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German Pages 692 [696] Year 1983
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Bayern in der NS-Zeit V Herausgegeben von Martin Broszat und Hartmut Mehringer
Die Parteien KPD, SPD, BVP in Verfolgung und Widerstand Von Hartmut Mehringer, Anton Großmann, Klaus Schönhoven
R. Oldenbourg Verlag München Wien 1983
Veröffentlichung im Rahmen des Projekts »Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933-1945· im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums für Unterricht und Kultus bearbeitet vom Institut für Zeitgeschichte in Verbindung mit den Staatlichen Archiven Bayerns.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bayern in der NS-Zeit: [Veröff. im Rahmen d. Projekts „Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933-1945"] / [im Auftr. d. Bayer. Staatsministeriums für Unterricht u. Kultus bearb. vom Inst, für Zeitgeschichte in Verbindung mit d. Staatl. Archiven Bayerns], Hrsg. von Martin Broszat u. Hartmut Mehringer - München; Wien: Oldenbourg NE: Broszat, Martin [Hrsg.]; Institut für Zeitgeschichte (München) 5. Die Parteien KPD, SPD, BVP in Verfolgung und Widerstand / von Hartmut Mehringer ... - 1983. ISBN 3-486-42401-7 NE: Mehringer, Hartmut [Mitverf.]
© 1983 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege sowie der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Werden mit schriftlicher Einwilligung des Verlages einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche Zwecke hergestellt, ist an den Verlag die nach § 54 Abs. 2 Urh. G. zu zahlende Vergütung zu entrichten, über deren Höhe der Verlag Auskunft gibt. Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-42401-7
Inhaltsübersicht
Hartmut Mehringer
Hartmut Mehringer
Anton Großmann
Klaus Schönhoven
Die K P D in Bayern 1919-1945. Vorgeschichte, Verfolgung und Widerstand
1
Die bayerische Sozialdemokratie bis zum Ende des NSRegimes. Vorgeschichte, Verfolgung und Widerstand . .
287
Milieubedingungen von Verfolgung und Widerstand am Beispiel ausgewählter Ortsvereine der S P D
433
Der politische Katholizismus in Bayern unter der NSHerrschaft 1933-1945
541
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
XIII
Hartmut Mehringer Die K P D in Bayern 1 9 1 9 - 1 9 4 5 Vorgeschichte, Verfolgung und Widerstand Vorbemerkung
1
I. Die bayerische KPD in der Weimarer Republik 1. Revolution und Räterepublik 2. Die Parteibezirke Südbayern und Nordbayern 3. Die KPD in der Illegalität - das Parteiverbot 1923-1925 4. Die Entwicklung der KPD 1925 bis 1933 a) b) c) d) e)
Die personelle Kontinuität der Führungsspitze Die Entwicklung der Mitgliedschaft Reichstags-, Landtags- und Kommunalwahlen Regionale Verbreitung und Publizistik der KPD in Bayern Probleme der Betriebsorganisation
5. Die Nebenorganisationen der KPD und das kommunistische Vereinswesen 6. Sozialprofil der KPD und Umfeldbedingungen kommunistischen Widerstands in Bayern. Versuch einer Geländebeschreibung II. Die Zerschlagung der Partei im Frühjahr 1933
5 5 13 17 24 24 26 30 36 39
42 55 67
1. Zwischen »Machtergreifung* und »Gleichschaltung* - die bayerische KPD bis zum 9. März 1933 69 2. Die Zerschlagung der Parteiorganisation nach dem 9. März 1933 . . . . 73 3. Die unmittelbaren Auswirkungen der Verhaftungsmaßnahmen . . . . 77 III. Kommunistischer
Widerstand in den Großstädten
81
1. Autonome Widerstandsgruppen der ersten Stunde - der Rote Sandberg . 81 2. Anspruch und Möglichkeiten einer Rekonstruktion der Partei im Untergrund 86 3. Kommunistischer Widerstand in München 91 a) Uberblick Frühjahr 1933 bis Frühjahr 1934: die erste und die zweite illegale Bezirksleitung b) Der Fall Neue Zeitung c) Illegale Gruppen der kommunistischen Jugend in München d) Aktionen des Militärapparats der KPD e) Uberblick Frühjahr 1934 bis Frühjahr 1937. Die Rote Hilfe und die dritte Leitung
91 92 104 109 123
Inhalt f) Die Zerschlagung der kommunistischen Stadtteilgruppen - Westend und Neuhausen - Stadtmitte, Schlachthofviertel und Sendling - Giesing, Haidhausen und Ramersdorf - Die Agfa-Betriebsgruppe g) Der Fall »Theo« - Zur Phänotypologie des Spitzelwesens im kommunistischen Untergrund
VII 131 136 140 144 145 148
4. Kommunistischer Widerstand in Nürnberg a) Die erste illegale Bezirksleitung b) Der Kommunistische Jugendverband und der Schriftenschmuggel aus der Tschechoslowakei c) Die zweite illegale Bezirksleitung d) Uberblick Herbst 1933 bis Frühjahr 1934 - die dritte Leitung in Nürnberg . e) Die Rote Hilf ein Nürnberg und Fürth
159 159
5. Kommunistischer Widerstand in Augsburg a) Uberblick Frühjahr 1933 bis Frühjahr 1934 b) Gruppen der kommunistischen Jugend c) Die Rote Hilfe d) Überblick 1935 bis 1938
182 182 186 194 198
IV. K o m m u n i s t i s c h e r W i d e r s t a n d in den mittelgroßen Städten . . . . 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Schwaben Oberbayern Niederbayern Oberpfalz Oberfranken und Mittelf ranken Unterfranken Kommunistischer Untergrund in Rosenheim und Straubing - zwei Fallbeispiele aus dem bayerischen Oberland und dem niederbayerischen Donauraum a) Die KPD-Gruppe in Rosenheim und Umgebung b) Kommunistischer Widerstand in Straubing
V. K o m m u n i s t i s c h e r W i d e r s t a n d in der Provinz 1. Überblick 2. Fallbeispiele aus der Provinz a) KPD und Roter Frontkämpferbund in Penzberg/Oberbayern b) Die »KPD-Gruppe. Hösbach/Unterfranken c) Der Schachklub Großheubach VI. K o m m u n i s t i s c h e r W i d e r s t a n d w ä h r e n d des Z w e i t e n W e l t k r i e g s . 1. Abhörgemeinschaften in Nürnberg und Augsburg 2. Die Neupfarrplatz-Gruppe in Regensburg 3. Die Hartwimmer-Olschewski-Gruppe in München . 4. Überblick
164 169 173 178
201 202 206 210 211 215 223
229 229 234 238 239 243 243 258 261 264 265 267 270 280
VIII
Inhalt
Hartmut Mehringer Die bayerische Sozialdemokratie bis zum Ende des NS-Regimes Vorgeschichte, Verfolgung und Widerstand
287
Vorbemerkung
287
I. Die bayerische SPD vor dem Ersten Weltkrieg
290
II. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik . . .
310
III. Soziale Zusammensetzung und beruflicher Hintergrund der bayerischen SPD im Lichte der Gestapoakten Würzburg
328
IV. Zerschlagung und Selbstauflösung der bayerischen SPD Januar bis Juni 1933
338
V. Die Verfolgung von Sozialdemokraten am Beispiel der Gestapoakten Würzburg
347
VI. Die sozialdemokratische Emigration, die Sopade und die Grenzsekretariate
351
VII. Illegale Organisation und Literaturverteilung der SPD in Nordbayern 1933 bis 1935
361
VIII. Der sozialistische Untergrund in Südbayern 1933 bis 1935 . . . .
377
IX. Neu Beginnen und die Revolutionären Sozialisten in Bayern und Österreich
391
X. Traditionswahrung und Überlebensstrategien
418
Anton Großmann Milieubedingungen von Verfolgung und Widerstand am Beispiel ausgewählter Ortsvereine der SPD
433
Vorbemerkung
433
I. Straubing
439
II. Stockheim
455
III. Coburg
459
IV. Schopfloch
480
V. Weiden VI. Schönwald VII. Aschaffenburg VIII. Fußenberg
492 512 522 539
Inhalt
IX
Klaus Schönhoven Der politische Katholizismus in Bayern unter der NS-Herrschaft
193 3-194 5
541
Vorbemerkung
541
I. Der Machtwechsel in Bayern im März 1933
542
II. Der Griff der NSDAP nach der kommunalen Selbstverwaltung
.
552
. . .
576
IV. Mitglieder und Anhänger des politischen Katholizismus nach dem Verbot der Bayerischen Volkspartei
583
V. Ausschaltung und Anpassung der katholischen Presse nach 1933
603
III. Die erzwungene Selbstauflösung der Bayerischen Volkspartei
VI. Die bayerische Bürokratie und der Nationalsozialismus VII. Verfolgungsmaßnahmen gegen Funktionäre und Führer der Bayerischen Volkspartei
Anhang Biographisches zu den Autoren Abkürzungsverzeichnis Personenregister Ortsregister
618 634
647 648 653 669
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Das rechtsrheinische Bayern 1933
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Vorwort Mit den gleichzeitig vorgelegten Bänden V und VI wird die Reihe »Bayern in der NSZeit« - nach den vorangegangenen Veröffentlichungen in den Jahren 1977 (Band I), 1979 (Band II) und 1981 (Band III und IV) nunmehr abgeschlossen. Zu den Antinomien zeitlich befristeter Forschungsprojekte gehört es, daß die Fertigstellung der Schlußarbeiten häufig unter erschwerten Bedingungen erfolgen muß. Das gilt auch für das dieser Reihe zugrundeliegende Forschungsprojekt »Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933-1945«, dessen Finanzierung durch das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus schon Ende 1981 auslief. Um so mehr erfüllt es den Leiter dieses Projekts mit dem Gefühl der Genugtuung und des Dankes, daß die Reihe dennoch mit nur geringfügiger Verzögerung, aber ohne Abstriche an dem inhaltlichen Programm zu Ende geführt werden konnte. Das ist vor allem das Verdienst der Mitherausgeber Elke Fröhlich und Hartmut Mehringer, die als Hauptautoren dieser beiden Schlußbände für notwendige Ergänzungen und Überarbeitungen, für Korrektur und Registererschließung ihrer Beiträge bis zur Drucklegung »bei der Stange blieben«, obwohl sie seit 1982 bereits anderen Forschungsvorhaben verpflichtet sind. Mein besonderer Dank gilt auch Klaus Schönhoven und Anton Großmann, die als Verfasser eigenständiger Studien im Band V der Reihe zur Abrundung der hier behandelten Thematik wesentlich beitrugen. In ausführlichen Vorbemerkungen haben die genannten Autoren über die Zielsetzungen, Probleme und Quellengrundlagen ihrer Untersuchungen selbst eingehend Auskunft gegeben. Es erübrigt sich deshalb eine längere Paraphrase des Inhalts, wie sie den Bänden I bis IV mit ihrer sehr viel größeren thematischen Streubreite vorangestellt wurde. In Erinnerung gerufen werden soll an dieser Stelle - im Anschluß an die Zwischenbilanz, die am Ende des Bandes IV gezogen wurde - aber noch einmal der thematische und methodische Stellenwert der Bände V und VI im Rahmen des Gesamtprojekts. Bei dessen Konzeption ging es zunächst darum, die engere Thematik - Widerstand und Verfolgung in der NS-Zeit - auszuweiten zur Dokumentation und Darstellung der vielfältigen Wirkungsgeschichte des NS-Regimes und der Gesellschaftsgeschichte politischen Verhaltens in ganz verschiedenen Milieus und Lebensverhältnissen. Die sieben Dokumentationskapitel des ersten Bandes, sämtlich gestützt vor allem auf vertrauliche periodische Berichte staadicher und nichtstaadicher Institutionen, schufen dafür eine erste Evidenz. Diese ist dann vertieft worden durch insgesamt zwanzig Untersuchungen verschiedenster Zonen des Konflikts zwischen politischer Herrschaft und Gesellschaft, die in den Bänden II bis IV veröffentlicht wurden. Auf der so gewonnenen breiten Grundlage der Darstellung keineswegs einheitlicher Betroffenheiten und Bedingungen politischen Verhaltens während der NS-Zeit galt es in den abschließenden Forschungen zurückzukommen auf die engere Thematik des Projekts: Widerstand und Verfolgung sollten dabei unter dem Gesichtspunkt einerseits der wichtigsten parteipolitischen Gruppen (Band V), andererseits des mehr oder weniger auf sich gestellten Einzelnen (Band VI) untersucht und paradigmatisch dargestellt werden. Am meisten Immunität gegenüber dem Nationalsozialismus bewiesen, wie bekannt, bis 1933 die beiden Arbeiterparteien und das Lager des politischen Katholizismus,
XIV
Vorwort
letzteres, in Bayern, in Gestalt der Bayerischen Volkspartei (BVP). Schon deshalb konnte sich die Darstellung des parteipolitisch motivierten Gruppenwiderstandes beschränken auf die drei Parteien KPD, SPD, BVP einschließlich der Splittergruppen und außerparteilichen Organisationen und Gesinnungsgemeinschaften, die diesen Lagern zuzurechnen sind. Die Eingrenzung auf diese drei Parteien war um so mehr zu rechtfertigen, als die in Bayern außerhalb dieser Gruppierungen - wenn auch mit mancherlei Verbindungen zur BVP - am meisten nennenswerte monarchistische und konservative weiß-blaue Gegnerschaft zum NS-Regime in den vorangegangenen Bänden dieser Reihe, vor allem in den Beiträgen von Aretin und Troll, bereits behandelt worden ist. Wenn sich im übrigen schon bei der von Klaus Schönhoven erarbeiteten Studie über die BVP deutlich zeigt, daß hier, im Gegensatz zu Kommunisten und Sozialdemokraten, von illegaler Untergrundtätigkeit nach 1933 kaum gesprochen werden kann, die Opposition oder Resistenz von ehemaligen Funktionären und Anhängern der BVP vielmehr andere Formen annahm und als Gruppenverhalten nur schwer faßbar ist, so gilt dies noch mehr für die in Bayern ohnehin schwachen bürgerlich-liberalen Parteien bzw. deren ehemalige Anhänger: Sie waren deshalb in das Sample des parteipolitischen Gruppenwiderstandes nicht einzubeziehen. Obwohl der Grad aktiven und prinzipiellen Widerstandes und die Zahl der Opfer, die dabei gebracht wurden, über die historische Wirkung und den Bedeutungsgehalt allein noch nichts aussagen, bildeten sie doch den Maßstab für die Gewichtung und Anordnung der Beiträge zu diesem Thema. Daraus ergab sich zwangsläufig, daß die von Hartmut Mehringer verfaßten Darstellungen über die KPD und SPD in Bayern, letztere ergänzt durch die lokalgeschichtlichen Beiträge Anton Großmanns, den Kern des umfangreichen V. Bandes bilden. Das bisher zusammenfassend überhaupt nicht und auch regional und lokal erst schwach erforschte Feld der Geschichte des Widerstandes und der Verfolgung der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung in Bayern während des Dritten Reiches ist durch diese Studien intensiv beackert worden, wobei auf einige andere im Rahmen dieses Projekts erarbeiteten lokalgeschichtlichen Untersuchungen (vgl. vor allem die Beiträge von Tenfelde und Hetzer in Band III und IV dieser Reihe) mit Gewinn zurückgegriffen werden konnte. Das Leitmotiv des ganzen Projekts, über die parteipolitisch tradierten Einstellungsmuster und weltanschaulichen Motivationen hinaus Milieu- und Kommunikationsbedingungen von Widerstand transparent zu machen, blieb auch für diese Studien maßgeblich, die deshalb mehr sind als Organisations- und Akionsgeschichte sozialistischer Untergrundarbeit und ihrer in der Regel brutalen Zerschlagung. Um das soziale Profil der beiden Arbeiterparteien in Bayern und ihres Umfelds in dieser Zeit trotz der in dieser Hinsicht besonders schlechten Quellenlage ansichtig zu machen, waren ausführliche historische Rückgriffe bis auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erforderlich. Dem gleichen Zweck dient die Annotation biographischer Daten zu der Fülle der Namen von Aktivisten und Opfern. Sie bilden, ebenso wie die beiden Exkurse auf der Basis der Würzburger Gestapo-Akten im zweiten Teil des V. Bandes, eine Grundlage auch für eine Soziologie kommunistischen und sozialdemokratischen Widerstandes. Von einem anderen Aspekt her, nämlich der lokalgeschichtlichen Ausprägung des von Ort zu Ort verschiedenen Milieus, der politischen »Kultur« und des gesellschaftlichen Ansehens der Repräsentanten der Arbeiterbewegung, ist diese Perspektive einer historischen Soziologie von Widerstandsbedingungen auch in den Beiträgen
Vorwort
XV
Anton Großmanns über ausgewählte sozialdemokratische Ortsvereine Bayerns aufgenommen worden. Die in Band V zusammengefaßten Untersuchungen über die beiden Arbeiterparteien und die BVP ergeben aus zugleich politikgeschichtlicher und sozialhistorischer Sicht deutliche Konturen eines für die drei Parteienlager durchaus unterschiedlichen Widerstandstypus: aufopferungsvolle, nicht selten verwegene und bedenkenlose, auch durch schärfsten Terror lange Zeit nicht stillzustellende Untergrundaktivität von Kommunisten, wurzelnd in einem schon vor 1933 entstandenen Potential radikalen politisch-sozialen Protests gegen die etablierte Herrschaft; daneben die eher passive, attentive Oppositionshaltung von Sozialdemokraten, mehr charakterisiert durch erstaunliche Unverfügbarkeit im Meer der bürgerlichen Anpassung als durch riskante illegale Aktionen; und wiederum ganz anders die auf gesellschaftlich-wirtschaftliche oder kirchliche Rückhaltspositionen gegründete Immunität und Resistenz im Lager des politischen Katholizismus. Die Frage, ob aus solchen unterschiedlich gelagerten Möglichkeiten, sich zu behaupten, tatsächlich aktiver Widerstand oder wirksame Opposition hervorging, führt aber fast immer in die Biographie einzelner Personen und leitet über zu Elke Fröhlichs ausgewählten Geschichten individuellen Widerstandes in Band VI dieser Reihe. Die Mühsal oft auch ergebnislos gebliebener Quellenrecherchen und Befragungen, die die Erarbeitung dieser »Geschichten« zur Voraussetzung hatte, ist in deren Darbietung mit Absicht verborgen worden zugunsten einer eindringlichen Erzählform. Die schon in einem sehr frühen Stadium der Projektüberlegung entstandene Absicht, unterschiedliche Bedingungen und Motivationen des Widerstandes nicht nur strukturgeschichtlich evident zu machen und in Begriffe zu fassen, sondern auch biographisch und erzählerisch nahezubringen, ist in diesem abschließenden Band verwirklicht worden. Die einer größeren Öffentlichkeit und innerhalb des historischen Schrifttums meist ganz unbekannt gebliebenen Fälle, die Elke Fröhlich aus entlegenen Akten oder zugeschütteten Erinnerungen zutage gefördert hat, zeigen, wieviel dramatisches Geschehen sich hinter den Stichworten »Widerstand und Verfolgung« auch außerhalb der in der Geschichtsschreibung kanonisierten großen Beispiele, etwa der Akteure des 20.Juli 1944, der »Weißen Rose« oder der »Roten Kapelle«, verbirgt. So wenig »heroisch« die meisten der in diesen Geschichten erzählten Schicksale und Handlungen sind, so menschlich berührend sind sie gerade deswegen. Bei aller Konditionierung durch Herkommen, Erziehung, Milieu und Erfahrung gibt es überall in ihnen einen Punkt, wo diese überindividuellen Bedingungen umschlagen in höchstpersönliche Entscheidungen und Handlungsentladungen, die nicht selten querstehen zu den Maßstäben zumutbaren, adäquaten Oppositionsverhaltens. Dabei wird auch deudich, was die jeweils von Einzelnen ausgehenden moralischen Handlungsimpulse des Widerstandes in deren sozialem Beziehungsnetz, nicht selten auch bei den Verfolgern, auszulösen vermochten und wie sehr es innerhalb der Gesamtgeschichte des Widerstandes auf diese individuellen Anstöße ankam. Die relativ große Zufälligkeit der Entdekkung, auch des Maßes der Verfolgung und ihres glücklichen oder unglücklichen Ausgangs, von dem diese Geschichten Zeugnis geben, offenbart, wie unkalkulierbar die Folgen entschieden oppositionellen oder nur nonkonformen Verhaltens waren. Diese Unberechenbarkeit des Risikos ist sicher geeignet, die bei unseren Formulierungen über wichtige Erkenntnisse des Projekts verschiedentlich aufgestellte Behauptung der
XVI
Vorwort
Möglichkeit zumutbaren Widerstandes im Dritten Reich mit Vorbehalten zu versehen. Sie ermöglichte aber auch weit über das Maß des Zumutbaren hinausgehende Widerstandsaktivitäten unterhalb der Schwelle bewußten Märtyrertums. Dabei zeigt sich aber auch: Freigewählter Entschluß zum Widerstand, der optimistisch und mutig auf Ansteckungswirkung und politischen Erfolg setzte, war nicht gänzlich grundlos, aber die Ausnahme, Widerstand als Reaktion auf vorher erlittene Demütigung oder Verfolgung, d. h. aus einer schon vorgegebenen Diskriminierung oder Außenseiterposition heraus, war dagegen die Regel. Individuelles Aufbäumen gegen solche Verwundungen, vielleicht das stärkste Motiv individuellen Widerstandes überhaupt, berührt sich hier aufs engste wiederum mit dem Sozialen, mit dem Bedürfnis bestimmter (sozialer, politischer, weltanschaulicher) Gruppen, ihre vom NS-Regime zerstörte oder schwer beschädigte Respektabilität wiederherzustellen. Das Ber dürfnis, die Ehrenhaftigkeit der eigenen Überzeugung durch entsprechend waghalsige, aufopferungsvolle illegale Aktivitäten zu bekunden, war häufig Zweck an sich, neben und unabhängig von den politisch-programmatischen Rationalisierungen, die die illegale Parteistrategie solchem Aktionismus unterlegte. Individuelle und überindividuelle Motivation des Widerstandes, das zeigen die Beiträge in den Abschlußbänden dieser Reihe, lassen sich zwar sinnvoll unterscheiden, aber nicht strikt trennen. Ohne jeden Gruppenrückhalt war Widerstand kaum möglich und seine Schwäche insgesamt vor allem eine Folge der vom NS-Regime mit Erfolg bewirkten sozialen Isolierung gegnerischer oder nonkonformer Gesinnungen. Das vor allem im deutschen bürgerlichen Mittelstand erkennbare geringe Vermögen, soziale Isolierung auszuhalten und zu respektieren, und der starke soziale Konformitätsdruck innerhalb der deutschen bürgerlichen Gesellschaft, durch geschichtliche Traditionen und vorangegangene soziale Krisen und Krisenängste verstärkt, sind offenkundig wesentliche außerpolitische Gründe, die bei der Erklärung sowohl der großen Wirkung totalitärer Erfassung und Kontrolle durch das NS-Regime wie der Geringfügigkeit riskanten Widerstands im Dritten Reich in Anschlag zu bringen sind. Dem entspricht es auch, daß am ehesten im Milieu der von sozialistischen Traditionen bestimmten Arbeiterschaft, im noch stark ländlich traditionellen katholischen Milieu und daneben auch in aristokratischen oder künstlerisch-intellektuellen Zirkeln mit stark ausgeprägten besonderen Lebensgewohnheiten Potentiale der Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus lagen. Mit den nunmehr vollständigen Veröffentlichungen der Reihe ist - bezogen auf Bayern - , so hoffen die Herausgeber, ein zwar gewiß nicht vollständiges, aber doch sehr dichtes, vielfältiges und vor allem realistisches Bild der Geschichte von Widerstand und Verfolgung während des NS-Regimes erstellt worden. Als ein Versuch, dieses Geschehen in seinen konkreten alltagsgeschichtlichen Zusammenhängen aufzuspüren und deshalb auch besser nachvollziehbar zu machen, haben schon die bisher veröffentlichten Resultate des Projekts erfreuliche Resonanz erfahren und auch manche Nachahmung angeregt. Den Herausgebern und Autoren wie den Projektförderern und -partnern, dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus \und den Staatlichen Archiven Bayerns, denen an dieser Stelle noch einmal herzlich' zu danken ist, kann kein schönerer Lohn zuteil werden als der, daß sich die Bände dieser Reihe auch in Zukunft behaupten als ein grundlegendes Werk zur politischen Gesellschaftsgeschichte der NS-Zeit. München, im Mai 1983 Martin Broszat
HARTMUT M E H R I N G E R
Die KPD in Bayern 1919-1945 V O R G E S C H I C H T E , V E R F O L G U N G UND W I D E R S T A N D
VORBEMERKUNG
Die folgende Studie befaßt sich mit dem Widerstand der K P D gegenüber dem NSRegime im rechtsrheinischem Bayern 1933 bis 1945. Eine bilanzierende Darstellung des Widerstandshandelns und der Verfolgung von Kommunisten in diesem begrenzten Raum war ein Hauptziel der Untersuchung; unter diesem Gesichtspunkt versteht sich die Arbeit auch als weiterer Beitrag zur regionalen Erforschung des Widerstands der Arbeiterbewegung gegen den Nationalsozialismus1, die in der Bundesrepublik Deutschland bekanntlich mit Verspätung in Gang gekommen ist. Ein halbes Jahrhundert nach dem Beginn und knapp vier Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes konnte sich das historische Erkenntnisinteresse freilich nicht mehr mit der Auflistung und Schilderung stattgehabter Widerstandsaktionen sowie der Verfolgungs- und Repressionsmaßnahmen von Seiten des Regimes begnügen. Die Untersuchung mußte über eine in gewissermaßen kriminalistischer Kleinarbeit erstellte Rekonstruktion illegaler Gruppen, ihrer konspirativen Techniken und Kurierverbindungen, ihres Literaturschmuggels und ihrer Propagandaaktionen im Untergrund hinausreichen. Im Sinne inzwischen neu entwickelter historischer Fragestellungen und als Antwort auf die vielfach zu beobachtende Unfähigkeit der jüngeren Generation, die Lebenswirklichkeiten im Dritten Reich zu begreifen, lag es nahe, stärker auf Motivationsstruktur und sozialen Hintergrund von Widerstand in der NSZeit einzugehen.
1
Hochmuth, Ursel: Faschismus und Widerstand 1933-1945. Ein Verzeichnis deutschsprachiger Literatur. Frankfurt 1973; Klotzbach, Kurt: Bibliographie zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 1914-1945. Bonn-Bad Godesberg 1974; Büchel, Regine: Der deutsche Widerstand im Spiegel von Fachliteratur und Publizistik seit 1945. Bericht und Bibliographie. München 1975; Goguel, Rudi: Antifaschistischer Widerstand und Klassenkampf. Die faschistische Diktatur 1 9 3 3 - 1 9 4 5 und ihre Gegner. Bibliographie deutschsprachiger Literatur aus den Jahren 1945-1973. Berlin(-Ost) 1976; van Laak, Ursula: Bibliografie zur Geschichte von Widerstand und Verfolgung in Bayern 1 9 3 3 - 1 9 4 5 . München (Institut für Zeitgeschichte) 1978.
2
Hartmut Mehringer
Ungeachtet aller politischen und weltanschaulichen Extreme des Dritten Reichs sind die 12 Jahre nationalsozialistischer Herrschaft ein Teilstück der deutschen Geschichte, das mit dem Vorher und Nachher in unlöslichem Zusammenhang steht und mit denselben historischen Methoden untersucht und unter denselben Kategorien betrachtet werden muß. Trotz aller bleibenden Betroffenheit durch Massenterror, „Endlösung" und menschenverachtende Wertezerstörung durch das NS-Regime ermöglicht die zunehmende zeitliche Distanz eine auch bei der Untersuchung des Widerstands gebotene nüchterne und historisch-kritische Sichtweise. Eine für manche ehemaligen Hitler-Gegner vielleicht schmerzhafte Operation muß es dabei sein, das damalige Handeln unter zeitgenössischen Bezügen darzustellen und aus zweckhafter Einbindung in parteipolitische oder staatliche Legitimations- und Traditionsbedürfnisse herauszulösen. Die seit einigen Jahren in Gang gekommene Diskussion um die Neubewertung der Frage: Was ist Widerstand? 2 legt es darüber hinaus nahe, Widerstandsverhalten aus seiner kategorialen Einengung auf bewußte „antifaschistische" Fundamentalopposition zu lösen und durch die Zuordnung des Begriffs Resistenz im Sinne einer Sozialgeschichte oppositionellen Verhaltens neu zu fassen. Weil bei kommunistischem Widerstand in diesem Zusammenhang weltanschaulich begründete Fundamentalopposition vorausgesetzt wird, konnten von der Frage nach seinem konkreten gesellschaftlichen Hintergrund und nach individualgeschichtlich bedingten Motivationen die eigentlich innovativen und weiterführenden Ergebnisse einer solchen Untersuchung erwartet werden. Unter diesen Gesichtspunkten erwies es sich als unumgänglich, der Untersuchung des KPD-Widerstands während der NS-Zeit eine umfängliche Darstellung der Entstehung und Entwicklung der K P D in Bayern ab 1919 voranzustellen, um insbesondere die wirtschaftsgeographischen, sozialstrukturellen und konfessionell-politischen Bedingungszusammenhänge herauszuarbeiten, in denen sich - quantitativ wie qualitativ durchaus unterschiedlich - das Wachstum der Partei und die Herausbildung kommunistischer Sondermilieus abspielten. Da sozialstatistisch verwertbare Daten zur Mitgliedschaft der bayerischen K P D aus den Jahren 1919 bis 1933 kaum vorhanden sind, konnten nur bestimmte Tendenzen und Konstanten aufgezeigt werden, die die Partei und ihr soziales Umfeld in Bayern bestimmten. Die vorliegende Literatur 3 hilft hier nur begrenzt weiter: Neben zahlreichen Arbeiten und Spezialstudien zur Räterepublik in Bayern und zur Rolle der bayerischen K P D im Frühjahr 1919 - eine fundierte Gesamtdarstellung steht allerdings auch hier noch aus - und den Lokaluntersuchungen von Gerhard Hetzer über die Industriestadt Augsburg sowie von Klaus Tenfelde über die Bergarbeiterkommune
2
Hüttenberger, Peter: Vorüberlegungen zum „Widerstandsbegriff". In: Kocka, Jürgen (Hrsg.): Theorien in der Praxis des Historikers. Göttingen 1977, S. 1 1 7 - 1 3 9 ; Peukert, Detlev: Die K P D im Widerstand. Verfolgung und Untergrundarbeit an Rhein und Ruhr. Wuppertal 1980, S. 1 4 - 2 8 ; Broszat, Martin: Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojekts. In: Bayern in der NS-Zeit Bd. IV. München-Wien 1981, S. 6 9 1 - 7 0 9 ; Löwenthal, Richard: Widerstand im totalen Staat. In: Löwenthal, Richard/von zur Mühlen, Patrik: Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945. Berlin-Bonn 1982, S. 11-24.
3
Allgemein siehe Weber Hermann: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der K P D in der Weimarer Republik. Bd. 1 und 2, Frankfurt 1969.
3
Die K P D in Bayern 1919-1945
Penzberg/Oberbayern 4 liegt nur die Studie von Ulrich Neuhäußer-Wespy 5 über den Parteibezirk 6 Nordbayern 1 9 1 9 - 1 9 3 3 vor, deren Erkenntnisinteresse primär organisationsgeschichtlicher Natur ist. Grundlage für die Skizze der Ausgangsbedingungen und der Entwicklung der K P D und der kommunistischen Nebenorganisationen sowie ihres sozialen Umfelds bilden vor allem Quellen staatlicher Provenienz : die fundierten und im allgemeinen von intimer Sachkenntnis zeugenden
Lageberichte der Polizeidirektionen
München
und
Nürnberg-Fürth, Berichte und andere Unterlagen der bayerischen Bezirks- (bzw. später Landrats-)Ämter in den bayerischen Staatsarchiven u. a. m. A u c h die Darstellung des kommunistischen Widerstands in Bayern nach 1 9 3 3 fußt überwiegend auf der Auswertung von Polizei- und Justizakten. Neben erhalten gebliebenen
Verfahrensakten
bayerischer
Hochverratsfälle
vor
dem
Volksgerichtshof
(VGH) 7 sind hier vor allem die - leider ebenfalls zu großen Teilen durch Kriegseinwirkungen vernichteten - A k t e n des Oberlandesgerichts ( O L G ) M ü n c h e n 8 anzuführen, das zentral 9 für alle bayerischen H o c h - und Landesverratsverfahren zuständig war, soweit sie nicht der Oberreichsanwalt an sich zog und vor d e m Volksgerichtshof zur A n klage brachte; ferner die Verfahren vor den Sondergerichten München, Nürnberg und Bamberg 1 0 . Wertvolle Quellen bildeten auch die erhaltenen umfänglichen Berichte der Bayerischen Politischen Polizei: Im März bzw. April 1 9 3 3 als sachlich abgezweigte Landeszentralbehörde in Bayern unter H i m m l e r und Heydrich geschaffen, lag ihre
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rieht Bamberg für Oberfranken und Unterfranken. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß die Hetzer, Gerhard: Die Industriestadt Augsburg. Eine Sozialgeschichte der Arbeiteropposition. In: Bayern in der NS-Zeit Bd. III, München-Wien 1981, S. 1 - 2 3 3 ; Tenfelde, Klaus: Proletarische Provinz. Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900 bis 1945. In: Bayern in der NS-Zeit Bd. IV, a.a.O. S. 1-382. Neuhäußer-Wespy, Ulrich: Die K P D in Nordbayern 1919-1933. Ein Beitrag zur Regionalund Lokalgeschichte des deutschen Kommunismus. Nürnberg 1981. Das rechtsrheinische Bayern bestand aus sieben Regierungsbezirken und gliederte sich auf der darunter liegenden Verwaltungsebene in 143 (Amts-)Bezirke, die späteren Landkreise. Sie dürfen nicht verwechselt werden mit den (Partei-)Bezirken bzw. -Unterbezirken, in die sich die Parteiorganisationen von K P D und S P D untergliederten. Die erhalten gebliebenen und zugänglichen Hochverratsverfahren bayerischer Provenienz vor dem Volksgerichtshof wurden im Lauf des Bayern-Projekts im Institut für Zeitgeschichte systematisch gesammelt. Soweit noch nicht in das Archiv des Instituts für Zeitgeschichte übernommen, werden sie im Folgenden lediglich nach ihrem Aktenzeichen zitiert. Soweit erhalten, befinden sich diese Akten noch in der Registratur des OLG München. Sie sind durch ein von der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns im Rahmen des gemeinsamen Projekts „Widerstand und Verfolgung in Bayern 1 9 3 3 - 1 9 4 5 " herausgegebenes Spezialinventar erschlossen. In Bayern existierte zunächst als oberster Gerichtshof das Bayerische Oberste Landesgericht, das am 1. April 1935 als „dem nationalsozialistischen Zentralismus entgegenstehendes föderalistisches Relikt" aufgelöst wurde. Seine Aufgaben gingen teils auf das Reichsgericht in Leipzig, teils auf das OLG München über, das auch die Registratur übernahm und zentral für Hoch- und Landesverratsdelikte in Bayern zuständig war, die nicht der Oberreichsanwalt an sich zog. Aus Gründen der Einheitlichkeit sind die entsprechenden Verfahren im Folgenden auch vor dem 1.4.1935 immer als Verfahren des OLG München angegeben. Die Sondergerichte, gegen deren Entscheidungen es kein Rechtsmittel gab, wurden im März 1933 durch Verordnung der Reichsregierung geschaffen; sie waren jeweils für den Gerichtsbezirk eines Oberlandesgerichts zuständig, also das Sondergericht München für Schwaben, Oberbayern und den größten Teil Niederbayerns, das Sondergericht Nürnberg für Mittelfranken, die Oberpfalz und an die Oberpfalz angrenzende Bezirke Niederbayerns, das Sonderge-
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Hauptaufgabe in der sog. „Gegnerbekämpfung". Unter der Münchner Zentralpolizeistelle besaßen die Dienststellen der Bayerischen Politischen Polizei in Augsburg, Regensburg, Nürnberg-Fürth und Würzburg eigene regionale Zuständigkeiten und wurden im Jahr 1936 bei der Reorganisation und Zentralisierung der Politischen Polizei im Reichsmaßstab als Staatspölizeistellen unmittelbar dem Geheimen Staatspolizeiamt (Gestapa) bzw. 1939 dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) unterstellt, wenngleich die 1936 neu geschaffene Gestapoleitstelle München als Landeszentralbehörde der Gestapo in Bayern ihnen gegenüber gewisse übergeordnete Zuständigkeiten beibehielt 11 . Die Problematik, die darin liegt, daß die Darstellung wesentlich auf Quellen beruht, die von Verfolgerseite stammen, ist eine bekannte und oftmals erörterte grundsätzliche Schwierigkeit der Widerstandsforschung, die kritische Wachsamkeit gegenüber den Quellen verlangt. Die Notwendigkeiten der Konspiration verhinderten im allgemeinen, daß politische Arbeit im Untergrund in schriftlichen Quellen ihren Niederschlag fand, und diesem Mangel ist nur sehr beschränkt durch die Erinnerungen Beteiligter - nach vierzig und mehr Jahren - abzuhelfen. Aus diesem Grund erschien es methodisch in der Regel nicht vertretbar, aufwendige Versuche zu unternehmen, staatliche Uberlieferungen durch Interviews en détail zu ergänzen. Neben den bereits zitierten Untersuchungen von Hetzer und Tenfelde über Augsburg bzw. Penzberg konnten weitere Lokaluntersuchungen über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus herangezogen werden: Die Arbeit von Heike Bretschneider über München, von Helmut Beer über Nürnberg, die Erinnerungssammlung von Hermann Schirmer, ebenfalls über Nürnberg, sowie die Studie von Ludwig Fiber über das nordöstliche Oberfranken, die in Zusammenhang mit dem „Bayern-Projekt" entstanden ist 12 . Die Titel illegaler Tarnschriften wurden nach dem von Heinz Gittig erstellten Verzeichnis 13 aufgelöst. Die Angaben zu Einwohnerzahlen stammen aus Müllers Großes Deutsches Ortsbuch 14 , dem die Daten aus der Volkszählung aus dem Jahr 1933 zugrundeliegen. Grenzen der Zuständigkeitsbereiche der Oberlandesgerichte nicht immer genau mit den Grenzen der Regierungsbezirke und auch der Amtsbezirke übereinstimmten, so daß in einigen Fällen für verschiedene Teile ein und desselben Amtsbezirks bzw. Landkreises zwei Oberlandes- und Sondergerichte zuständig sein konnten (vgl. dazu allgemein: Handbuch der Justizverwaltung. Berlin 1942). Die - großteils erhaltenen - Verfahrensakten des Sondergerichts München liegen im Staatsarchiv München und sind durch ein Spezialinventar erschlossen, die Akten des Sondergerichts Nürnberg, die zu großen Teilen durch Kriegseinwirkungen verloren gingen, befinden sich im Staatsarchiv Nürnberg; die dortigen Erschließungsarbeiten sind abgeschlossen. Die Akten des Sondergerichts Bamberg sind nicht archivisch erschlossen und liegen noch in der Registratur des OLG Bamberg. " Aronson, Shlomo: Reinhard Heydrich und die Frühgeschichte von Gestapo und SD. Stuttgart 1971, S. 9 4 - 1 0 3 ; StA München, Pol. Dir. München Nr. 6954. 12 Bretschneider, Heike: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933 bis 1945. München 1968; Beer, Helmut: Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Nürnberg 1933-1945. Nürnberg 1976; Schirmer, Hermann: Das andere Nürnberg. Antifaschistischer Widerstand in der Stadt der Reichsparteitage. Frankfurt 1974; Eiber, Ludwig: Arbeiter unter der NS-Herrschaft. Textil- und Porzellanarbeiter im nordöstlichen Oberfranken 1 9 3 3 - 1 9 3 9 . München 1979. 1 3 Gittig, Heinz: Illegale antifaschistische Tarnschriften 1 9 3 3 - 1 9 4 5 . Leipzig 1972. 1 4 Wuppertal-Barmen 1938.
Die KPD in Bayern 1919-1945
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Den Mitarbeitern von Archiv und Bibliothek des Instituts für Zeitgeschichte, zahlreichen Mitarbeitern der Staatlichen Archive Bayerns und den Registraturbeamten des Oberlandesgerichts München sowie der Landgerichte München I und München II und des Amtgerichts München danke ich für Hilfe bei der Bereitstellung von Quellen und freundliche Betreuung. Für kritische Lektüre und zahlreiche Uberarbeitungs- und Verbesserungsvorschläge schulde ich Dank Martin Broszat, dem Leiter des „BayernProjekts" und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, sowie meinem Kollegen Werner Röder, dessen freundschaftlicher Diskussionsbereitschaft und sachkundiger Anregung ich mir stets sicher sein konnte.
I . D I E BAYERISCHE K P D IN DER WEIMARER REPUBLIK
1. Revolution und Räterepublik
Auch in Bayern entstand die K P D Anfang 1919 im Gefolge der tiefgreifenden sozialen und politischen Erschütterungen, denen das gesellschaftliche Gefüge Bayerns und des Deutschen Reichs vor allem durch die beiden letzten Jahre des Ersten Weltkriegs und schließlich die militärische Niederlage ausgesetzt war. Wachsende Kriegsmüdigkeit, Hunger, wirtschaftliche Entbehrungen und nicht zuletzt der Verlust des gesicherten Selbstverständnisses breiter Teile der bayerischen Bevölkerung hatten den Erosionsprozeß der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Institutionen beschleunigt und ihre Glaubwürdigkeit und Herrschaftsautorität in zunehmendem Maß in Frage gestellt1. Der Krieg war Katalysator und Akzelerator in einem, der die schon lange voranschreitenden Strukturwandlungen innerhalb der bayerischen - und der deutschen - Gesellschaft verstärkt, breiten Massen sichtbar und erfahrbar gemacht und schließlich im Moment der militärischen Niederlage die für die Auslösung der revolutionären Explosion notwendige kritische Masse hervorgebracht hatte. Die bayerische K P D formierte sich im Verlauf des durch Kapitulation und Abdankung der kaiserlichen und der königlichen Regierungen ausgelösten revolutionären Prozesses. Sie konnte, wie die Ereignisse der folgenden Monate zeigen, nicht nur in München, sondern auch in größeren und kleineren Städten Bayerns Fuß fassen und sich eine Reihe von Stützpunkten schaffen.
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Vgl. dazu insbesondere den von Karl Bosl herausgegebenen Sammelband: Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen. München-Wien 1969, sowie Albrecht, Willy: Landtag und Regierung in Bayern am Vorabend der Revolution von 1918. Studien zur gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung Deutschlands von 1 9 1 2 - 1 9 1 8 . Berlin 1968; Ay, Karl-Ludwig: Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des ersten Weltkriegs. Berlin 1968.
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Die ersten organisatorischen Ableger des Spartakusbundes bildeten sich im November 1918 in Ingolstadt und in Burglengenfeld2 und im Dezember 1918 in München und Nürnberg; die Parteigründung erfolgte in München unmittelbar nach der Gründungskonferenz der KPD (Spartakusbund) in Berlin (31.12.1918-1.1.1919); die erste Nummer der Münchener Roten Fahne erschien am 15. Januar 1919. In Nürnberg wurde im Februar 1919 eine Ortsgruppe der KPD gegründet, deren überlieferte Mitgliederzahl - angeblich über 500 - allerdings zu hoch gegriffen scheint3. In München bildete die Partei zunächst »ein Konglomerat von eifrigen, begeisterten Leuten mit höchst vagen politischen Ideen«, das nichtsdestoweniger im politischen Leben Münchens mit seiner »lebenslustige(n), leicht entflammbare(n) Bevölkerung mit einem guten Schuß von Künstlern und Eigenbrödlern«4 im Frühjahr 1919 eine zentrale Rolle spielen konnte. Objektive Situation wie Selbstverständnis der jungen KPD verdeutlicht ein Organisationsentwurf der KPD-Ortsgruppe München vom März 1919: Die Verfasser beklagen sich darüber, daß der Aufbau der Parteiorganisation deshalb besonders schwierig sei und viele Kinderkrankheiten durchmachen müsse, »weil auf dem Boden Münchens und überhaupt Bayerns die revolutionäre Tradition« fehle und eine Opposition zur »alten reformistischen Parteimaschine« der SPD sich nicht formiert habe5, so daß die KPD »aus dem Boden Münchens und Bayerns in ... wenigen Wochen buchstäblich herausgestampft« werden mußte6. Nichtsdestoweniger konnte die KPD in Bayern in der politischen Ausnahmesituation der ersten Monate des Jahres 1919 binnen kurzer Frist zum eigentlichen Exponenten des »bayerischen Radikalismus«7 werden, und zwar durchaus nicht nur in München; den Höhepunkt ihres Einflusses bildete die sogenannte zweite, die kommunistische Räterepublik im April 1919, die in München wesentlich von der KPD unter Führung von Eugen Leviné getragen wurde. Laut polizeilichen Angaben umfaßte die KPD zu diesem Zeitpunkt allein in München knapp 2900 Mitglieder8; der Herrschaftsbereich der kommunistischen Räterepublik reichte jedoch durchaus über München hinaus. Vor allem im bayerischen Ober2
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Mitteilung von Herrn Hermann Kopp, München, der eine Arbeit über die K P D im Parteibezirk Südbayern 1919 bis 1933 (Erscheinen vermutlich 1984) vorbereitet und dem ich für eine Reihe von Hinweisen danke. Die KPD-Gruppe Burglengenfeld, die Anfang 1919 eigene Mitgliedskarten (als KPD/Spartakusbund) ausgab, hatte interessanterweise erst ab August (!) 1919 Verbindung mit der KPD-Zentrale bzw. dem Bezirkssekretariat in München; vgl. dazu StA München, Staatsanwaltschaft München, Nr. 2 8 7 0 b. Schwarz, Klaus Dieter: Weltkrieg und Revolution in Nürnberg. Stuttgart 1971, S. 319; Neuhäußer-Wespy, Ulrich: Die K P D in Nordbayern 1919 bis 1933. Ein Beitrag zur Regional- und Lokalgeschichte des deutschen Kommunismus. Nürnberg 1981, S. 21. Meyer-Leviné, Rosa: Leviné. Leben und Tod eines Revolutionärs. München 1972, S. 172. Hans Kain, Gründungsmitglied der Münchener Spartakusgruppe, Delegierter auf dem Gründungsparteitag der K P D und maßgeblicher Münchener Parteiarbeiter, schätzte in einem Brief an den ersten von der Zentrale nach München delegierten Bezirkssekretär Karl Römer vom 1. August 1919 die Parteiszene in München freilich sehr viel negativer ein: »München ist furchtbar arm an wirklich revolutionären Ideen, das kommt daher, weil die einzige Tradition der Münchener Proletarier das Fressen und Saufen war, deshalb hat sich bei ihnen das revolutionäre Problem auch nur im Maul konzentriert. W o anders leben die Menschen, um zu denken, hier haben die Menschen immer nur gelebt, um zu verfaulen.! (StA München, Staatsanwaltschaft München Nr. 2119).
' Vgl. dazu Mitchell, Allan: Revolution in Bayern 1 9 1 8 / 1 9 1 9 . Die Eisner-Regierung und die Räterepublik. München 1967, S. 172 ff. 6 Organisationsentwurf der Ortsgruppe München der K P D , angenommen in der Aktionsausschußsitzung am 10. März 1919, zitiert nach: Meyer-Leviné, Rosa, a.a.O. S. 286. 7 Siehe dazu Mitchell, a.a.O. S. 304ff. 8 StA München, Staatsanwaltschaft München Nr. 2106/2.
Die K P D in Bayern 1919-1945
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land war die Bevölkerung in einer Reihe von Orten stark radikalisiert, und zu kommunistischer Machtergreifung und Ausrufung der Räterepublik kam es in Rosenheim, Kolbermoor, Miesbach, Kempten und einer ganzen Reihe weiterer Orte; das Gebiet, das die Räteregierung über ihre genannten Stützpunkte mehr schlecht als recht kontrollierte, reichte von Dachau über München weit nach Süden und von Südostbayern bis nach Schwaben 9 . Bezeichnenderweise ist dieses Gebiet nahezu deckungsgleich mit dem Einzugsgebiet der Arbeiter, die als Tages- und Wochenpendler in München arbeiteten 10 . Die Beantwortung der Frage nach sozialer Basis der KPD in Bayern sowie nach politisch-psychologischer Motivation ihrer Mitglieder und Anhänger in der revolutionären Anfangsphase, die sich hier notwendig stellt, kann aufgrund der schwierigen Quellenlage nur auf Umwegen angegangen werden. Schon die Tatsache, daß die Revolution von 1918/19 in München und Oberbayern und nicht in den nordbayerischen Städten und Regionen kulminierte, die weit mehr vom Prozeß der Industrialisierung erfaßt waren und über eine kompaktere und zahlenmäßig gewichtige Arbeiterbevölkerung verfügten, spricht gegen eine undifferenzierte Gleichsetzung der revolutionären Bewegung bzw. der Mitglieder und Anhänger der KPD mit der bayerischen oder auch nur der »Münchener Arbeiterklasse« 11 . Als Residenz- und Hauptstadt, Sitz von Behörden und Verwaltungen und als zentraler Handelsumschlagplatz war München zunächst nur in zweiter Linie Stätte industrieller Produktion, und Nürnberg spielte bis nach dem Zweiten Weltkrieg die Rolle der führenden bayerischen Industriestadt 12 . Der Anteil der Arbeiterbevölkerung an der Einwohnerzahl blieb in München während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer weit hinter den entsprechenden Verhältniszahlen von Nürnberg und Augsburg zurück: Nach einer bayerischen Berufsstatistik, die für das Jahr 1925 vorliegt, umfaßte der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung (mit Angehörigen) in der Rubrik Gewerbe in München 38,7, in Nürnberg dagegen 55,2 und in Augsburg 55,6 Prozent; vergleicht man die Zahlen der Erwerbstätigen ohne Angehörige, wird diese Differenz zwischen München und Nürnberg bzw. Augsburg noch deutlicher 13 . Moderne und expandierende Industriezweige wie Eisen-, Stahl- und Metallwarenherstellung, Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau sowie elektrotechnische und feinmechanische Industrie mit großen und arbeitskräfteintensiven Betrieben waren in München in erheblich geringerem Maß vertreten als in Augs' Siehe dazu im einzelnen: Eck, Nikolaus: Die Spartakl-Herrschaft im Bayerischen Oberland, Miesbach o.J. (1919); Karl, Josef: Die Schreckensherrschaft in München und Spartakus im bayerischen Oberland. München 1919; Gegen Spartakus in München und im Allgäu. Erinnerungsblätter des Freikorps Schwaben, zusammengestellt von (Daniel) Ritter von Pitrof. München 1937; Kögl, Otto: Revolutionskämpfe im südostbayerischen Raum. Rosenheim 1960; Hillmayr, Heinrich: Die revolutionären Ereignisse von 1918/19 in Fürstenfeldbruck. In: Amperland 6/1970, S. lOff.; Linse, Ulrich : Gemeinde im Wandel. Die Novemberrevolution 1918/19 in Burghausen. In: ZBLG 33/1970, S. 355ff.; Landgrebe, Christa: Zur Entwicklung der Arbeiterbewegung im südostbayerischen Raum. Eine Fallstudie ani Beispiel Kolbermoor. München 1980. Die Literatur über die Bayerische Räterepublik weist ansonsten eine stark München-zentrische Sicht auf; eine verläßliche Gesamtdarstellung der Revolution von 1918/19 in Bayern unter Berücksichtigung ihrer regionalen und lokalen Auswirkungen steht noch aus. 10 Hillmayr, Heinrich: München und die Revolution von 1918/19. In: Bosl, Karl (Hrsg.): Bayern im Umbruch, a.a.O. S. 458, umgrenzt dieses Einzugsgebiet mit der Verbindungslinie zwischen den Orten KemptenSchongau-Garmisch-Partenkirchen-Rosenheim-Traunstein-Pfarrkirchen-Landshut-Ingolstadt-Augsburg. " So Beyer, Hans: Von der Novemberrevolution zur Räterepublik in München, Berlin(-Ost) 1957, S. 93 u. passim. 12 Hillmayr, a. a. O. S. 459. 13 Beiträge zur Statistik Bayerns, Heft 111, München 1926. S. 75 f.
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burg und Nürnberg 14 ; darüber hinaus hatten die Klein- und Kleinstbetriebe, die mit handwerklichen Produktionsformen arbeiteten und niedrige Beschäftigungsziffern aufwiesen, in München einen bedeutend höheren Anteil an der gewerblichen Wirtschaft als in Nürnberg und Augsburg15. Gleiches gilt mutatis mutandis für Oberbayern insgesamt gegenüber den stärker industrialisierten Regierungsbezirken Ober- und Mittelfranken : In Oberbayern entfielen 32,0 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung (einschließlich Angehörigen) auf den Wirtschaftssektor Gewerbe, in Oberfranken und Mittelfranken 41,5 bzw. 41,1 Prozent 16 ; in Oberfranken arbeiteten 1925 39,7 Prozent der Beschäftigten in Großbetrieben mit mehr als 50 Belegschaftsmitgliedern, in Mittelfranken gar 44,1, in Oberbayern jedoch lediglich 34,9 Prozent 17 . Solche Zahlen können als Indiz dafür dienen, daß zur sozialen Bestimmung der revolutionären Massenbewegung, aus der die junge KPD in Bayern hervorging und der ihre Mitglieder und Anhänger angehörten, die Begriffe Arbeiterklasse und Proletariat allein nicht hinreichen. Die wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Auswirkungen des Krieges hatten das gesamte gesellschaftliche Gefüge ins Wanken gebracht und insbesondere Struktur und Bewußtsein der Arbeiterschaft in Bayern grundlegend verändert; aufgrund der Einberufungen war ihr gewerkschaftlich organisierter Stamm, »oft die tüchtigsten Gewerkschaftsmitglieder«, aus ihrem Arbeitszusammenhang gerissen und an die Front verpflanzt worden 18 , die Mitgliederzahlen fast aller Gewerkschaftsverbände sanken während des Kriegsverlaufs stark ab19. Der Arbeitskäftebedarf in den Rüstungsbetrieben hatte auf der anderen Seite zu massiver Eingliederung von Frauen und Jugendlichen in den industriellen Arbeitsprozeß geführt; Bauernknechte und landwirtschaftliche Arbeiter entzogen sich der Arbeit auf dem Land und gingen in die Fabrik, wo leichter und schneller Geld zu verdienen war; auf militärische Anordnung hin wurden im Verlauf des Krieges zahlreiche norddeutsche Arbeiter nach Bayern verbracht, um dort die Rüstungsindustrie weiter auf- und auszubauen 20 - sie neigten gegen Kriegsende ganz besonders stark zur USPD, vermutlich sowohl aufgrund politischer Tradition wie aus Protest gegen ihre gewaltsame Verpflanzung und Ghettoisierung in einer fremden Umwelt; in vielen Betrieben wurden Kriegsgefangene und Fremdarbeiter aus den besetzten Gebieten eingesetzt: Die Arbeiterschaft in Bayern war, wie von offizieller Seite festgestellt, gegen Ende des Krieges durch »ortsund berufsfremde Elemente, Frauen, Mädchen, Jugendliche, Ausländer und Kriegsgefangene« bestimmt 21 .
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Ebd. S. 77 f. ZSBSLA Jg. 59/1927, S. 88 f. Das Gewerbe in München war gekennzeichnet von einer reich gegliederten, zumeist auf kleinbetrieblicher Basis arbeitenden Veredelungsindustrie; weitere vorherrschende Branchen waren das Hotel- und Gaststätten- und das Baugewerbe, beide stark von saisonalen Schwankungen abhängig, das Hotel- und Gaststättengewerbe in den Kriegsjahren zusätzlich von der allgemeinen Lebensmittelverknappung und -teuerung stark betroffen. Siehe dazu Hillmayr, a.a.O. S. 459-416. " Beiträge zur Statistik Bayerns, Heft 111, a. a. O. S. 66. 17 ZSBSLA Jg. 59/1927, S. 37. 18 Ay, a.a.O. S. 123. " Statistisches Jahrbuch für den Freistaat Bayern 1919. München 1919, S. 280 ff. 20 Als Einzelbeispiel seien hier die im April 1916 gegründeten Wacker-Werke (Chemie) in Burghausen angeführt; vgl. dazu Linse, a.a.O. S. 361 ff. 21 Bericht Büro für Sozialpolitik in München vom 15.9.1917, zitiert nach Ay, a.a.O. S. 123. 15
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Aber nicht nur die bayerische Arbeiterschaft n a h m im Verlauf des Kriegs ein anderes Gesicht an. In besonderem Maße traf der Krieg den sogenannten Mittelstand Handwerker, Kaufleute, Angestellte usw. 22 . Viele kleine Handwerksbetriebe, vielfach Familienbetriebe, mußten ihren Betrieb einschränken oder ganz einstellen, weil der Inhaber und die mitarbeitenden männlichen Familienmitglieder, die Meister, Gesellen und Hilfsarbeiter dieser Betriebe, zum Kriegsdienst eingezogen wurden, was angesichts der raschen Steigerung der Lebenshaltungskosten in den Kriegsjahren für solche Familienbetriebe erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten mit sich brachte u n d sie oft genug ruinierte. Kleine Kaufleute litten unter den Folgen der zunehmenden Zwangsbewirtschaftung, u n d auch die Einkünfte des fest besoldeten Mittelstands reichten angesichts der Teuerung nicht m e h r zu einem - nach den früheren Ansprüchen angemessenen - wirtschaftlichen Auskommen. Ein zeitgenössischer Bericht führt an, die Angehörigen des Mittelstandes, also jene »Millionen Menschen«, deren »Einkommen sich nicht im Verhältnis mit der maßlosen Preissteigerung aller Lebensbedürfnisse erhöht« habe, stünden »zum großen Teil vor dem Zusammenbruch ihrer Existenz« und seien »zu einem wirtschaftlichen Proletariat herabgesunken, das von der Hand in den Mund lebt« 23 . Gerade von dieser gesellschaftlichen G r u p p e mußte eine solche Proletarisierung als extreme soziale Deklassierung e m p f u n d e n und folgerichtig d e m Krieg bzw. den Kriegsgewinnlern der Rüstungsindustrie u n d den herrschenden gesellschaftlichen Kräften im kaiserlichen Deutschland ganz allgemein angelastet werden; die überlieferten Stimmungsberichte 2 4 zeigen eindrucksvoll, wie stark auch innerhalb dieser Gruppe das Protestpotential anwuchs, das die revolutionäre Forderung Frieden um jeden Preis vertrat. In einem - wohl auf München bezogenen - Bericht des Kriegsministeriums unmittelbar vor Kriegsende heißt es, nach Auskunft eines Vertrauensmanns hielten sich die Arbeiter ruhiger als die Angestellten, diese seien weit radikaler und unbelehrbarer, ja fast ausnahmslos Anhänger der USPD 2 5 . Der Katalysator freilich, der diesem neu zusammengesetzten sozialen Gemisch explosiven Charakter verlieh, bestand vor allem in der schweren Ernährungskrise, die in den beiden letzten Kriegsjahren katastrophale Ausmaße annahm und durchaus mit dem Begriff Hungersnot charakterisiert werden kann; insbesondere war die Versorgung der Städte betroffen. Zwangsbewirtschaftung u n d Ablieferungspflicht und - vor allem gegen Kriegsende - rigorose staatliche Requirierungen in der Landwirtschaft führten hier auf der einen Seite zu deutlich geringeren Erträgen, auf der anderen zu Hamsterunwesen und einem ausgedehnten Schwarzmarkt, auf d e m sich aufgrund der hohen Preise nur wirklich Begüterte zusätzliche Lebensmittel verschaffen konnten. Diese Umstände förderten noch den Gegensatz zwischen Stadt und Land, der für den Verlauf der Revolution von besonderer Bedeutung war. Als letzter Faktor, von d e m vor allem die Städte - und hier besonders München betroffen waren und der vielerorts erst die eigentliche Massenbasis für die politische Umsturzbewegung Herbst 1918-Frühjahr 1919 schuf, kam schließlich ab November
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Siehe dazu ebd. S. 97 ff. Zitiert nach Ay, a.a.O. S. 99. Siehe dazu ebd. S. 94-102. Ebd. S. 102; Ay hat in seiner Arbeit nachgewiesen, daß in München - im Gegensatz zu anderen Städten und Regionen Bayerns - unter den USPD-Mitgliedern bei Kriegsende die Angehörigen des Mittelstands - Angestellte, Kaufleute, Handwerker - stärker vertreten waren als Arbeiter (ebd. S. 192 ff.).
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1918 die Demobilisierung der Armee hinzu. Über mehrere Monate hinweg zogen große Kontingente von Feldtruppen vor allem in die Landeshauptstadt, um dort aus dem Kriegsdienst in die Heimat entlassen zu werden. In der Hoffnung auf rasche und leichte Arbeit blieben viele der Entlassenen in jenen Städten, in denen sie demobilisiert wurden, auch wenn sie nicht von dort stammten, und vergrößerten hier noch das aufgrund des zu Ende gegangenen Rüstungsbooms ohnehin schon bestehende Heer von Arbeitslosen: In den Zeiten der Rüstungskonjunktur waren Arbeiter in großer Zahl vom Land in die Städte und von kleineren Städten in die Großstädte gezogen worden; nach massenhafter Entlassung Ende 1918/Anfang 1919 zeigten sie meist wenig Neigung, in ihre Herkunftsorte zurückzukehren, sondern nahmen lieber die städtische Erwerbslosenunterstützung in Anspruch. Auch hiervon war die Stadt München, die eine überdurchschnittlich hohe Erwerbslosenunterstützung ausbezahlte, besonders betroffen 26 . Die Arbeitslosigkeit setzte in München Anfang Dezember 1918 ein, in der zweiten Januarwoche 1919 betrug die Zahl der unterstützten Personen bereits über 20000, um von der dritten Februarwoche an bis über das Ende der Räteregierung hinaus nie unter 30000 zu sinken; diese Erwerbslosen bildeten das »stehende Heer der Unzufriedenen, bei dem eine radikale Agitation von links ungeteilte Zustimmung« fand 27 . Zu aus der Rüstungsindustrie entlassenen Arbeitern und demobilisierten Soldaten gesellten sich in München Flüchtlinge aus Elsaß-Lothringen, der Türkei und den Balkanländern, die in Sammeltransporten zentral nach und über München geleitet wurden : Im Februar 1919 meldeten sich »wöchentlich 1200 bis 1500 Antragsteller an den Fremdenschaltern, hauptsächlich existenzlose Personen, die ihren vorübergehenden Aufenthalt in der Regel über mehrere Monate hin ausdehnen«28. Unter diesen Bedingungen herrschte in München eine Wohnungsnot größten Umfangs, die zu Masseneinquartierungen in Schulhäusern, Hotels und schnell hingestellten Wohnbaracken und zur Einweisung von »Zwangsuntermietern« in Privatwohnungen führte - Umstände, die ihrerseits wiederum die revolutionäre Agitation beförderten 29 . Diese kurzen Bemerkungen mögen deutlich machen, daß die radikalisierten Massen, Träger der revolutionären Entwicklung 1918-1919 in Bayern, keineswegs als einheitliche Klassenbewegung in idealtypischem Sinn mißverstanden werden dürfen 30 ; sie bildeten vielmehr ein vielschichtiges Konglomerat mit sehr unterschiedlichen soziologischen und sozialpsychologischen Merkmalen: Der aus dem Militär entlassene, nach langjährigem Kriegsdienst ökonomisch ruinierte Handwerker aus der Großstadt hatte hinsichtlich sozialer Herkunft, beruflicher Erfahrung und mentaler Disposition mit dem Landarbeiter, der während des Kriegs in Rüstungsbetrieben gearbeitet hatte und nach seiner Entlassung arbeitslos weiter in der Großstadt blieb, wenig gemein sieht man ab von der Artikulation elementaren, politisch meist wenig zielklaren und bewußten sozialen Protests, der sich unterschiedslos gegen die bisherigen staatlichen 26
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Siehe dazu Lang, August: Die Entwicklung der Erwerbslosenfürsorge in München in den ersten zehn Monaten nach Eintritt der Demobilmachung (Nov. 1918-Sept. 1919). In: ZSBSLA Jg. 53/1921, S. 495-521. Vgl. auch Hillmayr, a.a.O. S. 477ff. Hillmayr, a.a.O. S. 478. Münchener Post Nr. 63 vom 17.3.1919, zitiert nach ebd. S. 477. Ebd. Allgemein dazu Kalmer, Georg: Die »Massen« in der Revolution 1918/19. Die Unterschichten als Problem der bayerischen Revolutionsforschung. In: ZBLG, Jg. 34/1971, S. 316-357.
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und gesellschaftlichen Autoritäten wandte, gegen die »Obrigkeit« in einem ganz umfassenden Sinn, zu der im katholischen Bayern auch die katholische Kirche zählte; freilich führte die Umbruchsituation der Jahre 1918-1919 gerade hier keineswegs zu einer grundsätzlichen politischen Neuorientierung: Katholisch-altbayerische Tradition und Mentalität hatten in Südbayern - im Gegensatz zu den überwiegend protestantischen Regionen Mittel- und Oberfrankens, wo man sich stärker nach Berlin und Mitteldeutschland denn nach München orientierte und wo deutsches Nationalbewußtsein und das Gefühl der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich der im Süden weithin vorherrschenden bayerischen Sondermentalität wenig Raum ließen - auch innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung schon vor dem Weltkrieg zu deutlich antizentralistischer und antipreußischer Einstellung geführt 31 ; sie behielten auch im Widerstand gegen die Herrschaftsinstitution Kirche ihre prägende Wirkung, machte man doch vor allem das preußisch-protestantische kaiserliche Regime für die gegenwärtige Lage verantwortlich. Zwischen Katholizität, Radikalität des Sozialprotests und Stärke der KPD in München und Oberbayern bestand ein enger Zusammenhang, der auch für die weitere Entwicklung gültig bleiben sollte. Dies ist nicht unbedingt eine bayerische Besonderheit: Auf die überdurchschnittlich starke Stellung der KPD innerhalb katholischer Arbeiterbevölkerung und in Regionen, in denen der traditionelle agrarisch-mittelständische Lebenszusammenhang durch den Einbruch des Industriezeitalters zerstört oder zumindest bedroht war, wurde schon mehrfach hingewiesen32. Als Resumé sei festgehalten, daß sich Wähler, Mitglieder und Anhänger der beiden revolutionären Parteien USPD und KPD aus dem hier skizzierten Reservoir einer radikalisierten, als Ganzes politisch amorphen sozialen Protestbewegung rekrutierten, deren Führer und Bezugspersonen nicht zufällig großenteils aus dem Schwabinger Literaten·, Künstler- und Intellektuellenmilieu stammten. Zuverlässige Zahlenangaben lassen sich aus leicht einsichtigen Gründen nicht machen, doch dürften große Teile dieses Protestpotentials in der Zeit des revolutionären Umbruchs im Frühjahr 1919 für die gegenüber den USPD-Losungen radikaleren und politisch präziseren Parolen und Forderungen der KPD empfänglich und mobilisierbar gewesen sein, zumal die KPD als zusätzliche Legitimation die siegreiche Revolution in Rußland und das kommunistische Räteungarn im Rücken hatte 33 und traditionellen Parteischranken in solchen Zeiten revolutionärer Emphase ohnehin keine allzu große Bedeutung zukam. Auf die Geschichte der Räterepublik selbst kann in diesem Rahmen nicht weiter eingegangen werden 34 . Ihre Zerschlagung Ende April/Anfang Mai 1919 durch 31
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Allgemein dazu Hirschfelder, Heinrich: Die bayerische Sozialdemokratie 1864-1914. Erlangen 1979, T. II, S. 457 ff., 527 ff., 555 ff.; siehe auch weiter unten, S. 308 f. Siehe dazu etwa Plum, Günter: Gesellschaftsstruktur und politisches Bewußtsein in einer katholischen Region 1928-1933. Untersuchungen am Beispiel des Regierungsbezirks Aachen. Stuttgart 1972, S. 31 ff. Vgl. dazu allgemein Neubauer, Helmut: München und Moskau 1918/19. Zur Geschichte der Rätebewegung in Bayern. München 1958, S. 88 f., sowie ders. (Hrsg.): Deutschland und die russische Revolution. Stuttgart 1968. Hier sei - neben den bereits genannten Arbeiten und Erinnerungsberichten verwiesen auf: Werner, P. (d.i. Paul Frölich): Die Bayerische Räterepublik. Tatsachen und Kritik. Leipzig 1920 2 ; Escherich, Georg: Der Kommunismus in München. München 1921; Müller (gen. Müller-Meiningen), Emst: Aus Bayerns schwersten Tagen. Erinnerungen und Betrachtungen aus der Revolutionszeit. Berlin 1923; Meyer-Leviné, Rosa: Aus der Münchner Rätezeit. Berlin 1925; Wollenberg, Erich: Als Rotarmist vor München. Berlin 1929; Kanzler, Rudolf: Bayerns Kampf gegen den Bolschewismus. Geschichte der bayerischen Einwohnerwehren. München 1931; Schucker, Rudolf: Rotmord über München. Berlin 1934; Hofmiller, Josef: Revolutionstage-
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Reichswehr und Freikorps, gefolgt von brutalem weißen Terror gegen die »Spartakisten« und einer drakonischen Rechtsprechung durch Standgerichte, die die Exponenten der Räterepublik zumeist mit hohen Zuchthausstrafen belegten 35 , hatte unmittelbar zur Folge, daß die junge KPD gerade ihre aktivsten und erfahrensten und deshalb in der revolutionären Bewegung am meisten exponierten Vertreter verlor. Aber auch die langfristigen politischen Auswirkungen können kaum überschätzt werden. Die Erinnerung an die Rätezeit, die Radikalisierung des öffentlichen Lebens und die blutigen Gewalttätigkeiten des Frühjahrs 1919 hatten in der politischen Landschaft Bayerns unüberbrückbare Gräben aufgerissen und die jenseits der Mehrheitssozialdemokratie stehende politische Linke im Grunde aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die KPD blieb zunächst - vor allem im Bereich der Polizeidirektion München - unter den Bedingungen von Belagerungs- bzw. Kriegszustand bis März 1920 faktisch in der Illegalität; auch nach Aufhebung des Kriegszustands sah sie sich in ihrer Publikations- und Versammlungstätigkeit regierungsamtlicher Verordnungs- und Genehmigungspraxis unterstellt, die es ihr kaum erlaubte, ihre politischen Möglichkeiten auf legalem Wege einzusetzen 36 .
35
36
buch 1918/19. Leipzig 1938; Kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt des Heeres (Hrsg.): Die Niederwerfung der Räteherrschaft in Bayern. Berlin 1939; Raatjes, J o h n : The Role of Communism During the Munich Revolutionary Period November 1918-May 1919· Diss.phil. masch. Roosevelt University 1952; Dorst, Tankred (Hrsg.): Die Münchner Räterepublik. Frankfurt 1966; Morenz, Ludwig: Revolution und Räteherrschaft in München. München-Wien 1968; Kritzer, Peter: Die bayerische Sozialdemokratie und die bayerische Politik 1918 bis 1923. München 1969; Schmölze, Gerhard (Hrsg.): Revolution und Räterepublik 1918/19 in Augenzeugenberichten. Düsseldorf 1969; Fenske, Hans: Konservativismus und Rechtsradikalismus in Bayern nach 1918. Bad Homburg v.d. H. - Berlin-Zürich 1968; Hillmayr, Heinrich: Roter und weißer Terror in Bayern nach 1918. München 1974; Hofer, Elisabeth: Die K P D in Bayern von der Novemberrevolution 1918/19 bis zum Ende der Regierung Kahr 1921. Magisterarbeit Univ. München (Ms.) 1977. Aus der Sicht der DDR-Historiographie: Beyer, Hans: Von der November-Revolution zur Räterepublik in München. Berlin(-Ost) 1957; Könnemann, Erwin: Einwohnerwehren und Zeitfreiwilligenverbände beim Aufbau eines neuen imperialistischen Militärsystems (November 1918 bis 1920). Berlin(-Ost) o.J. (1969), S. 146 ff. Allgemein zu den Räten siehe Kolb, Eberhard: Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918-1919. Düsseldorf 1962; Kluge, Ulrich: Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/19. Göttingen 1975; Oertzen, Peter von: Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution 1918/19. Düsseldorf 1976 2 ; eine Dissertation von Martin Müller über die Bauernräte in Franken steht vor dem Abschluß. Z u r neuen Literatur siehe Kluge, Ulrich: Krisen des politischen und sozialen Wandels in Deutschland zwischen Kaiserreich und Republik. Bemerkungen zu jüngsten Beiträgen der neueren westdeutschen Revolutions- und Räteforschung: In: Archiv für Sozialgeschichte, Jg. XVIII/1978. Allgemein Schwarz, Albert: Die Zeit von 1918-1933. Erster Teil: Der Sturz der Monarchie. Revolution und Rätezeit. Die Einrichtung des Freistaates (1918-1920). In: Spindler, Max (Hrsg.): Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4: Das neue Bayern 1800-1970, 1. Teilbd., München 1974, S.386-453, mit der zentralen Literatur. Eugen Levine und andere wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet; laut einer bei Gumbel, Emil Julius: Vier Jahre politischer Mord. Berlin 1922, S. 96, zitierten, vermutlich nicht vollständigen Aufstellung des Rechtsausschusses des Reichstags wurden über 2000 Personen wegen Beteiligung an der Rätebeweguung zu Zuchthaus-, Gefängnis- und Festungsstrafen verurteilt. Eine Aufstellung der Polizeidirektion München vom 2. Juni 1919 (BayHStA, MA 99902, zitiert nach Kritzer, a.a.O. S. 128) führt 557 Tote im Verlauf der Niederschlagung der Räterepublik allein in München an: 145 fielen während der Kämpfe, 186 wurden standrechtlich erschossen und 227 'Verunglückten., d.h. sie wurden von Soldaten und Freikorps-Mitgliedern, oft auf bloße, nicht weiter nachgeprüfte Denunziationen hin, erschossen oder buchstäblich totgeschlagen. Die Gesamtzahl der durch Freikorps und Regierungstruppen Ermordeten lag freilich mit Sicherheit noch um einiges höher: vgl. dazu die detaillierte Aufstellung bei Hillmayr, Heinrich: Roter und weißer Terror in Bayern nach 1918, a.a.O. S. 149ff. Vgl. dazu Neuhäußer-Wespy, a.a.O. S. 21-80 und passim.
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2. Die Parteibezirke Südbayern und Nordbayern
Unter diesen Bedingungen begann in der zweiten Hälfte des Jahres 1919, ausgehend von München und Nürnberg, der Aufbau der Bezirksorganisationen Südbayern und Nordbayern; aufgrund staatlicher Repressionsmaßnahmen im Gefolge des Kapp-Putsches 1920, der sogenannten Märzaktion 1921 und der Aufstandsversuche im Herbst 1923, die der KPD in Bayern ein Verbot bis Anfang 1925 einbrachten, erlitt er allerdings immer wieder einschneidende Rückschläge. In diesen ersten fünf Jahren der KPD gab es kaum Phasen einer »normalen« und kontinuierlichen Parteientwicklung innerhalb eines legal abgesicherten Spielraums. Bis zur Vereinigung mit dem linken Flügel der USPD Ende 1920 war die Partei - von einigen Hochburgen abgesehen wohl wenig mehr als eine politische Sekte, was sich sowohl aus den überlieferten Mitgliederzahlen wie den Wahlergebnissen ablesen läßt. Laut polizeilichen Angaben umfaßte die KPD in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 in Südbayern rund 500, in Nordbayern etwa 3000 Mitglieder und im Jahr 1920 zählten beide Bezirke zusammen 3500 Mitglieder37; auch bei dieser Zahl dürfte der größere Teil auf Nordbayern entfallen38. Der hohe regionale Zahlenunterschied im Jahr 1919 liegt wesentlich wohl in der Tatsache begründet, daß die Partei in Südbayern von der Niederschlagung der Räterepublik und den sich daran anschließenden Verfolgungs- und Unterdrückungsmaßnahmen erheblich härter getroffen wurde als in Nordbayern. Eine Aufstellung in der Neuen Zeitung9 führt im Herbst 1920 allerdings bereits wieder 32 Ortsgruppen in Oberbayern und Schwaben an40. Die Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 brachten der KPD im Parteibezirk Nordbayern, der, von wenigen kleinräumigen Gebietsverschiebungen abgesehen, die Regierungsbezirke Oberpfalz, Mittel-, Ober- und Unterfranken sowie den damaligen Freistaat Coburg umfaßte, nicht ganz 17 000 Stimmen (1,3 Prozent), in Südbayern mit den Regierungsbezirken Oberbayern, Niederbayern und Schwaben fast 40000 Stimmen (2,9 Prozent)41, wobei auf München mit knapp 25000 Stimmen - absolut gesehen dem besten Ergebnis der KPD insgesamt - der Löwenanteil entfiel 42 .
37 38
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Hartmut Mehrínger
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1
Rundschreiben der Landesleitung Bayern der Roten Hilfe (Quelle: OLG München, OJs 43,87/33, beschlagnahmt am 4. 3. 1933 bei Johann Kuck).
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Die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO), gegründet im Zuge der sogenannten ultralinken Wendung der KPD nach dem VI. Weltkongreß der Komintern 1928 und dem 12. Parteitag der KPD 1929164 und als Gegengewicht zu den primär sozialdemokratisch bestimmten, im ADGB zusammengeschlossenen Freien Gewerkschaften gedacht, konnte in Bayern, von Ausnahmen wie der Porzellanindustrie in Selb abgesehen 165 , organisatorisch erst ab Anfang 1931 Fuß fassen166. Für die Betriebsrätewahlen im Frühjahr 1930 wurden in Nordbayern nur 11 »rote Listen« aufgestellt, und bei den Betriebsrätewahlen bei der Deutschen Reichsbahn in Bayern entfielen von den knapp 40 000 abgegebenen Stimmen auf die kommunistische Opposition nur etwas über 1000 Stimmen, was sich ein Jahr später immer noch nicht wesentlich zugunsten der RGO geändert hatte: Bei den Wahlen im Mai 1931 entfielen bei rund 35000 Wahlberechtigten auf die RGO 1762 Stimmen, auf die ADGB-Liste rund 17 500 und die christliche Liste rund 12 000 Stimmen 167 . Im Lauf des Jahres 1931 stieg die Mitgliederzahl der RGO in Südbayern von rund 1900 auf rund 3000, in Nordbayern von rund 1700 auf knapp 3500, von denen in beiden Bezirken allerdings Ende 1931 nicht einmal die Hälfte abgerechnet hatte; 27 Betriebsgruppen der RGO bestanden Ende 1931 in Nordbayern, 35 in Südbayern, dazu kamen 5 bzw. 1 Erwerbslosengruppe 168 . Anfang 1932 umfaßte die RGO in Südbayern rund 2800 Mitglieder, von denen 1800 abgerechnet hatten 169 . RGO-Leiter in Südbayern war der Parteisekretär Georg Limmer (Jahrgang 1902), in Nordbayern der Metalldrücker Anton Hausladen (Jahrgang 1894)170. In Bayern blieb die RGO bis 1933 nur ein gewerkschaftliches Anhängsel der Parteiorganisation; von lokalen und berufsspezifischen Ausnahmen, wie der starken Position der RGO in der Porzellanindustrie in Selb oder der relativen Stärke (1700 Mitglieder im Frühjahr 1932) des der RGO angeschlossenen Einheitsverbands für das Baugewerbe in Südbayern unter dem Vorsitz von Franz Xaver Schwarzmüller171 abgesehen, konnte die RGO nirgends ein wirkliches Gegengewicht zu den Einzelgewerkschaften des ADGB bilden und brachte mit ihrer Taktik des Zweifrontenkriegs gegen die NSBO und die »reformistischen Streikbruchorganisationen«172 des ADGB in den Betrieben die Kommunisten in eine zunehmende Selbstisolierung. Die Einflußlosigkeit der RGO auf Betriebsebene ist vor allem jedoch auf die Tatsache zurückzuführen, daß sich die KPD zunehmend zur Erwerbslosenpartei wandelte und damit auch rein personell über immer weniger Rückhalt in den Betrieben ver16< 165
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Siehe dazu allgemein Weber, Wandlung 1, S. 186ff.; Flechtheim, a.a.O. S. 248ff. Siehe dazu Eiber, Ludwig: Arbeiter unter der NS-Herrschaft. Textil- und Porzellanarbeiter im nordöstlichen Oberfranken 1933-1939. München 1979, S. 32 ff. Allgemein zur R G O siehe Eisner, Freya: Das Verhältnis der K P D zu den Gewerkschaften in der Weimarer Republik. Frankfurt 1977, S. 222 ff. Lagebericht Nr. 170/11/30 der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth vom 6.5.1930; Lageberichte Nr. 91 und 102 der Polizeidirektion München vom 23.5.1930 und 12.7.1931, a.a.O. Aufstellung der Reichsleitung der K P D über die organisatorische Entwicklung der Partei im Jahre 1931, a.a.O. Der Mitgliederstand der R G O stieg im Reichsmaßstab im Lauf des Jahres 1931 von rund 145000 auf über 200000, im Bezirk Sachsen von rund 10000 auf über 20000. Lagebericht Nr. 111 der Polizeidirektion München vom 19.5.1932, a.a.O. Z u Limmer und Hausladen siehe weiter unten, S. 91 und S. 159. Eiber, a.a.O. S. 32 ff.; Lagebericht Nr. 110 der Polizeidirektion München vom 4.4.1932, a.a.O.; zu Schwarzmüller s. weiter unten, S. 91 f. Rundschreiben der Bezirksleitung Nordbayern vom 23.8.1932, Anlage zum Sonderbericht Nr. 201/11/32 der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth vom 29.8.1932, BayHStA MA 101241, S. 4.
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fügte. Zuverlässige Zahlen liegen für die letzten Jahre der Weimarer Republik nicht mehr vor, doch ist sicher, daß sich im weiteren Verlauf der Wirtschaftskrise der Trend, der den Anteil der in Betrieben arbeitenden KPD-Mitglieder im Reichsmaßstab von 62,3 Prozent im Jahr 1928 173 auf 16,2 Prozent Ende 1931 174 absinken ließ, 1932 weiter fort setzte und der Anteil der Arbeitslosen an der KPD-Mitgliedschaft ständig zum Teil erheblich über dem Anteil der Arbeitslosigkeit an der Gesamtarbeiterschaft lag 175 . Wie bereits angeführt, waren Ende 1931 auch in den beiden bayerischen Parteibezirken nur noch 14,5 Prozent (Nordbayern) bzw. 16,3 Prozent (Südbayern) der Parteimitglieder Betriebsarbeiter, in absoluten Zahlen jeweils rund 800 176 . Als Nachfolgeorganisation des im Mai 1929 auf Reichsebene verbotenen Roten Frontkämpferbunds177 bildete der - formal überparteiliche - Kampfbund gegen den Faschismus als weitere kommunistische Frontorganisation den eigentlichen paramilitärischen Wehrverband der KPD; er übernahm den Schutz von Umzügen, Veranstaltungen und Versammlungen der Partei und besaß einen diesem Aufgabenbereich entsprechenden halbmilitärischen Aufbau. Gleichzeitig bildete er den legalen Rahmen für die illegale Fortführung des Roten Frontkämpferbunds, der häufig innerhalb des Kampfbunds als Parallelorganisation für eigentliche militärische Aufgaben und Vorbereitung von Bürgerkriegsmaßnahmen weiterbestand 178 und von der Polizei mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet 179 , dabei aber, wie sich 1933 zeigen sollte, zumindest in Bayern in seiner tatsächlichen Effizienz weit überschätzt wurde. Ende 1931 umfaßte der Kampfbund gegen den Faschismus in Nordbayern knapp 1000, in Südbayern 800 Mitglieder und 31 bzw. 13 Ortsgruppen; die vorgesehenen Betriebsstaffeln kamen in Bayern nicht zustande 180 . In Nordbayern war der ehemalige Vorsitzende der Roten Hilfe Nürnberg, Jean Wohlfahrt, Leiter des Kampfbunds gegen den Faschismus, in Südbayern der Hilfsarbeiter Adolf Maislinger 181 ; Wohlfahrt war ein erfahrener und altgedienter KPD-Funktionär, Maislinger, Sohn des langjährigen Leiters der sozialdemokratischen Kinderfreundebewegung in München, stieß 1931 von der SAJ zur KPD. Im Mai 1932 wurden die verschiedenen kommunistischen Neben- und Massenorganisationen in der Antifaschistischen Aktion zusammengefaßt, die, als überparteiliche Massenbewegung konzipiert, das kommunistische Gegenstück zur Eisernen Front der SPD und der Freien Gewerkschaften bildete. Als Organisation der »Einheitsfront von 173 174
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Pjatnickij, O.: Brennende Fragen, a.a.O. S. 25. Aufstellung der Reichsleitung der KPD über die organisatorische Entwicklung der Partei im Jahre 1931, a.a.O. Flechtheim, a.a.O. S. 316f. Aufstellung der Reichsleitung der KPD, a.a.O. Zum Roten Frontkämpferbund vgl. allgemein Diinow, Hermann: Der Rote Frontkämpferbund. Die revolutionäre Schutz- und Wehrorganisation des deutschen Proletariats in der Weimarer Republik. Berlin(-Ost) 1958; Finker, Kurt: Der Rote Frontkämpferbund. Berlin(-Ost) 1981, sowie ders.: Aufgaben und Rolle des Roten Frontkämpferbundes in den Klassenschlachten der Weimarer Republik. In: Militärgeschichte 13/1974 H. 2. S. 133-144; Schuster, Kurt: Der Rote Frontkämpferbund 1924-1929, Düsseldorf 1975. Vgl. dazu den Fall des Kampfbunds gegen den Faschismus in Penzberg (weiter unten, S. 243 ff.). Siehe dazu Beer, a.a.O., S. 61 f. und S. 324, Anm. 72-74. Aufstellung der Reichsleitung der KPD, a.a.O. Im Reichsmaßstab umfaßte der Kampfbund gegen den Faschismus Ende 1931 über 100000 Mitglieder in 1658 Ortsgruppen und 109 Betriebsstaffeln, der Bezirk Sachsen zählte rund 19000 Mitglieder in 358 Ortsgruppen. Siehe weiter unten, S. 92 und 112.
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unten« war es ihre Aufgabe, sozialdemokratische und parteilose Arbeiter mit den Kommunisten im gemeinsamen Abwehrkampf gegen den Faschismus zusammenzufassen 182 . In Bayern spielte die Antifaschistische Aktion nur eine untergeordnete Rolle und vermochte, von einzelnen mehr oder minder spektakulären Übertritten abgesehen 183 , vor allem nicht den erhofften Einbruch in die sozialdemokratisch und freigewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft zu erreichen; sie blieb eine weitere Frontorganisation der KPD, die im Grunde nur das ohnehin bereits vorhandene kommunistische Potential ausschöpfen und neu zusammenfügen konnte. Auch in Bayern bestand vor 1933 ein breites Spektrum von »unpolitischen« Arbeiter-Organisationen und -Vereinen mit ganz unterschiedlichen Zwecken und Zielen, die nahezu alle Bereiche des Arbeiterlebens abdeckten und die Organisationen des Arbeiter-Alltags und einer eigenen Arbeiter-Gesellschaft gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft bildeten. Der Bogen reicht von den diversen Hilfs-, Unterstützungs- und Konsumvereinen über Freizeit-Organisationen, wie den im Arbeiter-Turn- und Sportbund zusammengeschlossenen und alle Sport-Sparten umfassenden Arbeiter-Sportvereinen 184 , bis hin zu den vielfältigen Arbeiter-Bildungsvereinen. Zu diesem breit gestreuten Arbeiter-Vereinswesen gehörten Arbeiter-Gesangvereine, Arbeiter-Schachklubs und Arbeiter-Wandervereine ebenso, wie Vereine für Freidenkertum und Feuerbestattung, Arbeiter-Fotografen- und Arbeiter-Radio-Vereine, Buchgemeinschaften, Arbeiter-Esperanto-, Arbeiter-Radfahrer- und Arbeiter-Schützen-Vereine. Einzelne Sparten innerhalb dieses Vereinswesens hatten sich in zentralen Landes- und Reichsverbänden zusammengeschlossen, deren wichtigste der Arbeiter-Turn- und Sportbund, der Touristenverein »Die Naturfreunde« und der Verband für Freidenkertum und Feuerbestattung waren 185 . Daß dieses Arbeiter-Vereinswesen auch in Bayern weit verbreitet und breit ausgebaut war, zeigen die Aktionen der lokalen Behörden im Jahre 1933 zur Auflösung »marxistischer Vereine« und zur Einziehung ihres Vermögens 186 . Allein im Amtsbezirk Hof beispielsweise - die Stadt Hof ist hierbei nicht berücksichtigt - wurden 1933 nicht weniger als 37 Vereine (11 Sportvereine, 7 Gesangvereine, 8 Turn- und Gesangvereine und 11 Ortsgruppen des Arbeiterrad- und Kraftfahrerbunds »Solidarität«) aufgelöst 187 . ' Im Zuge der sogenannten ultralinken Wendung nach dem VI. Weltkongreß der Komintern 1928 versuchten die Kommunisten ab 1929/1930, auch in den bislang überparteilichen Arbeitervereinen, die sowohl SPD- wie KPD-Angehörige zu ihren Mitgliedern gezählt hatten, in ihrer politischen Ausrichtung jedoch überwiegend der Sozialdemokratie zuneigten, ihren parteipolitischen Einfluß durchzusetzen. Dies führte zunächst zur Bildung kommunistischer Fraktionen innerhalb der Vereine und 182
Siehe dazu: Die Antifaschistische Aktion. Dokumentation und Chronik Mai 1932 bis Januar 1933. Herausgegeben und eingeleitet von Heinz Karl und Erika Kücklich. Berlin(-Ost) 1965; vgl. dazu allgemein Flechtheim, a.a.O. S. 281; Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Bd. IV, Berlin(-Ost) 1966, S. 333 ff. 183 Beer, a.a.O. S. 65. 1M Siehe dazu Ueberhorst, Horst: Frisch, frei, stark und treu. Die Arbeitersportbewegung in Deutschland 1893-1933. Düsseldorf 1973. 185 Siehe dazu auch weiter unten, S. 418ff. Allgemein dazu Wunderer, Hartmann, a.a.O. 186 Siehe dazu beispielsweise den umfangreichen und durch ein Spezialinventar erschlossenen Bestand Landratsämter Oberbayern im Staatsarchiv München. 18 ' Landratsamt Hof F I a 33, zit. nach Eiber, a.a.O. S. 238, Anm. 48. Siehe dazu weiter unten, S. 217ff.; zur Vielfalt des Arbeiter-Vereinswesens in Penzberg vgl. auch Tenfelde, a.a.O. S. 47 ff. und insbesondere S. 15 5 ff.
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später häufig zur Spaltung und zur Gründung eigenständiger kommunistischer Vereine. Der kommunistische Einfluß innerhalb des Arbeiter-Vereinswesens reichte in Bayern allerdings nicht aus, um diese Politik in größerem Umfang durchzusetzen. Lediglich auf dem Gebiet der Arbeiter-Sport- und der Freidenkerbewegung bildeten sich innerhalb Bayern kommunistische Gegenorganisationen. Innerhalb der anderen Bereiche des Arbeitervereinslebens hatten kommunistische Spaltungsversuche keinen Erfolg; so führt die Polizeidirektion München im Mai 1931 an, es gebe in Südbayern keine eigenen kommunistischen Konsumvereine, und die kommunistische Opposition in den sozialistischen Gewerkschaften sei ziemlich bedeutungslos 188 . Bereits 1929 spaltete sich die Ortsgruppe München des Verbands für Freidenkertum und Feuerbestattung; die kommunistische Opposition gründete eine eigene Ortsgruppe, die sich im März 1931 dem als Reichsverband neugegründeten Verband proletarischer Freidenker mit Feuerbestattung anschloß. Mitte 1931 umfaßte der Bezirk Bayern des Verbands proletarischer Freidenker 2300 Mitglieder in 40 Ortsgruppen, auf München und Nürnberg entfiel mit 800 bzw. 300 Mitgliedern knapp die Hälfte 189 . Auch die kommunistische Sportbewegung war überwiegend auf die Großstädte konzentriert. Nach der Gründung der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit als kommunistisches Gegenstück zum Arbeiter-Turn- und Sportbund im Juni 1930 tauchen in den Polizeiberichten ab Herbst 1930 Meldungen über kommunistische Oppositionsgruppen in einzelnen Arbeiter-Sportvereinen auf; im November 1930 kam es zur Bildung eines Bezirks und einer Landesleitung Bayern der Roten Sporteinheit, im Frühjahr 1932 wurde die Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit m Bayern analog zu den Parteibezirken in Nordbayern und Südbayern untergliedert. Landesleiter in Nordbayern wurde der bisherige bayerische Landesleiter Reinhold Wüstner, in Südbayern der zweiunddreißigjährige Drucker Georg Frühschütz 190 . Im Dezember 1931 umfaßte die Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit im Reichsmaßstab 132000 Mitglieder und rund 3000 Vereine 191 ; die entsprechenden Zahlen für die beiden bayerischen Bezirke sind nicht bekannt, doch läßt sich aus den vorliegenden Zahlen ersehen, daß sie insgesamt nicht allzu hoch gewesen sein können: In München und Nürnberg, wo die Entwicklung einer eigenständigen kommunistischen Sportorganisation sicherlich am weitesten fortgeschritten war, zählten die entsprechenden Ortsgruppen bzw. Zentralsportvereine der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit im Frühjahr bzw. Sommer 1932 laut Polizeiberichten jeweils nur rund 500 Mitglieder 192 . In München gehörten der Sportklub Athena, der verschiedene Sportsparten umfaßte, und der Fußballklub Union der Rotsport-Organisation an, zu der 188 185
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Lagebericht Nr. 100 vom 10.5.1931, a.a.O. Lagebericht Nr. 102 der Polizeidirektion München vom 12.7.1931, a.a.O. Der Lagebericht 188/11/31 der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth, a.a.O., führt neben Nürnberg und Fürth noch Ortsgruppen des Verbands proletarischer Freidenker in Arnberg, Burglengenfeld, Regensburg, Regenstauf, Röthenbach/Pegnitz, Schonungen, Schwabach, Selb und Sulzbach mit insgesamt knapp 600 Mitgliedern an, in einer Reihe weiterer Orte innerhalb der Ortsgruppen des sozialdemokratischen Freidenkerverbands kommunistische Oppositionsgruppen. Lageberichte der Polizeidirektionen München und Nürnberg-Fürth 1930-1932, a.a.O. Zu Georg Frühschütz siehe weiter unten, S. 96 ff. Aufstellung der Reichsleitung der KPD über die organisatorische Entwicklung der Partei im Jahre 1931, a.a.O. Lagebericht Nr. 111 der Polizeidirektion München vom 19.5.1932, a.a.O.; Lagebericht Nr. 200/11/32 der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth vom 9.8.1932, a.a.O.
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insgesamt 26 Fußballmannschaften zählten; in Nordbayern werden in einem Polizeibericht Zentralsportvereine der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit in Hof, Döhlauf bei Hof, Schwarzenbach, Burglengenfeld, Birkenzell, Naila, Schwandorf, Rehau, Selb, Röthenbach/Pegnitz, Güntersleben und Rimpar angeführt 193 . Aus diesen Angaben wird deutlich, daß auch im Bereich des Arbeitersports und der Freidenkerbewegung ein eigenständiges kommunistisches Vereinswesen neben den Großstädten nur in einigen mittleren und kleinen Städten mit für die KPD besonders günstigen Bedingungen bestand und ansonsten über Ansätze nicht hinauskam. Gleiches gilt für die von der KPD zu Beginn der 30er Jahre initiierte Mieterorganisation, die Kleingärtner- und Siedler-Organisation, den Reichsbauernbund bzw. den Bund der schaffenden Landwirte sowie für den Bund der Freunde der Sowjetunion und die Vereine für Sexualhygiene, für die - laut einem Rundschreiben vom August 1932 - ebenfalls die Org-Abteilung der Partei-Bezirksleitungen zuständig waren194. Die Arbeit auf dem Lande, unter den Bauern, war der bayerischen KPD seit Mitte der 20er Jahre ein besonderes Anliegen, verständlich aufgrund der überwiegend agrarischen Struktur großer Teile Bayerns. Hier forderte und unternahm sie immer wieder große Anstrengungen, die allerdings kaum organisatorische Erfolge zeitigten und sich nirgends in Formen von Agrarbolschewismus von einiger Bedeutung umsetzten; dennoch ist es vielleicht nicht ganz zufällig, daß der Vorsitzende des 1924 von der KPD gegründeten Bundes der schaffenden Landwirte und Mitarbeiter der Abteilung Land des ZK der KPD, der langjährige Reichstagsabgeordnete Ernst Putz, aus Bayern stammte 193 . Die Erfolgslosigkeit der KPD bei ihren Agitations- und Organisationsversuchen, auf dem Lande ist vor allem darauf zurückzuführen, daß in Bayern im allgemeinen kein Landproletariat im Sinne einer zahlenmäßig großen unterprivilegierten Schicht von Landarbeitern und agrarischen Tagelöhnern vorhanden war. Der bäuerliche Grundbesitz war wesentlich ausgeglichener und einheidicher als in anderen deutschen Ländern: Der weitaus größte Teil - über 90 Prozent - der bäuerlichen Betriebe bestand aus Anwesen unter 20 ha, die im allgemeinen mit geringer Bedienstetenzahl und bei kleineren Betrieben häufig neben einer Tätigkeit des Besitzers im gewerblichindustriellen Sektor bewirtschaftet wurden196.
193
"4 195
Lagebericht Nr. 112 der Polizeidirektion München vom 3.10.1932, a.a.O., Lagebericht Nr. 200/11/32 der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth vom 9.8.1932, a.a.O. Anlage zu Sonderbericht Nr. 201/11/32 der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth vom 29.8.1932, a.a.O. Ernst Putz (1896-1933), Sohn eines Großbauern und BVP-Landtagsabgeordneten aus Sinnthalshof in der bayerischen Rhön, Soldat im Ersten Weltkrieg, übernahm anschließend den elterlichen Hof, 1924-1933 KPD-MdR, 1924 Mitgründer und bis 1933 Vorsitzender des Bundes der schaffenden Landwirte; er wurde im Juli 1933 verhaftet und im September 1933 im Gefängnis Berlin-Moabit ermordet (Weber, Wandlung 2, a.a.O. S. 250f.). Landwirtschaftlich genutzte Fläche 1907 1925 Parzellenwirtschaften (unter 2 ha) 36,1% 36,0% Kleinere Bauerngüter (2 bis 5 ha) 24,2% 25,9% Mittlere Bauerngüter (5 bis 20 ha) 33,5% 33,1 % Größere Bauerngüter (20 bis 100 ha) 6,1% 4,9% Großbetriebe (über 100 ha) 0,1% 0,1% (Bayern im Lichte seiner hundertjährigen Statistik. Heft 122 der Beiträge zur Statistik Bayerns. München 1933, S. 12); siehe dazu auch weiter unten, S. 290f.
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Trotz stetiger Versuche zur Schaffung immer neuer »überparteilicher« Frontorganisationen vermochte die K P D während der Weltwirtschaftskrise über weite Strecken hinweg nur immer wieder sich selbst zu organisieren und ihr eigenes, überwiegend aus radikalisierten und verzweifelten Arbeitslosen bestehendes Mitgliederpotential in zahllosen Seitenorganisationen und Dachverbänden stets von neuem zusammenzufassen; das führte zu einem auf den ersten Blick dichten und umfassenden Organisationsgeflecht, aber nicht zu einem Vordringen der KPD in neue Mitgliederschichten. Es ist kein Zufall, daß auf den Bezirksparteitagen der bayerischen KPD immer wieder die Stagnation gerade der Massenorganisationen beklagt wird.
6. Sozialprofil der KPD und Umfeldbedingungen kommunistischen in Bayern Versuch einer Geländebeschreibung
Widerstands
An Statur und Entwicklung der kommunistischen Neben- und Massenorganisationen, insbesondere an der geringen Verankerung der KPD im sozialdemokratisch geprägten Arbeitervereinswesen, werden minderheitliche Lage und randständige Prägung der Partei und ihres unmittelbaren Umfelds besonders deutlich. Diese Schranke konnte sie vor 1933 in Bayern zu keinem Zeitpunkt wirklich überwinden; selbst in den hohen Stimmengewinnen und dem zum Teil erheblichen Mitgliederzuwachs in Phasen krisenhafter Veränderung der gesellschaftlichen »Normalität« drückte sich, von lokalen Ausnahmen abgesehen, nicht ein steigender und langfristig abgesicherter Rückhalt innerhalb der bayerischen Bevölkerung aus, sondern der elementare Sozialprotest besonders unterprivilegierter Schichten, die diesseits aller politischen Doktrin von der bloßen Radikalität der Forderungen und des Auftretens der Partei angezogen waren. Ihre Wendung zur KPD - oder, vielfach austauschbar, zu SA und NSDAP - blieb im Grunde ephemer und ging über kurzatmiges politisches Engagement nur da hinaus, wo sie auf integrationsfähige Organisations- und Kommunikationsstrukturen traf. Trotz der beeindruckenden Stimmen- und Mitgliederzahlen der bayerischen K P D am Ausgang der Weimarer Republik, trotz ihrer unzweifelhaft vorhandenen Bastionen in den Großstädten und einzelnen Gebieten punktueller und monokultureller Industrialisierung (Penzberg, Selb, Röthenbach/Pegnitz, Kolbermoor u.a.) 197 , wo sie von einem besonderen politischen Treibhausklima begünstigt war, kam sie insgesamt gesehen über den Status einer - wenn zuletzt auch großgewordenen - politischen Sekte nie hinaus. Schon gegenüber der SPD mit ihren (1932) knapp 90000 Mitgliedern, rund
1,7
Vgl. dazu Tenfelde, a.a.O. S. 2f.; Eiber, a.a.O. S. 13ff.; Landgrebe, Christa, a.a.O. S. 25ff.
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1000 Ortsvereinen und 10 Tageszeitungen 198 bildete sie während der gesamten Weimarer Epoche eine kleine und, zugespitzt formuliert, auch innerhalb der Arbeiterschaft letztlich marginale Außenseiterpartei - darüber dürfen auch Erfolge, wie etwa bei den Novemberwahlen 1932 in München, nicht hinwegtäuschen, wo die KPD mit der SPD nahezu gleichziehen konnte 199 . Zwar gelang es der Partei im Laufe des Jahres 1932, als ihr in großem Maß Erwerbslose zuströmten, den Abstand zur SPD zumindest auf dem Papier zu verringern, doch dürfte das infolge der in gleicher Proportion zunehmenden Fluktuation der Mitgliedschaft in realer Dimension wenig geändert haben. Ohne nennenswerten Rückhalt in Parlament und Kommunalvertretungen und in den Gewerkschafts- und Freizeitorganisationen der Arbeiterbewegung war sie in ihrer Wirkungsmöglichkeit auf die plakative revolutionäre Geste beschränkt, und die besondere Aufmerksamkeit, die ihr schrille Propaganda und lärmender Aktionismus behördlicherseits einbrachten, stand zu ihrer tatsächlichen Bedeutung in keinem Verhältnis: Sie stellte in Bayern zu keinem Zeitpunkt eine politische Kraft dar, die das etablierte System ernsthaft hätte bedrohen können. Diese allgemeine Charakterisierung ist allerdings regional und lokal zu differenzieren - standen doch Orten und Gebieten, in denen die KPD nicht oder nur nominell existierte, kleine, mittlere und große Städte bzw. innerhalb der Großstädte einzelne Viertel, Straßenzüge, Siedlungen und Wohnblocks gegenüber, wo sie eine maßgebliche, zum Teil sogar dominierende Rolle spielen konnte und wo sich ein eigenständiges - vielfach auch von sozialdemokratischen Lebens- und Vereinszusammenhängen scharf abgegrenztes - kommunistisches Sondermilieu entwickelt hatte; auf ihre Stärke an Orten punktueller Industrialisierung wurde schon mehrfach hingewiesen. Zwischen beiden Extremen gab es eine ganze Skala von Zwischen- und Mischformen, die je nach lokalem Umfeld besonders geartet waren. Politisches Gewicht, sozialer Rückhalt und Organisationswirklichkeit der KPD waren von unterschiedlichen sozioökonomischen und politischen Umfeldbedingungen geprägt, spielten sich als Prozeß in einem jeweils konkreten »Gelände« ab, das als Summe und Kräfteverhältnis von Außenfaktoren auf Ablauf und Form prägenden Einfluß besaß. Betrachtet man Ausgangs- und Entwicklungsbedingungen der KPD in Bayern in ihrem regionalen und lokalen Rahmen und ordnet die Ergebnisse solcher Nahoptik nach Gemeinsamkeiten und typischen Besonderheiten, so ergeben sich fünf verschieden strukturierte Bereiche oder fünf unterschiedliche »Geländearten«, innerhalb derer die Partei hinsichtlich Form, Umfang und Stellenwert ein jeweils spezifisches Aussehen besaß und in unterschiedlich starkem Maß sozialen Rückhalt fand; drei dieser fünf Bereiche bildeten schließlich die Arenen, in denen sich nach dem Machtantritt des Nationalsozialismus illegale kommunistische Gruppen formierten und - vergeblich gegen die übermächtigen Repressionsorgane des Regimes zu behaupten suchten. Den ersten - und quantitativ bedeutendsten - Geländetypus stellen die drei großstädtischen Industriezentren Bayerns, also München, Nürnberg und Augsburg mit ihren unmittelbaren F.inzugsbereichen. Mit ihrer dichten Population, dem hohen Anteil 198
199
Siehe dazu weiter unten, S. 287ff. und S. 317ff. Die letzten vorliegenden Gesamtzahlen für beide Parteien stammen von Ende 1931: Die SPD zählte zu diesem Zeitpunkt knapp 88000 Mitglieder, die KPD nicht ganz 10300, mit anderen Worten, selbst zu diesem Zeitpunkt mitten in der Weltwirtschaftskrise erreichte die KPD nur etwas mehr als ein Neuntel (11,6 Prozent) der Stärke der SPD. Siehe weiter oben, S. 33.
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an Arbeiterbevölkerung 200 , den Großbetrieben, Gewerbe- und Industrieansiedlungen und Arbeiter-Wohnvierteln boten sie einen besonders günstigen Nährboden für die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterbewegung und das zum Teil dichte Geflecht von Bildungs-, Freizeit-, Sport-, Unterstützungs- und Selbsthilfe-Vereinen, die weite Bereiche des Alltagslebens der Arbeiterbevölkerung erfaßten und strukturierten. Hier kam die KPD, wie wir gesehen haben, bei den Novemberwahlen des Jahres 1932 auf Stimmenanteile zwischen rund 15 und 20 Prozent 201 , und hier erreichten die Partei und ihr unmittelbares Umfeld eine zahlenmäßige Stärke, die die Mitgliederrekrutierung für illegale Gruppen unmittelbar nach der NS-Machtübernahme zunächst problemlos erscheinen lassen konnte. Ein zweites Gelände im Rahmen dieser notwendigerweise schematisierten Betrachtungsweise bilden die stark von industrieller und handwerklicher Produktion geprägten mittelgroßen Städte mit hohem und zum Teil sogar überwiegendem Anteil von Arbeiterbevölkerung - Städte wie Hof, Selb, Bayreuth in Oberfranken, Aschaffenburg und Schweinfurt in Unterfranken, Fürth und Schwabach in Mittelfranken, Amberg, Weiden, Neumarkt, Schwandorf und Regensburg in der Oberpfalz, Straubing in Niederbayern, Traunstein, Rosenheim und Ingolstadt in Oberbayern, Kempten und NeuUlm in Schwaben, um nur die wichtigsten zu nennen. Würzburg wäre, obwohl mit seiner Einwohnerzahl von knapp über 100000 zu dieser Zeit bereits vierte bayerische Großstadt, ebenfalls dieser Kategorie zuzurechnen 202 . Zumeist in der Größenordnung zwischen 10000 und 40000 Einwohnern, sieht man von Ausnahmen wie Würzburg und Regensburg (80000 Einwohner) ab, sind diese Städte durch eine Reihe struktureller Gemeinsamkeiten gekennzeichnet, die ihre Betrachtung auf einer Ebene nahe legen: Der Anteil industrieller Produktion am wirtschaftlichen Gesamtaufkommen dieser Städte war hoch und allgemein im Steigen begriffen; mit Ausnahme vielleicht von Selb und Schweinfurt gab es hier keine beherrschenden, monokulturellen Industriebetriebe, sondern eine Vielfalt kleinerer und größerer Unternehmungen. Darüber hinaus bildeten sie zumeist wichtige Handelsumschlagplätze in ihrer Region und waren administrative Subzentren 203 . Die KPD hatte hier - spätestens seit der zweiten Hälfte der 20er Jahre - eine langjährige organisatori200
201
202
203
Der Anteil der Arbeiterbevölkerung an der Einwohnerschaft wuchs in Augsburg 1925-1939 von 77000 (52,6 Prozent) auf 87000 (57,2 Prozent), in München von 232 000 (39,5 Prozent) auf 322 000 (47,6 Prozent) und in Nürnberg von 174000 (48,7 Prozent) auf 193000 (53,0 Prozent) (Beiträge zur Statistik Bayerns, 1926, H. 111; ZSBSLAJg. 72/1940, S. 183 ff. KPD-Stimmen bei den Reichstagswahlen vom 6.11.1932 in: Augsburg 12 843/14,6% München 75 559/19,7% Nürnberg 37 989/15,2% (ZSBSLAJg. 65/1933, S. 320ff.; vgl. auch weiter oben, S. 33). Würzburg hatte 1934 rund 101000 Einwohner, der Anteil der Arbeiterbevölkerung lag mit rund 41 Prozent (1939) jedoch deutlich niedriger als in Augsburg, München und Nürnberg. Vgl. dazu allgemein Spindler, Max (Hrsg.): Bayerische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert 1800 bis 1970, Bd. II, München 1975, insbesondere S. 680ff., 808ff. und 863ff.; Schoenlank, Bruno: Zur Lage der arbeitenden Klassen in Bayern. Nürnberg 1887; Historisches Gemeindeverzeichnis, die Einwohnerzahlen der Gemeinden Bayerns von 1840-1952. Beiträge zur Statistik Bayerns Nr. 192. München 1953; Bayerisches Gemeindeverzeichnis nach der Volkszählung vom 16. Juni 1933. In: ZSBSLAJg. 66/1934, S. l'ff.; Wirtschaftsberichte der Wehrwirtschaftsinspektionen VII (Südbayern) und XII bzw. XIII (Nordbayem) 1935-1939, BA/Militärarchiv R.W. 19/13,15, 20, 27, 33,41,48, 57, 63; Der Große Brockhaus, 15. Auflage in 20 Bänden, Leipzig 1928-1935, sowie zahlreiche Stadt-Geschichten und -Chroniken, die in der Bayerischen Staatsbibliothek/München vorhanden sind und hier nicht insgesamt aufgeführt werden können.
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sehe Tradition und mehr oder minder hohe Stimmenanteile bei den Wahlen 204 , und es gab ein mit dem agrarischen Umland sozial und politisch häufig besonders stark kontrastierendes Arbeiter-Milieu, das auch nach der Zerschlagung der lokalen Parteiorganisation der KPD im Frühjahr 1933 ein Rekrutierungsfeld für illegale kommunistische Gruppen bildete. Diese mittelgroßen Städte befanden sich noch in den 20er Jahren in einer spezifischen Umbruchsituation, die vom Vordringen der kapitalistisch-industriellen Produktionsweise in zum Teil noch bis zum Ersten Weltkrieg stark von zünftig-handwerklichen Produktionsformen geprägte städtische Wirtschaftsräume gekennzeichnet ist; es ist sicherlich kein Zufall, daß ein großer Teil der hier angeführten Städte ehemals Freie Reichsstädte waren. Gegenüber den Großstädten verlief diese Entwicklung allerdings langsamer und war wesentlich weniger weit gediehen. Von der »Porzellan-Stadt« Selb mit ihren sieben großen Porzellanfabriken205 oder Schweinfurt mit seinen großen Metallbetrieben abgesehen, bildeten diese mittelgroßen Stadtregionen im allgemeinen nicht Stätten moderner und technologisch hochentwickelter Massenfertigung in Großbetrieben. Aus einer im Juni 1933 in Bayern vorgenommenen Betriebszählung läßt sich ersehen, daß nicht weniger als 93,2 Prozent der gewerblichen Niederlassungen in Bayern aus Kleinbetrieben mit einem Personalstand von 1 bis 5 Beschäftigten bestanden; Mittelbetriebe mit 6 bis 50 Beschäftigten machten 6,2 Prozent und »Großbetriebe« - eigentlich größere Mittelbetriebe - mit 51 bis 1000 Beschäftigten 0,6 Prozent aus. Die Zahl der sogenannten Riesenbetriebe (über 1000 Beschäftigte) betrug absolut 54, ihr Anteil an der Gesamtbetriebszahl lag damit unter 0,1 Prozent 206 . Berücksichtigt man dabei, daß Riesen- und Großbetriebe fast vollständig auf die drei Großstädte konzentriert waren und der Anteil der Kleinbetriebe auf dem Land bzw. in der »industrialisierten Provinz« überdurchschnittlich hoch war, so ergibt sich für die Wirtschaftsstruktur der mittelgroßen bayerischen Industrie- und Handwerksstädte, daß sie überwiegend von Klein- und Mittelbetrieben in der Größenklasse zwischen 1 und 50 Arbeitern geprägt war, die sich häufig noch im Übergang vom Handwerkszum Industriebetrieb befanden. Ein weiteres Charakteristikum der mittelgroßen Handwerks- und Industriestädte bildet ihre Rolle als wirtschaftliche Zentren des umliegenden agrarisch bestimmten »flachen Lands«, als Stätten der Weiterverarbeitung und Verwertung landwirtschaftli204
205 206
KPD-Stimmen bei den Reichstagswahlen vom 6.11.1932 in: Hof Schwabach 546/ 7,7% 1083/11,9% Selb 2210/30,6% Erlangen 1096/ 5,9% Bayreuth 1463/ 6,5% Weißenburg 684/13,5% Marktredwitz Amberg 1034/12,1% 934/17,9% Neustadt/Coburg 750/14,2% Weiden 1252/10,6% Rodach/Coburg 210/12,7% Neumarkt/Opf. 591/12,4% Aschaffenburg 1983/10,2% Schwandorf 758/16,4% Würzburg 5103/ 9,3% Regensbuig 3868/ 9,1% Kitzingen Deggendorf 419/ 6,9% 549/14,5% Schweinfurt 3447/14,5% Landshut 1686/10,0% Fürth 6931/15,0% Straubing 1782/16,5% (ZSBSLAJg. 65/1933, S. 320 ff. Vgl. dazu Eiber, a.a.O. S. 13ff. und 25ff. Die gewerblichen Niederlassungen in Bayern nach der Betriebszählung vom 66/1934, S. 219 ff.
Traunstein 859/16,9% Rosenheim 1354/13,3% Ingolstadt 1810/13,6% Kempten 1539/12,1% Neu-Ulm 762/11,2% Kaufbeuren 466/ 8,8% Lindau 519/ 7,2% Memmingen 902/11,0% Neuburg/Donau 432/10,6%
16. Juni 1933, in: ZSBSLAJg.
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cher Rohprodukte sowie als erste Anlaufstellen und Niederlassungsorte beim Überwechseln bäuerlicher Arbeitskräfte in einen handwerklich-industriellen Produktionszusammenhang. Als Beispiele seien Städte wie Rosenheim, Aschaffenburg oder Straubing angeführt, Städte, in denen in hoher Anzahl Tages- und Wochenpendler arbeiteten und die Arbeiterschaft sich unmittelbar aus dem agrarischen Umland rekrutierte 207 . Als drittes Gelände stellen sich die klein- und mittelstädtischen Agglomerationen dar, deren Wirtschaft und Gesellschaft nicht primär durch industrielle Produktionsweise und Arbeiter- und Handwerkerbevölkerung geprägt war, häufig ehemalige fürstliche Residenzstädte mit einem hohen Anteil an staatlichen bzw. regionalen Verwaltungsinstitutionen - Städte also wie Bad Kissingen, Coburg, Bamberg, Forchheim, Ansbach, Eichstätt, Rothenburg ob der Tauber, Freising, Günzburg, Donauwörth, Nördlingen und andere 208 ; das mit diesen Städten bezeichnete Gelände ist in sich wohl am wenigsten einheitlich strukturiert: Industrielle Produktionsformen waren unterschiedlich weit entwickelt, sozioökonomisches Umfeld, umliegende Region und Art wie Bedeutung lokaler Institutionen und Verwaltungskörperschaften waren sehr verschieden. Obgleich es in all diesen Städten vor 1933 mehr oder minder starke kommunistische Ortsgruppen gab, kam es, wie die vorhandenen Quellen schlüssig zeigen 209 , in Ermangelung eines genügend dichten oppositionellen Arbeiter-Milieus nach der nationalsozialistischen Machtübernahme nicht oder nur ganz vereinzelt zu Ansätzen kommunistischen Widerstands und illegaler Gruppenbildung; hierfür fehlte bei diesem Typus städtischer Zentren der notwendige soziale Nährboden. Gleiches gilt mutatis mutandis für ein weiteres Gelände: die primär agrarisch bestimmten Landgemeinden und kleinen Orte in der industriell nicht oder noch nicht erschlossenen »Provinz«. Zu diesem Geländetypus gehören in Bayern Regionen wie etwa der Bezirk Ebermannstadt in Oberfranken 210 , das weite »platte Land« in Niederbayern und oberbayerisch-schwäbische Bezirke wie Aichach und Krumbach 211 , Markt Oberdorf, Kaufbeuren und Nördlingen 212 . In diesem Gelände war eine Trennung der arbeitenden Bevölkerung von der Scholle kaum oder in nur so geringem Maß erfolgt, daß aus dem Arbeitsprozeß im landwirtschaftlichen Bereich ausgeschiedene Gruppen meist auch sozial desintegriert waren und vielfach in dumpfer, politisch nicht umsetz -
207
Dazu im einzelnen weiter unten, S. 223, S. 229 ff. und S. 234 ff.; siehe auch S. 439 ff. und S. 522 ff. 208 KPD-Stimmen bei den Reichstagswahlen vom 6.11.1932 in: Freising Bad Kissingen 140/3,3% Ansbach 333/2,7% 853/9,5% Günzburg Coburg 961/5,9% Eichstätt 226/5,2% 211/6,0% Donauwörth Bamberg 1581/5,0% Rothenburg/ 125/4,5% Nördlingen Forchheim 391/6,4% Tauber 206/4,1% 194/3,5% (Quelle: ZSBSLAJg. 65/1933, S. 320 ff.) Vor allem sind hier die für den Zeitraum 1933-1945 nahezu lückenlos vorliegenden Berichte der bayerischen Regierungspräsidenten im Bayerischen Hauptstaatsarchiv anzuführen, die auf Anzeichen illegaler Aktivitäten von kommunistischer Seite im allgemeinen ausführlich eingingen. Siehe dazu Bayern in der NS-Zeit, Bd. I, a.a.O. S. 21-192. Siehe dazu ebd. S. 327-368. KPD-Stimmen bei den Reichstagswahlen vom 6.11.1932 im Bezirk: 132/1,1% Uffenheim Krumbach 376/3,1% Ebermannstadt 165/0,9% 136/1,3% Rottenburg Kaufbeuren 333/3,0% Staffelstein 402/4,0% 191/1,4% Vilsbiburg Markt Oberdorf 146/1,1% Dinkelsbühl 583/3,9% 52/0,5% Aichach Nördlingen 183/1,2% Rothenburg 473/3,3% (ZSBSLAJg. 65/1933, S. 320ff.)
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barer Verelendung lebten 2 1 3 ; auch die handwerklichen Betriebe waren als primäre Zulieferer- und unmittelbare Verarbeitungsbetriebe den bäuerlichen Unternehmen nahe verbunden. Soweit es der K P D hier vor dem 9. März 1933 überhaupt gelang, organisatorisch Fuß zu fassen oder über die seit Mitte der 20er Jahre immer wieder forcierten Versuche zu Land- und Bauernagitation gewisse Organisationsansätze zu schaffen, bot sich ihr kaum die Möglichkeit, nach dem Zugriff der Bayerischen Politischen Polizei im März und April 1933 in organisierter Form illegal weiterzuarbeiten. Nirgendwo in diesem Bereich verfügte sie über ein eigenständiges Milieu, das in der Illegalität eine Rekrutierung für politische Gruppen und ein organisatorisches Weiterbestehen ermöglicht hätte; Verbindungen nach »oben«, zu den nächstgelegenen städtischen Organisationszentren auf der Ebene der Unterbezirke waren zumeist endgültig abgeschnitten. Auch nachdem einzelne der im Frühjahr 1933 in Schutzhaft genommenen Kommunisten aus dem Konzentrationslager in dieses soziale Umfeld zurückgekehrt waren, ergab sich kein Ansatz für kollektive Aktionen in Form illegaler Arbeit; allenfalls versuchten Einzelne, die bis 1933 Parteigänger oder Aktivisten der K P D gewesen waren, ihre politische Einstellung in Form individueller Opposition oder privater reservatio mentalis mehr oder minder lang zu konservieren 214 . In den vorhandenen Polizei-, Gerichts- und Verwaltungsakten findet sich kein Fall organisierten Widerstands und illegaler Gruppenbildung, der in diesem Gelände entstanden und ihm zuzurechnen wäre. Als fünftes Gelände läßt sich jene Mischform teils noch agrarischen und teils schon industrialisierten Landes bezeichnen, die in Bayern besonders häufig anzutreffen war. Hierzu zählen die industriereichen Zonen und Einsiedlungen in Oberfranken und der Oberpfalz: die Bezirke Coburg, Kronach, Hof, Naila, Münchberg, Wunsiedel und Lichtenfels 215 als Zentren der Textil- und holzverarbeitenden Industrie mit hohem Anteil von Heimarbeit, Näherinnen und Korbflechtern, die zum Teil unter krassem ökonomischem Verelendungsdruck standen 216 ; die Bezirke Amberg, Burglengenfeld, Sulzbach und Tirschenreuth mit den oberpfälzischen Eisenerz- und Braunkohlegruben und einem hohen Anteil an Bergarbeiterbevölkerung sowie Bezirke des Bayerischen und des Böhmerwalds mit Glasindustrie, Steine- und Metallgewinnung Papierindustrie und Holzverarbeitung (Cham, Kötzting, Viechtach, Regen, Grafenau u.a.), in denen die Arbeiterschaft 3 0 - 5 0 Prozent der Bevölkerung ausmachte und die Stimmenzahlen der K P D bei den Wahlen der Jahre 1924-1933 vielfach überdurchschnitt-
213
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116
Vgl. dazu etwa die häufigen Berichte über bettelnde Arbeitslose im Bezirk Ebermannstadt in: Bayern in der NS-Zeit, Bd. I, a.a.O. Vgl. dazu Scheringer, Richard: Das große Los unter Soldaten, Bauern und Rebellen. Hamburg 1959. Scheringer, ehemaliger Reichswehrleutnant, der 1932 demonstrativ der KPD beigetreten war und einer der wesentlichen Vertreter der Aufbruch-Arbeitskreise (s. dazu weiter unten, S. 109 ff. und S. 271 ff.) wurde, schildert in seiner Autobiographie plastisch sein geistig-politisches »Uberwintern· während des Dritten Reichs auf seinem Bauernhof in der Nähe von Ingolstadt. KPD-Stimmen bei den Reichstagswahlen vom 6.11.1932 im Bezirk: Coburg 1835/ 8,1% Lichtenfels 1244/ 5,9% Wunsiedel 3545/13,7% Hof 1816/13,0% Münchberg 1393/ 8,5% Kronach 3361/10,5% Naila 1839/12,0% (ZSBSLAJg. 65/1933, S. 320 ff.) Der Wirtschaftsbericht der Wehrwirtschaftsinspektion XII (Nordbayern) vom 18.3.1936 vermerkt beispielsweise, im Bezirk Coburg sei der Heimarbeiter-Stundenlohn für Korbflechter durch gegenseitiges Unterbieten bis auf 5 (!) Pfennige herabgedrückt worden (BA/MA, Bestand R.W. 19/20).
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lieh hoch waren 217 ; die westlichen und südlichen Bezirke Unterfrankens (Alzenau, Lohr, Aschaffenburg, Miltenberg 218 und der Spessart-Raum) mit hohem Anteil an Textilheimarbeit und Holzverarbeitung; ferner oberbayerische Voralpenbezirke wie Traunstein, Rosenheim, Miesbach, Tölz und Weilheim 219 mit Holz- und Schnitzstoffgewerbe, Textilindustrie und Kohlebergbau und schließlich schwäbische Bezirke wie Füssen, Kempten und Illertissen220 mit Textilindustrie und einer weit ausgedehnten, meist in Kleinbetrieben arbeitenden feinmechanischen Industrie 221 . In diesen Regionen waren relativ geschlossene Bergarbeiter- oder Porzellan- und Glasarbeiter-Kommunen, zum Teil sogar mit mittleren und großen Betrieben, ebenso vertreten, wie Heimarbeit und kleinbetriebliche Produktionsformen und hohe Anteile von Pendlern. Die Arbeiter hatten sich meist noch nicht völlig von der Scholle gelöst, versorgten häufig noch eine kleine Nebenerwerbs-Landwirtschaft; es waren im wesentlichen Industriearbeiter in der ersten Generation. In den zu diesem Gelände gehörigen Regionen Bayerns gab es vielfach starke kommunistisch-sozialistische Traditionen - man denke an die nach München orientierte kommunistische Räteherrschaft in den entsprechenden Bezirken des südlichen Oberbayern222. Sie lassen sich allerdings nicht allein durch Wahlergebnisse und Organisationsstärke bestimmen; über Mitgliedschaft und Wahlverhalten hinaus korrespondierte mit ihnen eine Tradition sozialer Auflehnung, die sich - vor allem in den angeführten Regionen Oberfrankens und der Oberpfalz - gerade in der Phase von 1933 bis 1939 immer wieder in Form spontaner, zumeist wohl nicht politisch motivierter Arbeitsniederlegungen, Streiks und Sabotageaktionen manifestierte, die vom NS-System nach außen hin totgeschwiegen wurden, in den erhalten gebliebenen Behördenberichten (vor allem der Regierungspräsidenten) aber immer wieder deutlich werden 223 . Das häufig unproportional starke Votum für die KPD in diesen halbindustriellen Armutsgebieten war noch weniger als in den Großstädten und in den industriellen Mittelstädten in organisatorischer Stärke der Partei oder weltanschaulicher Überzeugung der Arbeiterschaft begründet, sondern war, wie schon angeführt, vor allem Ausdruck eines elementaren sozialen Protests. Zwischen dem geschulten kommunistischen Facharbeiter in Augsburg oder Nürnberg oder dem kommunistischen Literaten KPD-Stimmen bei den Reichstagswahlen vom 6.11.1932 im Bezirk: Amberg 1034/ 7,0% Tirschenreuth 2337/10,9% Viechtach 1289/15,8% Burglengenfeld 2720/20,5% Cham 1922/15,8% Regen 2941/27,9% Sulzbach 981/ 9,5% Kötzting 1766/19,0% Grafenau 995/16,1% (ZSBSLA, a.a.O.) KPD-Stimmen bei den Reichstagswahlen vom 6.11.1932 im Bezirk: Alzenau 1709/11,2% Lohr 1342/11,6% Obernburg 1463/10,0% Aschaffenburg 3570/16,7% Miltenberg 1219/10,5% Würzburg 2871/12,3% (ZSBSLA, a.a.O.) KPD-Stimmen bei den Reichstagswahlen vom 6.11.1932 im Bezirk: Altötting 2257/10,0% Rosenheim 1856/ 8,3% Weilheim 3042/15,4% Traunstein 2508/11,0% Miesbach 2358/10,9% (ZSBSLA, a.a.O.) KPD-Stimmen bei den Reichstagswahlen vom 6.11.1932 im Bezirk: Illertissen 1140/10,4% Füssen 866/7,9% Kempten 1524/7,6% (ZSBSLA a.a.O.) Zur feinmechanischen Industrie im Allgäu siehe den Sonderbericht der Wehrwirtschaftsinspektion VII (Südbayern) vom 12.6.1935 (BA/MA, Bestand R.W. 19/20). Siehe dazu weiter oben, S. 6 f. Vgl. dazu Bayern in der NS-Zeit Bd. 1, a.a.O. S. 193-325.
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und Parteifunktionär in München und dem früh- oder »proto«-industriellen Korbmacher in den Bezirken Kronach und Coburg, im Spessart oder in Karlshuld/Bezirk Neuburg an der Donau standen Welten ganz unterschiedlicher Lebens- und Politikerfahrung. Die Frage nach dem Sozialprofil der K P D in Bayern muß unter Berücksichtigung dieser verschiedenen Geländearten gestellt werden. Der Versuch, dieses Sozialprofil in seiner regionalen und strukturellen Unterschiedlichkeit in einer knappen Typologie nachzuzeichnen, kann sich, darauf wurde schon hingewiesen, nicht auf statistisch verwertbare Sozialdaten zur Mitgliedschaft der bayerischen K P D 2 2 4 stützen; man muß diese Frage auf Umwegen angehen und kann wohl nur Tendenzen feststellen und Indizien und Entwicklungsbedingungen aufzeigen, deren Repräsentativität für die bayerische K P D in konkreten Zahlenverhältnissen festzuschreiben nicht möglich ist. Die folgenden Überlegungen stützen sich auf Polizei- und Behördenangaben und auf die wenigen bereits genannten Regional- und Lokalstudien zur Arbeiterbewegung in Bayern, sind aus häufig indirekten Hinweisen in späteren mündlichen oder schriftlichen Erlebnisberichten beteiligter Personen abgeleitet und ergeben sich insbesondere aus der Auswertung der überlieferten Akten von Verfahren gegen bayerische Kommunisten vor den Sondergerichten, dem Oberlandesgericht München oder dem Volksgerichtshof. Die Tatsache, daß so unterschiedliche Quellengruppen immer wieder ein auch in einzelnen Strichen vielfach übereinstimmendes Bild des sozialen und sozialpsychologischen Hintergrunds der KPD-Mitgliedschaft in Bayern zeichnen, erlaubt, wie wir meinen, bei aller gebotenen quellenkritischen Vorsicht zumindest die Formulierung von Arbeitshypothesen. Betrachtet man Mitgliederstruktur und Rekrutierungsfeld der K P D in Bayern unter dem Gesichtspunkt sozialer Herkunft und gesellschaftlicher Prägung, so lassen sich typische Charakterzüge der bayerischen K P D erkennen, die vom Bild der Partei auf Reichsebene zum Teil deutlich abweichen. Die bekannte These, in der K P D seien vor allem ungelernte Arbeiter mit niedrigem gewerkschaftlichem Organisationsgrad und geringer politischer und gewerkschaftlicher Erfahrung, allgemein Arbeiterschichten, die besonders spät vom Prozeß der Industrialisierung und in seinem Gefolge von den Organisationen der Arbeiterbewegung erfaßt worden seien, oder gar der »Bodensatz der Gesellschaft« organisiert, ist fast so alt wie die K P D selbst und wurde aus begreiflichen politischen Gründen in der Weimarer Zeit vor allem von sozialdemokratischer Seite immer wieder vorgebracht 225 . Sie ist, in dieser Ausschließlichkeit formuliert, im Reichsmaßstab unzutreffend. Obzwar sich die K P D besonders, wenn auch nicht
22i
Lediglich über das Verhältnis von betriebstätigen und arbeitslosen bzw. nicht arbeitenden Mitgliedern lassen sich für einzelne Jahre präzise Angaben machen - so für die K P D in Nordbayern im Jahr 1928/29, Anlage zum Sonderbericht Nr. 147/11/29 der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth vom 8 . 4 . 1 9 2 9 , a.a.O., wo als Ergebnis der Reichskontrolle 1928 festgestellt wird, 67 Prozent der Parteimitglieder in Nordbayern seien Betriebsarbeiter (Reichsdurchschnitt 62,3 Prozent), oder für beide Parteibezirke die mehrfach zitierte Aufstellung der Reichsleitung der K P D über die organisatorische Entwicklung der Partei im Jahre 1931, die Ende 1931 den Anteil der Betriebsarbeiter an der Mitgliedschaft der K P D mit 14,5 Prozent (Nordbayern) und 16,3 Prozent (Südbayern) angibt.
225
Siehe etwa Hoegner, Wilhelm: Die verratene Republik. München 1958, S. 289ff.; Wunderer, Hartmann: Materialien zur Soziologie der Mitgliedschaft und Wählerschaft der K P D zur Zeit der Weimarer Republik. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie Bd. 5. Frankfurt 1975, S. 258f. Vgl. dazu Peukert, Detlev: Zur Sozialgeschichte der Kommunistischen Partei Deutschlands. In: Zur Geschichte der Arbeiterbewegung. H. 4 / 1 9 7 8 , S. 2 9 - 5 4 , insbes. S. 35ff.
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durchweg erfolgreich, um die Mobilisierung unorganisierter Arbeiter bemühte - gehörten doch die generationenlang in sozialdemokratischen Organisationen und Gewerkschaften beheimateten Arbeiter in den alten Industrierevieren zumeist zum sicheren Mitglieder- und Wählerpotential der SPD - , zeigen die umfänglichen Reichskontrollen der KPD in den Jahren 1927 und 192 9 226 , daß insgesamt gesehen rund zwei Drittel der KPD-Mitglieder in diesem Zeitraum gewerkschafdich organisiert waren, von denen fast die Hälfte schon vor dem Ersten Weltkrieg und rund 65 Prozent vor 1920 den Gewerkschaften angehörten. Knapp 70 Prozent der KPD-Mitglieder waren in der zweiten Hälfte der 20er Jahre der klassischen Industriearbeiterschaft (Metall-, Maschinen-, Bauarbeiter usw.) zuzurechnen; die KPD bildete somit hinsichtlich der Sozialstruktur ihrer Mitgliedschaft - und vermutlich auch ihrer Wählerschaft - auf Reichsebene die wohl homogenste Partei der Weimarer Republik 227 . Wurde diese Struktur der KPD-Mitgliedschaft während der Weltwirtschaftskrise aufgrund des hohen Zustroms von Arbeitslosen auch verändert bzw. »verwässert«, so zeigen diese Angaben, die sich durch die Analyse der regionalen Verteilung der KPDMitgliedschaft und ihre Aufschlüsselung nach Betriebstypen und -großen sicherlich noch erhärten lassen, dennoch, daß die gängige Einschätzung der K P D als der Partei der rückständigen und politisch-gewerkschaftlich unerfahrenen Arbeiter im Reichsmaßstab - zumindest in der Phase politisch-gesellschafdicher »Normalität« in der zweiten Hälfte der 20er Jahre - nicht zutreffend ist. Für die bayerische KPD allerdings scheint sie bis zu einem bestimmten Grad und regional unterschiedlich durchaus zu gelten, was vor allem wohl auf die spezifische Rückständigkeit der retardierten industriellen Entwicklung und das besondere Gewicht des agrarischen Sektors in Bayern zurückzuführen ist 228 . Auch in der bayerischen KPD findet sich unter der Mitgliedschaft jener spezifische Handwerker/Facharbeiter-Typus, der in der bayerischen SPD in besonderem Maße vorherrschend war 229 , wenngleich sein Anteil quantitativ sicherlich nicht herausragte und insbesondere als (groß)industrieller Facharbeiter wohl nur in den drei Großstädten Augsburg, München und Nürnberg eine Rolle spielte. Sein Gewicht innerhalb der Parteimitgliedschaft übertraf seinen quantitativen Anteil sicherlich bei weitem, rekrutierten sich doch, wie auch die weiter oben angeführten Beispiele belegen 230 , die Funktionäre der bayerischen K P D in hohem Maße aus dieser besonderen Arbeiterschicht, deren Vertreter keineswegs auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Hierarchie standen. Infolge zunehmender Arbeitslosigkeit im Verlauf der Weltwirtschaftskrise, von der KPD-Mitglieder aufgrund der Entlassungspraxis der Unternehmer in besonderem Maße betroffen waren, ging sein Anteil an der Mitgliedschaft der 226
227 22
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Wahrheitsgehalt zu überprüfen der Redaktion offenbar nicht möglich war, das völlige Fehlen von Berichten aus den Betrieben und die nur sehr spärlichen Nachrichten aus den Stadtvierteln - all das zeigt deutlich, daß der Inhalt der einzelnen Nummern von einem relativ kleinen redaktionellen Stab zusammengestellt wurde, der, durch die illegalen Existenz- und Arbeitsbedingungen zusätzlich isoliert, nur über schwache Verbindungen zu anderen kommunistischen Gruppen in den Stadtvierteln, geschweige denn zur gesellschaftlichen Realität der früher kommunistischen Arbeiter verfügte. Bis zum Herbst 1933 wurde die illegale Neue Zeitung wesentlich von Walter Häbich verfaßt und zusammengestellt. Geboren 1904 bei Stuttgart, 1 9 1 8 - 1 9 2 1 Lehre als Bandagist, 1 9 2 3 - 1 9 2 5 Metallarbeiter. 1920 KJVD-Mitglied, 1921 Vorsitzender einer Ortsgruppe, 1922 Vorsitzender des KJVD Groß-Stuttgart. Ab 1923 KPD-Funktionär, Herbst 1923 nach dem »deutschen Oktober« verhaftet, bis 1925 mit Unterbrechungen in Haft. Anschließend Leiter des KJV Württemberg, hauptamtlicher Funktionär, ab 1926 Leiter des KJV Bezirk Wasserkante (Hamburg) und als solcher Mitglied der KPD-Bezirksleitung Wasserkante, stand in enger Verbindung zu Ernst Thälmann. 1 9 2 8 - 1 9 2 9 Verbandsvorsitzender des KJVD, 1929 auch kurzfristig ZK-Mitglied der KPD. Anschließend Redakteur des Klassenkampf in Halle, ab 1930 Redakteur der Neuen Zeitung in München. Jan.-Dez. 1932 Festungshaft, anschließend wieder in München. Ab März 1933 Redakteur der illegalen Neuen Zeitung. Herbst 1933 verhaftet, wurde Häbich am 30. Juni 1934 im K L Dachau ermordet 51 .
Die Herstellung der Neuen Zeitung in der Illegalität wurde unmittelbar von Spitzenfunktionären der Münchener K P D bzw. der südbayerischen Bezirksleitung - zunächst von Franz Xaver Schwarzmüller 52 - organisiert, was allein schon den politischen Stellenwert zeigt, den die Münchener Leitung dem Weitererscheinen der Neuen Zeitung beimaß. Schwarzmüller baute mit Hilfe von Georg Frühschütz, dem ehemaligen südbayerischen Leiter der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit - von ihm wird noch zu reden sein - im Sommer 1933 einen eigenen »Apparat« zur Herstellung und Verbreitung der Neuen Zeitung auf; ihm oblag auch die Herstellung und Verbreitung anderer illegaler Zeitungen wie z.B. der Roten Offensive, einem Mai und Juni 1933 in drei Nummern erschienenen Funktionärsorgan der K P D Südbayern, das vor allem Resolutionen und Beschlüsse des Z K der K P D sowie einige kurze Nachrichten der Bezirksleitung veröffentlichte, oder dem Pionier, einer im Sommer 1933 illegal weitergeführten Zeitung der Revolutionären Gewerkschaftsopposition'0. Die Auflage der Neuen Zeitung betrug im Sommer 1933 zwischen 1000 und 2000 Exemplaren 54 . Ein im Juli 1933 von der Polizei bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmter Verteilerplan 55 , der - wenig konspirativ - Namen und Adressen von Unterverteilern enthielt, zeigt, daß zu diesem Zeitpunkt die Auflage fast ausschließlich in München verteilt wurde. Von Nummer 5 der Neuen Zeitung, die in der ersten Junihälfte hergestellt wurde, gingen lediglich 50 Exemplare nach Augsburg, von Nummer 6 nachweislich 100 Exemplare nach Augsburg, 30 nach Rosenheim und 20 nach Grö-
51 52 53 54
55
Weber, Wandlung 2, a.a.O. S. 147. Siehe weiter oben, S. 92. Als Anlage bei dem Verfahren OJs 100/33, a.a.O. Ebd. B1.6 R und Bl. 69 ff.; StA München, Staatsanwaltschaft München Nr. 7582, Verfahren gegen Friedrich Lorenz und Genossen. Ebd.
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benzeil. Wie aus dem beschlagnahmten Verteilerplan hervorgeht, waren neben den Unterverteilern in den einzelnen Stadtvierteln auch Vertreter der kommunistischen Nebenorganisationen 56 Bezugspersonen von größeren Mengen der Zeitung, so daß möglicherweise über die Verteilerstränge dieser Organisationen weitere Nummern des Blattes außerhalb von München verbreitet wurden: In dem Verteilerplan ist auch ein Hinweis auf Passau enthalten. Die Verteilung der Nummer 6 der Neuen Zeitung auf die einzelnen Münchener Stadtviertel, wie sie aus dem Plan hervorgeht, kann als Indikator der jeweiligen Stärke des kommunistischen Milieus angesehen werden: Von der 1850 Exemplare starken Auflage dieser Nummer waren 300 Exemplare dem Westend, 150 München-Nord (d.i. Nordschwabing und Milbertshofen), jeweils 80 München-Süd (Schlachthausviertel, Sendling, Thalkirchen) und München-Nord-Ost (Haidhausen, Steinhausen), jeweils 50 den Stadtteilen Giesing und Schwabing sowie Pasing und 20 dem Viertel Neuhausen zugedacht. Die politische Polizei versuchte natürlich vor allem, dem Hersteller- und Verteilerapparat der Neuen Zeitung auf die Spur zu kommen. Als sichtbarem Zeichen für ein organisiertes Weiterbestehen der K P D im Untergrund maß sie ihm offenbar eine ähnlich hohe Bedeutung zu wie die Partei selbst. Im August 1933 konnte sie diesen Apparat zum ersten Mal zerschlagen, ohne daß es ihr dadurch gelang, das Weitererscheinen der Neuen Zeitung endgültig zu verhindern. Die Einrichtung und Arbeit dieses Hersteller- und Verteilerapparats und seine Aushebung im August 1933 wollen wir im Folgenden ausführlicher darstellen und an diesem Beispiel die konkrete Situation der K P D in München in der ersten Phase der Illegalität beleuchten. Nach der Verhaftung des Großteils der mittleren und dem Untertauchen der Spitzenfunktionäre verfügte die K P D in München im Mai 1933 kaum noch über einsatzfähige erfahrene Aktivisten, die in der Lage gewesen wären, die Herstellung der Neuen Zeitung zu organisieren. Von den ehemaligen Redakteuren des Blattes war nur Walter Häbich auf freiem Fuß geblieben; er lebte bis zu seiner Verhaftung im Oktober 1933 in wechselnden Quartieren im Untergrund und verstand es, bis Mitte Mai zwei von ihm zusammengestellte Nummern (Nr. 3 und 4) illegal herauszugeben 57 . Erst im Mai 1933 konnte die Organisation von Herstellung und Verbreitung auf eine breitere Basis gestellt werden. Maßgeblicher Initiator hierbei war Franz Xaver Schwarzmüller, der neu eingesetzte Org-Leiter der zweiten illegalen Bezirksleitung, bezeichnenderweise kein Partei- sondern ehemaliger RGO-Funktionär. Bei der Neuordnung der Herstellung und des Vertriebs der Neuen Zeitung zog Schwarzmüller vor allem Mitglieder und Funktionäre der ehemaligen Kampfgemeinschaft für rote Sporteinbeit heran, insbesondere zwei leitende Funktionäre der südbayerischen Bezirksorganisation dieses Verbands, den Drucker Georg Frühschütz und den Maschinenschlosser Franz Scheider. 56
Der Plan führt folgende Organisationen auf: »Jugend« (d.i. der illegale K.JVD), »Sport· (Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit), »Freidenker« (Verbandproletarischer Freidenker), »A. M.« (d.i. der KPD-Militär-Apparat), »RGO« und »Einheitsverband« (d. h. der der RGO angeschlossene und in München relativ starke Einheitsverband für das Baugewerbe). Laut Verteilerplan ging an diese illegalen Organisationen insgesamt jeweils zwischen einem Drittel und der Hälfte der Auflage der genannten illegalen Zeitungen. Hier wird erneut die grundsätzliche Konzeption der KPD deutlich, nicht nur die Parteiorganisation, sondern auch die kommunistischen Nebenorganisationen als »Massenorganisationen« illegal weiterzuführen bzw. abbildgetreu in der Illegalität wiederaufzubauen.
57
StA München, Staatsanwaltschaft München, Nr. 7582.
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Zumindest mit dem ledigen und konfessionslosen Frühschütz, damals 34 Jahre alt, hatte Schwarzmüller auch durch gemeinsame RGO-Tätigkeit schon vorher Verbindung gehabt. In Kohlgrub bei Garmisch-Partenkirchen geboren und aufgewachsen, war Frühschütz nach vierjähriger Buchdruckerlehre in Murnau und kurzer Arbeit als Druckereigehilfe in Bayreuth im Frühjahr 1918 zur Marine eingezogen worden und im Februar 1919 mit den bayerischen Matrosen unter Johann Conrad Lotter58 nach München zurückgekehrt. Nach der Niederschlagung der Münchener Räterepublik zu 7 Wochen Gefängnis verurteilt, arbeitete Frühschütz anschließend bei Fulda und im Ruhrgebiet als Buchdrucker, ab Februar 1924 wieder in München. Zuletzt war er bis März 1933 Korrektor und RGO-Betriebsrat im Münchener Buchgewerbehaus; die Firma sprach im Juli 1932 aus politischen Gründen die Entlassung aus, die jedoch vom Arbeitsgericht aufgehoben wurde. Frühschütz war ab 1930 KPD- und RGO-Mitglied, bei der RGO zeitweise Fraktionsleiter der Buchdruckeropposition, ab 1931 Mitglied der Roten Hilfe und der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit, bei letzterer ab Herbst 1932 Landesleiter (Pol-Leiter) Südbayern5'. Franz Scheider, geboren in München, katholisch, gelernter Maschinenschlosser, im Frühjahr 1933 knapp 20 Jahre alt, ab 1931 arbeitslos, ab Sommer 1933 ohne Unterstützung, war ursprünglich im Deutschen Metallarbeiterverband sowie der sozialdemokratischen Naturfreundebewegung und der Freien Turnerschaft Schwabing organisiert; ab 1929 Mitglied des KJVD und ab 1931 der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit, wurde er 1932 zum südbayerischen Organisationsleiter berufen und war damit bei »Rot-Sport« zweiter Mann hinter Georg Frühschütz60. Unmittelbar nach dem 9. März 1933 hielten sich beide aus Furcht vor Verhaftung nicht mehr in ihren Wohnungen auf, versteckten sich zunächst etwa zwei Wochen lang im bayerischen Oberland im Raum von Lenggries und auf österreichischem Gebiet. Nach kurzfristiger Rückkehr nach München im April 1933 entschlossen sich beide, offensichtlich unter dem Eindruck der desolaten Situation der K P D bzw. ihrer Überreste zu dieser Zeit, nach Rußland zu emigrieren. Beide gelangten teils zu Fuß, teils per Bahn bis nach Wien und wurden dort voneinander getrennt, weil Scheider, der keinen Paß bei sich hatte, wegen Paßvergehens festgenommen, mehrere Wochen festgehalten und anschließend aus Österreich ausgewiesen wurde, auf eigenen Wunsch in die Tschechoslowakei. Frühschütz kehrte Anfang Mai 1933 vor allem infolge Geldmangels nach München zurück. Scheider, der in der C S R ebenfalls wegen Paßvergehens festgenommen und ausgewiesen wurde, erst Mitte Juni 1933. Nach Kontaktaufnahme mit »Erwin«, dem damaligen Org-Leiter der K P D in München (recte Paul Jahnke) 6 1 wurde Frühschütz nach dessen Abberufung ab Mitte Mai von Schwarzmüller in die Bemühungen um das bedrohte Weitererscheinen der Neuen Zeitung einbezogen. Gedruckt wurde die Zeitung damals in einer Spenglerwerkstatt in Obersendling, es fehlte jedoch vor allem eine Räumlichkeit, in der ungestört die Matrizen geschrieben werden konnten. Dieses Problem konnte jedoch bald und auf eine unter dem Gesichtspunkt der Tarnung geradezu ideale Weise gelöst werden: Frühschütz kam über den Schreiner Sebastian Steer und andere ihm bekannte Mitglieder der ehemaligen
Kampfgemeinschaft
für rote Sporteinheit in der zweiten Maihälfte mit dem 19 Jahre alten Hugo Scheurer 58
" 60 61
Siehe dazu Mitchell, Alan, a.a.O. S . 2 6 7 ; Raatjes, John, a.a.O. S . 9 5 f f . Aus diesem Zusammenhang dürfte Frühschütz auch Franz Stenzer näher gekannt haben. O L G München, OJs 100/33, B1.95ff. Ebd. Bl. lOff. Siehe dazu weiter oben, S. 91.
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aus München in Kontakt - wie alle Mitbeteiligten später behaupteten, »zufällig« und im Verlauf eines Badeausflugs. In München aufgewachsen, nach sechsjährigem Realschulbesuch zwei Jahre lang elektrotechnischer Praktikant bei Siemens & Halske in München-Obersendling, nach Abbruch der Ausbildung Mai 1932 bis zur Gleichschaltung der Zeitung März/April 1933 gelegentlicher Mitarbeiter im Lokalteil der Münchener Neuesten Nachrichten, war Hugo Scheurer seit seiner Schulzeit Mitglied der Marianischen Studentenkongregation bzw. der Studentenkongregation Alt-München, die ihren Sitz im Asamhaus in der Sendlinger Straße im Zentrum von München hatte. Scheurer war seit 1929 Bühnenmeister der kleinen Laientheater-Bühne, die die Kongregation im Asamsaal im Parterreraum des Rückgebäudes des Asamhauses unterhielt, und verfügte infolgedessen über den Haupt- und sämtliche Innenschlüssel des Asamgebäudes, insbesondere zu einem ausgebauten Bibliothekszimmer in den Speicherräumen oberhalb des Asamsaals. Unter Vorspiegelung schriftstellerischer Arbeit konnte Scheurer den Präses und Priester der Kongregation dazu bewegen, ihm das Bibliothekszimmer als Arbeitsraum zu überlassen; er schmuggelte zusammen mit Frühschütz eine vermutlich von Schwarzmüller beigebrachte Schreibmaschine im Rucksack in das Bibliothekszimmer, und beide schrieben bis zur Verhaftung von Georg Frühschütz im Juli 1933 die Matrizen für die Nummern 5 und 6 der Neuen Zeitung sowie für die beiden im Juni und Juli 1933 erschienenen Nummern der Roten Offensive. Funktionärorgan der KPD - Bezirk Südbayern, die im wesentlichen Entschließungen und Nachrichten des ZK der KPD enthielten, die Nummern 10 und 11 des Pionier, einer illegalen RGO-Zeitung, sowie eine Reihe von Flugblättern und sonstige illegale Materialien62. Scheurer sicherte das Bibliothekszimmer durch Vorhänge an Fenstern und Glastüre gegen Einsicht von außen und legte zur besseren Verständigung eine versteckte Klingelleitung vom Hof des Asamhauses in das Bibliothekszimmer; eine eigene Alarmanlage, die er noch bauen wollte, wurde nicht mehr fertig. Selten dürfte eine immerhin überregionale illegale Organisation über einen ähnlich sicheren und gegenüber eventueller Neugierde von Nachbarn oder dem berufsmäßigen Mißtrauen von Polizeiorganen in gleicher Weise abgeschotteten Stützpunkt zur Herstellung illegaler Literatur verfügt haben, wie ihn das Asamhaus als kirchliches Gebäude und traditionsreicher katholischer Vereinssitz mit lebhafter Personenfluktuation im Zentrum von München zu einem Zeitpunkt darstellte, zu dem es zumindest in München noch nicht zu einem grundsätzlichen Konflikt zwischen nationalsozialistischem Regime und katholischer Kirche gekommen war. Der schon mehrfach angeführte Bericht der Bayerischen Politischen Polizei über Die kommunistische Bewegung in Bayern seit der nationalen Revolution! von Oktober 1933 hebt denn auch gebüh62
Laut Aussage von Scheurer (OJs 100/33, B1.83) wechselten er und Frühschütz einander beim Tippen ab, wobei jeweils der andere diktierte. Sowohl Frühschütz als Drucker wie Scheurer als junger Mann, der sich bereits intensiv in journalistischer Arbeit versucht hatte, verfügten sicherlich über entsprechende Fertigkeit im Schreibmaschineschreiben, was innerhalb eines Organisationszusammenhangs, in dem Ausbildung und berufliche Erfahrung der Mitglieder diese Fertigkeit nicht allzu häufig hervorgebracht haben dürften, natürlich von besonderer Bedeutung war. Zur Illustration dieses Problems sei ein kurzes Zitat aus dem Urteil gegen eine kommunistische Widerstandsgruppe in Rosenheim angeführt, die sich im Frühjahr 1934 eine Schreibmaschine zur Herstellung illegaler Literatur beschafft hatte. Es heißt hier lakonisch: »[Der Bürstenmacher Franz Xaver] Mühlbauer ... verbrachte sie [die Schreibmaschine] in seine W o h n u n g und begann das Schreiben darauf zu erlernen. ... Nach einiger Zeit holte [der Vertreter Wilhelm] Oswald die Schreibmaschine zu sich in die Wohnung, u m auch seinerseits darauf sich zu üben. Hiebei wurde die Maschine gebrauchsunfähig.. (OLG München, OJs 61,62, 90,99/1938, Urteil S. 38.).
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rend das »unglaubliche Raffinement« hervor, mit dem die Einrichtung einer »kommunistischen Redaktionsstube in einem Priesterhaus in München« durchgeführt worden sei: »In einem Priesterhaus konnten sie denn auch wirklich ungestört arbeiten.« Die hergestellten Matrizen für die »illegalen Hetzschriften« etwa seien in der Bibliothek des Priesterhauses aufbewahrt worden, »und zwar in einer Schatulle, die die Form eines Buches aufwies ... Es fehlte selbst nicht einmal ein lateinischer Aufdruck am Rükken des vermeintlichen Buches« 63 . Franz Scheider, der Mitte Juni 1933 wieder nach München zurückgekehrt war, nahm alsbald Kontakt mit Frühschütz und über ihn mit Franz Xaver Schwarzmüller auf; nach einem kurzfristigen vergeblichen Versuch, die ehemalige Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit als illegale Organisation zu reaktivieren, wurde er von Schwarzmüller offensichtlich an zentraler Stelle in die Organisation des Verteilerapparats der Neuen Zeitung und der anderen illegalen Blätter eingebaut, obgleich er das während des Verfahrens nie eingestand 64 . Laut späterem Augenzeugenbericht fühlte sich Franz Scheider nach seiner Rückkehr aus Österreich bzw. der Tschechoslowakei in seinem angestammten Milieu so sicher, daß er zahllose Male seine Eltern aufsuchte und praktisch bei ihnen wohnte. Die ehemalige (sozialdemokratische) Freie Turnerschaft Schwabing, der auch Franz Scheider ursprünglich angehört hatte, war nach ihrer Auflösung im Frühjahr 1933 mehr oder minder geschlossen in den bürgerlichen Fußballklub DSC München eingetreten und versuchte auf diese Weise organisatorisch zu überleben und den Zusammenhalt zu wahren65. Franz Scheider war trotz seiner führenden Funktionen in der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit seinen Alters- und Sportgenossen aus dem nordwestlichen Schwabing noch so sehr verbunden, daß er - mit einem nur geringfügig manipulierten Mitgliedsausweis auf den Namen Franz Schneider - hier untertauchen und sogar noch sportlich aktiv sein konnte; er wurde nicht denunziert, obgleich alle Mitglieder der ehemaligen Freien Turnerschaft Schwabing um seine Identität, seine KP-Mitgliedschaft und seine illegale Arbeit wußten 66 .
Mitte Juli erschien ein Polizeibeamter in der Wohnung der Eltern von Franz Scheider, um ihn wegen Verdachts der Hehlerei zu vernehmen; Scheider ergriff beim Erscheinen des Polizeibeamten die Flucht und entkam. Der Polizist konnte jedoch Georg Frühschütz verhaften, der Scheider gerade besuchen wollte. Zudem fielen ihm in der Wohnung der bereits genannte Verteilerplan der Neuen Zeitung mit Namen und Adressen einer Reihe von Unterverteilern in die Hände, die anschließend alle verhaftet wurden. Dadurch wurde der illegale Verteilerapparat vorerst lahmgelegt. Die Geheimredaktion im Asamhaus und die Druckerei in Obersendling blieben zunächst jedoch unentdeckt. Gegen zwölf Personen, die auf dem Verteilerplan namentlich figurierten und angeklagt waren, die Neue Zeitung weiterverteilt zu haben, verhandelte das Sondergericht München am 20. Februar 1934. Es waren dies - der sechsunddreißigjährige verheiratete Satder Friedrich Erich Lorenz, im Ersten Weltkrieg verwundet, ab 1929 arbeitslos, KPD-Mitglied seit 1932, 1933 Agitprop-Leiter einer Straßenzelle; - der einundzwanzigjährige ledige Drucker Michael Adolf Scharl, RGO-Mitglied seit 1932; 63 64 65 66
StA München, L R A 4 7 0 8 9 , a.a.O. S. 15. O L G München, OJs 100/33, Urteil S. 10. Vgl. dazu weiter unten, S. 419. Interview Gustav Appel/München vom 2 1 . 7 . 1 9 8 1 .
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- der fünfundreißigjährige verheiratete Fräser Max Kirmaier, arbeitslos seit 1930, in den 20er Jahren in der Naturfreunde-Bewegung und ab 1932 in Roter Hilfe und Erwerbslosen-Bewegung aktiv; - der fünfunddreißigjährige verheiratete Hilfsarbeiter Georg Hundertschuh, 1919 Angehöriger der Roten Armee in München, KPD-Mitglied, ab 1931 arbeitslos; - der zweiundvierzigjährige verheiratete Maurer Georg Hanslmeier, Soldat im Weltkrieg, ab 1922 KPD-Mitglied und Funktionär der Zelle Schlachthaus, Mitglied von Roter Hilfe und RGO, ab 1930 zumeist arbeitslos, 1931 laut eigener Angabe Parteiaustritt; - der fünfunddreißigjährige verheiratete Schneider Hermann Schmid, im Weltkrieg mehrfach verwundet, in der Textilarbeitergewerkschaft organisiert, bestritt vor Gericht, jemals der KPD oder einer ihrer Untergliederungen angehört zu haben; - der achtundvierzigjährige verheiratete Gastwirt Franz Buttenhauser, bis 1930 Former in der Lokomotivfabrik Krauss-Maffei und Mitglied der SPD und des Metallarbeiterverbands; - der achtunddreißigjährige verheiratete Heizungsmonteur Franz Reinhard, im Weltkrieg verwundet, ab 1930 arbeitslos und seit 1932 Mitglied von KPD und Roter Hilfe; - die fünfundvierzigjährige verwitwete Putzerin Anna Scheugenpflug, ab Ende 1932 Mitglied der Roten Hilfe; - ihr neunzehnjähriger Sohn Franz Xaver Scheugenpflug, Mechaniker, Mitglied der Bayernwacht (Wehrverband der BVP), aus der er angeblich wegen »Interesselosigkeit« ausgeschlossen wurde; - der siebenundzwanzigjährige verheiratete Kesselschmied Max Völkl, seit 1931 RGO-Mitglied, und - der sechsunddreißigjährige ledige Molkereigehilfe Michael Fröhlich67. Mit zwei Ausnahmen waren sämtliche Beschuldigten vor dem Prozeß im KL Dachau in Haft. Das Sondergericht München verurteilte Lorenz, Kirmaier, Hundertschuh, Hanslmeier, Schmid und Fröhlich zu Gefängnisstrafen zwischen sechs und zwölf Monaten, die übrigen Angeklagten wurden mangels Beweisen freigesprochen68. Unmittelbar nach seinem Entkommen traf Franz Scheider mit Schwarzmüller zusammen, der ihn mit einer kleinen Geldsumme und einem Zelt versah, das es Scheider ermöglichte, rund 3 Wochen in der Gegend um den Starnberger und den Ammersee zu kampieren, bis Schwarzmüller einen Unterschlupf für ihn ausfindig gemacht hatte und ihn nach München zurückholen konnte. Am 10. August führte die Politische Polizei eine großangelegte Verhaftungs- und Haussuchungsaktion durch, bei der laut Pressemeldungen 68 illegal aktive Kommunisten festgenommen worden seien 69 . Bei dieser Polizeiaktion wurde auch die geheime Druckerei in der Spenglerwerkstatt in Obersendling entdeckt und ausgehoben. Das war unter anderem auch deshalb folgenschwer, weil Hugo Scheurer nach der Verhaftung von Georg Frühschütz im Auftrag Schwarzmüllers allein in dem Bibliothekszimmer im Asamhaus weitergearbeitet und die Matrizen für die Nummer 7 der Neuen Zeitung fertiggestellt hatte, die nun nicht mehr in Obersendling gedruckt werden konnte. Bereits am 11. August begab sich Franz Scheider im Auftrag von Schwarzmüller auf die Suche nach einer neuen Druckmöglichkeit und nach neuen Papierquellen. Er wandte sich dabei an einen Genossen aus der ehemaligen Kampfge67
StA München, Staatsanwaltschaft München Nr. 7582. Ebd. ' Münchener Neueste Nachrichten mm 11.8.1933, zitiert nach Bretschneider, a.a.O. S.36.
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meinschaft für rote Sporteinheit bzw. der Freien Turnerschaft, den zwanzigjährigen Elektromonteur Franz Peter (seit April 1932 arbeitslos, Mitglied des Sportclubs Germania in Moosach, der Freien Turnerschaft, des Deutschen Metallarbeiterverbands und der Roten Hilfèj·, zusammen mit Peter besorgte Scheider über einen Druckereibetrieb, in dem früher bereits die Programme u. ä. der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit gedruckt worden waren, zum Preis von knapp 50 Mark 18 000 Blatt Abzugspapier - was prompt von einem Angestellten des Zuliefererbetriebs der Polizei denunziert wurde 70 . Beide transportierten das Papier mittels Fahrrad-Anhänger in mehreren Fahrten in das Zimmer Peters bei dessen Eltern, wo man die Zeitung vervielfältigen wollte. Als sich das aufgrund der unvorhergesehenen Anwesenheit des Vaters von Peter als nicht durchführbar erwies, organisierte Scheider einen Raum für den Druck in der Werkstatt des im Münchener Stadtteil Obersendling abseits gelegenen Anwesens des bereits erwähnten ehemaligen Rot-Sport-Genossen Sebastian Steer. Steer, ein verheirateter dreiunddreißigjähriger Schreiner aus Gelting/Bezirk Wolfratshausen südlich von München hatte nach Beendigung seiner Lehrzeit in verschiedenen Orten Oberbayerns und ab 1924 in München gearbeitet, war ab 1929 arbeitslos und ab 1930 ohne Unterstützung; aus Ersparnissen und Ersparnissen seiner Frau hatte er sich 1925 einen Baugrund in Obersendling gekauft und dort ab 1927 mit Hilfe von Freunden und Kollegen ein Häuschen gebaut, das, obgleich bereits 1929 bezogen, im Jahr 1933 immer noch nicht fertig ausgebaut war. Steer war ab 1924 Mitglied des Deutschen Holzarbeiterverbands und trat 1931 aufgrund »der vielen freien Zeit während meiner Arbeitslosigkeit« , wie er selbst in einer Aussage anführte 7 1 , der JiuJitsu-Abteilung des Arbeitersportvereins Atbena bei, der der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit angegliedert war; 1932 trat Steer der K P D bei. Er war aus dieser Zeit gut bekannt mit Scheider und Frühschütz, ebenso mit Hugo Scheurer, dessen Verbindung zu Frühschütz er im Mai 1933 vermittelt hatte.
Nach Uberwindung einer Reihe weiterer Schwierigkeiten - ein neuer Abzugsapparat mußte beschafft und Hilfskräfte mußten herangezogen werden - konnten Scheider, Steer und Genossen, zu denen am folgenden Tag auch noch Hugo Scheurer stieß, am 17. August vormittags mit dem Druck der Nr. 7 der Neuen Zeitung beginnen: Die Nummer sollte in einer Auflage von 1000 Exemplaren erscheinen und war 26 Seiten (13 doppelseitig bedruckte Blätter) stark. Das Team, zu dem außer den bereits genannten auch noch der zweiundzwanzigjährige ledige Maurer Ludwig Stark aus München gehörte 7 2 , druckte den ganzen Tag, den größten Teil der folgenden Nacht und, nach kurzer Pause, bis gegen Abend des darauffolgenden· Tages. Zu diesem Zeitpunkt war die Zeitung nahezu fertiggestellt, und Scheider hatte bereits rund 20 junge Rot-SportGenossen auf Fahrrädern an einen nahegelegenen Treffpunkt bestellt, um die Verteilung zu übernehmen 73 . Als das Herstellerteam gerade mit Zusammenlegen und Heften der einzelnen Nummern beschäftigt war, umstellte die Polizei - vermutlich aufgrund einer Denunziation - das Anwesen und nahm Scheider, Scheurer, Stark und Steer fest. Alle vier machten bereits am Abend ihrer Verhaftung im Münchener Polizeipräsidium umfassende Aussagen, so daß auch Franz Peter alsbald verhaftet wurde. 70 71 72
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OLG München, OJs 100/33, BI.42. Ebd. B1.116R. Maurerlehre, 1929-30 auf Wanderschaft, anschließend arbeitslos mit 8,40 Mark wöchentlicher Krisenunterstützung, zeitweise Mitglied der (sozialdemokratischen) Naturfreundebewegung, des Arbeiter-Esperantobundes, später in der KPD, Sektion Schlachthaus-Süd, aktiv in der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit. Zu Stark siehe auch weiter unten, S. 275 ff. Bretschneider, a.a.O. S.37; die Verteilergruppe wurde von der Polizei nicht gefaßt.
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Anschließend kamen sie in Schutzhaft ins K L Dachau. Lediglich die Herstellung der Matrizen im Asamhaus wurde von Scheurer erst einen Monat später bei einem erneuten Verhör eingestanden, woraufhin die Polizei auch das Asamhaus durchsuchte und die im Bibliothekszimmer vorgefundenen schriftlichen Materialien und die Schreibmaschine beschlagnahmte. Von den unmittelbar Beteiligten konnte lediglich Franz Xaver Schwarzmüller entkommen, der in die Sowjetunion emigrierte 7 4 . A m 15. Mai 1934 verurteilte das O L G München Frühschütz, Scheider 7 5 , Scheurer, Steer, Stark, Peter und zwei weitere, am Rande beteiligte Mitangeklagte zu Gefängnisund Zuchthausstrafen zwischen fünf Monaten und zweieinhalb Jahren. Diese beiden weiteren Mitangeklagten waren Johann Reisch, ein achtundzwanzigjähriger verheirateter Schreiner, geboren in Neuburg an der Donau, nach Beendigung der Schreinerlehre landwirtschaftlicher Arbeiter in Schwaben, 1926-1929 als Kollege von Sebastian Steer bei einer Baufirma in München, anschließend arbeitslos, politisch nicht organisiert, allerdings laut eigener Aussage KPD-Sympathisant und in einer eher losen Verbindung zur Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit, an deren sportlichen Veranstaltungen er mitunter teilnahm, wohnhaft in einer Arbeiter-Schrebergartensiedlung (der sog. Reichskleinsiedlung) im Münchener Osten, sowie Bruno Freund, siebenunddreißig Jahre alt, ebenfalls verheirateter Schreiner, nach der Lehre Soldat im Ersten Weltkrieg, anschließend bis 1929 Arbeiter im Krupp-Werk in München-Freimann und bei der gleichen Baufirma wie Steer und Reisch und etwa bis zu diesem Zeitpunkt auch Mitglied der SPD und des Deutschen Holzarbeiterverbands, ab 1929 arbeitslos bzw. Gelegenheitsarbeiter, obgleich KPD-Sympathisant, politisch nicht organisiert, stand in diesen Jahren in engem freundschaftlichem Kontakt zu Sebastian Steer und wohnte in dessen Nähe in einer Arbeiter-Wohnblocksiedlung in München-Obersendling. Steer hatte auf Anregung von Franz Scheider beide veranlaßt, als der Polizei unbekannte und nicht bei der KPD als Mitglieder eingeschriebene Personen ihre Wohnungen als Postanlauf-Adressen für die kurzfristig bestehende illegale Reichsleitung der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit in Berlin zur Verfügung zu stellen, die bei dem Versuch einer illegalen Reorganisation von Rot-Sport im Frühjahr 1933 auch wiederholt Flugblätter und Zeitungen an diese Adressen versandt hatte76. Diese Fallgeschichte wurde deshalb so ausführlich dargestellt, weil sie gerade in ihrer anekdotischen Vielgestaltigkeit die realen politischen Möglichkeiten illegaler kommunistischer Arbeit in München im Sommer 1933 plastisch veranschaulicht. Obgleich die Zahl der an dem Versuch der illegalen Weiterführung des südbayerischen Zentralorgans beteiligten Kommunisten und KPD-Sympathisanten für ein einigermaßen repräsentatives Soziogramm dieser illegalen KPD-Aktivitäten nicht hinreicht, zeichnen sich trotz des teilweise recht unterschiedlichen persönlichen und gesellschaftlichen Hintergrunds der Beteiligten doch bestimmte Merkmale und Bedingungen großstädtischer kommunistischer Untergrundarbeit in dieser Phase ab : In überraschend hohem Maß sind in der hier beschriebenen Gruppe sozusagen normale, »klassische« Arbeiter- und Handwerkerberufe vertreten, wenngleich auch hier langjährige Arbeitslosigkeit sich vielfach wohl als Faktor sozialen Abstiegs und als Verlust von Sozialprestige ausgewirkt haben. Alle Beteiligten mit Ausnahme vielleicht von Hugo Scheurer waren nach Wohnungslage, beruflicher Situation und Mitgliedschaft bzw. 74 75
76
Siehe weiter oben, S. 92. Scheider wurde nach Verbüßung seiner Gefängnisstrafe 1939 aus dem K L Dachau entlassen und diente während des Kriegs in einer Bewährungseinheit in Jugoslawien; nach Entdeckung illegaler Kontakte zu jugoslawischen Partisanen soll er 1944 standrechdich erschossen worden sein; sein jüngerer Bruder Pepi Scheider kam unmittelbar vor Kriegsende bei dem Angriff der US-Armee auf Würzburg ums Leben (Interview Gustav Appel 2 1 . 7 . 1 9 8 1 , a.a.O.). O L G München, OJs 11/34, Verfahren verbunden mit OJs 100/33.
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Mitarbeit in Organisationen und Vereinen in ein proletarisch-kommunistisches Milieu eingebunden, dessen spezifische Erscheinungsformen zwischen den Zeilen der Vernehmungsprotokolle immer wieder deutlich hervortreten. Fast alle Beteiligten - mit Ausnahme einiger hochqualifizierter Facharbeiter wie etwa des Druckers Georg Frühschütz - waren bereits langfristig arbeitslos, was die Bereitschaft zu radikaler Opposition gegen die bestehenden Verhältnisse beförderte und - nicht zuletzt - die Chance bot, dafür genügend Zeit aufzubringen. Erst aufgrund dieser Voraussetzungen konnte eine so intensive Kommunikation, persönliche Beziehung und illegale Arbeitsgemeinschaft zwischen den Beteiligten entstehen 77 . Besonders auffällig ist die Zugehörigkeit fast aller Beteiligten zu ein- und derselben Nebenorganisation der KPD, der ehemaligen Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit mit ihrem zentral, mitten im Schlachthofviertel gelegenen Vereinslokal, der Gastwirtschaft Zur Reichskrone in der Schmellerstraße, die, wie mehrfach aus den Aussagen hervorgeht, ein wichtiges Kommunikationszentrum gewesen ist. Die enge persönliche Bindung aufgrund der gemeinsamen Sportausübung scheint unter den Arbeitern jugendlichen bis mittleren Lebensalters, die die eigentlichen Träger der illegalen Weiterführung kommunistischer Blätter im Sommer 1933 waren, mehr noch als kommunistische Gesinnung oder Parteizugehörigkeit erst die für ein solches illegales Unternehmen nötige engere, persönliche Vertrauensbasis konstituiert und ein starkes, fast bündisches Zusammengehörigkeitsgefühl hervorgebracht zu haben. Die Sporttradition vermittelte wohl auch einen Teil des Aktivismus und der Waghalsigkeit, Risikofreudigkeit und Abenteuerlust, die bei den Unternehmen Pate standen. Sehr aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch der isolierte, politisch kaum vermittelte Versuch von Frühschütz und Scheider, im Frühjahr 1933 in Form einer »Walz« über Österreich und die Tschechoslowakei in die Sowjetunion zu emigrieren. Der Fall zeigt auf der anderen Seite erneut, wie wenig konkrete Vorbereitungen die KPD in Bayern für die Illegalität getroffen hatte. Man verfügte zwar über notwendige Gerätschaften wie Schreibmaschinen und Handabziehapparate, die vor dem Zugriff der Polizei im Frühjahr 1933 in Sicherheit gebracht worden waren; aber im Gegensatz etwa zum Fall des Roten Sandberg in Nürnberg, wo persönliche Einzelinitiative zu rechtzeitiger und umfassender Vorbereitung den Herstellungs- und Verteilungsapparat tatsächlich langfristig gegenüber der Polizei absichern konnte, mußte im Fall der Neuen Zeitung, abgesehen vom Vorhandensein einer illegalen »Grundausstattung«, doch recht amateurhaft improvisiert werden: Das wird besonders in manchen Details deutlich, ζ. B. in dem Umstand, daß es notwendig wurde, nach der ersten Aushebung der Druckerei durch die Polizei Abzugspapier ohne sorgfältige Tarnung in so großen Mengen offen zu kaufen, daß der beabsichtigte Verwendungszweck auch Außenstehenden kaum verborgen bleiben konnte. Auf der anderen Seite war der Polizeiapparat zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausreichend gerüstet oder über Spitzel in den neu formierten illegalen Gruppen präsent und vermochte diese deshalb trotz solchen konspiratorischen Dilettantismus nicht sofort aufzurollen. Der polizeiliche Spitzeldienst in den Großstädten war erst ab Herbst 1933 annähernd perfekt 78 . Die Polizei hatte ihre Aufmerksamkeit bislang vor allem 77
78
Siehe etwa die Aussagen von Reisch und Freund über ihr Verhältnis zu ihrem ehemaligen Arbeitskollegen Sebastian Steer, OLG München, OJs 100/33, Bl. 183 f. und 186 f. Siehe dazu weiter unten, S. 132 ff.
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auf die eigentliche Parteiorganisation der KPD konzentriert 79 ; die Aktivisten der Kampfgemeinschaft für rote Sporteinheit, obgleich vielfach ebenfalls Parteimitglieder, waren ihr, abgesehen von den beiden Spitzenfunktionären, offensichtlich weitgehend unbekannt. Politischer Elan und Initiativenreichtum dieser Gruppe von Illegalen führten - man denke nur an die Schreibstube im Asamhaus - trotz der unzureichenden Vorbereitung auf illegale Arbeit zur Erschließung bemerkenswerter Spiel- und Schlupfräume und gestatteten es, der Ubermacht des Polizeiapparats zumindest zeitweise zu widerstehen. Trotz Zerschlagung des Hersteller- und Verteilerapparats der Neuen Zeitung im Spätsommer 1933 gelang es der Politischen Polizei nicht, das Weitererscheinen zu verhindern: Die Herstellung der Ende September erschienenen Nr. 8 übernahm eine kleine Gruppe von Aktivisten des illegalen KJVD in München um Andreas Zinner 80 , und trotz der Verhaftung von Walter Häbich im Oktober 1933 konnte die Nummer 9 der Neuen Zeitung bereits Anfang Dezember mit der Schlagzeile Die Mörderhölle Dachau hergestellt und verteilt werden. Die - vorletzte - Nummer 10 erschien im Januar 1934, ihre Herstellung wurde von Adolf Maislinger übernommen 81 , und eine letzte Nummer 11 erschien Ende August 1934, nach den Wahlen und der Volksabstimmung vom 19. August 82 . c) Illegale Gruppen der kommunistischen Jugend in München Der KJVD Südbayern war, wie wir gesehen haben, in der Zeit der Weimarer Republik eine - gemessen an der Sozialistischen Arbeiterjugend- kleine Organisation von zuletzt (Ende 1932) rund 900 Mitgliedern, die sich wesentlich auf Augsburg und München konzentrierten 83 . Pol-Leiter des südbayerischen KJVD war zur Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme der vierundzwanzigjährige Polierer Gebhard Jiru 84 , OrgLeiter der zweiundzwanzigjährige Malergehilfe Alois Pfaller, nach anderer Quelle Alfred Andersch 85 . Da ebenso wie bei der Partei selbst die Mitgliederfluktuation extrem hoch war, muß die Zahl der politisch aktiven Mitglieder des Jugendverbands erheblich niedriger angesetzt werden. Obwohl sich die relative Schwäche des Kommunistischen Jugendverbands in Südbayern schon daran ablesen läßt, daß sich die ausführlichen und außerordentlich gut informierten Berichte der Polizeidirektion München bis 1933 nur am Rande mit ihm beschäftigten, gewann er in der Illegalität gegenüber der Partei an Bedeutung; bereits der Bericht der Bayerischen Politischen Polizei über Die kommunistische Bewegung in Bayern seit der nationalen Revolution! von Oktober 1933 stellt selbstkritisch fest, daß »der Tätigkeit der Jungkommunisten mit besonderer Aufmerk-
" Vgl. die Lageberichte der Polizeidirektionen München und Nürnberg-Fürth vor 1933, a.a.O. 80 Zu Andreas Zinner siehe weiter unten, S. 107 ff. und S. 187 f. 81 Bretschneider, a. a. O. S. 37. 82 Lagebericht der Polizeidirektion München für September 1934, BayHStA MA 106697. 83 Vgl. dazu weiter oben, S.43. Nach Andersch, Alfred: Die Kirschen der Freiheit. Zürich 1968, S. 36, besaß der KJVD Anfang 1933 allein in München etwa 1000 Mitglieder; diese Zahl ist allerdings mit Sicherheit zu hoch gegriffen. 84 Geboren 1908 in Bregenz, tschechoslowakischer Herkunft, umgekommen am 26. April 1945 im KL Dachau. 85 Lagebericht der Polizeidirektion München vom 3. 10. 1932, BayHStA MA 101 235/3, S. 16; Andersch, a.a.O. S. 25. Andersch wurde im März 1933 in Schutzhaft genommen und war etwa 3 Monate im KL Dachau inhaftiert.
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samkeit begegnet werden« müsse, da sie »erfahrungsgemäß in ihrem Idealismus als besonders gefährlich anzusehen« seien: »Gerade die letzten Jahre haben gezeigt, daß aus den Reihen der Jungkommunisten stets die zuverlässigsten Haupt- und Spitzenfunktionäre der K P D hervorgegangen sind.« 86 Durch die Verhaftungsaktionen der Polizei im Frühjahr 1933 waren auch die überregionalen Organisationsstrukturen des K J V D Südbayern und insbesondere die Verbindung zum Z K des K J V D in Berlin zerschlagen worden. Erst Ende Juni scheint die Verbindung zum Z K wiederhergestellt worden zu sein: Von diesem Zeitpunkt an arbeitete die junge Arbeiterin Fanny Wiesenfeld alias Blank 8 7 als Instrukteurin des Z K des K J V D für die drei Bezirke Nordbayern, Südbayern und Württemberg, die offensichtlich analog zur Parteiorganisation zu einem Oberbezirk Süddeutschland zusammengefaßt worden waren 8 8 . Ihre Arbeit scheint sich auf Stuttgart und Nürnberg konzentriert zu haben 8 9 ; ob zu der KJVD-Gruppe in München überhaupt Kontakt bestand, geht aus den Akten nicht hervor. Alfred Andersch vermerkt allerdings in seinen Erinnerungen, er sei im Sommer 1933 die Münchener Anlaufstelle für Kuriere des Z K des K J V D gewesen und habe sie dann an eine andere Deckadresse weitergeleitet 9 0 . Ungeachtet dessen waren die illegalen Aktivitäten des Münchener K J V ab dem Frühjahr 1933 in ihrem zeitlichen und personellen Rahmen typisch für jene kleinen, aus eigener Initiative selbständig und ohne Verbindung nach oben arbeitenden kommunistischen Gruppen im großstädtischen Gelände, wie sie uns weiter oben im Fall des Roten Sandberg bereits beschäftigt haben. Die Initiativgruppe kommunistischer Jugendfunktionäre, die im Frühjahr 1933 die propagandistische Arbeit illegal fortzuführen und die Reste der durch die Polizei zerschlagenen Organisation zu sammeln versuchte, bestand zunächst aus den Brüdern Ernst und Albert Lörcher, Gebhard Jiru sowie dem aus Hamburg stammenden Studenten Franz Ahrens. Ernst Lörcher: 1907 in München geboren, Sohn eines USPD-Aktivisten der Münchener Räterepublik; nach Mützenmacher- und Säcklerlehre Arbeiterbildungskurs in Berlin, nach 3 Jahren Abitur auf zweitem Bildungsweg, ab 1932 Studium Recht und Volkswirtschaft in Frankfurt/M. Zunächst SAJ-, später KPD- bzw. KJVD-Mitglied. 1933 Relegation aus politischen Gründen. Ab Frühjahr 1933 illegale Tätigkeit in München, Herbst 1933 Flucht vor drohender Verhaftung über Österreich und die Schweiz nach Frankreich, 1934 Ausweisung wegen Beteiligung an einer Demonstration, anschließend bis Anfang 1935 KJVD-Instrukteur im Saargebiet, nach der Saarabstimmung nach Amsterdam, anschließend bis Februar 1936 Gebietsinstrukteur des KJVD im Ruhrgebiet, Verhaftung, Volksgerichtshof-Urteil 10 Jahre Zuchthaus, bis Kriegsende im KL Mauthausen91. Albert Lörcher: 1913 in München geboren, Kürschnerlehre, Gewerkschaftsangestellter; zunächst SAJ-, später KJV-Mitglied; August 1933 Verhaftung, Sondergerichtsurteil 11 Monate Gefängnis wegen Weitergabe von 25 Exemplaren der illegalen KJV-Zeitung Die Junge Garde zur Verteilung; seine tatsächliche Rolle wurde dabei von der Polizei nicht aufgedeckt. KL-Haft, im Krieg Strafbataillon 9 9 9 " . 86 87 88 89
90 91 92
StA München, LRA 4 7 0 8 9 , S. 21. Siehe dazu weiter unten, S. 168 und S. 172 f. Beer, a.a.O. S. 124. O L G München, OJs 9 8 / 3 3 , Urteil gegen Rudolf Zahn, Fanny Wiesenfeld und 12 Genossen vom 29. 10. 1934. Andersch, Die Kirschen der Freiheit, a.a.O. S. 40. Vgl. dazu B A D E sowie B H E I , a.a.O. Bretschneider, a.a.O. S. 50; StA München, Staatsanwaltschaft München N r . 7 4 8 9 ; Interview Albert Lörcher vom 9 . 1 2 . 1 9 8 0 , zitiert nach Schlinker, Julia, a.a.O. S. 23 ff.
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Franz Ahrens: 1912 in Altona geboren, ab Oktober 1932 in München gemeldet; Ahrens war offensichtlich ein politisch erfahrener KJVD-Funktionär, der vermutlich im Herbst 1932 als Instrukteur des Z K des KJVD nach München geschickt wurde 93 . Wie bei den meisten Gruppen, die sich im Frühjahr 1933 neu bildeten bzw. den polizeilichen Zugriff im März/April 1933 überstanden hatten, bestand das Hauptziel dieser Initiativgruppe zunächst in der Sicherung des Weitererscheinens ihrer Zeitung, nämlich des KJV-Organs Die Junge Garde. Im Mai 1933 war noch eine illegale Nummer der Jungen Garde erschienen, die zentral in Berlin im Zeitungsdruck hergestellt und in ganz Deutschland verbreitet worden war. Die weiteren Nummern der Jungen Garde, die in München und Südbayern im Sommer und Herbst 1933 erschienen, waren in bekannter Art auf der Schreibmaschine geschrieben und mittels Handabziehverfahren hergestellt94. Ab Ende 1933 wurde Die Junge Garde hingegen aus der Tschechoslowakei bezogen. Die Gruppe um die Gebrüder Lörcher hatte sich einen gewissermaßen »legalen« Stützpunkt im Lesesaal des Arbeitsamtes in München eingerichtet, wo die Möglichkeit bestand, sich unauffällig zu treffen, zu diskutieren und vor allem aus den Meldungen und Kommentaren der damals in Deutschland noch erhältlichen ausländischen Zeitungen Informationen und Nachrichten zu-
sammenzutragen, die in den Artikeln der Jungen Garde verarbeitet wurden.
Man muß dabei berücksichtigen, daß zumindest die Brüder Lörcher zu diesem Zeitpunkt (Frühjahr 1933) bereits von der Polizei gesucht wurden und in der Illegalität leben mußten: »Die erste Zeit der Illegalität war sehr schwierig; es herrschte diese Hochstimmung in der Bevölkerung, und man mußte sehr aufpassen. Mit meinem Bruder schlief ich nachts an der Isar im Laub. Im Lesesaal des Arbeitsamtes trafen wir uns... [mit Gebhard Jiru und Franz Ahrens] und es entstand der Plan einer illegalen Zeitung. Dort stellten wir auch das Konzept zusammen. Im Hochwasserbecken [des Isarkanals in] der Pupplinger Au, unter einer überdachten Brücke, richteten wir uns einen Standort ein. Dort hausten wir mit einem Autozelt, einem Schlafzelt, einem Abziehapparat und einer Schreibmaschine. Mittags verpflegten wir uns im Kloster Schäftlarn und pendelten ansonsten zwischen Lesesaal und Kanal. Eine Weile ging das gut, aber eines Tages, wir kauften gerade ... ein, kam das Hochwasser und spülte außer unseren Fahrrädern alles fort. Am 10. August wurde ich ... [in München] verhaftet.«95
Neben der Herstellung ihrer illegalen Zeitung, die im Frühsommer 1933 freilich buchstäblich ins Wasser fiel, konnte die Gruppe in dieser Zeit eine Reihe von Verbindungen zu ehemaligen Mitgliedern und Aktivisten des Kommunistischen Jugendverbands in mehreren Münchener Stadtteilen, vor allem in den Arbeitervierteln Haidhausen, Nordschwabing, Milbertshofen und Westend, wiederherstellen und in diesen Stadtteilen kleine, als selbständige KJV-Gruppen allerdings nie über ein organisatorisches Anfangsstadium hinausgekommene Stadtteilgruppen bilden, deren führende Vertreter jedoch den ursprünglich engen Kreis rasch erweiterten; das war umso notwendiger, als die Gebrüder Lörcher bereits im Spätsommer 1933 infolge Verhaftung bzw. Emigration ausgefallen waren. Eine Verbindung zu einer KJVD-Gruppe in Augsburg mit Ansätzen zu einer organisierten Zusammenarbeit bestand im Frühjahr und Sommer 1933, auf sie wird im Zusammenhang mit Augsburg noch einzugehen sein96. Die führenden Vertreter des illegalen Kommunistischen Jugendverbands 95 94
95 96
in Mün-
Bretschneider, a.a.O. S. 21. Bericht der BPP von Oktober 1933 über Die Kommunistische Bewegung in Bayern seit der nationalen Revolution, a.a.O. S.21. Interview Albert Lörcher vom 9.12.1980, a.a.O. S. 24 f. Siehe dazu weiter unten, S. 187 f.
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chen waren in dieser Phase ab Sommer 1933 neben den bereits Genannten der sechzehnjährige Hilfsarbeiter Andreas Zinner 97 aus dem Münchener Westend und der dreiundzwanzigjährige Elektromonteur Heinrich Doppel, beide auch Münchener Anlaufstellen für Augsburger Jungkommunisten bzw. selbst Kuriere des Münchener Verbands nach Augsburg 98 , der sechzehnjährige Buchbinderlehrling August Feuerer 99 und der achtzehnjährige Maler Hans Bauer 100 . Der Schwerpunkt der Aktivitäten des Münchener KJVD lag - abgesehen von dem Versuch einer Rekonstruktion des Verbands in der Illegalität auf der Grundlage von Fünfer- bzw. Dreier-Gruppen mit Beitragskassierung - auf dem Gebiet der Propaganda, also der Herstellung und Verteilung von Zeitungen, Flugblättern und Klebezetteln 101 . Daneben mußte der illegale KJVD in München jedoch in zunehmendem Maße Aufgaben der eigentlichen Parteiorganisation übernehmen: So wurde etwa, wie bereits weiter oben angeführt, im Herbst 1933 die Nummer 8 der Neuen Zeitung von der KJV-Gruppe im Westend um Andreas Zinner hergestellt. Höhepunkt der selbständigen propagandistischen Arbeit des Münchener KJVD war die Herstellung und Verteilung des Flugblattes Ein Jahr Hitler-Regierung Januar 1934, das vor allem an die katholische Bevölkerung gerichtet war und in Münchener Kirchen verteilt werden sollte. Soweit bekannt, gelang dies auch in zwei Kirchen, nämlich der Johanniskirche in Haidhausen und der Georgskirche in Milbertshofen, in der das Flugblatt an jener Stelle am Kircheneingang auflag, an der normalerweise die Gemeindezeitung St. Georgsbote beim Verlassen der Kirche mitgenommen werden konnte. Anfang Februar 1934, also unmittelbar nach Verteilung dieses Flugblatts, gelang es der Politischen Polizei, vermutlich aufgrund von Spitzelinformationen, die illegale Münchener KJVD-Gruppe zu identifizieren und die Beteiligten zu verhaften. Im März 1934 wurde gegen 25 Jungkommunisten das Verfahren vor dem OLG München eröffnet; da die Akten des Verfahrens nicht mehr vorliegen, sind die dem Anzeigeverzeichnis der Staatsanwaltschaft beim OLG München zu entnehmenden Daten über Lebensalter und Beruf die einzigen Indizien, die zur Charakterisierung dieser illegalen Gruppierung aus Jugendlichen vorhanden sind. Neben dem flüchtigen Studenten Ernst Lörcher waren von diesem Verfahren betroffen: der sechzehnjährige Buchbinderlehrling August Feuerer, die Maler Hans Bauer und Albert Frank (18 bzw. 35 Jahre alt), die Spenglerlehrlinge Robert Märkl, Alexius Westermayer und Edgar Jakusch
" Zinner war laut Anzeigeverzeichnis der Staatsanwaltschaft beim OLG München in den Jahren 1933-35 von nicht weniger als 5 Verfahren wegen Weiterführung bzw. Wiedergründung des KJVD in München und Augsburg betroffen (OLG München, OJs 99/33, OJs 42/34, OJs 60/34, OJs 102/34, OJs 24-25/35). 98 Die Verfahren gegen Zinner in Zusammenhang mit dem Versuch der Reorganisation des KJVD in Augsburg (OJs 99/33, OJs 42/34 und OJs 102/34 - siehe dazu weiter unten, S. 192) wurden vorerst eingestellt, da Zinner flüchtig war; zunächst untergetaucht, wurde Zinner später in Mannheim verhaftet und am 1.10.1035 zu 3 Jahren 3 Monaten Gefängnis verurteilt (OLG München, OJs 24-25/35); Doppel erhielt im März 1934 anderthalb Jahre Gefängnis (OLG München, OJs 99/33). " Laut Bretschneider, a.a.O. S. 50f., spielte August Feuerer, Bruder des bereits im März 1933 verhafteten Karl (Karolus) Feuerer (siehe dazu weiter oben, S. 78 f.), zu diesem Zeitpunkt eine führende Rolle im illegalen KJVD in München. Schon aufgrund seiner Jugend scheint das wenig wahrscheinlich (Interview Gustav Appel vom 21.7.1981, a.a.O.). 100 Siehe dazu Interview mit Frieda Bauer (Ehefrau Hans Bauers) vom 4.12.1980, zitiert nach Schlinker, Julia, a.a.O. S. 15ff. 101 Siehe dazu die Aufstellung über die illegalen KJVD-Schriften, die in Bayern zur Verteilung gelangten: Anhang zu dem Bericht der BPP über Die kommunistische Bewegung in Bayern seit der nationalen Revolution, a.a.O.
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(15, 17 und 16 Jahre alt), der siebzehnjährige Orthopädiemechaniker Rudolf Sommer, der neunzehnjährige Schuhmacher Christof Kagerbauer, der sechzehnjährige Kaufmannslehrling Stefan Schmidt, die sechsundzwanzigjährige Hilfsarbeiterin Rosa Fichtner, der sechzehnjährige Friseurlehrling Josef Bremauer, der achtzehnjährige Schriftsetzer Franz Müller, der dreiunddreißigjährige Schneidergehilfe Karl Krivanek und seine Ehefrau, die dreiunddreißigjährige Kartonage-Arbeiterin Rosa Krivanek, der einundzwanzigjährige Elektromonteur Johann Karg, der zweiundzwanzigjährige Schlosser Lorenz Haas, die achtzehnjährige Zigarettenpackerin Maria Hopfenwieser, die Hilfsarbeiter Wilhelm Kobler, Georg Mathes und Johann Bieringer (23 und 22 Jahre alt), der neunzehnjährige Friseur Rudolf Süßbauer, der siebzehnjährige Fotografenlehrling Alfred Reisinger, der dreiundzwanzigjährige Mechaniker Gerhard Lüders und der einundzwanzigjährige Student Franz Ahrens. Gegen einen Teil der Beschuldigten wurde das Verfahren abgetrennt und an den Jugendstaatsanwalt bzw. das Sondergericht München abgegeben bzw. eingestellt, neun der Beschuldigten wurden im Juni 1934 zu Gefängnisstrafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren verurteilt 102 .
Der Bericht der Bayerischen Politischen Polizei über Die illegalen marxistischen Bewegungen in Bayern 1934 vom 2. Januar 1935 führt dazu aus, daß sich der KJTVD Ende 1933 und Anfang 1934 in Südbayern erfolgreich bemüht habe, den Verband unter illegaler Leitung planmäßig zu reorganisieren und zu festigen. Anfang Februar 1934 habe die Polizei nach längeren Überwachungen diesen Bemühungen »rasch ein Ende« setzen können: »Es wurde der gesamte kommunistische Jugendverband Südbayerns samt der illegalen BL [Bezirksleitung] restlos erfaßt und zerschlagen. Die illegale Jugend, die nach dem Fünfergruppensystem organisiert war, Stadtteilinstrukteure geschaffen und Mitgliederbeiträge kassiert hatte, war eine der aktivsten kommunistischen Gruppen in München, hatte innerhalb ganz kurzer Zeit nicht weniger als 7 illegale Hetzschriften hergestellt und darunter neben ihrem ... Organ Junge Garde auch ein Flugblatt ... in mehreren Kirchen zur Verteilung gebracht, die Herausgabe einer Schulzeitung, die Gründung von Betriebs- und Schulzellen und die Zersetzung der Arbeitsdienstlager und Landhelfergruppen vorgesehen.·103 Diese Einschätzung von Seiten der Politischen Polizei zeigt einmal mehr recht deutlich, wie sehr die Polizei dazu neigte, ihre Verfolgungsobjekte, die illegalen Gruppen und Organisationszusammenhänge, zu überschätzen und hochzustilisieren. Der »gesamte kommunistische Jugendverband Südbayems samt der illegalen Bezirksleitung«, den die Polizei nach eigener Aussage im Februar 1934 »restlos erfaßt und zerschlagen« habe, umfaßte in Wirklichkeit lediglich einige illegale KJV-Gruppen in München, und daß die Polizei außerhalb Münchens nur recht wenig zu »erfassen« und zu »zerschlagen« hatte, zeigt schon die Tatsache, daß die angeführte Verbindung zu dem Augsburger KJV, die einzige wirkliche Verbindung nach außen mit Ansätzen zu überregionaler Zusammenarbeit, erst einige Monate später, im Sommer 1934, entdeckt und aufgerollt wurde104. Pläne wie die Herausgabe einer Schulzeitung oder die planmäßige Zersetzung von Arbeitsdienstlagern nehmen sich angesichts der realen personellen und materiellen Möglichkeiten der Münchener KJVD-Gruppe so phantastisch aus, daß die Annahme, die diesbezüglichen Informationen der Polizei gingen 102
O L G München, OJs 18/34 und OJs 4 1 / 3 4 . In dem Sondergerichtsverfahren gegen den dreiundzwanzigjährigen Hilfsarbeiter Johann Bieringer, der zu der damaligen KJV-Gruppe in München gehörte, ging es um die Verteilung von fünf hektographierten Flugblättern, die vom Gericht als KPD-Flugblätter eingeschätzt wurden (StA München, Staatsanwaltschaft München Nr. 8839).
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BayHStA MA 104 990, S. 15. Siehe dazu weiter unten, S. 187 f.
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auf Aussagen der verhafteten Münchener Jungkommunisten zurück, wenig wahrscheinlich ist. Näher liegt wohl die Vermutung, daß es sich hier um Informationen von Spitzeln handelt, die die Polizei in Umfeld oder Organisationszusammenhang des illegalen Münchener KJV einzuschleusen wußte; daß Spitzel dazu neigen, zur Unterstreichung der eigenen Unentbehrlichkeit den Gruppen, auf die sie angesetzt sind, in der Rückvermittlung zur Polizei umfassende staatsumstürzlerische Strategien anzudichten oder zumindest noch relativ vage Ideen und in Diskussion befindliche Überlegungen als feste Absichten und Pläne auszugeben, ist eine bekannte »déformation professionelle«. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß über die organisatorische und propagandistische Arbeit hinaus unmittelbar gegen NS-Institutionen gerichtete Aktivitäten des Münchener KJVD auch nur in das Stadium konkreter Planung traten. Auch wenn Andreas Zinner, der trotz seiner Jugend eine zentrale Figur innerhalb dieser Gruppe gewesen zu sein scheint und vermutlich über gute Verbindungen nach Berlin bzw. ins Ausland verfügte, mit seinen Mitarbeitern erst im Sommer 1934 in Zusammenhang mit der Zerschlagung des KJV-Neuansatzes in Augsburg ins Blickfeld der Polizei gerieten, lassen sich für München nach der Verhaftungsaktion der Polizei im Februar 1934 keine erneuten illegalen Reorganisationsversuche des KJVD feststellen. In ihrem Jahresbericht von 1935 spricht die BPP zwar von - erfolglosen Versuchen, den KJVD in Südbayern wieder neu erstehen zu lassen, und vom Vorhandensein einer kleinen Gruppe in München, die im Sommer 1935 mehrfach Flugzettel gegen die Hitlerjugend angeklebt und verbreitet habe 105 , doch lassen sich dafür in Gerichts- und Polizeiakten keine weiteren Hinweise finden. Jungkommunisten, die weiterhin illegal aktiv blieben, gliederten sich in München zumeist in die noch bestehenden kleinen kommunistischen Gruppen innerhalb der verschiedenen Stadtviertel ein. d) Aktionen des Militärapparats der K P D Eine zweite kommunistische Teilorganisation, die in München in der ersten Phase der Illegalität noch eine Eigenexistenz führte, war der sogenannte Militär-Apparat der KPD, auch Antimilitaristischer (AM-)Apparat, Nachrichtenapparat, Nachrichtendienst, Zersetzungsdienst bzw. nach seinem Leiter, dem Reichstagsabgeordneten Hans Kippenberger 106 , Kippenberger-Apparat genannt. Er war bereits vor 1933 als doppelt illegale Organisation in strikter Trennung von der Partei und ihren Nebenorganisationen aufgebaut worden. Seine eigentliche Aufgabe bestand in der Zersetzungsarbeit bei Reichswehr und Polizei, befaßte sich daneben jedoch auch mit Infiltrierung gegnerischer Organisationen und Wehrverbände sowie mit Nachrichtenbeschaffung aller Art bis hin zur Militärspionage für die Sowjetunion' 0 7 . Der KPD-Mili105 106 107
Bericht der BPP über Die illegalen marxistischen Bewegungen in Bayern 1935, BayHStA MA 104 990, S. 27. Zur Biographie Hans Kippenbergers siehe Weber, Wandlung 2, a.a.O. sowie BADE und BHE I, a.a.O. Vgl. den Bericht der BPP über Die kommunistische Bewegung in Bayern seit der nationalen Revolution!, a.a.O. Zu dem schon vor 1933 streng abgeschirmten und deshalb besonders geheimnisumwitterten Militärapparat der KPD existiert bereits eine eigene Literatur, die sich freilich vielfach nicht durch allzugroße Seriosität auszeichnet; vgl. etwa Ehrt, Adolf: Die Entfesselung der Unterwelt. Ein Querschnitt durch die Bolschewisierung Deutschlands (1932). 2. überarbeitete Auflage Berlin 1933, S. 254-290; zur Arbeit des Militärapparats und insbesondere zu seiner Aufgabe, Parteigänger in gesellschaftlichen Schichten und Interessengruppen zu werben, die der KPD selbst im Normalfall verschlossen waren, siehe Ranke, Hubert von: Erinnerungen. Versuch eines retrospektiven Tagebuchs. Unveröffentl. Ms. Kap. I, IfZ ED 161/2, sowie Feuchtwanger, Franz: Der militärpolitische Apparat der KPD in den Jahren 1928-1935. Erinnerungen. In: IWKJg. 17/4 (Dezember 1981), S.485-533.
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tärapparat stand in enger Verbindung zu den sogenannten (um die Zeitschrift Aufbruch),
Aufbruch-Arbeitskreisen
die, 1931 um die ehemaligen Reichswehroffiziere Ri-
chard Scheringer und Beppo Römer gegründet, als Sammelbecken für die mit der K P D sympathisierenden Kräfte aus dem nationalrevolutionären Lager dienen sollten 1 0 8 . Dies erlaubte dem Militärapparat insbesondere die Rekrutierung von Mitgliedern, die der Polizei nicht als Kommunisten bekannt waren 1 0 9 . Zur Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme bestand der Militär-Apparat in Südbayern lediglich aus etwa einem Dutzend Personen 1 1 0 . Sein Leiter war der siebenundzwanzigjährige Alfred Fruth aus Feldmoching bei München; er wurde am 31. Mai 1933 verhaftet und ist angeblich in der Nacht vom 4. auf den 5. August 1933 aus dem K L Dachau entflohen 111 . Seine Nachfolge in der Leitung des Militärapparats trat der siebenundzwanzigjährige Schreiner Fritz Rottmeier 1 1 2 an, sein wichtigster Mitarbeiter war der neunundzwanzigjährige Drechsler Ludwig Ficker. Ludwig Ficker: Geboren 1904, ledig, ab 1929 KPD-Mitglied, Mitarbeiter des Militärapparats, 1933 nach dreimonatiger Schutzhaft weiterhin illegale Tätigkeit für den Militärapparat, emigrierte März 1934 nach der Verhaftung von Fritz Rottmeier in die Schweiz, dort Mitglied der KPD-Emigrationsleitung (ab 1939 Abschnittsleitung Süd), mehrfach Reisen als Instrukteur nach München; während des Kriegs Internierung in der Schweiz, Sept. 1944 Flucht, illegale Rückkehr nach München zum Aufbau einer kommunistischen Widerstandsorganisation113. Der »Apparat«, den Rottmeier übernahm bzw. im Lauf des Jahres 1933 neu aufbaute, bestand aus rund einem halben Dutzend von Verbindungsleuten, von denen jeder ein bestimmtes Aufgabengebiet zu bearbeiten hatte; im einzelnen waren das als Vertrauensmann bei SS und NSDAP der einunddreißigjährige Konditor Johann Feulner, der zeitweise Gewerkschaftsmitglied war, schon Ende 1931 Mitglied der NSDAP und der SS wurde und ab 1932 in enger Verbindung zum Aufbruch-Arbeitskreis
und
über ihn zu KPD-Kreisen stand 1 1 4 , der Journalist und Flugzeugführer Josef Huber,
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Allgemein dazu Schüddekopf, Otto-Ernst: Linke Leute von rechts. Stuttgart 1960, S. 287-305 und passim; Dupeux, Louis: Stratégie communiste et dynamique conservatrice. Essai sur les différents sens de l'expression .NATIONAL-BOLCHEVISME« en Allemagne sous la République de Weimar (1919-1933). Paris 1976, S. 565 ff. Siehe dazu auch weiter unten, S. 272 ff. Interview Fritz Rottmeier von Mai 1964, zitiert nach Bretschneider, a.a.O. S. 52. Münchener Neueste Nachrichten vom 7.8.1933; Bretschneider (a.a.O. S.52) äußert die Vermutung, diese Pressemeldung sei zur Verschleierung der Ermordung von Fruth im KL Dachau lanciert worden. Ein Hochverratsverfahren gegen Alfred Fruth vor dem OLG München (OJs 13/42) wurde im April 1942 wegen unbekannten Aufenthalts eingestellt. Bretschneider, a.a.O. S.52 ff. »Es gab eine Gruppe in der KPD namens AM (Gruppe für militärische Arbeiten), eine Gruppe von Spezialisten. Es waren 10 Männer, die die Aufgabe hatten, zur Polizei vorzudringen und herauszufinden, wer von uns Aktiven am meisten gefährdet war. Mit dem Chef, Fritz Rottmeier, war ich bekannt. Ausgerechnet er war so leichtsinnig, die Namen der Männer auf einem Zettel unter seinem Hut zu tragen. Später kam ich mit diesen Leuten vor Gericht. Fritz bekam 12 Jahre Zuchthaus. Im Zuchthaus versuchte ich, mit ihm Kontakt aufzunehmen, aber er reagierte nicht darauf. Ich war bitter enttäuscht, konnte ihn aber auch verstehen.« (Interview Adolf Maislinger vom 26.11.1980, zitiert nach Schlinker, Julia, a.a.O. S. 12). Ebd.; Teubner, Hans: Exilland Schweiz. Berlin (-Ost) 1975 (westliche Ausgabe: Frankfurt 1975), passim; BADE sowie BHE I, a.a.O.; siehe auch weiter unten, S. 285f. Feulner wurde im August 1935 im Verfahren gegen Rottmeier und Genossen zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt und befand sich anschließend bis April 1939 im KL Dachau. Anfang 1943 wurde er im Zusammenhang mit der Hartwimmer-Olschewski-Gruppe (siehe dazu weiter unten, S. 274) erneut verhaftet und zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt (OLG München, OJs 185/43; Bretschneider, a.a.O. S. 53 f.).
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der als langjähriges Mitglied des katholischen Zentralgesellenvereins in München Verbindungsmann zu Kreisen der ehemaligen BVP wurde 115 , der achtundfünfzigjährige Kraftfahrer Johann Reiter als Vertrauensmann bei der Polizei116, Ludwig Fischer, der Informationen über Reichswehr und Polizei zu besorgen hatte, sowie der vierundvierzigjährige Schlosser und Museumsaufseher Simon Hutzier, der als ehemaliges SPDMitglied Informationen über SPD-Kreise lieferte. Verbindungen bestanden auch zu den Mitgliedern des ehemaligen Aufbruch-Arbeitskreises in München, zu Wilhelm 01schewski und Hans Hartwimmer u.a. 117 . Im Herbst 1933 schmuggelte der Bergmann Reinhold Mewes, der dem Aufbruch-Arbeitskreis angehört hatte, kommunistische Flugblätter zur Reichstagswahl und Volksabstimmung vom 12. November 1933 aus der Schweiz nach München; er wurde deshalb im Juni 1934 zu einem Jahr acht Monaten Gefängnis verurteilt118. Ab Frühsommer 1933 war die Verbindung zu der zentralen Apparatleitung in Berlin wiederhergestellt, im Juni weilte ein Instrukteur aus Berlin in München, und im Dezember 1933 hielt sich Rottmeier längere Zeit in Berlin auf. Die bei beiden Gelegenheiten - zumindest laut Urteil gegen Rottmeier und Genossen 119 - erteilten und geradezu selbstmörderisch anmutenden Anweisungen, über Flugblattverteilung Verbindungen zu Polizei- und Reichswehrangehörigen sowie Mitgliedern der NS-Wehrverbände anzuknüpfen und in kasernennahen Gaststätten Flugblätter an die Reichswehrangehörigen zu verteilen120, wurden von der Münchener Leitung zumindest in dieser Form nicht befolgt. Erst Anfang 1934 begann der illegale Militärapparat in München mit tatsächlicher Propagandatätigkeit und Zersetzungsarbeit bei der Reichswehr. Im Polizeibericht heißt es dazu: »Im Januar (1934) ereignete sich der erste Zersetzungsfall in Bayern seit der nationalen Revolution. In der Nacht zum 26.1. wurden . . . i n den Hof der Prinz Leopoldskaserne in München 118 kommunistische Zersetzungszettel eingeworfen, die mit einer Handdruckerei hergestellt worden waren und folgende Aufschriften trugen: Soldaten kämpft mit der KPD gegen die faschistische Kriegstreiberpolitik und Polizeibeamte wehrt Euch gegen den kommenden Gehaltsabbau der Hitler-Göring-Regierung! KPD."121 Diese Flugzettel waren von Fritz Rottmeier und Ludwig Ficker hergestellt und zur Verteilung gebracht worden. Im Februar bzw. Anfang März 1934 erfolgte eine weitere Propagandaaktion des Militärapparats: Ein Flugblatt mit der Uberschrift Polizei, Lapo und Reichswehrsoldaten und der Unterschrift Die roten Lapozellen Münchens (Lapo Landpolizei), die den Eindruck hervorrufen sollte, die illegale KPD verfüge über eigene Zellen innerhalb des Polizeiapparats, wurde in der Auflage von rund 800 Stück teils an Polizeibeamte und Reichswehrsoldaten per Post verschickt, teils wiederum
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Huber wurde im Verfahren gegen Rottmeier und Genossen zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt (Bretschneider, a.a.O. S.53f.). Ebd.; Reiter wurde 1942 erneut wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt (OLG München, OJs 13/42). Scheringer, Richard: Das große Los unter Soldaten, Bauern und Rebellen. Hamburg 1959, S.309· OLG München, OJs 4/34; VGH 9 J 70/42 g, Urteil S.2. Zu Mewes, der in diesem zweiten Verfahren von 1942 zum Tod verurteilt wurde, siehe auch weiter unten, S. 184 und S. 272 sowie BADE und BHE I, a.a.O. Zitiert nach Bretschneider, a. a. O. S. 53. Ebd. Bericht der BPP über Die illegalen marxistischen Bewegungen in Bayern 1934, BayHStA MA 104 990, S.8.
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über die Mauer in den Hof der Prinz-Leopoldskaserne geworfen und auf dem Oberwiesenfeld verstreut 122 . Die ursprüngliche Konzeption, den Militärapparat streng getrennt von der illegalen Parteiorganisation weiterzuführen, hatte sich in München aufgrund des akuten Mangels an geeigneten Funktionären zur Fortführung der illegalen Parteiarbeit bald als unmöglich erwiesen. Rottmeier arbeitete bereits ab Sommer 1933 eng mit Georg Limmer und Max Trutzel sowie mit Adolf Maislinger bei Einfuhr und Verbreitung illegaler Parteiliteratur zusammen 1 2 3 ; im November 1933 und im Januar 1934 reiste er illegal in die Schweiz, um weitere Literatur zu beschaffen und die Verbindung zu den KP-Stellen in der Schweiz herzustellen 124 , und spielte darüber hinaus über seinen Apparat ab Herbst 1933 eine nicht unwesentliche Rolle bei der Verteilung kommunistischer Literatur in München. Mit anderen Worten, die Organisation des Militärapparats wurde in München mehr oder minder zu einem Zweig der illegalen Parteiorganisation. Fritz Rottmeier wurde Anfang März 1934 - vermutlich aufgrund von Spitzelinformationen - bei der Übergabe illegaler Literatur an einen Unterverteiler, die er im Auftrag Adolf Maislingers durchführte, von der Polizei verhaftet, wenig später auch Adolf Maislinger als der letzte führende Funktionär der zweiten illegalen Bezirksleitung Südbayern 125 . In den folgenden Wochen gelang es der Polizei nach eigenem Bekunden, •den gesamten Militärapparat der K P D in Südbayern (insgesamt 13 Personen)« 126 sowie seine Verbindungsleute und -gruppen innerhalb der Parteiorganisation aufzudekken und zu verhaften; die führenden Vertreter wurden im August 1935 vom Volksgerichtshof zumeist zu Zuchthausstrafen verurteilt: Fritz Rottmeier zu 12 Jahren, Adolf Maislinger zu 8 Jahren, Johann Feulner und Josef Huber zu je drei Jahren, der Schuhmacher Johann Früh und der Maler Johann Herker zu je zweieinhalb Jahren; der Korrespondent Ernst Rederer erhielt anderthalb Jahre Gefängnis. Auch die Verbindungen des Militärapparats zu nationalrevolutionären Kreisen wurden zumindest teilweise aufgedeckt und Hans Hartwimmer sowie der Schriftleiter Fritz Römer, der Bruder Beppo Römers, verhaftet und mit in das Verfahren einbezogen; man konnte ihnen jedoch keine illegale Arbeit nachweisen 127 . Die übrigen in diesem Zusammenhang verhafteten Mitglieder der illegalen K P D bzw. des Militärapparats in München wurden in zwei Verfahren vor dem O L G München angeklagt 1 2 8 : Der vierundvierzigjährige Schlosser und Aufseher im Deutschen Museum Simon Hutzier erhielt 2 Jahre 3 Monate, der fünfundzwanzigjährige Buchbinder Eduard Schmitz 1 Jahr 11 Monate, der einundzwanzigjährige Zimmermann Josef Widmann 1 Jahr, der einunddreißigjährige Hilfsarbeiter Anton Schinharl 1 Jahr 8 Monate, der vierundvierzigjährige Elektromonteur Johann Rötzwinkler 1 Jahr, der einunddreißigjährige Hilfsarbeiter Georg Giglberger ebenfalls 1 Jahr und der zweiundvierzigjährige Hilfsarbeiter Josef Schauer 1 Jahr 6 Monate Gefängnis; freigesprochen (bzw. nicht angeklagt) wurden der zweiundvierzigjährige Wagenbauer Ludwig Bader, Hutzlers 122 123 124
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Bretschneider, a.a.O. S. 53; Die illegalen marxistischen Bewegungen in Bayern 1934, a.a.O. S.9f. Siehe dazu OLG München, OJs 43/34, Verfahren gegen Josef Widmann und Genossen. Teubner, Hans: Exilland Schweiz. Frankfurt 1975, S.32f., wo Rottmeier allerdings fälschlich als •Rottweiler« angeführt wird. Maislinger hatte noch versucht, nach Österreich zu fliehen, wurde aber beim Grenzübertritt gefaßt (Interview Adolf Maislinger vom 26.11.1980, a.a.O. S. 13 f). Die illegalen marxistischen Bewegungen in Bayern 1934, a.a.O. S. 10. Bretschneider, a.a.O. S.54; siehe auch weiter unten, S.273. OLG München, OJs 43/34, Verfahren gegen Josef Widmann und Genossen, und OJs 74/34, Verfahren gegen Anton Schinharl und Genossen.
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Ehefrau Therese, der siebenunddreißigjährige Museumsaufseher Johann Reisinger, der siebenunddreißigjährige Monteur Ludwig Ellmann, der achtundzwanzigjährige Bankangestellte Max Josef Seel, der zweiunddreißigjährige Schlosser Franz Xaver Hütter und seine Ehefrau Therese, die einunddreißigjährige Milchausträgerin Rosa Berg und der vierunddreißigjährige Hilfsarbeiter Alfons Gruber.
Es ist ganz besonders interessant, daß ein großer Teil der an diesen drei Verfahren beteiligten KPD-Mitglieder oder -Sympathisanten, die mit dem illegalen Militärapparat zu tun hatten, nach Verbüßung ihrer Strafen und Entlassung aus der anschließenden KL-Haft während des Kriegs erneut illegal aktiv geworden ist. Eine ganze Reihe der soeben angeführten Namen taucht in Zusammenhang mit der Hartwimmer-Olschewski-Gruppe, die sich großteils aus dem Reservoir des ehemaligen Aufbruch-Arbeitskreises rekrutierte, erneut auf129. Auf die beiden Verfahren, die in diesem Zusammenhang vor dem OLG München geführt wurden, soll im folgenden noch näher eingegangen werden. Typus, Umfeld und Aktionsspielraum kommunistischer Gruppen in den Großstädten in dieser Phase der Illegalität lassen sich auf dem Hintergrund der erhaltenen Vernehmungsniederschriften und Ermittlungsergebnisse wohl exemplarisch darstellen; dabei werden deutliche Unterschiede zu den Gruppen der »ersten Stunde« sichtbar, die aufgrund ihrer relativ starken Verwurzelung in einem ungebrochenen Milieu Kommunikations- und Verkehrsformen der Parteiarbeit nur geringfügig modifiziert in der Illegalität fortsetzen zu können glaubten. Dieses Milieu war Ende 1933/Anfang 1934 offensichtlich bereits so sehr ausgedünnt, daß die Schutz- und Schlupfräume für illegale Organisation immer enger wurden130. Nach Verhaftung von Fritz Rottmeier am 6. März 1934 gelang es der Bayerischen Politischen Polizei zunächst offensichtlich noch nicht, ihren Zugriff auch auf den engeren Umkreis des Militärapparats bzw. das von ihm getragene Verteilungsnetz auszudehnen. Erst am 17. April wurde der einundzwanzigjährige Hilfsarbeiter Josef Widmann verhaftet - nicht aufgrund polizeilicher Ermittlungen, sondern infolge einer Denunziation seines Wohnungsvermieters, des einunddreißigjährigen verheirateten Schmieds Wilhelm Trautwein (ehemaliges Mitglied des Arbeiter-Turn- und Sportbunds), dem Widmann mehrfach illegale kommunistische Flugblätter zum Lesen gegeben hatte. Josef Widmann: Geboren 1912 in Ampermoching/Bezirksamt Dachau, ledig, nach abgebrochener Automechanikerlehre Hilfsarbeiter in Landau an der Isar und in München, anschließend Arbeit im Bergwerk in Penzberg, Holzarbeiter in Bichl und Bauhilfsarbeiter, ab 1932 arbeitslos. Ab Oktober 1932 KPD-Mitglied, laut eigenen Angaben aber bereits Ende 1932 wieder ausgeschlossen; ab Ende 1933 Arbeit an der Reichsautobahnstelle Unterhaching bei München.
Bei der Wohnungsdurchsuchung stieß die Polizei im Kleiderschrank von Widmann auf eine geladene Pistole, illegale Literatur, ein kommunistisches Liederbuch, AntifaAbzeichen sowie eine Armbinde des Kampfbunds gegen den Faschismus; darüber hinaus konnte sie aufgrund der Aussagen von Widmann und Trautwein die Verbindung Widmanns zu dem fünfundzwanzigjährigen Buchbinder Eduard Schmitz aufdecken, 12
' Siehe weiter unten, S. 272 ff. Die folgenden Angaben nach den Vernehmungsniederschriften, Anklage und Urteil des Verfahrens OJs 4 3 / 3 4 vor dem O L G München; darin sind auch Kopien von Vernehmungsniederschriften aus dem Verfahren OJs 7 4 / 3 4 enthalten, das selbst nicht überliefert ist.
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der zu diesem Zeitpunkt ebenfalls auf der Reichsautobahnstelle Unterhaching arbeitete 1 3 1 . Eduard Schmitz: 1909 in Klagenfurt geboren, als Sohn eines Buchhändlers in München aufgewachsen, Buchbinderlehre, anschließend Wanderschaft, Steinbrucharbeiter und Hilfsarbeiter in einem Walzwerk in Westfalen, landwirtschaftlicher Arbeiter im Raum Heidelberg, anschließend bis 1930 Bergwerksarbeiter in Aachen und in Belgien. 1930-1932 mit Hausierschein Obst- und Gemüseverkäufer in München, ab November 1933 Arbeit an der Reichsautobahnstelle Unterhaching.
Allem Anschein nach war Schmitz innerhalb des im Herbst 1933 bzw. Frühjahr 1934 vorhandenen kommunistisch-sozialistischen Milieus im Münchener Nordosten (Schwabing, Haidhausen, Oberföhring, Denning, Englschalking) so etwas wie eine zentrale Kontakt- und Vermittlungsperson; sowohl in seiner individuellen Geschichte wie seinen konkreten Lebensumständen unterscheidet er sich deutlich von jenem durch Milieuzugehörigkeit und Milieu-Solidarität geprägten und mit einer schichtenund schicksalsspezifischen politischen Identität versehenen Typus des KPD-Arbeiters in München, dem wir bei der illegalen Herstellung und Verbreitung der Neuen Zeitung in großer Zahl begegneten. 1929 Opfer eines »schlagenden Wetters« in einem Bergwerk in Belgien, war Schmitz seither wegen eines Nervenleidens in ärztlicher Behandlung. Nach dem Studium religionsphilosophischer, anthroposophischer und zum Teil okkultistischer Literatur trat er 1932 - er stammte ursprünglich aus einem stark christlich-katholisch geprägten Elternhaus - zum Buddhismus über. Mit den Büchern aus diesem geistigen Umfeld, die er sich im Laufe einiger Jahre zusammengekauft hatte, eröffnete er Ende 1933 eine private Leihbücherei 132 , die nebenbei natürlich eine vorzügliche Möglichkeit zur unauffälligen Aufnahme und Aufrechterhaltung illegaler Verbindungen bot. 1931 hatte Schmitz die zwanzigjährige Friseuse Margarete Koch geheiratet und Ende 1932 in seinem damaligen Wohnort Oberföhring bei München auf seinen Namen ein Friseurgeschäft eröffnet, das im März 1934, kurz vor seiner Verhaftung, bei seinem Umzug in die Dachauerstraße in München ebenfalls dorthin verlegt wurde; auch das Friseurgeschäft diente als unauffälliger Rahmen für die Abhaltung illegaler Treffs. Schon seine Tätigkeit als Obst- und Gemüsehausierer in den Jahren 1930 bis 1932 dürfte es mit sich gebracht haben, daß Schmitz in den entsprechenden Arbeitervierteln viel herumkam und über Bekanntschaften und Verbindungen verfügte. Seine anschließende Arbeitslosigkeit und die ökonomische Freisetzung durch die Erwerbstätigkeit seiner Frau schufen ihm bis Ende 1933 auch den weiteren zeidichen Freiraum für illegale Arbeit. Von besonderer Bedeutung scheint in diesem Zusammenhang die private Leihbücherei, die Schmitz betrieb und zu deren Aufbau und Aufrechterhaltung die regelmäßige Verbindung zu anderen Leihbüchereien und Antiquariaten notwendig war. Leihbüchereien dieser Art - von kleinen, privat betriebenen Ausleih-Bibliotheken bis hin zu den Büchereien der lokalen Gruppen der Arbeiterparteien, Gewerkschaften und sozialdemokratisch bzw. kommunistisch bestimmter Ver131
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Trotz Widmanns Aussage, er habe die von Schmitz erhaltenen illegalen Schriften nicht weiterverbreitet, sondern vernichtet und zum Teil zum Ofenanzünden und als Klosettpapier benutzt (OJs 43/34, BI.4Í.), wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. In dieser Privatbibliothek befand sich allerdings sichdich auch Literatur politischer Provenienz: Laut Polizeibericht über die Hausdurchsuchung bei Schmitz wurden von einem Sachverständigen des Pressereferats der BPP aus seiner Privatbibliothek »etwa 30 Bücher als marxistisch oder sittlich anstoßerregend· aussortiert und beschlagnahmt (OJs 43/34, Bl. 6).
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eine (etwa der Ortsgruppen des Verbands proletarischer Freidenker) - spielten ja für die Bestrebungen der Arbeiterbewegung nach umfassender Volks- und Arbeiterbildung schon im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle133 und waren zum Teil konstitutiver Bestandteil des Milieus, in dem sich nach der nationalsozialistischen Machtübernahme illegale Gruppen formieren und halten konnten. Ihre bekannten und typischen Bestände reichten im allgemeinen von Bebels Die Frau und der Sozialismus über populär aufgemachte philosophisch-atheistische, staats- und gesellschaftstheoretische und darwinistisch-naturwissenschaftliche Abhandlungen bis hin zu Sittengeschichten und Darstellungen der Sexualgewohnheiten von Naturvölkern, die teilweise die Funktion von Pornographie-Ersatz gewannen. Ab wann genau Schmitz mit Vertretern des KP-Untergrunds in München in Verbindung stand, läßt sich aus den Prozeßunterlagen nicht eindeutig klären. Laut eigener Aussage und Aussage von Zeugen war Schmitz ab Ende 1932 aus geschäftlichen Gründen regelmäßiger Besucher der Leihbücherei Grandi in der Münchener Türkenstraße, die ab Sommer 1933 sichtlich eine Art informeller Nachrichten- und Literaturübermittlungsstelle für ehemalige KPD-Mitglieder und -Sympathisanten in Schwabing darstellte 134 . Unter den Benutzern der Leihbücherei Grandi war Schmitz eine bekannte Figur; wegen seines Aussehens und Auftretens hatte er den Spitznamen »Christus« erhalten 135 . Ab Sommer 1933 stand Schmitz über die Leihbücherei Grandi mit einigen Schwabinger Kommunisten in Verbindung, die von ihm in den späteren polizeilichen Vernehmungen als kommunistische Fünfergruppe bezeichnet wurden, die die Verbindung zur »kommunistischen Leitung« verloren habe. Aus diesem Kontext wurden in die beiden Verfahren einbezogen: Josef Schauer: Geboren 1892 in Hechendorf/Bezirksamt Weilheim, konfessionslos, verheiratet, 1 Kind, bis zum Ersten Weltkrieg Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft, in einer Regensburger Zuckerfabrik und einer Hotelküche, bei Flußregulierungsarbeiten und als Ausgeher, im Weltkrieg als Halbinvalide Dienst bei einem Eisenbahnbataillon, nach dem Krieg Bauhilfsarbeiter in München, ab 1929 arbeitslos mit zuletzt 54 Reichsmark monatlicher Wohlfahrtsunterstützung, aufgrund eines Arbeitsunfalls nervenleidend; KPD-Mitglied. Alfons Gruber: Geboren 1900 in München, verheiratet, bis 1917 Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft, anschließend in einer Waffenfabrik und einer Futtermittelfabrik in Regensburg sowie beim Straßenbau; nach Wanderschaft Hilfsarbeiter in einer Feilenhauerei in München, in einem Sägewerk in Regensburg und einer Baufirma in Sachsen; ab 1929 wegen Lungentuberkulose arbeitslos in München. Bis 1931 Mitglied der aus den USA stammenden, lebensreformerisch-theosophischen Neugeist-Bewegung, ab 1932 Mitglied der Roten Hilfe. Georg Giglberger: Geboren 1903 in München, verheiratet, 6 Kinder; 1918 Abschluß der Bäkkerlehre, anschließend Hilfs- und Gelegenheitsarbeiter, 1923-30 Hilfsarbeiter in einer Isolierfirma in München, anschließend arbeitslos, Empfänger von Wohlfahrtsunterstützung. 1928 Mitglied des Roten Frontkämpferbunds, ab 1932 KPD-Mitglied und Funktionär (Gruppenkassier) der Roten Hilfe. Rosa Berg: Geboren 1904 im Amtsbezirk Cham, Hilfsarbeitersehefrau, 1 Kind, 1918-1925 Hausangestellte in Furth im Wald, Zirndorf und Köln, anschließend in München verheiratet, zumeist arbeitslos, ab 1930 Milchausträgerin mit einem Monatsverdienst von 38 RM.
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Liste illegaler KPD-Funktionäre aus München und Augsburg (Quelle: siehe Anm.269)
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damit, bestehende Gruppen und Verbindungen der Polizei zu verraten; er war im Gegenteil ein eifriger Organisator im Untergrund und bewies bei der Bildung neuer Gruppen, der Herstellung von Verbindungen und der Werbung neuer Mitarbeiter eine beachtliche Effizienz, wobei er allerdings die Erfolge seiner Arbeit unmittelbar der Polizei weitergab, die auf diese Weise Stand und Entwicklung des kommunistischen Untergrunds weitgehend überblicken und ; den Zeitpunkt ihres jeweiligen Einschreitens allein von Nützlichkeitserwägungen hinsichtlich der weiteren Ermittlungsarbeit abhängig machen konnte. »Theo« hielt die Verbindung zu der zuständigen kommunistischen Emigrationsleitung in Zürich unter Hans Beimler aufrecht und ließ, da er sich in seiner Führungsposition innerhalb der illegalen Organisation offensichtlich auch gegenüber der Spitzelfurcht der Auslandsleitung abgesichert fühlte, die Instrukteure verhaften, die aus der Schweiz nach Süddeutschland geschickt wurden und zwangsläufig auch mit ihm in Berührung kamen; eine spätere Zeugenaussage schreibt ihm die Verhaftung von 17 solchen Instrukteuren allein im Jahr 1935 zu 271 . Da auch die gesamte Organisation des Literaturtransports aus der Schweiz über »Theo« lief, der in dem Zeitraum zwischen Frühjahr 1935 und Herbst 1936 mindestens ein Dutzend Mal selbst in die Schweiz reiste, war die Polizei darüber hinaus auch in der Lage, fast beliebig zu bestimmen, welche illegale Literatur in welchen Mengen und wo zur Verbreitung gelangen sollte272. Dank »Theo« überblickte sie auch die kommunistischen Gruppen, die im südbayerischen und auch im fränkischen Raum bestanden und die, wie etwa die Gruppe der Roten Hilfe im Raum Nürnberg-Fürth, zum Teil von »Theo« selbst erst initiiert worden waren 273 - mit anderen Worten, die Polizei konnte im süd- und zum Teil auch im nordbayerischen Raum nach Belieben Gruppen sich bilden und entwikkeln lassen, an langer Leine führen und zugreifen, wann immer ihr der Zeitpunkt günstig schien. Die hohe Effizienz »Theos« als illegaler Organisator und als Polizeispitzel zeigt sich insbesondere noch in der Tatsache, daß sich seine Aktivitäten keineswegs auf die KPD im Untergrund beschränkten 274 . Im Sommer 1935 nahm »Theo« im Zuge der Volksfront-Bestrebungen der KPD, die in München natürlich gerade eine Zusammenarbeit mit katholischen oppositionellen Kreisen nahelegten, Verbindung zu dem monarchistisch-katholischen Widerstandskreis um Josef Zott auf, der ab Dezember 1936 unter der Leitung des Freiherrn von Harnier stand. Im Herbst 1935 reiste »Theo« zwei Mal mit Zott nach Zürich und brachte ihn mit Hans Beimler in Verbindung, es kam zur Planung gemeinsamer Aktionen zwischen Kommunisten und Monarchisten und sogar zu einem Versuch, ein gemeinsames illegales Flugblatt 1000 Tage Drittes Reich in 2,1 272
273 274
Aussage Josef Moritz im Spruchkammerverfahren gegen Max Troll, a.a.O. B1.224. Die Politische Polizei war dabei zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht mehr wählerisch: So gab »Theo« 1933 und 1936 mehrfach Exemplare der (sozialdemokratischen und aus der CSR eingeschmuggelten) Sozialistischen Aktion, die er wohl aus dem bei der Polizei lagernden Bestand beschlagnahmter illegaler Schriften erhalten hatte, an die (kommunistische) Agfa-Gruppe weiter (OLG München, OJs 167/37, Anklageschrift). Siehe dazu weiter unten, S. 194 ff., S. 204 ff. und S. 230 ff. Die folgenden Angaben nach StA München, Gestapoleitstelle München Nr. 56 und 57 (umfangreiche Ermittlungsakten zum Kreis um Adolf von Harnier und Josef Zott); Donohoe, James: Hitler's Conservative Opponents in Bavaria 1930-1945. Leiden 1961, S.130ff., S.268-311 und passim; Bretschneider, a.a.O. S. 125 und S. 133ff.; Seutter von Lotzen, Wilhelm: Bayerns Königstreue im Widerstand. Erinnerungen 1933-1964. Feldafing o.J., S. 24-80 und S. 112 ff.; Aussage Heinrich Pflügler im Spruchkammerverfahren gegen Max Troll, a. a. O. Bl. 159 sowie passim.
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Bayern zu verbreiten. Im Jahre 1936, als »Theo« nach der endgültigen Zerschlagung des organisierten kommunistischen Untergrunds in Bayern fürchten mußte, daß seine Rolle als Gestapospitzel bekannt würde, führte er den Monarchisten als neuen Verbindungsmann der Gestapo den neunundfünfzigjährigen Michael Fischer zu, der alsbald in die Führungsgruppe des Widerstandskreises um Josef Zott und Adolf von Harnier aufrückte und mit seinen umfangreichen und präzisen Berichten 275 für Verhaftung und spätere Verurteilung sorgte. In den zwei Verfahren vor dem Volksgerichtshof gegen Zott, Harnier u.a. im Jahr 1944 wurde »Theo« als Zeuge nominiert, trat aber selbst nicht vor Gericht auf 276 . Auch die Zerschlagung einer Gruppe der SAPD in München im April 1937 geht auf das Konto von »Theo«, der, von der Politischen Polizei bereits ab Sommer 1934 auf einzelne Gruppenmitglieder angesetzt, mit der weiteren Ausspähung des Gruppenzusammenhangs und der Belieferung der Gruppe mit von der Polizei zur Verfügung gestellten SAPD-Zeitungen wohl sein Gesellenstück als Spitzel machte; »Theo« gab sich als maßgeblicher illegaler SAPD-Funktionär aus, belehrte die einzelnen Gruppenmitglieder auf langen Spaziergängen über die SAPD und deren illegale Arbeit und forderte Sympathisanten aus dem Umfeld zum Eintritt in die Gruppe auf. Seine Beziehungen zu dieser SAPD-Gruppe wurden, wie es im Urteil gegen ihre Mitglieder heißt, im Frühjahr 1935 »wegen angeblich anderweitiger Inanspruchnahme« von »Theo« abgebrochen 277 : Hinter dieser »anderweitigen Inanspruchnahme« verbirgt sich nichts anderes als sein »Amtsantritt« an der Spitze der Münchener und der südbayerischen Rote //«//¿-Organisation. - Von Auslandsverbindungen abgeschnitten, ohne eigene Möglichkeiten zur Herstellung illegaler Literatur und offensichtlich selbst von der Gestapo als ungefährlich eingeschätzt, wurde die kleine SAPD-Gruppe bis Anfang April 1937, dem Zeitpunkt der Verhaftungsaktion der Gestapo, an langer Leine weitergeführt; wer den »anderweitig in Anspruch genommenen« Spitzel »Theo« ersetzte, geht aus dem Urteil nicht hervor278. Handelt es sich bei diesen beiden angeführten Gruppen noch um eine relativ begrenzte Anzahl von Opfern, so läßt sich die Zahl der Verhafteten, die dem kommunistischen Untergrund, dem eigentlichen Arbeitsgebiet von »Theo«, angehörten und deren Festnahme er unmittelbar veranlaßte, kaum übersehen; die Einschätzung von Zeugen bei der Spruchkammerverhandlung, er habe ab Anfang 1935 bei nahezu allen Verhaftungen von Kommunisten in München und im südbayerischen Raum seine Hand im Spiel gehabt, und auf sein Konto gingen Hunderte von Verhaftungen, Tausende von Jahren Straf- und Lagerhaft und Dutzende von Toten, die in der Haft umgekommen seien, scheint nicht zu hoch gegriffen. 275 276
277 278
StA München, Gestapoleitstelle München Nr. 56 und 57. Adolf von Harnier erhielt 10 Jahre Zuchthaus und starb kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner im Zuchthaus Straubing; Josef Zott wurde zum Tod verurteilt und hingerichtet, die übrigen Angeklagten erhielten Strafen zwischen 2 Jahren 3 Monaten Gefängnis und 9 Jahren Zuchthaus (Bretschneider, a. a. O. S. 152). OLG München, OJs 176/37, Verfahren gegen Xaver Peter und 20 Genossen. Im April 1938 wurden die Hilfsarbeiter Xaver Peter und Karl Reisinger, beide 31 Jahre alt, der vierunddreißigjährige Schlosser Wolfgang Rieder, der zweiunddreißigjährige Automechaniker Alois Hölldorfer, der vierundzwanzigjährige Zeitschriftenvertreter Georg Breninger, der vierzigjährige Modellschreiner Georg Erber, der achtunddreißigjährige Friseur Alois Baumeister, der vierunddreißigjährige Packer Georg Rester und der vierzigjährige Gastwirt Anton Steyrer wegen illegaler Betätigung für die SAPD zu Strafen zwischen 6 Monaten und 2'/2 Jahren Gefängnis verurteilt (OLG München, OJs 176/37); siehe auch weiter oben, S. 147.
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Vor dem Hintergrund einer solchen - in »professionellem« Sinn - erfolgreichen Karriere besteht allerdings die Gefahr, daß von »Theo« ein falsches Bild entsteht, daß man ihn einschätzt als Meisterspion und Meisterverräter, als geschulten Polizeiprofi, Spitzel und agent provocateur, der es verstanden habe, seine wirkliche Rolle perfekt abzuschirmen, mit kühler Berechnung und nüchtern durchdachter und vorgeplanter Vorgehensweise sein Doppelspiel bis zum erfolgreichen Abschluß durchzuführen, das Gelände des kommunistischen Untergrunds auszuloten und mit seinen Netzen zu überziehen. Doch schon beim Studium der noch vorliegenden Hochverratsverfahren aus den Jahren 1934 bis 1938, in denen »Theo·, zum Teil sogar unter seinem richtigen Namen, immer wieder als kommunistischer Funktionär aufscheint, verblüfft mitunter sein augenscheinlich plumpes und direktes Agieren, wie es trotz der Erfordernis, die wahre Rolle »Theos« auch in Anklage- und Urteilsschriften gegen Mitgenossen nicht offenzulegen, immer wieder deutlich wird. Die umfangreichen Unterlagen des späteren Spruchkammerverfahrens verstärken diesen Eindruck noch weiter: »Theo« war kein intellektuell reflektierter Renegat, der seine bisherigen Genossen aus Überzeugung ans Messer geliefert hätte, wenngleich er in den Jahren 1947 und 1948, in denen Spruchkammer- und Berufungsverfahren stattfanden, die im Gefolge des begonnenen Kalten Kriegs vorherrschende antikommunistische und antisowjetische Stimmung durchaus in seine Verteidigungsstrategie einzubeziehen versuchte und bauernschlau vorgab, er habe Mitte der 30er Jahre schon gewußt und in die Tat umgesetzt, was inzwischen sämtliche westlichen Staatsmänner offiziell verkündeten. Von Mentalität, Erfahrungshintergrund und Auftreten her erscheint er, soweit die vorliegenden Unterlagen hier ein abgerundetes Bild zu liefern vermögen, als Figur mit keineswegs überdurchschnittlichen geistigen Kapazitäten, wirkt höchstenfalls, um einen altbayerischösterreichischen Ausdruck zu gebrauchen, wie ein Vorstadt-Strizzi mit eher miesen Charakterzügen, dessen wesentliche Vorgabe für die zentrale Rolle, die er innerhalb des kommunistischen Untergrunds zu spielen vermochte, in der Tatsache lag, daß er den richtigen Stallgeruch besaß und in dem Giesinger bzw. Münchener Vorstadtmilieu zu Hause war. Von der Politischen Polizei wahrscheinlich mit monatlich 240 Reichsmark, einem damals durchaus stattlichen Einkommen, endohnt sowie mit zusätzlichen Aufwandsentschädigungen für seine Auslandsreisen versehen, scheint er auch in größerem Umfang im Namen der Roten Hilfe gesammelte Unterstützungsbeiträge sowie für die Abnahme illegaler Literatur eingehobene Gelder unterschlagen zu haben; die Tatsache, daß er, kaum verschleiert, ein flottes Leben führte, machte seine Genossen - trotz gegenteiliger späterer Aussagen - damals offensichdich nicht weiter stutzig. Zusätzliche Einnahmen konnte sich »Theo« noch bei Verhaftungen beschaffen: ein Zeuge, der 1935 bei einem Treff mit »Theo« festgenommen wurde, sagte später aus, der die Verhaftung vornehmende Gestapo-Beamte habe »Theo« seine, des Festgenommenen, sämtliche Geldmittel sowie seine Uhr an Ort und Stelle als Belohnung übergeben 279 . Und die Zeugin Maria Reichenwallner, damals eine der Kassiererinnen der Roten Hilfe und zentrale Anlaufstelle in München, berichtete in dem Spruchkammerverfahren, »Theo« habe sie einmal - offensichtlich in akuter Geldnot beim Abkassieren der Roten Hilfe-Beiträge begleitet und ihr das jeweils eingesammelte Geld sofort abgenommen 280 . 279 280
Spruchkammerverfahren gegen Max Troll, a.a.O. Bl. 278. Ebd. Bl. 24.
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Bei diesen späteren Zeugnissen mögen freilich der Haß und die Erbitterung der von »Theos« Wirken unmittelbar Betroffenen zu nachträglich überspitzten Aussagen geführt haben. Aber auch in dem auf den »Fall Theo« bezogenen Anhang zu den Erinnerungen von Antonia Stern wird »Theos« besonderes Verhältnis zu Geld eigens angemerkt: »Vielleicht liegt der Schlüssel zu seinem [Theos] Verhalten überhaupt weniger auf politischem Gebiet als auf finanziellem. Weder erhält das finanzierende Zürich ordentliche Abrechnungen, noch überhaupt genaue Listen der unterstützten Familien.«281 Im Gefühl seiner doppelt abgesicherten Stellung scheint »Theo« seine neugewonnene Macht durchaus genossen zu haben; eine Reihe von Verhaftungen, die auf sein Konto gehen, waren sichtlich auch Begleichung von alten Rechnungen oder Rache für einstige Zurücksetzungen. Zeitweise muß »Theo« sich gefühlt haben wie ein kleiner Herrgott, der mit seiner Umgebung Katz und Maus spielen konnte und in dessen Macht es lag, jeden aus seinem engeren und weiteren Umkreis, wann immer er wollte, hochgehen zu lassen. Eine Zeugin berichtete in dem Spruchkammerverfahren, bei ihrem Prozeß habe sie »Theo« im Zuschauerraum gesehen, der sich seine Opfer noch einmal betrachtet habe 282 . Dabei bewegte er sich keineswegs mit besonderer professioneller Vorsicht; Genossen, die sich über seine relativ frühzeitige Entlassung aus Dachau wunderten oder ihn sogar beim Betreten des Wittelsbacher Palais, des Hauptquartiers der Politischen Polizei, beobachteten, erklärte er unverfroren, er habe dem Druck der Polizei, für sie Spitzeldienste zu leisten, zum Schein nachgegeben, würde aber in Wirklichkeit »innerhalb der Gestapo als Spitzel für die KPD fungieren (Versorgung mit wichtigen Informationen)«283. Und laut Bericht einer weiteren Zeugin im späteren Spruchkammerverfahren konnte es vorkommen, daß sich »Theo« in einer seltsamen Mischung von Imponiergehabe und makabrem Zynismus seiner Spitzelrolle geradezu brüstete; er habe sie einmal gefragt, was sie denn machen würde, wenn er, »Theo«, ein Spitzel sei, nur um gleich hinzuzufügen, er werde schon dafür sorgen, daß ihr nichts passiere, da könne sie ganz beruhigt sein284. Nicht so sehr ausgeklügeltes und von langer Hand vorbereitetes Rollenspiel, als vielmehr Flexibilität und Improvisationsgabe beim Lügen versetzten ihn in die Lage, die Widersprüche zu erklären, die Mißtrauen gegenüber seinem Verhalten hervorriefen, und die Klippen zu umschiffen, mit denen er sich aufgrund seiner Rolle immer wieder konfrontiert sah. 281
282 281 28
TheoZelle 5< in Steinbühl um den Wickler Fritz Grasser, eine angeblich 20köpfige Gruppe in Lichtenhof, die von Hans Popp geleitet wurde, und eine Wohngebietsgruppe in der Werderau. 355
356 357
O L G München, OJs 9 3 / 3 3 - 5 / 3 4 (Verfahren gegen Anton Hausladen und Genossen); Untheim und Röder wurden im Mai 1934 zu 1 J a h r 6 Monaten bzw. 1 J a h r 4 Monaten Gefängnis verurteilt; Beer, a.a.O. S . l l O f . ; Schirmer, a. a. O. S. 82 f. und S. 99. Beer, a.a.O. S. 111. Ebd.
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... Geleitet wurde der Stadtteil Süd von dem Eisendreher Josef Hiemer, der schon ab Ende 1932 Org-Leiter gewesen war.... Besonders eng war die Verkoppelung und Zusammenarbeit zwischen K P D und Jungkommunisten im Stadtteil Südosten. Nach der Verhaftung des letzten legalen Pol-Leiters Albert Nadler übernahm der Konditor Josef Edelmann im Frühjahr 1933 die nominelle Führung. Instrukteur der Bezirksleitung und Kontaktmann für Otto Pallas war der Bauarbeiter Friedrich Müller, der im Juli 1933 Edelmann als Pol-Leiter ablöste.... Daneben waren die Jungkommunisten des Stadtteils über ihren Leiter, den Maschinenschlosser Christian Bogner, in das Verteilungsnetz der Partei eingebunden. Eine relativ intakte Leitung für Nürnberg-West bestand im Gebiet Gostenhof. Dort hatte der letzte legale Pol-Leiter Karl Lehrburger noch vor seiner Verhaftung den Schreinergesellen Ernst Goller mit der illegalen Führung beauftragt. Goller versteckte einen Vervielfältigungsapparat bei einem Kommunisten in der Notsiedlung an der Hohen Marter ... [und] begann ... ab Juni 1933 ... mit der Herstellung der Stadtteilzeitung Das Rote Gostenhof. Das hektographierte Blatt erschien bis September in drei oder vier Ausgaben ... In einer der in der zweiten Julihälfte und Anfang August erschienenen Nummern wurde über die Ermordung von Karl Lehrburger am 25. Mai 1933 in Dachau berichtet... Weitere kleinere Gruppen mit Verbindung zur Bezirksleitung sammelten sich in Johannis um den Mechaniker August Kundt, der offenbar am zentralen und von Berlin beschickten Literaturverteilungssystem beteiligt war, und im Stadtteil Maxfeld. Hier sollte der Schreiner Balthasar Koller seit Ende Juni eine Reorganisation der noch aktiven Kommunisten in Fünfergruppen durchführen ... Eine kleinere Gruppe bestand seit Mai in Eibach. Unter der Leitung des Schusters Hans Bubenberger und des Malers Albert Lachowski fanden bis zum August 1933 mehrere Versammlungen der Eibacher und Reichelsdorfer Kommunisten in den nahegelegenen Wäldern statt.«" 358
Auffallend ist hier wiederum der - trotz der hohen Verluste durch Verhaftungen offensichtlich niemals kritisch in Frage gestellte Versuch, die Partei ungeachtet veränderter Bedingungen in der Illegalität abbildgetreu wieder aufzubauen. Die Einteilung der Stadtteile, wie sie für die Zeit der Legalität gegolten hatte, wurde mechanisch auf die völlig andersgearteten Verhältnisse und Notwendigkeiten illegaler Arbeit übertragen; man hoffte offensichtlich immer noch, die Partei in der Illegalität als Massenpartei fortführen zu können. Die Verbindung zwischen der neuen Bezirksleitung und den Stadtteilleitungen wurde von den Kurieren Otto Pallas und Georg Müller über ein System von Unterkurieren aufrechterhalten: Die Unterkuriere, die bei den Stadtteilleitungen die Funktion von Instrukteuren der Bezirksleitung hatten, erhielten über Pallas und Müller die zugeteilten Mengen an illegaler Literatur sowie die notwendigen Informationen und Anweisungen der Bezirksleitung, umgekehrt sollten sie die Nachrichten aus den Stadtteilen sowie kassierte Mitgliedsbeiträge und Zeitungsgelder zurückvermitteln. Die Gründe, weshalb ein solch schwerfälliges und mehrfach in sich gebrochenes organisatorisches Vermittlungssystem unter den konkreten Bedingungen der Illegalität unter dem NS-Regime längerfristig nur bedingt funktionieren konnte, liegen auf der Hand; organisatorische Reibungsverluste und die Gefahr des polizeilichen Zugriffs wurden noch dadurch verstärkt, daß aufgrund des Mangels an aktiven und geeigneten Funktionären Kurier-, Instrukteur- und Leitungsaufgaben praktisch simultan von den gleichen Personen durchgeführt werden mußten. Da aufgrund des Ausfalls vieler älterer Parteimitglieder einzelne Angehörige oder ganze Gruppen des K J V D die Stadtteilgruppen und ihre Leitungen wesentlich mittrugen, die Führungsspitze des K.JVD in Nürnberg aber zu diesem Zeitpunkt organisatorisch noch durchaus selbständig weiterarbeitete, kam es häufig vor, daß die gleichen Personen noch zusätzlich Aufgaben für den Apparat des K.JVD mit übernehmen mußten, was allen konspirativen Regeln "
8
Ebd. S. 113 ff.
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widersprach und insgesamt die Gefahr des Aufrollens bei polizeilichen Zugriffen erhöhte. Ein Hauptziel der neuen Bezirksleitung war - analog zu der Neuen Zeitung in München - die Herstellung einer eigenen zentralen Zeitung für Nürnberg und den nordbayerischen Bezirk. Sie sollte auf dem Druckapparat aus dem ehemaligen Nürnberger Parteibüro hergestellt werden, der im Februar 1933 im Zuge der Vorbereitungen auf die Illegalität in der Werkstatt bzw. dem Gartenhaus eines Schreiners untergebracht worden war. Die Herstellung der Druckvorlagen übernahm das Bezirksleitungsmitglied Hannes Pickel in Zusammenarbeit mit der dreiundzwanzigjährigen Kontoristin Kunigunde Schwab359. »Zusammen mit ihr wählte Hannes Pickel aus der illegalen Roten Fahne und aus anderen Informationsschriften Ausschnitte aus, versah sie mit verbindenden Texten, und Kuni Schwab beschrieb dann die Wachsmatrizen·360. Den Druck dieser Zeitung, die den Titel Blätter der sozialistischen Freiheitsaktion erhielt, übernahm der bereits erwähnte knapp dreiundzwanzigjährige Flaschner Ludwig Göhring. In dem Gartenhaus, das den Druckapparat beherbergte, druckten Göhring und zum Teil auch Pickel ab Ende Juni zwei zentrale Flugblätter mit jeweils 1000 Exemplaren Auflage; Ende Juli vervielfältigte Göhring die Nummer X der Blätter der sozialistischen Freiheitsaktion in einer Auflage von 2000, die jedoch offensichtlich zu hoch lag und bei den folgenden Nummern auf 1000 reduziert wurde 3 6 1 . Für die Verteilung an die Nürnberger Unterkuriere und die Weitergabe an andere Unterbezirke, soweit eine solche überhaupt erfolgte, war Pickel zuständig. Da das Arbeitsgeräusch der Druckmaschine für das leichtgebaute Gartenhaus zu laut war und Drucker wie Druck gefährdete, mußte sich Göhring nach Fertigstellung der ersten Nummer nach einem sichereren Arbeitsplatz umsehen. Ein scheinbar ideales Versteck war bald gefunden: Nr. 2 und 3 der Blätter der sozialistischen Freiheitsaktion wurden in einer abgelegenen und nur schwer zugänglichen Kalksteinhöhle in der Nähe von Königstein im Fränkischen Jura hergestellt, in die Göhring mit Hilfe des Bezirksleitungsmitglieds Georg Untheim den Druckapparat geschafft hatte; sie konnte nur über eine eigens angefertigte Strickleiter betreten werden, und Göhring druckte dort nachts im Schein einer Karbidlampe weiter 3 6 2 .
Die Nummer 2 wurde in den letzten Julitagen mit insgesamt 6 Seiten in 1000 Exemplaren Auflage hergestellt, die Nummer 3 Mitte August. Bei Übergabe der dritten Nummer unmittelbar nach ihrer Fertigstellung an Verteiler in Nürnberg wurde Göhring beobachtet und von einem SA-Mann verhaftet; in den folgenden Tagen zwangen ihn SA-Hilfspolizisten durch brutale Folter zur Preisgabe des Höhlenverstecks und ihm bekannter illegaler Verbindungen. Am gleichen Tag wie Göhring wurde auch der Mechaniker Oskar Pflaumer verhaftet, der die Strickleiter für die Höhlendruckerei angefertigt hatte: Pflaumer wurde im Zusammenhang mit der Folterung von Göhring auf der gleichen SA-Wache in einer Weise mißhandelt, daß er kurz darauf starb363. ® Ursprünglich Mitglied der SAJ sowie der sozialdemokratischen Kinderfreundebewegung, stieß Kunigunde Schwab 1932 zu den kommunistischen Jungen Pionieren; März-Juni 1933 war sie Sekretärin und Schreibkraft für Jakob Boulanger und Fritz Heilmann (Schirmer, a.a.O. S. 174 f.). 3 4 0 Ebd. S. 81 f. 3 6 1 Beer, a.a.O. S. 120. 3 " Ebd. S. 121; Schirmer, a.a.O. S.82ff.; OLG München, OJs 93/33. 3 6 3 Die Umstände dieses Todesfalls veranlagten das bayerische Justizministerium zur Einleitung einer Untersuchung, die allerdings - wie zumeist in solchen Fällen - zu nichts führte und schließlich durch eine Amnestie beendet wurde. In den Untersuchungsberichten werden dennoch die Verhörmethoden bei Göhring und Pflaumer sichtbar: »In der Nacht vom 16./17.8.33 wurden Ludwig Göhring und der verstorbene Oskar 3!
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Die Polizei begann auf der Grundlage der aus Göhring herausgeprügelten Informationen, die sie mit eigenen Ermittlungs- und Überwachungsergebnissen sowie Denunziationen und Spitzelmeldungen vergleichen und verbinden konnte, ab Mitte August mit einer umfassenden und in der Folgezeit immer weiter ausgedehnten Verhaftungsaktion, welcher Führungsspitze und Apparat der KPD wie des KJVD in Nürnberg nahezu vollständig zum Opfer fielen. Der rasche polizeiliche Zugriff, der weitere Beobachtung und Erfassung von Verbindungen nicht mehr erlaubte, dürfte auch von dem Gedanken an die Sicherung des ungestörten Verlaufs des am 30. August beginnenden NSDAP-Parteitags motiviert gewesen sein. Obwohl die Polizei zu diesem Zeitpunkt die organisatorischen Zusammenhänge noch nicht voll übersehen konnte - so rechnete sie etwa Göhring und die im Zusammenhang mit ihm Verhafteten dem KJVD und nicht dem KPD-Apparat zu - , gelang es ihr rasch, unter anderem wohl auch durch den weiteren Einsatz der bei Göhring und Pflaumer erprobten Verhörmethoden, den Zugriff auf den organisierten kommunistischen Untergrund in Nürnberg insgesamt auszudehnen. Johann Meyer, der führende illegale Funktionär in Nürnberg, wurde vermutlich schon kurz vor Entdeckung der Höhlendruckerei durch einen Zufall verhaftet 364 . Von den übrigen Mitgliedern der zweiten illegalen Bezirksleitung gelang nur Hannes Pikkel die Flucht in die Emigration; Karl Röder und Georg Untheim, beide ebenfalls in der zweiten Augusthälfte verhaftet, wurden zusammen mit dem ehemaligen RGOLeiter Anton Hausladen in einem gesonderten Verfahren, in dem ihre tatsächliche zentrale Funktion nicht aufgedeckt wurde, zu sechzehn bzw. achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt365. Mitte August, unmittelbar nach der Verhaftung Ludwig Göhrings, faßte die Polizei rund 40 Personen; Ende September/Anfang Oktober 1933 war die Zahl der Verhafteten auf weit über 120 angewachsen. Im Lauf des Monats September rollte die Polizei Organisation und Apparat des Nürnberger KJVD auf: Fanny Wiesenfeld wurde Mitte September bei einem ihrer Kurzaufenthalte in Nürnberg festgenommen, die Umstände der Verhaftung legen den Schluß nahe, daß sie auf gezielte Spitzelinformationen zurückging. Andreas Paul und Ernst Müller wurden Ende September im Zuge einer parallel laufenden Aktion der Polizei gegen den KJVD in Württemberg festge-
Pflaumer von der Polizeihauptwache Nürnberg mittels Kraftwagen in die ehemalige Arbeitersamariterwache am Kornmarkt zum Zwecke der Vernehmung verbracht. Uber die Aussage des Göhring, der zunächst vernommen wurde, wurde ein Protokoll angefertigt, das Göhring unterschreiben mußte. Göhring wurde zur Erzwingung von Angaben mit Stricken auf eine Tragbahre gebunden und mit einer Ochsensehne und einem Gummiknüppel so mißhandelt, daß er nicht mehr laufen konnte, sondern getragen werden mußte. Nach Göhring wurde der verstorbene Pflaumer vernommen und ebenfalls mißhandelt. Er starb noch in der gleichen Nacht, kurz nachdem er in die Polizeihauptwache Nürnberg zurückverbracht worden war, an den Folgen der Mißhandlung.· Im Obduktionsbericht von Oskar Pflaumer heißt es: .Die am 18. August 1933 vorgenommene gerichtliche Leichenöffnung hat ergeben, daß an der Leiche die Haut des Gesäßes und der Oberschenkel in Form des Reithoseneinsatzes tief blau-rot verfärbt war. Die Haut der Fußsohlen war von dem massenhaft darunter angesammelten Blut vorgewölbt, so daß sich beim Einschneiden nach Ablaufen des Blutes fast faustgroße Taschen ergaben.... Es ist zu vermuten, daß Pflaumer übergelegt und im Sinne der orientalischen >Bastonade. mißhandelt worden ist. Der Landgerichtsarzt hat noch berichtet, daß nach seinem Befund Pflaumer in grausamster, qualvoller Weise mit stumpfen Gegenständen zu Tode geprügelt worden sei.« (BayHStA Mlnn 71719, Sonderakt Pflaumer, zitiert nach Beer, a.a.O. S. 122). Beer, a.a.O. S. 123; Johann Meyer wurde im gleichen Verfahren wie Jakob Boulanger im März 1935 zu 2 Jahren 3 Monaten Gefängnis verurteilt. 365
OLG München, OJs 93/33.
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nommen. Der ebenfalls verhaftete Rudi Pilhofer wurde vermutlich bereits kurz nach seiner Verhaftung wieder freigelassen und soll als Spitzel und agent provocateur die Festnahme weiterer Genossen veranlaßt haben 366 . Der allergrößte Teil der in diesem Zeitraum verhafteten KPD- und KJVD-Funktionäre und -Mitglieder wurde im Herbst 1934 in einem Mammutverfahren vor dem bayerischen Obersten Landesgericht in vier Prozeßblöcken mit insgesamt 122 Beschuldigten vor Gericht gestellt. 31 Beteiligte aus dem Umkreis der zweiten illegalen Bezirksleitung der K P D und des KJVD wurden zu insgesamt 5 Jahren Zuchthaus und fast 42 Jahren Gefängnis verurteilt 367 . Den Verhaftungsaktionen der Politischen Polizei in Nürnberg ab Mitte August 1933 fielen neben Führungsspitze und Apparat der organisierten kommunistischen Illegalität jedoch vor allem auch nahezu alle bestehenden lokalen Gruppen zum Opfer. Wie in München, wurden auch in Nürnberg im Herbst 1933 alle Gruppen zerschlagen, die sich in unmittelbarer Reaktion auf die Illegalisierung der Partei gebildet hatten; informelle Verbindungen bestanden im Grunde nur noch über zufällige persönliche Bekanntschaft von früher, nicht mehr jedoch über selbstverständliche gemeinsame Milieuzugehörigkeit. Darüber hinaus war in Nürnberg aufgrund der quantitativ ja sehr umfassenden Verhaftungen von August/September 1933 auch der personelle Bestand für Versuche einer Rekonstruktion der illegalen Parteiorganisation offensichtlich so sehr reduziert, daß das bisherige Bestreben, Stadt und Bezirk analog zur Organisationswirklichkeit der Legalität mit einem hierarchisch aufgebauten Netz zu überziehen, schon von daher nicht mehr zu realisieren war. Stärker noch als in München war das kommunistische Milieu in den Arbeitervorstädten Nürnbergs im Herbst 1933 durch Verhaftungen, erfolgreiche polizeiliche Einschüchterung, Spitzelfurcht, aber auch durch fortschreitende Reintegration in den Arbeitsprozeß und Anpassung ausgedünnt worden. d) Uberblick Herbst 1933 bis Frühjahr 1934 - die dritte Leitung in Nürnberg Unmittelbar nach der Ausschaltung der zweiten illegalen Bezirksleitung, noch während der daran sich anschließenden großen Verhaftungsaktionen im September 1933, wurde bereits ein weiterer Versuch zur Bildung einer neuen überregionalen Leitungsgruppe unternommen. Seine Träger waren ein offensichtlich im September 1933 nach Nürnberg gekommener Instrukteur des Berliner ZK 3 6 8 , die beiden Erlanger Studen366
367
3i
Beer, a.a.O. S. 128 f. Pilhofer war später einer der wichtigsten Belastungszeugen im Verfahren OJs 98/33, in dem er selbst zu zwei Jahren vier Monaten Gefängnis verurteilt wurde, die Strafe aber angeblich nicht abzusitzen brauchte. In diesem Verfahren erhielten Andreas Paul und Fanny Wiesenfeld als die am stärksten Belasteten 3 bzw. 2 Jahre Zuchthaus, an deren Verbüßung sich KL-Haft bis Kriegsende anschloß; von den übrigen weiter oben namentlich genannten KPD- und KJVD-Funktionären erhielten Rudolf Zahn 3 Jahre, Andreas Döhlemann und Ernst Müller von Nürnberg-Nord 2 Jahre 4 Monate, Ludwig Göhring, Hans Meiler und Ernst Müller von Nürnberg-Süd 2 Jahre, Margarete Bierl und Nikolaus Riedmüller 20 Monate, Konrad Neuhof und Georg Müller 14 Monate und Georg Arold und Otto Pallas 1 Jahr Gefängnis (OLG München, OJs 98/33); die Verurteilten erwartete nach Strafverbüßung zumeist langjährige KL-Haft. Das Verfahren gegen Kunigunde Schwab wurde eingestellt, sie wurde in einem eigenen Verfahren OJs 16/34 im April 1934 zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt. Neben Hannes Pickel konnte nur noch der aus Württemberg nach Nürnberg gekommene und kurzfristig als Pol-Leiter des KJVD fungierende Willi Schäfer ins Ausland fliehen (Beer, a.a.O. S.129).
® Laut Schirmer, a.a.O. S.88, handelte es sich bei diesem Instrukteur um den knapp fünfunddreißigjährigen Kaufmann Hermann Friedrich Jensen, der Ende Januar oder Anfang Februar 1934 in Zusammenhang mit der dritten Nürnberger Leitung verhaftet wurde.
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ten Georg Klaus und Karl Böhm, knapp einundzwanzig und zwanzig Jahre alt, die aus dem Umkreis des Nürnberger KJVD stammten und entweder gezielt aus Tarnungsgründen der SA beigetreten und Mitglieder des Stabsturms Gruppe Franken geworden oder aber als Mitglieder einer Studentenvereinigung tatsächlich ohne ihr Zutun in die SA übernommen worden waren 369 , sowie der neununddreißigjährige Stukkateur Eustach Weinberger 370 . Im Auftrag des ZK-Instrukteurs versuchten Klaus, Böhm und Weinberger den aufgrund der Verhaftung von Willi Lang und der Zerschlagung des Literaturschmuggel-Apparats des KJVD lahmgelegten Nürnberger Literaturvertrieb zu reorganisieren und - wohl vor allem zu diesem Behufe - Verbindungen in die Oberpfalz und nach Oberfranken zu halten bzw. neu aufzubauen 371 . Anfang Oktober unternahmen Klaus und Böhm Reisen nach Amberg, wo sie mit Michael Schneeberger 372 in Verbindung treten konnten, nach Schwandorf und Bayreuth, nach anderer Darstellung auch nach Würzburg 373 . Da die Polizei allerdings schon seit Mitte September über die Tatsache zweier führender kommunistischer Kader innerhalb der Nürnberger SA informiert war und zudem über einen zentralen Spitzel - nach einer Quelle handelte es sich erneut um Rudi Pilhofer 374 - die Fäden des neugeknüpften Netzes in Oberfranken und der Oberpfalz rasch aufdecken konnte, gelang es ihr schon Mitte Oktober 1933, Klaus, Böhm, Weinberger und weitere Nürnberger Mitbeteiligte zu verhaften und ebenso die Organisationsansätze in Amberg, Bayreuth und Schwandorf zu zerschlagen; in dem gemeinsamen Verfahren vor dem OLG München wurden Klaus und Böhm zu je 2 Jahren 375 , Weinberger zu 2 Jahren 6 Monaten Gefängnis verurteilt 376 . Bei diesem ersten und bereits im Ansatz vereitelten Versuch, nach Ausschaltung der zweiten illegalen Leitung in der zweiten Julihälfte 1933 eine neue Bezirksleitung zu konstituieren, hatten zwar einige Verbindungen in Oberfranken und der Oberpfalz wieder hergestellt werden können, es war jedoch nicht gelungen, die wenigen Gruppen in einzelnen Nürnberger Stadtvierteln, die die Verhaftungsaktionen der Polizei ab Mitte August 1933 überstanden hatten, erneut zusammenzufassen. Angesichts der bis in den November 1933 hinein andauernden Verhaftungen sahen sich diese Grüppchen, die vor allem im Nürnberger Süden und im Westen bestanden, zu Vorsicht und Stillhalten gezwungen; so meldete die Polizeidirektion in ihrem zweiten Novemberbericht, daß es mit Ausnahme eines Flugblatts, das dazu aufforderte, bei der Wahl am 12. November 1933 mit Nein zu stimmen, zu keinen nennenswerten kommunistischen Aktivitäten gekommen sei 377 . 30 370 371 372 373 374 375 376
377
Beer, a. a. O. S. 130; Schirmer, a. a. O. S. 87 f. Ebd. Beer, a.a.O. S. 130. Siehe dazu weiter oben, S. 166 f. Schirmer,a.a.O.S.88. Ebd. S. 88 f. An die Strafe Schloß sich für beide KL-Haft in Dachau bis April 1939 an (Schirmer, a.a.O. S.89). OLG München, OJs 115/33; im gleichen Verfahren erhielten der dreißigjährige Hilfsarbeiter Michael Graf und der vierundzwanzigjährige Glasschleifer Erich Schneider aus Nürnberg 1 Jahr bzw. 6 Monate, der dreiundzwanzigjährige Schuhmacher Georg Opitz, der zwanzigjährige Modellschreiner Bernhard Will und der zweiundzwanzigjährige Schlosser Alfred Zerenner aus Bayreuth 18,15 und 5 Monate Gefängnis. Politische Nachrichten der Polizeidirektion Nürnberg-Fürth vom 13.11.1933, StA Nürnberg, Pol. Dir. Nürnberg-Fürth Nr. 357. Bei der Verbreitung des genannten Flugblatts, das in bekannter Manier in Hauseingänge und Treppenhäuser gelegt und in Hausbriefkästen gesteckt wurde, konnte die Polizei eine kleine kommunistische Gruppe im Stadtteil Johannis um den Schuster Josef Russer verhaften (ebd. S.7; Beer, a.a.O. S. 132).
Die K P D in Bayern 1919-1945
175
Sofort nach der Verhaftung von Klaus, Böhm und Weinberger, also noch im Oktober 1933, wurde ein erneuter Versuch zur Rekonstruktion einer Nürnberger Leitung unternommen. Er ging von dem einunddreißigjährigen Mechaniker Richard Beyer aus, der nach späteren Berichten Org-Leiter der aus diesem Ansatz entstandenen dritten illegalen Leitung war378. Beyer hatte in der Nürnberger KPD bislang noch keine herausragende Rolle gespielt und war somit der Polizei unbekannt, hatte vermutlich jedoch dem von Willi Lang aufgebauten Literatur-Verteilungsapparat angehört 379 . Es gelang Beyer, noch im Herbst 1933 Verbindung zu einigen noch bestehenden Gruppen im Nürnberger Süden und Westen aufzunehmen: in Steinbühl/Nürnberg-Süd zu der sogenannten Zelle 5 um den einunddreißigjährigen Wickler bzw. Monteur Fritz Grasser, einer der wenigen noch vom Frühjahr 1933 übriggebliebenen Gruppen, die sogar noch über eine eigene Druckmöglichkeit verfügte 380 ; in Gostenhof/NürnbergWest zu einer Gruppe von angeblich 10 bis 15 Mitgliedern unter dem bislang einer Verhaftung entgangenen sechsundzwanzigjährigen Schreiner und ehemaligen KPDStadtteilleiter Ernst Goller, die in drei Untergruppen zusammengefaßt gewesen seien und weiterhin Parteibeiträge entrichtet hätten 381 ; in Johannis, ebenfalls im Westen von Nürnberg, zu einer Gruppe von rund 15 Mitgliedern in vier kleinen Zellen um den neunundzwanzigjährigen Schmied Karl Wohlleben 382 . Weitere kleine Gruppen scheinen noch in den überwiegend von Arbeitern bewohnten Stadtrandsiedlungen Werderau und Schweinau in Nürnberg-Süd bestanden zu haben. Vermutlich Anfang Dezember 1933 konnte Beyer die Verbindung zur KPD-Inlandsleitung in Berlin herstellen, die daraufhin Hermann Jensen als Kurier und Instrukteur nach Nürnberg sandte 383 ; zugleich kamen der siebenunddreißigjährige Parteisekretär Otto Pauli384 aus Thüringen, vom ZK zum neuen Pol-Leiter der nordbayerischen Bezirksorganisation bestimmt, und der zweiunddreißigjährige Schlosser Willi Reinfrank nach Nürnberg; Reinfrank hatte in der KPD-Organisation Nürnberg-Gostenhof gearbeitet und war im September 1933 aufgrund drohender Verhaftung ins Ausland geflohen 385 . Pauli versuchte offensichtlich sofort nach seinem Eintreffen eine Umstellung der bestehenden Zirkel auf ein schematisches Dreiergruppensystem durchzuführen, das man unter den Bedingungen der Illegalität wohl für sicherer hielt: Nach diesem Modell sollte jede Gruppe aus einem Pol-, Org- und Agitprop-Mann bestehen; der politische Verantwortliche der Dreiergruppe, der zudem die Beiträge der beiden anderen zu kassieren hatte, sollte seinerseits wiederum Mitglied einer nach dem gleichen Prinzip auf höherer Ebene gebildeten weiteren Dreiergruppe sein. Soweit eine solche Umstellung aus praktischen Gründen überhaupt möglich war, führte sie, wie Beer anmerkt, zu einer Mischform, bei der in der Regel vier Personen zusammenarbeiteten und darüber 378 379 380 381 38! 383
384
383
Schirmer, a.a.O. S. 135. Beer, a.a.O. S. 133; Schirmer, a.a.O. S.62. Beer, a.a.O. S. 133f.; Schirmer, a.a.O. S. 114. Beer, a.a.O. S. 134. Ebd. Hermann Jensen war möglicherweise bereits im Herbst 1933 als ZK-Instrukteur in Zusammenhang mit dem Organisationsversuch Klaus/Böhm/Weinberger in Nürnberg. Siehe dazu weiter oben, S. 173. Pauli war bis 1933 hauptamtlicher Parteisekretär in Thüringen und hatte zuletzt illegal in Halle gearbeitet (Beer, a.a.O. S.135). Reinfrank war über Österreich, die Schweiz und Frankreich ins Saargebiet gelangt und sollte sich von da aus illegal nach Halle begeben, um dort eine Parteifunktion zu übernehmen; der Aufenthalt in Nürnberg war eigentlich nur als Zwischenstation gedacht. Vgl. den Erlebnisbericht von Reinfrank bei Schirmer, a.a.O. S. 122ff.
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Hartmut Mehringer
hinaus zwischen den einzelnen Gruppen auf gleicher Ebene eine Reihe von Querverbindungen bestanden, was natürlich dem eigentlichen Organisationsprinzip zuwiderlief386. Neben dem Ausbau der noch ungefestigten Organisation versuchte die neue Leitung in traditioneller Weise, Herstellung und Verbreitung schriftlicher Propaganda in Form von Flugblättern in Angriff zu nehmen. Belegt ist ein Flugblatt, ein Aufruf an alle Kommunisten und Sozialdemokraten, sich der K P D im Untergrund anzuschließen, das Richard Beyer und Ernst Goller gegen Jahresende 1933 nach einer Vorlage von Pauli in einer Auflage von rund 300 Stück herstellten 387 . Offensichtlich in Zusammenhang mit diesem Flugblatt unternahm die neue Leitung im Januar 1934 den Versuch, eine Zusammenarbeit mit sozialdemokratischen Widerstandsgruppen in Nürnberg mit dem Ziel einer Vereinigung beider Gruppen herbeizuführen; dieser Versuch ist von besonderem Interesse, weil es sich innerhalb Bayerns um den ersten und einzigen Versuch handelt, vor der Volksfrontwendung der Komintern 1935 einen lokalen Zusammenschluß von SPD und K P D in der Illegalität herbeizuführen. Die Kontaktaufnahme zu Vertretern des sozialdemokratischen Untergrunds in Nürnberg, die wohl von den Vorstellungen von Neu Beginnen geprägt waren 388 , erfolgte in der zweiten Januarhälfte 1934; ermöglicht wurde sie durch die enge Bekanntschaft zwischen dem Kommunisten Fritz Grasser und dem Sozialisten Hans Dillinger, die aus ihrer gemeinsamen Aktivität in der Arbeiter-Sportbewegung 389 herrührte. Auf mehreren Treffen zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Vertretern drang Otto Pauli auf rasche Vereinigung beider illegaler Gruppierungen auf örtlicher Ebene und die Neuorganisation ihres Mitgliederbestands nach einem DreiergruppenSystem 390 . Da Pauli offensichtlich nach wie vor den Führungsanspruch der K P D im Sinne des Konzepts der Einheitsfront von unten vertrat, scheinen seine Vereinigungsvorstellungen bei den sozialdemokratischen Vertretern trotz grundsätzlicher Bereitschaft auf zunehmende Skepsis gestoßen zu sein. Nichtsdestoweniger hielt Pauli an seiner optimistischen Einschätzung fest und gab auf einer Zusammenkunft Ende Januar 1934 mit Führern einzelner Stadtteilgruppen bekannt, daß die Vereinigung von KPD, SPD und SAP in Nürnberg binnen kürzester Frist erfolge 391 . Unmittelbar darauf schlug die Polizei zu; auch im Fall der dritten Leitung in Nürnberg war es ihr gelungen, über einen Spitzel, der unter dem Decknamen »Rudi« bekannt ist 392 , bis in den Kern der damals noch im Neuaufbau befindlichen Organisation vorzudringen. Alle Mitglieder der neuen Leitung wurden am 30. Januar 1934 verhaftet, zusammen mit ihnen ein gerade aus Berlin nach Nürnberg gekommener Kurier des Zentralkomitees aus Berlin; in der Folgezeit gelang es der Polizei rasch - ver-
386 3.7
3.8 389 3.0 3.1 392
Beer, a.a.O. S. 135. OLG München, OJs 20/34, 1. Anklageschrift im Verfahren gegen Richard Beyer und Genossen, zitiert nach Beer, a.a.O. S. 135ff. Beer, a.a.O. S. 137 und S.200ff.; siehe dazu auch weiter unten, S. 371 ff. und S. 391 f. Beer,a.a.O. S.137Í. Ebd. S. 138. Ebd.; siehe dazu weiter unten, S. 372. Vermutlich handelte es sich hier erneut um Rudi Pilhofer; siehe dazu Beer, a.a.O. S. 139 und S.339, sowie Schirmer, a.a.O. S. 124.
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mutlich aufgrund präziser Spitzelinformationen - den gerade geschaffenen Organisationszusammenhang um die neue Leitung zu zerschlagen. In zwei großen Verfahren wurden insgesamt 52 Nürnberger Kommunisten sowie der Berliner ZK-Instrukteur Hermann Jensen vor dem OLG München angeklagt, 26 wurden im Juni 1934 verurteilt. Otto Pauli, Hermann Jensen und Richard Beyer erhielten 7, 3 und 2 Ά Jahre Zuchthaus, die übrigen Verurteilten Strafen zwischen 3 Monaten und 2 Jahren Gefängnis 3 ' 3 . Bei den meisten Verurteilten schloß sich an die Strafverbüßung langjährige KL-Haft an, zum Teil bis Kriegsende 3 ' 4 . Die Akten zu diesen beiden Verfahren sind leider nicht erhalten 395 ; vor allem die Vernehmungsniederschriften wären vermutlich aufschlußreich, um ein plastischeres Bild über den tatsächlichen Hintergrund und den Kreis illegal arbeitender Kommunisten um die dritte Nürnberger Leitung zu gewinnen. Es handelte sich in jedem Fall um kleine, stark in sich abgeschlossene G r u p p e n , die zum Teil - wie die sogenannte »Zelle 5« in Steinbühl um Fritz Grasser - schon seit 1933 bestanden, in Arbeitervierteln mit ehemals starker kommunistischer Basis angesiedelt, jedoch nicht mehr inhärenter und organischer Bestandteil dieses sozialen Milieus waren und sich in ihrer Tätigkeit wesentlich auf den Konsum von außen an sie herangebrachter illegaler Literatur beschränken mußten. Sie waren kaum mehr in der Lage, aus eigener Kraft propagandistisch aktiv zu werden, nicht mehr Träger einer »offensiven« politischen Arbeit in einem gleichgesinnten Umfeld, sondern Opfer einer aufgrund der übermächtigen Verfolgung notwendig defensiven, abwartenden Verhaltensweise. In konspiratorischer Enge auf sich selbst zurückgeworfen, waren die Mitglieder dieser G r u p p e n infolge vielfach andauernder Arbeitslosigkeit wohl auch von dem Kommunikationsfluß am Arbeitsplatz weitgehend abgeschnitten; so zeigt sich auch bei ihnen eine typische Einschränkung der Fähigkeit, den eigenen Stellenwert u n d die eigenen Möglichkeiten noch realistisch einzuschätzen. So verkündete z.B. Otto Pauli auf einer Besprechung Mitte J a n u a r 1934 abenteuerlich-optimistische Thesen: Die K P D sei in den wichtigsten Bezirken Mitteldeutschlands wieder fest organisiert, und ein unmittelbar bevorstehender Krieg zwischen Deutschland u n d Frankreich werde die politische Situation drastisch zugunsten der K P D verändern. U n d trotz der deutlichen Skepsis der Nürnberger Sozialisten, mit denen er über einen Zusammenschluß beider Organisationen verhandelte, gab er, wie angeführt, unmittelbar vor seiner Verhaftung auf einer weiteren Z u s a m m e n k u n f t bereits den bevorstehenden Zusammenschluß bekannt3".
393
OLG München, OJs 20/34 und OJs 21/34. Fritz Grasser war nach Verbüßung seiner zweijährigen Gefängnisstrafe bis April 1939 im KL Dachau inhaftiert und arbeitete anschließend wieder bei Siemens. Wegen regimekritischer Äußerungen von Kollegen denunziert, wurde er im November 1941 verhaftet und im Juli 1942 vom Sondergericht Nürnberg zum Tod verurteilt (StA Nürnberg, Sondergericht Nürnberg Nr. 290/42); siehe dazu auch den Bericht des Präsidenten des Oberlandesgerichts Nürnberg an das Reichsjustizministerium vom 3.7.1942, IfZ MA 430/3. Vgl. Beer, a.a.O. S.294f.; Schirmer, a.a.O. S.211 ff.; siehe auch weiter unten, S.283. 3,5 Beer konnte in seiner Arbeit auf eine Anklageschrift des Verfahrens OJs 20/34 vor dem OLG München zurückgreifen, die in Privatbesitz erhalten ist. 3 " Beer, a.a.O. S, 138. 394
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e) D i e Rote Hilfe in Nürnberg und Fürth Nach der Ausschaltung der dritten Nürnberger Leitung lassen sich in Nürnberg kaum noch organisierte kommunistische Aktivitäten feststellen. Auch die Verbindung der Berliner Inlandsleitung und der KPD-Stellen im Ausland nach Nürnberg brach ab : In einem Ortsdecknamen-Verzeichnis der K P D von Sommer 1936, das der Polizei in die Hände fiel und entschlüsselt werden konnte, ist Nürnberg nicht mehr aufgeführt 3 9 7 . Die in dem Bericht der Bayerischen Politischen Polizei über Die illegalen schen Bewegungen
in Bayern
marxisti-
1935 getroffene Feststellung, daß auch der nordbayerische
Bezirk im Frühjahr 1935 »mit Erfolg planmäßig um- und durchorganisiert« worden sei, eine neue Bezirksleitung eingesetzt, verschiedene Unterbezirke neu aufgebaut, neue Stützpunkte, Zellen, Ortsgruppen und Stadtteile geschaffen worden seien 3 9 8 , läßt sich, wie Beer vermerkt, »nicht durch entsprechende Tatsachen und weitere Quellenhinweise belegen« 3 9 9 ; vermutlich handelt es sich auch hierbei wieder einmal um Schlußfolgerungen aus Informationen von Polizeispitzeln, die zur Unterstreichung ihrer eigenen Bedeutung einzelnen kleinen lokalen Gruppen 4 0 0 übergreifende Zusammenhänge und hierarchische Strukturen andichteten. Obwohl Polizeiberichte immer wieder das vereinzelte Auftauchen kommunistischer Flugblätter und Zeitungen und die Beschriftung von Mauern, Bedürfnisanstalten usw. mit oppositionellen Losungen und Schmähungen gegen das Regime anführen, kann zu diesem Zeitpunkt »von einer gezielten und entwickelten antifaschistischen Propaganda nicht mehr gesprochen werden«; die »Arbeit und der Zusammenhalt der wenigen noch in Freiheit befindlichen Kommunisten in Nürnberg gegen den Nationalsozialismus vollzogen sich in veränderten Formen und blieben mehr oder minder planlos ohne verbindenden organisatorischen Rahmen« 4 0 1 . Es existierten noch lokkere, weitgehend auf persönlicher Bekanntschaft beruhende Gesprächszirkel, kleine Abhörgemeinschaften, innerhalb derer Nachrichten von Radio Moskau besprochen wurden, und mehr oder minder zufällige Gesprächsrunden in Gastwirtschaften usw. Formen, die in Polizeiberichten und Sondergerichtsurteilen immer wieder ihren Niederschlag finden. Aufgrund der Lückenhaftigkeit der Quellen läßt sich hier ein genauerer Uberblick nicht geben. Beer führt eine Reihe von Tages- und Ereignismeldungen der Stapostelle Nürnberg an, die für das Jahr 1937 umfangreicher erhalten sind: - 4./5. Januar: Beschriftung einer Hausmauer mit Kreide mit der Losung Rot Front lebt; 397
3,8 399 400
Skatklub Freiheit< nennt· (Michels, Robert: Die deutsche Sozialdemokratie, a.a.O. S. 539).
Die bayerische Sozialdemokratie bis zum Ende des NS-Regimes
309
in Bayern auch 1912 noch immer unter dem Reichsdurchschnitt, hatte aber deutlich höhere Zuwachsraten zu verzeichnen 68 . Das unterschiedliche Gewicht der SPD im Norden und im Süden Bayerns wird immer wieder deutlich. So bestanden gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts neben der Fränkischen Tagespost m Nürnberg, deren Auflage von über 30000 im Jahr 1909 auf 35000 im Jahr 1913 stieg, in Franken drei weitere SPD-Zeitungen, der Fränkische Volksfreund in Würzburg mit über 7000, die Fränkische Volkstribüne in Bayreuth mit über 8000 und die Oberfränkische Volkszeitung in Hof mit 5000 Exemplaren Auflage im Jahr 1913. In Südbayern existierten lediglich die Münchner Post mit rund 30000 Auflage (1913) und die Schwäbische Volkszeitung Augsburg, deren Auflagenhöhe für dieses Stichjahr nicht bekannt ist; dazu kam ab 1909 noch als Nebenausgabe der Münchner Post die Neue Donaupost, die in den Wahlkreisen Regensburg, Straubing, Deggendorf und Passau Verbreitung fand und deren Auflagenhöhe im Jahr 1913 ebenfalls unbekannt ist69. Dem unterschiedlichen Gewicht der SPD in den beiden Bezirken bzw. Gauen Nordbayern und Südbayern entsprachen mehr oder minder deutliche Differenzen in der politischen Grundeinstellung, die sich wiederum an einem unterschiedlichen Verhältnis zur Gesamtpartei bzw. der Parteiführung in Berlin festmachen lassen. Es gehe zwar zu weit, heißt es im August 1910 im Vorwärts, »von einer Donaulinie in Bayern« zu sprechen, doch sei es immerhin eine Tatsache, »daß der Gau Nordbayern die schärfere Richtung vertritt, daß zwischen Süd- und Nordbayern eine gewisse Spannung besteht«70. Vor allem in Südbayern mit dem Schwerpunkt München war die bayerische SPD eine »Vollmar-Partei«71, in der sich aufgrund der spezifischen Bedingungen in diesem Raum (geringere Industrialisierung, Beharrungskraft agrarischer Wirtschafts- und Lebensverhältnisse, Stärke des Katholizismus) eine besondere politisch-agitatorische Spielart entwickelt hatte. Eine mechanische Übernahme der vom Parteivorstand geforderten und wesentlich an den Verhältnissen des protestantisch-proletarischen Nordens geformten Prinzipien sozialdemokratischer Politik und Lebensauffassung hätte die Partei hier vermutlich rasch auf den Status einer unbedeutenden politischen Sekte zurückgeworfen. Stand in Norddeutschland - und ebenso in den Industrieregionen Mittel- und Oberfrankens - für die SPD die Gegnerschaft zum bürgerlichen politischen und wirtschaftlichen Liberalismus im Vordergrund, so war ihr Hauptgegner in Südbayern, wie Hermann Müller 1913 auf dem Nürnberger Parteitag formulierte, eine »Scharfmachergesellschaft« von »feudal-klerikal(em) Gepräge«72. Föderalistisch-partikularistische Tradition und pragmatisch-reformistisches Politikverständnis der bayerischen SPD hatten ihren Boden vor allem in Südbayern, während die Partei sich in ihren - protestantischen - Hochburgen im Raum Nürnberg und in Oberfranken, wo sie sich in sehr viel stärkerem Maß als in Südbayern auf eine moderne Industriearbeiterschaft in Großbetrieben stützen konnte, stärker als »deutsche Sozialdemokratie in Bayern« denn als bayerische Sozialdemokratie begriff73. Es sei bezeichnend, so konstatiert " Hirschfelder,a.a.O. S. 457-539. 69 Ebd. S. 543 ff. 70 Zitiert nach ebd. S. 560 f. 71 Ebd. S. 560. 72 Ebd. S. 563. 73 Ebd. S. 560.
310
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Hirschfelder in diesem Zusammenhang, daß kritische Stellungnahmen zur Politik des bayerischen Landesvorstands überwiegend aus Nordbayern kamen, wobei insbesondere in Oberfranken, wo rasch eine starke »linke« Tradition maßgeblich wurde, die geographische Nähe zu Mitteldeutschland eine nicht unwesentliche Rolle spielte 74 . Insbesondere in München, wo Handwerk und kleinbetriebliche Produktion stärkeres Gewicht besaßen als in den beiden anderen bayerischen Großstädten, fanden die föderalistisch-reformistischen Grundtendenzen innerhalb der bayerischen SPD besonderen Nährboden; hier war es, wie Eduard Bernstein einmal formulierte, »unmöglich ..., sich Selbsttäuschungen über die Nähe eines sozialistischen Umsturzes hinzugeben«, und zeitgenössische Beobachter sprachen von München als einer »Stadt ohne Klassenbewußtsein«, in der sich die Arbeiterschaft in Mentalität und Lebensstil von anderen Schichten weniger absondere als in anderen Orten 7 5 . In Augsburg hingegen bezeichnenderweise einer Stadt, in der ebenfalls große Industrie vorherrschte und die SPD-Mitglieder sich wesentlich aus der Fabrikarbeiterschaft der Großbetriebe rekrutierten - wies die SPD trotz der Katholizität der Bevölkerung nicht die für die südbayerische SPD typischen Züge auf: Die Augsburger SPD-Vertreter übernahmen im allgemeinen die nordbayerische Kritik an der Politik des - aufgrund des Standorts München klar von der südbayerischen SPD dominierten - Landesvorstands und am Sonderkurs der bayerischen Sozialdemokratie; die Augsburger Parteiorganisation war die lokale Gruppe in Südbayern, die sich »dem reformistischen Kurs der bayerischen Landesorganisation nicht anschließen mochte und alle revisionistischen Tendenzen in der Gesamtpartei auf das schärfste bekämpfte« 76 . Es ist wohl nicht abwegig, neben anderen, besonders ungünstigen Verhältnissen, denen die SPD in Augsburg ausgesetzt war 77 , in dieser Haltung auch einen der Gründe für ihre Schwäche in der Phase vor dem Ersten Weltkrieg zu sehen. Freilich wurden diese Differenzen zwischen München und Südbayern einerseits und Nordbayern und Augsburg andererseits nie so stark, daß sie zu einer Spaltung oder auch nur zu einer einschneidenden Kurskorrektur der Politik des bayerischen Landesverbands geführt hätten. Dessen Politik wurde wesentlich in München bestimmt, wo Vollmar allerdings infolge seiner Krankheit immer mehr in den Hintergrund trat. Seine Rolle übernahm in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg in zunehmendem Maß Erhard Auer, ab 1908 bayerischer Landessekretär der SPD 7 8 .
I I . V O M ERSTEN WELTKRIEG BIS ZUM ENDE DER WEIMARER REPUBLIK
Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte die Sozialdemokratie auch in Bayern sowohl hinsichtlich ihrer Mitgliederstärke wie der Zahl ihrer Wähler und Mandatare auf allen parlamentarischen Ebenen einen kontinuierlichen und zum Teil sogar steilen 7< 75 76 77 78
Ebd. S. 565. Zitiert nach ebd. S. 564 u. 651, Anm. I I I . Fischer, Ilse, a.a.O. S. 396. Vgl. dazu ebd. S. 332 ff.; sowie Hetzer, a.a.O. S. 36 ff. Jansen, a.a.O. S. 93 ff.; Schade, Franz: Kurt Eisner und die bayerische Sozialdemokratie. Hannover 1961. S. 25 ff.
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Aufschwung erlebt, wenngleich sie immer deutlich hinter dem Reichsdurchschnitt zurückblieb 1 . Ihr zunehmender politischer Einfluß im bayerischen Landtag, der ihrem zahlenmäßigen Gewicht freilich nicht gerecht wurde, und ihre Versuche, konkrete Reformpolitik zugunsten der arbeitenden Bevölkerung durchzusetzen, wurden nichtsdestoweniger schon einige Jahre vor Kriegsausbruch durch die schärfere Gangart der Regierung Herding und des Zentrums, das im Landtag über die absolute Mehrheit verfügte, in zunehmendem Maße abgeblockt. Die gespannte innenpolitische Situation in Bayern bei Kriegsausbruch war nicht zuletzt die Folge von neuerlichen Repressionsund Diskriminierungsmaßnahmen der bayerischen Regierung gegenüber der Sozialdemokratie; diese Situation veranlaßte die bayerische SPD, am 1. August 1914 im Landtag geschlossen gegen ein verändertes Finanzgesetz zu stimmen, das der Regierung angesichts des Kriegsausbruchs finanziell freie Hand gab, obwohl sie ansonsten die Politik des Parteivorstands in Berlin, die zur Bewilligung der Kriegskredite am 4. August im Reichstag führte, aktiv unterstützte 2 . Der Krieg selbst bedeutete die erste scharfe Zäsur in der bisher organischen Aufwärtsentwicklung der SPD in Bayern. Die Mitgliederzahl ging schon deshalb stark zurück, weil die zum Kriegsdienst Einberufenen nicht als Mitglieder gezählt wurden 3 . Dazu kam, daß durch die Einberufungen große Teile des unteren Funktionärsstamms, der die organisatorische Arbeit vor Ort getragen hatte, plötzlich ausfielen; dadurch litt vielerorts die Parteiarbeit oder kam sogar völlig zum Erliegen. Lebensmittelknappheit, Teuerung und immer stärker werdende Kriegsmüdigkeit gerade in den größeren Städten ab Winter 1915/1916 trugen mit dazu bei, der SPD, die sich damals noch an den Burgfrieden mit den bürgerlichen Parteien gebunden fühlte, einen Teil ihrer Anhängerschaft zu entfremden. Eine weitere Schwächung der Partei erfolgt durch die Abspaltung der USPD im Frühjahr 1917, wenngleich die linke Abspaltung - und das wirft wiederum ein Schlaglicht auf die Unterschiede zwischen Nord- und Südbayern - nur in den fränkischen Regierungsbezirken, und hier vor allem in Nürnberg und in Oberfranken, wirklich Fuß fassen konnte, während ihr Einfluß in Altbayern, abgesehen von München, nicht nennenswert war4. Die Entwicklung der USPD in Bayern folgte offensichtlich denselben Bahnen wie rund ein halbes Jahrhundert früher das Anwachsen der alten SPD, und die neuen USPD-Bastionen deckten sich weitgehend mit alten SPD-Hochburgen der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts. 1 2
3
4
Vgl. dazu Hirschfelder, a.a.O. S. 539ff. Albrecht, Willy: Landtag und Regierung in Bayern am Vorabend der Revolution von 1918. Studien zur gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung Deutschlands von 1912-1918. Berlin 1968, S. 78 ff.; Jansen, a.a.O. S. 110f.; Schade, a.a.O. S. 34. Kritzer, Peter: Die bayerische Sozialdemokratie und die bayerische Politik in den Jahren 1918 bis 1923. München 1969, S. 48; Schade, a.a.O. S. 42; Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD in Würzburg. Berlin 1917, S. 10. »Uber die Ausbreitung der USPD in Bayern wissen wir..., daß gleich nach der Parteispaltung der Sozialdemokratische Verein Aschaffenburg Anschluß an die USPD suchte; die damit nicht einverstandenen Mitglieder gründen darauf eine neue Organisation. Im Wahlkreis Würzburg folgen die Sektionen Heidingsfeld und Randersacker dem Aschaffenburger Beispiel. Vielumworben ist auch Schweinfurt, wo zwar die Leitung des Sozialdemokratischen Vereins bei der alten Partei verbleibt, aber eine große Zahl von Mitgliedern zu den Unabhängigen übergeht. Außerdem treten die Sektionen Ochsenfurt, Tettau, Kleintettau und der Verein Zirndorf aus der alten Parteiorganisation aus. Eine Konferenz des Wahlkreises Hof-Münchberg-Naila beschließt den Übertritt zur USPD ...· (Schade, a.a.O. S. 43; Schades Informationen stammen offensichdich von Gärtner, Georg: Mit uns zieht die neue Zeit. Geschichte der Nürnberger Arbeiterbewegung von ihren Anfängen bis zum Jahr 1928. Nürnberg 1928, S. 202 f.).
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Infolge der Stärke der USPD in Nordbayern verlagerte sich in den Jahren 1917 bis 1919 - bei starken Mitgliederverlusten - der Schwerpunkt der SPD, auch nach der Zahl der Mitglieder, vorübergehend nach Südbayern5. In den ehemaligen fränkischen Hochburgen der Sozialdemokratie konnte die USPD einen großen Teil der Parteimitglieder zu sich herüberziehen. Aus der 30 Mann starken sozialdemokratischen Landtagsfraktion trat allerdings - und eigentlich gegen seinen Willen - nur der Nürnberger Schuhmacher und Gewerkschaftsfunktionär Josef Simon zur USPD über; er vertrat zugleich im Reichstag den Wahlkreis Hof-Münchberg-Naila-Rehau, dessen Parteiorganisation 1917 mehrheitlich den Übertritt zur USPD beschlossen hatte 6 . In Altbayern wurde lediglich München zu einer starken Bastion der USPD, und aufgrund ihrer Bedeutung in der Landeshauptstadt gewann der Münchener Führer der USPD, Kurt Eisner, entscheidenden Einfluß auf den Ausbruch und Verlauf der Revolution von I9I8/I9 in ganz Bayern7. Auf die Revolutionsereignisse im November 1918 selbst, die zum Sturz der Monarchie und zur Bildung der »demokratischen und sozialen Republik Bayern« führten, braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden 8 . Der Provisorische Nationalrat des Volksstaates Bayern, am 8. November 1918 nach dem nahezu kampflosen Zusammenbruch des alten Machtapparates konstituiert, bestand aus Mitgliedern des neugebildeten Arbeiter- und Soldatenrats sowie den Fraktionen der Sozialdemokraten, des Bauernbundes und einem Teil der Liberalen Vereinigung. Er wählte am gleichen Tag eine provisorische Bayerische Regierung, die aus zwei USPD- und vier SPD-Vertretern sowie zwei parteilosen Ministern bestand: Ministerpräsident wurde Kurt Eisner, das neugeschaffene Ministerium für soziale Angelegenheiten übernahm Hans Unterleitner (beide USPD), Kultusminister und stellvertretender Ministerpräsident wurde der Pfälzer Mehrheits-Sozialdemokrat Johann Hoffmann; weiter stellte die SPD den Innenminister (Erhard Auer), den Justizminister (Johannes Timm) und den Minister für militärische Angelegenheiten (Albert Roßhaupter)9. Die SPD war damit zur Regierungspartei geworden, freilich in einer Phase des Umsturzes althergebrachter Ordnungen, in der von normaler Regierungsausübung kaum die Rede sein konnte. Die Führung der Mehrheitssozialdemokratie (die damals zur Unterscheidung von der USPD das Kürzel MSPD übernahm) und vor allem Erhard Auer, seit Oktober 1918 auch nominell Nachfolger Georg von Vollmars als bayerischer Landesvorsitzender der SPD bzw. MSPD 10 , hatten aufgrund der bisherigen Tradition bayerischer sozialdemokratischer Politik dem von Eisner und der Münchener USPD durchgesetzten Umsturz abwartend bis ablehnend gegenübergestanden und sich der neuen Regierung eher widerwillig und erst dann zur Verfügung gestellt, als die Unumkehrbarkeit der
5 Vgl. dazu weiter unten S. 318, Tabelle 13. ' Albrecht, a.a.O. S. 283ff.; Schade, a.a.O. S. 43. 7 Vgl. dazu allgemein Ay, Karl Ludwig: Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des Ersten Weltkriegs. Berlin 1968, S. 189 ff.; Hillmayr, Heinrich: München und die Revolution von I9I8/I919. Ein Beitrag zur Strukturanalyse von München am Ende des Ersten Weltkriegs und seiner Funktion bei Entstehung und Ablauf der Revolution. In: Bosl, Karl (Hrsg.): Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen. München 1969, S. 545 ff. 8 Siehe dazu allgemein Schade, a.a.O.; Albrecht, a.a.O.; Ay, a.a.O.; Bosl, a.a.O., insbesondere die Beiträge von Albrecht, Ay, Wiesemann und Kritzer; weitere Literatur siehe weiter oben, S. 7 ff., Anm. 11 u. 34. ' Schade, a.a. O., S. 62 f.; Albrecht, a.a.O. S. 426 ff. Zu Hans Unterleitner siehe BADE sowie BHE I, a.a.O. 10 Schade,a.a.O.S. 51 f.
Die bayerische Sozialdemokratie bis zum Ende des NS-Regimes
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Entwicklung feststand 11 . Obwohl sie, betrachtet man die Wahlergebnisse, als Partei von der revolutionären Entwicklung zunächst am stärksten profitierte, war sie weder Trägerin der Revolution noch versuchte sie, diese voranzutreiben. Sie wurde im Gegenteil, ohne revolutionäre Eigeninitiative, von der Revolution selbst getrieben und stand bei ihrem bisherigen Selbstverständnis und der bislang geübten Praxis hilflos vor einem unlösbaren Dilemma: Auf der einen Seite war die sozialdemokratische Funktionärshierarchie aus pragmatisch-reformistischer Tradition und aus realpolitischer Einsicht durchaus gegen eine revolutionäre Umwälzung mit unkontrollierbaren Folgewirkungen, auf der anderen durfte die Sozialdemokratie, wollte sie nicht allen politischen Einfluß verlieren, innerhalb der revolutionären Bewegung selbst nicht völlig abseits stehen. Weder konnte und wollte sie die eingetretene revolutionäre Entwicklung in einem restaurativen Sinn rückgängig machen, noch war ihr an einem Weitertreiben der Revolution nach sowjetrussischem Vorbild gelegen. Die MSPD-Führung war nicht bereit, die Räte als neue Macht- und Verfassungsorgane neben Regierung und Landtag anzuerkennen, und geriet damit nicht nur in Widerspruch zu der revolutionären Linken, die sich vor allem in der USPD gesammelt hatte, sondern auch zu ihrer eigenen Basis, die in vielfältigen Formen in den Räten mitarbeitete 12 . Sie war deshalb aber auch nicht in der Lage, gegen die Räte und die von ihnen eroberten Machtpositionen vorzugehen - sie konnte nur zu bremsen versuchen, ohne praktikable politische Alternativen vorweisen und durchsetzen zu können. Für konstruktive, langsam vorangetriebene Reformpolitik, die sie gelernt und der sie sich verschrieben hatte, war unter den außergewöhnlichen Verhältnissen des revolutionären Umbruchs immer weniger Raum gegeben 13 . Aber der Wind der allgemeinen Volksstimmung wandelte sich rasch und blies den Revolutionären bald ins Gesicht. Davon profitierte auch die SPD. Die Landtagswahlen vom 12. Januar 1919 und - wenn auch weniger eindeutig - die Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung eine Woche später bedeuteten eine klare Absage der bayerischen Wählermehrheit an die revolutionäre Linke. Die USPD erhielt bei den Landtagswahlen nur etwas mehr als 86000 Stimmen (2,5%); die SPD konnte mit mehr als 1100000 Stimmen (33%) ihren bisher größten Erfolg verbuchen, blieb allerdings um zwei Prozentpunkte hinter der Bayerischen Volkspartei zurück. Wie ein Vergleich mit den für sie viel schlechteren Wahlergebnissen des Jahres 1920 zeigt, hatte die SPD als Exponentin einer Politik von Ruhe und Ordnung Anfang 1919 offensichtlich in breitem Umfang auch bürgerliche Wählerschichten gewonnen, die sie allerdings nicht langfristig an sich binden konnte 14 . Noch vor Bildung der neuen Regierung nach den Wahlen kam es im Februar 1919 zur Ermordung Kurt Eisners, dem darauffolgenden Attentat auf Erhard Auer und zur Sprengung des Landtags; all dies führte zu einer erneuten starken Radikalisierung der Massen bis weit in die Reihen der Sozialdemokratie hinein, vor allem im revolutionären Zentrum München, wo die sozialistischen Parteien und Organisationen aufgrund der besonderen Rolle der Landeshauptstadt vielfach stellvertretend für ganz Bayern " Hoegner, Wilhelm: Die verratene Republik. Geschichte der deutschen Gegenrevolution. München 1958, S. 33ff.; Kritzer, a.a.O. S. 71 ff. " Kritzer,a.a.O.S. 108ff. 13 Hoegner, a.a.O. S. 33ff.; Kritzer, a.a.O. S. 212ff. 14 Vgl. dazu S. 316, Tabelle 11.
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standen. Die neue Regierung, im März 1919 wiederum als Koalitionsregierung unter dem ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann gebildet, der neben den SPD-Ministern Martin Segitz (Inneres), Fritz Endres (Justiz) und Emst Schneppenhorst (Militärische Angelegenheiten) die USPD-Vertreter Hans Unterleitner (Soziale Fürsorge) und Joseph Simon (Handel und Industrie) sowie Parteilose und ein Mitglied des Bauernbundes angehörten, verlor gegenüber dem Zentralrat in München zunehmend an Autorität. Sie wich, nach Ausrufung der Räterepublik in München, Anfang April 1919, nach Bamberg aus und mußte, da ihre eigenen Machtmittel nicht hinreichten, das Reich zu Hilfe rufen und die militärische Niederschlagung der Räterepublik durch Reichswehr und Freikorps hinnehmen 15 . Nach Bildung einer Koalition mit der BVP und der Deutschen Demokratischen Partei, die jeweils zwei Minister (gegenüber vier SPD-Ministern) stellten, blieb die Regierung Hoffmann noch bis März 1920 im Amt, ohne noch einmal das Gesetz des Handelns übernehmen oder auch nur politische Handlungsfreiheit gegenüber den Kräften der Reaktion gewinnen zu können, die sich erfolgreich auf außerhalb parlamentarischer Kontrolle stehende Machtzentren wie Militär, Polizei und Einwohnerwehren stützten 16 . Sie stürzte in Zusammenhang mit dem Kapp- bzw. dem Kahr-Putsch 17 . Die SPD stand von da an in Bayern ständig in der Opposition. Die wenigen Wochen der Räteherrschaft in München und einer Reihe weiterer Städte in Südbayern und ihre blutige Niederwerfung entschieden das Schicksal der bayerischen SPD bis zum Ende der Weimarer Republik. Der Politik des Kompromisses, den sozialdemokratische Parteiführung und Regierung bislang gegenüber der revolutionären Linken versucht hatte 18 , war damit der Boden entzogen. Nachdem die SPD-Regierung selbst Reichswehr und Freikorps zu Hilfe gerufen hatte, verlor sie vollends jegliche politische Entscheidungsgewalt und Wirkungsmöglichkeit: Weder vermochte sie nach dem Ende der Räterepublik der blutigen Abrechnung und dem »bürgerkriegsmäßigen Wüten« 19 der Sieger zu steuern, noch reichte später ihr Einfluß aus, Begnadigungen für die zahlreichen wegen Hochverrats zu langjährigen Zuchthausstrafen Verurteilten zu erreichen 20 . Das vollständige politische Fiasko, das die bayerische SPD in der Phase ihrer Regierungsbeteiligung in Bayern erfuhr, geht sicher auch wesentlich auf ihre spezifische Ausprägung und ihr starres Festhalten an den Grundlinien Vollmarschen sozialdemokratischen Politikverständnisses zurück. Sie versuchte, die Politik konkreter Reformen mit kleinen Schritten und kurzfristiger Kompromißbereitschaft, die sie in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt hatte, auch in der Umbruchphase nach Kriegsende fortzusetzen, in der für die politischen Lager links wie rechts nicht so sehr die konkrete Politik realistischer Interessenwahrung, sondern weltrevolutionäre bzw. nationalistisch-weltanschauliche Prinzipienfragen im Vordergrund standen und die Schärfe der auszutragenden Gegensätze auch aufgrund des gegebenen materiellen Drucks Zwischenlösungen und Kompromisse nicht mehr zuzulassen schien. Aus
Allgemein dazu Kritzer, a.a.O. Kap. 7 - 1 3 ; Hoegner, a.a.O. S. 36ff. " Kritzer, a.a.O. S. 133ff. 17 Ebd. S. 156ff.; Hoegner, a.a.O. S. 55ff. 18 Kritzer, a.a.O. S. 138. " Ebd. S. 127 f. 2 0 Ebd. S. 130 ff. 15
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Staatsloyalität und grundsätzlicher Revolutionsgegnerschaft in ein widernatürliches Bündnis mit bewaffneten Kräften der Reichswehr und der nationalen Rechten getrieben, die freilich formell dem Oberbefehl des sozialdemokratischen Reichswehrministers Noske in Berlin unterstanden, verlor die Parteiführung zunehmend - bis weit in die Reihen der eigenen Mitgliedschaft hinein - ihre Basis bei der politischen Linken und war umso weniger fähig, nach rechts Druck zur Durchsetzung ihrer Reformvorstellungen auszuüben. Selbst gegenrevolutionäre Pendelausschläge wie der KappPutsch im Frühjahr 1920 und der Hitlerputsch im Herbst 1923 und die Rückwirkungen ihres jeweiligen Fehlschlagens führten der SPD in der »Ordnungszelle Bayern« keine neuen Kräfte zu, mit deren Hilfe sie sich aus ihrer teils selbstverordneten, teils von außen diktierten politischen Ohnmacht hätte lösen können. Im politischen Kräftefeld Bayerns war - zumindest auf der Ebene der Landespolitik - die Zerreißprobe zwischen Rechts und Links bei eindeutiger Übermacht des konservativ-nationalen Lagers, in der die SPD 1933 im Reichsmaßstab scheitern sollte, ab 1920 gewissermaßen institutionalisiert. Für ihre Regierungspolitik und die zunehmende Entfremdung zwischen Parteiführung und Mitglieder- bzw. Wählerschaft erhielt die SPD drei Monate nach ihrem Ausscheiden aus der Regierungsverantwortung eine gesalzene Quittung: Bei den Reichsund Landtagswahlen vom 6. Juni 1920 verlor sie gegenüber ihren Erfolg bei den Wahlen vom Januar 1919 mehr als die Hälfte ihrer Stimmen. Tabelle 11 zeigt die jeweiligen Zahlen für die einzelnen Reichswahlkreise bzw. Parteibezirke. Aus ihnen geht auch hervor, daß die USPD trotz ihres hohen Stimmenzuwachses zumeist nicht einmal die Hälfte der Stimmen auf sich vereinigen konnte, die der SPD verloren gingen; auch die KPD erzielte bei diesen Wahlen lediglich in Oberbayern mit München anteilmäßig ins Gewicht fallende Ergebnisse. Die bürgerlichen Wähler, die die SPD im Jahre 1919 für sich hatte mobilisieren können, waren anderthalb Jahre später wieder nach rechts abgewandert. Diese katastrophale Wahlschlappe fand zunächst noch nicht in Mitgliederverlusten Ausdruck; die Mitgliederzahlen nahmen im Gegenteil wie aus Tabelle 13 ersichtlich, zumindest bis Frühjahr 1920 noch deutlich zu, und der Rückgang im Frühjahr 1921 beschränkte sich auf den Bezirk Niederbayern-Oberpfalz, wo die SPD insgesamt schwach und wenig verankert war und die geringste Tradition aufweisen konnte. Tatsächlich signalisierte das Wahlergebnis von 1920 allein noch keineswegs einen gegenrevolutionären Pendelschlag. Die großen Stimmenverluste der SPD, sofern sie sich nicht durch Abwanderung zu USPD und KPD und - vor allem - Rückwanderung bürgerlicher Wähler erklären lassen, waren auf die geringere Wahlbeteiligung zuzückzuführen 21 : Von der Politik der SPD 1919-1920 enttäuschte Anhänger blieben im Juni 1920, soweit sie sich nicht für die radikaleren Linksparteien USPD und KPD entschieden, offensichtlich der Wahl fern. Die Aufschlüsselung der Wahlergebnisse nach Ortsgrößenklassen (Tabelle 12) zeigt deutlich die unterschiedliche Verteilung von SPD- und USPD-Wählern: während die SPD (gesamtbayerischer Schnitt: 16,4 Prozent) nur in Orten mit weniger als 2000 Ein21
1919 lag die Wahlbeteiligung bei 86,3 Prozent (Landtagswahlen) bzw. 82,5 Prozent (Wahlen zur Nationalversammlung), 1920 bei Reichstags- wie Landtagswahlen jedoch nur knapp über 75 Prozent (Statistisches Jahrbuch für den Freistaat Bayern Jg. XIV/1919, München 1919, S. 583 u. 588; ZSBSLA Jg. 53/1921, S. 263ff. u. S. 33Iff.).
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(Ν vo Macht sich bei unseren Leuten so etwas wie ein Solidaritätsgefühl für die Kommunisten bemerkbar, etwa in dem Sinne, daß man sich sagt, man müßte den Kommunisten in der Abwehr dieser Nazipropaganda beistehen?< Antwort:>Nein. Unsere ehemaligen Kommunisten haben sich so charakterlos beim Hitlerumsturz benommen und benehmen sich noch heute so, daß so etwas wie ein Solidaritätsgefühl bei unseren Leuten eben nicht aufkommen kann.< ... Meine Frage: >Kann man nicht einmal ... kommunistisches Material [aus Nordbayern] bekommen? Antwort: >Unserem Freunde [weiterer sozialdemokratischer Kontaktmann in Nürnberg] wurde selbst schon solches Material angeboten, er hat die Annahme verweigert, weil er den angeblichen oder tatsächlichen Kommunisten nicht für zuverlässig hielt und deshalb von ihm nichts annehmen mochte.« Meine Frage: >Sind Sie nicht der Meinung, daß unsere Arbeit, die ganze Anti-Hitlerpropaganda, einen gewaltigen Auftrieb bekäme, wenn man mit den Kommunisten eine Einheitsfront herstellen würde?< Darauf einige Sekunden Überlegung und dann etwas zaghaft die Antwort: »Ich habe über diese Sache auch mit (folgt der Name eines Bauern, den auch Hans Vogel kennt) ausführlich gesprochen, weil Sie schon ein paar Mal etwas davon erwähnten. Er (dieser Bauer) und ich möchten dazu sagen, daß wir die Sache durchaus nicht hindern wollen, wenn sie etwa von einem höheren Gesichtspunkt aus, den wir nicht begreifen, notwendig wäre. Aber wir beide könnten dann nicht mehr illegal mitarbeiten. Wir würden nichts dagegen unternehmen, würden uns völlig ruhig verhalten, würden die alten Sozialdemokraten bleiben, die wir bisher waren, aber mitarbeiten könnten wir nicht mehr. Der (Bauer) ist ja der Meinung, daß das ein Unglück für unsere Partei wäre, und er hätte nur den Wunsch, daß Sie uns das rechtzeitig sagen, wenn so etwas gemacht werden solle, damit wir uns auch rechtzeitig von der illegalen Arbeit zurückziehen könnten. Wir hätten dann nur noch den einen Wunsch, den Kommunisten niemals zu sagen, daß wir bisher illegal gearbeitet haben Und zum Schluß meinte sie noch einmal: •Man muß ja bloß das Menschenmaterial kennen, wer will denn mit denen eine Einheitsfront machen!. «ci$eiitigen, •>«& et unaMrthat, unoetarainortlicf), abfetuUt &«rt Jbct eu,·: ftefiitd, ilbei Sebei: uni l o b , Rritó unti ¿neben ift. 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W i r können uns nicht auf die PoFragen soB Mer eine aus der Erfah sition des beschaulichen Berichterstatrung in der Praxis entstandene Antters, des abwartenden Zuschauers zuwort gegeben werden. rückziehen. Nur in der engsten VerbinEs gibt heute im faschistischen dung mit dem Leben des Volkes, vor altem mit dem Leben der Arbeiterschalt Deutschland w e i große Antriebskräfte, können wir unsere Aalgabe erfüllen. aus denen der W i l l e zu organisierter Wenn wir dabei unsere Aufmerksamkeit politischer Arbeit gegen das Regime auf die Artwiterklasse konzentrieren, entspringt: T r a d i t i o n und l e b e n dige Κ l a s s e n k r a f t . W e Tradiohne darüber die Beobachtung der übrition der antifaschistischen Kräfte ist gen gesellschaftlichen Vorgänge zu ververkörpert in den Hunderttausende«, ia nachlässigen. so hat das seinen guten in den Millionen, die unter dem Druck Grund. Sie ist zwar nicht die e'nzige des faschistischen Terrors den (Hauben Kraft bsi den Auseinandersetzungen mit an den Sozialismus und die Ziánnrft der dem Faschismus, wohl aber die wich- Arbeiterbewegung nicht verloren haben tigste. W ' r haben gelernt, sie nüch- Diese Kräfte sind beute zerstreut, ohne tern. mit ihren Schwächen, in ihrer feste» Zusammenhalt. Schon A r e Gewirklichen Gestalt zu sehen und wir sind sinnung ist v o r dem Gesetz des Faferne davon. Ihr eine führende Rolle im schismus „Hochverrat" Ihre ErfahrunKampf um die Freiheit etwa deshalb zu- gen und Erlebnisse entstammen der dezuschreiben, weil wir sie für so viel mokratischen, im allergünstigsten F&lle besser und intelligenter halten, als alle der Kampfperiode der Arbeiterbeweanderen Gesellschaftsschichten. Nicht gung. Das ganze Denken dieser Menihre geistige Ueberlegenheit, sondern schen verlief viete Jahre m den Bahnen die Stärke ihrer unzerstörbaren revolu- der Legalität. Oer Uebergang in die tionären Antriebskräfte wird der Arbei- Illegalität bedeutete für sie den völligen terklasse die Führung im antifaschisti- Bruch mit allem Gewohnten und nichts schen Freiheitskampf verschaffen, so- ist verständlicher, als daß die Mehrzahl fern sich diese Antriebskräfte verbinden dieser Menschen sich nur sehr langsam, viele überhaupt nicht in dem Maße an mit erner bewußten politischen Organidie neuen Arbeitsbedingungen anpassen sation. die ihnen über den Tageskampf können, w e es notwendig ist. W e r abei •hinaus Richtung und Ziel w e i s t unter den Bedingungen. Liebste, ärmste Mutter Aus zwei Gefängniszellen des Gestapostaats/Ein Sohn schreibt seiner Mutter. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 40 vom 17.5.1946, S. 5. Tonbandinterview Waldemar von Knoeringen vom 21.11.1968, a.a.O.
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sionärer Uberschätzung der eigenen Möglichkeiten und zur Unterschätzung des herrschenden Systems führt. Daß hier tatsächlich eine - zumindest partielle - Einbuße an Realitätskontrolle vorlag, scheint allerdings eine Bestätigung zu finden in dem utopischen Verhandlungsangebot, das Hermann Frieb und die Revolutionären Sozialisten im Sommer 1943, nach ihrer Verurteilung, der NS-Führung zu unterbreiten suchten. Ein solcher Verlust an Realitätskontrolle stellt ein wohl unvermeidliches Korrelat langjähriger konspirativer Existenz dar und ist im vorliegenden Falle durch die Auswirkungen mehr als einjähriger Haft mit Prozeß und Todesurteil sicher noch verstärkt worden. Dieses als Vertragsentwurf mit 22 Artikeln aufgesetzte, mit Begleitschreiben und Präambel versehene Verhandlungsangebot der Revolutionären Sozialisten an die NSFührung bzw. die Führung der Gestapo (siehe folgende Seite)103 stellt eines der erstaunlichsten Zeugnisse des Widerstands im Dritten Reich dar. Es wurde von Hermann Frieb im Sommer 1943 - also nach erfolgtem Todesurteil - entworfen und, soweit dies unter den Haftbedingungen möglich war, vor allem mit Bebo Wager, aber auch mit Alois und Josefine Brunner sowie mit Alfred Reska/Salzburg abgesprochen, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in München-Stadelheim inhaftiert waren104. Wie aus dem Vorspruch hervorgeht, übergab Hermann Frieb diesen Vertragsvorschlag dem Kriminalsekretär bei der Gestapoleitstelle München Anton Mahler, der die Ermittlungen gegen die Revolutionären Sozialisten in München leitete 105 und offensichtlich versprach, das Schriftstück unter Umgehung untergeordneter Instanzen unmittelbar höchsten NS-Autoritäten zuzuleiten. Frieb und Wäger und die ein bis zwei Dutzend Revolutionären Sozialisten, die sie repräsentierten, figurieren in diesem Papier als die führenden Vertreter der SPD in Deutschland (nicht der alten Sozialdemokratie, sondern der im Sinne der Prämissen von Neu Beginnen neu zu gründenden Sozialistischen Partei Deutschlands)·, sie schlugen der nationalsozialistischen Führung nichts weniger vor als angesichts der sicher erscheinenden militärischen Niederlage des Deutschen Reichs freiwillig abzutreten und ihnen - d.h. der neuzugründenden SPD - die Macht zu überlassen: Die NSDAP solle sich nach Vertragsabschluß mit allen Unterorganisationen auflösen und ihr gesamtes Vermögen der SPD übergeben. Begründet wird diese Forderung mit dem nationalen Interesse des Deutschen Reichs; es gelte vor allem angesichts der bevorstehenden militärischen Niederlage die Reichseinheit zu wahren und dem bei einem Zusammenbruch zu erwartenden Chaos zu steuern. Deshalb sei man auch nicht an einer Zerschlagung der nationalsozialistischen Verbände wie DAF, KdF usw. interessiert, da man sonst die organisatorische Massenbasis für spätere Sozialisierungsmaßnahmen verlöre; aufgrund des proletari-
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Dieser Vertragsvorschlag wurde von Wager als Kassiber in schmutziger Wäsche aus dem Gefängnis München-Stadelheim geschmuggelt und von Lina Wager abgeschrieben - vgl. dazu Nerdinger, Flamme unter der Asche, a.a.O. S. 185ff. Das Dokument, das sich auch im Nachlafi Waldemar von Knoeringens findet, ist ebd. S. 189 ff. zum ersten Mal vollständig veröffentlicht. Briefe und Kassiber Wagers bezeugen, daß die Zellen der Revolutionären Sozialisten in Stadelheim auf einem Gang lagen und die Inhaftierten untereinander in Klopfkontakt standen und gelegentlich auch während des Hofgangs kurz miteinander sprechen konnten (Ebd. S. 187). Vgl. dazu allgemein das NSG-Verfahren gegen Anton Mahler vor dem Landgericht München I, 1 KLs 87-88/49.
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§ S
414
Hartmut Mehringer
sehen Massencharakters der sozialistischen Anhängerschaft sei man zu einer Weiterverwendung des eingearbeiteten Personals gezwungen. Mit einer Reihe von Argumenten wird versucht, der NSDAP den Machtwechsel schmackhaft zu machen, dessen Notwendigkeit sie, davon sind die Antragsteller offensichtlich überzeugt, bei ruhiger Überlegung von selbst werde einsehen müssen: Man verpflichtete sich, nach einer Machtübernahme durch die SPD keine Eingriffe in das persönliche Eigentum von NSDAP-Mitgliedern vorzunehmen, die reguläre Polizei und vor allem die Beamten der Gestapo in Würdigung der Verdienste der Behörde um den Abschluß dieses Abkommens weiterzuverwenden, nach Amnestierung sozialdemokratischer politischer Häftlinge keine wahllosen Massenentlassungen vorzunehmen, Racheakte von Juden, Emigranten usw. an NSDAP-Mitgliedern nach der Machtübergabe zu verhindern, einer jüdischen Infiltration entgegenzutreten und zu verhindern, daß Juden oder Emigranten Führungspositionen innerhalb der SPD oder den ihr angeschlossenen Organisationen übernähmen - freilich mit der »ausdrücklichen und persönlichen Ausnahme« Waldemar von Knoeringens. Da sie Instrument fremder Politik auf deutschem Boden sei, werde jeder Einfluß der KPD unterbunden. Mit einem scheinbar gewichtigen außenpolitischen Argument versuchten Frieb und Wager schließlich die Notwendigkeit der Annahme ihres Vorschlags durch die NSFührung zu erhärten. Aufgrund des - freilich maßlos überschätzten - politischen Einflusses ihrer Auslandsvertreter Waldemar von Knoeringen und Karl Frank in Großbritannien und den USA stellten sie die einzige politische Richtung in Deutschland dar, die nach einer Machtübergabe durch die NSDAP »innerpolitische Tatsachen schaffen und gleichzeitig außenpolitische Anerkennung durch London und Washington erreichen« könne. In der Tat ein erstaunliches Dokument mit bemerkenswerten Einsichten und Vorhersagen! Zumindest implizite wurde deutliche Abkehr von einer theoretischen Grundprämisse der bisherigen Neu Begi η ne»-Taktik vollzogen, die davon ausging, die Folge einer militärischen Niederlage oder einer Existenzkrise des Regimes sei in jedem Falle eine revolutionäre Massenbewegung, die die Macht zu erobern habe. Im Gegensatz dazu sah das Papier eine ruhige, nahezu bürokratische Art des Machtwechsels vor. Mag die Aufnahme einer Reihe von Einzelforderungen und Zusicherungen an die NSDAP auch von rein taktischen Erwägungen bestimmt gewesen sein, um den Machthabern gewissermaßen die Zustimmung zum eigenen Abtreten zu erleichtern, so finden sich in und zwischen den Zeilen doch einige gegenüber den gängigen antifaschistischen Klischees recht eigenartige, teilweise sogar befremdliche Nuancen und Vorstellungen, insbesondere da, wo der Gegensatz zu Juden und Emigranten ausgesprochen wird; hier scheint der verbissene Stolz der Illegalen, die in revolutionärer Pflichterfüllung in der Heimat blieben, anstatt sich im Exil ein angeblich leichtes Leben zu machen, plötzlich bis zu einem gewissen Grad mit nationalsozialistischer Optik zu korrelieren, in der die Emigranten als Vaterlandsverräter erschienen. So scharfsichtig die militärische Niederlage Deutschlands mit ihren Folgen der territorialen Zerstückelung und Vertreibung und im Grunde auch der danach zu erwartende Gegensatz zwischen der UdSSR und den Westmächten hier bereits prognostiziert werden, so weltfremd mutet die Vorstellung an, das NS-Regime werde mit einer Handvoll Illegaler über seinen eigenen Rücktritt verhandeln und kampflos von der Bühne abtreten. Hier wird eine - psychologisch unter den vorliegenden Bedingungen
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und nach Jahren illegaler Existenz verständliche - egozentrische Überhöhung der eigenen Rolle und Bedeutung sichtbar, nicht zuletzt Folge eschatologischer Selbstgewißheit, die, auf sich selbst zurückgeworfen, sektiererhafte Züge annahm. Frieb und Wager glaubten im Gefängnis, wie Kassiber Wagers an seine Ehefreu zeigen 106 , zuversichtlich an eine Annahme ihrer Vorschläge durch die NS-Führung; Kriminalsekretär Mahler hingegen, der die Weiterleitung des Vertragsvorschlags an führende NS-Verantwortliche übernommen hatte, scheint die Angelegenheit nicht ebenso ernst genommen zu haben, und ob überhaupt und gegebenenfalls an wen er das Verhandlungsangebot der Revolutionären Sozialisten weiterleitete, ist unbekannt 107 . Eine Reaktion von nationalsozialistischer Seite erfolgte offenbar nicht. Betrachtet man abschließend Struktur, Umfeld und Aktivitäten sozialdemokratischer Untergrundgruppen in Nord- und Südbayern, so zeigen sich neben vielen Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen doch einige, wie uns scheint, bezeichnende Unterschiede. Die sozialdemokratischen Gruppen der Jahre 1933-35 in Nordbayern können - bei aller gelegentlichen Distanzierung von dem emigrierten Parteivorstand und der SPD-Politik am Ausgang der Weimarer Republik, für die er als Symbol stand - doch wesentlich als Versuch einer Fortführung traditionellen sozialdemokratischen Partei- und Vereinswesens angesehen werden: Meist junge Arbeiter aus SAJ und Reichsbanner innerhalb eines dichten und zunächst weitgehend unzerstörten sozialdemokratischen Milieus fanden sich mit dem plötzlichen Verbot und der Zerschlagung altgewohnter Organisationen nicht ab, sondern versuchten, diese - ähnlich wie zu gleicher Zeit die KPD - in der Illegalität fortzuführen bzw. wieder aufzubauen. Ziel war vor allem die Wahrung des überkommenen persönlich-politischen und organisatorischen Zusammenhalts; man räumte dem NS-Regime nur eine kurze Lebensdauer ein und rechnete damit, daß nach dem Zusammenbruch des Regimes der status quo ante grundsätzlich wiederhergestellt würde. Bezeichnend für diese Grundstimmung erscheint der Ausspruch einer nordbayerischen Sozialdemokratin und Kontaktperson des nordbayerischen Grenzsekretariats, den Hans Dill im Februar 1936 zitierte: »... unsere Leute ... möchten, daß in Deutschland wieder einmal die Zustände wären, die schon da waren«108. Nach dem Scheitern der Versuche, den alten organisatorischen Zusammenhang in Verbindung mit der SPD-Führung im Exil aufrechtzuerhalten, zogen sich die aktiven sozialdemokratischen Arbeiter in Nürnberg und anderen nordbayerischen Industrieorten, die bislang das unmittelbare Rekrutierungsfeld illegaler Zirkel gebildet hatten, ab 1935/36 auf ihren unmittelbaren beruflichen und privaten Umkreis zurück; dies war der Bereich, in dem wenigstens gesinnungsmäßiger Zusammenhalt noch weiter gewahrt werden konnte. Widerstand gegen das Regime manifestierte sich bestenfalls noch in der Arbeiter-Resistenz gegenüber Obrigkeit und Vorgesetzten innerhalb wie außerhalb des Betriebs (Verzögerung des Arbeitstempos, Krankfeiern, Verweige-
106 107
109
Abgedruckt bei Nerdinger, Flamme unter der Asche, a.a.O. S. 185 ff. In dem angeführten NSG-Verfahren gegen Anton Mahler werden dieses Verhandlungsangebot der Revolutionären Sozialisten und seine eventuelle Weitergabe nicht erwähnt; hätte Mahler es tatsächlich weitergeleitet, wäre dies von ihm vermutlich als entlastender Tatbestand angeführt worden. 1. Bericht Hans Dill für Februar 1936. AsD, Emigr. Sopade, Mappe 33.
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Hartmut Mehringer
rung zusätzlicher Arbeit usw.), die gerade in ihrer »unpolitischen« Ausdrucksform seit jeher ein wirksames Mittel proletarischer Interessenwahrung dargestellt hatte109. Auch in Südbayern gab es während der Jahre 1933-35 ähnliche Nachfolgegruppen der SPD, wenngleich sie geringer an Zahl waren und im allgemeinen weniger Mitglieder besaßen als die nordbayerischen Gruppen, was sich schon daraus ergab, daß die sozialdemokratisch geprägte Arbeiterschaft hier zahlenmäßig schwächer und gesellschaftlich stärker ausgegrenzt war als in Nordbayern. Neben diesen Gruppen und nach ihrer Zerschlagung formierte sich in Südbayern jedoch eine von den gewohnten Organisationsschemata abweichende konspirative Aktivität mit Langzeitperspektive und revolutionärer Endzielgewißheit: Der Zusammenbruch des NS-Regimes sollte durch die gezielte Aktion revolutionärer Kadergruppen in eine soziale Revolution und die Errichtung einer proletarischen Diktatur umgesetzt werden. Ausgangspunkt und Initiator dieser subtilen illegalen Strategie war die Auslandsorganisation von Neu Beginnen in der Person Waldemar von Knoeringens. Einen ähnlich angelegten Versuch unternahm im gleichen Zeitraum der Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK)110 in München und Augsburg" 1 , innerhalb Bayerns also ebenfalls auf Südbayern beschränkt. Er erreichte allerdings bei weitem nicht den gleichen Grad an konspirativer Effizienz; die Gruppe wurde schon im Sommer 1938 von der Polizei entdeckt und aufgerollt. Daß sich die Neu Beginnen-Gruppen gerade in Südbayern, nicht in Nordbayern, entfalten konnten, lag sicher nicht nur an der Zufälligkeit der Zuständigkeit Waldemar von Knoeringens und an seiner charismatischen Persönlichkeit. Der Rückblick auf die Geschichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt, daß geheimbündlerische Betriebsamkeit und konspiratorischer Aktionismus typische Merkmale gerade einer schwachen, organisatorisch wenig entwickelten und sozial noch stark kleinbürgerlich geprägten Arbeiterbewegung gewesen sind112. So gesehen ließe sich die These aufstellen: Gerade weil die sozialdemokratische Arbeiterschaft als eigene soziale Gruppe in Südbayern weniger ausgebildet, an Zahl und Gewicht schwächer und in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung stärker zurückgeblieben war als in Nordbayern, bestanden hier günstigere Voraussetzungen für den Aufbau einer Verschwörerorganisation, wie sie den Maximen von Neu Beginnen entsprach. Dabei stellt sich freilich auch die Frage, ob und inwieweit Politik, Organisation und Widerstandsverständnis von Gruppen wie Neu Beginnen und ISK »arbeiterspezifisch« waren, d.h. Lebensgefühl und Organisationsbereitschaft der »modernen« Industriearbeiterschaft entsprachen. Manches deutet darauf hin, daß die »jungsozialistisch«-jugendbewegte Mentalität großer Teile der jungen Parteigeneration mit ihren lebensreformerisch-vegetarischen und asketisch-sektenhaften Ausprägungen, aus denen sich die illegalen Gruppen vor allem rekrutierten, weniger das Produkt sozialistisch-marxi-
>»» Vgl. dazu allgemein Mason, Timothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939. Opladen 1975, S. 168 ff. 1,0
111 112
Allgemein dazu Link, Werner: Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK). Ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Meisenheim am Glan 1964. Bretschneider,a.a.O. S. 126ff.; Hetzer, a.a.O. S. 205ff. Allgemein dazu Engels, Friedrich: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, MEW Bd. 8, S. 577-593; Mehring, Franz: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, a.a.O. Bd. I, S. 96ff., S. 222 ff., S. 349ff.
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stisch geprägter Ideologie als eher (klein-)bürgerlicher sozialreformerischer Heilslehren innerhalb der Arbeiter(jugend)bewegung war. Derart abgedrängte spezifisch (kleinbürgerliche Denk- und Erlebensformen waren ja gerade bei den stark von Intellektuellen geprägten linken Splittergruppen wie dem ISK und Neu Beginnen wirksam, und vermutlich sind Persönlichkeiten wie Leonhard Nelson und Hellmut von Rauschenplat (Fritz Eberhard)113, Karl Frank und die führenden Intellektuellen von Neu Beginnen, aber auch wie Waldemar von Knoeringen und Hermann Frieb, als typische Vertreter solcher Bewußtseinsformen innerhalb der Arbeiterbewegung zu betrachten. Weiterhin stellt sich die Frage, weshalb sich diese Spielart bürgerlichethisch-gnostischen Reformertums nach 1919 verstärkt auf die Arbeiterbewegung konzentrierte: Hier mag der Sozialprotest jugendlicher Intellektueller gegen die eigene Herkunft, das eigene gesellschaftliche Milieu eine Rolle gespielt haben, ein Protestverhalten, das das Bürgertum mit »alt« und die Arbeiterbewegung mit »jung« identifizierte und einen entsprechenden Ausdruck in der vehementen Anti-Bürgerlichkeit auch der nichtsozialistischen Jugendbewegung fand. Dazu kam vermutlich der Substanzverlust bürgerlichen Reformpotentials in der Nach-Versailles-Ära, der pädagogischen Eros und individuelle Emanzipation nur noch in einem dezidiert nicht-bürgerlichen Zusammenhang zuzulassen schien; auch die Schwenkung der aus der Jugendbewegung stammenden sogenannten Nationalbolschewisten zur KPD Anfang der 30er Jahre 114 ist vermutlich in diesem Rahmen zu sehen. Daß eine solche Gedanken-, Bewußtseins- und Erlebenswelt auch für junge Facharbeitereliten reizvoll war, daß sie sie zumindest vordergründig übernehmen konnten und daß sie den Bewußtseinshintergrund zu höchst eindrucksvollen und langfristig beständigen Formen des Widerstandes während des Dritten Reichs bildete, zeigen sowohl die Neu Beginnen-Organisation in Südbayern und Österreich wie die Gruppen des ISK in München und Augsburg 115 . Bilden Struktur und politische Perspektive von Neu Beginnen in Südbayern das Korrelat einer spezifisch (klein-)bürgerlichen Bewußtseinswelt in proletarisch-revolutionärem Gewand, so zeigt sich am Scheitern dieser Gruppe auch der »natürliche« Unterschied zwischen »bürgerlichen« und »proletarischen« Wiederstandsformen; kollektiver Arbeiterwiderstand manifestierte sich entweder in der entschlossenen - notfalls konspirativen - Aktion kleiner Gruppen oder - vor allem - in der passiven Resistenz breiter Arbeiterschichten innerhalb wie außerhalb des Betriebs, wie sie in den Berichten nationalsozialistischer Polizei- und Verwaltungsdienststellen wieder und wieder aufscheint, ein Widerstandsverhalten, das an Wirkung die Bedeutung der Aktionen illegaler Gruppen oft bei weitem übertraf.
114
1,5
Zur Biographie Fritz Eberhards siehe BADE sowie BHE I, a.a.O. Siehe dazu weiter oben, S. 109 f. und S. 271 ff.; Dupeux, Louis: Strategie communiste et dynamique conservatrice. Essai sur les différants sens de l'expression NATIONAL BOLCHEVISME en Allemagne sous la république de Weimar (1919-1933). Paris 1976, insbesondere Kap. I; Schüddekopf, Otto-Ernst, Linke: Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik. Stuttgart I960, insbesondere Kap. I. Siehe dazu Hetzer, a.a.O. S. 207ff.
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Hartmut Mehringer X . TRADITIONSWAHRUNG UND ÜBERLEBENSSTRATEGIEN
Die Aktivitäten der bislang beschriebenen Gruppen bilden (zumindest allgemeinem Verständnis nach) den zentralen Strang sozialdemokratischen Widerstandes gegen das NS-Regime. Tatsächlich aber stellen sie nur einen Ausschnitt aus der breiten Palette oppositionellen Handelns und Verhaltens dar, das durch sozialdemokratische Gesinnung und Milieuprägung motiviert war. Für den Grad an Organisiertheit, den diese Gruppen erreichten, war nicht zuletzt die Verbindung zur sozialdemokratischen Emigration maßgeblich, die es ihnen erlaubte, mittels Berichterstattung an die Grenzsekretäre der Sopade und Verbreitung der aus dem Ausland eingeschmuggelten Zeitungen, Flugblätter und Klebezettel über die Wahrung des internen Zusammenhalts hinaus nach außen zu wirken. Sie bildeten gewissermaßen die Spitze des Eisbergs und waren aufgrund von Zeitungsverteilung und eigenen propagandistischen Aktionen, polizeilicher Verfolgung und spektakulärer Gerichtsverfahren schon damals einer mehr oder minder großen - zumindest der interessierten - Öffentlichkeit in dieser oder jener Form bekannt geworden. Darüber hinaus existierten jedoch im Umfeld der ehemaligen Parteiorganisation, unterhalb dieser Ebene politischer Aktion, zahlreiche und vielfältige, nach Anspruch und Voraussetzungen höchst unterschiedliche und hinsichtlich Umfang, Uberlebensdauer und Intensität des Zusammenhalts recht verschiedenartige Griippchen, Zirkel und Gesinnungsgemeinschaften. Sie entstanden überwiegend im Jahr 1933 als Reaktion auf das Vorgehen des NS-Regimes gegen die Organisationen, Vereine und Verbände der Arbeiterschaft. Viele dieser Zirkel und Gesinnungsgemeinschaften waren gar nicht polizeibekannt und wurden somit nicht aktenkundig. Es ist bezeichnend, daß die meisten von ihnen sich nicht aus den Trümmern der zerschlagenen Parteiorganisation formierten, sondern vor allem aus dem Zusammenhang ehemaliger sozialdemokratischer Neben- und Massenorganisationen wie dem Reichsbanner, der SAJ und den Arbeitersport- und -kulturvereinen1: Für den Versuch, Formen des Zusammenhalts zu wahren, war vielfach nicht die Parteizugehörigkeit konstitutiv, sondern die Mitgliedschaft in den lokalen Gruppen sozialdemokratischer Wehr-, Jugend- und Freizeitorganisationen, die weniger im rein politischen als vielmehr im privaten bzw. gesellschaftlichen Lebensbereich angesiedelt waren; hier hatten sich häufig persönliche Freundschaften, gemeinsame Neigungen und Lebensauffassungen einzelner Mitglieder mehr als in der Parteiorganisation entwickeln können, und das persönliche Band, das in diesen Subgruppen der Partei eine stärkere Rolle spielte, machte sie auch für die Fortführung informeller Gruppen in der NS-Zeit besonders geeignet. Frühe, meist spontan unternommene Versuche von ehemaligen Mitgliedern der SAJ, des Reichsbanners, des Touristenvereins »Die Naturfreundeder Arbeitersportbewegung usw., sich nach der polizeilichen Auflösung ihrer Organisationen einfach wei-
1
Allgemein dazu Wunderer, Hartmann: Arbeitervereine und Arbeiterparteien. Kultur- und Massenorganisationen in der Arbeiterbewegung (1890-1933). Frankfurt/M. 1980; Rabe, Bernd: Der sozialdemokratische Charakter. Drei Generationen aktiver Parteimitglieder in einem Arbeiterviertel. Frankfurt/M. 1978, insbes. S. 22 ff.
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ter zu treffen und das Vereinsleben weiterhin zu pflegen, waren freilich häufig von Dilettantismus, naiver Unterschätzung des politischen Gegners und seiner Machtmittel und Überwachungsmöglichkeiten und fehlender Erfahrung in konspirativer Arbeit gekennzeichnet: »In den Wochen und Monaten der ersten Gehversuche sang die illegale SPD in neugegründeten Männerquartetten, sie spielte Skat, sie kegelte, sie wanderte und traf sich in Haufen auf den Lagerplätzen Kurz, die damaligen illegalen Kreise suchten Gesellschaftsformen, die dem Kenner schon auf 20 Meter sagten: >Das ist bestimmt kein Gesangverein, Skat- oder Kegelklub, sondern eine politische GruppeSängerkranz< versucht, im Rahmen einer Chorabteilung bei der Eltmänner Feuerwehr unterzutauchen. Während der Zeiler Arbeitergesangverein >Liederkranz< zerschlagen wurde und dessen Fahne mehrmals von den Nazis gesucht wurde, rettete sich der Arbeitergesangverein >Frohsinn< in Haßfurt nahtlos über das Dritte Reich. Der Ortgruppenleiter erschien des öfteren, die Zusammenkünfte wurden laut Haßfurter Tagblatt zumeist mit >Sieg Heil< geschlossen. Grund für das Überleben dürfte die vorbildliche kulturelle Arbeit dieses Vereins gewesen sein (Theater usw.). Vielleicht ist auch etwas Opportunismus der Grund gewesen, daß dieser ehemalige SPD-Verein die >Gleichschaltung< überlebte.«27 Unbeschadet der regierungsamtlichen Verordnungen und der Anweisungen der Bayerischen Polizei zur Auflösung und Verhinderung von Neugründungen sogenannter marxistischer Vereine hingen Möglichkeiten und Formen des Überlebens solcher Vereine in starkem Maße auch von Linientreue und Toleranzschwelle lokaler NSAmtsträger, Polizeibeamter und Bezirksamtsvorsteher ab: In Bruckmühl an der Mangfall, einem knapp 1500 Einwohner starken Dorf im Amtsbezirk Bad Aibling/Oberbayern mit Textilindustrie und Holzverarbeitung, bestand im Jahr 1933 u.a. eine relativ starke Ortsgruppe des Arbeiter-Rad- und Kraftfahrer-Bundes »Solidarität», der auch eine eigene Theatergruppe unter dem Namen Die Bühnenfreunde mit rund zwei Dutzend Mitgliedern angehörte. Nach Auflösung des Arbeiter-Rad- und Kraftfahrer-Bunds »Solidarität« gründeten sich die Bühnenfreunde im Mai 1933 neu als eigene Theatergesellschaft Bühnenfreunde ohne Anlehnung an irgendeinen Verein; noch im gleichen Monat freilich wurde der neue Verein als verdeckte Fortführung des alten Vereins behördlicherseits erneut aufgelöst. Ein 26
11
VGH 14 J 482/37, 1 H 25/37, Verfahren gegen Stefan Matejka und Adolf Schmitt; OLG München, OJs 141/37; StA Würzburg, Gestapo Würzburg Nr. 3503 und 7161. Brief Ludwig Leisentritt/SPD-Unterbezirk Haßfurt vom 30.4.1981.
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kleiner Teil der Mitglieder trat daraufhin dem gleichgeschalteten Dramatischen Verein Bruckmühl bei, ein größerer dem Turn- und Sportverein Bruckmühl, in dessen Reihen ebenfalls eine Theatergruppe bestand oder neu aufgezogen wurde. In beiden Vereinen wirkten ehemalige Bühnenfreunde in den folgenden Jahren bei Aufführungen durchaus nationaler Theaterstücke mit, etwa an einem Stück mit dem Titel Verdun. Diese Tatsache veranlaßte Anfang 1935 einen NSFachamtsleiter zu einer Beschwerde an das Bezirksamt Bad Aibling, das seinerseits den Chef der Gendarmeriestation Bruckmühl zur Stellungnahme aufforderte. Der zuständige Hauptwachtmeister bestätigte zwar, daß die Mehrzahl der an der inkriminierten Theateraufführung Beteiligten früher der S P D angehört habe, hielt aber fest, daß die nationale Gesinnung des größten Teils dieser Mitwirkenden .unter keinen Umständen bezweifelt« werden könne; die gleichen Personen hätten während der letzten beiden Jahre »in vollständig uneigennütziger Weise« bei zwei Theateraufführungen zugunsten des Winterhilfswerks mitgewirkt und auch bei der in Bruckmühl abgehaltenen Saarkundgebung für den unterhaltenden Teil gesorgt: »Sollte dem Verein jedes Wirken in der genannten Weise verboten werden, wäre unbedingt zu befürchten, daß sich die hiezu befähigten Personen in Zukunft auch bei nationalen Veranstaltungen passiv verhalten würden.« Das Bezirksamt scheint auf diese Stellungnahme hin nichts weiter veranlaßt zu haben, da der Aktenvorgang an dieser Stelle abbricht 2 8 .
Ähnliche Formen des Überlebens sozialdemokratischer Gruppen und des Weiterwirkens sozialdemokratischer Vereins- und Verbandsvertreter und -funktionäre finden sich vor allem in jenen umfänglichen Randbereichen der Arbeiterbewegung, die durch sozialdemokratische Initiative entstanden waren, sich selbst jedoch vielfach nur noch beschränkt als »sozialdemokratisch« in einem dezidiert parteipolitischen Sinn begriffen. Dies gilt ζ. B. für das Konsumvereinswesen und die vielfältigen sonstigen Selbsthilfevereine, Genossenschaften und Unterstützungskassen, deren Zweck und Selbstverständnis als Einrichtungen zur materiellen Hebung der Lage der Arbeiterbevölkerung sich weitgehend professionalisiert und von allgemeinen ideologisch-politischen Zielsetzungen der SPD gelöst hatten. J e stärker Verbands- und Vereinszwecke solcher Organisationen der Arbeiterbewegung in diesem Sinne »unpolitisch« geworden waren, um so leichter konnten ihre Mitglieder und Funktionäre in gleichgeschalteten und von den Nationalsozialisten vereinnahmten Parallel- und Nachfolgeorganisationen verbleiben oder sich neu aufnehmen lassen, zumal ehemalige Arbeitervereinsfunktionäre, da fachlich qualifiziertes nationalsozialistisches Personal zum Zeitpunkt der NSMachtübernahme knapp war, mit ihrer Erfahrung im Kassieren, der Gestaltung und der organisatorischen Abwicklung des Vereinswesens vielfach wohl als willkommene Verstärkung betrachtet wurden, sofern sie sich nur - zumindest nach außen hin - auch in ihrem Auftreten »gleichschalten« ließen und »nationale« Gesinnung zur Schau stellten. In diesem Zusammenhang ist auch die bedeutende, meist informelle soziale Rolle zu sehen, die viele angesehene ehemalige freigewerkschaftliche Betriebsräte trotz der gewählten NS-Vertrauensräte innerhalb der Betriebe weiterhin einnahmen und die von den Betriebsleitungen vielfach toleriert werden mußte 29 . Ein besonderes markantes Beispiel für diesen Typus von Gruppenkontinuität bildet der Bayerische Kranken- und Sterbekassenverein »Solidarität«, ein ursprünglich sozialdemokratischer Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit, der vor allem auf den südbayerischen Raum konzentriert war und 1933 über knapp 5 0 0 0 Mitglieder verfügte, eine Zahl, die sich bis 1939 auf rund 1 5 0 0 0
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StA München, LRA 46961. Vgl. dazu Voges, Michael: Klassenkampf in der •Betriebsgemeinschaft«. Die »Deutschland-Berichte« der Sopade (1934-1940) als Quelle zum Wideretand der Industriearbeiter im Dritten Reich. In: Archiv für Sozialgeschichte. Bd. XXI/198 S. 329-383, hier S. 353 ff.
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erhöhte. Bereits im April 1933 als marxistischer Verein verdächtigt, mußten eingeleitete polizeiliche Maßnahmen wie Beschlagnahme von Mitgliederlisten, Kontensperrung usw. noch im Frühjahr 1933 wieder rückgängig gemacht werden, da der Bayerische Sterbe- und Krankenkassenverein ».Solidarität« laut innenministerieller Entschließung nicht unter das Verbot marxistischer Organisationen fiel50. Im August 1933 wurde der Verein offiziell gleichgeschaltet, was dadurch geschah, daß eine außerordentliche Generalversammlung den fünfundfünfzigjährigen Karl Diesinger zum neuen Geschäftsführer bestimmte, der in München seinerzeit der USPD angehört und später als Genossenschaftsrat im Münchner Konsumverein eine maßgebliche Rolle gespielt hatte. In der Folgezeit wiederholt einer polizeilichen Prüfung unterzogen, da, wie es im Schreiben der Gestapoleitstelle München heißt, der »Verdacht bestand, daß dieser [Verein] als Sammelbecken für staatsfeindliche Elemente dient«, wurde von einem staatspolizeilichen Einschreiten vor allem deshalb Abstand genommen, da Vorstandschaft und Mitgliedern staatsfeindliche Betätigung nicht nachgewiesen werden konnte und der Verein zudem der Kontrolle des Reichsaufsichtsamts in Berlin unterstellt war31. Bei einer neuerlichen Uberprüfung im Frühjahr 1939 stellte die Gestapoleitstelle München fest, daß unter den sieben Vorstandsmitgliedern sich allein drei ehemalige SPD-Mitglieder, von denen zwei die Posten des 1. und des 2. Vorsitzenden bekleideten, und nur ein NSDAP-Mitglied befänden, und daß mehr als die Hälfte (46 = 55,5 Prozent) der dreiundachtzigköpfigen Vereinsleitung (7 Vorstandsmitglieder, 5 Aufsichtsratsmitglieder und 71 Vertreter der lokalen Versicherungsstellen) aus ehemaligen Sozialdemokraten und Kommunisten bestehe32. Die daraufhin von München aus angeregten staatspolizeilichen Maßnahmen gegen den Verein wurden nichtsdestoweniger vom Gestapa Berlin abgelehnt, da »politische Unzuverlässigkeit mangels sonstiger genügender Anhaltspunkte« nicht »lediglich mit der politischen Vergangenheit« begründet werden könne und dies »im vorstehenden und in ähnlichen Fällen im Hinblick auf das 7. Jahr des nationalsozialistischen Staates nicht ausreichend« sei, »um staatspolizeiliche Eingriffe rechtfertigen zu können«; es wurde nur weitere Überwachung angeordnet33. Hier scheinen Tarnung und politische Mimikry erfolgreich gewesen zu sein, wobei durchaus anzunehmen ist, daß der Zusammensetzung der Vorstandschaft des Bayerischen Kranken- und Sterbekassenvereins »Solidarität« zumindest in großen Zügen auch die politische und soziale Herkunft des Mitgliederstamms entsprach. Nichtsdestoweniger wäre es sicherlich unzutreffend, diesen Versicherungsverein oder auch nur einzelne seiner lokalen Gruppen oder sein Leitungsgremium als tatsächliche Untergrundorganisation zu betrachten, die sich in der Maske einer harmlosen Kranken- und Sterbekasse insgeheim, wenn nicht illegale Aktionen, so zumindest konspirativen Zusammenhalt zum Ziel gesetzt hätte. Zwar zeigt die Durchsicht des erhalten gebliebenen Generalversammlungs-Protokolls von 193 8 3 4 , daß Kassenwesen, Organisationsaufbau und Versammlungsführung nach wie vor altem sozialdemokratischem Vereinsstil entsprachen und von einer Durchsetzung des nationalsozialistischen Führerprinzips keine Rede sein konnte; dahinter stand jedoch wohl kaum die dezidierte politische Absicht, bewußt »un-nationalsozialistische« Formen des Vereinslebens zu bewahren, 30 31 32
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3
Ja, sie wollten den Kriegs sagte er. . . . Eine kritische Situation trat kurz vor Kriegsende ein, das Elektrowerk wurde am 22. Februar 1945 bei einem Fliegerangriff total zerstört.... In dieser Lage erhielten absolut Zuverlässige Bescheinigungen für den Volkssturm, daß sie wegen kriegswichtigen Einsatzes an den Übungen nicht teilnehmen könnten. Geschrieben mit der einzigen Schreibmaschine, die noch vorhanden war, und abgestempelt mit dem letzten NSF-Stempel. . . . Den Volkssturm-Appell nahm . . . der Haushaltswarenhändler Pfeufer ab. D e r Sozialdemokrat Pfeufer wußte natürlich genau, daß die Stätte des angeblich kriegswichtigen Einsatzes, 150 m von seiner W o h n u n g entfernt, in der gleichen Straße, total zerstört war. Es blieb dabei - die Genossen waren beim .kriegswichtigen Einsatz«.· 52
In seinen Berichten an die Sopade führt auch Waldemar von Knoeringen solche losen Zirkel und Gruppen immer wieder an. Er bezeichnet sie - zur Unterscheidung von aktiv und bewußt politisch arbeitenden illegalen Gruppen, den sogenannten »Führungsgruppen« - als »Peripheriegruppen«53: ... alle jene, »die keine eigene Führung, keine straffe politische Linie, keinen eigenen Antrieb zum Kampf entwickeln. Diese Gruppen sind sehr zahlreich. Sie sind in ihrer Zusammensetzung sehr verschieden. D a gibt es Stammtische, Verwandtschaften, Sportgruppen, Lesezirkel, Kaffeekränzchen und vieles andere. In allen möglichen und unmöglichen Formen suchen die Geistesverwandten miteinander Verbindung zu erhalten. Fast alle diese Gruppen ... jedoch begnügen sich mit der Ablehnung des Regimes und mit der Hoffnung auf eine Änderung der bestehenden Verhältnisse.« 5 4
Mag diese - im Vollgefühl konspiratorischer Selbstgewißheit mit leicht abschätzigem Beiklang abgegebene - Charakterisierung der vielfältigen und höchst unterschiedlichen Versuche von Sozialdemokraten, Zusammenhalt und Bewußtsein zu wahren, faktisch auch durchaus zutreffen, so wird aus diesen Sätzen auf der anderen Seite deutlich, wie wenig der zeitgenössische Blickwinkel des Grenzsekretärs, der damals noch eng mit den Repräsentanten der sogenannten »Führungsgruppen« zusammenarbeitete, dem tatsächlichen Stellenwert dieser »Peripheriegruppen« und ihrer Bedeutung auch und gerade im Vergleich mit den »Führungsgruppen« gerecht werden konnte: Sollten sich doch eben die »Peripheriegruppen« langfristig als die eigentlichen Strukturelemente des oppositionellen sozialdemokratischen Milieus und der Residuen der organisierten Arbeiterbewegung während des Dritten Reichs erweisen, und nicht die aktiv handelnden, nach außen wirksamen illegalen Gruppen, die zumeist schon nach kurzer Lebensdauer polizeilichem Zugriff zum Opfer fielen. Gerechter wird diesen Formen der Bewußtseinswahrung wohl die Einschätzung, die Otto Bauer in seiner postum erschienenen Studie über Die illegale Partei formulierte : » . . . das sind keine Organisationen; es sind lose Gruppen, nur durch alte freundschaftliche Beziehungen zusammengehalten. All diese Gruppen leisten keinerlei illegale Arbeit, führen keinerlei illegalen Kampf; sie treffen einander nur zu geselligem Beisammensein. Und dennoch haben 52 53
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Bericht Martin Albert, AvS Reg. Nr. A 001, Dok. E 1. Die Bezeichnung .Peripheriegruppen« entspricht offenbar interner Neu ß^mwn-Terminologie; siehe dazu: Bericht über die Organisation von der faschistischen Machtergreifung bis zur Verhaftungswelle im Herbst 1935. Maschinenschriftl. Ms., S. 9, zitiert nach Kliem, a.a.O. S. 113. Jahresbericht Waldemar von Knoeringen für das Jahr 1934, AsD, Emigr. Sopade, Mappe 64.
Die bayerische Sozialdemokratie bis zum Ende des NS-Regimes
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ihre Zusammenkünfte nicht geringe Bedeutung. Sie halten die Verbindung zwischen den >ehemaligen SozialdemokratenFlüsterpropagandaTrophäen< streckten die neuen Machthaber des Dritten Reiches in Neustadt vergeblich die Hand: Nach den Instrumenten der Schalmeien-Kapelle des Reichsbanners SchwarzRot-Gold - sie wurden von dem leider zu früh verstorbenen Albert Hutschgau so in Sicherheit gebracht, daß sie trotz zahlreicher Suchaktionen nicht aufgefunden werden konnten - und nach der Fahne der Ortsgruppe Neustadt des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold. Daß die Fahne das Dritte Reich überdauerte und sich heute unversehrt im Besitz des SPD-Kreisverbandes Neustadt befindet, ist der Geistesgegenwart des damaligen Fahnenträgers Bruno Günsch und dem Mut einer Frau zu danken. Als in den turbulenten März-Tagen des Umsturzjahres 1933 das Volkshaus auf dem Marktplatz zu einer Hausdurchsuchung von der durch SA- und SS-Leute verstärkten Polizei bereits umstellt war, steckte Bruno Günsch das zusammengerollte Fahnentuch der im Hause anwesenden Frau Rosa Kupfer geb. Gertloff zu, die das Haus mit der wichtigen >Fracht< unter ihrer Kleidung unbehelligt verlassen konnte. Zwölf Jahre lang hielt Frau Kupfer die wertvolle Fahne unter einem Bett versteckt. Im Jahre 1945 konnte sie das von vielen verloren geglaubte Fahnentuch dem wiedererstandenen Ortsverein der SPD zurückgeben.« Ihrer führenden Persönlichkeiten beraubt, konnte die Coburger SPD im März 1933 der Auflösung der sogenannten »marxistischen Nebenorganisationen« keinerlei Widerstand entgegensetzen. Die Jahreshauptversammlung vom 15. Januar 1933 unter Vorsitz Christian Reichenbechers sollte sich auf lange Zeit als das letzte offizielle Treffen des Ortsvereins erweisen. Unter das Verbot fielen 51 : Das Arbeiter-Sportkartell (Vorsitzender
Expedient August Neumann), der Arbeiter-
Wassersportverein (Vorsitzender Buchdrucker Max Kaiser), der
Arbeiter-Radfahrerver-
ein »Solidarität« (Vorsitzender Emil Lausmann), die Freie Turnerschaft (Vorsitzender Gustav Oppel), der Arbeitersamariterbund
(Vorsitzender Glaser Georg Gareis), der
Volkschor Coburg (Vorsitzender Werkmeister Karl Brettel; Chorleiter Haupdehrer Braune) und die Gesamdeitung der sozialdemokratischen Verbände (Vorsitzender August Neumann). In einem Schreiben vom 21. März 1933 untersagte das nun unter nationalsozialistischer Leitung stehende Bezirksamt allen ehrenamtlichen Bürgermeistern von SPD und K P D die Ausübung ihrer Ämter, ihre berufsmäßigen Bürgermeister und Stadträte wurden beurlaubt. Die Nationalsozialisten Coburgs griffen dem reichsweiten Verbot der SPD vom 22. Juni 1933 im Bewußtsein ihrer unumschränkten Machtfülle um drei Monate vor, doch erwies sich die praktische Durchführung dieser Verordnung, die im-
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merhin 30 Gemeinden im Landkreis betraf 52 , als äußerst langwierig und nahm in Einzelfällen bis zu zwei Jahre in Anspruch. In Mönchröden wich der 1. Bürgermeister Max Schneider erst nach »Inschutzhaftnahme« von seinem Posten und in Ahorn (1933: 30 SPD-Mitglieder) mußten die Nationalsozialisten den Fraktionsvorsitzenden, Kreisrat und Krankenkassenausschuß-Beisitzer Fritz Griebel ein halbes Jahr ins Konzentrationslager sperren, um ihn und den 1. Bürgermeister Ferdinand Schäfer von ihren Ämtern fernzuhalten 53 . Die Morgenausgabe der Berliner Vossischen Zeitung erschien am 24. März 1933 mit der Schlagzeile Ermächtigungsgesetz beschlossen. Von allen Parteien gegen die Sozialdemokraten. Ebenfalls auf der Titelseite stellte eine siebenzeilige Meldung einen direkten Bezug zur NS-Hochburg Coburg her: Herzog von Koburg Kraftverkehrskommissar. Daß bei einer solchen Machtverteilung die vier der SPD nach dem Gleichschaltungsgesetz vom 31. März 1933 noch zustehenden Sitze im Coburger Stadtrat nur noch numerische Bedeutung hatten, war offensichtlich. Wer hätte die SPD repräsentieren können? Zwar wurden am 3. und am 7. April 54 einige Genossen (u.a. Karl Geuß, Fritz Schneider, Johann Ehrl, Johann Fiedler, Walter Holland, Christian Reichenbecher) sowie 40 jüdische Kaufleute 55 , die am 25. März festgenommen worden waren, aus der Schutzhaft entlassen, doch erwiesen sich diese Freilassungen zum Teil nur als vorübergehend (wie im Falle Ludwig Meyer) oder waren mit selbst das Privatleben knebelnden Auflagen verbunden. Christian Reichenbecher, der nur wegen seiner bereits erlittenen Mißhandlungen dem Konzentrationslager entging, mußte vor seiner Entlassung am 7. April 1933 eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, »daß er während seiner Schutzhaft die beste Behandlung erfahren hätte und ihm kein körperlicher Schaden zugefügt worden wäre. Weiterhin wurde ihm eröffnet, daß er mit einer erneuten Verhaftung zu rechnen hätte, die als Folge die Überführung in das Konzentrationslager Dachau auf Nimmerwiedersehen nach sich ziehen würde, wenn er nur ein Wort über die Schutzhaft in der Öffentlichkeit verlauten ließe.« Die 184 Schutzhaftgefangenen 56 aus Coburg, Neustadt und Umgebung, die im April entlassen wurden, mußten sich täglich auf der zuständigen Polizeiwache melden und durften keine Gaststätten betreten. Selbstverständlich war jede »Propagierung parteipolitischer Ziele von zur Regierung der nationalen Erhebung in Opposition stehenden Parteien, sowohl in Wort, als auch in Schrift« untersagt. Berthold Gerlicher erzählt dazu ergänzend57, daß die Sozialdemokraten das Stadtgebiet Coburgs nicht verlassen " Nach StaC, 12349, waren folgende Gemeinden und Städte betroffen: Creidlitz, Ketschendorf, Wüstenahorn, Ahorn, Haarth, Cortendorf, Oeslau, Mönchröden, Rothenhof (hier bestand der gesamte Gemeinderat aus SPD und KPD), Einberg, Fischbach, Wildenheid, Birkig, Bertelsdorf, Grub am Forst, Oberfüllbach, Unterlauter, Oberlauter, Rodach, Dörfles bei Coburg, Lützelbach, Höhn, Heldritt, Scheuerfeld, Weidach, Leutendorf, Neu- und Neersdorf, Weißenbrunn am Forst, Rütmannsdorf, Weißenbrunn vorm Walde. " Briefliche Mitteilung des SPD-Ortsvereins Ahorn vom August 1981. " StaC, 7870. " U.a. Hermann Hirsch (Prediger), Felix Ludwig (Friseur), Milton Wertheimer (Kaufmann), Jacob Friedmann (Kaufmann), Karl Kohn (Kaufmann), Bernhard Zeilberger (Schneider), Sali Kahn (Kaufmann), Max Frank (Kaufmann), Meier Levenbach (Kaufmann), Hermann Strasser (Viehhändler), Hugo Friedmann (Pferdehändler), Israel Plaut (Kaufmann), Martin Mannheimer (Pferdehändler), Julius Wertheimer (Metzger). » StaC, A 7864. 57 Gespräch vom M.Oktober 1981.
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durften und jeden Gang in den Wald schriftlich (mit Skizze des vorgesehenen Weges) anmelden mußten. Abends um 18 Uhr mußten sie sich auf der Polizeiwache melden und zackig mit Heil Hitler grüßen. Erfolgte der Gruß nicht laut genug, drohten ein oder zwei Stunden Arrest. Besonders ermahnt wurde auch Karl Geuß, »daß seine sofortige Festnahme angeordnet wird, wenn er nochmals auf den öffentlichen Straßen und Plätzen des Stadtbezirks bei politischen Agitationen getroffen werden sollte und daß insbesondere eine politische Agitation schon angenommen würde, wenn er auf den hiesigen öffentlichen Straßen und Plätzen bei mehr als 3 Personen stehend angetroffen wird«. Die Nationalsozialisten begnügten sich jedoch nicht mit Drohungen, sie verhafteten im April bei Razzien im Volkshaus, in der Schutzhütte der Schrebergärtner und vor allem bei Hausdurchsuchungen der Reichsbannerangehörigen 58 mehrmals Sozialdemokraten, darunter zum dritten Mal Ludwig Meyer. Bei den zahlreichen Hausdurchsuchungen, so erinnert sich Berthold Gerlicher, wurden alle seine Bücher vernichtet oder gestohlen und das gesamte Mobiliar systematisch zerschlagen. Am 17. Mai 1933 wurden sechs Sozialdemokraten bzw. Reichsbannerangehörige (Reinhold Scheler, Wilhelm Nöller, Gustav Rühl, Heinrich und Leo Zeilberger, Heinz Besser) aus Coburg in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert 59 , am 1. Juli folgten weitere 40 aus Coburg, Neustadt und Rodach (u.a. Gustav Oppel, Berthold Gerlicher, Karl Duerkop, Ludwig Meyer, Paul Beyer, Erich Braun)60. Mit besonderem Haß verfolgten die Nationalsozialisten in Coburg die Mitglieder des Reichsbanners und der Eisernen Front, nachdem eine Razzia im Hause des Korbmachermeisters Reinhold Scheler ein von ihm und Wilhelm Nöller angelegtes Waffenlager von 18 Gewehren zutage gefördert hatte. Bei dem Maschinenarbeiter Gustav Rühl lauteten die Gründe für die Uberführung in das Konzentrationslager Dachau folgendermaßen 61 : »Rühl war Funktionär des aufgelösten Reichsbanners und hat sich nach seiner am 11.3.33 erfolgten Entlassung aus der Schutzhaft hetzerisch gegen Mitglieder der hinter der Regierung der nationalen Erhebung stehenden Verbände betätigt. Rühl gilt somit als staatsgefährlich«.
Obwohl die Haftzeiten der Coburger Sozialdemokraten im Dachauer Konzentrationslager im Vergleich zu denen der jüdischen Reichsbannerleute eher kurz zu nennen sind und alle spätestens nach einem dreiviertel Jahr zurückkehrten, waren sie, wie Berthold Gerlicher sagt, danach »gebrochene Menschen«. Gerlicher selbst blieb nach seiner Entlassung über ein Jahr arbeitslos, ehe er als Planen- und Zeltnäher eine neue Stelle fand. Der Modelleur Ludwig Meyer, vom 30. Juni bis 31. August 1933 im Konzentrationslager, charakterisierte später die Konsequenzen der Haft und des NS-Regimes für sein persönliches Leben mit lapidaren Worten 6 2 : »Ich verlor dadurch meine Existenz und habe auch in der Folge keine Gewerbegenehmigung trotz wiederholtem Gesuch erhalten«.
" StaC, A 8379. " Polizeiliche Einweisungen und Überstellungen von Schutzhäftlingen nach KL Dachau. ITS Arolsen, G.C.C. 3/68, I B/3. 60 Schriftliche Aussage von Paul Beyer (BLEA Ludwig Meyer), die genau mit der Erinnerung Berthold Gerlichers übereinstimmt. Paul Beyer war vom 1.7.1933 bis 19.9.1933 im KL Dachau. 61 ITS, Arolsen, Polizeiliche Einweisungen..., a.a.O. 62 BLEA (Ludwig Meyer).
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Auch Wilhelm Nöller, der bei seiner Verhaftung halbtot geschlagen und drei Monate in Dachau festgehalten worden war, verlor seine Stelle als Krankenbesucher der A O K . Nachdem er sich als Handwerker selbständig gemacht hatte, mußte er im November 1941 erzwungenermaßen der NSDAP beitreten, um einer Geschäftsschließung zu entgehen 63 . Der jüdische »Arbeiterarzt« Dr. Erich Braun (1898-1982) emigrierte nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager 1934 nach Afrika: »Als das Schiff Marseille verließ, warf er die Auszeichnung, die Hindenburg ihm für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg nach der Haft in Dachau durch ein offensichtliches Versehen der NS-Bürokratie verliehen hatte, ins Mittelmeer.« 64 Auf die beiden fränkischen Juden Leo und Heinrich Zeilberger konzentrierte sich der besondere Haß der Coburger Nationalsozialisten schon seit langem: Gerüchten 6 5 zufolge hatten jüdische Geschäftsleute, darunter auch die Brüder Zeilberger, 1922 agents provocateurs angeheuert, um durch diese den nationalsozialistischen »Deutschen Tag« 66 stören zu lassen. Zwei Jahre später überfiel ein NS-Trupp die Brüder, wobei einer der Angreifer in Notwehr mit einer Schußwaffe verletzt wurde 67 . Bereits am 12. März 1933 festgenommen, wurden die beiden Textilkaufleute am 17. Mai 1933 ins Konzentrationslager Dachau überstellt. Leo Zeilberger war nach Aussage von Mitgefangenen 68 dort einer der »meistgeschundenen Männer«; allein 14 Monate mußte er in der Kiesgrube arbeiten. Im Juni 1934, als die Coburger Sozialdemokraten längst entlassen waren, teilte der Politische Polizeikommandeur der Bayerischen Staatskanzlei auf eine Anfrage über die zu erwartende Haftdauer der Brüder mit 6 9 : »Im Oktober 1933 wurde im Konzentrationslager Dachau die Herstellung von Kassibern durch Schutzhaftgefangene zur Verbreitung von Greuelnachrichten aufgedeckt. Bei der Kassiberverschiebung haben auch die Juden Zeilberger eifrig im Geheimen mitgewirkt. Es muß mit Bestimmtheit angenommen werden, daß diese bei ihrer Entlassung versuchen, ins Ausland zu kommen, um von dort die gemeinsten Greuelnachrichten über das Konzentrationslager Dachau zu verbreiten. Bei ihrer Rückkehr nach Coburg ist zweifellos auch heute noch ihre Person ernstlich gefährdet.«
Obgleich dies wie ein Todesurteil klingt, öffneten sich am 8. bzw. 9. April 1936 für die Zeilbergers die Lagertore. Ihre wirtschaftliche Existenz war ihnen freilich genommen und permanente Polizeiaufsicht diente als zusätzliche Schikane. Leo Zeilberger berichtete später darüber 70 : »Ab 8 Uhr abends durfte ich das Haus nicht verlassen. Ich durfte die Stadtgrenze nur überschreiten, wenn ich vorher einen Urlaubsschein von der Polizei erwirkt hatte. Von jedem Ort, den ich mit diesem Urlaubsschein aufsuchte, mußte ich eine Bestätigung über meinen Aufenthalt und über die Dauer desselben beibringen. Ich mußte ferner eine Bestätigung der Firmen oder Institutionen, mit denen ich dort in Verbindung gestanden hatte, vorlegen.«
BLEA (Wilhelm Nöller). Süddeutsche Zeitung vom 9.7.1982, S. 16. 65 Siehe Erdmann, a.a.O., S. 105. " Siehe weiter oben, S. 463. " Ophir, a.a.O., S. 125 f. 68 BLEA (Leo Zeilberger). " BayHStA MA 106299. 70 BLEA (Leo Zeilberger).
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Im März 1937 wanderten Leo und Heinrich Zeilberger, obwohl im fränkischen Raum seit Generationen verwurzelt, nach Palästina aus. Dort faßten die beiden Mittvierziger jedoch nicht mehr Fuß; Leo Zeilberger brachte sich als Landarbeiter durch (»und habe hier im Lande bisher keine Existenz gefunden, die der verlorenen entsprochen hätte«)71, Heinrich Zeilberger emigrierte 1951 weiter in die Vereinigten Staaten. Ein ähnliches Schicksal erlitt Heinz Besser72, ein kaufmännischer Angestellter, der nach einer zweieinhalbjährigen KL-Haft ebenfalls nach Palästina auswanderte. Trotz der Verhaftungswelle seit März 1933 waren die Arbeiterorganisationen noch nicht völlig zerschlagen; noch existierten die Gewerkschaften, noch verfügte die SPD über einen erheblichen Besitzstand an Sachwerten. Aber nach dem propagandistisch ausgeschlachteten, erstmals gesetzlich arbeitsfreien 1. Mai des Jahres 1933 holten die Nationalsozialisten in Coburg wie anderswo zu einem weiteren Schlag aus: tags darauf wurden alle Gewerkschaftsstellen und Konsumvereinsläden durch bewaffnete SA und SS besetzt, das gesamte Eigentum konfisziert. Das Volkshaus in der Judengasse Nr. 5 war bereits im April 1933 beschlagnahmt worden, vier Jahre später wurde es versteigert73. Als letzte sozialdemokratische Vereinigung mußte am 2. Mai 1933 die Arbeiterwohlfahrt (Vorsitzender Otto Voye; Kassier August Neumann) ihre Arbeit einstellen. Das Genossenschaftsheim enteigneten die Nationalsozialisten zu Gunsten der DAF, das Barvermögen der Arbeitersamaritetkoionne und der Arbeiterwohlfahrt, zusammen etwa 1000.- RM, »spendeten« sie der Bayerischen Politischen Polizei und der NSVolkswohlfahrt74. Am gleichen Tag besetzte die SA in einer brutalen Aktion das neuerbaute Verlagsgebäude des Coburger Volksblatts, das am 4. März 1933 vorübergehend mit Erscheinungsverbot bedacht und am 14. März zum letzten Mal gedruckt worden war. Den 38 Angestellten wurde fristlos gekündigt, das Verlagshaus enteignet und die beim Uberfall zerstörte Rotationsmaschine an einen Schrotthändler verkauft 75 . Ein Opfer der Zwangsstillegung des Coburger Volksblatts war der Verlagsbuchhalter und Werber Josef Stenger (geb. 1896), der wegen seiner sozialdemokratischen Haltung bis 1935 keine neue Anstellung fand: »Vom Arbeitsamt selbst konnte man mir keine Beschäftigung nachweisen und man machte mir auch keinen Hehl daraus, indem man mir sagte, daß ich noch lang zu warten hätte. Ich bekam eine wöchentliche Unterstützung von 16.60 RM für meine Frau, zwei Kinder und mich, hatte außerdem noch meine Mutter und meinen Haushalt... Miete 45 RM.«76 Stenger lebte von seinen Ersparnissen, mußte sämtliche Versicherungen kündigen und ein seiner Frau gehörendes Grundstück veräußern. Ab 1935 erhielt er schlecht bezahlte Aushilfsstellungen; ein NSDAP-Beitritt kam für ihn dennoch nicht in Frage, lediglich zur Mitgliedschaft in Nebenorganisationen (DAF, NSV, RLB) ließ er sich drängen. Ein Anmeldeschein zur NSDAP war schon vor 1933 allen Coburger Stadtbediensteten in die Hand gedrückt worden. Wer sich weigerte beizutreten, dessen berufliche
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Ebd. BLEA (Heinz Besser). Schmehle, a.a.O., S. 223. StaC, A 8393. Frei, Norbert: Nationalsozialistische Eroberung der Provinzpresse. Gleichschaltung, Selbstanpassung und Resistenz in Bayern. Stuttgart 1980, S. 122. BLEA (Josef Stenger).
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Karriere war gefährdet. Nach der »zweiten« Machtübernahme erklärte Bürgermeister Schwede am 2. August 1933: »die Zugehörigkeit zu der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit der Stellung eines Beamten, Angestellten oder Arbeiters, der aus öffentlichen Mitteln Gehalt, Lohn oder Versorgungsbezüge erhält, [für] unvereinbar. Das gilt für alle Beamten, Angestellten und Arbeiter des Staates, der Gemeinden, Gemeindeverbände, Körperschaften des öffentlichen Rechts und der diesen gleichgestellten Einrichtungen und Unternehmungen«.
Wieviele Sozialdemokraten tatsächlich entlassen wurden, ist ungeklärt. Die Bezirksschulbehörde Coburg jedenfalls zeigte sich den Wünschen der Nationalsozialisten gegenüber unzugänglich und lehnte die vorgeschlagene Entlassung von vier Lehrern im August 1933 rundweg ab77. Gegen seine fristlose Entlassung zum 1. Juni 1933 nach Paragraph 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (»bietet nicht die Gewähr, daß er jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintritt«) klagte der Geschäftsführer der öffentlichen Volksauskunftei, SPD-Mitglied Moritz Hofmann (geb. 1880). Seine Chancen auf Wiedereinstellung scheinen von der aufsichtführenden Behörde, der Regierung Ober- und Mittelfrankens, recht günstig beurteilt worden zu sein, doch Oberbürgermeister Schwede machte am 5. August 1933 solche Hoffnungen zunichte: »Falls sich die Verhandlungen wider Erwarten zu Gunsten des Herrn Hofmann gestalten und er u.U. gerechtfertigt aus der Angelegenheit hervorgehen sollte, besteht dennoch keine Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung des Hofmann, da der Stadtrat mit dem gleichen Zeitpunkt der beschlossenen Entlassung auch die Aufhebung der öffentlichen Volksauskunftstelle aus Ersparnisgründen beschlossen hat.«78
Nach dem reichsweiten Verbot vom 22. Juni 1933, durch das die SPD endgültig »illegal« geworden war, konzentrierten sich die Nationalsozialisten auf die Ausmerzung übriggebliebener versteckter gesellschaftlicher Residuen der Partei. Im »linken« Ketschendorf erzwangen sie im Sommer 1933 die Auflösung des Rauchclubs »Tantomta« und des Arbeiterturnvereins; der Obst- und Gartenbauverein wurde aufgefordert, die Ämter des Kassiers und des Schriftführers neu zu besetzen, weil der Verein in seiner »seitherigen Zusammensetzung nicht geduldet wird.«79 Die Enteignung von Arbeiterturn- und Radfahrvereinen aus neun Gemeinden 80 im Umland von Coburg erbrachte ein Jahr später über 2000 - RM für die Kasse der Bayerischen Politischen Polizei. Aber nicht überall wurde zu den härtesten Mitteln gegriffen: Der Arbeitergesangverein Untersiemau ζ. B. wurde nur angehalten, seine Noten von »marxistischen Tendenzliedem« zu säubern 81 . In Coburg profitierte die SA kräftig von der Enteignung sozialdemokratischen Eigentums - das Bootshaus des Paddelclubs ».Ahoi«, Sanitätsmaterial der Arbeitersamariterkolonne, Sportgeräte des Arbeiter-Turnund Sportvereins, Musikinstrumente des Spielmannzugs des Reichsbanners und der Flügel des Volkschors82 gingen in ihren Besitz über. " StaC, 12892. " StaC, 1893. " StaC, A 7651. 10 Grub am Forst, Frohnlach, Niederfüllbach, Rothenhof, Einberg, Mittelberg, Neuses bei Coburg, Scheuerfeld, Cortendorf (StaC, 10359). " StaC, A 7651. " StaC, A 8393 (5.3.1936).
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Ende Mai 1935 erhielten dann zahlreiche Bürgermeister des Kreises, darunter natürlich auch die letzten im Amt verbliebenen ehemaligen Mitglieder der SPD, vom Bezirksamt dieses Schreiben 83 : »Sehr geehrter Herr Bürgermeister, wie mir berichtet wurde, sollen Sie sich mit der Absicht tragen, Ihr Ehrenamt als Bürgermeister niederzulegen. Wenn die Mitteilung auf Wahrheit beruhen sollte, bitte ich, mir baldigst (etwa in 3 Tagen) ein schriftliches Gesuch um Amtsniederlegung vorlegen zu wollen, da das Bezirksamt in den allernächsten Tagen über Neubesetzungen von Bürgermeisterstellen an die Regierung berichten muß·.
Soweit bekannt, verschloß sich keiner der angesprochenen Mandatsträger diesem »Wunsch«. Spätestens seit Mitte 1935 hatten die Nationalsozialisten auch auf Kreisund Gemeindeebene reinen Tisch gemacht; öffentliche Ämter, die mit Sozialdemokraten besetzt waren, gab es danach nicht mehr. Aller Organisationen und institutionellen Verankerungen beraubt, war den Sozialdemokraten unverstellter Meinungsaustausch nur noch im privaten Rahmen freundschafdicher Kontakte möglich. Selbst dann aber sahen sie sich noch großer Gefährdung ausgesetzt: Das Spitzelsystem funktionierte in Coburg erschreckend perfekt, wie die für eine 30000-Einwohner-Stadt ungewöhnlich hohe Zahl von 66 Hauptverfahren 84 vor dem zuständigen Sondergericht Bamberg belegt. 1937 und 1942 erreichte die Denunziationswelle in Coburg ihren Höchststand; in Neustadt, das mit 33 Verfahren vor dem Sondergericht Bamberg verzeichnet ist, im Jahr 1941. Manches ehemals exponierte Parteimitglied zog sich, zumal nach Erfahrung von KL-Haft, unter diesen Umständen völlig aus dem Kreis seiner Gesinnungsgenossen zurück. So z. B. der Vorsitzende der Freien Turnerschaft, Gustav Oppel, der, nach dreimonatiger Haftzeit in Dachau und mit Wirtshausverbot belegt, von Coburg wegzog. Seine fortan äußerst zurückgezogene Lebensweise beschrieb Oppel später selbst als bewußten Rückzug »aus begreiflichen Gründen«: »Ich war als Werkmeister bei der Firma Käser in Hahnweg tätig und dort Tag für Tag von früh bis abends beschäftigt. Abends hielt ich mich dann in meiner Wohnung, die ebenfalls in Hahnweg gelegen war, auf.«83 Oppels Haltung mag auch von der Erkenntnis mitgeprägt worden sein, daß selbst frühzeitig unternommene Camouflage-Versuche an der Transparenz lokaler Strukturen scheiterten: Die Boxabteilung eben jener Freien Turnerschaft hatte sich zum Schein freiwillig aufgelöst und war dann, geleitet von dem Schuhmacher Carl Arnold, am 26. März 1933 unter dem Namen Athletikclub Koburg neu zusammengekommen - bewußt mit der von den Nationalsozialisten favorisierten Schreibweise des Stadtnamens. Da dem Box-Verein ausschließlich Sozialdemokraten und Kommunisten angehörten, wurde er von den Nationalsozialisten bereits Ende April 1933 wieder aufgelöst.86 Die Beerdigung des langjährigen Fó/&íé¿z«-Redakteurs Franz Klingler im Juli 1933 wurde zur letzten öffentlichen Zusammenkunft der Coburger Sozialdemokratie, eine in doppeltem Sinne stille Demonstration: nicht einmal kurze Grabreden durften gehalten werden; die Polizei notierte die Namen von Hunderten von Trauergästen87. " StaC, A 12537. " Mitteilung des Landgerichts Bamberg vom 16. November 1981. »' StaC, A 7655 und BLEA (Gustav Oppel). M StaC, A 8379. " Schmehle, a.a.O., S. 136.
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Einer der - polizeibekannten - Treffpunkte alter Sozialdemokraten blieb über das Jahr der NS-Machtübernahme hinaus die im Volkshaus weiter betriebene Gaststätte. Im September 1933 erhielt deren Pächter Anweisung, den ehemaligen Stadträten Otto Voye und Fritz Schneider sowie dem früheren Geschäftsführer des Coburger Volksblattes, Alfred Orbel, das Betreten der Gasträume als auch der übrigen Privaträume im Volkshaus zu verbieten88. Volksblatt-Reádktzur Otto Voye, einer der prominentesten Sozialdemokraten Coburgs, war dem Konzentrationslager nur wegen kameradschaftlicher Fürsprache von NS-Oberbürgermeister Schwede entgangen89, mit dem zusammen er im Ersten Weltkrieg auf einem Minensuchboot Dienst getan hatte. Wie die Gastwirtschaften Heinlein in der Juden- und Lenz in der Webergasse blieb auch das Schanklokal Teichmann weiterhin Treffpunkt von Genossen und Mitgliedern der Freien Turnerschaft- unter den Augen der Polizei, die beispielsweise über ein dort am 13. Februar 1934 abgehaltenes Faschingsfest detailliert berichtete: »Die übrigen Gäste waren im Alter von 30-40 Jahren, sie stammten zum größten Teil aus dem früheren Verband der Arbeitsinvaliden, welcher rot eingestellt war.«90 Mancher der alten Sozialdemokraten machte unter dem Druck ständiger Beobachtung seinem Zorn Luft. 1934 wurden mindestens drei ehemalige SPD-Mitglieder wegen solcher Bemerkungen vorübergehand festgenommen: Albert Heinrichs (geb. 1894), der bereits KL-Haft hinter sich hatte, der Korbmachermeister Willy Sauerteig (geb. 1894), der von der »Lumpen-SA« gesprochen hatte, und der Ketschendorfer Korbmacher Alfred Liebermann, der einen SA-Mann »Arbeiterverräter« genannt hatte91. Die Sanktionen entsprachen den Auflagen für entlassene KL-Häftlinge: »1. Liebermann darf seinen W o h n o r t ohne Erlaubnis der Ortspolizeibehörde nicht verlassen und hat sich zwecks Anwesenheitskontrolle jeden zweiten Tag zu einer von dem Herrn 1. Bürgermeister bestimmten Zeit bei ihm oder seinem Stellvertreter zu melden. 2. Liebermann darf solange keine Gast- und Schankwirtschaft besuchen, bis ihm das von der Bezirkspolizeibehörde (Bezirksamt) wieder gestattet wird. 3. Liebermann darf keine Handlungen unternehmen, die geeignet sind, die Sicherheit des Staates, namentlich auch die Aufbauarbeiten der nationalen Bewegung zu gefährden«.
Von solchen Ausnahmen abgesehen, wurde es in den folgenden Jahren ruhig in Coburg; die unumgänglichen Polizeiprotokolle berichten monoton von »gemachten Beobachtungen und ... vertraulichen Mitteilungen«, denen zufolge »innerhalb der früheren marxistischen Kreise eine Propaganda von Mund zu Mund getätigt« wird92. Organisierte Untergrundarbeit fand in nennenswertem Umfang nicht statt93. Wohl aber gab es Bemühungen in einer scheinbar unpolitischen Organisation wenigstens einen gewissen personellen Zusammenhalt zu sichern: Der Feuerbestattungsverein »Flamme« wuchs 1934/1935 aus mäßigen Anfängen auf eine Mitgliederzahl von 250 Personen an. Die Polizei mutmaßte zu Recht: " " "» "
StaC, A 7870. Möglicherweise muOte Otto Voye als Gegenleistung seinen Austritt aus der SPD erklären. StaC, 8376/2. StaC 7654 und 7868. 92 StaC 8376/2. " Der Monatsbericht des Regierungspräsidenten von Ober- und Mittelfranken berichtet am 7. März 1936, daß drei Personen aus Coburg wegen Betätigung für KPD und SPD festgenommen wurden (Bayern in der NS-Zeit Bd. I, a.a.O., S. 248).
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»Dieser Zuwachs ist wohl der Tätigkeit des Paul Beyer, der früher Funktionär der SPD war, sich in Schutzhaft befand und außerdem Vorstand der Freidenker bis zum Jahr 1933 gewesen ist, zuzuschreiben. ... Die politische Zuverlässigkeit dieser Personen ist sehr fraglich. Bei den Mitgliedern handelt es sich meistens um solche Personen, die früher in der SPD auch aktiv tätig waren und auch teilweise Funktionärsstellen innehatten.«94
Gleichwohl blieb der Verein unangetastet - vielleicht weil die nationalsozialistische Großdeutsche Feuerbestattung keine geschlossene Abwanderung zur »Flamme« beobachtet hatte. Für die spätere Zeit des Dritten Reichs schweigen mit wenigen Ausnahmen die schriftlichen Quellen zur Coburger Sozialdemokratie. Auch Zeitgenossen haben keine Erinnerung an weiterbestehende sozialdemokratische Zirkel oder Gruppen, von den »Freidenker«-»Abhörgemeinschaften« während des Kriegs einmal abgesehen. In Neustadt und Umgebung dagegen versuchten Sozialdemokraten, ihre Partei illegal weiterzuführen, wie ein Verfahren wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« vor dem Oberlandesgericht München zeigt, das sich von 1938-1940 hinzog 95 . Da die Akten nicht erhalten sind, kann nur vom Strafmaß der drei Verurteilten berichtet werden: Der Drucker Erich Edwin Neubauer (geb. 1895) aus Wildenheid, erhielt zwei Jahre und sechs Monate Zuchthaus, der Puppenmacher Albert Schader (geb. 1907) aus Wildenheid und der Gelegenheitsarbeiter Willy Neubauer aus Neustadt (geb. 1907) je ein Jahr und sechs Monate Gefängnis. Im Rahmen der »Aktion Gitter« wurde der Schneider Eugen Ostheimer (geb. 1889), vor 1933 Geschäftsführer des Bekleidungsarbeiterverbandes, im Konzentrationslager Dachau interniert (26.8.-6.9.1944) 96 ; die Verhandlung gegen den sozialdemokratischen Flaschenbierhändler Edmund Wittig (geb. 1877) wegen abfälliger Bemerkungen zum »Endsieg« fand nicht mehr statt 97 . Am 29. September 1945 ließ die amerikanische Militärregierung in Coburg als erste Partei die SPD wieder zu 98 , einen Tag später konstituierte sich auf einer von Ludwig Meyer einberufenen Konferenz der Landesverein Sozialdemokratische Partei Kreis Coburg unter dem Vorsitz von August Neumann (2. Vorsitzender Max Kirchner; Kassierer Otto Klingler). Im Vorstand des am 14. Oktober 1945 wieder gegründeten SPDOrtsvereins waren auch aktive Mitglieder aus vornationalsozialistischer Zeit vertreten, so der 2. Vorsitzende Ludwig Meyer, Schriftführer Paul Wüstrich und Beisitzer Edmund Wittig99. Noch im selben Jahr zählte der Ortsverein 500 Mitglieder, im Januar 1948 sogar 1100100. Am 20. Dezember 1945 ernannten die Militärbehörden den fast 60jährigen Sozialdemokraten Ludwig Meyer, damals Gastwirt und Zeitungsverkäufer, zum Oberbürgermeister - Bedenken mancher US-Offiziere zum Trotz: »Dieser Mann ist kein Nazi, er " StaC, 8376/2. " OLG München, Js 36/38. " BLEA (Eugen Ostheimer). 97 OLG München, OJs 734/44. " Beyersdorf, Peter: Militärregierung und Selbstverwaltung. Eine Studie zur amerikanischen Besatzungspolitik auf der Stufe einer Gemeinde in den Jahren 1945-1948, dargestellt an Beispielen aus dem Stadt- und Landkreis Coburg. Erlangen 1967, S. 68. " Die übrigen Vorstandsmitglieder: 1. Vorsitzender Hans Grosser; Kassier Richard Geisthardt; Beisitzer Fritz Hof und Erich Meyer. - Ab 1947 lautete die Vorstandschaft: 1. Vorsitzender Willi Weinkauff; Kassier Karl Albrecht (am 12. März 1933 unter den Verhafteten). 100 National Archives Washington (NA), RG 260, OMGUS 9/99-2/5 (Mikrofiches im Institut für Zeitgeschichte).
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ist ein weicher Anti-Nazi, sein hauptsächlichstes Ziel ist die Förderung seiner politischen Karriere und er entläßt frühere Mitglieder der NSDAP nur sehr unwillig, aus Furcht, in dieser starken Nazi-Gemeinde an politischer Unterstützung zu verlieren.«101 1948 löste ihn der Freidemokrat Walter Langner ab 102 . Die Neugründung des SPD-Ortsvereins Neustadt fand am 20. Oktober 1945 statt. Vierhundert alte und neue Mitglieder wählten Max Kirchner zum Vorsitzenden, der dieses Amt bereits 1923 bis 1933 innegehabt hatte und es nach dem Krieg dreimal einnehmen sollte (1945-1948, 1950-1953 und 1959-1960). Uber den Neubeginn der sozialdemokratischen Partei berichtet die Festbroschüre anläßlich des hundertjährigen Bestehens des Ortsvereins: »Nicht ohne Bitterkeit erinnern sich diejenigen Sozialdemokraten, die die Aufbauphase der SPD nach dem Zusammenbruch im Jahre 1945 bewußt erlebt haben, der Tatsache, daß die Zusammenkünfte in den ersten Monaten nach der Kapitulation bis zur offiziellen Neugründung vor allem wegen der zwischen den führenden Sozialdemokraten und dem damaligen, von den Amerikanern eingesetzten 1. Bürgermeister [Lichtspielhausbesitzer] Carl Kiesewetter bestehenden Spannungen unter beinahe konspirativen Umständen, nicht selten sogar außerhalb Neustedts, stattfinden mußten. Wären diese illegalen Sitzungen aufgedeckt worden, hätten die Teilnehmer - es klingt unglaublich - die Verhaftung durch die amerikanischen Besatzungstruppen gewärtigen müssen.«
Carl Kiesewetter wurde am 7. Juni 1946 durch Heinz Woltz abgelöst, der mit der sozialdemokratischen Stadtratsmehrheit eng zusammenarbeitete. Bei den seit Anfang 1946 vorangegangenen Gemeinde-, Kreistags- und Stadtratswahlen hatte die SPD jeweils sehr gut abgeschnitten. Die Gemeindewahlen vom 26. Januar 1946 hatten im Landkreis Coburg der SPD die absolute Mehrheit gebracht 103 und erlaubten damit die Anknüpfung an die Zeit vor 1933, als ein Ring von sozialdemokratischen Ortschaften die alte Residenzstadt umlagert hatte. Bei den Kreistagswahlen errang die SPD als stärkste Partei 24 der 55 Kreistagsmandate104. Bei den Stadtratswahlen in Coburg allerdings wurden bereits wieder die konservativen Grundstrukturen sichtbar: die SPD stellte mit 12 Mandaten zwar die stärkste Fraktion, aber die bürgerlichen Parteien waren zusammen in der Mehrheit (CSU zehn Sitze, Demokratische Partei sieben Sitze, KPD zwei Sitze)105. Bei diesen Ergebnissen ist zu berücksichtigen, daß Flüchtlinge und »Belastete«106 nicht wahlberechtigt waren, was gerade in Coburg große Teile der Bevölkerung ausschloßt Nur 16000 (5000 Männer und 11000 Frauen) von 46000 Einwohnern durften ihre Stimme abgeben 107 . Als bei der nächsten Stadtratswahl 1948 auch die ehemaligen
101
NA, RG 260, OMGUS 9/100-1/5. Beyersdorf, a.a.O., S. 45. - Siehe auch: Kreisfreie Stadt und Landkreis Coburg. Kreisfreie Stadt Neustadt bei Coburg. Beilage zu Bayern in Zahlen. Monatshefte des Bayerischen Statistischen Landesamts. 18. Jg. S. 15 f. Demokratische Partei 3195 Stimmen, CSU 1536 und KPD 1221 Stimmen (Beyersdorf, a.a.O., S. 83). 104 Demokratische Partei 10 Sitze (5784 Stimmen), CSU 8 Sitze (4777 Stimmen), KPD 3 Sitze (1930 Stimmen). - Beyersdorf a.a.O., S. 86. 105 Beyersdorf, a.a.O., S. 78 f. "" Personen, die vor dem 1. Mai 1937 der NSDAP beigetreten waren, Aktivisten, die nachher beitraten; Amtsträger, Führer und Unterführer der NSDAP, SS-Leute; Führer oder Unterführer von SA, HJ oder BDM, des NS-Studentenbundes, des NS-Dozentenbundes, der NS-Frauenschaft, des NSKK und des NS-Fliegerkorps sowie Nazifreunde und Mitarbeiter (Beyersdorf, a.a.O., S. 80). 107 Beyersdorf, a.a.O., S. 87. 102
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NSDAP-Mitglieder und sonstige Belastete zur Urne schritten, ergab sich daraus folgende Sitzverteilung: F D P 11, SPD 9, Flüchtlinge 6, CSU 4, K P D 2. Der amerikanische Geheimdienst konstatierte: »Nach Ansicht vieler Leute und auch der örtlichen Zeitung zufolge gaben die früheren Nazis, die zum ersten Mal wählen durften, ihre Stimme der FDP« 1 0 8 ; die Rückkehr von Nationalsozialisten in die Amtsstuben wurden von den Amerikanern mit großem Unwillen registriert, wenn man auch sorgfältig zwischen Mitläufern und NS-Führungskadern unterschied. Eine Übersicht vom September 1948 ergibt folgendes Bild 1 0 9 : Einer der neugewählten Bürgermeister des Landkreises war auch in der Nazi-Zeit im Amt gewesen; 29 der neugewählten Bürgermeister waren frühere NSDAP-Mitglieder (23 Prozent), acht davon hatten Ämter wie Blockleiter oder Scharführer bekleidet; ebenso waren 13 der Kreistagsmitglieder (30 Prozent) und sechs der Coburger Stadtratsmitglieder (19 Prozent) NSDAP-Parteigenossen gewesen; jedoch keiner der Stadträte von Neustadt. Die Amerikaner machten insbesondere Coburgs Oberbürgermeister Langer, vor seiner Wahl höchst erfolgreicher Verteidiger in Entnazifizierungsverfahren, für das Einsickern der alten Nationalsozialisten in öffentliche Ämter und Führungspositionen verantwortlich. Ihr Resümee Ende September 1948: •Die Rückkehr früherer Nazis in wichtige Positionen aller Art ist nahezu abgeschlossen ... besonders in der Wirtschaft, wo eine Eigentumsüberwachung nicht länger besteht, sind viele Schlüsselpositionen wieder in die Hände der Nazis übergegangen ... Auch in der Stadtverwaltung gibt es eine stärker werdende Tendenz, die früheren Nazis in ihre Stellungen zurückzurufen. Bei der Stadtverwaltung gab es zahlreiche Entlassungen von Bediensteten, die 1945 Nationalsozialisten ersetzt hatten ... Etwa ein Viertel der Stadträte Coburgs sind frühere Nazis. Zusätzlich sind in der FDP-Fraktion einige einflußreiche Persönlichkeiten, die mit Sicherheit mit den Nazis sympathisierten. Dies führt zwangsläufig zu einer nachgiebigen Haltung, wenn frühere Nazis von Stadtrats- oder Ausschußentscheidungen betroffen sind.« 110
I V . SCHOPFLOCH
Jahrhundertealte Eigenheiten der Bevölkerungsentwicklung und Sozialstruktur, bis hin zum eigenen lokalen Dialekt, ließen das Arbeiterdorf Schopfloch zu einem sozialund kulturgeschichtlichen Unikum mit eigener Ortsidentität innerhalb des mittelfränkischen Umlands werden. Der Anfang dieser Eigentümlichkeiten geht auf den Dreißigjährigen Krieg zurück: im Jahr 1634 siedelten sich protestantische Emigranten aus dem Salzburger Raum im Wörnitzgrund an und hielten an ihrem traditionellen Maurer· und Steinmetzhandwerk ebenso wie an ihrem evangelischen Glauben über Generationen hinweg bis in das zwanzigste Jahrhundert fest. Noch im Jahr 1938 lebte rund ein Drittel der Bevölkerung Schopflochs - 560 Personen von 1800 Einwohnern (95,6
« NA, RG 260, OMGUS 9/99-2/6-7. NA, RG 260, OMGUS 9/99-2/4. 1 , 0 NA, RG 260, OMGUS 9/99-2/4. 10
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Prozent Protestanten)1 - vom Bauhandwerk. Über die Hälfte der in diesem Erwerbszweig Tätigen waren Maurer, die übrigen Handlanger, Steinhauer, Steinmetze, Schreiner, Schlosser, Zimmerleute oder Monteure2. Da weder Schopfloch selbst noch die benachbarten Kreisstädte Dinkelsbühl und Feuchtwangen genügend Arbeit auf dem Bausektor anbieten konnten, fuhren die landauf, landab für ihren Fleiß und ihre Tüchtigkeit gerühmten Maurer mit Kelle, Senkel und Richtscheit, die Steinmetze mit Bossierhammer, Schlageisen und Winkel als Wochenpendler in die nächstgelegenen Großstädte Nürnberg und Stuttgart oder wanderten den ganzen Sommer über durch Süddeutschland bis nach Österreich und in die Schweiz. Die Hauptbahnhöfe Stuttgarts und Nürnbergs, der Nürnberger Justizpalast, Schloß Baldem im Ries und die Diakonissenanstalt Neuendettelsau zeugen von der gediegenen Handwerkskunst der Schopflocher. Aus der Zeit, in der Schopflocher Maurer in Neuendettelsau arbeiteten, berichtete der damalige Pfarrer, diesen habe man »alles und jedes zumuten· dürfen, »Arbeit des Nachts, wie Arbeit am Tage«, und stets zeigten sie »eine ausnehmend freudige Willigkeit«3. Wenn im Frühjahr die Bautätigkeit erneut einsetzte, zogen die Schopflocher Maurer, meist in Partien zu 6 oder 8 Mann, in die Fremde, um sich für eine Saison auf einer Großbaustelle zu verdingen. Im Herbst mußte das Geld für den erwerbslosen Winter verdient sein, spätestens zur Obsternte kehrten die Männer in die »Medine« - w i e der Heimatort in ihrem lachoudischen Dialekt genannt wird - zurück. Der Volksmund beschrieb diesen Lebensrhythmus mit der Sentenz: »Maurer miß genau, Zwetschgen werden blau«. Für die Wochenpendler verkehrten, seitdem Schopfloch 1881 an die Bahn angeschlossen war, eigene Züge, »Schopflocher Maurerzug« oder vornehmer »Architektenzug« genannt, die die Maurer am späten Samstagnachmittag nach Hause brachten und am Sonntag gegen neun Uhr abends wieder an die Arbeitsstätten zurücktransportierten. Die ungebrochene Weiterhändigung des Maurerberufs vom 17. bis ins 20. Jahrhundert erklärt sich aus einem weit über den Familienverbund hinausreichenden Zusammengehörigkeitsgefühl der Kommune. In Ermangelung von Lehrstellen in anderen technischen oder in kaufmännischen Berufszweigen schlossen sich die männlichen Jugendlichen der Partie des Vaters, des Onkels oder eines Bekannten an und erlernten, meist als Hilfsarbeiter oder Mörtelzuträger beginnend, das Handwerk von der Pike auf. Der drohenden Inzucht begegneten die Schopflocher Maurer dadurch, daß sie von ihren Wanderschaften zahlreiche »Mörtelschicksen«, vor allem aus Böhmen stammende Hilfsarbeiterinnen, als Ehefrauen heimführten. Die Volkszählung von 1910 ergab: unter den nicht in Schopfloch Geborenen, sondern dorthin Zugezogenen befanden sich 72 Frauen und nur 4 Männer. »Wir Schopflocher sind doch eine recht zusammengewürfelte Gesellschaft«, meinte launig ein Gesprächsteilnehmer einer Runde
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Religionszugehörigkeit 1933: 95,6% Protestanten, 2% Katholiken, 2% Juden und 0,4% Sonstige. Nach Ophir, Baruch Z./Wiesemann, Falk, a.a.O., S. 226. Berechnung nach Angaben in : Einwohnerbuch für die Städte Dinkelsbühl und Wassertrüdingen sowie sämtliche Gemeinden im Bezirksamt Dinkelsbühl. Dinkelsbühl 1938, S. 150—158. Fränkische Landeszeitung vom 26. August 1977. Diesen und viele andere, die historische Entwicklung Schopflochs betreffende Zeitungsausschnitte sammelte Frau Emma Kuch und stellte sie dem Verfasser freundlicherweise zur Verfügung.
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von älteren Sozialdemokraten4, die dem Verfasser bereitwillig Auskunft über ihre Lebenserfahrungen und über lokale Begebenheiten gaben. Herr Frank (Jahrgang 1911) erzählte, daß er zusammen mit seinem Vater und anderen Verwandten in jungen Jahren ins württembergische Backnang zog, um Backsteine und Mörtelkufen zuzutragen. In der Nähe der Baustellen habe man dann Schlafstellen bei privaten Adressen aufgetan und versucht, so sparsam wie möglich zu leben. Eine Folge der gewohnten, wenn oft auch ungewollten Wanderschaft, waren Abund Auswanderungen, bevorzugt nach Amerika, die die Einwohnerzahl Schopflochs über fast ein Jahrhundert hinweg ziemlich konstant hielten5. Während die Männer in der Fremde den Lebensunterhalt verdienten, oblag den Frauen die Besorgung der meist eineinhalb Tagwerk umfassenden Nebenerwerbslandwirtschaft mit einigen Kleintieren 6 und die Erziehung der zahlreichen Kinder. Um die Jahrhundertwende hatten die Schopflocher Familien im Durchschnitt fünf Kinder - e bajes voll Kouhue 7 . »Gänse gab es in jedem Haus«, erinnerten sich die Zeitgenossen und die Geiß hieß »Maurerkuh«. Das Arbeiterdorf war also gleichzeitig eine Ansiedlung von Nebenerwerbskleingütlern. Dagegen gab es 1938 nur 18 größere Landwirte, die sich ausschließlich von Ackerbau und Viehwirtschaft ernährten. Die Gartenkultivierung stand bereits während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in solcher Blüte, daß Schopfloch im weiten Umkreis für seine Obst- und Zierbaumschulen bekannt war. Neben den Maurer- und Steinmetz-Berufen hatte seit langem auch das Textilgewerbe in Schopfloch Fuß gefaßt. Nachdem die industrielle Entwicklung die Heimweber ganz brotlos gemacht hatte, waren in der 1893 errichteten Strumpfwirkfabrik Rosenfeld Sc Heinemann in Spitzenzeiten bis zu 100 Arbeiter und Arbeiterinnen untergekommen. Die Fabrik ging 1933 ein8, und die kleinere Hartnagelsche Strickerei konnte den Beschäftigungsschwund nicht wettmachen. Auf die vorindustrielle Heimweberei gehen die »Viertelhäuser« Schopflochs zurück: Familien, die ausschließlich von der Weberei lebten, verdienten nur knapp das Existenzminium und konnten sich nicht die Wohnfläche eines ganzen Hauses leisten, mußten sich deshalb mit einem »Viertel« zufriedengeben. Kurzzeitig existierte in Schopfloch auch der Ableger einer Nürnberger Pinselfabrik, nach der Berufszählung von 1938 gab es in Schopfloch allerdings nur mehr 12 Pinselmacher.
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Frau Emma Kuch (geb. 1908), die Herren Breitinger (geb. 1903), Haag (geb. 1902), Krebs (geb. 1912) und Frank (geb. 1911) gaben am 27. Januar 1982 dem Verfasser in einem mehrstündigen Gespräch dankenswerterweise wertvolle Hinweise zur Aufklärung unklarer Tatbestände und ermöglichten ihm einen offenen Einblick in das soziale Leben Schopflochs. Zu besonderem Dank bin ich auch Herrn Helmut Greiner verpflichtet, der das Gespräch organisierte und uns in seinem Haus gastlich aufnahm. 5 1862: 1616 Einwohner 1871: 1834 Einwohner 1898: 1880 Einwohner 1900: 1806 Einwohner 1920: 1931 Einwohner 1925: 1910 Einwohner 1930: 1889 Einwohner 1939:1744 Einwohner 1946: 2350 Einwohner 1955: 2044 Einwohner Nach: Die kreisfreien Städte und Landkreise Bayerns in der amtlichen Statistik, Bd. 52, Regierungsbezirk Mittelfranken. Landkreis Dinkelsbühl. Beilage zu: Bayern in Zahlen. Monatshefte des Bayerischen Statistischen Landesamts. 20. Jahrgang, Oktober 1966. 6 Gezählt wurden 1938: 16 Pferde, 440 Rinder, 171 Schafe, 381 Schweine, 191 Ziegen und 1618 Stück Federvieh. 7 Lachoudisch für »Ein Haus voll Kinder«. " Philipp, K: Geschichte des Marktes Schopfloch. Schopfloch 1980, S. 123 ff.
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Eine weitere Besonderheit Schopflochs war seine meist große jüdische Bevölkerungsgruppe. Ein öttingisch-spielbergischer Judenschutzbrief von 1785 hatte den Juden »die Handelschaft oder den Komerz mit allerlei Handthierung und Waren zu ihrem besseren Fortkommen« 9 gestattet. Aufgrund dessen waren zahlreiche Juden nach Schopfloch gezogen. Sie widmeten sich dem einträglichen, wegen der häufigen Streitigkeiten aber auch undankbaren Roß- und Viehhandel oder zogen - nicht unähnlich den Maurern - als Hausierer und Händler mit Planwagen oder Huckelkorb in die nähere oder fernere Umgebung, um Textil- sowie Kurzwaren feilzubieten. Berühmtheit erlangte die in ovalen Holzschachteln verpackte Schopflocher Ofenschwärze und Schuhwichse, der »Rues«, hergestellt aus Kienruß, Harz und Wachs 10 . Das harmonische Zusammenleben der protestantischen Maurer und der jüdischen Kaufleute, das sich nicht zuletzt darin zeigte, daß eine der Hauptdurchgangsstraßen des Ortes bis zum Bahnanschluß von 1881 »Judengasse« hieß - danach »Bahnhofstraße« - , gründete sich auf die ähnlichen Lebensumstände, die einen Großteil beider Gruppen um des Broterwerbs willen zeitweilig zu einer halbnomadischen Lebensführung zwang. Auch im geschäfdichen Bereich kam es zu symbiotischen Lebensverhältnissen, denn die Maurer betätigten sich oft als Vermittler oder Treiber bei den Viehaufkäufen und zusammen gab es wohl manche »joufne Massematte«11. Die Schopflocher Judengemeinde hatte im Jahre 1835 mit 332 jüdischen Einwohnern ihren Höchststand erreicht. Später, vor allem seit den letzten Jahrzehnten des 19- Jahrhunderts, wanderten wegen der kärglichen Verdienstmöglichkeiten viele in die Großstädte ab. Im Jahre 1910 gab es nur noch 69, im Jahre 1933 nur noch 37 Juden in Schopfloch. Bis 1938 blieben die jüdischen Händler in Schopfloch relativ unbelästigt, erst dann erzwang die NSDAP ihren Wegzug noch vor der Reichskristallnacht. Um die von Hause aus keineswegs judenfeindliche Bevölkerung zum Boykott der Juden zu bewegen, führte die NS-Ortsgruppe am »Schwarzen Brett« diejenigen Frauen namentlich auf, die weiterhin bei Juden kauften. Daraufhin verließen die letzten 27 Juden Schopfloch und wanderten meist nach Stuttgart, Frankfurt, Nürnberg und München ab12. Am 20. Oktober 1938 wurde Schopfloch von den Nationalsozialisten für »judenfrei« erklärt. Die wache Erinnerung an das jahrzehntelang problemlose Zusammenleben und die Scham darüber, daß man der kleinen jüdischen Minderheit nach 1933 keinen wirksamen nachbarlichen Schutz hatte angedeihen lassen können, äußerte sich bei einigen sozialdemokratischen Zeitgenossen jener Tage noch heute in der ausweichenden Antwort auf die Frage nach dem Verbleib der Juden: »die seien über Nacht verschwunden«. Das weitere Schicksal der Abgewanderten ist nur bei den Familien Jericho, Rosenfeld und Ansbacher, die nach Amerika auswanderten, bekannt. Die Annahme des verdienten Lokalhistorikers K. Philipp, alle Schopflocher Juden seien bei Kriegsbeginn 1939 von Stuttgart nach Auschwitz deportiert und dort vergast worden, ist in dieser Pauschalität wohl nicht haltbar13.
' Philipp, K. Lachoudisch. Geheimsprache Schopflochs. Dinkelsbühl 1969, S. 7 f. Fränkische Landeszeitung vom 28. August 1969. " Lachoudisch für »gutes Geschäft«. 12 Ophir, a.a.O., S. 226 f. 15 Philipp, Geschichte Schopfloch, a.a.O., S. 140. 10
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Als Folge des langen gemeinsamen Zusammenlebens konnte in Schopfloch der von den Nationalsozialisten propagierte aggressive Antisemitismus niemals Fuß fassen und auch die in der Reichskristallnacht veranlaßte Brandstiftung in der 1872 erbauten Synagoge fand nicht die Billigung der Schopflocher - die Feuerwehr löschte das Feuer. 1939 mußte das Gebäude in der Bahnhofstraße, der früheren Judengasse, wegen Baufälligkeit und Einsturzgefahr - so die Auskunft der Einheimischen - abgebrochen werden. Vom Feuer zerstört wurde dagegen die Leichenhalle des jüdischen Friedhofs, auf dem viele Juden auch aus dem weiteren Umkreis ihre Toten beerdigt hatten. Als Schopfloch noch eine Dorfgemeinschaft bildete, in der jeder sechste Bürger dem jüdischen Glauben anhing, war die soziale und mentale »Verortung« sogar hörbar, viele Schopflocher sprachen »Lachoudisch«, ein Gemisch aus Hebräisch, zigeunerischem Rotwelsch und ureigensten Sprachschöpfungen 14 in diesem Ort hart an der fränkisch-schwäbischen Sprachgrenze. Diese »Geheimsprache« betonte noch die durch Sozial- und Religionsstruktur ohnehin schon vorgegebene Andersartigkeit Schopflochs im Vergleich zu den Nachbargemeinden. In der Sicht gediegener umliegender fränkischer Bauerndörfer war Schopfloch ein »verkommener« Ort. Und es entstand die üble Nachrede: »Durch Schopfloch jagten selbst die Zigeuner im Trab, aus Angst, es könne ihnen etwas vom Wagen gestohlen werden.« Die Quelle des »Lachoudischen« war die Handelsschaft der Juden und die Wanderschaft der Maurer. Sowohl beim Abschluß eines Kaufs als auch bei Absprachen innerhalb einer »Partie« erwies sich ein für Außenstehende unverständlicher Dialekt oft von großem Nutzen. Die Zweitsprache schärfte auch den Mutterwitz, eine Überlebenshilfe für eine Bevölkerung, deren Erwerbstätige sich zu 3/4 des Jahres auf Wanderschaft befanden. Sie ermöglichte auch die Erfindung zahlreicher Spitznamen, was bei der engen Versippung - 76 Familien trugen den Namen Grimm, 33 Hähnlein, 26 Fleischmann, 19 Wüstner - die Orientierung erleichterte. Wie sagt doch die lachoudische Redewendung: »Di ganz Maschbuecke ist verschiddicht«15. Das durch geschichtliche Herkunft, soziale und kulturelle Besonderheit erwachsene, fast familiäre Zusammengehörigkeitsgefühl der Schopflocher und ihre starke Angewiesenheit auf Gegenseitigkeitshilfe und -Vermittlung bei der Suche nach Arbeit in der Fremde und der Bewältigung der Not zuhause hatte unter den Arbeitern des Dorfes seit langem kollektive, solidarische Lebensgewohnheiten entwickelt. So half man sich z. B. auch gegenseitig beim Bau der kleinen grauen Häuser, die sich eng aneinanderschmiegten und für das Dorfbild charakteristisch blieben. Diese Tradition, ebenso wie die durch berufsbedingtes Herumwandern entstandene Hellhörigkeit für das, was sich Neues in der Welt tat, prädestinierte die Schopflocher im 19. Jahrhundert schon frühzeitig für die Aufnahme demokratischer und gewerkschaftlich-sozialdemokratischer Ideen. Die rebellische, »linke« Einstellung Schopflochs zeigte sich bereits in den Märztagen des Jahres 1848, als ein Schneidergeselle einen Demonstrationszug anführte, zum Sturm auf Feuchtwangen aufrief und die herbeigeeilte Polizeiwache durch eine gemeinsame Aktion der Bürgerschaft vertrieben wurde 16 . Im Jahr 1897 kam es zur 14 15 14
Philipp, Lachoudisch, a.a.O., S. 5. Lachoudisch für: Die ganze Gesellschaft ist miteinander verwandt. Fränkische Landeszeitung som 29. August 1980.
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Gründung des sozialdemokratischen Ortsvereins Schopfloch 17 , der, zum Unterbezirk Weißenburg gehörig, im Jahr 1904 schon 73 Mitglieder zählte und im Januar 1932 nicht weniger als 234 Männer und 20 Frauen als Mitglieder registrieren konnte. Fast alle Maurer gehörten der sozialdemokratischen Partei an, und bereits seit 1875 amtierte einer aus ihrem Stand (Michael Hähnlein) als Bürgermeister von Schopfloch. Und am 5. Dezember 1905 wurde in Schopfloch der Steinhauer Heinrich Grimm zum ersten sozialdemokratischen Bürgermeister Bayerns gewählt. Während der Weimarer Republik war die SPD als einzige politische Partei in Schopfloch organisiert und hatte mit Arbeiterschachclub, -turnverein (gegründet 1906), -gesangverein, -schützenverein (gegründet 1918) und -radfahrverein auch ein beachtliches Vereinsleben entwickelt. Die Veranstaltungen der Vereine konzentrierten sich zwangsläufig auf den Winter bzw. den Samstag abend, wenn die Wochenpendler eingetroffen waren. Besonderen Stolz empfanden die alten Sozialdemokraten über die ausschließlich durch Eigenleistung errichtete Turnhalle des Arbeiter Turn- und Sportvereins von 1906. Daneben gab es aber eine nicht geringe Zahl von »Bürgerlichen« (Vollbauern, Geschäftsleute, einige Handwerker), die sich auch vereinsmäßig im Deutschen Turnverein (gegründet 1904) oder im Männergesangsverein (gegründet 1883) von der Arbeitermehrheit abgrenzten. Überliefert sind diese Reibereien mit den »Bürgerlichen« durch den Familiennamen »Schwarzer«, ursprünglich der Spitzname für einen Schopflocher Bürgerlichen. Im putschträchtigen Jahr 1923 umstellte Reichswehr das als »links« verschrieene Dorf mit Maschinengewehren; es kam zu Verhaftungen und Hausdurchsuchungen und antisozialistische völkische oder nationalsozialistische Tendenzen begannen in einem Teil der bürgerlichen Minderheit Fuß zu fassen. In den Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs am Ende der Weimarer Republik war das gemeindliche Leben Schopflochs von bitterer Armut geprägt. Die älteren Schopflocher erinnern sich dieser noch wohl, da sehr viele arbeitslos waren und oft sogar Hunger litten. Herr Haag erzählt, daß er sechs Wochen nach seiner Hochzeit im Jahr 1929 seinen Arbeitsplatz verlor und mindestens 3/4 Jahre arbeitslos war; Herr Frank erinnert sich an mindestens 1/4 Jahre Arbeitslosigkeit und auch Herr Krebs war öfters auf längere Zeit ohne Beschäftigung. Im »grimmigen« Dorf, die Doppeldeutigkeit 18 des Spitznamens war typisch für den Schopflocher Galgenhumor, versuchten die Sozialdemokraten unter Führung von August Breitinger ihr Los gemeinsam erträglicher zu gestalten und - so erzählt Herr Frank - traten sich gegenseitig die wenige Arbeit an der örtlichen Leichenhalle oder an dem um 1930 errichteten Gemeindehaus ab, damit alle »Kameraden« den Anspruch auf die Arbeitslosenunterstützung wahren und später wieder »stempeln« gehen konnten. Dennoch blieb vielen Schopflochern kein anderer Ausweg, als betteln zu gehen. Die Wälder waren leergefegt, Holzdiebstähle in Staats- und Bauernwald gang und gäbe, sogar die Brennesseln und Disteln waren kilometerweit gepflückt, um die Gänse zu ernähren. Keiner der Befragten leugnete, daß Schopfloch ohne die Holz- und Kartoffeldiebstähle die Notzeiten nicht hätte überstehen können.
" Die Informationen über die Geschichte des SPD-Ortsvereins Schopfloch stammen zum größten Teil aus Archivmaterial, das Frau Emma Kuch gesammelt und dankenswerterweise dem Verfasser zur Verfügung gestellt hat. " Einerseits 76 Familien Grimm, andererseits die Armut.
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Aber sie wurden in dieser Zeit auch zu Unrecht mancher Vergehen beschuldigt, die in der Umgebung vorkamen. Bei dem ohnehin schlechten Ruf Schopflochs »sei es ja nicht mehr drauf angekommen«. Die Notzeit trieb auch aus den Reihen der Schopflocher Arbeiter einige zu den Nationalsozialisten, andere - meist nur vorübergehend zu den Kommunisten. Im März 1933 besetzte SA das Schopflocher Rathaus und der zuständige SA-Kommissar erklärte im April den sozialdemokratischen Bürgermeister, den Schlosser Wilhelm Grimm, Sohn des früheren Bürgermeisters Heinrich Grimm, ebenso wie dessen Stellvertreter und SPD-Schriftführer, den Gastwirt Heinrich Wüstner, für abgesetzt. Die sechs SPD-Gemeinderäte (Maurer Wilhelm Haag, Konsumkassier Heinrich Grimm, Pinselmacher Ernst Hilpert, Schuhhändler August Endlein, Stoffhändler Max Herz, August Breitinger) mußten abtreten. Die Gemeindeverwaltung übernahm der Nationalsozialist Sigmund Hähnlein als Bürgermeister19, unterstützt von dem - von den meisten Sozialdemokraten als dümmlich angesehenen - NSDAP-Ortsgruppenleiter Karl Burkhardt mit dem Spitznamen »Seifen-Karl«. Obwohl der zuständige Kreisleiter Ittameier nach Auskunft des evangelischen Pfarrers von Lehengütingen (Post Schopfloch) in dem Gebiet ein »despotisches Regiment« führte 20 , kam es in Schopfloch in der ersten Phase der nationalsozialistischen Machtübernahme zu keinerlei Gewalttätigkeiten oder Exzessen. Am unangenehmsten hätten sich die kommunistischen und sozialdemokratischen Renegaten gebärdet - so die übereinstimmende Ansicht der sozialdemokratischen Gesprächsrunde, die dennoch beschloß, keinerlei Namen zu nennen. Schon die engen verwandtschaftlichen Beziehungen boten den meisten Sozialdemokraten einen gesellschaftlichen Schutz, und von den jüdischen Parteifreunden um den Gemeinderat Max Herz rückte man allmählich ab. Man kannte sich untereinander so gut, daß jeder wußte, was er dem anderen erzählen durfte und was nicht. Die Bildung informeller Zirkel wäre eine überflüssige Organisationsstruktur und eine zusätzliche Quelle der Gefährdung gewesen, jeder kannte »Sozis« und »Nazis« persönlich beim Namen und wußte die Adresse. Der SPD-Ortsverein löste sich »freiwillig« auf, um - wie die nachträgliche Version lautet - August Breitinger, auf dessen Schicksal noch gesondert einzugehen ist, aus dem Konzentrationslager »freizukaufen«. Die zwei Sportvereine, der bürgerliche und der sozialistische, mußten ebenso fusionieren wie 1937 die beiden Schützenvereine. Das Barvermögen des Arbeiterradfahrervereins »Solidarität« wurde gleichmäßig an alle Mitglieder verteilt und das Klavier des Arbeitergesangsvereins, das unter großen Mühen für 1700 Reichsmark erworben worden war, vom Männergesangsverein übernommen. Ein Vorgang, der Frau Emma Kuch noch heute erbittert. Die meisten ehemaligen Sozialdemokraten igelten sich ein bzw. »duckten« sich und blieben in der NS-Zeit meist ungeschoren, wenn es auch vorkam, daß der eine oder andere aus politischen Gründen mit Nachteilen (Verlust des Arbeitsplatzes) zu rechnen hatte. Es galt immerhin, auf der Hut zu sein. Um eine Selbstgefährdung durch lockere Reden im alkoholisierten Zustand zu vermeiden, gab August Breitinger, der Nestor der Schopflocher Sozialdemokratie, die Parole aus: »Meidet die Wirtshäuser«. " Von 1943 bis 1945 amtierte Heinrich Höck als Bürgermeister. Schreiben des Pfarrers Hopfengärtner an das ev.-luth. Dekanat in Dinkelsbühl vom 20. April 1945 (Landeskirchliches Archiv Nürnberg, Bay. Dekanat Dinkelsbühl, Nr. 512).
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Die weiterhin herrschende Not erleichterte die Befolgung dieses Ratschlags und selten war in Zukunft die Einladung zu hören : »Schaff mer ins Juschbess und schassgere en soreff«21. Die Verlagerung des Meinungsaustausches von der Gaststube in Privaträume oder unter freiem Himmel hatte in Schopfloch schon Tradition. Auch in der Notzeit des Jahres 1848 hatten sich die Einwohner bei schönem Wetter auf dem Lagerplatz bzw. der Weide des Ortes getroffen und sich bis spät in die Nacht unterhalten, wobei sie allenfalls dem Genuß einer Pfeife frönten 22 . Unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern, im März 1933, wurde nur ein einziger Schopflocher Sozialdemokrat für sieben Wochen verhaftet: der 51jährige Steinmetz Eduard Hilpert wegen seiner Aktivitäten für das Reichsbanner. Hilpert, der von 1930 bis 1932 als Vorarbeiter bei Notstandsarbeiten im Straßenbau beschäftigt war, mußte bis zum 1. Mai 1933 im Gerichtsgefängnis Feuchtwangen einsitzen. Bei der ansonsten relativ glimpflichen Behandlung der damaligen Sozialdemokraten gab es eine Ausnahme: die Familie Breitinger. Für die familiäre Sozialstruktur des Ortes ist es bezeichnend, daß sich auch die Verfolgung und Diskriminierung in diesem Fall gegen die ganze Familie richtete. Vor allem der NSDAP-Ortsgruppenführer Burkhardt hatte es auf den gelernten Maurer August Breitinger und dessen Familie abgesehen, wobei außer der politischen Gegnerschaft auch persönliche Reibereien und alte Zwiste mitspielten. 1874 in Schopfloch geboren, war August Breitinger als 24jähriger einer der ersten sozialdemokratischen Gemeinderäte Bayerns geworden und hatte der Schopflocher SPD 29 Jahre lang (1904 bis Ende 1932) vorgestanden. Auch nachdem er dann sein Amt an einen Jüngeren abgegeben hatte, gehörte er als Kassier weiterhin dem SPDVorstand und bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme auch dem Gemeinderat an. Auch die Breitingers waren im scharfzüngigen Schopfloch nicht einem Spitznamen entgangen: Da der Urgroßvater August Breitingers, der Maurergeselle Matthias Breitinger, lange Zeit das Amt des Gemeindedieners wahrgenommen hatte, hießen alle Breitingers seitdem »Gmabull«. August Breitinger war den Nationalsozialisten hauptsächlich wegen seines Engagements für die von ihm mitbegründeten Genossenschaftseinrichtungen, die »rote« Molkerei (1907) und den Konsumverein (1910), ein Dorn im Auge. Er hatte schließlich auch eine eigene Konsumvereinsbäckerei ins Leben gerufen, weil sich die ortsansässigen Bäcker geweigert hatten, die von den Einwohnern üblicherweise samstags auf Blechen gebrachten Kuchen und Brote zu backen, wenn deren Zutaten im Konsumverein gekauft waren. Von Anfang an hatten die Geschäftsleute Schopflochs - sogar mit Flugblättern gegen den Konsumverein gehetzt. Der materielle Interessengegensatz zwischen »bürgerlichen« Geschäftsleuten und Arbeiter-Konsumenten war der eigentliche Hintergrund der politischen Auseinandersetzungen. Nach der NS-Machtübernahme beschwerten sich Schopflocher Geschäftsleute über den Konsumverein bei verschiedenen NSDAP-Dienststellen. Die Interventionen zeitigten schließlich Erfolg: Am 8. April 1933 wurde der inzwischen als Lagerverwalter des Konsumvereins tätige August :i
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Lachoudisch für: Gehen wir ins Wirthaus und trinken wir einen Schnaps. Fränkische Landeszeitung vom 29. August 1980.
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Breitinger in Schutzhaft genommen und die Gründe hierfür kamen in dem Wortlaut des Schutzhaftbefehls, für jeden, der lesen konnte, mit seltener Deutlichkeit zum Vorschein: »Auf Antrag des Beauftragten der obersten SA-Führung wird der ehemalige Führer der SPD August Breitinger von Schopfloch in Schutzhaft genommen. In Schopfloch werden zur Zeit die Geschäfte, deren Inhaber Anhänger der nationalen Regierung sind, von den Anhängern des Marxismus boykottiert. Die national gesinnte Bevölkerung, die die Urheberschaft an diesem Vorgehen dem August Breitinger und dem ehemaligen Reichsbannerführer Friedrich Wittmann zuschreibt, ist darüber so erregt, daß Tätlichkeiten gegen Breitinger zu befürchten sind. Breitinger hat auch durch Äußerungen, die er am 2 3 . 3 . 1 9 3 3 in einer öffentlichen Wirtschaft machte, große Erregung unter der national gesinnten Bevölkerung von Schopfloch hervorgerufen. Im Interesse der Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung und um Breitinger vor Tätlichkeiten zu bewahren, war daher die Anordnung der Schutzhaft erforderlich. Dinkelsbühl, den 8. April 1933 Bezirksamt«
Da mit solcher Begründung eine längere Haftzeit kaum zu rechtfertigen war, kam August Breitinger am 6. Juni 1933 zum Entsetzen des Schopflocher NS-Ortsgruppenführers wieder frei. Dieser setzte unverzüglich alle Hebel in Bewegung, um den unter den ehemaligen Sozialdemokraten des Ortes hochangesehenen Mann abermals loszuwerden. Mit der Begründung, daß sich »unter der marxistischen Bevölkerung Schopflochs wieder eine stärkere Bewegung bemerkbar macht«, wurde der 59jährige August Breitinger erneut festgenommen, diesmal aber in das Konzentrationslager Dachau gebracht, wo man ihn bis zum 21. Februar 1934 festhielt. Inzwischen hatte sich NSOrtsgruppenleiter Burkhardt selbst zum »Ortsbeauftragten für den Konsumverein Schopfloch« gemacht, und in dieser Eigenschaft kündigte er August Breitinger dreieinhalb Wochen nach dessen Verschickung nach Dachau. Das Kündigungsschreiben vom 26. Juli 1933 lautet: »Aufgrund einer Verordnung des Führers der deutschen Arbeitsfront Pg. Dr. Ley ist der Lagerhalter August Breitinger beschäftigt im Konsumverein Schopfloch mit dem 1. Juli 1933 bezüglich seiner politischen Einstellung ohne jede Kündigungsfrist entlassen worden.«
Das gleiche Los ereilte August Breitingers Tochter Emma Breitinger, später verheiratete Kuch, die als Verkäuferin im Konsumverein arbeitete. Die Verfolgung der führenden sozialdemokratischen Familie richtete sich schließlich auch gegen August Breitingers Sohn Friedrich, eines von acht überlebenden Kindern. Dieser hatte sich 1933 mit mehreren Petitionen an die Bayerische Politische Polizei gewandt und unter Hinweis auf den schlechten Gesundheitszustand seiner Mutter und unter Berufung auf zahlreiche Honoratioren, die als Leumund für seinen Vater bürgten, um dessen Entlassung aus dem Konzentrationslager ersucht. In einem Gespräch mit dem Verfasser deutete er an, welche seelischen Qualen sein Vater während der Haft erlitten habe, insbesondere auch infolge der Enttäuschung darüber, daß von allen Schopflochern nur eine alte Frau und ein früherer Genösse, der zur SA gewechselt war, den Mut gefunden hatten, ihm nach Dachau zu schreiben. Am 27. Oktober 1933 wandte sich Friedrich Breitinger direkt an den bayerischen Innenminister Adolf Wagner und stellte dabei den Lebensweg seines Vaters dar: »Mein Vater war über 30 Jahre Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands des Ortsvereins Schopfloch, einem großen Arbeiterdorf. 34 Jahre hat er der Gemeinde Schöpf-
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loch als ehrenamtlicher Gemeinderat gedient und hat sein ganzes Können während dieser langen Zeit in den Dienst der Allgemeinheit gestellt. Als Arbeitervertreter war er jahrzehntelang im Bezirkausschuß und Bezirkstag Dinkelsbühl-Wassertrüdingen tätig. Daneben wurde er als Auswahlschöffe an das Amtsgericht Dinkelsbühl und in den Vorstand der Allgemeinen Ortskrankenkasse Dinkelsbühl-Land berufen. In all diesen Körperschaften hat sich mein Vater das Vertrauen aller Beteiligten erworben und wurde auch von seinen früheren Gegnern wegen seines lauteren Charakters geehrt und geachtet. Außerdem hat mein Vater sein Wissen jedem Mitbürger, ohne Ausnahme der Partei zur Verfügung gestellt und jedermann mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Ferner möchte ich noch bemerken, daß mein Vater weder vorbestraft noch sonst ehrenrührige Handlungen begangen hat. Im Jahre 1923 war er unschuldig in einen Landfriedensbruch verwickelt, wurde aber auf Staatskosten freigesprochen. Gendarmeriewachtmeister Herold sagte damals unter Eid aus, daß Breitinger die beste Stütze des Staates sei.«
Alle Eingaben des Sohnes wurden gleichwohl mit dürren Worten abgewiesen (»Nach Mitteilung der Bayerischen Politischen Polizei kommt eine Entlassung Ihres Vaters nicht in Frage«), Statt dessen wurde Friedrich Breitinger, der selbst noch als Bäcker beim Konsumverein angestellt war, zum 30. September 1933 fristlos gekündigt. Als er sich schriftlich nach den Gründen der Entlassung erkundigte, teilte ihm der Beauftragte für die deutschen Verbrauchergenossenschaften mit brutaler Offenheit mit, •daß der Konsumverein für Schopfloch mir erklärt, er wäre mit Ihrer Arbeitskraft vollkommen zufrieden gewesen und hätte in dieser Richtung hin nichts auszusetzen gehabt. Ihre Entlassung erfolgte lediglich wegen Ihrer früheren Tätigkeit für die SPD. Es ist mir nicht möglich, hier einzugreifen, weil Personalfragen eine Angelegenheit der Verwaltung der einzelnen Vereine sind. Im übrigen ist Ihre Behauptung, daß ein Großbauernsohn an Ihre Stelle treten soll, nicht richtig, weil ein junger SA-Mann von Schopfloch engagiert wird. Man kann es verstehen, daß ein erwerbsloser SA-Mann einem früheren Funktionär der SPD von der örtlichen Verwaltung vorgezogen wird. Ihre Entlassung ist also begründet in Ihrer früheren politischen Betätigung, die Sie ja selbst verschuldet haben. Sie waren Berichterstatter für die Fränkische Tagespost in Nürnberg«.
Friedrich Breitinger eröffnete daraufhin 1934 in Schopfloch eine eigene Bäckerei, die er bis weit in die sechziger Jahre betrieb. Anläßlich einer Freisprechungsfeier für 400 SA-Männer fiel er den NS-Organen nochmals unangenehm auf, da er es unterließ, den rechten Arm zum »Hitler-Gruß« zu heben, kam aber mit einer Verwarnung davon. Ähnlich glimpflich verlief die Weigerung des Sozialdemokraten Frank, Beiträge für die DAF zu kassieren und den Stürmer auszutragen. Frank wurde von diesen Ämtern »beurlaubt«. Außer der Diskrimierung der Familie Breitinger und den schon genannten Fällen kam es in dem ehemals mehrheitlich sozialdemokratischen Dorf nur zu wenigen Verfolgungen. Und diese waren sämtlich nicht in irgendwelchen nennenswerten Widerstandsaktivitäten begründet, vielmehr im gelegentlichen Aufflammen der - normalerweise vorsichtig verborgenen - oppositionellen Haltung ehemaliger Sozialdemokraten. Zur Veranschaulichung erzählen wir die wenigen bekanntgewordenen Fälle: Bei dem von den Nationalsozialisten zum neuen Feiertag erklärten Tag der nationalen Arbeit« am 1. Mai 1933 nahmen auch die gewerkschaftlich organisierten Schopflocher an der befohlenen Feierlichkeit teil. Einige von ihnen suchten die NS-Feier umzufunktionieren mit Rufen wie Der erste Mai hoch -für die Völkerversöhnung und Proletarier, hoch der erste Mai. Als Rädelsführer identifizierten die Nationalsozialisten die Maurer Karl Grimm (Nachfolger im SPD-Vorsitz von August Breitinger) und Wil-
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helm Breitinger sowie den Schlosser August Hilpert, drei gebürtige Schopflocher, und sperrten sie am 15. Mai 1933 für 23 Tage in das Gefängnis von Feuchtwangen. Schlimmer erging es dem 21jährigen Maurer August Krebs, der am 18. Dezember 1933 in das Feuchtwanger Gefängnis eingeliefert, von dort am 7. Januar 1934 in das Konzentrationslager Dachau »überstellt« und erst am 18. März 1934 entlassen wurde. August Krebs erzählte dem Verfasser die Gründe der Verfolgung: Er hatte sich geweigert, in die Landhilfe zu gehen und auf Arbeit in seinem erlernten Beruf bestanden. Seine freche Rede: »Tut's mich halt in a Kiste und schickt's mich zum Bananenpflükken nach Afrika«, legte ihm Burkhardt als Arbeitsverweigerung aus und veranlaßte seine Festnahme. Auch in diesem Fall scheint der Ortsgruppenleiter, wie Herr Krebs andeutete, seine Machtbefugnis dazu benutzt zu haben, um eine alte persönliche Rechnung zu begleichen. Auf wenig qualifizierte Anzeigen aus den Reihen der Schopflocher NSDAP ging es offenbar auch zurück, daß im Jahre 1935 der frühere Bürgermeister Heinrich Grimm und der Maurer Karl Ackermann vom Oberlandesgericht München wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« angeklagt wurden; das Verfahren mußte mangels ausreichender Beweise eingestellt werden. Ähnlich folgenlos verlief zu Anfang des Krieges ein beim Sondergericht Nürnberg anhängig gemachtes Verfahren gegen den Zimmermann Heinrich Hutmann, ehemals SPD- und Reichsbannennitglied, wegen dessen Äußerung: »SA und Hitler hätten den Krieg gewollt und jetzt sollten sie auch vorn hingehen«. An Heinrich Hutmann erinnerten sich die interviewten Sozialdemokraten mit besonderer Freude: er sei irgendwie in die Vorgänge des Jahres 1923 verwickelt gewesen, habe dann in eine sozialdemokratische Familie eingeheiratet und: »Er blieb fest«. Um so schikanöser blieben die Nationalsozialisten Schopflochs, wenn es um Mitglieder der sozialdemokratischen Familie Breitinger ging, von denen man nach wie vor fürchtete, sie könnten Kristallisationspunkte sozialdemokratischer Einstellung in Schopfloch sein. Als Emma Kuch, geb. Breitinger, nach dem Verlust ihrer Stelle im Konsumverein, wie zuvor ihr Bruder, ein eigenes Geschäft aufbauen wollte, verweigerte das Bezirksamt unter Berufung auf das Gesetz zum Schutz des Einzelhandels der Eröffnung einer Verkaufsstelle für Kolonialwaren und Haushaltsgegenstände die Genehmigung. Am 17. April 1935 erteilte das Bezirksamt den Beschluß: »Nach § 4 des Gesetzes zum Schutz des Einzelhandels mit Ziff. I DVO sollen von dem nach § 2 des Gesetzes bestehenden Verbot der Errichtung neuer Verkaufsstellen Ausnahmen nur gewährt werden, wenn der Unternehmer oder die für die Leitung des Unternehmens in Aussicht genommene Person die für den Betrieb der Verkaufsstelle erforderliche Sachkunde nachgewiesen hat und keine Tatsachen vorliegen, aus denen sich der Mangel der erforderlichen persönlichen Zuverlässigkeit ergibt. Die im Verfahren gehörte Industrie- und Handelskammer Nürnberg hat bei der Breitinger die für den Betrieb der Verkaufsstelle erforderliche Sachkunde für gegeben erachtet. Dagegen kann nicht angenommen werden, daß die Gesuchstellerin über die erforderliche persönliche Zuverlässigkeit verfügt. Nach den vom Bezirksamt in dieser Sache gepflogenen Erhebungen muß damit gerechnet werden, daß der Betrieb des geplanten Ladengeschäfts von der Gesuchstellerin und deren Angehörigen, die sich bis heute noch offen von allem fernhalten, was die nationalsozialistische Volksgemeinschaft begründet, zum Sammelpunkt ehemaliger marxistischer Kreise werden und damit mittelbar und unmittelbar der Förderung marxistischer Bestrebungen dienen wird.«
Die Sippen-Diskriminierung bezog sich auch auf den Schreiner Friedrich Kuch, den Ehemann der Tochter Breitingers. Ihm sollte auf besonders abgefeimte Art und
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Weise die Existenzgrundlage entzogen werden. Zwei Tage vor seiner Meisterprüfung, am 24. Juni 1939, teilte ihm die Handwerkskammer für Mittelfranken in der Stadt der Reichsparteitage Nürnberg mit, daß sein Name aus der Handwerkerrolle gelöscht werde, weil er seinen »finanziellen und sonstigen Verpflichtungen« gegenüber der »zuständigen Fachorganisation« nicht nachgekommen sei. Weiter heißt es in dem vom Präsidenten der Handwerkskammer unterzeichneten Schreiben: »... in fachlicher Hinsicht mußten wir feststellen, daß Sie die Meisterprüfung nicht abgelegt haben und aller Voraussicht nach bei dem Stand Ihrer Kenntnisse auch nicht bestehen werden. Aus diesem Grunde muß Ihrem Betriebe auch die dauernde Lebensfähigkeit abgesprochen werden. Die Voraussetzungen für die Löschung aus der Handwerksrolle sind daher gegeben, zumal auch ein volkswirtschaftlich gerechtfertigtes Bedürfnis für die Aufrechterhaltung Ihres Betriebes nicht anerkannt werden kann.«
Das Vorgehen der Handwerkskammer entsprach den Richtlinien, denn seit der Einführung des Großen Befähigungsnachweises durch das Reichswirtschaftsministerium am 18. Januar 1935 war die Führung eines Handwerksbetriebes an die bestandene Meisterprüfung geknüpft. Es ist aber offensichtlich, daß hier ein Berufsverbot aus politischen Gründen angestrebt wurde, weil Friedrich Kuch die NS-Sammlungen boykottierte und antinationalsozialistisch eingestellt blieb. Am 29. September 1939 bestand er übrigens die Meisterprüfung mit Erfolg. Nach 1945 - der Einmarsch der Amerikaner in Schopfloch war ohne Kampfhandlungen erfolgt - stellten sich dort die politischen Verhältnisse aus der Zeit vor 1933 schnell wieder ein. Die - von Ortsgruppenleiter Burkhardt und einigen wenigen anderen Nazis abgesehen - insgesamt relativ gemäßigte Zwischenphase »bürgerlich-nationalsozialistischer« Ortsverwaltung wurde wiederum ohne große Racheaktionen abgeschüttelt (der evangelische Pfarrer bescheinigte dem bisherigen Bürgermeister, daß er sein Amt in der NS-Zeit »anerkanntermaßen sehr objektiv verwaltete«23). Am 16. Dezember 1945 konstituierte sich auf Initiative August Breitingers der sozialdemokratische Ortsverein aufs Neue, 131 Mitglieder traten sofort bei. 1. Vorstand wurde der Maurer Karl Grimm, 2. Vorsitzender Eduard Hilpert (ab 8.2.1948 der Maurer Heinrich Haag), Kassier Maurer Adolf Schaffer (ab 8.2.1948 Wilhelm Breitinger), Schriftführer der Schlosser Heinrich Birmann. Die Veranstaltungen der SPD fanden in den ersten Jahren nach der Neugründung im Gasthaus Frank statt, zu denen sich nach sorgfältiger Zählung der amerikanischen Behörden bis zu 100 Personen einfanden. Bei der Gemeindewahl am 27. Januar 1946 erhielt der SPD-Ortsvorsitzende Karl Grimm als Kandidat für das Bürgermeisteramt 845 der 978 abgegebenen Stimmen, die Sozialdemokraten gewannen neun der zehn Gemeinderatsmandate: Karl Grimm, Heinrich Hähnlein (Maurer), Heinrich Birmann (Maurer), August Breitinger, Friedrich Hähnlein (Hafner), Friedrich Buckel (Maurer), Ernst Hilpert (Pinselmacher), Willi Haag (Hafner), Karl Hillemeyer (Maurer). Auch bei den folgenden Wahlen des Jahres 1946 behauptete sich die SPD mit großem Vorsprung. Die alte Stellung Schopflochs als sozialdemokratische Hochburg des Landkreises war wiederhergestellt.
" Landeskirchliches Archiv, Nürnberg, Bay. Dekanat Dinkelsbühl Nr. 512.
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Schon im Sommer 1946 stellte die Landpolizeistation fest: Die bäuerlichen Landgemeinden stehen der CSU nahe, Schopfloch der SPD. Auch die soziale Zusammensetzung des Ortes hatte sich nicht wesentlich geändert. Noch im Jahr 1953 ernährten sich über 200 Familien vom Maurer- und Steinhauerhandwerk; ihnen standen nur 35 selbständige Meister und 62 Händler oder Geschäftsleute gegenüber. Zugenommen hatte die Zahl der landwirtschafdichen Betriebe (93), doch mehrheitlich (72) übten die Landwirte noch einen zusätzlichen Beruf aus. Schopfloch war das sozialdemokratische Arbeiterdorf der Maurer geblieben.
V . WEIDEN
Der Vorbote der Industrialisierung erreichte den agrarischen Norden der Oberpfalz 1863 mit der Eröffnung der Eisenbahnlinie Schwandorf-Weiden. Fünfundzwanzig Jahre später siedelten sich vor den Toren der Stadt die ersten Glas- und Porzellanfabriken, Reichsbahn und Reichspost an. Bis dahin war Weiden mit etwa 3000 Einwohnern ein beschauliches Handelszentrum, geprägt von schmalen Giebelhäusern, stillen Winkeln und Gäßchen. Mit Fabriken und Werkstätten kamen nun in großer Zahl Dorfhandwerker und Heimarbeiter, Gütler, Tagelöhner und Dienstboten aus der engeren oberpfälzischen Region als Anlern- und Hilfskräfte in die Stadt; in der Nachbarschaft der neuen Industriebauten entstanden Armutsviertel. Ausschlaggebend für den Wandel Weidens zur Industriestadt zeichnete nicht allein seine Funktion als Bahnknotenpunkt: die Vorkommen an langflammiger Braunkohle in den Sudeten sowie keramischer Rohstoffe (Feldspat, Pegmatit) in der näheren Umgebung verhießen der aufkommenden Glas- und Porzellanindustrie günstige Standortbedingungen. 1881 gründeten die Gebrüder August und Conrad Bauscher aus Selb im Weidener Vorort Moosbürg eine Porzellanfabrik. Bereits 1914 erwies sich das Unternehmen, mit über 1000 Mitarbeitern, in Hotelporzellan weltweit führend 1 ; 1925 hatte Bauscher sogar 1400 Beschäftigte. Die 1889 gegründete Neue Glashütte E. Kupfer stellte als einzige in Süddeutschland zugleich Fenster- und Tafelglas her und wurde Ausgangspunkt der Weidener Glasindustrie; bis zu 400 Beschäftigte (1938) arbeiteten dort im Vierschichtensystem. Im Westen Weidens gründete Christian Seitmann 1910 eine zweite Porzellanfabrik mit 500-800 Arbeitern. Neben diesen Großbetrieben entstanden in der ersten Industrialisierungsphase eine Handvoll mittlerer Unternehmen 2 . Ein wichtiger Arbeitgeber war seit 1896 die 4. Zentralwerkstätte der bayerischen Staatsbahn. Auf der »Scheibe«, einem Gelände an der nordwestlichen Flurgrenze Weidens, entlang der Bahnlinie nach Hof, entstanden nicht nur Werkshallen, sondern auch eine Backsteinhäuser-Siedlung für die ursprünglich 104 Arbeiter. Das Großver' 75 Jahre Bauscher. Mainz 1956. Zur Wirtschaftsgeschichte Weidens siehe: Gagel, Ernst: Streifzüge durch Weiden. Unsere Stadt gestern und heute. Weiden 1975; Weiden. Stadt und Landbezirk. Hrsg. vom Stadtrat Weiden. Berlin 1925; Weiden-Oberpfalz. Max Reger-Stadt. Hrsg. von der Stadt Weiden. Bayreuth 1939; Schuster, Adolf: Die moderne Wirtschaft Weidens, in: Weiden in der Oberpfalz. Stadt mit Zukunft. Aßling 1971.
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sandhaus Witt, das in drei Jahrzehnten eine Beschäftigungszahl von immerhin 1400 Arbeitern (1938) erreicht hatte, war eher untypisch. Binnen 30 Jahre hatte sich Weiden von einem agrarischen Handelsumschlagplatz zum Industriezentrum verändert - mit allen Folgeerscheinungen dieses drastischen Strukturwandels. Waren die Arbeiter für den Eisenbahnbau in den 1870er Jahren noch aus der nächsten Umgebung rekrutiert worden, so zogen die Porzellan- und Glas-Facharbeiter aus dem Sudetengebiet und weiter entfernten Regionen zu; die Eisenbahner kamen aus ihren Stammbetrieben in Nürnberg, Regensburg und München, also aus einer bereits industrialisierten Umwelt. Die Bevölkerung wuchs von 7000 Einwohnern 1895 bis 1919 auf das Doppelte an; 1926 waren es 20000 und 1939 28000 Einwohner. Allerdings sind dabei die Eingemeindungen von Moosbürg mit seiner Porzellan- und Glasfabrik (1912), von Ermersricht (1914) und eines Teils von Frauenricht (1928) zu berücksichtigen. Am 1. Januar 1919 wurde Weiden kreisfreie Stadt. Zuzug von »Fremden«, Wohnraumknappheit, Barackensiedlungen am Stadtrand und entlang der Reichsstraße 15, die Konfrontation agrarisch-traditioneller Lebensformen mit teilweise schon politisch emanzipiertem Industriearbeiter-Bewußtsein kennzeichneten diese Umbruchsphase auf dem Weg zur Neuzeit. Am Ende der Weimarer Republik arbeitete die Mehrzahl der (zu 83 Prozent katholischen)3 Bevölkerung Weidens in der Porzellan- und Glasindustrie oder bei der Eisenbahn. Weil 1907 die Verkehrskontrolle II für den bayerischen Eisenbahngüterverkehr nach Weiden verlegt worden war, gab es dort mittlerweile verstärkt auch Ingenieure, Techniker und Beamte. Von 28000 Einwohnern waren 1928 2800 (Bahn-)Beamte. Seit Beginn der Industrialisierung »importierten« Eisenbahnarbeiter aus dem Nürnberger Industriezentrum und thüringische Glas- sowie Porzellanarbeiter auch sozialdemokratisches und gewerkschaftliches Gedankengut nach Weiden 4 . Organisatorisch blieb dies allerdings bis zum Parteitag der Sozialdemokraten 1890 in Halle folgenlos, der dann je einen Agitationsverein für das südliche und nördliche Bayern ins Leben rief. Zuständig für Nordbayern und damit auch Weiden war seitdem der Socialdemokratische Agitationsverein für Franken und die Oberpfalz mit Sitz in Nürnberg. Als zwei »socialdemokratische Sendboten« des Agitationsvereins am 27. Januar 1982 in Weiden Flugblätter verteilten, wurden sie vorübergehend festgenommen. 1893 gründeten Arbeiter der Glashütte Kupfer den Fachverein der Spiegelglasarbeiter innerhalb der Freien Gewerkschaft. Bei der im gleichen Jahr stattfindenden Reichstagswahl erhielt der Sozialdemokrat J. M. Siebenbürger in Weiden ganze 57 Stimmen (7,9 Prozent). Vier Jahre später fand eine im Melde & Ordre-Buch für die Polizeiwache 1897/98 verzeichnete erste »öffentliche socialdemokratische Versammlung« statt, bei der der Reichstagsabgeordnete Grillenberger sprach. »Die Ruhe wurde hierbei nicht derart ge-
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Protestanten 15,8%, Juden 0,8% (Ophir, Baruch Z./Wiesemann, Falk, a.a.O., S. 100). Die Geschichte der sozialdemokratischen Partei Weidens ist vorbildlich beschrieben: Bayer, Karl, Bernhard M. Baron und Josef Mörtl: 80 Jahre Sozialdemokratie in Weiden 1897-1977. Ein Beitrag zur Geschichte der bayerischen Arbeiterbewegung. Weiden 1978. - Die Monographie enthält neben der Parteigeschichte auch Hinweise auf städtegeschichtliche und sozialpolitische Aspekte.
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stört, daß ein polizeil. Einschreiten notwendig wurde.«5 Mündlichen Überlieferungen zufolge6 entstand noch im selben Jahr der Socialdemokratische Wahlverein für den Wahlkreis Weiden-Neustadt an der Waldnaab und getragen von Arbeitern der Zentralwerkstätte ein Athletenclub. Erster Vorsitzender des Wahlvereins war der Glasarbeiter und spätere Spezereienhändler Michael Weiß aus Mantel. Der Wortlaut der Satzung des Wahlvereins vom 25. Mai 1898 ist erhalten, da sie der Bezirksamtmann des kgl. Bezirksamts Neustadt/WN an die kgl. Regierung der Oberpfalz und von Regensburg zur Begutachtung übersandte: »§1 Der Verein hat seinen Sitz in Weiden und hält seine Versammlungen im Gasthause zum Schwane in Weiden. Er stellt sich die Aufgabe, Mitglieder zu gewinnen, die dahin mitwirken, daß die Reichsmänner in die betreffenden gesetzgebenden und Vertretungskörper gewählt werden, welche das socialdemokratische Parteiprogramm anerkennen, Sparsamkeit bei den Haushaltsetats zu erzielen suchen, das Wohl des gesamten Volkes im Auge behalten, namentlich aber dem gedrückten, hilfesuchenden Arbeiter, Handwerker und Bauernstande kräftig zur Seite stehen.«
Diese Statuten blieben aber nur wenige Monate in Kraft, da die politischen Vereine nach der Änderung des Vereinsgesetzes (1898) untereinander in Verbindung treten durften und sich die Sozialdemokratische Partei Bayerns konstituierte. Diese organisatorische Umstrukturierung hatte in Weiden die Umbenennung in Sozialdemokratischer Verein Weiden zur Folge, zum Gauverband Nordbayern gehörig, der alle fränkischen Bezirke einschließlich der Oberpfalz umfaßte und seinen Sitz in Nürnberg hatte. Der gestraffte Paragraph 1 der Statuten erhielt deutlichere Akzente: §1 »Der Verein hat es sich zur Aufgabe gestellt, im Anschluß an die Organisation der sozialdemokratischen Partei Bayerns für die Grundsätze und Bestrebungen der Sozialdemokratie einzutreten, für politische und wirtschaftliche Aufklärung zu wirken und insbesondere auch bei Wahlen die Kandidaturen der sozialdemokratischen Partei zu unterstützen.«
In den folgenden Jahren bis zum Ersten Weltkrieg bildeten sich in Weiden Ortsverbände der Gewerkschaften (Süddeutscher Eisenbahnerverband 1898; Transportarbeiterverband 1907, Fachverein der Spiegelglasarbeiter 1893, Verband der Buchdrucker, Zimmerer und Werkmeister, Verband der Porzellan- und verwandten Arbeiter beiderlei Geschlechts 1892). 1907 schlossen sich die Freien Gewerkschaften zum Gewerkschaftskartell für Weiden und Umgebung zusammen. Das sozialdemokratische Vereinswesen blühte: Der Konsumverein für Weiden und Umgebung (1901), der Arbeiterturnverein »Solidarität« (1903), der Arbeitergesangverein »Lyra« (1904), der Touristenverein »Die Naturfreunde« (1913), der Arbeiterradfahrverein »Solidarität«, ein Arbeiterschachclub, die Arbeiterwohlfahrt und eine Jugendkommission (ab 1910) waren die wichtigsten dieser Nebenorganisationen, deren Mitglieder - wie die der Partei selbst - ausschließlich aus den Großbetrieben kamen.
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Alle nicht ausdrücklich gekennzeichneten Zitate stammen aus Bayer, Karl u. a., 80 Jahre Sozialdemokratie in Weiden, a.a.O. ' Alle schriftlichen Unterlagen sowie die Mitgliederkartei hat Frau Ecker 1933 verbrannt. - Diese Information gab Herr Karl Bayer, der dem Verfasser in uneigennütziger Weise über Jahre gesammeltes Archivmaterial, Zeitungsausschnitte, Interviews etc. zur Verfügung stellte und ohne dessen Hilfe dieser Beitrag nicht hätte entstehen können. Herrn Bayer sei hierfür sehr herzlich gedankt.
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Die feste tägliche Arbeitszeit der zugewanderten Fabrikarbeiter machte erstmals »Freizeitgestaltung« nötig und möglich, denn ein naturnahes bäuerliches Leben war ihnen verwehrt. Trotz unterschiedlicher Herkunft und Dialekte schlossen sich die »Fremden« deshalb schnell zu Interessengruppen sportlicher, politischer, gewerkschaftlicher oder unterhaltender Art zusammen, mit denen die Einheimischen nichts anzufangen wußten. Alltag und Status der Neubürger Weidens wichen stark von dem der Eingesessenen ab: Während die Arbeiter z.B. die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung als Preis für wirtschaftliches Vorwärtskommen veranschlagen mußten, existierte auf dem Bauernhof, in der Handwerks- oder Händlerstube noch die hergebrachte »Einheit« aller Lebensäußerungen, meist verbunden mit kirchenfrommer Religiosität. Bei steigenden Mitgliederzahlen formten sich ab 1904 in mehreren Ortschaften der Oberpfalz eigene sozialdemokratische Sektionen: Neben denen in Weiden und Regensburg bis 1913 in Floß (35 Mitglieder), Mitterteich (95), Tirschenreuth (130), Vohenstrauß (30), Flossenbürg (9), Krummennaab, Friedenfels (32), Großschlattengrün (10) und Waldsassen (69). Weiden blieb in der Oberpfalz auf Dauer die zweitstärkste Sektion hinter Regensburg. 1911 verzeichnete man 80 Mitglieder (davon 27 Frauen), vor Kriegsbeginn 1914 136 Mitglieder (15 Frauen). Als 1914 im Rahmen einer Reorganisation der sozialdemokratischen Partei in Nordbayern Bezirkssekretariate eingerichtet wurden, fiel Weiden zum Sekretariat Bayreuth; die Fränkische Volkstribüne wurde offizielles Parteiblatt. Vom Versammlungslokal, der Restauration zur Sonne, hieß es allgemein, daß dort hauptsächlich »Sozis, Evangelische und Liberale« verkehrten. Pächter dieser Gaststätte war der ehemalige Werkstättenschlosser Hans »Hanni« Bär (1870-1932) aus Feuchtwangen. 1896 war er vom Eisenbahnausbesserungswerk Nürnberg nach Weiden gegangen und dort als Gründungsmitglied und stellvertretender Vorsitzender des Sozialdemokratischen Wahlvereins bekannt geworden. Das Heimat- und damit auch Wahlrecht erhielt Bär in Weiden erst 1909. Angesichts des extrem hohen Anteils an Zugewanderten unter den Sozialdemokraten, die erst nach Erlangung des Heimatrechts wahlberechtigt waren, nimmt es nicht wunder, daß Wahlerfolge sich nicht sofort einstellten. Seit der Jahrhundertwende lag der SPD-Anteil bei Reichstagswahlen zwischen 12 und 16 Prozent 7 . Im Weidener Stadtparlament war die SPD bis zum Ersten Weltkrieg nicht vertreten; überhaupt saßen in der gesamten Oberpfalz nur in Tirschenreuth Sozialdemokraten im Gemeindekollegium. Während der Rätezeit allerdings hielten Sozialdemokraten und Gewerkschafter die Zügel der Stadt fest in den Händen. Im sechsköpfigen Arbeiterrat Weiden, der sich am 10. November 1918 konstituierte, stellte die SPD den Vorsitzenden (Johann Hain) und noch zwei weitere Mitglieder (Johann Bär, Baptist Holz). Die Spaltung der SPD war in Weiden ziemlich exakt nach »Tätigkeitsmerkmalen« verlaufen: Der linken USPD, als Betriebszelle bei Porzellan-Bauscher ins Leben gerufen, schlossen sich die Porzellan- und Glasarbeiter und die Arbeitslosen an. Zu den ' 1890 1,4 Prozent (9 Stimmen); 1893 7,9 Prozent (57 Stimmen); 1897 14,9 Prozent, 1898 6,1 Prozent (123 Stimmen); 1903 16,4 Prozent; 1907 11,8 Prozent (258 Stimmen); 1912 13,2 Prozent (378 Stimmen).
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Wortführern der Linkssozialisten gehörte der Dachdecker Rudolf Michaels, der auch der Erwerbslosenvereinigung für Weiden und Umgebung vorstand. In der Umgebung Weidens, in Windischeschenbach und Floß, fanden sich die stärksten Bastionen der USPD. Bei der MSPD blieben die gemäßigten »Eisenbahner«, die, berufssoziologisch eher den Facharbeitern zuzurechnen, relativ sichere Arbeitsplätze besaßen und teilweise Angestelltenstatus erklommen hatten. Bei der Land- bzw. Reichstagswahl im Januar 1919 stieg die MSPD in Weiden mit mehr als 2700 Stimmen (36,6 Prozent) zur zweiten politischen Kraft hinter der BVP (3300 Stimmen) auf. Die USPD erhielt drei Stimmen, gewann aber bis zur Gemeindewahl im Sommer 1919 erheblich an Boden: Sie errang vier, die MSPD sechs der 30 Stadtratssitze. Erstmals hatte in Bayern das allgemeine Wahlrecht gegolten, und erstmals war nun die Arbeiterschaft im Weidener Rathaus vertreten. Stärkste Fraktion wurde (und blieb bis 1933) allerdings unangefochten die BVP mit 15 Mandaten. Dem sozialdemokratischen Vereinswesen scheint die Spaltung der Arbeiterbewegung - im Juni 1920 hatte der frühere MSPD-Stadtrat Alois Prem in Weiden eine KPD-Gruppe gegründet - nicht geschadet zu haben, im Gegenteil. Nach dem Krieg waren wieder- oder neu entstanden: ADGB, Arbeiterturn- und -Sportverein »Frischauf Weiden«, Gesangverein, Schachclub, Radfahrerbund, Konsumverein und Naturfreunde. Um das Wohnungsproblem zu reduzieren, griffen die Sozialdemokraten zur Selbsthilfe - so auch der Name der Baugenossenschaft, die die »Rote Siedlung« am Hammerweg erstellte. Der Initiator dieser Aktion, der »rote Wirt« Hanni Bär, kann als Beispiel für die personelle Fluktuation zwischen USPD und MSPD gelten; 1919 auf der MSPD-Liste in den Stadtrat gewählt, trat er 1920 bei den Reichstagswahlen für die USPD an, bei den Stadtratswahlen 1924 wieder bei der vereinigten SPD. In Anbetracht der großen Gewinne der USPD bei den Reichs- und Landtagswahlen am 6. Juni 1920 ist zu vermuten, daß eine ganze Reihe prominenter Funktionäre zu ihr übergewechselt waren. Die USPD erreichte jeweils weit über 1100 Stimmen (19 Prozent), die MSPD nur knapp über 600 (9,2 Prozent), die KPD um 360 (5,2 Prozent). Klarer Sieger war die BVP mit annähernd 3000 Stimmen. 1922 kam es zur Wiedervereinigung von USPD und MSPD; der linke Flügel der Unabhängigen hatte sich Ende 1920 mit der KPD vereinigt. Vorsitzender der Vereinigten Sozialdemokraten Weidens wurde Johann Faltenbacher, dessen Leben die örtliche Industrie weitgehend geprägt hatte: Johann Faltenbacher wurde am 27.7.1892 in Schirmitz bei Weiden geboren. Von 1909 bis 1914 arbeitete er bei der Firma Gebr. Bauscher. Von 1914 bis 1918 Kriegsteilnehmer, kam er nach dem Kriege zur Deutschen Reichsbahn ins AW Weiden, war dort Werkhelfer und jahrelang Betriebsrat. Der Gewerkschaftsorganisation gehörte er seit dem Jahr 1910 an. Von 1920 an war er Vorstandsmitglied der Eisenbahner-Gewerkschaft Deutschlands und zugleich 2. Vorsitzender der Baugenossenschaft »Selbsthilfe«. Faltenbacher kam über die USPD, der er 1919 beitrat, zur Vereinigten Sozialdemokratie.
Als im Frühjahr 1923 erstmals ein »Stoßtrupp« der NSDAP durch Weiden zog, stellten sich ihm Sozialdemokraten und Kommunisten entgegen - »mit Musik und unter Vorantragung der Sowjetfahne, die den Nationalsozialisten die Macht des Proletariats vor Augen und sie vor jeder weiteren Versammlung abschrecken sollte«, wie es im Gendarmeriebericht hieß.
M i l i e u b e d i n g u n g e n v o n Verfolgung u n d W i d e r s t a n d
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Friedrich Ecker, führender SPD-Funktionär in der nördlichen Oberpfalz, schrieb über die Aktion vom 25. März einen derben Bericht für die Regensburger Volkswacht8: •Die neue Abortbezeichnung ist nun auch in Weiden fast überall eingeführt. Das Hakenkreuz prangt überall dort, wo es übel duftet. Unlängst fuhr gar ein Wagen mit einem Jauchekübel, geschmückt mit dem Wahrzeichen aller Bettnässer, durch die Straßen der Stadt. Eine Anzahl W e i dener Kasperle trägt hie und da schon im Knopfloch das Spinnradi, das sie anscheinend im Kopfe zuviel hatten, zur Schau. U m sich gegenseitig die Hosen auszuputzen, haben sie auch einen Klub auf Gegenseitigkeit gegründet, den sie >Stoßtrupp< nennen. Die Arbeiterschaft ist auf der Hut. Daß diese Hakenkreuzgesellschaft den stolz klingenden Namen »Arbeiterpartei« führt, ist der größte Hohn, den man der Arbeiterschaft antun konnte, denn ausgesprochen arbeiterfeindliche Elemente finden sich in dieser >Partei< zusammen. A m Dienstag wollten die Banditen auch Weiden heimsuchen: mangels eines Lokals mußte die Versammlung unterbleiben. Aber schon das Gerücht, daß eine Versammlung stattfände, brachte eine große Menge Arbeiter auf die Beine, so daß die Schutzleute zu tun hatten, die Ansammlungen zu zerstreuen. Zur Abwehr der Hakenkreuzzigeuner hat auch die Weidener Arbeiterschaft einen Verteidigungstrupp gebildet.·
Die Weidener Sozialdemokraten waren nicht ohne Grund sehr selbstbewußt, verfügten sie doch über eine Reihe gutgeführter Nebenorganisationen: 1923, auf dem Höhepunkt der Inflationskrise, gründeten SPD und Freie Gewerkschaften gemeinsam die Arbeiterwohlfahrt (Vorsitzender Friedrich Ecker, Stellvertreterin Barbara Siegelsberger). Uberhaupt funktionierte die Zusammenarbeit zwischen ADGB und SPD ausgezeichnet: Funktionäre des Einheitsverbandes der Eisenbahner Deutschlands (Anton Gebhardt und Josef Träger), des Keramischen Bundes bzw. der Sparte Glas (Paul Hetzer, Adolf Thiem, Josef Wagner) und des Deutschen Baugewerkbunds (Leopold Hofmann) waren aktive Sozialdemokraten. Dem 1924 gegründeten Reichsbanner (Vorsitzender Josef Tröger, Stellvertreter Friedrich Ecker) stellten sich rund 400 Arbeiter zur Verfügung. Nikolaus Rettner intensivierte die Jugendarbeit in der SAJ, aus der u. a. Franz Zebisch9, Josef Mörtl und Michael Raß hervorgingen. Als 1932 den Schulpflichtigen die Teilnahme an Veranstaltungen der Roten Falken, der Kindergruppe der SPD, untersagt wurde, Schloß sich diese der Arbeiterwohlfahrt an. Bei Stadtratswahlen konnte die SPD mit einer sicheren Anhängerschaft von etwa 2000 der insgesamt 9000 Stimmberechtigten rechnen; 1924 erhielt sie acht, 1929 sieben der insgesamt 30 Mandate (1924 verfügte außerdem die KPD über einen Sitz, den Alois Prem einnahm). SPD-Fraktionssprecher war seit 1924 Gewerkschaftssekretär Anton Gebhardt (1877 in Nabburg geboren, zuerst Werkstättengehilfe, 1911 Heimatrecht in Weiden), der neben Johann Faltenbacher auch Stadtratsmitglied blieb, als 1930 fünf Neulinge Mandatsträger wurden: Friedrich Ecker (Parteisekretär), Josef Tröger (Lackierer), Nikolaus Rott (Schlosser), Hans Lang (Eisendreher) und der Schwerkriegsbeschädigte Johann Pillner. Erstmals wurden 1929 auch drei Nationalsozialisten gewählt - nach einem ungewöhnlich stürmischen Wahlkampf, der bereits deutlich geprägt war von der Konfrontation zwischen Sozialdemokraten und Nationalsozialisten. Entsprechend den Kommunalergebnissen erhielt die SPD in Weiden auch bei den fünf Reichstagswahlen der Jahre 1928 bis 1933 meist reichlich ein Fünftel der Stimmen, während der KPD-Anteil, zumal zwischen November 1932 und März 1933 kräfHinweis von Karl Bayer. ' Franz Josef Zebisch; geb. 16. Oktober 1920 Weiden; beschäftigt bei Detag als Glas-Sortierer; 1953 Betriebsrat, 1954 Kreisverbandsvorsitzender der SPD, 1956 Stadtrat Weiden, 1965-1980 Mitglied des Bundestags (Amtliches Handbuch des Deutschen Bundestages, 8. Wahlperiode).
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tigen Schwankungen unterworfen war. Sehr konstant blieb der Anteil der BVP, die seit 1930 ständig mehr als 4000 Stimmen erreichte und im März 1933 ihr absolutes Maximum mit 4862 Stimmen erzielte. Zwar konnte die NSDAP ihr Ergebnis kontinuierlich verbessern, sie kam aber auch am 5. März 1933 nur auf knapp ein Drittel der Stimmen. Ausgewählte Reichstagswahlergebnisse in Weiden: Wahltag 20. 5.1928 31. 7.1932 6.11.1932 5. 3.1933
SPD 3101(34,1%) 3198 (26,4%) 2399 (20,3%) 2864 (21,9%)
KPD 108 ( 1,2%) 728 ( 6,0%) 1252 (10,6%) 631 ( 4,8%)
BVP 3261 4695 4396 4862
(35,8%) (38,9%) (37,2%) (37,2%)
NSDAP 798 ( 8,8%) 2902 (24,0%) 3038 (25,7%) 4160 (31,8%)
War der SPD-Anteil in Weiden-Stadt erwartungsgemäß stets (mindestens um zwei Prozentpunkte) höher als im Reichswahlkreis Weiden-Neustadt, so gab es innerhalb der Stadt noch eine besondere Hochburg, das »Gloasererviertel«. In diesen eingemeindeten Weidener Ortsteilen Moosbürg und Ermersricht lebte die Arbeiterschaft der nahegelegenen Glas- und Porzellanfabriken. Bei den Landtagswahlen 1928 bekam die SPD hier 61 Prozent, die KPD 6 Prozent. Und bei den Märzwahlen 1933 war das Wahllokal im Saal der Glasfabrik das einzige, in dem die SPD mit 333 von 935 abgegebenen Stimmen sowohl gegenüber BVP als auch NSDAP eine relative Mehrheit erzielte. SPD und KPD zusammen kamen dort noch immer auf deutlich mehr als die Hälfte aller Stimmen. Das »Glasviertel« erwies sich denn auch bei der Volksabstimmung im November 1933 als vergleichsweise resistent: Hitlers Austritt aus dem Völkerbund wurde dort mit 78 Nein-Stimmen quittiert 10 . Ergebnisse der Reichstagswahlen im Stimmbezirk Glasfabrik: Wahltag 20. 5.1928 31. 7.1932 6.11.1932 5. 3.1933
gültige Stimmen 700 907 878 935
SPD 422(60,2%) 359(39,5%) 251(28,6%) 333 (35,5%)
KPD 46 ( 6,5%) 226 (24,9%) 311(35,4%) 199 (20,6%)
Den Wahlkampf für die letzte halbwegs freie Reichstagswahl am 5. März 1933 mußten die Parteien der Linken bereits unter der kritischen Kontrolle der Polizei führen. Beispielsweise überwachte die Kriminalpolizei Weiden am 25. Februar 1933 eine SPD-Versammlung mit der Reichstagsabgeordneten Toni Pfülf 11 , an der laut Polizeibericht 230 Personen teilnahmen. Beim anschließenden Marsch zum Kriegerdenkmal seien zwei Transparente mitgetragen worden mit der Aufschrift: Herrenklub, Hilgenberg und Hitlerei, beseitigt man durch Liste 2. 10
Weidener Rundschau vom 13. November 1933. " Obwohl es Antonie (genannt Toni) Pfülf in keiner Weise gerecht wird, nur in einer Fußnote abgehandelt zu werden, einige Anmerkungen zu ihrer Person. Toni Pfülf (geb. 1877); Volksschullehrerin, Vorsitzende des Bundes sozialistischer Frauen, 1919 Abgeordnete der Nationalversammlung, später des Reichstags. Sie gilt als die Heroin der Oberpfalz und Niederbayerns und ist in ihrem Charisma innerhalb der bayerischen SPD wohl nur Waldemar von Knoeringen vergleichbar. Manchen alten Sozialdemokraten traten die Tränen in die Augen, wenn ihr Name im Gespräch mit dem Verfasser fiel. Am 8. Juni 1933 setzte die Volkstribunin mit dem scharfen Verstand und der meisterhaften Rhetorik ihrem Leben ein Ende: »Nicht die Erwartung einer Verfolgung durch die Nazis oder Vertreibung aus dem Beruf und Existenzangst treibt mich zu meinem Entschluß, sondern die grenzlose Verzweiflung über die Tatsache, daß unsere Männer in Gewerkschaften und Parteien nicht bis zum letzten Atemzug gegen das gekämpft haben, was nun kommt.«
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Die Genehmigung für einen Fackelzug der Eisernen Front am 3. März 1933, der von der »Roten Siedlung« am Hammerweg zur Glasfabrik führen sollte, war nur noch unter Auflagen zu erhalten: Die Kundgebung mußte »mehr auf das Gebiet gegen Moosbürg, südliche Seite« verlegt werden; »Personen mit kommunistischen Parteiabzeichen« durften nicht mitgehen. Dennoch wurde der Zug zu einer eindrucksvollen politischen Demonstration, 475 Personen nahmen laut polizeilicher Zählung daran teil. Jedenfalls bestand der Fackelzug keineswegs allein aus SPD-Mitgliedern, denn im März 1933 gab es in Weiden nur noch 165 »zahlende« Sozialdemokraten. Bis 1928 waren es 300 gewesen, Ende 1930 noch 188 (davon 29 Frauen). Die größten Einbrüche hatte es also in jenen Jahren gegeben, in denen die Zahl der Arbeitslosen rapide gewachsen war. Gravierende Veränderungen waren Ende der zwanziger Jahre in den wichtigsten Großunternehmen Weidens eingetreten 12 . Bei den Porzellanfabriken Bauseber und Seitmann änderten sich mit den Besitzverhältnissen (Bauscher wurde von Hutschenreuther aufgekauft, Seitmann zur GmbH) auch die Produktionsbedingungen; ebenso bei der zur Deutschen Tafelglas A G umgewandelten Neuen Glashütte, wo ein rationalisiertes Ziehverfahren die Mundarbeit der Glasbläser ablöste. Neue personalsparende Arbeitsabläufe führten bei der Zentralwerkstätte der Eisenbahn bis 1931/32 zur Halbierung der Mitarbeiterzahl. Enttäuschung wie Radikalisierung im Gefolge der dadurch entstehenden strukturellen Arbeitslosigkeit, die von anderen Betrieben nicht aufzufangen war, drückte sich in Austritten aus der SPD, aber auch in Ubertritten zur KPD aus. Souveränität und Selbstbewußtsein der Weidener Sozialdemokratie hatten darunter allerdings nicht erkennbar gelitten und es scheint, als spreche ein Moment allzu starker Selbstgewißheit auch aus einem Vorgang noch nach dem 5. März 1933: Angesichts eines Wahlergebnisses, demzufolge »zwei Drittel der Weidener Bevölkerung von einer Bevormundung durch die Nationalsozialisten nichts wissen will«, formulierte der SPD-Ortsverein ein Gesuch für eine öffentliche Kundgebung der Eisernen Front am 12. März. Man bat den Stadtrat förmlich um Genehmigung, das Parteisymbol, eine »Freiheitsfahne mit den drei Pfeilen«, vor dem Rathaus hissen zu dürfen. Die Antwort auf diesen Brief bestand in der Verhaftung der Vorsitzenden von Reichsbanner uná Eiserner Front, Georg Weng und Adolf Thiem, am 10. März. Der Oberpfälzische Kurier, der die Verhaftungen tags darauf meldete, schrieb zur politischen Lage weiter: »Der gestrige Tag und die heutige Nacht sind in Weiden ruhig verlaufen. Das bayerische Innenministerium hat [NSDAP-]Stadtrat Hans Harbauer in seiner Eigenschaft als Kommissar für die Polizeiwacht in Weiden bestätigt... Gestern nachmittag wurden 12 Mitglieder der nationalsozialistischen SS als Hilfspolizei eingestellt und verpflichtet. Das Finanzamt erhielt auf Wunsch polizeilichen Schutz. Die Polizeipatrouillen wurden heute Nacht durch je einen Mann der Hilfspolizei verstärkt.«
Bis Mitte März wurden alle Arbeitervereine, der Arbeiter- Turn- und Sportbund, die Sozialistische Arbeiterjugend und die Naturfreunde verboten; den neuerbauten Sportplatz der Arbeitersportler übernahm die SA. Daß die lokalen Nationalsozialisten die " Kühnle, Robert: Weidens Wirtschaft bis 1945, in: Weiden in der Oberpfalz. Stadt und Zukunft. Aßling 1971.
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Situation noch keineswegs voll im Griff hatten, zeigt eine Meldung des Oberpfälzischen Kuriers yom 15. März: »Eine Fülle wilder Gerüchte durchschwirrt die Stadt, die aus durchsichtigen Gründen verbreitet werden. Stadtkommissar Pg. Harbauer war bereits am 11. März genötigt, in einer amtlichen Bekanntmachung vor der Weiterverbreitung solcher Gerüchte zu warnen. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sich die Neuordnung der Dinge im Stadtbezirk Weiden und im Bezirksamt Neustadt-Waldnaab in musterhafter Ruhe und Disziplin vollzieht. Die Ausübung der Polizeigewalt durch Pg. Harbauer, unterstützt von Kreisleiter Pg. Bacherl, den übrigen Amtswaltern, der gesamten SA. und SS., verbürgt die reibungslose Uebernahme der Macht. Es darf jedoch kein Zweifel darüber bestehen, daß dort, wo es nötig ist, mit starker Hand und schärfsten Mitteln durchgegriffen wird. Das Verhalten der gesamten städt. Polizei sowie der Gendarmerie ist einwandfrei. Zwei städt. Polizeibeamten von Weiden, deren Zugehörigkeit zur SPD. bekannt ist, wurden vorerst vom Dienst beurlaubt«
Aber auch 14 Tage später, als die 1929 gewählte Gemeindeversammlung aufgelöst und entsprechend dem Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich durch ein zwanzigköpfiges Gremium ersetzt worden war, verfügten die Nationalsozialisten über keine Mehrheit im Stadtrat: Die Umrechnung des Reichstagswahlergebnisses vom 5. März hatte acht Mandate für die BVP, fünf für die Sozialdemokraten (Parteisekretär Friedrich »Fritz« Ecker und die vier Porzellandreher Franz Mörtl, Martin Götz, Johann Hanauer, Albert Dobner) und sieben für die NSDAP ergeben. SA-Sonderkommissar Hans Harbauer, den Fritz Ecker noch 1931 in der Volkswacht als »Nazirindvieh« bezeichnet hatte13, machte in der konstituierenden Sitzung vom 23. April 1933 deutlich, daß er mit dieser Sitzverteilung auf keinen Fall einverstanden sein werde14. Dennoch erklärte der 1. Bürgermeister Melchior Probst (BVP) den Wahlakt für abgeschlossen15. In der zweiten Sitzung am 3. Mai 1933 allerdings setzte die NSDAP mit Zustimmung der BVP einen Antrag durch, der die »Mitglieder marxistischer Parteien« von der Ausschußarbeit ausschloß. Der SPD war es danach nicht mehr möglich, auf die Stadtpolitik konkreten Einfluß zu nehmen. Über den weiteren Weg zur Machtmonopolisierung berichtete Harbauer am 1. Juli 1933 an die NSDAP-Gauleitung Bayerische Ostmark: »Die 5 Stadträte der SPD wurden auf Anordnung der obersten SA-Führung, wegen Nichtabdankung in Schutzhaft genommen. Die 8 Stadträte der B.V.P. haben nach eintägiger Schutzhaft ausnahmslos ihre Mandate der NSDAP zur Verfügung gestellt.« Sozialdemokraten und KatholischKonservative waren damit auch in Weiden aus der Politik entfernt, wenn auch nicht aus der Gemeinde, wie ein erstaunlich angepaßter Monatsbericht des Dekanats Weiden vom 7. November 1933 zu suggerieren suchte: »Weiden: Beamte, Bürger, Gewerbe, Industriearbeiter, wirtschaftlich zufriedenstellend. Fast nur NSDAP, auch vor 1933 wenig Marxismus. Kirchlichkeit gut. Schwierigkeiten von keiner 16 Seite, auch für die Durchführung der Volksmission nicht zu befürchten
Ganz so schnell ließen sich die Porzellanarbeiter von den neuen Machthabern nicht beeindrucken. Dies zeigte sich nicht zuletzt in den Betrieben, wo die Nationalsozialisten, um der NSBO zu Vertrauensposten zu verhelfen, den Weg der Manipulation ge13
Volkswacht vom 17. Februar 1931. Weidener Zeitung vom 24. April 1933. BayHStA, Reichsstatthalter 269. " Bayern in der NS-Zeit, Bd. I., a.a.O., S. 398. 14 15
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hen mußten. Teilweise ließen sie die alten Gewerkschaftsfunktionäre aber auch vorläufig im Amt, wie Weidener Sozialdemokraten im Frühjahr 1934 an den Exilvorstand, die Sopade in Prag, berichteten: »Eine Weidener Porzellanfabrik: Als Betriebsvertrauensräte wurden Kandidaten aus dem kaufmännischen Personal, den Werkmeistern (Obermaler, Oberdreher, Oberbrenner usw.) aufgestellt. Also Kandidaten, die nach ihrer wirtschaftlichen Stellung im Betrieb von den Arbeitern als Aufpasser bezeichnet werden. Das Stimmergebnis war: 259 Stimmen für die Nazikandidaten, 261 gegen die Nazikandidaten, 70 Stimmen ungültig. Der Wahlausschuß hat sich einen einfachen Ausweg gesucht und hat das Stimmenverhältnis einfach umgedreht, so daß 261 Stimmen für die Nazikandidaten verkündet wurden. Der Wahlausschuß hat weiter erklärt, daß die Kandidaten mit Mehrheit gewählt sind. Eine andere Porzellanfabrik in Weiden: Hier wurden Kandidaten aus der Belegschaft genommen, Leute, die früher schon Vertrauensfunktionen für ihre Arbeitskollegen im Betriebe innehatten. Diese Kandidaten wurden fast einstimmig gewählt.«
Beginnend am 10. März, wurden bis Ende Oktober 1933 in Weiden mindestens 40 Sozialdemokraten festgenommen - verstärkt nach dem 1. Mai, der erstmals als »Tag der Arbeit« gesetzlicher Feiertag war, und nach dem 22. Juni, als das SPD-Verbot in Kraft getreten war. Von den Funktionären entging nur der Vorsitzende, Kaspar Meder, einer Verhaftung. Der Finanzbeamte hatte sich auf einem Lehrgang befunden und anschließend Weiden gemieden. Ebenfalls am 10. März setzte die Verhaftung von insgesamt 15 Kommunisten ein. Neun Sozialdemokraten aus Weiden (Fritz Ecker, Josef Wagner, Nikolaus Rettner, Josef Heumann, Adolf Thiem, Josef Tröger, Johann Faltenbacher, Anton Nirschl, Georg Weng) und zwei aus Neustadt (Konrad Nachtmann, Josef Reiser) kamen über das örtliche Landgerichtsgefängnis zunächst ins Amtsgerichtsgefängnis Vohenstrauß und von dort am 1. Juli 1933 mit einem Sammeltransport nach Dachau. Am selben Tag wurden noch zehn weitere Weidener Bürger in das Konzentrationslager gebracht, darunter die Juden Justin Wilmersdorfer 17 , Karl Steiner18, Selmar Oppenheimer und Otto Hausmann; ein Zusammenhang mit der SPD war in diesen Fällen nicht zu erkennen 19 . Sieben Weidener Kommunisten (Josef Prem, Otto Marx, Alfred Peter, Hans Köhler, Karl Schimandl, Johann Lindner, Wolfgang Brühl) waren bereits am 12. März nach Dachau eingeliefert worden 20 . Eine Aufstellung der Haftzeiten der Weidener Sozialdemokraten anhand der Schutzhaftakten 21 und der Unterlagen des Bayerischen Landesentschädigungsamtes ergibt folgendes Bild: " Geb. 1903; 26.6.-1.7.1933 Gefängnis Vohenstrauß, 1.7.1933-16.3.1936 KL Dachau; 1955 in Weiden verstorben. Karl Steiner taucht in einem Redenmanuskript von Hans Harbauer auf: »Am 13. März 1920 war bekanntlich der Kapp-Putsch, Kapp ein Jugendspielgenosse Eberts. An diesem Tag ging es hier ebenfalls drunter und drüber und die Einwohnerwehr Weidens war mobil. Das Rathaus glich einem Heerlager. Auch der Jude Karl Steiner wechselte von den Rotgardisten, nachdem die Geiselmörder erledigt waren, zur Einwohnerwehr herüber. Auch er stand auf dem Rathaus. Ich veranlaBte, daß ihm Gewehr, Verpflichtungsschein und Armbinde abgenommen und daß er vom Rathaus gejagt wurde . . . « . - Hinweis von Karl Bayer. " Die übrigen Festgenommenen: Wolfgang Mühlbauer (entlassen am 15.12.1933), Richard Reuter, August Rupp, Wenzl Wamser (entlassen am 8.12.1933), Ludwig Zahn und Andreas Trautner (entlassen am 8.12.1933). 20 ITS Arolsen, Polizeiliche Einweisungen..., a.a.O. - Unklar ist, was mit dem Kommunisten Dotzler passierte, der laut Oberpfölzischem Kurier(l 1. März 1933) am 10. März zusammen mit Prem ebenfalls festgenommen worden war. 21 Bayer Karl, u.a., 80 Jahre Sozialdemokratie in Weiden, a.a.O., S. 87-93. 18
502 Georg Weng Adolf Thiem Josef Wagner Fritz Ecker Josef Tröger Johann Messner Josef Heumann Georg Hertlein Mathias Eckmeier Hermann Ludwigs Wilhelm Ludwigs Andreas Werner Heinrich Werner Josef Plab Albert Dobner Franz Morti Josef Krauß Martin Götz Johann Hanauer Richard Schwaz Nikolaus Rettner Johann Weber Franz Schöner Geoig Sollfrank Michael Lukas Johann Faltenbacher Anton Nirschl Karl Engert Gottfried Bimer Bernhard Wurf Andreas Hagn Johann Härtung Josef Hagn Michael Noath Georg Götz Michael Piller Johann Sailer Otto Schühmann Alfred Lang Josef Strehl
Anton Großmann 10. 3.-20. 3.33 10. 3.-16. 3.33 12. 3.-16. 3.33 12. 3.-13. 4.33 28. 3.-15. 4.33 29. 3.- 4. 4.33 20. 4.-10. 5.33 2. 5.- 6. 5.33 2. 5.- 6. 5.33 25. 5.- 2. 6.33 25. 5.- 2. 6.33 27. 5.-29. 5.33 28. 5.-29. 5.33 7. 6.-21. 6.33 23. 6.-26. 6.33 23. 6.-26. 6.33 23. 6.-26. 6.33 23. 6.- 5. 7.33 23. 6.-26. 6.33 26. 6.- 5. 7.33 26. 6.- 1. 7.33 26. 6.- 4. 7.33 26. 6.- 4. 7.33 26. 6.- 6. 7.33 26. 6.- 6. 7.33 26. 6.- 1. 7.33 26. 6.- 1. 7.33 3. 7.- 5. 7.33 9. 7.-10. 7.33 9. 7.-10. 7.33 9. 7.-26. 7.33 9. 7.-10. 7.33 9. 7.-10. 7.33 11. 7.-26. 7.33 23. 7.- 1. 9.33 19. 8.-27. 8.33 27. 8.- 2. 9.33 5. 9.-12. 9.33 12.10.-20.10.33 23.10.-11.12.33
30. 2. 18. 23. 26. 26. 26.
6, - 1. 5.-- 6. 3.--13. 6, -26. 6, - 1. 6, - 1. 6, - 1.
1.7.33 7.33 5.33 16. 5.-20. 6.33 1.7.33-21. 3.34 4.33 2. 5.- 6. 5.33 1.7.33-20. 7.34 1.7.33-24. 1.34 6.33 1.7.33-16. 1.34 7.33 1.7.33 7.33 7.33 1.7.33-12.12.33
KL KL KL KL KL KL KL
Dachau Dachau Dachau Dachau Dachau Dachau Dachau
23.:10.--11.12.33
11. 11. 10. 11. 11.
7.--26. 7.--26. 9.--23. 7.--26. 7.--26.
1.7.-31. 7.33
KL Dachau
1.7.33-30. 4.34 1.7.33-11.10.33
KL Dachau KL Dachau
7.33 7.33 9.33 7.33 7.33
23·:10.--11.12.33 28. 8.-- 1. 9.33
Dem Uberblick ist zu entnehmen, daß die erstmals nach dem 1. Mai 1933 verhafteten SPD-Mitglieder zumeist »nur« einige Tage in Schutzhaft gehalten wurden - offensichtlich auch zur Einschüchterung ihrer weiteren Gesinnungsgenossen. Die nach Dachau verbrachten Funktionäre dagegen hatten mehrwöchige Haftzeiten auszuhalten; einige - darunter Josef Wagner, Johann Faltenbacher, Adolf Thiem, Fritz Ecker und Josef Tröger - verschwanden sogar für ein halbes Jahr und länger hinter dem Stacheldraht des Dachauer Konzentrationslagers. Legt man die Mitgliederzahlen von 1933 zugrunde, hatten die Nationalsozialisten schließlich jeden vierten Sozialdemokraten Weidens hinter Gitter gebracht, fast die Hälfte davon sogar zweimal. Die Verfolgungsaktionen beschränkten sich keineswegs auf führende Funktionäre, sondern schnitten tief in die Mitgliedschaft ein - Indiz für die Schwierigkeiten der NSDAP, ihren aus den allgemeinpolitischen Vorgängen er-
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wachsenen Herrschaftsanspruch in der Industriestadt einzulösen. Hans Harbauer, Weidens neuer NS-Bürgermeister, wußte sehr genau, daß zur politischen Lähmung der lokalen Arbeiterbewegung vor allem die Kaltstellung eines Mannes, nämlich Fritz Eckers, erforderlich war. Am 5. März 1892 in Furth im Walde als Sohn eines Schneidermeisters geboren 22 , war Ecker nach einer kaufmännischen Lehre in den Öffentlichen Dienst seiner Heimatstadt eingetreten. Als Freiwilliger während des gesamten Krieges Soldat (Eisernes Kreuz), wurde er anschließend Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend und 1919-1920 SPD-Stadtverordneter in Furth; ab Mai 1920 hauptamtlicher Sekretär des SPD-Unterbezirks Nördliche Oberpfalz, Stadtrat in Weiden sowie Kreisrats- und Bezirkstagsmitglied. Nebenbei leitete Ecker die Volkswachtbuchhandlung und zog als Kommentator der Volksmacht heftig gegen die NSDAP zu Felde. Nach der NSMachtiibernahme der Gefährdung seiner Person durchaus bewußt, ließ Ecker die Kartei mit den Namen der sozialdemokratischen Betriebsvertrauensleute von seiner Frau verbrennen und flüchtete am 9. März 1933 zusammen mit dem Gewerkschaftssekretär Josef Wagner in die Tschechoslowakei. Aber bereits am nächsten Tag kehrten beide zurück. Ecker begründete diesen Sinneswandel in seiner 1934, nach einer zweiten Flucht, in Karlsbad erschienenen Schilderung: Konzentrationslager. Ein Appell an das Gewissen der Welt 23 : »Ich brachte es doch nicht über mich, zu fliehen, während meine Freunde das harte Los der Verhaftung trugen. Es war ein harter und folgenschwerer Entschluß! Der Gedanke an Frau und Kinder wurde verdrängt durch ein - wie ich heute erkannt habe - falsches Pflichtbewußtsein. Damals aber glaubte ich, es dem Ansehen der sozialdemokratischen Partei schuldig zu sein, die Gefängnishaft auf mich zu nehmen^
Ecker wurde am 12. März, Wagner am 2. Mai verhaftet. Am 1. Juli 1933 schlossen sich hinter den beiden für ein halbes bzw. ein ganzes Jahr die Tore des KL Dachau. In seiner Schilderung dieser Zeit, die detailliert auch die Torturen beschreibt, denen seine Genossen und nicht zuletzt er selbst ausgesetzt waren, hebt Ecker hervor, keine Darstellung sei imstande, »das seelische Empfinden, das Gefühl der Entehrung gemarterter Menschen wiederzugeben«. Eckers zeitgenössischer Bericht macht dennoch deutlich, welche weitreichenden Folgen eine Inhaftierung für den einzelnen hatte: » >Schutzhaft< in einem deutschen Konzentrationslager ist auch ohne Folterungen eine härtere Nervenprobe als eine Gefängnis- oder Zuchthausstrafe. Die Ungewißheit über die Dauer der Haft, das Bewußtsein, daß ohne eigenes Zutun ein politisches Ereignis die Haftdauer ins Unendliche verlängern kann, zermürben die Gefangenen. Den Angehörigen wird von den Behörden immer wieder zu verstehen gegeben, nur eine geistige Umstellung, die Gleichschaltung, könne die Freilassung bringen. Heimweh und die Sorge um die darbende, mittellose und behördlichen Drangsalierungen ausgesetzte Familie, dazu die in Dachau oft monatelang verhängte Briefsperre, verstärken die seelische Depression. ... Ist man aber zum Tore des Lagers hinaus, so beginnen neue Sorgen. Fast jeder hat durch die Einlieferung ins Konzentrationslager auch seinen Arbeitsplatz, seine wirtschaftliche Existenz, verloren. Was nun? Er steht vor dem Nichts. Er kehrt zu einer mittellosen Familie heim, die gehungert und gedarbt hat - wie er selber.
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Die Lebensdaten beruhen auflnformationen von Karl Bayer, ferner: BHE I, a.a.O. Konzentrationslager. Ein Appell an das Gewissen der Welt. Karlsbad 1934.
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Anton G r o ß m a n n
Dann bedrückt ihn eine neue Gemeinheit der Machthaber. Er steht als Heimgekehrter unter Polizeiaufsicht. J e d e n zweiten Tag bei der Ortspolizei melden! Das drohende Gespenst einer neuen Verhaftung steht vor ihm. Das Denunziantentum blüht im Dritten Reich wie das Unkraut im Brachfeld. Oder es brauchen nur in seinem W o h n o r t des nachts drei Pfeile, das Zeichen der sozialdemokratischen Eisemen Front, auf die Asphaltstraße gemalt zu werden, schon kann die neuerliche Verhaftung erfolgen. D e r aus dem Konzentrationslager Entlassene, der alle Schrecken dieser Schandstätte kennt, hat keine ruhige Stunde mehr, weder bei Tag noch bei Nacht. Er ist trotz der ihm gegebenen Freiheit ein unfreier Mensch, auf Schritt und Tritt überwacht... .€.
Im September 1938 emigrierte Ecker von der Tschechoslowakei aus weiter nach Stockholm, wo er sich als Leiter der Kameradschaftsvereinigung ehemaliger politischer Gefangener und Herausgeber der Zeitschrift Das Graue Korps betätigte. Im August 1943 veröffentlichte er das Manifest Höret die Wahrheit, in dem er sich gegen die These einer deutschen Kollektivschuld wandte und die westlichen Politiker anklagte, Berichten über die Greueltaten in den Konzentrationslagern nur deshalb keinen Glauben geschenkt zu haben, weil sie von Arbeitern stammten 24 . Als Ecker im Januar 1946 nach Weiden zurückkam, setzten ihn die Amerikaner als Leiter des Arbeitsamts ein. Parteipolitisch betätigte sich Ecker bis zu seinem Tod am 14. Oktober 1978 nicht mehr. Neben Ecker sahen sich noch weitere Sozialdemokraten aus Weiden praktisch während der gesamten NS-Zeit politischer Verfolgung bzw. Diskriminierung ausgesetzt. Einige dieser Schicksale sollen im folgenden dokumentiert werden; wo eine entsprechende Überlieferung dies erlaubt, kommen die Betroffenen dabei selbst ausführlich zu Wort. Der Entschluß des bisherigen SPD-Stadtrats Franz Mörtl, zusammen mit seinen beiden erwachsenen Söhnen (Franz und Josef) nach dem SPD-Verbot im Untergrund weiter für seine politische Uberzeugung einzutreten, sollte für die gesamte Familie schwerste Folgen haben; ihn selbst kostete diese Unbeirrbarkeit schließlich das Leben. Nach der NS-Machtübernahme zog auch in der »roten« Hammersiedlung das Denunziantentum ein: Bereits im Frühjahr 1933 waren die Mortis von einem Pelzhändler aus der Nachbarschaft angezeigt worden; die fünfjährige Tochter des Sozialdemokraten hatte ihren Spielkameraden von einer versteckten SPD-Fahne erzählt. Als die beiden Söhne des Pelzhändlers drohten, NS-Bürgermeister Harbauer davon zu berichten, verpaßte der 19jährige Josef Mörtl einem der beiden ein paar Ohrfeigen. Harbauer ließ die Angelegenheit jedoch überraschenderweise auf sich beruhen und verwies den Pelzhändler auf die Möglichkeit einer Privatklage. Im Herbst 1933 entstand ein weiteres Polizeiprotokoll 25 über die Familie Mörtl, möglicherweise ebenfalls nach den Angaben eines Denunzianten: »Am 1 4 . 1 1 . 1 9 3 3 im Laufe des Vormittags konnte beobachtet werden, daß bei dem ehemaligen SPD-Stadtrat Franz Mörtl, wohnhaft Hammerweg No. 3, eine Mannsperson mit einem Rucksack verkehrt habe. Von dem jungen Mörtl, von dem ledigen Schlosser Josef Mörtl, wohnhaft Hammerweg Nr. 3, wurde diese Mannsperson nach dem Verlassen der W o h n u n g ein Stück Weges begleitet. Da die Familie Mörtl früher eifrige SPD-Anhänger waren, so war anzunehmen, daß diese Mannsperson mit der S P D noch in Verbindung steht und auch mit Mörtl marxistische Angelegenheiten besprochen haben könnte. MQssener, Helmut: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München 1974. " Von Josef Mörtl dankenswerterweise ebenso zur Verfügung gestellt wie die gesamten Unterlagen dieses Vorgangs.
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Die Mannsperson konnte später festgenommen und kontrolliert werden; es konnten auch marxistische Schriften gefunden werden, die beschlagnahmt wurden. Es handelt sich um den ledigen Metalldrücker Konrad Grünbaum von Fürth. Nachdem auf Grund der hier gemachten Feststellungen auch angenommen wurde, daß Grünbaum mit Mörtl in Verbindung steht, wurde auch bei Mörtl eine Durchsuchung vorgenommen. Es wurde folgendes vorgefunden: 1 Schreiben (Gedicht), 1 Brief, 1 Heft Versailles, 6 einzelne Liedertexte, 1 Päckchen kleine Klebezettel, 1 Heft Die wirtschaftliche Notverordnungen der Herrenregierungen, 3 rote Selbstbinder. Sämtliche hier angeführten Sachen wurden beschlagnahmt und liegen dem Schreiben bei. Auch bei Grünbaum wurde außer den marxistischen Schriften auch noch ein blaues Hemd, wie es früher von der Eisernen Front getragen wurde, und ein roter Selbstbinder vorgefunden. Auch diese Sachen wurden beschlagnahmt und liegen bei. An den Stadtrat Weiden mit dem Ersuchen um weitere Veranlassung.« Mit Konrad Grünbaum hatte die Weidener Polizei (zufällig?) einen der Kuriere gefaßt, die seit September 1933 den vom emigrierten SPD-Vorstand in Prag in Kleinformat auf extradünnem Papier herausgegebenen Neuen Vorwärts und die Sozialistische Aktion nach Nürnberg, Schwandorf, Amberg und Regensburg brachten 26 . Josef Mörtl galt seit Oktober 1933 als Anlauf- und Verteilerstelle für Nürnberger und Oberpfälzer Sozialdemokraten; trotz einer Hausdurchsuchung konnte er auch danach 3 0 - 4 0 Genossen im Weidener Raum weiter mit illegaler Literatur versorgen 27 . Zwei von ihnen, die Porzellanarbeiter Martin Götz und Josef Strehl, wurden damals für sechs Wochen inhaftiert, weil man an ihrem Arbeitsplatz bei Bauscher den Neuen Vorwärts gefunden hatte. Laut späterer Anklageschrift 28 soll Josef Mörtl mit seinem Bruder Franz im April 1934 2 0 0 Exemplare der Sozialistischen Aktion direkt in der Tschechoslowakei abgeholt haben. Als die Gestapo im Mai 1934 die illegale sozialdemokratische Organisation Nordbayerns 29 zerschlug, wurden auch acht Weidener festgenommen, von denen fünf wegen Hochverrats vor dem Oberlandesgericht München angeklagt wurden 3 0 : Neben den drei Mortis der 22jährige Michael Rass und der 44jährige Martin Götz. Josef Mörtl schrieb später über seinen Vater, den Bruder und den eigenen Lebensweg 3 1 : »Mein Vater war seit 1907 in Weiden bei der Porzellanfabrik Gebr. Bauscher Hotelporzellan (Hutschenreuter Konzern), beschäftigt. Zur Zeit meiner Geburt war er zur österreichischen Armee eingezogen und an der italienischen Front eingesetzt. Nach dem Ersten Weltkrieg kam er nach Weiden zurück und war von 1920 bis 1933 Betriebsratsvorsitzender in dieser Firma. Dazu war er auch Funktionär der Fabrikarbeitergewerkschaft, seit 1905 Mitglied der SPD, Gründungsmitglied der Arbeitersportvereine in Weiden, zeitweise Vorstand des Arbeitergesangvereins >Lyra< und Gründungsmitglied der Baugenossenschaft >Selbsthilfe< in Weiden. Ab 1928 war er Mitglied der SPD-Stadtratsfraktion im Weidener Stadtrat. Diese politische Tätigkeit meines Vaters brachte es mit sich, daß ich schon früh im Arbeitersport mitmachte und ab 1930 auch aktiv am politischen Leben teilnahm.
26 27
28 29 J0 31
Siehe dazu weiter oben, S. 363 ff. Schirmer, Hermann: Das andere Nürnberg. Antifaschistischer Widerstand in der Stadt der Reichsparteitage. Frankfurt 1978, S. 138 gibt irrtümlich an, daß Grünbaum und Mörtl gemeinsam am 14.11.1933 verhaftet wurden. O L G München, OJs 80/34. Siehe dazu weiter oben, S. 369 ff. OJs 8 0 / 3 4 Anklageschrift vom 13. Oktober 1934. Diesen persönlichen Lebensbericht verfaßte Josef Mörtl im Dezember 1981 speziell für die Auswertung im Rahmen dieses Projekts.
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Anton G r o ß m a n n
Nach meiner Schulzeit, Volksschule, Realschule und Berufsschule, begann ich 1929 die Ausbildung als Konstruktionsschlosser bei der Fa. AEG-Betriebswerk Weiden, die ich mit der Schließung dieses Werkes im November 1932 beendete und arbeitslos wurde. Ab Mai 1933 praktizierte ich in einer Autofirma und war bis zu meiner Verhaftung am 9. Mai 1934 als Tankwart tätig. Wie schon erwähnt, trat ich 1930 in die damalige Jugendorganisation der SPD, die SAJ - Sozialistische Arbeiterjugend - ein und übte dort mehrere Funktionen aus. 1932 gründete ich mit einigen Gleichgesinnten eine Kindergruppe der Arbeiterwohlfahrt an Stelle der damals in Bayern nicht zugelassenen Kinderfreunde. Ab 1929 herrschte in Weiden ^ine sehr starke Arbeitslosigkeit, weil die Porzellanindustrie (Fa. Bauscher und Fa. Seltmanri), die in Weiden den größten Industrieanteil hatten, fast keine Aufträge mehr aus dem Auslande bekamen. Das brachte auch eine Radikalisierung des politischen Lebens mit sich... Wie sehr auch die Industrie bereit war, den Wünschen der neuen Machthaber zu entsprechen, mag am Beispiel meines Vaters ersichtlich sein. [Noch am 5. November 1932 wurde er von Bauscher anläßlich seiner 25-jährigen Betriebszugehörigkeit geehrt, um am 22. Juli 1933 >zum Abgang in 14 Tagen< wegen >Arbeitsmangel< gekündigt zu werden.] Mein Bruder Franz, der 1932 das Abitur an der Oberrealschule mit Notendurchschnitt 1,2 machte, wurde bei keiner Behörde eingestellt >mangels politischer ZuverlässigkeitSportplatz< und ab April 1938 als Lagerläufer und Lagerschreiber eingesetzt. Im Lager bildeten die Sozialdemokraten unter sich kleine Zirkel, hauptsächlich um meinen väterlichen Freund Dr. Kurt Schumacher. Am 19.4.1941 wurde ich aus Dachau entlassen und mußte mich noch längere Zeit bei der örtlichen Polizei melden. Zu Hause übernahm ich die Führung des inzwischen von meiner Mutter aufgebauten Kohlengeschäftes bis zum Juni 1943. Dann wurde ich zur Einheit 999 eingezogen und kam mit dem 15. Btl. erst nach Griechenland und dann nach Rußland (Dezember 1943). Dort wurden die Politischen« im Februar 1944 an der Front am Dnjepr entwaffnet und unter Bewachung zum Rückzugsstellenbau eingesetzt. Im April 1944 kam ich mit den >Politischen< aus den drei Bataillonen (14., 15. und 17. Bd.) 999, die an der Front am Dnjepr eingesetzt waren (über 300 Mann), nach Nikolaijew ins Kriegsgefangenenlager und anschließend in vergitterten Viehwaggons nach Deutschland (Baumholder) zurück. Nach Ermittlungen wegen angeblicher Konspiration mit dem Feinde, die eingestellt wurden, kam ich zusammen mit den anderen Politischen« zur neuaufgestellten Einheit 21. Btl./999 und mit dieser Truppe im Sommer 1944 erneut nach Griechenland-Mittelabschnitt Larissa/Volos. Dieses Bataillon bestand neben Kriminel" Franz Mörtl jun. wurde zur Gestapo nach Nürnberg gebracht, Josef Mörtl blieb sechs Wochen ohne Einvernahme in Einzelhaft im Weidener Gefängnis, ehe er zusammen mit seinem Vater, Michael Rass und Martin Götz nach Nürnberg gebracht und einem Untersuchungsrichter vorgeführt wurde. 11 Im Schutzhaftbefehl (BLEA) vom 7. Februar 1935 wird bestätigt, daß die Strafe des OLG München durch die Untersuchungshaft verbüßt sei, weiter heißt es aber: »Bei der radikalen Einstellung des Mörtl ist mit Bestimmtheit damit zu rechnen, daß er - falls auf freien Fuß gesetzt - seine staatsfeindliche Tätigkeit fortsetzen wird. Er bildet somit eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung.«
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len zu etwa 50 Prozent aus politisch Vorbestraften und sogenannten Stamm-Mannschaften, die uns ständig zu überwachen hatten. Die Unteroffiziere und Offiziere waren besonders ausgesuchte Leute. Nach dem 20. Juli 1944 wurde der Druck auf die >Politischen< noch verstärkt und es kam wieder zu Verhaftungen. Im September 1944 kam ich mit über 50 Kameraden des Btl. 2 1 / 9 9 9 zu den ELAS-Partisanen im Pelion-Gebirge bei Volos. Die ELAS-Partisanen schoben mich mit 30 anderen Kameraden dann im Januar 1945 zu den Partisanen nach Jugoslawien ab. Nach Kriegsende trat ich in Jugoslawien einer österreichischen Gruppe bei, die eine Ausbildung für Polizeiverwendung erhielt und kam dann mit dieser Gruppe anfangs Juni 1945 nach Wien. Dort tat ich Dienst in der neuerstellten Sicherheitsdirektion und im Innenministerium. Im Dezember 1945 kehrte ich nach Weiden zurück und wurde im Februar 1945 mit der Leitung und dem Wiederaufbau der Polizei in Weiden beauftragt ... Neben diesen persönlichen Erlebnissen einher ging das Leben der weiblichen Angehörigen meiner Familie. Nach der Verhaftung der männlichen Mitglieder 1934 stand meine Mutter mit den jüngsten 2 Schwestern (6 und 8 Jahre alt) alleine da. Mit Unterstützung durch meine ältere Schwester und anderen Verwandten gelang es, den von meinem Vater nach seiner Entlassung bei Bauscher begonnenen Kohlenhandel soweit auszubauen, daß damit der Unterhalt von Mutter und den beiden Jüngsten gewährleistet war. Nach dem Tode von Vater 1935 hat sich aber der seinerzeitige Kohleneinzelhandelsverband einer Genehmigung zur Weiterführung des Geschäftes durch die Mutter stark widersetzt, doch konnte die Untersagung durch die persönliche Sportfreundschaft meines Schwagers mit dem damaligen 2. rechtskräftigen Bürgermeister Gruber abgewendet werden. Meine Mutter und die zwei kleinen Kinder mußten in dieser Zeit schwerste Arbeit leisten (Kohlen schaufeln, Holz verladen usw.), was meiner Mutter ein Leiden einbrachte, an dem sie 1957 im Alter von 66 Jahren verstarb. Im Frühjahr 1943 war es dann die Stadt Weiden (durch den fanatischen NS-Oberbürgeimeister), die beim Verband den Antrag auf Schließung des Kohlengeschäftes meiner Mutter stellte, es sollte eine »kriegsbedingte« Maßnahme sein. Diesem Antrag hat aber der Verband in Nürnberg nach meiner Vorsprache beim Beauftragten für die Brennstoffversorgung im Wehrkreis XIII (Nürnberg) abgewiesen. Ob sich dieser Beauftragte (ein SS-Sturmbannführer) mit diesem Entscheid ein späteres Alibi sichern wollte, weiß ich nicht, jedenfalls machte er in seinem Spruchkammerverfahren geltend, daß er uns damals politisch Verfolgten geholfen hat. Das Geschäft konnte über die letzten Kriegs jähre von meiner jüngeren Schwester (damals 17 Jahre alt) weitergeführt werden und besteht heute noch.« A u c h der Bruder des Verfassers dieses Berichts, Franz Mörtl jun., wurde i m O k t o b e r 1 9 4 2 z u m Bataillon 9 9 9 eingezogen u n d geriet in Tunesien in amerikanische Gefangenschaft. N a c h der Entlassung, i m Herbst 1 9 4 5 , erhielt Franz Mörtl in W e i d e n eine Stelle als städtischer Angestellter, wurde jedoch erst nach einer Prüfung i m Februar 1 9 4 9 ins Beamtenverhältnis ü b e r n o m m e n . D e r Jungsozialist (16.5.-20.6.1934
Michael
Gefängnis
Rass
mußte
Weiden,
insgesamt
22
20.6.1934-9 2.1935
Monate
Haft
Gefängnis
erleiden Nürnberg,
9 . 2 . 1 9 3 5 - 8 . 4 . 1 9 3 6 Konzentrationslager D a c h a u ) und wechselte v o m erlernten Beruf des Porzellanmalers n a c h 1 9 4 5 z u m städtischen A n g e s t e l l t e n 3 4 . Drakonische Strafen, A n g s t u m den Arbeitsplatz u n d Sorge u m die A n g e h ö r i g e n ließen W e i d e n s Sozialdemokraten sehr vorsichtig werden. N i c h t wenigen fiel die Z u rückhaltung freilich schwer, und m a n c h e k o n n t e n sie nicht ständig bewahren wie aus Gerichtsakten hervorgeht: D e r Schlosser Karl Gebhardt (geb. 1 9 1 0 ) u n d der Maurer G e o r g Ficker (geb. 1 9 0 4 ) , die einen S A - M a n n absichtlich »beleidigt« und sich zur Sozialistischen Internationale bekannt hatten, wurden v o m Sondergericht N ü r n b e r g i m Februar 1 9 3 6 zu e i n e m J a h r bzw. drei M o n a t e n Gefängnis verurteilt. W i e so oft, war für Ficker die Verfolgung n a c h der Strafhaft nicht zu E n d e ; 1 9 3 4 wurde er erneut fest-
34
BLEA (Michael Rass).
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Anton Großmann
genommen und für einen Monat im KL Dachau interniert. Der Maurer verlor seine Stelle und erhielt erst 1945 als Bauaufseher beim Stadtbauamt wieder geregelte Arbeit 35 . Sozialdemokraten, die erst einmal in die Mühlen der Verfolgung geraten waren, konnten in vielen Fällen auch nach Verbüßung von Gefängnisstrafe und anschließender Konzentrationslagerhaft keinem geregelten Broterwerb mehr nachgehen. Nicht selten mußten sie getrennt von der Familie leben. Allen widrigen Umständen zum Trotz versuchten sie dennoch, ihrem Dasein inmitten des permanenten Ausnahmezustandes einen Anstrich von Normalität zu geben. Unterlagen des Bayerischen Landesentschädigungsamtes ermöglichen, dies in Form von Kurzbiographien zu dokumentieren36. Adolf Thiem (geb. 1891), Vorsitzender der Eisernen Front und Geschäftsführer des sozialdemokratisch orientierten Fabrikarbeiterverbandes, in dessen Räumen auch die Vorstandssitzungen von SPD und Reichsbanner stattfanden, wurde 1933 dreimal für insgesamt 43 Tage in »Schutzhaft« genommen. Bei seiner Einlieferung nach Dachau am 1. Juli 1933 wurde er schwer mißhandelt. Von den Nationalsozialisten während seiner Haftzeit gekündigt (am 2. Mai 1933), blieb Thiem nach seiner Entlassung aus dem KL Dachau am 20. Juli 1934 für vier Jahre arbeitslos. Bis Kriegsende fand er keine gleichwertige Arbeit mehr. Zudem unterlag Thiem ständiger Polizeiaufsicht (dreimalige Meldepflicht pro Woche); seine Post wurde zensiert und seine Wohnung mehrfach durchsucht. Josef Wagner (geb. 1892) hatte im elterlichen Betrieb Spiegelglasmacher gelernt und die Meisterprüfung abgelegt. Nach Umschulung zum Handlungsgehilfen war er 1926-1933 als Gewerkschaftssekretär für den Bezirk Weiden tätig. 1933 dreimal verhaftet, wurde Wagner (Vater dreier Kinder) 10 Monate im KL Dachau festgehalten. Uber die Zeit danach schrieb der zum 31. Mai 1933 fristlos gekündigte Sozialdemokrat selbst: »Nach Entlassung aus der KZ-Haft aus dem Stadtbereich Weiden verwiesen, konnte ich in Bamberg vorübergehend als Verkaufsassistent unterkommen, um nach vierteljähriger Tätigkeit von der Gestapo wieder verjagt zu werden. Unter großen Schwierigkeiten gelang mir ein Unterkommen im Verkaufshaus der Fa. Pfaff-Nähmaschinen in Regensburg. Im Jahr 1936 wegen politischer Konspiration neuerdings verhaftet [ 2 9 . 8 . - 1 5 . 9 . 1 9 3 6 ] , mußte ich, um der polizeilichen Überwachung entgehen zu können, nach Straubing gehen und von hier im Jahre 1938 nach Deggendorf. Im Laufe dieser Jahre war mein Einkommen sehr kläglich.«
Die gegen Josef Wagner 1933, nach seiner nur Stunden dauernden »Emigration« zusammen mit Fritz Ecker, ausgesprochene Ausweisung war rasch zurückgenommen worden, da er »bei Verbleib im Lande besser kontrolliert« werden könne37. Der Schraubendreher Anton Nirschl (geb. 1888) hatte seit 1929 keine SPD-Mitgliederversammlung oder öffentliche Veranstaltung mehr besucht. Im Juni 1933 wurde er dennoch kurzfristig in das Gefängnis Vohenstrauß und anschließend für dreieinhalb Monate in das KL Dachau eingeliefert. Bis Herbst 1935 mußte sich Nirschl jeden zweiten Tag bei der Polizei melden. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin baute er BLEA und Sondergericht Bamberg 104/35. " Die Akteneinsicht ermöglichten Präsident Karl Heßdörfer und Regierungsdirektor Josef Thalmayr, denen an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt sei. " BayHStA, MA 106278.
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1934 ein kleines Saisongeschäft auf. Als er dieses Anfang 1942 erweitern wollte, legte sich das Ernährungsamt Weiden quer.38 »Nirschl eignet sich nach seiner früheren Einstellung nicht als Aufkäufer von Eier und Butter. Bei dieser Tätigkeit wäre Nirschl die Möglichkeit gegeben, speziell in landwirtschaftlichen Kreisen seine staatsfeindliche Einstellung in unkontrollierbarer Weise wieder einzunehmen.«
SPD-Kassier Johann Faltenbacher {geb. 1892), seit 1911 Parteimitglied und nach 1914 als Betriebs- und Stadtrat aktiv, war vier Tage nach dem Verbot der SPD verhaftet worden. Sein Arbeitgeber, das Reichsbahnausbesserungswerk, reagierte prompt: Am 11. Juli 1933 erhielt Faltenbacher, der bis 30. April 1934 in Dachau festgehalten wurde, ein Schreiben seines Werksdirektors: »Im Auftrag der Reichsbahndirektion Regensburg werden Sie hiermit gemäß § 26 Abschnitt C Ziffer 1 des Lohntarifvertrags fristlos entlassen, weil Sie zur Fortsetzung der Arbeit infolge Ihrer Internierung unfähig sind. Ubergangsgeld wird Ihnen nicht gewährt. Der Ihnen für 1933 noch zustehende Erholungsurlaub von 14 Tagen wird in Geld vergütet.«
Als Johann Faltenbacher 1952 - vergeblich - einen Entschädigungsantrag stellte, mußte er sein Verhalten während der NS-Zeit schildern39: •Der Schutzhaftbefehl war für mich nicht so schlimm, aber der Empfang in Dachau war so schrecklich, daß ich mein Leben daran zu leiden habe. Nun kam die Entlassung von der Reichsbahn, meine Frau erkrankte und wurde vom Gerichtsvollzieher aus der Wohnung gesetzt. Am 1. Mai 1934 kam ich nach Hause und fand eine kranke Frau. Vom Arbeitsamt wurde ich mit 50 Tagen Sperre bestraft. 1935 kam ich in Arbeit, mußte wieder aufgeben, da ich nicht fähig war, eine schwere Arbeit zu verrichten. Bei einem Neubau von Kasernen wurde ich nach Hause geschickt, weil sich SA-Männer über mich beschwerten. Von Fenstereinwerfen bis zur Androhung des Verbots der Gewerbeausübung (Hausieren ohne Betriebskapital gleich Betteln) wurde ich hin- und hergeworfen, was mich mit meinen Nerven vollständig fertig machte. 1936 kam ich zur Reichspost als Stundenhelfer, 1938 wurde ich mit noch acht Kollegen nicht mehr beschäftigt, weil ich keiner [NS-]Gliederung angehörte. Ich unterstützte meine Frau durch Hilfe bei einem kleinen Markthandel. Durch die Androhung, mir alles zu verbieten, gab man mir den Rat, irgendwo beizutreten. [Faltenbacher meldete sich am 9. November 1939 zur N S D A P und wurde sofort bei Flußbauarbeiten eingesetzt, später erhielt er eine Stelle bei Witt.] Ich wurde nach 14 Tagen Arbeit bei meinem ersten Arbeitsplatz [Witt] zum Vertrauensrat gewählt und nach einer Woche von der [NSDAP-] Kreisleitung abgesetzt. 1945 erkrankte ich öfters und wurde 1946 mit 70 Prozent Erwerbsminderung Invalide. 1950 wurde mir die Rente wieder entzogen.«
Johann Faltenbacher, aus Not und unter Gewissensqualen »Pg.« geworden, war 1945 sofort wieder in die SPD eingetreten. 1948 Mitglied des Wohnungsausschusses, galt er danach als verbittert. Die Begründung, mit der ihm Leistungen aus dem Entschädigungsgesetz verweigert wurden, macht dies verständlich : •Der Antragsteller hat jedoch durch seinen nach der Inhaftierung vollzogenen Beitritt zur N S D A P der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet und hat somit nach § 1, Abs. 2 Ziff. 1 EG seinen Anspruch auf Wiedergutmachung verwirkt.«
Der Maurer Alfred Lang (geb. 1900), Mitte 1933 bereits einmal in Schutzhaft, wurde im Sommer 1935 vom Amtsgericht Weiden wegen »heimtückischer« Äußerungen über Hitler und Verwendung des »Heil Moskau«-Grußes zu sechs Wochen Haft verur» BLEA (Anton Nirschl). " BLEA (Johann Faltenbacher). J
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teilt. Nach Strafverbüßung in Weiden war er, wie viele seiner Gesinnungsgenossen, zur Überstellung ins KL Dachau vorgesehen. Sein Fall zeigt, daß diesem Schicksal unter glücklichen Umständen entronnen werden konnte: Lang blieb das Konzentrationslager erspart, weil sich überraschend der Weidener Gefängnisoberwachtmeister Kühnlein für ihn einsetzte. Sozialdemokraten jüdischen Glaubens konnten auf solche Hilfe freilich am wenigsten hoffen; die Zerstörung ihrer bürgerlichen Existenz war bei der Verhaftung geradezu programmiert. Als Beispiel sei der gebürtige Weidener Karl Steiner (1892-1950) genannt 40 , der im Geschäft seines Vaters Dekorateur gelernt, 1914-1918 Heeresdienst geleistet und 1922 ein Abzahlungsgeschäft für Schnitt-, Weiß- und Wollwaren eröffnet hatte. Am 24. Juni 1933 verhaftet, saß der Vater von vier Kindern länger als alle seine Parteifreunde in Dachau ein: Als er am 18. November 1935 entlassen wurde, war sein Geschäft zugrunde gegangen, die Familie lebte von der Fürsorge. Steiner wanderte 1936 nach Palästina aus. Am 22. April 1945 besetzte die 11. US-Panzerdivision Weiden. Als deren Kommandant zwei Tage später erste Besprechungen über die politische Zukunft der Stadt ansetzte, beteiligte er daran u. a. auch den Sozialdemokraten Gottlieb Linz. Nachfolger von NS-Oberbürgermeister Harbauer sollte jedoch - mit Zustimmung der Sozialdemokraten - der ehemalige BVP-Reichstagsabgeordnete und Rechtsanwalt Dr. Joseph Pfleger werden, den eine Delegation unbelasteter Weidener zu diesem Zweck aufsuchte. Pfleger, über den an anderer Stelle dieses Bandes ausführlich berichtet wird, war als unerbittlicher NS-Gegner bekannt; noch in der »Reichskristallnacht« hatte er sich für jüdische Mitbürger eingesetzt. Ein von den SPD-Stadträten Gottlieb Linz, Nikolaus Rott und Josef Tröger 1946 verfaßter Bericht41 schildert das erste Gespräch und die von Unsicherheit geprägte Stimmung in der Stadt: »Sie [die Teilnehmer am Gespräch mit dem amerikanischen Kommandanten] gingen zu Dr. Pfleger und wollten ihn in der Wohnung aufsuchen, um ihm diesen Vorschlag zu bringen, unterwegs traf noch Xaver Heuberger zu der Gruppe. Als den Genannten nach längerem Läuten an der Haustüre nicht geöffnet wurde, gingen sie weg und trafen unmittelbar am Haus Dr. Pfleger in Begleitung von Prof. Bronold. An der Haustüre, die verschlossen war, unterbreiteten die Anwesenden ihren Vorschlag, der von Dr. Pfleger hier abgelehnt wurde. Nach längerem Drängen erklärte Dr. Pfleger, gehen Sie durch die Hintertüre in die Wohnung, dort werden wir weiter verhandeln. (Befürchtung vor Beobachtung und Werwolf war der Grund zu dieser Vorsicht.) Dr. Pfleger und Bronold gingen durch die vordere Haustüre in das Haus. Oben in der Wohnung wurden die Verhandlungen fortgesetzt und Dr. Pfleger lehnte ab, was begreiflich war, da die Vorschlagenden 6 Arbeiter waren. Die Anwesenden erklärten Dr. Pfleger, sie werden noch weitere Personen aus der Bevölkerung zuziehen und morgen wieder vorsprechen. Dr. Pfleger war mit diesem Vorschlag einverstanden.«
Schon am 25. April einigte man sich auf Pfleger als 1. und Nikolaus Rott als 2. Bürgermeister. Als Berater fungierten Xaver Heuberger und Gottlieb Linz, die zusammen mit Josef Tröger und dem aus Schweden zurückgekehrten Fritz Ecker am 1. September 1945 die Weidener SPD wieder begründeten - zunächst allerdings nur »inoffiziell«, da die Genehmigung zur politischen Betätigung durch die US-Militärbehörden erst am 28. Dezember 1945 erteilt wurde 42 . Erster Vorsitzender wurde (bis 1947) Xa40 41 42
BLEA; siehe auch S. 501, Anm. 18. Bayer, a.a.O., S. 104. Auf Landesebene wurde die SPD erst am 9. Januar 1946 lizenziert.
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ver Heuberger, Werkmeister im Eisenbahnausbesserungswerk. Die regionale Reorganisation der SPD begann im Oktober 1945 mit der Gründung des Bezirks Niederbayern/Oberpfalz. Nikolaus Rott, der sich in seiner Eigenschaft als Stadtbeirat zudem um die wirtschaftlichen Belange Weidens kümmerte, faßte schriftlich die Erfahrungen und Umstände seines Lebens zusammen 4 3 : »Am 15. Januar 1891 bin ich in Weiden geboren. In den Jahren 1897 bis 1904 besuchte ich die Volksschule in Weiden, die darauffolgenden drei Jahre hatte ich Berufsausbildung als Maschinenschlosser. Von 1907 bis 1911 war ich als Maschinenschlosser tätig. Vom 19.10.1911 bis 24.9.1913 war ich aktiv beim Militär. Vom 3.8.1914 bis 3.3.1916 machte ich Kriegsdienst. Anschließend wurde ich als Maschinenschlosser zur Maschinenfabrik Maffei nach München abkommandiert und war dort bis 4.1.1919. Von 1916 bis 1919 war ich beim Metallarbeiterverband. Im Jahr 1919 trat ich in das Arbeitsverhältnis der Deutschen Reichsbahn als Maschinenschlosser ein. Als Funktionär des Einheitsverbandes der Eisenbahner Deutschlands war ich als Betriebsrat beim BW [ = Betriebswerk] Weiden in ununterbrochener Folge. 1927 kam ich in den Bezirksbetriebsrat der Reichsbahndirektion bis 1929. Im Jahr 1930 war ich im Hauptbetriebsrat der Gruppenverwaltung Bayern in München. 1931 bis 1933 wieder im Bezirksbetriebsrat der Reichsbahndirektion in Regensburg. Außerdem war ich beim Arbeits- und Landgericht als Schöffe und Geschworener und anderen Korporationen tätig. Von 1919 bis 1933 war ich Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. 1928 bis 1933 wurde ich als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei in den Stadtrat gewählt. Von 1926 bis 1933 war ich als Referent der SPD sowie des Einheitsverbandes der Eisenbahner Deutschlands bei vielen Wahl- und Agitationsversammlungen im Landkreis Weiden/Opf. und Neustadt/WN und darüber hinaus tätig. Im Jahr 1933 bei der Machtergreifung der NSDAP wurde ich aus allen vorher genannten Ehrenämtern entfernt und aus dem Arbeitsverhältnis der Deutschen Reichsbahn entlassen. Am 28. Juni 1933 mußte ich einen Vertragsschrankenwärterposten in Kemnath/Neusorg annehmen, durch diesen Posten wurde ich um mehr als die Hälfte meines Einkommens geschädigt; außerdem war mir durch diesen abseits gelegenen Posten jede Verbindung mit meinen früheren politischen Freunden genommen. Meine Kinder wurden von der NSDAP in ihrem Vorwärtskommen stark geschädigt. 5 Jahre war ich auf diesen Posten verbannt. Am 29. Juni 1933 morgens 6 Uhr fuhr ein Auto mit 6 SA-Männern alle mit aufgepflanztem Gewehr vor meine Wohnung in Weiden um mich zu verhaften und in das Konzentrationslager Dachau einzuliefern, da ich jedoch aufgrund meiner zwangsweisen Versetzung nicht mehr in Weiden war, konnte ich mich dieser Verhaftung entziehen. 1938 kam ich wieder nach Weiden zurück, durfte aber bei meiner früheren Dienststelle nicht mehr eintreten, da angeblich durch mich der Werksfriede gestört würde. Außerdem wurde mir jede Möglichkeit zum Eintritt in die Beamtenlaufbahn genommen. Nicht zuletzt möchte ich noch erwähnen, daß ich Frau Dr. Hoffmann, eine Jüdin, 1 Jahr und 2 Monate (von 1944 bis Einzug der Amerikaner) in meiner Wohnung aufgenommen hatte, um sie vor dem Zugriff der Gestapo zu bewahren44. Nachdem ich als Gegner der NSDAP und deren Bestrebungen bekannt war, war das für mich ein besonderes Risiko, dessen ich mir aber vollständig bewußt war.« Als Bürgermeister Pfleger noch vor den ersten Kommunalwahlen zurücktrat, wurde der frühere SPD-Stadtrat Josef Tröger (geb. 1898) am 24. August 1945 neuer kommissarischer Bürgermeister Weidens. Tröger hatte die Erfahrungen eines KZ-Häftlings zweimal machen müssen: Ab Juli 1933 für ein halbes Jahr in Dachau und im Herbst 1944 noch einmal in Flossenbürg. Als Ortsvorsitzender von 1952-1956 zählte Tröger
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Freundlicherweise von Karl Bayer zur Verfügung gestellt. Dieses wurde dem Verfasser von Michael Brenner bestätigt. - Soeben erschienen Brenner, Michael : Am Beispiel Weiden. Jüdischer Alltag im Nationalsozialismus. Würzburg 1983.
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Anton Großmann
zu den führenden Männern der Weidener Nachkriegs-SPD, die verstärkt durch Beitritte zahlreicher Heimatvertriebener, bei den Stadtratswahlen am 26. Mai 1946 zehn von 28 Sitzen erhielt (CSU 16, KPD 1, Parteilose 1). Sechs dieser Sitze nahmen Sozialdemokraten ein, die 1933 den Nationalsozialisten hatten weichen müssen: Josef Tröger, Fritz Ecker, Nikolaus Rott, Xaver Heuberger, Franz Mörtl jun. und Gottlieb Linz45.
V I . SCHÖNWALD
Ins oberfränkische Schönwald kam, so ließe sich zugespitzt formulieren, die Politik erst über das Porzellan: Als dort 1902 ein kleiner SPD-Ortsverein gegründet wurde, war die Partei in der zum Landkreis Rehau gehörenden 2000-Seelen-Gemeinde noch konkurrenzlos - und daß sie entstand, hing direkt mit Schönwalds Industrialisierung zusammen, gleichbedeutend mit dem Beginn großangelegter Porzellanfabrikation1. 1879 hatte Johann Nikolaus Müller eine Porzellanfabrik gegründet und innerhalb eines Jahrzehnts auf 10 Brennöfen erweitert. Als die Privatfirma kurz vor der Jahrhundertwende in die Aktiengesellschaft Porzellanfabrik Schönwald umgewandelt wurde, drückte nicht zuletzt der neue Name die unauflösbare Verbindung der Gemeinde mit der Porzellanherstellung aus. Zwar erhielt Schönwald erst 1906 einen Bahnanschluß (Linie Hof-Eger), aber die sonstigen Standortbedingungen - eine waldreiche Umgebung, dazu die Bodenschätze Kaolin, Feldspat und Quarz - veranlaßten zwei Söhne Müllers schon im Jahr zuvor ihre Malzfabrik ebenfalls in ein Porzellanwerk umzubauen (Porzellanfabrik E. und A. Müller). Noch während des Ersten Weltkriegs entstand die Porzellanfabrikation Dümmler & Co., 1925 ebenfalls von E. und A. Müller übernommen. Eine von einem weiteren Sohn J. N. Müllers 1922 eröffnete Porzellanfabrik mußte allerdings schon 1925 der väterlichen Porzellanfabrik Schönwald eingegliedert und in der rückläufigen Exportphase 1930 stillgelegt werden. Als die am Ortsrand, auf einer Anhöhe und in der Nähe des Bahnhofs angesiedelten insgesamt vier Porzellanfabriken 1927 mit dem thüringischen Konzern Kahla fusionierten, trat die für Schönwald charakteristische Tatsache einer vollständigen industriellen Monokultur besonders deutlich hervor. Hier im Wald brannte nur die »Fackel der Porzelliner«. Die Herstellung des Porzellans hatte nichts vom Luxus des edlen Endprodukts: dichter, feiner Porzellanstaub und die Hitze der Brennöfen machte die Akkord-Handarbeit zum Gesundheitsrisiko. So lange sich die Produktionstechnik nicht änderte, erzwang die ständige Expansion auch ein ständiges Anwachsen der Arbeiterschaft. Bei einem Frauenanteil von etwa 40 Prozent verdreifachte sich die Zahl der Schönwalder 4S
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Ferner waren vertreten Hans Albrecht, Anna Zetzl, Josef Müller. - Am 8.6.1946 wurde die Zahl der Stadträte auf 31 erhöht, davon 11 für die SPD. Fritz Meier kam neu hinzu und Karl Zrenner rückte für den ausscheidenden Franz Mörtl jun. nach. Zur Industrialisierung siehe Wohlrab, Hans: Schönwalder Heimatbuch. Geschichte einer Stadt im Fichtelgebirge und ihrer Nachbarschaft. Hrsg. von der Stadt Schönwald. Schönwald 1968; sowie: Schönwald 1879-1979. Das Buch vom Hotelporzellan. Schönwald 1979.
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Porzellanarbeiter innerhalb von kaum fünfzehn Jahren auf 950 im Jahre 1910 und erlebte 1925 ihren Höchststand bei etwa 1300. Die Einwohnerzahl der Porzellangemeinde, von 1890 bis 1900 um etwa 700 angewachsen, stieg bis 1910 nochmals um 1100 auf 3114 an2. Nach den Absatzstockungen des Jahres 1925 sank sie freilich ebenso3 wie nach dem Preisverfall4 der Jahre 1929-32. Die zur Herstellung hochwertiger Porzellanwaren benötigten Facharbeiter kamen aus Schlesien, Thüringen, dem Rheinland und aus Italien, die Hilfsarbeiter aus Böhmen und aus der Oberpfalz; 1925 lebten 558 Ausländer in Schönwald. Mit dem Zuzug der Porzellanmaler und -dreher änderte sich Schönwalds Konfessionsstruktur erheblich: 1890 noch rein evangelisch, wies sie ab dann ständig ein Drittel Katholiken auf. Die Arbeiter siedelten meist in kleinen, mit Unterstützung der Porzellanfabriken erbauten Häusern oder Werkswohnungen entlang der Hauptstraße. Zu den Bauern hielten sie sozial wie räumlich Abstand: deren Höfe lagen von der Straße abgesetzt, direkt in den Äckern und Wiesen. 1890 kam es zur Gründung lokaler »Maler-, Dreher- und Brennerpersonalen«, die sich wenige Jahre später der Gewerkschaft Keramischer Bund im Fabrikarbeiterverband anschlossen5. Bei einer Gewerkschaftsversammlung im Oktober 1902 wurde dann - auf Initiative des Porzellanmalers Adolf Meier - die Sozialdemokratische Partei ins Leben gerufen 6 , mit bald üppig sprießenden Nebenorganisationen: Arbeiterturn- und Sportverein, Arbeitergesangvereine »Sytnphonia« (gegr. 1907) und »Fidelio» (gegr. 1927), Arbeiterradiobund, Arbeiterradfahrerbund »Solidarität«, Arbeitersamariter und Sozialistische Arbeiterjugend, die u.a. das Esperanto pflegte; im Gemeinnützigen Bauverein (gegründet 1909) war der sozialdemokratische Einfluß nicht zu unterschätzen. Unter den 12 Gemeindebevollmächtigten des Jahres 1905 findet sich neben sechs Handwerksmeistern 7 , drei Landwirten, einem Förster und einem Kaufmann nur ein Sozialdemokrat: Martin Richter, auf der offiziellen Wahlergebnisliste als »Geschäftsführer« bezeichnet, war zugleich Gewerkschaftssekretär. Ihm folgten 1912 Michael Mündel (geb. 1886) und Kaspar Scherer, letzterer ebenfalls Geschäftsführer und erster SPD-Ortsvorstand. Im Juni 1919 bekam Scherer das Bürgermeisteramt übertragen. Der politische Machtwechsel in der Form der Ablösung der bis dahin tonangebenden Honoratioren (Holz- und Getreidehändler, Landwirte) durch die mehrheitlichen Porzellanarbeiter hinkte fast eine Generation hinter dem ökonomischen Strukturwandel Schönwalds her. Mit dem Porzellanoberdreher Johann Höfer, erster Kassier des SPDOrtsvereins, stellte die SPD-Mehrheit des Gemeinderats auch den 2. Bürgermeister.
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1880: 1144 Einwohner, 1890: 1336, 1900: 2003, 1910: 3114, 1916: 2643, 1919: 3049. 1925:3570, 1935:3526, 1939:3273. Zur Wirtschaftslage der Porzellanindustrie in der Wirtschaftskrise siehe Eiber, Ludwig: Arbeiter in der NS-Herrschaft. Textil- und Porzellanarbeiter im nordöstlichen Oberfranken 1933-1939. München 1979 - sowie die dort angegebene Literatur. 70 Jahre SPD-Schönwald. 1902-1972. Hrsg. vom SPD-Ortsverein Schönwald 1972; 75 Jahre SPDSchönwald 1902-1977. Hrsg. vom SPD-Ortsverein Schönwald 1977. Zur Geschichte des SPD-Ortsvereins Schönwald bis zum Jahr 1933 wurde von Herrn Helmut Kitter, dem dafür sehr herzlich gedankt sei, umfangreiches Archivmaterial zur Verfügung gestellt, auf dem diese Ausführungen weitgehend beruhen. Schmied, Flaschner, Schuhmacher, Bäcker, Maurer, Metzger - also die typischen nichtbäuerlichen Berufe, die zuerst in einem Ort auftauchen.
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Dieser Dokumentation sozialdemokratischer Vorherrschaft waren Ereignisse kurz vorausgegangen8, die mit dem Typus »Industriegemeinde«, dem Schönwald längst zuzurechnen war, schwerlich vereinbar scheinen. Die geradezu archaisch anmutenden Geschehnisse machten allerdings schlaglichtartig klar, daß es sich um eine Industriegemeinde handelt, die inselartig isoliert in einem ärmlich-agrarischen Umland lag, in einer Hungerleidergegend, deren massive Unterentwicklung - zumal in wirtschaftlichen Krisenzeiten - sichtbar hervortrat. In dem strengen Winter 1918/19, als die Auftragslage der Porzellanfabriken infolge der politischen Umwälzungen in Schönwald zu Arbeitslosigkeit und existentieller Not führte, suchten sich die Arbeiter das Brennholz für den oft einzigen Wohnraum, der ihnen für eine ganze Familie zur Verfügung stand, in den umliegenden Wäldern zusammen - verbotenerweise, denn Kammerherr Arno Achim von Armin, dem zwei Drittel des Schönwalder Stadtforstes gehörten, hatte trotz Bitten des Arbeiter- und Bauernrates eine billige Abgabe verweigert. So gingen auch die Arbeiter verstärkt zum Holzdiebstahl über, seit altersher eine Form bäuerlicher Selbsthilfe und Auflehnung gegen feudales Herrenrecht. Am 12. März 1919 traf der Kammerherr in seinen Wäldern auf eine Gruppe von Arbeitern, Frauen und Kindern, die Holzstöcke ausgrub. Im folgenden Handgemenge erschoß von Armin den Porzellansortierer Hans Küspert. Uber den weiteren Hergang gibt es unterschiedliche Versionen. Sicher ist, daß die aufgebrachten Frauen den Kammerherrn sofort mit Stockwurzeln traktierten und in einem wilden Zug in die Stadt führten. Michael Mündel, genannt der »Rote Muck·, wurde eigens aus der Fabrik geholt. Es kam zu der seit langem erwarteten Konfrontation zwischen dem für seine Radikalität bekannten, wegen politischer Vergehen und Körperverletzungen vielfach vorbestraften Volkstribun, und dem geizig-autoritären Herrn von Sophienreuth. Mündel schlug mindestens einmal auf von Armin ein, doch offensichtlich hatten sich auch andere erregte Arbeiter an der Lynchaktion beteiligt. Der Kammerherr starb in der Krankenkutsche auf dem Weg nach Selb. Der Schönwalder Anzeiger, damals Sprachrohr des Arbeiter- und Bauernrates, nahm eindeutig Stellung: »Ein tüchtiger braver Mensch, der Küspert, der im Krieg so schon zum Krüppel gemacht worden war, ist hingemordet worden, wegen Entnahme einer Ware, die in schier unverbrauchter Menge vorhanden ist. D e r Mörder ist vom Volk gerichtet worden.«
Mündel wurde zusammen mit drei Fabrikarbeitern aus Böhmen und Hof wegen Landfriedensbruch (!) in Untersuchungshaft genommen. Der Arbeiter- und Bauernrat schrieb daraufhin der Hofer Staatsanwaltschaft, »... daß es die hiesige organisierte Arbeiterschaft nicht versteht, warum vier ihrer Genossen nun schon seit 14 Tagen in Gefangenschaft schmachten müssen. J e länger diese gefangen gehalten werden, um so größer wird die Erbitterung und Empörung unter der hiesigen organisierten arbeitenden Bevölkerung, die Mann für Mann mit großer Sympathie zu den Verhafteten steht. U m nun einen gewaltigen Aufstand, der unausbleiblich scheint, wenn die Haft der vier Personen noch länger anstehen sollte, zu verhüten, verlangen wir deren sofortige Entlassung. Sollte diesem
• Die Rekonstruktion dieser Ereignisse beruht auf der Schilderung, die dankenswerterweise Christof Schardt in seinem Schreiben an den Verfasser vom 17. Dezember 1981 gegeben hat und auf der Radiosendung Der Graf von Sophienreuth (Dokumentation über den gewaltsamen Tod des Kammerherrn Arno Achim von Arnim) von Thomas Gaitanides, die aber recht einseitig ist.
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unseren Verlangen nicht sofort entsprochen werden, würde der unterzeichnende Arbeiter- und Bauernrat nicht mehr in der Lage sein, die Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten.·
Tatsächlich führte die Drohung zur Aufhebung der Haftbefehle und vor dem Landgericht erhielten die Beschuldigten am 11. April 1919 nur geringe Strafen zugesprochen. In der Umgebung freilich sprach man von den Schönwaldern noch lange als den »Grafenmördern«, zumal im November 1919 auch das Schloß des Kammerherrn abbrannte. Mit welchen Emotionen diese Vorgänge noch heute befrachtet sind, zeigt der Brief eines Nachgeborenen an den Verfasser, in dem der Sohn eines Mitglieds des Arbeiterrats Wert auf die Feststellung legt, der Arbeiterrat habe das gräfliche Schloß nach dem Tode v. Armins vor Plünderungen geschützt; der Brand dürfe »mit der Arbeiterbewegung in Schönwald in keiner Weise in Verbindung gebracht 'werden«. Diese wie die Reaktion des (nicht industrialisierten) Umlands zeigt, daß die Geschehnisse vom Frühjahr 1919 erhebliche Nachwirkungen auf Selbstverständnis und Politikbewußtsein von Schönwalds Arbeiterschaft und Arbeiterparteien gehabt haben müssen; solches im einzelnen nachzuweisen, erlauben freilich weder die Quellenlage noch der thematische Schwerpunkt dieser Dokumentation. Die nahezu vollständig im Fabrikarbeiterverband organisierten Porzellanarbeiter befolgten den Streikaufruf von Gewerkschaften und SPD anläßlich des Kapp-Putsches 1920 in Schönwald streng. Lohnstreiks sind aus den Jahren 1923 und 1926 überliefert. Eine Volkswehr, die sich damals formierte, beschlagnahmte in den umliegenden Bauerndörfern Waffen und trat 1924 als republikanische Schutztruppe auf. Auf Vorschlag von Hermann Werner integrierte sich diese Volkswehr in das 1926 gegründete sozialdemokratische Reichsbanner, das sich unter der Führung von Hans Graf zu einer mitgliedsstarken Organisation entwickelt hatte - wie überhaupt das Reichsbanner im SPD-Unterbezirk Nordostbayern durch seine Mannschaftsstärke auffiel. Hermann Werner, Geschäftsführer des Konsumvereins, seit 1907 führendes SPDMitglied in Schönwald, war bei den Gemeindewahlen 1924 zum Bürgermeister gewählt worden; er sollte dieses Amt bis zum 21. März 1933 ausüben. Mit 15 Beschäftigten aus Porzellanfabriken, darunter zwei Frauen9, und vielen Porzellanmalern und -drehern, den Spitzenverdienern der Branche, war die SPD zu diesen Wahlen angetreten 10 - die Hälfte ihrer Kandidaten unter 36 Jahre alt. Auch auf der Wahlliste der Kommunisten standen fast ausschließlich Porzellanarbeiter, allerdings minderqualifizierte wie Packer, Heizer und Einfüller. Selbst die dritte Wahlvorschlagsliste, die der bürgerlichen Wählervereinigung, präsentierte neben Handwerkern und Bauern ein Viertel Porzellanarbeiter: Schleifer, Brenner und Dreher - bezeichnendes Indiz für die einseitige Wirtschaftsstruktur der Gemeinde. Die sozialdemokratische Mehrheit Schönwalds bewies sich bei allen Land- und Reichstagswahlen (nicht zuletzt natürlich deshalb, weil die SPD bis 1929 als einzige Partei vor Ort organisatorisch vertreten war) während sich bei Personalentscheidungen oder Gemeindewahlen zwei nahezu gleich große Blöcke sozialistischer und bürgerlicher Anschauung gegenüberstanden. Bei der Reichstagswahl am 20. Mai 1928 bezwang die SPD mit 988 Stimmen die übrigen Parteien klar11, bei der Reichspräsiden9
Porzellangießerin Jette Puchta und Porzellaneinfahrersehefrau Fanny Fuchs. An sonstigen Berufen waren vertreten : 2 Gemüsehändler, I Steinhauer, 1 Friedhofswärter und eben Hermann Werner. " NSDAP 194, DNVP 149, Mittelstandspartei 92, DDP 51, Β VP 47, KPD 40, DVP33. 10
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tenwahl am 26. April 1925 dagegen hatte der SPD-Kandidat Marx mit 819 Stimmen nur knapp die Oberhand über Hindenburg (694) - Thälmann spielte mit 36 Stimmen keine Rolle - behalten. Nach der Gemeindewahl 1929 saßen den 7 SPD-Vertretern 12 ebenfalls 7 aus mittlerweile zwei freien Wählerschaften gegenüber und die Wiederwahl Herrmann Werners zum Bürgermeister konnte nur mittels einer Wahlabsprache erreicht werden, die einem Landwirt das Amt des 2. Bürgermeisters zugestand. In der Wahlnacht des 5. März 1933 versammelte sich das Reichsbanner im Schönwalder Konsum-Laden, um einen erwarteten Sturmangriff der Nationalsozialisten abzuwehren. Tatsächlich schien es zunächst, als könnte der lokalen Machtübernahme der NSDAP begegnet werden. Willy Werner, der Sohn des damaligen SPD-Bürgermeisters, hielt die Ereignisse in Tagebuchnotizen fest, die 1968 ausschnittweise in der Oberfränkischen Volkszeitung erschienen 13 : »Am Wahlsonntag ist das Wahlergebnis noch nicht bekannt, als durch Schönwald die Kunde eilt: Auf dem Rathaus weht die Hakenkreuzfahne! Die Erbitterung in der Arbeiterschaft ist ob solcher Schandtat groß und nur mit Mühe gelingt es, unüberlegte Schritte zu verhindern, die den Nazis Vorwand zu neuem Terror liefern würden. Trotzdem wird die Fahne wieder herabgeholt... Auf dem Schönwalder Rathaus wehen vier Tage später die Fahnen der Nazis, der Leidensweg ihrer politischen Gegner beginnt. Max Herrmann wird in >Schutzhaft< genommen. Ein heimliches Murren geht durch Schönwald. Es nutzt nichts, daß sich Gregor Bauer dem Polizeikommissar als Bürge anbietet. Die Nazis feiern mit Fackelzügen ihren Sieg. Die Fahnen der Sozialisten, deren sie habhaft zu werden vermochten, übergaben sie dem Feuer. Hans Graf folgt Max Herrmann in die >SchutzhaftNazifresserhat man zur Strecke gebracht«. Die Oberfränkische Volkszeitung darf nicht mehr erscheinen. Am 15.3. müssen die Schönwalder SPD-Funktionäre nach Hof. Am Hofer Hauptbahnhof werden sie verhaftet und wie Verbrecher über die Gleise zur Bahnhofswache geführt. Schließlich muß man sie wieder freilassen und als sie nach Schönwald zurückkehren, werden sie dort von der SA erwartet und kontrolliert. Auch Willy Werner wird nachts aus dem Bett geholt und vernommen. Bürgermeister Hermann Werner zwingen die Nazis, sein Amt niederzulegen ... Am 4.4. werden alle angeblich marxistischen Arbeitervereine, d.h. alle Arbeitergesangvereine aufgelöst. SA und sogenannte Sicherheitsorgane durchsuchen am 12.4. den ganzen Ort. Angeblich sollen Waffen versteckt sein. Tatsächlich aber geht die SA auf Raub aus, um das Vermögen und die Symbole der Arbeiterorganisationen sicherzustellen« und die Bevölkerung einzuschüchtern. Nach der Gemeindewahl geben in der ersten Sitzung am 25.4. im Rathaus die Nazis den Ton an. Ihr Sprecher kündet mit einem Faustschlag auf den Tisch, daß nun sie zu bestimmen hätten. Zur Wahl des zweiten Bürgermeisters nominiert die SPD Hermann Werner, die NSDAP Adam Wunderlich. Die Vertreter der Bayerischen Volkspartei erklären, sie wollten dem >kleineren< Übel zustimmen und den Kandidaten der NSDAP wählen. Wunderlich wird damit zweiter Bürgermeister. Bei Lindig erörtern die Sozialdemokraten das Geschehene. - Der 1. Mai wird zum >Nationalen Feiertag< proklamiert und alle sind gezwungen, den Rummel mitzumachen. Rechtzeitig verlassen die Sozialdemokraten den >Festzug< und treffen sich bei Lindig. Es gibt eine freudige Nachricht: Max Herrmann ist wieder frei! Aber der 2. Mai bringt neue Aufregung. Um 9 Uhr sammeln die Nazis. Im Rathaus wird der Geschäftsführer des Konsumvereins Schwarzenbach/S., Otto Stang, verhaftet. Bewaffnete SA nimmt Haussuchungen beim Konsum, im Bauverein und bei den Gewerkschaften vor und >revidiert< Kassabücher. ... In Schönwald findet die Gleichschaltung der Gewerkschaften am 16. Mai bei Lorenz König statt ... Der Entschluß der Schönwalder SPD, ihre Gemeinderatsfraktion aus ihren Ämtern zu-
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Hermann Werner (Geschäftsführer), Balthasar Müller (Gastwirt), Gregor Bauer (Porzellanmaler), Hans Werner (Porzellandreher), Michael Mündel (Kaufmann), Hans Lindner (Steinhauer), Paul Forbrig (Porzellanmaler). 11 Oberfränkische Volkszeitung vom 8. August 1963. - Dieser Zeitungsausschnitt wurde dankenswerterweise von Frau Rosa Opitz zur Verfügung gestellt.
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rückzuziehen, fällt nicht leicht, wird aber von den Anhängern verstanden und begrüßt. Neue Haussuchungen folgen am 16. Mai ... A m 3 0 . 6 . werden in den frühen Morgenstunden Herrmann Werner, Balthasar Müller, Gregor Bauer und Max Mündel verhaftet. Gleichzeitig werden Gregor Bauer und Hans Werner ihrer Funktionen beim Fabrikarbeiterverband enthoben. Die Nazis fordern die Herausgabe des Zeltes der Arbeiterjugend und drohen mit neuen Verhaftungen ... Die Inhaftierten kamen wieder auf freien Fuß. A m 2 0 . 9 . sind die beiden Söhne [Kurt und Modelleurlehrling Adolf - 1943 in Rußland gefallen] von Balthasar Müller an der Reihe, der Jüngste ist erst 16 Jahre alt.·
Drei Wochen später sollte auch noch der dritte Sohn der Familie zu spüren bekommen, was Sippenhaft bedeutet - schließlich war der Porzellanmaler Balthasar Müller (geb. 1894) seit 14 Jahren Vorsitzender von Schönwalds SPD gewesen und in den Augen der Nationalsozialisten damit Inbegriff eines »marxistischen Funktionärs«. Jungsozialist Fritz Müller wurde am 12. Oktober 1933 festgenommen: als Begründung diente sein von der Polizei beobachtetes Verhalten anläßlich der Verhaftung seiner Brüder: »Am 20. September 1933 nachmittags 5 Ά Uhr kamen sie anläßlich des Abtransports ihrer auf Anordnung des Bezirksamtes Rehau in Polizeihaft genommenen beiden Brüder nach Hof, in den Schalterraum der Bahnstation Schönwald, woselbst sie in Anwesenheit mehrerer Personen laut schimpften und schrien und dabei auch die Äußerung machten: Leut' schaut nur her, unschuldige Buben werden verhaftet. Mein Bruder habens aus der Gemeinde nausgschmissen, damit ein anderer hinein konnte, das ist lauter Bonzenwirtschaft, warts nur, warts nur, wir kommen auch schon wieder einmal dran, dann werden wir es ihnen schon beweisen.« 14
Balthasar Müller selbst hatten die Nationalsozialisten vom 15. März bis 2. Mai 1933 im Gefängnis St. Georgen in Bayreuth festgehalten15; darüber arbeitslos geworden, fand er erst lange nach seiner Freilassung in Thüringen eine schlechter bezahlte neue Anstellung. Selbst vor Müllers Frau machten die nationalsozialistischen Verfolger nicht halt: auch sie wurde 1933 wegen eines politischen Vergehens bestraft. Als das Jahr der Machtübernahme zu Ende ging, sah sich die fünfköpfige Arbeiterfamilie wirtschaftlich in eine schlimme Notsituation gebracht; als Begründung für die Entlassung Kurt Müllers, der am 5. März die Hakenkreuzfahne vom Rathaus geholt hatte, aus dem Gemeindedienst, diente das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Zwar hatten neben der Familie Müller noch etliche Schönwalder Sozialdemokraten böse Erfahrungen mit den neuen Machthabern zu machen, dennoch schnitten die Verfolgungsmaßnahmen hier - wo es zu keinerlei Denunziationen kam - weniger tief in das Parteigefüge ein als etwa in der in vielem vergleichbaren SPD-Hochburg Weiden. Dies zeigt sich etwa daran, daß es nur zu einem einzigen Sondergerichts-Verfahren gegen einen Arbeiter aus Schönwald kam (1933)16 und nur relativ »wenige« SPDMitglieder in KL-Haft genommen wurden. Freilich ist zu berücksichtigen, daß zahlreiche Sozialdemokraten ihren Arbeitsplatz verloren oder die Stadt verließen. Nach Dachau kamen der Maurer Max Mündel (geb. 1913), der Porzellandreher Gustav Schramm (geb. 1898) und der Volksschullehrer Johann Nikolaus Pitroff (geb. 1896), Kreisvorsitzender des Reichsbanners. »Claus« Pitroff, der den Spitznamen Zündholzkönig trug, da er den Arbeitslosen das Zündholz als Waffe empfahl, wurde nach seiner Haftentlassung (10.3.-24.4.1933 Gefängnis St.Georgen Bayreuth; 25.4.-1.5. BLEA (Fritz Müller). BLEA (Balthasar Müller). " Auskunft der Staatsanwaltschaft des OLG Bamberg vom 2. Dezember 1981. 14 15
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1933 KL Dachau, 2. 5.-7. 8. 1933 Gefängnis St.Georgen Bayreuth), zusätzlich mit Berufs· und Aufenthaltsverbot für Berneck (Kreis Bayreuth), seinem letzten Dienstort, belegt; 1935 eröffnete er einen Lebensmittelgroßhandel, nach 1945 wurde Pitroff Landrat17. Gegenüber einem Mann hatten die Nationalsozialisten allerdings offenbar schon frühzeitig härtestes Vorgehen beschlossen: Michael Mündel, der »rote Muck«, sollte seine Rädelsführerschaft während der Rätezeit auf das Schwerste büßen: Bereits einen Tag nach der Wahl am 5. März 1933 wurde Mündel in Schutzhaft genommen - die Angabe »zeitlich unbegrenzt«18 kam einem Todesurteil gleich. Schönwalds neuer NSBürgermeister ließ nach einiger Zeit denn auch Mundeis Wohnung kündigen, in der dessen pflegebedürftige Tochter lebte. Als Mündel schließlich 1942 im Konzentrationslager Flossenbürg starb, hatte er einen langen Leidensweg durch verschiedene Gefängnisse und Konzentrationslager hinter sich. Bezeichnenderweise hatten es Schönwalds Nationalsozialisten mit der Beseitigung symbolträchtiger sozialdemokratischer Sport- und Freizeiteinrichtungen ebenso eilig wie mit der Ausschaltung der lokalen Parteiprominenz. Der in solidarischer Aktion entstandene SPD-Sportplatz und eine dazugehörige Blockhütte wurden noch 1933 weitgehend zerstört bzw. beschlagnahmt und verkauft. Nach 1945 kämpften die Sozialdemokraten, organisiert im Zentralverein Schönwald, nicht von ungefähr - erfolgreich - um eine Entschädigung: Handelte es sich doch, wie Christoph Schardt später formulierte, um ein Beispiel für die »Einsatz- und Opferfreudigkeit der damals in unserer Bewegung organisierten Arbeiterschaft«19. Schardts eigener Lebensweg ist geradezu exemplarisch für diese Haltung: Im Alter von 14 Jahren Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ), drei Jahre später SPDMitglied und aktiv in den meisten Arbeitervereinen tätig, war der 1907 in Rehau geborene Porzellanmaler seit seiner Lehrzeit auch gewerkschaftlich organisiert. 1925 traf Schardt wie viele andere Porzelliner die Arbeitslosigkeit. Sich fest im sozialdemokratischen Milieu verankert zu wissen, gab einem 18jährigen damals dennoch beträchtlichen Halt. Schardt engagierte sich weiter in der Arbeiterjugend und stieg 1931 zum Leiter des SAJ-Unterbezirks Nordostoberfranken auf. In dieser Funktion erlebte er die NS-Machtübernahme und die formaljuristische Auflösung der SAJ durch das bayerische Innenministerium am 11. März 193 3 2 0 : »Wir versuchten natürlich immer wieder im kleinen Kreis zusammenzufinden, im großen war es nicht mehr möglich. Von auswärts kamen die jungen Leute zu mir (es gab damals immerhin 25 Ortsgruppen der SAJ im nordostoberfränkischen Raum) und fragten, was sie tun sollten. Auch von Nürnberg von der Bezirksleitung kamen Leute mit denen ich zusammen beriet: Wie wollen wir uns denn jetzt verhalten? Wollen wir etwas riskieren? Auch aus Arzberg kamen öfters Freunde [vor allem der Vorsitzende der SAJ Arzberg, Erwin Fürbringer], mit denen wir uns dann darauf festlegten: Wir wollen etwas tun. Wir beschlossen, die SAJ heimlich aufrechtzuerhalten BLEA (Claus Pitroff). " BLEA (Michael Mündel). " Vortrag von Christof Schardt über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung aus der Perspektive der Schönwalder Bewegung vor dem Zentralverein Schönwaid am 28. März 1980 in der Kantine der Porzellanfabrik Schönwald. 20 Hier und im folgenden Auszüge aus einem Interview mit Christof Schardt, dessen Abschrift er dankenswerterweise zur Verfügung stellte. - Siehe auch BLEA (Schardt). Herr Schardt hat darüber hinaus in einem Gespräch mit dem Verfasser am 29. Juli 1982 dankenswerterweise auch fehlerhafte Details dieser Abhandlung korrigiert. 17
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und mit SAJ-Gruppen in der CSR in Verbindung zu treten, um von dort Anweisungen zu beziehen. Wir glaubten damals noch, daß es nicht lange dauern würde, bis die Nazis wieder weg wären. So wollten wir etwas in den Händen haben, auf dem wir aufbauen konnten, wenn es soweit wäre.«
Im Herbst 1933 wurde Schardt mit einer Reihe weiterer Jungsozialisten, die ein Zelt der SAJ versteckt gehalten hatten, verhaftet. Schardts Schutzhaftbefehl sprach allerdings von »illegalen Verbindungen« in die Tschechoslowakei: »Aus der Schutzhaft wurde Untersuchungshaft und am 11.9.1933 wurde ich vor dem Amtsgericht Hof angeklagt wegen der Fortführung einer verbotenen Organisation und Kontakten zur CSR. Ich konnte die Anklageschrift in allen Punkten widerlegen und rechnete mit Bestimmtheit mit meiner Entlassung nach der Gerichtsverhandlung. Der Staatsanwalt sagte damals in seiner Anklagerede unter anderem: Gegen den Angeklagten Schardt ist ein direkter Beweis nicht zu erbringen. Nachdem er aber hartnäckig leugnet und sich gewieft verteidigt, ist er als ein gefährlicher Staatsfeind zu betrachten. Ich beantrage daher gegen ihn eine Gefängnisstrafe von 8 Monaten. Das Urteil lautete auf 6 Monate. Ich verbüßte etwa vier Wochen meiner Strafe im Nürnberger Gefängnis und, weil dort die Zellen überfüllt waren, den Rest in Hof. Im Februar 1934 wurde ich entlassen, nachdem zuvor ein Antrag auf vorzeitige Strafendassung abgelehnt worden war.«
In Schönwald hielt aber nicht nur die Nachwuchsorganisation der SPD einen zuverlässigen Kreis von Vertrauensleuten zusammen. Unter der Leitung des früheren Bürgermeisters Hermann Werner (geb. 1875 in Schlesien), der den Zeitungsschmuggel für ganz Nordbayern organisierte, suchten auch Aktivisten der Mutterpartei in geheimen Treffen Kontakt zu bewahren, verteilten sozialdemokratische Broschüren und sammelten zur Finanzierung dieser Aktivitäten sogar weiter Mitgliedsbeiträge ein. Beschlossen worden war dieses Vorgehen während eines Pfingsttreffens der Schönwalder SPD auf dem Waldstein im Juni 1933. Ab Juni 1934 traf Hermann Wemer auf seinen »Spaziergängen« in das tschechische Asch Vertreter der Sopade. Trotz scharfer Grenzkontrollen schmuggelte er, in Begleitung seiner Frau, seines Sohnes Willy, Christof Schardts oder Karl Waldmanns Kleinstdruck-Broschüren 21 in das Reich. Die Schriften wurden nur zur Eigenlektüre abgegeben, als »Rückgratstärke für Leute, die in der Sache fest waren«22. Von Schönwald aus ging das Material nach Hof und bis nach Schwarzenbach an der Saale. Die Broschüren für Hof, dort hauptsächlich an Jungsozialisten verteilt, holte die ehemalige Mitarbeiterin im SPD-Unterbezirkssekretatiat, Rosa Opitz (geb. Völkel), mit dem Fahrrad ab. Das Versteck im Schlauch oder in der Lampe bewährte sich mehr als einmal auch bei Durchsuchungen, die diese mutige Frau folgenlos überstand. Die Geheimhaltung der illegalen Arbeit funktionierte ungewöhnlich gut: erst die Verhaftungen im Juni 1935 offenbarten, daß noch vier weitere Sozialdemokraten aktiv am Zeitungsschmuggel beteiligt waren bzw. geschmuggelte Zeitungen erhalten hatten: die Porzellanmaler Hans Graf (geb. 1899), Robert Aechtner (geb. 1899) und Otto Andrischok (geb. 1883) sowie der Modelleinrichter Christian Herrmann (geb. 1901). Uber die Vorgänge bei ihrer Verhaftung liegt folgender Bericht an die Sopade vor23 :
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Darunter die Sozialistische Aktion, Fritz Eckers Buch Stätte des Grauens, verschiedene Tarnschriften (Die Kunst des Selbstrasierens, Piatons Gastmahl, Der Gallische Krieg) sowie Flugblätter und Klebezettel. Ausdruck von Christof Schardt. AsD, Emigr. Sopade Mappe 32, zitiert Eiber, a.a.O., S. 136.
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»Die Gestapo hat bei den Verhaftungen in Schönwald wilder gehaust als die SA bei den wilden Verhaftungen anfangs März 1933. Mit drei Autos kam die Gestapo angefahren. Da die ersten vier zu Verhaftenden in einer Straße wohnten, wurde diese von den Autos abgeriegelt, dann Trompetensignal, Kommando > Fenster zu< und dann gings hinein in die Wohnungen der zu Verhaftenden. Alles wurde durcheinander geworfen, jedes Bettstück herausgeworfen und die Angehörigen angebrüllt, wenn sie sich erlaubten zu sagen, man möge mit den Sachen doch etwas schonender umgehen, das Zeug werde ja so halb kaputt. Dann wurden die Männer in die Autos eingeladen und mitgenommen.· Alle vier g e h ö r t e n seit J a h r e n der S P D an (Andrischok seit 1 9 0 7 , Graf seit 1 9 2 2 , A e c h t n e r seit 1 9 2 5 , H e r r m a n n seit 1927), Graf und H e r r m a n n waren zusätzlich Mitglied des Reichsbanners,
A n d r i s c h o k war Kassier und Revisor des SPD-Ortsvereins,
H e r r m a n n war G e m e i n d e r a t gewesen - eine ungewöhnlich exklusive Liste, wie auch S P D - G r e n z s e k r e t ä r Hans Dill später v e r m e r k t e 2 4 : »Da nahm ... eine Gruppe von älteren Genossen in Schönwald in Oberfranken die Verbindung zu mir auf. Es waren durchwegs verheiratete Genossen in meinem Alter. Nur ein jüngerer Genösse war dabei, der das Material an sich nahm, damit keiner von den Älteren mit Material geschnappt wurde. Es waren die führenden Genossen Werner, vor Hitler Bürgermeister von Schönwald, und Andrischok darunter, und ich erklärte ihnen, daß ebenso groß wie die Freude des Wiedersehens meine Bedenken seien, daß gerade sie es machen. Aber ich mußte mit ihnen trotzdem einen Termin für eine nächste Zusammenkunft vereinbaren ...«. A u c h die Anklageschrift 2 5 des Oberlandesgerichts M ü n c h e n v o m 2 9 . O k t o b e r 1 9 3 5 zielte besonders auf den E x - B ü r g e r m e i s t e r ab: »Hermann Werner aus Schönwald knüpfte im Juni 1934 in Asch mit den dortigen sozialdemokratischen reichsdeutschen Emigranten und mit tschechischen Sozialdemokraten Beziehungen an, die dazu führten, daß Werner in der Folgezeit bis Juni 1935 regelmäßig mit illegalen Druckschriften der SPD, die allmonatlich über die Grenze geschmuggelt wurden, beliefert wurde. Werner kam mehrmals nach Asch, wo jeweils zwischen ihm und in der Tschechei sich aufhaltenden reichsdeutschen sozialdemokratischen Emigranten im Beisein tschechischer Sozialdemokraten Besprechungen stattfanden, die den Aufbau einer illegalen sozialdemokratischen Organisation im Reichsgebiet, die Einfuhr illegaler sozialdemokratischer Druckschriften nach Deutschland und die Einrichtung eines Nachrichtendienstes über die Grenze zum Gegenstand hatten.« A m 2 4 . April 1 9 3 6 wurde W e r n e r v o m Volksgerichtshof in Berlin zu sechs J a h r e n Z u c h t h a u s verurteilt, die er v o m 9. Juli 1 9 3 6 bis z u m 2. A u g u s t 1 9 4 2 in A m b e r g verbüßte. D e r gelernte Porzellanmaler sollte die Haftzeit nur u m ein Vierteljahr überleb e n : er starb a m 8. N o v e m b e r 1 9 4 2 2 6 i m A l t e r v o n 6 7 J a h r e n . H e r m a n n W e r n e r hatte bei den V e r h ö r e n keinen seiner Genossen preisgegeben, ja sogar Schuld auf sich g e n o m m e n , u m Christof Schardt und andere zu schützen. Graf und H e r m a n n wurden v o m O L G M ü n c h e n zu je 6 Monaten, A n d r i s c h o k u n d A e c h t n e r zu je 7 M o n a t e n G e fängnis verurteilt; A n d r i s c h o k k a m danach allerdings für m e h r e r e J a h r e in K L - H a f t . H a n s Graf, der s c h o n a m 15. März 1 9 3 3 aus politischen G r ü n d e n v o n der Porzellanfabrik entlassen worden war, blieb n a c h seiner Haft ( 2 5 . 7 . 1 9 3 5 - 2 5 . 1 1 . 1 9 3 6 ) m o n a t e -
" Erinnerungen des Grenzsekretärs Hans Dill vom 5. Dezember 1955, ASD, Nachlaß Friedrich Stampfer VIII c, Mappe 42. " OLG München, OJs 133/35; sie dazu auch weiter oben, S. 374 ff. " BLEA (Hermann Werner).
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lang arbeitslos, um schließlich eine minderqualifizierte Arbeit als Glasierer und Auslieferer zugewiesen zu bekommen. Am 15. April 1945 wurde er in Nißma (Thüringen) beim Hissen der weißen Fahne von der SS erschossen 27 . Auch Christof Schardt erhielt nach seiner Haftentlassung keine Arbeit mehr in seinem Beruf, sondern wurde zum Autobahnbau verpflichtet 28 : »Ich erhielt damals einen Stundenlohn von 48 RPf., davon mußte ich das Lagergeld (Lager Leupoldsgrün) bezahlen und am Wochenende die Heimfahrt. So blieb am Wochenende nicht mehr viel übrig. Samstags wurden wir mit einem LKW heimgefahren und am Sonntagabend wieder zurück. Daß darüber gemasselt wurde, ist selbstverständlich. Am 1. Mai 1934 mußten auch wir von der RAB nach Leupoldsgrün zur Maifeier reinmarschieren. Die Musikkapelle spielte das Lied Brüder aus Zechen und Gruben (das war die Melodie >Brüder zur Sonne zur Freiheit·). Wir sangen Brüder zur Sonne zur Freiheit, ob es von den anderen gehört wurde weiß ich nicht. Ein Kollege, der neben mir ging und erst vor kurzem aus dem KZ Dachau entlassen worden war, sagte zu mir >Mensch bist du verrückt?· Ich sagte, wenn sie es spielen, dann kann man es doch auch singen. Als die RAB 1935 fertig war, wurde ich entlassen und fand dann Arbeit in der Porzellanfabrik Winterling in Schwarzenbach/Saale, 1936 dann in der Porzellanfabrik Windisch-Eschenbach, wo ich in der Stunde 75-80 RPf verdiente und im Akkord auf wöchentlich 30-35 RM kam.« Während sich in Schwarzenbach, laut Schardt, die SAJ im Trachtenverein neu gesammelt hatte, beschränkten sich bei seiner Ankunft im oberpfälzischen Windischeschenbach politische Gespräche anfangs nur auf einen engen Kreis zuverlässiger Gesinnungsgenossen, zumal Schardt auch dort den Anpöbelungen lokaler NS-Funktionäre ausgesetzt war. Dennoch organisierte er, auch um seine eigene Isolation zu durchbrechen, eine mitgliederstarke Betriebssportgruppe als Gegeneinrichtung zu dem gleichgeschalteten Turnverein. Sein Organisationstalent und das Bemühen, Sozialdemokraten zusammenzuhalten, versetzte Schardt, wie er später schrieb, in eine Lage, die ihn »in einen echten Seelenkampf verwickelte. Mir wurde nämlich zu wissen gegeben, daß der Betriebssport im Betätigungsfeld von Kraft durch Freude läge und somit eine echte Einrichtung des Nationalsozialismus sei und leitende Funktionen in solchen Einrichtungen könnten nur von NSMitgliedern eingenommen werden. Das war für mich eine harte Feststellung, denn keineswegs wollte ich, daß der von mir aufgezogene Betriebssport meiner Leitung entzogen und in die Hände bedingungsloser Nationalsozialisten gegeben würde. So habe ich denn mit mir gerungen und bin nach langem ernsten, inneren Kampf zu dem gemäß meiner nach wie vor bestehenden politischen Anschauung sehr bitteren Entschluß gekommen, die mir angetragene Mitgliedschaft 1941 in der NSDAP anzunehmen - für mich kein leichter Entschluß, denn meine Gegnerschaft zum NS-Regime war unverändert. Ich wiederhole, die angenommene Mitgliedschaft war für mich eine ernste seelische Belastung. Eine gewisse Erleichterung brachte mir lediglich die Versicherung meiner alten politischen Freunde in Schönwald, die mich ja bis in den Kern hinein kannten, daß sie mein Tun keineswegs verurteilen, gemäß eines alten Wortes, wonach der Zweck die Mittel heiligt.«25 Aus Tarnungsgründen leitete Schardt auch die Gymnastikstunden der NS-Frauenschaft, gab aber bei seiner Einziehung zur Wehrmacht 1942 (Kriegsdienst in Rußland, Finnland, Norwegen) die NSDAP-Mitgliedskarte zurück. Als er 1947 aus der Kriegs-
BLEA (Hans Graf). " Siehe S. 518, Anm. 20. BLEA (Christof Schardt).
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gefangenschaft nach Schönwald zurückkehrte, mußte Schardt, obwohl sogleich zum stellvertretenden SPD-Ortsvorsitzenden gewählt, eine Unbedenklichkeitserklärung seiner Genossen Josef Müller, Otto Werner und Robert Aechtner beibringen 30 , um nicht als amnestierter Nationalsozialist zu gelten. 1948 wurde Christoph Schardt Geschäftsführer des SPD-Kreisverbands Rehau und Stadtrat, zeitweise Fraktionsvorsitzender, in Schönwald; von 1949-1971 war er Unterbezirksgeschäftsführer in Hof, ab 1956 zugleich Kreisrat, ab 1966 2. Bürgermeister der Stadt Schönwald, wo seit 1952 die politische Kontinuität auch durch Otto Werner demonstriert wurde, der als später Nachfolger seines Vaters Hermann Werner das Amt des 1. Bürgermeisters übernahm.
V I I . ASCHAFFENBURG
Aschaffenburg (1936: 37340 Einwohner auf 52,6 qkm) galt seit altersher als Handelszentrum des Untermaingebiets, in dem kleingewerbliche Produkte des Spessart aus Sägewerken, Glasbläsereien, Bergwerken, Mehl-, Öl- und Holzschneidemühlen, Salzsalinen, Brauereien und Eisenhämmern umgeschlagen wurden. Im Gegensatz zum Handel hatte das industrielle Gewerbe in der Stadt bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur geringe Bedeutung. Lange Zeit litten in Aschaffenburg die Entwicklungsmöglichkeiten des Handwerks darunter, daß der Mainzer Kurfürst 1526 den Zünften die Vorrechte entzogen hatte und die Bischöfe aus religionspolitischen Gründen den Zuzug protestantischer Handwerker und Händler in die katholische Stadt behinderten 1 (1933: 85,5 Prozent Katholiken, 12,7 Prozent Protestanten, 1,6 Prozent Juden, 0,2 Prozent Sonstige)2. Als Broterwerb verblieben neben dem Handel die Landwirtschaft, der Weinbau - in Aschaffenburg werden die höchsten Sommertemperaturen Deutschlands gemessen - , das Schiffer- und Fischerhandwerk. Die Industrialisierung Aschaffenburgs setzte um 1810 mit der Herstellung von Buntpapier ein (1832 mit 200 Arbeitern); in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
10
»Um aber seine neue EinfluBmöglichkeit auf die ihm im Betriebssport anvertrauten jungen Menschen nicht zu verlieren, sah er sich gezwungen - gegen seine innere Überzeugung - das Opfer einer formellen Mitgliedschaft in der NSDAP auf sich zu nehmen, um damit den bestehenden Argwohn seitens der NS-Funktionäre zu zerstreuen. Dieses Tamungsmanöver ist von uns als seinen politischen Freunden und ehemaligen Angehörigen der oben genannten Widerstandsgruppe nicht mißbilligt worden, sondern wurde als ein berechtigtes politisches Kampfmittel im Widerstand gegen das bestehende System anerkannt. Unser Vertrauen zu ihm wurde trotz seiner formellen Mitgliedschaft zur NSDAP nicht gemildert, sondern nach seiner Heimkehr im Jahre 1947 durch alsbaldige Übertragung politischer Funktionen aufs Neue bestätigt.« (BLEA, Christof Schardt) ' Siehe hierzu und zur Entstehung der Papier-, Bekleidungs- und Metallindustrie: Fröhlich, Hans: Das Wirtschaftsleben der Stadt Aschaffenburg, in: Aschaffenburg am Main. Ein Stadtbild. München 1939, S. 55-59. ' Ophir, Baruch Z./Falk Wiesemann, a.a.O., S. 255.
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(1814 war die Stadt aus kurmainzer Besitz in königlich-bayerische H ä n d e übergegangen) beschleunigte sie sich vor allem innerhalb des Jahrzehnts 1 8 7 0 - 1 8 8 0 durch die Entstehung der Papier-, der Bekleidungs- u n d der Metallindustrie 3 . Arbeitskräfte waren in großer Zahl s o w o h l in der Stadt selbst, hauptsächlich aber in den Dörfern des angrenzenden Spessart u n d des O d e n w a l d s vorhanden, als sich die Buntpapierindustrie, a n k n ü p f e n d an die 300jährige Tradition der Spessarter Papierm ü h l e n , in Aschaffenburg ansiedelte u n d in e i n e m zweiten S c h u b ab 1872 die N a tron·, Zellstoff- u n d Weißpapierindustrie folgte. Im Jahr 1 9 3 9 beschäftigten die drei Buntpapierfabriken 4
zusammen
1000, die Aschaffenburger
Zellstoffwerke
AG,
im
V o l k s m u n d »die Weiss« genannt, allein 7 0 0 Arbeiter. Auf die Heimarbeiter v o n 50 u m l i e g e n d e n G e m e i n d e n (u.a. Glattbach) stützte sich in erster Linie die nach 1 8 7 4 entstandene Bekleidungsindustrie, die p h ä n o m e n a l e Z u wachsraten erzielte. V o n 1912 bis 1 9 3 9 stieg die Zahl der Fabriken u m das Z e h n f a c h e an (von 12 auf 120) u n d machte Aschaffenburg z u m »Sitz der zweitgrößten Bekleidungsindustrie
Deutschlands« 5 .
D e r überwiegende
Teil der Beschäftigten
(1939:
1 0 0 0 0 ) , ein hoher Prozentsatz davon Frauen, schneiderte u n d nähte in d e n Heimatorten des westlichen Unterfrankens u n d lieferte die fertigen Kleidungsstücke dann an die in Aschaffenburg ansässigen Stammfirmen 6 . N o c h 1938 war in Goldbach eine Betriebsstätte für 8 0 Leute der Kleiderfabrik
Desch i m Saal der Gastwirtschaft Zur
Krone
untergebracht, ähnliches wird aus Sailauf 7 berichtet 8 . Üblicherweise stellte der Untern e h m e r den Heimarbeitern die e b e n erst erfundene N ä h m a s c h i n e zur Verfügung, die
Überblicksübersichten über die frühe Industrialisierung Aschaffenburgs geben Bosch, Clemens: Die Wirtschaft Aschaffenburgs - ihre Entwicklung und heutige Bedeutung, in: Aschaffenburg. Die Pforte zum Spessart. Aschaffenburg o.J., und: Unsere Stadt Aschaffenburg. Geschichte - Kultur - Landschaft - Bevölkerung - Wirtschaftstruktur - Verwaltung und Finanzen - Kommunale Einrichtungen und Aufgaben. Hrsg. in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit und der Stadt Aschaffenburg. München o.J. Buntpapier AG, Buntpapierfabrik A. Nees & Co. (gegr. 1862) und Franz Dahlem & Co. (gegr. 1885). Fröhlich, H., a.a.O., S. 58. Eine Auswahl: Kleiderfabrik J. Desch GmbH (1874 in Glattbach gegründet), J. Kunkel & Cie. Herrenkleiderfabrik (1897), Eduard Dreßel Kleiderfabrik (1929 in Großostheim gegründet), P. Geissler K.G. Kleiderfabrik (gegründet 1932), Büttner & Co. Kleiderfabrik (gegründet 1914), Karl Mill Herrenkleiderfabrik (gegründet 1936), Bernhard Imhof, Kleiderfabrik (gegründet 1935), Leisten & Co., Spezialhaus für Damen-, Herren- und Kinderbekleidung (gegr. 1936), Kleiderfabrik Anton Albert (gegr. 1923), Acker & Härtung (gegr. 1931), Herrenkleiderfabrik Reichert & Menke (gegr. 1932), Kleiderfabrik L. Euringer (gegr. 1931), Kleiderfabrik Staab & Co. (gegr. 1919), Herrenkleiderfabrik Mathis & Vostal (gegr. 1936), Knabenkleiderfabrik Michael Eitel (gegr. 1917), Kleiderfabrik Anzmann & Weiss (gegr. 1923), Wäschefabrik Höfling & Damrich (gegr. 1934 Großostheim). Für Sailauf lassen sich dank einer Broschüre (60 Jahre SPD in Sailauf. 25./26. August 1979) die politischen Affinitäten der Bevölkerung anhand von Wahlergebnissen in Stimmzahlen aufzeigen : Nationalversammlung (19.1.1919): BVP 261 MSPD 235 Reichstagswahl 7.12.1924 BVP260 SPD302(!) KPD 10 SPD 153 KPD 10 NSDAP 2 Reichstagswahl 20. 5.1928 BVP 320 SPD 146 KPD 30 NSDAP 26 Reichstagswahl 14. 9.1930 BVP 330 SPD 182 KPD 30 NSDAP 80 Reichstagswahl 31. 7.1932 BVP 363 KPD 28 NSDAP 134 Reichstagswahl 6.11.1932 BVP 228( ! ) SPD 161 SPD 143 KPD 10 NSDAP 134 Reichstagswahl 5. 3.1933 BVP 307 Alle SPD-Unterlagen des Ortsvereins Sailauf wanderten übrigens wegen einer bevorstehenden SAHausdurchsuchung in einen Backofen (Mitteilung von Ambros Neuburger). Burkhard, Wolfgang: Die Wirtschaft im Aschaffenburger Raum, in: Aschaffenburg. Mittelpunkt des fränkischen Untermaingebietes. Hrsg. von der Stadt Aschaffenburg in Zusammenarbeit mit W. A. Nagel. Hanau 1957.
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dann abgearbeitet und -bezahlt werden mußte. Erst hohe Stückzahlen sicherten das Existenzminimum, so daß rasch ein ausgeklügeltes Spezialistentum um sich griff: »Neben dem gelernten Maßschneider entwickelte sich im Laufe der Zeit, besonders auf dem Lande, ein Stamm von Schneidern, die lediglich in der Anfertigung eines Stückes ausgebildet wurden. Diese Entwicklung führte schließlich so weit, daß einzelne Schneiderorte nur ein oder zwei Arten von Kleidungsstücken herstellten; so gibt es bis in die heutige Zeit [1939] Dörfer, die nur Kleinstücke (Westen und Hosen) verfertigen, während andere Dörfer ausschließlich Großstücke (Uberröcke, Mäntel) nähen.«'
Nur wenige Jahre nach der Papier- und Bekleidungsindustrie erblickte als drittes Kind des technischen Zeitalters die Metallindustrie10 1877 mit der Herdfabrik und Eisengießerei Koloseus das Licht der Aschaffenburger Welt. Nach der Angliederung eines eigenen Emaillierwerkes stellten durchschnittlich 300 Arbeiter maschinell Herde, Großküchen, Dampfkochanlagen und Gußartikel her und lösten damit die handwerkliche Erzeugung dieser Artikel ab. Kurz nach der Jahrhundertwende verlegten zwei Münchner Betriebe, die Kupfer- und Messingwerke C. Heckmann im Jahr 1903 und die Güldener Motorenwerke im Jahr 1907/08 ihre Produktionsstätten an den südlichen Stadtrand Aschaffenburgs und ließen ein geschlossenes Industrieviertel entstehen. Insgesamt bestanden 1924 zehn Fabriken11 der Eisen- und Kupferverarbeitung mit 2800 Arbeitern, etwa die Hälfte allein bei den Güldener Motorenwerken. Zudem faßte ein Sonderzweig der Metallverarbeitung Fuß, die Lehren- und Feinmeßwerkzeugherstellung. 1862 begann F. A. Hock erstmals Lineale, Winkel und Kaliber zu produzieren. Da das angebrochene technische Zeitalter einen großen Bedarf an exakt normierten Maschinenteilen forderte, entstanden in Aschaffenburg, angeregt durch die Pioniertat des einheimischen Hock bis 1939 weitere 15 Meßwerkzeugbetriebe 12 mit ca. 450 Beschäftigten zur Herstellung von Präzisions-, Meß- und Lehrwerkzeugen. Ab 1870 hatte sich Aschaffenburg zum Industriezentrum Unterfrankens am bayerischen Main entwickelt, seine Bevölkerung sich von 1871 bis 1905 verdreifacht (von 9200 auf 25 900) und 1933 arbeitete jeder fünfte Aschaffenburger (Gesamtbevölkerung 36000) in einem Werk der Papier-, Bekleidungs- oder Metallindustrie13. Die Industriearbeiter stellten einen ebenso großen Bevölkerungsanteil wie die Handwerker und einen geringfügig kleineren als die Beschäftigten in Handel und Verkehr. Erste tastende Versuche zur Organisation der Arbeiter bereits vor der Industrialisierungswelle verrät die Gründung eines 40 Mitglieder zählenden Arbeiter-Bildungsver-
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Fröhlich, H„ a.a.O., S. 58. Donath, Gerhard: Die Aschaffenburger Wirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Metallindustrie, in: Aschaffenburg. Geschichte - Kultur - Wirtschaft - Fremdenverkehr - Statistik. Sonderdruck aus dem Aschaffenburger Adreßbuch 1952. Aschaffenburg 1952, S. XI-XIII. " Zu nennen sind noch: Maschinenfabrik Gentil (gegr. 1892), Maschinenfabrik A. Neher (gegr. 1908), Franz Schörg & Sohn, Bleche (gegr. 1919), Ofenfabrik und Chamottewerk Heinrich Tritschler (gegr. 1910), Eisenwarenhandlung Julius Kleemann (gegr. 1880 in Dettingen, dem »Dorf der Dosen«), Zentralheizungs- und Lüftungsanlagenbau Ludwig Hammer (gegr. 1878), Bau- und Kunstschlosserei Eduard Christ (gegr. 1901 in Goldbach), Gebr. Köhler, Treibriemenfabrik (gegr. 1908). 12 Abawerke (gegr. 1898), Ultra-Präzisionswerk G.m.b.H. (gegr. 1888), Stefan Morhard & Co. (gegr. 1909), Johann Fischer (gegr. 1862), Heinrich Metz (gegr. 1918), Tittel & Co. 13 43,3 Prozent der Aschaffenburger waren in Industrie und Handwerk, 25,4 Prozent in Handel und Verkehr tätig. 10
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eins, über dessen Ziele die bürgerliche Aschaffenburger-Zeitung am 12. Juni 1865 wohlwollend und ganz im Tenor der anbrechenden Ära berichtete1,4: »Man kann diesem Verein nur Glück zu seinem Aufblühen wünschen, weil durch derartige Vereine ein neuer Impuls gelegt, und dem Arbeiterstande die Möglichkeit an die Hand gegeben wird, durch Lesung der polytechnischen Journale, die im Vereinslokale ausgelegt werden, sich das Neueste auf dem Gebiete der Industrie und Gewerbe anzueignen und sich so theoretisch und praktisch für das Leben heranzubilden.«
Recht erfolgreich verliefen dann dreizehn Jahre später die Versuche des Zinngießers Andreas Schön vor allem Holzarbeiter und Schneider durch Versammlungen für »socialistische Vereine« zu gewinnen. Der klerikal-konservative Beobachter am Main schrieb darüber am 7. Februar 1878 mißmutig: »Die Lockspeisen hierzu bildeten die großen Vortheile, die dem Arbeiterstande aus den socialistischen Hilfskassen geboten werden.« Doch die Sozialistengesetze Bismarcks schoben allen sozialdemokratischen Bestrebungen schon wenig später einen Riegel vor. Erst 1892 wurde die Sozialdemokratie in Aschaffenburg von Frankfurt aus wiederbelebt15. Hessische Sozialdemokraten sicherten sich auch bis zur Reichstagswahl von 1907 die Kandidaturen im Untermainkreis. Auffällig war, daß die SPD auch nach der Jahrhundertwende in der Stadt nicht nur hinter der führenden Zentrumspartei klar zurückblieb, sondern auch die hier starke Stellung der Liberalen kaum übertrumpfen, sondern nur mit ihnen gleichziehen konnte16. Anders im Umland, im Bezirk Aschaffenburg, mit seinen punktuell stark industrialisierten Gemeinden, wo der SPD bei Reichs- oder Landtagswahlen des öfteren ein Sieg über die Liberalen gelang, jedoch das Zentrum auch hier weit voraus blieb17. Die ortsansässigen Landbewohner, die sich in der ersten oder allenfalls in der zweiten Generation als Heimarbeiter an die Industrie verdingt hatten, neigten schneller der Sozialdemokratie zu als die städtischen Aschaffenburger, die erst später unmittelbar mit der Industrialisierung in Kontakt kamen. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß die von auswärts zuziehenden Arbeiter oft länger als ein Jahrzehnt auf ihr Bürgerund damit ihr Wahlrecht warten mußten und somit bei der politischen Willensbildung ausfielen. Als typisches Beispiel hierfür steht Oswald Lauer, der erste Vorsitzende des am 1. Mai 1901 gegründeten Sozialdemokratischen Wahlvereins Aschaffenburg. Aus dem Oldenburgischen stammend, war Oswald Lauer seit 1898 ohne Unterbrechung in Aschaffenburg ansässig und auch heimatberechtigt. Das Bürgerrecht erhielt er aber trotz eines schon 1901 gestellten Antrages - erst im Jahre 1908 18 . An dieser rechtlichen Benachteiligung zugezogener Arbeiter mag es u. a. auch gelegen haben, daß im Vorstand des sozialdemokratischen Wahlvereins bis 1907 alteingeDie Informationen über die Frühgeschichte der Aschaffenburger SPD stammen weitestgehend aus der Broschüre: 100 Jahre SPD in Aschaffenburg. Aschaffenburg 1979. Zusammengestellt und herausgegeben von Carsten Pollnick und Wolfgang J. Stock. - Alle Zitate in diesem Abschnitt, deren Herkunft nicht ausdrücklich näher gekennzeichnet ist, finden sich in dieser Festschrift. Eine erste Versammlung fand bereits am 19. Januar 1890 im Gasthaus Vogel Strauß statt. Reichstagswahl 16.6.1903: Zentrum 1498 SPD 995 Liberale 895 Reichstagswahl 25.1.1907: Zentrum 2044 SPD 1212 Liberale 1361. Reichstagswahl 16.6.1903: Zentrum 12945 SPD 3672 Liberale 2612 Reichstagswahl 25.1.1907: Zentrum 16876 SPD 4592 Liberale 3533. 100 Jahre SPD in Aschaffenburg, a.a.O., S. 14.
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sessene Handwerker dominierten (2 Küfer, 1 Steindrucker, 1 Schreiner, 1 Schriftsetzer, 1 Steinmetz) und die Aschaffenburger Sozialdemokraten sich insgesamt -wenig radikal gaben. Das Gewerkschaftskartell rief bei seinem ersten öffentlichen Auftreten 1905 zu Sammlungen für die notleidenden Streikenden des Ruhrgebiets auf. Am 1. Oktober 1908 erschien die erste sozialdemokratische Zeitung in Unterfranken, der Fränkische Volksfreund, als Sozialdemokratisches Organ für Unterfranken und den Reichstagswahlkreis Bamberg. Den Aschaffenburger Sozialdemokraten standen in dieser Zeitung mehrere Spalten für ihre Belange zur Verfügung. Sie half wesentlich mit, die Organisationsstruktur der 13 Sektionen im Wahlkreis zu festigen und die (1908) 386 ausschließlich männlichen Mitglieder der SPD in Aschaffenburg regelmäßig zu informieren. Die Erfolge ließen nicht lange auf sich warten, noch im selben Jahr (1908) wurde erstmals ein Sozialdemokrat, der Schriftsetzer Ferdinand Scheidter, in den Stadtrat gewählt. Nach den Vorstandswahlen des Jahres 1910 tauchten erstmals Industriearbeiter in größerer Zahl in der erweiterten Führungsspitze des SPD-Ortsvereins auf (Schlosser, Former, Kernmacher) 19 , die Handwerker - unter diesen wiederum die Küfer und Brauer - blieben aber bis 1918 paritätisch repräsentiert, erster Vorsitzender war bis 1926 aber stets ein Gewerkschaftsfunktionär. SPD und Freie Gewerkschaften betrieben auch eine gemeinsame Geschäftsstelle, im Gasthaus Zum Hirschen, später dann in der Stiftsgasse. Die Zahl der SPD-Sektionen im Aschaffenburger Raum stieg schon bis 1910 auf 26, die Zahl der Mitglieder auf 947 (933 männliche, 14 weibliche) an, und der Ortsverein konnte mit dem 25-jährigen, aus Augsburg stammenden Eisendreher Georg Häring einen hauptamtlichen Parteisekretär berufen. Georg Häring, der bald in gleicher Position nach Schweinfurt entsandt wurde, und der Gewerkschaftssekretär Konrad Pohl20 widmeten sich in den folgenden Jahren in besonderem Maße dem 1911 ins Leben gerufenen Heimat- und Bürgerrechtsverein, um das Stimmpotential der SPD zu vergrößern. Der politische Wind hatte sich nun auch in Aschaffenburg zu drehen begonnen: bei den Reichstags- und Landtagswahlen des Jahres 1912 bezwang die SPD das Zentrum erstmals in den zehn städtischen Wahlbezirken. Die Kontinuität der Mitgliedschaft in der SPD blieb freilich beeinträchtigt durch die starke Fluktuation der Arbeiter, insbesondere im Baugewerbe und in der Steinindustrie, während des Krieges auch dadurch, daß 40 Prozent der inzwischen 1140 SPD-Mitglieder Aschaffenburgs und die Hälfte der Vorstandschaft zum Militärdienst eingezogen wurden. Trotz dieses Aderlasses gelang es, bei den Gemeindewahlen Ende des ersten Kriegsjahres drei Vertreter in den Stadtrat zu entsenden. Angesichts der Spaltung der SPD während des Krieges zeigte sich erneut die überwiegend gemäßigte Einstellung der Aschaffenburger Sozialdemokraten: Als sich der seit 1914 amtierende Parteisekretär August Karsten, aus dem hannoverischen Peine zugezogen, auf die Seite der USPD stellte, protestierte das Gewerkschaftskartell und erzwang sowohl den
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Vor 1910 hatte bereits der Fabrikarbeiter Stefan Eser als Kassier dem Vorstand angehört. Konrad Pohl, geb. 1880 im hessischen Engelsbach; gelernter Maurer, ab 1908 Geschäftsführer der Bauhütte, der sozialdemokratischen Baufirma, von 1909-1918 Vorsitzender des Gewerkschaftskartells, 1910-1914 SPD-Vorsitzender, 1910-1913 Vorsitzender des SPD-Kreises Aschaffenburg, 1919-1920 bayerischer Landtagsabgeordneter, ab 1913 Vorsitzender der Ortskrankenkasse Aschaffenburg und des Krankenkassenverbandes für Aschaffenburg und Umgebung.
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Rücktritt des Parteisekretärs Karsten als auch Vorstandsneuwahlen. Die neugewählte »Kriegsvorstandschaft«21 unterschied sich in der personellen Besetzung der Ämter vollständig von ihrer Vorgängerin, vertrat aber 1918 auch nur mehr 61 zahlende MSPD-Mitglieder. Der gemäßigten Aschaffenburger Sozialdemokratie entsprach es, daß nach dem 9. November 1918 nicht ein Radikaler, sondern der angesehene Senior der Aschaffenburger Sozialdemokraten, Oswald Lauer, den Vorsitz im örtlichen Arbeiterrat übernahm 22 . Die Koalition der beiden sozialdemokratischen Fraktionen im Arbeiterrat brach Anfang 1919 nach den Attentaten auf Kurt Eisner (USPD) und Erhard Auer (MSPD) auseinander, als die Unabhängigen zur Wiederherstellung »geordneter Verhältnisse« am 23. Februar 1919 eigenständig den Belagerungszustand über Aschaffenburg verhängten 23 . Die Mehrheitssozialisten mißbilligten dieses Vorgehen und traten im Mai 1919 aus dem Arbeiterrat mit der erklärten Absicht zurück, sich in Zukunft ausschließlich der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter in den Betrieben zu widmen. Die Wirren der bayerischen Revolution und Gegenrevolution führten gleichwohl auch in Aschaffenburg zu vorübergehender Stärke der oppositionellen USPD bei den Gemeindewahlen 24 , nachdem die Mehrheitssozialdemokraten bei der Wahl zur Nationalversammlung und zum bayerischen Landtag mit über 5000 Stimmen ein Rekordergebnis erzielt hatten 25 . Nach der Wiedervereinigung von MSPD und USPD im September 192 2 26 pendelte sich die Stärke der Aschaffenburger SPD in den folgenden Jahren der Weimarer Republik zwischen 1924 und 1932 auf einem ziemlich gleichbleibenden Niveau von rd. 4200 Wählern ein 27 (zwischen 20 und 25 Prozent der Gesamtwählerschaft), während die KPD vor Beginn der Wirtschaftskrise in der Regel nur etwa ein Viertel der SPD-Stimmen erreichen konnte. Wenn auch begrenzt auf diese Basis - die Vormachtstellung des Zentrums mit rund doppelt so viel Wählern blieb in der ganz überwiegend katholischen Einwohnerschaft der Stadt ungebrochen - , konnte die SPD ihre Organisationsstruktur in den 20er Jahren solide festigen und ausbauen. Seit Oktober 1922 gab die Partei in der Stadt ein ei21
Vorstandschaft der Aschaffenburger SPD nach dem 9. Juni 1918: Vorsitzender Konrad Pohl (Gewerkschaftssekretär), Kassier Ernst Dyroff (Former), Schriftführer Paul Heidel (Dreher), Beisitzer Georg Huth (Lackierer) und Ludwig Kunkel (Steinmetz), Revisoren Oswald Lauer (Sekretär) und Georg Höflich (Geschäftsführer). 12 Arbeiterrat: Oswald Lauer (MSPD), Jean Stock (USPD), Rudolf Hartig (USPD), Stefan Eser (USPD), Abraham Hamburger (?), Ernst Schmitt (MSPD), Schneider Karl Fuhrmann (MSPD), Peter Pfarrer (vermutlich USPD), Rupert Kraus (?), Ernst Dyroff (MSPD), Georg Höflich (MSPD) und Leo Fingerhut (?). 23 Die unabhängigen Sozialisten Hartig, Stock, Eser und Pfarrer wurden am 13. Mai 1919 verhaftet und wegen Beihilfe zum Hochverrat zu mehrjährigen Festungshaftstrafen verurteilt, bis auf Hartig aber am 13. März 1920 vorzeitig entlassen. 24 MSPD 2342, USPD 2396, BVP 5420, DDP 1679, Mittelpartei 700, KPD 238, DVP 129, DSV 2. " Landtagswahl: SPD 5100, BVP 6385, DDP 2904, USPD 629. - Eine Aufgliederung dieses Ergebnisses nach Wahlbezirken zeigt eine Tendenz zur Entstehung von arbeiterbestimmten (soziologisch und politisch) Stadtteilen in Aschaffenburg, denn in sieben Bezirken (7., 13., 16.-20. Wahlbezirk) erreichte die SPD mehr Stimmen als die ansonsten dominierende Bayerische Volkspartei. 26 Am 24. September 1922 war auf einem gemeinsamen Parteitag von MSPD und USPD in Nürnberg die Vereinigung zur Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (VSPD) beschlossen worden. 27 SPD-Stimmen bei Reichstagswahlen: 4. Mai 1924: 3272; 7. Dezember 1924:4195; 1928:4257; 31. Juli 1932:4267.
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genes Blatt, die Aschaffenburger Volkszeitung, heraus, deren Auflage sich von anfangs 5000 bis (1931) 13000 Exemplaren steigerte28. Ihr Chefredakteur, Georg Dewald, gehörte zur Gruppe der in der Stadt aktivsten Sozialdemokraten. Neben der Zeitung organisierte und leitete er ein Arbeiterkulturkartell, einen Arbeiterbildungsausschuß und das Arbeitersportkartell, beteiligte sich an der Führung des 1931 gebildeten Reichsbanners und war von 1924 bis 1933 Mitglied des Bayerischen Landtages. Die Arbeiterwohlfahrt lag in den bewährten Händen von Oswald Lauer, die Volksfürsorge bei Albert Krimm. Um den schon 1906 gegründeten Konsumverein kümmerte sich vor allem der sozialdemokratische Buchdrucker Georg Höflich (geb. 1871), zugleich Vorstand der Aschaffenburger Ortskrankenkasse. Einen gewerkschaftlichen Jagdverein gründete und leitete Karl Opel und die in den 20er Jahren gebildete sozialdemokratische Frauengruppe Frau Pohl. Zu den führenden Sozialdemokraten der Stadt gehörten außerdem Jean Stock (Geschäftsführer der Aschaffenburger Volkszeitung), der Schneider Eugen Ostheimer (Schriftführer der SPD 1923-1926; 1. Vorsitzender 1926-1933), Bernhard Junker (Parteisekretär 1928-1933), und vor allem Hans Nachtigal. Letzterer, ein geborener Dresdner und von Beruf Musikinstrumentenmacher, nahm zahlreiche gewerkschaftliche und sozialpolitische Funktionen wahr (Vorsitzender des Eisenbahnerverbandes, Mitglied des Verwaltungsausschusses im Arbeitsamt, des Mieteinigungsamtes, des Ortsausschusses der ADGB u.a.)29. Die Verteilung zahlreicher Partei- und Gewerkschaftsfunktionen auf eine relativ kleine Gruppe von Sozialdemokraten kann als ein Zeichen dafür angesehen werden, daß die große Masse dpr Aschaffenburger SPD-Mitglieder sich für die Partei nicht sonderlich engagierte. Im Stadtrat war die SPD während der Weimarer Zeit mit durchschnittlich acht Mandaten als zweitstärkste Fraktion vertreten, den Oberbürgermeister stellte aber ständig die BVP. Die NSDAP, die in der katholischen Stadt weniger schnell Fuß fassen konnte als anderswo, übertraf bei der Juliwahl 1932 knapp die Wählerstimmenzahl der SPD (NSDAP: 4336, SPD: 4267) vor allem durch die Aufsaugung der vorher bürgerlich-liberalen Stimmen, blieb damit aber nur halb so stark wie die BVP (8798 Stimmen). Uber 700 bisherige SPD-Wähler waren dann bei der Novemberwahl 1932 zur KPD übergegangen, die jetzt mit 1983 Stimmen (Juli 1933: 1253) ihr weitaus bestes Ergebnis erzielte, während die NSDAP gegenüber der Juliwahl nur 100 Wähler verlor und damit eindeutig zweitstärkste Partei in Aschaffenburg wurde. Die Aschaffenburger Volkszeitung kommentierte (7.11.1932) das Debakel: »Die Sozialdemokratische Partei hat stark verloren, das irgendwie zu beschönigen, wäre ein Fehler ...«. Damit korrigierte sie auch die frühere Fehleinschätzung der Nationalsozialisten durch ihren Chefredakteur Georg Dewald, der noch ein Jahr zuvor die Nationalsozialisten als »Dutzendgruppe« bezeichnet hatte, »um die sich in unsinniger Verblendung eine Anzahl wildgewordener Spießer und irregeleiteter Jugend geschart haben.«30 28
29 30
Die Presse der deutschen Sozialdemokratie. Eine Bibliographie von Kurt Koszyk unter Mitarbeit von Gerhard Eisfeld. Hannover 1966, S. 60f. Handbuch des Vereins Arbeiterpresse, a.a.O., S. 128. Aschaffenburger Volksblatl vom 10. Januar 1931. - Dieser Zeitungsausschnitt wurde mit vielen anderen aus den Jahren 1930-1933 von Carsten Pollnick dankenswerterweise zur Verfügung gestellt, so daß diese entscheidenden Jahre anhand einer breiten Quellenbasis gründlicher analysiert werden konnten. In uneigennütziger Weise stellte Herr Pollnick zudem sein unveröffentlichtes Manuskript zur Verfügung, das der Verfasser mit großem Gewinn verwandte.
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Obwohl gewerkschaftlich relativ stark organisiert, neigten die Aschaffenburger Arbeiter nicht zu radikalen Aktionen. Weder aus dem Krisenjahr 1923 noch aus den ersten Jahren der Wirtschaftskrise sind Streiks überliefert. Die Arbeiter zeichneten sich durch eine ungewöhnliche Betriebstreue aus. Die Aschaffenburger Zellstoffwerke warben noch nach dem Zweiten Weltkrieg für ihre Produkte mit der stolzen Feststellung: »Es ist nicht selten, daß bereits die 4. Generation im Betrieb arbeitet.«31 Auch die Herrenkleiderfabrik Kunkel verwies auf einen »Stamm von seit Jahrzehnten mit dem Betrieb verbundenen Heimarbeitern«. Die diversifizierte Produktion in der weitgehend mittelständisch orientierten Papier-, Eisen- und Bekleidungsindustrie ersparte Aschaffenburg schockartige Zusammenbrüche mit epidemischer Arbeitslosigkeit; Investitionen und Innovationen deuten im Gegenteil auf eine wirtschaftliche Blüte in den zwanziger Jahren. Die Abawerke stellten die Herstellung ihrer Meß- und Richtwerkzeuge 1920 von der handwerklichen auf eine maschinelle Basis um, verschiedene Schlossereien (Hammer, gegr. 1878/ Christ in Goldbach, gegr. 1901) wandten sich 1929/30 dem Zentralheizungs- und Lüftungsanlagenbau zu und zahlreiche Kleiderfabriken (ζ. B. Büttner, Anzmann & Weiss) expandierten zwischen 1924 und 1929 durch Um- oder Neubauten. Die Weltwirtschaftskrise begann sich in Aschaffenburg im Vergleich zu anderen Industriezentren erst sehr spät, nämlich Ende 1932 auszuwirken, als die Arbeitslosenquote auf 6,1 Prozent anstieg32. Dies entsprach sowohl dem bayerischen Landesdurchschnitt an Arbeitslosen als auch dem Aschaffenburger Stimmanteil der KPD bei der Novemberwahl dieses Jahres. Der Abschleifung sozialer Konflikte im Rahmen patriarchalisch geführter, meist mittelgroßer und kleiner Betriebe entsprach in Aschaffenburg und seinem Umland auch eine relative Mäßigung in den parteipolitischen Auseinandersetzungen. Das galt auch für die politische Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokraten und Nationalsozialisten in den Jahren 1930 bis 1933. Von Ausschreitungen ist nichts bekannt. Aus den Quellen (in erster Linie Zeitungsberichte) läßt sich der Eindruck gewinnen, die zahlreichen Wahlkämpfe seien beiderseits auf recht faire Weise und hauptsächlich auf argumentativer Basis geführt worden. Bei einer SPD-Veranstaltung in der Gaststätte Frohsinn im Januar 1931 gestand der Versammlungsleiter Georg Dewald einem Nationalsozialisten 30 Minuten Gegenrede zu und umgekehrt erhielt Dewald wenige Tage später das Wort bei einem Treffen der Nationalsozialisten. Die Aschaffenburger Volkszeitung stellte fest (17.1.1931), »ganz so rüde, wie der Ton früher in diesen Versammlungen war, ist er nicht mehr« und charakterisierte damit generell die Aschaffenburger politische Atmosphäre. Auch nachdem die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 im Reich die Macht übernommen hatten, ging es in Aschaffenburg relativ maßvoll zu. Zwar wurde die Aschaffenburger Volkszeitung in der heißen Phase des Wahlkampfes 1933 für eine Woche, vom 17. bis 25. Februar, von der unterfränkischen Kreisregierung in Würzburg verboten 33 , aber der Wahlkampf für die Reichstagswahl am 5. März 1933 führte sonst zu keinen Ausschreitungen. An der Wahl beteiligten sich in Aschaffenburg 2000 " Dieser Abschnitt beruht auf Informationen in: Burkhard, Wolfgang: Die Wirtschaft im Aschaffenburger Raum, a.a.O. 32 Statistisches Jahrbuch für Bayern 1936. Hrsg. vom Bayerischen Statistischen Landesamt, S. 185. " Aschaffenburger Zeitung vom 16.2.1933.
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Bürger mehr als im November 1932. Das Ergebnis (BVP 38,8 Prozent, NSDAP 34,4 Prozent, SPD 16,4 Prozent, K P D 4,5 Prozent) läßt sich erst nach einem Vergleich mit der Novemberwahl 1932 und bei der Betrachtung der absoluten Stimmzahlen richtig einschätzen. Die SPD gewann zwar 200 Stimmen hinzu (insgesamt 3578 Stimmen), verlor aber 0,8 Prozent. Dagegen war es der NSDAP offenbar gelungen, nicht nur die große Masse der bisherigen Nichtwähler zu gewinnen, sondern neben bisherigen Wählern der bürgerlichen Mittelparteien offenbar auch zahlreiche Arbeiter (Arbeitslose ?), die 1932 bereits von der SPD zur K P D gewechselt waren. Die K P D sank auf die Hälfte der im November erlangten Stimmen zurück. Die »Machtübernahme« durch die Nationalsozialisten in Bayern am 10. März 1933 führte auch in Aschaffenburg zu den üblichen Verhaftungen, die hier aber zahlenmäßig eng begrenzt blieben: neben sechs kommunistischen Funktionären 34 wurden in diesen Tagen die beiden sozialdemokratischen Reichsbannerführer Dewald und Fronober verhaftet. Während Fronober schon nach einigen Tagen wieder entlassen wurde, blieb Dewald zunächst bis zum 24. April 1933 im Landgerichtsgefängnis Aschaffenburg, dann bis zum 18. Mai 1934 im Konzentrationslager Dachau in Haft. Seine Maßregelung war - unter den Sozialdemokraten Aschaffenburgs - die bei weitem schärfste während der NS-Zeit. Dewald suchte sich nach seiner Entlassung zunächst als Tapezierermeister in Aschaffenburg über Wasser zu halten, emigrierte dann aber im Oktober 1936 nach Südafrika, wo er ein Polstermöbelgeschäft aufmachte. 1952 kehrte er nach Aschaffenburg zurück, war 1953-1961 sozialdemokratisches Mitglied des Bundestages und verstarb 197 0 3 5 . Abgesehen von Georg Dewald hatten die sozialdemokratischen Funktionäre Aschaffenburgs in der NS-Zeit weit weniger an Verfolgungen und Schikanen zu erleiden als anderswo. Auch die lokale NSDAP paßte sich dem gemäßigten politischen Klima der Stadt an, zu willkürlicher Verfolgung ehemaliger politischer Gegner kam es nur in Ausnahmefällen. Das hatte wiederum zur Folge, daß sich kaum dezidierter Widerstand unter den ehemaligen Sozialdemokraten formierte. Symptomatisch für die beiderseitige Reduzierung von Verfolgung und Widerstand war schon der Vorgang der Besetzung der Geschäftsräume der Aschaffertburger Volkszeitung durch die SA am 10. März 1933. Das NS-Blatt, die Aschaffertburger Nachrichten, berichtete darüber am nächsten Tag: »Der Besuch bei der Aschaffenburger Volkszeitung vollzog sich gestern in aller Ruhe. Bleichen Gesichtes traten die kleinen häßlichen Bönzlein unseren Parteigenossen gegenüber, von der früheren provozierend-frechen Haltung war nicht mehr das geringste zu spüren. Da die Ausgabe der Volkszeitung so zahm war wie noch nie, wurde sie freigegeben. Die noch vor einigen Tagen aufgelegten Schmutzschriften waren verschwunden, so daß auch hier zu einer Beanstandung kein Anlaß gewesen war. Man konnte es dem fragenden Blick des Genossen Stock [Geschäftsführer] anmerken, daß er über unsere vornehme Haltung äußerst erstaunt war. Wie er denn auch später äußerte, hatte er nach dem Muster der marxistischen Revolutionstaktik die Zerstörung der gesamten Einrichtung erwartet und als selbstverständlich angenommen.«
" Nach einer Mitteilung der Aschaffenburger Zeitung vom 10.3.1933 wurden zwei (Alfred Richter und Alois Schallenberger) am 8. Mai 1933 in das Konzentrationslager Dachau überstellt. - Zu Alfred Richter siehe auch OLG München, OJs 44/35. 35 Die biographischen Daten beruhen auf: 100 Jahre SPD Aschaffenburg, a.a.O. S. 32; BHE I, a.a.O.; Unterlagen des Bayerischen Landesentschädigungsamtes.
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Einer der Gründe für die Zügelung der SA zeigte sich drei Tage später, als die Aschaffenburger Volkszeitung ihr Erscheinen endgültig einstellen mußte und die Nationalsozialisten mit den beschlagnahmten Maschinen ihre Nachrichten druckten. Ähnlich moderat verlief die Gleichschaltung im Rathaus. Am 23. März 1933 trat der bisherige Oberbürgermeister, Geheimrat Dr. Matt (BVP), nach 28jähriger Dienstzeit unter Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses von seinem Amt zurück 36 . Der Stadtrat, dem noch weiterhin acht Sozialdemokraten angehörten 37 , ließ es sich nicht nehmen, den scheidenden Oberbürgermeister durch eine Sondersitzung zu ehren. Drei SPDStadträte fehlten entschuldigt (Stock, Eisenhauer, Pohl), zwei weitere kündigten, sicher wegen ihrer beruflich prekären Lage unter den neuen politischen Bedingungen, ihren Rücktritt an 38 . Der Wunsch der Ersatzleute, auf die freigewordenen Sitze nachzurükken, war nicht übermäßig groß, wie eine Schilderung in der Aschaffenburger Zeitung (28.3.1933) zeigt: •Für Hümpfner sollte der Gewerkschaftssekretär Ostheimer in den Stadtrat einrücken. Er erbat sich aber ... eine kurze Bedenkzeit, so daß diese Stadtratsstelle zur Zeit vakant ist. Als Nachfolger für Stadtrat Huth wäre Hauptlehrer K ö h l in Betracht gekommen. Er lehnte aus denselben Gründen wie Hümpfner und Huth die Annahme des Mandates ab. Als Nachfolgerin des Herrn K ö h l wurde Frau Wiener benannt. Auch sie will das Mandat nicht annehmen.«
Die sozialdemokratische Stadtratsfraktion entledigte sich so selbst ihrer immerhin noch vorhandenen Vertretungs- und Artikulationsmöglichkeiten. Eine Ursache dafür kann in der sozialen Zusammensetzung der SPD-Fraktion gesehen werden. Wie Hugo Huth (Polizeibeamter) und Gustav Hümpfner (Ratsinspektor) waren nicht wenige Mitglieder der SPD-Fraktion und ihrer Ersatzmannschaft kleine städtische Beamte oder Angestellte, die um ihre Existenz unter den neuen Herren besonders besorgt sein mußten. Aus solchen Gründen unterblieben in Aschaffenburg nach dem 10. März 1933 auch alle sozialdemokratischen Appelle an die oppositionell eingestellte Arbeiterschaft oder gar organisierte Widerstandsaktionen. Eine Woche nach dem Rücktritt des alten Oberbürgermeisters stellte sich sein kommissarischer Nachfolger vor. Wilhelm Wohlgemuth, NSDAP-Kreisleiter von Aschaffenburg und seit 1932 Mitglied des bayerischen Landtags, war seit 1920 als Beamter im Finanzamt tätig und in seiner Einführungsrede auf moderate Töne bedacht: »Herr Bürgermeister Wohlgemuth betonte, daß zunächst größere Umstellungen in der Beamtenschaft nicht vorgenommen werden sollen und daß deshalb all die Gerüchte, die einzelnen Beamten zu schädigen, nicht den Tatsachen entsprächen.«39 Wohlgemuths Stellvertreter, Stadtrat Schauer, wandte sich sogar ausdrücklich gegen die Postenjäger in der NSDAP und bei der SA: »Einzelne Elemente treten heute an die Beamtenschaft heran und versuchen unter politischem Druck Forderungen zu stellen, die gegen Gesetz und Ordnung sind.« Aschaffenburger Zeitung vom 24.3.1933. Jean Stock (Geschäftsführer), Adam Eisenhauer (Schlosser), Rudolf Keller (Werkmeister), Gustav Hümpfner (Ratsinspektor), Konrad Pohl (Bauhüttenleiter), Karl Opel (Arbeitersekretär), Georg Niebier (Eisenbahnspengler), Hugo Huth (Polizeibeamter). " Ratsinspektor Gustav Hümpfner und Polizeibeamter Hugo Huth. " Aschaffenburger Zeitung vom 31.3.1933. 36 31
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Da die neuen nationalsozialistischen Stadtherren selbst dem Beamtenstand entstammten, fühlten sie sich ihren sozialdemokratischen Berufskollegen offensichtlich mehr verbunden als den Arbeitslosen in der NSDAP. Am 5. April erklärten die Nationalsozialisten den freigewählten Stadtrat für aufgelöst und teilten nach dem Gleichschaltungsgesetz den einzelnen Parteien folgende Sitze zu: »Zehn Sitze für die Rechtsparteien (Nationalsozialisten und Deutschnationale), zehn Sitze für die Bayerische Volkspartei und vier Sitze für die Sozialdemokraten.«40 Die SPD nominierte für die ihr zustehenden Mandate und als Ersatzleute eine völlig neue Mannschaft 41 : Bernhard Junker (Parteisekretär), Johann Mehrer (Schlosser), Willy Becker (Schneider), Heinrich Pfarrer (Maschinensetzer) - Hermann Tinz (Spengler), Theodor Bopp (Tüncher), Adam Marquardt (Schlosser), Alois Ling (Buchdrucker). In der ersten Sitzung des neuen Stadtrats am 27. April 1933 enttäuschten die vier Sozialdemokraten ihre Anhänger nicht: Sie votierten gegen die Wahl Wohlgemuths zum 1. Bürgermeister, gegen die Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Hitler, Epp und Hindenburg und gegen die Wahl Schauers zum 3. Bürgermeister. Die Quittung für ihr obstinates Verhalten erhielten die vier SPD-Stadträte noch in derselben Sitzung. Auf Antrag der NSDAP wurde die Fraktionsstärke auf fünf Mandate angehoben, so daß die SPD von allen Ausschüssen ausgesperrt blieb42. Die BVP stimmte dabei immer zusammen mit der NSDAP. Drei der sozialdemokratischen Stadträte - auch das war ein ziemliches Unikum hielten gleichwohl bis zum reichsweiten Verbot der SPD am 22. Juni 1933 auf ihren Posten aus und die NS-Presse begnügte sich damit, sie öffentlich zu kritisieren und einzuschüchtern. So die Aschaffenburger Zeitung am 14. Juni 1933: »Herr Pfarrer gehört zu jenen »Sozialdemokraten, die auch heute noch ihre vornehmste •Pflicht« darin erkennen, schöne Rede zum Fenster hinaus zu halten, um die Hirne der in hoffnungsloser Dummheit Verharrenden zu vernebeln und ihr kümmerliches Vegetieren dem Volk zu demonstrieren. Für solche volksverderblichen Spekulationen ist die Zeit vorbei. Für diese gestrige Art der Arbeitervertretung im Stadtparlament gibt es eine ganz einfache Methode: Hinauswurf cum infamia!... Sollte sich die SPD in Aschaffenburg zukünftig nicht in die neue Rolle des Schweigens und politischen Anstandes einfügen können, so müßten wir auch hier für eine sofortige Erziehung Sorge tragen und Herrn Pfarrer und seine zwei Genossen an die frische Luft setzen.«
Nach den bereits genannten Reichsbannerführern wurden 1933 noch folgende vier Sozialdemokraten Aschaffenburgs, freilich jeweils nur sehr kurzfristig, in Schutzhaft genommen: Im März der amtierende Vorsitzende des Ortsvereins Eugen Ostheimer (fünf Wochen Schutzhaft), nach dem SPD-Verbot zwei SPD-Mitglieder des gleichgeschalteten Rumpfstadtrats, die sich besonders kämpferisch gegenüber dem Nationalsozialismus gezeigt hatten: Bernhard Junker (4 Wochen Schutzhaft) und Johann Mehrer (eine Woche Schutzhaft) sowie der Geschäftsführer der Volkszeitung, Jean Stock (eine Woche Schutzhaft). Gravierender war in einigen Fällen der Verlust der bisherigen beruflichen Stellung: So z.B. die zum 30. Juni 1933 ausgesprochene fristlose Ent40 41
42
Aschaffenburger Zeitung vom 6.4.1933. Nur Bernhard Junker und Johann Mehrer waren als Ersatzleute des vorigen Stadtrats nominiert gewesen. Aschaffenburger Zeitung vom 28.4.1933.
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lassung des 48jährigen Geschäftsführers des Fabrikarbeiterverbandes, Johann Brummer, der auch Aufsichtsrat der Bauhütte und zweiter Vorsitzender des ADGB Ortsausschusses43 gewesen war. Johann Brummer verlor seine Dienstwohnung und seine Anrechte auf die Pensionskasse, in die er mehr als ein Jahrzehnt eingezahlt hatte, und wurde aus Aschaffenburg ausgewiesen. In Kleinheubach (in der Nähe Aschaffenburgs) mußte er sich noch längere Zeit »täglich« bei den örtlichen Machthabern melden, mußte Haussuchungen sowie nächtliche Kontrollen über sich und seine Familie ergehen lassen und jeder Verkehr mit der Familie Brummer wurde als staatsfeindlich erklärt«44. Solchermaßen stigmatisiert blieb Johann Brummer bis Ende 1933 arbeitslos, ehe er als Versicherungsvertreter unterkam und später eine Bäckerei in Schwandorf pachtete. 1943 wurde er erneut verhaftet. Schon nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes (23.3.1933) hatte die Mehrzahl der älteren SPD-Funktionäre, die im vierzigsten, fünfzigsten oder sechzigsten Lebensjahr standen und durch den Verlust ihrer Arbeitsplätze in den Gewerkschaften und damit durch die Gefährdung ihrer Altersversorgungen erschüttert waren, sich enttäuscht von der SPD zurückgezogen, ohne aber den Verlockungen des Nationalsozialismus zu erliegen. Sie traten in der Folgezeit, wie dies die Außenstelle Aschaffenburg der Gestapo Würzburg formulierte, »politisch nicht mehr in Erscheinung«. Der 58jährige Oswald Lauer, verdienter Veteran der Aschaffenburger Arbeiterbewegung, zulezt Verwaltungsinspektor bei der Ortskrankenkasse, ging 1933 in Ruhestand, um einer Entlassung aufgrund des Berufsbeamtengesetzes zu entgehen. Karl Opel (geb. 1885), seit 1920 Geschäftsführer des Metallarbeiterverbandes, gelang es, von der DAF eine Abfindung für die von ihm eingezahlten Gewerkschaftsbeiträge ausbezahlt zu bekommen, er mußte sich dafür aber nach 1940 zu einer Mitgliedschaft in der NSDAP bequemen. Eugen Ostheimer (geb. 1889), Vorsitzender des Bekleidungsarbeiterverbandes, war nach 1941 als Angestellter der Heeresstandortgebührenstelle tätig45. Das Risiko illegaler Aktivitäten, sei es als Organisation, sei es Flugblattverteilung, wurde, wohl nicht zuletzt in Ermangelung eines starken jungsozialistischen Elements in der Partei, als zu hoch eingestuft. Dennoch trafen sich zahlreiche Sozialdemokraten »in geheimen Zirkeln abwechselnd in ihren Privatwohnungen, um sich gegenseitig den Rücken zu stärken und über aktuelle Ereignisse zu berichten«46. Daß auch diese elementare Form der Kontaktbewahrung von den Nationalsozialisten als mißliebig eingestuft war und dementsprechende Gefahrenmomente in sich barg, erfuhr der bis 1933 als Unterbezirkssekretär der SPD amtierende 46jährige Bernhard Junker im November 1933, als er wegen »Veranstaltung von Ausflügen mit früheren Gesinnungsgenossen« - wenn auch offenbar nur kurzfristig - festgenommen wurde 47 . 43 44 41
46 47
Handbuch der Arbeiterpresse, a.a.O., S. 128. BLEA (Johann Brummer). Die Informationen zu den persönlichen Lebensdaten stammen aus dem Handbuch der Arbeiterpresse, a.a.O., S. 128, den Unterlagen des BLEA sowie StA Würzburg, Gestapo Würzburg Nr. 5712 und Nr. 9091. Diese Informationen verdankt der Verfasser Carsten Pollnick (Unveröffentlichtes Manuskript, S. 26). In einem selbstgefertigten Lebenslauf vom 22. August 1944 gibt Bernhard Junker an, im November 1933 nicht in Haft gewesen zu sein (StA Würzburg, Gestapo Würzburg 2851), doch dürfte diese Aussage unter den gegebenen Umständen - wiederum bevorstehende »Schutzhaft« - aus Gründen des Selbstschutzes erfolgt sein.
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Bernhard Junker hatte ebenfalls seinen Arbeitsplatz verloren und fand erst 1938 wieder eine Beschäftigung als Angestellter bei einer Baufirma. Da diese für die Wehrmacht arbeitete, forderte die Gestapo Personalgutachten an. Das Arbeitsamt Wertheim gab daraufhin die Antwort: »Der Leumund des Junker ist einwandfrei. Er ist ein sehr ruhiger Mensch ... Junker war früher Sozialdemokrat und Funktionär. Er ist jedoch als Redner selten aufgetreten. Seine Umstellung ging nur sehr langsam und dürfte er heute noch kein überzeugter Nationalsozialist sein. Er gab aber seit der nationalsozialistischen Erhebung in keiner Weise zu Beanstandungen Anlaß [!] und bestehen gegen seine Verwendung bei vertraulichen Bauarbeiten keine Bedenken.«
Ganz anders äußerte sich die NSDAP-Kreisleitung Aschaffenburg-Alzenau: »Der Obengenannte bietet in politischer Hinsicht nicht die notwendigen Voraussetzungen zur Verwendung in einer Vertrauensstellung. Junker ist politisch als zweifelhaft zu betrachten.. 4 8
Über oppositionelle Regungen ehemaliger Aschaffenburger Sozialdemokraten während der NS-Zeit ist aus den verfügbaren Quellen wenig zu entnehmen, und bei manchen Zeugnissen sind vielleicht auch noch Abstriche zu machen, so wenn wir lesen, in welcher Form sich der Kreisschulungsleiter der NS-Handwerks-, Handels- und Gewerbeorganisation (Hago) im März 1934 über das Fortbestehen der genossenschaftlichen Verkaufsstellen beklagte: »... und die Konsumvereine machen in einer Art und Weise Reklame und Propaganda, die geradezu als jüdisch-marxistisch zu bezeichnen ist.«49 Etwa zu dieser Zeit traten auch auffällig viele evangelische Sozialdemokraten der von Dekan F. Fürst geleiteten »Bekennenden Kirche« bei 50 . Diese und andere Zeichen versteckter Opposition und Resistenz können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch weite Teile der Aschaffenburger Arbeiterschaft am wirtschaftlichen Aufschwung nach 1936 stark partizipierten und wohl schon deshalb geneigt waren, mit dem Nationalsozialismus ihren Frieden zu machen, auch wenn sie vor 1933 sozialdemokratisch oder kommunistisch eingestellt gewesen waren. Der Beginn der Aufrüstung und die Uniformierung des gesamten Volkes wirkten sich gerade auf die Aschaffenburger Metall- und Bekleidungsindustrie auftragsfördernd aus. 1937 errichtete die Kleiderfabrik Acker Härtung (gegr. 1931) Neubauten, und die Herrenkleiderfabrik Anton Albert (gegr. 1923) stellte 1938 ihre Produktion von Hand- auf Maschinenbetrieb um. Neue Werke oder Geschäftsbauten errichteten ferner 1938 die Treibriemenfabrik Gebr. Köhler (gegr. 1908), 1936 das Säge- und Hobelwerk Gebr. Schmitt (gegr. 1900) in Goldbach und 1938 die Lack- und Farbengroßhandlung Schmitt & Orschler (gegr. 1911), die die weltbekannte Marke Sundo herstellte51. Der gesicherte Arbeitsplatz und das gesicherte Einkommen ließen auch bei manchem Sozialdemokraten die Erinnerung an die »alte« Arbeiterpartei verblassen und die Sensibilität gegenüber den Inhalten nationalsozialistischer Ideologie stumpf werden. Dieses Arrangement mit dem NS-Staat läßt sich am Beispiel eines sozialdemokratischen Ersatzmannes für den vornationalsozialistischen Stadtrat skizzieren, dessen Namen wir aus personenschutzrechtlichen Gründen anonymisieren. Die politische EinBeide Zitate nach StA Würzburg, Gestapo Würzburg Nr. 2581. Winkler, Heinrich August: Der entbehrliche Stand. Zur Mittelstandspolitik im »Dritten Reich«, in: Archiv für Sozialgeschichte Bd. X V I I (1977), S. 10. 50 Carsten Pollnick erwähnt diesen Vorgang in seinem unveröffentlichten Manuskript (S. 26). " Siehe Burkhard, Wolfgang: Die Wirtschaft im Aschaffenburger Raum, a.a.O. 48 49
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Stellung des Bauführers, der sich in den ersten Jahren des Dritten Reiches zum Architekten emporgearbeitet hatte und der eine »Vertrauensstelle« erhalten sollte, beurteilte das Aschaffenburger Polizei-Amt 1936 so: »Politisch hat sich Ν. N. vor der nationalsozialistischen Erhebung insofern betätigt, daß er Mitglied des Reichsbanner war. Er hat sich politisch jedoch nie hervorgetan u n d war seine Mitgliedschaft beim Reichsbanner zweifellos nur auf G r u n d seiner Beschäftigung bei der Bauhütte Aschaffenburg, deren Leitung früher sozialdemokratisch war, zwangsläufig bedingt. Ν. N. kann heute als politisch zuverlässig bezeichnet werden. Er ist seit der nationalsozialistischen Erhebung bei der SA. Er scheint für die Verwendung in einer Vertrauensstellung nicht ungeeignet, denn er durfte bis heute bei der Bauhütte verbleiben.«
Politische Zurückhaltung früherer Sozialdemokraten honorierten die Aschaffenburger Nationalsozialisten in diesem Falle wie in anderen dadurch, daß sie keine weiteren Repressionen beruflicher Art ausübten. Anders als Ν. N. verhielt sich in dieser Lage der 34jährige Leonhard Schäfer, wenn auch sicher nicht nur aus politischen Motiven. Als ehemaliger Angestellter der Bauarbeitergewerkschaft hatte er nach der NS-Machtübernahme seine Stellung verloren. Um seine Frau und vier Kinder zu ernähren, mußte er zurück in seinen erlernten Beruf als Maurer. Gleichwohl weigerte er sich, 1937 an der Feier zum 1. Mai teilzunehmen und versuchte, auch andere Arbeiter zum Boykott zu überreden 52 . Auf der Baustelle in Hammelburg schien es allgemein bekannt, daß Leonhard Schäfer ausländische Sendungen hörte und deren Inhalt ungeniert weitererzählte. Die Außenstelle Aschaffenburg des SD-Unterabschnitts Mainfranken bat deshalb das Aschaffenburger Bezirksamt um einen Bericht über Schäfer, dieses wiederum betraute die Stadtpolizei mit der Untersuchung. Die Recherchen der Polizei verliefen überraschend schnell im Sande, da die Zeugen nicht aufzufinden waren oder sich nicht auf die Äußerungen Schäfers besinnen konnten. Aus den Protokollen gewinnt man den Eindruck, daß die Polizei die Untersuchung nur schleppend vorantrieb und die Arbeitskollegen sich auf schlitzohrige Weise dumm stellten. Der Akt schließt mit der maßvollen Empfehlung der Gestapo, »den ehem. Gewerkschaftssekretär Leonhard Schäfer in Aschaffenburg zu verwarnen. Es ist ihm bekannt zu geben, daß er im Wiederholungsfalle mit strengeren Maßnahmen zu rechnen hat.« Die relative Milde der Aschaffenburger Gestapo bestätigte sich auch im Falle des ehemals führenden Sozialdemokraten Jean Stock, der neben seiner beruflichen Stellung als Gewerkschaftsführer der Aschaffenburger Volkszeitung seit 1920 bis 1933 ununterbrochen als Sozialdemokrat dem Stadtrat angehört hatte. Nach der Beschlagnahme der Aschaffenburger Volkszeitung hatte Stock seine berufliche Existenz eingebüßt, seine Konten waren gesperrt und die Schulgeldermäßigung für seine zwei Kinder aufgehoben worden, so daß diese die Oberrealschule verlassen mußten. Mit geliehenem Geld hatte sich Jean Stock daraufhin als Drucker selbständig gemacht und Drucksachen für jüdische Kleiderfabrikanten bis zu deren Emigration 1935/36 hergestellt. Danach spezialisierte er sich auf Sterbebilder53. Von Berufs wegen in Besitz einer Druckmaschine schien Jean Stock zur Herstellung illegaler Broschüren und Flugblätter prädestiniert, so daß ihn die NS-Behörden besonders scharf im Auge behielten und zum völligen politischen Stillhalten zwangen.
" Der ganze Vorgang ist enthalten in StA Würzburg, Gestapo Würzburg Nr. 11896. " Diese Informationen entstammen dem unveröffentlichten Manuskript Carsten Pollnicks (S. 27-31).
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Stock ging aber dennoch über Minimalkonzessionen an das Dritte Reich (Mitgliedschaft in DAF, RLB und NSV) nicht hinaus. In der Obernauer Kolonie, wo Jean Stock mit seiner Familie in einem Doppelhaus lebte, erlauschte im Juli 1939 eine denunziationssüchtige Nachbarin einige Sätze, nahm Stocks Abreise wahr und zog daraus Schlußfolgerungen, die sie zum Gegenstand einer Anzeige machte 5 4 : »Ich vermutete, daß er entweder aus seiner früheren Tätigkeit als Geschäftsführer der Sozialdemokratischen Volkszeitung hier noch Geld im Ausland hat und dieses zurückholt, daß er evtl. Nachrichten an fremde Staaten übermittelt oder daß er vielleicht Flugblätter in seiner jetzigen Druckerei herstellt und diese fortbringt.« Die Frau erzählte von ihrer Mutmaßung einem ihr bekannten Blockleiter und SATruppführer, einem Arbeitsamtsangestellten, und dieser informierte die Kriminalpolizei. Eine zweite Aussage der Denunziantin vor der Gestapo zeigte bereits, daß ihre Schlußfolgerungen eher auf ihrem Wissen von Stocks politischer Vergangenheit als auf Tatsachen basierten. Erklärte sie doch, sie fühlte sich verpflichtet, »die Angelegenheit der zuständigen Stelle mitzuteilen, zumal ich wußte, daß Stock früher eingefleischter Sozialdemokrat war und er mich auch bis heute nicht mit »Heil Hitler< grüßt, sondern nur immer mit >Grüß Gott< ! Persönlich habe ich gegen Stock nicht das geringste.« Die Gestapo überwachte die Post und vernahm Stock im Sommer 1940. Im Abschlußbericht der Außendienststelle Aschaffenburg heißt es: »Die Durchsuchung der Wohnung des Stock und auch seiner Geschäftsräume erbrachte in krimineller, politischer und spionagepolizeilicher Hinsicht nichts Belastendes. Es wurden lediglich einige sozialdemokratische Broschüren [in der Bibliothek!] sichergestellt, welche wegen ihrer Bedeutungslosigkeit vernichtet wurden. Der Verdacht der Nachrichtentätigkeit oder Spionage oder einer sonstigen staatsfeindlichen Tätigkeit gegen Stock bestätigte sich nicht. Dem von Stock gewonnenen Eindruck entsprechend, ist von ihm eine gegen den heutigen Staat gerichtete Handlung auch nicht zu erwarten. Durch seinen Druckerei-Betrieb hat er ein annehmbares Auskommen und kann seinen Ausführungen Glauben geschenkt werden, wonach es ihm keinesfalls einfallen würde, selbst wenn er mit den heutigen politischen Verhältnissen nicht einverstanden wäre, sich durch irgendeine gegen den Staat oder die Partei gerichtete Handlung in eine Gefahr zu bringen!« Die »Angelegenheit« hatte sich als Besuch des Schwiegersohns entpuppt, und Jean Stock war einer erheblichen Bedrohung entronnen 5 5 . Ein kurioses Nachspiel hatte die Affäre noch insofern, als Jean Stocks 19jähriger Sohn Rudi, der zum Unwillen seines Vaters in die HJ eingetreten war, sich wegen des Vorfalles am 13. August 1940 beschwerdeführend an den Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, wandte: »Wo soll das aber hinführen, wenn ich nun auf einer Vermutung hin einen Mitmenschen ein solches Verbrechen andichten kann, ohne daß ich Gefahr laufe, für eine solche Gemeinheit gerichtlich belangt zu werden. Weiter möchte ich Sie, Herr Reichsminister, darauf aufmerksam machen, daß auf Grund dieser Anzeige mein Vater vom September 1939 bis jetzt von der Gestapo überwacht wurde, ohne daß ihm auch nur das geringste nachgesagt werden konnte, was die Herren von der Gestapo selbst erklärten. Wegen dieser Verleumdung wurde auch meine Mutter, meine Schwester und " Der gesamte Hergang in StA Würzburg, Gestapo Würzburg Nr. 15428. " Möglicherweise spielte es auch eine Rolle, daß ein Leipziger Bekannter mit engen Kontakten zum Reichsinnenministerium eine schützende Hand über die Familie Stock hielt (Unveröffentlichtes Manuskript von Carsten Pollnick, S. 29) oder daß sein Schwiegersohn bei der nationalsozialistischen Gelnhauser Zeitung beschäftigt war. - Alle Unwägbarkeiten des nationalsozialistischen Kompetenzdschungels sind auch bei bester Aktenüberlieferung nicht kalkulierbar.
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ich vorgeladen und vernommen, was selbstverständlich nicht angenehm ist, wenn man im Geschäft gesagt bekommt, sie sollen heute Abend um 5 Uhr im Geschäftszimmer der Gestapo zwecks Vernehmung sein.« Daraufhin geschah Unglaubliches: Die Gestapo-Außendienststelle Aschaffenburg mußte sich rechtfertigen und tat dies bereits am 24. September 1 9 4 0 in einem dreiseitigen Schreiben an die Staatspolizeistelle Würzburg, das in folgenden Schlußworten gipfelte: •Es wird hier festgestellt, daß Stock und auch seine Angehörigen in jeder Hinsicht korrekt behandelt wurden und auch bei den Vernehmungen und Vorhaltungen nur sachgemäß vorgegangen wurde.« Nach allem, was wir wissen, ist diese Selbstdarstellung der Aschaffenburger Politischen Polizei als wahrheitsgemäß anzusehen. Anders als die meisten Dienststellen der Gestapo hielt das aus der Aschaffenburger Kriminalpolizei hervorgegangene politische Dezernat offensichtlich an traditioneller F o r m korrekter Ermittlungsführung weitgehend fest und suchte Sachverhalte tatsächlich zu recherchieren. Trotz des Unglücks, das der Nationalsozialismus auch über zahllose Aschaffenburger Bürger aus den verschiedensten politischen Lagern und besonders über die jüdischen Einwohner der Stadt brachte, gebietet es die historische Objektivität festzustellen, daß die NS-Obrigkeit sich hier - im Vergleich zu anderen Städten gleicher G r ö ßenordnung und ähnlicher Bevölkerungsstruktur - im allgemeinen sehr moderat verhielt. Als Beleg dessen kann auch ein Schreiben 3 6 des Kreisleiters an die Gauleitung Mainfrankens v o m 29. Januar 1 9 4 0 dienen, dessen Inhalt für sich selbst spricht: »Der 38 Jahre alte Fabrikarbeiter Ν. N. aus Stockstadt, Main, wurde unterm 24.11.39 wegen einer beleidigenden Äußerung gegen die Regierung in Schutzhaft genommen. Die Geheime Staatspolizei Würzburg soll, wie mir mitgeteilt wurde, z.Z. die Frage der Einschaffung in ein KL. überprüfen. Ein diesbezüglicher Antrag soll bereits in Berlin gestellt sein. Die Äußerung des Ν. N. muß bestraft werden, sie hat jedoch im großen und ganzen keinen schwerwiegenden Schaden angerichtet, da im wesentlichen Zuhörer SA.-Männer waren. Ν. N. soll etwas angetrunken gewesen sein, während er im nüchternen Zustande ein fleißiger Arbeiter ist, der für seine Familie sorgt. Ν. N. hat 4 kleine Kinder, Vermögen besitzt er nicht, seine Familie kann sich nur notdürftig nach Zahlung der Miete durchschlagen. Ich bin überzeugt, daß Ν. N. zeitlebens an diese Haftzeit denken wird und in Zukunft sich anständig verhalten wird. Ν. N. ist Mitglied der DAF, NSV und des Reichsbundes der Kinderreichen, sein ältestes Kind gehört dem BDM an. Ich bitte, sich mit der Staatspolizeistelle Würzburg in Verbindung zu setzen, damit wenigstens die Einlieferung in ein KL. nicht stattfindet und möglichst bald die Frage der Haftentlassung überprüft wird. Heil Hitler! gez. Wohlgemuth Kreisleiter. Bitte um Stellungnahme! Es wird vielleicht möglich sein, dem Wunsche des Kreisleiters zu entsprechen. gez. Dr. Hellmuth II.« Solche D o k u m e n t e sollen gewiß nicht den falschen Eindruck erzeugen, als hätten ehemalige Sozialdemokraten und Nationalsozialisten in dieser Zeit in idyllischer Eintracht nebeneinander gelebt. A b e r im breiten Spektrum der örtlich sehr verschieden " StA Würzburg, Gestapo Würzburg Nr. 14158.
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geprägten NS-Herrschaft verdienen sie ihren Platz. Während der Schlußphase des Krieges kam auch für einige Aschaffenburger Sozialdemokraten noch einmal eine Zeit der Verfolgung herauf. Nach dem 20. Juli 1944 wurden fünf ehemals prominente Sozialdemokraten für jeweils etwa 14 Tage in das Konzentrationslager Dachau eingewiesen : Jean Stock (22.8.-6.9.1944), Eugen Ostheimer (22.8.-4.9.1944), Bernhard Junker (24.8.-6.9.1944), Georg Niebier (22.8.-4.9.1944) und Johann Mehrer (22.8.-6.9.1944). Daß die Haftdauer so begrenzt blieb, scheint in einigen Fällen auch auf Eingaben der jeweiligen Arbeitgeber zurückzuführen zu sein; so im Falle von Bernhard Junker, dessen Arbeitgeber, die Firma Pohl & Lückel, ihren Angestellten dringend wegen der Erledigung von Aufträgen des Obersten Heereskommandos von der Gestapo zurückforderte 57 . Auch Johann Mehrer, zwischen 1920 und 1933 Betriebsratsvorsitzender des Metallarbeiterverbandes bei der Firma Koloseus, kam wohl aufgrund der Intervention dieses seines Arbeitgebers, der Herdfabrik Koloseus, wo er seit 30 Jahren beschäftigt war, schneller frei, obwohl ihn die Kripo als unbeugsamen Sozialdemokraten einstufte. (»Mehrer zählt aber zu denjenigen, die auch heute noch versteckt die Faust gegen den Nationalsozialismus in der Tasche tragen«.) Auch dieser Aspekt patriarchalischer Arbeitgeber-Tradition verdient erwähnt zu werden. Ebenso wie Johann Mehrer hatte sich auch der Reichsbahnspengler Georg Niebier (geb. 1881), SPD-Mitglied des Stadtrats von 1919-1933, nur zur Mitgliedschaft in DAF, RLB und NSV bequemt und galt deshalb bei der Gestapo als unzuverlässig: »Seit 1933 ist Niebier politisch nicht mehr hervorgetreten, verschiedene Umstände deuten aber darauf hin, daß er nicht staatsbejahend ist. So waren seine zwei Jungen nicht in der Hitlerjugend ...«. Mehrer selbst erklärte sein Fernbleiben von der NSDAP in der Stellungnahme zu der »Inschutzhaftnahme« so: »Daß ich selbst nicht bei der NSDAP bin, ist darauf zurückzuführen, daß ich schwerhörig, krank bin und meine Pflicht gegenüber meinen Kindern getan habe«58. Diese »Schwerhörigkeit« dürfte auch für die Gestapo leicht zu entziffern gewesen zu sein. Am Beispiel dieser Fälle zeigt sich immerhin: auch in einer so gemäßigten politischen Atmosphäre wie in Aschaffenburg, die dazu angetan war, den politischen Opportunismus auch mancher Sozialdemokraten zu fördern, blieben die meisten ehemaligen Aktivisten der SPD für die NSDAP nicht verführbar. Jahrzehntelange Tradition sozialdemokratischer Arbeiterbewegung hatte hier eine Immunisierung geschaffen, die auch durch die sensationellen Erfolge des Dritten Reiches nicht abzubauen war. Die Schlußphase des Krieges zeigte dann aber sehr drastisch auch der großen Masse der ehemals sozialdemokratisch Eingestellten, wie begründet die Warnungen waren, die die SPD gegenüber der »kriegstreiberischen Hitlerpartei« artikuliert hatte: 1944/45 wurde Aschaffenburg durch 23 Luftangriffe, insbesondere in der Bombennacht vom 21. November 1944, so schwer zerstört, daß nahezu die Hälfte der Bevölkerung, die zudem noch eine Belagerung durch die amerikanischen Truppen (25.3.-3.4.1945) zu überstehen hatte, obdachlos wurde. Im Mai 1945 setzten die USMilitärbehörden Sozialdemokraten in verschiedene Ämter ein 59 : Jean Stock als Ober57
StA Würzburg, Gestapo Würzburg Nr. 2851. StA Würzburg, Gestapo Würzburg Nr. 8668. " Da für Aschaffenburg keine Unterlagen der amerikanischen Militärbehörde greifbar waren, wird die Nachkriegszeit nur äußerst knapp behandelt, basierend auf der SPD-Broschüre: 100 Jahre SPD Aschaffenburg, a.a.O.
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bürgermeister (bis zum 26. Mai 1946) und zusammen mit August Graf als Herausgeber der neugegründeten Tageszeitung Main-Echo, Dr. Fritz Koch als Landgerichtspräsident, Hans Kunath als Direktor der Allgemeinen Ortskrankenkasse, Eugen Ostheimer als Leiter des Arbeitsamtes und Fritz Brand als Gefängnisverwalter. Bei den beiden Stadtratswahlen60 des 26. Mai 1946 und des 30. Mai 1948 ebenso wie bei der ersten Landtagswahl (1. Dezember 1946) errang die SPD rund ein Drittel aller Wählerstimmen 61 und konnte dann 1950 Jean Stock als Direktkandidaten Unterfrankens in den bayerischen Landtag entsenden. Vor allem Jean Stock und Bernhard Junker gelang, nachdem sie bereits in der Weimarer Zeit bedeutende Positionen in der Sozialdemokratie eingenommen hatten, eine zweite Karriere im öffentlichen Leben der Bundesrepublik Deutschland: Bernhard Junker: 1945-1948 und 1952-1957 Bürgermeister der Stadt Aschaffenburg, 1946-1966 Mitglied des Stadtrats in Aschaffenburg, 1948-1952 und 1957-1966 Vorsitzender der SPD-Stadtratsfraktion, 1946-1954 Vorsitzender des SPD-Kreisverbandes Aschaffenburg Stadt. Jean Stock: 1945 Oberbürgermeister der Stadt Aschaffenburg, 1945/46 Regierungspräsident von Unterfranken, 1946-1952 Mitglied des Stadtrats, 1946-1948 Vorsitzender der SPD-Stadtratsfraktion, 1946 Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung in Bayern, 1946-1962 Mitglied des bayerischen Landtags, 1946-1950 Vorsitzender der Landtagsfraktion, 1947/48 Mitglied des Länderrats und 1948/49 des Parlamentarischen Rats.
VIII.
FUSSENBERG
Im oberpfälzischen Fußenberg, zehn Kilometer nordwestlich von Regensburg im Donaustaufer Forst gelegen, lebten Mitte der dreißiger Jahre etwa 30 Familien katholischer Hilfs-, Kalk- und Landarbeiter, Säger und Handwerker in knapp zwei Dutzend verstreuter Häuser1 : Ein Arbeiterweiler inmitten von Bauerndörfern und Einödhöfen, in dem es nur zwei Landwirte gab, einer davon sogar Mitglied der SPD. Weltabgelegen, ohne Post- oder Bahnanschluß und ohne eigene Schule, trafen sich die sieben Gründer des SPD-Ortsvereins Fußenberg am 1. Mai 1919 mangels örtlichen Versammlungsraums in einer Wirtschaft im benachbarten Thenhausen. Zu ihrem Vorsitzenden bestimmten die Fußenberger Sozialdemokraten, denen sich Genossen aus Die Ergebnisse der ersten Stadtratswahl vom Mai 1945 lagen nicht vor. Stadtratswahl 26. Mai 1946: S P D S301 Stimmen = 34,2 Prozent = 11 Mandate u. a. Jean Stock, Bernhard Junker, J o h a n n Mehrer und Eugen Ostheimer; C S U (55,4 Prozent, 17 Mandate), K P D (6,7 Prozent, 2 Mandate), Liberale (3,5 Prozent, 1 Mandat). Stadtratswahl 30. Mai 1948: S P D 35,9 Prozent = 12 Mandate u.a. J e a n Stock, Bernhard Junker und Eugen Ostheimer; C S U (34,6 Prozent, 11 Mandate), K P D (1 Mandat), F D P (2 Mandate), Bayernpartei (2 Mandate), Parteilose Liste (3 Mandate), Wählergruppe »Sauer« (1 Mandat). Landtagswahl 1. Dezember 1946: S P D (35,8 Prozent), C S U (50,7 Prozent), K P D (6,8 Prozent), F D P (4,2 Prozent) und W A V (2,3 Prozent). ' Ortschaftsverzeichnis für den Bezirk der Reichspostdirektion Regensburg. Stand vom 1. April 1940.
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Thanhausen und Wenzenbach anschlossen, Johann Dietl, der dieses Amt 1 9 1 9 - 1 9 2 6 und 1931-1933 innehatte. 1933 bestand der Ortsverein aus 16 Mitgliedern2, deren privates Leben und berufliche Existenz durch die NS-Machtübernahme in keiner äußerlich sichtbaren Weise beeinflußt wurde : die Gleichschaltung der Gemeindeverwaltung erfolgte in Grünthal, und eine polizeiliche Überwachung der abgelegenen Ansiedlung durch die Gendarmeriestation Wenzenbach schien den Nationalsozialisten offenbar nicht lohnenswert. Politische Reibereien innerhalb der Dorfgemeinschaft blieben aus: die NSDAP konnte erst 1940 einen Stützpunkt gründen. Der Gleichschaltung wurde insofern Genüge getan, als sich die Krieger- und Veteranenvereine Grünthals und Irlbachs in NSDeutscher Reichskriegerbund umbenannten. Vereinzelte NS-Anhänger blieben in den Familienverband und in die enge Sozialkontrolle des Ortes ebenso eingebunden wie die Sozialdemokraten, so daß es weder zu Denunziationen noch zu Verfolgungen kam 3 . Fußenberg »igelte· sich politisch ein, suchte keine Aufmerksamkeit zu erregen und wurde, dank seiner versteckten Lage, tatsächlich regelrecht »übersehen«. Selbstverständlich trafen sich die Sozialdemokraten während der NS-Zeit nur »bedeckt«, wie die mündliche Überlieferung berichtet (Akten und Urkunden hatte man 1933 vorsichtshalber doch verbrannt). Diese getarnten Zusammenkünfte der Sozialdemokraten, meist in Roith abgehalten, störten die Nationalsozialisten nach 1940 häufig in randalierender Weise, so daß es zu Raufereien kam, deren primärer Aspekt aber keineswegs die politische Auseinandersetzung war. Nach der Kapitulation formierten die altbekannten Sozialdemokraten sofort wieder ihren Ortsverein; Johann Ernst übernahm bis zu seinem Tod 1948 den Vorsitz. Ihm folgte der Gründungsvorsitzende Johann Dietl, bis zu dessen Tod 1951 die Mitgliederzahl des Ortsvereins auf 63 angestiegen war. Johann Jobst, ebenfalls einer aus der »Gründersieben« und 1926-1931 Ortsvorsitzender in Fußenberg, machte kommunalpolitische Karriere: Von 1 9 4 8 - 1 9 7 2 war er Bürgermeister von Hauzenstein.
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Johann Dietl; Michael Dietl (Inhaber einer Brotniederlage und Nebenerwerbslandwirt); Franz Arnold (Kalkarbeiter); Michael Arnold (Maurer); Alois Arnold (Straßenarbeiter); Johann Weiherer (Reichsbahnarbeiter); Johann Jobst (Kalkarbeiter); Max Jobst (Kalkarbeiter); Johann Ernst sen. (Zimmermann); Johann Ernst jun.; Josef Steinkirchner (Kalkarbeiter/Kassier des SPD-Ortsvereins); Josef Stuber (Kohlenbeifahrer); Josef Unger (Müller); Alois Walzer (Kalkarbeiter); Alois Wagner (Kalkarbeiter); Xaver Zahnweh - Siehe dazu: 50 Jahre SPD. 1. Mai 1919-22. Juni 1969. Ortsverein Fußenberg-Grünthal.
1
Diese und andere Informationen verdankt der Verfasser Herrn Manfred Altkemper.
KLAUS
SCHÖNHOVEN
Der politische Katholizismus in Bayern unter der NS-Herrschaft 1933-1945
VORBEMERKUNG
Die folgende Studie untersucht das Gruppenleben des politischen Katholizismus in Bayern während der Zeit des Nationalsozialismus. Sie zielt nicht darauf ab, individuelle Biographien nachzuzeichnen und die Verhaltensweisen einzelner prominenter katholischer Politiker in den Regimejahren zu rekonstruieren. Zwar wird immer wieder auf persönliche Schicksale eingegangen und im Schlußkapitel eine exemplarische Auswahl von Lebensläufen zusammengestellt, doch im Zentrum stehen die Reaktionen einer breiten Bevölkerungsschicht auf die Herausforderung der NS-Herrschaft. Eingegrenzt ist diese Bevölkerungsschicht in erster Linie durch konfessionelle, nicht durch soziale Kriterien. Zum Lager des politischen Katholizismus gehörte das bekenntnistreue Kirchenvolk, das sich aus verschiedenen sozialen Gruppen - von der Arbeiterschaft bis zum Adel - rekrutierte. Gemeinsam war dieser sozial heterogen strukturierten Bevölkerungsschicht das Bekenntnis zum katholischen Glauben und die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Neben diesem weltanschaulich-religiösen bestand aber auch ein staats- und parteipolitischer Konsens, der diese Bevölkerungsgruppen zusammenhielt, ihr politisches Selbstverständnis prägte und sie von anderen Gruppen unterscheidbar macht. Sie zählten bis 1933 zu den Mitgliedern und Anhängern der Bayerischen Volkspartei, die als konservativ-katholische, dem weiß-blauen Föderalismus strikt verpflichtete Landespartei eine eigenwillige Sonderstellung im Parteiengefiige der Weimarer Republik eingenommen hatte. Den programmatischen Anspruch, eine »Volkspartei« zu sein und damit auch überkonfessionell wirksam zu werden, konnte die BVP in der Zeit ihres Bestehens niemals einlösen. Sie repräsentierte so gut wie ausschließlich den Katholizismus auf der politischen Bühne Bayerns und besaß vor allem in den katholischen Landesteilen eine stabile Wählerschaft, die überwiegend im bäuerlichen und bürgerlichen Milieu beheimatet war. Dazu kamen in den städtischen Ballungszentren und in den größeren Kreisstädten Anhänger aus der Arbeiterschaft, die sich zur christlichen Gewerkschaftsbewegung bekannten und im katholischen Arbeitervereinswesen mitarbeiteten. Ihre Wortführer hatten jedoch auf den programmatischen und politischen Kurs der Bayerischen Volkspartei einen vergleichsweise bescheidenen Einfluß, weil sie schon zahlenmäßig
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nicht mit den bäuerlichen und bürgerlichen Honorationen konkurrieren konnten, die in der BVP dominierten. Die folgende Studie behandelt die Geschichte des politischen Katholizismus in Bayern unter dem Nationalsozialismus aus verschiedenen Perspektiven. Zunächst steht im Mittelpunkt der Darstellung der Zerfallsprozeß der BVP-Organisation auf der Landesebene und in den gemeindlichen Selbstverwaltungsgremien, weil damit wichtige Strukturen verlorengingen, in denen sich vorhandener Widerstandswille hätte kristallisieren können. Dann wird nach dem Oppositionspotential und dem Resistenzvermögen des katholischen Kirchenvolkes gefragt. Hierbei rückt die Amtskirche stärker in den Vordergrund, die unter den Rahmenbedingungen des Reichskonkordats über ein intakt gebliebenes Organisationssystem verfügte, das Regimekritik moralisch legitimieren und institutionell schützen konnte. Allerdings ist nicht beabsichtigt, den katholischen Kirchenkampf in Bayern zu beschreiben und die innerkirchliche Lage aus der Sicht von Klerus und Episkopat zu analysieren. Beide Themen liegen außerhalb der gewählten Fragestellung, die auf eine Verhaltensgeschichte der Mitglieder und Anhänger des politischen Katholizismus abzielt. Eingegangen wird dagegen auf die katholische Presse und ihre meinungsbildende Funktion im Prozeß der publizistischen Kommunikation. Näher zu beleuchten ist ferner die Rolle der konservativen Beamtenschaft, die als staats- und standesbewußte Elite unter der Ägide der BVP-Regierungen das weiß-blaue Eigenleben des bayerischen Katholizismus administrativ gestärkt hatte und dann nach dem Machtwechsel von 1933 gleichzeitig zur Stabilisierung und rechtsstaatlichen Eindämmung der NS-Herrschaft beitrug, sofern sie nicht bei den Säuberungsmaßnahmen des Regimes ihre Stellung verlor. Die hier genannten Komplexe, die sich mit dem Binnenleben des politischen Katholizismus in der NS-Zeit befassen und seine Kontakte und Konflikte mit den nationalsozialistischen Herrschaftsinstanzen ebenso einbeziehen wie die zwischen Resistenz und Resignation angesiedelten Verhaltensweisen der konfessionstreuen Bevölkerung, können in einem knappen Uberblick gewiß nicht in der an sich notwendigen Ausführlichkeit dargestellt werden. Viele der im folgenden angeschnittenen Probleme lassen sich erst durch lokale und regionale, sach- und fallbezogene Detailstudien genauer bestimmen und gewichten. Hierfür steht ein erstaunlich breites Quellenmaterial zur Verfügung, das im Rahmen des Projekts »Widerstand und Verfolgung in Bayern« für wichtige Bereiche archivalisch mustergültig erschlossen worden ist und in Einzelanalysen minutiös ausgewertet werden könnte. Insofern erhebt die folgende Untersuchung zum Gruppenleben des politischen Katholizismus in Bayern während der nationalsozialistischen Zeit nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Sie will lediglich einige Aspekte behandeln und einige Fragen beantworten, die in diesem Kontext Bedeutung haben.
I . D E R M A C H T W E C H S E L IN B A Y E R N IM M Ä R Z
1933
Als der Nationalsozialismus im März 1933 in Bayern durch ein handstreichartiges Unternehmen die Regierungsgewalt an sich riß, verdrängte er eine Partei aus der Staatsverantwortung, die das weiß-blaue Land seit 1920 nahezu unangefochten geführt
Der politische Katholizismus in Bayern unter der NS-Herrschaft 1933-1945
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hatte. Die im November 1918 unter dem Eindruck der Niederlage des Kaiserreiches und der revolutionären Beseitigung der Wittelsbacher Monarchie gegründete Bayerische Volkspartei war als die Partei des politischen Katholizismus und des bayerischen Föderalismus mehr als ein Jahrzehnt lang die dominierende politische Kraft in Bayern gewesen1. Als eigenständige und eigenwillige Landespartei wurzelte die BVP in einem bodenständigen Traditionsbewußtsein, das in ihrer programmatischen Losung Bayern den Bayern seinen trotzig-populären Ausdruck fand; als katholische Volkspartei, zu deren Anhängerschaft die bekenntnistreue Agrarbevölkerung und die konfessionsgebundene Arbeiterschaft ebenso zählten wie der katholische Adel und die kirchliche Hierarchie, verfügte die BVP über einen ungewöhnlich stabilen Wählerstamm, der sie in ihrer innerbayerischen Führungsposition immer wieder bestätigte. Die wirksame Bindekraft des weiß-blauen Föderalismus und der katholischen Sozialmoral ermöglichten es der Volkspartei, sich in allen Landtags- und Reichstagswahlen in Bayern von 1920 bis 1932 als stärkste Partei zu behaupten und die wichtigsten Schlüsselpositionen in der Regierung und Verwaltung des Landes mit Vertretern aus ihren Reihen zu besetzen oder sich wenigstens die Mitsprache bei allen Entscheidungen zu sichern. So stellte die Partei von 1920 bis 1933 ununterbrochen den bayerischen Ministerpräsidenten - seit 1924 hatte Heinrich Held dieses Amt inne - , den Innenminister, den Kultusminister und den Finanzminister. Lediglich das Justizministerium war eine Domäne des deutschnationalen Koalitionspartners der Volkspartei, während das Landwirtschaftsministerium meistens dem Bauernbund zufiel, dem dritten Regierungspartner in einem fast die ganze Weimarer Zeit über bestehenden bayerischen Koalitionsbündnis. In einer Vielzahl von kleinen und mittleren Gemeinden, von Kreisstädten und Bezirksamtssitzen, aber auch in den Großstädten München, Augsburg, Regensburg und Würzburg, waren die ersten Bürgermeister Mitglieder der BVP, und die Bezirksamtmänner der altbayerischen, schwäbischen und unterfränkischen Verwaltungsregionen sympathisierten in ihrer Mehrheit mit der regierenden Volkspartei, auch wenn sie sich in ihrer Amtsführung um Überparteilichkeit bemühen mußten und nicht als offene Anhänger der BVP auftreten konnten. Die hegemoniale Stellung, die Vertreter der Volkspartei im bayerischen Kabinett und in kommunalen wie regionalen Verwaltungsinstanzen und Selbstverwaltungsgremien der katholischen Landesteile innehatten, trug entscheidend dazu bei, daß die Spitzenpolitiker der BVP in der krisengeschüttelten Endphase der Weimarer Republik mit erstaunlichem Selbstbewußtsein und zäher Hartnäckigkeit an ihrem programmatischen Credo festhielten, in dem sich ein dogmatisch erstarrter, ausschließlich an der bayerischen Eigenstaatlichkeit orientierter Föderalismusbegriff mit antidemokratischen Ressentiments und ständisch-autoritären Ordnungsvorstellungen verband. Dieser Gedankenwelt, in der bayerisch-partikularistisches Staatsdenken und restaurative Verfassungspläne, die auch den Rückzug aus der Republik einschlossen, eine Allianz eingegangen waren, blieb die BVP selbst dann noch verhaftet, als die Wahlerfolge der NSDAP in Bayern und der gleichzeitige Autoritätsverlust der Regierung Held eine Kurskorrektur erforderlich gemacht hätten. Die letzte Chance für diese Kurskorrektur verspielte man nach den Landtagswahlen vom April 1932, bei denen die NSDAP 32,5 1
Vgl. zur Geschichte der BVP ausführlich: Schönhoven, Klaus: Die Bayerische Volkspartei 1924-1932. Düsseldorf 1972; ders.: Zwischen Anpassung und Ausschaltung. Die Bayerische Volkspartei in der Endphase der Weimarer Republik 1932/33, in: Historische Zeitschrift, Bd. 224,1977, S.340-378.
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Klaus Schönhoven
Prozent der Stimmen erhalten hatte und hinter der Volkspartei, die auf 32,6 Prozent kam, nur um 1200 Stimmen zurückgeblieben war. Der einzige Ausweg aus dieser bedrohlichen schwarz-braunen Pattsituation, ein Bündnis der BVP mit den Sozialdemokraten, das zur Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung und damit zur Stabilisierung der seit 1930 nur noch als geschäftsführendes Kabinett amtierenden Regierung Held hätte führen können, wurde von der Landesleitung der Volkspartei nicht beschritten. Namentlich Ministerpräsident Held lehnte eine Neuorientierung seiner Koalitionspolitik strikt ab und Schloß eine Beteiligung der kooperationswilligen Sozialdemokratie an seinem Kabinett grundsätzlich aus. Diese Haltung fand zwar den Beifall vieler Anhänger der BVP, die sich von parlamentarischen Lösungen der schwelenden Staatskrise nichts mehr versprachen, doch verbaute sich Held mit seinem Beharren auf einer antisozialistischen Bündnispolitik die Möglichkeit, Bayern zu dem so oft von seiner Partei beschworenen »Bollwerk« gegen den Nationalsozialismus zu machen. In der Folgezeit regierte in München ein weitgehend handlungsunfähiges geschäftsführendes Kabinett Held, das sich völlig darauf konzentrierte, seinen bayerischen Herrschaftsraum zu verteidigen, ohne zu erkennen, daß seine innerbayerische Machtposition schwer erschüttert und seine Widerstandskraft gegen den Nationalsozialismus nach der Absage an eine schwarz-rote Koalition entscheidend geschwächt war2. Dazu kamen erhebliche parteiinterne Spannungen zwischen Ministerpräsident Held, der die alte Garde der im Kaiserreich politisch groß gewordenen BVP-Politiker anführte, und dem Parteivorsitzenden Fritz Schäffer, der nach einer im November 1918 gestarteten Blitzkarriere im Mai 1929 im Alter von 41 Jahren die Führung der Volkspartei übernommen hatte. Während Held aus katholisch-konservativer Grundüberzeugung ein schwarz-rotes Bündnis ebenso weit von sich wies wie eine schwarzbraune Koalition, steuerte Schäffer ein Kabinett der »nationalen Konzentration« unter Einschluß der NSDAP an. Seine von ihm im Sommer und Herbst 1932 energisch verfolgten Pläne - in ihrer strategischen Intention kaum vom »Zähmungskonzept« Papens und Hugenbergs zu unterscheiden - zielten darauf ab, im Reich die NSDAP in eine bürgerlich-konservative Einheitsfront einzubinden, die vom Zentrum bis zu den Deutschnationalen reichen sollte. In Bayern wollte er der NSDAP die Rolle des Juniorpartners in einer von der BVP geführten Regierung zuweisen, als deren Ministerpräsident er selbst zur Verfügung stand. Als sich nach dem 30. Januar 1933 sehr schnell herausstellte, daß Schäffers Konzept nicht mehr realisiert werden konnte, weil sich Hitler weigerte, den politischen Katholizismus in die von ihm geführte Reichsregierung aufzunehmen, zogen sich der enttäuschte Schäffer und seine Partei notgedrungen ganz auf ihr bayerisches Einflußgebiet zurück. Im Kampf gegen die drohende Gleichschaltung des von ihnen seit 1920 regierten Landes mobilisierten die Politiker der BVP noch einmal alle Kräfte, wobei jedoch nicht zu übersehen war, daß die Parteiorganisation der Volkspartei in den einzelnen Gemeinden der konzentrierten Agitation der NSDAP nur wenig entgegenzusetzen hatte. Die von lokalen Honoratioren geleiteten Parteikomitees der BVP waren nicht straff durchgegliedert, sondern entsprachen noch immer mehr locker gefügten 2
Eine eingehende Analyse über den Aufstieg des Nationalsozialismus in Bayern und die innerbayerische Entwicklung in den letzten Monaten der Weimarer Republik liefert Wiesemann, Falk: Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern 1932/33. Berlin 1975.
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Gesinnungsgemeinschaften des 19. Jahrhunderts als dem Typus moderner Ortsvereine. So gab es eine Vielzahl von kommunalen Mandatsträgern der BVP, die nicht Mitglied der Partei waren und keine Beiträge an die Parteizentrale zahlten. Selbst Landtagsabgeordnete und Reichstagsabgeordnete versicherten nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten glaubhaft, sie seien nie Mitglied der Volkspartei gewesen. Mit der zur Massenbewegung angeschwollenen NSDAP konnte die BVP nicht konkurrieren, die im Frühjahr 1933 einen Wahlkampf aus der Defensive führen mußte und sich zudem - auch in den Augen vieler ihrer Anhänger - in ihrer langen Regierungszeit in Bayern politisch abgenutzt hatte. Hinter der rhetorischen Entschlossenheit der Spitzenpolitiker der BVP, die den Wahlkampf mit der Drohung eröffneten, man werde einen nach Bayern entsandten Reichskommissar an der Mainlinie verhaften lassen, stand keine ernstzunehmende Macht und Widerstandskraft. Unrealistisch waren auch die im Februar 1933 überstürzt aktivierten monarchistischen Restaurationspläne3, als deren Protagonist einmal mehr der agile Schäffer hervortrat. Das Vorhaben, den bayerischen Kronprinzen Rupprecht zum Generalstaatskommissar zu ernennen - seine erste Amtshandlung sollte sein, sich kraft eigenen Rechts zum bayerischen König auszurufen - , scheiterte bereits am Widerstand von Ministerpräsident Held, der sich scheute, Bayern in das »Zwielicht der Illegalität«4 zu führen, und sich an die Hoffnung klammerte, mit seiner Politik des Abwartens und der Appelle an den Reichspräsidenten einen weiß-blauen Freiraum innerhalb des nationalsozialistischen Deutschland behaupten zu können. Seine Strategie, die letztlich eine Strategie des Nichtstuns war, konnte die Gleichschaltung Bayerns am 9. März 1933 nicht verhindern. Ob Schäffers monarchistische Restauration größere Widerstandskräfte geweckt hätte als der Immobilismus Heids, ist mehr als fraglich. Bayern war zu diesem Zeitpunkt, wie das Ergebnis der Reichstagswahlen vom 5. März 1933 bewies, nicht mehr die unüberwindliche Bastion, an der die Propaganda des Nationalsozialismus wirkungslos abprallte. Bei dieser letzten Reichstagswahl mußte die BVP vor allem in ihren altbayerischen und schwäbischen Domänen empfindliche Stimmeneinbußen in Kauf nehmen. Die NSDAP überflügelte die Volkspartei jetzt erstmals in Oberbayern, Niederbayern und Schwaben, also in Regionen mit einem hohen katholischen Wähleranteil, der sich noch 1932 als relativ immun gegenüber dem Nationalsozialismus gezeigt hatte. Hinzu kamen klare NSDAP-Mehrheiten in der Pfalz, in Oberfranken und in Mittelfranken, drei Regionen, in denen schon 1932 die Hochburgen des Nationalsozialismus gelegen hatten. Behaupten konnte sich die BVP lediglich in der Oberpfalz und in Unterfranken, wo sie auch im März 1933 die stärkste Partei blieb. Die Aktivierung bisheriger Nichtwähler, die Anpassung katholischer Wähler an den Nationalsozialismus und die fast völlige Ausschöpfung des protestantisch-konservativen wie des ehemals liberalen Wählerpotentials verhalfen der NSDAP - im Vergleich zur Novemberwahl von 1932 - zu einem Zuwachs von rund
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Vgl. dazu Wiesemann, S.206ff.; Aretin, Karl Otmar von: Die bayerische Regierung und die Politik der bayerischen Monarchisten in der Krise der Weimarer Republik 1930 bis 1933, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70.Geburtstag am 19.September 1971, Bd. 1. Göttingen 1971, S.205-237, vor allem S.229ff. So Schwend, Karl: Bayern zwischen Monarchie und Diktatur. Beiträge zur bayerischen Frage in der Zeit von 1918-1933. München 1954, S.515. Vgl. auch: Schönhoven, Klaus: Heinrich Held (1868-1938), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des 20.Jahrhunderts, hrsg. von Rudolf Morsey. Mainz 1973, S. 220-236.
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730000 Stimmen und zu einem klaren Wahlsieg in Bayern. Die BVP hatte zwar seit November nur rund 8800 Stimmen eingebüßt, war aber durch die »katastrophale Gewichtsverlagerung«5 der Märzwahlen nur noch die zweitstärkste Partei in Bayern: Für sie hatten sich lediglich 27,2 Prozent der Wähler entschieden, während die NSDAP 43,1 Prozent der Stimmen gewann6. Als vier Tage nach dieser schweren Wahlniederlage der Volkspartei die nationalsozialistische Gleichschaltungswelle auch Bayern überrollte, ohne daß die Regierung Held und die Spitzenpolitiker der BVP Zeit und Gelegenheit zur Gegenwehr fanden - der von Hitler als Reichskommissar ernannte Generalleutnant Franz Ritter von Epp kam aus dem Münchener Hauptquartier der NSDAP und mußte nicht erst die Mainlinie überschreiten - , verlor die BVP innerhalb weniger Stunden die Regierungsmacht in Bayern, die sie fast auf den Tag genau 13 Jahre lang innegehabt hatte. Die Tatsache, daß sich die Machtmittel des bayerischen Staates nun im ausschließlichen Besitz der NSDAP befanden, demonstrierten Kommandos der SA noch in der Nacht vom 9. auf den 10. März 1933 auch Repräsentanten der Bayerischen Volkspartei sehr handgreiflich: Innenminister Stützel wurde aus dem Bett geholt, im Nachthemd in das Braune Haus gebracht und dort mißhandelt; Schäffer, der seit September 1931 als Staatsrat das bayerische Finanzministerium kommissarisch leitete, wurde ebenfalls verhaftet und erst nach einer Intervention Epps zusammen mit Stützel wieder entlassen; Staatsrat Mantel, Chef der Forstabteilung des Finanzministeriums, kam kurzfristig in Schutzhaft; Stadtrat Ostermaier, Mitglied der BVP-Fraktion im Münchener Rathaus, wurde von einem Schlägertrupp der SA verhaftet und mißhandelt. Ähnliche Erfahrungen mußte auch Sebastian Schlittenbauer machen, einer der Gründer der BVP und Führer des Bayerischen Christlichen Bauernvereins, den SA-Leute nachts aus seiner Wohnung verschleppten und unter Todesdrohungen und Beschimpfungen in einer Waldlichtung aussetzten7. Diese Willkürmaßnahmen und Gewaltakte schockierten nicht nur die Betroffenen, sondern schüchterten auch die Anhänger und Mitglieder der Bayerischen Volkspartei ein, die erkennen mußten, daß ihre Partei in der Substanz getroffen war. Die weißblaue Volkspartei, die sich seit ihrer Gründung im November 1918 in ihrem programmatischen Anspruch und in ihrer praktischen Politik als die bayerische Staatspartei verstanden hatte, die über das staatliche Gewaltmonopol verfügt hatte und die Polizeiund Verwaltungsbehörden des Landes mehr als ein Jahrzehnt lang beaufsichtigt und dirigiert hatte, war jetzt offensichtlich nicht mehr in der Lage, ihre eigene Prominenz vor dem willkürlichen Zugriff des nationalsozialistischen Terrors zu schützen. Ebenso wehr- und hilflos wie in der Regierungszentrale in München erlebten die Anhänger der BVP in den übrigen Regionen des Landes die nationalsozialistische Machtergreifung. Zwar verfügte die Volkspartei über eine eigene Wehrorganisation, 5
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So Volk, Ludwig: Der bayerische Episkopat und der Nationalsozialismus 1930-1934. 2. Aufl., Mainz 1966, S. 60. Vgl. die Wahlanalyse von Thränhardt, Dietrich: Wahlen und politische Strukturen in Bayern 1848-1953. Historisch-soziologische Untersuchungen zum Entstehen und zur Neuerrichtung eines Parteiensystems. Düsseldorf 1973, S. 181 ff.; Wiesemann, a.a.O. S.264ff. Vgl. dazu den Beschwerdebrief Schlittenbauers an Innenminister Wagner vom 13. März 1933, BayHStA MA 105475. Zu den anderen Vorfällen siehe ausführlich Domröse, Ortwin: Der NS-Staat in Bayern von der Machtergreifung bis zum Röhm-Putsch. München 1974, S.80ff.; Klenner, Jochen: Verhältnis von Partei und Staat 1933-1945. Dargestellt am Beispiel Bayerns. München 1974, S. 44 ff.
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die Bayernwacht, die seit 1926 als Selbstschutzverband aufgebaut worden war und an der Jahreswende 1932/33 rund 30000 Mitglieder zählte8. Doch diese Organisation, deren Mitglieder sich hauptsächlich aus dem Jugendverband der Volkspartei und aus der katholischen Jugendbewegung rekrutierten, war für eine bewaffnete Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Wehrorganisationen nicht gerüstet. Obwohl Held, Schäffer und der Landesführer der Bayernwacht, der Reichstagsabgeordnete Ritter von Lex, in ihren Wahlreden im Februar 1933 suggeriert hatten, die Selbstschutzorganisation der BVP sei marschbereit und habe alle Vorkehrungen zur Verhinderung eines nationalsozialistischen Putsches getroffen, reichten weder der Ausbildungsstand noch die militärische Ausrüstung und Schlagkraft der einzelnen Ortsgruppen der Bayernwacht aus, um eine erfolgreiche Gegenwehr in einem Bürgerkrieg mit der NSDAP leisten zu können. Außerdem schreckte auch die Führung der BVP vor einem Kampf um die Macht mit Waffen zurück, der dem religiös fundierten Staatsverständnis der katholisch-konservativen Partei widersprochen hätte. Wie wenig konkret die tatsächlich getroffenen Absprachen waren und wie unzureichend sich selbst die aktiven Ortsgruppen der Bayernwacht auf einen nationalsozialistischen Umsturzversuch vorbereitet hatten, illustriert folgender Erinnerungsbericht des Kameradschaftsführers der Bayernwacht in Ebermannstadt: »Unsere Bayernwacht war in der einfachen Bereitschaft. Am Tage der Einsetzung des Reichsstatthalters in München wurde erhöhte Bereitschaft angeordnet, das bedeutete für uns: Sammeln in der Sägmühle und uns zur Fahrt nach München bereithalten. Wir sammelten uns auch wie befohlen (aber ohne Gewehre) in der Sägmühle und verfolgten im Rundfunk aufmerksam die Vorgänge in München. Das letzte Stichwort kam nicht, dafür aber zog der neuernannte Reichsstatthalter Ritter von Epp in München ein.... Wie wir von der Ernennung von Epps hörten, wußten wir, was die Stunde geschlagen hatte, denn Hitler hatte keineswegs den Fehler gemacht und einen Nichtbayern zum Reichsstatthalter ernannt, sondern ausgerechnet von Epp, der in München und in ganz Bayern auch bei den politischen Gegnern der NSDAP großes Ansehen genoß. Damit entfiel für einen Aufstand ein wichtiges Zugmittel, dazu mag die Unterstützung durch die Reichswehr in Bayern versagt worden sein, und die Landespolizei, die dem Innenminister Stützel unterstand, war nicht stark und zuverlässig genug, ihr Leben für die Ausrufung der Monarchie aufs Spiel zu setzen. So unterblieb die sogar öffentlich angekündigte Wiederaufrichtung der Monarchie. Wir schlichen bald nach der Bekanntgabe der Ernennung von Epps zum Statthalter sehr geknickt heim und konnten unterwegs hören, wie die SA sang: >Wir fürchten Bayernwacht und Rotfront nicht·.· 9
Die Auflösung der Bayernwacht bereitete den neuen Machthabern dann auch keine besonderen Schwierigkeiten. Nach einzelnen gezielten Verhaftungsaktionen - in Mittelfranken wurden am 11. März 1933 in mehreren Bezirksämtern die Gauführer der Bayernwacht für einen Tag in Schutzhaft genommen 10 - versicherte die Landesleitung der Bayernwacht bereits am 13. März dem »in legaler Form bestellten Reichskommissar«, man stehe »auf dem Standpunkt strengster Loyalität« und habe den Mitgliedern der Organisation jeglichen Widerstand untersagt. Gleichzeitig setzte die Landesleitung der Bayernwacht ein Signal, das den sich bei Teilen der BVP-Führung bereits vollziehenden Kurswechsel von der Konfrontation zur Kooperation mit der NSDAP andeu8
Vgl. zur Entwicklung der Bayernwacht Wiesemann, a.a.O. S. 197 ff. ' Zitiert nach Kraus, Georg (Bearb.): Die Familie Karl Kraus und Barbara Kraus, geb. Igel. Vorfahren, Verwandte, Nachkommen. Hagen-Haspe 1958 [Privatdruck], S. 3 f. 10 Schutzhaft gegen die Führer der Bayernwacbt wurde in den Bezirksämtern Weißenburg, Hilpoltstein, Günzenhausen, Ansbach, Eichstätt, Erlangen und Feuchtwangen verhängt; BayHStA MInn 73 679.
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tete: Man werde, so wurde betont, an der »Niederkämpfung der antinationalen, volkszerstörenden Elemente« und an der »Wiedererringung der Wehrhaftigkeit« mitarbeiten 11 . Diese Offerte stieß beim kommissarischen NS-Innenminister Wagner aber auf keine Resonanz. Er hatte schon am Vorabend bei einer Besprechung mit den Regierungspräsidenten in ruppiger Deutlichkeit festgestellt, die Bayernwacht müsse froh sein, daß er sie nicht aufgelöst und ihren Führer verhaftet habe 12 . Daß trotz der Anbiederungsversuche der Landesleitung das Schicksal der Bayernwacht besiegelt war, machte endgültig die Verordnung über die aufzulösenden Wehrverbände vom 23. März 1933 deutlich, die auch die Bayernwacht aufführte. Als Ritter von Lex nach weiteren vergeblichen Verhandlungen mit der neuen Regierung und dem SA-Stabschef Röhm am 13. April 1933 dem bayerischen Innenminister die endgültige Auflösung dieser Selbstschutzorganisation der Bayerischen Volkspartei mitteilte13, beendete er die wenig ruhmvolle Geschichte eines Verbandes, der seiner eigentlichen Aufgabe - der Verteidigung des bayerischen Föderalismus und seiner Partei - nicht hatte gerecht werden können. Die bittere Enttäuschung, mit der viele Mitglieder der Bayernwacht das sang- und klanglose Ende ihrer Organisation hinnehmen mußten, wirkte in der Folgezeit psychologisch noch nach. Selbst in den Reihen der bis Anfang April 1933 aktiven Angehörigen der Bayernwacht - viele Ortsgruppen hatten sich bereits im März freiwillig aufgelöst - breiteten sich Passivität, Resignation und ein Gefühl der Ohnmacht aus. Obwohl es in den nächsten Monaten zu vereinzelten Verfolgungsmaßnahmen gegen ehemalige Mitglieder der BVP-Wehrorganisation kam, kann keine Rede davon sein, daß die Lokalorganisationen der Bayernwacht zu Zellen organisierter Opposition wurden. Die starke Abneigung gegen die nationalsozialistische Regierung, die einige Berichte von Regierungspräsidenten Angehörigen der Bayernwacht bescheinigen 14 , verdichtete sich nirgendwo zu planmäßiger und dauerhafter Widerstandstätigkeit, sondern blieb überall auf der Ebene spontaner Aufsässigkeit gegen bestimmte Zumutungen und Provokationen des NS-Regimes stehen. Dabei spielten oft Rivalitäten und Spannungen eine Rolle, die im Vorfeld der nationalsozialistischen Machtergreifung zwischen Anhängern der BVP und der NSDAP entstanden waren. Sie prägten das ländliche Klima auch noch nach dem 9. März 1933, wobei im Einzelfall nur schwer zu unterscheiden ist, ob Zusammenstöße von Mitgliedern der BVP bewußt herbeigeführt wurden oder ob die neuen lokalen Machthaber die günstige Gelegenheit nutzten, mit politischen Gegnern aus der BVP-Zeit abzurechnen und sie zu demütigen 15 .
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Diese Erklärung ist abgedruckt bei Schwend, Karl: Die Bayerische Volkspartei, in: Das Ende der Parteien 1933, hrsg. von Erich Matthias und Rudolf Morsey. Düsseldorf 1960, S.455-519, S.490Í. Das Protokoll dieser Besprechung, das auf Weisung Wagners allen bayerischen Bezirksämtern zur Kenntnisnahme zugesandt wurde, in BayHStA MA 105 255. In einer vorangegangenen Besprechung der Regierungspräsidenten mit Reichskommissar Epp hatte dieser noch erklärt, »da auch die Bayemwacht unter voller Anerkennung der Reichseinheit innerhalb'des deutschen Rahmens kämpfen wolle, bewege man sich auf der gleichen Linie. Seine Partei wolle keine Konflikte mit Männem gleichen Bluts· (ebd.). Lex teilte Wagner in diesem Schreiben mit, er habe »nach dem endgültigen Scheitern der Verhandlungen zwischen Herrn Stabschef Röhm und dem Landesführer der Bayemwacht« am lO.April 1933 sämtliche Kreisleitungen der Organisation angewiesen, »die Auflösung sofort völlig durchzuführen·. Dies sei mittlerweile geschehen; BayHStA MInn 73679. Vgl. auch die bei Schwend, Ende der Parteien, a.a.O S.510f. abgedruckten Aufrufe und Erklärungen von Lex und Schäffer zur Auflösung der Bayemwacht. So z.B. der Regierungspräsident der Pfalz in seinem Bericht vom 16.Juni 1933, BayHStA MA 106675.
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Die Konsequenzen, die man in der Parteispitze der Volkspartei aus dem Machtwechsel im März zog, waren sehr verschieden. Der schon jahrelang zu beobachtende Entfremdungsprozeß zwischen den älteren Parteiführern, deren politische Normen sich in der christlichen Tradition des Reichszentrums und unter der konstitutionellen Verfassungsordnung der Wittelsbacher Monarchie geformt hatten, und der sich um Schäffer sammelnden Frontgeneration des Ersten Weltkrieges, die trotz ihrer föderalistischen Uberzeugungen auch für nationalistische Töne nicht unempfindlich war und - als Generation der 40jährigen - ihre politische Karriere noch vor sich hatte, wirkte sich nun offen aus. Für die alten Parteiführer der Volkspartei, zu denen neben dem 65jährigen Held die Vorsitzenden der Landtags- und Reichstagsfraktion zu rechnen sind - der 68jährige Georg Wohlmuth und der 65jährige Heinrich Leicht - , bedeutete die nationalsozialistische Machtergreifung in Bayern das Ende ihrer politischen Tätigkeit. Alle drei zogen sich aus dem öffentlichen Leben zurück, wobei Held zunächst noch einen vergeblichen Versuch unternahm, seine offizielle Rücktrittserklärung zu verweigern16. Für Wohlmuth übernahm der wenig bekannte Studienprofessor Hans Müller den Vorsitz der Landtagsfraktion; an die Stelle von Leicht rückte Hans Ritter von Lex, der zusammen mit Schäffer und Anton Pfeiffer, dem Generalsekretär der Partei, zu der Gruppe von jüngeren Politikern gehörte, die Kontakte mit der NSDAP suchten und alles daran setzten, die weitere Existenz der Volkspartei zu sichern. Die Marschroute, die diese »jungen Frondeure« der BVP verfolgten, zielte darauf ab, die Partei in die Regierungsverantwortung zurückzubringen. Man war bereit, in ein von der NSDAP geführtes bayerisches Koalitionskabinett einzutreten und am »deutschen Wiederaufbau«17 mitzuarbeiten. Energische Befürworter fand dieser Anpassungskurs im Wirtschaftsbeirat der BVP, in dem wichtige Repräsentanten der bayerischen Industrie, des Großhandels und der Banken zusammengeschlossen waren. Der Vorsitzende des Beirates, Kommerzienrat Dorn, der in den bayerischen Arbeitgeberorganisationen eine Reihe von Spitzenämtern bekleidete, forderte in einem Schreiben an Schäffer vom 16. März »unzweideutig die Eingliederung in die nationale Front«, wobei - wie er weiter betonte - in das angestrebte schwarz-braune Kabinett von der BVP »nur junge Fachkräfte« entsandt werden sollten18. Auf der gleichen Linie bewegte sich ein am 22. März versandtes Rundschreiben des Geschäftsführers des Wirtschaftsbeirates an die Mitglieder dieses Gremiums: »Es bedarf wohl keiner besonderen Beweisführung, daß eine Organisation, die von Gründung an auf vaterländischem Boden steht, die in der freien Initiative, in der Erhaltung des Privateigentums und in der schöpferischen Unternehmerpersönlichkeit die besten Garantien für den wirtschaftlichen Aufbau sieht, mit allem Einsatz bemüht ist, dazu beizutragen, die Niederkämpfung des Marxismus im Innern und die Freiheit unseres Staates nach außen zu erreichen. Die Forde15
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Von lokalen Konflikten machte beispielsweise der Regierungspräsident von Schwaben in seinem Halbmonatsbericht vom 20.Juli 1933 Mitteilung. Danach waren in Ottobeuren 30 ehemalige Mitglieder der Bayernwacht in Schutzhaft genommen worden, weil man sie verdächtigte, die >Hitlereiche· im Ort durchsägt zu haben; BayHStA MA 106682. Unter dem gleichen Verdacht wurden in Ebermannstadt sechs Angehörige der Bayernwacht im April 1933 zehn Tage inhaftiert. Vgl. dazu rückblickend Kraus, der in seiner Familienchronik (s. Anm. 9) betont, die Ebermannstädter »Hitlerlinde* sei nicht von Angehörigen der Bayernwacht gekappt worden. Vgl. dazu ausführlich Klenner, a. a. O. S. 59 ff. So ein Artikel der Parteikorrespondenz der BVP, abgedruckt im Fränkischen Volksblatt, Nr. 62 vom 16. März 1933. Dieses Schreiben Doms zitierte der Geschäftsführer des Wirtschaftsbeirates in einem am 22. März 1933 versandten hektographierten Rundbrief an die Mitglieder des Beirats, BayHStA MA 105 475.
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rung des Wirtschaftsbeirats geht demgemäß dahin, zu einer Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten in gemeinsamer nationaler Front zu kommen. O b dies zur Zeit in Bayern erreichbar ist, bleibt abzuwarten. A n dem guten Willen des Wirtschaftsbeirats . . . wird es bestimmt nicht fehlen.· 1 9
Weiterhin vertrat der Geschäftsführer des Wirtschaftsbeirates in diesem Rundschreiben die Auffassung, die Partei müsse in Zukunft von einer »entschlossenen und aktiven Führung« geleitet werden, in der die »junge, arbeitswillige Generation« die Verantwortung übernehmen müsse. Gleichzeitig wurde eine Angleichung der Parteisatzung an das nationalsozialistische Vorbild verlangt, um der neuzuwählenden Parteispitze »eine überragende Stellung« einräumen zu können; ferner forderte man ein zeitgemäßes Parteiprogramm. Ritter von Lex und Schäffer hatten bereits vor diesen unmißverständlichen Aufforderungen aus dem Lager von Industrie, Handel und Banken Verbindungen zur NSDAP hergestellt, um über eine Regierungsbeteiligung der Volkspartei zu verhandeln. Der von ihnen erhoffte schnelle Abschluß einer Koalitionsvereinbarung konnte jedoch nicht realisiert werden, weil Hitler bei einem Besuch in München - trotz der Fürsprache des NSDAP-Fraktionsvorsitzenden Buttmann für die BVP - keine Entscheidung über die Aufnahme der Bayerischen Volkspartei in das NS-Kabinett in München getroffen hatte 20 . Obwohl also zunächst die Frage einer Regierungsbeteiligung der BVP in Bayern vertagt war, bekundeten Lex und Schäffer auch in den nächsten Wochen immer wieder ihren Willen zur Mitarbeit. Lex begründete am 23. März 1933 in der Berliner Krolloper das positive Votum der BVP-Reichstagsfraktion zum Ermächtigungsgesetz, und Schäffer wurde nicht müde, in Leitartikeln die Anpassungsbereitschaft der Volkspartei an das »Deutschland von morgen« zu artikulieren. So stilisierte er die BVP Anfang April 1933 als eine »politisch-geistige Bewegung«, die »christlichen Glauben und öffentliches Wirken in Einklang zu bringen« suche und deshalb »jene zeitbedingten Parteiformen« überrage, »die das liberalistisch-demokratische Zeitalter erzeugt hat und deren Schicksal mit dem Untergang dieser Zeitepoche besiegelt ist«21. Wie wenig schwer ihm der Abschied von der Weimarer Republik fiel, deren Regierungssystem er nun »als überlebte und schnell abgenützte Formen einer dahingegangenen Formaldemokratie« charakterisierte, und wie entschlossen er sich auf dem Marsch in das Dritte Reich begeben hatte, dokumentiert seine folgende Feststellung: »Uber allem aber steht für die Bayer.Volkspartei in ihrer praktischen vaterländischen Betätigung der große Gesichtspunkt, daß ein Scheitern der jetzigen Reichsregierung ein Unglück und eine Gefahr für das gesamte deutsche Volk wäre und daß es deshalb Pflicht jedes Deutschen und jeder deutschgesinnten Partei ist, mitzuhelfen, daß die jetzige Reichsregierung auch Arbeit und Brot dem Volke bringen, einen nationalen Aufstieg im Innern erringen und deutsches R e c h t und deutsche Freiheit nach außen hin erkämpfen kann.« 2 2
Ob diese bemerkenswert große Anpassungsbereitschaft der Führungsgruppe um Schäffer den ungeteilten Beifall der Parteianhänger fand, läßt sich nicht mit Sicherheit ·» Ebd. Vgl. dazu Wiesemann, a.a.O. S.282f. sowie die beiden Berichte, die der Münchener Domdekan Anton Scharnagl am 13. und 16. März 1933 an Kardinal Faulhaber sandte, der sich zu dieser Zeit zu einem ad-limina-Besuch in Rom aufhielt; veröffentlich bei: Volk, Ludwig (Bearb.), Akten Kardinal Michael von Faulhabers 1917-1945, Bd. 1. Mainz 1975, S.664ff. 21 Bayerischer Kurier, Nr. 98 vom 8. April 1933. 2 2 Ebd.
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feststellen, da unter den gegebenen Bedingungen keine innerparteiliche Diskussion über den weiteren Kurs der Volkspartei stattfinden konnte. An der jetzt völlig desorientierten Parteibasis der Volkspartei bot sich ein widersprüchliches Bild : Konflikte zwischen lokalen Repräsentanten der BVP und NS-Funktionären, die nach kommunalen Ämtern und Würden drängten, und Konsensbereitschaft im Lager der Volkspartei wie im Lager der NSDAP fanden sich nebeneinander. Während einerseits mancher SA-Führer in seinem Herrschaftsgebiet auf eigene Faust schwerbewaffnet »Revolution spielte« und die alteingesessene Honoratiorenschicht terrorisierte, ergaben sich andererseits in diesem frühen Stadium der nationalsozialistischen Machtstabilisierung auch örtliche Konstellationen, die als friedliche Nachbarschaft von BVP und NSDAP charakterisiert werden können. Schäffers Appell zur Zusammenarbeit dürfte also - je nach örtlicher Situation - in den Reihen der Anhänger der Volkspartei sowohl auf Zustimmung wie auf Ablehnung gestoßen sein. Da aber die katholische Kirche bereits Ende März 1933 ihren Konfrontationskurs gegen die NSDAP korrigiert hatte, standen einer Regierungsbeteiligung der BVP aus der Sicht vieler ihrer Anhänger jedoch keine grundsätzlichen Hindernisse mehr im Wege. Als am 24. April 1933 der BVP-Abgeordnete Eugen Graf von Quadt zu Wykradt und Isny zum Leiter des neugeschaffenen bayerischen Wirtschaftsministeriums ernannt wurde, nachdem der ehemalige bayerische Finanzminister Schmelzte aus Gesundheitsgründen die Übernahme dieses Amtes abgelehnt hatte, verbuchte man in der Parteispitze der BVP diese Berufung als ersten Erfolg der eigenen Kooperationsstrategie. Zwar war Quadt in das nationalsozialistische Kabinett eingezogen, ohne daß vorher mit der Volkspartei formelle Koalitionsverhandlungen stattgefunden hatten 23 , doch dieser Verfahrensweise maß man im Führungszirkel um Schäffer wenig Bedeutung zu. Man glaubte vielmehr, den Zugang zur Staatsmacht zurückgewonnen zu haben und interpretierte die Ernennung eines BVP-Ministers auch als eine Garantieerklärung für den weiteren Fortbestand der Volkspartei. Die Hoffnung, daß nach den Wochen der Umsturzwirren nun eine Phase der Beruhigung der innenpolitischen Lage und der Konsolidierung der Regierungsverhältnisse folgen werde, in der sich die Koexistenz von BVP und NSDAP festigen könnte, veranlaßte die umgebildete Landtagsfraktion der Volkspartei, das bayerische Ermächtigungsgesetz am 29. April 1933 einstimmig zu billigen. Dieses Gesetz befugte die neue Regierung zu allen ändernden Eingriffen in die Landesverfassung, sofern sie nicht die Einrichtung des Landtages selbst zum Gegenstand hatten. Die Möglichkeit, zusammen mit den Sozialdemokraten dieses Gesetz abzulehnen, zog die BVP-Fraktion im bayerischen Parlament nicht in Erwägung, sah man es doch als ein »gemeinsames Kampfziel« von Volkspartei und Nationalsozialisten an, die »Volksgefahr« des »materialistischen Sozialismus« auszuschalten24. Damit ließ die Bayerische Volkspartei die
" Dies betonte Ministerpräsident Siebert in seiner Regierungserklärung vom 28.April 1933 ausdrücklich: »Koalitionsverhandlungen konnten, weil sie überhaupt der Vergangenheit angehören, bei der Frage der Regierungserweiterung nicht in Frage kommen.· Verhandlungen des Bayerischen Landtags, VI. Wahlperiode, Tagung 1933, Sten. Ber. Nr. 1, S. 7. 24 So der neugewählte Fraktionsvorsitzende der BVP im Landtag, Hans Müller, in seiner Stellungnahme zur Regierungserklärung von Siebert; Verhandlungen des Bayerischen Landtags, 2.Sitzung vom 29.April 1933, S. 7. Der vorgelegte Gesetzentwurf wurde mit den Stimmen von NSDAP, BVP und DNVP gegen die Stimmen der SPD verabschiedet.
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letzte parlamentarische Chance vor ihrer erzwungenen Selbstauflösung ungenutzt verstreichen, um in aller Öffentlichkeit gegen die Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft in Bayern Stellung zu beziehen.
I I . D E R G R I F F DER N S D A P
NACH DER KOMMUNALEN
SELBSTVERWALTUNG
Die von der Führung der Bayerischen Volkspartei im März und April 1933 demonstrierte Bereitschaft zur Zusammenarbeit und die von den Parlamentariern der BVP im Reichstag und Landtag erbrachten Vorleistungen veranlagten die nationalsozialistischen Machthaber nicht, ihre Taktik zu ändern. Auch in Bayern waren sie bestrebt, den mit der Regierungsübernahme in Gang gesetzten Machtwechsel systematisch voranzutreiben. Ihr Hauptaugenmerk richtete sich dabei - nach der Ausschaltung der Reichs- und Landesparlamente und der Entfernung der Regierung Held - auf die Eroberung der Schlüsselpositionen in den lokalen und regionalen Selbstverwaltungsgremien, auf Oberbürgermeister- und Bürgermeisterposten, auf Stadtrats- und Gemeinderatsmandate, auf die Sitze in den Bezirkstagen. Die Durchsetzung des nationalsozialistischen Herrschaftsanspruchs auf dieser Ebene vollzog sich jedoch weder in einem überall konsequent in Angriff genommenen noch zielstrebig zu Ende geführten Gleichschaltungsprozeß. Deshalb kam es auch nicht zur programmatisch angestrebten und publizistisch propagierten Errichtung eines alles durchdringenden totalitären Systems. Neuere regionale Fallstudien haben für Bayern nachgewiesen, daß die Vorstellung, auch auf dem Lande sei ein stabiles und monolithisches nationalsozialistisches Herrschaftssystem errichtet worden, korrekturbedürftig ist 25 . Gerade in den Landgemeinden stießen die Machtambitionen der NSDAP auf die Beharrungskraft einer festverwurzelten Honoratiorenschicht, deren kommunalpolitischer Einfluß auf ihrem Sozialprestige als Besitzbürger, Bildungsbürger oder Bauern und auf ihrer konfessionellen Homogenität gründete. Die gesellschafdiche Stellung dieser ländlichen Eliten war mit Verleumdungskampagnen, die auf ihre private Reputation abzielten, ebensowenig zu erschüttern wie mit dem Vorwurf der Korruption im Amt, weil sich ihr kommunales Regiment auf einen von allen Gemeindebewohnern überschaubaren und damit auch weitgehend überprüfbaren Raum beschränkte.
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Vgl. vor allem Zofka, Zdenek: Die Ausbreitung des Nationalsozialismus auf dem Lande. Eine regionale Fallstudie zur politischen Einstellung der Landbevölkerung in der Zeit des Aufstiegs und der Machtergreifung der NSDAP 1928-1936. München 1979; ders.: Dorfeliten und NSDAP. Fallbeispiele der Gleichschaltung aus dem Kreis Günzburg, in: Bayern in der NS-Zeit Bd. IV, a.a.O. S.383-433; Tenfelde, Klaus: Proletarische Provinz. Radikalisierung und Widerstand in Penzberg/Oberbayern 1900 bis 1945, ebd. S. 1-382; Fröhlich Elke/Broszat Martin: Politische und soziale Macht auf dem Lande. Die Durchsetzung der NSDAP im Kreis Memmingen. In: VfZ, 25.Jg, 1977, H. 4, S.546-572; Fröhlich, Elke: Die Partei auf lokaler Ebene. Zwischen gesellschaftlicher Assimilation und Veränderungsdynamik, in: Der >FührerstaatSternecker< bin ich erst Kämpfer für die Weltanschuung Adolf Hitlers, in zweiter Linie Vollzieher der Verwaltungsbestimmungen.· 1 7 4
Das Bezirksamt Schloß sich dieser rüden Argumentation des Regimevertreters nicht an und betonte in seinem Antwortschreiben, mit dem es den rechtswidrigen Ausschluß des Kuriers aus den Stadtratssitzungen aufhob, daß »auch der heutige Staat Rechtsstaat« sei und daß deshalb die Grundsätze einer gesetzmäßigen Verwaltung angewendet werden müßten 1 7 5 . Mit dieser Entscheidung der noch an traditionellen Normen orientierten Behörden war aber weder der Bürgermeister von Aichach noch der dortige Kreisleiter der NSDAP einverstanden, der die verlegerische Tätigkeit des Kuriers als »absolut verheerend« charakterisierte und keinen Zweifel daran aufkommen ließ, daß man die katholische Zeitung zur Kapitulation zwingen wollte 176 . Die logische Konsequenz aus dieser Haltung war, daß die Kreisleitung ihre Werbeaktion für die eigene Zeitung noch verstärkte und den Kurier bereits Ende April 1935 mit einem neuen Verbotsantrag bedachte. In diesem Fall begnügte sich die Bayerische Politische Polizei mit einer ernstlichen Verwarnung des Chefredakteurs und der Drohung, »daß bei der geringsten neuerlichen staatsabträglichen Schreibweise mit den schärfsten polizeilichen Mitteln vorgegangen wird» 177 . Im Sommer 1935 erreichte der Kampf gegen den Kurier schließlich seinen Höhepunkt und sein Ende. Nachdem Vertretern der Zeitung im Juni und Juli mehrmals der Zutritt zu regionalen Veranstaltungen von dort anwesenden Nationalsozialisten verwehrt worden war, löste im August ein Artikel des Kuriers über einen antisemitischen Vorfall - bei einer Zwangsversteigerung hatte ein jüdischer Gläubiger seine For17< 173 176 177
Schreiben vom 17. November 1934, StA München, LRA 101159. Schreiben vom 3. Dezember 1934, ebd. In einem Schreiben an das Bezirksamt Aichach, ebd. Vgl. Bayern in der NS-Zeit Bd.I, a.a.O. S.352.
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derungen nicht geltend machen können - den von der NSDAP gesteuerten „Unwillen" der Bevölkerung gegen die Zeitung aus. Eine Demonstration vor dem Verlagsgebäude gab den willkommenen Anlaß, den Verleger und die beiden Redakteure des Blattes „zu ihrem persönlichen Schutz in Haft zu nehmen" 178 und das Erscheinen der Zeitung zu verbieten. Nach drei Tagen entließ man die Inhaftierten wieder, da keine „Gefahr für ihre persönliche Sicherheit" mehr bestand und weil die Verhandlungen zwischen dem demoralisierten Verleger des Kuriers und der NS-Kreisleitung über den Verkauf der Verlagsrechte „zu einem erfolgreichen Abschluß gelangt waren" 179 : Der Verleger hatte während seiner Haftzeit in die Liquidation des Aichacher Kuriers eingewilligt; die Zeitung stellte am 31. August 1935 ihr Erscheinen ein. Im Falle des Regensburger Anzeigers hatten es die Nationalsozialisten nicht mit einer provinziellen Heimatzeitung zu tun, sondern mit einem der führenden Organe der Bayerischen Volkspartei, dessen Hauptgesellschafter und Verlagschef der langjährige bayerische Ministerpräsident Heinrich Held war. Held verfügte mit seiner Zeitung, als deren Redakteur er 1899 seine politische Karriere begonnen hatte, über ein einflußreiches publizistisches Sprachrohr, das nicht nur in der Oberpfalz, sondern auch in München und Berlin aufmerksam gelesen wurde. Wer in den Weimarer Jahren wissen wollte, welche politischen Absichten der bayerische Regierungschef verfolgte und was von der BVP zu erwarten stand, war darüber am besten im Regensburger Anzeiger mformiert worden. Wegen der besonderen Prominenz seines Verlegers geriet das Blatt dann auch in die Schußlinie der Berliner NS-Stellen, die in diesem Fall die Ausschaltung der Zeitung selbst betrieben und das Geschäft nicht den regionalen Zaunkönigen der Partei überließen. Im Jahr 1933 blieb der Regensburger Anzeiger, der sich zu politischen Problemen ebenfalls nur noch sehr zurückhaltend äußerte, weitgehend unbehelligt. Abgesehen von einem viertägigen Verbot im Mai 1933 konnte die Zeitung regelmäßig erscheinen, obwohl es nicht an Versuchen zensurwütiger Lokalgrößen fehlte, den Druck und die Auslieferung des Blattes zu verhindern. Im August 1933 lehnte der bayerische Pressekommissar Esser einen Verbotsantrag ab, der ihm nicht hinreichend begründet zu sein schien. Ebenso verfuhr er im November des gleichen Jahres, als sich die Reichspropagandastelle der Bayerischen Ostmark beschwerte, daß der Regensburger Anzeiger nicht für den Volksentscheid werbe. Der Tatbestand, daß der Anzeiger »die Regierung zwar nicht bekämpft, sich aber auch nicht besonders aktiv für ihre Ziele einsetzt«, reichte nach Essers Auffassung nicht aus, um pressepolizeiliche Maßnahmen einzuleiten 180 . Im Dezember 1933 veranlaßte ein kritischer Artikel zum Winterhilfswerk 181 Esser jedoch zum Einschreiten. Zunächst wollte er ein dreitägiges Verbot der Zeitung genehmigen, doch änderte er seine Meinung und wandelte die Strafe in eine scharfe Verwarnung ab. Diese »Milde« begründete er mit den ungünstigen Auswirkungen, die eine Druckpause auf die über 100 Beschäftigten des Verlages kurz vor Weihnachten gehabt hätte 182 . Essers bemerkenswert behutsame Zensurpolitik gegenüber 178
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So der Bericht der Gendarmeriehauptstation Aichach vom 15. August 1935 an das Bezirksamt, der ausführlich auf die Zwischenfälle bei der Zwangsversteigerung und auf die Demonstration vor dem Zeitungsverlag eingeht; StA München, LRA 101159. Bericht des Bezirksamts Aichach vom 20. August 1935 an die Bayerische Politische Polizei, ebd. Aktennotiz Essers vom 21. November 1933, BayHStA MA 106462/10. Regensburger Anzeiger, Nr. 330 vom 1. Dezember 1933. Schriftwechsel in BayHStA MA 106462/1.
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dem Regensburger Blatt hatte politische und persönliche Motive. Zum einen war ihm klar geworden, daß die Anwendung der von der Parteibasis favorisierten Brachialmethoden die erwünschte Konsolidierung der staatlichen Verhältnisse verzögern konnte, zum anderen scheute der frischgebackene bayerische Kanzleiminister vor einer massiven Intervention gegenüber dem Held-Verlag wohl deshalb zurück, weil er vor dem langjährigen bayerischen Ministerpräsidenten noch einen Rest von Respekt besaß. Endgültig vorbei war die Phase der Vorsicht, als sich das Reichsinnenministerium im Sommer 1934 einschaltete und im Juni eine dreimonatige Drucksperre über die Zeitung verhängte. Veranlaßt wurde dieser drastische Eingriff durch ein Schreiben Goebbels', der das Innenministerium auf einen Artikel des Anzeigers aufmerksam gemacht hatte, in dem unter der Uberschrift Zeitrufe-Gottesrufe Auszüge aus FaulhaberPredigten der Jahre vor 1933 veröffendicht worden waren183. Diese Texte interpretierte man im Innenministerium - gemäß der Anweisung des Propagandaministers als »Verhöhnung und Verunglimpfung des nationalsozialistischen Staates«. Die Zeitung hatte die Auszüge aus Faulhabers Predigten nämlich demonstrativ gedruckt, nachdem Goebbels in einer Rede behauptet hatte, der Münchener Kardinal sei unter den früheren Regierungen nicht gegen die öffendiche Unsittlichkeit aufgetreten184. Für die Verlagsleitung des Gauverlages Bayerische Ostmark, der unter der Regie des nationalsozialistischen Kultusministers Schemm und seines Bruders in Bayern ein regionales Presseimperium zu errichten suchte185, war das Verbot des katholischen Blattes die langerwartete Gelegenheit, um ihren Auflagenanteil in der Oberpfalz zu vergrößern. In einer Resolution an die bayerische Staatskanzlei begrüßte man deshalb die mehrmonatige Ausschaltung des Anzeigers mit großer Befriedigung: »Der >Regensburger Anzeiger, dürfte innerhalb des deutschen Reiches so ziemlich das einzige Blatt sein, das durch seine politisch-konfessionelle Tendenz den Nationalsozialismus und damit den Staat von heute nicht nur ablehnt, sondern darüber hinaus aggressiv fast in jeder Nummer gegen ihn vorgeht. Durch die versteckten sophistischen Kampfmethoden ist es diesem Blatt gelungen, seine staatsfeindliche Tendenz ungestraft verfolgen zu können.» 186
Als zusätzliche Beifallsbekundung organisierten die lokalen Parteistellen in Regensburg eine Demonstration gegen den Anzeiger, die unter dem Motto Kampf gegen die Miesmacher stand. Obwohl an dieser Protestveranstaltung vor dem Verlagsgebäude der Zeitung nur 100 Personen teilnahmen, die noch dazu aus einer NS-Veranstaltung zusammengetrommelt werden mußten, hatte man damit der örtlichen Polizei einen Anlaß geliefert, den verantwortlichen Redakteur und den Mitgesellschafter des Anzeigers für einige Tage in Schutzhaft zu nehmen, weil beide - so die Begründung - »infolge
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186
Regensburger Anzeiger, Nr. 137 vom 17.Mai 1934. Weitere Einzelheiten zu dieser Verbotsmaßnahme in: BayHStA MA 106462/10; siehe auch: Zeitungsgeschichte, Zeitgeschichte. Beiträge zur Regensburger Pressegeschichte. Regensburg 1959, S. 26 ff.; die Zeitung konnte ab 6.Juni 1934 nicht mehr erscheinen. Vgl. dazu ausführlich Frei, Norbert: Nationalsozialistische Eroberung der Provinzzeitungen. Eine Studie zur Pressesituation in der bayerischen Ostmark, in: Bayern in der NS-Zeit Bd. II, a.a.O. S. 1-89. Schreiben vom ll.Juni 1934. Gleichzeitig gingen in München Telegramme des Regensburger Oberbürgermeisters und der NSDAP-Organisation der Ostmark ein, die dafür plädierten, das Verbot nicht aufzuheben; BayHStA MA 106462/10.
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ihrer politischen Vergangenheit und ihrer Einstellung zum Nationalsozialismus zu den bestgehaßten Leuten« in Regensburg zu zählen seien 187 . Bemühungen eines Sohnes von Held in München und Berlin, eine Verkürzung der Verbotszeit zu erreichen, blieben vergeblich, nachdem Goebbels die Anweisung gegeben hatte, keine Druckerlaubnis zu erteilen. Am September 1934 konnte der Anzeiger dann zwar nach einer dreimonatigen Pause wieder erscheinen, doch seine Zukunft war mehr als ungewiß. Die Zahl der Abonnenten schrumpfte beständig und sank bis 1935 auf 13000 ab - vor 1933 hatte die Zeitung 23000 feste Bezieher gehabt - , die Anzeigenkunden wurden immer weniger, der Verlag geriet in finanzielle Schwierigkeiten, und die Firmeninhaber mußten Hypotheken auf ihre Privat- und Geschäftshäuser aufnehmen, um den Schuldenbestand abzubauen, der mit kirchlichen Druckaufträgen allein nicht vermindert werden konnte 188 . In dieser Situation wandte sich Held letztlich ohne großen Erfolg an Wirtschaftsminister Schacht, den er als ehemaligen Reichsbankpräsidenten kannte und dem er nun in einem langen Brief seine bedrängte Lage schilderte. Heids Hinweis, er sei bei einer Schließung des Verlages »bettelarm und nahezu ohne jedes Einkommen äußerster Not preisgegeben«189, veranlaßte Schacht wenigstens, Reichsstatthalter Epp zu fragen, ob er es für richtig halte, daß infolge eines »Vernichtungskampfes« der frühere bayerische Ministerpräsident eventuell Wohlfahrtsunterstützung in Anspruch nehmen müsse 190 . Epp war zwar auch der Ansicht, wie er Siebert mitteilte, »daß es mit dem Ansehen Bayerns nicht vereinbar, aber auch politisch nicht klug wäre«, wenn Held durch die Lahmlegung seines Zeitungsunternehmens zum Wohlfahrtsempfänger würde 191 , doch konnte weder er noch Siebert in dieser Frage viel entscheiden, wußten sie doch beide, daß der prominente Fall unter der Regie der Berliner Stellen gelöst werden sollte. Am 14. Oktober 1935 Schloß Max Amann, der Präsident der Reichspressekammer, den Verlag des Regensburger Anzeigers aus dieser berufsständigen Zwangsorganisation aus. Die Begründung dieser Maßnahme, mit der dem Unternehmen das Verlagsrecht entzogen wurde, war lapidar: »Das Kapital der Gebr. Habbel GmbH befindet sich zu 75 Prozent in Händen des ehemaligen Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. H. Held. Als Führer der Bayerischen Volkspartei stand Dr. Held im Kampfe gegen den Nationalsozialismus an vorderster Stelle. Seine politische Wirksamkeit gegen die nationalsozialistische Bewegung und die von seiner Person ausgegangene Gefährdung der Reichseinheit sind so allgemein bekannt, daß auf eine Kennzeichnung im einzelnen verzichtet werden kann.«" 2
187
188
189
191
1,2
Vgl. zu den Vorfällen BayHStA, Reichsstatthalter Epp 447. Die unverzügliche Freilassung der inhaftierten Verlagsmitglieder forderte Reichsinnenminister Frick in einem Schnellbrief vom 18.Juni 1934, in dem er anordnete, alle Maßnahmen zu treffen, »die zur Verhinderung einer Wiederholung der bedauerlichen Ausschreitungen geeignet und erforderlich sind.; ebd. Für die Aufhebung der Schutzhaftmaßnahme hatte sich ein Sohn Heids in Berlin bemüht; vgl. dazu Zeitungsgeschichte, a.a.O. S.28ff. Das geht hervor aus einem Schreiben des Regensburger Oberbürgermeisters vom 2.Juli 1935 an Siebert, BayHStA MA 106462/10. Schreiben vom 2. März 1935, ebd. Schreiben vom 9. April 1935, ebd. Schreiben vom 18. Mai 1935, ebd. Im gleichen Faszikel findet sich der Entwurf eines Antwortschreibens Sieberts, in dem er feststellte, daß es sich hierbei um »eine weit über Bayern hinausgehende Frage grundsätzlicher Bedeutung« handele, die nach seiner Meinung vom Reichspropagandaministerium zu entscheiden sei. Text der Verfügung, ebd.
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Held wehrte sich gegen diese Vorwürfe in einer langen schriftlichen Rechtfertigung seiner politischen Tätigkeit, in der er eine Reihe von zweck- und situationsbedingten Zugeständnissen an den Nationalsozialismus machte und gleichzeitig noch einmal die Grundpositionen seiner Regierungspolitik umriß: •Als Bayerischer Ministerpräsident hatte ich die Pflicht, unter allen Umständen die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, die damals gültige Verfassung gegen Eingriffe zu schützen und durchzuführen. In meiner Eigenschaft als Ministerpräsident bin ich gegen den Nationalsozialismus nicht anders verfahren wie gegen die sogen, bürgerlichen Parteien. Ich habe mein Amt dem Nationalsozialismus gegenüber pflichtgemäß, objektiv und ohne Ansehen der Person, rein nach den Richtlinien der Verfassung und der Gesetze gehandhabt. Man wird nicht in der Lage sein, gegen mich als Ministerpräsidenten den Vorwurf eines inobjektiven Verhaltens gegen den Nationalsozialismus zu erheben. Man wird mir zugute rechnen müssen, daß unter meiner Regierung der Kampf gegen den Kommunismus in Bayern mit äußerster Konsequenz durchgeführt wurde, so daß er in Bayern eine politische Bedeutung überhaupt nicht gewinnen konnte. Unter mir wurde zum erstenmal und für alle Dauer meiner Regierungstätigkeit die Sozialdemokratie grundsätzlich von der Teilnahme an den Regierungsgeschäften ausgeschlossen. Unter mir haben sich persönliche Beziehungen zu den einzelnen Mitgliedern der Nationalsozialistischen Partei und der Landtagsfraktion angesponnen, die die Frage der Einbeziehung der Nationalsozialistischen Fraktion in die Regierungskoalition mehr als einmal zur Aktualität erstehen haben lassen. Meine Schuld ist es nicht gewesen, wenn diese Frage nicht mit Erfolg zum Austrag gebracht wurde.«193
Die Durchführung der Anordnung Amanns konnte er mit diesem politischen Credo nicht verhindern, sondern nur um eine kurze Frist aufschieben. Am 31.Januar 1936 ging der Verlag in den Besitz des Phönix-Zeitungsverlages Berlin über, einer Holding-Gesellschaft des nationalsozialistischen Eber- Verlages194. Das Bamberger Volksblattl9> war ebenfalls kein provinzielles Heimatblatt, das nur einen lokalen Leserkreis versorgte, sondern eine bedeutende regionale Tageszeitung der katholischen Kirche und des politischen Katholizismus. Seit 1923 erschien es im St. Otto- Verlag, einer neugegründeten Gesellschaft, zu deren Anteilseignern neben fast dreihundert kirchlich orientierten Vereinen auch das Bamberger bischöfliche Ordinariat gehörte. Direktor und Redaktionschef der Zeitung war Prälat Georg Meixner, ein Mitarbeiter des Bischofs und Vertrauter von Domdekan Leicht, dem in Bamberg wohnenden Vorsitzenden der Reichstagsfraktion der Bayerischen Volkspartei. Wie sein geistlicher Amtsbruder Leicht gehörte auch Meixner zum politischen Establishment der Volkspartei in Oberfranken, für die er 1932 in den bayerischen Landtag einzog. Das von ihm geleitete Volksblatt, das sich in den zwanziger Jahren zeitweise als Zentralorgan der Bayerischen Volkspartei in Oberfranken bezeichnet hatte, war nicht nur in Bamberg verbreitet, sondern verfügte über eine Reihe von Nebentiteln, mit denen zusammen es Anfang 1933 eine Auflage von rund 27 000 Exemplaren absetzte. Damit übertraf es am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung seinen Konkurrenten auf dem lokalen Zeitungsmarkt, das rechtsorientierte Bamberger Tagblatt. Schon wenige Wochen nach dem Regierungsantritt Hitlers, den das Bamberger Volksblatt in seiner Ausgabe vom 31.Januar 1933 »kühl bis ins Herz hinein· registriert 193
1M
195
Dieses Schreiben, das insgesamt 13 maschinenschriftliche Seiten umfaßt, sandte Held am 28. Oktober 1933 an Amann, ebd. Vgl. dazu den Bericht des Regierungspräsidenten von Niederbayern und Oberpfalz vom 6. Februar 1936, BayHStA MA 106672; siehe auch Zeitungsgeschichte, a.a.O. S.30ff. Vgl. zum folgenden Abschnitt die ausführliche Darstellung von Frei, Provinzpresse, a.a.O. S.260ff., deren Ergebnisse hier zusammenfassend referiert werden.
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hatte, mußte die katholische Regionalzeitung mit der Zensur Bekanntschaft machen. Ende Februar 1933, also noch vor dem Sturz der Regierung Held, erließ das Reichsinnenministerium ein Verbot gegen das Volksblatt wegen »Verächtlichmachung der Reichsregierung«. Zwar kürzte der bayerische Innenminister - es amtierte noch der BVP-Minister Stützel - die Verbotsdauer ab, so daß die Zeitung in den letzten beiden Tagen vor der Reichstagswahl vom März 1933 wieder erscheinen und in einem Schlußappell die Wähler der Volkspartei mobilisieren konnte, doch das Startzeichen zu einer Zermürbungskampagne gegen den Bamberger Kirchenverlag und seine Tageszeitung war gegeben. Dabei verfolgten die NS-Stellen zunächst eine Strategie, die eine Frontaloffensive vermied, weil man die eigene noch ungefestigte Position nicht durch eine totale Konfrontation mit der katholischen Kirche unnötig gefährden wollte. Bis zum Sommer 1933 führte man die Attacken gegen das Volksblatt mit den auch andernorts eingesetzten Mitteln, wie Entzug der amtlichen Bekanntmachungen, Pressionen gegen Anzeigenkunden und Abonnenten, Aufforderungen an Beamte, die Zeitung abzubestellen, und ähnlichen Methoden, die recht eigentlich den Straftatbestand der Erpressung erfüllten. Die Kirchenführung reagierte auf diese NS-Strategie des begrenzten Konflikts mit Schweigen und vermied jede öffentliche Stellungnahme, um den Frieden mit dem Staat im Vorfeld des Konkordatsabschlusses nicht zu gefährden. Damit irritierte sie aber die kirchentreue Leserschaft des Volksblattes, die von ihrem Bischof eine energische Verteidigung seines tagespolitischen Sprachrohrs erwartete. Der ausbleibende Protest aus dem Bischofspalais verunsicherte die katholische Lesergemeinde, ermutigte jedoch gleichzeitig die lokalen NS-Funktionäre, immer selbstbewußter gegen das Blatt aufzutreten. Die Situation wurde durch das passive Verhalten der Kirchenführung nicht entspannt, sondern spitzte sich immer mehr zu. Wie wenig die bischöfliche Stillhaltetaktik geeignet war, den publizistischen Monopolanspruch des Nationalsozialismus zu brechen, zeigte sich in den letzten Juni- und ersten Julitagen, als zunächst Prälat Meixner bei der Aktion gegen die BVP ebenso in Schutzhaft genommen wurde wie die anderen führenden Repräsentanten der Partei. In der Haft konnte er - sofern er dort die von ihm lange Jahre redigierte Zeitung zur Lektüre erhielt - den von seinem Bischof am 30.Juni 1933 im Volksblatt veröffentlichten Brief lesen, in dem dieser ihn in seiner Absicht bestärkte, sein Landtagsmandat niederzulegen. Erzbischof Hauck begrüßte den Mandatsverzicht Meixners ausdrücklich, weil er wünschte, daß der Prälat seine »bewährte Kraft auch weiterhin der katholischen Zeitung unserer Bischofsstadt widmen« solle. Da nach der Meinung des Bischofs das Bamberger Volksblatt »künftighin den Charakter einer rein katholischen Zeitung tragen und von jeder Parteipolitik sich enthalten« müsse, sah er im Rückzug des Prälaten und Verlagschefs aus der BVP-Fraktion einen notwendigen Schritt, denn sonst »würde man immer wieder Anlaß nehmen, in die ausschließlich katholische Haltung des Volksblattes Zweifel zu setzen« 196 . Diese bischöfliche Aufkündigung des langjährigen Bündnisses zwischen Kirche und Bayerischer Volkspartei brachte weder Meixner seine Position als Verlagschef zurück - er blieb bis 5.Juli 1933 in Haft und sein Name verschwand nach dem Konkordatsabschluß aus dem Impressum des Volksblattes - , noch stärkte dieser Schritt den 196
Bamberger Volksblatt, Nr. 148 vom 30.Juni 1933, als Faksimile abgedruckt ebd. S. 277.
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Willen zur Selbstbehauptung bei der ohnehin schon völlig desorientierten Anhängerschaft der BVP. Ebensowenig Erfolg hatte ein in der gleichen Ausgabe des Bamberger Volksblattes in dicken Lettern auf der Frontseite veröffentlichtes Schreiben des Bischofs an die katholischen Verlage seiner Erzdiözese, in dem er die Pflicht der katholischen Zeitungen betonte, »die nationale Regierung in ihrem Streben nach dem so notwendigen Wiederaufbau Deutschlands und seiner geistigen und wirtschaftlichen Erneuerung aufrichtig und nachdrücklich zu unterstützen«. Denn die Adressaten dieser bischöflichen Wohlverhaltenserklärung, die oberfränkischen NS-Funktionäre, bereiteten zu diesem Zeitpunkt bereits die nächste Etappe ihres Kampfes gegen die katholische Presse vor, in der sie sehr viel weniger behutsam vorgehen sollten als in den ersten Monaten nach der Machtergreifung. Angekündigt hatte sich dieser kompromißlose Kurs bereits in einem Artikel des oberfränkischen NS-Organs vom 27.Juni 1933, der »die hetzerische Tätigkeit der schwarzen BVP-Maulwürfe« scharf angriff, das Bamberger Volksblatt »als übelstes politisches Hetzblatt von Oberfranken« bezeichnete und die geringe Begeisterung der Bauern für die NSDAP darauf zurückführte, daß diese den Nationalsozialismus »nur durch die Parteihaßbrille ihrer >katholischen< Hetzpresse und ihrer Priesteragitatoren sehen». Als wirksames Rezept empfahl das Blatt: »Der Seuchenherd muß abgetötet werden. Dazu aber ist es notwendig, daß vor allem das Bamberger Volksblatt von der Bildfläche verschwindet.« An eine Koexistenz mit der katholischen Presse war aus dieser unversöhnlichen Perspektive nicht zu denken, selbst dann nicht, wenn der Bischof die Selbstzensur des Volksblattes bis an die Grenze der Selbstverleugnung vorangetrieben hätte. Den Drohungen der NS-Zeitung folgten die Taten der NS-Funktionäre auf dem Fuße. Am 5.Juli 1933 erschien die lokale und regionale Prominenz der NSDAP im Verlagsgebäude des Volksblattes zu einer unangekündigten »Betriebsbesichtigung«, die den Charakter eines Besetzungsversuchs hatte. Diesen Uberraschungscoup hatte man allerdings nicht mit den Münchener Pressebehörden abgestimmt, die von der radikalen Selbsthilfeaktion in Bamberg vom Oberbuchhalter des Verlags telefonisch unterrichtet wurden. In München blockte der Leiter der Pressestelle, Oberregierungsrat Eisele, die Aktion ab. Er hatte den Machtwechsel im März 1933 auf seinen Posten überlebt und verkörperte ein Stück bürokratischer Kontinuität während der »revolutionären« Anfangswirren des NS-Systems197. Eiseies Einspruch gegen das eigenmächtige Vorgehen der Bamberger NS-Prominenz gründete aber nicht nur auf verfahrensrechtlichen Prinzipien, die bei diesem spontanen Vorstoß mißachtet worden waren, sondern auch auf dem Wissen, daß sein Chef Hermann Esser diese Art von radikaler Sofortlösung nicht billigte. Bei Esser war der »Lernprozeß« in der Handhabung von staatlichen Machtmitteln schon weiter fortgeschritten als bei seinen lokalen Parteifreunden in Bamberg. Im Gegensatz zu diesen hatte er bereits erkannt, daß eine sukzessive Knebelung der katholischen Presse politisch opportuner und im Sinne einer schleichenden ideologischen Indoktrination des kirchentreuen Lagers effektiver war als die Brachialmethoden aus der »Kampfzeit« der Bewegung.
197
Vgl. zu Eisele Kap. VII dieses Beitrages.
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Für die subtilere Strategie Essers hatte man in der Bamberger NSDAP wenig Verständnis, auch wenn man sich dem Münchener Veto fügen mußte. Einer der Beteiligten, ein »alter Kämpfer« der Partei, stellte in seinem aus München angeforderten Rechtfertigungsbericht fest: »Heute darf sich dieses Hetzblatt ein katholisch-unpolitisches Mäntelchen umhängen und weiter den schwarzen Widerstandskreis gegen uns organisieren. Solange das »Bamberger Volksblatt besteht, besteht auch insgeheim die Organisation der BVP und der Bayernwacht. ... Positive Aufbauarbeit im schwarzen Bamberger Gebiet ist solang nicht möglich, solange das > Bamberger Volksblatt< erscheinen kann und darf.... Man greift sich an den Kopf als alter Kämpfer, wenn man heute eine Beschwerde solcher Burschen noch beantworten muß und wenn man sich die Tatsache vor Augen hält, daß solche Burschen heute noch als Schrifdeiter amtieren dürfen. Daß einem solchen Blatte auch nur der geringste Schutz des Staates zusteht, des Staates, den diese schwarzen Verleumder heute noch unter dem Deckmantel des Katholizismus bekämpfen, ist kaum anzunehmen, dann wäre der Kampf der alten Garde nutzlos gewesen.«198
Die Mißbilligung der Bamberger Verlagsbesetzung bedeutete aber nicht, daß man in München eine dauernde Koexistenz mit der katholischen Tagespresse anvisierte. Dem stand schon das Bestreben des Bayreuther NS-Verlagschefs Schemm entgegen, sich endgültig des lästigen katholischen Konkurrenten zu entledigen. Da außerdem in der bayerischen NS-Führung Essers behutsam Pressepolitik nicht unumstritten war, konnten auch die Bamberger Lokalführer ihren Kleinkrieg gegen das Volksblatt fortsetzen und dessen Redakteure durch Verbotsdrohungen weiter beunruhigen. Der Druck der Bamberger NS-Stellen, aber auch die von Streicher an seiner vorsichtigen Zensurpolitik geübte Kritik veranlaßten schließlich Esser, im Oktober 1933 Härte zu demonstrieren und das Volksblatt aus nichtigen Gründen für acht Tage zu verbieten. Dieser Aktion folgte kurze Zeit später der Kurswechsel zu einer konzilianteren Haltung, weil man vor den für November angesetzten Wahlterminen einen Pressekampf vermeiden wollte, der die katholischen Wähler zur Stimmenthaltung oder zur Abgabe von Nein-Stimmen hätte bewegen können. Die Brüder Schemm, der Bayreuther Verlagschef und der Münchener Kultusminister, besuchten sogar den Bischof, der eine, um ihm einen »Pressefrieden« anzubieten, der andere, um die Unterstützung des Kirchenführers für die Volksabstimmung und die Reichstagswahl zu gewinnen. Zwar erreichten die beiden oberfränkischen Nationalsozialisten das wichtigste Ziel ihrer Mission nicht - ein propagandistisch verwertbares persönliches Votum des Bischofs für die bevorstehenden Abstimmungen - , doch immerhin veröffentlichte das Bamberger Volksblatt in seiner Wochenendausgabe vor dem Wahltag eine Erklärung, in der es hieß: »Einig im Dienst von Volk und Vaterland! Friede zwischen nationalsozialistischer und katholischer Presse in Oberfranken.« Und der Bischof kommentierte diesen »Friedensschluß« mit den Sätzen: »Möge nun das friedliche Verhältnis der katholischen und nationalsozialistischen Presse in meiner Erzdiözese ein dauerndes bleiben! Möge auch in unserem lieben Bayernlande eine friedliche und harmonische Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat sich immer mehr entwickeln und befestigen zum Wohle und Segen beider!«199 Da diese letzte Ausgabe des Volksblattes vor dem
" " Zitiert nach Frei, Provinzpresse, a. a. O. S. 286 f. Bamberger Volksblatt som 11. November 1933; die Erklärung des Bischofs veröffentlichte auch das oberfränkische NS-Blatt Fränkisches Volk in seiner Ausgabe vom 11. November 1933. Der volle Wortlaut ist bei Frei, Provinzpresse, a.a.O. S.306 zitiert.
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Wahltag zudem mit der Schlagzeile Hitlers Kampf ist der Kampf um wirklichen Frieden in der Welt aufgemacht war, konnte -wirklich niemand mehr an der Zustimmung des Blattes zum Austritt aus dem Völkerbund zweifeln - auch seine Leser nicht: Am Wahltag wurden in Bamberg über 93 Prozent Ja-Stimmen abgegeben. Diese Anbiederung an den Nationalsozialismus rettete das Bamberger Volksblatt nicht, sondern war letztlich ein weiterer Schritt zum publizistischen Selbstmord der Zeitung. In der Folgezeit fehlte seinen Redakteuren die Rückendeckung der Kirchenführung für regimekritische Kommentare und Artikel. Der Verzicht auf ein eigenes Profil als katholisches Meinungsblatt und das Bemühen um Konsens mit der Staatsmacht bei allen politischen Themen machten die Zeitung eigentlich überflüssig. Der Leserschwund - bis Herbst 1934 verlor das Volksblatt ein Drittel seiner Auflage - ist sicherlich auch als eine Antwort auf diese Redaktionspolitik zu interpretieren. Dafür nahmen die Konflikte mit den NS-Behörden seit Ende 1933 erheblich ab. Als die Verlagsrechte des Bamberger Volksblattes ab Januar 1936 den Besitzer wechselten und an eine nationalsozialistische Auffanggesellschaft übergingen, gab es in der Redaktion keine Veränderungen. Sie betreute das Blatt bis zu seiner endgültigen Einstellung am Jahresende 1938, und den Lesern der Zeitung dürfte kaum aufgefallen sein, daß in den letzten Jahren der Existenz des Bamberger Volksblattes nicht mehr der Kirchenverlag der Herausgeber dieses ehemaligen BVP-Zentralorgans für Oberfranken war. Der an den Beispielen des Aichacher Kuriers, des Regensburger Anzeigers und des Bamberger Volksblattes geschilderte Prozeß der Unterwerfung und Auflösung der Pressemacht des politischen Katholizismus ließe sich durch eine Reihe weiterer Fallstudien ergänzen 200 . Die richtungspolitische Verödung der bayerischen Presselandschaft und die ideologische Gleichschaltung der überlebenden Zeitungen wirkten sich natürlich auch auf das politische Bewußtsein der Leser aus, obwohl nicht exakt gemessen werden kann, welches Gewicht die Tagespublizistik bei der subjektiven Meinungsbildung des einzelnen Lesers hatte und für wie glaubwürdig er die ihm offerierten Nachrichten und Berichte hielt. Es ist zwar im Rückblick kaum möglich, die Reichweite der publizistischen NS-Indoktrination genau abzuschätzen, doch können - mit Blick auf die katholische Presse - bestimmte Probleme aufgezeigt werden, die aus dem Kompromißkurs der Kirche und der ihr nahestehenden Verleger für die bekenntnistreue Leserschaft entstanden. Zweifelsfrei ist, daß viele Abonnenten von katholischen Provinzblättern ungeachtet der erpresserischen Abwerbemethoden des Nationalsozialismus ihrer Heimatzeitung die Treue hielten und allenfalls erst nach deren Liquidierung zur NS-Presse überwechselten. Diese Leser wurden aber schon während der Agonie ihrer Zeitung tagtäglich mit einem nationalsozialistisch gelenkten Informationsangebot konfrontiert, nachdem es sich die Verleger und Journalisten nicht mehr erlauben konnten, von der offiziellen Sprachregelung erheblich abzuweichen. »Zwischen den Zeilen« war wenig Raum für regimekritische Bemerkungen, und der Leser, der dort Lektürestoff suchte, fand wenig Verwertbares. Die zurückhaltende und äußerst vorsichtige Redaktionspolitik der katholischen Blätter, die sich zum Teil freiwillig der nationalsozialistischen Pressepropaganda anpaßten, andererseits mit polizeistaatlichen Sanktionen zwangsweise angepaßt wurden, 200
Frei untersucht in seinem Buch noch die Gleichschaltung einer Reihe von Provinzzeitungen in SüdostOberbayern und in Niederbayern.
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konnte bei den Lesern, die nur das gedruckte Produkt konsumierten, nicht aber dessen ideologische Montage in den Zeitungsredaktionen miterlebten, durchaus auch Einstellungen erzeugen, die im Sinne einer Systemstabilisierung des Regimes wirkten. Die konfliktscheue Selbstzensur der katholischen Presse verringerte die Kritikfähigkeit ihrer Leser, die weder die Methoden und Mechanismen noch die Zwänge der staatlichen Presselenkung und Presseüberwachung durchschauten und deshalb in die Gefahr gerieten, von ihrer angestammten Zeitung nationalsozialistisch manipuliert zu werden. Diesen Lesern, die Artikel ihrer Tageszeitung im Wortsinn rezipierten und nicht dafür sensibilisiert waren, die weltanschaulichen Verformungsprozesse wahrzunehmen, die eine Meldung bis zur Druckreife durchlaufen hatte, suggerierte schon der vertraute Titel ihres Blattes »die politische Bedenkenlosigkeit der vermittelten Inhalte«201. Hinzu kamen die Solidaritätsappelle von Episkopat und Geistlichen, die mit Nachdruck für die katholischen Zeitungen eintraten und damit deren Berichterstattung aus der Sicht der Zeitungsleser mit ihrer kirchlichen Lehrautorität beglaubigten. Ihr erklärtes Ziel war es, das religiöse Milieu auch durch ihre Medienpolitik zu stabilisieren. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang allerdings, inwieweit dieses Ziel unter dem Vorzeichen einer demonstrativen Selbstzensur, die sich die katholische Presse auferlegte, zu erreichen war. Auf Konfliktfeldern, auf denen die Kirche dem Nationalsozialismus entschlossener entgegentrat, weil dieser dort ihre moraltheologischen Postulate frontal angriff, hatte sie mit einem Konfrontationskurs - zu nennen sind hier beispielswiese die kirchlichen Stellungnahmen gegen die Euthanasie - jedenfalls mehr Erfolg als mit der Politik der Kooperation, die sie auf dem Pressesektor verfolgte, ohne letztlich die Vernichtung zahlreicher katholischer Zeitungen verhindern zu können. Die Auffassung, daß spektakuläre Zusammenstöße mit dem Nationalsozialismus auf dem Gebiet der Tagespublizistik, daß eine Zensurmaßnahmen provozierende und Zeitungsverbote riskierende Pressepolitik eine bessere Strategie gewesen wäre als die Strategie der freiwilligen Selbstkontrolle und der schleichenden Selbstanpassung, ist gewiß umstritten. Ob die gezielte Herausforderung unverhüllter Repression die Resistenzbereitschaft der katholischen Leser gestärkt oder ob sie deren Resignation gefördert hätte, kann der Historiker nicht stichhaltig beweisen. Erlaubt ist aber wohl folgende Feststellung: Wer nicht über ein ausgeprägtes politisches Urteilsvermögen und über Hintergrundinformationen verfügte, die ihn befähigten, die regelmäßig mit der Morgenzeitung ins Haus gelieferte Propaganda »gegen den Strich« zu lesen, wurde auch bei der Lektüre der katholischen Presse vom Nationalsozialismus subkutan indoktriniert. Hier stellt sich zumindest die Frage, ob diese verdeckte weltanschauliche Beeinflussung und ihre desorientierenden Wirkungen nicht erfolgreicher bekämpft worden wären, wenn die katholische Pressemacht sich mehr auf ihre Selbstbehauptung als auf ihre Selbstanpassung konzentriert hätte.
201
So Frei, ebd. S. 311, der die hier nur knapp skizzierten Fragen breiter diskutiert.
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Klaus Schönhoven V I . D I E BAYERISCHE BÜROKRATIE UND DER NATIONALSOZIALISMUS
Nach dem Machtwechsel im März 1933 ordnete sich die bayerische Beamtenschaft dem Nationalsozialismus ebenso schnell und reibungslos unter wie vorher die Beamten des Reiches und der anderen deutschen Länder. Die weiß-blauen Beamten unterschieden sich in ihrer grundsätzlichen Einstellung zum Staat nicht von ihren Kollegen nördlich des Mains und besaßen wie diese eine Berufsauffassung, die von staatstreuer Loyalität, bürokratischer Zuverlässigkeit und obrigkeitsorientierter Dienstwilligkeit geprägt war. Als auf Lebenszeit eingestellte Verwalter des Staatsapparats hingen sie einer positivistischen Staatsidee an, die sie nach ihrem eigenen Selbstverständnis zu apolitischer Neutralität und strenger Sachlichkeit verpflichtete und es ihnen nicht erlaubte, mit zivilem Ungehorsam auf Anweisungen der Regierungsmacht zu reagieren. Dieses funktionsbezogene Rollenbewußtsein, hinter dessen überparteilicher Fassade sich oft vor- und antidemokratische Ressentiments konservierten, hatte die bayerische Beamtenschaft in der Weimarer Republik zäh verteidigt, an ihm wollte sie auch festhalten, als die Nationalsozialisten die Ministersessel in München okkupierten. Inwieweit der katholisch-konservative Teil der bayerischen Beamten seine »personelle und institutionelle Integrität« 202 gegenüber den ideologischen Ansprüchen und politischen Amibitionen des Nationalsozialismus behaupten konnte, inwieweit er sich einschüchtern ließ oder geflissentlich anpaßte, soll im folgenden knapp skizziert werden. Für die an der Spitze der Beamtenpyramide stehende administrative Elite in den Ministerien, die in den Jahren ihrer Ausbildung und ihres Aufstiegs zu einer homogenen Schicht zusammengewachsen war und die korporativer Standesgeist und konservatives Staatsdenken gleichermaßen kennzeichnete, bedeutete der pseudolegale Regierungswechsel im März 1933 keine Zäsur, denn gegen die Ausschaltung von Parlamentarismus und Demokratie hatten sie wenig einzuwenden. Obwohl die meisten ihrer Vertreter ihre Karriere unter den BVP-Regierungen gemacht hatten, blieben sie nach dem erzwungenen Rücktritt der Regierung Held in ihrer Position. Ihr Staatsverständnis war, wie sich jetzt zeigte, auch nie Parteibekenntnis gewesen, selbst wenn sie dem Ministerpräsidenten der Bayerischen Volkspartei stets loyal gedient hatten. Repräsentanten dieser Gruppe von hohen Fachbeamten, die sich dem NS-Kabinett ohne Zögern zur Verfügung stellten und ihre Amtsgeschäfte in gewohnter Routine abwickelten, sind beispielsweise die beiden Staatsräte Bleyer und Spangenberger. Bleyer, der jahrelang als engster Mitarbeiter Heids fungiert hatte, bewies sein juristisches Geschick bei der Legalisierung der neuen Regierung und amtierte dann unter dem nationalsozialistischen Ministerpräsidenten Siebert bis 1935; Spangenberger, der als Parteigänger der Deutschnationalen das bayerische Justizministerium seit 1932 kommissarisch verwaltete, wurde unter dem NS-Justizminister Frank dessen beamteter Stellvertreter. Einen Karrierestop bedeutete der Machtwechsel auch nicht für Freiherr von Imhoff. den stellvertretenden Bevollmächtigten Bayerns beim Reichsrat, der 202
So Hans Mommsen in seiner grundlegenden Studie: Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik. Stuttgart 1966, S. 16; vgl. zur grundsätzlichen Problematik auch Schulz, Gerhard: Die Anfänge des totalitären Maßnahmenstaates ( = Bracher/Sauer/Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, Bd. 2), Köln und Opladen 1974, S. 1 3 9 - 1 8 3 ; siehe auch Caplan, Jane: The Civil Servants in the Third Reich. Oxford 1973; dies.: Civil Service Support for National Socialism: An Evaluation, in: Der »Führerstaat., a.a.O. S. 167-193.
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nach der Auflösung der Länderkammer als Personalreferent ins bayerische Innenministerium wechselte; in der Schlüsselstellung eines Personalreferenten verblieb ferner Ministerialrat Ringelmann im Finanzministerium, der von 1918 bis 1933 in der BVP aktiv mitgearbeitet hatte. Aus den Reihen der BVP-Prominenz setzte der Reichstagsabgeordnete Hans Ritter von Lex seine Laufbahn als Oberregierungsrat im Reichsministerium des Innern fort, und Hans Rauch, langjähriger Landtagsabgeordneter der Volkspartei, blieb Oberbaurat und wurde NSDAP-Mitglied. Der ehemalige bayerische Finanzminister der BVP, Staatsrat Schmelzle, stand bis zu seiner Pensionierung dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof als Präsident vor. Von den leitenden Beamten der bayerischen Staatskanzlei verlor im Laufe des Jahres 1933 keiner sein Amt. Die Ministerialräte Krafft von Delmensingen, Paul Freiherr von Stengel, Karl Mößmer, Carl Schaefer, Oskar Keller, Hans Götz, Rudolf von Schelhorn und Karl Sommer arbeiteten unter den neuen Machthabern ebenso weiter wie Staatsrat Bleyer und Ministerialdirektor Wilhelm Schenk, der in das neugeschaffene Wirtschaftsministerium überwechselte. Ausgeschieden waren aus dieser Schaltstelle der bayerischen Politik bis Ende 1934 lediglich die Ministerialdirektoren Adolf Freiherr von Lutz und Franz Sperr sowie der Ministerialrat Hubert Bitsch. Sperr, der Bayern seit 1927 als Bevollmächtigter beim Reichsrat vertreten hatte und ab Dezember 1932 Gesandter und bevollmächtigter Minister des Freistaates beim Reich gewesen war, erhielt nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in München seine Vollmachten bestätigt. Nach dem Röhm-Putsch legte er demonstrativ sein Amt nieder und wurde daraufhin zum 1. November 1934 in den Ruhestand versetzt. In den folgenden Jahren unterhielt er enge Kontakte zu konservativ-monarchistischen Gegnern des NS-Regimes und galt in den Kreisen dieser Oppositionsbewegung als Verbindungsmann zu Wehrmacht und Polizei. Staufenberg sah Sperr als politischen Beauftragten für Bayern für die Zeit nach dem Staatsstreich vor. Nach dem Scheitern des Staatsstreiches vom 20.Juli 1944 wurde Sperr im Oktober 1944 verhaftet und am 23.Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet 203 . Im Justizministerium folgten in der Beamtenhierarchie hinter Staatsrat Spangenberger der Ministerialdirektor Richard Degen und die Ministerialräte Alfred Dürr, Emil Widmann, Leonhard Meukel und Clemens Cammerer, alles Spitzenbeamte aus der Zeit der Held-Regierung. Nicht mehr im Amt waren am Jahresende 1934 vier Ministerialräte (Hans Ehard, Friedrich Mangkammer, Johann David Sauerländer, Karl Stengel). Hans Ehard, der 1924 Anklagevertreter im Hitler-Prozeß gewesen war, wechselte vom Justizministerium auf die Stelle des Senatspräsidenten am Oberlandesgericht München. In dieser Position blieb er bis 1945, dem Beginn seiner politischen Nachkriegskarriere, in der er als bayerischer Ministerpräsident (1946-1954) und als Landesvorsitzender der CSU (1949-1955) fungierte. Auch im Innenministerium kam es nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern zu keinem Personalrevirement. Hinter dem Gauleiter von Oberbayern und neuen Innenminister Wagner folgten mit Staatsrat Ottmar Kollmann und Ministerialdirektor Theodor Martius, Nachfolger von Hans Schneider, zwei altgediente Beamte, deren Ministerialkarriere ebenso in der Weimarer Republik begonnen hatte 203
Vgl. zu Sperr Bretschneider, Heike: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in München 1933-1945. München 1968, S. 154ff.
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wie die der Ministerialräte Friedrich Wilhelm Hagen, Karl Freiherr von Imhoff, Max Geiger, A. Kohlndorfer, Wilhelm Baumann, H. Schwindt und Alfred Jacob. Auf der Personalliste des Ministeriums fehlten 1934 die Namen von vier Ministerialräten (Josef Zetlmeier, Karl Gasteiger, Johann Hartmann, Franz Gebhardt). Im Kultusministerium amtierten von 11 Ministerialräten des Jahres 1932 zwei Jahre später noch 8 (Georg Götz, Karl Müller, Siegfried von Jan, Hans Bauerschmidt, Hugo Freitag, Albin Decker, Max Sayler, Wilhelm Emnet); ausgeschieden waren neben dem Staatsrat Jakob Korn der Ministerialdirektor Richard Hendschel und die Ministerialräte Johann Lex, Otto Daxenberger und Jakob Woeber. An ihre Stelle rückten zwei Oberregierungsräte aus dem Haus (Richard Mezger, W. Freiherr von Stengel), die zu Ministerialräten aufgestiegen waren. Im Finanzministerium wurde der kommissarische Leiter und Vorsitzende der Bayerischen Volkspartei, Staatsrat Fritz Schäffer, 1933 in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Der Ministerialdirektor Paul Hammer blieb ebenso im Amt wie die Ministerialräte Karl Neumaier, der 1934 zum Staatsrat im Finanzministerium aufgestiegen war, Benedikt Stepperger, August Mader, Gustav Schnabl, August Legat, Eugen Emnet, Robert Mühlfeld, Wilhelm Blum und Alb. Gorter. Zwei Ministerialräte (Friedrich Bracker, Josef Nusser) waren ausgeschieden; an ihre Stelle traten Rudolf Schwarzmaier und Konrad Lenz, die 1932 als Oberregierungsräte dem Ministerium angehört hatten. Weitgehend unverändert blieb auch das Landwirtschaftsministerium, in dem der Staatsrat Albin Hänlein und der Ministerialrat Ludwig Nägelsbach 1934 nicht mehr amtierten, während die Ministerialräte Georg Seubelt, Eugen Hirsch und Wilhelm Niklas sowie acht der neun Oberregierungsräte aus der Zeit der BVP-Regierung auf ihrem Posten blieben. Völlig unverändert übernommen wurde die Ministerialforstabteilung, an deren Spitze der ehemalige enge Mitarbeiter Heids, Staatsrat Theodor Mantel, stand, und die Ministerialräte Josef Mantel, Theodor Künkele und Thomas Sachenbacher. In der Abteilung Arbeit des Landwirtschaftsministeriums, die 1934 in das Wirtschaftsministerium eingegliedert wurde, war der Staatssekretär und Spitzenpolitiker der Volkspartei Linus Funke ausgeschieden; die Ministerialräte Otto Löhner, H. Klebe und Georg Ziegler gehörten der Abteilung weiterhin an; ihr Kollege F. Kölsch wechselte in das Innenministerium. Auf der Personalliste der Abteilung fehlte 1934 nur der Ministerialrat Hans Gasteiger. In seinem Fall konnte ebensowenig wie bei den anderen ausgeschiedenen Beamten überprüft werden, ob die Demission aus Altersgründen erfolgte oder politisch motiviert war204. Faßt man diese Angaben zahlenmäßig zusammen, so ergibt sich folgendes Bild für den Personalwechsel in der bayerischen Ministerialbürokratie während der ersten anderthalb Jahre nach der nationalsozialstischen Machtübernahme vom März 1933: Von den sieben Staatsräten der Ära Held amtierten Ende 1934 noch drei; eine der freigewordenen Stellen wurde mit einem zum Staatsrat beförderten Ministerialbeamten besetzt. Von sieben Ministerialdirektoren schieden ebenfalls vier aus; auch hier war einer der neuen Amtsinhaber ein aufgestiegener Ministerialrat. Von den 63 Ministerialräten des Jahres 1932 blieben 47 im Amt und 16 schieden aus. Auf ihre Positionen rückten
204
Die Personalakten der bayerischen Ministerien wurden durch Kriegseinwirkungen vernichtet oder waren dem Verf. nicht zugänglich.
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in sechs Fällen Oberregierungsräte, die mit dieser Beförderung ihre Ministerialkarriere fortsetzten. Sie gehörten zu den 23 von 29 Oberregierungsräten, die den Machtwechsel in der Ministerialbiirokratie überdauerten 205 . Obwohl es sicherlich falsch wäre, wenn man diese Spitzenbeamten generell als opportunistische »Konjunkturritter« abqualifizieren würde, die jedem Souverän bereitwillig zur Verfügung standen, bleibt doch festzustellen, daß sie trotz vorhandener persönlicher Zweifel und Bedenken auch unter dem Nationalsozialismus ihr besonderes Treueverhältnis zur Obrigkeit nicht aufkündigten. Wer sein Amt nur wahrnehmen wollte, »um Schlimmeres zu verhüten«, sorgte dennoch gleichzeitig dafür, daß die Staatsmaschine nicht ins Stocken kam und weiterlief wie nach einem normalen Regierungswechsel. Charakteristisch für die Denkweise dieser Führungsschicht in der bayerischen Ministerialhierarchie ist der Diskussionsbeitrag von Staatsrat Kollmann in einer Konferenz am 12. März 1933, in der Reichskommissar Epp den Regierungspräsidenten in militärischer Kürze den Sieg der »nationalen Revolution« verkündete: »Er brauche Herrn General von Epp der selbstverständlichen vollen Loyalität der inneren Staatsverwaltung gegenüber dem Inhaber der Polizeigewalt und seinen Beauftragten nicht erst zu versichern. Auch für den Verwaltungsbeamten, wie für den Offizier, sei oberstes Gebot, seine Entscheidungen vor allem mit gesundem Menschenverstand und mit höchster Entschlußkraft zu treffen. Er dürfe bemerken, daß die bayerischen Verwaltungsbeamten stolz darauf sind, daß sie sich von den Zuständen, wie sie bis vor kurzem in der allgemeinen Verwaltung gewisser anderer deutscher Länder bestanden haben, durchaus distanziert hätten. Die Beamten der allgemeinen Verwaltung in Bayern dürften für sich in Anspruch nehmen, daß sie den nationalen Gedanken nicht im Sinne einer engen Auffassung, sondern im Sinne eines weitgespannten umfassenden Gedankens des deutschen nationalen Volkstums vertreten; das ergebe sich ja gerade für den bayerischen Verwaltungsbeamten ohne weiteres aus der Nähe des angrenzenden national zugehörigen Österreichs. Mit dieser Einstellung verbinde sich für die bayerischen Verwaltungsbeamten aus ihrer Dienstaufgabe selbstverständlich das Interesse an der Pflege der besonderen bayerischen Belange.« 2 0 6
Die in dieser Stellungnahme mitschwingenden bayerisch-konservativen Untertöne deckten sich allerdings nicht mit den nationalsozialistischen Herrschaftsabsichten, die keine Zugeständnisse an föderalistische Positionen beinhalteten. Das latente Spannungsverhältnis zwischen dem von der bayerischen Staatsbürokratie in langer Tradition verinnerlichten weiß-blauen Selbstbewußtsein und den zentralistisch-totalitären Vorstellungen der Nationalsozialisten, die Länderhoheit und Länderrechte möglichst schnell beseitigen wollten, brach in der Folgezeit jedoch nicht auf. Die bayerischen Beamten konnten die Einebnung der bayerischen Eigenstaatlichkeit nicht verhindern und sie konnten die Eingliederung Bayerns in die Herrschaftsordnung des Nationalsozialismus nicht abblocken. Die Frage, inwieweit die alte bayerische Beamtenelite, die nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Amt blieb, durch ihr Verwaltungshandeln bewußt Entscheidungen verzögerte oder verhinderte und sich gegen Eingriffe von NS-Funktionären zur Wehr setzte, ist generell nur schwer zu beantworten. Konsensstreben und Konfliktbereitschaft lagen oft nicht weit auseinander und wurden von ein- und demselben Beamten je nach gegebener Situation gleichermaßen praktiziert. Der Durchsetzungswille des NS-Regimes stieß jedoch in der Beamtenschaft auf bürokratische Nor205
204
Alle Angaben über die Ministerialbiirokratie nach: Münchener Jahrbuch. Ein Hand- und Nachschlagbuch für Büro, Kontor und Haus, nebst Kalender, hrsg. von Wilhelm Morgenroth, Jge. 1932 und 1934. Zitiert nach dem Protokoll dieser Besprechung in BayHStA MA 105 255.
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men, die diese in langen Dienstjahren eingeschliffen hatte und von denen sie sich auch unter den neuen Herren nicht so einfach trennen wollte. Dies reigte sich beispielsweise beim Vollzug des Berufsbeamtengesetzes durch das Innenministerium, als oft schon allein das Festhalten an geregelten Verfahrensweisen und die strikte Orientierung an den gesetzlichen Bestimmungen ausreichten, um nationalsozialistische Willkürmaßnahmen einzudämmen und versanden zu lassen. Ganz allgemein vollzog man die Rechtsverordnungen und Gesetze buchstabengetreu und achtete mit peinlicher Genauigkeit darauf, daß alles seine sprichwörtliche »Richtigkeit« hatte. Soweit Spielraum für unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten blieb, wurde dieser individuell genutzt. Aus den überlieferten Akten kann der Historiker oft nur impressionistisch rekonstruieren, wo bewußter Obstruktionswille und wo allenfalls behördliche Schwerfälligkeit am Werke waren. Eine im Sinne des tradierten Beamtenethos korrekte Dienstauffassung konnte Menschen vor dem nationalsozialistischen Zugriff retten oder sie ihm ausliefern, je nach Rechtslage und personeller Konstellation in einer Behörde. Auch wenn man letztlich am konkreten Einzelfall den Gang von Entscheidungsprozessen im Behördenapparat verfolgen muß, weil nur dann aufzudecken ist, wo Beamte Unrecht zu begrenzen suchten und wo sie pflichtgemäß ihre Routinearbeiten erledigten 207 , läßt sich doch vermuten, daß die hohe Kontinuität in den Spitzenpositionen der bayerischen Ministerialbürokratie gute Voraussetzungen zur Abwehr nationalsozialistischer Ubergriffe bot. Denn diese seit Jahren miteinander bekannten und während eines gemeinsamen Karriereweges miteinander vertraut gewordenen Repräsentanten der bayerischen Beamtenelite beherrschten nicht nur alle Verfahrenstechniken, die bei der Begrenzung von NS-Ambitionen eingesetzt werden konnten, sie verfügten auch über informelle Kanäle zur gegenseitigen Verständigung und Absprache. Ob und in welchem Maße sie diese Möglichkeiten gegen das Regime nutzten, muß in punktuellen Fallstudien erst noch genauer erforscht werden. Die politische Durchleuchtung der bayerischen Beamten durch den Nationalsozialismus begann - nach den unkontrollierten Märzaktionen auf der lokalen Ebene - am 7. April 1933 mit dem Beamtenrechtsgesetz, das reichsweit vom Innenministerium in Berlin dekretiert wurde. Dieses Ausnahmegesetz, das unter der zynischen Uberschrift Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums Rechtskraft erlangte, schuf auch in Bayern die juristischen Voraussetzungen für die Säuberung des öffentlichen Dienstes und hob für alle Beamte, »die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten«, den erworbenen Status auf208. Angewendet wurde das Gesetz in Bayern - wie in den anderen Ländern auch - namentlich gegen die kommunistischen und sozialdemokratischen Staats- und Stadtbediensteten sowie gegen ihre jüdischen Kollegen, die von einem »Arierparagraphen« bedroht waren. Die Staatsbeamten, die der Bayerischen Volkspartei angehörten, blieben - wie die Kommunalbeamten dieser Partei209 - bis auf wenige Ausnahmen unbehelligt. Zu die207
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Vgl. dazu beispielsweise Mommsen, Hans: Die Geschichte des Chemnitzer Kanzleigehilfen K. B., in: Alltag im Nationalsozialismus, hrsg. von Detlev Peukert und Jürgen Reulecke unter Mitarbeit von Adelheid Gräfin zu Castell Rüdenhausen. Wuppertal 1981, S. 337-367. Vgl. zur Entstehung und zum Inhalt dieses Gesetzes Mommsen, Beamtentum, a.a.O. S. 39-61. Siehe dazu Kap. II dieses Beitrags.
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sen Ausnahmen zählte der Präsident des Landesfinanzamtes Würzburg Prugger, dessen Entlassung schon vor dem 7. April 1933 vom örtlichen SA-Sonderkommissar gefordert worden war. Nach der Auffassung dieses Sonderkommissars hatte Prugger »innige Beziehungen zu den reaktionärsten reichsfeindlichen Teilen der BVP gepflogen« und sollte deshalb unverzüglich aus seiner Stellung entfernt werden. Der Versuch des Beamten, sich durch eine Beschwerde beim Staatssekretär des Reichsfinanzministeriums Schutz vor den Willkürmaßnahmen des lokalen NS-Führers zu holen, hatte keinen Erfolg, denn der Staatssekretär kapitulierte vor der Forderung der Würzburger SA-Größe und beurlaubte den Präsidenten des Landesfinanzamtes210. Ein anderer personalpolitischer Konflikt veranlaßte das bayerische Kabinett, sich grundsätzlich mit der Frage zu beschäftigen, wie bei Beamten zu verfahren sei, die der BVP-Regierung treu gedient hatten und deswegen das Mißfallen der NSDAP-Anhänger erregten. Es handelte sich hierbei um Oberregierungsrat Eisele, den Leiter der Bayerischen Amtlichen Pressestelle, der seit 1921 auf diesem Posten alle bayerischen Kabinette überlebt hatte und trotz seiner engen persönlichen Beziehungen zu Held nach dessen Entmachtung von Esser in Amt und Würden belassen wurde. Eisele besaß zwar weniger Einfluß auf die bayerische Pressepolitik als der Name seiner Behörde vorspiegelte, doch gelang es ihm, in der ersten Zeit nach der Machtergreifung manche lokalen Attacken auf Zeitungen des politischen Katholizismus abzubiegen 211 . Diese Protektionspolitik verübelte man ihm an der Basis der NSDAP, die während der landesweiten Aktion gegen die BVP die Gunst der Stunde ausnützen wollte, um durch eine gesteuerte Demonstration vor dem Haus Eiseies dessen Entlassung zu erzwingen. Eisele kam kurzfristig in Schutzhaft, verlor aber sein Amt nicht 212 . Da der bayerische Ministerpräsident Siebert daran interessiert war, einen Kurs der Konsolidierung einzuleiten, und deshalb auch personelle Entscheidungen nicht mehr unter dem Druck der Straße fällen wollte, nahm er diesen Vorfall zum Anlaß, um im Kabinett einen prinzipiellen Beschluß herbeizuführen. Dieser am 4.Juli 1933 nach langer Aussprache verabschiedete Beschluß legte in drei Punkten die Richtlinien für die nationalsozialistische Personalpolitik in Bayern fest: »1. Es wird von den einzelnen Ressortministern und Staatssekretären nachgeprüft, ob der eine oder andere Beamte wegen seiner früheren politischen Einstellung im neuen Staat etwa untragbar ist. Die Entscheidung hierüber bleibt dem zuständigen Staatsminister oder Staatssekretär im Benehmen mit dem Ministerpräsidenten vorbehalten; in besonderen Fällen ist die Frage im Ministerrat zu behandeln. 2. Aus der Tatsache der sonst unbelasteten Zugehörigkeit eines Beamten zu der Bayerischen Volkspartei allein kann dem Beamten ein Nachteil grundsätzlich nicht erwachsen. 3. Gegen die etwa von der Straße erhobenen Forderungen auf Entfernung eines Beamten von seinem Posten muß der Ministerrat aus grundsätzlichen Erwägungen Stellung nehmen. Der zuständige Staatsminister muß sich vor den Beamten seines Geschäftsbereiches stellen.«213
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Vgl. zu den Einzelheiten dieser Enüassungsmaßnahme BayHStA MA 105476; siehe auch den Bericht des Regierungspräsidenten von Unterfranken vom 6. April 1933, der eine •größere Zurückhaltung« bei der Beurlaubung von Beamten empfahl, BayHStA MA 106680. Vgl. dazu Kap. V dieses Beitrages. Vgl. zu den Vorfällen: BayHStA MA 105480 und den Bericht des Regierungspräsidenten von Oberbayern vom 18.Juli 1933, BayHStA MA 106670. Zitiert nach dem Kabinettsprotokoll in BayHStA MA 99 525.
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Diese Präzisierung des Berufsbeamtengesetzes für Beamte aus den Reihen der Bayerischen Volkspartei hielt Eisele nicht für einen hinreichenden persönlichen Schutz. Er stellte einen Aufnahmeantrag an die NSDAP, um damit weiteren Bedrohungen die Grundlage zu entziehen. In einem Gesuch an Esser, der seine Parteiaufnahme befürworten sollte, betonte Eisele, daß er »mit voller Hingabe, mit meiner ganzen Kraft und Treue für die nationale Regierung, für den nationalen Staat und damit auch für die nationale Bewegung« arbeiten wolle und könne 214 . Diese Loyalitätserklärung sicherte ihm seinen Posten jedoch nicht langfristig. Am 5. Mai 1934 versetzte Siebert, der Eisele nach der Entmachtung und dem Abgang Essers aus der Staatskanzlei noch einige Monate Rückendeckung gewährt hatte, den Leiter der Bayerischen Amtlichen Pressesteilem den einstweiligen Ruhestand 215 . Eiseies Laufbahn unter dem Nationalsozialismus kann stellvertretend stehen für einen möglichen Weg, den höhere Beamte gingen, wenn sie sich zur Kollaboration mit dem NS-System entschlossen, weil sie hofften, wenigstens Reste rechtsstaatlicher Substanz durch ihre Mitarbeit bewahren zu können: Ihre Einflußmöglichkeiten auf Entscheidungen der NS-Instanzen waren bescheiden und ihr persönliches Schicksal hing von der Patronage eines prominenten Regimevertreters ab, der sie - falls er selbst seine Macht verlor - auch nicht mehr vor der Suspendierung schützen konnte. Welche Vorstellungen bei der nationalsozialistischen Führung über die Aufgaben und Pflichten eines Staatsdieners bestanden, teilte Innenminister Wagner den in der Abteilung für Handel, Industrie und Gewerbe des Wirtschaftsministeriums beschäftigten Beamten unmißverständlich mit, als diese im Juli 1933 korporativ in die NSDAP aufgenommen werden wollten: •Die Beamten und Angestellten haben pflichtgemäß zu gehorchen. Sie haben die ihnen übertragenen Arbeiten im Geist und Sinne der Staatsführung und der dieser zugrundeliegenden Weltanschauung zu erledigen. Derjenige, der hierzu nicht freudigen Herzens fähig ist, ist fehl am Platz und muß als ehrlicher Mann die Konsequenzen ziehen. Es ist deswegen nicht erforderlich, daß die Beamten und Angestellten in Gruppenkolonne in die Partei einmarschieren. Im übrigen haben sie, wie kaum jemand anderer, die Möglichkeit, durch ihre Arbeit der Bewegung zu dienen. Dadurch verpflichten sie sich selbst der Partei und umgekehrt, die Partei verpflichtet sich ihnen. Ich möchte das Beamtenkorps als militärische Truppe aufgefaßt wissen, die aufgebaut ist auf dem unbedingten Führerprinzip und all den deutschen Eigenschaften, die sich hieraus als selbstverständlich ableiten. Der Soldat ist das, was sein Führer ist. Das gemeinsame Abzeichen, das ich mit den Beamten meines Ministeriums trage, ist die Tatsache der Berufung zur Arbeit am werdenden Staat des neuen Deutschlands.«216
Wagner formulierte in diesem für sich selbst sprechenden Text nicht seine Privatmeinung, sondern die Prinzipien der nationalsozialistischen Beamtenideologie, wie sie auch von der damals herrschenden Staatsrechtslehre propagiert wurden. Beamte bildeten demnach eine ihrem jeweiligen NS-Vorgesetzten gehorsamspflichtige Gefolgschaft, die wie Soldaten zu parieren hatte und die erteilten Weisungen ohne Rücksicht auf bestehende Rechtsnormen und Gesetzesschranken ausführen mußte. Daß zur Ab214
215 216
Schreiben vom 7.Juli 1933, BayHStA MA 105481. Esser leitete dieses Aufnahmegesuch mit folgendem Vermerk an den Reichsschatzmeister der NSDAP weiter: .Uber die weitere Behandlung der Angelegenheit bitte ich, mit mir gelegentlich zu sprechen·, ebd. Vgl. dazu Frei, Provinzpresse, a.a.O. S.61f. Schreiben Wagners vom 29Juli 1933, mit dem er den korporativen Aufnahmeantrag ablehnte; BayHStA MA 105481.
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leistung dieses Vasallendienstes, in dem »die Verwaltungstätigkeit zu routinemäßiger und mechanischer Durchführung von Gesetzesbefehlen degradiert«217 wurde, nicht der Eintritt in die NSDAP erforderlich war, sondern der Glaube an den Nationalsozialismus verlangt wurde, lag auf der Hand. Dennoch wollten auch in Bayern viele Beamte das Mitgliedsbuch der Staatspartei besitzen, erwarteten sie doch, als Parteigenossen ihre materielle Existenz absichern und ihre berufliche Karriere beschleunigen zu können. Seit Mai 1933 war die Erfüllung dieses Wunsches aber durch die von der Reichsleitung der NSDAP verhängte Mitgliedersperre blockiert. Wer nicht schon im ersten Sog der Machtergreifung zur NSDAP gefunden hatte, mußte sich nun - sofern er nicht über besondere Fürsprecher verfügte - bis Juli 1935 gedulden, um seinen Eintrittsplan zu verwirklichen. Die vor diesem Termin abgeschlossene Parteistatistik der NSDAP, die den Mitgliederbestand zum 1.Januar 1935 dokumentiert, zeigt allerdings, daß viele bayerische Beamte schon im Frühjahr 1933 die Zeichen der Zeit »richtig« erkannt hatten: Nach der Machtergreifung Hitlers am 30.Januar 1933 waren 25 532 bayerische Beamte der NSDAP beigetreten; sie stellten vier Fünftel der Anfang Januar 1935 erfaßten 32 086 Beamten, die in Bayern der NSDAP zu diesem Zeitpunkt angehörten. Wie stark die verschiedenen Beamtenkategorien an diesem Zustrom zur Staatspartei beteiligt waren, ist in der Statistik nicht gesondert ausgewiesen. Genaue Angaben werden hier lediglich für die Berufsgruppe der Lehrer gemacht, aus der sich 26 Prozent der verbeamteten Parteigenossen in Bayern rekrutierten 218 . Der Kabinettsbeschluß vom 4.Juli 1933, der Beamte vor »von der Straße erhobenen« Entlassungsforderungen schützen sollte, war allerdings kaum mehr als eine Willenserklärung des bayerischen Ministerrates. Der Druck der NS-Instanzen auf politisch mißliebige Beamte verminderte sich nicht und machte auch nicht vor ehemaligen Angehörigen der Bayerischen Volkspartei halt. Allerdings wurden die Möglichkeiten, die das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums bot, gegen Beamte mit BVP-Vergangenheit nur selten angewendet, wie die für die kommunale Ebene beschriebenen Fälle zeigen 219 . Die dort angeführten Beispiele ließen sich zwar noch um einige weitere Einzelfälle vermehren, in denen ehemalige Mitglieder der Volkspartei aus dem öffentlichen Dienst ausscheiden mußten, doch insgesamt blieb die Zahl der gegen BVP-Angehörige ausgesprochenen Entlassungen oder Ruhestandsversetzungen gering. Im Vergleich zu den vielen kommunistischen, sozialdemokratischen oder jüdischen Beamten, Angestellten und Arbeitern, die ab Frühjahr 1933 ihre Stellung im öffentlichen Dienst verloren, kann man bei den Vertretern der BVP nicht von gezielten Verfolgungsmaßnahmen sprechen. Gegen sie ging der Nationalsozialismus nicht systematisch, sondern sporadisch vor, wobei das Prinzip Zufall - lokale Rivalitäten, persönliche Streitigkeiten am Arbeitsplatz, Postenjägerei von NS-Bewerbern, Ämterpatronage von NS-Dienststellen - Entlassungsmaßnahmen auslösten, nicht aber eine gelenkte und planmäßig durchgeführte Säuberungsaktion. Sehr viel größere Aufmerksamkeit widmeten die nationalsozialistischen Machthaber den konservativen Behördenleitern, die an der Spitze der regionalen Verwaltungen 217 218 219
So Mommsen, Beamtentum, a.a.O. S. 122. Partei-Statistik, a.a.O. S. 105. Vgl. Kap. II dieses Beitrags.
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standen. Namentlich die Regierungspräsidenten und Bezirksamtmänner mußten sich immer wieder gegen unberechtigte und ungesetzliche Übergriffe der SA-Sonderbevollmächtigten, der Gauleiter, Kreisleiter und Ortsgruppenleiter der NSDAP wehren, die in ihrem jeweiligen Herrschaftsgebiet ein persönliches Regiment zu errichten versuchten, das nicht auf verwaltungstechnischen Fachkenntnissen basierte, sondern auf dem unstillbaren Machthunger und Ehrgeiz der braunen Prominenz. Die Eingriffe der Kommissare und Funktionäre der NSDAP in die innere Verwaltung verunsicherten die staatlichen Instanzen vom Regierungspräsidenten bis zum Gendarmeriewachtmeister und erschütterten deren Dienstwilligkeit, nachdem die Eigenmächtigkeiten und Willkürmaßnahmen der miteinander konkurrierenden NS-Organe weder vom Ministerrat in München noch vom Reichsinnenministerium in Berlin wirksam eingedämmt werden konnten 220 . Das Hauptaugenmerk der regionalen Parteifunktionäre der NSDAP richtete sich zunächst auf die Positionen der Regierungspräsidenten, deren Amtsbefugnisse die Gauleiter für sich beanspruchten, ohne allerdings in jedem Fall auch das Amt eines Regierungspräsidenten persönlich anzustreben, weil der Beamtenstatus sie bei ihrer »unruhestiftenden Parteitätigkeit« 221 hätte einschränken können. Von den sechs Regierungspräsidenten, die im März 1933 in Bayern amtierten, schieden drei bis Anfang Juli 1933 vornehmlich aus Altersgründen aus dem Dienst aus: der Regierungspräsident von Oberbayern, Ludwig von Knörzinger, der am 1. April 1933 im Alter von 71 Jahren in den Ruhestand trat; der Regierungspräsident von Ober- und Mittelfranken, Gustav Rohmer, der am 16. April 1933 als 67jähriger den Dienst quittierte, und der Regierungspräsident von Schwaben, Heinrich Graf Spreti, der am l.Juli 1933 nach der Vollendung seines 65.Lebensjahres pensioniert wurde 222 . Die drei verbliebenen Regierungspräsidenten standen noch nicht an der Schwelle zum Pensionsalter. Ihre Ablösung wurde mit mehr oder weniger massiven Pressionen erzwungen: Ludwig Osthelder, Regierungspräsident der Pfalz, der erst im September 1932 dieses Amt übernommen hatte, war zunächst entschlossen auf seinem Posten zu bleiben, verzichtete aber nach Angriffen der NSDAP-Bezirkstagsfraktion Ende Juli 1933 auf die weitere Geschäftsführung und ließ sich schließlich am 1.Oktober 1933 in den einstweiligen Ruhestand versetzen; drei Wochen später, am 24.Oktober 1933, resignierte auch der unterfränkische Regierungspräsident Günder, der durch kritische Zwischentöne in seinen Halbmonatsberichten den Unwillen der NS-Instanzen erregt hatte; am längsten konnte sich der Regierungspräsident von Niederbayern/Oberpfalz, Heinrich Wirschinger, im Amt behaupten, der erst am l.Juli 1934 ausschied. Die Vorgeschichte der Pensionierung Wirschingers kann verdeutlichen, mit welchen Methoden man Regierungspräsidenten, die nicht amtsmüde waren, zum Einreichen ihres Ruhestandsgesuches zwang. Bereits unmittelbar nach der Machtergreifung in München hatte die Regensburger SA am 20. und 31. März 1933 zwei Demonstrationen gegen Wirschinger organisiert, ihn im Regierungsgebäude belagert und seine 220
221 222
Vgl. dazu Diehl-Thiele, Peter: Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchungen zum Verhältnis von N S D A P und allgemeiner innerer Staatsverwaltung 1933-1945. München 1969, S. 75-111. E b d , S. 106. Vgl. auch die Personalangaben in den Bänden der Edition: Die kirchliche Lage in Bayern nach den Regierungspräsidentenberichten, a. a. O.; siehe ferner KJenner, a. a. O. S. 55 f.
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Verhaftung gefordert. Am 1. April 1933 erschien dann in der dem Regensburger NS-Organ, ein Artikel, der betonte, daß im rung am Emmeransplatz »der Sturmwind erheblich aufgeräumt in die Luft geblasen« habe. Unmißverständlich drohte man dem ten:
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Bayerischen Ostmark, Gebäude der Regieund viel Aktenstaub Regierungspräsiden-
»Merkwürdigerweise hat dieser Wind ein Zimmer nicht gefunden und zwar gerade das Hauptzimmer! Ob es so gut verschlossen war, wissen wir nicht. Auf jeden Fall befindet sich ausgerechnet der Herr Regierungspräsident Wirschinger immer noch im Amt. ... Wir glauben, Herr Regierungspräsident, daß Sie höchstpersönlich von falschen Voraussetzungen auszugehen belieben, wenn Sie glauben, daß der Nationalsozialismus vor Ihrer Person Halt machen würde. ... Es kommt nur darauf an, wann Sie, mit oder ohne Nachhilfe, die letzten Konsequenzen aus der allgemeinen Volksmeinung ziehen! Kommen wird der Tag!«223
Wirschinger wandte sich mit einem Beschwerdebrief an Innenminister Wagner und bat »als gewissenhafter Beamter und national gesinnter Mann« um den Schutz der vorgesetzten Behörde. Gleichzeitig regte er seine vorläufige Beurlaubung oder einstweilige Ruhestandsversetzung an, falls die »Verhältnisse nicht geändert werden können oder wollen«224. Wagner beabsichtigte, die Pensionierung Wirschingers sofort einzuleiten, scheiterte aber am Einspruch seines Kabinettskollegen Schemm, der juristische Bedenken geltend machte, in Wirklichkeit aber befürchtete, bei der Neubesetzung der Stelle in seinem Herrschaftsgebiet - Schemm war Gauleiter der Bayerischen Ostmark - übergangen zu werden. Ein Jahr später, im April 1934, als Schemm seine regionale Machtposition ausgebaut und abgesichert hatte, unternahm er dann selbst einen Vorstoß, um die Absetzung Wirschingers durchzusetzen, der bis dahin hauptsächlich wegen der ungeklärten NSDAP-internen Rivalitäten noch amtieren durfte. Jetzt argumentierte Schemm, das Grenzgebiet Regensburg sei immer noch ein »Hort der versteckten schwarzen Reaktion«, wofür auch der Regierungspräsident verantwortlich sei, der deshalb umgehend pensioniert werden müsse 223 . Der Ministerrat Schloß sich diesem Wunsch des Kultusministers an und ließ Wirschinger durch Siebert telefonisch mitteilen, »daß er im Hinblick auf die politische Entwicklung und die von ihm bekundete innere Einstellung zum Nationalsozialismus als Regierungspräsident der Ostmark nicht mehr tragbar sei«226. Der Aufforderung, sein Rücktrittsgesuch einzureichen, kam Wirschinger sofort nach, der zum l.Juni 1934 in den zeitlichen Ruhestand und dann am 1. August 1934 in den dauernden Ruhestand versetzt wurde. Nachfolger Wirschingers wurde ab 1. Dezember 1934 Wilhelm Freiherr von Holzschuher. Er löste den zunächst ernannten Coburger Oberbürgermeister Franz Schwede ab, der wenige Tage nach seinem Dienstantritt in Regensburg von Hitler als Gauleiter nach Pommern geschickt worden war. Während der Amtszeit Holzschuhers spitzte sich der Kirchenkampf im Regierungsbezirk Niederbayern/Oberpfalz so zu, daß selbst die NS-Behörden ihren Regensburger Regierungspräsidenten zu bremsen versuchten, dessen Vorgehensweise die kirchliche Widerstandskraft mobilisierte und
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Nr. 52 vom 1./2. April 1933. Schreiben vom 1.April 1933, BayHStA MA 105655. Schreiben vom 16. April 1934 an Siebert, ebd. So ein Aktenvermerk Sieberts vom 26. April 1934, ebd.
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dessen Selbstherrlichkeit Gauleiter Wächtler und Innenminister Wagner herausforderte 227 . Typisch für den Verlauf dieses Machtkampfes zwischen Regierungspräsidenten und seinem Münchener Vorgesetzten war ein Vorfall im Herbst 1937, der nicht nur die persönlichen Rivalitäten zwischen nationalsozialistischen Amtsinhabern beleuchtet, sondern auch verdeutlicht, was ein überzeugter Nationalsozialist wie Holzschuher von der vorsichtigen Kirchenpolitik der Beamten des Kultusministeriums hielt. Holzschuher hatte in einer Entschließung vom 29. Oktober 1937 von ihm gegen Geistliche verhängte Religionsunterrichtsverbote massiv verteidigt und diese Entschließung wenige Tage später in der regionalen Presse und im Völkischen Beobachter228 veröffentlichen lassen. Nachdem die kirchenfeindlichen Aktivitäten schon vorher wiederholt viel Aufsehen erregt und die Bischöfe der Diözesen Regensburg und Passau alarmiert hatten, war diese demonstrative Publizierung - die Entschließung schilderte detailliert zwölf Einzelfälle, in denen ein Unterrichtsverbot verhängt worden war - selbst dem NS-Staatssekretär Boepple im Kultusministerium zu viel. Er sah in ihr eine unnötige Provokation, durch die die ohnehin schon gespannte Atmosphäre zwischen Kirche und Staat nur noch zusätzlich aufgeladen werden mußte. Außerdem widersprach die Veröffentlichung der Maßnahmen und Beweggründe einer der Maximen der nationalsozialistischen Kirchenpolitik, nämlich den Kampf gegen die Geistlichen so zu führen, daß unnötiges öffentliches Aufsehen vermieden wurde. Boepple wandte sich mit einer Beschwerde an die Nachrichtenstelle in der Staatskanzlei, in der er betonte, daß Holzschuher die Vorschriften über das amtliche Pressewesen nicht beachtet und ihm keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben habe, obwohl die Publizierung einer derartigen Entschließung von »großer politischer Tragweite« und »erheblicher allgemeiner Bedeutung« sei229. Boepples Kollege in der Staatskanzlei konnte auf dieses Schreiben nur erwidern, daß seine Dienststelle auch nicht vor der Veröffentlichung informiert worden sei. Innenminister Wagner, der nach dem Tod von Schemm auch noch die Leitung des Kultusministeriums übernommen hatte, schaltete sich nun persönlich ein und forderte Holzschuher zu einer Stellungnahme auf, wobei er den Regierungspräsidenten unmißverständlich darauf hinwies, er habe seine Kompetenzen überschritten 230 . Holzschuher entschloß sich in seiner Antwort zur Offensiwerteidigung. Der Katholizismus sei in seinem Amtsbezirk »fester gefügt, gefährlicher und unverschämter wie in irgendeiner anderen katholischen Gegend«; das mache einen »unentwegten stillen Kampf« erforderlich, der aber »bei aller Zurückhaltung ab und zu auch nach außen in Erscheinung treten« müsse. Dann wandte sich der Regierungspräsident gegen die bürokratischen Bedenken im Kultusministerium und stellte fest, er wolle den vielbeschäftigten Minister nicht noch mit Bagatellangelegenheiten behelligen. Deshalb werde er »die Taktik des jeweils notwendig erscheinenden Vorgehens« auch weiterhin selbst festlegen: »Sie muß oft blitzschnell, kompromißlos und ohne ministerielle Einschränkung sein, wenn der Schlag sitzen soll«. Politische Weisungen, die ihm Boepple 227
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Vgl. dazu ausführlich Ziegler, Walter (Bearb.): Die kirchliche Lage in Bayern nach den Regierungspräsidentenberichten 1933-1945, Bd. 4, Regierungsbezirk Niederbayern und Oberpfalz 1933-1945. Mainz 1973. Nr. 311 vom 7.November 1937. Schreiben vom 13.November 1937, BayHStA MK 37067. Schreiben vom 16. Dezember 1937, ebd.
Der politische Katholizismus in Bayern unter der NS-Herrschaft 1933-1945
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oder ein Ministerialrat erteile, lehne er schon wegen seiner »ganzen Vorschulung in der Reichsleitung der Partei« als unzulänglich ab 2 3 1 . In seinem Antwortschreiben an Holzschuher formulierte Wagner sein Verständnis von den Dienstpflichten eines Regierungspräsidenten: »Für Ihre Sachbehandlung führen sie an, daß es mir wegen meiner sonstigen Inanspruchnahme wohl an Zeit und Gelegenheit mangele, mich mit einer solchen politischen Frage zu befassen. Hierzu bemerke ich, daß ich den Geschäftsbetrieb in meinem Ministerium so geregelt habe, daß ich jederzeit und ohne Verzögerung von einer politisch bedeutsamen Angelegenheit Kenntnis erhalten und persönlich einen Entscheid treffen kann. Auch muß ich Sie in Ihrer Eigenschaft als Regierungspräsident zur Wahrung der Einheitlichkeit in der Staatsverwaltung ersuchen, die allgemeinen Grundsätze über die Behandlung von Angelegenheiten großer politischer Tragweite zu beachten, wie es aus dem gleichen Grunde auch selbstverständlich ist, daß Sie gegebenenfalls den Weisungen meines Stellvertreters, des Herrn Staatssekretärs Dr. Boepple, als Ihres Vorgesetzten entsprechen. Eine andere Auffassung würde mit dem Grundgedanken des Führerstaates unvereinbar sein.« 2 3 2
Nach diesem Zusammenstoß mit Wagner konnte sich Holzschuher nicht mehr sehr lange auf seinem Posten halten. Weitere Konflikte mit der Gauleitung und dem Innenministerium sowie eine Anzeige wegen Landfriedensbruches und die dadurch ausgelösten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft brachten Holzschuher in immer größere Schwierigkeiten, bis er schließlich im November 1938 von Wagner beurlaubt wurde, sehr zur Freude von Gauleiter Wächtler, der damit von einem Rivalen im Kampf um die Macht im Gau Bayerische Ostmark befreit wurde. Das personelle Revirement in den Führungsstellen der Bezirksämter war 1933/34 nicht so einschneidend wie auf den Positionen der Regierungspräsidenten. Die meisten der 153 bayerischen Bezirksamtmänner überlebten den Machtwechsel im März 1933 im Amt und wurden auch in der Folgezeit nicht entlassen. Die NSDAP verfügte nicht über die erforderliche Zahl von fachlich vorgebildeten Bewerbern für diese Posten, auf die in Bayern traditionsgemäß keine politischen Vertreter, sondern juristisch geschulte Regierungsräte berufen worden waren. Ferner scheute man im bayerischen Innenministerium offensichtlich auch davor zurück, diese Mittelinstanzen des staatlichen Behördenapparats zu demontieren, in denen sachbezogene Verwaltungsarbeit geleistet werden sollte und politische Macht kaum ausgeübt werden konnte. Die Kreis- und Ortsgruppenleiter rückten bis 1935 jedenfalls nirgendwo in Bayern in diese Ämter ein, auch wenn sie in vielen Fällen die ideologische Aufsicht über die Stelleninhaber für sich beanspruchten. Aus der 1935 veröffentlichten NSDAP-Statistik geht außerdem hervor, daß von den hier insgesamt erfaßten 135 Bezirksamtsvorständen lediglich 34 Mitglieder der Staatspartei waren; 30 dieser Beamten hatten sich der Partei erst nach dem 30.Januar 1933 angeschlossen, nur vier konnten also als »Altparteigenossen« bezeichnet werden 233 . Demnach waren Anfang 1935 drei Viertel der bayerischen Bezirksamtmänner nicht in der NSDAP organisiert - eine erstaunlich hohe Zahl, wenn man bedenkt, daß zum gleichen Zeitpunkt 91 Prozent der städtischen Bürgermeister und Oberbürgermeister und 69 Prozent der Gemeindebürgermeister in Bayern das NSDAP-Mitgliedsbuch besaßen 234 . 231 232 233 23