachkommen), die in seinen jiddischen Texten ihr Leben wiederfanden – mit den Reminszenzen an die Herkunft aus Osteuropa, aber nicht aus Deutschland: der orientierende sprachliche Horizont war das amerikanische Englische, wie es auch in den Texten von Sholem Alejchem, die im Einwanderungsmilieu spielen, deutlich ist. 61 Der Rassismus war auch in Deutschland eine Reaktion auf die Entwertung der traditionellen gesellschaftlichen Verhältnisse durch die massenhafte Immigration in die Industriegesellschaften am Ende des 19. Jhds. – und das war in Deutschland vor allem eine Immigration aus Osteuropa, bei der die Mehrheit der Menschen im religiösen Sinne jüdisch waren. Von diesem
136 � Hintergründe der Verfolgung dere angesichts der um sich greifenden Pogrome nur den Weg in eine staatlich geschützte Sonderentwicklung sahen: den Zionismus. Daneben stand aber auch die quietistische Rückbesinnung auf die inneren Werte des Judentums, die sich oft an dessen orthodoxen Formen in Osteuropa ausrichtete (aber ggf. auch ohne daß eine solche Ausrichtung nötig war, vgl. z.B. die Biographie von SCHEFTELOWITZ, der sein Judentum als Rabbiner praktizierte, sich aber ausdrücklich als deutscher Gelehrter verstand – und dann auch nach England emigrierte und nicht nach Palästina). Dieses Feld bildete den Horizont für die biographischen Optionen, die in diesem Katalog sichtbar werden; eine schematisierende Etikettierung aller rassistisch verfolgten Menschen als jüdisch wird dem nicht gerecht. In diesem Spannungsfeld artikulieren sich auch die wissenschaftsinternen Diskussionen, die vordergründig auf eine abstrakte Begriffsklärung ausgerichtet sind, darunter insbesondere die zeitgenössische Diskussion um Kultur, die in Kap. 5 ausführlicher dargestellt wird. Die sprachtheoretischen Grundlagendiskussionen um die Jahrhundertwende sind unvermeidlich von diesem gesellschaftlichen Diskurs überlagert, nicht nur dann, wenn die Hauptvertreter sich auch von der antisemitischen Formierung angegriffen fühlten (oder fühlen mußten), wie es bei den wichtigsten Vertretern der Fall war, wie bei BOAS, SAPIR, Steinthal u.a. Die Diskussionen um das „Ostjudentum“ hatten auch hier einen Schlüsselrolle: von diesem grenzten sich gerade auch viele von denen ab, die selbst jüdisch stigmatisiert wurden.62 In diesem Feld stehen (standen) die Diskussionen um die in der Sprachwissenschaft nach wie vor wenig geklärte Abgrenzung von Sprache und Ethnie (Volk). SAPIR hat 1922 in seinem Band „Language“ einen bis heute ungemein einflußreichen Versuch zur Abgrenzung versucht, mit einer Begrifflichkeit, die im 19. Jhd. zum Selbstverständnis der vergleichenden Sprachwissenschaft gehörte: Rasse gehört demnach in ein begriffliches Feld, in dem als sozialer Begriff z.B. auch Volk zu definieren ist. 63 Solche Konzepte sind demnach orthogonal zu sprachlichen Gruppierungen: Rassen, eben auch Völker „mischen“ sich – ggf. unsichtbar für die Gliederung nach Sprachgemeinschaften. Das war um die Jahrhundertwende ein Topos in der vergleichenden Sprachwissenschaft (s. z.B. Hirt 1902). Sprache wird so als formales Element einer gesellschaftlichen �� „Ostjudentum“ grenzten sich gerade auch diejenigen ab, die selbst jüdisch stigmatisiert wurden, s. etwa Heller (1931). 62 S. etwa den Sammelband „Klärung. Zwölf Autoren/Politiker über die Judenfrage“ (Berlin: Kolk 1932), in dem Alfred Kantorowicz seinen Beitrag mit „Liquidation der Judenfrage“ überschreibt (dort S. 153–168). 63 Das engl. race ist nach wie vor konnotativ weniger belastet als das dt. Rasse.
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Infrastruktur verstanden, die jeweils (mit welchen rassischen oder sonst ethnischen Voraussetzungen auch immer) sprachbiographisch immer wieder neu anzueignen ist, wobei es in Reaktion auf das in der Sprachpraxis Bewältigte zur Habitualisierung von spezifischen gesellschaftlichen Erfahrungen kommt: das ergibt dann das, was eine spezifische Kultur im SAPIRschen Sinn definiert. Dazu gehören dann auch kulturelle Differenzen innerhalb der verschiedenen Sprachgemeinschaften, die in SAPIRs Sinne eben nicht sprachlich definiert sind, s. 5.2.5. und 5.2.6. für die damit verbundenen konzeptuellen Fragen. Besondere Akzente erhielt diese Diskussion bei den jüdischen Intellektuellen, die sich um eine Definition der jüdischen Besonderheit bemühten – im Sinne auch einer Reartikulation des Selbstverständnis des auserwählten Volks, wie es innerhalb des sprachwissenschaftlichen Diskurses z.B. für Steinthal galt (in enger Verbindung mit Lazarus).64 „Jüdisch“ wurde hier als kultureller Habitus verstanden, der eben eine privilegierte Ausgangsposition für den kulturellen Ausbau sicherstellt. Dieser wird durch weitere Faktoren artikuliert, deren Thematisierung wieder im politischen Spannungsfeld erfolgt. Am Ende des 19. Jhds. konnte in einer selbstbewußten Abgrenzung von den ignoranten antisemitischen Angriffen, die sich in eine christliche Tradition stellten, der orientalische Charakter des Jüdischen selbstbewußt betont werden – bis in die Architektur mancher Synagogen, die sich z.B. mit orientalischen Elementen bewußt von der ansonsten dominierenden preußischen Neugotik abgrenzten. Auf der anderen Seite konnte darin aber auch ein besonders kulturträchtiger Faktor bei der ansonsten fraglosen Verankerung in der deutschen Bildungstradition (und der deutschen Bildungssprache) gesehen werden, wodurch sich eine irritierenden Übergangszone zum völkischen Diskurs auftun kann, wie es bei E. LEWY anklingt.65 Eine Position wie die von BOAS ist eben auch dadurch definiert, daß er derartigen Ambiguitäten den Boden entziehen wollte (einer der Gründe dafür, ihn im Katalog als exemplarisch auch ausführlich darzustellen). Vor diesem Hintergrund konnten die virulenten Formen der rassistischen Ausgrenzung als Überbleibsel einer überwundenen Vergangenheit erscheinen, bis sich in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. abzeichnete, daß ein neuer Rassismus aufbrach: als massenhafte Reaktionsform auf die Entwertung der traditionellen gesellschaftlichen Verhältnisse im Kielwasser der Industrialisierung und Verstädterung. Aus der Perspektive nach der Schoah läßt sich das einigermaßen deutlich bestimmen (was für die einschlägigen Diskussionen nicht unbedingt gilt) – für die Menschen in dem Prozeß, der in die Schoah führte, war das alles
�� 64 S. dazu Wiedebach/Winkelmann 2002 und auch Kalmár 1987. 65 S. Knobloch 2005.
138 � Hintergründe der Verfolgung andere als eindeutig. Das ist der Horizont für die unterschiedlichen biographischen Verläufe, die im Katalog dokumentiert sind. Ohne einen solchen Horizont werden die politischen Randbedingungen dieser Biographien nicht durchsichtig, die im Katalog angesprochen werden. Welche Optionen auch immer Menschen für sich trafen, die von der rassistischen Verfolgung betroffen waren und darauf reagierten, sie müssen in diesem Spannungsfeld analysiert werden. Zu den dramatischsten Momenten gehört sicherlich die Einbeziehung der „Judenräte“ in die Verfolgungsmaßnamen des faschistischen Regimes, die vor allem auch im Eichmann-Prozeß in Jerusalem 1961 in und außerhalb Israels heftig diskutiert wurde. Eine wertende Beurteilung verbietet sich, wenn man sich die Konfrontation dieser Menschen mit der drohenden Vernichtung ihrer Leidensgenossen verdeutlicht.66 Mit der rassistischen Verfolgung durch das faschistische Regime eskalierte die Gegenreaktion auf den bürgerlich-gesellschaftlichen Formierungsprozeß, der schon die mittelalterliche Gesellschaft prägte und der bis zum Beginn des 19. Jhds. in Deutschland (bzw. Westeuropa) zu einer Auflösung der segregierten jüdischen Gemeinschaft geführt hatte. Insofern hat der Antisemitismus (und damit auch die nach 1933 einsetzende staatliche Repression) zwei Seiten, die aus der Perspektive ex post (nach Auschwitz) verdeckt sind, die aber unterschieden werden müssen, um nicht zuletzt die Reaktionen der unmittelbar Betroffenen in dieser Zeit verstehen zu können, die sich in den biographischen Verläufen spiegeln. Der tiefgehende Judenhaß, der in der Eskalation der Schoah die physische Vernichtung in Kauf nahm bzw. sogar auf sie abzielte, ist zu unterscheiden von Reaktionen auf die Verunsicherung über die republikanische Umgestaltung der Gesellschaft, die diese zu einem grundsätzlich offenen Projekt macht, das keine trans-sozialen (biologisch bedingten) Schranken kennt. Zu dieser bürgerlichen Entwicklung gehört insbesondere der geänderte Status der Religion als persönlichem Bekenntnis, das ggf. allerdings in spezifischen sozialen (konfessionell bestimmten) Formen praktiziert wird. Im 18. Jhd. hatte diese Entwicklung auch das Judentum in den (west-)europäischen Ländern erfaßt; im 19. Jhd. wurden konfessionelle Einrichtungen geschaffen, die dieses den christlichen Konfessionen gleichstellen sollten. Diese Entwicklung hat allerdings ein Gegenstück auf der Seite der konfessionellen Verbände: die Konfession als persönliches Be�� 66 Es kann hier genügen, auf die kontroverse Diskussion zwischen Hannah Arendt und Gerschom Scholem zu verweisen, die auf Arendts Bericht über den Prozeß folgte, s. deren Briefwechsel Arendt/Scholem 2010. Das betrifft z.B. die Mitwirkung zionistischer Organisationen an der Auswanderung nach Palästina, insbesondere die „Haavara“-Vereinbarungen, die den internationalen Boykott des faschistischen Regimes unterliefen, s. 4.5.6.
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kenntnis steht grundsätzlich auch zur Disposition: jedes Mitglied hat das Recht, ggf. auch wieder aus ihr auszutreten. Jenseits der verfassungsrechtlichen Regelungen liegt hier ein kritischer Punkt für alle Religionen im Kielwasser der mosaischen Religion, die diese Option ausschließt.67 Ein erheblicher Teil der nach 1933 rassistisch Stigmatisierten stammte aus Familien, die diesen bürgerlichen Prozeß mitgemacht hatten; vor allem galt das für diejenigen, die in akademischen Institutionen wie der Universität aktiv waren. Nicht wenige von ihnen waren denn auch ausgesprochen aktive Repräsentanten des republikanischen Prozesses, politisch engagiert auf Seiten der Linken. Für sie war das, was sich mit dem Nationalsozialismus formierte, vor allem eine reaktionäre Gegenbewegung zur bürgerlichen Gesellschaft, während der fundamentale Rassismus als primitive Reaktion aus dem Bauch heraus erschien, der als Spuk auf der politischen Bühne auftrat, und dabei so inkongruent mit der gesellschaftlichen Entwicklung war, daß er auch wieder verschwinden mußte. Die gradlinige Extrapolation einer Entwicklungsresultante ist allerdings nicht möglich. Zu den Verhältnissen gehört nicht zuletzt auch die zionistische Reaktion auf den Antisemitismus, die ihrerseits eine ethnische Selbstdefinition suchte, um sich abgrenzen zu können. Daraus resultiert seit dem Ende des 19. Jhds. ein in sich alles andere als homogener Diskurs mit Protagonisten wie Herzl (s.o.) und N. Birnbaum, im Katalog auch die Position von S. BIRNBAUM (Sohn von N. Birnbaum) mit einer ethnisch ausgerichteten Definition des Jiddischen. Verkompliziert wurde das Bild der Verhältnisse vor allem durch die „Ostjuden“, mit denen im gesellschaftlichen Raum Akteure auftraten, die in ihrer Familiengeschichte diesen bürgerlichen Prozeß nicht durchlaufen hatten. In Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern war der Rassismus eine Reaktion auf die Entwertung der traditionellen gesellschaftlichen Verhältnisse, die an der massenhaften Immigration in die Industriegesellschaften am Ende des 19. Jhds. abzulesen war – und das war in Deutschland vor allem eine Immigration aus Osteuropa, bei der die Mehrheit der Menschen im religiösen Sinne jüdisch waren. Dadurch, daß diese „Ostjuden“ (bis hin in das Straßenbild) gewissermaßen eine Veranschaulichung dessen lieferten, was die antisemitischen Rassisten propagierten, waren sie ebenso wie die an ihnen orientierte neue fundamentalistische Wendung im religiösen Judentum der prominente Gegenspieler für die politisch bewußten Menschen, die in ihren
�� 67 Das ist in der derzeitigen gesellschaftlichen Konstellation virulent so vor allem bei den Muslimen, wo Apostate prinzipiell als vogelfrei gelten. Bei den orthodoxen Juden ist das nicht anders, allerdings heute (in Staaten wie Deutschland) ein weniger sichtbares Phänomen.
140 � Hintergründe der Verfolgung Familien diesen bürgerlichen Emanzipationsprozeß durchlaufen hatten. Publizistisch wurden diese Fragen in den 1920er Jahren heftig ausgetragen. Vor allem aber wird in persönlichen Stellungnahmen deutlich, wie sehr die drohende Identifizierung mit diesem sichtbaren Judentum von vielen der später selbst so Stigmatisierten als Kränkung erfahren wurde: das erklärt die auf den ersten Blick so befremdlichen antijüdischen Ausfälle bei vielen in diesem Katalog, bei denen das im privaten Schrifttum (Briefen, Erinnerungen von Dritten...) nachzuvollziehen ist, z.B. bei SPITZER. Die Eskalation der repressiven Maßnahmen gegen Menschen „nichtarischer Herkunft“ ab 1933, die sie seit 1935 zu „Juden“ abstempelte, ist bis in diese äußere Form ein sukzessives Zurückschrauben des bürgerlichen Emanzipationsprozesses: alle so Stigmatisierten sollten demnach auch als das sichtbar sein, wovon sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft hatten frei machen können. Damit wurde der Weg frei für die Schoah, in der der Judenhaß ausagiert werden konnte. Um diese Überlagerungen analysieren zu können, ist es hilfreich, an die entsprechenden intellektuellen Auseinandersetzungen vor 1933 anzuknüpfen. Es ist sicher kein Zufall, daß diese Diskussionen wohl am ausgiebigsten im ethnisch heterogenen Österreich-Ungarn ausgetragen wurden, mit einer Fülle theoretischer Schriften, von denen die von Otto Bauer (1907) wohl die einflußreichste war.68 Gegen naturalisierende Reduktionen, zu denen ein romantisierendes Muttersprachkonzept nicht anders als biologische Rasseaspekte gehören, setzte er historische Konzepte, dabei den Unterschied von Gemeinsamkeiten in der Lebensführung: dem „gemeinsamen Schicksal“ (auch als Charaktergemeinschaft extrapolierbar), die nur als objektive Faktoren wirken, nicht aber das politische Handeln direkt bestimmen, gegenüber der Schicksalsgemeinschaft, die die Akteure in ein als gemeinsam erfahrenes gesellschaftliches Projekt einbindet. Das letzte ist für ihn das Merkmal moderner (bürgerlicher) Vergesellschaftung, die von der sozialistischen Bewegung weiterzutreiben ist – gegen ihre nationalistische Umkehrung in ein Herrschaftsinstrument. Auf einer anderen Ebene wurde diese Unterscheidung im direkt sprachtheoretisch inten-
�� 68 O. B. (1881–1938) war eine maßgebliche Figur in der sozialistischen Bewegung in Österreich (-Ungarn), als führender Exponent des „Austromarxismus“. Zu den von ihm mitbestimmten Auseinandersetzungen in der internationalen Diskussion s. z.B. meine Darstellung „Sprachpolitik in der Arbeiterbewegung“ (1979), mit ausführlichen Ergänzungen nachgedruckt in Maas (1989), dort S. 66–164.
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dierten Diskurs von SCHMIDT-ROHR ausgearbeitet, der mit seinem Buch von 1932 in dieser Hinsicht tatsächlich eine Schlüsselrolle einnimmt.69 Für viele, die die Schoah überlebten, war es deprimierend, daß ein fundamentales Jüdischsein vom Faschismus auch für sie zum gemeinsamen Schicksal gemacht worden war. Der faschistische Bruch mit dem (republikanischen) Emanzipationsprozeß in der bürgerlichen Gesellschaft spiegelt sich zwangsläufig auch in ihrem späteren Verhalten, wenn sie sich z.B. nach 1945 oft ausdrücklich dagegen verwahrten, aus der Stigmatisierung eine Schicksalsgemeinschaft werden zu lassen, die den Ausschluß aus der bürgerlichen Gesellschaft befestigt. Im Katalog spiegelt sich das z.B. in Protesten dagegen, in der Bibliographia Judaica aufgeführt zu werden, wie z.B. von SANDMANN und G. ZUNTZ;70 einige von ihnen führten eine offene Auseinandersetzung mit dem Zionismus, in Reaktion auf die Konflikte mit den Palästinensern in Israel wie z.B. SAMUELSDORFF, vgl. die Anstrengungen um eine differenzierte Selbstdarstellung bei PULGRAM. Das steht nicht im Widerspruch dazu, daß sich bei einer seriellen Betrachtung der jüdisch stigmatisierten biographischen Verläufe eine Konstante zeigt, die mit Bourdieu als spezifischer Habitus charakterisiert werden kann, der in Familien verankert war, die in der jüdischen kulturellen Tradition eine Ausrichtung auf formale und auch künstlerische (musikalische) Bildung hatten und ihre Kinder früh (lange vor der Schule) in formale Ausbildungsprozesse einbezogen – was sich in den so erworbenen Qualifikationen für eine sprachwissenschaftlich-deskriptive Praxis zeigt, lange bevor diese als Bestandteil einer akademischen Ausbildung festgeschrieben wurde (s. etwas bei BOAS und der großen Reihe seiner Schüler, angefangen bei SAPIR). Ein solcher Habitus ist zweifellos eine Konsequenz des religiösen Selbstverständnisses, ist aber von diesem zu trennen, wie sich nicht zuletzt schon daran zeigt, daß er auch ohne einen solchen Zusammenhang zu finden ist (vgl. etwa BAADER oder W. SCHMIDT, die beide z.B. auch komponierten...). Immerhin sind solche Bindungen auch da nachzuweisen, wo die Betroffenen eine explizite Absage vom Judentum im religiös bestimmten Sinne vollzogen. Sie gehen zusammen mit der erfahrenen Fremdstigmatisierung als Jude. Dokumentiert ist das in einigen Fällen, in denen die Darstellung sich auf persönliche Quellen stützen kann, vgl. etwa den entsprechenden Konflikt bei LAZARSFELD, der sich so trotz aller Erfolge lebenslang als Außenseiter fühlte.
�� 69 Seine Schwierigkeiten nach 1933 sind insofern aufschlußreich – was auch seine ausführliche Berücksichtigung in diesem Katalog rechtfertigt. 70 Er war nach den Nürnberger Gesetzen sogar als „Volljude“ stigmatisiert (die Mutter war nicht-jüdisch, insofern war er im jüdischen Selbstverständnis kein Jude).
142 � Hintergründe der Verfolgung Solche Fälle machen deutlich, daß die Konstante hier nicht in ethnischen Momenten zu suchen ist, sondern in dem, was diese Biographien bestimmt hat: die Erfahrung des Antisemitismus – als einer harten Konstante gerade auch gegenüber einem persönlich oder schon in der Familientradition vollzogenen Wandel und ggf. der Abkehr von dem (religiös definierten) Judentum. Vor diesem Hintergrund wird in einer Reihe von Biographien eine späte Hinwendung und das Bekenntnis zum Judentum als Reaktion auf die antisemitische Stigmatisierung und u.U. auch Repression greifbar, als Reaktion auf das gebrochene Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft, s. etwa ARONSTEIN, SAPIR. Da, wo dieser Schritt in den Biographien greifbar ist, trage ich dem auch mit einer entsprechenden Einordnung Rechnung. Aber das mußte nicht zwangsläufig so sein, auch wenn die Lebensumstände in einer antisemitischen Gesellschaft faktische Bindungen an jüdische Organisationen erzwangen oder doch mit sich brachten, s. etwa ALBU-JAHODA oder STEINITZ, oder auch so komplexe biographische Verläufe wie bei SAMUELSDORFF. Eine einfache Zuschreibung verbietet sich: mit ihr würde man in den Fußspuren der rassistischen Verfolgung laufen (auch wenn viele Nachfahren der Verfolgten heute anders reagieren). Die emanzipatorische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, die sich insbesondere in der fortschreitenden Judenemanzipation ausgedrückt hatte, war damit zurückgeschraubt; erschienen zuletzt die endemischen rassistischen Reaktionsbildungen nur noch als Schattenbild dieses emanzipatorischen Prozesses, so wurden jetzt der bürgerlichen Gesellschaft ihre Grundlagen entzogen. Das war nicht nur für viele der direkt Betroffenen nicht zu begreifen, vor allem nicht zu Beginn der eskalierenden Entwicklung. Sie verwahrten sich dagegen, im Bewußtsein, daß diese Politik im Widerspruch zu der Gesellschaft stand, als deren Teil sie sich begriffen. Nur für zionistisch engagierte, in gewisser Weise generell für orthodoxe Juden war kein Bruch sichtbar. Insofern sind die Reaktionen auch sehr unterschiedlich, zu denen u.U. gehören konnte, daß sich Betroffene nicht nur gegen die Stigmatisierung als Juden verwahrten, sondern sich sogar mit offen gezeigten antijüdischen Gesten und Äußerungen distanzierten, die im nachhinein nur als makaber erscheinen können. Im zeitgenössischen Kontext müssen sie als Protest gegen die Gleichsetzung mit den ostjüdischen Zuwanderern gelesen werden, die das Straßenbild von Großstädten wie Berlin und vor allem Wien bestimmten, s. etwa die grotesken Versuche von POKORNY die diskursive Spannung zwischen den Kriterien der konfessionellen Zugehörigkeit und dem „Blut“ argumentativ zu seinen Gunsten zu nutzen. Zwar nicht in dieser absurden Zuspitzung, aber eben doch in der gleichen Grundbestimmung, aus einer Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, der sie sich zugehörig fühlten, findet sich Spuren dieser Haltung bei vielen, in persönlichen Briefen nachzulesen auch bei jemand wie E. LEWY, bei SPITZER, STEINDORFF und vermut-
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lich bei vielen anderen, deren Briefe und persönliche Aufzeichnungen nicht zugänglich sind (bzw. von mir nicht eingesehen wurden). Die Auseinandersetzung mit der Stigmatisierung als Jude, die dem Projekt der bürgerlichen Gesellschaft zuwider läuft, bestimmte schon vor 1933 die Biographien vieler der hier Aufgeführten. Nur bei einer relativ kleinen Gruppe korrespondierte die Stigmatisierung als Jude mit ihrem Selbstverständnis. Das war insbesondere bei denen der Fall, die zionistisch organisiert waren, die in der Regel auch früh auf ihre Auswanderung nach Palästina hinarbeiteten und so die Verfolgung überlebten, nicht zuletzt auch aufgrund eine gewissen Kooperation zionistischer Organisationen mit dem Regime, bis hin zum Unterlaufen des gegen dieses aufgerufenen Boykotts wie bei der sog. Havaara-Vereinbarung, s. 4.5.6. Bis zur Vernichtungspolitik ab 1942 zielte das Regime darauf, alle Aktivitäten zu unterstützen, die zur Auswanderung der Juden führen sollten. Dazu gehörte insbesondere auch die zionistische Auswanderung nach Palästina (die C Alijah, s.o.), s. WEINBERG für einen dramatischen Fall; damit gehörten auch die orthodoxen Institutionen dazu, an denen die Rabbiner ausgebildet wurden, die Lehranstalten in Breslau und in Berlin, denen auch amtlich die Befugnis für die Abnahme von Prüfungen für das Lehramt übertragen war. Bis Ende 1941 konnten dort auch eine Reihe der hier Aufgeführten lehren, s. GRUMACH und auch MALKIEL.71 Die Schoah hat Herzls Analyse auf grauenvolle Weise bestätigt. So werden diese Fragen auch nach 1945 heftig weiter diskutiert, greifbar z.B. im Briefwechsel von Hannah Arendt mit Gerschom Scholem, für den gerade auch im nachhinein das Versprechen auf Assimilation, dazu auch die Solidaritätsmaßnahmen von „Gojim“ und anti-antisemitischen Aktivitäten, nur weitere Stufen zur Schoah waren, denen die zum Opfer gefallen sind, die darauf eingingen, indem sie sie von der CAlija abhielt. Aus einer solchen (zionistischen) Perspektive kann die Haskalah nur als eine Phase erscheinen, in der die Juden ihr Judentum zu vergessen drohten.
3.2.6 Die rassistische Verfolgung im Katalog Bei dieser Darstellung geht es nicht um eine Wertung der in der Dokumentation sichtbaren verschiedenen Positionen: diese sollen nur als Optionen sichtbar gemacht werden, die die Menschen für sich ergriffen. Es geht insbesondere darum, verständlich zu machen, warum für die Mehrheit derer, die von der �� 71 S. zu diesen Lehrveranstaltungen E. G. Lowenthal (1972).
144 � Hintergründe der Verfolgung rassistischen Eskalation betroffen waren, die Verhältnisse nicht zu begreifen waren – auch die körperlich erlebte Repression nicht (schmerzhaft nachzulesen etwa in den Tagebüchern von KLEMPERER). Für diejenigen, die sich als intellektuelle Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft begriffen, war dieses diskursive Spannungsfeld im Umgang mit Jüdischem nur ein spezifischer (wenn auch der dramatischste) Aspekt der grundlegenden Auseinandersetzung mit der Frage der Fundierung des Politischen, die seit den bürgerlichen Revolutionen am Ausgang des 18. Jhds. (in den USA, dann vor allem in Frankreich) im Vordergrund aller intellektueller Diskussionen stand. Das ist auch die Grundlinie der Argumentation hier: in der Perspektive des Projekts der bürgerlichen Gesellschaft (faßbar in den Menschenrechten), die keine ethnische oder andere fundamentalistischen Sonderungen kennt. Wie zu Beginn dieses Kapitels schon angesprochen, ist das in der neueren Diskussion (nach der Schoah) eine durchaus strittige Position. Ihr steht die zionistische Position entgegen, die durch die Schoah Herzls Analyse bestätigt sieht, der das Mitspielen bei den emanzipatorischen (aufklärerischen) Versprechungen der nicht-jüdischen bürgerlichen Gesellschaft als trügerisch denunzierte – tatsächlich entgingen ja die zionistisch Engagierten der Entwicklung hin zur Schoah. Demgegenüber steht der Versuch, die gesellschaftlichen Entwicklungen da wieder aufzunehmen, wo sie vor dem Rückfall in die Barbarei angekommen waren – also da, wo sich das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft schon eine Form gab (s. 3.2.3.2. die Verweise auf die Haskalah, auf Moses Mendelssohn und die Weiterentwicklungen im 19. Jhd.). Das war aber auch die zeitgenössische Postionen für diese Dokumentation, wie z.B. der jüdischen Historikerin Selma Stern artikuliert wurde, auf die ich mich auch in 3.2.3.2. gestützt habe: ihr großes wissenschaftliche Projekt war die Rekonstruktion des von ihr „symbiotisch“ genannten Prozesses, in dem sich die Emanzipation des Judentums in Deutschland im Absolutismus gewissermaßen hinter dem Rücken der Akteure einspielte; sie sah darin eine „Wiedergeburt“ des Jüdischen in den „assimilierten“ Formen der modernen Gesellschaft (Stern 1925–1975). Die rassistische Verfolgung zwang sie zwar, dieses große Projekt abzubrechen, das sie erst nach dem Krieg und nach der Rückkehr aus dem Exil abschloß – in ihren eigenen Worten als ein Requiem auf den abgebrochenen Emanzipationsprozeß. Daß sie nach den traumatischen Erfahrungen noch die Kraft zu einem solchen Requiem aufbrachte, zwingt Bewunderung ab – aber wir Jüngeren haben keinen Grund für ein Requiem, sondern die Verpflichtung, das bürgerliche Projekt aufzunehmen und fortzuführen. Auf der Folie dieser Position lassen sich die oben angesprochenen Differenzierungen lesen: die Konfrontation mit den „Ostjuden“ machte gerade auch für diejenigen, die sich aufgrund ihrer familiären Herkunft, u.U. auch ihres konfes-
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sionellen Bekenntnisses dem Judentum zurechneten, deutlich, daß das Jüdische keine „Schicksalsgemeinschaft“ im Bauerschen Sinne begründete. Diese war für sie im Rahmen des bürgerlichen Projekts der Gesellschaft in Deutschland (bzw. Österreich) definiert, in dem sie sozialisiert waren – und das sie weitertreiben wollten, unabhängig von der politischen Seite, der sie sich zurechneten. Das erklärt die ansonsten so irritierenden Verbindungen zwischen Menschen, die im Nationalsozialismus Opfer der rassistischen Verfolgung wurden, mit andern, die auf der politischen Rechten dessen Politik beförderten, deutlich z.B. an der ambiguen Rolle von Leo Weisgerber, der vor 1945, aber eben auch nach 1945 eine gemeinsame Basis für den Umgang mit überlebenden Opfern hatte (s. z.B. hier bei HERTZ, POKORNY, aber auch H. SPERBER). Daß die Schoah doch eine solche „Schicksalsgemeinschaft“ in einem anderen Sinne erzwang, steht dem eben nicht entgegen. Bei der Mehrheit der hier dokumentierten Biographien waren die Verhältnisse biographisch nicht eindeutig. In den 1920er Jahren stellten sie sich aufgrund der von der republikanischen Verfassung garantierten Rechte ausdrücklich der Konkurrenz auf dem intellektuellen Arbeitsmarkt. Sie präsentierten sich als Gleiche unter Gleichen – sie hier als Juden zu bezeichnen, würde die von ihnen erfahrene Stigmatisierung reproduzieren. Aber bei vielen von ihnen wird deutlich, daß sie im weiteren Leben die erfahrene Stigmatisierung und Zurückstellung in gewisser Weise angenommen und sich in den späteren Jahren oft auch ausdrücklich mit dem Judentum als ihrer eigenen Herkunft befaßt haben (s. hier bei ansonsten so unterschiedlich gelagerten Beispielen wie ADOLF, SPITZER, oder auch im Kontext der USA: SAPIR). Gerade an solchen biographischen Verläufen wird deutlich, wie sehr das (reklamierte) Jüdische in den modernen Gesellschaften eine Reaktionsbildung auf den Antisemitismus darstellt – so, wie Herzl es formuliert hatte und vor ihm schon Spinoza. Es ist keine Frage, daß solche biographischen Entwicklungsverläufe auch anderes gelesen werden können: daß sich bei ihnen gegen Ende des Lebens dann doch das jüdische „Wesen“ durchgesetzt habe, gegen alle illusionären frühen Assimilationsbemühungen. Eine solche Lesweise findet sich in bewußt jüdisch-zionistisch argumentierenden Darstellungen. Die Argumentation hier setzt demgegenüber bei dem emanzipatorischen Potential der bürgerlichen Gesellschaft an – zurück hinter den barbarischen Rückfall der Schoah, im Anschluß an die Haskalah. Wie kompliziert die Verhältnisse waren, zeigen Biographien wie die von STEINITZ, der aus einer bürgerlichen deutschen Familie stammte, gegen die er sich politisch durch den Eintritt in die KPD und seine Arbeit dort (später in der SED) positionierte, der aber im Exil auf die Unterstützung durch seine weitere Familie in einer jüdischen Hilfsorganisation angewiesen war und dadurch wieder zum Juden wurde und sich als solcher darstellen mußte. Durch E. PULGRAM
146 � Hintergründe der Verfolgung ist mir das Problem sehr deutlich geworden, als dieser mir gegenüber bei einem vereinbarten Gespräch über seine Biographie ausdrücklich darauf bestand, als politischer Gegner ausgewandert zu sein – unabhängig davon, daß er auch von der rassistischen Verfolgung betroffen war. Ohne die nötigen biographischen Recherchen sind die Hintergründe für die Emigrationskarrieren nicht immer klar; Mutmaßungen aufgrund der Namensform, chronologischer Indizien u. dgl. verbieten sich. Die von Nationalsozialisten bei politischen Gegnern gerne praktizierte Stigmatisierung als Jude/Jüdin verbietet sich ohnehin als Indikator (s. bei SIEMSEN). Es geht nicht an, den gesellschaftlichen Emanzipationsprozeß, der in die Biographien eingeschrieben ist und den diese Menschen in ihrer Biographie ausgelebt haben, auszulöschen – und damit im Nachhinein die Schoah nachzuvollziehen. Daher ist in diesem Katalog nicht pauschal von Juden, sondern von rassistisch Verfolgten die Rede. Eindeutige Anhaltspunkte für eine rassistische Verfolgung (Entlassungsgründe, erfahrene Repression, ggf. auch religiöses Bekenntnis zum Judentum oder Herkunft aus einer jüdischen Familie) sind bei 207 Fällen (das sind 69% der 302 Verfolgten) im Katalog dokumentiert, ohne daß die Betroffenen im Sinne ihres Selbstverständnisses immer als jüdisch zu bezeichnen wären.
Rassistische Verfolgung (im weiten Sinne) ist dokumentiert in diesem Katalog bei: ADOLF, ARGELANDER-ROSE, ARNDT, ARONSTEIN, AUERBACH, BABINGER, BACH, BACON, BÄUML, BAR-HILLEL, BEN-HAJJIM, BENJAMIN, BERGEL, A. BIELER, Bin-Nun, S. BIRNBAUM, BLAU, BLISS, BLOCH, BOAS, BONHEIM, BORINSKI, BORNEMANN, BRANDT, BRAUN, BRAVMANN, K. BÜHLER, CASKEL, CASSIRER, COHN, DOTAN, EISLER, ELLIOTT, ERMAN, FALK, FEIST, FIESEL, FILLENBAUM, FÖRSTER, FORCHHEIMER, E. D. M. FRAENKEL, E. FRAENKEL, H. F. FRAENKEL, FREUDENTHAL, FREUND, FRIEDMANN, FROESCHELS, FUKS, GAEDE, GALTON, GARVIN, B. GEIGER, GELB, GLOGAUER, GOLDBERG, M. D. GOLDMAN, E. GOLDMANN, GOLDSCHMIDT, GOLDSTEIN, GOSHEN-GOTTSTEIN, GRUMACH, GÜTERBOCK, GUMPERZ, GUTKIND, M. GUTMANN, W. GUTTMANN, HAAS, HALPERT, HAMBURGER, HATZFELD, HECHT, HEIMANN, HENNING, HERCUS, HERTZ, HERZFELD, HESSE, HIRSCH, HITTMAIR, H. HOENIGSWALLD, R. HOENIGSWALD, HOMBERGER, HOMEYER, HUSSERL, IMELMANN, JACOBSOHN, JAEGER, JELLINEK, JOKL, JORDAN, H. KAHANE, KLEMPERER, KRAHE, F. R. KRAUS, K. KRAUS, P. E. KRAUS, KRIS, KRONIK, KÜNSSBERG, LEHMANNPIETRKOWSKI, LANDSBERGER, LASCH, LATTE, LAUFER, LAZARSFELD, LEHNER, LEIBOWITZ, LENNEBERG, LENTZ, LEO, LERCH, LESLAU, K.LEVY, LEWENT, E. LEWY, J. LEWY, LICHTENSTADTER, LIEBENTHAL, MAAS, MALKIEL, MARCHAND, MATOUŠ, MAUTNER, MERIGGI, MISH, MITTWOCH, MODRZE, NEHRING, NEISSER, NEUBERGER-DONATH, NEUMANN, NORDEN, OETTINGER, OLSCHKI, OPPENHEIM, PACHTER, PERLOFF, PICK, PLESSNER,
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POKORNY, POLITZER, W.POLLAK, POLOTSKY, PULGRAM, RABIN, F. G. J. RANKE, H. H. J. RANKE, REICHENBACH, REICHENBERGER, REIFLER, RICE, RICHTER, ROHDE, H. B. ROSÉN, H. ROSÉN, ROSENBERG, ROSENTHAL, RUBEN, G. E. SACHS, L. SACHS, SAMUELSDORFF, SANDMANN, SAPIR, SCHAECHTER, SCHEFTELOWITZ, SCHERMAN, SCHINDLER, SCHIROKAUER, E. SCHLESINGER, SCHNEIDER, SCHNITZLER, SCHWARZ, SELIGSO(H)N, SELZ, SIMON, SKUTSCH, SPANIER, A. SPERBER, H. SPERBER, SPITZER, O. STEIN, R. A. STEIN, STEINDORFF, STEINITZ, W. STERN, STEVENS, STOESSL, STORFER, TEDESCO, THIEBERGER, TIETZE, TIKTIN, TILLE-HANKAMER, TRUBETZKOY, TUR-SINAI, VATER, WEIL, WEINBERG, M. WEINREICH, U. WEINREICH, WERNER, H. WILHELM, F. WOLFF, H. ZIMMER, K. E. ZIMMER, G. ZUNTZ, L. ZUNTZ. Bei mindestens weiteren sechs (bzw. neun) Fällen ist aufgrund der biographischen Umstände eine rassistische Verfolgung anzunehmen: G. HOENIGSWALDSCHÖPFLICH, HORN, JACKSON, RECHNITZ, RECHTSCHAFFEN, WEINER, vgl. auch noch HÜBENER, H. W. POLLAK, WOITSCH. Da in dieser Hinsicht die Dokumentation aber oft unzureichend ist, ergibt sich wohl eine höher liegende Zahl, die in etwa auch den 80% entsprechen wird, die als Durchschnittswert in der historischen Forschung angesetzt wird (s.o.).
3.3 Sonstige in der Person begründete Verfolgungen 3.3.1 Benachteiligung von Frauen Die frauenfeindliche Politik des Nationalsozialismus ist ein Topos – der aber wie die anderen Topoi in diesem Feld zu hinterfragen ist. Gegen das gängige Bild spricht schon die große Loyalität gerade der weiblichen Bevölkerung bis zum Kriegsende, als die „Heimatfront“ gewissermaßen von den Frauen gehalten wurde, vor allem aber das durchaus emanzipatorisch erfahrene Engagement der jungen Frauen/Mädchen in der Bewegung (angefangen beim BDM). So sind auch Pionierinnen der akademischen Sprachwissenschaftlerinnen-Generation unter den NS-Aktivisten.72 Die Dialektologin Anneliese Bretschneider hatte sogar in leitender Funktion im Amt Rosenberg eine Schlüsselrolle bei der natio-
�� 72 Z.B. Johanna Matz (geb. 1881), die 1907 in Kiel mit einer Arbeit „Formelhafte ausdrücke in Wolframs Parzival“ promovierte und danach als Lehrerin, schließlich Direktorin einer Mädchenoberschule in Berlin tätig war. In den 1920er Jahren war sie öffentlich politisch aktiv, stramm deutschnational, 1932 auch als Reichstagsabgeordnete für die Deutsche Volkspartei. Nach 1933 bemühte sie sich heftig, aber vergeblich um den Eintritt in die NSDAP – bis hin zum Parteigericht, wie die umfangreiche Akte zu ihr im Document Center zeigt.
148 � Hintergründe der Verfolgung nalsozialistischen Wissenschaftspolitik.73 Vor allem, als unter Kriegsbedingungen Männer zunehmend aus dem universitären Betrieb abgezogen wurden, eröffneten sich Chancen für Frauen, besonders wenn sie Gebiete vertreten konnten, für die sie keine Konkurrenten hatte wie z.B. die Turkologin und Sinologin Annemarie VON GABAIN, die 1940 in Berlin habilitiert wurde (als NSDAPMitglied). Was in der einschlägigen Literatur zumeist als „frauenfeindliche“ NSLinie herausgestellt wird, ist letztlich nur eine Fortschreibung der patriarchalen Ausrichtung der Gesellschaft, wie es inzwischen vor allem auch von frauenbewegter Seite aus aufgearbeitet worden ist (s. etwa Wittrock 1983). Dazu gehört auch der institutionelle Umgang mit Frauen im Wissenschaftsbetrieb, also die Behinderungen in der wissenschaftlichen Karriere bei Sprachforscherinnen. Wo dafür verwaltungsrechtliche Handhaben bestanden, praktizierte das Regime nur Regelungen, die es von der Weimarer Republik übernommen hatte wie bei der Unterbindung von „Doppelverdienern“, die als Maßnahme zum Personalabbau bereits 1923 eingeführt worden war und 1933 nur verschärft wurde (jetzt allerdings explizit auf die Entlassung von Frauen als Doppelverdienern gemünzt). Entsprechend erhielten verheiratete Sprachforscherinnen keine Professorenstelle bzw. wurden nicht verbeamtet. Daß auch darüber hinaus frauenfeindliche Haltungen in vielen Fällen die hochschulpolitischen Personalentscheidungen bestimmten, ist ohneweiteres anzunehmen: sie lassen sich auch in allen hier dokumentierten Biographien von Frauen nachverfolgen, nicht nur bei den oft angeführten (etwa bei Elise RICHTER). Eine systematische Aufbereitung dieses Feldes müßte ohnehin auch die Biographien berücksichtigen, bei denen Frauen von vorneherein aus solchen Gründen auf eine wissenschaftliche Betätigung verzichteten. Formal ist nur festzustellen, daß Maßnahmen, erst recht Entlassungen, die über die Doppelverdienereinschränkung hinausgehen, nicht dokumentiert sind. Im Katalog spiegelt sich der Rückbau der geschlechtsspezifischen Barrieren im Universitätsbetrieb: 13 % der Personen im Katalog sind Frauen. Nach Fächern geordnet, dann in alphabetischer Reihenfolge: – Germanistinnen: Helene ADOLF, Klara COLLITZ, Inge HALPERT, Käte HAMBURGER, Agathe LASCH, Eva-Maria LÜDERS, Anna Maria SIEMSEN, Edda TILLEHANKAMER, – Klassische Philologinnen: Margit GUTMANN, Gabriele HOENIGSWALD, Helene HOMEYER, die Latinistin Annelise MODRZE, Ruth NEUBERGER-DONATH, die Latinistin Hannah ROSÉN, die Gräzistin Grete SCHLESINGER, Gerda SELIGSO(H)N,
�� 73 Zu ihr s. Simon (1998).
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Romanistinnen: Susanne BACH, Gabriele BENTON und Alice BERGEL, Rosemarie HEYD, Renée KAHANE, Anna LEHMANN-PIETRKOWSKI, Elise RICHTER, Leonie SACHS, Margot SPONER, Anglistinnen: Eva BUCK-VANIOĞLU, Marjorie PERLOFF, Semitistinnen: die Äthiopistin Hermine BRAUNER-PLAZIKOWSKY, die Hebraistinen Lea GOLDBERG und Nechama LEIBOWITZ, die Altorientalistin Hildegard LEWY, die Arabistin Ilse LICHTENSTADTER, Vertreterinnen weiterer „kleinerer“ sprachlicher Fächer: die Etruskologin Eva FIESEL, die Turkologin und Sinologin Annemarie VON GABAIN, die Indologinnen Betty HEIMANN und Luise Anna HERCUS (zugleich Forscherin zu den australischen Sprachen), die Arabistin Hedwig KLEIN, die Keltologin Käte MÜLLER-LISOWSKI, die Slavistin Ewa RAMBERG-FIGULLA, die Hethitologin Leonie ZUNTZ. Allgem. Sprachwissenschaft: Ingeborg SEIDEL-SLOTTY, „angewandte“ Sprachwissenschaft: die Psycholinguistin Frieda EISLER, Soziologinnen: Marie ALBU-JAHODA, Psychologinnen und Pädagoginnen: Annelies(e) ARGELANDER-ROSE, Charlotte BÜHLER, Hildegard HETZER, Martha MUCHOW, Clara STERN,
LASCH und RICHTER legten als Vertreterinnen der traditionellen (junggrammatischen) Sprachwissenschaft besonders rigide, umfassende Materialauswertungen mit einer stringenten lautgesetzlichen Modellierung auf der Basis akribischer philologischer Arbeit vor; sie gehörten nicht nur zu den ausgesprochen strengen Vertreter(innen) des Faches, sondern sie scheuten auch die selbstbewußte Polemik mit männlichen Gegenspielern nicht. Andere gehörten zu denen, die neue sprachliche Territorien erschlossen wie FIESEL für das Etruskische, L. ZUNTZ für das Hethitische. Einige gehörten zur Avantgarde, die die neue apparative Phonetik erschlossen bzw. deren Anwendungsbereiche erweiterten: RICHTER, EISLER. Unter ihnen waren Pionierinnen der empirischen Feldforschung: BRAUNER-PLAZIKOWSKY, HERCUS (allerdings erst in ihren späteren Arbeiten im Exil). Im Grenzbereich stehen Vertreterinnen strenger theoretischer Reflexion wie HAMBURGER mit ihrer Modellierung im Ausgang von HUSSERLs Sprachtheorie; eine ausgesprochene Strukturalistin (in der jüngeren Generation) ist H. ROSÉN, vgl. auch den Zugriff auf einen komplex definierten Gegenstand wie die Schrift bei MODRZE und die theoretisch anspruchsvolle Konzeptualisierung bei SEIDELSLOTTY. Schließlich gehören hierher auch im Grenzbereich zu den Sozialwissenschaften Vertreterinnen, die Wissenschaft mit politischem Engagement verknüpften und eine besondere Form interventionistischer Wissenschaft praktizierten: ALBU-JAHODA, ARGELANDER, HETZER.
150 � Hintergründe der Verfolgung Von den Frauen, die im wissenschaftlichen Betrieb eine Position erkämpfen konnten, praktizierte ein Drittel auch eine avantgardistische Wissenschaft – proportional gesehen erheblich mehr als bei ihren männlichen Gegenparts. Dabei gibt es bei den für die Wissenschaft rekrutierten Frauen eine Dunkelziffer durch diejenigen, die im Schatten ihrer Ehemänner wirkten. Weil es auch, nachdem die grundsätzlichen Barrieren für das Frauenstudium beseitigt waren, ausgeschlossen war, daß eine Frau zugleich mit ihrem Ehemann eine beamtete Stelle im Wissenschaftsbetrieb einnahm, war das von vornherein ein leitender Gesichtspunkt bei der ersten Generation der Frauen, die für sich eine wissenschaftliche Laufbahn projektierten und daher auch konsequent unverheiratet blieben, s. HAMBURGER, HEIMANN, LASCH, RICHTER. Das wissenschaftliche Zölibat ist zwar auch bei Männern nicht selten (auch in diesem Katalog), ist dort aber nicht in diesem Sinne eine strategische Frage, wie sie bei einigen der hier aufgeführten Frauen auch reflektiert wird (z.B. HEIMANN).74 Die Ehe mußte aber nicht das Opfer wissenschaftlicher Arbeit bedeuten. Diese konnte vielmehr auch symbiotisch mit dem Ehemann betrieben werden, wobei die Frau aber eher einen Nischenplatz in der gemeinsamen Arbeit mit dem Ehemann hatte, wie bei Clara Joseephy (STERN); in der Regel blieb das jedoch (über dankende Bemerkungen im Vorwort hinaus) unsichtbar, vgl. auch gemeinsame Projekte am Rande des männlichen Hauptwerks: Chana Faerstein bei BLOCH (poetische Übersetzungen), Charlotte Leslau (Volkskundlerin, s. LESLAU), Renate Grumach (Literaturwissenschaftlerin, Mitarbeit bei der GoetheAusgabe; s. GRUMACH); s. auch die offensichtlich problematischen Verhältnisse von LERCH (z.B. seine frühere Frau, Gertrude L.) Das konnte sich u.U. nach dem Tod des Mannes ändern, wenn die Frau dessen Veröffentlichungen bzw. die gemeinsame Arbeit daran weiterführte, s. Hildegard LEWY (1903–1967, Ehefrau von J. LEWY und Schwester von E. SCHLESINGER); Else Lüders (1880–1945; s. LÜDERS); Renée KAHANE; G. HOENIGSWALD(-SCHÖPFLICH). Die neuen Einwanderungsgesellschaften reproduzierten dieses Muster weniger restriktiv, aber es findet sich auch hier, s. R. KAHANE oder bei POLITZER zu seiner Frau Frieda N. Offene parallele Karrieren wie bei K. COLLITZ, G. HOENIGSWALD (-SCHÖPFLICH), H. ROSÉN und I. SEIDEL-SLOTTY sind Ausnahmen. In dieser Hinsicht sind noch weitere Recherchen erforderlich, da in der Dokumentation nur Frauen aufgeführt sind, die
�� 74 Hier sind noch biographisch genauere Studien erforderlich. Bei der jüngeren Generation gehört dazu auch die Verarbeitung der Traumatisierung durch die Schoah, in der oft große Teile der engeren Familie umgekommen sind, die einem familienplanerischen Lebenslauf entgegen stehen konnte. Nur gelegentlich wird derartiges in Nachrufen, die auf enge persönliche Verbundenheit zurückgehen, angesprochen (z.B. bei ROSENTHAL).
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in Publikationen auch als eigene wissenschaftliche Persönlichkeiten sichtbar werden bzw. wurden.
3.3.2 Verfolgung wegen Homosexualität Grundsätzlich auf der gleichen Ebene wie die rassistische Verfolgung steht die wegen Homosexualität. Diese ist kein Spezifikum des Faschismus, sondern war im Strafgesetzbuch mit dem § 175 verankert.75 Wo entsprechend motivierte Entlassungen aktenkundig sind, lag ihnen in der Regel wohl auch eine rechtskräftige Verurteilung zugrunde, die im Sinne des alten (und im Grunde auch heutigen) Beamtengesetzes formale Konsequenzen hat, s. im Katalog bei H. RITTER, M. L. WAGNER. Bemerkenswert ist in diesen beiden Fällen der kooperative Umgang der Behörden mit den Betroffenen, die auch mit der bewahrten kollegialen Wertschätzung korrespondierte (Brockelmann sprach so bei dem von ihm sehr geschätzten H. RITTER von einem „dummen Vergehen“ als Entlassungsgrund, Brockelmann 1947: 45). Gerade der in der Diskussion öfters angeführte Fall von M. L. WAGNER macht deutlich, wie nötig es ist, die problematischen Abgrenzungen zu dokumentieren. Es kann nur vermutet werden, daß die Homosexualität (bzw. der Vorwurf) auch in weiteren Verfahren eine Rolle gespielt hat, was im Katalog nicht zu Buche schlägt, da es nicht dessen Ziel ist, die persönliche Lebensform in den hier versammelten Biographien auszuforschen. Grenzfälle liegen vor, wo Homosexualität ein sichtbares Element in der späteren Gestaltung des eigenen Lebens war, wie bei CUNZ oder T. FUCHS. Nur in den seltensten Fällen führte die Homosexualität zu offenen Konflikten, die dann in beamtenrechtlichen Formen ausgetragen wurden. Hier griff die Diskriminierung eher schon im Vorfeld. Bemerkenswerterweise sind nach 1935 einige Fälle aktenkundig geworden, bei denen es offen agierende NSDAP-Mitglieder betraf.76
�� 75 Der im übrigen in der BRD bis 1994, in der DDR bis 1968 Geltung hatte. Allerdings wurde dieser Paragraph 1935 verschärft; seitdem nahm die Verfolgung von Homosexuellen rigidere Formen an, u.a. auch mit der Einlieferung in Konzentrationslager. 76 Allerdings nicht unter den Sprachforschern: so der Theologe/Semitist Anton Baumstark (1872–1948), der in Münster 1935 seine Entlassung einreichen mußte; der Archäologe/Orientalist Ernst Heinrich (1899–?), der Japanologe Johannes Ueberschar (1885–1965), der 1937 in Leipzig entlassen wurde und dann nach Japan emigrierte, wo er als Deutschlehrer lebte.
152 � Hintergründe der Verfolgung Im Katalog gibt es noch einige vergleichbare Fälle; der Anteil „verdeckter“ Homosexueller ist aber sehr viel größer anzusetzen, vor allem unter den Orientalisten, für die das Leben im Orient in dieser Hinsicht Vorteile bot.77
3.4 Politische Verfolgung 3.4.1 Politischer Widerstand Die rassistische Verfolgung machte Menschen zu Opfern des Regimes. Der Gegenpol liegt bei politischem Widerstand, jedenfalls bei politisch artikuliertem Verhalten, das die Gegnerschaft zum Regime zum Ausdruck bringt. Das impliziert eine große Bandbreite von Verhaltensweisen, die beim verweigerten Mitspielen des alltäglich Geforderten anfangen und auch die Unterstützung für Verfolgte bedeuten konnten. Nur die Fälle organisierten Widerstandes bzw. von Untergrundaktivitäten sind in der Regel dokumentiert, jenseits von denen es ein nur durch genauere biographische Recherchen aufzuhellendes Feld von Verhaltensweisen gibt, s. 3.5. Politisch organisierter Widerstand gegen das Regime war nur in der frühen Zeit möglich und wurde auch von einigen der hier dokumentierten Wissenschaftler unternommen (s. vor allem PIASEK, SCHAEFFER, STEINITZ, vgl. auch SPONER). Er war in der Mehrheit allerdings eher bei den Sozialwissenschaftlern angesiedelt als bei den Sprachforschern im philologischen Sektor, s. ALBU-JAHODA, DEUTSCH, LAZARSFELD u.a. Zu den Schwierigkeiten gehört (in der Analyse ex post wie in der zeitgenössischen Praxis) die Klärung dessen, wogegen sich der Widerstand richtete. Probleme bereitete hier schon die revolutionäre Selbstpräsentation der Nationalsozialisten bis hin zu dem von diesen gewählten Etikett. Darauf reagierten vor allem auch die Konservativen, insbesondere bei monarchistischer Ausrichtung. Umgekehrt bemühte sich das Regime, diese Kreise einzubinden, am Anfang noch mit Hindenburg als staatlicher Galionsfigur, später dann mit der ausdrücklich als „großdeutsch“ herausgestellten Staatsbildung. Von daher ergeben sich die komplexen Konflikte in diesem Feld, vor allem bei einer völkischen Ausrichtung, s.u. 3.4.3. Eine oppositionelle Haltung von rechts war vor allem dann gegeben, wenn die Betroffenen in der liberalen Tradition des Bürgertums
�� 77 Wo zwar die Homosexualität ebenfalls stigmatisiert ist, aber doch bei jungen Männern in Hinblick auf die hoch gehaltene voreheliche Jungfräulichkeit als Ausweg in einer (tabuisierten) Grauzone relativ toleriert wird. Diese Zusammenhänge werden in jüngster Zeit in der Forschung auch aufgearbeitet, s. etwa Aldrich (2003).
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verankert waren (politisch etwa in der DDP, s. etwa bei JACOBSOHN, s. auch im fließenden Übergang zu republikanischen Artikulationen in diesem Spektrum bei dem weiter unten besprochenen Heidelberger Manifest 1931 (s. Fn. 89 in 3.4.2). In diesem Feld gibt es daher große Probleme bei der politischen Einordnung, die es auch hier sinnvoll machen, ein größeres Zeitfenster zur Klärung der Begrifflichkeit zu wählen. Traditionell ist seit dem 19. Jhd. (letztlich seit der Französischen Revolution 1789) für die politische Einordnung ein Rechts-LinksSchema orientierend, das dem linken Pol diejenigen zuordnet, die eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse anstreben und darauf zielen, die (Mehrheit der) Menschen in einer Gesellschaft zu Herren der Verhältnisse zu machen, während auf dem rechten Pol die konservativen Kräfte angesiedelt werden, die die bestehenden Verhältnisse zumindest in den Grundzügen bewahren wollen. Die politische Artikulation dieser Pole kann sehr unterschiedlich erfolgen, wodurch das Feld eine skalare Struktur erhält, am linken Extrem mit den Kommunisten, am rechten Extrem mit den Monarchisten. Im 20. Jahrhundert trat ein neuer Typ von politischen Formierungen auf, der, wie insbesondere die NSDAP, in diesem Schema nicht eindeutig zu verorten ist: insofern er einerseits eine radikale Umgestaltung der Verhältnisse in die Wege leitete, insbesondere auch ihre Modernisierung, war er nicht dem rechten Pol zuzuordnen; insofern er aber die Grundstrukturen der kapitalistischen Gesellschaft, die Unterordnung der Gesellschaft unter die Kapitalverwertung, beibehielt und sogar beförderte, war er nicht links. Dieser politische Typus bildete sich in allen modernen Gesellschaften im frühen 20. Jhd. heraus, und entsprechend seinem ersten politischen Erfolg in Italien steht dafür der Terminus Faschismus. In den politischen Auseinandersetzungen verstanden sich die faschistischen Aktivisten als Vertreter einer radikal neuen Politik. Ihr Referenzhorizont war der (Erste) Weltkrieg, der für sie die politischen Orientierungen der Vergangenheit entwertet hatte: ob nun konservative wie bei den Monarchisten, bürgerlich-liberale oder auch die der Arbeiterbewegung, die alle ihre Wurzeln im 19. Jhd. oder früher hatten. Daher sind die Frontstellungen eben auch nicht in einem Rechts-LinksSchema unterzubringen. Das gilt insbesondere auch für den großen Komplex, der meist als „völkische“ Bewegung angesprochen wird, in der sich schon im Verlauf des 19. Jhd. konservative Kräfte formierten, die dann in der Weimarer Republik einen politischen Block bildeten. Daß dieser dem Nationalsozialismus als Steigbügelhalter diente, ist inzwischen detailliert aufgearbeitet; weniger klar sind die Abgrenzungen, die wohl für die Akteure auch selbst nicht immer durchsichtig waren. Es ist offensichtlich, daß die völkischen Kräfte von der Machtübergabe an die NSDAP ein Durchsetzen ihrer Interessen erwartete, eben-
154 � Hintergründe der Verfolgung so wie es offensichtlich ist, daß das Regime dergleichen nur in einer ersten Phase taktisch mitspielte. Daraus resultieren spätere Konflikte, die einige der völkischen Aktivisten bei der Entnazifizierung als Gegnerschaft geltend machten. In Kap. 6. werden diese Konflikte detaillierter in den Blick genommen, weil Sprachfragen bei völkischen Positionen eine Schlüsselrolle spielen. Im übrigen ist diese Konfliktkonstellation des Faschismus zur völkischen Rechten nicht auf das Deutsche beschränkt, s. z.B. bei TRUBETZKOY. Die Verhältnisse im 1938 „angeschlossenen“ Österreich haben einige Besonderheiten, die wenigstens angedeutet werden sollen, da sie eine große Zahl der dokumentierten biographischen Verläufe bestimmt haben, ihre Kenntnis bei den meisten Lesern aber nicht vorausgesetzt werden kann. Quer zu der ähnlichen politischen Polarisierung wie in Deutschland gab es hier eine weitere in Hinblick auf die „großdeutsche“ Orientierung – gegen eine eigene nationale Ausrichtung, die weitgehend konfessionell überlagert war; z.T. ging das mit monarchistischen Positionen zusammen; Organisationen, die der katholischen Kirche nahe standen, bildeten hier einen Machtfaktor. Eine großdeutsche Orientierung bestimmte die Sozialdemokraten ebenso wie die Nationalsozialisten, die sich schon in den 1920er Jahren politisch formiert hatten, während die Rechts-Konservativen und klerikal ausgerichteten Gruppierungen österreichisch-“national“ waren, ebenso wie später im Exil die Kommunisten. Quer zum politischen Rechts-Links-Schema verlief auch die Verankerung im Antisemitismus, der nicht nur bei den Nationalsozialisten dominierte, sondern auch bei den Rechts-Konservativen und Klerikalen, während die Sozialdemokraten und Kommunisten (deutlich schon an ihren Führungspersonen) anti-antisemitisch ausgerichtet waren. In dieser Hinsicht konnten allerdings die lokalen Verhältnisse unterschiedlich ausgeprägt sein. Seit 1927 herrschten in Österreich latente Bürgerkriegszustände, die immer wieder auch in offenen Auseinandersetzungen ausgetragen wurden. Gegen die Linke, vor allem auch den militanten „Schutzbund“ der Sozialdemokratie, stand ein breites Spektrum der Rechten, darunter vor allem die „Heimwehr“, die sich von einer rassistischen Formation im Kampf gegen die slowenische Minderheit (vor allem in Kärnten und der Steiermark) zu einer nationalen Formation mit faschistischer Orientierung entwickelt hatte. So positionierten sich auch die Nationalsozialisten, die strikt an der deutschen NSDAP ausgerichtet waren. Im März 1933 wurde ein autoritäres Regime etabliert, das in der Literatur als „Austrofaschismus“ angesprochen wird. Das Parlament wurde außer Kraft gesetzt und E. Dollfuß (bis dahin als Minister in der Regierung) fungierte bis zu seiner Ermordung im Juli 1934 mit diktatorischen Befugnissen als Reichskanzler; sein Nachfolger war K. Schuschnigg (der selbst monarchistisch orientiert war). Als politische Basis hatte Dollfuß die „Vaterländische Front“ geschaffen,
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die dazu dienen sollte, den politischen Gegnern etwas entgegenzustellen, vor allem auch den österreichischen Nationalsozialisten, die im Juni 1933 verboten wurden, nachdem sie (wie schon mehrfach vorher) einen Putschversuch unternommen hatten. Zu erheblichen Teilen blieben sie aber in der „Heimwehr“ aktiv, die ihrerseits auch Vertreter in der Regierung stellte. Die Organisationen der österreichischen Nationalsozialisten waren seit 1933 aber illegal, was erklärt, daß Anhänger und Vertreter des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes nach dem Anschluß von den Nationalsozialisten als politische Gegner behandelt wurden Den Terminus des Faschismus bzw. das angedeutete begriffliche Analyseschema behalte ich bei, da mit ihm die widersprüchlichen Reaktionen auf diese politische Formierung auch in Deutschland besser zu fassen sind; nicht zuletzt auch die Sympathien derer, die später selbst Opfer des Regimes wurden. Gegen eine solche Vorgehensweise wird häufig eingewendet, daß mit ihr die Besonderheit des Nationalsozialismus unterschlagen wird: dessen rassistische Vernichtungspolitik. Aber in diesem Kontext geht es darum, daß nicht nur bei den Sympathisanten, sondern eben auch bei späteren Opfern die ersten Entwicklungen hin zur rassistischen Politik als vorübergehende Begleiterscheinungen wahrgenommen wurden. Bestimmend war ein durch die nationalsozialistische Bewegung gebundener Elan, der auch wissenschaftlichen Optionen korrespondierte und die Kritik an Erscheinungen der westlichen Zivilisation (Individualisierung, Egoismus etc.) aufnahm. Die grundlegenden Haltungen sind von ihrer faschistischen (nationalsozialistischen) Artikulation zu unterscheiden. Das gilt auch für die entsprechenden Richtungen im wissenschaftlichen Feld, wo ihnen insbes. soziologische Theorieentwürfe entsprechen, die ihren Ort im völkischen Spektrum hatten, dabei oft mit ausgesprochen elitären Vorstellungen verbunden, auf die wiederum die NSAktivisten aggressiv reagierten (wie z.B. bei Boehm in Jena, bei Spann in Wien u.a.).78 Dem korrespondieren auch sprachtheoretische Entwürfe (zeitgenössisch meist als „Sprachsoziologie“ deklariert) mit einem Spektrum von so unterschiedlichen Auffassungen wie bei VOßLER und seinen Schülern auf der einen Seite, und bei jemandem wie TRUBETZKOY auf der anderen. Eine andere Art, auf diese Verhältnisse zu reagieren, bestand in der symbolischen Flucht aus der unmittelbaren Gegenwart in eine kulturwissenschaftlich verstandene Beschäftigung mit exotischen Verhaltensweisen, die in der Feldforschung bei kleineren Völkern ausgelebt wurde. Es ist sinnvoll, eine solche analytische Folie für das
�� 78 Boehm bekannte sich offen zur Politik der NSDAP, war aber den politischen Aktivisten an der Jenaer Universität ein Dorn im Auge, die auch seine Aufnahme in die Partei verhinderten, s. zu dem entsprechenden Konflikt Hendel 2007 (bes. 49–65).
156 � Hintergründe der Verfolgung Verständnis der Positionen vorzuhalten, die in den Einzelbiographien sichtbar werden. In diesem Feld spielten auch religiöse Optionen eine zentrale Rolle. Während die Protestanten eine staatsreligiöse Ausrichtung hatten und mit Ausnahme der Bekennenden Kirche sich nach 1933 quietistisch verhielten, war es bei den Katholiken umgekehrt, wo unterschiedliche Formen von Widerstand an der Tagesordnung waren, weshalb das Regime auch das Konkordat von 1933 ihnen gegenüber als Instrument zu nutzen suchte (s. hier auch bei 3.5.). In Österreich waren die Verhältnisse allerdings anders gepolt, wo die katholischen Gruppierungen vor allem auch in der „Systemzeit“ 1933–1938 „staatstragend“ waren – und sich z.T. auch aggressiv mit nationalsozialistischen Gruppierungen auseinandersetzten, gegen deren großdeutsche Ausrichtung sie angingen. Das bestimmte dann später mit umgekehrter Stoßrichtung die Auseinandersetzungen (und Verfolgungsmaßnahmen) nach 1938, s.u. 3.4.3.79 Anders lagen die Verhältnisse auf Seiten der Linken, deren Organisationen grundsätzlich zu Gegnern erklärt wurden. Quer zu diesen Formen politisch organisierter Praxis steht die Reaktion auf die rassistische Repression, die als solche blind für politische Ausrichtungen war. Im Nachkriegsdeutschland (in beiden Teilen!) wurde ein Gegensatz von Widerstand und Verfolgung von Juden konstruiert. Da die rassistische Stigmatisierung im Sinne der Nürnberger Gesetze aber nicht auf gesellschaftliche Beziehungen abstellte, ist zu erwarten, daß auch im Widerstand (wie in gewissem Maße auch bei Parteigängern) Menschen zu finden sind, die in diesem Sinn als jüdisch stigmatisiert wurden. Der politische Widerstand vor Kriegsbeginn war so gut wie nur von links organisiert, im Umfeld der Arbeiterbewegung (KPD, SPD und insbesondere in ihren Jugendorganisationen). Hier waren entsprechend viele aktiv, die sich mehr oder weniger bewußt auch als jüdisch empfinden mußten oder so stigmatisiert wurden. Diese Situation änderte sich mit Kriegsbeginn, vor allem seit 1941. Seit diesem Zeitpunkt waren rassistisch Verfolgte nicht mehr aktionsfähig; faktisch war der größte Teil von ihnen auch ausgewandert, während sie bis 1939 z.T. sogar noch in die illegalen Aktivitäten rückgewandert waren, sogar wenn sie vorher bereits schon einmal im Konzentrationslager gewesen waren. Unter den repressiven Bedingungen der Kriegsver�� 79 Exemplarisch zu den komplexen Spannungen in Österreich, bei denen nationalsozialistische und reaktionär-katholisch ausgerichtete Gruppierungen nur im gemeinsamen Antisemitismus zusammengingen, ansonsten sich aber bekämpften (die katholischen Verbände waren durchweg nicht großdeutsch ausgerichtet), jeweils mit umgekehrten politischen Rückenwind nach 1933 und dann nach 1938, am Beispiel der Universität Innsbruck Oberkofler / Goller (1995)
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hältnisse war schließlich aktionsfähiger Widerstand, wenn überhaupt, dann nur noch im Rahmen der Wehrmacht möglich. Im Nachhinein bestimmt diese Konstellation die Diskussion über den Widerstand, der mit dem Bild des explizit jüdischen Widerstandes etwa im Warschauer Ghetto verdrängt, welche Rolle jüdisch Verfolgte im Widerstand gespielt haben.80 Hinzu kommt in den einschlägigen Darstellungen allerdings auch der meist verkürzte Blick, der den Aktionsraum auf die Grenzen des ‚Reichs‘ beschränkt und damit inkongruent nicht nur zum Aktionsraum des Faschismus ist, sondern auch zum (internationalen) Kampf gegen ihn: – vor 1939 in den internationalen Brigaden, vor allem in Spanien; – nach 1939 unter Kriegsbedingungen in den Partisanenorganisationen bzw. im politischen Widerstand in Frankreich, in Jugoslawien bzw. generell auf dem Balkan, vgl. bei ROSENBERG, WEIGL; – nach Kriegsbeginn dann auch in den Reihen der Armee der Alliierten, von Palästina aus zunächst vor allem in der britischen Armee, nach 1940 in der US-Armee. Für den Fronteinsatz gab es bei Soldaten, die einen deutschen (bzw. österreichischen) Paß hatten, allerdings das Problem, daß die deutsche Wehrmacht in ihnen Verräter sah, denen nicht der Schutz der Genfer Konvention zustand. Aus diesem Grund weigerte sich z.B. das Britische Oberkommando, solche Freiwilligen an der Front einzusetzen, soweit für sie nicht eine andere persönliche Identität geschaffen wurde. Eine systematische Aufarbeitung dieses Feldes steht noch aus; sie ist allerdings auch nicht mit der Einschränkung auf deutschsprachig kompatibel. Für die Sprachforschung gibt es bisher nur Hinweise auf einzelne Personen wie z.B. bei dem französischen Semitisten Marcel Cohen, der seinerseits auch bei der Unterstützung von Verfolgten aktiv war, s. bei LESLAU. Wo es nicht zur Auswanderung kam, war die Folge die physische Vernichtung wie bei SCHAEFFER, SPONER. Besondere Konstellationen ergaben sich im Weltkrieg. Eine Form des Widerstandes war hier auf der einen Seite die Desertion, s. BARTHOLMES, auf der anderen Seite der Kampf an der Front gegen den Faschismus, s. etwa BAR-HILLEL, MATOUŠ, MISH, RICE, SCHWARZ, S. A. WOLF. Hierher gehören auch diejenigen, die bei unterschiedlichen Institutionen der Alliierten zum Krieg gegen das faschistische Deutschland beitrugen (in der OSS der USA, in der Radiopropaganda bis hin zur politischen Arbeit mit deutschen Kriegsgefangenen): ARNDT, MARCUSE, SPEIER, KRIS, FRIEDMANN oder auch HO-
�� 80 Zur Forschungslage s. Paucker 1995, der hochrechnet, daß alleine bis 1939 2.500 Menschen mit dem rassistischen Stigma im politischen Widerstand waren.
158 � Hintergründe der Verfolgung MEYER,
PFLÜGER, ROSENTHAL, MITTWOCH. In gewisser Weise gehören hierher auch diejenigen, die als jüngere Emigranten zunächst noch im Zweiten Weltkrieg ihren Wehrdienst leisteten, in den USA in der Regel auch als Voraussetzung für die spätere Einbürgerung, s. BÄUML, BACON, A. BIELER, FORCHHEIMER, GUMPERZ, LOOSE, PENZL, POLITZER, PULGRAM, RECHTSCHAFFEN, ROSENTHAL, U. WEINREICH, vgl. auch LENNEBERG (Militärdienst 1946–1947). Bei vielen von ihnen war das Studium (bzw. dessen Abschluß) auch nur mit einem Stipendium möglich, das ehemaligen Soldaten gewährt wurde („GI-Bill“, s. bei den Genannten). Eine ähnliche Regelung bestand auch in England, s. bei ELLIOTT, JACKSON, SAMUELSDORFF, vgl. auch BORINSKI; für Frankreich, s. auch R. A. STEIN. Ein „heroisches“ Bild vom Widerstand kann hier den Blick verzerren. Die Unterordnung der eigenen (wissenschaftlichen) Interessen unter die gesellschaftlich geforderten Anstrengungen im Kampf gegen den Faschismus gehört auch hierher, vgl. etwa SIMON, der seine sinologischen Qualifikationen den britischen Anstrengungen im Weltkrieg unterordnete, Sprachkurse entwickelte und gab – und erst nach Kriegsende seine spezifischen Forschungen wieder aufnahm; vgl. auch ALBU-JAHODA, die in der Kriegszeit nach 1941 ihre Forschungsmöglichkeiten in England zugunsten der politisch-propagandistischen Arbeit aufgab. Hier sind auch die Einschätzungen des NS-Regimes selbst aufschlußreich, das z.B. publizistische Aktivitäten eines STORFER als gegnerisch einschätzte und ihn deshalb ausbürgerte (s. bei diesem). Anderseits ist auch deutlich, daß die Aktivitäten zur Entwicklung von Sprachkursen für die US-Armee für manche ein Mittel war, dem direkten Kriegseinsatz zu entkommen. Hier können die einzelnen Bibliographien näheren Aufschluß geben, s. bei GARVIN, H. HOENIGSWALD, HOMBERGER, H. KAHANE, MENGES, OLSCHKI, PENZL, REICHARDT, REICHENBERGER, SPRINGER, VON DEN STEINEN. Die Umsetzung der Opferrolle der rassistischen Verfolgung in eine aktive Form des Widerstandes wird bei einigen der genauer recherchierten Fälle deutlich. Aufschlußreich ist hier das Beispiel von W. STEINITZ, das zugleich deutlich macht, daß die Probleme tiefer reichen als die Fixierung auf die Ereignisgeschichte seit 1933 zeigt. STEINITZ’ Eintritt in die KPD war auch gegen das bürgerliche Elternhaus gerichtet (s.o.). Damit grenzte er sich von der bürgerlichen Hilflosigkeit gegenüber dem zunehmenden Faschismus ab. Für Menschen wie ihn war selbstverständlich auch der Zionismus keine politische Option; in diesem sahen sie eine Reaktionsbildung auf den faschistischen Rassismus.81
�� 81 S. dazu Hartewig 2000, bes. auch zu dem aus dieser Konstellation resultierenden Konflikt in der DDR, wohin einige dieser Menschen remigrierten wie insbesondere STEINITZ.
Politische Verfolgung � 159
Die politischen Fronten konnten hier sehr unterschiedlich verlaufen. Gefährdet waren alle, die sich bereits im Vorfeld der „Machtergreifung“ republikanisch exponiert hatten. Wie bei der rassistischen Verfolgung darf auch hier das Stichdatum der Machtübergabe an die Nationalsozialisten (30.1.1933) nicht den Horizont bilden. Bereits vorher wurde am 5.8.1932 ein Heidelberger Hochschullehrer, der Statistiker Emil Gumbel, wegen seines pazifistischen öffentlichen Auftretens entlassen.82 Die Mehrheit der Hochschullehrer (und auch der Hochschulverband) verhielten sich ausgesprochen opportunistisch. 1931 hatte es noch eine veröffentlichte Protestresolution gegen die damaligen nationalsozialistischen Agitationen gegen Gumbel in Heidelberg gegeben, 1932 reagierten nur noch einzelne in persönlichen Protestschreiben an die badische Regierung.83 Da Gumbel auch nach seiner Auswanderung von den Nationalsozialisten als Schlüsselfigur der politischen Gegner angesehen wurde,84 wurden auch alle, die in diese Protestaktivitäten verwickelt waren, verfolgt, s. im Katalog bei den Unterzeichnern der Resolution von 1931: FRIEDMANN, GOETZE, LERCH, OLSCHKI, PLESSNER, SCHÜCKING, SIEMSEN, STAMMLER – also in einem ansonsten politisch alles andere als homogenen Spektrum. Die Biographien dieser Unterzeichner verliefen entsprechend sehr unterschiedlich, was auch den wechselnden politischen Kontext verdeutlicht.85 Eine besondere Konstellation ergab sich durch die Frontstellung zum Antisemitismus, die wiederum unabhängig von der sonstigen politischen Einstellung sein konnte, bei dem sich einige der hier Genannten exponierten und inso�� 82 Gumbel war als offen auftretender Gegner der Nationalsozialisten politisch exponiert und so nicht nur in Heidelberg, wo er lehrte, eine bevorzugte Zielscheibe der nationalsozialistischen Agitation, bei der rassistische Angriffe hinzukamen (G. stammte aus einer jüdischen Bankiersfamilie). Seine Entlassung (durch einen Kultusminister des Zentrums) folgte den mit erheblicher öffentlicher Unterstützung in der städtischen Bevölkerung vorgebrachten Forderungen der nationalsozialistischen Studentenschaft in Heidelberg, die auch von nicht wenigen Hochschullehrern unterstützt wurden bzw. der sich nur wenige entgegengestellt hatten. Zu ihm s. Jansen (1991). 83 Die „Protesterklärung republikanischer und sozialistischer Hochschullehrer" von 1931 wurde in Die Menschenrechte 6/1931 veröffentlicht (wieder abgedruckt in dem von K. Buselmeier herausgegebenen Nachdruck von Gumbels Schrift, „Verschwörer"). Insgesamt unterzeichneten dort 83 Hochschullehrer diese Erklärung, darunter außer den Genannten z.B. noch A. Einstein, Th. (hier: Wiesengrund) Adorno, M. Horkheimer, A. Kantorowicz, Th. Lessing. Zu dem erfolglosen Versuch, 1932 eine ähnliche Aktion auf den Weg zu bringen, s. K.Großmann, Akademiker zum Fall Gumbel, in: Die Weltbühne 28/ 1932, Heft 2: 388–391, der dort nur einige Hochschullehrer nennt, die sich direkt an das Ministerium wandten, von den Personen im Katalog A. GOETZE und A. SIEMSEN. 84 S. die Dokumente bei Jansen 1991, dort Fn. 181. 85 S. dazu auch Heiber I/1991: 77ff.
160 � Hintergründe der Verfolgung fern auch beim gefestigten Regime mit Disziplinierungen rechnen mußten, s. bei VOßLER, KAHLE. In vielen Fällen, in denen keine direkte rassistisch oder politisch begründete Verfolgungskonstellation für die Emigration gegeben war, wird sie so begründet gewesen sein. Hier können nur detaillierte biographische Recherchen Aufschluß geben, s. z.B. T. FUCHS. Gerade auch in dieser Hinsicht wird im Katalog die oben schon zum komplexen Feld des Jüdischen angesprochene Differenz der Generationen deutlich. Die ältere Generation, die vor 1880 geboren war (im Katalog insges. 62 Personen), zeigt bei denen, deren Biographie entsprechend dokumentiert ist, überwiegend ein politisch selbstbewußtes Auftreten, i.d.R. im Sinne einer konservativen deutschnationalen Selbstpositionierung; verbunden mit der Einforderung und vor allem auch der Wahrnehmung der demokratischen Grundrechte – später dann entsprechend die fassungslose Konfrontation mit dem rassistischen Regime (s. etwa ARONSTEIN, BOAS, ERMAN, FEIST, R. HÖNIGSWALD, JACOBSOHN, LASCH, MITTWOCH, NORDEN, RICHTER, STEINDORFF, W. STERN); dazu gehörte auch jemand wie VOßLER, der gegen die rassistische Verfolgung auftrat, ohne von ihr betroffen zu sein. Wobei gerade die ältere Generation im Selbstverständnis, u.U. öffentlich zur Schau gestellt und ggf. auch politisch aktiv, deutschnational war, insofern nicht zwangsläufig in einem politischen Dissens zum Programm der NSDAP, siehe hier bei ERMAN, HERTZ, MAAS, MITTWOCH, JACOBSOHN, JORDAN, KLEMPERER, OLSCHKI, H. ZIMMER. Insofern gibt es hier auch keinen Unterschied zu denen, die sich, weil nicht rassistisch verfolgt, mit den Verhältnissen arrangieren konnten, wie STAMMLER, vgl. auch VOßLER. Dieses Spektrum von Verhaltensweisen, das von Kollusion bis offenem Dissens reichte, findet sich auch bei den Opfern der Verfolgung ohne rassistischen Hintergrund wie bei F. WILHELM, W. SCHMIDT, TRUBETZKOY, wozu auch der oben schon angeführte Fall von KAHLE gehört. Politische Gegnerschaft konnte sich u.U. erst im Exil artikulieren und dabei in sehr unterschiedlicher Weise politisch definiert sein: die Bandbreite reicht hier von politisch reaktionären (monarchistischen) Bewegungen über menschenrechtlich definierte bis in das sozialistische Spektrum. Dokumentiert sind hier unterschiedliche Konstellationen, wobei davon auszugehen ist, daß aufgrund der zumeist dürftigen Dokumentation von einer größeren Dunkelziffer auszugehen ist: s. bei DEUTSCH, NEHRING, TIETZE. Wie bei den Genannten sind organisierte Aktivitäten ein Indiz für ein solches politisches Verständnis der Vertreibung als Exil; bei „reichsdeutschen“ Auswanderern im Katalog ist NEHRING außerhalb der Linken (wie etwa STEINITZ) eine Ausnahme: NEHRING ist der einzige emigrierte Sprachwissenschaftler, der in Emigranteninitiativen zu finden ist, die sich (vor allem nach dem Kriegseintritt der USA) gegen die Projekte der Roosevelt-Administration formierten, die von der Kollektivschuld des deut-
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schen Volkes ausgingen (Vansittard, Morgenthau). Die prominenteste dieser Initiativen war wohl das Council for a Democratic Germany, bei dessen Programm A. NEHRING als einer der Erstunterzeichner erscheint (publiziert im Mai 1944).86 Eine besondere Konstellation bestand hier bei den österreichischen Emigranten. Viele von diesen deuteten den „Anschluß“ 1938 als Besetzung um und organisierten sich in einem von mehreren „Freies Österreich“- Komitees. Nicht nur wegen der Unmöglichkeit, eine gemeinsame politische Plattform zu finden, blieben diese Aktivitäten ohne sonderliche Resonanz; sie wurden weder von den Alliierten noch von den anderen Exilregierungen anerkannt. Auf Seiten der Linken standen dem auch grundsätzliche Differenzen bei der nationalen Frage gegenüber: die Sozialisten (Sozialdemokraten) waren großdeutsch ausgerichtet und lehnten eine spezifisch österreichische Organisation ab, anders als die Kommunisten. Erst nach dem Angriff auf die Sowjetunion (22.6.1941) kam es auf der „Volksfrontlinie“ zu einem organisatorischen Zusammengehen, das 1941 zur Gründung eines Free Austria Movement führte (s. dazu Muchitsch 1995), 87 s. hier bei E. GOLDMANN, TIETZE, WEINER, vgl. auch W. SCHMIDT. Zur politischen Gegnerschaft von einer rechtskonservativen Seite aus s. auch TRUBETZKOY, F. WILHELM, vgl. auch WITTEK. Auch die Repression hatte in Österreich andere politische Konturen als im ‚Reich‘ sonst, da das Verbot einer Mitgliedschaft in der NSDAP vor dem Anschluß alle Anhänger der bis dahin regierenden Parteien (der „Systemparteien“) zu Gegnern machte, s. HAFFNER, HITTMAIR, KOPPERS, RICHTER. Im Katalog ist bei 62 Biographien eine zumindest programmatisch definierte Gegnerschaft zum faschistischen Regime dokumentiert, die über eine persönliche (moralisch motivierte) Haltung hinausgeht – mit allen Problemen, die eine
�� 86 Dieses „Council“ war der Versuch, den politischen Gegensatz unter den Emigranten überparteilich zu unterlaufen, wobei der Theologe Paul Tillich die Initiative übernommen hatte. Der auch die (damalige!) US-Administration irritierende Antikommunismus der deutschen Sozialdemokratie verhinderte im übrigen deren Beteiligung an dieser Initiative, die sie, weil für Kommunisten offen, als kommunistisch geleitet sah und denunzierte, s. dazu von sozialdemokratischer Seite die autobiographische Sicht von Friedrich Stampfer (in Matthias & Link 1968, bes. 168f.; sowie seinen Bericht vom März 1944, ebd. 641–644; dort auch ein Abdruck des Programms des Council, 649–654). 87 Dieses Free Austria Movement wurde am 31.12.1941 in England als Dachverband einer Reihe dort aktiver Exilorganisationen gegründet, der in der Folgezeit mit internen Querelen zu kämpfen hatte, bestimmt durch Austritte und Spaltungen. 1944 proklamierte es sich zum Free Austria World Movement. Zur österreichischen Geschichtsforschung dieser Bewegung, s. z.B. Egger 2010.
162 � Hintergründe der Verfolgung solche Unterscheidung impliziert:88 ALBU-JAHODA, ANHEGGER, ANSTOCK, BARTHOLMES, BENJAMIN, BERGEL, H. BIRNBAUM (über die Eltern), BORNEMANN, BRUNNER, BUCK-VANIOĞLU, K. BÜHLER, CARNAP, CUNZ, DEUTSCH, EISLER, ERKES, FALKENSTEIN, FRIEDMANN, T. FUCHS, TH. GEIGER, GOETZE, HAAS, JACOBSOHN, HEYD, KAHLE, KORSCH, KRAUSS, LAZARSFELD, LERCH, LOOSE, H. LÜDERS, MENGES, MISH, NAUMANN, OELLACHER, PACHTER, PFLÜGER, PLESSNER, POEBEL, PULGRAM, REICHARDT, REICHENBACH, REUNING, ROHDE, ROSTHORN, RUBEN, SCHAEFFER, W. SCHMIDT, E. SEIDEL, I. SEIDEL-SLOTTY, SIEMSEN, SLOTTY, SPEIER, SPONER, STEINITZ, STOESSL, STORFER, TIETZE, TRUBETZKOY, VOSSLER, WALZ, WITTEK, WITTFOGEL, S. A. WOLF, H. ZIMMER. Politische und rassistische Verfolgung konnte selbstverständlich die gleichen Personen treffen, wie bei den Biographien vieler hier Aufgeführter deutlich wird. Die Quellen verdecken die Verhältnisse oft, da Entlassungen aus rassistischen Gründen nach § 3 des Beamtengesetzes vor 1935 bei Weltkriegsveteranen nicht vorgenommen wurden: in solchen Fällen wurden sie mit § 4 legitimiert, was einer rassistischen Verfolgung nicht widerspricht, vgl. FRIEDMANN, GOETZE, MISH, PACHTER, PLESSNER, RUBEN, STEINITZ, STOESSL, H. ZIMMER.
3.4.2 Politisch begründete Entlassungen Das Beamtengesetz von 1933 sah in §4 ausdrücklich eine politisch begründete Entlassung vor: „Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden“. Formal wurde dieser Paragraph allerdings nur in eher seltenen Fällen bei Hochschullehrern angeführt, s. hier bei ERKES, WALTER.
3.4.3 Verfolgung impliziert nicht Gegnerschaft Opfer des faschistischen Systems zu sein, impliziert nicht unbedingt auch eine politische Gegnerschaft, die bei der überwiegend national-konservativ dokumentierten Einstellung der Hochschullehrerschaft auch nicht zu erwarten war, s. hier NORDEN, KLEMPERER u.a., oft auch verbunden mit extrem patriotischen Haltungen, die nicht nur im „Erlebnis des August 1914“ ihren Ausdruck fanden,
�� 88 Auch hier sind die ausgewerteten Quellen oft unzureichend. Hinzuzurechnen ist sicherlich jemand wie MÜLLER-LISOWSKI, die mit ihrem Mann, einem SPD-Aktivisten, auswandern mußte. Sie wird daher auch als (politisch) Verfolgte angesehen.
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wo sich viele als Freiwillige meldeten (gerade auch Menschen mit einem jüdischen Familienhintergrund, s.o.), sondern diese Haltung auch nach dem Krieg beibehielten und u.U. sogar auf den Nationalsozialismus projizierten, s. so komplexe Fälle wie hier HECHT oder LATTE. Besonders komplex waren in dieser Hinsicht die Verhältnisse in Österreich, wo die politische Rechte von den Faschisten als Gegner angesehen wurde und entsprechend verfolgt wurde (s.o.), s. dazu hier u.a. bei RICHTER.89 Die rassistisch Verfolgten waren Deutsche (bzw. Österreicher), die zumeist in Familien aufgewachsen waren, die seit Generationen in Deutschland zu Hause waren. Insofern spiegelt sich in dieser Gruppe auch die Bandbreite der politisch-sozialen Optionen der deutschen Bevölkerung: sie waren mehrheitlich nicht nur national/konservativ, sondern wenn sie eine akademische Ausbildung vor dem Ersten Weltkrieg absolviert hatten, waren sie (das hieß in diesem Fall zwangsläufig Männer) oft auch Mitglieder einer schlagenden Verbindung. Eine Ausnahme von dieser Spiegelung der Bevölkerungsverhältnisse bei den Verfolgten macht alleine die ausgeschlossene Affinität zum rassistischen Nationalsozialismus, für den die meisten durch die erfahrenen antisemitischen Reaktionen sensibilisiert waren. Aber auch hier war es nicht das Judentum im Sinne der Nürnberger Gesetze, das eine solche Barriere bildete: schließlich traten auch selbst rassistisch Verfolgte antijüdisch auf, s. hier POKORNY, der sich mangels eines erfolgreichen „Ariernachweises“ selbst als Opfer der rassistischen Politik wiederfand. Ohnehin sind in diesem Feld antisemitischer/antijüdischer Positionen weitere Differenzierungen nötig, so insbesondere auch beim religiös (christlich) verankerten Antisemitismus (s. etwa bei W. SCHMIDT), der allerdings die biologische Verschiebung nicht aufweist, die die Prämisse der späteren Vernichtungspolitik ausmachte. Der Inhalt der faschistischen Politik war nicht von Anfang an erkennbar; daher war auch eine Unterstützung der Nationalsozialisten, erst recht ein Mitwirken an dem politischen Formierungsprozeß, der das rassistische Regime möglich machte, lange Zeit für viele problemlos. Das gilt auch für viele von denen, die später Opfer der Verfolgung wurden. So finden sich auch einige der hier aufgeführten Personen unter denen, die die Machtübergabe an die Nationalsozialisten ausdrücklich begrüßten, wie es insbesondere in dem „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf
�� 89 Zur Kollusion der österreichischen jüdischen Gemeinden und ihrer Vertreter mit dem austrofaschistischen Ständestaat, s. Adunka (o.J.)
164 � Hintergründe der Verfolgung Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ vom 11.11.1933 der Fall war:90 s. bei KRAUSS, REICHARDT, SCHÜCKING (wie erst recht unter den Nicht-Verfolgten wie FAHRNER und HIBLER-LEBMANNSPORT). Aus der Unterzeichnung solcher Erklärungen kann nicht auf Parteigänger geschlossen werden, wie an den Genannten deutlich ist.91 Es gab auch Fälle unerwünschter Parteigänger, die Opfer der Verfolgung wurden, wie z.B. der Freimaurer WEISSBACH. Andererseits sind eine ganze Reihe der hier aufgeführten Biographien in dem nationalen Feld verortet, aus dem sich das rassistische Regime rekrutierte: s. bei HECHT, KLEMPERER, NORDEN, RICHTER, vgl. auch politisch „schillernde“ Positionen wie z.B. bei GUTKIND. In dieses Feld gehören auch Parteigänger von Programmen wie dem der „Rassenhygiene“, die auch von späteren Opfern der rassistischen Verfolgung vertreten werden konnten, z.B. GOLDSTEIN, vgl. auch bei einem offenen politischen Gegner des Nationalsozialismus wie TH. GEIGER. In den bisher angeführten Fällen waren die Betroffenen bereits ausgewiesene Wissenschaftler und hatten eine akademische Position. Die Verfolgung traf aber auch jüngere Menschen, die erst eine akademische Laufbahn begannen; sie konnten als Studierende aus rassistischen Gründen relegiert oder nicht zugelassen werden wie W. POLLAK,92 vor allem wenn sie sich politisch artikulierten, s. ANSTOCK, BACH, BERGEL, PFLÜGER. Hier ergibt sich ein offenes und schwer dokumentierbares Feld, das im Katalog auch nur exemplarisch illustriert wird: auf der einen Seite stehen diejenigen, die in Konsequenz der repressiven Maßnahmen ihre wissenschaftliche Laufbahn nicht absolvieren konnten, mit so unterschiedlichen Konstellationen wie bei BACH, T. FUCHS. Fälle wie der von T. FUCHS bilden einen Grenzwert in diesem Katalog: bei ihnen wird ein sprachwissenschaftliches Projekt nur im Nachlaß greifbar –sie bilden gewissermaßen eine eigene Kategorie: die verhinderten Sprachforscher (Sprachwissenschaftler). Auf der anderen Seite sind diejenigen, die unter den Emigrationsbedingungen die Chance zu einer (sprach-)wissenschaftlichen Laufbahn erhielten und wahrnahmen: GUMPERZ, PULGRAM, U. WEINREICH, K. E. ZIMMER.
�� 90 S. zu diesem „Bekenntnis“ und der Art seines Zustandekommens Heiber II/1992: 28–33. Dort 570–574 auch eine vollständige Liste der Unterzeichner. Zum Kontext, s. auch 6.5. 91 Bei REICHARDT, der sich offen als Gegner artikulierte und unter Protest auswanderte, ist das offensichtlich. In seinem Fall liegt die Vermutung nahe, daß Frings, der in Leipzig wohl zu den Initiatoren diese Aktion gehörte, ihn einfach auf die Liste gesetzt hat (wie er ihn auch bei anderen universitären Aktionen mitgezogen hat). 92 Der dann aber 1942 an der Universität Wien doch in der Germanistik promovieren konnte.
Verfolgung im Sinne einer Konfliktkonstellation � 165
3.5 Verfolgung im Sinne einer Konfliktkonstellation 3.5.1 Zur Abgrenzung eines (weiteren) Konfliktbereichs der Verfolgung Konflikte, die Sanktionen nach sich zogen und so in einem formalen Sinne auch die Klassifikation der Verfolgung rechtfertigen, können sehr unterschiedlich gelagert sein. Die Grenzen zum politischen Widerstand sind fließend, und a silentio kann ohnehin keine Schlußfolgerung gezogen werden. Im Sinne der Zusammenstellung des Katalogs wird eine Grenzlinie zur Verfolgung da gezogen, wo das Überleben im ‚Reich‘ unter den gleichen Bedingungen möglich war, die auch für die Mehrheit der Menschen galten. Angesichts der nur sehr vorläufigen Auswertung in den meisten hier dokumentierten Fällen muß die Zuordnung problematisch bleiben, vor allen Dingen auch in Hinblick auf die sich wandelnden Randbedingungen im Verlauf der 12 Jahre des Regimes. Auch da, wo die Aktivitäten direkt in den politischen Widerstand hineinreichen und die Betroffenen Sanktionen zu fürchten hatten oder auch erduldeten, muß dahinter nicht unbedingt ein geklärtes politisches Verständnis stehen, wie bei dem vermutlich eher etwas weltfremden MENGES, vielleicht auch bei dem nach wie vor nicht sehr klaren Verhalten von KRAUSS, dessen politische Klärungsprozesse wohl vor allen Dingen ex post erfolgten. Von Widerstand wird man nicht sprechen, wo es sich um praktizierte menschliche Solidarität handelt, die allerdings eine Verfolgung nach sich ziehen konnte (s. bei KAHLE). Fließende Übergänge bestehen zu Figuren, die in gewisser Weise eher als politische Dandys zu bezeichnen sind, wie z.B. FAHRNER. Schließlich konnten die lokalen Verhältnisse sehr unterschiedlich sein, bei denen auch der Umgang mit Denunziationen den Ausschlag geben konnte, s. etwa HITTMAIR. Besonders dessen Fall zeigt die oft verworrenen Konstellationen deutlich: mit einer Kollusion von politisch artikulierten Angriffen (von Parteiorganisationen, besonders dem NSStudentenbund bzw. NS-Dozentenbund) und persönlich bestimmten Querelen in der Kollegenschaft. Wobei gerade in Österreich (wie in seinem Fall) die politischen Frontstellungen durch religiöse (ggf. antiklerikale) Positionen überlagert waren. Ausschlaggebend für Verfolgung und Disziplinierung war vor allem auch die öffentliche Sichtbarkeit einer politisch nicht konformen Haltung. Wo diese sich öffentlich manifestierte, ggf. auch schon in pazifistischen Vorträgen vor 1933, konnte das Sanktionen nach sich ziehen, s. etwa bei SCHÜCKING; wo dergleichen im informellen Rahmen blieb und keine denunziatorischen Kollegen (oder Studierende …) aktiv wurden, bestanden durchaus auch im institutionellen Rahmen beachtliche Spielräume für ein nicht „gleichgeschaltetes“ Verhal-
166 � Hintergründe der Verfolgung ten, wie es der Hamburger Klassische Philologe Bruno Snell unter Beweis stellte.93 Unter anderen Bedingungen konnte vergleichbares Verhalten allerdings fatale Konsequenzen haben, s. z.B. bei ROHLFS. Im Regelfall wird man davon ausgehen, daß die potentielle Opferrolle politischer und rassistischer Verfolgung eine Gegnerschaft impliziert. Es ist allerdings bemerkenswert, wie wenig Spuren diese Haltung in dem dokumentierten Werk der meisten hinterlassen hat. Zu den Ausnahmen gehört SPITZER, der insofern auch so etwas wie einen Modellfall bildet, auf den die anderen Verläufe abzubilden sind. Besonders gelagert ist die christlich-religiös bestimmte Gegnerschaft, die in einer moralischen Haltung begründet war, die mit einer politischen Analyse zusammengehen konnte, aber nicht mußte. Daraus resultierte auch eine unterschiedliche Sichtbarkeit und damit Konfliktträchtigkeit solcher Haltungen, vgl. DEBRUNNER oder auch BENTON. Hier waren die Konflikte lokal sehr unterschiedlich in der Art, wie sie ausgetragen wurden. Im alten ‚Reich‘ war die Repression durch den Abschluß des Konkordats mit dem Vatikan auf der einen Seite genauso gebremst wie auf der anderen durch das Sich-Arrangieren der offiziellen evangelischen Kirche mit dem Regime. Trotzdem konnten hier lokale Konflikte beruflich negative Folgen haben. In Österreich waren die Konflikte offensichtlich sehr viel politisierter, und entsprechend ging hier die Repression nach dem Anschluß sehr viel weiter und führte zu Entlassungen, s. BRÄU, HAFFNER, KOPPERS, SCHMIDT; hier konnte dann sogar eine Mitgliedschaft in der NSDAP nicht vor einer Entlassung schützen wie bei dem Ägyptologen und Priester JUNKER, der nach dem Anschluß seine Wiener Honorarprofessur verlor (allerdings ist der Vorgang nicht völlig geklärt, s. bei ihm). Schließlich sind aber auch die institutionell differenzierten Schwellen der Repression zu berücksichtigen: eine niedrige Schwelle war mit der Wahrnehmung eines Amtes verbunden, entsprechend auch die Maßnahmen zur Säuberung des Beamtenapparats. Wenn die rassistische Verfolgung nicht mit der Stigmatisierung als Jude verbunden war (und auch keine direkte politische Gegnerschaft vorlag), konnte die Entlassung eines Hochschullehrers für diesen durchaus noch gewisse Freiräume der wissenschaftlichen und publizistischen Betätigung lassen, wie das ansonsten sehr verwirrende Bild bei LERCH zeigt. Nicht nur in dieser Hinsicht müssen immer auch die lokalen Verhältnisse genauer ausgelotet werden, wozu sich in der Literatur oft widersprüchliche Hinweise finden, s. z.B. bei HAVERS. Die religiös bestimmte Gegnerschaft war durchweg in den Konsequenzen lokal bestimmt, wo auch Entlassungen von �� 93 S. ausführlich dazu G. Lohse, in Krause u.a. (1991), Bd. 3: 793–800.
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„fanatischen Katholiken“ vorgenommen wurden, wie es in einigen Personalakten registriert ist.94 Auch im alten Reichsgebiet konnten solche Konflikte eskalieren, s. RAUHUT. In diesem Feld sind die Konflikte nicht systematisch dokumentiert, da sie oft auch nicht in dem Komplex von Karriereproblemen zu isolieren sind. Deutlich sind hier regionale Differenzen: da, wo eine konfessionelle (besonders katholische) Kontrolle traditionell etabliert war, artikulierten sich auch antiklerikale Aktionen stärker wie z.B. an der Universität München (ein nicht dokumentierter Fall ist dort noch der Romanist Rheinfelder, der auf diese Weise angegriffen wurde und seine Karriere erst nach dem Krieg machen konnte). Zur Komplexität dieses Feldes gehört, daß derartige Angriffe von lokalen Parteigliederungen eine Karriere im ‚Reich‘ nicht ausschließen mußten. Ein aufschlußreiches Beispiel liefert der Konflikt des tiefkatholischen Leo Weisgerber mit Rostocker Parteigliederungen (also in einer protestantischen Umgebung!), der 1935 einen Ruf an die Univ. Bonn erhielt, der wohl auch aufgrund einer ausgesprochen negative Beurteilung durch den NS-Lehrerbund Mecklenburg-Lübeck nicht zustande kam – allerdings wurde er 1938 nach Marburg berufen;95 diese Vorwürfe taten seiner weiteren Karriere keinen Abbruch, wegen der er nach dem Weltkrieg zu einer bevorzugten Zielscheibe von Angriffen wurde. In dieses Feld weltanschaulicher Verfolgung gehört auch die Repression gegenüber Freimaurern, s. hier ANTHES, WEISSBACH. In dem weiten Feld von weniger gravierender Verfolgung ist eine relativ zufällige Auswahl getroffen, die unterschiedliche Grade der Disziplinierung dokumentiert und vor allem auch unterschiedliche Formen, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren: s. bei FALKENSTEIN, ROHLFS, SCHMITT, VOßLER, WÖLFEL u.a. Wo der Disziplinierung strafrechtliche Tatbestände zugrunde lagen, etwa Unterschlagung u. dgl. oder auch sonst im Sinne des Strafrechts gewertete Verhaltensweisen, sind solche Fälle hier nicht dokumentiert, s. aber unklare Grenzfäl�� 94 S. dazu Grüttner/Kinas 2007. 95 Die negative Stellungnahme des NS-Lehrerbundes Mecklenburg-Lübeck vom 10.3.1936 („seine Haltung (kann) … als nicht einwandfrei bezeichnet werden“, Unterlagen in der Personalakte von Weisgerber im früheren Document Center Berlin) argumentiert explizit mit W.s religiöser Einstellung, insbesondere mit seinem Eintreten für den von den Nazis in Rostock verjagten, später auch inhaftierten katholischen Geistlichen Wilhelm Leffers (1871–1952), der sich dort vor allem auch um polnische Kinder in der Stadt gekümmert hatte; explizit vorgeworfen wird W., daß er „als Betreuer der damals ‚verwaisten katholischen Gemeinde‘ fundiert haben (soll)“. Im übrigen ist Weisgerbers tiefkatholische Grundhaltung ein dominierendes Moment in seinen Aktivitäten: von seiner frühen Mitarbeit an der katholischen Pädagogischen Akademie in Bonn (s. 5.9.5.) bis zu seiner „Betreuung“ der katholischen bretonischen Irredenta im Rahmen der Militärverwaltung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg, s.u.
168 � Hintergründe der Verfolgung le wie z.B. DOEGEN. Anders steht es mit der Verfolgung wegen der sexuellen Ausrichtung, die einen solchen Verfolgungstatbestand setzte (s. 3.3.2). Grenzfälle liegen vor, wenn Homosexualität zwar nicht als Grund repressiver Maßnahmen aktenkundig ist, aber als Auswanderungsgrund offen artikuliert wird, wie z.B. bei T. FUCHS, der von den Verhältnissen in Deutschland (allerdings nicht nur in dieser Hinsicht) als der „Hölle“ sprach. Besonders schwierig sind Konfliktkonstellationen einzuschätzen, bei denen fachliche Aspekte im Spiel waren. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß im Nationalsozialismus Personen verfolgt wurden, nicht wissenschaftliche Positionen. Diese standen beim Aushandeln institutioneller Optionen zur Disposition, das das Regime grundsätzlich gewähren ließ. Politisch motivierte Eingriffe waren hier eine Sache der Überzeugung von entsprechend motivierten Akteuren/ Gegenspielern. Ohnehin ist es schwierig, die empfundene Verfolgung/ Benachteiligung mit der objektiven Verfolgung abzugleichen. Es finden sich allerdings Konfliktfälle, bei denen vertretene fachliche Positionen die Grundlage waren. Ein solcher Fall ist die blockierte Karriere von Dominik WÖLFEL in Wien. Dieser bewegte sich mit seinen Arbeiten zum „weißen“ Afrika (den damals meist Hamiten genannten Berbern) in einem Feld, das für die rassischen Vorgeschichtsphantasien einschlägig war: aber seine Idee, daß der europäische Raum nach der Vereisung von Nordafrika aus erst besiedelt worden sei, sodaß die Hamiten auch den ethnischen Kern der später indogermanisierten Urbevölkerung gebildet hätten, stand den herrschenden „nordischen“ Phantasien diametral entgegen. Diese wurden auf dem gleichen Feld im Ahnenerbe der SS von Otto Rößler verfolgt, der ebenfalls in Wien bei V.Christian auf diese Fragen gestoßen war, aber als NS-Aktivist nach dem gescheiterten Putsch 1934 zunächst ins Gefängnis gekommen war und dann nach Deutschland floh. Mit seiner „nordischen“ Sicht der kanarischen Überlieferung konnte er 1941 in Tübingen habilitieren, während WÖLFEL es in Wien (mit dem SS-Mann Christian als Dekan) nicht konnte.96 WÖLFEL wurde 1939 auch seine
�� 96 Rößler hatte 1937mit einer Arbeit zum Akkadischen in Berlin promoviert; danach arbeitete er beim „Ahnenerbe“ zum Berberischen, wozu er 1941 in Tübingen habilitierte, aber auch für das Reichssicherheitshauptamt, für das er antisemitische Schriften herstellte, s. 6.7.4. Seine masch.-schr. Habilitationsschrift „Die Sprache der Kanarier“ ist (mit seinen späteren handschriftlichen Nachträgen) reproduziert in seiner Werkausgabe Schneider / O. Kaelin (2001): 92– 242. Unterlagen zu Rößlers politischen Aktivitäten sind zusammengestellt bei http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/ChrRoessler.pdf. Rössler war zweifellos der professionellere Sprachwissenschaftler, der in seiner Habilitationsschrift auch eine detaillierte Kritik an W.s Etymologien vorführt und jenseits vorgeschichtlicher Phantasien, die WÖLFEL mit Belegen aus dem Baskischen u.a. zu unterfüttern sucht, versucht, die kanarischen Sprachreste
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Stelle am Wiener Völkerkundemuseum gekündigt, wobei der fehlende Ariernachweis seiner Frau eine Rolle spielte; allerdings konnte er mit einem staatlichen Stipendium weiter forschen, nicht zuletzt weil er einen relativ engen Kontakt zu dem Rassenkundler Fischer hatte, der selbst auch auf den kanarischen Inseln anthropologische Forschungen unternahm. Eine trennschärfere Einschätzung setzte eine genauere Analyse der Entwicklung des faschistischen Systems voraus. Dessen Stabilisierung beruhte nicht auf einer massenhaften Unterstützung; dafür war nur das Mitspielen erforderlich. Das macht eben die praktizierten Fälle von „Nächstenliebe“ u.ä. so signifikant, die aus dem fraglosen Mitspielen herausspringen (s. KAHLE). Was das Regime verlangte, war nicht Linientreue, sondern den Verzicht auf Nichtmitspielen und selbstverständlich keinen politischen Widerstand. Dadurch ergaben sich Konfliktlinien mit drohenden Sanktionen, die Konsequenzen zumindest für die wissenschaftliche Praxis, z.T. aber auch die unmittelbare Lebenspraxis hatten. Hier ergibt sich ein ausgesprochen weites und von der Forschung noch sehr wenig systematisch erschlossenes Feld, von dem hier eine Reihe von Fällen dokumentiert wird, um dieses Feld zumindest exemplarisch auszuloten.
3.5.2 Formen der Disziplinierung bei Konfliktkonstellationen Der Wissenschaftsbetrieb ist nicht konfliktfrei. Probleme im Verlauf von wissenschaftlichen Karrieren sind in einer Vielfalt von Konstellationen definiert, von denen die hier mit Verfolgung angesprochenen nur einen Ausschnitt fassen: – Karriereansprüche entsprechend einem biographischen Selbstentwurf stoßen an die disziplinär gestellten Ansprüche, – bei diesen sind fachliche von persönlich bestimmten Vorlieben und Abneigungen sowie Beziehungsgeflechten oft schwer zu trennen, – schließlich gibt es institutionelle Schranken, definiert schon durch die ökonomischen Vorgaben (eingeschränkte Stellenzahl, Ressourcen für Forschungsaktivitäten u.dgl.). – Auch die Fälle von rassistischer und politischer Verfolgung stehen zugleich in diesem institutionellen Feld, sodaß es hier vielfache Überlagerungen
�� rein innerberberisch zu erklären, wobei er mit der angenommenen späten Besiedelung der Inseln von einer vom Festland mitgebrachten dialektalen berberischen Dialektdifferenz ausgeht, mit dem Kern beim Targi (der Sprache der Tuareg).
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gibt. Eine systematische Bestandsaufnahme wäre nur bei einer umfassenden prosopographischen Forschung möglich. Unterhalb der Sichtbarkeitsschwelle von Entlassungen auf der einen Seite, Auswanderung auf der anderen, sind hier nur eher anekdotische Befunde berücksichtigt. Ausgewertet habe ich insbesondere Heibers Chronique scandaleuse (Heiber 1991–94), bei der ich alle angeführten Beispiele, die auf einen Sprachforschungskontext verweisen, nachverfolgt habe – mit der Konsequenz einer Reihe der hier dokumentierten nicht-einschlägigen Fälle wie z.B. FALKENSTEIN. Als Fluchtpunkt für die Einstufung als Verfolgung muß dienen, daß ein Konflikt durch die politischen Vorgaben des Regimes bestimmt war: durch die rassistische Verfolgung, und/oder durch explizite politische Gegnerschaft/Ausgrenzung. Insofern sind Konfliktkonstellationen (wie auch bei dem Tatbestand der Auswanderung) auszuklammern, die nicht durch solche Gesichtspunkte definiert waren.
Entsprechende Konfliktfelder sind in den wissenschaftlichen Alltag eingeschrieben: angefangen bei den Stellenbesetzungen, bei denen die Vorauswahl in den Kommissionen, die Gutachten und die eingeholten Stellungnahmen aller möglicher Instanzen (eben auch solcher der Parteigliederungen) zusammenspielten. In den seltensten Fällen sind die Befunde so eindeutig wie z.B. bei KRAHE, dessen Fall hier exemplarisch steht.97 Ein solches Konfliktfeld waren zweifellos die erforderlichen Genehmigungen für Auslandsreisen, verbunden mit der Bereitstellung von dazu erforderlichen Devisen (durch Erlaß 1935 war geregelt, daß alle Wissenschaftler hierzu eine Genehmigung des REM benötigten). Die Ablehnung solcher Anträge ist jeweils in diesem Spannungsfeld zu prüfen: alleine kann der Tatbestand einer Ablehnung nicht so gedeutet werden; diese konnte selbstverständlich auch Parteigänger treffen.98
�� 97 Die Quellen, ggf. auch die Aktenlage in den Archiven, sind hier oft widersprüchlich. Inneruniversitäre Querelen konnten dominieren und ggf. über Denunziationen u.ä. auch politisierte Formen annahmen, ohne daß das eindeutig zu klären ist – so häufig bei den „Säuberungen“ 1938 in Österreich, bei denen lange schwelende Konflikte auf einen Schlag ausgetragen wurden (ein solcher unklarer Fall ist z.B. die Entlassung von HITTMAIR). 98 So wurde nicht nur jemandem wie LERCH die Genehmigung für die Teilnahme an dem geplanten Internationalen Linguistenkongreß 1939 in Brüssel verweigert, sondern auch einem 150%igen Parteigenossen wie Stegmann von Pritzwald, der nach 1945 Berufsverbot hatte ..., s. Fn. 14 in 2.4.6; die Listen der Anträge und der Genehmigungen in diesem Vorgang bei Ehlers (2013).
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Sind so nicht alle aktenkundigen Konfliktfälle im Sinne dieser Bestandsaufnahme der Verfolgung einschlägig, so können aus spiegelverkehrter Perspektive aber auch Konflikte bei solchen Personen aufschlußreich sein, die im Nachhinein als Parteigänger und Täter identifiziert werden müssen. Ein solcher im Katalog dokumentierter Fall ist SCHMIDT-ROHR, dessen erfolglosen Karrierebemühungen sicherlich auch unter die angesprochenen akademischen Laufbahnprobleme zu subsumieren sind, die aber durch eine politische Konfliktlinie gegenüber dem Amt Rosenberg bestimmt sind, die sich durch die sprachanalytische Position in seinen frühen Arbeiten ergab. Anders als bei den ansonsten zumeist nur in der Person der Betroffenen begründeten Verfolgungsmaßnahmen stand hier so etwas wie eine nationalsozialistische Wissenschaftslinie infrage.
3.5.3 Weitere Fälle von Disziplinierung bzw. von Konfliktkonstellationen Im Katalog finden sich einige Fälle solcher Konflikte, die mit den exekutierten Sanktionen Konsequenzen für die Laufbahn hatten, in der Regel allerdings nicht mit einer Gefährdung für Leib und Leben. Die Fälle sind sehr unterschiedlich gelagert, sie dokumentieren z.T. auch eher eine Persönlichkeitsstruktur, die bei charakterlichem Rückgrat konfliktträchtig war. Im Laufe der Zeit konnten sich allerdings die Konstellationen ändern, und die gleichen Personen konnten sich mit den Verhältnissen arrangieren und dabei ein mehr oder weniger opportunistisches Verhalten an den Tag legen: s. bei FALKENSTEIN, ROHLFS, STAMMLER u.a. Gerade in diesem Feld sind die Verhältnisse von lokalen Randbedingungen abhängig: der wegen seiner „freimütigen“ Äußerungen denunzierte ROHLFS kam mit einem Disziplinarverfahren davon, wo bei anderen die Repression mit allen Konsequenzen zuschlug (dabei kam ihm allerddings auch die Unterstützung druch seinen Rektor, den SS-Mann Wüst, zugute, s. Fn. 42 in 6.6).99 Als Beispiel für einen lokal bestimmten Konflikt ist der Fall von Karl KAISER in den Katalog aufgenommen, der in das Spannungsfeld zwischen dem Amt Rosenberg und dem SS-nahen REM geraten war und sich schließlich politisch arrangierte. Die universitären Verhältnisse sind in dieser Hinsicht von außeruniversitären zu trennen, wie in Kap. 6. detaillierter verfolgt wird. Ein dort näher in den Blick genommener Fall ist der des Phonetikers Eberhard Zwirner, dessen Einstieg in
�� 99 In Köln war der Mittellateiner und Literaturhistoriker Goswin Frenken (1887–1944; 1922 habilitiert, seit 1928 dort a.o.Prof.) wegen seines „undisziplinierten“ Verhaltens im GestapoVisier; 1941 kam er in ein Konzentrationslager und wurde dort 1944 umgebracht.
172 � Hintergründe der Verfolgung eine universitäre Laufbahn zwar blockiert wurde, dessen Forschungen aber gleichzeitig in erheblichem Umfang unterstützt wurden. 100 Solche Konflikte konnten auch Aktivisten des Regimes zu schaffen machen; ein Beispiel dafür liefert der Baltist Gerullis, der seit 1930 in der Partei aktiv war und sich auf seinen akademischen Stationen auch entsprechend betätigte, aber 1937 in einem Konflikt mit dem Gauleiter Koch in Königsberg entlassen wurde – aber gleich in Berlin wieder als o.Prof. eingesetzt wurde. Derartige Fälle werden hier nicht als einschlägig behandelt. Ein instruktives Beispiel für das komplexe Feld von Disziplinierung und Arrangement liefert L. E. SCHMITT, der insgesamt gesehen zwar Karriere gemacht hat, allerdings nicht gradlinig: zeitweise war er von der Universität ausgeschlossen und erfuhr repressiven Druck, auch wenn es aus seiner Sicht keine politischen Konflikte waren. Trotz seiner letztlich opportunistischen Verhaltensweise verweigerte er sich der zugedachten politischen Funktion in den Niederlanden und blockierte damit die geplante Karriere. Sein Fall ist hier stellvertretend für diese untere Schwelle des politischen Konfliktes aufgenommen. Das Ausmaß, in dem unterhalb der Schwelle repressiver Maßnahmen Handlungsspielräume bestanden, hing nicht zuletzt von der persönlichen Wahrnehmung der Akteure ab, wofür die vielen Fälle von Selbstgleichschaltung zeugen – im Kontrast zu denen, die diese Spielräume zu nutzen wußten, s. den aufschlußreichen Bericht des Berliner Slawisten Vasmer über das Verhalten seiner Kollegen (Bott 2013). Derartige Konflikte konnten vor allem dann politisiert werden, wenn das Arbeitsfeld der Betroffenen mit der politischen Deutungshoheit von Parteiinstanzen konkurrierte. Bei rein philologisch arbeitenden Wissenschaftlern war dieses Konfliktpotential entsprechend gering. Das erklärt, warum in solche Konflikte gerade auch Personen involviert werden konnten, die ansonsten völkisch-nationalistische Positionen vertraten. Politisch aufgeladene Konflikte waren vor allem von lokalen Faktoren abhängig: sie stellten sich an einer traditionellen, auf akademische Distanz ausgerichteten Universität anders dar als bei einer nachgerade politisierten wie z.B. der Universität Jena, an der eben auch Personen in die Schußlinie gerieten, die sich selbst dem politischen Umfeld des Regimes zurechneten.101 Ein Beispiel für die z.T. verworrenen Konflikt�� 100 Beim Scheitern von Zwirners Habilitationsversuchen spielten Querelen bei seinen SAAktivitäten eine Rolle, aber er wurde auch wegen pazifistischer Äußerungen seiner Frau denunziert, s. die Dokumentation bei http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/zwirnerin halt.pdf; http://homepages.uni-tuebingen.de/gerd.simon/strukturalismus1.htm. Zwirner ist im Katalog nicht mit einem Eintrag dokumentiert. 101 Ein Beispiel dafür ist der Soziologe M. H. Boehm.
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linien bietet TRUBETZKOY, der im Rahmen seiner Auseinandersetzungen innerhalb der russischen Exilgemeinden in die politische Schußlinie geriet. Da, wo ein solcher Konflikt eskalierte, konnten u.U. auch opportunistische Anbiederungen und u.U. sogar der Wechsel ins Lager der Täter den Betroffenen nicht mehr helfen, wie dramatisch an dem durch seine anti-rassistische Position exponierten SCHMIDT-ROHR deutlich ist. Trotz Bedenken habe ich diesen Fall hier dokumentiert, weil er gelegentlich in der Literatur auch als Beispiel für Verfolgung und Widerstand angeführt wird. An ihm wird drastisch deutlich, wie komplex dieses Feld ist, und wie dramatisch sich das Koordinatensystem im Verlauf der 12 Jahre, vor allen Dingen unter den Bedingungen des Kriegsfaschismus, verändert hat. Versuche, die politischen Institutionen für die eigene Arbeit zu nutzen, waren immer konfliktträchtig; s. dazu den komplexen (und auch undurchsichtigen) Fall der Zigeunerforschung von WOLF, der denn auch nach dem Krieg als faktisch Verfolgter sich so nicht geltend machen wollte. Zu den komplexen Verhältnissen gehörte auch, daß so Sanktionierte ggf. mit Parteimitgliedschaftsverfahren zu einer für sie günstigen Konfliktlösung zu kommen suchten, s. z.B. ARNTZ, SCHMITT. Es ist jedenfalls nicht einfach, die Grenzen der Verfolgung zu ziehen. Nur eine systematische Durchforstung der Archive aller Hochschulen könnte hier ein klares Bild vermitteln; die Hinweise hier sind nur exemplarisch zu nehmen.102 Bei der politisch bedingten Repression bildete die öffentliche Wirksamkeit eine kritische Schwelle, auch im Sinne der hier aktiv werdenden Instanzen. Problematisch war der Lehrbetrieb an den Universitäten, bei dem Parteiaktivisten auf der unteren Ebene, Studenten- und Dozentengruppen, aktiv wurden und das Amt Rosenberg die politische Oberhoheit hatte (s. Kap. 6. für derartige Kompetenzfragen). Der reine Forschungsbetrieb konnte daneben relativ ungestört weitergehen (s. z.B. H. LÜDERS), wie auch im Falle der rassistischen Verfolgung in gewissen Grenzen hier eine Weiterbeschäftigung möglich war (s. NEUMANN), während für die Hochschullehre auch bei Alt-Emeritierten eine strikte Ausgrenzung praktiziert wurde, s. BRANDT, ERMAN, NORDEN, WEISSBACH. Die unterschiedlich verlaufenden Fronten spiegeln sich auch in Fällen, die in der Diskussion entsprechend strittig sind wie z.B. VOßLER. Bei ihm betraf die Repression seine Lehrtätigkeit, während er ansonsten als prominenter Wissenschaftler weiterhin tätig sein konnte und in diesem Sinne sogar von der natio�� 102 Von besonderem Interesse sind auch die Fälle, in denen jemand seine inkongruente Haltung durchhalten und gegen die Widerstände aus Parteigliederungen eine universitäre Position einnehmen und behalten konnte wie z.B. der Nordist Walter Baetke in Greifswald, der mit seinen religionshistorischen Ansichten gegen die Linie des Amtes Rosenberg stand und daher sein öffentliches Auftreten z.T. auch im kirchlichen Rahmen absolvierte, s. Rudolf (1982).
174 � Hintergründe der Verfolgung nalsozialistischen Propaganda genutzt wurde. Seine Bereitschaft, Ende 1944 noch die frei gewordene Leitung des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in Madrid zu übernehmen, ist zweifellos eine Form des Arrangements mit dem politischen Regime; sie zeigt vor allem aber indirekt die Schranken wissenschaftlicher Praxis: den Preis, um den diese erkauft werden mußte. Die untere Schwelle von Disziplinarmaßnahmen, die hier nicht mehr berücksichtigt werden, sind die offensichtlich relativ häufig betriebenen Zwangsversetzungen, die das Ermächtigungsgesetz von 1933 ermöglichte. Eine solche Maßnahme konnte zwar als Sanktion verhängt werden, sie konnte aber auch rein pragmatisch zur Lösung eines personell bestimmten lokalen Konfliktes dienen, vor allem auch zur Lösung eines Konfliktes an der Universität, in die der Betroffene versetzt wurde; sie konnte sogar mit Beförderung und erheblichen Vorteilen verbunden sein.103 Versetzungen (allein) sind daher hier nicht als Kriterium für die Aufnahme in den Katalog genommen worden. Auf der anderen Seite ist aber auch das Einbezogensein in Organisationen des faschistischen Staates allein kein Indikator für die politische Haltung. Das gilt selbstverständlich bei der Mitgliedschaft in Massenorganisationen wie der NSV, das gilt aber auch da, wo entsprechend gemaßregelte Personen in einem politisierten Feld „zum Einsatz“ kamen. Wie komplex die Verhältnisse sein konnten, machen einige der hier dokumentierten Fälle deutlich, s. BOSCH, HETZER. Hier sind die Probleme selbst bei einer Parteimitgliedschaft nicht eindeutig, s. BOSCH; gesondert zu analysieren sind die Fälle, in denen der Parteieintritt in Verbindung mit Tätigkeiten im Ausland erfolgte, wofür die dortigen konsularischen Verhältnisse u.U. wichtiger sein konnten als Fragen der Überzeugung, s. W. FUCHS oder JUNKER. Auf dem anderen Pol stehen Formen rassistischer Maßnahmen, die unterhalb der Schwelle obrigkeitlich geforderter bzw. gesetzlich-administrativ geregelter Praxis ergriffen wurden. Parteiaktivisten konnten hier darüber hinausgehen, wodurch sich lokal sehr unterschiedliche Konstellationen ergaben. Hier kann nur eine systematische lokalgeschichtliche Aufarbeitung Aufschlüsse liefern, die hier nicht möglich ist, und die auch da, wo sie inzwischen erfolgt ist, hier nur in gewissen Grenzen berücksichtigt ist. Beispielhaft dafür steht hier der Fall von KRAHE, der in seiner Karriere 1940 durch das rassistisch bestimmte Eingreifen eines Rektors in ein Berufungsverfahren in Münster behindert wur�� 103 S. Heiber I/1991: 120 u.ö. Für einen solchen exemplarischen Fall (den des Altgermanisten G. Neckel) s. von See/Zernack 2004: 113ff. In der Einleitung zur ersten Ausgabe (1996) sind noch einige solcher Fälle aufgenommen, die hier nicht mehr dokumentiert sind: darunter der Romanist F. Schalk, der von Rostock nach Köln versetzt wurde, und der [Sprach-]Philosoph J. Stenzel, der von Kiel nach Halle versetzt wurde (zu diesem s. Uhlig 1991: 32f.).
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de,104 ansonsten aber seine Hochschullehrertätigkeiten weiter wahrnehmen konnte. Jenseits der genannten Fälle, in denen die Konflikte mehr oder weniger offen ausgetragen wurden, ist von einer großen Zahl von politisch bestimmten Behinderungen der wissenschaftlichen Arbeit bzw. Karriere auszugehen, die nur bei einer flächendeckenden Aufarbeitung der Verhältnisse in den einzelnen Universitäten zu erfassen wären. In dieser Hinsicht waren diesem Unternehmen enge Grenzen gesetzt: ohne solche Recherchen lassen sich auffällige „Lücken“ in Laufbahnen feststellen wie z.B. bei dem Ethnologen und allgemeinen Sprachwissenschaftler Hestermann, der 1929 in Münster habilitierte, aber erst 1946 zum a.o. Prof. ernannt wurde; aber selbst wenn wie in seinem Fall, der sich als ausgesprochener Anti-Rassist äußerte, politische Hintergründe naheliegen, für die auch sein späterer Wechsel in die DDR spricht (1949 o. Prof. an der U Jena), sind solche Vermutungen keine hinreichende Grundlage für eine Darstellung. Auch für den Katalog gilt, daß die Klärung solcher Verhältnisse eine umfassendere Rekonstruktion der Biographien verlangt hätte, als es über dessen gesamte Strecke möglich war (nur mit einigen der hier Aufgeführten habe ich die Biographien ausführlicher weiter recherchiert und z.T. auch Gespräche führen können; für alle 339 Personen wäre das nicht möglich gewesen). Die genannten Fälle sind hier dokumentiert, um deutlich zu machen, wie wenig zulässig es ist, aus formalen Indikatoren politische Zuschreibungen abzuleiten. Kommt man aber bei der Biographie an, besteht die Gefahr, daß persönliche und gegebenenfalls charakterliche Indikatoren zu Anhaltspunkten werden, die zu politischen Schlußfolgerungen verführen können. So könnte eine aktive Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung als Indiz für eine Affinität zum Nationalsozialismus genommen werden, wofür sich nicht selten auch weitere bestätigende Indikatoren finden lassen (siehe z.B. hier bei STAMMLER). Aber solche Indikatoren finden sich auch bei BOAS, der nicht nur ein rassistisch Verfolgter war, sondern sich als „schlagender“ Student in dieser Form handfest mit antisemitischen Angriffen auseinandersetzte, vgl. auch ERMAN, JACOBSOHN. Auch hier kann der Katalog deutlich machen, wie komplex die Verhältnisse waren.
�� 104 Rektor in Münster war damals der Botaniker Walter Mevius (1893–1975), der als NaziAktivist ohnehin notorisch ist für seine Art, in Personalentscheidungen einzugreifen (zu ihm s. die Hinweise in Heiber 1991–1994, passim). Er wurde 1943 aufgrund eines Strafverfahrens seines Amts enthoben und nach Hamburg strafversetzt, wo er aber unbehelligt auch nach dem Krieg weitermachen konnte; absurderweise konnte er im Entnazifizierungsverfahren die Strafversetzung als Entlastungsgrund geltend machen, s. http://wwwmath.uni-muenster.de/his torie/kapitel7.pdf.
176 � Hintergründe der Verfolgung Auf der anderen Seite stehen im Katalog diejenigen, die keinerlei rassistische Verfolgung erfuhren. Dazu gehören vor allem auch die (älteren) regulären Auswanderer: BAADER, H. COLLITZ, K. COLLITZ, KURATH, LESSING, MEZGER, PENZL, PROKOSCH, SPRINGER, W. FUCHS, VON ZACH; aber auch bei frühen Emigranten ist u.U. eine Reaktion auf die rassistischen Verhältnisse vor 1933 als eines der Wanderungsmotive offensichtlich, wie bei BOAS, LAUFER; hinzu kommen diejenigen, die in spezifische politisch definierte Konfliktkonstellationen nach 1933 gerieten wie KAHLE, KRAUSS, MENGES, WEISSBACH. In Fällen, bei denen die Verfolgung keinen rassistischen Hintergrund hatte und ggf. auch der politische Konflikt nicht eskalierte, konnten die Betroffenen letztlich ihren universitären Status halten, mit einem Spektrum von sehr unterschiedlich gelagerten Konstellationen, wie bei HAVERS, ROHLFS, SCHMITT, STAMMLER, VOßLER. Solche Konflikte sind im Katalog noch dokumentiert bei ANTHES, ARNTZ, BOSCH, BOSSERT, BRÄU, DEBRUNNER, FAHRNER, VON FRITZ, HETZER, HITTMAIR, KOPPERS, MERIGGI, RAUHUT, RITTER, ROHLFS, SCHMIDT-ROHR, WAGNER, WALTER, WEISSBACH, F. WILHELM.
3.6 Statistisches: Verfolgung durch Entlassung Eindeutig sind die Verhältnisse, wenn die Betroffenen bereits eine reguläre Beamtenkarriere begonnen hatten und entlassen wurden. Bei ihnen wird die Verfolgung sichtbar als Bestandteil des faschistischen Maßnahmenstaates, die zwar in formal geregelten Formen verlief, aber nicht unbedingt eines legitimierenden inhaltlichen Grundes bedurfte. Für die meisten der hier Aufgeführten war das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 der sanktionierende Rahmen, das zwar in § 3 die „arische“ Abstammung verlangte, und in § 4 eine explizite politische Klausel formulierte, darüber hinaus aber Ermächtigungsklauseln für die Verwaltung enthielt: in § 2 die Entlassung aufgrund erneuter Überprüfung der „Eignung“ (ausdrücklich heißt es da: über die Überprüfung der Vorbildung hinaus auch „die sonstige Eignung“); vor allem aber in den §§ 5–6, die die „Vereinfachung der Verwaltung“ als hinreichenden Tatbestand vorgaben. Die Ausnahmeregelung zu dem rassistischen § 3 (vor allem für Teilnehmer am Ersten Weltkrieg) wurde 1935 mit der radikal rassistischen Ausrichtung der Politik (den „Nürnberger Gesetzen“) außer Kraft gesetzt, s.o. 1938 wurden diese Maßnahmen in Österreich sofort beim „Anschluß“ wirksam. Zu den Entlassungen nach 1933 und den Folgen für den universitären Betrieb, s. 6.5. Diese Entlassungen machen aber nur einen Teil dieses Kataloges aus, der in der einschlägigen Forschung allerdings im Vordergrund steht, nicht zuletzt, weil sie in den Universitätsarchiven dokumentiert und so am einfachsten zu-
Statistisches: Verfolgung durch Entlassung � 177
gänglich sind. An den Universitäten bzw. universitätsnahen Einrichtungen (Akademien u. dgl.) sind die folgenden 87 Fälle von Entlassungen im Katalog dokumentiert: Berlin: DOEGEN, ERMAN, LEWENT, E. LEWY, MITTWOCH, NORDEN, PACHTER, PICK, POKORNY, REICHENBACH, SIMON, SPONER, STEINITZ, WEIGL, G. ZUNTZ Berlin AdW: NEUMANN Bonn: HERTZ, A. SPERBER TH Braunschweig: TH. GEIGER Breslau: F. RANKE TH Dresden: KLEMPERER Erlangen: – Frankfurt/M: GELB, LEO, PLESSNER, WEIL Freiburg: E. D. M. FRAENKEL Gießen: WALTER Göttingen: LATTE Greifswald: STAMMLER Halle: HEIMANN Hamburg: LASCH, W. STERN, WERNER Heidelberg: HATZFELD, OLSCHKI, H. RANKE, WALZ, H. ZIMMER Innsbruck: HAFFNER Jena: ARGELANDER-ROSE, KORSCH, SIEMSEN Kiel: E. FRAENKEL, STRAUSS Köln: HEYD, SCHELUDKO, H. SPERBER, SPITZER Königsberg: GRUMACH, MAAS, SCHEFTELOWITZ Leipzig: ERKES, FRIEDMANN, LANDSBERGER, SCHÜCKING, STEINDORFF, WEISSBACH Lübeck: SCHNEIDER Mannheim (Handelshochschule): GUTKIND, SELZ Marburg: AUERBACH, GOETZE, JACOBSOHN, ROHDE München: FIESEL, R. HOENIGSWALD, JORDAN, ROHLFS, SCHERMAN Münster: LERCH Rostock: IMELMANN, POEBEL Tübingen: –
178 � Hintergründe der Verfolgung Würzburg: NEHRING Graz: – Innsbruck: BRUNNER Wien: BRÄU, B. GEIGER, E. GOLDMANN, HITTMAIR, JELLINEK, JUNKER, KOPPERS, KRIS, OPPENHEIM, RICHTER, ROSTHORN, TRUBETZKOY Prag: SLOTTY Groningen: SCHMITT Nicht aufgeführt sind hier Fälle, in denen die Betroffenen ihrer Entlassung durch das Ausscheiden aus dem Amt (und ggf. die Auswanderung) zuvor gekommen sind, wie z.B. CASSIRER in Hamburg. Hinzu zu nehmen sind allerdings auch noch die Fälle, in denen die Entlassung durch den Entzug eines Stipendiums u. dgl. geschah, wie z.B. bei SKUTSCH. Aus anderen Einrichtungen sind weitere 11 Fälle von Entlassungen dokumentiert: ENGEL, OELLACHER, H. W. POLLAK, REICHENBERGER, REUNING, SCHAEFFER, SCHIROKAUER, SCHWARZ, SPANIER, STOESSL, WOLF.
3.7 Keine Verfolgung und unklare Fälle Die verbleibenden Fälle im Katalog sind z.T. anders gelagert. Sie sind hier dokumentiert, weil die Namen in entsprechenden Zusammenhängen auftauchen, z.T. aber auch, weil sie aufgrund der zugänglichen Quellen nicht zu klären sind, die in vielen Fällen keine hinreichende Auskunft geben. Zwar ist die rassistische Verfolgung oft zu vermuten, ohne detaillierte biographische Recherchen sind aber keine Zuschreibungen zu postulieren. In anderen Fällen kann ausweislich der zugänglichen Unterlagen davon ausgegangen werden, daß diese Personen nicht Opfer der Verfolgung waren: BAADER, BRAUNER-PLAZIKOWSKI, BRINKMANN, BUCK-VANIOĞLU, H. COLLITZ, K. COLLITZ, K. COLLITZ, DOEGEN, W. FUCHS, GROTH, HALOUN, HAVERS, HEYD, HIBLER-LEBMANNSPORT, F. E. A. KRAUSE, KURATH, LENZ, LESSING, LINDHEIM, MENZEL, MEZGER, PENZL, PETERS, PROKOSCH, SPRINGER, VON DEN STEINEN, STEUERWALD, STRAUBINGER, VON ZACH, ähnlich auch FAHRNER, FALKENSTEIN, s. auch unten in Abschnitt 4.1. zur Abgrenzung von Exil und Emigration. Die Zusammenstellung des Katalogs ist bewußt offen (s. 2.1.): Aufgenommene wie insbesondere BRINKMANN oder BOSSERT gehören nicht zu den Verfolgten, aber ihre Auslandsaktivitäten überschneiden sich mit dem türkischen Exil einer großen Gruppe im Katalog; insofern liefern sie eine aufschlußreiche Kontrastfolie zu den Biographien von Verfolgten und Menschen im (türkischen)
Keine Verfolgung und unklare Fälle � 179
Exil. Ähnliches gilt für einige wirre Fälle, die durch die Literatur geistern, die ohne umfangreiche spezifische Recherchen auch hier nicht völlig aufgeklärt werden konnten wie z.B. BABINGER. Definiert man Verfolgung durch die von den Betroffenen erfahrenen Folgen/Benachteiligungen, sind auch diejenigen hierher zu nehmen, die als „Juden“ verleumdet wurden, ohne daß ein durch die rassistischen Verfahren definierter Tatbestand gegeben war: die Folgen sind hier das Kriterium. Entsprechend ist es bei erfahrenen Sanktionen, z.B. aufgrund von Denunziationen, unabhängig von der sonst dokumentierten politischen Haltung, wie bei ROHLFS, vgl. auch einen Fall wie MENGES (gewissermaßen auf dem Gegenpol zu den erduldeten Konsequenzen politischer Aktivitäten wie bei SCHAEFFER, vgl. auch SPONER). Ziel der Dokumentation ist es, dieses Feld zu strukturieren: daher werden die Fälle der Verfolgung, soweit sie zugänglich waren, möglichst vollständig dokumentiert, während die anderen (Kontrast-)Fälle nur exemplarisch aufgeführt werden.
4 Emigration und Exil von Sprachforschern 4.1 Zur Abgrenzung von Exil und Emigration Für Verfolgte kann die Auswanderung ein Ausweg sein; das wird in diesem Kontext meist mit Exil angesprochen. Da es fließende Übergänge zwischen der „regulären“ Emigration und dem Exil gibt, sind vorab einige grundlegende begriffliche Klärungen erforderlich (4.1.); dabei ist auch die „reguläre“ Emigration in diesem Zeitraum als Folie zu skizzieren (4.2.). Für das Exil hatten die Hilfsorganisationen eine Schlüsselstellung (4.3.). Die Verhältnisse verschoben sich in dem Zeitraum der 12 Jahres des Regimes, sodaß die Chronologie im Blick zu behalten ist (4.4.). Gesondert zu betrachten sind die Bedingungen in den einzelnen Einwanderungsländern (4.5.), wobei der jeweilige Ausbau des Wissenschaftssystems ein besonderer Faktor ist. Für die Abgrenzung von Exil/ Vertreibung gegenüber der regulären Emigration ist die eventuelle Rückwanderung nach dem Krieg aufschlußreich (4.6.). Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit statistischen Aufstellungen als Auswertung des Katalogs (4.7.). Diese Dokumentation ist in ihren Grundzügen in den 1980er/1990er Jahren zusammengestellt worden.1 Seitdem hat die Exilforschung einen beträchtlichen Aufschwung genommen, mit einer Fülle von Detailuntersuchungen und inzwischen mit einem eigenen Apparat (spezialisierten Zeitschriften u. dgl.). Über die beträchtliche Zunahme an Faktenwissen sind dabei aber auch die begrifflichen
�� 1 Dieses Kapitel ist weitgehend aus Maas (2010) übernommen (bzw. der Einleitung zum ersten Band der Teilpublikation 1996); insofern stützt es sich vorwiegend auf die ältere Exilforschung: Mittenzwei (1979–1989), H. A. Walter (1972), Lacina (1982) Frühwald/Schieder (1981), Jackmann/Borden (1983). Seitdem hat sich hier eine eigene Disziplin etabliert, für die insbesondere die Zeitschrift Exilforschung steht (Bd. 1/ 1983, zuletzt 32/2014), die außer Themenheften auch einen ausführlichen Rezensionsteil aufweist; s. auch das Handbuch Krohn u.a. (1998). Dabei hat sich die Diskussion auch von den stark literatur- bzw. germanistiklastigen Anfängen freigemacht, sodaß jetzt auch (wie schon mit dieser Dokumentation versucht) ein systematischer definiertes Koordinantensystem aufgespannt ist: Exil wird im Horizont von Migration generell thematisiert, der Zusammenhang mit der Repression im Faschismus wird in den Blick genommen, der Fokus auf Einzelbiographien wird mit seriellen Aspekten ausbalanziert u.dgl., s. z.B. den letzterschienenen Band 32/ 2014 „Sprache(n) im Exil“ (darin auch mein eigener Beitrag Maas 2014). Wie schon für die Buchpublikation (2010) gilt aber auch für diese Neubearbeitung, daß die neuere Forschung nur noch noch für die biographischen Einträge im Katalog systematischer berücksichtigt werden konnte; darüberhinaus finden sich im Folgenden nur sporadische Verweise.
Zur Abgrenzung von Exil und Emigration � 181
Schwierigkeiten sichtbar geworden. Für eine Klärung ist von den Schlüsselbegriffen auszugehen: Emigration und Exil (Vertreibung).
Emigration Migrationsströme sind eine Konstante der gesellschaftlichen Entwicklungen. Hohe Bevölkerungsdichte und Arbeitsmarktprobleme (gebunden an Konjunkturschwankungen) bedingen immer eine gewisse Emigrationsrate, deren Zielrichtung von den Lebensbedingungen in den potentiellen Aufnahmeländern abhängt. Von besonderer Bedeutung sind dabei „Neue Staaten“ mit speziellen Immigrationsprogrammen wie bes. die USA. Die Auswanderung von Wissenschaftlern zeigt grundsätzlich die gleichen Strukturmerkmale wie die Emigration sonst auch – auch das subjektiv gelebte Moment von Freizügigkeit der Wissenschaft im Horizont des reklamierten universell offenen wissenschaftlichen Verkehrs stellt keine grundsätzliche Besonderheit dar: den fließenden Übergängen von vorübergehender Auslandstätigkeit (Forschungsaufenthalt, Gastprofessur u. dgl.) zur Emigration entsprachen auch bei Arbeitern häufige Rückwanderungen nach einer kurzen Zeit des „Ausprobierens“ der Lebensverhältnisse in der Fremde (und evtl. mehrfacher „Emigration“ im Leben). Eine Besonderheit liegt aber darin, daß eine wissenschaftliche Migration in diesem Sinne die Fortführung der beruflichen Praxis individuell unter den Arbeits- und Lebensbedingungen einer fremden Institution bedeutet, auf die der einzelne sich sofort einstellen muß, während zumindest die traditionelle Einwanderung (bes. in die USA) über eine Schleuseninstanz von „Kolonien“ /Ghettos lief und läuft, die die Adaptions-(Integrations-)Prozesse über mehrere Generationen streck(t)en.2 Die Entwicklungen 1933–1945 sind insofern auf die „reguläre“ Emigration vorher und nachher zu beziehen (4.2).
Exil Von Vertreibung (Exil) wird man in der Regel nur sprechen, wenn die zur Emigration nötigenden Gründe andere als rein ökonomische Ursachen haben (so schwierig die Grenzziehung in der Praxis auch ist, wie die derzeit aktuelle Diskussion über „Wirtschaftsasylanten“ zeigt). Indiz für die Vertreibung sind jedenfalls biographische Brüche, wenn es den Betroffenen z.B. unmöglich ist, in
�� 2 S. insbes. für die traditionelle USA-Emigration aus Deutschland Kamphoefner (1982), Helbich u.a. (1988) sowie Bade (1984); dort bes. die umfangreiche Einleitung.
182 � Emigration und Exil von Sprachforschern ihrem Beruf weiterzuarbeiten. Albrecht (1986: 224) schätzt, daß von den deutschen Wissenschaftsemigranten nach 1933 nur weniger als die Hälfte überhaupt weiter als Wissenschaftler tätig sein konnte. Eine traditionell auch juristisch als Sanktion gehandhabte Form ist die Verbannung bzw. das Exil (im alten Sinn des Wortes). Exil hat(te) zumeist politische Gründe; die Opfer sind/waren hier Individuen. Daneben gab es und gibt es die massenhafte Vertreibung in Folge ethnischer Konflikte (die durchaus politische, in traditionellen Gesellschaften auch religiöse Artikulationsformen hatten). Die Folgen solch massenhafter Vertreibung während ethnischer Spannungen sind in Europa vor 1933 virulent: historisch weit zurückreichend der Exodus der Juden aus Palästina oder nach 1492 aus dem christlich eroberten maurischen Spanien; rezentere Massenvertreibungen etwa die der Armenier aus der Türkei nach dem Genozid in den 1890er Jahren und während des Ersten Weltkrieges; oder die russischen (vor allem ukrainischen) Flüchtlinge, besonders im Bürgerkrieg 1920 – für die letztgenannte Gruppe hatte der Völkerbund unter seinem Flüchtlingskommissar Nansen einen Staatenlosen-Paß geschaffen (den sog. „Nansen-Paß“); seit 1931 gab es dazu in Genf ein „Internationales Nansenamt für Flüchtlingsangelegenheiten“. Die Lebensbedingungen der Vertriebenen hängen jeweils von der politischen Konjunktur bzw. Konstellation ab. Die „weißrussischen“ Flüchtlinge3 stießen in den antikommunistisch ausgerichteten westlichen Gesellschaften auf große Sympathien und Unterstützung (zu diesem Komplex etwa Walter 1972), während die rassistisch aus dem Machtbereich des Deutschen Reiches Vertriebenen in den Aufnahmeländern auf den nahezu überall endemischen Antisemitismus stießen, der mit der quantitativen Zunahme der jüdischen Migranten wuchs (in der Tat wohl auch ein Moment im Kalkül der NS-Außenpolitik, die so durchaus mit wachsenden Sympathien gerade auch für ihre „Rassenpolitik“ rechnen konnte). Für die jüngere Forschung hat Großmann 1969 die widersprüchlichen Spannungen der Vertreibung pointiert herausgestellt: Widerstände, nicht zuletzt antisemitische, auf der einen Seite, Nützlichkeitserwägungen (bei der Requirierung von Teilen der deutschen Intelligenz) auf der anderen Seite. Die Bedingungen in den einzelnen Aufnahmeländern sind jeweils gesondert zu betrachten. In der modernen Bedeutung des Wortes (im Gegensatz zum älteren Terminus) bezeichnet Exil eine erzwungene Emigration (Vertreibung), die als vorü-
�� 3 Weiße Russen war der zeitgenössische politische Terminus für die Flüchtlinge aus Rußland nach der Oktoberrevolution 1917 – nicht zu verwechseln mit dem heutigen Staat Weißrußland (Belarus).
Zur Abgrenzung von Exil und Emigration � 183
bergehend erlebt wird. Insofern ist das Exil eine Sache vor allem der politischen Gegner eines Regimes, die durch Flucht ihr Leben retten und die i.d.R. auch aus dem Exil heraus versuchen, zu einer Änderung der politischen Verhältnisse in ihrem Heimatland beizutragen, um möglichst bald wieder dorthin zurückkehren zu können. In dieser Hinsicht gab es große Unterschiede bei den Immigrationsländern, was die Möglichkeit offener politischer Arbeit anbetraf. Organisierte politische (antifaschistische) Arbeit ließ sich in der Vorkriegszeit vor allem in der Tschechoslowakei und in Frankreich betreiben (s. etwa Badia 1984, darin bes. Roussel 1984; s. aber auch die autobiographischen Berichte bei Badia 1982 für die daraus resultierenden Konflikte der politischen Exilanten selbst in den politisch relativ offenen Verhältnissen in Frankreich). Exil steht insoweit im Gegensatz zur regulären Immigration, denn für die Exilanten ist die Integration in die Lebensverhältnisse des Gastlandes gerade kein Ziel – wichtig sind dagegen die Möglichkeiten zur politischen Arbeit. Hier sind nicht nur die Bedingungen der einzelnen Länder sehr unterschiedlich, auch die Situation auf Seiten der Exilanten blieb nicht gleich. Ein Exilant konnte nach einigen Jahren vor der Situation einer faktischen Integration (vor allem durch seine im Gastland verankerte Familie) stehen, die ihm eine Rückkehr unmöglich machte; und die Erfahrung des Scheiterns, der Fremdheit und der Unmöglichkeit der Selbstverwirklichung konnte aus einem Emigranten einen Exilanten machen, der alles an seine Rückkehr setzte; generell zu den Problemen der Remigration vor dem Hintergrund der sich wandelnden biographischen Perspektive im Exil, s. die Beiträge in Frühwald/Schieder 1981. In einer idealtypischen Abstraktion impliziert ein Exil die Orientierung an der Herkunft: die maximale Weiterführung der in die Auswanderung mitgebrachten Haltungen und habitualisierten Verhaltensmuster in der Erwartung der Rückkehr. Die nicht exilische Auswanderung impliziert dagegen eine Offenheit für das Neue und damit die Trennung von den Herkunftsverhältnissen. Solche Orientierungen müssen aber nicht fest sein: für die rassistisch aus Deutschland Vertriebenen änderte sich die Wahrnehmung ihres Herkunftslandes mit der Schoah: wenn Familienangehörige umgebracht worden sind, konnte damit Deutschland aufhören, eine Rückkehroption zu sein – womit die Voraussetzungen für ein Exil im engeren Sinne wegfielen. Für zionistisch orientierte Auswanderer waren die Bewertungen ohnehin umgekehrt: die Einwanderung nach Palästina war die Heimkehr aus dem Exil (hebr. Galut), s. 3.2.3.2. Wenn in der Einwanderungssituation eine neue Familie entstand, wurde oft gemeinsam mit den Kindern deren Heimatgefühl übernommen – und damit die Exilfrage gegenstandslos (SPEIER hat das in seinen autobiographischen Notizen anschaulich beschrieben). In jedem empirischen Fall wird man es mit einer spezifischen Kombination der verschiedenen Momente zu tun haben. Zwar ist
184 � Emigration und Exil von Sprachforschern im wissenschaftlichen Bereich der Gesellschaft(en) die Auswanderung zunächst einmal Ausdruck der für die Wissenschaft konstitutiven Freizügigkeit, die schon die mittelalterlichen Universitäten charakterisierte, aber die Art, wie diese wahrgenommen wird, hängt von vielen Faktoren ab, nicht nur persönlichen, sondern auch institutionellen; so können für die Auswanderung Barrieren bestehen (volkswirtschaftlich durch die in die Ausbildung investierten Kosten legitimiert), aber auch für die Einwanderung, die nicht zuletzt als protektionistische Maßnahmen gegenüber der Konkurrenz von einheimischen Wissenschaftlern gefordert werden, praktiziert dann durch die erschwerte Anerkennung mitgebrachter Abschlüsse bzw. Qualifikationsnachweise, s. die folgenden Hinweise zu den verschiedenen Einwanderungsländern.
4.2 Die Abgrenzung zur „regulären“ Emigration In dem hier fraglichen Zeitraum wurde die Einwanderung durch politische Strömungen überlagert, zu denen vor allem der Antisemitismus in fast allen Einwanderungsländern gehörte, auch in den USA, in denen aus diesen Gründen noch nicht einmal die vorgegebenen Einwanderungsquoten ausgeschöpft wurden. Diese Zusammenhänge sind durch die jüngere Forschung inzwischen differenziert aufbereitet. Grundsätzlich ist insofern die Grenze zwischen der „regulären“ Einwanderung und Vertreibung/Flucht/Exil fließend. Die im Katalog dokumentierten Biographien machen das deutlich: je regulärer eine Einwanderung deklariert werden konnte, desto größer waren die Chancen auf Erfolg. Umgekehrt konnte es auch so sein, daß eine „reguläre“ Auswanderung durch die politischen Entwicklungen in Deutschland nach 1933 zum Exil wurde, weshalb der Horizont des Katalogs auch nicht auf die Auswanderung nach 1933 beschränkt ist, sondern auch die nach 1933 im Ausland tätigen, vorher ausgewanderten Sprachforscher berücksichtigt sind. Im Katalog sind eine Reihe von Fällen regulärer Emigration dokumentiert: BOAS, H. COLLITZ, K. COLLITZ, JOLLES, KURATH, LAUFER, LENZ, LESSING, MEZGER, PENZL, PROKOSCH, SPRINGER, W. FUCHS, VON ZACH, bei denen aber bei BOAS und LAUFER die Konfrontation mit dem Antisemitismus in Deutschland eine Schlüsselrolle hatte. Grundsätzlich kann bei einer Rückwanderung in das faschistische Deutschland davon ausgegangen werden, daß die Auswanderung kein Exil war; obwohl die Motivationslage im einzelnen komplexer sein konnte, s. etwa HEYD; eindeutig sind dagegen Fälle wie JUNKER, LINDHEIM oder STEUERWALD; vgl. auch den nicht ganz durchsichtigen Fall von H. RANKE. Gegen ein rein formal gehandhabtes Kriterium sprechen auch Fälle wie MODRZE, die als Verfolgte aus dem englischen Exil gewissermaßen zum Sterben zu ihren Eltern nach Deutschland zu-
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rückgereist ist. Auslandstätigkeit vor 1933 kann zwar unter Emigration gerechnet werden, steht aber nicht in dem Spannungsfeld von Verfolgung/Exil, s. so dramatische Fälle wie LASCH, vgl. auch FÖRSTER. In gewisser Weise gehören hierher auch diejenigen, die als Kinder mit ihren Eltern ausgewandert sind. In der einschlägigen Forschungsliteratur (insbesondere im BHE), auf die sich der Katalog stützt, wird in der Regel die Geburt in Deutschland (bzw. Österreich) als Kriterium zugrunde gelegt. In diesem Sinne verfährt auch der Katalog, so daß auch Menschen aufgenommen sind, die als Kinder mit ihren Eltern ausgewandert sind und deren Biographie dadurch geprägt ist, s. K. ZIMMER, SAPIR.4 Problematisch ist schließlich die Einschätzung des Aufenthalts in den von Deutschland während des Weltkriegs besetzten Gebieten. Wo das mit einem dienstlichen Auftrag verbunden war, handelt es sich jedenfalls nicht um Exil, in Hinblick auf die ggf. implizierte Befristung des Auftrags u.U. auch nicht um eine reguläre Emigration, s. etwa SCHMITT in den Niederlanden, FAHRNER in Griechenland, BRINKMANN und GABAIN in der Türkei; vgl. auch Fälle wie BAADER, der seine Stelle in den besetzten Niederlanden weiter wahrnahm. Andererseits sind solche Länder oft auch Zufluchtstätten aufgrund dort erfahrener persönlicher Unterstützung, vgl. FREUDENTHAL, FRIEDMANN, THIEBERGER. Dabei kommen sehr unterschiedliche Konstellationen in den Blick, die sich im Nachhinein auch als Fälle von (rassistischer) Verfolgung darstellen können. In Hinblick auf die hier im Vordergrund stehenden wissenschaftlichen Laufbahnen kann man eine Zäsur mit dem Studienbeginn legen, in der Regel also eine Auswanderung spätestens mit dem 18. Lebensjahr. Darunter fallen im Katalog: ANSTOCK, ARNDT, AUSTERLITZ, BACON, BAR-HILLEL, BARTHOLMES, BÄUML, A. BIELER, H. BIRNBAUM, BLAU, BLOCH, BONHEIM, BORNEMANN, BUCK-VANIOĞLU, DOTAN, ELLIOTT, FILLENBAUM, FLEISCHHAUER, FLUSSER, FORCHHEIMER, T. FUCHS, FUKS, GALTON, GARVIN, GOLDSCHMIDT, GOSHEN-GOTTSTEIN, GUMPERZ, HALPERT, HAAS, G. HOENIGSWALD, H. HOENIGSWALLD, HERCUS, KRONIK, KURATH, LENNEBERG, LESLAU, NEUBERGER-DONATH, OETTINGER, PERLOFF, PFLÜGER, POLITZER, PROKOSCH, PULGRAM, RABIN, RECHTSCHAFFEN, RICE, H. B. ROSÉN, H. ROSÉN, ROSENBERG, SAMUELSDORFF, SCHWARZ, SELIGSO(H)N, R. A. STEIN, C. STERN, STEVENS, STORFER, STRAUBINGER, THIEBERGER, WEINBERG, WEINER, U. WEINREICH, S. A. WOLF, ZACH, K. E. ZIMMER, sowie von den Emigranten vor 1933 SAPIR. Diese Abgrenzungsprobleme stellen sich auch in anderer Hinsicht: in fast allen Fällen hatten die Emigranten mit Einwanderungshürden zu kämpfen, die
�� 4 Zu vergleichen mit der Gruppe derer, die im Reich aufgewachsen sind, die im Katalog ebenfalls nur mit Einzelbeispielen vertreten ist (s. BACK, VATER).
186 � Emigration und Exil von Sprachforschern keinen Sonderstatus des Exils kannten. Das betrifft die jeweiligen Bestimmungen des Aufenthaltsrechts, vor allem aber die der Arbeitserlaubnis (wobei diese Beschränkungen oft einen Zirkel bildeten, wenn die eine jeweils die andere voraussetzte). Die Statusfragen verschärften sich bei denen, die in Deutschland ausgebürgert wurden und damit staatenlos wurden (generalisiert mit einer ergänzenden Verordnung zum „Reichsbürgergesetz“ im November 1941). Hier verfuhren die verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich in der Weise, in der sie ggf. Behelfspapiere ausstellten; erst seit 1936 gab es Initiativen von Seiten des Völkerbundes in Genf, ohne aber daß für die Flüchtlinge aus Deutschland eine verbindliche Regelung getroffen worden wäre, wie sie im Prinzip seit 1922 mit dem Nansen-Paß des Völkerbundes bestand (s.o. 4.1.): dieser wurde nur den Flüchtlinge aus dem „angeschlossenen“ Saarland zugestanden. Nur der Nansen-Paß, nicht aber die anderen Papiere, die eine Duldung des Aufenthalts bestätigten, implizierten eine Arbeitserlaubnis. Die restriktiven Vorgaben verschärften sich noch mit den in den 1930er Jahren überall zunehmenden ökonomischen Schwierigkeiten: dadurch war es überall nötig, „nationale Interessen“ an der Einwanderung geltend zu machen – und ggf. auch der Nachweis, daß dem Einwanderungsland (seinem Sozialsystem) keine Belastungen entstehen würden; wenn die Einwanderer nicht selbst über die entsprechenden Mittel verfügten, waren dazu ökonomische GarantieErklärungen von Landesbürgern gefordert (in den USA Affidavit genannt). Vor diesem Hintergrund waren die gewährten Papiere und die Unterstützungsmaßnahmen fast immer zeitlich befristet, was z.B. in Großbritannien die rasche Weiterwanderung von dort (meist in die USA) erklärt. Das ist der Kontext, in dem in einer ersten Phase sich in vielen Staaten ein Interesse daran artikulierte, die Chance zu nutzen, bedeutende deutsche Wissenschaftler zu gewinnen – die Hilfe für Vertriebene war dabei allenfalls ein Nebeneffekt. Für die Hilfsorganisationen war das ein zentrales Argument, um den in vielen Einwanderungsländern virulenten Antisemitismus zu unterlaufen. Das Argument der fachlichen Prominenz konnte verfangen, führte u.U. aber auch zu sehr restriktiven Konsequenzen, wenn so nur Menschen vermittelt bzw. aufgenommen wurden, die noch in einem universitären Dienstverhältnis standen, das ggf. als Ausweis für die „Prominenz“ gefordert war. Die Konsequenz konnte sein, daß Menschen, denen vorher schon die Stelle aufgekündigt wurde, nicht mehr als qualifiziert für eine solche Vermittlung angesehen wurden, s. hier z.B. bei SPANIER.5
�� 5 Zu diesem Komplex am Beispiel Großbritanniens, s. Ehrichsen (1996).
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Erst mit den politischen Krisen seit 1938 und der inzwischen breit erfolgten Aufklärung über die rassistische Verfolgung in Deutschland setzte sich ein allgemeineres Bewußtsein für die Notwendigkeit einer Asylgewährung durch, ohne aber zu politischen Konsequenzen zu führen. Beim Völkerbund gab es in Genf seit 1933 ein eigenes „Hochkommissariat für Flüchtlinge aus Deutschland“, das sich auch um eine internationale Vereinbarung bemühte. Dazu wurde vom 6.7.–15.7.1938 in Évian eine internationale Konferenz einberufen, an der auch Deutschland mit einer Delegation teilnahm. Repräsentanten der Verfolgten und von Hilfsorganisationen waren geladen und machten die Verhältnisse nachdrücklich deutlich – was aber die verschiedenen nationalen Delegationen nur dazu brachte zu betonen, daß die soziale Situation in ihren Ländern es nicht zuließ, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Die nationalsozialistische Presse kommentierte daraufhin die Konferenz ausgiebig mit dem Tenor: Deutschland bietet der Welt seine Juden an und keiner will sie haben. In den praktischen Konsequenzen gab es große Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern: bis zum Ende der Volksfrontregierung 1938 war vor allem Frankreich eine Ausnahme, wo sich sogar eine Art staatlicher Instanz um die Asylfragen kümmerte. Der Kriegsbeginn änderte dann überall die Konstellationen: deutsche Einwanderer, unabhängig von ihren persönlichen Verhältnissen (politische Flüchtlinge und rassistisch Vertriebene genauso wie Parteigänger des NSRegimes) waren jetzt „feindliche Ausländer“ (enemy aliens), die präventiv gegenüber der befürchteten Bildung einer „fünften Kolonne“ interniert wurden, möglichst auch aus der kritischen Zone der Heimatfront nach Übersee deportiert wurden (wie in England). Phasenverschoben setzte diese Entwicklung in den USA 1940 mit deren Kriegseintritt ein. Hinter der problematischen Abgrenzung zwischen Exil und Emigration steht aber noch eine systematische Frage. Die erzwungene Auswanderung ist eine biographische Zäsur. Wissenschaftlich von Bedeutung ist, was die Ausgewanderten aus ihren Möglichkeiten nach der Auswanderung gemacht haben. Der Vergleich der in diesem Sinne erzwungenen Auswanderung mit der „freiwilligen Auswanderung“ ist aufschlußreich, die hier für einige Fälle dokumentiert ist. Das betrifft insbesondere die erst in die jüngere Zeit fallenden Weiterentwicklungen der strukturalen Sprachwissenschaft, an der vor allen Dingen die jüngeren Emigranten partizipiert haben bzw. partizipieren konnten, unabhängig von den Motivationen/Gründen der Auswanderung. Gerade diejenigen, die als „strukturale“ Sprachwissenschaftler zu Buche schlagen, sind in diesem Feld zu analysieren, s. z.B. bei PULGRAM oder GUMPERZ, etwa im Vergleich zu PENZL. Die Abgrenzung der regulären Emigration gegenüber der Vertreibung und erzwungenen Auswanderung ist fließend. Eindeutig ist sie im Falle der rassisti-
188 � Emigration und Exil von Sprachforschern schen Verfolgung, die eine Rückwanderung nach 1933 ausschloß, s. BOAS, LAUFER, SANDMANN und auch SAPIR. Allerdings sind die Grenzen auch hier wieder nicht eindeutig. Die mögliche Rückwanderung konnte nicht zuletzt auch in Hinblick auf die politischen Verhältnisse im ‚Reich‘ ausgeschlossen werden, s. HÜBENER, POEBEL. Es gibt aber auch den spiegelverkehrten Verlauf, bei dem die Vertreibung den Ausgangspunkt für eine „reguläre“ Karriere bildete, die in Deutschland nicht möglich gewesen wäre: FIESEL, vgl. auch BOAS. Die Karriere von FIESEL ist besonders instruktiv: auch wenn ihr die angestrebte germanistische Habilitation aus rassistischen (und sexistischen) Gründen nicht verweigert worden wäre, hätte sie in diesem Fach kaum Karriere machen können. Für ihr exotisches zweites Fach Etruskologie aber bot nur ein so großer (und entsprechend ausdifferenzierter) Wissenschaftsbetrieb wie in den USA Karrieremöglichkeiten. Insofern dokumentiert sie eine Erfolgsgeschichte, die auch die schwierige Grenzziehung zwischen Exil und regulärer Emigration zeigt. Die Schwierigkeit der Abgrenzung zeigt sich auch bei der Möglichkeit der Remigration: Vertreibung/Exil implizieren die Rückkehr, wenn die Gründe entfallen. Von dieser Möglichkeit machte aber nur eine Minderheit nach 1945 Gebrauch (s. 4.6.). So schwierig die Integration für die meisten auch gewesen sein mag, vor allem diejenigen, die in den USA eine Lebens- und Arbeitsmöglichkeit gefunden hatten, mußten für sich feststellen, daß sie dort hingehörten – auch wenn sie sich dort als „Europäer“ verstanden. Das gilt gerade auch für diejenigen, bei denen die Traumatisierung durch die Schoah Reisen nach (und sogar vorübergehende Gastaufenthalte in) Deutschland/Österreich nicht ausschloß. Einige von ihnen haben diese widersprüchliche Konstellation auch reflektiert, s. bei PACHTER, SPITZER. Der Unterschied zu „regulären Emigranten“ wie bei PENZL ist hier nur einer der phasenverschobenen Integration ins Einwanderungsland. Anders als bei der (zumeist als vorübergehend geplanten) Flucht aus Deutschland war die Situation bei der zionistisch motivierten Auswanderung nach Palästina, die eher verstärkt als verursacht wurde.6 Sie bildet einen Übergangsbereich zur regulären Emigration (mit dem Angebot einer vergleichbaren oder sogar besseren Anstellung im Aufnahmeland): in solchen Fällen war die faschistische Repression in Deutschland eher Auslöser als Grund (was im Einzelfall aber oft schwer zu trennen ist). Die zionistischen Emigranten verstanden
�� 6 Bei zionistisch gilt Analoges zur Etikettierung mit jüdisch oben: der Terminus wird nur verwendet, wo er in den Unterlagen auftaucht. Die Zugehörigkeit zur zionistischen Bewegung wird erheblich verbreiteter gewesen sein, als es so sichtbar ist. Zur zionistischen Emigration, s. Beling (1967).
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sich definitiv als Auswanderer und ihre Einwanderung nach Palästina nicht als Exil (im Gegenteil: als Rückkehr aus dem Exil, hebr. galut, s. 3.2.; zu den daraus resultierenden Konflikten s. z.B. Bauer 2000). Sie arbeiteten z.T. auch schon lange vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten auf ihre Auswanderung hin. Ein Beispiel ist BAR-HILLEL (OSKAR WESTREICH), der schon als Jugendlicher seine „reguläre“ Zukunft im Kibbuz sah und nur noch sein Abitur vor der Auswanderung abschließen wollte. Das machte ihn dann eher zufällig noch zum Augenzeugen der Machtübergabe vor seiner Auswanderung; vgl. diejenigen im Katalog, bei denen zionistisches Engagement dokumentiert ist, was aber nicht zwangsläufig zu einer Emigration nach Palästina führte:7 BAR-HILLEL, BIN-NUN, B. GEIGER (E USA), M. GOLDMAN (E Australien), GUMPERZ (E USA), LEIBOWITZ, J. LEWY (E USA), MITTWOCH (E GB), PICK, H. B. ROSÉN (E PAL). Verkompliziert wird diese Situation zusätzlich noch durch das heutige politische Koordinatensystem, bei dem der Zionismus nicht von den palästinensischen Konflikten in Israel zu trennen ist, der zwangsläufig auch die Palästina-/Israel-Emigration betrifft, s. dazu die exponierte Position von SAMUELSDORFF. Eine Konsequenz davon ist auch, daß diese Gruppe relativ vollständig auswandern konnte, weil ihre Absichten mit dem Programm des Regimes kongruent waren, Deutschland über eine Auswanderung „judenfrei“ zu machen. Demgegenüber wurden die nicht zionistischen Juden oft erst mit den Novemberpogromen 1938 zur Auswanderung gedrängt, z.T. sogar noch über eine Einlieferung in ein Konzentrationslager, um diesen Druck zu verstärken, s. hier R. HOENIGSWALD, SELZ. Es versteht sich von selbst, daß auch die zionistischen Auswanderer zu den Verfolgten zu rechnen sind. Wie komplex die Verhältnisse waren, macht ein Fall wie der von WEINBERG deutlich, der vor der Repression solange relativ geschützt war, wie er im Rahmen zionistischer Organisationen für die Vorbereitung der Auswanderung nach Palästina tätig war, dem diese Tätigkeit aber gekündigt wurde, als er selbst für sich eine solche Auswanderung ausschloß und der daraufhin dann in ein Konzentrationslager deportiert wurde. Es ist kein zufälliges Symptom, daß meine Gespräche mit Ausgewanderten, die einen zionistischen Hintergrund hatten und bei denen dadurch eben auch die gesamte Familie ausgewandert war, meist relativ unproblematisch waren, weil ich mich nicht als Nachkomme der Täter rechtfertigen mußte; bei denjenigen, die gegen ihren Widerstand vertrieben wurden, bei denen zumeist auch enge Angehörige Opfer der Schoah wurden, war das oft anders: hier waren die Traumatisierungen auch ein Moment solcher Gespräche.
�� 7 ‚E’ steht für ‚Emigration in’.
190 � Emigration und Exil von Sprachforschern Ein Indiz für die Exil-Situation gegenüber einer „regulären“ Auswanderung ist die unternommene (oder doch versuchte) Rückwanderung, sobald es die politischen Verhältnisse erlaubten. Dazu gehörte in viele Fällen auch die Beteiligung an politischen Aktivitäten/die Arbeit in politischen Organisationen, die gegen das NS-Deutschland bzw. sogar für den Wiederaufbau nach dem Krieg hinarbeiteten, wobei die politischen Vorzeichen sehr unterschiedlich sein konnten, vgl. hier z.B. NEHRING, SIEMSEN, STEINITZ. Die persönlichen Konstellationen können nicht nur in Hinblick auf die direkte Betroffenheit sehr verschieden sein, sondern auch in Hinblick auf das Schicksal von Familienangehörigen. Da der Katalog sehr inhomogen ist, sind in die hier versammelten Biographien recht unterschiedliche Geschichten eingeschrieben. Ausgangspunkt für die Untersuchung im engeren Sinne war die Exilforschung, die sich vordergründig als Sonderfall der Emigrationsforschung darstellt. Insofern überschneiden sich hier Fälle der Flucht mit solchen der regulären Emigration, bei der die erfolgreich vorangetriebene Karriere sich als im Ausland fortgesetzte wissenschaftliche Praxis darstellt. Eine ganze Reihe der hier Versammelten sind in diesem Sinne Migranten, nicht aber Verfolgte, s. die Aufstellung in 2.1. Der Katalog ist so angelegt, daß die in der Literatur gelegten Fährten nachvollziehbarer werden. Problematisch ist dabei eine Tätigkeit im Ausland, die nicht nur mit Duldung, sondern im Auftrag des faschistischen Regimes durchgeführt wurde, etwa an den Deutschen Wissenschaftlichen Instituten,8 s. FAHRNER, vgl. auch SCHMITT. Grundsätzlich sollte hier das gleiche wie für diejenigen gelten, die sich als Ausländer in Deutschland aufhielten: ein nur als vorübergehend geplanter Aufenthalt kann nicht als Auswanderung gelten (s. aber bei den anders gewerteten Fällen der Zuwanderung nach Deutschland bei MERIGGI, TIKTIN, TRUBETZKOY). Allerdings kann ein vorübergehender Aufenthalt doch der Anfang einer endgültigen Auswanderung werden, vor allem wenn die Entwicklung der Verhältnisse in Deutschland eine Rückkehr unmöglich machte, s. POEBEL, SANDMANN. Zur Inhomogenität der im Katalog versammelten Personengruppe gehört, daß ich bei Beginn der Arbeit daran zunächst rein formal einen Auslandsaufenthalt als hinreichendes Kriterium angesehen hatte. Daher ist eine Reihe von Fällen aufgenommen, die nicht in einen Katalog der Verfolgung (und vielleicht auch nicht der Auswanderung) gehören wie z.B. BRINKMANN, GABAIN, LINDHEIM, STEUERWALD. Zwar habe ich später diese Personengruppe nicht mehr erweitert; diese werden aber gewissermaßen als Kontrastfälle mit dokumentiert. Ein entscheidendes Kriterium muß hier die Staatsbürgerschaft sein: bei denen, denen �� 8 S. dazu Hausmann 2001.
Organisationsfragen: Hilfsorganisationen � 191
1941 (oder z.T. auch schon vorher) die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, die also (zumindest vorübergehend) staatenlos waren, war jeder Aufenthalt in einem Land faktisch eine Einwanderung, unabhängig von der Dauer und der eventuellen rechtlichen Verfestigung; während auf der anderen Seite bei denen, die sich als deutsche Staatsbürger im Ausland aufhielten und alle Optionen der Freizügigkeit nutzen konnten, zumindest die Frage nach dem Exil nicht stellt, obwohl auch aus solchen Auslandsaufenthalten eine Auswanderung werden konnte (für einen komplexen, besonders „mobilen“ Fall, s. WAGNER; vergl. auch LAZARSFELD, der in den USA alle Statusoptionen durchlief: 1933 Forschungsaufenthalt; 1935/37 Einwanderung, aus der seit dem „Anschluß“ 1938 ein Exil wurde; 1943 Einbürgerung in den USA, nach 1945 Ende des Exils und Engagement beim Wiederaufbau in Europa, insbesondere auch in Österreich). Insofern gehören letztlich alle Sprachforscher, die im Laufe des Weltkriegs einen Auslandseinsatz absolvierten, nicht in einen Katalog der Auswanderung. FALKENSTEIN und STAMMLER, für die das zutrifft, sind hier aufgrund der erfahrenen Konflikte aufgenommen (s. Kap. 3.5). Umgekehrt gilt das auch für diejenigen, die über die Kriegsgefangenschaft zu einem Auslandsaufhalt kamen wie ANTHES, der hier als Verfolgter aufgenommen ist. Aber auch hier sind die Abgrenzungen nicht immer eindeutig, vgl. einen Fall wie R. STEIN, der in Frankreich aus rassistischen Gründen nur beim Militär tätig sein konnte, über seinen Kriegseinsatz in Vietnam (und die Kriegsgefangenschaft in Japan) hinaus aber nach Kriegsende in Ostasien blieb. Nicht als Auswanderung kann eine Deportation angesehen werden wie bei HIRSCH, der 1944 nach Frankreich deportiert wurde.
4.3 Organisationsfragen: Hilfsorganisationen Für diejenigen, die nach 1933 ausreisen mußten bzw. wollten, hatten Unterstützungskomitees in Einwanderungsländern eine Schlüsselfunktion, ohne die eine Einwanderung in der Regel nicht möglich geworden wäre; die Fälle persönlich vermittelter Einwanderung durch Familienangehörige oder Freunde, die für die Einwandernden bürgten (etwa ihnen in den USA ein Affidavit [die geforderte Bürgschaft] besorgten), machen nur einen geringen Anteil aus. Für einen Überblick, differenziert nach den verschiedenen Aufnahmeländern, s. Krohn u.a. (1998); speziell zu den Hilfsorganisationen den Überblick von R. Ehrichsen (1996; dort Sp. 62–81). In Reaktion auf die Entlassungen im April 1933 bildete sich gleich eine Reihe akademischer Hilfsorganisationen. Eine Schlüsselstellung als Clearing-Stelle
192 � Emigration und Exil von Sprachforschern hatte dabei die in Zürich angesiedelte Notgemeinschaft für deutsche Wissenschaftler im Ausland (offizieller Titel Beratungsstelle für deutsche Wissenschaftler), die dort von dem selbst rassistisch verfolgten Mediziner Philipp Schwartz gegründet worden war. 1936 wurde sie nach London verlegt. Solche Hilfsorganisationen bildeten sich vor allem in den Nachbarländern, um praktische Hilfe zu geben: so in Frankreich, in den Niederlanden, in Dänemark und Polen, wohin die Emigranten gewissermaßen in Wartestellung auswichen. Nach dem ersten Schock bildeten sich systematische Initiativen, die spezifisch auf das Problem der wissenschaftlichen Verfolgung reagierten. Bereits im Mai 1933 wurde in London ein Academic Assistance Council tätig (später in Society for the Protection of Science and Learning umbenannt), das sich als kollegiale Solidaritätsaktion verstand (die finanziellen Mittel bestanden in den Beiträgen der Mitglieder); im gleichen Monat kam es zu einer ähnlichen Initiative in den USA, mit dem organisatorischen Kern am New Yorker Institute of International Education, das über enge Verbindungen zu deutschen Universitäten (bzw. europäischen Universitäten insgesamt) verfügte. Mit dem daraus hervorgegangenen Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars entwickelte sich dann ein hochschulpolitisches Instrument, das nach 1938, nach dem „Anschluß“ Österreichs, später der Okkupation von Polen und der ČSR, eine allgemeinere Ausrichtung auch in Reaktion auf die zunehmend repressivere Faschisierung Italiens und Spaniens erhielt und daraufhin den Namen in Aid of Displaced Foreign Scholars änderte.9 Es unterhielt bis zu vollständigen Besetzung Frankreichs in Marseille ein eigenes Vermittlungsbüro, dessen Leiter Varian Fry (1907–1967) die oben skizzierten Widersprüche dieser Hilfstätigkeit prägnant auf den Punkt brachte, indem er seine eigene Rolle ironisch als „Kopfgeldjäger“ beschrieb.10 Ein grundlegendes Problem bei der Unterstützung der Vertriebenen war die ambivalente Wahrnehmung eines „jüdischen Problems“, wegen der sich NichtJuden nicht betroffen fühlen konnten und die Hilfsaktivitäten an nationale jüdische Organisationen delegierten, s. z.B. für Frankreich Franke (2001). Das nutzte auch die deutsche Propaganda, die ihre repressive Politik auf den international etablierten Antisemitismus kalibrierte (s. dazu 6.7.3.). Faktisch waren es über die jüdischen Gemeinden und Organisationen hinaus zunächst nur einige christliche Gemeinschaften, die wie insbesondere die Quäker (bzw. deren �� 9 Zur Arbeit dieses Komitees s. den Bericht seiner Büroleitung Duggan/Drury (1948). 10 S. dazu McCabe in: Jackmann/Borden 1983 (S. 81). Instruktiv sind dazu die (videodokumentierten) Erinnerungen von ROSENBERG, der in Marseille als „Laufbursche“ für Fry arbeitete, aber als selbst Verfolgter nicht zu den „big shots“ gehörte, für deren Rettung gesorgt wurde. Er erläutert das dort relativ lakonisch auf die irritierte Nachfrage seiner Interviewerin.
Chronologie der Emigration � 193
Friends Service Committee) Unterstützungsorganisationen bildeten. Dabei konnte die konfessionelle Bindung der Hilfsorganisationen u.U. zu problematischen Konstellationen führen, vor allem wenn sie von jüdischen Vereinen im Einwanderungsland getragen wurden, aber die von ihnen Unterstützten dem Judentum gegenüber distanziert waren und so gezwungen waren, sich dennoch so zuzuordnen wie z.B. bei STEINITZ. Unter dem Eindruck der rassistischen Vertreibung aus Deutschland gab es schließlich auch Irritationen gegenüber Verfolgten, die so nicht subsumierbar waren, s. z.B. die Exil-Situation von KAHLE. In den biographischen Artikeln wird ggf. auf die Rolle der unterstützenden Organisationen verwiesen, wie z.B. bei G. ZUNTZ auf die Unterstützung durch Den danske Komité til støtte for Landflygtige Aandsarbejdere („Das dänische Komitee zur Unterstützung von exilierten Geistesarbeitern“).11 Dazu gehört auch, daß nicht wenige Emigrierten selbst im Rahmen solcher Hilfsorganisationen aktiv wurden wie z.B. LANDSBERGER im US-amerikanischen International Rescue and Relief Committee (IRRC),12 MITTWOCH u.a. Erst langsam, dann durch die Kriegsverhältnisse abgebrochen formierte sich die Unterstützung für die deutschen Flüchtlinge. Das galt insbesondere auch für die finanzielle Sicherung. Das US-amerikanische Emergency Committee hatte dabei eine Schlüsselrolle für die akademische Auswanderung insgesamt, für deren Fürsorge es von den anderen Organisationen (bes. den jüdischen) auch Mittel zur Verfügung gestellt bekam. Hauptgeldgeber war die Rockefeller Stiftung, die schon vorher wissenschaftliche Einrichtungen in Europa (z.B. das BÜHLERsche Institut in Wien) bzw. den Wissenschaftstransfer (z.B. deutsche Gastprofessoren in den USA) unterstützt hatte – was auch wieder die Durchlässigkeit von regulärer Emigration und Exil verdeutlicht. In einer Reihe der Artikel im Katalog wird auf diese Unterstützungsaktivitäten verwiesen, s. z.B. STEINITZ für einen komplexen Fall.
4.4 Chronologie der Emigration In die Chronologie der Emigration sind nicht nur die repressiven Maßnahmen des Regimes eingeschrieben, sondern auch die sich wandelnde Wahrnehmung bei den Betroffenen. Die Grobzäsuren sind insbesondere durch die Chronologie der rassistischen Verfolgung politisch vorgegeben, s. Kap. 3.
�� 11 Zu den Verhältnissen in Dänemark, vor allem auch der späteren Kooperation mit der deutschen Besatzung s. Petersen (1990). 12 Ein Zusammenschluß verschiedener Hilfsorganisationen ab 1942.
194 � Emigration und Exil von Sprachforschern Entsprechend dem nationalsozialistischen Szenario der „Machtergreifung“ wurden in der ersten Phase alle politischen Gegner „ausgeschaltet“, bzw. diese mußten flüchten (unter den Wissenschaftlern allerdings eine marginale Gruppe). Die zweite Phase 1935–1938 entspricht der Konsolidierung der faschistischen Macht und zugleich der Verstärkung der rassistischen Verfolgung, vor allem nach den Nürnberger Gesetzen 1935, die die bis dahin geltenden Ausnahmeregelungen aufhoben. Die Entwicklung in dieser Zeit ist widersprüchlich: bei den nicht direkt repressiv Betroffenen wurden die pragmatischen Maßnahmen im wissenschaftsadministrativen Bereich z.T. als Indizien von Normalisierung gesehen, die zum Aushalten motivierten. Die Älteren versuchten, sich zumeist auf die reduzierten Lebensbedingungen einzustellen, sodaß die Emigration vor allem eine Sache der jüngeren Generation war, die nach Möglichkeiten suchte, sich anderswo von Anfang an eine neue Existenz aufzubauen. Besondere Bedingungen bestanden im 1938 „angeschlossenen“ Österreich, wo diese Phasendifferenzierung gegenstandslos ist und entsprechend die gesuchte Auswanderung (das Exil) sofort einsetzte: aus der dann so bezeichneten „Ostmark“ wanderten 39 Personen im Katalog aus, von denen 12 im ehemaligen Österreich-Ungarn geboren waren: ADOLF, BACON, BÄUML, BENTON, A. BIELER, L. BIELER, BIN-NUN, BLAU, BLISS, CH. BÜHLER, K. BÜHLER, FREUD, FROESCHELS, GALTON, B. GEIGER, E. GOLDMANN, HERZOG, HIRSCH, HORN, JACKSON, JOKL, K. KRAUS, KRIS, KRONIK, LEHNER, MAUTNER, NEUBERGER-DONATH, OPPENHEIM, PERLOFF, POKORNY, POLITZER, H. W. POLLAK, PULGRAM, RICHTER, H. B. ROSÉN, SCHMIDT, SPITZ, STOESSL, STORFER, TEDESCO, THIEBERGER, WEINER
Zwei von diesen stammten aus (dem alten) Deutschland: K. BÜHLER, W. SCHMIDT. Deportationen wie bei HIRSCH, RICHTER (vgl. auch JOKL) können nicht zur Emigration gerechnet werden. Allerdings waren 35 Personen bereits vor 1938 aus Österreich ausgewandert: ALBU-JAHODA, ANHEGGER, BAR-HILLEL, BEN-HAJJIM, S. BIRNBAUM, EISLER, FRIEDMANN, GARVIN, HALOUN, HAVERS, HETZER, HIBLER-LEBMANNSPORT, HITTMAIR, KOPPERS, P. E. KRAUS, LANDSBERGER, LAZARSFELD, LINDHEIM, OELLACHER, PENZL, PROKOSCH, RECHTSCHAFFEN, REIFLER, RICE, A. SPERBER, H. SPERBER, SPITZER, STEINER, STRAUBINGER, TIETZE, TUR-SINAI, WERNER, WITTEK, WOITSCH, ZACH. In den einzelnen Fällen sind die Grenzen schwierig zu ziehen, wie z.B. der Fall von FAHRNER zeigt. Hier sind wieder die wechselnden Konstellationen im Verlauf der 12 Jahre des NS-Regimes zu berücksichtigen. Auch aus heftig ausagierten Sympathien für den Nationalsozialismus in den ersten Jahren kann nicht auf die grundsätzliche Haltung geschlossen werden, s. BOSSERT. Im einzelnen ist eine Einschätzung des Sachverhalts ohne detaillierte biographische Recherche schwierig. So ist z.B. der Sinologe W. FUCHS nach eigenen Angaben in China der
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(Auslands-)NSDAP beigetreten, um Ruhe vor entsprechenden Belästigungen zu haben. Dergleichen mag eine Schutzbehauptung sein, ist aber auch als Folge von Naivität, Desinteresse, ggf. auch unzureichender Informiertheit nicht von der Hand zu weisen. In solchen Fällen ist auch der Zeitpunkt eines solchen Beitritts zu berücksichtigen; s. z.B. auch die Widersprüche im Fall von JUNKER. Jedenfalls gilt auch hier, daß summarische Zuschreibungen aufgrund solcher Indikatoren nicht sehr weit führen. Da die Dokumentation zumindest die hier liegenden Probleme verdeutlichen soll, sind auch die problematischen Fälle im Katalog beibehalten, allerdings ist über einige Beispiele hinaus keine vollständige Dokumentation beabsichtigt. Unter den Kriegsbedingungen änderten sich die Voraussetzungen für die Auswanderung grundsätzlich. Die 1941 systematisch ins Werk gesetzte Schoah beendete außerdem mit dem Paßentzug bei als Juden Stigmatisierten die Möglichkeit der legalen Emigration, die jetzt nur noch in Einzelfällen möglich war (etwa über den Besitz eines Nansen-Passes wie bei MALKIEL oder mittels entsprechend hoher Ablösesummen). Das weitere Bild war vor allem durch die sich verschiebenden Machtverhältnisse im Verlauf des Weltkriegs bestimmt: Staaten, die Deutschland den Krieg erklärten, hörten damit auf, Einwanderungsziele zu sein, wie z.B. die Türkei, die 1944 gegen Deutschland in den Krieg eintrat. Daraufhin wurden auch dort die deutschen Immigranten interniert bzw. ihrer Stellen enthoben und die gesuchte Weitermigration (i.d.R. in die USA) war die Folge. In den letzten Kriegsjahren waren nur noch sehr periphere Auswanderungsziele offen: Bolivien und Schanghai, s.u. die Statistik. In diesen Fällen läßt sich nur noch von Flucht sprechen: diese Aufnahmegesellschaften boten insbesondere nicht mehr die Möglichkeit einer akademischen Tätigkeit.13 Spiegelverkehrt dazu sind die Migrationsbewegungen bei den (Sprach)Wissenschaftlern, deren Auslandstätigkeit der Expansion des deutschen Reiches folgte (z.T. im Status von Reichsprofessoren, s.o. 3.2. zu den Deutschen Wissenschaftlichen Instituten), die die „Rückverlagerung“ der Front mit vollziehen mußten (s. bei BAADER, BRINKMANN, FAHRNER, STEUERWALD) und die damit mit umgekehrten politischen Vorzeichen als Vorläufer der Remigranten nach 1945 fungierten.
�� 13 Zu Bolivien, s. von zur Mühlen (2009), zu Shanghai Freyeisen (2002).Ein instruktives Beispiel ist ERNST GLOGAUER, der denn auch seinem in Bolivien geborenen und aufgewachsenen Sohn gegenüber nichts von seiner Vorgeschichte berichtet hat – der davon erst durch meine Nachfrage bei ihm erfuhr, s. den Eintrag im Katalog.
196 � Emigration und Exil von Sprachforschern
4.5 Besondere Bedingungen der Immigrationsländer Die Immigrationskarrieren zeigen eine über die Dauer der faschistischen Entwicklung in Deutschland gestaffelte Entwicklung. Die erste Phase von 1933– 1935, in der Reaktion auf die Machtübergabe an die Nationalsozialisten, ist geprägt von einer Flucht in die Nachbarländer – in der Hoffnung auf die Rückkehr nach der erwarteten baldigen „Normalisierung“ in Deutschland. Diese Aufnahmeländer (ČSR, Niederlande, Belgien, Frankreich, Dänemark, Polen, bemerkenswerterweise auch Italien) wurden später (im Vorfeld des Weltkriegs oder dann in diesem) selbst okkupiert (bzw. wie Italien repressiv gleichgeschaltet), sodaß sie ihren Exilstatus verloren. Als Exilland in unmittelbarer Nachbarschaft blieb nur Schweden, das aber einerseits wegen seiner bemühten Neutralitätspolitik, anderseits aufgrund seiner ökonomischen Bedingungen und seiner dominant agrarischen Struktur nur sehr beschränkte Aufnahmemöglichkeiten bot (s. Müssener 1974). Die Schweiz ging noch weiter und riegelte sich gegenüber Exilanten weitgehend ab, s. 4.5.7. Bei der Wahl des Zufluchtslandes waren verschiedene Gesichtspunkte maßgeblich: neben idiosynkratischen Faktoren auf der Seite der Flüchtlinge insbesondere die institutionelle Aufnahmefähigkeit der dortigen Institutionen, die sich in einem Land wie Frankreich als relativ starr erwiesen, so daß es vorwiegend Ziel für „freie“ Intellektuelle, weniger für Hochschullehrer war;14 für die politisch Aktiven ging es um die Möglichkeit organisierter politischer Tätigkeit, wo wiederum Frankreich neben der Tschechoslowakei die größten Möglichkeiten bot, s. PACHTER, FRIEDMANN, PFLÜGER, ROSENBERG.15 Ein Faktor waren die oben schon angesprochenen unterschiedlich restriktiven Bedingungen gegenüber der Freizügigkeit, die sich in den unterschiedlich restriktiven Anerkennungspraktiken gegenüber ausländischen Examina darstellten. In den traditionellen Einwanderungsländern herrschte in dieser Hinsicht eine entsprechende Durchlässigkeit, während auf der anderen Seite Länder wie Frankreich nur im eigenen Land absolvierte Examina anerkannten (s. hier bei THIEBERGER). Deutschland war in dieser rechtlichen Hinsicht relativ offen gewesen, wie die in Deutschland verfolgten nicht-deutschen Staatsbürger in diesem Katalog zeigen. Schon vor Beginn des Weltkriegs wurden die zunehmend restriktiver werdenden (oder restriktiver angewandten) Einwanderungsbestimmungen der potentiellen Aufnahmeländer für die Auswanderungsperspektiven maßgeblich,
�� 14 S. Mathieu (1984) und Noth (1974) für die Widersprüche der literarischen Szene, zu der im Katalog allein BENJAMIN gehört, vgl. aber auch FRIEDMANN. 15 S. dazu Walter (1972).
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die vor allem auch den Antisemitismus in diesen Ländern spiegeln, der durch die verstärkte jüdische Einwanderung aus Deutschland gesteigert wurde (vor allem in den USA)16 – unter Bedingungen der Wirtschaftskrise, die die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gerade auch in akademischen Berufen dramatisch werden ließ (in den USA führte das explizit zu einer Politik der Emigrantenhilfsorganisationen, nur noch renommierte bzw. arrivierte WissenschaftsImmigranten zu fördern, die nicht mit den eigenen Hochschulabsolventen konkurrierten). Umgekehrt bremsten auch auf der deutschen Seite die Hilfsorganisationen, indem sie auf eine (oft nicht gewährleistete) Garantie für die Überlebensmöglichkeiten in der Einwanderungssituation drängten (gegenüber den deutschen Behörden bemühten sie sich um Lockerung etwa von Transfermöglichkeiten für das Vermögen, gegenüber den potentiellen Immigrationsländern, um erweiterte Betätigungsmöglichkeiten, Lockerung der restriktiven Arbeitserlaubnis u. dgl.). Diese Konstellation erklärt den absolut gesehen relativen Rückgang der Emigration in dieser Zeit und zugleich das „Erschließen“ immer neuer, exotischerer Immigrationsländer (in den USA wird in dieser Zeit die Quote für deutsche Einwanderer nicht einmal ausgeschöpft!). Die letzte Phase vor dem Weltkrieg 1938–1939 war durch den verstärkten Druck des NS-Regimes auf Emigration bestimmt, das jetzt systematisch KZInhaftierungen als Druckmittel einsetzte, um die Auswanderung zu erpressen – und schließlich mit den Pogromen im November 1938 einen neuen Schub auslöste. 1938 kam die massenhafte Vertreibung aus dem „angeschlossenen“ Österreich hinzu, dessen Nationalsozialisten ihr Reichsvorbild auf dem Boden der bereits vorher praktizierten antisemitischen Politik überholten.17 Der Kriegsbeginn 1939 änderte die Verhältnisse vollständig: die okkupierten Staaten (ČSR, Polen, Niederlande, Belgien, Frankreich, Dänemark) verloren ihren Schutzstatus. Die Emigration wurde angesichts der drohenden faschistisch-imperialistischen „Neuordnung“ Europas definitiv auf überseeische Aufnahmeländer orientiert, mit England noch als eine Art Puffer. Zunehmend wurden die USA gewissermaßen zum Default-Ziel der Auswanderung, da sie allein die (materiellen) Voraussetzungen für die Integration einer großen Einwanderergruppe in akademischen Berufen boten; die jetzt, nicht zuletzt auf Druck aus den USA, verstärkt in Gang gesetzten exotischen Siedlungsprojekte
�� 16 Ein instruktives Beispiel für den oft geforderten Einfallsreichtum, die Einwanderungshürden zu umgehen, liefert das Schicksal von S. BACH. 17 Daß die rassistische Wissenschaftspolitik in Österreich 1938 nicht nur mit dem Reich „gleichgeschaltet“ wurde, sondern jetzt sogar eine Vorreiterrolle übernahm, wird deutlich bei den Beiträgen in Heiß (1989).
198 � Emigration und Exil von Sprachforschern für Exilanten in Südamerika, Afrika und anderswo zielten vor allem auf landwirtschaftliche bzw. handwerkliche Emigranten. Im Folgenden nur einige Stichworte zur Emigration in Länder, die im Katalog eine prominente Rolle spielen; für systematischere Hinweise und die jeweilige Forschungsliteratur s. Krohn u.a. (1998).
4.5.1 China China ist in dieser Zeit kein einheitlicher politischer Raum; Teile davon hatten einen besonderen politischen Status.18 Die Verhältnisse waren einerseits durch den Bürgerkrieg bestimmt, seit 1932 dann aber auch durch den Krieg mit Japan, gegen den sich keine stabile Volksfront von Kommunisten und Nationalchinesen bilden konnte. Abgesehen von den schon alten, mehr oder weniger kolonial (oder auch missionarisch) bestimmten Enklaven, in denen sich bald auch eine Auslands-NSDAP formierte,19 war es hier die offene Stadt Schanghai, die schon als ökonomisches Zentrum früh für Deutsche attraktiv war und einen relativ großen Zuzug von Deutschen (und Österreichern) kannte, der später als Kanal für die Flüchtlinge diente. Das andere zum Westen offene Zentrum, Hongkong, war britisch und restriktiv in der Aufnahme von Vertriebenen. In Shanghai bestand vor dem Hintergrund etwa der traditionell in China nicht verankerten rassistischen Diskriminierung eine Offenheit für rassistisch Verfolgte, die dort zunächst auch noch unter der japanischen Besatzung weiterbestehen konnte (1937 wurde Shanghai von den Japanern erobert), später aber einer repressiven Politik weichen mußte (mit der Folge von Internierungen und weiteren Repressionen). Bis zur Eskalation des Krieges im Pazifikraum (Pearl Harbour 1941, Eroberung von Hongkong 1941) war es relativ offen für Flüchtlinge mit einem breiten Spektrum von informellen Selbstorganisationen, zu dem auch eigene Publikationen und Organe gehörten (etwa STORFERs „Gelbe Post“), Sprachkurse, die zur Integration in das Leben in China dienen sollten (s. REIFLER) u.a.m. Diese Aktivitäten erfolgten mehr oder weniger in Verbindung auch mit missionarisch-kulturellen Institutionen (in Shanghai aufgeteilt nach den von den Kolonialmächten dominierten Stadtvierteln: Frankreich, England, USA, Deutschland), allerdings zum Kriegs�� 18 Bei den statistischen Überblicken in 4.5. benutze ich China als Sammelbegriff, ggf. also mit Einschluß von Honkong. Einzelheiten ergeben sich aus den biographischen Einträgen im Katalog. 19 Zum Deutschlandinstitut in Peking (seit 1933) und den damit verbundenen Sinologen, s. Jansen (1999).
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ende hin mit zunehmend schwieriger werdenden Randbedingungen, nach Kriegsende dann bestimmt durch den Bürgerkrieg, der für die meisten eine Weitermigration notwendig machte.20
4.5.2 Frankreich Gerade aus der Perspektive der politisch motivierten Emigranten war Frankreich das Exilland per se. Das erklärt die relativ große Emigration nach dort: bis 1939 (Kriegsbeginn im September) kamen etwa 100.000 Flüchtlinge nach Frankreich. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund wachsender ökonomischer Probleme verschärften sich die innenpolitischen Konflikte, mit einer zunehmenden Formierung des rechten Flügels mit offen profaschistischen (bzw. ausgesprochen NSfreundlichen) Organisationen, denen die Linke gegenüber in die Defensive geriet, die allerdings noch 1936–1937 eine „Volksfront“-Regierung zustande brachte. Entsprechend restriktiver wurden im Laufe der Jahre die Regelungen für die Immigranten, bei denen sich zunehmend auch antisemitische Ausgrenzungen geltend machten. Nach der Kapitulation im Juni 1940 wurde der Norden (bis zur Loire, aber auch die gesamte Atlantikküste) von den Deutschen besetzt, im Süden wurde eine Art Satrapen-Regierung mit Marschall Pétain an der Spitze etabliert („Vichy-Regierung“). 1942 wurde auch der Süden besetzt, und es kam sogar zu Deportationen nach dort wie bei HIRSCH. Im Zusammenspiel mit dem geänderten Frontverlauf gegen Kriegsende formierte sich zunehmend ein innerer militärischer Widerstand, bis im August 1944 Paris befreit und eine neue nationale Regierung gebildet wurde. Vor Kriegsbeginn bot Frankreich neben der Tschechoslowakei die größten Möglichkeiten zu organisierter politischer Tätigkeit, s.o. Das erklärt, warum Frankreich bevorzugtes Ziel für politisch motivierte Auswanderer war. Viele von diesen suchten auch nach der Möglichkeit, militärisch gegen den Faschismus zu kämpfen, vor Kriegsbeginn vor allem in den internationalen Brigaden in Spanien. Da sie bei Kriegsbeginn ggf. von der deutschen Seite als Landesverräter behandelt wurden (und insofern nicht unter die Genfer Schutzkonvention fielen), wurden sie nicht in der regulären Armee zugelassen; dafür hatte Frankreich aber die Fremdenlegion, in der sich entsprechend auch viele Emigranten
�� 20 Zur intellektuellen Szene in Shanghai in der Spannung von Exilanten und politisch kontrollierten Organisationen (Auslands-NSDAP) s. Freyeisen (1999), außerdem P. von zur Mühlen, „Ostasien“, in: Krohn u.a. (1998: Sp. 336–349).
200 � Emigration und Exil von Sprachforschern verpflichteten. Einige Immigranten kämpften später in Frankreich noch im Widerstand wie ROSENBERG. Auf der anderen Seite war Frankreich ausgesprochen restriktiv gegenüber der Freizügigkeit im wissenschaftlichen Feld, indem es nur die im eigenen Land absolvierten Examina anerkannte (s. hier z.B. bei THIEBERGER). Entsprechend hatten Unterstützungskomitees mit Widerständen zu kämpfen und mußten ggf. auch „nationale Interesse“ ins Feld führen (s. Mathieu 1984). Faktisch war Frankreich so vorwiegend ein Ziel für „freie“ Intellektuelle, weniger für Hochschullehrer, s.o. Schon vor der Kriegerklärung wurden seit Ende 1938 Internierungslager für potentielle deutsche „enemy aliens“ eingerichtet; in den Kriegsjahren wurde diese Praxis im Süden relativ rigoros durchgesetzt. 1940 erließ die Pétain-Regierung ihrerseits rassistische Gesetze, die in dieser Hinsicht einem Exil Schranken setzte. Diese wurden in den Folgejahren zunehmend verschärft und vor allem auch exekutiert. Nachdem im November 1942 auch der Süden von den deutschen Truppen besetzt und die Verwaltung faktisch übernommen worden war, wurden die Internierungslager zu Ausgangsstationen für die Deportation in die Vernichtungslager im Osten.21
4.5.3 Großbritannien In der ersten Phase spielte Großbritannien nur eine relativ marginale Rolle bei den Emigrationsströmen: die Einwanderung war hier weitgehend auf die Aufnahme von prominenten Wissenschaftlern ausgerichtet. Gewissermaßen spiegelverkehrt zur Rolle Frankreichs änderte sich das gegen Ende der 1930er Jahre: seit 1938 wurde Großbritannien zum bevorzugten Auswanderungsziel in Europa, das vor allem auch in Bezug auf das Verhältnis von Bevölkerungszahl und Aufnahmequote von Emigranten (bis Kriegsbeginn etwa 80.000 Menschen) zur wichtigsten Immigrationsstation wurde. Neben der Auswanderung aus Deutschland (einschließlich Österreich) galt das vor allem auch für die aus der ČSR und Polen, die sich hier reguläre Strukturen gab (und dann auch am Weltkrieg mit eigenen militärischen Einheiten im Rahmen der britischen Armee teilnahm). Allerdings drückten auch hier die ökonomischen Schwierigkeiten die Aufnahmemöglichkeiten und zwangen zur Weitermigration. Vor allem religiös verankerte Hilfsorganisationen wie bei den Quäkern leisteten Unterstützung; schließlich auch die spezifisch für Wissenschaftler eingerichteten Komitees (so
�� 21 Zu den Internierungen in Frankreich, s. etwa Badia (1982), Fabian/Coulmas (1978), Fontaine (1989), Schramm/Vormeier (1977), Vormeier (1980).
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der 1933 gegründete Academic Assistance Council, seit 1937 unter dem Namen der Society for the Protection of Science and Learning), die von engagierten Einzelpersonen getragen wurden, s. etwa hier bei E. LEWY.22 Bei Kriegsbeginn wurden die Emigranten aufgrund ihrer Nationalität global als „feindliche Ausländer“ eingestuft: zuerst wurden sie interniert, dann 1940 massenhaft deportiert (nach Kanada und Australien). Dadurch kam es zu einer Verschiebung der Emigrationsströme als „Umverteilung“ im Rahmen des britischen Commonwealth. Die Regularisierung der Einwanderung in diese Länder erfolgte dann unter jeweils spezifischen Bedingungen, restriktiv z.B. in Australien mit einer festen Quote und vor allem geforderten ökonomischen Sicherheiten. Im größeren Umfang geschah die Einwanderung nach Kanada und Australien erst nach Kriegsende.
4.5.4 Irland Irland ist ein Beispiel für eine besonders restriktive Einwanderungskonstellation, bedingt nicht nur durch die dort allerdings schwierigen ökonomischen Verhältnisse. Für ein Visum war hier nicht nur (wie auch in fast allen anderen Einwanderungsländern) der Nachweis erforderlich, daß dem Land keine ökonomische Belastungen drohten, hier wurden katholische Einwanderer präferiert, und die Berliner Botschaft praktizierte eine rigide antisemitisch bestimmte Selektion unter den Bewerbern (s. dazu Keogh 2006). Die Einwanderung war hier an spezifische Konstellationen gebunden: L. BIELER wurde für die Aufarbeitung der irischen Kirchengeschichte gebraucht, und bei E. LEWY wurden die antisemitischen Vorbehalte außer Kraft gesetzt, weil er für das nationalistische Projekt einer Wiederbelebung des Irischen nützlich war, in seinem Fall sogar aufgrund einer direkten Intervention des damaligen Regierungschefs de Valera;23 s. auch die komplexen Verhältnisse bei POKORNY.
�� 22 Generell dazu Bentwich (1953). 23 Éamon de Valera (1882–1975) setzte als Regierungschef (offiziell seit 1932, illegal seit 1919) durch, daß Irisch im „freien“ Teil von Irland Nationalsprache wurde (er war einer der nationalen Helden, der nach dem Aufstand 1916 zum Tode verurteilt worden war, als USamerikanischer Staatsbürger aber nicht hingerichtet wurde).
202 � Emigration und Exil von Sprachforschern 4.5.5 Italien Italien bot trotz seines faschistischen Regimes gegenüber vielen anderen Exilländern auch materielle Vorteile, nicht zuletzt durch die Arbeitserlaubnis für Immigranten (s. etwa Voigt 1987). 1938 schwenkten auch die italienischen Faschisten im Vorfeld der Weltkriegsvorbereitung auf die nationalsozialistische Repressionspolitik ein (nach der Etablierung einer „Achse Berlin – Rom“ förmlich besiegelt im „Stahlpakt“, Mai 1939). Zuerst wurden im Mai 1938 aus Anlaß eines Hitler-Besuchs Internierungen durchgeführt (s. hier z.B. bei H. KAHANE), dann nach Erlaß eigener rassistischer Gesetze seit 1940 systematische Internierungen im ländlichen Süden, z.T. auch in Lagern. Erst nach der militärischen Kontrolle Italiens durch die deutsche Wehrmacht seit 1943 erfolgte auch in Italien die physische Verfolgung, vor allem durch die Deportation in die Vernichtungslager im Osten. Die Maßnahmen gegenüber Immigranten in Italien müssen im Zusammenhang mit den dort ohnehin praktizierten rassistischen Diskriminierungen im Hochschulbereich gesehen werden (s. dazu Ventura 1997). Ein rassistisches Gesetz wurde am 17.11.1938 verabschiedet; aber schon vorher waren seit Juli des gleichen Jahres eine ganze Reihe von „Erfassungsmaßnahmen“ angelaufen, mit den entsprechenden Problemen der rassistischen Stigmatisierung, die zunächst auch einen großen Raum von Ausnahmemöglichkeiten vorsahen (bei „alten Kämpfern“ u. dgl.). Entlassen wurden an italienischen Hochschulen insgesamt über 400 Personen, von denen zunächst 108 als „jüdische“ Professoren erfaßt wurden, von denen wiederum 51 erklärten, keine praktizierenden Juden zu sein. Die Art, wie Italien seinen Status als Exilland verlor, läßt sich an den entsprechenden biographischen Artikeln im Katalog verfolgen, s. hier GUMPERZ, G. HOENIGSWALD, H. HOENIGSWALD, H. KAHANE, R. KAHANE, REICHENBERGER.
4.5.6 Palästina Zu den Ländern mit einer besonderen Rolle als Zuflucht gehörte Palästina, das seit Ende des 19. Jahrhunderts Ziel der zionistischen Auswanderungsbewegung war, die in gewisser Weise auch als reguläre Auswanderung verstanden werden kann (s. 3.2.3.).24 Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur israelischen Staats-
�� 24 In der zionistischen (bzw. israelischen) Geschichtsschreibung wird die Palästinaemigration als CAlijah (Plural: CAlijot) bezeichnet (zum Terminus, s. Fn. 58 in 3.2.4). Dabei werden verschiedene CAlijot unterschieden: die erste der zionistischen Siedlerpioniere am Ende des 19.
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gründung 1948 war Palästina britisches Mandatsgebiet, bei dem mit der wachsenden Zahl an jüdischen Siedlern die Spannungen zu den einheimischen Palästinensern wuchsen. Entsprechend gab es Pläne zur Aufteilung des Gebiets in ein arabisches und ein jüdisches, die die britischen Mandatsregierung 1937 vorgelegt hatte und die auch von großen Teilen der politisch organisierten jüdischen Siedler (vor allem auf Seiten der politischen Linken) mitgetragen wurden – gegen die zionistischen Gruppen, die ganz Palästina (mit dem Jordan als „natürlicher“ Grenze) als jüdisches Territorium reklamierten. Militanter Ausdruck davon war die Organisation einer jüdischen Miliz (Haganah, seit 1920), die später in der israelischen Armee aufging. Dabei spiegelt die Emigration nach Palästina spiegelverkehrt die zunehmend restriktive Politik gegenüber der jüdischen Einwanderung in die anderen Staaten, vor allem in die USA, die mit der Festlegung einer „jüdischen“ Quote 1926 die bis dahin faktische Default-Ausrichtung der Auswanderung von Juden in USA blockierten. Allerdings waren die Einwanderungsbedingungen in Palästina nicht weniger restriktiv: mit einer Quotenregelung, die mit Anforderungen verbunden waren, die auf die britische Siedlungspolitik abgestellt war – vorrangig auf die Schaffung bäuerlicher Strukturen. Ein dafür gefordertes Zertifikat erhielten vor allem die zionistischen Siedler. Daneben gab es aber auch ein „Kapitalisten“-Zertifikat, mit dem die Mandatsverwaltung Kapital ins Land holen wollte. Daraus resultierte einer der erstaunlichsten Prozesse im ganzen Emigrations-Komplex, das sog. Haavara (hebr. für „Transfer“)-Abkommen seit August 1933, das ca. 20% aller jüdischen Emigranten aus Deutschland das Überleben ermöglichte (s. Feilchenfeld u.a. 1972). In einem Sonderabkommen wurde die ansonsten extrem beschränkte Möglichkeit des Devisentransfers hier durch eine Klausel der verpflichtenden Umwandlung in deutsche Exportgüter für Palästina gelöst – womit das NS-Regime den aus Protest gegen die Judenverfolgung eingeleiteten Boykott deutscher Waren ausgerechnet in Palästina unterlief (s. Strauss 1992, Bd. 4/1: 252ff.). Das erlaubte es einem Großteil der ca. 50.000 bis Kriegsbeginn nach Palästina emigrierten Juden, zu einem relativ günstigen Kurs in die „Kapitalisten“-Quote zu rutschen. Mehr als ökonomische (Exportaufträge für die deutsche Wirtschaft) und propagandistische Interessen (immerhin stand dieses offizielle Wirtschaftsabkommen mit Palästina gegen den vom jüdischen Weltverband 1933 ausgerufenen Wirtschaftsboykott Deutschlands) war es das tatsächliche politische Interesse an der Auswanderung der Juden, das dieses
�� Jhds., die zweite bis vierte, die zu Beginn des 20. Jhds. die Grundlagen für einen jüdischen Staat schufen, und schließlich die fünfte derjenigen, die vom Faschismus vertrieben wurden.
204 � Emigration und Exil von Sprachforschern Abkommen sogar noch bis in den Kriegsanfang hinein stützte (es blieb bis 1939 inkraft – gegen den wachsenden Druck nicht nur der antisemitischen Extremisten in der Partei, sondern auch der arabischen Staaten, die darin die Förderung des befürchteten israelischen Staates sahen, und nicht zuletzt auch der NSDAPAuslandsorganisation der deutschen Siedler in Palästina, s. Feilchenfeld u.a. 1972: 30f.). Die restriktiven Bedingungen hatten eine erhebliche Zahl von illegalen Einwanderungen zur Folge (s. dazu Benz 2001). Die britische Mandatsverwaltung agierte politisch ausgesprochen ambivalent; sie hatte zunehmend auch mit militarisierten Aktionen der palästinensischen Siedler zu kämpfen, die sich angesichts der drohenden Schoah gegenüber deren restriktiver Einwanderungspolitik radikalisierten. Mit Kriegsbeginn, also dem Kampf Englands gegen das NS-Deutschland, kam es zunächst zu einem gewissen Ausgleich, als eine große Gruppe von Palästina-Einwanderern in der britischen Armee kämpften, insbesondere in einer „jüdischen Brigade“ (s. z.B. bei BAR-HILLEL, vgl. auch RICE). Nach Kriegende brachen die Konflikte dann erneut auf – und führten in die Selbständigkeit des Staats Israel. Die Mehrheit der jüdischen Siedler kam aus Osteuropa, mit Jiddisch als Muttersprache. Sie bildeten die Basis der zionistischen Bewegung (s. Kap. 3.2.3.), in der sie in einem Spannungsverhältnis zu religiös (orthodox) bestimmten Gruppierungen standen, die sich schließlich in Reaktion auf die Schoah mit der Gründung des Staates Israel 1948 durchsetzten. Die Sprachenfrage hatte dabei eine nicht nur emblematische Rolle. Hebräisch war (und ist) die liturgische Sprache des Judentums. Demgegenüber dominierte zunächst auch in Palästina beim Aufbau von Bildungsinstitutionen (selbstverständlich) das Deutsche, s. z.B. hier bei RICE.25 Das blieb auch weiterhin so, bis unter dem Eindruck der Schoah Deutsch als Sprache der Verfolger stigmatisiert wurde – und seine Sprecher u.U. auch diskriminiert wurden (für sie wurde die Bezeichnung „Jeckes“ üblich). In der zionistischen Bewegung hatte es ohnehin ein Programm der Wiederbelebung des Hebräischen auch als Verkehrssprache in Palästina (Ivrit) gegeben, gegen das es Widerstand vor allem der Einwanderer aus Rußland/der Sowjetunion gab, die auf dem Jiddischen als Sprache nicht zuletzt ihrer Arbeiterorganisationen bestanden, aber auch von Seiten der religiösen Orthodoxie, die sich gegen eine „Profanierung“ der heiligen Sprache verwahrte.
�� 25 Emblematisch dafür sind Herzls Ausführungen in seinem „Der Judenstaat“ 1896: für Herzl war es selbstverständlich, daß in dem neuen Judenstaat in Palästina Deutsch die offizielle Sprache werden würde. Dabei wurde dieses Buch gleich ins Jiddische übersetzt und vor allem in Rußland in Jiddisch verbreitet.
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In den zwanziger Jahren gab es aber in Palästina schon wachsende Bevölkerungsgruppen, die Ivrit als Umgangssprache nutzten, vor allem als Muttersprache der zweiten Generation, worauf dann auch zunehmend die Vorbereitung der Einwanderung ausgerichtet wurde (s. z.B. bei RABIN). Die britische Verwaltung akzeptierte daraufhin Hebräisch neben Englisch und Arabisch als offiziellen Sprachen Palästinas und erlaubte auch die Einrichtung entsprechender Bildungsinstitutionen (u.a. 1925 die Gründung der Hebräischen Universität in Jerusalem). Dabei war Palästina weiterhin ein vorwiegend agrarisches Land, dem auf Seiten der Siedler nicht zuletzt auch die Kibbuz-Bewegung entsprach. Diese Verhältnisse änderten sich mit der fünften Calijah: die aus Deutschland Vertriebenen waren keine ländlichen Siedler; nur die wenigsten waren Zionisten, und in der Mehrheit waren sie noch nicht einmal religiöse Juden. Entsprechend groß waren die Integrationsprobleme. Zu den Besonderheiten Palästinas im Vergleich mit anderen Immigrationsländern gehört dabei, daß es hier den deutschen Flüchtlingen (den „Jeckes“) nicht möglich war, sich wie in anderen Einwanderungsländern politisch als Emigrantengruppe zu organisieren: in Palästina (später Israel) gab es nur Einwanderer – aber keine ins Land gekommene Auswanderer (mit der potentiellen Rückwanderungsperspektive). Insofern war von allen politischen Restriktionen abgesehen (von Seiten des britischen Protektorats, zunehmend auf Druck der arabischen Staaten auch von deutscher Seite aus) die Palästina-Emigration für (Sprach-)Wissenschaftler nur wenig gangbar. Generell sind wissenschaftliche Immigranten bei dem sprunghaften Bevölkerungswachstum in Palästina unterrepräsentiert, das ohnehin von der britischen Protektoratsverwaltung mit Rücksicht auf die arabischen Nachbarstaaten gebremst wurde (auch nach 1937 wurde die Einwanderungsquote auf maximal 12.000 jährlich begrenzt).26 Dazu stimmt, daß von den insgesamt 27 in Palästina immigrierten Sprachwissenschaftlern bei Kriegsende nur noch 22 im Lande waren (und auch später noch einige weitermigrierten). Palästina konnte für die meisten kein Aufnahmeland sein: es war oft nur eine Durchgangsstation. Für die Sprachforscher unter den Palästinaemigranten waren die sprachpolitischen Probleme im Land nicht nur pragmatische Alltagsprobleme: wenn sie im Lande blieben, waren sie zwangsläufig Partei in den aufbrechenden sprachpolitischen Konflikten, die sich nach 1948 durch das jetzt verwirklichte natio�� 26 Von den 690.000 Einwohnern des Landes waren 1914 erst 12,3% Juden – nicht viel mehr als Christen (10,1%), gegenüber 77,5% Muslimen. 1939 war der Anteil der Juden an der auf 1,5 Mio. Einwohner gewachsenen Bevölkerung schon 30%, 1946 bei knapp 3 Mio. Einwohnern machten die Juden 34,8% aus. Die heutigen Bevölkerungsverhältnisse sind das Resultat der Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Arabern bei der Gründung des Staates Israel 1948.
206 � Emigration und Exil von Sprachforschern nalstaatliche Projekt noch verschärften, mit dem sie institutionell sanktionierte Konturen bekamen, s. hierbei BLAU, BEN-HAJJIM, DOTAN, GOSHEN-GOTTSTEIN, POLOTSKY, RABIN, H. B. ROSÉN, TUR-SINAI u.a. Dabei machte die Gründung des Staates Israel im Mai 1948 es nötig, für die unterschiedlichen Konfliktbereiche eine rechtlich verbindliche Form zu finden. Die vor allem auch von dem ersten Ministerpräsidenten David Ben Gurion27 forzierte Lösung versuchte eine Trennung zwischen staatsbürgerlichen Rechten und religiös (und damit im Selbstverständnis: ethnisch) begründeten Ansprüchen. Die israelische Verfassung hat einen bürgerlichen Kern, der jede Art von Diskriminierung verbietet und den Status eines israelischen Staatsbürgers setzt.28 Davon zu unterscheiden ist der Status als Jude (Jüdin), der mit einer Privilegierung verbunden ist (darunter dem Rechtsanspruch auf die Einwanderung bzw. Einbürgerung [so in einem Gesetz von 1950]). Dadurch wurde es nötig, den Status des Jüdischen rechtlich zu definieren – in einem bis heute nicht abgeschlossenen Prozeß. Die auch von Ben Gurion selbst propagierte Definition: „Jude ist jemand, der sich selbst als solcher versteht“, ließ sich nicht durchsetzen – auch nicht mit dem einschränkenden Zusatz „und wer von anderen auch so anerkannt wird“. Die orthodoxen Gruppierungen, die trotz ihres quantitativen geringen Umfangs in politischen Fragen ein faktisches Vetorecht haben, bestanden (und bestehen auch heute noch) auf der traditionellen, im Talmud verankerten Bindung an die Abstammung von einer jüdischen Mutter und das vom Rabbinat zu kontrollierende Bekenntnis. Verschärft haben sich diese Spannungen mit den nach 1948 erneut verschobenen sozialen Konstellationen durch die massenhafte Einwanderung aus Nord-Afrika und Äthiopien, die zu einer Dezentrierung in der Sprachenfrage führten, bei der die Integration in die israelische Gesellschaft in den Vordergrund rückte (die genauso orthodox-religiös [normativ] definiert werden konnte wie pragmatisch als Partizipation an der aktuellen Gesellschaft, s. ausführlich bei einigen der oben Genannten, besonders bei H. B. ROSÉN). Besonders dramatisch zeigt sich das bei den schwarzen Einwanderern aus Äthiopien, den Falascha, deren weithin praktiziere Diskriminierung die Probleme einer ethnischen Definition des Jüdischen drastisch deutlich macht (s. dazu bei LESLAU).
�� 27 Ben Gurion (1886–1973) war selbst ein polnischer Einwanderer (mit dem früheren Namen David Grün). 28 Insofern ist Israel kein jüdischer Staat: in ihm leben auch „ungläubige" Israelis – während schon der Terminus eines „ungläubigen Juden" ein Widerspruch in sich ist.
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4.5.7 Schweiz Die Schweiz ist ein weiteres Beispiel für extrem restriktive Bedingungen gegenüber Flüchtlingen: sie blockierte radikal die Option als offenes Exilland, für die sie ihre unmittelbare Nachbarschaft zu Deutschland und Österreich (und die zumindest in einigen Kantonen nicht bestehenden Sprachbarrieren) prädestinierten.29 Den Hintergrund bildete die schon in den 1920er Jahren systematisch praktizierte Politik gegen die als drohend empfundene Gefahr der „Überfremdung“, die eine größere Einwanderung verhindern sollte. Dabei gingen politisch konservative und antisemitische Momente zusammen, die dann auch die gleich 1933 erlassenen verschärften Einwanderungsregelungen bestimmten; nur extrem restriktiv wurde Asyl aus politischen Gründen gewährt: Kommunisten waren explizit ausgeschlossen. Rassistische Verfolgung galt nicht als Asylgrund (im Schweizer Sprachgebrauch galten Juden als „wesensfremd“). Grundsätzlich verstand sich die Schweiz auch bei positiven Entscheidungen gegenüber den Eingewanderten nur als Transitland: ein Verbleib im Land wurde mit allen Mitteln unterbunden. Die Einwanderung wurde in der Regel nur mit einem vorhandenen Visum für ein Drittland zugelassen (s. z.B. POKORNY für ein dramatisches Beispiel). In solchen Fällen wurde generell keine Arbeitserlaubnis erteilt – was bei vielen Intellektuellen zu dem Notbehelf führte, Veröffentlichungen oder die Mitarbeit bei Medien mit einem Pseudonym zu kaschieren (s. z.B. bei CUNZ). Gegen diese extrem restriktive Politik stand allerdings die große Hilfsbereitschaft und solidarische Unterstützung in der Bevölkerung, die vor allem auch von religiösen Einrichtungen getragen wurde. Sie galt der dennoch relativ großen Zahl von Flüchtlingen, die sich mit einem solchen prekären Status im Land aufhielten. Demgegenüber reagierte die Grenzpolizei auf die zunehmende illegale Einwanderung (die auf eine gewisse Toleranz gegenüber denen setzen konnte, die es geschafft hatten, sich im Land aufzuhalten) mit immer restriktiveren Maßnahmen: die Rückweisung auch offensichtlich verfolgter Menschen war die Regel und wurde obrigkeitlich strikt durchgesetzt.30 In Reaktion auf die wachsende Flüchtlingszahl aus dem „angeschlossenen“ Österreich drohte die Schweizer Regierung im Sommer 1938 mit einer generellen Visumspflicht für Deutsche, wenn das nationalsozialistische Regime keine Kennzeichnung der
�� 29 S. zu der dortigen, restriktiven Politik gegenüber den Flüchtlingen aus Deutschland Mittenzwei (1981, Bd. II) und Wichers in Krohn (1998: Sp. 375–383). 30 Ein liberaler verfahrender Polizeikommandant in St. Gallen wurde 1939 mit der Streichung seiner Pensionsbezüge entlassen.
208 � Emigration und Exil von Sprachforschern unerwünschten Asylbewerber vornehmen würde: das war der Grund für den seitdem von den deutschen Behörden eingeführten stigmatisierenden Stempel ‚J‘ im Paß. Im August 1942 schloß die Schweiz die Grenzen generell. Auf dieser Folie ist die Statistik der (wenigen) in die Schweiz emigrierten Sprachwissenschaftler zu lesen: diese etablierten sich dort eher im Rahmen eines akademischen Ortswechsels als im Exil; unter ihnen sind vor allem auch „Heimkehrer“ wie z.B. DEBRUNNER.
4.5.8 Tschechoslowakei (ČSR) Die Tschechoslowakei war bis 1938 der einzige Staat, der explizit eine Exilpolitik praktizierte: als Zuflucht für die Vertriebenen, dann vor allem aber auch, indem er viele von ihnen mit Pässen ausstattete, die ihnen die Weitermigration ermöglichten. Dabei waren die innenpolitischen Verhältnisse nicht zuletzt durch die Spannungen zu der großen deutschen Minderheit bestimmt, die mehrheitlich (in den sudetendeutschen Organisationen) selbst nationalsozialistisch ausgerichtet war. Die politischen Strukturen hatten im Ersten Weltkrieg ihre Form in der damaligen Exilregierung in London gefunden (unter dem späteren Präsidenten Masaryk, daran beteiligt war auch schon dessen späterer Nachfolger Beneš). In der nach Kriegsende 1918 gegründeten Republik (als Vereinigung der tschechischen und slowakischen Regionen) garantierte die Verfassung der deutschen Minderheit großen Schutz, wozu nicht nur eigene Schulen sondern vor allem auch eine eigene Universität: die Deutsche Universität in Prag, gehörten.31 Vor allem unter Beneš, der 1935 zum Präsidenten ernannt wurde, fuhr die Regierung einen politischen Kurs, der auf die Bedrohung durch das NS-Deutschland gerichtet war und ggf. Flüchtlinge schützte und ihnen nach Möglichkeit auch Arbeitsmöglichkeiten gab – gegen die Widerstände der deutschen Minderheit und ihrer Vertreter (ggf. mit entsprechenden Spannungen in den Institutionen). Der Verlust der Selbständigkeit im September 1938 (Konferenz in München), dann 1939 die Einrichtung des Protektorats Böhmen und Mähren setzten dem ein Ende. Seit 1940 bildete Beneš wieder eine Exilregierung in London, die vor �� 31 1882 war in Reaktion auf die nationalistischen Bewegungen die Prager Universität aufgeteilt worden: neben der alten (jetzt „Deutschen“) Universität wurde eine eigene „Tschechische“ etabliert. Beide nutzten zwar die gleichen Gebäude, ansonsten gab es praktisch aber keine Kooperation. 1939 wurde von der deutschen Besatzung die tschechische Universität geschlossen; 1945 wurde diese als einzige wieder eröffnet (die Deutsche Universität wurde rückwirkende zum 17.11.1939 aufgelöst); s. Ehlers (2005) für Hinweise zur Praxis in den 1930er Jahren.
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allem auch mit eigenen militärischen Einheiten auf Seiten der britischen Armee im Kampf gegen den Nationalsozialismus engagiert war. Dieser errichtete seit 1941 ein zunehmend repressiveres Besatzungsregime. 1945 wurde die ČSR von der Sowjetarmee befreit und Beneš konnte eine neue Regierung im Land bilden, wieder als vereinigte Tschechoslowakei.
4.5.9 Türkei Die Türkei ist ein Sonderfall: sie war kein generelles Exilland, hatte aber eine herausragende Rolle bei der Aufnahme vertriebener Wissenschaftler. Diese war Bestandteil der von dem damaligen Staatschef Mustapha Kemal Atatürk32 systematisch ins Werk gesetzten Modernisierung des Landes, in diesem Fall der Universitäten: zunächst der 1933 neu gegründeten Universität Istanbul (dort als Reform einer bestehenden traditionellen Hochschule), dann weiterer medizinischer und technischer Hochschulen und schließlich der Universität Ankara (wo es zunächst nur eine Hochschule für Lehrerausbildung gegeben hatte). Die Vertreibunung von Wissenschaftlern aus Deutschland und deren Aufnahme war dabei ein günstiger Nebeneffekt: sie lief neben der Rekrutierung von politisch anders orientierten ausländischen (besonders eben auch deutschen) Wissenschaftlern (s. z.B. BRINKMANN, GABAIN, STEUERWALD). Außer den Wissenschaftlern selbst wurden nur deren Familienangehörige sowie u.U. von diesen benötigtes weiteres Personal ins Land gelassen (bzw. geholt). Die Modernisierung des Bildungswesens war ein zentrales Moment der kemalistischen Bewegung, die militärisch gestützt generell die alten Institutionen reformieren wollte und ihnen moderne gegenüberstellte. Sie setzte damit schon frühere Modernisierungsanläufe in der osmanischen Türkei fort, die ebenfalls schon auf deutsche Unterstützung zurückgegriffen hatte (im Rahmen der schon im 19. Jahrhundert auch institutionell verfestigten wissenschaftlichen Beziehungen zur Türkei bzw. zum Osmanischen Reich).33 Eine administrative
�� 32 Atatürk (ata türk „Vater der Türken“) war der Ehrenname, den Mustapha Kemal (1881– 1938) von der türkischen Nationalversammlung 1934 verliehen bekam. 33 Einen zu 1933ff. parallelen Modernisierungsschub mit Hilfe deutscher Wissenschaftsemigranten hatte es schon während des Ersten Weltkriegs gegeben: gestützt auf eine breite Türkeibegeisterung in Deutschland auf der einen, auf diplomatische und militärstrategische Vorgaben auf der anderen Seite wurden 1915 bereits 20 deutsche Hochschullehrer an die damalige Istanbuler Universität (Dârulfünûn) [< arab. daar „Haus“, al-funuun „die Wissenschaften, Künste“, PL zu einer Wurzel √fnn ) entsandt, wo sie in einem breiten Spektrum von geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern die Universität modernisieren sollten – allerdings noch im
210 � Emigration und Exil von Sprachforschern Folge dieser Modernisierung war die Entlassung eines großen Teils der türkischen Dozenten, die für die Reform nicht zu „gebrauchen waren“ (nach neueren Arbeiten dazu sollen von den damals beschäftigten 240 Dozenten 157 entlassen worden sein, darunter 71 Professoren); insofern bot die Türkei für Akademiker einen relativ offenen Arbeitsmarkt.34 Die von Atatürk betriebene Modernisierung galt auch der Selbstpräsentation der neuen Gesellschaft, bei der ein Schnitt mit der osmanischen Tradition vorgenommen werden sollte. Dazu gehörte nicht nur der forzierte Aufbau des Modernen (angefangen bei der Schriftreform bis hin zum Ausbau der modernen europäischen Fremdsprachen, s. hier bei SPITZER), sondern auch eine Reevaluierung des Altertums gegen die Orientierung an der islamischen Geschichte des osmanischen Reichs. Das betraf einerseits die Frühgeschichte, mit den Hethitern im Zentrum, dann aber auch eine Neubewertung des Klassischen Altertums mit den griechischen Quellen in der Türkei. Insofern gehörte der Ausbau der Altertumswissenschaft (einschließlich der Archäologie) genauso zu dieser Modernisierung wie der Ausbau der Klassischen Philologie, die zugleich auch als spezifische „einheimische“ Basis für die modernen Sprachen wie Französisch angesehen wurde, s. bei ROHDE. Dieses Programm wurde vor allem an den neuen Universitäten in Istanbul und Ankara umgesetzt – und dafür wurde auf vertriebene deutsche Wissenschaftler zurückgegriffen, aber eben auch auf anders ausgerichtete. In dieser Hinsicht konnte die Modernisierung 1933 an die obenerwähnten Anläufe dazu im osmanischen Reich anschließen. Diese konvergierten mit den außenpolitischen Interessen des Deutschen Reichs, die vom NS Regime letztlich nur fortgeschrieben wurden: die Bagdadbahn (gebaut seit 1903) war nur der sichtbarste Indikator, der mit der Erschließen der Erdölfelder im Nahen Osten und deren zunehmend zentrale Rolle bei der Umstellung der Verkehrsmittel nur noch an Bedeutung gewann. Deutsche Orientalisten spielten in diesem Zusam-
�� Rahmen der traditionellen osmanischen Vorgaben (s. dazu Kreiser in Kubaseck/Seufert 2008: S. 21–40). Einer davon war der Semitist G.Bergsträsser, der diese Stelle zu ausgedehnten Feldforschungen zu unterschiedlichen Sprachen im osmanischen Reich nutzte. Bis hin zu organisatorischen Details (Unterricht mit Dolmetschern, Verpflichtung zur Erstellung türkischer Unterrichtsmaterialien, Entwicklung einer türkischen Fachsprache) stand diese erste Phase der deutschen Wissenschaftsmigration in die Türkei für die spätere Modell. Abgeschlossen wurde diese erste Phase durch die Ausweisung der deutschen Hochschullehrer nach dem Waffenstillstand im Oktober 1918. 34 Eine brauchbare Synopse mit einer Zusammenstellung der einschlägigen Literatur in einer Sendung des Deutschlandfunks vom 2.5.2009 („Fluchtpunkt Türkei“, http://www.dradio. de/dlf/sendungen/langenacht/958226/).
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menhang immer schon eine große Rolle (s. z.B. bei MITTWOCH), und ein gewisser wissenschaftlicher Austausch wurde schon vor und dann auch im Ersten Weltkrieg etabliert. Nach dessen Ende reagierten im Deutschen Reich eine ganze Reihe von Institutionen auf die nationale Neugründung der Türkei, die sie wissenschaftspolitisch zu nutzen versuchten (s. z.B. hier bei BABINGER). Dazu gehörten die direkt dem Auswärtigen Amt unterstellten Einrichtungen wie die Deutsche Schule in Istanbul (s. hier ANHEGGER, ANSTOCK, MARCHAND), die Arbeitsstelle der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (geleitet von KAHLE, s. hier bei RITTER, der in Istanbul die Geschäftsstelle leitete) sowie vor allem das 1928 eingerichtete Deutsche Archäologische Institut, in dessen Geschäftsstelle in Istanbul WITTEK arbeitete.35 Die Förderung der archäologischen Arbeit, vor allen Dingen zu den Überresten des Hethiterreiches, erfolgte im Rahmen einer Neuorientierung der türkischen Politik, die darauf einen neuen nationalen Mythos gründete, der die Ablösung vom Osmanischen Reich deutlich markieren sollte. Insofern wurden nicht nur Grabungen durchgeführt (die Grabungen in Boğazköy hatten dabei eine Schlüsselstellung), sondern es bestand eine enge Zusammenarbeit mit den türkischen Universitäten, an denen die einheimischen Fachkräfte ausgebildet wurden. Bemerkenswerterweise blieb das Deutsche Archäologische Institut in Istanbul und folgte nicht der 1923 beschlossenen Verlagerung der Hauptstadt nach Ankara; diese Distanz zum politischen Zentrum (und damit der Deutschen Botschaft!)36 erlaubte es ihm, in Istanbul offensichtlich die wissenschaftliche Arbeit relativ liberal fortzusetzen, einerseits mit den vertriebenen Fachkollegen, nicht zuletzt aber auch mit entsprechenden Einrichtungen der Alliierten zu kooperieren, etwa der französischen Archäologie, s. hier bei GÜTERBOCK, LANDSBERGER, vgl. auch BOSSERT. Diese Verhältnisse bestanden bis zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen am 2.8.1944. Das Archäologische Institut wurde danach bemerkenswerterweise von der Türkei gewissermaßen treuhänderisch verwaltet und 1953 wieder der BRD übergeben. Die NS-Außenpolitik hatte in der Türkei einen Schwerpunkt, dessen Bedeutung im Koordinatensystem des Weltkriegs nur noch zunahm. In diesem Kontext wurden auch Sprachforscher in die Türkei entsandt, formal um dort den �� 35 S. zu diesem Institut Bittel (1979). 36 Es war auch nicht Gegenstand der politischen Kontrolle, die von Deutschland aus in der Türkei mit den Inspektionsreisen von H. Scurla 1937 und 1939 durchgeführt wurde, wie dessen Bericht (der sog „Scurla-Bericht“) zeigt, s. Şen/Halm (2007), wo er wieder abgedruckt ist. Scurla (1905–1981) war promovierter Volkswirt und als solcher zunächst für den DAAD tätig. 1933 Eintritt in die NSDAP, seit 1935 im REM; dort als Regierungsrat zuständig für Auslandsfragen.
212 � Emigration und Exil von Sprachforschern akademischen Aufbau zu unterstützen, aber eben auch mit einer politischen Mission (s. BRINKMANN, GABAIN); in Istanbul war auch ein Wissenschaftliches Institut geplant, das aber nicht zustandekam. Die Türkei war vor allem auch der Standort für Geheimdienstoperationen im Vorderen Orient, die gegen die britische Vormachtstellung dort gerichtet waren (s. bei CASKEL, FALKENSTEIN).37 Dieses politische Umfeld der Tätigkeit von Deutschen im Ausland ist zumindest kontrastiv für die Beurteilung von Exilaktivitäten daher auch in eine solche Dokumentation einzubeziehen. Eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung der jüngeren türkischen Reformbemühungen hatte der Schweizer Pädagoge Albert Malche (1876–1956), der als Professor in Genf seit 1932 bei der von Atatürk in die Wege geleiteten Bildungsreform als Berater für die Modernisierung an Universitäten nach westlichem Vorbild fungierte. An ihn hatte sich der Leiter der in Zürich von Philipp Schwartz gegründeten Notgemeinschaft für deutsche Wissenschaftler im Ausland gewendet (s. 4.3.), die daraufhin systematisch vertriebene Hochschullehrer für die Türkei anwarb.38 Dabei wurde die Emigration in die Türkei besonders von dem britischen Unterstützungskomitee gefördert, s. Bentwich (1953: 53). Einer dadurch drohenden politisch ungünstigen Ausrichtung der türkischen Politik unter dem befürchteten Einfluß der Vertriebenen versuchte denn auch das faschistische Regime, gestützt auf einen Freundschaftspakt mit der Türkei, gegenzusteuern; aber die türkische Regierung war den entsprechenden Versuchen zur politischen Einflußnahme gegenüber bemerkenswert resistent, s. den in Fn. 42 in 4.5.10 erwähnten Bericht des 1937 und 1938 vom REM zu einer Art Inspektionsreise in die Türkei geschickten Herbert Scurla. Die Arbeitsbedingungen in der Türkei waren für die meisten Emigranten sehr widersprüchlich – und wurden entsprechend auch widersprüchlich umgesetzt. Aus türkischer Sicht handelte es sich schließlich nicht um ein Exil, sondern um einen eng umgrenzten Arbeitsvertrag, der zeitlich befristet war und von vorneherein auf die Turkisierung des damit Geleisteten abgestellt war. Vertraglich war den Eingestellten abverlangt, nach einer gewissen Übergangszeit auf Türkisch zu unterrichten; bis dahin waren ihnen türkische Assistenten als Dolmetscher zugeordnet, die dadurch als Nachwuchs qualifiziert werden soll�� 37 Im gleichen Sinne war dort auch der Iranist Hinz seit 1942 aktiv, der hier nicht dokumentiert ist (s. Ellinger 2006). Im politischen Fokus war dabei insbesondere der Iraq, der seit 1921 als Monarchie selbständig war, seit 1932 auch gegenüber dem bis dahin noch wirksamen britischen Protektorat. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der deutschen Geheimdienstaktivitäten besetzten die Briten das Land 1941 wieder. 38 S. Widmann (1973) sowie instruktiv die autobiographischen Aufzeichnungen von Fritz Neumark (1980), vgl. auch Walter (1986) mit Schwerpunkt bei den Juristen.
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ten, der letztlich dann die Arbeit der Emigranten übernehmen sollte. Über diese Weiterbildung türkischer Nachwuchswissenschaftler haben die Emigranten wohl ihre größte Wirkung in der Türkei entfaltet. Dazu gehörte auch die vertragliche Verpflichtung, für ihr jeweiliges Fach ein Lehrbuch zu schreiben, das dann ebenfalls von diesen Assistenten übersetzt werden sollte. Diejenigen Emigranten, die sich bemühten, selbst auf Türkisch zu unterrichten, stießen damit z.T. sogar auf den Protest der Studierenden, die die flüssige Darbietung der muttersprachlichen Assistenten den radebrechenden ausländischen Professoren vorzogen. Die wissenschaftliche Modernisierung, nicht zuletzt auch des osmanischen Türkischen, das in dieser experimentellen Phase der Hochschullehre auf eine moderne Form getrimmt werden mußte, bleibt noch genauer zu untersuchen. Sie erfolgte auch keineswegs nur in dem sprachlichen Spannungsfeld von Deutsch und Türkisch, da ein Teil der Immigranten zwangsläufig auch auf eine der anderen zugänglicheren europäischen Bildungssprachen (Französisch, gegebenenfalls auch Englisch) zurückgriff. Das Spektrum der Möglichkeiten, mit diesen Verhältnissen umzugehen, wird durch die Biographien in dem Katalog sehr deutlich: es reicht von denjenigen, die darin eine produktive Herausforderung sahen, bis zu denjenigen, die unter den Verhältnissen nur litten – was die materiellen Lebensbedingungen betreffen konnte, aber auch die Notwendigkeit, Studenten zu unterrichten, die keine spezifische Vorbildung hatten (s. etwa bei REICHENBACH). Angesichts der schlechten Arbeitsbedingungen suchten fast alle nach Möglichkeiten, von dort aus rasch in einem anderen Land, in der Regel den USA, eine bessere Arbeitsstelle zu finden.39 Die Einreise- und Arbeitsmöglichkeiten in der Türkei waren abhängig von deren außenpolitischer Orientierung – und zugleich der des deutschen ‚Reichs‘. Bis zum Wendepunkt des Weltkriegs versuchte die Türkei zwar einerseits ihre Neutralität zu wahren, dabei aber die traditionell engen (vor allem auch ökonomisch begründeten) Beziehungen zu Deutschland beizubehalten. Das gab auch den politischen Bemühungen des deutschen ‚Reichs‘ (über die Botschaft im Land) Raum, die Türkei enger einzubinden: das ist der Rahmen für die Entsendung von wissenschaftlichem Personal (s.o. zum Archäologischen Institut in Istanbul, s. auch im Katalog bei BRINKMANN, GABAIN, STEUERWALD). Da Rußland �� 39 Zu den (meist eher idealisierend dargestellten) harten Lebensbedingungen der wissenschaftlichen Immigranten in der Türkei, s. die autobiographischen Notizen von L. Dieckmann in: Schwarz/Wegner (1964: S. 122–126); s. auch König/Straube (1984). Die neuere türkische Diskussion um die Folgen dieser Wissenschaftsimmigration ist eher kritisch in Hinblick auf positive Folgen, s. Erichsen in Kubaseck/Seufert (2008: S. 41–48).
214 � Emigration und Exil von Sprachforschern bzw. die Sowjetunion für die Türkei der primäre außenpolitische Gegner war, war die Unterstützung der deutschen Politik im Krieg zunächst gewissermaßen selbstverständlich. Nach der Niederlage von Stalingrad revidierte die Türkei realistisch ihre Politik und richtete sie auf die Nachkriegsverhältnisse nach der erwarteten Niederlage Deutschlands aus. Am 2.8.1944 erhielten alle im Land ansässigen deutschen Staatsbürger (also mit Einschluß der Österreicher) die Option, sofort auszuwandern oder interniert zu werden, wobei der Emigrationsstatus die Umstände bestimmte. Wer sich zum NS-Regime bekannte, aber noch nicht gleich ausreisen konnte, wurde in Istanbul interniert, die anderen wurden in drei Orte in Anatolien deportiert, die Gegner und Verfolgte von anderen, die aus anderen Gründen nicht zurückreisen wollten, trennten. Von den türkischen Behörden als unabkömmlich angesehene Angestellte, insbesondere prominente Professoren der Universität Istanbul, aber auch einige andere konnten ihre Tätigkeit weiterführen und den Wohnsitz behalten, s. TIETZE. Da den Deportierten reguläre Arbeit untersagt war, waren die Lebensbedingungen für sie z.T. sehr hart; oft waren sie abhängig von Hilfsleitungen der Emigrantenorganisationen wie z.B. durch das Free Austria Movement für die Österreicher. Zum 23.3.1945 erklärte die Türkei Deutschland den Krieg und trat dem Bündnis der Alliierten bei. Über die einzelnen Fälle direkter persönlicher Förderung der Assistenten/Schüler hinaus haben die Aktivitäten der eingewanderten deutschen Wissenschaftler offensichtlich sehr viel weniger Spuren im türkischen Bildungssystem hinterlassen, als in den zumeist euphemistisch angelegten Darstellungen dazu i.d.R. unterstellt wird. Dem widerspricht auch nicht, daß auf der politischen Ebene der Verweis auf das Exil in der Türkei dort eine Schlüsselrolle im Umgang mit den westlichen Staaten hat, weil es die Türkei geradezu als Hüterin der Menschenrechte im Kontrast zur Rückfall in die Barbarei in Europa zeigt, s. dazu Konuk (2007).
4.5.10 USA Die USA waren seit dem 19. Jahrhundert ein zentrales Ziel der (z.T. massenhaften) Auswanderung aus Deutschland, so eben auch der Wissenschaftsemigration.40 Bei der Auswanderung vor 1933 ist denn auch die Grenze zwischen „regu-
�� 40 Dazu gehört auch, daß das Deutsche in einigen Staaten der USA im 19. Jhd. einen prominenten Status als Landessprache hatte – ohne allerdings jemals Kandidat für eine Nationalsprache zu sein, wie es als Mythenbildung gelegentlich angeführt wird (vor allem im Rückgriff
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lärer“ Migration und rassistisch bestimmter fließend, s. hier bei BOAS, H. COLLITZ, K. COLLITZ, KURATH, LAUFER, MEZGER, PROKOSCH, SPRINGER, eine Konstellation, die sich später fortsetzte, vgl. PENZL und mit einer Kontinuität über 1933 hinaus LESSING, SANDMANN u.a. Die akademische Migration korrespondierte mit dem Ausbau der US-Universitäten im letzten Drittel des 19. Jhds. ausdrücklich nach deutschem Vorbild, so bei der ersten „Forschungsuniversität“ Johns Hopkins (gegr. 1876), nachdem bis dahin die Hochschullandschaft auf stark religiös bestimmte Colleges beschränkt war (vergleichbar Fachhochschulen bzw. Pädagogischen Hochschulen in Deutschland). Das bildet auch den Kontext für die Aufnahme von Emigranten aus Deutschland nach 1933, vor allem über die in den USA wichtigen Stiftungen (allen voran die Rockefeller-Stiftung), die darin eine Chance zum Ausbau der US-Universitäten sahen. Zwar kam es im Ersten Weltkrieg zu einer Krise in der deutschen Einwanderung, unter der diejenigen zu leiden hatten, die als Deutsche im Land identifizierbar waren (s. hier bei LASCH, PROKOSCH u.a.; zum offenen Umgang mit diesem Problem, s. bei BOAS), aber erst der Kriegseintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg 1941 beendete schließlich die bis dahin noch bestehende relative Freizügigkeit im Verkehr mit Deutschland. Andererseits wurden die USA erst Exil-Ziel, nachdem die politischen Entwicklungen in Europa die unmittelbaren Nachbarländer dafür ausgeschaltet hatte: bis 1938 wurden die Einwanderungsquoten in den USA weniger als zur Hälfte ausgeschöpft – erst danach zielten die Fluchtbewegungen zunehmend auf die USA. Diese erwiesen sich schließlich im globalen Maßstab als Endstation der Auswanderungsperspektive; auch unter repressiven bzw. materiell extrem schlechten Lebensbedingungen in den USA zeigte sich für die Immigranten keine Alternative mehr: sie blieben (oder nahmen sich das Leben). Als die Verfolgungen in Deutschland publik wurden, löste das in den USA einen öffentlichen Schock aus, bei dem die Reaktion an die davon betroffenen großen Namen gebunden war: Albert Einstein, Thomas Mann u.a. Die spontane Hilfsbereitschaft, die zunächst als relativ kurzfristige Überbrückungsaktion verstanden wurde, verband sich mit dem Interesse, die entlassenen big shots für die USA zu gewinnen und so von „Hitlers Fehler“ zu profitieren. In vielen dieser Fälle betraf es Koryphäen, die schon vorher in die USA eingeladen waren, dort aber keine Stelle annehmen wollten (vgl. z.B. bei K. BÜHLER). So bestand eine erste Initiative des Emergency Committee (s.o. 4.3.; im folgenden EC), das hier
�� auf F. von Löher, „Des deutschen Volkes Bedeutung in der Weltgeschichte“, Cincinatti 1847). Auch ein 1794 in das Repräsentantenhaus eingebrachter Antrag, die Gesetze auch in deutscher Sprache zu veröffentlichen, wurde mehrheitlich abgelehnt.
216 � Emigration und Exil von Sprachforschern exemplarisch stehen kann, darin, im Juli 1933 eine Liste von gesuchten Personen aufzustellen, bei denen herauszufinden war, ob sie unter den gegebenen Bedingungen in die USA kommen wollten – überwiegend prominente Naturwissenschaftler. Die beiden Ausnahmen im Bereich der Geisteswissenschaften sind SPITZER (für Princeton „vorgesehen“) und W. STERN (für das Carnegie Institute of Technology). Es ist nicht untypisch, daß SPITZER trotz dieser Vorgabe zunächst nicht in die USA emigrierte (und auch seine spätere Entwicklung steht in dieser Konfliktkonstellation). Später verschoben sich unter dem Druck der massiven Verfolgung in Deutschland allerdings die Relationen: 81 geförderten Naturwissenschaftlern standen zuletzt 137 Geisteswissenschaftler gegenüber (Duggan/ Drury 1948: 78). Im Gegensatz zu den wenigen Prominenten (etwa SPITZER, JAEGER u.a.) landeten die meisten in diesem Katalog an kleineren Universitäten, vor allem in den Südstaaten, d.h. also an Universitäten, die selbst von den rassistischen Verhältnissen in den USA bestimmt waren, wo dann eben vorwiegend Schwarze und als jüdisch Verfolgte arbeiteten. Auch hier (nicht anders als in der Türkei) war für viele Emigranten vor allem die Konfrontation mit einer ungewohnten Unterrichtssituation das zentrale Problem, weil hier ihre Studierenden keine spezifischen Vorkenntnisse und besonderen fachlichen Interessen hatten, wie sie es von deutschen Universitäten gewohnt waren oder dort zumindest unterstellen konnten. Eine systematische Hilfe, die nicht nur die als Prestigegewinn für die USEinrichtungen zu gewinnenden Koryphäen betraf, stieß auf erhebliche Probleme angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation: die zu integrierenden Immigranten konkurrierten mit einheimischen Arbeitslosen. Im Oktober 1933 lagen dem EC die Angaben für die Entlassungen akademischer Mitarbeiter an einer Reihe von US-Universitäten vor: in 246 Hochschulen (öffentlich und privat) mit einem Lehrkörper von 27.000 Personen waren allein seit Juni 1930 2.000 Personen entlassen worden; detaillierte Angaben dazu liegen für 45 öffentliche (ö) und 119 private (p) Einrichtungen vor: 248 Professoren (ö: 69; p: 179) 465 associate/assistant professors (ö: 197; p: 268) 886 instructors (ö: 364; p: 522) 310 assistants (ö: 149; p: 161) Unter diesen Bedingungen konnte eine reguläre Aufnahme der Immigranten nur der Ausnahmefall sein. Dadurch war die Integration von Immigranten in die Hochschulen abhängig von dazu zu Verfügung gestellten privaten Mitteln, von Seiten der großen
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Stiftungen (außer Rockefeller insbes. noch Oberlaender Trust, Carnegie u.a.) sowie privater Spender. Von den 335 bis 1945 vom EC vergebenen Beihilfen für die Anstellung vertriebener Wissenschaftler wurden 303 von der Rockefeller Stiftung finanziert, die nach 1933 die Mittel für ihre bis dahin umfangreiche Förderung der Forschung (bzw. von Forschern) in Deutschland für diesen Zweck umwidmete.41 Das EC arbeitete dazu ein Förderungsmodell aus, das den Universitäten die Aufnahme von Emigranten ermöglichen sollte, wobei im Regelfall nur befristet bis zu 50% des Gehalts gezahlt wurde (die Immigranten wurden ohnehin mit der untersten Gehaltsstufe bedacht, $ 4.000 p.a. war die Obergrenze); die Einstellung wurde dabei als reguläres Verfahren praktiziert, eine spätere feste Stelle sollte in Aussicht stehen (das implizierte eine vergleichende fachliche Begutachtung und schloß im Falle von marginalen Fächern bzw. der Festlegung auf zu enge Spezialgebiete etwa der Orientalistik auch eine Ablehnung der Förderung ein). Von vornherein war die Förderung von emigrierten Nachwuchswissenschaftlern, die mit der großen Masse stellensuchender Akademiker in den USA konkurrierten, ausgeschlossen worden: eine Stelle mindestens als Privatdozent, in der Regel eine besoldete Stelle, war Förderungsvoraussetzung. In Extremfällen waren die Vermittelten nach einer Förderungszeit von 1 bis 2 Jahren wieder auf sich selbst angewiesen (bzw. mußten sich, wie WERNER, mit freier Kost und Logis begnügen). Daher versuchte die Rockefeller Stiftung auch von Anfang an, den Aufenthalt der Wissenschaftler in anderen Ländern zu fördern (in Europa bis zum Weltkrieg über ihr dortiges Büro mit der Subvention von Tätigkeiten in Frankreich, den Niederlanden, Dänemark usw.). Fest finanziert wurde von ihr ein Kontingent von Professorenstellen an der Hebrew University in Jerusalem (s. hier TUR-SINAI und WEIL). Als sich die Situation 1938 nach dem „Anschluß“ zuspitzte, ventilierte man erneut ein älteres Siedlungsprojekt in Mittel- und Südamerika bzw. unterstützte Aufnahmeuniversitäten dort (vor allem in Puerto Rico und Venezuela). Ab 1943, als die Emigration faktisch blockiert war, verlegte sich das Komitee bzw. die Rockefeller Stiftung darauf, den Wiederaufbau der Universitäten in Europa nach dem Krieg vorzubereiten (Duggan/Drury 1948: 78).
�� 41 Die folgende Darstellung stützt sich außer auf Duggan/Drury (1948) auf Unterlagen im Rockefeller Archive Center in New York, die einen Einblick in die Probleme der akademischen Flüchtlingshilfen geben, sowie auf eine ganze Reihe spezieller Studien (s. etwa Boyers 1972, Coser 1984, Fermi 1968, Heilbut 1983, Holborn 1965 und schon Pross 1955). Die Recherchen im Archiv führte H. Walther durch, der Dank des großzügigen Entgegenkommens des Archivs im größeren Umfang dort auch Kopien anfertigen konnte.
218 � Emigration und Exil von Sprachforschern Mit dem Kriegsausbruch verschärften sich die Probleme durch die wachsende Zahl nicht-deutschsprachiger Emigranten aus den besetzten Ländern. Für die Sprachwissenschaft war die Gruppe der französischen bzw. französischsprachigen Sprachwissenschaftler besonders wichtig, die in Reaktion auf die Besetzung Belgiens und Frankreichs in New York (wieder mit Unterstützung der Rockefeller Stiftung) die École Libre des Hautes Études etablierten (1942 eröffnet). Aus dieser ging der Linguistic Circle of New York gewissermaßen als Fortsetzung im Exil der Societé de Linguistique de Paris hervor, an dem auch eine Reihe deutschsprachiger Emigranten zentral beteiligt war: LESLAU, U. WEINREICH. Dieser Linguistic Circle gab später die Zeitschrift Word heraus, in der nicht nur viele der hier als explizite Sprachwissenschaftler Aufgeführten publizierten, sondern auch eher marginale Sprachforscher, die sich sprachwissenschaftlich orientierten, wie HOMEYER.42 Die École Libre wollte programmatisch eine Stellvertreterinstitution sein, und so erfolgten hier Veranstaltungen und Publikationen in Französisch. In diesem Rahmen waren aber nicht nur französische (bzw. wallonische) Wissenschaftler tätig, sondern auch andere Emigranten, die bereit waren, ihre Veranstaltungen auf Französisch zu halten, wie insbesondere Roman Jakobson.43 Dadurch etablierte sich in der Sprachwissenschaft der USA ein europäisch ausgerichteter Pol, was sich auch nach 1945 fortsetzte, als André Martinet dort eine Schlüsselfunktion übernahm. Insofern gab es im Exil, nicht nur, aber vor allem in den USA, vielfältige Verbindungen zwischen „deutschen“ Emigranten und denjenigen aus den besetzten Ländern. Eine Schlüsselrolle hatte die New Yorker New School for Social Research, die 1919 als private Universität gegründet wurde und in enger Verbindung mit der dortigen Columbia Universität programmatisch offen für europäische wissenschaftliche Entwicklungen war. Sie richtete 1933 mit Unterstützung der Rockefeller Stiftung die Graduate Faculty of Political and Social Science ein, an der eine Reihe der hier Aufgeführten tätig war (FRITZ, KRIS, LESLAU, PACHTER, POLITZER, REICHENBERGER, ROSENBERG, SPEIER, WITTFOGEL) und jüngere Emigranten wie AUSTERLITZ studiert haben. Die New Yorker New School war politisch expliziter und nicht auf die Gewinnung intellektueller Potentiale für die USamerikanische Gesellschaft ausgerichtet, wie es bei den sonstigen Bemühungen um deutsche Wissenschaftsemigranten der Fall war.44 Hinzu kamen in New �� 42 S. hier bes. bei U. Weinreich, aber auch bei Cassirer, Leslau, Marchand, Spitzer u.a. 43 Da er 1938 aus der Tschechoslowakei über Skandinavien 1941 in die USA emigrierte, firmierte er in New York als tschechischer Exilant, nach seinem letzten Arbeitsort vor der Auswanderung in Brünn/Brno. 44 Zur New School und zur University in Exile s. die Autobiographie ihres Gründers A. Johnson (1952); außerdem P. M. Rutkoff/W. B. Scott, in: Srubar (1988: 106–114), und Krohn in: Lehmann
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York auch Einrichtungen wie das private Asia Institute, an dem ebenfalls einige der hier Aufgeführte bis zu seiner Schließung arbeiteten, s. hier bei LESLAU, LICHTENSTADTER, MISH und OPPENHEIM (Iranian Institute). Aber die Einwanderung in den ersten Jahren nach 1933, als vor allem die großen Universitäten eine Chance sahen, deutsche „big shots“ einzuwerben, führte auch zu massiven Gegenreaktionen auf die Beschäftigung rassistisch verfolgter Wissenschaftler aus dem faschistischen Machtbereich, durchaus auf der Linie der ohnehin rassistisch beschränkten Einwanderungsregelungen (mit einer entsprechenden Quotenfestlegung schon 1926).45 Andererseits gab es wohl an allen größeren Orten der USA, vor allem an der Ostküste, ausgebaute jüdische Gemeinden, die oft auch eine ausgesprochen mitteleuropäische Ausrichtung hatten, sodaß hier für Immigranten, die sich als Juden verstanden, keinerlei Integrationsprobleme bestanden. In diesem Rahmen konnten sie sich auch als rassistisch Vertriebene öffentlich artikulieren wie z.B. mit der 1934 in New York gegründeten Zeitschrift Aufbau (die bis heute besteht, damals getragen von dem New Yorker New World Jewish Club, der 1924 gegründet worden war). Der wachsende öffentlich gemachte Antisemitismus übte auch Druck auf das EC aus:46 es mußte sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, überwiegend
�� / Oexle (2004, Bd. 2: 289–304). Johnson hatte schon vor 1933 enge Kontakte zu Sozialwissenschaftlern in Deutschland, die er nach 1933 versuchte, an die New School zu holen, angefangen bei dem Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler Emil Lederer (1882–1939), der wiederum gleich SPEIER einstellte, mit dem er vorher schon in Berlin zusammengearbeitet hatte und mit dem er jetzt den Personalstamm zusammenstellte; zu den deutschen Angehörigen s. PLESSNER in: Frankfurter Hefte 19/1964: 181–186; zur École Libre s. Chaubet/Loyer (2000). 45 S. generell zur restriktiven Einwanderungspolitik der USA gegenüber den Juden etwa Wyman (1984); s. 4.5.6. zu dem erst in Reaktion darauf etablierten systematischen Migrationsziel Palästina für Juden. 46 Die daraus resultierende Konfliktkonstellation ist bis in fachinterne methodische Optionen nachzuverfolgen – was hier nur angedeutet werden kann. Bei vielen US-amerikanischen Sprachwissenschaftlern artikulierten sich diese Widerstände in der gesuchten Stilisierung auf operational-effektives Vorgehen (den distributionalistischen Ansätzen bei Bloch, Trager, Smith u.a. in der Nachfolge von Bloomfield) in Abgrenzung von den als uneffizient-spekulativ hingestellten „europäischen“ (d.h. aber insbes. deutschen) Herangehensweisen, s. Hall (1969: 194, 196), Hymes/Fought (1975: 905f., 917), sowie mit aufschlußreichen Anekdoten gespickt Hall (1975); für die damals praktizierte Stigmatisierung als „unamerikanisches“ Vorgehen (so bei Trager u.a.), s. Joos (1957: 96). Insofern fiel hier die Immigration mit der erst damals in der Linguistic Society of America betriebenen Abgrenzung von der traditionellen Philologie zusammen (s. Kap. 5.4.7.); vgl. auch bei MENGES, der diese Konfrontation bei seinem ersten Auftritt im Yale Univ. Linguistic Club noch später als Schock erinnerte. Allerdings kann diese Grenzlinie nicht auf den Nenner synchron-deskriptive vs. diachron-vergleichende Sprachwis-
220 � Emigration und Exil von Sprachforschern zweitklassige, zudem zumeist jüdische Wissenschaftler ins Land zu holen, die besser qualifizierten arbeitslosen US-amerikanischen Akademikern die Arbeit wegnähmen. In Reaktion darauf publizierte das EC Erfolgsbilanzen, bei denen die schließlich in feste Stellen aufgerückten Immigranten als Beleg für das Einwerben von Spitzenleuten dienten: im Dezember 1938 publizierte das EC so eine Erfolgsbilanz von 55 Festangestellten unter den bisher geförderten 125 Stipendiaten, von denen weitere 5 zwischenzeitlich verstorben waren. In dieses Spannungsfeld gehören auch die Überlegungen des EC im Vorfeld seiner Vermittlungsaktivitäten, die Immigranten zunehmend nicht an die Hochschulen, sondern in Betriebe zu vermitteln (bzw. die Förderung auf Leute im Lande zu beschränken und nicht die Einwandererzahl noch zu vermehren, so Überlegungen des EC im März 1937) – vor dem Hintergrund eines verstärkten Bemühens um die „Einwerbung“ von Spitzenleuten. Entsprechend aufwendig wurde beim EC verfahren. Vor jeder Vermittlung wurde ein umfassendes Dossier von Gutachten zusammengestellt – übrigens nicht nur von US-Wissenschaftlern, sondern gerade auch von noch in Deutschland lebenden (so gutachteten z.B. HUSSERL, NORDEN u.a.) bzw. prominenten Immigranten (Paul Tillich z.B. gutachtete öfters auch über Orientalisten). In diesem Umfeld waren auch die Integrationsprobleme konfliktträchtig.47 Während Prominente gewissermaßen als Galionsfiguren eingekauft wurden und nicht mit kritischen Maßstäben gemessen wurden (s. etwa JAEGER), gab es heftige Reaktionen auf die kulturelle Distanz/Kritik der „Europäer“: der Topos von einer erneut drohenden „Kolonialisierung“ kursierte. Vor allem bei den Sozialwissenschaftlern kamen oft noch politische Konflikte hinzu (obwohl die damalige Zeit der Roosevelt-Administration nach links sehr viel offener war als die Nachkriegsentwicklung).48
�� senschaft gebracht werden, wie das in vielen Handbuchdarstellungen geschieht: nicht nur daß die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft in den älteren US-amerikanischen Handbüchern von den 30er bis 50er Jahren einen prominenten Platz einnahm (so von Bloomfield bis Hockett), insbes. die indo-europäische Sprachwissenschaft wurde mit der Erschließung neuer zentraler Sprachen (Hethitisch, Tocharisch etc.) in methodischer Hinsicht in den USA maßgeblich vorangetrieben, wie nicht zuletzt die vielen Beiträge von Sturtevant in Language zeigen (vgl. hier H. HOENIGSWALLD, PENZL u.a.). 47 Dazu instruktiv Heilbut (1983); bes. auch für die Geisteswissenschaftler Coser (1984). 48 Aber auch damals waren Regierungsbehörden, vor allem auch die Konsulate auf einen strikt antikommunistischen Kurs eingeschworen, der sie das NS-Deutschland als Bollwerk gegen den Kommunismus positiv sehen und entsprechend kritische Positionen negativ bewerteten ließ. Als Kommunisten identifizierte Personen waren ohnehin nicht als Immigranten zugelassen, s. mit Belegen bei Krohn (1998, Sp. 446–466).
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Bei der Rekrutierung und Vermittlung der Normalfälle wurden entsprechend zunehmend Persönlichkeitsstrukturen in den Vordergrund gestellt, die die Integrierbarkeit der Emigranten zeigen sollten. Begeisterte Dankesschreiben von allerdings i.d.R. kleineren Colleges im Mittleren Westen, für die der vermittelte Europäer ein Fenster zur großen Welt bedeutete, wurden dazu vorgezeigt: das EC belegte damit, daß „the cultural life of this country has been enriched by the addition of these scholars“ (so z.B. im Bericht vom Okt. 1938; Duggan/Drury [1948] drucken zahlreiche Briefe sowohl von ehemaligen Stipendiaten wie von den Leitungen der aufnehmenden Institutionen ab, die die Bandbreite der konfliktträchtigen Konstellationen spiegeln). Das „happy-end“ war allerdings nicht der Regelfall; eher selten kamen wohl provinzielle Bereitschaft zur Bewunderung auf der einen Seite und die Bereitschaft, auf europäische Universitätsstandards zu verzichten, auf der anderen Seite zusammen (solche positiven Fälle habe ich bei Sprachwissenschaftlern nicht dokumentiert gefunden). Das Förderungsmodell des Emergency Committees bestimmte sowohl die erfolgreiche Integration wie das in vielen Fällen tragische Scheitern der Hilfe: die geförderten Immigranten wurden als reguläre Arbeitskräfte eingestellt, die sich mit allen Härten, die die Umstellung für sie bedingte, auf die Arbeitsbedingungen in den USA einzulassen hatten – ohne Emigrationsbonus; bei Nicht-Erfolg (vor allem auch im für deutsche Professoren ungewohnten undergraduateUnterricht) wurde der zumeist nur kurzfristig abgeschlossene Vertrag nicht verlängert. Die Einbeziehung in diese Vorgaben erleichterte den Flexibleren unter den Emigranten die Umstellung, die so rasch die Trauer über die verlorene Heimat bearbeiten konnten. Unter Bedingungen des späteren Kriegsdienstes der USA wurden sie dann auch ganz zu US-Bürgern: durch den Kriegsdienst waren sie US-Bürgern gleichgestellt; sie erhielten nicht nur die Staatsbürgerschaft, sondern aufgrund eines entsprechenden Gesetzes für Kriegsveteranen („GI-Bill“) die Zulassung und ein Stipendium für das anschließende Studium, das vielen jüngeren Nachwuchswissenschaftlern überhaupt erst den (Neu)Einstieg in die US-Universitäten ermöglichte.49 Bei vielen war aber die Traumatisierung durch die Vertreibung ein Arbeitshindernis, das einer festen Anstellung im Wege stand (so deutlich bei vielen Erfahrungsberichten von den Hochschul- bzw. College-Leitungen in Duggan/Drury 1948). Bei allen diesen US-internen Problemen bestimmte das Bewußtsein von der sich abzeichnenden Katastrophe der Schoah die Aktivität des EC. Im Dezember
�� 49 Die GI-Bill hatte einen pragmatischen arbeitsmarktpolitischen Hintergrund: mit ihr wurde vermieden, daß ein Teil der rückkehrenden Kriegsveteranen direkt als Konkurrenten auf dem ohnehin belasteten Arbeitsmarkt erschien.
222 � Emigration und Exil von Sprachforschern 1938 rechneten führende Mitglieder des EC realistisch mit einem massenhaften Pogrom, das über Österreich und Italien auch auf die anderen Länder ausgreifen würde, die unter deutschen Einfluß kommen: in einem Bericht vom 22.12.1938 ist ausdrücklich von der drohenden Vernichtung der Juden die Rede; im übrigen unterstützte auch der US-Präsident Roosevelt (bzw. seine Frau) diese Aktivitäten, ohne damit aber an den restriktiven politischen Bedingungen gegenüber den Immigranten etwas zu ändern. Ohnehin zeugen die internen Unterlagen des EC von einem beachtlichen Durchblick: das EC weigert sich so z.B. 1938 die Ergänzungsliste der Londoner Notgemeinschaft zu verbreiten (wie es das noch mit der ersten Liste getan hatte), da offensichtlich dort viele (noch) nicht Entlassene aufgeführt seien, um diese nicht zu gefährden. Den Integrationsproblemen an den Hochschulen stehen aber die für Immigranten in einer expliziten Einwanderungsgesellschaft wie den USA ansonsten offenen Chancen gegenüber. Dazu gehörten vor allem auch die Karriereoptionen in der Regierung bzw. der staatlichen Verwaltung, bei der für die Neuorientierung der US-Politik nach der vorherigen isolationistischen Ausrichtung jetzt ein internationales know how fehlte. Diese Lücke konnte mit den akademisch gebildeten Immigranten geschlossen werden. Dazu gehörten insbesondere auch die verschiedenen Kriegsprogramme (nach Kriegseintritt der USA 1941), für die Immigranten teils wegen ihrer spezifischen fachlichen Qualifikationen, teils wegen ihrer sprachlichen und „landeskundlichen“ Kenntnisse rekrutiert wurden. Das Spektrum reichte hier von Aktivitäten in speziellen militärischen Einheiten (insbes. auch im Troß der vorrückenden US-Einheiten in Verbindung mit dem Office for Strategic Services [OSS], dem Vorläufer der CIA; s. hier ARNDT, MARCUSE, vgl. auch GUMPERZ),50 der Mitarbeit in sonstigen regierungsamtlichen Organisationen (s. etwa MAUTNER); schließlich auch dem militärisch organisierten Sprachvermittlungsprogramm zur Schulung für den Einsatz in den zu besetzenden Gebieten (unter Leitung des „rigiden“ Strukturalisten H. L. Smith), s. GARVIN, H. HOENIGSWALD, HOMBERGER, H. KAHANE, PENZL, vgl. auch GUMPERZ.51 Wichtig waren dabei auch die spezifischen „diskursanalytischen“ Forschungsprojekte, sowohl zur Analyse der ideologischen und propagandistischen Verhältnisse im feindlichen Deutschland wie zur Vorbereitung der geplanten „reeducation“. So sehr hier aber auch genuine sprachanalytische Aufgaben anstanden, so sehr zeigte sich hier das traditionelle Fachverständnis �� 50 Parallel zu den Aktivitäten in Großbritannien, s. BORINSKI, GALTON, JACKSON, RICE, WALZ. 51 S. dazu die Notiz in Language 38/1962: 464f. In dieses Programm wurde eine große Zahl von US-amerikanischen Sprachwissenschaftlern einbezogen wie z.B. der Orientalist und später maßgebliche Vertreter des Distributionalismus Zellig Harris, der das marokkanische Arabische in Hinblick auf den dort vorgesehenen Truppenstützpunkt übernahm.
Remigration nach 1945 � 223
der Emigranten: in den entsprechenden Programmen zur Propagandaanalyse (in methodischer Hinsicht: als sog. „Inhaltsanalyse“) des deutschen Rundfunks, der Wehrmachtsberichte u. dgl. waren zwar maßgeblich deutsche Immigranten beteiligt, aber eben Sozialwissenschaftler und Psychologen und keine „professionellen“ Sprachwissenschaftler, s. etwa KRIS/SPEIER (1944), PACHTER (1944), vgl. aber die Zusammenarbeit des früheren Rundfunkpraktikers SCHIROKAUER mit SPITZER (z.B. ihre gemeinsame Publikation 1949).52
4.6 Remigration nach 1945 Bei der Rückwanderung waren unterschiedliche Verzögerungsfaktoren wirksam: zunächst sprach die eventuelle Integration in dem Einwanderungsland, vor allen Dingen bei Familie, festem Beruf u. dgl., gegen eine Rückwanderung; bei den rassistisch Verfolgten blockierte die Traumatisierung durch die Schoah eine Rückkehr nach Deutschland. Hinzu kamen spezifische deutsche Nachkriegsprobleme mit den schwierigen Wiedergutmachungsfragen: auch da, wo sich die Universitäten um eine Rückwanderung bemühten, boten sie zumeist nur eine Wiedereinstellung auf der Basis der zum Zeitpunkt der Auswanderung bestehenden vertraglichen Verhältnisse an und ignorierten die Ansprüche aus den seitdem aufgebauten Weiterqualifikationen bzw. der erreichten Stellung im Einwanderungsland. Die komplexen Verhandlungen über eine eventuelle Wiedergutmachung waren sehr stark von lokalen Gegebenheiten bestimmt, die die Remigration verzögerten, manchmal auch verhinderten. Dazu gehörte, daß die früheren Stellen der Emigranten oft auch besetzt waren, sodaß eine Wiedereinstellung auf institutionelle Barrieren stieß, s. LERCH, E. LEWY etc.53 Schließlich gab es auch formale juristische Probleme: die potentiellen Rückwanderer waren vom NS-Regime in der Regel ausgebürgert worden und insofern oft auch noch staatenlos. Die Rückwanderung hätte hier mit einer Wiedereinbürgerung verbunden sein müssen, wofür tatsächlich auch in der SBZ ein rein formales Verfahren auf Antragstellung hin geschaffen wurde, nicht aber in den Westzonen (und später auch nicht in der BRD): hier wurde einem solchen �� 52 Aus diesem Grund habe ich auch eine Reihe der hier beteiligten Forscher als Sprachforscher in den Katalog aufgenommen: den Psychoanalytiker KRIS, die Soziologen (und frühere Journalisten) SPEIER und PACHTER. Zu diesem Forschungsfeld zählen auch die aus dem BÜHLERInstitut kommenden europäischen Sozial- und Kommunikationsforscher LAZARSFELD und (ALBU)-JAHODA, sowie MARCUSE und KORSCH. 53 Ein Beispiel für eine detaillierte Aufarbeitung ist Szabo (2000) zu den Verhältnissen an der Universität Göttingen.
224 � Emigration und Exil von Sprachforschern Verfahren die komplizierte Klärung der Rechtsansprüche (Wiedergutmachungsansprüche) vorgeschaltet, die die Verfahren z.T. erheblich verzögerten (zum Generellen, s. Scholz 2000; in einigen Biographien hier verweise ich auf solche Konflikte, s. z.B. E. LEWY). Vor Ort wurden die Probleme schließlich noch durch die Lobby derer verkompliziert, die nach dem Krieg zunächst Berufsverbot erhalten hatten, dann aber wieder auf die Stellen drängten (die sog. „131er Hochschullehrer“)54 – die in den Universitäten oft einen größeren Rückhalt fanden als die Ausgewanderten, s. z.B. hier bei H. FRAENKEL. Politische Taktlosigkeiten der Hochschulverwaltung konnten schließlich noch das Ihre tun, s. etwa bei A. GOETZE (aber auch SPITZER für ein Gegenbeispiel).55 Ohnehin war eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit so gut wie inexistent – auch von der Verfolgung selbst Betroffene konnten im Amt eine solche Verdrängungspolitik mitspielen.56 Relativ offen vor allem für politische Emigranten war nur die SBZ/DDR, bei der es allerdings dann Schwierigkeiten in Hinblick auf die eventuell gegebene Konstellation der rassistischen Verfolgung geben konnte, s. hier STEINITZ. Zu den besonderen Bedingungen gehörte allerdings auch die unterschiedlich praktizierte Entnazifizierung, mit den z.T. geradezu grotesken Verhältnissen an der Neugründung Mainz, bei der 1946 der Betrieb mit einem neu rekrutierten Personal aufgenommen wurde, bevor Entnazifizierungsverfahren durchgeführt wurden, sodaß in der Folge eine ganze Reihe von Altnazis wieder entlassen werden mußte (einschließlich des Gründungsrektors), aber auch erheblich Belastete weiter im Dienst blieben.57 Faktisch änderten sich die Verhältnisse auf einer informellen Ebene erst am Ende der 1950er Jahre/seit Beginn der 1960er Jahre, als eine große Zahl der Emigrierten, ohne ihr Lebenszentrum im Einwanderungsland zu verlagern, in �� 54 Nach dem Artikel 131 des Grundgesetzes der BRD zur Wiederbeschäftigung von Personen, die vor 1945 im Staatsdienst waren. Durch ein Gesetz wurde 1951 geregelt, daß alle, die nicht direkt „belastet“ waren, wieder eingestellt werden konnten. Diese Personen konnten ggf. auch ihre früheren Titel mit dem Zusatz „zur Wiederverwendung (z. Wv.)“ führen – informell wurden sie die „131er“ genannt. Bei Erreichen der Altersgrenze wurden sie pensioniert (mit den entsprechenden Bezügen). Zur Reintegration der 131er und ihrer Lobby-Arbeit, s. Jedlitschka (2008); s. auch 6.9. 55 Dieser Komplex gehört zu den am wenigsten aufgehellten. Für ein germanistisches Fallbeispiel, bei dem eine verschworene Gemeinschaft von „alten Kämpfern“ auch nach 1945 den akademischen „Wiederaufbau“ bestimmte, s. Jäger 1998. 56 S. Oberkofler / Goller (1995: 327–8) zu BRUNNER als wiedereingesetztem Nachkriegsrektor an der Universität Innsbruck. 57 S. Defrance (2000).
Remigration nach 1945 � 225
Deutschland bzw. Österreich Gastprofessuren wahrnahmen. Im Katalog unterscheide ich daher zwei Zeitphasen: – Ende des Exils: 1945–1952, s. NEHRING, ROHDE, STEINITZ, – spätere Rückwanderung nach 1952, bei der noch zu unterscheiden wäre, ob sie in der aktiven Zeit (mit einer entsprechenden Position) oder im Ruhestand erfolgte. Eine gewisse Übergangsposition nehmen hier die Gastprofessuren ein. Einzelheiten ergeben sich aus den Einzelbiographien,58 so ARNDT: 1961/1962 (Münster); BAR-HILLEL: 1971 (Konstanz); BLOCH: 1965 (Münster, Erlangen); BONHEIM: 1963–1965 (München); DEUTSCH: 70er Jahre (Frankfurt, Heidelberg), 1977–1987 (Berlin); E. D. M. FRAENKEL: 1953 nach Emeritierung (BRD); H. FRAENKEL: 1953 nach Emeritierung, 1955–1957 (Freiburg/Br.); GAEDE: 50er Jahre (BRD); GUMPERZ: 80er Jahre (Konstanz); KAHLE: 1947 nach Emeritierung (Bonn, Halle, Münster); LEO: 1959 nach Emeritierung (Bonn , Berlin); MENGES: sofort nach 1945 (BRD); PENZL: regelmäßig seit den 60er Jahren (BRD); PULGRAM: 1970, 1972, 1975 (BRD); REICHARDT: 1957/1958 (Marburg); REICHENBERGER: 1960/1961 (München, Bonn, Erlangen); SANDMANN: 1973 nach Emeritierung (BRD); SCHIROKAUER: 1953 (Frankfurt/M.); SKUTSCH (BRD); H. SPERBER: 1956/1957 (Hamburg), 1960–1963 (Bonn). Die persönlichen Konstellationen können komplex sein und durch die reine chronologische Zuordnung verdeckt werden. Die Wahrnehmung als Exil und der Wunsch nach Rückwanderung konnte durch die Familiensituation blockiert sein (eine Ehefrau, die nicht nach Deutschland wollte/konnte; Kinder, die im Einwanderungsland in die Schule gingen u. dgl.), s. z.B. K. BÜHLER für ein dramatisches Beispiel. Ein besonderer Fall sind diejenigen, die nach Kriegsende als Spezialisten auf Seiten der Alliierten (zumeist der US-Amerikaner) nach Deutschland zurückkehrten, hier z.T. auch militärische und Verwaltungsaufgaben übernahmen, zumeist aber nicht in Deutschland blieben: GUMPERZ, MARCUSE, SPEIER, vgl. auch THIEBERGER, komplexe Überlagerungen kommen hier vor, s. etwa BORINSKI. Mit der Möglichkeit der Rückkehr wurde für viele Emigranten aber deutlich, daß sie nicht im Exil, sondern ausgewandert waren. Vor allem die Ambivalenzen gegenüber dem Einwanderungsland USA wurden in dieser Konstellation deutlich, die für die meisten die Rückkehr zumindest in ihrer aktiven Zeit ausschlossen.
�� 58 Bei Aufenthalten an verschiedenen Universitäten steht summarisch nur BRD als Angabe.
226 � Emigration und Exil von Sprachforschern
4.7 Statistik der Auswanderung 4.7.1 Der chronologische Verlauf59 Ägypten Äthiopien Argentinien Australien Belgien Bolivien Brasilien Bulgarien Chile China
1
vor 1933 36–37
1 1
2
33–35
1 3 7
40–45
2
1945 ff.
ČSR Dänemark Frankreich 33–35
1 4
4
2
1 1 1
38–39 40–45
4
33–35
nesien
1
1 2
2 24 9 25 4 31
40–45 1945 ff.
na/Israel
2
3 15 3 4
1
38–39
2 4
8 1 6
1
Groß-
gen
2 6
vor 1933
2 2
britannien
Kanada Nieder- Norwe- Palästi-
36–37
5 1
1
1 1 4
1
land
6
lande
1
Griechen-
3 15
36–37
1945 ff.
3
1
38–39
vor 1933
1 1
22
Indien
Irak Irland Italien Jamaica
3 1 1 6
1 1 1
Polen Portugal
1 1 1
Indo-
2
2
1
1
3 9 4 1 2
1
Rumä- Schwe- Schweiz Sowjet- Spanien nien
den
1 1 2 1 4
2 2 2 2 4 6
union
2 7 1 7 2 8
1
1 2
�� 59 Hier nur Angaben zu den quantitativen Verhältnissen; detailliert aufgeschlüsselt nach den betroffenen Personen im Katalog. Die letzte Zeile („1945 ff.“) gibt die Zahl der in dieser Zeit noch im Land gebliebenen Immigranten.
Statistik der Auswanderung � 227
Sri Lanka Südafrika
Türkei
USA
3 13 5 2 2 20
13 20 11 43 25 123
Venezuela
vor 1933 33–35
1
36–37 38–39 40–45 1945 ff.
1 1
1
1
Deutlich ist, wie die Auswanderung in den ersten Jahren streute, vor allem auch in die Nachbarstaaten geht – offensichtlich in der Erwartung einer baldigen Rückkehr bzw. in der Annahme einer nur vorübergehenden rassistischen Entwicklung in Deutschland. Bereits vor Kriegsende zeichneten sich die USA als hauptsächliches Einwanderungsziel ab, in dem die Auswanderer/Flüchtlinge dann auch verblieben.
4.7.2 Zum akademischen Profil der Exilierten Im Katalog sind 252 Biographien dokumentiert, bei denen eine ExilKonstellation anzunehmen ist, also eine Auswanderung unter dem Druck der (drohenden) Verfolgung.60 Die Konflikt-Konstellation bei der Auswanderung stellte sich je nach dem bereits erreichten akademischen Status sehr unterschiedlich dar. Das Folgende ist eine grobe Aufstellung:61 Von einem Lehrstuhl entlassen oder von einer solchen Position aus wanderten 31 Personen im Katalog aus: AUERBACH, K. BÜHLER, CASSIRER, DEBRUNNER, E. D. M. FRAENKEL, TH. GEIGER, GOETZE, E. GOLDMANN, GOLDSTEIN, R. HOENIGSWALD, HÜBENER, IMELMANN, JAEGER, KAHLE, KOPPERS, KORSCH, LANDSBERGER, MAAS, MITT-
�� 60 Die folgende Auswertung bezieht sich auf den Zeitpunkt der Auswanderung. Die Verhältnisse sind z.T. komplexer, weil einige in Deutschland (bzw. in einem Konzentrationslager) umgebracht wurden, die vorher schon in Reaktion auf die rassistischen Konstellation in Deutschland ausgewandert waren (s. ARONSTEIN, LASCH). Dabei wird hier auch eine Konstellation als Auswanderung registriert, die nach der deutschen Besetzung nach Kriegsbeginn in eine Verfolgungssituation umkippte, so in den Niederlanden und in Frankreich, s. z.B. bei SELZ, SPANIER, WEINBERG. Mit aufgeführt sind auch ältere Auswanderer vor 1933, bei denen der rassistische Hintergrund für die Auswanderung offensichtlich ist (z.B. BOAS, LAUFER, SAPIR). 61 Die ausgewerteten Quellen machen eine feinere Untergliederung bei der Statusgruppe der Nicht-Lehrstuhlinhaber z.T. nicht möglich, sodaß diese hier zusammengefaßt werden.
228 � Emigration und Exil von Sprachforschern WOCH,
NEHRING, OLSCHKI, POEBEL, POKORNY, F. RANKE, SCHERMAN, SELZ, SLOTTY, SPITZER, STEINDORFF, W. STERN, STRAUSS. Genauer noch zu differenzieren ist die große Gruppe (46) korporationsrechtlicher Hochschullehrer ohne einen Lehrstuhl (Privatdozenten mit oder ohne Anstellung, a.o. Professoren mit oder ohne etatisierte Stelle usw.):62 ANTHES, ARGELANDER-ROSE, BAADER, BABINGER, BOAS, CH. BÜHLER, CARNAP, H. COLLITZ, H. FRAENKEL, FREUD, FRIEDMANN, VON FRITZ, FROESCHELS, B. GEIGER, GELB, GUTKIND, HATZFELD, HALOUN, HEIMANN, HERZFELD, HERZOG, P. E. KRAUS, LEO, E. LEWY, J. LEWY, PICK, PLESSNER, H. RANKE, REICHARDT, REICHENBACH, RITTER, ROHDE, RUBEN, SCHEFTELOWITZ, SCHMIDT, SCHMITT, SIMON, A. SPERBER, H. SPERBER, TILLE-HANKAMER, TUR-SINAI, WAGNER, WALZ, WEIL, WERNER, H. ZIMMER. Eine große Gruppe hatte promoviert und war z.T. auch auf Assistentenstellen tätig, auf denen sie entlassen wurden bzw. von denen aus sie emigrierten; hierher sind auch diejenigen gruppiert, die an Schulen unterrichteten, insges. 110 Personen: ADOLF, ALBU-JAHODA, ANHEGGER, BACH, BEN-HAJJIM, BENJAMIN, BENTON, BERGEL, L. BIELER, BIN-NUN, S. BIRNBAUM, BLISS, BORINSKI, BOSSERT, BRAUN, BRAVMANN, K. COLLITZ, CUNZ, DEUTSCH, EISLER, FEIST, FIESEL, FREUDENTHAL, FREUND, W. FUCHS, GAEDE, GLOGAUER, M. D. GOLDMAN, GÜTERBOCK, HAMBURGER, HENNING, HESSE, HEYD, HOMBERGER, HOMAYER, HORN, JACKSON, JOLLES, H. KAHANE, R. KAHANE, F. R. KRAUS, K. KRAUS, KRIS, LAUFER, LAZARSFELD, LEHMACHER (?), LEHNER, LEIBOWITZ, LESSING, LEWENT, H. LEWY, LICHTENSTADTER, LIEBENTHAL, LOOSE, E.-M. LÜDERS, MALKIEL, MARCHAND, MARCUSE, MATOUŠ, MAUTNER, MENGES, MEZGER, MISH, MODRZE, MÜLLER-LISOWSKI, NAUMANN, OPPENHEIM, PACHTER, PENZL, H. W. POLLAK, POLOTSKY, RAMBERG-FIGULLA, RECHNITZ, REICHENBERGER, REIFLER, REUNING, ROSENTHAL, G. SACHS, L. SACHS, SANDMANN, SCHAECHTER, SCHELUDKO, SCHINDLER, SCHIROKAUER, E. SCHLESINGER, G. SCHLESINGER, SCHNEIDER, SCHNITZLER, SEIDEL, SEIDEL-SLOTTY, SIEMSEN, SKUTSCH, SPANIER, SPEIER, SPITZ, SPRINGER, STEINER, STEINITZ, STEUERWALD, STOESSL, TEDESCO, TIETZE, VOEGELIN, WEIGL, M. WEINREICH, H. WILHELM, WITTEK, WITTFOGEL, G. ZUNTZ, L. ZUNTZ. Die anderen hatten ihr Studium noch nicht abgeschlossen oder auch noch gar nicht begonnen, insges. im Katalog 65 Personen: ANSTOCK, ARNDT, AUSTERLITZ, BACON, BÄUML, BAR-HILLEL, BARTHOLMES, A. BIELER, H. BIRNBAUM, BLAU, BLOCH, BONHEIM, BORNEMANN, BUCK-VANIOĞLU, DOTAN, ELLIOTT, FILLENBAUM, �� 62 Das ausgewertete Personalschrifttum ist in dieser Hinsicht unterschiedlich explizit, sodaß hier nur eine summarische Auflistung möglich ist. Ein verliehener Professorentitel ohne volle Lehrbefugnis (also ohne Habilitation) wird nicht registriert. Im einzelnen konnten die Verhältnisse komplexer sein, weil u.U. schon vor 1933 Sanktionen verhängt worden waren. So war z.B. RITTER vorher schon seine Professur entzogen worden, und er wurde auch nach 1945 nur noch als a.o. Professor eingestuft.
Statistik der Auswanderung � 229
FLEISCHHAUER, FLUSSER, FORCHHEIMER, T. FUCHS, FUKS, GALTON, GARVIN, GOLDSCHMIDT, GOSHEN-GOTTSTEIN, GUMPERZ, HAAS, HALPERT, HERCUS, G. HOENIGSWALD, H. HOENIGSWALLD, KRONIK, KURATH, LENNEBERG, LESLAU, NEUBERGER-DONATH, OETTINGER, PERLOFF, PFLÜGER, POLITZER, PROKOSCH, PULGRAM, RABIN, RECHTSCHAFFEN, RICE, H. ROSÉN, H. B. ROSÉN, ROSENBERG, SAMUELSDORFF, SCHWARZ, SELIGSO(H)N, R. A. STEIN, C. STERN, STEVENS, STORFER, STRAUBINGER, THIEBERGER, WEINBERG, WEINER, U. WEINREICH, S. A. WOLF, ZACH, K. ZIMMER, vgl. auch SAPIR.
4.7.3 Die Immigrationsländer63 Ägypten 36–37 Gesamt: 1
P. E. KRAUS 36–44†
Äthiopien vor 1933 Gesamt: 1
BRAUNER-PLAZIKOWSKI 14–42 (D)
davon 1945 ff.: 0
davon 1945 ff.: 0
Argentinien 33–35 Gesamt: 2
E. SCHLESINGER 33–66 (BRD); G. SCHLESINGER 33–55† davon 1945 ff.: 2
Australien 38–39 40–45 1945 ff. Gesamt: 8
M. D. GOLDMAN 39–57† H. W. POLLAK 41?-76†; RECHNITZ 40–79†; STORFER 41–44† BLISS 46–85†; ELLIOTT 59–2012†; HERCUS 56ff.; HESSE 65–79† davon 1945 ff.: 7
�� 63 Namen nach Ländern und Zeitabschnitten geordnet, ggf. mit vermerkter Weitermigration. In der letzten Zeile jeweils die Anzahl der Einwanderungen insgesamt sowie derjenigen, die nach Kriegsende (1946 und später) im Land verblieben waren bzw. noch nach dort einwanderten (unabhängig von einer evtl. späteren Weitermigration). Bei ‚gesamt‘ werden alle Fälle von Einwanderung in das betreffende Land gezählt, ggf. also mehrfach bei der gleichen Person. Da dieser schematische Überblick auch die Wanderungen vor 1933 registriert, gibt es Problem bei der Behandlung der politischen Neuordnung nach dem ersten Weltkrieg, besonders in dem ehemaligen k.u.k. Österreich-Ungarn. Die alte Mobilität, orientiert auf das Zentrum Wien, blieb u.U. bestehen, war seitdem aber grenzüberschreitend. Das führt zu komplexen Konstellationen, die hier nur z.T. registriert sind, weil sie unter der Zielsetzung der Dokumentation marginal sind; vgl. z.B. die Aktivitäten in Ungarn und in Österreich von Storfer. Einzelheiten finden sich jeweils im Katalog.
230 � Emigration und Exil von Sprachforschern Belgien vor 1933 33–35 38–39 Gesamt: 3
FUKS ?–33 (Portugal) WITTEK 34–40 (GB) HATZFELD 38–40 (USA)
Bolivien 38–39 Gesamt: 1
GLOGAUER 39–53†
davon 1945 ff.: 0
davon 1945 ff.: 1
Brasilien 33–35 40–45 1945 ff. Gesamt: 3
LENNEBERG 33–45 (USA) BACH 41–46 (Frankreich); FLUSSER 40–72 (Frankreich) BACH 48–83 (BRD) davon 1945 ff.: 2
Bulgarien 33–35 Gesamt: 3
BABINGER 35–37 (Rumänien); SCHELUDKO 33–54†; SCHNEIDER 33–36 (USA) davon 1945 ff.: 1
Chile vor 1933 1945 ff. Gesamt: 2 China vor 1933 33–35 38–39 40–45 Gesamt: 8 ČSR vor 1933 33–35 1945 ff. Gesamt: 6 Dänemark 33–35 38–39 40–45 Gesamt: 5
LENZ 1890–38† RUBEN 48–50 (DDR) davon 1945 ff.: 1
W. FUCHS 26–49 (BRD); REIFLER 32–47 (USA); STEINEN 27–38 (USA); H. WILHELM 32–48 (USA); VON ZACH 01–18 (Indonesien) LIEBENTHAL 34–52 ( Indien) STORFER 38–41 (Australien) BLISS 40–46 (Australien) davon 1945 ff.: 4
SLOTTY 28–53 (DDR) MATOUŠ 33–39 (Türkei); MENGES 37 (Türkei); SEIDEL 33–38 (Rumänien); SEIDELSLOTTY 33–38 (Rumänien) MATOUŠ 46–84† davon 1945 ff.: 2
TH. GEIGER 33–43 (Schweden); GOETZE 33–34 (USA); KORSCH 33–36 (USA); G. ZUNTZ 35–39 (GB) FEIST 39–43† TH. GEIGER 45–52† davon 1945 ff.: 1
Statistik der Auswanderung � 231
Frankreich vor 1933 33–35
Gesamt: 26
FUKS 30-? (Belgien); LESLAU 31–42 (USA); RICE 32–40? (GB) BACH 35–41 (Brasilien); BENJAMIN 33–40†; FRIEDMANN 33–42†; GUTKIND 34–35 (GB); HAMBURGER 33 (Schweden); JOLLES 34–35 (GB); P. E. KRAUS 33–36 (Ägypten); J. LEWY 33–34 (Palästina); NAUMANN 35–38 (USA); OETTINGER 33–41 (USA); PACHTER 33–41 (USA); PFLÜGER 33–34 (Schweiz); SPITZ 33–38 (USA); R. A. STEIN 33–99† ; THIEBERGER 34–52 (BRD) HORN 38–40? (Schweiz); MITTWOCH 38–39 (GB); OPPENHEIM 38–41 (USA); ROSENBERG 38–46 (USA) BACH 46–48 (Brasilien); BORNEMANN 47–49 (GB); BUCK-VANIOĞLU ca. 60–82†; FLUSSER 72ff.; THIEBERGER 64–2003† davon 1945 ff.: 6
Griechenland 36–37 38–39 Gesamt: 3
FAHRNER 39–45 (D) H. KAHANE 38–39 (USA); R. KAHANE 38–39 (USA) davon 1945 ff.: 0
38–39 1945 ff.
Großbritannien vor 1933 33–35
36–37
38–39
40–45 1945 ff. Gesamt: 70
K. COLLITZ 1889–1899 (D), 01–04 (USA); FREUND 02–18 (D) ARNDT 33–36 ( Polen); S. BIRNBAUM 33–70 (Kanada); BORINSKI 33–45 (BRD); BORNEMANN 33–40 (Kanada); CASSIRER 33–35 (Schweden); EISLER 34–82†; FORCHHEIMER 34?-37 (USA); E. D. M. FRAENKEL 34–70†; GOLDSCHMIDT 33–50†; GUTKIND 35–40†; HEIMANN 33–45 (Sri Lanka); HERZFELD 35–36 (USA); JOLLES 35– 38 (USA); LEO 35–38 (Venezuela); LICHTENSTADTER 33–38 (USA); MODRZE 33?-35 ( D); RABIN 34–56 (Israel); RECHNITZ 34–40 (Australien); SAMUELSDORFF 33–36 (Palästina); SCHEFTELOWITZ 33–34†; SCHINDLER 33–64†; SKUTSCH 33?-90†; WOLF ?-45/46 (SBZ); L. ZUNTZ 35–42† ALBU-JAHODA 37–44 (USA); ELLIOTT 36–59 (Australien); VON FRITZ 36 (USA); HENNING 36–61 (USA); PFLÜGER 36?-94†; SCHWARZ 36–55 (NL); SIMON 36–81†; STEINER 36–52†; WALZ 36–47 (BRD) BÄUML 39–42 (USA); BENTON 38–39 (USA); BERGEL 39–40 (USA); L. BIELER 39– 40 (Irland); BLISS 39–40 (China); BRAUN 39–48 (BRD); FILLENBAUM 39–46 (USA); FLUSSER 39–40 ( Brasilien); FREUD 38–39†; GALTON 39–56 (Österr.); E. GOLDMANN 39–42†; HALOUN 38–51†; HERCUS 38–56 (Australien); HERZOG 38– 46† (über die Niederlande); HOMAYER 38–51 (BRD); IMELMANN 39–45†; JACKSON 38–50 (Kanada); KRIS 38–40 (Kanada); MAAS 39–64†; MAUTNER 38 (USA); MITTWOCH 39–42†; ROSENTHAL 38–40 (USA); SANDMANN 38–50 (Jamaika); H. ZIMMER 38–40 (USA); G. ZUNTZ 39–92† HAAS 40–97†; KAHLE 40–63 (BRD); SELIGSO(H)N 39–47 (USA); WITTEK 40–78† ALBU-JAHODA 58–2001†; BORNEMANN 50–60 (BRD); HEIMANN 49–61†; HOMAYER 63–73 (BRD); RICE 40–62†; SCHWARZ 62–82†; WALZ 68–85† davon 1945 ff.: 31
232 � Emigration und Exil von Sprachforschern Indien 40–45 1945 ff. Gesamt: 2
MISH 41–46 (USA) LIEBENTHAL 52–59 (zuletzt Gastprofessuren in Israel und Frankreich, BRD) davon 1945 ff.: 1
Indonesien vor 1933 Gesamt: 1
VON ZACH 18–42†
Irak 38–39 Gesamt: 1
MISH 39–41 (Indien)
Irland 36–37 38–39 40–45 1945 ff. Gesamt: 6
davon 1945 ff.: 0
davon 1945 ff.: 0
E. LEWY 37–66†; H. LEWY 37–66†; MÜLLER-LISOWSKI 37–60 († – in Birmingham) LEHMACHER 39–48 (BRD) L. BIELER 40–81† HESSE 60–65 (Australien) davon 1945 ff.: 6
Israel s. Palästina/Israel Italien vor 1933 33–35
36–37 38–39 1945 ff. Gesamt: 18 Jamaica 1945 ff. Gesamt: 1
GUTKIND 23–28 (D); RICE 31 (Frankreich); WAGNER 32–36 (Portugal) FIESEL 33–34 (USA); G. HOENIGSWALD 33–38 (D); H. HOENIGSWALD 34–38 (D); H. KAHANE 33–38 (Griechenland); R. KAHANE 33–38 (Griechenland); OLSCHKI 33– 39 (USA); REICHENBERGER 34–38 (USA); SCHIROKAUER 33–37 (D); SELIGSO(H)N 33– 35 (D) HOMBERGER 36–41 (USA); ROSENTHAL 36–37/38? (Schweden); STEVENS 36–39 (USA); WAGNER 37–4764 (Portugal) NEUBERGER-DONATH 38–42/3? (NL) MERIGGI 49–82† davon 1945 ff.: 2
SANDMANN 50–60 (USA) davon 1945 ff.: 1
�� 64 WAGNER lebte ausgesprochen mobil, sodaß die Frage einer „Einwanderung" bei ihm problematisch ist (er behielt die deutsche Staatsbürgerschaft); nach Kriegsende war er zeitweise auch in Süd- bzw. Mittelamerika.
Statistik der Auswanderung � 233
Kanada 36–37 40–45 1945 ff. Gesamt: 7 Niederlande vor 1933 33–35
HÜBENER 37–40† BORNEMANN 40–42? (USA); KRIS 40 (USA) S. BIRNBAUM 70–89†; JACKSON 50–95†; LEO 48–64†; STOESSL 50–52 (Österr.) davon 1945 ff.: 4
40–45 1945 ff. Gesamt: 20
BAADER 23–44 (D); FREUDENTHAL 31–90† FALK 33–40/45†; GELB 33–36?; GOLDSTEIN 33–34 (USA); W. STERN 33 (USA), C. STERN 33 (USA); WERNER 33 (USA) FUKS 38–90†; GALTON 38–39 (GB); GUMPERZ 39 (USA); SCHMITT 38–43 (D); SELZ 38?-43†; SPANIER 39–42 (42 deportiert); STRAUSS 39–40†; WEINBERG 39–48 (USA) NEUBERGER-DONATH 42/3?-46 (Palästina) ANHEGGER 69–2001†; F. R. KRAUS 54–91†; SCHWARZ 55–62 (GB) davon 1945 ff.: 6
Norwegen 38–39 Gesamt: 2
CH. BÜHLER 38–40 (USA); K. BÜHLER 38 (USA) davon 1945 ff.: 0
38–39
Palästina/Israel vor 1933 LEIBOWITZ 30–97†; RICE 23–31 (Italien); SCHNITZLER (Einzelheiten unklar) 33–35 BAR-HILLEL 33–75†; BEN-HAJJIM 33ff.; BRAVMANN 33/34–51 (USA); DOTAN 33ff.; J. LEWY 34 (USA); PICK 34–52†; PLESSNER 33–73†; POLOTSKY 35–91†; RABIN 33–34 (GB); H. ROSÉN 34ff.; SCHWARZ 33–36 (GB); A. SPERBER 33–34 (USA); TUR-SINAI 33–73†; WEIL 35–60† 36–37 BLOCH 37–57 (BRD); SAMUELSDORFF 36–56 (BRD); STEVENS 36 (Italien) 38–39 BIN-NUN 38–83†; BLAU 38ff.; GOSHEN-GOTTSTEIN 39–91†; H. B. ROSÉN 38–99† 1945 ff. NEUBERGER-DONATH 46ff.; RABIN 56–96†; A. SPERBER 65–70†, RAMBERG-FIGULLA 45ff. Gesamt: 28 davon 1945 ff.: 21 Polen 33–35 36–37 38–39 Gesamt: 3 Portugal 33–35 1945 ff. Gesamt: 2
H. BIRNBAUM 33–39 (Schweden) ARNDT 36–42/43 (Türkei) HAAS 39–40 (GB) davon 1945 ff.: 0
FUKS 33–38 (Niederlande); WAGNER 35–36 (Italien) WAGNER 47–48 (USA) davon 1945 ff.: 1
234 � Emigration und Exil von Sprachforschern Rumänien 33–35 36–37 38–39 40–45 Gesamt: 5 Schweden vor 1933 33–35 36–37 38–39 40–45 1945 ff. Gesamt: 14 Schweiz vor 1933 33–35
36–37 38–39
40–45 1945 ff. Gesamt: 20 Sowjetunion 33–35 Gesamt: 1 Spanien vor 1933 33–35 Gesamt: 3 Sri Lanka 40–45 Gesamt: 1
WEIGL 33–61 (DDR) BABINGER 37–45 (BRD) SEIDEL 38–55 (DDR); SEIDEL-SLOTTY 38–55 (DDR) SCHAECHTER 44–47 (Österr.) davon 1945 ff.: 4
FREUND 1896–02 (GB), H. W. POLLAK 26–34 (Österr.) CASSIRER 35–41 (USA); HAMBURGER 33–56 (BRD) REICHARDT 37–38 (USA); STEINITZ 37–46 (DDR) GARVIN 38–41 (USA); ROSENTHAL 38 (GB) BARTHOLMES 42?-45 (BRD); H. BIRNBAUM 40–61 (USA); TH. GEIGER 43–45 (Dänemark); E.-M. LÜDERS 44?-71† BARTHOLMES 54–99†; GÜTERBOCK 48–49 (USA) davon 1945 ff.: 5
MARCUSE 32–34 (USA); STORFER 10?-11 (Österr.) CUNZ 35–38 (USA); DEBRUNNER 35–58†; FORCHHEIMER 33–34 (? GB); H. HOENIGSWALD 33–34 (Italien); PFLÜGER 34–nach 36 (GB); SIEMSEN 33–46 (BRD); WOLF 33?-? (GB) F. RANKE 37–50† A. BIELER 38 (USA); L. BIELER 38–39 (GB); H. HOENIGSWALD 38–39 (USA); R. HOENIGSWALD 38–39 (USA); NORDEN 39–41†; SCHMIDT 38–54†; STOESSL 39–50 (Kanada) HORN 40?-48 (USA); POKORNY 43–70† HERZFELD 47–48† davon 1945 ff.: 7
STEINITZ 34–37 (Schweden) davon 1945 ff.: 0
SANDMANN 33–37 (D) G. SACHS 33–37 (USA); L. SACHS 33–37 (USA) davon 1945 ff.: 0
HEIMANN 45–49 (GB) davon 1945 ff.: 1
Südafrika 36–37 Gesamt: 1
HESSE 36–60 (Irland) davon 1945 ff.: 1
Statistik der Auswanderung � 235
Türkei vor 1933 33–35
36–37 38–39 40–45 1945 ff. Gesamt: 30 USA vor 1933
33–35
36–37
38–39
40–45
STEUERWALD 33–44 (D); RITTER 27–49 (BRD); WITTEK 24–34 (Belgien) ANHEGGER 35–69 (NL); ANSTOCK 34–54 (BRD); BOSSERT 33–61†; BUCK-VANIOĞLU 34-ca. 60 (Frankreich); T. FUCHS 33–97†; GÜTERBOCK 35–48 (Schweden); HEYD 33–42 (D); LANDSBERGER 35–48 (USA); MARCHAND 34–53 (USA); REICHENBACH 33–38 (USA); ROHDE 35–49 (BRD); RUBEN 35–48 (Chile); SPITZER 33–36 (USA) AUERBACH 36–47 (USA); F. R. KRAUS 37–49 (Österr.); MENGES 37–40 (USA); TIETZE 37–58 (USA); K. ZIMMER 36–46 (USA) MATOUŠ 39–46 (ČSR); WEINER 38ff. unklar ARNDT 42/43–49 (USA); BRINKMANN 42–44 (Jugoslawien/D) ANSTOCK 55–74 (BRD); FAHRNER 50–58 (BRD); RITTER 57–69 (BRD); STEUERWALD 45ff. (BRD?); K. ZIMMER 54–57 (USA) davon 1945 ff.: 20
BOAS 1886–42†; H. COLLITZ 1886–1935†; K. COLLITZ 04–44†; KURATH 07–92†; LAUFER 1898–34†; MEZGER 27?-79†; PENZL 32–95†; POEBEL 05–10 (D), 29–58†; PROKOSCH 1898–38†; REUNING 23–26 (D), 31–89†; SAPIR 1890–39†; SPRINGER 30–91†; TILLE-HANKAMER 26–33 (D) CARNAP 35–70†; FIESEL 34–37†; H. FRAENKEL35–77†; GAEDE 33–66†; GOETZE 34– 71†; GOLDSTEIN 34–65†; JAEGER 34–61†; LAZARSFELD 33–76†; LESSING 35–61†; J. LEWY 34–63†; LOOSE 34–2000†; MARCUSE 34–79†; SPEIER 33–90†; A. SPERBER 34–65 (Palästina/Israel); H. SPERBER 34–63†; C. STERN 33–47†; W. STERN 33– 38†; STRAUBINGER 34–93†; WERNER 33–65†; WITTFOGEL 34–88† FLEISCHHAUER 36–93†; FORCHHEIMER 37–2004†; VON FRITZ 36–54 (BRD); HERZFELD 36–47 (Schweiz); KORSCH 36–61†; NEHRING 37–52 (BRD); RECHTSCHAFFEN 37ff.; G. SACHS 37–39†; L. SACHS 37–91†; SCHNEIDER 36–72†; SPITZER 36–60† ADOLF 39–98†; ARGELANDER-ROSE 39–80†; AUSTERLITZ 38–94†; BACON 39– 2007†; BENTON 39–89†; A. BIELER 38ff.; BONHEIM 38–63 (BRD); K. BÜHLER 38– 63†; CUNZ 38–69†; DEUTSCH 38–92†; FROESCHELS 38–72†; B. GEIGER 38–64†; GUMPERZ 39ff.; H. HOENIGSWALD 39–2003†; R. HOENIGSWALD 39–47†; JOLLES 38– 68†; H. KAHANE 39–92†; R. KAHANE 39–2002†; K. KRAUS 38?-79†; KRONIK 39– 2006†; LEHNER 38–61†; LICHTENSTADTER 38–91†; MAUTNER 38–95†; NAUMANN 38–62 (BRD); OLSCHKI 39–61†; PERLOFF 38ff; POLITZER 38–98†; PULGRAM 39– 2005†; H. RANKE 38–42 (D); REICHARDT 38–76†; REICHENBACH 38–53†; REICHENBERGER 38–77†; SCHERMAN 38–46†; SCHIROKAUER 39–54†; SPITZ 38–74†; STEINDORFF 38–51†; STEINEN 38–54†; STEVENS 39–2001†; TEDESCO 38–80†; TILLEHANKAMER 38–82†; VOEGELIN 38–58 (BRD); M. WEINREICH 39–69†; U. WEINREICH 39–67† ALBU-JAHODA 44–58 (GB); BÄUML 42–2009†; BERGEL 40–98†; BORNEMANN 42–47 (Frankreich); CH. BÜHLER 40–71 (BRD); CASSIRER 41–45†; GARVIN 41–94†; HALPERT 41–2004†; HATZFELD 40–79†; G. HOENIGSWALD 40–2001†; HOMBERGER 41–82† (lebte zuletzt aber in Österreich); KRIS 40–57†; LENNEBERG 45–75†; LEO 45–48 (Kanada); LESLAU 42–2006†; LEWENT 41–64†; MALKIEL 40–98†; MENGES 40–77 (Österr.); OETTINGER 41ff.; OPPENHEIM 41–74†; PACHTER 41–80†; ROSENTHAL 40–2003†; H. ZIMMER 40–43†
236 � Emigration und Exil von Sprachforschern 1945 ff.
Gesamt: 135 Venezuela 38–39 Gesamt: 1
ANTHES 50–63 (BRD); ARNDT 49–2011†; AUERBACH 47–57†; H. BIRNBAUM 61– 2002†; BLOCH 65ff.; BRAVMANN 51–77†; FILLENBAUM 46ff.; GALTON 62–88 (Österr.); GÜTERBOCK 49–2000†; HENNING 61–67†; HORN 48–96†; LANDSBERGER 48–68†; MARCHAND 53–57 (BRD); MISH 46–83†; REIFLER 47–65†; ROSENBERG 46ff.; SANDMANN 60–80†; SCHAECHTER 51–2007†; SELIGSO(H)N 47–2002†; TIETZE 58–73 (Österr.); WAGNER 47/48–62†; WEINBERG 48–97†; H. WILHELM 48–90†; K. ZIMMER 46–54 (Türkei), 57ff.; VOEGELIN 69–85† davon 1945 ff.: 123
LEO 38–45 (USA) davon 1945 ff.: 0
4.7.4 Remigration nach Deutschland bzw. in die Nachfolgestaaten
vor 1933 33–34 35–37 38–39 40–45 1945 ff.
D 5 1 4 3 7
Westzonen/BRD
SBZ/DDR
Österreich 1
33
9
7
Von Remigration im Sinne der einschlägigen Forschung sollte nur die Rede sein, wenn diese zum festen Aufenthalt in Deutschland bzw. den Nachfolgestaaten geführt hat. Anders ist eine, meist wohl auch nur als vorübergehend geplante Rückkehr anzusehen, die bis zur Ausbürgerung und der damit verbundenen Staatenlosigkeit möglich erschien – oft ein Indiz für die unklare Einschätzung der politischen Verhältnisse, s. z.B. SANDMANN, SCHIROKAUER. Ein besonderer Fall ist MODRZE, die gewissermaßen zum Sterben zu ihren Eltern nach Deutschland zurückkehrte. Nicht hierher gehört die Rückkehr von einem Auslandsaufenthalt im Rahmen der akademischen Mobilität wie bei LINDHEIM. Anders ist es bei denjenigen, die nach 1938 und noch während des Krieges zurückkehrten. In solchen Fällen läßt die Remigration darauf schließen, daß es sich bei den Betroffenen nicht um Verfolgte handelt. Allerdings können die Verhältnisse auch hier sehr unterschiedlich gelagert sein, s. BRINKMANN, HEYD, STEUERWALD. Diese Biographien sind nicht zuletzt aufschlußreich im Vergleich zu denen, die im gleichen Land unter Exilbedingungen leben mußten (wie bei den Genannten in der Türkei).
Statistik der Auswanderung � 237
Deutschland (‚Reich‘) vor 1933 FREUND 18ff.; K. COLLITZ 1899–01 (GB); GUTKIND 28–34 (Frankreich); POEBEL 10–29 (USA); REUNING 26–31 (USA) 33–34 TILLE-HANKAMER 33–38 (USA) 35–37 MODRZE 35–38†; SANDMANN 37–38 (GB); SCHIROKAUER 37– 39(USA); SELIGSO(H)N 35–39 ( GB) 38–39 G. HOENIGSWALD 38–40 (USA); H. HOENIGSWALD 38 (Schweiz); LINDHEIM 39 40–45 BAADER 44–59†; BRAUNER-PLAZIKOWSKI 42–65†; FAHRNER 45–50 (Türkei), HEYD 42–2002†; H. RANKE 42–53†; SCHMITT 42–47?; STEUERWALD 44–45 (Türkei) BRD 1945 ff.
SBZ/DDR 1945 ff.
Österreich 33–35 1945 ff.
ANSTOCK 54–55 (Türkei), 74–80†; ANTHES 63–85†, BABINGER 45–67†; BACH 83–97†; BARTHOLMES 45–48 (SBZ/DDR), 49–54 (Schweden); BLOCH 57–65 (USA); BONHEIM 63–2012†.; BORINSKI 45–98†; BORNEMANN 60–70 (Österr.); BRAUN 48–81†; CH. BÜHLER 71–74†; FAHRNER 58–88†; VON FRITZ 54–85†; W. FUCHS 49–79†; HAMBURGER 56–92†; HOMAYER 51–63 (GB), 73– 96†; KAHLE 63–64†; LEHMACHER 48–63†; LIEBENTHAL 64–82†; MARCHAND 57–78†; NAUMANN 62–97†; NEHRING 52–67†; POKORNY 55–70†; RITTER 49–57 (Türkei), 69–71†; ROHDE 49–60†; SAMUELSDORFF 56ff; E. SCHLESINGER 66–68†; SCHMITT 52–94†; SIEMSEN 46–51†; THIEBERGER 52–64 (Frankreich); VOEGELIN 58– 68 (?); WALZ 47–68 (GB); WOLF 48–87†
BARTHOLMES 48–49 (BRD); RUBEN 50–82†; SCHMITT 47–52 (BRD); SEIDEL 55–81†; SEIDEL-SLOTTY 55–73†; SLOTTY 53–63†; STEINITZ 46–67†; WEIGL 61–79†; WOLF 45/46–48 (BRD)
5 1 4 3
5
35
9
1 H. W. POLLAK 34–39 (Australien) BORNEMANN 70–95†; GALTON 56–62 (USA), 88–2004†; F. R. KRAUS 49–54 (NL); MENGES 77–99†; SCHAECHTER 47–51 (USA); STOESSL 7 52–88†; TIETZE 73–2003†
5 Zur fachgeschichtlichen Einordnung 5.1 Zielsetzung Ziel dieses Kapitels kann (selbstverständlich!) nicht eine Fachgeschichte der Sprachwissenschaft sein. Vielmehr soll im Sinne der Vorüberlegungen von Kap. 1 das Spannungsfeld von (Sprach-) Wissenschaft bzw. Sprachforschung soweit aufgefächert werden, daß die spezifische wissenschaftliche Konstellation in der ersten Hälfte des 20. Jhds. transparent wird und die in den vorausgehenden Kapiteln dargestellten Verhältnisse von Sprachforschung unter den Bedingungen von Verfolgung und Emigration eine systematische Folie erhalten. Dazu ist es aber erforderlich, einige Fenster auf die historischen Zusammenhänge aufzumachen, in denen die fachlichen Optionen in den Biographien im Katalog ihren Sinn zeigen, insbesondere wenn sie in ihrem seriellen Aspekt gefaßt werden. In diesen biographischen Entwürfen und Projekten wird ein fachliches Selbstverständnis faßbar, das überwiegend nicht auf das der heutigen Fachvertreter abzubilden ist (s. 2.6.3.) – das ist der grundlegende Bruch in der Ausrichtung des Faches, der mit dieser Darstellung im Blick ist. Für dessen Verständnis soll in diesem Kapitel eine Folie aufgespannt werden, die das Dominantwerden eines Fachverständnisses zeigt, das sich auf das methodisch Machbare reduziert und dieses nicht (mehr) als Schlüssel zu einem anderen versteht: im traditionellen Sinne Sprachwissenschaft als „Hilfswissenschaft“, wie sie in der älteren Philologie verstanden wurde (s. schon 1.5. zu Boeckh).1 Dazu muß das fachgeschichtliche Fenster über den kritischen Zeitraum der Darstellung von Kap. 2–4 hinaus geöffnet werden. In unterschiedlichen Perspektivierungen werden Entwicklungsstränge verfolgt, die sich im Sinne der Argumentation isolieren lassen – insofern bewußt nicht in einer strikt chronologisch verfahrenden Darstellungsweise. Auf diese Weise sollen die Besonderheiten der disziplinären Ausformungen der Sprachforschung (also der Sprachwissenschaft) in Korrelation mit den institutionellen Vorgaben ihrer Professio-
�� 1 Der bewußt verwendete Terminus einer Hilfswissenschaft spiegelt die Problematik: er ist zu verstehen wie bei der Feststellung, daß man nur mit der Hilfe von X ein Problem hat bewältigen können – nicht aber wie bei einer Hilfskonstruktion (also ein Behelf), als was diese argumentative Figur in den polemischen Argumentationen zur Emanzipation der Sprachwissenschaft aus dem Dienstbotentrakt der Philologie gerne (miß-) verstanden wurde.
Zielsetzung � 239
nalisierung auf der einen Seite und ihrer Bindung an die zeitgenössische intellektuelle Matrix des Sprachdiskurses auf der anderen durchsichtig werden. Es versteht sich von selbst, daß vieles hier nur anzusprechen ist. Das gilt insbesondere für die Öffnung der Argumentation auf einen universalen Horizont: der Fokus liegt hier im Sinne des Ausgangs dieser Untersuchung bei der Vertreibung und Verfolgung deutschsprachiger Sprachforscher in einem nationalen Horizont, der durch kontrastierende Hinweise in seiner Besonderheit durchsichtig werden soll. Die spezifischen Ausprägungen der Sprachforschung im Deutschen Reich nach 1933 (s. Kap. 6) können so auf der Folie des Spannungsfeldes betrachtet werden, das sich im 19. Jhd. ausgebildet hatte, als im Kielwasser der Romantik Sprachforschung gewissermaßen als Unterpfand für die völkische Programmatik betrieben wurde – im Gegensatz zu ihrem Verständnis als Analyse von Ausbaupotentialen in einem universalen Horizont. Eine fachgeschichtlich besondere Pointe liegt darin, daß diese völkische Linie in Deutschland zwar bis in die Anfangszeit des NS-Regimes dominierte, dann aber von diesem (im Gegensatz zu dem oft zu Lesenden) abgebürstet wurde. Umso heftiger konnte sie sich mit der Restauration nach 1945 in den „Alten Abteilungen“ der „philologischen Seminare“ als selbstverständlich durchsetzen. Eine Folge davon war, daß Fragen des Ausbaus nur noch in der normativ verkürzten Form der Sprachpflege nachgegangen wurde – bzw. nicht als wissenschaftliches Aufgabenfeld, sondern eines der Schule (im Sprachunterricht) angesehen wurden. Damit wurde zwar in gewisser Weise die kulturanalytische Ausrichtung fortgeschrieben, aber ihr war der Stachel der methodischen Weiterentwicklung gezogen, der noch die Diskussionen der 1920er und auch 1930er Jahre bestimmt hatte. Als kritisches Moment zeigt sich aus dieser Blickrichtung die Rolle von forschungsexternen Aspekten: einerseits die institutionellen Entwicklungen, im 19. Jhd. an den Universitäten die Etablierung von eigenen Fächern durch Institutsstrukturen („Seminare“), die Verabschiedung von Prüfungsordnungen usw., also das, was im engeren Sinne als Professionalisierung eines Faches bezeichnet werden kann (s. 1.3.); andererseits die politischen Eingriffe in die Fachentwicklung: Vorgaben für die gewünschte (und unerwünschte) Forschung auf der Seite der Förderung, gespiegelt in öffentlichen Reaktionen (Fachverbände, Medienecho...), vor allem aber Eingriffe in die „scientific community“, zu denen insbesondere die rassistische Verfolgung gehörte, die nach 1933 (in Österreich nach 1938) staatliche Repressionsformen annahm, aber auch schon lange vorher als Faktor der Wissenschaftsförderung, Personalpolitik der Institutionen u. dgl. wirksam war. In dieser Hinsicht erweist sich die Zwischenkriegszeit als Achsenzeit für die Entwicklung der Sprachforschung und die Herausbil-
240 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung dung dessen, was im engeren Sinne als Sprachwissenschaft angesprochen werden kann. Während bei den gesellschaftlichen Randbedingungen eine chronologische Darstellung gewissermaßen impliziert ist: zu einem bestimmten Zeitpunkt werden die bis dahin gegebenen Verhältnisse durch die darauffolgenden überholt, gilt das für die theoretisch definierten Fragestellungen nicht: sie sind gewissermaßen zeitlos. Das soll mit dieser Darstellung auch sichtbar werden: die Fragen, auf die die wissenschaftliche Praxis zu Beginn des 19. Jhd. Antworten suchte, bestanden auch am Ende des Jhds. noch – und auch die versuchten Antworten erschienen zwar u.U. im diskursiven Verlauf obsolet, konnten aber später durchaus wieder aktuell werden. Daher sind chronologisch angelegte „ideengeschichtliche“ Darstellungen, zu denen die meisten Handbuchdarstellungen der Fachgeschichte zu rechnen sind, jenseits der vorgestellten Fakten irreführend.
5.2 Die Ausgangskonstellation für die Sprachforschung 5.2.1. In den gängigen Fachgeschichtsdarstellungen werden die Anfänge der (modernen) Sprachwissenschaft auf den Beginn des 19. Jhd. gelegt, als im Kielwasser der Humboldtschen Universitätsreform entsprechend denominierte Professuren geschaffen wurden. Diese institutionelle Innovation erfolgte im Horizont einer neuen intellektuellen Matrix, in der sich das ausbildete, was als genuine Sprachwissenschaft angesprochen wird: vereinfacht gesprochen ein Verständnis von Forschung als Suche nach kausalen Erklärungen für die sprachlichen Beobachtungen. Dabei sind ungleichzeitige Konstellationen im Blick zu behalten, weshalb das historische Fenster größer zu machen ist. Aus der traditionellen (mittelalterlichen) Universität war eine systematische Sprachreflexion in zwei Horizonten vorgegeben: – als grammatica positiva: die Feststellung sprachlicher Regularitäten, die für die Sprachpraxis kontrolliert werden müssen, insbesondere als Voraussetzung für die Schriftsprache – wie der Terminus grammatica abgestellt auf das Lateinische, – als grammatica speculativa: die philosophische Reflexion, bei der die sprachliche Form als Artikulation von Gedanken verstanden wurde, als besondere Form erkenntnistheoretischer Reflexion, systematisch ausgebaut im Rahmen der Logik.
Die Ausgangskonstellation für die Sprachforschung � 241
Die großen systematischen Entwürfe, die vom 16.–18. Jhd. vorgelegt wurden, verknüpften in der Regel beide Gesichtspunkte. Gleichzeitig nahm das Wissen um die Verschiedenheit der Sprachen zu, massiv unterstützt durch die Erfahrungen in den Kolonien, in denen die Mission und ggf. der Aufbau einer lokal verankerten Verwaltung auch praktisch kontrollierte Sprachkenntnisse von „exotischen“ Sprachen selbstverständlich machte. Das führte im 18. Jhd. im Rahmen einer damals etablierten neuen „enzyklopädischen“ intellektuellen Matrix zu den großen Unternehmungen von Sprachsammlungen und ihrer Klassifikation. Die intellektuelle Matrix, in der das erfolgte, zeigt sich am deutlichsten in den großen Systemen der Botanik und dann generell der Zoologie, die Linné in der Mitte des 18. Jhds. ausgearbeitet hatte. Am Ende des Jhd. machte sich eine andere Matrix geltend, die sich mit einer Klassifikation nicht begnügte sondern kausale Erklärungen verlangte. Das führte zu einer Vielfalt von systematischen Entwürfen, deren Vertreter sich z.T. auch heftig bekriegten (intellektuelle Zentren diese Diskussionen waren vor allem Paris, daneben London, sehr viel weniger in Deutschland): die Erklärung mit Umweltfaktoren bei Lamarck, aber auch die Variation in der genetischen Weitergabe von Erbmaterial. In der Mitte des 19. Jhd. entstanden dann geschlossene Systeme, in denen die verschiedenen Aspekte verknüpft wurden, so vor allem mit einem „soziobiologischen“ Konzept (dem Überleben des Geeignetsten) durch Darwin. Die neue Sprachwissenschaft nahm in dieser neuen Matrix Form an, mehr oder weniger neben der weitergeführten deskriptiven Arbeit, die vor allem der Fülle der neu erschlossenen Sprachen galt und sich so insbesondere in der Orientalistik formierte. Aber so wie in der Biologie eine genetische Betrachtung Einheit in die Vielfalt des Beobachteten einzuziehen erlaubt, sollte es in der Sprachwissenschaft unternommen werden. Die anschauliche Verschiedenheit etwa von Ei, Raupe, Puppe, Schmetterling (nicht nur in der Form, auch im Unterschied zwischen einem starren Gegenstand gegenüber einem selbstbewegenden Lebewesen) läßt sich auf eine Einheit zurückführen, wenn man sie als Stadien in der Entwicklung eines Lebewesens sieht. In diesem Fall ist die Transformation der Stadien auch beobachtbar. Dieses analytische Muster wurde auf die Erklärung von nicht-beobachtbaren Transformationen übertragen, die auf eine lange Zeitdauer projiziert wurden und so mit der Interpolation von hypothetischen Zwischenstadien eine Einheit in die Vielfalt der Lebewesen einziehen – z.B. Menschen und Affen als Entwicklungsstadien einer extrapolierten Urform, diese wiederum auch mit Fischen u.dgl. als Entwicklungsstadien einer extrapolierten Urform („Urlurchen“) usw. In der Sprachbetrachtung war eine solche Sicht ohnehin durch den biblischen Mythos der nachsintflutlichen Bevölkerungsverteilung suggeriert (mit den Urvätern Jafet, Ham und Sem entsprechend der „kaukasisch“-europäischen Gruppe, der schwarzafrikanischen und
242 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung der semitischen); anschaulicher umgesetzt wurde diese Vorstellung schon im Mittelalter durch relativ feinkörnige derartige Bündelungen: von den dialektalen Verschiedenheiten im deutschsprachigen Raum, über die sorgfältig registrierten Entsprechungen in den semitischen Sprachen (denen eine große Bedeutung in der Theologie zukam) bis hin etwa zu den Verhältnissen in den finnougrischen Sprachen. In dieser Sichtweise sind Sprachen historisch identifizierbare Individuen, die wie auch biologische Individuen in Verwandtschaftsverhältnissen gefaßt werden können, anschaulich gefaßt in Stammbäumen.2 In der neuen wissenschaftlichen Matrix des 18. Jhd. wurde diese Sichtweise systematisiert. Im Horizont dessen, was mit „Romantik“ bezeichnet wird, wurde diese Unternehmung von modischen Begeisterungen überlagert: für das Mittelalter (die Germanen), aber auch für den fernen Orient (Indien). Auf diese Weise wurden die sprachlichen Ahnen idealisiert: die weitere Entwicklung bei ihren Nachfahren (den dokumentierten jüngeren Sprachformen) wurde als Verlust „organischer“ Strukturiertheit gesehen. Der durchschlagende Erfolg einer in diesem Sinne systematischen Sprachvergleichung war die Rekonstruktion der indoeuropäischen Sprachen, für die Bopp 1816 einen ersten systematischen Entwurf vorlegte. Damit wurde ein genuin neues wissenschaftliches Forschungsprogramm auf den Weg gebracht, bei dem nicht mehr nur Korrespondenzen holistisch für Sprachen festgestellt wurden, sondern diese analytisch auf feinkörnige Erscheinungen herunter gebrochen wurden, die regelhafte Zusammenhänge zeigen und kontrollierte Beobachtungen erlauben: an die Stelle assoziativer Feststellungen trat die Schematisierung der Beobachtungen, die Hypothesen für ihre Bestätigung (bzw. Widerlegungen) zu formulieren erlaubte und für weitere, entsprechend systematisch anzustellende Beobachtungen genutzt werden konnten. Aber auch Bopp (der seit 1821 eine Professur für Sanskrit hatte und entsprechend auch altindische Texte edierte) war in der anschaulichen Sichtweise verankert: Grundlage der Rekonstruktion war für ihn das Sanskrit, aus dessen „harmonischem“ Vokalsystem (mit den drei Vokalen /a, i, u/) er die komplexen Systeme der „Tochtersprachen“ herleitete.3 Diese Konzeption bestimmte selbstverständ�� 2 Vgl. „Die Sprachen leben, wie alle Naturorganismen“ (Schleicher 1861: 1). 3 Die anschauliche Fixierung auf das Sanskrit als „Urmutter“ im sprachlichen Stammbaum bildete eine Art Schallmauer für die methodische Ausbildung der vergleichenden Sprachwissenschaft, die erst in der zweiten Jahrhunderthälfte durchbrochen wurde, mit Saussures „Mémoire“ als Wendpunkt, s. 5.4. Solange man die grundlegenden Strukturen am Sanskrit abzulesen versuchte, erzwang das argumentative Pirouetten bei der Rekonstruktion, die den Epizyklen der Gestirnbewegungen ähneln, mit denen vor Kopernikus das ptolemäische Welt-
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lich auch die weiteren Anläufe zu regional eingeschränkteren Sprach„familien“: der Ausgang von einer sprachlichen „Urmutter“ (manchmal auch „Urvater“ genannt), in Hinblick auf die die Folgegenerationen Veränderungen zeigen; so wurde in der Romanistik das (Alt-) Provenzalische von Raynouard (1761–1836) in seiner vergleichenden Grammatik von 1821 gewissermaßen als romanistisches Sanskrit postuliert. Erst im letzten Drittel des Jahrhunderts (mit den Junggrammatikern) wurden diese Bindungen an biologisierende Vorstellungen überwunden und das neue Forschungsprogramm vollständig freigesetzt, s. 5.4. Diese Forschungsansätze bildeten sich in einer generellen intellektuellen Matrix heraus – sie sind nicht auf die Ideen einzelner Personen zu reduzieren. Das wird an den „interdisziplinären“ Querverweisen in den jeweiligen Argumentationen deutlich. Die Orientierung an biologischen Konzepten war selbstverständlich: mit der Ausformulierung einer systematischen genetischen Programmatik durch Darwin war auch eine intellektuelle Blaupause greifbar, die vor allem von Schleicher genutzt wurde (s. Schleicher 1863). Aber darin liegt kein einseitiges, an die Person Schleichers gebundenes Verhältnis: umgekehrt berief sich auch Darwin für die Plausibilität seiner Rekonstruktion der Herausbildung der Arten auf homologe Argumentationen in nicht-biologische Wissenschaften, darunter auf die vergleichende Sprachforschung, die schon im 18. Jhd. (vor allem auch in England) mit historischen Projektionen operiert hatte, die nicht nur die Sprachverschiedenheit in genetische Gruppen sortierte, sondern auch die Verwandtschaftsverhältnisse bis zu tierischen Kommunikationsformen weiterführte. Darwin gab diesen Vorstellungen eine spezifische Form: die physiologischen Voraussetzungen für die Sprache (bzw. das Sprechen) fand er bei einer ganzen Reihe von höheren Arten (Primaten, auch Vögeln); ihre weitere Entwicklung (die genuine Ausbildung von Sprache) war für ihn demgegenüber abhängig von weiteren Faktoren: ihrer kognitiven Nutzung, die sich nur beim Menschen findet.4 Bereits vor Darwin hatte sich im damaligen Intellektuellen-Diskurs eine funktionale Argumentation geltend gemacht, die sich von der kontemplativen �� system gerettet werden mußte. Erst als die Verhältnisse im Sanskrit als eine idiosynkratische Entwicklung innerhalb der ie. Sprachfamilie gefaßt wurde, bei der die mittlere Reihe im Vokalsystem (also /e, o/) mit dem offenen Vokal /a/ zusammengefallen war, wurden bis dahin chaotischen Erscheinungen auch im Sanskrit durchsichtig, z.B. die Herausbildung palatalisierter Dorsale /ʤ, ʧ/ als Entwicklung der alten Velare /g, k/ vor /e/, die vor /o/ bewahrt blieben, u.a. mehr. 4 Diese Argumentation findet sich auch schon in seinen frühen Schriften, bes. deutlich dann in Darwin (1871: 59–60).
244 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Haltung gegenüber der „Schöpfung“ freimachte. Das kritische Moment war dabei die Interaktion der genetisch verstandenen Entwicklung mit den Anforderungen des Überlebens in unterschiedlichen Umwelten, wie es programmatisch vor allem von Lamarck zu Beginn des 19. Jhd. formuliert wurde. Darwin löste Widersprüche in den älteren Erklärungsversuchen auf, indem er deren unterschiedliche argumentative Ebenen systematisch verknüpfte: einerseits die Entwicklung, andererseits die Selektion. Die Entwicklung läuft nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten ab, die im genetischen Programm verankert sind. Deren konkrete Ausprägungen werden (wie bei Lamarck) durch Umwelteinflüsse bestimmt, was zu einer hypertrophen Varietätenvielfalt führt. Die Erklärung der letztlich realisierten (beobachtbaren) Artenvielfalt erfordert einen unabhängigen Faktor: die Selektion unter den entwickelten Varietäten, bei der die für das Überleben in diesen Umwelten tauglichsten Varianten auf die Dauer gewinnen. In diesem Licht läßt sich die Herausbildung z.B. sexueller Differenzierung erklären: die monotone Weitergabe der genetischen Eigenschaften in ungeschlechtigen Arten ist für die dadurch möglichen Lebensformen viel festgelegter als wenn diese Weitergabe als Folge der sexuellen Vereinigung durch die Kombination mit (relativ) fremdem Erbgut erfolgt, die eine größere Offenheit für unterschiedliche (Über-) Lebensformen nach sich zieht – und daher aus funktionale Sicht überlegen ist. Damit war eine soziale Dimension in den intellektuellen Horizont eingezogen: im Lichte der heutigen Diskussionen eine „soziobiologische“ Argumentationsform.5 5.2.2. Mit der Boppschen Rekonstruktion waren in der vergleichenden (und damit auch allgemeinen) Sprachwissenschaft methodische Aspekte dominant geworden, die sich nach dem Vorbild der physikalischen Naturwissenschaften in der Formulierung von Gesetzen der Sprachentwicklung ausdrückten, was eine gewisse kanonische Form in dem „Compendium“ von Schleicher (1861/1862) fand. Darin war eine grundlegende Verschiebung im Wissenschaftsverständnis angelegt, die auf intellektuellen Einspruch stieß: ihr gegenüber artikulierte sich ein anderes Wissenschaftsverständnis, das darauf bestand, die Begrifflichkeit an anschaulich nachvollziehbare Konzepte zu binden. Seinen (nicht nur Deutschland) wirkungsmächtigsten Ausdruck hat es in Goethes (1749–1832) naturwissenschaftlichen Studien gefunden, der als „anschauenden Begriff von Natur und Kunst“ dafür den Begriff der Morphologie einführte (abgeleitet aus griech. morphee „Form“), s. seine entsprechenden Schriften Goethe (1817–1824). Als Forschungsprogramm forderte Goethe, das Besondere der Beobachtungen/Erfahrungen nicht in der formalen Abstraktion zu verlieren, son�� 5 S. zu diesem Komplex Hull (1989).
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dern die erforderliche begriffliche Verdichtung (er spricht auch von Idee und Typ) in der Anschauung von Variationsreihen zu gewinnen. Insofern ist für ihn die Betrachtung der „Metamorphosen“ von Pflanzen und Tieren in ihrem Wachstum (wie z.B. von der Puppe über die Raupe zum Schmetterling) die primäre Erkenntnisquelle. Durchaus homolog zu der frühen vergleichenden Sprachwissenschaft verknüpfte er die konzeptuelle Verdichtung mit einer genetischen Vorstellung: die begriffliche Grundform sollte sich auch in der Entwicklung als „Urform“ ausmachen lassen: ontogenetisch von ihm im Blatt als „Urelement“ im Wachstum einer Pflanze vom Keim bis zum Baum identifiziert, phylogenetisch in der Suche nach der Urpflanze, dem Urtier u.dgl. Goethe stellte die „morphologische Forschung“ ausdrücklich gegen die naturwissenschaftlich seit Newton fest etablierten disziplinären Herangehensweise mit quantifizierenden Modellierungen und experimenteller Kontrolle der Annahmen – weshalb seine Ansichten in den „harten“ Naturwissenschaften im 19. Jhd. schließlich als nicht „zünftig“ galten. Dahinter liegt allerdings ein komplexer Prozeß der Auseinandersetzung, der bei Helmholtz verfolgt werden kann, dessen frühe Arbeiten durchaus im Konflikt mit der damaligen physikalischen Orthodoxie angelegt waren. In einer sehr systematischen Rekonstruktion von Goethes Morphologie arbeitete er die damit gefaßte, auch für die Naturwissenschaften produktive Verdichtung komplexer Zusammenhänge heraus, die aber nicht in Widerspruch zur ihrer genuin wissenschaftlichen, analytischen Explikation stehen darf, die sinnlich nicht zugängliche Zusammenhänge erschließt und in ggf. entsprechend umständlichen formalen Symbolisierungen fixiert und so mit instrumentellen Verfahren kontrollierbar macht (s. Helmholtz 1853). Gerade weil Helmholtz die Überlegenheit der von Goethe als Dichter so gefundenen und poetisch formulierten Einsichten anerkennt, konstatiert er einen solchen Widerspruch da, wo Goethe seine intuitiven Einsichten als wissenschaftliche Analysen mißversteht wie in seiner Farbenlehre (s. Helmholtz 1892). Im 19. Jhd. waren solche Harmonisierungsversuche der naturwissenschaftlichen Forschungsansätze mit der Goetheschen Morphologie durchgängig, nicht zuletzt in der Genetik in Hinblick auf die mit Darwin dominant werdenden Entwicklungsvorstellungen (erst seit der Jhd.wende, seit der Neuorientierung in der Nachfolge von Mendel, wurden dort die morphologischen Konzepte ausrangiert, s. Hull 1988 für diese Fachgeschichte). Die an Helmholtz greifbare Rolle der Goethischen Morphologie bei der Neuformierung der wissenschaftlichen Matrix im 19. Jhd. ist von der Emphase auf eine sich darauf berufende „ganzheitliche“ Morphologie zu unterscheiden, die darin ihren Schlüsselbegriff zur Abgrenzung der Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften fand: als deskriptives Konzept in der Geschichtswissenschaft nicht anders als in der Literaturwissenschaft, wo die Morphologie als
246 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung übergeordneter Begriff für eine Stilanalyse genutzt wurde, mit gängigen Rubrizierungen wie z.B. der „Morphologie von kleinen Formen“ (Märchen u.dgl.). In der emphatisch aufgemotzten Grundlagendiskussion nach der Jahrhundertwende wurde der Terminus zu einem Modewort, etwa mit dem wirkungsmächtigen Entwurf einer „Kulturmorphologie“ von Oswald Spengler (1880–1936). Diese Ambivalenz des Morphologie-Konzepts spiegelt sich auch in der (allgemeinen) Sprachwissenschaft, in der bei den grundlegenden Arbeiten des 19. Jhd. mit diesem Terminus die Abgrenzung zu einer atomistischen Akkumulation von Beobachtungen und dem Operieren mit formalen Klassifikationen/ Abstraktionen artikuliert wurde. So benutzte ihn z.B. Schleicher bei seinem Versuch einer typisierenden Aufbereitung der von ihm vergleichend in den Blick genommenen Datenmenge (Schleicher 1858), s. 5.2.3. Als fester Terminus fungierte dieses Konzept vor allem in den frühen typologischen Arbeiten, die sich explizit in die Tradition von Humboldt stellten, etwa bei G.v.d. Gabelentz, der damit sein eigenes Unternehmen avisierte.6 In dem sich seit der Jhd.wende formierenden disziplinären Feld der Sprachtypologie wurde (und wird) diese Tradition in den Ansätzen zu einer charakterisierenden Typologie weitergeführt: von Finck und im Anschluß an ihn von E. LEWY, vor allem dann auch im Prager Linguistenkreis, für den Vilém Mathesius dieses Konzept auf dem 1. Internationalen Linguistenkongreß 1928 propagierte (s. Sgall 1995), s. auch 5.8.3. 5.2.3. Darwins Ansatz bot argumentative Grundlagen für eine systematisch ausgebaute Sprachforschung, wie es vor allem von Schleicher in ein Forschungsprogramm umgesetzt wurde: die „natürliche“ (biologische, also gesetzmäßige) Entwicklung schafft nur die notwendigen Bedingungen für die ausgebaute Sprache (bzw. generell die kulturelle Praxis). Auch hier steht der hypertroph ausgebildeten Sprachverschiedenheit (insbesondere wenn die Analyse bis zu idiolektalen Variationen durchgezogen wird) dem gegenüber, was sich im sozialen Verkehr durchsetzen kann – mit der Erweiterung der Verkehrsräume auch im Miteinander der Sprachgemeinschaften. Die effektive Sprachentwicklung entscheidet sich in der Sprachpraxis: die Entwicklung der Sprachen ist abhängig von der Art, wie sie praktiziert werden, d.h. wie die mit ihnen �� 6 „Die menschliche Sprache … hat ihr Formprinzip, darum reden wir von ihrer Morphologie“ (Gabelentz 1891: 17). G. operiert denn auch passim mit Götheschen Figuren, so z.B. wenn er von Beobachtungsgegenständen des Sprachwissenschaftlers spricht, aus denen dieser wie der Biologe aus einem Blatt oder einem Keim den Bauplan der ganzen Pflanze den einer Sprache extrapolieren können sollte (s. dort z.B. S. 59, 76 u.ö.). Die heute im Fach übliche Einschränkung des Terminus Morphologie als Äquivalent zu der in der älteren Fachtradition üblichen Formenlehre für einen Teilbereich der Grammatik geht auf Baudouin de Courtenay zurück und ist wie dessen Rezeption erst jüngeren Datums.
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ausgebildeten Ressourcen genutzt werden: also in dem, was traditionell als kulturelle Praxis gefaßt wurde. Eine solche funktionale Sicht bestimmte das Selbstverständnis der älteren Sprachforschung, die auf die kulturelle Praxis ausgerichtet war, die sprachlich gestaltet wird. In diesem Sinne spreche ich von ihrer kulturanalytischen Ausrichtung. Die entsprechende Begrifflichkeit war in der intellektuellen Matrix verankert, die mit dem humanistischen Gymnasium gewissermaßen institutionalisiert war. Kultur ist der Schlüsselbegriff, der das Selbstverständnis der humanistischen Bildungstradition bestimmte. In dieser war auch die Wortgeschichte transparent: etymologisch zu lat. colere (Pz.pass. cultus), in der konkreten Bedeutung auch des Ackerbaus und von daher alles, was aus Naturfaktoren durch Arbeit gemacht werden kann, im weiteren Sinne vor allem der Ausbau von Hergestelltem (wie auch heute beim Ausbau eines Hauses, von Wein u.a. mehr). In diesem Horizont ist Sprache der Ausbau der Fähigkeiten, die der Mensch hat – die er ontogenetisch in den kommunikativen Zusammenhängen seiner Sozialisation entfaltet. Zu den kulturellen Praktiken, zu denen diese Fähigkeiten ausgebaut werden können, gehören insbesondere die („hochkulturellen“) literarischen Formen (bzw. Werke), auf die sie aber nicht eingeschränkt werden dürfen. Der akademische Ort, an dem diesen Fragen systematisch nachgegangen wurde, war die Philologie – bis ins frühe 19. Jhd. gleichbedeutend mit Klassischer Philologie, die sich als besondere philologische Sparte erst sehr viel später gegenüber den anderen Philologien neu definierte, s.u. In ihr erfuhren auch die ersten Generationen von Sprachwissenschaftlern ihre Ausbildung (und intellektuelle Ausrichtung). Bis zum (quantitativen) Ausbau der Universitäten im letzten Drittel des 19. Jhds. handelte es sich bei ihnen um eine sehr überschaubare kleine Zahl von Personen, die untereinander auch (keineswegs spannungsfreie) persönliche Beziehungen hatten, die nur sehr eingeschränkt in „Schulen“ aufzulösen sind. Aber es gibt direkte Filiationen. In der zweiten Generation von expliziten Sprachforschern finden sich vor allem auch „Schüler“ von Bopp: G. Curtius, Kuhn, Pott u.a., und auch fachgeschichtlich marginalere Figuren wie der Münsteraner Storck. Die akademische Etablierung des Fachs der „vergleichenden“ (also nicht auf eine Einzelphilologie festgelegten) Sprachwissenschaft hatte in der Mitte des Jhds. eine Schlüsselfigur in Schleicher, der auf seine Weise quer zu dieser Filiation stand, selbst aber wieder „Schüler“ in der Folgegeneration hatte: vor allem J. Schmidt und in gewisser Weise auch Schuchardt. Durch Schleicher erhielt das Fach eine kanonische Form: seit seinem „Compendium“ (1861/1862) kann man von einem „Paradigma“ der vergleichenden Sprachwissenschaft sprechen. Darin systematisierte er die von Bopp ange-
248 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung gangene vergleichende Betrachtung, die in den etymologischen Formanalysen inzwischen eine reiche Ausdifferenzierung erfahren hatte. Insofern ist er ein Grenzgänger zwischen der alten wissenschaftlichen Matrix und der neuen, die mit den Junggrammatikern in der 2. Jhd.hälfte eine neue Form erhielt. Sein „Compendium“ ist vor allem noch eine Sammlung von detaillierten Charakterisierungen der als verwandt identifizierten i.e. Sprachen,7 denen er die „indogermanische Ursprache“ in der gleichen Weise als historisches Individuum gegenüberstellt. Aber Schleicher klebte nicht an dieser anschaulichen Orientierung an den sprachlichen Vorgaben, sondern schloß an die ältere Tradition einer rationalen Modellierung der Sprachreflexion mit typologischen Modellierungen an, indem er aus den Beobachtungen formale Muster abstrahierte, die er symbolisch repräsentierte – explizit i.S. der zeitgenössischen Begriffllichkeit als „Morphologie der Sprachen“, s.o. Damit hatte er in die vergleichende Analyse einen typologischen Horizont eingezogen, den er systematisch von dem gewissermaßen vegetativen der lautgesetzlich zu fassenden Verwandtschaftsbeziehungen unterschied: der Bau der Einzelsprachen ist für ihn auf einer anderen Ebene zu analysieren – nicht anders als auch bei Menschen der Körperbau von eng Verwandten (Geschwistern …) nicht identisch ist. Eine solche vergleichende Betrachtung der Sprachen war schon in der traditionell kontrastiven Methodik des Unterrichts der grammatica positiva angelegt, bei der auf einer fortgeschritteneren Stufe zumindest auch das anders gebaute Hebräische im Horizont war, mit der Etablierung eines kolonialen Weltsystems seit dem 16. Jhd. (und in seinem Kielwasser: der Missionierung der unterworfenen Völker und dem missionarischen Umgang mit ihren Sprachen) zunehmend aber auch eine Fülle ganz anders gebauter Sprachen. Das hatte auch eine Verlängerung in der grammatica speculativa, in der seit dem hohen Mittelalter auch eine sprachtypologische Reflexion angelegt ist: systematische Vertreter wie der Katalane Ramon Llull (1232–1316), der sich intensiv (nicht zuletzt auch in missionarischen Versuchen in Nordafrika) mit dem Arabischen auseinandersetzte, konstruierten schon damals eine ideale „Protosprache“, auf die sie die beobachtbaren Sprachen abbildeten. Ergebnis davon war die Isolierung von Bauelemente der Sprache, mit denen seitdem, mehr oder weniger empirisch unterfüttert, sprachtypologische Überlegungen ausformuliert wurden.
�� 7 Wie es der Untertitel ausweist: „des Altindischen (Sanskrit), Alteranischen (Albaktrischen), Altgriechischen, Altitalischen (Lateinischen, Umbrischen, Oskischen), Altkeltischen (Altirischen), Altslawischen (Albulgarischen), Litauischen und Altdeutschen (Gotischen).“
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Im Kielwasser der Missionierung, die sich mit den indigenen Sprachen auseinandersetzen mußte, wurde die in den Blick kommende Sprachverschiedenheit nicht nur bunter, sondern durch deren Dokumentation, vor allem in den seit dem 16. Jhd. in Mode kommenden Sammlungen, auch synoptisch zugänglich. Darauf reagierten seitdem Versuche zur Klassifikation und damit die Suche nach Kriterien für diese. Diese frühen Arbeiten zur Sprachtypologie sind analytisch angelegt, indem sie nach strukturellen Elementen suchten, die einen Sprachvergleich ermöglichen: der Bau der einzelnen Sprachen wurde in diesem Sinne als Kombination solcher struktureller Module verstanden, für die sich auch Beschränkungen abzeichneten, die in der Suche nach Kriterien für die Verträglichkeit (bzw. umgekehrt: in implikationellen Ordnungen) bei der Kombinatorik mündeten.8 Daran schloß Schleichers „Morphologie“ mit ihrer formale Modellierung auch in algebraischer Form an. So gesehen war die in der Überblicksliteratur meist als grundlegend herausgestellte Klassifikation des Indologen und eher literarisch interessierten August Wilhelm von Schlegel (1767–1845) ein Rückfall: Schlegel klassifizierte Sprachen holistisch nach den von ihm definierten Haupttypen seiner morphologische Klassifikation (der Bau von Wortformen): mit den Grundtypen isolierend, agglutinierend, flektierend (zu denen später noch inkorporierend, gewissermaßen als Kombination von isolierend und agglutinierend hinzugefügt wurde). Als tertium comparationis dienten dabei die mit diesen Formen artikulierten grammatischen Beziehungen, mit der Unterscheidung von analytischen gegenüber synthetischen Bauformen, bei denen der synthetische Bau (mit der stärksten Verdichtung bei der Flexion) gewissermaßen als Maßstab genommen wurde. Schlegel hatte mit dieser Ausrichtung auf den Bau der Wortformen (mit den entsprechenden morphologisch definierten Typen) für die theoretische Sprachreflexion eine Sackgasse gewiesen, aus der schon damals Wilhelm von Humboldt einen Ausweg suchte und auch vorgab. 9 Er ging von der sprachphiloso-
�� 8 S. die detaillierte Modellierung bei Plank in Auroux (2000–2006: Bd. 2, Sp. 1399–1414). 9 Humboldt hat seine Arbeiten nicht mit einer systematischen Darstellung abgeschlossen; einen guten Zugang erlaubt immer noch die Studienausgabe seiner Werke, hg. von A.Flitner / K. Giel, Bd. 3 (1963). Seine oft in brillianten Aphorismen gefaßten Überlegungen sind seitdem in „geflügelten Worten“ trivialisiert, die seine analytische Arbeit verdecken. Inzwischen wird aus dem Nachlaß auch seine Werkstatt zugänglich, in der er die ihm verfügbaren deskriptiven Darstellungen akribisch durchforstete: nicht zur zum Baskischen, zu dem er selbst deskriptiv gearbeitet hat, sondern auch in Sekundäranalysen der reihhaltigen missionarischen Darstellungen zu einer Fülle von unterschiedlichen Sprachen, vor allem aus Süd- und Mittelamerika, aber auch aus Ostasien, aus deren oft konfus präsentierten Formenvielfalt er erstaunlich klar
250 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung phischen Grundfigur der Sprachform als Form der Artikulation von Gedanken aus, die in Äußerungen (Sätzen) ihren Ort haben, nicht in Wörtern: diese sind nur als formale Exponenten von Äußerungen zu fassen; werden sie im Lexikon hypostasiert, sind sie als potentielle solche Exponenten zu verstehen, deren Form (insbesondere auch die Wortarten) in Hinblick auf ihre Funktion im Satz zu bestimmen ist. Ein solcher Zugang erforderte eine andere deskriptive Herangehensweise als die traditionelle Sammlung von Wortlisten: er setzte voraus, daß systematisch mit Texten gearbeitet wurde bzw. diese ethnographisch erhoben wurden. Ein solches Forschungsprogramm wurde erst gegen Ende des 19. Jhd. angegangen (s. im Katalog BOAS, E. LEWY und SAPIR). Unter den Prämissen der Aufklärung gab Humboldt der sprachtypologischen Reflexion eine funktionale Ausrichtung: wenn Sprache das konstitutive Moment der Artikulation von Gedanken ist, stellt sich die Frage nach den kognitiven Implikationen verschiedener Bauformen. Schlegel hatte seine Typen relativ direkt mit Kulturstufen verbunden, und dabei den flektierenden Typ an die Spitze seiner Rangliste gestellt, mit dem Altgriechischen und dem Sanskrit als Höhepunkten der so greifbaren Entwicklung dessen, was er als „Zivilisation“ ansprach.10 Eine solche direkte Koppelung war für Humboldt ausgeschlossen. Der funktionale Zusammenhang besteht darin, daß eine Sprache mit ihrem Bau zwar in gewisser Weise vordenkt, aber nicht als Schranke des Denkens gesetzt ist. Daher ist auch keine direkte Folgerung vom Sprachbau auf die Kultur einer Sprachgemeinschaft möglich. Allerdings ist auch für Humboldt eine Bewertung der Bauformen als mehr oder weniger optimal für die Artikulation von Gedanken möglich, was auch ein Fenster auf den historisch zu verfolgenden Umbau der Sprachen aufmacht. Dabei hatte für ihn der „chinesische Sprachbau“ eine Schlüsselrolle: dessen „isolierende“ Strukturen bedingen (erzwingen) schließlich keineswegs ein „primitives Denken“, sondern gingen schon früh mit einer Hochkultur zusammen; die gleiche konzeptuelle Aporie unter Schlegelschen Prämissen ergab sich für ihn bei „agglutinierenden“ Sprachen vor allem in Süd-
�� die Baustrukturen extrapolierte; für einige Hinweise s. meine Besprechung der baskischen und südamerikanischen Schriften in der Werkausgabe Bd. 2/2 und 3/5 (2011–2012), Maas (2012). 10 Diese historischen Zusammenhänge werden seit einigen Jahren vor allem in Hinblick auf die Diskussionen um das vorgebliche „Weltbild“ einer Sprache systematisch erforscht, s. z.B. Messling/Ette (2013). Dabei verdienen allerdings die Postionen der deskriptiv Arbeitenden stärker berücksichtigt zu werden, die auf einer Trennung von ethnologisch-kulturellen Verhältnissen und Sprachbau insistierten. In dieser Hinsicht waren die australischen Sprachen früh im Zentrum, deren differenzierter Bau im Kontrast mit ihrer archaischen Kultur gesehen wurde, so z.B. H.C.v.d.Gabelentz in seinen Briefen an Pott (s. Walravens 2015). S. im Katalog dazu bei SCHMIDT.
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amerika, die ein Gegenstück im hochkulturellen Inka-Reich hatten. Eine funktionale Betrachtung muß daher auch die eventuellen Strukturäquivalenzen verschiedener Bauoptionen für die damit bewältigte sprachliche Praxis bestimmen. Für den so freigesetzten analytischen Blick löst sich der Schlegelsche Schematismus auch bei der Betrachtung der Schulsprachen auf: schließlich sind auch diese nicht homogen in Hinblick auf die genutzten Bauoptionen; und in ihrer diachron dokumentierten Entwicklung sind auch sie durch wechselnde „Mischungen“ bestimmt: so im chronischen Umbau von synthetischen zu analytischen Bauformen wie gerade auch bei dem gerne emphatisch herausgestellten Griechischen, das in seinen nachantiken Formen der Ɖimotiki dominant analytisch-isolierend ist (Humboldt ging mehrfach darauf ein). Dem in der intellektuellen Bildungsmatrix des humanistischen Gymnasiums fest verankerten europa-zentrierten Tunnelblick mit seiner Bindung des maximalen kulturellen Ausbaus an bestimmte sprachstrukturelle Erscheinungen (vor allem der Flexion) entzog Humboldt so den Boden. Dazu dynamisierte er das (statische) Sprachbaukonzept der typologischen Tradition, indem er darin Horizonte des Sprachausbaus einzog. Wie es auch bei anderen alltagsnahen Ausbau-Konzepten der Fall ist (s.o.), ist mit ihm eine Ausbauskala impliziert: der Sprachausbau kann in der Nutzung der gegebenen Potentiale unterschiedlich weit gehen – wobei schriftkulturelle Praktiken das obere Segment definieren (und entsprechend bei einer typologisch intendierten Klassifikation „schriftlose“ Sprachen im unteren Segment firmieren). Humboldts Ansatz ist durch zwei Momente charakterisiert: in der „spekulativen“ Tradition konstruiert er die ideale Struktur der Sprache als virtuellen intellektuellen Raum des Sprachbaus. Empirisch umgelegt zeigt sich, daß der Ausbau der (natürlichen) Sprachfähigkeit diesen Raum nur annähernd realisiert. Der Ausbau ist abhängig von der jeweiligen (historischen) kulturellen Praxis einer Sprachgemeinschaft: den damit gesetzten kognitiven Anforderungen, aber eben auch Ausbauschranken; Sprachen sind nicht einfach Konglomerate von typologisch definierbaren Bausätzen, sondern sie sind „organische“ Gebilde, bei deren Architektur die Bauelemente harmonisiert werden müssen – was in einer „morphologischen“ Betrachtung sichtbar gemacht werden soll (s. 5.2.2.). Insofern gibt es neben den „kognitiv“ transparenten Bauelemente einer Sprache auch Strukturen zweiter Ordnung, die solchen Architekturanforderungen genüge tun (was in der neueren Typologie durch implikationelle Beziehungen zwischen strukturellen Attributen expliziert wird; diese isoliert damit aber nur Teilaspekte der Sprachen und faßt nicht ihren „Typus“ im Goethe/Humboldtschen Sinn). Zwar wurde Wilhelm von Humboldt in der Sprachforschung des 19. und frühen 20. Jhd. immer als Galionsfigur beschworen, ohne daß damit aber sein
252 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Forschungsprogramm im Horizont war. Das gilt insbesondere für die von ihm eröffnete Perspektive der Analyse des Sprachausbaus. Dominierend war vielmehr die Weiterführung der vergleichenden Sprachreflexion mit der seit dem 18. Jhd. eingezogenen „historischen“ Dimension: die beobachtbare Vielfalt von Bauformen sollte phylo- (besser: sozio-) genetisch als Einheit eines Entwicklungsverlaufs modelliert werden. Diese Sichtweise bestimmte schon Bopps i.e. Rekonstruktion, der in der Ausbildung der Flexion die optimale Bauform für die Artikulation von Gedanken sah, abgelesen am Bau des klassischen Griechischen, Latein und Sanskrit, deren Schriftkultur als Resultat des Ausbaus von „einfacheren“ Bauformen zu sehen war, relativ zu den mit diesen artikulierten primitiveren Gemeinschafts- (bzw. Kultur-) Formen. Formal (etymologisch) rekonstruierte Bopp die Flexion aus einem früheren agglutinierenden Bau: mit der Agglutinierung von Personalmarkierungen (Pronomina) an verbale Stämme als Genese des „subjektiven“ Verbs der i.e. Sprachen (so später E.LEWY). Auf der gleichen Linie machte sich Bopp dann auch an Versuche zu einer Prärekonstruktion, die typologische Differenzen überbrücken solltet, so in einem Versuch, die „malayisch-polynesischen“ Sprachen auf eine gemeinsame Protosprache mit dem Sanskrit (als der von ihm angenommenen „Mutter“ des Ie.) zurückzuführen (Bopp 1842) – dieser Versuch fand allerdings schon damals wenig Anklang (so bei dem strikt deskriptiv ausgerichteten H.G. v.d. Gabelentz, explizit so in seinen Briefen an Pott, s. in Walravens 2015). 5.2.4. Die ältere Sprachforschung war eine arbeitsteilig definierte Sparte der Kulturwissenschaften, wie es auch später noch Hermann Paul (1880) wirkungsmächtig formulierte, s. 5.4.11 In diesem konzeptuellen Horizont ist Sprache keine feste Größe, sondern ein dynamisches Konzept. Alles, was als Sprache(n) beobachtbar ist, korrespondiert den Anforderungen, denen die Menschen (ihre Sprecher …) mit ihr nachkommen: diese verlangen ggf. ihren Ausbau. Die kulturanalytische Sprachforschung ist funktional konzipiert: die aus den Beobachtungen extrapolierten Strukturen werden von ihr in Relation zu den sozialen (gesellschaftlichen) Bedingungen gesetzt, zu deren Bewältigung sie beitragen und die ggf. ihre Veränderungen bedingen. Hermann Paul definierte in diesem Sinne die (kulturanalytische) Sprachforschung als ein notwen-
�� 11 Wenn in den gängigen fachgeschichtlichen Darstellungen ein anderes Bild entworfen wird, mit dem ein Bruch postuliert wird, dann wegen der terminologischen Überlagerung der Rede von einem (älteren) kulturanalytischen Forschungsprogramm mit der derzeit akademisch modischen Propagierung von Kulturwissenschaft: gegen eine Gleichsetzung steht allerdings die reklamierte methodische Kontrolle der Forschung bei Paul u.a., s.u.
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dig historisches Unternehmen. 12 Die heute gängige Reaktion auf Pauls Diktum ist meist durch ein anachronistisches Mißverständnis des darin genutzten Konzepts von historisch („geschichtlich“) bestimmt. Für Absolventen des humanistischen Gymnasiums war nicht nur die Herleitung des Ausdrucks aus agr. histoˈreoː durchsichtig, das eine große Bandbreite von Übersetzungsäquivalenten hatte: „erforschen, nachfragen, beobachten, (zur Forschung) bereisen, über Erforschtes berichten“ u.a. mehr, ihnen war auch der Prototyp des antiken „Historikers“ Herodot (ca. -480 – -424) vertraut, der selbstbewußt herausstellte, daß er das, was er berichtete, auch selbst durch Reisen z.B. nach Ägypten erkundete hatte, und daß eine genuin historische Darstellung auf der Nachforschung nach den Bedingungen beruht, unter denen sich das Autopsierte (griech. „das selbst Gesehene“) herausgebildet hat. Eine historische Analyse ist in dieser Matrix etwas ganz anderes als eine chronologische Verortung von Daten auf einer homogenen Zeitachse. Nur in dieser Matrix ist Hermann Pauls notorisches Diktum von der notwendig geschichtlichen Sprachbetrachtung verständlich. Diese fand um die Wende vom 19./20. Jhd. eine radikale Neuausrichtung mit dem Forschungsprogramm, das sich als Phänomenologie bezeichnete: der systematischen Rekonstruktion der Bedingungen, unter denen Erfahrungen möglich werden und Erfahrenes verstehbar ist (in 5.7. komme ich auf die in diesem Sinne theoretisch ausgebaute Sprachreflexion vor allem in Anschluß an HUSSERL zurück, die schon in 2.5.4. im Blick waren: dessen prominente Rolle in der in der ersten Hälfte des 20. Jhd. ist nur so verständlich). Der Gegenstand einer geschichtlichen Betrachtung ist die Kultur: das, was Menschen (der menschliche „Geist“ in der früher üblichen Redeweise) aus den natürlichen Lebensbedingungen machen können. Diese begriffliche Matrix macht das Konzept Sprache ambivalent: einerseits bezeichnet sie eine Lebensbedingung, in die das Kind hineingeboren wird und mit der es aufwächst; andererseits bezeichnet sie das Medium, in dem sich die kognitive Anstrengung verwirklicht – als „Spracharbeit“, wie es in der älteren Sprachreflexion des 17. Jhds. hieß. In dem Maße, wie diese Spracharbeit habitualisiert wird, sedimentiert sie sich in der Sprachstruktur als Kultur (was nicht ausschließt, daß mit der Tradierung überkommener Sprachformen viele Strukturen funktional nicht transparent sind). Diese Konzeptualisierung war auf dem (humanistischen) Gymnasium kanonisiert: sie war Bestandteil der intellektuellen Matrix, die dort ihre Form fand und die wissenschaftliche Reflexion selbstverständlich bestimmte. Das gilt
�� 12 „Es ist eingewendet worden, dass es noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe, als die geschichtliche. Ich muß das in Abrede stellen.“ (Paul 1880: 20).
254 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung insbesondere für die darin verankerte Sprachreflexion. Die klassischen Texte des humanistischen Gymnasiums vermittelten auch anthropologische Grundbegriffe. In der „Politeia“ des Aristoteles findet sich nicht nur der anthropologische Topos: „Sprache hat allein der Mensch unter den Lebewesen“, 13 sondern Sprache wird dort auch in Abgrenzung zu tierischen Ausdrucksformen entwickelt (bei denen Aristoteles auch von Zeichen, gr. sēmeĩon, spricht: Zeichen für Empfindungen). Der Ort der Sprache ist der soziale Raum (gr. polis, ebd. 3), in dem sie ihre Bestimmung darin hat, nicht nur wie bei Tieren Empfindungen auszudrücken (zu ergänzen ist: und der Interaktion zu dienen), sondern dem Sozialen zugeordnete kognitive Funktionen zu übernehmen: Gut und Schlecht, Nützliches und Schädliches zu unterscheiden (ebd. 14–15). Unter solchen anthropologischen Prämissen hatte eine kulturanalytisch verstandene Sprachanalyse selbstverständlich Raum für biologische Fragen, die den Ressourcen des Menschen gelten, die kulturell ausgebaut werden – wie auch für die Fragen, die die Gemeinsamkeiten von Mensch und Tier betreffen. Aber der entscheidende Punkt war, daß von Sprache ohne ein solches soziales bzw. kulturelles Bezugssystem (gr. apolis) nicht die Rede sein kann: ohne dieses werden die biologischen Ressourcen (gr. physis) nicht so weit entwickelt, daß sie sprachlich ausgebaut werden können (ebd. 12). Diese traditionelle anthropologische Konzeptualisierung ließ reichlich Fragen offen. Dazu gehört, daß die sprachlich ausgebauten Ressourcen sich auch noch extrauteral entwickeln („reifen“), wie z.B. ja auch die Zähne erst lange nach der Geburt wachsen. Aber dergleichen (mit Einschluß pathologischer Erscheinungen) war traditionell Gegenstand der Biologie bzw. der Medizin – im Gegensatz zur Sprache, die als Antwort auf die postnatalen Anforderungen des Zusammenlebens mit anderen gelernt wird. Der genuine Gegenstand der Sprachforschung war die gelernte Sprache und ihre kultureller Ausbau. Da die biologischen Ressourcen zugleich aber auch Schranken für ihren sprachlichen Ausbau setzen, müssen sie bei einer systematisch angelegten Forschung berücksichtigt werden. Sie machen das aus, was Schleicher explizit als naturgeschichtliches Forschungsprogramm der Sprachforschung definierte: als ein vor allem auch methodisch ausgegrenzter Untersuchungsbereich – in Abgrenzung zur Analyse der historisch ausgeformten Sprachen, für die er den Terminus der Philologie beibehielt. Bei der Sprache ist Aktivität verlangt: eben Spracharbeit. Naturgeschichtlich zu fassen ist bei der Sprache alles, was leiblich gebunden ist, also die lautliche Seite der Äußerungen. An dieser, der Extrapola-
�� 13 lógon dè mónon ánthropos échei tôn zȭōn, Buch I,2: 1253 a 9–10, in der Ausgabe Susemihl / Immisch (hgg.), Aristotelis Politica, Leipzig: Teubner 1929: 3–4.
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tion von Lautgesetzen, machte Schleicher die Rekonstruktion der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Sprachen fest. Diese selbst, insbesondere aber ihre Entwicklung, lassen sich nur in der Rekonstruktion kultureller (gesellschaftlicher) Praktiken fassen – wie Hermann Paul es explizit formulierte: als Sprachgeschichte.14 Das Verhältnis von (gesetzmäßiger) Entwicklung sprachlicher Ressourcen und ihrer kulturellen Nutzung bildet für den wissenschaftlichen Umgang damit einen polarisierten Raum, in dem sich die disziplinär verfaßte Sprachwissenschaft seitdem unterschiedlich positionierte – bis hin zu den jüngsten Bestrebungen, den Gegenstand Sprache gegen diese kulturanalytische Tradition biologisch zu betrachten. Der Versuch einer solchen Naturalisierung der Sprache (und nicht nur ihrer naturgeschichtlich zu fassenden Momente) machte sich schon am Ende des 19. Jhd. geltend, als programmatisch die gesprochene Sprache als alleiniger, weil „natürlicher“ Gegenstand des Faches postuliert wurde – womit der kulturelle Ausbau bzw. generell die Schrift bzw. die Schriftkultur aus der Disziplin ausgeklammert wurde. Das stand in einem praktischen Widerspruch zur Ausbildung in der Tradition der philologischen Seminare, zu der schließlich noch bis weit in 20. Jhd. gehörte, Latein als Schriftsprache praktizieren gelernt zu haben. Die stilistischen Handbücher gaben das Ziel eines ciceronischen Lateins vor, mit seinem durchkomponierten Periodenbau, das in der philologischen Studienpraxis selbstverständlich als Ausbauform gegenüber dem kommunikativ (mündlich) praktizierten Latein Gegenstand war, angefangen bei den im Studium gelesenen Komödien von Plautus bis hin zu den rhetorischen Reflexionen Ciceros.15 In diesem Horizont arbeiteten denn auch ganz selbstverständlich diejenigen empirisch weiter, die in ihren Programmschriften die theoretische Wende hin zur fundierenden gesprochenen Sprache propagierten, s. 5.4. Eine „biolinguistische“ Reduktion von Sprache als Forschungsgegenstand statt eines biolinguistisch definierten arbeitsteilig verstandenen besonderen
�� 14 Die schwierige Ausbalanzierung von Geschichte und Naturgeschichte (bei Schleicher in diesem Sinne auch: Vorgeschichte) zeigt sich bei Schleicher nicht zuletzt in seinem Umgang mit orthographischen Fragen: deren Regelung sucht er auf dieser progammatischen Linie nach Möglichkeit „naturgeschichtlich“ zu verankern, mit „etymologisch“ motivierten Graphien z.B. bei , , u.a. , ohne daß er sie über diesen Leisten schlägt: er selbst räumt seine eigene in diesem Sinne inkonsistente Praxis ein (die sein Schriftbild tatsächlich z.T. reichlich chaotisch machen). 15 Ein etabliertes Handbuch war die große lateinische Stilistik von K.F. Nägelsbach (1.A. 1846, 9.A. 1905 in einer umfangreichen Neubearbeitung), die in ihrem praktischen Teil auch mit kontrastiven Betrachtungen des Deutschen operierte.
256 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Forschungsprogramms hätte bis Ende des 19. Jhds. keinen Sinn gemacht. Die ältere intellektuelle Matrix, in der die Sprachreflexion verankert war, hatte im 18. Jhd. eine spezifische Ausrichtung erhalten, die die anthropologischen Grundannahmen weiter differenziert hatte. Die Sprachreflexion der Aufklärung reagierte auf die moderne Form gesellschaftlicher Integration, die damals das feudale Gesellschaftssystem auflöste und sich in gesellschaftlich dichteren Strukturen verfestigte (in dem, was man Nationalstaaten nennt). Daher konnte sie sich nicht mehr mit der überkommenen idealisierenden Ausrichtung auf die Universalität der Sprachen der Welt zufrieden geben. Dem tradierten Dualismus von grammatica positiva gegenüber grammatica speculativa, der im lateinischen Bildungssystem verankert war, wurde jetzt die Reflexion auf die Sprache als Moment der sozialen Bindung gegenüber der Sprache als intellektuelle Ressource zur Artikulation von Gedanken gegenüber gestellt. Das entsprach nicht zuletzt den Vorstellungen von einem aufzubauenden Bildungssystem, das potentiell alle Menschen in einem gesellschaftlichen Verband erfaßt. Unabhängig voneinander finden sich im 18. Jhd. analoge Versuche zeitgenössischer Intellektueller, die Spannung zwischen diesen beiden Dimensionen der Sprachreflexion neu zu artikulieren und auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu kalibrieren: in Deutschland am eindrücklichsten bei Herder, in Italien bei Vico u.a. (s. z.B. Berlin 1976 für diese diskursive Konstellation). Ausgangsprämisse ist dabei (gewissermaßen als Präzisierung der anthropologischen Grundkonzeption), daß Sprache in einem sozialen Netz vom Menschen produziert wird – als Realisierung der genuinen menschlichen Potentiale. So argumentiert z.B. Herder in seiner einflußreichen Schrift von 1772, daß Sprache „erfunden“ worden ist und nicht aus Tierlauten bzw. aus tierischen Kommunikationsformen entwickelt worden ist. Daraus resultiert auch die enge Bindung an die Bildungsaufgabe als Ausbau der so geschaffenen sprachlichen Ressourcen; bei den großen Theoretikern des frühen 19. Jhd. wie vor allem bei Wilhelm von Humboldt ist das ein dominanter Zug in ihren Reflexionen. Sprache ist in dieser Sichtweise nicht nur eine genuin menschliche Praxisform, die als solche im sozialen Verband gelernt werden muß: das theoretisch kritische Moment liegt darin, daß sie in der Praxis weiter ausgebaut werden kann. Insofern ist der Sprachausbau der Gegenbegriff zum (reduktiv) verstandenen Entwicklungsbegriff. So wurde ja auch der Rückgriff auf die Darwinschen Überlegungen theoretisch produktiv: die kommunikativ entwickelte sprachliche Infrastruktur, einerseits genetisch gesteuert durch die biologisch ererbten Voraussetzungen zum Sprachelernen, andererseits bestimmt durch die unmittelbaren kommunikativen Anforderungen des (Über-) Lebens, sind nur eine Ressource für den kulturellen Ausbau, von dem die Überlebens- und Durchsetzungschancen der jeweiligen Sprachgemeinschaften abhängen. Die Aus-
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bildung der großen (formalen) Verschiedenheiten in den Sprachen der Welt korrespondiert mit der spontan ausgebildeten Artenvielfalt in der Biologie: welche davon sich durchsetzen kann, hängt von einer Fülle unterschiedlicher Faktoren ab; bei den Sprachen gehört zweifellos ihr Ausbau zu hochkulturellen Schriftsprachen dazu. Mit dieser Konzeptualisierung war eine wissenschaftsstrategische Vorgabe definiert: die Sprachanalyse hat damit einen historischen Gegenstand, bestimmt durch die darin sedimentierte kulturelle Praxis eines gesellschaftlichen Verbandes, für den mit mehr oder weniger „romantischen“ Vorzeichen der Ausdruck Volk stand (steht). Diese Vorgabe war allerdings ambivalent. Aus ihr folgt, daß Sprachwissenschaft nicht in der Matrix der sich in dieser Zeit ebenfalls erst festigenden Naturwissenschaft zu kanonisieren war. Ihr Gegenstand war kulturell – und verlangte nach einer entsprechenden Theorie und für die Analyse nach einer entsprechenden Methodologie. Diese mußte aber erst noch ausgebildet werden – Wilhelm von Humboldts Anläufe hingen weitgehend im Leeren. Solange das nicht erfolgt war, lag die Gefahr nahe, allein die Abgrenzung von den Naturwissenschaften in den Vordergrund zu rücken. Das markiert denn auch die Gradwanderung der sich professionalisierenden Sprachforschung seit dem frühen 19. Jhd. und damit auch den Horizont für diejenigen, die mit dem Katalog dokumentiert sind. Ohne eine theoretisch geklärte Modellierung drohte immer das Abgleiten in Wertungen, wie auch bei Schleicher deutlich ist, für den der Ausbau zu den flektierenden Formen der älteren ie. Sprachen ein Gegenstück nur in dem endemischen Abbau der Formressourcen hat: beim Übergang von synthetischen zu analytischen Bauformen, mit dem Sanskrit auf dem einen und Englisch auf dem anderen Pol. Unabhängig von weiteren methodischen Optionen blieben die Topoi des „Aufklärungs“-Diskurses aus dem späten 18. Jhd. zunächst jedenfalls fest. Auch jemand wie Jacob Grimm, der die neue historisch-vergleichende Vorgehensweise im Fach gewissermaßen institutionalisierte, schrieb in seinen argumentativ systematischer angelegten Beiträgen die Herderschen Topoi fort, s. z.B. Grimm (1851). Die in der Mitte des 19. Jhd. dominant werdende Aura der modernen Naturforschung stand dem nicht entgegen, wie an Alexander von Humboldt sinnfällig wird: dessen Kosmos (1845–62) hatte die Wissenschaftsbegeisterung des 19. Jhds. artikuliert: er erreichte nicht nur als Bestseller eine Auflage von annähernd 100.000 Exemplaren, sondern war vor allem auch in gekürzten Schulausgaben verbreitet.16 Darin hatte er auch das Programm einer neuen
�� 16 Ein beredtes Beispiel für diese Rezeption bietet BOAS, der als Abiturient in seiner Bildungsbiographie den Kosmos als seine Leitschnur darstellte.
258 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Sprachwissenschaft vorgesehen, für das er zwar auf die Arbeiten seines Bruders verwies (dem er Materialien zu den amerikanischen Sprachen zugänglich machte), aber auch herausstellte, daß für deren Gegenstand (noch?) kein vergleichbares Methodeninstrumentarium verfügbar war, vergleichbar dem, das er für seine naturkundlichen Untersuchungen nutzen konnte. Sprache gehört für ihn in den Bereich der intellektuellen Inbesitznahme der Welt, die selbstverständlich nur mit den natürlichen Ressourcen des Menschen möglich ist, die aber als „Entfesselung“ dieser leiblichen Ressourcen (vgl. Kosmos 1845–62: 187) nichtnatürlich ist und eine „Naturkunde des Geistes“ (ebd.) verlangt. Damit hatte Alexander von Humboldt recht klar den Ort beschrieben, an dem sich seitdem die Bemühungen um eine systematisch begründete Sprachwissenschaft entfalteten. In dieser kulturanalytischen Matrix ist das Koordinatensystem der Kultur universal, aber als solches nur virtuell: es muß in der sozialen Praxis realisiert werden. Die jeweilige empirische Realisierung von Kultur läßt sich daher in Hinblick auf den Grad bestimmen, in dem das erreicht ist: insofern ließ sich durchaus von einem unterschiedlichen Rang bei der kulturellen Verwirklichung sprechen; rein kommunikativ verfaßte Gemeinschaften mit einer ungeschriebenen Sprache haben ihre Ressourcen nur wenig ausgebaut. Das entspricht der funktionalen sprachtheoretischen Modellierung – und ist von dem zeitgenössisch allerdings dominierenden wertenden Diskurs im Kielwasser der Etablierung des kolonialen Weltsystems zu unterscheiden. Ganz selbstverständlich diente in der älteren Diskussion (z.B. bei Wilhelm von Humboldt) die Schrift im funktionalen Sinne als Indikator für den kulturellen Ausbau – nicht als skribale Technik (als ars mechanica im Sinne der mittelalterlichen Schule: das, was mit den Händen praktiziert wird), sondern als Ausbau der symbolischen Praktiken, die im Mündlichen „natürliche“ Fesseln haben. Im zeitgenössischen (kolonialistischen) Horizont hatte Schrift allerdings noch eine andere Konnotation: als beanspruchter Rechtstitel gegenüber den „schriftlosen Völkern“, deren Lebensräume enteignet wurden. Nicht nur in Deutschland, wo diese Denkfigur von Hegel zu einem wirkungsmächtigen Gedankensystemen ausformuliert worden war, korrespondierte dem die Vorstellung von Geschichte als einem gerichteten Prozeß, der sich in der zunehmenden Selbstkontrolle der sozialen Praxis ausdrückt. Diese zeitigt eine Zäsur in der Objektivierung der Selbstreflexion, deren sprachliche Ressource die Schrift ist. Im zeitgenössischen Diskurs war die Argumentation mit Schrift daher immer überdeterminiert: sie wurde nicht nur funktional verstanden, wie es nicht zuletzt auch bei Schleicher deutlich ist, für den die die Verschriftung einer Sprache ihr Eintritt in die „Geschichte“ und damit der Abschluß der sprachlichen Vorgeschichte ist, die Gegenstand der naturgeschichtlichen Forschung ist (so
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etwa Schleicher 1860: 37). Auf diese Weise verschob sich die Argumentation in einen wertenden Diskurs, dessen Wertungen direkt auf die Gemeinschaften bezogen wurden – was ein Einfallstor für den späteren rassistischen Diskurs bot, der die entsprechenden Konzeptualisierungen gewissermaßen essenzialisiert, s. 5.8. Die neue Sprachwissenschaft wurde von Bopp und anderen in der ersten Hälfte des 19. Jhd. in der älteren kulturanalytischen intellektuellen Matrix aufgebaut – und damit in einem Spannungsfeld, das durch die intellektuell selbstverständliche Orientierung auf den Sprachausbau bestimmt war: als Spannung zwischen dem traditionellen kulturanalytischen Verständnis von Sprachforschung und einer methodisch orientierten Sprachwissenschaft, bei der als Sprache das verstanden wird, was in einem methodisch kontrollierbaren Analysefenster thematisch wird. Bei den älteren Fachvertretern wird diese Spannung in ihrer individuellen Praxis meist auch explizit artikuliert: auch Exponenten der neuen disziplinären Ausrichtung wie Bopp (erst recht jemand wie Jacob Grimm) betrieben vor allem Sprachforschung.17 Eine Umorientierung zeichnete sich erst mit der positivistischen Wende im Wissenschaftsverständnis um die Mitte des 19. Jhd. ab – aber erst in der Mitte des 20 Jhds. wurde der Bruch mit der Tradition der Sprachforschung vollzogen, wie auch am Katalog abzulesen ist. Die ungleichzeitige Überlagerung des neuen methodisch ausgerichteten sprachwissenschaftlichen Diskurses und der Weiterführung des Diskurses der Aufklärung drückt sich in der bis in die Mitte des 20. Jhd. neben dem deskriptiven Handwerk immer reklamierten „philosophischen Grammatik“ aus: als Reflexion auf Sprachformen als Artikulation einer „Weltanschauung“, s. auch Kap. 6 zu den spezifisch deutschen disziplinären Ausformungen im frühen 20. Jhd.
5.3 Die Etablierung der Sprachwissenschaft im 19. Jhd. 5.3.1. Eine kritische Schwelle in der Entwicklung der Sprachforschung liegt bei ihrer Professionalisierung, mit der (wie schon in 1.3. ausgeführt) die sozialen Voraussetzungen gefaßt werden können, mit einer solchen Tätigkeit den Lebensunterhalt zu verdienen: Sprachwissenschaft kann in diesem Sinne als disziplinär verfaßte Sprachforschung verstanden werden, die diese professionellen Voraussetzungen bietet. Die Professionalisierung ist ein Aspekt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung: hochspezialisierte Aktivitäten wie die Sprachforschung
�� 17 Dafür steht vor allem die bei den Altvorderen übliche Herausgabe der bearbeiteten Quellenschriften, bei Bopp waren das z.B. altindische Texte.
260 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung kommen dafür nur infrage, wenn ein entsprechender gesellschaftlicher Bedarf für sie vorhanden ist. Die fachinternen Aspekte sind dabei gewissermaßen abhängige Variablen: professionalisiert werden nicht theoretische Positionen, sondern Tätigkeiten, die ggf. auf deren Grundlage Leistungen erbringen, die in diesem Sinne nachgefragt werden. Schon in Hinblick auf den hohen Grad an Spezialisierung sprachwissenschaftlicher Aktivitäten kann deren Professionalisierung nur ausnahmsweise auf dem „freien Markt“ erfolgen; die Förderung einzelner Wissenschaftler durch Mäzene, die es auch in den vormodernen Gesellschaft gab, kann in diesem Sinne ausgeklammert werden. Professionelle Sprachforschung ist an designierte gesellschaftliche Orte gebunden, zu denen insbesondere die Universitäten zählen. Traditionell wurden (werden) sprachwissenschaftliche Leistungen da nachgefragt, wo der Zugang zu Sprachlichem nicht „trivial“ ist, sondern eine besondere Ausbildung verlangt. Das war insbesondere beim Umgang mit den überlieferten Texten der Fall, die als Grundlage für zentrale Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion dienten: Religion, Recht und Medizin, die einen institutionellen Ort in den Fakultäten Theologie, Jura und Medizin der alten Universität hatten, wo sie durch entsprechende Text“corpora“ definiert waren; hinzu kam als eine Art Metadisziplin die Philosophie. Eine besondere gesellschaftliche Funktion hatte die Sprachforschung als Kurator (Treuhänder) der überlieferten Texte – mit dem traditionellen Terminus: als Philologie, deren traditioneller Ort die propädeutische Philosophische Fakultät war (in der Terminologie der mittelalterlichen Universität: die artes). Im 18. Jhd. setzte eine Neuorganisation der Universitäten ein, bei der die fachliche Gliederung zur Disposition stand, verbunden mit einer systematischen Wissenschaftsreflexion, die meist mit dem Verweis auf die „Aufklärung“ verhandelt wird. Das spiegelt sich in den universitären Neugründungen, etwa der Reformuniversität Göttingen (1737 gegründet), die nicht mehr das bis dahin fraglose Primat der Theologie fortschrieb. Die Reform des preußischen Bildungswesens zu Beginn des 19. Jhd. (mit W. von Humboldt als zuständigem Minister) schloß hier an und setze die seitdem endemischen Ansätze zur Neuorganisation, insbesondere der Philosophischen Fakultät, frei, in der es auch zur Institutionalisierung der Sprachwissenschaft kam, die in 5.2. schon in fachlicher Binnenperspektive im Blick war. Das war allerdings kein flächendeckend homogener Prozeß, bei dem regionale Besonderheiten dominieren konnten, vor allem auch konfessionelle. Auch in den westlichen Provinzen Preußens blieben noch lange katholische Strukturen bestimmend, die die kirchliche (inneruniversitär also theologisch verfaßte) Kontrolle bewahrten – u.U. mit Brechungen, die
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sich bis in Besonderheiten unter nationalsozialistischen Bedingungen spiegelten, s. z.B. Pilger (2004) für die Universität Münster. Im Rahmen dieses Prozesses war auch die zünftige Abgrenzung zur Sprachforschung ein grundlegendes Problem. Diese steht überall infrage, wo Deutungsprobleme anstehen: insofern konstitutiv in Disziplinen wie Jura, Soziologie, aber auch der Medizin, und schließlich auch da, wo mit einer expliziten Ausarbeitung von Theorien metasprachliche Fragen zum Thema werden wie auch in den Naturwissenschaften. Nicht zuletzt hatte aber die Theologie ein sprachanalytisches Fundament, das mit dem erweiterten seelsorgerischen Horizont der Mission auch über die Schulsprachen hinausging. So waren in der sich in der ersten Hälfte des 19. Jhd. formierenden Orientalistik eben auch viele Priester aktiv engagiert. Insofern ist Sprachforschung gewissermaßen orthogonal zu den institutionell etablierten Disziplinen: für sie bildete nicht nur die traditionelle Aufteilung der Universität in Fakultäten keine Schranke, sondern auch die Binnenstruktur der Philosophischen Fakultät nicht, bei der sich das philologische Selbstverständnis als zunehmend inkongruent mit der betriebenen Sprachforschung erwies. Diese Probleme spiegeln sich nicht zuletzt auch in der Zusammensetzung des Katalogs. Dabei können die deutschen Verhältnisse stellvertretend für die internationalen genommen werden, bei denen die deutschsprachigen Universitäten bis zum Ersten Weltkrieg im philologischen Wissenschaftsfeld international eine dominierende Stellung hatten (mit Ausnahme vielleicht der Orientalistik, die im Horizont der [nicht-deutschen] Kolonialreiche ausgebaut wurde). Die ältere Generation der hier Vertretenen bildete an deutschen Universitäten den internationalen Nachwuchs aus (wie z.B. ERMANN in der Ägyptologie). In gewisser Weise ist die im Katalog dokumentierte Auswanderung von Sprachforschern auch ein Fenster auf die Verschiebung des Koordinatensystems im 20. Jahrhundert, als Ausdruck der Internationalisierung der Wissenschaft. Der Blick auf den Umbau der universitär betriebenen Wissenschaft darf nicht verdecken, daß zugleich außerhalb des traditionellen akademischen Horizontes eine Professionalisierung in sprachlichen Praxisfeldern erfolgte, bei denen die Ausbildung sukzessive auch verakademisiert wurde. Das gilt so insbesondere für die Lehrerausbildung, die mit dem Schulwesen insgesamt im Verlaufe des 19. Jhds. reorganisiert wurde. Für die Gymnasiallehrausbildung wurde ein universitärer Abschluß erforderlich, worauf in der 2. Hälfte des Jhds. die Reorganisation der philologischen Abteilungen zu Seminaren reagierte, abgestellt im Lehrbetrieb auf die neu erlassenen Prüfungsordnungen – mit der Konsequenz des Stellenausbaus und entsprechend denominierter Professuren und des weiteren Hochschulpersonals. Gleichzeitig wurde die Schullandschaft mit gestaffelten Schulformen neu organisiert: bei den „höheren Schulen“ (die
262 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung zum Hochschulzugang führten) mit Realgymnasien, die u.a. einen Schwerpunkt bei den modernen Fremdsprachen hatte; vor allem aber mit einem breiten Spektrum von „mittleren Schulen“, die auf die beruflichen Anforderungen des ausgebauten Handels- und generell des Verwaltungssektors ausgerichtet waren; auch die Volkschulen konnten nicht mehr auf ihre sozialdisziplinierende Funktion beschränkt bleiben, die sie in der vormodernen Gesellschaft unter kirchlicher Kontrolle hatten. In dem Maße, wie eine schriftliche Geschäftsführung auf allen gesellschaftlichen Ebenen selbstverständlich wurde, wurde eine entsprechende Elementarausbildung nötig, die besondere sprachliche Anforderungen an die Lehrausbildung definierte. So wurde im 19. Jhd. auch ein Volksschullehrerexamen obligatorisch, und die Ausbildung (bis dahin an Lehrerseminaren in der Regel unter kirchlicher Kontrolle) wurde sukzessive in das akademische Bildungssystem integriert – in einem Prozeß, der bis heute nicht abgeschlossen ist (die weitgehenden Reformen der 1960er/1970er Jahre sind wieder rückgebaut worden).18 Die in diesem Prozeß institutionalisierten sprachlichen Ausbildungsbereiche verlang(t)en eine entsprechende sprachwissenschaftliche Unterfütterung, für die die Fortschreibung der „philologischen“ Disziplinen nicht ausreichte. Das setzte einen spannungsgeladenen akademischen Umbauprozeß frei, gegen den sich die Mehrheit der etablierten Fachvertreter an den Universitäten zunächst in der Regel meist sperrten – während Jüngere hier die Möglichkeit zu einem „Brotberuf“ als Studienziel sehen konnten. Dazu gehörten seit Anfang des 20. Jhds. auch die explizit nicht traditionell ausgerichteten Hochschulen eines neuen Typs: Technische Hochschulen, Handelshochschulen u.dgl., vor allem aber auch die in diesem Sinne „pragmatischer“ angelegten neuen Stiftungsuniversitäten wie Frankfurt oder Köln, auch die Gründung einer eigenen Universität durch die Hamburger Bürgerschaft 1919, an denen eine bewußt „moderne“ Fachwissenschaft praktiziert wurde (s. im Katalog Sprachforscher an Technischen bzw. an Handelshochschulen wie z.B. ARGELANDER-ROSE, BRUNNER, GELB, GUTKIND, HIBLER-LEBMANNSPORT, JORDAN, KLEMPERER, SELZ, WALZ), vgl. zum fachlichen Schwerpunkt bei derartig „technischen“ Problemen, etwa den Fachsprachen, in einem breiten Spektrum von HOMBERGER, JORDAN, KLEMPERER, �� 18 Die kritische Schwelle war die geforderte Grundausbildung. Bis weit ins 20. Jhd. (und da nach Ländern verschieden) war für die Volkschullehrerausbildung kein Abitur gefordert. Eine Reform setzte 1925 in Preußen ein, das Pädagogische Akademien mit Abitur als Zugangsforderung einrichtete, dabei aber deren konfessionelle Bindung beibehielt wie z.B. bei der 1925 in Bonn gegründeten katholischen Akademie, die ein dynamischer Ort für die wissenschaftliche Weiterentwicklungen war, s. dazu 5.9. (mit Verweis auf Weisgerbers Aktivität dort) und im Katalog bei BOSCH.
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POKORNY, REIFLER, RICHTER, SCHIROKAUER, SIMON, WILHELM u.a.; zur Professionalisierung der sprachlichen Elementarausbildung, s. z.B. BOSCH. Bei der Schule wurde (wird) eine traditionelle gesellschaftliche Institution umgebaut. Daneben entstanden aber auch andere professionelle Felder mit einer sprachlichen Ausrichtung, etwa in den Heilberufen, wo in der 2. Hälfte des 19.Jhd. Sprachstörungen in ihrer ganzen Bereite in der Forschung, aber auch in Hinblick auf therapeutische Möglichkeiten angegangen wurden. Die Professionalisierung dieser Berufe, etwa der Logopädie, ist seitdem ein Konfliktfeld in der Medizin, s. im Katalog FRÖSCHELS; im weiteren Sinne zu einem systematischen Herangehen an sprachliche Probleme im medizinisch-therapeutischen Feld s. BOSCH, GOLDSTEIN, LENNEBERG, WEIGL, W.STERN, auch im psychoanalytischen Umfeld: FREUD, KRIS, SPITZ, STORFER, vgl. auch BORNEMANN. Dabei verschob sich das sprachliche Koordinatensystem, das mit der traditionellen Universität gesetzt war, wie sich schon an der zunehmend wissenschaftspolitisch in den Vordergrund rückende Beschäftigung mit dem Deutschen zeigt, die zunächst noch gewissermaßen nebenbei von traditionell ausgebildeten Philologen betrieben werden konnte. Schon bei den modernen Fremdsprachen, die zunehmend in der gesellschaftlichen Geschäftsführung gefordert waren, war das anders: dafür reichten auch die schon an der traditionellen Universität eingestellten fremdsprachlichen „Sprachmeister“ nicht aus (die neben Fecht- und Tanzmeistern in den Personalverzeichnissen der Universitäten ausgewiesen sind). Für die Handelskorrespondenz waren zunehmend ganz andere Sprachen verlangt: Türkisch, Chinesisch u.a. mehr. Wenn die Universitäten diesem Bedarf überhaupt nachkamen, folgten sie dabei in der Regel dem philologischen Muster der bereits bestehenden sprachlichen Einrichtungen – was die endemischen Konflikte in den Instituten für Semitistik, Sinologie u. dgl. freisetzte, die bis heute bestehen (s. 6.8.2. zu diesen Konflikten in der Zeit des Nationalsozialismus). Das professionelle Feld der Sprachforschung reichte aber weit über Hochschuleinrichtungen hinaus, wobei sich staatliche Kontrolle (und vor allem auch eine öffentliche Finanzierung) und privatrechtliche Strukturen vielfältig überlagern. Zu den außeruniversitären Einrichtungen der Sprachforschung gehören vor allem die Akademien. So, wie aber in deren leitenden Funktionen Hochschullehrer fungierten (s. im Katalog z.B. ERMANN, LÜDERS, NORDEN), übernahmen sie auch die akademischen Fachdefinitionen. Mit der Institutionalisierung langfristiger Projekte (Wörterbücher wie den Thesaurus Linguae Latinae der Bayrischen AdW [seit 1899], das Wörterbuch der Ägyptischen Sprache der [früheren] Preußischen AdW [seit 1897] u.a., große Texteditionen u. dgl.) auch Mitarbeiter einstellten, s. im Katalog GABAIN, LENTZ, MENGES, NEUMANN, PIASEK, POLOTSKY, speziell beim Thesaurus Linguae Latinae DIEHL, FIESEL, E.D.M. FRAENKEL, GROTH,
264 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung JACOBSON, LEO, OELLACHER, SKUTSCH, S. außerdem noch bei HENNING, MITTWOCH, OLSCHKI, PLESSNER, POEBEL, W.W. POLLAK, H. RANKE, ROHLFS, ROSTHORN, VATER, WEIGL, STEINDORFF, STEINITZ, SCHMIDT. Hinzu kommen „vereinsrechtliche“ Institutionen wie die der Wissenschaft des Judentums, s. SPANIER, A.SPERBER, vgl. auch M. WEINREICH u.a.; s. auch 6.4. für spätere politisierte Einrichtungen. Im Feld der modernen Fremdsprachen, vor allem auch der „exotischen“ Sprachen, hatten ohnehin fließende Übergänge zwischen universitärer und außeruniversitärer Beschäftigung Tradition; hier fand die Forschung schon traditionell in Verbindung mit diplomatischen und/oder auch kommerziellen Aktivitäten (gebunden an die Handelsniederlassungen) statt, gefördert durch staatliche und parastaatliche Organisationen wie z.B. die „Deutsche Kolonialgesellschaft“ (1887 gegründet, 1933 eingegliedert in den „Reichskolonialbund“). Gerade in diesem Feld hinkte die akademische Welt oft hinter dem her, was außeruniversitär geleistet wurde.19 Entsprechend rekrutierten sich die Mitarbeiter an den (im Gegensatz zu den universitären Philologien) auf die gegenwärtigen Verhältnisse ausgerichteten Institutionen aus diesem außerakademischen Feld: so am Hamburgischen Kolonialinstitut (gegründet 1908), aus dem nach dem Weltkrieg die Hamburger Universität hervorging (1919 gegründet), die vor
�� 19 Ein frühes Beispiel dafür ist der ungemein produktive August Seidel (1863–1916), der eine Unmenge von sprachwissenschaftlichen und landeskundlichen Werken verfaßte, bei denen die Sprachlehrwerke von einem beachtlichen deskriptiven Niveau sind und mit solchen von universitären Autoren durchaus mithalten können. Das gilt z.B. für seine „Marokkanische Sprachlehre“ (1907), die deskriptiv detailliert auf die gesprochene Sprache in Marokko abstellt, dabei aber kontrolliert an den Vorgaben der traditionellen arabistischen Beschreibungen. Leider war es mir noch nicht möglich, detaillierte Informationen zu ihm über die mutmaßlichen Lebensdaten hinaus zu finden. Unvollständige bibliographische Listen finden sich bei http://onlinebooks.library.upenn.edu/webbin/book/lookupname?key=Seidel%2C%20A.%20 %28August%29%2C%201863-1916 oder auch http://www.idref.fr/081506619#070. Sie spannen von ostasiatischen (Chinesisch, Japanisch …) zu schwarzafrikanischen und arabischen Varietäten. Aber er verfaßte auch Lehrbücher zu den europäischen Schriftsprachen (in beide Richtungen: fremdsprachlich für Deutsche, aber auch Deutsch für Ausländer), neben auch grundlegender angelegten Werken z. B. zur Phonetik und zu Schriftsystemen. Der politische Kontext ist bei ihm deutlich, weil er auch als Herausgeber der „Zeitschrift für afrikanische und oceanische Sprachen, mit besonderer Berücksichtigung der Deutschen Kolonien“ fungierte, die „mit Unterstützung der Kolonial-Abtheilung des Auswärtigen Amts, der Deutschen Kolonialgesellschaft u.a.“ (so auf dem Titelblatt) von 1895 bis 1900 in Berlin erschien. Ein akademisches Gegenstück hatte Seidel immerhin in dem Leipziger Semitisten Hans Stumme (1864–1936), der (insofern eine Ausnahme im Fach) ebenfalls eine Reihe von praktischen Sprachlehrwerken zu gegenwärtig gesprochenen Sprachen verfaßte (mit einer allerings sehr viel systematischeren methodischen Kontrolle als bei Seidel).
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allem auch die afrikanische und die phonetische Abteilung fortführte),20 und am Berliner Seminar für Orientalische Sprachen (gegründet 1887), das aber in der Leitung durch die Personalunion mit einem Ordinariat an die Berliner Universität gebunden war, s. im Katalog bei BRAUNER-PLAZIKOWSKY, M.D. GOLDMAN, MISCH, MITTWOCH, R.A. STEIN, TIKTIN, WEIL u.a. Am Berliner Seminar gab es einen eigenständigen Diplomstudiengang, der auf diese praktischen Ausbildungsziele zugeschnitten war und einen entsprechend großen Lehrkörper, zu dem vor allem auch ein Stab von muttersprachlichen Gewährsleuten für die „Kolonialsprachen“ als „Hilfslehrer“ gehörte. So gab (und gibt) es ein ausgesprochen dynamisches Feld außeruniversitärer Sprachforschung zu „exotischen“ Sprachen, das von „Praktikern“ im diplomatischen und kaufmännischen Dienst, daneben nicht zuletzt auch von Missionaren bearbeitet wurde, die nur in zweiter Linie ggf. auch philologische Fragen bearbeiteten.21 Mit dem Ausbau der Universitäten wurden auch hier entsprechende Einrichtungen geschaffen, verbunden mit an den traditionellen Philologien ausgerichteten disziplinären Strukturvorgaben. In der Orientalistik gab es dafür zwar schon eine ins Mittelalter zurückreichende Tradition (gebunden an die Rolle der arabischen und syrischen Überlieferungen für die Theologie), aber die Folge waren heftig ausgetragene Revierstreitigkeiten der „philologischen“ Fachvertreter mit den „Praktikern“, die zwangsläufig auch im politisierten Diskurs ausgetragen wurden, s. 2.5.1. und 6.8.2. Eine besondere Rolle spiel(t)en in diesem Feld die Missionsgesellschaften, z.B. die Steyler Mission (Missionsgesellschaft des Göttlichen Wortes/ Societas Verbi Divini [SVD]), deren Heimatsitz zwar in Steyl, Limburg/Niederlande ist, die aber ein Missionspriesterseminar in St. Gabriel (bei Wien) hatte, an dem SCHMIDT und KOPPERS tätig waren, die dieses ausbauten (später als Anthropos-Instituts in Mödling bei Wien) und dort auch �� 20 In Hamburg war die enge Bindung der neuen, deskriptiv ausgerichteten Sprachforschung mit der Phonetik als Grundlage besonders deutlich, weil hier mit den (schwarz-) afrikanischen Sprachen ein tradtioneller philologischer Zugang erst gar nicht zur Diskussion stand. Das „Phonetische Laboratorium“ wurde 1910 unter der Leitung von Meinhof eingerichtet, der dafür Panconcelli nach Hamburg holte. Hier gab es zwar auch eine enge Zusammenarbeit mit der medizinischen Klinik, bei der sich aber die Phonetik zuenhmend verselbständigte, vor allem auch mit der Herausgabe eine eigenen Zeitschrift Vox (seit 1913), die damit die „Medizinischpädagogische Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde“ ablöste. 1914 organisierte und leitete Meinhof schon einen großen internationalen Kongress für experimentelle Phonetik in Hamburg. 21 Instruktiv ist z.B. das Feld der sinologisch aktiven Sprachforscher noch in der ersten Hälfte des 20. Jhd., von denen nur eine Minderheit universitär angebunden bzw. verankert war, s. den auf Vollständigkeit bedachten Katalog bei Wallravens in Elvert / Nielsen-Sikora (2008). ZACH ist ein aufschlußreiches Beispiel für dieses Spannungsfeld.
266 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung seit 1906 die ethnologische und sprachwissenschaftliche Zeitschrift Anthropos herausgaben.22 Schließlich hatte die professionelle Beschäftigung mit sprachlichen Fragen einen Ort in einer großen Breite von institutionellen Einrichtungen, die von kommunalen Bildungseinrichtungen über solche von freien Trägern bis hin zu den von politischen Formationen (Parteien und angeschlossenen Organisationen) reichten. Für diejenigen, die wissenschaftliche Ambitionen hatten, gab es hier nur beschränkte Entfaltungsmöglichkeiten, formal festzumachen schon an dem fehlenden Promotionsrecht auch von Einrichtungen die sich „Hochschulen“ nannten (wie z.B. die „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“, s. 3.2.3.2.). So suchten die hier Tätigen eben doch zumindest gleichzeitig nach einer Anbindung an eine Universität, soweit das nicht ohnehin eine Nebenaktivität von Hochschullehrern war; im Katalog findet sich ein großes Spektrum solcher Fälle, vgl. bei BÜHLER, ERKES, SPEIER u.a. In 6.4. werden die institutionellen Fragen in Hinblick auf die spätere politische Formierung wieder aufgenommen. Die Professionalisierung der Sprachforschung ist insofern nicht auf universitäre Institutionen beschränkt. Diese stellen aber nicht nur quantitativ den bei weitem dominierenden Ort, auf den auch die anderen Aktivitäten zumindest indirekt ausgerichtet sind. Die enge Bindung des universitären Ausbaus an die außeruniversitäre Nachfrage zeigt sich bei den Forschungsfeldern, für die außeruniversitär keine Nachfrage besteht wie z.B. bei der systematisch betriebenen typologischen Forschung. Die Folge davon ist, daß diese auch auf der universitären Ebene marginal ist, trotz der herausgehobenen Stellung, die sie in der Schlüsselfigur Humboldt bei der Neuordnung der Universitäten hatte:23 diejenigen, die hier bis ins frühe 20. Jhd. forschten, taten es nicht auf einer entsprechend denominierten Professur (oft waren sie Bibliothekare). Diese Hinweise leisten selbstverständlich keine systematische Darstellung der institutionellen Verhältnisse – sie sollen nur deutlich machen, daß es nicht angeht, Fachgeschichte rein „ideengeschichtlich“ zu betreiben: die im Katalog dokumentierten Karrieren bzw. wissenschaftlichen Profile sind in ihrer fachlichen Ausrichtung nur verständlich, wenn sie in einem solchen Spannungsfeld
�� 22 Aus systematischer Sicht ist ein Vergleich mit dem Summer Institute of Linguistics nötig, das mit seinen Aktiven wie K. Pike u.a. eine wichtige Rolle bei der methodischen Ausformung der deskriptiven Sprachwissenschaft in den USA hatte. 23 Auch Humboldts systematische Aufbereitungen der verfügbaren Informationen zu den Sprachen der Welt werden nicht zufällig erst jetzt aus dem Nachlaß ediert.
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gesehen werden.24 Eine „ideengeschichtliche“ Betrachtungsweise verstellt vor allem auch den Blick auf das, was in den schon am Ende des 19. Jhd. „Massenfächer“ genannten Studiengängen weitgehend als aufgenötigte Ausbildungsaufgaben im Rahmen der reformierten Lehrerausbildung empfunden wurde. Die Reaktion auf derartige institutionelle Randbedingungen ist eine analytisch unverzichtbare Folie für die konzeptuellen und diskursiven Momente der dabei ins Werk gesetzten Wissenschaft. 5.3.2. Der Ausbau der Universitäten erfolgt(e) primär über die Schaffung neuer Professuren, mit deren Denomination neue akademische Fächer institutionalisiert wurden, in denen sich das geänderte universitäre Profil spiegelt. Im philologischen Feld erfolgte das nur ausnahmsweise als akademischer Ausbau von bereits etablierten sprachlichen Dienstleistungen, wie es z.B. bei der Romanistik an der 1818 neugegründeten (damals preußischen) Universität in Bonn der Fall war, wo der Lektor für italienische, spanische und portugiesische Sprache Diez 1821 zum (a.o.) Professor und Lektor für die „südwestlichen europäischen Sprachen“ und schließlich 1830 zum o.Prof. für „moderne und mittelalterliche Sprachen und Literaturen“ ernannt wurde.25 In der Regel wurden die fachlichen (disziplinären) Belange von fachexternen politischen Aspekten überlagert, wenn nicht sogar dominiert. Die Einrichtung entsprechender Professuren spiegelt(e) so immer auch politische Vorgaben, die nicht in die tradierten philologischen Muster passen, bei den universitären Neustrukturierungen im frühen 19. Jhd. nicht anders als später bei dem Versuch einer explizit politischen Finalisierung einer „landeskundlichen“ Ausrichtung von Forschung und Lehre im Nationalsozialismus (s. Kap. 6). In den einzelnen Fachgebieten bestanden unterschiedliche Kräfteverhältnisse, ggf. bestimmt durch das Ausmaß einer bereits etablierten philologischen Struktur. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jhd. wurden die Aufgaben der modernen Sprachen und Literaturen ggf. von Vertretern der Klassischen Philologie wahrgenommen, die oft auch voluminöse Handbücher produzierten, die nach deren Modell, gestützt auf reiche Belegsammlungen, auch die stilistische Variation im Blick hatten, selbstverständlich ausgerichtet auf den Sprachausbau in
�� 24 Zu den Zusammenhängen der Professionalisierung des Faches, s. auch mit einer statistischen Unterfütterung Amsterdamska (1987). 25 Im Lehrkörper der damaligen Universität Bonn (gegründet 1818) wurde Diez unter den „Sprach- und Exerzitienmeistern“ geführt (neben Tanz- und Fechtmeistern …). Die Bezeichnung „Lektor“ behielt er auch in späteren Verzeichnissen neben seinem akademischen Professorentitel, s. Stengel (1883).
268 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung den „gebildeten Sprachen“.26 Vor allem in den marginalen Philologien ist deutlich, daß ihre Institutionalisierung fachexternen Zielsetzungen geschuldet war. Die Slawistik kann dafür exemplarisch genommen werden, deren frühe Professuren seit Mitte des 19. Jhd. beim Universitätsausbau in Preußen und Österreich mit Vertretern von politisch „kritischen“ Bevölkerungsgruppen besetzt wurden: 1842 in Breslau, also in der polnischsprachigen Grenzregion (allerdings mit dem Tschechen Čelakovský, was dann auch in Hinblick auf die dort gefragte Vertretung des Polnischen zu Problemen führte), 27 1849 in Wien in Hinblick auf die südslawischsprachigen Gebiete des k.u.k. Österreich-Ungarns (mit dem Slowenen Miklosič), 1874 in Berlin (mit dem Kroaten Jagić; 1886 Nachfolger von Miklosič in Wien). Eine Verschiebung in diesem Kräfteverhältnis zeichnete sich immerhin im letzten Jahrhundertdrittel ab: die Professur in Leipzig (1870 bzw. 1874) wurde mit Leskien, einem strikt sprachwissenschaftlichen Fachvertreter ohne einen solchen Hintergrund, besetzt28 – im Horizont der neu formierten, junggrammatisch profilierten Sprachwissenschaft, bei der die Slawistik in den idg. Handbuchdarstellungen schon seit Schleicher eine prominente Stellung hatte. Noch offensichtlicher ist das bei den neuen Fächern ohne philologischen Unterbau, deren Finalisierung bei ihrer Einrichtung im Rahmen der „Kolonialwissenschaften“ explizit im Vordergrund stand, etwa bei der Afrikanistik. Wo das nicht ohnehin außerhalb universitärer Strukturen erfolgte wie bei dem Hamburger Kolonialinstitut (eingerichtet 1908, s.o.), dienten dazu Doppelstrukturen wie bei dem Berliner Seminar für Orientalische Sprachen, das einerseits unabhängig war (und sich aus eigenen Mitteln, vor allem vom Auswärtigen
�� 26 Ein Beispiel dafür ist der Theologe und Klassische Philologe Eduard Maetzner, der entsprechende Werke außer zu den Klassischen Sprachen auch zum Französischen und Englischen vorlegte, darunter eine zweibändige Syntax des Französischen (Maetzner 1845–46), die einerseits die Stilebenen bis zu „affektisch“ bestimmten Formen differenziert, mit „elliptischen“ Strukturen als Grenzwert, die nur auf der Interpretationsebene kohärent verstanden werden können (aber dort ggf. mit Partikeln u. dgl. markiert werden), auf der anderen Seite seine deskriptiven Verallgemeinerungen mit sprachvergleichenden Hinweisen (nicht zuletzt auch mit Einschluß der semitischen Sprachen: Hebräisch und Arabisch) unterfüttert. 27 Die Besetzung erfolgte von Berlin aus, offensichtlich im Sinne der nicht polenfreundlichen preußischen Politik – gegen die Erwartungen in Breslau vor allem von Seiten der polnischen Theologen dort. Čelakovskýs historisch-vergleichende Lehrveranstaltungen kamen denn auch zum großen Teil mangels Hörer nicht zustande. 1849 wechselte Čelakovský dann auch an die U Prag. Mit einigen Verzögerungen wurde die Breslauer Professur dann mit dem Polen W.Cybulski (1808–1867) wieder besetzt; s. dazu Schaller (1995). 28 Leskien war vorher auch als Kandidat für die Wiederbesetzung der durch den Tod von Cybulski frei gewordenen Stelle in Breslau gehandelt worden; statt seiner wurde der Pole W.Nehring (1830–1909) berufen.
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Amt, speiste), dessen Direktor aber zugleich o.Prof. in der Orientalistik der Berliner Universität war, was für eine indirekte Einbindung sorgte: hier gab es auch schon einen eigenständigen Diplomstudiengang.29 Durch den Personalausbau war im Verlauf des 19. Jhd. die Philosophische Fakultät zu einer diffusen Sammelgliederung geworden, in der sich mehr oder weniger auch professionell ausgerichtete Binnenstrukturen verfestigten, insbesondere bei den Naturwissenschaften. Deutlichster Ausdruck für die damit inkongruente tradierte Struktur ist die fortgeschriebene Denomination der Professuren für neue Disziplinen wie die (empirische) Psychologie als Philosophie. Die Neustrukturierung bestimmte die 2. Hälfte des 19. Jhd., war aber auch im frühen 20. Jhd. noch nicht abgeschlossen; zu den Reformen des nationalsozialistischen Regimes, s. Kap. 6. Auf der einen Seite stand die Einrichtung philologischer Seminare, ausgerichtet vor allem auf die dort zu bewerkstelligende (höhere) Lehrerausbildung, andererseits die Ausgliederung der naturwissenschaftlichen Fächer, darunter im weiteren Sinne auch die Psychologie, die Geographie, aber auch die Mathematik. Die organisationsbezogenen Diskussionen wurden von wissenschaftssystematischen Reflexionen flankiert, die oft schon ausgesprochen klare definitorische Vorgaben machten. Ein Beispiel dafür lieferte von Helmholtz, der als Prorektor in Heidelberg in den 1860er Jahren diese Probleme zu managen hatte. Er brachte die Grundzüge der Fachstrukturen auf einen bemerkenswert klaren Punkt, indem er die Sprachwissenschaft als eine formal strukturierte Disziplin bestimmte: für ihn gab es eine klare Trennungslinie zwischen mathematisch strukturierten Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften, die durch die Akkumulation und Verknüpfung von einer ungeheuren Menge von Detailwissen definiert sind. Pointiert stellt er so die dazu geforderte enorme Gedächtnisleistung einer naturwissenschaftlichen Praxis gegenüber, die ihre Sätze nach einem formalen Verfahren herleitet. Daraus folgte für ihn ein ambivalenter Status der Sprachwissenschaft, die zwar den Geisteswissenschaften zugerechnet wird, von der Architektur des Faches her aber zu den formalen Wissenschaften gehören sollte (Helmholtz 1862). Praktische Konsequenzen hatten diese Überlegungen damals nicht – sie spielen erst 100 Jahre später eine Rolle in der versuchten Neuorganisation der Universitäten im Kontext der sog. Bildungsreform.
�� 29 Der auf die praktischen Probleme der Kolonialverwaltung ausgerichtete Lehrbetrieb nutzte für den Sprachunterricht systematisch muttersprachliche Lektoren, gerade auch für die nichtverschrifteten afrikanischen Sprachen, s. dazu die „Mitteilungen“ des Seminars zu seiner 25Jahr Feier 1913 mit einem Bericht über die Entwicklung im Lehrkörper wie der Absolventen.
270 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Die Ausbildung der neuen Strukturen verlief auf den beiden Ebenen parallel, die schon in 2.2. angesprochen wurden: der Ebene, die durch institutionelle Randbedingungen bestimmt ist, und der Ebene der methodisch bestimmten Formierungen neuer Disziplinen im Horizont der alten Philosophischen Fakultät, s. 5.4. In den zeitgenössischen Diskussionen waren beide Ebenen in der Regel verquickt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte der institutionelle Ausbau einen neuen Reflexionsschub frei, der gewissermaßen die faktisch geschaffenen Strukturen wissenschaftstheoretisch rationalisierte. Dazu gehörten vor allem die neuen „philologischen“ Seminare mit ihrem wachsenden Personalbestand, der durch die Aufgaben der („höheren“) Lehrerbildung bestimmt war. Deren Verwissenschaftlichung wurde nicht zuletzt von einer sich formierenden Lehrerschaft mit ihren Verbänden betrieben, vor allem von dem Verein deutscher Philologen und Schulmänner (gegründet 1837). Dabei stand die zunächst noch selbstverständliche Dominanz der Klassischen Philologie zur Disposition, und die „neueren Sprachen“, allen voran die Beschäftigung mit dem Deutschen, rückte in den Vordergrund, gefolgt von den neueren Fremdsprachen; dafür steht insbesondere das Archiv für das Studium der neueren Sprachen (gegründet 1846). In den 1860er Jahren wurden denn auch Professoren mit der entsprechenden Venia in die Lehramtsprüfungs-Kommissionen berufen. Parallel, aber mit besonderen Randbedingungen verlief diese Entwicklung in dem Feld, das bis heute als exotische Restgröße „Orientalistik“ überschreiben ist. Dessen Kern bildete die Semitistik, bei der das Hebräische als Grundlage nicht nur der christlichen Theologie, sondern auch der jüdischen im Vordergrund stand und entsprechend in der theologischen Fakultät bzw. den Lehranstalten des Judentums (s. Kap. 3.2.3.2.) verankert war. Bemerkenswerterweise wurden in der ersten Hälfte des 19. Jhd. die Jahrestagungen der philologischen und Lehrerverbände z.T. gemeinsam mit den Orientalisten veranstaltet. Parallel zu dieser schul- bzw. seelsorgeorientierten Reform wurden in den Universitäten aber auch Forschungsinstitute mit entsprechenden Studienstrukturen eingerichtet, die auf die Ausdifferenzierung der Industriegesellschaft abgestellt waren, und zwar nicht nur mit der Verselbständigung der naturwissenschaftlichen Fächer (die bis Ende des 19. Jhds. in der Regel noch in der Philosophischen Fakultät angesiedelt waren), sondern auch mit anwendungsorientierten neuen Fächern im Übergangsfeld zur Medizin wie die neue Psychologie, die sich aber auch da, wo sie apparativ betrieben wurde, noch im Duktus eines philosophischen Unternehmens präsentierte. In den am Ende des 19. Jhds. etablierten großen psychologischen Instituten, etwa bei Wundt in Leipzig oder bei Stumpf in Berlin, nahmen sprachliche Fragen nicht nur einen großen (und systematisch verstandenen) Raum in den Forschungen ein, sondern die darauf
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basierten großen Handbuchdarstellungen lieferten auch den theoretischen Unterbau für die Forschungen in den philologischen Seminaren. 5.3.3. Die institutionellen Randbedingungen bestimmten auch den Ausbau der Sprachwissenschaft zu einer Disziplin. Auf der institutionellen Ebene ist die Etablierung eines eigenen Faches lange Zeit nicht möglich gewesen – und ja auch heute noch eine labile Angelegenheit; institutionell etabliert wurde die Sprachwissenschaft vielmehr durch ihre Einbeziehung in die (höhere) Lehrerausbildung. „Reine“ Sprachwissenschaftler waren institutionell nicht vorgesehen; das gilt auch für diejenigen, auf die diese Bezeichnung am ehesten noch zutraf, die „Indogermanisten“. Zwar steht die vergleichende idg. Sprachwissenschaft mit Bopp gewissermaßen am Anfang ihrer disziplinären Etablierung im 19. Jhd., aber dabei handelte es sich nicht um eine Institutionalisierung des Faches. Das ist an den philologischen Denominationen der Professuren abzulesen, auf die sukzessive in den verschiedenen Universitäten sprachwissenschaftlich ausgerichtete Forscherpersönlichkeiten berufen wurden. Die erste Generation der Indogermanisten hatten Professuren für Sanskrit: so Bopp (1821 in Berlin a.o. Professor „für Orientalische Literatur und allgemeine Sprachkunde“) und so auch noch später: Delbrück (o. Professur des Sanskrit und der vergleichenden Sprachkunde seit 1873 in Jena) oder Bezzenberger (o. Prof. für Sanskrit U Königsberg, seit 1879). In der Regel hatten sie Lehrverpflichtungen in der Klassischen Philologie, in der sie meist auch ein Standbein hatten wie Brugmann im Griechischen; dessen Professur explizit für „indogermanische Sprachwissenschaft“ 1887 in Leipzig beruhte auf der Umwidmung der Professur für Klassische Philologie seines Vorgängers (und Lehrers) Curtius. Wie bei ihm wurde jetzt auch, explizit als Abgrenzung zur älteren Tradition, der Terminus der Sprachwissenschaft statt der Sprachkunde üblich. Nur ausnahmsweise konnte ein philologisch peripheres Arbeitsfeld zu einer regulären Karriere führen. Der erste, der eine Professur für „vergleichende Sprachwissenschaft“ hatte, Hermann Ebel (seit 1872 in Berlin), war für sie allerdings weniger durch seinen keltistischen Forschungsschwerpunkt als durch seine Arbeiten zur lateinischen Etymologie ausgewiesen.30 Ähnlich war es bei �� 30 Allerdings spielte das Keltische gerade auch im außerdisziplinären Diskurs immer schon eine besondere Rolle – bis hin zur heutigen Fantasy-Welt. Soweit das mit sprachlichen Beobachtungen zusammenging, wurden bei ihm strukturelle Besonderheiten (Anlautlenisierungen im Sandhi, präfigierende Flexionsformen u.dgl.) herausgestellt, die es mit außereuropäischen („atlantischen“) Sprachen verbinden ließen, insbesondere mit dem nordafrikanischen Berberischen. Erst in jüngerer Zeit werden diese als strukturelle Optionen beim sprachlichen Umbau „trivialisiert“, die sich so auch weniger spektakulär bei festländischen Dialekten der ie. Sprachen finden.
272 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Schleicher, der seinen Forschungsschwerpunkt bei den baltischen Sprachen hatte, aber seit 1850 in Prag eine Professur für Sanskrit innehatte; nach Konflikten mit der Kultusverwaltung ging er 1857 nach Jena auf eine rangniedrigere „ordentliche Honorarprofessur“, die für „vergleichende Sprachkunde und deutsche Philologie“ denominiert war. Damit zeichnete sich eine Orientierung auf das Deutsche als das gesellschaftlich sichtbarste sprachwissenschaftliche Aufgabenfeld ab, das für die weitere Fachentwicklung immer wichtiger wurde. Brugmanns Mitstreiter und späterer Nachfolger in Leipzig, Wilhelm Streitberg, der 1889 in Leipzig für „Indogermanische Philologie“ habilitiert und seitdem auch Professuren für dieses Fach hatte, die für „indogermanische Sprachwissenschaft“ denominiert waren, hatte seinen Arbeitsschwerpunkt in der (vergleichenden) germanischen Sprachwissenschaft. Eine besondere Konstellation bestand in der Orientalistik, bei der sich die Semitistik schon im 18. Jhd. international als eigenes Fach konstituiert hatte, gestützt auf die für die Theologie erforderliche philologische Arbeit; dabei spielte auch schon im ausgehenden Mittelalter die Auseinandersetzung mit der arabischen Überlieferung eine zentrale Rolle. Politisch unterstützt wurde der Ausbau der Semitistik durch die Frontstellung zum Islam, die sich im 19. Jhd. verstärkt im Kontext der kolonialen Neuordnung der Welt geltend machte. Das wird nicht zuletzt auch an der besonderen Rolle des Äthiopischen (Südarabischen) deutlich, das als Sprache einer christlichen Gesellschaft auch in der Semitistik eine zentrale Rolle spielte. Der institutionelle Ausbau spiegelt diese Konstellation. Dazu gehört, daß die Hebraistik als „Bibelwissenschaft“ in allen theologischen Abteilungen institutionalisiert war – und parallel in den Einrichtungen der Wissenschaft des Judentums. Gestützt auf politische Interessenverbände formierte sich daneben schon früh im 19. Jhd. eine andere Fachstruktur, deren institutioneller Ausdruck die 1845 gegründete „Deutsche Morgenländische Gesellschaft“ war. Ihr entsprach ein Spannungsfeld, bei dem sich als Dimensionen ausmachen lassen: die letztlich religiös definierte Frontstellung zum Islam, mit den Arbeiten zum Koran im Zentrum; hier waren philologisch ausgerichtete Forschungen angesagt, nicht nur zum Arabischen, sondern auch sprachübergreifend, da persische, osmanische (türkische) u.a. Überlieferungen dazu gehörten; in einem weiten Sinne kulturanalytische Fragestellungen, bestimmt davon, daß viele Fachvertreter auch ausgedehnte Aufenthalte im „Orient“ absolvierten, mit deren sprachlichen Verhältnissen (also auch den Dialekten und städtischen Umgangssprachen, etwa von Istanbul, Kairo und anderen Zentren) sie vertraut waren, die sie auch analytisch (und in praktischen Sprachführern!) bearbeiteten;
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von Anfang an auch ethnographisch orientierte Forschungen, beim Arabischen etwa zu den beduinischen Lebensformen und ihrem sprachlichen Ausdruck im Gegensatz zu städtischen Formen. Im letzten Jahrhundertdrittel wurden entsprechende universitäre Einrichtungen gegründet: 1886 in Wien und 1887 in Berlin Seminare (Institute) für orientalische Sprachen. Aber auch vorher gab es schon an einer Reihe von Universitäten Professuren mit entsprechenden Arbeitsfeldern, aber gerade die Orientalistik, die keine professionalisierte Ausrichtung durch die Lehrerausbildung hat, blieb weiterhin durch die fließende Grenze zu privat organisierten Forschungsaktivitäten bestimmt, die auch die Biographie wichtiger Fachvertreter bestimmten; das gilt so auch für ein Kernfach der ie. Sprachforschung wie die Iranistik, für die der bunte Lebenslauf von Andreas stehen kann; mit grotesken Verzerrungen spiegelt sich das auch später noch in der rassistisch bestimmten Wissenschaftspolitik in der Zeit des Nationalsozialismus, s. bei dem verfolgten FRITZ WOLFF gegenüber Aktivisten wie z.B. Hinz, Heinrich Junker oder auch Hoffmann; vgl. damit die Kontinuität in der wissenschaftlichen Arbeit bei dem verfolgen Arabisten CASKEL. Die Fachentwicklung an den Universitäten war bestimmt davon, daß die Hochschullehrer schon damals aufgrund der Seminarreform „massenhaft“31 Studierende ausbilden (und prüfen!) mußten, die kein primäres Interesse an der Wissenschaft hatten. Die Durchsetzung der entsprechenden Lehrverpflichtung stieß zwar bei den etablierten Professoren zunächst auch auf erheblichen Widerstand; aber diese war die Grundlage für den Ausbau des Lehrkörpers in „Seminaren“, die die durch die Schulfächer vorgegebene Facheinteilung spiegeln: Germanistik ~ Deutsch, Romanistik ~ Französisch (später dann auch Italienisch und Spanisch), Klassische Philologie ~ Griechisch/Latein; später erweitert: Anglistik ~ Englisch, Slawistik ~ Russisch. Damit war das institutionelle Spannungsfeld definiert, in dem letztlich auch die fachliche Neuorientierung verankert war: schließlich war für den Auf- bzw. Ausbau des Faches das Heranziehen von Nachwuchs entscheidend, der für die zu besetzenden Stellen ausgewiesen sein mußte. Das ist der Hintergrund dafür, daß gerade methodisch entschiedene „Junggrammatiker“ wie Brugmann an der philologischen Fachorientierung festhielten, und eine „entristische“ Wissenschaftspolitik vertraten.32 �� 31 Der Topos von der Massenuniversität findet sich schon an der Jahrhundertwende – auch wenn die damaligen „Massen“ mit den heutigen quantitativ nicht vergleichbar sind... 32 Ich übernehme den Terminus entristisch aus der politischen Diskussion in der Arbeiterbewegung: dort bezeichnete er die politische Arbeit in den großen Parteiorganisationen als alternative Option zur Organisation einer kleinen, politisch homogenen Gruppierung, nachdem die
274 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Während Außenseiter wie Schuchardt eine puristische „Sprachwissenschaftsposition“ vertraten, die sie von den institutionellen Weichenstellungen abschnitt, ging es für Brugmann, Paul und andere darum, Einfluß auf den Ausbau der universitären Seminare mit ihrer Ausrichtung auf die Lehrerausbildung zu nehmen: am Ende des 19. Jhd. gab es in Deutschland (einschließlich Straßburg) 21 Universitäten; hinzuzunehmen sind jeweils drei deutschsprachige Universitäten in Österreich (Graz, Innsbruck, Wien) und der Schweiz (Basel, Bern, Zürich). Selbst wenn es an allen von ihnen eine Professur der vergleichenden Sprachwissenschaft gegeben hätte (was bei weitem nicht der Fall war), hätte das keinen Markt für eine größere Zahl von sprachwissenschaftlich Ausgebildeten ergeben – im Gegensatz zu den philologischen Seminaren.33 5.3.4. Mit den institutionellen Randbedingungen verfestigte sich ein fachliches Selbstverständnis, das quer zu systematischen Fragen liegt, zu denen in methodischer Hinsicht vor allem der in die Sprachforschung eingezogenen Gegensatz von Sprach- vs. Literaturwissenschaft gehört, der seitdem endemisch Krisendiskussionen freigesetzt hat. Dieser entfaltete sich als Nebeneffekt der Erweiterung des Lehrkörpers: als „professionelle“ Verschiebung des Horizonts der für die Seminare zu Rekrutierenden. Eine solche institutionelle Vorgabe war auf den „Broterwerb“ in der Hochschule ausgerichtet; sie veränderte damit die soziale Infrastruktur des Wissenschaftsbetriebs: mit der Folge eines freigesetzten Konkurrenzgebarens angesichts der alles in allem relativ knappen Stellen. Ein Gegenstück dazu ist die Ausdifferenzierung von pragmatisch definierten (Teil-) Disziplinen, die den Anspruch auf entsprechende Stellen legitimieren sollten, vor allem so bei den „neusprachlichen“ Fächern, bei denen die gesprochene Gegenwartssprache gegen die philologische Arbeit mit alten Textzeugen in den Vordergrund gestellt wurde. Wie in diesem Fall ist vieles von dem, was als wissenschaftssystematische Reflexion daherkam (-kommt), letztlich nur eine Rationalisierung der der Universität aufoktroyierten Vorgaben. Der Gebrauchswert der neuen Programmatik war vor allem im institutionellen Rahmen gegeben: bei der Umsetzung der Anforderungen der neuen Prüfungsordnungen (als Begleiterscheinung der verallgemeinerten „Seminar“Organisation) in seriell zu replizierende Studien-Vorgaben: sie lieferte das �� endemischen Spaltungen nach dem Ersten Weltkrieg zu einflußlosen Minigruppierungen geführt hatten. 33 Hinzu kam noch ein sehr handfester Grund: neben den ausgesprochen geringen Professorengehältern bestand das Einkommen vor allem aus Hörergeldern – die bei kleinen Fächern entsprechend gering waren. Die Lehre in einem großen (und das hieß praktisch: lehrerausbildenden) Fach war daher lebensnotwendig. Diese Probleme spiegeln sich auch darin, daß Rufe an kleine Universitäten aus eben diesem Grund oft abgelehnt wurden.
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Skript für Aufgabenstellungen in den Abschlußarbeiten und mündlichen Prüfungen, bei denen Studierende sich ohne großen theoretischen Aufwand erfolgreich bewähren konnten, auch wenn sie ansonsten fachlich wenig „inspiriert“ waren. Darauf zielte die zeitgenössische (elitäre) Kritik, die das wissenschaftliche Ideal der humboldtschen Universität hochhielt und sich darüber hinwegsetzte, daß auf diese Weise ein Zugang zu wissenschaftlich orientiertem Arbeiten für breite Schichten geschaffen wurde.34 Im Horizont dieser institutionellen Umstrukturierungen etablierte sich eine Art akademischer Sprachforschung, bei der das junggrammatische Forschungsprogramm ein wichtiges Moment darstellte. Dabei handelt es sich allerdings um eine Amalgamierung von sehr unterschiedlichen Forschungsmomenten, bei der es zu keiner homogen durchstrukturierten Disziplinformierung gekommen ist, sondern ein sehr viel bunteres Feld der Sprachforschung fortgeschrieben wurde, s. 5.4. Eindeutig ist letztlich nur die institutionelle Seite: die Junggrammatiker verhalfen der neuen institutionell praktizierten Sprachforschung zu so etwas wie einer buchhalterischen Technik. Das ist von Grundsatzdiskussionen zu unterscheiden, die in den fachgeschichtlichen Darstellungen herausgestellt werden:35 der Erfolg der jung�� 34 Diese Kritik wurde massiv aus einer umfassenden kulturgeschichtlichen Perspektive z.B. von Wilhelm Scherer vorgebracht, dann im Anschluß an ihn speziell für die Sprachwissenschaft von Schuchardt, der in seiner „Gegen die Junggrammatiker" überschriebenen Schrift von 1885 schreibt: „Das (...) ‚Mechanisieren der Methoden‘ reduziert die Anforderungen an selbständiges Denken auf ein Minimum und ermöglicht so die Teilnahme einer außerordentlichen Menge tatsächlich Unbefähigter an der ‚wissenschaftlichen‘ Arbeit" (Schuchardt 1885 / 1928: 83). Die Leistung dieser „junggrammatischen“ hochschuldidaktischen Ausrichtung läßt sich nur würdigen, wenn man die so entstandenen Studienleistungen mit dem vergleicht, was seitdem an akademischer Dünnbrettbohrerei mit vorgeblich „theoretischer“ Orientierung in den sprachlichen Abteilungen der großen Fächer üblich geworden ist, bei der das Nachklappern von Sätzen aus Einführungsdarstellungen an die Stelle materialkontrollierten Arbeitens tritt. Die probate Umsetzung der „junggrammatischen“ Programmatik in der „uninspirierten“ Verschulung des akademischen Betriebs, die Schuchardt geißelte, war ein effizientes Verfahren, um Prüfungsleistungen in den „Massenfächern“ zu erbringen – wo auch entsprechende Dissertationen oft nach nur dreijährigem Studium runtergeschrieben wurden. 35 Der Erfolg der „junggrammatischen“ Linie von Brugmann, Paul, Braune und anderen kann denn auch nicht (nur) in den fachwissenschaftlichen Diskussionen aufgesucht werden, sondern in dem, was bei den entsprechend ausgebildeten Universitätsabsolventen selbstverständlich wurde. Eine instruktive Quelle dafür sind die Schulprogramme, die damals an den meisten „höheren Schulen“ jährlich vorgelegt wurden und in denen einer der Lehrer fast immer auch einen wissenschaftsorientierten Beitrag vorlegte. Diese Quelle ist bisher noch nicht systematisch ausgewertet worden; Stichproben, die ich in meinen Pilotuntersuchungen für die seinerzeit geplante Prosopographie der Sprachforschung in Deutschland gemacht habe, haben deutlich gezeigt, wie sehr ein „junggrammatisches“ Arbeiten dort selbstverständlich geworden war. Angesichts der äußerst beschränkten Anzahl von universitären Stellen waren die Berufsfelder
276 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung grammatischen Programmatik lag vor allem auf einer hochschuldidaktischen Ebene, die auch ihre Resistenz im Studienalltag bis in die 1960er Jahre erklärt (gegen die theoretisch motivierten Neuerungen im frühen 20. Jhd., s. 5.9.). Der Personalausbau in den großen Seminaren/Instituten gab mit den daraus resultierenden arbeitsteilig definierten Stellenbeschreibungen Raum für die wissenschaftliche Aufstockung von bis dahin noch marginalisierten Beschäftigungen. Das kam insbesondere der Beschäftigung mit der modernen Literatur zugute. In einem Prozeß, der sich bis in die Mitte des 20. Jhds. hinzog, konnte die neue Literaturwissenschaft sich als Fach von eigenem wissenschaftlichen Rang etablieren und sich von den philologischen Fesseln lösen, s. 5.5.; allerdings wurde noch lange für eine Habilitation und erst recht für die Berufung auf eine Professur eine im „Ästhetischen“ angesiedelte Leistung nicht akzeptiert, sondern wurde zumindest eine (selbstverständlich sprachwissenschaftlich unterfütterte) Edition verlangt. Der Druck hin zu einer Umorientierung war in den einzelnen Fächern sehr verschieden: der Ausbau der neuen Institute (Seminare) war vor allem eine Sache der „Massenfächer“ mit ihrer Ausrichtung auf die Lehrerausbildung; komplementär war (und ist!) die Situation in den nicht so ausgerichteten „Orchideen-Fächern“, die schon damals zunehmend um ihre Existenz kämpfen mußten.36 Bei den „Massenfächern“ war die interne Ausdifferenzierung eine Folge des Anwachsens des wissenschaftlichen Personals: den Fluchtpunkt dieser Entwicklungslinie bildete schließlich die Ausdifferenzierung von Sprach- und Literaturwissenschaft in Form von unterschiedlichen Venien (als unterschiedliche Optionen für die Habilitation), was allerdings erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Selbstverständlichkeit wurde. Die heutige Spannung in den (jetzt auch wieder „philologisch“ etikettierten) Fächern zwischen Literatur- und Sprachwissenschaftlern hat sich erst im Rahmen des Ausbaus der großen universitären Fächer eingestellt. Aus diesen heraus läßt sich nicht verstehen, was moderne Sprachwissenschaft ausmacht. Entscheidende Impulse zu einer disziplinären Neuorientierung gingen vielmehr von außerhalb der Philologien aus (von BOAS, BÜHLER u.a.), und auch der Versuch, die Literaturanalyse in einer systematischen Kontrolle der sprachlichen Form zu fundieren, der die innerphilologische Reaktion auf die neue Sprachwissenschaft am Ende des 19. Jhds. ausmacht (s. hier VOßLER, SPITZER u.a.), hat �� auch weniger abgeschottet, als sie es heute sind. Ein prominentes Beispiel für diese Durchlässigkeit ist Philipp Wegener, der von Paul auch als Beiträger zur 2. Auflage seines Grundrisses herangezogen wurde (für einen Beitrag zu den gesprochenen Mundarten). 36 Eine detaillierte Aufstellung des Ausbaus an den verschiedenen deutschsprachigen Universitäten findet sich bei Storost (2001).
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seine stringente Umsetzung von außen, durch eine Nicht-Philologin erfahren (HAMBURGER). Wie wenig die heutige disziplinäre Abgrenzung einer innerfachlichen Logik gefolgt ist, machen Fälle wie TRUBETZKOY deutlich, der in vielen fachgeschichtlichen Darstellungen geradezu eponymisch für die neue strukturale (also ganz andere) Sprachwissenschaft aufgeführt wird, der in seinem Werk aber die alte Einheit von Sprach- und Literaturanalyse praktizierte. 5.3.5. Reformbemühungen sind immer da erfolgreich, wo keine großen Widerstände der bestehenden Strukturen zu überwinden sind. Insofern zeigen sich immer ungleichzeitige Strukturen, die auch als Horizont für die Fachgeschichte zu berücksichtigen sind. Eine Neuorientierung der universitären (bzw. generell: akademischen) Strukturen auf die gesellschaftlichen Anforderungen war immer am weitesten in Neugründungen möglich. In dieser Hinsicht hatten die Entwicklungen an der Hamburger Universität, gegründet 1919 als Fortschreibung des dort bis dahin bestehenden Kolonialinstituts, einen gewissen Modellcharakter: sie wurde dort auch von der Bürgerschaft mitgetragen.37 Nicht anders war es bei den anderen zeitgleichen Neugründungen: 1914 in Frankfurt als Ausbau der dort von der Bürgerschaft 1901 schon eingerichteten „Akademie für Sozialund Handelswissenschaften“ mit einer explizit vor allem naturwissenschaftlichen Ausrichtung; 1919 in Köln als Ausbau der dort schon bestehenden Handelshochschule (und explizit auf anwendungsbezogene „praktische“ Wissenschaften ausgerichtet)38 u.a. Im Nationalsozialismus setzte sich das als Teil der forzierten Modernisierung fort: hier bei den „Reichsuniversitäten“ (Posen, Straßburg), bei denen keine Rücksicht auf traditionelle Strukturen genommen werden mußte, forziert auch bei den reichsunmittelbar gestellten Universitäten der „Ostmark“ nach deren Anschluß. Der Versuch einer Politisierung der „Grenzlanduniversitäten“ ist auch auf dieser Line der Auseinandersetzung mit den bestehenden institutionellen Strukturen zu sehen (s. Kap. 6).
�� 37 Philologische Schranken waren in einer Kolonialinstitution ohnehin nicht definiert. 1919 wurden in Hamburg denn auch eine ganze Reihe von unorthodoxen Fachgebieten institutionalisiert: so die erste Professur für Volkskunde (Otto Laufer, 1874–1949), die Jiddistik als Lehrgebiet (mit einem Lehrauftrag für S.BIRNBAUM und der für ihn vorgesehenen Habilitation), aber auch die regionale Verankerung im Niederdeutschen, für die K. Borchling stand (der im übrigen der Schwiegersohn des damaligen Bürgermeisters von Melle war ), s. 6.7.2. 38 Die alte Kölner Universität war bei der französischen Besetzung am Ende des 18. Jhds. aufgelöst worden.
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5.4 Das neue sprachwissenschaftliche „Paradigma“ 5.4.1. Motor der disziplinären Professionalisierung ist die methodische Kontrolle der Forschungsarbeit. Mit dieser wird eine Spannung freigesetzt: methodisch kontrolliert kann immer nur ein Teilbereich dessen angegangen werden, was als disziplinär vorgängiger Gegenstand in den Blick genommen wird. In der Konsequenz führt das zu einer immer weitergehenden Arbeitsteiligkeit von Teildisziplinen, die sich durch jeweils eigene wissenschaftliche Standards definieren. Solange das im Bewußtsein der damit immer größer werdenden Spannung im Feld der Sprachforschung praktiziert wurde, kommt es zu keinem Bruch: die Irritation der Differenz (vereinfacht gesprochen zwischen disziplinär-zünftiger Sprachwissenschaft und den Anforderungen einer umfassenden Sprachforschung) kann vielmehr als Motor fungieren, der die Fachentwicklung weitertreibt. Ein Bruch tritt erst ein, wenn die Spannung ausgesetzt wird: sei es in der Preisgabe der methodischen Kontrolle, sei es, indem das, was methodisch machbar ist, mit dem fachlichen Gegenstand gleichgesetzt wird. Beide Versionen des Bruchs finden sich: die Preisgabe wissenschaftlicher Standards in ansprüchlichen „ganzheitlichen“ Entwürfen, die im frühen 20. Jhd. um sich griffen und sich gerne auch als „Sprachphilosophie“ aufplusterten (s. 5.9.) und dann im Kielwasser der Politisierung des Wissenschaftsbetriebs im Nationalsozialismus auch institutionelle Folgen hatten (s. Kap. 6); dagegen steht die auch programmatisch vertretene Reduktion des Fachs auf operational oder sonst deskriptiv enggeführte „Modellierungen“ des Gegenstands, die mit der „strukturellen“ Sprachwissenschaft im Fach dominant wurde, die sich schon im letzten Drittel des 19. Jhd.s abzeichnet, wo sie mit den Junggrammatikern auch eine programmatische Form erhielt. Solche Brüche konnten aber nur Konsequenzen für das Fach haben, wenn dieses institutionell in einem Ausmaß ausgebaut war, der bis zu Beginn des 20. Jhds. nicht gegeben war. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, daß bis dahin von den Lehrstuhlinhabern erwartet wurde (und oft auch in den Lehrverpflichtungen verankert war), das spezielle Fach systematisch zu entwickeln. Darauf geht die Selbstverständlichkeit großer Entwürfe in dieser Zeit zurück – auch von Personen, die damit ganz offensichtlich überfordert waren (wie nicht nur die „theoretisch“ bemühten Einleitungskapitel der Handbücher zeigen, sondern oft auch in deren Kielwasser die Umsetzung in Dissertationen). Deutlich greifbar wird diese Spannung im eponymischen Fach Philosophie selbst: die entsprechende Denomination hatten noch am Ende des 19. Jhds. auch die Lehrstuhlinhaber, die experimentelle Psychologie betrieben. Die Verselbständigung eines Faches Psychologie war ein langwieriger Prozeß, der nicht zuletzt unter dem
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Druck von spezifischen Anwendungsbereichen wie vor allem in der Wehrmacht seit dem Ersten Weltkrieg stattfand (s. auch in diesem Katalog bei BÜHLER, GELB, STERN u.a.).39 Dieser Prozeß spielte sich in den verschiedenen Wissenschaftsgebieten unter fachspezifischen Aspekten sehr unterschiedlich ab, was zu phasenverschobenen Entwicklungen führte, die eine einfache chronologische Darstellung unmöglich machen. Die individuellen Positionen, die in den Biographien sichtbar werden, müssen in diesem Prozeß verortet werden.40 Die unterschiedlichen Spannungsfelder, in denen die Beschäftigung mit sprachlichen Gegenständen in der Frühphase des Faches erfolgte (s. 5.2.), bestanden weiter: die Spannung zwischen dem Totalitätsanspruch der Universität, der programmatisch von der Philosophie vertreten wurde, und der szientifischen Spezialisierung in den einzelnen Fächern, gegründet auf einen jeweils spezifischen Methodenkanon. Der Totalitätsanspruch drückte sich noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg im obligatorischen Philosophicum des Studiums an der Philosophischen Fakultät aus. Die Philologie rivalisierte damit, indem sie ihren Gegenstand in vergleichbarer Weise ganzheitlich inszenierte, etwa bei Boeckh (1877) mit der zur Standardformel gewordenen Losung der „Erkenntnis des Erkannten“, die Aufnahme der romantischen Bewegung, die das Eigene als Gegenstand herausstellte, mit mehr oder weniger auch national(istisch)en Obertönen, die sich gegen ein „weltfremdes“ Wissenschaftsverständnis stellte. Dabei bildete sich ein komplexes Amalgam heraus von antiakademischer Haltung, die Ansatzpunkte in der „bürgerlichen Kultur“ der Salons fand (mit der Gegenwartsliteratur als Gegenstand), aber auch dem Bildungsanspruch der Rhetorik, der sich aus der Antike herleiten konnte, und nicht zuletzt dem methodischen Feld hermeneutischer Betätigung (mit einem Fuß in der Theologie). Zur Schlüsseldisziplin mauserte sich hier (in Deutschland) die junge Germanistik, die das Nibelungenlied als Gegenstück zu Homer verstanden wissen wollte.
�� 39 Der Erste Weltkrieg markiert eine Zäsur durch die mit der Kriegsforschung verbundene Aufwertung der Psychologie. Vor 1914 reagierten die „philosophischen“ Vertreter des Faches auf diese Entwicklung mit einem Protest gegen eine zunehmende Lehrstuhlbesetzung mit experimentell orientierten Psychologen, nach 1918 forderten diese dagegen die Etablierung eines eigenen Faches mit entsprechend (nicht mehr als „Philosophie“) denominierten Lehrstühlen. Für einen Überblick s. Geuter (1986). 40 Dazu gibt es eine reiche Forschungsdiskussion, die nicht referiert zu werden braucht, s. die schon angeführten Überblicksdarstellungen in Auroux u.a. (2000–2006); aufschlußreich zum Kernkonzept der Philologie ist in Hinblick auf die Spiegelungs- und Abgrenzungsmechanismen der deutschen und der französischen Universitätsszene M. Espagne/ M.Werner (1990).
280 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung In der Mitte des 19. Jhd. hatte sich eine neue wissenschaftliche Matrix geltend gemacht, die meist mit Positivismus bezeichnet wird, die die Forschung auf den Umgang mit empirischen („positiven“) Daten ausrichtete und forderte, diese in verläßlicher und nachprüfbarer Form zu sichern und sie systematisch zu ordnen. Im letzten Drittel des Jahrhunderts wurde mit der sog. Junggrammatik in dieser Matrix explizit ein sprachwissenschaftliches Forschungsprogramm formuliert, das eine solche positivistische Ausrichtung für die Sprachwissenschaft umsetzte und insofern als sprachwissenschaftliches Paradigma angesprochen wird. Derartige Ausrichtungen werden hinter dem Rücken der Akteure wirksam (dafür steht der Terminus der Matrix); sie können von diesen auch explizit betrieben werden, wie es die Rede von einer Paradigmaformierung impliziert. In diesem Rahmen sind die persongebundenen wissenschaftlichen Aktivitäten zu isolieren. Hier gab es sozial abgeschlossene Gruppierungen wie z.B. die Leipziger Gruppe um Leskien, Brugmann u.a., aber das „junggrammatische“ Forschungsprogramm war ein personengebundenes Attribut: es umfaßte auch eingeschworene Gegner der Leipziger Gruppe wie z.B. HERMANN COLLITZ. Das macht die Rede von einem „junggrammatischen Paradigma“, mit dem auch im kuhnschen Sinne von Sprachwissenschaft und nicht nur von Sprachforschung gesprochen werden kann, problematisch.41 Wichtiger für die Fachentwicklung als das anekdotische personale Geflecht sind die medial konstituierten Verbandsstrukturen, zu denen insbesondere auch spezifisch ausgerichtete Zeitschriften gehörten (etwa die spezifisch junggrammatisch ausgerichteten „Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur“, konventionell zitiert als PBB = Paul und Braunes Beiträge nach ihren Begründern). Auf diese Weise entstand ein vernetztes Kommunikationssystem, dessen Exponenten wis-
�� 41 Um die Etikettierung junggrammatisch rankt sich eine reiche fachgeschichtliche Diskussion, die meist mehr die Fach-Folklore als die disziplinären Fragen betrifft. Das muß hier im einzelnen nicht nachgezeichnet werden; dazu genügt es, auf die Beiträge von Jankowski, Einhauser u.a. in Auroux u.a. (2000–2006) zu verweisen, die auch die Sekundärliteratur aufführen. Im engen Sinne war die Bezeichnung auf eine Leipziger Clique gemünzt, die vielleicht noch als Schule zu bezeichnen ist (mit Leskien als dem „Lehrer"), also die Gruppe um Brugmann und seine Mitstreiter. Deren Cliquen-Charakter wird besonders in Briefen de Saussures aus seiner Leipziger Zeit deutlich, in der er unter deren Stammtischritualen gelitten hat – er bezeichnete sie als les kneipisants (s. bei Godel 1957). Ich verwende hier und im Katalog den Terminus i.S. einer Forschungsprogrammatik, der sich auch diejenigen verpflichtet fühlten, die sich von den Leipzigern z.T. auch heftig abgrenzten wie z.B. unter den im Katalog Aufgeführten H. COLLITZ. Ohnehin lassen (ließen) sich einflußreiche Forscherpersönlichkeiten der neuen wissenschaftlichen Matrix dem junggrammatischen Programm nicht subsumieren wie z.B. H. G. von der Gabelentz, der ein Standbein in der Sinologie hatte, oder sie kritisierten es explizit wie der Romanist Schuchardt.
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senschaftspolitischen Einfluß suchten und nahmen (vor allem bei Stellenbesetzungen). Das setzte selbstverständlich auch Kontroversen frei, bestimmt durch mehr oder weniger persönliche Reibereien. Wie sich auch in den im Katalog dokumentierten Biographien nachverfolgen läßt, wurde in den zeitgenössischen Diskussionen in den Fächern die Engführung der Forschungspraxis unter den (junggrammatischen) paradigmatischen Prämissen infrage gestellt – gerade die kreativsten Köpfe verweigerten sich ihnen (s. 5.9. und 7.6. zu „Neuerern“ im frühen 20. Jhd.). Seit Beginn des 20. Jhd. zeichnete sich eine neue intellektuelle Matrix ab, die zunehmend eine offene Abgrenzung von positivistischer Wissenschaft mit sich brachte. Eine Folge davon war die größere Offenheit für den außerdisziplinären Diskurs, was in Kap. 6 für die damit oft verbundene Politisierung der Sprachforschung in Deutschland näher betrachtet wird. Da allerdings kein alternatives Paradigma zu dem junggrammatischen in Sicht war, das sich hätte etablieren können, wurden mit solchen Positionen und ihrer Umsetzung im kuhnschen Sinne Formen der vor-disziplinären Sprachforschung fortgeführt, oft mit ambitionierten programmatischen Elaboraten, die keine disziplinäre Forschungspraxis anstoßen konnten, die im Sinne eines kuhnschen Paradigmas prozedural und nicht durch Ideen definiert ist. Insofern öffnet sich hier für die Analyse ein personenbestimmtes Feld der ungleichzeitigen Sprachforschung, das im Katalog sichtbar wird: in ihm lassen sich allenfalls Schulen ausmachen, aber keine alternative Disziplinkonstitution.42 5.4.2. In den fachgeschichtlichen Darstellungen wird meist die junggrammatische Diskussion um die „Lautgesetze“ herausgestellt. Dabei wird oft übersehen, daß die Rede von „Gesetzen“ eine gängige rhetorische Figur im Kielwasser der positivistischen Wende war, mit der der Anschluß an auf die aufkommenden experimentell unterbauten Naturwissenschaften reklamiert wurde (s. 5.2. zu Schleicher). Die bis dahin schon akkumulierten Beobachtungen zu den sprachlichen Verhältnissen und insbesondere ihren Veränderungen wurden seitdem in „Gesetze“ verpackt – darunter die „Lautgesetze“. In Hinblick auf die tatsächliche empirische Forschung handelte es sich zumeist nur um obiter dicta (wie es Juristen formulieren würden): mit ihnen werden die etablierten Fakten nur reformuliert; es wird nichts Neues gesagt. Die so formulierten Sachverhalte lassen sich in der gängigen disziplinären Modellierung auch ohne diesen konzeptuellen Aufwand beschreiben.
�� 42 Zu den grundsätzlichen Fragen der Abgrenzung zwischen einer Disziplin und den darin ausgefochtenen Richtungskämpfen, gebunden an „Schulen“, s. die Darstellung bei Amsterdamska (1987).
282 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Im letzten Drittel des Jhd. wurde daraus eine Art Glaubensbekenntnis, für das die Altvorderen wie Curtius die spöttische Bezeichnung der „Junggrammatiker“ prägten.43 In der Ausarbeitung des „junggrammatischen“ Forschungsprogramms wurde der theoretische Überschuß denn auch bald wieder zurückgefahren, weil von einer den experimentellen Naturwissenschaften entsprechenden Schematisierung von sprachlichen Sachverhalten nicht die Rede sein kann, die es erlaubt hätte, Hypothesen abzuleiten, die dann experimentell überprüft und ggf. falsifiziert werden können. In den empirisch orientierten Arbeiten ist denn zumeist auch vorsichtiger mit dem abgeschwächten Terminus von „Gesetzmäßigkeiten“ die Rede. Das dominierende Moment dabei, das schon die großen systematischen Ansätze des frühen 19. Jhds. (bei Jacob Grimm, Franz Bopp u.a.) bestimmte, war die Extrapolation von Gesetzmäßigkeiten aus den angehäuften Beobachtungen. In der Mitte des Jahrhunderts führte das bei Leitfiguren wie August Schleicher zum Postulat einer Gesetzeswissenschaft, bei ihm ausdrücklich auf der Linie einer Naturwissenschaft, wie er es vor allem mit einer Schar von Lautgesetzen kanonisch vorgab. Dieses Moment schrieben die Junggrammatiker nur fort; sie gaben ihm allerdings einen radikalen Dreh mit der herausgestellten Ausnahmslosigkeit. Dieses Moment ist Teil der hochschuldidaktischen Erfolgsgeschichte: die Gesetze spiegeln das mechanische Durchexerzieren der Übungen in den Lehrveranstaltungen – und den damit garantierten Erfolg bei einer entsprechend angelegten Abschlußarbeit. Als wissenschaftliche Programmatik stieß dergleichen aber im Fach auf Widerstände. Der Anspruch, die sprachlichen Beobachtungen in „Gesetze“ zu fassen, machte angesichts dessen, was in der philologischen deskriptiven Praxis immer schon bewältigt worden war, wenig Sinn. Altvordere wie Curtius hatten in ihren etymologischen Arbeiten immer schon die unterschiedliche Entwicklung bei Formen berücksichtigt, die als reine (und häufige) Funktionswörter einem großen „Verschleiß“ ausgesetzt waren, gegenüber solchen die mit lexikalischer Bedeutung aufgeladen waren und von den Sprechern bewußter kontrolliert wurden und sich daher einem solchen Verschleiß entziehen konnten. Schuchardt machte sich zum Sprachrohr einer empirisch orientierten Gegenreaktion, die die sprachliche Inhomogenität programmatisch für die For-
�� 43 Mit Blick auf den damals laufenden politischen Diskurs über die „Jungtürken“, die das osmanische Reich umzukrempeln versuchten. Das war damals in der öffentlichen Diskussion in Deutschland ein relativ prominenter Gegenstand, der sich durch die direkten politischen Verbindungen zur Türkei erklärt (s. 4.5.8), zu denen auch wirtschaftliche gehörten, darunter der seit dem frühen 19. Jhd. in Europa projektierte Bau der Bagdadbahn.
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schung herausstellte, s. 5.9.2. für die sich neu formierende Gegenbewegung im Fach in den 1920er Jahren. Der Knackpunkt dieser Kontroversen war nicht die mit „Gesetzen“ etikettiere Suche nach Regularitäten in den Beobachtungen, sondern die theoretische Modellierung. Eine solche beruht auch in den Naturwissenschaften auf Idealisierungen; die Gesetze der Physik lassen sich auch nicht in der „freien Natur“ beobachten: sie gelten z.B. für ideale Gase und lassen sich nicht am Luftgemisch in einem Raum ablesen. Eine solche Differenzierung ist auch bei der junggrammatischen Modellierung nötig. Im Sinne der reklamierten positivistischen Programmatik war für die sprachwissenschaftliche Forschung ein systematisches Vorgehen gefordert, das auf Korrelationen in den Daten beruht. In der vergleichenden Sprachwissenschaft korrelierte man entsprechend z.B. überlieferte Formen des Deutschen und des Lateinischen, wie dt. Haupt, ahd. houbit, und lat. caput, die in etwa bedeutungsgleich sind („Kopf“), und diagnostizierte die Entsprechung des Anlauts: dt. [h-] ~ lt. [k-]. Einen systematischen Status erhält diese Korrelation, indem man sie als Hypothese für weitere Korrelationen in den Daten nutzt: dt. Hahn läßt so eine lat. Entsprechung mit [k-] prognostizieren, die man in can „Laute von sich geben“ auch findet – was bei Hahn auf einen Bedeutungskern schließen läßt, der meist als „Sänger“ umschrieben wird. Daraus folgt allerdings auch, daß auf den ersten Blick plausible Entsprechungen wie dt. haben und gleichbedeutend lat. habēre nicht „gesetzmäßig“ sind; dt. haben führt vielmehr zu lat. Formen wie capere „(er)greifen“, die auch semantisch Sinn machen (was man ergriffen hat, hat man …). Ein solches Forschungsprogramm erlaubt es, auch intuitiv nicht zugängliche Felder zu strukturieren, mit „exotischeren“ ie. Sprachverwandten wie z.B. dem Armenischen. Das führt dann zu so bemerkenswerten Korrelationen wie lat. duo, dt. zwei u.a., die mit einem anlautenden *[dw-] rekonstruiert werden können, und (gleichbedeutend) armen. erkow, dessen [e-] als spätere Prothese ausgeklammert werden kann, sodaß die Anlautentsprechung zu *[dw-] armen. [rk-] ist. Das ist nun tatsächlich als Hypothese zu verifizieren, wenn man in Rechnung stellt, daß in den klass. Sprachen Lat. und Gr. [dw-] oft zu [d-] reduziert wurde; vgl. so agr. d(w)āros „lang“ ~ gleichbedeutend arm. erkar, agr. dei „ich fürchte mich“ (vgl. auch lat. di „fürchterlich“) ~ gleichbedeutend arm. erknčhim u.a. Die Bezeichnung solcher Korrelationen als „Lautgesetze“ markiert das Forschungsprogramm: „Ausreißer“ in den Beobachtungsdaten definieren die Anforderung, sie abdeckende Subregularitäten aufzusuchen und zu formulieren. Nicht anders als in den in Anspruch genommenen Naturwissenschaften verlangt die Formulierung eines „Gesetzes“ ggf. Fallunterscheidungen in Hinblick auf die Bedingungen, unter denen es greift: die konsonantische Lautverschie-
284 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung bung wird im Ahd. blockiert, wenn dem Konsonanten ein Frikativ vorausgeht: ahd. naht [naxt], nicht *nahz [naxʦ] (vgl. lat. nocte[m]). Dabei können die Bedingungen durch den sprachlichen Wandel verdeckt sein: wie beim sog. „grammatischen Wechsel“ der konsonantischen Lautverschiebung, z.B. /d/ ~ /t/ in schneiden vs. schnitten, der unterschiedliche Akzentmuster in diesen Formen reflektiert, die durch den germanischen Akzentausgleich verdeckt werden. Schließlich charakterisieren diese „Gesetze“ Sprachen – sie haben definitionsgemäß keine universale Geltung: die konsonantische Lautverschiebung charakterisiert die germanischen Sprachen bzw. das Deutsche; andere, ansonsten eng verwandte Sprachen zeigen sie nicht: ital. capo „Kopf“ hat immer noch den gleichen Verschlußlaut im Anlaut wie lat. caput. Es ist dieses systematische Forschungsprogramm, das die Junggrammatiker von ihren Vorgängern unterscheidet, für die die von ihnen beobachteten „Lautgesetze“ nur so etwas wie Optionen waren, die mehr oder weniger „regelmäßige“ Bestätigungen fanden. Solche Gesetzmäßigkeiten bildeten bis dahin nur so etwas wie ein basso continuo in den Analysen, gegenüber dem sich eben auch andere Stimmen geltend machten, die mehr oder weniger willkürlich agieren konnten – in der Tradition dessen, was Ulrich Wyss (1979) die „wilde Philologie“ bei Jacob Grimm genannt hat, der eben auch die regulären Verhältnisse gerne als schwach bezeichnete und die, die sich ihren Gesetzmäßigkeiten nicht unterwarfen, als stark.44 Für dergleichen war in dem neuen Paradigma kein Raum mehr. Der Durchbruch kam mit entsprechend auch gefeierten Untersuchungen wie der von Karl Verner (1876) zu den bis dahin angenommenen „Ausnahmen“ von der ersten (germanischen) Lautverschiebung, die sich als Folge einer unzureichenden analytischen Differenzierung erwiesen: berücksichtigt man bei der Rekonstruktion des Wandels im Konsonantismus die (sich im Laufe der Zeit ändernden) Akzentverhältnisse, werden die Streuungen im Formenbefund regulär: so in der Neuformulierung der i.e. konsonantischen „Lautverschiebung“. Das junggrammatiche Programm kalibirierte am Ende des 19. Jhd. die Normalforschung neu: die akribische Durchforstung der Befunde verlangte die Extrapolation von Subregularitäten – Ausnahmen waren definitionsgemäß nicht mehr vorgesehen. Explizit formuliert hat dieses Programm zuerst wohl Leskien im ausführlichen Vorwort zu einer vergleichenden slawisch-germanischen Un-
�� 44 In der Unterscheidung von starken und schwachen Verben ist diese Grimmsche Sichtweise bis heute terminologisch fest.
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tersuchung (Leskien 1876).45 Dort argumentiert er auch gegen die Konfusion, die Sprachen (wie bei Schleicher) als „organische Wesen“ begreift und ihr Verhältnis zueinander in Stammbäumen u. dgl. darstellt: Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse sind konzeptuell rekonstruierte Größen, die nur als Strukturmerkmale von Sprachen identifizierbar sind – damit aber auch nicht mehr eine „Morphologie“ der Sprachen im Sinne von 5.2.2. Insofern führt aber gerade auch die strikte vergleichende Rekonstruktion mit „Lautgesetzen“ zur Inhomogenität der Sprachen, deren Kenntnis den selbstverständlichen Horizont abgibt. Rekonstruierbar ist nur das, was einer Sprachfamilie gemeinsam ist. Besonderheiten wie die Akzentuierung und ihre Folgen in den germanischen Sprachen können daher nicht als „indogermanisch“ rekonstruiert werden – sie müssen im Sinne des umfassenderen Forschungsinteresse auf das Konto eines externen Faktors gebucht werden: bei der ethnischen Interpretation der Sprachverhältnisse mit ihren Wanderungen auf das Konto eines „nicht-indoeuropäischen“ Substrats (s. 5.8.), so ausdrücklich in der grundlegend gemeinten Einleitung in Brugmann/ Delbrück (1886/1892, Bd. 1: 26). Die Domänen der Lautgesetze sind selbst wieder theoretische (ideale) Größen und nicht ohneweiteres mit dem vorwissenschaftlich-anschaulichen Sprachbegriff gleichzusetzen. Der empirische Beobachtungsraum ist im Gegensatz zu den theoretischen Idealisierungen nicht homogen; daher erlauben auch die „Gesetze“ keine empirisch wasserdichten Voraussagen. Insofern können mit solchen Lautgesetzen nicht alle Formen einer analysierten Sprachen flächendeckend erfaßt werden: ein dt. hallelujah wird man nicht in dieser Weise zu rekonstruieren versuchen: es ist eine kirchensprachlich übernommene Form, deren formale Erklärung nur im Hebräischen möglich ist.46 Aber das ist nicht nur eine Frage von „Fremdworten“, sondern zielt auf ein zentrales Moment des Gegen�� 45 Vgl. „Bei der Untersuchung bin ich (…) von dem Grundsatz ausgegangen, dass die uns überlieferte Gestalt eines Casus niemals auf einer Ausnahme von den sonst befolgten Lautgesetzen beruhe. Um nicht missverstanden zu werden, möchte ich noch hinzufügen: versteht man unter Ausnahmen solche Fälle, in denen der zu erwartende Lautwandel aus bestimmten erkennbaren Ursachen nicht eingetreten ist, z. B. das Unterbleiben der Verschiebung im Deutschen in Lautgruppen wie st u. s. w., wo also gewissermassen eine Regel die andre durchkreuzt, so ist gegen den Satz, die Lautgesetze seien nicht ausnahmslos, natürlich nichts einzuwenden. Das Gesetz wird eben dadurch nicht aufgehoben und wirkt, wo diese oder andre Störungen, die Wirkungen andrer Gesetze nicht vorhanden sind, in der zu erwartenden Weise. Lässt man aber beliebige zufällige, unter einander in keinen Zusammenhang zu bringende Abweichungen zu, so erklärt man im Grunde damit, dass das Object der Untersuchung, die Sprache, der wissenschaftlichen Erkenntniss nicht zugänglich ist.“ (Leskien 1876: xxviii). 46 In dem letzten Bestandteil –jah steckt das hebräische Wort für Gott jahweh.
286 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung stands – ganz im Sinne auch der von Darwin herausgestellten doppelten Struktur der Entwicklung, bei der den spontanen „gesetzlichen“ Momenten der Umgang damit in der Lebenswelt gegenübersteht. In die Sprachen sind eben noch andere Horizonte als das „lautgesetzlich“ rekonstruierbare Feld eingezogen. Von diesen abstrahiert die junggrammatische Rekonstruktion: deren Forschungsprogramm beruht (wie bei den naturwissenschaftlichen Modelldisziplinen) auf einer Idealisierung des Gegenstands. In den Handbuchdarstellungen hat es sich dafür eingebürgert, die „innere Sprachgeschichte“ als den spezifischen sprachwissenschaftlichen Gegenstand von der „äußeren“ zu unterscheiden, die die kulturellen Verhältnisse zum Gegenstand hat, die sich sprachlich niedergeschlagen haben. 5.4.3. Im institutionellen Kontext ging es mit dieser Idealisierung und dem darauf gestützten Forschungsprogramm um die Emanzipation der Sprachwissenschaft aus dem Dienstbotentrakt der Philologie. Das bestimmte die „junggrammatischen“ Grundlagendiskussionen und motivierte die Suche nach einem literaturunabhängigen Fundament für die sprachtheoretische Reflexion. Im Sinne des positivistischen Wissenschaftsverständnisses sollte das die physiologische Basis von Sprache sein, die der direkten Beobachtung zugänglich ist, wodurch die Phonetik eine Schlüsselrolle erhielt (vor allem auch im Studium). Sprache wurde als Leistung verstanden, die mit Hilfe der physiologischen Ausstattung des Menschen bewerkstelligt wurde, und der dadurch Schranken gesetzt waren, die auszuloten den spezifischen Gegenstand der Sprachwissenschaft ausmachten (im Gegensatz zu dem, was innerhalb dieser Schranken möglich war, was den Gegenstand der Literaturwissenschaft ausmachte). Das definierte das Forschungsprogramm, das in seriellen Beobachtungsreihen diese Schranken und die dadurch gesetzten Regelmäßigkeiten extrapolieren sollte (im Sinne des damaligen Wissenschaftsverständnis: also „Gesetze“). Was das neue Programm bestimmte, waren denn auch weniger die aufgestellten „Gesetze“, als vielmehr die Verpflichtung auf ein Forschungsprogramm, das anders als bei der „Wilden Philologie“ eines Grimm die systematische Analyse und die Suche nach Erklärungen auch da verbindlich machte, wo die (Laut) „Gesetze“ nicht hinreichten. Die historisch greifbare Stabilisierung von Sprachen (für die Saussure später den griffigen Terminus der Sprachsysteme populär machte, s.u.) zeigt sich in Mustern der Formenbildung, die funktional zu beschreiben sind (bei der Stabilisierung von Paradigmen: in der Flexion, aber auch in der Wortbildung und bei syntaktischen Bauformen von Sätzen). Das zeitgenössische Schlüsselwort ist die Analogie, entsprechend der Ausrichtung an der damaligen Psychologie, in der die Analogie als Leitbegriff fungierte. In den Handbüchern (allen voran Brugmann/Delbrück 1886/1887) wurde darin explizit die Grenze für eine „lautgesetzlich“ verstandene etymologische Rekon-
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struktion gesehen – und damit (anders als in der Generation vorher: bei Schleicher) die Sinnlosigkeit, konkret auf diese Weise nicht belegte Sprachen zu rekonstruieren. Der Gegenstand der vergleichenden Rekonstruktion sind Strukturen – nicht Sprachen im realistischen Sinne, wie es Schleicher in seinem Compendium (Schleicher 1860/61) unternommen hatte.47 Einen Sonderstatus hatten die Arbeiten in dem sprachwissenschaftlichen Fach par excellence, in der vergleichenden (indogermanistischen) Sprachforschung, für die eine Ausrichtung auf literarische Werke (wie bei den Schulfächern) gegenstandslos war. Sie hatte traditionell im Horizont der „Altertumsforschung“ ein Forum, dem vor allem die von Adalbert Kuhn begründete Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung (1852 ff.) diente.48 Anders als bei den philologischen Organen wurde im Kielwasser der junggrammatischen Reformbewegung für dieses Feld auch eine rein sprachwissenschaftliche Zeitschrift begründet: von Brugmann gemeinsam mit Streitberg die Indogermanischen Forschungen 1892 ff.,49 entsprechend dem auch zwangsläufig rein sprachwissenschaftlich ausgerichteten Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen, in zwei Teilen hg. von Brugmann und Delbrück, seit 1886.50 Die damit ins Werk gesetzte vergleichende Sprachwissenschaft ist strikt methodisch definiert: ihr Gegenstand ist die Rekonstruktion – nicht (wie noch bei Schleicher) die Sprachgeschichte. Diese gehört aber selbstverständlich auch für Brugmann zum sprachwissenschaftlichen Selbstverständnis: ein Sprachwissenschaftler muß ihr (komplementär zur vergleichenden Rekonstruktion) in der philologischen Arbeit an der Überlieferung in den Einzelsprachen nachgehen – wie Brugmann es für das Griechische praktizierte: entsprechend dem Gegenstand der Texte in der ganzen Bandbreite der verschiedenen sprachlichen Register (von alltäglichen Sprachspuren in Inschriften/Graffiti bis hin zu literarisch
�� 47 Für die junggrammatischen Hardliner war Schleichers „Rekonstruktion“ einer indogermanischen Fabel „Das Schaf und die Rosse“ (Schleicher 1868) nur noch ein Witz. 48 Zeitweise noch mit den parallelen Beiträgen zur vergleichenden Sprachforschung (1862– 1875); mit geändertem Namen besteht sie noch bis heute; traditionell wurde sie zitiert als KZ = Kuhns Zeitschrift. 49 Ergänzt später noch um den Anzeiger für indogermanische Sprachen und Altertumskunde (1891 ff.), hg. von Streitberg – also mit dem traditionellen Titel. 50 Insgesamt in 5 Bänden bis 1916 erschienen, deren erste beide (Einleitung, Laut- und Formenlehre) Brugmann 1886–1887 vorlegte, die Folgebände (die Syntax) Delbrück 1906–1916. Später legte Brugman nochmal eine im Forschungsstand aktualisierte Kurze vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen vor (1902–1904), in der er auch das Syntaxkapitel selbst verfaßte.
288 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung gedrechselten Kunststücken), so vor allem auch in der Syntax (s. Brugmann 1888).51 Am Ausgang des 19. Jhd. wurde so in allen sprachlichen Fächern ein „junggrammatischer“ Sockel eingezogen, wobei die maßgeblichen Vertreter in der Regel auch ein indogermanistisches Studium absolviert hatten wie z.B. der Romanist Meyer-Lübke, dessen vergleichende Grammatik (Meyer-Lübke 1890– 1902) und sein etymologisches Wörterbuch (Meyer-Lübke 1911) für Fach bis lange nach dem 2. Weltkrieg bestimmend blieben. Auch in der Orientalistik kam die junggrammatische Reformbewegung zum Zuge. Dafür steht vor allem der Grundriß der vergleichenden Grammatik der semitischen Sprachen von Carl Brockelmann (2 Bände, Berlin 1908–1913), der sich (parallel zum indogermanistischen Grundriß) auf die sprachlichen Fakten beschränkt. Die durch Brockelmann repräsentierte neue („junggrammatische“) semitistische Sprachwissenschaft löste sich von der Fixierung auf das Hebräische und hatte das Arabische als Kern, das ja (anders als das Hebräische) auch als gesprochene Sprache in seiner dialektalen Vielfalt den Ausgangspunkt für die Forschung bilden konnte: anders als bei den Leipzigern war hier der Bezug auf die gesprochene Sprache in ihrer dialektalen Differenzierung nicht nur programmatisch.52 Dadurch gibt es auch eine ironische Spannung zu den junggrammatischen Päpsten. Diese definierten zwar programmatisch die gesprochene Sprache als den Ort, an dem Sprache „natürlich“ praktiziert wurde (s. die naturwüchsige Umgangssprache in dem Brugmann-Zitat Fn. 57 in 5.4) und für den allein die von ihnen postulierten psychischen Mechanismen Sinn machen, faktisch aber arbeiteten sie durchweg mit schriftlichen Quellen – auch Sievers, der das damalige phonetische Handbuch verfaßt hatte (s.u.). Deutlich wird das vor allem bei Hermann Paul, der in den fachgeschichtlichen Darstellungen meist einfach dem junggrammatischen Programm subsumiert wird, der aber immer wieder die �� 51 Brugmann macht in seinem Einleitungskapitel zum „Grundriß“ explizit deutlich, daß der Horizont des Sprachausbaus noch selbstverständlich ist: „Was der vergleichende Indogermanist als solcher ermittelt, wirft zunächst nur Licht auf den allgemeinen Sprachusus eines Volkes, auf die Gestaltung der Sprache im Geiste der naiven Menschen. Wie aufgrund der naturwüchsigen Umgangssprache die besondere Gestaltung der Sprache als Darstellungsmittel der Schriftsteller bei einem Volke zustande gekommen ist, wie der einzelne Autor für sich die Literatursprache handhabt, und welche Wechselwirkung zwischen Umgangs- und Literatursprache bestehen, das zu untersuchen ist dem Specialforscher überlassen“ (Brugmann (1886/1887: 31). In 5.6. komme ich darauf zurück. 52 Brockelmanns Grundriß ist auch bis heute durch die Aufbereitung der dialektalen Befunde nicht ersetzt. Brockelmann verkörpert in seiner Person die philologische Einheit des damaligen Fachverständnisses: er legte auch eine fünfbändige Geschichte der arabischen Litteratur vor (1898–1902 – im übrigen mit Einschluß der iranischen).
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philologische Einheit des Faches beschworen hat, die nicht durch die Aufspaltung in Sprach- gegenüber Literaturwissenschaft (bei ihm im damals üblichen Terminus Literaturgeschichte) gefährdet werden darf.53 Wie insbesondere auch die Anlage seines „Grundrisses“ (s.u.) zeigt, war die Erforschung der gesprochenen Sprache für Paul letztlich nur eine Frage spezialisierter Einzelforschung, die nur arbeitsteilig ihren Wert hatte (wie auch die sprachvergleichende Rekonstruktion). Die programmatische Bindung der Sprachreflexion an das (beobachtbare) Sprechen wurde zwar immer wieder emphatisch gegen die akademisch etablierte (bzw. geforderte) Praxis vorgebracht: schließlich „lebt“ Sprache nur so – und eine darauf ausgerichtete Forschung steht gegen die tote „Papierwissenschaft“. Wo diese Programmatik aber ernst genommen wurde und bis zu einer systematischen Modellierung ausgeführt wurde (etwa von Wegener 1880) blieb dergleichen marginal (auch wenn Paul sich in seinen „Prinzipien“ argumentativ darauf stützt). 54 Das gilt letztlich auch für die damalige Mundartforschung, die in ihrer institutionalisierten Form, vor allem den Erhebungen für den Deutschen Sprachatlas seit 1876 mit schriftlichen Einträgen erhoben wurden. Die grundlegenden methodischen Probleme wurden dabei weitgehend ausgeblendet – was zu den Problemen dieses Unternehmens gehörte, das nie vollständig abgeschlossen wurde (s. auch 6.8.2.).55 Andrerseits konnten romantisch-völkischen Ideen an den emphatischen Mündlichkeitsdiskurs andocken. Diese Weiterentwicklungen werden für die deutschen Verhältnisse in Kap. 6 in den Blickgenomen, insbesondere auch für die Art, wie diese Topoi den Weg in eine nationalsozialistische Politisierung bahnen konnten. 5.4.3. Die Phonetik war bis zur Mitte des 19. Jhd. eine Sparte der Medizin (zeitgenössisch: der Physiologie). Über die Bearbeitung sprachpathologischer Erscheinungen, ggf. auch therapeutischer Maßnahmen waren hier auch die Grundzüge in Handbüchern definiert, die mit der Reform der Lehrerausbildung
�� 53 „Die Zuspitzung des Gegensatzes (sc. von Sprach- und Literaturwissenschaft, UM) scheint mir aber zum Teil dadurch entstanden zu sein, dass man angefangen hat, dasjenige gering zu schätzen, was doch immer die Grundlage bleiben muss, gründliches Verständnis und kritische Behandlung der Texte“ (Paul 1891/ 1901: 158). 54 Wegener brachte es nur zu einer Studienratskarriere; er war mit seinen Arbeiten aber in den zeitgenössischen Handbüchern vertreten. Zu ihm und seinem Werk jetzt die Neuausgabe (1991) der Hauptschrift von 1885 durch C. Knobloch. 55 Das ist im übrigen ein Unterschied zu parallelen Unternehmungen anderswo, insbesondere zum französischen Sprachatlas, für den Jules Gilliéron seit 1897 phonetisch systematisch kontrollierte Erhebungen vornehmen ließ – und den er auch vollständig von 1902–1910 publizierte (zitiert als ALF), womit er die sprachgeographische Forschung vollständig umkrempelte.
290 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung auch in den philologischen Horizont gekommen waren, in Deutschland vor allem mit den „Grundzüge(n) der Physiologie und Systematik der Sprachlaute für Linguisten und Taubstummenlehrer“, die Brücke 1856 veröffentlichte. Sprachwissenschaftlich waren sie ausgerichtet an der schulischen Didaktik, in der ein (lateinschriftliches) Schriftbild ausgesprochen wird (was bis heute in der leidigen Redeweise von Aussprache statt Lautierung fest ist): Gliederungsgrundlage sind die Buchstaben, deren Aussprache physiologisch erläutert wird – entsprechend der bis dahin weitgehend üblichen undifferenzierten Rede von Buchstaben auch in Kapiteln zur „Lautlehre“ der grammatischen Darstellungen.56 In der 2. Hälfte des 19. Jhd. wurde die Notwendigkeit einer phonetischen Fundierung in sprachwissenschaftlichen Arbeiten selbstverständlich: so wird sie z.B. sogar von Scherer (1868) gefordert, der dabei zugleich seine Inkompetenz erklärte.57 Dabei konvergierten zwei Arbeitsstränge: – einerseits die damals in allen großen Nationalstaaten angegangene Mundartforschung, für deren Aufzeichnungen Notationssysteme festgelegt wurden, die phonetisch definiert sein sollten, – andererseits die parallel dazu überall ins Werk gesetzten großen Ausgaben der älteren Texte (des „nationalen Erbes“), deren meist problematische schriftliche Überlieferung systematisch auch phonetisch reflektiert wurde. Dem entsprach eine neue Generation von phonetischen Handbüchern, die explizit auf sprachanalytische Aufgaben ausgerichtet waren. In Deutschland wurde Sievers (1876) maßgeblich,58 der von den phonetischen Grundlagen der Produktion von Äußerungen ausging: mit der Silbe als Grundeinheit und deren internem Bau auf der einen Seite, ihrer prosodischen Ausgliederung durch die Akzentuierung u.gl. mehr. Daran schlossen systematische Untersuchungen zur gesprochenen Sprache an (etwa von seinem Schüler Winteler, der in seiner Dissertation 1875 auch satzphonetische Erscheinungen im allegro-Duktus u.dgl. analysierte), während Sievers selbst sich ganz im Sinne der von Paul postulierten philologischen Einheit phonetischen Fragen bei der Auseinandersetzung mit literarischen „Denkmälern“ widmete: der Metrik und dann in einer zuletzt geradezu monoman verfolgen Idee einer „schallanalytischen“ Operationalisierung des Konzepts der Artikulationsbasis (s.u.) als Grundlage für die Analyse �� 56 Grimm sprach in seiner großen vergleichenden Grammatik 1819 noch ganz unbefangen von den Lauten als von „Buchstaben". 57 Dort erklärt er „zu meinem innigsten Bedauern“, nicht die nötigen „Höhen … unserer physiologischen Einsicht … erklommen (zu) haben“ (Scherer 1868: 4). 58 In England war es z.B. das 1877 erschienene Handbuch von Henry Sweet.
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des spezifischen syntaktischen Baus von Texten in allen Sprachen.59 Die neue phonetische Matrix ist eng an den Durchbruch des junggrammatischen Forschungsprogramms gekoppelt, wie an der dafür emblematisch gewordenen Untersuchung Verner (1876) deutlich ist, der den gordischen Knoten der historischen Rekonstruktion in der Grimm-Tradition durchgeschnitten hatte, indem er die Verhältnisse der gesprochenen Sprache für die Rekonstruktion ansetzte, einschließlich ihrer prosodischen Strukturen (s.o.). Und so wurde jetzt eine elementare phonetische Ausbildung im sprachwissenschaftlichen Studium installiert, mit Sievers (1876 bzw. in den überarbeiteten Neuauflagen) als dem maßgeblichen Studienbuch. Allerdings verlief die Etablierung der Phonetik als Grundlagenwissenschaft der Sprachforschung ausgesprochen widersprüchlich. Im Rahmen der Medizin (Hals-Nasen-Ohren-Medizin) waren für sie auch instrumentelle Untersuchungsverfahren entwickelt wurden. Deren systematische Nutzanwendung erfolgte zuerst mit der Neuausrichtung des Fremdsprachunterrichts auf die gesprochene Sprache, vor allem in England. Eine Schlüsselrolle hatten die Kolonialwissenschaften: so wurde das erste phonetische Institut in Deutschland auch 1909 am Hamburger Kolonialinstitut eingerichtet, für das Panconcelli rekrutiert wurde, der seine phonetische Ausbildung (und den Promotionsabschluß) in Paris absolviert hatte.60 Die Vertreter der apparativen phonetischen Forschung sperrten sich noch lange gegen eine sprachwissenschaftliche Reflexion ihres Gegenstandes und brachten auch heftige Kritiken an Sievers vor (Panconcelli, Techmer u.a.). Sievers bestand gegen eine apparative Bindung auf der sprachwissenschaftlich grundlegenden „Ohrenphonetik“ und entwickelt so eine Art Protophonologie, indem er die phonetische Analyse auf die Wahrnehmung von Lautdifferenzierungen im Horizont ihrer Funktion in den sprachlichen Systemen ausrichtete. Die spätere strikte Abgrenzung der Phonologie gegenüber der Phonetik bei TRUBETZKOY spiegelt diese Frontstellung. Auf der anderen Seite verlief der Ausbau eines eigenen Fachs Phonetik in enger Koppelung an technische Entwicklungen, vgl. im Katalog auch bei DOEGEN und PETERS. Die grundlegende Rolle der Phonetik bei der Neuausrichtung der Sprachforschung geht über diese letztlich speziellen Forschungsfelder hinaus. Mit ihrer Etablierung wurde die bis in die zweite Hälfte des 19. Jhd. verbreitete naive Gleichsetzung von Laut und Buchstabe obsolet und damit durchgehend das
�� 59 S. im Katalog bei SCHMITT, der als studentische Hilfskraft bei Sievers mit solchen Untersuchungen befaßt war. 60 Auch später behielt er einen Arbeitsschwerpunkt bei den afrikanischen Sprachen, s. auch im Katalog bei MERIGGI.
292 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung philologische Handwerk neu formatiert – mit der Konsequenz, daß auch die schriftliche Form der Textüberlieferung als eigener Gegenstand in den Blick kam. Schriftprobleme waren bei der „kritischen“ Rekonstruktion von Manuskripttraditionen ohnehin zentral: bei den komplexen und oft mystifizierenden Verhältnissen der älteren Iranistik (s. z.B. bei HENNING) nicht anders als in der Germanistik (wie z.B. bei LASCH): die Rekonstruktion der phonetischen Verhältnisse in der jeweils anzunehmenden gesprochenen Sprache war seitdem eine notwendige Analyseebene, allerdings keine hinreichende: die spezifisch schriftstrukturellen gehörten dazu (zeitgenössisch meist als „orthographisch“ angesprochen). Damit war die relative Unabhängigkeit der Analyse der gesprochenen und der geschriebenen Sprache in der Disziplin etabliert, wie es z.B. Behaghel in seiner Rektoratsrede 1899 deutlich machte. Bei der Verschriftung von Sprachen im Schatten einer etablierten Hochsprache mit ihren orthographischen Vorgaben war die phonetische Analyse ohnehin zentral, so durchgehend in der Orientalistik, wo nur eine systematische Klärung des Verhältnisses von Laut und Schrift die analytische Blockierung durch die in den kolonialen (und missionarischen) Traditionen etablierten lateinschriftlichen Systeme überwinden helfen konnte. Sinnfälliger Ausdruck für diese Konstellation war, daß der vergleichende Sprachwissenschaftler Wilhelm Schulze, den eine breite philologische Orientierung auszeichnete, eine entsprechende Handbuchdarstellung veranlaßte (Heepe 1928), bei der u.a. auch E.LEWY mitarbeitete. 5.4.4. Wie von Paul für die damalige Germanistik wurden die neuen Fächer im Kielwasser der universitären Seminare in großen Kompendien für die Zunft kanonisch definiert. Diese wurden meist auch als Grundrisse etikettiert, die sprachwissenschaftliche, literaturwissenschaftliche, archäologische, volkskundliche u.a. nicht-sprachwissenschaftliche Abschnitte enthielten: Grundriß der romanischen Philologie (1888–1906), Grundriß der germanischen Philologie (1891–1893, 2. A. 1896–1909),61 Grundriß der englischen Philologie (1887). Denen entsprachen auch die ebenfalls jetzt rasch auf den Markt kommenden Einführungswerke, mit denen der wissenschaftliche Nachwuchs auf die zünftige Praxis eingestellt wurde – wie ohnehin die prominenten Junggrammatiker durchweg ein enormes Ausbildungspensum erfüllten (in einigen Fällen mit der Betreuung von über 100 Dissertationen). Für die Normalforschung standen die entsprechend gegründeten Zeitschriften zu Verfügung, in denen die Beiträge zu speziellen Einzelfragen erschienen, die dort ihre paradigmatischen Prämissen
�� 61 An die Stelle einer dritten Auflage trat eine Reihe von Monographien, die Grundriß nur noch als Reihen-Titel beibehielt, von denen die ersten noch vor dem Ersten Weltkrieg (ab 1911) erschienen.
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nicht mehr explizieren mußten: Zeitschrift für deutsche Philologie (1868 ff.), Zeitschrift für romanische Philologie (1877 ff.), Zeitschrift für englische Philologie (1877 ff.) u.a., z.T. auch mit spezielleren Titeln wie die Beiträge zur Geschichte der Deutschen Sprache und Literatur (1874 ff.); und auch für die weniger ausgebauten Fächer, die an den meisten Universitäten, wenn überhaupt, dann unter dem Dach der vergleichenen Sprachwissenschaft vertreten waren, entstanden Zeitschriften: seit 1871 gab es schon das Archiv für slavische Philologie, später dann die Zeitschrift für slavische Philologie (1924 ff.);62 die Zeitschrift für celtische Philologie (1897 ff.) u.a. 5.4.5. Als die jungrammatischen Hardliner ihr Programm provokativ zugespitzt in Leipzig formulierten (Osthoff/ Brugmann 1878), war es theoretisch auch schon überholt: die Entwicklung des Faches zeigt eine ungleichzeitige Dynamik. Gleichzeitig mit der Kanonisierung des Programms in den Handbüchern der Junggrammatiker zeichnete sich eine theoretische Verschiebung hin zu einer formalen Modellierung des Gegenstandes ab, die ihren klarsten Ausdruck in Saussures „Mémoire“ (Saussure 1879) fand. Dieses arbeitet die Regularitäten an einem formalen Modell heraus, um dann ihre Interpretation an dem komplexen und vielschichtigen Befund der Empirie zu überprüfen (der sich gegen eine einfache induktive Entwicklung von „Gesetzmäßigkeiten“ sperrt). Eine solche Herangehensweise revolutionierte das Fach und stieß denn auch noch auf lange Zeit auf Widerstände (wie schon der vorausgehende erste Schritt zu einer solchen Modellierung, das Operieren mit rekonstruierten „Sternchenformen“ die Altvorderen der vorangehenden Generation abgestoßen hatte, s. 5.9.). So konnte Saussure auch nicht mit diesem genialen Frühwerk in Leipzig promovieren, sondern mußte dazu 1880 eine eher traditionelle syntaktische Untersuchung zum Sanskrit vorlegen. Es liegt kein zeitlicher Abstand, wohl aber eine Generation zwischen dem programmatischen Manifest einer strengen „Gesetzeswissenschaft“ durch Brugmann/Osthoff und Ferdinand de Saussures radikaler Algebraisierung der leitenden Konzepte in seinem „Mémoire“. Rezipiert wurden nur die von Saussure dort elegant entwickelten Lösungen für die notorischen „Ablautprobleme“ der indogermanischen Sprachen, die die theoretisch blockierende Fixierung auf das Lautsystem des Sanskrit als Basis der vergleichenden Rekonstruktion überwanden: ausführlich so in der ausgebauten Ablautlehre von Hirt (1900), auch in
�� 62 Die Slawistik (meist in enger Bindung mit der Baltistik) spielte im Fach seit Schleicher ohnehin eine zentrale Rolle. An der Universität Göttingen wurde 1936 eine slawistische Dozentur am Lehrstuhl für vergl. Sprachwissenschaft geschafften, aber erst 1949 eine eigens denominierte Professur (beide von M. Braun wahrgenommen).
294 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung seiner systematischen Darstellung des Fachs (Hirt 1902); und so auch in einführenden Darstellungen, etwa Delbrück (1880) oder Schrijnen (1917/1921) – der Ansatz selbst wurde erst 50 Jahre später mit der sog. „Laryngaltheorie“ der Indogermanistik aufgenommen, und zwar in Deutschland mit den größten Widerständen (zur Rezeptionsgeschichte s. Gmür 1986).63 Aber auch mit dieser traditionell-disziplinär gefilterten Rezeption war Saussure im Fach (in der vergleichenden Sprachwissenschaft) eine Autorität, die auch die Rezeption der posthum von seinen Schülern (Ch. Bally u.a.) veröffentlichten Nachschrift einer Einführungsvorlesung, dem „Cours“ (Saussure 1916), sicherstellte. Dieser ist von Saussures theoretischen Bemühungen um eine Neubegründung der Sprachtheorie zu unterscheiden, die ihren deutlichsten Ausdruck in seinem „Mémoire“ (1879) gefunden hatten. Die von ihm dort unternommenen Versuche zu einer formalen Modellierung spiegeln sich verständlicherweise nur sehr dürftig in einer solchen Einführungsveranstaltung, wobei die in dieser didaktischen Ausrichtung sicher noch weitergehende Zubereitung der Redakteure des „Cours“ zusätzlich in Rechnung zu stellen ist (s. 5.7.4. für die theoretischen Fragen). Den systematischen Anspruch hinter dem „Cours“ hat Saussure selbst auf den Punkt gebracht, wenn er in seinen Briefen von den Schwierigkeiten spricht, den Sprachwissenschaftlern zu zeigen, „was sie tun“ – also ihr Handwerk zu explizieren (s.u. Fn. 136 in 5.8). Anders als das „Mémoire“ ist der „Cours“ nicht als Programm für eine andere (neue) Sprachwissenschaft zu lesen. Von den meisten Fachvertretern wurde er denn auch als eine theoretisch nicht übermäßig aufregende Darstellung des Faches angesehen, die wegen ihrer Systematik aber rasch den Rang einer Standardreferenz erhielt. Diejenigen, die selbst an Grundlagenfragen arbeiteten, kritisierten denn auch die simple Fortschreibung junggrammatischer Prämissen im „Cours“ in den sofort erscheinenden Besprechungen, s. schon 2.2. (s. Fn. 9 in 2.4.2 zu Schuchardt 1917). Bei den systematischen späteren Versuchen, einen empirisch offenen Ansatz zu entwickeln, der der großen Variation in den sprachlichen Beobachtungen Rechnung trägt, wurde der „Cours“ denn auch nur als eine Art Kanonisierung des junggrammatischen Programms gesehen, so z.B. von E.Hermann, s. 5.9. und auch 6.8. �� 63 Zu den wenigen in diesem Sinne modernen Vertretern des Faches gehörte in Deutschland der Indologe Wüst, zu dessen politischer Rolle s. in Kap. 6. Im Nachkriegsdeutschland wurde eine laryngalistische Modellierung im Fahrwasser auch nur von persönlichen Schülern Wüsts vertreten, vor allem so von dem Iranisten Hoffmann (s. dazu 6.8.4.). Noch in meinem eigenen Studium in den 1960er Jahren Freiburg kam dergleichen bei meinem Lehrer Szemerényi (†) zwar selbstverständlich vor, aber nur mit einem sehr kritischen Unterton. Hinweise zu dieser Konstellation verdanke ich Gesprächen mit M.Mayrhofer (†) in Wien.
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Die befremdlicherweise auch in jüngeren fachgeschichtlichen Darstellungen meist herausgestellte Gegenüberstellung von synchroner vs. diachroner Sprachbetrachtung läuft auf eine Trivialisierung von Saussures Bemühungen hinaus, die diesen auf den Boden dessen zurückholt, was in damaligen sprachwissenschaftlichen Seminaren (ob nun junggrammatisch ausgeflaggt oder nicht) das Alltagsgeschäft war, dem auch die Vorgaben von Aufgaben für die Abschlußarbeiten entsprachen: ausgehend von einem gegebenen Befund, z.B. einem Manuskript, das zu bearbeiten oder auch zu edieren war, oder auch Aufnahmen einer Ortsmundart, die beobachtbaren Formen diachron zu bestimmen – der Ausgangsbefund war definitionsgemäß „synchron“ im Sinne eines chronologischen Schnitts in der analytisch angesetzten Sprachentwicklung. Bei Saussures Modellierung ging es aber um etwas ganz anderes: die Strukturen des Sprachsystems zu extrapolieren, die als relationale Größen nicht zeitlich sind. Schuchardt, der sich recht gründlich mit Saussure auseinandergesetzt hat, sprach daher auch von metachronisch als Gegenbegriff zu diachron (das synchron impliziert), s. Schuchardt (1925/ 1928: 420).64 Saussures Bemühen, das auch im „Cours“ greifbar wird, zielte gewissermaßen orthogonal zur akademisch dominierenden (insbesondere auch junggrammatischen) Sicht auf das kritische Moment des Sprachwandels: wie können Sprachstrukturen überhaupt die notwendige Stabilität haben; das bestimmte sein Konzept eines ideal zu verstehenden Sprachsystems, der langue, das sich eben nicht „induktiv“ an den Beobachtungen ablesen läßt. Die konzeptuellen Schwierigkeiten der Extrapolation eines relationalen Systems aus den Beobachtungen werden recht deutlich in einem als „Anhang“ überschriebenen Abschnitt des „Cours“ (appendices, Saussure 1916: 251–260), in dem die Fundierung des relationalen Systems (der langue) in der „analyse subjective“ verankert ist, gegenüber dem historischen (etymologischen) Geschäft als der „analyse objective“ (die mit historischen Belegen operiert, die dem „sujet parlant“ nicht zugänglich sind). Damit werden allerdings die relationalen Sprachstrukturen im „Cours“ psychologisch verstanden – gegen die bei Saussure greifbaren theoretischen Absichten. 65 Eine andere theoretische Bau�� 64 S. weiter in 5.6. zu der mißverständlichen Argumentation mit der „Synchronie“. 65 Saussures Bemühungen um eine Klärung der begrifflichen Grundlagen lassen sich jetzt in seinen nachgelassenen Notizen (Saussure 2002) verfolgen. Ausgangspunkt war für ihn, daß die damals dominierende Beschäftigung mit dem Sprachwandel an der materialen (phonetischen) Seite des Zeichens festgemacht ist, für die er allein eine historische Perspektive gelten läßt. Diese verstellt, was das Zeichen ausmacht – was rein relational (in systemisch explizierbaren Relationen) zu fassen ist. Die Termini synchron und diachron spielen in diesen Notizen keine Rolle. Nur in Hinblick auf die jüngere Fachgeschichtsschreibung, also ex post (und gegen die
296 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung stelle im „Cours“ war die Abgrenzung der empirisch zugänglichen parole gegenüber der Extrapolation einer strukturell definierten langue, s. dazu 5.5.3. Insofern hat Saussures „Cours“ einen Januscharakter: er läßt sich als Abschluß (und gewissermaßen Kanonisierung) des junggrammtischen Forschungsprograms lesen, aber auf der Folie seines „Memoire“ (1879) auch als Anlauf zur Neudefinition des disziplinären Geschäfts der Sprachwissenschaft. Das bestimmt auch die Ambivalenz der Rezeption des „Cours“ in der ersten Hälfte des 20. Jhd., s. auch 6.8. 5.4.6. Aber auch das junggrammatische Forschungsprogramm selbst bildete eine Art Wasserscheide in der Entwicklung der Sprachforschung. Wie oben schon mit dem Verweis auf H. Paul angemerkt, ist es ein häufiger fachgeschichtlicher Fehlschluß, die Arbeit der junggrammatischen Akteure einfach diesem Programm zu subsumieren: die Junggrammatiker betrieben durchweg nach wie vor eine kulturanalytische Sprachforschung, ausgerichtet auf einen kulturellen Gegenstand, der nach Deutung verlangt. Als wissenschaftliches Unternehmen setzte es sich von einem naiven (auch alltagssprachlichen) Umgang mit Sprache ab, bei dem Äußerungen (oder ihre Spuren: Schriftliches) unmittelbar gedeutet werden, nicht anders als Bilder. Demgegenüber zielt eine systematische Herangehensweise darauf, die kulturelle Kodierung zu entschlüsseln. In diesem Sinne deckte das junggrammatische Forschungsprogramm nur einen (wenn auch grundlegenden) Teil der angestrebten Sprachforschung ab: der andere, für die Ausbildung an den Seminaren auch der Hauptteil, war die Analyse der sprachlichen Überlieferung, ggf. bis hin zu den gegenwärtig noch gesprochenen Formen. Da ging es nicht um Rekonstruktion (also um abstrakte Strukturen) sondern um Sprachgeschichte. Das wird deutlich auch an dem zumeist ungemein umfangreichen Oeuvre der junggrammatischen Fachvertreter, die wie Paul zum Deutschen, Brugmann zum (Alt-) Griechischen, Delbrück zum Sanskrit und den altgermanischen Sprachen vor allem auch umfangreiche syntaktische Handbuchdarstellungen verfaßt haben, die auf einer umfassenden Textauswertung beruhten (und oft auch wie Paul Texte ediert haben). Für Paul war das junggrammatische Forschungsprogramm ein „methodologischer Gewinn“ (Paul 1880/1920: 5) – d.h. aber ein Gewinn für das, worum es im Fach ging. Und das ließ sich nicht auf die methodischen Fragen, erst recht nicht auf formale Aspekte wie die Lautgesetze reduzieren.66 �� Sicht des Autors), kann die Nachschrift von Saussures Einführungskurs als Neubeginn der Sprachwissenschaft angesehen werden. Er hat diesen Kurs nur in seiner Genfer Zeit dreimal von 1907 bis 1911 gehalten. 66 Da, wo allerdings dieser methodologische Gewinn der neueren Forschung nicht mitvollzogen wird, ist Pauls Kritik radikal: in seiner Besprechung der Neuauflage 1878 von
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In seinen „Prinzipien der Sprachgeschichte“ (zuerst 1880), die damals weithin als kanonischer Text angesehen wurden, hat Paul das Forschungsprogramm prägnant auf einen Nenner gebracht. Dort unternahm er eine systematische Modellierung der Sprachforschung in einem umfassenden kulturanalytischen Sinne, also in Kontinuität zu der in 5.2. skizzierten disziplinären Ausgangssituation. Für die methodische Grundlegung postulierte er ausdrücklich ein historisches (und nicht nur abstrakt „diachronisches“) Gegenstandsverständnis. In diesem Rahmen reformulierte er auch sorgfältig den Anspruch der Lautgesetze: „Das Lautgesetz sagt nicht aus, was unter gewissen allgemeinen Bedingungen immer wieder eintreten muß, sondern es konstatiert nur die Gleichmäßigkeit innerhalb eine Gruppe bestimmter historischer Erscheinungen“ (1880/1920: 68). Mit dieser Formulierung konnten auch Curtius und Schuchardt leben. Pauls umfassendes Fachverständnis wird noch deutlicher als in seinen „Prinzipien“ in dem von ihm bewerkstelligten Grundriß der germanischen Philologie (Paul 1891/1893). In dessen erstem Kapitel „Begriff und Aufgabe der germanischen Philologie“ begründete er dieses Unternehmen; in der zweiten Auflage (1896ff.) fügte er geradezu beschwörende Sätze hinzu, daß ein Auseinanderfallen der Disziplin in Sprach- und Literaturwissenschaft drohte, das aus seiner Sicht auch methodologisch fatal wäre – nicht nur, aber besonders in Hinblick auf die dem Fach übertragenen Aufgaben in der Lehrerausbildung, wie er hinzufügte. In dem ausführlichen Kapitel „Methodenlehre“ dort argumentierte er explizit auch methodologisch (also auf einer Metaebene zu dem Kanon der zu nutzenden Methoden): im strengen Sinne sind die Methoden und auch die Formen der theoretischen Argumentation zwar universal, aber anders als in den Naturwissenschaften gewinnen sie in den Philologien ihre spezifische Form erst durch die Anwendung auf historische Gegenstände, weshalb eben auch die Einzelphilologien systematisch berechtigt sind (und für ihn eine universal ausgerichtete Sprachwissenschaft nur als Spezialisierung in einem engen arbeitsteilig definierten Forschungssektor ihre Berechtigung hat). Zugleich argumentierte er hier aber auch ausgesprochen scharf gegen die damals aufkommende „geisteswissenschaftliche“ Herangehensweise, die sich sowohl bei den Methoden wie im Gegenstandsverständnis die Mühe analytischer Arbeit erspart: für ihn ist der Gegenstand explizit nicht durch den „Geist“, sondern
�� Scherer (1868) bescheinigt er diesem noch, daß er in der Erstauflage das Verdienst hatte, auf wichtige Forschungsaufgaben hingewiesen zu haben – da er aber 10 Jahre später den zwischenzeitlichen methodologischen Fortschritt ignoriert hat, ist sein Buch völlig überholt und nur noch fachgeschichtlich von Interesse … (Paul 1879).
298 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung durch den gesellschaftlichen Raum konstituiert, in dem Kulturelles (und damit Sprache) praktiziert wird (hier subsumiert er die Sprachforschung ausdrücklich der Gesellschaftswissenschaft). Insofern geht es nicht an, Paul ohne weiteres zu einem Vorläufer der gegenwärtigen Sprachwissenschaft zu stilisieren, wie es seit einigen Jahren im Fach üblich wird. Sein Werk hat vielmehr wie das der meisten seiner junggrammatischen Mitstreiter einen Januscharakter: die methodisch enggeführte Forschungspraxis ist instrumentell für die Arbeit an einem umfassenden Gegenstand: Sprachforschung war „Kulturwissenschaft“, deren disziplinäre Besonderheit allerdings in spezifischen methodisch kontrollierten Zugängen zum Gegenstand verankert war. Dieses Fachverständnis, das auch noch das der Mehrheit der im Katalog Dokumentierten ist (war), definiert heute die Zunft nicht mehr. Mit Paul läßt sich die entsprechende Verschiebung der disziplinären Architektur auf den Nenner bringen, daß das, was er als Akteur des junggrammatischen Forschungsprogramms dessen „methodologischen Gewinn“ nannte, in der weiteren Profilierung des Paradigmas zu dessen Inhalt wurde. In 5.6. wird Pauls Rolle in der Fachentwicklung weiter verfolgt. 5.4.6. Auch wenn mit der universitären Reform im letzten Drittel des 19. Jhd. (der Einrichtung der Seminare) organisatorischen Zwänge im Vordergrund standen, mußten die institutionellen Lösungen in der Tradition der philosophischen Fakultät als wissenschaftlich definiert werden, und das bedeutete zwangsläufig: im Rahmen eines universal definierten Forschungsprogramms. Das schien bei der Sprachwissenschaft selbstverständlich (nicht aber bei der (neuen) Literaturwissenschaft, der das von den anderen Fachvertretern in den Philologien noch lange abgestritten wurde, s. 5.5.). Als systematisches Forschungsprogramm schrieb die Sprachwissenschaft das aufklärerische Erbe des 18. Jhds. fort, das in der Sprache eine conditio humana sah, bei der die Grammatik als Explikation von Grundstrukturen des Denkens verstanden wurde. In systematischen Schriften wurde das zu Beginn des 19. Jhds. entfaltet; das bildete nicht zuletzt auch den fraglosen Horizont für die schulgrammatische Umsetzung, durchaus im Rahmen eines umfassenden Bildungsverständnisses. Infrage gestellt wurde dieses Fachverständnis in der romantischen Gegenposition, die in den „nationalen“ Philologien zum Zuge kam (explizit so etwa bei Jacob Grimm); fortgeführt wurde es in sprachtypologischen Ansätzen, die die beobachtbare (und dokumentierte) sprachliche Variation auf ein solches Konzept einer „Universalgrammatik“ abbildeten: die typologische Forschungstradition. Intellektuell gesehen hatte diese sogar mit der Neuformierung des Fachs Sprachwissenschaft zu Beginn des 19. Jhd. eine dominante Rolle, wie an der Person Wilhelm von Humboldts festgemacht werden kann. In 5.2. ist die Verquickung dieser Tradition mit einer wertenden typologischen Klassifikation
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schon angesprochen, die sich durch viele der im Katalog in den Blick kommenden Arbeiten zieht. Eine Konsequenz der typologischen Verschiebung im analytischen Koordinatensystem war die zunehmende deskriptive Neuorientierung der Arbeit, bei der das schleichersche Bild vom Verfall der alten flektierenden „Hochformen“ abgelöst wurde durch eine nüchterne Analyse des Umbaus der Sprachstruktur: von einem Bau mit synthetischen Formen zu einem mit analytischen u. dgl. Eine solche Herangehensweise war gerade bei „philologisch“ definierten Arbeiten mit der Perspektive auf Fragen des Sprachausbaus verbunden. Auch da, wo es im Sinne der junggrammatischen Vorgaben für die seriell angefertigten Abschlußarbeiten um die sichtbaren Spuren der gesprochenen Sprache in der schriftlichen Überlieferung ging, war der Gegenstand die Entwicklung einer Schriftkultur (s. Abschnitt 5.6.). Dabei stand die typologische Ausrichtung der Forschung gegen eine physikalistische Reduktion. Die fundierenden analytischen Grundfiguren waren auch in der neuen sprachwissenschaftliche Disziplin seit den systematischen Arbeiten vom Anfang des 19. Jhd. (etwa bei Jacob Grimm) fest verankert, vor allem die Unterscheidung der inneren Form einer Sprache von ihrer äußeren Form. 67 Diese fungierte schließlich z.B. auch als Prämisse in Grimms gefeierter Einsicht in die gesetzesförmige (konsonantische) „Lautverschiebung“: die „Verschiebung“ der plosiven Tenues zu Frikativen/Affrikaten (lat. pater ~ dt. Vater, lat. cor[dis] ~ dt. Herz u.dgl.) betrifft nur die äußere Form, während die innere Form (die Architektur des Konsonantensystems mit den Reihen Plosive vs. Frikative usw.) bewahrt bleibt, weil an die Stelle der verschobenen Konsonanten andere rücken, die aus anderen Positionen dahin verschoben wurden (vgl. im Grimmschen Sinne „streng ahdt.“ pauer [Bauer], cot [Gott] u.a.). Diese Unterscheidung wurde auf allen Ebenen der Sprachforschung genutzt; sie lieferte schließlich die Schablone für die spätere Extrapolation struktureller Systeme (der inneren Form) aus den materialen Beobachtungen (der äußeren Form). Systematisch betrachtet löste eine so differenzierte Herangehensweise an sprachliche Fragen die Forderung nach einer dynamischen Modellierung ein, die Alexander von Humboldt in den Raum gestellt hatte, s.o.
�� 67 Zeitgenössisch stammte der Terminus der inneren Form aus den Diskussionen des 18. Jhd. um biologische Klassifikationssysteme: er richtete sich damals gegen die etablierten Taxonomien, die seit Linné (1707–1778) üblich waren, denen er ein strukturierendes Moment entgegenstellte, das sich in der Reproduktion der Arten durchsetzt. So sprach Buffon (1707–1788) von der moule intérieur der Arten, die sich in deren Reproduktion fassen läßt – gegen die äußeren Erscheinungsformen, die insbesondere der Anpassung an die Umgebung geschuldet sind; s. Hull (1988) für eine systematische Darstellung.
300 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Diese argumentative Grundfigur der theoretischen Modellierung ist von dem zu unterscheiden, was bei denen, die sich nicht mit solchen deskriptiven Zuordnungen zufrieden gaben, mit der inneren Form verbunden wurde. Diese steht gegen die Auflösung der Sprachanalyse in ein Ensemble mehr oder wenig beliebig kombinierbarer formaler „Module“, wie es gerade auch in der heutigen typologischen Forschung mit großen Datenmengen und der elektronischen Verwaltung entsprechender „Datenbasen“ den Grenzwert bildet. Die Ausgliederung von Sprachen als spezifischen Objekten verlangt eine intensionale Begrifflichkeit, die seit Wilhelm von Humboldt mit diesem Terminus belegt wurde – gewissermaßen als Entsprechung zu einer „morphologischen“ Betrachtung der Sprachen (s. 5.2.2.). Das Grundproblem war es seitdem, diesem Konzept über seine rein formelle Explikation (für die später der Saussuresche Begriff des Sprachsystems fruchtbar wurde) eine realistische Füllung zu geben. Dabei wurde das Konzept der inneren Form zunehmend mit dem Anspruch befrachtet, zugleich eine „Denkform“ zu artikulieren, wie es z.B. von CASSIRER systematisch entwickelt wurde (s. auch 6.8. für die späteren diskursiven Konstellationen, in denen das eine zentrale Rolle spielte – was ein Verständnis der frühen Ansätze verstellen kann). In diesem Horizont sind die disziplinären Neustrukturierungen zu sehen. Die innere Sprachform war gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem emblematischen Terminus geworden, der gegen junggrammatische „Faktenhuberei“ ins Feld geführt wurde, bei der Sprache hinter einem Agglomerat von Beobachtungsdaten verschwand. Die strukturale Modellierung des Sprachsystems als relationalem Konzept schließt in gewisser Weise daran an, verstand sich aber auch als Fortführung dessen, was in der junggrammatischen Programmatik als Fokus auf der methodischen Kontrolle angelegt war. Insofern operierten ja gerade auch die strukturalistischen Gründerväter (etwa Saussure oder Bloomfield) ausdrücklich in diesem Forschungsprogramm, das auch den größten Teil ihrer immer zitierten grundlegenden Werke einnimmt. Das bestimmt nun auch das Selbstverständnis vieler Emigranten, die erfolgreich in den USA als Strukturalisten reüssierten und dabei diese Kontinuität jenseits formaler Repräsentationsfragen herausstellten, s. etwa bei H. HOENIGSWALD oder SANDMANN. Dabei kommt allerdings der oben angesprochene Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen Matrix und einem spezifischen Paradigma zur Geltung. Der in der Mitte des 19. Jhd. als neue intellektuelle Matrix etablierte Positivismus richtete sich gegen die Dominanz philosophisch-“spekulativer“ Argumentationsformen. In dieser Matrix formierte sich die neue Sprachwissenschaft – mit programmatischen „paradigmatischen“ Ausprägungen junggrammatischer oder später dann strukturalistischer Observanz. In der schleicherschen Tradition drohten hier immer wieder „Materialentgleisungen“ mit fundamentalisti-
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schen Übersetzungen in biologistisch interpretierbare Größen, wie es hinter dem „genetischen“ Grenzwert der historisch vergleichenden Sprachwissenschaft steht, die die Einheit in der beobachtbaren Vielfalt (i.S. von Alexander von Humboldt) in der Rekonstruktion einer Ahnenfigur (der jeweiligen Ursprache) sucht. Die auf „Stammbäume“ projizierten Rekonstruktionen tendierten immer schon dazu, über das hinauszugehen, was im Sinne „junggrammatischer“ Verfahren methodisch zu kontrollieren war, also die kontrollierte Rekonstruktion in eine „Prärekonstruktion“ zu erweitern. Da bei den Fachvertretern mit der im 19. Jhd. etablierten Grundausbildung am humanistischen Gymnasium auch gewisse Grundkenntnisse des Hebräischen selbstverständlich waren (nicht nur bei denen mit einer jüdischen Familienerziehung), waren derartige Familienbeziehungen zu den semitischen Sprachen ein Topos: der flektierende Bau, die Rekonstruktion der lexikalischen Wurzeln, aber auch Strukturkomponenten wie der vokalische Ablaut finden sich so als Anhaltspunkte für einen entsprechenden Vergleich durchgängig in der zweiten Hälfte des 19. Jhd. – bei Semitisten nicht anders als bei Indogermanisten. Eine ernsthafte Rekonstruktion schien hier allerdings lange nicht in Reichweite zu sein. Den entscheidenden Schritt tat hier Hermann Møller (1850–1923), der seit 1906 entsprechende „Lautgesetze“ vorstellte und 1911 auch ein „Vergleichendes indogermanisch-semitisches Wörterbuch“ publizierte. Die so von ihm rekonstruierte Protosprache bezeichnete er als nostratisch (zu lat. nostrās „unser Landsmann“). Daraus wurde ein systematischer Forschungsansatz, als Albert Cuny (1867–1947) im Rückgang auf Saussures „Mémoire“ diese Annahmen mit einer realistischen Anschauung ausstattete, wobei er die Saussureschen abstrakten Variablen phonetisch konkret im Sinne der vor allem auch in maghrebinischen Varietäten des Arabischen mit ihrer prosodisch gesteuerten variablen Silbenstruktur und der ebenfalls nur prosodisch zu fassenden Pharyngalisierung interpretierte.68 Aber die nostratische Rekonstruktion war für ihre Vertreter keine rein formale Konstruktion: die nostrates wurden auch ethnisch, bzw. in der zeitgenössischen Redeweise: rassisch verstanden, wie es auch bei Cuny ausdrücklich heißt: es sind die Menschen der „weißen Rasse“. Auf diese Weise aber die semi�� 68 Mit einer Reihe von Arbeiten seit den 1920er Jahren, systematisch dann in Cuny (1943). Den qualitativen Ablaut /e/ ~ /o/ faßt er als Differenz der Pharyngalisierung (/e/ ~ /eʕ/ – er spricht wie damals in der Semitistik üblich von der „Emphase“), den quantitativen als sekundären Reflex unterschiedlicher Silbenstrukturen, gesteuert durch den Wechsel der Akzentuierung u.dgl. Die saussureschen sonantischen Koeffizienten spiegeln sich bei ihm ohnehin in den Pharyngalen des Arabischen. Es versteht sich fast von selbst, daß er die deutsche Tradition, Saussures „Mémoire“ aufzunehmen (etwa bei Hirt 1900), für fehlgeleitet hält.
302 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung tischen Sprachen (also auch die der biblischen Juden) als enge Verwandte in den Blick zu nehmen, ging den meisten Fachvertretern vor allem in Deutschland erheblich zu weit – und so wurde die „nostratische“ Rekonstruktion und damit auch ihre methodische Kehrseite, die „laryngalistische“ Rekonstruktion des Ie. im Anschluß an Saussures „Mémoire“ vor allem in Deutschland bis in die 1950er Jahre überwiegend als Spinnerei abgetan. 69 Dabei war der dubiose Status der Prämissen dieser StammbaumRekonstruktionen in der zweiten Hälfte des 19. Jhd. seinerseits schon zum Topos geworden, nicht zuletzt durch die Arbeiten von Hugo Schuchardt, der den Faktor des Sprachkontakts, die osmotischen Beziehungen zwischen Sprachen, vor allem auch in der Genese eines genetisch nicht definierbaren Typs neuer Sprachformen (den Kreolsprachen) als empirischen Gegenstand der Sprachforschung in den Vordergrund gerückt hatte. Systematisch zum Forschungsprogramm wurde dergleichen dann auf der Grundlage ethnographischer Beschreibungen bei BOAS und der von ihm angestoßenen deskriptiven Sprachwissenschaft in den USA.70 Im argumentativen Überbau der Sprachforschung war die Verankerung der inneren Form ein durchgängiges Thema – zunehmend auch mit der Orientierung auf den gesellschaftlich in den Vordergrund drängenden rassistischen Diskurs, 5.8. 5.4.7. Die Ausbildung eines sprachwissenschaftlichen „Paradigmas“ stand am Ende des 19. Jhd. unter dem Druck der sich formierenden Forschungsprogramme in anderen Disziplinen der Philosophischen Fakultät, die eine Orientierung an den Naturwissenschaften nicht nur auf einer abstrakten wissenschaftstheoretischen Ebene postulieren konnten, sondern in der Umsetzung in apparativ gestützte Forschungen und damit der Quantifizierung der Befunde auch direkt umsetzen konnten. Das gilt insbesondere für die Psychologie, die �� 69 In gewisser Weise setzt sich das auch noch in der jüngsten Fachdiskussion fort, bei der eine andere nostratische Prärekonstruktion attraktiv ist, die statt einer laryngalistischen Interpretation des rekonstruierten Konsonantensystems mit einer glottalisierten operiert und so die Gemeinsamkeit mit den rassi(sti)sch erwünschten kaukasischen Sprachfamilien auf den Bildschirm holt. Das paßt allerdings vorzüglich zu der weniger verfänglichen anthropologischen Redeweise von der „kaukasischen“ statt der „weißen“ Rasse … Diese nostratische Spielart geht auf Wladislaw Markowič Illič-Svityč (1934–1966) zurück, der den eurasischen Großraum im Blick hatte, s. im Katalog bei MENGES. Die Diskussion um eine nostratische Rekonstruktion spielt bei allen vergleichend ausgerichteten Fachvertretern im Katalog eine zentrale Rolle, s. besonders noch H. BIRNBAUM, NEHRING, SAPIR, aber auch die entschiedenen Gegner PULGRAM und ROSÉN. 70 Wobei die Spannungen zu endemisch immer wieder in den Vordergrund rückenden genetischen Fragestellungen bei den Auseinandersetzungen zwischen BOAS und seinem Schüler SAPIR aufschlußreich sind, s. dazu Maas (2009).
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sich damit von der Philosophie (in der ihre Stellen immer noch denominiert waren) emanzipierte: so in den großen Forschungsinstituten in Berlin (Stumpf) und Leipzig (Wundt) – die phonetischen Forschungen bildeten hier ein Bindeglied (vor allem bei Stumpf). Für die theoretisch ambitionierte Reflexion blieb allerdings auch der Bezug zur medizinisch-klinischen Forschung weiter produktiv, weil die unterschiedlichen Erscheinungen der Sprachpathologie, so vor allem die im letzten Drittel des 19. Jhd. in größerem Umfang angegangenen Forschungen zur Aphasie, grundlegende Fragen zum Fundierungsverhältnis der Sprache (des sprachlichen Wissens) aufwarfen. Daher waren auch junggrammatische Fachvertreter in diesem Forschungsfeld engagiert wie z. B. Delbrück, der „als Sprachforscher“ mit dem Verweis auf eigene „Beobachtungen an Kranken“ Medizinern zeigte, daß auch pathologisches Sprachverhalten spezifische Sprachstrukturen aufweist: bedingt durch die paradigmatischen Verbindungen im Formenbau, die Muster des syntaktischen Baus von Äußerungen u. dgl., und zwar sprachspezifisch – gegen die Isolation und rein assoziative Deutung einzelner Formen (Delbrück 1886). Im Katalog sind eine ganze Reihe von Forschern dokumentiert, die in diesem Feld arbeiteten (s. im Registerteil des Katalogs, Abschnitt 1.6.), vor allem auch solche, die sich einer biologischen Reduktion verweigerten, indem sie mit „ganzheitlichen“ Reflexionskategorien operierten und untersuchten, wie Menschen mit physiologisch bedingten Störungen umgehen: so vor allem GOLDSTEIN (im Anschluß an ihn dann WEIGL) u.a.; systematische Modellierungen auch bei W. STERN, WERNER u.a., schließlich auch eine theoretisch integrative Modellierung bei K.BÜHLER.71 5.4.8. Trotz dieser widersprüchlichen Spannungen im Fach war die Sprachwissenschaft im akademischen Kontext der Philosophischen Fakultät am Ende des 19. Jhds. als Modellwissenschaft etabliert, wie sich in den Diskursen zeigt, in denen damals neue Fächer sich zu definieren (und ihre institutionelle Ausstattung zu begründen) suchten. Dabei wurde die Sprachwissenschaft geradezu als Vorbild für die noch nicht etablierten Disziplinen angeführt, z.B. von Simmel für die Soziologie. Ein längeres Zitat von diesem illustriert den damaligen wissenschaftssystematischen Legitimationsdiskurs: „Welches aber kann das eigne und neue Objekt sein, dessen Erforschung die Soziologie zu einer selbständigen und grenzbestimmten Wissenschaft macht? Es liegt auf der Hand, daß zu dieser Legitimation ihrer als einer neuen Wissenschaft nicht die Entdeckung eines, seiner Existenz nach bisher unbe�� 71 Für eine detaillierte fachgeschichtliche Darstellung, s. Levelt (2013).
304 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung kannten Gegenstandes gehört. Alles, was wir als Gegenstand schlechthin bezeichnen, ist ein Komplex von Bestimmungen und Beziehungen, deren jede, an einer Vielheit von Gegenständen aufgezeigt, zum Objekt einer besonderen Wissenschaft werden kann. Jede Wissenschaft beruht auf einer Abstraktion, indem sie die Ganzheit irgendwelchen Dinges, die wir als einheitliche durch keine Wissenschaft erfassen können, nach je einer ihre Seiten, von dem Gesichtsunkt je eines Begriffes aus betrachtet. Die Totalität des Dinges und der Dinge gegenüber erwächst jede Wissenschaft durch arbeitsteilige Zerlegung jener in einzelne Qualitäten und Funktionen, nachdem ein Begriff aufgefunden ist, der diese letzteren herauszulösen und in all ihrem Vorkommen an den realen Dingen nach methodischen Zusammenhängen zu erfassen gestattet. So haben z.B. die linguistischen Tatsachen, die man jetzt als das Material der vergleichenden Sprachwissenschaft zusammenfaßt, schon lange an wissenschaftliche behandelten Erscheinungen existiert; jene Sonderwissenschaft aber entstand mit der Entdeckung des Begriffes, unter dem dieselben, bisher an verschiedenen Sprachkomplexen auseinanderliegend, einheitlich zusammengehören und von speziellen Gesetzen geregelt werden.“ (Simmel 1908: 3–4) Diese Sicht von außen auf das Fach deckt sich zwar mit der Binnensicht eines „harten Kerns“ im Fach, verdeckt aber die Dynamik der Sprachforschung, die auch mit der Zusammenstellung von Sprachforschern im Katalog sichtbar wird. Diese kann eben auch nicht mit der Art von Fachgeschichte gefaßt werden, die in den oben angesprochenen neueren wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten im Blick ist, die sich in der Regel auch auf eine Sparte der Naturwissenschaften (engl. science) beziehen: für diese können die „paradigmatischen“ Entwicklungen und ggf. auch „Revolutionen“ verfolgt werden, die sich im Horizont der jeweiligen Disziplin abgespielt haben. Die meisten fachgeschichtlichen Arbeiten der Sprachwissenschaft replizieren diese Zugangsweise, indem sie nacherzählen, wie sich das Fach Sprachwissenschaft entwickelt hat. Damit wird die Frage danach verdeckt, was dieses Fach ausmacht – und die im Laufe der Zeit immer wieder anders konstruierten Ansätze zur Beantwortung dieser Frage.
5.5 Die Ausdifferenzierung der Literaturwissenschaft 5.5.1. Der Prozeß der Professionalisierung der Sprachforschung ist in den universitären Institutionen durch die Ausdifferenzierung der Philologien in Sprachwissenschaft gegenüber Literaturwissenschaft bestimmt, deren Verhältnis zueinander auch die jüngere Diskussion um das fachliche Selbstverständnis dominiert. Die entsprechenden Konzeptualisierungen können aber nicht rückprojiziert werden. In diesem Buch kann es nicht darum gehen, die Herausbil-
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dung der modernen Literaturwissenschaft nachzuzeichnen: dazu gibt es auch eine viel umfangreichere Literatur als bei der sprachwissenschaftlichen Fachgeschichte, worin sich nicht zuletzt der andere gesellschaftliche Status der Literaturwissenschaft spiegelt, der anders, als es heute erscheint, wo die Sprachwissenschaft institutionell um ihren Platz kämpfen muß, akademisch lange problematisch war. Dieser Abschnitt hat entsprechend nur eine Platzhalterfunktion: zumindest die Grundlinien der disziplinären Ausdifferenzierung, die in beiden Fächern komplementär verlief, sollen sichtbar werden, um auch die für viele irritierende Zusammensetzung des Katalogs verständlich zu machen.72 In der alten, aus dem Mittelalter überkommenen Universität hatte die Analyse der literarischen Form anders als die Analyse der sprachlichen Form keine Funktion: diese gehörte im Trivium der mittelalterlichen Universität zu den Grundlagen (s.o. zur grammatica positiva). Es gab nur einen Kanon von Texten, die die Hochkultur repräsentierten, angefangen bei der Bibel bis hin zu den literarischen Texten der Antike (der Klassik), die in ihrer sprachlichen Form (grammatisch und auch stilistisch) bearbeitet wurden. Die Interpretation war eine Sache der Auseinandersetzung mit dem Inhalt; nur in der Theologie hatte sie sie auch systematische Aspekte (in der Hermeneutik). Ansonsten gab es in der Philosophie eine Sparte der Ästhetik (mit der aus der Antike stammenden Grundfrage nach einer Theorie des Schönen), bei der auch die Texte des literarischen Kanons eine Rolle spielten. Diese Konstellation blieb bis in die erste Hälfte des 19. Jhd. bestimmend, bei der die Philologie durch ihren hochkulturellen Gegenstand definiert war – die Beschäftigung mit anderen Gegenständen hatte zwangsläufig keine akademischen Legitimität. Die fachliche Weiterentwicklung resultierte aus der Fokussierung von methodischen Fragen, mit der sich letztlich auch der Rang des Gegenstands relativierte (bzw. „gegenstandslos“ wurde). Dadurch wurde in die philologisch bestimmte Fachorganisation die Spannung zwischen Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft eingeschrieben: die Literaturwissenschaft ist auf die Deutung sprachlicher „Denkmäler“ (Texte) ausgerichtet; davon unterscheidet sich die Sprachwissenschaft durch die Feineinstellung der Untersuchung auf die sprachliche Form, wodurch die grammatische Kontrolle der Deutung der Texte in den Vordergrund rückt. Bei der Literaturwissenschaft dauerte die Blockierung durch die Wertung des Gegenstands noch bis zum Ende des Jahrhunderts, als zumindest von einigen auch die „Unterhaltungsliteratur“ als
�� 72 Insofern kann auch nicht die einschlägige Forschungsliteratur angeführt werden. Für einen zwar schon älteren, aber nach wie vor instruktiven Überblick über die germanistische Diskussion, die in diesem Zusammenhang im diskursiven Zentrum steht, s. etwa Weimar (1976).
306 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Gegenstand entdeckt wurde. Bei der sprachwissenschaftlichen Forschung (in der Klassischen Philologie als dem zunächst noch einzigen universitär etablierten Fach mit dieser Sparte) zeichnete sich diese Wende zu einem professionelleren Umgang mit sprachlichen Fragen schon zu Beginn des 19. Jhds. ab. Darauf reagierten prominente Fachvertreter wie Gottfried Hermann ausgesprochen heftig, die einen Verrat an der philologischen Prokura für die überlieferte Hochkultur sahen, wenn „kulturlose“ Inschriften oder Dialekte ohne „hohe“ Literatur zum Gegenstand der Forschung gemacht wurden. In der Mitte des Jahrhunderts war aber die Öffnung des Faches auf die Gesamtheit der (antiken) Kultur und damit auch die Integration sprachwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Herangehensweisen etabliert, wie es an der bis weit ins 20. Jhd. als grundlegend geltenden philologischen „Enzyklopädie“ von A. Boeckh (posthum 1877 veröffentlicht) abzulesen ist. Dabei ist die sprachwissenschaftliche Feineinstellung in den Philologien in der älteren Generation, die im Katalog repräsentiert ist, noch selbstverständlich gewesen, wie z.B. an ERMANN deutlich wird, der auf diese Weise (und entsprechend angefeindet) die vor-philologische Ägyptologie entzaubert hat. Eine gewisse Verschiebung brachte die Öffnung auf andere Überlieferungen mit sich: etwa die orientalistische Modewelle, mit der vor allem das Sanskrit auch in seiner literarischen Überlieferung zum Gegenstand wurde. Gleichzeitig aber übte die „gebildete Öffentlichkeit“, die sich in Zeitschriften ihre Organe geschaffen hatte, einen Druck auf die Universitäten aus, der ein einfaches Festhalten an der Tradition unmöglich machte. Den Durchbruch brachte die Politisierung der Universitäten im Kontext und vor allem dann im Kielwasser der „Befreiungskriege“ 1813: die damit verbundene Nationalisierung auch der Wissenschaft verschob das Koordinatensystem für die Wertung des Klassischen. Jetzt gab es eine „deutsche Klassik“ mit den Weimarer Größen Goethe und Schiller, die auch akademisch satisfaktionsfähig waren – und die sich auch theoretisch geäußert hatten, sodaß auch die Ästhetik bodennäher diskutiert wurde.73 Gekoppelt mit der romantischen Welle, die die öffentliche literarische Diskussion bestimmte, war eine Rückbindung an das Mittelalter als der spezifisch deutschen „Antike“ verbunden. Die Beschäftigung mit dem Nibelungenlied wurde zu einer nationalen Angelegenheit – wobei die sprachlichen Zugangshürden zu derartigen Texten die Beschäftigung mit ihnen akademisch
�� 73 Die Konsequenzen davon sind insbesondere bei Wilhelm von Humboldt nachzulesen.
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adelte. An den neuen Universitäten nach der Reform 1810 fand diese denn auch in (stark besuchten) öffentlichen universitären Veranstaltungen statt.74 Damit etablierte sich zwar eine Art Frühform von Literaturwissenschaft – aber in einem Übergangsfeld zur außerakademischen Öffentlichkeit, dessen universitärer Platz die Nische war, in der traditionell auch schon Fecht- und Tanzunterricht gegeben wurde. Die hier bestimmende Wertung der Texte implizierte gewissermaßen definitionsgemäß eine Abgrenzung von wissenschaftlicher Praxis.75 Allerdings erschienen in der Mitte des Jahrhunderts systematische Arbeiten zu diesem Feld, vor allem auch umfangreiche Überblicksdarstellungen – ohne damit aber einer akademisch anerkannten Disziplin zu korrespondieren.76 Das kam erst im letzten Jahrhundertdrittel zustande: einerseits in Verbindung mit dem Neuausbau der Universitäten, mit der Einrichtung der philologischen Seminare, die auf die Ausbildung von Lehrern ausgerichtet wurden, andererseits mit einer neuen Phase der Nationalisierung im Kielwasser der Neugründung des Deutschen Reiches 1871. Der kritische Punkt blieb die Abgrenzung von dem außerakademischen Literaturdiskurs, der im Feuilleton zuhause war (in der inzwischen an Bedeutung und vor allem auch an Umfang enorm gewachsenen Publizistik). Die neue akademische Literaturwissenschaft etablierte sich diesem gegenüber als materialorientiertes Fleißfach der Literaturgeschichte, mit der Akkumulation von historischen, vor allem auch biographischen Daten als Ausweis einer „positivistischen“ Forschungsbasis; in der Germanistik dabei ausgerichtet auf die Formierung der deutschen Nation. Die Verkörperung dieser Wende war Wilhelm Scherer, der auch nicht zufällig parallel zum Gründungsakt des neuen Deutschen Reiches 1872 eine Professur in Straßburg erhielt, bevor er später nach Berlin ging. Vorher hatte er ein durchaus traditionelles Profil im Fach: so mit seiner „Geschichte der deutschen Sprache“ (1868), die ganz im Sinne der damaligen sprachwissenschaftlichen Neuorientierung auch schon den Rückgang auf die gesprochene Sprache (auf der Grundlage phonetischer Analysen) forderte;
�� 74 Die damals zwangsläufig von Nicht-Germanisten gehalten wurden. An der neuen (damals preußischen) Universität Bonn wurden sie z.B. von dem Romanisten Diez veranstaltet. 75 So wie Darwin eine Klassifikation der Pflanzen nach ihrer Schönheit (Zierpflanzen …) oder Nützlichkeit (Unkraut …) als unverträglich mit einer wissenschaftlichen Analyse definierte. 76 Ein interessanter Punkt ist die gesellschaftliche Rolle der Protagonisten dieser neuen Forschung: nicht wenige von ihnen waren auch politisch „unorthodox“ wie z.B. Georg Gervinus (1805–1871), der eine mehrbändige „Geschichte der deutschen Nationalliteratur“ verfaßte; er wurde 1837 aus politischen Gründen im Königreich Hannover entlassen, 1853 dann ebenso wieder in Baden; zwischendurch war er Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung.
308 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung zum Haupt einer Neuausrichtung der Germanistik wurde Scherer aber mit seiner vielfach neu aufgelegten „Geschichte der deutschen Literatur“ (1883). Die akademische Etablierung der Literaturwissenschaft stand unter dem Zwang, sich von dem außerakademischen Literaturdiskurs abzugrenzen. Möglich wurde das im ausgehenden 19. Jhd. wie bei Scherer mit der Literaturgeschichte, also mit der Ausrichtung auf Autoren und der Akkumulation biographischer Rekonstruktionen, bis hin zu „Psychogrammen“. Dabei wurde die sprachliche Form ggf. noch als spezifische individuelle (idiosynkratische) Praxis eines Autor in den Blick genommen, abgelöst von „trivialen“ sprachlichen Formen, die als Sache der Sprachwissenschaftler angesehen wurden. Dagegen blieben Versuche, eine eigenständige, auch theoretisch begründete Literaturwissenschaft zu begründen, etwa im Anschluß an die philosophische Ästhetik, noch lange marginal. Mit der seitdem einsetzenden sozialen Öffnung der Universitäten (der schon damals von den Amtsinhabern beklagten „Massenuniversität“) verschob sich das diskursive Koordinatensystem: die Abgrenzung zum außerakademischen (Feuilleton-)Diskurs blieb zwar ein Problem – aber jetzt nur noch als eines der Gütekriterien, nicht mehr als ein grundsätzliches. Um die Jahrhundertwende wurden im Fach die Forderungen nach einer Emanzipation der Literaturwissenschaft von der Literaturgeschichte immer lauter – und allmählich verschob sich auch das Kräfteverhältnis in den sprachlichen universitären Fächern: mit dem zunehmenden (Über-) Gewicht einer Literaturwissenschaft, die sich schließlich in der Mitte des 20. Jhd. nicht mehr gegenüber der philologischen (und damit sprachanalytischen) Ausrichtung des Faches zu rechtfertigen hatte. Um die Jhd.wende war diese Verschiebung noch nicht abzusehen. Aber Hermann Paul warnte schon in seiner systematischen Fachbestimmung der Germanistik vor der Gefahr, daß die unvermeidlichen methodischen Schwerpunktsetzungen bei den Fachvertretern dazu führen können, daß das Fach in Sprach- und Literaturwissenschaft auseinanderfällt – dagegen stellte er noch die einheitliche Grundlage der Arbeit an den Texten (Paul 1901: 158); s.o. In den Fachverbänden wurden die entsprechenden Auseinandersetzungen oft sehr heftig ausgetragen: noch auf dem Neuphilogentag 1920 wetterte einer der romanistischen Platzhirsche, Oskar Schulz-Gora, generell gegen die Beschäftigung mit der „Gegenwartsliteratur“ als akademischem Gegenstand. 10 Jahre später war diese Schlacht geschlagen. Sinnfällig wurde das nicht zuletzt bei den großen Fchzeitschriften: auch da, wo diese ihren philologisch integrativen Zu-
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schnitt behielten, wurde bei der Herausgeberschaft in Sprach- und Literaturwissenschaft differenziert.77 Aufgrund der großen Durchlässigkeit zum außerakademischen Diskurs war die Frage einer methodischen Grundlegung der Disziplin in der Literaturwissenschaft problematischer als bei der Sprachwissenschaft. Dagegen waren die disziplinären Abgrenzungen relativ unproblematisch, soweit sie im Gegenstandsverständnis gesucht wurden, wie es um die Jhd.wende in den Handbüchern fest ist (s. oben zu H. Paul): ging es um das Werk einer bestimmten Person mit seinen idiosynkratischen Aspekten, handelte es sich um Literaturwissenschaft, ging es um die kulturell verallgemeinerbaren dabei genutzten sprachlichen Ressourcen, handelte es sich um Sprachwissenschaft.78 Insoweit war für beide aber das gleiche Ensemble von sprachlichen Analyseverfahren grundlegend. 5.5.2. Die Verselbständigung einer eigenen Literaturwissenschaft erfolgte in einem diskursiven Horizont, für den die Durchlässigkeit zum außerwissenschaftlichen Diskurs bestimmend blieb und der sich daher von den methodischen „Fesseln“ des Faches freizumachen suchte. Das zentrale Problem für die akademische Akzeptanz waren die dabei aus dem außerakademischen Diskurs mittransportierten an den Gegenstand herangetragenen Wertungen. Die so gestellte Grundfrage: „was ist (gilt als) Literatur?“ konnte zwar weitgehend abgelöst von formalen Fragen der Sprachforschung diskutiert werden, war aber nicht akademisch lizenziert. Dazu mußte sie als Sprachforschung aufgezogen werden, die literarische Werke als (künstlerisch) gestaltete Sprache bearbeitete, angefangen bei Formen gebundener Sprache (Metrik u. dgl.) bis zu Stilfiguren, die aus der rhetorischen Tradition der Antike stammten. In diesem Sinne war die Bearbeitung literarischer Quellen Bestandteil der philologischen Tradition: dort war sie als Stilanalyse auch kanonisiert, wie in der philologischen „Enzyklopädie“ von A. Boeckh (1877) festgeschrieben. Die Stilanalyse fungierte gewissermaßen als Scharnier zwischen den formal zu etablierenden grammatischen Strukturressourcen und der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem, was die untersuchten Texte transportieren bzw. zugänglich machen. Dabei konnte die Stilanalyse als analytische Umsetzung des �� 77 Ein Beispiel ist die Zeitschrift für französische Sprache und Literatur: als 1929 der vor allem sprachwissenschaftlich ausgewiesene Herausgeber Behrens gestorben war, der die Zeitschrift seit 1885 hg. hatte (seit 1891 als alleiniger Hg.), wurde die Herausgabe unter dem Sprachwissenschaftler Gamillscheg und dem Literaturwissenschaftler Winkler aufgeteilt. 78 Diese Argumentation findet sich gerade auch bei „harten“ Sprachwissenschaftlern wie z.B. W.Schulze, dem Herausgeber der Zeitschrift für vergleichende Sprachwissenschaft (KZ – seit 1902); so z.B. in seiner Antrittsrede 1904 bei der Berliner Akademie (in seinen „Kleinen Schriften“ 1933: 45–48).
310 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung „morphologischen“ Forschungsprogramms i.S. von Goethe verstanden werden (s. 5.2.2.): die Gestalt eines Textes nicht über der Sammlung von sprachlichen Einzelbeobachtungen aus dem Blick zu verlieren. So firmierte sie nicht zuletzt in der Aufgabenstellung für zahlreiche Dissertationen, die sich mit individualisierten Quellen (Handschriften oder auch dem Werk eines Autors) befaßten. 79 Insofern bildete die Stilkategorie auch eine selbstverständliche Basis, als im letzten Drittel des 19. Jhd. nach systematischen Konzepten für die Sprachreflexion gesucht wurde – ohne allerdings der Literatur einen eigenen Status zuzuschreiben. So figuriert sie auch in der jungen empirischen psychologischen Forschung: in Wundts großem Kompendium (Wundt 1900–1902) figuriert der Stil als zentrale Kategorie, auch mit Verweisen auf „exotischere“ Erscheinungsformen: mit Stilformen wie Parallelismen u.dgl. Das damals in der theorieambitionierten Diskussion dominierende positivistische Bemühen um die Vermeidung von „realistisch“ verstandenen Abstraktionen schob die beobachtbare (mündliche) Sprachpraxis in den Vordergrund – und damit gerade nicht die Auseinandersetzung mit (schriftlichen) literarischen Werken. In diesem Horizont ist auch die junggrammatische Leitfrage nach dem Sprachwandel definiert: Pauls Systematisierung (Paul 1880) stellte heraus, daß aller Wandel seinen Ort in individuellen und situierten Sprachhandlungen hat, bevor die dabei etablierten Muster habitualisiert und in einer Gemeinschaft fest werden können. Die Formgebung sprachlicher Handlungen reduziert sich nicht auf die Reproduktion der Ressourcen der tradierten Grammatik. Insofern finden sich selbstverständlich auch im Werk der einzelnen Junggrammatiker Stilanalysen zu den untersuchten (und ggf. auch edierten) Werken. Bei ihnen zeigte sich hier ein Widerspruch zu der programmatisch herausgestellten Mündlichkeit (s. 5.4.): faktisch waren auch bei ihnen die festgewordenen Strukturen im Fokus. Damit war das Spannungsfeld vorgezeichnet, in dem sich die Sprachforschung seit dem ausgehenden 19. Jhd. formierte: Stilanalysen nahmen einen prominenten Raum ein. Der Katalog zeigt recht deutlich die Bandbreite, in der solche Analysen unternommen wurden, s. die Liste in 7.6. Die Stilanalyse wurde bei den hier „Neuerer“ Genannten zu einem zentralen Programmpunkt (s. 5.9. und 7.6.), die sich damit von den Junggrammatikern absetzten: bei VOßLER und systematischer noch bei SPITZER firmiert die Stilanalyse als Kern der Sprachforschung. Beide haben mit ihren Arbeiten den später festen Topos etabliert, daß sprachliche Strukturen sich zuerst als Stilformen etablieren, bevor sie eine
�� 79 An der Stilanalyse orientierten sich nicht zuletzt auch diejenigen, die zu Beginn des 20. Jhds. neu in die Universitäten kamen, wie meine Auswertung der Dissertationen der ersten Sprachforscherinnen (Maas 1991) zeigt.
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grammatische Festigkeit erhalten. Insofern hatte die Frage nach dem Stil eine Schlüsselfunktion in der damaligen systematisch ausgerichteten Spracheflexion. Die Art, wie diese Frage im Fach in den Hintergrund gerückt ist, charakterisiert den Bruch mit der kulturanalytischen Ausrichtung der Sprachforschung. Dabei hat die (gelinde gesagt) ambivalente Rolle, die der Verweis auf die „idealistische Neuphilologie“ in den fachgeschichtlichen Darstellungen spielt, dazu beigetragen, diese Dimension in der Sprachforschung inzwischen weitgehend auszublenden. 5.5.3. Bei der entsprechenden Neuinszenierung des Faches spielt die Saussure-Vulgata eine Schlüsselrolle, die sich auf dessen vervielfältigte Vorlesungsnachschrift (Saussure 1916) stützt. Dabei hatten (haben) begriffliche Unklarheiten eine zentrale Rolle, die diesen Text prägen (s. 5.4.5.), in diesem Kontext insbesondere die alles andere als unmißverständliche Gegenüberstellung von langue und parole. Diese ist gegen die positivistische Reduktion auf materiale Aspekte der beobachtbaren Äußerungen gerichtet, wie sie mit der „junggrammatischen“ Abgrenzung gegen Abstraktionen verbunden sein konnte. Grundlegend für die Saussuresche Argumentation ist der damals auch in der Schule (der Schulphilosophie) fest etablierte Unterschied von Form und Materie. Langue ist Form im Gegensatz zu dem in dieser Form Geäußerten: den mit ihr beim Sprecher verbundenen Vorstellungen nicht anders als ihrem physikalischen Substrat; diese machen die parole aus. Insofern ist die langue jeder Äußerung vorgängig: ihr Ort ist der soziale Raum der Sprachgemeinschaft, nicht das Individuum, das sie sich aneignet und zur Artikulation seiner Äußerungen (der parole) nutzt. Der „Cours“ entwickelt diese Konzepte auf einem elementaren und zugleich recht abstrakten Niveau, auf dem für weitere Differenzierungen kein Platz war. Das gilt insbesondere für die Stilproblematik. Interpretiert man langue (wie es in der Saussure-Vulgata üblich war und ist) im Sinne der Schulsprachen, liegt es nahe, Stil als Frage der individuellen Praxis und damit der parole zu sehen – und damit nicht als Gegenstand der zünftigen Sprachwissenschaft. Vom Aufbau der Saussureschen Argumentation her ist das nicht zulässig, da Stil nicht anders als die Grammatik zur Form gehört – nur mit einer anderen Reichweite der stilistisch identifizierbaren Muster. Das ist ein Grundproblem der strukturalistischen Modellierung, das in 5.7. weiter verfolgt wird. Daß Saussure selbst die Grenzen der sprachwissenschaftlichen Analyse auch anders zog, wird schon aus dem ersichtlich, was ihn in den letzten Jahren geradezu monoman umtrieb: die Analyse von „Anagrammen“ als festen formalen Schemata, die in der Dichtung nur variiert werden (s. Starobinski 1971). Noch deutlich wird das aber bei seinen Schülern und Mitarbeitern in Genf, die auch den „Cours“ redigiert haben. Sein späterer Nachfolger dort, Charles Bally, hatte in der Stilanaly-
312 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung se sein Hauptarbeitsfeld, zu dem er seit 1904 Lehrbücher verfaßte. Sein theoretisch ambitioniertes Hauptwerk (Bally 1932) nutzt denn auch systematisch Stilkategorien für seinen dort entwickelten typologischen Vergleich Deutsch/ Französisch. Gleichzeitig etablierte sich Stil als Grundkategorie der zeitgenössischen kulturtheoretischen Diskussion. Ein Beispiel dafür ist Utitz (1911), der dort die Frage nach dem Stil als eine der Harmonisierung der unterschiedlichen Vorgaben und Anforderungen an ein kulturelles Produkt rekonstruiert: vom bearbeiteten Material bis zu den gattungsspezifischen Vorgaben, die durch die Tradition definiert sind. Das zieht er gewissermaßen transdisziplinär auf: mit Beispielen aus dem Mobiliar, der Architektur, der Bildhauerei und der Malerei. Die soziale Bindung dieser Kategorie erweist sich für ihn vor allem in der Wahrnehmung von Stilverletzungen.80 Diese übergreifende Kulturdiskussion machte Fragen nach dem Status von Stil auch in den sprachtheoretisch intendierten Arbeiten selbstverständlich: BÜHLER (1934) setzte sie als grundlegend für eine Modellierung des „Sprachwerks“ an (er sprach sie dabei allerdings nur marginal an). Dagegen fungierte die Stilanalyse immer zentral, wo ambitionierte Aufrisse der Forschungsfragen unternommen wurden wie z.B. von Ipsen (1930b). Einen explizit sprachtheoretischen Ansatz dazu hatte schon Pos (1923) vorgelegt, gewissermaßen komplementär zu seinem Versuch einer phänomenologischen Reduktion der grammatischen Analyse (s. 5.7.): Stil als Formkategorie jenseits der idiosynkratisch damit gefaßten Befindlichkeiten des Autors eines so artikulierten Sprachwerks (um BÜHLERs Terminus zu benutzen), und damit explizit auf die Beschäftigung mit literarischen Texten bezogen. Außerhalb der theoretisch ausgerichteten Diskussionen behielten Stilanalysen ohnehin ihren Status in der akademischen sprachlichen Ausbildung, wie sich in den großen fachlichen Handbüchern von damals bis heute zeigt, so in den maßgeblichen Grammatiken des (Alt-) Griechischen und Lateinischen (Hofmann/Szantyr 1965; Schwyzer/Debrunner 1966), deren zweiter Band jeweils schon im Titel Syntax und Stilistik ausweist. 5.5.4. Eine theoretisch fundierte Neubegründung der Literaturwissenschaft mußte sich einerseits von der Fortschreibung der philologisch-handwerklichen Arbeit am Text absetzen, andererseits aber von der Beschränkung auf eine posi�� 80 In späteren Arbeiten hat Utitz diese Argumentation auch für literarische Werke durchgezogen, so im Rahmen des Prager Linguistenkreises, an dem er im Exil beteiligt war (Utitz 1936): dort nimmt er die BÜHLERsche Modellierung auf und versucht, die Nicht-Reduzierbarkeit von genuin Sprachlichem auf die reine Symbolisierung von Darstellungsaspekten aufzuzeigen (gegen Unternehmungen wie die des in Prag ja präsenten CARNAP), und auch in der (kritischen) Aufnahme von Ansätzen bei WERNER und GOLDSTEIN.
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tivistische Literaturgeschichte. Ein entsprechender Neuansatz konnte damals die Ansätze zu einer operational gefaßten Ästhetik seit der Mitte des 19. Jhd. zugrundelegen, die der Wirkung eines (Kunst-) Werks nachgingen. Entsprechende Versuche entstanden am Ende des Jahrhunderts, bei denen der Ansatzpunkt in einer ästhetischen Metatheorie gesucht wurde, die der Wahrnehmung als Kunstwerk in verschiedenen künstlerischen Formen nachging, wie es z.B. Oskar Walzel unternahm, der seine Kategorien aus homologen Formen des Umgangs mit Dichtung, Musik, Malerei, Architektur u.a. entwickelte (s. z.B. Walzel 1917 und oben zu Utitz). Eine Fortführung zu einer systematisch ausgearbeiteten Literaturwissenschaft, parallel zur Ausbildung einer strukturalen Sprachwissenschaft seit der Jahrhundertwende, kam in Deutschland aber nicht zustande – es sei denn, man rechnet die 1938 besetzte Tschechoslowakei dazu. Denn dort war im Prager Linguistenkreis die Theorie literarischer Formen (in Verallgemeinerung der Stilanalyse) explizit die spiegelverkehrte Seite der unternommenen sprachtheoretischen Systematisierung: so z.B. in dem systematisch intendierten Aufriß der methodisch kontrollierten Sprachforschung von 1929, in dem Literatur über den dafür grundlegenden poetischen Umgang mit Sprache definiert wird, durch den die Form ein Eigengewicht erhält und nicht mehr wie in der Alltagssprache kommunikativen Zielen der „Mitteilung“ bzw. der Interaktion untergeordnet ist.81 Allerdings gab es schon in den 1880er Jahren programmatische Forderungen, neben die literaturhistorische Forschung eine „statische“ zu stellen, die die Strukturen literarischer Werke in ihren „Gesetzen“ explizieren sollte (s. Weimar in Schönert 2000 für solche Programmschriften – und ihren begrifflichen Leerlauf). Aber eine konsequente Weiterentwicklung wurde durch die „geisteswissenschaftliche“ Neuorientierung blockiert, die in einem anderen („inhaltsbezogenen“) Horizont „Wesentliches“ in den Werken aufsuchte – parallel zu �� 81 Explizit so in den „Thesen des Prager Linguistenkreises zum I. Internationalen Slawistenkongreß“ in Prag 1929, die zuerst gekürzt in französischer Übersetzung in den Travaux 1/ 1929 veröffentlicht wurden, jetzt in rekonstruierter vollständiger Form in deutscher Übersetzung in Scharnhorst / Ising (1976: 43–73) zugänglich sind. Bis in die Formulierungen ist dabei die Handschrift von Roman Jakobson deutlich, dessen Dissertation an der Deutschen Universität Prag "Über den Versbau der serbokroatischen Volksepen" wohl auch theoretisch grundlegend war (Jakobson (1930/1933). Er hatte sie dort auf deutsch vorgelegt; erschienen und zugänglich ist anscheinend aber nur eine 1933 in den Niederlanden erschienene Kurzfassung (als Vortragstext); deren Nachdruck 1966 in der Werkausgabe gibt keine Aufschlüsse dazu. Der Grund für diese institutionelle Anbindung war wohl, daß Jakobson dafür mit einer Tonaufnahme seines „Doktorvaters“ G.Gesemann (1888–1948) gearbeitet hat, der von 1922 bis 1944 die slawistische Professur an der Deutschen Universität Prag innehatte.
314 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung entsprechenden „wesentlichen“ Ansätzen in der Sprachwissenschaft, s. 5.8. Eine Schlüsselrolle dabei hatte Dilthey, der programmatisch die Geisteswissenschaften durch das „Verstehen“ ihres historisch spezifischen Gegenstand definierte – im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, deren objektiver Gegenstand eine unpersönliche (und formal regelhafte) Modellierung erlaubt. Insoweit der spezifische Gegenstand in (sprachlich geformten) Texten vorgegeben ist, wie es eben die Literaturwissenschaft definiert, verlangt das als Zugang zwar die Beherrschung philologischer (sprachwissenschaftlicher) Techniken, diese definieren aber nicht die hermeneutische Grundstruktur, die auf ein „Innewerden“ der zum Gegenstand gemachten Wirklichkeit zielt, fundiert im Erleben des Analysierenden.82 Damit war eine Rangfolge in den methodischen Zugängen definiert – die literaturwissenschaftlich zunehmend als Freibrief zur Lösung von formaler methodischer Kontrolle der Analysen verstanden wurde. Die entsprechende theoretische Diskussion fand vor allem außerhalb von Deutschland statt – Arbeiten, wie sie vor dem Krieg schon in Prag unternommenen worden waren, wurden erst in den 1970er Jahren importiert (vor allem mit Bezug auf den russischen „Formalismus“, der in enger Bindung an und oft auch in Personalunion mit den gleichzeitigen strukturalen Neuansätzen in der Sprachwissenschaft entstanden war). Deutliches Indiz dafür, daß der wohl theoretisch konsequenteste Ansatz, mit dem HAMBURGER unter den Prämissen HUSSERLs Literatur als eine besondere Form des Sprachausbaus modellierte, auch ein Produkt ihres Lebens im Exil war – auch wenn sie damit zeitversetzt nach ihrer Rückkehr in Deutschland habilitierte. Die Konsequenz dieser Konstellation ist, daß diejenigen, die sich in der ersten Jahrhunderthälfte um eine Analyse der sprachlichen Form der Literatur bemühten ggf. im Katalog auch als SprachforscherInnen dokumentiert sind – in einem breiten Spektrum, das von HAMBURGER über AUERBACH und PERLOFF bis zu SPITZER reicht (der im übrigen in seiner Bonner Zeit auch eng mit Walzel zusammengearbeitet hatte). 5.5.4. Heute trauern nur noch einzelne Nachzügler der alten Einheit nach, indem sie sich um die erneute Integration von Sprach- und Literaturwissenschaft bemühen, wie sie allerdings in den lehrerausbildenden sprachlichen Fächern nach wie vor institutionell vorgegeben ist. Heute könnte in Hinblick auf die derzeitige Verfaßtheit der beiden Disziplinen bei einer solchen „Wiederver�� 82 S. so Dilthey (1910), der sich im übrigen anders als seine spätere Rezeption sehr systematisch mit den methodischen Fragen der verschiedenen Disziplinen der „Geisteswissenschaften“ auseinandergesetzt hat (auch der der „Linguist(en)“, ebd. S. 157). Dieser wissenschaftssystematische Aspekt seiner Arbeiten ist durch die spätere dominant literaturwissenschaftliche Rezeption weitgehend unter den Tisch gefallen; sie lohnte nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Korrespondenzen zu dem historischen Ansatzpunkt bei H. Paul eine eingehende Analyse.
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einigung“ nur etwas herauskommen, das sich nicht sonderlich von dem unterschiede, was herauskäme, wenn man in ähnlicher Weise Literaturwissenschaft und Zoologie oder Astrophysik zu koppeln versuchte. Das Koordinatensystem der Fachentwicklung hat sich seit der Zeit der alten philologischen Einheit gründlich verschoben. Es fehlt ein gemeinsamer Fluchtpunkt für eine theoretisch intendierte Arbeit, wie es der Sprachausbau in der älteren kulturanalytisch ausgerichteten Sprachforschung war.
5.6 Der Sprachausbau als Fluchtlinie der Sprachforschung 5.6.1. „Ideengeschichtlich“ ausgerichtete Fachgeschichten tendieren dazu, ein lineares Bild der Fachentwicklung zu produzieren, das im einzelnen meist nicht falsch ist, aber den Blick auf die wissenschaftliche Entwicklung versperrt. Es ist durchaus möglich, eine durchgehende Linie von Schleicher bis zu den strukturalistischen Ansätzen des 20. Jhd. zu ziehen: schon Schleicher filterte aus dem umfassenden Feld der Sprachforschung als spezifischen sprachwissenschaftlichen Gegenstand das heraus, was mit einer Vorgehensweise kompatibel war, die er mustergültig in den Naturwissenschaften am Werk sah.83 Die Junggrammatiker führten Schleichers Bemühungen um eine „Gesetzeswissenschaft“ von der Sprache radikal weiter, indem sie in ihrem Forschungsprogramm blinde Flecken (den Rückgriff auf „Ausnahmen“) eliminierten. Und die Strukturalisten bemühten sich mit der Modellierung eines Sprachsystems um eine weitere theoretische Flurbereinigung, die keinen Raum für rein assoziative Verknüpfungen mehr lassen sollte (die im jungrammatischen „Analogie“-Moment angelegt waren). In diesem Sinne wurde es später mit der Konsolidierung des generativistischen Forschungsprogramms in den 1960er und 1970er Jahren üblich, auf die Junggrammatiker als Vorläufer zu rekurrieren, die eben auch schon mit „Regelsystemen“ operiert hätten – in einer Variante dessen, was in der Geschichtswissenschaft als Whig history bezeichnet wird: ein Umschreiben der Geschichte durch die Sieger, das nur noch deren Vorläufer kennt. Eine solche „ideengeschichtliche“ Sichtweise verdeckt die tatsächlich betriebene Forschungspraxis, die sich u.U. in den Programmschriften nicht spiegelt. Die Institutionalisierung des junggrammatischen Forschungsprogramms hatte methodische Implikationen, die sich in den konzeptuellen Entwürfen
�� 83 Im übrigen ist das eine Argumentationsform, die auch Chomsky in seinen jüngsten, systematisch intendierten Beiträgen emphatisch benutzt, s. dazu Kap. 8.
316 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung spiegelten. Diese stehen in der fachgeschichtlichen Diskussion meist auch im Vordergrund. Dabei sind zwei Momente zu isolieren: – die psychologisierende Konzeptualisierung der methodischen Schritte, – die Ausrichtung auf einen ausdrücklich als historisch verstandenen Gegenstand, der systematisch als kulturell expliziert wurde. Die psychologisierende Argumentation ist ein zentrales Moment bei der gesuchten Emanzipation der neuen Sprachwissenschaft aus dem Dienstbotentrakt der Philologie: sie gab der Orientierung auf die gesprochene Sprache als dem einzigen „natürlichen Gegenstand“ der sprachwissenschaftlichen Explikation (gegen die auf schriftlich tradierte Texte ausgerichtete Philologie) einen systematischen Überbau – unbeschadet der Tatsache, daß gerade die junggrammatischen Arbeiten in der Regel mit schriftlichen Quellen arbeiteten. Die explizierenden Grundfiguren waren die physiologisch zu fassenden Bedingungen beim Sprecher auf der einen Seite, die insbesondere die Lautgesetze fundieren sollten, auf der anderen Seite die kognitive Bearbeitung solcher Strukturen, aus der ggf. analogische Strukturen resultieren, durch die strikt lautgesetzlichen Verbindungen überschrieben werden können. Die emphatisch reklamierte „Gesetzeswissenschaft“ gründete sich vor allem auf die beanspruchte biologische Fundierbarkeit sprachlicher Regularitäten. Da diese auch auf die Sprachverschiedenheit abstellen mußte, stellten sich hier die Fragen, die zeitgenössisch „rassenkundlich“ reformuliert wurden; weiter dazu in 5.8. Dabei wurde die psychologische Fundierung der Forschung nur postuliert – es gab zunächst nur marginal Verbindungen zu der in dieser Zeit aufkommenden empirischen psychologischen Forschung.84 Das ist umso auffälliger, als gerade deren experimentelle Untersuchungen sich auf sprachliche Befunde stützten, indem sie z.B. die Reaktionszeiten auf bestimmte sprachliche Vorgaben („Reize“) maßen und aus relativ kürzeren Zeiten auf die „psychische Festigkeit“ der untersuchten Muster schlossen, ohne aber diese systematisch zu kontrollieren.85 Umgekehrt diente die angenommene „psychische Festigkeit“ auch bei den Junggrammatikern als Argument für die Erklärung von sprachlichem Wandel, aber der Rekurs auf die Psychologie hatte vor allem eine rhetorische Funktion. Das wird gerade bei den (wenigen) empirisch arbeitenden �� 84 S. Esper (1968) für diese Zusammenhänge. Detailliert sind sie auch bei Knobloch (1988) aufgearbeitet, der dort auch die Unterscheidung von psychologischer Forschung gegenüber psychologisierenden Diskursen entwickelt. Zu einer direkten Kooperation mit Psychologen und damit zu Anfängen einer psycholinguistischen Forschung kommt es erst am Anfang des 20. Jhd., wo z.B. Thumb Pionierarbeit leistete. 85 Das wird erst später angegangen, vor allem von SELZ.
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Sprachwissenschaftlern deutlich, die sich explizit mit der psychologischen Grundlagendiskussion auseinandersetzten wie z.B. Delbrück (1901), der strikt zwischen einer psychologisierenden Argumentation als Reflexion auf sprachwissenschaftliche Analysen und den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen in der damaligen Psychologie trennte – deren spezifische Ausprägungen, also das, was die Psychologie als eigene Disziplin definiert, waren „für den (sprachwissenschaftlichen) Praktiker“ irrelevant, wie er explizit feststellt (Delbrück 1901: 44).86 Für den prominenten Junggrammatiker Delbrück, dessen materialgesättigte syntaktische Arbeiten bis heute ihre Bedeutung behalten haben, waren Sprachwissenschaft und Psychologie verschiedene Disziplinen. Anders war es bei dem zweiten Moment, das die faktische institutionelle Einbindung der Forschung aufnimmt und damit das methodische Autonomiepostulat des junggrammatischen Ansatzes konterkariert. Programmatisch auf den Punkt gebracht hat es Hermann Paul in seinem „Prinzipien“-Buch (Paul 1880), das auch gerne als „Katechismus“ der Junggrammatik angesprochen wird, in dem er aber explizit gegen deren dogmatisches Verständnis argumentiert. Für ihn sind die oben herausgestellten Aspekte ein entscheidender „methodologischer Gewinn“ (Paul 1880: 5), aber sie definieren nicht das Fach Sprachwissenschaft, das er dort explizit als Kulturwissenschaft ansprach und damit nicht auf das im Gegenstandsbereich methodisch Kontrollierbare reduzierte. Dieses nimmt im „Prinzipien“-Buch zwar den größten Raum ein (und Pauls herausragende Position im damaligen Fach war auch in seinen entsprechenden Detailanalysen gegründet), bestimmt aber nicht sein Fachverständnis. Für dieses stehen vielmehr seine anderen großen Werke, vor allem sein „Deutsches Wörterbuch“ (1897) und nicht zuletzt seine Herausgabe mittelalterlicher (vor allem auch literarisch zentraler) Texte. Das „Deutsches Wörterbuch“ läßt sich geradezu als Gegenentwurf zu dem strikt junggrammatischen „Etymologischen Wörterbuch“ von Kluge (in Lieferungen seit 1882 erschienen) lesen, das den deutschen Wortschatz (in den frühen, von Kluge selbst bearbeiteten Auflagen) auch weitgehend auf den „Erbwortschatz“ beschränkt, einerseits für das historisch Belegbare zurückverfolgt, dieses dann im sprachvergleichenden Horizont (Germanisch, Indoeuropäisch) rekonstruiert; dabei steht die sprachliche Form im Vordergrund: wo diese sich nicht „lautgesetzlich“ rekonstruieren läßt, werden sekundäre Erklärungen ins Spiel gebracht: sprachintern analogische Umbildungen, ggf. auch sprachexterne Entlehnungen. Paul bietet dagegen
�� 86 Er exerziert das in diesem Buch detailliert für den seinerzeit weitgehend als maßgeblich angesehenen Wundt im Vergleich mit der modisch als überholt angesehenen älteren Psychologie eines Herbart durch; zum Hintergrund s. Knobloch (1988).
318 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung in z.T. sehr umfangreichen Artikeln eine Wortgeschichte: er rekonstruiert die Bedeutungen im Sprachgebrauch (in Feldern mit Antonymen, Umbildungen u.dgl.). Dabei zeigt er die Inhomogenität der Sprache: nicht nur mit der Berücksichtigung peripherer Schichten gegenüber der Schriftsprache (regionaldialektale und fachsprachliche Formen), sondern vor allem Stilschichten, wobei der literatursprachliche Ausbau den Horizont bildet: die Belege sind in einem kulturellen Raum angesiedelt, der für ihn den Ausbau des Deutschen zur Schriftsprache umschreibt; dabei bilden Luther und Goethe Fixpunkte, bei denen er ggf. die Formen sorgfältig ggf. auch als „veraltet“ markiert. Historische Sprachwissenschaft ist eben nicht auf die diachrone Rekonstruktion beschränkt, sondern setzt bei der sprachlichen Inhomogenität in den Daten an, die sie als Sedimentierungen der historisch sich wandelnden gesellschaftlichen Praxis zu erklären sucht. Auf diese Weise praktizierte Paul eine kulturanalytische Sprachforschung, die methodisch an der (jungrammatischen) Sprachwissenschaft kontrolliert wird, aber sich eben nicht durch diese definiert. Die methodische Kontrolle war für Paul selbstverständlich, wie sie es im zünftigen Fach auch schon vor den Junggrammatikern war: auch damals stellten die etablierten Handbücher zumeist eine bemerkenswert klare deskriptive Orientierung unter Beweis, meist auch im Verbund mit einer (selbstverständlich fachüberschreitenden) typologischen Ausrichtung wie z.B. bei Körting in seinem „Enzyklopädie“ genannten Grundriß des Fachs Romanistik (Körting 1884), der, wie schon die Bezeichnung deutlich macht, den kanonischen Vorgaben von Boeckh folgt. In diesem Feld gab es auch eine bemerkenswerte Durchlässigkeit zur strikt deskriptiv ausgerichteten Praxis bei „exotischen“ Sprachen. H.C.v.d.Gabelentz ging so z.B. in der grammatischen Aufbereitung der von ihm mit J.Löbe hg. gotischen Schriften (Gabelentz/Löbe 1846) strikt von der Analyse der „uns überkommenen Denkmäler der Sprache“ aus und analysierte die Graphien entsprechend „synchron“ (z.B. die Digraphien und in den aus Italien stammenden Handschiften als Monophthonge [ɛ] und [ɔ], s. dort S. 31– 33), gegen die etymologisierende Praxis der Grimm-Schule, die darauf eine Differenzierung von Diphthongen vs. Monophthongen projizierte (im Fach hat es allerdings einige Zeit gedauert, bis die Gabelentzsche Analyse in die Handbücher einzog). Für Paul gehörte zum sprachwissenschaftlichen Geschäft die Analyse der Faktoren, die zur Stabilisierung (oder auch Destabilisierung) der Regularitäten führen, die im methodisch strikten Sinne aus den Beobachtungen zu extrapolieren sind, also die Analyse des Usus, wie Paul in der Tradition der Anfänge einer systematischen Sprachbetrachtung im 18. Jhd. den Gegenstand beschreibt: die Analyse der Akzeptanz von sprachlichen Erscheinungen, die gesellschaftliche Verhältnisse (und ihren Wandel) charakterisiert.
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Dieses im Sinne von Paul historische Fachverständnis markierte vor allem einen Bruch mit der naturwissenschaftlichen Ausrichtung, die bei Vorgängern wie Schleicher zu einer bemerkenswerten Blindheit gegenüber gesellschaftlichen (bzw. kulturellen) Prozessen geführt hatte. Da diese nicht auf den Nenner der strikten Modellierung einer „Gesetzeswissenschaft“ gebracht werden können, waren sie für Schleicher „Verfallserscheinungen“, die nicht zum eigentlichen Gegenstand der Sprachforschung gehören: diese ist auf die Untersuchung der Prozesse geeicht, in denen sich Sprachen gewissermaßen naturwüchsig formieren – was faktisch das Programm der vergleichenden Sprachforschung auf die Rekonstruktion von entsprechend „organisch“ verstandenen Ursprachen festlegte (wie Schleicher es auch für das „Urindogermanische“ vorexerzierte). Dagegen richtete sich Pauls Fachverständnis, das im Gegensatz zur traditionellen Philologie auch nicht auf die „hohe“ Kultur kalibriert war, also ausschließlich auf die Literatur als „gestaltete Sprache“ (wie es zeitgenössisch oft heißt): für ihn ging es darum, auch die kulturelle Infrastruktur zum Gegenstand zu machen, deren Strukturzwänge hinter dem Rücken der Subjekte greifen; mit dieser Lieblingsformulierung von Marx läßt sich Pauls Neuausrichtung der philologischen Forschung als Gesellschaftswissenschaft gut auf den Punkt bringen (s.o.). Mit der methodisch begründeten professionellen Ausdifferenzierung der neuen Sprachwissenschaft war programmatisch die Orientierung an der gesprochenen Sprache verbunden, oft emphatisch artikuliert als Ausrichtung auf Sprache als „natürlichem“ Gegenstand im Gegensatz zur Philologie mit ihrer Orientierung an der schriftlichen Überlieferung, die damit als sprachlich sekundär angesprochen wurde. Wo daraus auch das tatsächliche Forschungsprogramm gestrickt wurde (also nicht bei Fachvertretern wie H. Paul) war die Naturalisierung der Sprache die Folge, die mit dem von den Naturwissenschaften abgekupferten Gesetzesbegriff die Entwicklung der Sprache fokussiert und die Spracharbeit ausblendet – also ein Bruch mit der Tradition der Aufklärung (s. 5.2.4. zu Herder), die Sprache als Ressource von ihrem Ausbau in der gesellschaftlichen Praxis unterschied. Auf diese Weise geriet die ausgebaute Sprachpraxis aus dem Blick, was sich schon in Handbuchdarstellungen in der Mitte des 19. Jhds. spiegelt, vor allem so in Schleichers „Compendium „ (1861/62), in dem er seinen Gegenstand synoptisch in einem Stammbaum darstellte (S. 13ff.), dessen Blätter (also die beobachtbaren Gegenstände) mit „Mundarten“ etikettiert sind, während er den Terminus „Sprachen“ vor allem für die konstruierten Gegenstände „Ursprache“ und „Grundsprachen“ verwendet: der Gegenstand ist das sich vorgeblich naturhaft-organisch entwickelnde Feld der mundartlichen Besonderungen, nicht
320 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung das Feld des kulturellen Ausbaus zu Verkehrs- und damit vor allem auch: Schriftsprachen.87 Mit der auch von den Junggrammatikern programmatisch reklamierten Ausrichtung an der gesprochenen Sprache drohte sich bei den theoretisch ambitionierten Arbeiten ein Schatten über das neue, zunächst ja nur methodisch definierte Forschungsprogramms zu legen. Indem Sprache als Hypostasierung der so rekonstruierten Gesetzmäßigkeiten gefaßt wurde, wurden die Zusammenhänge ausgeblendet, in denen sich Sprachpraxis konstituiert, dazu insbesondere der Umgang mit sprachlicher Variation: von dialektal zu fassender bis zu stilistischen Optionen und ggf. ihrer sozialen (oder auch normativen) Wertung und schließlich den Umgang mit Mehrsprachigkeit. Vor allem Schuchardt brachte diesen Einwand auf den systematischen Nenner, daß biologische Modellierungen (wie das aus der Antike überlieferte Organismusmodell zeitgenössisch in diesem Kontext meist [miß-] verstanden wurde) zur Explikation der sprachlichen Verhältnisse unbrauchbar sind. Gerade auch von Vertretern der vergleichenden (junggrammatischen) Sprachwissenschaft wurde am Ende des 19. Jhd. immer wieder herausgestellt, daß für eine sprachgeschichtliche Rekonstruktion gelten muß, daß grundsätzlich auch die älteren Verhältnisse genauso (und d.h. inhomogen) strukturiert sind wie die gegenwärtig beobachtbaren.88 Versuche, aus dem dürren Gerüst der in der vergleichenden Rekonstruktion isolierten Faktoren eine „Ursprache“ zu basteln (wie es Schleicher z.B. mit einer „urindogermanischen Fabel“ fabriziert hatte), konnten daher nur noch lächerlich erscheinen (s.o.). In diesem Sinne waren auch die neuen einführenden Lehrbücher gebaut, die diesen Aspekt denn auch durchweg ausführlich herausstellten (z.B. Schrijnen 1917/1921). In der Konsequenz dieser Kritik stieß Schuchardt mit seinen eigenen Arbeiten (vor allem denen zu den Kreolsprachen) die Sprachkontaktforschung an. Damit war eine bis heute fortdauerende Spannung in die fachliche Diskussion eingezogen; zeitgenössisch machte sich die biologische Argumentation rein formal vor allem in den Substratfragen der Ausgliederungsdiskussionen geltend, die mit den Prämissen vererbter Sprachstrukturen operierte und damit nicht zuletzt ein Einfallstor für den rassistischen Diskurs bot (s. 5.8. und Kap. �� 87 Nur in einigen Fällen verwendet er auch auf Seiten der Blätter noch den Terminus Sprachen, z.B. „neunordische Sprachen [...] und Mundarten“, „iranische Sprachen und Mundarten“, ohne das Verhältnis zwischen beiden Konzepten zu klären. 88 Dieser Aspekt dominiert geradezu in den jüngeren theoretisch anspruchsvollen Arbeiten, z.B. bei Eduard Hermann, der nach Litauen fuhr, um sich dort an einem archaischen Beispiel entsprechendes Anschauungsmaterial zu verschaffen (vor ihm hatte im übrigen schon de Saussure den gleichen Weg genommen …).
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6.7.3. für die spätere Formierung). Gegen eine solche Reduktion auf den Umgang mit hypostasierten Sprachstrukturen stand das, was die Junggrammatiker und ihre Nachfolger in ihrem tatsächlichen Forschungsprogramm praktizierten: dieses wurde nicht nur in der gegenwärtigen Beobachtung (zu den allerdings nicht weniger romantisierend als naturwüchsig verstandenen Mundarten) umgesetzt, sondern auch in der historischen Rekonstruktion über die Analyse der Quellen, die eben auch mehr sein mußte als das diachrone Aufdröseln von Entwicklungsschritten: Gegenstand war deren Inhomogenität, die durch die Analyse kulturell lesbar gemacht werden sollte.89 Im Gegensatz zu Formulierungen in junggrammatischen Programmschriften implizierte die Forschungspraxis ihrer Protagonisten keinen Bruch mit der kulturanalytischen Tradition der Sprachforschung: die komplexen kulturellen Verhältnisse der Sprachpraxis sind nicht in der Reichweite der formalen Rekonstruktion, die daher auch nur einen eingeschränkten Gegenstand hat – sie werden nur da Forschungsgegenstand, wo eine entsprechend reiche Überlieferung zugänglich ist, deren Bearbeitung gewissermaßen aber auch das Standbein von Junggrammatikern vom Zuschnitt eines Brugmann oder Paul war. Mit der Analyse der historischen Verhältnisse in einer Sprachgemeinschaft ist selbstverständlich auch der Sprachausbau im Blick (s. das oben in Fn. 56 in 5.4 angeführte Zitat aus Brugmann/Delbrücks „Grundriß“ 1886). Das „philologische“ Forschungsprogramm im Sinne von Paul implizierte, nicht nur den Ausbau in der „gestalteten Sprache“, also der Literatur, in den Blick zu nehmen, sondern auch den Ausbau der infrastrukturellen Ressourcen, der gesellschaftlich verallgemeinert den Anforderungen der gesellschaftlichen Reproduktion der Lebensverhältnisse folgt (und der von seiner künstlerischen Ausgestaltung als Material genutzt wird). Die „diachrone“ Dimension der jungrammatischen Modellierung faßt nur eine Dimension der empirischen Arbeit, in einer anderen zeigt sich die „synchron“ praktizierte Variation. Eine solche Differenzierung war in der Klassischen Philologie in den Handbüchern
�� 89 Gerade auch die “Meinungsführer“ der junggrammatischen Diskussion waren hier zuhause und steuerten entsprechend materialgenaue Forschungsbeiträge bei. Brugmanns einflußreiche griechische Grammatik (1888) ist vor allem im Syntaxteil detailliert mit Textbelegen unterfüttert, historisch (und dialektal) differenziert von Homer bis zu den späteren Texten, literarischen wie expositorischen Texten (Geschichtsschreiber u.ä.), stilistisch differenziert für die Nähe zur gesprochenen Sprache u.dgl. mehr. Noch deutlicher ist das bei denen, die sich mit theoretischen (besser gesagt: programmatischen) Beiträgen zurückhielten wie J.Wackernagel, nicht nur in seinen großen Grammatiken (Griechisch, Altindisch), vor allem auch in seinen philologisch ungemein genauen „Kleinen Schriften“, die eine Fülle von heute wieder neu zu entdeckenden systematischen Aspekten erschließen.
322 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung kanonisiert. Im Lateinischen sind die diachronen Entwicklungen vom Altlatein, das in Inschriften dokumentiert ist und so auch im Vergleich mit den anderen italischen Varietäten untersucht wurde, bis zum späten Latein detailliert analysiert worden. Auf dieser Achse läßt sich die dokumentierte Variation der überlieferten Texte nicht abtragen: das ciceronische „klassische Latein“ ist nicht einfach chronologisch später, sondern eine Ausbauform, die „synchron“ neben anderen Formen praktiziert wurde, die z.T. archaische Züge konserviert haben (Cicero selbst kommentierte das schließlich auch für seine eigene Praxis in den Briefen). Nur mit einer solchen Differenzierung ließen sich Paradoxien vermeiden, die das späte Latein als Umkehr einer Entwicklung erscheinen lassen: im „Vulgärlatein“ (vor allem dem christlichen Latein) ist eine andere Form des schriftsprachlichen Ausbaus dokumentiert als im klassischen, nicht aber dessen chronologische Weiterentwicklung.90 Definierend für die ältere Sprachforschung ist diese Spannung zwischen methodischer Kontrolle, die ihren Gegenstand idealisiert (und so die Rekonstruktion der Entwicklungsverläufe modelliert), und einem umfassendem Verständnis des Gegenstands, der kulturanalytisch modelliert wird. Das machte sich selbstverständlich so in den Disziplinen geltend, in denen Feldforschung unter „exotischen“ Bedingungen betrieben wurde: so z.B. in einer Neuorientierung der Semitistik durch Fachvertreter wie den Arabisten Martin Hartmann, dessen Arbeiten auf eigene Erfahrungen in den Ländern des damaligen osmanischen Reiches gestützt waren. In dieser Forschung bestimmte die arabische „Diglossie“ selbstverständlich die Arbeit und werden gerade auch sprachhistorische Untersuchungen von deskriptiven Darstellungen der Umgangssprachen vor Ort flankiert (s. im Katalog z.B. WEIßBACH zum iraqischen Arabisch, als Nebenprodukt seiner Beteiligung an archäologischen Ausgrabungen). Sinologen, die nicht nur am Schreibtisch arbeiteten, dokumentierten die in China praktizierte Umgangssprache (s. z.B. LESSING). So hatten letztlich überall da, wo empirisch geforscht wurde, die junggrammatischen Idealisierungen nur eine instrumentelle Funktion bei der Analyse: in der Germanistik war das gerade auch in der Mundartforschung der Fall, wo z.B. Anton Pfalz den sozialen Horizont seiner Aufnahmen ausdrücklich zum Thema machte, den er insbesondere in der Differenz von „Stadtsprache“ zu ländlicher Mundart untersuchte und dabei als Charakteristikum der ersten die große Variation registrierte (ihren „Formenwucher“, Pfalz 1928). Seit Beginn des 20. Jhd. wurde daraus das dominierende
�� 90 Mit dem späteren Verlust des Ausbauhorizonts der sprachwissenschaftlichen Modellierung geriet das allerdings in Vergessenheit, wie romanistische Einführungsdarstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen.
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Forschungsprogramm der germanistischen „Alten Abteilung“, vor allem auch im Spannungsfeld von Niederdeutsch/Hochdeutsch und dessen frühneuzeitlicher „nationaler“ Umpolung, s. im Katalog bei LASCH und dann später bei STAMMLER, KAISER und vor allem auch SCHMITT. Was in den Handbüchern als junggrammatisches Programm angesprochen wird, lieferte vor allem eine effiziente hochschuldidaktische Vorgabe. Die Proseminare konnten auf der Basis der neuen Handbücher abgehalten werden, und darauf aufbauend wurden die seriellen Examensarbeiten vergeben: die junggrammatische Aufbereitung überlieferter Texte, später die Untersuchung zu einem Dialekt. Geht man von dieser hochschuldidaktischen Version der Junggrammatik aus, waren die intellektuellen Köpfe der Richtung keine „Junggrammatiker“: sie waren nicht durch diese Schule gegangen, und sie sind in ihren Arbeiten auch nicht darauf reduzierbar. 91 Die so skizzierte Konstellation beschreibt den fachlichen Hintergrund der älteren Generation im Katalog: in dieser Art war bei ihnen durchgängig der Gegenstand der Qualifikationsarbeiten definiert (gewesen). Die Funktion der junggrammatischen Programmatik ist denn auch nicht so sehr wissenschaftstheoretisch als vielmehr wissenschaftssoziologisch in ihrer institutionellen Nutzbarkeit zu sehen. Das spiegelt sich besonders deutlich bei den weiblichen Studierenden, die um die Jahrhundertwende erst an den Universitäten zugelassen wurden: abgesehen von den rechtlichen Randbedingungen, bei denen die restriktiven Einschreibklauseln der Universitäten erst phasenverschoben gelockert wurden, war das Problem die der individuellen Entscheidung des Hochschullehrers überlassene Zulassung zu dessen Seminaren. Die Beherrschung der junggrammatischen Analyseprozeduren: die etymologische Herleitung von Formen, die Korrelation von Formen, die sich „analogisch“ beeinflußten, die statistische Auswertung von Befunden u. dgl., vermittelte Sicherheit in einem frauenfeindlich bestimmten universitären Umfeld – und sie erlaubte die Entwertung von methodisch nicht so geprägten eventuellen Vorgängerarbeiten (zwangsläufig von männlichen Absolventen). So finden sich in der ersten Generation von sprachwissenschaftlich promovierenden Frauen überdurchschnittlich viele, die gerade bei rigiden Fachvertretern studieren: von dem Germanisten Braune bis zum Indogermanisten Brugmann.92 �� 91 So wie Marx für sich selbst in Hinblick auf die damaligen Diskussionen in der Arbeiterbewegung festgestellt hatte: Sicher ist nur: ich bin kein Marxist (so laut Engels, s. MEW 35: 388), konnten alle großen Junggrammatiker (Brugmann, Delbrück, Paul) in Hinblick auf die entsprechende Junggrammatik-Vulgata von sich sagen: Sicher ist nur: ich bin kein Junggrammatiker. 92 S. dazu meine Auswertung der 64 sprachwissenschaftlichen Dissertationen von Frauen an deutschen Universitäten vor 1914 (Maas 1991). Dabei wird der frauenkämpferische Impetus in
324 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Das „kulturrevolutionäre“ Potential des junggrammatischen Programms hat Schuchardt deutlich auf den Punkt gebracht: „Das von W. Scherer treffend so genannte „Mechanisieren der Methoden“ reduziert die Anforderungen an selbständiges Denken auf ein Minimum und ermöglicht so die Teilnahme einer außerordentlichen Menge tatsächlich Unbefähigter an der „wissenschaftlichen Arbeit“.93 Für ihn war das nur eine Konsequenz aus der endemischen Entwertung der Sprachforschung im universitären Lehrbetrieb, zu der das in diesem neuen Sinne philologisch definierte Fachverständnis gehörte, das letztlich auf die Nationalsprachen der Schulfächer ausgerichtet war. Dieses Fachverständnis war für Schuchardt nicht unter systematischen Prämissen zu begründen: weder sprachlich, noch kulturell, da auch die Kulturräume inkongruent mit nationalen Ausgliederungen sind. Eine gewisse Selbstverständlichkeit erhielt dieses Fachverständnis für ihn nur unter anderen, im Universitätsbetrieb allerdings fest verankerten Prämissen: durch die politische Vorgabe der Nationalsprachen bei den Schulfächern – und die praktischen Schranken bei dem erforderlichen Lesepensum der Literaturwissenschaft. Für diese ist ein vergleichender Horizont analog zu dem, was in der vergleichenden Sprachwissenschaft (erst recht bei der typologisch ausgerichteten Forschung) zumindest im Blick war, praktisch unerreichbar; und so bleiben auch die ausdrücklich vergleichend angelegten großen Entwürfe letztlich in einem kulturell sehr eng umschriebenen Feld; das gilt bei den späteren Arbeiten, z.B. auch für das gefeierte Unternehmen von AUERBACH. In dieser Hinsicht war Hermann Paul konsequent, der den kulturanalytischen Gegenstand denn auch historisch definierte, dem auch ein historisches methodisches Vorgehen entsprechen mußte, das er in seinen methodologischen Überlegungen denn auch in der philologischen Traditionslinie von Boeckh definierte (s. 5.4.5.). 5.6.2. Die kulturwissenschaftliche Gegenstandsdefinition bei Hermann Paul entwirft ein Koordinatensystem für die Forschung, das dem Dilemma von methodisch kontrolliertem Werkeln auf der einen Seite und konzeptuellem Überfliegen auf der anderen zu entkommen versucht. Dabei bemühte er sich bewußt, das disziplinäre Feld zur außerwissenschaftlichen Diskussion zu öffnen bzw. im Sinne einer „vorparadigmatischen“ Wissenschaftspraxis zu den weiten intellek�� diesen Arbeiten z.T. auch explizit artikuliert. Ohnehin ist es eindrucksvoll, wie diese Frauen für sich die ihnen bis dahin versperrte akademische Welt erschließen: sie studieren durchweg sehr breit, auch mit Naturwissenschaften, z.T. auch Mathematik in den Nebenfächern (einige auch Sport!); viele wechselten während des Studiums die Universitäten; und eine ganze Reihe (13 in dieser Kohorte) absolvierten z.T. ausführliche Studienaufenthalte im Ausland, oft verbunden mit einer Tätigkeit dort als Lehrerin, um ihr Leben zu verdienen. 93 Über die Lautgesetze, 1885 (hier zitiert nach Schuchardt 1928: 83).
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tuellen Diskursen offen zu halten. Eine naturwissenschaftliche Analyse von Sprachlichem, etwa die phonetische Untersuchung von Gesprochenen, verfeinert die Analyse, nicht anders als es das Mikroskop bei dinglichen Untersuchungsgegenständen erlaubt – sie tangiert aber nicht das Verständnis von Sprache. Das markiert die Frontstellung gegen alle naturalisierenden Reduktionen. Hermann Paul war sicherlich von einer theoretischen Klärung noch weit entfernt, wie die an ihm ansetzende wissenschaftstheoretische Diskussion herausstellte (s. 5.7., bes. zu Rickert); aber sein pragmatisch gefaßtes kulturwissenschaftliches Programm definiert die im Katalog überwiegende Sprachforschung. Für die meisten dort dokumentierten Fachvertreter galt die Reflexion auf Sprache in diesem Sinne einem kulturellen Gegenstand: dem, was aus den „natürlich“ entwickelten sprachlichen Ressourcen in der kulturellen (gesellschaftlichen) Spracharbeit zu machen war: im Sprachausbau. Von einem solchen Ausgangspunkt aus mußte allerdings die schleichersche Position, die historisch greifbare Entwicklungen als Verfall ansah, absurd erscheinen: der Gegenstand der Germanistik war in diesem (eben auch junggrammatischen) Sinne das, was sich mit der „deutschen“ Nation herausgebildet hatte – und Goethes Sprache (der schon zu Lebzeiten im Fach einen kanonischen Status hatte) als sprachliches Verfallsprodukt anzusehen, konnte nur lächerlich sein. In der neuen Generation von Studienhandbüchern wurde dem empirisch kontrollierbaren Gegenstand der Sprachgeschichte denn auch nur noch eine Vorgeschichte gegenübergestellt, die auf hypothetischen Rekonstruktionen beruht: die historische Sprachgeschichte ist demgegenüber eine des Ausbaus der Sprache, der in diese investierten Spracharbeit.94 Das ist nun eine Achse in der Sprachforschung, an der sich die unterschiedlichen Formierungen spiegeln lassen. Sie impliziert eine funktionale Sprachbetrachtung, die sich mit einer rein positivistischen Inventarisierung der Formen nicht begnügt, deutlich vor allem bei den älteren syntaktischen Analysen, bei denen Textstrukturen im Blick waren – soweit nicht die Syntax nur als Vorkommen der isoliert betrachteten Wortformen gesehen wurde (wogegen sich Paul explizit in seinem Methodenkapitel des „Grundriß“ richtet). Mit der systematischen Analyse schriftkultureller Formen waren solche Aspekte zwangsläufig im Blick – sie sind aber nicht darauf beschränkt: selbstverständlich müssen
�� 94 Explizit so in der einflußreichen Darstellung von Hirt (1919), erschienen als Band im „Handbuch des deutschen Unterrichts an höheren Schulen". Hirt repräsentierte mit seiner Habilitationsschrift über die ie. Akzentuierung (gestützt vor allem auf eigene phonetische Studien in Litauen) den neuen junggrammatischen Typus der Sprachforschung.
326 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung auch die mündlichen Ressourcen ausgebaut werden, wenn sie komplexeren kommunikativen Anforderungen gerecht werden sollen.95 Der Sprachausbau war ein Topos in der Forschungsdiskussion am Ende d. 19.Jhd.: er hatte in der damaligen intellektuellen Matrix einen festen Platz. Wie gezeigt, brachen zwar die Programmschriften der Junggrammatiker mit dieser intellektuellen Matrix, wenn sie ihren Gegenstand argumentativ naturalisierten – aber das deckte sich nicht mit dem, was auch diejenigen betrieben, die dieses Programm für sich reklamierten. Deutlich ist das bei der Dialektologie. Der einflußreiche Band von Friedrich Kauffmann: „Geschichte der schwäbischen Mundart“ (1890) registriert akribisch die Spuren dialektaler Formen in der untersuchten Region, weil er sie als Ressourcen für den Ausbau der Schriftsprache sieht – der Untertitel des Bandes war entsprechend „Geschichte der Schriftsprache in Schwaben“. In seinem fachgeschichtlichen Überblick in Pauls Grundriß stellt Kauffmann sogar heraus, daß die Erforschung der deutschen Mundarten überhaupt erst im Schatten des Ausbaus der Schriftsprache aufgekommen ist.96 Gleiches läßt sich mit beliebig weiteren Beispielen auch in den anderen „Philologien“ zeigen. Analytisch genaue deskriptive Beschreibungen waren funktional angelegt – ausgerichtet auf die Frage: was ist mit den so extrapolierten Strukturen zu leisten. Dazu finden sich in der Regel keine ausführlichen Erörterungen – es handelt sich um eine selbstverständliche Prämisse der Arbeit (das meint der Terminus der Matrix). Ein Beispiel ist der glänzende Überblick über die semitischen Varietäten, den Gotthelf Bergsträsser 1928 mit seiner Einführung in die semitischen Sprachen vorgelegt hat, der strukturelle Abrisse der verschiedenen Sprachen liefert. Aber Bergsträsser blieb dabei nicht stehen,
�� 95 Der Ausbau der kommunikativen Ressourcen gehört selbstverständlich zum Sprachausbau. Wenn dieser Aspekt in dieser grundsätzlichen Form damals nicht im Horizont der empirischen Forschung war, dann weil die Voraussetzungen für seine Umsetzung in die empirische Forschung noch fehlten: die technischen Möglichkeiten zur Aufnahme von spontaner Sprache. Zwar gab es schon seit der Jahrhundertwende akustische Sprachaufnahmen mit SchellackPlatten, die auch schon die Basis für phonetisch feinkörnige Untersuchungen waren (in der deutschen Dialektologie z.B. in den frühen Arbeiten von Pfalz …): zu Sandhi-Erscheinungen, allegro-presto-Varianten; aber das dazu nötige Sprechen in einen Trichter, die kurze Aufnahmedauer u. dgl. mehr schränkten den Horizont extrem ein, und so gab es auch keine systematische Dokumentation. Erst seit Mitte der 1950er Jahre, dann durch die Miniaturisierung der tragbaren Geräte seit den 1960er Jahren konnte auch spontan gesprochene Sprache so dokumentiert werden, daß deren spezifische Formen analysierbar wurden. Erst seitdem ist der Ausbau zu spezifischen „oraten“ Strukturen überhaupt Forschungsgegenstand. 96 „Im Zusammenhang mit dem grammatischen Ausbau der Schriftsprache (…) erwacht im 15. Jahrhundert (…) das linguistische Interesse an den deutschen Volksmundarten“ (in Paul 1901: 1507).
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sondern charakterisierte den jeweils extrapolierten Sprachbau funktional für das, was mit ihm praktiziert wurde bzw. werden konnte. Da liest man z.B., daß „das Äthiopische diejenige altsemitische Literatursprache ist, die höheren Ausdrucksbedürfnissen am wenigsten genügt“; Bergsträsser zeigte das im Vergleich der syntaktischen Strukturen des Ge’ez gegenüber z.B. dem Hebräischen oder Klassischen Arabischen (ebd. S. 97). Man kann alle Sprachen nach den methodischen Standards der Zunft beschreiben – aber das ist nur der erste Schritt: der zweite Schritt, der zur professionellen Arbeit dazu gehörte, ist die funktionale Frage nach der kulturellen Praxis, die in diesen Sprachformen zu bewerkstelligen ist. Entsprechend insistierte z.B. auch Ammann bei seiner Explikation von Saussures „Cours“ als Darstellung der methodischen Grundlinien der vergleichenden Sprachwissenschaft darauf, den Sprachausbau als „Weiterschreiten vom Naturzustand des primitiven Idioms zum historischen Range der Kultursprache“ als systematischen Faktor in den Blick zu nehmen, statt mit einem undifferenzierten Entwicklungsbegriff zu operieren (Ammann 1934: 279). Zumindest in der deutschen Diskussion war das damals Konsens. Es ist die Blockierung gegenüber dieser Fragerichtung, die den grundlegenden Bruch in der Sprachforschung im 20. Jhd. markiert, die in einem bemerkenswerten Spiel mit vertauschten Rollen in der gängigen Selbstdarstellung des Faches inszeniert wird, bei der normative Aspekte des Sprachdiskurses gegen vorgeblich „natürliche“ Prämissen ausgespielt werden. Dieser Bruch wird seitdem als Abgrenzung der „modernen“ Sprachwissenschaft gegen die traditionelle Philologie inszeniert, die dabei mit der Ausrichtung auf die (schulische) Vermittlung der „guten“ Schriftsprache gleichgesetzt wird. Das ist aber allenfalls in einem didaktischen Kontext berechtigt, in dem tatsächlich die gesprochene Sprache meist nur als Störfaktor in den Blick kam (kommt), und wenn überhaupt, dann nur als reduzierte Variante der Schriftsprache thematisiert wurde (wird); auf dieser Folie läßt sich der emphatische Bezug auf die „natürliche“ gesprochene Sprache zum konstitutiven Gegenstandsverständnis stilisieren. Die Kehrseite dieser Sichtweise war (ist) es, in der geschriebenen Sprache die normativ verhunzte „natürliche Sprache“ zu sehen (gerne mit orthographischen Marotten veranschaulicht), die nicht Gegenstand einer „gesetzmäßigen“ rationalen Explikation sein kann. In diesem in fast allen Einführungstexten des Faches herausgestellten Szenario ist kein Platz für den Sprachausbau, der selbstverständlich in der mündlichen Praxis ausgehend von den ersten kontrollierten Mustern im frühen Spracherwerb genauso erfolgen muß wie in der schriftlichen
328 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Praxis.97 Sprachausbau steht als Konzept gegen das übliche Operieren mit Entwicklung, die eben „natürliche“ Implikationen nahelegt, wie man bei Pflanzen und auch z.B. beim Embryo von Entwicklung spricht – beim Menschen aber extrauteral die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt und ihren Anforderungen in den Blick nehmen muß, eben die Spracharbeit bzw. den Sprachausbau. Eine solche Sichtweise war in der intellektuellen Matrix der Sprachreflexion bis in die Mitte des 20. Jhd. verankert. Nur eher marginal wurde sie aber direkt Gegenstand einer theoretisch bemühten disziplinären Aktivität wie vor allem im Prager Linguistenkreis, dessen Arbeiten zur „Sprachkultur“ aber über Prag hinaus weitgehend verpufften (s. auch die Hinweise in 5.5.4.): obwohl in allen jüngeren Fachgeschichten auf diesen verwiesen wird, werden diese Zusammenhänge in der Regel ignoriert (s. aber Ehlers 2005). 5.6.3. Dazu hat sicherlich beigetragen, daß diese Fragestellungen im zeitgenössischen gesellschaftlichen Sprachdiskurs lautstark „sprachpflegerisch“ artikuliert wurden. In Deutschland waren sie seit dem ausgehenden 19. Jhd. mit einer bewußt nationalen Sichtweise von Sprachfragen im wilhelminischen Bürgertum verknüpft, die sich insbesondere im Allgemeine deutsche Sprachverein ein Organ geschaffen hatte (gegründet 1885).98 Dieser nationalisierte Diskurs reichte in die akademische Sprachforschung hinein, in der er weitgehend das Selbstverständnis der Akteure bestimmte.99 Aber auf ihn kann das Forschungsprogramm mit dem Sprachausbau als Leitfrage nicht reduziert werden. Vielmehr öffnete sich in der ersten Hälfte des 20. Jhd. die Schere zwischen einer umfassenden Sprachforschung und der disziplinären Sprachwissenschaft. Außerhalb der zünftigen Sprachwissenschaft gab es so einen breiten akademische Diskurs, zu dem z.B. auch die ambitionierte Sprachtheorie von Arnold Gehlen gehört, der in seinem großen anthropologischen Entwurf ausdrücklich davon spricht, die „Ausbaugesetze der Sprache“ zu rekonstruieren (Gehlen 1940/1993: 289); aber Gehlen war Philosoph (Soziologe), kein Sprachwissen-
�� 97 In Hinblick auf die verbreiteten konzeptuellen Konfusionen in diesem Diskussionsfeld ist es sinnvoll, mit einer explizit definierten analytischen Begrifflichkeit zu operieren; in diesem Sinne argumentiere ich mit der Gegenüberstellung von oraten und literaten Strukturen, die als solche unabhängig von den medialen Aspekten mündlicher und schriftlicher Vorgaben sind, z. B. Maas (2010). 98 Deutlich vor allem in dessen sprachpuristischer Linie, die ihn nach 1933 auch in eine Frontstellung zum Nationalsozialismus bugsierte, den er ansonsten heftig befürwortet hatte; 1940 führte das zu seiner faktischen Auflösung, s. auch 6.7.4. 99 So war der oben angesprochene Hermann Hirt auch eines der aktiven akademischen Mitglieder im Allgemeinen deutschen Sprachverein, der ansonsten in der Sprachgermanistik durchaus umstritten war.
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schaftler (s. dazu 6.8.4.). Die Zugehörigkeit zur Disziplin (zur sprachwissenschaftlichen Zunft) erwies sich hier als Barriere: diese war an handwerkliche Anforderungen gebunden, wie sich bei den Habilitationsverfahren ablesen läßt; in der Verlängerung des „junggrammatischen“ Forschungsprogramms war hier eine materialbezogene vergleichende Forschungsarbeit verlangt.100 Was so für die Rekrutierung des akademischen Nachwuchses galt, spiegelte sich in einer noch weiter gehenden Engführung im Lehrbetrieb der großen Fächer, deren Klientele sich aus angehenden Lehrern rekrutierte: hier waren die analytischen Verfahren „junggrammatischer“ Observanz probat, die gegenüber theoretisch anspruchsvollen Fragestellungen wie dem Sprachausbau abzuschotten waren. Daran konnte dann nach dem neuen „Paradigmenwechsel“ zu strukturalistischen (später dann generativistischen …) Vorgehensweisen die Modernisierung der sprachlichen Fächer nach dem Zweiten Weltkrieg anschließen. Im Sinne der oben eingeführten Differenzierungen bei der Modellierung des Wissenschaftsbetriebs lag dem ein Wandel in der intellektuellen Matrix zugrunde. Die oben angesprochene ältere Matrix, in der die Fragen nach dem Sprachausbau verankert waren, bildete durchaus die Folie für die Politisierung des Sprachdiskurses in der Zeit des Nationalsozialismus, einschließlich seiner disziplinären Fortsetzungen, wie in Kap. 6 genauer betrachtet wird. Die Politisierung stellte allerdings das analytische (theoretische) Potential der neuen Forschungsansätze in der Sprachwissenschaft seit dem Ende des 19. Jhd. zur Disposition. Mit diesem war an die Stelle des regressiven Blicks bei der Gegenstandskonzeption mit der Ausrichtung an den Urformen das Bemühen um eine Rekonstruktion der Bedingungen getreten, die das gegenwärtig Beobachtbare erklärbar machen soll. Dabei waren die in der Sprachforschung als methodi-
�� 100 Das gilt so auch für die Reproduktion des Fachs unter nationalsozialistischen Bedingungen. Ein instruktives Beispiel dafür ist das Habilitationsverfahren von Karl Bouda 1936 an der Berliner Universität. B. hatte eine Venia für „vergleichende Sprachwissenschaft“ beantragt, was nicht nur von Schwyzer als dem unmittelbaren Fachvertreter der Indogermanistik abgelehnt wurde, sondern auch von anderen am Verfahren Beteiligten wie insbesondere dem Romanisten Gamillscheg. Andererseits waren Bs. Arbeiten vor allem zu den kaukasischen Sprachen politisch relevant – und B. auch in der „Ostforschung“ des Amtes Rosenberg bei der Vorbereitung einer geplanten Neuordnung im Zweiten Weltkrieg aktiv. Der Kompromiß bestand schließlich darin, B. in Hinblick auf seine unbestrittenen großen Kenntnisse in peripheren Sprachen Europas eine Venia für „Baskisch und Kaukasische Sprachen“ zu erteilen: eine rein deskriptive Forschung, wie B. sie mit seinen Arbeiten unter Beweis stellte, machte ihn nicht professorabel. (Für Hinweise und Unterlagen zu diesem Verfahren danke ich dem Leiter des Berliner Universitätsarchivs, W. Schultze). Erst 1941, als B. sich politisch „bewährt“ hatte, wurde seine Venia auf Allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft erweitert, s. 6.8. für den Kontext.
330 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung scher Standard etablierten rekonstruierten Formen (die „Sternchen-Formen“) nur noch methodische Rechengrößen, mit denen diachrone Gleichungen aufgingen, und nicht mehr realistisch (anschaulich) zu verstehende Sprachformen.101 Die auf „Wesentliches“ ausgerichtete intellektuelle Matrix seit dem Ersten Weltkrieg stand einer solchen konsequenten Weiterführung entgegen (was nicht heißt, daß von Fachvertretern eine solche Forschung nicht mehr betrieben worden wäre – gerade auch von politisch im Nationalsozialismus Engagierten, s. Kap. 6). Tatsächlich hätte eine entsprechend konsequent neu konzipierte Disziplin eine in diesem Sinne zuende gedachte vergleichende Methodik mit der Analyse von Ausbauprozessen verbinden müssen. Dem stand einerseits die diskursiven Entgleisungen des Forschungsbetriebs nach 1933 entgegen, die den Akteuren die Lizenz gab, sich von methodischen Anforderungen freizumachen, dann aber auch das Aufkommen einer neuen intellektuellen Matrix, die die Forschung an unmittelbare gesellschaftliche Verwendungsmöglichkeiten binden will, und so auch für sprachwissenschaftliche Forschung zumindest eine Homologie zu technischen Vorgehensweisen verlangt, wie es sich im letzten Drittel des 20. Jhd. durchsetzte.102 Damit waren Fragen des Sprachausbaus im Mehrheitsverständnis der Sprachwissenschaftsvertreter endgültig entsorgt.103 So extrapolierbare Entwicklungslinien zeichnen sich nicht gradlinig im Wissenschaftsbetrieb ab. Dagegen steht schon die Trägheit des institutionellen Betriebs, vor allem der universitären Einrichtungen. Zu dem älteren fachlichen Selbstverständnis, das Sprachanalyse auf Fragen des Sprachausbaus ausrichtete, trug entscheidend bei, daß noch bis lange nach dem Ersten Weltkrieg in den sprachlichen Fächern die Literaturgeschichte zu den Lehraufgaben der philologischen Eckprofessuren gehörte: das machte eine solche Blickrichtung zwangsläufig. Insofern ist die spätere Engführung des sprachwissenschaftlichen Forschungsprogramms nicht (nur) von der institutionell verankerten Fortschreibung der junggrammatischen Programmatik her zu fassen, sondern muß auch die komplementäre Entwicklung zur Herausbildung der modernen Disziplin der Literaturwissenschaft in den Blick genommen werden, s. 5.5. Zwar kam am Ende des 19. Jhd. auch im akademischen Horizont eine Diskussion darum auf, die ästhetische Betrachtung literarischer Texte, die Analyse des „sprachlichen Kunstwerks“ als genuine wissenschaftliche Praxis zu verste�� 101 S.o. zu Schleichers Fabel in dem von ihm rekonstruierten „Urindogermanisch". 102 S. dazu exemplarisch in 6.8.4. die umfangreiche Förderung von Zwirners Phonometrie bei der DFG nach 1933 zulasten der im völkischen Diskurs verankerten Dialektforschung. 103 S. Fn 12 für die heute im Fach nur noch übliche Begriffsverengung des Terminus Sprachausbau im Sinne von Sprachplanung, im Anschluß an die Arbeiten von Heinz Kloss.
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hen – die sich aus der philologischen Fuchtel emanzipieren muß. Daraus wurden dann zu Beginn des 20. Jhd. Strömungen einer „strukturalen“ Literaturbetrachtung, ergänzt auch durch literatursoziologische Fragestellungen, etwa zu den Rezeptionsbedingungen der Literatur, auch deren Produktionsbedingungen (den literarischen Markt u.dgl.). In dem Maße, wie sich das als disziplinäre Praxis etablieren konnte (in den großen nationalphilologischen Seminare ermöglicht durch die notwendige Arbeitsteilung im Lehrkörper, dem phasenverschoben dann auch die Möglichkeit einer Habilitation, ohne ein sprachwissenschaftliches Standbein auszuweisen, folgte), geriet auch hier der Horizont des Sprachausbaus aus dem Blick: diejenigen, die es unternahmen, die Besonderheit des sprachlichen Kunstwerks als Ausbau der alltagsnotwendigen Sprachpraxis mit dem dabei aufgebauten sprachlichen Wissen verstehen und zu rekonstruieren, im Katalog von VOßLER über SPITZER bis zu HAMBURGER, lieferten insofern Rückzugsgefechte. Da es in der Literaturwissenschaft keinen vergleichbaren methodisch definierten Kanon der Rekonstruktion gibt, wie er den Rahmen für die professionelle Sprachwissenschaft seit dem ausgehenden 19. Jhd. bildete, war bei ihr das Ansetzen bei der Gegenwart grundsätzlich unproblematisch – obwohl auch hier in der Literaturgeschichte die romantisierende Auszeichnung älterer „organischer“ Formen lange dominierte.104 5.6.4. Die Rede von einem sprachwissenschaftlichen Paradigma ist nur sinnvoll, wenn es sich um die Ausgrenzung von bestimmten Fragestellungen als nicht zünftig handelt (wie heute beim Sprachausbau) – bei den in den Handbüchern meist herausgestellten anderen Spielarten von „Paradigmenwechsel“ handelt es sich dagegen um Aspekte, die die paradigmatisch definierte Kompatibilität der jeweiligen Argumentationen nicht infrage stellen, wie sich nicht zuletzt auch daran zeigt, daß ältere Befunde immer reformuliert („übersetzt“) werden. In diesem Sinne kratzte Hermann Paul mit dem postulierten kulturwissenschaftlichen Fachverständnis am junggrammatischen Paradigma. Der entsprechende Neuansatz war nicht auf solche historischen Fragen beschränkt. Zum junggrammatischen Programm gehörte ja (hier in einer Abkehr von der philologischen Tradition) die Beobachtung gegenwärtiger Verhältnisse: für ein Verständnis von Entwicklung wurde ausdrücklich von der Ontogenese der Sprache ausgegangen, bei der eine Homologie mit der soziogenetischen Sprachentwicklung angenommen wurde. Mit anekdotischen Beobachtungen, aber zunehmend auch mit systematischen Arbeiten wurde das Bemühen der Kinder, an der aus-
�� 104 Auf deren Schiene nicht zuletzt völkische Sichtweisen verankert waren, die mit der Etablierung eines faschistischen Regimes konform gingen.
332 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung gebauten Sprache ihrer Bezugspersonen zu partizipieren, zum Gegenstand, seit der Wende zum 20. Jhd. auch mit monographischen Darstellungen (s. etwa bei C. STERN und W. STERN). Der Sprachausbau war der integrative Nenner für die so betriebene kulturwissenschaftliche Forschung: das, was sowohl in der individuellen Sprachbiographie wie im gesellschaftlichen Verband einer (ggf. noch sich erst ausbildenden) „Nation“ aus den sprachlichen Ressourcen gemacht wird. Das erklärt die von heute aus gesehen irritierende Heterogenität in der wissenschaftlichen Produktion vieler der älteren Generation, die auch hier im Katalog dokumentiert ist. Wo heute verschiedene Bindestrichdisziplinen arbeitsteilige Barrieren definieren, bestand früher ein einheitlicher Gegenstandsbereich, bei dem nur die Arbeitskapazität (und die Vorlieben) der einzelnen Forscher Grenzen setzten. Dabei bildete der Sprachausbau den selbstverständlichen Horizont der älteren Sprachforschung, auch wenn die bearbeiteten Gegenstände deskriptiv enger begrenzt waren. Der Blick darauf wird in den Fachgeschichten durch die Fokussierung methodologischer Diskussionen verstellt, die allerdings den Vorteil haben, bequem zitierbare Aussagen zu bieten (wie z.B. die Programmschriften der Junggrammatiker). Gerade die Lautgesetzdiskussion verstellt hier den Blick. Ausbaufragen stellen sich mit der Frage, was aus den sprachlichen Ressourcen gemacht werden kann – in der Erfahrung von Schranken der sprachlichen Praxis, die den Ausbau der verfügbaren Ressourcen verlangen. Solche Probleme stellen sich aber nur sehr eingeschränkt in Hinblick auf das phonologische System einer Sprache und auch nur eingeschränkt bei der Morphologie: bei diesen handelt es sich um Momente der sprachlichen Infrastruktur, die relativ invariant für unterschiedliche Formen der Sprachpraxis sind und interessante Fragen nur bei Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt aufwerfen. Anders ist es bei der Syntax, jedenfalls wenn der Bau von komplexen Texten in den Blick genommen wird, wie es traditionell vor allem in der Stilanalyse angegangen wurde. Gerade auch die wichtigsten Junggrammatiker haben umfangreiche, materialreiche syntaktische Arbeiten vorgelegt (Delbrück zu den älteren germanischen Sprachen, Brugmann zum (Alt-) Griechischen [vor allem mit dem zweiten Band seiner großen Grammatik], wie auch in der Folge deskriptiv reiche syntaktische Darstellungen vorgelegt wurden: etwa von Tobler für das Altfranzösische, von Behaghelfür das Deutsche im vergleichend-germanischen Horizont u.a. Es waren nicht zuletzt diese syntaktischen Forschungen, die für Praktiker in der Schule relevant warn und dort junggrammatische Anhänger
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rekrutierten.105 In diesen Arbeiten war in enger Bindung an die ausgewerteten Texte (früh auch schon mit dem Versuch statistischer Kontrolle der Befunde) die Frage von sprachlichen Ebenen im Blick – und selbstverständlich auch die Differenz kommunikativer Praktiken (mit „oraten“ Strukturen) gegenüber darstellenden Texten und dem Ausbau von begründenden Strukturen: die Vermittlung von Wissen, die Festlegung von rechtlichen Regelungen u.dgl. 106 Bei den historisch orientierten Arbeiten war auch immer auch das kulturelle Gefälle der in der Regel dominierenden fremden Schriftsprache Gegenstand (in Westeuropa lange Zeit die lateinische, in Osteuropa die griechische), mit der Replik von deren Muster, also dem Sprachausbau durch Strukturkopien der institutionell gesetzten „Bildungssprache“. Das zieht sich als Frage durch alle Philologien: in der Altorientalistik/Semitistik ging es so z.B. um das Modell der sumerischen Schriftsprache für den schriftsprachlichen Ausbau des Akkadischen. Im Blick waren dabei jeweils auch immer die gesellschaftlichen Faktoren der Förderung des Ausbaus, ggf. aber auch der Blockaden dagegen, wenn die Schriftsprache gewissermaßen einzementiert wurde wie in der jüngeren arabischen Welt. Der Bruch mit dieser Forschungstradition war kein punktuelles Ereignis, sondern ein längerer Prozeß, der phasenverschobenen in verschiedenen Forschungsbereichen verlief. Er zeigt sich z.B. schon in einer Kontroverse zwischen Agathe LASCH als profilierter Vertreterin einer kulturanalytisch ausgerichteten Sprachforschung und dem dänischen allgemeinen Sprachwissenschaftler Chris-
�� 105 Ein Beispiel dafür ist Ziemer, der im Schulprogramm seiner Coburger Domschule 1879 eine programmatische Studie über „das psychologische Moment in der Bildung syntaktischer Sprachformen“ veröffentlichte, die er 1882 in erweiterter Form als Buch herausbrachte, das von der jungrammatischen Prominenz auch ausführlich begrüßt wurde und 1883 schon in der zweiten Auflage erschien. 106 Auch der Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache war ein Topos – nicht zuletzt in der Klassischen Philologie, wo etwa im Lateinischen die Differenz des Ciceronischen Periodenbaus und der Form lebhafter sprachlicher Interaktion in den Plautinischen Komödien zum festen Repertoire des Faches gehörte. Solange keine flexible Aufnahmetechnik für spontan gesprochene Sprache verfügbar war (also bis in die Mitte der 1950er Jahre), waren die durchaus seriell erstellten Arbeiten zur Umgangssprache auf die schriftlich dokumentierten Theaterstücke angewiesen, im Deutschen (H. Wunderlich 1890) nicht anders als im Italienischen (wie z.B. bei SPITZER) aber auch in der Orientalistik: z.B. KAHLE für das türkische und ägyptische Schattentheater. Hinzuzunehmen sind aber auch die Arbeiten, die außerhalb des engen philologischen Horizonts erstellt wurden, z.B. von Sprachforschern, die zeitweise in Handelskolonien oder im diplomatischen Dienst tätig waren und dann z.B. auch zum gesprochenen Chinesischen im Gegensatz zur konservativen Schriftsprache arbeiteten, s. z.B. LESSING.
334 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung tian Sarauw. 107 Sarauw hatte 1921–1924 eine große zweibändige deskriptive Darstellung des Mittelniederdeutschen vorgelegt, das er strikt durch die Brille der (synchronen) Beschreibungen der modernen niederdt. Mundarten in den Blick nahm. Polemisch qualifizierte er ein anderes Herangehen, wie es insbesondere von LASCH praktiziert worden war, als „heimatkundlich“ (im Vorwort zu Band 2/ 1924). LASCH replizierte mit einer scharfen Kritik, die in einer solchen Herangehensweise eine „Verflachung“ (S. 8) anprangerte.108 Sie formulierte diese Kritik grundsätzlich: auf diese Weise kommt für sie Sprache nicht als „Ausdrucksform des Geisteslebens“ in den Blick bzw. gerät die Zielsetzung des „Verstehens“ der beschriebenen Verhältnisse aus dem Blick; aber sie zeigte den damit verbundenen Verlust an deskriptiven Differenzierungen auf, weil so die Variation in den inventarisierten Formen nicht aufzulösen ist, die als Registerdifferenzierung auf der Folie der darin sedimentierten sozialen Praxis gelesen werden muß. Der Kernpunkt war für sie die Analyse der Herausbildung einer Schriftsprache (der Gegenstand ihrer eigenen Dissertation), die eben etwas anders ist als das, was Sarauw als seinen Gegenstand definiert hatte: eine „zum schriftlichen gebrauch ausgebildete Mundart“ (ebd., S. 5). 5.6.5. Das Verhältnis zu schriftkulturellen Fragestellungen im Forschungsdesign ist ein guter Indikator. In der älteren Forschungstradition bestimmen diese durchaus auch die dialektologischen Arbeiten, die einerseits die dialektalen Verhältnisse einer bestimmte Region bearbeiteten, andererseits aber auch die dort zu findende schriftliche Überlieferung in ihrer ganzen Breite von Kanzleidokumenten bis zu literarischen Werken. Für die jüngere, systematisch ins Werk gesetzte Dialektforschung, vor allem die Sprachgeographie bestand hier auch eine methodisch fundierte Barriere: erhoben wurden mit dem Ziel standardisierter Daten isolierte Formen; deren Abbildung auf Karten (in den seit der Wende zum 20. Jhd. überall, in Europa nicht anders als in den USA, entstehenden Sprachatlanten) filtert die strukturelle Komplexität des Erhobenen (erst die �� 107 Sarauw (1865–1925) war ein ausgesprochen moderner Sprachwissenschaftler. Er hatte auf der Grundlage eigener Dialektforschungen in Wales und Irland 1900 in Kopenhagen zum Keltischen promoviert und wurde 1908 an der U Kopenhagen zum Dozenten für deutsche Sprache und Literatur ernannt; 1916 zum Professor. Er arbeitete umfassend auch zu romanischen, slawischen und nicht zuletzt semitischen Sprachen (eine große Studie zur semitischen Akzentuierung erschien noch postum 1939). Deskriptives sprachwissenschaftliches Arbeiten (mit der Ausrichtung auf die gesprochene Sprache, ggf. auch anhand von Quellen wie bei Mittelniederdeutschen, das er als „zum schriftlichen Gebrauch ausgebildete sächsische Mundart“ verstand, 1924: 5) trennte er strikt von der Literaturwissenschaft, zu der er im übrigen auch arbeitete (mit einem Schwerpunkt bei Goethe). Sarauw arbeitete in Kopenhagen u.a. mit Jespersen zusammen. Zu ihm s. den Eintrag im Dansk biografisk Leksikon. 108 In ihrer Rezension, in: Anzeiger f. dt. Altertum 45/ 1926: 1–8.
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neueste Generation von Atlanten seit dem Ende des 20. Jhd. macht den Versuch, die Variation auch bei syntaktischen Mustern darzustellen). Auf diesen Befund stützte sich die in älteren Handbüchern der Dialektologie zu findende gewissermaßen dogmatische Grundannahme, daß die Dialekte keinen syntaktischen Ausbau kennen: dieser ist demnach eine Sache der Hochsprache, in deren Schatten die Dialekte gesprochen werden.109 Ausbau definiert die Integration der beobachtbaren Variation in den registrierten Daten auf einer funktionalen Ebene. Daß die Überlieferung sprachlich inhomogene Befunde zeigt, war gerade auch für die philologische Tradition immer schon selbstverständlich. Die neuere, strukturalistisch orientierte deskriptive Forschung sortiert die Varianten in verschiedene „Lekte“, die je für sich dann wieder als homogene Größen behandelt werden können. Bei einer kulturanalytischen Orientierung der Forschung werden die aus den deskriptiven Befunden extrapolierten Strukturen aber funktional in Hinblick auf das damit kulturell zu Bewerkstelligende weiter analysiert. Zwar sind alle so extrapolierten „Lekte“ als Sprachsysteme äquivalent – nicht aber in ihrer Leistungsfähigkeit. Daraus resultiert die Annahme eines ggf. freigesetzten Ausbaus, mit dem die Leistungsfähigkeit optimiert wird. Das erlaubt es, mit der zumindest bei allen größeren Sprachgemeinschaften, die in überregionale Verkehrsverhältnisse eingebunden sind, zu verzeichnenden Mehrsprachigkeit analytisch umzugehen: ggf. werden die kulturell anspruchsvolleren Aufgaben an eine Zweitsprache delegiert (in den traditionellen Philologien galt das so für das Griechische im römischen Reich, für das Sumerische im babylonischen Reich u.a.), mit der zunehmenden gesellschaftlichen Integration dieser Gemeinschaften dann der Ausbau der Erst- (Familien-) Sprache, der über komplexe Stufen der Kalkierung auf die fremd- (also „hoch“-) sprachlichen Muster läuft. Diese argumentative Figur war eine feste Prämisse der älteren kulturanalytisch orientierten Forschung, die im 19. Jhd. in den Handbüchern die Philologien exemplifiziert wurde.110 Auf der methodischen Seite (und zugleich mit Ansätzen zu einer systematischen Modellierung) markiert die für die ältere Forschung leitende Auseinan�� 109 Hier aber eine Besonderheit der europäischen Nationalstaaten und der Übernahme dieses Gesellschaftmodell in neue Staaten (bes. auch die USA): anderswo werden die dialektal geprägten Sprachverhältnisse nur formal von einer (meist auch nicht „verwandten“) Schriftsprache überdacht. In diesem Zusammenhang stellt sich selbstverständlich auch die Frage nach der Syntax (und nach deren Ausbau) für die gesprochenen „Dialekte“. 110 Für das Deutsche in einem entsprechenden kulturellen Spannungsfeld zur lateinischen Hoch- bzw. Schriftsprache, s. z.B. Maas (2012), wo diese Zusammenhänge ausführlich dargestellt sind.
336 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung dersetzung mit dem schriftkulturellen Ausbau der Sprache die Abgrenzung zur Engführung des sprachwissenschaftlichen Gegenstandsverständnisses im Kielwasser der junggrammatischen Programmatik: Schrift wird gerade auch in der Analyse der überlieferten Quellen nicht primär als Verschriftung (der gesprochenen Sprache) verstanden. Das markiert die Leitlinie für einen Neuansatz in der Forschungslandschaft, für den die schon erwähnte Habilitationsschrift von Kauffmann (1890) ein herausragendes Modell bildete, der dort die Eigenständigkeit der Schriftkultur gerade durch den Kontrast mit der bei ihm (als Schüler von Sievers) genau dokumentierten gesprochenen Sprache herausstellte. Damit bildete sich eine neue Tradition von Untersuchungen heraus, in der die oben angesprochene Dissertation von LASCH (1910) steht. Eine systematisierende Arbeit ist die Dissertation von KAISER (1930); den theoretischen „Überbau“ lieferte vor allem R. HÖNIGSWALD, der in seiner Sprachphilosophie die gesprochene und die geschriebene Sprache dual modellierte und so die endemischen Neigungen zur reduktiven Modellierungen überwand (s. auch die bei ihm geschriebene Dissertation von MODRZE zu dieser Frage). Dieser begriffliche Horizont bestimmte aber auch die Arbeit derjenigen, die sich mit ihrer ethnographischen Forschung außerhalb philologischer Reviere bewegten, jedenfalls dann, wenn die untersuchten Sprachgemeinschaften ein Ausbaupotential hatten und nicht nur als Relikte museal konserviert werden mußten (müssen), s. im Katalog z.B. LESLAU oder auch GABAIN, die mit sehr unterschiedlichen Prämissen in strukturellen Beschreibungen die Potentiale zum Ausbau als Schriftsprache im Äthiopischen oder bei Turksprachen ausloteten. Die Orientierung der Forschung auf den Sprachausbau war sowohl in soziogenetischer wie in ontogenetischer Perspektive selbstverständlich, vgl. zum letzteren im Katalog z.B. bei den beiden STERN, bei HETZER u.a. Das wurde erst später anders, wo inzwischen die dominierende „biolinguistische“ Sicht auf Sprache z.B. bei Forschungen zur Sprachentwicklung dazu führt, möglichst eng an dem biologisch gesteuerten Verlauf zu bleiben; entsprechend bricht diese jüngere Forschung vor der Pubertät ab, in der Regel schon vor dem Schuleintritt – anders als in der älteren Tradition, die solche biographischen Einschnitte zum Forschungsgegenstand machte. Insofern bestimmt die Ausrichtung auf den Sprachausbau die Arbeit einer ganzen Reihe derer, die im Katalog dokumentiert sind, vgl. außer den Genannten noch bei ARGELANDER, , BLAU, BOSCH, BRUNNER, DOTAN, ERMAN, H. F. FRAENKEL, GOSHEN-GOTTSTEIN, HETZER, HIBLER-LEBMANNSPORT, JELLINEK, KAHLE, E. LEWY, , E. LÜDERS, H. LÜDERS, NEUMANN, F. RANKE, REICHENBERGER, RICHTER, SCHMITT, SCHWARZ, SPITZER, SPONER; R. A. STEIN; TILLE-HANKAMER, F. WILHELM, WITTEK, G. ZUNTZ. In dieser älteren Traditionslinie ist der Sprachausbau ein prinzipiell offenes Konzept, unter dessen Prämissen die Literatur selbstverständlich gewisserma-
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ßen als dessen Krönung erschien: als Höhepunkt von dessen schriftkultureller Form (zugleich auch verstanden als dem gesetzten Gegenstand der Philologie). Nach 1945 findet sich eine solche Orientierung nur noch bei älteren Fachvertretern (ggf. durchaus auch mit explizit strukturalistischen Vorzeichen, vgl. etwa bei KAHANE) – für die jüngeren machte er keinen Sinn mehr. Nur noch auf der deskriptiv eng geführten Ebene der Verschriftung blieb der Sprachausbau im Blick: in den großen Nationalphilologien bei der Darstellung der Umstellung der Schriftkultur auf die Verschriftung der „Volkssprachen“; in jüngeren Arbeiten auch zur Bewahrung der Minderheitensprachen, die durch ihren entsprechenden Ausbau gerettet werden sollen; ohnehin so bei den „exotischen“ Sprachen in Verbindung auch mit praktischen Standardisierungs- und Kodifizierungsunternehmungen. Fragen, die über den so gedeckelten Blick auf den Sprachausbau hinausgehen, wurden zunehmend arbeitsteilig der Literaturwissenschaft zugewiesen (oder neuerdings dem, was in einer diffusen Redeweise als „Kulturwissenschaft“ firmiert). Der Rückgriff auf die ältere Tradition ist inzwischen auch dadurch belastet, daß sich diese als ein weites und diffuses Feld von unterschiedlichen Positionen darstellt: auf der einen Seite diejenigen, die in dieser Ausrichtung ausdrücklich Sprachwissenschaft betrieben wie vor allem SPITZER, auf der anderen Seite das Feld der sog. „Kulturkunde“ vor allem in den fremdsprachlichen Fächern, bei dem die Preisgabe methodischer Standards mit einer weitgehenden Politisierung zusammengehen konnte (z.T. wurde sie direkt als „Feindaufklärung“ betrieben). Die Auseinandersetzung mit der „Kulturkunde“ bestimmt die Arbeit einer größeren Zahl von Vertretern der Fremdsprachen im Katalog (s. etwa ARONSTEIN, KLEMPERER, KUTTNER u.a.) – und belastet heute die Beschäftigung mit diesen Fragen. Der überwiegende Teil der Sprachforscher, die im Katalog dokumentiert sind, partizipierte an einer solchen Ausrichtung auf Fragen des Sprachausbaus, meist durch die akribische Aufbereitung historischer Quellen, die sie für die darin eingeschriebenen gesellschaftlichen Prozesse lesbar machen soll: bei Keilschriftdokumenten altassyrischer Funde nicht anders als bei Handschriften in frühneuzeitlichen städtischen Archiven. Der von Paul gewürdigte „methodologische Gewinn“ kontrollierter Analyseverfahren kam dabei im Dienste einer darüber hinausgehenden kulturellen Fragestellung zur Geltung: eben der Rekonstruktion des in die Quellen eingeschriebenen Sprachausbaus, auch wenn nur wenige diesen Aspekt ihrer Forschung explizit artikulierten. Weil die ältere, systematisch intendierte Diskussion meist sehr polemisch artikuliert war, wird die Ausrichtung in den Prämissen oft verdeckt, wie es z.B. bei Schuchardt der Fall ist, der in der jüngeren Fachgeschichte gerne als Kron-
338 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung zeuge für eine moderne Neuorientierung ins Feld geführt wird.111 Als Beleg dafür dient Schuchardts emphatische Hinwendung zu den Kreolsprachen, die sich bei ihm auch in wertenden Bemerkungen über die „Kultursprachen“ ausdrückt, wenn er z.B. vom „Luxus unserer Sprachen“ (Schuchardt 1819 [II]: 866) spricht, der den analytischen Blick behindert. Vordergründig gelesen ist das eine Absage an Analyse ausgebauter Schriftsprachen – und so wird Schuchardt denn heute auch gerne als Kronzeuge für die sprachwissenschaftliche Orientierung auf die (spontan) gesprochene Sprache angeführt, insbesondere auf Sprache in kommunikativ eingeschränkten Kontexten bei isolierten Gemeinschaften oder eben bei vielen Kreolsprachen, bei denen der Ausbau „arbeitsteilig“ an die schriftsprachlich „zuständige“ Kolonialsprache delegiert war (ist). Liest man Schuchardts Argumentation aber im Kontext, wird deutlich, daß bei ihm hier eine methodische Maxime im Blick ist: der Sprachausbau in den „Kultursprachen“ (ein Terminus, den S. selbst durchgehend verwendet) wird nur durchsichtig, wenn er von solchen elementaren Bauformen aus rekonstruiert wird. Das war letztlich eine heuristische Option: solche Formen (die uns insbesondere von der „flexivische[n] Belastung“ befreien, ebd. III/ 1920: 448) liefern eine anschauliche Grundlage für die elementaren Sprachstrukturen – sie sind selbstverständlich nicht mit Sprache gleichzusetzen.112 Allerdings blieb Schuchardt in seinen deskriptiven Arbeiten auf Materialien aus sozialen Feldern beschränkt, die keinen sonderlichen sprachlichen Ausbau verlangen (Dorfmundarten, Praktiken in traditionellen Handwerken u. dgl.) – weshalb ihm später SPITZER eine gewissermaßen halbierte Sprachwissenschaft vorgeworfen hat (SPITZER 1948: 3), die nicht nur, aber insbesondere den literarischen Sprachausbau ausblendet. Faktisch ist die Fragestellung des Sprachausbaus der in der ersten Hälfte des 20 Jhd. etablierten institutionellen Arbeitsteilung von Sprachund Literaturwissenschaft zum Opfer gefallen: die Literaturwissenschaft befaßt sich nur mit literarisch ausgebauten Sprachformen – die Sprachwissenschaft zunehmend nur noch mit Formen ohne einen solchen Ausbau (ausgerichtet auf die Interaktion in spontanen Gesprächen) bzw. mit Sprachgemeinschaften, bei denen der Ausbau an andere Sprachen als der Familiensprache delegiert ist.
�� 111 Schuchardts verstreute und oft nur aphoristisch formulierte Bemerkungen sind ein Beispiel dafür, daß zitierende Belege ohne Rückgang auf die dahinter liegende intellektuelle Matrix der Argumentation nichts hergeben bzw. nur Mißverständnisse produzieren können. 112 Damit wandte er sich vor allem auch gegen die damals üblichen spekulativen Ansätze; explizit argumentierte er gegen den Ausgang von „logischen“ Modellierungen wie denen HUSSERLs, deren theoretisches Anliegen er aber teilt und mit denen er sich auch gründlich auseinandergesetzt hatte, s. z.B. in dem gleichen Aufsatzzyklus (III/ 1920: 453).
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5.6.6. Der Sinn dieses Kapitels ist es, eine fachgeschichtliche Folie für den Bruch in der Sprachforschung in der Mitte des 20. Jhd. aufzuspannen. Diese Rede von einem Bruch ist nicht in einem linearen Verständnis der Sprachgeschichte definiert, die in vielen einführenden Darstellungen als Abfolge von fachlichen Ausrichtungen erscheint, die das Fach wie Bahnstationen in der Zeit durchläuft. Die Verselbständigung methodischer Fragen, die diesen Bruch bestimmt, ist (war) endemisch im Fach, freigesetzt durch die Spannung zwischen dem, was sprachwissenschaftlich machbar ist/war, und dem umfassenden Gegenstand der Sprachforschung. Die kritische Schwelle liegt da, wo diese Spannung nicht mehr das Fachverständnis bestimmt. Das zeichnete sich mit dem US-amerikanischen Deskriptivismus seit den 1920er Jahren ab, programmatisch umgesetzt mit der Ausrichtung auf distributionell verankerte Strukturen und vor allem mit einer operationalistischen Reduktion der Begrifflichkeit. Diese Entwicklungen liegen außerhalb des Überblicks in diesem Kapitel; sie reichen aber bei einer Gruppe der jüngeren Emigranten doch noch in den Katalog hinein (s. bei Profil I in 2.6.). In stringenter Form wurde dieses Programm von Z. Harris u.a. auch lehrbuchartig kanonisiert – und von den älteren Fachvertretern in den USA (und in der LSA) durchaus als Bruch empfunden. Selbst jemand, der dieses Programm selbst in seinen Arbeiten umsetzte wie Charles Hockett, sprach in einem späteren Rückblick hier von einem „theoretical nihilism“ (Hockett 1968: 35).113 Aber auch hier gilt es zu sehen, daß dergleichen endemische Entwicklungstendenz des Fachs sind, s. auch die Hinweise zu deskriptiv ausgerichteten Arbeiten im ‚Reich‘ in 6.6.2.114
�� 113 Auch hier sind pauschalierende Aussagen immer falsch, wenn sie nicht nur als charakterisierende Hinweise gelesen werden. Zu den produktivsten Vertretern der deskriptiven USLinguistik dieser Zeit gehören K. Pike und seine Gruppe, die im Summer Institute of Linguistics (SIL) ein strikt methodologisches Verständnis der distributionalistischen Verfahren umsetzten (bei ihnen tagmemics genannt), das für ein umfassendes Verständnis von Sprachforschung dienstbar gemacht werden sollte – als Folge davon, daß es ihnen vorrangig um die Ausbildung von Missionaren ging, die so zu einem kulturellen Verständnis der Gemeinschaften angeleitet werden sollten, in denen sie arbeiten sollten, wozu die praktische Partizipation an der jeweiligen Sprache auch auf einem Niveau gehörte, das die entsprechende Verschriftung religiöser Texte darin ermöglichte. Für die im SIL im Vordergrund stehende Bibelübersetzung war ohnehin die im Bibeltext zu respektierende Registervariation ein methodisches Kernproblem. 114 Dazu gehört auch der bemerkenswerte autodidaktische Anlauf von Hans Glinz, der als Lehrer in der Schweiz damit 1946 in Zürich habilitierte, s. Glinz (1952).
340 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung
5.7 Die theoretische Modellierung 5.7.1. Die Gegenstandsdefinition war bei den Junggrammatikern durch die institutionellen Vorgaben bestimmt und verlangte daher keine weitergehende Klärung wissenschaftssystematischer Fragen. Das führte dazu, daß später im Fach grundsätzliche Fragestellungen nur noch kongruent mit der arbeitsteiligen Zellteilung der Philologien diskutiert wurden, wobei zuletzt die Literaturwissenschaftler mit ihrem Bemühen, sich von dem sprachwissenschaftlichen („junggrammatischen“) Zwangskorsett zu befreien, eine zunehmend dominierende Rolle einnahmen.115 Um die Jahrhundertwende war allerdings noch eine andere wissenschaftssystematische Diskussion bestimmend: die Abgrenzung von Natur- und Geisteswissenschaften, die in der Verfassung der Philosophischen Fakultät verankert war, in der bis dahin auch die Naturwissenschaften angesiedelt waren. Das bestimmte auch die sprachwissenschaftsinterne Diskussion, bei der Hermann Pauls „Prinzipien“ (1880) eine gewisse Leitfunktion hatten. Die Diskussionen um eine Neudefinition der Fächer waren seit der Neugründung der Universitäten am Beginn des 19. Jhds. endemisch, s. 5.3.3. Dabei lassen sich zwei Dimensionen unterscheiden: – die Vergewisserung des disziplinären Gegenstands über eine methodische Kontrolle des Zugangs, – die Modellierung des Gegenstands unter theoretischen Prämissen, die die empirische Interpretation des Modells zu einer unabhängigen Frage macht. Der erstgenannte Aspekt dominiert die wissenschaftstheoretische Neuausrichtung in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. auf einer breiten Front, institutionell verbunden mit der Verselbständigung der Naturwissenschaften. In den gängigen fachgeschichtlichen Darstellungen firmiert er zumeist als Positivismus. Das entsprechende Forschungsprogramm stand in einer Spannung zu der bis dahin orientierenden Matrix, bei der die Grundannahmen der Fächer aus einer (spekulativen) Reflexion stammten, für die an den deutschen Universitäten des 19. (und noch frühen 20.) Jhds. die kantische transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit systematischer Erkenntnis eine selbstverständli-
�� 115 Mit dem sog. Weinrich/Iser-Modell der Bildungsreform der 1960er/1970er Jahre als einem gewissen Endpunkt: der Sprachwissenschaftler/Romanist Harald Weinrich (geb. 1927) und der Literaturwissenschaftler/ Anglist Wolfgang Iser (1926–2007) legten damals einflußreiche Vorschläge zur Neuschneidung der Fakultäten in Hinblick auf methodisch definierte Disziplinen vor, die für die seinerzeit gegründeten neuen Universitäten auch strukturbildend wurden.
Die theoretische Modellierung � 341
che Basis bildete. Dem stand eine Orientierung auf kontrollierte Beobachtungen gegenüber, auf die Sicherung der entsprechenden Daten, mit der Folge einer zunehmenden Atomisierung des Gegenstandsfeldes, dessen Einheit dann sekundär wieder aus der Zusammensetzung von Einzelbeobachtungen gewonnen werden sollte. Diese Position wurde so z.B. von Helmholtz artikuliert: wie auch dieser waren die wichtigsten Vertreter der neuen wissenschaftlichen Programmatik oft als Mediziner ausgebildet, die ihren Forschungsansatz in Auseinandersetzung mit der neuen, auch experimentell umgesetzten, Physik fanden. Kognitives, darunter insbesondere auch die Sprache, war in dieser Sicht zunächst einmal auch in physikalischen Beobachtungen greifbar, allerdings nicht auf die Strukturen des kognitiv bearbeiteten Gegenstandes reduzierbar (als dessen mehr oder weniger mechanischer Reflex). Auf diese Spannung reagierten die vielfältigen Ansätze zur Bearbeitung des sog. psycho-physischen Parallelismus, der die philosophischen Diskussionen des ausgehenden 19. Jhds. bestimmte.116 Die physikalistische Interpretation dieses Forschungsprogramms hatte schon am Ende des 19. Jhds. ihre Selbstverständlichkeit verloren. Dabei bewegte sich die wissenschaftstheoretische Diskussion weiterhin selbstverständlich im Horizont in der damals schulisch kanonisch vermittelten kantischen Grundkonzepte: Begriffe sind demnach ideale Größen, die Erfahrungen ihre Struktur geben – sie können insofern nicht (induktiv) aus Sinnesdaten (Wahrnehmungen wie z.B. in experimentellen Arrangements) entwickelt werden. Diese theoretische Prämisse sollte beim Ausbau einer spezifischen wissenschaftlichen Theorie durchgehalten werden. Daraus resultierten die unterschiedlichen Ansätze zu einer empirisch umgesetzten Forschung, von denen vor allem die Arbeiten von Wundt für die Sprachforschung eine gewisse Leitfunktion erhielten. Da, wo ein großer, apparativ gestützter Forschungsbetrieb aufgebaut wurde wie in Wundts psychologischem Forschungslabor in Leipzig, wurde das theoretisch begründete Programm nur noch i.S. einer kontrafaktischen forschungsleitenden methodischen Annahme verstanden.117
�� 116 Allerdings wurde auch von den harten Vertretern einer positivistischen Orientierung der Parallelismus nie in seiner naiven Form vertreten: auch Helmholtz setzte schließlich bei dem Grundproblem an, daß die Wahrnehmung im dreidimensionalen Raum ihren Ausgangspunkt bei dem zweidimensionalen „Bild“ auf der Retina hat – was eine simple physiologische Reduktion ausschließt. 117 Wundt definierte zwar ein operationalisierbares Forschungsprogramm, dessen Grundbegriff die assoziative Verknüpfung zwischen Vorstellungen war, wandte sich aber explizit gegen eine Reduktion sprachlicher Strukturen auf in diesem Sinne meßbare Erscheinungen. Seine große Summe der zeitgenössischen Sprachforschung (1900) hatte in der Fachdiskussion einen
342 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Das erklärt den widersprüchlichen Status der Wundtschen sprachtheoretischen Annahmen. Zu denen gehört einerseits eine formale Begrifflichkeit wie vor allem in seiner Syntax mit dem Grundkonzept Satz und einer Konstituentenanalyse, die im Fach denn auch so fortgeschrieben worden ist: als Strukturanalyse, wie sie die strukturalistischen Ansätze von Saussure über Bloomfield bis Chomsky (jedenfalls in dessen frühen Arbeiten) definiert; andererseits aber die Unmöglichkeit, so die konkrete Sprachpraxis zu erklären (die Saussure denn auch als parole ausklammerte – wie Chomsky die performance …). Gegen einen solchen „deduktiven“ Ansatz standen spiegelverkehrte Versuche, die theoretische Begrifflichkeit aus Beobachtungen der sprachlichen Akte zu entwickeln: einflußreich so Wegener, dessen Überlegungen Paul auch in seinen „Prinzipien“ explizit aufgriff. Einen einflußreichen argumentativen Rahmen für den Umgang mit diesen Problemen gab Fechners Psychophysik (s. Fechner 1860), die die Rekonstruktion kognitiver Strukturen nicht im versuchten direkten Durchgriff auf ein materielles (biologisches) Substrat suchte, sondern in der Modellierung von beobachtbaren Reaktionen auf Physikalisches. Mit angesetzten statistisch definierten Schwellenwerten für die beobachtbare Variation im Verhalten wollte Fechner die kognitiven Strukturen im Umgang mit physikalischen Daten greifbar machen. Die Psychophysik bildete den expliziten Rahmen für eine ganze Reihe von ansonsten heterogenen Ansätzen in diesem Katalog, explizit so bei den frühen Arbeiten von BOAS, aber auch bei W. STERN, TRUBETZKOY, und nicht zuletzt auch bei FREUD (s. bei diesen). Fechner korrelierte physikalische Messungen mit Wahrnehmungsstrukturen; mit statistischen Verfahren, kalibriert auf von ihm postulierte Schwellenwerte, versuchte er gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen beiden zu etablieren. Im Sinn dieses Programms bemühte sich z.B. BOAS, mit operational kontrollierten Beobachtungen seine Gegenstände durch die Art, �� autoritativen Status – sie führte auch international den sprachwissenschaftlichen Nachwuchs nach Leipzig wie z.B. Leonard Bloomfield, der sein erstes großes Werk (1914) denn auch als Umsetzung Wundtscher Ideen verfaßte. Allerdings setzte Wundt explizit gegen eine „kulturwissenschaftliche“ Programmatik wie bei Paul, die für ihn methodisch ungenügend kontrolliert war, eine Systematisierung mit eigenständigen sprachlichen Strukturen, die er (insofern durchaus in der Linie der strukturalen Weiterentwicklung des Faches) mit Feldstrukturen zu fassen suchte, deren relativ autonome Dynamik eben auch die idiomatische Besonderung von Einzelsprachen bzw. die Verfestigung diachroner Entwicklungen erklären sollte. Mit der Explikation dieser dynamischen Strukturen beanspruchte er explizit das Erbe der humboldtschen Reflexionstradition: mit dem Rückgriff auf die innere Form, die ggf. gegen den weitgehenden Wandel in der äußeren Form Bestand haben kann – womit er auch recht umfassend sprachtypologische Fragestellungen aufnahm, die seine Reklamation einer Grundlegung der „Völkerpsychologie“ erklären (s.u. auch zu Lazarus und Steinthal).
Die theoretische Modellierung � 343
wie Menschen mit ihnen umgehen, zu modellieren (ob nun physikalische Abläufe, landschaftliche Verhältnisse oder eben die Sprache) – von heute her gesehen also ein kognitionswissenschaftliches Forschungsprogramm.118 Eine andere Umsetzung war die Psychophonetik, die entsprechend die seriellen Strukturen im Umgang der Sprecher einer Sprache mit ihren lautlichen Differenzierungsmöglichkeiten explorieren wollte, von heute her gesehen also in einer Protophonologie, wie sie vor allem TRUBETZKOYs frühe Arbeiten bestimmt, der auch selbst dort von „Psychophonetik“ sprach (s. den Eintrag zu ihm im Katalog). In diesem konzeptuellen Rahmen bewegten sich damals viele, die nach einer Überwindung der blockierenden Gegenüberstellung von Geistes- vs. Naturwissenschaften suchten; eine systematische Umsetzung dieses Programms ist später noch Zwirners „Phonometrie“, s. 6.8.4. Um die Jahrhundertwende kam es zu einer Reorientierung dieser programmatischen Diskussionen, ausgehend von den Grundlagendebatten in der Psychologie, die zu deren kognitiver Neuausrichtung („Denkpsychologie“) führten. Vor allem die sog. Gestaltpsychologie markierte hier einen Wendepunkt, die die unmögliche Reduktion von kognitiven Kategorien auf physikalische Reize und Ketten von Reaktionen auf diese nachwies (wie es die experimentelle Psychologie damals und auch noch lange später versuchte).119 Gestalt wurde als integrierendes Konzept zu einem Leitbegriff, mit dem insbesondere am Berliner Forschungsinstitut von Stumpf nach systematischen theoretischen wie empirischoperationalen Neuansätzen gesucht wurde, wo zunächst auch Wertheimer als einer der Begründer des gestaltpsychologischen Forschungsansatzes tätig war.120 Vor allem in Wahrnehmungsexperimenten wurden die Gestalten als unabhängige Größen identifiziert, die gegenüber den „Reizen“ auch relativ robust waren, wie Experimente mit systematisch kontrollierten Störungen zeigten.
�� 118 Das Forschungsprogramm bleibt auch mit dieser Bezeichnung aktuell, wie z.B. die Zeitschrift Perception and Psychophysics zeigt (erscheint seit 1966). 119 Die Gestaltpsychologie wurde vor allem auch im Exil ausgearbeitet. Die drei führenden Figuren waren in die USA emigriert: K. Koffka bereits 1927, M. Wertheim 1933, W. Köhler 1935. Eine systematische Darstellung findet sich bei Metzger (1940) – Metzger (1899–1979) war einer der Protagonisten der theoretischen Diskussion; für einen jüngeren Überblick s. auch Köhler 1971. Systematisch werden die wissenschaftstheoretischen Implikationen entwickelt bei A. Gurwitsch (1966). Zu diesem, einem rassistisch verfolgten Emigranten, s. den Nachruf von Ambree (1974) und im Katalog bei GOLDSTEIN. 120 Für eine sehr detaillierte Rekonstruktion dieses Spannungsfeldes und seiner Entwicklungen, s. Ash 1995; in der Entwicklungslinie der jüngeren Psycholinguistik Levelt (2013).
344 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Eine Schlüsselrolle hatten Experimente mit Vexierbildern. Deren unterschiedliche Deutungen (z.B. als Vase gegenüber Gesichtern, einem Kaninchen gegenüber einer jungen Frau...) sind ja an physikalisch (graphisch) gleichem Material auf dem Papier festgemacht: mit jeder Deutung wird diese Materialität anders konfiguriert, und entsprechend der daraus resultierenden Interpretation werden auch die einzelnen Bestandteile anders gesehen. Gleichzeitig zeigte sich bei komplexen kognitiven Aktivitäten, daß die „Gestaltschließungsmechanismen“ durchaus in eine widersprüchliche Spannung geraten konnten, wobei die Lösung in einer Art Priorisierung zwischen den verschiedenen Optionen lag.121 Für die meisten Gestaltpsychologen waren sprachliche Leistungen zu komplex, um unter Laborbedingungen explorierbar zu sein; daher finden sich bei ihnen in dieser Hinsicht meist auch nur eher allgemeine Hinweise zur Sprache, am konkretesten noch in Hinblick auf Lautstrukturen (s. im Katalog bei SAPIR, der dazu mit dem Gestalttheoretiker Koffka zusammenarbeitete). Es gab aber auch Versuche, unter diesen Prämissen sprachanalytische Grundkonzepte zu klären, s. im Katalog bei GELB. In der „Denkpsychologie“, wie sie vor allem Külpe etablierte, war die Sprachforschung ohnehin zentral, für die BÜHLER unter diesen Prämissen die theoretischen Grundlagen zu klären versuchte, vgl. auch SELZ; schließlich definierte HUSSERL ein systematisches theoretisches System, indem er die kognitiven Strukturen (darunter die „Gestalten“) als ideale Größen nachwies, die der Wahrnehmung bzw. jeder empirischen Betätigung vorgängig sind. In der fachinternen sprachtheoretischen Reflexion konvergierte das mit den Bemühungen um eine innere Form als Konstante jenseits der deskriptiv aufbereiteten Beobachtungen der Variation/ Verschiedenheiten, s.o. Damit waren grundlegende Fragen aufgerufen, für die eine Darstellung wie Pauls „Prinzipien“ (1880) keine Antwort geben konnte – diese waren ja auch von Paul selbst nur als Systematisierung der fachlich etablierten Forschungspraxis intendiert. Bei den theoretisch ambitionierten Fachvertretern war damals die Unmöglichkeit, kognitive Kategorien auf physikalische Reize und Ketten von Reaktionen auf diese zu reduzieren, weitgehend Konsens. Dieser intellektuelle Horizont bildete den Rahmen für eine ganze Familie von Ansätzen in der Sprachwissenschaft, die sich einer Reduktion des menschlichen Verhaltens auf gegenständlich verstandene Strukturen verweigerte. Der Physikalismus der Sprachforschung der Junggrammatiker, der von einer konstanten ReizReaktionskette zwischen der Wahrnehmung und ihrer Deutung ausging (also
�� 121 Von der Theoriearchitektur findet sich hier also schon das Grundkonzept dessen, was heute als Optimalitätstheorie entfaltet wird.
Die theoretische Modellierung � 345
bei Lauten und Buchstaben),122 war damals gerade auch durch die jüngere empirische psychologische Forschung desavouiert (etwa bei Stumpf). Pauls Versuch einer Standortbestimmung diente seinerzeit oft als Ausgangspunkt für die unternommenen wissenschaftstheoretischen Klärungsversuche, etwa in der einflußreichen Systematisierung von Rickert (1898). Dieser zerpflückte die „junggrammatisch“ naiv postulierte Gesetzmäßigkeit des Sprachlichen, weil sie dieses mit dessen materiellen Aspekten identifiziert, nicht aber mit dem, was genuin sprachlich ist, das an die soziale Verfaßtheit von Sprachgemeinschaften gebunden ist: sprachliche Regularitäten sind dadurch konstituiert, daß sie in Sprachgemeinschaften Geltung haben. Das war zwar durchaus auch einer der leitenden Gesichtspunkte bei Paul, der mit seinem Konzept des usus Sprachstrukturen als soziale Größe ansprach, der die individuell variierende Sprachpraxis als etwas Instabiles gegenüber steht. Aber auch wenn er (explizit im Rückgriff auf Wegener in den fortlaufenden Bearbeitungen seiner „Prinzipien“) Sprachstrukturen von ihren Leistungen für die kommunikative Orientierung des Hörers betrachtete, konnte er sich von der psychologisierenden Prämissen nicht lösen, diese Strukturen in den Kopf des Sprechers hineinzuverlagern. An diesen Widersprüchen setzte Rickert an, indem er die Grundannahmen systematisierte und damit den in der Weiterentwicklung der Sprachwissenschaft grundlegenden Begriff eines sozial gebundenen sprachlichen Systems explizierte. Dabei ist Rickerts Grundbegriff der Wertung sprachlicher Tatsachen dual zu der naturwissenschaftlich immer möglichen Beschreibung.123 Insofern ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft nicht universal (mit notwendig zu rekonstruierenden Gesetzen), sondern immer historisch kontingent, eben kulturell. Paul markiert einen Wendepunkt in der sprachtheoretischen Reflexion, wie an den Widersprüchen in seiner Argumentation in den „Prinzipien“ deutlich ist.124 Einerseits operierte er bei der Darstellung der grammatischen Verhältnis�� 122 So noch explizit in den protophonologischen Analysen von BOAS („On alternating sounds“, 1889), bestimmt durch seine theoretische Orientierung an der Psychophysik. 123 Dafür stand in den Gründungsdiskussionen der strukturalistischen Neuansätze wie vor allem im Prager Zirkel (s. im Katalog bei TRUBETZKOY) exemplarisch die Diskussion um den Gegensatz von Phonetik und Phonologie. Systematisch wurde diese Begrifflichkeit in den Folgediskussionen weiter entfaltet, ausgehend von den deskriptiven sprachwissenschaftlichen Vorgehensweisen, aber in der Wirkung weit darüber hinausgehend in Pikes Gegenüberstellung von emischen Begriffen, die im Sinne Rickerts sozial gebundene Wertungen von physikalisch beschreibbaren Fakten sind, die Pike etisch nannte. Zwar ist diese Begrifflichkeit in der jüngeren, generativistisch dominierten Gegenstandsreflexion nicht mehr üblich, sie wird aber in der Ethnologie fortgeschrieben (Pike schloß mit ihr direkt an SAPIR an, s. Pike 1959). 124 Recht klar hat das Knobloch (1997) herausgestellt; s. jetzt auch Auer / Murray (i.E.).
346 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung se mit strukturellen Mustern, die im Sinne von Saussures „Cours“ als „synchron“ zu verstehen sind: als Formen sprachlicher Äußerungen, die durch die soziale Kontrolle im usus, dem der Sprecher unterworfen ist, vorgegeben und vom Sprecher anzueignen sind. Andererseits vermischt er doch immer in der Rückbindung an den Sprecher (den Dingen in dessen Kopf) und die konkreten Erscheinungen einer Äußerung die spekulativen Erklärungsversuche für die Genese grammatischer Strukturen (das prädikative Grundschema des Satzbaus, grammatische Kategorien wie Kongruenzmarkierungen u.dgl.) mit deren Analyse. „Jede grammatische Kategorie erzeugt sich auf der Grundlage einer psychologischen“ heißt es bei ihm (Paul 1880/ 1920: 263): das Satz-Schema der Prädikation fundiert für ihn in Wahrnehmungsstrukturen der Äußerung, verankert in medialen Besonderheiten der lautlichen Artikulation wie z.B. der „Tonstärke“ (ebd. 124–126); syntaktische Kohärenzmarkierungen z.B. durch Genusformen zeigen die Genese in der „Phantasie“ des Sprechers im metaphorischen Umgang mit semantischen Sexus-Differenzierung (ebd. 264) u.dgl. Hier schuf erst HUSSERL die begrifflichen Voraussetzungen für eine systematische Analyse der grammatischen Form, die die Erlebnisqualitäten der Äußerung und ihrer Wahrnehmung ebenso wie die medialen Besonderheiten „einklammert“ (s. die Hinweise in dem Eintrag zu ihm im Katalog). BÜHLER hat diesen Ansatz dann mit einer Musterung der grammatischen Grundstrukturen weitergeführt. Um die Jahrhundertwende war in allen Disziplinen eine Neuorientierung angesagt, nicht nur in den Geisteswissenschaften: die neue Physik (emblematisch mit der Relativitätstheorie) gehört ebenfalls hierher, vor allem aber auch die Mathematik, die damals noch als „Geisteswissenschaft“ par excellence in der Philosophischen Fakultät angesiedelt war. Deren Axiomatisierung, die Hilbert um die Jahrhundertwende in Angriff nahm, führte zu einem neuen Verständnis von Theoriesystemen. Auch wenn eine im strikten Sinne formale Sprachtheorie damals nicht im Horizont war, so definierte diese Problemkonstellation ein theoretisches Desiderat auch in der Sprachforschung bzw. disziplinär enger geführt: in der Sprachwissenschaft. Im Sinne der damals akademisch noch selbstverständlichen kantischen Reflexionstradition ging es darum, auch für deren Grundannahmen eine „transzendentale“ Begründung zu geben. 5.7.2. Vieles von dem, was heute zum Kern des Selbstverständnisses des Fachs gehört, bildete sich in der Matrix von nicht-philologischen Fächern heraus, die mit der Neuorganisation der Fakultäten am Ende des 19. Jhds. aus der Philosophischen Fakultät heraus drängten (und die heute auch niemand mehr dorthin oder in eine der Nachfolge-Abteilungen integrieren würde). Das gilt so insbesondere für:
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die strenge Formanalyse über eine symbolische Modellierung, ausgehend von der formalisierten Mathematik/Logik zu Beginn des 20. Jhd., die die Grundlage für die moderne Grammatiktheorie ist, den kognitiven Erklärungshorizont, der mit der neuen Psychologie im letzten Drittel des 19. Jhd. in einem eigenen Fach exploriert wurde, das einerseits die physischen Grundlagen in der experimentellen Forschung untersuchte (hier im Rückgriff auf die Medizin, in der einige der frühen Fachvertreter auch ihre Ausbildung erfahren hatten), das dann aber versuchte, die Prozesse hinter den daraus extrapolierbaren Strukturen systematisch zu erfassen. In diesem Kontext entstanden die Arbeiten, die in der heute überwiegend kognitiv verstandenen Sprachtheorie fortgeführt werden, die Untersuchung der sozialen Verkehrsformen, in denen sprachliche Formen Geltung haben und so genutzt werden, wodurch sie zugleich die Gemeinschaften konnotieren, in denen sie Anerkennung finden – was Grundfragen der sich herausbildenden neuen Soziologie waren, die sich gewissermaßen arbeitsteilig zu der Untersuchung individueller (leibgebundener) Praktiken in der Psychologie und der abstrakten Modellierung in Logik und Sprachphilosophie etablierte, die Untersuchung ökologischer Verhältnisse, in denen Sprache als Form des Umgangs mit den natürlichen Randbedingungen des Lebens in den Blick genommen wird (nicht nur geologische Faktoren, auch das Klima, die periodisch beschränkte Mobilität und Zugang zu den Nahrungsmitteln u.dgl.), so in der „anthropogeographisch“ angegangenen Geographie, bei der die sprachliche Aneignung der Natur zwangsläufig mit im Blick war, wozu auch ethnographische Feldforschungen betrieben wurden (für die die philologische Tradition gewissermaßen definitionsgemäß keinen Platz hatte).125
Im Windschatten dieser Dynamik definierte sich auch die Philologie neu: ausgehend von ihrer traditionellen Kernaufgabe als Kurator der (schriftlich) überlieferten Texte, wurde sie zunehmend auf deren Interpretation fokussiert, mehr oder weniger auch im Rückgriff auf hermeneutische Techniken, die traditionell in der Rechtswissenschaft und in der Theologie etabliert waren. Die traditionelle Ausrichtung auf die zentral gesetzten Texte, an denen sich Medizin, Theologie und Rechtswissenschaft abarbeiteten, wurde implizit zu einer Wertung der betrachteten sprachlichen Formen: mit der Orientierung an „hochkulturellen“ �� 125 Hier können die frühen Arbeiten von BOAS exemplarisch genommen werden.
348 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Texten in ihrer besonderen Gestalt, möglichst ausgerichtet auf deren (ggf. angenommenen) Autor. Zwar erschienen am Ende des 19. Jhd. erste Beiträge, die den literarischen Gegenstand unphilologisch fassen und die Frage nach dem, was einen Text zum Kunstwerk macht, als eine eigenständige disziplinäre Herangehensweise in den Blick nehmen. Aber erst sehr viel später führte das im 20. Jhd. zur Herausbildung einer eigenen Literaturwissenschaft, s. 5.5. Das damit aufgespannte disziplinäre Spannungsfeld ist erst in jüngerer Zeit dominant geworden: um die Jahrhundertwende war es institutionell noch nicht existent. Der Ausbau der sprachlichen Fächer stellte auch das so „reformierte“ philologische Fachverständnis infrage: schließlich waren auch „schriftlose“ Sprachen bzw. Kulturen im Blick, und auch innerhalb der großen Nationalphilologien war mit der boomenden Mundartforschung eine in diesem Sinne unphilologische Methodik gefordert.126 Dadurch waren Anleihen bei bzw. die Durchlässigkeit zu den nicht-philologischen Disziplinen zwangsläufig: so bei der grundlegenden Phonetik (also bei der Medizin bzw. der Psychologie) und bei Feldforschungsmethoden (s.o. oben zur Geographie). Vor allem aber entstand ein durchlässiges Feld zur Reflexion grundlegender Fragen gegenüber der sich neu formierenden Logik/Sprachphilosophie mit ihrem Bemühen um eine Klärung dessen, was als Sprache zu verstehen ist. Kann man deren Leitfrage, die vor allem HUSSERL in ein stringentes Arbeitsprogamm umgesetzt hat, als Frage danach explizieren, was notwendig zu einem Verständnis von Sprache gehört (R.HÖNIGSWALD sprach in diesem Sinne von dem zu suchenden Begriff von Sprache), so lassen sich demgegenüber die empirisch ausgerichteten sprachwissenschaftlichen Forschungen als Explikation dessen verstehen, was als Sprache möglich ist – und was so als Korrektiv gegenüber spekulativen Überlegungen dienen kann. Auf dieser Basis entwickelte sich eine ausgesprochen lebhafte Diskussion, die vor allem auch in den Zeitschriften ausgetragen wurde, �� 126 Eine wichtige Rolle spielten hier auch außerakademische Horizonte: die pragmatischen Zwänge des Umgangs mit „Eingeborenen“ und ihren Sprachen in der Kolonialverwaltung nicht anders als bei Missionaren, denen zunächst zwar außeruniversitäre Ausbildungsinstitutionen entsprachen, die dann aber mit neuen Fächern wie z.B. der Afrikanistik in die Universität verlagert wurden. Damit entstanden neue fachsystematische Konstellationen. Die „Praktiker“ in diesen außerakademischen Arbeitsfeldern griffen zwangsläufig mehr oder weniger naiv bei der Analyse sprachlicher Erscheinungen auf die Reflexionskategorien zurück, die sie aus der Schulzeit mitgenommen hatten. Dafür sprach schließlich auch, daß sie ihre Kenntnisse in der Regel im direkten Umgang mit den Sprechern dieser Sprachen (also in Aufenthalten in den jeweiligen Ländern) erworben hatten und dann dieses Erfahrungswissen so auch ggf. in den entsprechenden Ausbildungsinstitutionen weitergaben, s. 6.8.2. für die „moderne“ Lösung der daraus resultierenden Konfliktsituation im ‚Reich‘ nach 1933.
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wobei sich die jeweils einzelsprachlich besondere Formierung als spezifische Fragestellung der Sprachwissenschaft herauskristallisierte (im Sinne der Goetheschen Morphologie – später mit dem Saussureschen Systembegriff belegt). Seit dem Ende des 19. Jhds. kam es so zu einer Umpolung der Dominanzverhältnisse in der alten Philosophischen Fakultät; dabei bildete die Sprachforschung den harten Kern in der philologischen Traditionslinie, gewissermaßen anschließend an ihre früher unverzichtbaren Dienstleistung für die traditionellen großen Fächer Medizin, Jura und Theologie. 5.7.3. Die Etablierung der sprachwissenschaftlichen „Normalforschung“ in den ausgebauten universitären Seminaren setzte einen Druck auf eine theoretische Reflexion frei, dem die methodologischen Überlegungen von Hermann Paul nicht genügten. So entstanden am Ende des 19. Jhd. überall in der sprachwissenschaftlichen Welt systematisch intendierte Arbeiten, die sich der konzeptuellen Grundlagen der Sprachforschung zu vergewissern suchten. Aber die Neuorientierung spielte sich nicht nur über solche Kompendien ein. Zu den einflußreichsten Stellungnahmen gehörten damals die von Schuchardt, der bemerkenswerterweise nie eine entsprechende Monographie vorgelegt hat: mit seinen Arbeiten, aber auch mit seinen oft nur kursorischen Anmerkungen war er eine Autorität in der zeitgenössischen Diskussion (die Zusammenstellung seiner Überlegungen durch SPITZER lag gewissermaßen erst post festum vor: Schuchardt [1928]). Wie oben schon dargestellt (s. 5.6.3.) suchte Schuchardt die konzeptuelle Vergewisserung in der Anschauung frugaler Sprachpraktiken und ihrer grammatischen Verfestigung, also in dem, worin Kultursprachen wie z.B. modernes Hochdeutsch oder auch Latein mit Kreolsprachen oder Esperanto äquivalent sind. Damit lag er durchaus auf der Linie der junggrammatischen Hinwendung zur gesprochenen Sprache und zu kommunikativen Praktiken, damit zu leibgebunden sprachlichen Ausdrucksformen. So hatte ja auch Paul in seinen „Prinzipien“ die Fundierung für komplexe Strukturen etwa der Syntax in Gliederungsmarkierungen der gesprochenen Sprache (der Prosodie) gesucht (was im übrigen in der neueren Diskussion weitergeführt wird). Das grundlegende Problem dabei war, daß Sprache nicht durch „natürliche“ Fakten definiert ist: durch die anschaulich zugänglichen Vorgaben der Biologie oder auch der kommunikativen Praktiken, sondern durch den Umgang mit diesen. Der spezifische Gegenstand der Sprachwissenschaft (enger geführt der Grammatikreflexion) sind die dabei leitenden Strukturbildungen, die gegenüber den ggf. so strukturierten Äußerungen vorgängig sind. Strukturbildungen waren schon in der Tradition der antiken Sprachreflexion ein zentrales Moment gewesen: als Faktor der „Analogie“. Daran schloß die zeitgenössische Psychologie an, die die entsprechenden Strukturen, ggf. experimentell kontrol-
350 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung liert, aus beobachtbarem Verhalten im Umgang mit Äußerungen zu extrapolieren suchte. HUSSERL hatte gezeigt, daß dergleichen kein tragfähiger Boden für eine theoretische Explikation ist: die Suche nach Erklärungen der Strukturen in der Beobachtung von Denk- und Empfindungserlebnissen ist für ihn eine psychologistische Entgleisung, die eben auch die jungrammatischen Überlegungen bestimmt – und ihren Niederschlag in Saussures „Cours“. Unter diesen Prämissen läßt sich Sprache nur als Ausdruck verstehen, nicht in ihren kognitiv kontrollierten Funktionen, in denen aber ihre Spezifikum gesehen werden muß (nicht zuletzt in Abgrenzung zu anderen Kommunikationssystemen wie z.B. dem der Tiere). HUSSERL hat mit seinem radikalen Versuch einer theoretischen Modellierung ohne solche „Materialentgleisungen“ auch für die Sprachwissenschaft im engeren Sinne Vorgaben gemacht, insbesondere mit seiner „universalen Grammatik“ in den „Logischen Untersuchungen“ (1901–1902). Wie auch die unmittelbare zeitgenössen Wirkung zeigt, lag darin die entscheidende theoretische Wende im Fach. 127 Entsprechend breit gestreut war die Rezeption. In Deutschland wird sein Ansatz bei allen aufgenommen, die theoretisch ambitioniert waren: 128 Ammann, Ipsen, Porzig, vgl. noch im Katalog NEHRING, HÜBENER, SEIDEL und auch noch bei Jüngeren, deren Werk erst unter Migrationsbedingungen seine Form erhielt: PULGRAM, SANDMANN, vgl. auch SPRINGER. Das betraf die Sprachforschung im weiten Sinne, also auch Fachvertreter, die sich vor allem mit der literarisch geformten Sprache befaßten, vgl. HAMBURGER, HOMEYER. Bei Psychologen war er ohnehin als Autorität gesetzt, vgl. bei CH. BÜHLER, K. BÜHLER, GEB, GOLDSTEIN, SELZ, ähnlich bei Soziologen: MARCUSE, VÖGELIN. HUSSERLs phänomenologisches Herangehen bestand im „Einklammern“ aller Faktoren, die bei seinem begrifflichen Rekonstruktionsversuch nicht denknotwendig waren. In seinem frühen Werk, vor allem in den „Logischen Untersuchungen“ explorierte er entsprechend nur grammatische Strukturen, die direkt auch Implikationen für die Artikulation von Propositionen hatten – alle anderen Momente der sprachlichen Äußerung wurden „eingeklammert“. Das beschränkte allerdings die Möglichkeit, seinen Ansatz empirisch fruchtbar zu machen. In seinem späten Werk hat er darin auch die theoretisch unzulässige �� 127 S. den Katalogeintrag zu HUSSERL für die internationale Rezeption. 128 Die zeitgenössiche Etikettierung eines solchen Versuchs war der Titel „Logik von …“. Dabei verweist Logik nicht im heute üblichen Sinne auf die formale Logik, sondern auf gr. logos, das für Absolventen des humanistischen Gymnasiums in seiner Bedeutung als Begriff selbstverständlich „gewußt“ war. Dem steht heute außer der Festlegung von Logik auf das Geschäft der formalen Logik auch die in der Grundschule eingeübte Inflationierung von Begriff als synonym mit Wort entgegen.
Die theoretische Modellierung � 351
Engführung der Reflexion auf das „einsame Seelenleben“ gesehen und den konstitutiven sozialen Raum der Sprache in seine Überlegungen hineingenommen: die Bindung der Zeichenstruktur an ihre Geltung für andere, und noch weitergehend: die Sprache als Ressource, auf spezifisch menschliche Art, das (Über-) Leben zu meistern, im Umgang mit immer Neuem, nicht beschränkt auf die Reproduktion von Herkömmlichem, das nur die materiale Seite der Sprache (des Sprach-Lernens) bestimmt. 129 Eine konsequente Umsetzung des HUSSERLschen Ansatzes hat K. BÜHLER unternommen, der dessen Grammatiktheorie in einer Dimension seiner mehrdimensionalen Modellierung aufnahm (in der Darstellungsfunktion, s. den Eintrag zu BÜHLER im Katalog). So gab es nach der Jhd.wende durchaus ein breitgestreutes Bemühen um eine Abklärung der theoretischen Grundlagen der Sprachforschung, die weit über die Engführung zu einem sprachwissenschaftlichen „Paradigma“ am Ende des 19. Jhds hinausging, wobei auch dessen Grenzen zur Disposition standen. Das galt für das Fach generell, also nicht nur für den Wissenschaftsbetrieb in Deutschland. Auch international hatte die HUSSERL-Rezeption dabei eine Schlüsselrolle, wofür vor allem die Arbeiten von Roman Jakobson repräsentativ sind, der sich schon in Moskau intensiv mit HUSSERL auseinander gesetzt hatte (s. den Eintrag zu HUSSERL im Katalog) und damit später in Prag zur treibenden Kraft bei der Neubegründung eines strukturalen Forschungsprogramms wurde. Aussagekräftig ist dafür seine Prager Dissertation (1929/1930, s. Fn. 87 in 5.6), in deren programmatischem Teil er eine radikale Absage an die jungrammatische Konzeption formuliert, die mit der „positivistischen“ Ausrichtung auf den Sprecher den analytischen Gegenstand Sprache verfehlt. Für die gesuchte Neuorientierung konnte Saussures „Cours“ keine Basis sein: in den Beiträgen aus dem Prager Circle de Linguistique in den 1930er Jahren fungieren die Verweise darauf denn auch vor allem zur Abgrenzung mit dem Nachweis, daß dessen Schematisierung (Diachronie vs. Synchronie, langue vs. parole usw.) mehr verdecken als deutlich machen. Letztlich deckt sich diese Einschätzung wohl auch mit der von Saussure selbst, der seine systematischen Überlegungen auch nicht bis zu einer abschließenden Publikation weitergeführt hat: ihre am weitesten ausgearbeitete Form haben sie in seinem frühen „Mémoire“ gefunden, s.u. und schon 5.4.5. 130 �� 129 Vermittelt über Schütz wurden das entscheidende Anstöße für die neuere Soziologie und damit insbesondere auch für soziolinguistische Arbeiten, vgl. im Katalog bei GUMPERZ. Zur französischen Rezeption bei Merleau-Ponty u.a. s. den Eintrag im Katalog. 130 Die Unklarheiten im „ Cours “ spiegeln die Probleme, die Saussure selbst sah. In einem Brief (vermutlich) vom 4.1.1894 an A.Meillet schrieb er zu seinen damaligen Analysen: „Mais je suis bien dégoûté de tout cela, et de la difficulté qu'il y a en général à écrire seulement dix
352 � Zur fachgeschichtlichen Einordnung Das Feld der gesuchten theoretischen Neuansätze im ersten Drittel des 20. Jhd. ist breit gestreut. Dazu gehören z.B. die Arbeiten von Hendrik Pos, der zwar in den Niederlanden eine philosophische Professur hatte, aber in der Klassischen Philologie verankert war (und Arbeiten zur „inneren Form“ des Griechischen unternahm). Nicht zuletzt vor den endemisch aufbrechenden Unklarheiten im Umgang mit dem „Natürlichen“ in der aktuellen sprachwissenschaftlichen Diskussion lohnt seine Heidelberger Dissertation (Pos 1922) auch eine heutige Lektüre. Wie bei seinem Doktorvater Rickert ist der Gegenstand der Sprachwissenschaft für Pos kulturell, also an eine nur historisch zu fassende soziale Geltung gebunden, mit der Natürlichem (den Zeichen in ihrer materiellen Verfaßtheit) Bedeutung zugeschrieben wird.131 Im Sinne der HUSSERLschen Phänomenologie ist dieser grundlegende Akt, der Sprachliches erst konstituiert, nicht als psychisches Erleben zu fassen, sondern über die Explikation seiner allgemeinen, den konkreten Handlungen und Erlebnissen vorgängigen Strukturen. Dabei arbeitet Pos sich im Detail an der junggrammatischen Programmatik ab, Sprachentwicklung (Sprachwandel) zu modellieren (im ausführlichen Rückgang auf Hermann Paul), bei der er die gesuchten naturwissenschaftlichen Analogien kritisiert, mit denen die auch bei einer diachronen Rekonstruktion notwendige Ebene der sozialen Geltung der rekonstruierten Strukturen ignoriert wird. Ein eigener Strang des Versuchs, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen einer systematischen Sprachreflexion zu explorieren, verlief im Horizont der neukantianischen Ansätze. Dazu gehören vor allem die Arbeiten von R.
�� lignes ayant le sens commun en matière des faits de langage. Préoccupé surtout depuis longtemps de la classification logique de ces faits, de la classification des points de vue sous lesquels nous les traitons, je vois de plus en plus à la fois l'immensité du travail qu'il faudrait pour montrer au linguiste