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German Pages [648] Year 1998
ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE REIHE B: DARSTELLUNGEN · BAND 29
V&R
ARBEITEN ZUR KIRCHLICHEN ZEITGESCHICHTE Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft fiir Kirchliche Zeitgeschichte von Joachim Mehlhausen und Leonore Siegele-Wenschkewitz
REIHE B: DARSTELLUNGEN
Band 29
Rainer Bookhagen Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus
GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1998
Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus Mobilmachung der Gemeinden
von
Rainer Bookhagen
Band 1 1933 bis 1937
GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECHT · 1998
Die Deutsche Bibliothek -
CIP-Einheitsaufiiahme
Bookhagen, Rainer: evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus: Mobilmachung der Gemeinden / von Rainer Bookhagen.— Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht Zugl.: Berlin, Kirchliche Hochsch., Diss., 1988/1989 u.d.T.: Bookhagen, Rainer: Auftrag und Verpflichtung Bd. 1. 1933 bis 1 9 3 7 . - 1998 (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte: Reihe B, Darstellungen; Bd. 29) ISBN 3-525-55729-9
© 1998 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
Für Roswitha Andrea Bettina
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
11
Einleitung
15
A. EVANGELISCHE KINDERPFLEGE ALS TEIL DER INNEREN MISSION IN DER WEIMARER REPUBLIK I. Das Jubiläum der evangelischen Kinderpflege am 16. Juni 1929
33
Π. Die Sicherung und der Ausbau evangelischer Kinderpflege auf der Grundlage der Ergebnisse der Reichsschulkonferenz und unter den Bedingungen der Regelungen des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes
49
1. Die Reichsschulkonferenz und das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz .
49
2. Die Organisation der evangelischen Kinderpflege als Teil der Inneren Mission im Rahmen der freien Wohlfahrtspflege
58
2.1. Die freie Wohlfahrtspflege und der Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche 2.2. Der Evangelische Reichsverband für Kinderpflege 2.3. Die Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege
ΙΠ. „Gnade verpflichtet" evangelische Kinderpflege am Ende der Weimarer Republik
58 71 87
91
1. Das Scheitern der Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege und die wachsende Bedeutung der Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands
91
2. „Die schwierige Lage der Kindergärten" zwischen staatlicher Anerkennung und kirchlichem Interesse . . . .
95
2.1. Notprogramme für die Jugendwohlfahrt 2.2. Die Denkschrift vom Juli 1931
95 106
8
Inhaltsverzeichnis
Β. EVANGELISCHE KINDERPFLEGE ALS TEIL DER INNEREN MISSION IM „TOTALEN UMBRUCH"
IV. Evangelische Kinderpflege „im vaterländischen und weltanschaulichen Aufbruch unseres Volkes" 1. Die Innere Mission im beginnenden Kirchenkampf 1.1. Veränderungen im Central-Ausschuß für die Innere Mission und die Annäherung an die im Entstehen begriffene Reichskirche 1.2. „Machtergreifung" im Central-Ausschuß für die Innere Mission und die Deutschen Christen „als Treuhänder unseres Herrn Jesu Christi" 1.3. Ein Schreiben der Deutschen Evangelischen Kirche vom 23. August 1933 1.4. Der Wechsel im Präsidentenamt 2. Die Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands - der führende Reichsfachverband
113 113 113 119 126 131 138
3. Führungsanspruch und Gleichschaltungsbegehren die Innere Mission und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt 158 3.1. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt und das Ende der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege die Reichsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege Deutschlands . . . 158 3.2. Die evangelischen Kindergärten - ein erstes Konfliktfeld und die Bildung der Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege 170 V. „Nicht einmal ein klares Oberflächenbild" - die evangelische Kinderpflege und die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt 1. Die Vorstandssitzung der Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands am 14. Februar 1934
192 192
2. Evangelische Kinderpflege - eine „Friedensinsel" 2.1. Die Vorstandssitzung, die Geschäftsführerkonferenz und die Mitgliederversammlung der Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands am 6. und 7. Juni 1934 2.2. Instrumente für den Konfliktfall - eine „Stellungnahme" aus Berlin und ein weiteres Schreiben der Deutschen Evangelischen Kirche vom 26. September 1934
198
204
3. Gemeinden zwischen „Bequemlichkeit" und „vollständig unabhängig"
209
198
Inhaltsverzeichnis
9
4. Die Führung der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt 4.1. Das Hilfswerk „Mutter und Kind" 4.2. Ein Fragebogen und ein Rundschreiben 4.3. Die Richtlinien für die Tätigkeit des Referates „Kindertagesstätten" im Gau und im Kreis vom 15. Februar 1935
225
VI. Evangelische Kinderpflege in der ersten Hälfte des Jahres 1935: „...wir versuchen, den evangelischen Kindergarten unter allen Umständen aufrecht zu erhalten."
233
1. Evangelische Gemeinden im Streit mit der NSV um den Kindergarten 2. In „neuer Besinnung auf die Aufgaben" - der Rückzug auf das Recht und in den „Raum der Kirche" 2.1. Eine Sitzung des Ausschusses für offene Jugendfürsorge am 6. Mai 1935 2.2. Die Vorstandssitzung, die Geschäftsführerkonferenz und die Mitgliederversammlung der Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands am 4. und 5. Juni 1935 2.3. „Ihrer ist das Himmelreich" - ein Filmstreifen
212 212 217
233 259 259
264 269
C. E V A N G E L I S C H E K I N D E R P F L E G E ALS TEIL D E R I N N E R E N MISSION IN „FÖRDERNDER OBHUT" DER KIRCHE
VII. Evangelische Kinderpflege in O b h u t des Reichskirchenausschusses . . 275 1. Die Ausrichtung des Dienstes der Inneren Mission auf die „von der Führung der Kirche bestimmte Gesamtlinie der kirchlichen Arbeit" 275 1.1. Die Erklärung des Reichskirchenausschusses vom 18. April 1 9 3 6 . . . . 275 1.2. Eine Sitzimg der Deutschen Zentrale für freie Jugendwohlfahrt am 29. Oktober 1935 285 2. Grundsätze evangelischer Kinderpflege „die Verpflichtung unseres Glaubens" 2.1. Die Vorstandssitzung der Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands am 28. November 1935 EXKURS: „Unter dem Deckmantel der Arbeitsgemeinschaft" ein Eindruck aus Schlesien 2.2. Die Schreiben des Reichskirchenausschusses an den Reichsund Preußischen Minister für die kirchlichen Angelegenheiten vom 8. April und 25. Mai 1936: „Gefährdung der evangelischen Kinderpflege" und „größte Beunruhigung" in Württemberg
298 298 312
317
10
Inhaltsverzeichnis
3. „Unruhen beginnen an allen Ecken Deutschlands auszubrechen". . 335 3.1. Provinz Sachsen 335 3.2. Westfalen 337 3.3. Rheinprovinz 343 3.4. Baden 355 3.5. Pfalz 368 3.6. Bayern 370 3.7. Mark Brandenburg 376 4. „Wir haben einen Auftrag zu erfüllen, gleich in welcher Form!" . . 387 4.1. Der Beschluß des Reichskirchenausschusses vom 4. Juni 1936 und die „Denkschrift zur gegenwärtigen Lage und Aufgabe evangelischer Jugendhilfe" 387 4.2. Die Eingliederung in das Gesamtleben der Gemeinde auf dem Weg zur Kinderkirche 401 4.3. Entscheidungen 408 4.4. Die Reichstagung der Inneren Mission vom 23. bis 25. Januar 1937 - Kursbestätigung
439
D. ZUSAMMENFASSUNG
Zusammenfassung und Ausblick
446
Abkürzungen
454
Quellen- und Literaturverzeichnis
464
Personenregister und biographische Angaben
531
Ortsregister
627
Institutionen- und Sachregister
630
VORWORT
Der hiermit vorgelegte erste Teil einer umfassenderen Darstellung des Weges der Inneren Mission und ihrer evangelischen Kinderpflege in der Zeit des Nationalsozialismus wurde unter dem Titel „.Auftrag und Verpflichtung' Evangelische Kinderpflege im Spannungsfeld von freier Wohlfahrtspflege, Nationalsozialistischer Volkswohlfahrt und christlicher Gemeinde in der Zeit von 1933 bis 1936" von der Kirchlichen Hochschule Berlin im Wintersemester 1988/89 als Dissertation angenommen. Im Zuge der für die Drucklegung erfolgten Überarbeitung und Ergänzung wurden ein Personenregister mit umfänglichen biographischen Angaben erstellt, sowie ein Orts- und ein Sachregister beigegeben. Dieser erste Band der Studie entstand neben der Arbeit im Pfarramt einer Berliner Kirchengemeinde und, was seine Überarbeitung betrifft, seit 1992 neben der Leitung einer diakonischen Einrichtung in Brandenburg. Der Anfang dieser Arbeit reicht über fünfundzwanzig Jahre zurück. Angestoßen hat sie der Leiter der seinerzeitigen Berliner Religionsphilosophischen Schulwochen, Dr. Dr. Hans Wulf. Der damalige Präsident des Diakonischen Werkes der EKD, Pfarrer Dr. Theodor Schober, ebenso wie die damaligen Direktoren, der Direktor der Berliner Stelle, Pfarrer Hans Wallmann, inzwischen verstorben, und der Direktor in der Hauptgeschäftsstelle in Stuttgart, Pfarrer Dr. Hans Christoph von Hase, förderten die ersten Bemühungen um Material. Der Leiter des Archivs des Diakonischen Werkes der EKD, Dr. Helmut Talazko, erinnerte über die Jahre immer wieder in freundschaftlicher Weise an den notwendigen Abschluß der Arbeit. Ein gemeinsam von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg - seinerzeit noch in der Eingrenzung (Berlin-West) - und dem Diakonischen Werk der EKD durch seinen Präsidenten Pfarrer Dr. Karl Heinz Neukamm geförderter Studienurlaub und die Bereitschaft von Professor Dr. Dr. Gerhard Besier, als Korreferent mitzuwirken, machten schließlich den Abschluß der Studie als Dissertation möglich. Ohne die Hilfe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Archiven des Bundes, der Bundesländer, der Städte, verschiedener Forschungseinrichtungen wäre diese Arbeit, auch was ihren biographischen Teil betrifft, nicht zustande gekommen. Unverzichtbar war ebenfalls die Hilfe der Archive der Landeskirchen, der Kirchenkreise oder Dekanate und der Kirchengemeinden. Das gilt auch für den großen Bereich des Diakonischen Werkes der EKD und seiner gliedkirchlichen Werke und vor allem für die Diakonissen-Mutter-
12
Vorwort
häuser oder Diakoniewerke des Kaiserswerther Verbandes Deutscher Diakonissen-Mutterhäuser und der Vielzahl anders zusammengeschlossener diakonischer Einrichtungen und deren Archiven. Ihnen allen habe ich für freundlich und bereitwillig erteilte Auskunft, für die gewährte Unterstützung, die manches Mal über Grenzen einer von einem Archiv zu leistenden Hilfestellung hinausging, sehr zu danken. Darüber hinaus gilt mein Dank der Bibliothek der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union und ihrer Leiterin, Diplombibliothekarin Dorothea Kapler. Dem Evangelischen Zentralarchiv Berlin und Kirchenarchivdirektorin Dr. Christa Stäche und ihren Mitarbeitern danke ich für die Ermittlung und Beschaffung von Quellen. Ich habe auch zu danken der Berliner Bibliothek des Diakonischen Werkes der E K D und Diplombibliothekar Leonhard Deppe, inzwischen im Ruhestand und ehedem ihr Leiter, sowie den Mitarbeiterinnen der Bibliothek, den Diplombibliothekarinnen Evelyne Ebert, Hannelore Iber und Birgit Spatz-Straube. Sie haben mir in jeder nur denkbaren Weise die Literaturbeschaffung erleichtert. Auch dem Archiv des Diakonischen Werkes der E K D , ehedem unter der Leitung von Dr. Helmut Talazko, jetzt unter der von Dr. Michael Häusler und den Mitarbeiterinnen Annelene Akkermann, Hanna Kröger und besonders Annerose Schwittlinsky, ist zu danken für ihre geduldige und zuverlässige Hilfe beim Nachweis der Quellen und bei der Beschaffung von Akten. Dank schulde ich der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Sie hat diese Studie zur Veröffentlichung in ihrer Schriftenreihe aufgenommen. Ihrem Vorsitzenden, Professor Dr. Joachim Mehlhausen, und Dr. Carsten Nicolaisen bin ich dankbar für Begleitung und Rat, und Gertraud Grünzinger M.A. für die Zusammenarbeit bei der Erstellung der Register und für die zahlreichen Vorschläge, die der Lesbarkeit der Studie sehr zugute gekommen sind. Ferner danke ich meiner Landeskirche, der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, und ihren Bischöfen Dr. Martin Kruse, inzwischen Emeritus, und Dr. Wolfgang Huber für Hilfe und Unterstützung, auch durch die Gewährung eines Beitrags zur Deckung der Druckkosten; ebenso der Evangelischen Kirche der Union und dem Präsidenten ihrer Kirchenkanzlei, Dr. Wilhelm Hüffmeier, der Hauptgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes der E K D und seinem Präsidenten, Pfarrer Jürgen Gohde, dem Kaiserswerther Verband Deutscher Diakonissen-Mutterhäuser und seiner Vorsitzenden, Oberin Diakonisse Gisela Gericke, und seinem Verbandsdirektor, Pfarrer Dr. Reinhold Lanz, sowie der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder und ihrem Vorsitzenden, Pfarrer Wolfgang Storim, und seiner Geschäftsführerin, Gretel Wildt, für die gewährten Druckkostenzuschüsse, die eine Veröffentlichung der gesamten Studie sehr erleichterten.
Vorwort
13
Zu danken habe ich Professor Dr. Peter Welten, der zum entscheidenden Zeitpunkt zur Fortführung der Arbeit ermutigt hat. Und ich danke Professor Dr. Peter C. Bloth, der die Dissertation als Referent vertreten hat. Die Gespräche mit ihm legten Fährten, halfen zu notwendigen Begrenzungen und waren für einen inzwischen über einige Jahre in Gemeinde und Diakonie tätigen Pfarrer auch nach abgeschlossenem Promotionsverfahren eine neue, über fachlich-theologische Begrenzungen hinausreichende und bereichernde Erfahrung, für die ich dankbar bin. Schließlich danke ich meiner Frau und meinen Töchtern. Diese durch ihre Geduld mit ihrem Vater, meine Frau durch die technische Fertigung der Manuskripte bis hin zur Reinschrift und die Bereitschaft, sich auf eine in solcher Form gemeinsame Arbeit einzulassen, haben überhaupt erst die Fertigstellung ermöglicht. Ihnen möchte ich sie widmen.
Teltow, Pfingsten 1998
Rainer Bookhagen
EINLEITUNG
Die Familien in den evangelischen Kirchengemeinden müssen „mobil gemacht werden" 1 - das war zu Beginn des Jahres 1937, als die Gefährdung evangelischer Kinderpflegearbeit unübersehbar geworden war, die Parole, unter der einer ihrer herausragenden Vertreter, Hermann von Wicht, zu Schutz und Verteidigung der „Unantastbarkeit" dieses Arbeitsbereiches der Inneren Mission den Kampf entschlossen aufnahm. Bereits ein gutes Jahr zuvor, im Herbst 1935, hatte er die Arbeit der evangelischen Kindergärten grundsätzlich für „ebenso unaufgebbar wie unübertragbar" erklärt und festgestellt, daß sie an die „Verpflichtung unseres Glaubens und unserer Liebe" gebunden sei und sich darum „ihrem Wesen nach im Räume der evangelischen Gemeinde auswirken" müsse. Auf diese Weise „erfüllt die evangelische Kinderpflege mit ihrem Dienst einen Auftrag der Gemeinde" und „arbeitet gleichzeitig im wohlverstandenen Interesse von Volk und Vaterland." 2 Das entsprach nicht nur einer biblisch-theologisch begründeten IndikativImperativ-Struktur, das bezeichnete ebensowenig allein das spannungsreiche Verhältnis von theologischem Postulat und kirchlicher Realität wie das von ecclesia invisibilis und visibilis3, sondern beide Denkfiguren veranschaulichend nahm v. Wicht auch die von Constantin Frick, dem Präsidenten des Centrai-Ausschusses der Inneren Mission (CA), erhobene Forderung vorweg, nämlich die einer „Besinnung auf das Wesen der Weltbeziehung der Kirche" als einer „Frage des Dienstes" 4 . Damit war eine Frage aufgenommen, die Friedrich von Bodelschwingh mit seinem Entwurf einer dienenden Kirche bereits Anfang 1935, wenn auch durchaus nicht von allen gern gehört, gestellt hatte 5 , v. Wicht markierte auf diese Weise für die evangelische Kinderpflege einen Punkt, den Peter C. Bloth 1985 vor der Diakonischen Konferenz des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Bezug auf v. Bodelschwingh als eine der Hauptstationen „auf dem Weg zu einer diakonischen Gemeinde" beschrieben hat6. 1 Referat H . v. Wicht, Zur Lage (Protokoll der Geschäftsführerkonferenz des C A am 25.1.1937, in: A D W , C A 761 X I X ) . Siehe I Kap. Vn.4.4. mit Anm. 798. 2 H. v. Wicht, Grundsätze der evangelischen Kinderpflege (EZA Berlin, 1 / C 3 / 1 7 6 ; und L K A HANNOVER, Ε 26/102; sowie A D W , C A / J 23 B). Siehe I Kap. VII.2.1. mit Anm. 129. 3 P. C. BLOTH, Auf dem Weg; DERS., PTh, S. 169-176; vgl. auch R. WETH, Pia desideria an eine Kirche. 4
C. FRICK, Dienende Kirche, S. 293.
5
F. V. BODELSCHWINGH, Auftrag der dienenden Kirche.
6
P. C. BLOTH, Auf dem Weg, S. 2.
16
Einleitung
Weil die vorliegende Studie dem darin enthaltenen theologischen Postulat als „auf dem Wege identifizierbar" verpflichtet sein will, wählt sie keinen postulierend systematisch-theologischen Zugang, sondern einen eher an der Realität ausgerichteten pragmatisch-situativen. Indem sie die Kindergartenarbeit, die halboffene Kinderpflege, die heute in evangelischen Kirchengemeinden getan wird, als einen Bestandteil des kirchlichen Praxisfeldes Gemeinde erkennt und anerkennt, mithin als ein Element der Gemeinde, das einerseits, selbst unterwegs, Stationen anläuft, Etappen erreicht, und dem andererseits gleichzeitig dadurch ebenfalls elementare, wegbereitende Funktion im Blick auf eine diakonische Gemeinde und dienende Kirche zukommen kann, steht am Anfang die schlichte Frage: Was ist auf dem Wege geschehen? Die Schlichtheit dieser Frage soll nicht ihre grundsätzliche Bedeutung mindern, sondern im Gegenteil ihr Gewicht hervorheben. Die Geschichte etwa des Weges einer bekennenden Kirche, seiner Bedingungen und Voraussetzungen, seiner Themen und Absichten 7 , auch seiner regionalen Unterschiedlichkeiten, ist nahezu umfassend dargestellt worden 8 . Gerade auch das Barmen-Gedenkjahr hat das summierend vor Augen führen können 9 . Jedoch so vergessen wie die der Barmer Theologischen Erklärung zugehörende „Erklärung zur praktischen Arbeit" über den „Aufbau der Bekennenden Gemeinde" blieb die praktische Arbeit in den Gemeinden und die Aufzeichnung ihrer Geschichte als möglicherweise die einer dienenden Kirche 10 . Wer die Vielzahl gemeindlicher Handlungsfelder überblickt, und wer sich Zugang zu ihnen verschaffen will, dem wird die Praktische Theologie manchen Schlüssel in die Hand geben können. Sie öffnen Türen und erschließen Wege. Wer allerdings versucht, sich gemeindliche Handlungsfelder auch hinsichtlich ihrer geschichtlichen Entwicklung zugänglich zu machen, der muß sich enttäuscht sehen. Das gilt besonders für den jüngsten Abschnitt der Geschichte unserer Kirche und ihrer Gemeinden. Wege sind kaum eröffnet. Geradezu im Stich gelassen muß sich jedoch der sehen, der nach der jüngsten 7 Vgl. K. MEIER, Kirchenkampfgeschichtsschreibung; DERS., Neuere Konzeptionen ( E v A G K Z G ) ; DERS., Neuere Konzeptionen (ZKG). Es unterbleibt eine Nennung einzelner Werke der Kirchenkampfliteratur. Allein von den Quellen bietenden Werken soll genannt sein G. SCHÄFER, Die Evangelische Landeskirche in Württemberg I-VI; hier werden erstmals Ereignisse, die Kindergärten von Gemeinden betreffend, als Kirchenkampfgeschehen dokumentiert, insofern der O K R Stuttgart damit befaßt war. 8 K. SCHOLDER, Kirchen I und II; K. MEIER, Kirchenkampf Ι-ΙΠ. Mit beiden Werken ist eher eine erste Summe der Kirchenkampfforschung vorgelegt, damit ist aber gleichzeitig erkennbar, daß Kirchenkampf mehr und anderes war als Kampf der Bekennenden Kirche, allein mit deren eigenen Augen gesehen. Vgl. dazu auch P. MASER, Der Kirchenkampf und seine Legenden. 9
M. GRESCHAT, Neue Literatur; K. MEIER, Methodische Anmerkungen.
Erklärung zur praktischen Arbeit der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche (KJ 1933-1944, S. 66-68 und K. IMMER, Bekenntnissynode, S. 70-72); vgl. P. C. BLOTH, Auf dem Weg, S. 2. 10
Einleitung
17
Geschichte jener Bereiche gemeindlichen, praktischen Handelns fragt, die seit Johann Hinrich Wichern als Innere Mission bezeichnet11 und organisiert wurden, seit Bildung des Diakonischen Werkes der E K D gemeinhin Diakonie genannt werden. Sowohl Herbert Krimm und seiner Bemühung um „das Diakonische Amt der Kirche" 12 und seinem Nachfolger in der Leitung des Heidelberger Diakoniewissenschaftlichen Instituts, Paul Philippi, mit seinem christozentrisch orientierten Diakonieentwurf 13 als auch Ulrich Bach und seiner rechtfertigungs-theologisch begründeten Beschreibung der Schritte „auf dem Wege zu einer diakonischen Kirche" 14 kommen entschieden Verdienste um die Erschließung eines biblisch-theologisch verantworteten Diakonieverständnisses zu. Das gilt ebenso für Jürgen Moltmann und seine eschatologisch begründete Diakonie im Horizont des Reiches Gottes 15 wie für Horst Seibert und sein am aus sozialgeschichtlicher Exegese biblischer Texte erhobenen Hilfehandeln Jesu orientierten Diakoniekonzept 16 , und es ist ebenfalls gültig für den sich an sozialethischen Grundintentionen der Reformation ausrichtenden, den Dialog mit der Sozialethik also implizierenden Diakonieentwurf Theodor Strohms 17 und für das an den Thesen Dietrich Bonhoeffers - von einer mündig gewordenen Welt und der Notwendigkeit einer nichtreligiösen Interpretation der biblischen Begriffe 18 - orientierte Nachdenken Heinz Wagners über „die diakonische Situation in der Deutschen Demokratischen Republik" 19 . Alle diese Entwürfe und theologischen Ansätze, hier repräsentativ genannt für eine Literatur zur Diakonie, die Legion 20 zählt, ermöglichen auch eine sozialkritische Auseinandersetzung mit gegenwärtigen und geschichtlichen Entwicklungen. Aber sie alle lassen ein Defizit erkennen. Sie gehen nicht der Frage nach: Was ist geschehen? Natürlich ist das auch gar nicht ihre Absicht. Freilich wird der Mangel dadurch um so bemerkenswerter. Er ist in dreifacher, je logisch konsequenter Weise zu belegen, wenn festgestellt werden muß, daß er ebenso für die Geschichte der Inneren Mission allgemein, wie für die Vielzahl ihrer Arbeitsge11
Zur Herkunft des Begriffs F. MAHLING, Innere Mission I, S. 9-29.
12
H . KRIMM (Hg.), Das Diakonische Amt, Stuttgart 1953.
13
P. PHILIPPI, Christozentrische Diakonie.
14 U . BACH, D e m Traum entsagen. DERS., Boden. DERS., Diakonie - Ein Auftrag an Könner? DERS., Plädoyer. Vgl dazu auch G . SAUER/U. BACH/S. EISERMANN, Liebe. 15
J . MOLTMANN, Diakonie im Horizont des Reiches Gottes.
16
H . SEIBERT, Diakonie - Hilfehandeln Jesu.
17
TH. STROHM, Diakonie und Sozialethik.
18 Siehe dazu besonders eindrücklich Bonhoeffers „Gedanken zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge, Mai 1944" (D. BONHOEFFER, Widerstand und Ergebung, S. 328). 19
H . WAGNER, Die diakonische Situation.
20
P. C . BLOTH, Diakonie-Forschung, S. 83. Vgl auch DERS., PTh, S. 169 ff.
18
Einleitung
biete im besonderen und erst recht für jene gilt, die unmittelbar in der christlichen Gemeinde als Ortsgemeinde liegen. Die vorliegende Arbeit möchte das Defizit entsprechend in dreifacher Weise verringern, denn es völlig zu beseitigen, kann einem Einzelnen nicht gelingen. Gewiß hat Martin Gerhardt in seiner zweibändigen Geschichte der Inneren Mission 21 schon 1948 der Zeit des Kirchenkampfes, die sich heute mit wachsendem zeitlichen Abstand in der Betrachtungsweise auch zunehmend mit der Zeit davor und der Zeit danach zur kirchlichen Zeitgeschichte verbindet 22 , einen nicht unbedeutenden Abschnitt seiner Gesamtdarstellung gewidmet, ebenso natürlich der Zeit der Weimarer Republik 23 . Die Frage ist aber, ob eine Darstellung aus so großer zeitlicher Nähe, dazu mit einer Verflechtung ihres Autors in die damaligen Ereignisse, und nun mit einer auch persönlichen Wiedergutmachungsabsicht, die Ereignisse selbst nicht überzeichnet und damit verzeichnet24. Wie auch immer dies im einzelnen beurteilt werden mag: Eine solche Beschreibung bedarf nach nunmehr einem halben Jahrhundert kritischer Ergänzung. Auch Erich Freudenstein und Erich Beyreuther verzichten nicht auf eine Beschreibung des hier interessierenden Zeitraumes 25 . Aber beide geben eine eher summarische Darstellung, und darüber hinaus ist bei ihnen eine nur wenig differenzierte, rechtfertigende Tendenz zu vermerken. Sie ist auch in jenem Bericht festzustellen, den einer der damals verantwortlichen Männer, Bodo Heyne, 1952 im Kirchlichen Jahrbuch gegeben hat26. Wenngleich auf diese Darstellungen, ebenso wie auf die Gerhardts, natürlich immer wieder zurückzugreifen ist, gilt auch für sie die Frage, ob nicht allein die Zeit als ein Faktor des Abstandes und eines möglicherweise neu gewonnenen Standortes mit neuen Einsichten auch eine neue Beschreibung erforderlich mache. Eine Frage im übrigen, die bezüglich der Geschichte des Kirchenkampfes und der Bekennenden Kirche spätestens seit zwanzig Jahren gestellt wird, seit nämlich Manfred Jacobs bezweifelte, daß Karl Barth den Kirchenkampf als einen Kampf zwischen Offenbarungstheologie und natürlicher Theologie richtig thematisiert habe. Wenn er gleichzeitig damit wieder an das Humanum erin21
M. GERHARDT, Jahrhundert I/II.
22
C . NICOLAISEN, Zeitgeschichte.
23
M. GERHARDT, Jahrhundert II, S. 224-422.
Martin Gerhardt war Deutscher Christ (DC) und etwa im September 1934 Redner auf der Reichstagung der D C in Berlin (K. MEIER, Kirchenkampf II, S. 409) und veröffentlichte in der Schriftenreihe der D C im Rheinland, M. GERHARDT, Vorgeschichte. Siehe dazu auch H . FAULENBACH, Ein Brief, S. 303 f. mit Anm. 23 und 24. Gleichwohl wird man ihm sowohl für die Beschreibung der „Hauptaufgaben einer Geschichtsschreibung der Inneren Mission" als auch für die Inangriffnahme von deren Bearbeitung bleibende Bedeutung zuerkennen müssen. Siehe dazu V. HERRMANN, Die Aufgabe. 24
25 E. FREUDENSTEIN, Wesen und Werden, S. 72-99; Liebe haben, S. 95-133. Vgl. aber DERS., Werk und Weg; E. BEYREUTHER, Geschichte, S. 189-204. 26
B. HEYNE, Innere Mission.
Einleitung
19
nerte, zum „solus Christus" auch das tätige „pro hominibus" forderte und die Gesellschaftsbezogenheit des kirchlichen Theologisierens und Lebens in die Debatte einführte 27 , so hatte das zwar Folgen, aber sie waren hinsichtlich einer Darstellung der jüngeren Geschichte der Diakonie als unmittelbar dienendem Handeln zunächst höchst indirekter Art. Zum einen gewann die Widerstandsfrage als Frage nach einem Geschehen pro hominibus Bedeutung; sie wurde und wird bis heute breit diskutiert, so daß sie als Generalschlüssel für den Zugang zur Zeit zwischen den Kriegen erscheint 28 . Das mochte auch begründet sein in einem gewissen aktuell-politischen Interesse, durch das zum anderen, verstärkt wohl durch die Bildung eines „Diakonischen Werkes der EKD" im Jahre 1957, die Frage nach der gesellschaftlich-politischen Dimension einer „Diakonie zwischen Kirche und Welt" 29 als ein auf das Humanuni zielendes Handeln unter anderem mit seinem Entwurf „gesellschaftlicher Diakonie" von Heinz-Dietrich Wendland ins Gespräch gebracht und kritisch etwa von Olaf Meyer und Johannes Degen reflektiert oder auch von Theodor Schober in ihrer je nach Bezugsgröße unterschiedenen und spezifischen Form und Gestalt ausgebreitet wurde 30 . Geriet auf diese Weise auch die Frage nach der jüngeren Geschichte in den Blick, so verband sich ihr zunehmend, gewissermaßen als ein Ertrag jener Widerstandsdebatte, die Einsicht, daß der Bedeutung der Diakonie „mit der Barmer Bekenntnisperspektive ... nur bedingt beizukommen sei"31, obgleich es nach wie vor lohne, die diakonische Arbeit hinsichtlich ihrer Organisation in der Inneren Mission und ihren Verbänden „unter widerstandgeschichtlichem Blickwinkel zu befragen." 32 Als Ergebnis einer solchen befreienden Einsicht wird man es ansehen müssen, wenn nach annähernd zwanzig Jahren - 1968 hatte Klaus Scholder im Blick auf das in den Archiven der Vereine und Verbände zu vermutende Material darauf verwiesen, daß hier für Einzelfragen der Phantasie und Findigkeit keine Grenzen gesetzt seien33 - Jochen-Christoph Kaiser vor nunmehr zehn Jahren seine Habilitationsschrift unter dem Titel „Sozialer Protestan-
27
M . J A C O B S , K o n s e q u e n z e n , S. 5 6 4 f f .
28
G . BESIER, A n s ä t z e ; DERS., B e k e n n t n i s ; E.BETHGE, Z w i s c h e n B e k e n n t n i s ; H . H Ü R T E N ,
Z e u g n i s ; A . LLNDT, K i r c h e n k a m p f ; K . MEIER, K i r c h e n k a m p f III, S. 5 8 7 - 6 1 6 ; K . N O W A K , K i r -
chenkampf; DERS., Kirche und Widerstand; DERS., Protestantischer Widerstand; K. SCHOLDER, Politischer Widerstand; P. STEINBACH, Widerstand. 29
CHR. BOURBECK/H.-D. WENDLAND, Diakonie.
H.-D. WENDLAND, Gesellschaftliche Diakonie; O. MEYER, „Politische" und „Gesellschaftliche Diakonie", im Literaturverzeichnis die Beiträge Wendlands zur Sache; J. DEGEN, Diakonie; TH. SCHOBER, Gesellschaft. Vgl. auch H. G. FISCHER, Evangelische Kirche, S. 182-190. 30
31
K. MEIER, Methodische Anmerkungen, S. 60.
32
K. NOWAK, Protestantischer Widerstand, S. 172.
33
K. SCHOLDER, Situation der Erforschung, S. 115.
20
Einleitung
tismus im 20. Jahrhundert - Beiträge zur Geschichte der Inneren Mission 1914-1945" publiziert hat 34 . Mit der Veröffentlichung verschiedener kleinerer Beiträge, die sich den Fragen des Verbandsprotestantismus - ein Begriff, unter dem neben ζ. B. Gustav-Adolf-Werk und Missionsgesellschaften auch die Innere Mission als eine privatrechtlich verfaßte Form evangelischer Kirche verstanden wird 35 - widmeten, hatte sich diese umfassendere Untersuchung schon einige Jahre zuvor angekündigt 36 . Sie kann wohl als die zunehmend dringlicher geforderte neue Positionsbeschreibung gelten37. Indem sie auch unter organisationshistorischen Aspekten das Geschehen in der Zeit von 1914 bis 1945 darstellt, gelingt unter anderem der Nachweis, daß bekennntniskirchliche Maßstäbe tatsächlich wenig tauglich sind, es dem Verstehen zu erschließen. Er bestätigt damit nicht nur die Einsicht Karl-Fritz Daibers, daß die „eher systematisch-theologisch orientierten Überlegungen zur Diakonie (sind) deshalb insgesamt so unwirksam [sind], weil sie die Bedingungen des Organisationshandelns als Entscheidungshandeln außer acht lassen." 38 Er belegt gleichzeitig, daß auch unter dieser Perspektive betrachtet, wie Joachim Mehlhausen als Herausgeber der Festschrift für Carsten Nicolaisen summiert, zeitgeschichtliche Betrachtung und über Barmen hinaus" reicht 39 . Die Arbeit Kaisers stellt zudem einen ersten Schritt dar, das volkskirchliche Widerstandsmodell in Anlehnung an die „Leipziger Schule" und ihren Nestor Kurt Meier empirisch zu belegen40. Dabei weist Kaiser auf mögliche unterschiedliche Ausprägungen in den verschiedenen Arbeitsgebieten hin. Gleichzeitig läßt er deutlich werden, daß die Verwechslung von christlich begründetem Einsatz für das Humanum und von politischem Opportunismus nicht nur als eine Gefahr stets vorhanden war, sondern man ihr zu Teilen auch erlag; wobei dies Problem - wie Kaiser erhellt - seine besondere Zuspitzung eben dadurch erhielt, daß der christlich begründete Einsatz eher Sachargumenten vertraute als stets existentiell und mit theologischer Dignität zu geschehen. Aber gerade mit der Untersuchung von Kaiser gewinnt die Frage nach den einzelnen Arbeitszweigen der Diakonie bzw. der Inneren Mission besondere, zunehmende Bedeutung. Sie sind in ihrer Geschichte während der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen dieses Jahrhunderts durchaus dargestellt wor-
34
J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus.
35
DERS., Verbandsprotestantismus, S. 200.
36
EBD.; DERS., Innere Mission; DERS., Arbeitsgemeinschaft; DERS., „Politische Diakonie".
K. NOWAK, Protestantischer Widerstand, S. 172 sowie K. MEIER, Methodische Anmerkungen, S. 60; aber auch F. TENNSTEDT, Sozialarbeit, S. 46. 37
38
K.-F. DAIBER, Diakonie, S. 30.
39
J. MEHLHAUSEN, ... und über Barmen hinaus.
40
J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 456 f.
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21
den. Allerdings, wohl nicht zuletzt wegen ihrer Nähe zur bedrängenden Holocaust-Problematik, ist der Frage der Euthanasie und der nach den Trägern der Arbeit für behinderte Menschen sowie den Positionen der Inneren Mission und ihres C A besondere Aufmerksamkeit zugekommen. Grundlegend hierzu ist die Studie von Kurt Nowak: „.Euthanasie' und Sterilisierung im .Dritten Reich'" 41 . Auch Kaiser behandelt diese Frage ausführlich in einem umfangreicheren Abschnitt, und in dem vor einiger Zeit von Theodor Strohm und Jörg Thierfelder herausgegebenen Sammelband „Diakonie im .Dritten Reich'" liegt des Schwergewicht ebenfalls auf dieser Frauge42. Es muß sich hier erübrigen, einen umfassenderen Uberblick über den Stand der Forschungsarbeit auf diesem Gebiet der Inneren Mission zu geben. Anzumerken ist jedoch, daß auf ihm nicht immer der Sache angemessen differenziert gearbeitet worden zu sein scheint. Es kann sehr leicht der Eindruck entstehen, daß sowohl die Innere Mission nur aus dieser Arbeit bestanden habe als auch, daß sich an ihr ebenso wie an der verfaßten Kirche nachweisen lasse: Anstelle eines Kampfes gegen hat eine Kollaboration mit dem NS-System stattgefunden 43 . Ein Verdikt braucht dann, so scheint es, gar nicht mehr ausgesprochen zu werden. Eine solche, nebenher auch voyeuristischem Interesse entgegenkommende Darstellungsweise 44 , erleichtert durch die Anschaubarkeit des Tuns der Inneren Mission - im Gegensatz zum Reden einer verfaßten Kirche - , meint von einem grundsätzlichen Konsens hinsichtlich der Verurteilung des Nationalsozialismus ausgehen zu können. Dies wird dadurch zu einer bemerkenswerten Tatsache, daß der Anschein erweckt wird, einer Geschichtsbetrachtung verpflichtet zu sein und zu ihr anleiten zu wollen, die den Anspruch erhebt: „Hätten wir zu unserer Väter Zeiten gelebt, so wäre das Blut der Propheten nicht geflossen." 45 . Dieser Eindruck muß sich noch verstärken, wenn festzustellen ist, daß etwa ein ernsthafter Versuch der Inneren Mission - genauer: der in ihr tätigen Diakone - vergleichbar dem Stuttgarter Schuldbekenntnis 46 , im September 1946 in Treysa selbst Schuld 41
K. NOWAK, „Euthanasie". Dazu die Rezension H.-J. WOLLASCH, Katholische Kirche.
J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 316-390; und TH. STROHM/]. Τ HIERFELDER, Diakonie im „Dritten Reich". Siehe auch J . KLIEME, Diakonie im „Dritten Reich"; und die eindrucksvolle Dokumentation H . JENNER/J. KLIEME, Euthanasieverbrechen. Vgl. auch H . SEIBERT, Hitlers Τ 4-Aktion. 42
43
Vgl. H . PROLINGHEUER, Politische Kirchengeschichte.
Die Medien fordern Bilder und fördern einfachere Sichtweisen, die eher einem öffentlichen Diskurs dienen können. Ihn zu führen - diese Absicht verfolgt offenbar Ernst Klee. Nach Ausstrahlung verschiedener Sendungen publizierte er das benutzte Material, im angezeigten Tenor kommentierend; E. KLEE, „Die SA Jesu Christi". Vgl. H . JENNER, Kuhlen 1933; J. TUCHEL, Buchbesprechung von Harald Jenner, S. 513; M. HÄUSLER, Die Forderung der Stunde; DERS., Dienst an Kirche und Volk, S. 440-449; auch M. BENAD, Akten, Fakten und Legenden. 44
45
Mt. 23.30. Vgl. DOZENTENKOLLEGIUM, Evangelische Kirche und Drittes Reich, S. 13.
Vgl. G. BESIER/G. SAUTER, Christen. Siehe auch G . DENZLER, Kirchen im Dritten Reich I, S. 206 ff. und II, S. 254. 46
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und Versagen einzugestehen47, vor allem dazu gebraucht wird, mit der angedeuteten moralischen Attitüde die These zu belegen, daß sich eigentlich gar nichts geändert habe und nach wie vor „die Kirche im Banne Hitlers" stehe48. Wenn das hier erwähnt wird, dann nicht in erster Linie in urteilender oder etwa verurteilender Absicht, sondern um auch an diesem Sachverhalt aufzuzeigen, wie dringend und drängend die Frage für die Innere Mission 49 bzw. die Diakonie ist: Was ist geschehen? Diesem Desiderat wird, das mag ein Ertrag der Arbeit Kaisers sein, zunehmend Rechnung getragen. In jüngerer Zeit wurden einzelne Arbeitsgebiete wie etwa die Bahnhofsmission 50 , die Gemeindekrankenpflege 51 , die Wandererfürsorge 52 , die Jugendfürsorgearbeit 53 und die Apologetik 54 sowie, was die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Inneren Mission betrifft, die „weibliche Diakonie" 55 und die „männliche Diakonie" 56 ausführlicher behandelt, auch in landeskirchlichen Ausprägungen beschrieben57 und erste zusammenfassende Uberblicke erstellt58. Auch wenn inzwischen eine Bibliographie einen Überblick über die Geschichte der Diakonie 59 erleichtert, mithin auch über die der Zeit des nationalsozialistischen Regimes, ob „Diakoniegeschichte boomt" 6 0 , muß dahingestellt bleiben. Denn ausgenommen ist dabei jedenfalls die Geschichte evangelischer Kinderpflege. Bleibt auch die Ursache unklar - damit ist ein drittes Defizit angesprochen. Zwar sind die evangelischen Kindergärten allenthalben als ein Streitobjekt er47 Erklärung der Arbeitsgemeinschaft der Männlichen Diakonie in Treysa v o m 3./4.9.1946 ( A D W , D D 320a) und eben dazu E. KLEE, „Die S A Jesu Christi", S. 79 ff. 48
EBD.; vgl. dazu M. HÄUSLER, Die Forderung der Stunde.
49
Vgl. dazu auch M. GRESCHAT/J. -CHR. KAISER, Eugenik war nicht alles.
50
B. W. NlKLES, Machtergreifung am Bahnhof. Inzwischen auch im R a h m e n einer umfas-
senden Darstellung der Geschichte der Bahnhofsmission DERS., Soziale Hilfe am Bahnhof. 51
L. KATSCHER, Krankenpflege; und H.-M. LAUTERER, Liebestätigkeit; auch U . GÜNNE-
MANN, Das Frauenbild. 52
J . SCHEFFLER, Bürger und Bettler I.
53
Sie ist, soweit für den Verfasser nachweisbar, als Teil der Inneren Mission und kirchlicher
Arbeitszweig unter historischen Gesichtspunkten nicht bearbeitet. 54
H . IBER, Christlicher Glaube; und DERS., Die Apologetische Centrale.
H.-M. LAUTERER, Liebestätigkeit; DIES., D e r Kaiserswerther Verband; und R . FELGENTREFF, Profil. 55
56 M. HÄUSLER, Die Forderung der Stunde. Darin angezeigt und inzwischen vorgelegt DERS., Dienst an Kirche und Volk. R . VAN SPANKEREN, Dienst, bezeichnet die Arbeit als „Standardwerk zur Geschichte kirchlichen Hilfehandelns im 19. und 20. Jahrhundert" (S. 373). 57 Vgl. dazu die bemerkenswerte Arbeit von H . BACHMANN/R. VAN SPANKEREN, Diakonie, mit der Beiträge zur „christlichen Nächstenliebe und kirchlichen Sozialarbeit in Westfalen" von der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis in die Gegenwart als einer „Geschichte von unten" versammelt wurden - ohne daß allerdings die Kinderpflege Erwähnung findet. 58
Siehe J.-CHR. KAISER/M. GRESCHAT, Sozialer Protestantismus.
59
V. HERRMANN/J.-CHR. KAISER/ΤΗ. STROHM (Hg.), Bibliographie.
60
R. VAN SPANKEREN, Karriere(n), S.116.
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wähnt, um die auf Seiten des NS-Regimes ebenso heftig gestritten wie sie auf Seiten der Inneren Mission kämpferisch verteidigt wurden 61 . Die bisherige Darstellung der Geschichte dieses Kampfes in der fraglichen Zeit aber ist höchst unbefriedigend 62 . Weder der erste eigene, aus einer Arbeit zum zweiten theologischen Examen hervorgegangene Beitrag zur Geschichte der evangelischen Kinderpflege in der Zeit des Nationalsozialismus kann der Forderung nach sachgerechter Darstellung entsprechen, zumal Ungenauigkeiten in ihm enthalten sind 63 , noch der jüngst im Rahmen der Festschrift zum 75-jährigen Jubiläum der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder erschienene Beitrag, da er auf Quellenhinweise verzichtet und sich mit der Darstellung der organisationshistorischen Entwicklung begnügt64. Hinreichend sachgerecht ist auch die kleine Arbeit im Rahmen des bereits erwähnten, von Theodor Strohm und Jörg Thierfelder herausgegebenen Sammelbandes nicht, die sowohl zeitlich nur einen Ausschnitt darstellt als auch, wozu die Form der Skizze zwingt, einige Verkürzungen aufweist 65 . Demgegenüber nimmt zwar die Studie von Bernd Hey die Auseinandersetzung um die evangelischen Kindergärten für den gesamten Zeitraum der Herrschaft des Nationalsozialismus in Blick, kann das aber natürlich entsprechend ihrer Anlage nur in der Beschränkung auf die Kirchenprovinz Westfalen tun 66 . Auch die Arbeit von Manfred Heinemann 67 ebenso wie die von Manfred Berger68 und die in der methodischen Zugriffsweise ihr ähnelnde Studie von Wilma Grossmann 69 , schließlich ebenfalls die von Erika Hoffmann 7 0 und die von Jürgen Reyer 71 können kein Bild evangelischer Kinderpflege zeichnen, das diese als Teil der Inneren Mission deutlich in Erscheinung treten läßt. Heinemann beschreibt zwar in schlüssiger Weise einen Weg von der Illusion zum Abwehrkampf, jedoch nur unter Benutzung von Aktenmaterial des
61 M. GERHARDT, Jahrhundert II, S. 373 f.; E. FREUDENSTEIN, Wesen und Werden, S. 89f., bzw. Liebe haben, S. 123; E. BEYREUTHER, Geschichte, S. 199; B. HEYNE, Innere Mission, S. 381. 62 Vgl. den Literaturbericht von R. VAN SPANKEREN, Diakonie im „Dritten Reich"; vgl. auch V. HERRMANN/J.-CHR. KAISER/ΤΗ. STROHM (Hg.), Bibliographie. 63
R. BOOKHAGEN, „Das Kind bilden wir!".
64
R . BOOKHAGEN/A. KEBBE, Angefangen in schwerer Zeit.
65
R. BOOKHAGEN, Evangelische Kinderpflege.
66
B. HEY, Die Kirchenprovinz Westfalen.
67
M. HEINEMANN, Evangelische Kindergärten.
M. BERGER, Vorschulerziehung; DERS., Der evangelische Kindergarten; und DERS., Recherchen. 68
69
W. GROSSMANN, KinderGarten.
70
E. HOFFMANN, Vorschulerziehung; DIES., Kleinkindererziehung; DIES., Kindergarten.
71
J . REYER, Geschichte; DERS., Wenn die Mütter.
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Evangelischen Oberkirchenrates Berlin (EOK Berlin), eine Tatsache, die zumindest die Frage berechtigt erscheinen läßt, ob dies nicht eine zu schmale Basis für einen differenzierten Entwurf ist und sei es nur der einer nationalsozialistischen Erziehungspolitik im Vorschulbereich. Reyer konzentriert sich von vornherein auf die öffentlichen Einrichtungen. Erika Hoffmann verfolgt eher die pädagogische Linie der Vorschulerziehung - der Kindergarten als Bildungsstätte für die Kinder aller Schichten - und erwähnt nur in einem Absatz summierend das Geschehen zwischen 1933 und 194572. Und Grossmanns historisch-systematische Betrachtungsweise kann dem Anspruch nicht genügen, etwa durch sorgfältige Auswertungen der ihr vorliegenden Quellen eine möglichst zutreffende Beschreibung der Geschichte des Kindergartens zu geben, nicht zu reden vom evangelischen Kindergarten, während der in Frage stehenden Zeit73. Auch Berger legt das Gewicht seiner Untersuchung mehr auf ideologisch-pädagogische Sachverhalte. Zwar kann er gerade dadurch seinem Anspruch, kaum erforschtes historisches Land zu erschließen, nur schwer gerecht werden. Aber seine Zugangsweise ermöglicht es ihm ebenso wie Grossmann - das macht den Gewinn der Arbeit Bergers und Grossmanns aus - , die drei evangelische Kinderpflege bestimmenden Faktoren in den Blick zu nehmen, nämlich die Träger der Einrichtungen ebenso wie die Mitarbeiterinnen und schließlich auch die Ausbildungsstätten. Da die hiermit vorgelegte Studie von ihrem Ansatz her in erster Linie an den Trägern von evangelischen Kindergärten interessiert sein will, unterbleibt - wie sich herausstellen mag, durchaus sachgerecht, also nahezu zwangsläufig - die Darstellung einer von spezifisch pädagogischen Fragestellungen geprägten Auseinandersetzung, die sowohl hinsichtlich der Mitarbeiterinnen als auch der Ausbildungsstätten etwa in der entsprechenden Fachliteratur ihren Ausdruck gefunden hat74. Pädagogische Fragen, Fragen an die 72 Notabene bedeutet dies auch, daß sie sich der Frage nicht stellt, inwieweit etwa gerade ihre Arbeit über „die pädagogische Aufgabe des Kindergartens", die sie 1934 in der Zeitschrift KINDERGARTEN (Zeitschrift für die nationalpädagogischen Aufgaben in Familie und Volksgemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung der Kleinkinder- und Schulkinderpflege - Zeitschrift des Deutschen Fröbelverbandes und Fachgruppen Α und Ε der Reichsfachschaft .Freie Erzieher' im NSLB [A: Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen, Jugendleiterinnen/E: Leiterinnen, Leiter und Lehrkräfte an sozialpädagogischen Lehranstalten]) veröffentlichte, den Machthabern dazu diente, von ihnen dazu gebraucht wurde, eigene, ganz anderen Zielen folgende Interessen durchzusetzen. 73 W. GROSSMANN, Konfessionelle Kindergärten, hatte bereits 1971 die Aufhebung der Abhängigkeit von Kindergärten und deren Mitarbeiterinnen von kirchlichen Anstellungsträgern und die Integration in das öffentliche Bildungssystem gefordert. Eine etwa kritische Auseinandersetzung mit dem von ihr wieder eingeführten Begriff der „Entkonfessionalisierung" erfolgt in ihrer späteren umfangreichen Studie nicht. Im übrigen hat H . CHR. V. HASE, „Entkonfessionalisierte" Kindergärten? die Forderung u. a. unter Hinweis auf Mißbrauch und Mißverständlichkeit des Begriffs zurückgewiesen. 74 So bleiben die Veröffentlichungen in der Zeitschrift KINDERGARTEN unberücksichtigt. Bis zum Ende des Jahres 1933 hieß die Zeitschrift KINDERGARTEN (Zeitschrift für die national-
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Pädagogik kommen nur dort, also begrenzt, ins Spiel, wo sie von den Trägern im Blick auf die Wahrnehmung ihrer Verantwortung gestellt werden. Im übrigen verbleiben sie auf einem Feld, das auf umfassende Bearbeitung weiter warten muß. Berger ist mit seiner Darstellung zwar in erster Linie an Quellen orientiert, nicht aber am tatsächlichen, also möglicherweise auch widersprüchlichen Geschehen interessiert. Es geht ihm darum, „in einer eher von oben konzipierten Absicht" die Quellen zu erschließen, und das mit dem Wunsch: „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus." 75 O b dieser hohe moralische Anspruch allerdings ausreicht, die Geschichte evangelischer Kinderpflege problemgeschichtlich zu erschließen, mag ebenso dahingestellt sein wie die Frage, ob nicht auf diese Weise der „Unfähigkeit zu trauern" eher Vorschub geleistet als mit Einsicht weckender Wahrheit begegnet wird. Erste Schritte freilich zu problem-orientierter, an gegenwärtigen Aufgaben der Sozialpädagogik ausgerichteten Aufarbeitung der Geschichte evangelischer Kinderpflege sind mit den Beiträgen etwa von Rotraut BührlenEnderle, Ulrike Döring, Heidi Mühle und Horst Seibert getan76, die Egbert Haug-Zapp im Auftrag der Evangelischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Sozialpädagogik im Kindesalter (EBASKA) herausgegeben hat. Diese prägnanten Arbeiten sind „Rückblicke für die Verantwortung zukünftiger Arbeit" 77 . Damit mögen sie eher handlungsleitende Einsichten wecken und sozialpädagogischen Ansprüchen besser genügen als Bergers Arbeit - eine Darstellung der Geschichte evangelischer Kinderpflege unter der Frage: Was ist geschehen? bieten auch sie nicht. Ohne bei diesem Überblick über den Stand der Forschung, die evangelische Kindergartenarbeit betreffend, nicht zuletzt wegen der engen Verpädagogischen Aufgaben in Familie und Volksgemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung der Kleinkinder- und Schulkinderpflege - Organ des Deutschen Fröbel-Verbandes/des Deutschen Verbandes für Schulkinderpflege und der Berufsorganisation der Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen e.V.). N u r eine Veränderung war vorgenommen worden. Die „nationalpädagogischen" ersetzten die „sozialpädagogischen Aufgaben". Nachdem Ende Oktober 1938 der Fröbelverband sich in den N S L B aufgelöst hatte, hieß die Zeitschrift KINDERGARTEN (Organ der Reichsfachschaft 7, sozialpädagogische Berufe im N S L B - Zeitschrift für die Erziehungsarbeit der Kindergärtnerin und Jugendleiterin). Der Frage nach dem Verhältnis von N S L B und N S V hinsichtlich der Kinderpflege kann nicht weiter nachgegangen werden. Der Verzicht darauf konnte um so leichter fallen, als auch eine Erörterung des Verhältnisses der Trägerverbände zu Ausbildungs- und Mitarbeiterfragen, also die pädagogischer Fragen, unterbleibt. Im übrigen ist das Ganze auch aus organisationsgeschichtlicher Sicht eine noch nicht aufgegriffene Frage. O b das etwa durch W. BERNLÖHR, Die historische Entwicklung der institutionalisierten Kleinkindererziehung und des Erzieherberufs, Dipl. masch., Stuttgart 1983, geschehen ist, war nicht überprüfbar. Die Arbeit war nicht zugänglich. Was DIE CHRISTLICHE KINDERPFLEGE hinsichtlich der angesprochenen Fragestellungen betrifft siehe E. HAUG-ZAPP, Historisches. 75
M. BERGER, Vorschulerziehung, S. 13 ff.
R. BÜHRLEN-ENDERLE, Konzeptionen; U. DÖHRING, Treu; H . MÜHLE, Differenzierungen; DIES., V o m politischen Enthusiasmus; H. SEIBERT, V o m Nutzen. 76
77
W. STORIM, Rückblicke, S. 3.
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knüpfung mit auch pädagogischen Sachfragen, endgültige Vollständigkeit beanspruchen zu können, müssen die genannten Arbeiten als repräsentativ für den Forschungsstand angesehen werden. Es ist festzuhalten, daß sie die Träger, also die Gemeinden ebensowenig im Blick haben wie, um es zu wiederholen, die Verbindung zur Inneren Mission. Zwar erwähnt etwa Berger die Kindergärten in evangelischer Trägerschaft. Sie haben in der Konzeption seiner Arbeit aber nur Raum als feststehende und unveränderbare, eher unverbesserliche, Gesinnungsträger. Demgegenüber hebt Seibert, ebenfalls problemgeschichtlich, auf die Trägheit der der Inneren Mission angeschlossenen Vereine ebenso wie auf die der Gemeinden als Träger ab, dessen Profil es sei, „daß es [seil, das Profil] auf der Suche nach sich selbst ist." 78 Aber er beschränkt sich auf diesen Aspekt. Zwar berücksichtigt Heinemann organisationshistorische Fragen, aber er erläutert, da eher an der Frage nach der Erziehungspolitik interessiert, nicht die Verbindung zur Inneren Mission, und auch die Gemeinden kommen nicht in den Blick 79 . Das gilt auch für die Arbeit von Hans Dölker, die zwar die Geschichte des Verbandes beschreibt, der als Fachverband der Inneren Mission die Interessen der Träger evangelischer Kinderpflege vertrat, aber, obwohl Dölker Zeitzeuge und neben v. Wicht einer der wichtigen Repräsentanten und Gestalter des Verbandes war, dennoch weder die Beziehungen zu den Gemeinden noch die zur Inneren Mission anschaulich macht 80 . Diesen Mangel behebt auch Karl-Heinrich Melzer nicht. Begrenzt durch die Zeit der Tätigkeit des kirchlichen Leitungsgremiums „Geistlicher Vertrauensrat", das Gegenstand seiner Untersuchung ist, muß er sich verständlicherweise, weil sachgerecht, auf die Darstellung der „Versuche zur Aufhebung' der konfessionellen Kindergärten" beschränken 81 . Zwar nimmt er damit ebenso wie es der Autor dieser Studie in einem gesonderten Beitrag getan hat, „die Krisenjahre 1939-1941" in den Blick 82 , aber ebenso wie dieser bleibt Melzers Beitrag ein Ausschnitt, der die Leitfrage nur unzureichend beantworten kann. Und wenn Egbert Haug-Zapp den Kindergarten im Kontext von „Diakonie und Sozialstaat", mithin im Blick auf seine Beziehungen und Verflechtungen sowohl mit der Wohlfahrtspflege als auch mit der Inneren Mission - um die zunehmend aus Gebrauch kommenden Begriffe beizubehalten - darstellt, dann nur für die Zeit nach 194583.
78
H . SEIBERT, V o m Nutzen, S. 55.
' M. HEINEMANN, Evangelische Kindergärten. Er wertet nur die Akten des E O K Berlin im E Z A Berlin (S. 49) aus, um die „Zerstörung der evangelischen Kindergärten" (S. 67) darzustellen. 7
80 H . DÖLKER, Vereinigung. Ähnliches gilt im Blick auf eine katholische Zeitzeugenschaft für J . KESSELS, Geschichtliche Quellen. E. BAROW-BERNSTORFF, Beiträge; und M. KRECKER, Quellen, tragen, ideologisch-pädagogisch Marximus-fixiert, für diese Studie kaum etwas aus. 81
K.-H. MELZER, Der Geistliche Vertrauensrat, S. 204-210.
82
R. BOOKHAGEN, Evangelische Kinderpflege.
83
E. HAUG-ZAPP, Kindergarten.
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A n dem Bedauern über den nahezu gänzlichen Mangel an ereignisgeschichtlich orientierter Darstellung der Inneren Mission und ihrer Kindergärten ändern weder schon ältere noch jüngst erschienene regional orientierte Arbeiten etwas, die eher erbaulich dem Rahmen ihres Erscheinens, nämlich einem Jubiläum, Rechnung tragen, als daß sie der Erbauung auch kritisch durch Fakten dienten. Das gilt für den bereits 1972 veröffentlichten Beitrag über 50 Jahre Evangelischer Kinderpflegeverband für Westfalen und Lippe und die Festschrift zur 50-Jahr-Feier des Evangelischen Landesverbandes für Kinderpflege Hannover; das gilt leider aber auch für die anläßlich seines 60jährigen Bestehens vom Evangelischen Landesverband für Kindertagesstätten in Württemberg herausgegebene Schrift und sogar für die jüngst zum 75jährigen Bestehen des Landesverbandes Evangelischer Kindertagesstätten in Bayern erstellte Publikation 8 4 . Ebenso gilt es für von Kirchengemeinden herausgegebene Festschriften zur Feier des 100jährigen Bestehens ihres Kindergartens und für die Darstellung der Geschichte eines evangelischen Trägervereins 85 . Zweifelsohne entsprechen gerade sie damit einer Forderung nach auch mentalitätsgeschichtlicher Erfassung der jüngeren Geschichte 86 ebenso wie der noch ganz und gar nicht eingelösten nach einer Darstellung gemeindebezogener Ereignisgeschichte 87 , wenn einmal von der umfangreichen Arbeit Herwarth Vorländers zum Kirchenkampf in Elberfeld abgesehen wird,
84 L. PLATH, 50 Jahre; sowie H.-J. SCHROEDER, Ein halbes Jahrhunden; H. LANG, Evangelischer Landesverband; und ÜLAKONISCHES WERK DER EVANGELISCH-LUTHERISCHEN KIRCHE IN BAYERN, Bilden - erziehen - betreuen. Der in dieser Festschrift veröffentlichte geschichtliche Beitrag von G. ERNING, Von der Aufbewahrung, erwähnt die in Frage stehende Zeit mit keinem Wort. Allerdings in einem anläßlich des 75jährigen Bestehens des Landesverbandes Evangelischer Kindertagesstätten in Bayern im November 1994 herausgegebenes Extrablatt skizziert W. SPIEGEL-SCHMIDT, Wege und Krisen, eindrücklich den Weg zwischen „Anpassung und Selbsbehauptung". Der Bericht aus Württemberg erscheint zumindest ungenau, wenn er davon spricht, daß „der eigentliche Schlag" gegen die Kindergärten erst 1941 erfolgte (EBD., S. 18), die Zeit davor aber so gut wie gar nicht erwähnt. Die Quellen in G . SCHÄFER, Die Evangelische Landeskirche in Württemberg IV und V, hätten zu genauerer Wiedergabe des Sachverhaltes auch in zusammenfassender Formulierung führen müssen. Der „Uberblick" über die Entwicklung der Kindergartenarbeit in Hannover betont allerdings vorab: „Die Geschichte des Evangelischen Landesverbandes für Kinderpflege in Hannover ist noch nicht geschrieben." (H.-J. SCHROEDER, Ein halbes Jahrhundert, S. 13). Von diesen drei Schriften hebt sich ab die Studie von S. RICHTER, Entwicklung, die zwar auch eher an pädagogischen Fragen und Voraussetzungen interessiert ist, aber andererseits eine Darstellung konkreter Auseinandersetzung zum Beispiel in Frankfurt/Main nicht unterläßt. Die Arbeit von Richter liegt dem Verf. in Gestalt eines umfangreichen Konzeptes einschließlich einer Gliederung vor, das er in Zusammenhang mit einem Schriftwechsel zwischen Richter und ihm im Frühjahr 1976 erhalten hat. 85 H. NAU, Frauenverein; J . MlNGO, 100 Jahre; W. KLOTZ, Festschrift; W. ENGELBRECHT, 100 Jahre. Das gilt auch für die soeben erschienene Festschrift zum 125jährigen Jubiläum des Frankfurter Diakonissenhauses, die allerdings einen Beitrag zur Geschichte der Gemeindekrankenpflege in dieser Zeit liefert. FRANKFURTER DIAKONISSENHAUS (Hg.), Getrost und freudig. 86
K. MEIER, Neuere Konzeptionen (ZKG) S. 65.
87
K. NOWAK, Protestantischer Widerstand, S. 172.
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der im übrigen den Gesichtspunkt tätig dienender Kirche in der Gemeinde in Elberfeld unberücksichtigt läßt88. Das gilt auch für Robert Stupperich, der zwar einen gewissen „Niederschlag" des Kirchenkampfes in den Gemeinden der Kirchenprovinz Brandenburg beschreibt, der aber auch selbst zugesteht, daß „die nötige Perspektive und Blickschärfe" noch nicht gewonnen ist89. Sie ist es auch nicht in der soeben von Erich Schuppan herausgegebenen Darstellung von Gemeinden in Berlin-Brandenburg 1933 bis 1945 und ihrem Bekennen „wider jede Verfälschung des Evangeliums" 90 . "Weder in den hier versammelten Beiträgen noch in den anderen genannten Studien werden die Verflechtungen von Gemeinde als Träger einer Arbeit, die sich vielleicht gar in einem Verein organisierte, und der Inneren Mission als einem ebenfalls alles andere als konsistorial organisierten Gebilde deutlich. Das gilt auch für die schon erwähnte Studie von Bernd Hey, die nun andererseits bei ihrer Darstellung der Kindergartenauseinandersetzungen allein auf der Verbandsebene bleibt 91 . Dieses doppelte Defizit lenkt den Blick auf zwei weitere Mängel. Der erste wird sichtbar, wenn nach der Verflechtung der Inneren Mission - ihres Arbeitszweiges Kinderpflege mit den Einrichtungen in der Trägerschaft von Gemeinden - mit der übrigen Wohlfahrtspflege gefragt wird, als dem Bereich, allgemein gesprochen und ohne daß hier der Anspruch einer Begriffsdefinition erhoben werden kann, in welchem ein Gemeinwesen als Gemeinschaft der Bürger für das Wohl seiner Bürger sorgt. Der zweite Mangel ist festzustellen, wenn man Antwort auf die Frage nach der Verbindung der Inneren Mission - ihres Arbeitszweiges Kinderpflege mit den Einrichtungen in der Trägerschaft von Gemeinden - mit der, wie Wichern sie nennt, „konföderierten Kirche", sucht. Zwar hat die Festschrift, welche anläßlich des 150jährigen Jubiläums der evangelischen Kinderpflege im Jahre 1929 herausgegeben worden war 92 , für die organisatorische Entwicklung im Rahmen der Wohlfahrtspflege der Weimarer Zeit einen guten Überblick gegeben, auf den bis heute allenthalben zurückgegriffen wird. Aber eine grundsätzlich neue Arbeit, etwa anläßlich nachfolgender Jubiläen, ist nicht erschienen93. Allerdings hat bereits vor eini88 H . VORLÄNDER, Kirchenkampf. Bis dahin, soweit zu sehen, singular, G . HARDER/ W. NIEMÖLLER, Stunde der Versuchung. Jetzt D. SCHMIECHEN-ACKERMANN, „Kirchenkampf", ein Versuch einer Darstellung speziell der Stadtgemeinden Hannovers. 89
R. STUPPERICH, Kirchenkampf in Berlin-Brandenburg, S. 48.
90
E. SCHUPPAN, Wider jede Verfälschung.
91 B. HEY, Die Kirchenprovinz Westfalen, S. 231-234. Die Studie von W. KLÄN, Die evangelische Kirche Pommerns, erwähnt allgemein die „Entwicklungen im Bereich der kirchlich sozialen Werke unter dem Druck nationalsozialistischer .Gesundheitspolitik'." (S. 6). 92
J. GEHRING, Denkschrift.
Vgl. E. PSCZOLLA, Unser Dienst, mit den Beiträgen von A. NELL, Arbeitsgemeinschaft, und H . DÖLKER, Vereinigung. 93
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ger Zeit Herwarth Vorländer mit „Die N S V - Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation" das Ergebnis langjähriger Forschung vorgelegt, das bis zu einem gewissen Grad dem Mangel abhelfen kann. Ganz beheben kann es ihn nicht, da es von anderen Fragen herkommt und auf sie Antwort zu geben sucht. Vorländer bleibt notwendigerweise auf der Ebene der Spitzenverbände, ohne die Organisation der anderen Verbände berücksichtigen zu können, oder er tut dies doch nur, soweit es seiner Darstellung dient94. Gleiches gilt für die eindrucksvolle Studie „Wohlfahrtspolitik im NS-Staat" von Eckhard Hansen, der in erster Linie jene Motivationen, Konflikte und Machtstrukturen beschreibt, die die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) und ihr Verhältnis zu den Kommunen bestimmten 95 . Ein flüchtiger Uberblick über das zur Verfügung stehende Material macht aber schon deutlich, daß es die freie, als die nicht von Kommunen, Bezirken, Kreisen, Ländern oder Provinzen getragene Wohlfahrtspflege und die N S V sind, auf die sich die evangelische Kinderpflege einlassen mußte, insofern sie Teil des Wohlfahrtssystems war. Wenn im Rahmen dieser Arbeit auf Fragen der Verbindung von Innerer Mission und freier Wohlfahrtspflege eingegangen wird, soll es unter organisationshistorischen Gesichtspunkten geschehen, wobei gleichzeitig auf der Hand liegt, daß dabei die N S V ausführlicher Darstellung hinsichtlich ihrer Entstehung und ihres Anspruches bedarf, zumal sie, wie allein ein kurzer Blick auf die Quellen belegt, der entscheidende Wirkfaktor auf dem Wege der evangelischen Kinderpflege nach der Machtergreifung wurde. Zwar waren in dem Kräftespiel der freien Wohlfahrtspflege weder die anderen Verbände wie Deutscher Caritasverband (DCV) oder Deutsches Rotes Kreuz (DRK) ausgeschlossen noch die öffentliche Wohlfahrtspflege gänzlich bedeutungslos, aber auf eine Darstellung der Beziehungen zu den hier entfalteten Kräften und ihrer Wirkung auf die Innere Mission und im besonderen auf die evangelische Kinderpflege kann nur da eingegangen werden, wo sie unübersehbar sind96. 94 H . VORLÄNDER, Die N S V ; siehe auch DERS., NS-Volkswohlfahrt. Inwieweit dabei Vorländers organisationshistorischer Ansatz ausreicht, auch die Geschichte der Entwicklung der N S V in ihren Abhängigkeiten von Zustimmung und Ablehnung etwa durch die übrigen Verbände der freien Wohlfahrtspflege nachzuzeichnen, diese Frage soll ebenso dahingestellt bleiben wie jene, ob dieser Ansatz gar zu einer „unkritischen Darstellung der N S V " fuhren muß, wie HeideMarie Lauterer-Pirner anmerkt (H.-M. LAUTERER-PLRNER, Volkswohlfahrt), oder ob nicht gerade er dazu anleiten kann, aus einem allein moralisierenden Diskurs, einer einzig Alternativen und keine Ambivalenzen zulassenden Betrachtung herauszuführen, um auf diese Weise für einen nicht unbedeutenden Teil und auch bestimmenden Faktor des NS-Systems - eben die N S V - die „Feinstruktur ideologischer Macht" aufzudecken, wie es Jan Rehmann am Verhältnis der Kirchen zu diesem System mit seinem nun allerdings funktionalen Ansatz exemplifiziert hat 0 . REHMANN, Kirchen). 95
E. HANSEN, Wohlfahrtspolitik.
Das bedeutet, daß ebenso wie die Erzieher und die Ausbildungsstätten, die K o m m u n e n sowie andere freie Träger, insonderheit der D C V , und mit ihnen etwa vorhandene gegenseitige 96
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Einleitung
Anders sprengte es bei weitem den Rahmen dieser Arbeit und bleibt deshalb als eine offene Frage weiterer Forschung aufgetragen. Die Frage nach der Verbindung der Inneren Mission in Gestalt der evangelischen Kinderpflege zur verfaßten Kirche und ihren Gemeinden, die Träger von Kindergärten sind, ist nun allerdings jene, der unter Berücksichtigung der angezeigten Desiderate, die zugleich, wie erkennbar geworden sein mag, eine methodische Vorgabe bedeuten, nachgegangen werden soll. War evangelische Kinderpflege auf dem Wege zur diakonischen Gemeinde? Wie kam sie ihrem Auftrag und ihrer Verpflichtung nach? Was geschah in wohlverstandenem Interesse von Volk und Vaterland? Auf diese Fragen Antwort zu suchen, dazu ermutigen nicht nur die Väter der Diakonie, die ihre pia desideria immer wieder geäußert haben97. Dazu ermutigen auch jene bekannten und unbekannten Zeugen, die unter ihnen bedeutsam erscheinenden Fragestellungen „heutige Diakonie" 98 nachgezeichnet und Etappen ihres Weges festgehalten haben. Das konnte unter der Frage der „Einheit für den Dienst" 99 ebenso geschehen, wie unter der nach dem „Verein als Lebensform der Kirche" 100 . Die Hinwendung zur „Gesellschaft als Wirkungsfeld der Diakonie" 101 ließ auch nach dem Verhältnis von Kirche und Innerer Mission fragen und unter besonderer Berücksichtigung von Anspruch und Wirklichkeit etwa erfolgte eine Beschreibung der „Gemeinde in diakonischer und missionarischer Verantwortung" durch Theodor Schober und Hans Thimme 102 . Und nachdem Hans-Christoph v. Hase im von ihm herausgegebenen Arbeitsbuch für die Nächstenhilfe schon längst „die WieEinflußnahmen, seien sie apologetisch-agitatorischen oder kooperativen Charakters, nur bedingt zur Darstellung k o m m e n . Die vorliegende Arbeit stützt sich vornehmlich auf Quellen, die sich in „evangelischen Archiven" finden, kirchlichen und verbandlichen, regionalen und überregionalen. H i n z u k o m m e n Quellen aus Beständen des Bundesarchivs und des Instituts für Zeitgeschichte. Besonders mit Blick auf biographisches Material wurden die entsprechenden regionalen und überregionalen staatlichen Archive benutzt, sowie das ehemalige Berlin D o c u m e n t Center, jetzt im Bundesarchiv Berlin (BA Berlin). Notwendigerweise k o m m t dem Archiv des Diakonischen Werkes (ADW) mit seinen verschiedenen Beständen besondere Bedeutung zu. Vgl. H . TALAZKO, Archivgut. 97 Erinnert sei an Philipp J a k o b Speners Pia Desideria, ebenso wie an J o h a n n Hinrich Wicherns Rede vor dem Wittenberger Kirchentag. Siehe dazu auch TH. SCHOBER, Das Erbe. 98
G . NOSKE, Heutige Diakonie.
99
H . TALAZKO, Einheit.
100 „ D e r Verein als Lebensform der Kirche", Studienseminar in Tutzing v o m 14.-17.3.1960 mit Referaten von H . CHR. v. HASE, Strukturfragen; sowie von W. CONZE, Verein; und auch von E. BEYREUTHER, D e r christliche Verein; sowie von K . KUPISCH, Recht und Unrecht; und schließlich von B. HEYNE, Fragen. Siehe auch DERS., Kirche und Verein. Vgl. dazu die korrespondierende Frage nach den rechtlichen Beziehungen von Innerer Mission und verfaßter Kirche etwa G . KRÜGER-WLTTMACK, Verhältnis; und A. v. CAMPENHAUSEN, Kirche - Staat Diakonie; sowie auch W. GÜLDENPFENNIG, Diakonische Einrichtungen; und jüngst summierend und instruktiv T. BRENNER, Diakonie im Sozialstaat. 101
TH. SCHOBER, Gesellschaft als Wirkungsfeld.
102
TH. SCHOBER/H. THIMME, Gemeinde.
Einleitung
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derentdeckung der dienenden Gemeinde" 103 annonciert und Gerhard Noske die „helfende Gemeinde" 104 propagiert hatte, beschrieb vor einiger Zeit Johannes Michael Wischnath die „Kirche in Aktion" 1 0 5 . Damit setzte Wischnath neue Akzente. Das Auffallende nämlich an allen anderen, vorangegangenen, und inzwischen auch schon seiner Studie nachfolgenden106, wichtigen, wie ein „Kursbuch der Diakonie" 107 das Unterwegssein 108 - auch nach Europa 10 ' - aufzeigenden und darum ermutigenden Beiträgen, die die Diakonie unter bestimmten Gesichtspunkten im Blick haben und dabei ist die Kinderpflege nicht ausgeschlossen110 - besteht darin, daß sie in erster Linie mehr postulierend systematisch-theologisch orientiert sind. Das verhindert, gerade wo es um „Grundlegung und Gestaltung der Diakonie" 111 geht, mit der etwa Reinhard Turre sich an der theologischen Urteilsbildung beteiligt, keineswegs Rückgriffe auf gewisse geschichtliche Ereignisse und Prozesse. Gleiches gilt für die Studien Gerhard K. Schäfers zur „diakonischen Dimension christlicher Gemeindepraxis" 112 , die sowohl theologische Reflexionszusanmmenhänge darstellen als auch Tendenzen und Problemkreise kirchengemeindlicher Praxis markieren und einen Orientierungsrahmen geben wollen und dabei geschichtliche, systematisch-theologische, empirische und sozialwissenschaftliche Aspekte aufeinander beziehen. Aber von ereignisgeschichtlich bestimmten Fragen läßt sich weder diese „für eine Praxis im Unterwegs zu einer diakonischen Gemeinde" 113 außerordentlich hilfreiche Arbeit noch Turres „Diakonik" leiten. Das ist auch für den „Brennpunkt Diakonie" festzustellen. Die von Michael Welker für Rudolf Weth herausge103 H . CHR. V. HASE, Wiederentdeckung; auch DERS., Auf dem Weg. Siehe auch J. STEINWEG, Innere Mission. 104
G. NOSKE, Helfende Gemeinde.
105
J . M. WISCHNATH, Kirche in Aktion.
106 Siehe dazu A. HOLLWEG, Paradigmenprobleme; CHR. MÖLLER, Diakonie und Gemeindeaufbau; Μ. E. KOHLER, Kirche als Diakonie; J. DEGEN, Diakonie als soziale Dienstleistung. 107
M. SCHIBILSKY (Hg.), Kursbuch der Diakonie; siehe dazu auch H . SEIBERT, Auf vielen
Schienen. 108
Κ. H . NEUKAMM, Diakonie - quo vadis? Siehe auch P. C. BLOTH, Diakonie. Darin be-
schreibt Bloth den Weg, auf dem „dem Denken und Handeln der sich in vollem Sinne ökumenisch verstehenden und verantwortenden Christenheit Diakonie/διακονία in Begriff und Auftrag als ein Z e n t r u m zugewachsen ist." (S. 217). 109
TH. STROHM, Verantwortung für ein soziales Europa; TH. STROHM/J. DEGEN (Hg.),
Diakonie und europäischer Binnenmarkt. 110
Vgl. H . ESSER, Kindergarten; J. ESSLINGER, Kindergarten; H . HARTMANN, Kindergarten;
H . CHR. V. HASE, „Entkonfessionalisierte" Kindergärten?; B. BUSCHBECK, Arbeit mit Kindern, sowie G. K. SCHÄFER, Gottes Bund Entsprechen, S. 244-247. Mit in erster Linie sozialempirischen Zugang S. SCHNEIDER, Kirche als Institution; DERS., Die evangelischen Kindergärten. 111
R . TURRE, Diakonik.
112
So der Untertitel von G. K. SCHÄFER, Gottes Bund entsprechen.
113 EBD., S. 19. Das gilt auch für die knappe, dennoch höchst informative Arbeit von W . RANNENBERG, Diakonie.
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Einleitung
gebene Festschrift bündelt zwar „ein weites Spektrum theologischer, sozialethischer, gesellschaftspolitischer und ökumenischer Fragestellungen" 114 , aber es fehlt an geschichtlicher Fragestellung. Das muß man auch von Alfred Jägers so wichtiger Beschreibung der „Diakonie als christliches Unternehmen" sagen, die mit einem „unternehmenspolitischen Ansatz diakonischer Theologie" zu einer „Neujustierung der theologischen Achse eines diakonischen Unternehmens" 115 ermutigt. Auch der überzeugende Entwurf einer theologischen Begründung diakonischer Praxis in Auseinandersetzung mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns, den Dierk Starnitzke mit seiner Untersuchung zur „Diakonie als soziales System" 116 vorgelegt hat, orientiert sich nicht an ereignisgeschichtlichen Fragestellungen. Darin bleibt die Studie Wischnaths singulär. Der bis dahin festzustellende Mangel sowie die mit den Arbeiten Kaisers und Wischnaths gesetzten neuen Gewichtungen - sie sind es, die im Verlauf sachlicher Annäherung an das Thema der vorliegenden Arbeit, an seine Abgrenzung und Präzisierung, in entsprechender Weise die Methode seiner Behandlung als gerechtfertigt erscheinen lassen. So sehr es angemessen ist, in den genannten Beschreibungen des Verhältnisses von Kirche und Diakonie Versuche der Praktischen Theologie zu sehen, ekklesiologische Impulse aus der Erfahrung diakonischer Arbeit festzuhalten und mit theologischer Erkenntnis zu verknüpfen, so sehr erscheint es an der Zeit, den Erfahrungsbereich für die Praktische Theologie durch mentalitäts- und ereignisgeschichtlich orientierte Beschreibung eines Arbeitsfeldes von Innerer Mission und Kirche, mithin unter einem handlungsorientierten Ansatz zu vergrößern 117 . Das bedeutet, daß Theologie nur in gebrochener Weise in dieser Studie zur Sprache kommt, insofern sich diese Arbeit darauf beschränkt, Motive und Hintergründe für das Geschehen und das Handeln zu erklären. Das geschieht in der Hoffnung und mit dem Wunsch, daß die Praktische Theologie in ihrer mehr systematisch-theologischen Ausprägung die Bedingungen und den Zustand eines Weges hinter sich lassend hinsichtlich seiner Dokumente „eine tiefere, bleibende Wahrheit in ihnen entdecken [möchte], die neuem theologischen Nach-Denken Raum gibt." 118
114
M . WELKER (Hg.), Brennpunkt Diakonie, S. VI.
115
A . JÄGER, Diakonie als christliches Unternehmen, S. 15.
116
D . STARNITZKE, Diakonie als soziales System.
„ N o t w e n d i g ist freilich eine solche F o r m theologischen Arbeitens, die dem Organisationshandeln der Diakonie als Entscheidungshandeln gerecht wird. Dieses ersetzt nicht die grundsätzliche theologische Besinnung, sie formuliert das theologische Problem nur auf der Organisationsebene neu Ihre Berücksichtigung ist nur in einem praktisch-theologischen Ansatz 117
im Sinne eines handlungsorientierten Ansatzes möglich." (K.-F. DAIBER, Diakonie, S. 30). 118
G . BESIER/G. SAUTER, Christen, S. 42.
Α. Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der Weimarer Republik KAPITEL
I
DAS JUBILÄUM DER EVANGELISCHEN
KINDERPFLEGE
A M 16. J U N I 1929
Seit J o h a n n F r i e d r i c h O b e r l i n s E i n t r a g ins K i r c h b u c h , „ L o u i s e S c h e p p l e r nee 4. N o v e m b r e 1763, t o u c h e e 1771, c o n d u c t r i c e de la t e n d r e j e u n e s s e et n o t r e s e r v a n t e d ' e n f a n t s d e p u i s l'an 1779, le 16. j u i n " 1 , gilt der 16. J u n i 1779 als „ G e b u r t s t a g " des e v a n g e l i s c h e n K i n d e r g a r t e n s 2 . „ 1 9 2 9 w a r e n 150 J a h r e seit der B e g r ü n d u n g der ersten K l e i n k i n d e r s c h u l e d u r c h P f r . O b e r l i n v e r g a n g e n . A u s d i e s e m A n l a ß sollte eine g r o ß e J u b i l ä u m s t a g u n g s t a t t f i n d e n . E s w u r d e b e s c h l o s s e n , D r e s d e n als T a g u n g s o r t ins A u g e z u fassen u n d die J u b i l ä u m s t a g u n g f ü r die T a g e u m den 16. J u n i f e s t z u l e g e n . " 3 A u c h eine J u b i l ä u m s s c h r i f t w a r in A u f t r a g g e g e b e n 4 , V o r b e r e i t u n g s a u s s c h ü s s e w u r d e n gebildet, die sich n a c h m e h r e r e n S i t z u n g e n auf eine „ T a g u n g der R e i c h s k o n f e r e n z f ü r evangelische K i n d e r p f l e g e ( R e i c h s k o n f e r e n z ) anläßlich des 150jährigen J u b i l ä u m s der e v a n g . K i n d e r p f l e g e / D r e s d e n , 1 5 . - 1 8 . J u n i 1 9 2 9 " einigten 5 . 1 Nach J. GEHRING, Geschichte, S. 25: „Louise Scheppler, geboren am 4. November 1763, angerührt [vom Glauben] 1771, Aufseherin über die zarte Jugend und unser Kindermädchen seit dem 16. Juni des Jahres 1779."(Ubersetzung des Verf.). 2 Zur Diskussion um die historische Bedeutung dieses Datums vgl. A. DEPUHL, Bedeutung Oberlins: „Es muß ganz deutlich ausgesprochen werden, daß es wissenschaftlich nicht richtig ist zu sagen, daß genau vor 150 Jahren die erste Kleinkinderschule eingerichtet sei. ... Hoffentlich wird beim 200jährigen Jubiläum etwas mehr geschichtliche Genauigkeit beobachtet." (S. 119f.) Das ist insofern geschehen, als im Jahre 1979 weder der 16.6. noch sonst ein Datum Anlaß waren für ein Jubiläum der evangelischen Kinderpflege. In den einschlägigen Zeitschriften ist jedenfalls kein entsprechender Hinweis nachweisbar. Der einzige Reflex war ein Beitrag von E. PSCZOLLA, Louise Scheppler: „Aus Anlaß der 200. Wiederkehr des Eintritts von Louise Scheppler in die Arbeit Oberlins" (S. 386). Noch 1954, zur 175-Jahr-Feier, hatte er eine Festschrift herausgegeben, E. PSCZOLLA, Unser Dienst an den Kindern, mit Beiträgen von H. Dölker, W. Engelmann, J. Esslinger, A. Mohrmann, A. Neil und E. Psczolla. 3 Protokoll der Sitzung der Arbeitsgemeinschaft für evangelische Kinderpflege am 13.11. 1928 (ADW, CA/J 38). 4
EBD.; gemeint ist J . GEHRING, Denkschrift.
Protokoll einer Sitzung des Jubiläumsausschusses der Reichskonferenz am 14.12.1928 und Protokoll einer Sitzung des Jubiläumsausschusses der Reichskonferenz gemeinsam mit dem Dresdener Ortsausschuß am 29.1.1929 sowie auch die Protokolle der Vorstandssitzungen der 5
34
Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der Weimarer Republik
A m 16. Juni selbst, einem Sonntag, fand ein Festgottesdienst in der Kreuzkirche statt. Die Predigt hielt der Dresdener Stadtsuperintendent Johannes Ficker. Nach der Situation durchaus angemessenen Worten des Erinnerns wollte er, daß „wir ... uns heute stärken zu neuer Arbeit." Denn „der christlichen Erziehungsarbeit am Kleinkind wird heute vielfach das Recht bestritten. Auch diese Erziehung soll bereits entseelt, entchristlicht werden." 6 Und unter Zugrundelegung von Mk. 9.36-37 7 war sein Thema nun „der unendliche Wert, den ein Kind vor Gott hat, und der heilige Dienst am Kinde, zu dem wir vor Gott verpflichtet sind." Im unendlichen Wert eines Kindes „hat alle christliche Erziehungsarbeit ihren Antrieb und ihre eigentliche Kraftquelle." Sie ist Dienst. Aber „aus dem Dienst am Kinde ist der Kultus des Kindes geworden, aus verantwortlicher Sorge um das Kind das Knien vor dem Kinde ... Autorität, Gewöhnung an Zucht und Gehorsam - veraltete Begriffe aus der pädagogischen Rumpelkammer! Selbstentwicklung, Freiheit ist die Losung! Und wir sehen ja auch die Erfolge solcher Erziehungsgrundsätze in einer Jugend, die aufwächst wie die wilden Rosenschößlinge am Feldrain." 8 Nachdrücklicher konnte pädagogisches Bemühen nicht zurückgewiesen, unmißverständlicher kaum der Wunsch, überlieferte Lebensnormen auch in der Kirche zu bewahren, artikuliert werden. Ficker sah sich und seine Worte biblisch legitimiert und konnte darum mit einer Anspielung auf Oberlins Wirkungsstätte im elsässischen Steintal seinen weiteren Ausführungen programmatischen Charakter geben: „Mehr und mehr scheint unser Deutschland jetzt ein einziges großes Steintal zu werden. Politische Ohnmacht nach außen, Verarmung nach innen haben unser Volk eingeschmiedet in den ehernen Ring eines unentrinnbaren Schicksals." „Aber ein wichtiges und für das Ganze unentbehrliches Werk ist jedenfalls das, was sich die .Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege' zum Ziele gesetzt hat. ... Denn sie ist überzeugt, daß, wenn das Leben des Volkes erneuert werden soll, man zuerst seinen zarten Keim schützen, pflegen und gesund erhalten muß." 9
Reichskonferenz am 19.2.1929 und am 26.4.1929 (ADW, C A / J 38); ebenso das Festprogramm (EBD. u n d E Z A BERLIN, 7 / 4 4 1 3 ) .
Die Predigt ist abgedruckt bei F. VOGEL, Jubiläumstagung, S. 207-214, hier S. 208. Mk. 9.36-37: „Und er nahm ein Kindlein und stellte es mitten unter sie und herzte es und sprach zu ihnen: ,Wer ein solches Kindlein in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt nicht mich auf, sondern den, der mich gesandt hat.'" (Seinerzeit vertraute Lutherübersetzung in der 1912 vom D E K A genehmigten Textfassung). 8 F. VOGEL, Jubiläumstagung, S. 209ff. 9 EBD., S. 213; siehe auch E. ISLEIB, Was will der Evangelische Kinderpflegeverband, S. 19: „Wir sind gewiß, daß auch unserem Volk nur geholfen werden kann durch eine Erneuerung von innen her; dazu brauchen wir ein Geschlecht, das wieder aufwächst in Gottesfurcht und lebendigem Glauben."; und vgl. W. RICHTER, Kirche und Kindergarten, S. 205: „Mehr und mehr scheint unser Deutschland jetzt ein einziges großes Steintal zu werden, so wie jenes Steintal gewesen ist, ehe Oberlins am Glauben entzündete Liebe mit ihrer lebensschaffenden Tat einsetzte. Wie dort im Kleinen, so hier im Großen verknoten sich Schicksal und Schuld der Einzelnen und 6
7
Das Jubiläum der evangelischen Kinderpflege am 16. J u n i 1929
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Die „Jubiläumsfeier" war am 17. Juni. Sie fand im Neuen Rathaus statt. Generalsuperintendent Wilhelm Zoellner aus Münster, seit nahezu einem Vierteljahrhundert in diesem Amt und der Erziehungsarbeit ebenso seit der Zeit seiner Leitungstätigkeit als Vorsteher der Diakonissenanstalt Kaiserswerth wie durch sein späteres und noch andauerndes Mitwirken in der Evangelischen Schulvereinigung verbunden - er hielt die „kraftvolle Festrede" vor einer „stattlichen Versammlung", die den „prachtvollen Festsaal des Neuen Rathauses" „bis auf den letzten Platz füllte." 10 Nach dem mehr rhetorischen Hinweis auf das Erbe der Kinderpflege als Verpflichtung für Gegenwart und Zukunft stellte Zoellner fest, daß „die Aufgabe dieser Stunde nur die sein [kann], einige charakterisierende Linien zu ziehen", aber es „darf die Verbindungslinie dieser Spezialarbeit [seil, der Kinderpflege] mit der Gesamtheit des Komplexes, den wir Innere Mission nennen, nicht vergessen werden." Mit dem Anfang der Arbeit verband sich die Hoffnung, „aus einem Steintal ein Paradies" machen zu können. Die Hoffnung habe sich nicht erfüllt „trotz der nicht geringen Anerkennung, welche die Innere Mission und die Arbeit, der wir heute gedenken, besonders je und je in Kirche und Staat gefunden hat." 11 Ohne Vorbehalt freilich vermochte Zoellner diese Anerkennung nicht zu akzeptieren, denn er urteilte, daß man staatlicherseits immer wieder versuchte, die Arbeit „auf dem Felde der Neutralisierung" [seil. Neutralität = Religionsneutralität] unter Außerachtlassung der Entwicklung der Kinderpflege „anzubauen". Damit aber „spitzen sich die Dinge schärfer zu." Denn „hinter jenen Versuchen der Neutralisierung und Indifferenzierung rückt sofort eine andere Macht auf." Es sei die Macht des Kommunismus, der „der Indifferentismus" nicht standhalten werde, sondern nur das Evangelium. Deshalb sei
der Gesamtheit zu einem unheilvollen Wirrsal. ... Was für Waldbach der Pfarrer gewesen ist, das muß für ganz Deutschland die evangelische Kirche sein." 10 F. VOGEL, Jubiläumstagung, S. 203f.: Anwesend waren der Oberbürgermeister der Stadt Dresden, Vertreter des Reichsinnenministeriums, des Sächsischen Volksbildungs- und Arbeitsund Wohlfahrtsministeriums, Landesbischof Dr. Ludwig Ihmels, Vertreter des Central-Ausschusses für Innere Mission u. a. H e r m a n n Beutel und Johannes Steinweg, Vertreter des Caritasverbandes, des 5. Wohlfahrtsverbandes. Der Dresdener Kreuzchor unter O t t o Richter sang zu Beginn Veni, sanete spiritus von J o h n Moren, - nach der Begrüßung durch Heinrich Schulte als Vorsitzendem der Reichskonferenz und vor der Festrede - dann den Cherubinischen Lobgesang von Michael Glinka und zum Abschluß das Heilig von Felix Mendelsohn-Bartholdy (Programm in: A D W , C A / J 38 und C A / P D 51). Der Deutsche Evangelische Kirchenbund hatte durch H e r m a n n Kapler, den Präsidenten des D E K A , und durch Geh. O K R Gustav Scholz aus dem Kirchenbundesamt (KBA) und der E O K Berlin durch seinen Geistlichen Vizepräsidenten G e o r g Burghart schriftlich grüßen lassen.
' ' F . VOGEL, Jubiläumstagung, S. 224ff. Zoellner nennt in diesem Zusammenhang, offenbar aus derselben Q u e l l e wie I Kap. II.2.2. mit A n m . 175 erwähnt, Zahlen über Einrichtungen, Plätze und Pflegekräfte, vergißt aber offensichtlich 42 Kindergärten in den abgetretenen Gebieten in Rechnung zu stellen; deswegen sind Zoellners Angaben mit 184.360 Plätzen und 7.374 Kräften bei durchschnittlich 55 Plätzen und zwei Kräften je Kindergarten genau u m die entsprechende Differenz zu hoch. Siehe H I M III, S. XIII und 614.
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Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der Weimarer Republik
der „Kindergarten eine der Stellen ..., wo es sich um schwerwiegende Entscheidungen in dem heute kommenden Kampfe handelt. Von da aus ergeht heute an die Kirche die Aufforderung und Mahnung, daß sie, die heute heiß umstrittene und schwer bedrohte, gerade diese Arbeit wichtig und ernst nehme und ihr nach Kräften beispringe." Die gleiche Mahnung gelte den öffentlichen Stellen. Auch sie müßten sich dieser Arbeit annehmen, „ihr Licht und Luft geben und sie nach dem Maß ihrer Kräfte fördern und stützen." 12 Weder Zoellner noch Ficker erkannten die Chancen, die dieser Staat der Kirche und der freien Wohlfahrtspflege eröffnet hatten. Sie versagten der auf die Realitäten der Welt sich einstellenden Weimarer Republik mit biblischer Begründung die politische Zustimmung 13 . Gleichzeitig begriffen sie allein die Kirche nicht nur als Garanten der freien Wohlfahrtspflege und damit auch der Kinderpflege, sondern der „Staats- und Volksordnung" überhaupt. War aber dieses Urteil kennzeichnend für die gesamte Diskussionslage? Den ersten Teil der Festtage bildeten am 15. Juni die Mitgliederversammlung des Verbandes Evangelischer Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen Deutschlands, sowie die Mitgliederversammlung des Deutschen Verbandes der Ausbildungsstätten für evangelische Kinderpflege und schließlich eine Arbeitstagung der Reichskonferenz selbst. Auf ihr hielt Johannes Gehring, Schriftleiter der Zeitschrift „Die christliche Kinderpflege" und einer der Männer, die in den zurückliegenden fünfundzwanzig Jahren die evangelische Kinderpflegearbeit entscheidend geprägt hatten, einen Vortrag über „die Geschichte der evangelischen Kinderpflege und ihr Ertrag für die Gegenwart." In zusammenfassender Form trug er darin die Arbeitsergebnisse vor, die er in der von ihm herausgegebenen Denkschrift bereits vorgestellt hatte 14 . Er sah den Ertrag der Geschichte evangelischer Kinderpflege nicht in einer bestimmten Gestalt politischen oder wohlfahrtspolitischen Handelns als einer „christlichen" Konsequenz dieser Geschichte. Er sagte nur soviel, daß sich aus der Lage, wie sie besonders durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) gekennzeichnet sei, sich „auch für die evangelische Kinderpflege Folgerungen ergeben, die sich heute noch nicht überschauen lassen." 15 12 EBD., S. 228ff.; schon 1921 hatte W. ZOELLNER, Die Innere Mission, mit Emphase geäußert: „Gegen die Selbstbestimmung des Menschen, die heute auf der Gasse ihre Folgerung zieht, setzen wir den Gehorsam der Wahrheit, die in Christo hinaufführt zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. ... So wollen wir Leute gewinnen. ... Die Familie wollen wir bauen, neben die Staatskultur setzen wir als das Wichtigere und Uberragende die Kultur von Familie, Geschlecht, Sippe und Stamm, der auf diese Weise z u m Volk wird und dem Staat zu dienen hat." (S. 4f.). 13 Vgl. W. PHILIPPS, Wilhelm Zoellner, S. 166f., dessen Sicht M. GRESCHAT, N e u e Literatur, S. 485 in Frage stellt. Danach zählt Zoellner zu den Repräsentanten einer Kirchlichkeit, die die Zeit gerade nicht in biblischem Licht sahen. Vgl. auch E. LESSING, Bekenntnis, S. 115-119. 14 J . GEHRING, Denkschrift. D e r Vortrag ist im Wortlaut als masch. Manuskr. hektogr. überliefert ( A D W , C A / P D 51) und auch in F o r m einer zusammenfassenden masch. Mitschrift (Protokoll?) ( A D W , V K D 4). 15
J. GEHRING, Geschichte, S. 188; und Ders., Geschichte, Manuskr. ( A D W , C A / P D 51).
Das Jubiläum der evangelischen Kinderpflege am 16. Juni 1929
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Wer auf die Geschichte evangelischer Kinderpflege blicke, der müsse ohnehin erkennen, „welch reiches Erbe" sie übernommen habe; der müsse auch wissen, „welche Verantwortung Gott mit der Kinderpflege seiner Kirche gegeben hat." 1 6 Im Kontext des Jubiläums bot Gehring damit die Geschichte als Rahmen, den mit durchaus unterschiedlich gestalteten Bildern zu füllen möglich gewesen wäre. Damit bleibt weiter die Frage offen, ob es noch andere Bildentwürfe gab als die sich im Grundsätzlichen gleichenden von Zoellner und Ficker. Der Schlußteil der Festtage setzte sich zusammen aus einer zweiten Arbeitstagung der Reichskonferenz am 17. Juni und einer dritten am 18. Juni. Dazwischen fanden eine öffentliche Versammlung mit Bildern aus der Arbeit und Bildern des Erinnerns 17 und am 17. Juni vormittags ebenfalls eine Mitgliederversammlung des Evangelischen Reichsverbandes für Kinderpflege (Reichsverband) statt, auf der, wie mit den übrigen Verbänden evangelischer Kinderpflege verabredet 18 , beschlossen wurde, nunmehr den Namen Vereinigung evangelischer Kinderpflegeverbände Deutschlands (Vereinigung) zu tragen 19 . Außerdem legte Hermann v. Wicht, Pfarrer und seit sechs Jahren geschäftsführender Vorsitzender des Reichsverbandes, dieser Mitgliederversammlung eine „Denkschrift zur Schaffung eines räumlichen Mittelpunktes (eigenen Heimes) für die evangelische Kinderpflege Deutschlands anläßlich ihres 150jährigen Bestehens" vor. Darin entwarf er für die Arbeit der Vereinigung einen zentralen Ort, „wie ihn nur ein eigenes Haus im idealsten Sinne des Wortes geben kann." Daß er sich hierbei nicht am Vorbild des in BerlinSchöneberg gelegenen Pestalozzi-Fröbel-Hauses orientierte und dem hohen sozialpädagogischen Standard seiner drei Ausbildungsgänge20, läßt erkennen, daß es ihm kaum um ein pädagogisches Zentrum ging. v. Wicht wollte „Kraftzentren schaffen, statt durch Zersplitterung und Nebeneinanderherarbeiten wertvollste Kräfte zu binden." 21 Schon seit vier Jahren, seit der Fröbelverband Pläne für die Errichtung eines Friedrich-Fröbel-Hauses in Bad Liebenstein veröffentlicht hatte 22 , war v. Wicht davon überzeugt, daß es auch 16
EBD., S. 198.
17
Auguste M o h r m a n n erzählt von „Stätten der Kinderfreude" und ein Ururenkel Oberlins,
Pfarrer Paul Werner, Landeswohlfahrtspfarrer in Karlsruhe, trägt etwas zum „Oberlin-Gedenk e n " bei. M o h r m a n n s Beitrag ist im Wortlaut nicht überliefert; es liegt nur eine zusammenfassende sehr kurze Mitschrift vor ( A D W , V K D 4); siehe aber P. WERNER, Oberlin-Gedenken. 18
Siehe dazu I Kap. II.2.3. mit A n m . 176.
19
Protokoll der Mitgliederversammlung der Vereinigung am 17.6.1929 ( A D W , E R E V 239).
D e r Eintrag ins Vereinsregister beim Amtsgericht Berlin-Mitte erfolgte am 17.8.1929 (Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, V R 571 Nz). 20
Dazu siehe ARBEITSGRUPPE „GESCHICHTE", Das Pestalozzi-Fröbel-Haus, S. 1 2 - 1 7 . Auch
ARBEITSGRUPPE „GESAMTKONZEPTION", Zur Geschichte. Teil II, S. 9 8 - 1 0 7 . 21
Protokoll der Mitgliederversammlung der Vereinigung am 17.6.1929 ( A D W , E R E V 239).
22
W . DÖPEL, Ein Friedrich-Fröbel-Haus. Die Pläne waren von der Weimarer Architekten-
gemeinschaft Walter Gropius und Adolf Meyer. Siehe W . GROPIUS, D e r Bauplan.
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Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der Weimarer Republik
für die evangelische Kinderpflege notwendig wäre, einen „geistigen Mittelp u n k t " , einen „monumentalen Ausdruck des Zusammengehörigkeitsbewußtseins ... zur Sammlung neuer Kräfte und zur inneren Besinnung über die ewigen Ziele unserer Arbeit" zu schaffen 23 . Mit seiner Denkschrift warben er und die Vereinigung jetzt erstmals dafür. Dabei sollte es allerdings bleiben. D i e weitere Entwicklung ließ eine Realisierung nicht zu 2 4 . Mochte mit der Denkschrift v. Wichts im Rahmen des Jubiläums auch der besondere Anspruch der Vereinigung gegenüber den anderen Mitgliedsverbänden 2 5 der Reichskonferenz erkennbar werden und mit seinem Werben auch eine gewisse Kritik an ihr und der mangelhaften Zusammenarbeit - besondere Bedeutung mußte aber zu diesem Zeitpunkt doch eher den beiden sogenannten Arbeitstagungen zukommen, hätte man doch erwarten können, daß auf ihnen, über Festpredigten und Festreden, Denkschriften und Verbandsinterna hinaus, Erkenntnisse und Erfahrungen zusammengetragen und Perspektiven entwickelt würden. Diese Erwartung wurde nicht enttäuscht. Es war wiederum v. Wicht, der sie erfüllte. Mit seinem auf der ersten Arbeitstagung am 17. Juni gehaltenen Vortrag „Die evangelische Kinderpflege - ihre soziale Bedeutung und Aufgabe in der Gegenwart" 2 6 summierte er gewonnene Einsichten und entwarf Ausblicke. Er setzte ein mit dem Hinweis auf die tatsächlich überall vorhandene N o t , „rechnet man doch allein in Berlin mit etwa einhundertausend kindergarten- und hortbedürftigen Kindern, von denen nur etwa 16.000 in 390 Tagesstätten der halboffenen Kinderfürsorge erreicht werden - wie groß mag erst die Zahl der aufsichtslosen Kinder im ganzen Reiche sein!" 2 7 O h n e 23 Bericht des Evangelischen Reichsverbandes für Kinderpflege für das Jahr 1924/25 (ADW, E R E V 239). Wenn v. Wicht schreibt: „... wie es der Fröbelverband in dem Friedrich-Fröbel-Haus in Bad Liebenstein in vollendeter Weise zum 75-jährigen Geburtstag des Meisters in diesem Jahre erhalten wird." (EBD.), kann damit nur der 75. Todestag am 21.6.1927 gemeint sein, wie es angezeigt ist von W. DÖPEL, Ein Friedrich-Fröbel-Haus, S. 21. 24 Siehe I Kap. III.2.1. 25 Es waren: Deutscher Verband der Ausbildungsstätten für evangelische Kinderpflege, Verband Evangelischer Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen Deutschlands und Referat Kinderpflege des Kaiserswerther Verbandes Deutscher Diakonissen-Mutterhäuser. Siehe dazu I Kap. II.2.2. und II.2.3. 26 Η . V. WICHT, Evangelische Kinderpflege. 27 EBD., S. 257; mit dieser rhetorischen Wendung hat er natürlich seine Hörer bei der Sache, wenn auch eher emotional. Sie ist aber auch ein Hilfsmittel zu verdecken, daß es eine genaue Antwort auf diese Frage nicht gab; vgl. dazu TH. HOFFA/I. LATRUXE, Die halboffenen Anstalten, S. 7, die die Zahl der Kleinkinder nur schätzend berechnen können; allerdings weiß v. Wicht, wovon er spricht. In seinem Beitrag Η . V. WICHT, 150 Jahre, S. 134f., stellt er solche Zahlen in einen Kontext, um untragbare Verhältnisse anschaulich zu machen: „Es ist nötig, das durch einige Hinweise zu erläutern. So ist die Frauenerwerbsarbeit unter dem Druck der heutigen wirtschaftlichen Verhältnisse in erschreckendem Umfange gestiegen. Die Berufs- und Betriebszählung vom 16.6.1925 hat festgestellt, daß sich in den 18 Jahren seit der letzten Zählung die Frauenarbeit der Männerarbeit gegenüber im Verhältnis von 59% zu 25% vermehrt hat. Es waren 1925 im Gewerbe über 4 3/4 Millionen Frauen tätig, davon nahezu 3 Millionen in der In-
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Frage, gerade bei geschichtlichem Rückblick „können wir dankbar dafür sein, daß evangelische Kinderpflege als erste auf dem Plan gewesen ist, um Kindernot zu lindern." 2 8 Ohne Frage auch, daß damit die Öffentlichkeit erhebliche Mittel eingespart habe 29 . Das mache zwar die soziale Bedeutung einsichtig, der durch die helfende Liebe entsprochen werde. Es bedürfe aber noch einer anderen, einer „festen Grundlage." Da sich Gottes Gnade sowohl in W o r t und Sakrament als auch in rettender und helfender Liebe offenbart habe, erfordere die Arbeit evangelischer Kinderpflege nicht nur eine Entsprechung im sozialen Bereich. Sie bedeute vielmehr auch, den Prozeß des Glaubens in Gang zu setzen. Das könne nicht vermittels einer Methode geschehen, sondern nur durch die Haltung des Erziehers. Ihn aber finde man nur im Bereich der evangelischen Gemeinde, in der Gottes W o r t verkündigt und seine Sakramente gespendet werden. Die „soziale Bedeutung" evangelischer Kinderpflege „ist in christlicher Beleuchtung der Ausdruck des Verantwortungsbewußtseins der evangelischen Gemeinde und damit der evangelischen Kirche für die Linderung der leiblichen und seelischen N ö t e ihrer Glieder." Aus dieser einleuchtenden Grundlegung folgten aber für v. Wicht nun zwei Sachverhalte von entscheidender Bedeutung. Weil nämlich - zum einen - rettende Liebe
dustrie, 1 1 / 2 Millionen im Handel, V e r k e h r und Gastwirtschaften. D e r größte Teil arbeitete davon in den Großstädten. D i e Wohnungsverhältnisse haben sich in einem solchen M a ß e verschlechtert, daß auf jede 9. bis 10. W o h n u n g in Deutschland eine Haushaltung oder Familie o h n e eigene W o h n u n g k o m m t . Charakteristisch sind die Zahlen aus Berlin. Es gibt nach dem Stand v o m 3 . 5 . 1 9 2 7 in G r o ß - B e r l i n 4 7 . 8 8 9 W o h n u n g e n mit einem W o h n r a u m (als W o h n r ä u m e gelten Z i m m e r sowie K ü c h e n und M ä d c h e n k a m m e r n mit Fenstern ins Freie), 3 3 6 . 2 7 9 mit 2 und 385.922
mit
3 Wohnräumen.
Mit
anderen
Worten:
in 7 7 0 . 0 9 0 W o h n u n g e n
leben
gegen
3 1 / 2 Millionen Menschen mit völlig ungenügenden Voraussetzungen an Licht und Luft. N o c h nicht 1 / 5 der Bevölkerung w o h n t in einigermaßen menschenwürdigen Verhältnissen. ... In einer W o h n u n g von einem Z i m m e r und einer K ü c h e m u ß eine Familie von 15 Personen, nämlich den Eltern und 13 Kindern im Alter von 1 - 2 2 J a h r e n , v o n denen 10 weiblich und 5 männlich sind, zusammen w o h n e n . In einer anderen W o h n u n g von einem Z i m m e r und einer K ü c h e w o h n e n 3 Familien mit 14 Personen - 4 männlich und 10 weiblich - zusammen und die Zahl, in der in einer entsprechend kleinen W o h n u n g von ein oder zwei Z i m m e r n und K ü c h e 12, 11 und 10 Personen z u s a m m e n w o h n e n , ist sehr erheblich. ... U n d wo bleiben da die Kleinkinder? W o werden sie erzogen? ... M a n k a n n in Berlin mit etwa 140.000 Kleinkindern im vorschulpflichtigen Alter rechnen, die infolge dieser Verhältnisse eine Ergänzungs- oder Ersatzerziehung in Krippe, Kindergarten und H o r t brauchten: In Wahrheit werden nur 16.000 versorgt, also etwa 11%. E t w a 100.000 Kleinkinder der ärmeren Bevölkerung wachsen in dieser Stadt ohne eine grundlegende H y g i e n e , o h n e S o n n e und Luft, o h n e Bewegungs- und Spielmöglichkeit auf."; vgl. dazu auch Η . V. WICHT, Aufgaben, S. 239ff., worin er auch auf das A l k o h o l p r o b l e m hinweist, dem er sich ein J a h r später in einem Beitrag besonders zugewandt hat, Η . V. WICHT, A l k o h o l und Kinderpflege; im übrigen vgl. zur sozialen Situation auch E . CORTE, Kindergärten; und siehe auch I Kap. III.2.1. mit A n m . 43; vgl. auch W . FRIEDLÄNDER, Soziale J u g e n d n o t . 28
Η . V. WICHT, Evangelische Kinderpflege, S. 257.
29
EBD., S. 2 5 8 ; vgl. dazu neben den z u v o r in A n m . 27 genannten Beiträgen besonders
A. DEPUHL, A r b e i t der Kindergärten, und H . WEBER, Bedeutung der freien Wohlfahrtspflege, die beide allein unter ö k o n o m i s c h e n Gesichtspunkten die Existenzberechtigung der freien W o h l fahrtspflege im allgemeinen und der evangelischen Kinderpflege im besonderen nachweisen.
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„nie das eigene Ich", sondern „stets das Du des andern" wolle, „wirkt [sie] damit versöhnend und sozial-ausgleichend." „Deshalb wird es der evangelischen Kinderpflege, wenn sie treu arbeitet, im besonderen Maße möglich sein, an der sozialen Neugeburt unseres vielfältig zerrissenen Volkes zu arbeiten und die Uberwindung der in ihm vorhandenen Gegensätze von innen heraus anbahnen zu helfen." 30 Das könne jedoch - zum anderen - nur geschehen bei Achtung der Familie, der „Keimzelle aller Volks- und Staatsgemeinschaft." N u r in ihr, „im Blutzusammenhang mit der Ahnenkette, in der Familienbindung, in der Familienüberlieferung wie dem Verwachsensein mit dem Boden der Heimat" könne sich „das wahre Eigenleben schöpferischer Gottes- und Naturordnung" entfalten31. Berufen könne sie sich dabei zwar auf die Ergebnisse der Verhandlungen der Reichsschulkonferenz 32 , aber da eine „steigende kulturkämpferische Tendenz gegen das Eigenrecht der evangelischen Kirche und den evangelischen Erziehungsanspruch ihrer Glieder" zu beobachten sei, müsse man sich einen „politischen Willensausdruck verschaffen" und versuchen, „unmittelbaren Einfluß auf die Gestaltung der öffentlichen Dinge, ihrer Gesetze und Einrichtungen von unserer Weltanschauung aus zu gewinnen." Das bedeute, daß ein „Ausbau der evangelischen Kinderpflege in einem planmäßig über Stadt und Land auszuspannenden Netz von Tagesheimen geschehen" müsse, es also ankomme „auf eine planmäßige Gestaltung der Arbeit und eine Gewinnung des gesamtkirchlichen Offentlichkeitswillens im Reich für sie." 33 Auch die Worte des Praktikers passen ins Bild und fallen ganz und gar nicht aus dem Rahmen; auch sie verbinden eine biblische Sicht menschlicher N o t und ihrer Abwehr mit der bestimmten politischen Forderung: Der Staat solle mit aller Deutlichkeit für die christliche Kinderpflege als einzig gültiger, weil christlicher und damit die Grundlagen des Staates sichernder Form halboffener Kinderarbeit Partei ergreifen34. Auf diese Äußerung wurde deshalb 30 Η . V. WICHT, Evangelische Kinderpflege, S. 258. Mit „soziale N e u g e b u r t " spielt er auf J o h a n n Hinrich Wichern an und seine Vision v o m „praktischen Zentrum der inneren Mission" „als christliche Volkssache ..., sofern sie die freie Liebesarbeit des heAerfülUen Volkes zur Verwirklichung der christlichen und sozialen Wiedergeburt [!] des heillosen Volks ist und nicht eher ruhen kann, bis das Ganze ein wahrhaft christliches V o l k in Staat und Kirche geworden." (J. H . WICHERN, Die preußischen Reichsstände und die innere Mission (1847), in: Sämtliche Werke I, S. 101-105, hier S. 103). Die Hervorhebungen entsprechen denen der Vorlage. 31
Η . V. WICHT, Evangelische Kinderpflege, S. 258.
32
Siehe I Kap. Π.Ι.
33
Η . V. WICHT, Evangelische Kinderpflege, S. 258.
Im übrigen nimmt v. Wicht den Verlauf der Geschichte hinsichtlich des Fröbelschen Kindergartens, da wo dieser sich nicht durchsetzen konnte, besonders im Blick auf sein Verbot durch den Geheimen Ministerialerlaß des Preußischen Kultusministers Karl O t t o v. R a u m e r v o m 7.8.1851 (MBliV 1851, S. 182) als Beweis gegen die Fröbelsche Pädagogik und die sich mit ihr verbündende politische Position (EBD., S. 261). Daß man auch anders urteilen konnte, zeigt etwa A. DEPUHL, Geschichtliche Entwicklung, S. 412: „ D e r gesunde Wettkampf des Kindergartens [seil. Fröbels] mit der Kleinkinderschule wurde leider mit ungleichen Waffen geführt. Die Regie34
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recht ausführlich eingegangen, weil der Veranstaltungsrahmen ebenso wie die Funktion eines Vorsitzenden des Fachverbandes der Träger eine Positionsbeschreibung nach Bestandsaufnahme und Zielvorstellungen erwarten lassen. D a ß sie es tatsächlich in ganz umfassender Weise war, belegen nicht nur die Veröffentlichungen v. Wichts anläßlich des Jubiläums 3 5 , sondern zeigen auch einige Beiträge und Äußerungen anderer Repräsentanten der evangelischen Kinderpflege unmittelbar in Verbindung mit dem Jubiläum oder in seinem Umfeld. So etwa fragte Adolf Neil, Geschäftsführer des Evangelischen Verbandes für Kinderpflege in der Rheinprovinz: „Wie steht es ...? mit der evangelischen rung ergriff Partei für die christliche Kleinkinderschule." - So sollte es wieder sein. Das war die politische Forderung der Jubilare. 35 Hier seien die wichtigsten Veröffentlichungen v. Wichts anläßlich des Jubiläums genannt: Aufgaben; 150 Jahre (EJugh); Zum 150jährigen Jubiläum; 150 Jahre (Bausteine); 150 Jahre Rückblick. Die Beiträge sind alle nicht gleichen Wo tlautes, aber stets von gleicher Tendenz. Außerdem verfaßte er eine Vielzahl kleinerer Beiträge für regionale T essedienste und Vereinszeitschriften. Ein Verzeichnis aller seiner anläßlich des Jubiläums verfaßten und veröffentlichten Beiträge, sowie auch die anderer Autoren, einschließlich Belegexemplaren (ADW, V K D 4 und A D W , C A / P D 51); darunter befindet sich auch die Zusammenfassung des Dresdener Vortrages in hektogr. Form. Fast wörtlich gleichlautende „Leitsätze" (ADW, C A / J 38), für die v. Wicht als Verfasser feststeht, sprechen dafür, daß sie auf diesen Vortrag zurückgehen und auch die hektogr. Zusammenfassung von seiner Hand ist. Die „Leitsätze"; „Evangelische Kinderpflege - ihre soziale Bedeutung und Aufgabe in der Gegenwart. Leitsätze Pastor Dir. v. Wicht, Berlin. 1. Evangelische Kinderpflege ist die planmäßige außerhäusliche und außerschulische Erziehungsfürsorge in familienergänzenden evangelischen Tagesheimen. Sie ist ebensosehr ein Teilgebiet der Erziehungsdiakonie wie der sozialen Kinderfürsorge der evangelischen Kirche. 2. Evangelische Kinderpflege wurzelt in den Ewigkeitskräften helfender und rettender Liebe, die der evangelischen Gemeinde als dem Organismus des Dienstes durch den Dienst Jesu eingepflanzt worden sind. Ihre soziale Bedeutung empfängt sie aus dem Verantwortungsbewußtsein der Kirche für die leiblichen und seelischen Nöte ihrer Glieder. 3. Evangelische Kinderpflege wirkt durch den Geist und die Kraft ihrer Erziehungsfürsorge sozial ausgleichend und zeigt den einzigen Weg zu den ewigen Lebensquellen, aus denen die soziale Neugeburt unseres Volkes und die Uberwindung seiner Zerrissenheit von innen heraus möglich ist. 4. Evangelische Kinderpflege grenzt sich bewußt gegen alle Bestrebungen ab, die die vorschulische Erziehung sämtlicher Kinder unseres Volkes im Rahmen des gesamten Bildungswesens zu einer Zwangseinrichtung des Staates machen möchten. Sie fordert vielmehr, daß Recht und Pflicht der Erziehung der Kinder im vorschulpflichtigen Alter bei der Familie bleiben, die Kinderpflege also nach wie vor als ein Arbeitsgebiet der sozialen Erziehungsfürsorge zu gelten habe. 5. Wenn der Staat Kraft seines Rechtes die Aufsicht über die Tagesheime der evangelischen Kinderpflege zu beanspruchen hat, so hat die evangelische Kinderpflege mit Nachdruck zu fordern, daß Staat und Kommunen ihr verfassungsmäßiges Eigenrecht auf evangelische Erziehung schützen und ihr gemäß des Steueraufkommens des evangelischen Bevölkerungsteiles nach ausschließlich fachlicher Beurteilung ihrer Leistungen im Rahmen der Wohlfahrtspflege überhaupt die notwendigen Mittel zur Durchführung ihrer sozialfürsorgerischen Aufgaben gewähren. 6. Der Ausbau der evangelischen Kinderpflege muß in einem planmäßig über Stadt und Land auszuspannenden N e t z von Tagesheimen geschehen, die, den verschiedenen sozialen Bedürfnissen der Bevölkerungsschichten angepaßt, möglichst alle erziehungsbedürftigen Kinder des evangelischen Volksteiles umfassen."
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Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der Weimarer Republik
Kinderpflege, meine ich." Er sah diese Frage als Herausforderung, das Erbe evangelischer Kinderpflege zu erhalten36. Dies sollte in dem Sinne geschehen, „daß die Quelle unserer Arbeit rein bleibt und daß wir zu dieser Quelle alle die führen dürfen, die unsere Hilfe begehren." Denn „unser Tun bleibt leer, wenn wir der äußeren Hilfe nicht die innere folgen lassen können." Darum sind „gesetzliche Bestimmungen ... nur insofern erwünscht und freudig begrüßt, als sie der Sache zu dienen geeignet sind." 37 Eine ganz ähnliche Einschätzung der Lage gab schon der Bericht von einer Tagung des Evangelischen Kinderpflege-Verbandes der Provinz Brandenburg vom 6.-8. November 1927. Die in Brandenburg/Havel versammelten Trägervertreter aus der Mark Brandenburg beschäftigten in erster Linie jene Probleme, die sich für sie aus der Tatsache ergaben, „daß der Staat, der doch nicht nur Rechtsstaat, sondern zugleich auch Wohlfahrtsstaat sein will, erklärt religionslos ist." Deshalb werde man „das wertvolle Gut evangelischer Kinderpflegearbeit nur erhalten können, wenn wir uns klar bewußt bleiben, was der tiefste Grund und das letzte Ziel unserer evangelischen Arbeit ist, wenn wir eine evangelische Pädagogik verarbeiten und wenn wir unsere Organisation so ausbauen, daß sie uns wirksam und nachhaltig vertreten kann." 38 Noch deutlicher war ein Beitrag, der die evangelische Kinderpflege geradezu von Verstaatlichungsdrohungen umzingelt sah. U m „evangelische Kinderpflege als Diakonie" beschreiben zu können, sei es erforderlich, nicht dem Irrtum zu erliegen und anzunehmen, daß eine „antireligiöse Haltung nur in sozialistischen Kreisen zu finden sei. Wir würden irren, wenn wir auch nur annähmen, daß sie dort ihre Quelle habe. Sie herrscht auch an maßgebenden Regierungsstellen." Deswegen sei allen Forderungen nach Verstaatlichung entgegenzutreten, denn sie träfe, „wenn sie durchdringt, evangelische Kinderpflege als Diakonie gerade ins Herz. Warum trifft sie so? Weil sie aus antireligiöser, genauer gesagt: andersreligiöser Haltung stammt." 39 Dem entgegenstehende Äußerungen von Regierungsvertretern, die ein solches grundsätzliches Mißtrauen gegenüber dem Staat hätten beseitigen können, blieben zwar nicht ohne Gehör, aber auch dem standen Bedenken voran. Zwar rückte der Vertreter des Reichsministeriums des Innern auf der Festveranstaltung am 16. Juni zunächst die gesetzlich verankerte Sicherstel36
A. NELL, Wie steht es ...?, S. 22f.
Ein Vortrag, gehalten im Rahmen einer Tagung der Vereinigung am 23.6.1930 in Dessau, A. NELL, Evangelische Kinderpflege; als masch. Manuskr. unter dem Titel „Die evangelische Kinderpflege und der heutige Staat", mit den für den D r u c k angebrachten Korrekturen ( A D W R H DÜSSELDORF, O H L 61.3.3.); siehe auch die offenbar den Teilnehmern zur Verfügung gestellten „Leitsätze .Evangelische Kinderpflege und der heutige Staat' von Pfarrer A. Neil, Langenberg" ( L K A N ü r n b e r g , L A f l M 616 Τ. I.). 38 N . N . , Kinderpflege-Tagung, S. 17; vgl. auch E. ISLEB, Was will der Evangelische Kinderpflegeverband? 39 K . MALUCHE, Evangelische Kinderpflege, S. 5f. Vgl. auch W. WENDEBOURG, Die volksmissionarische Aufgabe. 37
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lung der freien Wohlfahrtspflege, insonderheit durch das R J W G die der Kinderpflege ins Blickfeld, doch er betonte auch die grundsätzliche Absicht der Regierung, keinesfalls eine Politik gegen deren Träger zu machen. Und es war wohl Anerkennung, wenn schließlich über die bei solchen Gelegenheiten üblichen Formelhaftigkeit hinausgehend auch hervorgehoben wurde, daß die Arbeit aufopfernder Pflege und Hilfe für die Jugend „in ganz hervorragender Weise geleistet wird von der Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege und den ihr angeschlossenen vier großen Organisationen." In gleicher Weise äußerte sich der Sprecher des Sächsischen Arbeits- und Wohlfahrtsministeriums, der die soziale Bedeutung der Arbeit der Kinderpflege angesichts der materiellen und sozialen Probleme herausstellte. „Ich wünsche, daß Ihre Vereine, die ein so großer Segen waren, auch in Zukunft entsprechend der gesteigerten N o t sich immer wieder segensreich auswirken möchten." 40 Der Jubilar, die evangelische Kinderpflege, registrierte wohl, daß man „von staatlich-kommunaler Seite manch freundliches Wort [hatte] hören dürfen". Indessen das, worum es der evangelischen Kinderpflege in den zurückliegenden Jahren stets gegangen war, nämlich die Anerkennung, wird zunächst als nicht entscheidend für die Arbeit abgetan. Der Grund lag kaum darin, daß die ministeriellen Abgesandten nicht besonders hochrangig waren, der Wert ihrer Worte also dementsprechend niedrig einzustufen gewesen wäre. Vielmehr meinte man, „es kann nicht im Sinne einer evangelischen Wohlfahrtspflege liegen, auf Anerkennung oder gar Dank zu warten. ... Weil uns Barmherzigkeit widerfahren ist, darum werden wir nicht müde." Und nun erst, gewissermaßen nachdem der religionsneutrale Staat über die entscheidenden Zusammenhänge - unter Anspielung auf 2. Kor. 4.1 und des Apostel Paulus' Begründung der Rechtmäßigkeit seines Amtes - aufgeklärt worden war, so als ob man auch zu dieser „festen Grundlage" seine Anerkennung einfordern müsse - nun erst konnte man sich freuen über die „Wertschätzung, die von öffentlichen Stellen zum Ausdruck gebracht wurde, ... hat doch die evangelische Kinderpflege in langen Jahrzehnten ihrer Geschichte unter den schwierigsten Verhältnissen ihren Dienst getan, ihr Werk aufgebaut, ohne von öffentlicher Seite die Wertung und vor allen Dingen die Unterstützung zu finden, die ihr von Rechts wegen zukommen mußte." 41 Diese Äußerung, in der die Zeit der Weimarer Republik zu „langen Jahrzehnten" verzerrt und damit der Blick auch auf die Geschichte evangelischer Kinderpflege insgesamt getrübt wird - in jedem Fall zeigt sie, auch als ein politischer Vorwurf, in Verbindung mit allen anderen Beiträgen zur Stellung evangelischer Kinderpflege gegen Ende der Zwanziger Jahre, daß die Jubiläumsbeiträge, die Predigt des Dresdener Stadtsuperintendenten, die Ansprache des Westfälischen Generalsuperintendenten, der Vortrag v. Wichts, nicht 40 41
F. VOGEL, Jubiläumstagung, S. 218ff. A. NELL, Evangelische Kinderpflege, S. 66f.
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nur den zeitlichen Abläufen des Jubiläums nach in der Mitte der Ereignisse standen. Vielmehr wird sehr deutlich, daß in ihnen sich die Erfahrungen evangelischer Kinderpflege und deren Beurteilung wie in einem Brennpunkt versammelt mitteilten. Wenn nun nach den Gründen dafür gefragt wird, wie die evangelische Kinderpflege zu einer solchen Beurteilung hat kommen können, so wäre folgendes zu bedenken. In der Organisation der praktischen Arbeit hatte sich die evangelische Kinderpflege im wohlfahrtspolitischen Kräftespiel durchaus auf die Wirklichkeit des politischen Systems eingelassen, hatte sie sogar nach Kräften und nicht ohne Erfolg mitgestaltet. Denn „soweit unsere Aufgabe zeitlich ist, muß sich auch der Wechsel der Zeit bemerkbar machen." 42 In einem solchen „praktisch-ekklesiologischen Grundkonsens" 43 konnte sie Position im „Streit um die Kirche" 44 beziehen und das ihr zur Verfügung stehende sowohl praktisch-wohlfahrtspolitische als auch praktisch-theologische Instrumentarium im Jahrzehnt nach dem besiegelten Ende der Einheit von Thron und Altar gebrauchen. Allerdings entsprach diesem Grundkonsens keine praktisch-theologische Positionsbeschreibung einer sich ausprägenden Volkskirche 45 . Stattdessen bildete er die Grundlage für eine vorgeblich biblisch begründete Ablehnung - als einem politischen Willensausdruck - eines mit der Bildung und dem Bestand der Weimarer Republik verbundenen Demokratisierungs-, Industrialisierungs- und Säkularisierungsprozesses. Die Republik erfuhr Verweigerung, und es wurde ein Staat gefordert, der, als soziale Neugeburt, der Meinungsvielfalt ein Ende setzt und die Entfaltung eines wahren Eigenlebens schöpferischer Gottes- und Naturordnung fördert. Dem Mangel einer praktisch-theologischen Positionsbeschreibung konnte auch etwa des Generalsuperintendenten der Kurmark „Jahrhundert der Kirche" nicht abhelfen. Otto Dibelius' Veröffentlichung signalisierte eher dies Desiderat, als daß sie einen notwendigen Entwurf lieferte46. Was indessen sich hinsichtlich einer praktischen Theologie herausbildete, war - allerdings mit höchst kritischem Ansatz im Blick auf die erwähnte Volkskirchlichkeit - der „dialektische Einspruch", der auf eine ganz andere Kirchlichkeit zielte, nämlich die Bekenntniskirche 47 . Zwar wurde dieser Einspruch in der Inneren Mission diskutiert und etwa von Hanns Lilje, nachmals Bischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, zurückgewiesen, indem von ihm mit Schärfe betont wurde, es ginge nicht an, daß mit dem Hinweis auf die Indirektheit menschlichen Tuns und Glaubens „die Verkündigung des ver-
42
H . BEUTEL, Zur Lage, S. 6.
43
P. C. BLOTH, P T h , S. 410; und DERS., Praktische Theologie, S. 64-71.
44
So Klaus Scholder über die Zeit 1921-1931; siehe K . SCHOLDER, Die Kirchen I, S. 151.
45
P. C . BLOTH, P T h , S. 420ff.
46
O . DIBELIUS, Jahrhundert; siehe auch I Kap. II.2.1. mit A n m . 69.
47
P. C . BLOTH, P T h , S. 406 und S. 41 Iff.
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bum reconciliationis als Tatwort und Rede der Kirche verdächtig gemacht werde."48 Es war diese Verdächtigung oder - weniger scharf - das dem dialektischen Einspruch eigene Relativitätsverständnis menschlichen Tuns, das wenige Jahre später der Inneren Mission Beschwer machen sollte 49 . Zum jetzigen Zeitpunkt aber, in den Jahren um 1929, war dieser Einspruch mit seiner Beschränkung auf das „Wort der Versöhnung" kaum von Bedeutung, weder für die Innere Mission insgesamt noch speziell für die evangelische Kinderpflege. Da nun das Defizit an praktischer Theologie, also der unüberbrückte Abstand zwischen theologischem Denken und biblisch-diakonischem Handeln, auch für die die evangelische Kinderpflege repräsentierenden, aber in erster Linie von der sozialen Frage bewegten Theologen Tatsache war, erhebt sich die Frage, wo die Pädagogik ihren Ort hatte und welche Bedeutung ihr zukam. A m Dienstag, dem 18. Juni, dem letzten Tag des Jubiläums, fand nochmals eine Arbeitstagung der Reichskonferenz statt. Auf ihr hielt Helene Zeller, Oberin des Diakonissenhauses Bethlehem, das in Karlsruhe Träger eines staatlich anerkannten Kindergärtnerinnenseminars war, einen Vortrag über „evangelische Kinderpflege und pädagogische Probleme der Gegenwart". Sie begann mit folgender Feststellung: „So hat die evangelische Pädagogik und innerhalb ihrer auch die evangelische Kinderpflege ihr Ziel, das von keinem anderen übertroffen werden kann, in Gott selbst, der in Christus geoffenbart ist." Sei also „Erziehung zu Christus" das Erziehungsziel, dann ergebe sich 48 1928 - zehn Jahre zuvor war der Römerbrief-Kommentar erschienen - hatte es mit dem Erscheinen der Kirchlichen Dogmatik I (München 1928) und der Erklärung des Philipperbriefes (München 1927) über den „Einfluß der Theologie Karl Barths auf die Innere Mission" eine Auseinandersetzung in IMlS gegeben, die besonders von Seiten Hanns Liljes nicht ohne Schärfe geführt wurde. Er hebt zwar den Bußrufcharakter der Barthschen Theologie auch für die Innere Mission hervor, aber hinsichtlich der Barthschen Feststellung, „das Christentum ist nicht Ethik, und es hat auch keine besondere Ethik", bemerkt er: „Es geht nicht an und ist unter keinen Umständen als neutestamentlich geltend zu machen, daß unter allen Hinweisen auf die Indirektheit unseres Tuns und Glaubens, unter allen Warnungen vor der Verwechslung des eigenen Handelns mit dem einzig gültigen Tun Gottes - die an ihrem Orte in ungemilderter Schärfe stehen bleiben - die Bezeugung des Evangeliums in der Welt, die Verkündigung des verbum reconciliation! s als Tatwort und Rede der Kirche verdächtig gemacht werde." (H. LlLJE, Einfluß, S. 148.). Vgl. dazu auch E. BODENSTEIN, Einfluß, S. 281, der auch den Tatcharakter des verbum reconciliationis unterstreicht, das aber nur in seiner Relativität ernst zu nehmen sei, insofern Menschenwort das Gotteswort nie fassen könne. Deshalb gelte auch für die Innere Mission, „wir müssen all das haben, als hätten wir es nicht, bereit, auch lieb gewordene Arbeitsformen, Einrichtungen, Anstalten aufzugeben, wenn Gott es fordert." 49 Siehe I Kap. VII.1.1. mit Anm. 16. Im übrigen konnte der Mangel an im angezeigten Sinne praktischer Theologie auch nicht durch das Bemühen der Inneren Mission behoben werden; sie nämlich hatte ihn wohl erkannt, als sie auf Drängen Steinwegs schon 1927 das Institut für Sozialethik und Wissenschaft der Inneren Mission unter der Leitung von Reinhold Seeberg gründete. Von der Universitätstheologie allerdings erfolgte keine Unterstützung. Siehe M. GERHARDT, Jahrhundert Π, S. 315ff.
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für die evangelische Kinderpflege die Aufgabe, durch Wort und Beispiel „unsere Kinder bekannt zu machen mit Christus", eine Aufgabe, die keine andere Erziehung zu erfüllen imstande sei. Dies bedeute, daß man den Grundsatz aufstellen könne: „Prüfet alles und das Gute behaltet", zumal „nichts ist in der Pädagogik, das nicht durch das Licht des Evangeliums einen höheren und tieferen Wert bekommt." Verbänden sich diese Überlegungen noch mit dem Gedanken daran, daß alle pädagogische Arbeit zum Wohle der Kinder Flickwerk bleibe ohne den „Unterbau aller Volkskraft", die Familie, und ohne die sie begründende „rechte Mütterlichkeit", dann liege die „Grundforderung unserer Kinderarbeit" auf der Hand. Wo sich Mütterlichkeit findet, braucht man „weder Montessorimaterial noch Arbeitsschulmethode". Niemand, andererseits, sei von der Pflicht entbunden, „um des Kindes willen und auch in diesem Sinn um des Baues des Reiches Gottes willen, das, was auch in der neuen Wissenschaft vor Gottes Urteil bestehen kann, alles das, soweit es in unseren Aufgabenkreis hineinreicht, aber auch nur das treulich und gewissenhaft zu verwerten." 50 Was schon die Predigt Fickers und die Rede Zoellners haben erkennen lassen, dieser Vortrag Zellers macht die Abwehr aller reformpädagogischen Bemühungen nochmals überdeutlich, und es ist wiederum sehr begründet anzunehmen, daß diese Zurückweisung, an so exponierter Stelle, wie sie ein Jubiläum darstellt, eingebracht, repräsentativ für die evangelische Kinderpflege insgesamt war. Eine etwa auf bereitwillige Aufnahme der Reformpädagogik als einer theologischen Herausforderung gerichtete Erwartung, möglicherweise durch einen zur gleichen Zeit in „Die christliche Kinderpflege" erschienenen Beitrag unter der Überschrift „150 Jahre Kindergarten-Pädagogik: Oberlin - Fröbel - Montessori" geweckt, wird jedenfalls enttäuscht, wenn es darin heißt: „Als das Wertvollste erscheint uns nach unserer weltanschaulichen Einstellung das: Wenn nicht nur Sinne und Muskeln geübt werden, nicht nur das intellektuelle Leben geweckt wird, nicht nur die Phantasie gepflegt wird, sondern wenn auch des Kindes Gemüt in ganz einfacher, dem Kind entsprechender Weise Werte zugeführt werden, ohne die das Feinste an der Kinderseele nicht erwachen und erstarken kann - ein Zug zu Gott, von dem es kommt und zu dem es geht." 51
50 F. VOGEL, Jubiläumstagung, S. 206, weist darauf hin, daß der Vortrag in der Oktoberausgabe von D m CHRISTLICHE KINDERPFLEGE abgedruckt werde. Tatsächlich erscheint der Vortrag erst mit der Januar-Ausgabe 1930 im Druck: H . ZELLER, Evangelische Kinderpflege. 51 E. MÜLLER, 150 Jahre. Siehe auch S. EGGEBRECHT, Die Methode Montessori, der auch auf „ihre Methode als wesenhaft katholisch"(S. 173) hinweist, gleichzeitig außerdem kritisch anmerkt, er „sehe auch bei der Methode Montessori die Gefahr, daß man auf der einen Seite zu stark nur die äußeren F o r m e n nachahmen will, auf der anderen Seite aber von diesen äußeren F o r m e n sich abgestoßen fühlt und nicht zur eigentlichen Idee durchdringt. Unser evangelische Kindergarten steht neuen Methoden gegenüber in dieser letzten Gefahr."(S. 174).
Das Jubiläum der evangelischen Kinderpflege am 16. Juni 1929
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Damit fügt sich die Beschreibung der Bedeutung der Pädagogik ins Bild. Sie war nur so weit von Belang für die Arbeit, als sie den praktisch-ekklesiologischen Bemühungen als Instrument dienen konnte. Die mit ihr gleichzeitig gegebene theologische Herausforderung wird nicht angenommen. Im Kontext eines befürchteten Angriffs durch einen Selbstentwicklung und Freiheit demokratisch fördernden Staat, dem man sich als vermeintlichem Gegner auch auf dem Felde der freien Wohlfahrtspflege, hier also dem der halboffenen Kinderarbeit, gegenüber sah, wird sie, wenn überhaupt erkannt, zurückgewiesen 52 . Diese Feststellung allerdings verschärft die Frage, ob tatsächlich niemand für die evangelische Kinderpflege die Mühe auf sich nahm, reformpädagogische Anliegen diesem Arbeitsbereich anders als instrumental zu vermitteln. Indessen, es gab wirklich einen solchen Versuch, und er wurde sogar an hervorragender Stelle, nämlich in der anläßlich des Jubiläums herausgegebenen Denkschrift, präsentiert. Es war Friedrich Delekat, nachmals Professor für systematische Theologie und Pädagogik in Mainz, der für die evangelische Kinderpflege „Sinn und Grenzen bewußter Erziehung" in neuer Weise beschrieb. Delekat sah, daß auch die evangelische Pädagogik allen Grund habe, sich heute belehren zu lassen. Es ginge für sie ja nicht darum, die Grundlage aufzugeben, von der sie ausgehe. „Vielmehr: wo wirklich der Geist evangelischen Glaubens die Arbeit im Kindergarten trägt, da ist sie auf dem rechten Wege. Aber es genügt nicht, sich lediglich auf diesen Geist zu berufen, sondern es kommt darauf an, ihn aus der Gegenwart heraus so zu verstehen, daß er wirklich Frucht bringt." Solle das aber erreicht werden, dann reiche es nicht aus, Erkenntnisse und Vorschläge der Pädagogik oder angeschlossener Disziplinen mit bestimmten bestehenden Formen religiösen Lebens zu verbinden. Beides sollte sich innerlich durchdringen. Jedoch Delekat hielt fest, daß dies nicht auf einmal erreicht werden könne. Dafür bedürfe es ständiger sachlicher Auseinandersetzung. „Je mehr sie fortschreitet, um so mehr wer52 Es bleibt unerörtert, inwieweit sich etwa in dieser Zurückweisung die Sorge derer, die um den Verlust des erprobten praktisch-theologischen Instrumentariums fürchteten und mit ihm den ekklesiologischen Grundkonsens aufgekündigt sahen, trifft mit der theologischen Verurteilung durch den „dialektischen Einspruch". Mußte nicht von beiden Seiten Ablehnung erfolgen, wenn ζ. B. Otto Eberhard „die neue Zeit und die neue Schulerziehung" beschreibt, auch damit hilfreich „Handreichungen zum neuzeitlichen Religionsunterricht" gibt und feststellt, daß sich das Erziehungsprinzip der Reformpädagogik „geradezu als Auswirkung christlicher Gedanken begreifen und würdigen lassen" kann? Allerdings ist es Otto Eberhard, der nicht nur zu solchen Fragen herausfordert, der auch nicht nur durch seine Arbeiten bestätigt, daß das eigentliche Feld der Reformpädagogik - auch hinsichtlich der Kirche - die Schule war; er ist es auch, der dieses eigentliche Feld verließ und „Tat und Leben im Kindergottesdienst" pädagogisch verantwortbar neu zu vermitteln suchte. Siehe O . EBERHARD, Neue Zeit, S. 161; DERS., Neuzeitlicher Religionsunterricht; DERS., Evangeliumsdarbietung. Vgl. W. SCHEIBE, Reformpädagogische Bewegung, S. 67; und J. SCHÄFER, Geschichte, S. 92ff.; vgl. auch die Auseinandersetzung speziell in einer Region darstellend P. C. BLOTH, Bremer Reformpädagogik.
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Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der Weimarer Republik
den ältere Gegensätze, die heute noch vorhanden sind, von selber verschwinden. Den entscheidenden Faktor in dieser Entwicklung werden die Notwendigkeiten der Zeit selber ausmachen." 53 Ohne Zweifel spielte Delekat damit auf die die Geschichte der evangelischen Kinderpflege im 19. Jahrhundert weithin bestimmende Auseinandersetzung zwischen einer im christlichen Glauben wurzelnden Unterweisung des Kleinkindes und einer mit aufklärerisch-pädagogischem Anspruch sich ihr an die Seite stellenden Kindergartenarbeit an 54 . Ob jedoch seine Zuversicht im Blick auf die Notwendigkeiten der Zeit zu diesem Zeitpunkt berechtigt war und ob sie unter veränderten Umständen immer noch in gleicher Weise eine innerliche Durchdringung erwarten durfte, ist zweifelhaft. In jedem Fall war Delekats Annäherung an eine praktische Theologie im Kleide einer ermutigenden Forderung für die evangelische Kinderpflege singulär und fiel ganz und gar aus dem Rahmen. Nach dem Bild, das das Jubiläum bot, war abzusehen, daß die von Delekat erwartete Entwicklung sachlicher Auseinandersetzung nicht voranschreiten konnte. „Wenn wir dankbar die Gnade rühmen, die uns diese unvergeßlichen Tage geschenkt hat, so wissen wir auch: Gnade verpflichtet. Es kann und darf kein Ausruhen geben auf dem, was erreicht ist. Groß sind die Aufgaben, die Gott heute stellt, und sie erfordern unsere ganze Kraft. N u r wenn wir das mit ganzem Ernst erfassen, gehört uns die Zukunft." 5 5 Mit einer solchen Äußerung sind jedenfalls weit eher die Notwendigkeiten der praktisch-politischen Aufgabe, bestehende Formen religiösen Lebens zu erhalten, gemeint, als die der theologisch qualifizierten Herausforderung gegenseitiger Durchdringung von Pädagogik und theologisch begründeter kirchlicher - also auch sozialer - Praxis 56 .
53
F. DELEKAT, Aufgaben, S. 223. Vgl. auch ÜERS., Sinn und Grenzen.
54
Siehe A n m . 34 und I K a p . Π. 1. mit A n m . 4.
55
F . VOGEL, Jubiläumstagung, S. 206.
56
Siehe dazu, allerdings im Blick auf den Religionsunterricht, P. C . BLOTH, Bremer Re-
formpädagogik, S. 98.
KAPITEL
II
DIE S I C H E R U N G U N D DER A U S B A U EVANGELISCHER KINDERPFLEGE AUF DER G R U N D L A G E DER ERGEBNISSE DER REICHSSCHULKONFERENZ U N D UNTER DEN BEDINGUNGEN DER REGELUNGEN DES REICHSJUGEND WOHLFAHRTSGESETZES
1. Die Reichsschulkonferenz und das
Reichsjugendwohlfahrtsgesetz
Das Jubiläum der evangelischen Kinderpflege - soviel ist deutlich geworden wird kaum als eine Ermutigung dazu zu werten sein, sich den Herausforderungen auf theologischem, pädagogischen, sozialen oder auch politischem Felde und ihren sachnotwendigen Überlagerungen im eigenen Arbeitsgebiet anders zu stellen als in einer Haltung und Arbeitsweise, die nahezu ausschließlich auf Bestandswahrung ausgerichtet war. Wie schon vermutet, sind die Ursachen dafür aufs engste mit dem Ende des Kaiserreiches und dem Beginn der Republik von Weimar verbunden und paradoxerweise gerade an einem Punkt, an dem der neue Staat versuchte, mit einer Neuordnung der Wohlfahrtspflege eine Bestandssicherung auch für die evangelische Kinderpflege zu erreichen. Nachdem bis zum ersten Weltkrieg in erster Linie das Armenwesen die Aufgaben öffentlicher Wohlfahrtspflege erfüllt hatte, gebot zunächst die Weimarer Reichsverfassung einer beginnenden konkurrierenden Gesetzgebung in den einzelnen Ländern des Deutschen Reiches Einhalt'. In diesem verfassungsmäßigen Rahmen fiel hinsichtlich der Wohlfahrtspflege, besonders unter Bezug auf Artikel 10, der festsetzte, „das Reich kann im Wege der Gesetzgebung Grundsätze aufstellen für ... 2. das Schulwesen ..." 2 , eine wichtige Entscheidung. 1 Vgl. CHR. SACHSSE/F. TENNSTEDT, Geschichte der Armenfürsorge I; und sehr anschaulich ebenso DLESN., Bettler; und siehe F. SYRUP/O. NEULOH, Hundert Jahre, S. 205; sowie bes. C . L. Κ. V. NIDDA, Entwicklungstendenzen, S. 252ff. 2 DIE VERFASSUNG, Art. 7 bestimmte: „Das Reich hat die Gesetzgebung über ... 5. das Armenwesen und die Wandererfürsorge ...; 7. ... die Mutterschafts-, Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge; 8. das Gesundheitswesen ...". Art. 9 setzte fest: „Soweit ein Bedürfnis für den Erlaß einheitlicher Vorschriften vorhanden ist, hat das Reich die Gesetzgebung über: 1. die Wohlfahrtspflege schließlich bestimmte Art. 120: „Die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ist oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht.", und Art. 122 sagt: „Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige oder körperliche Verwahrlosung zu schützen.
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Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der Weimarer Republik
Vom 11. bis 19. Juni 1920 tagte in Berlin die Reichsschulkonferenz. Sie hatte sich in erster Linie die Aufgabe gestellt, den Schulaufbau zu erörtern und Empfehlungen dafür auszusprechen. Im Kontext dieser Erörterungen war auch die Frage nach der Stellung des Kindergartens im Schulaufbau zu verhandeln 3 . Das entsprach durchaus der geschichtlichen Entwicklung des Kindergartens. Sie war von Beginn an bestimmt durch den Aspekt der Fürsorge einerseits und den der Erziehung und Bildung auf der anderen Seite. In den Bezeichnungen, die das 19. Jahrhundert prägte, hat das seinen Ausdruck gefunden. Kleinkinderbewahranstalt oder Warteschule waren Benennungen unter fürsorgerischem, Kleinkinderschule und Kindergarten eine unter pädagogischem Gesichtspunkt 4 . Deshalb war es auch nicht verwunderlich, daß im Ausschuß zwei Formen des Kindergartens zur Diskussion standen: Zum einen der Kindergarten als Vorstufe der Schule und zum anderen der KinderStaat und Gemeinde haben die erforderlichen Einrichtungen zu treffen ...". „Wohlfahrtspflege ist die planmäßige zum Wohle der Allgemeinheit und nicht des Erwerbes wegen ausgeübte Sorge für notleidende oder gefährdete Mitmenschen. Die Sorge kann sich auf das gesundheitliche, sittliche oder wirtschaftliche Wohl erstrecken und Vorbeugung oder Abhilfe bezwekken" bestimmte § 2 der Dritten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über Ablösung öffentlicher Anleihen vom 4.12.1926 (RGBl 1926 I, S. 494; auch W. SCHMIDT, Entwicklung, S. 332; und W. SCHLUNK, Wohlfahrtsrente, S. 24). „Grundgesetz der heutigen deutschen Wohlfahrtspflege" (J. STEINWEG, Innere Mission, S. 147; DERS., Zur gegenwärtigen Lage, S. 64) ist die Verordnung über die Fürsorgepflicht vom 13.2.1924 (RGBl 1924 I, S. 100-107) zusammen mit den Reichsgrundsätzen über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge vom 4.12.1924 (RGBl 1924 I, S. 765-770). Das zeigt an, daß die Begriffe Wohlfahrtspflege und Fürsorge weitgehend synonym verwandt wurden. Vgl. dazu F. MAHLING, Die sittlichen Voraussetzungen, S. 14ff. Dabei ist hinzuweisen auf eine Diskrepanz zwischen umfassender und auch progressiver Gesetzgebung und ihrer praktischen Umsetzung. Die Notwendigkeit materieller Hilfeleistung stand derart im Vordergrund, daß sie auch die Begriffe prägte und Wohlfahrt und Fürsorge in erster Linie in entsprechender Weise verstehen ließ. Siehe R. LANDWEHR, Funktionswandel, S. 94. 3
REICHSMINISTERIUM DES INNERN, R e i c h s s c h u l k o n f e r e n z ; u n d ZENTRAUNSTITUT FÜR
ERZIEHUNG UND UNTERRICHT, Reichsschulkonferenz, bes. S. 36-45; sowie auch E. BAROWBERNSTORFF, P r o b l e m e , S. 277. 4 Siehe J. KESSELS, Geschichtliche Quellen; E. DAMMANN/H. PRÜSER, Quellen; W. GROSSMANN, KinderGarten; und J. SCHÄFER, Geschichte; als zeitgenössisch auch J. WEZEL, Kindergarten; ebenso wie E. CORTE, Kindertagesstätten; und A. DEPUHL, Geschichtliche Entwicklung, der zwischen christlicher Kleinkinderschule und Kindergarten unterscheidet, wobei letzterer seit Fröbel der „ernsthafte Rivale" des ersteren sei (EBD., S. 412); sowie immer noch unverzichtbar J. GEHRING, Geschichte. Vgl. auch die verschiedentlich nicht sehr genaue Arbeit von A. KRAUS, Armenwesen, S. 328f. In den gesamten Zusammenhang gehört auch die dezidiert sozialhistorischen Fragestellungen folgende Studie von J. REYER, Wenn die Mütter. Besonders aber siehe H. G. BLOTH, Lehrdiakonie; er macht in eindrücklicher Weise an der zerbrechenden Verbindung Theodor Fliedners mit Adolph Diesterweg die auch ins Persönliche reichenden Differenzen zwischen einer eher dem christlichen Glauben verpflichteten und einer mehr pädagogisch-aufgeklärten Zuwendung zum Kinde deutlich, ebenso wie die schmerzhaften Konsequenzen, die bis heute immer wieder auch in polemischen Attacken gegeneinander aufbrechen, anstatt in „echtem und edlen Wettstreit"(EBD., S. 177) überwunden zu werden. Vgl. ebenfalls den wichtigen Hinweis auf die Verknüpfung der beiden Linien der Geschichte des Kindergartens mit dem Kindergottesdienst, der Sonntagsschule, bei C. BERG, Gottesdienst mit Kindern, S. 17ff., der aber dieser Verbindungslinie nicht weiter folgt.
Die Sicherung und der Ausbau evangelischer Kinderpflege
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garten als familienergänzende Einrichtung 5 . Das Bemerkenswerte ist nun allerdings, daß der Unterschied beider Formen sich verband mit den unterschiedlichen wohlfahrtspolitischen Vorstellungen, die in der Trägerschaftsfrage manifest wurden und in den unterschiedlichen Weltanschauungen wurzelten. Die Behandlung pädagogischer Fragen stand im Hintergrund. So wurde auf der einen Seite für den staatlichen, weltlichen, für alle verpflichtenden Kindergarten als pädagogische Einrichtung gefochten und auf der anderen für den freiwillig zu besuchenden, in freier Trägerschaft sich befindenden Kindergarten, der den Forderungen der Familie und auch der nach religiöser Erziehung von Seiten der Träger am ehesten entspräche, insofern er eine in erster Linie soziale Einrichtung sei 6 . Der Ausschuß Kindergarten einigte sich in seiner Mehrheit auf neun Leitsätze, die diese Prinzipien festschrieben und sie allein mit dem vom Staat beanspruchten Aufsichtsrecht verbanden 7 .
5 Dieser Begriff verband die beiden Aspekte besonders im Blick auf die Art. 119 und 120 der Weimarer Verfassung; vgl. ZENTRALINSTITUT FÜR ERZIEHUNG UND UNTERRICHT, Reichsschulkonferenz, S. 42; vgl. auch J . SCHÄFER, Geschichte, S. 116ff. 6 E. BAROW-BERNSTORFF, Probleme, S. 278f.; und auch ZENTRALINSTITUT FÜR ERZIEHUNG UND UNTERRICHT, Reichsschulkonferenz, S. 42. 7 REICHSMINISTERIUM DES INNERN, Reichsschulkonferenz, S. 694f.: „1. Recht und Pflicht der Erziehung der Kinder im vorschulpflichtigen Alter liegt grundsätzlich bei der Familie. 2. Der Kindergarten ist seinem Wesen und seiner Bestimmung nach eine wertvolle Ergänzung der Familienerziehung.
3. F ü r Eltern, die ihre Kinder in den Kindergarten schicken wollen, muß die Möglichkeit dazu geboten werden. Eine Verpflichtung z u m Besuch des Kindergartens ist abzulehnen. 4. Soweit die freie Wohlfahrtspflege dem Bedürfnis nach Kindergärten nicht ausreichend zu entsprechen vermag, haben Staat und Gemeinde Kindergärten einzurichten. Minderheitsantrag: Staat und Gemeinde sind grundsätzlich zur Errichtung eines Kindergartens verpflichtet, wenn ein Bedürfnis vorhanden ist. V o n der Errichtung eines öffentlichen Kindergartens kann abgesehen werden, wenn Kindergärten der freien Wohlfahrtspflege in ausreichendem Maße vorhanden sind. 5. Die Leiterin eines Kindergartens und die in ihm tätigen Erzieherinnen müssen entsprechend ausgebildet sein. Die Grundsätze für die Ausbildung sind durch Landesgesetz aufzustellen. 6. Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege sind den öffentlichen Einrichtungen grundsätzlich gleichzuachten, wenn sie hinsichtlich der hygienischen Anforderungen und der Leiterin (Erzieherinnen) den für die öffentlichen Kindergärten aufgestellten Grundsätzen entsprechen. 7. Die Überwachung der Kindergärten übt der Staat aus. Hierzu sind sachverständige Persönlichkeiten, insbesondere bei der Ausübung der örtlichen Überwachung erfahrene Jugendleiterinnen, zuzuziehen. 8. W o die Erziehungsberechtigten aus wirtschaftlichen und geistig-sittlichen Gründen in der Ausübung ihrer Erziehungspflicht dauernd behindert sind, so daß dadurch die sittliche, geistige und körperliche Entwicklung des Kindes gefährdet ist, muß der Besuch eines Kindergartens verbindlich gemacht werden. Zwangsmaßnahmen können nur auf G r u n d eines Gesetzes angeordnet werden. 9. Kinder, die ihrem Alter nach schulpflichtig, nach ihrer körperlichen oder geistigen Entwicklung aber noch nicht schulfähig sind, sollen nach Möglichkeit einer besonderen Vorklasse zugeführt werden, in der sie bis zur Schulreife gefördert werden. Diese Vorklasse ist ein Teil der
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Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der Weimarer Republik
Angefügt wurde eine sogenannte Entschließung, die den Wunsch der Ausschußmitglieder zu erkennen gab, auch die Kindergärten in Deutschland für eine Reformpädagogik im Sinne Maria Montessoris, der eine „selbsttätige Erziehung" des Kindes fördernden und fordernden italienischen Ärztin und Pädagogin, oder auch entsprechend den Gedanken eines schon vor 80 Jahren nachdrücklich ein „freitätiges" Leben des Kindes proklamierenden Friedrich Fröbel offenzuhalten. Diese Entschließung scheint allerdings mehr Alibicharakter gehabt zu haben, als daß sie eine pädagogische Zielvorstellung formulierte. Sie kann allenfalls belegen, daß auch pädagogische Fragen erörtert wurden 8 . Weit wichtiger als diese wenig präzise Entschließung, die pädagogisches Anliegen eher verbarg als aufdeckte, war denn auch ein anderes. Eine Minderheit von Ausschußmitgliedern verfaßte ebenfalls Leitsätze, die in ihrem Kern auf eine Ablösung der freien Träger durch die Kommunen innerhalb der nächsten zehn Jahre zielten9. Mit diesem Minderheitsvotum war die andere der beiden unterschiedlichen wohlfahrtspolitischen Positionen festgeschrieben. Obwohl in der Abstimmung auf der Reichsschulkonferenz ganz deutlich unterlegen, wurde das Votum der Minderheit besonders von denen als Bedrohung erfahren, die eine uneingeschränkte, freie und konfessionelle Trägerschaft befürworteten. Noch 1929 - also fast zehn Jahre nach der Reichsschulkonferenz - war nicht der auf ihr mehrheitlich gefaßte Beschluß hinsichtlich der Kindergärten von Bedeutung, sondern das Votum der Minderheit bestimmte die Diskussion. Und wenn es die Festtage des Jubiläums in Dresden nicht hinreichend deutlich gemacht haben sollten, weil sie eine gewisse Zurückhaltung in der öffentlichen Rede angemessen erscheinen ließen, dann wa-
Volksschule, während der Kindergarten grundsätzlich eine Einrichtung der Jugendwohlfahrt ist." 8 EBD., S. 695: „ D e r Ausschuß verleiht der bestimmten Erwartung Ausdruck, daß die Freiheit, neue Wege zu suchen, nicht nur der Schule, sondern auch dem Kindergarten gewährleistet wird."; vgl. auch ZENTRALINSTITUT FÜR ERZIEHUNG UND UNTERRICHT, Reichsschulkonferenz, S. 3; vgl. auch J . KESSELS, Geschichtliche Quellen, S. 214ff. 9 REICHSMINISTERIUM DES INNERN, Reichsschulkonferenz, S. 695: „1. A u f g a b e des Kindergartens ist es, die geistige und körperliche Entwicklung des Kindes im Alter v o n 3 - 6 Jahren durch zielbewußte Pädagogik zu fördern, u m a) die Familienerziehung zu ergänzen b) eine Vorarbeit für die Schule zu leisten. 2. Es sind Kindergärten in solcher Zahl zu errichten, daß alle Kinder aufgenommen werden können, deren Eltern es wünschen. 3. Die Aufsicht übt der Staat aus. 4. Einrichtungen der freien Liebestätigkeit und Wohlfahrtspflege sind innerhalb einer Ubergangszeit bis z u m Jahre 1930 von den K o m m u n e n und Landgemeinden zu übernehmen. Während der Ubergangszeit sind für die erstgenannten Anstalten dieselben hygienischen und pädagogischen Anforderungen zu stellen, denen die öffentlichen Kindergärten unterstehen. 5. Die Kindergärtnerinnen müssen durch Ablegung einer staatlichen P r ü f u n g den Beweis ihrer Befähigung erbringen."
D i e Sicherung und der Ausbau evangelischer Kinderpflege
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ren die schriftlichen Äußerungen v. Wichts jedenfalls unmißverständlich. Er stellte fest, daß „das Eigenrecht der evangelischen Erziehung von mannigfachen und schweren Gefahren bedroht ist." 10 Denn der Staat sei versucht, entgegen den Zusicherungen des Artikels 135 der Verfassung", „den konfessionellen Einfluß in immer stärkerem Maße zurückzudrängen", es zeige sich „eine steigende kulturkämpferische Tendenz" und der Staat beabsichtige, „auch die Einrichtungen der halboffenen Fürsorge allgemein zu öffentlichen Fürsorgeeinrichtungen für alle Kinder des Volkes als unterste Stufe im gesamten Bildungswesen [zu] machen, in denen ein evangelischer Erziehungseinfluß unmöglich ist." 12 Das Gesetz über die religiöse Kindererziehung vom 15. Juli 1921 13 hatte ganz offenbar einer solchen Einschätzung ebensowenig entgegenwirken wie das R J W G zu keiner grundsätzlich neuen Sicht auf der von ζ. B. v. Wicht vertretenen Seite der freien Träger hatte führen können. Die Absicht des R J W G war die planvolle Neuordnung der Einrichtungen der Jugend- und Kinderhilfe unter pädagogischen und sozialen Gesichtspunkten. Da die Vorgaben der Reichsschulkonferenz hinsichtlich des Kindergartens als Einrichtung der Jugendwohlfahrt berücksichtigt sein sollten' 4 , blieb es auch bei den Beratungen zu diesem Gesetz selbst nicht aus, daß das Problem der Trägerschaft wiederum von entscheidender Bedeutung wurde. Jetzt spitzte es sich in der Frage zu, in welchem Verhältnis freie und öffentliche Wohlfahrtspflege zueinander stünden' 5 . Das R J W G wurde am 14. Juni 1922 vom Deutschen Reichstag angenommen und am 9. Juli 1922 verkündet. Wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage, die durch die Inflation entstanden war, trat es erst am 1. April 1924 in Kraft 16 . Das Gesetz entsprach mit seinem § 4 den Vorstellungen der freien Träger der Kinderpflege, die sich seinerzeit auf der Reichsschulkonferenz durchgesetzt hatten. § 4 war eine Kannbestimmung und beschrieb die Aufgaben des Jugendamtes als eines Organs der öffentlichen Jugendhilfe, war damit Ausdruck der Bereitschaft zu Kooperation und Anerkennung der freien Träger und band, ebenso wie die §§ 6, 9 und 11, „die freiwillige Tätigkeit" 10
Η . V. WICHT, 150 J a h r e - R ü c k b l i c k , S. 5.
"
DIE VERFASSUNG, Art. 135: „Alle B e w o h n e r des Reichs genießen volle Glaubens- und
Gewissensfreiheit. D i e ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. D i e allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon u n b e r ü h r t . " 12
Η . V. WICHT, 150 J a h r e - R ü c k b l i c k , S. 5f. und S. 12.
13
R G B l 1921, S. 9 3 9 - 9 4 1 ; siehe auch K . VOSSEN, Jugendwohlfahrtsrecht, S. 21 Of.
14
J . KESSELS, Geschichtliche Quellen, S. 217; und polemisch gegen „die deutsche Bour-
geoisie", E . BAROW-BERNSTORFF, P r o b l e m e , S. 284. 15
Vgl. dagegen EBD., S. 284: „Das P r o b l e m zog sich wie ein roter Faden durch das Gesetz
hindurch. In ihm verbarg sich der Klassenkampf, der K a m p f zwischen R e a k t i o n und D e m o kratie, um dieses P r o b l e m ging der K a m p f der Meinungen auch im Deutschen Reichstag." U n d L . V. WERDER, Vorschulerziehung, spricht von „Klerikalisierung" (S. 358). 16
Vgl. R . LANDWEHR, Funktionswandel, S. 93.
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Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der W e i m a r e r R e p u b l i k
gleichberechtigt in die vom Jugendamt unter Wahrung der Verfassung zu treffenden Entscheidungen ein 17 . Es galt durchaus, was v. Wicht 1927 feststellte, nämlich das Gesetz „stellt als gleichberechtigt neben die öffentliche Jugendwohlfahrt die freie, von Vereinen betriebene." 18 Auf der anderen Seite hatten aber nun die Organe der Jugendhilfe „gesetzlich die Aufgaben zu übernehmen, die teilweise, auf dem Gebiete der halboffenen Kinderfürsorge ausschließlich, bisher in der freien Jugendwohlfahrtspflege gelegen hatten." 19 Entscheidend wichtig waren hier die §§ 19-31 R J W G . Sie bestimmten den Schutz des Pflegekindes. Die Einrichtungen der Kinderpflege unterlagen diesen gesetzlichen Bestimmungen. Eine Neufassung des Begriffs „Pflegekind" war damit ebenfalls gegeben. Bislang wurde unter „Pflegekind" nur das in einer fremden Familie untergebrachte Kind verstanden, vorausgesetzt, es wurde dort Tag und Nacht versorgt. Mit § 19 wurde der Begriff rechtlich verbindlich auch auf solche Kinder ausgedehnt, die in einer Kindertagesstätte untergebracht sind, sich also nur für einen Teil des Tages in fremder Pflege befinden. Allerdings - angewandt auf jedes Kind einer Tagesstätte - hätte der Schutz des Pflegekindes ein nicht nur umständliches, sondern auch verwaltungsaufwendiges Verfahren zur Folge gehabt. Deshalb sah § 29 des Gesetzes vor, daß die Landesjugendämter die Einrichtungen von der Anwendung der diesbezüglichen gesetzlichen Bestimmungen, wie sie §§ 20-23 beschrieben, befreien können. Gleichzeitig ermöglichte § 29 es aber auch der Landesgesetzgebung, anstelle der Landesjugendämter die oberste Landesbehörde dafür zuständig zu erklären 20 . Die Aufsicht war in der Praxis von der obersten Landesbehörde auf andere, unterstellte Organe zu delegieren. Das bedeutete, daß es mehrere Aufsichtsbefugte geben konnte, wenn nicht, wie in Preußen, angesichts des gänzliches Mangels an reichseinheitlicher Regelung in dieser Frage, eine Durchführungsverordnung Klarheit schuf. In jedem Fall hatte bei zuständigen Behörden jede neuerrichtete Anstalt, also jeder Kindergarten, jeder Hort, jede Kinderkrippe, einen Antrag auf Gewährung der Befreiung von den Bestimmungen der §§ 20-23 zu stellen. Aber zumindest für Preußen war durch das Ministerium für Volkswohlfahrt unter dem besonders auch in Fragen der Jugendfürsorge versierten Zentrumspolitiker Heinrich Hirtsiefer, seit dem 1. August 1925 eine widerrufliche Befreiung aller „öffentlichen und pri17
S c h o n § 1 besagt unter anderem: Insoweit der A n s p r u c h des Kindes auf E r z i e h u n g von der
Familie nicht erfüllt wird, tritt unbeschadet der Mitarbeit freiwilliger Tätigkeit öffentliche J u gendhilfe ein; und in § 4 heißt es: „Aufgabe des Jugendamtes ist ferner, Einrichtungen und Veranstaltungen anzuregen, zu fördern und gegebenenfalls zu schaffen für: ... 4. W o h l f a h r t der Kleinkinder; 5. W o h l f a h r t der im schulpflichtigen Alter stehenden Jugend außerhalb des U n t e r richts ... Näheres kann durch die oberste Landesbehörde bestimmt werden. Eine Verpflichtung zur D u r c h f ü h r u n g der im $ 4 bezeichneten Aufgaben besteht nicht." ( R G B l 1922 I, S. 633f.; auch K . VOSSEN, Jugendwohlfahrtsrecht, S. 12f.). 18
Η . V. WICHT, Regelung, S. 9.
19
DERS., Aufgaben, S. 2 3 7 .
20
R G B l 1922 I, S. 636ff.; siehe auch K . VOSSEN, Jugendwohlfahrtsrecht, S. 1 7 - 2 1 .
Die Sicherung und der Ausbau evangelischer Kinderpflege
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vaten Krippen, Kindergärten, Kinderwarteschulen und Bewahranstalten, Kinderhorte und -heime, Erziehungsanstalten" angeordnet 2 1 . Im übrigen war mit dieser Entwicklung der politischen Ausprägung und der verwaltungstechnischen Umsetzung des sozialen Aspektes der halboffenen Kinderfürsorge der pädagogische nicht erledigt. E r hatte bereits im 19. Jahrhundert in verschiedenen Erlassen Ausdruck gefunden. So besonders in einer Staatsministerialinstruktion vom 31. Dezember 1839 2 2 , die für Preußen bestimmte, daß „Warteschulen für noch nicht schulpflichtige Kinder einer staatlichen Genehmigung bedürfen und einer staatlichen Aufsicht unterstehen und bei der Genehmigung insbesondere die Eignung der Leiterin sowie die Frage des Bedürfnisses zu prüfen" sei 23 . Daran erinnerte in einem Runderlaß v o m 22. J u n i 1926 das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, seit einem Jahr unter dem als Orientalisten ausgewiesenen und ohne Parteibindung für eine nationale Bildungspolitik eintretenden D r . Carl H . Becker. Damit wurde festgelegt, daß die Bestimmungen der Staatsministerialinstruktion v o m 31. Dezember 1839 „für die pädagogischen und schultechnischen Belange unverändert im Rahmen der Verwaltung für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Geltung geblieben sind. Desgleichen verbleiben ... die Anstalten meiner Verwaltung unterstellt, die mittelbar oder unmittelbar unterrichtlichen Zwecken dienen, sofern sie nicht ausdrücklich dem Verwaltungsbereich des Ministers für Volkswohlfahrt zugeteilt worden sind." 2 4 A n diesem Erlaß ist auch zu erkennen, daß eine Klärung der Ressort-Zuständigkeiten sich nur bedingt hatte finden lassen. Das war ein Ausweis dafür, daß es dem R J W G zwar gelungen war, das Verhältnis von freien und öffentlichen Trägern der Wohlfahrtspflege zu ordnen und es in ein gewisses Gleichgewicht zu bringen, nicht aber, das Verhältnis von Fürsorge bzw. Wohlfahrtspflege und Erziehung zu bestimmen, wie es eigentlich erforderlich gewesen wäre. D e m entsprach es, daß auch Richtlinien für eine einheitliche Verwaltungspraxis fehlten 2 5 . „Daß dieser Zustand in der Praxis zu Unzuträglichkeiten und Schwierigkeiten führt und auf die Dauer unhaltbar ist" 2 6 , das erkannten 1930 schließlich auch die Ministerien, zumindest in Preußen. 21
VMB1 1925, S. 3 2 1 - 3 2 3 ; siehe auch K. VOSSEN, Jugendwohlfahrtsrecht, S. 9 5 - 1 0 0 .
22
M B l i V 1840, S. 9 4 - 9 7 . Die vollständige Bezeichnung ist: „Instruktion zur Ausführung der
Allerhöchsten Kabinetts-Ordre vom 10.6.1834, die Beaufsichtigung der Privatschulen, PrivatErziehungsanstalten und Privatlehrer, sowie Hauslehrer, Erzieher und Erzieherinnen betreffend, vom 31. December 1839." 23
Κ. VOSSEN, Jugendwohlfahrtsrecht, S. 68.
24
ZB1UV 1926, S.251; siehe ebenfalls K. VOSSEN, Jugendwohlfahrtsrecht, S. 101. Vgl. auch
J . REYER, W e n n die Mütter, S. 42f.; und J . KESSELS, Geschichtliche Quellen, S. 208; sowie Η . V. WICHT, Regelung, S. 4f. 25
Siehe dazu Η . V. WICHT, Richtlinien.
26
Η . V. WICHT, Regelung, S. 11. Vgl. auch E. BLOCHMANN, Kindergarten, S. 75f.; und
außerdem J . SUNDER, Staatliche Aufsicht, S. 377.
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Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der Weimarer Republik
So versuchten zunächst die zwei Ministerien, das für Volkswohlfahrt, nach wie vor mit Hirtsiefer an der Spitze, und das für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, inzwischen unter der Leitung des einem religiösen Sozialismus verpflichteten Pädagogen Adolf Grimme, in einem gemeinsamen Runderlaß die Genehmigung von Kindergärten, ihre Befreiung von der Anwendung der Bestimmungen der §§ 20-23 R J W G und deren Beaufsichtigung neu zu regeln. Zuständig sollten jetzt unter Beteiligung ihrer Abteilungen für Kirchen und Schulen allein die Regierungspräsidenten und für Berlin der Oberpräsident sein. Damit trat nur noch eine Behörde in Erscheinung 27 . Ein weiterer Erlaß aus dem Ministerium Hirtsiefers vom 9. Dezember 1930 bestimmte jetzt erstmals den Begriff des Kindergartens. Es hatte eines Zeitraumes von zehn Jahren bedurft und in ihm intensiver, keineswegs immer sachlicher oder sachdienlicher Auseinandersetzung, um hinsichtlich der Kindergärten die Beschlüsse der Reichsschulkonferenz praktikabel zu machen für die Einrichtungen in anerkannter freier Trägerschaft. Jetzt konnte festgestellt werden: „Kindergärten sind Einrichtungen der halboffenen Kinderfürsorge, in denen mindestens zehn Kinder vom vollendeten 2. bis 6. Lebensjahr den ganzen Tag oder für einen Teil des Tages zum Zwecke der Erziehungsfürsorge aufgenommen werden." „Kindergärten sind Pflegekinderanstalten im Sinne des § 29 R J W G . " „Die Vorbedingungen für die Anerkennung als Kindergarten sind: 1. geeignete Zweckräume sowie Einrichtungen für den Aufenthalt und die gesundheitliche und erziehliche Versorgung der Kinder, 2. geeignete, fachlich geschulte Personen für die Betreuung der Kinder." Des weiteren wurden genauere Bestimmungen über die Wahrnehmung der Aufsicht gegeben, außerdem auch in einem Anhang „Richtlinien für die Einrichtung und Ausgestaltung von Kindergärten", da „mit Rücksicht auf die finanzielle Lage der Träger" sich der Erlaß verbindlicher Mindestforderungen für die Einrichtung von Kindergärten nicht empfehle 28 . Mochte mancher das mit dem Hinweis auf pädagogische Erfordernisse bedauern und eine Änderung der Richtlinien erwarten 29 - solche Erwartungen mußten zu diesem Zeitpunkt vergeblich sein. Es wirkte sich nämlich nicht nur hinsichtlich baulicher Standards von Kindergärten die Krisensituation der Wirtschaft aus. Nachdem die Frage der ressortmäßigen Zuordnung der Kindergärten durch 27 VMB1 1930, S. 1017; siehe auch N . N . , Runderlaß v o m 20.2.1930, betr. Regelung der Zuständigkeit. Ausgenommen bleiben die speziell pädagogischen Sondereinrichtungen, deren Genehmigung, Befreiung und Beaufsichtigung von der Abt. Kirche und Schulen wahrgenommen wird (EBD.). 28 VMB1 1930, S. 1018-1022; siehe auch N . N . , Runderlaß v o m 9.12.1930, betr. Kindergärten; auch bei E. DAMMANN/H. PRÜSER, Quellen, S. 152f. 29 Η . V. GIERKE, Genehmigung, S. 434. Siehe dazu auch Η . V. WICHT, Richtlinien, der schon 1928 bedauert hatte, daß es keine allgemeingültigen Richtlinien gebe, nach denen in Abhängigkeit von der Einhaltung pädagogischer, hygienischer, räumlicher, mithin fachlicher Mindestforderungen, die Befreiung von der behördlichen Aufsicht und dem Grundsatz des Subsidiaritätsprinzips folgend die Gewährung kommunaler Zuschüsse zu erfolgen hätte.
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die ministeriellen Erlasse beantwortet worden war, stellte sich grundsätzlich und umfassend die Frage des Verhältnisses von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege neu: Die wirtschaftliche Notlage warf die Bedürfnisfrage auf 3 0 . Schon die Staatsministerialinstruktion v o m 31. Dezember 1839 hatte sie angesprochen. Deshalb versuchte ein weiterer Runderlaß des Preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt v o m 30. Juni 1932 - gut vierzehn Tage vor dem „Staatsstreich" und an seiner Spitze noch mit einem Hirtsiefer, der als stellvertretender Ministerpräsident zuverlässig und aufrecht die Geschäfte für den erkrankten Carl O t t o Braun führte - das Verhältnis der Staatsministerialinstruktion von 1839 und des § 29 R J W G im Blick auf die Bedürfnisfrage zu bestimmen. D a sich die Bestimmungen der Staatsministerialinstruktion, die „nach der herrschenden Meinung Gesetzeskraft haben", nur auf die Einrichtungen privater, also freier Träger bezögen, gelte die Bedürfnisfrage nicht für öffentliche Einrichtungen. Für diese sei sie aber nicht etwa durch § 29 R J W G aufgehoben, da seiner Regelung sowohl öffentliche als auch private Einrichtungen unterlägen, allerdings ohne die Bedürfnisfrage im Blick zu haben. Deshalb sei, weil neben § 29 R J W G auch die Staatsministerialinstruktion Gültigkeit habe, „die Genehmigung von Kindergärten von der Bedürfnisfrage abhängig zu machen." 3 1 Zu einer weiteren Klärung, etwa im Blick auf Richtlinien, nach denen die Bedürfnisfrage zu beantworten gewesen wäre, ist es nicht gekommen. Natürlich ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand, daß sich dies über kurz oder lang als ein die Einrichtungen der freien Träger, also auch der evangelischen Kinderpflege aufs höchste gefährdender Mangel herausstellen sollte. Jetzt hatten andere Regelungen Vorrang. Im Zuge der Vereinfachung und Verbilligung der Verwaltung wurde, nach „Preußenschlag" und kampfloser Kapitulation der preußischen Staatsregierung unter Braun, wenn auch schließlich zunehmend resignierend, indessen bis dahin Repräsentant des „demokratischen Bollwerks" 3 2 , des Staates Preußen, im N o v e m b e r 1932 das Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt aufgehoben und der Ministerialaufbau in Preußen neu geordnet, d. h. eigentlich den Reichsministerien zugeordnet. Jedenfalls war jetzt für die Jugendwohlfahrt und die Fürsorgeerziehung das Innenministerium zuständig. Die Kleinkinderschulen, Kindergärten, Kinderhorte usw. fielen in die Zuständigkeit des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung. Diese in den Augen der Vertreter der freien Wohlfahrtspflege unsachgemäße Trennung von auf das engste miteinander verbundenen Gebieten 3 3 bedeutete, daß bis zu diesem Zeitpunkt in der Weimarer Repu-
30
Siehe I K a p . III.2.1.
31
VMB1 1932, Sp. 584-586; siehe auch N . N . , Runderlaß vom 30.6.1932.
32
M. VASOLD, Carl O t t o Braun, S. 39; vgl. G . HEINRICH, Geschichte Preußens, S. 495ff.
Siehe dazu N . N . , Auflösung; und auch L. DROESCHER, Jugendwohlfahrt; sowie auch Liga an Reichskommissar für Preußen v o m 18.11.1932 ( A D W , C A 1195 IX). 33
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blik 34 zwar Ansätze zu einer sachgemäßen Kodifizierung der mit einer Einrichtung der halboffenen Fürsorge wie dem Kindergarten verbundenen Fragen gefunden waren, aber darüber hinaus eine allgemeine Akzeptanz des Systems damit nicht verknüpft war, so daß die weitere Entwicklung abzuwarten blieb.
2. Die Organisation der evangelischen Kinderpflege als Teil der Inneren Mission im Rahmen der freien Wohlfahrtspflege 2.1. Die freie Wohlfahrtspflege und der Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche Mit dem Beschluß, den Kindergarten der Jugendwohlfahrt zuzuweisen, hatten sich - um es zu wiederholen - in erster Linie die Vertreter der freien Wohlfahrtspflege durchgesetzt. Sie stand mit dem Ende des ersten Weltkrieges vor einer ganz neuen Situation. „Die Situation war etwa die: vor dem Weltkrieg Wohltätigkeit auf der freien, Armenpflege auf der öffentlichen (behördlichen) Seite; während des Weltkrieges gewaltiger Aufschwung der Kriegsfürsorge, nach dem Weltkrieg: das Ziel breiter Volksschichten der Wohlfahrtsstaat, in dem Jeder, der hilfsbedürftig ist (oder sich hilfsbedürftig fühlt) das Recht hat, die ihm notwendige Hilfe von der Öffentlichkeit zu verlangen. ... Da der Zentralgewalt die Mittel und die Macht fehlten, um von Reichs wegen eine Wohlfahrtspflege aufzubauen, kam die gesamte öffentliche Wohlfahrtspflege in die Hand der Kommunalverwaltungen. ... Diese Bürokratie war durchaus bereit, die vorgefundene freie Wohlfahrtspflege weiterarbeiten zu lassen - aber unter ihrer Kontrolle in ihrem Dienste ... die öffentliche Wohlfahrtspflege war durchaus bereit, die freie Wohlfahrtspflege in ihrem Boot aufzunehmen und tüchtig rudern zu lassen; steuern wollte sie selbst." 35 So urteilte im Rückblick etwa zwanzig Jahre später Gotthilf Vöhringer, der Mann, der als Geschäftsführer der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege (Liga) zur Bewältigung dieser schwierigen Situation durch die freie Wohlfahrtspflege entscheidend beitragen sollte 36 .
34 Zwar ist Preußen nicht die gesamte Weimarer Republik. Insofern es aber mit seinen Provinzen den entscheidenden Teil der Republik ausmacht, scheint es legitim, in dieser Weise zu verallgemeinern. 35 So G . Vöhringer, Z u r Geschichte der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege, masch. Manuskr., etwa 1944 ( A D W , C A 1195 X X ) . 36 Vgl. zum Folgenden auch G . VÖHRINGER, Organisatorische Probleme, der in diesen Zusammenhängen auch auf die Gefährdung organisierter „ Liebestätigkeit" durch Funktionalisierung eingeht. „Je weniger diese Gefahr empfunden wird, desto akuter ist sie, je lebendiger sie aber vor der Seele eines jeden in der freien Wohlfahrtspflege Tätigen ... steht, desto größer ist die Aussicht, daß ... die Liebe lebendig bleibt." (EBD. S. 21).
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Z u dieser Situation gehörte auch die Festschreibung des Begriffes öffentliche Wohlfahrtspflege für die bisherige Armenpflege. Gemeint war damit die von den Amtern und Behörden in den Städten und K o m m u n e n getragene Wohlfahrt. Ihr gegenüber stand die freie Wohlfahrtspflege als das, was bislang Liebestätigkeit genannt und von freien Vereinen und Gemeinschaften getragen worden war 3 7 . Der Unterschied bestand nicht in der Art der Anstalten und Einrichtungen, nicht in erster Linie in Gesinnungen und Überzeugungen, sondern „ein allgemein zutreffendes Unterschiedsmerkmal ist nur vorhanden, wenn man die Träger in Betracht zieht." 3 8 Deshalb war die Frage des Verhältnisses der freien und der öffentlichen Träger zueinander entscheidend wichtig, denn es war dieses Verhältnis, das sowohl über eine finanzielle Gefährdung oder wirtschaftliche Sicherstellung des Betriebes einer Einrichtung entschied als es auch gleichzeitig eine Verunsicherung oder Stärkung des Selbstbewußtseins der freien Wohlfahrtspflege insgesamt hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Anerkennung und politischen Legitimation bedeuten mußte 3 9 . Was lag in einer solchen Situation näher, als sich zusammenzuschließen, wollte man den Kampf um, wie man sagte, weltanschauliche Anerkennung einerseits und wirtschaftlicher Absicherung und Konsolidierung andererseits nicht nur aufnehmen, sondern auch bestehen? In einem hier nicht im einzelnen darzustellenden Prozeß war es - in Fortsetzung schon 1898 begonnener Bemühungen - im März 1921 zur Bildung der Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege (Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden) gekommen 4 0 . In ihm hatten sich die Innere Mission, der D C V , die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge und der kaum bedeutsame Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege zusammengeschlossen. F ü r das D R K und die Arbeiterwohlfahrt blieb die Mitgliedschaft offen 4 '. 37 Vgl. Ο . V. HOLBECK, Grundzüge, S. 7; auch J. STEINWEG, Innere Mission, S. 157ff.; ebenso wie P. ERFURTH, Wohlfahrtspflege; und F. ULRICH, Grundlagen. 38
J. STEINWEG, Innere Mission, S. 158.
Siehe etwa N . N . , [Ein Bericht]; G . Buck spricht von „Sozialisierungsängsten" (G. BUCK, Entwicklung, S. 159); J.-Chr. Kaiser meint: „Mit rationalen Argumenten allein ist diese Stimmungslage nicht zu erklären, denn von einem konkret geplanten .Generalangriff sozialdemokratischer Regierungen und Magistrate auf Einrichtungen der Inneren Mission, Caritas und sonstiger Träger nach der Revolution kann nicht die Rede sein." (J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 111). Vgl. auch F. TENNSTEDT, Wohltat und Interesse, S. 160. 39
40 J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 112-119, der den diffizilen und differenziert zu wertenden Prozeß des Zusammenschlusses der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege umfassend und erhellend darstellt; knapper dagegen G . BUCK, Entwicklung, S. 161-171. 41 Vgl. J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 118f. Betr. die einzelnen Verbände und ihre Organisation, Ο . V. HOLBECK, Grundzuge; R. BAUER, Wohlfahrtsverbände; für den D C V H.-J. WOLLASCH, Caritas, S. 88-92; für die Arbeiterwohlfahrt A. MONAT, Sozialdemokratie und Wohlfahrtspflege; jüngst CHR. EIFERT, Frauenpolitik und Wohlfahrtspflege, S. 114-117; für die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, E. CASPARY, Wohlfahrtspflege; für den
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Trotz einer großen Fülle unterschiedlicher Probleme, zu denen auch organisatorisch-technische gehörten, waren die Finanzprobleme der freien Träger von entscheidender Bedeutung. Es stellte sich heraus, daß ohne Staatshilfe alle Vorhaben und Anregungen der Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden wirkungslos bleiben mußten. Die Anstalten und Einrichtungen litten unter der Inflation. Pflegesätze waren unzureichend, Spendenaufkommen minimal, Stiftungsvermögen durch Inflation aufgezehrt42. Sollten die freien Träger nicht finanziell kollabieren und damit die gesamte Wohlfahrtspflege gefährdet werden, mußte die Zentralgewalt in Gestalt des Reiches helfen. Das Reichskabinett stellte im Oktober 1922 500 Mio. RM, im November sogar 1 Mia. RM zur Verfügung. Im Zuge der erforderlichen Gespräche gab es ab Februar 1923 regelmäßige Sprechtage im zuständigen Reichsarbeitsministerium. Sie waren in Verbindung mit den erstmals gewährten Subsidien ein deutlicher Ausdruck der Kooperationsbereitschaft des Reiches und ein Signal, der Kommunalisierungsgefahr gemeinsam zu begegnen. Auf diesem Wege begann sich das Verhältnis zwischen freier und öffentlicher Wohlfahrtspflege subsidiär auszuprägen43. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß auch § 4 R J W G , in den Augen seiner Kritiker zu einer bloßen Kannbestimmung verwässert, Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips war. Seinem Ursprünge nach Teil der katholischen Soziallehre 44 , war dieses Prinzip auch Grundlage der Verordnung über die Fürsorgepflicht, die wie das R J W G zu Beginn des Jahres, am 13. Februar 1924 verabschiedet und in Kraft gesetzt wurde 45 . 5. Wohlfahrtsverband, herausgebildet aus der Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands, später ab 1930 Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband E. KRÄMER, Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband; und J . MERCHEL, Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband; und seit k u r z e m erhellend G. HOLL WEG, 40 bewegte Jahre; sowie für das DRK W. GRUBER, Das Rote Kreuz; und H. SEITHE/F. HAGEMANN, Das Deutsche Rote Kreuz. Kurze Darstellungen auch bei G. BUCK, Entwicklung, S. 161-166; sowie BUNDESARBEITSGEMEINSCHAFT DER FREIEN WOHLFAHRTSPFLEGE, D i e S p i t z e n v e r b ä n d e .
Nach J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 119ff. Zur Bedeutung des Arbeitsministeriums siehe F. TENNSTEDT, Wohltat und Interesse, S. 161, mit Literaturhinweisen; sowie J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 124ff. 44 1891 hatte die Sozialenzyklika Papst Leo XIII., De rerum novarum, das Prinzip beschrieben: Weil der Einzelne wertmäßig über der Gemeinschaft stehe, dürfe auch den einzelnen und kleinen Gemeinschaften ihre Eigengesetzlichkeit und Ordnung nur insoweit genommen oder eingeschränkt werden als diese die gesamte Gemeinschaft und deren Wohl in Frage zu stellen drohen. Damit sind die kleinen Lebenskreise gegenüber den größeren geschützt. Die größeren sollen immer nur helfend, unterstützend, also subsidiär tätig werden. 1931 bezeichnet Papst Pius XI. in Quadragesimo anno dies Prinzip als den „obersten sozial-philosophischen Grundsatz, an dem nichts zu rütteln und zu deuteln ist." Siehe dazu H . WEBER, Subsidiarität; und H. WINKMANN, Katholische Soziallehre; und besonders jetzt die hochinformative Studie U . SCHOEN, Subsidiarität, die unter Darstellung der Einwirkungen auch auf die Fürsorgegesetzgebung der Weimarer Republik (S. 144-153) die Bedeutsamkeit des „hilfreichen Beistandes" für evangelisches Hilfehandeln herausarbeitet. 45 RGBl 1924 I, S. 100-107; vgl. J . STEINWEG, Neuregelung. 42 43
D i e Sicherung u n d der Ausbau evangelischer Kinderpflege
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Eine Denkschrift aus dem Reichsarbeitsministerium unter dem Zentrumspolitiker Dr. Heinrich Brauns, geweihter Priester und Volkswirtschaftler, ließ die Grundlinien erkennen, die für die weitere Entwicklung auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege entscheidende Bedeutung gewannen. Verfaßt hatte sie in Verbindung mit der Entstehung der Reichsfürsorgepflichtverordnung, wie das „Grundgesetz" der Wohlfahrtspflege gemeinhin bezeichnet wurde, Ministerialdirektor Dr. Erwin Ritter, der in dieser Sache „eigentliche politische Kopf" 46 . Er betonte, Staat und Gemeinden blieben „in der Fürsorge und der Auswahl der Helfer auf die unterstützende und ergänzende Hilfe der freiwilligen Wohlfahrtspflege angewiesen." Und weiter heißt es unter wörtlicher Aufnahme des Art. 137, des Kirchenartikels der Weimarer Verfassung 47 , und damit in deutlicher Anknüpfung an das Recht der Kirchen, daß die freie Wohlfahrtspflege ihre Aufgabe nur dann erfolgreich erfüllen könne, „wenn ihr das Recht gewährt wird, innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze ihre Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten und ihren Wirkungskreis selbst zu bestimmen." Also müsse sich das Gesetz „darauf beschränken, ein sich zweckmäßig ergänzendes Zusammenwirken der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege zu fördern und die Allgemeinheit dagegen zu schützen, daß öffentlich erbetene Spenden zweckwidrig oder unwirtschaftlich verwendet oder unter dem Namen der Wohlfahrtspflege selbstsüchtige Zwecke verfolgt werden. ... Die Zusammenarbeit m u ß vielmehr von der sich gegenseitig achtenden und unterstützenden Erkenntnis getragen sein, daß beide Teile, wenn auch von verschiedenen Ausgangspunkten aus, demselben Ziele zustreben: der Menschen N o t und Leid zu lindern." 48 Dieses Verständnis von Zusammenarbeit entsprach dem, was die freie Wohlfahrtspflege allenthalben gefordert hatte. Seine Kodifizierung war darum auch ein letzter Anstoß zum entscheidenden zweiten Schritt. Die Verbände sahen das als Herausforderung zur Mitarbeit, und sie nahmen sie an49. Nach Abstimmung mit dem Reichsarbeitsministerium erfolgte am 22. Dezember 1924 die Gründung der Liga. Ihr gehörten der DCV, der CA, die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, der Fünfte Wohlfahrtsverband - nachmals der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (DPWV) und die Christliche Arbeiterhilfe an. Mit der Liga war ein Instrument geschaffen, das nicht nur „durch Austausch von Erfahrungen eine zweckmäßige Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung der Mitglieder vermitteln" wollte, sondern zum Ziel hatte, „insbesondere darauf hin[zu]wirken, daß 46
J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 127.
47
W e i m a r e r Verfassung A r t . 137, Absatz 3 lautet: „Jede Religionsgesellschaft o r d n e t u n d verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des f ü r alle geltenden Gesetzes." (DIE VERFASSUNG). 48 E. RITTER, D e n k s c h r i f t , S.81. D e n k s c h r i f t in Auszügen auch bei C. L. Κ. v. NIDDA, E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n , S. 240; sowie bei G . BUCK, E n t w i c k l u n g , S. 168. 49
J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 136ff.
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öffentliche und freie Wohlfahrtspflege in Formen zusammenarbeiten, die der Selbständigkeit beider gerecht werden." 5 0 Eine der treibenden Kräfte bei der Bildung der Liga war - durchaus auch taktierend, u m eigene Interessen durchzusetzen 51 - die Innere Mission. Sie hatte als Zusammenfassung einer Vielzahl freier Verbände und Vereine in dem Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche durch Johann Hinrich Wichern nach seiner programmatischen Rede am 22. September 1848 auf dem Wittenberger Kirchentag eine erste F o r m gefunden 5 2 . D i e Verbindung der einzelnen nach regionalen und fachlichen Gesichtspunkten gegliederten Vereine und Verbände war nur lose 53 . Man erklärte einfach die Zugehörigkeit zur Inneren Mission und ihrem C A . Eine dies regelnde Satzung oder andere diesbezügliche Rechtsnormen waren nicht vorhanden. Mit den Statuten des C A war der Gedanke der „Einheit für den Dienst" ordnendes und verbindendes Element 5 4 . Die Verhältnisse der Nachkriegszeit forderten jetzt aber eine ihnen entsprechende organisatorische Neugestaltung an der Spitze der Inneren Mission 5 5 . Auf dem Kongreß der Inneren Mission, der Anfang September 1920 in Breslau stattfand, kam man dieser Forderung nach 56 . A m 10. September 1920 wurde die Satzung des Central-Verbandes der Inneren Mission beschlossen. Sie trat am 1. Januar 1921 in Kraft. Danach gehörten ihm an der C A , die Landes- und Provinzialverbände sowie die Fachverbände, die ohne regionale Begrenzungen tätig waren. N u r durch diese konnten einzelne Vereine und Anstalten in mittelbarer Verbindung zum Central-Verband stehen. Sein ge50 Satzung (ADW, C A 1195 II). Zu der Tatsache, daß Arbeiterwohlfahrt und D R K der Liga zunächst nicht angehörten siehe J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 139-146; sowie CHR. EIFERT, Frauenpolitik, S. 114-117; und H . SEITHE/F. HAGEMANN, Das Deutsche Rote Kreuz, S. 35-54. 51 Etwa bei der Besetzung der Stelle des Geschäftsführers mit Dr. Gotthilf Vöhringer. Siehe J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 146ff. 52 J. H . WICHERN, Rede auf dem Wittenberger Kirchentag vom Freitag, dem 22.9.1848 (Sämtliche Werke I, S. 155-171; Auszüge auch H . KRIMM, Quellen II, S. 241- 245; H . WULF, Fundamente, S. 62-67). In Verfolg dieser Rede 1849 gefertigt „Die innere Mission. Eine Denkschrift an die Deutsche N a t i o n " mit den „Statuten des Centraiausschusses für die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche" vom 9.1.1849 (Sämtliche Werke I, S. 175-366).
Vgl. W. CONZE, Verein; und E. BEYREUTHER, Verein. Vgl. H . TALAZKO, Einheit, der freilich nicht nur auf die Wichernsche Einsicht hinsichtlich funktionaler Notwendigkeiten bezüglich der Praxis hinweist, sondern auch besonders auf die Ansätze zu kirchlicher Einheit, die vom praktischen Dienst der Inneren Mission ausgegangen sind. Was Organisation und Arbeitsweise betrifft, liegt die ausgezeichnete Darstellung vor DERS., Der Central-Ausschuß. 55 Vgl. DENKSCHRIFT betr. Bildung, worin es heißt: „Eine an die Willenskräfte im Volksleben sich wendende Bewegung ... wird nur dann eine Achtung gebietende Stellung im öffentlichen Leben einnehmen, wenn sie eine bis zur Spitze durchgeführte und verhandlungsfähige Organisation sich schafft, die ihre Ideen zu vertreten berechtigt und befähigt ist." (EBD., S. 1). 56 Den Weg „ V o m Verein zum Verband" (H. TALAZKO, Archivgut, S. 5) beschreibt J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 78-94. Vgl. M. GERHARDT, Jahrhundert II, S. 230f. 53
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schäftsführendes Organ war der CA, der den Verband auch nach außen vertrat. Er wurde gebildet von aus Landes-, Provinzial- und Fachverbänden entsandten Deputierten sowie aus kooptierten Mitgliedern, die dies dann gewöhnlich auf Lebenszeit waren 57 . U m die Vorgaben der Satzung in die Praxis umzusetzen, wurden neben den bestehenden Fachverbänden 58 fünfzehn Ausschüsse oder Kommissionen berufen, deren Arbeit in fünf Abteilungen des CA erledigt wurde. Diese wurden von drei Direktoren und einem geschäftsführenden Direktor geleitet, die gemeinsam mit dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und dem Schatzmeister den Vorstand des CA bildeten. Es soll dahingestellt bleiben, ob mit dieser Satzung Wicherns Gedanken und Absichten 70 Jahre nach ihrer Fixierung verwirklicht wurden 59 . Tatsache ist, daß man unter den Gesichtspunkten von Rechtskontinuität und mit dem Wunsche, Bestehendes soweit irgend möglich zu bewahren, mit ihr den aktuellen Anforderungen formal entsprochen hatte und den Behörden und Ministerien als ein gewichtiger und ernstzunehmender Partner gegenüberstand. Tatsache ist aber auch, daß damit nicht alle Probleme gelöst waren. Die organisatorische Neuordnung gemäß den Anforderungen der neuen Republik besagte nämlich nicht, daß man sich auch auf die dahinterstehenden geistigbewußtseinsmäßigen oder politischen Anforderungen eingestellt hätte. Eine kirchen- oder religionsneutrale Haltung des neuen Staates wurde ganz entschieden als Kirchenfeindlichkeit interpretiert. Man sah nicht nur alles durch die Revolution erschüttert, „dazu kommt, daß die jetzige Obrigkeit keine freundliche Stellung mehr zur Religion, zur christlichen Kirche, besonders zum evangelischen Christentum einnimmt. ... Allerlei Bestrebungen sind im Gange ... jeden christlichen Einfluß im Volksleben ... zurückzudrängen oder zu unterbinden." Mit diesen Worten Gerhard Füllkrugs, Direktor im CA, war zu Beginn des Jahres 1919 60 der Grundton angeschlagen, auf den die Innere Mission gemeinsam mit dem übrigen deutschen Protestantismus gestimmt war. Daß dieser Ton in der Inneren Mission dennoch in der Folgezeit
57 SATZUNG des Centrai-Ausschusses; vgl. dazu D . KOPFERMANN, Innere Mission, S. 3 4 - 3 8 ; Ο . V. HOLBECK, Grundzüge, S. 8f.; J . STEINWEG, Innere Mission, S. 7 8 - 9 2 ; siehe auch H I M , S. 1; und selbstverständlich M. GERHARDT, Jahrhundert II, S. 231ff. 58 M. GERHARDT, Jahrhundert II, S. 232, spricht von acht Fachverbänden: Männliche und weibliche Diakonie; Pflege der heranwachsenden Jugend; Erziehungsarbeit; Frauenarbeit; Soziale Arbeitsorganisationen; Öffentliche Mission; Fürsorge für die wandernde Bevölkerung; Bekämpfung sittlicher Volksschäden. D . KOPFERMANN, Innere Mission, S. 35, nennt mit der Abnormenfürsorge noch einen neunten. 59 EBD., S. 37; emphatischer der erste Direktor des C A , Gerhard Füllkrug: „... der Schlußstein ist gelegt zu dem großen Gebäude, für das J o h a n n Hinrich Wichern beim Wittenberger Kirchentag 1848 den Grundstein b o t . " (G. FÜLLKRUG, D e r 39. Kongress, S. 154). 60
DERS., Innere Mission, S. 1.
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moderater erklang als auf Seiten der verfaßten Kirche 61 , hatte gewiß seinen Grund in einer an praktischen Notwendigkeiten orientierten Verhaltensweise. Wollte man mit Behörden und Ministerien sachbezogen und kompetent verhandeln, so bedurfte es entsprechender Kompromißbereitschaft und damit auch geringerer ideologischer Festlegung 62 . Das fand seinen Ausdruck „in mannigfacher Form sachlicher Zusammenarbeit." 63 Sie entwickelte sich sogar hin bis zur Angleichung der Organisationsformen. R J W G und Fürsorgepflichtverordnung führten zur Entdeckung eines Defizits bei der Inneren Mission selbst, das mit der neuen Satzung nicht behoben worden war. Die Organisationen der Inneren Mission, Vereine und Gemeinden hatten weder Bezug zueinander noch zu den kommunalen Verwaltungseinheiten. Deshalb wurden seit dem Jahre 1925 „Evangelische Wohlfahrtsdienste" gebildet. Sie entsprachen funktional den kommunalen Amtern der öffentlichen Wohlfahrtspflege. Wenn es allerdings zur gleichen Zeit heißt, die Einrichtung dieser Dienste geschehe, um „für die gesamte evangelische Kirche eine einheitliche Front zu bilden" 64 , so ist daran nochmals zu erkennen, daß die Grundhaltung, wie Füllkrug sie geradezu beschworen hatte, zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs aufgegeben worden war. Daß sie auch weiter bestimmend blieb und sich an zumindest für den Arbeitsbereich der Kinderpflege entscheidender Stelle ihrer Geschichte artikulierte, hat das Jubiläum schon deutlich genug gezeigt65. Die Formierung der Inneren Mission vermittels einer Satzung war eine pragmatische Antwort auf praktische Anforderungen. Mit ihr war keine politische, ideologische Zustimmung verbunden, sondern nur organisatorische Klärung. Jedoch das Verhältnis der Inneren Mission zur Kirche, jedenfalls von politischem Konsens bestimmt, war in keiner Weise durch die neue Satzung organisatorisch ebenso eindeutig geklärt, und die Forderung, die Wichern seinerzeit erhoben hatte, daß nämlich „unter die Gegenstände, mit denen die konföderierte Kirche zu tun haben wird, die innere Mission aufge61 Reinhard Moeller, Präsident des E O K Berlin und Vorsitzender des Dresdener Kirchentages, klagte auf diesem in der Begrüßungsansprache am 1.9.1919: „Die Herrlichkeit des deutschen Kaiserreiches ist dahin, der T r a u m unserer Väter, der Stolz jedes Deutschen ist dahin. ... D e m furchtbaren Krieg hat ein furchtbarer Friede kaum ein Ende gesetzt. Ein Friede ..., um uns nahezu alles zu nehmen, was uns aufrichten könnte, um unser V o l k , wenn möglich, politisch, wirtschaftlich und geistig zu zerstören, mit der W e h r ihm auch die Ehre zu nehmen." (H.-W. KRUMWIEDE, Evangelische Kirche, S. 18.). Vgl. J . JACKE, Kirche, S. 147f.; und auch K . NOWAK, Evangelische Kirche, S. 69f. Vgl. auch E. LESSING, Bekenntnis, S. 185ff. 62
J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 70f.
63
J . STEINWEG, Neuregelung, S. 28.
64
EBD., S. 29.
Siehe I Kap. I. D a ß freilich auch ganz andere Äußerungen möglich, aber wohl nicht in gleichem Maße handlungsanleitend waren, zeigt O . OHL, Eigenwert. E r sah mit der Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht „eine von hartem Kampf erfüllte Zeit" abgeschlossen (S. 3) und h o b auf die Wechselwirkung ab, in der öffentliche und freie Wohlfahrtspflege nun „eine in sich geschlossene Arbeit am Aufbau deutschen Volkstums" zu erbringen hätten (S. 8). 65
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nommen werde" 66 , war nicht eingelöst. Vielmehr, nachdem die neuen Verfassungen der Landeskirchen in den Jahren 1919 bis 1925 ohne größere Schwierigkeiten in erster Linie unter Wahrung der Rechtskontinuität beschlossen und „unter Dach" waren 67 , war der Weg zu einer „Einheit durch Reformation" 68 auch von dieser Seite eher versperrt. Beide, Innere Mission und „konföderierte Kirche", hatten aus ähnlichen, wenn nicht gleichen Motiven die Möglichkeiten einer grundsätzlichen Neugestaltung der Kirche nicht wahrgenommen, und die Innere Mission hatte um Anerkennung, ja überhaupt um angemessene Wahrnehmung durchaus zu ringen69. Waren also hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis einerseits zum neuen Staat und andererseits zur Kirche nur halbe Antworten im Zusammenhang mit der Neuordnung der Inneren Mission gegeben, so galt das auch für die Frage nach den Verhältnissen im Hause der Inneren Mission selbst. Die Satzung war kompliziert. Centrai-Verband und C A standen nebeneinander. Dieser führte die Geschäfte und vertrat jenen nach außen, obwohl jener der eigentliche Spitzenverband war. Das Schloß Entwicklungen zur Verselbständigung im Verwaltungsbereich ebenso ein wie Behinderungen durch Bürokratisierung 70 . Die einzelnen Abteilungen mit ihren je unterschiedlichen Sachfragen gerieten notwendigerweise unter die Sachzwänge der Funktionalität, die eines funktionierenden Regelmechanismus' bedurften. Das aber war das Nebeneinander von Centrai-Verband und C A nicht. Hinzu kam wohl auch das Problem der Leitung durch den Mangel an einer geeigneten Persönlichkeit. So verwundert es nicht, wenn bald die Diskussion um eine erneute Satzungsänderung einsetzte. Besonderes Interesse daran hatten die Landes-, Provinzial- und Fachverbände. Sie wollten sich kompetent und wirkungsvoll
66 J . H . WICHERN, Rede auf dem Wittenberger Kirchentag vom Freitag, dem 22.9.1848 (Sämtliche Werke I, S. 165; H . KR1MM, Quellen II, S. 243; und H . WULF, Fundamente, S. 64). 67 Vgl. J. JACKE, Kirche, S. 15Iff. Die apostrophierte Formulierung gebraucht M. GERHARDT, Jahrhundert II, S. 236. 68 H . CHR. V. HASE, Einheit. 69 Siehe I Kap. III.2.2. Die ganze Widersprüchlichkeit zeigt sich in diesem: Otto Dibelius, Generalsuperintendent der Kurmark und Vorsitzender des Provinzial-Ausschusses für Innere Mission in der Provinz Brandenburg, veröffentlicht 1926 „Das Jahrhundert der Kirche". Unter dem Stichwort „Kulturprogramm" verhandelt er Probleme der Inneren Mission und stellt in F o r m rhetorischer Fragen fest, daß Wichern sich, obwohl Prophet, mit seinen Gedanken nicht durchgesetzt hätte (O. DIBELIUS, Jahrhundert, S. 229ff.); Johannes Steinweg, Direktor im C A , nimmt im Mai 1927 - bis dahin war das Buch bereits in der 3. Aufl. erschienen - dazu Stellung. E r hält Dibelius schiefe und unrichtige Urteile vor, denn „sie sind ein Zeichen dafür, daß der Verfasser ein zutreffendes Bild von der Inneren Mission nicht zu haben scheint, daß er sie vor allem nicht als Gesamterscheinung, als kirchliche Bewegung und großes kirchliches Arbeitsgebiet in seinem inneren und äußeren Zusammenhang zu werten vermag." (f. STEINWEG, Jahrhundert, S. 188). Im übrigen vgl. M. GERHARDT, Jahrhundert Π, S. 243. Vgl. auch E. LESSING, Bekenntnis, S. 46ff.; und bes. R. STUPPERICH, Otto Dibelius, S. 153ff. 70
Vgl. D . THRÄNHARDT, Thron und Altar.
66
Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der Weimarer Republik
vertreten sehen 71 . Die Repräsentanten und Leiter der Verbände, wie sie in der von Johannes Steinweg, Direktor im CA, initiierten Geschäftsführerkonferenz zusammenwirkten, wollten in größerem Umfang an den Entscheidungen verantwortlich beteiligt werden. Das war bei der derzeitigen Konstruktion nicht der Fall. Es folgten außerordentlich heftige Auseinandersetzungen, in deren Verlauf Argumente für und gegen eine Satzungsänderung oft von Widersprüchen gekennzeichnet waren oder das tatsächliche Anliegen verdeckten 72 . A m 29. März 1928 nahm die Mitgliederversammlung des C A die umstrittene Satzung einstimmig an73. Mit ihr galt nun: „Der Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche ist die organisatorische Zusammenfassung aller ihm angeschlossenen Verbände, Anstalten und Einrichtungen der Inneren Mission." Sein Zweck war jetzt der, welcher einst dem Central-Verband zugeschrieben war und blieb im Wortlaut unverändert. Die Satzung sah jetzt vor, daß sich die überregionalen Fachverbände zu zehn Fachgruppen zusammenschlössen. Außerdem setzte sie die Stelle eines ersten Direktors fest, der gemeinsam mit dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten, dem Schatzmeister und zwei weiteren vom Hauptausschuß jährlich zu wählenden Direktoren den Vorstand bildete. Der Vorstand hatte für die Erledigung der laufenden Geschäfte und die Einheitlichkeit der Geschäftsführung zu sorgen, die Finanzverwaltung zu überwachen, die Mitarbeiter anzustellen. Der Hauptausschuß war das entscheidende Organ, das die Vorstandsmitglieder bestellte, die Aufsicht über den Vorstand führte und neben den Beschlußfassungen über Haushalt und Jahresrechnung für die Verhandlung der Grundsatzfragen der Inneren Mission zuständig war. Obgleich „reichlich vielköpfig" 74 , war er das Organ, über dessen Besetzung sowohl die Mitwirkung der Fachgruppen gesichert als auch die Verbindung zur verfaßten Kirche hergestellt war 75 . Die Geschäfte des C A wurden in vier Abteilungen erledigt. Die dritte Abteilung, nach der Allgemeinen und der Abteilung Volksmission, war die Abteilung Wohlfahrts- und Jugenddienst, Diakonie und 71 J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 89f., der auf die problematische Persönlichkeit Gerhard Füllkrugs hinweist. Daß der Wunsch nach kompetenter Vertretung demokratischere Strukturen bewirkt hat, hat ursächlich nichts mit demokratischer Gesinnung derer zu tun, die diesen Wunsch äußerten. Das lag, wie dargetan, nicht im Blickfeld. Daß diesem Wunsch nach kompetenter und vor allem wirkungsvoller Vertretung nach außen eine Anfälligkeit für ein Führerprinzip innewohnte, sei hier angemerkt. Siehe dazu I Kap. IV.1.2. mit A n m . 45. 72 EBD., S. 90f. 73 M. GERHARDT, Jahrhundert II, S. 256: „... nach sorgfältiger Vorbereitung ..." und S. 258: „... das sorgfältig durchdachte Satzungswerk ..."; J.-Chr. Kaisers Urteil, daß die Satzung „mit harten Bandagen" erstritten sei, macht die Qualität der sorgfältigen Vorbereitung anschaulicher (J.-CHR. KAISER, Sozialer Protestantismus, S. 90). 74
M. GERHARDT, Jahrhundert II, S. 257f.
75
Wortlaut der Satzung in CENTRAL-AUSSCHUß FÜR DIE INNERE MISSION DER DEUT-
SCHEN EVANGELISCHEN KIRCHE: Arbeit der Liebe, S. 67-73. Auszugsweise auch H I M I, S. 4 - 6 .
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soziale Arbeit. Sie teilte sich in zwei Dezernate. Das eine war das Dezernat Allgemeine Wohlfahrtspflege unter Steinweg, der ab November 1930 auch erster Direktor war; das andere war das Dezernat Jugendwohlfahrt unter Dr. Adolf Stahl, der bis 1924 Geschäftsführer der Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden gewesen und dann bis 1926 in Wiesbaden Geschäftsführer des Landesverbandes für Innere Mission in Nassau war, bevor er als Direktor im C A tätig wurde 76 . Dieses Dezernat Jugendwohlfahrt gliederte sich in sieben Sonderreferate, deren erstes das für Jugendwohlfahrt 77 war, unter der Leitung von Bertha Finck, der späteren Ehefrau Adolf Stahls. Als Referentin war sie in erster Linie für die Erledigung der Fragen der offenen Jugendfürsorge verantwortlich 78 . Darunter wird jener Teil der Erziehungs- oder Jugendfürsorge verstanden, dessen Maßnahmen ergänzender Erziehung es in erster Linie nicht mit Anstalten oder Einrichtungen zu tun haben, sondern etwa besonders das Vormundschaftswesen und die Fürsorge für die unehelichen Kinder umfaßte. Der andere Teil ergänzender Erziehungsfürsorge ist die geschlossene und halboffene, also hauptsächlich in Anstalten oder anderen entsprechenden Einrichtungen vollzogene Jugendfürsorge 79 . Die fachliche Kompetenz für beide Bereiche der Erziehungsfürsorge oder Jugendhilfe lag nicht unmittelbar im CA. Sie lag beim Evangelischen ReichsErziehungs-Verband (EREV). Er war über seinen Direktor dem C A angegliedert 80 . Der EREV stellte gewissermaßen mittelbar eine eigene Abteilung im C A dar und seine Mitgliedsvereine und -verbände waren zusammengefaßt in der Fachgruppe 5, Erziehungsarbeit 81 . Diese organisatorische Konstruktion 76
EBD., S. 7.
Die übrigen Referate waren: Erholungsfürsorge für Kinder und Jugendliche, Gefährdetenfürsorge, Straffälligenpflege, Wandererfürsorge und Arbeitsnachweis, Bekämpfung des Alkoholismus, Bibliothek und Archiv (HIM I, S. 8). 77
78
M . GERHARDT, Jahrhundert II, S. 287.
79
J . STEINWEG, Innere Mission, S. 262 und S. 266ff. Vgl. K . AHME, Beitrag.
80
M . GERHARDT, Jahrhundert II, S. 287.
H I M I, S. 5 und S. 209ff. In dieser Fachgruppe arbeiteten zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Satzung im Jahre 1928 neben dem an erster Stelle genannten Evangelischen Reichs-Erziehungs-Verband die Reichskonferenz für evangelische Kinderpflege, die Evangelische Schulvereinigung, der Reichsverband Deutscher Evangelischer Schulgemeinden, der Verband Deutscher Evangelischer Lehrer- und Lehrerinnenvereine und der Deutsche Bund für Christlich-Evangelische Erziehung in H a u s und Schule zusammen. D a für die evangelische Kinderpflege nur die beiden erstgenannten Verbände von Bedeutung sind, braucht auf die anderen hier nicht weiter eingegangen zu werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß die Evangelische Schulvereinigung, 1926 hervorgegangen aus dem Ausschuß für Unterricht und Erziehung beim Evangelischen Reichs-Erziehungs-Verband, zehn Jahre später für die Arbeit der Vereinigung von besonderem Wert sein sollte. Siehe dazu II Kap. 1.3.3. Der Zweck der Evangelischen Schulvereinigung, die Förderung einer bewußt evangelischen Erziehungsarbeit, blieb bis dahin auf Privatschulen gerichtet (HIM I, S. 231). Außerdem sei angemerkt, daß die sich selbst als unpolitisch verstehende Vereinigung evangelischer Schulgemeinden, der Reichsverband Deutscher Evangelischer Schulgemeinden und der Verband Deutscher Evangelischer Lehrer- und Lehrerinnenvereine zu 81
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bedeutete eine Verbindung, aber natürlich auch eine Überschneidung mit dem Dezernat Jugendwohlfahrt und seinem zuständigen Sonderreferat unter Finck. Der E R E V ist nach seiner Geschichte eng mit der besonderen Arbeit der Jugendfürsorge, der Erziehungsfürsorge verknüpft. Diese hat ihre Wurzeln im Rettungshauswesen und den den sogenannten Rettungshäusern verbundenen Erziehungsvereinen 82 . Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß „Das Rauhe Haus" ein Rettungshaus war. Wiehern stand durch dieses Werk der Jugendfürsorge nicht nur besonders nahe, sondern hatte auch die entscheidenden Anstöße für die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet gegeben 83 . Er war es, der unter anderem auf die Notwendigkeit der Verbindung der Häuser untereinander und einer wirkungsvollen Öffentlichkeitsarbeit hingewiesen hatte84. Man sah sich dieser Tradition verbunden 85 , als am 12. März 1920 in Erfurt die Gründung des Evangelischen Reichs-ErziehungsVerbandes beschlossen wurde. Die Satzung trat am 21. April 1920 in Kraft 86 . „Der Rettungshausbote" blieb bis Ende 1924 Zeitschrift des Verbandes und wurde dann ab 1925 als „Evangelische Jugendhilfe" fortgeführt 87 . Auch auf diese Weise sollte deutlich werden, daß die Arbeit nicht auf die Erziehungsarbeit in den Anstalten der geschlossenen Fürsorge beschränkt bleiben konnte. Sie „kann nicht in gänzlicher Abgeschlossenheit gedeihen, sie muß in reger lebendiger Fühlungnahme mit der gesamten Erziehungsarbeit stehen." 88 Mitbestimmend bei diesem Zusammenschluß zur Fühlungnahme mit der gesamten Erziehungsarbeit war die Neuordnung der Jugendwohlfahrt, wie sie durch einen schon am 12. März 1920 in Erfurt vorliegenden Entwurf des R J W G angezeigt war 89 . Angesichts dieser Herausforderung war ein Zusameinem Hauptverband Deutscher Evangelischer Schulgemeinden und Elternvereinigungen, Lehrer· und Lehrerinnenvereine zusammengeschlossen haben (EBD., S. 234f.). Deutlich wird hier eine Konzentration der Kräfte, deren Arbeit mit dem Schwerpunkt Schulwesen verbunden ist. Hinter der Formulierung Steinwegs, „alle diese Organisationen haben beim Evangelischen Reichserziehungsverband Rückhalt gesucht" (J. STEINWEG, Innere Mission, S. 298f.), wird man den Hinweis auf eine mögliche und fachlich gebotene Zusammenarbeit erschließen dürfen. 82 Vgl. G. H . NEUNOBEL, Erziehungsvereine. 83 Vgl. J. BECKMANN, Jugendfürsorge, S. 23ff. 84 Siehe J. H. WICHERN, Rettungsanstalten als Erziehungshäuser (1868) (Sämtliche Werke VII, S. 53Iff.). Vgl. auch H . TALAZKO, V o m „Rettungshausboten". 85 Vgl. etwa H . BEUTEL, Innere Mission, S. 168f.: „Die jahrzehntelange Erziehungsarbeit im Geiste Wicherns ist nicht vergeblich gewesen, sondern für weite Kreise fruchtbringend geworden. Soll sie für die Zukunft fruchtbar bleiben, so werden wir Evangelischen alles daransetzen müssen, um die Wünsche Wicherns zu verwirklichen." 86 Satzung, Eintrag in das Vereinsregister N r . 1734 beim Amtsgericht Berlin-Mitte vom 21.4.1920 (ADW, E R E V 4). Vgl. I. HUNDINGER, Geschichte; R. BOOKHAGEN, Zur Geschichte. U n d die Festschrift EVANGELISCHER ERZIEHUNGSVERBAND E.V. (Hg.), 75 Jahre E R E V . 87 H . TALAZKO, V o m „Rettungshausboten". 88 H . BEUTEL, Zur Umstellung, S. 2. 89 Protokoll (ADW, E R E V 4).
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menschluß dringlich, um „in die Öffentlichkeit diese eine große Frage hineinzuwerfen: ,Wie gewinnen wir unser Volk für eine evangelisch-christlich bewußte Erziehung und wie gewinnen wir unserm Volk die dringend notwendigen Erzieherpersönlichkeiten?'" 90 Zur Erledigung dieser Aufgabe sah die Satzung das Erziehungsamt als das Organ des E R E V vor, in dem die Landes- und Provinzialverbände sowie die Fachverbände und auch der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß ( D E K A ) und der C A vertreten sein sollten. Das Erziehungsamt bestimmte die Richtlinien der Arbeit und die ihrer praktischen Durchführung. Die laufenden Geschäfte wurden von einem Direktor geführt. In dieses A m t und gleichzeitig zu einem Direktor des C A wurde, mit Dienstantritt am 1. Juli 1921, Hermann Beutel gewählt 9 '. Ein Mann von „freundlich vornehmem Verhandlungsgeschick" 92 , war er seit 1913 Vereinsgeistlicher beim „als den kirchlichen Interessen" entsprechend 1882 konstituierten Provinzial-Ausschuß für Innere Mission in der Provinz Brandenburg 93 und zugleich Geschäftsführer des 1894 gegründeten Kirchlichen Erziehungsverbandes der Provinz Brandenburg gewesen 94 . Die Geschäftsstelle des E R E V , bislang in Hamburg, wurde nach Berlin verlegt, so daß Beutel die Aufgaben des doppelten Direktorats jedenfalls von einem O r t aus, dem Haus des C A in BerlinDahlem, wahrnehmen konnte 9 5 .
90
Bericht Direktor Hermann Beutel, Zwei Jahre E R E V , vom 12.5.1922 ( A D W , E R E V 21).
Protokoll über die Kommissionssitzung „betr. Beratung über die gemeinsam vom Centralausschuß für IM und dem Reichserziehungsverband zu vollziehende Anstellung von Pastor Beutel" am 9.3.1921, abends 20.00 U h r ( A D W , E R E V 4); danach gehörten der Kommission an: Präsident D . Friedrich-Albert Spiecker, Pastor Wilhelm Pfeiffer, nach seiner Tätigkeit in Berlin in und mit dem Kinderrettungsverein (vgl. Η. V. WICHT, Hundert Jahre) soeben Leiter des Rauhen Hauses geworden und Nachfolger von Martin Hennig, mit diesem der Hauptmotor bei der Gründung des E R E V und dessen Vorsitzender, sowie Pastor Lie. Paul Cremer, Hauptgeschäftsführer des Evangelisch-Kirchlichen Hilfsvereins und der Frauenhilfe, was ihn zum Mitglied des Finanzausschusses qualifizierte und bald auch zum lebenslänglichen Mitglied des C A (vgl. M. GERHARDT, Jahrhundert II, S. 231 f.), außerdem Pfarrer Lie. O t t o Ohl, geschäftsführender Direktor des Rheinischen Provinzial-Ausschusses für Innere Mission, Pastor Lie. Gerhard Füllkrug, Direktor im C A und Leiter der Allgemeinen Abteilung und der Abteilung Volksmission, sowie schließlich Pastor Lie. Johannes Steinweg, Direktor im C A und Leiter der Abteilung Wohlfahrts- und Jugenddienst, Diakonie und Soziale Arbeit, jener Abteilung also, in deren fachliche Zuständigkeit der E R E V gehörte. 91
92
I. HUNDINGER, Hermann Beutel, S. 5.
P. TROSCHKE, Handbuch, S. 258. Erst mit dem Beschluß der Provinzialsynode der Provinz Brandenburg vom 15.11.1984 war die am 8.12.1982 erfolgte Konstituierung rechtskräftig und die Gründung vollendet (EBD.). 93
94 G . BREMER, 50 Jahre, S. 4; ferner auch H . BEUTEL, Jahresbericht 1919; siehe auch P. TROSCHKE, Handbuch, S. 221ff. 95 J . STEINWEG, Innere Mission und Gemeindedienst: „Es erschien mir wichtig, die Geschäftsführung der großen Fachverbände nach Möglichkeit auch räumlich mit dem C A zu verbinden." (S. 81).
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Nachdem bereits 1922, aufs engste verknüpft mit den Gründungsinteressen, sich beim EREV der Ausschuß für evangelischen Unterricht und Erziehung privater Unternehmungen gebildet hatte, aus dem vier Jahre später die Evangelische Schulvereinigung unter dem Vorsitz von Zoellner hervorgehen sollte 96 , wurden 1925 zwei weitere Ausschüsse installiert, um auch die übrige Erziehungsarbeit den fachlichen und politischen Anforderungen entsprechend erledigen zu können. Es war der eine der Ausschuß für offene und der andere der Ausschuß für geschlossene Jugendfürsorge. Dieser verhandelte in besonderer Weise die Fragen der Heimerziehung 97 , jener bearbeitete in erster Linie das Problem der Errichtung der Jugendämter 98 und der ihnen regional entsprechenden Stadt- und Kreiswohlfahrtsdienste 99 . Da in deren Zuständigkeit neben dem Vormundschaftswesen der Schutz der Pflegekinder fiel, wurden in diesem Ausschuß auch die Grundsatzfragen der halboffenen Kinderpflege behandelt, weil sie nach dem R J W G solche des Pflegekinderwesens waren 100 . Angesichts seiner Organisationsgestalt und deren Verknüpfung mit dem C A bedurfte es eines hohen Maßes an fachlicher Kompetenz und Kooperationsbereitschaft von Seiten der im EREV tätigen Referentin Dr. Ina Hundinger, um die organisatorischen Mängel nicht zu Lasten qualifizierter Arbeit des C A wirksam werden zu lassen 10 '. Nach einer kurzen Tätigkeit von Lie. Joachim Beckmann, nachmaliger Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, war die Juristin, eine „kaum der Universität entwachsene pfälzische Pfarrerstochter ,aus der Provinz'" seit 1927 im EREV zuständig für die Betreuung von etwa 700 Erziehungsheimen für Kinder und gefährdete Jugendliche und die Arbeit der Landes- und Provinzialerziehungsvereine als Träger 96
EVANGELISCHER ERZIEHUNGSVERBAND E.V., 75 Jahre E R E V , S. 45ff.
97
Vgl. I. HUNDINGER, Geschichte, S. lOf.
98
SS 3 - 1 8 R J W G ( R G B l 1922 I, S. 633-636; auch K . VOSSEN, Jugendwohlfahrtsrecht).
Vgl. I. HUNDINGER, Geschichte, S. 11; auch H I M I, S. 227. In diesen Arbeitsbereichen geschah enge unmittelbare, nicht immer problemlose Zusammenarbeit mit dem C A und seinem Referat Jugendwohlfahrt unter Finck, im Dezernat Jugendwohlfahrt unter der Leitung von Stahl. Siehe dazu eine Zusammenstellung über die Tätigkeit auf dem Gebiet der Jugendwohlfahrtspflege von 1926 bis 1929 von Bertha Finck, datiert etwa 1930 ( A D W , C A / J 22), worin ausdrücklich auf die Schwierigkeiten der Arbeitsteilung zwischen E R E V und dem Referat Jugendwohlfahrt der Abteilung Wohlfahrts- und Jugenddienst hingewiesen wird. 99
100
SS 19-31 R J W G (RGBl 1922 I, S. 636-638).
Siehe J. STEINWEG, Innere Mission und Gemeindedienst, der von „Assistenten" des Direktors des E R E V (S. 81) spricht und zur fachlichen Arbeit rückblickend anmerkt: „Wenn wir im C A gut und sachlich arbeiten wollten, mußten wir auch gute Fachkräfte haben. Die neuere Entwicklung der Wohlfahrtspflege und die enge Verflochtenheit der diakonischen Arbeit mit der Wohlfahrtspflege ließen es nicht zu, daß in der Zentrale der Inneren Mission dilettantisch gearbeitet wurde." (S. 82) Gleichzeitig widerspricht Steinweg Gerhardt, der in der Wohlfahrtsabteilung eine „glänzend durchorganisierte Abteilung" (M. GERHARDT, Jahrhundert II, S. 303) sah und stellt fest, er habe sich „ u m Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bemüht, sobald ich es für sachlich notwendig hielt, und habe sie dann möglichst selbständig arbeiten lassen." (S. 83f.). 101
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der offenen Jugendhilfe. Hundinger war kurz am Jugendamt Mannheim und am Archiv Deutscher Berufsvormünder tätig gewesen, bevor sie, zunächst ohne einen festen Anstellungsvertrag, bei der Wohlfahrtsabteilung des C A und dann seinem EREV eine Tätigkeit bei einer zentralen Stelle evangelischer Liebestätigkeit fand, wie sie es sich gewünscht hatte' 02 . Hier leistete sie ihre Arbeit, einschließlich der Schriftleitung der „Evangelischen Jugendhilfe", und setzte damit, wie es seine Satzung vorsah, den EREV in die Lage, „die gesamte Erziehungsarbeit der deutschen evangelischen Kirchen mit ihren Organisationen und Einrichtungen zusammenzuschließen und einheitlich zu vertreten." 103
2.2. Der Evangelische Reichsverband für Kinderpflege Mit der Betreuung von Kindern, wie sie von Oberlin im Jahre 1779 im Steintal initiiert und organisiert worden war, verband sich von Anbeginn an der Gedanke des Erziehens und Bildens. Durch Friedrich Fröbel hatte dieser Gedanke bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts für diese Form der Kinderpflege, die nun weithin Kindergarten genannt wurde, sein besonderes Gewicht erhalten. Seit ihrer Begründung durch Friederike und Theodor Fliedner waren es in erster Linie die Diakonissenmutterhäuser, welche ihn in praktische Tätigkeit umsetzten. Hauptsächlich Diakonissen waren die Kinderschwestern, und ihre Mutterhäuser waren es, die in den von ihnen errichteten Seminaren, den Kleinkinderlehrerinnenseminaren, für die Ausbildung der Diakonissen Sorge getragen hatten 104 . Mit wachsender Bedeutung der Kinderpflegearbeit lag es in der Natur der Sache, daß die Notwendigkeit erkannt wurde, sowohl „für die Belange des Standes der Berufsarbeiterinnen" gemeinsam einzutreten als auch hinsichtlich der „Erziehungsarbeit in evangelischem Sinn und im Unterschied von anders gerichteten Bestrebungen" zusammenzuarbeiten 105 . Im Dezember 1908 ergriff Gehring als Direktor des Dresdener Kleinkinderlehrerinnenseminars der dortigen Evangelisch-lutherischen Diakonissenanstalt die Initiative. In einem Schreiben an alle Seminare unterstrich er die Bedeutung einer Zusammenarbeit auf diesem Gebiet mit dem Hinweis auf die „von liberaler, humanitärer, jüdischer und sozialdemokratischer Seite erhobenen Forderungen" 106 . Dies war ein Angriff auf die Reformpädagogik 107 , 102 Nach A D W , C A 1457 und privaten Schreiben an Verf. vom 15.1. und 23.2.1988 mit einem biographischen Abriß. Vgl. auch I. HUNDINGER, Hermann Beutel, S. 95. 103 Satzung, Eintrag in das Vereinsregister unter N r . 1734 beim Amtsgericht Berlin-Mitte vom 21.4.1920 (ADW, E R E V 4). 104 Vgl. H. SCHULTE, Evangelische Kinderpflege, S. 298; auch A.-M. PENTZLIN, Diakonisse; und O . HANSE, Ausbildung; und jüngst sehr anschaulich R. FELGENTREFF, Lehrerinnen. 105 H . SCHULTE, Evangelische Kinderpflege, S. 288. 106 J. GEHRING, Geschichte, S. 175. 107 Siehe dazu W. SCHEIBE, Reformpädagogische Bewegung. Insofern etwa bei Georg Kerschensteiner das Erziehungsziel in seinem Entwurf einer „staatsbürgerlichen Erziehung" die
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aber entsprach wohl der Stimmungslage, denn „die Anregung fiel auf günstigen Boden" 1 0 8 , und am 28. und 29. April 1909 fand in der Evangelisch-lutherischen Diakonissenanstalt Dresden die Gründungsversammlung der Konferenz für christliche Kinderpflege (Konferenz) statt. Vier Aspekte erhielten in der folgenden Zeit anstelle einer Satzung programmatische Bedeutung: zum ersten die Frage des Theorie-Praxis-Bezuges, z u m anderen die Frage eines Ausbildungsplanes, zum dritten die frühkindliche religiöse Unterweisung und schließlich das Tarifrecht und die Versorgungsansprüche der, im Sprachgebrauch der Zeit, Kleinkinderlehrerinnen 1 0 9 . Der Zusammenschluß bewährte sich sogleich in den Auseinandersetzungen u m die Erlasse des Preußischen Ministeriums der geistlichen-, Unterrichtsund Medizinalangelegenheiten v o m 6. Februar und 16. August 1911. Darin wurden Ausbildung und Prüfung von Kindergärtnerinnen und Jugendleiterinnen geregelt 110 , und es war dieser Fragenkomplex, der in spezieller Weise stets auch verbunden mit den Fragen einer Lehrplanvereinheitlichung, in der Folgezeit dazu führte, daß sich die Konferenz zu einem Fachverband für Ausbildungsfragen der Seminare entwickelte 111 . Die Anforderungen von fachlich-pädagogischer Seite trugen das ihre zu dieser Entwicklung bei. Man mußte sich mit der „selbsttätigen E r z i e h u n g " " 2 auseinandersetzen, „die an den Grundpfeilern der deutschen Kindergartenpädagogik zu rütteln suchte." 1 1 3
Persönlichkeit war (EBD., S. 172ff. und S. 236ff.), war seine Pädagogik human, liberal und demokratisch. Diese Begriffe kennzeichnen das geistige Umfeld, in dem sich die gesamte Reformpädagogik bewegte und die durch ihre „didaktischen Ketzereien" (EBD., S. 189) die überkommene Pädagogik herausforderte. D e m konnte Gehring als ein „Lehrer der Vergangenheit" - so verspottete Hermann Lietz die Autorität der „alten" Schule (EBD., S. 73f.) - allein auf die angezeigte Weise begegnen, um die bisherige pädagogische Linie zu verteidigen. Auf wen sein polemischer Hinweis „von ... jüdischer ... Seite" zielte, ist nicht auszumachen. Unbestreitbar ist jedenfalls, daß auch ein Denker wie Martin Buber mit seinen „Reden über die Erziehung" (EBD., S. 211) kennzeichnend für die Fruchtbarkeit reformpädagogischer Bemühungen war. Ebenso unbestreitbar ist, daß eine sich als christlich verstehende Pädagogik deutlich antisemitische Züge trug und darin auf Zustimmung rechnen konnte. Inwieweit bereits der Geheime Ministerialerlaß v. Raumers vom 7.8.1851 (MBliV 1851, S. 182), der ein Verbot Fröbelscher Pädagogik verbundener Kindergärten und ihrer „destruktiven Tendenzen" bis zum 10.3.1860 bedeutete, auch diese Züge trägt und gegen das Engagement jüdischer Frauen, wie etwa das von Lina Morgenstern im „Frauenverein zur Beförderung Fröbelscher Kindergärten", eingesetzt wurde - das ist weniger eine Frage als vielmehr Forschungsdesiderat. Siehe dazu H . KNOBLOCH, Die Suppenlina, S. 10f.; und auch TH. WOBBE, Das Wagnis, S. 152ff. Im übrigen sollten Kerschensteiner und Gehring im Jahre 1920 bei der Reichsschulkonferenz, beide Mitglieder desselben Ausschusses „Kindergarten", gezwungen sein, zu gemeinsamer Beschlußfassung zu gelangen; siehe I Kap. II.l. 108 109 110
J. GEHRING, Geschichte, S. 175. H . SCHULTE, Evangelische Kinderpflege, S. 289. ZENTRAUNSTITUT FÜR ERZIEHUNG UND UNTERRICHT, Kleinkinderfürsorge, S. 136ff.
Vgl. J . GEHRING, Geschichte, S. 175f.; H . SCHULTE, Evangelische Kinderpflege, S. 290f. 1913 war Maria Montessoris „Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter" in deutscher Ausgabe erschienen; vgl. W. SCHEIBE, Reformpädagogische Bewegung, S. 56. 113 J . GEHRING, Geschichte, S. 179. 111
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Dieser Auseinandersetzung, die, wie schon die kurze Darstellung der auf der Reichsschulkonferenz geführten Debatte gezeigt haben mag, mehr einer Abwehr glich, verbanden sich in der Folgezeit andere Dinge, die wichtiger schienen als die ausdrückliche Konzentration auf das Kind, obwohl man vom Jahrhundert des Kindes zu sprechen begonnen hatte114. Das eine war die wirtschaftliche Not, welche die Kinderpflege „nicht überstanden hätte, wenn nicht ihre [seil, der Einrichtungen] Leiterinnen ... in vorbildlicher Bedürfnislosigkeit und unerschütterlicher Berufstreue die größten Opfer an Kraft und Gesundheit gebracht" hätten 115 . Das andere war die „Abwehr der der christlichen Kinderpflege drohenden Gefahren: ging es doch um die christliche Erziehung" 116 , die man durch Kommunalisierungsbestrebungen und Bemühungen um eine Verbindung mit dem System der öffentlichen Schulen bedroht sah. Die Arbeit und der Bestand evangelischer Kinderpflegeeinrichtungen sollte gegen die etwa auch von der Reichsschulkonferenz befürchteten Kommunalisierungsbestrebungen gesichert werden - deshalb verband sich die Konferenz mit dem Reichsverband deutscher freier (privater) Unterrichts- und Erziehungsanstalten, um sich auf diesem Wege auch an der Gründung des EREV zu beteiligen117. Und nicht nur das. Gehring selbst konnte als Teilnehmer an der Reichsschulkonferenz die schon erwähnten „Leitsätze" im Ausschuß Kindergarten mit formulieren und beschließen. Ganz im gleichen Sinne nahm die Konferenz auch an der Diskussion um das R J W G teil. Schon Anfang 1920 hatte sie dem Reichsministerium des Innern unter dem der Nationalversammlung angehörenden und an den Beratungen zur Verfassung maßgeblich beteiligten, der liberalen D D P verbundenen Erich Koch-Weser, ihre Befürchtungen hinsichtlich der Gefährdung der Einrichtungen privater, christlicher Ausbildungsträger vorgetragen. Das Ministerium hatte in seiner Antwort darauf hingewiesen, daß der Entwurf des R J W G erkennen lasse, „daß die öffentlichen Behörden die freiwillige Tätigkeit zur Förderung der Jugendwohlfahrt unter Wahrung ihrer Selbständigkeit und ihres satzungsmäßigen Charakters anzuregen und tunlichst zu unterstützen und mit ihr zum Zweck eines planvollen Ineinandergreifens aller Veranstaltungen und Einrichtungen der öffentlichen und privaten Jugendhilfe zusammen zu wirken haben."" 8 Nun forderte die Konferenz in einer 114 Vgl. E. KEY, Jahrhundert. Die erste Auflage erschien im Jahre 1900 - deutsch 1902. Key „ k o m m t das Verdienst zu, ... den Blick für das Kind und für die pädagogischen Aufgaben auch in Deutschland neu geöffnet zu haben." (W. SCHEIBE, Reformpädagogische Bewegung, S. 53). 115 J . GEHRING, Geschichte, S. 181. 116 EBD.; siehe auch HIM I, S. 225f.: „... waren oft nicht unerhebliche Widerstände zu überwinden, um der evangelischen Kinderpflege diejenige Stellung zu sichern, die sie früher als ein selbstverständliches Recht für sich in Anspruch genommen hatte." 117 Siehe H . SCHULTE, Evangelische Kinderpflege, S. 290f.; und HIM I, S. 223; sowie EVANGELISCHER ERZIEHUNGSVERBAND E.V. (Hg.), 75 Jahre E R E V , s . 32ff. 118 Bei J. GEHRING, Geschichte, S. 182.
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Evangelische Kinderpflege als Teil der Inneren Mission in der Weimarer Republik
von ihr erarbeiteten Denkschrift diese Zusage gewissermaßen ein, stellte sich als Vertreter der Interessen „der Familie" und der „freiwilligen Liebestätigkeit" vor und mahnte schließlich die Anerkennung ihrer bisherigen Wirksamkeit an. „Als die bekanntlich wesentlich billiger arbeitende" Jugendhilfe erwarte sie freilich auch substantielle Unterstützung, denn man müsse „auch für die bestehende Kleinkinderpflege eine zu starke Geltendmachung des Jugendamtes als Behörde für verhängnisvoll" halten. Im übrigen sei das Recht auf Erziehung „eine Selbstverständlichkeit..., die nur insofern im Gesetz von Wert sein könnte, als es nicht ausgeschlossen erscheint, daß man in Weiterentwicklung der Sozialisierung des Lebens die Familie noch weiter aufzulösen bestrebt sein würde."" 9 Abgesehen von dem schon hinlänglich belegten grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber der Republik von Weimar wird in dieser Denkschrift auch offenkundig, wie sich mit dem Selbstbehauptungswillen der freien Wohlfahrtspflege, hier speziell der freien Jugendhilfe im halboffenen Bereich, die Hervorhebung des Kindergartens als einer sozialen Einrichtung verband. Familienergänzende Erziehung war der diese Position kennzeichnende Begriff. Unter Rückgriff besonders auf Wicherns Vorstellung davon, daß die Einrichtungen der Erziehungsfürsorge „Nachbildungen" der Familie zu sein haben, wo diese als Erziehungsfaktor ganz oder teilweise ausfalle120, wurden sowohl die pädagogischen als auch wohlfahrtspolitischen Herausforderungen zurückgewiesen, und Gehring konnte noch im Jahre 1929 sagen, „sein [seil, des Kindergartens] sozialer Charakter muß auch künftig bewahrt bleiben." 121 Damit wurde nun aber im Rahmen der durch die Konferenz begonnenen und geförderten Zusammenfassung und wirkungsvollen Repräsentanz von Fachanliegen gleichzeitig eine Entwicklung begünstigt, die andere als Ausbildungsfragen und Lehrpläne, mithin andere als Fachfragen der Ausbildungsträger 122 in den Vordergrund stellte. Zunächst waren es die Berufskräfte selbst, die ihre Interessen wirkungsvoller, spezifischer vertreten wissen wollten. Sie hatten sich dem 1902 von dem Berliner Pfarrer Johannes Burckhardt gegründeten Verband der Berufsarbeiterinnen der Inneren Mission 123 angeDenkschrift der Konferenz, undatiert, wahrscheinlich 1921, (ADW, C A / J 2). J. H . WICHERN, Rettungsanstalten als Erziehungshäuser (1868) (Sämtliche Werke VII, S. 374-534), bes. der Abschnitt IV Rettungshäuser oder Familien, S. 425ff. Wicherns Entwurf war ein Angriff (!) auf die bis dahin sich in erster Linie in Kategorien des Strafgesetzes bewegenden Erziehungsvorstellungen. Im Diskurs während der Weimarer Republik dient Wicherns einstiger Angriff der Verteidigung. Vgl. auch J . H . WICHERN, Die Ursachen der so vielfach erfolglosen Bemühungen in der heutigen Kindererziehung (1863) (Sämtliche Werke VII, S. 329-348). 121 J. GEHRING, Geschichte, S. 184. 122 1928 etwa vertrat die Konferenz vierundzwanzig staatlich anerkannte Seminare, fünf nicht staatlich anerkannte und acht Kinderpflegerinnenschulen mit 1.188, 185 und 153 Ausbildungsplätzen; nach F. VOGEL, Ausbildungsstätten. 123 Johannes Burckhardt, Pfarrer an der Elisabeth-Kirche in Berlin, hat der Inneren Mission vor dem Hintergrund der um die Jahrhundertwende aufbrechenden Frage der Emanzipation der 119
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Die Sicherang und der Ausbau evangelischer Kinderpflege
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schlossen, hier auch eine Sondergruppe Kinderpflege gebildet. 1921 jedoch gestaltete sich der Verband in den Verband der evangelischen Wohlfahrtspflegerinnen um 124 . Drei Jahre zuvor war Anna Borchers, Leiterin des Kindergärtnerinnen-Seminars des Diakonissenmutterhauses Bethesda in Grünberg gestorben. Ihrem pädagogischen und organisatorischen Geschick war wohl bis dahin die Behauptung der Interessen der Berufsarbeiterinnen im Bereich der Kinderpflege in erster Linie zu danken' 25 . Damit verschärften sich die ohnehin immer deutlicher hervortretenden spezifischen Fragestellungen der Berufskräfte im Kindergartenbereich, und das war Anlaß und Grund für einen engeren, weniger personenzentrierten Zusammenschluß und die Bildung einer eigenen Interessenvertretung. A m 2. Oktober 1925 konstituierte sich in Kassel der Reichsverband evangelischer Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen mit dem Ziel, als „Gesinnungsgemeinschaft" an einer „Vertiefung der Berufsauffassung" mitzuwirken, zur „beruflichen Fortbildung" beizutragen und der „wirtschaftlichen Vertretung der Mitglieder" zu dienen126. Zur Vorsitzenden wurde die vierunddreißigjährige Lehrerin und Jugendleiterin Auguste Mohrmann gewählt, die in der Kinderarbeit in Essen tätig war. Etwa 1.500 Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen gehörten dem Verband an 127 . Nicht belegt ist die Zahl derer, die mit solcher Qualifikation gleichzeitig als Diakonisse einem Diakonissenmutterhaus angehörten. Für 1926/1927 werden 3.221 Schwestern genannt, die in 2.148 Einrichtungen der Kinderpflege und Erziehungsarbeit stehen128. Außerdem sind die seit 1915 im Kaiserswerther Verband Deutscher Diakonissen-Mutterhäuser (Kaiserswerther Verband) zusammengeschlossenen Diakonissenmutterhäuser l2