Spanien und der Weltkrieg [Reprint 2019 ed.] 9783486743739, 9783486743722


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Table of contents :
Vorwort.
Inhalt.
I. Grundsätze Spanischer Entwicklung
II. Innere Verhältnisse Bis 1898
III. Auswärtige Beziehungen Bis 1898
IV. Auswärtige Politik 1898—1907
V. Auswärtige Politik 1907—1914
VI. Innere Verhältnisse 1898—1914
VII. Spanien Im Weltkrieg
VIII. Die Jüngsten Vorgänge
Bemerkungen Zur Literatur
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Spanien und der Weltkrieg [Reprint 2019 ed.]
 9783486743739, 9783486743722

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SPANIEN UND DER WELTKRIEG VON

DR. PAUL H E R R E A. O. P R O F E S S O R

AN D E R U N I V E R S I T Ä T

LEIPZIG

^ f f i ^

MÜNCHEN UND B E R L I N 1915 D R U C K UND V E R L A G VON R. O L D E N B O U R G

Meinen spanischen Freunden

VORWORT. Unter den Ländern, die dem W e l t k r i e g e fern geblieben sind, fand Spanien zunächst am wenigsten in Deutschland Beachtung, und erst seitdem es bekannt wurde, welche Sympathien das ritterliche Volk unserem Daseinskampfe entgegenbringt, fing man bei uns an, den spanischen Problemen ein größeres Interesse zuzuwenden. Tatsächlich verdienen Spanien und seine Stellung in der W e l t unsere volle Aufmerksamkeit, und es ist für die künftige Gestaltung des internationalen Zusammenlebens v o n nicht geringer Bedeutung, in welcher Richtung sich die spanisch-deutschen Beziehungen entwickeln werden. Eine Beschäftigung m i t den Verhältnissen des Pyrenäenstaates ist u m so lohnender, als sie in Zusammenhänge führt, die uns Deutschen wenig geläufig sind, und als sie selbst bekannte V o r g ä n g e in eine ungewohnte Beleuchtung rückt. Die nachfolgende Darstellung stellt sich lediglich historisch-politische A u f g a b e n ; sie v o r allem nehmen jetzt unser Interesse in Anspruch. L e i p z i g , A n f a n g September 1915.

Herre.

INHALT. Seite

L II. III. IV. V. VI. VII. VIII.

Vorwort Grundsätze spanischer Entwicklung Innere Verhaltnisse bis 1898 Auswärtige Beziehungen bis 1898 Auswärtige Politik 1898—1907 Auswärtige Politik 1907—1914 Innere Verhältnisse 1898—1914 Spanien im Weltkrieg Die jüngsten Vorgänge Bemerkungen zur Literatur

5 7—10 11—17 18—26 27—39 40—54 55—62 63—74 75—87 88—89

I.

Grundzüge spanischer Entwicklung. Daß Spanien unserem Interessenkreise entschwunden war, ist in hohem Maße begreiflich. Seit Jahrhunderten liegt es im Schatten der geschichtlichen Entwicklung, und seine Rolle war seit langen Generationen mehr leidend als handelnd. In einem unaufhaltsamen Niedergange ist es von den Höhen geschichtlichen Daseins herabgestiegen. Nach der Vereinigung Kastiliens und Aragoniens (1492) h a t t e es mit nationalem Schwünge Weltpolitik getrieben. Die Zeiten Karls I. (V.) und Philipps II. gelten dem spanischen Volke noch heute als das goldene Zeitalter. Die Nation, die leidenschaftlich die Herrschaft in der Welt begehrte, machte sich mitschuldig an der frühzeitigen Ergreifung jener ungeheueren Aufgaben, f ü r die sie innerlich nicht reif war; sie ward mitschuldig an dem staatlichen Zusammenbruch, der die unvermeidliche Folge einer einseitigen Machtpolitik nach außen war. In überzeugtem Zusammenarbeiten von Herrscher und Volk brachte Spanien der katholischen Idee, für die es vier Generationen hindurch seine Kräfte einsetzte, das Opfer seiner staatlichen Z u k u n f t . Zwar entfaltete sich in der ersten Hälfte des 17. J a h r h u n d e r t s noch eine hohe Blüte nationaler Kultur, und die damaligen klassischen Leistungen auf dem Gebiete der Kunst und Literatur bleiben uns die sprechendste Offenbarung spanischer Geistesart. Aber schon war der innere Kern des nationalen Daseins morsch und aus der kraftvollen Idealgestalt des Cid Campeador war die haltlose Figur des Don

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Quijote geworden. Die Vereinigung Portugals und seines ungeheueren Kolonialbesitzes m i t dem spanischen Weltreich (1580), die verheißungsvoll die iberische Einheit verwirklichte und Spanien zur beherrschenden Kolonialmacht in Asien, Afrika und Amerika machte, hielt den s t a a t lichen Niedergang nicht auf, sondern förderte ihn, und schon nach 60 Jahren (1640) brach die Gemeinsamkeit wieder auseinander. Seit der Mitte des 17. J a h r h u n d e r t s beschleunigte sich der Prozeß des Niedergangs in erschreckendem Maße. Der Kolonialbesitz s c h r u m p f t e unaufhörlich zusammen, und die germanischen Seemächte Holland und England traten das Erbe Spaniens an. Hand in H a n d damit ging ein f u r c h t barer Verfall der inneren Kräfte, der das Land in kürzester Zeit von einer bedeutenden K u l t u r h ö h e zu einem traurigen kulturellen Tiefstand f ü h r t e . Zu Beginn des 18. J a h r h u n d e r t s schien allerdings die absteigende Entwicklung durch einen zeitweiligen Neuaufstieg unterbrochen zu werden. Die Bourbonen, die die degenerierten Habsburger ablösten, f ü h r t e n dem absterbenden Organismus des Volkes und Staates frisches Leben zu und brachten durch Reformen den Niedergang zum Stillstand. Im K a m p f e gegen das kirchliche System, das die freie E n t f a l t u n g der K r ä f t e hinderte, wurde der Weg zu einer inneren Wiedergeburt frei gemacht, und unter Karl III., dem bedeutendsten Vertreter des aufgeklärten F ü r s t e n t u m s in Spanien, w u r d e eine bemerkenswerte Höhe der Staats- und Volksleistungen erreicht. Aber die gleichzeitig neu aufgenommene Eroberungspolitik, die der spanischen Eigenart entsprechend den realen Möglichkeiten sogleich wieder weit vorauseilte, h e m m t e den inneren Aufschwung und schuf neue Mißerfolge. Durch die unfähigen Herrscher, die die Umwälzungen der französischen Revolution und der napoleonischen Zeit miterlebten, erfuhr die Reformperiode ein jähes Ende. Haltlos s c h w a n k t e Spanien in dem Weltkonflikt hin u n d her, ja es wurde selbst

1. Grundzüge spanischer Entwicklung.

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S c h a u p l a t z u n d Gegenstand der Interessenkämpfe der ü b e r legenen G r o ß m ä c h t e . Die heillose Z e r r ü t t u n g der staatlichen Verhältnisse a b e r teilte sich d e m Volkskörper mit, und U m s t u r z und Revolution w u r d e n b e s t i m m e n d f ü r die spanische E n t w i c k l u n g des 19. J a h r h u n d e r t s . U n a u f h a l t s a m sank die Machtgeltung, u n d wenn a u c h Spanien im wesentlichen in der alten Gestalt aus den blutigen K ä m p f e n jener J a h r z e h n t e hervorging, so w a r seine Rolle auf der W e l t b ü h n e jetzt doch endgültig ausgespielt. Es k a m hinzu, daß die nach der E r o b e r u n g Mittel- und S ü d a m e r i k a s von den Spaniern besiedelten Kolonien sich d a m a l s selbständig m a c h t e n und ein eigenes staatliches Dasein a u f b a u t e n , obschon sie mit dem M u t t e r lande kulturell v e r b u n d e n blieben. Auch dieser schwere Verlust f ü h r t e zu keiner Einkehr. Der Verkauf Floridas an die Vereinigten S t a a t e n (1819) ließ zwar die Absicht der Regierung erkennen, die K r ä f t e zu konzentrieren, u n d es wurden einige Versuche u n t e r n o m m e n , den inneren Zus t a n d zu heben. Aber es blieb bei schüchternen Ansätzen. Mehr und m e h r verloren Regierung und Volk Spaniens, von heftigen inneren U n r u h e n d u r c h s c h ü t t e l t , nach innen wie a u ß e n alle Machtziele aus den Augen und ließen resigniert die Dinge gehen. In b u n t e m Wechsel lösten sich die m o n archische und republikanische S t a a t s f o r m ab, und der Anteil des von ehrgeizigen und selbstsüchtigen Parteif ü h r e r n beherrschten Volkes an der Regierung f a n d in der langen Reihe der berüchtigten provinzialen J u n t a s u n d militärischen P r o n u n c i a m e n t o s seinen Ausdruck. Die Wiederherstellung der konstitutionellen Monarchie durch König Alfons X I I . besserte zwar die Verhältnisse, doch v e r m o c h t e auch sie nicht wirklich zu heilen. Der Verlust des letzten spanischen Kolonialbesitzes in der amerikanischen u n d asiatischen Inselwelt an die neue imperialistische G r o ß m a c h t der N o r d a m e r i k a n e r (1898) bildete den A b s c h l u ß dieser Niedergangsepoche des 19. J a h r h u n d e r t s .

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Spanien schien aus den lebendigen Staaten Europas ausgeschieden und apathisch sein Schicksal in die Hände der lebenskräftigen Nationen gelegt zu haben, die sich bereits anschickten, wirtschaftlich von der Pyrenäenhalbinsel Platz zu ergreifen und die iberischen Gebiete zu Kolonien auf europäischem Boden zu machen. Sicherlich war es eine einsichtige Handlung, daß die Regierung nach der Niederlage des amerikanischen Krieges 1899 die Reste der überseeischen Besitzungen im australischen Archipel an Deutschland verkaufte und im Jahre darauf einige weitere isolierte Inseln im Stillen Ozean den Vereinigten Staaten überließ. Schon in der Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s hatten Politiker wie der Demokrat Fernando Garrido den Verlust der lastenden Kolonien geradezu herbeigewünscht, indem sie die Hoffnung auf einen inneren Aufschwung Spaniens daran knüpften. Würden sich diese Erwartungen nunmehr erf ü l l e n ? Das war die Frage, die die spanischen Patrioten um die Jahrhundertwende beschäftigte. Systematische staatliche Arbeit war die notwendige Voraussetzung, um das Land einem neuen Aufstieg entgegenzuführen.

II.

Innere Verhältnisse bis 1898. Zielbewußte Machtpolitik nach außen bedarf im konstitutionellen Staat der verständnisvollen Mitarbeit des Volkes. Wenn die auswärtige Politik auch die wichtigste Äußerung des staatlichen Lebens ist und bleibt, so braucht sie doch die Fundierung der inneren Politik. In keinem Lande liegen diese Verhältnisse so ungünstig wie in Spanien. Das Volk hat zwar den vollen Mitanteil an der Staatsleitung erlangt, und das Regierungssystem ist nahezu parlamentarisch. Aber das Parteileben und der staatliche Zustand stehen auf so tiefer Stufe, und das Volk befindet sich in einer solchen Unreife des politischen Urteils wie der geistigen Bildung, daß von einer Geltendmachung der Volkskräfte durch die Regierung und von einem inneren Zusammenarbeiten der beiden Faktoren nicht gesprochen werden kann. Kein anderes Volk kennt einen solchen Wirrwarr konstitutioneller Entwicklung wie das spanische. Nach der Befreiung von der Fremdherrschaft erfüllte ein jahrzehntelanger Kampf um die innere Gestaltung des Staatswesens in buntem und blutigem Wechsel die spanische Geschichte. Dem Ringen zwischen den Konstitutionellen und den Absol u t s t e n (den „Puros") folgten die karlistischen Kämpfe, die nicht nur die Frage der dynastischen Erbfolge zum Inhalt hatten, sondern zugleich über die klerikalen Bestrebungen entschieden. Im Zusammenhang damit spielte sich das erbitterte Duell zwischen den Moderatos und den Progressisten ab, den Vertretern einer gemäßigten und ent-

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schiedenen liberalen Staatsanschauung, die sich währenddem in eine konservative und liberale Partei wandelten. Gleichzeitig aber traten Föderalismus und Nationalismus in Streit, der Republikanismus entfaltete seine Fahne, bis schließlich das Ringen um die politischen Rechte in der Durchsetzung der konstitutionellen Monarchie Alfons X I I . den Abschluß fand. Zehn Verfassungen sah die Zeit von 1808 bis 1876. In den erbitterten Kämpfen radikalisierten sich die miteinander ringenden Parteien: wie in den Naturverhältnissen der Halbinsel wurden auch in den spanischen Parteiverhältnissen schroffste Gegensätze ohne Vermittelung und Ausgleich ein besonderes Merkmal. Gleichzeitig aber bildete sich eine andere Erscheinung aus, die fortan das gesamte politische Leben Spaniens bestimmte: der demokratische Charakter aller Parteien. Spanien wurde mit Italien zum demokratischsten Lande Europas. Die Konstitution vom 30. Juni 1876, die den Grund des neuen Spanien legte, schuf einen Verfassungszustand, der der Theorie nach die Mitte zwischen dem parlamentarischen System Englands und dem Repräsentationssystem Deutschlands hielt. Eine starke Krone ernennt die Minister und hat die mit allen Kompetenzen ausgestattete Exekutive. Die Volksvertretung (Cortes) setzt sich aus dem vom Volke gewählten Unterhause (Congreso) und dem Oberhause (Senado) zusammen, dessen Mitglieder vom Könige ernannt, von gelehrten und geistlichen Körperschaften gewählt werden oder aus dem privilegierten Grundbesitz und Amt hervorgehen; sie übt gemeinsam mit der Krone die Legislative aus. In Wahrheit aber werden weder Kongreß noch Senat gewählt, sondern von der Regierung ernannt. Dem Volk in seinen arbeitenden Mittel- und Unterschichten blieb der bestimmende Einfluß auf die Zusammensetzung der Volksvertretung vorenthalten. An Stelle des konstitutionellen Regiments t r a t in der Praxis ein oligarchisches; der „Caciquismo" gelangte zur Herrschaft, um einen den einstigen

II. Innere Verhältnisse bis 1898.

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kolonialen Verhältnissen S p a n i s c h - A m e r i k a s e n t n o m m e n e n üblich gewordenen A u s d r u c k zu g e b r a u c h e n . Immer m e h r konzentrierte sich das politische Leben in d e m stellensüchtigen B e a m t e n t u m u n d in einem engen Kreise b e r u f s m ä ß i g e r Politiker. Mit Hilfe dieser ganz a b h ä n g i g e n E l e m e n t e ü b t e die Regierung eine nahezu u n u m s c h r ä n k t e Gewalt aus, u n d die parlamentarische K o r r u p t i o n d r ü c k t e die V o l k s v e r t r e t u n g tief herab. Über das P a r l a m e n t hinaus w i r k t e dieses S y s t e m bis in die Provinz u n d Gemeinde, deren V e r w a l t u n g sich ganz der Madrider Z e n t r a l g e w a l t auslieferte. Die Politik w u r d e zum Geschäft. Politische R o u t i n e entschied über den Erfolg aller T ä t i g k e i t im Dienste des S t a a t e s . Persönliche Interessen u n d lokale W ü n s c h e w u r d e n neben besonderen Klasseninteressen m a ß g e b e n d f ü r politische R i c h t u n g e n , u n d die politischen Ideale t r a t e n in den H i n t e r g r u n d . Natürlich spiegelten sich diese bedenklichen Erschein u n g e n vor allem im Parteileben wieder. Mit der neuen konstitutionellen Monarchie k a m die „ l i b e r a l - k o n s e r v a t i v e " Partei zur H e r r s c h a f t . Canovas del Castillo, der R e s t a u r a t o r des Königtums, trieb eine besonnene Politik und b r a c h t e durch seine überragende F ü h r e r s c h a f t die P a r t e i der G e m ä ß i g t e n zu einer festen Gestalt. Die liberalen Progressisten bildeten zun ä c h s t eine Oppositionspartei, aber gegenüber ihrem Andrängen besaß Canovas n a c h dem T o d e Alfons X I I . die s t a a t s männische Selbstüberwindung, in die Teilung der S t a a t s leitung mit ihnen zu willigen. Die Liberalen w u r d e n d a m i t als zweite dynastische P a r t e i f ü r die Monarchie gewonnen. Die V e r s t ä n d i g u n g des P a r d o - V e r t r a g s von 1885 bildet den A u s g a n g des Schaukelsystems, das f ü r das spanische P a r t e i leben bezeichnend ist: in einem s t ä n d i g e n Wechsel zwischen der konservativen u n d liberalen P a r t e i , die die alleinigen Regierungsparteien blieben, h a t sich die E n t w i c k l u n g der letzten 30 J a h r e vollzogen. Wie Canovas u n d dessen E r b e Silvela suchte auch der liberale P a r t e i f ü h r e r Sagasta zwischen den einander e n t g e g e n s t e h e n d e n Prinzipien auszu-

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gleichen und eine Mitte zu gewinnen, deren Einhaltung eine gleichmäßige Politik gewährleisten sollte. Aber dieses übereinstimmende Bemühen, den Konflikten aus dem Wege zu gehen, f ü h r t e zusammen mit dem Charakter des spanischen Parlamentssystems zu einem System des Stillstandes und der Unsittlichkeit. Von Bedeutung war es dabei, daß entsprechend den allgemeinen politischen Verhältnissen die Parteianschauungen in wachsendem Maße sich zu unlebendigen schlagwortmäßigen Begriffen fixierten und ihren eigentlichen Inhalt einbüßten. Demgegenüber t r a t die Persönlichkeit des Parteiführers beherrschend in den Vordergrund. Der „Caudillo" allein bestimmte schließlich die Zusammensetzung und Stellungnahme seiner Gefolgschaft. Die Parteien wurden wieder zu „Camarillas", die im Sinne ihrer besonderen Ziele die Regierung zu lenken suchten. Nicht anders lagen die Dinge bei den drei Oppositionsparteien, die gestützt auf geschichtliche Erinnerungen oder getragen von neu emporsteigenden Kräften zur Herrschaft strebten. Die Karlisten, die in den Bürgerkriegen der 30er bis 70er J a h r e eine so große Rolle gespielt hatten, blieben in der engen Verbindung mit den klerikalen Kreisen Kataloniens und Navarras, während der Gegensatz gegen die regierende Dynastie allmählich zurücktrat. Aber infolge der Verschiebung der tatsächlichen Verhältnisse und der damit zusammenhängenden Abspaltungen ging ihre Bedeutung unaufhaltsam zurück, um so mehr, als der Partei seit dem Tode des älteren Nocedal (1888) längere Zeit keine feste Führerschaft wiedererstand. Dagegen verharrten die Republikaner trotz aller Bemühungen der Regierungsparteien in einer starken Stellung und erhoben in Zeiten innerer Schwierigkeiten immer wieder ihr Haupt, wenn auch manche einflußreiche Persönlichkeit in das Lager der Monarchie überging. Mit den republikanischen Bestrebungen aber verknüpften sich vielfach separatistische, die nament-

II. Innere Verhältnisse bis 1898.

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lieh in Katalonien ihren Boden hatten und nicht selten insgeheim vom Ausland, zumal von Frankreich, genährt wurden. Auf der andern Seite drängten unter der Einwirkung der wirtschaftlichen Entwicklung die Sozialisten vorwärts. Obschon sie namentlich wegen ihrer antimilitaristischen Bestrebungen eine selbständige Stellung einnahmen, suchten sie eine Verbindung mit den Republikanern herzustellen, aber die Gemeinsamkeit blieb auf dem Papier, und die persönlichen Gegensätzlichkeiten unter den Parteiführern erleichterten den Regierungsparteien die Bekämpfung. Es war die Frage, wie die Parteien nach der Katastrophe von 1898 zu den neuen staatlichen Aufgaben Stellung nehmen würden. Neben der auswärtigen Politik mußte da vor allem die Neuregelung des Finanzwesens der Prüfstein werden. Daß eine gründliche Reform nach dem Zusammenbruch erforderlich war, lag auf der Hand, aber es war ebenso sicher, daß sie nur unter scharfem Bruch mit bestehenden Vorrechten durchgeführt werden konnte. Auf der einen Seite hatten die konservativen Kreise an diesem Problem Anteil, der Klerus an der Spitze und neben ihm die klerikal beeinflußten obersten Schichten des Adels und Bürgertums, die vielfach von allen Lasten befreit waren; auf der anderen die eigentlich produzierenden liberalen Klassen, die die Kosten der staatlichen Verwaltung vorwiegend zu tragen hatten. Die Frage war um so dringender, als nicht nur die Machtpolitik nach außen, sondern auch die innere Politik in bezug auf das wirtschaftliche und geistige Leben von dieser Neuordnung abhängig war. Sollte das Staatswesen auf eine gesunde Grundlage gestellt werden, war ein tiefes Eingreifen in das ideelle und materielle Dasein des Volkes in höchstem Grade erforderlich. Das Schul- und Erziehungswesen befand sich im Zustande der Verwahrlosung, um 1900 zählte Spanien bei einer Bevölkerung von 18 Millionen Seelen mehr als 12 Millionen Analphabeten. Gewiß h a t t e der

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Liberalismus während des ganzen 19. J a h r h u n d e r t s «unter dem Banner der Freiheit und des Fortschrittes g e k ä m p f t , aber sein Ziel h a t t e sich nahezu ausschließlich auf den politischen Bereich beschränkt und in den Wirren der Bürgerkriege h a t t e vielmehr die geistige K u l t u r neuen Schaden erlitten. Bei dem Charakter des spanischen Volkes, das die tägliche Arbeit von altersher als nicht ehrenvoll ansieht, war es überaus schwierig, in entscheidendem Sinne zu bessern. So war auch das Wirtschaftsleben a r g vernachlässigt, und an keiner Stelle bestand ein inneres Interesse, es zu heben. Das Netz der Verkehrsstraßen war überaus d ü n n , es erreichte um die J a h r h u n d e r t w e n d e noch nicht 50000 km Landstraßen und 15000 k m Eisenbahnen; ihre Vermehrung war eine Lebensfrage. Die wirtschaftlichen und industriellen Unternehmungen waren zwar im Fortschreiten, aber mehr als die Hälfte befand sich in ausländischen Händen, von der nicht agrarischen Industrie sogar mehr als zwei Drittel. Die spanische Volkswirtschaft geriet d a d u r c h in die Gefahr, vom Auslande abhängig zu werden, um so mehr, als der arme Staat nicht Kapital produzierte, sondern konsumierte. So war die selbstverständliche Folge dieser ungesunden Verhältnisse, daß das Kreditsystem auf außerordentlich tiefer Stufe stehen blieb. Das h e m m t e wiederum die wirtschaftliche Arbeit und steigerte den Einfluß des Auslandes. Auch ein leiser Aufstieg des nationalen Bankwesens konnte den Schädigungen nicht wirksam steuern. Nicht einmal die eigentlich nationale Landwirtschaft war der fortschreitenden Entwicklung Europas gefolgt. Der agrarische Betrieb der guten alten Zeit blieb nahezu unverändert erhalten, und so fielen die Ernten in dem verwahrlosten Lande höchst u n gleich aus. Die Notwendigkeit durchgreifender Reformen wurde erk a n n t . Noch vor dem kolonialen Z u s a m m e n b r u c h beschritt man den entscheidenden W e g und t r a t unter Klarstellung des unhaltbaren Zustandes in die E r ö r t e r u n g einer u m f a s -

II. Innere Verhältnisse bis 1898.

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senden Neuordnung der staatlichen, wirtschaftlichen und geistigen Verhältnisse ein. Angel Ganivets „Idearium español" (Madrid 1896) ist ein großangelegter und anerkennenswerter Versuch, dem Volke die Augen zu öffnen. Vollends nach 1898 mußte der Wille zur Einkehr zur Geltung gelangen, und der Regierung fiel die schwierige Aufgabe zu, mit starker Initiative die Führung zu ergreifen. Aber mit dem Entschluß zugunsten innerer Reformmaßnahmen verband sich entsprechend dem spanischen Volkscharakter und der Tradition spanischer Herrschaftsbestrebungen von vornherein die Verfolgung neuer Machtziele nach außen. Dieses Streben mit dem lockenden Sichversenken in schöne Zukunftsaussichten für den sinkenden Staat gewann schnell die Oberhand über die Bereitwilligkeit, in ernster und nüchterner Tagesarbeit die Gebrechen des Volks- und Staatskörpers zu heilen. Es war bereits bezeichnend, daß die erhebliche Geldentschädigung, die Spanien aus der Abtretung seiner australischen Kolonien zufloß, in nur geringfügigem Maße für die Gesundung der inneren Verhältnisse nutzbar gemacht wurde. Die Machtpolitik der vergangenen J a h r h u n d e r t e lebte in neuer Gestalt wieder auf und erfüllte tröstend Herz und Sinn der Spanier. Indem die Regierung sich weise auf den engeren Bereich Spaniens beschränkte, steckte sie ihrer Politik ein doppeltes Ziel, das rückwirkend zugleich der inneren Gesundung dienen sollte: Erweiterung des unbedeutenden afrikanischen Besitzes zu einem fest auszubauenden Koloniallande und Herstellung eines gesamtiberischen Staatswesens, das die im gemeinsamen geographischen Räume der pyrenäischen Halbinsel wohnenden stammverwandten Völker Spaniens und Portugals zu einer Einheit zusammenschloß. Das ist der Inhalt der spanischen Geschichte des 20. J a h r hunderts. Das bestimmt auch Spaniens Stellung im Weltkrieg.

H e r r e , Spanien und der Weltkrieg.

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III.

Auswärtige Beziehungen bis 1898. Es ist ein besonderes Merkmal der spanischen Entwicklung, daß der nationale Aufschwung immer wieder in den Bestrebungen nach einer Erwerbung kolonialen Besitzes in Afrika und nach einer Verwirklichung der paniberischen Einheit gipfelte. In den Zeiten Ferdinands des Katholischen, Karls I. (V.) und Philipps II. waren die Inseln und Küstengebiete Nordafrikas erobert worden, und wenn sie auch bis auf die sog. „Presidios" an der marokkanischen Küste (Melilla, Alhucemas, Peñón de Velez de la Gomera und Ceuta) im 16., 17. und 18. Jahrhundert wieder verloren gingen, so hat Spanien doch unter Berufung auf diesen einstigen Besitz stets an seinen „historischen" Ansprüchen festgehalten und diese wiederholt geltend gemacht. Anderseits bildet die Unterwerfung Portugals durch Philipp II. den Höhepunkt der spanischen Geschichte schlechthin, und mehr als in irgendeiner anderen Erscheinung äußert sich nach dem Zerbrechen der iberischen Gemeinschaft die Entfaltung nationaler Kräfte in dem Streben nach einer Wiedervereinigung der beiden Länder. Wie für den Stand der inneren Verhältnisse, so gab auch für die Haltung des Auslandes diese süd- und westwärts gerichtete Politik Spaniens in den Epochen nationaler Entfaltung den Maßstab. Denn die Staatsleitung hatte auf der einen Seite mit eifersüchtigen Mächten zu rechnen, die sich den nationalen Wünschen entgegenstellten, und war deshalb auf der anderen auf die Hilfe wohlwollender Mächte

III. Auswärtige Beziehungen bis 1898.

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angewiesen, die in eigenem Interesse bereit waren, f r e m d e Pläne zu fördern. J e mehr Spaniens Machtstellung sank, u m so m e h r wurde es von der internationalen Lage abhängig. Von ausschlaggebender B e d e u t u n g war zumal die S t e l l u n g n a h m e Englands und Frankreichs. Tatsächlich entschieden Spaniens jeweilige Beziehungen zu den beiden überlegenen Mittelmeergroßmächten über die Verwirklichung seiner Zuk u n f t s h o f f n u n g e n , und die ganze geschichtliche E n t w i c k l u n g des habsburgischen und bourbonischen Staates erscheint im Sinne der Machtgeltung geradezu d a d u r c h b e s t i m m t . Schon in der Blütezeit des spanischen Universalreiches wurde das emporstrebende England der gefährlichste Widersacher. Seit den P i r a t e n f a h r t e n Francis Drakes und der Vernichtung der A r m a d a arbeitete die britische Seemacht an der Zerstückelung des spanischen Kolonialbesitzes. Sie förderte die A b t r e n n u n g Portugals von Spanien und setzte sich schließlich in dessen engeren Machtbereich, an der Straße von Gibraltar fest. Tanger, das Karl II. S t u a r t als Mitgift seiner portugiesischen Gattin erwarb, vermochte E n g l a n d freilich nicht zu b e h a u p t e n , ergriff jedoch einige J a h r zehnte später (1704) von Gibraltar selbst Besitz und gewann d a m i t die Herrschaft über die Meerenge. D u r c h die wirtschaftliche U n t e r w e r f u n g Portugals aber, die eine politische Abhängigkeit zur Folge h a t t e , erreichte es die d a u ernde T r e n n u n g der beiden iberischen Länder. Vergebens versuchten die Bourbonen im B u n d e m i t Frankreich, dem Weltgegner Englands, den britischen Eindringling zurückzuweisen. Der 26jährige Krieg, den Philipp V. und seine Nachfolger mit dem Sultan von Marokko u m den Besitz Tangers f ü h r t e n , b r a c h t e nicht die Erfüllung, u n d die gleichzeitigen, mehrfach wiederholten Versuche zur Wiedergewinn u n g Gibraltars scheiterten ebenso wie die Bestrebungen des Ministers Arranda, in den nordafrikanischen K ü s t e n g e b i e t e n des Mittelmeeres wieder festen F u ß zu fassen. Auch die Napoleonische Zeit, die eine völlige U m g r u p p i e r u n g d e r 2»

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europäischen Mächte bewirkte und England zu Spaniens Helfer im gemeinsamen K a m p f e gegen die französische Fremdherrschaft auf der pyrenäischen Halbinsel machte, änderte nichts an der allem nationalen Aufschwung e n t gegenstehenden Politik der Briten. Ihre Rolle als Befreier sehr selbstsüchtig mißbrauchend, benutzten sie die militärische Beherrschung Spaniens, um die Befestigungen in der Bucht von Algeciras, an der Straße von Gibraltar und in den Gebieten der P u n t a Carnero, der P u n t a Fraile und der Sierra Carbonera zu zerstören unter dem Vorwande, die Festsetzung der Franzosen zu verhindern, und a n s t a t t ihr Versprechen einzulösen, die Befestigungen nach der Niederwerfung Napoleons wieder herzustellen, w u ß t e n sie vielmehr durch Überredung und D r o h u n g immer wieder zu verhindern, d a ß die Spanier ihrerseits es t a t e n . Es h ä n g t mit dieser Sicherungspolitik zugunsten der englischen Position a m Eingang zum Mittelmeer zusammen, wenn die britische Diplomatie eifrig d a f ü r tätig war und es durchsetzte, d a ß Spanien die Zulassung zum Wiener Kongreß als Großmacht verweigert wurde. Das Werk der Schwächung und D e m ü t i g u n g Spaniens wurde in der Folgezeit unerschütterlich fortgesetzt mit dem letzten Ziele, das Land unter dieselbe englische Vormundschaft zu bringen, der Portugal verfallen war. Auf dem Kongresse zu Verona (1822) widersetzte sich England dem Vorhaben der europäischen Mächte, die von Spanien abgefallenen süd- und mittelamerikanischen Kolonien dem Mutterlande wieder zuzuführen, und b r a c h t e damit die Selbständigkeit der Kreolenstaaten zur Anerkennung. Gleichzeitig ließ es jedoch zu, daß Frankreich namens der Großm ä c h t e in Spanien intervenierte und mit den Waffen die Abschaffung der Verfassung und die Wiederherstellung des absoluten Königtums erzwang. In den nächsten J a h r z e h n t e n förderte es vielfach die Verfassungskämpfe u n d Bürgerkriege, die die staatliche Arbeit fast unmöglich m a c h t e n und Spa-

III. Auswärtige Beziehungen bis 1898.

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nien dem Auslande auslieferten. Es stellte sich in den vierziger Jahren dem Versuche Narvaez' entgegen, einen Konflikt mit Marokko zur Erweiterung der spanischen Machtsphäre jenseits der Straße von Gibraltar auszunutzen. Es band die spanische Unternehmung gegen Portugal, zu der sich die Madrider Regierung 1847 infolge der inneren Wirren im pyrenäischen Nachbarreich entschloß und die von paniberischen Bestrebungen getragen war, an die englische Mitwirkung und sorgte dafür, daß die Intervention mehr dem englischen als dem spanischen Interesse diente. Es brachte den ehrgeizigen O'Donnell um die Erfolge seines 1859/60 gegen Marokko eingeleiteten Unternehmens, indem es ihm zuvor die Bedingung auferlegte, weder Tanger anzugreifen, noch größere Gebietserwerbungen in Marokko zu machen. Der abenteuerliche Krieg brachte Spanien deshalb lediglich unbedeutende Erweiterungen der Presidios und das einst spanische Gebiet von Ifni (Santa Cruz en Mar pequena im südwestlichen Marokko) ein, dessen Besetzung sogar unterblieb. Die Entwicklung der französisch-spanischen Beziehungen vollzog sich zwar in anderer Form als die der englisch-spanischen, verlief aber kaum weniger ungünstig für Spanien. Der große Kampf zwischen den Häusern Habsburg und Valois-Bourbon um die Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent, der das 16. und 17. J a h r h u n d e r t erfüllte, zehrte die K r a f t des Volkes auf und der Ausgang des Ringens war ein voller Sieg des französischen Nationalstaates. Wohl wandelte das Ausscheiden der Habsburger die Dinge, und die Nachfolge der Bourbonen auf dem spanischen Thron f ü h r t e zu einer inneren und äußeren Annäherung der beiden westeuropäischen Nebenbuhler. Aber indem das schwächere Spanien geradezu in die Gefolgschaft des überlegenen Frankreich trat, wurde es in die Niederlagen hineingezogen, die Ludwig XIV. und seine Nachfolger von Seiten Englands erlitten, und während das spanische Staatsinteresse Zurück-

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haltung auf dem Gebiete der auswärtigen Politik und Konzentration auf die inneren Aufgaben vorschrieb, verleitete das Zusammengehen mit dem stammverwandten Nachbarreich die bourbonischen Herrscher immer wieder zu schädlichen und verhängnisvollen Abenteuern. Selbst mit der französischen Revolution und ihrem Erben erhielt die konservative Staatsleitung die enge Verbindung aufrecht, um dafür England neue Opfer zu bringen. Der Dank Frankreichs war im weiteren Verlaufe die gewaltsame Unterwerfung Spaniens durch Napoleon. Auch ohne das jämmerliche Versagen der Dynastie wäre dem Volke dieses Schicksal nicht erspart geblieben, aber man begreift, daß das Hereinbrechen gerade einer französischen Fremdherrschaft zu einer nationalen Erhebung führte, die mit ihrem unvergleichlichen Heldentum und Fanatismus bis heute im Gedächtnis des Volkes fortlebt. Es verdient auch bemerkt zu werden, daß Napoleons Bruder, König Joseph I., bereit war, gegen eine Entschädigung die Presidios an Marokko abzutreten; nur Englands Einspruch hat die Ausführung dieses Vorhabens verhindert. Zwar brachte die Restauration in Frankreich und Spanien die beiden Länder wieder einander nahe und die französisch-englische Gemeinsamkeit in der liberalen Ära der 30er und 40er Jahre bewahrte die Madrider Regierung vor der Wiederholung der früheren Politik, die Kosten einer einseitigen Begünstigung der romanischen Schwesternation zu zahlen. Aber auch Frankreich suchte die spanischen Verfassungskämpfe für seine Interessen zu verwerten und zu beeinflussen, und es ist kein Zufall, daß über einer spanischen Frage die Verbindung zwischen den beiden westeuropäischen Großmächten zerbrach. Die Selbstsucht der französischen Politik kam zu gesteigertem Ausdruck, als sich die kolonialen Bestrebungen in Nordafrika nach Marokko hinüber erstreckten. Die einzige Erwerbung, die Spanien dort im 19. Jahrhundert machte, war gegen Frankreich gerichtet:

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es n a h m 1848 von den Zaffarinasinseln Besitz, die vor der Mündung des Mulujaflusses gelegen, eine große strategische B e d e u t u n g besitzen und wegen ihrer geschützten Lage f ü r die Schiffahrt in der Straße von Gibraltar nicht ohne W e r t sind. Aber auch sie verfielen wie die übrigen Presidios dem Schicksal der Vernachlässigung und wurden nicht n u t z b a r gemacht. So waren und blieben E n g l a n d und Frankreich bestimmend f ü r Spaniens äußere und innere Entwicklung, und auch die Einrichtung und Befestigung der konstitutionellen Monarchie (1876) ä n d e r t e an diesem Z u s t a n d e nichts. So heftig sich die beiden G r o ß m ä c h t e miteinander verfeindeten, so hielten sie doch wie in einem geheimen E i n v e r n e h m e n an der alten Politik fest, den schwachen P y r e n ä e n s t a a t n u r im eigenen Interesse auszunutzen, und das hieß zugleich f ü r eine jede: ihn dem Einflußbereiche der anderen zu entziehen. Spanien wurde geradezu zum Mitobjekt des allumfassenden Ringens zwischen den modernen Weltmächten und lief Gefahr, seiner eigensten Daseinsgrundlagen beraubt zu werden. Vollends in dieser Zeit des e n t b r e n n e n den Kampfes um die Aufteilung der Erde ward es zum Spielball der großen s t a a t l i c h e n Gegensätze und seine nationalen Forderungen w u r d e n , störend wie sie f ü r die weitreichenden Pläne Englands und Frankreichs waren, kühl beiseite geschoben. W e n n sie einmal Rücksicht erfuhren, so geschah es, weil sie von den beiden Nebenbuhlern taktisch gegeneinander ausgespielt w u r d e n . Tatsächlich wurden die paniberischen Bestrebungen immer utopischer. Fester denn je legte England seine H a n d auf Portugal, das beinahe auf die Stufe einer britischen Kolonie h e r a b g e d r ü c k t wurde. Marokko, Spaniens „historisches" Kolonialgebiet, w u r d e unter Englands selbstsüchtigem A n t r i e b der internationalen Kontrolle unterstellt, d a m i t keine andere Macht, und vor allem nicht Frankreich, d a v o n Besitz ergreife; ja, E n g l a n d selbst versuchte immer wieder, auf d e m Wege des P r o t e k t o -

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rats dort festen Fuß zu fassen. 1 ) Der Madrider Vertrag vom 3. Juli 1880, der auf Spaniens Betreiben und m i t Englands Förderung zustande kam und zunächst die strittige Frage der Schutzbefohlenen fremder Mächte in Marokko regelte, wies zwar das begehrliche Frankreich in die Schranken und hielt Spanien den Weg nach Nordafrika offen. Aber das gleichzeitig ihm erteilte Vorrecht eines bewaffneten Einschreitens im Namen aller Vertragsmächte, falls die marokkanischen Verhältnisse ein solches notwendig machten, h a t t e nur eine formale Bedeutung und stellte vielmehr auch die besonderen Ansprüche Spaniens unter Europas Kontrolle. Indessen gerade die eifersüchtige Belauerung der beiden beherrschenden Seemächte ließ den hochgemuten spanischen Nationalismus unter der Führung eines ehrgeizigen Herrschers um so eifriger eine Verwirklichung der traditionellen Wünsche erstreben. Zum ersten Male kam nunmehr als Produkt der neuen weltpolitischen Interessenverflechtung eine Verbindung Spaniens mit Deutschland zustande 2 ), das seit den Zeiten habsburgischer Gemeinschaft dem spanischen Bereiche ferngestanden hatte und ihm auch durch die Angelegenheit der hohenzollerischen Thronkandidatur von 1870 nicht näher geführt worden war. Die gefährlichen Kolonialpläne Frankreichs, die nach der Festsetzung in Tunesien das gesamte Nordwestafrika ins Auge faßten und sich auch bald in Marokko geltend machten, drängten Alfons XII., an das Deutsche Reich Anschluß zu suchen und unter Benutzung der kolonialen Offensive Bismarcks auch für Spanien neues Land zu gewinnen. Von einer Aktionspartei angetrieben, die namentlich in der einflußreichen l ) Noch 1892 hat England einen solchen Versuch unternommen. Der Entwurf, den Evan Smith damals ausarbeitete, wurde vom Sultan Mulay Hassan abgelehnt ') Die Kenntnis dieser Annäherung Spaniens an Deutschland verdanken wir den Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig Hohenlohe.

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Geographischen Gesellschaft zu Madrid ihre Vertretung hatte, belegte die Regierung im November und Dezember 1884 die herrenlosen Gebiete des Rio de Oro (südwestlich von Marokko) und des Muni (südlich von Kamerun) mit Beschlag und dehnte das neuerworbene nordwestafrikanische Gebiet theoretisch bis Timbuktu aus. Indessen mit dieser Besitzergreifung hatte es sein Bewenden. Weder tat die Regierung etwas Greifbares für die neue Kolonie, noch nahm sie die E r w e r b u n g zum Ausgang einer zielbewußten Afrikapolitik. Auch die Annäherung an Deutschland blieb Episode, denn 1885 brachte die Frage der Besetzung der Karolineninseln im australischen Archipel, auf die Spanien, wie bereits einmal zehn J a h r e früher, mit hochgespannten nationalen Wünschen Anspruch erhob, die beiden Länder in einen ernstlichen Konflikt, dessen schnelle und friedliche Beilegung nur der deutschen Zurückhaltung und der Bereitwilligkeit zu verdanken war, sich dem Spanien günstigen Schiedsspruch des Papstes zu unterwerfen. Seit dem Streitfall mit Deutschland waren England und Frankreich wieder bestimmender denn je. Mit Sorge verfolgten die Madrider Kreise die gefährliche Tätigkeit der Franzosen in Marokko, und drohend erklärte im März 1887 der Minister des Auswärtigen in den Cortes: Spanien erachte die Unabhängigkeit des Sultans für eine nationale Frage, für die es bereit sei, alle Opfer zu bringen. Vergebens bemühte sich die Regierung im folgenden Winter u m eine neue internationale Regelung der marokkanischen Frage; es blieb nichts anderes übrig, als England vertrauensvoll die Sorge um die Freihaltung des kostbaren Landes zu überlassen. 1 ) Daß trotz des Todes des Königs und der Schwie') Ob damals ein englisch-spanischer Geheimvertrag abgeschlossen worden ist, wie in der französischen Presse behauptet wurde (E. Dupuy» Comment nous avons conquis le Maroc. ; Paris 1912. S. 23—24), läßt sich bis heute nicht feststellen. Als Glied in der Kette der gegen Frankreich gerichteten Maßnahmen Englands hat er viel Wahrschein-

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rigkeiten der Regentschaft die alten Ziele fortlebten, zeigte die Besetzung der Insel Peregil in der Straße von Gibraltar (1887), auf die England sein Auge geworfen hatte, und mehr noch der wiederholte Versuch der nationalen Aktionspartei, die Kämpfe der 90 er J a h r e gegen die kriegerischen Stämme des Rifgebietes, namentlich bei Melilla, zu einer großen Unternehmung gegen Marokko auszunutzen, ohne daß sie glücklicherweise damit das Ohr der Regierung fand. In seiner völligen Isolierung wäre Spanien damals einer Katastrophe ausgesetzt worden. Und schon führte die Erkenntnis der eigenen Schwäche zu den ersten Verhandlungen einer Verständigung mit Frankreich, doch kamen die 1894 zwischen den beiden auswärtigen Ministern Moret und Hanotaux eingeleiteten Verhandlungen über einen Meinungsaustausch nicht hinaus. In dieser Situation gefahrvoller Vereinzelung traf Spanien der Verlust der amerikanischen Kolonien. Zu der Schwere der Niederlage trug die Haltung Englands, das den Vereinigten Staaten geradezu eine Förderung zuteil werden ließ, in erheblichem Maße bei: mit der Preisgabe Spaniens erkaufte sich die britische Seemacht das Wohlwollen Amerikas hinsichtlich der Durchführung ihrer imperialistischen Pläne in Südafrika. Von der Blütezeit spanischer Weltmachtstellung bis zu ihrer Sterbestunde hielt England mit grausamer Konsequenz an seiner Politik fest und Frankreich trat ihm schließlich in der Handhabung einer rücksichtslosen Interessenpolitik auf Kosten Spaniens zur Seite. Es war die Frage, wie der schwache Pyrenäenstaat seine neuen Ziele gegenüber diesen überlegenen Widersachern verwirklichen würde. lichkeit für sich. — Uber die spanischen Bemühungen um eine neue Marokkokonferenz unterrichten uns fragmentarisch die 1912 erschienenen Memoiren Crispis.

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Auswärtige Politik 1 8 9 8 - 1 9 0 7 . Während die Regierung noch mit inneren Schwierigkeiten zu tun hatte, die aus der Unruhe über die beim kolonialen Zusammenbruch zutage getretenen Unzulänglichkeiten herauswuchsen, beschritt sie den neuen Weg. In Übereinstimmung mit den Politikern der beiden Regierungsparteien richtete sie ihre Blicke nach Afrika und eine lebhafte Publizistik brachte zum Ausdruck, daß man sich trotz der internationalen Bestimmungen der Madrider Konferenz hinsichtlich Marokkos nicht länger an die Statusquo-Politik binden dürfe. Die Gelegenheit f ü r eine Festsetzung jenseits der Straße von Gibraltar schien günstig, denn England, der eifersüchtige Schützer der scherifischen Selbständigkeit, war durch die Erhebung der Buren in Anspruch genommen und überließ Frankreich im Sudanvertrage vom 21. März 1899 die freie Betätigung in Nordwestafrika. So war Spanien auf die Verständigung mit der Republik angewiesen, die ihrerseits die Selbständigkeit Marokkos zu beseitigen s t r e b t e und vom Osten und Südosten sich in das Atlasgebiet vorschob. Da es der Pariser Regierung vor allem auf den Gewinn der Gebiete am atlantischen Ozean ankam, und da ihr im Hinblick auf die internationale Lage die Zufriedenstellung Spaniens am Herzen lag, so waren die Richtlinien des spanisch-französischen Übereinkommens klar vorgezeichnet. Indessen t a t Eile not. Schon faßte auch England wieder ins Auge, das vielbegehrte Land für seine Zwecke nutzbar zu machen und unter Festhaltung des kostbaren

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Tanger Deutschland den Eintritt in das atlantische Gebiet freizugeben, um dadurch den mächtigen Militärstaat an sich zu fesseln. 1 ) Die Verständigungspolitik wurde durch eine Nachgiebigkeit Spaniens eingeleitet. Durch den Vertrag vom 27. Juni 1900 trat es den Hafen von Kap Blanco sowie das Hinterland von Adrar mit den Salzlagern von Idschil an Frankreich ab, überließ der Republik das Gebiet von T i m b u k t u bis an den Ozean und räumte ihr mit dem Vorkaufsrecht wichtige Vorrechte in der Kolonie Rio de Oro ein. Um so größere Gewinnaussichten sicherte es sich in Marokko selbst, dem die eigentlichen Wünsche galten. Die Gefahr, daß die drohende Gemeinsamkeit der beiden germanischen Mächte alle Zukunftshoffnungen zuschanden machte, führte Spanien und Frankreich schnell zusammen. Der Vertrag vom 10. November 1902, dessen Wortlaut bisher nur in unzuverlässigen Veröffentlichungen bekannt geworden ist, dessen Inhalt aber feststeht 2 ), schien die Verwirklichung der nationalen Erwartungen zu bringen. Spanien gewann als Einflußzone das gesamte ehemalige Königreich Fes, also nicht nur das Rifgebiet zwischen Tanger und der Mündung des Muluja, sondern auch den nordwestlichen Küstenstrich am atlantischen Ozean mit den Städten Larasch und Rabat, sowie das dazugehörige Hinterland mit der H a u p t s t a d t Fes, während Frankreich das alte Königreich Marakesch zufiel. Mit der Versicherung, keine Eroberungen machen, sondern nur den afrikanischen Besitz in der günstigen Zeitlage zur Entwicklung bringen zu wollen, hatte Sagasta an der Spitze eines liberalen Ministeriums die Verhandlungen zu diesem *) Wir wissen von dieser Tatsache lediglich durch eine andeutende Enthüllung in der Budgetkommission des deutschen Reichstags. *) Vgl. die Veröffentlichung in der Pariser »Libre parole« vom 11. Mai 1911, die von der französischen Regierung für apokryph erklärt wurde, und im »Figaro« vom 10. November 1911. »Le correspondent« vom 25. Dezember 1903 hatte bereits Mitteilungen über den Vertrag gebracht.

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verheißungsvollen Abschlüsse geführt. Sein Rücktritt, der bald darauf wegen seiner Kirchenpolitik erzwungen wurde, und sein Tod im J a n u a r 1903 brachten jedoch Silvela und die Konservativen ans Ruder, und die neue Regierung wagte nicht den letzten Schritt zu tun und den Vertrag zu ratifizieren. Der Ministerpräsident begründete im folgenden Jahre selbst diese ängstliche Zurückhaltung damit: „ d a ß die diplomatische Hilfe Frankreichs als einzige Garantie zum Abschluß von Konventionen über die Meerengen-, küsten, ohne eine befreundete und interessierte Macht — d. h. England — daran teilnehmen zu lassen, in solchen Umständen unzureichend sei". Am 1. Februar 1903 wurden die Verhandlungen abgebrochen und das spanisch-französische Marokkoübereinkommen blieb Entwurf. Die günstige Gelegenheit war versäumt. Für Spanien ergab sich als selbstverschuldete Folge, daß alle Initiative in bezug auf die marokkanische Frage nunmehr an die beiden Großmächte überging, die sich in diesen Jahren auf der Basis ihres gemeinsamen Gegensatzes gegen Deutschland näherten. England, das nach Beendigung des südafrikanischen Krieges die Fäden der internationalen Politik wieder in seiner Hand vereinigte, war bereit, Frankreich das Scherifenland zu überlassen und die alte weltpolitische Nebenbuhlerschaft auf diese Weise zu beseitigen, um seinen Kampf gegen das machtvoll sich entfaltende Deutschland durchführen zu können, und Frankreich war zur Befriedigung seines Revanchedurstes bereit, diese Politik mitzumachen. So waren die spanischen Hoffnungen wieder auf Gnade und Ungnade den überlegenen Großstaaten ausgeliefert. Mehr denn je bedurfte der schwache Staat der Anlehnung. Aber zugleich suchten die über Europa sich erstreckenden Bündnissysteme Spanien an sich zu ziehen, und ein heftiger diplomatischer Kampf entbrannte zwischen den feindlichen Parteien um die Seele des Pyrenäenvolkes, an dem von Seiten des Dreibundes namentlich Deutschland teil-

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n a h m . Die öffentliche Meinung geriet in starke Erregung. Das romanische Gemeinschaftsgefühl wies auf eine Verbindung mit dem „stammverwandten" Frankreich, und wenn auch die antimonarchischen Bestrebungen der republikanischen Oppositionspartei und die separatistischen Neigungen Kataloniens der Regierung einen solchen Zusammenschluß nicht unbedingt begehrenswert machten, so war doch auch in den beiden dynastischen Parteien das lateinische Stammesgefühl sehr mächtig. Indessen auch f ü r Deutschland war manche Vorliebe vorhanden, nicht nur in der Volksmeinung, sondern vor allem in einer einflußreichen konservativen Hofpartei und an ihrer Spitze in König Alfons X I I I . , der nach Ablauf seiner Minderjährigkeit im Mai 1902 die selbständige Regierung angetreten hatte. Die Zusammenk u n f t , die Kaiser Wilhelm II. im März 1904 mit dem jungen Monarchen in Vigo hatte, und der auffällige Austausch von Ehrenerweisungen in den folgenden Monaten ließen die Bemühungen um eine Annäherung deutlich erkennen. Zu einem Anschluß Spaniens an den Dreibund, den die Republikaner bereits vollzogen glaubten, ist es jedoch keinesfalls gekommen, vielmehr handelte es sich für die deutsche Regierung wohl nur darum, die Verbindung des Pyrenäenstaates mit der werdenden Entente Frankreichs und Englands zu verhindern. Vergeblich. Das diplomatische Ringen endigte mit einem deutschen Mißerfolg. J e größere Anstrengungen Deutschland machte, um so eifriger war England bemüht, Spanien für das deutschfeindliche System zu gewinnen. Mit dem wirksamen Mittel freundschaftlich auftretenden, aber rücksichtslos geübten Druckes verstanden es König Eduard VII. und die Seinigen, sich die Regierung gefügig zu machen, und zumal der neue Botschafter Arthur Nicholson, der Vertraute des Herrschers und der rührige Betreiber des Einkreisungsverfahrens, erwarb sich darum große Verdienste. Man schloß am 8. April 1904 allein mit Frankreich das bekannte Abkommen, das

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Marokko der Republik als Einflußgebiet zuerkannte und dieser überließ, sich mit Spanien im weiteren zu verständigen. Man sorgte dafür, daß sich die Erregung der öffentlichen Meinung und zumal der Handelskreise in heftigen Protesten gegen die Regierung entlud. Man wandte sich schließlich gegen die Absicht der Madrider Staatsleitung, die Bucht von Algeciras und die Küsten Galiziens zu befestigen. Auf der anderen Seite ließ man jedoch mit durchsichtiger Berechnung in einem Geheimartikel des Marokkoabkommens mit Frankreich, der erst 1911 bekannt geworden ist 1 ) und der wahrscheinlich in Sonderabmachungen zwischen Spanien und England eine Vorgeschichte hat, das Rifgebiet f ü r Spanien als Einflußsphäre offen, nicht um dessen nationalen Interessen zu dienen, sondern um zu verhindern, daß auch die nordmarokkanischen Küstenstriche an der Straße von Gibraltar später von Frankreich in Besitz genommen wurden. Gegenüber etwaigen Bedrohungen durch das schwache Spanien aber wußte man sich durch die Bestimmung zu schützen, daß zwischen Melilla und dem rechten Ufer des Sebu keinerlei Befestigung an der Küste angelegt werden dürfe. Diese Politik der Peitsche und des Zuckerbrotes h a t t e vollen Erfolg. Spanien betrat den ihm von der E n t e n t e gewiesenen Weg. Es trennte sich von Deutschland und verständigte sich in dem Geheimvertrag vom 3. Oktober 1904 mit Frankreich über die Abgrenzung der marokkanischen Interessenzonen. 2 ) Die Wiederherstellung des Vertrags von 1902, der den natürlichen Grenzen Rechnung trug, konnte die Regierung zwar nicht mehr durchsetzen. Ihr Gewinn beschränkte sich auf das Gebiet vom atlantischen Ozean bis zur Mündung des Defla in den Muluja mit den Flußgebieten des Innauen, Kert, Sebu, Wergha und Lukkos ') Die Veröffentlichung erfolgte am 24. November 1911 durch den Temps«. ') Sein Wortlaut wurde am 8. November 1911 durch den »Matini bekanntgegeben.

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und im Süden Marokkos auf eine Erweiterung der Erwerbungen von 1860, deren tatsächlichen Besitz sie allerdings noch gar nicht angetreten hatte. Die wichtigeren nordmarokkanischen Städte Larasch, der natürliche Hafen von Fes, Elksar und Tetuan waren danach Spanien vorbehalten, und nur Tanger blieb, dem englischen Interesse entsprechend, als internationale Zone ausgeschlossen. Im übrigen mußte die spanische Regierung die zwischen England und Frankreich getroffenen Vereinbarungen anerkennen und somit auch das Verbot einer Befestigung der Küsten an der Straße von Gibraltar, ja sie ließ sich die von französischem Interesse diktierte Verpflichtung auferlegen, das Einflußgebiet oder Teile desselben niemals zu veräußern. Vor allem m u ß t e sie in eine auf 15 J a h r e festgesetzte Gemeinsamkeit mit der Republik in allen marokkanischen Fragen willigen, die von vornherein dem überlegenen Frankreich größere Vorteile sicherte als dem schwachen Spanien. Bezeichnenderweise wurde von einer Veröffentlichung dieses Geheimabkommens Abstand genommen und nur die Erklärung bekannt gegeben, daß eine französisch-spanische Verständigung zustande gekommen sei, die Spaniens Interessen in Marokko durchaus wahre. Das hatte seine ernsten Gründe. Denn wenn auch der Vertrag vom 8. April und die Erklärung vom 6. Oktober geflissentlich die Absicht der Kontrahenten betonten, an der Integrität Marokkos festhalten zu wollen, so bedeuteten diese Sonderabmachungen zwischen den drei Mächten doch eine Verletzung der internationalen Bestimmungen des Madrider Kongresses von 1880. Indem sich Spanien, dem Drucke Englands nachgebend, der gegen Deutschland gerichteten Sonderpolitik der Entente anschloß, machte es sich mitschuldig an dem Einkreisungssystem und an der von England angeordneten Verteilung der Erde. Der Standpunkt an der Seite der beiden westeuropäischen Großmächte war genommen. Aber nicht ohne Zögern und Schwanken hat Spanien die neue Richtung verfolgt. Die

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deutschfreundliche Hofpartei brach ihre Beziehungen nicht ab, und es ist gewiß bedeutsam, daß die beiden Geheimverträge vom 8. April und 3. Oktober aus Madrid der deutschen Regierung bekannt wurden; ja es scheint, daß die Fahrt Wilhelms II. nach Tanger, die die berechtigten Ansprüche Deutschlands auf einen Anteil an der Regelung der marokkanischen Frage zum Ausdruck brachte, nicht ohne das Einverständnis mit jener Partei erfolgte. Die öffentliche Meinung, die lediglich durch die andeutende Erklärung vom 6. Oktober von den wichtigen Vorgängen Kenntnis erhalten hatte, erging sich in Vermutungen und Befürchtungen, die der Regierung vielfach wenig günstig waren. Die Sorge ließ sich nicht von der Hand weisen, daß man sich allzusehr an Frankreich gebunden hatte, und wenn auch die große Mehrheit des Volkes an der aktiven Marokkopolitik festhielt, so sahen doch urteilsvolle Politiker die Gefahr, daß Spanien unfreiwillig einem fremden Interesse dienstbar gemacht wurde. Trotzdem war in der zwischen Deutschland und Frankreich ausbrechenden Krise der Regierung der Weg klar vorgezeichnet. Nachdem sie einmal die Partei der Entente gewählt und sich der einseitigen Entscheidung über das Scherifenland angeschlossen hatte, konnte sie nicht der Macht zur Seite treten, die namens der internationalen Verträge gegen diese Sonderabmachungen Einspruch erhob. So hatte sie keinen Anlaß, sich einem neuen Geheimvertrag zu entziehen, den Frankreich in Vorschlag brachte und der die Verständigung des Vorjahres befestigte 1 ). Das Abkommen vom 1. September 1905, das die zuvor getroffenen wirtschaftlichen Vereinbarungen genauer auslegte und ergänzte, band Spanien noch enger an die Entente und bestimmte seine Haltung auf der in Aussicht genommenen Konferenz, die die marokkanische Streitfrage beilegen sollte. *) Auch der Wortlaut dieses Geheimvertrags wurde erst im An' Schluß an die Enthüllungen des »Matin« 1911 bekannt. H e r r e , Spanien und der Weltkrieg.

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Tatsächlich bewährte sich diese Solidarität Spaniens mit den E n t e n t e m ä c h t e n in den Verhandlungen von Algeciras. Nicht als ob die spanische Diplomatie bedingungslos dem Vorgehen Englands und Frankreichs gefolgt wäre. Sie wachte über das besondere Interesse ihres Staates. J a , sie wies ein allzu herrisches A u f t r e t e n der französischen Diplomatie in die Schranken, und im Z u s a m m e n h a n g mit solchen Meinungsverschiedenheiten griff zeitweilig in der Delegation eine auffällige Entzweiung Platz, die auf die Einwirkungen der konservativen Madrider G r u p p e zurückgehen dürfte. Namentlich in der Frage der Hafenpolizei trennten sich die beiden marokkanischen Partner, und m i t Hilfe Deutschlands sicherte sich Spanien einen erheblichen Anteil an dieser f ü r die spätere Stellung in Marokko bedeutungsvollen Organisation, den ihm Frankreich eifersüchtig und mißtrauisch vorenthalten wollte. Dagegen hielten die beiden Vertragsmächte in der Frage der m a r o k k a nischen Staatsbank und der Verteilung der französischen und spanischen Instrukteure auf die Hafenplätze z u s a m m e n , und in voller B e h a u p t u n g der formalen Gleichberechtigung Spaniens mit Frankreich konnte die Diplomatie den Kongreß verlassen. Die Algecirasakte vom 7. April 1906 bezeichnet einen großen äußeren Erfolg der spanischen Politik. Denn obschon die Souveränität des Sultans, die Integrität Marokkos und die gleichmäßige Handelsfreiheit aller Völker von n e u e m ihre internationale Bestätigung erhalten h a t t e n , so war doch anderseits mit Deutschlands und seiner V e r b ü n d e t e n Einverständnis die besondere Stellung Frankreichs und Spaniens im Scherifenlande um so fester geworden, u n d die französische Republik h a t t e trotz aller Bemühungen keinen Vorsprung gewinnen können. Die spanischen P a t r i o t e n sahen darüber hinweg, unter welchen Bedingungen dieses Ergebnis zustande gekommen war und an welche Voraussetzungen es gebunden blieb. Sie ließen die d e m ü t i g e n d e Tatsache in den Hintergrund treten, d a ß durch die I n t e r -

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nationalisierung Tangers nun auch in der marokkanischen Einflußzone Spaniens ein neues Gibraltar geschaffen worden war, das die Diktatur Englands bedeutete. Voll Selbsttäuschung gaben sie sich der Gewißheit hin, daß die enge Verbindung mit den westeuropäischen Mächten Spanien gute Früchte eintrage. Die diese Erfolge ernteten, waren die Liberalen, als handelnde Persönlichkeiten der Minister des Auswärtigen Herzog von Almodovar und der Botschafter in Paris Leon y Castillo. Konservative und Liberale waren sich in der Verfolgung einer aktiven Marokkopolitik durchaus einig. Eine konservative Regierung hatte den Vertrag von 1904 unterzeichnet, liberale Ministerien hatten den Vertrag von 1902 betrieben, den von 1905 abgeschlossen und nun in der Algeciraskonferenz die spanischen Interessen glücklich vertreten. Die eigentliche Initiative aber hatten die Liberalen, sie vor allem waren die Träger der Anlehnung an England und Frankreich. Jetzt nach der Schließung des Kongresses triumphierte die liberale Aktionspartei, und mit vollen Segeln steuerte Spanien in dem Fahrwasser der Ententemächte. Es war die Blütezeit einer spanisch-französischen Gemeinschaft in Marokko, die Blütezeit auch eines Freundschaftsverhältnisses mit England. Unter englischer Vermittelung kam damals die Vermählung des jungen Herrschers mit der Prinzessin Viktoria von Battenberg zustande, der Nichte König Eduards VII., der mit der Vollziehung dieses Ehebundes einen seiner bedeutendsten persönlichen Erfolge erzielte. Zugleich brach man nach acht Jahren des Grolls und der Zurückhaltung auch gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika mit der Vergangenheit und ging im Juli 1906 einen Handelsvertrag mit der Union ein. Die Krönung dieser Politik aber war das Abkommen von 1907, das die bisherigen Vereinbarungen auf eine noch breitere Basis stellte. 3»

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A m 8 . April 1907 trafen sich E d u a r d V11. und Alfons X I I I . im Hafen von Cartagena. Es ist u n b e k a n n t geblieben, welches die Gegenstände ihrer Beratungen waren, aber die identischen Erklärungen, die a m 16. Mai England, F r a n k reich und Spanien untereinander austauschten, lassen zusammen mit Zeitungsmeldungen sichere Rückschlüsse zu. Es handelte sich u m nicht mehr und nicht weniger als um eine weitergehende Einfügung Spaniens in das Einkreisungssystem. Indem die drei Partner zum Ausdruck brachten, im atlantischen und Mittelmeerbereiche den S t a t u s quo erhalten zu wollen, und indem sie sich im Falle neuer Umstände, die von der Gegenseite nicht zu erwarten waren, zur Verständigung über gemeinsam zu ergreifende Maßnahmen verpflichteten, w u ß t e n die Feinde Deutschlands das unbeteiligte Spanien f ü r nichts an sich zu ketten, ohne d a ß dieses zur Klarheit gelangte, in welche Gefahr es sich d a m i t begab. J a , es scheint auf König E d u a r d s Einwirkung zurückzugehen, d a ß Spanien den Beschluß faßte, die Häfen Ferrol, Cartagena und Cadiz zu befestigen und die Flotte zu reorganisieren, die im Ernstfalle der E n t e n t e zur Verf ü g u n g stehen sollte. Die Madrider Regierung aber, die damals konservativ war, konnte m i t der Zusicherung einer finanziellen U n t e r s t ü t z u n g seitens Englands die Gelegenheit benutzen, die Verteidigungsmittel des Landes zu vermehren, und tatsächlich wurde das Flottengesetz, das neben der Befestigung der Häfen den Bau von 3 Linienschiffen, 3 Zerstörern, 24 Torpedobooten und 4 Kanonenbooten vorsah, am 30. Dezember 1907 mit der Z u s t i m m u n g sämtlicher Parteien außer den Republikanern und Sozialisten von den Cortes angenommen. Der Ministerpräsident Maura, der Silvela als Führer der Konservativen gefolgt war, begründete es mit der Erklärung: Spaniens Politik ziele auf die Erhalt u n g des Friedens, auch in Marokko, und es werde, weil allein zu schwach, stets im Bunde mit anderen Mächten zu stehen streben. Aber die augenblicklich sich bietende Ge-

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legenheit müsse b e n u t z t werden, u m an der Landesverteidigung zu arbeiten. Gleichzeitig suchte sein Sohn Gabriel Maura, der die Politik des Vaters publizistisch v e r t r a t , vor Deutschland die V e r b i n d u n g Spaniens mit den E n t e n t e m ä c h t e n zu rechtfertigen. Seine Darstellung gipfelt in dem Nachweis, d a ß Spanien auf die guten Beziehungen zu England und Frankreich angewiesen sei, während solche zum Deutschen Reiche ihm wenig Nutzen b r ä c h t e n : „ I n der Politik haben Spanien und Deutschland wirklich kein solidarisches Interesse (außer dem allgemeinen des Friedens), nicht weil die beiden Nationen im Gegensatz zueinander ständen, sondern weil sie nicht gemeinsamer Art sind" 1 ). Es ist von Bedeutung, daß die abschließenden Schritte nicht von Seiten einer liberalen Regierung erfolgten, sondern von Seiten einer konservativen. Die von den nationalen Wünschen getragene Prestigepolitik h a t t e auch die konservative Partei so weit in Banden geschlagen, d a ß sich nach außen ein Regierungswechsel auf der Grundlage des Schaukelsystems f o r t a n nicht mehr gegensätzlich bemerkbar machte, wenn auch der eigentlich imperialistische Antrieb Sache der Liberalen blieb. Die durch und durch unrealpolitische Auffassung, die aus dem Urteil des jungen Maura spricht, beherrschte das Volk. Ohne an die Erfordernisse der inneren Politik zu denken, die Vorbedingung der Machtstellung nach außen blieben, ohne sich der schwankenden Grundlage ihrer äußeren Erfolge b e w u ß t zu werden, e r t r ä u m t e n die Spanier die Wiederherstellung der einstigen W e l t m a c h t stellung. Nur eine Partei begann Ober die Gefahren Klarheit zu gewinnen, die den staatlichen Interessen mit der Verfolgung einer einseitigen Bündnispolitik drohten. Weniger freilich aus der sicheren Erkenntnis der politischen Lage, als aus der doktrinären Abneigung gegen die beiden liberalen W e s t m ä c h t e und ein wenig auch d a n k dem Gegensatz gegen die Dynastie, die der englischen so n a h e gekommen war, *) Deutsche Revue, Band 37, S. 18.

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entfalteten die Karlisten ihr Banner zum erbitterten Kampfe gegen England, und eine Schrift wie die J . J u s t Llorets „Inglaterra arbitra de Espafia" (Madrid 1906), die unter dem Eindrucke der Algecirasverhandlungen entstand, bildete eine einzige Anklage gegen die britische Diktatur. „An dem Niedergang und der Armut Spaniens darf man nicht allein den schlechten Regierungen schuld geben: England hat nahezu die ganze Schuld an den Übeln, die aus Spanien eins der elendesten Länder der Welt gemacht haben." Wirksamer noch vertrat auf dem politischen Forum Vasquez de Mella diese Anschauungen, der sich in den folgenden Jahren dank seiner Rednergabe zum karlistischen Führer emporschwang. Solchen Politikern war Nordmarokko ein Danaergeschenk, an dessen Besitz sie sich nicht erfreuen konnten. Die große Mehrheit des spanischen Volkes aber billigte die Marokko- und Bündnis-Politik der Regierung. Und schnell wuchsen die nationalen Ziele über den nordafrikanischen Bereich hinaus. In der praktischen Politik traten die paniberischen Bestrebungen in diesen Jahren freilich ein wenig zurück, aber als ideelle Hoffnungen lebten sie ungeschwächt fort, und das liberale Parteiprogramm vom 24. J a nuar 1903 forderte ausdrücklich eine Verengerung der Beziehungen Spaniens zu Portugal. Vor allem entfalteten sich nach dem Verlust der amerikanischen Kolonien Bestrebungen nach einer Verbindung des spanischen Mutterlandes mit den stammverwandten Republiken in Mittel- und Südamerika auf neuer Grundlage. Noch im November 1900 tagte in Madrid unter dem Vorsitze des Herzogs von Almodovar ein iberisch-amerikanischer Kongreß, der die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der lateinischen Völker Amerikas zur Abwehr der nordamerikanischen Monopolisierungsneigungen betonte und Spanien die neue Zukunftsaufgabe einer geistigen Führerschaft zuerteilte. Und die Thronrede im Sommer des folgenden Jahres gab

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den Cortes kund, daß die Regierung beschäftigt sei, die Beziehungen zu den einstigen Kolonien enger zu gestalten. Diese weitreichenden ideellen Ziele ergriffen immer stärker von Staat und Volk Besitz. In der Wirklichkeit aber suchte Spanien unselbständig und ohne ernstes innerstaatliches Schaffen in enger Anlehnung an übermächtige Bundesgenossen und in völliger Abhängigkeit von diesen einen äußeren Ersatz für den unrühmlich verloren gegangenen Kolonialbesitz: im Zukunftshoffen sah es sich als das H a u p t einer neuen Völker- und Staatengemeinschaft, in deren Bereich die Sonne nicht unterging. Auch in unseren Tagen könnte ein Cervantes in seinem Heimatlande den Stoff für einen Don Quijote finden und in bangender Liebe und bitterem Spott seinen Landsleuten einen Spiegel vor die Augen halten.

V.

Auswärtige Politik 1907—1914. Der Zeit der Zufriedenheit folgten Jahre der Ernüchterung und Enttäuschung. Durch die Abkommen von 1904 und 1907 und durch die Algecirasakte von 1906 waren Spanien und Frankreich für Marokko aneinandergebunden; vor 1919 durfte keiner der beiden Partner in seiner Einflußzone selbständig handeln. Tatsächlich beobachteten sie zunächst die vorgeschriebene Gemeinsamkeit. Aber sehr bald erwies sich, daß ihre Interessen keineswegs identisch waren. Frankreich zeigte sich, gestützt auf sein Bündnis mit Rußland und England, allen internationalen Abmachungen zum Trotz entschlossen, seine Stellung im Scherifenlande rücksichtslos auszubauen; Spanien dagegen war geneigt, sich streng an die internationalen Bestimmungen zu halten. Im unbezähmbaren und beinahe nervösen Drange zu handeln, begann die Republik deshalb allein ihren Weg zu gehen, ohne sich mit dem weniger aktiven Vertragsgenossen ins Einvernehmen zu setzen. Es kam zu Meinungsverschiedenheiten zwischen den staatlichen Organen, zu selbständigen Unternehmungen in der französischen Einflußsphäre, und schließlich tat die Pariser Regierung den unerlaubten Schritt, mit Deutschland das Abkommen vom 9. Februar 1909 abzuschließen, das unter Erneuerung der wirtschaftlichen Offenhaltung Marokkos Frankreich die Anerkennung besonderer politischer Interessen am Atlas eintrug. Das war für Spanien das Signal, seinerseits selbständig vorzugehen. Der imperialistische Gedanke siegte. Die Ma-

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drider Staatsleitung erklärte sich vorzubehalten, dem f r a n zösischen Vertrage m i t dem Deutschen Reiche einen spanischen an die Seite zu stellen, und setzte dem französischen Vorgehen in der S c h a u j a ein spanisches im Rifgebiet entgegen. Dieser Schritt war nicht ohne Bedenken, denn er widersprach dem ursprünglichen Ziel einer friedlichen Durchdringung und legte dem armen Lande Opfer an Blut und Geld auf, bevor noch irgendein Gewinn aus dem zukünftigen Kolonialgebiet gezogen war. Aber im Sinne der v o l k s t ü m lichen Prestigepolitik war er unvermeidlich. Allerdings stieß der Entschluß der konservativen Regierung zugunsten einer militärischen U n t e r n e h m u n g bei Melilla auf den Widers t a n d der liberalen Opposition, indessen würde man fehlgehen, wollte man ihn auf eine Schwenkung der liberalen Partei zurückführen. Man b e k ä m p f t e Mauras Marokkopolitik nur um seiner inneren reaktionären Politik willen. Als es im Oktober 1909 gelungen war, ihn zu stürzen, setzten die liberalen Ministerien Moret und Canalejas die eben abgelehnte Politik der militärischen Aktion fort und b r a c h t e n sie zu einem günstigen Abschluß. Zum Mißfallen F r a n k reichs verstand es die neue Regierung, den Maghzen zur A n e r k e n n u n g des Rechtes der Expedition, d. h. zur Z a h l u n g der Kosten zu bewegen, die freilich sich über 75 J a h r e erstreckte. Zugleich verschaffte der Vertrag vom 16. Nov e m b e r 1910 Spanien eine tatsächliche Gebietserweiterung bei Melilla und die bestimmte Zusicherung des Sultans, die Feststellung und Abgrenzung des 1860 erworbenen Gebietes von Santa Cruz, f ü r das man sich endlich zu interessieren begann, bis z u m 1. Mai 1911 vorzunehmen. Obschon das getrennte militärische Vorgehen F r a n k reichs und Spaniens in ihren Einflußzonen das Einvernehmen zwischen den Vertragsgenossen erheblich gestört h a t t e , so hielten die beiden Mächte doch formal die Vereinbarungen a u f r e c h t und gaben nach außen sich das Ansehen, als verf ü h r e n sie lediglich innerhalb der Bestimmungen der Alge-

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cirasakte. All das war nach der sog. „Strafexpedition" gegen Fes nicht mehr möglich, zu der die französische Regierung im März 1911 schritt, ohne der spanischen davon die geringste Kenntnis zu geben. Sie bedeutete den schroffen Bruch aller Vereinbarungen, und die Spanien damit bezeugte Nichtbeachtung schloß alle Parteien bis auf die Sozialisten zur Wahrung der staatlichen Würde zusammen. Canalejas ging höchst geschickt zu Werke. Er erhob zunächst gegen das Geheimabkommen vom 10. April Einspruch, das Frankreich dem Sultan oktroyiert hatte, und versuchte dann in Paris die Auffassung zur Anerkennung zu bringen, daß die im Grundvertrage von 1904 versprochene zweite Phase selbständigen Handelns in den getrennten Einflußzonen nicht erst 1919, sondern bereits 1911 ihren Anfang nehme; das wurde von Frankreich zurückgewiesen. Nunmehr beschloß er unter dem Beifall des Volkes zur Sicherung des spanischen Anteils seinerseits eine Unternehmung, indem er sich auf die Verträge und die durch das französische Vorgehen hervorgerufenen Wirren in der eigenen Einflußsphäre bezog, und stellte sie als eine den Abmachungen entsprechende Unterstützung des Vertragsgenossen hin. Selbst die Republikaner stimmten dieser Expedition zu unter dem Vorbehalt, daß es sich nicht um einen Eroberungskrieg handele. Im Mai und Juni wurden Larasch und Elksar, die beiden wichtigsten Städte im westlichen Teil der spanischen Zone, besetzt; Englands Mahnungen zur Vorsicht blieben unbeachtet. Anfang September wurde auch von dem südmarokkanischen Hafen Ifni Besitz ergriffen, der mit dem 1860 erworbenen Santa Cruz identifiziert und noch immer nicht Spanien übergeben worden war. Das zwischen Anerkennung und Protest verlegen hin- und herschwankende Frankreich mußte sich schließlich damit abfinden, daß der Partner der Marokkoverträge, den es immer wieder in den Hintergrund zu schieben trachtete, ihm gleichwertig zur Seite blieb. Unter dem 26. Juli verständigten sich die beiden Regie-

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rungen zu S. Sebastian auf der alten Grundlage, indem sie hinsichtlich der zwischen den militärischen Behörden in Nordwestmarokko ausgebrochenen Differenzen einen modus vivendi schufen. Das entschiedene und erfolgreiche Auftreten Spaniens wie die auffällige Nachgiebigkeit Frankreichs hatten eine gleichzeitige Parallelaktion zur Voraussetzung: den Einspruch Deutschlands gegen das französische Vorgehen. Mit großer Genugtuung h a t t e die öffentliche Meinung die Entsendung des „ P a n t h e r " nach Agadir aufgenommen: man fühlte sich nicht mehr vereinsamt gegenüber der anmaßenden Politik Frankreichs und sah sich durch das deutsche Eingreifen Spaniens Stellung außerordentlich gestärkt. Man hat an eine ausdrückliche Gemeinsamkeit der deutschen und spanischen Aktion gedacht. Wenn sich auch darüber heute noch nichts feststellen läßt, so erscheint sie doch geradezu ausgeschlossen. Allerdings hatte die spanische Unternehmung in Nordmarokko gegenüber der französischen einen besonderen Charakter, aber auch sie war vor den internationalen Bestimmungen der Algecirasakte nicht gerechtfertigt und hätte wie die französische Deutschlands Protest auf sich lenken können. Die deutsche Regierung beschränkte sich jedoch auf die Auseinandersetzung mit Frankreich, weil sie lediglich die Wahrung des weltpolitischen Interesses im Auge hatte. Sie ließ deshalb Spanien völlig aus dem Spiele und schloß am 4. November mit Frankreich allein das Abkommen, das die Marokkofrage im weltpolitischen Sinne endgültig regelte. Sie gab unter Sicherstellung der zukünftigen wirtschaftlichen Interessen Deutschlands der Republik das Scherifenland frei und gewann dafür eine Gebietsentschädigung im französischen Kongo. In einem Zusatzvertrag erwarb sie auch das Vorkaufsrecht für Spanisch-Guinea, das nunmehr ganz von deutschem Gebiet umgeben war, und verpflichtete sich demgegenüber, von etwaigen spanischfranzösischen Verhandlungen über Marokko fernzubleiben.

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Nur eine aus der Weltlage erwachsene Parallelität also hatte Deutschland zu einem Verbündeten Spaniens gemacht, nicht eine ausdrücklich fixierte Interessengemeinschaft. Aber es war von großer Bedeutung, daß Volk und Regierung Spaniens klar erkannten, welchen Gewinn man aus dem Dasein und Lebensdrange der starken germanischen Großmacht zog, die sich gegenüber der englischen Diktatur und der französischen Überhebung als Weltstaat durchzusetzen suchte. Freilich: das Deutsche Reich ging seine eigenen Wege, wie es sein Recht war, und überließ es Spanien, sich mit Frankreich zu verständigen. Man war von neuem isoliert und den Verbündeten auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Die Freimachung Marokkos als Kolonialland hatte Opfer gekostet, und die französische Regierung stellte sich auf den Standpunkt, daß Spanien zu ihnen beitragen müsse, da es ja auch an dem von Frankreich erreichten Gewinn teilhabe. Indessen die Forderung einer nachträglichen Entschädigung in Gestalt einer Abtretung marokkanischen Gebietes stieß in Madrid auf schroffen Widerstand. Frankreich antwortete mit drohenden und herabsetzenden Worten, und eine ernste Spannung griff Platz. In dieser gefährlichen Lage erwuchs Spanien ein neuer Helfer in England. Aus den Gründen, die schon 1904 sein Eintreten zugunsten des spanischen Interesses bestimmt hatten, schränkte es die französische Forderung ein und sorgte dafür, daß die Spanien aufzuerlegenden Opfer möglichst bescheiden blieben, denn bei aller Ententefreudigkeit lag ihm daran, Frankreichs Einfluß nicht allzu nahe an die Straße von Gibraltar heranrücken zu lassen. So näherten sich unter britischer Vermittelung die beiden Partner Schritt für Schritt und nach zehn Monaten heftiger Entfremdung schlössen sie am 27. November 1912 den Auseinandersetzungsvertrag ab, der Spanien nicht ungünstig war. Seine Gebietsabtretung erstreckte sich auf den südmarokkanischen Küstenstrich, von dem es

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nur Ifni mit einem kleinen Stadtbereich behielt, und im Norden auf einen Teil des Werghatales sowie auf Grenzberichtigungen am Muluja und Lukkos. Im Sinne der deutschen Konzessionen, denen sich die übrigen Signatarmächte der Algecirasakte anschlössen, wurde die finanzielle und administrative Autonomie der beiden Zonen festgesetzt, und die Verständigung über die zu bauende Bahn Tanger-Fes, an der 6 0 % französisches und 4 0 % spanisches Kapital beteiligt sein sollte (wovon nur je 4 % ans Ausland vergeben werden können), krönte das Werk 1 ). Mit 216 gegen 22 republikanischsozialistische Stimmen wurde das Abkommen im spanischen Parlamente angenommen. Das Dekret vom 27. Februar 1913 richtete schließlich die Verwaltungsorganisation in Nordmarokko ein, die noch heute besteht. Durch die Besetzung Tetuans und der benachbarten Gebiete und durch ein Vordringen am Muluja und Kert wurde die spanische Herrschaft erweitert, so daß sie sich heute auf 1600 Quadratkilometer erstreckt. Aber die dauernde Behauptung des Landes war nur mit einem erheblichen militärischen Aufwand möglich, und die Unterhaltung des Besatzungsheeres von 80000 Mann bedeutete eine gefährliche Schädigung der spanischen Finanzen. Um seiner marokkanischen Interessen willen h a t t e Spanien trotz aller Zwistigkeiten an der Seite seiner Verbündeten ausgehalten. Äußerlich war das afrikanische Ziel, wenn auch nicht in idealer Verwirklichung, erreicht. Aber während die Verhandlungen um Marokko die Mächte noch in Anspruch nahmen, gewannen die nationalen Wünsche des spanischen Volkes einen zweiten Augenpunkt. Die im Oktober 1910 in Portugal ausgebrochene Revolution, die den ') Die Ordnung dieser Bahnangelegenheit war von besonderer Wichtigkeit, weil die „lettre explicative" Kiderlen-Wächters zum deutsch-französischen Abkommen vom 4. November 1911 zur Bedingung machte, daß vor der Ausführung der Linie Tanger—Fes keine andere Bahn auf marokkanischem Boden gebaut werden durfte.

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Sturz des Königtums und eine furchtbare Verwirrung der inneren Verhältnisse zur Folge hatte, ließ die etwas eingeschlafenen paniberischen Bestrebungen plötzlich zu neuem Leben erstehen. Im ersten Rausch der sich gestaltenden Zukunftshoffnungen dachte die Regierung zeitweilig an ein militärisches Eingreifen, zu dem die Erfolge in Nordmarokko lockten, und das wegen der Gefahr einer Stärkung der republikanischen Bestrebungen auf der Halbinsel geboten schien; wenn wir einer Mitteilung der Correspondencia de España glauben dürfen, hat der spanische Generalstab damals einen Plan zur Besetzung Portugals ausgearbeitet. Glücklicherweise setzten sich diese Pläne nicht in die T a t um, aber mit größter Aufmerksamkeit verfolgten Regierung und Volk die Vorgänge im pyrenäischen Nachbarlande, und immer klarer formte sich das Ziel, auf einem Wege, den Zeit und Umstände empfahlen, die ersehnte und für die beiden iberischen Völker so nützliche Einheit zu verwirklichen. Vollends diese Aufgabe aber bedurfte der internationalen Vorbereitung, und die Erledigung der Marokkoangelegenheit hatte gelehrt, auf welche Weise das am besten geschah. Wieder eilten die nationalen Begierden Spaniens der Wirklichkeit voraus, die den Weg der „moralischen Eroberung" wies, wie ihn andere Völker in dieser Lage gegangen sind. Auch die paniberische Politik Spaniens war und blieb ein gut Teil Prestigepolitik. So begann eine neue Zeit des Umwerbens und sich Umwerbenlassens. Die Regierung ließ erkennen, wohin ihr Blick gerichtet war, und nahm entsprechende Anträge entgegen, um schließlich ihrerseits Fühlung zu nehmen. Am nächsten lag, die Verbindung mit England und Frankreich, die ohnehin die am meisten interessierten Mächte waren, durch den ausdrücklichen Eintritt in die Entente zu verengern und sich dafür Vorrechte in bezug auf Portugal zu sichern. In der T a t bewies der Besuch, den der englische Kriegsminister Seely Anfang März 1913 der spanischen H a u p t s t a d t abstat-

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tete, daß Verhandlungen dieser Art aufgenommen wurden. Aber es scheint nicht, daß die beiden westeuropäischen Großmächte sogleich geneigt waren, auf die spanischen Wünsche einzugehen, und Canalejas' Nachfolger Graf Romanones erläuterte in dem Regierungsblatt, der „ E p o c a " , den Vorgang sehr bedeutsam: „Wir sind aufmerksam auf alles, was man sagt; wir suchen eine Orientierung, aber nichts weiter." Mit kluger Berechnung fragte man deshalb auch im Gegenlager an, indem man sich durch das in einer Zwischenstellung befindliche Italien dem Dreibunde näherte. Wir sind über die Verhandlungen, die damals zwischen dem italienischen Minister des Auswärtigen Marchese di San Giuliano und dem spanischen Gesandten am Quirinal Gena geführt worden sind, bisher nicht unterrichtet, aber eine Erklärung San Giulianos in der römischen Kammer läßt erkennen, daß es sich um den Abschluß einer Entente Italiens und Spaniens auf der Grundlage einer Mittelmeergemeinschaft gehandelt hat, und zumal in Frankreich wurde die Angelegenheit mit dem größten Mißtrauen verfolgt. Ein amtliches Communiqué versicherte dann freilich, daß die Verhandlungen sich lediglich auf eine Vereinbarung betreffend den nordafrikanischen Besitz der beiden Staaten bezögen, und wirklich enthielt der Vertrag vom 6. Mai 1913 nur das gegenseitige Zugeständnis Italiens und Spaniens, in den für Libyen und Spanisch-Marokko zu ergreifenden Maßnahmen einander kein Hindernis zu bereiten und den Untertanen die Meistbegünstigung zu gewähren. Es unterliegt keinem Zweifel, daß zwischen der Einleitung der weitgreifenden spanischen Verhandlungen mit Italien und ihrem beschränkenden Abschlüsse eine Schwenkung der französischen und englischen Politik anzusetzen ist. In der Sorge, daß der Pyrenäenstaat, auf den wegen seiner geographischen Lage doch große Rücksicht zu nehmen war, sich vielleicht dem feindlichen Bündnissystem anschloß, zeigten sich die beiden Westmächte nunmehr bereit,

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d e m Verlangen Spaniens R e c h n u n g zu tragen. Demgemäß brach die Madrider Regierung ihre Verhandlungen mit Italien a b und näherte sich der E n t e n t e . Wieder sprach das romanische Gemeinschaftsgefühl ein gewichtiges W o r t , und Graf Romanones und seine Freunde entschieden sich, ihren Neigungen folgend, f ü r Frankreich, das inzwischen geschickt in Madrid den Boden bereitet h a t t e . A n f a n g Mai begab sich König Alfons nach Paris und tauschte mit dem Präsidenten der Republik Trinksprüche aus, die der Welt die völlige Beseitigung der aus der O r d n u n g der Marokkofrage entstandenen E n t f r e m d u n g verkündeten. Im Herbst fiel die Entscheidung. Ende September fanden anläßlich des Besuches des französischen Ministerpräsidenten Barthou in San Sebastian die grundlegenden Besprechungen über die neue Verbindung Spaniens mit Frankreich u n d England s t a t t , und schon fiel vor der Öffentlichkeit das W o r t von der Notwendigkeit, eine engere endgültige und allgemeine Einigung herzustellen. Es folgte einige Tage später der Besuch des Generals Liautey, des Generalresidenten FranzösischMarokkos, in der spanischen H a u p t s t a d t , der zu lebhaften Erörterungen in der Presse Anlaß gab. Am 7. Oktober erschien dann Poincaré, der Präsident der französischen Republik, selbst in Madrid, und die mehrtägigen Feierlichkeiten gipfelten in einer Flottenparade, die a m 10. Oktober in Cartagena s t a t t f a n d und an der auch ein englisches Schiff teilnahm. Noch brachten die Tischreden in Madrid keine andere Gemeinschaft zum Ausdruck, als sie im F r ü h j a h r von Paris aus verkündet worden war, und aus dem romanischen Wortschwall klang nur die H o f f n u n g auf die Verenger u n g der Beziehungen zum Bündnis entgegen. Aber eben die Verhandlungen dieser Tage f ü h r t e n die Dinge weiter. Denn das Communiqué, auf das sich die Minister in Cartagena einigten, stellte nicht nur die völlige Ü b e r e i n s t i m m u n g der beiderseitigen Politik auf der Grundlage der Übereinkommen von 1904, 1907 und 1912 fest, sondern wies aus-

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drücklich auf die „Gefühle der herzlichen Entente und Freundschaft, die den Interessen wie Neigungen und Bedürfnissen der beiden Völker entsprechen". „Diese Grundsätze werden eine ganz natürliche Anwendung finden sowohl in der allgemeinen Politik der Regierungen von Paris und Madrid, wie in den besonderen Fragen, die sich an das Werk knüpfen, das sie in Marokko vollenden." Die öffentliche Meinung Spaniens nahm diese Mitteilung nicht ohne starke Bedenken auf. Das Communiqué ließ erkennen, daß eine neue Verständigung über ein gemeinsames Vorgehen in Marokko zustandegekommen war, die unter Abschaffung oder Beschränkung des fremden Schutzrechtes und der fremden Konsulargerichtsbarkeit den Ausbau des Protektorats zum Ziele hatte, die auch eine Regelung der internationalen Verwaltung Tangers umschloß. Es ließ auf eine handels- und verkehrspolitische Annäherung Spaniens und Frankreichs schließen, an der beide Länder ein gleiches Interesse hatten. Es ließ im Sinne der „Anwendung" der Grundsätze herzlicher Freundschaft vor allem eine politische Gemeinsamkeit im Mittelmeer und in Europa überhaupt erwarten, die Spanien zwar nicht zum vertragmäßigen, wohl aber zum tatsächlichen Verbündeten Frankreichs und Englands machte. J a , in Verbindung mit der Reise, die König Alfons Mitte November nach London und Paris führte, tauchte die bestimmte Behauptung auf, daß Spanien noch weitere Verpflichtungen eingegangen sei: es soll sich damals durch schriftlichen Vertrag anheischig gemacht haben, sein Heer auf 200000 Mann zu bringen und es im Ernstfall zum Teil England zur Verfügung zu stellen, falls Malta und Gibraltar entblößt werden m ü ß t e n ; seine Flotte aber so zu verstärken, daß sie acht Tage lang sich gegen einen Angriff halten könne. 1 ) Es ist nicht möglich, die Richtigkeit dieser Meldung nachzuprüfen; sie läßt sich mit der Vgl. Gottlob Egelhaaf: Historisch-politische für 1913 (Stuttgart 1914) S. 141. H e r r « , Spanien und der Weltkrieg.

Jahresübersicht 4

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uns bekannten Tatsache einer englisch-französischen Flottenverständigung wohl vereinbaren. Jedenfalls bedeutet das Übereinkommen von Cartagena den faktischen Beitritt Spaniens zum Dreiverband. Welches aber, so fragte man im In- und Ausland, waren die Vorteile, die sich Spanien als Gegenleistung für diese Parteinahme im Spiele der internationalen Politik vers c h a f f t e ? Die Correspondencia de España brachte einige Tage später die Aufklärung. Eine Geheimklausel über Portugal stellte den Preis dar, der Spanien für den Anschluß an die Politik des Dreiverbandes gezahlt wurde. Sie enthielt die Zusicherung, daß im Falle einer Intervention Europas in der westpyrenäischen Republik die politischen Interessen, die geographische Lage und die geschichtliche Vergangenheit Spaniens in Betracht gezogen würden. Seitens der Regierung wurde lediglich in mißdeutiger Weise in Abrede gestellt, daß die Frage einer Einmischung in die portugiesischen Verhältnisse in Cartagena erörtert worden sei: sicherlich war das Zugeständnis, wie unsere Darlegung erwiesen haben dürfte, die entscheidende Vorbedingung f ü r die bedeutungsvolle Bindung. Freilich blieb die Frage offen, ob jene Klausel mit ihrem dehnbaren Inhalt so weit verpflichtend für die Entente war, wie das nationale Interesse Spaniens es forderte. Ein liberales Ministerium h a t t e diesen Schritt getan, der für die zukünftige Stellung Spaniens von größter Tragweite werden konnte. Zwei Wochen später mußte es aus innerpolitischen Gründen einer konservativen Regierung den Platz räumen. Bei seinem Rücktritt versicherte Graf Romanones, daß Spanien durch das Abkommen vom 10. Oktober 1913 keine feierliche Verpflichtung übernommen habe und daß sein Nachfolger vielmehr gegebenenfalls die Vereinbarung abändern könne. Aber der neue Ministerpräsident Dato brachte bei Übernahme seines Amtes mit E n t schiedenheit zum Ausdruck, das neue Ministerium werde in

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internationaler Beziehung die gleiche Richtung verfolgen wie sein Vorgänger und werde nicht das Mindeste an den Ergebnissen ändern, die die Pariser Reise des Königs und der Madrider Besuch des Präsidenten gehabt hätten, denn in Fragen der auswärtigen Politik sei es keine Parteiregierung, sondern eine nationale Regierung. Das schien nicht nur ein Bekenntnis zur Aktionspolitik in bezug auf Marokko und Portugal, sondern auch zur Bündnispolitik zugunsten Englands und Frankreichs. Trotzdem machte sich eine leise Rückwärtsbewegung schon in den nächsten Monaten bemerkbar. Es trat ein gewisser konservativer Zug zutage, nicht eigentlich parteimäßigen Gepräges, sondern im Sinne staatsmännischen Handelns. Die Stimmen berufener Politiker, die unabhängig von Parteizugehörigkeit in der einseitigen Parteinahme eine Gefährdung des nationalen Interesses erblickten und eine Rückkehr zur Neutralitätspolitik forderten, mehrten sich, und die Regierung trug ihnen besonnen Rechnung. Wie 1903 ein konservatives Ministerium das internationale Abkommen seines liberalen Vorgängers unvollzogen ließ, so sorgte das Kabinett Dato dafür, daß Romanones' Cartagena-Abkommen Entwurf blieb. Es verengerte nicht nur nicht die Ententebeziehungen, sondern suchte ihren gefährlichen Ballast möglichst unmerklich über Bord zu werfen. In der Angelegenheit der von Frankreich betriebenen transpyrenäischen Bahn, die durchsichtig dem strategischen Interesse der Republik an einer schnellen Landverbindung mit der Kolonie Algier diente, wurde der spanische Verkehrsgesichtspunkt in den Vordergrund gerückt. Bei der Stellungnahme zu den marokkanischen Fragen, die gemeinsam mit Frankreich zu regeln waren, wurde sorgsam das spanische Interesse betont; manche französische Anregung, die Spanien mehr Schaden als Nutzen zu bringen schien, wurde abgelehnt. Das Streben nach Stärkung und Verselbständigung der eigenen Kräfte wurde immer entschiedener zum führenden Prinzip. Der Effektivbestand 4*

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des Heeres wurde auf 128000 Mann erhöht, so daß sich eine Kriegsstärke von 500000 Mann ergab. Dazu wurde eine erhebliche Vermehrung der Flotte ins Auge gefaßt, und wenn auch im Sommer 1914 von den Cortes nur ein kleiner Kreuzer gefordert wurde, so war der weitere Ausbau schon damals beschlossene Sache. Auch die Politik des konservativen Ministeriums Dato blieb bei alledem vorwiegend Prestigepolitik. Aber Schritt für Schritt wurden in vorsichtiger Regulierung der ungestümen nationalen Forderungen die Anfänge eines Gegengewichts wahper Realpolitik geschaffen. In bezug auf die paniberischen Bestrebungen lenkte die Presse unter der merklichen Einwirkung der Regierung zur Anschauung zurück, daß es eines von Spanien wie Portugal gleichmäßig gewünschten friedlichen Zusammenwachsens der beiden pyrenäischen Länder bedürfe, wenn die Vereinigung wirkliche Früchte tragen solle. Mit derselben Klugheit suchte die Regierung die überschwenglichen Bemühungen um den Zusammenschluß der stammesverwandten Süd- und mittelamerikanischen Staaten mit dem einstigen Mutterlande in realere Bahnen zu lenken. Bei Gelegenheit der Nationalfeier in Cadiz im Oktober 1912, zu der 17 amerikanische Staaten Vertreter entsandt hatten, war es zu lebhaften Kundgebungen zugunsten einer engeren Verbindung gekommen, und im J a n u a r 1914 bewarben sich gar die spanischen Kolonien in Argentinien, Kuba und Mexiko um eine Vertretung in den spanischen Cortes. Dato gab ihnen die kühle Antwort, daß es zur Erfüllung dieses Wunsches einer Änderung der Verfassung bedürfe, und er wußte auch eine Reise zu verhindern, die König Alfons damals nach Argentinien unternehmen wollte und die allerdings zu diplomatischen Schwierigkeiten führen konnte. Auf marokkanischem Boden aber nahm die Regierung nach Beendigung der kriegerischen Periode die Politik der friedlichen Durchdringung auf, die weitsehende Staats-

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männer von vornherein gefordert hatten, die aber im Hinblick auf das Vorgehen Frankreichs wie auf die Volksstimmung in Spanien nicht hatte zur Anwendung gebracht werden können. Auch der neue Weg wurde mit einem starken nationalen Selbstbewußtsein betreten, das dem geringen Vermögen nicht immer entsprach, über das man verfügte, wenn es auch sicherlich im staatlichen Interesse berechtigt war, die Vorschläge der bekannten deutschen Minenfirma Gebrüder Mannesmann abzulehnen, die sich Ende 1913 im Stile der einstigen englischen Kolonialgesellschaften um einen Freibrief für die Verwaltung und wirtschaftliche Ausnutzung Spanisch-Marokkos während eines Zeitraums von 100 Jahren bewarben. Ohne mit den kolonialen Leistungen der Franzosen in Südmarokko sich auch nur annähernd messen zu können, nahm man selbst die wirtschaftliche Erschließung in Angriff. Die aufsteigende Entwicklung Melillas, des Freihafens mit dem erzreichen Hinterlande des Rif, wurde gefördert und in Larasch durch umfassende Hafenanlagen ein neues Verkehrszentrum geschaffen, das den aufblühenden atlantischen Häfen der französischen Einflußzone Konkurrenz machen konnte. Durch die Entsendung von Studienkommissionen suchte man sich genauere Kenntnis von den Landesverhältnissen zu verschaffen, um sich der schwierigen Aufgabe mit Erfolg zuwenden zu können. Zu den beiden älteren Zeitschriften, die für die nordafrikanischen Interessen in Spanien warben 1 ), trat Mitte 1913 ein neues Organ: die „Africa española, Revista de colonizacion", nachdem bereits einige Monate zuvor das „Boletin oficial de la zona de influencia española en Marrueccos" als Regierungsblatt Spanisch-Marokkos entstanden war. Eine in Madrid gegründete Schule für Diplomatie, Konsulardienst „Africa Revista española ilustrada" (Barcelona seit 1907) und „España en Africa, Revista quincenal" (Madrid seit 1906). Die gut geleitete „Marrueccos, Revista quincenal", die 1908—1909 in Tanger erschien, ging nach einjährigem Bestehen wieder ein.

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und marokkanische

Studien w a n d t e sich mit Vorzug

Erschließung der neuen Kolonie zu.

J a , m a n umwarb,

dem m a n schroff mit der alten Politik der

der in-

Unduldsamkeit

brach, in weiser Berechnung die in Nordafrika

ansässigen

spanischen J u d e n (Spaniolen oder Sepharden), die zwischen Christentum und Islam eine religiöse und kulturelle B r ü c k e bilden

und

nach

der geistigen

Wiedergewinnung

für

das

einstige Mutterland diesem wertvolle Dienste leisten können. All das waren nur Ansätze, die einen Umschwung von größerer Tragweite noch nicht bedeuteten.

Aber sie dürfen

nicht übersehen werden und bereiteten jedenfalls die Verhältnisse vor, die nach Kriegsausbruch für die Nichtkenner überraschend zum Ausdruck gelangten.

Indessen waren von

nicht geringerer Bedeutung die Veränderungen, die in diesen J a h r e n wichtiger Vorgänge auf dem Gebiete der auswärtigen Politik sich im innerstaatlichen Leben Spaniens abspiegelten. Auch hier bahnten sich neue Verhältnisse an, die auf einen Gesundungsprozeß

hindeuteten.

VI.

Innere Verhältnisse 1898—1914. In der Verfolgung einer Politik des Ehrgeizes war das Volk nahezu eine Gleiches erstrebende Einheit, in der Schaffung ihrer dauernden und zuverlässigen Grundlagen war es eine wirre Menge von widerstrebenden und sich bekämpfenden Parteien. Das war der Zustand der Zeit des kolonialen Zusammenbruchs von 1898, das war er auch noch 15 Jahre später, als eine neue Kolonie gewonnen worden war. Was die nationale Arbeit hemmte, war als Folge des Mangels an Staatsgefühl die Abneigung, im Sinne der notwendigen Reformen Opfer zu bringen. Die konservativen Regierungen, die zunächst meist am Ruder waren, trieben eine weitgehende Sparpolitik, die von der liberalen Partei um so heftiger bekämpft wurde. Immer schroffer stellten sich die beiden Regierungsparteien auf dem Gebiete der inneren Politik in Gegensatz, und das Schaukelsystem wirkte zum größten Schaden des Landes. Noch hielten die beiden überragenden Parteiführer die Dinge in der W a g e und mühten sich der Tradition entsprechend um einen Ausgleich der Parteidifferenzen. Nach Sagastas und Silvelas Tod (1903 und 1905) verloren die gemäßigten Elemente indessen die Führung und die Parteien radikalisierten sich von neuem. Der Konservatismus des neuen Oberhauptes Maura nahm wieder eine stark klerikale Färbung an und der. Liberalismus schlug unter der Leitung Canalejas' eine demokratischradikale Richtung ein. Hand in Hand mit dieser Entwicklung griff in beiden Lagern eine wachsende Zersetzung Platz,

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und zumal die liberale Partei wurde von tiefen Spaltungen heimgesucht. Die Autorität des neuen Parteiführers fand nicht sogleich allseitige Anerkennung und bei den von anderen Seiten unternommenen Versuchen, die Gegensätze zu überbrücken, erweiterte sich der Riß. Schon drohte ein Bruch im liberalen Lager, da schloß das Gewaltregiment, das Maura an der Spitze eines klerikal-konservativen Ministeriums in den Jahren 1907 und 1909 führte, die Hadernden wieder zusammen. Eben Mauras reaktionäre Regierung förderte umgekehrt die Zersetzung in der konservativen Partei. Nicht nur die gegnerischen Lager, sondern die eigenen Parteigenossen protestierten gegen diese „Politik einer unklugen Reaktion", und als Mauras falsch verstandenes Einschreiten gegen die von ihm gezüchtete Anarchie — es war die böse Zeit der Ferrer-Unruhen — zu blutigen Ausbrüchen führte, wurde er gestürzt. Es folgten vier Jahre eines fruchtbringenden liberalen Regiments. Nach einem kurzen Zwischenregiment Morets führte Canalejas seit dem Januar 1910 die Staatsgeschäfte, zweifellos der staatsmännischste Kopf des neuen Spaniens. Mit außerordentlichem Geschick verstand er seine Partei zusammenzuhalten und die Mitwirkung der übrigen zu gewinnen. Mit der Unterstützung der Konservativen hob er sich in den Sattel und in Rücksicht auf die auswärtige Politik traten diese auch nicht in Opposition, als er sich den Republikanern näherte. Zum ersten Male wurde in großem Stile wahrhaft staatliche Arbeit geleistet. Unter Vermeidung radikaler Maßnahmen trieb Canalejas eine zusammenhängende liberale Kulturpolitik. Nicht nur die Fehlgriffe Mauras wurden wieder gutgemacht, sondern mit der Durchführung des Toleranzgedankens wurde Spanien endlich in die Reihe.der modernen Staaten eingeführt. Zahlreiche Gesetze und Erlasse bezeichnen diese Bahn und zumal die Volksschule hat dem reformatorischen Wirken dieser liberalen Ära viel zu verdanken. Selbst die Reform der Ver-

VI. Innere Verhältnisse 1898—1914.

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fassung wurde ins Auge gefaßt, um der parlamentarischen Mißwirtschaft entgegenzutreten, ohne daß es in dieser Richtung freilich zu durchgreifenden Handlungen kam. Nach Canalejas' Ermordung (12. November 1912) lebte der Zersetzungsprozeß im liberalen Lager jedoch um so entschiedener wieder auf. Sein Nachfolger in der Regierung wie Parteiführung, Graf Romanones, verfügte bei aller Schlauheit und Geschicklichkeit nicht über den beherrschenden sachlichen Willen, und die Einheit des Liberalismus ging verloren. Es war der demokratische Zweig, der sich unter dem früheren auswärtigen Minister Garcia Prieto im Herbst 1913 selbständig machte. Vergebens suchte Romanones durch ein weitgehendes liberales Programm dieser Abspaltung entgegenzuwirken. Gerade mit der Forderung einer wirklich liberalen Politik sagten sich am 21. Oktober 70 Mitglieder des Kongresses und 56 des Senats von der Gefolgschaft Romanones' los. Dieser Schritt war von um so größerer Bedeutung, als sich unter dem Einfluß der Politik Canalejas' 1912 eine Gruppe gemäßigter Republikaner unter dem ehrgeizigen Melquiades Alvarez von der altrepublikanischen Partei abgespaltet und als „Reformisten" eine selbständige Partei begründet hatte. Indem sie dem ideellen den praktischen Gesichtspunkt voranstellte und die Bekämpfung der Monarchie aufgab, wurde auch sie zu einer liberalen, wenn auch weit links stehenden Partei. Die erbitterten Kämpfe zwischen den drei liberalen Gruppen, die zusammen mit der wachsenden Gegnerschaft der Konservativen eine parlamentarische Arbeit unmöglich machten, führten am 27. Oktober 1913 den Sturz des Ministeriums Romanones herbei. Da die Berufung eines neuen liberalen Kabinetts ausgeschlossen war, konnte die Regierung nur an die konservative Partei übergehen. Aber es war das Bemerkenswerte, daß sich der König diesmal nicht an das eigentliche Parteihaupt Maura wandte, sondern an den Führer der gemäßigten Richtung, den ehemaligen Kammer-

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Präsidenten Eduardo Dato, der sich vor allem als Sozialpolitiker hervorgetan hatte. Noch an demselben Tage übernahm dieser die Staatsgeschäfte und behielt sie trotz aller Bekämpfung von links und rechts fest in seiner Hand. In klarer Erkenntnis der ihm zugefallenen Aufgaben und in vollem Einverständnis mit dem Herrscher verkündete er als sein Programm die Politik der mittleren Linie und der sozialen Reformen. Die neue konservative Regierung nahm mit Bewußtsein die Überlieferung Canovas' del Castillo wieder auf, der seine Partei „liberal-konservativ" bezeichnet und „liberal" an die Spitze gestellt hatte. Damit war der Politik Mauras der Krieg erklärt, und grollend trennte sich der greise Diktator, der schon vorher formal den Vorsitz der Partei niedergelegt hatte, von der Gefolgschaft Datos, so d a ß neben den drei liberalen fortan zwei konservative Parteien vorhanden waren. Diese Auflösung der alten Parteiverbände war von großer Bedeutung für das weitere politische Leben Spaniens. Der Schematismus des Schaukelsystems zwischen den beiden Regierungsparteien war erschüttert. Die Krone hatte eine größere Bewegungsfreiheit gewonnen und war nicht mehr auf die beschränkte Wahl und das Hin und Her zwischen Konservativen und Liberalen angewiesen. Das entsprach durchaus den allgemeinen staatlichen Interessen. Es ist kein Zufall, daß eben in diesen Jahren eine Stärkung des Königtums in auffälligen Äußerungen zutage trat. Der parlamentarische Tiefstand nötigte die Regierung, unter Umgehung der Volksvertretung als dringend erkannte Maßnahmen auf dem Wege des Erlasses durchzuführen; einige der wichtigsten Reformen der liberalen Ära sind in dieser Weise zustandegekommen und auch die neue konservative Regierung schritt auf den bewährten Bahnen weiter. Einen nicht geringen Anteil an dieser Entwicklung h a t t e der junge König selbst. Erst einmal in die Regierungspraxis hineingewachsen, zeigte er sich immer als nüchtern rechnender

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Realpolitiker, der über alle Hemmnisse hinweg in ernster und eifriger Arbeit bemüht war, seinen Staat und sein Volk emporzuheben. Es ist bezeichnend, daß von all den zahlreichen Ministern, mit denen er zu tun hatte, Canalejas und Dato ihm am nächsten t r a t e n : der Führer der liberalen Demokraten und das H a u p t der gemäßigten Konservativen, die bei aller Gegensätzlichkeit in der ruhigen sachlichen Verfolgung des staatlichen Interesses zusammenstimmten. In diesem Streben nach der Befreiung der Regierungsgewalt von allen lästigen Einflüssen hat es auch seinen Grund, wenn König Alfons mit solchen vom Staatsgedanken erfüllten Männern danach trachtete, das Heer enger an die Krone zu fesseln und den vielfach unsachlichen Einwirkungen der jeweils herrschenden Partei zu entziehen. Wenn einzelne Maßnahmen der letzten Jahre auch der geltenden Verfassung widersprachen und von Seiten der Parteien lebhaft bekämpft wurden, so hatte die Krone doch das moralische Recht auf ihrer Seite. Sie gewann damit zugleich die Möglichkeit, einem alten Übel des spanischen Heeres entgegenzuwirken: dem Drange des Offizierskorps, eine politische Rolle zu spielen, der im 19. Jahrhundert so unheilvolle Wirkungen ausgeübt hatte und selbst im 20. J a h r hundert noch zu einigen bedenklichen Äußerungen führte. Freilich schloß die Spaltung der beiden Regierungsparteien auch Gefahren in sich, denn es bestand mehr denn zuvor die Möglichkeit, daß die Oppositionsparteien ein Gewicht ausübten. Aber auch in deren Bereiche hatten sich bedeutungsvolle Wandlungen vollzogen, die ihre Beziehungen zu den bestehenden staatlichen Verhältnissen erheblich veränderten. Die Karlisten waren hinsichtlich der Gegnerschaft zur Dynastie immer zurückhaltender geworden, zumal nach dem Tode Don Carlos' (1909). Sie spielten zwar als „ J a i m i s t e n " ihre Rolle weiter, aber es h a t t e den Anschein, als ob Don Jaime nicht mehr so ernst seine Thronfolgeansprüche zu vertreten geneigt war wie es

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der Überlieferung entsprach, und seit der schweren Niederlage, die die Partei bei den Corteswahlen im März 1914 erlitt, trat geradezu eine Entfremdung zwischen dem Prätendenten und seiner Anhängerschaft in Spanien ein. 1 ) Unter der Führung Vasquez* de Mella, der dank seiner persönlichen Stellung als glänzendster Redner Spaniens den Fortbestand der Partei ermöglichte, wurden die Traditionalisten, wie sie sich jetzt meist nannten, fast zu einer dritten konservativen Regierungspartei, die, wenn auch klerikalen Gepräges, zumal den nach außen gerichteten staatlichen Interessen, sowie den Fragen einer Verfassungsreform auf einer weniger demokratischen Grundlage ein großes Verständnis entgegenbrachte. Auf der anderen Seite waren die Republikaner zwar unter der Einwirkung des kolonialen Zusammenbruchs vorwärtsgekommen, aber alle Bemühungen, die wenig organisierte Partei zu einer Einheit zu gestalten, scheiterten an den unvereinbaren Sonderinteressen der Führer und ihrer territorial beschränkten Gefolgschaft. Dagegen kam die lange erstrebte Verbindung mit den Sozialisten zustande, freilich nicht, ohne daß ein neuer Spaltungsprozeß einsetzte. In dem Hin und Her dieser Gruppierung gewann die republikanisch-sozialistische Gruppe der „Radikalen" unter dem ehrgeizigen Agitator Alejandro Lerroux die Oberhand, und in naher Beziehung zu ihr blieben die extrem antimilitaristischen Sozialisten unter dem Revolutionär Pablo Iglesias. Dagegen traten die Altrepublikaner mehr und mehr zurück und die Betonung regionalistischer, d. h. separatistischer Interessen brachte ihnen mehr Schaden als Vorteil; schließlich büßten sie infolge der Abtrennung der „Reformisten" weiter an Einfluß ein. Aber auch die radikalen Elemente, die im Kampfe gegen Staat und Gesellschaft ihr *) Die vom Wölfischen Telegraphenbureau am 17. März 1914 verbreitete Pariser Meldung vom ausdrücklichen Thronfolgeverzicht Don Jaimes hat sich nicht bewahrheitet, ist aber leider in unsere deutschen Handbücher als Tatsache Ubergegangen.

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soziales Programm zu verwirklichen strebten, bildeten keine Umsturzgefahr. Zumal in ihrem Bereich zeigte sich die Persönlichkeit des Parteiführers von ausschlaggebender Bedeutung. Die in geistiger Unbeweglichkeit verharrende Masse der Arbeiter ist von den unklaren Parteizielen durchaus nicht erfüllt und kann von einer Regierung, die den vorhandenen sozialen Gebrechen ernstlich entgegenzutreten gewillt ist, durch systematische Reformarbeit aus ihrer Unzufriedenheit befreit werden. All das waren verheißungsvolle Perspektiven f ü r das neue konservative Regiment Datos, und es konnte den auf die Gesundung des Staates und Volkes gerichteten Staatsmann wohl antreiben, sich ernstlich schaffend den großen Aufgaben zuzuwenden, die seiner warteten. Indessen die Dinge änderten sich nicht so schnell wie die Umgestaltung des Parteilebens manchen spanischen Patrioten hoffen ließ. In der Nachwirkung des alten Schaukelsystems äußerte sich der Charakter der Übergangszeit, der für das Spanien unserer Tage bestimmend ist. Es entsprach diesem langsamen und schrittmäßigen Weitergehen der Entwicklung, daß die Gemeindewahlen, die noch vom liberalen Ministerium vorbereitet waren, im November 1913 nach Romanones' Sturz eine starke konservative Mehrheit brachten. Dieselbe Erscheinung t r a t in den Wahlen f ü r die neuen Cortes im März des folgenden J a h r e s zutage. Sie ergaben mit 235 Stimmen für den Kongreß einen vollen Sieg der gemäßigt konservativen Regierungspartei, während die Liberalen (Anhängerschaft Romanones' und Garcia Prietos) auf 112 Mitglieder zusammenschmolzen, die durch 12 Reformisten nur unwesentlich gestärkt wurden. Die übrigen Parteigruppen erreichten nur ganz geringe Ziffern, und selbst die republikanisch-sozialistische Vereinigung ging infolge der reformistischen Abspaltung auf 18 Stimmen zurück. Dagegen war eine zuvor unbekannte lebhafte Wahlbeteiligung ein Zeichen dafür, daß das politische Leben sich

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auffrischte. Eine ähnliche Zusammensetzung ergab sich f ü r den Senat, so daß sich die beiden Kammern wie in früherer Zeit wieder entsprachen. Die Beratungen der Cortes verliefen für die Regierung außerordentlich günstig. Datos Auseinandersetzung mit dem gefürchteten Maura besiegelte dessen Niederlage, die durch den Ausfall der Wahlen bereits angekündigt war, und mit ihm erlitten Reaktion und Klerikalismus einen schweren Schlag. Die Pforten für einen konservativen Fortschritt waren geöffnet. Auf geistigem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiete mußte und sollte die staatliche Arbeit aufgenommen werden: da kam der Weltkrieg. Die brennenden inneren Fragen traten wieder in den Hintergrund. Volk und Regierung sahen die entscheidenden Probleme des staatlichen Daseins und des internationalen Zusammenlebens gebieterisch und Stellungnahme heischend vor sich aufsteigen. Auch Spaniens Schicksal lag in der Wagschale.

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Spanien im Weltkrieg. „Obschon Spanien vom Herd der Feuersbrunst entfernt liegt, wird niemand glauben, daß sie uns gleichgültig ist. Wir haben folgenschwere Schritte getan, eben aus Furcht vor dem, was man kommen sieht. Spanien ist, wie die im Kampfe stehenden Länder, ein Glied jener Kette, die es unmöglich macht, daß jemand in Europa in Frieden weiterlebt, wenn ein Krieg ausbricht. Mag dies auch jetzt vermieden werden, so müssen wir uns doch auf eine nahe Zuk u n f t vorbereiten und müssen beginnen, dem Volke klarzumachen, daß wir aufgehört haben, eine einsame Nation zu sein, und daß uns jetzt mehr denn je vereinzelte Spritzer treffen können." So schrieb am 26. Juli, als die Krise schon der kriegerischen Lösung entgegenging, der Imparcial, das führende der drei sog. Trustblätter. Die programmatischen Worte lassen erkennen, daß eine ententefreundliche Partei in Spanien vorhanden war, die ein Eingreifen in das ungeheure Ringen, und zwar Schulter an Schulter mit den Verbündeten betrieb. Es waren die Liberalen, zumal Romanones und seine Gefolgschaft, die das Cartagena-Abkommen von 1913 abgeschlossen hatten und, moralisch daran gebunden, nun die Folgerungen daraus gezogen wissen wollten; auch die Demokraten unter Garcia Prieto und die Reformisten unter Alvarez verfolgten diese Richtung. Noch offener t r a t Alejandro Lerroux, der ehrgeizige Republikaner und Sozialistenführer, für den Anschluß an die Entente-

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mächte ein; er forderte in französischen Zeitungen, daß Spanien seine Armee mit der Frankreichs zum Kampfe gegen die deutschen Barbaren vereinigen solle. Gegenüber solchen persönlichen und parteilichen Wünschen behielt die verantwortliche Regierung die ruhige Besonnenheit. Die Politik der Zurückhaltung fortführend, erklärte sie am 7. August die Neutralität Spaniens. Es ist bemerkenswert, daß dieser Schritt trotz der früher eingegangenen Verpflichtungen möglich war. Nicht eine leichtfertige Auslegung dehnbarer Bestimmungen war dafür maßgebend, wie sie um dieselbe Zeit Italien handhabte. Vielmehr schufen jene geheimen Abmachungen von 1907 und 1913, deren endgültiger Ausbau vielleicht geplant, aber nach Romanones' Sturz unterblieben war, gegenüber der Lage bei Kriegsausbruch keine wirkliche Verpflichtung für Spanien, sich den Ententegenossen zur Seite zu stellen. Der liberale und konservative Ministerpräsident hätten nicht übereinstimmend das Bestehen von Verträgen bestreiten können, wenn dem tatsächlich nicht so war. Aber die Stellungnahme der Regierung hatte nur provisorische Bedeutung, und die Freunde des Zusammengehens mit England und Frankreich waren in eifriger Tätigkeit bemüht, die Politik in ihre Richtung zu drängen. Ein Kronrat unter dem Vorsitz des Königs sollte demgegenüber die Entscheidung geben. Noch in letzter Stunde suchte der Diario Universal, das liberale Parteiorgan, durch einen Artikel „Neutralitäten, die töten", der großes Aufsehen erregte und hinter dem Romanones selbst stand, die Beschlußfassung zu beeinflussen. Vergebens. Der Kronrat sprach sich einstimmig zugunsten der Neutralität aus, und die Abstimmung hatte um so größeren Wert, als der König jeden Minister einzeln befragte. Das wahre Staatsinteresse h a t t e sich unter der besonnenen Führung des konservativen Ministeriums siegreich durchgesetzt. Nicht so sehr die Tatsache, daß Spanien für

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eine kriegerische U n t e r n e h m u n g in keiner Weise gerüstet w a r , gab den Ausschlag als die E r k e n n t n i s , d a ß jede Partein a h m e die staatlichen Grundlagen gefährdete. Der Charakter der Regierung aber gewährleistete die völlige Sicherheit, d a ß die Politik der N e u t r a l i t ä t mit aller Ehrlichkeit und Peinlichkeit eingehalten wurde. Zugleich w u r d e jedoch die ergänzende Aufgabe in Angriff genommen, die Verteidigungsmittel des Landes zu stärken und zu verbessern. E r s t auf diese Weise war die Möglichkeit gegeben, den Beschluß gegen jede Einwirkung a u f r e c h t zu erhalten und Spanien bei der N e u o r d n u n g der Weltverhältnisse eine S t i m m e zu verschaffen. Neben der realpolitischen Einsicht in die Notwendigkeit, dem blutigen Ringen fernzubleiben, sprach auch in dieser Lage das dem spanischen Volke eigene starke Nationalgefühl. Gerade deshalb aber f a n d die E n t s c h e i d u n g der Regierung die Z u s t i m m u n g der überwältigenden Mehrheit des Volkes. In machtvollen K u n d g e b u n g e n begrüßte die öffentliche Meinung die Willensäußerung der Madrider Staatsleitung und b r a c h t e dem inlande wie Auslande aufs klarste zum Ausdruck, daß die Politik der Regierung von der Ges a m t h e i t der Nation getragen sei. Alle P a r t e i m e i n u n g und P r i v a t m e i n u n g , alle Liebe und Abneigung, alle Initiative u n d Z u r ü c k h a l t u n g ordnete sich der E r k e n n t n i s u n t e r : daß die W a h r u n g der N e u t r a l i t ä t das Gebot der S t u n d e sei. Dem entsprach es, wenn die Regierung A n f a n g September umsichtig und entschieden dem unerhörten Lügenfeldzug e n t g e g e n t r a t , den die E n t e n t e m ä c h t e nach Kriegsausbruch auch auf spanischem Boden mit Hilfe ihrer A n h ä n g e r s c h a f t gegen die Z e n t r a l m ä c h t e eröffneten, und die A n d r o h u n g energischer M a ß n a h m e n ü b t e eine heilsame W i r k u n g . Die e n t e n t e f r e u n d l i c h e Presse setzte zwar in abgeminderter F o r m ihre W ü h l a r b e i t fort, aber allmählich erstanden der deutschen Sache einflußreiche W o r t f ü h r e r , die m i t anzue r k e n n e n d e m Eifer die öffentliche Meinung a u f k l ä r t e n und H e r r e , Spanien und der Weltkrieg.

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den Entstellungen und Verdrehungen der von London und Paris beeinflußten Berichterstattung entgegentraten. In dem rechtskonservativen ABC und dem traditionalistischen Correo español konzentrierte sich diese deutschfreundliche Gesinnung, die auf der Grundlage der Gerechtigkeit und Wahrheit in nationalem Interesse zu wirken suchte. Von Woche zu Woche wuchs die Zahl der Zeitungen, die sich in den Dienst der unvoreingenommenen Neutralitätspolitik stellten, und selbst ententefreundliche Blätter öffneten um der allgemeinen Volksstimmung willen zeitweilig den „Germanófilos" ihre Spalten. So wurde die Mehrheit für die Neutralität Spaniens allmählich auch eine deutschfreundliche Mehrheit, während anfangs die Vorliebe für die Westmächte sicherlich die Oberhand gehabt hatte. Es erschienen Schriften, die Deutschlands Leistungen im Kriege schilderten und die Überlegenheit seiner sittlich tief fundierten Organisation als Vorbild hinstellten, und neben dem erdrückenden Wust franzosenund britenfréundlicher Kriegsliteratur fanden die Bücher eines Juan Pujol („De Londres á Flandes"), eines Louis Antón de Olmet („El triunfo de Alemania") und eines José Maluquer („En las filas alemanas") eine große Verbreitung. Langsam tauchten nun die alten, infolge der aufgezwungenen Freundschaft eingeschläferten Abneigungen gegen die Ententemächte in den breiten Schichten des Volkes wieder empor. Der Groll gegen das Frankreich, das einst eine grausame Fremdherrschaft über das freie Spanien verhängt hatte, erwachte zu neuem Leben. Noch schärfere Formen nahm der Haß gegen England an, dessen unheilvolle Rolle in der spanischen Geschichte José Maria Requena Ortiz („España gran potencia") durch die Ausmalung eines vom englischen Drucke befreiten Spaniens zum Bewußtsein brachte, und dessen Heuchelei und Überhebung Domingo Cirici Ventalló („El secredo de Kitchener") mit ätzendem Sarkasmus geißelte. Deutschfreundliche Gesinnung verbreitete sich

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Ober alle Parteianschauungen hinweg mehr und mehr in den Kreisen der Intelligenz, die vordem ganz von romanischen Ideen und Idealen erfüllt und der Deutschland ein nahezu unbekannter Begriff gewesen war. Dichter und Schriftsteller wie Pio Barja, Ricardo León und vor allem Jacinto Benavante zeigten sich durchaus als „Germanófilos". Noch eine andere Folge hatte das Eintreten der öffentlichen Meinung für die Maßnahmen der Regierung: die parteimäßigen Angriffe verstummten eine Zeitlang völlig. Da sie Gefahr liefen, des Rückhalts im Volke verlustig zu gehen, traten Romanones und seine Freunde zurück, um erst bei günstigerer Gelegenheit wieder auf dem Schauplatz zu erscheinen. Nur Lerroux bemühte sich als Haupt der Ententepartei, seine Rolle weiter zu spielen. Er begab sich Ende September nach Bordeaux, um der Regierung der französischen Republik seine Huldigung darzubringen, wahrscheinlich auch, um von ihr Verhaltungsmaßregeln entgegenzunehmen. Als er aber auf der Rückreise sich in Irun mit einer Werberede an das spanische Volk wandte, wurde er mit körperlichen Schlägen und Verletzungen heimgeschickt. Mit dem Herannahen des Termins, an dem die Cortes eröffnet werden sollten, nahm die Unruhe wieder zu. Die Parteien regten sich, und neben der Frage der Neutralität forderten die portugiesischen Vorgänge zur Stellungnahme auf. Englands Bemühungen, das ganz von ihm abhängige Portugal in den Krieg zu treiben, riefen die Liberalen Romanones' auf den Plan, in deren politischem Programm die Gewinnung der Nachbarrepublik ja einen wichtigen Platz einnahm. Es scheint, daß die ehemaligen liberalen Minister, die Ende Oktober über die weitere Haltung der Partei berieten, sich dahin verständigten, die Beteiligung Portugals am Weltkriege zu fördern, in der Rechnung wohl, daß sie eine neue Schwächung, wenn nicht den völligen Zusammenbruch des zerrütteten Staates zur Folge haben werde, und daß dann die Stunde gekommen sei, die Ge5*

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heimabmachungen von Cartagena zu verwirklichen. Gleichzeitig eröffnete Romanones' Vertrauter, der frühere Gesandte in Paris Perez Caballero, im Diario Universal einen publizistischen Feldzug gegen die Regierung mit dem Bestreben, nachzuweisen, daß die monarchische Sicherheit in Spanien durch die enge Gemeinschaft der portugiesischen Republik mit den Ententemächten gefährdet sei. Ein solches Vorgehen bedeutete nichts anderes als den Versuch, eine engere Verbindung mit den Verbündeten herzustellen, als sie die konservative Regierung zu unterhalten geneigt war, um die Politik so allmählich doch von der Grundlage der Neutralität auf die der Parteinahme hinüberzulenken. Der Verlauf der Kammersitzung vom 5. November machte indessen alle solchen Sonderwünsche hinfällig. Sogleich nach der Eröffnung der Cortes galt es, zwischen Regierung und Volksvertretung die allgemeine Richtung der Politik festzulegen. Von neuem gab die Regierung die bindende Erklärung ab, an der Neutralität unerschütterlich festhalten zu wollen mit der Zusicherung, die Cortes zuvor zu befragen, falls sich wider Erwarten die Fortführung der Neutralitätspolitik unmöglich erweisen sollte. Es war doch überraschend, daß sämtliche Parteien sich der Darlegung des Ministerpräsidenten anschlössen und sich ihrerseits für die Neutralität aussprachen. Freilich kamen in den Motivierungen, die die Redner gaben, die Parteianschauungen in scharfer Gegensätzlichkeit zum Ausdruck, und es widersprach einer realpolitischen Stellungnahme, wenn unter starker Betonung die Sympathien mit den einzelnen kriegführenden Parteien zu erkennen gegeben wurden. Während sich Romanones trotz seiner bekannten Franzosenfreundlichkeit berechnend zurückhielt, obwohl in den weiteren Verhandlungen seine Gesinnung immer wieder hervortrat, machte Lerroux f ü r die Sozialisten aus seinen Sympathien für die stammverwandte Nation von vornherein ebensowenig ein Hehl wie Azcärate f ü r die Reformisten aus seiner Vor-

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liebe für England. Um so wärmer setzte sich Llorens als traditionalistischer Sprecher für Deutschland ein, und nur die Regierungspartei selbst unterließ jede Parteinahme. Ähnlich wie der Kongreß nahm einige Wochen später der Senat Stellung. Trotz mancher Meinungsverschiedenheit waren sämtliche Parteien bereit, der Regierung Unterstützung zu gewähren, und selbst bei den in scharfer Opposition verharrenden Sozialisten schlug die Erkenntnis durch, daß die Schwäche des Landes keine andere Haltung möglich mache. Demgemäß verliefen auch die eigentlichen Verhandlungen des Parlaments ruhig und sachlich. Es bestand eine volle Übereinstimmung darüber, daß der weitere Ausbau des Verteidigungssystems, die Aufstellung eines neuen Staatshaushaltes und die Durchführung von Maßnahmen zur Sicherung des wirtschaftlichen Lebens notwendig seien. Der Regierungsentwurf vom 1. November entwickelte ein umfassendes Marineprogramm, und die Begründung, die ihm Dato im Sinne der nationalen Wünsche gab, h a t t e den Erfolg, daß einige Abgeordnete bei der Beratung sogar eine Erweiterung des Programmes forderten. Das Gesetz, das Ende Februar 1915 verabschiedet wurde, schrieb den Bau von 4 Kreuzern, 6 Torpedojägern, 28 Unterseebooten, 3 Kanonenbooten, 18 Küstenwachtschiffen sowie den Ankauf von Unterseeminen und Material für die Schiffsbauten auf den Werften von Ferrol und Cartagena vor, dazu auch die Errichtung eines Schwimmdocks in Cartagena. Die Kredite, die auf 6 Jahre verteilt wurden, beliefen sich auf 275 Millionen Pesetas. Angesichts einer solchen Mehrbelastung war die Festsetzung eines balancierenden Staatshaushaltes um so schwieriger. Wenn sie trotzdem ohne ernstliche Konflikte noch vor Jahresschluß gelang, so zeigte das den Willen der Versammlung, den Notwendigkeiten der Zeit Rechnung zu tragen. Zwar versuchten die allezeit oppositionellen Katalanen bei der Beratung über die Ma-

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rokkopolitik und deren Kosten der Regierung Schwierigkeiten zu machen, und in der Tat konnte die Erhöhung der Ausgaben von 108 Millionen Pesetas im Jahre 1913 auf 142 Millionen im Jahre 1914 wohl zu Bedenken Anlaß geben. Aber die Liberalen schlössen sich, im richtigen Gefühle ihrer Mitverantwortung, dem Vorstoß nicht an und beschränkten sich vielmehr auf Angriffe im Bereiche der Kulturpolitik, die den Unterrichtsminister zu Falle brachten. Daß die von der Staatsleitung beobachtete Politik die Billigung der Volksvertretung hatte, brachte zumal die Annahme des Budgets des Kriegsministeriums zum Ausdruck, die ohne jede Erörterung erfolgte. Hinsichtlich des Gesamtzustandes der Finanzen war es freilich ein wenig befriedigendes Ergebnis, wenn für das Rechnungsjahr 1914 ein Fehlbetrag von fast 100 Millionen Pesetas festgestellt wurde, der unter Einrechnung der außerordentlich zu emittierenden Staatsschuldenscheine auf 154 Pesetas anwuchs. Da bei dem üblen Stande der wirtschaftlichen Verhältnisse mit einer noch ungünstigeren Gestaltung des Staatshaushaltes für 1915 gerechnet werden mußte, erwies sich aufs neue die Dringlichkeit der längst als notwendig erkannten Steuerreform, ja selbst eine Anleihe war für die nähere Zukunft unabweisbar. Beredter denn jede andere Erwägung sprach die Klarlegung der wirtschaftlichen Schwäche Spaniens für das unbedingte Festhalten an der Neutralitätspolitik. Gleichwohl blieben die Dinge nicht auf dieser Linie stehen. Je länger der Krieg dauerte, je klarer sich die Überlegenheit Deutschlands enthüllte und je deutlicher die Unterlegenheit der beiden Westmächte zutage trat, mit denen Spanien insbesondere zu rechnen hatte, um so bewußter wurden die nationalen Hoffnungen, die in allen Schichten des Volkes lebendig waren. Namentlich die Niederlagen, die das seebeherrschende England erlitt, übten eine tiefe Wirkung, nicht minder aber auch der unfreundliche Druck,

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den die Briten gegenüber dem spanischen Wirtschaftsleben anwandten, um die nach Selbständigkeit strebende Nation gefügig zu halten. Mit aller Rücksichtslosigkeit suchte England den Handelsverkehr Spaniens mit Deutschland zu unterbinden, auch für die Waren, auf die die spanische Industrie angewiesen war, und es drohte sogar mit Maßnahmen, die eine Lahmlegung der zahlreichen in englischen Händen befindlichen industriellen Unternehmungen und somit eine schwere soziale Gefährdung bedeuteten. Ja, nicht einmal die Neutralität Spaniens wurde geachtet, wie die Vernichtung des deutschen Hilfskreuzers „Kaiser Wilhelm der Große" im Hafen von Rio de Oro und weniger anstößig das Verhalten englischer Kriegsschiffe in den Gewässern der Balearen zeigten. Nicht wirksamer konnte die unerträgliche Diktatur des Inselvolkes vor Augen geführt werden, als es die Londoner Regierung in diesen Monaten t a t . Nicht überzeugender als durch dieses Verfahren konnte dem gefesselten Volke bewiesen werden, welch großes Interesse es an dem Siege Deutschlands hatte. Immer deutlicher erkannte man nun die schweren Gefahren, die Spanien aus der Bindung durch die Abmachungen von 1907 und 1913 erwuchsen. Schon forderte ein Blatt wie der Imparcial (16. März), daß diese Verpflichtungen einer Durchsicht unterzogen würden, und der ehemalige Unterstaatssekretär des Auswärtigen Gonzalez Hontoria, der die Politik seines Parteiführers Dato mit realpolitischem Verständnis publizistisch vertrat, wies in ausgezeichneten Aufsätzen des ABC und der unabhängigen, sachlich Stellung suchenden Madrider Tribuna mit Nachdruck darauf hin, daß das einseitige Vorgehen Frankreichs in der Marokkokrise von 1911 und der Weltkrise von 1914 die 1907 begründete Gemeinsamkeit mit Spanien zerbrochen habe. Die Durchführung einer Politik der Freiheit und Selbständigkeit gegenüber allen kriegführenden Parteien mit der starken Verfolgung eigener nationaler Ziele wurde das politische

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P r o g r a m m , das in der Öffentlichkeit immer wieder zum Ausdruck gelangte. Von neuem waren es H o f f n u n g e n in bezug auf Nordafrika und Portugal, die aus dieser nationalen Bewegung emporwuchsen. Es erwachte jetzt das Bewußtsein f ü r die demütigende Tatsache, daß Gibraltar, vielleicht das wertvollste Stück spanischen Bodens, sich in fremden Händen b e f a n d ; daß Tanger, das wichtigste Gebiet im nordmarokkanischen Bereiche, Spanien vorenthalten wurde; daß bei der Aufteilung Marokkos Frankreich sich den wirtschaftlich kostbarsten Teil gesichert und Spanien in mehrmaliger Beschneidung das ungastliche Rifgebiet überlassen h a t t e . So gestaltete sich Schritt f ü r Schritt das Verlangen nach einer Wiedergewinnung Gibraltars, nach einer Besetzung Tangers und nach einer Erweiterung des marokkanischen Besitzes. Es schien jetzt aber auch die Zeit gekommen, die lange erstrebte iberische Einheit einer Verwirklichung entgegenzuführen. Wie es ein schönes Zukunftsziel war, Spanien selbst von der fremden V o r m u n d s c h a f t zu befreien, so glaubten die Patrioten dieses Befreiungswerk hoffnungsfreudig auf das s t a m m v e r w a n d t e Nachbarland ausdehnen zu können. Es fehlte nicht an Anzeichen einer A n n ä h e r u n g der beiden iberischen Völker, und selbst der portugiesische Gesandte in Madrid Vasconcellos schloß sich den Bestrebungen nach einer wirtschaftlichen Vereinigung an, aus der eine engere Gemeinschaft sich entwickeln konnte. Die weitere Perspektive aber war im Sinne solcher nationalen Z u k u n f t s h o f f n u n g e n die W i e d e r k n ü p f u n g der Beziehungen zum lateinischen Amerika und das Geltendmachen dieses erstarkten Staatsgebildes im R a t e der europäischen Völker, und Realpolitiker wie Hontoria urteilten, d a ß eine größere Gewinnaussicht f ü r Spanien bestehe, wenn es den schon einmal betretenen Weg über Italien, mit dem es gemeinsame Mittelmeerinteressen verbanden, zu den Z e n t r a l m ä c h t e n hin verfolgte, wie wenn es in der gefährlichen Verbindung mit

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England u n d Frankreich bliebe, deren Interessen überall den spanischen e n t g e g e n s t ä n d e n . Mochten f ü r diese letzten Konsequenzen die Meinungen auseinandergehen: f ü r die nächsten Ziele ergab die u m f a s s e n d e Aussprache jener M o n a t e in Presse u n d Publizistik eine weitgehende Ü b e r e i n s t i m m u n g , die im geschichtlichen W e r d e g a n g und Charakter des s p a n i schen Volkes ihre B e g r ü n d u n g h a t t e . Indessen war es die Frage, wie die Parteien, insbesondere die Regierungsparteien, zu diesen nationalen F o r d e r u n g e n Stellung n a h m e n u n d — was noch größere B e d e u t u n g h a t t e — wie die v e r a n t w o r t l i c h e Regierung sich mit ihnen a b f a n d . Natürlich f a n d e n die von der öffentlichen Meinung getragenen n a t i o n a l e n Ansprüche in den Parteien l e b h a f t e n Widerhall. Die P a r t e i f ü h r e r m a c h t e n sich die Z u k u n f t s wünsche des Volkes zu eigen und formulierten sie in eindrucksvollen K u n d g e b u n g e n der Aprilwochen, indem sie dabei der Wirklichkeit der Staats- und Parteipolitik Rechn u n g zu tragen suchten. Wieder wurden Vorliebe und Abneigung gegenüber den kriegführenden Mächten in dogmatischem B e k e n n t n i s zum Ausdruck gebracht. Vollends jetzt zeigte es sich, daß der Liberalismus u n b e l e h r b a r an der Legende von der M i l i t ä r d i k t a t u r u n d T y r a n n e i Deutschlands festhielt, der das Idealbild des freiheitlichen F r a n k reich und E n g l a n d gegenübergestellt wurde. Auf der a n d e r n Seite w u r d e die konservative A n s c h a u u n g durch den Eindruck s t a r k beeinflußt, den der Sinn f ü r A u t o r i t ä t u n d die E n t f a l t u n g religiöser u n d kirchlicher K r ä f t e im n e u e n Deutschen Reich nach a u ß e n m a c h t e n , und a u c h gewisse höfische u n d klerikale S y m p a t h i e n f ü r den mit D e u t s c h l a n d v e r b ü n d e t e n H a b s b u r g e r s t a a t sprachen mit. Aber über die Ä u ß e r u n g der P a r t e i d o k t r i n hinaus enthüllte sich in diesem A u f t r e t e n der politischen H ä u p t e r zugleich wieder der persönliche Zug des spanischen Parteilebens. Der „ C a u d i l l o " an der Spitze der von der Partei lebenden Berufspolitiker suchte sich G e l t u n g zu verschaffen, und in die sachlichen

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Gesichtspunkte seiner Haltung verwoben sich starke persönliche Interessen. Nicht nur die liberalen Führer, wie Romanones, Garcia Prieto und Melquiades Alvarez, nahmen so Stellung, sondern auch der beiseite gedrängte konservative Maura, und nur der Traditionalist Vasquez de Mella hielt sich vorwiegend in sachlichen Schranken. Daß die Wahrung der Neutralität Richtschnur der Staatspolitik bleiben mußte, war ihnen allen sicher; aber alle traten mit Entschiedenheit für den nationalen Anspruch auf Tanger ein, der sich ohne Aufgeben der Neutralität vielleicht in Verständigung mit England und Frankreich verwirklichen ließ. Nicht nur Romanones, der die eigentliche Verantwortung für die Ententepolitik trug, nicht nur Garcia Prieto, der als der auswärtige Minister zweier liberaler Kabinette stärksten Anteil daran hatte und namentlich für das Zustandekommen der französisch-spanischen Verständigung 1912 aufs eifrigste tätig gewesen war, nicht nur Melquiades Alvarez, der besonders von englischer Sympathie erfüllt war, traten für die Fortführung der Verbindung mit den Westmächten ein, sondern auch Maura, der als Vollzieher des Cartagena-Abkommens von 1907 die volle Übereinstimmung des spanischen Interesses mit den französischen und englischen im Mittelmeer feststellte. Mella allein wies auf die Gefahr hin, der sich Spanien mit dieser erneuten einseitigen Verbindung aussetzte, auch wenn sie ihm zunächst von Englands und Frankreichs Gnaden Tanger einbringe, und forderte die Lösung von den gefährlichen Verbündeten. Es hängt mit dieser freiwilligen und unfreiwilligen Gebundenheit zusammen, daß die Erklärungen der Parteiführer es zunächst vermieden, auf die Frage der Wiedergewinnung Gibraltars und der Herstellung einer paniberischen Einheit einzugehen, oder sich darauf beschränkten, über ein näheres Verhältnis zu Portugal einige allgemeine Worte zu machen. Um so nachdrücklicher aber machten sie gegenüber der Regierung die nationalen Wünsche in bezug auf Tanger geltend.

VIII.

Die jüngsten Vorgänge. Mit der Stimme der öffentlichen Meinung und der Parteien sprach das Verlangen nach einer Besetzung Tangers zur verantwortlichen Staatsleitung, und es konnte bei dem Charakter der politischen Verhältnisse Spaniens nicht anders sein, als daß die Regierung bemüht war, ihm weitgehend Rechnung zu tragen. Hier beginnt das eigentlich aktuelle spanische Problem, über dessen Inhalt wir volle Klarheit besitzen, dessen Lösung jedoch in tiefem Dunkel liegt. Es galt einen Ausgleich zwischen der realpolitisch als notwendig erkannten Neutralitätspolitik und der Geltendmachung vom Volke getragener nationaler Forderungen zu schaffen, und zwar auf der Grundlage der als nicht minder notwendig erkannten Befreiung des Staates und Volkes von knebelnder Vormundschaft. Diese schwierige Aufgabe suchten König und Ministerium mit anerkennenswerter Umsicht und ausgezeichnetem Verständnis zu erfüllen. Obwohl der Ministerpräsident Dato Ende April bestritt, wegen Tanger irgendwelche Verhandlungen angeknüpft zu haben, kann doch kein Zweifel darüber bestehen, daß die Regierung schon damals in dieser Frage Fühlung genommen hatte. Freilich bleibt es unsicher, in welcher Form das geschah. Es ist anzunehmen, daß Dato zunächst in Verständigung mit England und Frankreich vorwärts zu kommen suchte, wenn auch von vornherein eine Verbindung mit Deutschland daneben hergegangen sein dürfte, daß die Westmächte jedoch kühle Zurückhaltung oder sogar

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Ablehnung zeigten. Indessen hat es den Anschein, als ob auch Verhandlungen mit Italien gespielt hätten, das den Vorgängen am Zugang vom Atlantischen Ozean zum Mittelmeer ein lebhaftes Interesse entgegenbrachte und in der Sorge vor einem englischen Gewaltstreich Tanger dem ungefährlichen Spanien zuzuschanzen bestrebt war. Ja, es wird behauptet, daß Italien sich dabei der Drohung bediente, selbst von dem kostbaren marokkanischen Hafen Besitz ergreifen zu wollen, wenn Spanien den Schritt nicht wage, und daß vollends diese Gefahr die Madrider Regierung vorwärts getrieben habe. Die Verfolgung eines solchen hochgesteckten politischen Ziels machte es um so dringender, auf eine Stärkung der Verteidigungsmittel und eine Konzentration und Festigung der inneren Kräfte des Landes bedacht zu sein. Zumal dieser Aufgabe widmete sich die Staatsleitung mit Eifer und Entschlossenheit. Eine Reorganisation des Heeres wurde in Angriff genommen und unter erheblichen finanziellen Opfern durchgeführt. Vieles wurde nun in die Wirklichkeit umgesetzt, was vordem aus vorwiegend finanziellen Gründen nur auf dem Papier gestanden h a t t e : die Schaffung einer nach dem Muster der großen Militärnationen kriegsmäßig ausgerüsteten, schlagkräftigen Armee war das Ziel. Der Herstellung von Geschützen und Munition wurde eine gesteigerte Aufmerksamkeit geschenkt. Eine königliche Verordnung verfügte die Bildung eines Militärkabinetts, das die vom Parlamente beschlossene Errichtung eines Generalstabs vorbereiten sollte, und man t a t den auffälligen Schritt, auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht zum ersten Male die Überzähligen, und zwar 30 000 Mann, zu einer dreimonatigen Ausbildung einzuziehen. Das bedeutete zusammen mit der drei Monate später durchgeführten Verringerung der marokkanischen Okkupationsarmee um 10000 Mann eine erhebliche Vermehrung des Heeresbestandes, der im Kriegsfalle in Frage kam. Die jüngst gesetzlich beschlossenen 500000 Mann

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d ü r f t e n zurzeit t a t s ä c h l i c h kriegsmäßig ausgerüstet u n d ausgebildet zur V e r f ü g u n g stehen, u n d die im H e r b s t einzuberufenden Cortes werden sich vor allem mit einer K r e d i t f o r d e r u n g zur D e c k u n g der Heeresausgaben zu befassen haben 1 ). Derselbe Ministerrat, der am 22. März in bezug auf die überzähligen R e k r u t e n jene wichtige E n t s c h e i d u n g t r a f , beschäftigte sich auch mit den wirtschaftlichen Fragen, die bei der F o r t d a u e r des Krieges immer b r e n n e n d e r w u r d e n . Mit einem Appell an die nationale Gesinnung des Volkes forderte die R e g i e r u n g die strenge B e o b a c h t u n g eines politischen W a f f e n s t i l l s t a n d e s , die die notwendige V o r a u s s e t z u n g nicht nur der N e u t r a l i t ä t s p o l i t i k , sondern auch der Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen sei. In einschneidenden M a ß n a h m e n b e m ü h t e sie sich um die Sicherung der wirtschaftlichen Arbeit, in Reformmaßregeln, die aus der Not der Zeit erwachsen, beinahe u n g e s t ü m die Unterlassungen früherer J a h r e g u t z u m a c h e n strebten und den k o n s e r v a t i v e n Charakter des Ministeriums ganz zurücktreten ließen. So w u r d e u n t e r Initiative des rührigen Finanzministers Bugallal die G r ü n d u n g einer W a r e n k r e d i t b a n k mit staatlicher Beteiligung beschlossen, m i t der ein B a n k e n k o n s o r t i u m b e a u f t r a g t wurde u n d an die sich eine A g r a r b a n k zur U n t e r s t ü t z u n g der L a n d w i r t s c h a f t sowie ein K r e d i t i n s t i t u t zur F ö r d e r u n g von Handel, Industrie und Bergbau anlehnen sollten. W e i t e r w u r d e eine V e r m e h r u n g der A n b a u f l ä c h e ins Auge gefaßt, i n d e m 300000 ha bisher u n g e n u t z t e n Landes erschlossen werden, was eine Steigerung des j ä h r lichen Getreidegewinnes um 100000 Tonnen bedeutet. Auch der A r b e i t e r f r a g e w a n d t e die Regierung ihre A u f m e r k ') Die von der „Correspondencia militar" Ende August verbreitete Nachricht, daß im Oktober große Feldmanöver in Verbindung mit einer Probemobilmachung von 300000 Mann stattfinden würden, ist zwar von der Regierung dementiert worden, scheint aber nicht unbegründet zu sein.

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samkeit zu, doch gelang es ihr zunächst nicht, die im sozialen Bereiche vorhandenen Mißstände zu mildern; vor allem vermochte sie der Auswanderung der Arbeiter, zumal nach Frankreich, nicht wirksam entgegenzutreten. Es bedurfte dazu weiterer staatlicher Maßnahmen auf dem Gebiete des Verkehrswesens und Wirtschaftslebens, die an die Bereitschaft großer finanzieller Mittel gebunden war. Die Lage der Finanzen war und blieb das eigentliche Hemmnis der weitschauenden inneren Reformarbeit, wie auch schließlich der Machtpolitik nach außen. Der Fehlbetrag von mehr als 200 Millionen Pesetas für das Jahr 1915, der mit den fälligen 237 Millionen und weiteren noch nachträglich zur Umwandlung bestimmten 159 Millionen Schatzscheinen der Deckung bedurfte, forderte gebieterisch ein staatliches Eingreifen, und es blieb der Regierung nichts anderes übrig, als den gefährlichen Weg der Anleihe zu beschreiten. Während das Ministerium diesen Schritt vorbereitete, erhob sich eine neue Schwierigkeit von großer Tragweite. Ende Mai trat Italien an der Seite des Dreiverbandes in den Krieg ein. Es scheint zwar, daß Italiens Abfall von den Verbündeten für Spanien die internationalen Beziehungen eher vereinfachte als komplizierte. Wenigstens vertrat der Imparcial (vom 25. Mai), offenbar auf Grund besonderer Kenntnis, die Auffassung, daß vielmehr im umgekehrten Falle — falls Italien dem Deutschen Reiche und ÖsterreichUngarn zur Seite getreten wäre — Spanien Anlaß gehabt hätte, seine abwartende Haltung aufzugeben. Wie dem auch sei, die Regierung konnte bei der von ihr verfolgten Politik nicht zögern, auch in dem italienischen Kriege Spaniens Neutralität zu erklären. Aber es erwuchs jetzt unerwartet die Gefahr, daß diese Politik der Zurückhaltung durch innerpolitische Vorgänge gestört wurde. Das Beispiel Italiens reizte zur Nachahmung. Wie die Schreier der Straße dort den Eintritt in den Krieg erzwungen hatten, so versuchten verwandte Elemente, hinter denen wiederum eng-

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lische und französische Antriebe t ä t i g waren, n u n auch in Spanien ihr Heil, u n d namentlich Lerroux, der b e w ä h r t e Macher republikanisch-sozialistischer Revolten, erhob seine Stimme zugunsten einer Intervention an der Seite der E n tentemächte. Die Anhänger der Neutralitätspolitik a n t worteten mit Gegenkundgebungen, und es drohte auch in Spanien zur Herrschaft der Straße zu kommen, die Italiens Schicksal besiegelt h a t t e . Aber während die römische Regierung schwächlich sich dem hohen und niedern Pöbel unterworfen hatte, schritt die Madrider Regierung energisch gegen diese Politik der T u m u l t e ein. Die politischen Versammlungen, die sich mit den Fragen des Krieges und der Neutralität beschäftigten, wurden kurzerhand verboten und die Ü b e r t r e t u n g des Verbots wurde mit scharfen Strafandrohungen belegt. Freilich t r u g diese Maßnahme d e m Ministerium neue heftige Angriffe ein. Die Republikaner und Sozialisten sahen sich in der Ausübung ihres unruhestiftenden Handwerks beeinträchtigt und forderten die A u f h e b u n g des Verbots sowie die schnelle E i n b e r u f u n g der Cortes. Die Reformisten Alvarez' schlössen sich diesen Forderungen an. Selbst die eigentlichen Liberalen R o m a nones' und die Demokraten Garcia Prietos stellten das Verfahren der Regierung als verfassungswidrig hin, u n d wenn sie auch f ü r ihre Stellung in bezug auf die Neutralitätspolitik keine Folgerungen daraus gezogen wissen wollten, so zeigte diese zweideutige Stellungnahme doch, d a ß sie eine andere Neutralität beobachteten wie die Regierung. Gegenüber diesem Andrängen m u ß t e D a t o ein wenig einlenken. Er erklärte, d a ß es ihm ferngelegen habe, den N e u t r a l i t ä t s gedanken f ü r die Regierung monopolisieren zu wollen, stellte gute Früchte der Regierungspolitik in Aussicht und vertröstete die Nation auf eine Zeit, wo er ohne eine Schädigung des Staatsinteresses werde reden können. Jedenfalls k o n n t e nach diesem Zwischenfall nicht mehr bezweifelt werden, d a ß die liberalen und radikalen Parteien

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dem konservativen Ministerium die schwierige Aufgabe nicht leichter zu machen suchten, sondern vielmehr eine Gelegenheit vorbereiteten, es zu Falle zu bringen. Und eben jetzt erlitt die Regierung eine schwere Niederlage. Am 22. Juni wurde die notwendig gewordene Anleihe in Höhe von 750 Millionen Pesetas ausgegeben. Bestimmungsgemäß wurden 283 Millionen durch Austausch von Schatzscheinen gezeichnet; von den bar zu zeichnenden 467 Millionen wurden jedoch nur 80 untergebracht, Bankiers und Großkapitalisten hielten sich auffällig zurück. Sicherlich waren die Gründe des Fiaskos vorwiegend finanztechnischer Art; die wirtschaftliche Schwäche Spaniens t r a t in dem kläglichen Ergebnis handgreiflich zutage. Aber auch politische Ursachen sprachen mit. Da das wirtschaftliche Leben stark von französischen Elementen bestimmt wird, darf man vermuten, daß eine planmäßige Zurückhaltung von Paris her anbefohlen war. Durch das Scheitern der Anleihe sollte das Ministerium Dato getroffen werden, an dessen aufrichtiger und starker Neutralitätspolitik die Ententemächte Anstoß nahmen, um einer liberalen Regierung Platz zu machen, die kleine und große Liebesdienste für den Dreiverband erhoffen ließ. Um dieser politischen Zusammenhänge willen, nicht aber, weil er das Ergebnis als ein Mißtrauensvotum ansah, das es nicht war, erklärte Dato mit dem ganzen Kabinett den Rücktritt. Der König antwortete mit einer entschiedenen Vertrauenserklärung, aber der Ministerpräsident forderte zur Herbeiführung einer endgültigen Entscheidung die Befragung der ehemaligen Ministerpräsidenten und Kammervorsitzenden, die zum letzten Male bei seiner Berufung gehört worden waren. In der Sitzung vom 24. Juni sprachen sich Romanones, Maura und Garcia Prieto, dazu auch der ehemalige liberale Kammerpräsident Villanueva für die Bildung eines konservativen Konzentrationsministeriums aus, bemängelten die königliche Kundgebung und zweifelten Datos Kredit an, um eine größere Anleihe aufnehmen zu

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können, weil er zu freigebig in der Bewilligung von Ausgaben gewesen sei. Graf Romanones, der sich bereits in die Rolle des liberalen Nachfolgers einzuleben begann, erklärte weiter und übergab diese Erklärung später der Öffentlichkeit: man müsse den Verbleib Datos in der Regierung und die Neutralität scharf trennen, denn auch die liberale Partei als Trägerin der Regierung h ä t t e sich nicht von der Neutralität entfernt, würde sich nie von ihr entfernen und sei allem abgeneigt, was zu einer militärischen Intervention führen könne; ja sie hätte womöglich die Neutralität noch wirksamer und fester verteidigt und würde das jedenfalls tun. Trotz dieser berechnenden Verheißungen hielt der König an seinem Entschluß fest und übertrug dem bewährten Staatsmann von neuem die Leitung der Geschäfte an der Spitze des unveränderten Ministeriums. Die finanzielle Schwierigkeit wurde in der Weise provisorisch beigelegt, daß mit der Bank von Spanien eine Anleihe von 150 Millionen Pesetas in der vom Budget vorgesehenen Form abgeschlossen wurde. Die selbstverständliche Folge dieser bedeutungsvollen Vorgänge war die weitere Verschlechterung des Verhältnisses zwischen der Regierung und den oppositionellen Parteien. Die Linke erneuerte sogleich ihre Beschwerden über das Versammlungsverbot und erklärte die konstitutionellen Sicherheiten für gefährdet. Indessen auch jetzt erhielt Dato die wohlbegründete Maßnahme aufrecht, die ohne die Verhängung des Belagerungszustandes es wirksam hintertrieb, daß die große Mehrheit des spanischen Volkes vergewaltigt wurde. Dagegen war er zu dem formalen Entgegenkommen bereit, Versammlungen zur Besprechung der inneren Politik zuzulassen und damit die öffentliche Kritik der Regierungsmaßnahmen sowie die politische Propaganda aller Parteirichtungen, auch der revolutionären. In dem Bestreben, dem Mißtrauen der Opposition zu begegnen und die Gegensätze zu versöhnen, ging das Ministerium nicht selten so weit, gegenüber parteilichen Handlungen, die der NeutraH e r r e , Spanien u n d der W e l t k r i e g .

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lität widersprachen, die Augen zuzudrücken. Die deutschfreundlichen Blätter hatten immer wieder Gelegenheit, auf die Kriegslieferungen zugunsten der Ententemächte hinzuweisen, die in einzelnen Fällen sogar eine Übertretung der Ausfuhrverbote und eine Schwächung der spanischen Volkswirtschaft, ja der Wehrkraft bedeuteten. Selbst das Versammlungsverbot wurde in der Praxis eine Zeitlang einigermaßen nachsichtig gehandhabt, so daß Lerroux in einer Rede, die er Mitte Juli in Barcelona hielt, ungestört die moralische Unterstützung der Ententemächte fordern konnte. Eine Weiterverfolgung dieser Bahnen des Entgegenkommens war nicht unbedenklich, aber die Regierung erkannte bald selbst die Notwendigkeit, die Zügel wieder anzuziehen, und griff Ende August gegenüber Versuchen ihre Nachsicht auszunutzen mit Entschiedenheit durch. Sie hielt entschlossen an dem eigentlichen Kern ihres Standpunktes fest: der Politik der starken Neutralität auf nationaler Grundlage. Die staatsmännische Leistung Datos und seiner Mitarbeiter fand in steigendem Maße die Anerkennung des Volkes. Um die durch den Vorstoß der liberalen und radikalen Parteien bedrohte Stellung des Ministeriums zu stärken, t a t die regierende liberal-konservative Partei Ende Juni den Schritt, die seit Mauras Rücktritt erledigte Führerschaft nunmehr förmlich Dato zu übertragen, der sie t a t sächlich längst ausübte. Diese Schilderhebung h a t t e zur Folge, daß ein Flügel, der sich bisher unter Cierva abseits gehalten hatte, den Anschluß an die Parteiorganisation vollzog: als eine kompakte Mehrheit liberal-konservativen Charakters stellte sich die Partei hinter die Regierung und bekundete in eindrucksvoller Einmütigkeit das Vertrauen in die von ihr vertretene Politik. Aber nicht nur die parteimäßigen Anhänger waren vertrauend bereit, der bewährten Staatsleitung zu folgen, sondern über die Partei hinweg die weiteren Volkskreise. Es ist die große Errungenschaft des Weltkrieges, daß das Ver-

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ständnis für reale staatliche Tätigkeit in Spanien wachsend Boden gewann. Es mehrten sich die Stimmen, die der E n t faltung eines werktätigen Patriotismus das Wort redeten, die das Volk mahnten, es nicht bei dem bisher geübten passiven Vertrauen zu den Führern bewenden zu lassen, die ihm ans Herz legten, mit dem alten System des Gehenlassens zu brechen. Die Anteilnahme des Volkes an den Dingen des Staates t r a t in vordem ungekannten Äußerungen hervor 1 ), und der Sinn für den „Frieden der Arbeit" begann die Dämme einzureißen, die ein gleichgültiges Sichabfinden mit den „Cosas de E s p a ñ a " in jahrhundertelanger Tradition errichtet hatte. Wohl gewannen immer wieder Stimmungen und Neigungen die Oberhand, und die wachsende Deutschfreundlichkeit, die sich allmählich auf alle Kreise des Volkes erstreckte und namentlich im Heer die Herrschaft gewann, n a h m unter dem Eindruck der großen Siege in Polen Formen an, daß die Regierung mahnend auf die W a h r u n g der Neutralität hinweisen mußte. Wohl drängten die nationalen Ansprüche, über alle Realitäten sich hinwegsetzend, mit elementarer Gewalt immer wieder vorwärts; das entspricht spanischem Wesen und bleibt für lange Zeit wohl die Grenze politischer Einsicht. Lauter und lauter erscholl seit dem Sommer der Ruf nach der Wiedergewinnung Gibraltars, und es scheint, daß diese brennende Frage sogar in den neu zusammentretenden Cortes zur Sprache gebracht wird 2 ). Die paniberischen Hoffnungen fanden immer neue begeisterte Verkünder, wenn auch angesichts des ungeheuerlichen Wirrwarrs der portugiesischen Verhältnisse bereits manche ein>) Es sei auf die patriotische Handlung der Schiffsreeder aufmerksam gemacht, die im August auf die ihnen zur Förderung der Schiffahrt staatlich zuerkannten Prämien Verzicht leisteten, indem sie die erste Halbjahresrate von 3 Millionen Pesetas nachträglich abtraten und die zweite vorweg für allgemeine Zwecke einräumten. 2 ) Ende August meldete „el Liberal", daß 81 Abgeordnete die Regierung in der Gibraltarfrage zu interpellieren gedächten. 6*

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schränkende Bemerkung einfloß 1 ). Und immer wieder gipfelten die patriotischen B e t r a c h t u n g e n in der Ausmalung der sehnlichst erstrebten Vereinigung des spanischen Mutterlandes mit den einstigen Kolonien Mittel- und Südamerikas. Gegenüber solchen Äußerungen nationaler Instinkte u n d Ansprüche m u ß die verantwortliche Regierung den politischen Realismus ebenso maßvoll wie kraftvoll zur Geltung bringen. Sicherlich liegt in ihrer H a n d mehr als in der des lernenden Volkes Spaniens Schicksal. Der greise D r a m a t i k e r José Echegaray, der einst mehrmals liberalen Ministerien angehört h a t t e und der konservativen Partei und ihrem Führer völlig fern stand, h a t t e durchaus recht, wenn ersieh Ende J u n i gegenüber einem Mitarbeiter des Mundo unvoreingenommen und urteilsvoll dahin aussprach: d a ß alle Spanier dem Ministerpräsidenten Achtung, E h r e r b i e t u n g und D a n k b a r k e i t schuldeten, ja daß dieser in dem großen B r a n d e Europas seinem Vaterlande einen ungeheuren Dienst erwiesen habe. Aber es ist bezeichnend f ü r die Erziehungsarbeit, die der in die Tiefen aufwühlende Weltkampf auch auf spanischem Boden bereits geleistet hat, d a ß der Neutralitätsgedanke in der öffentlichen Meinung h e u t e zur u n u m s c h r ä n k t e n Herrschaft gelangt ist. Mitte J u n i e n t s t a n d unter der verdienstvollen Anregung des A B C zur Sicherung der Regierungspolitik ein Zeitungsblock zugunsten der W a h r u n g unbedingter Neutralität. Mitte Juli gehörten ihm bereits 160 spanische Zeitungen an. Er u m f a ß t nicht n u r die Organe der Regierungspartei, sondern auch die f ü h r e n d e n Blätter der Demokraten und Liberalen. Vor dieser Einmütigkeit der öffentlichen Meinung gingen selbst die oppositionellen Parteiführer wieder zurück, und es spricht f ü r den S t a n d der Dinge, daß ein Lerroux, der bei Kriegsausbruch sein Roß zum Ritte nach Berlin gesattelt h a t t e , in seiner letzten K u n d gebung sich mit der Forderung einer moralischen Unters t ü t z u n g der E n t e n t e m ä c h t e begnügte. So im ABC.

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So konnte die Regierung, des Rückhalts an der großen Mehrheit des Volkes sicher, klar und bewußt ihren Weg gehen. Ihr Verfahren war und blieb: zuvörderst Beobachtung einer starken Neutralität, danach erst Wirken zugunsten der nationalen Ansprüche! Welche Früchte diese besonnene Politik geerntet hat, entzieht sich bisher der öffentlichen Kenntnis. Anfang Juni, als es galt, die erregte Opposition zu beruhigen, hat Dato die vielsagende Erklärung abgegeben: Diejenigen, die das augenblickliche Schweigen der Regierung bedauerten, würden seine Mitteilungen beifällig aufnehmen, wenn sie sähen, daß die in der letzten Zeit beobachtete Zurückhaltung vom Landesinteresse eingegeben sei. Damals handelte es sich um die Lösung der Tangerfrage. Seitdem haben mehrere Zeitungen über Ergebnisse solcher Verhandlungen berichtet. Nach der einen (New Yorker „Las Novedades", Anfang Juni) soll es die Regierung durchgesetzt haben, daß zunächst England seine Zustimmung zur Besetzung Tangers durch Spanien gab, und daß Frankreich unter englischer Einwirkung nach heftigem Widerstreben sich dem Zugeständnis anschloß. Nach einer anderen (Pimentel in den Noticias de Barcelona, Ende Juni) soll die Regierung wirtschaftliche Nöte Frankreichs zu benutzen versucht haben, um dessen Einverständnis zur Gewinnung des begehrten nordmarokkanischen Hafens zu erlangen, doch soll diese Bemühung dadurch zum Scheitern gebracht worden sein, daß England, dem französischen Hilferufe folgend, die Kohlenzufuhr nach Spanien zu untersagen drohte und so die Madrider Staatsleitung zum Nachgeben zwang, ohne bezüglich Tangers etwas zugestanden zu haben. J a auch in der Gibraltarfrage soll die Regierung nach Zeitungsmeldungen (Imparcial, Anfang Juni) bereits die Initiative ergriffen und an England das Ersuchen zur A u f n a h m e freundschaftlicher Vorbesprechungen gerichtet haben, doch ist die Richtigkeit dieser Nachricht in höchstem Maße zu bezweifeln, vielmehr dürfte es sich dabei nur um

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einen in besonderer Gestalt auftretenden Versuchsballon handeln. Wie weit jene anderen Enthüllungen der Wahrheit nahekommen, läßt sich nicht feststellen. Auf eine bedeutungsvolle Tatsache scheinen alle diese Meldungen hinzudeuten: daß die Regierung ihre Verhandlungen auch im Sommer noch lediglich mit England und Frankreich führte. Aber es wäre irrig, diese Folgerung zu ziehen. Sicherlich hat Spanien bei der Befriedigung seiner nationalen Wünsche in nächster Hinsicht mit den beiden Ententemächten zu tun. Was es erreichen will, berührt das französische und englische Interessengebiet aufs engste, ja trifft dieses an wichtigen Stellen. Die Verbündeten der Jahre 1907 und 1913 sind die Feinde und Unterdrücker Spaniens, aber bei der Schwäche der Staats- und Volkskräfte ist es realpolitisch gedacht, bemüht zu sein, in friedlicher Verständigung mit ihnen vorwärtszukommen. Dazu bedurfte es jedoch eines Druckes auf die beiden Westmächte von anderer Seite. Wie 1904 und 1911 kam diese heilsame Pression auch 1914 von Deutschland und seinen Verbündeten. Wieder gelangte jene Parallelität der Interessen zum Durchbruch, der Spanien seine früheren Erfolge verdankte, und es kann mit voller Sicherheit angenommen werden, daß die deutsche Staatsleitung an manchem Schritte der Madrider Regierung einen geheimen Anteil hat. Nicht als ob Deutschland ernstlich dafür bemüht wäre, Spanien an seiner Seite in den Krieg zu drängen, so gute Dienste ihm auch „die spanische Fliege in Frankreichs Nacken" leisten würde. Es kann uns genug sein, wenn der Pyrenäenstaat die aufrichtige Neutralität hält, die er bisher beobachtet hat. Die Gegenleistung, die wir für eine Förderung der spanischen Interessen erwarten, wird uns erst nach dem Friedensschluß gewährt werden. Vor fünf Jahren hat Guillermo Rittwagen in einem Aufsatz über „Spanien und Frankreich in der Marokkofrage" (Espana moderna, Mai 1910) der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß eine Verbesserung der unbefriedigenden Ver-

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hältnisse zugunsten Spaniens erfolgen werde, wenn ein neues Sedan eintrete oder wenn die internationale Politik Englands eine Wandlung erfahre. Daß dies geschehe, dafür bringt das deutsche Volk jetzt in voller Hingabe an den ihm aufgezwungenen Daseinskampf sein Blut zum Opfer. Das spanische Volk aber h a t erkannt, daß es auch um sein Dasein geht. Es nimmt in tiefstem Mitgefühl und Verständnis an unserem Ringen Anteil. Es hofft von einem für Deutschland siegreichen Ausgang f ü r sich selbst. Und bei seinem innerlich wahren und streng sittlichen Charakter haben wir die Gewähr, daß, wenn einst das englische Joch gefallen und Spanien der ihm aufgezwungenen Freundschaften ledig ist, die Interessengemeinschaft ihre Früchte trägt, die Deutschland und Spanien in den letzten großen Weltkrisen Seite an Seite geführt hat. Deshalb begleiten wir unsererseits den nationalen Aufstieg und die staatliche Gesundung Spaniens mit vollster Sympathie. Wir erhoffen davon eine Steigerung des wirtschaftlichen und geistigen Austausches zwischen den beiden Völkern, die sich achten und lieben gelernt haben, und darüber hinaus einen noch engeren Zusammenschluß auf der Grundlage jener neuen europäischen Kulturgemeinschaft, die wir auf den Trümmern der alten zu errichten streben.

Bemerkungen zur Literatur. Abgesehen von mehr oder minder tief dringenden Reisewerken gibt es in deutscher Sprache keine Literatur, die sich mit den spanischen Verhältnissen der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit beschäftigt. Die dem Kulturzustand u n d der Gesellschaft Spaniens gewidmeten Schilderungen D i e r c k s ' und P a r l o w s liegen bereits ein Menschenalter zurück, und das in deutscher Übersetzung zugänglich g e wordene Buch des ehemaligen katholischen Geistlichen Pater J o s é F e r r a n d i z i s t eine antiklerikale Parteischrift, die trotz mancher aufklärenden Bemerkung Uber das kirchliche Regiment im allgemeinen ein Zerrbild der spanischen Verhältnisse gibt. Die beste Orientierung bietet das Werk des Franzosen A n g e l M a r v a u d : L'Espagne au XX e siècle. Étude politique et économique. Paris (Armand Colin) 1913. Es baut sich auf gründlichen wissenschaftlichen Studien namentlich geschichtlicher, politischer und wirtschaftlicher Art auf und kann trotz einer von romanischen Gemeinschaftskeitsgefühl und von republikanisch-sozialistischen Neigungen getragenen Voreingenommenheit im ganzen als zuverlässig angesprochen werden. Auch die im Vordergrunde der jüngsten Entwicklung stehende Marokkofrage ist mehrfach von Franzosen behandelt worden. Vor allem ist auf die Darstellung des bekannten Publizisten A n d r é T a r d i e u zu verweisen: France-Espagne 1902—1912 (Revue des deux mondes, 1. Dezember 1912). Die von den Spaniern selbst geleistete Aufklärungsarbeit zur auswärtigen Politik hat mit Ausnahme der Schriften R a f a ë l A l t a m i r a s und A d o l f o P o s a d a s über die spanisch-südamerikanischen

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Bemerkungen zur Literatur.

Beziehungen, die im G r u n d e mehr kulturell als politisch sind, nur geringen Wert, während der Literatur Uber die inneren Probleme (Verfassungsentwicklung, Reform des Bildungswesens, wirtschaftliche und soziale Fragen usw.), die in dieser Schrift zurücktreten, eine größere Bedeutung zukommt. Es geht aus diesen Bemerkungen hervor, daß die v o r a n s t e h e n d e Darstellung in vielfacher Hinsicht eine beträchtliche Lücke ausfüllt, wie denn Spanien auch innerhalb der ungeheueren Kriegsliteratur bezeichnenderweise völlig unberücksichtigt g e blieben ist. Aber es darf nicht unerwähnt bleiben, daß die Korrespondenten unserer g r o ß e n Zeitungen in Madrid und Barcelona am Zustandekommen dieser Schrift ein erhebliches Verdienst haben. Wenn auch die Berichterstattung Uber Spanien an Umfang wie Güte weit hinter der über England, Frankreich, Rußland oder Italien zurückbleibt, so leisten die Madrider Briefe der Frankfurter Zeitung, der Kölnischen Volkszeitung und namentlich der Kölnischen Zeitung, die eine objektive Orientierung über spanische Vorgänge als eine b e s o n d e r e Tradition pflegt, doch wertvolle Dienste, und es ist eine der zahlreichen Nebenwirkungen des Weltkrieges, daß neuerdings auch eine Anzahl von Berliner Blättern den Vorgängen jenseits der Pyrenäen größere Aufmerksamkeit schenkt.

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