Spiel (mit) der Maschine: Musikalische Medienpraxis in der Frühzeit von Phonographie, Selbstspielklavier, Film und Radio [1. Aufl.] 9783839430361

Contributions from musicology and media studies look at the various musical media practices during the early stages of r

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German Pages 418 Year 2016

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Inhalt
Spiel (mit) der Maschine. Anmerkungen zur Historiographie musikalischer Medienpraxis in der Frühzeit der Reproduktions- und Übertragungsmedien. Eine Einführung
Medienchronologie
Musikalische Medienpraxis im Kontext: Naturwissenschaft – Ästhetik – Ökonomie
Experimentalisierung des Hörens – Musik und Medien um 1900
Absolute Klangbilder. Abstrakter Film und Radiohörspiel der 1920er als komplementäre Formen einer »Eigenkunst« der Medien
Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Anmerkungen zur Wirtschaftsgeschichte der Medien oder: vom Aufstieg und Niedergang des Selbstspielklaviers
Klingende Industriegeschichte: Die Frankfurter Orchestrion- & Piano- Instrumenten-Fabrik J. D. Philipps
Musikalische Medienpraxis als Interaktion von Menschen und Maschinen
»Grammophon-Konzerte«. Historische Medienkombinationen mit Schallplatte und der Wandel der Live-Ästhetik
Spielen und bedienen. Das selbstspielende Klavier als virtuose Maschine
Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium
Zeitarbeit: Das Zusammenspiel von Menschen, Maschinen und Musik in der Entwicklung von Tonfilmtechniken
Radio als Erlebnisraum
Leiblichkeit und das Körperspiel der Maschinen
Musikalische Medienpraxis in historischen Zeitschriften
»Die Stimme seines Herrn«. Hauszeitschrift der Deutschen Grammophon AG von 1909 bis 1918
Radio zum Blättern. Spotlights auf die Rundfunkzeitschrift »Die Funk-Stunde« (1924–1929)
Musikalische Medienpraxis im Horizont einer Ästhetik des Eigenwerts der Medien
»Immer Neues ans Licht bringen«. Paul Hindemith und die (neuen) Medien
Ausweitung der Machbarkeitszone. Ästhetisch-technische Modernitätskonzepte von Film und Partitur in Arnold Fancks und Paul Hindemiths »In Sturm und Eis« (1921)
Hindemiths Versuche »grammophonplatteneigener Stücke« im Kontext einer Ideengeschichte der Mechanischen Musik im 20. Jahrhundert
Das Grammophon als Instrument. László Moholy-Nagy, Oskar Messter und die Gestaltung einer gezeichneten Phonoschrift für Schallplatten
Gespielte Medien und die Anfänge ›phonographischer Arbeit‹
Anhang
Autoren
Namensregister
Sachregister
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Spiel (mit) der Maschine: Musikalische Medienpraxis in der Frühzeit von Phonographie, Selbstspielklavier, Film und Radio [1. Aufl.]
 9783839430361

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Marion Saxer (Hg.) Spiel (mit) der Maschine

Musik und Klangkultur

Marion Saxer (Hg.)

Spiel (mit) der Maschine Musikalische Medienpraxis in der Frühzeit von Phonographie, Selbstspielklavier, Film und Radio Redaktionelle Mitarbeit Leonie Storz

Wir danken der Speyer’schen Hochschulstiftung für die finanzielle Unterstützung der Publikation.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der ­Deut­schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.

© 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und straf bar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagillustration: Frank Pfeifer Lektorat: Leonie Storz Satz: Frank Pfeifer Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3036-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3036-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Marion Saxer Spiel (mit) der Maschine. Anmerkungen zur Historiographie musikalischer Medienpraxis in der Frühzeit der Reproduktionsund Übertragungsmedien. Eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Marion Saxer / Leonie Storz Medienchronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Musikalische Medienpraxis im Kontext: Naturwissenschaft – Ästhetik – Ökonomie Julia Kursell Experimentalisierung des Hörens – Musik und Medien um 1900 . . . . . 29

Dieter Daniels Absolute Klangbilder. Abstrakter Film und Radiohörspiel der 1920er als komplementäre Formen einer »Eigenkunst« der Medien . . . . . . . .

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Marion Saxer / Leonie Storz Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Anmerkungen zur Wirtschaftsgeschichte der Medien oder: vom Aufstieg und Niedergang des Selbstspielklaviers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Kerstin Helfricht Klingende Industriegeschichte: Die Frankfurter Orchestrion- & Piano-Instrumenten-Fabrik J. D. Philipps . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Musikalische Medienpraxis als Interaktion von Menschen und Maschinen Marion Saxer »Grammophon-Konzerte«. Historische Medienkombinationen mit Schallplatte und der Wandel der Live-Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . 121

Rebecca Wolf Spielen und bedienen. Das selbstspielende Klavier als virtuose Maschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Kai Köpp Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Tobias Plebuch Zeitarbeit: Das Zusammenspiel von Menschen, Maschinen und Musik in der Entwicklung von Tonfilmtechniken . . . . . . . . . . . .177

Sabine Breitsameter Radio als Erlebnisraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Michael Harenberg Leiblichkeit und das Körperspiel der Maschinen . . . . . . . . . . . . . . 227

Musikalische Medienpraxis in historischen Zeitschriften Claudia Thiesse »Die Stimme seines Herrn«. Hauszeitschrift der Deutschen Grammophon AG von 1909 bis 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Janina Klassen Radio zum Blättern. Spotlights auf die Rundfunkzeitschrift »Die Funk-Stunde« (1924–1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Musikalische Medienpraxis im Horizont einer Ästhetik des Eigenwerts der Medien Susanne Schaal-Gotthardt »Immer Neues ans Licht bringen«. Paul Hindemith und die (neuen) Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Andreas Münzmay Ausweitung der Machbarkeitszone. Ästhetisch-technische Modernitätskonzepte von Film und Partitur in Arnold Fancks und Paul Hindemiths »In Sturm und Eis« (1921) . . . . . . . . . . . . . . . 317

Martin Elste Hindemiths Versuche »grammophonplatteneigener Stücke« im Kontext einer Ideengeschichte der Mechanischen Musik im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .347

Daniel Gethmann Das Grammophon als Instrument. László Moholy-Nagy, ­Oskar Messter und die Gestaltung einer gezeichneten Phonoschrift für Schallplatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

Rolf Grossmann Gespielte Medien und die Anfänge ›phonographischer Arbeit‹ . . . . . . . 381

Anhang Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .413

Spiel (mit) der Maschine Anmerkungen zur Historiographie musikalischer Medienpraxis in der Frühzeit der Reproduktions- und Übertragungsmedien. Eine Einführung Marion Saxer

Erfreulicherweise nehmen die Forschungsaktivitäten, die sich mit der Entwicklung der Reproduktions- und Übertragungsmedien beschäftigen, nicht allein in der Musik- und der Medienwissenschaft, sondern auch in anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen seit einigen Jahren erheblich zu. Doch obgleich heute kaum jemand bestreiten wird, dass die Erfindung von Phonographie, Selbstspielklavier, Film und Radio im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht allein die Musikkultur, sondern darüber hinaus die gesamte Kultur des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat, sind die Bemühungen um ein methodisches Instrumentarium zur adäquaten Beschreibung der mit den neuen Medien verbundenen kulturellen Prozesse noch immer im Fluss. Neue technische Medien zu erschaffen scheint leichter zu sein, als ihre kulturelle Bedeutung zu verstehen. Der Band Spiel (mit) der Maschine. Musikalische Medienpraxis in der Frühzeit von Phonographie, Selbstspielklavier, Film und Radio dokumentiert die Beiträge der gleichnamigen Tagung, die im Sommer 2014 am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main stattgefunden hat und ergänzt sie mit zwei zusätzlichen Texten. Ziel des Bandes ist es, die im Untertitel genannten vier Medien gemeinsam in den Blick zu nehmen und ihre komplexen Verflechtungen untereinander zu beleuchten – sei es innerhalb von Diskursen unterschiedlicher Wissensformationen oder auf der medienpraktischen Ebene. Darüber hinaus soll belegt werden, wie die Medien zugleich auch mit älteren musikalischen Praxisformen des In­ strumentalspiels vermischt und kombiniert wurden. Der Band versteht sich zum einen durchaus als Materialfundus. Viele Beiträge dokumentieren zahlreiche, heute weitgehend vergessene Formen musi-

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kalischer Medienpraxis und belegen sie mit reichhaltigen Abbildungen. Der Fokus auf ephemeren musikalischen Praxisformen zieht jedoch zugleich musik- und medienhistoriographische Konsequenzen nach sich, die letztlich zu einem neuen Medienverständnis führen. Denn dies wird entscheidend von den historiographischen Modellen, die wir ihm zugrunde legen, bestimmt. Dabei ist es für den Band durchaus bereichernd, dass die Sichtweisen der Autoren 1 nicht durchweg einheitlich sind. Was jedoch alle hier versammelten Beiträge verbindet, ist die Abkehr von medientheoretischen Ansätzen, die auf jeweils ein singuläres »Endmedium« ausgerichtet sind, zugunsten von Theoriemodellen, die sich an heterogenen, in einem permanenten Prozess der Transformation und Neukonfigurierung befindlichen Medienverbünden orientieren. Aus Darstellungsgründen konnte auf das In-den-Blick-Nehmen einzelner Medien dennoch nicht gänzlich verzichtet werden. Eine bewusst knapp gehaltene Medienchronologie am Beginn des Bandes, die einige wenige Kerndaten der technischen Entstehungsgeschichten der vier Medien nebeneinanderstellt, dient dem historischen Überblick und der Vernetzung von Basiswissen. Das eigentliche Anliegen des Bandes besteht jedoch gerade nicht im Verfolgen der Entwicklungslinien einzelner Medien, sondern im Aufzeigen ihrer Vernetzungen und der Diskussion der damit einhergehenden medialen Praxisformen. Damit aber wird eine Alternative zum geläufigen Modernisierungsnarrativ der Medien und seinen impliziten Reduktionen entfaltet, eine Alternative, die nicht unbedingt anstrebt, jene »alte« Erzählung der Moderne zu ersetzen, sondern sich als ihre notwendige Ergänzung versteht. Die Problematik des im Zusammenhang mit medientechnischen Neuerungen häufig verwendeten Begriffs der Medienrevolution vermag die medienhistoriographische Neuperspektivierung, die hier angestrebt wird, zu verdeutlichen: Die Metapher der Medienrevolution ist zentraler Bestandteil jenes Modernisierungsnarrativs, das eine Fortschrittsgeschichte der Medien aufgrund ihrer permanenten technischen Ausdifferenzierung erzählt. Dabei werden jedoch wichtige Aspekte einer historisch präzisen Rekonstruktion der Entwicklung verstellt. Weil die Metapher der Revolution zwingend die Kon­ struktion einer linearen Abfolge von Ereignissen nach sich zieht, wobei die Aufmerksamkeit vorwiegend auf das Neue – meist die neuen Endgeräte – gerichtet wird, kommt z. B. das Miteinander von Neuem und Altem, das stets die Medienwirklichkeit einer Zeit prägt, nicht gebührend in den Blick, es wird marginalisiert und gerät in Vergessenheit. Wer ausschließlich nach den Auswirkungen der medientechnischen »Revolutionen« fragt, dem entgehen die  – für alle Medienkulturen typischen  – Medienkonstellationen, in denen sich traditionelle Medien mit neuen Medienformaten vermischen und gerade 1 | Mit Nennung einer männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

Spiel (mit) der Maschine. Eine Einführung

aufgrund dieser Vermischung vielfältige neue Praxisformen erschließen. Berücksichtigt man medienhistoriographisch jene medialen »Gemengelagen«, so entsteht ein unübersichtlicheres, jedoch auch präziseres Bild, aus dem sich überdies – jenseits der technischen Entwicklungen der Einzelmedien – neue Kontinuitätslinien auskristallisieren, die, weil sie nicht von Technologien, sondern von Praxisformen ausgehen, nicht unbedingt dem Gebot des »Fortschritts« gehorchen müssen. Indem die Textbeiträge des Bandes die naturwissenschaftlichen, ästhetischen, sozioökonomischen und medienpraktischen Netze, die sich zwischen den Medien bilden, aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten, dekonstruieren sie gewissermaßen die anfangs vorgestellte Medienchronologie und deren vier einzelne, stringent konstruierte Linien technischer Entwicklung. Sie beschreiben stattdessen ein komplexes Feld vielfältig aufeinander bezogener, kreuz und quer verlaufender Prozesse, innerhalb dessen mehr Handlungsspielräume im Umgang mit den Medienmaschinen erkennbar werden als im Rahmen des Modernisierungsnarrativs mit seinen Reduktionen. Aus der Anlage des Bandes ergeben sich für die Leser unterschiedliche mögliche Lektürewege. Zum einen können  – möglichen Spezialinteressen folgend – die Beiträge zu einem der vier vertretenen Medien gebündelt gelesen werden: Mit fünf Texten zum Selbstspielklavier (Julia Kursell, Marion Saxer/ Leonie Storz, Kerstin Helfricht, Rebecca Wolf, Kai Köpp), drei Texten mit dem Schwerpunkt Film (Dieter Daniels, Tobias Plebuch, Andreas Münzmay), drei Texten mit Schwerpunkt Radio (Dieter Daniels, Sabine Breitsameter, Janina Klassen), vier Texten mit Schwerpunkt Grammophon (Marion Saxer, Claudia Thieße, Martin Elste, Daniel Gethmann) und vier Überblickstexten, die alle vier Medien thematisieren (Marion Saxer/Leonie Storz, Michael Harenberg, Susanne Schaal-Gotthardt, Rolf Großmann), sind die Anteile der vier Medien innerhalb des Bandes recht ausgewogen. Da fast alle Texte Querverbindungen zu anderen Medien herstellen, kann diesen auch mit einer Lektüre »kreuz und quer« gefolgt werden. Querverweise in den Texten und ein Register tragen zur Orientierung bei. Es bleibt zu hoffen, dass sich den Lesern bei der Lektüre so vielfältige Zusammenhänge zwischen den Medien erschließen, wie sie die intensiven Diskussionen der Tagung erbrachten.

M usik alische M edienpr a xis im K onte x t : N aturwissenschaf t  – Ä sthe tik  – Ö konomie Die Beiträge des ersten Themenblocks beleuchten Wechselbeziehungen zwischen den vier zur Rede stehenden Medien aus der Perspektive unterschiedlicher Wissensformationen. An exemplarischen Beispielen werden komplexe

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Verflechtungen mit dem naturwissenschaftlichen Denken der Zeit, den ästhetischen Diskursen und ökonomischen Entwicklungen diskutiert. Dabei wird die naheliegende Frage nach den kulturellen »Auswirkungen« der neuen Techniken eher vermieden, denn sie birgt methodische Fallstricke: Die Antworten darauf schießen nämlich dann leicht übers Ziel hinaus, wenn sie Medientechnologien als die hauptursächlichen Agenten geschichtlichen Wandels begreifen und sämtliche kulturellen Wandlungsprozesse aus medialen Umbrüchen herleiten. Wird ein solches monokausales, deterministisches Technikverständnis nicht eigens reflektiert, mündet es letztlich in eine theologische Argumentationsstruktur, die der Technik die Rolle eines pseudo-göttlichen All-Bewegers zuschreibt, wie Jonathan Sterne einmal kritisch bemerkt hat 2 . Im Gegensatz dazu machen die Beiträge dieses Bandes die Entstehung der neuen Medien im Rahmen eines gesamtkulturellen Prozesses verstehbar, an dem jeweils unterschiedliche wissenschaftliche, künstlerische und institutionelle Akteure beteiligt sind. Dieser Prozess erstreckt sich auf das naturwissenschaftliche Denken und die damit verbundenen experimentellen Untersuchungsmethoden, ebenso wie auf ästhetische Diskurse, die – über mediale Grenzziehungen hinweg – aufeinander Bezug nehmen und dabei in spezifischer Weise transformiert werden und auf Industrien und Märkte mit zum Teil sehr unterschiedlichen Verlaufskurven, die sich dennoch beeinflussen. Obgleich die drei Hauptbeiträge dieses Teils jeweils eine Betrachtungsperspektive ins Zentrum stellen, machen sie dennoch auch deutlich, dass mediale Entwicklungen niemals auf nur eine dieser Perspektiven zurückzuführen sind. In der Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Entwicklungen werden auch ästhetische und ökonomische Aspekte aufgerufen. Analoges gilt für die beiden anderen Perspektiven. Letztlich wird an den hier vorgestellten exemplarischen Beispielen erkennbar, dass eine umfassende musikalische Mediengeschichte einer breiten Neuverschaltung von Wissensbeständen bedarf, auf die hier nur ausblickshaft verwiesen werden kann. Bereits Friedrich Kittler hat vermerkt, dass erst die bahnbrechenden Erkenntnisse der naturwissenschaftlichen Forschung des 19. Jahrhunderts und das daraus sich ergebende neue Weltverhältnis den Boden für die Entwicklung der neuen Technologien schufen3. Die technischen Voraussetzungen für die Phonographie waren lange vor ihrer Entstehung bereits gegeben, es bedurfte jedoch einer neuen, auf den Erkenntnissen der Akustik und der experimentellen Psychologie beruhenden Auffassung des Hörens, um technische Apparate zur Aufzeichnung von Klang zu realisieren. So führten etwa neue sinnesphysiologische Analysemethoden der Wahrnehmung Hermann von Helmholtz 2 | Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham/London 2003. 3 | Friedrich Kittler: Grammophon – Film – Typewriter, Berlin 1986, S. 35ff.

Spiel (mit) der Maschine. Eine Einführung

dazu, das Ohr nicht mehr als einen bloßen Übermittler zu denken, der in einem einfachen Korrespondenzverhältnis zu dem steht, was in einem Außen geschieht, sondern als ein produktives Organ, auf das experimentell eingewirkt werden kann. Erst dieser Umbruch in der Auffassung der Sinnesorgane war die Voraussetzung für die Entstehung akustischer Aufzeichnungsmedien. Julia Kursell entwickelt in ihrem Beitrag Experimentalisierung des Hörens – Musik und Medien um 1900 diese Grundeinsicht noch einige Schritte weiter, indem sie zeigt, wie sich komplexe Wechselwirkungen zwischen naturwissenschaftlicher Forschung und medientechnischen Neuentwicklungen bis in die musikalische Hörkultur hinein auswirken. An zwei exemplarischen Beispielen belegt sie, dass sich, sobald das Klavierspiel um 1900 zum Studienobjekt der experimentellen Lebenswissenschaften wird, die ästhetischen Vorstellungen der Interpretation  – insbesondere auch in Beziehung auf die Zeitlichkeit von Musik  – verändern. Dafür, dass sich die Erwartungen an das gute Spiel von der Regelmäßigkeit hin zur Individualität der Interpretation verschieben, spielt der technische Stand der Aufzeichnungs- und Abspielapparaturen eine wichtige Rolle. Kursell stellt Konstellationen von akustischen Medien, Spielpraktiken und dem Diskurs über das Klavierspiel vor. In diesen Konstellationen, so die These Kursells, werden Veränderungen in der Art und Weise sichtbar, wie das Klavierspiel gehört wird. Dass und wie solche Hörweisen entstehen, ordnet die Autorin in eine Geschichte der Experimentalpraktiken ein, die bei der Untersuchung von Lebensvorgängen in der Physiologie ihren Ausgang genommen hat. Dieter Daniels befasst sich in seinem Beitrag Absolute Klangbilder. Abstrakter Film und Radiohörspiel der 1920er als komplementäre Formen einer »Eigenkunst« der Medien mit den medienbezogenen ästhetischen Praktiken und Diskursen der 1920er-Jahre und plädiert für eine gattungsübergreifende künstlerische Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts. Er exemplifiziert diesen Ansatz am Beispiel des ästhetischen Paradigmas des »Eigenwerts der Medien«, das für alle Künste des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart von zentraler Bedeutung ist. Daniels dokumentiert, wie zwischen 1920 und 1933 in den damals neuen Medien Film und Radio Kunstformen entwickelt wurden, die sich an den ästhetischen Eigenwirkungen dieser Techniken orientierten. Aus heutiger Sicht lassen sich der abstrakte Film und das »funkische« Hörspiel deshalb als Vorläufer der Medienkunst bezeichnen. Obgleich die Ausrichtung des Textes nicht primär musikbezogen ist, sind musikalische Zusammenhänge stets präsent. So etwa in den Personenkonstellationen, die sich um die Entwicklung medienspezifischer filmischer und »funkischer« Kunstformen bemühen, in denen Hans Flesch, Kurt Weill und Paul Hindemith als wichtige Protagonisten hervortreten. Darüber hinaus ist die Entwicklung des abstrakten Films von musikalischen Vorstellungen motiviert: Nicht zufällig wurde dessen erste Realisation, Walter Ruttmanns Opus 1 aus dem Jahr 1921, in zeitgenössischen Quellen als »Augenmusik« bezeichnet. Dass die berühmte Kurzfilm-Matinee

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des Jahres 1925, in der die Novembergruppe abstrakte Filme von neun Künstlern zeigte, den Titel Der absolute Film 4 trug, war ein offener Hinweis auf die Rückbindung des abstrakten Films an die Idee der »absoluten Musik«. Der Terminus – von Richard Wagner mit pejorativem Aplomb eingeführt – benennt die Idee einer Musik, ohne Bezüge zu außermusikalischen Elementen und Referenzen, in der bereits die Vorstellung des Eigenwerts des Medialen virulent war, ohne dass bereits ein entsprechender medientheoretischer Diskurs existierte. Indem Daniels abschließend die technischen, ästhetischen und konzeptuellen Paradoxien der Übertragung der Idee »absoluter Kunst« auf die neuen technischen Medien diskutiert, legt er bedeutende Motive für medienreflexive Tendenzen in den Künsten des 20. Jahrhunderts frei. Geht man  – mit Jonathan Sterne  – davon aus, dass die Industrie zu den wichtigsten medialisierenden Faktoren gehört, dann muss der Tatsache, dass die Entstehung der neuen Medien in die klassischen ökonomischen Zusammenhänge von privatwirtschaftlichen Besitzverhältnissen, Mehrwertproduktion, Warentausch, Geldökonomie und unternehmerischem Handeln eingebunden ist, mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Eine Wirtschaftsgeschichte der Frühzeit der Reproduktionsmedien liegt bislang sowohl in der Medienwie auch in der Musikwissenschaft allerdings nicht vor. Während die technischen Entwicklungen der einzelnen Geräte sehr gut beschrieben sind und musikkulturelle Auswirkungen der Medien intensiv diskutiert werden, fehlt eine vergleichende Studie über ihre ökonomische Konstitution. In dem Beitrag Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Anmerkungen zur Wirtschaftsgeschichte der Medien oder: vom Aufstieg und Niedergang des Selbstspielklaviers von Marion Saxer und Leonie Storz können lediglich Ansätze einer Aufarbeitung der damit verknüpften komplexen Fragestellungen formuliert werden. Nach einem Überblick über die wirtschaftlichen Trends in der Frühzeit der Reproduk­ tionsmedien werden jeweils spezifische »ökonomische Physiognomien« der einzelnen Medien und die damit einhergehenden unterschiedlichen Vermarktungsstrategien diskutiert. Dabei steht die Frage nach den Gründen für den Niedergang des Selbstspielklaviers im Mittelpunkt. Kerstin Helfricht ergänzt die Überlegungen zur Ökonomie der Medien mit einem konkreten Fallbeispiel. In ihrem Beitrag Klingende Industriegeschichte: Die Frankfurter Orchestrion- & Piano-Instrumenten-Fabrik J. D. Philipps arbeitet sie die Geschichte der Frankfurter Firma Philipps auf, die – heute weitgehend vergessen – bis 1929 im Stammwerk Frankfurt Bockenheim Orchestrien sowie Selbstspielklaviere produzierte und zu den namhaftesten deutschen Herstellern von Selbstspielklavieren gehörte. 1909 brachte die Firma das Reproduktionsklavier Duca auf den Markt, das ein dem Welte-Reproduktionsklavier 4 | Vgl. Christian Kiening/Adolf Heinrich: Der absolute Film. Dokumente der Medien­ avantgarde (1912–1936), Zürich 2011.

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ähnliches Wiedergabesystem verwendete und durch weitere technische Innovationen überzeugte. Das Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität besitzt ein solches Reproduktionsklavier der Firma Philipps sowie eine Sammlung von über 950 zugehörigen historischen Klavierrollen, deren Katalogisierung Kerstin Helfricht durchführte5. Im Rahmen der Tagung von 2014 wurde das neu restaurierte Duca-Reproduktionsklavier des Instituts für Musikwissenschaft vorgestellt.

M usik alische M edienpr a xis als I nter ak tion von M enschen und M aschinen Wie bereits eingangs bemerkt, wird jede Kultur durch mediale Mischsituationen geprägt, in denen neu entstandene Medien mit bereits bestehenden Formaten und Praktiken kombiniert werden. Auch in der Frühzeit der Reproduktions- und Übertragungsmedien wurden die neuen Apparate unbekümmert mit älteren musikalischen Praxisformen der Live-Interpretation vermischt. Im Zentrum des zweiten Themenschwerpunkts stehen Mediensituationen, in denen menschliche Interpreten mit den neuen medientechnischen Geräten musikalisch interagieren und damit neue Felder der musikalischen Medienpraxis erschließen. Das Feld dieser Praxen wurde bislang wenig beachtet, weil sie meist nicht mit der Artikulation künstlerischer Konzepte verbunden waren, sondern häufig schlicht auf Praktikabilitätserwägungen beruhten. Doch auch in diesen heute vergessenen Formen der Medienpraxis sedimentieren sich kulturelle Konstrukte und Überzeugungen, deren Reflexion lohnt. Fünf Beiträge sind der Betrachtung exemplarischer Beispiele gewidmet, die sich auf die Verwendung des Grammophons in Zusammenhang mit Live-Darbietungen, die spezifischen Herausforderungen, die das Kunstspielklavier an die Interpreten stellt, medienpraktische Fragen des Reproduktionsklaviers und auf die Vielfalt der musikalischen Medienpraxis in Kombination mit dem Stummfilm bis zur Rundfunk-Hausmusik beziehen. Abschließend erörtert ein Beitrag die neuen Körperdiskurse, die sich aus den neuen Formen der Medienpraxis ergeben. Marion Saxer stellt in ihrem Beitrag »Grammophon-Konzerte«. Historische Medienkombinationen mit Schallplatte und der Wandel der Live-Ästhetik 6 unterschiedliche Formen der Kombination von Grammophon- und Live-Musik vor – von der Medienutopie über pragmatisch motivierte Mediengemische bis hin zum künstlerischen Konzept – und belegt dabei, welche Live-Begriffe bzw. wel5 | www.muwi.uni-frankfurt.de 6 | Bei dem Text handelt es sich um einen stark veränderten und im Hinblick auf die Thematik des vorliegenden Bandes ergänzten Wiederabdruck.

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che, damals noch unreflektierte, medientheoretische Grundannahmen den jeweiligen Praxisformen zu Grunde liegen. Dabei sind bereits in den 1920er-Jahren zwei grundsätzlich unterschiedliche mediale Darstellungsstile artikuliert worden: Ersterer folgt dem Transparenzideal des Medialen, welches mit der Grammophonaufnahme das Ziel einer möglichst naturgetreuen klanglichen Abbildung verbindet und deshalb bestrebt ist, das Medium selbst in der Wahrnehmung verschwinden zu lassen. Dem zweiten geht es im Gegensatz dazu um ein medienbewusstes Reflektieren eines Eigenwerts des Medialen, wie es Dieter Daniels in seinem Beitrag thematisiert. In einem Ausblick skizziert Saxer am Beispiel des Komponisten Peter Ablinger, wie jener zweite medienreflexive Darstellungsstil in aktuellen künstlerischen Positionen realisiert wird. Selbstspielklaviere (bzw. im Englischen Player Pianos) existieren in hauptsächlich zwei Varianten, die sich im Hinblick auf ihre Bedienung prinzi­piell unterscheiden: Im Gegensatz zum 1905 von der Firma Welte in Freiburg entwickelten Reproduktionsklavier, das individuelle Einspielungen repräsentativer Interpreten detailgetreu wiedergibt, erfordert das bereits in den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts entstandene Kunstspielklavier das Zutun menschlicher Interpreten 7. Rebecca Wolf thematisiert in ihrem Beitrag Spielen und bedienen. Das selbstspielende Klavier als virtuose Maschine, wie sich die musikalische Praxis der Live-Interpretation am Kunstspielklavier modifiziert. Wolf fragt, wie sich die Wahrnehmung verschiebt, wenn zwischen Mensch und Musikinstrument ein Gerät geschoben wird, wie es bei den Kunstspielklavieren der Fall ist. Ausgehend davon, dass nun nicht mehr die Klaviertaste von Menschenhand gedrückt wird, sondern Hebel zu bedienen und Pedale zu treten sind, das heißt, dass sich die taktile Verbindung zur Musikerzeugung ebenfalls verschiebt, folgert Wolf, dass dem Spieler eine ganz neue Virtuosität abverlangt wird. Hier schließen sich Fragen an, wer nun ein Musikstück interpretiert, wer eigentlich den musikalischen Code, nämlich die Perforierungen und Markierungen auf der Notenrolle, liest und umsetzt. Diskutiert wird zudem, wie sich solche Darbietungen zur Erwartung an wiederholbare Aufführungen verhalten. Kai Köpp geht in seinem Beitrag Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium ebenfalls auf die Interaktion zwischen Mensch und Maschine ein, nun aber im Hinblick auf das Reproduktionsklavier. Dessen Repertoire von Begleitrollen ließ für das häusliche Musizieren die Vorstellung des Zusammenspiels mit berühmten Interpreten aufkommen. Darüber hi­naus eröffnet Köpp einen Ausblick auf neue Forschungsansätze der Interpretationsforschung: Ungeklärte Elemente des Aufnahmeprozesses, die Manipulierbarkeit des Datenträgers, die Grenzen der pneumatischen Technologie und die Unzuverlässigkeit der Wiedergabetechnologie trugen dazu bei, dass 7 | Eine Erläuterung der Begriffe Selbstspiel-, Kunstspiel- und Reproduktionsklavier gibt Kai Köpp im ersten Teil seines Artikels in diesem Band, S. 157–175.

Spiel (mit) der Maschine. Eine Einführung

dem Reproduktionsklavier bislang in diesem Forschungsfeld wenig Bedeutung beigemessen wurde. Durch eine Trennung der Bereiche Technologie, Aufnahmeverfahren, Musikinstrument und Interpretationspraxis ist es heute jedoch möglich, die von namhaften Pianisten eingespielten Klavierrollen als musikalische Primärquellen zu erschließen und damit dem Forschungsfeld der Interpretationsforschung neue Impulse zu geben. Tobias Plebuch entwirft in seinem Beitrag Zeitarbeit: Das Zusammenspiel von Menschen, Maschinen und Musik in der Entwicklung von Tonfilmtechniken eine Geschichte der Verbindung von Film und Ton, indem er Entwicklungen apparativer und praktischer Techniken in stetiger und enger Wechselwirkung begriffen beschreibt. Probleme und Lösungen der Entwicklungsgeschichte des Tonfilms werden in ihrer Einbettung in Zusammenhänge menschlichen Handelns vorgestellt. Die Vielfalt der Medienpraktiken, die menschliche Akteure einbeziehen, lässt den Film in seiner Frühzeit aus dieser Sicht geradezu als ein Live-Medium erscheinen. Plebuch dokumentiert an vielen Beispielen die konkurrierenden Strategien von Live-Musik im Kino und frühen Tonfilm-Techniken am Ende der 1920er-Jahre, um seine These zu belegen, dass es kaum gerechtfertigt ist, den Beginn der Tonfilm-Ära auf das Jahr 1927 (The Jazz Singer) zu datieren, wie es in der Literatur meist geschieht. Darüber hinaus belegt er Wechselwirkungen der beiden konkurrierenden Strategien in Form einer zunehmenden Mechanisierung von Live-Musik einerseits und einer Verfeinerung der Geräte andererseits, sodass sich technische Reproduktion und Aufführungspraxis tendenziell einander annäherten: Während das Musizieren im Kino in wachsendem Maße von einer »modularen Poietik«, technisch vermittelten und hochgradig arbeitsteiligen Produktionsabläufen geprägt wurde, wuchsen den »Kino-DJs« neue Möglichkeiten und Anforderungen musikalischer Gestaltung zu. Zugespitzt lässt sich die Entwicklung als eine wachsende »Industrialisierung« des Musizierens und eine wachsende Ästhetisierung der apparativen Tontechnik beschreiben. Sabine Breitsameter belegt in ihrem Beitrag Radio als Erlebnisraum die neuen Formen der Medienpraxis, die das Radio mit sich brachte. Der Fokus ihrer Ausführungen liegt insbesondere auf partizipativen Möglichkeiten in der Frühzeit des Mediums – von Radio-Bastlern, die sich im Arbeiter-Radio-Klub zusammenschlossen, über Formen der Zweiweg- und Multi-User-Kommunikation, die erst später zum monodirektionalen Medium zusammengestutzt wurden, bis hin zu den Rundfunksingstunden Fritz Jödes und Herbert Justs als partizipativer musikalischer Praxis, die Radiosendungen mit heimischem Live-Musizieren verbanden. Adressiert »an alle« mit dem Anspruch, so Bredow, das »verarmte deutsche Volk« künstlerisch und geistig zu erheben, sah sich das Medium nicht nur als Gegenstand ästhetischer und kultureller Utopien. Es diente auch als Folie für Angstprojektionen und Technikskepsis und als Objekt, an dem sich fundamentale gesellschaftliche Kritik kristallisierte. Der

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Blick auf die frühen Formen »funkischer« Radiopraxis, die heute weitgehend vergessen sind, zeigt darüber hinaus, wie wenig die Spielräume, die das neue Medium eröffnete, letztlich ausgeschöpft wurden. Michael Harenbergs Beitrag Leiblichkeit und das Körperspiel der ­Maschinen ergänzt die vorangegangenen Texte mit grundlegenden medienphilo­sophi­ schen Überlegungen zum Verhältnis von Körperlichkeit und Maschine. ­Harenberg rekonstruiert Maschinen-Erzählungen seit dem 17.  Jahrhundert bis zur Erfindung elektronischer Musik, die den realen Körper aus dem »Zwangsverhältnis instrumentaler Klangerzeugung« entlässt, wodurch er nun medien­praktisch wie kompositorisch ebenso gestaltet und inszeniert werden kann, wie die zum Gegenüber emanzipierten elektrischen und elektrifizierten Maschinen. Am Beispiel des von Thaddeus Cahill um 1900 erfundenen Telharmoniums, das erstmals dazu in der Lage war, rein elek­ tronisch erzeugte Klänge zu erzeugen, demonstriert Harenberg, dass dieses Gerät nicht primär als Musikinstrument, sondern als Teil eines komplexen Medienverbunds aus elektronischer Klangerzeugung, Telefonie sowie Grammophon- und Live-Zuspielungen erfunden wurde. Darüber hinaus gibt er einen Ausblick auf aktuelle Körperdiskurse digitaler Medien und konstatiert eine Renaissance der Leiblichkeit in Bezug auf die Maschinen. So lässt sich beobachten, wie heute Körper und technische Medien in vielfältigen wechselseitigen Transformationen miteinander künstlerisch kooperieren. Dabei spielen die ästhetischen Setzungen dieser Kooperationen und ihrer Beziehungen die vorherrschende Rolle, unabhängig davon, ob sie für ihre Realisierung auf Computerprogramme, traditionelle Instrumente oder historische Klangmaschinen in beliebigen Verknüpfungen zurückgreifen.

M usik alische M edienpr a xis in historischen Z eitschrif ten Zeitschriften aus der Frühzeit der neuen Medien sind heute wichtige Primär­ quellen, die bedeutende Einblicke in die Medienpraxis der Zeit eröffnen. Claudia Thieße stellt in ihrem Beitrag die bislang wenig untersuchte Grammophonzeitschrift Die Stimme seines Herrn, Hauszeitschrift der Deutschen Grammophon AG, von ihrem ersten Erscheinen 1909 bis zur kriegsbedingten vorläufigen Einstellung 1918 als Spiegel der damaligen Medienpraxis vor. Dabei fragt sie: Wer hörte wie wo welche Musik? Wie war die Hörsituation, wer waren die Hörer und welche die beliebtesten Aufnahmen? Die Ausführungen machen deutlich, dass Verwendungsmöglichkeiten, Handhabung und Gebrauch des neuen »Instruments« in seinen Anfangsjahren keineswegs gesichert waren und sich erst in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als kulturelle Praxisformen etablierten.

Spiel (mit) der Maschine. Eine Einführung

Janina Klassens Beitrag Radio zum Blättern. Spotlights auf die Rundfunkzeitschrift »Die Funk-Stunde« (1924–1929) beschäftigt sich am Beispiel der im Titel genannten Zeitschrift in ganz grundsätzlicher Weise mit Methodenfragen zur Auswertung historischer Zeitschriften und entfaltet dafür ein Instrumentarium, das Erkenntnisse aus bild-, kommunikations- und medientheoretischen Ansätzen einbezieht. Die Hauptthese ihres Beitrags besagt, die Funk-Stunde habe eine wichtige Rolle gespielt, um das Radio, das in seiner Anfangszeit eher den Status eines »technischen Männerspielzeugs« innehatte, im privaten, familiären Raum zu etablieren. Dass und mit welchen Strategien dabei Frauen gezielt angesprochen wurden, um sie als Hörerinnen und Käuferinnen zu gewinnen, belegt Klassen insbesondere am Beispiel des Kopfhörerdiskurses.

M usik alische M edienpr a xis im H orizont einer Ä sthe tik des E igenwerts der M edien Der letzte Teil des Bandes widmet sich dem für die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts so bedeutsamen medienästhetischen Umschwung, der die neuen technischen Entwicklungen künstlerisch umdeutet und für klangproduktive Prozesse erschließt. Dass Reproduktionsmedien als Produktionsmedien eingesetzt wurden, gehörte zu den ästhetischen Strategien der musikalischen Avantgarden der ersten Jahrhunderthälfte und entsprang jener Einsicht in den Eigenwert des Medialen, den bereits Dieter Daniels in seinem Beitrag thematisierte. Paul Hindemith war einer der ersten Künstler überhaupt, der künstlerische Experimente mit allen vier im vorliegenden Band thematischen Medien durchführte und dabei neue medienästhetische Diskurse aufgriff. Drei Beiträge beschäftigen sich mit jenen Aspekten seines Schaffens. Susanne Schaal-Gotthardt gibt in ihrem Beitrag »Immer Neues ans Licht bringen«. Paul Hindemith und die (neuen) Medien einen Überblick über medienspezifische künstlerische Ansätze des Komponisten. Hindemith befasste sich mit dem neuen Medium Film und den Problemen adäquater Filmmusik ebenso wie mit den Bedingungen von Musik für Radio, ganz im Sinne eines Eigenwerts der Medien; er schrieb Stücke für mechanische Orgel und unternahm 1930 einen Versuch mit grammophonplatteneigener Musik. Die Auseinandersetzung mit den neuen Medien hatte in den 1920er-Jahren auch Auswirkungen auf sein Komponieren. Diese Auswirkungen diskutiert Andreas Münzmay in seinem Beitrag Ausweitung der Machbarkeitszone. Ästhetisch-technische Modernitätskonzepte von Film und Partitur in Arnold Fancks und Paul Hindemiths »In Sturm und Eis« (1921). Mit seinen detaillierten Betrachtungen von Hindemiths Musik zu Arnold Fancks Film In Sturm und Eis, eine der frühesten Film-Originalkompositionen überhaupt, belegt Münzmay, wie Hindemith bestrebt ist, Film und

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Musik in ihren Eigenschaften als Zeitkünste im Horizont einer Ästhetik der Maschine zur Deckung zu bringen. Der Hochalpinismus wird in Fancks Film als eine Geschichte des ›Kampfes‹ des Menschen mit den Bergen exponiert; die Bewältigung der Anforderungen geschieht durch den beharrlich und wie eine Maschine sich an das Berechnete, Technische und Funktionale haltenden modernen Menschen. Münzmay zeigt, dass Hindemith den gesamten Film in einer ununterbrochenen, rhythmisch und formal sehr streng gefassten Bewegung musikalisiert, die nur dann aussetzt, wenn auch die Filmmaschine zum Spulentausch ruht, und dass er die Partitur auf der Basis einer genauen Vermessung des Films (in Metern bzw. Minuten) mit dem Ziel der Synchronizität anlegt. Damit aber, so Münzmay, komponiert er euphorisch die (Mensch-) Maschinen, die der Film präsentiert und die den Film herstellen. Martin Elste ist es zu verdanken, dass wertvolle Tondokumente, auf denen Hindemiths frühe Experimente mit Grammophonplatten festgehalten sind, bis heute erhalten blieben. Sie sind die ersten belegbaren künstlerischen Arbeiten, die Klangaufnahmen nicht klangreproduktiv, sondern klangproduktiv verwenden. Auch wenn der künstlerische Anspruch dieser Stücke gering ist, markieren sie dennoch den Beginn der für das 20. Jahrhundert so bedeutsamen Entwicklung, die Rolf Großmann einmal »Emanzipation medientechnischen Materials von seiner Funktion authentischer Abbildung« 8 genannt hat. Der nächste Komponist wird erst 1939 Schallplatten als Klangerzeuger einsetzen, es ist John Cage mit Imaginary Landscapes I. In seinem Beitrag Hindemiths Versuche »grammophonplatteneigener Stücke« im Kontext einer Ideengeschichte der Mechanischen Musik im 20. Jahrhundert, einer stark überarbeiteten und ergänzten Fassung eines bereits 1996 erschienen Textes, erörtert Elste ausführlich Hindemiths Auseinandersetzung mit dem für die 1920er-Jahre zentralen ästhetischen Kampf begriff der »mechanischen Musik«, der insbesondere von Hans Heinz Stuckenschmidt propagiert wurde. Darüber hinaus stellt er die grammophonplatteneigenen Stücke Hindemiths vor, berichtet über die abenteuerliche Geschichte der Rettung der Tondokumente und diskutiert ihre Herstellungsprozesse und Aufführungssituation. Hindemith ist zwar der erste Komponist, von dem »grammophonplatten­ eigene Stücke« überliefert sind, die ästhetische Idee, Reproduktionsmedien klangproduktiv einzusetzen, wurde jedoch erstmals von dem Bildenden Künstler László Moholy-Nagy formuliert. Obgleich dessen Versuche, Klänge direkt in Platten einzuritzen, als gescheitert betrachtet werden dürfen, haben sich die damit verbundenen künstlerischen Vorstellungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts nachhaltig auf die Künste ausgewirkt. Daniel Gethmann setzt sich in 8 | Rolf Großmann: »Signal, Material, Sampling«, in: Sabine Sanio/Christian Scheib (Hg.), Übertragung – Transfer – Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen, Bielefeld 2004, S. 91–110.

Spiel (mit) der Maschine. Eine Einführung

seinem Beitrag Das Grammophon als Instrument. László Moholy-Nagy, Oskar Messter und die Gestaltung einer gezeichneten Phonoschrift für Schallplatten zum einen detailliert mit Moholy-Nagys ästhetischem Programm auseinander, darüber hinaus erläutert er eine bislang wenig bekannte medienhistorische Vorgeschichte, die auf Querverbindungen zum Medium Film verweist. Rolf Großmann gibt in seinem Beitrag Gespielte Medien und die Anfänge ›phonographischer Arbeit‹ einen weit gespannten Überblick über die Entwicklungen eines »Musizierens mit Medienapparaten der Reproduktion«, das sich bis in die Gegenwart hinein in vielen musikalischen Bereichen etabliert hat. Dabei stellt er die Frage, welchen künstlerischen Sinn es macht, mit Medienmaschinen, denen eine musikalische Struktur bereits eingeschrieben wurde – wie z. B. Reproduktionsklavier, Grammophon, DJ-Set, digitalem Sampler oder Live-Sequenzer –, quasi instrumental zu spielen. Dies führt ihn zu grundsätzlichen Reflexionen über den Wandel musikalischer Schriftlichkeit, die sich im Kontext jener gespielten Medien zu einer technischen ›Schriftlichkeit‹ modifiziert hat. Im Rahmen dieser Überlegungen reflektiert Großmann erstmals aus medienästhetischer Perspektive kompositorische Produktionsverfahren des italienischen Komponisten Giacinto Scelsi, die aus einem komplexen Prozess der Klangaufzeichnung, Bearbeitung und traditioneller Musikschriftlichkeit bestehen. Großmanns Ausführungen münden in die Diskussion des von ihm neu eingeführten Terminus der »phonographischen Arbeit«, als eines neuen Modells von Komposition, das im Medium technischer Klangschrift gestaltet. Komponieren mit den Medien erscheint in dieser Sicht als qualitativ neues, technikkulturelles Moment der auditiven Gegenwartskultur, in der das produzierende Subjekt in der »technologischen Bedingung« einer veränderten Welt neu verortet wird. »Spiel (mit) der Maschine«: In vielen Texten des Bandes taucht der im Titel genannte Begriff der »Maschine« auf  – mit durchaus unterschiedlichen Bedeutungen. So wird der Maschinenbegriff einerseits ganz im Sinne des geläufigen Modernisierungsnarrativs verwendet und auf die neu entwickelten technischen Objekte der musikalischen Reproduktion und Produktion von Klang bezogen, die durch Rationalität, automatisches Funktionieren und ihre jeweilige materielle Realisierung charakterisiert sind. In diesem Sinn wird er etwa in den Diskursen der 1920er-Jahre gebraucht, in denen das Thema »Musik und Maschine« zu den zentralen, vieldiskutierten ästhetischen Fragestellungen gehörte9. Die Auseinandersetzungen kreisten vorwiegend um die Frage, ob aufgrund neuer technischer Möglichkeiten – etwa des Selbstspielklaviers  – menschliche Interpreten mit all ihren biologisch vorprogrammierten 9 | Vgl. dazu Martin Elstes Aufarbeitung der Diskussion um »mechanische Musik« in den 1920er-Jahren in diesem Band.

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Schwächen und Fehlbarkeiten durch einwandfrei funktionierende Apparate ersetzt werden können. Fluchtpunkt vieler Vorstellungen, die eine solche Entwicklung als zeitgemäß und musikalisch fortschrittlich begrüßten, war demnach ein Absolutsetzen des Automatismus der Maschine, ein »Spiel der Maschine« – ohne Beteiligung menschlicher Akteure. Die veränderte Betrachtungsperspektive des vorliegenden Bandes lässt jedoch noch eine andere Dimension des Maschinenbegriffs als die des historischen Modernisierungsdiskurses aufscheinen. Während im Rahmen der Entweder-Oder-Konstruktion der 1920er-Jahre mediale Praxisformen, in denen menschliche Akteure mit den neuen Apparaten zusammenwirken, gar nicht in den Blick geraten konnten, geht der vorliegende Band von der prinzipiellen Eingebundenheit technischen Geräts in Kontexte und Handlungszusammenhänge aus. Mithin liegt der Schwerpunkt nun eher auf dem »Spiel mit der Maschine«. Damit tritt an die Stelle der mittlerweile obsolet gewordenen Alternative »Mensch oder Maschine« die Betrachtung der neu sich generierenden Mensch-Maschine-Verbindungen als eines fluiden Praxisfeldes, innerhalb dessen die technischen Objekte als Medienverbünde in kulturelle Prozesse eingewoben sind. Damit aber wird eine ältere Bedeutung des Maschinenbegriffs aufgerufen: Hans Blumenberg hat darauf hingewiesen, dass dem älteren Ausdruck machina eine sehr viel weiter gefasste, weniger spezifische Bedeutung als dem modernen Maschinenbegriff eignet 10. In der Antike habe der Dualismus organischer und mechanischer Leitvorstellungen, wie er uns heute selbstverständlich und universal erscheine, nicht existiert. Erst im Zusammenhang der neuzeitlichen Technisierung sei »›Maschine‹ zu einem prägnanten Programmwort der Weltdeutung, zu einer das Organische in seiner seelenbedingten Eigenwesentlichkeit bestreitenden Metapher« 11 geworden. Verblüffenderweise stimmt jener prämoderne, weiter gefasste Begriff der Maschine mit dem der postmodernen Theoretiker Gilles Deleuze und Félix ­Guattari in hohem Maß überein, wie Henning Schmidgen bemerkt hat: Auch für sie bezeichnet der Begriff »nicht nur technische Objekte, wie sie aus der heutigen Alltags- und Lebenswelt bekannt sind (Geräte, Apparate, Automaten). ›Maschine‹ ist bei ihnen vielmehr zu verstehen als eine funktionierende Anordnung von heterogenen Teilen, als laufendes Arrangement, das auch technische Objekte umfassen kann.« 12 Dass der Maschinenbegriff in dem vorliegenden Band immer wieder zwischen jenen prämodernen, modernen und postmodernen Bedeutungsschich10 | Hans Blumenberg: »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960), S. 7–142. 11 | Ebd., S. 71. 12 | Henning Schmidgen: Das Unbewußte der Maschinen. Konzeptionen des Psychischen bei Guattari, Deleuze und Lacan, München 1997, S. 16.

Spiel (mit) der Maschine. Eine Einführung

ten changiert, ist durchaus erwünscht. »Spiel (mit) der Maschine!« kann demnach auch als Aufforderung an die Leser verstanden werden, die Medienmaschinen des 20. Jahrhunderts in immer neuen Zusammenhängen zu denken und zu verstehen. Möglicherweise gehört sogar die Einsicht, dass denkende (und ebenso praktische!) Spielräume im Umgang mit den Medien immer wieder neu erobert werden müssen, zu den Grundlagen eines angemessenen Medienverständnisses. Ohne die stets konstruktive Mitarbeit der Autoren wäre der vorliegende Band nicht zustande gekommen. Ihnen sei an dieser Stelle gedankt. Christine Wichmann vom transcript-Verlag war für alle Fragen immer zugänglich und hat die Entstehung des Bandes sachkundig begleitet. Auch ihr sei dafür gedankt. Ein Dank geht zudem an die Speyer’sche Hochschulstiftung, die freundlicherweise die Drucklegung des Bandes unterstützte. Ganz besonders herzlich bedanken möchte ich mich bei meiner Wissenschaftlichen Mitarbeiterin Leonie Storz. Mit unermüdlichem Engagement und mit größter Sorgfalt hat sie das Lektorat und die redaktionellen Arbeiten bis hin zur Erstellung des Registers durchgeführt. Zudem war sie eine kompetente Gesprächspartnerin, mit der ich viele inhaltliche Details besprechen konnte. Es ist mir ein großes Anliegen, an dieser Stelle dem Pianolisten Rex ­L awson noch einmal meinen Respekt und meinen Dank auszusprechen. Er hat die Frankfurter Tagung nicht nur mit einer unvergesslichen Konzertdarbietung – gemeinsam mit Musikern des Ensemble Modern – bereichert, sondern er ließ darüber hinaus mit seinen lebendigen Demonstrationen, gepaart mit immensem Fachwissen, die heute weitgehend unbekannte Interpretationspraxis am Kunstspielklavier für die Tagungsteilnehmer unmittelbar erlebbar werden. Frankfurt am Main, im Januar 2016 Marion Saxer

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Marion Saxer/Leonie Storz

M edienchronologie

1876– 1878

Selbstspielklavier

Phonographie

Patent für erste Notenrolle (1877) P. Ehrlich lässt sich eine Vorform der Notenrolle, dem Tonträger der mechanischen Musikinstrumente, patentieren.

Patent für Phonograph (1877) T. A. Edison meldet eine Maschine zum Patent an, die die Aufzeichnung von Schall auf Walzen ermöglicht.

1886/ 1887

Patent für Schallplatte (1887) E. Berliner erhält ein Patent für die Erfindung der Schallplatte und eines Abspielgerätes (später: Grammophon).

1895– 1897

»Pianola« (1895) Das Kunstspielklavier der Aeolian Company wird gebaut und kommt auf den Markt.

Erster Phonograph für den Heimgebrauch (1896) Die Firma Edisons entwickelt und vermark­ tet das Gerät »Home Model A« für den privaten Gebrauch.

1904– 1908

»Welte-Mignon« (1905) Das erste Reproduktionsklavier der Firma Welte kommt auf den Markt.

Beidseitig bespielbare Schallplatten (1904) Die Firma Odeon entwickelt und produziert beidseitig bespielbare Schallplatten.

1913/ 1914

Originalkomposition für Selbstspiel­ klavier (1914) P. A. Grainger schreibt die vermutlich erste Originalkomposition für ein 88-töniges Selbstspielklavier: Molly on the Shore.

Erste Aufnahme einer ungekürzten Sinfonie (1913) Das Berliner Philharmonische Orchester unter A. Nikisch nimmt Beethovens Symphonie Nr. 5 auf mehreren Platten auf – die Spieldauer einer Plattenseite betrug etwa vier Minuten.

1917– 1920

Étude pour Pianola (1917) I. Stravinsky komponiert im Auftrag der Aeolian Company das Werk für ein selbstspielendes Klavier.

Erste veröffentlichte Jazz-Aufnahme (1917) Bei der Firma Victor erscheint eine Auf­ nahme mit der Original Dixieland Jazz Band.

1920er

Niedergang des Selbstspielklaviers (Ende 1920er) Nach einem Aufschwung bis zur Mitte der 1920er-Jahre sind die Verkaufs- und Produktionszahlen am Ende des Jahrzehnts stark rückläufig.

Fragmentierung des Musikmarktes in Europa Der Markt wird in zielgruppenorientierte Repertoirelinien geteilt, die im Deutschen »U-« und »E-Musik« genannt werden. Produktion und Vertrieb von Walzen werden eingestellt (1929)

Medienchronologie

Film

Radio

Erfindung des »Zoopraxiskops« (1878) E. Muybridge erfindet einen Apparat zur Wiedergabe der Serienfotografie auf einer Leinwand.

Patent für Telefon (1876) A. G. Bell lässt sich das Telefon patentieren.

Erfindung des Rollfilms (1887) Erstmals ist es möglich, mehrere Bilder in dichter zeitlicher Abfolge aufzunehmen.

Übertragung elektromagnetischer Wellen (1886) H. Hertz gelingt die Übertragung elektromagnetischer Wellen von einem Sender zu einem Empfänger.

Kommerzielle Filmvorführung (1895) In Berlin werden von den Brüdern Sklada­ nowsky zum ersten Mal kurze Filme gegen Eintritt vorgeführt, die Brüder Lumière zeigen wenig später in Paris öffentlich Filme.

Entdeckung der drahtlosen Signalübertragung (1895) G. Marconi erhält dafür einen Nobelpreis.

Ende der »Jahrmarktkinos« (1907/1908) Die Jahrmarktkinos werden durch die Etablierung fester Spielstätten verdrängt.

Erste Funkübertragung von Sprache und Musik (1906) Die Übertragung gelingt R. A. Fessenden sechs Jahre nach der ersten drahtlosen Sprachübertragung.

Erste Handbücher für Stummfilmmusiker (1913) E. A. Ahern publiziert das Handbuch What and How to Play for Pictures für Klavier, J. S. ­Z amecniks veröffentlicht den Musikkatalog Sam Fox Moving Picture Music für Orchester. Patent für Lichttonverfahren (1920) J. Engl, J. Massolle und H. Vogt lassen ein Verfahren patentieren, bei dem die Synchronizität von Bild und Ton durch Aufnahme auf das selbe Trägermedium ermöglicht wird.

Erste Rundfunksendung in den USA (1920) In den USA findet die erste kommerzielle Rundfunksendung statt.

Erster Tonfilm (1927) Der von Warner Bros. produzierte Tonfilm in Spielfilmqualität The Jazz Singer mit Al Jolson wird als erster Tonfilm bezeichnet.

Erster Hörfunkprogrammdienst in Deutschland (1923) Am 29. Oktober 1923 nimmt die »Radio Stunde AG« aus den provisorischen Studioräumen des Berliner Vox-Hauses den ersten regelmäßigen und offiziellen Hörfunkprogrammdienst Deutschlands auf.

Ende der Stummfilmära (ab 1929) Umrüstung der Kinos in Deutschland auf den Tonfilm.

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Musikalische Medienpraxis im Kontext: Naturwissenschaft – Ästhetik – Ökonomie

Experimentalisierung des Hörens – Musik und Medien um 1900 Julia Kursell

Um 1900 entdecken die experimentellen Lebenswissenschaften im Klavierspiel ein Studienobjekt. Physiologie und Psychologie finden im Spiel des Instruments eine Situation vor, die den Anforderungen des Labors entgegenkommt: Klavierspielen ist eine weit verbreitete Praxis; es erfordert vielfältige und zugleich gut umschriebene motorische und kognitive Aktivitäten; und die Spieler üben immer schon eine Ausnahmesituation ein. Wer vor Publikum spielen kann, den wird auch ein Labor nicht erschrecken1. Wie bei allen Lebensvorgängen, denen sich die experimentellen Lebenswissenschaften zuwenden, ist auch bei der Untersuchung des Klavierspiels von entscheidender Bedeutung, dass geeignete Aufzeichnungsverfahren zur Verfügung stehen. Umgekehrt produzieren die neuen Verfahren, die als »graphische Methode« bezeichnet werden, auch eine forcierte Suche nach neuen Studienobjekten. Die folgenden Überlegungen nehmen von zwei Aufzeichnungsapparaturen für das Klavierspiel ihren Ausgang. Die erste Apparatur wird in einer 1 | Einen Überblick über die Geschichte der Performance-Forschung, vor allem am Klavier, gibt Reinhard Kopiez: »Aspekte der Performanceforschung«, in: Helga de la Motte-Haber (Hg.), Handbuch der Musikpsychologie, Laaber 1996, S. 505–587; Ders.: Lemma »Performanceforschung«, in: Helga de la Motte-Haber et al. (Hg.), Lexikon der Systematischen Musikwissenschaft, Laaber 2010, S. 365–370; darauf aufbauend der historische Überblick in Guerino Mazzola: Musical Performance – A ­C omprehensive Approach: Theory, Analytical Tools, and Case Studies, Heidelberg 2010, S.  11–20; für eine medienhistorische Analyse dieser Quellen vgl. Verf.: »Visualizing Piano Playing, 1890–1930«, in: Grey Room 43 (2011), S.  66–87; zum Klavierspiel als Situs des physiologischen und psychologischen Experimentierens vgl. auch Verf. (Hg.), Physiologie des Klaviers. Vorträge und Konzerte zur Wissenschaftsgeschichte der Musik (= Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint 366), Berlin 2009.

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Julia Kursell

Publikation aus dem Jahr 1896 beschrieben, also kurz bevor mit dem mechanischen Klavier ein Reproduktionsverfahren für Klaviermusik populär wird. Die französischen Experimentalpsychologen Alfred Binet und Jules Courtier untersuchen die Regelmäßigkeit des Spiels von Pianisten und fragen nach der Bewegungskoordination. Wie zu zeigen sein wird, macht ihr Verfahren eine Konvergenz der graphischen Methode mit den Vorgaben der Klavierpädagogik sichtbar. Als erstrebenswert gilt regelmäßiges Spiel, und nur die Regelmäßigkeit des Spiels erschließt sich wiederum der Aufzeichnungsmethode der beiden Psychologen. Die zweite Aufzeichnungsapparatur stellt der Psychologe Carl Seashore in seinem Buch Psychology of Music (1938) der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vor. Inzwischen hat die elektrische Schallaufzeichnung das mechanische Klavier bereits weitgehend verdrängt: Auch Klaviermusik, die zunächst die Aufnahmetechnik von Grammophon und Phonograph an die Grenzen des Möglichen führt, wird nun auf Schallplatte eingespielt und angehört. Als den entscheidenden Faktor im Klavierspiel identifiziert Seashore nun die Individualität, die er wiederum mittels seiner Aufzeichnungen zu erklären versucht. Obwohl er zu entschlüsseln glaubt, was das individuelle Spiel auszeichnet, öffnet sich in Seashores Argument ein Riss zwischen der Beschreibung, welche die Aufzeichnungstechnik ermöglicht, und einer Beschreibung, die vom Hören ausgeht. Ausgehend von einer Analyse der zwei Versuchsanordnungen von 1896 und 1938 wollen die nachfolgenden Ausführungen zeigen, dass am mechanischen Klavier eine Schulung des Gehörs stattgefunden hat, die das Hören auf neue und andere Klangeigenschaften gelenkt und die Erwartungen an das gute Spiel verschoben hat. Zwar wird in beiden Beispielen argumentiert, dass das Hören der Aufzeichnung unterlegen sei. Dennoch folgen Spielen, Hören und Forschen jeweils anderen Voraussetzungen, die Rückschlüsse auf die Rolle von Aufzeichnungs- und Abspielapparaturen für eine Geschichte des Hörens erlauben. Der Beitrag argumentiert in drei Schritten: Zunächst wird das Experiment aus dem Jahr 1896 vor dem Hintergrund der Klavierpädagogik des 19. Jahrhunderts und den physiologischen Aufzeichnungsmethoden vorgestellt. Dann wird ein Diskurswandel über das Klavierspiel entlang dreier Bauformen des mechanischen Klaviers nachgezeichnet. Schließlich wird gefragt, inwiefern in Seashores Experimente der 1930er-Jahre eine Reaktion auf das mechanische Klavier mit eingebaut ist. Den roten Faden bildet dabei der jeweilige Zugriff auf die Zeitverhältnisse im Spiel. Die Frage, ob ein Spieler es versteht, die musikalische Zeit zu beherrschen und zu gestalten und ob und auf welche Weise dies wiederum gehört wird, bestimmt sowohl die beiden Experimente als auch den Diskurs über das mechanische Klavier. An den Aushandlungsprozessen über die Zeitgestaltung und deren Bedeutung für ein gelingendes Klavierspiel, die

E xperimentalisierung des Hörens – Musik und Medien um 1900

anlässlich des mechanischen Klaviers stattgefunden haben, lässt sich, so die These dieses Beitrags, ein Wandel im Musikhören erkennen.

1. Die Psychologen Alfred Binet und Jules Courtier berichten 1896 in der Zeitschrift L’Année psychologique über eine Experimentalreihe zum Klavierspiel. Ihr Aufsatz, der den Titel Recherches graphiques sur la musique 2 trägt, gilt Bewegungsstudien, die am Klavier vorgenommen werden. Sie stellen die Frage, mit welcher Genauigkeit das Klavierspiel ausgeführt werden kann und welche Kontrollfunktionen das Gehör beim Spielen übernimmt. Für ihre Studien haben sie ein Gerät entwickelt, das weder den Klang des Spiels aufzeichnet, noch die Bewegungen der Spieler unmittelbar registriert, sondern das an der Klaviermechanik ansetzt. Der »Apparat zur Aufzeichnung des Fingergebrauchs von Pianisten«3 (siehe Abbildung 1) ist ein gewöhnliches Klavier, das um eine zusätzliche Registrierapparatur erweitert worden ist. Diese besteht aus zwei Komponenten: einem pneumatischen Aufzeichnungsmechanismus und einer Schreibvorrichtung. Der wesentliche Bestandteil des Aufzeichnungsmechanismus ist ein dünner Gummischlauch, der unterhalb der Tasten verläuft. Der Schlauch empfängt von den Tasten Stöße, die er als Luftstöße an die Schreibvorrichtung weiterleitet. Diese wiederum zeichnet auf eine durchlaufende Spule mit Endlospapier mit einem Tintenstift eine Linie. Der Stift wird durch die Luftstöße bewegt, und so resultiert schließlich die Kurve, deren Form die Stärke und die Dauer der Tastenanschläge registriert. Die Idee, einen pneumatischen Mechanismus an ein Tasteninstrument zu koppeln, war bereits zuvor von dem wichtigsten Vertreter der graphischen Methode in Frankreich, dem Physiologen Étienne-Jules Marey, vorgestellt worden4. Anlässlich einer Vorführung seiner »graphischen Methode« an der Sorbonne hatte er einen entsprechenden Aufzeichnungsmechanismus in ein Harmonium integriert und demonstrierte nun die Möglichkeit der Aufzeichnung, das soeben Gehörte sichtbar zu machen. Das Harmonium verwendet allerdings selbst bereits für die Tonerzeugung ein pneumatisches Druck- oder Saugluftsystem. Daran wiederum wurde der Aufzeichnungsapparat angelegt, der Streifen auf einem Registriermedium hinterließ, solange ein Ton gespielt wurde (siehe Abbildung 2). Die Spuren auf der Aufzeichnung machen für je2 | A[lfred] Binet/Jules Courtier: »Recherches graphiques sur la musique«, in: L’Année Psychologique 2 (1896), S. 201–222. Die Übersetzungen aus dem Französischen und Russischen stammen, wo nicht anders vermerkt, von der Verfasserin. 3 | Ebd., S. 202. 4 | É[tienne-] J[ules] Marey: Le mouvement, Paris 1894, S. 11–13.

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Julia Kursell Abb. 1: Apparat zur Aufzeichnung des Fingergebrauchs bei Pianisten. Quelle: A. Binet/ J. Courtier: »Recherches graphiques sur la musique«, S. 202.

den Ton innerhalb von einer Undezime sichtbar, ab wann und wie lange die entsprechende Taste gehalten wurde. Allerdings blieb vorerst unklar, welchen Mehrwert diese Aufzeichnung gegenüber der gewöhnlichen musikalischen Notation brachte, die Marey seinerseits als den Vorläufer der graphischen Notation betrachtete5. In einer Sammlung seiner Vorlesungen am Collège de ­France über seine Arbeit mit der graphischen Methode heißt es: »Es gibt schon lange eine graphische Ausdrucksweise für sehr flüchtige, sehr feine und sehr komplexe Bewegungen, die keine Sprache auszudrücken in der Lage wäre. Diese bewunderungswürdige Schrift wird in allen Ländern gelesen: es ist eine Universal­ sprache im eigentlichen Sinne. Ich meine die musikalische Notation.« 6

5 | Étienne-Jules Marey: La méthode graphique dans les sciences expérimentales et principalement en physiologie et en médecine, Paris 1878. Zur graphischen Methode vgl. Soraya de Chadarevian: »Graphical method and discipline: self-recording instruments in nineteenth-century physiology«, in: Studies in History and Philosophy of Science 24/2 (1993), S. 267–91; Henning Schmidgen: Die Helmholtz-Kurven. Auf der Spur der verlorenen Zeit, Berlin 2009; Robert Brain: The Pulse of Modernism. Physiological Aesthetics in Fin-de-Siècle Europe, Seattle/London 2015. 6 | É[tienne]-J[ules] Marey: Du mouvement dans les fonctions de la vie. Leçons faites au Collège de France, Paris 1868, S. 93.

E xperimentalisierung des Hörens – Musik und Medien um 1900

Abb. 2: Aufzeichnung des Spiels auf einem Harmonium. Quelle: É.-J. Marey: Le mouvement, S. 13; Scan: Bibliothèque nationale de France.

Auch die traditionelle musikalische Notation verzeichne, so Marey, mehrere gleichzeitige Geschehnisse in einer Art Koordinatensystem, das auf seiner Längsachse die Tonhöhe anträgt und auf seiner Querachse den Zeitverlauf. Der Wunsch, die tonalen Zusammenhänge sichtbar zu machen einerseits, und Erfordernisse der Platzersparnis andererseits hätten jedoch verhindert, dass das Koordinatensystem der Musik die Frequenz und die Dauer der musikalischen Ereignisse direkt auf den beiden Achsen antrage. Stattdessen gelangten Symbole zum Einsatz, die mehr und anderes sichtbar machten als die schiere Synchronizität der Ereignisse. Binet und Courtier wenden in ihrer Studie zum Klavierspiel die graphische Methode auf die »Psychologie der Bewegungen« an. Sie gehen dabei von der Überlegung aus, dass das Gehör nicht hinreicht, um zu kontrollieren, ob die Notation korrekt umgesetzt wird: »So subtil das musikalische Gehör auch sein mag, es erfasst manche kleinteiligen und schnellen Details beim Spiel der Stücke nicht, von denen es nur einen subjektiven und vergänglichen Eindruck vermittelt.« 7 Im Mittelpunkt steht für sie die Frage, wie regelmäßig der Anschlag erfolgte, und sie diskutieren dazu eine große Anzahl von aufgezeichneten Anschlagsfolgen. Das Beispiel eines Trillers, der von einem Anfänger ausgeführt wird, zeigt, wie die Autoren erläutern, die mangelnde Koordination und ungleiche Kraft der Finger, kurz: eine Unregelmäßigkeit des Spiels. Von einem versierten Pianisten ausgeführt zeigt die Aufzeichnung eines Trillers hingegen eine regelmäßige Bewegungsfolge, die auf die entsprechenden physischen Bedingungen, vor allem aber auf die gelingende Koordination und Kontrolle der Bewegungen hinweist (siehe Abbildungen 3a und 3b). Die Forschungen, die Binet und Courtier an solche Versuchsanordnungen wie die vergleichende Aufzeichnung einer pianistischen Spielfigur knüpfen, 7 | A. Binet/J. Courtier: »Recherches graphiques sur la musique«, S. 201.

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Abb. 3a: »Schlechter Triller«, von einem Anfänger ausgeführt. Quelle: A. Binet/J. Courtier: »Recherches graphiques sur la musique«, S. 213.

verfolgen das Ziel, in das psychologische Studium von Bewegungen ein neues Komplexitätsniveau einzuführen, das dennoch die Versuchspersonen vor vertraute Aufgaben stellt. Früheren experimentalpsychologischen Studien zur Bewegungskoordination gegenüber verhalten sie sich kritisch. Den Probanden waren oftmals zu einfache oder zu schwierige Aufgaben gestellt worden, die nach Meinung von Binet und Courtier keine Rückschlüsse auf die Bewegungskoordination in gewöhnlichen Alltagssituationen mehr erlaubten. Das Klavierspiel schaffe hier Abhilfe, denn es stellt die Versuchspersonen vor eine Situation, die immer schon unter Sonderbedingungen ausgeübt wird. Mit einer Beeinträchtigung der Versuchspersonen sei kaum zu rechnen, zumal der Gummischlauch unter den Tasten für die Spieler keine merkliche Veränderung bewirke. Das Klavierspiel kann im Labor insofern sowohl in seiner Vertrautheit als auch in seiner Komplexität eingeholt werden. Das Klavierspiel bietet den psychologischen Bewegungsstudien aber noch weitere Vorzüge, die Binet und Courtier als eine pädagogische und eine künstlerische Zielsetzung bezeichnen. Ein pädagogisch relevanter Aspekt besteht ihrer Ansicht nach darin, dass der Unterricht im Klavierspiel es erfordere, die Ausführungen von Bewegungen mit dem Gehör zu kontrollieren und die Gehör­eindrücke zu versprachlichen. Das wirft jedoch die Frage auf, ob Gehör und Sprache überhaupt hinreichend genaue Auskunft über die tatsächlich vorliegenden Koordinationsfähigkeiten eines Schülers zu geben im Stande seien. Einerseits werde das musikalische Ohr leicht getäuscht über die Genauigkeit der Ausführung. Häufig sei zu beobachten gewesen, dass dem Spieler oder einem Zuhörer als regelmäßig erschien, was sich in der Aufzeichnung als verbesserungsfähig erwies. Andererseits aber ermangele es auch erfahrenen Päda­gogen an einem geeigneten Vokabular, um die Mängel des schlechten Spiels zu erfassen. Sprachlichen Umschreibungen wie »verschwommen« (brouillé) oder »wattig« (cottoneux)8 seien die Kurven vorzuziehen, die dem Spieler genaue Hinweise über seine Schwächen gäben. So habe ein Pianist 8 | A. Binet/J. Courtier: »Recherches graphiques sur la musique«, S. 203.

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Abb. 3b: »Triller, von einem Klavierlehrer mit Zeige- und Mittelfinger ausgeführt«. Quelle: A. Binet/J. Courtier: »Recherches graphiques sur la musique«, S. 213.

beim Anblick der Kurven ausgerufen: »Dies ist ein Beichtstuhl für den Pianisten.«9 Nichts bleibe dem Aufzeichnungsapparat verborgen. Einen künstlerisch relevanten Aspekt ihrer Studie sehen Binet und Courtier darin, dass die Aufzeichnungen als eine Codierung von Spielanweisungen zu gebrauchen seien. Die musikalische Notation erweise sich oft genug als nicht hinreichend, um die Intentionen eines Komponisten zu übermitteln. Mehrere Personen könnten dasselbe Stück mit erheblichen Abweichungen vortragen, obwohl sie dem Notentext gegenüber absolute Treue wahrten. »Es wäre sicherlich von unschätzbarem Wert,« so spekulieren die beiden, »wenn es möglich wäre, eine Spur [tracé] des Autors selbst aufzuzeichnen.« 10 Sie gehen nicht darauf ein, dass der Komponist über entsprechende Spielfähigkeiten verfügen müsste. Ein Hilfsmittel, das es Komponisten endlich erlauben würde, ihre Intentionen mit der größten Genauigkeit festzuhalten, sei allemal willkommen. Die graphische Methode, so schließen die Psychologen, leiste dies auf die Millisekunde genau. In der Studie von Binet und Courtier sind ein Diskurs über das Klavierspiel und eine psychophysiologische Experimentalanordnung eng miteinander verknüpft. Auf der einen Seite steht die Forderung an den Klavierspieler, eine möglichst hohe Regelmäßigkeit seines Spiels anzustreben. Regelmäßigkeit gilt immer noch als ein Kriterium für gutes Spiel. Sie ist der Gegenstand zahlloser Studienwerke und Etüden, die das 19. Jahrhundert hindurch entwickelt wurden und die Klavierpädagogik maßgeblich prägten. Auf der anderen Seite steht die graphische Aufzeichnungsmethode, die eine Validität der wissenschaftlichen Aussagen in den psychologischen Experimenten garantiert, weil sie eine materielle und zugleich entzifferbare Spur der untersuchten Vorgänge herstellt. Von dieser Spur erhoffen sich die Experimentatoren genauere Auskünfte über die verzeichneten Phänomene, als sie der menschlichen Wahrnehmung und der Kommunikation mit sprachlichen Mitteln zugänglich sind. 9 | A. Binet/J. Courtier: »Recherches graphiques sur la musique«, S. 203. 10 | Ebd., S. 204.

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Entscheidend ist aber der dritte, von Binet und Courtier »künstlerisch« genannte Aspekt ihres Experiments. Wenn es gelänge, das Spiel des Komponisten aufzuzeichnen, dann wäre damit eine eindeutige Referenz auf die Intentionen des Komponisten gesichert. Während die herkömmliche Notation verschiedene Lesarten und Deutungen zulasse, referiere die Spur eineindeutig auf das, was sie verzeichnet. Wäre ein Komponist in der Lage, sich einer solchen Spur in Ergänzung zur herkömmlichen Notation zu bedienen, dann wäre auch den abweichenden Lektüren ein Ende bereitet, die stets die Intention des Komponisten verfälschten. Binet und Courtier formulieren diesen Gedanken nicht in der Kategorie einer wieder abspielbaren Aufzeichnung. Diese Möglichkeit besteht zwar, nicht aber eine Hörweise, die systematisch wieder abspielbare Aufzeichnungen gebrauchte, um darin Unterschiede zu entdecken. Ihr Aufzeichnungsverfahren könne dazu dienen, die Genauigkeit der herkömmlichen Notation zu verfeinern. Es bleibt für Binet und Courtier aber dabei, dass sich die Aufzeichnung, wenn sie überhaupt einen neuerlich erklingenden Schall adressieren kann, an einen Spieler richten muss. Die Experimentalpsychologen schlagen letztlich vor, die graphische Methode als eine zusätzliche Form der Notation in das Klavierspiel einzuführen. Sie soll zur qualitativen Verbesserung des Klavierspiels und zur Schulung der Pädagogen beitragen, die mit ihrer Hilfe allmählich erlernen, die Qualität des Spiels richtig einzuschätzen. Und sie soll garantieren, dass Pianisten die Stücke korrekt spielen, nämlich so, wie dies vom Komponisten intendiert wurde. Die graphische Methode soll damit in das Klavierspiel einwandern und es zu einem besseren Hilfsmittel der Reproduktion von Musik oder anders gesagt: zu einem Medium machen.

2. Kurz vor der Jahrhundertwende wird das Klavier auf ganz andere Weise zu einem Reproduktionsmedium entwickelt: Mechanische Klaviere geben Musik ohne einen menschlichen Spieler wieder,11 die Utopie einer eindeutigen Schrift scheint im mechanischen Klavier verwirklicht. Die Codierung der Musik ist auf den Papierrollen als Abfolge von Stanzlöchern gespeichert, die einen pneumatischen Mechanismus steuern, der wiederum das Spiel in Gang setzt. Die Pneumatik, die in zahlreichen Varianten graphischer Aufzeichnungsgeräte der Registrierung von Bewegungen und im Harmonium der Tonerzeugung diente, wird nun auch zur mechanischen Bewegungssteuerung genutzt. Im Laufe der Entwicklung entstehen zwei Typen von selbstspielenden Mechanis11 | Eine Erläuterung der Begriffe Selbstspiel-, Kunstspiel- und Reproduktionsklavier sowie weiterer Terminologien gibt Kai Köpp im ersten Teil seines Artikels in diesem Band.

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men. Entweder der Bewegungsmechanismus ist in das Instrument selbst eingebaut – die Tasten sind für den mechanischen Spielvorgang dann im Grunde unnötig – oder aber das Spielgerät kann als sogenannter Vorsetzer an ein beliebiges Klavier herangeschoben werden und schlägt dann mit jeweils einem Filzfinger pro Taste anstelle eines menschlichen Spielers dessen Tasten an. In beiden Fällen erfolgt die Steuerung nach demselben pneumatischen Prinzip mittels der gestanzten Papierrollen12 . Mit dieser technischen Neuerung ist die Frage aufgeworfen, was überhaupt am Klavierspiel codierbar ist. Entlang dieser Frage können drei Etappen in der Baugeschichte der mechanischen Klaviere unterschieden werden13. In einer ersten Phase wird auf die Papierrollen die musikalische Notation als geome­ trische Anordnung der Luftlöcher gestanzt, deren Maßgabe eine Übertragung exakter Zeitverhältnisse ist. Die Instrumente spielen diese Übertragung ohne weitere Manipulationen ab. Mechanische Klaviere dieser Bauart kommen in den 1880er-Jahren auf den Markt. Sie setzen das Prinzip der Spielautomaten fort, das sie lediglich dahingehend erweitern, dass es sich bei der Spielvorrichtung um ein Klavier handelt. Als eine zweite Phase lässt sich der Bau von Instrumenten bestimmen, die eine Manipulation des Durchlauftempos der Rollen erlauben. Sie lässt sich mit Instrumenten wie dem 1895 von der Aeolian Company präsentierten Pianola und dem Phonola der Firma Hupfeld aus dem Jahr 1902 ansetzen. Beide Firmen vermarkten ihre Instrumente in umfänglichen Werbekampagnen. Nach einer Reihe technischer Nachbesserungen erlauben diese Instrumente es schließlich, sowohl die Durchlaufgeschwindigkeit während des Abspielens der Rollen als auch in gewissem Grade die Intensität des Anschlags zu variieren. Diese neuen Instrumente setzen zwar keine Fingerfertigkeit voraus, aber sie beanspruchen gleichwohl, einen musikalischen Vortrag hörbar zu machen. Dass der Erwerb der Fingerfertigkeit auch mit einer Schulung in musikalischen Grundbegriffen gekoppelt sein konnte, wird ersichtlich, wenn die Spieler ohne diesen langwierigen Prozess mit einer musikalischen Gestaltung der ablaufenden Töne konfrontiert sind. Das zieht wiederum die Publikation von Gebrauchsanweisungen für die »Pianolisten« und »Phonolisten« nach sich, die es sich nicht zuletzt zur Aufgabe machen, eine Schulung des Hörens bereitzustellen.

12 | Zur Geschichte des mechanischen Klaviers vgl. Arthur W. J. G. Ord-Hume: Pianola. The History of the Self-Playing Piano, London u. a. 1984. 13 | Diese Einteilung in drei Phasen übernehme ich von Peter Hagmann: Das WelteMignon-Klavier, die Welte-Philharmonie-Orgel und die Anfänge der Reproduktion von Musik, Frankfurt 1984. Sie bezeichnet über den Moment der Erfindung bzw. Patentierung hinaus keine chronologische Folge, da die Phasen, in denen die jeweiligen Instrumente gebaut und verkauft werden, stark überlappen.

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Vor allem im englischsprachigen Raum sind solche Anweisungen anzutreffen, die sich zunächst an den »player-pianist« richten. Sie umfassen zumeist Hinweise darauf, was es an der Musik überhaupt wertzuschätzen gelte, wie etwa William Braid Whites The Player-Pianist. A Guide to the Appreciation and Interpretation of Music Through the Medium of the Player Piano (1910)14 . Ein dergestalt geschulter Spieler soll in die Lage versetzt werden, den regelmäßigen Durchlauf der Rolle angemessen aufzulockern und ihn durch Beschleunigung oder Änderung der Lautstärke individuell zu gestalten. Ein Teil der Steuerung ist damit wieder einem menschlichen Spieler anvertraut, der sie gezielt als Abweichung vom regelmäßigen Durchlauf der Stanzrolle umsetzt. Nur wenige Jahre nach Pianola und Phonola kommt mit dem Mignon-­ Klavier der Firma Welte 1905 ein erstes Reproduktionsklavier auf den Markt. Damit beginnt eine dritte Bauphase mechanischer Klaviere. Das Problem der übergenauen Regelmäßigkeit im Durchlauf der Rollen ist im Reproduktionsklavier auf ganz andere Weise gelöst als in Phonola und Pianola, nämlich indem bei einem Aufnahmevorgang die zeitliche Abfolge eines real erfolgten Spielvorgangs aufgezeichnet und diese Aufzeichnung dann als Vorlage zum Stanzen der Rolle verwendet wird. Die Töne werden – abgesehen von allfälligen Nachbearbeitungen – folglich in derjenigen Zeitfolge wieder abgespielt, wie sie sich zuvor im Spiel von etwa Theodor Leschetizky, Ignacy Paderewski oder Sergej Rachmaninov ereignet hat 15. Die Codierung der zeitlichen Organisation ist damit dem menschlichen Spieler überantwortet, aber sie ist zugleich eineindeutig auf der Rolle fixiert, die nach dem Modell der graphischen Methode beschrieben worden ist und maschinell ausgelesen wird. Namhafte Pianisten werden in der Folge von den Herstellern der Instrumente unter Vertrag genommen. Sie spielen exklusiv für jeweils eine Firma ihre Interpretationen der Klaviermusik ein, und der Besitzer eines Abspiel­ geräts kann – so werden diese »Künstlerrollen« beworben – das Spiel des Meisterpianisten im eigenen Wohnzimmer und auf dem eigenen Instrument hören. Dazu gehört ein entsprechendes Abspielgerät, das entweder als Vor14 | William Braid White: The Player-Pianist. A Guide to the Appreciation and Interpretation of Music Through the Medium of the Player-Piano, New York 1910. Siehe auch Gustav Kobbé: The Pianolist. A Guide for Pianola Players, London 1908; Fred James Hill: Musical Expression Through the Player Piano, Chicago 1913. Schließlich lassen sich die Arbeiten von Percy Scholes hier einreihen. So führt sein Buch A Listener’s History of Music im Untertitel jeweils die Benutzer der gängigen Möglichkeiten an, Musik zu hören: »a book for any concert-goer, pianolist or gramophonist or radio listener«. Der Radio­h örer fehlt in den ersten Auflagen, während der Pianolist in späteren Auflagen wegfällt. 15 | Zur Geschichte des Reproduktionsklaviers vgl. P. Hagmann: Das Welte-MignonKlavier.

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setzer vor einem bereits vorhandenen Instrument aufgebaut wird, oder aber das Abspielgerät ist in ein vollständiges Klavier eingebaut, das zumeist auch auf gewöhnliche Weise spielbar ist. Auch diese Instrumente werden intensiv beworben und erhalten dabei Unterstützung von den traditionellen Klavierbaufirmen. Denn auch die Einspielung auf der Papierrolle wird desto besser wiedergegeben, je höher die Qualität des Instruments ist.

3. Die ersten Reaktionen auf die mechanischen Klaviere, die nicht mehr nur bloße Spielautomaten sein sollen, sondern zu Wiedergabeinstrumenten für Klaviermusik geworden sind, kreisen um die Unterschiede zwischen dem menschlichen und dem mechanischen Spiel. Das Problem des unbeseelten Spiels, das die Instrumente der ersten Bauphase aufgeworfen hatten, scheint mit der He­raufkunft der manipulierbaren Instrumente und vollends mit dem Reproduktionsklavier überwunden. Die Zeitschrift für Instrumentenbau veröffentlicht eine enthusiastische Rezension eines Konzerts, in dem das ­Mignon-Klavier der Firma Welte vorgestellt wurde. Als der entscheidende Faktor des menschlichen, und das heißt hier künstlerisch gestalteten Spiels wird darin der Anschlag des Pianisten benannt: »Wie unendlich mannigfach versteht der künstlerisch intelligente Vortragende den Ton des Klaviers zu färben, ihn brillieren zu lassen und wieder abzuschattieren! Das alles durch die wechselnde Manier des Anschlags. Bald fordert die Wucht des Ausdrucks energische Kraftentfaltung, bald gebietet die Poesie einer duftigen Stelle, die Taste wie liebkosend zu streicheln usw. Bis jetzt war es nicht möglich, dieses – man möchte sagen Divinatorische irgendwie festzuhalten. Es rauschte vorüber, verklang und war verloren.«16

Die hier benannten Qualitäten des menschlichen Spiels sind nun aufgezeichnet und einer Wiedergabe verfügbar gemacht worden. »Dieses Instrument scheint mit einer Seele begabt zu sein«,17 schließt der Autor und projiziert den Garanten der Individualität – eine Seele – auf das mechanische Instrument 18. Hörbar wird die Individualität im Anschlag, wie dieser Rezensent meint. Als »divinatorisch« ist der Anschlag ihm zufolge in dreierlei Hinsicht zu be16 | P[aul] D[aehne]: »Neue Künstler-Aufnahmen für das Reproduktionsklavier ›Mignon‹«, in: Zeitschrift für Instrumentenbau 26 (1905/1906), S. 10–11, hier S. 10. 17 | Ebd., S. 11. 18 | Eine Genealogie solcher Zuschreibungen einer Seele zum Klavierspiel unternimmt Wolfgang Scherer: Klavier-Spiele. Die Psychotechnik der Klaviere im 18. und 19. Jahrhundert, München 1989.

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zeichnen: Er kann nicht aus den Noten entnommen werden; es ist unbekannt, was den guten Anschlag auszeichnet; ebenso unbekannt ist schließlich, wie er zustande kommt. Eine Autorität auf dem Gebiet der Akustik, der Physiologe und Physiker Hermann von Helmholtz, hatte erklärt, dass nur die Geschwindigkeit des Aufpralls der Klavierhämmer auf die Saiten überhaupt variiert werden kann. Der Anschlag löst die Bewegung des Hammers nur aus, aber er lenkt die Bewegung selbst nicht. Nach dem Auslösen des Hammers habe jegliche Berührung der Taste keinerlei Effekt mehr. Der Hammer fliegt im freien Fall auf die Saite zu, für eine Einflussnahme durch den Spieler ist es zu spät. Die immer wieder beschworene Variation im Klang des Spiels verschiedener Pianisten verweist insofern auf die offene Frage, wie sie überhaupt zu erzielen ist. Für den Rezensenten in der Zeitschrift für Instrumentenbau steckt das Wesen des Anschlags darin, dass er variabel ist. Und gerade diese Variabilität, die nicht zuletzt auf eine Unberechenbarkeit im menschlichen Spiel verweist, unterschied das mechanische Klavier vom menschlichen Spiel. Das Erraten, wer auf welche Weise spielen wird und wie dieses Spiel in den Noten steckte, machte aus, was das menschliche Spiel für den Hörer kennzeichnet. Die Maschine ist nun aber dem Menschen nicht deswegen ebenbürtig, weil sie einfach das menschliche Spiel wiedergäbe, sondern weil es gelungen ist, eine Vorschrift für die Maschine zu verfertigen, die auf dem Klavier die unvorhersehbaren Nuancen des menschlichen Spiels reproduziert. Wenn der Moskauer Musiktheoretiker Leonid Sabaneev zehn Jahre später nochmals die Nuancierung des Anschlags als das entscheidende Kriterium für das gelingende Spiel herausstellt, dann geht es nicht mehr darum, Mensch und Maschine als einander ebenbürtig zu beschreiben. Mensch und Maschine treten in ein ganz anderes Verhältnis für Sabaneev: »Dieses ›Timbre‹, oder eher, diese minimalen Schattierungen des Timbres kann man gleichfalls fixieren, ihren Mechanismus erfassen und sie nach den Eingebungen des künstlerischen Willens steuern. Wenn diese Bedingung erfüllt sein wird, dann werden im Grunde die gerechtfertigten Vorwürfe der Leere und Seelenlosigkeit des Timbres mechanischer Instrumente entfallen: es handelt sich nicht um Seelenlosigkeit, sondern um Gleichgültigkeit, zu große Gleichmäßigkeit, die ein Spiel der minimalen Schattierungen ausschließt, auf denen das Kolorit basiert.«19

Als das Kriterium des guten Klavierklangs wird hier sein Timbre benannt, das auch für Sabaneev vor allem eine Frage der Variabilität ist. Damit die Variabi19 | Leonid Sabaneev: »Pis’ma o muzyke II: Process mechanizacij v ispolnenij«, in: ­M uzykal’nyj sovremennik 1 (1915), S. 17–23, hier S. 20; zu Sabaneevs Experiment vgl. Verf.: »Piano Mécanique and Piano Biologique: Nikolai Bernstein’s Neurophysiological Study of Piano Touch«, in: Configurations 14 (2006), S. 254–273.

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lität zur Klangnuancierung genutzt werden kann, bedarf es jedoch einer gezielten Aktivierung oder, genauer, Einfärbung der Klänge: Erst dann entsteht aus der Variabilität des Anschlags heraus ein beseeltes »Kolorit«. Sabaneev unterscheidet drei Gestaltungsebenen im Kolorit, nämlich das Kolorit als Gesamtheit der Färbungen, die Variationen innerhalb des Kolorits und die Feinheitsgrade dieser Variation. Wie das Timbre ist auch das Kolorit für Sabaneev zunächst eine Eigenschaft des Instruments, insofern es potentiell im Timbre enthalten ist. Auf dem gegenwärtigen Stand der Technik seien aber nur Menschen in der Lage, diese Eigenschaft des Klangs zu aktivieren. Allerdings sei zu erwarten, dass auch selbstspielende Klaviere zu solchen Klangschattierungen in der Lage sein werden. Denn das Zusammenwirken von Mensch und Instrument in der Musik unterstehe einem Prozess der Mechanisierung: »Die Mechanisierung der Aufführung ist ein Phänomen, das wir schon im Verlauf der gesamten Musikgeschichte beobachten. […] Was zunächst eine Funktion des Organismus des Aufführenden war, wird nun zu einer Funktion eines bestimmten ›Mechanismus‹, der von Aufführenden nur mehr gelenkt wird. Dieser Prozess hat in unvordenklicher Zeit begonnen, und der gesamte Prozess der Instrumentaltechnik ist im Grunde genommen nichts anderes als ein Ausdruck dieses Prozesses.« 20

Der Spieler und das Instrument sind in einem systemischen Zusammenhang einbegriffen, der einer dynamischen Entwicklung unterliegt. Das Verhältnis von Instrument und Spieler ändert sich unterdessen fortwährend. Von einem Stadium, in dem der Mensch alle Musik aus sich selbst heraus erzeugt, dadurch aber auch auf die Möglichkeiten seines Körpers festgelegt ist, schreitet diese Entwicklung fort in Richtung eines utopischen Stadiums, das alle physischen Grenzen überschreitet und in dem der Mensch im Stande sein wird, alle seine schöpferischen Intuitionen auszuführen. Die Zwischenstadien beinhalten ein ständiges Ringen um die Balance zwischen instrumentaler Mechanik und künstlerischem Willensakt: Jeglicher Schritt der Mechanisierung, so Sabaneev, fixiert im Bau des Instruments ein Element des künstlerischen Willensaktes und beraubt insofern den Künstler eines gewissen Grades an Flexibilität. Zugleich setzt jeder Schritt einer Mechanisierung auch ein Potential frei, das es dem Künstler erlaube, sich neuen Ideen zuzuwenden. Der Zielpunkt dieser Entwicklung sei das mechanische Klavier, denn mit seiner Hilfe würden sich bald die kühnsten Erzeugnisse jenes künstlerischen Willensaktes verwirklichen lassen, die vorerst noch an der menschlichen Physis scheiterten. Mit dem Reproduktionsklavier rückt dieses Stadium in greif bare Nähe. In den 1920er-Jahren führt Sabaneev am Moskauer Staatsinstitut für Musik­

20 | L. Sabaneev: »Pis’ma o muzyke II«, S. 17.

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wissenschaft, dessen Mitbegründer er ist,21 ein Experiment durch, in dem er die Versuchspersonen zwischen dem für sie unsichtbaren Spiel des Reproduktionsklaviers und dem Spiel von anwesenden Pianisten unterscheiden lässt. Die Ergebnisse fallen nicht unbedingt zugunsten der menschlichen Spieler aus, wie er in einem Aufsatz für das Journal The Nineteenth Century berichtet: »The results were not very consoling for the artist, his performance being more often taken to be mechanical than that of the instrument.«22

4. Was Sabaneev unter der Bezeichnung künstlerischer Willensakt zusammenfasst, beinhaltet die Koordination bzw. Steuerung von Bewegungsvorgängen. Wie das Reproduktionsklavier zeigt, kann die Stanzrolle eine graphische ­Notation des menschlich gesteuerten Spiels aufzeichnen und damit das Spiel erneut hörbar machen. Die Besonderheit des Reproduktionsverfahrens ist, dass hierfür keine Kurve aufgezeichnet wird, sondern ein Code, und es ist dieser Code, der dann von der Maschine wieder ausgelesen wird. Auch die Künstlerrolle, also die Aufzeichnung eines individuellen Pianisten, codiert Steuervorgänge nach einem Prinzip, das zunächst dem mechanischen ­K lavier eignet. Im Gegensatz zu einer phonographischen Aufzeichnung ist die Künstlerrolle immer schon einer Codierung unterzogen. Wie die Medienwissenschaften dies seit Friedrich Kittler umfassend diskutiert haben, ist die herausragende Eigenschaft der phonographischen Aufzeichnung, dass sie gerade keines Codes bedarf. Sie zeichnet eine Schwankung des Luftdrucks auf, die dann in eine zur Aufzeichnung analoge Schwankung des Luftdrucks rückübersetzt wird. Unter Umgehung einer symbolischen Codierung wird damit das »Reale« direkt aufgezeichnet 23. Die gestanzte Rolle hingegen enthält eine Lochschrift, welche die Steuervorgänge des mechanischen Instruments codiert. Unklar ist vorerst aber, was auf ihr eigentlich codiert worden ist.

21  |  Zu diesem Institut vgl. M.  V.  Ivanov-Borecky: Pjat’ let nachnoy raboty ­g osudarstvennogo instituta muzykal’noy nauki (GIMN’a) 1921–1926, Moscow 1926, sowie Verf.: »Moscow Eye and Ear Control. Über die neurophysiologischen Arbeiten von Nikolaj Bernstein zum Klavierspiel«, in: Sabine Flach/Margarete Vöhringer (Hg.), ­U ltravision. Zum Wissenschaftsverständnis der Avantgarde, München 2010, S. 83–105. 22 | Leonid Sabaneev: »The process of mechanisation in the musical art«, in: The Nineteenth Century 6 (1928), S. 117–118, hier S. 117. 23 | Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800–1900, 3. vollst. überarb. Aufl., München 1995; Ders.: Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986.

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Die Firmen, die Reproduktionsklaviere herstellen, halten ihre Aufzeichnungsverfahren geheim24. Der immer wieder aufgerufene Gegensatz von Mensch und Maschine sieht vor, dass die Interpretation von notierter Musik einem künstlerischen Willensakt unterliege, der wiederum eine Form des individuellen Ausdrucks sei. Es liegt daher nicht zuletzt im Interesse der Firmen, die einzelne Künstler unter Vertrag nehmen, die Codierungsvorgänge nicht preiszugeben. Gerade weil die Rolle den individuellen Ausdruck zu codieren vermag, besitzen die Firmen damit scheinbar einen exklusiven Zugriff auf jenes Divinatorische im individuellen Spiel, das von den Rezensenten so bewundert wird. Aus den Reaktionen auf das Reproduktionsklavier ist zu ersehen, dass der Unterschied von diesem Gerät zum Abspielen eines nach den Noten vorgestanzten Codes keineswegs sofort in ein eindeutiges Verhältnis zum menschlichen Spiel ins Verhältnis gesetzt wird. Erst allmählich wird in der Codierung der Stanzrolle eine Speicherung von messbaren Werten gesehen, die nicht allein den Notentext, sondern auch die Abweichungen davon einer Entschlüsselung bereitstelle. Individualität, so heißt es schließlich, sei selbst in systematischen Abweichungen vom Code der Musik entzifferbar. In der Zwischenzeit findet eine Schulung des Hörens statt, die nun nicht mehr der Empfindlichkeit für das regelmäßige Spiel gilt, sondern gerade den Abweichungen von der Regelmäßigkeit des notierten Codes in dessen individueller Umsetzung. Das Hören richtet sich nun, wie einer neuerlichen Rezension aus der Zeitschrift für Instrumentenbau aus dem Jahrgang 1926/27 zu entnehmen ist, auf die Wiedererkennbarkeit des individuellen Spiels. »Im Phonologramm bleibt dem Auge selbstverständlich auch nicht die leiseste, akustisch kaum wahrnehmbare Schwankung verborgen. Gerade in diesen feinsten Schwankungen liegt der Charakter des persönlichen Spieles, der in Worten meist schwer wiederzugeben ist […]. Gerade an diesen kleinsten individuellen Taktverschiebungen, deren er sich vielleicht kaum bewußt wurde, erkennt der Künstler sein eigenes Spiel wieder. Es gewährt einen einzigartigen Reiz, die Phonologramme eines und desselben Klavierstückes, aber verschiedener Künstler, rein-visuell miteinander zu vergleichen und Feinheiten der Unterschiede zu studieren, die sich in der gebräuchlichen Notenschrift niemals zum Ausdruck bringen lassen.« 25

Die Stanzrolle ist nun zu einer Schrift eigener Art geworden. Das Phonologramm speichert einen Zweitcode der Individualität, in dem der Künstler sich selbst wiedererkennt. Die Verschiebung, die bis hierhin stattgefunden hat, be24 | Vgl. P. Hagmann: Das Welte-Mignon-Klavier. 25 | Greve: »Die Mechanisierung des Klavierspiels«, in: Zeitschrift für Instrumentenbau 47 (1926/1927), S. 187–189, hier S. 188.

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trifft das Hören: Auch die Spieler sind zu Hörern geworden, die ihrem eigenen Spiel lauschen. Zwischen der Codierung der Notenfolge und dem Zweitcode der Individualität hat sich eine Unterscheidung von Spielen und Hören eingenistet. Auch wenn die Maschine immer noch den Code der Stanzrolle ausliest, richtet sich der Zweitcode des Phonologramms an die Hörer. Unterdessen entdeckt auch die Experimentalpsychologie die Stanzrolle als Studienobjekt. Das Journal of Applied Psychology veröffentlicht 1928 eine erste vollständige Studie, in der Aufzeichnungen von zwei Takten aus Franz Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 10 von Ernest Schelling, Arthur Friedheim und Ignacy Paderewski verwendet werden. Vor allem Paderewskis Spielweise unterscheidet sich, so der Autor Guy Montrose Whipple, deutlich von derjenigen der beiden anderen Pianisten durch Besonderheiten in der zeitlichen Organisation, die sich unter dem Begriff des Rubato-Spiels zusammenfassen lassen. Paderewski dehnt kurze Vorschlagsnoten aus und beschleunigt dafür die parallelen Oktaven in dem gewählten Ausschnitt 26. Während Whipple ausschließlich mit den kommerziell vertriebenen Stanzrollen arbeitet, geht der Psychologe Carl E. Seashore noch einen Schritt weiter und konstruiert einen neuen wissenschaftlichen Aufzeichnungsapparat für das Klavierspiel, die »Iowa piano camera«27. Als Medium der Aufzeichnung dient darin eine Filmrolle, die während des Aufzeichnungsvorgangs belichtet wird. Diese ist nicht zum Wiederabspielen geeignet, sondern sie dient allein der visuellen Analyse, die Seashore auf wenige Parameter eingrenzt. So hält er fest, dass am Klavier nur zwei Parameter des Spiels überhaupt differenziert werden können, nämlich die Anschlagsstärke und die zeitliche Abfolge der Anschläge. Klangfarbe und Tonhöhe sind durch die Wahl des Instruments bereits festgelegt. Deshalb genüge es, so Seashore, Intensität und zeitliche Abfolge zu registrieren, um eine vollständige Repräsentation des Klavierspiels zu erhalten (siehe Abbildung 4). Der Gegenstand der Forschung von Seashore ist die Entschlüsselung des Zweitcodes der Individualität, den die Piano Camera vollständig erfasse: »Such matters as phrasing, personal interpretation, the principles of art involved, errors, idiosyncrasies, and exhibitions of skill are embodied in such a piano-­ camera record.«28 Damit hat sich die Suche nach dem guten Klavierspiel in ein Problem der Zeitverhältnisse im Spiel verwandelt. Die Hörer, die ihre Fähigkeit, den individuellen Musiker wiederzuerkennen, an Reproduktionsklavier und Grammophon geschult haben, brauchen die Individualität nicht mehr unter der Sammelkategorie der Klangschattierung 26 | Guy Montrose Whipple: »A New Method of Analyzing Musical Style by Means of the Reproducing Piano«, in: Journal of Applied Psychology 12 (1928), S. 200–213. 27 | Vgl. Carl Seashore: Psychology of Music, New York/London 1938. 28 | Ebd., S. 233.

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Abb. 4: Zeichnung nach einem Photogramm, das mit der Iowa Piano Camera aufgenommen wurde. Quelle: C. Seashore: Psychology of Music, S. 234.

zusammenzufassen. Für Seashore umhüllt der Begriff der Klangqualität lediglich das Unvermögen, die charakteristischen Eigenschaften des Klavierspiels richtig zu benennen: »The artist may legitimately think and perform with tone quality as his objective and consciously control his touch in terms of tone quality. Likewise, the listener may regard tone quality as the primary factor and think of intensity as a secondary and even unrelated factor. But the fact remains that, in general, the only way in which the pianist can produce qualitative changes is through dynamic and temporal changes, and then only within the limit set by the characteristics of the instrument.« 29 29 | C. Seashore: Psychology of Music, S. 232.

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Was auch Sabaneev noch als Klangqualität beschrieb, entschlüsselt Seashore mit jenen zwei Parametern, die seine Apparatur erfasst. Es genügt, um die Individualität des Spiels aufzuschlüsseln – und das kann etwa heißen, die Phrasierung und die individuelle Interpretation, aber auch die Fehler, die Idiosynkrasien oder die ausgestellten virtuosen Fähigkeiten –, die Anschlags­stärke und vor allem die zeitliche Mikroorganisation des Spiels zu kennen. Diese Faktoren legen sich wie eine dreidimensionale Kartierung über das Raster der regelmäßigen Notation, das sie in den Dimensionen der Intensität und zeitlichen Gestaltung plastisch und lebendig werden lassen. Diese Streckungen und Dehnungen sind jedoch immer für die Piano Camera sichtbar und als Abweichungen messbar und in ihnen steckt die Individualität des Spiels.

5. Bis 1938 hat sich die Individualität als ein Qualitätskriterium aus der Wiederholbarkeit des individuellen Spiels herausgeschält. Dabei ist aber nicht allein die Aufzeichnung eines konkreten Spielvorgangs entscheidend, sondern ebenso sehr eine Schulung des Gehörs, in der schrittweise eingeübt worden ist, nicht mehr auf Regelmäßigkeit als Grundvoraussetzung des guten Spiels zu achten, sondern immer auch schon die Abweichung davon als eine selbst­ wertige Eigenschaft des Spiels zu hören. Die Abweichungen von den fixierten Werten widersprechen der Codierung nicht mehr unbedingt, sondern sie erweisen sich als ein Erfordernis des Spiels. In Musikdenken heute hat Pierre Boulez für ein Zeiterleben, das sich beim Hören von Musik einstellt, der ein Grundpuls unterliegt, den Begriff der »gekerbten Zeit« geprägt 30. Der Puls richtet die Wahrnehmung an einem zeitlichen Schema aus. Entscheidend ist dabei, dass dieses Schema nicht allein mathematisch exakte Werte beinhaltet, sondern jeder exakte Wert vielmehr von einem Hof umgeben ist, innerhalb dessen ein tatsächlich eintretendes rhythmisches Ereignis noch als dem Schema zugehörig erkannt wird. In der Mitte der Kerbe liegt also der Richtwert, der von weiteren zulässigen Werten umgeben ist. Auch wenn damit noch keine konkrete Form der Kerbe in der gekerbten Zeit angegeben ist – in einem Wiener Walzer haben sie eine andere Form als in einem Blues oder Tango –, ist damit zumindest benannt, dass ein Spielraum vorhanden ist 31.

30 | Pierre Boulez: Musikdenken heute 1, aus dem Frz. übers. von Josef Häusler/Pierre Stoll (= Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik 5), Mainz 1963. 31 | Vgl. dazu Verf./Armin Schäfer: »Passage zur glatten Zeit. Conlon Nancarrows ­S tudies for Player Piano«, in: Christian Utz/Martin Zenck (Hg.), Passagen. Theorien

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Die Klavierpädagogik des 19. Jahrhunderts richtet sich darauf, die Kerbungen allererst in das Zeiterleben und vor allem in die Geläufigkeit des Fingerspiels einzutreiben. Das regelmäßige Spiel ist eine Voraussetzung des guten Klavierspiels, gerade weil die konkrete Form der Kerbungen nicht bekannt ist. Alle individuelle Ausdeutung setzt bei dem exakt bestimmten Zentrum der Kerbung allererst an. Geübte oder gar professionelle Pianisten sind im Stande, Läufe und Triller gleichmäßig zu spielen, und dies wird zur Richtschnur für das Klavierspiel schlechthin. Das Aufzeichnungsgerät von Binet und Courtier ist denn auch nur geeignet, um Regelmäßigkeit oder ihr Fehlen aufzuzeigen. Es macht sichtbar, ob Abweichungen vom regelmäßigen Spiel vorhanden sind, aber es erlaubt keine Vermessung dieser Abweichungen. Das mechanische Klavier demonstriert jedoch, dass die exakten Werte noch nicht den vollständigen Code ausmachen. Dem Hören erscheint gerade diese exakte Umsetzung des Codes als mangelhaft. Für dasjenige, was die exakte Umsetzung des notierten Codes nicht erfasst, werden verschiedene Begriffe erprobt. Sabaneevs Vorschlag, die Eigenschaften des menschlichen Spiels als Timbre zu bezeichnen, bedient sich einer Residualkategorie aus der Beschreibung musikalischer Klänge. Als Timbre oder Kolorit bezeichnet er alles, was das menschliche Spiel zu nuancieren vermag, ohne dass sich angeben ließe, wie die Nuancierung im Einzelnen geschieht. Er beruft sich damit letztlich auf eine Fähigkeit des Gehörs, auch da Differenzierungen vorzunehmen, wo weder Begriffe noch Apparate diese Differenzierungen zu stützen vermögen. Sabaneevs Vorschlag ist dabei von der Entwicklung im Instrumentenbau längst schon eingeholt. Die Instrumente, die eine Manipulation der Ablauf­ geschwindigkeit erlauben, setzen ebenso wie die Reproduktionsklaviere auf eine individuelle Gestaltung der musikalischen Zeit. Im Pianola geschieht diese während des Spiels – der Pianolist kann beispielsweise auf mitspielende Musiker reagieren –, aber die Manipulation der Spielgeschwindigkeit betrifft immer nur die notierten Werte in ihrer Gesamtheit. Das Pianola durchbricht nicht das Regelmaß der gestanzten Werte, sondern es passt das Abspieltempo konkreten musikalischen Vorstellungen oder Anforderungen in einer Aufführungssituation an. Das Reproduktionsklavier hingegen übernimmt die rhythmischen Werte, wie sie im einmaligen Spiel von einem menschlichen Spieler vorgegeben worden sind. Beim Wiederabspiel werden sie nicht mehr manipuliert. Dafür sind in dieser Aufzeichnungspraxis aber die zeitlichen Werte voneinander unabhängig. Jede einzelne Note besitzt ihren individuellen Ort in der gekerbten Zeit. Damit zugleich hat sich aber auch die Funktion des Hörens verschoben. Selbst den Pianisten, der eine Künstlerrolle eingespielt hat, adressiert diese als Hörer. des Übergangs in Musik und anderen Kunstformen (= Musiktheorien der Gegenwart 3), Saarbrücken 2009, S. 189–218.

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In der Anfertigung des Rollenrepertoires mit dem Reproduktionsverfahren, das nicht zuletzt beliebte Tänze wie Tango oder Foxtrott umfasst, also ­Musik, die das rhythmische Empfinden ansprechen will, erweist sich bereits, was in den Diskurs über das Klavierspiel erst allmählich vordringt: Die individuelle Verfüllung der Zeitkerben ist für einzelne Individuen ebenso verschieden, wie sich die Erwartungen an die Auslegung der Zeitkerben für verschiedene rhythmusbetonte musikalische Genres unterscheiden. Die Vermessung der Zeitkerben, die schließlich Seashore unternimmt, macht diese Zeitverhältnisse zuallererst sichtbar. Das Raster, auf dem sich die tatsächlich gespielten Töne abzeichnen, läuft von diesen unabhängig ab. Auf dem Raster erscheinen jedoch die gespielten Werte als messbare Abweichungen. Seashore verzichtet denn auch auf die Annahme einer Residualkategorie. Er vertraut der Piano Camera. Damit hat sich die Funktion des Hörens mehrfach verschoben. Binet und Courtier erklärten das Hören für unzulänglich im Vergleich mit dem Aufzeichnungsgerät. Nur die Aufzeichnung erweise, ob ein Spieler den Anforderungen der gekerbten Zeit zu genügen vermag. Zuerst muss die exakte Mitte der gekerbten Zeit den Fingern antrainiert werden, und eine Kontrolle des Gehörs genügt nach ihrer Ansicht hierzu nicht. Sabaneev setzt auf die Fähigkeiten des Gehörs, denn das Gehör vermag noch uncodierte Nuancen im menschlichen Spiel zu entdecken. Solange die Nuancen nicht vollständig adressierbar sind, ist auch der Künstler, Sabaneev zufolge, nicht vollständig frei, sie für seine Zwecke zu nutzen. Daher lässt sich auch die technische Entwicklung nicht umstandslos im Sinne einer Erweiterung oder Verknappung der Möglichkeiten denken, denn Mensch und Maschine sind im ständigen Austausch begriffen, der über das Hören geschieht. Seashore hält die Inanspruchnahme der Residualkategorie »Timbre« für nicht gerechtfertigt. Die Klangfarbe des Klaviers steht mit der Wahl des Instru­ ments fest, und die Variation des Anschlags beschränkt sich für ihn auf die zwei Parameter Intensität und zeitliche Abfolge. Wie schon das kymographische Aufzeichnungsgerät von Binet und Courtier ist auch die Piano Camera für eine Schulung des Gehörs geeignet. Nun geht es aber nicht mehr um die Kontrolle des Fingerspiels, sondern um eine Differenz im Hören selbst. Mit der Piano Camera kann ein Hörer erlernen, Individualität als Abweichung vom regelmäßigen Spiel zu begreifen. Das Erkennen von Individualität im Klavierspiel ist damit nicht allein eine Angelegenheit des Vergleichs zwischen den Aufnahmen verschiedener Pianisten, sondern es ergibt sich auch im Abgleich mit Maschinen, die den Code der Musik auf unterschiedliche Weise reproduzieren. Wenn Gilles Deleuze und Félix Guattari das Begriffspaar der glatten und gekerbten Zeiten und Räume von Boulez übernehmen, tragen sie damit nicht zuletzt einem Standpunkt des

E xperimentalisierung des Hörens – Musik und Medien um 1900

wahrnehmenden Subjekts Rechnung, der in diesem Begriffspaar steckt 32 . Für den Spieler, der die musikalische Notation zu reproduzieren lernte, war der Hof der Kerbung noch nicht fassbar. Erst vor dem Hintergrund der mechanischen Wiedergabe von Musik wird der Hof, der um die Kerben liegt, wahrnehmbar und schließlich messbar. Die Geschichte des mechanischen Klaviers ist damit nicht abgeschlossen. Der mexikanische Komponist Conlon Nancarrow wird mit diesen Kerben komponieren und sie in eine glatte Zeit überführen. Aber das ist eine andere Geschichte.

32 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Berlin 1992, S. 661–663, 669–674; zu dem Begriff der gekerbten Zeit bei Deleuze und Guattari vgl. Verf./Armin Schäfer: »Das Band, das die Zeit macht«, in: Archiv für Mediengeschichte 4 (2004), S. 45–57.

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Absolute Klangbilder Abstrakter Film und Radiohörspiel der 1920er als komplementäre Formen einer »Eigenkunst« der Medien Dieter Daniels

»Film und Rundfunk … beide besitzen Eigenwerte, die ihnen alleine gehören und die durch allmähliche Entwicklung zu einer besonderen Gattung von Kunst heran­ reifen können.«1 (Kurt Weill)

In den Jahren von 1920 bis 1930 werden in den damals neuen Medien Film und Radio ›absolute‹ Kunstformen entwickelt, die sich an der ästhetischen Eigenwirkung dieser Techniken orientieren. Aus heutiger Sicht sind der abstrakte Film und das ›funkische‹ Hörspiel deshalb als Vorläufer der Medienkunst zu bezeichnen. Diese Praxis wird von theoretischen Überlegungen zur Beziehung von Musik und bewegtem Bild, von Klang und visueller Wahrnehmung untermauert. In Deutschland arbeiten Musiker wie Kurt Weill, bildende Künstler und Filmemacher wie Walter Ruttmann, Radiomacher wie Hans Flesch und Friedrich W. Bischoff teils im Dialog, teils unabhängig voneinander an verwandten Fragestellungen, welche die Parallelen, Differenzen und Interferenzen zwischen diesen Medien und Kunstformen ausloten. Bis heute folgen Darstellungen der Mediengeschichte oftmals einer Aufteilung in akustische und visuelle Medien, bzw. in Medien für Sprache, Bild und Musik. Solange diese Entwicklungen getrennt verhandelt werden, können jedoch die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen diesen Medien und vor allem die 1 | Kurt Weill: »Möglichkeiten absoluter Radiokunst«, in: Ders., Musik und Theater. Gesammelte Schriften, Berlin 1990, S. 195, zuerst in: Der Deutsche Rundfunk 3 (1925).

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entscheidenden Prozesse der Hybridisierung nicht erfasst werden 2 . Deshalb gilt es, ein Modell für die Kombination der diachronen mit der synchronen Betrachtung von Medientechniken und den damit arbeitenden Kunstformen zu entwickeln. Eine zweite wichtige und oft übersehene Differenz besteht zwischen Übertragungsmedien und Speichermedien: Übertragungsmedien bleiben in ihrer kulturellen Wirkung oft unverstanden, während Speichermedien früh in das Visier von Kultur- und Medientheorie kommen. Dies gilt schon seit Ende des 19. Jahrhunderts und fast unverändert bis heute. Über die Fotografie und den Phonographen gibt es schon vor 1900 zahlreiche theoretische und literarische Texte, über die Telegrafie oder das Telefon vergleichsweise wenige. Heute haben sich Foto- und Filmtheorie als wissenschaftliche Disziplinen etabliert, hingegen existieren Radiotheorie oder Fernsehtheorie nur als Randphänomen, eine Telefontheorie, die diesen Namen verdient, scheint es bis heute kaum zu geben. Film und (Rund-)Funk werden ab 1895 zunächst völlig unabhängig voneinander an mehreren Orten zeitgleich entwickelt (Film durch Lumière, ­Skladanowsky, Edison und Funk durch Marconi, Popow, Lodge, Tesla u. a.). Doch als 1895 die ersten öffentlichen Filmvorführungen der Lumières, ­Skladanowsky und anderer in Paris, Berlin, New York und London stattfinden, glaubt, trotz des regen Publikumsinteresses, noch niemand daran, dass hieraus in kurzer Zeit die erste medientechnische Massenunterhaltung werden wird. Und als im gleichen Jahr Guglielmo Marconi in Bologna und Alexander Popow in Petersburg erstmals drahtlose Signale auf Distanz übertragen, denkt keiner von beiden daran, dass hieraus mit dem Rundfunk ein Massenmedium entstehen könnte, das sogar den Film in seiner Verbreitung bald überrunden wird. Diese parallelen, aber damals noch unverbundenen Entwicklungen vernetzen sich in der Folge in einer komplexen, technischen, sozialen und ästhetischen Wechselwirkung, deren Folgen bis zum Fernsehen führen. Exemplarisch für die blinden Flecken der Kunst- und Medientheorie sind die künstlerischtheoretisch-technisch-experimentellen Interferenzen zwischen Film und Radio in den 1920er-Jahren, sie befinden sich sozusagen im »Bermudadreieck« der oben genannten Faktoren einer Nichtbeachtung und sollen deshalb im Mittelpunkt des Textes stehen. In den 1920er-Jahren verläuft die Debatte über die Kunsttauglichkeit von Film und Radio weitgehend parallel. Es geht jeweils um eine medienspezifische Ästhetik des filmischen bzw. »funkischen« Kunstwerks. Diese Spezifik muss dabei jeweils ein Defizit bewältigen: Dem Stummfilm fehlt der Ton, dem Radio 2 | Vgl. Dieter Daniels: »Hybrids of Art, Science, Technology, Perception, Entertainment, and Commerce at the Interface of Sound and Vision«, in: Dieter Daniels/Sandra Naumann (Hg.), Audiovisuology. A Reader, Köln 2015, S. 442–459.

Absolute Klangbilder. Abstrakter Film und Radiohörspiel der 1920er

das Bild. Für die anfangs gängige Adaption bestehender Gattungen, wie etwa des Theaters, geht es nur um einen Ausgleich des jeweiligen Defizits, etwa durch die verstärkte Gestik der stummen Akteure oder begleitende, atmosphärische Geräusche zu den unsichtbaren Sprechern. Überzogene Kompensa­ tionsbemühung entbehren jeweils nicht unfreiwilliger Komik, die noch heute Teil der Stummfilm-Faszination ist. Auch im Radio gibt es berühmte Beispiele, wie etwa 1924 Alfred Brauns Inszenierung von Schillers Wallensteins Lager mit Darstellern in scheppernder Rüstung und voller Bewaffnung, die gegenüber dem einsamen Mikrofon des Rundfunkstudios aufmarschieren und zwecks Raumwirkung auch durch das Treppenhaus des Gebäudes stürmen. Von einer medienspezifischen Kunstform sind solche Adaptionsversuche weit entfernt. Allerdings entwickelt sich Anfang der 1920er eine theoretische Debatte begleitet von praktischen Experimenten, die zu zwei neuen Kunstformen führt: dem abstrakten Film und dem klangbasierten Radiohörspiel. Zur Zeit ihrer Entstehung werden beide als eng verbundene Entwicklungen diskutiert  – diese Verbindung scheint jedoch heute abgerissen zu sein, deshalb hier ein Versuch ihrer Rekonstruktion. Der Horizont der Untersuchung beschränkt sich dabei auf Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik, da sich hier eine besonders fruchtbare Materiallage bietet. Ein wichtiger Faktor dieser Vernetzung sind die personellen Überschneidungen zwischen abstraktem Film und Radiohörspiel. An der Entwicklung beider Kunstformen beteiligen sich als Praktiker und zugleich als Theoretiker bis Mitte der 1920er u. a. Walter Ruttmann, Hans Flesch und Kurt Weill. Ende der 1920er erweitert sich das Feld u.  a. um Rudolf Arnheim, Oskar ­Fischinger und László Moholy-Nagy. In einem künstlerisch und medial erweiterten Umfeld bestehen Verbindungen zum Bauhaus (Ludwig Hirschfeld-Mack, Kurt Schwerdtfeger, László Moholy-Nagy, Werner Graeff), zu Dada (Hans Richter, Kurt Schwitters, Raoul Hausmann), der engagierten Literatur/Theorie (­Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno) und der Neuen Musik (Paul Hindemith). Absoluter Film und Radiohörspiel stehen somit am Schnittpunkt interdisziplinärer Impulse der Weimarer Republik. Der von Bruno Latour für die Wissenschaftstheorie geprägte Begriff der soziotechnischen Netzwerke könnte auch in der Kultur- und Medientheorie für die Beschreibung solcher komplexen Überlagerungen zwischen künstlerischen Disziplinen und medialen Techniken dienen. In eben diesen Netzen entstehen laut Latour die sogenannten Hybriden, welche der modernen wissenschaftlichen Kategorisierung entgehen, weil diese Netze aus der jeweiligen Fachperspektive nicht wahrnehmbar sind3.

3 | Laut Latour sind diese soziotechnischen Netze zugleich »real wie die Natur, erzählt wie der Diskurs, kollektiv wie die Gesellschaft« und deshalb ein für das moderne wissen-

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Theorien für die P r a xis medialer K unst Anhand von zeitgenössischen Zitaten soll im Folgenden zunächst der theoretische Hintergrund für diese Netzwerkbildung und Hybridisierung zwischen den akustischen und visuellen Künsten und ebenso zwischen den Übertragungsmedien und den Speichermedien dargelegt werden. Walter Ruttmann, Maler, ab 1921 Autor der ersten abstrakten Filme und 1930 des ersten Klanghörspiels auf Tonfilm, entwirft ca. 1919/1920 (d. h. noch vor seinem ersten »absoluten« Film) in einem seinerzeit nicht publizierten Typo­skript seine Vision einer Malerei mit Zeit: »Eine Kunst für das Auge, die sich von der Malerei dadurch unterscheidet, daß sie sich zeitlich abspielt (wie Musik), und daß der Schwerpunkt des Künstlerischen nicht (wie im Bild) in der Reduktion eines (realen oder formalen) Vorgangs auf einen Moment liegt, sondern gerade in der zeitlichen Entwicklung des Formalen. […] Es wird sich deshalb ein ganz neuer, bisher nur latent vorhandener Typus von Künstler herausstellen, der etwa in der Mitte von Malerei und Musik steht.«

Die Notwendigkeit einer solchen Kunst begründet Ruttmann mit dem »Tempo unserer Zeit: Telegraf, Schnellzüge, Stenografie, Fotografie, Schnellpressen […] haben zur Folge eine früher nicht gekannte Geschwindigkeit in der Übermittlung geistiger Resultate. […] [Dadurch] ergibt sich für das Einzelindividuum ein fortwährendes Überschwemmtsein mit Material, demgegenüber die alten Erledigungsmethoden versagen.«

In dieser »erhöhten Geschwindigkeit, mit der die Einzeldaten gekurbelt werden« liegen laut Ruttmann auch »die Gründe für unsere verzweifelte Hilflosigkeit gegenüber den Erscheinungen der bildenden Kunst«, die ihn dann zum absoluten Film führen4. Fast eine Dekade später schreibt Ruttmann in einem kritischen Rückblick: »Was ist ein absoluter Film? Ein Film, bei dem man sich nicht darauf verlässt, dass aus der Praxis des Filmemachens heraus sich Kunst entwickeln möge, sondern bei dem die Theorie, die überzeugte Vorstellung von autonomer Filmkunst am Anfang steht.«5

schaftliche Denken nicht auflösbarer Widerspruch; Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, S. 14. 4 | Walter Ruttmann: »Malerei mit Zeit«, zit. nach: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 82. 5 | Walter Ruttmann: »Die ›absolute‹ Mode«, in: Film-Kurier Berlin 30 (1928), zit. nach: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 82.

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Wie unmittelbar solche Überlegungen vom Film auf den seit Oktober 1923 in Deutschland eröffneten Rundfunk übertragen werden, zeigt ein Essay von Kurt Weill. Komponist und Autor zahlreicher Filmmusiken sowie der Musik zu Bertolt Brechts Hörspiel Lindberghflug. Im Anschluss an den ersten großen öffentlichen Auftritt des »absoluten Films« bei einer vielbeachteten Matinee im Berliner Ufa-Kino 1925 schreibt Weill über »Möglichkeiten absoluter Radiokunst« in der Absicht, »den oft angewandten und allzu oft missbrauchten Vergleich zwischen Film und Rundfunk einmal zu Ende zu denken.« Er sieht ebenfalls die Breitenwirkung des Mediums als wesentlichen Faktor: »Unendlich viel ist schon erreicht durch die Möglichkeit, die Kunst in die Masse zu tragen.« Zwar hat das Radio künstlerisch »zunächst mehr eine quantitative als eine qualitative« Bedeutung, aber: »Das wird – genau wie in der Entwicklung des Films – zu einer strengen Scheidung führen zwischen dem Rundfunk und anderen Kunstinstitutionen, die ihn vorläufig noch als Konkurrenz empfinden. Die Künste werden Teile ihres Gesamtkörpers abstoßen, deren Übermittlung dann dem Mikrofon allein überlassen bleibt.«

So wie Ruttmann erwartet auch Weill eine Verschiebung von Gattungsgrenzen und Neubildung von Kunstformen durch das Medium: »Man spricht schon davon, das Hörspiel gänzlich vom herkömmlichen Theater loszutrennen, es als eine nach den eigenen Gesetzen und mit den eigenen Zielen des Senderaums orientierte Kunstgattung auszubauen.«6 An solchen Zielen arbeiten in der Rundfunkpraxis innovative Köpfe wie der zum Intendanten des Breslauer Senders berufene Schriftsteller Friedrich W. Bischoff mit dem von ihm initiierten Modell der »Hörfolge«, wenn er 1926 schreibt: »Ähnlich wie das Lichtspiel optisch, bedarf das Funkspiel akustisch einer vielfältigen Rhythmisierung der einzelnen szenischen Abschnitte.« Die Gesamtentwicklung soll zur »absoluten Funkkunst« hinführen: »Eine symphonisch-akustische Gliederung literarischer Darbietungen, gerichtet in die Zeit und über die sozial-vielfältige Struktur der Zeit hinaus in das Herz des Hörers, muss, es kann gar nicht anders sein, zu einem Kunstprodukt führen, das Wort und Musik zusammenfügt und in letzter endgültiger Totalität sich als akustisches Kunstwerk, als reines Hörspiel darstellt.« 7

6 | Kurt Weill: »Möglichkeiten absoluter Radiokunst«, S. 193f . 7 | Friedrich W. Bischoff: Was wir bringen, Schlesische Funkstunde, zit. nach: ­J oachimFelix Leonhard (Hg.), Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Repu­b lik, Band 2, München 1997, S. 1088.

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Alfred Braun, Leiter der Abteilung Schauspiel beim Berliner Sender, nennt sein Stück Der Tönende Stein einen »Hörfilm« oder auch »akustischen Film […] ein Funkspiel, das in schneller Folge, traummässig bunt und schnell vorübergleitender und springender Bilder, in Verkürzungen, in Überschneidungen – im Tempo – im Wechsel von Grossaufnahmen und Gesamtbild mit Aufblendungen, Abblendungen, Überblendungen bewusst die Technik des Films auf den Funk übertrug.«

Er sieht die eigene Arbeit nur als Modell, als »die Form; füllen sollten und sollen sie andere«, nämlich die Dichter: »Welche Ausdrucksmöglichkeiten bieten sich einem dramatischen Dichter in einem solchen Spiel! Die grösste Unbegrenztheit, wie sie nicht einmal der Film hat; Zeit und Raum sind aufgehoben.«8 Kurt Weill wagt in seinem Essay 1925 auch vorauszuschauen auf die titel­ gebenden, zukünftigen Möglichkeiten absoluter Radiokunst: »Film und Rundfunk […] beide besitzen Eigenwerte, die ihnen alleine gehören und die durch allmähliche Entwicklung zu einer besonderen Gattung von Kunst heranreifen können. […] [D]aß zu den Tönen und Rhythmen der Musik neue Klänge hinzutreten. Klänge aus anderen Sphären: Rufe menschlicher und tierischer Stimmen, Naturstimmen, Rauschen von Winden, Wasser, Bäumen und dann ein Heer neuer, unerhörter Geräusche, die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, wenn Klangwellen erhöht oder vertieft, übereinandergeschichtet oder ineinanderverwoben, verweht und neu­ geboren werden würden. […] [E]in absolutes, über der Erde schwebendes, seelenhaftes Kunstwerk […].« 9

Auch Bertolt Brecht, gegenüber dem Radio vor allem als Kritiker bekannt, denn »die Resultate des Radios sind beschämend, seine Möglichkeiten sind ›unbegrenzt‹«,10 kann sich – vielleicht inspiriert von Weill – der Faszination des nur akustischen Bildes nicht ganz entziehen. So notiert er: »Die Kunst muss dort einsetzen, wo der Defekt liegt. Wird das Sehen ausgeschaltet, so bedeutet das nicht, dass man nichts, sondern gerade so gut, dass man unendlich viel,

8 | Alfred Braun, 1929, zit. nach: Heinz Schwitzke: Das Hörspiel. Geschichte und Dramaturgie, Köln/Berlin 1963, S. 63. Vgl. zu Alfred Braun und Friedrich W. Bischoff umfangreich: Reinhard Döhl: »Neues vom Alten Hörspiel. Versuch einer Geschichte und Typologie des Hörspiels in Lektionen«, Radiosendung WDR 29.12.1980; Druck in: Rundfunk und Fernsehen. Wissenschaftliche Vierteljahreszeitschrift 29 (1981), S. 127–141; online: http://doehl.netzliteratur.net/mirror_uni/hspl_neualt.htm vom 18.08.2015. 9 | K. Weill: »Möglichkeiten absoluter Radiokunst«, S. 195. 10 | Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Schriften 2, Frankfurt a. M. 1967, S. 120.

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›beliebig‹ viel sieht.« 11 Die ersten Hörspiele, die 1924 in Europa gesendet werden, machen diesen »Defekt« des Mediums durchweg zum Thema. Der englische Autor Richard Huges lässt sein Stück Danger in einem finsteren Grubenschacht handeln, so dass die Akteure ebenso wenig wie die Zuhörer sehen. Die Franzosen Pierre Cusy und Gabriel Germinet erwecken in Maremoto den Eindruck, der Hörer empfange zufällig die Funksignale einer Schiffskatastrophe. Hans Fleschs Zauberei auf dem Sender hingegen – auf die noch ausführlicher eingegangen wird  – geht über diese eher oberflächlichen Metaphern hinaus und macht ausdrücklich den Rundfunk selbst zum Thema12 . Hans Flesch, künstlerischer Leiter der Südwestdeutsche Rundfunkdienst AG in Frankfurt und dann später Intendant der Berliner Funk-Stunde schreibt 1925 in seinem programmatischen Text Mein Bekenntnis zum Rundfunk: »Das echte Hörspiel muss sich (aber) auf akustischer Grundlage auf bauen, muss aus dem Akustischen selbst wachsen. […] [Die] Möglichkeit des Rundfunks, wo er als selbstständige Kunstgattung auftritt: die ›Sendespiele‹.« 13 Und 1928 formuliert er in seinem Vortrag Hörspiel, Film, Schallplatte die seinerzeit noch radikale Forderung nach der Medienspezifik radiophoner Kunst: »Der Rundfunk ist ein mechanisches Instrument, und seine arteigenen künstlerischen Wirkungen können infolgedessen nur von der Mechanik herkommen. Glaubt man nicht, daß das möglich ist, so kann man eben an das ganze Rundfunk-Kunstwerk nicht glauben.« 14 Eine wichtige Gemeinsamkeit dieser Zitate ist die Forderung nach einer Kunst, die keine Imitation vorhandener Gattungen ist, kein Transfer von Malerei, Musik und Literatur in die neuen Techniken, sondern eine der Eigen­ wirkung der neuen Medien entsprechende, sich aus dieser Technik entwickelnde Kunstform, die gelegentlich auch als »Eigenkunst« des Radios bezeichnet wird 15. Zugleich werden auch Unterschiede im Duktus deutlich, Ruttmann und Weill formulieren mit künstlerischer Emphase, Flesch und Bischoff eher aus der Perspektive einer technisch-institutionellen Programmatik. Allen gemein11 | B. Brecht: Gesammelte Werke, Schriften 2, S. 124. 12 | Vgl. zu Hans Flesch und Zauberei auf dem Sender: Wolfgang Hagen: Das Radio, München 2005, S. 103–111, und: Solveig Ottmann: Im Anfang war das Experiment. Das Weimarer Radio bei Hans Flesch und Ernst Schoen, Berlin 2013. 13 | Hans Flesch: »Mein Bekenntnis zum Rundfunk«, in: Funk 36 (1925), S. 445, ­s iehe: ht tp://w w w.lmz-bw.de/f ileadmin/user_upload/Medienbildung _MCO/f ileadmin/ bibliothek/flesch_bekenntnis/flesch_bekenntnis.pdf vom 18.08.2015. 14 | Hans Flesch: »Hörspiel, Film, Schallplatte« (Referat, gehalten auf der ersten Programmratstagung in Wiesbaden am 05. und 06.06.1928), in: Rundfunk-Jahrbuch 1931, S. 28. 15 | Zum Begriff der »Eigenkunst« siehe Ludwig Stoffels, in: Joachim-Felix Leonhard (Hg.), Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik, Band 2, München 1997, S. 687ff.

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sam ist jedoch, dass sie aus der eigenen Praxis zur Formulierung einer Theorie kommen, die ihrerseits wiederum als Basis einer neuen Praxis dienen soll. Die besondere Bedeutung dieser »Künstlertheorie« bzw. »Praktikertheorie« liegt darin, dass sie in direkter Auseinandersetzung mit den technisch-ästhetischen Produktionsbedingungen entsteht und zugleich unmittelbare Rückwirkungen auf diese Praxis hat. Eine solche fruchtbare, direkte Wechselwirkung von ­Medientheorie und Medienkunst ist heute nur noch selten zu finden. Zur selben Zeit entwickeln sich auch die Anfänge der deutschen Medientheorie direkt aus der Kunsttheorie, während in der heutigen, internationalen Debatte über die Besonderheiten der »german media theory« oft deren Technizismus als Spezifikum hervorgehoben wird. Der Diskurs über das filmische bzw. »funkische« Kunstwerk und damit die Frage, ob diese Medien überhaupt eine eigene Kunst hervorbringen, oder nur zur Verbreitung bestehender Formen taugen, insbesondere mit dem genannten Defizit nur Ton oder nur Bild übertragen zu können, wird beispielhaft bei Rudolf Arnheim auf der Basis einer grundsätzlichen Analyse von optischer und akustischer Wahrnehmung geführt. Anfang der 1930er stellt er nacheinander seine beiden Bücher über »Film als Kunst« und »Rundfunk als Hörkunst« fertig, von denen das erste berühmt und das zweite fast vergessen ist 16. Beide Bücher lassen sich aus heutiger Sicht als Medientheorien im Gewand einer Kunst- und Wahrnehmungstheorie lesen. Ihre vergleichende Lektüre ist sehr aufschlussreich, weil Arnheim die Defizite beider Medien gerade als Basis für ihre künstlerische Form sieht: »Denn ohne solche ›Mängel‹ gegenüber der Wirklichkeit ist Kunst überhaupt nicht möglich.« 17 Arnheim will vor allem die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit einer kunsttheoretischen Analyse solcher von der Wissenschaft seinerzeit noch ignorierten Gebiete nachweisen. Trotz aller Innovation mischt sich schon ein Element der Nostalgie in beide Bücher, da mit der Ära des Tonfilms und dem von Arnheim schon bald erwarteten Beginn des Fernsehens seiner Meinung nach sowohl Stummfilm wie Radio ihre spezifische Ästhetik verlieren werden.

M odelle für die P r a xis einer »E igenkunst« der M edien bei R ut tmann und F lesch Die bisher anhand von zeitgenössischen Zitaten entwickelte These einer Vernetzung und Hybridisierung zwischen akustischen und visuellen Künsten 16 | Rudolf Arnheim: Film als Kunst, Berlin 1932 und Rudolf Arnheim: Radio, London 1936 (unter dem Titel Rundfunk als Hörkunst in Berlin 1933 vollendet, aber seinerzeit nicht mehr auf deutsch erschienen). 17 | Rudolf Arnheim: Film als Kunst, Frankfurt a. M. 1979 (zuerst: 1932), S. 18.

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und Medien soll anhand einer praxisbezogenen Untersuchung der zunächst parallelen, sich dann verbindenden bzw. überschneidenden Entwicklungsstränge von absolutem Film und Hörspiel weiter ausgeführt werden. Die beiden exemplarischen Protagonisten im Kontext der Weimarer Republik sind Walter Ruttmann und Hans Flesch. Kurz das Wesentliche vorab: Ruttmanns Weg führt vom abstrakten (musikalischen) »absoluten« Film (Opus 1, 1921) über den aus Realszenen »musikalisch« montierten Stummfilm (Berlin  – Die Sinfonie der Großstadt, 1927) und den Tonfilm schließlich zum Klanghörspiel Weekend, 1930. Fleschs Weg führt von einem experimentellen Sendespiel in Eigenregie zur Beauftragung herausragender Künstler für die »Eigenkunst« der Medien – und damit auch zur Beauftragung von Ruttmann für besagtes Tonfilm-Hörspiel-Experiment Weekend, 1930. Der initiale Schritt in dieser zunächst parallelen, noch nicht verbundenen Entwicklung ist Walter Ruttmanns erster abstrakter Film Opus 1 mit einer Originalmusik von Max Butting. Im Einladungsbrief von Ruttmann zur Berliner Uraufführung 1921 heißt es: »Dieses photodramatische Werk […]. Als Beginn einer wirklich selbstständigen Filmkunst sieht man Gestaltungen, Farbe und Geschehen in einer bisher noch nie gezeigten Einigung zum Kunstausdruck werden. […] Die Symphonie des Optischen, die vielleicht bisher nur eine Spekulation der Aesthetiker war, wird hier Ereignis.«18

Vier Wochen vor der Berliner Uraufführung findet eine nicht-öffentliche VorabAufführung für die Presse in Frankfurt statt, noch ohne die Musik, am 1.  ­April im Ufa-Theater U. T. im Schwan. Dazu erscheint ein sehr ausführlicher Bericht von Bernhard Diebold, Eine neue Kunst. Die Augenmusik des Films, in der Frankfurter Zeitung vom 2. April 1921, der sogar noch über den Stand der Dinge hinaus geht: »Die Primitivität dieser geometrischen Gebilde wird einmal durch die großen Formen des Ausdrucks überwunden werden, wie die mathematische Kontrapunktik der Musik aus ihrer Absolutheit einst erlöst wurde.« 19 Lange galt Opus 1 als verschollen und ist erst auf dem Umweg über Moskauer Archive in den 1980ern aus verschiedenen Segmenten in einer SchwarzWeiß-Fassung rekonstruiert worden. Die von Ruttmann auf circa 10.000 Einzelbildern von Hand vorgenommene Colorierung wurde erst 2008 vom 18 | W. Ruttmann, 3. April 1921, zit. nach: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 78. 19 | Bernhard Diebold: »Eine neue Kunst. Die Augenmusik des Films«, in: Frankfurter Zeitung vom 02.04.1921, zit. nach: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 99.

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Filmmuseum München in digitaler Einzelbildretusche nach historischen Quellen wiederhergestellt 20. Dass Ruttmann der Autor des ersten öffentlich gezeigten abstrakten Films ist, geriet ebenfalls lange in Vergessenheit und wird erst 1977 wieder erkannt 21. Die Einheit von Produktion und Kreation entspricht eher der Rolle des Einzelkünstlers als der Arbeitsteilung von Filmproduktionen: Konzept, Regie, Kamera, Animation und sogar der Bau eines extra dafür entstandenen und patentierten Apparats fallen in der Person Ruttmanns zusammen. Laut dem Werbeblatt enthält der Film nichts anderes als »Geschehnisse von Farben und Form«22 . Oder wie es der Theaterkritiker und Dramaturg Herbert Jhering 1921 sieht: »Im Grunde war es die Urform des Lichtspiels (zu der hier erst eine späte Entwicklung kam): Formen in rhythmischer Bewegung zu zeigen, unabhängig von stofflichen Hemmungen, unabhängig von Belastung durch die Materie. Sichtbare Musik, hörbares Licht.«23 Medienspezifischer kann ein Kunstwerk kaum sein, auch wenn es, mangels anderer Möglichkeiten, eben immer noch zum Teil von Hand gemalt wird und laut der Patentschrift zur Apparatur »man den Auftrag der Bilder auf die Bildplatten mittels von Bildaufnahme zu Bildaufnahme feucht bleibender Farbe vornimmt.«24 Die durchweg positiven, ja teils emphatischen Besprechungen weisen mehrfach darauf hin, dass sich mit Worten nicht wiedergeben lässt, was zu sehen ist. »Ein gelbliches Dreieck schiesst in die Höh’ […] entwimmelt und zerduftet. Etwas Grünglitzerndes schwillt, schwimmt, schwindet.« Dies schreibt der Schriftsteller und Theaterkritiker Alfred Kerr 1921 und fügt hinzu »(Es ist nicht genau so – doch die Sprache muss das nachsingen.)«25 Fast Alle stellen auch die Analogie zur Musik her, so Bernhard Diebold, der schon 1916 eine solche Synthese voraussah und nun schreibt: »Die Malerei hat sich mit der Musik vermählt. Die Grenzsetzungen von Lessings ›Laokoon‹ sind unbestimmt geworden. Es gibt eine Augenmusik.«26 20 | Vgl. auch B. Diebold: »Eine neue Kunst«, dass Ruttmann »10.000 Filmphasen in dreiviertel Jahren gemalt hat« (S. 98). 21 | Birgit Hein/Wulf Herzogenrath: Film als Film. 1910 bis heute, Stuttgart 1977, S. 8ff . 22 | Laut Hans Pander, 1924, zit. nach: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 102. 23 | Herbert Jhering, 1921, zit. nach: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 99. 24 | Ruttmanns Patent vom 27. Juni 1920, zit. nach: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 76. 25 | Alfred Kerr, 1921, zit. nach: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 99; vgl. ebd. S. 101 Bernhard Diebold und S. 102 Hans Pander zur Nicht-Sprachlichkeit von Opus 1. Kerr und Jhering wirken übrigens auch mehrfach als Rundfunkkritiker. 26 | B. Diebold: »Eine neue Kunst.«, S. 99.

Absolute Klangbilder. Abstrakter Film und Radiohörspiel der 1920er

Der gelernte Mediziner Dr. Hans Flesch wird 1924 im Alter von 27 Jahren zum Künstlerischen Leiter der Südwestdeutsche Rundfunkdienst AG in Frankfurt berufen. Schon früh sucht er die Zusammenarbeit mit Brecht, B ­ enjamin, Adorno und dem Freund und seinem Schwager Hindemith. Circa ein Jahr nach dem offiziellen Sendebeginn entsteht in Frankfurt das erste Hörspiel der deutschen Radiogeschichte, von Flesch selbst verfasst und produziert 27. Wie der Titel Zauberei auf dem Sender. Versuch einer Rundfunkgroteske zeigt, ist es vor allem als Beispiel für die medienspezifischen Möglichkeiten des Radios und zur Anregung für weitere Autoren gedacht 28. In seiner Regieanweisung formuliert Flesch das Ziel: »durch den Zusammenklang der Geräusche eine rundfunkeigentümliche Kunstgattung anzudeuten.«29 Die spezifische wechselseitige Relation von Theorie und exemplarischer Praxis seiner Rundfunkarbeit benennt Flesch ausdrücklich 1925: »Dann die (zweite) Möglichkeit des Rundfunks, wo er als selbständige Kunstgattung auftritt: die ›Sendespiele‹. Einmal habe ich den Versuch unternommen, ein rundfunkcharakteristisches Hörspiel zu schaffen, schrieb – als Nichtschriftsteller, als Theoretiker eigentlich – die ›Zauberei auf dem Sender‹, um durch den Zusammenklang der Geräusche eine rundfunkeigentümliche Kunstgattung anzudeuten; diese Groteske wäre nie auf die Bühne oder in den Konzertsaal übertragbar, und das ist das Entscheidende.« 30

Flesch will laut seinem damaligen Assistenten Ernst Schoen, durchaus bescheiden, nur »das materielle Schema eines Kunstwerks« liefern, um den Weg für andere Autoren zu ebnen31. Radio entsteht – ganz so wie der absolute Film bei Ruttmann – am Anfang noch in enger Einheit von Kreation, Produktion, Verwaltung und Technik. Dies ist jedoch nicht nur aus der Not geboren, son27 | Die jeweiligen Premieren dieser parallelen aber damals noch nicht verbundenen Entwicklung von absolutem Film und Hörspiel finden interessanterweise also beide in Frankfurt statt. 28 | Die Sendung erfolgte live über den Sender Frankfurt am 24.10.1924 und wurde nicht aufgezeichnet. Das Skript wurde publiziert in: Funk 35 (1924); erstmals als Reprint in: Ulrich Lauterbach (Hg.), Zauberei auf dem Sender und andere Hörspiele, Frankfurt  a. M. 1962, S.  25–35. Nach dem Skript wurde 1962 vom Hessischen Rundfunk eine neue Fassung produziert. Siehe das Skript online unter: http://www.mediacultureonline.de/fileadmin/user_upload/Medienbildung_MCO/fileadmin/bibliothek/flesch_ zauberei/flesch_zauberei.pdf vom 18.08.2015. 29 | H. Flesch: Mein Bekenntnis zum Rundfunk, S. 445. 30 | Ebd. 31 | Ernst Schoen: »Vom Sendespiel, Drama, der Oper und dem Briefkasten«, in: Der Deutsche Rundfunk 42 (1924), zit. nach: Joachim-Felix Leonhard (Hg.), Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik, Band 2, München 1997, S. 1160.

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dern entspricht der Absicht des Stücks, dessen Thema vor allem das Medium selbst bildet: »Mitwirkende: Alle bei der Frankfurter Sendestation beschäftigten Personen, Dinge und Instrumente«, heißt es in der Ansage der Sendung32 . In diese familiäre Runde bricht die halluzinatorische Kraft des Mediums umso radikaler ein. Als erster bekommt sie der Leiter, im Stück dargestellt von Flesch, am eigenen Leibe zu spüren, worauf ihn seine Mitarbeiter für verrückt erklären lassen und beinahe ins Irrenhaus stecken. Kein einfacher Stoff für einen solchen historischen Anfang, nur leicht durch den Untertitel Versuch einer Rundfunkgroteske abgedämpft. Entsprechend verständnislos fällt die Kritik aus, deren Verdikt noch bis in die 1960er-Jahre nachhallt. »Nur eine formal belanglose Verulkung der damals noch fremdartigen Möglichkeiten des Mikrophons«, heißt es bei Heinz Schwitzke, dem Prediger des Wortwerks als einziger Kunstform des Rundfunks33. Die Gemeinsamkeiten zwischen dem ersten Hörspiel von Flesch und dem ersten absoluten Film von Ruttmann reichen weiter als die Bild-Ton-Analogie. Beide sind vor allem Reflektionen ihres Mediums. Sie sind eine erste Antwort auf die Frage, ob der Film, das Radio eine eigene Kunstform hervorbringen können. Ruttmann setzt laut Diebold einen Neuanfang für »das Instrument des Films, das durch so viel Banalität geschändet ist«34. Flesch geht es laut seinem damaligen Assistenten Ernst Schoen darum, die »Darstellung der wesentlichen akustischen Arbeitsfaktoren und Arbeitsmittel der Kunst durch Rundfunk« vorzustellen35. Beide Ansätze treffen unweigerlich auf einen zentralen Punkt des Mediums, seinen fiktionalen Charakter. Zauberei auf dem Sender gibt vor, keine Sendung, sondern eine Panne zu sein, die sich ins Unheimliche steigert. Es fängt damit an, dass der Sender sich angeblich nicht mehr abschalten lässt. Insofern wird die Illusion erzeugt, dass all dies gar nicht für die Ohren der Hörer bestimmt sei. Dann beginnen die Instrumente des Rundfunkorchesters zu spielen, ohne dass die Musiker sie anrühren, doch nur die Radiohörer und der Leiter können dies vernehmen. »Halten sie es für möglich«, fragt der Leiter deshalb, »ich meine – ganz im Prinzip – dass eine Musik ertönt, die tatsächlich nirgends gespielt wird?«36 Es klingt fast wie eine Beschreibung von Fleschs Hörspiel, wenn der amerikanische Kritiker Herman George Scheffauer schreibt: »Die stumme Symphonie war vorüber. War es nur eine akustisch32 | In: Radio-Umschau 36 (1924), S. 1116. 33 | H. Schwitzke: Das Hörspiel, S. 59. 34 | Bernhard Diebold, 1916, zit. nach: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 99. 35 | Ernst Schoen, 1924, zit. nach: Joachim-Felix Leonhard (Hg.), Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik, Band 2, München 1997, S. 1160. 36 | U. Lauterbach (Hg.), Zauberei auf dem Sender, S. 29.

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optische Illusion, dass man die Vibrationen dieser Symphonie zu hören glaubte, die man gesehen hatte?«37 In der Tat beschreibt er aber eine Aufführung von Ruttmanns Film, anscheinend ohne die Musikbegleitung. Statt eine Illusion von Realität vorzuspielen, erzielen die abstrakten Filme bei ihren Zuschauern direkte, physiologische Reaktionen. Zu den Opus-Filmen gibt es zahlreiche zeitgenössische Äußerungen, die ihnen die Fähigkeit zusprechen, beim Publikum »Lustgefühle« oder »mancherlei Ideenassozia­ tionen erotischer Art« auszulösen. Dies reicht bis zu einem Jugendverbot durch die Zensur für Opus 2, das aber eventuell auch durch eine befürchtete hypnotische Wirkung auf die Zuschauer begründet ist 38. Diese suggestive Wirkung von Medien, gerade nicht als eine reflexiv erkennbare Fiktion, sondern als unmittelbare Wirkung auf den Betrachter bzw. Hörer ist bei Ruttmanns Filmen eine Reaktion der Zuschauer und soll als Effekt auch durch Fleschs Vorspiegelung einer Senderpanne erzeugt werden. Es wird in dem Hörspiel jedoch auch explizit thematisiert, und zwar in dem Moment, wo die Senderpanne spätestens unglaubwürdig und damit die Suggestion aufgelöst wird. Am Schluss tritt der Zauberer auf, der für den Spuk verantwortlich ist und der sich dadurch an dem Leiter rächt, der es abgelehnt hat, ihn seine Kunststücke im Rundfunk aufführen zu lassen, weil er es für Unsinn hält, »Sachen die man nur sehen kann« ins Programm zu nehmen. Doch der Zauberer fordert die Leute über den Sender auf, in die Elektronenröhren ihres Radioapparats zu sehen, da »die Rundfunkzuhörer kraft meiner Macht Funkzuschauer« werden können39. Es geht hier also um die Magie des Mediums, mittels des Klangs Bilder zu erzeugen – und zugleich wird fast wörtlich das »in die Röhre Sehen« zukünftiger TV-Technik vorweggenommen. Zurück bleibt am Schluss ein zweifelnder Leiter: »Dann bin ich also wirklich geschlagen. Dann hat also der Unsinn recht behalten. Dann ist es also wirklich so, dass wir etwas tun wollten, was richtig ist, und konnten es nicht, weil ein anderer etwas tun wollte, was falsch ist.«40 Nur eine mit Schwung gespielte Schöne blaue Donau kann ihn vorläufig aus der Sinnkrise retten. Der Kreis schließt sich, wenn der Kritiker Hans Pander Opus 1+2 zum Anlass einer »tiefschürfenden Seelenforschung« nimmt: »Steht man vor einem derartigen Rätsel, wie es die Ruttmannschen Filme sicherlich für den Durchschnittsbesucher sind,« so empfiehlt er: »Suche zu dem Rätsel, das die Vorstellung beherrscht, Einfälle hervorzubringen, bilde eine Kette dieser Einfälle, dann wird diese Kette vielleicht zur Quelle 37 | Herman George Scheffauer: The New Vision in the German Arts, New York 1924, zit. nach: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 100. 38 | Vgl. Holger Wilmesheimer: Deutsche Avantgarde und Film. Die Filmmatinee »Der absolute Film«, 3. und 10. Mai 1925, Münster/Hamburg 1994, S. 51–53. 39 | U. Lauterbach (Hg.), Zauberei auf dem Sender, S. 32, 33. 40 | Ebd., S. 35.

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führen, aus der der anscheinend sinnlose Bewusstseinsinhalt stammt, und damit kann das Rätsel seinen Sinn enthüllen.«41 In beiden Fällen zeigt sich, mal ironisch, mal psychoanalytisch verbrämt, die Vorahnung einer Medienmacht jenseits aller Rationalität.

D as K l anghörspiel W eekend (1930) als S ynthese , H öhepunk t und zugleich E ndpunk t der E nt wicklung der 1920 er -J ahre »Alles Hörbare der ganzen Welt wird Material.« (Walter Ruttmann)

Schon 1925 distanziert sich Ruttmann von der »absoluten Mode«, an der andere, wie etwa der stark von Ruttmann beeinflusste Oskar Fischinger, noch Jahrzehnte weiterarbeiten sollten42 . Die weitere Entwicklung von Ruttmanns Werk ist wiederum exemplarisch für die Wechselwirkung zwischen medialer Veränderung der Wahrnehmung und innovativer künstlerischer Produktion. Sie führt ihn zur Überwindung seiner manuell hergestellten, noch dem malerischen Duktus verhafteten »Malerei mit Zeit« der insgesamt vier Opus-Filme. Stattdessen wendet er sich 1927 mit Berlin – Die Sinfonie der Großstadt einer musikalischen Montage von dokumentarischen Bildern zu. Seine Rückkehr zu Aufnahmen des Realen wird verstärkt durch die neue Technik des Tonfilms, der sich Ruttmann ab 1928 zuwendet. Als Werbefilm für den deutschen Rundfunk dreht er Tönende Welle (manchmal auch Deutscher Rundfunk genannt), ein Ton-Film-Experiment, bei dem er die Montagemethode des Berlin-Films auf den Tonfilm anwendet. Die Uraufführung findet bei der Berliner Funkausstellung 1928 statt; der Film ist bis heute verschollen. Für Ruttmann sind die vor allem auf die Narration im Sprechfilm und die Musikbegleitung orientierten Anfänge des Tonfilms enttäuschend: »Man benutzt ihn [den Ton] allzu oft nur als Dekoration zur Unterstreichung des Bildes und vernachlässigt so gut wie ganz den wesentlichen Vorteil dieses neuen Mittels: die Möglichkeit, mit Hilfe von Tönen andere Dinge auszudrücken, die sich von Bildern unterscheiden.«43 Konkret entwirft Ruttmann für seinen ersten Tonfilm die künstlerische Strategie »eines optisch-akustischen Kontrapunktes, ei41 | Hans Pander, 1924, zit. nach: Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 102. 42 | W. Ruttmann: »Die ›absolute‹ Mode«, S. 82. 43 | Walter Ruttmann in dem französischen Beitrag über Ruttmann von Jean Lenauer, Paris 1924, zit. nach: Jeanpaul Goergen: »Walter Ruttmanns Tonmontagen als Ars Acustica«, in: Massenmedien und Kommunikation 89, Siegen 1994, S. 42.

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nes Gegeneinandermusizierens zwischen sichtbaren und hörbaren Bewegungen.«44 In diesem Sinne schreibt auch Siegfried Kracauer anlässlich der ersten Tonfilm-Vorführungen: »Zu seinem eigentlichen Sinn wird der Tonbildfilm erst gelangen, wenn er das vor ihm nicht gekannte Dasein erschließt, das Tönen und Lärmen um uns, das mit den Bildeindrücken noch niemals kommunizierte und stets den Sinnen entging.«45 Kracauer lässt sich dabei explizit von Ruttmanns Tonfilm Tönende Welle inspirieren. Ihre erste und für lange Zeit auch einzige Verwirklichung erhalten alle diese zeitgenössischen Tendenzen und Ideen in Ruttmanns auf Tonfilm ohne Bilder produzierten Klanghörspiel Weekend, das er 1930 ebenfalls für den deutschen Rundfunk realisiert – und zwar im Auftrag von niemand anderem als Hans Flesch, mittlerweile Intendant der Berliner Funk-Stunde46. Weekend ist ein Solitär in der Kunst- und Mediengeschichte, das erste und für lange Zeit auch einzige komplett aus aufgezeichneten Klängen realisierte Radiohörspiel, ohne eine literarische oder textuelle Vorlage, montiert nur aus dem »natürlichen« Klangmaterial der Stadt Berlin. Es ist das erste Hörspiel, das nicht von Darstellern aufgeführt wird, sondern nur aus aufgezeichneten Originalklängen und dem O-Ton von Laien besteht. Schon während der Produktion berichtet der Berliner Film-Kurier: »Ruttmann, der seine Folge von sechs Hör-Szenen in drei Tagen aufnehmen will, wird mit Dilettanten und nicht mit Schauspielern arbeiten und neben den Tonatelieraufnahmen auch Außenaufnahmen in Berliner Fabriken, Untergrundbahnhöfen usw. machen.«47 So wie das gesamte Radioprogramm wurden Hörspiele seinerzeit als Live-Sendungen vor dem Mikrofon realisiert. Die anfangs noch mangelnde Tonqualität der verfügbaren Speichermedien (Schallplatte, Tonfilm) war ein 44 | Walter Ruttmann, 1928, zit. nach: Jeanpaul Goergen, Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 33. 45 | Siegfried Kracauer: Der verbotene Blick. Beobachtungen, Analysen, Kritiken, Leipzig 1992, S. 301. 46 | Weekend, Regie: Walter Ruttmann, Produktion: Reichsrundfunkgesellschaft u. Berliner Funk-Stunde, Länge: 11 Minuten 10 Sekunden, Uraufführung: 15. Mai 1930, Berlin (Haus des Rundfunks; interne Vorführung anlässlich der Fünf-Jahres-Feier der Reichsrundfunkgesellschaft), Ursendung: 13. Juni 1930, 21 Uhr, über die Berliner und die Schlesische Funkstunde im Rahmen des Programms »Hörspiele auf Tonfilmen«, in dem auch das Hörspiel Hallo! Hier Welle Erdball von Friedrich W. Bischoff ausgestrahlt wurde. (Weekend ist erhältlich als Teil der DVD Walter Ruttmann, Berlin, die Sinfonie der Großstadt & Melodie der Welt, Filmmuseum München, Edition Nr. 39, München 2008). 47 | Film-Kurier Berlin, Nr. 41 vom 15. Februar 1930. Vgl. die Versuche einer nachträglichen Transkription: Antje Vowinckel: Collagen im Hörspiel: die Entwicklung einer radiophonen Kunst, Würzburg 1995, S. 68–75, sowie die Strukturanalyse von Weekend durch Rudolf Frisius: http://www.frisius.de/rudolf/texte/txhorend.htm vom 18.08.2015.

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wesentliches Argument. Doch auch nach der Perfektionierung der Aufzeichnungstechnik gibt es kontroverse Debatten über den Reproduktionscharakter des Mediums Rundfunk: Aus heutiger Sicht bestehen erstaunliche ideologische Differenzen zwischen den Verteidigern der Liveness als einzig authentischer und »auratischer« Kunstform und den Befürwortern der Aufzeichnung mit anschließender Sendung (so wie heute üblich)48. Flesch gehört zu den Pionieren einer medienspezifischen Differenzierung: Bei Musik kann die Aufzeichnung mehrerer Aufführungen eines Stücks und die Auswahl der besten Version, um diese dann zeitversetzt zur Sendung zu bringen, die künstlerische Qualität verbessern. Insbesondere die Radiokunst des Hörspiels konnte durch die Vorproduktion aus Fleschs Sicht nur gewinnen; Aufzeichnungsmedien bieten die Möglichkeiten zur Kombination verschiedener Soundquellen und zur Perfektionierung durch Montage, ganz so wie im Film seinerzeit schon Standard. Hingegen setzte sich Flesch bei der Berichterstattung stark für die Live-Sendung von Originalschauplätzen ein, damals noch völlig ungewöhnlich, heute eine Selbstverständlichkeit49. Ein zentraler Begriff in den oft verworrenen zeitgenössischen Diskussionen ist die technische Reproduzierbarkeit von Kunst. Schon 1927 fordert László Moholy-Nagy »die bisher nur für Reproduktionszwecke angewandten Apparate (Mittel) zu produktiven Zwecken zu erweitern« und nennt dabei neben der Fotografie und dem Grammophon auch explizit den Tonfilm und sogar den Fernseher50. Schon bevor Walter Benjamin in seinem prominenten Essay die Reproduzierbarkeit der Kunst medien- und kunsttheoretisch untersucht, wird sie von Hans Flesch zu einem neuen Paradigma der Radiokunst 51. Aus heutiger Sicht könnte man Fleschs Intention so formulieren: Um sich end48 | Vgl. dazu Ludwig Stoffels, in: Joachim-Felix Leonhard (Hg.), Programmgeschichte des Hörfunks in der Weimarer Republik, Band 2, München 1997, S.  712–724, und: ­D ieter Daniels: What is Live? Von der Aura zum Avatar, Berlin 2011, http://transmediale. de/content/what-live-dieter-daniels-de-and-his-talk-about-what-live-aura-avatar vom 18.08.2015. 49 | Vgl. W. Hagen: Das Radio, S. 110. 50 | László Moholy-Nagy: »Produktion  – Reproduktion«, in: Malerei Fotografie Film 1927, Nachdruck Berlin 2000 (= Neue Bauhausbücher), S. 28. 51 | Wolfgang Hagen spekuliert sogar: »daß man meinen könnte, er, Benjamin, […] habe seine berühmten Thesen seinem lang jährigen Arbeitgeber  – Hans Flesch in Frankfurt und Berlin – abgelauscht.« (W. Hagen: Das Radio, S. 108.) Doch sind Benjamins Thesen sehr viel komplexer und widersprüchlicher als die pragmatischen und resultatorientierten Vorschläge von Flesch. Benjamins prominenter Aufsatz zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit geht interessanterweise mit keinem Wort auf das Radio ein, obwohl es das einzige technische Medium ist, mit dem Benjamin eigene praktische Erfahrungen sammeln konnte.

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gültig aus der Entwicklungslinie der Übertragungsmedien Telegrafie und Telefonie zu lösen, muss das Radio zu einer Hybridisierung seiner Kunstform mit der Entwicklungslinie der Speichermedien Fotografie und Film finden. Zugleich werden die Grenzen zwischen einer technischen Reproduktion von Kunst und einer künstlerischen Produktion mittels Reproduktionstechniken dabei unscharf. Wir stehen damit am Beginn einer bis heute reichenden Hybridisierung und Verflechtung von künstlerischen und medientechnischen Entwicklungssträngen. Deshalb hat Flesch mit Walter Ruttmann den idealen Künstler für seine Suche nach einer medienspezifischen Radiokunst gefunden: Weekend nutzt die Erfahrungen des Avantgardefilms für eine neue Klangkunst, die erstmals nicht mehr an ein Skript gebunden ist und sich rein aus dem akustischen Material entwickelt, die sich zugleich von der Linearität und Ortsgebundenheit einer Live-Sendung löst, um in einer filmischen Klangmontage verschiedene Zeiten und Räume zusammen zu koppeln. In seinem Text Neue Gestaltung von Tonfilm und Funk. Programm einer photographischen Hörkunst formuliert Ruttmann bereits im Oktober 1929, also sieben Monate vor der Fertigstellung des Hörspiels, die theoretischen Grundlagen für Weekend. Der programmatische Charakter kommt dem Typoskript Malerei mit Zeit von 1919/1920 gleich, in dem er die theoretische Basis für den absoluten Film formuliert. Die schon im Begriff der »photographischen Hörkunst« angelegte Übertragung von Methoden des Films auf das Hörspiel wird hier als künstlerische Konsequenz aus den bis dahin nicht genutzten technischen Möglichkeiten des Tonfilms entworfen: »Wirkliche Gestaltung und kompositorische Zusammenfassung des dem Rundfunk zur Verfügung stehenden natürlichen Materials setzt die Möglichkeit einer von allen Zufälligkeiten freien und bis ins Letzte vom Schöpfer verantworteten Montage  – wie im Film – voraus. D i e Te c h n i k d e s To n f i l m s b r i n g t d i e M ö g l i c h k e i t . Unter Tonfilm ist hier nicht die Kombination optischer und akustischer Photographie zu verstehen, sondern lediglich das Verfahren, hörbare Phänome[ne] unstilisiert und einschließlich ihres spezifischen Raumcharakters zu photographieren. Da nun die Photo­ graphie des Tons durch Belichtung eines Filmbandes geschieht, ergeben sich für die akustische Montage die gleichen Möglichkeiten wie beim Filmschnitt. A l l e s H ö r b a r e d e r g a n z e n We l t w i r d M a t e r i a l. […] Damit ist der Weg offen für eine vollkommen neue akustische Kunst – neu nach ihren Mitteln und nach ihrer Wirkung.« 52

52 | Walter Ruttmann: »Neue Gestaltung von Tonfilm und Funk. Programm einer photographischen Hörkunst«, in: Film-Kurier Berlin, Nr. 255 vom 26. Oktober 1929, Reprint in:

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Die für Ruttmann typische Mischung von technischer Pragmatik, ingenieurshafter Machbarkeitsbeschreibung und künstlerischer, wirkungsorientierter Vision kommt hier, wie schon 1919/20, voll zur Geltung. Deshalb lässt sich behaupten: Kein Musiker oder Schriftsteller hätte eine solche Lösung finden können, sondern nur Ruttmann, als Pionier des abstrakten Films, der sich aber auch schon früh wieder von der »absoluten« Kunst ab und dem »natürlichen Material« zuwendet, das er für seinen Berlin-Film durch ein »Beschleichen der Wirklichkeit« aufspürt. Die akustische Entsprechung dieser doppelten Erfahrung im Film entsteht mit Weekend  – weniger »absolute« Kunst als vielmehr »konkret« – im Sinne der späteren »musique concrète«, die damit bereits vorweggenommen wird. Eine lange Vorgeschichte von Avantgarde-Ideen, die von Luigi Russolos Manifest zur Geräuschkunst von 1913 über Dziga Vertov, der schon 1916 Klänge »fotografieren« wollte, bis zu Kurt Weills 1925 skizzierter »absoluter Radiokunst«, die »Rufe menschlicher und tierischer Stimmen, Naturstimmen, Rauschen von Winden, Wasser, Bäumen …« enthalten sollte, findet mit Weekend ihre erstmalige Realisierung. Um abschließend auch in der Rezeption die Brücke zum Film zu schlagen, sei darauf verwiesen, dass Weekend mehrfach in Kinos aufgeführt wurde, unter anderem auf dem 2. Internationalen Kongress des Unabhängigen Films in Brüssel (27.11.–01.12.1930) als ein Beispiel für die deutsche Schule des Avantgarde-Films, sowie bei weiteren Veranstaltungen in Berlin und eventuell auch in Paris53. Die bisher zwar ideell verwandten, aber faktisch getrennt verlaufenden Entwicklungen einer medienspezifischen Filmkunst bzw. Radiokunst kommen bei Weekend erstmals zusammen – und das ausgerechnet in Person der beiden Pioniere des absoluten Films bzw. des Klanghörspiels: Ruttmann und Flesch. Der Einsatz des Tonfilms als innovativem Speichermedium für den Rundfunk wird von Flesch als Intendant der Berliner Funk-Stunde maßgeblich vorangetrieben. Seine Vision einer »Eigenkunst« des Radios wird durch die Zusammenarbeit mit Ruttmann erstmals greifbar. In dem programmatischen Text Rundfunk heute von 1930 beschreibt Flesch seine Suche nach der »… Sendung als Eigenkunstwerk. Ich habe bisher noch nichts gesehen bzw. gehört, was diese Bezeichnung rechtfertigt, weder musikalisch noch literarisch, obwohl ich mich bemühe, alles in dieser Richtung, jede Andeutung, jeden Versuch vor das Mikrophon zu bringen. Hindemiths Orgelkonzert, das Berliner Requiem von Brecht und Weill, Bischoffs ›Song‹, der ›Lindbergh-Flug‹, um vier Beispiele zu nennen, sind Stücke unterschiedlicher künstlerischer Qualität, die sich zweifellos für den Rundfunk sehr gut eignen und sich seinen Möglichkeiten anpassen. Niemand kann aber behaupten, dass sie ausschließJ. Goergen: »Walter Ruttmanns Tonmontagen«, S. 25–26. Siehe Auszüge online: http:// www.medienkunstnetz.de/quellentext/40/ vom 18.08.2015. 53 | J. Goergen: »Walter Ruttmanns Tonmontagen«, S. 2 und S. 31.

Absolute Klangbilder. Abstrakter Film und Radiohörspiel der 1920er lich und nur durch Rundfunk zur Wirkung kommen können. Der im Auftrag der Berliner Funk-Stunde fertig gestellte rein akustische Film ›Weekend‹ von Walter Ruttmann ist vielleicht der kühnste, eigenartigste und weitestgehende Versuch, den es bisher gibt.« 54

Die besondere Bedeutung, die Flesch diesem Stück beimaß, zeigt sich ebenso an der zweimaligen Radiosendung am Abend der Premiere, eine Wiederholung von Weekend in voller Länge folgte »nach den erklärenden Worten des mit grosser Liebe für diesen Versuch sich einsetzenden Intendanten Flesch.«55 So gut wie nichts ist über die persönliche Relation von Flesch und Ruttman bekannt, zumal ihre Biografien ab 1933 diametral entgegengesetzt verlaufen – Verfolgung durch das NS-Regime bei Flesch, Andienung an das System bei Ruttmann. Offenbar gab es nur um 1929/1930 für eine kurze Zeit eine kongeniale Korrespondenz ihrer Interessen an der »Eigenkunst« der Medien. Diese bleibt jedoch sowohl für die Seite der Kunst wie für die Seite des Massenmediums Rundfunk weitgehend folgenlos. Zwar hat Weekend zur Zeit der Entstehung eine sehr breite Resonanz, die sich in ausführlichen Rezensionen und Interviews in der deutschen Presse und ebenso europaweit aus Paris, Rom und Prag niederschlägt 56. Hans ­R ichter berichtet über die Begeisterung von Vsevolod Podovkin, dem Ruttmann ­Weekend vorführte57. Umso erstaunlicher bleibt das völlige, jahrzehntelange Vergessen von Weekend, über das sich nach 1932 keinerlei weitere Literatur oder Aufführungen nachweisen lassen. Zu dieser Folgenlosigkeit gehört auch das spurlose Verschwinden des originalen Tonfilms und ebenso der Sendekopien auf Schallplatte aus den Rundfunkarchiven. Weekend hat nur zufällig als Tonbandkopie bei dem nach New York emigrierten Schnittmeister Paul ­Falkenberg überlebt, wo es 1978 entdeckt und von Hansjörg Schmitthenner im Bayrischen Rundfunk am 28.04.1978 erstmals wieder gesendet wird58. Welche Gründe gibt es für diese weitgehende Folgenlosigkeit einer Pionierleistung, deren Methoden doch von der »musique concrète« über die künstlerische Arbeit mit »Soundscapes« bis zum popkulturellen Sampling so vieles vorweggenommen haben? Tatsächlich hat sich Ruttmanns und Fleschs Forderung nach einer medienspezifischen Kunst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts umfassend realisiert, allerdings ohne Bezug auf ihre Pionierleistungen, die inzwischen der Vergessenheit anheim gefallen waren. Besonders auffällig 54 | Hans Flesch: »Rundfunk heute«, in: Der Querschnitt Berlin, X/4 (1930), zit. nach: J. Goergen: »Walter Ruttmanns Tonmontagen«, S. 32. 55 | Acoustos, Funk-Kritik der Woche, 1930, zit. nach: J. Goergen: »Walter Ruttmanns Tonmontagen«, S. 39. 56 | Siehe die Reprints in: J. Goergen: »Walter Ruttmanns Tonmontagen«, S. 41–52. 57 | Hans Richter: Köpfe und Hinterköpfe, Zürich 1967, S. 156–157. 58 | J. Goergen: »Walter Ruttmanns Tonmontagen«, S. 2f.

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ist dieses Vergessen der Pionierleistungen von Ruttmann und Flesch etwa im Vergleich zu der breiten Rezeptionsgeschichte von Bertolt Brechts letztlich an einer Fehleinschätzung des Mediums weitgehend gescheitertem Hörspielversuch Lindberghflug 59. Hier sind letztlich nur Spekulationen über eine Kombination unterschiedlichster Faktoren möglich: Auf der Seite der Technik: Die Nutzung des Tonfilms im Radio setzt sich aufgrund hoher Kosten und problematischer Tonqualität nicht durch, Weekend und eine zweite Auftragsproduktion von Friedrich W. Bischoff bleiben Einzelfälle. Stattdessen wird ab 1930 die Wachsschallplatte für den Rundfunk eingesetzt, mit der jedoch keine filmische Montage mehr möglich war. Auf der Seite der Politik: Die Mitwirkung Ruttmanns bei Leni Riefenstahls Triumph des Willens und seine eigenen Propagandafilme zur NSZeit haben sicherlich einen wesentlichen Anteil daran, dass er nicht mehr als Teil der nach 1945 wiederzuentdeckenden Avantgarde der 1920er-Jahre betrachtet wurde. Und auf der Seite der Kunst? Im Epilog sollen abschließend verschiedene Paradoxien untersucht werden, die der Übertragung einer idealen »absoluten« Kunst auf die Medien entgegenstehen, die nichts mit den spezifischen, bisher genannten Aspekten von Weekend und Ruttmann zu tun haben. In der Tat hat diese ästhetische Frage vielleicht schon Nina Hamson, die damalige Lebensgefährtin von Ruttmann, erahnt, wenn sie 1930 zu Weekend schreibt: »Dieses Werk, das den Beginn einer neuen Kunst markiert, zeigt auch deren Vollendung an.«60

E pilog : Thesen zur medienspe zifischen K unst der 1920 er und den P ar adoxien der Ü bertr agung einer » absoluten K unst« auf die M edien Aus heutiger Sicht überrascht es, dass die hier skizzierten Pionierleistungen einer medienspezifischen Kunst so gründlich in Vergessenheit geraten konnten. In der Tat waren die Opus-Filme und Weekend von Ruttmann ebenso wie Fleschs Zauberei auf dem Sender bis in die 1970er-Jahre hinein weitgehend unbekannt  – während zeitgleich eine intensive Debatte die Entstehung der massenmedialen Medienkunst (Experimentalfilm, Fernseh- und Videokunst, Klanghörspiel, Elektronische Musik etc.) begleitet. Erst im Rückblick werden 59 | Vgl. Dieter Daniels: »Lindberghs Flug und Brechts Kampf mit dem Apparat.  Eine kritische Revision von Bertold Brechts Radiotheorie und seines Hörspiel-Experiments Der Lindbergh Flug«, in: Jessica Nitsche/Nadine Werner (Hg.), Populärkultur, Massenmedien, Avantgarde 1919–1933, Müchen 2012, S. 83–97. 60 | Nina Hanson in einem französischen Beitrag über Ruttmann: La Revue du Cinema Paris 2/12 (1930), zit. nach: J. Goergen: »Walter Ruttmanns Tonmontagen«, S. 46.

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diese Errungenschaften der 1920er zu einer Art von ›übersehenen Vorbildern‹ einer komplexen und vielgestaltigen, bis heute weiter wirkenden Entwicklung. Das gleiche gilt für die oben zusammengefassten Theorien der 1920er, die in vieler Hinsicht bis heute aktuelle Grundfragen einer Kunst mit und in technischen Massenmedien erstmals erörtern. Die Gründe, die dafür angeführt werden können, sind eine vielfältige Mischung biografischer, politischer, wirtschaftlicher und technischer Faktoren – und, das wurde bisher selten diskutiert, auch künstlerischer Art. Zunächst zu den evidenten äußeren Faktoren: Mit dem Ende der Weimarer Republik und der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus endet auch die Phase der künstlerischen Experimente in Film und Rundfunk: Flesch wird entlassen und verfolgt, Weill, Arnheim und Fischinger fliehen in die USA, Ruttmann wendet sich dem Faschismus zu. Aber auch schon vor 1933 und unabhängig von dem Kulturbruch des Nationalsozialismus gibt es wichtige ökonomische und institutionelle Gründe, die der Übertragung einer »absoluten Kunst« auf die (Massen-)Medien entgegenstehen. Im Unterschied zu den USA besteht in Deutschland während der 1920er eine grundsätzliche Trennung der ökonomisch-institutionellen Verfassung von Film und Rundfunk. Film existiert nur privatwirtschaftlich, d. h. als kommerzielle Kinoaufführung, das Radio nur als staatlicher Rundfunk, über Rundfunkgebühr finanziert und unter direkter politischer Kontrolle. Ein Film kann nur als Unterhaltung überleben, dem Radio hingegen wird ein Bildungsauftrag staatlich verordnet. Walter Ruttmann beschreibt dieses Dilemma schon 1928 und folgert: »Die Filmkunst braucht einen starken Patron,« die Industrie kann diese Aufgabe wegen anderer Interessen nicht übernehmen, deshalb ist der Staat »fürs erste die ›letzte‹ Hoffnung.«61 Für die von Ruttmann geforderte Einrichtung eines experimentellen Labors für künstlerischen Film findet sich jedoch keine staatliche Unterstützung. Eine Entsprechung für das Radio ist hingegen die der Hochschule für Musik in Berlin angegliederte Rundfunkversuchsstelle, an der 1928–33 unter anderem Paul Hindemith, Friedrich Trautwein und Oskar Sala Grund­lagen der elektronischen Musik erarbeiten. Ruttmanns Ausweg aus diesem Dilem­ ma sind seine erfolgreichen Werbefilme, die teilweise identisches Filmmaterial aus seinen abstrakten Opus-Filmen für die Produktwerbung einsetzen. So wird aus dem Kampf geometrischer Formen von Opus 1 in Der Sieger der Kampf des runden Reifens gegen die spitzen Steine der Landstraße. Zwischen »absoluter« und »angewandter« Kunst, oft als Antipoden betrachtet, bestehen offenbar produktive Interferenzen. Auf Basis der bisherigen Analysen zur Entwicklung der 1920er lassen sich jedoch neben diesen äußeren Faktoren auch kunst- und medienspezifische 61 | Walter Ruttmann: Staat, Film und Alkohol, 1928, zit. nach: Jeanpaul Goergen: ­Walter Ruttmann. Eine Dokumentation, Berlin 1989, S. 82.

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Aspekte herausarbeiten, die hier nur kurz angedeutet werden können. Erstens kommt es zu technischen Paradoxien bei der Übertragung einer »absoluten Kunst« auf die Medien. Die klassischen Gattungen (Malerei, Musik, Literatur) treffen auf medienbasierte Techniken (Film, Radio, Tonfilm, Schallplatte), dabei entsteht eine unklare Konfliktzone zwischen der künstlerischen Fixierung auf Speichermedien (Malerei, Literatur, Tonfilm, Schallplatte) und der komplementären Fixierung auf die Live-Aufführung bzw. Live-Medien (Musik, Radio). Es entstehen neue Kombinationen und Hybride von Live-Aufführung mit Übertragungsmedien und Speichermedien, die sich nicht mit den bisherigen Gattungsgrenzen kategorisieren lassen: Absoluter Film ist gespeicherte Malerei mit Zeit, die synchron zu einer Livemusik gezeigt wird; das Hörspiel ist eine Livesendung von Literatur, teils mit Einsatz vorproduzierter Geräusche. Das heißt, die Ideen einer »absoluten Kunst« führen bei ihrer Übertragung aus dem Kontext der Malerei und der Musik auf die neuen Medien Film und Radio zu mehrfacher Verschränkung und Überlagerung von Speichermedien und Live-Praktiken. Daraus ergeben sich zweitens ästhetische bzw. konzeptuelle Paradoxien der Übertragung einer »absoluten Kunst« auf die Medien. In seiner Genese aus der Fotografie ist der Film ein Medium der Aufnahme/Wieder­ gabe/Montage von konkreten Realszenen, hingegen zeigt sich der absolute bzw. abstrakte Film als ein Medium der Malerei/Komposition/Synthese, also ohne direkten Bezug zur äußeren Welt. Damit nähert sich der absolute Film einer­seits der malerischen Abstraktion und andererseits der absoluten Musik, die wiederum bei Kandinsky, Picabia, Kupka und Mondrian als Legitimation für ihre Malerei angeführt wird. Hingegen wäre eine »absolute« Radiokunst (mit Weekend als einzigem Beispiel) auf dem Medium Tonfilm gekoppelt an das »natürliche Material« der Geräusche und deren Montage, und damit eigentlich ebenso wie Fotografie und Film »konkret«, jedoch nicht »abstrakt« im Sinne des absoluten Films. Dieser dreifache Transfer zwischen zeitbasierter und ikonischer Kunst (absolute Musik  – abstrakte Malerei  – absoluter/abstrakter Film  – absolutes Klanghörspiel) würde, verliefe er völlig reibungslos, die Notwendigkeit einer medienspezifischen Kunst geradezu konterkarieren. Doch er verläuft alles andere als reibungslos, vielmehr wird er Auslöser von kategorialen Irritationen: Künstlerisch-kreative Kategorien wie »abstrakt«, »absolut«, »konkret« sind nicht mehr trennscharf (wenn sie es denn je waren), ebenso greifen ökonomisch-ästhetische Unterscheidungen zwischen »absoluter« und »angewandter« Kunst oder die technisch-ästhetische Differenz von technischer Reproduktion zur künstlerischen Produktivität mit Reproduktionsmedien nicht mehr. Aus heutiger Sicht kündigt sich hier eine Begriffsverwirrung an, deren Auslöser nichts anderes als die neuen ästhetischen Möglichkeiten der Medientechniken Film und Radio sind, die sich zudem untereinander in dem oben

Absolute Klangbilder. Abstrakter Film und Radiohörspiel der 1920er

geschilderten zeitgenössischen Diskurs vernetzen und gegenseitig ebenso befruchten wie irritieren. Eine solche Begriffsverwirrung lässt sich auch bereits in den theoretischen Texten aus den 1920er-Jahren diagnostizieren. Beispielsweise sollte für Kurt Weill die absolute Radiokunst auch die Erzeugung und Synthese von Klängen ermöglichen, Weill schreibt über das Mikrofon als sei es ein Medium der Klangerzeugung, obwohl es sich doch um ein Medium der Aufzeichnung und Reproduktion handelt, dank »unerhörter Geräusche, die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte.«62 Den »absoluten Film« nimmt Weill (nach dem Besuch der gleichnamigen Veranstaltung 1925) zwar zum Anlass seines Textes, zugleich wendet er sich gegen dessen Tendenz zur angewandten Kunst, ihm fehlt laut Weill »die Seelenhaftigkeit, der innere Gesang. Dieser Mangel am Wesentlichen macht den absoluten Film zum Kunstgewerbe.«63 Hingegen wendet sich Ruttmann 1928 ausdrücklich gegen die absolute Musik als falsches Vorbild, denn dann drohe dem absoluten Film ein ebensolches Schicksal der Marginalisierung: »Soll er in schlecht besuchte Konzertsäle abwandern, sich klösterlich destillieren für eine kleine Gemeinde ästhetisch anspruchsvoller, die über die ›Reinheit‹ seiner Struktur wachen?« Denn »wo er sich als Selbstzweck und -ziel gebärdet, gleitet er automatisch in die ­Rumpelkammern des l’art pour l’art hinein, aus denen gerade der Film uns erlöst hat.«64 Ganz offensichtlich gehen Weill und Ruttmann von verschiedenen Konzepten einer ›absoluten‹ Kunst bzw. Musik aus. Die Fortsetzung solcher Debatten über Autonomie oder Medienspezifik zieht sich durch die gesamte Geschichte der sogenannten Medienkunst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, beginnend mit der parallelen Entwicklung von elektronischer Musik und Videokunst ab den 1950er/60er-Jahren. In den 1990er-Jahren wird die digitale Fotografie als Hybrid zwischen den Paradigmen der Reproduktion und der Synthese von Bildern erneut zum Gegenstand einer produktiven Begriffsverwirrung, Vergleichbares gilt für das Sampling als kreative Umkodierung von Reproduktionsmedien. Zeitgleich versucht die Netzkunst das Internet als »Medium« zu thematisieren, bevor klar wird, ob es sich dabei überhaupt um ein Medium im klassischen Sinne handelt. Diese Debatten der 1990er sind bis heute nicht abgeschlossen, doch sie stagnierten zumindest im Kunstkontext ab den 2000ern, während man scheinbar zur Normalität der Produktion und der Kategorisierungen zurückkehrt. Unter dieser teilweise als »postmedia« etikettierten, scheinbaren Normalität liegen jedoch nach wie vor 62 | K. Weill: »Möglichkeiten absoluter Radiokunst«, S. 195. Wolfgang Hagen verweist hierzu auf Weills Lehrer Ferruccio Busoni als Inspirationsquelle (W. Hagen: Das Radio, S. 95). 63 | K. Weill: »Möglichkeiten absoluter Radiokunst«, S. 193. 64 | W. Ruttmann: »Die ›absolute‹ Mode«, S. 82.

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die in den 1920er-Jahren erstmals aufgebrochenen und bis heute aktuellen Fragen nach dem Status der Kunst in einer medienbasierten Gesellschaft65.

65 | Vgl. den Überblick zur Begriffsverwirrung betreffs »postmedia«: Andreas Broeckmann: »Postmedia« Discourses. A Working Paper; http://www.mikro.in-berlin.de/wiki/ tiki-index.php?page=Postmedia+Discourses vom 18.08.2015.

Die Ökonomisierung der Wahrnehmung Anmerkungen zur Wirtschaftsgeschichte der Medien oder: vom Aufstieg und Niedergang des Selbstspielklaviers Marion Saxer / L eonie Storz

Das Wirtschaftssystem des Kapitalismus wurde von dem Medienwissenschaftler Hartmut Winkler als eine faszinierende, schillernde, bewunderungswürdige und erstaunlich langlebige Maschine bezeichnet, die alle Lebensbereiche erfasst und ihre Vitalität aus dem Konflikt, dem Widerspruch einander widerstrebender Interessen bezieht 1. Auch in die Entstehungsgeschichte der neuen Medien im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert sind Momente jenes gewaltigen, dynamischen Prozesses eingeschrieben, denn diese Geschichte spielt sich in Abhängigkeit von klassischen ökonomischen Zusammenhängen wie privatwirtschaftlichen Besitzverhältnissen, Mehrwertproduktion, Waren­ tausch, Geldökonomie und unternehmerischem Handeln ab. Geht man mit Jonathan Sterne davon aus, dass die Industrie zu den wichtigsten media­lisierenden Faktoren überhaupt gehört, dann gewinnt die Aufarbeitung der ökonomischen Prozesse in der Frühphase der Reproduktionsmedien noch an Dringlichkeit, liegen doch hier die Wurzeln einer Ökonomisierung der Wahrnehmung, die sich heute in den digitalen Reproduktionsmedien sedimentiert und die Hörkultur bis in physiologische Konditionierungen hinein bestimmt 2 .

1 | Hartmut Winkler: »Netzbildung durch antagonistisches Handeln. Bietet die Ökonomie ein Modell für ein Verständnis der Medien?«, in: Ralf Adelmann et al., Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006, S. 47–63, hier S. 47. 2 | Vgl. Jonathan Sterne: MP3. The Meaning of a Format, Durham 2012, S.  52 und S. 261, Fn 47.

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Eine Wirtschaftsgeschichte der Frühzeit der Reproduktionsmedien liegt jedoch bislang weder in der Medienwissenschaft noch in der Musikwissenschaft vor. Im Rahmen der folgenden Ausführungen ist es nicht möglich, auf alle komplexen ökonomischen Vernetzungen der Entstehungszeit der Musik­ industrie einzugehen. Dieses Unterfangen entspräche allein dem Umfang nach gleich mehreren größeren Forschungsprojekten. Die Recherche für den vorliegenden Beitrag musste zwangsläufig wesentlich bescheidener ansetzen. Was zunächst überraschte und nicht wenig Mühe bereitete war die Tatsache, dass – ungeachtet einer Flut an vereinzelten Detaildaten – bereits die basalen Wirtschaftsdaten der einzelnen Medien durchweg lückenhaft dokumentiert sind. Im Folgenden kann deshalb lediglich ein Überblick über einige zentrale Trends der Zeit präsentiert und mit einigen Vorüberlegungen zu einer noch zu schreibenden Wirtschaftsgeschichte der Frühzeit der Reproduktions­medien verknüpft werden. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen stand dabei die Frage nach den Gründen für den wirtschaftlichen Aufstieg und Niedergang des Selbstspielklaviers. Dass die Verkaufszahlen mechanischer Klaviere diejenigen der traditionellen Handspielklaviere einige Jahre lang deutlich überstiegen, ist heute nahezu vergessen und kaum vorstellbar. Wie kam es dazu, dass diese in der Zeit ihrer Entstehung technisch so innovativen Wunderwerke nach einer ca. 20-jährigen Zeit der Blüte von der »Maschine Kapitalismus« aussortiert wurden und sich nicht auf dem Markt behaupten konnten? Dazu zunächst einige Fakten:

A ufstieg und N iedergang des S elbstspielkl aviers Die Wirtschaftsgeschichte des Selbstspielklaviers ist nicht denkbar ohne die vorherige von Eduard Hanslick als »Clavierseuche« bezeichnete, massenhafte Verbreitung des Klavierspiels und dem damit verbundenen Auf blühen der Klavierindustrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vom Klavierspiel als Statussymbol des Bildungsbürgertums berichtet Adolf Bernhard Marx bereits im Jahr 1855: »Und was in der ›Hauptstadt Europas im 19. Jahrhundert‹ vorgemacht wurde, dem eifert […] unerschrocken und unberechnend die Menge nach; bis in die Kreise des Kleinhandels und Gewerks hinein wird der endlos drängenden Arbeitsnoth Zeit, dem knappen Erwerbe Geld abgelistet und abgerungen, um wenigstens für die Töchter Klavier Noten Lehrer Musikbildung zu erbeuten, vor allem in der Hoffnung damit zu den ›Gebildeten‹ zu zählen.« 3 3 | Adolf Bernhard Marx: Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Pflege. Methode der Musik (1855), Leipzig 1873, S. 88.

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350 300

in Tausend

250 200 Player Pianos

150

Handspielklaviere

100 50 0 1900

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Produktionsjahr

Abb. 1: Produktionszahlen Player Pianos und Handspielklaviere in den USA. Quelle: Autoren.

Im prosperierenden Deutschen Kaiserreich war die Klavierindustrie zwischen 1871 und 1913 ein durchaus gewichtiger ökonomischer Faktor. Die deutsche Klavierproduktion lag z. B. im Jahr 1886 mit 73.000 Stück weit vor den USA, Frankreich und England (mit 25.00, 20.000 und 35.000 Stück)4. Das im Jahr 1895 entwickelte Kunstspielklavier konnte an die Beliebtheit und weite Verbreitung des Handspielklaviers direkt anknüpfen und bescherte der Klavierindus­ trie einen neuen Aufschwung. Abbildung 15 zeigt, wie sich die Produktionszahlen von Selbstspiel- und Handspielklavieren6 in den USA entwickelten. Produktions- und Verkaufszahlen des deutschen oder europäischen Marktes liegen bislang nicht vor. Es ist

4 | David Wainwright: The Piano Makers, London 1975, S.  120, vgl. auch: Konstantin Restle: »Faszination Klavier. Die Erfolgsgeschichte des Pianoforte«, in: Ders. (Hg.), Faszination Klavier. 300 Jahre Pianofortebau in Deutschland, München/London/New York 2000, S. 81–162, hier S. 87. 5 | Werte für 1900: Andreas Ballstaedt: »Das Selbstspielklavier als Schnittpunkt von Mensch, Musik und Maschine. Szenarien der Jahrhundertwende«, in: Boje E. Hans Schmuhl (Hg.), Maschinen und Mechanismen in der Musik (= Michaelsteiner Konferenz­b erichte, Band 69), Augsburg 2006, S. 95–108, hier S. 96, auch Arthur W. J. G. Ord-Hume: »Player piano«, in: Grove Music Online/Oxford Music Online, http://www.­o xfordmusiconline.com/ subscriber/article/grove/music/21928 vom 09.01.2015. Werte für alle anderen Jahre aus bzw. nach Harvey N. Roehl: Player Piano Treasury, New York 1973, S. 53. 6 | Eine Erläuterung der Begriffe Selbstspiel-, Kunstspiel- und Reproduktionsklavier gibt Kai Köpp im ersten Teil seines Artikels in diesem Band.

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Marion Saxer / Leonie Storz Abb. 2: »Over there«: Werbung in Zeiten des Krieges. Quelle: The Brooklyn Daily Eagle vom 03.05.1918 (Scan: http://bklyn. newspapers.com/ image/55298417/ vom 03.12.2015).

jedoch davon auszugehen, dass die Entwicklung auf dem europäischen Markt ähnlich verlief, wenn auch zeitverzögert und auf einem niedrigeren Niveau 7. Fünf Jahre, nachdem das erste Kunstspielklavier »Pianola« in Amerika auf den Markt kam, also im Jahr 1902, wurden in den USA bereits 6000 7 | A. Ballstaedt: »Das Selbstspielklavier«, S. 96 / Jürgen Hocker: Faszination Player Piano. Das selbstspielende Klavier von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bergkirchen 2009, S. 168.

Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Wir tschaf tsgeschichte der Medien

Selbstspielklaviere jährlich produziert 8 . Die weiter in die Höhe schnellenden Produktionszahlen dokumentieren die Attraktivität dieser neuen Instrumente: 1909 – inzwischen waren in Deutschland auch Reproduktionsklaviere wie das »Welte-Mignon« und »Hupfeld DEA« auf dem Markt – produzierten amerikanische Firmen rund 45.000 Selbstspielklaviere, 1914 rund 95.000 und 1918 rund 180.000 9. Für die Jahre des Ersten Weltkriegs liegen keine Zahlen vor. Die Werbe­ anzeige in Abbildung 2 belegt jedoch, dass das Selbstspielklavier auch in dieser Zeit eindringlich beworben wurde. Bis 1919 sind die Kurven der Produktionszahlen gegenläufig: Die Zahl der Selbstspielklaviere nimmt zu, während diejenige der Handspielklaviere merklich zurückgeht. Ab 1919 aber nehmen die Kurven einen ähnlichen Verlauf, wobei die der Selbstspielklaviere weniger starke Ausprägungen sowohl beim Tief 1921, als auch beim erneuten Hoch 1923 aufweist. Signifikant ist die parallele Entwicklung ab etwa 1923 bis 1932/1933: Es sind nicht nur die Selbstspielklaviere, deren Absatz einbricht, auch die Handspielklaviere erreichen ein historisches Tief von nur noch ca. 30.000 produzierten Instrumenten. Besonders bemerkenswert ist jedoch, dass zwischen 1919 und 1927 die Verkaufs­zahlen der Selbstspielklaviere diejenigen der Handspielklaviere deutlich übersteigen10. 1925 standen 169.000 produzierte Selbstspielklaviere rund 137.000 Handspielklavieren gegenüber11. Nach 1925 fand die Blütezeit der Selbstspielklaviere ein Ende: Die Produktions- und Verkaufszahlen sind rückläufig – 1929 wurden ähnlich viele Instru­ mente produziert, wie 1909 –, aber auch der Absatz von Handspielklavieren entwickelte sich zunächst zurück: 1929 wurden in den USA nur noch rund 94.000 Stück produziert. Während sich der Markt der Handspielklaviere aber ab 1932/1933 erholt, bleibt derjenige der Selbstspielklaviere dauerhaft am Boden: 1931 werden nur noch ca. 2000 Selbstspielklaviere verkauft – eine Zahl, die sich in den folgenden Jahren nicht mehr wesentlich ändert 12 . 8 | A. Ballstaedt: »Das Selbstspielklavier«, S. 96 / A. W. J. G. Ord-Hume: »Player piano«. 9 | A. Ballstaedt: »Das Selbstspielklavier«, S. 96 / Craig H. Roell: The Piano in America, 1890–1940, Chapel Hill u. a. 1989, S. 216 und 265. 10 | J. Hocker: Faszination Player Piano, S. 168 / C. H. Roell: The Piano in America, S. 216. 11 | Wobei etwa fünf Prozent der Selbstspielklaviere hochwertige Reproduktionsklaviere waren (A. Ballstaedt: »Das Selbstspielklavier«, S. 96 / A. W. J. G. Ord-Hume: »Player piano«). 12 | C. H. Roell: The Piano in America, S. 265 / A. Ballstaedt: »Das Selbstspielklavier«, S. 96; die Verkaufszahlen sinken noch weiter ab (1935: 418 Instrumente, H. N. Roehl: Player Piano Treasury, S. 51). Prinzipiell auf einem niedrigeren Level agierend und von dem Einbruch vor 1929 nicht so drastisch betroffen sind die Produktionszahlen der selbstspielenden Flügel: Bis 1925 ist ein Anstieg auf etwa 80.000 Instrumente im Jahr zu verzeichnen, der in den folgenden Jahren trotz Weltwirtschaftskrise nicht rückläufig

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Einen Einblick in die Verhältnisse auf dem europäischen, insbesondere auf dem deutschen Markt, gewähren einige Fakten der Leipziger Firma »Hupfeld«. Ludwig Hupfeld produzierte von 1886 an selbstspielende Orchestrien und später auch Klaviere13. 1899 beschäftigte sein Betrieb bereits 75 Mitarbeiter14 . Rund zehn Jahre später15 – inzwischen war auch das Reproduktionsklavier »Hupfeld DEA« als Reaktion auf das »Welte-Mignon« auf dem Markt – arbeiten für die Firma 1500,16 auf dem Höhepunkt der Verbreitung des Selbstspielklaviers 1925 schließlich rund 2000 Mitarbeiter17. Hupfeld produzierte zeitweise 75 Prozent aller Selbstspielklaviere für den deutschen Markt18. Der große Einbruch um 1926 ist für Hupfeld nicht mit Zahlen zu belegen19. Eindrücklich ist er jedoch für die Firma »Welte« aus Freiburg im Breisgau dokumentiert: Auch Welte20 beschäftigte 1925 rund 2000 Mitarbeiter,21 doch veränderte Marktverhältnisse warfen das Unternehmen 1926 jäh auf 203 Mitarbeiter zurück 22 .

ist (C. H. Roell: The Piano in America, S.  265). Arthur Ord-Hume schätzt die Zahl der zwischen 1900 und 1930 verkauften Player Pianos in Amerika auf etwa 2,5 Millionen Stück, während weltweit etwa 4200 »Welte-Mignon« verkauft wurden (A. W. J. G. Ord-­ Hume: »Player piano« und J. Hocker: Faszination Player Piano, S. 168). 13 | Artikel »Ludwig Hupfeld« auf der Seite »Die Hersteller von selbstspielenden Musikinstrumenten aus Leipzig von 1876 bis 1930«, http://mfm.uni-leipzig.de/hsm/detail. php?id=43 vom 09.01.2015. 14 | Siegfried Wendel: Das mechanische Musikkabinett, Dortmund 1984, S. 146 / Peter Hagmann: Das Welte-Mignon-Klavier, die Welte-Philharmonie-Orgel und die Anfänge der Reproduktion von Musik, Freiburg i. Br. ²2002 (http://www.freidok.uni-freiburg.de/ volltexte/608/ vom 09.01.2015), S. 34. 15 | Hocker schwankt hier in seinen Angaben, er nennt mal 1908, mal 1910: J. Hocker: Faszination Player Piano, S. 69, S. 86 und S. 168; Wendel gibt 1910 an: S. Wendel: Das mechanische Musikkabinett, S. 146. 16 | Hocker bestätigt diese Anzahl an Mitarbeitern auch noch für das Jahr 1917: Jürgen Hocker: »Mechanische Musikinstrumente«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 2 (Sachteil Band 5), Kassel/Stuttgart 1996, Sp. 1710–1742. 17 | J. Hocker: Faszination Player Piano, S. 73. 18 | Ebd. 19 | Finanziell nicht unbegründet aber war die Fusion mit der Klavierfabrik Gebrüder Z immermann aus Eilenburg (http://mfm.uni-leipzig.de/hsm/detail.php?id=43 vom ­ 09.01.2015). 20 | Welte erlebte zunächst einen großen Aufschwung, beschäftigte 1908 bereits 200 Mitarbeiter (J. Hocker: Faszination Player Piano, S. 112). 21 | P. Hagmann: Das Welte-Mignon, S. 34. 22 | Gerhard Dangel: »Geschichte der Familie Welte und des Hauses M. Welte & Söhne«, in: Aus Freiburg in die Welt. 100 Jahre Welte Mignon. Ausstellungskatalog des Au-

Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Wir tschaf tsgeschichte der Medien

Der wirtschaftliche Niedergang des Selbstspielklaviers wird häufig mit der Verdrängung durch Schallplatte und Radio begründet. Obgleich diese Aussage nicht falsch ist, trifft sie in dieser Pauschalität dennoch letztlich nicht zu, denn sie suggeriert einen ausschließlich auf die »Hardware« bezogenen »Staffellauf der Medien«, bei dem ältere Medienformate gleichsam naturgegeben zurückbleiben und von moderneren abgelöst werden. Diese vom Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts gespeiste Sichtweise entspricht jedoch nicht den historischen Entwicklungen, die einer differenzierteren Betrachtung bedürfen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen im Folgenden in fünf Punkten einige ökonomische Perspektiven diskutiert werden, die belegen, wie komplex sich wirtschaftliche Zusammenhänge und damit verbundene gesellschaftliche Kontexte um den Niedergang des Selbstspielklaviers gestalten. Dabei wird deutlich, dass es keine monokausalen Erklärungen für diese Prozesse gibt.

P erspek tive 1 : G esamt wirtschaf tliche E nt wicklung Zunächst sei gefragt, in welcher Beziehung die wirtschaftliche Entwicklung des Selbstspielklaviers und der übrigen neuen Medien zur wirtschaftlichen Gesamtentwicklung der Zeit steht. Auch zur besseren Einbettung der musik­ bezogenen Daten seien einige knappe Bemerkungen zur Wirtschaftsentwicklung der Jahre 1871 bis 1931/32 den weiteren Überlegungen vorangestellt: Das Deutsche Kaiserreich von der Reichsgründung 1871 bis in das Jahr 1913 war wirtschaftlich gesehen bekanntlich eine Erfolgsgeschichte. In dieser Zeit enorm anwachsender Industrieproduktion (siehe Abbildung 323) verdreifachte sich das Sozialprodukt, gleichzeitig steigerten sich die Einkommen pro Kopf wie pro Erwerbstätigen24. Die Ursachen dafür sind – wie immer in wirtschaftlichen Zusammenhängen – äußerst vielfältig. Die gesellschaftliche Struktur des Kaiserreichs wurde insbesondere durch zwei Entwicklungen geprägt: Bevölkerungswachstum und Urbanisierung. Zwischen 1871 und 1913 nahm die Bevölkerung von rund 40 auf ca. 67 Millionen Menschen zu  – also ca. 1,2 Prozent jährlich. Den größten Zufluss an Bewohnern verzeichneten die großen Städte; der Bevölkerungsanteil in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern erhöhte sich von 4,8 auf 21,3 Prozent. Der strukturelle Wandel vom Agrarstaat zum Industriestaat, der für diese gustinermuseums Freiburg im Breisgau, 17. September 2005 – 8. Januar 2006, S. 126– 149, hier S. 143. 23 | Abbildung zit. nach: Heike Knortz: Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, Göttingen 2010, S. 16. 24 | Vgl. Carsten Burhop: Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871–1918, Göttingen 2011, S. 11ff.

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Abb. 3: Industrieproduktion Deutschlands und der Welt (1901/13 = 10). Quelle: Rolf Wagenführ: »Die Industriewirtschaft. Entwicklungstendenzen der deutschen und internationalen Industrieproduktion 1860–1932«, in: Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 31, Berlin 1933, S. 44.

Zeitspanne so charakteristisch ist, spielte nach aktuellen wirtschaftswissenschaftlichen Einsichten jedoch nicht die größte Rolle für die wirtschaftliche Prosperität des Kaiserreichs25. Als wichtigster Faktor für den ökonomischen Höhenflug wird vielmehr die steigende Arbeitsproduktivität in den wichtigsten drei Erwerbssektoren Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen genannt. Auch im internationalen Vergleich ging es den Deutschen gut: 1914 war das Deutsche Reich nach den Vereinigten Staaten von Amerika die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt 26. Der Grund für die internationale Konkurrenzfähigkeit Deutschlands in dieser Phase der Industrialisierung waren vor allem niedrige Löhne. Der Wirtschaftswissenschaftler Carsten Burhop notiert: »Deutschlands Griff nach der industriellen Weltmacht fand auf dem Rücken niedriger Lohnstückkosten statt.«27 Insbesondere Niveau und Wachstum der Industrieproduktion im Kaiser­ reich sind für das Verständnis der deutschen Industrialisierung wichtig. 25 | 1871 war noch fast die Hälfte aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt, kurz vor Kriegsausbruch überstieg die Beschäftigtenzahl von Handwerk und Industrie erstmals diejenige der Landwirtschaft (C. Burhop: Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs, S. 216). 26 | Ebd., S. 49ff. 27 | Ebd., S. 216.

Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Wir tschaf tsgeschichte der Medien

Durchschnittlich nahm die reale Industrieproduktion um 3,7 Prozent jährlich zu. Unter den einzelnen Industrien entfaltete die noch relativ unbedeutende Versorgungswirtschaft  – Gas, Wasser, Elektrizität  – mit einer durchschnitt­ lichen Wachstumsrate von 9,2 Prozent die größte Dynamik 28. Der erste große wirtschaftliche Einbruch kam mit dem Ersten Weltkrieg. Die Leistung einer ganzen Generation wurde durch den Krieg zerstört. Das durchschnittliche Einkommen des Jahres 1918 war in etwa so hoch wie das­ jenige im Jahr 189529. Für die Nachkriegszeit sind reguläre zyklische Konjunkturmuster nicht beschreibbar. Immer wieder sorgten krisenhafte Einbrüche für starke irreguläre Ausschläge, wie z. B. die große Inflation von 1923 und die Weltwirtschafts­krise 1929 mit massiven Einbrüchen in allen industriellen Bereichen. Insgesamt werden die 1920er-Jahre eher als Stagnations- denn als Wachstumsphase beschrieben30. Erst 1928 konnte der Vorkriegsstand des Sozialprodukts wieder erreicht werden. Doch auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1932/33 ist die Produktion der deutschen Industrie wieder auf die Hälfte des Standes von 1928 gesunken. Das Deutsche Reich ist neben den USA die am härtesten

28 | Gefolgt von Papierindustrie, chemischer Industrie sowie dem großen Bereich der Metallerzeugung und Metallverarbeitung; davon 26–38 Prozent Wachstum gewerbliche Produktion, 53 Prozent Wachstum landwirtschaftliche Produktion und 26 Prozent Dienstleistungsproduktion (C. Burhop: Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs, S. 38). In der Wirtschaftswissenschaft existiert ein Instrument, um den Faktor des »technischen Fortschritts« messbar bzw. darstellbar zu machen. Freilich begibt man sich damit in den Raum der kontrafaktischen Geschichtsschreibung. Gefragt wird, wie hoch das Sozialprodukt in einem Jahr gewesen wäre, hätte man diejenigen Mengen und Qualitäten an Arbeit und Kapital eingesetzt, die man auch im Vorjahr einsetzte. Die Differenz zwischen dem beobachteten Sozialprodukt und dem kontrafaktischen Sozialprodukt wird als technischer Fortschritt bezeichnet. Da das kontrafaktische Sozialprodukt jedoch nicht beobachtbar ist, kann die Hypothese über das Ausmaß des technischen Fortschritts nicht falsifiziert werden. Dieser »unbeobachtbaren Residualgröße« wurden für den zur Rede stehenden Zeitraum 42 bis 64 Prozent des gesamtwirtschaftlichen Wachstums zugeschrieben. Welchen Anteil an dieser Größe die neuen Medientechniken beanspruchen können, ist leider ebenfalls nicht zuverlässig ermittelbar. Vgl. Eckart Schremmer: »Wie groß war der ›technische Fortschritt‹ während der industriellen Revolution in Deutschland 1850–1913«, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 60 (1973), S.  433–458 und Carsten Burhop/Guntram Wolff: »A compromise estimate of German national product 1851–1913, and its implications for growth and business cycles«, in: Journal of Economic History 65 (2005), S. 613–657, hier S. 640. 29 | C. Burhop: Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs, S. 215. 30 | H. Knortz: Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 14.

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von der Krise betroffene Volkswirtschaft. 1932 war schätzungsweise jeder dritte Arbeitnehmer ohne Beschäftigung31. Vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist der Anstieg der Produktion von Selbstspielklavieren in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre erstaunlich. Während andere Industriezweige nach dem Ersten Weltkrieg eher mühsam und teilweise vergeblich um Wiederherstellung kämpften, können sich die mechanischen Klaviere trotz Inflation und wirtschaftlicher Turbulenzen vergleichsweise gut halten. Zeitweise scheint die Anschaffung eines Kunstspielklaviers oder gar eines Reproduktions­k laviers für den bürgerlichen Haushalt eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein. Selbstspielklaviere stellten in dieser Zeit offensichtlich noch eine echte Alternative zur Phonographie dar  – in puncto Spieldauer, Lautstärke und Klang­ qualität waren sie bis 1925 der Schallplatte denn auch zweifellos überlegen. Der Niedergang des Selbstspielklaviers setzt um 1926, also ca. drei Jahre vor dem großen Einbruch der Weltwirtschaftskrise ein. Diese scheidet demnach als Hauptgrund für dessen Verschwinden vom Markt aus. Dies sieht für die Schallplattenindustrie ganz anders aus: Hier ist ein deutlich größerer Zusammenhang der Entwicklung mit der Weltwirtschaftskrise zu beobachten. Auch die Tonträger entwickelten sich um die Jahrhundertwende binnen weniger Jahre zu einer »rasch wachsenden und äußerst dynamischen, [international] agierenden Industrie«32 . Die Firmengeschichte der von Emil und Joseph Berliner gegründeten Deutschen Grammophon belegt die rasante wirtschaftliche Expansion. Hatte man im Jahr 1900 in Hannover mit lediglich vier Schall­plattenpressen begonnen,33 so war die Firma bereits bis 1904 zu einem Großbetrieb angewachsen mit neuem Fabrikgebäude, einem Jahresausstoß von rund zehn Millionen Schallplatten und einer Dividende von bis zu 25 Prozent jährlich34. 31 | H. Knortz: Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 200ff. 32 | Die Tonträgerproduktion konzentrierte sich schon frühzeitig auf einige wenige international operierende Firmen. In den USA gehörten Edisons National Phonograph Company, die Columbia Phonograph Company und die Victor Talking Machine Company mit ihren europäischen Ablegern British Gramophone, Deutsche Grammophon und British Columbia zu den Pionieren der noch jungen Industrie. Dazu kamen als weitere bedeutende Firmen in Europa die deutsche Carl Lindström AG und die französische Pathé Frères (Peter Wicke: »Der Tonträger als Medium der Musik«, in: Holger Schramm (Hg.), Handbuch Musik und Medien, Konstanz 2009, S. 49–87, hier S. 55f.). 33 | Wilfried Zahn: »Von der Zinkplatte zur Compact-Disc. 100 Jahre technische Entwicklung der Schallplatte«, in: 100 Jahre Schallplatte. Von Hannover in die Welt. Beiträge und Katalog zur Ausstellung vom 29. September 1987 bis 10. Januar 1988 im Historischen Museum Am Hohen Ufer Hannover, Hamburg 1987, S. 13–28, hier S. 17. 34 | Dieter Tasch: »Die ›Grammophon‹ in Hannover – 100 Jahre Schallplattengeschichte«, in: 100 Jahre Schallplatte. Von Hannover in die Welt. Beiträge und Katalog zur Aus-

Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Wir tschaf tsgeschichte der Medien 35 Vermuteter Verlauf

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Verkaufs-/Produktionsjahr

Abb. 4: Tonträgerabsatz Deutschland. Quelle: Autoren.

Abbildung 435 zeigt die Kurve der ermittelten Tonträger-Produktions- und Verkaufszahlen in Deutschland. Zahlen zur Gesamtproduktion für die Jahre von 1907 bis zum Ersten Weltkrieg liegen zwar nicht vor, es darf aber davon ausgegangen werden, dass die Produktion bis zum Kriegsausbruch 1914 weiter nach oben schnellte. Auch für die Zeit während des Krieges und die Jahre danach stellung vom 29. September 1987 bis 10. Januar 1988 im Historischen Museum Am Hohen Ufer Hannover, Hamburg 1987, S. 41–74, hier S. 53. 35 | Werte für 1900: Günter Große: Von der Edisonwalze zur Stereoplatte, Berlin 1989, S.  37. Werte für 1907: Kurt Blaukopf: Massenmedium Schallplatte. Die Stellung des Tonträgers in der Kultursozologie und Kulturstatistik, Wiesbaden 1977, S.  26, Pekka Gronow: »The record industry: the growth of a mass medium«, in: Producers and Markets (=  Popular Music 3), Cambridge u. a. 1983, S.  53–75, hier S.  63, Peter Zombik: »Die Schallplatte: Kulturträger und Wirtschaftsfaktor. Marktstrukturveränderungen und ihre Folgen«, in: Media Perspektiven 7 (1987), S. 437–448, hier S. 438 und Stefan Gauß: Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900–1940), Köln u. a. 2009, S. 73. Wert für 1925: P. Gronow: »The record industry«, S. 63. Werte für 1927–1933 und 1936–1938: Martin Elste: »100 Jahre Schallaufzeichnung«, in: fonoforum 5 (1977), S.  434–447, hier S.  440f. und K. Blaukopf: Massenmedium Schallplatte, S. 26, teilweise auch P. ­Z ombik: »Die Schallplatte: Kulturträger und Wirtschaftsfaktor«, S. 438, G. Große: Von der Edisonwalze zur Stereoplatte, S. 99 und S. Gauß: Nadel, Rille, Trichter, S. 73. Wert für 1934: K. Blaukopf: Massenmedium Schallplatte, S. 26. Wert für 1935: S. Gauß: Nadel, Rille, Trichter, S. 73. Vgl. auch P. Gronow: »The record industry«, S. 63, die sich aus der Verrechnung der Produktionszahlen mit Export und Import ergeben.

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Abb. 5: Tonträgerabsatz USA. Quelle: Autoren. 4,5 4 3,5 3 in Mio

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Abb. 6: Gemeldete Radiogeräte in Deutschland. Quelle: Autoren.

bis 1925 konnten für die deutsche Produktion keine Werte ermittelt werden. Während des Krieges wurden Fabriken meist zur Produktion von Kriegsgütern umfunktioniert und für die Zeit der chaotisch verlaufenden Inflation liegen insgesamt kaum Wirtschaftsdaten vor. Wie stark die Einbußen des Kriegs waren, belegt die Tatsache, dass 1925 lediglich die Verkaufszahlen von 1907 erreicht wurden. Ende der 1920er-Jahre kommt es zu einem vorübergehenden

Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Wir tschaf tsgeschichte der Medien

Boom, der durch die sensationell verbesserte Klangqualität der Schallplatte – diese wurde durch die elektroakustische Aufnahme erzielt – ausgelöst worden sein könnte. Der vorübergehende Aufschwung findet jedoch 1929 mit dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise ein jähes Ende. Abbildung 536 zeigt, dass bei Ausbruch der Weltwirtschaftskrise auch die Produktion in den USA dramatisch einbricht. Die phonographische Industrie war angesichts ihrer weitläufigen internationalen Verknüpfungen von den anhaltenden Währungsturbulenzen besonders stark betroffen. Es kam zu unzähligen Firmenzusammenbrüchen. Von den 200 amerikanischen phonographischen Betrieben des Jahres 1921 blieben bis 1935 lediglich drei übrig37. Dagegen dokumentiert Abbildung 6,38 dass der Trend zum Radio von der Weltwirtschaftskrise in Deutschland unbehelligt bleibt. Zuletzt zum Vergleich noch ein Blick auf die Entwicklung des Films in Deutschland: Auch auf die Filmbranche wirkte sich die Weltwirtschaftskrise

36 | Absatz in Stück: Werte für 1900, 1921, 1925, 1929, 1930 und 1935: P. Gronow: »The record industry«, S.  63. Wert für 1909: Albrecht Schneider: »Konservierung von Musik durch Erfindung der technischen Schallaufzeichnung«, in: Holger Schramm (Hg.), Handbuch Musik und Medien, Konstanz 2009, S. 31–46, hier S. 41. Werte für 1927 und 1932: Robert Reichardt: Die Schallplatte als kulturelles und ökonomisches Phänomen. Ein Beitrag zum Problem der Kunstkommerzialisierung, Zürich 1962, S. 104 und Jürgen Kulle: Ökonomie der Musikindustrie. Eine Analyse der körperlichen und unkörperlichen Musikverwertung mit Hilfe von Tonträgern und Netzen (= Hohenheimer Volkswirtschaftliche Schriften, Band 32), Frankfurt a. M. 1998, S.  12, 1932 auch G. Große: Von der Edisonwalze zur Stereoplatte, S. 99. Wert für 1938: Jan Brauers: Von der Äolsharfe zum Digitalspieler. 2000 Jahre mechanische Musik. 100 Jahre Schallplatte. München 1984, S. 96. Absatz in US-Dollar: Werte für 1921–1940: P. Gronow: »The record industry«, S. 63. 37 | RCA Victor, American Record Corporation und die 1934 gegründete US-Tochter der britischen Decca Gramophone (P. Wicke: »Der Tonträger als Medium der Musik«, S. 59). 38 | Werte für 1923 und 1928: G. Große: Von der Edisonwalze zur Stereoplatte, S. 72. Wert für 1924: Heinz Pohle: Der Rundfunk als Instrument der Politik. Organisation und politische Programmgestaltung des deutschen Rundfunks von seiner Gründung bis zum Beginn des Großdeutschen Rundfunks, Hamburg 1953, S. 46 und Daniel Gethmann: Die Übertragung der Stimme, Zürich/Berlin 2006, S. 104. Werte für 1925 und 1926: Walter Thissen: »Radio und Ökonomie«, in: Claudia Bullerjahn/Wolfgang Löffler (Hg.), Musik und Ökonomie. Finanzieren und Vermarkten von und mit Hilfe von Musik – Musikästhetisches und musikpädagogisches Haushalten, Hildesheim u. a. 2009, S. 229–254, hier S. 232. Wert für 1932: Holger Schramm: »Musik im Radio«, in: Holger Schramm (Hg.), Handbuch Musik und Medien, Konstanz 2009, S. 89–116, hier S. 91.

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Abb. 7: Kinos in Deutschland. Quelle: Autoren.

krisenhaft aus. Abbildung 739 zeigt, dass Ende der zwanziger Jahre in diesem Bereich die Entwicklung mit ca. 5000 Kinos stagniert40.

P erspek tive 2 : P reise Als häufigster Grund für die Durchsetzung von Schallplatte und Radio gegenüber dem Selbstspielklavier werden die niedrigeren Anschaffungspreise für Abspielgeräte und Tonträger angeführt, die einer breiteren Bevölkerung den 39 | Alle Werte aus Karl-Heinz Dettke: Kinoorgeln und Kinomusik in Deutschland, Stuttgart 1995, S. 7, 64 und 68. 40 | Die Wirtschaftsgeschichte der Filmindustrie kann in diesem Text nur am Rande berücksichtigt werden. Sie wurde aufgearbeitet in: Michael Conant: Anti-Trust in the Motion Picture Industry. Berkeley 1960, einer rechtswissenschaftlichen Dissertation, die einen guten Abriss der Entwicklung der Firmenstruktur der Filmindustrie bis 1948 enthält und in: John Kenneth Izod: Hollywood and the Box Office, 1895–1986, New York 1988, Kapitel 3, 4 und 6 (S. 16–37 und 53–71), einer griffigen Überblicksdarstellung, allerdings auf dem Stand von vor 25 Jahren. Maßgeblich und aktuell sind die Arbeiten von: Gerben Bakker: »The decline and fall of the European film industry: sunk costs, market size, and market structure, 1890–1927«, in: The Economic History Review 58 (2005), S.  310–351. Bakker reflektiert darin den Niedergang der europäischen Filmindustrie während des Ersten Weltkriegs. Während sie bis zu dessen Ausbruch den Weltmarkt dominierte, hat sie nach dem Krieg bis zum heutigen Tag nicht mehr eine vergleichbare wirtschaftliche Bedeutung erlangt. Zur Wirtschaftsgeschichte der amerikanischen Industrie relevant sind auch die Arbeiten des Wirtschaftsgeographen Alan J. Scott: On Hollywood. The Place, The Industry,  Princeton 2005. Wir danken Vinzenz Hediger für diese Hinweise.

Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Wir tschaf tsgeschichte der Medien

Zugang zu den neuen Medien ermöglichte. Doch wie sahen die Preise in der damaligen Zeit aus? Wegen der Vielfalt der Einflussfaktoren ist es prinzipiell schwierig, wenn nicht gar unmöglich, Lebenshaltungskosten adäquat zu rekonstruieren. Einige Daten gewähren jedoch zumindest einen Einblick in die Situation der Zeit: Geht man davon aus, dass ein Arbeiter im Jahr 1913 ein durchschnittliches Monatsgehalt von 69,50 Mark (Reallohn in Bezug auf 1895) bezog,41 dann wird deutlich, dass für ihn der Kauf einer doppelseitigen Schallplatte für 3,50 Mark (1911, Deutsche Grammophon)42 bereits eine recht hohe Investition darstellte. Der Erwerb von Beethovens Fünfter Symphonie, die in einer Aufnahme mit Arthur Nikisch und den Berliner Philharmonikern auf vier doppelseitigen Platten 48 Mark kostete,43 liegt für einen Arbeiter des Kaiserreichs außerhalb des Möglichen44. Und so adressiert die Zeitschrift Die Stimme seines Herrn denn auch eher ein gehobenes, bürgerliches Publikum als Käuferschicht für die von ihr beworbene Schallplatte45. Auch die Welte-Rolle, die zwischen 1905 und 1914 nach einem gestaffelten Preissystem zwischen 6 und 50 Mark kostete, war nahezu unerschwinglich46. 41 | Ashok Desai: Real Wages in Germany 1871–1913, Oxford 1968, S. 112, 117, 125; vgl. auch Gerd Hohorst et al. (Hg.), Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, München 1978 und Friedrich Hesse: Die deutsche Wirtschaftslage von 1914–1923, 1938 [2010], www.gesis.org/histat/ZA8434 vom 20.08.2015 und den anschaulichen Bericht von Henning Rogge: »Lebenshaltung eines Berliner Metallarbeiters im Jahr 1889«, in: Ders., Fabrikwelt um die Jahrhundertwende am Beispiel der AEG Maschinenfabrik Berlin-Wedding, Köln 1983, S. 152–170. 42 | Offizielle Grammophon-Nachrichten 1911, vermutlich Mai. Wir danken Martin E­ lste für die Mitteilung dieser Information. 43 | Im Februar erscheint Beethovens 5. mit den Berliner Philharmonikern unter Artur Nikisch (Wilfried Zahn: »Die Künstler auf der Platte«, in: 100 Jahre Schallplatte. Von Hannover in die Welt. Beiträge und Katalog zur Ausstellung vom 29. September 1987 bis 10. Januar 1988 im Historischen Museum Am Hohen Ufer, Hannover, Hamburg 1987, S. 127–144, hier S. 133). 44 | Die Hannoveraner Mitarbeiter der Grammophon hatten einen Wochenverdienst von bis zu 25  Mark (Spitzensatz)  – angelernte Facharbeiter, die Presser, 44  Mark wöchentlich  – im Vergleich: Schriftsetzer bekamen 1904 28,30  Mark und 1913 33,60 Mark / Grundnahrungsmittel: 1904/1913: Kilo Rindfleisch 1,42/1,86 Mark; Kilo Butter 2,36/2,82 Mark; Schock (60) Eier 3,61/5,20 Mark; Kilo Roggenmehl 24/28 Pf. (D. Tasch: »Die ›Grammophon‹ in Hannover«, S. 53f.). 45 | Vgl. den Beitrag von Claudia Thieße in diesem Band. 46 | Gerhard Dangel/Hans-W. Schmitz: Welte-Mignon Klavierrollen. Gesamtkatalog der europäischen Aufnahmen 1904–1932 für das Welte-Mignon Reproduktionspiano, Stuttgart 2006, S. 41.

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Ein Pianola kostete mit ca. 1200 Mark (1903)47 mehr als ein Jahresgehalt (834 Mark) für einen Facharbeiter,48 wobei bald auch zahlreiche günstigere Produkte auf dem Markt erschienen. Angesichts dieser Preissituation wird deutlich, dass der große wirtschaftliche Erfolg der Selbstspielklaviere, aber auch der höher­wertigen Schallplatten vor dem Ersten Weltkrieg nicht auf einem Verkauf an breitere Bevölkerungsschichten beruhen kann. In den von hoher Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Katastrophen geprägten 1920er-Jahren blieben die Preise für den Genuss der neuen medialen Möglichkeiten ebenfalls insgesamt eher hoch, obgleich u. a. Welte die Preise für Notenrollen den wirtschaftlichen Gegebenheiten drastisch anpasste: So kostete etwa die günstigste Rolle ab 1925 nur noch 10 Mark statt bis zu 14,50 Mark (ab 1905), und die teuerste Rolle 24 Mark statt 30 – 50 Mark49. Die Eintrittspreise für Kino und Radiogebühren waren zwar deutlich günstiger als die Kosten für Notenrolle und Schallplatte, doch der Film-Kurier berichtet, dass gegen Ende der 1920er-Jahre selbst die deutlich geringeren Eintrittspreise für den Kinobesuch – sie betrugen je nach Programm ca. 20 – 80 Pfennige50 – oftmals »abgehungert« werden mussten 51. Auch das in Deutschland auf Subskriptionsbasis vertriebene Radio war mit einer monatlichen Rundfunkgebühr von 2 RM (von 1924 an)52 nicht besonders preiswert. Dafür musste ein ungelernter Arbeiter 1925 ca. vier Stunden, ein gelernter immerhin gut zwei Stunden arbeiten 53. Zudem fand der flächendeckende Anschluss von Privathaushalten an das Stromnetz in Deutschland erst im Lauf der 1920er-Jahre statt. Die Tabelle zur Elektrifizierung Berlins (siehe Abbildung 8) belegt, dass der Prozess in der als

47 | Herbert Jüttemann: Mechanische Musikinstrumente. »His Master’s Voice«. Einführung in Technik und Geschichte, Köln 2010, S. 245. 48 | A. Desai: Real Wages in Germany, S. 112ff. 49 | Für eine detaillierte Aufstellung der Preissenkungen bei Welte s. G. ­Dangel/ H.-W. Schmitz: Welte-Mignon Klavierrollen, S. 43. 50 | K.-H. Dettke: Kinoorgeln und Kinomusik in Deutschland, S. 70. 51 | Ebd. 52 | W. Thissen: »Radio und Ökonomie«, S. 232. 53 | Winfried B. Lerg: Rundfunkpolitik in der Weimarer Republik (= Rundfunk in Deutschland, Band 1), München 1980, S. 114f. Anders stellt sich die Situation in den USA dar, in denen es keine staatlichen Rundfunksender und keine Rundfunkgebühren gibt; 1925 gibt es dort 5,5 Millionen Radioempfänger (Dieter Daniels: Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München 2002, S. 145), während in Deutschland nur 0,5 Millionen Radiohörer registriert sind (W. Thissen: »Radio und Ökonomie«, S. 232). Die große Diskrepanz zu den amerikanischen Zahlen ist wahrscheinlich durch eine nicht zu ermittelnde Zahl von Schwarzhörern in Deutschland zu relativieren.

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fortschrittliche »Elektropolis«54 Abb. 8: Tabelle zur Elektrifizierung Berlins. geltenden Metropole durchaus Quelle: T. P. Hughes: Networks of Power, seine Zeit brauchte und bis in die S. 190. 1930er-Jahre hinein noch nicht abJahr Angeschlossene geschlossen war. 1933 waren erst Wohnungen in % 76 Prozent der Berliner Haushalte 3,5 1910 an das Stromnetz angeschlossen. 5,5 1914 Wegen der anhaltend hohen 6,6 1918 Stromtarife konnten sich ledig11,0 1922 lich Haushalte der Ober- und ge25,0 1925 hobenen Mittelschichten die neu50,0 1927 55 en Elektrogeräte leisten . Im Jahr 55,0 1928 1928 waren lediglich 5,2 Prozent 60,0 1929 der Berliner Haushalte mit Radio68,0 1930 geräten ausgestattet (siehe Abbil70,0 1931 dung 9). Allerdings kann davon 74,0 1932 ausgegangen werden, dass jedes 76,0 1933 Radiogerät eine Vielzahl von Zuhörern um sich scharte. Auch die Zahl der Schwarzhörer in Deutschland ist nicht zu erfassen56. Vor diesem Hintergrund ist das zunächst so überzeugende Preisargument zu hinterfragen. So sehr einerseits zutrifft, dass Grammophon und Radio kostengünstiger sind als Selbstspielklavier und Notenrolle, so sehr muss der Preisfaktor – im Hinblick auf den zur Rede stehenden Zeitraum bis ca. 1930 – doch auch relativiert bzw. differenziert betrachtet werden. Es wird deutlich, dass nicht die Preise allein für Aufstieg und Niedergang des Selbstspielklaviers verantwortlich sein können. Im Gegenteil: Vor dem Hintergrund der horrenden Preise wird die Blütezeit des Selbstspielklaviers eher noch erstaunlicher. Es gilt dabei jedoch auch zu berücksichtigen, dass Selbstspielklaviere nicht allein in bürgerlichen Haushalten häufig das traditionelle Klavier ablösten, sondern dass sie in vielfältigen öffentlichen Kontexten, wie z. B. Restaurants, Kinos usw. Verwendung fanden. Zudem wird deutlich, dass der Ausbau zur Massenkultur – zumindest in Deutschland – in den 1920er-Jahren noch nicht so durchschlagend war, wie Wachstumsraten zunächst vermuten lassen. Die Musikindustrie wuchs seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zwar explosionsartig – entwickelte sich aber auch aus dem Nichts. 54 | In seiner Pionierstudie beschreibt Thomas P. Hughes detailliert den Prozess der Elektrifizierung Berlins als der »Elektropolis« Deutschlands, vgl. Thomas P. Hughes: Networks of Power. Electrification in Western Society 1880–1930, Baltimore 1983. 55 | H. Knortz: Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 139. 56 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Sabine Breitsameter in diesem Band.

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Marion Saxer / Leonie Storz Abb. 9: Tabelle elektrischer Geräte in Berliner Haushalten. Quelle: H. Knortz: Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, S. 139.

Elektrische Geräte Bügeleisen Staubsauger Heizkissen Haartrockner Kochtöpfe, Kaffee- und Teemaschinen Radiogeräte Brat-, Back- und Röstapparate Ventilatoren Kochherde und -platten Waschmaschinen Kühlschränke

Ausstattung in % der Haushalte 56,0 28,0 16,0 8,6 5,8 5,2 1,7 1,6 1,5 0,4 0,2

P erspek tive 3 : Ö konomische P rofile der M edien Betrachtet man den jeweils spezifischen Warencharakter und die damit verbundenen Produktionsbedingungen der neuen Medien Selbstspielklavier, Schallplatte und Radio, dann lassen sich drei unterschiedliche ökonomische Profile beschreiben. Charakteristisch für das Selbstspielklavier ist etwa, wie oben bereits bemerkt wurde, in vielerlei Hinsicht seine Verbindung zum traditionellen Klavier. Diese manifestiert sich u. a. auch an technischen Eigenschaften der Notenrollen. Sowohl Selbstspielklavier wie auch Phonograph und Grammophon sind nur als Ensemble von Medien funktionsfähig und setzen das Vorhandensein eines Abspielgerätes und der Trägermedien voraus. Die Notenrolle unterscheidet sich jedoch grundlegend von den Tonträgern Phonographenwalze oder Schallplatte. Sie beinhaltet die Codierung zum Abspielen eines Klavierstückes, das vom Instrument tatsächlich »live« realisiert wird, entweder unter Mitwirkung eines menschlichen Interpreten beim Kunstspielklavier oder ohne menschliche Beteiligung beim Reproduktionsklavier. Dagegen sind Walze und Schallplatte Speichermedien, die erstmals dazu in der Lage sind, alle nur denkbaren Klänge aufzuzeichnen. Während demnach die Notenrolle an das Klavier als Instrument gekoppelt bleibt und durchaus als Statthalter des Interpreten betrachtet werden kann,57 ist bei Schallplatte und Walze der Warencharakter viel stärker ausgeprägt.

57 | Beim Kunstspielklavier sind dann tatsächlich mindestens zwei Interpreten aktiv: Pianola und Pianolist.

Die Ökonomisierung der Wahrnehmung. Wir tschaf tsgeschichte der Medien

Das Zur-Ware-Werden von Musik, die in Form von Tonträgern besessen, verkauft oder verliehen werden kann, wurde von vielen Autoren kritisch gesehen. Während Theodor W. Adorno bereits 1938 den Fetischcharakter der auf Tonträgern festgehaltenen Musik anprangerte,58 wies Evan Eisenberg darauf hin, dass nicht die Technik der Tonaufzeichnung, sondern die Entwicklung der Musikindustrie die Musik zum Objekt werden ließ. Dies wird von ihm scharf kritisiert: »When I buy a record, the musician is eclipsed by the disk. And I am eclipsed by my money – not only from the musicians view but from my own. When a ten-dollar bill leaves my right hand and a bagged record enters my left, it is the climax. The shudder and ring of the register is the true music; later I will play the record, but that will be redundant. My money has already heard it.« 59

Dagegen betont Jacques Attali, die Tonträger ermöglichten erstmals in der Geschichte das Horten bzw. Bevorraten von Zeit (stockpiling time) und verweist auf das damit verbundene Problem des Auseinandertretens von Tausch- und Gebrauchswert60. Eisenbergs und Attalis Einwände bleiben bis heute bedeutsam. Be­ziehungen, die einst zwischen Musikern und Publikum existierten, werden transformiert in Beziehungen zwischen Geld und Schallplatten, zwischenmenschliche Beziehungen werden zu Beziehungen zwischen Dingen61. Eine pauschale Aburteilung der »Musikindustrie« verkennt allerdings die grundsätzliche Ambivalenz jeder technischen Neuerung. Diese als Herausforderung zu begreifen erscheint produktiver als eine zur Wirkungslosigkeit verurteilte Totalabsage. Die Produktionsbedingungen der Trägermedien unterscheiden sich ebenfalls erheblich: Die Herstellung der Notenrollen ist mit großem Aufwand verbunden. Insbesondere die Rollen für die Welte-Mignon-Systeme müssen akribisch per Hand nachgearbeitet werden. Der Produktionsprozess der Notenrollen behält damit einen handwerklichen Charakter. Dagegen ist die Herstellung der Schallplatte geradezu ein Paradebeispiel für die neu sich ent­ wickelnde Massenherstellung von Konsumgütern, da sie auf den Möglichkeiten der Vervielfältigung bzw. Reproduzierbarkeit beruht. Die Arbeit an der Schallplattenpresse ist zwar keine Fließbandarbeit im eigentlichen Sinne, doch 58 | Theodor W. Adorno: »Vom Fetischcharakter der Musik und der Regression des Hörens« (1938), in: Ders., Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie (1962), Frankfurt 2003. 59 | Evan Eisenberg: The Recording Angel: The Experience of Music from Aristotle to Zappa, New York 1987, S. 24. 60 | Jacques Attali: Noise. The Political Economy of Music (1977), Minneapolis 2011, S. 101ff. 61 | So auch J. Sterne: MP3. The Meaning of a Format, S. 190.

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die Arbeitsabläufe an den Maschinen eignen sich zur wissenschaftlichen Optimierung, wie sie vom Taylorismus seit den 1910er-Jahren für alle industriellen Bereiche durchgesetzt wurde. Während das Selbstspielklavier mit den Notenrollen demnach eher rückwärtsgewandt handwerklich geprägt bleibt und die Schallplatte ein zeittypisches Massenprodukt darstellt, entspricht das Radio in seiner technischen Verfasstheit dem wichtigsten Wirtschaftsprozess der Zeit überhaupt: Gemeint ist die Ausbildung großer technischer Systeme. Der Technikhistoriker Thomas P. Hughes hat darauf hingewiesen, dass technische Entwicklungen im 20. Jahrhundert stets im Rahmen technologischer Systeme erfolgen. Er notiert: »Bis heute denken wir zuwenig über die Einflüsse und die Gestalt einer Welt nach, die in große technologische Systeme gegliedert ist. […] Wenn wir die moderne Technologie nur in einzelnen Maschinen und Geräten erblicken, dann übersehen wir [ihre] tieferen Strömungen […]. Die Systembauer haben der modernen technologischen Gesellschaft ihren Stempel aufgedrückt und gewaltige technologische Systeme geschaffen. Solche Systeme bestehen aus viel mehr als der sogenannten Hardware, Geräten, Maschinen und Verfahren und den Transport-, Kommunikations- und Informationsnetzen, die sie miteinander verbinden. Sie bestehen auch aus Menschen und Organisationen.« 62

Das Radio entspricht dem technischen Trend der Zeit wegen seines besonders ausgeprägten Systemcharakters, weil es bei der Errichtung eines flächen­ deckenden Netzes von Sendern und Empfängern einer speziellen Infrastruktur und technischer Vernetzungen bedarf. Gerade aufgrund dieses spezifischen Systemcharakters konnte sich in Deutschland der staatlich regulierte Rundfunk herausbilden, während die Schallplattenindustrie weltweit durchweg privatwirtschaftlich strukturiert blieb. Zudem bot das Radio ­A nknüpfungspunkte für eine große Anzahl von Bastlern und Radioamateuren, die sich – neben den regulären Rundfunkhörern – informell ins System einklinkten. Auch aus dieser Situation ergibt sich ein immenses Wachstumspotential.

P erspek tive 4 : W erbung Obgleich die Verkaufs- und Produktionszahlen von Selbstspielklavier und Phono­graphie in den 1910er-Jahren im Aufwärtstrend liegen, unterscheiden sich die Ausgangssituationen der beiden Medien fundamental. Während die für die Musikkultur des 20. Jahrhunderts zentrale Bedeutung der Phonographie heute 62 | Thomas P. Hughes: »Das System hat den Vorrang«, in: Ders., Die Erfindung Amerikas. Der technologische Aufstieg der USA seit 1870, München 1991, S. 190–253, hier S. 190f.

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als eine Selbstverständlichkeit betrachtet wird und das Selbstspielklavier eher als kuriose, charmante Marginalie der technischen Entwicklung gilt, hätte ein Zeitgenosse des Jahres 1900 die beiden Medien gerade umgekehrt bewertet: Das technische Potential des Selbstspielklaviers wurde allgemein bewundert, während die Phonographie eher als billiges, überflüssiges »Tingel-Tangel-Vergnügen« galt: In die überall aufgestellten Abspielautomaten warf man wenige Pfennige ein, worauf ein kurzes Musikstück in minderer Qualität abgespielt wurde. Für die Umwertung dieser Auffassungen spielte die gegen Ende des 19.  Jahrhunderts immer wirkmächtigere Produktwerbung eine große Rolle. Sie wurde für die Image-Bildung beider Medien massiv eingesetzt und rückte damit zu einem wichtigen ökonomischen Faktor auf. Beispielhaft schildert David Suisman den »kommerziellen Genius« William B. Tremains, des Begründers der amerikanischen Aeolian Company, die bereits im Jahr 1903 mit einer Kapitalsumme von zehn Millionen Dollar und zahlreichen Tochtergesellschaften in ganz Europa äußerst erfolgreich war63. Tremains Werbestrategie bestand darin, an den Erfolg des Handspielklaviers anzuknüpfen. Er vermied es, den kulturellen Bruch mit der Musikkultur des 19. Jahrhunderts, den die Einführung des Selbstspielklaviers bedeutete, herauszustellen und versuchte, die mechanischen Klaviere mit der bereits bestehenden Klavierkultur zu verschmelzen. So behauptet etwa ein typischer Anzeigentext, das Player Piano vermittle die Fähigkeit, »so perfekt, wie ein talentierter Musiker zu spielen«64. Zudem suchte Tremain den Kontakt zur Klavierindustrie und kooperierte mit Steinway & Sons65. Gleiche Strategien verfolgten die europäischen Firmen. Die Werbemaßnahmen der Phonographen- und Schallplattenindustrie überstiegen diejenigen des Selbstspielklaviers noch bei weitem. Zunächst galt es, die Tonträger überhaupt als Musikmedien zu etablieren und damit völlig neue Märkte zu erschließen. Die Victor Talking Machine Company hat in den Jahren von 1901 bis 1929 52,7 Millionen Dollar in Werbung investiert. Allein 1912 gab Victor 1,5 Millionen Dollar aus, einen der weltweit größten Werbe­etats überhaupt66. Der kommerzielle Erfolg beruhte auf einer engen Verbindung ­Victors mit der englischen Gramophone Company, von der Victor die Rechte an deren Warenzeichen, dem weißen Hund Nipper, erwarb, der »his master’s voice« durch den Trichter eines Grammophons lauscht. Nipper erschien auf allen möglichen Werbeträgern: Autos, Schaufenstern, Litfasssäulen, Zeitschriften und Magazinen jeder Art und überall auf der Welt. In einer Anzeige aus 63 | David Suisman: Selling Sounds. The Commercial Revolution in American Music, Cambridge 2009, S. 98. 64 | »[T]he ability to play as perfectly as the talented musician«, zit. nach: Ebd., S. 98. 65 | 1909 schließt Tremain einen Exklusivvertrag mit Steinway & Sons für 25 Jahre (Ebd., S. 98). 66 | Ebd., S. 114.

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dem Jahr 1920 (siehe Abbildung 10) beschreibt Victor die eigene Strategie: »Twenty years ago, the talking-machine was a triviality. Today the Victrola is an instrument of art.«67 Zweifellos gehört es zu den kulturellen Leistungen der Schallplattenindustrie, den Tonträger als seriöses Musikmedium etabliert zu haben. Damit erst war die Voraussetzung für weitere wirtschaftliche Verwertung geschaffen68. Möglicherweise trug die durch die Werbung lancierte Bindung des Selbstspielklaviers an das Handspielklavier, die in der Frühphase für seinen Aufstieg gesorgt hatte, in den 1920er-Jahren zu seinem end- Abb. 10: Werbung Victrola, 1920 mit gültigen Niedergang bei. Die Gesell- »Nipper«. schaft hatte sich nach dem Ersten Quelle: D. Suisman: Selling Sounds, S. 119. Weltkrieg grundlegend gewandelt. Es scheint, dass das Bildungsideal des Bürgertums mit der Abschaffung des Adels weiter an politischer Dringlichkeit verloren hatte. Mit der »Clavierseuche« war es in Europa zunächst einmal vorbei. Zwar war die Einführung fester Arbeitszeiten und des Acht-Stunden-Tages in den 1920er-Jahren keineswegs gesichert, sondern Auslöser heftiger Arbeitskämpfe, aber dennoch beginnt sich eine neue Freizeitkultur zu entwickeln, an der nun auch die Arbeiter partizipieren können – es entsteht die Unterhaltungskultur. Das an die Klavierkultur des 19. Jahrhunderts angelehnte, durch die Werbung forcierte Image des Selbstspielklaviers wirkte da eher kontraproduktiv. Das Radio konnte sich dagegen selbst als Werbeträger etablieren, was neben den günstigeren Anschaffungspreisen einen weiteren wirtschaftlichen Vorteil brachte. Mit der Radiowerbung war zugleich eine neue Form der Wert67 | D. Suisman: Selling Sounds, S. 119 (= Abb.). 68 | In diesem Prozess spielt insbesondere die Gründung der Red Seal- oder Red Label-Reihe im Jahr 1902 eine große Rolle, die ebenfalls von der englischen Gramo­ phone Company ausging und nach Amerika importiert wurde. In dieser Reihe erschienen erstmals hochwertige Aufnahmen namhafter Künstler, unter denen Enrico Carusos Erfolg als erster Schallplattenstar am bekanntesten wurde. Caruso machte insgesamt 238 Aufnahmen und verdiente damit rund zwei Millionen Dollar an Tantiemen (W. Zahn: »Die Künstler auf der Platte«, S. 130).

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schöpfung geschaffen, der heute in der digitalen Ökonomie eine zentrale Bedeutung zukommt: Die Radio-Hörerschaft generierte erstmals nicht durch aktive Arbeit, sondern allein durch die Aufmerksamkeit, die sie der Werbung schenkte, einen ökonomischen Zugewinn. Jonathan Sterne verweist in diesem Zusammenhang auf Dallas Smythes Ausweitung des Konzepts von Arbeit, das die Aufmerksamkeit von »broadcast audiences«69 einschließt und konstatiert für diese neue Situation: »all non-sleeping-time is work time«. Denn alle diese neuen Publika generieren bereits dadurch Profit, dass sie ihre Aufmerksamkeit den werblichen Inhalten zuwenden; eine Aufmerksamkeit, die gemessen, verwertet und verkauft werden kann70.

P erspek tive 5 : M ediale V erne t zungen Obgleich auch im Bereich der Selbstspielklaviere ein starker Wettbewerb herrschte und ständig versucht wurde, das System zu optimieren, war die technische Entwicklung mit der Erfindung von Welte-Mignon 1905 letztlich abgeschlossen. Größere technische Innovationen fanden nicht mehr statt. Damit aber war das Selbstspielklavier von einer Entwicklungstendenz ausgeschlossen, die prägend ist für die Geschichte der Medien im 20. Jahrhundert und von der die Schallplattenindustrie von 1925 an ungeheuer profitierte: Gemeint ist die Vernetzung technischer Entwicklungen, wie z. B. die Nutzbarmachung der aus der Telefonie stammenden elektroakustischen Aufnahme mittels Bändchenmikrofon für die Phonographie, zu der noch der Röhrenverstärker und der elektromagnetische Tonabnehmer als weitere technische Neuerungen hinzukamen. Damit wird die phonographische Aufnahme  – insbesondere auch von Klaviermusik  – erstmals eine echte Konkurrenz für die Künstlerrollen des Welte-Systems71. Zunehmend entscheiden sich bedeutende Interpreten dazu, Grammophonaufnahmen einzuspielen, da sich mit den neuen technischen Möglichkeiten nicht nur die Klangqualität, sondern auch die Aufnahme­ bedingungen ungeheuer verbesserten. Darüber hinaus büßte das Selbstspielklavier Ende der 1920er-Jahre sogar noch eine seiner wenigen medialen Vernetzungsmöglichkeiten ein: Seit Beginn der Filmvorführungen waren Selbstspielklaviere nämlich zur Begleitung von Stummfilmen eingesetzt worden. So erinnert sich etwa der Begründer des Kinematographentheaters in der Berliner Münzstraße an ein 1899 für 850  Mark erworbenes Instrument, das sich, dank der Groschen, die das 69 | Dallas Smythe: Counterclockwise: Perspectives on Communication, Boulder 1994, S. 268. 70 | Vgl. J. Sterne: MP3. The Meaning of a Format, S. 50. 71 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Kai Köpp in diesem Band.

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­ ublikum einwarf, um zu den Filmen Musik zu hören, bereits nach zwanP zig Spieltagen amortisiert hatte 72 . Die Verwendung von Selbstspielklavieren in ­K inos lässt sich zahlenmäßig nicht belegen; einige Quellen deuten allerdings darauf hin, dass sie durchaus verbreitet waren73. Bei allein ca. 5000 Kinos in Deutschland Ende der 1920er-Jahre 74 ist das kein ganz unerheblicher Faktor. Doch bereits für das Jahr 1927 vermeldet die Zeitschrift Der Film-Kurier, dass Selbstspielklaviere nur noch vereinzelt »in Kintöppen [spielen]« 75. Inwiefern das Aufkommen des Tonfilms bereits für diese Entwicklung verantwortlich ist oder ob sich die Selbstspielklaviere in den Kinos einfach überlebt hatten, weil sich mittlerweile die Filmmusik qualitativ weiterentwickelt hatte, kann hier offen bleiben76. Entscheidend ist die Tatsache, dass dem Selbstspielklavier nach dem Wegfall des Stummfilmkinos keine weiteren Vernetzungsmöglichkeiten mit neuen Medien verblieben. Die Schallplatte dagegen konnte vom Tonfilm unmittelbar profitieren: Von Al Jolsons Sonny Boy, dem ersten Tonfilmschlager, wurden 1927 in den ersten Wochen nach Erscheinen des Films 12 Millionen Platten verkauft 77. Gerade die vielfältigen Vernetzungsmöglichkeiten halfen Schallplatte und Radio über die katastrophalen Einbrüche der Weltwirtschaftskrise hinweg. Vernetzungen bezogen sich einerseits auf den Austausch technischer Weiter­ entwicklungen zwischen den Medien  – wie etwa beim Bändchenmikro­fon. Darüber hinaus wurden Medien aber auch direkt kombiniert, um ihre Verwertungsmöglichkeiten auf dem Markt zu steigern; erinnert sei in diesem Zusammenhang etwa an die Musiktruhe, die Radio und Schallplattenspieler zugleich enthielt. Dazu kommt die Tatsache, dass im Radio, das zunächst ein reines »Live«-Medium war, nach intensiven ästhetischen Debatten der frühen Jahre zunehmend auch Schallplatten gespielt wurden, sodass sich auch in diesem Bereich ein ökonomisch stabiler Medienverbund herausbilden konnte. In diesem Kontext wird zudem verständlich, warum auch die traditionellen akustischen Instrumente von dieser Entwicklung profitierten: Ökonomisch gesprochen bildeten sie gleichsam die Zulieferer für die neuen medialen Vermarktungsformen und spielten damit in der Musikkultur des 20.  Jahrhunderts weiter eine zentrale Rolle. Die Einsicht der Medientheorie, dass neu aufkommende Medien auch einen Zuwachs für ältere Medienformen nach sich ziehen können, findet in diesen Konstellationen ihre erneute Bestätigung. 72 | K.-H. Dettke: Kinoorgeln und Kinomusik, S. 23. 73 | Zu den Vorteilen siehe Ebd. 74 | Ebd., S. 68. 75 | Ebd., S. 24. 76 | Vgl. dazu auch den Beitrag von Tobias Plebuch in diesem Band. 77 | G. Große: Von der Edisonwalze zur Stereoplatte, S.  103 / W. Zahn: »Die Künstler auf der Platte«, S. 137.

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Für das Selbstspielklavier bestanden keine Verknüpfungsmöglichkeiten mit all diesen Entwicklungen. Obgleich es technisch möglich war, PianolaAufführungen im Radio zu senden, machte dies in den 1920er-Jahren wenig Sinn, dazu war die Idee der Individualisierung des Instrumentalspiels zu weit vorangeschritten, sodass Schallplattenaufnahmen berühmter Pianisten eine größere Wertschätzung erfuhren 78. Die fehlende Vernetzbarkeit, so ist zu vermuten, könnte der Hauptgrund für die ökonomische Marginalisierung des Selbstspielklaviers sein.

F a zit In dem vorliegenden Beitrag wurden die groben Verläufe der wirtschaftlichen Entwicklungen von Selbstspielklavier, Phonographie, Radio und andeutungsweise des Films nachgezeichnet. Weitere Studien  – etwa über einzelne Firmengeschichten und deren internationale wirtschaftliche Verknüpfungen  – sind erforderlich, um diese Prozesse detaillierter zu verstehen. Doch bereits aufgrund der hier vorgelegten Daten wurde erkennbar, wie komplex und dicht das Geflecht an Gründen für den ökonomischen Niedergang des Selbstspielklaviers gewebt ist. Anders als bei der Schallplatte fand dieser Niedergang bereits vor der ökonomischen Katastrophe der Weltwirtschaftskrise statt. Die Bedeutung der Preise konnte relativiert werden, ohne sie gänzlich von der Hand zu weisen. Bei der Betrachtung der Produktionsbedingungen und der Warenform wurde die enge Bindung des Selbstspielklaviers an das Handspielklavier deutlich, die für Aufstieg und Verfall des neuen Mediums gleichermaßen verantwortlich gewesen sein dürfte. Dieser Befund wurde durch den Blick auf die Werbung bestätigt. Schließlich koppelten die fehlenden medialen Vernetzungsmöglichkeiten das Selbstspielklavier endgültig vom Musikmarkt ab. Der Niedergang des Selbstspielklaviers ist nur ein Beispiel dafür, wie die Ökonomie die Entwicklung der Medien – und damit die musikalische Wahrnehmungskultur  – im 20.  Jahrhundert mitartikuliert. Über den Einzelfall hinaus wird an diesem Beispiel zudem deutlich, dass auch das historische Bewusstsein in hohem Maß von den Aussortierungsprozessen der »Maschine Kapitalismus« beeinflusst wurde: Das Selbstspielklavier war nach den 1920er-Jahren lange Zeit als überkommenes Medienformat fast völlig vergessen, weil es keinen Marktwert mehr besaß. Dies beginnt sich erfreulicherwei78 | Vgl. dazu den Beitrag von Julia Kursell in diesem Band. Kursell belegt darin, dass ungeachtet aller Diskurse zur mechanischen Musik, die den menschlichen Interpreten durch die Maschine zu ersetzen trachteten (siehe dazu den Beitrag von Martin Elste in diesem Band), paradoxerweise gerade die neue Technologie des Reproduktionsklaviers an der Auskristallisation der Idee des individuellen Spiels beteiligt war.

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se seit einigen Jahren zu ändern: Der wissenschaftliche Blick, der sich von eingleisigen, linearen Kausalitätsvorstellungen abwendet und Mediengeschichte eher als Bewegung permanent sich modifizierender Medienverbünde begreift, kann so – zumindest in der Reflexion – zu einem Korrektiv der ökonomischen Aussortierungsmaschinerie werden. Heute wird die historische Bedeutsamkeit des Selbstspielklaviers in vielen wissenschaftlichen Ansätzen erkennbar – sei es in Bezug auf die Interpretationsgeschichte oder als Teilmomente der Geschichte musikalischen Zeiterlebens im 20. Jahrhundert 79. Darüber hinaus erscheint die einzigartige Form der Kollaboration von Mensch und Maschinen-Instrument, die gerade mit dem Kunstspielklavier realisiert wurde, sowohl musik- wie auch medienhistorisch als geradezu paradigmatisch: Wie bei keiner anderen Medienkombination ist beim Kunstspielklavier die Hervorbringung des Klangs auf den Automatismus des Abspielmechanismus der Notenrollen und den menschlichen Interpreten gleichermaßen verteilt. Solches »verteilte Handeln«80 könnte zum Modell werden, um jenes »Spiel mit der Maschine«, das für das 20. Jahrhundert so prägend ist, besser zu verstehen und darüber hinaus den Blick zu schärfen für aktuelle, ephemere Medienkombinationen und -kollaborationen, die zumindest kurzfristig neue Wahrnehmungsräume jenseits ökonomisch induzierter Formate eröffnen. Damit aber würde die Einsicht wach gehalten, dass Medienentwicklung keineswegs ausschließlich und zwangsläufig den übergeordneten Gesetzen des Marktes zu gehorchen hat, sondern in jeder ihrer Phasen gestaltbar und veränderbar ist.

79 | Vgl. dazu die Beiträge von Kai Köpp und Julia Kursell in diesem Band. 80 | Vgl. Werner Rammert: »Technik in Aktion: Verteiltes Handeln in soziotechnischen Konstellationen«, in: Thomas Christaller/Josef Wehner: Autonome Maschinen, Wiesbaden 2003, S. 289–315; Werner Rammert/Ingo Schulz-Schaeffer: »Technik und Handeln. Wenn soziales Handeln sich auf menschliche und technische Abläufe verteilt«, in: Dies., Können Maschinen handeln? Soziologische Beiträge zum Verhältnis von Mensch und Technik, Frankfurt a. M. 2002, S. 11–65.

Klingende Industriegeschichte: Die Frankfurter Orchestrion- & PianoInstrumenten-Fabrik J. D. Philipps Kerstin Helfricht

Die Fa. Philipps ist die jüngste der drei deutschen Firmen, die sich erfolgreich mit der mechanisch-pneumatischen Reproduktion von Klaviermusik beschäftigt haben. Nach Welte-Mignon und Hupfeld-Dea brachte sie 1909 ein eigenes Reproduktionsklavier1 namens Duca auf den Markt. Das Instrument verwendet einen Wiedergabemechanismus, der dem von Welte entwickelten sehr ähnlich ist und wahrscheinlich auf einer Lizenzvereinbarung beruht. Ich möchte mit diesem Artikel einen Einblick in die Firmengeschichte geben und einzelne Aspekte wie die Produktpalette, die Fertigungsbedingungen in Frankfurt-Bockenheim, eingereichte Patente und die Wahrnehmung der Firma in der zeitgenössischen Fachpresse deutlicher hervortreten lassen.

F irmengeschichte Johann Daniel Philipps (siehe Abbildung 2) gründet 1877 gemeinsam mit seinem Kompagnon Anton Ketterer die »Orchestrion-Fabrik Philipps & Ketterer«. Die beiden Niederlassungen befinden sich in Vöhrenbach im Schwarzwald und in Frankfurt am Main. Zu den ersten Produkten zählen walzenbetriebene Piano-Orchestrien. Hier dienen Pfeifenwerke zur Nachahmung von Orchesterstimmen; zusätzlich sind Klavier und Schlagzeug verbaut. Nach der Trennung von Ketterer 1886 gründet Philipps seine eigene Firma, die »Frankfurter Orchestrion-Fabrik Johann Daniel Philipps«. Bereits 1893 zieht 1 | Eine Erläuterung der Begriffe Selbstspiel-, Kunstspiel- und Reproduktionsklavier gibt Kai Köpp im ersten Teil seines Artikels in diesem Band.

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Abb. 1: Firmenlogo 1917. Quelle: Zeitschrift für Instrumentenbau 37 (1916/17), S. 168.

Abb. 2: Johann D. Philipps. Quelle: ZfI 47 (1926/27), S. 143.

Philipps in das Firmengelände Solmsstr. 9. Dort, in Frankfurt-Bocken­heim, unweit des Westbahnhofs, beginnt die dokumentarisch belegbare Geschichte der »Frankfurter Orchestrion-Fabrik Johann Daniel Philipps«. Von 1893 bis 1926 fertigt Philipps in diesem Gebäude zunächst walzenbetriebene, ab 1896 auch lochstreifengesteuerte Instrumente. Das sind zunächst pneumatische Piano-Orchestrien und zwei Jahre später, ab 1898, auch pneumatische Klaviere. Abbildung 1 zeigt das Firmenlogo mit einer Ansicht des Fabrikgebäudes aus dem Jahr 1917,2 Abbildung 3 das Werk I um 1920. Die Firma beginnt zu prosperieren. Bereits 1903 bietet Philipps unter dem eingetragenen Markennamen »Pianella«3 eine neue Produktlinie mit pneumatischen Orchestrien und Klavieren an. Die verschiedenen Modelle heißen: Pianella-Artista, -Corona, -Brillant, -Spezial, -Mandolino, -Caecilia, -Mandola, -Victoria oder -Celesta. Die Gehäuse dieser Instrumente bilden »in ihrer eleganten und geschmackvollen Aufmachung einen stets bewunderten Schmuck für jeden Gesellschaftsraum und Privat-Salon«4 – wie ein Werbetext verspricht. 2 | Artikel zum 25-jährigen Geschäftsjubiläum von August Philipps, in: ZfI 37 (1916/17), S. 226. 3 | Hubert Henkel: Lexikon deutscher Klavierbauer, Frankfurt a. M. 2000, S. 477. 4 | Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, Nachdruck durch die Gesellschaft für selbst­s pielende Musikinstrumente e. V., Bergisch-Gladbach/Rüdesheim 1993, S. 3.

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Abb. 3: Werk I Frankfurt-Bockenheim. Quelle: ZfI 40 (1919/20), S. 615.

Sie sind aufwendig verziert, geschnitzt, bemalt, illuminiert und facettiert verspiegelt, wie Abbildung 4, ein pneumatisches Mandolinen-Piano-Orchestrion der Luxus-Klasse, zeigt. Besonderer Wertschätzung erfreuen sich Modelle mit wechselbaren Lichtaufsätzen. Im Angebot befinden sich u. a. Naturmotive wie Wasserfall, Windmühle, Rodelbahn, liebliche Gebirgs- und Meereslandschaft im Verbund mit beweglichen technischen Objekten wie fahrende Eisenbahn, Segelschiff oder fliegendes Zeppelin-Luftschiff. Besonders beliebt sind Lichteffekte zum Thema Seeschlacht mit feuernden Schlachtschiffen oder mächtige Leuchttürme mit strahlendem Blinkfeuer (siehe Abbildung 5). 1903 übernimmt die Firma Wurlitzer (Cincinnati/Ohio) den Alleinvertrieb der Pianella-Instrumente für die USA. Bis zum Beginn des ersten Weltkriegs werden mehr als tausend Instrumente in die USA exportiert. Philipps beliefert Wurlitzer aber auch mit Orchestrionteilen für die eigene Produktion. Ebenfalls seit 1903 verwendet Philipps Notenrollen mit enger Teilung. In einem Verkaufskatalog heißt es: »Ein geradezu einzigartiger Vorzug unserer Instrumente sind die kleinen, nur etwa 23 cm breiten Notenrollen. Trotz ihrer erstaunlich geringen Breite besitzen dieselben den größten Tonumfang und sind aus allerbestem Material hergestellt.«5 Aufgrund der Empfindlichkeit 5 | Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, S. 3.

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Abb. 4: Pianella-Orchestrion Modell Nr. 34 »Luxus«. Quelle: Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, S. 23.

Abb. 5: Mandolinen-Piano-Orchestrion mit Lichteffekt »Vesuv«. Quelle: Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, S. 15.

des Papiers gegen hohe Luftfeuchtigkeit setzt Philipps auf das beständigere schmale Papierformat. Auch die später für die Reproduktionsklaviere hergestellten Duca-Rollen zählen mit einer Papierbreite von 26,5 cm für 81 spielbare Töne zu den schmalsten Lochstreifen aller Reproduktionssysteme. Zum 15. November 1904 nimmt Johann D. Philipps seine Söhne August und Oswald (siehe Abbildungen 6 und 7) als Teilhaber in die Firma auf; zugleich erfolgt die Umbenennung der Firma in »Frankfurter Musikwerke-Fa­ brik J. D. Philipps & Söhne«. Der Firmengründer bleibt bis 1911, bis zum Alter von 65 Jahren, Mitglied des Vorstandsrates. Beide Juniorchefs besitzen – wie in Zeitungsberichten vermerkt – »erfinderische und konstruktive Rührigkeit«6 und machen »von der Pike auf die Lehre im väterlichen Betrieb« 7. Sie durchlaufen den »ganzen Werdegang des Orgel6 | Artikel zum 25-jährigen Geschäftsjubiläum von Oswald Philipps, in: ZfI 40 (1919/20), S. 614f. 7 | Ebd.

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Abb. 6: August Philipps. Quelle: ZfI 37 (1917), S. 225.

Abb. 7: Oswald Philipps. Quelle: ZfI 40 (1919/20), S. 614.

bauers, Bestandteileschreiners, Mechanikers und Notenarrangeurs« 8. Bereits in den 1890er-Jahren sollen August und Oswald Philipps an der Konstruktion der ersten pneumatischen Orchestrien und Klaviere beteiligt gewesen sein. Sie erhalten eine umfassende musikalische Ausbildung und spielen selbst Notenrollen ein. Ihr »erfinderischer Geist, gepaart mit genialer Konstruktionsgabe« verhilft der Firma Philipps zum Aufstieg zu einem »der bekanntesten Frank­ furter Industriezweige von Weltbedeutung«9. Das Jahr 1905 und die folgenden Jahre gehören zu den produktivsten Zeiten im Schaffen der Philipps-Brüder. Sie vermarkten die epochemachende Erfindung der Revolvermechanik. Diese mehrfach patentierte10 und laut Produktkatalog von 1911/12 »konkurrenzlose Erfindung« 11 ermöglicht das gleichzeitige Einlegen und sukzessive Abspielen von bis zu sechs, später bis zu zwölf Notenrollen. Dadurch konnte ein wechselndes Musikprogramm von bis zu 24 bzw. 48 Stücken mit einer Länge von 45 bzw. 90 min erreicht werden. Diese Mechanik kommt bevorzugt in Tanzsälen, Gastwirtschaften und Lichtspieltheatern zum Einsatz. Bereits aus dieser Entwicklung lässt sich schlussfolgern, dass Philipps weniger für Privathaushalte, sondern vorrangig für die Gastronomie und die Unterhaltungsbranche produzierte. 8 | Artikel zum 25-jährigen Geschäftsjubiläum von Oswald Philipps, in: ZfI 40 (1919/20), S. 614f. 9 | Ebd. 10 | Deutsches Reichspatent Nr. 169879, Mechanisch-pneumatisches Spielwerk, eingereicht am 7. März 1905, ausgegeben am 18. April 1906. Entwickelt wurde der RevolverWechsler von Philipps’ Werkmeister Leopold King sen., s. http://www.mechanical­ musicpress.com/history/articles/king.htm vom 15.07.2015. 11 | Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, S. 4.

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Zwischen 1905 und 1910 werden in Leipzig, Brüssel, Essen und Berlin Zweigstellen mit modernen Ausstellungssälen eingerichtet. Zu zahlreichen Höchstprämierungen in internationalen Wettbewerben tritt 1910 der »Große Preis« der Brüsseler Weltausstellung hinzu 12 .

D ie E nt wicklung des D uca -K l aviers Die ersten Duca-Reproduktionsklaviere werden der Öffentlichkeit im Jahr 1908 präsentiert. Anlässlich der Leipziger Herbstmesse 1908 berichtet die Zeitschrift für Instrumentenbau: »Als Neuheit hatten die Herren Philipps ein neues Kunstklavier Duca mitgebracht, sozusagen ein etwas verspätetes Konkurrenzinstrument zu Dea und Mignon. Wie bei diesen, so ist auch hier das Spiel des vortragenden Künstlers (wir hörten etwas von Prof. Rehberg) durch Aufnahme-Apparat festgehalten worden, und es kann hier konstatiert werden, daß das schöne von Lipp & Sohn gebaute Instrument sich mit seinen 85 Tönen Umfang und seinem reichen Nuancierungsmechanismus vollwertig seinen beiden Vorgängern anschließt.«13

Abb. 8: Duca Notenverzeichnis, Einband. Quelle: Aufnahmebuch »Duca Notenverzeichnis«.

Ein Jahr später, anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse 1909, heißt es: »Inzwischen ist auch für das prächtige Kunstklavier Duca ein vornehmes Repertoire geschaffen worden, wobei man den Namen von tonangebenden Künstlern, ja man kann wohl sagen von Koryphäen des Klavierspiels begegnet. Die tadellose Wiedergabe auch der leisesten Gefühls-Erregungen und Anschlags-Schattierungen stellt dem herrlichen Instrumente das Zeugnis eines wahrhaften Kunstproduktes aus.«14

12 | ZfI 38 (1917), S. 226. 13 | ZfI 28 (1908), S. 1208. 14 | ZfI 29 (1908/09), S. 663.

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Abb. 9: Philipps Aufnahmebuch Nr. 1. Quelle: Aufnahmebuch »Duca Notenverzeichnis«.

Abb. 10: Philipps Aufnahmebuch »Ballgeflüster«. Quelle: Aufnahmebuch »Duca Noten­v er ­z eichnis«.

P ianisten Für das Einspielen der Duca-Rollen verpflichtet Philipps insgesamt 103 Interpreten, darunter Komponisten wie Camille Saint-Saëns, Ferruccio Busoni, Hans Pfitzner oder Ernst Toch. Es befinden sich berühmte Liszt-Schüler wie Arthur Friedheim, Josef Weiss, José Viana da Motta oder Konrad Ansorge unter den Pianisten. Aber auch international agierende Virtuosen wie Xaver ­Scharwenka, Artur Schnabel, Max von Pauer, Ossip Gabrilowitsch, Teresa Carreño oder ­Ignaz Friedmann kommen in den Aufnahmesalon der Firma Philipps. Zwischen Juli 1908 (Hans Förster, Rolle Nr. 1) und Juni 1912 (Camille Saint-Saëns, Rollen Nr. 1182–1198) werden über 1100 Titel eingespielt. Um 1914 endet mit Ossip Gabrilowitsch (Rollen Nr. 1350–1363) die Reihe der berühmten Pianisten, die das Philipps-Repertoire mit Aufnahmen klassischer Klaviermusik bereichert haben. In den Kriegsjahren 1914 bis 1918 steht leichte Unterhaltungs- und Salonmusik im Vordergrund. Die Rollen mit den Nummern 1410 bis 1602, also fast 200 Titel, werden fast ausschließlich von Willy Rehberg eingespielt. Der Schweizer Pianist wirkt von 1907 bis 1917 als Kla-

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Abb. 11: Willy Rehberg/Hans Förster Walzerträume. Quelle: Aufnahmebuch »Duca Notenverzeichnis«.

Abb. 12: August Philipps Rolle 374. Quelle: Aufnahmebuch »Duca I«.

vier-Professor an Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt und gilt als versierter Prima-Vista-Spieler. Rehberg zählt gemeinsam mit seinem Sohn Walter, Hans Förster, Fritz Malata und Joseph Treis zu den Hauspianisten der Firma Philipps. Insgesamt nehmen diese fünf Pianisten ca. 600 Titel auf; mehr als ein Viertel aller Aufnahmen mit klassischer Musik. In den ersten vier Jahren werden wesentlich mehr Stücke eingespielt als in den folgenden zehn Jahren. Meist halten sich die Künstler nur einen Tag im Studio auf. In dieser kurzen Zeit entstehen im Durchschnitt bis zu zehn Aufnahmen.

D ie A ufnahmebücher Die Aufnahmebücher der Firma Philipps dokumentieren in der Hauptsache Eintragungen für den Zeitraum 1908 bis 1912. Weitere, zahlenmäßig deutlich geringere Aufzeichnungen finden sich bis 1922.

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Abb. 13: Erich Wolfgang Korngold, Artur Schnabel 1912. Quelle: Aufnahmebuch »Duca Notenverzeichnis«.

Abb. 14: Alfred Cortot 1911. Quelle: Aufnahmebuch »Duca Notenverzeichnis«.

Zwei handschriftliche Bücher aus dem Nachlass von Leopold King jun. sind erhalten: eines mit der Aufschrift »Duca I« und ein anderes mit dem Titel »Duca Notenverzeichnis« 15. Die ersten Aufnahmen im eigens eingerichteten Aufnahmesalon von ­Philipps finden im Juli 1908 statt. Zu Beginn scheint es verschiedene Testläufe gegeben zu haben, da bei einigen Stücken die Datierung der Aufnahme nicht mit der Rollen-Nummerierung übereinstimmt. Z. B. wurde die Katalognummer 1 am 22. Juli 1908 aufgezeichnet: Hans Förster mit Cupids-Garden. Es gab aber bereits am 10. Juli eine Aufnahme mit Förster. Der Titel war Ballgeflüster (siehe Abbildung 10). Erst ab Rolle 112 sind die Eintragungen ohne Unterbrechung fortlaufend. 15 | Außer Bild Nr. 12 beziehen sich die Bilder Nr. 9 bis 14 auf das Aufnahmebuch »Duca Notenverzeichnis«. Bild Nr. 12 bezieht sich auf das Aufnahmebuch »Duca I«. Hierbei handelt es sich um eine zu Sicherheitszwecken von Philipps angefertigte Kopie des »Duca Notenverzeichnisses«. Mein Dank gilt an dieser Stelle Herrn Thomas Richter, Neu-Isenburg, für die ermöglichte Einsichtnahme und Fotoerlaubnis.

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Die Frankfurter Hauspianisten scheinen sich bei Bedarf gegenseitig vertreten zu haben: Am 5. Mai 1910 sollte Willy Rehberg u. a. Walzerträume von Oskar Strauß (Walzer aus der Operette Walzertraum) einspielen. Der Name wurde durchgestrichen und mit Bleistift in Hans Förster geändert (siehe Abbildung  11). Auch die beiden Junior-Chefs betätigten sich als Pianisten. Am 5.  Dezember 1910 spielt August Philipps die Rolle Nr. 374 mit einem Weihnachtsmedley von Carl Heins ein (siehe Abbildung 12). Am 14. Februar 1912 nimmt Erich Wolfgang Korngold zwei Titel auf, am 15.  Februar spielt Artur Schnabel drei Rollen für Philipps ein (siehe Abbildung 13). Bei beiden Eintragungen werden nachträglich mit Bleistift die Verlagsnamen der verwendeten Notenausgaben ergänzt. Ebenso geschah es bei Aufnahmen mit Alfred Cortot am 16. November 1911 (siehe Abbildung 14)16 .

D as D uca -R eproduk tionskl avier Einige Künstler äußern sich emphatisch über das Duca-Reproduktionsklavier. Diese handschriftlichen Urteile werden im Verkaufskatalog von 1911/12 veröffentlicht. Hier schreibt Eugen d’Albert (siehe Abbildung 15): »Duca ist das beste Reproduktions-Klavier, welches ich bis jetzt kennenlernte. Duca gibt in geradezu verblüffender Weise die hineingespielten Stücke wieder. […]« 17 Der Duca-Künstlerspiel-Wiedergabe-Apparat wird in fünf verschiedenen Ausführungen angeboten. Ab 1908 zunächst als Klavier, ab 1909 als Flügel, ab 1911 als Vorsetzer sowie als Ducanola-Tretklavier. Als »apartes Genre-Möbel ohne Handspiel« 18 wird das Duca-Cabinet ebenfalls ab 1911 verkauft. Die Endmontage der Duca-Instrumente, der Einbau der Pneumatik und des Antriebs sowie die Holzverarbeitung der oftmals reich verzierten Gehäuse erfolgt in Frankfurt-Bockenheim. Philipps bezieht seine Klaviere und Flügel, oftmals nur die Rasten, von reinen Klavierbaufirmen. Zu nennen sind die Marken Arnold, Brinkmann & Goebel, Feurich, Fiedler, Lipp, Niendorf und Scheel. Die eigene, qualitätsvolle Holzverarbeitung gilt bei Philipps als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu konkurrierenden Firmen, die die Gehäuse vom Klavierhersteller übernehmen. Um das Unternehmen marktfähiger zu machen, erfolgt 1910 die Umwandlung der Firma in eine Aktiengesellschaft. Die Firma expandiert, verfügt inzwischen über eine eigene große Abteilung zur Notenrollen-Herstellung. Ein fester 16 | Bereits seit 1903 existierte die Anstalt für musikalisches Aufführungsrecht (AFMA). Aus ihr ging 1915 die GEMA hervor. 17 | Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, S. 104. 18 | ZfI 37 (1916/17), S. 165.

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Abb. 15: Eugen d’Alberts Urteil über das Duca. Quelle: Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, S. 104.

Stab an angestellten Musikern und Orchesterdirigenten überwacht das Zeichnen und Einspielen der Notenrollen. Ab 1910 fertigt Philipps die Paganini-Reihe. Diese Instrumente verbinden den mit Orgelpfeifen erzeugten Klang einer Geige mit Klavierbegleitung. Mit sehr verfeinerter Abstufung der Dynamik sowie Vibrato können sie den Klang einer solistisch gespielten Geige sehr realistisch und lebendig wiedergeben. Zum ausdrucksvollen Spiel trägt das mit dem Duca-Betonungs-System ausgestattete Klavier bei.

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Abb. 16: Preislisten PianellaMusikwerke Katalog. Quelle: Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12.

Abb. 17: Preislisten Pianella-Musikwerke Katalog. Quelle: Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12.

P roduk tpale t te 1911/12 Ein 1911/1912 unter dem Namen »Pianella-Musikwerke« veröffentlichter Firmenkatalog zeigt die gesamte Produktpalette (Preislisten siehe Abbildungen 16 und 17). Sie besteht aus klassischen Orchestrien mit Gewichtsaufzug und Stiftwalze, »Pianetta« genannt, sowie pneumatischen Orchestrien mit Notenrollen-Betrieb, »Pianella« genannt. Die sogenannten »Mandolinen-Pianos« der Produktreihe C. [Corona] (siehe Abbildung 18) vereinen Mandolinen-, Klavier- und Streichmusik, die durch Klavier und Geigenpfeifen erzeugt wird. Den Mandolinen-Effekt erzeugen kleine Holzplättchen, die gegen die Saiten schlagen. Kombiniert mit Xylophon­k lang gehören diese Instrumente auch 1919 noch in das Sortiment von ­Philipps. Die Zeitschrift für Instrumentenbau erwähnt im selben Jahr das

Klingende Industriegeschichte: Die Frankfur ter Fabrik J. D. Philipps

Abb. 18: Mandolinen-Piano, Modell­ reihe Pianella-C. Quelle: Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, S. 59.

Abb. 19: Kunstspiel-Klavier mit Revolvermechanik. Quelle: Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, S. 79.

Abb. 20: Philipps Duplex-Piano. Quelle: Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, S. 85.

Abb. 21: Reproduktionsklavier Pianella-Concert-Piano. Quelle: Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, S. 91.

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neue Modell Pianella-C.19, das über eine neuartige nuancierende Xylophon­ begleitung und Xylophonsoli verfüge und stark gekauft würde19. Der Katalog von 1911/12 wirbt weiterhin für Kunstspielklaviere der Modellreihe Pianella-A., die ebenfalls zum Teil mit Xylophon oder Revolvermechanik ausgestattet sind (siehe Abbildung 19). Ihr Spiel reproduziere »mittels einer neuen Erfindung der Künstler-Rollen […] das Spiel erster Pianisten und Komponisten durchaus naturgetreu.«20 Ferner zeigt der Katalog das Philipps Duplex-Piano für den Kinematographen (siehe Abbildung 20), ein Kombinationsinstrument zwischen Klavier und Harmonium, das sich für Kinosäle eignet, sowie das Philipps Pianella-­ConcertPiano (siehe Abbildung 21), ein Reproduktionsklavier mit Künstler-Rollen, das für Hotels und Restaurants mit Münzeinwurf versehen und für private Käufer unter dem Markennamen Duca angeboten wird. Fast alle Modelle bietet ­Philipps mit einfacher Mechanik zum Einlegen einer Rolle sowie mit einer automatischen Rollenwechselmechanik an. Während des ersten Weltkriegs muss die Produktion auch bei ­Philipps an die Kriegsverhältnisse angepasst werden. In der Zeitschrift für Instrumentenbau heißt es im Frühjahr 1917: »In der Musikinstrumentenbranche bewegt sich das Geschäft im allgemeinen meist nur in bescheidenen Grenzen, da es in einzelnen Zweigen, wie z. B. in der Klavier­i ndustrie, infolge des Material- und Arbeitermangels an fertigen Fabrikaten fehlt und für Musik­w erke das Geschäft während der Kriegszeit aus begreiflichen Gründen zum Teil lahmgelegt ist. […] Auch die Kunstspielklaviere hatten nicht die gleichen Umsätze zu verzeichnen wie ehedem, denn auch für sie fiel das Ausbleiben der Kaffeehaus- und Kinobesitzer sehr in die Waagschale.« 21

Philipps weicht aus auf Holz- und Metallverarbeitung und beschäftigt trotzdem deutlich mehr Arbeiter und Angestellte als in Friedenszeiten. Das Diagramm in Abbildung 22 zeigt die Beschäftigungssituation der Firma Philipps zwischen 1905 und 1927. Von 25 Mitarbeitern im Jahr 1905 wächst die Belegschaft innerhalb von fünf Jahren auf 200 an: Eine Steigerung um das Achtfache. Von 1910 bis 1917 steigert sich die Mitarbeiterzahl nochmals um das Dreifache, auf 600. Im Vergleich zur Hupfeld AG mit 1500 Beschäftigten im Jahr 1912 sind die Verhältnisse bei Philipps immer noch bescheiden. Ab 1920 19 | Anzeige in der ZfI 40 (1919/20), S.  17: »Zu erwähnen ist auch das neue Modell ›P. C. 19‹, dessen Bedeutung auf eine neuartige, nämlich auf eine nuancierende Xylophonbegleitung, zurückzuführen ist. Dieses stark gekaufte Modell bot auch herrliche Xylophonsoli und bringt das Xylophonklavier erneut zu Ehren.« 20 | Pianella-Musikwerke Katalog 1911/12, S. 69. 21 | ZfI 37 (1916/17), S. 181.

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arbeiten in den Philipps-Werken 700 stetig 400–500 Angestellte und 600 Arbeiter. Zum 50. Firmenjubiläum 500 400 1927 bilden 60 Angestellte, 10 Mu- 300 siker, 25  Meister und mehr als 200 500  Arbeiter das Werkspersonal 100 0 in Frankfurt und Aschaffenburg22 . 1905 1910 1917 1920 1927 Auch die Philipps-Söhne absolvieren ihren Dienst für das Vaterland: Abb. 22: Diagramm Belegschafts­e ntAugust Philipps wird 1914 zu sie- wicklung benmonatigem Einsatz verpflich- Quelle: Autor. tet, Oswald für 12  Monate von März 1916 bis März 1917. Der bereits im Ruhestand befindliche S ­ enior-Chef übernimmt während dieser Zeit die Vertretung im Vorstand 23. Während des ersten Weltkriegs werden von den Philipps-Brüdern weitere Patente eingereicht. Sie lassen sich am 3. November 1914 die Steuerung für den automatischen Revolverwechsler in den USA patentieren (Nr. 1.115,735: »Patent for Automatic Playing Mechanism for musical instruments working with a plurality of records«)24. Am 5. November 1915 erfolgt die Patentierung einer »Vorrichtung zur Einstellung des Notenbandes pneumatischer Spielwerke« (Nr. 293624)25. Zwei Jahre später heißt es dazu in einem Artikel der Zeitschrift für Ins­tru­ mentenbau: »Die neue automatische Notenblattführung hat sich sehr gut bewährt. [...] Die Besucher [der Leipziger Frühjahrsmesse] hatten Gelegenheit, am ›Ducanola-Piano‹ die Vorzüge dieser Neuheit kennen zu lernen. Führt sie einerseits einen Ausgleich herbei zwischen den oft unangenehm empfundenen ungleichen Breiten und Arten der für Klavierspielapparate erscheinenden Notenrollen, so hält sie ferner die Folgen von Abnutzung oder Beschädigung der Notenbandränder dem Musikvortrage fern.« 26

22 | »Eine Frankfurter Pianoforte- und Kunstspielpianofabrik«, in: Frankfurter Nachrichten vom 02.09.1927. 23 | ZfI 37 (1916/17): Eintrag im Handelsregister, dass »die Stellvertretung des Privatiers Herrn Johann Daniel Philipps, zu Klein-Schwalbach wohnhaft, für das behinderte Mitglied des Vorstands Herrn Oswald Philipps für die Zeit vom 8. März 1916 bis 7. März 1917 erloschen« sei. 24 | https://www.google.com/patents/US1115735#classifications vom 15.07.2015. 25 | ZfI 37 (1916/17), S. 27. 26 | ZfI 37 (1916/17), S. 181–182.

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Die Funktion dieser Automatik war folgende: Durch eine zusätzliche Lochreihe im Gleitblock und Regulierrädchen im Spielkasten konnten beim Abspielen der Notenrolle die Laufrichtung des Papiers beeinflusst und Abweichungen ausgeglichen werden.

Abb. 23: Patent über eine »Vorrichtung zur Ein­s tellung des Notenbandes pneumatischer Spielwerke«. Quelle: ZfI 37 (1916/17), S. 27.

N euer A ufschwung nach dem K rieg Oswald Philipps, der vor dem Krieg Fortbildungsreisen durch die USA unternommen und dortige Betriebsmethoden studiert hatte, übernimmt 1919 die Geschäftsführung der Zweigstelle in Frankfurt-Rödelheim. Das sogenannte Werk II (siehe Abbildung 24) produziert mit einem Mitarbeiterstab von 400–500 Arbeitern und Angestellten Zubehörteile und Lampen für die Fahrradindustrie. Von den Leipziger Frühjahrs- und Herbst-Messen gibt es positive Rückmeldungen: Die Zeitschrift für Instrumentenbau berichtet 1919 von »massenhaften Meßaufträgen« und einem »gewaltigen Käufer- und Interessenten­ zustrom« 27 der Messe-Musterlager im Haus »Goldene Kugel« in der Richard-Wagner-Str. 10 in Leipzig. Philipps verzeichne ein »außerordentlich befriedigendes Messeergebnis«, »das sich auch auf die im dritten Stock des

Abb. 24: Werk II Frankfurt-Rödelheim. Quelle: ZfI 40 (1919/20), S. 615. 27 | ZfI 40 (1919), S. 17.

Klingende Industriegeschichte: Die Frankfur ter Fabrik J. D. Philipps Abb. 25: Werbung anlässlich der Leipziger HerbstMesse 1917. Quelle: ZfI 40 (1919), S. 168.

gleichen Messehauses untergebrachte Spezialabteilung für die neuen Artikel ›Philag‹-Fahrrad-Lichtmagnet-Motoren und ›Philag‹-Magnetzuglampen« erstrecke28 . Ebenfalls 1919 erfolgt die Einrichtung eines prachtvoll ausgestatteten Ducanola- und Duca-Spezialhauses in der Kaiserstr. 12 in Frankfurt. Abbildung 25 zeigt eine Werbeannonce aus der Zeitschrift für In­stru­m entenbau von 1917. In den zwanziger Jahren kauft Philipps während der Inflation verschiedene Firmen auf und produziert nun in Zweigfabriken. Am 13. Februar 1923 schließt Philipps z. B. einen Fusionsvertrag mit der Berliner Firma Frati und Co., die ebenfalls selbstspielende Instrumente herstellt. Im Juni 1924 erfolgt die handelsgerichtliche Eintragung der Verschmelzung von Philipps mit der KlavierbauFirma Wilhelm Arnold AG in Aschaffenburg. Arnold firmiert künftig unter »Bülow Flügel- und Pianofortefabrik, Zweigniederlassung der Philipps AG Frankfurt am Main«. Zur Leipziger Frühjahrsmesse 1925 stellt die Firma die ersten, nach dem Krieg gefertigten Handspielklaviere aus; neben den Marken Arnold und Bülow wird auch die Marke Philipps vertrieben. Diese drei Marken stehen »für sich steigernde Klassen nach Qualität und Schönheit«,29 wie ein Zeitungsartikel verrät. Abbildung 26 zeigt eine Werbeannonce der Firma ­Philipps in der Zeitschrift für Instrumentenbau aus dem Jahr 1926. Zum 50-jährigen Firmenjubiläum 1927 veröffentlicht Philipps Zahlen zur Produktion: In 50 Geschäftsjahren wurden mehr als 40.000 elektrische Klaviere, Orchesterwerke, Ducanolas sowie über 15.000 Handspielpianos und Flügel erzeugt 30. Das ergibt einen linear berechneten Jahresausstoß von ca. 800 In-

28 | ZfI 40 (1919), S. 17. 29 | »Eine Frankfurter Pianoforte- und Kunstspielpianofabrik«. 30 | Ebd.

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Kerstin Helfricht Abb. 26: Werbeannonce der Fa. Philipps 1926. Quelle: ZfI 47 (1926), S. 191.

strumenten pro Jahr. Kleinere Klaviermanufakturen bauten im Durchschnitt 140 Instrumente pro Jahr. Die Produktpalette von 1927 weist neben den bekannten Handspiel-, Kunstspiel- und Reproduktions-Pianos vor allem elektrische Pianella-Instrumente für gewerbliche Zwecke in Hotels und Restaurants, Saal- und Kinobetrieben auf. Besonders beliebt waren polyphone Orchesterwerke, darunter das Philipps Paganini-Geigen-Orchestrion, Philipps Jazzband und Philipps Super Jazz, das eine 12-köpfige Jazzband zu ersetzen vermochte31.

N iedergang Trotz ausgefeilter Werbung und qualitätsvoller Produkte lässt sich der Nieder­ gang der Firma am Ende der zwanziger Jahre nicht aufhalten. Die Zweig­ niederlassungen werden nach und nach geschlossen. Im Jahr 1929 werden der Sitz der Gesellschaft und die Klavierproduktion nach Aschaffenburg in die Räume der früheren Fa. Wilhelm Arnold verlegt. Bis zum Oktober 1929 ist die Frankfurter Fabrik verkauft. Es wird nur noch eine Handlung in der Weißfrauenstr. 11 betrieben. Die Firma wird in »Pianound Orgelwerke Philipps AG« umbenannt, Direktor ist August Philipps. Im Sommer 1936 beginnt Philipps zusätzlich mit der Herstellung von Möbeln, im Sommer 1942 wird die Klavierfabrikation ganz eingestellt. Nach 1945 verlegt man sich neben der Möbelherstellung auf die Reparatur von pneumatischen Musikautomaten und Kirchenorgeln.

31 | »Eine Frankfurter Pianoforte- und Kunstspielpianofabrik«.

Musikalische Medienpraxis als Interaktion von Menschen und Maschinen

»Grammophon-Konzerte« Historische Medienkombinationen mit Schallplatte und der Wandel der Live-Ästhetik 1 Marion Saxer

»Technologien sind künstlich, aber  – paradox genug  – Künstlichkeit ist dem Menschen wesentlich.« 2 (Walter Ong)

Das Live-Erlebnis spielt gegenwärtig in vielen künstlerischen Arbeiten, die neue technische Möglichkeiten nutzen, eine große Rolle. »Liveness«3 erscheint geradezu als eine Kulturkonstante  – ungeachtet aller dynamischen Entwicklungen im Bereich der Speichermedien und deren Verbreitungsformen. Die hohe kulturelle Wertschätzung, die das Live-Konzert heute genießt, begründet Florian Rötzer mit der »Sehnsucht nach dem unverfügbaren Ereignis« in Zeiten digitaler Allverfügbarkeit: »Wenn man sich die Anwesenheit in Museum, in Theatervorstellungen, Konzertsälen, Kinos oder Bibliotheken ersparen kann, indem man zu Hause alles [...] vielfach in bes1 | Bei dem Text handelt es sich um eine stark veränderte und ergänzte Fassung von: Marion Saxer: »Von der Ideologie der ›Liveness‹ zur Reflexion und Variation der Live-­ Erfahrung. Eine kleine Mediengeschichte des Live-Begriffs«, in: Dies. (Hg.), Mind the Gap! Medienkonstellationen zwischen zeitgenössischer Musik und Klangkunst, Saarbrücken 2011, S. 138–147. 2 | Walter Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes (1982), hier zitiert nach: Claus Pias (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 99. 3 | Vgl. John Croft: »Theses on liveness«, in: Organised sound: an international journal of music technology 12 (2007), S. 59–66.

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Marion Saxer serer Qualität auf dem Bildschirm durchblättert [...], dann verändert sich [...] auch der Reiz von kulturellen Veranstaltungen als solchen.« 4

Zudem bleibt gültig, dass wir vom direkten Agieren anwesender Personen – etwa im Rahmen einer künstlerischen Aktion oder eines Vortrags – wichtige Impulse erhalten, die durch keine Medientechnik, sei es Schrift oder digitale Technik, ersetzt werden können. »Interaktion in Anwesenheit«  – so ein medien­theoretischer Begriff für das Live-Ereignis  – scheint sich gegen alle medien­technologischen Neuerungen durchzusetzen. Diskurse zur Live-Erfahrung weisen allerdings häufig eine Verengung bzw. Einschränkung auf. Die Argumentationen gehen meist von einer »­Entweder-Oder«-Konstruktion aus, die lediglich die Alternativen »entweder« Live-Musik »oder« reproduzierte Musik zulassen. Medienkombinationen, in denen sich beide Mediensituationen mischen, werden nicht berücksichtigt. Gerade solche Medienkombinationen waren jedoch bereits in der Frühzeit der Phonographie durchaus üblich. Der folgende Beitrag wendet sich jenen historischen Mischsituationen und den ihnen zum Teil unbewusst zu Grunde liegenden, unterschiedlichen medientheoretischen Konstrukten bzw. medialen Strategien zu. Am Ende wird ein Ausblick auf zeitgenössische Mediengemische gegeben.

V orgeschichte (n) in der F rühzeit der P honogr aphie . D ie P r äferenz für » das O riginal« Hinter der grundsätzlich positiven Einschätzung des Live-Konzerts verbergen sich vielfältige Modifikationen, die diese Darbietungssituation im Lauf des 20. Jahrhunderts erfahren hat. In dem komplexen Geflecht sozialer und technischer Entwicklungen, die den Prozess der allmählichen Umformung der Institution Konzert ausmachen, spielt die Erfindung der Phonographie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Bereits durch das bloße Vorhandensein der neuen technischen Möglichkeiten veränderte sich das Darbietungsformat Konzert grundlegend. Denn während in den Jahrhun­ derten zuvor die »Interaktion in Anwesenheit« den keiner weiteren ­Reflexion bedürfenden Normalfall musikalischer Aufführungen darstellte, wird mit der auf Tonträgern abgebildeten Klangaufnahme das Hören von Musik zu jeder beliebigen Zeit außerhalb des Konzertsaals erstmals möglich. Damit aber wandelt sich das Konzert zu einem »Original-Geschehen«, die Schall4 | Florian Rötzer: »Mediales und Digitales. Zerstreute Bemerkungen und Hinweise ­e ines irritierten informationsverarbeitenden Systems«, in: Ders. (Hg.), Digitaler Schein, Frankfurt a. M. 1991, S. 61.

»Grammophon-Konzer te«. Historische Medienkombinationen mit Schallplatte

aufnahme wird als dessen Abbildung bzw. Reproduktion verstanden. Der Kultur­w issenschaftler Philip Auslander betont, dass der Live-Begriff erst mit der Erfindung der Reproduktionstechniken sinnvoll wird. Dies, so folgert er, bedeutet letztlich, dass alle vorherige Musik streng genommen keine Live-­ Musik war5. Auch der Kultur- und Medienwissenschaftler Jonathan Sterne hat auf eine den Reproduktionsmedien inhärente, eigentümliche Dialektik hingewiesen, die meist übersehen wird. Er betont ebenfalls, dass eine musikalische Darbietung erst dann den Status eines »Originals« erhalten kann, wenn ihre Reproduktion im Bereich des technisch Möglichen liegt. Sterne begreift deshalb beide  – sowohl die »Kopie« wie auch das »Original«  – als Produkte eines sozialen Prozesses der Reproduzierbarkeit. Das Original erweist sich dabei als ebenso artifiziell, wie die Kopie. Sterne erläutert diesen Gedanken u. a. am Beispiel der »Studio-Technik« in der frühen Phonographie, die seitens der Interpreten besonderer Verhaltensmaßnahmen vor den Aufnahmetrichtern bedurfte, um die angestrebte, möglichst die Konzertsituation simulierende Aufnahmequalität zu erzielen6. Weil die Dynamikwiedergabe schwierig war, wurden Sänger von sogenannten »Pushern« auf den richtigen Abstand zum Aufnahmegerät buchstäblich geschubst: Für leise Töne mussten die Interpreten schnell nah an den Trichter treten, bei Forte-Passagen dagegen sich ebenso rasch weiter entfernen. Von einer »wirklichkeitsgetreuen Reproduktion« kann aufgrund dieser Manipulationen letztlich nicht gesprochen werden7. Sterne kommt zu dem Schluss: »Reality is as much about aesthetic creation as it is about any other effect when we are talking about media« 8. Allerdings wurde in der Geschichte der Phonographie von Beginn an »das Original« – also die »Live«-Konzert­situation präferiert bzw. als höher stehend bewertet. Die Qualität einer Schallaufnahme wurde stets danach bemessen, in welchem Maß die angestrebte Identität mit der Live-Darbietungssituation realisiert werden konnte9. Je stärker sich die Aufnahme an das Konzertereignis annäherte, als desto gelungener galt sie. Entsprechend wurde im ersten Heft der Werbezeitschrift der Deutschen Grammophon AG Die Stimme seines Herrn aus dem Jahr 1909 als Höhepunkt der Entwicklung des Grammophons gepriesen, dass es gelang: »[...] den Unterschied zwischen Original und Reproduktion allmählich 5 | Philip Auslander: Liveness: Performance in a Mediatized Culture, New York 2008. 6 | Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham/ London 2003, insbesondere das Kapitel: The Social Genesis of Sound Fidelity, S. 215–287. 7 | Vgl. dazu auch Mark Katz: Capturing Sound. How Technology has changed Music, Berkeley 2004, S. 37ff. 8 | J. Sterne: The Audible Past, S. 241. 9 | Dass hingegen jede Aufnahme auch gestalterische Entscheidungen seitens des Tonmeisters erfordert, diskutiert auch Jochen Stolla: Abbild und Autonomie. Zur Klangbildgestaltung bei Aufnahmen klassischer Musik von 1950–1994, Marburg 2004.

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so gut wie ganz zu beseitigen, damit dem Publikum etwas relativ Vollkommenes gewährleistend.« 10 Die Medialität der Aufnahme sollte demnach zum Verschwinden gebracht werden, die Klangreproduktion sollte klingen »als ob« sie live dargeboten würde – eine typische mediale Strategie, die von dem Medienwissenschaftler Jay D. Bolter als Medientransparenz bezeichnet wird 11.

H istorische M ediengemische unter dem L eitgedanken der M edientr ansparenz Bereits in der Frühgeschichte technischer Musikmedien wurde mit medialen Mischsituationen experimentiert, in denen Musiker gemeinsam mit den neuen Apparaten Musik hervorbrachten. Menschliche Interpreten und Reproduktionsgeräte waren gleichsam kollaborativ an der Entstehung des Klangresultats beteiligt. Zunächst wurden diese neuen medialen Möglichkeiten als bloße Utopien oder Travestien artikuliert. Doch so, wie sich die absurdesten Fantasien früher Science-Fiction-Romane längst in Realität verwandelt haben, sind auch frühe Medienutopien heute selbstverständliche Bestandteile künstlerischer Strategien. Ein frühes Beispiel zeigt die Reproduktion eines Gemäldes aus dem Jahr 1889 mit dem Titel »Grammophonkonzert im Beethovensaal« (siehe Abbildung 1). Zu sehen ist eine Konzertbühne, auf der in der Mitte am vorderen Bühnenrand, wie bei traditionellen Konzerten üblich, die dem Publikum zugewandte Sängerin oder Dirigentin steht. Sie trägt eine lange schulterfreie Robe. Die Orchesterinstrumente sind durch auf brusthohen Podesten postierte Grammo­phone ersetzt. Auffallend ist die Fülle der auf der Bühne befindlichen, blattreich wuchernden Grünpflanzen, die sich sowohl an den Podesten der Grammo­phone wie auch am Kleid der Interpretin hochranken und damit eine Verbindung zwischen Mensch und Gerät schaffen. Die Grammophonsäulen sind darüber hinaus anthropomorphisiert – man beachte z. B. den schwarzen Gürtel der Frau und die in gleicher Höhe angebrachten schwarzen Blenden 10 | »Das Grammophon als Freund und Bildner«, in: Die Stimme seines Herrn. Zeitschrift für Grammophonkunst 1 (1909); Nachdruck der Ausgabe Berlin 1909–1912, ­H ermann Holzbauer (Hg.), Tutzing 1992, S. 6. 11 | Jay D. Bolter: Die aktuelle Medienkultur und die Avantgarde als Lebenspraxis, Vortrag gehalten am 14.04.2014 im Rahmen der Cologne Media Lectures (https://www. youtube.com/watch?v=4JD-7Osuy5s vom 29.09.2015). In der früheren Schrift: Jay D. Bolter/Richard Grusin: Remediation: Understanding New Media, Cambridge/Massachusetts 1999, benutzen Bolter und Grusin abweichende Termini für die gleichen Sachverhalte. Die Strategie der Medientransparenz wird als »Immediacy« bezeichnet, medienreflexive Positionen als »Hypermediacy« (S. 272).

»Grammophon-Konzer te«. Historische Medienkombinationen mit Schallplatte Abb. 1: Grammo­ phonkonzert im Beethoven­s aal. Quelle: Nach Heinrich Schwab stammt das Gemälde (Ausschnitt) aus dem Jahr 1889. Das Original liegt nicht vor. Die Repro­ duktion stammt aus dem Bildarchiv Foto Marburg, in: Heinrich W. Schwab: Konzert: Öffentliche Musik­ darbietungen vom 17.–19. Jahrhundert (= Musikgeschichte in Bildern Band 4), Leipzig 21980, S. 192.

der Podeste. Die visuellen Parallelen reichen bis zur dreiteiligen Frisur der Dame, die mit den drei Trichtern der Grammophone korrespondiert. Obgleich diese Bühnensituation zur Zeit der Entstehung dieses Gemäldes zweifellos als eine bloße Utopie oder gar Travestie aufgefasst wurde, deren Realisierung man  – wenn nicht für unmöglich  – so doch für lächerlich erachtete, bildet die dargestellte Situation eine musikalische Kollaboration zwischen Sängerin/ Dirigentin und den Apparaten ab, in der sowohl die menschliche Akteurin wie auch die Apparate an der Hervorbringung von Musik beteiligt sind. Zudem enthält das Bildmotiv im Keim die Idee, dass die Geräte über ihre bloße Abbildungs- und Speicherfunktion hinaus selber zu künstlerisch wirksamen Akteuren werden. Sie sind als Tonträger auf der Bühne in die Live-Konzert-­ Situation – also in eine Interaktion in Anwesenheit – einbezogen12 . 12 | Es ist nicht ganz eindeutig zu erkennen, ob die Protagonistin einen Dirigierstab in den Händen hält. Für die vorliegende Argumentation ist es nicht ausschlaggebend, ob es sich um eine Sängerin handelt – wie die festliche Robe nahelegt – oder um eine Dirigentin. In beiden Fällen liegt ein Zusammenwirken eines menschlichen Interpreten mit den Grammophonen vor. Sollte eine Dirigentin dargestellt sein, enthält das Gemälde allerdings eine frauenfeindliche Botschaft, die in etwa lautet: Frauen können lediglich vorher programmierte Automaten wie Grammophone dirigieren, nicht aber ein echtes

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Auch in der Realität wurden bald Grammophone oder vergleichbare Apparate mit Live-Darbietungen verknüpft, die Medienutopie von 1889 wurde rasch Wirklichkeit. Medienkombinationen wurden in vielerlei Situationen eingesetzt, wie etwa in Restaurants und Cafés, bei Freiluftkonzerten oder sogar im Symphoniekonzert. Als ästhetisches Kriterium für die Vermischung der Tonträger mit dem In­stru­mentalklang galt ausschließlich die an den Live-Klang angenäherte Wiedergabequalität, ohne dass der Begriff »live« bereits eingeführt war. Mediale Gemengelagen Abb. 2: Auxetophonkonzert im ergaben sich ganz pragmatisch und Landesausstellungspark. gleichsam natürlich, ohne eigens Quelle: Die Stimme seines Herrn 1 (1909), reflektiert zu werden. Die Klänge S. 174. der neuen Apparate sollten in die hergebrachte Klanglichkeit eingeschleust werden, ohne Reibungen zu erzeugen. In den sogenannten Auxetophon-Konzerten kombinierte man die neuen elektronischen Wiedergabegeräte mit traditionellen Orchestern. Die Ton­ erzeugung des Auxetophons, eines heute weitgehend vergessenen Geräts, das vom Erfinder der Dampfturbine Charles Parson entwickelt wurde, beruhte auf einer elektrisch angetriebenen Luftpumpe, die einen dem menschlichen Stimmorgan ähnlichen Mechanismus antreibt. »Die wiedergegebenen Töne sind mächtig und weich und gleichen der Stimme des Sängers in ihrer Stärke und Schönheit vollkommen«,13 beschreibt ein zeitgenössischer Zeitschriftenartikel die Klangleistung des Auxetophons. Man konnte dieses neue Wiedergabegerät wegen seiner Lautstärke für Großveranstaltungen einsetzen: »Bei dem Konzert, das in der Königlichen Albert Hall in London stattfand, waren Orchester. Ergo: Frauen können überhaupt nicht dirigieren. Zum Glück ist diese Bildaussage mittlerweile eindeutig widerlegt. Es bedurfte jedoch fast eines ganzen Jahrhunderts, um dies zu erreichen, denn Frauen konnten sich erst im Lauf der vergangenen 25 Jahre als Dirigentinnen im Konzertbetrieb nachhaltig etablieren. Sollte eine Sängerin abgebildet sein, dann liegt dem Bildmotiv die Vorstellung zu Grunde, dass sich der live gesungene Stimmklang der Interpretin mit den Klängen der Grammophone verbindet. 13 | Fritz Wehnert: »Der Siegeszug des Auxetophons«, in: Die Stimme seines Herrn 1 (1910), S. 174.

»Grammophon-Konzer te«. Historische Medienkombinationen mit Schallplatte

Abb. 3: Auxetophonkonzert im »Mozartsaal«, Neues Schauspielhaus, Berlin. Quelle: Die Stimme seines Herrn 1 (1909), S. 7.

Abb. 4: Konzertraum des Hotels Bristol, Berlin. Quelle: Die Stimme seines Herrn 1 (1909), S. 173.

10.000 Menschen anwesend, und der Erfolg übertraf alle hochgespannten Erwartungen.« 14 Zeitgenössische Zeitungsberichte belegen, dass das Live-Spiel eines Orchesters und die Wiedergabe einer auf Tonträgern gespeicherten Stimme unbekümmert kombiniert wurden, gleichsam in einem frühen »Play-Along« für Orchester. Auch in dem folgenden Zitat wird die Möglichkeit der Verwechslung mit der Live-Stimme als Qualitätsmerkmal angeführt: »Auch am Tage der Eröffnung einer Berliner Ausstellung gab das Auxetophon einen glänzenden Beweis seiner technischen Vollendung. Die Besucher wurden von den Klängen der Garde-Pionier-Kapelle empfangen, und unter der Begleitung des Orchesters sang der Münchener Kammersänger Heinrich Knote das herrliche Preislied aus den ›Meistersingern‹. Karl Jörn trug die Siziliana aus der ›Cavalleria rusticana‹ vor und Caruso den Prolog zu ›Bajazzi‹. Doch es waren nicht die berühmten Sänger selbst, die das Publikum durch die Macht ihres Gesanges fesselten und hinrissen, es war das Auxetophon, dem sie ihren Part anvertraut hatten; es war auch das Auxetophon, das sich gegen den frischen, volltönenden Klang der Militärkapelle siegreich behauptete. Ganz ähnlich hatte es sich bereits auf der grossen Berliner Kunstausstellung unter der Begleitung der bekannten Einödshoferschen Kapelle bewährt, und in dem alten Krollschen Garten ersetzte es ein ganzes Orchester.«15

14 | F. Wehnert: »Der Siegeszug des Auxetophons«, S. 175. 15 | Ebd., S. 176.

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H istorische M ediengemische unter dem L eitgedanken der M edienrefle xivität Der am Live-Klang orientierte Diskurs der Medientransparenz war in der Frühzeit des Grammophons vorherrschend und hat sich bis heute in den Katalogen der HiFi-Geräte gehalten. Auch dort gilt als Qualitätsmerkmal der Geräte ihre Fähigkeit, ein möglichst »authentisches« Konzerterlebnis zu vermitteln, das die Medialität der Geräte vergessen lässt. In der Medientheorie wurde erst um 1960 eine Einsicht formuliert, die neue Sichtweisen  – auch für die musikalische Reproduktion  – eröffnet. So bemerkt Marshall McLuhan: »Jede Form von Transport [damit sind mediale Übertragungen im weitesten Sinn gemeint, M. S.] befördert nicht nur, sondern überträgt und verändert den Absender, den Empfänger und die Botschaft.« 16 Wenn aber jede Form der medialen Übertragung Modifikationen des Übertragenen erzeugt, so lässt sich kritisch gegen die Position der Medientransparenz einwenden, dass sie genau jene Modifikationen negiert bzw. verdrängt. Es ist bemerkenswert, dass eine weitere musikalische Medienutopie aus dem Jahr 1926, ungeachtet konträrer gängiger Diskurse, jene medientheoretische Einsicht bereits vorwegnimmt und sie darüber hinaus künstlerisch fruchtbar zu machen versucht. In dem in den Musikblättern des Anbruch erschienenen Beitrag Grammophon-Konzerte konstatiert der junge Komponist Hansjörg Dammert zunächst die klangliche Differenz zwischen reproduziertem und live gespieltem Instrumentalklang und widerspricht damit dem Transparenzideal der Medien. Ihm kommt es gerade im Gegenteil auf die klanglichen Modifikationen, die durch die Reproduktion entstehen, an: »Erstens hat das Grammophon, obwohl es quasi Sprachrohr der aufzunehmenden Dinge ist, eine ausgesprochene klangliche Eigenart, eine typische, ich möchte fast sagen in­s trumentale Farbe, die einen glücklichen Kontrast oder zumindest eine starke klang­ liche Distanz zwischen den ›realen‹ Begleitinstrumenten und dem Solo bildet. Ohne Gefahr einer akustischen Verwirrung kann man ein und dasselbe Instrument von dem Podium und von der Platte her gegenüberstellen.«17

Darüber hinaus schlägt Dammert vor, genau diese klangliche Differenz kompositorisch zu verwerten, mittels eines Mediengemischs, das reproduzierte und live gespielte Klänge gleichzeitig zur Darbietung bringt. Es geht ihm da16 | Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf 1968, S. 99. 17 | Hansjörg Dammert: »Grammophon-Konzerte«, in: Musikblätter des Anbruch 8 (1926), S. 406.

»Grammophon-Konzer te«. Historische Medienkombinationen mit Schallplatte

bei nicht um die klangliche Annäherung von Live-Klang und reproduziertem Klang im Sinn der Medientransparenz, sondern im Gegenteil gerade um das Wahrnehmbar-Machen der medialen Differenz. Damit aber bezieht er letztlich eine medienreflexive Position, denn das Sichzeigen von Medialität, die Wahrnehmbarkeit des Medialen als das Mediale, wurde verschiedentlich als Medienreflexivität in den Künsten bezeichnet 18. Dammert malt die neuen, sich ergebenden musikalischen Möglichkeiten detailliert aus: »Durch die konzertante Behandlung des Grammophons können selbstverständlich die im Sinne der bisherigen einschlägigen Literatur üblichen Maße umgedreht werden, dass (was immerhin zu empfehlen ist) ein verhältnismäßig kleines Ensemble als Tutti fungiert und, wenn man will, ein ganzes Wagner-Orchester als Solo. Eine trotzdem vernünftige Proportionalität des Klanges wird durch den technischen Umstand der akustischen Abschwächung seitens des Grammophons herbeigeführt; dass also das klangliche Diminutiv eines Konzertes in die Ohren eingeht, obwohl mit vollen Mitteln gearbeitet wird. Der Effekt: Komprimierung und Anspannung des Klanges bis in die subtilste Regung. Aber noch mehr: welche Möglichkeiten hat ein Komponist, den Solopart zu nuancieren, was Klang sowohl wie auch Farben anbelangt! Wie eigenartig und wechselvoll kann man die Unterhaltung der beiden Klanggruppen gestalten, als Gegeneinanderbewegung und auch als Folge von Solo und Tutti! (Man denke sich zum Beispiel zu einer matten Farbe des Begleitensembles, sagen wir Flöte, sordinierte Violine, Klavier in höherer Lage, den sonoren Klang eines vom Blech gestützten Streichorchesters im Phonographen.) Also die Mittel dieser Art zu musizieren, sind fast unbegrenzt, vom Einfachsten bis zum Raffiniertesten. Dazu kommt, dass Solo und Tutti ohne nennenswerte technische Schwierigkeiten in verschiedenen Rhythmen musizieren können.«19

Dem 1909 geborenen Dammert war es nicht vergönnt, seine künstlerischen Ideen umzusetzen. Über seinen weiteren Lebensweg ist wenig bekannt. 1927 wurde er Schüler Arnold Schönbergs20. 1933 entkam er aus einem Konzentra­

18 | Vgl. z. B. Irina Rajewsky: »Intermedialität und remediation. Überlegungen zu einigen Problemfeldern der jüngeren Intermedialitätsforschung«, in: Joachim Paech/ Jens Schröter (Hg.), Intermedialität analog/digital, München 2008, S.  47–61; Yvonne ­S pielmann: Video. Das reflexive Medium, Frankfurt 2005; Doris Kolesch: »Robert Wilsons Dantons Tod: Das nomadische Auge und das Archiv der Geschichte«, in: Jutta Eming/Annette Jael Lehmann/Irmgard Maassen (Hg.), Mediale Performanzen. Historische Konzepte und Perspektiven, Freiburg 2002. 19 | H. Dammert: »Grammophon-Konzerte«, S. 406f. 20 | Vgl. Hans Heinz Stuckenschmidt: »Schönbergs Berliner Jahre 1926–1933«, in: ­A rnold Schönberg. Gedenkausstellung 1974, Wien 1974, S. 37–43.

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tionslager und konnte nach Paris fliehen21. Seitdem gilt er als verschollen. Seine Ideen zur Kombination von Live-Musik und Schallplattenklängen sind singulär, weil er als erster die Wahrnehmungsdifferenz zwischen Live-Klang und Schallplattenaufnahmen künstlerisch verwerten möchte und damit eine medienreflexive künstlerische Position bezieht. Dies gilt nicht für andere zeitgenössische Medienkombinationen mit Schallplatten wie etwa Ottorino Respighis berühmte Orchesterkomposition Pini di Roma (1925), in die auf Schallplatten aufgenommener Nachtigallgesang als klangliche Delikatesse interpoliert wird. Auch Kurt Weills Integration von Schallplattenmusik in seine Oper Der Zar lässt sich fotografieren (1927) verfolgt andere künstlerische Intentionen: Hier wird der Schallplattenklang als theatraler Effekt eingesetzt. Mit seinem Fokus auf der medialen Differenz von Live- und reproduziertem Klang ­ ammert in gewissem Sinn sogar über Hindemiths Experimente mit geht D schallplatteneigener Musik hinaus, allerdings möchte er mittels Schallplatte reproduzierte In­strumentalklänge verwenden, während Hindemith die Idee verfolgt, die Schallplatte selbst als »Klanggenerator« zu nutzen 22 . Es ist bemerkenswert, dass auch Hindemith seine schallplatteneigene Musik vermutlich mit Live-Klängen kombinierte. Inwiefern ihn dabei die mediale Differenz interessierte, lässt sich jedoch nicht mehr rekonstruieren.

E xkurs : Z ur G eschichte des »L ive «-B egriffs . D ie I deologie der »L iveness « Der geschilderte Diskurs der Medientransparenz aus der Geschichte der frühen Phonographie, der ausschließlich in der möglichst naturgetreuen Abbildung des Konzertereignisses die Vorzüge eines Tonträgers sieht und damit das Konzertereignis selbst höher bewertet als die Schallaufnahme, schwingt auch im Live-Begriff selbst mit, obgleich sich der Terminus erst in den 1950er-­ Jahren als musikspezifischer Begriff etabliert hat. Weder in den Debatten um die mechanische Musik und die Ersetzung des Interpreten, noch beim Streit um Tonträgeraufnahmen im Radio, noch bei Fragen um reproduzierte Film­ musik 23 spielte der Anglizismus »Live« eine Rolle, obwohl er bereits in all 21 | Vgl. Peter E. Gradenwitz: Arnold Schönberg und seine Meisterschüler. Berlin 1925–1933, Wien 1998 und Thomas Phlebs: »Zwölftöniges Theater – ›Wiener Schüler‹ und Anverwandte in NS-Deutschland«, in: Hanns-Werner Heister (Hg.), »Entartete Musik« 1938 – Weimar und die Ambivalenz, Saarbrücken 2001, S. 179–215 (in diesem Text wird Dammerts Geburtsjahr mit 1910 angegeben). 22 | Vgl. den Beitrag von Martin Elste in diesem Band. 23 | Zu den drei Debatten vgl. die Beiträge von Martin Elste, Dieter Daniels und Tobias Plebuch in diesem Band.

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diesen Medienwechseln im Rahmen unterschiedlicher Argumentationszusammenhänge thematisch war. Der Live-Begriff taucht erstmals im Kontext einer Public-Relations-Kampagne der Musicians Union auf, einer in Großbritannien gegründeten Vereinigung ausübender, professioneller Musiker24 . Während bis zum Zweiten Weltkrieg die Verwendung von Tonträgern im öffentlichen Raum eine verschwindend geringe Rolle spielte, nahm sie während des Kriegs und in der Nachkriegszeit aus ökonomischen Gründen dramatisch zu. Die Musicians Union versuchte dieser Tendenz entgegenzuwirken, um die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, die zum Teil in Tanz-Bands arbeiteten und um ihr Einkommen fürchteten. Neben verschiedenen Verhandlungen um Lizenz­rechte startete die Musicians Union eine Kampagne, in der sie »Live-Musik« gegen Schallaufnahmen ausspielte und dabei vor starken ästhetischen und moralischen Wertungen zu Gunsten der Live-Darbietung nicht zurückschreckte. Die propagandistisch eingesetzten Argumente versicherten, dass Live-Musik keineswegs veraltet sei, sondern voller Energie und Kraft »the real live thing«. Dagegen sei die auf Tonträgern gespeicherte Musik tot, ihres Geistes beraubte »music without musicians«25. Den Höhepunkt dieser Ideologie der »Liveness« bildete eine 1963 gestartete Kampagne mit dem Slogan »Keep Music Live«, die enorme Breitenwirkung entfaltete und über einen langen Zeitraum weiter geführt wurde. In einer Vermischung von ästhetischen, klangökologischen und ökonomischen Argumenten, die die Anliegen der ­Musicians Union vertreten sollten, beabsichtigte die Kampagne, die Gesellschaft von dem essentiellen menschlichen Wert der Live-Darbietung zu überzeugen und pries den sozialen Gewinn, der entstehe, wenn das Publikum direkten Kontakt mit den Menschen, die Musik machen, habe26. Zunehmend reicherte sich der Begriff mit Bedeutungen an, die über den bloßen Aufführungsaspekt hinausgehen. »Live-Musik« wurde zu einem positiv besetzten Begriff, in dem Wertungen mitschwingen, wie Leben versus Tod, 24 | Vgl. Sarah Thornton: club cultures. Music, Media and Subcultural Capital, Cambridge 1995, S.  40. Die Musicians Union existiert bis heute: www.musiciansunion.org.uk vom 29.09.2015. 25 | Musicians Union Report 1956, zit. nach: S. Thornton: club cultures, S. 42; Thornton belegt, dass sich die Propaganda der Musicians Union einer »Kalte-Krieg-Rhetorik« bediente, um die Polarisierung zu verschärfen: »Records were a ›grave threat‹, a ›serious danger‹ an ›ever present menace‹ to the livelihood of the musician. Recording techno­ logy was a bomb – a set of inventions which could bring about professional death: ›The musician may well become extinct and music may cease to be written (Musicians Union Report 1961)‹«, ebd. 26 | Vgl. ebd.: »to convince the community of the essential human value of live performance« (The Musician 1971), »the social good [generated when] the public has more contact with the people who make music« (Music Week vom 07.01.1978).

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menschlich versus mechanisch oder kreativ versus rein reproduktiv27. Eigenschaften wie »Präsenz« und »Spontaneität« werden zu ästhetischen Kriterien einer an »Liveness« orientierten Musik­k ultur. Sarah Thornton weist überzeugend darauf hin, dass die Auffassungen der Musicians Union in auffälliger Weise mit den Thesen des Medientheoretikers, Philosophen und Soziologen Jean Baudrillard übereinstimmen und damit durchaus in einen akademischen Diskurs Eingang fanden. Auch Baudrillard beklagt, dass die Kultur auf dem Altar von Technik und Reproduktion geopfert werde. Für ihn sind Abbilder  – er nannte sie »Simulacra«  – die Mörder ihres eigenen Modells28. Für die Advokaten der Live-Musik tötet die Schallaufnahme das Original, die Aufführung: »Technology can destroy music itself.«29 So wie Baudrillard die Wirkmacht der Medien beschreibt, die nicht länger die Wirklichkeit reflektieren, sondern sie erzeugen, so kritisieren die Autoren der Musicians Union, dass die technischen Möglichkeiten der Klangaufnahmen Klänge und Stile zu erzeugen vermögen, die die physischen Möglichkeiten der Musiker einer Band übersteigen. Baudrillard und die Musicians Union teilen gleiche Überzeugungen hinsichtlich einer »wirklichen Kultur«, deren Tod sie konstatieren. Der Theoretiker zog daraus die Konsequenz, ihren Nachruf zu schreiben, während die Musicians Union dafür eintrat, mittels legislativer Schutzmaßnahmen und weit verbreiteter Propaganda, deren letzte Bastionen zu wahren.

A usblick : D er L ive -A spek t in zeitgenössischen M edienkombinationen . R efle xion und V ariation Angesichts der immensen Ausdifferenzierung, die Live-Darbietungen in der zeitgenössischen Musikkultur erfahren haben, erscheinen die dualen Wertungsschemata »live versus reproduziert« heute jedoch als eine extrem verkürzte Schwarz-Weiß-Malerei. Die Variabilität und Komplexität der möglichen Live-Erfahrungen entlarven einseitige Präferenzen als ideologische Konstrukte. Der Alltag im Medienzeitalter ist geprägt von medialen Gemengelagen, die es unsinnig erscheinen lassen, Live-Ereignisse medial vermittelten Situationen 27 | S. Thornton: club cultures, S. 42. 28 | Vgl. Jean Baudrillard: »Requiem für die Medien« (1972), in: Ders., Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978; Jean Baudrillard: Simulations, New York 1983; für einen Überblick technikkritischer Positionen vgl. Jörn Peter Hiekel: »Auf neuen Bahnen. Impulse durch Wissenschaft und Technik in der Neuen Musik«, in: Ders. (Hg.), Vernetzungen. Neue Musik im Spannungsfeld von Wissenschaft und Technik, Mainz 2009, S. 9–21. 29 | The Musician 1963, zit. nach: S. Thornton: club cultures, S. 42.

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kontrastierend gegenüberzustellen oder gar, sie gegeneinander auszuspielen. Live-Ereignisse, ohne jegliche Beteiligung medialer Mittler, sind heute in der öffentlichen Kultur eher selten. Situationen, in denen Kommunikation anhand von Mediengemischen hergestellt wird, können als Normalfall gelten. Die Technisierung des Live-Erlebnisses wird selbstverständlich hingenommen. So genießt etwa der Live-Mitschnitt eines Konzerts einen besonderen Status, weil die Abweichungen von der perfektionierten Studioqualität Spontaneität und Präsenz verbürgen – obgleich es sich dabei um eine Schallaufnahme handelt30. Auch live erzeugte Computermusik, das sogenannte live-coding, steht für ein technifiziertes Live-Erlebnis ein. Im Bereich des Visuellen vermittelt die Live-Kamera eine apparategeleitete Live-Erfahrung. Die zeitgenössischen Künste reagieren auf die Komplexität der Live-Erfahrung in der Medienkultur. Sie integrieren medientechnische Möglichkeiten in den künstlerischen Prozess und stellen bewusst mediale Mischsituationen her. Medien dienen nicht allein dem Transport oder der Übermittlung von Klang, sondern sie werden selbst zu künstlerischen Mit-Akteuren. Medientechnik entfaltet zunehmend ihr ästhetisches Wirkungspotential. Gegenwärtig entstehen zahlreiche Arbeiten, die auf neuen künstlerischen Medienkombina­tionen beruhen. Ein wichtiges Charakteristikum dieser neuen Formen besteht darin, dass dabei ältere Medienpraktiken wie die Live-Darbietung keineswegs verloren gehen, sondern dass sie vielmehr aufgegriffen und in neue mediale Zusammenhänge gebracht werden. In immer neuen Settings werden Live-­ Elemente und reproduzierte Komponenten miteinander verknüpft. Wenn diese einander gegenübergestellt werden, geht es nicht mehr um das unmerkliche Einschleusen der Technik in gewohnte Klanglichkeiten wie bei den frühen Medienkombinationen mit Schallplatte, sondern um eine Reflexion dessen, was die Live-Erfahrung gegenwärtig ausmacht. Viele Aspekte der eingangs geschilderten musikalischen Medienutopien sind in der Musik und Klangkunst mittlerweile längst künstlerische Wirklichkeit geworden. So wurde z. B. die Idee der Apparate als Bühnenakteure, wie sie in dem Gemälde von 1889 anklingt, im Verlauf des 20. Jahrhunderts in vielen Varianten realisiert. Bei dem für die öffentliche Darbietung der musique ­concrète entwickelten Lautsprecherorchester Acousmonium haben die Geräte die menschlichen Bühnenakteure vollständig ersetzt 31. Es existieren jedoch auch zahlreiche Mischformen, in denen menschliche Interpreten mit den Medien 30 | Dass der Live-Mitschnitt nicht automatisch eine größere »Authentizität« der Aufnahme garantiert, diskutiert Rolf Großmann: »Reproduktionsmusik und Remix-Culture«, in: Marion Saxer (Hg.), Mind the Gap! Medienkonstellationen zwischen zeitgenössischer Musik und Klangkunst, Saarbrücken 2011, S. 116–128. 31 | Elena Ungeheuer (Hg.): Elektroakustische Musik (= Handbuch der Musik im 20. Jahr­ hundert, Band 5), Laaber 2002.

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zusammenwirken. Dabei werden die Geräte zum Teil zu Bühnenakteuren. Morton Feldman z. B. hat sein für die Sängerin Joan La B ­ arbara geschriebenes Stück Three Voices (1982) so konzipiert, dass sich reproduzierte und live-dargebotene Vokalparts mischen: Zwei Stimmen werden vom Band eingespielt, während die Sängerin die dritte Stimme auf der Bühne live realisiert. Feldman erläutert, dass er die beiden auf der Bühne befindlichen Lautsprecher als eine Art »Grabsteine« für seine beiden verstorbenen Künstlerfreunde, den Dichter Frank O’Hara und den Maler Philip Guston betrachte, mit denen die dritte lebendige Stimme – sein eigenes Alter Ego – in einen Austausch trete. Medienreflexive künstlerische Positionen, in denen die Wahrnehmung medialer Differenz zu den zentralen ästhetischen Anliegen gehört, werden von zahlreichen zeitgenössischen Künstlern vertreten, wie z. B. Annesley Black, Jagoda Szmytka, Kirsten Reese, Peter Ablinger, Simon Steen-Andersen, Michael Beil, Orm Finnendahl u. a. Als exemplarisches Beispiel sei das Stück Das Orchester für CD und Orchester, dem »2. Akt« der im Jahr 2005 im Rahmen des Steirischen Herbst in Graz realisierten Stadtoper von Peter Ablinger angeführt, weil Ablinger besonders konsequent die Wahrnehmung medialer Differenz thematisiert. Es handelt sich bei dem Stück um eine Reihe von Klangtableaus und Intermezzi, in denen Ablinger jeweils charakteristische Klangaufnahmen von Geräuschen und Stimmen unterschiedlichster Art aus dem Stadtraum Graz mit einer »fotorealistischen« orchestralen Textur überblendet, die live im Konzertsaal dargeboten wird. Die Orchesterpartitur gewinnt Ablinger mit Hilfe eines mehrstufigen Frequenzfilterprozesses, mittels dessen er die aufgenommenen Klangereignisse in traditionelle Notenschrift überträgt. In dem Stück werden demnach die medialen »Sprachen« der übereinander geblendeten medialen Situationen  – Klangzuspiel und Live-Orchesterklang  – zum Wahrnehmungsgegenstand. Der resultierende Wahrnehmungsvorgang ist als oszillierende Bewegung beschreibbar, die zwischen dem Abtasten von Ähnlichkeiten und Differenzen der beiden medialen Situationen in freiem Wechsel hin- und herspringt. Das letzte Stück von Orchester ruft diese Differenz noch pointierter auf. Es trägt den Titel Schallplatte und »orchestriert« mittels des erwähnten Frequenzfilterprozesses die Kratzer einer ansonsten leeren Schallplatte32 . Im Gegensatz zu den frühen, am Gebot der Medientransparenz ausgerichteten Medienkombinationen mit Schallplatte wird demnach hier – wie bereits ansatzweise in dem Entwurf Hansjörg Dammerts – gerade die Wahrnehmung der medialen Differenz angestrebt und nicht deren Verwischung bzw. Negation. Dies gilt auch für Ablingers Stück points and views für Ensemble, zwei Klaviere und zwei Lautsprecher, das 2014 in Donaueschingen uraufgeführt wurde. Im musikalischen Teil der viele Medien nutzenden Arbeit überblendet 32 | Ein Klangbeispiel findet sich unter: http://ablinger.mur.at/docu15dt_akt2.html vom 29.09.2015.

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Ablinger den live dargebotenen Ensemblepart mit dem Zuspiel von Nebengeräuschen alter Grammophonplatten und anderer Klangträger aller Art – von klassischen 45er- und 33er-Vinyl-Platten bis hin zu seltenen 16er-Platten sowie Tonbändern und Kassetten. Das sich daraus ergebende »Grammophon-­ Konzert« ist ein irri­tierender Klanghybrid, in dem die klangliche Eigenart früher Reproduktionstechnik sowie ihrer Nachfolgetechniken dynamisch überdimensioniert wahrnehmbar wird und den Live-Klang überschattet, ja teilweise sogar überdeckt. In medienreflexiven künstlerischen Konzepten, die sich solcher medialen Doppelungen bedienen, können spezifische Eigenheiten der Live-Erfahrung klar hervortreten und der ästhetischen Wahrnehmung zugänglich gemacht werden. Die Künste entlarven damit die allzu einseitige Ideologie der »Liveness« und führen uns vor, wie vielfältig die Phänomene sind, die sich heute »live« abspielen33. Neue medientechnische Entwicklungen ermöglichen eine bisher ungeahnte Ausweitung und Ausdifferenzierung der Live-Konstellationen. Mit ihren technisierten Formen tut sich ein breites Feld künstlerischer Möglichkeiten auf, denen gemeinsam ist, dass audiovisuelle Kollaborationen zwischen menschlichen und technischen Akteuren erschlossen und reflektiert werden.

33 | Die Reflexion der Live-Hybris fand zum Teil auch in der Popmusik statt  – allerdings eher auf der visuellen Ebene. So persiflierte Peter Gabriel während seiner Secret ­World-Tour die Gewohnheit, während der Konzerte Live-Close-Ups auf Large-ScreenVideo­leinwände im Bühnenhintergrund zu projizieren, damit die Fans eine scheinbar intime Nähe zu den Bühnenakteuren erfahren konnten, indem sie ihr Schwitzen, ihre Mimik usw. auf Großleinwand in Real-Time miterleben konnten. Gabriel ließ sich eine kleine, ihn umkreisende Kamera am Kopf installieren, die dem Publikum seine sich verengenden und erweiternden Pupillen zeigte und ihm sogar einen Blick in seinen Mund erlaubte (vgl. S. Thornton: club cultures, S. 80). Diese Aktion ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie die technische Apparatur bewusst auf der Bühne visuell inszeniert – und damit als Meta-Ebene des Konzertgeschehens installiert. Das Fokussieren einzelner Körperteile ist zugleich eine Strategie der Avantgarden der Zeit, etwa bei Samuel Beckett, Jasper Johns oder Dieter Schnebel.

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Spielen und bedienen Das selbstspielende Klavier als virtuose Maschine Rebecca Wolf

Der in Berlin lebende Schriftsteller und Satiriker Alexander Moszkowski (1851–1934), Bruder des Komponisten und Pianisten Moritz Moszkowski, veröffentlicht 1911 eine Monografie mit dem Titel Das Pianola. Ein Beitrag zur Kunstphilosophie. Hierin vermeldet er, »daß der Pianist von Anbeginn in der Entwicklung der tonkünstlerischen Gedanken einen Fremdkörper bedeutet. Nehmen wir einmal vorläufig die Komposition, so wie sie sich in der Klaviermusik darstellt, als einen ewigen Wert an. Ihr gegenüber steht der Empfangende, der Hörer, der diesen Wert in sich aufnehmen, seinen Reiz genießen soll. Das ideale Verhältnis wäre der unmittelbare Kontakt, das Überfliegen des Reizes in den empfangenden Organismus […] ohne Zwischenhändler und Dolmetscher. […E]ine Beethovensche Sonate, ein Chopinsches Nocturne müßten dem leiblichen Ohre erklingen, wie sie ursprünglich dem inneren Gehör der Erzeuger entquollen. Das wäre die Vollendung.«1

Auffällig ist hier mit Blick auf die frühe Medienpraxis von Musikcodierung der Terminus des »Empfangenden«. Der Hörer soll die Musik in sich aufnehmen und genießen. Hiervon aus scheint es nicht mehr weit zum Empfänger zu sein, was freilich den Sender impliziert. Hier wird eine Sprache aufgerufen, die sich der des frühen Radios bedient. Die direkte, unmittelbare Übertragung ist das Ziel, in diesem Fall von Ohr zu Ohr. Denn die musikalische Komposition entsteht im inneren Ohr des Komponisten und soll idealerweise ohne Umleitung zum Ohr des Hörers gelangen. Zudem wird deutlich, dass das Kunstwerk zum einen vom Künstler geschaffen wird, aber zu 1 | Alexander Moszkowski: Das Pianola. Ein Beitrag zur Kunstphilosophie, Berlin 1911, S. 7.

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einem ­beträchtlichen Teil auch erst im Vorgang des Aufnehmens, des Hörens, stattfindet. Dies bezeugt auch Ferruccio Busoni, indem er ähnliche Begriffe verwendet: »Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daß, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß.«2 Nun stellt sich aber in Form des Pianisten der Mensch dazwischen, den Moszkowski auch »Agenten« nennt, »der die beiden Pole« zu verbinden sucht: »Einem Organ, das die Natur zum Greifen bestimmte, hat er das Klavierspielen abgetrotzt, eine Technik eingepflanzt, die in jedem, auch im besten Falle als das Prinzip der überwundenen Schwierigkeiten eine mechanische Geltung beansprucht. Dieser Mensch vermittelt also […]. Wir mögen von der pianistischen Darbietung entzückt und überwältigt sein, wir mögen ihm zujubeln, ihn herausrufen und zu Dakapos nötigen, – je beifallsfreudiger wir uns gebärden, desto deutlicher bestätigen wir die Tatsache, daß er jenen Idealkontakt nicht fördert, sondern stört.« 3

Der Pianist wird von Moszkowski im Folgenden gar als Parasit beschimpft, der nur seine eigenen Ziele verfolge. Die Lösung des Problems findet Mosz­kowski dann auch bald im Sinne der mechanisch-musikalischen Reproduktion. Das kompositorische Werk, sein Geist, soll direkt in die Empfindungsorgane der Zuhörer fließen: »Der pianistische Mensch muß und wird ausgeschaltet werden; an die Stelle des akrobatischen Vermittlers soll die Maschine treten, die eben, weil sie seelenlos ist, sich zur allergehorsamsten Vollstreckerin des kompositorischen Willens eignet.«4 Diese Maschine ist das Pianola, ein selbstspielendes Klavier5. Interessanterweise nennt er das Pianola nicht Gerät, Apparat oder Instrument, das aufs Engste mit dem Klavier verbunden ist, ja ohne das Klavier gar nicht erfunden worden wäre und in unserer Wahrnehmung mit diesem beinahe gleichgesetzt ist, sondern bezeichnet es als Maschine. Diese Benennung ist für Musikautomaten und selbstspielende Musikinstrumente historisch gesehen keine Seltenheit. So berichtet bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts Carl Maria von Weber vom »Trompeter, eine Maschine von der Erfindung des Mechanicus, Hrn. Friedrich Kaufmann, in Dresden«6 und beschreibt drei neu erfundene Automaten aus der Dresdner Werkstatt Kaufmanns, die mit Stiftwalzen gesteuert werden. 2 | Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907/1916). Kommentierte Neuausgabe, hg. v. Martina Weindel, Wilhelmshaven 2001, S. 26. 3 | A. Moszkowski: Das Pianola, S. 8f. 4 | Ebd., S. 9f. 5 | Eine Erläuterung der Begriffe Selbstspiel-, Kunstspiel- und Reproduktionsklavier gibt Kai Köpp im ersten Teil seines Artikels in diesem Band. 6 | In: Allgemeine musikalische Zeitung 14 (1812), Sp. 663–666.

Spielen und bedienen. Das selbstspielende Klavier als vir tuose Maschine

Maschinen sind begriffsgeschichtlich eng mit Automaten verwoben und scheinen einen Ursprung in den Ingenieurswissenschaften zu haben. Der französische Ingenieur Salomon de Caus (1576–1626), der als einer der Ersten detailliert auf die Funktionsweise und Teilbereiche von Wasserorgeln eingeht, erläutert Maschinen zunächst grundsätzlicher als Lasthilfen für Handwerker. Ihm zufolge sind Maschinen Konstruktionen, die mit Hilfe von Luft oder Wasser etwas in Bewegung setzen. Neben Pumpen, Mühlen und Uhren seien dies als eigene Kategorie die »Instrumenta musicalia« wie die Geige und die Pfeife7. Im Zentrum stehen die bewegende Kraft und die Selbsttätigkeit der Maschine, sie täuscht manches Mal auch Unabhängigkeit vor. Die Forderung nach Vermeidung des menschlichen Einflusses auf die Kunstproduktion faszinierte durch die Geschichte hindurch immer wieder und stellt auch einen wichtigen Kontext der Wahrnehmung selbstspielender Musikinstrumente und Automaten dar. Sie scheint gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu neuer Blüte zu kommen. Neben der Musik ergreift die Idee der menschenlosen Kunstausübung auch benachbarte Felder, wie beispielsweise das Theater. 1908 etwa veröffentlicht der britische Theaterreformer Edward Gordon Craig (1872– 1966) mit Der Schauspieler und die Über-Marionette eine Programmatik in dieser Sache. Der Mensch als Material innerhalb eines Kunstwerks wird nahezu ausgeschlossen, da er gefühlsgeleitet den planvollen Ablauf störe. Chaos und Zufall seien dem Kunstwerk fern zu halten, so Craig, und da der Schauspieler als Mensch seinen Leidenschaften unterliege, die sich zudem seiner Stimme, Gesten und Mimik bemächtigten, sei das planvolle Kunstgeschehen gefährdet. Ziel ist eine neue Schauspielform, die der Nachahmung der Natur entsagt und »in einer neuen symbolischen Gebärdensprache besteht.« 8 Drastischer wird die darauffolgende Forderung, den Schauspieler ganz abzuschaffen. Das Lebewesen auf der Bühne stifte nur Verwirrung:

7 | Salomon de Caus: Von gewaltsamen Bewegungen. Beschreibung etlicher, so wol nützlichen alß lustiger Machiner daneben underschiedlichen abriessen etliher Höllen od‘ Grotten und lust Brunnen, Frankfurt a. M. 1615, Vorrede. Vgl. weiter auch Rebecca Wolf: »Musikautomaten«, in: Stefan Weinzierl (Hg.), Akustische Grundlagen der Musik (=  Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft, Band 5), Laaber 2014, S. 409‒431, hier S. 411. Siehe zum Maschinenbegriff allgemein Wilhelm Schmidt-Biggemann: »Maschine«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, Basel 1980, Sp. 790–802. 8 | Edward Gordon Craig: »Der schauspieler und die über-marionette«, in: Ders., Über die Kunst des Theaters, Berlin 1969, S. 51‒73. Zit. nach: Manfred Brauneck (Hg.), Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 58.

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Rebecca Wolf »Der schauspieler muss das theater räumen, und seinen platz wird die unbelebte figur einnehmen  – wir nennen sie die über-marionette, bis sie sich selbst einen besseren namen erworben hat. […] In der marionette liegt mehr als ein genialer einfall, mehr als das flüchtige aufblitzen der sich entfaltenden großen persönlichkeit. Die marionette ist für mich der letzte abglanz einer edlen und schönen kunst vergangener kulturen. […] Wer weiss, ob nicht die marionette eines tages wieder das treue medium für die schönheitsvorstellungen des künstlers sein wird. Sollen wir nicht hoffnungsvoll dem tag entgegenschauen, der uns die kunstfigur, das symbolische geschöpf durch die geschicklichkeit des künstlers wiederbringt, auf dass wir erneut die ›edle künstlichkeit‹ erreichen, von der der alte schriftsteller spricht?« 9

Dem Schauspieler wird die Funktion eines Künstlers deutlich abgesprochen, zuviel eigene Freiheit der Auslegung würde er fordern. Die Marionette als Vorbild verweist zum einen auf traditionellen, archaischen Stil und ist doch zugleich zukunftsweisend gedacht als Folie für die Körperbewegungen einer erneuerten Darstellungskunst. Das Ablehnen des Schauspielers als Interpreten und eigenständigen Künstler ähnelt in gewissem Sinne der Ablehnung des P ­ ianisten bei Moszkowski und zeugt von Umbrüchen in den Künsten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Bestimmung und klare Abgrenzung des Künstlers und seines Werks befinden sich im Umbruch. Moszkowski stört sich zudem nicht nur am lebendigen Pianisten, sondern auch an seinem Musikinstrument: »Denn immer bliebe noch zwischen der Schöpfung und dem Hörer das Klavier selbst, ein Instrument, das mit seinen Hebeln, befilzten Hämmern, metallenen Fäden und seinem riesigen Resonanzkasten zunächst nichts anderes darstellt als einen seelen­ losen, nach arithmetischer Ordnung aufgestellten Katalog der Töne. An und für sich erscheint uns das Pianoforte wie ein Bergwerk, angefüllt mit Erde, Schlacke und eingesprengten Silber­a dern, die erst losgelöst, geschmolzen und zur Kunstgestalt ­g eformt werden müssen;«10

er bedauert darüber hinaus, dass das Klavier die »Dienstleistung« von Pianist oder Pianola fordert, von Mensch oder Maschine. »Ja, ich gehe noch weiter: Nach der Summe seiner Leistungen gemessen stelle ich das Pianola schon heute über irgendeinen Pianisten. […] In dieser Summe sind inbegriffen: die absolute technische Vollendung, die Launenlosigkeit des Instruments, seine stete

9 | E. G. Craig: »Der schauspieler und die über-marionette«, zit. nach: M. Brauneck (Hg.), Theater im 20. Jahrhundert, S. 59f. 10 | A. Moszkowski: Das Pianola, S. 13.

Spielen und bedienen. Das selbstspielende Klavier als vir tuose Maschine Spielbereitschaft, sein unendliches Gedächtnis und sein unerschöpfliches, die gesamte Literatur umspannendes Repertoire.«11

Bei aller satirischen Kritik am menschlichen Interpreten und Musiker scheint bereits hier vieles auf, was in der zeitgenössischen Literatur zu selbstspielenden Instrumenten allgemein, dann aber auch im Speziellen zu Klavieren zu lesen ist: die Diskrepanz zwischen komponiertem und aufgeführtem Werk. Und dabei wird die Frage aufgeworfen, ob der menschliche Spieler oder die Maschine die Komposition besser darbietet und vermittelt. Doch tatsächlich ist das Pianola als sogenanntes Kunstspielklavier ohne menschliches Zutun kaum denkbar. Erfunden 1895/96 von Edwin S. Votey (1856–1931), 1900 erstmals patentiert,12 machte es als Produkt der New Yorker Aeolian Company bald eine steile Karriere und regte etliche Konkurrenzprodukte an, wie beispielsweise die Phonola der Leipziger Ludwig Hupfeld AG. Der Markenname »Pianola« verselbstständigte sich sodann als Label für diese Art Instrumente im Allgemeinen. Kunstspielklaviere, zu denen Pianola und Phonola zählen, gehören wie die wenige Jahre später ebenfalls weitverbreiteten Reproduktionsklaviere – die berühmtesten wurden sicherlich die Instrumente der Firma Welte in Freiburg – zu den selbstspielenden Klavieren mit pneumatischem Mechanismus13. Im Gegensatz zum Reproduktionsklavier, das ohne menschliches Eingreifen eine musikalische Interpretation samt Dynamik und Pedalgebung wiedergibt, ist beim Kunstspielklavier ein Spieler sehr wohl nötig. Die veränderte Haltung und Aufgabe des Menschen am Instrument macht gerade den Witz der Konstruktion aus. Die selbstspielende Einrichtung befindet sich entweder in einem Vorsetzer, der vor ein herkömmliches Klavier gesetzt wird, oder ist direkt in ein Instrument eingebaut. Bedient werden zumeist Pedale zum Antrieb, über die auch eine Akzentsetzung erfolgen kann. Die menschlichen Hände sind nicht mehr mit dem Spiel der Klaviertasten beschäftigt, sondern mit der Betätigung von Tempohebeln, der Regulierung von Dynamik für Diskant und Bass sowie je nach Modell mit der Aktivierung der Klavierpedale zum Pianospiel und der Dämpfungsaufhebung. Wo also das herkömmliche Klavier selbst bereits eine Mechanik zwischen Musiker und tonerzeugendem Teil darstellt, wird diese beim Kunstspielklavier nochmals erweitert. Die herkömmliche Klaviermechanik wird durch eine Maschine, wie 11 | A. Moszkowski: Das Pianola, S. 13. 12 | Arthur W. J. G. Ord-Hume: Pianola. The History of the Self-Playing Piano, London 1984, S. 26. 13 | Recht aktuell ist zu Reproduktionsklavieren und ihrer Bedeutung für Aspekte der Aufführungsforschung zum Klavierspiel des ausgehenden 19./beginnenden 20. Jahrhunderts erschienen: Neal Peres da Costa: Off the Record. Performing Practices in Romantic Piano Playing, New York 2012.

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Abb. 1: Klaviervorsetzer, Ludwig Hupfeld AG, ca. 1905, DM Inv.-Nr. 31069. Foto: Deutsches Museum München.

es Moszkowski ausdrücklich nennt, gespielt. Gerade das Tastenspiel, nämlich das Greifen und die Bewegung der Finger, ist es, was das Kunstspielklavier übernimmt. Bei Vorsetzern ist dies sogar deutlich sichtbar. Abbildung 1 zeigt einen typischen Phonola-Vorsetzer der Firma Hupfeld. Der Antrieb erfolgt über Pedale, die Bälge in Bewegung setzen. Saugluft entsteht und die Notenrolle wird bewegt. Sie läuft über den Skalenblock, der mittels Pneumatik die musikalische Codierung abnimmt. Die Notenrolle ist der Programmträger. Sie ist eine perforierte Papierrolle, die bei Kunstspielklavieren zudem Spielanweisungen wie Tempoangabe, Pedalverwendung und eine Dynamiklinie aufgedruckt hat. Es handelt sich hierbei um sogenannte Vortragszeichen. Die Perforierungen steuern die Aktivierung der einzelnen Klaviertasten und deren Spieldauer, hinzu kommen können die Solodant-­Lochung,

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die die Melodietöne eines Stücks hervorhebt, oder die Metrostyle-­Linie, die per Handhebel verfolgt werden kann und das Abspieltempo des Musik­stücks steuert. Die ablaufende Codierung muss vom Spieler verfolgt werden und erfordert weitere Eingriffe. Diese können entweder den Vortragszeichen folgen oder nach eigener Einschätzung vorgenommen werden. Während beispielsweise die Freiburger Firma Welte Pianisten in die Aufnahmesalons holte und Reproduktionsrollen herstellte, die ohne menschliches Zutun eine Interpretation liefern, bieten Kunstspielklaviere beim Abspielen die direkte Möglichkeit der menschlichen Interaktion mit der »Maschine«. Ab 1905 stellt die Firma Hupfeld Künstlernotenrollen her. Hierfür werden Pianisten zum Einspielen in den Aufnahmesalon eingeladen. Wie diese Aufnahme genau funktionierte, bleibt bislang ungewiss. So zitiert Hans-W. Schmitz eine Firmenbroschüre Hupfelds von etwa 1907: »Der Künstler spielt, wie im Konzert, an einem Flügel, der jedoch mit einem Aufnahmeapparat verbunden ist. Jeder Ton, jede Nuance, jede noch so feine Temposchwankung wird von diesem fein empfindlichen Apparat getreu notiert und so das Original geschaffen, wonach Reproduktionen in mathematischer Genauigkeit mittels moderner maschineller Einrichtungen hergestellt werden.«14

Die Aufzeichnung der Verwendung des Klavierpedals ist hier nicht möglich. Vielmehr scheinen die Akzentuierung und das Tempo die Merkmale des Originären zu sein, die übertragen werden. Im selben Katalog ist weiter zu lesen: »Angesichts des Inhalts der Künstlerrollen verbleibt dem Spieler nur die Befolgung der genauen Vorzeichnungen des Künstlers in Bezug auf Anschlag und Pedalisierung, um nicht nur künstlerisch, sondern in der Individualität eines ersten Meisters Klavier zu spielen.«15

Die Phonolaspieler haben daraufhin die Aufgabe, den Vortragszeichen zu folgen, die zur Wiedergabe der eingespielten aufgezeichneten Interpreta­tion führen. Die Augen verfolgen die ablaufende Perforierung und Notation, Hände und Füße reagieren auf die Zeichen. Erst das Bedienen des Apparats nach genauer Befolgung der Anweisungen erzeugt die Musik und deren Interpretation. Der Ansicht der Hersteller nach ist dies nicht die Interpretation der Phonola­ spieler, sondern die Interpretation eines professionellen Pianisten. 14 | Phonola, Phonolapiano und Künstlernotenrollen, Ludwig Hupfeld AG Leipzig (Firmenbroschüre, ca. 1907). Zit. nach: Hans-W. Schmitz: »Zur Notenrollenproduktion bei der Ludwig Hupfeld A.-G., Leipzig«, in: Eszter Fontana (Hg.), Namhafte Pianisten im Aufnahmesalon Hupfeld, Halle/S. 2001, S. 27–31, hier S. 29. 15 | Ebd., S. 30.

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Wie genau aber die ursprüngliche Interpretation hierdurch reproduziert wird, bleibt zu diskutieren. Vielmehr scheint die Rolle der Phonolaspieler eine deutlich aktivere, auch in künstlerischer Hinsicht, zu sein. Hersteller von Kunstspielklavieren, allen voran die US-amerikanische Aeolian Company und die deutsche Firma Hupfeld AG, werben damit, jeder könne nun Klavier spielen, nicht nur einfache Stücke, nein, sogar die sonst professio­ nellen Musikern vorbehaltene Literatur sei allgemein zugänglich. Von originalgetreuer Wiedergabe ist vielfach die Rede und das ohne spezielle Kenntnis der Noten. Werbeanzeigen und -schriften für Vorsetzer und Kunstspielklaviere waren vielfältig und bezeugen heute noch den neuen Markt. Musizieren auf hohem Niveau für jedermann, ohne Vorkenntnisse und ohne zeitlichen Aufwand wird werbeträchtig ausgerufen16. Ein demokratisches Instrument kommt in Mode, so könnte man hiernach meinen. Neben einer neuen Art der Notenerfassung und -umsetzung ist auch die körperliche Tätigkeit der Spieler eine andere als beim Klavierspielen. Nicht zuletzt ändert sich die Funktion der Hand. Dies scheint bei einigen frühen Tonmedien auffällig zu sein. So nennt beispielsweise Friedrich Kittler »die arbeitssame Hand der Phonographenbenutzer« 17. Im Kontext des Programms als Gedächtnis setzt Kittler den Phonographen dem Klavierautomaten und allen anderen zeitgenössischen Speichermedien als überlegen entgegen, da der Phonograph sowohl schreiben als auch lesen kann18. Er ist Aufnahme- und Abspielgerät in einem. Ausgangspunkt ist für Kittler dabei die Frage nach dem Gedächtnis. Dieses wird automatisiert und dadurch unbewusst. Das Bewusstsein eines technischen Apparats steht zur Diskussion. Was aber den Einfluss der menschlichen Hand angeht, so ist das Drehen der Kurbel beim Phonographen nicht nur stupider Antrieb, sondern es belebt, die Musik kann Kittler zufolge dadurch an Brillanz gewinnen. Hier ist nun die Frage nach dem Eigen­ anteil an Interpretation durch die bedienende Hand anzuschließen, sie ist für das Kunstspielklavier ebenfalls von großer Bedeutung. Welchen Anteil hat sie am künstlerischen Prozess durch die Pianolaspieler und -bediener? Reicht ein 16 | Siehe zu diesem Aspekt weiter Andreas Ballstaedt: »Das Selbstspielklavier als Schnittpunkt von Mensch, Musik und Maschine«, in: Boje E. H. Schmuhl/Ute Omonsky (Hg.), Maschinen und Mechanismen in der Musik, Augsburg 2006, S. 95–108. 17 | »Um eine Bahnung schneller zu durchlaufen, als sie gegraben wurde, brauchen weder Grammophonnadeln noch Hirnnerven irgendwelches Selbstbewußtsein. Beidemale reicht eine Programmierung. Allein deshalb konnte die arbeitssame Hand der Phonographenbenutzer, die zu Edisons Zeiten alle Mühe hatten, beim Kurbeldrehen das exakte Tempo einzuhalten, durch Uhrwerke oder später Elektromotoren und deren umschaltbare Laufgeschwindigkeiten ersetzt werden.« Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 56f. 18 | Ebd., S. 54.

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reines Befolgen der Regeln, also der Markierungen auf der Rolle, aus, um ein überzeugendes musikalisches Ergebnis zu erzielen, wie uns die Werbung suggeriert oder steht nicht vielmehr die eigene und doch wieder einmalige Interpretation im Vordergrund der Faszination?

R epertoire und ökonomische A spek te Der Umfang des Repertoires von Notenrollen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist erstaunlich. Klavierrollen für Reproduktions- ebenso wie für Kunstspielin­ strumente bieten klassische Klavierliteratur, Arrangements von Opern, Operetten, Ballett, Oratorien und Requien, Salonmusik, Lieder und Volkslieder, Choräle, Militärmusik und Tanzmusik 19. Zudem werden Spezialrollen angeboten, wie etwa Begleitrollen. Sie dienen zur Begleitung von anderen Musik­ instrumenten wie Geige oder von Gesang, bei letzterem ist vielfach sogar der Liedtext parallel zur Stanzung aufgedruckt, sodass die einzelnen Silben mitgelesen und -gesungen werden können (vgl. Abbildung 2). Das Repertoire ermöglichte eine enorme Bereicherung der Hausmusik und bot, glaubt man den Werbeabbildungen, gesellige Runden um das im Zentrum stehende neue Instrument. Den Abbildungen der Werbeschriften zufolge handelt es sich hier eher um ein Musizieren im kleineren Rahmen. Das Rollenrepertoire beispielsweise bei Hupfeld war bereits 1905 immens: 3.000 verschiedene Titel waren, so Schmitz, hier schon im Angebot. Zu dieser Zeit waren die Musikstücke noch von Hand von der regulären Notenvorlage auf die Rollen übertragen worden, also »gezeichnet«. 1912 sind es etwa 4.000 Titel, eingerechnet sind dabei Umstanzungen der ersten Systeme auf aktuellere, ebenso wie eingespieltes Repertoire von über 140 Künstlern, wobei letztere als Künstlerrollen bezeichnet werden. 1921 waren es insgesamt weit über 8.000 verschiedene Titel20. Notenrollen konnten nicht nur durch Kauf erworben, sondern auch über ein Leihsystem bezogen werden. Durch stetige neue Lieferungen blieb man auf dem neuesten Stand und konnte an der Vielfalt des Repertoires teilhaben. Nicht nur die Kompositionen waren oftmals aktuell, sondern nun auch die Einspielungen selbst. Für das Leihverfahren ist beispielsweise auf den Rollenschachteln folgendes zu lesen:

19 | Mehrere aktuelle Projekte widmen sich dem Thema anhand ausgewählter Sammlungen, so z. B. auch das Erschließungsprojekt der Sammlung des Deutschen Museums, das von der DFG gefördert wird: http://digital.deutsches-museum.de/projekte/­ notenrollen/ vom 07.12.2015. 20 | H.-W. Schmitz: »Zur Notenrollenproduktion«, S. 27f.

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Rebecca Wolf Abb. 2: Notenrolle mit Tempo­a ngabe, Dynamiklinie und Liedtext: Fabbrica Italiana Rulli Sonori Traforati, 88 F.I.R.S.T. Vocalist Nr. 751, Giacomo Puccini: aus Manon Lescaut Atto II. Solo di Manon In quelle trine morbide. Foto: Deutsches Museum Mün­c hen.

Spielen und bedienen. Das selbstspielende Klavier als vir tuose Maschine »Leihbibliothek für Pianola-Notenrollen. Preise und Bedingungen: Abonnement für 1 Jahr M. 75,- Abonnement für 6 Monate M. 50,-- Berechtigt hiesige Abonnenten zur gleichzeitigen Entnahme von 12 Notenrollen oder auswärtige Abonnenten zur gleichzeitigen Entnahme von 24 Notenrollen. Bei hiesigen Abonnenten hat der Umtausch der Notenrollen nach Ablauf von 14 Tagen, bei auswärtigen nach 4 Wochen zu erfolgen. Auswärtige Abonnenten haben das Porto für Hin- und Rücksendung der Notenrollen zu tragen.«

Abb. 3: Schachtel einer Notenrolle mit Aufkleber einer Leihbibliothek. Foto: Deutsches Museum München.

Ziel ist demnach eine weite Verbreitung, die auch die Ländergrenzen überschreitet. Beworben werden zugleich Aktualität und Internationalität, die man sich über dieses auflagenstark produzierte neue Medium nach Hause holen konnte. Was Kunstspielrollen angeht, sind vor allem zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: die Art der Notation und die Frage nach der Wiedergabe von Musik, die oftmals auf einer originären Interpretation beruhen. Die Hupfeld AG geht selbst im Vorwort zum Generalkatalog von 1912 darauf ein. Hier wird die Unterteilung in gezeichnete Rollen und Künstlerrollen erläutert: »Während die gezeichneten Rollen eine Übertragung gedruckter Notenzeichen sind, prägt sich in den Künstlerrollen das lebendige Spiel mit allen Eigenheiten des menschlichen Fingeranschlages plastisch aus.«21 Die Künstlerrollen bieten zwei Möglichkeiten des Abspiels, die eine folgt streng den Vorgaben und folgt demnach möglichst der eingespielten Interpretation, die andere überlässt dem Spieler eine eigene Auslegung durch Betätigung der Hebel: »Die Künstlerrollen bieten dem Phonolaspieler einen zweifachen Genuß, streng in der Auffassung des Künstlers oder in seiner eigenen Auffassung zu spielen. Die Abweichung geschieht durch Veränderung der Temponahme und der Nuancierung, doch ist hierbei ein künstlerischer Vortrag stets gewährleistet, da der Rhythmus, d. h. die taktmäßige Bewegung, welche einer Komposition den Charakter verleiht, festgelegt ist. Soweit es erforderlich, werden die Phonola-Künstlerrollen mit den kleinen Solodantlöchern zur selbsttätigen Hervorhebung der Melodie versehen.« 22 21 | 73 Hupfeld Phonola Generalkatalog, September 1912, S. 3. 22 | Ebd.

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a) Faszination des Authentischen In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist im Kontext von Notenrollen vielfach von naturgetreuer Wiedergabe die Rede. Doch zu beachten bleibt, dass bei Hupfeld und anderen Herstellern auch frühes Repertoire für neue Systeme umgestanzt wurde und bei den Aufnahmen keine Anschlagstärke übertragen wurde. Nur Teile der ursprünglichen Interpretation wurden durch die neue Notation gespeichert und dadurch reproduzierbar. Doch bereits diesen Aspekten wird oftmals attestiert, das Spiel der Künstler zu verdeutlichen. Die Pianisten bezeugten zudem schriftlich, dass auch sie in der »Aufnahme« ihre Interpretation wiederfinden. Solche oftmals in Handschrift verfassten oder handschriftlich signierten Aussagen finden sich auf Rollen selbst und in Rollenkatalogen. Auf der Rolle mit Pianistenportrait ist zu lesen: »Diese Rolle enthält mein persönliches Spiel. Das musikalische Resultat der Pianola mit den Künstlerrollen ist glänzend« (siehe Abbildung 4). Zunächst ist hier zu bemerken, dass es sich um eine Rolle von Hupfeld handelt; »Pianola«, wie darauf vermerkt, ist aber ein Typ und Eigenname der amerikanischen Aeolian Company gewesen. So ist hieran gut abzulesen, dass die Bezeichnung »Pianola« längst für Kunstspielklaviere und -rollen gebräuchlich war. Bei der abgebildeten Rolle handelt es sich um eine Animatic, die ab 1912 hergestellt wurden. Die Perforierung weist die Solodantlochung zur automatischen Betonung der Melodietöne auf sowie eine Dynamiklinie, der per Handhebel gefolgt werden kann. Diese Rollen bieten zudem Perforierungen für die Aktivierung des Pedals zur Dämpfungsaufhebung. All diese Codierungen basieren auf der Interpretation Stavenhagens. Durch die Freigabe der eigenen Einspielung bestätigt der Pianist, dass es sich hier um sein Spiel, seine Interpretation handelt. Wieviel transportiert nun die Codierung der Rolle vom ursprünglichen Spiel? Erklingt beim Abspielen einer Künstlerrolle das authentische Spiel der Pianisten vor rund 100 Jahren? Wie kann der Terminus der Authentizität auf das Thema der Notenrollen angewendet werden? Im Begriff der Authentizität schwingt das Original im Gegensatz zur Kopie mit 23. Oftmals auch das Echte und Einmalige, das gerade im Geschäft mit den Notenrollen in großen Stückzahlen vervielfältigt, also kopiert wird. In diesem Fall wäre das Original die Masterrolle, die zur Vervielfältigung hergestellt wird. Ist aber das Original nicht vielmehr die einmalige Aufführung, der ephemere Moment des Ein23 | Vgl. zur Authentizität z. B. Susanne Knaller/Harro Müller: »authentisch/Authentizität«, in: Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe: historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 7, Stuttgart 2005, S. 40–65; Achim Saupe: »Authentizität«, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte: http://docupedia.de/zg/Authentizit.C3.A4t_ Version_2.0_Achim_Saupe?oldid=84810 vom 22.10.2012.

Spielen und bedienen. Das selbstspielende Klavier als vir tuose Maschine Abb. 4: Anfangs­ lasche der Notenrolle Hupfeld Animatic Nr. 50123, Bernard Stavenhagen spielt Claude Debussy: Suite bergamasque No. 1 Prélude. Foto: Deutsches Museum München.

spielens? Oder bekommt die Notenrolle selbst als Objekt und Programmträger den Status des Authentischen? Um etwas als authentisch zu kennzeichnen, bedarf es einer Beglaubigung, eines Zeugen. Die Bestätigung des Pianisten scheint die Funktion dieser Bezeugung zu übernehmen. Die Aufnahme wurde geprüft und in einen besonderen Status gehoben. Die Transformation des eigentlichen Originals in ein Speichermedium scheint gelungen. Auch im Hupfeldkatalog von 1912 sind etliche Zitate der Pianisten abgedruckt. Wie auf den Rollen sind sie kombiniert mit einem Pianisten-Porträt und der Signatur. Auch Stavenhagen, dessen Lob auf das Kunstspielklavier auf der Rolle oben zu lesen war, wird im Katalog zitiert: »Ich lernte Ihre Solodant-Phonola mit den Künstlerrollen kennen und muß das musikalische Resultat als glänzend bezeichnen. – Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit dieses pneumatische, so überaus empfindliche Instrument gehandhabt werden kann, welche Summe von Ausdrucksfähigkeit ihm inne wohnt!« 24

Ein weiteres Beispiel einer solchen Beglaubigung des Authentischen bietet eine Notenrolle mit handschriftlicher Bestätigung des Musikers (siehe Abbildung 5): 24 | 73 Hupfeld Phonola Generalkatalog. September 1912, S. 130.

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Rebecca Wolf Abb. 5: Notenrolle Aeolian 65 Pianola Themodist Nr. TL 15131, S. K. H. Prinz Ludwig Ferdinand von Bayern: Die wilde Jagd, Fantasiestuck, Op. 6. Am Rollenbeginn wie mit Tinte geschrieben: »die Metrostÿllinie zeigt das exacte Tempo und Auffaßung der Composition an, Ludwig Ferdinand«. Auf Schachtel Aufkleber: Interpretation Indicated by S. K. H. Prinz Ludwig Ferdinand von Bayern. Foto: Deutsches Museum München.

Hier bezeugt der Künstler seine Aufnahme mit eigener Handschrift und geht auf die »gespeicherten« Aspekte wie Tempo und Auffassung ein. Diese Bezeugungen waren zum einen eine bedeutende Werbemaßnahme, zum anderen wurde auf bestimmte Parameter der Interpretation geachtet, die a­ uthentisch übertragen werden. Diese scheinen schon auszureichen, um die Originalität des Spiels wiederzuerkennen, obwohl eigentlich eher von einer Reproduktionsrolle angenommen würde, dass sie das »originale« Spiel wiedergeben würde. Das Thema der Wiedergabetreue ist ein ebenso zentrales bei frühen Schallplattenaufnahmen. Auch hier bezeugen Werbeanzeigen aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die Unverwechselbarkeit der live gespielten oder gesungenen Musik mit dem Hörerlebnis der Reproduktion. Jonathan Sterne spricht in diesem Zusammenhang von einer Mystifizierung des Hörens zuhause und dass die Hörerschaft zuerst eine differenzierte Wahrnehmung erlernen musste, um vom Menschen oder der Maschine erzeugte Musik zu unterscheiden25. Die eigene Klanglichkeit früher Schallplatten scheint zu Beginn noch keine ästhetische Eigenständigkeit herausgebildet zu haben. Moderne Begriffe wie Original und Kopie greifen hier nicht weit genug. Hinzu kommt beim Spiel der Kunstspielrollen eine weitere Dimension: Der spielende oder das Instrument bedienende Mensch erzeugt die Interpretation. Erst die Aktivität des Menschen mit der Maschine erzeugt lebendige Musik und verdeutlicht das Kunstspielklavier als Musikinstrument, im Gegensatz zum reinen Wiedergabegerät. Spielen wir heute die Notenrollen auf erhaltenen Instrumenten ab, merken wir bald, dass viele Parameter vom Abspielgerät abhängen. Dies ist bei Kunstspielinstrumenten ebenso wie bei Reproduktionsklavieren der Fall. Spielen wir 25 | Vgl. Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham 2003, S. 215f.

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verschiedene Rollen einer »Einspielung« auf demselben Instrument ab, kann es sein, dass wir unterschiedliche Hörergebnisse erhalten. Die Rollen basieren zwar auf derselben Einspielung, doch sie wurden teils weiter bearbeitet für neuere Systeme. So etwas wie Auflagen entstanden. Hinzu kommt, dass die Instrumente diffizil einzustellen sind und auch das Papier der Rollen selbst verändert sich mit der Zeit, abhängig von Temperatur und Luftfeuchtigkeit 26. Trotzdem scheinen die Programmträger so viel vom ursprünglichen Spiel zu transportieren, dass oftmals bezeugt wurde, dass hier das Original erklingt. Es mag sein, dass dabei der Fokus auf einzelne Parameter der Aufführung wie Tempo, Verzierungen und Arpeggio gelegt wurde. Daher sind Notenrollen auch heute noch wichtige Quellen für die Interpretationsforschung.

b) Notation Für die Herstellung von Kunstspielrollen wird der musikalische Code oftmals von der regulären Notation übertragen. Eine neue, perforierte Notation entsteht, die sich auf den ersten Blick für das menschliche Auge als unlesbar präsentiert. Es liest der Mechanismus des Instruments. Der mit den Pedalen erzeugte Luftunterdruck strömt durch die Perforierungen, wenn diese über den Skalenblock laufen. Strömt durch eine Lochung Luft, aktiviert der Mechanismus die Klaviertaste. Freilich gibt es auch Perforierungen, die zusätzlich zu Regelung der Tonhöhen und -dauer, Elemente der Interpretation wie Betonung steuern. Doch zumeist sind den Notenrollen für Kunstspielklaviere noch weitere Angaben zu entnehmen: Vorgaben zum Tempo, zur Betätigung des Pedals zur Dämpfungsaufhebung und eine Dynamiklinie sind sehr häufig aufgedruckt. Hierfür wird dem Spieler Bewegung abverlangt: Die Pedale sind durchweg regelmäßig und kräftig zu treten, die Hände übernehmen die Funktion der eigentlichen Klavierpedale und die Augen verfolgen genau die Notation, um die Dynamiklinie in Hebelbewegung um- und in Relation zur Perforierung zu setzen. Das Ohr ist selbstverständlich als regulierendes Element involviert. Die Erfahrung zeigt, dass dies keineswegs beim ersten Ausprobieren zu einem zufriedenstellenden Ergebnis führt. Koordination ist nötig, Übung, schnelle Reaktion und vor allem musikalisches Verständnis. In das Stück muss sich sehr wohl eingehört und -gelesen werden. Ein Wieder­ erkennungseffekt stellt sich ein und die Notation wird mehr und mehr lesbar. Auch Alexander Moszkowski äußert sich hierzu:

26 | Mit diesen Aspekten beschäftigen sich auch zwei jüngst erschienene Masterarbeiten: Yasmine Kerber: Perforierte Notenrollenpapiere als Tonsteuerungsträger mecha­ nischer Musikinstrumente. Identifizierung, Materialität und Konservierung. Master-­ Thesis, Bern 2015. Till Kordt-Dauner: Frühe Speicher musikalischer Interpretation. Ignaz Paderewskis Welte-Mignon-Einspielungen und ihr Kontext. Masterarbeit, München 2014.

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Rebecca Wolf »Vortrag? Meister?  – ja, ganz gewiß. Schon heute können Spiel und Spieler diese Titel verdienen. In der Handhabung des Metrostylhebels, in der Registrierung, vor allem aber in der Kunst der Pedalgebung, in der Ökonomisierung des Luftstromes öffnet sich die ganze Stufenleiter von der Unbeholfenheit des Anfängers bis zur Meisterschaft; und demzufolge eine entsprechende Skala von der trockenen Wiedergabe der Noten bis zum hochmusikalischen Vortrag. Nur mit dem Unterschied vom Urklavier, daß der Fingerpianist sein halbes Leben der Erlangung der Technik opfern muß, während der Pianolaspieler, entbunden von dieser Fron, als der Spieler höherer Ordnung sich sofort am Reingeistigen, am Vortrag, emporbildet.« 27

Von Handhabung ist immer wieder die Rede; von der wechselnden Funktion der Hand. Zudem wird hier eine Trennung der Bereiche vorgenommen. Das Betätigen einer Maschine markiert den Bruch und die Notation bekommt eine andere Funktion. Die perforierte Notation ist immer noch Gedächtnis und Speicher, aber mehr für die Maschine und weniger für den Künstler. Er kann sich ganz der Musik hingeben, glaubt man den zeitgenössischen Schriften. Dies erinnert in mancher Hinsicht an frühe Notationsmaschinen. Mitte des 18. Jahrhunderts wurden zunächst in London und Berlin schriftliche Entwürfe von Notenschreibeinrichtungen für Tasteninstrumente entwickelt28. Zunächst ging es um die Aufzeichnung der Tondauer und der Tonhöhe während des Klavier­spiels. Vorrichtungen wurden ersonnen, die mit Tasteninstrumenten zu koppeln sind. Der Anschlagsmechanismus war verbunden mit einem Schreibgerät, das auf vorbeilaufendem Papierband seine Markierungen hinterließ. Im Deutschen Museum befindet sich seit 1915 ein solches Instrument aus dem Jahr 1780 (siehe Abbildung 6). Es wurde von John Joseph Merlin (1735– 1803) in London hergestellt, wo Merlin als »mathematical instrument maker« tätig war und zahlreiche Erfindungen in einem mechanical museum präsentierte29. In ein Kombinationsinstrument aus Hammerflügel und Cembalo ist 27 | A. Moszkowski: Das Pianola, S. 22f. 28 | »A Letter from Mr. John Freke F. R. S. Surgeon to St. Bartholomew’s Hospital, to the President of the Royal Society, inclosing a Paper of the late Rev. Mr. Creed, concerning a Machine to write down Extempore Voluntaries, or other Pieces of Music«, in: Philosophical transactions, giving some account of the present undertakings, studies, and labours, of the ingenious, in many considerable parts of the world 44 (1747), S. 445– 450. Johann Friedrich Unger: Entwurf einer Maschine wodurch alles was auf dem Clavier gespielet wird, sich von selber in Noten setzt. Im Jahr 1752. an die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin eingesandt, nebst dem mit dem Herrn Direktor Euler darüber geführten Briefwechsel, und einigen andern diesen Entwurf betreffenden Nachrichten, Braunschweig 1774. 29 | Ausführlicher zu diesem Instrument siehe Rebecca Wolf: Friedrich Kaufmanns Trompeterautomat. Ein musikalisches Experiment um 1810 (= Beihefte zum Archiv für

Spielen und bedienen. Das selbstspielende Klavier als vir tuose Maschine Abb. 6: Kielflügel mit Hammerregister und Schreibvorrichtung, J. Merlin, London 1780, DM Inv.-Nr. 43872. Foto: Deutsches Museum München.

als herausnehmbare Wanne die Notationsmaschine eingelegt. Über Handhebel ist sie zu aktivieren. Ein Uhrwerk setzt das Papierband in Bewegung. Am hinteren Rand befindet sich eine Reihe kleiner beweglicher Bleistifte. Beim Spielen des Instruments werden die Bleistifte an das vorbeilaufende Papier gedrückt und zeichnen auf. Jeder Taste ist ein Stift zugeordnet. Eine neue Nota­ tion entsteht, die aber entziffert werden will. Hierfür gibt es ein Lineal, das nach der Aufzeichnung auf das Notenpapier gelegt werden kann. Eine Übertragung in reguläre Notation ist vorgesehen. Das Lineal hat die chromatischen Töne der Tasten aufgemalt, jede waagrechte Zeile des Notenpapiers kann dadurch verfolgt und übertragen werden. Wie bei den Notenrollen wird auch hier die Notation waagerecht gelesen. Beim selbstspielenden Klavier vom Skalenblock, bei dieser frühen Notationseinrichtung vom Lineal. Besonders feingliedrig war die Aufzeichnung nicht, Tonhöhen und -dauern sind ihr zu entnehmen, doch schon die Takte müssen eher mühsam rekonstruiert werden. Peter Schleuning hat solche Vorrichtungen mit dem Aufkommen der Freien Fantasie um Carl Philipp Emanuel Bach in Verbindung gebracht. Das freie Improvisieren sollte ungestört verlaufen und trotzdem wiederholbar werden. Dafür wird die Funktion der Hand geteilt. Wo bislang bei Kompositionsvorgängen die Hand zunächst das Instrument spielt, dann absetzt, um die Notation zu verfassen, also eine ständige Unterbrechung stattfindet, sollte mit der Notationsmaschine der Vorgang des künstlerischen Schaffens unbeeinträchtigt bleiben. Erst danach erfolgte das Schreiben der regulären Notation. Die einzelnen Aufgaben des Musizierens und Komponierens wurden zerteilt, Musikwissenschaft, Band 68), Stuttgart 2011, S. 206–218. Das heute erhaltene Instrument wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts restauriert, Teile auch rekonstruiert.

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und damit auch kategorisiert. Der künstlerische Anteil wird getrennt vom rein übertragenden, vom Erstellen der Notation, in vielen Fällen lesen wir auch von einer Kopiervorrichtung30. Auf andere Art unterteilt nun Moszkowski die Handlungen des Pianola­ spielers: Nicht mehr das Handwerk des Klaviervirtuosen muss erlernt werden, der Zugang zum geistigen Kunstwerk sei durch das Pianola viel direkter, unvermittelt, die Konzentration darauf wird nicht durch die mühsame Spieltechnik eines Pianisten erschwert. Er schreibt zur Notenrolle: »Die Seele des Pianola ist die Notenrolle; denn diese enthält den erschöpfenden Ausdruck der Komposition, und so ist hier das Kunstwerk selbst zu einem Bestandteil des Instrumentes geworden. Die Tonschöpfung tritt nicht von außen heran, sondern lebt mit dem darstellenden Mechanismus ein und dasselbe Leben.« 31

Er spricht außerdem das Pneuma der Bälge an, den »Atem der Bälge«, der die Perforierung liest. Das Lebendige der Komposition befindet sich für ihn also im Instrument selbst. Ebenso wie die Notation der frühen Vorrichtungen wie oben bei Merlin beschrieben, befinden sich auch bei Notenrollen alle Markierungen für gleichzeitig erklingende Töne waagrecht nebeneinander. Moszkowski lobt diese Anordnung für ihre Klarheit, da sie besser zu verfolgen sei, nicht umständlich sind hier Chiffren der herkömmlichen Notation zu erlernen. Diese Anordnung, so ist zu ergänzen, eignet sich zudem zur Analyse des Stücks durch den Spieler. Mit den Augen lässt sich mit etwas Übung die Notation sehr gut verfolgen, erfahrene Pianolaspieler singen gar vom Blatt. Und wie die angezeigte Werbung (siehe Abbildung 7) für das Phonola uns lehrt, bieten sich der Spielerin beide Möglichkeiten: »das Spiel der Künstler in Naturtreue mittelst der Phonola wiedergeben, aber dabei doch der persönlichen Auffassung des Spielers alle Freiheit gewähren.« Hier wird also gerade auch die Möglichkeit einer eigenen Interpretation offeriert.

S piel , N achahmung und I nterpre tation Immer wieder wird das Pianola- und Phonolaspiel als wenig professionell dargestellt, vielmehr sei es für alle erreichbar. Berühmt sind die Pianisten, die Stücke einspielen, nicht aber die Pianolaspieler. Woran mag das liegen? Zeigt sich uns hier eine Strömung der Zeit? Moszkowski scheint die Interpreten von 30 | Peter Schleuning: »Die Fantasiermaschine. Ein Beitrag zur Geschichte der Stilwende um 1750«, in: Archiv für Musikwissenschaft 27 (1970), S. 192–213. 31 | A. Moszkowski: Das Pianola, S. 25.

Spielen und bedienen. Das selbstspielende Klavier als vir tuose Maschine Abb. 7: Werbeanzeige für die Phonola der Firma Hupfeld, Leipzig 1907. Original: Deutsches Museum München.

Musik ganz allgemein abzulehnen – das wahre Kunstwerk hingegen wird vom Komponisten erschaffen. Alles dazwischen verändert unnötig, nutzt gar das Kunstwerk für die eigene Darstellung aus. Und trotzdem spielt der Pianolist die wohl wichtigste Rolle. Die Spieler sind, wie hier auf Abbildung 7, entweder ernsthaft, konzentriert oder vielfach gesellig und vergnüglich dargestellt. Sie bilden oftmals das Zentrum der Abbildungen. Ihre körperliche Präsenz steht im Vordergrund. Sie sind es, die die Musik zum Erklingen bringen und durch das Agieren mit Pedal und Handhebel beleben, egal, ob sie den vorgegebenen Interpretationsangaben genau folgen oder ihre eigene Umsetzung anwenden. In den Kontexten um das selbstspielende Klavier lassen sich etliche Anknüpfungspunkte an ästhetische Konzepte der Zeit finden. Busoni geht nun nicht nur auf die Funktion des Hörers als Mitgestalter einer Aufführung ein, sondern auch auf die Notation und Transkription von Musik. Als Hilfsmittel dient sie dem Vortragenden, sie »wieder aufzulösen und in Bewegung zu bringen.«32 Die Inspiration des Vortragenden ist dazu nötig. Er führt die eigenen 32 | F. Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 29.

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Interpretationen von Komponisten an, die sich bei mehrmaliger Wiederholung unterscheiden und zudem von der Notation auch abweichen können. Die Interpreten gelten ihm als gestaltende Schöpfer. Vor dem Hintergrund ästhetischer Konzepte der Mimesis, wie sie z. B. Gunter Gebauer und Christoph Wulf mit Blick auf Spiel, Ritual und Geste formuliert haben, tritt das Gestalterische und Formende durch den Handelnden in den Vordergrund. »Im mimetischen Handeln erzeugt ein Individuum seine eigene Welt, bezieht sich dabei aber auf eine andere Welt, die es – in der Wirklichkeit oder in der Vorstellung – bereits gibt.«33 Das Handeln bleibt individuell, auch wenn es einem Modell oder Vorbild folgt. Subjektive Einschätzungen und Reaktionen beeinflussen es immer. »Dabei verzichten wir keineswegs auf die eigene Gestaltung unserer Welt, wir handeln eigenständig, aber wir verhaken uns zugleich, wie beim Schließen eines Reißverschlusses, mit einer anderen Welt.«34 Dies mag auch die außergewöhnliche Faszination am Kunstspielklavier sein, das individuelle Spiel auf Basis einer schon bestehenden Musik. Die körperliche Bewegung und Interaktion mit der bereits existierenden Einspielung lässt das Spiel zur Aufführung werden. Die Bewegung nimmt Bezug auf andere Bewegungen, nämlich diejenigen des Pianisten, der seine Interpretation eingespielt hat. Es ist ein Nachahmen und zugleich eine eigenständige Handlung, die das Ursprüngliche verändert, ein mimetischer Akt. Der Reiz am Spiel der Kunstspielklaviere mag genau in diesem Changieren liegen und gelegen haben. Der Wunsch der exakten Nachahmung sowie das eigene aktive Handeln erlauben eine besonders enge Verbindung mit der historischen Interpretation. Die aktuelle Interpretation wird in Teilen selbst erzeugt, durch das Nachempfinden und körperliche Umsetzen des vom Künstler Intendierten, durch die eigene Bewegung, und doch kommt zu dieser Nachahmung der eigene Anteil hinzu, es entsteht individuelle Musik im engen Kontakt mit einem anderen Künstler. Das Nachspüren des Authentischen mag oberstes Ziel sein, und erzeugt Reflexionen darüber, was das sein mag. Liegt es in der genauen Befolgung der Markierungen oder in der Beschäftigung mit und Analyse der Komposition? Beides erfolgt durch geübtes Hören ebenso wie durch den konzentrierten Blick auf die Notation und das Erlernen der körperlichen Reaktionen darauf. Die Spieler studieren die Komposition auf ihre ganz eigene Weise, mit den Augen, den Ohren, den Händen und Füßen. Die musikalische Erziehung mag in der intensiven Beschäftigung mit einem Musikstück und seiner möglichen Ausgestaltung liegen. Die Betätigung des Metrostyle-Hebels regelt das Tempo, belebt das maschinelle Ablaufen und verleiht der Musik individuelle Züge im Prozess des Spiels. 33 | Gunter Gebauer/Christoph Wulf: Spiel  – Ritual  – Geste: mimetisches Handeln in der sozialen Welt, Reinbek 1998, S. 7. 34 | Ebd., S. 9.

Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium Kai Köpp

Die gelochten Papierrollen für selbstspielende Klaviere und Orgeln der Firma Welte seien das »getreue Abbild des Künstlerspiels« wurde seit ihrer Einführung 1904 werbewirksam behauptet. Damit zählen diese Notenrollen zu den frühesten akustisch erfahrbaren Dokumenten künstlerischer Musikinterpretation. Dennoch sind sie von der Forschung wenig beachtet worden, weil ihr Entstehungsprozess  – und damit ihre Glaubwürdigkeit  – ungeklärt war. Seit dem Verdikt des angesehenen Musikkritikers Harold C. Schonberg von 1964 herrschte die Meinung, die Welte-Notenrollen seien als Interpretationsdokumente wertlos. Neue Impulse brachten die Untersuchung des einzigen erhaltenen Aufnahmeapparates im Nationalen Museum für Musikautomaten Seewen (SO) sowie die Entdeckung von mehr als 1000 Aufnahmerollen mit den Tintenspuren des Apparates. So konnten zentrale Fragen des Aufnahmeprozesses und der Wiedergabeparameter der Firma Welte geklärt werden, die eine notwendige Voraussetzung für die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen wertvollen Interpretationsdokumenten bilden.

I. K unstspielkl avier und R eproduk tionskl avier Das Reproduktionsklavier ist eine Sonderform der selbstspielenden Klaviere, das 1904 von der Freiburger Firma Michael Welte & Söhne vorgestellt worden ist und bald Nachahmer gefunden hat. Das Reproduktionsklavier war bis zur Erfindung des elektrischen Mikrofons um 1925 unter allen Reproduktions­ medien wohl dasjenige, das anspruchsvolle Musikhörer am meisten zufriedenzustellen vermochte. Häufig wird das Reproduktionsklavier mit dem Kunstspielklavier (auch »Tretklavier«) verwechselt, denn beide werden über eine Papierrolle in Bewe-

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gung gesetzt, in die Löcher für die Höhe und die Dauer jedes einzelnen erklingenden Tons gestanzt sind. Beim Abspielen über ein quer verlaufendes Saugrohr löst jedes Loch eine entsprechende Klaviertaste aus und ermöglicht so eine Reproduktion der in den Lochstreifen kodierten Information. Zwar waren solche Lochstreifen bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts für Webmaschinen konzipiert worden, aber wegen der mechanischen Abtastung mussten sie aus festem Karton hergestellt werden. Erst nachdem eine pneumatische Auslesung der Informationen entwickelt worden war, wurden Lochstreifen nach 1870 zur Steuerung mechanischer Musikinstrumente eingesetzt, denn nun konnten anstelle von Kartonstreifen Papierrollen verwendet werden, die später mit einer Länge von bis zu 50 Metern auch entsprechend längere Musikstücke aufnehmen konnten1. In Europa wurden vor allem große Orchestrien mit dieser Technologie ausgestattet, die sich aus einer langen Tradition mechanischer Musikinstrumente entwickelt hatten. In den Vereinigten Staaten von Amerika dagegen wurde diese Technologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts in kleine Saugluft-Zungenorgeln (Harmonium) und in pedalbetriebene Vorsetzer für Klaviere eingebaut. Diese Vorsetzer besaßen gepolsterte ›Holzfinger‹, mit denen die Informationen der Lochstreifenrolle auf jedes beliebige Klavier übertragen werden konnten. Marktführer war das sogenannte Pianola der New Yorker Aeolian Company, und bis heute ist die Produktbezeichnung Pianola in angelsächsischen Ländern als ein Synonym für alle möglichen Formen des Selbstspielklaviers gebräuchlich. Im Jahr 1902 erhielt »das« Pianola Konkurrenz durch »die« Phonola, ein von der Leipziger Firma Hupfeld hergestelltes, leicht modifiziertes Nachahmerprodukt 2 . Erst 1904, zeitgleich mit der Markteinführung des Freiburger Reproduktionsklaviers Welte-Mignon, baute die Aeolian Company das Pianola-System in Klaviere ein, die sogenannten Pianola Pianos. Dennoch unterschieden sich Kunstspielklaviere wie das Pianola Piano grundlegend vom Welte-­Mignon, schon allein äußerlich: Während der Reproduktionsmechanismus der Firma Welte von Anfang an mit einem Elektromotor betrieben wurde, hielt man beim Pianola am vakuum-pneumatischen Pedalmechanismus fest. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Konzepten geht aber viel tiefer, denn anders als das Welte-Mignon war das Kunstspiel- oder Tretklavier gar nicht darauf ausgerichtet, eine bestimmte Interpretation zu reproduzieren: Auf den Notenrollen für Pianola oder Phonola war nämlich nur die Höhe und Dauer der Töne nach dem Notentext kodiert. Diese Rollen wurden »gezeich-

1 | Vgl. Jürgen Hocker: Faszination Player Piano, Frankfurt 2009, S. 43f. Siehe auch die gut recherchierte Webseite des Londoner Pianola Institute von Rex Lawson und Dennis Hall: www.pianola.org vom 14.06.2015. 2 | Zur Geschichte der Phonola vgl. J. Hocker: Faszination Player Piano, S. 48–74.

Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium

nete Rollen« genannt, um sie von den sogenannten »handgespielten« Rollen zu unterscheiden. Selbstverständlich klingt eine rein proportionale Übertragung des Notentextes in Tastenbefehle  – ebenso wie beim MIDI-Player eines Notensatzprogramms  – nicht nach einer menschlichen Interpretation. Die gezeichneten Rollen konnten also nicht einfach ›herunterpedalisiert‹ werden. Obwohl einige Vorgaben des Notentextes wie ritardando oder accelerando mitunter in den gezeichneten Rollen berücksichtigt wurden, musste die musikalische Interpretation von den Bedienern selbst hinzugefügt werden. Dazu waren Regler für die Dämpfungsauf hebung (rechtes Pedal) und für die Rollengeschwindigkeit angebracht, und die Anschlagsstärke (Dynamik) war durch das stärkere oder schwächere Treten der Pneumatik-Bälge kontrollierbar. Auch unerfahrene Benutzer konnten Dynamik und Tempofluktuation dank vorgezeichneter Linien kunstgerecht manipulieren3. Die Wiedergabe eines Musikstücks auf dem Tretklavier war also auf die interaktive Beteiligung eines Benutzers angewiesen. Da ein Spieler seine musikalischen Entscheidungen über ein Interface eingab, ist das Tretklavier eher als ein Musikinstrument zu definieren und nicht primär als Reproduktionsmedium. Damit unterschied es sich vom traditionellen Konzept mechanischer Musikinstrumente, bei dem die Illusion eines menschlichen Musikvortrags immer eine Rolle spielte4. Das Reproduktionsklavier dagegen war von Anfang an als Wiedergabe­ medium konzipiert: Es reproduziert die zuvor eingespielte Interpretation eines bestimmten Künstlers und verzichtet somit auf einen manipulierenden »Interpreten«. Erst dank des eingebauten Elektromotors für die Pneumatik wird die Illusion perfekt. Dadurch, dass auch die Dynamik der Einspielung so differenziert wie möglich wiedergegeben werden sollte, ist das Reproduktionsklavier ein technologisch deutlich aufwändigeres Produkt als die Kunstspielklaviere. Unter den Reproduktionsklavieren war das Welte-Mignon, das bis 1904 von Edwin Welte und seinem Schulfreund und Schwager Karl Bockisch (dem eigentlichen Haupterfinder) zur Marktreife entwickelt wurde, das früheste und setzte hohe Maßstäbe (siehe Abbildung 1). Das bei jeder Gelegenheit betonte Alleinstellungsmerkmal der Firma Welte, die ab 1911 auch die Reproduktionsorgel Welte-Philharmonie herausbrachte, bestand darin, das »getreue Abbild 3 | Vgl. J. Hocker: Faszination Player Piano, S. 59ff. und S. 75f. Trotzdem blieb ein unüberhörbarer Resteindruck des Mechanischen, denn beim Tretklavier konnte der Bediener nicht  – wie ein lebendiger Pianist  – einzelne Töne vorwegnehmen oder verzögern, und Akkorde konnten nur mit gleicher Lautstärke angeschlagen werden (eine Binnen­ differenzierung oder ein Arpeggio waren nicht möglich). Darum wurde eine spezielle Dynamik-Kodierung entwickelt, bei der Melodietöne innerhalb eines Akkordes automatisch hervorgehoben wurden, genannt »Themodist« (Pianola) bzw. »Solodant« (Phonola). 4 | Siehe den Beitrag von Michael Harenberg in diesem Band.

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Abb. 1: Erläuterung zum Aufbau des Welte-Mignon. Quelle: Welte-Mignon Benutzerhandbuch, Freiburg o. J. [ca. 1925], S. 3.

des Künstlerspiels« reproduzierbar zu machen5. Dieses Konzept bescherte der Firma hohe Verkaufszahlen. Die Notenrollen für das Welte-Mignon sollten alle kleinen Abweichungen vom Notentext reproduzieren, die auf das menschliche Klavierspiel zurückzuführen sind oder für den zeittypischen beziehungsweise individuellen In5 | Vgl. Peter Hagmann: Das Welte-Mignon-Klavier, die Welte-Philharmonie-Orgel und die Anfänge der Reproduktion von Musik, Freiburg 2002, S. 13f. und S. 46ff.

Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium

terpretationsstil charakteristisch waren, z. B. Tempofluktuationen, ungleichzeitiges Anschlagen zusammen notierter Töne oder Arpeggio-Effekte. Daher beeilte sich die Firma Hupfeld ab 1905, ebenfalls »handgespielte« Rollen für ihr Tretklavier Phonola herauszubringen, bei denen jedoch Dynamik und Pedalisierung noch vom Spieler ergänzt werden mussten6. Bei Welte bedeutete das »getreue Abbild des Künstlerspiels« dagegen, dass auch diese Parameter genau so reproduziert wurden, wie sie bei der Einspielung durch den interpretierenden Pianisten festgehalten wurden. Gegenüber der herkömmlichen Notation von Musik haben die auf Notenrollen aufgezeichneten Klavierinterpretationen eine Eigenschaft, die für die Interpretationsanalyse von großem Vorteil ist: Notenrollen bilden nämlich nicht nur die Organisation der Töne, sondern auch deren genaue rhythmische Position ab, die bei jeder Interpretation vom starren Proportionsgefüge des Notentextes abweicht. Damit wird neben dem Tonraum auch die Zeitrelation zweidimensional dargestellt und intuitiv lesbar. Deswegen ist es heute bei einer MIDI-Software üblich, für die digital erfassten Toninformationen wahlweise eine »music roll«-Darstellung anzubieten. Beim Welte-Mignon und seinen Nachahmerprodukten wird zudem erstmals auch die Anschlagsdynamik der Klaviertasten durch Löcher an den Rändern der Notenrolle kodiert, sodass diese An-Aus-Informationen medienhistorisch als eine frühe Form digitaler Kodierung bezeichnet werden können. Durch diese Kodierung auf Papier können subtile musikalische Details nicht nur intuitiv erkannt, sondern auch mit einfachen Hilfsmitteln ausgemessen werden (siehe Abbildung 2). Eine vertikale Linie dient als Werkzeug, mit dem beispielsweise der ungleichzeitige Anschlag gleichzeitig notierter Akkorde sichtbar wird. Die sich überlappenden Tastendruck-Informationen geben einen Hinweis darauf, wo der Pianist eine als Finger- oder »Überlegato« bezeichnete Technik angewandt hat, bei der ein Finger auf der Taste liegen bleibt, während die nächste bereits angespielt wird (ovale Markierung). Schließlich kann sogar der Gebrauch der Dämpfungsaufhebung an der Pedalkodierung der Notenrolle abgelesen werden (nicht im Bild). Während bei frühen Medien, die Schallwellen reproduzierbar machen, das Fingerlegato kaum von Pedalisierungsdetails unterschieden werden kann, enthalten Notenrollen diese wichtige zusätzliche Informationsebene zur pianistischen Praxis, die in der Interpretationsforschung noch kaum erschlossen ist. Da beim Kunstspielklavier medienhistorisch der Charakter eines Musikinstruments überwiegt, war es – anders als das Reproduktionsklavier – besonders geeignet zur Interaktion seines Spielers mit anderen Musikern. Bereits die Vorläufer des Pianola (namentlich Aeolian Organ, Aeolian Grand und Aeolian Orchestrelle) wurden seit 1886 damit beworben, dass es mit ihnen kinderleicht 6 | Vgl. J. Hocker: Faszination Player Piano, S. 52ff.

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Abb. 2: Chopin, Polonaise As-Dur op. 53 (Harold Bauer, Ampico): Identifikation von Arpeggio und Fingerlegato. Quelle: www.playerpianokonzerte.de, Markierungen: Autor.

sei, Begleitungen für Gesänge abzuspielen, waren doch die Saugluft-Harmonien vielerorts als Ersatz für Kirchenorgeln in Gebrauch7. Daraus entwickelte sich für das Kunstspielklavier über wenige Jahre ein fast unüberschaubares Repertoire an Begleitrollen, das neben englischen und deutschen Chorälen auch alle Gattungen von Liedern umfasste, die als »word rolls« sogar mit aufgedrucktem Text geliefert wurden. In diesem Repertoire verdoppelte das In­ strument in der Regel die zu singende Melodie, sodass diese »Play Along«Praxis musikalisch meist nicht sehr anspruchsvoll war. Daneben gab es allerdings auch Begleitrollen für höhere Ansprüche, die Begleitungen für Kunstlieder oder Kammermusik von berühmten Komponisten mit allen möglichen Soloinstrumenten enthielten. Selbstverständlich erklang die Solostimme etwa zu Mendelssohns Violinkonzert nicht zugleich in der Klavierbegleitung des Pianola. Um diese Praxis von der »Play Along«-Praxis zu unterscheiden, kann sie nach einer Produktbezeichnung für Schallplatten als »Music Minus One« bezeichnet werden. Auch für das Welte-Mignon-Reproduktionsklavier wurden zahlreiche Begleitrollen veröffentlicht, die allerdings nur einem Bruchteil des Begleitrollenrepertoires für Kunstspielklavier entsprachen. Anders als beim Pianola, bei dem der Klavierbegleiter auf die gestalterischen Freiheiten des Solisten ein7 | Zur Geschichte der Begleitrollen für Kunstspiel- und Reproduktionsklavier vgl. ausführlich Kai Köpp: »Künstlerrollen im Kontext  – Das Begleitrollen-Repertoire für ­Welte-Mignon und Welte-Philharmonie«, in: Christoph Hänggi/Kai Köpp (Hg.), Recording the Soul. Konferenzbericht Seewen 2013, Bern 2015 (in Vorbereitung).

Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium

gehen konnte, war die Interpretation auf den Begleitrollen für Welte-Mignon bereits fixiert. Der Solist musste sich also an die von der Klavierbegleitung vorgegebene Interpretation anpassen, was vor allem im amerikanischen Markt zu manchen Irritationen geführt haben mag. Jedenfalls hat die amerikanische Welte-Tochterfirma um 1913 mit Versuchen experimentiert, eine Begleitrolle mit einer Schallplatte zu synchronisieren. Tatsächlich sind Schallplatten erhalten, bei denen nur eine Gesangsstimme zu hören ist (das Klavier nur sehr leise in den Pausen), die offenbar diesen Zwecken dienten8. Später ist die amerikanische Welte-Mignon-Lizenzfirma dazu übergegangen, den Nachteil einer fixierten Begleitinterpretation als Vorteil zu verkaufen. Dazu beauftragte sie namhafte Künstler, als Solisten an der Aufnahme einer Begleitrolle mitzuwirken, sodass der Käufer zu Hause eine vorbildliche, vielleicht von aktuellen Schallplatten bekannte Interpretation reproduzieren konnte9. Allerdings war das Reproduktionsklavier nie ein Massenmedium, denn die Anschaffung konnten sich nur wenige wohlhabende Käufer leisten. Auf die Erwartungen dieser exklusiven Käuferschicht waren auch das Repertoire der Einspielungen und die Auswahl der Künstler abgestimmt. Entsprechend finden sich auf den Notenrollen insbesondere in der Anfangszeit der Aufnahmetätigkeit bis etwa zum 1. Weltkrieg Interpretationen von namhaften Künstlern, von denen keine akustischen Aufnahmen erhalten sind, etwa von Gustav Mahler oder von dem Schumann-Freund Carl Reinecke, der am Leipziger Konservatorium lehrte. Da Reinecke 1824 geboren wurde, noch zu Lebzeiten Beethovens, ist er zugleich der älteste Pianist, von dem Interpretationsdokumente erhalten sind. Aufgrund dieses Repertoires sind vor allem die technologisch avancierten Welte-Notenrollen wertvolle Dokumente der Interpretationsgeschichte, welche die Signifikanz des Reproduktionsklaviers als (relativ kurzlebiges) Medium deutlich überlagern. Das Interesse der Interpretationsforschung an diesen Dokumenten ist daher besonders hoch.

II. R eproduk tionskl avier und S challpl at te Skepsis gegenüber diesen Dokumenten erscheint jedoch angebracht. Immerhin ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt, ob die Kodierungen auf der Notenrolle tatsächlich – wie behauptet – das »getreue Abbild des Künstlerspiels« wiedergeben, denn der Aufnahmeprozess wurde von der Firma Welte bis zuletzt geheim gehalten. Noch heute gibt es Kenner, die bezweifeln, dass Welte überhaupt in der Lage war, die Dynamikwerte der Klaviertöne automatisch 8 | Für die Bereitstellung dieser Aufnahmen möchte ich Herrn Dennis Hall, London, sehr herzlich danken. 9 | Vgl. K. Köpp: »Künstlerrollen im Kontext«.

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aufzuzeichnen10. Erschwerend kommt hinzu, dass moderne Tonaufnahmen von Notenrollen, die auf restaurierten Welte-Instrumenten angespielt wurden, untereinander deutliche Abweichungen aufweisen. Dies betrifft nicht nur die Differenzierung von Dynamik und Klangfarben, sondern auch so grundlegende Parameter wie das Tempo, das sich in der Gesamtdauer eines Musikstücks niederschlägt, oder die Aussteuerung der Akzente, die den Anschlag der Töne oft mechanisch erscheinen lässt, sodass sich die Illusion einer menschlichen Interpretation nicht einstellen mag. Offensichtlich spielt die elektropneumatische Wiedergabetechnologie, die in den historischen Klavierinstrumenten eingebaut ist, eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung der Rolleninformationen in Klang. Dieser Umstand birgt ein Dilemma, mit dem sich alle Forschungsarbeiten zu Welte-Interpretationsdokumenten bisher auseinandergesetzt haben. Bevor nämlich die Details dieser attraktiven Interpretationsdokumente analysiert werden können, müssen sowohl die Unwägbarkeiten der Wiedergabetechnologie als auch die Umstände des Aufnahmeverfahrens zumindest soweit beschreibbar sein, dass das Interpretationsdokument als Untersuchungsobjekt stabil genug bleibt. Da technologische Fragen im Fall des Reproduktionsklaviers stärker in den Vordergrund treten als bei anderen historischen Medien, scheint zusätzlich zu den Methoden der Musikforschung auch eine Expertise in technologischen Fragen gefordert zu sein, die sich die Forschenden mühsam aneignen müssen. Um dieses Dilemma zu umgehen, wurde in einer Forschungsserie der Hochschule der Künste Bern versucht, die Bereiche Wiedergabetechnologie, Notenrolle und Aufnahmeverfahren voneinander zu trennen und mit Hilfe externer Expertise zu untersuchen11. Dass dieser nahe liegende Forschungsansatz nicht schon früher umgesetzt wurde, ist kaum erklärlich ohne das Verdikt des einflussreichen amerikanischen Musikkritikers Harold C. Schonberg (1915–2003). In einer Schallplattenkritik von 1964 verglich er Aufnahmen von Welte-Mignon-Wiedergaben mit Schallplattenaufnahmen der gleichen Pianisten sowie seiner eigenen Erinnerung an deren Live-Konzerte. Dabei stellt er dem Reproduktionsklavier, das zu dieser Zeit schon lange keine wirtschaftliche Rolle mehr spielte, ein schlechtes Zeugnis aus: »Welte’s system was surely the best devised, but it shared the liabilities of the piano roll process in general. […] Technicians could, and did, raise and lower perforations to equalize a pianist’s scale, or to correct wrong notes. Many rolls were highly doctored. 10 | So beispielsweise der Phonola- und Ampico-Spezialist Hocker, vgl. J. Hocker: Faszination Player Piano, S. 133f. 11 | Zu den genannten Forschungsprojekten vgl. www.hkb-interpretation.ch/projekte. html vom 14.06.2015.

Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium And aside from actual physical tamperings, in which corrections were made, there were other handicaps, Dynamics were restricted, and a heroic pianist did not have a chance. Pedal effects were rudimentary. Fast-running passages sounded mechanical, and there was virtually no subtlety in touch. Yet there is this to be said for piano rolls: in many cases they are the only documentations we have of the performers in question. […] The question then becomes, do the piano rolls give a reasonably true facsimile of the artist’s playing? From my own experience I can say that whenever I have had a chance to compare the Welte (or any other roll) with a disc performance of the same piece by the same player, the latter has always impressed as more faithful musically even if inferior sonically (and in actual fact even the oldest piano recordings can be reproduced with surprising fidelity). […]«12

Schonbergs Kritik ist dabei nicht einseitig, denn er spricht den Welte-Dokumenten ihren interpretationsgeschichtlichen Wert nicht ab. Aber seine Kritik leidet an mangelnder Differenzierung, nicht nur bei der Einschätzung der Manipulationen bei Rollenaufnahmen, sondern auch in seiner unkritischen Sicht auf Schallaufzeichnungen. Tatsächlich unterscheidet sich die Qualität der Schallplatten als Interpretationsdokumente beträchtlich, wenn man Einspielungen vor und nach der Einführung des elektrischen Mikrofons um 1925/26 vergleicht. Das analoge Aufnahmesystem mit einem Trichter konnte dynamische und artikulatorische Details nämlich nur sehr ungenügend erfassen, sodass die Pianisten ihre gewöhnliche Spielweise während der Aufnahme stark an die Bedingungen dieser Technologie anpassen mussten13. Auch die zugehörigen Aufnahmeklaviere waren so eingestellt, dass sie einen besonders lauten und scharfen Klang produzierten. Aufgrund dieser widrigen Aufnahmebedingungen weigerten sich viele ältere und namhafte Pianisten vor der Einführung des elektrischen Mikrofons, für die Schallplatte aufzunehmen. Beim Welte-System dagegen konnten die Pianisten auf dem Aufnahmeinstru­ ment spielen wie auf jedem gewöhnlichen Konzertflügel. Auch dies erklärt, warum die Firma Welte bald nach der Markteinführung 1904 in der Lage war, ein beeindruckendes Repertoire von Interpretationen berühmter Pianisten anzubieten, das ihren historischen Quellenwert ausmacht. Zwar ist es korrekt, dass bei Schallplattenaufnahmen eine Manipula­ tion des aufgezeichneten Klangs nicht möglich ist (anders als bei der mit der Magnetbandtechnologie eingeführten Schnitttechnik oder eben der Noten­ 12 | Harold Schonberg: »From Leschetizky to Gabrilovitch«, in: High Fidelity 14 (1964), S. 6f. 13 | Vgl. Robert Philip: Performing Music in the Age of Recording, New Haven 2004, S.  26f. Zur Entwicklung der Aufnahmetechnologie vgl. George Brock-Nannestad: »The development of recording technologies«, in: Nicholas Cook et al. (Hg.), The Cambridge Companion to Recorded Music, Cambridge u. a. 2009, S. 159f.

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rollen-Technologie), aber die Manipulation fand ja bereits bei der Erzeugung des aufzuzeichnenden Klanges statt. Daher lassen frühe Schallplattenaufnahmen lediglich erahnen, wie die Einschränkungen der Aufnahmetechnik die Spielweise der Pianisten beeinflusst hat. Gerade diese Anpassung an ein Medium, die auch im Rundfunk nachweisbar ist,14 war bei einer Aufnahme für Welte-Mignon nicht notwendig. Andererseits war es theoretisch möglich, die Notenrollen als Informationsträger zu manipulieren, wie Schonberg richtig bemerkt. Als wesentlich erweist sich daher die Frage, ob und wie viel Manipulation in einer konkreten Aufnahme für Reproduktionsklavier tatsächlich stattgefunden hat. Und für Welte-Mignon lässt sich dies aus Mangel an Aufnahmedokumenten bisher kaum beantworten. Festzuhalten bleibt, dass die Schallplatte vor 1925/26 im Hinblick auf ihren historischen Wert als Interpretationsdokument keinen Vorteil hat gegenüber der Notenrolle15. Beide Medien bieten wertvolle Informationen zur Erforschung pianistischer Praxis, aber quellenkritische Ansätze müssen weiter entwickelt und differenziert werden – sowohl bei der Schallplatte als auch bei den verschiedenen europäischen und amerikanischen Fabrikaten des Reproduktionsklaviers. Wenn also die gleiche Notenrolle bei unterschiedlichen Abspielgeräten unterschiedliche Klangergebnisse hervorbringt, gerät die elektropneumatische Wiedergabetechnologie zu Recht in Verdacht: Die Präzisionsmechanik dieses technischen Wunderwerks aus dem frühen 20. Jahrhundert ist anfällig für Ermüdungen aller Art (Gummierung der Druckluftschläuche, Abdichtung und Federn der verschiedenen Bälge, Reibungsverluste der mechanischen Teile usw.). Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein auf mechanische Musikinstrumente spezialisierter Restaurator, aber das Verständnis für die Funktionsweise der elektropneumatischen Maschine ist auch für den Interpretationsforscher wesentlich. Daher haben die bisher zu diesem Thema veröffentlichten wissenschaftlichen Monografien den technologischen Fragen viel Raum gegeben16. 14 | Zum Konzept eines an das Medium angepassten »Rundfunkvortrags« aus den 1920er-Jahren vgl. Dietmar Schenk: Die Hochschule für Musik zu Berlin: Preußens Konservatorium zwischen romantischem Klassizismus und neuer Musik, 1869–1932/33, Stuttgart 2004, S. 261f. 15 | Vgl. Manuel Bärtsch: »Welte versus Audio. Das vielbesprochene Chopin-Nocturne Fis-Dur op.15/2 im intermedialen Vergleich«, in: Christoph Hänggi/Kai Köpp (Hg.), Recording the Soul. Konferenzbericht Seewen 2013, Bern 2015 (in Vorbereitung). 16 | Vgl. P. Hagmann: Das Welte-Mignon-Klavier, S. 71–148, sowie Hermann Gottschewski: Die Interpretation als Kunstwerk. Musikalische Zeitgestaltung und ihre Analyse am Beispiel von Welte-Mignon-Klavieraufnahmen aus dem Jahre 1905, L­ aaber 1996, S. 26ff.; Ursula Winkels: Ludwig van Beethovens Mondschein-Sonate auf ­Welte-Mignon-Künstlerrollen: unter dem Aspekt der Dynamik und des Tempos, Frankfurt a. M. 2002, S. 37ff., S. 84ff. und S. 133ff.

Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium

Häufig wird über diesen aufwändigen Spezialuntersuchungen aber vergessen, dass die Wiedergabetechnologie kein unabhängiges Medium ist, sondern dazu dient, ein Musikinstrument in Bewegung zu setzen. Darin unterscheidet sich das Reproduktionsklavier von den übrigen audiovisuellen Medien. Das Musikinstrument hat nämlich einen nicht unerheblichen Anteil am Ergebnis der Wiedergabe: Es bestimmt nicht nur die Dynamik und Klangfarbe, sondern auch die Qualität der Nuancierung, für die die Klaviermechanik verantwortlich ist. Gerade der Klaviermechanik kommt bei der Wiedergabe der WelteInterpretationsdokumente eine zentrale Rolle zu, denn sie ist das Inter­ face zwischen dem Resonanzkörper und dem Musiker. Wenn das Musikin­ strument genau die gleichen Klangimpulse wiedergeben soll, die bei der Aufnahme­sitzung aufgenommen und in die Notenrolle kodiert worden sind, dann muss auch das Interface auf die gleiche Weise eingerichtet sein wie bei der Auf­nahmesitzung. Hier eröffnet sich ein völlig neues Forschungsfeld, das über das Medium Reproduktionsklavier weit hinausreicht: Über das Regulieren und Intonieren der Klavierhämmer um 1900 liegen bislang keine Forschungen vor. Und selbst wenn historische Anleitungen zur Stimmung und Wartung von Klavieren herangezogen werden, enthalten sie doch keine Anweisungen, die konkret genug wären, um das handwerkliche und auf Erfahrung gegründete Intonieren der Hämmer durch subtiles Auflockern der Filze mit einer feinen Nadel nachvollziehbar zu machen. Immerhin lassen sich aber in schriftlichen Quellen genügend Anhaltspunkte dafür finden, dass die gleiche Klaviermechanik, die heute beispielsweise an einem hundertjährigen Steinway-Flügel zu finden ist, in ihrer Entstehungszeit auf andere Weise reguliert worden ist als heute (Abstand zu den Saiten, Balance der Hämmer, Intonation der Befilzung usw.). Daraus wird ersichtlich, dass die akustische Wiedergabe selbst bei perfekt restaurierten Instrumenten (sowohl in Bezug auf Welte-Technologie als auch auf Klavierbau) so viele ungeklärte Fragen aufwirft, dass sie nicht ohne Weiteres wie ein Schalldokument als Quelle herangezogen werden kann. – Die akustische Wiedergabe einer Notenrolle ist unter diesen Umständen als Forschungsobjekt ungeeignet. Unterstützt wird diese vorläufige Absage an heutige Abspielungen durch einen Quellenbestand, der Einblicke in die ursprüngliche Leistungsfähigkeit des Welte-Systems erlaubt. Es handelt sich um frühe Mikrofonaufnahmen von Welte-Instrumenten, auf die die Forschung erst kürzlich aufmerksam geworden ist. So hat der Berliner Reichsfunk beispielsweise in den Jahren 1929/30 und 1936 Aufnahmen mit einem besonders guten Welte-Steinway-Flügel gemacht, für die eigens der Erfinder Karl Bockisch aus Freiburg angereist war, um die Feineinstellung der Reproduktionsmechanik zu übernehmen 17. 17 | Vgl. Horst Wahl: Chronik der Sprechmaschine, Band 1, Düsseldorf 1986, S. 40. Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Herrn Gerhard Dangel herzlich.

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Während die für den Reichsfunk angefertigten Unikate heute offenbar alle verloren sind, wurden sechs der Rundfunkaufnahmen von 1930 zu kommerziellen Zwecken von der Schallplattenfirma Odeon veröffentlicht und sind heute auf digitalen Tonträgern wieder zugänglich 18. Bei diesen Aufnahmen ist trotz der frühen Mikrofontechnik mit den typischen Nebengeräuschen eine große Bandbreite von Anschlagsnuancen feststellbar, die im Vergleich mit heute produzierten Welte-Überspielungen einen Eindruck davon vermitteln, wa­r um Zeitgenossen in den Welte-Notenrollen das »getreue Abbild des Künstlerspiels« wiedererkannten 19. Außer in Berlin sind auch am Firmensitz in Freiburg Mikrofonaufnahmen von Welte-Interpretationsdokumenten gemacht worden. Nach dem Aufnahmekatalog der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft hat das Studio Frankfurt am Main am 18.06.1937 acht Aufnahmen auf einem Freiburger Flügel produziert (Katalognummer 6909), von denen mindestens ein Teil einer Aufnahme in der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv erhalten ist 20. Diese Aufnahmen sind vor allem wegen der Analyse der Leistungsfähigkeit originaler Welte-Instrumente, aber auch als akustische Interpretationsdokumente von großer Bedeutung21. Sie zeigen, dass die Regulierung von Pneumatik und Klaviermechanik entscheidend dafür verantwortlich ist, dass ein Interpretationsdokument auf dem gleichen künstlerischen Niveau wiedergegeben werden kann, auf dem es eingespielt worden ist. Damit sind zwar einerseits die Ansprüche an eine forschungsgestützte Restaurierung der Welte-Instrumente beträchtlich gestiegen, andererseits wird nachvollziehbar, warum es für die Forschung sinnvoll ist, zwischen der akustischen Wiedergabe und dem Interpretationsdokument als Informationsträger zu unterscheiden.

III. I nterpre tationsdokument und A ufnahme verfahren Die wesentliche technische Neuerung der Reproduktionsklaviere gegenüber den älteren Kunstspiel- oder Tretklavieren war der Nuancierungsapparat, mit dem die differenzierte Anschlagskultur der eingespielten Interpretationen 18 | Piano Rolls & Discs – Selected comparison, Symposium records 1211 (2004). 19 | Vgl. Edoardo Torbianelli/Sebastian Bausch: »Welte-Künstlerrollen als Interpreta­ tionsquellen?«, in: Christoph Hänggi/Kai Köpp (Hg.), Recording the Soul. Konferenzbericht Seewen 2013, Bern 2015 (in Vorbereitung). 20 | Vgl. Gerhard Dangel: »Archäologie eines Klangs«, in: Christoph Hänggi/Kai Köpp (Hg.), Recording the Soul. Konferenzbericht Seewen 2013, Bern 2015 (in Vorbereitung). 21 | Ein wichtiges Desiderat der Interpretationsforschung ist die Suche nach zeit­ genössischen Mikrofonaufnahmen von Notenrollen der Reproduktionsklaviere H ­ upfeld DEA und Philipps DUCA.

Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium

selbsttätig reproduziert werden konnte. Anstatt aber das ganze Dynamikspektrum in eine Vielzahl von Stufen zu unterteilen, wählten die Erfinder des Welte-Mignon eine intelligente Alternative: Die Dynamik wurde nicht absolut, sondern relativ unterteilt, das heißt, ein System aus schnellen und langsamen Veränderungen der relativen Lautstärke mit einer zwischengeschalteten »Mezzoforte«-Stufe konnte alle dynamischen Relationen zwischen zwei Tönen wiedergeben. Obwohl sich diese Befehle bei dem älteren System auf 100 Spuren (aufgrund der Farbe des Rollenpapiers »Welte rot« genannt) von dem jüngeren mit 98 Spuren (»Welte grün«) geringfügig unterschied,22 blieb dieses System eine wichtige Errungenschaft Weltes, die von den meisten Konkurrenzprodukten in ähnlicher Form übernommen wurde23. Die Verteilung dieser Befehle auf die Löcher des Gleitblocks ist aus der Wartungsbroschüre der US-amerikanischen Welte-Mignon-Lizenzfirma aus dem Jahr 1924 zu erkennen:

Abb. 3: Verteilung der Dynamikbefehle auf einem Gleitblock für Welte-Mignon (Licensee). Quelle: How to test and regulate the Welte-Mignon (Licensee) reproducing action, New York 1924, S. 4.

Dabei bewirkt der Befehl »Crescendo on« (jeweils viertes Loch diskantseitig bzw. bassseitig) ein langsames Wachsen der Lautstärke, »Crescendo off« dagegen ein langsames Abnehmen, also ein langsames decrescendo. Insofern weicht diese Bezeichnung vom musikalischen Gebrauch ab und wirkt für Musiker gelegentlich irreführend 24. Ebenso verhält es sich mit der von der Firma gewählten Bezeichnung für schnelles crescendo, die »Forzando on« lautet usw. Der Mezzoforte-Befehl bewirkt, dass ein Balg die dynamische Bandbreite auf die Hälfte begrenzt (entweder zwischen pp und mf oder mf und ff ) und so die 22 | Zur detaillierten Beschreibung der Nuancierung vgl. P. Hagmann: Das Welte-­ Mignon-Klavier, S. 95ff. 23 | Vgl. J. Hocker: Faszination Player Piano, S. 181f. 24 | Offenbar führte dies zu Hockers irriger Meinung, Welte habe ausschließlich crescendo-Befehle verwendet, vgl. ebd., S. 181.

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Differenzierung und Reaktionsgeschwindigkeit innerhalb eines dynamischen Teilbereichs erhöht. Verbunden mit diesen Informationen sind die Befehle für das linke Pedal oder Verschiebe-Pedal (»Hammer rail on-off«) und die Aufhebung der Dämpfung durch das rechte Pedal (»Loud pedal on-off«). Durch die Kombination dieser Befehle kann jede gewünschte Anschlagsdynamik für jeden Einzelton auf der Notenrolle kodiert werden25. Wie aber wurde die Information generiert, bevor sie in Nuancierungsbefehle übersetzt werden konnte? Zur Aufzeichnung der Interpretationen diente der Firma Welte ein elektropneumatischer Aufnahmeapparat, der nicht nur die rhythmische Position und Dauer jedes Einzeltons durch Tintenspuren auf eine sich abspulende Papierrolle aufzeichnete. Auch die dynamischen Nuancen wurden nach Angaben der Firma Welte für jeden Einzelton im Aufnahmeprozess simultan aufgezeichnet – eine Technologie, die Welte niemals als Patent anmeldete oder auf andere Weise öffentlich machte26. Auch die direkten Konkurrenten zum Welte-Mignon-Reproduktionsklavier verfügten angeblich bereits über Systeme zur Einzelton-Dynamikerfassung, zu denen entsprechende Patente ebenfalls fehlen: das DEA der Leipziger Firma Hupfeld ab 1907 und das DUCA der Frankfurter Firma Philipps ab 190827. Daher sind auch die handgespielten »Künstlerrollen« dieser Firmen als historische Interpretationsdokumente wertvoll, zumal sich die Auswahl von Repertoire und Pianisten mit dem Welte-Katalog häufig überschneidet und methodisch interessante Vergleichsmöglichkeiten eröffnet. Auch hier haben allerdings bislang die Probleme mit der Wiedergabetechnologie sowie Fragen des Aufnahmeprozesses den Blick auf den Wert dieser Notenrollen verstellt. In der erwähnten Wartungsbroschüre von 1924 legt die amerikanische Welte-Mignon-Lizenzfirma das von ihr angewandte Verfahren zur Erfassung 25 | Zur ausführlichen Beschreibung des originalen Welte-Nuancierungsapparates vgl. P. Hagmann: Das Welte-Mignon-Klavier, S. 97ff. 26 | Vgl. Ludwig Peetz: »Das Welte-Mignon-T100-Aufnahmeverfahren: Aktuelle Forschungsergebnisse zur Dynamikerfassung«, in: Das Mechanische Musikinstrument April (2004), S. 7–24, zur Frage der Patentierung vgl. S. 13. Einige Missverständnisse im Text von Peetz werden dankenswerterweise korrigiert von Rex Lawson: »On The Right Track. The Recording of Dynamics for the Reproducing Piano (Part One)«, in: The Pianola Journal 20 (2009), S. 3–58, insbesondere S. 31ff., zu Welte S. 46ff. 27 | L. Peetz: »Das Welte-Mignon-T100-Aufnahmeverfahren«, S. 11. Rex Lawson kann glaubhaft machen, dass das von Philips DUCA verwendete Aufnahmeverfahren demjenigen von Welte sehr ähnlich war, vgl. Rex Lawson: »On The Right Track (Part Three)«, in: The Pianola Journal 22 (2012), S. 10–16, insbesondere S. 12ff. Bei der amerikanischen Firma Aeolian Company wurde die Dynamik dagegen durch einen Mitarbeiter protokolliert und nachträglich zur Aufnahme der Tonhöhen und Tondauern hinzugefügt, vgl. J. ­H ocker: Faszination Player Piano, S. 136–143.

Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium

der Einzeltondynamik offen28. Es handelt sich um ein relativ primitives seismographisches Verfahren, wie es technisch bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt war und keiner Patentierung bedurfte29. Die Abbildung aus der Broschüre zeigt den Ausschnitt einer Aufnahmerolle, die hier als »film of the music camera« bezeichnet wird (siehe Abbildung 4). Deutlich sind an den Rändern dieser Aufnahmerolle die seismographischen Ausschläge zu erkennen, ebenso die Linien, die den Gebrauch des rechten und linken Pedals dokumentieren usw. Damit will die Firma belegen, dass ihre Aufnahmen nicht lediglich eine Annäherung an das Spiel des Künstlers sind, sondern »an exact reproduction of his playing«. Selbstverständlich mussten diese seismographischen Aufzeichnungen jedoch von einem Editor in die oben genannten Parameter des Nuancierungssystems übersetzt werden, bevor die Aufnahme reproduziert werden konnte. Nach Angaben der Firma Welte allerdings wurde dieses Verfahren nicht für die Welte-Mignon-Aufnahmen angewandt. Ein anderes Verfahren zur Dynamikerfassung entwickelte die American Piano Company für ihr Reproduktionsklavier »Ampico«. Dabei wurde die Zeit gemessen, die zum Niederdrücken einer Taste notwendig war, denn die Anschlaggeschwindigkeit ist der entscheidende Parameter bei der Messung der Klavierdynamik. Dieses Verfahren war allerdings erst 1926 weit genug entwickelt, um für die Aufnahmen eingesetzt zu werden. Bis dahin arbeitete die Firma  – wie viele andere auch  – mit musikalischen Editoren, die alle Details der Dynamik während einer Aufnahme von Hand protokollierten, um sie nachträglich der Aufnahme hinzuzufügen. Offenbar um in einem gesättigten Markt Aufmerksamkeit für ihre Produkte zu erhalten, veröffentlichte die American Piano Company im November 1927 einen ausführlich mit Foto­grafien illustrierten Bericht über ihr Verfahren zur Einzelton-Dynamik­ erfassung in der Zeitschrift Scientific American30. Auch dieses technisch aufwändige Verfahren, das angeblich mit einer Genauigkeit von 1/1000 Sekunde arbeitete, unterschied sich von dem bereits 1904 etablierten, aber geheimen Aufnahmeverfahren der Firma Welte.

28 | How to test and regulate the Welte-Mignon (Licensee) reproducing action, S. 23. 29 | Zu den seismographischen Versuchen von Binet und Courtier vor 1896 vgl. ­Wolfgang Auhagen: »›In search of beauty in music‹ – Zur Geschichte der musik­p sycho­ logischen Interpretationsforschung«, in: Heinz von Loesch/Stefan Weinzierl (Hg.), Gemes­sene Interpretation. Computergestützte Aufführungsanalyse im Kreuzverhör der Diszi­p linen, Mainz u. a. 2011, S. 15f., sowie ausführlicher R. Lawson: »On The Right Track. (Part One)«, S. 26ff. Der Aufsatz von Binet und Courtier war in der Freiburger Universitätsbibliothek verfügbar und könnte von Karl Bockisch eingesehen worden sein, vgl. L. Peetz: »Das Welte-Mignon-T100-Aufnahmeverfahren«, S. 12. 30 | Ausführliche Beschreibung in J. Hocker: Faszination Player Piano, S. 136ff.

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Abb. 4: Abbildung einer Aufnahmerolle für Welte-Mignon (Licensee) mit Erläuterungen von 1924. Quelle: How to test and regulate the Welte-Mignon (Licensee) reproducing action, S. 23.

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Alle bisherigen wissenschaftlichen Untersuchungen zu Welte-Reproduk­ tionsklavieren, die sich notgedrungen mit der Frage des Aufnahmeprozesses auseinander gesetzt haben, mussten mit der Erkenntnis leben, dass keine Aufnahmedokumente von Klavier-Einspielungen erhalten geblieben sind, die wie im Fall von Welte-Mignon (Licensee) das Verfahren offenlegen. Allerdings hat Hagmann bereits in seiner Dissertation darauf hingewiesen, dass solche Aufnahmerollen für die Welte-Philharmonie-Orgel im Schweizer Museum für Musikautomaten Seewen existieren und dass genaue Untersuchungen dieses Materials eventuell Rückschlüsse auf die Frage der Klavieraufnahmen zulassen könnten31. Nach der vollständigen Digitalisierung der Seewener Orgel­rollen im Zusammenhang mit der Welte-Forschungsserie an der Hochschule der Künste Bern konnten 1094 Rollen für Welte-Philharmonie-Orgel als Aufnahmerollen identifiziert werden, dazu weitere zwölf Orgelrollen von Max Reger, die in den 1970er-Jahren aus diesem Bestand an das Reger-Institut (heute Karls­r uhe) abgegeben worden sind. Diese Orgelrollen bestehen in der Regel aus gelblich-weißem Papier, das wie die frühesten Verkaufsrollen von »Welte rot« mit feinen schwarzen oder roten Linien bedruckt ist, und enthalten zahlreiche Bearbeitungsspuren wie beispielsweise Überklebungen. Da sie außerdem verschiedene Vermerke und Stempel der Welte-Mitarbeiter am Papierbeginn aufweisen, können sie zweifelsfrei dem internen Firmenarchiv zugeordnet werden. Parallel dazu wurde der einzige erhaltene Aufnahmeapparat der Firma Welte, der sich heute als Torso im Seewener Museum befindet, erstmals eingehend untersucht und unter konservatorischen Gesichtspunkten kontrolliert in Betrieb gesetzt 32 . Diese Arbeitsschritte erlaubten es, den von der Firma Welte geheim gehaltenen Aufnahmeprozess erstmals auf wissenschaftlicher Basis zu beschreiben und die Motivation für die zahlreichen Bearbeitungsspuren an den Aufnahmerollen zu eruieren. Das Besondere an den Aufnahmerollen für Welte-Philharmonie-Orgel ist, dass alle Stadien der Entstehung von der Aufzeichnung bis zur Vervielfältigungsvorlage verfolgt werden können: Die Aufzeichnung des Aufnahmeapparates ist durch Tintenspuren dokumentiert, die selbst auf den Brücken zwischen der Perforation noch sichtbar sind (siehe Abbildung 5). Die darauf folgende Hand-Stanzung wurde vom Editor durch Orientierungslinien und Pfeilspitzen mit Bleistift vorbereitet, deren Zwecke leicht rekonstruierbar sind. Die Hand-Stanzung entspricht dem Zustand beim ersten Abhören, der durch Überklebungen und Nachstanzungen editiert wird. Diese Editionsmaßnah31 | Vgl. P. Hagmann: Das Welte-Mignon-Klavier, S. 70, und H. Gottschewski: Die Interpretation als Kunstwerk, S. 41. 32 | Vgl. Hans-W. Schmitz: »Der Aufnahmeapparat für die Welte-Philharmonie-Orgel­ rollen. Möglichkeiten und Grenzen seiner Technik«, in: Christoph Hänggi/Kai Köpp (Hg.), Recording the Soul. Konferenzbericht Seewen 2013, Bern 2015 (in Vorbereitung).

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Abb. 5: Aufnahmerolle Welte-Philharmonie Nr. 753: Tintenspuren, Orientierungs­ marken mit Bleistift, Korrekturen der Hand-Stanzung durch rote Überklebungen und Nachstanzung (ovale Markierung). Quelle: Museum für Musikautomaten Seewen, Solothurn. Ausschnitt und Markierungen: Autor.

men lassen sich eindeutig lokalisieren. Aus ihrem Zusammenhang kann in den meisten Fällen rekonstruiert werden, welches Ziel mit der jeweiligen Maßnahme verfolgt wurde. Immer wieder ist an den Korrekturen erkennbar, dass der Aufnahmeapparat nicht ganz störungsfrei arbeitete (unterbrochener Tintenfluss, blockierte Aufhebung der Tintenschreiber). Nachweisbar ist die gelegentliche Verbesserung auffälliger Spielfehler, aber dies betrifft nur etwa 2 Prozent der identifizierten Editionsmaßnahmen. In den allermeisten Fällen wurden Pedaltöne künstlich vorgezogen, um die Funktion der sich überschneidenden Manualund Pedalregister (Multiplex-System) bei der Wiedergabe auf der Philharmonie-Orgel zu gewährleisten. Auch wenn eine Aufnahme für die Wiedergabe auf einem größer dimensionierten Instrument angepasst wurde, ist dies anhand von Editionsspuren nachweisbar. Damit kann die Entstehung einer verkaufsfertigen »Künstlerrolle« überraschend detailliert rekonstruiert werden. Die firmeninternen Welte-Aufnahmerollen zeigen nicht nur die unmittelbaren Impulse des Aufnahmegeräts, aus denen die tatsächlich eingespielte Interpretation ablesbar ist, sie können geradezu als Protokoll des Produktionsprozesses bis zur fertigen Kopiervorlage gelesen werden.

Das Reproduktionsklavier: Zwischen Musikinstrument und Medium

Durch diese protokollartige Quellenlage sind sogar Einblicke in die Motivation der Interpreten möglich, die bestimmte Änderungen veranlasst haben. Damit ist ein Weg eröffnet, auch intentionale Aspekte der Interpreta­ tion – nämlich als nachträgliche Anpassung an ein nicht erreichtes Ideal – in historischen Dokumenten zu belegen. Zudem gelang der Nachweis, dass im Aufnahmeprozess sowohl Orgeldynamik als auch Registrierungswechsel tatsächlich simultan aufgezeichnet worden sind33. Zusammen mit der geringen Zahl von Eingriffen in die musikalische Substanz (vereinzelte Fehlerkorrekturen) liefert dieser Nachweis starke Indizien dafür, dass das »getreue Abbild des Künstlerspiels«  – trotz der bekannten Manipulationen und technologischen Unzulänglichkeiten  – zum Kern des Geschäftsmodells der Firma Welte gehörte34. In dieser Hinsicht sind die anhand der Orgel-Aufnahmerollen gewonnenen Erkenntnisse auf das Repertoire der Welte-Klavierrollen übertragbar. Die jüngsten quellenkritischen Studien bieten daher eine solide Grundlage für künftige Forschungen an Welte-Interpretationsdokumenten und können als Ausgangspunkt für die Erschließung weiterer Rollenbestände für Reproduktionsklaviere dienen.

33 | Vgl. Dominik Hennig: »Dynamik auf der Philharmonie-Orgel. Einblicke in den Aufnahme- und Editionsprozess der Firma Welte«, in: Christoph Hänggi/Kai Köpp (Hg.), Recording the Soul. Konferenzbericht Seewen 2013, Bern 2015 (in Vorbereitung). 34  |  Vgl. ebenso P. Hagmann: Das Welte-Mignon-Klavier, S. 177–196, und H. ­Gott­s chewski: Die Interpretation als Kunstwerk, S. 158f.

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Zeitarbeit: Das Zusammenspiel von Menschen, Maschinen und Musik in der Entwicklung von Tonfilmtechniken Tobias Plebuch

Um die Jahreswende 1894/95, drei Jahrzehnte vor der Zeit, die gewöhnlich als Beginn der Tonfilmära gilt, unternahm William Dickson ein spielerisches Experiment mit zwei Maschinen, das Filmgeschichte schrieb (Abbildung. 1). In E ­ disons Studio in New Jersey stellte er sich vor den Aufnahmetrichter eines Phonographen und spielte auf seiner Geige eine Barcarolle aus der damals sehr populären Operette Les Cloches de Corneville von Robert Planquette, während zwei seiner Kollegen dazu tanzten und ein Kinetograph die Szene filmte. Die Aufnahme gilt heute als der früheste erhaltene Tonfilm oder genauer: als Prototyp eines Tonfilms1. Verstehen wir darunter nämlich »das Produkt einer Apparatur, die Bild und Ton so vereinigt, dass beim Publikum der Eindruck 100 %-iger Synchronität entsteht« (Harald Jossé),2 so wurde aus Dicksons Experiment erst ein Jahrhundert später ein Tonfilm. 1998 synchronisierte W ­ alter Murch den Filmstreifen mit einem passenden Teil der Wachswalze. Ihre Verbindung mit dem getrennt überlieferten Film wurde schon 1964 vermutet. Doch nicht nur die Restaurierung der zerbrochenen Walze bereitete Probleme, auch die Synchronisierung war alles andere als einfach. Dauer und Tempo der Rekonstruktion von Murch sind umstritten. Wenden wir uns zunächst zwei Schlüsselbegriffen in Jossés Definition zu – Synchronizität und Apparatur –, da sie in der Tat zentrale Bedeutung in der Entwicklung des Tonfilms und deswegen auch in den folgenden Überle1 | Frühere Versuche gleichzeitiger Bild- und Tonaufnahmen sind dokumentiert, aber nicht erhalten. 2 | Harald Jossé: Die Entstehung des Tonfilms. Ein Beitrag zu einer faktenorientierten Filmgeschichtsschreibung, München/Freiburg i. Br. 1984, S. 13.

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Abb. 1: Dickson, Tonfilm-Experiment. Quelle: Library of Congress, Washington, D. C.

gungen haben, aber durchaus nicht so simpel sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen mögen. 1) Die Synchronizität von Bild und Ton scheint zunächst ein triviales Kriterium von Tonfilm zu sein, auch wenn sie technisch nicht leicht zu realisieren ist. Vertieft man sich aber in ästhetische und technische Details, so drängt sich die Frage auf, was Synchronizität von Bild bzw. Aktion und Musik eigentlich bedeutet. Dass sie faktisch oder nur subjektiv empfunden »100 %-ig« sein müsste, ist nämlich eine Fehleinschätzung, die einer reduktionistischen Idee von Technik als Apparate-Technik entspringt. Zwar ist Synchronizität durchaus ein Problem, mit dem sich Musiker in den Stummfilmjahren auseinandersetzten. Das Allgemeine Handbuch der Filmmusik (1927) spricht ausdrücklich von einer »Technik der Synchronisierung«, wenn live gespielte Musik im Kino eine szenische im Film präzise simulieren muss, weist aber auch darauf hin, dass »abgesehen von gewissen Sondereffekten« eine präzise Orientierung der Musik am Bildschnitt nicht nötig ist 3. Auch Otto Springefeld, der an der Entwicklung mehrerer Synchronisierungsverfahren von Stummfilmmusik betei3 | Hans Erdmann/Giuseppe Becce/Ludwig Brav: Allgemeines Handbuch der Film­ musik, Band 1, Berlin/Leipzig 1927, S. 15 und S. 53.

Zeitarbeit: Das Zusammenspiel von Menschen, Maschinen und Musik

ligt war, wies 1921 darauf hin, dass »ein genauer Synchronismus zwischen musikalischem und szenischem Vorgang nicht erforderlich ist«4. Er schlug darum unter anderem vor, für jede Szene ein kleines »Leitbild« in die Partitur oder Direktionsstimme einzukleben, dem ein gleiches Bild in einem Kasten am Fuße der projizierten Szene entsprach. Darüber senkte sich allmählich ein Vorhang herab, an dem der Kapellmeister den kommenden Szenen- und Musikwechsel abschätzen konnte. Eine nur ungefähre zeitliche Koordinierung der komponierten, improvisierten oder kompilierten Filmmusik mit dem Bild ist üblich und Bedingung ihrer Aussagekraft. Streicher können zum Kuss schwelgen, ihn vorzeitig anbahnen oder nachzeitig auf ihn reagieren. Rufen wir uns eine Szene mit koordinierter tonmalerischer Musik in Erinnerung: die Duschszene aus Psycho. Die Streicherakkorde korrespondieren mit den Stichen des Mörders, aber sie sind nicht punktgenau synchronisiert, sondern folgen strikt dem musikalischen Metrum. Niemand würde Bernard Herrmann Ungenauigkeit vorwerfen wollen. Eine exakte Synchronisierung mit den Stichen wäre ein Stilbruch, denn die ganze Partitur zu Psycho ist charakterisiert durch strenges Gleichmaß. Stäche dagegen der Mörder im Takt zu, würde die Szene albern wirken. Man kann in der Motorik von Herrmanns Musik auch seine Deutung des Films erkennen: Sie wirkt absichtlich zwanghaft, nicht nur in der Duschszene. Dass die stilisierte Gestik der Musik und die sichtbare der Aktionen divergieren, ist kein ästhetisches Manko. Filmmusik hat also, obwohl sie funktional ist, Freiheiten im Spiel mit der Projektionsmaschine. Genaue Übereinstimmung von Bild und Ton ist zweckmäßig bei Nahaufnahmen mit Sprache und Gesang, doch wir haben uns sogar an die Inkongruenz von Lippenbewegungen und Rede in Trickfilmen und synchronisierten fremdsprachigen Spielfilmen gewöhnt. Das Bedürfnis nach Synchronizität ist also eine Konvention5. Mitte der 1920er-Jahre bestand außerdem ein breiter Konsens, dass im narrativen Stummfilm der Dialog keine wesentliche, das Drama vorantreibende Bedeutung habe. Synchronsprecher hinter oder neben der Leinwand setzten sich nicht durch, und Puristen wie Murnau verwendeten Zwischentitel mit Dialog sehr sparsam. Die frühen Ton4 | D. R. P. 375921. 5 | Mit diesem Argument bezweifelt auch Wedel das Erfordernis »100%iger Synchronität«, an dem Jossé den Begriff Tonfilm festmachte (Michael Wedel: »Vom Synchronismus zur Synchronisation. Carl Robert Blum und der frühe Tonfilm«, in: Joachim Polzer (Hg.), Aufstieg und Untergang des Tonfilms, Berlin u. a. 2002, S. 97–112, hier S. 98). Zu ergänzen ist, dass das skandinavische und niederländische Publikum Originalfassungen mit Untertiteln vorzieht. In Russland und Polen wird der übersetzte Dialog ausländischer Filme dagegen oft zusätzlich auf die Tonspur gesprochen, mitunter durch einen einzigen Sprecher, sodass Original und Übersetzung gleichzeitig zu hören sind.

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filme enthalten Musik und Geräusche, zeigen aber den Dialog größtenteils auf Zwischentiteln6. Ihren ästhetischen und ökonomischen Mehrwert hatte die Begleitmusik zu dieser Zeit längst unter Beweis gestellt: Sie erklang in der Regel ständig. (Stille galt als Ausdrucksmittel, etwa in Todesszenen.) Noch in den frühen 1930er-Jahren war gesprochener Dialog verzichtbar, als Kinos Stummfilme mit Musik von Schallplatten zeigten. Englische und deutsche Autoren verglichen deswegen den Film oft mit der Pantomime. G. O. Stindt brachte Filmdramaturgie 1924 auf die lapidare Formel: »Handlung (Pantomime + Rhythmus) = Wirkungseinheit« 7. Genaue Synchronizität der Musik wurde angestrebt bei repetitiven Bildrhythmen von einiger Dauer, z. B. in Tanz-, Marsch- oder Maschinenszenen. Dass viele Stummfilme und die Tonfilme der 1930er-Jahre eine Vorliebe für derartige Szenen zeigen, ist Ausdruck purer Freude an rhythmisch bewegten Bildern und ihrer musikalischen Begleitung – einer sinnlichen Lust, die zum Ausdruck kommt in Metropolis (1925), Panzerkreuzer Potemkin (1925), B ­ erlin – Die Sinfonie der Großstadt (1927), den abstrakten Filmen der 1920er-­Jahre (»sichtbare Musik«), Modern Times (1936) und frühen Tonfilmmusicals mit langen Stepptanz-Szenen und kaleidoskopischen Choreographien. Sie schwelgen in »tönend bewegten Formen« wie Kinder, die nicht genug bekommen können von Karussells, Schaukeln und Trampolins. »Mickey Mousing«, also die exakte Synchronisierung musikalischer Ereignisse mit Gesten oder die tonmalerische Repräsentation von Szenengeräuschen, ist charakteristisch für Cartoon und Slapstick – ein Stilmittel der Komik (Abbildung 2). Fast alle Effekte, die C. Roy Carter 1926 in einem Handbuch für Kino-­ Organisten erklärt, sind solche musikalischen Späße8. Sie müssen genau platziert werden, um komische Wirkung zu erzielen, denn sie beruhen nicht nur auf dem halbmusikalischen Klang an sich, sondern vor allem auf der Gleichzeitigkeit der Tonmalerei mit dem Bild. Deswegen wirkt Musik, die eng »am Bild entlang komponiert« ist, im melodramatischen Film manchmal unfreiwillig komisch, ostentativ, ja kleinlich-obsessiv. Etwas freundlicher ausgedrückt: Max 6 | Der letzte Mann (Murnau, 1924) verzichtet ganz auf Dialogtitel und kommt mit einem Motto zu Beginn und einem ironischen Kommentar des »Autors« vor dem Happy End auf Tafeln aus. In Sunrise (Murnau, 1927) erklingen die Originalmusik von Hugo Riesenfeld und einige Szenengeräusche, während Dialog und Erzählung auf wenigen Zwischentiteln erscheinen. Ausschließlich Musik und Geräusche erklingen in den ersten drei Vitaphone-Filmen Don Juan (1926), Old San Francisco (1928), The First Auto (1927). Auch The Jazz Singer (1927) mit den ersten gesprochenen Worten im Tonfilm (»Wait a minute! You ain’t heard nothin’ yet«) enthält noch viele Dialogtafeln. 7 | Georg Otto Stindt: Das Lichtspiel als Kunstform, Bremerhaven 1924, S. 25. 8 | C. Roy Carter: Theatre Organist’s Secrets, Los Angeles 1926.

Zeitarbeit: Das Zusammenspiel von Menschen, Maschinen und Musik

Steiners Vorliebe für exakt synchronisierte tonmalerische Effekte entsprang wohl auch seiner Spielfreude an den jüngst erlangten Möglichkeiten des Tonfilms. Kunst hat sich immer schon von technischer Funktionalität beflügeln lassen.

Abb. 2: »Pig Grunt«. Man spielt den Effekt wie mit verklebten Fingern in rollender Bewegung und registriert dazu Flöte oder Vox Humana. Auch einige amerikanische Kino-Orchestrien verfügten über ein »Schweinegrunzen«. Carter empfiehlt ihn »only for close-ups«, und da Nahaufnahmen von Schweinen im Stummfilm nicht oft vorkommen, wurde der Effekt wohl für bestimmte Charakter­t ypen in Komödien eingesetzt. Quelle: C. R. Carter: Theatre Organist’s Secrets, S. 19.

2) Das zweite Grundproblem ergibt sich, wenn wir Tonfilmtechnik mit Apparaturen von Bild- und Tonaufzeichnung gleichsetzen. Ist Dicksons Geige kein technisches Gerät? Beruht nicht sein Vortrag auf Spieltechnik und Planquettes Musik auf Kompositionstechnik? Die meisten Menschen assoziieren mit dem Wort »Technik« vor allem Apparate und Maschinen. Die Warenwerbung verstärkt ein Bild von Technik als etwas, das man sich anschafft und bedient (»Vorsprung durch Technik«, »Soo! muss Technik«). Technik anwenden heißt: Knöpfe drücken. Der Un- oder Halbsinn dieser naiven, verdinglichten Vorstellung ist leicht einzusehen im Hinblick auf Musik. Wir kennen Satztechnik, Fingertechnik, Übetechnik, Atemtechnik, Zwölftontechnik, und im Folgenden will ich darlegen, dass in der Kinomusik der 1920er-Jahre auch Dirigiertechnik und Bearbeitungstechnik besondere Bedeutung erlangten. Allerdings zögern Musiker, einen Konzertflügel oder einen Geigenbogen ein Stück Technik zu nennen. In der Theorie Günter Ropohls umfasst ein erweiterter, philosophisch reflektierter Technikbegriff sowohl »nutzenorientierte, künstliche, gegenständliche« Sachsysteme (also Artefakte wie Grammophone oder Geigen) als auch Handlungszusammenhänge, in denen sie entstehen und verwendet werden9. Dieser Ansatz leuchtet insbesondere im Hinblick auf den Tonfilm ein, denn sämtliche Probleme und Lösungen seiner Entwicklungsgeschichte sind eingebettet in Zusammenhänge menschlichen Handelns wie z. B. die Musikpraxis im Stummfilmkino. Die sachtechnischen und handlungstechnischen Aspekte der Kinomusik stehen außerdem in engem Zusammenhang mit sozialen, ökonomischen und ästhetischen Entwicklungen: dem Auf bau der Filmindus­ trie, der Professionalisierung der Kinomusik – Kinokapellmeister, ‑organist und ‑orchestermusiker werden spezialisierte Berufe –, der Entstehung einer 9 | Günter Ropohl: Technologische Aufklärung. Beiträge zur Technikphilosophie, Frankfurt a. M. ²1999, S. 18.

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Filmmusikkritik und ‑theorie, der Etablierung des Spielfilms als Kunst und als Massenunterhaltung sowie der Entwicklung spezifischer Erzähltechniken (Spielfilmdramaturgie). Schon im Altgriechischen bezeichnet τέχνη (techne) sowohl das Werkzeug als auch das Handwerk, das sich seiner bedient – Webstuhl und Webkunst der Göttin Athene10. So ist auch die Technik der Kinomusik, ob live musiziert oder mechanisch reproduziert, seit ihren Anfängen ein Spiel mit Maschinen, das beides umfasst: artefacta und ars. In diesem Sinne ist der Tonfilm so alt wie der Film11. Ich will daher im Anschluss an Ropohl einige Aspekte einer so verstandenen Tonfilmgeschichte bis um 1930 als eine Entwicklung apparativer und praktischer Techniken in stetiger und enger Wechselwirkung beschreiben, denn der Tonfilm wurde nicht in voller Rüstung geboren wie Pallas Athene. Ein paar Beispiele mögen vorab die Vielfalt und den Wandel der Apparaturen, wie auch Vielfalt und Wandel ihres Gebrauchs schlaglichtartig illustrieren: Edisons Kinetophon (1895) zeigte kurze Filme mit Musik, aber keine synchron aufgenommenen Tonfilme (wie das Experiment Dicksons), sondern Stummfilme, zu denen man Walzenaufnahmen wie in einer Jukebox auswählen konnte, d. h. selbst einen »Tonfilm« aus Kinetoskop- und Grammophonaufnahme kombinierte. In den Anfangsjahren des Kinos spielten oft automatische Instrumente Hintergrundmusik ohne Bezug zu den gezeigten Filmen. Bis Ende der 1920er-Jahre wurden immer größere und komplexere Kino­ musikmaschinen konstruiert, »because the variety increases constantly« 12 . Auf den späten Kino-Orchestrien steuerten Spezialisten eine individuell auf den Film abgestimmte Begleitung. Bereits um die Jahrhundertwende begann man, Grammophon und Projektor mechanisch, bald auch elektrisch zu koppeln. Auch die ersten (langen) Tonfilme, Don Juan (1926) und The Jazz Singer (1927), verwendeten Schallplatten. Aber noch Ende der 1920er-Jahre konkurrierten 18 verschiedene Tonfilmtechniken mit einer kaum überschaubaren Vielfalt von Apparaten13. In manchen Häusern begleitete ein musikalisch-technisch versierter »Phono-Mixer« abendfüllende Spielfilme, indem er eine individuell zugeschnittene Musik- und Geräuschbegleitung aus vielen Platten und gezielt herausgegriffenen Passagen auf großen Apparaten mit mehreren Tellern teils 10 | Vgl. Art. »Technik«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.), His­t orisches Wörterbuch der Philosophie, Band 10, Basel 1998, Sp. 940–952. 11 | Zur »Vorgeschichte« des Tonfilms wären also nicht Kinetophon oder Biophon, sondern Panoramen, Dioramen, Diashows usw. mit Musikbegleitung zu rechnen, die Anno Mungen beschrieb in: BilderMusik: Panoramen, Tableaux vivants und Lichtbilder als multimediale Darstellungsformen in Theater- und Musikaufführungen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Remscheid 2006. 12 | Werbeslogan der Firma Seeburg. 13 | Vgl. H. Jossé: Die Entstehung des Tonfilms.

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nacheinander, teils gleichzeitig kombinierte. Die Apparate wurden also zunehmend flexibler, interaktiver. Die Live-Musik im Kino entwickelte sich dagegen, auf eine kurze Formel gebracht, quasi spiegelbildlich, indem sie ebenfalls immer genauer dem Film angepasst, dabei aber in zunehmendem Grade apparativ gesteuert wurde. Diese weit verzweigten Entwicklungsgänge in Umrissen nachzuzeichnen und historisch einzuordnen, ist das Ziel der folgenden Überlegungen. Auf die Komposition originaler Filmmusik gehe ich nur beiläufig ein, weil sie nur in sehr wenigen Vorführungen gespielt wurde, nur selten publiziert wurde und daher ihre historische Signifikanz leicht überschätzt wird. Auch beruht sie auf ganz eigenen Arbeitsvoraussetzungen, die eine besondere Betrachtung erfordern.

M usizieren mit A ppar aten Automatische Klaviere und Orchestrien spielten in Ladenkinos um die Jahrhundertwende Musik, die das Publikum unterhielt und anlockte, manchmal gar im Dauerbetrieb von Endlosrollen oder automatischem Rücklauf. Im Jahre 1911 verfügten über 80 % der Ladenkinos (Nickelodeons) in San Francisco über »mechanical music« und weitere 15 % zusätzlich über instrumentale Musikbegleitung14 . Es waren die gleichen Papierrollen, Apparate und Ensembles, die auch auf Jahrmärkten und in Cafés für Hintergrundmusik sorgten15. Eine Anpassung an die Filme war auf diese Weise weder möglich noch beabsichtigt. Die Kinobetreiber setzten aus ökonomischen Gründen auf die Automaten, weil sie nahezu unermüdlich spielten, weder Ferien noch Pausen nahmen und keiner Gewerkschaft beitraten. Der Ufa-Palast am Berliner Zoo, Mitte der 1920er-­ Jahre das bedeutendste deutsche Premierenkino, unterhielt ein Orchester mit 75 Musikern und schrieb rote Zahlen. Die Ufa stützte ihn aus Prestigegründen. Das Wurlitzer Kino-Orchestrion »K« war zwar ungefähr doppelt so teuer wie ein Einfamilienhaus, doch lagen die Kosten auf Dauer unter denen für ein kleines Orchester. Es enthielt ein Klavier, eine Orgel, Schlaginstrumente, Geräuscherzeuger, imitierende Register wie Horn, Flöte, Violine, Cello und wog knapp zwei Tonnen16. Bis Anfang der 1920er setzte die Firma davon jedes Jahr durchschnittlich über 30 Stück ab, das letzte 1927. Insgesamt wurden bis 1930 14 | Die Zahlen der Umfrage in Rick Altman: »The Silence of the Silents«, in: The Musical Quarterly 80 (1996), S. 648–718, hier S. 685. 15 | Zu den Musikautomaten in Kinos vgl. R. Altman: »The Silence of the Silents« und Karl Heinz Dettke: Kinoorgeln und Kinomusik in Deutschland, Stuttgart/Weimar 1995. 16 | Eine kleinere Auswahl an imitierenden Registern hatte auch das Harmonium, das als Ersatzinstrument in vielen der kleinen Kinoensembles mitwirkte. Vgl. Ludwig Brav: Die Praxis der Bearbeitung und Besetzung für kleines Orchester, Berlin [1928].

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etwa 6000 bis 8000 Musikautomaten vorzugsweise in kleineren und mittleren Filmtheatern der USA installiert 17. Ab den 1910er-Jahren wurden Orchestrien in Deutschland und in den USA speziell für den Gebrauch im Kino konstruiert. Zunächst stattete man die In­ strumente mit Fernbedienungen vom Projektor aus18. Bald kamen Geräusch­ effekte wie Vogelruf, Schuss, Telefonklingel, Schweinegrunzen, Hufklappern, Donner, Wind, Babygeschrei, Lokomotiven-Pfeife, Kuhglocke, Autohupe usw. hinzu. Hupfeld (Leipzig) konstruierte auch programmierbare Instrumente wie das Modell »Kino-Pan«. Auf einer Walze konnte man Kontaktstifte einsetzen, welche zu vorbestimmter Zeit die Rollen wechselten oder bestimmte Effekte auslösten. Der Ablauf war vollautomatisch an die Rotation des Projektors gekoppelt 19. Die Wurlitzer »K« war dagegen eine interaktive Kinomusikmaschine, die eine differenzierte Begleitung ermöglichte. Wie auch einige deutsche Kino-Orchestrien, hatte sie zwei Abspielvorrichtungen, sodass man während des Spielens die Rolle für die nächste Szene einlegen, einzelne Passagen ansteuern, Tempo und Lautstärke der Szene anpassen, Effekte auslösen und Register zuschalten konnte, z. B. in Liebesszenen »Expression« (Tremolo oder Vox Humana)20. Wurlitzer und American Photo Player (Abbildung 3), zwei der führenden Firmen auf dem amerikanischen Markt, vertrieben nicht nur Instrumente, sondern auch Rollen, die speziell zur Filmillustration gestanzt und etikettiert wurden mit topischen Schlagwörtern, die damals in der Kinomusik allgemein etabliert waren (Oriental, Misterioso, Pastoral, March usw.). Um den Überblick während eines längeren Spielfilms mit Geräuschen und wechselnden Begleitstücken zu behalten, musste man mit einem speziell präparierten Cue Sheet arbeiten. Die Bedienung solcher großen und komplexen Instrumente war natürlich viel schwieriger als die der relativ schlichten Geräte aus den Anfangsjahren des Kinos. In Chicago wurden deswegen spezielle Kurse zur Bedienung der Photo Player angeboten.

17 | Q. David Bowers: Nickelodeon Theatres and Their Music, Vestal 1986, S. 140. 18 | »Ideal-Instrument für Kinematographen, da ›Matador‹ [ein Orchestrion der Leipziger Firma Popper & Co.] eine überaus abwechslungsreiche Musik bietet, und durch Fernschaltung vom Operationstische aus bedient und dirigiert werden kann.« (Inserat in der Zeitschrift für Instrumentenbau 32 (1912), S. 1369). 19 | Im D. R. P. 388455 »Vorrichtung zum gleichzeitigen Vorführen von Kinobildern und Musik« (1924) nennt die Hupfeld AG eine programmierbare maximale Filmlänge von 4000 Metern, was bei 24 Bildern/Sekunde knapp zweieinhalb Stunden Laufzeit entspräche. 20 | Die Firma Welte in Freiburg baute ähnliche Instrumente mit imitierenden Registern, Geräuscheffekten und Doppelrollen-System.

Zeitarbeit: Das Zusammenspiel von Menschen, Maschinen und Musik Abb. 3: American Photo Player. Die Abbildung zeigt ein für den Kinogebrauch hergestelltes mechanisches Instrument mit zwei Lochstreifen. Mit dem Hebel A schaltet man zwischen den beiden Rollen um. C dient der Feinregulierung des Tempos. Mit 4/D und 5/E steuert man Vor- und Rücklauf beider Rollen. 1, 2 und 3 entsprechen dem Halte­p edal und der Dämpfung des Klaviers für die untere oder obere Manualhälfte. B steuert eine zusätzliche Dämpfung (»choker«). Mit den Knöpfen oberhalb des Manuals können Pfeifenregister, Xylophon oder Glocken zugeschaltet werden. Quelle: Q. D. Bowers: Nickelodeon Theatres and Their Music.

Wenn der Tonfilm mit synchronisierten Schallplatten angeblich erst Mitte der 1920er-Jahre erfunden wurde (»Vitaphone«), so drängt sich die Frage auf, warum es überhaupt so lange dauerte, zwei Geräte zu kombinieren, die schon Anfang des Jahrhunderts so weit ausgereift waren, dass sie in Serie gebaut und vertrieben wurden. Bereits in den 1890er-Jahren versuchten französische Tüftler, Grammophon und Kinematographen zu verkoppeln, und nach der Jahrhundertwende erfreuten sich solche Vorführungen wachsender Beliebtheit. Der deutsche Filmpionier Oskar Messter verfilmte auf diese Weise viele Schlager, Opern- und Operettennummern, zeigte sie ab 1903 in seinem Berliner Ladenkino und vertrieb ungefähr 1000 seiner »Tonbilder« bis 1913 in jeweils 60 bis 70 Kopien an etwa 500 lizensierte Theater in ganz Deutschland 21. Mit Fug und Recht kann man also von einem etablierten Tonfilmkino schon vor dem Ersten Weltkrieg sprechen. Aber die Nadeltontechnik warf einige Probleme auf: Spieldauer und Verschleiß der Schellackplatten setzten ihr enge Grenzen, denn sie konnten höchstens 20 mal abgespielt werden und zeichneten nur 3 bis 5 Minuten Ton auf. Längere Filme wurden möglich durch Plattenserien. Mit automatischen Plattenwechslern konnte Messter Tonbilder von bis zu 20 Minuten produzieren, z. B. einen gekürzten zweiten Akt der Fledermaus 22 . 21 | Wolfgang Mühl-Benninghaus: Das Ringen um den Tonfilm. Strategien der Elektround der Filmindustrie in den 20er und 30er Jahren, Düsseldorf 1999, S. 16. 22 | Oskar Messter: Mein Weg mit dem Film, Berlin 1936, S. 66.

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Abb. 4: Emmy Destinn als Salome im Studio von G. Mendel 1907. Das Bild bezeugt die Übernahme des Star-Systems aus der Oper in das frühe Kino. Die Sängerin steht vor einer Leinwand, auf der die Opernkulisse aufgemalt ist; vor ihr das aufnehmende Grammophon, das mit der Kamera gekoppelt ist sowie ein zweites Grammophon im Vordergrund, das die Orchesterbegleitung abspielen könnte. Eine Tonbildaufnahme kann so allerdings nicht stattgefunden haben. Das idealisierende Bild ist eine Fotomontage. Quelle: Filmmuseum Potsdam.

Electrola führte 1930 ein System ein, das 12 Plattenseiten in programmierbarer Reihenfolge abspielte23. Zur Premiere von The Jazz Singer am 6. Oktober 1927 in New York reproduzierten 13 Platten von jeweils etwa 10 Minuten Spieldauer den Ton. Die meisten Innovationen in der Nadeltontechnik versuchten, die Steuerung von synchroner Aufnahme und Wiedergabe zu verbessern. Vor allem die synchrone Aufzeichnung von Bild und Ton bereitete Jahrzehnte lang Schwierigkeiten. Ein gravierendes Problem betraf die szenische Darstellung vor der Kamera, denn die Sänger mussten nahe am Aufnahmetrichter stehen (wie das Bild aus Dicksons »Tonfilm« zeigt), der aber natürlich nicht mitgefilmt werden sollte (Abbildung 4). Bei leisen Passagen musste man den Kopf fast in den Trichter stecken und bei lauten ein paar Schritte zurückweichen. Lotte Lehmann erinnerte sich, dass ein Studiomitarbeiter (»pusher«) sie während ihrer frühen Aufnah-

23 | Film-Kurier vom 19.08.1930.

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men vor- und zurückschob, um die Lautstärke auszusteuern24. ­Messter versuchte seit 1907, das Problem in den Griff zu bekommen, unter anderem indem er durch eine schräge Glasscheibe filmte, welche den Gesang in einen oberhalb des Filmbildes hängenden Aufnahme­trichter reflektierte. Zur Synchronisation der Ton- und Bildaufnahme verwendete Messter anfangs periodische Lichtsignale vom Grammophon, nach denen der Kameramann seine Kurbelgeschwindigkeit richtete. Andere Verfahren versuchten, den Gleichlauf mechanisch oder elektrisch zu koppeln oder durch elektrisch gesteuerte Tachometer zu kontrollieren. Es war dabei üblich, die Geschwindigkeit des Projektors anzupassen, weil Abb. 5: Ernemann-Synchronismus. das Ohr Schwankungen des Gram- Die Abbildung aus einem Katalog der mophons viel empfindlicher wahr- Firma Ernemann (1808/09) zeigt eine nimmt (Abbildungen 5 und 6). Synchronisierungsapparatur mit elektrisch Werbebroschüren, Annoncen gesteuerten Tachometern im Hintergrund. und Patentschriften priesen zwar Die Telefone links und am Grammophon unermüdlich die endlich erreich- verbinden den Filmprojektor und den Ort te perfekte Synchronisierung der hinter oder neben der Leinwand, wo die Apparate und die Simplizität ihrer Platten abgespielt wurden. Bedienung an, doch die frühen Quelle: Filmmuseum Potsdam. Nadeltonfilme waren störanfällig und nicht per Knopfdruck abzuspielen. Messter nannte im Rückblick zwei Hauptgründe für den Niedergang der Tonbilder vor dem Weltkrieg: die Konkurrenz der langen Spielfilme und die Bedienung der Geräte durch unzulänglich geschultes Personal 25. Auch aufgrund praktischer Probleme büßten die Tonbilder also ihre anfängliche Faszination ein, wie umgekehrt die praktischen Fortschritte der musikalischen Live-Begleitung zu ihrer Entzauberung beitrugen. Eine Wiedergabe durch Schalltrichter reichte aus in den kleinen Laden­ kinos vor dem Ersten Weltkrieg (Abbildung 7). Doch wie im 19. Jahrhundert immer größere Konzertsäle für das wachsende Konzertpublikum gebaut wurden und sowohl der Instrumentenbau als auch die Kompositionstechnik gleichziehen mussten, erforderte das wachsende Publikum des Massenmediums Film immer größere Säle, größere »Klangkörper« und eine Musik, wel24 | Mark Katz: Capturing Sound. How Technology Has changed Music, Berkeley/Los Angeles ²2010, S. 44. 25 | »Aus der Kinderstube des Tonfilms«, in: Kinematograph vom 07.10.1928, S. 20.

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Abb. 6: Georges Mendel: Cinémato-Gramo-Théâtre (1906). Die Werbegrafik zeigt eine Szene, die einer Grand opéra entnommen sein könnte, mit elektrisch synchronisierter Projektion von Bild und Nadelton, die dem Kinopublikum »Comedies, Opera, Drames, Opera, Comique und Operettes« vorführt. Im Filmmuseum Potsdam ist eine Apparatur dieses Typs erhalten. Quelle: Filmmuseum Potsdam.

che die Kinos und die imaginären Räume des Spielfilms zu füllen vermochte. Sanftes Einschlummern, zartes Waldweben, Meeresrauschen, Getümmel der Straße, Maschinenlärm bis zum ohrenbetäubenden Kriegsgetöse – all dies konnten Orchester oder gar ein Orchestrion überzeugender untermalen als ein Grammophon. Messter und andere Kinobetreiber versuchten, die geringe Lautstärke durch Koppelung von zwei oder gar drei Geräten zu erhöhen, was aber schon bei geringen Gleichlaufschwankungen unangenehme Effekte hervorrief. In der Abbildung des Ernemann-Synchronismus befindet sich im Schrank zur Rechten ein Pressluftgerät, das den Ton verstärkt (Aërophon). Ein ähnliches Patent der DGG hieß Auxetophon. Das Manko der Nadeltontechnik lag aber nicht allein in der absoluten, durch Pressluft oder elektroakustisch verstärkten Dynamik, sondern auch in ihrer technisch bedingten relativen Reduktion, denn Schallverstärkung hebt die Lautstärke zwar insgesamt an, erreicht aber nicht die dynamische Differenziertheit des Orchesterklangs26.

26 | Eine Platte registriert den Schall in einer Zitterschrift. Die registrierbare Auslenkung (»Schrifthöhe«) in der Rille lag 1930 zwischen 1/3000 und 1/10 mm und erlaubte damit Amplitudenunterschiede im Verhältnis von 1 : 300. Geringere Auslenkungen

Zeitarbeit: Das Zusammenspiel von Menschen, Maschinen und Musik Abb. 7: Hochbild (München), System »Mutter«. Noch 1930 warb die Firma Hochbild (München) bei kleineren Kinos mit bis zu 600 Sitzplätzen für ihre Komplettanlage aus Projektor, mechanisch gekoppeltem Plattenspieler (mit fünf Tellern!) und einem Trichterlautsprecher, der in der Abbildung im Rücken des Publikums montiert ist. Der Vorteil dieser veralteten Technik lag in den geringen Kosten, denn die Mitte der 1920er-Jahre eingeführte elektrische Tonverstärkung war noch patentgeschützt und gebührenpflichtig. Quelle: Filmmuseum Potsdam.

Auch die geringe klangfarbliche Differenzierung des Nadeltons ist ein gravierender Nachteil gegenüber dem Live-Ton. Der Frequenzgang von Grammophonaufnahmen liegt zwischen etwa 150 und 2000 Hz und ist außerdem sehr unregelmäßig. Neues Tonträgermaterial (nach Wachs: Schellack, PVC), Änderungen von Schalldose, Trichter, Nadel und vor allem die elektroakustische Aufnahme- und Wiedergabetechnik ab 1925 verbesserten den Klang. Um 1930 hatten handelsübliche Plattenspieler einen Frequenzgang von 100 bis 5000 Hz, und das Vitaphone-System, das für Don Juan und The Jazz Singer konstruiert wurde, zeichnete Schall zwischen 50 und 5500 Hz auf27. Damit eignete sich der Nadelton für Tenöre besser als für Sopranistinnen, war aber natürlich immer noch weit entfernt von der »Farbpalette« eines Orchesters. werden von der Nadel nicht registriert, größere durchschlagen den Rand der Rille. Die dynamischen Extreme eines Orchesters liegen dagegen im Verhältnis von 1 : 100.000. 27 | Robert Gitt: »Restoring Vitaphone Discs«, in: Mary Lea Bandy (Hg.), The Dawn of Sound, New York 1989, S. 11–13, hier S. 13.

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Abb. 8: RCA/Victor: Katalog der Plattensammlung »Pict-ur-music« (1929). Die Abbildung zeigt ein nach »Moods, Emotions and Characteristics« kategorisiertes Verzeichnis. Das System setzt einen nicht mit dem Projektor gekoppelten Plattenspieler voraus zur frei gestalteten Untermalung von Filmen mit Musik und Geräuschen. Die Schallplatten enthielten auch Telefonklingel, Hundegebell, Donner usw. Quelle: Library of Victor »Pict-ur-music« to Accompany Motion Pictures, New York 1929.

Trotz und zum Teil auch wegen ihrer Tücken schuf die Nadeltontechnik die Grundlage einer neuen Kunstform und Profession. Aufgabe des »Phono-­ Mixers« oder »Schallplattenmusikers« war es, Musik für die Filmvorführung zu kompilieren und »live« abzuspielen. Der DJ wurde im Kino geboren. Werfen wir dazu erst einen Blick auf die Industrie: In Deutschland wie auch in den USA standen Anfang der 1930er-Jahre in etwa der Hälfte der Kinos Plattenspieler28. 1929 wurden in Deutschland 182 »lange Spielfilme« (ab 1000 Meter) produziert, von denen lediglich acht Tonfilme waren. Dem standen im

28 | Das Tonbild-Syndikat (TOBIS) gab mehrere Broschüren über Tonfilmanlagen in Europa heraus. Demnach hatten in Berlin noch Ende 1930 von den 97 Kinos 53 sowohl Licht- als auch Nadeltongeräte. Weitere vier hatten gar ausschließlich Nadelton. In Frankfurt waren alle zwölf Kinos mit Lichttonanlagen ausgerüstet, von denen fünf zusätzlich noch über Plattenspieler verfügten. In den USA zählte der Motion Picture Almanac 8507 Kinos (d. h. über 50 %) mit Nadeltonsystemen (»The Industry in Epitome«, 1932, S. XX).

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gleichen Jahr 107 kurze Tonfilme und nur fünf kurze Stummfilme gegenüber29. Die Zahlen sind also fast exakt umgekehrt proportional: Etwa 95 % der langen Filme wurden stumm produziert, mussten also im Kino durch live oder mechanisch reproduzierte Musik begleitet werden, und etwa 95 % der kurzen Filme wurden mit Ton produziert und ausgeliefert. Das bedeutet, dass noch um 1930 Instrumentalmusiker (vom Abb. 9: Kino-Plattenspieler »Mutter«. Organisten bis zum Orchester) wie Mit dem Gerät der Firma Hochbild auch Schallplattenmusiker mit der (München, 1930) konnte man große Ton­ Aufgabe betraut waren, dramatur- film­p latten (33 ⅓ rpm) und die handels­ gisch komplexe Filme adäquat zu üblichen kleinen Schallplatten (78 rpm) mit begleiten. Die DGG produzierte für zwei Tonarmen abspielen und kombinieren. sie eine spezielle Plattenserie, für die Quelle: Filmmuseum Potsdam. Giuseppe Becce Orchesteraufnahmen seiner »Kinothek« einspielte, und in den USA brachte RCA/Victor eine ähnliche Anthologie unter dem Titel »Pict-ur-Music« heraus. Beide enthielten topisch kategorisierte Stücke und Geräusche zur Untermalung von Spielfilmen (Abbildung 8). Auf Geräten mit mehreren Tellern konnten Schallplattenmusiker nicht nur Plattenserien leicht abspielen, sondern viele Platten in schnellem Wechsel oder gar gleichzeitig, um Musik und Geräusche zu mischen (Abbildung 9). Die Firma Hupfeld/Zimmermann (Leipzig) bot 1930 einen Nadeltonspieler mit bis zu drei Tellern und Rillenindikator (Biophonola) an, der es ermöglichte, bestimmte Passagen einer Platte gezielt anzusteuern30. Schallplattenmusiker, die Pictur-music abonniert hatten, konnten mit Cue Sheets arbeiten, die RCA/Victor für neue Filme produzierte. Auch in deutschen Kinos verwendeten sie speziell vorbereitete »Regieblätter«, um Filme mit passender Musik zu unterlegen. In den späten 1920er-Jahren bezeichnete der Begriff »Tonfilm« oft das neue Lichttonverfahren, also den in Lichtsignale umgewandelten und neben das Bildfeld fotografierten Ton. Diese dritte apparative Technik (nach Musik­ 29 | Alexander Jason: »Das Filmjahr 1929«, in: Deutsche Filmwirtschaft, Beilage zum Kinematograph vom 15.03.1930. 30 | Ein ähnliches Gerät mit drei Tellern vertrieb die Freiburger Firma Welte unter dem Namen »Theatrophon« (Anzeigen im Kinematograph vom 01.03.1930). Siehe auch »Theaterbesitzer als Tonfilm-Mixer«, in: Kinotechnische Rundschau, Beilage zum Kinematograph vom 08.03.1930.

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automaten und Grammophonen) zur Vertonung von Filmen wurde erstmals 1922 im Berliner Alhambra-Kino präsentiert. Sie inspirierte den Experimentalfilmer Oskar Fischinger im Frühjahr 1932 dazu, »klingende Ornamente« von Hand auf den Lichttonstreifen zu zeichnen, um sie auf Lautsprechern abzuspielen, während der Projektor die gleichen Figuren auf die Leinwand strahlte. Die anwesenden Tontechniker sollen schockiert von den unerhörten Klängen und besorgt um ihre Lautsprecher gewesen sein31. Die gleiche Idee – direkte Codierung statt Aufnahme von Musik – hatte zuvor schon Paul Hindemith, als er für das Baden-Badener Kammermusikfest seine Kompositionen zum Trickfilm Felix der Kater im Zirkus (1927) und zu Hans Richters Vormittagsspuk (1928) von Hand in den Papierstreifen eines Steinway-Welte-Klaviers stanzte. Beide Male war das Instrument bei der Vorführung mechanisch an den Projektor gekoppelt. Die beiden Rollen sind leider verschollen, aber wir können vermuten, dass Hindemith, der zwei Jahre später auf dem Festival Neue Musik Berlin »grammophonplatten-eigene« Kompositionen präsentierte, die Idee einer maschinenspezifischen, von einem menschlichen Pianisten unausführbaren Musik reizte32 .

L ive -M usik Wie eingangs angedeutet, entwickelte sich parallel zu den Apparaten und ihrer Bedienung die konkurrierende Live-Musik zum Film in rasantem Tempo. Die oben kritisierte Vorstellung, dass die Entwicklung von Tonfilmtechnik allein in der fortschreitenden Perfektionierung von Apparaten bestünde, ist nicht nur einseitig, sondern schlichtweg falsch, weil Komposition, Kompilation, Arrangement und Performanz von Kinomusik an sich Techniken voraussetzen, die seit den 1890er-Jahren bedeutende Fortschritte machten, auf denen ab den

31 | Oskar Fischinger: »Klingende Ornamente«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 28.07.1932, Beilage »Kraft und Stoff« und William Moritz: Optical Poetry. The Life and Work of Oskar Fischinger, Eastleigh 2004, S. 42–44. 32 | Ulrich Eberhard Siebert: Filmmusik in Theorie und Praxis. Eine Untersuchung der 20er und frühen 30er Jahre anhand des Werkes von Hans Erdmann, Frankfurt a. M. 1990, S. 68; Martin Elste: »Hindemiths Versuche ›grammophonplatteneigener Stücke‹ im Kontext einer Ideengeschichte der Mechanischen Musik im 20.  Jahrhundert«, in: ­H indemith-Jahrbuch 25 (1996), S. 195–221; s. auch den ergänzten und aktualisierten Wiederabdruck in diesem Band. Hindemith, der ein leidenschaftlicher Kino­b esucher war und an der Berliner Musikhochschule unter anderem Filmkomposition lehrte, erscheint selbst in Richters Vormittagsspuk.

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1930er-Jahren die Studioproduktion von Tonfilmen auf bauen konnte33. Man kann diese Entwicklung an vier Punkten festmachen: die zunehmend engere Koordinierung der Musik mit dem Bild, die wachsende Arbeitsteilung ihrer Produktion und Aufführung sowie die Modularisierung und Topisierung ihres Materials. Dabei lassen sich grundsätzlich zwei Strategien unterscheiden: Die eine verwendete eine bestimmte, zum Film gehörige Musik und eignete sich besonders für »Lichtspielopern«, Filmoperetten und ‑singspiele, die viele diegetische Arien, Lieder und Tänze enthielten. Vor allem diese Strategie setzte auf apparative Synchronisierung, weil die mechanisch ablaufenden Szenen in der Regel bestimmte Aussagen und zeitliche Strukturen in Lippen-, Tanzund Marschbewegungen vorgaben, denen die Live-Musik genau entsprechen musste. Ad hoc kompilierte Musik hingegen eignete sich für die quantitativ überwiegenden Spielfilme, welche meist nach melodramatischer Manier untermalt wurden. Hier musste die Begleitung, abgesehen von speziellen Musikszenen, nur ungefähr koordiniert werden. Eine handstreichartige Lösung aller Probleme durch die Koppelung von Musik und Bild im Nadeltonverfahren war, wie beschrieben, mit vielen Problemen behaftet. Mehrere Patente versprachen hier, Abhilfe zu schaffen, indem sie die Zeitstruktur einer bestimmten Live-Musik durch das mechanisch reproduzierte Bewegtbild zu steuern versuchten. Davon ausgehend, dass im Theater der Kapellmeister für die Synchronisierung von Szene und Musik sorgt, entwickelte der Theaterdirektor Jacob Beck 1912 eine Methode, die den Dirigenten am Bildrand des Films zeigte (Abbildung 10). Basierend auf dieser Technik nahm die »Deutsche Lichtspielopern-Gesellschaft« 1914 den Betrieb auf mit Martha, gefolgt vom Freischütz (1916), Cavalleria Rusticana (1917), Lohengrin, Tannhäuser (1916–17), den Lustigen Weibern von Windsor (1918) und dem Waffenschmied (1918). Danach ging die DELOG zu Unterhaltungsfilmen mit eigens komponierter Musik über (Wer nicht in der Jugend küsst, 1918, mit Musik von Karl Otto Krause; Die Sylvesterwette, 1919, mit Musik von Jean Gil33 | Mit dem Reizwort »Fortschritt« erhebe ich auch Einspruch gegen die Polemik von­ Eisler und Adorno, die der Kinomusik der Stummfilmzeit ihre Historizität rundweg ab­ sprachen und damit das Fehlurteil zementierten, es handele sich um eine geist- und kunstlose Praxis, welche die Musik der abendländischen Tradition lediglich parasitär ausbeutete: »Man nimmt daher schon den Mund zu voll, wenn man der apokryphen Gattung der Filmmusik überhaupt Geschichte zumutet. Der Banause, der 1910 als erster auf die Idee verfiel, den Brautmarsch aus Lohengrin als Begleitung zu verwursten, ist dadurch so wenig eine historische Figur geworden wie irgendein anderer Altkleiderhändler. […] Die historischen Vorgänge, die an der Filmmusik sich wahrnehmen lassen, sind nur Reflexe des Herabsinkens der bürgerlichen Kulturgüter zu Waren für den Vergnügungsmarkt.«  Theodor W. Adorno/Hanns Eisler: Komposition für den Film, Eberhardt Klemm (Hg.), Leipzig 1977, S. 87.

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Tobias Plebuch Abb. 10: Konstruktionsschema von Jacob Beck. Im Beck-Verfahren orientiert sich das Kino-Orchester am fotografierten Dirigenten (d), der die Musik zur abgefilmten Bühnenszene (a) dirigiert und von der Kamera (f ) im Zuschauerraum mit aufgenommen wird. Sein Bild erscheint während der Vorführung im Kino am unteren oder seitlichen Rand der Leinwand. Bei der Aufnahme verwendete Beck einen Spiegel (g), um den Dirigenten von vorne, also aus der Perspektive der Orchestermusiker (b), zu zeigen. Quelle: Patentschrift 58704, Schweiz 1912.

bert). Als reisende Theatertruppe gab sie Gastspiele mit Live-Musik zu Opern‑ und Operettenfilmen in vielen deutschen Städten34. Das Beck-Verfahren bot sich also an zur Aufführung einer abgefilmten Inszenierung an Orten, die über keine stehende Oper verfügten. Lichtspielopern mit Live-Musik im Kino wurden auch in Frankreich, England und Spanien produziert. Das Beck-Verfahren hatte entscheidende Nachteile: Zum einen waren die im Spiegel aufgenommenen Gesten des Dirigenten seitenverkehrt. Die Instrumentengruppen mussten sich umsetzen, um seine Einsätze richtig zu deuten; andernfalls wurde der Dirigent zu einem menschlichen Metronom reduziert. Vor allem aber störte der taktierende Dirigent im Bild, den schon Richard Wagner in den Graben versenkt hatte. Beck ließ darum das Orchester hinter einer semitransparenten Leinwand (h) spielen und verdeckte das Dirigentenbild vor den Zuschauern (i). So konnte das Orchester sich am unverdeckten Bild des Dirigenten orientieren, das nicht mehr seitenverkehrt erschien. Allerdings wurde das Filmbild auf einer semitransparenten Leinwand unschärfer, und auf der Seite des Publikums erschien nun ein dunkler Fleck anstelle des Dirigenten im Bild. Beck verbesserte das Verfahren außerdem durch laufende Taktzahlen im Bild und ab 1917 durch ein verkleinertes Dirigentenbild, für das er einen 34 | Zur Filmoper bzw. ‑operette dieser Zeit und den Synchronisierungsverfahren vgl. Michael Wedel: Der deutsche Musikfilm. Archäologie eines Genres 1914–45, München 2007; Oliver Huck: Das musikalische Drama im »Stummfilm«, Olms 2012.

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Konvexspiegel verwendete35. 1918 zeichnete er die Musikbegleitung während der Filmaufnahme auf einem »Phonola« der Leipziger Firma Hupfeld auf. Damit stellte er eine Art synchronisierte Tonspur auf Papierrolle her, sodass ein Beck-Film auch in kleinen Kinos mit Reproduktionsklavier und Sängern aufgeführt werden konnte36. Die empfindlichste Schwäche des Beck-Verfahrens aber lag darin, dass es vom Ansatz her Film als reproduziertes Theater präsentierte. Beck reagierte auf Kritik, indem er in einer zweiten Verfilmung der Martha Freilichtaufnahmen einschaltete, doch wegen des gleichzeitig mitgefilmten Dirigentenbildes ist seine Methode viel zu schwerfällig für Nahaufnahmen, Parallelmontage und schnell geschnittene Perspektivwechsel in ein und derselben Szene, wie sie das Publikum in den neueren Spielfilmen kennenlernte. Eine Kurzfassung des Parsifal hatte Edwin S. Porter schon 1904 mit einer statischen Kamera verfilmt, die komplette Bühnenszenen ungeschnitten aus Perspektive des Opernpublikums aufnahm. Eine derartige Bildregie musste um 1920 auf das Publikum sehr altmodisch wirken. Ein ähnliches Verfahren, das für Kinokonzerte geeignet war, hatte Oskar Messter schon 1913 entwickelt: den Dirigentenfilm. Hier zeigte die horizontal geteilte Leinwand in der oberen Hälfte den Dirigenten von hinten, in der unteren von vorne, sodass ein live spielendes Orchester dem abgefilmten Dirigat folgen konnte37. Dirigentenfilme wurden unter anderem mit Arthur Nikisch, Felix Weingartner, Friedrich von Schuch, Oskar Fried, Giuseppe Becce und Emil Nikolaus von Reznicek produziert (Abbildung 12). Die folgende Zeichnung verdeutlicht das Aufnahmeverfahren, bei dem die Kamera (e) den Dirigenten (a) durch den Spiegel c (niedrig) von vorne aufnimmt und zugleich durch die Spiegel b und d (hoch) von hinten (Abbildung 11):

Abb. 11: Aufnahme-Verfahren des Dirigentenfilms nach Messter. Quelle: D. R. P. 324057 (1919). 35 | D. R. P. 359014. Die Taktzahlen sind erkennbar im einzigen erhaltenen Film der DELOG in der Deutschen Kinemathek Berlin, vgl. O. Huck: Das musikalische Drama im »Stummfilm«, S. 43. 36 | D. R. P. 405042. 37 | Konrad Ottenheym: Film und Musik bis zur Einführung des Tonfilms. Beiträge zu einer Geschichte der Filmmusik. Dissertation, Berlin 1944, S. 33.

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Abb. 12: Dirigentenfilm mit Felix Weingartner (1863–1942). Quelle: Bundesarchiv, Bild N 1275 Bild-360-01 / Foto: Messter-Film GmbH, 1900/14 ca.

Die Idee des Dirigentenfilms war, dass ein Orchester, jedes Orchester, von der Leinwand aus geleitet werden könnte und die Kunst eines Maestros so für die Nachwelt verewigt werde. Sie bezeugt auch, dass die Dirigierbewegungen aus Publikumsperspektive (obere Bildhälfte) ein bewahrenswerter Teil des Konzert­erlebnisses waren. Während Weingartner und Nikisch die Idee lobten, erhob der Kritiker Leopold Schmidt (1919) gegen die Tendenz zur Mediatisierung musikalischer Performanz Einspruch: »Der Filmdirigent aber hört nicht. Seine Musiker, die doch Menschen sind und keine Maschinen, mögen sich zurecht finden oder nicht, sie mögen sich irren, ›patzen‹ – er taktiert ruhig weiter, wie er vor einem oder zwanzig Jahren vor ganz anderen Hörern unter ganz anderen Verhältnissen einmal getan hat. Die Wechselwirkung fehlt, die Kunst ist zum Teufel.« 38

Eine Erfindung von Julius Lachmann (Berlin, 1921) setzte den Orchesterleiter wieder in seine Rechte ein. In seiner Patentschrift kritisierte er, dass der mitgefilmte Dirigent im Beck-Verfahren störend auf das Publikum wirke39. Lachmann platzierte an unauffälliger Stelle in der Szene Lämpchen, die mitgefilmt 38 | Zit. nach: K. Ottenheym: Film und Musik bis zur Einführung des Tonfilms, S. 36. 39 | D. R. P. 335140.

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wurden und dem Kapellmeister während der Vorführung Zeitsignale gaben, sodass er von der Leinwand Takt, Tempo und Einsätze ablesen konnte. Die Erfindung nimmt den Click Track der Musikaufnahmen im Tonfilmstudio der 1930er-Jahre vorweg (Abbildung 13). Ein ähnliches Prinzip steht hinter einer Erfindung von Carl Robert Blum: Er legte schmale perforierte »Taktstreifen« außerhalb des Bildfeldes auf den Filmrand. Auf ihnen Abb. 13: Lichtsignale nach Lachmann. konnte der Kapellmeister per Tasten- Auf einer Tafel (a), die innerhalb der druck exakt synchron zum Bildlauf Szene von der Kamera erfasst wird, schwere und leichte Taktschläge no- sind Glühbirnen (b) angebracht. Ihre tieren. Bei der Vorführung wurden Anordnung besteht aus Dreiecken und die Markierungen in rote und grüne Vierecken, die gerade und Tripel­t akte wie Lichtsignale rückübersetzt, welche ein Lichtmetronom anzeigen können. Sie Takt und Tempo am Dirigierpult ähneln also reduzierten Schlagschemata, anzeigen konnten, also nicht mehr wie sie aus Dirigierlehrbüchern bekannt wie im Lachmann-Verfahren auf der sind. Leinwand erschienen40. Quelle: D. R. P. 335140 (1921). Ein anderes Verfahren, um live gespielte Musik zum Film besser zu synchronisieren, zeigte ein am unteren Bildrand fortlaufendes Notenband, an dem sich der Kapellmeister während der Vorführung orientierte. Die Erfindung von Otto Springefeld und Ludwig Czerny wurde 1919 in Berlin patentiert und war Grundlage einiger Operettenproduktionen der Noto-Film von Czerny. Springefeld komponierte dazu die Musik (Abbildung 14). Das Notenband in diesen Filmen zeigte nicht die ganze Partitur, sondern einen Auszug auf einem System (Fig. 2). Es ist also einer Violin-Direktionsstimme vergleichbar, wie sie in der Kinomusik sowohl in Europa als auch in den USA allgemein üblich war. In allen diesen Verfahren (außer bei Blum) wird die Filmszene durch ein technisches Nebenbild beeinträchtigt, das die Ausführung der Musik im Kino steuert und ihr straffe Zügel anlegt. Die Taktstreifen von Carl Robert Blum fallen in eine frühe Phase seiner anhaltenden Bemühungen, den zeitlichen Verlauf musikalischer Performanz bis in die agogischen Details exakt zu notieren und zu reproduzieren. Blum nahm Anstoß an der traditionellen Notation von Rhythmen, welche Tondauern nicht grafisch-proportional, sondern symbolisch repräsentiert. Auf »Rhyth40 | D. R. P. 417959 (1919) und 418612 (1920).

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Tobias Plebuch Abb. 14: Notofilm-Verfahren. Das Notenband (4) wird vor der Szene abgespult, die zur Musik gefilmt wird. Hierzu reicht auch ein Klavierauszug durch einen Korrepetitor (9). Die Kamera filmt das Band am Bildrand mit, dessen Geschwindigkeit von Hand gesteuert wird (7). Bei der Vorführung im Kino muss nicht mehr das interpolierte Bild eines Dirigenten, sondern nur noch das schmale Notenband vor dem Publikum abgedeckt werden (14). Quelle: Patentschrift 92418, Schweiz 1922.

musbändern«, die Blum ab Mitte der 1920er-Jahre entwickelte, konnte er nicht nur Notenwerte in proportionalen Abständen notieren, sondern auch die agogischen Feinheiten einer konkreten Ausführung, indem er sich an einem Oszillogramm orientierte41 (Abbildung 15). Blums Rhythmusbänder müssen von Hand erstellt werden. Das aufwändige Verfahren bewährte sich aber in verschiedenen Anwendungen, weil es präzise Synchronisierung ermöglichte, ohne das Filmbild zu beeinträchtigen42 . Ähnlich wie im Notofilm-Verfahren zeigten die Bänder lediglich eine horizontal ablaufende Leitmelodie, bewegten 41 | Notensetzer platzieren zwar Sechzehntel grundsätzlich enger als Halbe, orientieren sich aber dabei am Umbruch und an ästhetischen Kriterien des Satzbildes: Der Raum, den kurze und lange Notenwerte, auch ganze Takte und Sätze auf dem Papier einnehmen, ist flexibel und ihrer realen Dauer nicht genau analog. Blums Rhythmusband registriert dagegen Grundtempi, Notenwerte und Agogik proportional exakt. 42 | Blums Chronometer war kompatibel mit dem Tonfilm der Studioära. Bis in die Nachkriegszeit wurde das Prinzip der Rhythmusbänder in der Synchronisation von Filmen verwendet. Siehe hierzu M. Wedel: »Vom Synchronismus zur Synchronisation.«

Zeitarbeit: Das Zusammenspiel von Menschen, Maschinen und Musik

Abb. 15: Rhythmusband nach Blum. Die Abbildung zeigt drei synchronisierte Bänder zur Herstellung eines Rhythmus­ bandes: oben der Film mit Einzelbildern, in der Mitte das kontinuierliche Oszillo­g ramm, das durch einen Lichtstrahl auf den Film geschrieben wird, und unten die manuelle Übertragung in Noten, deren Platzierung an der Schallkurve abgemessen wird. An der Richtmarke (22) kann der Kapellmeister während der Vorführung die Jetztzeit erkennen. Quelle: Patentschrift 120992, Österreich 1931.

sich aber mit konstanter Geschwindigkeit und konnten daher mit der Projektion elektrisch gekoppelt werden. Sie liefen durch ein »Chronometer« am Pult des Dirigenten, der sich in Filmvorführungen daran orientieren konnte, ohne einen Blick auf die Leinwand zu werfen. Blum modernisierte sein Verfahren sogar in der Frühgeschichte des Fernsehens 1934. Hier wurde die Szene, die ein Kapellmeister im Aufnahmestudio anhand des Rhythmusbandes dirigierte, in ein Kino live gesendet, wo ein anderer Kapellmeister nach einer Kopie desselben Rhythmusbandes die Musik synchron leitete43. Weil eine drahtlose Übertragung des Tones technisch bereits möglich war – seit 1923 wurde das erste deutsche Rundfunkprogramm in Berlin ausgestrahlt –, spricht dieses Verfahren für die ungebrochene Attraktivität von Live-Musik zum Film. Ich komme zur zweiten Strategie der Live-Musik, die zum Filmdrama keine verbindliche, sondern eine ad hoc kompilierte Begleitung in der Tradition der Schauspielmusik spielt. Wie nahmen Musiker die Herausforderungen des Films in der Frühzeit des Kinos an? Bis zur Mitte der 1910er-Jahre sind die Quellen spärlich und wenig aussagekräftig. Sicher ist nur, dass die Gepflogenheiten sehr unter43 | D. R. P. 602246.

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schiedlich waren. Wenige Berichte bezeugen eine ungefähre Anpassung der Musik an Bewegung und Inhalt der Bilder44. Zu L’Assassinat du duc de Guise (1908) richtete Saint-Saëns seine eigens komponierte Musik zwar an Inhalt und Struktur des Dramas aus, doch ist dieser ambitionierte Film d’Art kein Regelfall. Vielerorts wurde eine Koordination von Film und Begleitmusik gering geachtet oder überhaupt nicht angestrebt. Nicht nur die Musikautomaten in Ladenkinos, auch die Salonensembles spielten oft nur ihr vertrautes Reper­ toire im Hintergrund, ohne Filmrhythmus und ‑inhalt zu berücksichtigen. Der englische Filmkomponist Louis Levy berichtet in seinen Memoiren von Kinomusikern, die noch um 1912 Kaffeehausmusik spielten, ohne die Auswahl dem Film anzupassen, und gar ihre Instrumente und Noten nach dem letzten Stück einpackten und die Vorstellung verließen. Sein Kollege William Alwyn erinnert sich an die Spielregeln im Jahre 1916, um Live-Musik mit dem Film zu verbinden: »Also on the desk was a piece marked Theme, which I was told by my mentor to keep separate from the rest and at a given signal from the leader (two raps on the desk?) to abandon whatever piece I was playing and dive abruptly into this special theme.«45 Künstlerisch anspruchsvolle und dramaturgisch komplexe Spielfilme ab Mitte der 1910er-Jahre bestärkten das Bedürfnis, Live-Musik als »seelischen Vermittler zwischen Leinwand und Publikum«46 enger mit dem Bild zu koordinieren. Eine präzise Synchronizität der Musik war dabei aber aus künstlerischen Gründen (nicht nur aufgrund technischer Probleme) kein vorherrschendes Kriterium. Die Theoretiker reflektierten die Entwicklung, indem sie im Filmdrama eine Musikalität erkannten, eine »Art des Wechsels der Bilder, Szenen und Titel«,47 welche die Musik unterstützen, aber nicht lediglich redundant ausfüllen sollte. An die Stelle des Tonbildprinzips trat die Idee einer musikalischen Begleitung, die einen Spielfilm dramaturgisch »versteht« und vermittelt. Ab ca. 1910 belegen Cue Sheets (Musiklisten) und Anthologien von musikalischen Versatzstücken zum Gebrauch für Standardszenen (Photoplay Music, Kinothekenmusik) das wachsende Bestreben, die Musik dem Drama genauer anzupassen. Mitunter bezeichnen Cue Sheets ein oder mehrere wiederkehrende Stücke ausdrücklich als »Thema«, das in Funktion eines Erinnerungs­ motivs Handlungszusammenhänge musikalisch hervorhebt (Abbildung 16). 44 | Zu den Anfängen einer dem Film angepassten Begleitmusik in den 1890er-Jahren siehe James Wierzbicki: Film Music: A History, New York/Abingdon 2009, S. 21–25. 45 | Roger Manvell/John Huntley (Hg.), The Technique of Film Music, London/New York 1975, S. 23. 46 | Albert Walter: »Die Musik im Kino«, in: Der Film 2 (1916), S. 13, zit. nach: U. E. ­Siebert: Filmmusik in Theorie und Praxis, S. 29. 47 | Rudolf Harms: Philosophie des Films. Seine ästhetischen und metaphysischen Grundlagen, Leipzig 1926, zit. nach: U. E. Siebert: Filmmusik in Theorie und Praxis, S. 88.

Zeitarbeit: Das Zusammenspiel von Menschen, Maschinen und Musik

Abb. 16: Cue Sheet Phantom of the Opera (1925). Das Cue Sheet listet traditionelle Repertoirestücke und Kinothekenmusik auf und hebt drei davon als wiederkehrende Themen hervor. Quelle: Musical Setting for »The Phantom of the Opera«, New York 1925.

Man muss sich indes vor dem Missverständnis hüten, dass die Musik, die ein Cue Sheet aus dieser Zeit auflistet, Bestandteil eines Tonfilms avant la lettre wäre. Sie war nur der Vorschlag eines Kolumnisten oder eines versierten Kapell­meisters, dem die Kinomusiker (Salonensembles, Kapellmeister, Organisten) vor Ort ganz oder teilweise oder gar nicht folgten. Außerdem determinieren die Listen keinen punktgenauen, auf den Schnitt fallenden Musikwechsel. Die Zeitangaben im abgebildeten Cue Sheet zu Phantom of the Opera sind auf Fünf-Sekunden-Schritte gerundet. In den beigefügten Erläuterungen wird ein besonderes Problem der Koordination von Filmmusik mit dem Bild angesprochen, das durch die Montage entstand: In Nr. 38, zu einer Szene, in der das Phantom mehrmals in kurzen interpolierten Einstellungen zu sehen ist, sollen zwei Takte des »Phantom Mystery Theme« mit crescendierenden Paukenwirbeln von einigen Orchestermusikern eingestreut werden »without paying any attention whatsoever to the progress of the [Christine] LOVE THEME which is being played.«48 Eine Kompilation, die mit der Kameraperspektive hin- und herspringt, wäre nicht nur musikalisch-technisch schwierig zu bewerkstelligen, sondern würde primitiv wirken. Allgemein üblich war es, über schnell geschnittene Parallelhandlungen und Cross Cuts hinwegzuspielen, denn »man kann den Stimmungsinhalt eines kurzen Blickes nicht in einem entsprechend kurzen Takt komponieren.«49

48 | Die Überlagerung verschiedener Stücke erinnert an Stravinskys Petruschka, Charles Ives’ vierte Symphonie oder gar die berühmte Tanzszene aus Don Giovanni (­F inale I. Akt) mit gleichzeitigem Menuett, Kontratanz und Deutschem. 49 | Bela Balász: »Proportionen des Filmbildes in der Filmmusik«, in: Film-Kurier 220 (1924), Titelblatt, Sp. B–C, zit. nach: U. E. Siebert: Filmmusik in Theorie und Praxis, S. 83.

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Antizipierende Musik vor dem Szenenwechsel wurde schon in der Stummfilmzeit praktiziert. (Im Tonfilm wird sie häufig angewandt.) Das Handbuch erklärt, »daß ein ›Zufrüh‹ der neuen Musik nicht besonders stört, ja sogar eine antreibende Wirkung hat: Es erweckt Spannung und Erwartung, namentlich bei starker Gegensätzlichkeit [der aufeinanderfolgenden Szenen], wenn die Musik ihren neuen Akkord um einige Sekunden vorher anschlägt.«50 Antizipierende Musik deutet die kommende Szene an – eine Suggestivkraft, Ereignisse vorauszuahnen, die ihr schon Wagner zuerkannte. Es wirkt platt, wenn Filmmusik immerzu nur das aktuell Sichtbare untermalt, wenn also ein Militärmarsch erst in dem Moment einsetzt, da die Soldaten auf der Leinwand erscheinen. Eine geschickte Begleitmusik kann früher einsetzen, um die Annäherung der Kolonne aus der Ferne anzudeuten. So erfüllt sie die Diegese, d. h. nicht nur die konkret abgebildete, sondern die ganze imaginierte Welt der Handlung51. Es lag nahe, dass Kinokapellmeister sich an der Oper orientierten, deren Zeitstruktur in der Partitur fixiert ist. Als zweckmäßiger erwiesen sich allerdings Handwerks­ traditionen des Sprechtheaters mit melodramatischer Untermalung, deren Zeitstruktur flexibel ist. Beide Traditionen konnten aber nicht geradewegs auf die Begleitmusik im Kino übertragen werden, wenn exakte Synchronizität von antizipierender Musik angestrebt wurde. Es ergaben sich technische Probleme, mit denen Kapellmeister in Opern- und Schauspielhäusern nicht konfrontiert waren, denn auf der Bühne ist eine antizipierende Marschmusik leicht mit der Aktion zu koordinieren, weil die Schauspieler sich auf den Takt einstellen. Im Stummfilmkino, d. h. in live gespielter Musik zu mechanisch reproduzierten Bildern, ist diese Aufgabe viel schwieriger, denn die Begleitung muss nicht nur das kommende Marschtempo exakt vorwegnehmen, sondern auch so einsetzen, dass die Schritte phasengenau in das Metrum einfallen, sobald sie im Bild erscheinen. In der Studioaufnahme wird dieses Problem später durch den Click Track gelöst und dadurch entschärft, dass man aus mehreren Aufnahmen die beste auswählen kann. Die Live-Begleitung zum Stummfilm muss dagegen ohne Click Track auf Anhieb stimmen. Hinzu kommt, dass die Bildgeschwindigkeit für Aufnahme und Projektion variabel war. Ein Film konnte mit 16 Bildern/Sekunde gezeigt werden – der 1909 festgelegte, aber nicht allgemein befolgte Standard52 –, ein anderer mit 20, 22 oder 24 Bildern/Sekunde. Betrachten wir das Problem antizipierend synchroner Musik anhand eines Schulbeispiels aus dem Handbuch53. Eine Rezension aus dem Erscheinungs50 | H. Erdmann/G. Becce/L. Brav: Allgemeines Handbuch der Filmmusik, S. 53–54. 51 | Alexander Böhnke: »Die Zeit der Diegese«, in: montage AV 16/2 (2007), S. 94–104. 52 | Dies entspricht dem Standard von 1000 Bildern/Minute, der auf dem zweiten inter­n ationalen Kongress der Filmhersteller (Paris 1909) beschlossen wurde. 53 | H. Erdmann/G. Becce/L. Brav: Allgemeines Handbuch der Filmmusik, Band 1, S. 20–21.

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jahr des Handbuchs betont die Selbstverständlichkeit, dass Kinomusik »zeitlich gehörig auskalkuliert [wird] (Fibelaufgabe des Illustrators!)«54. Wann wird das Kalkulieren nötig, und wie löst man dieses Problem? Ein Kinokapellmeister kann entweder so lange herumprobieren, bis er Näherungswerte von Tempo und Einsatz einer antizipierenden Marschmusik ermittelt hat, oder sie präzise berechnen. Ihr Einsatz (Bild-Vorlauf) wird bestimmt durch die Formel: Takte × 60 × Bildfrequenz × Zählzeiten pro Takt   = Einzelbilder Tempo in MM Steht beispielsweise der Marsch im $4, liegt die Bildfrequenz bei 20 Bildern/ Sekunde und das Marschtempo der Soldaten bei 80 Schritten/Minute, so muss die Musik einer achttaktigen Phrase 480 Einzelbilder vor dem ersten sichtbaren Schritt einsetzen: 8 × 60 × 20 × 4   = 480 80 Die Stelle lässt sich entweder mit einem Bildzählapparat oder durch Umrechnung in Filmmeter auffinden. Die Musik musste also zumindest stellenweise wie Fließbandarbeit zur Filmbewegung eingetaktet werden. Die Formel ist analog auf Tanz‑ und Maschinenszenen anwendbar. Man kann die Berechnung durch gebrauchsfertige Tabellen verkürzen und dadurch die Einrichtung einer »Musikillustration« beschleunigen. Angesichts der sehr knappen Vorbereitungszeit von wenigen Tagen liegt hierin ein großer Vorteil55. Der technische Wandel der Kinomusik lässt sich an zwei weiteren Aspekten zeigen: der Modularisierung ihrer Struktur und der systematischen Topisierung ihres Materials. Da ich sie andernorts beschrieben habe,56 gehe ich hier auf die zunehmende Rationalisierung der Arbeitstechniken von Kinomusikern ein, die in den Katalogen und Instruktionen erkennbar wird. Alle drei Koautoren des Handbuchs, Becce, Brav und Erdmann, waren beschlagene Filmmusikkomponisten, Arrangeure und Kinokapellmeister. Wir können da54 | Franz Wallner in einer Rezension, in: BZ am Mittag vom 07.06.1927, zit. nach: Herbert Birett: Stummfilm-Musik. Materialsammlung, Berlin 1970, S. 162. 55 | Ein Zeitraum von zwei bis drei Tagen zur Vorbereitung einer Musikbegleitung wird in mehreren deutschen und amerikanischen Quellen genannt. Sicher ist, dass einige professionelle Kinokapellmeister tatsächlich mit Tabellen arbeiteten. W. Wlaikow publizierte einen Ratgeber für Kinomusiker, der gedruckte Tabellen zur Umrechnung von Zeit, Filmmetern und Metronomzahlen enthält (Film-Ton-Kunst vom 15.06.1927, S. 69). 56 | Tobias Plebuch: »Mysteriosos Demystified: Topical Strategies Within and Beyond the Silent Cinema«, in: Journal of Film Music 5.1–2 (2012), S. 77–92; Janina Müller/ Tobias Plebuch: »Toward a Prehistory of Film Music: Hans Erdmann’s Score for Nosferatu and the Idea of Modular Form«, in: Journal of Film Music 6.1 (2013), S. 31–48.

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her annehmen, dass die Systematik des Katalogs im zweiten Band des Handbuchs und seine technischen Hinweise in der Praxis verwurzelt sind. Unter Modularisierung verstehe ich die Tendenz, Kinomusik unter dem Zeitdruck des Projektors aus wiederholbaren, weitgehend frei kombinierbaren und dehnbaren Segmenten aufzubauen. Derartige musikalische Module erkennt man in Kinothekenstücken an Doppelstrichen, Fermaten und Atemzeichen, die nicht mehr mit ihrer traditionellen Bedeutung notiert werden: Sie bezeichnen Wiederholungs‑ und Sprungstellen, also musikalische Bausteine. Eine aus Modulen generierte Filmbegleitung kann viel leichter dem Schnitt angepasst werden als eine, die den traditionellen Strukturprinzipien von Periodik und Großform (ABA, Rondo, Variation usw.) folgt (Abbildung 17).

Abb. 17: Modulare Struktur am Ende des Satzes II. A. »Wohlauf«. Quelle: Hans Erdmann: Fantastisch-romantische Suite, Berlin 1926.

Ein gutes Beispiel für Modularität ist die Fantastisch-romantische Suite, die Hans Erdmann, Ko-Autor des Handbuchs, aus seiner Originalmusik zu Nosferatu (1922) zog und 1926 zum allgemeinen Gebrauch im Kino publizierte. Sie besteht aus zehn Sätzen und insgesamt 127 Segmenten. In Segment 12 des Notenbeispiels erklingt das Hauptmotiv des Satzes in F-Dur, in Segment  13 transponiert nach As-Dur. Jedes der nur zweitaktigen Segmente kann beliebig wiederholt werden, um die Musik einer konkreten Szene anzupassen. Nr. 14 und das unnummerierte letzte Segment sind optionale Schlüsse: Jenes beendet die vorherrschend entspannte Stimmung des »Wohlauf« mit einem AsDur-Akkord, dieses erinnert mit Tremoli, vermindertem Dreiklang und einem Hauptmotiv der Suite an deren unheimlich-bedrohliche Grundstimmung. Die Entfernung von der klassisch-romantischen Werkidee eines geschlossenen Ganzen, dem eine definitive Partitur zugrunde liegt, ist deutlich. Die offene Konzeption der modularen Kompositionstechnik impliziert eine korres­

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pondierende Bearbeitungstechnik: In generische Kinothekenmusik (»photoplay music«) werden Sollbruchstellen eingebaut, damit sie für einen konkreten Film eingerichtet werden kann. Der Trend zur Modularisierung erfasste aber nicht nur derartige Versatzstücke, sondern tendenziell das gesamte traditionelle Repertoire (Abbildung 18).

Abb. 18: Mahler im Kino. Ludwig Bravs Katalog »zum besonderen Gebrauch für Film, Bühne, Konzert« zeigt Incipits von Passagen aus der Siebten Sinfonie mit eingeklammerten Seitenzahlen der Partitur und topischen Charakterisierungen. Quelle: Ludwig Brav: Thematischer Führer durch die Orchestermusik des Verlages Ed. Bote und G. Bock, Berlin 1928.

Diese Tendenz steht in engem Zusammenhang mit dem Auf bau von Film­ musikkatalogen und ihrer zunehmenden Komplexität. Sie dokumentieren nicht nur ein Repertoire, sondern auch dessen zweckmäßige Ordnung. Sowohl das Handbuch als auch Rapées Encyclopaedia of Music for Pictures (1925) gingen hervor aus »Stimmungskartotheken«, die Kinomusiker anlegten, um ihre Arbeit zu beschleunigen. Besonders auffällig ist, dass die Ordnungskriterien dieser Kataloge nicht Komponistennamen oder Besetzungen sind, sondern musikalische Topoi, und dass diese Topoi in den vielen Katalogen ein hohes Maß an Übereinstimmung zeigen. »Misterioso«, »Agitato«, »Sturm«, »Orientalisch«, »Militärisch« usw. sind Schlagwörter, die international verstanden wurden. In den 1920er-Jahren versuchten Musikverlage, ihr traditionelles Notenrepertoire von Opern- und Konzertmusik auf dem kräftig wachsenden Markt der Kinomusik abzusetzen. Nicht nur Bote & Bock mit Bravs Katalog, auch die Wiener Universal Edition versuchte hier mit der Serie »Vindobona« Fuß zu fassen, indem sie einen Teil ihres Notenangebots für den Gebrauch im Kino etikettierte (Abbildung 19). Schon seit den 1910er-Jahren gehen Kataloge von Kinomusik über eine solch flache Systematik bloßer Etikettierungen hinaus, indem sie Unterkategorien bilden, d. h. Begriffshierarchien einer musikalischen Semantik (Abbildung 20). Der zweite Band des Handbuchs ist ein Katalog musikalischer Versatzstücke zum Gebrauch im Kino. Er enthält sowohl Kinothekenmusik als auch traditionelle Werke, die mit Schlagwörtern indexiert und technischen Hinwei-

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Abb. 19: Bruckner im Kino. Sinfoniesätze, welche die UE in Bearbeitungen für Salon- und kleines Orchester zur Filmillustration anbot. Quelle: Vindobona, Wien: Universal-Edition 1927–34.

Abb. 20: Allgemeines Handbuch der Filmmusik, Nr. 326. Die Ordnungsbegriffe (DR = Dramatische Expression) folgen einem komplexen Katalogisierungssystem. ② = 2 Minuten, → = Vorsprung, ← = Rücksprung, dkl = dunkle Grundstimmung in bewegtem Tempo. Quelle: G. Becce/H. Erdmann/L. Brav: Allgemeines Handbuch der Filmmusik, Band 2, S. 25.

sen zur Einrichtung kommentiert sind57. »Misterioso« bezeichnete bereits in der Schauspielmusik des späten 19. Jahrhunderts einen Typus von Musik (nicht mehr nur eine Vortragsweise) und entwickelte sich allmählich zu einer Gattung mit untergeordneten Arten: 1927, gegen Ende der Stummfi lmzeit, verzeichnet das Handbuch knapp 300 Misteriosi in 14 verschiedenen Untergruppen wie »Nacht, Grauen«, »Zauber, Vision«, »Verstohlen« usw.58 Kinokapellmeister konnten also im Handbuch nicht nur »passende« Illustrationsmusik aufsuchen, sondern auch Ausdrucknuancen verschiedener Miste-

57 | Das Verzeichnis ist hauptsächlich Ludwig Brav zuzuschreiben, siehe H. Erdmann/ G. Becce/L. Brav: Allgemeines Handbuch der Filmmusik, Band 1, S. IV. 58 | Vgl. T. Plebuch: »Mysteriosos Demystified«.

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riosi abwägen, Ersatz für ein verschlissenes Stück und detaillierte Hinweise zu seiner Einrichtung finden. Somit lassen sich die Arbeitstechniken professioneller Kinokapellmeister in den 1920er-Jahren rekonstruieren: Sie benötigten einen sehr umfangreichen und vielfältigen Notenfundus, aus dem alle möglichen Ereignisse, Situationen und Stimmungsnuancen der neuen Filmdramen adäquat zu begleiten waren. Sie mussten ihr Repertoire katalogisieren und konnten sich dabei an den gedruckten Katalogen orientieren. Eine eigene Kartei war gleichwohl unerlässlich, weil ständig neue Kinothekenmusik publiziert wurde und keine Sammlung mit dem Repertoire der publizierten Kataloge identisch war. In der Vorbereitung eines konkreten Films mussten sie nach eigener Vorschau, anhand von Zensurkarten oder veröffentlichten Cue Sheets geeignete Musik auswählen, »gehörig auskalkulieren« und arrangieren durch Schnitte, Wiederholungen und überleitende Modulationen. Da die gedruckten Noten nicht immer der örtlich vorhandenen Besetzung entsprachen, mussten die Cues teilweise uminstrumentiert werden, wobei man sich natürlich nicht mehr nach den Lehrbüchern von Berlioz und Strauss richten konnte59. Während der Filmvorführung spielten die Musiker also nicht aus einer kontinuierlichen Stimme, sondern aus einer Sammlung von bis zu mehreren Dutzend nummerierter Cues mit vielen Einzeichnungen. Um diese Arbeit möglichst schnell und gut zu bewältigen, verfügte Werner Schmidt-Boelcke am Berliner Capitol über ein Team mit mehreren Arran­ geuren und Kopisten, einem Filmvorführer (im Büro) und einem Bibliothekar. Wie in den meisten größeren Kinos der 1920er-Jahre verband auch im Capitol eine Telefonverbindung das Kapellmeisterpult mit dem Projektionsraum, um die Probenarbeit für Premieren größerer Spielfilme mit dem Vorführer zu koordinieren. Einige Kapellmeister bremsten oder beschleunigten den Projektor, um die Filmgeschwindigkeit der Musik anzupassen oder gaben dem Vorführer entsprechende Zeichen. Ernö Rappée schnitt sogar Filmszenen zurecht, um sie seiner Musikauswahl anzupassen60. Schmidt-Boelcke ließ, während er dirigierte, mit Hilfe von Knöpfen und Pedalen farbige Lampen auf den Musikerpulten aufleuchten. Die Details dieses Signalsystems sind nicht überliefert, aber es ist zu vermuten, dass die Farblichter dem Orchester Beschleunigung,

59 | Hinweise zur Edition und Bearbeitung von Kinomusik gibt L. Brav: Die Praxis der Bearbeitung. 60 | Otto Springefeld und Wilhelm Steinberg schlagen eine Geschwindigkeitsregelung des Projektors vom Kapellmeisterpult aus vor (D. R. P. 375924). In der Uraufführung des Rosenkavalier-Films 1926 dirigierte Richard Strauss vom Pult aus auch den Projektionisten (in: Licht-Bild-Bühne 19/8 (1926)).

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Verlangsamung und Abschluss (Kadenz) inmitten eines Cues signalisierten61. Besonders professionelle Ensembles waren in der Lage, auf ein Zeichen des Kapellmeisters, Schlüsse zu improvisieren, wenn die Musik zu weit von der Szene abzuweichen drohte62 . Zweckmäßig waren die Lichtsignale auch, weil die Begleitmusik in der Regel nicht geprobt, sondern vom Blatt gespielt wurde und die Musiker den Blick meistens auf die Noten richteten.

R esümee 1) Die musikalische Begleitung eines Films konnte von Ort zu Ort, ja von Vorführung zu Vorführung sehr verschieden sein. In dieser historischen Phase ist Filmmusik, von wenigen Originalkompositionen abgesehen, nicht als Werk zu verstehen, sondern primär als Praxis, als Spiel und als Aufführungsereignis im Sinne der Performanztheorie, eben Kinomusik. In den 1930er-Jahren setzte sich gegen Nadelton und Live-Musik der Lichtton durch, also die Fixierung der Musik auf dem Filmstreifen (»sound on film«), die sich bis heute (in digitaler Form) bewährt hat, doch verlief der Weg dorthin weder zielgerichtet noch eingleisig. Wir haben es vielmehr mit einer Entwicklungsdynamik zu tun, die im Laufe der Technikgeschichte oft zu beobachten ist: Techniken sind zweckrational, d. h. sie werden erfunden, um bestimmte Probleme zu lösen, inspirieren aber zugleich Experimente, die neue Möglichkeiten erschließen und neue Probleme erzeugen. So der mediengeschichtlich interessante »kreative Missbrauch« neuer Tonaufnahmetechniken durch Hindemith und Fischinger, um artifizielle Musik auf dem Speichermedium Papierrolle bzw. Lichttonspur direkt zu codieren. Freiräume eröffneten sich auch im Umgang mit den großen, komplexen Orchestrien, die gerade nicht vollautomatisch spielten, sondern zunehmend flexibler und interaktiver wurden. Ähnlich experimentierten die frühen Kino-DJs, als sie Grammophon und Projektor wieder entkoppelten und Platten nicht nur abspielten, sondern abschnittsweise mischten. Damit bildete sich auch ein neues Expertentum der Live-, Schallplatten‑ und Orchestrionmusiker, deren Arbeitsbedingungen und ‑prinzipien sich Ende der 1920er-Jahre einander annäherten: Sie kompilierten unter großem Zeitdruck und mit Hilfe von Cue Sheets ad hoc Begleitmusik aus ganzen Stücken und kürzeren Passagen von generischer Kinomusik und traditionellen Repertoirestücken und streuten dazu Geräusche ein.

61 | »Ein Kinoorchester-Dirigent erinnert sich: Gero Gandert im Gespräch mit Werner Schmidt-Boelcke«, in: Stummfilmmusik gestern und heute, Berlin 1979, S. 35–50. 62 | Diesen Rat gibt Ernö Rapée in seiner Encyclopaedia of music for pictures, New York 1925.

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2) Lange vor der Durchsetzung des Lichttonfilms und der Dominanz originaler Filmkomposition als integraler Bestandteil des »Filmwerkes« bildete sich in dieser spielerischen Praxis eine Handwerkslehre aus, in der eine genaue Synchronisierung von Live-Musik und Bewegtbild nur für spezielle mimetische Wirkungen angestrebt wurde (Tonmalereien, Tänze, Märsche, Musizierszenen usw.). Eine ungefähre Koordinierung der Musik mit der Szene war und blieb die Regel, denn eine Beziehung musikalischer und sichtbarer Ereignisse kann auch als gleichzeitig empfunden werden, wenn sie nicht auf denselben Zeitpunkt, sondern in denselben Zeitraum fallen. Und die Ungleichzeitigkeit musikalischer Aussagen, d. h.  eine sinnvolle Divergenz von Sichtbarem und Hörbarem, wurde ohnehin in Form von Ahnung und Erinnerung stimulierenden Motiven aus der Operntradition übernommen. Dass viele Verfahren der präzisen, durchgehenden und apparativ gestützten Synchronisation von Live-Musik und Bewegtbildern so kurzlebig waren, liegt gewiss auch daran, dass sie Musik determinierende, dem sichtbaren Drama fremde Zeichen in das Bild einfügten. Zwar mögen die Systeme Beck, Lachmann und Notofilm als Kuriositäten und technische Sackgassen der Stummfilmzeit erscheinen, doch antizipierten sie die Tonfilmproduktion der Studio-Ära insofern, als sie eine verbindliche Filmmusik mit Tempo, Takt und Einsätzen zu fixieren trachteten. Sie eliminierten bewusst die freie Praxis der Kompilation, was nicht unbedingt von Vorteil ist. Der Gemeinplatz, dass eine Filmmusik nicht nur untermalt, sondern interpretiert, ist insofern unzutreffend, als Interpretation immer Alternativen impliziert. Seit der Fixierung der Tonspur sind Filme in strengem Wortsinne nicht mehr musikalisch interpretierbar. 3) Dramaturgie ist ein Schlüsselproblem aller Formen von Film‑ bzw. Kinomusik. Die Verfahren von Beck, Lachmann und Notofilm orientieren sich an der Theaterbühne und sind daher ungeeignet für avancierte Montage63. Dasselbe Problem machte den Tonbildern zu schaffen: Dramaturgisch komplexe Spielfilme ab Mitte der 1910er-Jahre machten ihnen auch deswegen den Garaus, weil man Grammophonplatten nicht schneiden kann im Unterschied zur Tonspur des Lichttonverfahrens. Immerhin konnten Schallplattenmusiker, die Musik und Geräusche auf mehreren Plattentellern mixten, ähnlich wie Orchestrionspieler, die an halbautomatischen Instrumenten mit vielen Rollen, Registern und Effekten jonglierten, sich der modernen Schnitt-Technik des Film-Dramas etwas geschmeidiger anpassen, das disparate Bilder und Szenen im Laufe der Jahre immer rascher und aussagekräftiger montierte. Gerade hier war aber eine kompilierte, wenngleich oft hastig eingerichtete Live-Musik im Vorteil. Schon primitive Kompilationen, wie sie in den frühesten Cue Sheets 63 | Hier bestätigt sich wieder die Beobachtung, dass neue Medien alte, die sie zu verdrängen trachten, imitieren.

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um 1910 erkennbar sind, folgten dem Szenenwechsel. In der Auseinandersetzung mit komplexer Dramaturgie, Montage und Schnitt-Technik lernten die Kinomusiker, dass sie die Bilder gerade nicht starr duplizieren, sondern flexibel begleiten sollten. Eine modular strukturierte Musik konnte besonders gut auf die räumlich und zeitlich diskontinuierliche Dramaturgie reagieren, durch die sich Spielfilme von den Strukturen des (geschlossenen) Dramas seit Beginn des Jahrhunderts (The Great Train Robbery, 1903) immer weiter entfernten. Während der Film seine eigene Sprache entwickelte, bildete auch die Filmmusik, die es zu Anfang des Jahrhunderts noch nicht gab, in der Orientierung an Topik und Modularität ihre eigene Semantik und Grammatik aus. 4) So lässt sich abschließend feststellen, dass die Durchsetzung des Tonfilms um 1930 keinen totalen historischen Bruch bedeutet. Kontinuitäten zeigen sich auch darin, dass viele Kapellmeister von den Produktionsfirmen angestellt wurden, das Kinothekenrepertoire weiterverwendet wurde und Kompilation noch einige Jahre eine große Rolle spielte64. Modulare Techniken wurden in Tonfilm‑ und Videospielmusik weiterentwickelt und topische Katalogisierungssysteme in den Tonfilmstudios fortgesetzt. Ihre Prinzipien liegen bis heute der Vermarktung von »Production Music« zugrunde. Die fortgeschrittenen Verfahren der Kinomusik erwiesen sich also um 1930 als anschlussfähig. Wir können all die verschiedenen Entwicklungszüge auch als Teilmomente eines Industrialisierungsprozesses auffassen im Sinne einer stärkeren Nutzung apparativer Technik, einer Formierung medienspezifischer Standards, einer Umstellung auf arbeitsteilige Massenproduktion sowie einer methodischen, zunehmend rationalen Kontrolle über das Material und die zeitliche Organisation genuiner Filmmusik.

64  |  Zur fortgesetzten Kompilations- und Bearbeitungspraxis im Tonfilm der 1930er-Jahre vgl. William H. Rosar: »Music for the Monsters. Universal Pictures’ Horror Film Scores of the Thirties«, in: The Quarterly Journal of the Library of Congress 40 (1983), S. 390–421.

Radio als Erlebnisraum Sabine Breitsameter

»Moses hatte an den Fels geklopft. Gott sprach.« (Iwan Goll) »Es drängt sich die Frage auf, ob eine derartige Einrichtung eine Lebensnotwendigkeit für Deutschland ist und ob es berechtigt ist, jetzt Neuerungen einzuführen, die nicht unmittelbar dem Wiederaufbau dienen. Das deutsche Volk ist wirtschaftlich verarmt. Es ist nicht zu bestreiten, dass auch die geistige Verarmung Fortschritte macht [...]. [E]in freudloses Volk wird arbeitsunlustig. Hier setzt die Aufgabe des Rundfunks ein, und wenn es auf diese Weise gelingen sollte, allen Schichten der Bevölkerung künstlerisch und geistig hochstehende Vorträge aller Art zu Gehör zu bringen, wenn gleichzeitig der Industrie ein neues Tätigkeitsfeld eröffnet und damit für Arbeiter und Angestellte Arbeitsmöglichkeit geschaffen wird, dann wirkt der Rundfunk aufbauend, und das deutsche Volk hat ein Recht auf ihn.«1

So legitimierte Hans Bredow, Staatssekretär für das Telegrafen-, Fernsprechund Funkwesen im Reichspostministerium, 1923 die Daseinsberechtigung für den öffentlichen Rundfunk, kurz bevor dieser auf Sendung ging: Er sollte der kulturell-moralischen Erbauung dienlich sein, eng verquickt dabei mit einem ökonomischen Nutzen. Ein Kulturauftrag, der sich mit dem Begriff »Unterhaltungsrundfunk« tarnte, womit zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass diese neue Institution mit Politik nichts zu tun habe. Nur mit diesem explizit a-politischen Konzept war es Bredow gelungen, die ängstlichen Militärs und Ministerialbürokraten in Deutschland davon zu überzeugen, dass vom Rundfunk, diesem Massenkommunikationsmittel mit einer bislang ungekannten 1 | Hans Bredow: »Dem Deutschen Rundfunk zum Geleit!«, in: Der deutsche Rundfunk 1 (1923), S. 1, zit. nach: Hans Bredow: Im Banne der Ätherwellen. Band II – Funk im Ersten Weltkriege, Entstehung des Rundfunks, Stuttgart 1956, S. 217.

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Reichweite, keine politische Gefahr ausging. Nur auf dieser Grundlage wurde er in Deutschland überhaupt zugelassen. Dies in einer Zeit, in der – Oktober 1923 – die Inflation ihren Höhepunkt erreicht hatte. »Mehr als 60 % der Arbeiter waren arbeitslos [...]. Ein Kilo Brot kostete 5000 Millionen Mark [...]. Ein Radiogerät zu kaufen oder die Teilnahme­gebühr von 350 Milliarden Papiermark zu entrichten, konnte sich kaum jemand leisten.«2 Auch die alltagspolitische Situation war völlig instabil: Fast tägliche Massendemonstrationen, gewalttätige Aufmärsche und bürgerkriegsähnliche Tumulte, politische Morde (so z. B. an Martin Erzberger, Walter Rathenau u. a.) prägten den Alltag, und nur wenige Tage, nachdem die »Berliner Radiostunde« am 29. Oktober 1923 aus dem Vox-Haus in der Potsdamer Straße erstmals in Deutschland mit einem regelmäßigen Radioprogramm auf Sendung ging, marschierte Hitler in München auf die Feldherrenhalle. Das war also die Ausgangssituation, in der dieses neue Medium der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, was vielerorts als ein gefährliches Experiment mit ungewissem Ausgang angesehen wurde. Doch es gab auch völlig andere Betrachtungsweisen des neuen Mediums: Der polnische Dichter Tadeusz Peiper, der sich schon sehr früh, mit Blick auf die Radiopraxis in den USA und vor Einführung des Radios in Polen und Deutschland, mit der neuen Technologie und ihren Möglichkeiten befasste, steht für diejenigen zahlreichen Künstler, Intellektuellen und Technologen, die das vielfältige, innovative und auch imaginative Potential des Radios – damals auch »Radiofon« genannt – von Anfang an sahen und mit kritischem Interesse bejahten: »Das Radiofon [...] wird nicht wenig zur Entstehung einer neuen Weltsicht des Menschen beitragen. [...] Die Welt wird kleiner, und der Sichtkreis und Hörkreis des Menschen erweitert sich. Es verändert sich das, was man als Weltempfinden bezeichnen könnte. Es verändert sich der Mensch.« 3

Auch eine Erneuerung der Kunst sieht Peiper von dieser ins Allgegenwärtige drängenden Maschine katalysiert. Das Radio »versöhne« endlich den Menschen mit der Maschine4. Für viele damals, auch beispielsweise für die italienischen Futuristen, wird das Radio zur Maschine der Maschinen, die in einem Atemzug mit dem Flug2 | Peter Dahl: Arbeitersender und Volksempfänger. Proletarische Radiobewegung und bürgerlicher Rundfunk bis 1945, Frankfurt 1978, S. 22. 3 | Tadeusz Peiper: »Radiofon«, in: Ders., Tędy, Warschau 1930, o. S., übersetzt von Olaf Kühl auf: http://www.buero-kopernikus.org/img/documents/texte_zum_radio_ tadeusz_peiper1.pdf vom 05.02.2015. 4 | Vgl. ebd.

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zeug genannt wird, zu einem Apparat, der sich zutiefst ins alltägliche und persönliche Leben des einzelnen einprägt und ihn dadurch geradezu symbiotisch mit einer Hochtechnologie verbindet. Wer aber, so erhebt sich die Frage, war dazu eigentlich überhaupt in der Lage und konnte die Mittel dafür auf bringen, sind doch Anfang Dezember 1923 nur 467 Hörer in Deutschland als Inhaber einer Empfangslizenz dokumentiert 5? Zum einen darf man getrost davon ausgehen, dass auf jedes Gerät fünf bis zehn Hörer kamen, da Familien und Nachbarschaften gemeinsam hörten. Zum anderen nahm die Zahl der Empfangslizenzen rapide zu: Ende 1924 (nach der 1. Funkausstellung in Berlin) lag sie bereits bei ca. 500.000, im August 1928 bei 2  Millionen6. Im Vergleich dazu lag die Einwohnerzahl in Deutschland 1925 bei ca. 63 Millionen. Radio: Für viele ein Phänomen von geradezu mystischer Dimension, das Verblüffendes und schier Unglaubliches hervorbrachte. Diese als andersartig, sensationell und nicht selten als wundersam apostrophierten Erfahrungs- und Erlebnisaspekte waren es, die zu einem entscheidenden Teil dazu beitrugen, wie sich die Menschen das Radio mental und operativ zu eigen machten.

D ie A nwesenheit des A bwesenden Nicht nur die Radioschriften des Tadeusz Peiper zeigen: Als das Radio zu Beginn der 1920er-Jahre als Neues Medium populär wurde, revolutionierte seine Apparatur die Vorstellungswelt und den Realitätsentwurf. Töne und Worte konnten nun im Moment ihres Entstehens losgelöst von einer visuellen Erscheinung erklingen, Stimmen, Geräusche und Musiken körperlos und blitzschnell durch die Luft reisen. Viele Zeitgenossen sahen darin schlicht ein Wunder, da doch eine bloße Geste genüge, und »der ganze Raum hängt voll Melodien« 7 (Johannes R. Becher) oder es spricht eine ehrfurchtgebietende, autoritative Stimme aus einem Kasten: »Moses hatte an den Fels geklopft. Gott sprach.«8 So lautet dazu Iwan Golls ironischer Kommentar. Der Radioapparat: ein deus ex machina im wortwörtlichen Sinne. Zahlreiche literarische Zeugnisse, man möchte sagen: Ergüsse, der 1920er-Jahre legen Zeugnis für die populäre Anschauung ab, dass man dem Apparat des Rundfunks eine mysteriöse, überirdische Macht zu5 | Vgl. Statistik des Medienhistorikers Bernd Sösemann auf: http://pressechronik 1933.dpmu.de/2013/03/26/pressechronik-26-3-1933/#_ftn1 vom 05.02.2015. 6 | Ebd. 7 | In: Irmela Schneider (Hg.), Radio-Kultur in der Weimarer Republik, Tübingen 1984, S. 49. 8 | Ebd., S. 46.

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schrieb: »Und wir ahnen dumpf, was Dein Wesen ist./ Dass Du ein Rauschen in Gottes Baum/ Oder der Atem Gottes bist!«, so ähnlich raunte es vielerorts, nicht nur in der Ode Der unbekannten Kraft des Schriftstellers Gerhart Herrmann Mostar aus dem Jahr 19279. In Kunst und Alltag provozierte die Verbreitung des Radios die Ausei­ nandersetzung mit dem Unsichtbaren und Immateriellen. Im pfeifenden Wellensalat während einer Radio-Séance die Stimmen verstorbener Familienangehöriger oder historischer Persönlichkeiten zu hören war damals populär und soll zuweilen heute noch Praxis sein – der polnische Komponist Zbigniew Karkowski thematisierte dies vor wenigen Jahren in einer radiokünstlerischen Produktion für Radio France10. Und ein weiteres wichtiges Thema gewinnt im damaligen Alltagsverständnis Gestalt, das deutlich in unsere heutige mediale Gegenwart weist: Das, was seit kurzem gemeinhin mit dem Schlagwort »Virtuelle Realität« bezeichnet wird. »Hör des Tauchers Stimme auf dem Meer./ Ich begleite ihn auf seinem Gang./ Als ob ich der Taucher selber wäre,/ Geh ich auf dem Grund des Meers entlang.«11 So dichtete Johannes R. Becher Mitte der 1920er-Jahre und verleiht dabei einem genuinen Radio-Erlebnis Ausdruck: dem hörenden Dabeiseinkönnen an den alltäglichsten wie fremdesten Orten, obwohl man physisch nicht anwesend ist. An einer guten Klangqualität kann es nicht gelegen haben, dass viele Hörer bereits damals das unverrückbare Gefühl hatten, dabei zu sein. Der Eindruck, etwas Abwesendes sei gegenwärtig, war ganz offensichtlich nicht gekoppelt an die heute so oft ins Feld geführte technische Abbildungstreue, sondern an die frappierende Wirkung des Phänomens selbst, wenn die Essenz einer Stimme oder eines Lauts übertragen wurde. »[H]alten Sie es für möglich – ich meine – ganz im Prinzip, daß eine Musik ertönt, die tatsächlich nirgends gespielt wird?«,12 lässt der Autor und Intendant des Frankfurter Senders Hans Flesch eine seiner Figuren in seinem Hörspiel Zauberei auf dem Sender – dem ersten deutschsprachigen Hörspiel – völlig ver9 | Und es wäre verwegen zu glauben, dass eine solche Anschauung heute komplett »out« sei: Sie lebt u. a. fort in der Haltung scheuer Bewunderung, die sich bis heute im offiziellen Namen des staatlichen indischen Rundfunks »Akashvani« niederschlägt, einem Sanskrit-Begriff, der sich mit »Stimmen des Himmels« übersetzen ließe, und »die göttliche Botschaft« als mythologischen Kern beinhaltet. Oder auch – wenn wir in der westlichen Welt und in Europa bleiben wollen – in dem Namen »Sky«, unter dem ein TV-Bezahlsender versucht, Subskribenten zu gewinnen. 10 | Zbigniew Karkowski: ElectroStatics. Produktion: Atelier de Création Radiophonique, Radio France 2002. 11 | Johannes R. Becher: »Radio«, in: I. Schneider (Hg.), Radio-Kultur in der Weimarer Republik, S. 59. 12 | Hans Flesch: »Zauberei auf dem Sender. Versuch einer Rundfunkgroteske«, in: Funk 25 (1924), S. 544.

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unsichert 1924 fragen, und verweist damit auf das ungläubige Staunen, das die Laute, die aus einem Kasten namens Radio dringen, in weiten Teilen der Bevölkerung damals ausgelöst haben. Es zeigt, dass die Erscheinung, die der kanadische Klangforscher Murray Schafer in Anlehnung an McLuhan13 mit »Schizophonie« 14 bezeichnete, nämlich die grundsätzliche Abspaltung eines Schallereignisses von seiner akustisch-mechanischen Quelle, bisherige verbürgte Realitätserfahrungen auf irritierende Weise konterkariert. Viele sahen sich dadurch enttäuscht und auch getäuscht: Was ihnen entgegentrat aus dem Apparat war nicht die höhere Wahrheit eines deus ex machina, sondern ein bloßer Schein. Ein fahler akustischer Abglanz, der nicht mehr sein konnte als ein Surrogat. So wie in folgendem Aphorismus von Klabund, übrigens zum dritten Geburtstag der Berliner Funk-Stunde am 29.  Oktober 1926 verfasst mit der Überschrift: »Als sie meine Stimme im Rundfunk hörte«, und die letzten beiden Zeilen: »Kein Leib. Nur Stimme. Lippe nicht. Nur Wort./ Und leise legtest Du den Hörer fort.«15

»A n A lle!« Es sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, dass die Hörer insbesondere in der Anfangszeit des öffentlichen Rundfunks seine Überwindung von geographischen Distanzen als packendes Faszinosum erlebten. Nicht wenige Hörer suchten im Äther Sender in fremden Sprachen, selbst wenn sie noch so schwer hörbar und verständlich waren. Zahlreiche literarische und journalistische Zeugnisse der damaligen Zeit beschreiben dies mit dem Vokabular einer ausgeprägten pazifistischen, globalen Aufgeschlossenheit und eines weltumspannenden Fernwehs. Zentral war dabei auch der Gedanke der Völkerverständigung, etwa zwischen Frankreich und Deutschland, durch – so eine von zahlreichen Ideen – Radiosendungen, die man diesseits und jenseits der Grenze empfangen können sollte. Immer wieder wird auch der Gedanke eines im Äther vereinten Europas beschworen, das unbeeindruckt von politischen Grenzziehungen Gestalt gewinnen könne, aber auch über den Planeten Erde hinausgehen könne, bis ins All. Dies alles erschien gleichermaßen neuartig. 13 | Herbert M. McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man, Toronto 1962, S. 22. Anhand seiner oft zitierten Sentenz »Schizophrenia may be a necessary consequence of literacy.« erläutert McLuhan darauf, dass das phonetische Alphabet und das damit verbundene Schreiben und Lesen imaginierendes Denken und sich materialisierende Aktion voneinander abgespalten habe. 14 | Raymond Murray Schafer: The Tuning of the World, Toronto 1977, S. 90f. 15 | I. Schneider (Hg.), Radio-Kultur in der Weimarer Republik, S. 43.

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Entscheidend war dabei die Adresse »An Alle!«,16 die der Rundfunk ausgab, und die eine Unterschiedslosigkeit jenseits von Nation, sozialer Klasse oder Bildungsstand implizierte. Mit dem Rundfunk, der sternförmig seine Radiowellen ausstrahlt, war erstmals in der Geschichte ein Medium existent, das unzählige Menschen gleichzeitig erreichen kann. Die »Massen« als Adressat: Hier hakte natürlich die Arbeiterbewegung ein. Über »ein Medium von bisher unbekannter Reichweite zu verfügen« 17 war von den Arbeiter- und Soldaten­ räten bereits nach dem 1. Weltkrieg und in der Frühzeit des öffentlichen Rundfunks von praktischem Nutzen gewesen. So von den meuternden Matrosen im Kieler Hafen Anfang November 1918, wo sie die Funkanlagen besetzten, oder bei der Besetzung des Wolff’schen Telegrafenbüros und der militärischen Funkstationen (andere gab es damals nicht) in Berlin am 9. November 1918, die den Auftakt zu zähen Verhandlungen mit dem Rat der Volksbeauftragten um die Verfügungsgewalt über die Sendeanlagen darstellten. Diese Nachrichtenknotenpunkte wurden von den linken Besetzern eifrig zur Verbreitung revolutionärer Verlautbarungen und zur deutschlandweiten Koordination revolutionärer Aktivitäten genutzt 18. In dieser Formel »An Alle!« kristallisierten sich also revolutionäre Uto­pien einer politischen Mobilisierung der Massen sowie – parteiübergreifend – das Ideal von Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe für jeden. Hans Bredow wendete letzteres allerdings in ein Konzept völliger politischer Abstinenz: »Der Rundfunk soll dem verwöhntesten wie dem primitivsten Geschmack in gleicher Weise etwas bieten. Er soll Weltanschauungsfragen, sozialpolitische und wirtschaftspolitische Betrachtungen [...] mit grosser Vorsicht anfassen. Ja, er muß sie manchmal sogar farblos gestalten und parteipolitische Fragen natürlich ängstlich meiden.«19

Dass dieses Konzept inkonsequent bleiben musste, zumal in einem mehrheitlich vom Staat kontrollierten Rundfunk und einem ausgeprägten Zensurwesen, kann hier nur angedeutet werden. Jedem in gleicher Weise etwas bieten und gleichzeitig geistig-moralischen Auf bau zu leisten: Bredow ging es nicht zuletzt darum, die Massen mit »gehobenen« Inhalten in Kontakt zu bringen, etwa mit Sinfoniekonzerten, kunst16 | »An alle!«: So begann auch der Funkspruch, mit dem Lenin 1918 das Friedensangebot der Sowjetunion über Funk offerierte, also nicht auf dem üblichen Weg diplomatischer Kanäle. 17 | P. Dahl: Arbeitersender und Volksempfänger, S. 15. 18 | Einer der sozialdemokratischen Führer der Besetzung war Erich Rossmann, der nach dem 2. Weltkrieg 1948–49 Intendant von Radio Stuttgart war. 19 | Hans Bredow am 06.02.1928, zit. nach: Kurt E. Fischer: Dokumente zur Geschichte des Deutschen Rundfunks und Fernsehens, Göttingen 1957, S. 250.

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geschichtlichen Vorträgen, literarischen Lesungen, dies indem er sie durch Operette (Lehár, Suppé usw.), Tanzmusik, Frühgymnastik oder populäre Themen wie »Wie kommen die Preise bei Obst und Gemüse zustande?« quasi ­»köderte«.

D ie A rbeiter -R adio -V ereinigungen Doch Empfangsapparaturen waren teuer und kosteten 1925 noch durchschnittlich 99 Mark 20. Dies bei einem Durchschnittsgehalt von jährlich unter 1500 Mark 21. Ehemalige Militärfunker und Technikfreaks schlossen sich daher bereits 1923 in eigenen Gruppen und Verbänden zusammen, um Radioempfänger aus Einzelteilen zusammenzubauen. 1924 schoss eine ganze Reihe von Arbei­terRadio-Vereinen aus dem Boden. Auf der Gründungsversammlung des größten von ihnen, des »Arbeiter-Radio-Klubs Deutschland e. V.« (ARK; später umbenannt in Arbeiter-Radio-Bund Deutschlands), traten 3000 Radio-Amateure (»Funkfreunde«) dem Verein bei22 . Die Satzung lautete: »Der Arbeiter Radio-Klub bezweckt: • den Zusammenschluss aller am Radiowesen Interessierter aus Kreisen der werktätigen Bevölkerung in Deutschland. • die Errungenschaften des Radiowesens in den Dienst der kulturellen Bestrebungen der Arbeiterschaft zu stellen. • das Verständnis für die Radiotechnik zu wecken und zu fördern.« 23

Sowie als weiteren Unterpunkt politische Aktivitäten in Hinblick auf Gesetze und Sendeinhalte. Dies mündete in einen regelrechten Boom. Arbeiter trafen sich nach Feier­ abend, um sich gemeinsam ein Radio zu bauen. Dies nach technischen Anleitungen, die sie in ihrer Verbandszeitschrift detailliert nachlesen konnten. Darin gab es den sogenannten »Bastelmeister« mit »Radiokurse[n] für Anfän-

20 | Sie wurden 1927/28 bedeutend billiger durch eine neue P­ roduktionsmethode, aber waren immer noch vergleichsweise teuer: http://www.herbert-boerner.de/­ Beitraege/Rufu/39.50M.pdf vom 05.02.2015. 21 | Vgl. hierzu: http://www.deutsche-rentenversicherung-regional.de/Raa/Gt.do?f= G_SGB6ANL1G1 vom 05.02.2015. 22 | P. Dahl: Arbeitersender und Volksempfänger, S. 41. 23 | Ebd.

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ger«,24 wo in trockener Lehrbuchmanier der elektrische Stromkreis erläutert und ein elektrotechnischer Wortschatz lexikalisch aufgelistet wurde; Schaltpläne wurden abgebildet, nach denen die Bauteile zusammengefügt werden sollten, und physikalische Formeln wurden demonstriert zur Berechnung von elektrischem Widerstand, Stromleistung usw. Das verlangte einiges ab. Für Fortgeschrittene gab es einen Plan für den Selbstbau eines »Fünfröhren-Empfängers«. Die industrielle Herstellung von Rundfunk-Röhren wurde erläutert, die Funktionsweise neuer, verbesserter Lautsprecher und auch die Qualitätsunterschiede von Grammophonnadeln. Offiziell wurde immer wieder beschworen, das »höhere« Ziel des Arbeiterradio-Bunds sei die Aneignung von Herrschaftswissen und -technologie, um die Sache der Arbeiter, die Verbesserung ihrer politischen und wirtschaftlichen Lage, voranzubringen. Aber auch, um mittels Rundfunk die Massen zu mobilisieren. Immer wieder fanden sich Hinweise zur technischen Optimierung, um mit dem selbstgebauten Apparat Radio Moskau hören zu können. Auch war es technisch gesehen nur ein kleiner Schritt, aus einem Empfänger einen Sender herzustellen und Agitprop zu betreiben, was immer wieder auch geschah. Ansätze für Subversives gab es also durchaus, was die Autoritäten verschreckte und durch die ideologische Rhetorik mancher Verbandsfunktionäre verstärkt wurde. In der alltäglichen Praxis ging es aber vor allem darum, das Radio als technischen Apparat zu verstehen und zu rationalisieren, also seine »wundersamen Eigenschaften« zu entmystifizieren. Unübersehbar ist dabei eine ausgeprägte technische Bastel- und Anwendungseuphorie. Der überwiegende Teil der Vereinsmitglieder widmete sich dem technischen Do-it-Yourself mit spielerischer Leidenschaft und unterschied sich damit nicht wesentlich von den bürgerlichen Radiobastler-Vereinigungen, die es auch gab25. Immer wieder ist auch in den Artikeln der Vereinszeitschrift die Rede davon, dass zwischen Rundfunk und Werktätigen eine besondere Beziehung bestehe, weil das Radio Kulturprodukte maschinell verbreite, also mittels »der Maschine«, die im Zentrum der tagtäglichen Tätigkeit eines Arbeiters steht. Diese Vorstellung einer speziellen »Maschinenkultur«26 zeigt, dass es Ansätze gab, das individuelle und auch gesellschaftliche Verhältnis zur Maschine (das Wort Medium wurde damals noch nicht in unserem heutigen Sinne gebraucht) im Alltag zu reflektieren. Insbesondere die Radio-Maschine mit ihrem Drang zum Ubiquitären wurde als Phänomen betrachtet und untersucht, das aus sei24 | Z. B. in der Zeitschrift: Arbeiterfunk, Sonderheft zum Arbeiterfunktag 1930, darin: »Bastelmeister«, S. 25–47, worin auch auf Bauanleitungen in früheren Jahrgängen der Zeitschrift verwiesen wird. 25 | … allerdings in der medienhistorischen Forschung weniger gut dokumentiert sind. 26 | P. Dahl: Arbeitersender und Volksempfänger, S. 46.

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nem Konzept und seiner Struktur heraus das Denken, Fühlen und Handeln von Individuum und Gesellschaft prägt. Ein Gedanke, der kurz darauf ähnlich von Walter Benjamin aufgegriffen und vertieft, später von Mumford, McLuhan und Postman jeweils weiter ausgeführt wurde. Schaut man hinter die Oberfläche damaliger politischer Rhetorik, so spricht aus der Arbeiterradiobewegung insbesondere das Bedürfnis, sich in enger, taktiler Beziehung mit und in der neuen Apparatur zu erfahren oder sich damit als Mensch und Gesellschaft neu zu erfinden.

R undfunk : D ie zurechtgestutz te A ppar atur Doch den Apparat zu bauen und dem, was er lieferte, zuzuhören reichte vielen nicht aus. Sie wollten über das Programm mitreden, mehr noch: eingreifen und es direkt gestalten. Das erste deutsche Hörspiel, Hans Fleschs Zauberei auf dem Sender, das am 30. Oktober 1924 über den Äther ging, handelt von einer Tonstörung: Statt eines Symphoniekonzerts geht plötzlich eine Kakophonie aus Werbeansagen, Schlagern, Worten und Geräuschen über den Sender. Die Verantwortlichen sind ratlos und schockiert. Die Ursache für die Störung erscheint rätselhaft. Nach einigem Hin und Her kommt heraus: Ein Zauberer hat den Sender gekapert und beschickt ihn – collagenhaft – mit Lauten aller Art. Der Programmdirektor ist entsetzt: Wer hat das erlaubt? Niemandem, der nicht die offizielle Erlaubnis der Sendeverantwortlichen hat, sei es gestattet, selbst als Sender aufzutreten. Augenzwinkernd erzählt das Hörspiel dann weiter, wie der Zauberer mit der von ihm verursachten Störung nicht nur seine technische Macht demonstriert, sondern auch die neuen, medialen Möglichkeiten des Rezipierens und des Produzierens. Das bisher noch nicht dagewesene elektroakustische Medium inspiriert, so wird hier deutlich, zur collagenhaften Vielstimmigkeit, zu innovativem musikalischen Materialverständnis und zum künstlerischen Experiment. Der Zauberer im Hörspiel knüpft an das an, was Kurt Weill im selben Jahr als seine Audiovision einer »absoluten Radiokunst« publiziert hatte,27 und antizipiert, was der Filmemacher Walter Ruttmann, der ja der Idee des »absoluten Films« anhing, 1929 mit Hilfe der schneidbaren Filmtonspur erstmals fürs Radio produzieren konnte, nämlich sein Hörspiel Weekend, eine Collage aus O-Tönen des Berliner Alltags am Wochenende. Doch Hans Fleschs Zauberer steht nicht nur für eine neue Ästhetik, sondern auch für die politisch brennende Frage nach der Partizipation am ­Medium. 27 | Kurt Weill: »Möglichkeiten absoluter Radiokunst«, in: Der deutsche Rundfunk 3 (1925), S. 1625–1628, zit. nach: Dems., Gesammelte Schriften, Berlin 1990, S. 195.

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Heute wird meist nur wenig beachtet, dass der monodirektionale Rundfunk der 1920er-Jahre das Resultat einer Reduzierung und Zurichtung der Radiotechnologie durch die Politik ist. Hervorgegangen aus den Wechselsprecheinrichtungen an den Fronten des 1. Weltkriegs und auch aus der Vorkriegsradiopraxis in den USA, wo sich all­ abendlich Menschen im Äther trafen, um auf der selben Frequenz mit­einander in einem riesigen akustischen Chat miteinander zu kommunizieren, beinhaltet die Technologie des Radios zunächst Zweiweg- und auch Multi User-Kommunikation. Jeder Teilnehmer konnte Sender und Empfänger sein. Auch die Arbeiter- und Soldatenräte in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg, die demobilisierten revolutionären Funker, praktizierten diese »Zweiseitigkeit« des ­Mediums. Um die politischen Folgen der öffentlichen Einführung des Radios kalkulierbar zu machen, sicherte sich der Staat das Sendemonopol und stutzte die Technologie »Radio« zum monodirektionalen Rundfunk zurecht, ganz dem Motto entsprechend: »Einer sendet, viele hören zu.« Damals, in den Anfängen des Rundfunks in Deutschland, war das noch keineswegs eine Tatsache, die als abgeschlossen galt, wie das erste deutschsprachige Originalhörspiel Zauberei auf dem Sender zeigt. Namentlich der Arbeiter-Radio-Bund, aber auch andere gesellschaftliche und politische Kräfte wollten eigene Sender haben, in denen sie – z. T. nach dem Vorbild sowjetischer Radiopraxis – partizipative und interaktive Programme verwirklichen wollten. Dies schien im Jahre 1926 noch nicht ausgeschlossen, als Hans Bredow versprach, sich politisch für die operative Teilnahme des Hörers am Programm einzusetzen. Derartige Praktiken, und auch die interaktiven Ursprünge der Radiotechnologie, dürfte Bertolt Brecht vor Augen und Ohren gehabt haben, als er in seiner 1932 veröffentlichten Schrift forderte: »Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen [...] also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen, und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.« 28

Bis hinein in die 1930er-Jahre wurde das Prinzip des monodirektionalen Rundfunks immer wieder hinterfragt, auch von bürgerlicher Seite – so u. a. von ­Rudolf Arnheim. Und es konnten sich Fantasien und Utopien der gesellschaftlichen wie der operativ-tätigen Teilhabe recht ungehindert entfalten. Radio und Rundfunk galten noch nicht als abgeschlossene Konzepte. 28 | Bertolt Brecht: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, in: Gesammelte Schriften, Band 18, Frankfurt a. M. 1967, S. 117–134.

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M usik alische Partizipation im R adio Man erhält tatsächlich den Eindruck, dass die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Radio in den 1920er-Jahren insbesondere im linken politischen Spektrum deutlicher ausgeprägt ist als im konservativen Lager. Dort wurde das Medium wesentlich kritischer gesehen. Kritisiert wurde insbesondere die Vermassung und Banalisierung, die durch den Rundfunk befördert wird, die Anpassung an einen breiten Pu­ blikumsgeschmack, an – wie es Karl Kraus formulierte – das »taube Ohr der Menschheit«29. Heidegger etwa war ein leidenschaftlicher Kritiker des Radios, Jaspers beklagte das Radio als Teil der »technischen Massenordnung«30 und als integralen Bestandteil einer »Herrschaft des Apparats«,31 die dem Menschen seine Gesetze aufzwinge. Das Medium komme dabei nicht umhin, sich anzubiedern. Dies unterminiere die Suche nach Erkenntnis und Wahrheit, und vermeide Unbequemes und Unpopuläres. Kulturkonservative, kulturkritische und zivilisationsskeptische Haltungen zeigen sich in der Abwehr des neuen Mediums, doch lohnt der genaue Blick etwa auf Ansätze eines vom Expressionismus geprägten Lebensstils mit seiner Sehnsucht nach sinnlicher Intensivierung, oder auf Ideen der Lebensreformbewegung, die zurück zum Unentfremdeten, Natürlichen, Ursprünglichen strebten, und zu einer Welt ohne Maschinen. Hier dockt auch die Jugendmusikbewegung an, die sich wie das Radio Anfang der 1920er-Jahre etablierte. Ihre Anhänger kamen zusammen, um mit einfachen Mitteln gemeinsam Musik zu machen, ohne zunächst künstlerischen, dafür aber mit einem hohen gemeinschaftlichen Anspruch. Ihr Ziel war: gesellschaftliche Veränderung auf der Grundlage des Musischen. Ein »neuer Mensch« solle hervortreten, der sich seiner sinnlichen, körperlichen und intellektuellen Anlagen bewusst geworden sei und sich im Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist fortwährend innerhalb der Gemeinschaft weiterentwickele. Anti-bürgerliche Anklänge sind hier unüberhörbar. Die Ablehnung des Rundfunks war von vornherein klar: Die Apparatur verwehre ihren Hörern ein geistig-sinnliches Erlebnis »aus erster Hand«, wie man es beispielsweise im Konzertsaal wahrnehmen könne. Man wertete die Musik im Radio (und im Übrigen auch den Film) als Surrogat, das die

29 | I. Schneider (Hg.), Radio-Kultur in der Weimarer Republik, S. 37. 30 | Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1932, S. 38. 31 | Ebd., S. 45.

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Sabine Breitsameter »lebendige Gegenwart der sichtbaren und hörbaren Welt [zerschlägt], sie [Rundfunk und Film] zerspalten die lebendige Haltung des sehenden und hörenden, schauenden und lauschenden Menschen. Darin [...] liegt ihre innerste Gefahr.« 32

Im Übrigen führe das Radiohören zur Isolierung des Einzelnen (unterstützt durch die Kopfhörer bei Detektoren-Empfängern). Das Konzert im Radio wurde als die negativste Form des bürgerlichen Konzertbetriebs gewertet, da es Musiker und Publikum räumlich völlig voneinander trennte, die Zuhörerschaft anonym blieb, lediglich konsumierte und eine Möglichkeit auf aktive Teilnahme völlig ausgeschlossen war33. An dieser Stelle sei exemplarisch auf Fritz Jöde verwiesen, den seinerzeit wohl populärsten und umtriebigsten Aktivisten der Jugendmusikbewegung. Auch er hatte sich die oben geschilderte Haltung zu eigen gemacht. Die traf sich mit einer kritischen Sicht, die unter einer ganzen Reihe von Komponisten damals verbreitet war und auf die etablierte Form des Konzerts zielte. Einer ihrer prominentesten Protagonisten war Paul Hindemith: »Wir sind überzeugt«, so verlautete er, »daß das Konzert in seiner heutigen Form eine Einrichtung ist, die bekämpft werden muß und wollen versuchen, die fast verloren gegangene Gemeinschaft zwischen Ausführenden und Hörern wieder herzustellen.«34 Aus diesem Anspruch heraus komponierte Hindemith sogenannte Gemeinschaftsmusik 35 wie z. B. die Kantate Frau Musika, seine Geigenduette, die musikalisch reizvoll und gleichzeitig modern, für Laien spielbar sind, oder das Baden-Badener Lehrstück, das sich an die Ozeanüberquerung Lindberghs 1927 anlehnte, welches er 1929 gemeinsam mit Bertolt Brecht realisierte. Auch bei letzterem war das Publikum zu musikalischer Mitwirkung aufgerufen. Die 32 | Heino Eppinger: »Für und wider den Rundfunk«, in: Singgemeinde 4 (1924/1925), abgedruckt in Archiv 1980, S. 503. 33 | Vgl. dazu: Rika Tjakea Schütte: Das Menschenbild Fritz Jödes und seine Bestrebungen zur außerschulischen Musikvermittlung im Zusammenhang mit der Jugend­ musikbewegung, Norderstedt 2004, S. 95. 34 | Paul Hindemith: Gemeinschaft für Musik. Prospekt (1922), abgedruckt in: Giselher Schubert: Paul Hindemith. Aufsätze, Vorträge, Reden, Zürich/Mainz 1994, S. 8. 35 | »Diese Musik ist weder für den Konzertsaal noch für den Künstler geschrieben. Sie will Leuten, die zu ihrem eigenen Vergnügen singen und musizieren oder in einem kleinen Kreis Gleichgesinnter vormusizieren wollen, interessanter und neuzeitlicher Übungsstoff sein. […] Den Eingangs- und Schlusschor mögen die gesamten Anwesenden, denen man vor Beginn der Aufführung mit Hilfe der auf einer Wandtafel geschriebenen Noten die betreffenden Stellen einstudiert hat, mitsingen.«, in: Paul Hindemith: Vorwort zur Kantate Frau Musika [sic!], op. 45 Nr. 1, zit. nach: Giselher Schubert: »Zwischen Fronten: Hindemith, Brecht und Benn«, in: Dominik Sackmann (Hg.), Hindemith-Interpretationen. Hindemith und die zwanziger Jahre, Berlin 2008, S. 123.

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Passagen der »Menge«, vom Publikum zu singen, wurden bei der Uraufführung auf eine Leinwand projiziert. Angeblich hatten ausgewählte Teilnehmer im Publikum diese Passagen geübt, um den Gesang des Publikums zu ­stützen36. Hindemith selbst dirigierte »diesen merkwürdigen Gesangsverein«, wie ein zeitgenössischer Kritiker schrieb, in dem »Gerhart Hauptmann und Joseph Haas, Ernst Toch und André Gide, der Erbprinz von Donau-Eschingen [sic!] und Fräulein Müller aus Rastatt« mitsangen37. Die musikalische Gesamtleitung hatte im übrigen Hermann Scherchen. Eine Erneuerung der Beziehung zwischen Künstler und Publikum, das war es, was Brecht und Hindemith für das Lehrstück zusammenbrachte. Auch das Radio spielte in diesem Stück, auf Betreiben von Brecht, eine Rolle: Aus einem provisorisch zum Sendestudio umgebauten Raum ging das Stück über den Äther. Der Hörer sollte singend und deklamierend den Part des Fliegers zu Hause vervollständigen. Dem wurde auch bei der konzertanten Aufführung in Baden-Baden auf der Bühne Rechnung getragen, indem »Brecht die Bühne in zwei Hälften teilte: Links waren Ensemble, Chor und Sprecher platziert (›der Radioapparat‹), rechts, durch einen Paravent abgetrennt, saß in Hemdsärmeln Josef Witt als Stellvertreter des ›Hörers‹ und deklamierte den Gesangspart des Lindbergh.« 38

Auch Hindemith lag ja an einer Aktivierung des Rezipienten. Diese Suche führte ihn in einen intensiven Austausch mit Fritz Jöde. Hindemith realisierte mit ihm Projekte und baute so seinen Kontakt zur Jugendmusikbewegung aus. Jöde war an einer derartigen, ihn aufwertenden Kooperation sehr interessiert. Im Rahmen einer von Jöde geleiteten sogenannten »Offenen Singstunde«, die jedwedem Interessierten die Möglichkeit bot, gemeinsam zu singen, wurde 1928 in Baden-Baden Hindemiths Kantate Frau Musika aufgeführt. Während Jöde lange Jahre mit dem Rundfunk gehadert hatte und diesen als Verhinderer des Musizierens und Musikmachens verurteilte, hatte Hindemith Radio und Schallplatte insbesondere als Musikinstrumente ausgelotet, jenseits ihrer Vermittlerfunktion. So agierte er, der an der Berliner Musikhochschule lehrte, ab 1928 an der wohl ersten Forschungseinrichtung für elektroakustische Musik, der sogenannten »Rundfunkversuchsstelle«, die der Hochschule für Musik zu Berlin angegliedert war. 36 | Joachim Lucchesi/Ronald K. Shull: Musik bei Brecht, Frankfurt a. M. 1988, S. 434. 37 | Karl Laux: »Skandal in Baden-Baden, Bericht von 1929 – Kommentar von 1972«, in: Hindemith-Jahrbuch 2 (1972), Mainz 1972, S. 171. 38 | Golo Föllmer, auf: http://www.medienkunstnetz.de/werke/bertold-brecht/audio/2/ vom 06.02.2015.

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Spricht man vom Radio als Erlebnisraum, dann muss man die klare Rollenverteilung zwischen Hörer und Musiker, Publikum und Autor unbedingt berücksichtigen, welche in den 1920er-Jahren in Hinblick auf die viel kritisierte Beziehungslosigkeit im Rezeptionsprozess, die das Radio verstärkte, energisch diskutiert wurde. Ein populärer Versuch, dieses mediale Erlebnis der Isola­ tion gerade in Hinblick auf das Musikmachen aufzuheben, waren Fritz Jödes »Rundfunksingstunden«, die er ab Mitte 1928 bei der NORAG, der Norddeutschen Rundfunk AG in Hamburg, ausstrahlen ließ: »Jeweils vierzehntägig gab es ›Volksliedsingstunden‹ für Erwachsene und ›Singstunden für Kinderstube und Kindergarten‹. Jöde führte jeweils kurz in die Lieder ein und sang sie dann abschnittsweise mit einem kleinen Sing- und Spielkreis vor, wobei er die Zuhörer immer wieder zum Mitsingen animierte. Bei den Kindersingstunden gab er außerdem Spielanleitungen zu den Liedern, die auch von den Kindern im Senderaum ausgeführt wurden.« 39

Diese Rundfunksingstunden waren sehr beliebt, sodass bald der Wunsch aufkam, sie öfters zu halten40. Jöde hatte fundamental umgedacht: Radio und das musikalische »Spiel mit der Maschine« waren längst kein Tabu mehr. Aufgrund ihres unpolitischen Selbstverständnisses und ihres normativen Kulturbegriffs passte die Jugendmusikbewegung in den sogenannten Unterhaltungsrundfunk der 1920er-Jahre recht gut hinein, sodass Jöde auch bei den Programmverantwortlichen, namentlich bei der Norddeutschen Rundfunk AG Hamburg (NORAG), Akzeptanz und Unterstützung fand. Ermutigt durch diesen Erfolg sendete Herbert Just ab 1931 in seiner Sendung »Musizieren mit unsichtbaren Partnern« im Programm der Deutschen Welle Instrumentalmusik, die vorsah, dass Hörer zu Hause vor dem Radio einen Part durch ihr aktives Spiel ergänzten. Die Noten wurden vorher in Funkzeitschriften abgedruckt. Sowohl Jöde als auch Just waren der Ansicht, dass die zum Mittun aktivierten Zuhörer tatsächlich ein Gemeinschaftsgefühl mit den Studiomusikern erlebten. Das »Beglückende des gemeinsamen musikalischen Tuns«,41 das sie 39 | R. T. Schütte: Das Menschenbild Fritz Jödes, S. 95. 40 | »Es zeigt sich, daß ich mit den Singstunden überall im Lande Kreise erfasse, die gar nichts Programmatisches mit dem Liedersingen verbinden, sondern die einfach singen wollen. [...] Gerade sie bezeigen in ihren Briefen eine große Dankbarkeit und äußern wiederholt den Wunsch, diese Stunden viel öfter zu halten.«, in: Fritz Jöde: »Volks- und Jugendmusikpflege durch den Rundfunk«, in: Musikantengilde 1 (1929), Nachdruck in Archiv 1980, S. 507. 41 | Herbert Just: »Musizieren mit unsichtbaren Partnern«, in: Collegium Musicum 2 (1933), Nachdruck in Archiv 1980, S. 514.

Radio als Erlebnisraum

beschworen, schien sich aber bei vielen Hörern nicht recht einzustellen. Jöde und Just wurden in den eigenen Reihen scharf kritisiert: Nicht Gemeinschaft werde auf diese Weise gestiftet, vielmehr die Vereinzelung gefördert. Diese Sorge wurde damals häufig geäußert. Es erscheint mir bemerkenswert, dass sie im heutigen Umgang mit Medien kaum noch eine Rolle spielt. Weder strukturell noch inhaltlich wird die Problematik aufgeworfen, wie ein neues Medium seine Rezipienten verändert, mental und auch körperlich rekonfiguriert und sie dadurch »spielt«. »The medium is the massage«:42 So pointierte McLuhan Jahrzehnte später in den 1960er-Jahren seine These vom »Medium als Botschaft«. Ganz offensichtlich bedingt sich beides gegenseitig: Wo man kritisch dem Gedanken folgt, dass ein (neues) Medium tief in individuelles und gesellschaftliches Leben eingreift, entsteht wohl auch leichter ein Milieu, das sich herausgefordert sieht und danach drängt, vom rezeptiv »Bespielten« zum Spieler zu werden und dabei möglichst alles ausprobiert. Diese Energie war zweifelsohne in den 1920er-Jahren angesichts des neuen Mediums Radio am Werk. Die Radio-­ Maschine durchzudenken, durchzufühlen, durchzuspielen, mit den eigenen Absichten und Wünschen zu besetzen, sie dabei auch – wie vom Zauberer in Hans Fleschs Hörspiel 1924 demonstriert – völlig anders zu nutzen als offiziellerweise vorgesehen: Dies setzte nicht nur medienkünstlerische Grundpositionen frei, die bis heute Ihre Gültigkeit haben, sondern hatte einen entscheidenden Einfluss auf die Integration der Maschine in den Lebensalltag. Radio konnte dadurch ubiquitär werden und die von Benn beschriebene Entauratisierung des Kunstwerks noch tiefer im Alltag verankern als dies dem Film möglich war. Den meisten der hier dargestellten künstlerischen oder kreativen Versuchen mag man historische Wirkungslosigkeit vorwerfen: Fast nichts davon hat sich in den Programmen dauerhaft niedergeschlagen. Die Vermutung liegt nahe, dass nicht genug mit der Radio-Maschine gespielt wurde. Vielleicht hätte sonst das üble »Spiel«, zu dem die Maschine 1933 herangezogen wurde, nicht so reibungslos und schnell in tödlichen Ernst umschlagen können.

42 | Herbert M. McLuhan/Quentin Fiore: The Medium is the Massage. An inventory of effects, London 1967, darin: »All media work us over completely. They are so pervasive in their personal, political, economic, aesthetic, psychological, moral, ethical, and social consequences that they leave no part of us untouched, unaffected, unaltered.« (S. 26).

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Leiblichkeit und das Körperspiel der Maschinen Michael Harenberg

In der Musik sind Maschinenmodelle aus der langen und mannigfaltigen Geschichte der Musikautomaten und selbstspielenden Instrumente bekannt. Speziell in künstlerischen Zusammenhängen waren sie der Anlass für Auseinandersetzungen um eine vernunftbegabte Mechanik des musizierenden Körpers des »l’homme machine«, die Julien Offray de La Mettrie 1747 mit seinem gleichnamigen Text ausgelöst hatte. Der leibliche Körper als Maschine beschrieben wurde als Provokation verstanden und vor allem in Hinblick auf die Französische Revolution kontrovers diskutiert, die nur in Bezug auf vernunftbegabte Individuen als autonom handelnde Träger der neuen Klasse des Bürgertums politisch sinnvoll gedacht werden konnte. Descartes war der entscheidende Vertreter dieser Position, der die maschinenhaften Anteile des Körpers durch sein Primat eines vernunftbegabten denkenden Bewusstseins relativierte. Künstlerisch gipfelte dieses Denken in der schon 1662 von Athanasius Kircher formulierten Fantasie komponierender Automaten,1 welche die doppelte anthropologische Kränkung einer kreativen mechanischen »Intelligenz« vollenden und bis in die komplexen Modellierungsfantasien unserer Tage ­v irulent geblieben sind. Der Sitz anthropologischer Intelligenz wird zunehmend im Gehirn verortet, dessen Funktion metaphorisch verklärt, durch mechanische Modelle erklärt und nachgeahmt werden soll2 . Unabhängig davon, ob das 1 | Die »Arca Musurgia«, mit der es auch Laien möglich sein sollte, in kurzer Zeit vollkommene Kompositionen zu schaffen. Vgl. Athanasius Kircher: Musurgia universalis, Rom 1662, zit. nach: Fred K. Prieberg: Musica ex Machina. Über das Verhältnis von Musik und Technik, Berlin u. a. 1960, S. 106f. 2 | Vgl. Claudio Bacciagaluppi: »Aus der Zeit vor Welte: Der Melograph  – von einer Utopie der Aufklärung zum industriellen Erzeugnis«, in: Michael Harenberg/Daniel

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Michael Harenberg

Gedächtnis als Fotoapparat, Grammophon, Tonband oder digitale Rechen­ maschine gedacht und beschrieben wird, dienen die jeweils aktuellen Medientechnologien zur metaphorischen Beschreibung unverstandener Prozesse des lebendigen Körpers. Wenn, wie in E. T. A. Hoffmanns kunstvoll konstruierten Maschinen-­ Erzählungen, für die Protagonisten erst der zwar tote aber dispositive Automat die Möglichkeit bietet, mit sich selbst in Kontakt zu treten, indem er eine maschinelle Ordnung im anthropologischen Chaos schafft, stellt sich die prinzipielle Frage nach der spezifischen Funktion des Körperlichen, welches mit der Substitution des Imaginären der Maschine bereits in der Frühromantik zu fehlen beginnt. Praktische Konsequenz im Ästhetischen erlangen diese Überlegungen allerdings erst mit der technischen Entwicklung synthetischer Klangerzeugungsverfahren.

M usikmaschinenmodelle In der Musik versprach man sich von jeher durch die Selbstigkeit der Maschine vor allem eine Befreiung und Entlastung vom mühsamen Handwerk musizierender Gleichförmigkeit. Ästhetisch stand der Automat für eine kühle Konzentration auf die reine Form der Musik ohne die gestenreich inszenierten Übertreibungen von Virtuosen und seelenbewegten Instrumentalisten. Paul Hindemith erhofft sich noch 1927 ganz in der Tradition instrumentaler Musik vor der Schallaufzeichnung diesen Effekt vom Einsatz mechanischer Musikinstrumente: »Ihre Vorzüge seien: Möglichkeit der absoluten Festlegung des Willens des Komponisten, Unabhängigkeit von der augenblicklichen Disposition des Wiedergebenden, Erweiterung der technischen und klanglichen Möglichkeiten, Eindämmung des längst überreifen Konzertbetriebs und Personenkults, wohlfeile Verbreitungsmöglichkeit guter Musik. […]« 3

Es waren solche Überlegungen, welche schon zur Zeit der Aufklärung eine philosophische Provokation darstellten, die aber in ihrer Dialektik von Individuum und kollektivem instrumentalem Maschinenkörper mit zur Emanzipation der Instrumentalmusik im 18. Jahrhundert beigetragen haben. Für die weitere Entwicklung kann man zeigen, dass die Vorstellung eines indi­ eissberg (Hg.), Klang ohne Körper: Spuren und Potenziale des Körpers in der elektroW nischen Musik, Bielefeld 2010, S. 119–147. 3 | Paul Hindemith: »Zur mechanischen Musik«, in: Fritz Jöde/Fritz Reusch (Hg.), Die Musikantengilde – Blätter der Wegbereitung für Jugend und Volk 4 (1927), S. 156f.

Leiblichkeit und das Körperspiel der Maschinen

vidualisierten Subjektes und in Konsequenz ein selbstdisziplinierbarer Körper mit einer entsprechend disziplinierten Arbeitsmoral für die Genese einer musikalischen Gattung wie der Klavieretüde im 19. Jahrhundert unabdingbar war. Das Ideal der sich erstmals als unverwechselbare Künstlerpersönlichkeit inszenierenden Pianisten war die virtuose Perfektionierung körperlicher Bewegungsautomatismen der Hände und in letzter Konsequenz die Geburt einer ideellen Mensch-Maschine als ideale Verschmelzung des Körpers mit der Mechanik eines (Tasten-)Instrumentes. Das Streben nach perfekter mechanischer wie metaphysisch-idealer Gleichförmigkeit des Körpers endet  – in Kontrast zur eher spielerischen ­Maschinen-Seele-Konfrontation der Romantik in der späten Aufklärung  – zwangsläufig in der transzendentalen Figur der kleistschen Marionette, die zwar ohne Bewusstsein, aber gerade dadurch endgültig frei ist von den körperlichen wie menschlichen Unzulänglichkeiten. Diese Umdeutung des Automaten als zwar seelenloser, dafür aber perfekter Körper und der daraus entstehende künstlerische wie philosophische Zwiespalt bleibt themenbestimmend für das gesamte 19. Jahrhundert. Gerade angesichts des resultierenden Virtuosentums wie der Parallelentwicklung medialer Musikmaschinen reagiert E. T. A. Hoffmann mit seinen Texten Die Automate (1814) und Der Sandmann (1816) auf die zweifache Zumutung intellektueller wie körperlicher Entmündigung durch die entseelte Praxis virtuoser Instrumentenbeherrschung ebenso wie durch die Mechanisierung körperlicher Spielbewegungen. Anders als in der Romantik, wo die »techné« der Maschine in der Überlistung der Natur direkt mit weiblicher Verstellungskunst assoziiert wurde, ist alles Maschinelle und Automatische in der Moderne unmittelbarer Ausdruck einer zur zweiten Natur gewordenen Sphäre des Technischen. Ihre die Künstler faszinierenden Grenzen des Psychisch-Pathologischen wie des Ausgegrenzten werden in einer Gemengelage aus Industrieller Revolution, Krieg, Psychoanalyse und rasantem technischen Fortschritt zum Rohstoff abstrakter Kunst4. Ein entsprechender somatischer Begriff der Gesellschaft, wie er sich im wagnerschen Gesamtkunstwerk bereits ebenso findet wie etwa in der Philosophie Nietzsches, ist die Folie für die Entwicklung der modernen Tanz-, Sport- und Körperkulturen, die auch als Gegengewicht zur abrupt steigenden Technisierung und Politisierung des Körpers dienen. Entdeckungen und Erfindungen wie die Elektrizität, die moderne Chemie, das vermeintliche mediale Universalmedium des Äthers sowie der Magnetismus betonen die mediale

4 | Vgl. Wolfgang Hagen: »Der Okkultismus der Avantgarde um 1900«, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 338f.

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Magie des Körpers und seiner technischen Extensionen, die in allerlei Apparaturen, Verfahren und auch Instrument-Erfindungen ausbuchstabiert werden. Mit Fotografie, Film, Radio, Telegrafie und Grammophon werden die Sinne technologisch adressiert, gleichzeitig aber medial isoliert, was erstmals ihre unabhängige Betrachtung und wissenschaftliche Fokussierung ermöglichte5. Die technische Rekombination und Wiederverschaltung von Sinnen und ­Apparaten ist die nun folgende Geschichte der technischen Aufschreibe­ systeme, ihrer Standards und Technologien vom Tonfilm über das Fernsehen bis zur alles vereinigenden turingschen Universalmaschine als Medium transdisziplinärer körperlicher Vernetzung und Entgrenzung6.

N eue K l änge und ihre medialen I nszenierungen Neuartige Verhältnisse zwischen leiblichem Körper, Instrument und medial vermittelten Maschinenmodellen finden sich in prototypisch zugespitzter Weise im Zusammenhang mit der Erfindung der synthetischen Klangerzeugung am Ende des 19. Jahrhunderts. Neben der Schallaufzeichnung und dem Radio, die beide neuartige Modelle der Produktion und Rezeption von Musik definierten, war es insbesondere die synthetische Klangerzeugung, die zu neuen Spielapparaten und den entsprechenden Ästhetiken führte. Dabei verlaufen diese drei Entwicklungen nebeneinander mit vielfältigen Überschneidungen und gegenseitigen Ergänzungen. So wie die elektronische ­Musik nicht ohne Aufzeichnungsmedien wie Schallplatte und Tonband existiert hätte, waren radiophone Strategien vor dem zweiten Weltkrieg entscheidende Bedingungen für die Entwicklung und experimentelle Erprobung elektrifizierter Spiel­instrumente 7. Die Geschichte der elektronischen Instrumente beginnt fast parallel zu der Schallaufzeichnung 1890 in Washington DC mit einer Konstruktion Thaddeus Cahills (1867–1934), einem Anwalt und Erfinder, der bereits mit einigen kleineren Entwicklungen für Pianos und elektrische Schreibmaschinen in Erscheinung getreten war. Seine neueste Erfindung ist eine recht aufwendige elektrische Musikinstrumentmaschine, die er Dynamophon, später auch Telharmonium nennt. In seiner Scheune werden riesige und kleinere Zahnräder aus Stahl auf einer Achse mittels einer Dampfmaschine in Rotation versetzt. Die Zacken der unterschiedlichen Zahnräder werden durch Magnetfelder 5 | Vgl. Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2002. 6 | Vgl. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. 7 | Vgl. Michael Harenberg: Neue Musik durch neue Technik? Musikcomputer als qualitative Herausforderung für ein neues Denken in der Musik, Kassel u. a. 1989.

Leiblichkeit und das Körperspiel der Maschinen

Abb. 1: Telharmonium II, Thaddeus Cahill, Holyoke (USA) 1903–1906 (Wa­shington 1897– 1902), Holz, Spieltisch mit drei Manualen mit je fünf Oktaven (je 144 Tasten, bis zu 36 Tasten pro Oktave), gezahnte Wechselstromgeneratoren, Motor, Wasserkühlung, ca. 2000 Relayschaltungen, Telefonleitungen und Telefon­e mpfänger mit Schalltrichtern. Quelle: Reynold Weidenaar: Magic Music from the Telharmonium, Metuchen/London 1995.

geführt und die so durch Induktion erzeugten elektrischen Ströme als Ausgangsmaterial des riesigen Instruments verwendet. Diese elektrischen Signale können allerdings noch nicht verstärkt und hörbar gemacht werden, weshalb Cahill seine Musik direkt in das einzige Netz einspeist, das vor 1900 in der Lage ist, elektrische Signale in akustische zu wandeln: das Telegrafen- bzw. das Telefonnetz (Abbildung 1). Wir haben von dieser eher skurrilen Erfindung nur deshalb Kenntnis, weil der große Pianist und Komponist Ferruccio Busoni zufällig einen Bericht in der Zeitung liest, als er 1906 an seinem Text zum »Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst« arbeitet. Ohne spezifische Kenntnisse des Instruments scheint Cahills Erfindung für ihn doch die Lösung der von ihm beklagten Defizite der abendländischen Musik nach ihrer spätromantischen Krise in Bezug auf Harmonik, Rhythmik und vor allem Klangfarbe. Busoni liest im Juli 1906 in der Zeitschrift McClure’s Magazine den Artikel New Music for an old World. Dr. Thaddeus Cahills Dynamophone, an

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­extraordinary electrical invention for producing scientifically perfect music von Ray ­Stannard ­Baker8. Er zitiert daraus in seiner Schrift überraschend ausführlich: »Über diesen transzendentalen Tonerzeuger berichtet Mr. Baker desweiteren: […] Die Wahrnehmung der Unvollkommenheit der Tongebung bei allen Instrumenten führte Dr. Cahill zum Nachdenken. Material, Indisposition, Temperatur, klimatische Zustände beeinträchtigen die Zuverlässigkeit eines jeden. Der Klavierspieler verliert die Macht über den absterbenden Klang der Saite von dem Augenblick an, wo die Taste angeschlagen wurde. Auf der Orgel kann die Empfindung an der festgehaltenen Note nichts ändern. Dr. Cahill ersann die Idee eines Instrumentes, welches dem Spieler die absolute Kontrolle über jeden zu erzeugenden Ton und über dessen Ausdruck gewährte. Er nahm sich die Theorien Helmholtz’ zum Vorbild, die ihn lehrten, daß die Verhältnisse der Zahl und der Stärke der Obertöne zum Grundton den Ausschlag über den Klangcharakter der verschiedenen Instrumente geben. Demnach konstruierte er zu dem Apparat, welcher den Grundton schwingen läßt, eine Anzahl supplementärer Apparate, von welchen jeder einen der Obertöne erzeugt, und konnte solche in beliebiger Anordnung und Stärke dem Grundton zuhäufen. So ist jeder Klang einer mannigfaltigsten Charakterisierung fähig, sein Ausdruck auf das empfindlichste dynamisch zu regeln, die Stärke vom fast unhörbaren Pianissimo bis zur unerträglichen Lautmacht zu produzieren. Und weil das Instrument von einer Klaviatur aus gehandhabt wird, bleibt ihm die Fähigkeit bewahrt, der Eigenart eines Künstlers zu folgen. Eine Reihe solcher Klaviaturen, von mehreren Spielern gespielt, kann zu einem Orchester zusammengestellt werden. Der Bau des Instruments ist außerordentlich umfangreich und kostspielig, und sein praktischer Wert müßte mit Recht angezweifelt werden. Zum Vermittler der Schwingungen zwischen dem elektrischen Strom und der Luft wählte der Erfinder das Telephon-Diaphragma. Durch diesen glücklichen Einfall ist es möglich geworden, von einer Zentralstelle aus nach allen den mit Drähten verbundenen Plätzen, selbst auf große Entfernungen hin, die Klänge des Apparates zu versenden; und gelungene Experimente haben erwiesen, daß auf diesem Wege weder von den Feinheiten noch von der Macht der Töne etwas eingebüßt wird. Der in Verbindung stehende Raum wird zauberhaft mit Klang erfüllt, einem wissenschaftlich vollkommenen, niemals versagenden Klang, unsichtbar, mühelos, und unermüdlich.« 9

Und Busoni kommentiert: »Dem Bericht, dem ich diese Nachricht entnehme, sind authentische Photographien des Apparates beigegeben, welche jeden 8 | Ray Stannard Baker: »New Music for an old World. Dr. Taddeus Cahills Dynamo­ phone, an extraordinary electrical invention for producing scientifically perfect music«, in: McClure’s Magazine, 27 (1906). 9 | Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907/1911), Leipzig 1983, S. 49f.

Leiblichkeit und das Körperspiel der Maschinen

Zweifel über die Wirklichkeit dieser allerdings fast unglaublichen Schöpfung beseitigen. Der Apparat sieht aus wie ein Maschinenraum.« 10 Baker argumentiert in seiner Beschreibung des cahillschen Instruments, dass die physikalischen Forschungen etwa bei Helmholtz – also nicht länger die traditionelle Musiktheorie, das historische Wissen um Interpretation, Ästhetik und den Instrumentenbau – in der Lage sind, die Unvollkommenheit traditioneller Instrumente sowie die der sie spielenden Körper zu überwinden und sie vor allem mit wissenschaftlicher Präzision technologisch weiterzuentwickeln und zu optimieren. Die Maschine ersetzt nicht nur die als mechanisch mangelhaft und gemäß den neuen ästhetischen Anforderungen  – nicht zuletzt durch die Klangaufzeichnung – als unzureichend empfundenen traditionellen Instrumente. Sie definiert vor allem, und das wird Busoni in seiner Euphorie nicht mitgedacht haben, die Distribution und Rezeption von Musik völlig neu. Das Musizierbzw. Konzerterlebnis wird ersetzt durch einen komplexen Medienverbund aus elektronischer Klangerzeugung, dem Telefonnetz zur Übertragung und dem privaten Telefonapparat als Empfänger, der die elektrischen Schwingungen in ein hörbares Signal zu wandeln in der Lage ist. Noch wird das neuartige »Telephon-Harmonium« von mindestens zwei Instrumentalisten auf einer orgelähnlichen Tastatur, mit einem minimalen akustischen Feedback über einen riesigen Schalltrichter, der die Dampfmaschine kaum zu übertönen in der Lage war, händisch gespielt. Der oder die Spieler sind allerdings bereits Teil des viel größeren medialen Medienverbundes und daher in einer ganz neuen Position. Die künstlerische Autorschaft teilen sie mit der Instrumentmaschine, deren synthetischer Sound zumindest anfänglich die eigentliche Sensation der gespielten Musik darstellt. Die aufwendige Klangsynthese kann von ihnen mitgespielt werden, über das klingende Ergebnis hinter dem Wandler des Telefon-Diaphragmas haben sie allerdings keinerlei Kontrolle mehr. Die Agogik und Emotionalität ihrer körperlichen Spielbewegungen sind wie bei der Orgel als klassischer Musikmaschine nur indirekt z. B. über Dynamikschaltungen und Klangfarbenverläufe wahrnehmbar. Isoliert in der lauten Maschinerie erleben sie zudem nichts von der Reaktion ihres am Telefon jeweils ebenso vereinzelten Publikums auf ihre musikalischen Darbietungen. Die Frage des »Musizierens« stellt sich also auf vielerlei Ebenen neu. Damit ist Cahill ein Wegbereiter sowohl der synthetischen Klangerzeugung als auch ihrer experimentellen medialen Verschaltung. Bei der anfänglich ebenfalls als Instrument wahrgenommenen Medienmaschine Grammophon verschwindet der Spieler in seiner Funktion endgültig und wird zum 10 | Was ihn positiv stimmte. Vgl. F. Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, S. 51.

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Operator der technischen Infrastruktur. Auch diese kann er weiterhin kunstvoll bedienen, wie historische Grammophonkonzerte belegen. Die DJ-Culture unserer Tage zeigt, wie komplex mit existierender und aufgezeichneter Musik wiederum musiziert werden kann, wenn in den Lese- und Wiedergabevorgang der technischen Schriften künstlerisch eingegriffen wird 11. Was jeweils neu interpretiert werden muss, ist die Funktion und Rolle des spielenden Körpers in Bezug auf die als vermittelte Meta-Instrumente interpretierten technischen Apparate, die sich damit grundlegend gewandelt hat. Was Cahill erprobt, sind vielfältige technische wie künstlerische Verknüpfungen von Körpern, Maschinen und medialen Netzen. Diese Verknüpfungen selbst können bei ihm erstmals selbst zum künstlerischen Material werden. Die Rollen in dem gesamten künstlerisch-musikalischen Produktionsprozess sind dabei nicht mehr fest verteilt, sondern werden in jeder dieser Verschaltungen neu justiert. Damit werden neue technische Dispositive geschaffen, die bis heute ihre Gültigkeit haben. So beschreibt der DJ Tom Jerkinson aka Squarepusher heute das Verhältnis zu seinen Maschinen, von deren Selbstigkeit er sich kreativ inspirieren lässt, als »Kollaboration« 12 . Mit diesen technischen Verknüpfungen werden immer auch weitreichende ästhetische Entscheidungen getroffen. Vernetzt wird nicht nur die technische Infrastruktur aus elektronischer Klangerzeugung, einem Distributionsnetz und Telefonen als individuelle Wandlereinheiten, sondern auch die Speicherund Repräsentationsverfahren der qualitativ unterschiedlichen Schriftsysteme. Was erprobt wird, ist die künstlerische wie technische Neuverschaltung von Aufschreibsystemen im Symbolischen, Imaginären und Realen von Stimmen und Klängen. Konfrontiert werden klassische Partituren inklusive dem Wissen ihrer Interpretation mit technischen Schriften wie beim Grammophon, mechanischen Speichern wie bei den Walzen- und Selbstspielinstrumenten sowie neuen Übertragungskanälen wie dem Telefon und dem Rundfunk. Auf die heutige Zeit übertragen kommen die integrierten digitalen Universal­systeme und das Internet hinzu, inklusive der jeweils funktional recht flexibel adressierten Körper, die in, auf und mit diesen künstlerischen Medienkonstellationen spielen.

11 | Was bereits die Idee eines komponierenden technischen Schreibens wie etwa im Falle der »Ritzschrift« Moholy-Nagys war. Vgl. Rolf Großmann: »Distanzierte Verhältnisse? Zur Musikinstrumentalisierung der Reproduktionsmedien«, in: Michael Harenberg/ Daniel ­Weissberg (Hg.), Klang ohne Körper: Spuren und Potenziale des Körpers in der elek­t ronischen Musik, Bielefeld 2010, S. 183–201. 12 | Tom Jenkinson: »Collaborating with machines«, in: Flux 3 (2004), (Archiv nicht mehr online). Kopie unter http://www.dallasdance-music.com/music-dj-­producer-talk/143685collaborating-machines-tom-jenkinson-aka-squarepusher.html vom 10.12.2011. 


Leiblichkeit und das Körperspiel der Maschinen

Praktisch müssen zur Zeit Cahills erstmals neue Rollen für Körper und entsprechende Inszenierungen für technische Medienverbünde, neuartige Formen der Distribution wie der medialen Rezeption miterfunden werden. Damit wird eine interessante Parallele zu den Selbstspielinstrumenten dieser Zeit deutlich, die üblicherweise eher in einer ökonomischen wie künstlerischen Konkurrenzsituation zur Klangaufzeichnung und der synthetischen Klangerzeugung wahrgenommen werden. Dabei wird z. B. in Pianola-Konzerten, in denen der Pianolist den mechanischen Wiedergabeprozess künstlerisch interpretiert, ebenso an der Rolle und Funktion des Spielers im Verbund mit einem automatisierten Instrument gearbeitet. Nirgends aber treten die neuen Verschränkungen von symbolischen, imaginären und realen Erscheinungen von Körpern und Klängen so dramatisch in Erscheinung wie beim Grammophon. An seinem Beispiel lässt sich daher am deutlichsten zeigen, dass sich diese Verfahren aus einer künstlerischen, wissenschaftlichen oder technischen Praxis heraus entwickeln, die in ihren weitreichenden Konsequenzen überwiegend unverstanden bleibt. Friedrich Kittler beschreibt dies am Beispiel des wilhelminischen Staatsdichters Wildenbruch: »Wildenbruch […] verewigt sich in einer Grammophon-Aufnahme nach Ausführungen über Stimme als psychologisches Profil im Unterschied zu Gesichtern, mit den Worten: ›Vernehmt denn aus dem Klang von diesem Spruch Die Seele von Ernst von Wildenbruch‹. Vom Klang zum Spruch, vom Spruch zur Seele: so krampfhaft war Wildenbruch bemüht, Reelles (seine gespeicherte, aber sterbliche Stimme) auf Symbolisches (den artikulierten Diskurs von Lyrik) und Symbolisches auf Imaginäres (seine schöpferische Dichterseele) zu reduzieren. Aber Technik geht normalerweise den umgekehrten Weg, vom Imaginären zum Symbolischen zum Reellen, womit aller Seelenhauch in Sound und Phonstärke der mit den Aufzeichnungsmedien und ihrem medialen Umfeld möglich gewordenen Rockmusik untergeht. […] Faktisch lag den grammophonvernarrten Bürgern und Kaisern der Jahrhundertwende an Stimmen mehr als am Ritornell, das Stimmen und Identitäten zum Tanzen bringt.«13

Groß war das Erstaunen, als Klänge und Stimmen nicht länger als intimer Ausdruck der Seele, sondern als Ergebnis technischer Aufzeichnungen und Wiedergabe von Luftdruckschwankungen hörbar wurden. Bei Platon steht die »phoné«, die lebendige Stimme in ihrer Präsenz für Fülle, Seele oder Geist. Als stimmliche Sich-selbst-Gegenwärtigkeit begründete sie eine Derivation von Seele zu Stimme zu Schrift (»gramma«) und verwies damit die Schrift in 13 | Friedrich A. Kittler: »Der Gott der Ohren«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Das Schwinden der Sinne, Frankfurt a. M. 1984, S. 140–155.

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eine exteriore Position, einen Ort der Nachträglichkeit oder Absenz. Als Verschriftlichung eines technischen Vorgangs durch einen Aufschreib-Apparat für physikalische Parameter drehen sich diese Verhältnisse grundlegend um. Damit sind die kunstvoll konstruierten Konfrontationen von Seele und Maschine, mit denen die Romantik gespielt hat, auf eine überraschend triviale und ernüchternde Weise aufgehoben – zugunsten der Maschine. Wenn, wie etwa bei Daniel Friedrich Schubart, seit der deutschen Romantik der Begriff der »Natürlichkeit« gegen eine mit dem Mechanischen verbundene »Künstlichkeit« gestellt wird und das künstlerische »seelische Prinzip« gegen die toten mechanischen »Mittel«, dann werden damit scheinbar immer auch die entsprechenden medialen Archetypen aufgerufen14 . Die Transformation des musikalischen Empfindens im Bereich des Imaginären darf offensichtlich nicht über das Symbolische hinaus künstlerisch manipuliert werden und schon gar nicht von einer offensichtlich als seelenlos unterschiedenen Maschine. Das Unnatürliche, gegen das die Orgel wie die Musikautomaten schon weit vor dem Grammophon immer schon verstoßen haben, ist ihre unheimliche und dem Symbolischen – sei es Gott, das Genie oder ein gestalterisches, ästhetisches Prinzip etc. – weit überlegene Fähigkeit, direkt das Reelle zu adressieren und damit einen unerhörten Medienwechsel zu vollziehen. Ein TrompetenOrgelregister stellt den Versuch dar, den Trompetenklang möglichst genau zu simulieren und ein mechanischer Flötenspieler den des Flötenspiels. Das, was dabei als »unkünstlerisch« empfunden wird, ist die scheinbare Entfernung vom Medium zur Sphäre der Musik im Imaginären, wo alleine ihre Wirkung und ihre Absichten vermutet und entsprechend auch behauptet wurden.

V erschaltungen von mechanischen K örpern und leiblichen M aschinen Aus der Not, das elektrische Signal der cahillschen Erfindung mangels Vakuumröhre15 noch nicht verstärken zu können, wird mit der Distribution über das Telefonnetz auch gleich die Rezeption der Musik mit revolutioniert. In der Tat steht am Anfang dieser Geschichte die Geschäftsidee Cahills, Musik kostenpflichtig über das Telefonnetz anzubieten. Das war zu einer Zeit, als ausschließlich sehr reiche Leute zwar Telefone besaßen, aber mangels existierender Anschlüsse kaum Verwendung dafür hatten, für einen Erfinder eine 14 | Vgl. Christian Friedrich Daniel Schubart: »Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst (1806)«, Jürgen Mainka (Hg.), Leipzig 1977. 15 | Die erst 1915 von Lee de Forest patentiert und noch viel später entsprechend verstanden und verwendet wird.

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gute Idee. Zur Zielgruppe gehörten schnell auch internationale Hotellobbys, gediegene Restaurants und Bars, aber auch Theater, Konzertsäle und Waren­ häuser, die die neue Dienstleistung als Attraktion vermarkteten. Das Geschäftsmodell verfolgte Cahill nicht als einziger, auch wenn seine Geschichte in dem Kontext bei weitem die spannendste ist 16. »Wie Edith es versprochen hatte, begleitete mich Dr. Leete […]  in mein Schlafzimmer, um mir den Gebrauch des musikalischen Telefons zu zeigen« 17. Mit dieser technischen Utopie leitete 1888 der Autor Edward Bellamy in seinem Essay Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887 ganz beiläufig die Beschreibung einer der populärsten technologischen Verheißungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein: die Nutzung des Telefons als Übertragungsweg für Konzerte, Nachrichten und Unterhaltungssendungen. Das war mangels elektronischer Massenmedien wie Rundfunk und Fernsehen nicht so seltsam, wie es uns heute vorkommen mag. Telefon-Musikräume wurden zu den Attraktionen beliebter und häufig stattfindender Elektrizitätsausstellungen. In Paris und London übertrug man bereits 1881 ganze Opern über das Telefonnetz in spezielle Hörräume und das bereits über zwei räumlich getrennt aufgenommene Kanäle. Die Sensation der medialen Übertragung der akustischen Präsenz an einen anderen Ort ließ das internationale Publikumsinteresse so groß werden, dass jeder nur ein paar Minuten zuhören durfte, um Platz für die Nachdrängenden zu machen. Anlässlich der Münchner »Electricitätsausstellung« 1882 wurden gar mehrere Hörräume zugleich mit verschiedenen Musikübertragungen beschickt. Sie kamen aus Tutzing und Oberammergau und waren damit die ersten Live-Übertragungen über mehr als einhundert Kilometer18. Die »Wissenschaft vom Telephon«, wie es die New York Times am 09.10.1890 beschrieb, beruhte auf der Medienkombination von Telefon, Phonograph und der gerichteten Wiedergabe über Schalltrichter oder ein Telefon-Diaphragma.

16 | Die Idee wurde sehr breit diskutiert, wie z. B. einem Artikel in der Fachzeitschrift Electrical World vom März 1906 entnommen werden kann: »Heute wird … schöne Musik mit einer Gruppe Wechselstromdynamos hervorgebracht. … Und die Musik kann vernommen werden, wo immer ein Draht gespannt werden kann. … Der Geschäftsplan ist, daß die Musik zuerst an Hotels, Restaurants, Theater, Konzertsäle, Warenhäuser und an solche Privatleute verkauft wird, die imstande sind, über eine Neuheit zu gebieten.«, zit. nach: F. K. Prieberg: Musica ex Machina, S. 199. 17 | Edward Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887, Leipzig 1890, Elftes Kapitel, zit. nach: Dieter Daniels: Kunst als Sendung, München 2002, S. 86. 18 | Florian Cramer (Hg.), Zauberhafte Klangmaschinen: Von der Sprechmaschine bis zur Soundcard, Mainz 2008.

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Also die klassische Kombination von Speicherung und Übertragung, die als eine Definition für Medien überhaupt gilt 19. Die durch den Einsatz technischer Medien garantierte Wissenschaftlichkeit der telefongestützten Medienverbünde schien auch einem »Techniker« als Garant für den zukünftigen musikalischen Fortschritt von nicht nur elektrisch übertragenen, sondern letztlich auch erzeugten Klängen. Er schreibt anonym 1888 in der Zeitschrift für Instrumentenbau: »[…] Denn wir vermögen die mechanischen Verhältnisse, von denen die Entstehung der Töne und Obertöne abhängt, nur im beschränkten Maße und nicht in raschem Wechsel abzuändern, welche die Kunst des Klanges erfordern würde, und so lange wir nicht die Mittel haben, welche uns gestatten, Töne zu jeder Zahl und Stärke zu erzeugen, so lange bleiben die Herrlichkeiten des Klanges uns unerreichbar. Die Möglichkeit einer solchen freien Beherrschung der Tonerzeugung scheint aber nur auf der Anwendung der Elektricität zur Erzeugung des Tones zu beruhen, und wenn wir sehen, wie durch die Elektricität im Telephon die Wiedergabe so vieler Klangverschiedenheiten möglich gemacht wird, so muß sich unsere Hoffnung für die freie Beherrschung des Klanges naturgemäß auf die Elektricität richten. […] Jedenfalls dürfen wir daran festhalten, daß die freie Erzeugung des Klanges durch die Elektricität ermöglicht erscheint und daß dann mit der Anwendung der Elektricität in der Musik diese Kunst in eine ganz neue Entwicklungsphase treten wird.  (Techniker)« 20 .

Diese Erfolgsgeschichte verschiedener kommerzieller Anbieter von T ­ elefonMusik, Telefon-Zeitungen und Telefon-Auskunftsdiensten mit Abo- und Zeit-Bezahlmodellen, öffentlichen Münzapparaten (»Theatrophon-Box«), vorgelesenen Telefon-Nachrichten etc., sollte bis 1932 andauern21. Dann hatte sich der Rundfunk auch außerhalb der großen internationalen Zentren soweit durchgesetzt, dass er die Bedürfnisse nach Information und Unterhaltung besser befriedigen konnte. Die telefonischen Musik- und Zeitungsanbieter gingen Konkurs oder entwickelten sich, wie in Europa etwa der italienische RAI, zu Radiosendern weiter22 .

19 | F. K. Prieberg: Musica ex Machina, S. 198f. 20 | »Elektricität und Musik« von »Techniker« – Autor in der Zeitschrift für Instrumentenbau 1887/1888, in: Joachim Stange-Elbe: »Prophezeiung eines Technikers«, ZeM-Mitteilungsblatt 1 (1991), S. 4f. zitiert nach: http://www.zem.de/heft/04_emu1.htm vom 12.04.2008. 21 | Peter Donhauser: »Konserventöne, Elektroklänge und Ingenieurmusik«, in: F. ­C ramer (Hg.), Zauberhafte Klangmaschinen, S. 15–43, hier S. 36f. 22 | Ebd.

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Aber zurück zu Cahill: Seine dampfmaschinengetriebene, über 200 Tonnen schwere Instrumentmaschine, die er anfänglich Dynamophon nennt und die erst später gegen seinen Willen als Telharmonium bezeichnet wird, nutzte Zahnräder auf einer Achse, um unterschiedliche Sinustöne und durch Mischungen unterschiedliche Klangfarben zu erzeugen (was das Prinzip der Hammond-Orgel vorwegnimmt, wenn auch im Dampfmaschinen-Format der ersten industriellen Revolution…)23. Erfolgreich wird seine Erfindung erst nach mehreren gescheiterten Versuchen und nach einem aufwendigen Umzug mittels Sonderzügen nach New York, wo er Hotels, Theater und Restaurants über das Telefonnetz oder exklusive Leitungen beschallt. Interessant ist, dass er auch hier mit komplexen Medienverbünden experimentiert, die die synthetische Klangerzeugung wie die Schallaufzeichnung als einen natürlichen Verbündeten der Live-Konzerte betrachten. Die Generierung, Aufzeichnung, Übertragung und Wiedergabe im Reellen von Klang ergänzt also in der Praxis die traditionellen Formen des Spielens von im Symbolischen notierter Musik. Um sein Programm attraktiver zu gestalten, wird zum von mehreren Personen live gespielten Telharmonium eine auf Schallplatte aufgenommene Geigenstimme oder aber aufgenommener Gesang mit übertragen. Das Grammophon muss dafür mittels Mikrofon aufgenommen und gemischt mit dem Signal des Dynamophons gemeinsam übertragen werden. Um der unzureichenden und klanglich unbefriedigenden Mikrofontechnik zu entgehen, werden alternativ die Grammophonaufnahmen gemeinsam mit dem Signal des übertragenen Telharmoniums vor Ort präsentiert, was allerdings zu komplizierten Fragen der Synchronisation der noch nicht technisch fest verkoppelten Einzelmedien führt. Deshalb wurden statt des Grammophons auch Live-­ Sängerinnen bzw. Instrumentalisten eingesetzt, die zum Fernkonzert des Telharmoniums live vor Ort sangen oder spielten. Bemerkenswert ist daran, dass das erste elektronische Instrument bereits als Teil eines komplexen Medienverbundes aus elektrischer Klangerzeugung – Rundfunk per Telefon, Schallaufzeichnung ergänzender Stimmen, Live-­ 23 | »By 1906 the new Telharmonium was beginning to take shape. 50 people were now working in Holyoke to build this massive machine. Four years and $ 200,000 later, it was now 60 feet long, weighed almost 200 tons and incorporated over 2000 electric switches. The newer model featured 145 gear driven alternators (or dynamos). These provided more accurate intonation than the previous design and produced 36 notes per octave with frequencies between 40–4000 Hz. Also, the custom receivers were improved to eliminate some of the inconsistencies of the earlier models, which tended to ›shout‹ some notes out more than others.«, Jay Williston: Thaddeus Cahill’s Teleharmonium, zit. nach: http://www.synthmuseum.com/magazine/0102jw.html vom 17.04.2012. Vgl. auch: R. Weidenaar: Magic music from the telharmonium.

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Konzerte mit Grammophonzuspielungen  – erfunden wurde und nicht, wie man es aus heutiger Sicht oder aus der Perspektive Busonis vermuten könnte, als ein »neues« Musikinstrument. Der Begriff »Synthesizer« taucht in der Patentschrift Cahills zwar auf, aber seine moderne Bedeutung bekommt der Begriff erst in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts24. Radiophone Strategien sind auch in der weiteren Entwicklung der elek­ trischen und elektronischen Spielinstrumente vom Hellertion bis zu Magers Trautonium zu finden. Sie werden zwar noch von Menschen gespielt, aber ebenfalls als Teil eines größeren Medienverbundes, hier als Rundfunkinstrumente konzipiert und gebaut. Ohne den Umweg über unzulängliche Mikrofone, Verstärker und Lautsprecher sollen sie, dem Vorbild Cahills folgend, direkt über den Sender gespielt werden und erst in den Empfangsgeräten der Zuhörer erklingen.

K örperliche A utonomie in neuen M edienverbünden Einen Höhepunkt hatte die Automatenentwicklung, ausgehend von Italien über Frankreich, im Barock des 16. und 17. Jahrhunderts mit der Idee, Natur in idealisierter Form erschaffen zu können  – bzw. die ideale Entfaltung der materiellen Welt und Natur so zu manipulieren, dass ihre hergestellte ästhetische Identität mit Kunst selbst austauschbar wird. Was die Faszination der Automaten zu allen Zeiten ausmacht, ist ihre Selbsttätigkeit (Hans-Dieter Bahr), welche die Frage ihrer »Eigenheit« als »Selbst« zwischen dem menschlichen Leib und der toten Materie der Maschinen aufwirft. Wo steht der Automat in seinem »Selbstsein« in Bezug auf die kantsche »transzendentale Materie«, in welcher der Maschine doch offensichtlich der letzte Referent, nämlich ein Subjekt zur »Eigenheit«, fehlt? Eine mögliche Antwort liegt in dem der Maschine fehlenden Subjekt des Begehrens. In diesem Sinn bemerkt Hans-Dieter Bahr: »Die Maschinen sind nur Zeugen einer Subjektivität, zeichenhafte Verweisungen auf sie. Wie aber sollte Uneigentliches das Eigentliche ohne ›falsche‹ Aussage bezeugen können? Da sie als Signifikate nur fehlende Referenten seien, sind sie ›an sich‹ nur Signifikanten.«25 Signifikanten aber folgen, wie Bahr an frühen Maschinenmodellen erläutert, dem Gestus der Feinderklärung des »Anderen« als Verneinung von »Etwas«, der Absprechung von Subjektivität letztlich als Sklave, was genau dem wirtschaftlichen Äquivalent des Automaten entspricht, der in dieser R ­ olle 24 | Vgl. Peter Donhauser: »Konserventöne, Elektroklänge und Ingenieurmusik«, in: F. Cramer (Hg.), Zauberhafte Klangmaschinen, S. 15–43, hier S. 31. 25 | Hans-Dieter Bahr: Über den Umgang mit Maschinen, Tübingen 1983, S. 421f.

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a­ llerdings nicht zu hermetisch-selbstständig werden darf, sondern inwendig und mit List gleichzeitig in seiner technischen Medialität anschlussfähig bleiben muss, um eine definierte Funktion erfüllen zu können, die auch eine nicht gegenständliche z. B. ästhetische sein kann. Wenn man mit Bahr in Bezug auf Hegel in der maschinellen Bewegung als Signifikanten eine abbildende Projektion leiblicher Bewegungen interpretiert, dann entdeckt man unweigerlich in der Bewegung des Leibes selbst Maschinelles, weil in dieser Projektion das Subjekt des Begehrens nicht selbst ent­ äußernd mit abgebildet wird. Oder wie Kant es formuliert: »Insofern sei uns unser Leib selbst nur als ›Erscheinung‹ gegeben, also stets nur als Bewegung von Bildsignifikanten, in Folge müsste der Körper sich selbst in Herren und Sklaven aufsplitten und sein Begehren von der Mittelhaftigkeit seiner Organe und ihren maschinellen Funktionen absondern.«26 Dabei beinhaltet der Aspekt der maschinell-künstlichen Nachahmung keinerlei Täuschungsabsicht. Das »automatenhafte« ist z. B. sehr verbreitet durch Miniaturisierung gekennzeichnet und zwar so deutlich, dass eine wirkliche Verwechslung ausgeschlossen ist und letztlich auch sein muss, da sonst der negative Differenzbezug auf das Selbst nicht funktionieren könnte. Die Wesensstruktur animistischer Automaten besteht ja gerade darin, dass sie wie Lebewesen sind und nicht, dass sie entweder Lebewesen oder Leblose sein könnten. Die Automaten simulieren das Leben, aber sie täuschen es nicht vor. Darin beruhen ihre Weisen, spezifische Ausdrucksfähigkeiten wie Lust, Unheimlichkeit, Ironie, Opfergänge etc. zu versinnbildlichen. Die Maschine ist somit Ort eines aktiv fehlenden und nicht nur abwesenden Subjektreferenten. Die Maschine ist das, was auf »entsprechende« Weise vom Subjekt abgefallen ist. Sie ist das »Subjekt als Abfall von sich selbst«27. Damit kann die Maschine im Unterschied zur normalen Definition des »Mittel-umzu« als logische Mitte einer schließenden Bewegung in einem selbstständigen Gegenüber auftauchen, wodurch sie unser Begehren herausfordert. Diese Funktion lässt sich als Medialität des Technischen und als abgeleitete Funk­ tion des Medialen maschineller Künstlichkeit sowie ihrer techné beschreiben. Georg Christoph Tholen bemerkt dazu: »Technische Medien haben gleichsam ihre Voraussetzung bzw. ihre Vor-Gegebenheit nicht in der Technik im landläufigen Sinn. Denn deren instrumentelle Definition basiert auf einer Opposition zwischen dem Natürlichen und Technischen, welche Artefakte und Artefiktionen nur als Mangel oder Ersatz des Menschen bestimmen kann. Wahrnehmung jedoch, stets historisch variabel, ist stets eine medial verfasste. Sie ist, wie oben dargelegt, immer schon vom Künstlichen affiziert, im strikten Sinne des griechischen Wortes 26 | H.-D. Bahr: Über den Umgang mit Maschinen, S. 448f. 27 | Ebd., S. 446.

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Michael Harenberg von Techné, d. h. von der List der Verstellungskunst. Techné meint also das Wechselspiel von Verbergung und Entbergung, das überhaupt etwas erscheinen lässt. Auch so etwas wie ein Instrument. Der Ort der Medien verdankt sich ihrer Dazwischenkunft. Das unvordenkliche Chiascuro der stets medial zäsurierten Wahrnehmung führt zu einem ab-okularen Begriff des Bildes, der die ontologisch nicht still zu stellende Dynamik der Text-, Bilder- und Hörwelten bezeugt und bewahrt.« 28

Damit ist allerdings noch nichts über die komplizierte Beziehung zwischen Subjekt und Maschine gesagt, die in allen Formen wechselseitiger Herrschaft und Knechtschaft, Bewunderung und Verachtung etc. interpretiert worden ist und damit das Wesen des Verhältnisses durch ein solches Schema selbst strukturell verfehlt. Und noch einmal Tholen: »Der Mensch, Vorbild reiner Autonomie, ist der Widerpart der Maschine als das Sinnbild des Zwangsläufigen. Doch im Automaten, dem Bild und Anspruch einer perfekten Autonomie, fällt beides untrennbar zusammen: Was ›von selbst‹ geschieht, ist zugleich absoluter Zwang und absolute Freiheit. […] Die Leib-Eigenschaft dieses Maschinenbildes ist im doppelten Sinne des Wortes zu verstehen: Zum einen ist der perfekte, alles könnende Automat gleichsam der göttliche Doppelgänger und das Ideal-Bild eines autonomen Subjekts. Doch in eben dieser Vorstellung kaschiert der Mensch seine Angst vor der rätselhaften Unbestimmtheit und Zweckoffenheit des Technischen, welches dadurch den Anspruch einer souveränen Verfügung über die ihm dienenden Mittel widerlegt und eben wegen seiner gleichsam prostitutiven Nachgiebigkeit den Schein bestärkt, es beherrsche den Menschen.« 29

Einzig im Spielerischen sowie in der Kunst ist eine andere Erkundung im bewussten Verzicht auf diese bereits immer entschiedenen anthropologischen Diskurse des Automaten denkbar, können seine Spiel- und Machträume mit offenem Ausgang erkundet und oftmals gerade im absichtsvollen Missbrauch ausgelotet werden. Der Automat ist sozusagen der Platzhalter des verschwundenen Lebens – was einmal in der spektakulären Absicht geschaffen worden war, Lebendiges mit mechanischen Mitteln verwirrend zu imitieren, wird im Zeitalter der Aufklärung zum theoretischen Repräsentanten eines Lebens, das keines mehr sein soll. 28 | Georg Christoph Tholen: »Dazwischen  – Die Medialität der Medien«, in: Ludwig ­Jäger/Gisela Fehrmann/Meike Adam (Hg.), Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme (= Mediologie, Band 18), Paderborn 2012, S. 43–62, hier S. 62. 29 | Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a. M. 2002, S. 190; vgl. auch Alex Sutter: Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, La Mettrie und Kant, Frankfurt a. M. 1988.

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Immer wird in der maschinenhaft-gleichförmigen, gleichsam unendlichen, den Tod überlistenden Bewegung das mechanisch Lebendige mit dem Gestus einer ewigen Darbietung, eines Her- und Vorbringens vorgeführt. Bereits im 18. Jahrhundert verlieren die Automaten durch die Aufwertung des Modells und des Experiments als erkenntnistheoretische Kategorien ihre Unschuld. Sie müssen seither als technische Materialisierungen kalkulatorischer Modelle von mechanischen, pneumatischen, später elektrischen und schließlich mathematischen Theorien angesehen werden, sie zeigen dem Modell immanente mögliche Erscheinungsformen und deren Grenzen, kurz: Sie werden selbst zum Medium kalkulatorischer Welterkenntnismodelle. Und damit entsteht eine neue Form von Automaten, die nicht länger das nachahmende Leibliche und spielerische »Als ob« der Dazwischenkunft von Maschine und Natur bzw. Menschenbild thematisieren, sondern die Mechanik formalisierter und symbolhafter Zahlenarithmetik selbst. Erst der Schallaufzeichnung und der synthetischen Klangerzeugung gelingt es, das Reelle schwingender Schallwellen medial direkt zu adressieren. Im Reellen des aufgezeichneten Klanges offenbaren sich im arbiträren Rauschen des Mediums Stimmen und Klänge, nicht Symbole, Notentexte, Partituren und Spielanweisungen. Damit dreht sich die »Beweislast« von Körpern und ihren modellhaften Nachahmungen um. Die Mechanik formalisierter und symbolhafter Zahlenarithmetik beinhaltet bereits all die komplexen Verweissysteme und kunstvollen Versteckspiele. Die cahillschen Medienverbünde konnten noch als künstlerische Konfigurationen gestaltet werden. In den digitalen Universalmaschinen gehört dieses Spiel bereits zum Wesen der Maschine, die uns daran teilhaben lässt, wenn wir uns auf die immanente und hermetische Welt der grundsätzlich lösbaren Probleme der Turingmaschine einlassen. Nach all den Rekonfigurationsversuchen im Medialen von Walzen, mechanischen Reproduktionsinstrumenten, der Schallplatte als musikalischem Speicher im Realen und komplexen Medienverbünden und ihrer programmierbaren Schaltungslogik fallen schließlich im universalen Medium des Digitalen alle diese Techniken und Funktionen – sowohl die einer ästhetischen Semantik als auch die der Speicherung und Reproduktion – in eins im »wirklichen Virtuellen« eines lediglich akustischen Cyberspaces30. Das Verhältnis zum Körper hat sich aktuell abermals verändert. Aus der Feindschaft ist ein Nebeneinander geworden, das den Körper auch in Bezug auf die Maschine freisetzt. Der Grund liegt in der neuen Autonomie und Abgeschlossenheit der Maschinen. Und so existiert der Interpret nicht länger

30 | Vgl. Michael Harenberg: Virtuelle Instrumente im akustischen Cyberspace. Zur musikalischen Ästhetik des digitalen Zeitalters, Bielefeld 2012.

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als »verzerrendes Prisma zwischen Komponist und Hörer« (Edgard Varèse31). Seine Freisetzung löst eine Renaissance der Leiblichkeit in Bezug auf die Maschinen aus. Die Menge an Interfaces und Controllern ist in den letzten Jahren geradezu explodiert, die Technologien, den leiblichen Körper nicht nur als immanenten Bestandteil der Algorithmen zu integrieren, sind zahlreich und gleichzeitig sehr einfach und durch Smartphones und andere Gadgets alltäglich geworden. Ähnlich wie Cahill sind wir dabei, im Digitalen von globalen Netzen und smarten Universalmaschinen neue künstlerische Verschaltungsund Kollaborationssysteme zu erproben, wenn auch nicht länger mit der Idee eines technologisch perfekten Instrumentariums. Nach der Simulationsästhetik als Explorationsphase der neuen technischen Möglichkeiten vor allem auch der digitalen Medien, besetzen Körper nicht länger mehr nur die Nischen, in denen nach Friedrich Kittler Maschinen und Netzwerke noch (Ver-)Schaltungsprobleme haben. Die Sicht einer solchen technikzentrierten linearen Geschichtsschreibung verlassend kann man beobachten, wie Körper und technische Medien in vielfältigen wechselseitigen Transformationen miteinander künstlerisch kooperieren. Dabei spielen die ästhetischen Setzungen dieser Kooperationen und ihrer Beziehungen die vorherrschende Rolle, unabhängig davon, ob sie für ihre Realisierung dann auf Computerprogramme, traditionelle Instrumente oder historische Klangmaschinen in beliebigen Verknüpfungen zurückgreifen. Jegliche Entscheidung in diesem Feld, das wir mit dem Begriff der »Virtualisierung« zu fassen versuchen, wird zum zwingend notwendigen Bestandteil eines umfassenden künstlerischen Gestaltungsprozesses.

31 | Edgard Varèse: »Musik auf neuen Wegen«, in: Stimmen 15 (1949), S.  401–404, hier S. 404.

Musikalische Medienpraxis in historischen Zeitschriften

»Die Stimme seines Herrn« Hauszeitschrift der Deutschen Grammophon AG von 1909 bis 1918 Claudia Thieße

Die Erfindung des Grammophons veränderte das Hörverhalten der Menschen um 1900 nachhaltig: Dank dieser neuen Technik waren akustische Aufzeichnungen möglich, die jederzeit und an fast jedem Ort auf Wunsch des Hörers wiedergegeben werden konnten. Die Neuheit und Brisanz der ständigen Verfügbarkeit von Tönen und Klängen können wir heute kaum nachvollziehen, ist sie inzwischen doch selbstverständlicher Teil des Alltags. Eine Möglichkeit, sich diesem Faszinosum zu nähern, bietet die Auswertung von Grammophon-Zeitschriften aus der Frühzeit der Phonographie. Im Dunstkreis der Technikeuphorie entstanden, sind sie wertvolle Zeugen früher Medienpraxis. Mehrere wissenschaftliche Arbeiten haben sich bereits mit verschiedenen dieser Zeitschriften beschäftigt 1. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Zeitschrift Die Stimme seines Herrn, von der bislang keine ausführliche Analyse existiert 2 . 1 | Vgl. z. B. Mark Katz: Capturing sound. How technology has changed music, Berkeley 2010; Timothy D. Taylor/Mark Katz/Tony Grajeda (Hg.), Music, sound and technology in America. A documentary history of early phonograph, cinema and radio, Durham 2012; Stefan Gauß: Nadel, Rille, Trichter. Kulturgeschichte des Phonographen und des Grammophons in Deutschland (1900–1940), Köln u. a. 2009. Letzerer bezieht sich hauptsächlich auf die Phonographische Zeitschrift sowie Die Sprechmaschine. 2 | Manche Autoren erwähnen die Zeitschrift am Rande, z. B. Mark Katz in seiner »Introduction« in: T. D. Taylor/M. Katz/T. Grajeda (Hg.), Music, sound and technology in America, S.  11–28. Marion Linhardt betrachtet in ihrem Aufsatz »›Die Stimme seines Herrn‹. Die Werbezeitschrift der Deutschen Grammophon AG 1909–1918«, in: M ­ athias Spohr  (Hg.), Geschichte und Medien der »gehobenen« Unterhaltungsmusik, Zürich

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Der Zeitschriftenname Die Stimme seines Herrn leitet sich vom englischen Markennamen His Master’s Voice (HMV) ab, unter dem Emil Berliners Gramophone Company firmierte. Die deutsche Übersetzung avancierte sowohl zum Markenzeichen des deutschen Tochterunternehmens Deutsche Grammo­ phon  AG als auch zum Namen der hauseigenen Grammophonzeitschrift, die zwischen November 1909 und April 1918 im Deutschen Reich publiziert wurde3. Mit verschiedenen Titeln und Untertiteln4 erschien die Zeitschrift regelmäßig (mit variierenden Erscheinungsperioden), bis sie schließlich kriegsbedingt eingestellt wurde. Einerseits wurde sie als Werbung für die neuesten technischen Errungenschaften und Einspielungen der Deutschen Grammophon AG verwendet; andererseits war sie ein Unterhaltungsblatt für grammophoninteressierte Leser und enthielt zahlreiche Beiträge, Anekdoten, Geschichten, auch Gedichte, in denen – oft überspitzt – die Verwendung des Grammophons thematisiert wurde. Selbstverständlich muss bei der Auswertung dieser Werbungscharakter berücksichtigt werden. Die Zeitschrift diente dem Imagegewinn und Marketingzwecken. Es ist deshalb davon auszugehen, dass häufig nicht die Realität, sondern ein im Sinne der Firma ausgerichtetes Idealbild präsentiert wurde. Nichtsdestotrotz ist Die Stimme seines Herrn ein interessantes Forschungsobjekt, an dem mittels eines sondierenden Streifzuges folgende Punkte untersucht werden sollen: • Hörorte, Aufführungsweisen und Hörformen: Situationen, in denen laut Zeitschrift das Grammophon zur Musikaufführung genutzt wurde • Zusammensetzung der Hörerschaft: die soziale Verortung des Grammophons • Hör-Erziehung durch Repertoireerweiterung und Selbststudium Das zentrale Interesse des folgenden Beitrags liegt – wie im Großen und Ganzen auch in Die Stimme seines Herrn – auf der dargestellten Wahrnehmung reproduzierter Musik, weniger auf der Reproduktion von Geräuschen, Sprache etc.5 1999, S. 133–146 zwar ebenfalls explizit diese Zeitschrift, geht dabei jedoch nicht in die Tiefe. 3 | Nach einer siebenjährigen Pause erschien die Zeitschrift wieder von 1926–1942 und wurde dann eingestellt. 4 | »Die Stimme. Zeitschrift für Grammophonkunst«, »Die Stimme seines Herrn«, »Die Stimme seines Herrn. Zeitschrift für Grammophonkunst«, »Die Stimme seines Herrn. Monatsschrift für Grammophonkunst«, »Die Stimme seines Herrn. Monatsschrift für Musikfreunde«. 5 | Das Grammophon wurde in vielerlei Funktion eingesetzt; ursprünglich war es nicht für die Aufzeichnung von Musik vorgesehen, sondern wurde als Spielzeug vermarktet. Vgl. S. Gauß: Nadel, Rille, Trichter, S. 227.

»Die Stimme seines Herrn« von 1909 bis 1918

Im Fokus steht außerdem die Beziehung zwischen Grammophon und Grammophonhörer. Aspekte zum Verhältnis Grammophon  – Komponist oder zur Darstellung der Aufnahmesituation müssen an anderer Stelle diskutiert werden6 .

H örorte Mark Katz listet sieben zentrale Eigenschaften der technisch reproduzierten Grammophonmusik auf, von denen in unserem Kontext »repeatability«, »portability« und »tangibility« 7 als die wichtigsten zu nennen sind. Musik konnte vom Hörer nun beliebig oft und theoretisch an jedem Ort gehört werden, da sie greif bar und transportfähig war. Klassische Musik konnte Konzertsaal und Opernhaus verlassen und z. B. auch in Parks dargeboten werden – wenngleich dies eher im Ausland der Fall war als in Deutschland, wie ein Autor bedauert: »Während es bei uns leider noch nicht als öffentliche Volksunterhaltung benutzt wird, wie man es nach seinen künstlerischen Darbietungen wünschen möchte, dient es in England bereits in öffentlichen Parks zur Volksunterhaltung grossen Stils.«8 »Es« steht hier für das Grammophon bzw. das Starktongerät Auxetophon9 (siehe Abbildung 1). Auch privat wurde das Grammophon gerne mit ins Freie genommen, zum Beispiel auf einen Ausflug oder in den Urlaub: »[Schön ist es,] wenn das ›Grammophon‹ die Spiele im Freien durch muntere Weisen zu beleben bestimmt ist, oder gar zum Tanz auf grünem Rasen seine Klänge ertönen lässt«,10 begeistert sich ein Schreiber. Er empfiehlt, sich »einen hübschen kleinen Apparat speziell für den Sommeraufenthalt« 11 zuzulegen, um Langeweile zu vertreiben und verregnete Tage besser zu überstehen. Besonders auf dem Land, fernab von städtischen Konzertsälen, war das Grammophon sehr begehrt. Dies gilt 6 | Für die Auswertung dieser Zeitschrift diente ihr Reprint, herausgegeben von Hermann Holzbauer, Tutzing 1992. 7 | Vgl. das Kapitel von Mark Katz in Capturing Sound, S. 10–55. Die vier weiteren genannten Eigenschaften sind (In)Visibility, Temporability, Receptivity und Manipulability. 8 | Fritz Wehnert: »Der Siegeszug des Auxetophons«, in: Die Stimme seines Herrn 9 (1909), S. 11–14, hier S. 14. 9 | Vgl. dazu auch die Abbildungen 2 und 3 im Beitrag »›Grammophon-Konzerte‹. Historische Medienkombinationen mit Schallplatte und der Wandel der Live-Ästhetik« von Marion Saxer in diesem Band. 10 | Arthur Rost: »Hinaus ins Freie«, in: Die Stimme seines Herrn 6 (1914), S. 86–87, hier S. 87. 11 | Max Fabian: »Das Grammophon im Sommer«, in: Die Stimme seines Herrn 6 (1912), S. 88–89.

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Abb. 1: »An den Ufern des Rheins: Ein Walzer im Freien«. Quelle: Die Stimme seines Herrn 8 (1911), S. 115.

zum einen für die Urlaube der wohlhabenden Stadtbewohner, immer wieder taucht das Landhaus als Hörort auf, an dem das Grammophon als »ein wahrer Segen Gottes« 12 wahrgenommen wird. Zum anderen wusste auch die Land­ bevölkerung die neue technische Errungenschaft zu schätzen, z. B. »wenn die Tage kurz sind und die Arbeit in Hof und Feld fehlt. Denn da empfänden die Menschen, die in ländlicher stiller Abgeschlossenheit leben, stärker als die Städter die Sehnsucht nach Abwechslung« 13. Doch neben diesen ländlichen Hörorten werden viele weitere genannt, u. a. das Herrenhaus, das Schloss, das Sommerhaus, die Schule, ja sogar das Weiße Haus in den USA. Diese Stätten werden häufig – wie zur Beweisführung – bebildert. Illustrationen finden sich ebenfalls in Berichten vom Einsatz des Grammophons am Abb. 2: »China«. anderen Ende der Welt (siehe Ab- Quelle: Die Stimme seines Herrn 7 (1910), S. 12. bildung 2). 12 | Eugen Heltal: »Das treue ›Grammophon‹«, in: Die Stimme seines Herrn 4 (1913), S. 56–57, hier S. 57. 13 | Robert Ollert: »Die ›Grammophon‹-Platten des tollen Onkel Roderich. Roman in zehn Episoden«, in: Die Stimme seines Herrn 3 (1915), S. 22–23, hier S. 22.

»Die Stimme seines Herrn« von 1909 bis 1918

Abb. 3: »Der Bär brummt Beifall«. Quelle: Die Stimme seines Herrn 1 (1909), S. 12.

Das Grammophon reist laut Zeitschrift an entlegene Orte ­Europas (wie Spitzbergen und die Schweiz), außerdem nach Deutschostafrika, China, I­ndien, Burma, an den Südpol und in den Urwald. Hier wird es zur Zähmung der sogenannten Wilden eingesetzt: »Das Resultat war die Ueberzeugung, dass in dem Trichter ein mächtiger Geist wohnen müsse, der dem Weissen dienstbar sei, und alle [Urwaldbewohner] kehrten zurück und beugten sich vor der Macht des Weissen«14. Die technische Überlegenheit des Grammophons steht an dieser Stelle symbolisch für die generelle Überlegenheit der zivilisierten Welt gegenüber den »Wilden« und wird damit für die Kolonialisierung in­strumentalisiert. Doch nicht nur für die Zähmung, sondern auch für den »Zähmenden« selbst spielte das Grammophon eine wichtige Rolle, brachte es doch ein Stück Heimat in die Ferne: »Und plötzlich, während das Instrument spielte, stand mir unser trauliches Heim vor Augen, die gemütlichen Abende kamen mir in den Sinn, an denen wir zusammen um den runden Esstisch sitzen und das G. aus der Ecke neben dem Sofa heraus seine Weisen ertönen lässt«15. Während hier die Funktion der Grammophonmusik eindeutig bestimmbar ist – in der Ferne dient sie sowohl der Erinnerung als auch der Unterhaltung –, fällt das beim Zoo, als weiterem genannten Hörort, nicht ganz so leicht. Dort 14 | »Eine Episode aus dem Buschleben im Urwald«, in: Die Stimme seines Herrn 10 (1912), S. 158–159, hier S. 159. 15 | Peter Hans Neugierig: »Allerlei Badebriefe. Kleine Indiskretionen«, in: Die Stimme seines Herrn 7 (1914), S. 110–111, hier S. 111.

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spielt man Tieren mit dem Grammophon Musik vor (siehe Abbildung 3): »Wenn wir auch nicht wissen können, was in den Tieren vorgeht, wenn ihnen die Stimmen unserer Grossen aus dem Grammophon entgegenklingen, wenn Klavier und Geige, Flöte und Orchester sich hören lassen – gleichgültig und unberührt bleibeu [sic!] sie keinesfalls […]«16. Ob es sich bei dieser Aktion tatsächlich um einen Tierversuch oder um eine Anekdote zur Unterhaltung der Leser handelt, bleibt unklar.

A ufführungsweisen Im privaten Rahmen wurde das Grammophonhören meist richtig­ gehend zelebriert: Der Hörer baut sich seine »Bühne im eigenen Heim«  – ein Werbemotto, das durch­ aus häufig Verwendung findet17 (siehe Abbildung 4). Gebannt lauscht man den großen Bühnenstars, die ohne Grammophons Hilfe räumlich und finanziell unerreichbar wären. Auch deshalb werden Heimkonzerte bzw. die »Bühne im eigenen Heim« teils sogar als dem wirklichen Konzert überlegen dargestellt: »[W]ozu sollte er sich auf den unbequemen engen Stühlen der Ope­ ret­tentheater herumdrücken, wenn

Abb. 4: »Bühne im eigenen Heim«. Quelle: Die Stimme seines Herrn 5 (1910), S. 14.

16 | E. Rütgers: »Sie amüsieren sich«, in: Die Stimme seines Herrn 6 (1911), S. 86–87, hier S. 86. 17 | Vgl. z. B. Werbeanzeigen in: Die Stimme seines Herrn 1 (1909), S. 18, Die Stimme seines Herrn 3 (1910), S. 17, Die Stimme seines Herrn 14 (1910), S. 17 und Die Stimme seines Herrn 12 (1911), S.  194; »Carmen«, in: Die Stimme seines Herrn 4 (1912), S. 49–54, hier S. 52; Hans Mann: »Die Oper ›Margarete‹«, in: Die Stimme seines Herrn 7 (1912), S. 97–100, hier S. 100; Waldemar Rober: »Die ›Bohème‹ von Giacomo Puccini«, in: Die Stimme seines Herrn 4 (1913), S. 48–49, hier S. 49; »Das Nebengeräusch«, in: Die Stimme seines Herrn 5 (1913), S. 68.

»Die Stimme seines Herrn« von 1909 bis 1918

Abb. 5: »Ein Paar im Tanz bei ›Gramola‹-Musik«. Quelle: Die Stimme seines Herrn 5 (1914), S. 266. er sich zu Hause dank seinem prächtigen Instrument alle Operettenschlager der Saison bunt durcheinander, gerade wie es ihm passte, und von den Künstlern, die ihm genehm waren, an einem einzigen Abend vortragen lassen konnte. Wahrlich, das war gemütlicher und vor allen Dingen genussreicher. Konnte er doch nach Gutdünken wählen und war nicht an die Dispositionen eines Herrn Theaterdirektors gebunden«18 .

Somit sei das Grammophon – zumindest nach Meinung des Autors – zu einem »nicht zu unterschätzende[n] Rivale[n] des öffentlichen Musiklebens geworden, das es aus den Sälen ins Heim verpflanzte und dem als richtige Sekundanten konzentriertere Stimmung des Hörenden wie seine Bequemlichkeit und Ungeniertheit zur Seite stehen«19. Zuhause diente das Grammophon darüber hinaus zur musikalischen Untermalung von Tanzveranstaltungen bzw. Privatbällen (siehe Abbildung 5). »Der Hausball ist in einer modernen Familie garnicht denkbar ohne die berauschende Tanzmusik aus dem Grammophon«20 heißt es zum Beispiel. Sehr häufig – laut Zeugenberichten angeblich »fast täglich«21 – wird das Grammophon im Salon aufgebaut, denn: »Das Grammophon für den Salon ist das vollkom-

18 | »Die Operette im eigenen Heim. Spielzeit 1915–1916«, in: Die Stimme seines Herrn 6/7 (1916), S. 52–53, hier S. 53. 19 | »Die künstlerische Mission«, in: Die Stimme seines Herrn 4 (1910), S. 3–5, hier S. 3. 20 | Die Stimme seines Herrn 1 (1913), S. 5. 21 | Emil Lotoschek: »Eine Beichte«, in: Die Stimme seines Herrn 9 (1910), S. 10.

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menste, vielseitigste Musikinstrument des Jahrhunderts«22 . Dieses oft gehörte Motto liefert, nebenbei bemerkt, zudem einen Hinweis auf die Identifizierung des Grammophons als Musikinstrument 23. Neben Tanzveranstaltungen bieten Feiertage wie O ­ stern oder Weihnachten, aber auch Fasching und Erntedank Gelegenheiten, das Grammophon zu zelebrieren. Die Familie erfreut sich gemeinsam am Gerät, das nicht nur unterhält, sondern zugleich das ideale Geschenk darstellt (siehe Abbil- Abb. 6: »Ein Weihnachtsidyll: Das ›Gramola‹ als dung 6). schönstes Geschenk«. Abgesehen von diesen na- Quelle: Die Stimme seines Herrn 12 (1913), heliegenden Aufführungssitu- S. 175. ationen wartet Die Stimme seines Herrn mit anekdotenhaften Geschichten auf, in denen zum Teil absurde Rahmenbedingungen für das Grammophon­hören geschildert werden. So wird z. B. vom Einsatz des Grammophons gegen Einbrecher berichtet (das Abspielen von Musik schlägt den Verbrecher in die Flucht),24 vom Einsatz bei der Lösung eines Kriminalfalls25 sowie als Testament 26. Und es scheint, als habe damals die Aufzeichnung von Vogelgesang, v. a. der Nachtigall, eine große Faszination ausgeübt: Immer wieder wird dessen täuschend ähnliche Nachahmung durch das Grammophon thematisiert und so mancher Nachbar damit an der Nase he22 | Die Stimme seines Herrn 6 (1910), S. 119. 23 | Bis in die 30er-Jahre wurden Phonographen häufig als Instrumente angesehen, erst dann erfolgte die Uminterpretation der Schallplatte in ein Reproduktionsmedium, in den Verweis auf eine vergangene Aufführung. Vgl. Rolf Großmann: »Distanzierte Verhältnisse? Zur Musikinstrumentalisierung der Reproduktionsmedien«, in: Michael ­H arenberg (Hg.), Klang (ohne) Körper. Spuren und Potenziale des Körpers in elektronischer Musik, Bielefeld 2010, S. 183–201. 24 | Vgl. Walter Mieg: »Helfer in der Not. Erzählung«, in: Die Stimme seines Herrn 6 (1911), S. 84–85, hier S. 85. 25 | Vgl. Victor Hess-Hesse: »Das Erbe des Grafen Just. Roman«, in: Die Stimme seines Herrn 1 (1914), S. 12–13, hier S. 13. 26 | Vgl. R. Ollert: »Die ›Grammophon‹-Platten des tollen Onkel Roderich«, S. 10.

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rumgeführt 27. Diese Anekdoten bieten mehr als nur Beispiele für die Aufzeichnung nicht-musikalischer Geräusche: Sie erinnern uns daran, dass es sich bei Die Stimme seines Herrn um eine unterhaltende Werbezeitschrift handelt. Eine weitere Hörweise könnte als »halböffentliches« Konzert bezeichnet werden. So berichtet Die Stimme seines Herrn z. B. von sogenannten Hofkonzerten, in denen ein Polizeileutnant seine Platten in den Dienst der Allgemeinheit stellt, wie es in dem Artikel wörtlich heißt28. Indem er das Grammophon am offenen Fenster platziert, macht er seine Musik den Nachbarn zugänglich. Insofern erhält der Begriff »Hofkonzert« eine ganz neue, wörtliche Bedeutung (siehe Abbildung 7). Solch privat organisierte Grammophon-Konzerte stellten den jeweiligen Konzertveranstalter vor neue Herausforderungen: Repertoire­ kenntnis und Auswahlkompetenz waren notwendig, um den Hörern Abb. 7: » Eines der beliebten ›Hofkonzerte‹«. ein kunstvolles Programm zusam- Quelle: Die Stimme seines Herrn 4 (1911), menstellen zu können. Selbstver- S. 52. ständlich hilft hier Die Stimme seines Herrn gerne (und ganz uneigennützig), indem sie Programmvorschläge für unterschiedliche Gelegenheiten wie den Herrenabend, Gesellschaftsabend o. Ä. vorbringt (siehe Abbildung 8). Auch im öffentlichen Rahmen findet das Grammophon Verwendung. Ein Autor bringt diese Funktion als Orchester- bzw. Kapellensurrogat auf den Punkt: »Gerade dadurch, dass das Auxetophon ein ganzes Orchester ersetzt, wird es so wertvoll für Hotels, Geschäftshäuser und Privatpersonen, die im Freien oder in grossen Räumen musikalische Unterhaltung bieten wollen, ohne eine ganze

27 | Vgl. z. B. O. Heinroth: »Gefiederte Sänger auf der ›Grammophon‹-Platte«, in: Die Stimme seines Herrn 8 (1913), S. 114–115, hier S. 114; »Neue ›Grammophon‹-Aufnahmen. August 1913«, in: Die Stimme seines Herrn 8 (1913), S. 122–123, hier S. 123; »Gefiederte Sänger«, in: Die Stimme seines Herrn 5 (1915), S. 53; »Musikalisches Allerlei«, in: Die Stimme seines Herrn 3/4 (1917), S. 32. 28 | Vgl. Ludwig Scherer: »Ein seltenes Jubiläum«, in: Die Stimme seines Herrn 4 (1911), S. 52–53, hier S. 53.

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Abb. 8: Programmvorschläge. Quelle: Die Stimme seines Herrn 3 (1912), S. 47.

Abb. 9: »Das Auxetophon auf der Eisbahn des Kurvereins Davos«. Quelle: Die Stimme seines Herrn 1 (1909), S. 4.

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Kapelle oder einzelne Künstler heranzuziehen.«29 Grammophonmusik vertritt nun vielerorts Livemusik und ist sogar auf den Eisbahnen in St. Moritz30 oder Davos (siehe Abbildung 9) anzutreffen. Der Vorteil des »Grammophon-Orchesters« liegt auf der Hand: Es kostet weniger Geld als ein reales, ist allerorts und jederzeit verfügbar und bringt keine Allüren und Extrawünsche vor wie so mancher Berufsmusiker. Für diesen wird das Grammophon bald zu einem Rivalen. Die Beschäftigungsmöglichkeiten für Musiker nehmen ab; zugleich begünstigt das Grammophon den Kult um ein paar wenige (Grammophon-) Stars, deren Einkünfte durch Plattenverkäufe rapide steigen. Im Konzertsaal ergänzen Grammophone das Spiel anwesender Musiker31. Eine solche Interaktion von technisch reproduzierter und live gespielter Musik wird ebenfalls für die Hausmusik, die »Bühne im eigenen Heim«, vorgeschlagen; mit Hilfe des Grammophons wird z. B. der Gesangspart eingespielt. So treten große Stars wie Enrico Caruso auch an abgelegenen Orten auf, begleitet von einem realen Orchester, wie ein Autor berichtet 32 .

H örformen Grundsätzlich geht mit dem Grammophonhören eine Veränderung der Hörkultur einher. Nicht nur kann Musik an vielen Orten gehört werden, kommen große Künstler dank der Maschine in kleine Dörfer; obendrein tritt eine neue Form des Hörens hinzu: das Alleinehören. Jahrhundertelang wurde Musik gemeinsam rezipiert  – sei es am Hofe, im bürgerlichen Theater oder auch bei Volksmusik. Nun kann sie alleine genossen werden. An diese Hörform müssen sich die Menschen erst gewöhnen und sie akzeptieren. Tatsächlich wird in der Zeitschrift noch überwiegend von gemeinsamen Hörerlebnissen berichtet, Momente des Alleinehörens finden sich selten. Einer davon lautet: »Es wurde mir zur Gewohnheit, jeden Morgen, wenn ich mich ankleidete, Konzert zu machen«33. Dass ein solch intimer Augenblick wie das morgendliche Ankleiden nun von Musik begleitet werden konnte, dass Musikhören zum Privatvergnügen wurde, war neu. Grammophonmusik wurde sowohl »aktiv« als auch »passiv« rezipiert. Aktives, bewusstes Hinhören nahm sich oft die Konzert- bzw. Opernform zum 29 | F. Wehnert: »Der Siegeszug des Auxetophons«, S. 13. 30 | Vgl. »Das Auxetophon in St. Moritz«, in: Die Stimme seines Herrn 5 (1910), S. 13. 31 | Vgl. dazu die Abbildungen in dem Beitrag »›Grammophon-Konzerte‹« von Marion Saxer in diesem Band. 32 | Vgl. »Mit einer neuen Art der Platten-Vorführung«, in: Die Stimme seines Herrn 5 (1910), S. 4. 33 | »Der blinde Krieger«, in: Die Stimme seines Herrn 1/2 (1917), S. 14.

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Abb. 10: »›O, wie wundervoll ist diese Platte‹!« Quelle: Die Stimme seines Herrn 11 (1913), S. 174.

Vorbild – sei es als »Bühne im eigenen Heim« oder als öffentliches Grammophonkonzert. Andererseits nutzte man das Grammophon, um Musik »nebenbei« zu hören. Dieses Hören erinnert an Musiktraditionen zu Hofe, wo man während der Musikvorführung speiste und sprach, und wurde deshalb als »adelige« Form des Hörens gesehen. Es korrespondiert mit dem Verstecken des Grammophon­ apparates. Ab ca. 1910 wird der große Außentrichter abgeschafft und im sogenannten Gramola nach innen verlegt (siehe Abbildung 10). Das Gramola wird mehrfach als das »aristokratische« bzw. königliche Grammophon-Instrument bezeichnet 34. Seine Bauformen variierten, sodass der Besitzer es gut ins Mobiliar integrieren konnte; für viele war das Grammophon nämlich nicht nur ein Musikinstrument, sondern nicht minder ein Möbelstück. Angesichts dessen überraschen die gebotenen Aufstellanweisungen zur optimalen Integration in das Umfeld wenig35. Ein Gerät mit einem »unmöglichen Trichter«36 galt bald als stillos und wurde – angeblich – lediglich von weniger wohlhabenden Menschen verwendet. 34 | Vgl. z. B. Walter Seidl: »Münchener Fasching«, in: Die Stimme seines Herrn 2 (1912), S. 17–19, hier S. 18; Werbeanzeige in: Die Stimme seines Herrn 11 (1915), S. 127. 35 | Vgl. z. B. H. L. Dom: »Die Akustik im Hause«, in: Die Stimme seines Herrn 4 (1915), S. 38; Selma Lund: »Lauschige Ecken«, in: Die Stimme seines Herrn 8/9 (1915), S. 84– 85, hier S. 85. 36 | L. Galerninski: »›Lillitte.‹«, in: Die Stimme seines Herrn 3 (1913), S. 42.

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S oziale V erortung Somit stehen die Themen Bauform und soziale Verortung des Grammophons in einem direkten Zusammenhang. Bezüglich des finanziellen Hintergrunds der Grammophonhörer bzw. Zeitschriftenleser kann Folgendes festgehalten werden: Nach zunehmend fallenden Preisen waren die Apparate nicht mehr nur Hochadel und reichen Bürgern vorbehalten, auch Menschen mit weniger starkem Einkommen konnten (vermeintlich) vom Grammophon profitieren: »Aber diesen Vielen, denen das Schicksal den Wunsch [für 40 Mark eine Karte für das Opernhaus zu kaufen, C. T.] wohl mitgegeben, aber nicht das Vermögen, diesen Vielen war geholfen. Diese Vielen flüchteten sich zum Grammophon, zu dieser Maschine, die es ermöglicht hat, allen alles zu geben«37. Tatsächlich baute die Plattenindustrie jedoch auf Angehörige der oberen Mittelschicht oder gar des Adels, die das wirtschaftliche Rückgrat bildeten. Die Protagonisten der Artikel sind deshalb selten Angehörige der Unterschicht. Einmal wird über einen Zeitungsjungen mit Grammophon berichtet, der sich jedoch das Grammophon nur leisten kann, weil er von der Sängerin Nellie Melba aus Dank für einen Dienst 100 Mark erhalten hat. Selbstverständlich investiert er dieses Geld nicht in Kleidung oder Nahrung, sondern in ein Grammophon und Platten von Frau Melba38. Dieser Bericht bleibt neben dem oben genannten Hofkonzert, auf dessen Abbildung eine Mietskaserne – die Heimat der Unterschicht – zu sehen ist, der einzige Hinweis auf den »kleinen Mann«. Zwar geht man davon aus, dass allen ein Grammophon zugänglich sei;39 doch thematisiert werden die unteren sozialen Schichten nicht – und das, obwohl sie durch Inhalte der Zeitschrift durchaus angesprochen werden dürften. Die Stimme seines Herrn sieht sich hier mit einer ambivalenten Situation konfrontiert: möglichst viele Leser anzuziehen und trotzdem die finanzstarke Mittelund Oberschicht in den Fokus zu rücken. Die Hörer der Zeitschrift waren sowohl weiblich als auch männlich. Die meisten Artikel sind an beide Geschlechter gerichtet, nur ein paar sprechen explizit Männer oder Frauen an. So wird z. B. über ein »Küchengrammophon« gesponnen, dessen Rezeptplatten der Frau beim Kochen helfen sollen,40 und auch die zahlreichen Fortsetzungsromane, Gedichte und Homestorys sind vermutlich für die weibliche Leserschaft gedacht. Auf der anderen Seite finden sich Artikel über Grammophontechnik, die männliche Leser ansprechen sollen. Mann und Frau werden beide als Plattenhörer bzw. -sammler dargestellt, 37 | »Enrico Caruso«, in: Die Stimme seines Herrn 2 (1909), S. 1–4, hier S. 2f. 38 | Vgl. »Kleines Feuilleton«, in: Die Stimme seines Herrn 3 (1910), S. 15. 39 | Vgl. Carl Reimer: »Das Geheimnis der Sprechmaschine«, in: Die Stimme seines Herrn 4 (1911), S. 62–63, hier S. 62. 40 | Vgl. Werbeanzeige in: Die Stimme seines Herrn 4 (1912), S. 64.

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Abb. 11: Benutzung des Grammophons durch eine Frau. Quelle: Die Stimme seines Herrn 4 (1910), S. 8.

in einem Artikel sogar bildlich41. Auch im dazugehörigen Text wird nicht zwischen männlichem und weiblichem Plattensammler unterschieden und es werden keine geschlechtsspezifischen Unterscheidungen vorgenommen (siehe Abbildung 11). Mit Beginn des 1. Weltkrieges ändert sich diese Darstellung gezwungenermaßen. Werden vor dem Krieg Mann und Frau oft beim gemeinsamen Hören abgebildet, so gibt es nun Beiträge über männliche Grammophonhörer (an der Front) und über zu Hause gebliebene Frauen. Bei Letzteren haben jedoch die alltäglichen Probleme Vorrang gegenüber der Grammophonbenutzung. Eine Ausnahme stellen die »Skizzen« zur Kriegsweihnacht 1916 dar. Hier wird – in Mundart – von einer das Grammophon bedienenden Frau berichtet: »[H]öllsch tüchtig is doch uns’ Madam, alles kann sie ohn’ Mannslüt! Un wenn’s kei Musikantersch nich hät, baut sie sich den Kasten hin un lässt em Weihnachts­ musik maken. Ja, uns Weibsvolk, uns Weibsvolk«42 . Über die männliche Grammophonbenutzung sowie die Funktion des Grammophons an der Front und in den Lazaretten wird hingegen ausführlich berichtet. Darüber hinaus werden regelmäßig Engpässe an Platten und Grammophonen aufgrund der schlechten Versorgungssituation thematisiert. Aufrufe, Platten und Apparate für Recycling bzw. Versand an die Front zur

41 | Vgl. »Die Plattenbibliothek«, in: Die Stimme seines Herrn 4 (1910), S. 8–9. 42 | Robert Ollert: »Weihnacht. Sechs Skizzen«, in: Die Stimme seines Herrn 12 (1916), S. 136–138, hier S. 137.

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Abb. 12: »›Grammophon‹-Frühlingskonzert für Kriegs-Verwundete in der Berliner Hasenheide«. Quelle: Die Stimme seines Herrn 6/7 (1915), S. 80.

Verfügung zu stellen, sind keine Seltenheit43. Grammophonmusik spielt dort eine tragende Rolle beim Auf bau der Moral und bei der Unterhaltung der Soldaten44 (siehe Abbildung 12). Das Repertoire verändert sich zugunsten von nationalistischer Kriegsmusik und Kriegsschlagern45.

43 | Vgl. z. B. »Umtausch abgespielter Platten«, in: Die Stimme seines Herrn 4/5 (1916), S. 36; »Alte Platten heraus!«, in: Die Stimme seines Herrn 2 (1918), S. 14 und Fr. Willy Frerk: »Spendet ›Grammophone‹ und Platten für unsere Soldaten! Ein Aufruf«, in: Die Stimme seines Herrn 2/3 (1916), S. 26; »Briefe aus dem Felde«, in: Die Stimme seines Herrn 6/7 (1916), S. 56–57, hier S. 56. 44 | Vgl. z. B. J. Landau: »Unser Kriegs-›Grammophon‹«, in: Die Stimme seines Herrn 3 (1915), S.  26–27, hier S.  27; »Musikalisches Allerlei«, in: Die Stimme seines Herrn  4  (1915), S.  48; J. Spier: »Das verirrte ›Grammophon‹«, in: Die Stimme seines Herrn  10 (1915), S.  102; Fr. W. Frerk: »Spendet ›Grammophone‹ und Platten«, S.  26; »Briefe aus dem Felde«, S. 56. 45 | So trägt es »Marsch und Lied, Choral und vaterländische Weise« in die Schützengräben (Arthur Bomann: »In Lazarett und Schützengraben«, in: Die Stimme seines Herrn 1/2 (1915), S. 2–3, hier S. 3), hören Unteroffiziere ein »patriotisches Lied« (»Drei Heldenbücher«, in: Die Stimme seines Herrn 3/4 (1917), S.  30–31, hier S.  31) oder ein »Heimatlieder-Potpourri« (»›Grammophon‹-Platten mit grüner Etikette. Neu-Aufnahmen November 1915«, in: Die Stimme seines Herrn 11 (1915), S.  126). Außerdem werden alte deutsche Volkslieder wieder zutage gefördert (vgl. »Ostergruss«, in: Die Stimme seines Herrn 4/5 (1916), S. 33; Hermann Paul Huber: »Das deutsche Lied«, in: Die Stimme seines Herrn 8/9 (1915), S. 90–91, hier S. 91).

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Auch zur psychologischen Kriegsführung soll Grammophonmusik genutzt worden sein: Durch das laute Abspielen deutscher Musik auf dem Grammophon werden Feinde in die Flucht geschlagen (siehe Abbildung 13). Darüber hinaus löst sie durch ihre Erinnerungsfunk- Abb. 13: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall«. tion Rührseligkeit bei den Sol- Quelle: Die Stimme seines Herrn 4 (1915), S. 48. daten aus,46 für die sie zugleich Rechtfertigung liefert. Somit hebt das Grammophon stereotype Männlichkeitsbilder auf und das »starke« Geschlecht darf Emotionen zeigen. Ein letzter Aspekt der sozialen Verortung des Grammophons ist das Hörer­ alter: Das Grammophon will »idealstes Musikinstrument für jedes Alter«47 sein und für die Unterhaltung der ganzen Familie sorgen48. Für die Kleinen gibt es deshalb spezielle Kinderplatten, z. B. mit Märchenerzählungen49. Des Weiteren soll Grammophonmusik Kinder musikalisch schulen: »Ehe man die Kleinen selbst Musik ausüben lässt, ehe man sie mit einem Instrument vertraut macht, ist es ratsam, ihr natürliches Gehör zu verfeinern […]. Und in dieser Beziehung hat das Grammophon geradezu bahnbrechend gewirkt.«50 Der Gedanke liegt nahe, dass sich die Deutsche Grammophon AG – hier durch ihr Sprachrohr Hauszeitschrift – eine zukünftige Hörer- und Käuferschaft heranziehen möchte.

H ör -E rziehung Abgesehen von der Schulung der Kinder soll Grammophonmusik ebenso zur kulturellen Entwicklung aller Menschen beitragen, nicht nur in der Ferne bei den »Wilden«, sondern auch zu Hause51. Wer bislang lediglich Unterhaltungsmusik gehört habe, könne sein Repertoire anhand des Grammophons um 46 | Vgl. »Vorweihnacht«, in: Die Stimme seines Herrn 11 (1915), S. 120–121, hier S. 121. 47 | Werbeanzeige in: Die Stimme seines Herrn 14 (1910), S. 10. 48 | Vgl. Robert Heinrich: »Musik im Garten«, in: Die Stimme seines Herrn 6/7 (1916), S. 50. 49 | Vgl. »Das Grammophon als Freund und Bildner«, in: Die Stimme seines Herrn 1 (1909), S. 3–6, hier S. 6. 50 | Wilh. Hoff: »Das Grammophon und das Kind«, in: Die Stimme seines Herrn 14 (1910), S. 11. 51 | Vgl. »›Die Stimme‹«, in: Die Stimme seines Herrn 1 (1909), S. 2.

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Ernste Musik erweitern und sich so kulturell fortbilden, wird in zahlreichen Artikeln vorgeschlagen52 . Für dieses Phänomen wird der Terminus »Kulturfaktor«53 verwendet. Die Sängerin Elisabeth Boehm van Endert fordert zum Beispiel: »Das Grammophon sei also von höchster kultureller Bedeutung, und nicht lediglich bestimmt, Unterhaltungszwecken zu dienen«54. Öffentliche Konzerte könnten als »Erziehungsmittel«55 gerade diejenigen Schichten erreichen, die bislang nicht in Berührung mit klassischer Musik gekommen seien. Das Grammophon war also auf einer »künstlerische[n] Mission«56. Die Realität sieht jedoch anders aus. Dem Wunsch vieler Hörer nach Unterhaltungsmusik kommt die Industrie mit einer großen Plattenauswahl in diesem Bereich entgegen; mit den »Grünetiketten« schafft die Deutsche Grammophon AG eine Reihe, die sich auch der leichteren Muse widmet. Die »Schwarzetiketten« hingegen bedienen ausschließlich das ernste Repertoire, ebenso die »Red Seals«; diese warten zusätzlich mit besonderen Grammophon­ stars wie Enrico Caruso, Nellie Melba oder Emmy Destinn auf. Für jeden Geschmack (und fast jeden Geldbeutel) gibt es so die passende Platte. Auf diese Weise versucht die Deutsche Grammophon AG auch hier den Spagat zu schaffen: einerseits das gute bzw. künstlerisch niveauvolle Image zu bewahren, andererseits im Kundenstamm zu expandieren. Ebenfalls in den Bereich der Bildung fällt der Einsatz des Grammophons in Schulen. Im Sprachunterricht wird es zur Demonstration der idealen Aussprache eingesetzt (siehe Abbildung 14);57 im Sportunterricht liefert es Musik für die Gymnastik- oder Turnstunde58.

52 | Vgl. Werbanzeige in: Die Stimme seines Herrn 1 (1909), S. 17; Fritz Steinbach: »Ein Urteil über das Grammophon«, in: Die Stimme seines Herrn 3 (1910), S. 16; Werbeanzeige in: Die Stimme seines Herrn 3 (1910), S. 18; F. Wehnert: »Der Siegeszug des Auxetophons«, S. 13; Hans Eberhard: »Die Metropolitan-Opera in New York«, in: Die Stimme seines Herrn 3 (1912), S. 33–37, hier S. 37; »Kammersängerin Elisabeth Boehm van E­ ndert. Eine Unterredung mit der Künstlerin«, in: Die Stimme seines Herrn 1 (1913), S. 5–7, hier S. 7; Herbert Maass: »Am Flügel«, in: Die Stimme seines Herrn 7 (1913), S. 95–98, hier S.  98; Max Chop: »Volksmusik«, in: Die Stimme seines Herrn 8 (1914), S.  127; »Rudolf Berger«, in: Die Stimme seines Herrn 4 (1915), S.  46; Fritz Schlesinger: »Im Reich der Mitte«, in: Die Stimme seines Herrn 11 (1916), S. 120–121, hier S. 121. 53 | »Das Grammophon als Freund und Bildner«, S. 3. 54 | »Kammersängerin Elisabeth Boehm van Endert«, S. 7. 55 | F. Wehnert: »Der Siegeszug des Auxetophons«, S. 14. 56 | »Die künstlerische Mission«, in: Die Stimme seines Herrn 4 (1910), S. 3–5. 57 | Vgl. »›Dieses Caruso-Fieber!‹«, in: Die Stimme seines Herrn 9 (1912), S. 136. 58 | Vgl. »Musikalisches Allerlei«, in: Die Stimme seines Herrn 6 (1912), S. 96.

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Abb. 14: Im Sprachunterricht. Quelle: Die Stimme seines Herrn 5 (1910), S. 11.

Außerdem bereichert es den Musik- bzw. Gesangsunterricht. Die Deutsche Grammophon AG veröffentlicht sogar eine eigene Grammophon-Gesangschule59. Die Sängerin Elisabeth Boehm van Endert konstatiert, man könne am Grammophon singen lernen, »denn das Beispiel der großen Künstler, die sich immer mehr in den Dienst des Grammophons stellten, lehre, wie man seine Stimme behandeln müsse, und zeige die Art, in der diese oder jene Arie wiederzugeben sei«60. Diese Aussage weist auf ein Kernproblem der Gesangs­ erziehung durch das Grammophon hin, nämlich die Imitation anderer Künstler. Der Lernende sucht nicht mehr seine eigene Interpretation, sondern kopiert – zumindest in gewissem Umfang – einen anderen. Dadurch erzielt das Grammophon eine Rückwirkung auf die Live-Darbietung. Gestandenen Künstlern wiederum dienen die eigenen Grammophon­ platten als Korrektiv, indem sie sie ihre Stärken und Schwächen hören lassen61. Dieses Selbststudium begünstigt einen Perfektionismus bei den Künstlern, der sie zunehmend unter Druck setzt. Und auch die Erwartungshaltung der Zuhörer wird durch Aufnahmen gesteigert: Nach intensivem Plattenstudium gehen sie mit einem Idealbild im Kopf ins Konzert und teilweise unbefriedigt nach Hause. Daraus resultiert eine recht paradoxe Situation: In den ersten Jahren arbeitet die Plattenindustrie mit Hochdruck darauf hin, dass ihre Aufnahmen dem Live-Erlebnis entsprechen. Die Wiedergabequalität der Platten verbessert 59 | Vgl. Werbeanzeige in: Die Stimme seines Herrn 7 (1910), S. 17. 60 | »Kammersängerin Elisabeth Boehm van Endert«, S. 7. 61 | Vgl. »Das Grammophon«, in: Die Stimme seines Herrn 1 (1912), S. 14.

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sich konstant, wie Die Stimme seines Herrn unermüdlich verkündet 62 und dafür prominente Künstler wie Richard Strauss63 oder Arthur Nikisch64 als Zeugen beruft. Als die Wiedergabequalität dann (angeblich) dem Live-Erlebnis ebenbürtig ist, beginnen die Künstler, sich an Plattenaufnahmen zu orientieren. Dass Aufnahmen und Live-Konzerte von gleichwertiger Qualität gewesen sein sollen, ist für uns heutige Hörer angesichts der offensichtlichen technischen Schwächen kaum vorstellbar. Einen möglichen Erklärungsansatz für jene Auffassung liefert Peter Wicke: Nicht das klangliche Resultat sei als ebenbürtig empfunden worden, sondern der Akt des Musizierens bzw. des Hörens an sich65. Jonathan Sterne verweist auf den sozialen Kontext der musikalischen Reproduktion. Diese war nur möglich, wenn der Hörer selbst an ihr teilhatte und ihr zugestand, vom Original abzuweichen. Die »Fidelity« lag demnach in den Händen der Zuhörer, die Hintergrundgeräusche ausblendeten und sich auf die Situation einließen – ein Verhalten, das peu à peu gelernt werden musste. Und auch die Musiker waren an der Schaffung der »Fidelity« beteiligt, nämlich im Studio durch die Schaffung einer neuen Realität66. Wenn62 | Vgl. z. B. »Leopold Demuth«, in: Die Stimme seines Herrn 6 (1910), S.  1–3, hier S. 3; »Adelina Patti«, in: Die Stimme seines Herrn 7 (1910), S. 4–5, hier S. 5; Luigi Salo: »G. Mario Sammarco«, in: Die Stimme seines Herrn 9 (1910), S. 1–2, hier S. 2; »Grammophongaben für den Weihnachtstisch«, in: Die Stimme seines Herrn 14 (1910), S. 8; »Neue Grammophon-Aufnahmen. Februar 1911«, in: Die Stimme seines Herrn 2 (1911), S. 28–29, hier S. 28; »Selma Kurz«, in: Die Stimme seines Herrn 1 (1912), S. 1–6, hier S.  1; »›Grammophon‹-Platten mit grüner Etikette. Neu-Aufnahmen August/September 1915«, in: Die Stimme seines Herrn 8/9 (1915), S. 94–95, hier S. 95; R. Heinrich: »Musik im Garten«, S. 50; »Neue ›Grammophon‹-Aufnahmen. Oktober 1916«, in: Die Stimme seines Herrn 10 (1916), S.  108–109, hier S.  109. Zur medientheoretischen Verortung dieses Diskurses vgl. auch den Beitrag »Grammophon-Konzerte« von Marion Saxer in diesem Band. 63 | Z. B. »Das Grammophon, welches mir heute vorgeführt wurde, reproduziert mit annähernder Vollkommenheit, funktionierte tadellos, war in Klang und Tonstärke sehr angenehm, so dass ich ihm wohl das Zeugnis ausstellen kann, auch einem empfindlichen Ohre einen ergötzlichen Ohrenschmaus bereitet zu haben.«, vgl. Werbeanzeige in: Die Stimme seines Herrn 3 (1910), S. 18. 64 | Z. B. »Die Aufnahmen haben jetzt tatsächlich einen Grad von Vollendung erreicht, dass man eine Steigerung für ausgeschlossen halten muss.«, vgl. Werbeanzeige in: »Aus Briefen, die uns erreichen … Kultur-Dokumente«, in: Die Stimme seines Herrn 3 (1915), S. 24–25, hier S. 25. 65 | Vgl. Peter Wicke: »Das Sonische in der Musik«, in: PopScriptum 10 (2008), www2. hu-berlin.de/fpm/popscrip/themen/pst10/pst10_Wicke.pdf vom 19.01.2015, S. 4f. 66 | Vgl. Jonathan Sterne: The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham 2003, hier S. 256.

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gleich Original und Reproduktion natürlich in einem Abhängigkeitsverhältnis standen – ohne Aufnahme hätte es auch den aufzunehmenden Vortrag nicht gegeben – waren sie doch nicht das Gleiche und wurden unter verschiedenen Prämissen begutachtet67.

F a zit Die Stimme seines Herrn gibt profunde Einblicke in das neue, technikbasierte Hören: Schon fast mit einer eigenen Aufführungspraxis versehen, wurde das Grammophonhören oftmals richtiggehend zelebriert. Durch die mögliche Wiederholbarkeit und Transportierbarkeit von Musik erweiterten sich deren Hörerschaft und Repertoire erheblich. (Klassische) Musik wurde vielerorts in den Alltag integriert, darunter auch an abgeschiedenen Plätzen außerhalb der zivilisierten Welt. Alleinehören war nun möglich. Durch die Wiederholbarkeit blieben Tondokumente verstorbener Musiker für die Hörer erhalten. Auch dadurch wurde dem Starkult Vorschub geleistet, einige wenige Musiker waren stark nachgefragt und gelangten dank der Platten in die Häuser der Hörer. Andererseits wurden Kapellen und Orchester durch Grammophone ersetzt, die eine günstigere und zuverlässigere Alternative darstellten. Allerorts sollten Grammophonplatten den Hörer kulturell bekehren und schulen. Im Rahmen des Gesangsunterrichts beeinflusste das Grammophon auch die Interpreta­ tionspraxis. Außerdem ermöglichte es neue Konzertformen: Beim öffentlichen wie beim privaten Konzert war Interaktion von Live-Musik mit Grammophonplatten beliebt. Eine aktive Rolle nahm der Hörer ferner durch die Gestaltung von Hauskonzerten ein. An die Stelle von Laienmusik rückte ein vom »Konzertdramaturgen« zusammengestelltes Grammophon-Programm. Diese Neuerungen waren bahnbrechend und von großem Einfluss auf die Gesellschaft. Die Grammophonhörer erwarteten neue Facetten des Hörens, welche die Rezeption von Musik und die Musik selbst nachhaltig und bis in die Gegenwart beeinflussten.

67 | Vgl. J. Sterne: The Audible Past, S. 240.

Radio zum Blättern Spotlights auf die Rundfunkzeitschrift »Die Funk-Stunde« (1924–1929) Janina Klassen

Der Rundfunk etabliert sich in der Weimarer Republik in einer Phase, in der mit Verve die »Bildgier« als »Wandlung der Denkungsart« ausgerufen wird, nämlich »weg von der abstrakten Spekulation, hin zur ›Naturwissenschaftlichkeit‹ einer konkreten Betrachtung«,1 so ein anonymer – nach Konrad ­Dussel vom Chefredakteur Kurt Korff stammender – Kommentar in der Berliner Illus­trirten Zeitung vom 4. Dezember 1919. Rückblickend bestätigt Korff 1927: »das Bedürfnis nach visueller Anschauung [war] so stark geworden, daß man dazu übergehen konnte, das Bild selbst als Nachricht zu verwenden« 2 . In den 1920er-Jahren etabliert sich die Bildwissenschaft als Erschließungsmethode im Fach Kunstgeschichte, und es entsteht die »Zeitungswissenschaft« als neue, sich dem Massenmedium widmende Fachdisziplin. Der seit 1923 beginnende Rundfunk erfordert dagegen die Konzentration auf das ›abstrakte‹ Hören, eine Hingabe an unterschiedliche akustische Signale, Sprache, Geräusche, Klänge, Musik, die mit der visuellen Umgebung nicht in Zusammenhang stehen. Mit den Rundfunkzeitschriften und weiteren rund um den Funk angesiedelten Printmedien wird ein zusätzliches Kommunikations­ forum geschaffen, das die Vorteile der modernen Bildberichterstattungen für Information und Eigenwerbung nutzt. Die folgenden Ausführungen gelten der Rundfunkzeitschrift Die Funk-Stunde sowie der um sie herum publizierten Printmedien. Die illustrierte Zeitschrift richtet sich sowohl thematisch als auch im Bildprogramm vor1 | Illustrierte Zeitung vom 04.12.1919, in: Konrad Dussel: Pressebilder in der Weimarer Republik: Entgrenzung der Information, Berlin 2012, S. 61. 2 | In: K. Dussel: Pressebilder in der Weimarer Republik, S. 61.

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wiegend an ein allgemein an Kultur interessiertes Publikum, weniger an Hob­ by­funker und Bastler. Die inhaltliche und formale Aufmachung zielt darauf, nicht nur für den Rundfunk als Medium, das Radio als Produkt und für den der Zeitschrift verbundenen Sender zu werben. Vielmehr soll sie die emotionale Akzeptanz des Radios über den Status eines technischen Männerspielzeugs hinaus im privaten familiären Ambiente unterstützen, so die generelle These. Am Ende greife ich ein besonderes Segment des Kopfhörerdiskurses auf. In der Funk-Stunde zeigen Bilddarstellungen an exponierten Positionen Kinder, Mädchen und Frauen mit den zum Empfang der Sendungen noch unentbehrlichen Kopfhörern. Die Unterstützung von Frauen zu gewinnen, so die weitere These, ist wichtig, um das Image des Radios als kulturelle Errungenschaft und Bereicherung im Alltag zu etablieren. Bei der Beschreibung überschreite ich musikwissenschaftliche Fachgrenzen und greife Anregungen aus bild-, kommunikations- und medientheoretischen Ansätzen auf. Insofern verstehe ich den Beitrag eher als Anstoß zu weiteren Fragen, denn als Ergebnis. Methodisch orientiere ich mich an Vorgaben qualitativer Inhaltsanalyse3.

R undfunk zeitschrif ten Rundfunkzeitschriften sind Teil eines corporate publishing. Sie dienen der Kommunikation mit den Hörerinnen und Hörern und tragen durch das Service­angebot dazu bei, diese auch an den Rundfunk zu binden. Wirtschaftlich ist ein Blatt wie die Funk-Stunde zwar ein eigenständiges Unternehmen. Inhaltlich ist es jedoch vom gleichnamigen Sender (Funk-Stunde AG) abhängig, der die nötigen Informationen liefert, Text- und Bildmaterial kontrolliert und gegebenenfalls zensiert. Insofern oszilliert der Status der Funk-Stunde zwischen Publikumszeitschrift und Werbeblatt. Aufgrund seines hohen Bild­ anteils zählt die Funk-Stunde zu den illustrierten Wochenzeitschriften mit hohem Unterhaltungswert. Die Funkpresse bedient die »Bildgier«. Sie macht das Radio sichtbar, indem sie Einblicke in die Studios gewährt und den zu hörenden Stimmen Gesichter und Geschichten gibt. Damit wird die direkt vom »Mund zum Ohr«4 gehende Welle ein Stück weit materialisiert. Rundfunkzeitschriften sind darüber hinaus vor dem Einsatz ausreichender audiofoner Speichermöglichkeiten auch ein Mittel der Dokumentation des neuen Mediums, seiner Hintergrundarbeit und der Vielfalt der Ausstrahlungen. Wie 3 | Vor allem an Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim/Basel 2007. 4 | »Zwischen dem Gebenden und dem Empfangenden liegt nichts als der Äther. Von Mund zum Ohr geht die Welle.«, Rudolf Lothar: »Der Rundfunk und seine kulturelle Bedeutung«, in: Die Funk-Stunde 36 (1926), S. 926.

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der frühe Rundfunk selbst, so sind auch die Sender begleitenden Zeitschriften dynamisch wachsende Medien, deren Profile anfangs divergieren und deren Standardisierung sich erst Ende der Zwanzigerjahre bildet 5. Illustrierte Rundfunkzeitschriften entstehen als Begleitmedien der Radiosender. Sie bieten eine Wochenvorschau auf die tägliche Sendefolge. Da Radio­ programme auch in Tageszeitungen abgedruckt werden, bleiben Konflikte nicht aus. Die neuen Rundfunkzeitschriften treten im Kampf um Anzeigen als Konkurrenten auf. Aus dieser Rivalität resultieren unter anderem Forderungen der Verleger6 nach finanzieller Gegenleistung. Im Unterschied zur Tages- enthält die Funkpresse, nach Ulrich Lademanns legitimierender Abgrenzung von 1929, mehr Platz für die »wünschenswerten Erläuterungen durch Bilder« 7. Das ist nach Lademann die erste und wichtigste Funktion. Als zweite Aufgabe wird das ursprüngliche Kerngeschäft der Funkpresse genannt, nämlich dem »Funkfreund die nötigen Kenntnisse für den sachgemäßen Betrieb des Gerätes zu vermitteln« 8. Dieser Bereich wird in der Funk-Stunde allerdings weitgehend marginalisiert. Sodann breitet Lademann ein ganzes Panorama von Gebieten aus, deren »Verhältnis zum Rundfunk einer Erörterung bedarf: Kirche, Schule, Musik, Theater, Film und [...] die neu entstehende reine Rundfunkkunst – das Hörspiel«,9 außerdem Landwirtschaft, Schifffahrt, Luftfahrt, »Volksgesundheit«, Polizei und Politik. Damit sind Prämissen des herausfordernd Neuen des Rundfunks umrissen, nämlich eine »allen Hörern gerecht werdende Programmgestaltung« 10 zu entwerfen. Funkzeitschriften sollen in-

5 | Thomas Bauer: Deutsche Programmpresse 1923 bis 1941. Entstehung, Entwicklung und Kontinuität von Rundfunkzeitschriften (= Rundfunkstudien, Band 6), München u. a. 1993. Seine Untersuchung legt besonders die medienpolitischen Absichten, wirtschaftlichen Interessen und personalen Verflechtungen zwischen Sendeanstalten und Funkpresse dar. Siehe auch Carsten Lenk: Die Erscheinung des Rundfunks. Einführung und Nutzung eines neuen Mediums 1923–1932 (= Konzeption Empirische Literaturwissenschaft, Band XX), Opladen 1997, S. 37ff. Lenk wertet die Zeitschriften Werag und Der Deutsche Rundfunk aus. 6 | Vgl. T. Bauer: Deutsche Programmpresse 1923 bis 1941, S. 43ff. Die Forderung der Verleger nach Bezahlung für diesen Dienst wurde zurückgewiesen, vgl. Hans Bredow: Vier Jahre deutscher Rundfunk, Reichs-Rundfunkgesellschaft mbH (Hg.), Berlin 1927, S. 119. 7 | Ulrich Lademann: »Die Funkpresse«, in: Rundfunk-Jahrbuch 1929, Reichs-Rundfunkgesellschaft Berlin (Hg.), Berlin o. J. [1929], S. 392. 8 | Ebd., S. 393. Fachblätter für Funkfreunde, Amateurfunker und Bastler gab es schon früher. 9 | Ebd., S. 394. 10 | Ebd.

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des – wie der Rundfunk selber11 – keine (partei-)politische Stellung beziehen. »Die ethische Aufgabe dieser Zeitschriften ist es, [...] die Zusammensetzung der Vortragsfolgen vor der Öffentlichkeit so zu vertreten, daß diese den Kulturwillen des Rundfunks und die Schwierigkeiten der Programmbildung erkennt«, so Hermann Thurn 193012.

D ie F unk -S tunde Die Funk-Stunde. Zeitschrift der Berliner Rundfunk Sendestelle wird als Begleitmedium des Senders Funk-Stunde AG Berlin von der dafür gegründeten Tochtergesellschaft Funk-Dienst GmbH konzipiert und vertrieben. Vertraglich ist eine Laufzeit von drei Jahren vorgesehen. Die erste Nummer kommt am 16. November 1924 im Funk-Dienst Verlag heraus. Das Blatt erscheint wöchentlich. Der Einzelpreis beträgt 1924 zwanzig, zwei Jahre später 25 Pfennige. Damit liegt die Funk-Stunde im höheren Segment 13. Die Startauflage von 77.000 steigert sich proportional zu den Nutzerzahlen des Rundfunks bis auf 300.000 im Jahr 1930. Danach stagnieren die Wachstumsraten14 . Die folgenden Abschnitte konzentrieren sich auf die frühen Jahre, in denen die Zeitschrift ihr Profil bildet und ihren Status unter den Funkzeitschriften etabliert. Nach Bauer15 wird die Funk-Stunde zum Vorbild für weitere Rundfunkillustrierte. Eingesehen wurden in der Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz die Original­ hefte der Jahrgänge 1924, 1925 Januar bis Juni (der Band Juli bis Dezember fehlt), 1926, 1927, 1928 und 1929. Die ersten Nummern umfassen jeweils sechzehn Seiten (in einem verkleinerten Berliner Zeitungsformat: 255 × 350 mm) auf Hochglanz-, der Jahr11 | Nach der Erfahrung revolutionärer Unruhen ist die Versicherung, das neue ­M edium von parteipolitischer Vereinnahmung fernzuhalten, eines der wesentlichen Anliegen, vgl. die Zusammenfassung in: Winfried B. Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland. Herkunft und Entwicklung eines publizistischen Mittels (= Beiträge zur Geschichte des deutschen Rundfunks, Band 1), Frankfurt a. M. 1965, S. 305ff. 12 | Hermann Thurn: Wesen und Bedeutung der Fachpresse, 1930, zit. nach: T. Bauer: Deutsche Programmpresse 1923 bis 1941, S. 54. Thurn war zu dieser Zeit Mitglied des Aufsichtsrats der RRG und der Deutschen Welle. 13 | Rundfunkzeitungen anderer Sender sind für zwischen zehn und 25 Pfennig pro Heft zu haben. Vergleichsbasis sind Anzeigen im Rundfunk-Jahrbuch 1929, Reichs-Rundfunkgesellschaft Berlin (Hg.), Berlin o. J. [1929]. 14 | Angaben nach Bauer; sendergebundene Zeitschriften verlieren aufgrund der neuen Reichweiten anderer Rundfunkanstalten an Bedeutung, vgl. T. Bauer: Deutsche Programmpresse 1923 bis 1941, S. 60ff. 15 | Ebd., S. 157.

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gang 1929 auf gewöhnlichem Zeitungspapier, eine direkte Auswirkung der sich anbahnenden Weltwirtschaftskrise. Der illustrierte Umschlagtitel und die Rückseite werden bei der Paginierung mitgezählt. Nach einem werbefreien redaktionellen Block mit der Programmvorschau, bei der jedem Sendetag anfangs eine, später mehrere Seiten gewidmet sind, folgen die Rubriken Leserbriefe (abgedruckt sind ein bis zwei), eine Humorseite, der »Briefkasten« mit kurzen technischen Tipps zur Problembehebung und zur Optimierung des Empfangs sowie eine bunte Seite (»Allerlei Interessantes«). Die nicht der Programmvorschau dienenden Seiten enthalten auf der unteren Hälfte Werbe­ flächen verschiedener, anfangs oft mit dem Medium Funk verbundener, ab 1925 auch verstärkt freier Anbieter. Die Rückseite der Funk-Stunde ist vielfach mit ganzseitiger Senderwerbung bestückt, das heißt mit Werbung für weitere Publikationen, Institutionen (wie die Hans-Bredow-Schule) oder Veranstaltungen des Senders beziehungsweise der wirtschaftlichen Träger. So wird für den »Funk-Ball« als Unterhaltung und Charity-Veranstaltung geworben: »Der gesamt Reinerlös ist für die Rundfunksammlung zur Beschaffung von Empfangsapparaten für Blinde bestimmt« 16. Zwei Jahre nach Erscheinen des ersten Hefts hat sich der Umfang auf 32 Seiten verdoppelt. Der interne Auf bau ist weitgehend gleichgeblieben. Neu sind Vorschauen des Senders Stettin und ab 1927 die aller Abendprogramme deutscher Sender. Dieser Service wird aufgrund der inzwischen erheblich verbesserten und erweiterten Reichweite anderer Rundfunkanstalten eingeräumt. Darüber hinaus tauchen häufiger Bilder von unterhaltsamen Großveranstaltungen auf, vor allem im Sport (Sechs-Tage-Rennen, Fußball, Segelflugwettbewerbe), die seit 1926 auch im Rundfunk direkt übertragen werden können. Den nichtredaktionellen Teil bereichern zusätzlich Kurzgeschichten und/oder mehrseitige Fortsetzungsromane, teils gekoppelt mit Vorlesungen im Rundfunk, teils ohne Anbindung an Sendungen. Die Programmvorschau zur Sendung Die Katastrophe von Hugh John [Ivan] Gramatzki enthält den Hinweis: »wichtig für verhinderte Hörer: Der Roman gelangt gleichzeitig laufend in der ›Funk-Stunde‹ zum Abdruck« 17. Außerdem werden Lerneinheiten aus den Rundfunksprachkursen zusammengefasst. Als weiteres Instrument der Hörer- und Leserbindung kommen Preisausschreiben hinzu. Der nach wie vor werbefreie redaktionelle Teil ist von 75 auf 50 Prozent gesunken, der unterhaltende und der Anteil an Werbung sind insgesamt gestiegen18.

16 | Funk-Stunde 8 (1925), S. 130. 17 | Funk-Stunde 1 (1926), S. 35. 18 | Print- und Funkwerbung bedienen unterschiedliche Formate. Der Frage, inwieweit sie sich in der Funk-Stunde inhaltlich überschneiden beziehungsweise ergänzen, bin ich nicht weiter nachgegangen. Vgl. zur Funkwerbung Christian Maatje: Verkaufte Luft. Die

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Te x t und B ild Bei der Beschreibung des Text- und Bildeinsatzes in der Funk-Stunde folge ich Kriterien, die nach Vorgaben der Bild- und Buchwissenschaften in den Medienkulturwissenschaften für illustrierte Zeitschriften beziehungsweise illustrierte Anzeigenwerbung entwickelt wurden19. Eine Rolle spielen das Größenverhältnis von Text und Bild, die Platzierung von Bildern im Heft und im Seitenlayout, Bildcharakter, Darstellung und Darstellungsweise sowie Fragen nach der Kongruenz oder Inkongruenz von Bild- und Textnachricht. Dabei übernehme ich die Annahme, dass die Bildinformation als ›Eyecatcher‹ mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht, als der Text 20. Der Bildanteil liegt in der Funk-Stunde von Beginn an hoch und wächst ab 1926 auf geschätzte vierzig Prozent. Gezeigt werden Illustrationen zu Sendungen, Hintergrundbilder vom Sender und zur Produktion von Sendungen sowie Unterhaltungsfotos. Den überwiegenden Anteil stellen Fotografien. Gezeichnet werden vor allem die wöchentlichen Karikaturen sowie Bühnenbildentwürfe, Landschaftsein­ drücke oder Künstlerdarstellungen aus vorfotografischer Zeit, etwa Porträts von Mozart oder Eichendorff, selten funktechnische Bilder oder statistische Grafiken und ein Teil der Werbebilder. Text und Bild sind im Layout des redaktionellen Teils etwa gleich verteilt, ihre Inhalte oft kongruent. Das Seitenlayout dominiert indes die Platzierung der Bilder. Sie erhalten mehr Prominenz als die um sie herumgruppierten Texte und können mit Hilfe der Bildunterschriften als Kompaktinformation schnell erfasst werden. Bei der wöchentlichen Programmvorschau werden thematisch einzelne kulturelle Ereignisse bevorzugt herausgehoben, meist Opern- oder Konzertübertragungen, die für den Funk eingerichteten Sende­ spiele oder besondere Vorträge, und in einem leserfreundlichen Fließtext kurz vorgestellt. Im ersten Heft der Funk-Stunde öffnet eine albumartig angeordnete, durch Überschneidungen dicht geschichtete Bilderstrecke die Sicht auf den Ort, an dem die Sendungen der Berliner Funk-Stunde AG produziert werden. Man blickt auf die gänzlich unspektakulären architektonischen Innenräume mit den funktechnischen Zutaten des Senders im Dachgeschoss des Berliner Voxhauses. In der Mitte der Seite prangt ein Bild des mit Vorhängen akustisch abgedämpften (leeren) Sendesaals. Darüber wird das zu Aufnahmen verwendete Harmonium von Standmikrofonen umgeben gezeigt, im unteren Kommerzialisierung des Rundfunks. Hörerwerbung in Deutschland (1923–1936) (= Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs, Band 32), Potsdam 2000. 19 | Vgl. K. Dussel: Pressebilder in der Weimarer Republik, S. 143ff.; Kathrin ­B onacker: Illustrierte Anzeigenwerbung als kulturhistorisches Quellenmaterial (= Marburger Beiträge zur Kulturforschung 5), Marburg 2000. 20 | Vgl. K. Bonacker: Illustrierte Anzeigenwerbung, S. 34.

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Abb. 1: »Wie der moderne Komponist arbeitet«. Quelle: Funk-Stunde Nr. 20 vom 16.05.1925, S. 390.

Eck links sind der Vorraum, ihm gegenüber, rechts im Eck, ein aufgeklappter Flügel und Notenständer abgelichtet. Die um die Fotos gruppierten Textspalten begründen den Einblick im Zusammenhang mit dem Start der Rundfunkzeitschrift insgesamt als »Unterstützung« für den Hörer. Der wolle »im besonderen durch bildhafte Reproduktionen in den Stand gesetzt sein, sich mit der Persönlichkeit der Künstler, bei Wiedergabe von Opernwerken auch der Inscenierung, in engeres Einvernehmen zu setzen«21. In den weiteren Nummern überwiegt in der Vorschau die Text-Bild-Präsentation von Highlights der Abendveranstaltungen. So bietet das Blatt zu der als Sendespiel bearbeiteten Oper Die lustigen Weiber von Windsor nach Otto Nicolai vier Seiten mit gemaltem Bühnendekor und Fotoporträts der Mitwirkenden22 . Im rein unterhaltenden Teil ist die Verbindung zwischen Bild und Text lose bis gänzlich inkongruent. Hier dienen die Bilder mehr der Auflockerung und stehen oft für sich. Das arrangierte Foto »Wie der moderne Komponist arbeitet« (Abbildung 1) bildet gemeinsam mit der Bildunterschrift eine ab21 | Funk-Stunde 1 (1926), S. 2. 22 | Funk-Stunde 8 (1925), S. 172–175.

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geschlossene Informationseinheit. Sie preist die neue Medien- und Maschinenfaszination: »Der amerikanische Komponist Milt Hagen komponiert am Klavier, schöpft neue Ideen durch den Rundfunk, singt die gefundenen Melodien in einen Phonographen und schreibt die zugehörigen Texte auf der Schreibmaschine«23. Der das Foto umgebende Artikel bezieht sich nicht auf den abgebildeten Komponisten, sondern glossiert die Inspiration von Operettenschreibern wie Franz Lehár, ist also zumindest thematisch lose mit der auf dem Bild ausgeübten Tätigkeit verbunden. Das Foto ist eines der wenigen, deren Urheberrechte angegeben werden, nämlich die der amerikanischen Agentur Keystone View Company. Von 1926 an finden sich außerdem immer wieder Abbildungen von Reportern bei der Arbeit draußen. Die jetzt möglichen Direktreportagen des Rundfunks selbst aus Flugkabinen heraus (im Segelflieger oder 1928 im Zeppelin) überbieten an Aktualität alles, was Printmedien bringen können. Der Rundfunk wirkt damit »im Zeitalter des Tempos«24 besonders zeitgemäß.

A utorinnen und A utoren Die Zeitschrift Funk-Stunde wird wie die Radiosendungen ebenfalls im Voxhaus produziert. Die Funk-Dienst GmbH ist sowohl personell als auch kapital­mäßig mit dem Sender Funk-Stunde AG verbunden25. Nach Lerg übernehmen ­T heodor Max Chop, ein als populärer Musikschriftsteller bekannter Wissenschaftler, der für den Reclamverlag verschiedene Monografien und Werkeinführungen (unter anderem zu Beethoven und Liszt) geschrieben hat, und der Regisseur und Dramaturg Josef Höpfl die Redaktion der Funk-Stunde. Beide gehören auch dem musikalischen Beirat des Senders an. Außerdem arbeiten Felix Günther, Leiter des »musikalisch-literarischen Büros«, und Otto Urack, der Kapellmeister des Senders, an der Zeitschrift mit26. Ob sie einen Großteil der Artikel verfassen, ob und in welchem Umfang freie Autoren engagiert werden, ist nicht klar. Die Funk-Stunde dieser Jahre enthält kein Impressum.

23 | Funk-Stunde 20 (1925). 24 | F[riedrich] W[ilhelm] Odendahl (1929): »Der Rundfunk als Berichterstatter«, in: Rundfunk-Jahrbuch 1929, Reichs-Rundfunkgesellschaft Berlin (Hg.), Berlin o. J. [1929], S. 75–88, hier S. 85. 25 | Vgl. die vielfachen Verflechtungen in: T. Bauer: Deutsche Programmpresse 1923 bis 1941, S. 57ff. 26 | W. B. Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland, S.  212. Vgl. auch die Organigramme zur Organisation des frühen Rundfunks, in: http://www.dra.de/rundfunk geschichte/radiogeschichte/organisation/pdf/FST_1924–1933.pdf vom 17.02.2015.

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Angestellten der Sender sei eine »literarische Mitarbeit gegen Honorar bei allen Zeitschriften gestattet«, nicht zuletzt, »um den Rundfunkgesellschaften auf diesem Wege einen möglichst großen Einfluß auf dieses wichtige Werbemittel zu verschaffen«, so Bredow27. Die Werbefunktion der Programmzeitschriften für das Radio und damit deren Abhängigkeit von den Sendern spielen eine herausragende Rolle. Der Sender beansprucht die Kontrolle über Texte und Bildmaterial, um eine negative Darstellung des Rundfunks und parteipolitische Vereinnahme zu verhindern. Bredow insistiert 1927 ausdrücklich darauf, dass das Recht, sich als »offizielle Programmzeitschrift« zu bezeichnen, mit der Verpflichtung gekoppelt sei, »die Interessen des Rundfunks in jeder Weise zu berücksichtigen, werbend und fördernd für ihn zu wirken [...] und einen Anteil an dem Zeitungsgewinn an die Rundfunkgesellschaft abzugeben.«28 Der Rundfunk liefert dem Funk-Dienst Verlag eigenes und teils bei verschiedenen Servicedienstleistern eingekauftes Informationsmaterial unter anderem von der ebenfalls im Voxhaus untergebrachten Agentur Funk-Korrespondenz29. In den durchgesehenen Jahrgängen sind nur einzelne Beiträge gekennzeichnet. Dazu gehören das Editorial der ersten Nummer von Hans Bredow,30 damals noch zuständiger Staatssekretär im Reichspostministerium,31 sowie drei Grundsatzartikel zum Thema »Der Rundfunk und seine kulturelle Bedeutung«, die der Sender im Umfeld der dritten Funkausstellung bei den Publizisten Rudolf Lothar,32 Kurt Pinthus und Fedor von Zobeltitz zur Bekräftigung der bisherigen Programmlinie in Auftrag gegeben hat 33. Dementsprechend euphorisch klingt der Tenor dieser Beiträge. Nach Lothar übertrifft die »Wun27 | H. Bredow: Vier Jahre deutscher Rundfunk, S. 120. 28 | Ebd. Er liegt bei zehn Prozent des Reinerlöses, vgl. T. Bauer: Deutsche Programmpresse 1923 bis 1941, S. 48; Chr. Maatje: Verkaufte Luft, S. 72. 29 | T. Bauer: Deutsche Programmpresse 1923 bis 1941, S. 156. 30 | Funk-Stunde 1 (1924), S. 1. 31 | Vgl. zur Organisation des frühen Rundfunks das Organigramm in: http://www. dra.de/rundfunkgeschichte/radiogeschichte/organisation/pdf/FST_1924-1933.pdf vom 17.02.2015, Tafel 1925ff. Bredow hat auch Editorials für andere Funkzeitschriften und Nebenproduktionen verfasst, weshalb sein Name immer wieder auftaucht, vgl. W. B. Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland, S. 302ff. 32 | Rudolf [auch Rudolph] Lothar (1865–1933), Schriftsteller, Publizist, Herausgeber des Jahrbuchs für Phonotechnik und Phonokunst 1925, in: http://www.­jewishvirtuallibrary. org/jsource/judaica/ejud_0002_0013_0_12773.html vom 22.02.2015; Kurt Pinthus (1886–1975), Schriftsteller, Publizist, Theaterwissenschaftler, war seit 1925 Mitglied der literarischen Kommission der Funk-Stunde, in: http://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_ Pinthus vom 22.02.2015; Fedor von Zobeltitz (1857–1934), Schriftsteller und Journalist, in: http://de.wikipedia.org/wiki/Fedor_von_Zobeltitz vom 22.02.2015. 33 | Funk-Stunde 36 (1926), S. 926–929.

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derkraft des Rundfunks«34 die des Buchdrucks aufgrund seiner Schrankenlosigkeit. Rundfunk erfordert keine Lesekompetenz und erreicht unvermittelt jeden, überall auf der Welt. Pinthus regt an, medieneigene Hörformate zu entwickeln, um die technischen Mittel und Möglichkeiten des Radios wirkungsvoll zu nutzen. Von Zobeltitz’ Beitrag widmet sich vor allem der »Kulturmission«35 des Rundfunks mit nationalem Stolz. Die Nennung der Autoren zeigt nicht nur deren Prominenz, sondern erhöht auch die Bedeutung der Artikel. Davon strahlt noch etwas auf die Programmzeitschrift selber ab, die ansonsten kein Blatt für tiefschürfende Leitartikel ist.

W eitere P rintmedien rund um den S ender F unk -S tunde Den Werbe- und den kommerziellen Interessen der am Sender Funk-Stunde AG und dem Verlag Funk-Dienst GmbH beteiligten Institutionen, Firmen und Privatpersonen dient auch die Palette weiterer, um das Publikum werbender Druckerzeugnisse, die der Funk-Dienst Verlag, ungeachtet der Proteste des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels,36 zwischen 1926 und 1930 rund um den Sender Funk-Stunde publiziert: Jahrbücher, Textbücher zu den als Sendespiele bearbeiteten Bühnenwerken, Postkartenserien, Auskoppelungen aus Kindersendungen wie die Bastel- oder Märchenstunde in »Funkheinzelmann-Märchenbücher[n]«,37 Gymnastik- und Tanzanleitungen,38 Rundfunk-

34 | Funk-Stunde 36 (1926), S. 926. 35 | Funk-Stunde 36 (1926), S. 928. 36 | Vgl. T. Bauer: Deutsche Programmpresse 1923 bis 1941, S. 50. 37 | Hans Bodenstedt: Märchen vom Funkheinzelmann, Berlin 1924. Bodenstedt, Erfinder, Sprecher und Autor des »Funkheinzelmanns«, ist gleichzeitig auch Intendant der Norddeutschen Rundfunk AG NORAG, von der die Funk-Stunde AG den Funkkasper übernimmt. Darüber hinaus erscheint ab Mai 1926 der Funkheinzelmann. Erste Funk- und Film-Jugendzeitung der Welt. Zwei Jahrgänge (1926 und 1927) sind in der Staatsbibliothek Berlin erhalten. Bodenstedt ist hauptverantwortlicher Redakteur und schreibt dort als »Funkheinzelmann«. Es gibt eine spezielle Mädchenseite. Die zweimal monatlich erscheinende Zeitung verfolgt massive Strategien, um Leser zu binden. Schon in der dritten Nummer werden alle Abonnenten zu Mitgliedern des Funkheinzelmann-Bunds erklärt, für den auch ein Abzeichen entworfen ist. Wer drei neue Abonnenten wirbt, erhält ein Gratisabo, in: 3 (1926), o. S. [S. 1]. 38 | Walter Carlos: Funk-Tanz, Tanz-Stil. Ein Lehr- und Übungsbuch für Anfänger und Fortgeschrittene, von der Funktanzstunde zusammengestellt nach internationalen Tanzregeln, Berlin 1928. Ders.: Das neue Funk-Tanz-Heft. Praktische Anleitung für den Funk-Tanz-Kursus 1929/30, Berlin 1929.

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vorträge,39 eine literarische Vorstellung der Funk-Köpfe 40 und zwei Bände mit dem Charakter einer optimistisch werbenden Festschrift, Drei Jahre Berliner Rundfunkdarbietungen. Ein Rückblick 1923–1926 und Fünf Jahre Berliner Rundfunk. Ein Rückblick 1923–1928 41. In den Bänden evaluieren die drei der Leserschaft der Funk-Stunde schon bekannten Publizisten Lothar, Pinthus und von Zobeltitz die »bisherigen Leistungen der Funk-Stunde auf allen Gebieten kultureller Betätigungsmöglichkeiten«42 . Angefügt sind Statistiken über sämtliche Musikstücke (In­strumentalmusik, Oper, Operette, Tanz, Revue, »exotische« Musik), Literatur, Schau-, Hör- und Sendespiele, Funkkabarett, Übertragungen von Gesellschafts- und Sportveranstaltungen sowie die mitwirkenden Künstler und Autoren der Vorträge. Zwei Jahre später bestätigen dieselben Autoren die Leistungsbilanz mit dem gleichen lobenden Ergebnis. Der Band ist wesentlich umfangreicher. Schließlich zeigt die Fülle von Sendungen, »welchen unerwarteten und überraschenden Aufschwung das Rundfunkwesen«43 genommen habe, so von Zobeltitz. Der bunte Strauß Rundfunk begleitender Veröffentlichungen hängt mit dem außerordentlichen Erfolg des Radios zusammen. Im zweiten Quartal 1926 überschreitet die Zahl angemeldeter Teilnehmer die Grenze von 1.250.000. Dieser rasch wachsende Interessenkreis wird sowohl für den Gebühren erhebenden Funk und den Absatz der begleitenden Printmedien als auch für die Werbung attraktiv. Zur dritten Funkausstellung, am 3. September 1926, geht der Berliner Funkturm in Betrieb. Das Berliner Tageblatt feiert ihn als neues »Wahrzeichen Berlins«44. Die moderne Konstruktion (samt Aussichtsterrasse und Höhen­ restaurant) in exponierter Lage macht im Stadtpanorama weithin sichtbar, dass und wie der Rundfunk boomt. Dieser Erfolg und das Motiv, die undurchsichtigen lokalen, personellen und kapitalen Verflechtungen zwischen Sendern, Verlagen, Agenturen und privaten Akteuren transparenter zu gestalten, dürfte auch eine vorzeitige Neufassung der Vertragsgrundlage der Zeitschrift Funk-Stunde veranlasst haben. Bredow, dem der Rundfunk ein persönliches Anliegen ist, für das er sich unermüdlich einsetzt, fungierte ab 1926 in der 39 | Das Wissen im Rundfunk. Eine Auswahl von Rundfunkvorträgen, Funk-Stunde (Hg.), Berlin 1927. 40 | Karl Wilczynski (Hg.): Funkköpfe. 46 literarische Porträts, Berlin 1927. 41 | Drei Jahre Berliner Rundfunkdarbietungen. Ein Rückblick 1923–1926, überreicht von der Funk-Stunde AG, Berlin o. J. [1927?]; Fünf Jahre Berliner Rundfunk. Ein Rückblick 1923–1928, Berlin o. J. [1929?]. 42 | Drei Jahre Berliner Rundfunkdarbietungen, o. S. [S. 2]. 43 | In: Fünf Jahre Berliner Rundfunk, S. 272. 44 | In: http://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Funkturm#cite_ref-25 vom 03.03.2015.

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privatrechtlich organisierten Reichsrundfunkgesellschaft als Rundfunkkommissar des Reichspostministeriums45. Von den Rundfunkjahrbüchern aus diesem Zeitraum wurden zwei ausgewertet. Der Sender Funk-Stunde brachte 1926 ein erstes Rundfunkjahrbuch gleichen Namens heraus: Die Funk-Stunde. Ein Jahrbuch der Berliner Rundfunk-Sendestelle (im Quartformat: 256 × 175 mm)46. Zwischen Einband und redaktionellem Teil steht am Anfang und am Ende des Jahrbuchs ein insgesamt zwölfseitiger mit römischen Ziffern paginierter Werbeblock. Unter dem Inhaltsverzeichnis findet sich ein kleines Impressum. Genannt werden ­Friedrich Georg Knöpfke, 1926 Vorstand, Direktor, Verwaltungsleiter und Leiter des Künstlerischen Betriebsbüros des Senders Funk-Stunde,47 als Ideengeber und der Prokurist Hans Schmiedicke, der den Inhalt verantwortet. Vor allem Knöpfke, jahrelang »Reklamechef« der Deutschen Grammophon Gesellschaft und Herausgeber der Zeitschrift Die Stimme seines Herrn, gilt als besonders findig, wenn es darum geht, die mediale Produkt- und Erlebnispalette rund um den Funk zu erweitern. »Er beherrscht die Werbung für den Rundfunk in allen Tonarten, in allen Farbschattierungen«,48 so Ludwig Kapeller 1927. Das Jahrbuch erscheint parallel zum Rückblick Drei Jahre Berliner Rundfunkdarbietungen, deckt aber ein anderes Spektrum ab. Mit einem Bildanteil von annähernd fünfzig Prozent und dem plaudernden Ton entspricht es mehr einem Sonderheft der Zeitschrift Funk-Stunde. Das Jahrbuch strahlt in Themen- und Bildauswahl vor allem emotionale Botschaften aus und propagiert überwiegend die unbeschwerte, familienfreundliche Seite des Rundfunks. Leser können auf unterhaltsame Weise in die Kulissen des Senders blicken. Im Unterschied zu den spröden Innenaufnahmen aus dem ersten Heft der Funk-Stunde rücken nun auch die im Rundfunk Tätigen ins Bild. Vorstand, Aufsichtsrat, die ständigen Mitarbeiterinnen  – drei Sekretärinnen des Programmbüros – und Mitarbeiter werden in mit Namen

45 | Vgl. zu Bredows Position und dessen publizistischer Präsenz als »Vater des deutschen Rundfunks« ausführlich W. B. Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland, S. 302ff; T. Bauer: Deutsche Programmpresse 1923 bis 1941, S. 49ff. 46 | Die Funk-Stunde. Ein Jahrbuch der Berliner Rundfunk-Sendestelle, Berlin 1926. 47 | Vgl. Organigramm in: http://www.dra.de/rundfunkgeschichte/radiogeschichte/ organisation/pdf/FST_1924–1933.pdf vom 17.02.2015, Tafel 1926. 48 | Ludwig Kapeller: »Friedrich Georg Knöpfke«, in: K. Wilczynski (Hg.), Funkköpfe, 1927, S. 12f. Knöpfke wird im selben Buch noch ein zweites Porträt gewidmet, Hermann Kasack: »Die Persönlichkeit«, ebd., S. 14f. Knöpfke wurde nach der nationalsozialistischen Machtergreifung von der Gestapo verhaftet und misshandelt. Er nahm sich am 14.09.1933 das Leben; vgl. http://www.deutschlandradiokultur.de/der-­ s iegeszugdes-radios-beginnt.932.de.html?dram:article_id=266523 vom 26.04.2015.

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gekennzeichneten Medaillonporträts vorgestellt49. Es folgt eine mehrseitige kommentierte Fotostrecke, die einen Sendetag vom Öffnen bis zum Schließen der Pforte des Voxhauses aus einer die unterhaltsamen Momente in den Vordergrund rückenden Perspektive miterleben lässt: Morgengymnastik, Reporter im Großmarkt, das Direktionsbüro beim Öffnen der Hörerpost, Fotos von Chor- und Orchesterproben, der »Funkheinzelmann« Hans Bodenstedt im Dialog mit Kasperle, das Kinderfest im Voxhaus (eine mit Musik untermalte Sendung, in der Kinder im Studio die Geräuschkulisse machen50), das Nachmittagskonzert, Mikrofonprobe (die Techniker tragen dazu weiße Kittel), die Produktion eines »Opernsendespiels« mit Siegfried Wagner am Pult, Auszahlung der Künstlerhonorare an der Kasse und Nachrichtensprecher bei der Arbeit. Die Attraktion sind die Abbildungen, die wie Bildergeschichten im belebten Layout (Schrägstellungen, Überschneidungen) eines privaten Foto­albums angeordnet sind. Ergänzende Artikel beschreiben die Aufgabenbereiche von Sendeleitung und Funkdirigent sowie die Entwicklung von Mikrofonen. Einen besonderen emotionalen Höhepunkt setzt die ›Homestory‹ der Fotografin Suse Byk 51. Sie stellt unter dem Titel »Bei mir blast’s!« in einer inszenierten Bilderfolge vor, wie Kinder zu Hause Radio hören, dabei mit der Maschine spielen, tanzen und ganz unbefangen die neue Technik einbeziehen. Das Rundfunkjahrbuch von 1929 (im Klein-Oktav Format: 175 × 115 mm) hat einen anderen Charakter. Es fasst Informationen von und über alle deutschen Sender zusammen und ist von der Reichsrundfunkgesellschaft he­ rausgegeben. Die Öffentlichkeit wolle wissen, nach welchen Kriterien Rundfunkprogramme zustande kämen. Das Jahrbuch »will deshalb nicht nur einen Bericht über die Tätigkeit der Rundfunkgesellschaften geben, sondern vor allen Dingen einen Einblick in die mit der Programmgestaltung verknüpften Probleme ermöglichen«, so Bredow im Editorial, in dem er noch einmal das »Bekenntnis zum Kulturwillen des Rundfunks«52 beschwört. Der Inhalt richtet sich nicht nur an eine allgemeine Hörerschaft, sondern zielt mit seinen bilanzierenden, teils selbstkritisch evaluierenden Beiträgen auch auf die wirtschaftlichen und politischen Träger der Sendeanstalten. Die Artikel bringen Hintergrunds- und analysierende Berichte verschiedener Autoren zur Vorge49 | K. Wilczynski (Hg.): Funkköpfe, S. 4f. 50 | Vgl. Brunhild Elfert: Die Entstehung und Entwicklung des Kinder- und Jugendfunks in Deutschland von 1924–1933 am Beispiel der Berliner Funk-Stunde AG (= Euro­ päische Hochschulschriften Reihe 40, Kommunikationswissenschaft und Publizistik, Band 3), Frankfurt a. M. 1985, S. 101. 51 | Byk führte von 1913 bis 1938 in Berlin ein eigenes Fotoatelier mit mehreren Angestellten. Sie emigrierte 1938 nach New York. Dort verliert sich ihre Spur, vgl. http:// www.deutschefotothek.de/documents/kue/70020036 vom 03.03.2015. 52 | H. Bredow: Vier Jahre deutscher Rundfunk, o. S. [S. 3].

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schichte und Struktur des deutschen Rundfunks, ergänzt durch Jahresberichte der einzelnen Sender. Außerdem sind Vorträge der Tagung des Deutschen Rundfunkrats über »Probleme um den Rundfunk«, zur Funktechnik sowie »Allerlei für den Hörer« und diverse statistische Diagramme abgedruckt. Wie beim Jahrbuch von 1926 sind auch hier zwischen Einband und Textteil zwölf Seiten mit Werbung einmontiert.

H örer - und L eserschaf t Die Zielgruppe der Publikationen und ihre Bedürfnisse lassen sich schwer einschätzen. Das gilt sowohl für die Radio- und Funkzeitschriftenmacher selber, als auch für eine kritische Bewertung ihres Leseverhaltens sowie weiterer Aktivitäten aus heutiger Perspektive. Als Hörerschaft zählen für Sendeanstalten die Gebührenzahlenden. Alle weiteren Daten bleiben auf Schätzungen angewiesen. Die Hörerschaft setzt sich – zumindest theoretisch – überregional aus Teilnehmenden aller Schichten der Stadt- und Landbevölkerung zusammen. Nach Lindemann und Dussel53 ist davon auszugehen, dass Rundfunk im Herbst 1924 hauptsächlich in Städten empfangen werden kann. Eine Kommunikationsmöglichkeit mit dem Radio erfolgt über Zuschriften an die Sender direkt, an die Funkpresse oder über Hörerorganisationen wie Funkvereine, Technik- und Radioclubs. Nicht alle Rundfunkteilnehmerinnen und -teilnehmer lesen auch Programmzeitschriften. In welcher Größenordnung und zu welchen Themen Hörerpost eingeht, ist nicht systematisch erfasst. Ohnehin sind Hörer- beziehungsweise Leserbriefe ein Ausdrucksmittel, dessen sich hauptsächlich bestimmte Teile der Gesellschaft bedienen, wie Kurt Wagenführ 1930 skeptisch einwendet. Die meisten kämen aus »Kaufmannskreisen« und von »Angehörigen akademischer Berufe [...]. Zuschriften aus Kreisen der Arbeiterschaft und Landwirtschaft sind ziemlich wenig zu verzeichnen, [...] weil sie ihre Kritik meist durch ihre Organisationen ausdrücken lassen.«54 In den Anfangsjahren mischen sich beim Hörer- beziehungsweise Leserfeedback die unterschiedlichen Interessen von Radiobastlern und die Wünsche der sogenannten ›Unterhaltungszuhörer‹. Deren Anteil wächst indes. 53 | Elmar Lindemann: Literatur und Rundfunk in Berlin 1923–1932. Studien und Quellen zum literarischen und literarisch-musikalischen Programm der »Funk-Stunde« AG Berlin in der Weimarer Republik, 2 Bände, Diss. Göttingen 1980, Bd. I, S. 68ff.; Konrad Dussel: Deutsche Rundfunkgeschichte, Konstanz 2010, S. 43ff. 54 | Kurt Wagenführ: »Der Hörerbrief (1930)«, in: E. Lindemann, Literatur und Rundfunk in Berlin 1923–1932, Band I, S. 71. Vgl. die kritischen Anmerkungen Lindemanns dazu, Band I, S. 71f., Anm. 35. Siehe zu den Hörerorganisationen auch K. Dussel: Deutsche Rundfunkgeschichte, S. 43–45.

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Als neues Instrument der Hörerkommunikation setzt die Zeitschrift Der Deutsche Rundfunk eine systematische Befragung ein. Sie stellt im Mai und Juni 1924 der Leserschaft zwei Fragen. Die erste gilt der Relevanz der Programminhalte. Dazu konnte unter vierundzwanzig Sparten zwischen Operette (Platz 1, gewünscht von 83,3 % der Einsender) und Predigt (letzter Platz, 9 %)55 ein Ranking angekreuzt werden. Die zweite Frage betrifft die Einteilung der Sendezeit. Das zusammengefasste Ergebnis lautet: »Größte Vielseitigkeit der Programme, häufige Sendezeiten.«56 Die von der Zeitschrift vorgegebenen Kategorien spiegeln den Anspruch des Rundfunks auf Kulturvermittlung. Mit fünf Sparten unter den ersten acht Plätzen steht Musik bei den Befragten sehr hoch im Kurs. Aufgrund der divergierenden Vielfalt und der noch eingeschränkten Sendekapazitäten werden keine direkten Konsequenzen gezogen. Aber die zunehmende Erweiterung der Rundfunkprogramme entwickelt sich in Richtung Diversität und Ausweitung der Sendezeit von acht bis zwölf auf neunzehn Stunden bis Ende der 1920er-Jahre. Die statistisch ermittelte Leser- und Hörermitbestimmung bleibt indes umstritten. Der Sinn des Verfahrens wird von Gegnern wie Bredow grundsätzlich angezweifelt. Dabei dient das Argument der Befürworter, nämlich der Hörerschaft eine Partizipation an der Programmgestaltung zu ermöglichen, der Gegenseite zugleich als Ablehnungsgrund. Der Rundfunk als »Kulturfaktor« könne sich nicht »sein Programm von den Hörern vorschreiben lassen.«57 Anstelle einer direkten demokratischen Hörerbeteiligung werden von der Reichsrundfunkgesellschaft bestimmte Kulturbeiräte zur Programmkontrolle eingesetzt. Gleichwohl zeigen sich Konsequenzen. Der Musikanteil beträgt 1927 bei allen Rundfunkanstalten mehr als sechzig Prozent. Schließlich hat der Rundfunk in keinem Gebiet eine »größere, tiefergehende und die Kultur mehr bestimmende Bedeutung [...] als in der Musik«, so Lothar. Den Vorrang von Musik rechtfertigt der Publizist damit, dass Musik besonders für das Radio geeignet sei, da sie »kein so angespanntes Ohr« verlange. Im Unterschied zur Sprache mache es einem »Durchschnittshörer

55 | Leser- beziehungsweise Hörerranking: 1: Operette, 2: Tagesneuigkeiten, 3: Zeitansage, 4: Kammermusik, 5: »gemischtes Konzert«, 6: Wetter, 7: Tanzmusik, 8: Oper, 9: Wissenschaftliche Vorträge, 10: Humor, 11: Kabarett, 12: Politische Nachrichten, 13: Sport, 14: Unterhaltende Vorträge, 15: Chormusik, 16: Esperanto (von den Hörern selbstständig hinzugefügt), 17: Pädagogik, 18: Sprachkurse, 19: Börse, 20: Jugendvorträge, 21: Politische Vorträge, 22: Mode, 23: Märchen, 24: Schauspiel, 25: Predigt, in: W. B. Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland, S.  273. Die genaue Anzahl der verteilten Fragebögen wie der Rücksendungen ist nach Lerg nicht mehr zu ermitteln. 56 | In: ebd., S. 274. 57 | Zusammenfassung der Diskussion in: ebd., S. 274–278.

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nicht viel aus, wenn er mal ein paar Takte lang nicht zugehört hat.«58 Der Musik im Rundfunk wird eine doppelte Funktion attestiert. Sie gilt einerseits der »Ausspannung«,59 das heißt der Erholung, und sie ist zugleich das wirksamste Mittel kultureller Belehrung.

N eues H ören Alfred Szendrei, seit 1924 Musikdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks MIRAG in Leipzig, startet 1928 über das Radio einen anspruchsvollen Hörversuch mit Hörerbeteiligung. Zur Erforschung einer besseren Übertragungsqualität wird das Vorspiel aus Wagners Lohengrin fünfmal nacheinander in verschieden starker Besetzung (zwischen 39 und 177 Instrumentalisten) und unterschiedlicher Mikrofonierung ausgestrahlt. Radiohörer sind aufgefordert, ihre Meinung dazu einzusenden. Neben »zwei Dutzend Sachverständigen« antworten »etwa 600«60 Teilnehmende. Zwar führt die Pluralität der Rückmeldungen auch hier zu keinem brauchbaren Ergebnis. Einige hatten gar keine Unterschiede bemerkt, und selbst die Fachleute konnten sich nicht eindeutig für eine optimale Besetzungsgröße entscheiden. Dennoch bergen vor allem die Kommentare eine Fülle von Informationsmaterial darüber, wie auch nicht kulturell einseitig vorgeprägte Rundfunkteilnehmer Radio hören. Auf der Grundlage dieser Hörerpost skizziert Szendrei 1928, was Pierre Schaeffer und François Bayle wenige Jahrzehnte später als »musique acousmatique«61 neu erfinden, nämlich Ansätze zu einer Radiohörtheorie, einer Theorie des ›abstrakten‹ Musikhörens. Weil der visuelle Anteil wegfalle, würden Potentiale für die eigene Vorstellungskraft frei, so Szendreis These. Durch das Radiohören entwickele sich die Fähigkeit, Klangfarben auch ohne optische Unterstützung zu unterscheiden und den »absoluten Klang als solchen aufzunehmen«. Daher stelle das durch Radio geschulte Hören »die höchste Stufe bewußt künstlerischen Hörens dar«, das »Kennhören«62 . Diese Fähigkeit ist nach Szendrei kein Privileg der Gebildeten. Im Gegenteil. Deren Urteile seien oft subjektiv, das heißt sie diskutierten die Interpretation, während »Leute aus den unteren Kreisen eine anerkennenswerte Objektivität« bei der Beschreibung der akustischen Wiedergabe zeigten. Selbst wenn der Versuch in Bezug 58 | R. Lothar: Drei Jahre Berliner Rundfunkdarbietungen, S. 6. 59 | Ebd., S. 5. 60 | Alfred Szendrei: »Rundfunkmusik. Ein Beitrag zur Psychologie des Rundfunkhörers«, in: Rundfunk-Jahrbuch 1929, Reichs-Rundfunkgesellschaft Berlin (Hg.), Berlin o. J. [1929], S. 154–163, hier S. 160. 61 | François Bayle: Musique acousmatique, Paris 1993. 62 | A. Szendrei: »Rundfunkmusik«, S. 160.

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auf die Ausgangfrage nicht viel gebracht hat, so bekräftigt die Art des Feedbacks Szendreis Überzeugung, dass »der großen Masse« durch das Radio­hören »eine neuartige Sinnesfunktion anerzogen wird«63. Darauf müsse der Rundfunk reagieren und seine kulturelle Erziehungsmission weiter ausbauen. Die euphoristische These, dass das Radio erfolgreich »Millionen von Menschen zum ersten Male die Bekanntschaft mit guter und edler Musik vermittelt«,64 geistert selbstbestätigend durch die frühen Funkschriften. Sicher trifft sie in vielen Fällen zu. Allerdings instrumentalisieren die Rundfunkmacher diesen als Demokratisierung der Kultur gefeierten Fortschritt, um eigene hegemoniale Kulturvorstellungen durchzusetzen. Vom hörenden Publikum wird die Umwidmung vom Unterhaltungsradio in ein »ernsthaftes Mittel zur Verbreitung geistiger Werte«65 deutlich beanstandet. Die Auswahl ziele nur auf »wissenschaftliche Musiker« schreibt »C. M.« aus Berlin in einem Leserbrief. »Abgesehen davon, daß derartige Musik durch Radio am schwersten verständlich ist, hat der allergrößte Teil der Teilnehmer kaum eine Ahnung, wer Mozart, Liszt oder Wagner ist.« Da »das Zuhören sowie auf längere Zeit anstrengt, trägt derart eintönige, für Nichtkenner direkt ermüdende Musik geradezu zur langen Weile bei«66. Das Programm des Berliner Senders beherzigt solche Kritiken durchaus. Bei der Musikverteilung nimmt die »leichte Unterhaltungsmusik [...] den größten Raum« ein und zwar »auf Verlangen der überwiegenden Mehrheit der Rundfunkhörer«,67 heißt es im Bericht von 1928. Nicht zuletzt aus Sicht der Werbewirtschaft ist es wichtig, dass die Rundfunkbegeisterung anhält und das Radiohören weiter an Attraktivität gewinnt. Um die mentale wie aurale Überforderung und die damit verbundene Kritik am Sender zu vermeiden, wird eine gezielte Programmauswahl empfohlen68. Ohnehin taugen die überwiegend zum Empfang genutzten unbequemen Kopf hörer (noch) nicht für ein Dauerhören.

63 | A. Szendrei: »Rundfunkmusik«, S. 160. Die Aspekte hat Szendrei in seiner Dissertation noch einmal zusammengefasst, vgl. Ders.: Rundfunk und Musikpflege, Leipzig 1931, S. 173–175. 64 | R. Lothar: Drei Jahre Berliner Rundfunkdarbietungen, S. 5. 65 | H. Bredow, in: Funk-Stunde 1 (1924), S. 1. 66 | Funk-Stunde 1 (1924), S. 12. 67 | F[riedrich] W[ilhelm] Odendahl: »Das letzte Rundfunkjahr. Berichte der deutschen Rundfunkgesellschaften«, in: Rundfunk-Jahrbuch 1929, Reichs-Rundfunkgesellschaft Berlin (Hg.), Berlin o. J. [1929], S. 89–120, hier S. 95. 68 | Vgl. W. B. Lerg: Die Entstehung des Rundfunks in Deutschland, S. 274. 1932 werden »Leitsätze zum kontemplativen Hören« aufgestellt, um der Kritik an den Programmen entgegen zu wirken und zum ›richtigen‹ Hören zu erziehen, C. Lenk: Die Erscheinung des Rundfunks, S. 155.

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K opfhörerdiskurse Sowohl im redaktionellen Teil als auch in einschlägigen Anzeigen in der Funk-Stunde sind Frauen, Mädchen und Kinder im lockeren Umgang mit Kopfhörern abgebildet. Aus heutiger Sicht wirken die Bilder überraschend ›cool‹ und ansprechend, weil der dargestellte Hörmodus in unserem Alltag so vertraut ist. Nicht zuletzt deswegen bin ich beim Durchblättern der Zeitschrift darauf aufmerksam geworden. Erst auf den zweiten Blick klärt sich, dass eine spontane Bewertung der Bilder aus der Distanz von neunzig Jahren nicht selbstverständlich zutrifft, sondern eher hinderlich ist69. Schließlich ›sprechen‹ die Fotos nicht für sich, und sie dienen auch nicht ausschließlich der auflockernden Visualisierung von Worttexten. Daher werden sie als eigenständige visuelle Kommunikation in die Diskursfrage einbezogen. Auffällig ist, dass im redaktionellen Teil der Funk-Stunde nur Bilder, aber keine Texte zum Kopfhörerdiskurs auftauchen. Sie erscheinen an anderen Stellen. Außerdem bestehen zwischen den genannten Defiziten und den in der Produktwerbung für Kopfhörer hervorgehobenen Vorzügen samt deren heiteren Bildern Diskrepanzen. Die auf den Fotos dargestellten Inhalte sind weder zufällig eingefangen – Schnappschüsse waren noch nicht möglich70 –, noch neutral. Sie bilden auch keine reale Wirklichkeit ab. Das versteht sich leicht bei der positiven Produktwerbung, von deren Künstlichkeit jeder weiß. Es trifft indessen auch auf die einschlägigen Fotos auf den Titelblättern und im redaktionellen Teil der Funk-Stunde zu. Für sie gilt der gleiche schillernde Status zwischen Pressefoto, das eine bestimmte Nachricht dokumentiert oder zumindest diesen Anspruch behauptet,71 und Werbefoto, der auch die Programmillustrierte Funk-Stunde selber kennzeichnet. Beide Bildsorten betrachte ich als »Kulturkonzentrat[e]« 72 im Sinne Bonackers, in denen sich Werte und Ideale der Zeit abbilden. Die Titelbilder zeigen darüber hinaus soziale Situationen,73 die wünschenswerte Vorbilder für den Umgang mit dem neuen Medium Radio anbieten. Sie sind im Kontext zeitgenössischer Hörbedingungen zu rahmen. Bis Ende der 1920er-Jahre ist der Detektorempfänger mit Kopfhörern der einfachste, günstigste und am besten funktionierende Radioapparat. Erst danach setzen sich serienreife leistungsfähige Geräte mit integriertem Verstär69 | Vgl. zur Methodenreflexion der Bildauswertung K. Bonacker: Illustrierte Anzeigenwerbung, S. 33ff. 70 | Roswitha Breckner: Sozialtheorie des Bildes. Zur interpretativen Analyse von Bildern und Fotografien, Bielefeld 2010, S. 15. 71 | Vgl. K. Dussel: Pressebilder in der Weimarer Republik, S. 208. 72 | Nach K. Bonacker: Illustrierte Anzeigenwerbung, S. 70. 73 | Vgl. R. Breckner: Sozialtheorie des Bildes, S. 14f.

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ker und Lautsprecher sowie einer einfachen Bedienung durch, sodass das gemeinsame Radiohören nicht länger von der Anzahl der Steckbuchsen und der zur Verfügung stehenden Kopfhörer abhängig ist. Diese Form des oft beschränkten gemeinsamen Hörens beschreiben nicht nur viele Leserbriefe,74 sondern sie beliefert auch zahlreiche Karikaturen (Abbildung 2). Das Kopfhörerhören unterscheidet sich vom Raumhören durch die Direktheit des Schalleintritts ins Ohr. Bei der noch schwankenden Empfangsqualität und der geforderten peniblen Senderabstimmung muss still gehalten und aufmerksam gehorcht werden, um die Signale Abb. 2: »Keine spiritistische überhaupt mitzubekommen. Unter Sitzung« – Karikatur. Quelle: Funk-Stunde Nr. 1 vom 16.11.1924, diesen Bedingungen ist Radio­hören konzentriertes Lauschen. S. 13. Nüchtern bilanziert Bredow 1927 die mit dem Detektorempfang verbundenen Herausforderungen. Dazu zählen die Empfindlichkeit, den Sender stabil zu halten und die geringe Reichweite des Empfangs. Sie zwingt dazu, mit »Zimmer- oder Behelfsantenne (Gas-, Wasser-, Klingelleitung, Zentralheizung, elektrische Lichtleitung u. dgl.)« 75 zu arbeiten, was wiederum ein gewisses technisches Geschick und entsprechende Umsicht voraussetzt. Folgt man den bei Lenk zitierten historischen Zeugnissen, so gehört die funktionsfähige Vorbereitung der Detektorempfänger überwiegend zur Domäne der Väter und Ehemänner 76. Der Gebrauch von Kopfhörern schränkt die Bewegungsfreiheit ein – ein Umstand, der besonders bei den seit 1925 regelmäßig gesendeten Gymnastikübungen und den Funk­ tanzstunden stört. Außerdem übe der Kopfhörer, »wenn auch noch so leicht, doch einen gewissen Druck auf Kopf und Ohren des Hörenden« 77 aus. Vor

74 | C. Lenk: Die Erscheinung des Rundfunks, S. 88ff. 75 | H. Bredow: Vier Jahre deutscher Rundfunk, S. 76. 76 | C. Lenk: Die Erscheinung des Rundfunks, S. 88. 77 | H. Bredow: Vier Jahre deutscher Rundfunk, S. 76. Vgl. auch die ausführliche Darstellung bei C. Lenk: Die Erscheinung des Rundfunks, S. 87ff.

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allem dieses Argument taucht immer wieder in der kommerziellen Kopfhörerwerbung auf. »Geringes Gewicht (205 g)« (Siemens, Abbildung 3), »angenehmes Tragen« mit Ohrenkissen (Belinde, Abbildung 4) oder Beseitigung des »lästigen Druck[s]« durch bügelfreien Bau (Benaudi, Abbildung 5) versprechen Hersteller und werben in mehreren Nummern der Funk-Stunde mit Mädchen und Frauen, die fröhlich unter ihren Kopfhörern lächeln.

Abb. 3, 4, 5: Siemens-, Belinde- und Benaudi-Werbung. Quellen: Funk-Stunde Nr. 14 vom 05.04.1925, S. 269; Nr. 36 vom 05.09.1926, S. 952; Nr. 36 vom 05.09.1926, S. 954.

Nach Lenk 78 waren die Produkte schwer, unhandlich, nur rudimentär gepolstert und zum längeren Gebrauch ungeeignet. Ein besonders krasses Beispiel für Negativwerbung bietet die Firma Karl Hessel. Sie wirbt im Rundfunkjahrbuch 1926 mit dem Foto eines malträtierten Ohrs (Abbildung 6) für ihr Fabrikat, eine Ohrschutzmuschel, und warnt, »solches Exzem [sic] können sich Millionen Menschen zuziehen, wenn der Kopfhörer auf das Ohr drückt!« 79 Auch der einzige Textbeitrag, den ich in den durchgesehenen Jahrgängen der Funk-Stunde zum Kopfhörerdiskurs gefunden habe (auf der Humorseite), entpuppt sich als Werbetext. Unter der Überschrift »Kopfhörer und Kopfschmerzen«80 werden unangenehme Begleiterscheinungen des Radiohörens dargelegt, nämlich »Kopfschmerzen, schnelle Ermüdung, Abspannung«. Die

78 | C. Lenk: Die Erscheinung des Rundfunks, S.  91f. Im Umlauf waren auch Secondhand-Kopfhörer aus Armeebeständen. 79 | In: Funk-Stunde 1925ff. und Die Funk-Stunde. Ein Jahrbuch, S. V. 80 | Funk-Stunde 36 (1926), S. 949.

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Ursache liege aber nicht in der Direktbeschallung der »Gehörgänge« 81. Vielmehr reagieren bei diesem Hörmodus »überreizte Nerven«. Dagegen helfe kein Basteln am Kopfhörer, sondern nur eines: Kathreiner Malzkaffee. Die Titelfotos der Funk-Stunde mit Kopfhörern demonstrieren den Gebrauch des Radios in verschiedenen Kontexten. Meine Beschreibung folgt aus Mangel an zeitgenössischer Literatur Kategorien, die in der aktuellen Forschung für etwas anders gelagerte Fragestellungen entwickelt worden sind,82 um Aussagen über die historischen Fotos treffen zu können. Die Deutungen stehen daher unter Vorbehalt und sind als Angebot zur Diskussion zu lesen. Auf gleich zwei Titelbildern sind Kinder zu sehen. Das erste (Abbildung 7), vom 01.02.1925, zeigt Kleinkinder in Nachthemden auf dem Bett spielend, wie sie Erwachsene nachahmen und sich (nicht eingestöpselte) Kopfhörer überziehen. Die Bildunterschrift, »Fertigmachen zum Abendkonzert« (dem kulturellen Programmschwerpunkt von 20.30 bis 22.00 Uhr), verstärkt den emotionalen Unterhaltungsaspekt der niedlichen Szene. Dass die Kleinen nicht nur spielerisch mit den Geräten umgehen, sondern überhaupt damit spielen dürfen, ist ein Teil des Bildinhalts. Kinderprogramme sind seit 1924 zweimal wöchentlich vorgesehen. Allerdings bleibt die untere Altersgrenze Abb. 6: Karl Hessel-Werbung. undefiniert. Für eine so junge Hörerschaft Quelle: Rundfunkjahrbuch 1929, wie auf diesem von der Agentur Photopreß S. V. gelieferten Titelbild bietet das Radio noch keine Unterhaltung. Das Foto übermittelt aber die Botschaft, schon die ganz Kleinen spielerisch an den Umgang mit der Technik zu gewöhnen.

81 | Funk-Stunde 36 (1926), S. 949. 82 | Michael Mäckel/Julia Derra/Cornelia Eck: SchönheitsAnsichten. Geschlechter­ bilder in Werbeanzeigen und ihre Bewertung, Baden-Baden 2009; Kriterienkatalog S. ­25–27. Dazu R. Breckner: Sozialtheorie des Bildes.

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Kinder sind als Radio­kon­su­ men­ten sehr wohl anvisiert. Mit ausgesuchten Sendungen sollen sie schon im frühen Alter angesprochen und an ein kontrolliertes Hören herangeführt werden. In der Jugend­ zeitschrift Funkheinzelmann 83 spricht ­Bredow die »Mädels« und »Jungs« direkt mit emphatischem Pathos an. Die Seite enthält ein aktuelles und ein Schülerfoto Bredows und demonstriert, wie beflissen der Autor um das Verständnis der Adressaten wirbt: »Mit Euch erst werden die Geheimnisse der elektrischen Wellen zum allgemein selbstverständlichen Bildungsgut«, so Bredow. »Ihr müßt erreichen, daß sich die MenAbb. 7: »Fertigmachen zum Abendkonzert«. schen von jedem Punkt der Erde Quelle: Funk-Stunde Nr. 5 vom 01.02.1925, aus untereinander in Verbindung S. 73. setzen können, daß sie, wenn tausend Meilen zwischen ihnen liegen, sich fragen und antworten können, als ob sie nebeneinander ständen.« Überraschend aktuell klingt seine Version, wie »Taschenuhren müssen Sender und Empfänger zum ständigen Begleiter des Menschen werden. Neben Gesicht und Gehör muß dann die drahtlose Übertragung von Licht und Kraft treten. Sie erst wird das Gottesgeschenk der Hertzschen Welle zur Vollkommenheit bringen und den Rundfunk zur höchsten Höhe führen.«84 Grundsätzlich rechnen die Sender mit Kindern aus allen Gesellschaftsschichten, auch wenn einzelne Sozialumfragen belegen, dass Arbeiterkinder und die gering Verdienender weder räumlich noch finanziell die gleichen Freizeit-, Spiel- und Unterhaltungsmöglichkeiten nutzen, wie Kinder aus finanziell besser gestellten bürgerlichen Familien85. Das Titelblatt vom 29.03.1925 (Ab83 | Funkheinzelmann 1 (1926). 84 | Hans Bredow: »Eure Aufgabe im Rundfunk!«, in: Funkheinzelmann 1 (1926), o. S. [S.  11]. Zielgruppe sind Schüler von der sechsten Klasse an, wie den jeweils auf der ersten Seite vorgestellten Lesern zu entnehmen ist. 85 | Vgl. B. Elfert: Die Entstehung und Entwicklung des Kinder- und Jugendfunks, S. 34 und S. 41ff. Elfert zitiert eine Umfrage von Vorschulkindern aus Pankow von 1926, nach

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bildung 8) stellt dementsprechend eine privilegierte Hörszene vor. Es stammt laut Bildnachweis aus der Berliner Fotowerkstatt Elli Lisser. »Renate lauscht der Funkprinzesssin« lautet die Bildunterschrift. Die »Funkprinzessin«, Adele Proesler, ist als Medaillonporträt oben rechts in entsprechender Kostümierung eingeblendet. Sie wird im selben Heft bei ihrer Arbeit im Studio von Kindern umringt vorgestellt. Die nach Elfert sehr beliebte Sendung richtet sich an die »jüngsten Hörer«,86 das heißt an Sechs- bis Zehnjährige. Zu dieser Zielgruppe gehört auch das Mädchen auf dem programmatischen Titelfoto. Es hockt mit aufgestütztem Kopf bequem in einer mit Kissen ausstaffierten Sesseloder Sofaecke. Im Vordergrund rechts ist auf Augenhöhe des Mädchens – leicht unscharf – ein Detektorempfänger zu erkennen. Die Kamera fokussiert indessen den Kopf im Dreiviertelprofil mit dem versonnenen, aus dem Bild herausgehenden Blick ins nirgendwo, als hätte das Kind sich selbst still in die Märchenwelt zurückgezogen, die durch das Gehörte in seiner Vorstellung lebendig wird, während die beziehungsweise wir Betrachtenden es dabei beobachten. Die zeitbegrenzte Konzentration – die Märchenstunde dauert dreißig Minuten – auf das Kinderprogramm gilt als vorbildlich im Abb. 8: »Renate hört die Funkprinzessin«. Sinne von Hörerziehung und ErQuelle: Funk-Stunde Nr. 13 vom 29.03.1925, werb von Medienkompetenz. AnS. 231. ders als der Schulfunk belehren die Funkprinzessin und der Funkheinzel­mann indirekt, so die Überzeugung, indem sie junge Hörer hedonistisch mit akustisch auf bereiteten Geschichten locken, deren ethisch-moralische Botschaften en passant einfließen sollen. der ein großer Teil der Kinder in mit drei und vier Personen belegten Einraumwohungen lebt, S. 48. Kinder von gering Verdienenden haben außerdem seltener freie Zeit, weil sie stark in die Alltagsorganisation und teilweise auch in den Erwerb eingespannt werden. 86 | Proesler, in: B. Elfert: Die Entstehung und Entwicklung des Kinder- und Jugendfunks, S. 88.

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Kinder seien noch mehr »Ohrenmenschen«,87 heißt es 1930. Für die Geräusch­ ingenieure sind Kinder ein dankbares Publikum. »Naturalistische Klänge werden [im Kinderfunk] möglichst vermieden, auch hier wird eine höhere Klangsphäre angestrebt«,88 so Konrad Dürres Bilanz 1929. Das »Gebrumm der Maikäfer« erzeugt ein Bratschentremolo, der Spiegel in Schneewittchen spricht durch eine mit Harmonium unterlegte Altstimme, die Geisterstunden­ atmosphäre schafft ein »schwirrender hoher Ton der Geige«89. »Was unser größter Wunsch beim Erwachsenen-Rundfunk ist: die Hörer zu aktivieren, [...] ist im Kinderfunk mühelos erreicht«90. Das Radio wird im Selbstverständnis des Senders als ein die Erziehung bereicherndes Medium dargestellt, und das Titelfoto vermittelt ein Muster, wie Kinder es nutzen. In diesem Sinne fungiert »Renate« als ein frühes ›Role Model‹. Die Verantwortung für die Hörkontrolle und das Gelingen der positiven Wirkung des Rundfunks obliegt nach zeitgenössischen Vorstellungen den Frauen.

»D ie F r au als R undfunkhörerin « 91 Unter dieser Überschrift weist Hans Roeseler 1929 Frauen ein bestürzend beschränktes Aufgabengebiet zu. An ihnen liege es, den behaupteten Anspruch des Rundfunks, »der häuslichen Gemeinschaft zu dienen und die Pflege häuslicher Gemeinschaft zu fördern«,92 im privaten Ambiente umzusetzen, indem sie die Sendungen in das private Leben eingliederten, dadurch die Männer im Haus und ihre Familien zusammenhielten. Blättert man die Funk-Stunde und die sie umgebenden Funkpublikationen mit Blick auf die Ansprache und Darstellung von Frauen durch, so entsteht ein differenzierterer Eindruck. Sowohl redaktionelle wie Werbebotschaften offerieren bekannte stereotypische Zuschreibungen weiblicher Verhaltensweisen als auch davon abweichende. Zur ersten Kategorie zählen einschlägige Hausfrauen- und Weiblichkeitsbilder beziehungsweise entsprechende Zuschreibungen, wie in einer Siemenswerbung für einen neuen Radioapparat von 1928, auf der Frauen bloß das Dekor wich-

87 | In: B. Elfert: Die Entstehung und Entwicklung des Kinder- und Jugendfunks, S. 27. 88 | Konrad Dürre: »Der Kinderfunk – ein Freudenquell für unsere Kleinen«, in: Rundfunk-Jahrbuch 1929, Reichs-Rundfunkgesellschaft Berlin (Hg.), Berlin o. J. [1929], S. 347–352, Zitate S. 349f. 89 | K. Dürre: »Der Kinderfunk«, S. 350. 90 | Ebd., S. 351. 91 | Hans Roeseler: »Die Frau als Rundfunkhörerin«, in: Rundfunk-Jahrbuch 1929, Reichs-Rundfunkgesellschaft Berlin (Hg.), Berlin o. J. [1929], S. 342–345. 92 | H. Roeseler: »Die Frau als Rundfunkhörerin«, S. 342.

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tig ist, während Männer das Innenleben interessiert93. Zur letzteren gehören Darstellungen und direkte wie indirekte Aufforderungen zum selbstständigen Umgang mit dem Medium. Beide Komponenten mischen sich. Mechanische oder unvermeidlich langweilige Arbeiten können und sollen durchaus vom Radio begleitet werden, wie das Foto einer »Hausfrau« (Abbildung  9) in der Funk-Stunde lehrt94 . Es ist einmontiert in die Programmvorschau und bildet den Blickfang der Seite. Hier ist der Detektorempfänger als Küchenradio installiert, damit während des Spülens die »Ratschläge fürs Haus« aufgenommen werden können, wie die Bildunterschrift mitteilt. Für diese Sendung wirbt die Funk-Stunde AG bei Werbeträgern. Die Zeichnung Die zufriedene Hausfrau. Sie macht ihre Einkäufe nur nach den ›Ratschlägen fürs Haus‹ 95 enthält eine mit modischem Mantel und Hut bestückte junge Frau, die glücklich ihre Taschen auspackt. »Firmen, die vorteilhafte Angebote haben«, sollen sich an den Sender wenden. Nach ­Christian Maatje sind diese gezielt für Frauen ausgestrahlten Marktinformationen tatsächlich Abb. 9: »Ratschläge fürs Haus«. mit Produktwerbung verbunQuelle: Funk-Stunde Nr. 1 vom 04.01.1925, den96. Nichts hindert die Frauen S. 4. indes, neben den informativen und belehrenden Sendungen Musik zur Unterhaltung zu genießen, wie eine Matratzenwerbung darstellt (Abbildung 10). Die hier gezeichnete mädchenhafte Frau aus gehobener Gesellschaft liegt in einem feinen Paradebett, hat die zierlichen eleganten Schuhe ordentlich vor dem flauschigen Bettvorleger 93 | Vgl. die Abbildung in: http://www.dra.de/rundfunkgeschichte/75jahreradio/­ anfaenge/alltag/index.html vom 25.03.2015. 94 | Funk-Stunde 1 (1925), S. 7. 95 | Funk-Stunde 23 (1926). 96 | Chr. Maatje: Verkaufte Luft, S. 129.

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abgestellt und hört vergnügt Radio bei einer Tasse Tee im Bett. Der gedruckte Werbetext souffliert die Rundfunkansprache: »Auf Wiederhören – und willst schlafen Du Eins A / So merke Dir das Fabrikat ›Primissima‹«97. Fotostrecken mit den »Künstlerinnen der Woche«98 oder Reportagen wie Die Berlinerin im Wandel der Zeiten99 sprechen Leserinnen an. Preisausschreiben der Funk-Stunde locken sie, selber aktiv zu werden. Aus dem Ranking der von der Industrie gesponserten Prämien lässt sich schließen, dass man gezielt Leserinnen im Visier hat: 1.  eine Singer-Nähmaschine, 2.  eine komplette Telefunken-Rundfunkanlage, 3. Elodén-Lautsprecher, 4. ein Abb. 10: »Primissima«-Matratzenwerbung. elektrisches Bügeleisen, außerdem Quelle: Funk-Stunde Nr. 15 vom Schallplatten und Theaterkarten100. 12.04.1925, S. 285. Das Preisausschreiben »Rundfunk im Freien« gewinnt 1927 eine Teilnehmerin aus Stettin. Ihr Beitrag erscheint als Titelbild 101 (Abbildung 11). Die Gegenlichtaufnahme zeigt zwei hell strahlende junge F ­ rauen in duftigen Sommerkleidern bei der Rast an einem Schilf­ ufer. Hinter ihnen steckt ein Ruderboot. Am Rand der Picknickdecke prangt ein Medienkoffer, darauf das Radio. Der Koffer und die Figuren bilden ein Dreieck. Die Körper der beiden Frauen sitzen im Neunziggradwinkel zueinander gekehrt, doch ohne wechselseitigen Blickkontakt. Die Kommunikation verläuft stattdessen über die am Detektorempfänger verkabelten Kopfhörer. Radiohören ist auf dem Gewinnerfoto gemeinsames Freizeitvergnügen. Das Radio begleitet die Nutzerinnen überall hin und bereichert auch den Sommer­ ausflug. Die hier vorgestellten Darstellungen von Hörsituationen präsentieren neben Kindern Bilder eines jungen, aufgeschlossenen, zukunftsorientierten 97 | Funk-Stunde 15 (1925), S. 285. 98 | Funk-Stunde 7 (1925), S. 14f. 99 | Funk-Stunde 22 (1926), S. 562f. 100 | Funk-Stunde 6 (1928), S. 164. 101 | Funk-Stunde 35 (1927).

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Frauentypus. Sie vermitteln ein positives Lebensgefühl und führen bei aller Belehrungsabsicht auch hedonistische Verhaltensmuster im Umgang mit dem neuen Medium Radio vor, für Frauen wie Männer. Damit wecken sie – nach Wirkungskriterien heutiger Werbung102 – den Bedarf nach Radiounterhaltung und verführen zum ›Must Have‹-Gefühl. Radio, so suggeriert die Bandbreite der Hörsituationen, ist kein unerschwinglicher Luxus. Dabei spiegeln die Bilder das zeitgenössische Ideal der »Neuen Frau« 103 wider, die sportlich, unternehmungslustig, selbstbewusst, oft motorisiert, gern modisch topp, zudem berufstätig ist und – zumindest auf den Abbildungen – keinen Mann braucht, um die Antennen zu richten. Die moderne Frau greift auch selbst zur Feder. Das Rundfunkjahrbuch 1926 bietet dafür ein Muster in Wort und Bild (Abbildung 12). Wiedergegeben wird der handschriftliche, auf vornehmem, mit Initialen geprägtem Papier verfasste Leserbrief von »Erna Seidel«, schräg ins Layout gesetzt. Davor Abb. 11: »Rundfunk im Freien«. im Halbprofil montiert sitzt die Quelle: Funk-Stunde Nr. 35 vom 28.08.1927, elegante, mit reichlich PerlenS. 1089. schmuck behängte Verfasserin, die, während sie noch die Sendung hört, schon die Schreibmappe geöffnet hat, um ihr Wohlgefallen auszudrücken und sich für den »Genuß« nach »der mühsamen Büroarbeit« zu bedanken104.

102 | Vgl. M. Mäckel/J. Derra/C. Eck: SchönheitsAnsichten, S. 7ff. 103 | Vgl. Gesa Kessemeier: Sportlich, sachlich, männlich. Das Bild der »Neuen Frau« in den Zwanziger Jahren. Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Körperbilder in der Mode der Jahre 1920–1929, Dortmund 2000, bes. Kap. 3: Das medial vermittelte Bild der »Neuen Frau«, S. 48–82. 104 | Die Funk-Stunde. Ein Jahrbuch, S. 46. Der Text lautet: »Berlin, 28. Juli 26 / Liebe Funkstunde! / Noch ganz unter dem Eindruck einer so wundervollen Bach-Feier will ich Dir meinen herzlichen Dank für diesen Genuß aussprechen. Gerade nach der mühsamen

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Musik ist nach der Übertragung verflogen, die Zeitschrift erlaubt, noch ein wenig in der Rundfunkwelt zu bleiben. Dass der Rundfunk auch ein neues Arbeitsfeld für ­Frauen ist, zeigt allein die Diskussion um den Einsatz von Sprecherinnen und Ansagerinnen über den Kinderfunk hinaus105. Die Auswertung der Künstlerlisten in der frühen Leistungsbilanz der Funk-Stunde AG106 birgt noch mehr bislang nicht ausgewertetes Mate­r ial.

Abb. 12: Leserinnenbrief. Quelle: Die Funk-Stunde. Ein Jahrbuch der Berliner Rundfunk-Sendestelle (1926), S. 46.

Büroarbeit erfrischen mich die erhabenen Klänge unserer klassischen Meister. / Deine dankbare Hörerin / Erna Seidel.« 105 | Vgl. B. Elfert: Die Entstehung und Entwicklung des Kinder- und Jugendfunks, S. 311ff. 106 | Neben Gesang und Klavier, den Fächern mit traditionell großem Frauenanteil, finden sich zahlreiche weitere Instrumentalistinnen, die im Rundfunk aufgetreten sind, vgl. die Listen in: Drei Jahre Berliner Rundfunkdarbietungen, S.  23ff., und Fünf Jahre Berliner Rundfunk, S. 67ff.

Musikalische Medienpraxis im Horizont einer Ästhetik des Eigenwerts der Medien

»Immer Neues ans Licht bringen« Paul Hindemith und die (neuen) Medien Susanne Schaal-Gotthardt

»Der Sinn und Zweck meines ganzen Daseins ist nur noch der: Immer ­Neues ans Licht bringen.« 1 Wenngleich diese Formulierung Hindemiths aus dem Jahr 1919 nicht konkret auf das Gebiet der Neuen Medien bezogen ist, lässt sie sich doch als Indiz für die lebenslange Neugier und Aufgeschlossenheit anführen, mit der Hindemith allen Bereichen des musikkulturellen Lebens begegnete  – auch jenen, die nicht in den unmittelbaren Umkreis seiner eigenen musikalisch-praktischen Beschäftigung als Orchestermusiker, Kammermusiker und Bratschensolist gehörten. Tatsächlich haben alle vier der bei der Tagung »Spiel (mit) der Maschine« zur Rede stehenden Bereiche Neuer ­Medien – Phono­graphie, Selbstspielklavier, Radio und Film – zumindest für eine Zeitlang auch Hindemiths schöpferisches Interesse geweckt. Der vorliegende Beitrag soll einen Einblick in diese Aspekte des Hindemith’schen Schaffens geben und eine Antwort auf die Frage zu geben versuchen, warum seine Begeisterung nach einer Phase der intensiven Beschäftigung wieder abflaute, obwohl er in den 1920er-Jahren doch als einer der innovativsten und erfolgreichsten Künstler auf all diesen Gebieten wahrgenommen wurde.

F ilm und mechanische M usik Hindemiths früheste schöpferische Auseinandersetzung mit medialen Techniken galt dem Film. Diesem Medium konnte er sich schlechterdings nicht entziehen: Selbst im November 1895 geboren, nur zwei Wochen nach der ers1 | Paul Hindemith an die Mainzer Studienkollegin und Pianistin Irene Hendorf, undatierter Brief vom Spätsommer 1919. Der Brief wird im Hindemith Institut Frankfurt aufbewahrt.

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ten nachweisbaren öffentlichen Vorführung eines Stummfilms in Berlin, erlebte er unmittelbar die Weiterentwicklung der Technik der bewegten Bilder. In den 1920er-Jahren sah er sich regelmäßig Stummfilme von Buster Keaton, Charlie Chaplin oder Harold Lloyd an, und von Walt Disneys Zeichentrickfilmen war er so begeistert, dass er etwa während seiner USA-Tournee 1938 mehrfach den Film Schneewittchen besuchte2 . Über das allgemeine Interesse am Film hinaus erreichte Hindemiths Neigung schon früh auch eine spielerisch-kreative Dimension. Als »seine Filmzeit« bezeichnete er später die »Hochblüte der Filmerei 1921«, und erinnerte daran, dass er damals »oft in Tempelhof herumwimmelte«3. Welche Erkenntnisse er aus diesem »Herumwimmeln« in den damaligen Berliner UFA-Studios zog, lässt sich leider nicht mehr nachvollziehen; seiner berühmten Kurzbiografie von 1922 ist immerhin der Hinweis zu entnehmen: »Ich bin 1895 zu Hanau geboren. Seit meinem 12. Jahre Musikstudium. Habe als Geiger, Bratscher, Klavierspieler oder Schlagzeuger folgende musikalische Gebiete ausgiebig ›beackert‹: Kammermusik aller Art, Kino, Kaffeehaus, Tanzmusik, Operette, Jazz-Band, Militärmusik. Seit 1916 bin ich Konzertmeister der Frankfurter Oper.« 4

»Kino« steht in dieser Aufzählung doch recht prominent an zweiter Stelle. Ein sehr frühes und zugleich sehr kurioses Dokument dafür, in welcher Weise Hindemiths schöpferische Fantasie vom Medium Film angeregt wurde, sei an dieser Stelle vorgestellt. Zwischen 1913 und 1920 verfasste er eine ganze Reihe von szenisch-literarischen Versuchen, die er Dramatische Meisterwerke nannte: parodistisch-surrealistische Szenen mit mehr oder weniger klar entzifferbaren autobiografischen Bezügen. In das 1917 entstandene Stück Todtmoosiana ist eine Szene mit der Überschrift Die Jagd nach dem Photographenkasten integriert 5. Der Inhalt dieser Szene ist schnell erzählt: Die Protagonistin Bertie Flinner ist auf der Suche nach ihrem Fotoapparat, den sie verloren hat. Hindemith legte diese Szene als Drehbuch für einen Film an.

2 | Über diese biografischen Details geben Hindemiths Taschenkalender Auskunft, die im Hindemith Institut Frankfurt aufbewahrt werden. 3 | Brief von Paul Hindemith an seine Frau Gertrud vom 28. Februar 1939, abgedruckt in: Paul Hindemith: »Das private Logbuch«. Briefe an seine Frau Gertrud, Friederike Becker/Giselher Schubert (Hg.), Mainz 1995, S. 331. 4 | Zit. nach: Paul Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, Giselher Schubert (Hg.), Zürich/Mainz 1994, S. 7. 5 | Paul Hindemith: Todtmoosiana. Ein naturalistisches Schauspiel in drei Akten von mir (1917), Mainz 1999, S. 13–17. Der Titel Todtmoosiana bezieht sich auf den Kurort Todtmoos im Südschwarzwald, wo Hindemith sich im Sommer 1917 aufhielt.

»Immer Neues ans Licht bringen«. Paul Hindemith und die (neuen) Medien »IV. Scene (Frl. Flinner erscheint im Hintergrunde und will das höchst anziehende Bild photographieren. Sie entdeckt aber zu ihrem Schrecken, daß sie ihren Kodak bei der Kapelle an der Lindauer Straße hat stehen lassen. Sie kehrt darum schleunigst um, den Apparat zu holen. Wir empfehlen dem Herrn Regisseur an dieser Stelle folgenden Film als Einlage abzurollen:) Die Jagd nach dem Photographenkasten. I. Bild: Zeigt die Hauptdarstellerin, Bertie Flinner, einen Busch Rosen in der Hand, auf den Lippen ein graziöses Lächeln. Sie schlägt die Augen nieder, zerpflückt eine Rose und verschwindet. II. Bild: Zeigt den Photoapparat in 50facher Vergrößerung. Er wächst als schwarze Masse aus einem abendrötlichen Himmel. In den Wolken sieht man flammenschriftlich die Worte: ›Kodak mit Doppelanastignat. Keine Ausstattung, nur Qualität. Ein Versuch und Sie sind lebenslänglicher Kunde.‹ Der Himmel verdunkelt sich, Apparat und Worte verdunsten. III. Bild: Bertie rast los. Eiltempo. Sie stößt erst mit dem Briefkasten an der Ecke des ›Hotel Löwen‹ zusammen. Der Briefkasten geht aus dem Leim. Die Briefe fallen heraus. Einer fällt ganz im Vordergrund nieder. Das Publikum wird im IV. Bild mit dem Inhalt desselben bekannt gemacht: Spandau, den 31. März 1911 Wertgeschätzter Freund! Ihre lieben Zeilen waren Balsam auf meine schmerzliche Wunde. Es waren mir vorher schon von anderen Seiten Beileids- und Trostschreiben zugekommen, aber keiner der Schreiber hatte den rechten Ton getroffen, und ich hätte wie Hiob zu ihnen sagen können: Ihr seid allzumal leidige Tröster. Aber Sie, lieber Freund, verstehen, wie man ein niedergeschlagenes Gemüt wieder aufrichten kann. Ihre schönen, einfachen Worte kommen von Herzen, deshalb finden sie auch den Weg zum Herzen. Aus jeder Zeile sprach Ihr großes, edles, teilnehmendes Herz. Empfangen Sie meinen herzlichsten Dank für Ihre wohltuende Teilnahme und bewahren Sie Ihre Freundschaft auch ferner Ihrem ergebensten Freunde Willibald Wunder Danske Film, Copenhagen V. Bild: Bertie rast weiter. Über eine Brücke. Die Brücke bricht hinter ihr zusammen. Bertie schlägt ein Kreuz. Sie rast weiter. VI. Bild: Sie rast weiter. Sie überrennt ein Huhn. Die Eigentümerin des Huhns hält Bertie fest. Bertie soll das Huhn bezahlen.

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Susanne Schaal-Gotthardt VII. Bild: Zeigt das totgetretene Huhn, welches gerade noch ein Ei legt. (Die Unterschrift dieses Bildes stimmt leider nicht ganz. Sie ist aus einem anderen Filme entnommen und lautet: ›Philidor gibt sich alle Mühe, Agathens Liebe zu erringen!‹ VIII. Bild: Bertie rast weiter. IX. Bild: Bertie rast weiter. X.-XXVIII. Bild: Sie rast weiter. Man sieht die schönsten Gegenden Europas vorbeiziehen: Den Kremel, die chinesische Mauer, die Frauenhofschule, die Kirgisensteppe, den Holzhausenpark, den Gaurisankar, – im Vordergrunde stets Bertie rasend. Sie tritt alle möglichen Viecher tot: Hunde, Katzen, Schweine, Elefanten, Kassenschränke, Infanterieregimenter, Mädchenpensionate, Flöhe, Enten, Gänse, Contrabässe, Nordpolexpeditionen, Ozeandampfer, Urwälder und sonstige Gebrauchsgegenstände. IXXX. Bild: Bertie klettert einen steilen Abhang hinauf. Schwindelnde Höhe, Zwergkiefern. Tief unten eine Landschaft; Städte, Flüsse, Eisenbahnen. XXX. Bild: Ueberschrift: ›Der Sturz aus 2500 m Höhe‹. [Anmerkung im Programm: Die Hauptdarstellerin hat diesen Sturz tatsächlich ausgeführt. Sie erhielt daführ Mk. 375 000.– Allerdings mußte sie 14 Monate im Krankenhaus liegen. – Der Eintrittspreis ist wegen der horrenden Unkosten heute ausnahmsweise auf Mk. 2.– für den ersten und Mk. 1.– für den zweiten Platz erhöht.] Bertie klammert sich verzweifelt an einen Felsen an. Sie schaut in das tiefe Tal. Man merkt, sie wird schwindlich. Sie tastet mit den Händen nach einer Kiefer. Will den rechten Fuß auf eine vorspringende Felskante setzen; tritt fehl. Währenddessen setzt sich eine Wespe auf ihre Nase. Sie greift mit beiden Händen danach und stürzt infolgedessen ab. XXXI. Bild: Man sieht Bertie fallen. XXXII. Bild: Der Fuß des hohen Berges. Man sieht erst eine ganze Weile nur die öde Felswand. Plötzlich stürzt Bertie in die Bildfläche. Bumm. Sie liegt eine Weile bewußtlos. Erhebt sich aber dann wieder und beginnt, wieder aufwärts zu klettern. XXXIII. Bild: Bertie klettert. Das Bild rutscht mit nach oben. XXXIV. Bild: Bertie erreicht den Rand des Felsens. Aufatmend! Sie läuft mit fliegenden Haaren weiter. XXXV.-XXXXV. Bild: Bertie rast weiter. XXXXVI. Bild: Bertie durchschwimmt einen breiten Fluß, steigt dann aus dem Wasser und rast weiter. XXXXVII. Bild: Sie rast weiter. XXXXVIII. Bild: Eine Kapelle, vor der der Kodak steht. Bertie stürzt auf den Apparat zu und umarmt ihn. XXXXIX. Bild: Vergrößerte Aufnahme: Bertie, den Kodak umarmend. L. Bild: Der Kodak stark vergrößert, wie im II. Bild. Ende des Films.«

»Immer Neues ans Licht bringen«. Paul Hindemith und die (neuen) Medien

Ein konkretes schöpferisches Projekt, bei dem Musik und bewegte Bilder zusammentrafen, ergab sich für Hindemith im Sommer 1921. In diesen Wochen lernte er den Bergfilmregisseur Arnold Fanck kennen und komponierte die Musik zu dessen Bergfilm Im Kampf mit dem Berge – In Sturm und Eis 6. Dieses Filmmusik-Projekt blieb zunächst ein singuläres Ereignis – Hindemith konnte in demselben Sommer seine ersten großen Erfolge in Donau­eschingen feiern, wo er sowohl als Komponist wie auch als Interpret seines dritten Streichquartetts op. 16 für Aufsehen sorgte. Sein Interesse am Genre Filmmusik rückte demgegenüber zunächst in den Hintergrund  – vielleicht auch, weil er feststellen musste, dass die Kinoorchester seine Musik zu Fancks Film gar nicht spielen wollten7. Interessant ist allerdings, dass sich seine Kenntnisse von film­ spezifischen Arbeitstechniken  – Schnitt, Montage, Collage  – etwa in einem Werk wie der Anfang 1922 entstandenen Kammermusik Nr. 1 op. 24 Nr. 1 wiederfinden; überdies entspricht die Instrumentalbesetzung dieses Werkes der eines Unterhaltungs- oder Filmorchesters8. In den Fokus von Hindemiths Interesse rückte ab Mitte der 1920er-Jahre ein anderes »neues Medium«, die technischen Möglichkeiten des Reproduktionsklaviers. Hindemith selbst war maßgeblich dafür verantwortlich, dass mechanische Musik  – neben dem Bereich »Militärmusik«  – beim Donau­ eschinger Musikfest des Jahres 1926 als ein Sonderproblem der neuen Tonkunst9 zur Diskussion gestellt wurde10 (siehe Abbildung 1) – ein Thema, um das seit dem 1925 publizierten Artikel Die Mechanisierung der Musik von Hans Heinz

6 | Vgl. hierzu auch den in diesem Band publizierten Aufsatz von Andreas Münzmay. 7 | Den Erinnerungen von Arnold Fanck zufolge (Brief an die Fondation Hindemith vom 18. Juli 1970) erklang lediglich 1922 in einem Lichtspielhaus in Düsseldorf Hindemiths Musik zum Film. 8 | Vgl. hierzu Giselher Schubert: »Einleitung«, in: Paul Hindemith: Sämtliche Werke, IV, 1: Konzertante Kammermusiken I, Giselher Schubert (Hg.), Mainz 2007, S. XIII. 9 | So der »Musikausschuss« der Donaueschinger Kammermusiktage, dem Joseph Haas, Heinrich Burkard und Paul Hindemith angehörten, im Vorwort »Zu unserem Programm«, Donaueschingen 1926; zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 16. 10 | Haas schrieb am 22. März 1926 an Burkard: »Interessant ist es, was Du über ­H indemiths Ideen betreffend der Reproduktions­a pparate schriebst. Mit der Realisierung der Idee bin ich durchaus einverstanden, wenn ­H indemith die Schneid dazu hat. Den kurzen Aufsatz über die Schlemmerschen Reformen habe ich gelesen. Die Reformen liegen in der Luft u. wenn Hindemith die Musik schreibt (nicht im Sinne der kitschigen Laszlo Farblichtmusik), so handelt es sich hier um eine sensationelle Angelegenheit, die eines Probeversuchs wert wäre.«, zit. nach: Hanspeter Bennwitz: Die Donaueschinger Kammermusiktage von 1921–1926. Mschr. Diss., Freiburg i. Br. 1961, S. 168.

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Abb. 1: Pro­g ramm­z ettel zum Musik­f est Donau­e schingen, 1926. Quelle: Hindemith Institut Frankfurt.

­ tuckenschmidt in der Musikwelt eine heftige Debatte geführt wurde 11. Die S Reihe der Donaueschinger Kammermusik-Aufführungen hatte sich damit im 11 | Vgl. hierzu Martin Elste: »Hindemiths Versuche ›grammophonplatteneigener Stücke‹ im Kontext einer Ideengeschichte der Mechanischen Musik im 20. Jahrhundert«, in: Hindemith-Jahrbuch XXV (1996), S. 195–221; siehe auch den ergänzten und aktualisierten Wiederabdruck in diesem Band.

»Immer Neues ans Licht bringen«. Paul Hindemith und die (neuen) Medien

Vergleich zu den vorangegangenen Musikfesten zu einer Veranstaltungsreihe mit noch deutlicher ausgeprägtem experimentellem Charakter entwickelt  – eine Tendenz, die sich auch in den folgenden Jahren fortsetzen sollte. Bis zum letzten Musikfest in Berlin 1930 wurden regelmäßig spezifische Fragestellungen aus dem Bereich der Neuen Medien behandelt – und Hindemith betonte dabei stets den Versuchscharakter der Veranstaltungen, bezeichnete das Berliner Musikfest 1930 sogar als eine »Arbeitstagung, analog einer Materialprüfungsstelle in der Industrie«, die »alles Musik›festliche‹« abgestreift habe12 . Dass es sich stets um Veranstaltungen mit ergebnisoffenem Charakter handelte, wird schon aus den Anmerkungen des Programmausschusses zum Thema »Mechanische Musik« aus dem Jahr 1926 ersichtlich: »Erst wenn eine selbstständige, spezifische Literatur vorhanden ist, wird man die Möglichkeit zu ernsthafter Debatte haben. Vielleicht tragen die vom Musikausschuss bei einigen Komponisten bestellten Beispiele zur Mechanisierungsfrage zur Erhellung des vorliegenden Problems bei.«13 Als Kooperationspartner für das Projekt »Mechanische Musik« Abb. 2: Hindemith und Karl Bockisch beim waren 1926 sowohl die Freiburger Bearbeiten einer Rolle für mechanisches Firma Welte als auch die Karussell- Klavier. und Jahrmarkt­ orgel-Fabrik Weber Quelle: Hindemith Institut Frankfurt. in Waldkirch im Gespräch. Man einigte sich schließlich auf die Firma Welte, die die entsprechenden Instrumente für die Präsentation zur Verfügung stellen sollte14 . Die mit mechanischer Musik beauftragten Komponisten waren Ernst Toch, Gerhart Münch und Hindemith selbst. Er bereitete dafür Originalstücke sowohl für mechanisches Klavier  – die Toccata  – als auch für mechanische Orgel vor  – die Musik zu Schlemmers Triadischem Ballett – und stellte die Rollen dazu selbst her (siehe Abbildung 2). Außerdem wurde das Rondo aus seiner Klaviermusik op. 37, Ers12 | »Berlin 1930«, zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 46. 13 | »Zu unserem Programm« (1926), zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 16. 14 | Vgl. dazu auch H. Bennwitz: Die Donaueschinger Kammermusiktage, S. 168f.

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Abb. 3: Eintrag zur Musik für mechanische Instrumente op. 44 (1927) in Hindemiths Werkverzeichnis. Quelle: Hindemith Institut Frankfurt.

ter Teil: Übung in drei Stücken auf Rollen übertragen – dies allerdings nicht von Hindemith selbst, sondern von einem Mitarbeiter bei der Firma Welte15. Schlemmer hat in seinem Einführungstext begründet, warum er für die Aufführung des Triadischen Balletts die Musik von einem mechanischen In­ strument für besonders gut geeignet hielt: »Und warum eine mechanische Orgel? Weil der mechanische Spielapparat einerseits der Stereotypie der Tanzweise, die durch die Kostüme z. T. bedingt ist, wenn nicht überhaupt angestrebt ist im Gegensatz zu dem heute sehr gebräuchlichen seelisch dramatischen Überschwang, entgegenkommt: andererseits die Parallele bildet zu den körpermechanischen mathematischen Kostümen. Zudem wird das etwas puppenhafte der Tänze mit dem spieldosenähnlichen Musikalischen konform gehen und aller Voraussicht nach eine Einheit schaffen, die dem Begriff Stil entspricht. Sollen nun, könnte man sagen, die Tänzer nicht vollends Marionetten sein, an Drähten gezogen oder besser, von einem vollendeten mechanischen Präzisionswerk aus selbsttätig 15 | »Zu unserem Programm« (1926), zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 17.

»Immer Neues ans Licht bringen«. Paul Hindemith und die (neuen) Medien bewegt werden, fast ohne menschliches Zutun, es sei denn am unsichtbaren Schaltbrett? Ja! – es ist nur eine Frage von Zeit und Geld, das Experiment, in dieser Weise zu vervollständigen.« 16

Obwohl sich die Originalmusik zu Schlemmers Triadischem Ballett weder auf einer Rolle noch als Partiturniederschrift erhalten hat, lassen sich doch Spuren davon zumindest als Klangdokument wiederfinden. Hindemith hat 1927 den ersten Teil des Balletts noch einmal als Suite für mechanische Orgel op. 44 bearbeitet, von der eine Rundfunkaufnahme überliefert ist 17. Thomas Betzwieser ist es anhand dieser Aufnahme gelungen, wenigstens für einen der Teile aus dem Triadischen Ballett, den »Tanz des Abstrakten«, die dazugehörige Musik sicher zu identifizieren18. Der von Donaueschingen 1926 ausgesandte Impuls zur Auseinander­ setzung mit den Möglichkeiten der Reproduktionsinstrumente stieß offen­ kundig bei allen Beteiligten auf Interesse und auf die Bereitschaft zu vertiefender Beschäftigung (siehe Abbildung 3). Für das Musikfest im darauffolgenden Jahr, das nun in Baden-Baden veranstaltet wurde, wurde erneut mechanische Musik ins Programm genommen (siehe Abbildung 4). Das Experiment mit den Reproduktionsklavieren und -orgeln von 1926 regte insbesondere H ­ indemith dazu an, sich nun auch theoretisch mit dem Thema zu beschäftigen und weitergehende Ideen zu entwickeln. In seinem Beitrag zum Programmheft 1927 bezog er Stellung zu der Frage, welche Bedeutung den Reproduktionsmedien im Musikleben zugemessen werden könnte. Auffällig ist dabei, dass er eine betont sachliche und abwägende Haltung einnahm. Kritikern der mechanischen Musik, die ihr vorwarfen, »sie zerstöre den Hauptreiz unseres heutigen Musizierens, der auf Ausdeutung des musikalischen Inhalts der aufzuführenden Kompositionen durch die jeweils Aufführenden beruht«, hielt er entgegen: »Die auf mechanischem Wege reproduzierte Musik hat mit der Musik als individueller Vortragskunst gar nichts zu tun; lediglich das Äußere der klanglichen Erscheinungen ist beiden gemeinsam. Dem ›gefühlsmäßigen‹ Musizieren geschieht kein Abbruch, da man sich nie des Genusses der nur der Musik eigenen steten Neuschöpfung des Werkes

16 | Oskar Schlemmer: Notizen zur Aufführung des »Triadischen Balletts« auf dem Musikfest in Donaueschingen, 5. Juli 1926, zit. nach: Oskar Schlemmer: Briefe und Tagebücher, Tut Schlemmer (Hg.), München 1958, S. 202. 17 | Paul Hindemith, Koch Schwann International 1995 (CD 3-1202-2). 18 | Thomas Betzwieser: »Zwischen Skizze und Derivat. Annäherungen an Hindemiths Musik zu Oskar Schlemmers Triadischem Ballet (1926)«, in: Hindemith-Jahrbuch ­X XXVII (2008), S. 48–82, hier S. 73.

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Abb. 4: Programmheft zum Musikfest in Baden-Baden, 1927. Quelle: Hindemith Institut Frankfurt. durch den Reproduzierenden begeben wird. Diese Art des Musizierens ist aber schließlich nicht die Einzige […].«19

Verhalten reagierte er andererseits auf die unbegrenzte Begeisterung der glühenden Verfechter der Technik: »Wohl ist es verlockend, auf einem elektrischen Klavier ohne Mühe Stellen spielen zu lassen, die sechs Hände nicht bewältigen könnten, aber hier ist es gerade wie in der ›anderen‹ Musik auch: Es ist vollkommen uninteressant, ob das Stück mehr oder weniger brillant geschrieben ist, wenn der musikalische Inhalt wertlos ist. Die Vorzüge des Apparates liegen lediglich in seiner absoluten Eindeutigkeit, seiner Klarheit, Sauberkeit und in der Möglichkeit absoluter Präzision – Eigenschaften, die das menschliche Spiel nicht besitzt, deren es auch nicht bedarf. Wollte sich andererseits die mechanische Musik vermessen, andere Musik nachzuahmen oder gar zu ersetzen, so verdiente sie auch in Zukunft nur das Schattendasein, das sie bis jetzt gefristet hat.« 20 19 | »Zur mechanischen Musik« (1927), zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 20. 20 | Ebd., S. 22.

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Nach Hindemith müssen die Einsatzmöglichkeiten der mechanischen Musik zunächst genau bestimmt werden, damit dann Musik konzipiert werden kann, die erstens dem Medium angemessen ist und zweitens auch die ihr angemessene Funktion erfüllt. Hinter dieser Haltung verbirgt sich seine Forderung nach einer Musik »nach Maß«, die er in demselben Jahr 1927 im Zusammenhang mit dem Thema Laien- und Gebrauchsmusik formulierte: »Ein Komponist sollte heute nur schreiben, wenn er weiß, für welchen Bedarf er schreibt. Die Zeiten des steten Für-sich-Komponierens sind vielleicht für immer vorbei.«21 Bereiche, in denen sich Hindemith zufolge ein Bedarf für mechanische Musik besonders deutlich zeige, seien die der Unterhaltungsmusik, also »Volksfeste, Bälle, Aufzüge, Kaffeehäuser«, denn: »Was hört man da für Musikstücke? Die Volksfeste, Gartenkonzerte, Dorf bälle verbrauchen den zweiten und dritten Absud der klassischen und romantischen Kunstmusik, die großstädtische Tanz- und Kaffeehausmusik lebt hauptsächlich von den neuen Schlagern und von der Verballhornung der großen Meister.«22 Statt mit der »Eroica für fünf Mann bearbeitet (mit Harmonium)« oder ähnlichen Arrangements Schindluder mit den Klassikern zu treiben, sei in solchem Umfeld besser auf originale mechanische Musik zurückzugreifen23. In diesem Zusammenhang rückt nun auch der Film wieder in das Zen­ trum von Hindemiths Interesse. Denn er beobachtet: »Besonders kraß ist der Zwiespalt zwischen Aufwand und Wirkung im Kino. Eine Anzahl Musiker (in großen Kinos gut und stark besetzte Orchester) sitzen da und verabreichen mit einem verhältnismäßig ungeheuren Aufwand an Kraft, Intelligenz und Konzentration Musik zu einer vollkommen mechanisch abrollenden Bildfolge. Der Zuhörer schwebt beständig in der Angst, ob die Musik wirklich mit dem Bild übereinstimmt – es ist lächerlich, wenn zum Kanonenschuss oben der Paukenschlag unten zu spät kommt; kommt er zur richtigen Zeit, ist es kaum weniger albern. […] Da nun doch einmal Musik zum Film gemacht werden muss (ich glaube, ich bin hier derselben Ansicht wie fast alle Kinobesucher), warum dann nicht eine ebenfalls mechanisch wiedergegebene? Und warum nicht eine Musik, die mit dem Film zusammen ein organisches Kunstwerk darstellt, da sie mit ihm zusammen entworfen und ausgeführt wurde? Eine Musik, die immer nur für den zugehörenden Film verbraucht und die vom Verleih dem Kinotheater nur mit dem Film zusammen geliefert würde! Und wenn schon bei all den anderen angeführten Ge-

21 | »Wie soll der ideale Chorsatz der Gegenwart oder besser der nächsten Zukunft beschaffen sein?« (1927), zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 27. 22 | »Zur mechanischen Musik« (1927), zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 23. 23 | Ebd.

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Susanne Schaal-Gotthardt legenheiten gespielt wird, warum nicht mit Hilfe qualitativ hochstehender und gut und rationell arbeitender mechanischer Instrumente?« 24

Ein zentrales Verwendungsgebiet für die mechanische Musik von Reproduktionsklavieren oder -orgeln, zu diesem Schluss kommt Hindemith 1927, kann also der Film sein. Diesem Gedanken folgend, wurde auch das Thema »Film und Musik« in Baden-Baden in den Blick genommen. Leider hat sich von Hindemiths eigenem Filmmusik-Beitrag zum Baden-Badener Fest jenes Jahres, die Musik zum Zeichentrickfilm Felix der Kater im Zirkus, nichts erhalten. Immerhin lässt sich aber auch für dieses Jahr – vergleichbar mit dem Jahr 1921/22 – ein schöpferischer Widerhall der Beschäftigung mit Film in Hindemiths kompositorischem Œuvre feststellen. Im Mai 1927 schrieb er den Sketch Hin und zurück op. 45a zu einem Libretto des Kabarett-Autors Marcellus Schiffer. Das Stück ist inhaltlich spiegelsymmetrisch angelegt: Ein Streit aus Eifersucht zwischen den Eheleuten Robert und Helene eskaliert, Robert erschießt Helene und springt aus Verzweiflung aus dem Fenster. Ein Weiser erscheint und bemerkt: »Von ganz oben gesehen ist es ohne Belang, ob des Menschen Lebensgang von der Wiege vorwärts irrt, bis er verdirbt, oder ob er erst stirbt und nachher geboren wird.«25 Das Geschehen wird nun rückwärts gewendet: Robert erwacht zum Leben, Helene steht wieder auf, der Streit zwischen den beiden ebbt ab, und das Stück schließt mit der ungetrübten Frühstücksszene vom Anfang. Musikalisch wird dieser Verlauf durch die rückläufige Anordnung der einzelnen Formabschnitte umgesetzt – wiederum analog zu entsprechenden filmischen Montagetechniken. Das Musikfest 1928 widmete sich erneut dem Thema »Film und ­Musik« (siehe Abbildung 5). Diesmal sollte Hindemith zufolge der Versuch unternommen werden, eine Antwort auf die Frage zu finden: »Wie kann eine gute Originalmusik zum Film beschaffen sein?«26 – man könnte noch erweitern: und zu welchem Filmgenre? Jeder der beitragenden Komponisten löste die Aufgabenstellung auf seine Art: Darius Milhaud schrieb eine Musik zu einer Ufa-Wochenschau, Ernst Toch und Walter Gronostay konzipierten Musik zu amerikanischen Zeichentrickfilmen. Zu den Zauberszenen in Lotte Reinigers Scherenschnittfilm Prinz Achmed komponierte Wolfgang Zeller die Musik – »für den Musiker eine dankbare Aufgabe«, wie Hindemith kommentierte27. Er 24 | »Zur mechanischen Musik« (1927), zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 24. 25 | Hin und zurück op. 45a, in: Paul Hindemith: Sämtliche Werke Bd. I, 6: Szenische Versuche, Rudolf Stephan (Hg.), Mainz 1982, S. 30f. 26 | »Zu unserer Vorführung ›Film und Musik‹« (1928), zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 29. 27 | Ebd., S. 31.

»Immer Neues ans Licht bringen«. Paul Hindemith und die (neuen) Medien Abb. 5: Programmheft zum Musikfest in Baden-Baden, 1928. Quelle: Hindemith Institut Frankfurt.

selbst stellte – als Gemeinschaftsarbeit mit dem Dadaisten Hans Richter – den Film Vormittagsspuk vor (siehe Abbildung 6), bei dem neben dem Drehbuch­ autor Werner Graeff und dem Komponisten Walter Gronostay auch Darius und ­Madeleine Milhaud sowie er selbst als Darsteller mitwirkten. Zu seinen Absichten, die er mit dem Film verband, schrieb er: »Der von Hans Richter hergestellte Film ›Spuk am Mittag‹ ist ganz im Hinblick auf die Musik entworfen worden. Formen, Gegenstände, Menschen wollen hier nichts sein, als Träger und Mittel eines Rhythmus, der durch die Musik gestützt wird, sie sollen Bewegungen ausführen. Die Bewegungen mussten, um im Film mit der Musik gleichsam wirken zu können, von ihrer alltäglichen Funktion befreit und zu Trägern künstlerischen Ausdrucks gemacht werden. Die Gegenstände sind durch die bewusste Bewegung, die ihnen gegeben wurde, entnaturalisiert. Die Musik illustriert nicht, obwohl sie in manchen Teilen den Filmgeschehnissen enger anliegt, als irgendeine Filmmusik bisher.« 28 28 | Zu unserer Vorführung ›Film und Musik‹ (1928), zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 31.

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Abb. 6: Eintrag zur Musik zum Film Vormittagsspuk (1928) in Hindemiths Werkverzeichnis. Quelle: Hindemith Institut Frankfurt.

Anders als die Kollegen entschied er sich dazu, seine Filmmusik nicht für ein Orchester zu konzipieren, sondern für ein mechanisches Klavier. Er argumentierte: »Film und Musik bilden ein untrennbares Ganzes. Die genaue Anpassung der Musik an den Film ist nur möglich bei absolut synchronem Bild- und Musikablauf. Ich habe vorgezogen, die Musik für ein mechanisches Instrument zu schreiben, nicht nur, weil damit ein genaues Zusammenlaufen erreicht werden kann, sondern weil ich der festen Überzeugung bin, dass zu einer mechanisch abrollenden Bildfolge auch eine mechanisch zu reproduzierende Musik gehört.« 29

Es sind also nicht nur technische Bedingungen, sondern auch ästhetische Beweggründe, die Film und mechanische Musik zu einer sinnvollen Einheit verbinden. Technisch möglich wurde die Verbindung mit einem speziellen »Synchronisationsapparat«, mit dem »die Notenrolle mit dem Filmprojektor ohne jede Zwischenschaltung«30 gekoppelt wurde. 29 | Zu unserer Vorführung ›Film und Musik‹ (1928), zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 31. 30 | Ebd.

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Der institutionelle Rahmen für diese Arbeiten bot sich Hindemith mit der Rundfunkversuchsstelle, die im Mai 1928 an der Berliner Musikhochschule eingerichtet worden war. In einem Zeitungsbericht von Ende Juni 1928 über seine Arbeit dort äußerte er sich zu weiteren Details der Zusammenarbeit mit Richter: »Wir sind dabei so vorgegangen, dass beim Schreiben des Manuskripts jede einzelne Phase in ihrer musikalischen Form sofort niedergelegt worden ist. […] Unser Film ist übrigens kein Spielfilm, sondern eine Abart des abstrakten Films, bei dem Menschen nur Staffage bedeuten werden. Wahrscheinlich wird er Die Rebellion der Handfeuerwaffen heißen. Mich interessieren hier in der Hauptsache die Bewegungsmotive, die musikalisch erfaßt und ausgewertet werden sollen, mehr als die Handlung an sich – das Filmoptische soll sich hier zum Intensiv-Musikalischen formen.« 31

Akustische Zeugnisse von Hindemiths Musik zu diesem dadaistischen Film haben sich nicht erhalten. Welche kompositorischen Grundsätze ihn bei der Erstellung der Musik geleitet haben mögen, lässt sich aber wenigstens aus dem schon genannten Zeitungsbericht von 1928 und einem weiteren von 1930 erschließen. In diesen wird er mit den Worten zitiert: »Richtlinien für Filmmusikkompositionen? Vor allem die eine: abwägen, dass man kein Zuviel in der Illustrierung gibt. Die Erkenntnis, dass man durch Pausen eine Wirkung hervorbringen kann und durch vorsichtige Auswahl den Filmablauf zu stützen versuchen soll.«32 Oder (1928): »Manche glauben sich anzupassen, wenn sie eine Autohupe ertönen lassen, sobald ein Auto über die Leinwand fährt. Aber gerade hier empfindet man das Zuviel. Zugleich übrigens auch die Monotonie. Denn bei Gleichem, das mit Gleichem addiert wird, kommt es zu keinen neuen Möglichkeiten. Erst zwei differenzierende Faktoren miteinander multipliziert, bringen die höhere Wirkung.« 33

Bis 1932 unternahm Hindemith noch mehrere weitere Experimente mit Filmmusik (siehe Abbildung 7), unter anderem für Filme von Oskar Fischinger, einem Pionier des abstrakten Films. Seine Begeisterung für die Kopplung von Film und mechanischer Musik flaute dabei allmählich wieder ab; jetzt entstehen traditionell besetzte Stücke für Streichtrio, Violine solo oder Klavier. Von 31 | »Kammermusik oder Filmmusik – Die Hauptsache ist gute Musik. Ein Gespräch mit Professor Paul Hindemith«, in: Film-Kurier 155 (1928), 2. Beiblatt; abgedruckt in: »Texte zur Filmmusik«, in: Hindemith-Jahrbuch XIX (1990), S. 79ff. 32 | »Im Studio bei Hindemith«, in: Film-Kurier vom 20.03.1930, abgedruckt in: »Texte zur Filmmusik«, in: Hindemith-Jahrbuch XIX (1990), S. 87ff. 33 | Ebd., S. 81.

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Abb. 7: Einträge zu Filmmusikexperimenten in Hindemiths Werkverzeichnis (1931). Quelle: Hindemith Institut Frankfurt.

all diesen Experimenten sind weder klangliche noch notierte Spuren erhalten. Darüber, warum mechanische Musik nun in Hindemiths Schaffen keine Rolle mehr spielte, kann nur spekuliert werden; war es der Niedergang der Selbstspielklavier-Industrie, waren es ästhetische Überlegungen? Hindemith selbst hat sich dazu nicht geäußert.

R adio Musik für den Rundfunk stand beim Baden-Badener Musikfest 1929 – sicher wiederum auf Anregung von Hindemith – zusätzlich zur Filmmusik auf dem Programm. Hindemith hatte auch mit diesem Medium bereits Erfahrungen gemacht: Nicht nur, dass er seit den frühesten Tagen des Rundfunks mit seinem Amar-Quartett Live-Konzerte im Rundfunk spielte und daher mit den Übertragungsbedingungen und -möglichkeiten bestens vertraut war34. Durch familiäre Bande war er seit 1924 mit dem Frankfurter Rundfunkpionier Hans 34 | Radio Frankfurt ging als dritte deutsche Rundfunkanstalt am 1. April 1924 auf Sendung. Das von Hindemith selbst angelegte Konzertprogrammarchiv verzeichnet als

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Flesch eng verbunden und entsprechend involviert in die ersten Schritte des neuen Mediums35. An der Rundfunkversuchsstelle der Berliner Musikhochschule entwickelte er gemeinsam mit seinen Studenten neue Ideen für »eine klar klingende, für den Rundfunk geeignete Musik«36. Probleme ergaben sich vor allem aufgrund der noch mangelhaften Mikrofonqualität, die klanglich befriedigende Übertragungen erschwerte. Komponisten mussten deshalb eine Instrumentation wählen, die einen möglichst deutlich konturierten, kontrastreichen und durchsichtigen Klang gewährleistete; stark besetzte Mittelstimmen, allzu große Ensembles oder die Verwendung von Schlagzeug erschwerten die Hörbarkeit von kompositorischen Details. Hindemith hatte bereits 1925 mit den Drei Anek­doten für Radio versucht, diesen Bedingungen gerecht zu werden; das Stück ist mit Klarinette, Trompete, Klavier, Violine und Kontrabass besetzt (siehe Abbildung 8). Gleiches gilt für die Klangdisposition der im November 1927 entstandenen Kammermusik Nr. 7 op. 46 Nr. 1: In diesem sogenannten Orgelkonzert, das für die Einweihung der neuen Orgel im Senderaum des Frank­furter Rundfunks komponiert wurde, stehen dem Solo­ instrument eine Gruppe von Holz- und Blechbläsern sowie Violoncelli und Kontrabässe zur Seite. Neben der Instrumentation für Rundfunkmusik sollte in Baden-Baden 1929 auch die Frage erörtert werden, wie eine Musik beschaffen sein müsste, die stilistisch für den Rundfunk geeignet ist, denn, so Hindemith: »Die Rundfunkmusik wendet sich nicht an eine bestimmte Gesellschaftsschicht, sondern an den Menschen schlechthin  – sie erfasst auch eine Hörerschaft, in deren Leben erst durch den Rundfunk geistige und künstlerische Werte getragen wurden.«37 Hindemith formulierte hier einen Bildungsanspruch, von dem auch seine Bemühungen um Laien- und Liebhabermusik geleitet waren. Rundfunkgemäße Stilistik manifestiert sich etwa in der Lapidarität und Einfachheit der musikalischen Sprache, wie sie exemplarisch das 1929 in ­Baden-Baden präsentierte Kooperationsprojekt von Brecht, Weill und Hindemith Der Lindberghflug aufweist. Beim Musikfest 1930 stellte Hindemith mit dem Hörspiel Sabinchen einen weiteren Beitrag zur Rundfunkmusik zur Dis-

seinen frühesten Auftritt im Frankfurter Rundfunk mit dem Amar-Quartett den 1.  Fe­ bruar 1925. 35 | Hans Flesch (1897–1945 verschollen) heiratete 1920 Gabriele Rottenberg und war damit Schwager von Hindemith, der 1924 Gabrieles Schwester Gertrud heiratete. Den Erinnerungen von Paul Laven zufolge war Hindemith auch beteiligt an der »Erfindung« der Live-Sportreportage; vgl. dazu Wolfgang Schivelbusch: Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren, Frankfurt a. M. 1982, S. 67. 36 | »Neue Aufgaben« (1929), zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 35. 37 | Ebd., S. 34

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Abb. 8: Eintrag zu den 3 Anekdoten für Radio (1925) in Hindemiths Werkverzeichnis. Quelle: Hindemith Institut Frankfurt.

kussion. Hier arbeitete er musikalisch mit Stimmen und Geräuschen, die in das Stück integriert werden38. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass Hindemith auch Grammophonplatteneigene Stücke erarbeitete und im Rahmen des Musikfestes 1930 aufführen ließ – dieses Experiment blieb eine Eintagsfliege in seinem Œuvre39. Es bleibt abschließend die Frage zu erörtern, warum Hindemith sich nach 1932 weder mit Rundfunkmusik noch mit Filmmusik weiter kreativ auseinandergesetzt hat. Natürlich wird ein Grund darin zu suchen sein, dass mit der Schließung der Rundfunkversuchsstelle ab 1933 der institutionelle Rahmen für solche experimentellen Arbeiten fehlte. Doch es mögen auch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben. Seit den ersten Präsentationen von mechanischer Musik in Donaueschingen im Jahr 1926 hat Hindemith immer wieder auf den Versuchscharakter dieser Arbeiten hingewiesen; die Zukunftsfähigkeit der Experimente müsse sich erst erweisen. Tatsächlich machten die raschen techni38 | Vgl. auch Giselher Schubert: »Hindemith und Weill. Zu einer Musikgeschichte der zwanziger Jahre«, in: Hindemith-Jahrbuch XXV (1996), S. 177. 39 | Vgl. hierzu ausführlich den Aufsatz von Martin Elste im vorliegenden Band.

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schen Entwicklungen – der Siegeszug des Tonfilms, das wirtschaftliche Ende der Selbstspielklaviere, die Weiterentwicklung der Rundfunktechnik – vieles von dem obsolet, was bei den Arbeitstagungen in Donaueschingen, Baden-­ Baden und Berlin als Aufgabenstellung diskutiert worden war. Wichtig war Hindemith zudem immer der künstlerische Wert seiner Arbeit: »[…] ganz gleich, ob es sich um Kammermusik oder um Filmmusik handelt: gute Musik jeder Art bleibt gute Musik – und schlechte Musik schlechte,«40 formulierte er 1928. Erinnert sei auch an seine vehemente Ablehnung von illustrativer Musik: »Der bisher eigens für den Film komponierten Musik kann man leider den Vorwurf nicht ersparen, dass auch sie sich lediglich damit befasst hat, die Vorgänge zu untermalen. Die musikalische Illustration ist ein nicht zu unterschätzender Wirkungsfaktor bei der Zusammenkopplung von optischem und akustischem Geschehen. Ununterbrochenes Illustrieren entbehrt jedoch nicht der Komik, wirkt penetrant und schließlich albern.« 41

Seine Arbeit mit den abstrakten Filmen Fischingers mag ihm eine Ahnung von den künstlerischen Möglichkeiten des Genres gegeben haben, die er in der Realität der ab 1929 aufkommenden Tonfilmindustrie nicht wiederfand. Entsprechend niederschmetternd waren seine Eindrücke von den Arbeiten in den Filmstudios in Hollywood, die er Ende der 1930er-Jahre besuchte – nicht zuletzt auch, um sich dort nach neuen beruflichen Möglichkeiten umzusehen. »Sie machen tatsächlich das, was ich mir schon immer von ihnen wünsche: Einen ernsten gezeichneten Film. Aber wie! […] Es ist wirklich zum Einmachen! Hier sind nun wirklich mal alle Mittel vorhanden, mit denen eine gute Filmkunst gemacht werden könnte – und in diesem Garten stapft ausgerechnet eine solche Sau herum [gemeint ist Leopold Stokowski]. Fischinger, der auch drüben ist und bei Disney seine Sachen weiterverfolgt und dort eine eigene Werkstatt hat […], war auch etwas niedergeschlagen über all diese 40 | »Kammermusik oder Filmmusik« (1928), zit. nach: »Texte zur Filmmusik«, in: Hindemith-Jahrbuch XIX (1990), S. 80. 41 | »Zu unserer Vorführung ›Film und Musik‹« (1928), zit. nach: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 29f. Ähnlich äußerte sich auch Kurt Weill:  »Dennoch kann man sich des Gefühls nicht erwehren, daß, vom Standpunkt des schöpferischen Musikers aus gesehen, aller Enthusiasmus, alle harte Arbeit, aller Ideenreichtum, der zum Schreiben von Filmmusik gehört, mehr oder weniger vergeudet erscheint, solange es lediglich Aufgabe des Komponisten ist, musikalische Untermalung für einen Film zu liefern, der komplett fertiggestellt ist, wenn seine Arbeit erst anfängt.«, zit. nach: Kurt Weill: »Musik im Film« (1945), abgedruckt in: Ders.: Musik und Theater. Gesammelte Schriften. Mit einer Auswahl von Gesprächen und Interviews, Stephen Hinton/Jürgen Schebera (Hg.), Vorwort von David Drew, Berlin 1990, S. 133–140, hier S. 137f.

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Susanne Schaal-Gotthardt Dinge und klagt auch über die Überorganisation und die Befehlsgewalt der Göttergleichen, wobei alle Frische und Ursprünglichkeit verloren geht.« 42

Immerhin, sagt er, seien aber »alle Mittel, viel Geld und guter Wille vorhanden, so dass man mit der Zeit zumindest Disney zu etwas Vernünftigem bringen kann«43. Doch letztendlich musste er ernüchtert resümieren: »Ernsthaft kann man das nicht betreiben.«44 Zumindest versucht hat er es aber, und deshalb bleibt sein Engagement ein wichtiger Beitrag zur Mediengeschichte, ganz wie Hindemith selbst es im Schlusssatz seines Programmheftbeitrags zur Tagung Neue Musik Berlin 1930 selbst formuliert hat: »Auch das Experiment, das aus irgendwelchen Gründen nicht weiterwirkt, kann, von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, seine Bedeutung haben.«45

42 | Brief an Gertrud Hindemith vom 28. Februar 1939, zit. nach: P. Hindemith: »Das private Logbuch«, S.  333. Oskar Fischinger äußerte sich über die Zusammenarbeit mit Disney ähnlich desillusioniert: »I worked on this film for nine months; then through some ›behind the back‹ talks and intrigue (something very big at the Disney Studios) I was demoted to an entirely different department, and three months later I left Disney again, agreeing to call off the contract. The film ›Toccata and Fugue by Bach‹ is really not my work, though my work may be present at some points; rather it is the most inartistic product of a factory. Many people worked on it, and whenever I put out an idea or suggestion for this film, it was immediately cut to pieces and killed, or often it took two, three or more months until a suggestion took hold in the minds of some people connected with it who had their say. One thing I definitely found out: that no true work of art can be made with that procedure used in the Disney Studio.«, zit. nach: http://www. michaelspornanimation.com/splog/?p=2409 vom 19.09.2014. 43 | Brief vom 28. Februar 1939, zit. nach: P. Hindemith: »Das private Logbuch«, S. 333. 44 | Brief an Gertrud Hindemith vom 27. März 1939, abgedruckt in: P. Hindemith: »Das private Logbuch«, S. 351. 45 | »Berlin 1930«, abgedruckt in: P. Hindemith: Aufsätze, Vorträge, Reden, S. 46.

Ausweitung der Machbarkeitszone Ästhetisch-technische Modernitätskonzepte von Film und Partitur in Arnold Fancks und Paul Hindemiths »In Sturm und Eis« (1921) Andreas Münzmay

Im Sommer 1921 hielt sich Paul Hindemith für mehrere Wochen in der Freiburger Villa Arnold Fancks auf. Fanck war damit beschäftigt, das Filmmaterial zu seinem Bergfilm In Sturm und Eis zu sichten, zu schneiden und zu montieren. Hindemith, interessierter Beobachter dieser Arbeiten, soll dazu geäußert haben, was Fanck »da im Bild mache, sei ja reine Musik«,1 und entwarf vor Ort eine durchkomponierte Orchesterpartitur zu dem in Spielfilmlänge in sechs Akten abgefassten Stummfilm. Von medienkunsthistorischem Interesse ist diese Zusammenarbeit allein schon deshalb, weil beide Komponenten schon für sich jeweils ›Pioniertaten‹ waren. Arnold Fanck gilt allgemein als Vorreiter des Bergfilms, dessen frühe Arbeiten »grandiose Landschaftsbilder zu einer Zeit einfingen, als deutsche Filme im allgemeinen nicht mehr als Studiodekorationen boten. […] Im Dokumentargenre erreichten diese Filme Unvergleichliches.«2

1 | Dazu siehe unten, S. 321f. 2 | Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films [1947], Berlin 2012 (=  Ders.: Werke, Inka Mülder-Bach (Hg.); Band  2,1), S.  136. Kracauer fand aber die »Vergötzung von Gletschern und Felsen symptomatisch für einen Antirationalismus«, aus dem dann »die Nazis Kapital schlagen konnten« (S.  138) und sah die »Vorhitlerzeit […] bestätigt durch die Zunahme und spezifische Entwicklung der Bergfilme« (S. 309). Erst Eric Rentschler: »Mountains and Modernity: Relocating the Bergfilm«, in: New German Critique 51 (1990): Special Issue on Weimar

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Im Kampf mit dem Berge. I. Teil. In Sturm und Eis3 war nach Das Wunder des Schneeschuhs (1920) die zweite seiner entsprechenden Produktionen, entstanden unter lebensgefährlichen Bedingungen im Wallis. Ebenso betrat Paul Hindemith mit seiner durchkomponierten Originalpartitur noch kaum erkundetes Neuland in einem Gattungsumfeld, in dem Kompilation und Improvisation die Regel waren4. Hindemiths Bonmot von der im Bild realisierten ›reinen Musik‹ scheint dabei auf eine besondere Aufeinanderbezogenheit der medialen Schichten Bewegtbild und Musik zu verweisen. Als Zeitkünste stehen beide Kunstformen fraglos in einem charakteristischen Verwandtschaftsverhältnis, sind dabei aber in ihrer Materialität und ihren Vokabularen doch auch grundverschieden. Im Vorfeld einer genaueren Beobachtung der Wechselbeziehung von filmischer und musikalischer Komposition im Falle von In Sturm und Eis ist es allerdings angezeigt, den historischen Zusammenhang des kolportierten Hindemith’schen Ausspruchs kritisch zu rekonstruieren. Die praktischen Umstände der Zusammenarbeit von Filmer und Komponist werden dabei, soviel sei gleich vorweggenommen, allenfalls in Umrissen greif bar, und die Authentizität des Ausspruchs erweist sich als überaus unsicher.

Mass Culture, S. 137–161, regte eine kulturhistorische Wiederbeschäftigung mit Fancks Arbeiten und dem Bergfilm der Weimarer Zeit insgesamt an. 3 | So das originale Filmplakat (abgebildet in Matthias Fanck: Weisse Hölle – weisser Rausch. Arnold Fanck. Bergfilme und Bergbilder 1909–1939, Zürich 2009, S. 24), das Presseheft (abrufbar unter http://www.arte.tv/de/historische-materialien/7473650. html vom 04.08.2015) sowie das Uraufführungsprogrammheft (abgebildet bei Lothar Prox: »Anmerkungen zur Wiederentdeckung und Rekonstruktion von Film und Musik ›Im Kampf mit dem Berg‹«, in: Hindemith-Jahrbuch 19 (1990), S. 68–77, hier S. 75–77). Der Titel des Films wird oft nur als Im Kampf mit dem Berge wiedergegeben, d. h. mit dem Obertitel des geplanten Mehrteilers gleichgesetzt, von welchem allerdings nur In Sturm und Eis realisiert wurde. 4 | Zu Originalkompositionen seit 1895 und zur Praxis der Stummfilmbegleitung vgl. im Band Ton-Spuren aus der Alten Welt, Ivana Rentsch/Arne Stollberg (Hg.), München 2013, v. a. die Beiträge von Claudia Bullerjahn: »Zwischen Patina und High-Tech. Zur Problematik der Rekonstruktion von Stummfilm-Originalkompositionen der 1920er Jahre«, S. 66–92, und Arne Stollberg: »Illustration oder Komposition? Camille Saint-Saëns’ Musik zu L’Assassinat du Duc de Guise (1908) im Licht späterer Gattungskonventionen«, S. 93–124.

Ausweitung der Machbarkeitszone. »In Sturm und Eis« (1921)

»R eine M usik« – F ancks später R ückblick auf die E ntstehungsumstände der Partitur Zu dem so prononciert programmatischen Beiklang des Hindemith’schen Bonmots von der ›reinen Musik im Bild‹, das ebenso wie der Film-Untertitel »Eine Alpensymphonie in Bildern von Arnold Fanck«5 auf synästhetische Ansätze zu verweisen scheint, steht merkwürdig quer, dass Hindemith selbst sich nie mehr zur Musik zu dem Film »In Sturm und Eis« äußerte, die er als 25-Jähriger komponiert hatte  – auch nicht 1928 im Zusammenhang des von ihm verantworteten Filmmusikschwerpunkts bei den Baden-Badener Kammer­ musiktagen6. Einziger Beleg einer Wiederbeschäftigung mit dem Werk ist ­Hindemiths in den 30er-Jahren vorgenommener Eintrag in sein chronologisches Verzeichnis aller fertigen Kompositionen, und hier reiht es Hindemith nicht in die Werkchronologie, sondern ganz am Ende unter »Gelegenheitskompositionen und Allerlei« ein:7 Musik zu dem Film »In Sturm und Eis« (Im Auftrag der Berg- & Sport-Film G.m.b.H Freiburg i. Br.) für Ensemblebesetzung. 5 Acte. 8 Partitur. 5 | Siehe Presseheft, sowie Anon.: »Natur im Film. Im Kampf mit dem Berge. – Tierfilmsensationen. – Flüssige Kristalle«, in: Der Film 39 (1921), S. 50; zit. bei Christoph Hust: »Paul Hindemith als Filmkomponist. Über die Musik zu Arnold Fancks ›Im Kampf mit dem Berge: In Sturm und Eis‹«, in: Hindemith-Jahrbuch 32 (2003), S. 148–166, hier S. 148. Hust geht dem Bezug zu Richard Strauss’ Alpensinfonie nach: »[D]ie Handlungsstruktur [war] bei Fanck und Strauss die gleiche und nicht übermäßig kompliziert: das Besteigen eines Bergs (das bei beiden über den äußeren Vorgang hinausdeutet) in zahlreichen Episoden« (S. 155). 6 | Vgl. Paul Hindemith: »Texte zur Filmmusik«, in: Hindemith-Jahrbuch 19 (1990), S.  78–99. Hindemith ist 1928 »gegen den unrationellen Betrieb eines Riesenorchesters, das den Intentionen des Films nicht entspricht«, und sieht »8–9 Mann« oder »mechanische Musik« als beste Alternativen (S.  80). Ob Hindemiths Skepsis, der »bisher eigens für den Film komponierten Musik« könne man »leider den Vorwurf nicht ersparen, daß auch sie sich lediglich damit befaßt hat, die Vorgänge zu untermalen« (S. 83) auch seine eigene In Sturm und Eis-Partitur einschloss, ist nicht bekannt. 7 | Paul Hindemith: Verzeichnis aller fertigen Kompositionen [1913–1938], autogr. Ms., Hindemith Institut Frankfurt; die Rubriküberschrift dort S.  223, der Werkeintrag S. 235. – Ich danke Frau Dr. Susanne Schaal-Gotthardt, Frau Dr. Luitgard Schader und Herrn Dr. Heinz-Jürgen Winkler für all ihre Auskünfte und freundliche Unterstützung. 8 | Diese Fehlangabe korrespondiert mit einem ähnlichen Befund im Partiturautograph (»Musik zu dem Film: / ›In Sturm und Eis.‹ / komponiert von /   / Für Salonorchester

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Andreas Münzmay Begonnen am Ms. hier

Fertig am 2. Sept. 1921

Arnold Fanck, kompromittiert durch Zusammenarbeit mit der NS-Propaganda seit 1936,9 war nach 1945 ohne Arbeitsmöglichkeit. Erst ab den späteren 1950er-Jahren ergaben sich für seine früheren Filme wieder Aufführungsmöglichkeiten bei Festivals und im Fernsehen sowie eine wachsende Anerkennung seiner Bedeutung für das frühe deutsche Kino, gipfelnd in der Verleihung des Deutschen Filmpreises 1964. Fancks Initiative Anfang 1954, In Sturm und Eis wieder auszugraben, steht im Zusammenhang seiner Bemühungen, wieder Fuß zu fassen, wobei Fanck sich vom Namen Hindemiths offenbar einen positiven Effekt erhoffte. Er schrieb an Hindemiths Verleger Ludwig Strecker im Mainzer Schott-Verlag, es sei »m.E. für die Musikwelt ausserordentlich interessant, wenn man dieses Jugendwerk von Hindemith wieder ausgraben könnte«, denn »[e]s war dies wahrscheinlich der erste Fall, in dem ein Film im heutigen Sinne mit eigener Musik vertont wurde. Zumindest muss es einer der allerersten Filme gewesen sein.« 10 So erkundigt sich Fanck, ob bei Schott Material vorliege, etwa ein Klavierauszug oder eine Partitur. Er habe die »dunkle Erinnerung«, 1921 im Vorfeld der Filmpremiere (Berlin, 22. September 1921) einen »ziemlich dicken Partiturband« verschickt zu haben,11 verfüge aber lediglich noch über »die Violinstimme. Mit der sich nichts anfangen lässt, weil sie die (Ensemblebesetzung) / Klavier, Harmonium, Violine 1, Violine obligat, Cello, Bass, Flöte, Oboe, Klarinette, / Trompete, Posaune und Schlagzeug / In allen Zusammenstellungen mit Klavier und 1. Violine ausführbar. / (Kleinste Besetzung: Klavier & I. Violine.) / Partitur. / Frankfurt Main / Begonnen 15. Juli 1921.« Hindemith Institut Frankfurt): Dort steht am Ende des V. Aktes (S. 213) die Angabe »Ende des vierten Aktes / 2. August 1921«, davon abgesehen ist die sechsaktige Einteilung aber konsistent (Einträge S. 81 »Ende des zweiten Aktes / 12. August 1921«, S. 135 »Ende des dritten Aktes / 14. August 1921«, S. 172 »Ende des vierten Aktes«). – Die Ortsangabe »Frankfurt Main« im Titel dieses Partiturauto­g raphs könnte dabei darauf hindeuten, dass diese Quelle den Status einer nachträglichen ›Frankfurter Reinschrift‹ hat, evtl. auf Basis eines (nicht erhaltenen) ›Freiburger Particells‹ o. Ä. 9 | Janine Hansen: Arnold Fancks »Die Tochter des Samurai«. Nationalsozialistische Propaganda und japanische Filmpolitik, Wiesbaden 1997. 10 | Arnold Fanck an Ludwig Strecker (Musikverlag Schott), Freiburg i. Br. den 22.01.1954, mschr. Abschrift; Hindemith Institut Frankfurt, Signatur 3.456.1. 11 | Dies könnte passen: Zwischen Abschluss der Komposition (2. Sept.) und Filmpremiere blieben zumindest 20 Tage, um Leihmaterial herzustellen (was meint Fanck mit »gedruckt«? Vervielfältigung mittels eines Lichtpausverfahrens?) und zu verschicken, und um (erfolglos) mit dem Ufa-Kapellmeister Willy Schmidt-Gentner darüber zu verhandeln, die neuartige Originalmusik doch möglichst zu spielen.

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Melodie nicht gibt.« Vor dem Hintergrund, dass Fanck betont, er selbst besitze die Rechte an der Musik, die Hindemith »drucken liess und mir schenkte (Copyright meiner Berg- und Sportfilm-Gesellschaft, was er aufdrucken liess)«, fragt man sich, wieso Fanck sich an Strecker und nicht etwa an Hindemith wandte. Denkbar ist auch, dass Fanck von Hindemith selbst an Strecker weiterverwiesen worden war. Eine zweite Schilderung, die Fanck 1970 auf Nachfrage vonseiten der zwei Jahre zuvor gegründeten Fondation Hindemith gibt, legt dies nahe: »Es war wohl im Jahre 1954, da fand ich in meinen alten Akten ein Stück dieser Partitur und schickte sie an Hindemith ganz glücklich darüber, daß dieses historische Dokument nun doch erhalten sei. […] Daraufhin aber schrieb mir Hindemith, daß das leider nur die Violinstimme sei, also ohne besonderen Wert. Ob ich sie ihm dann überließ, oder seinem Verlag schickte, weiß ich nicht mehr.«12

Es bleibt also Spekulation, ob Hindemith, der die Partitur laut eigenhändigem Verzeichnis ja in seinem persönlichen Bestand hatte, die In Sturm und Eis-Musik schlicht vergessen, oder ob – und ggf. warum: aus ästhetischen, politischen, persönlichen Gründen? – er sie Fanck womöglich bewusst vorenthalten hat. Fanck macht in seinen Schreiben an Strecker (1954) bzw. Haack (1970) auch Angaben zu den Entstehungsumständen der Musik, die mit Blick auf die künstlerische Idee und die technische Koordination von In Sturm und Eis zwar von größtem Interesse sind, aber als einzige und zudem mit sehr großem zeitlichem Abstand entstandene Zeugnisse auch mit größter Vorsicht zu betrachten sind. An Strecker schreibt er 1954: »Ich stellte damals gerade meinen ersten Hochgebirgsfilm ›Im Kampf mit dem Berg‹ zusammen und Herr Hindemith verfolgte diese Arbeit während der Vorführung ihrer einzelnen Komplexe mit immer wachsendem Interesse. Bis er mir eines Tages sagte: ›Das was ich da im Bild mache, sei ja reine Musik  –  – und ob er mir diesen Film einmal in Musik umsetzen dürfe.‹ Er komponierte dann diesen Film mit einer wahren Begeisterung in einer unglaublichen kurzen Zeit, meiner Erinnerung nach konnten es nicht mehr wie 2 Wochen gewesen sein. Wobei ich ihm die einzelnen Komplexe naturgemäss immer wieder vorführte.«

Sechzehn Jahre später fügt Fanck bestimmte Nuancierungen und Präzisierungen hinzu. Nur 1970 beispielsweise gibt Fanck an, er habe Hindemith »den ganzen Film in der ersten Fassung« vorgeführt. Darauf hin habe jener dann »ganz begeistert zu mir« gesagt: »Wissen Sie, was Sie da machen ist rei12 | Arnold Fanck an Helmut Haack (Fondation Hindemith), 18. Juli 1970, mschr. Original, 2 Bl. A4; Hindemith Institut Frankfurt, Signatur 3.456.2.

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ne Musik.« Ungeachtet solcher kleiner Widersprüche scheint aber in beiden Schreiben halbwegs übereinstimmend ein kollektiver Schaffensprozess auf, der im Kern darauf beruhte, dass Fanck zunächst den Film einigermaßen fertigstellte (die Arbeit in ihren »einzelnen Komplexen« bzw. »den ganzen Film in der ersten Fassung«), worauf hin der Komponist zunächst als Be­ obachter des Schnitt- und Montagevorgangs ins Spiel kommt. Dessen Ergebnis war – kompositorisch gedacht – ›Form‹: ein in die sechs Akte grobgegliederter13 und in die zahlreichen (kürzeren, längeren, ggf. zerschnittenen und so auf mehrere Stellen im Film verteilbaren) Einstellungen feingegliederter formaler Verlauf, der beim Montageprozess buchstäblich auf dem Tisch lag in Gestalt von »Röllchen«, Filmmaterialabschnitten, Klebestellen usw. – Falls überhaupt authentisch, könnte sich Hindemiths Ausspruch von der ›reinen Musik‹ durchaus auf diesen formal-technischen Aspekt der Abfassung des Films beziehen: das ›Komponieren‹ des Films zu einem aus aufeinander bezogenen, auseinander hervorgehenden, motivisch miteinander verwandten Abschnitten bestehenden Ganzen. Genau auf dieser Stufe des Prozesses setzt der Akt des Vertonens durch Hindemith ein. Fanck assistiert, indem er dem Komponisten »die einzelnen Komplexe naturgemäss immer wieder vorführte« (1954), bzw. »ihm also im Laufe der nächsten Wochen immer wieder einzelne Teile vorführen [musste], wobei ich ihm die Meterlängen abstoppte14 und er schon während der Vorführung sich kurze Notizen in die Noten machte« (1970). Als eine weitere Stufe des Prozesses erscheint schließlich (und zwar nur in Fancks späterer Schilderung) Hindemiths Ausschreiben der Komposition, mündend im Durchspielen der »inzwischen fertig gewordenen Noten für die einzelnen Rollen« am Klavier. (Die »einzelnen Rollen« dürften dabei wohl mit den einzelnen Akten des Films gleichzusetzen sein.) Erst darauf folgte (ebenfalls nur nach der Schilderung von 1970) eine letzte Stufe, die explizit beide Künste synchron involvierte, nämlich das Vorspielen der »ganzen Komposition […] auf dem Klavier […] während ich vorführte.« Über eventuelle pragmatische Aspekte dieses Durchgangs – man möchte unterstellen, dass es dabei auch um Kontrolle und nötigenfalls Nachjustierung der Synchronpassung der Musik zum Film gegangen ist – verliert Fancks Schilderung kein Wort, sondern hebt einzig darauf ab, dass (erst) an diesem Punkt die Erhöhung der Wirkung der Bilder durch die Musik erkennbar geworden sei. Die miteinander auf das Engste verschränkten Fragen, wie Fanck und Hindemith vorgegangen sind und welche ästhetischen Interessen für ihre Zusam13 | Oder evtl. in der ersten Rohfassung fünf Akte? Vgl. oben Anm. 8. 14 | Lothar Prox (»Anmerkungen«, S. 71) gewinnt diesem Halbsatz die recht weitgehende Konkretisierung ab: »Fanck erstellte für Hindemith ein Zeitprotokoll der Einstellungen und Sequenzen mit der Stoppuhr«.

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menarbeit leitend gewesen sein könnten, sind mithin im Rückgriff auf Dokumentarisches allenfalls ansatzweise zu beantworten. Weitaus aussagekräftiger erscheinen Film und Partitur selbst, die im Folgenden einer von diesen Leitfragen geführten Lektüre unterzogen werden sollen.

D er B erg und die M aschine  – wie F anck B erge ordne t und W olken be wegt In der Eröffnungssequenz von In Sturm und Eis exponiert Arnold Fanck in statischen, durch Zwischentitel voneinander abgesetzten Einstellungen seine Protagonisten, die »Riesen von Zermatt« 15. Dabei fällt der Blick von der als Unterkunft und Stützpunkt des Filmteams dienenden Bétempshütte16 aus zunächst über den Gornergletscher und das Mattertal hinweg auf das nordwestlich von Zermatt gelegene Weißhorn (vorgeschalteter Zwischentitel: »Das Weißhorn  4511  m«; 02:29). Hierauf folgt das von Zermatt aus in südlicher Richtung gelegene Breithorn (»Das Breithorn 4171 m«; 02:46), dann »Castor 4230 m« (03:01), welcher etwas südöstlich des Breithorns liegt, dann nochmals weiter östlich »Monte Rosa 4638 m« (03:11), d. h. die über den Gletscherbrü15 | Zwischentitel bei 02:23. Die Zeitangaben beziehen sich hier und im Folgenden auf die 2013 uraufgeführte und 2014 auf DVD erschienene digitale Neufassung der ­Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, des Filmarchivs Austria, des Hessischen Rundfunks und von ZDF/ARTE in Kooperation mit Schott Music International und dem ­H indemith Institut Frankfurt: Im Kampf mit dem Berge. In Sturm und Eis (D 1921/2013, R: Arnold Fanck), digital restaurierte Fassung, Edition Murnau Stiftung/Transit Film 88843 00849 9, 2014. Diese Fassung beruht auf einem im Filmarchiv Austria (Wien) wiederentdeckten viragierten Nitropositiv mit einer Gesamtlänge von 1253 m, das unter Hinzuziehung weiterer Quellen erstmals eine dem verlorenen Original angenäherte Fassung ermöglichte; detailliertere Angaben unter http://www.arte.tv/de/­f ilmfassungund-gluecksfunde/7474048,CmC=7473644.html vom 05.08.2015. Das Wiener Positiv hat den großen Vorteil, dass es die meisten originalen Zwischentitel enthält, wie sie auch in Hindemiths Partiturautograph eingetragen sind. – Mein herzlicher Dank gilt Nina Goslar (ZDF/ARTE) für viele Anregungen und Auskünfte. 16 | Siehe den unter http://www.arte.tv/de/historische-materialien/7473650.html vom 05.08.2015 einsehbaren Hüttenbucheintrag: »Oktober 1920 Berg und SportFilm G.m.b.H. Freiburg […] 3 Wochen bei meist herrlichem Wetter an dem ersten großen[?] alpinen Monumentalfilm ›Im Kampf mit dem Berge‹ gearbeitet. Zumeist im Zwillings- und Grenzgletscher, Felikjoch  – Lyskamm  – Lysjoch. Besteigung äußerst anstrengend wegen knietiefen Neuschnees. […]«. Die Hütte war 1894/95 von dem Ingenieur François Bétemps errichtet worden, 1918 auf 45 Plätze vergrößert, seit 1929 »Monte-Rosa-Hütte«.

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chen von Monte-Rosa-Gletscher und Grenzgletscher im Monte-Rosa-Massiv aufragende Dufourspitze (siehe Abbildung 1). Das Bergpanorama der Eingangssequenz folgt also einer klaren Ordnung, einer gedachten Drehung von Nordwesten nach Osten. Zwei Gipfel bleiben dabei allerdings zunächst ausgespart: Matterhorn und Liskamm. Das Hinauszögern des Liskamm mag dramaturgisch unmittelbar einleuchten – schließlich ist dieser Berg (genauer: der 4527 Meter hohe Liskamm-Ostgipfel) der ›Haupt-

Abb. 1: Umgebung der Bétempshütte (×) mit ungefährer Markierung der Kamera­ blickrichtungen der sechs Einstellungen der »Vorstellung der Riesen von Zermatt«. Quelle Karte: swisstopo/www.geo.admin.ch vom 29.05.2014.

protagonist‹, der im Film erstiegen, bzw. wie der Filmserien-Titel es nennt: ›bekämpft‹, werden wird. Zumindest beim Matterhorn drängt sich aber doch die Frage auf, weshalb es einen solchen ›Sonderplatz‹ erhalten hat. Denn ginge es um die Orientierung des Betrachters in der Szenerie, um ein illusionistisches ›Versetzen‹ des Zuschauers an den Kamerastandpunkt, dann wäre es besser, ja geradezu nötig gewesen, das Matterhorn direkt hinter die »Weißhorn«-Einstellung zu montieren. Fanck hingegen entscheidet – und zwar keineswegs nur

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Abb. 2: Die »Riesen von Zermatt« in der Reihenfolge ihres »Auftretens«: Weißhorn, Breithorn, Castor, Monte Rosa, zuletzt Matterhorn und Liskamm. Quelle: Im Kampf mit dem Berge. In Sturm und Eis, digital restaurierte Fassung 2014.

an dieser Stelle  – zuungunsten von klarer Orientierung und Illusion17. Einige Beobachtungen können dazu beitragen, den möglichen Sinn eines solchen Vorgehens herauszuschälen: Vom mehrgipfligen Panorama der »Weißhorn«-Einstellung wechselt Fanck zu einer »Breithorn«-Einstellung, die er mit langer Objektivbrennweite (220 mm18) fotografiert hat. Der Film selbst stößt förmlich seinen Betrachter mit filmischen Mitteln auf diese Besonderheit, denn die Einstellung ist mit einer kuppelförmigen Blende überwölbt, scheinbar ein additiver Spezialeffekt, der durch eine gewisse Ähnlichkeit mit einer über die Augen gehaltenen Hand oder mit der Röhre eines Fernglases den Eindruck der Fokussierung der fernen Gipfelregion betont, tatsächlich aber höchstwahrscheinlich auch schlicht eine fotografische Notwendigkeit, um Gegenlichtspiegelungen im Objektiv zu vermeiden. Gleich zu Beginn kehrt der Film so seine technische Verfasstheit ganz offensiv heraus (siehe Abbildung 2).

17 | Die Literatur geht einhellig davon aus, der Film sei eine »Dokumentation einer Berg­b esteigung« (so z. B. C. Hust: »Paul Hindemith als Filmkomponist«, S.  151). Eine solche pauschale Sicht, letztlich eher durch bestimmte Zwischentitel als die Bildsequenzen des Films geleitet, verdeckt aber die Machart und Montage des Bildmaterials (und damit auch von Hindemiths Musik; s. u.) eher. 18 | M. Fanck: Weisse Hölle – weisser Rausch, S. 157: »Schon 1921, bei Im Kampf mit dem Berge, kam ein ›Teleobjektiv‹ mit 220 Millimeter Brennweite zum Einsatz. Sehr ungewöhnlich, da in dieser Zeit noch kaum ein Regisseur außerhalb des Studios arbeitete.«

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Wie für die Arbeit mit der optischen Perspektive, so gilt dies auch für die Zeitperspektive19. Die Exposition stellt nicht nur die vergletscherten »Riesen« als imposante, charakteristische Formen vor, sondern installiert gleichzeitig ein zweites inhaltliches Hauptmoment des Films, nämlich den von Süden über den Alpenhauptkamm drängenden Föhnsturm 20. (Der Titel In Sturm und Eis benennt die beiden Hauptthemen des Films sehr präzise!) Fanck exponiert die charakteristische föhnbedingte Wolkenbildung in Kammlagen mittels Zeit­raffertechnik auf eine ebenso dramatisierende wie didaktische Weise. Wie schon die oben erwähnte Tele-Perspektive musste auch die geraffte Zeitperspektive bereits beim Dreh geplant und hergestellt werden: Der Zeitraffer­ effekt wurde durch Einzelbildbelichtung (›Stop-Motion‹) erreicht, d. h. durch verlangsamte Bildfrequenz bei der Aufnahme, was dann beim Abspielen mit ›normaler‹ Bildfrequenz21 den Eindruck einer Beschleunigung ergibt. Über die verwendete Kamera besteht keine völlige Klarheit; Fanck schreibt in seiner 1973 erschienenen Autobiografie, er habe sich etwa 1918 oder 1919 eine »primitive Ernemannkamera« angeschafft 22 . Es dürfte sich um die verbreitete »Ernemann Aufnahme-Kino C  II« gehandelt haben, die in der Tat über den sogenannten Einergang für Einzelbildbelichtung verfügte. Schon die wenigen Minuten der »Vorstellung der Riesen von Zermatt« zeigen also, wie Fanck die eng begrenzten Möglichkeiten im Sinne einer Inszenierung von Eislandschaft und Föhn maximal ausschöpfte. Die Ausrüstungsmenge, die von den sechs Beteiligten23 von Zermatt aus hinaufgetra19 | Zum Begriff »Zeitperspektive« vgl. zusammenfassend Andreas Becker: Perspektiven einer anderen Natur. Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung, Bielefeld 2004, S. 93–99. 20 | Husts Beschreibung »Das Bild bleibt nahezu statisch, nur die aufgehende Sonne verschiebt allmählich die Schatten und ändert die Beleuchtung« (C. Hust: »Hindemith als Filmkomponist«, S. 159) ist vollkommen rätselhaft; tatsächlich sind es vielmehr die Wolken, die durch ihre Bewegung Schattenspiele auf den Berghängen und Gletscherflächen hervorrufen. 21 | Wobei von einer historischen ›Norm‹ der Vorführgeschwindigkeit nicht ausgegangen werden kann; vgl. Andreas Becker (Perspektiven einer anderen Natur, S.  12) zur »Willkür der Kameraleute und der Vorführer«, von der es abhing, »mit welcher Geschwindigkeit die Szenen projiziert wurden«. (Becker stützt sich dabei ganz auf Oskar Messter: Mein Weg mit dem Film, Berlin 1936.) Vgl. auch Julie Brown: »Audio-visual Palimpsests: Resynchronizing Silent Films with ›Special‹ Music«, in: David Neumeyer (Hg.), The Oxford Handbook of Film Music Studies, Oxford 2014, S. 583–610, hier S. 588. 22 | Arnold Fanck: Er führte Regie mit Gletschern, Stürmen und Lawinen. Ein Filmpionier erzählt, München 1973, S. 114. 23 | Der in Anm.  16 zitierte Hüttenbucheintrag nennt Arnold Fanck (»Regie«), Natalie Fanck (Fancks Ehefrau), Ilse Rohde (»Darstellerin«), Hans Schneider (»Darsteller«), Sepp

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gen werden konnte (die Gornergratbahn hatte schon Winterpause), war sehr beschränkt; Fanck gibt an, neben Proviant, Bergsteigerausrüstung, Kamera und Stativ lediglich »2400 Meter Film« (80 Rollen à 30 Meter; das entspricht 116 Minuten bei 18 fps, oder 131 Minuten bei 16 fps) zur Verfügung gehabt zu haben24. Für einen abendfüllenden Film  – die Verleihfassung umfasste dann 1536 Meter25 (entsprechend 74 Minuten bei 18 fps oder 84 Minuten bei 16  fps)  – bedeutet dies mit kaum Reserve das Allernötigste. Beschränkung kennzeichnet auch den ›Plot‹ des Films: Fancks Hauptinteresse galt den Bildmotiven Sturm und Eis (inkl. dessen Bearbeitung durch den bergsteigenden Menschen), wohingegen die ›Handlung‹ Abb. 3: Begegnung auf dem Gornergrat und zweitrangig und holzschnittartig Verabredung zur Besteigung des Liskamm erscheint. Auch dies erscheint aber (04:24). konsequent, wenn man bedenkt, Quelle: Im Kampf mit dem Berge. In Sturm dass Fanck etwas anderes als Fokus- und Eis, digital restaurierte Fassung 2014. sierung auf Landschaft und Wetter kaum übrig blieb. So erforderte die gleißende Helle der Gletschergegend eine Belichtung, die Menschen oder Gegenstände zwangsläufig sehr dunkel bis schwarz erscheinen ließ. Die Einstellung auf dem Gornergrat, mit der im Anschluss an die »Vorstellung der Riesen« die Personenhandlung einsetzt, ist in dieser Hinsicht ganz typisch. Die korrekte Belichtung des Gletschers hat Priorität; die beiden Menschen, die hier den Plan fassen, gemeinsam loszugehen (und dabei pantomimisch genau drei Dinge ›besprechen‹: Route, Eispickel, Schuhwerk) bleiben unterbelichtet (siehe Abbildung 3). Dass Fanck im gesamten Film nur ein-, zweimal die Gesichter der Protagonisten erkennbar werden lässt, ist wohl kein Versehen oder ›Fehler‹, sondern Allgeier (»Operateur«[?]) und einen nicht zu entziffernden Namen (wahrscheinlich Hüttenwart »Vonier« aus Zermatt, der lt. Sepp Allgeier: Die Jagd nach dem Bild. 18 Jahre als Kameramann in Arktis und Hochgebirge, Stuttgart 1931, S. 58, Gerät tragen half und Proviant brachte). 1973 gibt Fanck aber an, man sei zu viert gewesen. Auch im Datum wird er sich irren (»1921«) und die Dauer der Dreharbeiten mit nur »drei Aufnahmetagen« angeben (A. Fanck: Er führte Regie, S. 125 bzw. S. 129). Sepp Allgeier wiederum erzählte 1931: »Volle sechs Wochen arbeiteten wir ohne Ausnahme von Sonnenauf- bis untergang«; S. Allgeier: Die Jagd nach dem Bild, 1931, S. 56. 24 | A. Fanck: Er führte Regie, S. 129. 25 | L. Prox: »Anmerkungen«, S. 68.

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als Kehrseite Ausdruck einer klaren Entscheidung für die differenzierte Wiedergabe aller erdenklichen Schattierungen der Eis-, Schnee- und Wolkenformationen. Eine namenlose Sie (als naive Geführte; dargestellt von Ilse Rohde) und ein namenloser Er (als wissender Führer; dargestellt von Hans Schneider) vertreten in dieser Welt den bergsteigenden Menschen ›als Typus‹, der Eis und Schnee begeht und mit der Hacke bearbeitet (der ›maschinenhaften‹ Gleichförmigkeit des Gehens, aber vor allem auch des Hackens, das den Schnee fotogen aufspritzen lässt, widmet Fanck große Aufmerksamkeit 26); gleichzeitig dienen die Figuren fotografisch als ein Maßstab, der die Dimensionen der Gletscherwelt auf der Leinwand erst erfassbar macht. So konzentriert sich Fanck auf die Themen »Sturm« und »Eis«  – in der »Vorstellung der Riesen von Zermatt« bringt er nach einer kurzen Castor-­ Einstellung, die mit normaler Geschwindigkeit gedreht ist und weniger den Sturm, sondern mehr den Gletscher vorführt, eine Monte-Rosa-Einstellung, die beides, rasende Wolken und riesige Gletscherflächen, imposant in sich vereint. Dass erst dann die Matterhorn-Einstellung folgt, ist sowohl hinsichtlich der Wolkendramaturgie plausibel – verdichtete Bewölkung – als auch gewissermaßen hinsichtlich der Formensprache, ist doch das zahnförmige Matterhorn von allen gezeigten »Riesen« sicherlich der markanteste. Die ›Sonderstellung‹ des Matterhorns in der Exposition weist aber auf einen weiteren wichtigen Aspekt: Fanck positioniert nämlich sein Filmprojekt in ganz bestimmter Weise in der Geschichte des Alpinismus, die ihm offenbar als eine Fortschrittsgeschichte der immer weitreichenderen Überwindung von Hindernissen und Gefahren durch den technisch gerüsteten und versierten Menschen erscheint. Wie beispielsweise Jürgen Goldstein in seiner Kulturgeschichte der Entdeckung der Natur plastisch nachzeichnet, ist die Erstbesteigung des Matterhorns im Jahre 1865 durch eine von Edward Whymper geführte Gruppe ein paradigmatisches historisches Ereignis. Paradigmatisch insofern, als mit Whymper der Typus des ›Gipfelstürmers‹ in die Geschichte tritt, für den Berge »nicht allein Herausforderungen« sind, sondern auch »Gegner, die es zu bezwingen gilt.«27 Fanck, und mehr noch der im Ersten Weltkrieg gefallene Hans Rohde, Fancks großes Vorbild und Kletterpartner 26 | Dass er die Bewegungseleganz Schneiders – Hauptdarsteller schon in Wunder des Schneeschuhs – kinematographisch geradezu für notwendig hielt, schreibt Fanck in Er führte Regie, S. 115. Seine hochgeschätzte »Ernemann-Zeitlupe« – eine Kamera, die bis zu 500 Bilder pro Sekunde machte und somit eine bis zu 30-fach verlangsamte Bewegungsdarstellung erlaubte – hatte Fanck diesmal aber nicht zur Verfügung, einfach weil sie 250 Kilogramm wog. 27 | Jürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte (= Naturkunden), Berlin 2013, S. 179. Zur »Auratisierung des Gefahrenmoments im Gebirge« siehe Michael Ott: »Im ›Allerheiligsten der Natur‹. Zur Veränderung von Alpen-

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bis 1914,28 gehörten unzweifelhaft diesem von Whymper aufgestellten Typus an. Paradigmatisch auch insofern, als das Matterhorn 1865, »[g]egen Ende des ersten Jahrhunderts des Alpinismus, als unzählige Gipfel bereits bestiegen worden sind, […] die verbliebene und noch ungelöste Herausforderung der europäischen Bergwelt [darstellt]. Es gilt als nahezu unbezwingbar.«29 Whymper umkreiste und ›belagerte‹ das Matterhorn jahrelang, bevor am 14. Juli 1865 die touristische Erstbesteigung gelingt. Beim Abstieg stürzt mehr als die halbe Seilschaft – vier Bergsteiger – in den Tod, die anderen drei stehen so fest, dass das Seil reißt. (Die technische Unzulänglichkeit bewahrt sie so paradoxerweise vor dem Absturz.) Die von Whymper begangene Route über den Hörnligrat (auch Schweizergrat genannt) und somit auch die Gegend der Absturzstelle sind in Fancks Matterhornaufnahmen (auch hier: Teleperspektive 220  mm) zentral im Bild. Dies allein wäre noch kein ›Beweis‹, dass Fancks Matterhorn­ einstellung auch auf diese historische Dimension hinaus will. Im Verbund allerdings mit der bedrohlichen Zeitrafferinszenierung30 und vielleicht noch mehr mit der Wahl eines Aufnahmezeitpunkts (nachmittags oder abends), zu welchem das Matterhorn von der Bétempshütte gesehen im Gegenlicht und damit für den Filmbetrachter verschattet erscheint, ist die Sache schon recht eindeutig. Sie wird es vollends einige Zeit später gegen Ende des I. Akts durch den Zwischentitel »Sehen Sie dort das Matterhorn mit der Föhnwolke am Gipfel! Dort stürzten einst im Abstieg die 4 Gefährten WYMPER’S [sic] ab, 2 Stunden nachdem er als erster den Berg bezwungen hatte. 46 Menschenleben hat bildern in der Kultur um 1900«, in: Adam Paulsen/Anna Sandberg, Natur und Moderne um 1900. Räume – Repräsentationen – Medien, Bielefeld 2013, S. 31–50 (Zitat S. 40). 28 | Siehe A. Fanck: Er führte Regie, S. 19–35. 29 | J. Goldstein: Die Entdeckung der Natur, S. 179. 30 | Vgl. A. Becker: Perspektiven einer anderen Natur, S. 141–150, über Fancks Einsatz der Zeitraffertechnik später in Die weiße Hölle vom Piz Palü (1929/1935) einerseits zur Darstellung des langen Wartens (»Der Zuschauer sieht nun, dass Zeit vergeht und nichts passiert«, S.  145), andererseits zur Mystifizierung und Subjektivierung der Berglandschaften: »Die dokumentarischen Bilder der Berglandschaft werden durch diese Operation umgedeutet, unvermittelt gleitet die Szene in eine andere, mystische Sphäre ab. […] Das auffällig häufige Blicken aus dem Bild heraus, teilweise sogar mit dem Fernglas, steigert diese unheimliche Atmosphäre nur noch. Die gerafften Aufnahmen werden dadurch als gesehen und mit bloßem Auge beobachtbar kontextualisiert, obwohl sie doch filmisch erzeugt sind. Durch die Zeitrafferaufnahmen wird die Landschaft subjektiviert.« (S. 148) Beide Ansätze – Perspektivierung der Zeit und Mystifizierung der Natur – sind auch bereits in In Sturm und Eis zu diagnostizieren. Becker veranschlagt den Wechsel »vom dokumentarisch-wissenschaftlichen Einsatz« von Zeitraffer im Film zur Nutzung als »narrative Option« erst um 1930 (S. 118), was in Anbetracht von In Sturm und Eis aber sehr spät scheint.

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seitdem der Berg verschlungen!« (11:02). Als 83-Jähriger schildert Fanck zudem in seiner Autobiografie, dass er selbst im Jahr 1911 den Aufstieg auf der nordwestlichen Route über den Zmuttgrat (in der Filmperspektive nicht zu sehen) auf das Matterhorn geschafft hatte, beim Abstieg gestolpert war und am Hörnligrat »ungefähr an der Stelle, wo einst Whymper stand, als seine Kameraden in die Tiefe stürzten, weil das Seil riss« eine Viertelstunde mit blutendem Kopf bewusstlos gelegen hatte31. Unschuldig ist der Blick auf das Matterhorn, der sich leitmotivisch durch den gesamten Film ziehen wird, somit weder für Fanck persönlich noch kulturgeschichtlich. Erst nach der verzögert-betonten Exposition des Matterhorns ist im Reigen der »Riesen von Zermatt« der Liskamm an der Reihe. In stringenter Fortsetzung der Steigerungsdramaturgie wird rhetorisch nun ›schweres Geschütz‹ aufgefahren: »Der Lyskamm, genannt der ›Menschenfresser‹ 4538 m« (Zwischentitel bei 04:00). Nach dem von Südost einfallenden Streiflicht zu urteilen, sind diese Aufnahmen vormittags entstanden, auch dies ein Detail von beeindruckender Präzision, erscheint der Liskamm so doch buchstäblich ›in besserem Lichte‹ als das Matterhorn, wobei gerade das Trügerische, das vom Liskamm ausgeht, ein zentrales Thema des Films sein wird: »Sehen Sie, wie er raucht, der Lyskamm, dort oben tobt der Föhn von Italien herüber. Ich fürchte, es wird eine Sturmfahrt geben morgen. Ja, er ist nicht so harmlos, wie er aussieht, der Eisriese. Viele kamen nicht mehr zurück […]«, lautet ein Zwischentitel (bei 08:26). Ersichtlich wird also von Beginn an, schon in der scheinbar simplen »Vorstellung der Riesen«, die spezifische Modernität des Filmes, die sich in zwei Richtungen bestimmen lässt. Ins Bild gesetzt wird erstens die Machbarkeit einer solchen Bergbesteigung, wobei es nicht im strengen Sinne dokumentarisch zugeht. So war man mehrere Wochen unterwegs (nicht wie die Filmhandlung suggeriert, drei Tage), und eine wirkliche »Ueberschreitung des 4530  m hohen Lyskamm’s« (Titeleinblendung am Filmbeginn; 01:50) fand wohl nicht statt; vielmehr ist man am Gipfeltag über Lisjoch und Liskamm-Ostgrat hinauf- und auch wieder hinuntergegangen32 . ›Richtigkeit der Handlung‹ ist insofern nicht das leitende 31 | A. Fanck: Er führte Regie, S. 42. 32 | Vgl. die Einstellung bei 35:23, die eindeutig gegen Abend auf dem Ostgrat fotografiert ist und in welcher die Bergsteiger ihrer bereits vorhandenen Aufstiegsspur zurück folgen; sie wird im Film im Zusammenhang des angeblichen Aufstiegs von Westen her eingesetzt. Der ›Gipfel‹ wird, wie an der Richtung des Sonnenlichts zu erkennen ist, von Osten her erreicht (35:43). Fanck selbst berichtet 1973 (in: Er führte Regie, S.  128), man sei durchs Lisjoch auf- und unter Nutzung der beim Aufstieg ins Eis gehauenen Stufen auch wieder abgestiegen. Sepp Allgeier schrieb 1931 ebenfalls, man sei den Liskamm vom Lisjoch aus angegangen, und »Auf dem luftigen Grat pfiff ein eiskalter Wind und das Umlegen des Films in die Kamera war auf der Eisschneide die reinste Akrobatik.

Ausweitung der Machbarkeitszone. »In Sturm und Eis« (1921)

Kriterium, sondern vielmehr so etwas wie ›Richtigkeit der Eindrücke‹. Aller Kampfmetaphorik 33 zum Trotz hat in diesem Sinne die Art und Weise, wie Fanck das ›Herumturnen‹ (wie er es gern nannte) in den Eisformationen des Zwillings- und Grenzgletschers und die Bewältigung der Eiswände und Grate inszeniert, etwas durchaus Leichtes und Spielerisches an sich: Die Katastrophen sind Geschichte, das Matterhorn droht ›nur‹ von Ferne, das Befolgen des richtigen ›Programms‹ (das richtige Routenwissen, Wetterwissen, Hochtourentechnik-Wissen, Ausrüstung) und die geradezu rücksichtslose Nutzung des Körpers wie eine Maschine, die beharrlich die repetitiven Bewegungsmuster Gehen, Stochern, Hacken auszuführen hat, eröffnen dem modernen Menschen auch den entlegensten Naturraum als Erlebnis- und Erfahrungsraum34. Fast schon etwas drollig mutet das Vorspielen eines Spaltensturzes im V. Akt an (54:32), ein Element, das Dramatik ins Spiel bringt, mehr aber noch zeigt, dass die richtige (also die damals für richtig gehaltene) Anseiltechnik den Gletscher beherrschbar macht. Modern erscheint der fast ins Utopistische reichende Frohsinn, mit dem all dies angegangen wird, sprich: die ins Spielerische tendierende Art und Weise der Erzählung. Vom Unangenehmen der Strapazen ist nie die Rede, gezeigt wird hingegen die Reduktion auf das Notwendige,35 aus der sich die Machbarkeit ergibt. Der zweite Aspekt ist die Ästhetisierung der Natur mit technischen Mitteln, d. h. Fancks virtuos formalisierender Umgang mit der Bewegung der Wolken, mit Licht- und Schattenspielen, mit den Weißtönen von Eis, Schnee und Wolken. Auch hier gilt, dass die technische Bannung dieses Schauspiels realiter keineswegs ohne Schwierigkeiten war  – Fanck war es nach über 50 Jahren wichtig, zu erzählen, wie das direkt ins Objektiv fallende Sonnenlicht einmal den Film in Brand gesteckt hat, wie die Tatsache, dass auf der Bétempshütte unerwarteterweise kein Brennholz mehr vorrätig war, zwei Tage kostete, an denen das Team stattdessen Holz hinaufschaffen musste, oder wie beim Abstieg bei Einbruch der Dunkelheit eine kritische Situation entstand, weil Schneider die Sturmlampen auf der Hütte vergessen hatte: Mit brennenden Papierröllchen leuchtete man sich durchs Spaltengewirr, um schließlich »[u]m zwei Uhr […] Kurz unter dem Gipfel zwang uns leider Schneebrettgefahr zur Umkehr« (S. Allgeier: Die Jagd nach dem Bild, S. 57). 33 | Vgl. zur Kriegsmetaphorik erhellend aus Genderperspektive Dagmar Günther: Alpine Quergänge. Kulturgeschichte des bürgerlichen Alpinismus (1870–1930), Frankfurt/ New York 1998, S. 243–276. 34 | Dem trug die zeitgenössische Pressekritik »in naturmystisch schwärmender, gelegentlich ins Religiöse abgleitender Diktion« Rechnung; siehe C. Hust: »Paul Hindemith als Filmkomponist«, S. 151. 35 | Paradigmatisch etwa der Zwischentitel »Doch an die Arbeit, man muß hier in allem sein eigener Diener sein«; 09:24.

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Abb. 4: (Schatten-)Spiele mit dem Kurbeln an der Kamera; im III. Akt. Quelle: Im Kampf mit dem Berge. In Sturm und Eis, digital restaurierte Fassung 2014.

nachts, nach zweiundzwanzig Stunden mit nur kurzen Verschnaufpausen« wieder zur Hütte zu gelangen36. (Das im V. Akt des Films inszenierte Notbiwak ist Fiktion.) Für den Film sind die mit den Dreharbeiten verbundenen Schwierigkeiten kein Thema. Die einzige Stelle, an welcher die Filmherstellung selbst direkt im Bild thematisiert wird, betont stattdessen den spielerischen Aspekt des Drehens: In den III. Akt integriert Fanck eine Sequenz (ab 31:05), in der im Gegenlicht zunächst der »Operateur« (d. h. Kameramann Sepp Allgeier) zu sehen ist, wie er auf die Spitze eines Eiszahnes steigt, dort ein Stativ aufstellt, eine Kamera37 montiert und Kurbelbewegungen macht. In der folgenden Einstellung filmt die Kamera ihren eigenen Schatten, der auf eine tiefer liegende Schneefläche fällt; die Kurbelbewegung (diesmal als Schattenspiel) bildet auch hier ein bildliches Hauptmotiv, neben den auf die Kamera zugehenden, dabei eifrig hackenden und stochernden Bergsteigern (siehe Abbildung 4). Die spielerische filmische Selbstreflexion lenkt also das Augenmerk besonders auf den Aspekt der Bewegung, ihre Mechanik, ihren Maschinencharakter. Bewegung des Gefilmten und Dreh-Bewegung des Filmens fallen in einem Bild zusammen, in einer Art gedanklichen Endlosschleife: Die Kamera wird gedreht, um die Bewegung der Menschen aufzuzeichnen; die Bewegung der Bilder, eine Hervorbringung der Maschine, ist ihrerseits sowohl auf die Bewegung des Motivs als auch auf das Kurbeln angewiesen38. 36 | A. Fanck: Er führte Regie, S. 129. Nach S. Allgeier: Die Jagd nach dem Bild, S. 58, waren es »zwanzig Stunden«. 37 | Höchstwahrscheinlich eine Holz- oder Papp-Attrappe, denn die echte Kamera wurde ja zum Filmen der Szene gebraucht. Das von Allgeier aufgestellte Kamerastativ scheint hingegen das echte zu sein; jedenfalls wurden die Einstellungen (sicherlich von Fanck selbst) ohne Stativ gedreht, wie am Wackeln und Schwenken erkennbar ist. 38 | Hindemith hat hierfür eine entsprechende Musik mit einer ›endlos drehenden‹ Melodie konzipiert (Buchstabe K im III. Akt). Die digitale Neufassung weist hier ein

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Fazit  1: Man sollte sich von der scheinbaren ›Langsamkeit‹ des Films nicht täuschen lassen; vielmehr zeigt sich, wie dicht Fanck in motivischer Hinsicht gearbeitet hat  – und zwar schon beim Dreh, schließlich konnte er es sich kaum erlauben, Filmmaterial zu ›verschießen‹. Fanck nimmt sich ein ganz eng umgrenztes Bildmotivrepertoire zur Aufgabe. Dieses setzt er in Bewegung, indem er es ins Medium des Bewegtbildes überführt. Er achtet dabei strikt darauf, die mechanische Bewegtheit des filmischen Bildes immer auch im Film sichtbar werden zu lassen, die Maschine gewissermaßen wirklich auszunutzen:39 Statische Bilder lässt er kaum zu, sondern er lässt unentwegt entweder Menschen in der statischen Eiswelt oder Wolken über statischen Berggipfeln sich bewegen, wobei weder im Fall der Menschen noch der Wolken Bewegung als natürliche Bewegung lediglich dokumentiert wird. Vielmehr wird Bewegung vorgespielt und inszeniert; im Fall der Wolken geschieht dies, indem Fanck ihre Bewegung technisch beschleunigt. In Sturm und Eis ist insofern (u. a.) als ein Film über Bewegung einzuschätzen: über den Kontrast des Bewegten zum Statischen, über filmische Methoden der Bewegungsinszenierung und Beschleunigung, über das (moderne) filmische Bewegtbild im Kontrast zum (herkömmlichen) fotografischen Bild – gewissermaßen ›Fotografie mit Zeit‹ 40.

K omponieren (mit) der M aschine  – E xperimentcharakter und ›M echanik‹ der M usik zu dem F ilm »I n S turm und E is « Als Ausgangspunkt eines großangelegten Experiments – denn um ein solches musste es sich handeln bei dem Versuch, ein derart langes filmisches Material vollständig mit einer zusammenhängenden Musikalisierung zu versehen  – muss Hindemith dieses Bewegtbildmaterial in seiner spezifischen PerspekMiss­v erständnis auf, denn die ›Dreh‹-Musik beginnt laut Partitur nicht erst, wie in der Neufassung, beim Zwischentitel »Schattenspiele in einer Gletscherspalte« (30:30), sondern begleitet auch schon Allgeiers Stativaufstellen und Kurbeln auf dem Eiszahn. 39 | »Als Medium, das sich selbst in der Zeit bewegt, feiert er die Bewegung«, schrieb Marion Saxer prägnant über den Rosenkavalier-Stummfilm (1926) – eine Charakterisierung, die auf In Sturm und Eis durchaus übertragbar ist; Marion Saxer: »Zeit der Oper – Zeit des Films. Der Rosenkavalier im Stummfilm«, in: Musik und Ästhetik 57 (2011), S.  42–61, hier S. 49. Gestützt auf Thesen von Boris Groys identifiziert Saxer »Bewegung als Gestaltungsprinzip«, »filmisches Gesetz« und »Spezifikum der frühen Filmgeschichte« (S.  55) und benennt damit ein in vieler Hinsicht noch offenes, gerade auch aus musik­w issenschaftlicher Perspektive überaus vielversprechendes Forschungsfeld. 40 | Um Walter Ruttmanns Formel von der »Malerei mit Zeit« entsprechend umzumünzen; vgl. dazu im vorliegenden Band den Beitrag von Dieter Daniels.

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tivierung und Ästhetik als geradezu ideal erschienen sein. Abseits großer Fragen von Werkautonomie oder Ähnlichem konnte Hindemith hier bedingungslos pragmatisch vom Vorgegebenen ausgehend arbeiten – eine »mittlere Musik« schreiben, um mit Hermann Danuser zu sprechen41. Dass diese unter Pseudonym (»P. Merano«) öffentlich wurde,42 könnte ebenfalls mit dem Experimentalcharakter des Unternehmens zu tun haben, vielleicht auch mit ganz profanen Dingen wie Rücksicht auf die Beziehung zum Verleger – immerhin scheint Hindemith die Musik an Fanck einfach verschenkt zu haben. Die ›Gegenleistung‹ hätte dann darin bestanden, dass Hindemith so ausführlich Einblick in die mechanische Werkstatt der Filmherstellung und die Funktionsweise von Film erhielt; ein Thema, das ihn in vielfältiger Weise zuvor und danach ja beschäftigt hat. Hindemith musikalisiert in sechs Akten den gesamten Film in einer ununterbrochenen, rhythmisch und formal sehr streng gefassten Bewegung, die nur dann und genau dann ruht, wenn auch die Film-Maschine zum Tausch der Spulen ruht. Ein bestimmender Eindruck, den Hindemiths Partitur beim Lesen und Hören insgesamt hinterlässt, ist der Eindruck einer etwas uhrwerkshaften Präzision, hervorgerufen durch die Arbeit mit kleingliedrigen, oft im Rahmen von ›drehenden‹ Dreier-Metren über längere Strecken repetierten und permutierten rhythmischen Zellen. Die Partiturhandschrift enthält dabei durchgehend »Titel und Minutenziffern«43 (bzw., wie sie weiter hinten einmal benannt sind, »Titel- und Minutenschilder«44), die (in rechteckiger Einrahmung) sämtliche Filmzwischentitel verzeichnen und sämtliche Laufzeit-Minuten (doppelt umkreist) durchzählen. Als Basis des so dokumentierten Anspruchs auf Kontrolle der rhythmisch-formalen Bewegung der Musik durch den laufenden Filmstreifen kommt nur eine dezidiert ›mechanische‹ Auffassung von Rhythmus und Tempo in Frage, bei der also die musikalischen Dauernwerte rationalisiert und berechenbar wären; ein Eindruck, der bestätigt

41 | Hermann Danuser: »›Mittlere Musik‹ als Komposition für den Film: Das Beispiel Hanns Eisler«, in: Klaus-Ernst Behne (Hg.), Film – Musik – Video oder Die Konkurrenz von Auge und Ohr, Regensburg 1987, S. 13–30. 42 | Dieses Pseudonym taucht im Presseheft auf (S. [2]): »Sechs Akte in Musik gesetzt von P. Merano«. Auf der letzten Seite des Partiturautographs steht schlicht »P. H.«, wohingegen auf der Titelseite gar kein Name genannt ist (s. Anm. 8). 43 | »Anweisung für den Kopisten« auf der ersten Partiturseite, dieser habe die »Titel und Minutenziffern« in die I. Violine und die Klavierstimme einzutragen. 44 | Partiturautograph S. 232 (Buchstabe O im VI. Akt): »Hier folgen die ersten fünf Seiten des ersten Aktes notengetreu [= Takte 1–50] Achtung! Die hier vermerkten Titel- und Minutenschilder sind dann an die betreffenden Takte zu setzen!«

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wird durch das erhaltene Skizzenkonvolut, welches verschiedentlich Minutenangaben, Taktadditionen und vor allem Kombinationen aus beidem enthält45. Nach Arnold Fancks Bericht (s. o.) bestand Hindemiths erster Arbeitsschritt in der Skizzierung separater musikalischer Motive und Themen zu den filmischen Einstellungen, Sequenzen und Themen. Hindemith konnte hierbei mit dem Filmer direkt besprechen, was jener »da im Bild mach[t]e«  – und wenn Fanck damals auch nur halb so gesprächig von seinen Erlebnissen und ­Ideen zu berichten pflegte wie 1973 in seinen Memoiren, dann darf man getrost davon ausgehen, dass Hindemith über alle möglichen Details und Begleit­ umstände des Drehs, über den Montageprozess und über die leitenden Ideen von In Sturm und Eis bestens im Bilde war. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die beiden menschlichen Hauptdarsteller ganz im Gegensatz zu den einzelnen Bergen keine individuelle Motivik, keine eigene Musik erhalten haben. Sehr plausibel ist auch, dass Hindemith den gesamten II. Akt – abgesehen von der sehr langsamen, allmählich beschleunigenden Einleitung, die dem »Auf bruch bei Nacht« (12:21) gewidmet ist  – als durchgängige, geschlossene Passacaglia komponiert hat: Fanck widmet ja diesen Akt vollständig dem Gletscher, der in seinem unendlichen Formenreichtum von den Bergsteigern in verschiedenster Weise begangen, geprüft, behackt, beklettert und übersprungen wird. Konsequent erfasst Hindemiths Partitur alle Schichten der in diesem Akt thematisierten Bewegung. Im taktweise absteigenden Passa­ caglia-Bass spiegelt sich das Sich-herab-Wälzen des Gletschers, glaziologisch gesehen jene kontinuierliche Grundbewegung, die die Eisformationen in unendlicher Vielfalt hervorbringt. Über diese Bass-Grundbewegung setzt Hindemith genau so lange immer neue Episoden (fast möchte man hier auch von ›Einstellungen‹ sprechen), bis das Bildmaterial zu Ende ist. Stellenweise (aber nur stellenweise: nicht beim Gehen, Hacken und Stochern, sondern lediglich bei den Sprüngen über Spalten) fokussiert auch Hindemiths Partitur direkt die Bewegungsspielarten der Bergsteiger. Die Passacaglia mit ihrem blockigen Fundament übersetzt somit förmlich die Bilderwelt des II.  Aktes in Musik: Wie der Gletscher als geschlossenes Ganzes durch seine Grundbewegung eine ›unendlich veränderliche‹ Gestaltenvielfalt aufweist, bringt auch die Passacaglia ›unaufhörlich‹ neue musikalische Gestalten hervor46.

45 | Paul Hindemith: Skizzen »1921. / Film.Musik / I. Akt«, 40 Seiten, beispielsweise S. 40; Hindemith Institut Frankfurt, Mikrofilm Nr. 13/363–403. Der genaue Bezug der Skizzen zur fertigen Komposition ist noch unerforscht. 46 | Hust (»Paul Hindemith als Filmkomponist«, S. 162) fand zu einer völlig anderen Interpretation der P­ assacaglia: Ihr Sinn sei, »längere Zusammenhänge zu schaffen, die die Bilder allein so nicht vermittelten. Den mühsamen Aufstieg mit seinen wechselvollen Gefahren untermalt eine ausgedehnte Passacaglia (ab 11’; ab S. 55)«.

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Die im II.  Akt besonders ohrenfällige musikalische Eigengesetzlichkeit zeichnet Hindemiths Originalmusik insgesamt aus. Sie folgt ganz dezidiert weder einem Potpourri-Modell noch einem Modell narrativer Entwicklung, sondern ›zeigt‹ – genau wie der Film den Motivdreiklang ›Berge, Sturm, Eis‹ mit großer Beharrlichkeit variativ durchführt  – einen gewissen Fundus an Themen und Motiven in zahlreichen ›Perspektiven‹. Dass Hindemith somit im Grunde nicht mit Musik jener gängigen Hauptkategorien operierte, die Erdmann und Becce 1927 in ihrem Allgemeinen Handbuch der Filmmusik als »Expression« (Musik zur Unterstreichung des Gefühlsausdrucks) und »Inzidenz« (Handlungsmusik; Musik zur Verdeutlichung des Milieus) bezeichneten,47 lässt das spezifisch Neue, die Modernität von Hindemiths Partitur aufscheinen: 1. die aus der motivisch-formalen Geschlossenheit der Film-Akte analog abgeleitete Durchgängigkeit der Kompositions-Akte, 2. die Kopplung der Komposition an das Bildarrangement als Methode der Formstiftung, und 3. die Kopplung der Komposition an die fortwährende Bewegung, die den Film auf mechanisch-äußerlicher wie auf bildlicher Ebene auszeichnet. Die Partitur ist, in ihrer Eigenschaft als rhythmisch und formal durchartikuliertes Ganzes, unmittelbar aus den Funktionsprinzipien des Films abgeleitet: aus der in Rhythmus und Form der zur Zeitverlaufs-Großform arrangierten Bilder sich manifestierenden, von der Film-Apparatur in Gang gesetzten ›reinen Musik‹ des Fanck’schen Filmes. Takt, Buchstabe 1 2 8 12 14 17 18 A 19 21 21/22 24 29 32 34 B 46/47

Musik Maestoso



Ein wenig beschleunigen [Einsatz ›Fanfaren‹-Thema]

»Titel- und Minutenschilder« 1. Im Kampf mit dem Berge 2. I. Teil In Sturm und Eis 3. Eine Überschreitung des 4530m hohen Lyskammes 4. Darsteller: Hannes Schneider, Ilse Rohde 5. In Sturm und Eis, I. Akt 6. Eine Vorstellung der Riesen von Zermatt 1 Min. 7. Das Weißhorn 8. Das Breithorn

ritenuto Tempo I 2 Min.

47 | Hans Erdmann/Giuseppe Becce: Allgemeines Handbuch der Film-Musik, unter Mitarbeit von Ludwig Brav, 2 Bände, Berlin 1927, hier Band 1, S. 40.

Ausweitung der Machbarkeitszone. »In Sturm und Eis« (1921) Takt, Buchstabe Musik »Titel- und Minutenschilder« C Tempo marziale 51 68 D 69 9. Castor 81 3 Min. 83 10. Monte Rosa E 84 98 11. Das Matterhorn 98 (2. Hälfte) ritenuto 100 F Maestoso 102 [Einsatz des Themas] 115 12. Der Lyskamm 120/121 4 Min    139 G 143 13. Ich gehe auf die Betempshütte 160/161 5 Min. H Ruhiges Zeitmaß 168  172 14. Dort durch diesen wilden Gletscher 198 6 Min 200 15. Also kommen Sie morgen früh 202 J  203 208 poco riten. 210 K Tempo marziale  223 L  [= D] 230 16. Ein Morgengang über den Gletscher 237 7 Min. 239 M  [= E ] 254 ritenuto N Maestoso 255 267 17. Gewaltige Felsblöcke trägt der Gletscher 278 8 Min. 290 ritenuto 292 O  [= H] Ruhiges Zeitmaß  296 18. Sehen Sie, wie er raucht, der Lyskamm 316 9 Min. 326 P 332 Immer fließend Intermezzo … … Abb. 5: Formübersicht anhand des Partiturautographs: Beginn des I. Aktes. Quelle: Autor.

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Um an einem abschließenden Beispiel ins formale Detail zu gehen, soll nochmals ein Blick auf die Exposition geworfen werden (siehe Übersicht Abbildung 5). Hindemith folgt Fanck darin, Matterhorn und Liskamm im Bergpanorama eine Sonderstellung einzuräumen: Beide zusammen erhalten einen eigenen, in sich geschlossenen Formteil (F), eine Zusammenfassung, die mit der inhaltlichen Beziehung, die Fanck, wie eingangs gezeigt, zwischen diesen beiden Bergen herstellt, korrespondiert. Im Vergleich zu dem in geschlossenen Viertaktblöcken gehaltenen Maestoso-Thema des Beginns erscheint das 12-taktige Matterhorn-Liskamm-Thema wesentlich bewegter (rascheres Tempo, Achtelpunktierungen) und gerichteter (oben ansetzend abwärts fließend, nach hinten offen, entwickelnd). Die Zuordnung der Titelschilder zur Musik mag auf den ersten Blick etwas willkürlich erscheinen, so als setze z. B. das als ›Matter­ horn‹-Musik verstehbare »Maestoso« (T.  100) ›zu spät‹ ein. Die Kalkulation der »Matterhorn«-Tafel (T. 98) im Vorfeld des neuen Formteils dürfte aber absichtsvoll geschehen sein, optimiert sie doch, zumal in Kombination mit dem dehnbaren ritenuto, aufführungspraktisch die Chancen, das Matterhorn-Bild musikalisch zu ›erwischen‹ (siehe Abbildung 6). Solches Platzieren der Tafeln kurz vor der betreffenden Musik ist in Hindemiths Partitur überaus häufig anzutreffen; im Zuge der »Vorstellung der Riesen«, mit besonders klarer Absicht auch bei »8. Das Breithorn« (rechtzeitig vor B) und »10. Monte Rosa« (rechtzeitig vor E)48. Umgekehrt ist beispielsweise Titel »13. Ich gehe auf die Betempshütte« vier Takte nach Beginn des Formteils (Teil G mit neuer Tonart und stark reduzierter Besetzung ganz ohne Bläser) ebenfalls genau so platziert, dass das erste Erscheinen der beiden Bergsteiger auf der Leinwand mit dem Einsatz von G zusammenfallen kann. Die Musik zu dem Film »In Sturm und Eis« ist dabei aber weit davon entfernt, jeden Schnitt, jede Perspektivänderung musikalisch nachzuzeichnen, sondern es ist im Gegenteil die Regel, dass sie – wie soeben das Beispiel des Liskamm stellvertretend zeigte – über die Tafeln und Schnitte hinweggleitet, um dafür aber an prominenten, ausgewählten Stellen umso deutlicher filmsynchron ›einzurasten‹49. Großflächigkeit prägt auch den Klang, d. h. Klang48 | Die Partitur rechnet allerdings gerade in der Filmexposition mit sehr viel mehr Bildmaterial als offenbar für die digitale Neufassung noch zur Verfügung stand. So wurden hier zahlreiche Umpositionierungen der Titel-cues und ziemlich große Striche vorgenommen; z. B. sind aus Teil B nur 5 Takte zu hören, D ist ganz gestrichen, ebenso wie aus F die ersten 20 Takte. 49 | Möglicherweise erschien dies Hindemith im Nachhinein zu grobkörnig. So postuliert er 1928 (»Texte zur Filmmusik«, S.  85) eine sehr viel direktere, an das spätere ­M ickey-Mousing erinnernde Bild-Musik-Kopplung: »Der von Hans Richter hergestellte Film Spuk am Mittag ist ganz im Hinblick auf die Musik entworfen worden. Formen, Gegenstände, Menschen wollen hier nichts sein, als

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wechsel wie die eben angesprochene Besetzungsreduktion für Teil G dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Komposition einen fast ›monoklanglich‹ angelegten Kern hat: Hindemith schreibt im Grunde durchgehend einen 3- bis 5-stimmigen, vollgriffig oktavverdoppelnden Klaviersatz mit einer die Melodie (ebenfalls oft oktavverdoppelnd) verdoppelnden Violine, die stellenweise auch alleine die Melodie führt. Die fakultativen Instrumente verstärken Stimmen des Klaviersatzes50. Signifikant ist in diesem Zusammenhang auch der Periodenbau. Überall in der Partitur nämlich findet ein kompositorisches Verfahren Anwendung, das sehr genaue Justierungen von Formteillängen zulässt: eine generell eher kleingliedrige Periodik, wobei aber zudem fast systematisch die Themen in größeren Bögen ansetzen – ab 4 bis etwa 16 Takte –, um in kurze (meist eintaktige) sequenzierbare Glieder zu münden. D. h. falls das Ausprobieren (Hindemiths Klavierspiel zu Fancks gleichzeitiger Filmvorführung) Passungsprobleme ergab, bestand ›nach hinten hinaus‹ immer die Möglichkeit, taktweise Musik dazuzuschreiben oder herauszunehmen, ohne die Form umwerfen oder die Themen abändern zu müssen. Ein fast wahllos herausgegriffenes Beispiel ist der auf das Träger und Mittel eines Rhythmus, der durch die Musik gestützt wird, sie sollen Bewegungen ausführen. Die Bewegungen mußten, um im Film mit der Musik gleichsam wirken zu können, von ihrer alltäglichen Funktion befreit und zu Trägern künstlerischen Ausdrucks gemacht werden. […] Die Musik illustriert nicht, obwohl sie in manchen Teilen den Filmgeschehnissen enger anliegt, als irgendeine Filmmusik bisher. […] Die genaue Anpassung der Musik an den Film ist nur möglich bei absolut synchronem Bild- und Musikablauf. Ich habe vorgezogen, die Musik für ein mechanisches Instrument zu schreiben, […] weil ich der festen Ueberzeugung bin, daß zu einer mechanisch abrollenden Bildfolge auch eine mechanisch zu reproduzierende Musik gehört.«  Hindemith komponierte zu Hans Richters Film Vormittagsspuk eine Musik für ein ­Welte-Mignon-Reproduktionsklavier, das in experimenteller Weise direkt an die Filmprojektorwellen gekoppelt wurde. 50 | Das gilt auch für die »Violine obligat«, eine Bezeichnung, die hier nicht bedeutet, dass die Stimme zwingend gespielt werden muss, sondern vielmehr auf den aus der Salonorchesterpraxis bekannten Stimm-Typus verweist, der mit vielen Doppel- und Tripelgriffen dafür sorgt, dass keine Bratsche benötigt wird. Die symphonischen Besetzungen der verfügbaren Einspielungen und deren Unterfütterung mit einem Diskurs, der die vermeintlich ›noch romantische‹, in Prox’ Ohren gar »an die Klangwelt eines Richard Strauss oder Max Reger erinnernd[e]« (»Anmerkungen«, S. 71) Seite dieser Partitur betont, haben mit dem original vorgeschriebenen »Salonorchester (Ensemblebesetzung)« wenig zu tun; neben der genannten DVD-Produktion (wie Anm. 15; Frank Strobel dirigiert das hr-Sinfonieorchester) gibt es die Einspielung von Dennis Russel Davies mit Mitgliedern des Deutschen Symphonieorchesters Berlin (1995), die zumindest streckenweise die Streicher solistisch besetzt (BMG Classics 09026 68147 2).

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Andreas Münzmay Abb. 6: Formteil E und Beginn von F in Hindemiths Partiturautograph (S. 12–14). Quelle: Mit freundlicher Genehmigung des Hindemith Instituts Frankfurt.

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Matterhorn-Titelschild und den zweiten Maestoso-Teil hinführende Formteil E (siehe Abbildung 6) mit einer Binnengliederung in 4 + 4 + 2 + 2 +